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AUS PLATOS WERDEZEIT
PHILOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
VON
MAX POHLENZ
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1913
Dem
Göttinger Kränzchen
gewidmet
Die Entstehung des platonischen Dialoges
und die Frage nach seiner historischen Treue.
„Wir waren am Tage vorher abends aus Potidaea vom Lager
zurückgekommen, und nach so langer Abwesenheit ging ich nun
natürlich mit Vergnügen nach den gewohnten Stätten“ — so be-
ginnt Plato einen seiner allerfrühesten Dialoge, den Charmides.
Daß es Sokrates ist, der hier erzählt, erfahren wir bald darauf
durch eine Anrede. Aber wem er erzählt, darüber hören wir
kein Wort. Ein einziges Mal gebraucht Sokrates an einer Stelle,
wo er von einer starken inneren Bewegung spricht, eine Anrede:
τότε δή, ὦ γεννάδα, εἶδόν τε τὰ ἐντὸς Tod ἱματίου καὶ ἐφλεγόμην
(155d). Aber hier spüren wir zwar eine Absicht, wenn Plato
eine sonst zuletzt für uns in Aristophanes’ Fröschen nachweis-
bare altertümliche Anredeformel gebraucht; dagegen tut er nicht
das geringste, um in uns eine Vorstellung über den Angeredeten
zu wecken. Auch für den Charakter der Erzählung ist dieser
völlig gleichgültig. Es ist also im Effekt dasselbe als wenn der
geneigte Leser angeredet würde. Es ist in Wahrheit das Publi-
kum, an das dieser literarische Sokrates sich wendet.
Genau dieselbe Form treffen wir im Lysis und im Staate
wieder. Jetzt tritt aber auch keine vereinzelte Anrede mehr auf.
Und dieselbe Icherzählung begegnet uns im Parmenides, nur daß
wir dort nach drei Zeilen darüber aufgeklärt werden, daß nicht
Sokrates, sondern Kephalos der Erzähler ist.
Eine Abwandlung der Form zeigt der Protagoras. Hier
richtet Sokrates seine Erzählung auf Aufforderung eines unge-
nannten Gefährten an Bekannte, die wir uns in irgend einem
Gymnasion sitzend denken mögen. Offenbar will Plato hier das
Literarische der Form abstreifen und statt des Publikums einen
Hörerkreis einführen. Aber daß er von der Form des Charmides
ausgeht, zeigt sich doch darin, daß dieser Hörerkreis ebenso wie
der ἑταῖρος nicht im geringsten charakterisiert wird und für die
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 1
2 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
Erzählung nicht mehr zu bedeuten hat als das Publikum. Und
wenn Plato den Gefährten die entscheidende Aufforderung so
aussprechen läßt: Ti οὖν οὐ διηγήσω ἡμῖν τὴν συνουσίαν, ei μή
σέ τι κωλύει, καϑεζόμενος ἐνταυϑί, ἐξαναστήσας τὸν παῖδα τουτονί;
so wird man diesen etwas krampfhaften Versuch, eine lebendige
Vorstellung zu geben, schwerlich sehr glücklich nennen können.
Man hat den Eindruck, als wolle Plato nur eine Formalıtät erledigen.
Kein Wunder, daß er später selber keine Lust hatte, die Form
des Protagoras noch einmal anzuwenden. Dafür wird der Er-
zählung einmal ein Gespräch mit einer bestimmten Persönlichkeit
vorausgeschickt. Das ist im Euthydem. Aber hier ist der Grund
klar. Sokrates-Plato will sich einem Tadler gegenüber recht-
fertigen, daß er überhaupt es für nötig hält, sich mit der Eristik
auseinanderzusetzen. Dazu ist nötig ein Rahmengespräch des
Sokrates mit einem Manne wie Kriton, der es wagen durfte, als
Freund Sokrates Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns auszu-
sprechen. Ebenso deutlich ist, warum im Phaidon ein bestimmter
Mitunterredner auftritt. Hier war Plato zum ersten Male genötigt,
statt des Sokrates einen anderen als Erzähler einzuführen. Und
daß es gänzlich unkünstlerisch gewesen wäre, wenn Phaidon von
den letzten Stunden des Meisters nicht seinem Mitschüler Eche-
krates, sondern einem größeren Kreise oder gar dem Publikum
erzählt hätte, bedarf wohl keines Wortes. Ähnlich liegt es im
Theaetet, den man natürlich trotz des Kunstgriffes, durch den die
Erzählung ausgeschaltet wird, hierher stellen muß. Hier vertritt
das Rahmengespräch die Stelle einer Widmung des Dialogs an den
Verstorbenen. So bieten sich von selbst zwei Freunde des Toten
wie im Phaidon als Gesprächsfiguren. Die Absicht der Widmung
wird auch mitspielen, wenn im Symposion Plato seinen Alters-
genossen (173a) Apollodor zum Erzähler macht. Aber wichtiger
ist hier das andere: Das Gespräch über den Eros wiederzugeben
ist eben keiner geeigneter als der μανικός Apollodor, der die
Wirkung der ἐρωτικὴ μανία nicht weniger bei sich gespürt hat
und in seinem ganzen Wesen verkörpert als Alkibiades, soweit
er auch sonst von dessen genialem Wesen entfernt ist‘). Daß
1) Wie man diesen Tatbestand verkennen und p. 173d die Corruptel μαλακός
statt der in TW durch zweite Hand erhaltenen, durch Plutarch Cato min. 46 ge-
sicherten Variante wavınds festhalten kann, ist mir gänzlich unverständlich. Außer-
dem paßt doch μαλακός ganz und gar nicht in den Zusammenhang der Stelle —
Die Icherzählung im referierten Dialog. 3
die Charakterzeichnung des μανικός hier allein Platos Interesse
in Anspruch nimmt, ergibt sich daraus, daß wie im Protagoras
die Hörer wie ihr Wortführer vollkommen gleichgültig sind. Eine
ehrende Widmung liegt endlich, wie schon das Altertum ver-
merkt hat (Plut. de frat. am. 484f.), im Parmenides vor, wenn
Platos Stiefbruder Antiphon trotz seines Aufgehens in sportlichen
Interessen zum Vermittler der philosophischen Erzählung ge-
macht wird.
Ziehen wir das Ergebnis der bisherigen Untersuchung, so
müssen wir sagen: Die literarische Icherzählung, die sich
an das lesende Publikum wendet, ist die Form, die
Plato in den referierten Dialogen nicht bloß zuerst und
am häufigsten angewendet hat; sie ist auch die ur-
sprüngliche Form, als deren Abwandlung sich alle Fälle
herausstellen, in denen die Erzählung an eine bestimmte
Person gerichtet ist.
oder ist es etwa das Charakteristikum der μαλακοί, daß sie gegen sich und die
anderen toben (dei τοιοῦτος εἶ, σαυτῷ τε nal τοῖς ἄλλοις ἀγριαίνεις πλὴν Σωκρά-
τους) und diesen den Eindruck des κακοδαίμων, des Verrückten machen (173de)?
„Wir waren alle in einer sonderbar gemischten Stimmung, bald lachten, bald weinten
wir, einer von uns aber ganz besonders, Apollodor — du kennst ja wohl den Mann
und sein Wesen“, heißt es im Phaidon 59a, doch nicht um seine Weichherzigkeit,
sondern um sein exaltiertes Wesen zu bezeichnen, das nachher zu so leidenschaft-
lichem Ausbruch des Schmerzes führt (117d). Und endlich: nach Plinius N.H.34,81
und 84 hat Silanion die Büste eines Bildhauers Apollodor geschaffen, der den Bei-
namen insanus hatte, nicht, weil er jähzornig war, sondern weil er die höchsten
Anforderungen an sich stellte und nie mit sich zufrieden war. Sollen wir wirk-
lich glauben, daß Platos Apollodor, für den nichts charakteristischer ist als die
Unzufriedenheit mit sich selber, von diesem verschieden war, und daß es gleich-
zeitig einen Apollodor ὁ μανικός und Apollodor ὁ μαλακός gab? Silanion hat
die Büste Platos geschaffen; warum soll man seine Büste Apollodors nicht auf
den Altersgenossen Platos beziehen, der ihn wegen seines Charakters interessierte?
Wenn Plato den Fanatiker in solcher Weise auszeichnete, so muß er ihn
für einen würdigen Jünger des Sokrates gehalten haben. Und er hat wohl tiefer
in dessen Wesen geblickt als Xenophon, der in seiner Apologie im Anschluß an
den Phaidon denselben Apollodor einführt und als ἐπιϑυμητὴς μὲν ἰσχυρῶς
αὐτοῦ, ἄλλως δ᾽ εὐήϑης charakterisiert (28). Daß er aber mit dem ἐπιϑυμητὴς
ἰσχυρῶς gerade den wavızdz bezeichnen will, zeigt uns deutlich eine Analogie.
Plato führt in der Apologie Chairephon als den Mann ein, der aus leidenschaft-
licher Zuneigung zu Sokrates das Orakel aus Delphi über ihn einholt. Dabei
sagt Sokrates 218: ἴστε δὴ οἷος ἦν Χαιρεφῶν, ὡς σφοδρὸς ἐφ᾽ ὅτι ὁρμήσειεν.
Im Anfang des Charmides wird derselbe Charakterzug mit den Worten ange-
deutet: Χαιρεφῶν δέ, ἅτε nal μανικὸς iv, ἀναπηδήσας ἔκ μέσων ἔϑει πρός we.
1
4 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
Diese Tatsache muß man sich vor Augen halten, wenn man
sich nun die Frage vorlegt, wie Plato dazu gekommen ist, gleich
in den Anfängen seiner Schriftstellerei neben dem rein drama-
tischen Dialoge den referierten anzuwenden. Soweit man sich diese
Frage überhaupt bisher stellte, hat man sich mit dem Hinweis auf die
künstlerischen Vorteile begnügt, die für Plato die Einführung eines
Berichterstatters bot (Hirzel Dialog IS. 213ff. u. a.). Diese Vor-
teile sind unleugbar und sie sind es gewesen, die Plato auf diese
Form immer wieder zurückgreifen ließen, so lange ihm die künst-
lerische Wirkung ein wesentliches Ziel war. Aber warum Plato
gerade die vorhin charakterisierte Form der Erzählung wählte,
ist damit nicht erklärt. Wenn er von der dramatischen Form
oder vom Leben direkt ausging, war jedenfalls der Bericht an
bestimmte Hörer das Natürlichere. Das gleiche Bedenken steigt
auch auf, wenn man die Erklärung einfach darin sucht, daß die
Wiedererzählung eines Gespräches durch Sokrates sich auch in
Aischines’ Aspasia und in Xenophons Oikonomikos (7 ff.) findet,
also wohl einer Gewohnheit des Sokrates entsprach (Hirzel Dia-
log IS. 84°). Denn da Sokrates solche Erzählungen doch ganz
gewiß nur mitten im Gespräch zur Beleuchtung des Problems ge-
bracht hat, so sollte man, wie es tatsächlich in Aischines’ Aspasia ')
und bei Xenophon der Fall ist, diese Wiedererzählung nur im
Rahmen eines größeren Gespräches erwarten. Aber überhaupt
spricht gegen eine einfache Wiedergabe des lebendigen Ge-
spräches die Wendung an das Publikum. Sie nötigt uns zu der
Frage, ob Plato an literarische Vorbilder angeknüpft hat.
Wo hat die Icherzählung, die sich an das Lesepublikum wen-
det, ihre Stätte? Die Antwort ist nicht schwer: Im Memoiren-
stil. Und mindestens von einem Memoirenwerke wissen wir
doch noch, das Plato gekannt hat oder jedenfalls kennen konnte,
das sind die Erzählungen Ions von seinem Verkehr mit be-
rühmten Zeitgenossen, wie er sie teils bei ihren Besuchen in Chios
teils bei eignen Reisen kennen gelernt hatte. Freilich sind für
Ion nicht die philosophischen Gespräche das Interessante, aber
wenn er eine Erzählung beginnt: „Mit dem Dichter Sophokles
kam ich in Chios zusammen, als er als Stratege nach Lesbos
1) Dittmar Aischines von Sphettos 8.49. Dagegen scheint im Alkibiades, der sehr
wohl mit den Worten ἐκαϑήμεϑα μὲν ἐπὶ τῶν ϑάκων ἐν Λυκείῳ (fr. 2) begonnen haben
kann, Aischineseine Icherzählung von der Art Platos gebrachtzu haben(Dittmar 8.157).
Einfluß der Memoirenliteratur. 5
fuhr“ (Ath. 603e), so steht dem formell der Anfang des Charmides
doch recht nahe. Daß Ions Werk das einzige in seiner Art ge-
blieben sein sollte, wäre beispiellos in der griechischen Literatur-
geschichte, und vielleicht war sogar in Platos nächster Nähe ein
Werk in ähnlichem Stil entstanden. Jedenfalls steht nichts der
Annahme im Wege, daß sein Verwandter Kritias, dem er gerade
im Charmides ein Denkmal setzt, in seinen Ὁμιλίαι Gespräche
erzählte, denen er beigewohnt hatte oder beigewohnt haben
wollte). An einen Einfluß der Memoiren werden wir aber um
so eher glauben dürfen, als auch inhaltlich Übereinstimmungen
mit diesen in Platos Dialogen nicht zu verkennen sind. Das hat
schon Bruns in seinem Buche über das literarische Porträt 5.
239f. vortrefflich ausgeführt. Wenn ich über ihn hinausgehend
den direkten Einfluß dieser Literaturgattung auf Plato annehme,
so ist dafür eben entscheidend der von Bruns in seiner Be-
deutung verkannte literarische Charakter”) der Icherzählung,
wie wir ihn festgestellt haben. Aber freilich gilt es nun, neben
der Ähnlichkeit sich auch die Umbildung klarzumachen, die Plato
an jener Form vorgenommen hat.
Ion wollte nicht seine eignen inneren Erlebnisse erzählen.
Er wollte von berühmten Zeitgenossen ein Bild geben, indem er
sie in charakteristischen Situationen, Gesprächen, Handlungen
vorführte. Plato tut im Grunde im Protagoras dasselbe, und so
manche Szene im Charmides oder Lysis kann einem wohl die
anschaulichen Schilderungen Ions in Erinnerung rufen. Aber
ein großer Unterschied springt in die Augen: Während Ion seine
eignen Erlebnisse mitteilte, legt Plato die Icherzählung anderen
in den Mund. Das war, auch wenn wir seinen Zweck in Be-
tracht ziehen, durchaus nicht selbstverständlich. Auch wenn sein
Ziel war, den Mann, der den Mittelpunkt seines Lebens bildete,
zu schildern, konnte er sehr wohl daran denken, Szenen, wie er
!) Das Gespräch war hier natürlich die Hauptsache (cf. fr. B. 40 Diels). —
Vgl. Xen. Mem. IV, 3, 2 ἄλλοι μὲν οὖν αὐτῷ πρὸς ἄλλους οὕτως ὁμιλοῦντι
παραγενόμενοι διηγοῦντο᾽ ἐγὼ δέ, ὅτε πρὸς Εἰὐϑύδημον τοιάδε διελέγετο, παρε-
γενόμην. ΤΥ, τ, 1.
2) Geahnt hat er ihn, wenn er 5. 328 davon spricht, daß der erzählende
Sokrates des Staates nur literarische Form ist. Aber das ist für ihn nur ein
Einzeltypus des referierten Dialoges.. — Bruns’ Ausführungen sind auch zum
Folgenden zu vergleichen, ebenso natürlich in diesem ganzen Aufsatz Hirzels
grundlegendes Buch über den Dialog.
6 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
sie selber oft genug erlebt hatte, vorzuführen' und von sich aus
zu erzählen. Wenn er es nicht getan hat, so mag ihn einmal
die Scheu, mit der eignen Person hervorzutreten, zurückgehalten
haben. Wichtiger aber war gewiß etwas anderes. [Mochten die
einzelnen Szenen, in denen er den Meister gesehen hatte, auch
noch so charakteristisch gewesen sein, jede einzelne war ein
Augenblicksbild, dem alle möglichen Zufälligkeiten anhafteten.
Nicht die aber wollte er wiedergeben, er wollte Sokrates schil-
dern, wie er gewesen war, wie er selber ihn tausendmal beob-
achtet hatte. Den wirklichen Sokrates wollte er zeigen, aber
nicht durch die photographische Wiedergabe einer Einzelszene,
sondern durch eine sei es auch ganz frei erfundene Situation, in
der sein ganzes Wesen scharf und klar hervortrat. So mußte
sich die Erzählung des wirklichen Erlebnisses wandeln in die
künstlerische Wiedergabe eines erfundenen Vorgangs, und es zeugt
nur von dem künstlerischen Empfinden Platos, wenn er dann
auch nicht mehr persönlich der Erzähler sein wollte, sondern
einem anderen — und das war am natürlichsten der Haupt-
beteiligte, also Sokrates selber — den Bericht in den Mund legte.
Wie bewußt Plato diesen Weg gegangen ist, zeigt uns gleich der
Charmides. Denn die Szene, die er hier vorführt, liegt ein paar
Jahre vor Platos Geburt. Und gewiß ist die an sich recht gleich-
gültige Szene nicht noch dreißig Jahre hinterher den Teilnehmern
so in Erinnerung geblieben, daß Plato auf fremden Bericht hin
sie hätte schildern können. Nein, sie ist so frei erfunden wie die
des Protagoras, zu der Eupolis’ Kolakes die Anregung gaben.
Aber die diehterische Erfindung hat eine Grenze. Niemand wird
die einzelnen Worte des Sokrates für authentisch halten wollen.
Aber der Mann, der uns da so lebendig vorgeführt wird, ist doch
der wirkliche, historische Sokrates. Gewiß hat Plato von seiner
Mutter auch nicht erfahren, daß Onkel Charmides wirklich grade
im Jahre 431 ein Gespräch über die σωφροσύνη mit Sokrates ge-
habt hat. Aber daß er damals ein liebenswürdiger, begabter
Junge, ein σῶφρον μειράκιον gewesen ist, das hat er gehört, hat
so manchen anderen Zug aus jener Zeit noch erfahren und so in
Verbindung mit den Eindrücken, die er selbst vom Manne er-
halten, ein Bild von Charmides entworfen, das er selber für
historisch, wenn auch vielleicht in besonders günstiges Licht ge-
rückt hielt.
Verhältnis des referierten Dialoges zum Memoirenstil. γί
Dasselbe gilt von den übrigen referierten Dialogen. Wie in
den Memoiren Ions ist das künstlerische Ziel, ein anschauliches
charakteristisches Bild der beteiligten Personen und ihres Zu-
sarmmenseins zu entwerfen, ein Bild, in dem das wirkliche Wesen
der Personen treu zum Ausdruck kommen soll. Aber im Gegen-
satz zu Ion darf die ganze Szenerie nicht als historisch in An-
spruch genommen werden, ebensowenig die einzelnen Züge,
mindestens nicht für die spezielle Szene. Eine Ausnahme macht
natürlich der Phaidon, wo man an der historischen Treue auch
der Einzelzüge nicht zweifeln wird. Immerhin wird man etwa
bei der wundervollen Szene, wo Sokrates dem neben ihm sitzen-
den Phaidon den Kopf streichelt und ihm die Haare im Nacken
zusammendrückt (89b), ruhig fragen dürfen, ob sie sich wirklich
so am Todestage ereignet hat oder ein andermal von Plato selber
beobachtet ist‘. Umgekehrt ist die künstlerische Freiheit größer
im letzten referierten Dialoge, dem Parmenides, wo Plato schwer-
lich die Möglichkeit haben konnte, wirklich getreue Bilder von
dem Wesen des Parmenides und Zenon zu entwerfen und auch
tatsächlich mehr im Typischen bleibt. Das ändert aber an dem
allgemeinen Charakter des referierten Dialoges nichts.
Grade weil im Parmenides die künstlerische Freiheit in der
Erfindung der Szene weiter geht als gewöhnlich, fällt uns um so
mehr die Mühe auf, die Plato aufwendet, um die Vorstellung zu
wecken, als ob der Erzählung letztlich der Bericht eines Augen-
zeugen zugrunde liege. Daß es sich dabei um eine Eigenheit des
Stiles handelt, ergibt der Vergleich mit dem Symposion und dem
Kritias (vgl. Tim. p. 21. 2). Auch in Xenophons Oikonomikos liegt
etwas Ähnliches vor, wenn hier Xenophon ein Gespräch des
Sokrates mit Ischomachos wiedergibt, von dem er durch die
Wiedererzählung des Sokrates in einem von jXenophon selber
mitangehörten Gespräche Kunde hat. Da das Ziel des in diesen
Fällen angewendeten, teilweise recht komplizierten Verfahrens ist,
die Icherzählung eines Augenzeugen zu geben, so könnte man
auch hier den Einfluß der Memoirenliteratur suchen wollen. Aber
wir dürfen nicht vergessen, daß die Berufung auf den Bericht
eines Augenzeugen auch sonst nahe lag, z. B. in der Gerichts-
verhandlung. Tatsächlich finden wir die Berufung eines Augen-
1) Matte Nachahmung ist Xen. Apol. 28.
8 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
zeugen bei Xenophon in dem Bericht über Sokrates’ Ende, den
wir in der Apologie‘) und Mem. IV, 8 lesen, ohne daß wir dort
an Einfluß der Memoiren denken werden. Schon die indirekte
Rede spricht gegen diesen.
Wie steht es denn nun sonst bei Xenophon mit Einflüssen
der Memoirenliteratur? Wir sollten erwarten, sie in den ’Amo-
uvnuoveöuare mit Händen greifen zu können. Aber jedenfalls,
wenn wir an Ions Memoiren denken, vermissen wir vollkommen
die Schilderung der Szenerie. Viel wichtiger ist aber die bisher
freilich nicht beachtete Tatsache’), daß Xenophon nur bei ganz
wenigen der berichteten Gespräche sich auf seine persönliche
Anwesenheit bezieht. Für den allgemeinen Nachweis, daß So-
krates λέγων τε καὶ πράττων ἀνὴρ ἄριστος ἐγένετο περὶ τοὺς
συνόντας (1, 8), schickt Xenophon freilich die Worte voraus
τούτων δὴ γράφω ὁὅπόσα ἂν διαμνημονεύσω. Aber diese An-
kündigung gilt eben nur für I; 3, nicht für den I, 4 neu ange-
kündigten Nachweis, daß Sokrates keineswegs bloß ein Protrep-
tiker war, sondern positive Anweisungen zur Tugend zu geben
verstand. Denn bei den nun folgenden Einzelgesprächen finden
wir ein ἤχουσα αὐτοῦ als Beglaubigung nur einmal zu Anfang
(I, & mit Aristomedes über die Gottheit) und dann in den Ge-
sprächen des zweiten Buches über die Freundschaft II, 4 (kein Part-
ner genannt!), 5 (mit Antisthenes) und wohl auch 6 (mit Kritobulos) °).
τὴ Die Unechtheit der Schrift scheint mir nicht erwiesen. Man muß sich
vor allem gegenwärtig halten, daß Xenophon fern vom literarischen Zentrum
schrieb und sehr wohl Platos Phaidon lesen konnte, ohne zugleich über die durch
Polykrates entfachte Bewegung genau unterrichtet zu sein.
Die Berufung auf einen Augenzeugen ist später ein beliebtes Kunstmittel
geworden, durch das der Autor jede beliebige Szene aus der Vergangenheit ein-
führen konnte. Wir kennen es durch Cicero, der es z.B. in de re publica an-
wendet und dabei Herakleides zum Vorbild hatte. Vgl. ad Att. XIII, 19, 4:
hoc in antiquis personis suaviter fit, ut et Heraclides in multis et nos in
VI de re publica libris fecimus. Mit hoc meint Cicero, daß der Autor selbst
κωφὸν πρόσωπον bleibt. Wie de re publica zeigt, denkt er hier an den Fall,
daß der Autor die Verantwortung für den Bericht an einen Augenzeugen abgibt.
Anders Hirzel Dial. I, 321, 1.
2) So spricht Bruns Lit. Porträt S. 367 ganz allgemein von den Gesprächen,
die Xenophon gehört haben will. Nach Hirzel Dialog I, S. 147 bezeichnet Xeno-
phon I, 3, 1 sein Gedächtnis als die einzige Quelle seiner Nachrichten.
3) Ausdrücklich ist die persönliche Anwesenheit allerdings in den Eingangs-
worten ἐδόκει δέ μοι καὶ eig τὸ δοκιμάζειν plÄovg .. . φρενοῦν τοιάδε λέγων
nicht hervorgehoben.
Xenophon und der Memoirenstil.
Dazu kommt IV, 3 bei dem zweiten theologischen Gespräch die
Versicherung ἐγὼ δέ, ὅτε πρὸς Εὐθύδημον τοιάδε διελέγετο, παρε-
γενόμην. Sonst finden wir aber entweder nur neutrale Angaben
wie γνοὺς δέ τινα τῶν συνόντων ἀκολαστοτέρως ἔχοντα... ἔφη
(II, 1) oder aber er beginnt mit der Wendung „ich weiß aber
auch, daß er einmal mit N. N. folgende Unterhaltung geführt
hat“ (οἴδα δὲ καὶ Διοδώρῳ αὐτὸν ἑταίρῳ ὄντι τοιάδε διαλεχϑέντα
I, 10 und genau so II, 8; IV, 4. 5, vgl. noch ἐρῶ δὲ καὶ ἐν τού-
τοις, ἃ σύνοιδα αὐτῷ). So spricht doch aber keiner, der selber
bei der Unterredung anwesend war oder darauf Wert legt, seine
Gegenwart zu betonen. Und dieser Eindruck wird noch ver-
stärkt, wenn man die Formel mit dem vorhergenannten Eingang
ἤκουσα αὐτοῦ vergleicht. Daß aber auch in der Erzählung selbst
Xenophon durchaus nicht den Schein persönlicher Anteilnahme
erstrebt, zeigt deutlich z. B. der Anfang von IH, 11. „Als einer
die Schönheit der Theodote rühmte, machte Sokrates den Vor-
schlag, zu ihr zu gehen. Und so machten sie sich auf und be-
trachteten sie“ (&$edoavro). Mit Euthydem traf Sokrates nach
IV, 2 dreimal zusammen. Das erste Mal heißt es, er ging in
einen Laden τῶν μεϑ’ ἑαυτοῦ τινας ἔχων (1). Da könnte Xeno-
phon noch dabei sein. Weniger wahrscheinlich ist das schon,
wenn es beim zweiten Male heißt πάντες οὖν οἱ παρόντες ἐγέ-
Aaoav, nicht ἐγελάσαμεν (5). Vom dritten Male berichtet Xeno-
phon aber ausdrücklich, daß Sokrates ohne Begleitung zu Euthy-
dem ging (8), und durch nichts deutet Xenophon an, daß er von
einem der beiden Gesprächsteilnehmer das nun im Wortlaut fol-
gende Gespräch erfahren habe. Die Berufung auf einen anderen
als Augenzeugen in IV, 8 wurde schon erwähnt.
Bei diesem Tatbestande kann davon keine Rede sein, daß
Xenophon in seinem Werke von der Memoirenliteratur ausge-
gangen sei. Am auffälligsten weicht er von dieser wohl ab, wenn
er bei dem einzigen Gespräch, in dem er sich selber als Unter-
redner anführt, nicht in der ersten, sondern in der dritten Per-
son von sich spricht (I, 3, 8 παρόντος τοῦ Κριτοβούλου ἤρετο
Ξενοφῶντα... Πάνυ μὲν οὖν, ἔφη ὃ Ξενοφῶν). Denn diese Ob-
jektivierung steht im schärfsten Widerspruch zum Charakter der
Memoiren‘). Daraufhin wird man auch bei der Etikette ἤκουσα
1) Wenn man die Stelle allein ins Auge faßte, könnte man wohl gar die
Vermutung hegen, Xenophon habe die ᾿Απομνημονεύματα Σωκράτους heraus-
10 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
αὐτοῦ Bedenken tragen müssen, einen Einfluß von dieser Seite
her anzunehmen. Daß Xenophon überhaupt Gespräche des So-
krates mitangehört hat, ist nicht zu bezweifeln, und ebensowenig
wird man die Möglichkeit abstreiten, daß ‚er Unterredungen mit
Antisthenes und Euthydem über die angegebenen Themata bei-
gewohnt hat. Da ergab sich das ἤκουσα von selber, auch wenn
er die Unterredungen ganz frei gestaltete.
Genau ebenso liegt die Sache !natürlich beim Oikonomikos,
der nach seinem Anfang Ἤκουσα δέ ποτε αὐτοῦ καὶ περὶ
οἰκονομίας τοιάδε διαλεγομένου Sich einfach als erweiterte und
verselbständigte Form der ”Hxovo«a-Kapitel gibt. Einen ganz
anderen Charakter trägt dagegen das Symposion. Schon wegen
der Schilderung der Szenerie gehört dieses Werk mit der Me-
moirenliteratur und mit Platos erzählten Dialogen auf eine Linie.
Wenn nun hier Xenophon beginnt οἷς δὲ παραγενόμενος ταῦτα
γιγνώσκω, δηλῶσαι βούλομαι. ἦν μὲν γὰρ κτλ., so sind alle Ab-
schwächungsversuche, wie sie z. B. Bruns S. 386 vornimmt, ver-
fehlt. Die Worte besagen: „ich will das erzählen, was ich selber
erlebt habe’).“ Und da sie zur Beglaubigung dienen sollen, so
setzen sie voraus, daß der Erzähler seine eignen Eindrücke mit-
teilt, also als aufnahme- und urteilsfähiger Beobachter zugegen
war. Andrerseits herrscht wohl heute Einigkeit, daß Xenophon
in der Zeit, in der das Gastmahl stattgefunden haben soll, höch-
stens ein Junge von zehn Jahren gewesen ist. Also hat er ent-
weder seine Leser bewußt irregeführt — das ist aber an sich
nicht zu glauben; außerdem aber wäre der Betrug ziemlich
zwecklos gewesen und hätte leicht aufgedeckt werden können —
oder aber Xenophon bedient sich eines literarischen Kunst-
gegeben, ohne sich selber im Titel zu nennen. Aber dem widerspricht das son-
stige starke Hervortreten des Autors. Wir müssen vielmehr daran denken, wie
Thukydides von sich selbst im Laufe der Erzählung in der dritten Person spricht.
Bei ihm ist das allerdings dadurch bedingt, daß die Überschrift vom Werke noch
nicht abgelöst war und Thukydides deshalb im ersten Satze von sich in der
dritten Person sprechen mußte. Wie unbequem das war, zeigt der Übergang
in die erste Person, der bei ihm wie bei Herodot sehr bald eintritt. Daraufhin
hat wohl auch Xenophon den Wechsel der dritten und ersten Person zugelassen,
obwohl jener literarische Zwang für ihn nicht mehr vorlag.
1 Man vergleiche doch, wie das παρεγενόμην an der S. 5! angeführten
Stelle Apomn. IV, 3, 2 gebraucht ist, oder Plato Soph. 217 ὁ οἷόν ποτε καὶ
Παρμενίδῃ... διεξιόντι λόγους παγκάλους παρεγενόμην.
Xenophon und der Memoirenstil. 11
griffes, den der Leser hinnimmt, ohne sich über die Fiktion im
unklaren zu sein. Dieser Annahme steht durchaus nichts im
Wege. Xenophon hat die von Plato durch Umbildung des Memoiren-
stiles geschaffene Form aufgegriffen und sie nur insofern ge-
ändert, als er an Stelle des anderen Erzählers sich selbst ein-
setzte. Das mußte ihm nach dem ἤκουσα der Apomnemoneumata
ohne weiteres naheliegen. Doch könnten ihm ἔπος andre Sokra-
tiker vorausgegangen sein.
Mit dem Einflusse dieser anderen Sokratiker müssen wir
natürlich auch bei der Entwicklung von Platos erzähltem Dialog
rechnen. Immerhin ist kaum anzunehmen, daß schon vor dein
Charmides sokratische Dialoge erschienen waren, und jedenfalls
gehört der einzige sokratische Dialog, für den wir mit einiger
Sicherheit eine Icherzählung des Sokrates an das Publikum vor-
aussetzen dürfen, Aischines’ Alkibiades (vgl. S. 4°), in spätere
Zeit (darüber im Aufsatz über den Menon)'‘). Wenn wir deshalb
nicht auf den von Aristoteles als Begründer des Dialoges aus-
gegrabenen Alkamenes zurückgreifen wollen, so dürfen wir sagen:
Platos eigne Tat ist es, wenn er schon im Charmides neben dem
dramatischen Dialog den erzählten unter Umbildung des Memoiren-
stiles schuf. Und auch die Abwandlungen der Form, die wir bei
ihm finden, sind jedenfalls auch ohne äußere Einflüsse ver-
ständlich.
Aus unseren bisherigen Feststellungen erwächst nun aber
ein neues Problem. Wir haben ein Erbteil des Memoirenstiles
darin gesehen, daß der erzählte Dialog, sowenig auch Szenerie
und Einzelzüge der Wirklichkeit entsprechen, doch insofern die
historische Treue wahrt, als er historische Personen vorführen
will, wie sie wirklich waren und handeln konnten. Zwingt uns
das nicht zu der Folgerung, daß auch der Inhalt der Gespräche
im großen und ganzen ihren Anschauungen entsprochen haben
muß? Werden wir nicht zu dem Standpunkt von Ivo Bruns
gedrängt, daß Plato, wenn er einmal-ein Bild des historischen
Sokrates geben wollte, ihm auch nur Lehren in den Mund legen
1) Bei Aischines bietet die Aspasia das 'Beispiel einer an eine bestimmte
Person gerichteten Icherzählung (vgl. S. 4), der Kallias war wohl rein drama-
tisch (Dittmar 5. 242). Bei Antisthenes deutet das Fragment bei Herodikos
(Athen. 216c) auf einen rein dramatischen Dialog. Sonst sind sichere Indizien
wohl nicht vorhanden.
{2 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
durfte, zu denen er jedenfalls die Anregung von ihm empfangen
zu haben glaubte? Ja, müssen wir nicht folgerichtig noch weiter
gehen und mit anderen jeden Unterschied zwischen dem histo-
rischen und platonischen Sokrates leugnen und behaupten, Plato
hätte eine Mystifikation begangen, wenn die Ideenlehre und die
Unsterblichkeitsgedanken, die er Sokrates im Phaidon im den
Mund legt, nicht von diesem voll vertreten worden wären?
Die Schwierigkeiten, die sich bei folgerichtiger Durchführung
dieser Auffassung auftürmen, sind freilich klar. Was Sokrates recht
ist, muß Nikias billig sein; wir müssen ihn also nach dem Laches
für einen Mann halten, der mit sokratischen Gedankengängen
wohl vertraut war. Und was vom Sokrates des Phaidon gilt,
muß auch für den des Staates in Anspruch genommen werden.
Wir müssen auch zu den Staatstheorien mindestens die An-
regungen Sokrates selber geben. Wir kommen schließlich dazu,
Platos langes Denkerleben voll Strebungen und Wandlungen
als bloßen Reflex der sokratischen Lehre zu betrachten.
So ist denn schon von den verschiedensten Seiten (zuletzt
besonders von Wendland Gött. gel. Nachr. 1910) die Unmöglich-
keit dieser Anschauung dargetan worden. Aber einen Stachel
lassen Bruns’ Ausführungen doch zurück. Empfinden wir denn
nicht wirklich beim Lesen des Phaidon einen Zwiespalt zwischen
der Treue, mit der uns Plato das Charakterbild des historischen
Sokrates vorführt, und der Freiheit, mit der er ihm seine philo-
sophische Lehre in den Mund legt? Wir, gewiß — aber grade hier
müssen wir wohl ansetzen, wenn wir zur Lösung des Problemes
kommen wollen. Männer wie Bruns kommen deshalb zu
einer undurehführbaren Auffassung, weil sie vom Stand-
punkt des modernen Lesers ausgehen. Wir müssen viel-
mehr die Frage so stellen:
Welche Voraussetzungen brachte der Zeitgenosse
Platos mit? Nahm er beim Lesen des Phaidon an, daß
durch die langen Debatten über Ideenlehre und Un-
sterblichkeit wirklich Sokrates’ Meinung sei es auch nur
in den Grundzügen zum Ausdruck komme, oder war er
sich darüber klar, daß er es mit ganz persönlichen An-
schauungen Platos zu tun hat, die dieser aus bestimm-
ten Gründen Sokrates in den Mund legte?
Ich glaube, wir können diese Frage auch trotz unserer man-
Die Auffassung der Debatte bei Platos Zeitgenossen. 13
gelhaften Kenntnis der Literatur mit annähernder Sicherheit be-
antworten. Wir müssen daran denken, wie unendlich oft der
damalige Athener theoretische Erörterungen über allgemeine
Fragen in Gesprächsform zu hören oder zu lesen bekam. Da
hörte er in Euripides’ Dramen über die Vorzüge von Demokratie
und Tyrannis, über Geschwisterehe und Naturrecht debattieren.
Und ob nun Theseus oder Makareus oder ein andrer die These
verfocht, das war für das Thema ziemlich gleichgültig, man
wußte, daß der Dichter ein ihn persönlich interessierendes Pro-
blem stellte und erörterte. Selbst in der lustigen Komödie bil-
dete der Disput über ein aktuelles Thema, über alte und moderne
Erziehung, über ästhetische Fragen einen wesentlichen Bestand-
teil des Stückes, und trotz aller Scherze hatte man grade hier
so gut wie in der Parabase die Empfindung, daß der Dichter
hier sprach, der sich als διδάσκαλος des Volkes fühlte. In der
Prosa bot die Historie Debatten ın Fülle. Daß Herodot, wenn er
Xerxes, Mardonios und Artabanos im Kriegsrat sprechen ließ, die
Reden so gut dichtete wie Vater Homer in der Gesandtschaft an
Achill, wußte jeder. Aber das gleiche gilt doch auch von den
Erörterungen allgemeiner Fragen. Und wenn in einem Einzel-
falle Herodot ausdrücklich hervorhebt, daß nach der Ermordung
des Smerdes Dareios und seine Genossen wirklich über die
Verfassungsform debattierten, so hat doch gewiß kein Leser ge-
glaubt, in III, 80ff. die wirklichen Ansichten der Perser genau
wiedergegeben zu lesen. Es war ein Hinausgehen über die epi-
sche Technik, wenn Thukydides versprach, auch bei den Reden
sich an die Gesamttendenz des wirklich Gesprochenen möglichst
zu halten. Aber innegehalten hat er dieses Versprechen nur ın
seinen älteren Reden‘). Wenn er den Gesandten der Korinther
oder Archidamos über den Charakter des athenischen und sparta-
nischen Volkes sprechen läßt, so sollte sich gewiß jeder Leser
klar sein, daß diese Männer gar nicht in der Lage gewesen
wären, solche Probleme zu erörtern, daß es Thukydides selber
war, der seine Ansichten darlegte. Und für den Dialog über die
Frage, ob Macht oder Recht vorangeht, sind der Melier und der
Athener ganz gleichgültige Mundstücke des Autors.
Über die sophistische Literatur können wir nicht sicher ur-
1) Die Begründung dieser Ansicht hoffe ich ein andermal zu geben.
44 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
teilen. Aber daß in einer Zeit, wo die δισσοὶ λόγοι an der Tages-
ordnung waren, auch bestimmte Verfasser der beiden Stand-
punkte eingeführt wurden, liegt nahe, und schwerlich werden es
immer Allegorien wie Tugend und Laster und Aöyog δίκαιος und
ἄδικος gewesen sein. Von Hippias wissen wir außerdem so viel,
daß in einer seiner Epideixeis Neoptolemos sich von Nestor Aus-
kunft über die verschiedenen !Berufe erbat {und dieser auf die
Frage antwortete. Der Ansatz zu einem Dialog war hier jeden-
falls vorhanden. Und daß in solchen Fällen nicht der eine oder
andere Gesprächsteilnehmer, sondern der Autor selber zu Worte
kommen wollte, darüber war das Publikum klar. Auch wenn
Kritias in den schon erwähnten Ὃμιλίαι Gespräche mit anderen
Personen mitteilte, empfand |man diese nur als ein Kunstmittel,
das Kritias anwandte, um seine eigne Ansicht darzulegen.
Daß irgend ein Sophist soweit gegangen sein sollte, ein
Thema einfach durch einen dramatischen Dialog zu erörtern, wird
man bezweifeln. Aber jedenfalls darf man diese zahlreichen Ge-
spräche nicht vergessen, wenn man sich fragt, wie Plato dazu
kam, für das lebendige Gespräch des Sokrates ein künstlerisches
Gegenbild dadurch zu schaffen, daß er ein Büchlein veröffent-
lichte, das ein dramatisches Gespräch über das Wesen der Tapfer-
keit enthielt und schon durch den Titel Πλάτωνος Λάχης an die
Dichtung, das Drama erinnern mußte.
Platos Zeitgenossen mögen beim Lesen seines ersten Dia-
loges den Eindruck gehabt haben‘), einer ganz neuen litera-
rischen Gattung gegenüberzustehen. Aber unmöglich können sie
ihn losgelöst von allem literarischen Zusammenhange betrachtet
haben. Dann mußten sie aber dieselbe Empfindung haben wie
bei der Lektüre der vorhin geschilderten Debatten. Sie wußten,
daß sie einem Kunstwerk gegenüberstanden, das die Anschau-
ungen des Autors, Platos ganz persönliche Anschauungen zum
Ausdruck brachte. Natürlich sagte sich der Leser, daß Plato mit
outem Grunde Sokrates zum Leiter des Gespräches gemacht
hatte, daß er sich damit als Jünger zu dem Verurteilten beken-
nen wollte. Er wußte wahrscheinlich auch viel genauer als wir,
1) Wenn ich als diesen den Laches betrachte und den Charmides bald folgen
lasse, so nehme ich das Ergebnis des nächsten Aufsatzes voraus. Daß er der
erste sokratische Dialog überhaupt war, glaube ich persönlich, kann ich aber
nicht beweisen.
Die Auffassung der Debatte bei Platos Zeitgenossen. 15
wieviel von dem, was Sokrates im Gespräch äußerte, auf diesen
selber zurückging. Aber daß die ganze Problemstellung, die
Durchführung des Themas, die Ergebnisse Plato gehörten, darüber
hatte er gewiß keinen Zweifel.
Wohl bald nach dem Laches kam der Gharmides. Der
brachte die Icherzählung. Aber daß diese kein objektiv gebun-
denes Memoirenwerk, sondern ein Produkt freien künstlerischen
Schaffens sein wollte, ‚das sah der Leser doch schon daran, daß
nicht der Autor, sondern ein andrer erzählte. Um so weniger
konnte es ihm unklar sein, daß die philosophischen Debatten
nicht anders zu beurteilen waren als die des dramatischen Dia-
loges. Aber selbst, wenn Plato hier im eignen Namen erzählt
hätte, würde der Leser wohl ohne weiteres den Schnitt zwischen
der Erzählung und der theoretischen Debatte gemacht haben,
den Thukydides von seinem Leser fortwährend verlangt.
Denselben Standpunkt mußte er dann aber auch einnehmen,
falls einmal die Erzählung eines referierten Dialoges eine histo-
rische Szene schilderte. Auch wer im Phaidon die getreue
Schilderung von Sokrates’ Todesstunden las, der mochte zwar
die vollendete Meisterschaft bewundern, mit der Plato die Schil-
derung von Sokrates’ Ruhe und Todesfreudigkeit und die Be-
weise für die Unsterblichkeit zu einer einzigartigen einheitlichen
Wirkung verschmolzen hatte, aber daß diese Beweise Platos
geistige Errungenschaft waren, das sagte er sich, auch wenn er
nicht von vornherein wußte, daß Sokrates das Fortleben der
Seele wohl erhofft, aber nicht für beweisbar gehalten hatte.
Hier sollte aber der rechte Leser Platos noch mehr empfinden.
Sollte nachfühlen, was es besagte, wenn Sokrates mit dem hell-
seherischen Blicke des Sterbenden die entscheidenden Erkenntnisse
vorwegnahm, zu denen sich sein Schüler nach langem Suchen durch-
gerungen hatte. Nicht nach einzelnen inhaltlichen Berührungs-
punkten mit sokratischen Gedanken sollte er fragen, sondern das
sollte er empfinden: Plato hätte zu dieser Höhe der Erkenntnis
nicht vordringen können, er wäre nicht das geworden, was er
geworden ist, wenn er nicht in den Bannkreis des Sokrates ge-
treten wäre. Im Phaidon drängt sich dieses Gefühl am stärksten
auf. Aber natürlich mußten es Platos Zeitgenossen so gut wie wir
auch haben, wenn sie sahen, wie in jedem Dialoge Sokrates es
immer wieder war, den Plato zum Vertreter der eigenen An-
16 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue.
schauungen machte. Gewiß ist es den Lesern nicht eingefallen,
nach den einzelnen sokratischen Gedanken zu fragen, die in dieser
oder jener Schrift Platos zu spüren waren. Aber das sahen sie,
daß Plato sich als Sokrates’ Schüler fühlte, auch als er längst über
diesen hinausgewachsen war, nicht bloß weil er ihm zahlreiche
positive Anregungen, ja den Ausgangspunkt seiner wissenschaft-
lichen Überzeugungen und sittlichen Grundsätze verdankte, sondern
weil Sokrates das in ihm geweckt, was ihn zu jedem neuen Werke
drängte, den unerbittlichen Wahrheitssinn und den unermüdlichen
Forschertrieb.
Durch die Wärme und Stetigkeit, mit der Plato Sokrates als
Leiter des Gespräches einführt, hat er sich so gut wie Aischines
und andere als Sokratiker dokumentiert und seine Gespräche in
die engste innere Beziehung zur Person des Sokrates gebracht.
Natürlich bestand zwischen deren Inhalt und den sokratischen An-
schauungen auch ein ursächlicher Zusammenhang. Aber eine bloße
Wiedergabe von Ausführungen des Sokrates ist kein platonischer
Dialog. Sokratiker ist nicht, wer nachbetet, sondern wer weiter-
forscht. Und primär lag in der bloßen Einführung des Sokrates
als Gesprächsperson durchaus kein Anlaß vor, die vorgetragenen
Ansichten für sokratisch zu halten. Das empfand der Zeitgenosse
Platos auch beim Lesen der referierten Dialoge, auch des Phaidon
ohne weiteres. Er hatte eben ein Gefühl dafür, daß in diesem zwei
ganz verschiedene Elemente steckten, das Memoirenelement und
das Debattenelement. Er hatte dieses Gefühl, obwohl Plato aus
beiden etwas ganz Neues, Einheitliches geschaffen hatte.
Viel schwerer als bei Platos referierten Dialogen ist es ja doch
tatsächlich bei Xenophons Oikonomikos, sich vorzustellen, daß die
Leser hier nicht Sokrates’, sondern Xenophons Ansichten wieder-
zufinden gewiß waren. Denn Xenophon gibt nicht eine farben-
reiche Szenerie, die den Leser von vornherein in die Welt künst-
lerischen Schaffens versetzt, sondern er beginnt ganz nüchtern:
„Ich hörte ihn aber auch einmal etwa folgendes Gespräch über
die Hausverwaltung führen.“ Trotzdem herrscht gerade hier wohl
heute Einigkeit, daß wir die vorgetragenen Anschauungen un-
möglich für Sokrates in Anspruch nehmen dürfen. Wir stehen hier
wieder vor der Alternative: Entweder hat Xenophon seine Leser
anführen wollen — das ist ganz unglaublich — oder sie waren sich
darüber klar, daß ein Buch, das den Titel Ξενοφῶντος Οἰκονομικός
Die Auffassung des sokratischen Dialoges bei den Zeitgenossen. 17
trug, Xenophons Ansichten enthielt und es zunächst ganz gleich-
gültig war, ob im Dialog sein Lehrer Sokrates das Wort führte
oder nicht. Etwas anders stand es natürlich, wenn das ganze
Buch ausdrücklich dem Andenken des Sokrates gewidmet war.
Aber daß selbst in den Kapiteln der Apomnemoneumata, wo
Xenophon sich auf seine eigne Anwesenheit beruft, das Gespräch
ganz frei gestaltet ist, wird wohl heute von den meisten zuge-
standen.
Dadurch daß Plato ständig Sokrates zum Vertreter seiner
Ansichten machte, wurde dieser gleichsam ein Gegenbild seines
Schülers. Das gab Plato den Anlaß, als er im Parmenides seine
Anschauungen einer Revision unterzog, Sokrates die Rolle eines
Lernenden zu geben. Das bildete wieder den Übergang zur
Tetralogie (Staat)-Timaios-Kritias-Hermokrates, in der für die Ge-
biete der Naturkunde und praktischen Politik Fachmänner gleich-
berechtigt neben Sokrates traten. Wenn im Sophisten und Poli-
tikos Sokrates nur noch der „Ehrenpräsident“ des Gespräches ist,
so hat das von rallem den küstlerischen Grund, daß das trockene
Frage- und Antwortspiel, das ja ausdrücklich als Wiedergabe
eines Schulgesprächs bezeichnet wird, zu Sokrates’ Wesen gar
nicht paßt. Ebensowenig würden ihm die langen Reden der Ge-
setze anstehen. Wenn hier ein ungenannter Athener seine Stelle
einnimmt, so soll der Leser wohl auch herausfühlen, daß Plato
für die praktischen Gesetze [dem alten Athen ebenso sehr zu
danken hat wie seiner philosophischen Ausbildung.
Wir müssen uns natürlich gegenwärtig halten, daß das Bild,
das wir hier entworfen haben, vielleicht in mancher Hinsicht ein-
seitig ist, weil die Schriften der anderen Sokratiker für uns ver-
loren sind und wir die Geschichte des sokratischen Dialogs nicht
schreiben können. Immerhin bietet uns Plato selber doch
glücklicherweise Material genug, um uns bei seinen Dialogen
über ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zu Person und Lehre
des Sokrates ein Urteil zu bilden.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 2
Platos sokratische Periode.
I. Die Apologie.
Das Unglaubliche war geschehen. Der beste, der klügste,
der gerechteste Mann, den es auf Erden gab, war zum Tode ver-
urteilt durch einen Spruch seiner Mitbürger, deren Heile sein
ganzes Leben geweiht gewesen war. Wie war das möglich?
Sokrates war doch dem größten Teile der Richter wohlbekannt.
Wie hatten diese ihn für einen Gottesleugner, für einen Ver-
führer der Jugend halten können? Sollten wirklich die ver-
leumderischen Reden, die politischen Warnungen der Ankläger
solchen Eindruck gemacht haben? Oder hatte Sokrates’ freies,
selbstbewußtes Wesen die an so ganz anderes Verhalten ge-
wöhnten Geschworenen so aufgebracht? Das konnte mitgewirkt
haben. Aber der Hauptgrund mußte doch an anderer Stelle liegen.
Die Jünger, die so sicher auf einen Freispruch gehofft hatten,
hatten sich über die Stimmung des Volkes getäuscht. Tatsächlich
mußten bei der Masse der Richter falsche Urteile, Mißtrauen,
Feindschaft gegen Sokrates verbreitet gewesen sein, die den Ge-
rechtigkeitssinn trübten und das Mitgefühl mit dem Altersgenossen
nicht aufkommen ließen. Nur die Voreingenommenheit der
Richter erklärte den Justizmord.. Und wenn man nun diesem
Gedanken nachhing, dann tauchte so manches in der Erinnerung
auf, was eine Gegnerschaft verständlich machte. Die Jünger
hatten es so manches Mal erlebt, wie einer der großen Politiker
ärgerlich wegging, wenn Sokrates ihm gezeigt hat, daß er wohl
das Leder gut gerbe, aber über die wichtigsten Fragen, die letzten
Ziele der Politik gar nichts wisse. Sie hatten es auch bei eige- Ὁ
nen Gesprächen oft genug gesehen, wie leicht sich die Menschen
persönlich gekränkt fühlten, wenn man ihnen Unklarheiten
Anm. Ich hoffe, der Leser wird es mir Dank wissen, wenn ich nicht jedesmal
besonders hervorhebe, was ich Männern wie Bonitz, Gomperz, Räder, Ritter ver-
danke oder wo ich von ihnen abweiche.
Die Konzeption der Apologie. 19
- über sittliche Begriffe nachwies. Dazu mochte das Mißtrauen ge-
kommen sein, das in der Masse gegen die Vertreter der moder-
nen Bildung herrschte, und mancher Philister mochte wohl gar
die tollen Späße des Aristophanes für Ernst gehalten oder wenig-
stens in ihnen ein Körnchen Wahrheit gesucht haben. So
mochte sich wohl Zündstoff genug aufgehäuft haben, aus dem
ein einigermaßen geschickter Gegner den verderblichen Brand
entfachen konnte.
Sokrates war dahingegangen. Aber sollte man den Schatten,
den die Verurteilung in den Augen Unkundiger auf ihn werfen
konnte, nicht vertreiben? Sollte man das falsche Bild im Volke
bestehen lassen und, wenn das Urteil unkorrigierbar war, nicht
wenigstens die öffentliche Meinung korrigieren? Nach einem
Justizmorde das Plaidoyer des Angeklagten herauszugeben war ja
längst üblich. Freilich war das für Sokrates’ Jünger nicht so
leicht wie für die Freunde Antiphons, die dessen fertiges Ma-
nuskript zur Verfügung hatten. Denn Sokrates hatte diese Künste
verschmäht und frei gesprochen. Aber das bot nach andrer Seite
hin einen Vorteil. Denn so stand man der wirklichen Ver-
teidigungsrede freier gegenüber und konnte noch mehr als es sonst
geschah, auf den Verlauf des Prozesses Rücksicht nehmen.
Die Gründe, die uns hindern, in Platos Apologie eine ein-
fache Wiedergabe von Sokrates’ Rede zu sehen, sind oft dar-
gelegt. Die Ansprache nach der Verurteilung ist vor dem wirk-
lichen Gerichtshof ebenso undenkbar wie das Verhör mit Meletos
in der Form, die wir jetzt lesen. Daß die eigentliche Anklage
so kurz abgemacht wird, ist schwer verständlich, auch wenn wir
in Rechnung stellen, daß auch Sokrates für die juristische Seite
schwerlich Interesse hatte. Die Darstellung, wonach Sokrates’
ganze öffentliche Tätigkeit erst von dem Orakelspruch Apollons
abgeleitet wird, ist unzutreffend und Sokrates selber nicht leicht
zuzutrauen. Wichtiger aber als all das erscheint mir die Anlage
des ganzen ersten Teiles (18a - 245).
Das Thema ist hier der Nachweis, wie die falschen Vorstel-
lungen, die üblen Nachreden, die Feindschaften gegen Sokrates
entstanden sind. Wie mußte dieser Abschnitt als Teil der wirk-
lichen Verteidigungsrede wirken? Für die Einleitung einer solchen
Rede schreibt ja freilich die rhetorische Theorie vor: λυτέον
πρῶτον τὴν διαβολήν (Arist. Rhet. 1415a 32, vgl. Anaximenes
9%
230 Die Apologie.
c. 29 u. ö.) Aber mußte es günstig wirken, wenn Sokrates im-
mer wieder feststellte, daß er einem großen Teile der Bürger-
schaft verhaßt sei (bes. 28a)? Nun zeigte er freilich, daß er die
Verhöre, die ihm Feindschaft und Haß eingetragen hatten, nicht
aus Schikane angestellt habe, sondern durch das Orakel veranlaßt
worden sei, auf die Suche nach einem an Klugheit ihm selber
Überlegenen zu gehen. Aber ließ sich den Gekränkten, die etwa
auf der Geschworenenbank saßen, die Objektivität zutrauen, daß
sie nun die Kränkung mit ganz andern Augen ansehen würden?
Sokrates selber glaubt jedenfalls an diese Objektivität nicht. Denn
er schließt den Abschnitt mit den Worten ab: „Ich weiß freilich
ganz gut, daß grade diese Ausführungen mir Haß zuziehen“
(24a). Also er weiß, daß dieser Teil seiner Rede nur die Wir-
kung hat, alte Wunden aufzureißen. War es dann aber not-
wendig und klug, dieses Thema so genau auszuführen, obwohl
ein Verschweigen keinesfalls Mangel an Offenheit bedeutet hätte?
Trotzdem bin ich natürlich weit entfernt zu leugnen, daß
Sokrates an sich so gesprochen haben kann. Aber grade bei dem
für die Beweisführung dieses Abschnittes bestimmenden Punkte,
der Angabe, daß erst durch das Orakel Sokrates zur Anstellung
der Verhöre veranlaßt sei, ist es anerkannt, daß diese Darstellung
das Sachverhältnis umkehrt, und es ist kaum glaublich, daß sie
von Sokrates selbst gewählt ist. Und ebenso möchte man lieber
einem andern als ihm selber den ganzen Gedanken zutrauen, daß
er die Gespräche mit seinen Mitbürgern nur geführt habe, um
den Gott zu widerlegen (21c). Endlich ist auch nur durch die
Frage, woher die üble Nachrede entstanden ist, das auffällige
Zurückgreifen bis auf die aristophanischen Wolken veranlaßt.
So ergeben sich, wenn wir den Abschnitt als Wiedergabe
der wirklichen Rede fassen, nicht wenige Punkte, die man als
auffällig, wenn auch gewiß nicht als unmöglich bezeichnen muß.
Alle Schwierigkeiten lösen sich dagegen, wenn wir den andern,
nach der antiken Technik an sich ebenso gut möglichen Fall ins
Auge fassen, daß der Gedankengang in dieser Form Plato ge-
hört. „Ich weiß, daß ich viele Feinde habe, und will euch zeigen,
wie die Feindschaft entstanden ist, obwohl ich mir dadurch
neuen Haß zuziehe* — so kann der Angeklagte sprechen, aber
nur, wenn ihm am Freispruch nichts liegt. „Ich will zeigen, dal
sich seit vielen, vielen Jahren ohne Sokrates’ Schuld in den ver-
Die Frage nach der historischen Treue. οΊ
schiedensten Ständen Haß gegen Sokrates gehäuft hatte, und
der ist es, der zum Todesurteil geführt hat, nicht etwa der Be-
weis, daß er sich im Sinne der Anklage schuldig gemacht habe“ —
kann es einen besseren Gedankengang geben für den, der einen
Justizmord als solchen nachweisen und von den voreingenom-
menen Richtern an die besser zu unterrichtende Öffentlichkeit
appellieren will?
᾿Αλλὰ γάρ, ὦ ἄνδρες ᾿Αϑηναῖοι, ὡς μὲν ἐγὼ οὐκ ἀδικῶ κατὰ
τὴν Μελήτου γραφήν, οὐ πολλῆς μοι δοκεῖ εἶναι ἀπολογίας, ἀλλὰ
ἱκανὰ καὶ ταῦτα ὃ δὲ καὶ ἔμπροσθεν ἔλεγον, ὅτι πολλή μοι ἀπέχ-
ϑεια γέγονεν καὶ πρὸς πολλούς, εὖ ἴστε ὅτι ἀληϑές ἐστιν. καὶ
τοῦτ᾽ ἔστιν ὃ ἐμὲ αἱρήσει, ἐάνπερ αἱρῇ, οὐ Μέλητος οὐδὲ "Avvros
ἀλλ᾽ ἡ τῶν πολλῶν διαβολή τε καὶ φϑόνος. ἃ δὴ καὶ ἄλλους
πολλοὺς καὶ ἀγαθοὺς ἄνδρας ἥρηκεν, oiuaı δὲ καὶ αἱρήσει" οὐδὲν
δὲ δεινὸν μὴ ἐν ἐμοὶ στῇ (28a) — so schwarz wird schwerlich
Sokrates selber seine Sache angesehen haben. So spricht aber
überhaupt nicht der Angeklagte, der die Richter von
seiner Unschuld überzeugen will; so spricht der Jünger,
der die vollendete Tatsache des Justizmordes vor Augen
hat und nun zeigen will, wie es zur Verurteilung des
Unschuldigen kommen konnte.
Ich zweifle nicht, daß auch in diesem Abschnitte Plato sehr
vieles aus Sokrates’ wirklicher Rede herübergenommen hat. Aber
die Komposition gehört ihm selber. Und wir werden mit Be-
wunderung den tiefen Blick Platos anerkennen, der die Miß-
stimmung gegen Sokrates bis in ihre letzten (Quellen verfolgt.
Wir werden auch die Pietät des Jüngers würdigen, der es ver-
steht, der Elenktik des Sokrates das objektiv Gehässige, das in
vieler Augen ihr anhaftete, dadurch zu nehmen, daß er sie aus
dem göttlichen Orakel ableitete.
Gehört aber Plato selbst der Aufbau dieses Abschnittes, so
muß das in gewissem Sinn auch für die ganze Verteidigungs-
rede gelten. Denn was Sokrates nach der kurzen Widerlegung
der eigentlichen Anklage sagt, das ist das positive Gegenstück
zum ersten Teil. War dieser bestimmt, die διαβολή zu wider-
legen, so geht Sokrates dort zur positiven Schilderung seines
Lebens über. Trat im ersten Abschnitt die elenktische Seite her-
vor, so erfahren wir im zweiten, wie Sokrates positiv seine gött-
liche Mission auffaßt, wie er nur die eine Lebensaufgabe kennt,
232 Die Apologie.
seine Mitbürger, vor allem aber die Jugend auf das eine hinzu-
weisen, was not tut‘). Hat also Plato dem ersten Teil seinen
Charakter aufgeprägt, so müssen wir ihm auch die Gegenüber-
stellung des ersten und zweiten Teiles auf Rechnung setzen.
Historisch treu ist die Apologie so gut wie die referierten Dialoge,
sofern sie den Charakter des Sokrates treu wiedergibt. Sie hält
sich sogar natürlich in viel höherem Maße als jene an die wirklichen
Ansichten des Sokrates, an sein gesprochenes Wort. Aber so gut wie
jene ist sie ein Werk des Künstlers Plato, keine Kopie nach Sokrates.
In der frei komponierten Schlußansprache läßt Plato Sokrates
den voreingenommenen Richtern sagen, sie sollten sich nicht ein-
bilden, jetzt der Rechenschaft über ihre Lebensführung über-
hoben zu sein. Im Gegenteil, πλείους ἔσονται ὑμᾶς οἱ ἐλέγχοντες,
οὺς νῦν ἐγὼ κατεῖχον, ὑμεῖς δὲ οὐκ ἠσϑάνεσϑε " καὶ χαλεπώτεροι
ἔσονται ὅσῳ νεώτεροί εἶσιν, καὶ ὑμεῖς μᾶλλον ἀγανακτήσετε (39 4).
Daß mit diesen Worten Plato das Gelöbnis ablegt, in das Ver-
mächtnis des Meisters einzutreten und seine göttliche Mission
fortzuführen, ist klar. Die Worte oög νῦν ἐγὼ κατεῖχον 50 aul-
zufassen, daß vor Sokrates’ Tode seine Jünger noch nicht mit
sokratischen Schriften an die Öffentlichkeit getreten waren, ist
gewiß das Natürlichste (Bruns S. 228 u. a.). Immerhin wird man
denen, die eine Abfassung platonischer Schriften vor 399 an-
nehmen, zugeben müssen, daß ein zwingender Gegenbeweis in
der Stelle nicht gegeben ist. Viel stärker wird für viele die Er-
wägung sein: „Die ganze künstlerische Verherrlichung des So-
krates, die uns, nach seinem Tode gedacht, mit Recht als eine
tief pietätvolle, poetische Erfassung des Dahingegangenen er-
scheint, auf den Lebenden mußte sie als schmeichlerische Lüge
wirken“ (Bruns 5. 229), und man wird wohl noch hinzufügen dürfen,
1 Gewiß ist Sokrates kein Prediger gewesen, wie ihn der Kleitophon vor-
führt. Aber Gomperz geht zu weit, wenn er darum die in p. 29d—30b Ἢ
gebene Auffassung des Sokrates für unhistorisch erklärt (Gr. D. II, S. 86,
Anschluß an die Darlegungen seines Sohnes). Ich meine sogar, daß diese Da
stellung, bei der man natürlich die Wendung an die Richter berücksichtigen
muß, erheblich mehr im Sinne des Sokrates war als die Behauptung, er sei zu
seiner ganzen Menschenprüfung ursprünglich nur gekommen, weil er den Sinn
des Orakels habe ermitteln wollen. — Übrigens weist Plato 29e mit den Worten
ἐὰν φῇ ἐπιμελεῖσθαι, οὐκ εὐθὺς ἀφήσω. . ἀλλ᾽ ἐρήσομαι αὐτὸν καὶ ἐξετάσω
καὶ ἐλέγξω bewußt auf die frühere Damtelinng zurück.
Dialoge vor Sokrates’ Tod? 23
wi
daß auch das Publikum gegen die Idealisierung des Bildes bei
Lebzeiten des Sokrates viel stärker opponieren mußte als nach
dem Tode. Aber auf der andern Seite werden allgemeine Gründe
geltend gemacht, die für eine Abfassung platonischer Dialoge vor
399 sprechen, und der starke Stimmungswechsel zwischen Prota-
goras und Gorgias scheint auf den ersten Blick sich am leich-
testen zu erklären, wenn man das übermütige Spiel vor, das un-
geheuer bittere Manifest nach Sokrates’ Tod setzt.
So stehen die allgemeinen Erwägungen im Widerspruch zu
einander. Wollen wir zu größerer Sicherheit kommen, so
müssen wir zu dem altbewährten Mittel philologischer Interpreta-
tion der Einzelschriften greifen. Ich hoffe, da wird sich zeigen,
daß auch die anerkannt frühesten Dialoge Platos den Tod des
Sokrates voraussetzen.
Il. Laches.
Im Aufbau des Laches ist die auffälligste Erscheinung die,
daß die Debatte über das Wesen der Tapferkeit nur die Hälfte
des Dialoges einnimmt, während dem „Rahmengespräch“ eben-
soviel Raum verstattet wird. Schaarschmidt (Sammlung der pla-
tonischen Schriften S. 414) sieht darin einen Kompositionsfehler,
den er gegen die Echtheit der Schrift geltend macht, und selbst
Bonitz (Platon. Studien S. 213) fühlt sich offenbar bei dem Ver-
suche der Widerlegung dieses Vorwurfs nicht ganz sicher. Heute
hält wohl niemand den Laches mehr für unecht. Umsomehr
werden wir uns sagen, daß, wer den Anspruch erhebt, die Ten-
denz des Laches zu erkennen, beide Teile des Dialoges gleich
mäßig berücksichtigen muß. Aus praktischen Gründen wollen
wir zunächst das eigentliche Gespräch über die Tapferkeit be-
trachten (189d — 199e) ἢ.
Da Lysimachos und Melesias auf die Frage, ob sie ihre
Jungen Fechtunterricht nehmen lassen sollen, von den anerkannt
besten Praktikern diametral entgegengesetzte Antworten erhalten
haben, so entschließt sich endlich Sokrates auf langes Zureden,
sich auch zur Sache zu äußern. Durch sein Eingreifen bekommt
das Gespräch sofort eine ganz andre Wendung. Während wir
vorher den verschiedenen Ansichten hülflos gegenüberstanden
ἢ Den Laches analysiert gut Horn Platonstudien I (Wien 1893). Sonst vgl.
S. 18 Anm.
24. Laches.
und nicht weiterzukommen wußten, zeigt Sokrates, warum
Nikias und Laches so von einander abweichen konnten. Sie haben
sich, wie das ja oft im Leben so geht, nicht gefragt, wo das
Problem liegt, über das Klarheit herrschen muß, wenn man die
vorliegende Einzelfrage entscheiden will. Beim Fechtunterricht
ist die Hauptfrage, ob er die Ausbildung in der ἀρετή, speziell
der Tapferkeit fördert. Entscheiden kann man also die Einzel-
frage nicht, ehe man weiß, was ἀρετή, was ἀνδρεία ist. Da die
Frage nach dem Wesen der Gesamttugend zu weit führt, soll
nur das Wesen der Tapferkeit besprochen werden.
Der hitzige Laches greift zuerst ein. Ähnlich wie Enthy-
phron beginnt er: „Tapferkeit ist, wenn man im Kampfe stand-
hält“, läßt sich aber schnell belehren, daß er damit nur einen Einzel-
fall bezeichnet, nicht eine Definition gibt, die auch das tapfere Ver-
halten gegenüber den eigenen Affekten, gegenüber Lust und Be-
gierde umfassen muß (191d)'). So schlägt er als wirkliche Be-
griffsbestimmung καρτερία τῆς ψυχῆς vor und läßt auf einen Hin-
weis des Sokrates noch das Merkmal φρόνιμος hinzutreten. Aber
es ergeben sich Schwierigkeiten. Der Arzt, der standhaft das
vertritt, was seine Kunst ihn gelehrt, ist wohl ein φρονίμως
καρτερῶν, aber tapfer ist er deshalb noch nicht. Und wenn ein
Soldat standhält, weil er sich auf Grund kühler Berechnung sagt,
daß alle Aussichten für ihn günstig sind und er nichts zu ris-
kieren hat, so ist er φρονιμώτερος als sein Gegner, der ohne
solche Berechnung sein Leben wagt, aber tapferer ist doch der
andre, der ἀφρονέστερος. So ergibt sich ein Widerspruch zur
Definition der Tapferkeit als φρόνιμος καρτερία, den Laches nicht
zu lösen vermag und Sokrates nicht löst, sodaß die Untersuchung
im Sande zu verlaufen droht (193d).
Dabei ist das Ergebnis des ersten Teiles, daß nur die φρό-
vınog καρτερία Tapferkeit heißen kann, aus den beiden Prämissen,
„die Tapferkeit ist ein καλόν“ und „die ἀφροσύνη ist kein καλόν“
regelrecht gewonnen. Die Schwierigkeit kann also nur in den
Einwänden des zweiten Teiles liegen. Und tatsächlich ist die be-
denkliche Stelle leicht genug zu finden. Der Soldat, der ohne
Besinnen sein Leben in die Schanze schlägt, kann doch höch-
Τὴ Burnet hätte die Lesart des Papyrus οὐκοῦν ἀνδρείᾳ μὲν πάντες οὗτοι
ἀνδρεῖοί εἶσιν nicht verschmähen sollen; vgl. Prot. 822 ἃ οὐκοῦν σωφροσύνῃ
σωφρονοῦσιν ἃ. ὃ.
Das Gespräch über die Tapferkeit. 25
stens für den Philister hinterm Ofen, aber nicht für Plato abso-
lut dpoov£oreoog heißen als der andre, der auf die Stärke seiner
Position und seine militärische Ausbildung traut. Wie hier, so
entstehen aber auch bei den übrigen Beispielen die Schwierig-
keiten dadurch, daß als φρονίμως καρτερῶν ohne weiteres he-
zeichnet wird, wer μετὰ τέχνης τινὸς καρτερεῖ. Einem solchen
werden wir aber zwar ein bestimmtes Einzelwissen, aber nicht
absolut die φρόνησις zuschreiben. Die Unklarheit des vielge-
brauchten Begriffes φρόνιμος also ist es, die zu den Schwierig-
keiten führt, nicht die Definition an sich.
Laches kommt sich vor wie ein Wandrer, dessen Weg sich
im Dickicht verliert. In solchem Falle ist es praktisch zurück-
zugehen, bis man eine Wegmarke findet, die nach der gesuchten
Richtung weist. Eine solche Marke gibt Sokrates deutlich, wenn
er unmittelbar nach der Aufstellung der Definition als φρόνιμος
καρτερία fragt: ίδωμεν δή, ἣ εἰς τί φρόνιμος; ἢ eis ἅπαντα καὶ τὰ
μεγάλα καὶ τὰ σμικρά; (192e). Damit ist der Weg angedeutet,
den die Untersuchung hätte nehmen sollen: Zu φρόνιμος mußte
ein neues unterscheidendes Merkmal hinzukommen. Nicht ein
technisches Wissen, sondern eine φρόνησις εἰς τὰ μεγάλα, eine
Einsicht in die wichtigsten Probleme des Menschenlebens, in das
Wertverhälinis der Güter des Lebens macht die καρτερία zur
Tapferkeit‘). Und vielleicht ließ sich dabei noch zeigen, daß
aus dieser Einsicht das Ausharren bei dem als wahr Erkannten
sich von selbst ergebe, sodaß also der Begriff καρτερία entbehr-
lich sei.
In Laches ist durch Sokrates das heilsame Gefühl der gei-
stigen Armut geweckt und damit das Streben zu weiterem
Forschen. Aber bis zu der Wegemarke weiß er sich nicht zu-
rückzufinden. So schlägt denn Nikias vor, bis zum Ausgangs-
punkt zurückzugehen und es mit einer ganz andern Straße zu
versuchen, die Sokrates selber wohl vertraut sein muß. Denn
von ihm hat Nikias oft gehört, daß die Tugend ein Wissen ist,
und er kann daraufhin die Tapferkeit als ἐπιστήμη δεινῶν καὶ
ϑαρραλέων definieren (194c). Um die Haltbarkeit dieser Defi-
nition dreht sich das übrige Gespräch.
Interessant ist es nun, wie die Debatte trotz des scheinbar
1) Vgl. die Auseinandersetzung im Alk. I p. 125.
26 Laches.
ganz neuen Anfanges an das Vorige anknüpft und die dort
vorhandene Unklarheit aufhell. Denn die Grenze zwischen der
Fachkenntnis und der φρόνησις eis τὰ μεγάλα, die Laches gar
nicht bemerkt hatte, zieht Nikias sofort mit aller Bestimmtheit.
Wenn man die Tapferkeit, so sagt er auf einen Einwand des
Laches hin '), als ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων definiert, so
meint man natürlich nicht die begrenzte Einsicht des Fachmanns,
der auf seinem Gebiete weiß, was zu meiden oder zu suchen ist,
sondern das Wissen von dem, was im letzten Grunde für den
Menschen gut oder schädlich ist. Ein solches Wissen, das weit
tiefer geht als der Zukunftsblick des Sehers, der nur den äußeren
Verlauf, nicht. die innere Bedeutung der Dinge kennt, geht frei-
lich über Laches’ Horizont hinaus, aber Sokrates hält die Defi-
nition ernstlicher Prüfung für wert (— 1960).
Zunächst macht er Nikias auf eine Konsequenz aufmerksam.
Wer die Tapferkeit als ein Wissen von solcher Tiefe betrachtet,
muß sie den Tieren absprechen. Nikias erschrickt vor dieser
Konsequenz durchaus nicht. Er will den Tieren zwar Kühnheit,
ϑρασύτης zugestehen ”), aber kein ἀνδρεία. Das erscheint freilich
Laches als Haarspalterei, und er ergreift begierig Sokrates’ Hin-
weis, daß eine solche Scheidung der Worte auf Prodikos’ Schule
deute, um Nikias als Sophisten zu brandmarken (— 197d).
Horneffer (Plato gegen Sokrates S. 44) sieht in dieser Stelle
ein deutliches Zeichen, daß Plato Sokrates wirklich den Vorwurf
der Haarspalterei macht, und Joel (Echter und xenophont. So-
krates II, S. 141) stellt natürlich mit Freuden fest, daß Plato den
Prodikeer Antisthenes ironisiert. Aber an sich wird man die Be-
hauptung, daß nur den Menschen Sittlichkeit zukommt, doch nicht
grade ‚bedenklich‘ nennen dürfen. Und die Wortscheidung selber
wird jedenfalls von Sokrates nicht abgelehnt. Und wer sie so-
phistisch nennt, der muß verkennen, daß beide Worte tatsächlich
in Sokrates’ Zeit scharf geschieden werden. Im hippokratischen
1) Laches fragt doch wohl 195}: ἐπεὶ αὐτίκα οὐχ οἱ ἰατροὶ τὰ δεινὰ Eni-
στανται, ἢ (ἢ codd.) οἱ ἀνδρεῖοι δοκοῦσί σοι ἐπίστασϑαι; ἢ τοὺς ἰατροὺς σὺ ἀνδρείους
καλεῖς; „Haben nicht die Ärzte ein Wissen in derselben Weise, wie du es von
den Tapfern aussagst?‘“
2) oÖ γάρ τι, ὦ Λάχης, ἔγωγε ἀνδρεῖα καλῶ οὔτε ϑηρία οὔτε ἄλλο οὐδὲν
τὸ τὰ δεινὰ ὑπὸ ἀνοίας μὴ φοβούμενον, ἄλλ᾽ ἄφοβον καὶ μῶρον (191 8). Gitl-
bauer tilgt καὶ μῶρον. Näher läge, da ϑρασύτητος δὲ καὶ τόλμης καὶ τοῦ
ἀφόβου folgt, die Schreibung τολμηρόν. Doch vgl. ἀνδρείας καὶ προμηϑέας.
Das Gespräch über die Tapferkeit. 27
Nomos (VI, 640 L) ist freilich der Text unsicher, aber soviel ist
zweifellos, daß die ϑρασύτης von der ἀνδρεία himmelweit entfernt
ist und mit der δειλία aus einer (Quelle, der Unwissenheit abge-
leitet wird‘), und Gomperz (Apol. der Heilkunde’ S. 92) wird recht
haben, wenn er meint, hier seien zwei Arten von Mut danach ge-
schieden, ob er sich auf Einsicht gründet oder nicht. Thu-
kydides stellt der wahren Tapferkeit das ϑράσος gegenüber, das
aus der Unwissenheit entspringt (II, 40, 3). Demosthenes sagt
später: ἐγὼ δὲ ϑρασὺς μὲν καὶ βδελυρὸς καὶ ἀναιδὴς οὔτ᾽ εἰμὶ μήτε
γενοίμην, ἀνδρειότερον μέντοι πολλῶν... ἐμαυτὸν ἡγοῦμαι (8,68).
Daß Plato selber die beiden Worte scheidet, werden wir noch
genauer sehen (vgl. die letzte Anmerkung des Protagoraskapitels).
Aristoteles grenzt in dem Kapitel, wo er das Verhalten gegen-
über den φοβερά darstellt, ganz scharf die ἀνδρεία als richtige
μεσότης von dem Extrem der ϑρασύτης und δειλία ab. Ὃ μὲν
οὖν ἃ δεῖ... ὑπομένων καὶ φοβούμενος... ὁμοίως δὲ καὶ ϑαρρῶν
ἀνδρεῖος .... ὃ δὲ τῷ ϑαρρεῖν ὑπερβάλλων περὶ τὰ φοβερὰ
ϑρασύς (1115b 17. 28).
Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Die ‚sophi-
stische’ Scheidung von ϑρασύς und ἀνδρεῖος macht kein andrer
als — Laches selber. Wo er nämlich die Fechtkunst als zwecklos er-
weist, sagt er (184b): καὶ γὰρ οὖν μοι δοκεῖ, ei μὲν δειλός us ὧν
οἴοιτο αὐτὸ ἐπίστασθαι, ϑρασύτερος ἂν di αὐτὸ γενόμενος ἐπι-
φανέστερος γένοιτο οἷος ἣν, εἰ δὲ ἀνδρεῖος κτλ. Also der alte
Haudegen Laches scheidet praktisch zwischen Tapferkeit und
Kühnheit so scharf, daß er Kühnheit gelegentlich auch beim Feig-
ling wahrnimmt. Wenn ihm aber dieselbe Scheidung als allge-
mein gültiger Satz in der theoretischen Debatte entgegentritt, so
verblüfft sie ihn als paradox. Wie fein psychologisch beobachtet
das ist”) und welcher Humor in dieser Behandlung des Laches
liegt, ist wohl deutlich; gut ist es aber auch, an solcher Stelle
sich klarzumachen, was Plato von seinen Lesern verlangt.
1 Die Unwissenheit heißt δειλέης τε καὶ ϑρασύτητος τιϑήνη, Δειλίη μὲν
γὰρ ἀδυναμίην σημαίνει ϑρασύτης δὲ ἀτεχνίην͵ Es folgt δύο γὰρ („es gibt zwei
Arten von Mut“ Gomperz), ὧν τὸ μὲν ἐπίστασϑαι ποιεῖ τὸ δὲ ἀγνοεῖν, wofür G.
vorschlägt, ὧν τὸ μὲν τὸ ἐπίστασϑαι ἐμποιεῖ τὸ δὲ τὸ ἀγνοεῖν.
5) Merkwürdig ist, wie im Eryxias (999 6) gezeigt wird, daß manche Leute
sich dieselbe Behauptung gefallen lassen, wenn sie nicht vom Sophisten Prodikos,
sondern von einem πολιτικός vorgebracht wird.
28 Laches.
Die Beschränkung der Tapferkeit auf den Menschen ist also
eine Konsequenz der sokratischen Definition, gegen deren Rich-
tigkeit beweist sie aber nichts. Und überhaupt hat sich bis 197e
diese Definition durchaus bewährt. Aber jetzt geht allerdings So-
krates, wie es scheint, selber zu einem wirklichen Angriff gegen
diese vor. Drei Punkte stellt er fest. Erstens, die Tapferkeit ist zu
Anfang des Gesprächs als einzelner Teil der Tugend vorausgesetzt.
Zweitens δεινὰ und ϑαρραλέα sind künftige Güter und Übel. Drit-
tens, jedes Wissen von einem Objekt umfaßt alle drei Zeitstufen,
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Sind aber die beiden
letzten Sätze richtig, so ist die ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων von
der ἐπιστήμη κακῶν καὶ ἀγαϑῶν nicht zu scheiden. Das allgemeine
Wissen vom Guten und Üblen ist aber das Merkmal aller Tugenden,
der Tugend überhaupt. Also kann diese Definition nicht auf einen
einzelnen Teil von ihr passen. So ergibt sich ein Widerspruch und So-
krates schließt (199e): οὐκ ἄρα ηὑρήκαμεν, ὦ Νικία, ἀνδρεία ὅ τι ἔστιν.
Aber Nikias fügt gleich hinzu ἐγὼ δ᾽ οἶμαι ἐμοὶ περὶ ὧν
yon νῦν τε ἐπιεικῶς εἰρῆσϑαι, καὶ εἴ τι αὐτῶν μὴ ἱκανῶς εἴρηται,
ὕστερον ἐπανορϑώσεσϑαι (2000). Und dem aufmerksamen Leser
kann es auch gar nicht entgehen, daß Plato den Dialog nicht
etwa deshalb ohne Ergebnis abschließt, weil er nicht aus noch ein
weiß, sondern weil ein Punkt noch klarzustellen ist, den er hier
nicht erledigen kann. Die Definition ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρρα-
λέων hatte sich durchaus bewährt, aber auch gegen ihre Zurück-
führung auf die Form ἐπιστήμη κακῶν καὶ ἀγαθῶν wird direkt
nichts eingewendet. Ein einziges Moment tritt ihr von außen in
den Weg. Das ist die Auffassung, daß die Tapferkeit nur en
Teil der Gesamttugend sei. Diese Auffassung ist aber nicht etwa
durch dialektische Untersuchung gewonnen, οἶσϑ᾽ ὅτι τὴν ἀνδρείαν
κατ ἀρχὰς τοῦ λόγου ἐσκοποῦμεν ὡς μέρος ἀρετῆς σκοποῦντες
(198a). Sie ist dort einfach zugrunde gelegt, weil das die all-
gemeine Anschauung ist. Wenn diese nun mit der wohlbegründeten
und allseitig erörterten Definition in Widerspruch gerät, so gehört
für den Leser wirklich kein großes Nachdenken dazu, um sich
zu sagen, daß der nächste Schritt sein muß, diese vulgäre An-
schauung auf ihre Berechtigung zu prüfen. Und wohin Plato
hinaus will, das wird er wohl daraus erraten, daß dieser schon
im Gespräch des Sokrates mit Laches scheinbar absichtslos beton
hat, daß die Tapferkeit sich im Kampfe gegen die eignen Be-
Die Formulierung des neuen Problems. 29
gierden und Affekte zeige (191d)'). Denn damit wird doch dem
Leser die Vorstellung suggeriert, daß die Tapferkeit im Wesen von
der Selbstbeherrschung, der σωφροσύνη kaum verschieden sein kann.
Die scheinbare Ergebnislosigkeit ist also nichts als
die Formulierung eines Problems.
Die sokratische Definition der Tapferkeit als ἐπι-
στήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων bewährt sich zunächst
durchaus. Nur muß man sich klarhalten, daß unter
Wissen kein Fachwissen, sondern eine Einsicht in das
letzthin Gute und Üble zu verstehen ist. So werden
wir aber gezwungen, die Definition auf die Form zurück-
zuführen ἐπιστήμη κακῶν καὶ ἀγαθῶν, und damit ergibt
sich als neues Problem die Frage, ob die Tapferkeit
noch als Teil der Gesamttugend aufgefaßt werden kann
oder mit ihr identisch ist.
Von einem „Rätsel“ des Laches ist also für den Leser, der
Platos deutliche Fingerzeige beachtet, gar keine Rede. Noch
weniger freilich von einer Polemik gegen die sokratische Defini-
tion, wie sie besonders Horneffer (Plato gegen Sokrates) und Joel
(Echter und xenophont. Sokrates II, S. 141ff. und Hermes RER
S. 310ff.) finden wollten. Völlig gesichert kann diese erst durch
eine weitere Untersuchung werden, die den Rahmen des gegen-
wärtigen Gespräches sprengen würde, πλέον γὰρ ἴσως ἔργον (190 0).
Was man aber etwa zunächst gegen ihre Gültigkeit vorbringt,
das ist, auch wenn man die letzten Konsequenzen zieht, nicht
stichhaltig.
Daß die Definition ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων von So-
krates selber herrührt, hatte man früher allgemein angenommen.
So auch Joel im ersten Bande seines Werkes. Im zweiten
äußert er mit allem Vorbehalt Zweifel (II S. 147), im Hermes XLI
1) Daß diese Anschauung dem Leser keineswegs überraschend war, ergibt
sich aus dem Fehlen einer genaueren Begründung (vgl. Demokrit fr. 214 ἀνδρεῖος
οὐχ ὁ τῶν πολεμίων μόνον, ἀλλὰ καὶ ὁ τῶν ἡδονῶν κρείσσων). Wiederholt
hat Plato sie Rep. 429c, aber noch Ges. 688 οὗ. eine erneute Begründung für
nötig gehalten.
Auch die Aufstellung der vier Hauptaffekte (die gleichfalls Rep. 429c wieder-
holt wird) muß schon geläufig gewesen sein. Natürlich ist es dabei unberechtigt.
wenn Joel Hermes XLI 5. 313 auf Antisthenes als Urheber schließt. Schon
Gorgias sagt in der Helena 14 οἱ μὲν ἐλύπησαν ol δὲ ἔτερψαν οἱ δὲ ἐφόβησαν
οἱ δὲ εἰς ϑάρσος κατέστησαν.
30 Laches.
haben sich diese Zweifel zu der völlig sicheren Überzeugung ver-
dichtet, daß die Definition Antisthenes gehört. Aber tatsächlich
liegt die Sache ja hier ganz anders als in den Dialogen, wo
Sokrates selber im Gespräch irgend eine Ansicht äußert. Ganz
ausdrücklich sagt doch Nikias jedenfalls von der Auffassung, daß
die Tugend ein Wissen sei, er habe diese oftmals aus Sokrates’
Munde gehört (19£c). Wie soll das auf einen Dialog des Antisthenes
gehen? Die Definition selber wird zwar nicht ausdrücklich als
die des Sokrates bezeichnet, aber die Selbstverständlichkeit, mit
der sie Nikias aus jener Auffassung ableitet, legt doch jedem Leser
auch hier den sokratischen Ursprung so nahe, daß es eine Irre-
führung des Lesers bedeutet haben würde, wenn es sich in Wirk-
lichkeit um die Definition eines andern handelte. Selbstverständlich
ist es wahrscheinlich, daß Antisthenes die Definition so gut wie Plato
von Sokrates übernommen hat. Aber wie nahe die ganze Auffassung
Sokrates’ Zeit lag, zeigt Thukydides I, 40 χράτιστοι δ᾽ ἂν ψυχὴν
δικαίως κριϑεῖεν οἱ τά TE δεινὰ καὶ ἥδέα σαφέστατα γιγνώσκοντες
καὶ διὰ ταῦτα μὴ ἀποτρεπόμενοι ἐκ τῶν κινδύνων ἢ. Joels Be-
weis, daß auch diese Stelle antisthenisch gefärbt ist, wird freilich
nicht ausbleiben.
Die Definition dürfen wir also ruhig als sokratisch betrachten.
Dagegen spricht nichts dafür, daß Sokrates selber die Konse-
quenzen gezogen und das Problem der Einheitlichkeit der Tugend
so formuliert hat, wie es bei Plato geschieht, und wir werden
hier Platos eigene Hand um so lieber sehen, weil er jenes Problem
selber dann in einem anderen Dialoge in Angriff genommen hat.
Bewundern muß man dabei wieder die Pietät des Schülers und die
Feinheit der Komposition, durch die das Gespräch so gewendet
wird, daß die Verteidigung der Definition Nikias zufällt, damit
Sokrates selbst ihm gegenüber das neue Problem aufwerfen kann.
So sehen wir also Plato zwar nicht in einer Polemik gegen
Sokrates — davon ist keine Rede — aber bei dem Versuch, aus
der Lehre des Meisters neue Probleme zu gewinnen und sie weiter
zu bilden. Ob er das bei Sokrates’ Lebzeiten getan hat?
Doch wenden wir uns nun einmal erstdem Rahmengespräch zu
und fragen wir uns zuerst, ob dieses für die Debatte über die
1) Vgl. II, 62,5. Auf die Übereinstimmung mit den Anschauungen des
Laches weist auch Ed. Meyer Forschungen z. alten Geschichte II S. 387? hin.
Das Rahmengespräch. 31
Tapferkeit seine Bedeutung hat. Wenn Lysimachos und Mele-
sias ein Urteil über den Wert des Fechtunterrichts einholen, so
denken sie dabei nicht bloß und nicht in erster Linie an den
praktischen Nutzen, sondern an seinen Erziehungswert (ἡμεῖς δὲ
δὴ τοῦτο σκοποῦμεν, τί ἂν οὗτοι uadövres ἢ ἐπιτηδεύσαντες ὅτι
ἄριστοι γένοιντο (1794), und es entspricht ihrem Wunsche, wenn
Sokrates 185e sagt: οὐκοῦν νῦν φαμὲν περὶ μαϑήματος σκοπεῖν
τῆς ψυχῆς ἕνεκα τῶν νεανίσκων; So versteht im wesentlichen
die Frage auch Nikias. Viel weiß er allerdings in dieser Hinsicht
nicht für die Fechtkunst vorzubringen; aber nachdem er den
praktischen Nutzen gerühmt hat, sagt er 1826: προσϑήσομεν δ᾽ αὐτῷ
οὐ σμικρὰν προσϑήκην, ὅτι πάντα ἄνδρα ἐν πολέμῳ καὶ ϑαρραλεώτερον
καὶ ἀνδρειότερον ἂν ποιήσειεν αὐτὸν αὑτοῦ οὐκ ὀλίγῳ αὕτη ἣ ἐπιστήμη.
Also die technische Fertigkeit macht den Menschen tapferer —
das ist das Urteil des alten Praktikers. Aber auch Laches ist ein
alter Praktiker, und er hat gerade überall die Erfahrung gemacht,
daß die Leute mit bester technischer Ausbildung im Ernstfall‘)
sich nicht bewähren, daß die Fechtkunst wohl $odoog geben kann,
aber mit der Tapferkeit nichts zu tun hat (184b).
Die Debatte über die Tapferkeit kommt auf die praktische
Frage, die den Ausgangspunkt gebildet hat, ausdrücklich gar
nicht zurück. Aber die Lösung, um die sich die beiden berufensten
Praktiker vergeblich abgemüht hatten, weil sie nur von praktischen
Einzelerfahrungen ausgingen, fällt von selbst mit ab, wenn man nur
das Problem richtig faßt. Schon in dem Gespräch mit Laches
stellt Sokrates kurz als selbstverständlich fest: τὸν μετ᾽ ἐπιστήμης
ἄρα ἱππικῆς καρτεροῦντα ἐν ἱππομαχίᾳ ἧττον φήσεις ἀνδρεῖον
εἶναι ἢ τὸν ἄνευ ἐπιστήμης (193b). Die technische Ausbildung
hat mit der ἀνδρεία nichts zu tun, das hatte den Laches die prak-
tische Erfahrung gelehrt, das stellt Sokrates im Gespräch mit ihm
heraus’), und wie die Grenze zwischen Fachwissen und der auf
1) Στησέλεων ... ἑτέρωϑι ἐγὼ κάλλιον ἐϑεασάμην ἔν τῇ ἀληϑείᾳ ὡς
ἀληϑῶς ἐπιδεικνύμενον (1884). Die Worte ἐν τῇ ἀληϑείᾳ sind nicht etwa zu
tilgen, denn ἀλήϑεια bezeichnet in der militärischen Sprache ganz konkret den
Ernstfall, den Krieg. Polyb. I, 84, 6 τότε γὰρ ἦν συνιδεῖν En’ αὐτῆς τῆς ἀληϑείας
πηλίκην ἔχει διαφορὰν ἐμπειρία μεϑοδικὴ καὶ στρατηγικὴ δύναμις ἀπειρίας καὶ
τριβῆς ἀλόγου στρατιωτικῆς Χ, 25 (21), 10 κρένων πρὸς τὴν ἀλήϑειαν οὐδὲν ἀναγκαι-
τερον εἶναι τῆς τῶν κατὰ μέρος ἡγεμόνων ἐμπειρίας.
3) In den Gesetzen wird dasselbe 639b hervorgehoben.
32 Laches.
tieferen Wissen beruhende Tapferkeit von Nikias noch viel schärfer
gezogen wird, das haben wir gesehen.
Mit der technischen Ausbildung hat die Tapferkeit nichts zu
tun, aber auch nicht das Urteil über die Tapferkeit. Selbst bei so
scheinbar ganz einfachen Fragen kommen die Praktiker zu den
widersprechendsten Urteilen, erst als der Theoretiker dem Gespräch
die richtige Grundlage gibt, da bekommen wir das Gefühl der
Sicherheit und folgen ihm wie die Praktiker gern. Freilich würde
Laches nicht bei jedem Weisheitslehrer zuhören, aber bei Sokrates
weiß er, wie seine Worte sich im Handeln äußern. Den hat er
beim Delion gesehen. Wären damals die andern so gewesen wie
Sokrates, so wäre der Vaterstadt die Niederlage erspart geblieben
(181b vgl. 189b). Damals liefen die Leute mit der besten mili-
tärischen Ausbildung davon. |Aber Sokrates tat das nicht, der
trug etwas andres in der Brust, was ihm die Tugend zum unver-
lierbaren Besitz macht. Was das ist, das möchte Laches wissen,
und darum will er hören, worin Sokrates das Wesen der Tapferkeit
sieht. Und auch wir werden unwillkürlich die Theorie des So-
krates, die wir in der Debatte erkennen, anders wägen, wenn wir
vorher aus berufenem Munde bezeugt sehen, daß für Sokrates
jene Theorie nicht bloß eine Lehrmeinung, sondern eine Lebens-
macht bedeutete.
So bestehen zwischen dem einleitenden Gespräch und der
Debatte über die Tapferkeit enge Beziehungen, aber trotzdem
vermitteln sie noch kein volles Verständnis für die Tendenz, die
Plato dort verfolgt. Denn es finden sich große Partien, wo von
der Tapferkeit gar keine Rede ist. Umso mehr fällt dort etwas
anderes auf. Dasist das Erziehungsproblem und die enge Beziehung,
in die Sokrates’ Person zu diesem gebracht wird. Nach einem
kurzen Hinweis darauf, daß man das Problem nicht nach Stimmen-
mehrheit, sondern nach dem Wissen entscheiden müsse, beginnt
Sokrates, sobald er eingreift, damit, daß es sich hier um ein Er-
ziehungsproblem, um die Frage nach der Ausbildung der Seele
junger Leute handle. Die dürfe man nur Sachverständigen an-
vertrauen, nur solchen, die entweder selber bei anerkannten Lehrern
ausgebildet seien oder durch eigene Erziehungsresultate den Be-
fähigungsnachweis erbracht hätten‘). Das ist bei keinem der
τὴ 186 ist nicht δοκοῦσι δή zu lesen, sondern δοκοῦσι δέ. Denn sie scheinen
ihm zur Erziehung fähig nicht weil sie, wie vorher erwähnt, an sich die Fähigkeit
Das Rahmengespräch. 33
Gesprächsteilnehmer der Fall, auch nicht bei Sokrates, der ja
noch als jüngerer Mann gedacht ist. So bleibt nur übrig, durch
gemeinsames Gespräch sich über die Frage Klarheit zu verschaffen
(184d—189d). Damit ist der Übergang zur eigentlichen Debatte
geschaffen. Aber kaum ist diese beendet, so wird sofort auf das
Erziehungsproblem zurückgegriffen. Für die Alten wie für die
Jungen, hören wir 201a, ist es das wichtigste, einen richtigen
Lehrer zu finden, und keine Mühe und Kosten darf man dabei
scheuen. Sokrates selbst ist es, der so mahnt, und ausdrücklich
betont er, daß er sich so gut wie die andern unwissend gezeigt
habe, aber natürlich hat jeder Leser die Empfindung, daß da der
εἴρων spricht, daß Laches und Nikias ganz recht haben, wenn
sie Sokrates als den einzigen Lehrer der Jugend empfehlen, und
daß Lysimachos nichts Besseres tun kann, als wenn er mit den
Jungen bei Sokrates lernen will (201b). Ob die jungen Leute
wirklich tüchtige Männer werden, das wissen wir nicht, wir kennen
sie ja nicht; aber an Sokrates wird es sicher nicht liegen, wenn
er keinen Erfolg hat').
Dieser Eindruck wird nicht bloß durch den Schluß hervor-
gerufen. Laches erinnert selbst daran (200c), schon vorher habe
er Sokrates als den Mann bezeichnet, der sich allein dauernd mit
der Erziehungsfrage beschäftigt habe (180c), und dort weiß auch
Nikias eine Tatsache zur Bestätigung beizubringen. Sokrates
selber schließt sich freilich aus der Reihe der Lehrer aus, aber die
Aussage des Laches bestätigt er, wenn er von sich erklärt, er habe
von Jugend an nach Klarheit in der Erziehungsfrage gestrebt (186.c).
Umso mehr fällt die Zurückhaltung auf, die Sokrates übt.
Selbst in der eigentlichen Debatte kommt es zeitweilig dahin,
daß er nur die Rolle des &peögog gegenüber den beiden Kämpen
sich angeeignet haben können, sondern aus dem Grunde, der erst folgt: οὐ γὰρ
ἄν ποτε ἀδεῶς ἀπεφαίνοντο περὶ ἐπιτηδευμάτων κτλ.
1) Tatsächlich muß Lysimachos’ Sohn Aristeides sich ungünstig entwickelt
haben. Denn Plato sucht ihn im Theaetet 151a abzuschütteln (vgl. Theages 130a,
wo die Angabe des Theaetet οὖς, ὅταν πάλιν ἔλϑωσι δεόμενοι τῆς ἐμῆς συν-
οὐσίας falsch auf Aristeides persönlich bezogen und dann unter ganz törichter Be-
nutzung von Symp. 175c d eine dumme Geschichte herausgesponnen ist). Diese
ungünstige Entwicklung fällt natürlich erst in die Zeit zwischen Laches und
Theaetet, und im Theaetet sagt Plato ja auch: τελευτῶντες δ᾽ αὑτοῖς τε καὶ
ἄλλοις ἔδοξαν ἀμαϑεῖς εἶναι.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 3
34 Laches.
spielt. Vor allem aber tritt dieser Zug im Rahmengespräch hervor.
Zunächst ist Sokrates überhaupt nur Statist, und selbst als Laches
die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hat, bleibt er noch eine ganze
Zeit trotz dreimaliger ausdrücklicher Anrede stumm. Als er dann
endlich das Wort ergreift, da geschieht es nur, um zu erklären,
er werde nur dann seine Meinung äußern, falls Nikias und Laches
etwas zu sagen übrig ließen. Aber auch nachher bedarf es einer
doppelten Aufforderung, um ihn zum Sprechen zu veranlassen
(18406). Und als er dann am Schluß direkt gemahnt wird, die
Erziehung der jungen Leute in die Hand zu nehmen, da bleibt
er fest bei seiner Ansicht: Mitstrebender will er sein, nicht Lehrer.
Aus Nikias’ Munde erfahren wir noch, daß er auch sonst wohl andere
als Lehrer empfiehlt, selbst aber nicht dazu bereit ist (200e).
Woher kommt es, daß Sokrates sich so sträubt? Er allein
weiß, wie schwierig die Aufgabe ist, die menschliche Seele zu
bilden, weiß, daß nur der sie lösen kann, der wirklich die mensch-
liche Seele studiert hat. Er allein ist sich auch darüber klar, daß
es bei diesen Fragen sich um das Höchste handelt, was der Mensch
hat, um die eigene Seele, und während selbst der sonst so gewissen-
hafte Nikias leichten Herzens sein Urteil abgibt, hält ihn das Gefühl
der Verantwortung zurück. Solange wir uns nicht als Erzieher
schon bewährt haben, solange wir nicht die volle Sicherheit haben,
guten Einfluß üben zu können, solange wollen wir uns lieber
zurückhalten καὶ un ἐν ἑταίρων ἀνδρῶν ὑέσιν κινδυνεύειν δια-
φϑείροντας τὴν μεγίστην αἰτίαν ἔχειν ὑπὸ τῶν οἰκειοτάτων (186).
Wann hat Plato diese Worte geschrieben? Ist wohl an-
zunehmen, daß ihm, sagen wir im Jahre 402 der Gedanke kam,
Sokrates könne beschuldigt werden, die Söhne seiner Freunde
verführt zu haben, und sollte er zufällig den Gedanken mit dem
Worte ausgedrückt haben, das später die Ankläger gebrauchten,
Sokrates zu verderben? Nein, dieWorte sind geschrieben, als
tatsächlich Meletos Sokrates das διαφϑείρειν τοὺς νέους
schuld gegeben hatte. Sie sind geschrieben, als der platonische
Sokrates bei seiner Verteidigung als letztes und wichtigstes Ar-
oument das Verhalten der Angehörigen seiner Schüler angeführt
hatte: εἰ γὰρ δὴ ἔγωγε τῶν νέων τοὺς μὲν διαφϑείρω τοὺς δὲ δι-
έφϑαρκα, χρῆν δήπου... τῶν οἰκείων τινὰς τῶν ἐκείνων, . . . εἴπερ
ὑπ᾽ ἐμοῦ τι κακὸν ἐπεπόνθεσαν αὐτῶν οἱ οἰκεῖοι, νῦν μεμνῆσϑαι
καὶ τιμωρεῖσϑαι . .. ἀλλὰ τούτου πᾶν τοὐναντίον εὑρήσετε,
Der Laches eine Apologie des Sokrates. 35
ὦ ἄνδρες, πάντας ἐμοὶ Bondeiv ἑτοίμους τῷ διαφϑείροντι (Apol.
884).
Das Entscheidende ist hier aber nicht das einzelne Wort,
sondern der Zweck des ganzes Abschnittes (184d—189d). Für
die Debatte über das Wesen der Tapferkeit ist dieser voll-
kommen überflüssig. Die Tendenz muß also eine andere sein. Es
ist die Verteidigung des Sokrates gegen die Anklage des Meletos.
„Der Mann soll die Jugend verführt haben, der so gewissenhaft
sich prüfte, ehe er den jungen Menschen näher trat, der sich
nicht etwa als Lehrer an diese herandrängte, sondern von den
Eltern herangezogen werden mußte? Dabei war er tatsächlich
der einzige, der die Wichtigkeit der Erziehungsfrage kannte, über
die Probleme nachgedacht hatte und am ehesten imstande war.
die Jugend zu fördern. So urteilen nicht bloß Sokrates’ Schüler,
so urteilten auch die besten Männer der guten alten Zeit, die nach
Angabe der Ankläger durch Sokrates untergraben sein soll. So
urteilte ein Mann wie Laches, weil er Sokrates’ Tüchtigkeit per-
sönlich kennen gelernt hatte, ein Mann wie Nikias, der eifrigste
Vertreter der guten alten Sitte, der treue Bekenner des alten Götter-
glaubens. Ein Nikias glaubte für die Söhne seiner Freunde und die
eigenen Kinder keinen besseren Erzieher ausfindig machen zu können
als Sokrates, und ihr verurteilt ihn als Verführer zum Tode°)?*
Noch eins. Als Sokrates an Nikias und Laches die verfäng-
liche Frage richtet, was sie denn eigentlich befähige, in Er-
ziehungsfragen ihr Urteil abzugeben (186a—187b), da werden
diese nicht etwa böse. Nikias sagt vielmehr, er habe es von
vornherein gewußt, wer sich mit Sokrates in ein Gespräch ein-
lasse, der komme nicht eher von ihm los, als bis er Rechenschaft
über seine ganze Lebensführung abgelegt habe. Aber er wolle
1) Wenn Sokrates im Gorgias 522b sagt: ἐάν τίς με ἢ νεωτέρους φῇ δια-
φϑείρειν ἀπορεῖν ποιοῦντα (521ext. τοὺς νεωτάτους ὑμῶν dıapdeiger), wenn Anytos
jeden sophistischen Unterricht als διαφϑορὰ τῶν συγγιγνομένων bezeichnet (Men. 91 c)
und Sokrates daraufhin sein Erstaunen ausspricht, daß Protagoras, obwohl er beinahe
70 Jahre alt geworden sei, so lange ἐλάνϑανεν διαφϑείρων τοὺς συγγιγνομένους
(ib. 91e), wenn es im Staate 4928, heißt ἢ καὶ od ἡγῇ, ὥσπερ οἱ πολλοί, δια-
φϑειρομένους τινὰς εἶναι ὑπὸ σοφιστῶν νέους, διαφϑείροντας δέ τινας σοφιστὰς
ἰδιωτικούς ; so spürt man doch überall die Anspielung auf das Wort διαφϑείρειν
der Anklage (ohne sichere Anspielung Gorg. 484c Euthyd. 275b).
2) Über die Schätzung der Nikias in späterer Zeit vgl. bes. Bruns Lit.
Porträt S. 490.
3%
96 Laches.
sich gerne von ihm prüfen lassen, denn zulernen könne man
immer. Laches stimmt von Herzen zu. Auch er will nach Solons
Rat bis ins Alter gern lernen, freilich nur von einem achtbaren
Lehrer. Aber Sokrates hat er im Handeln kennen gelernt, des-
halb sagt er ἥδιστ᾽ ἂν ἐξεταζοίμην ὑπὸ Tod τοιούτου καὶ οὐκ ἂν
ἀχϑοίμην μανϑάνων (1898). Nach dieser langen Vorbereitung
ist es nun etwas auffällig, daß Sokrates doch schließlich seine
Frage fallen läßt mit den Worten: ἃ μὲν οὖν νυνδὴ ἐπεχειρήσαμεν
σκοπεῖν, τίνες ἢ "διδάσκαλοι ἡμῖν τῆς τοιαύτης παιδείας γεγόνασιν
ἢ τίνας ἄλλους βελτίους πεποιήκαμεν, ἴσως μὲν οὐ κακῶς εἶχεν
ἐξετάζειν καὶ τὰ τοιαῦτα ἡμᾶς αὐτούς" ἀλλ᾽ οἶμαι καὶ ἣ
τοιάδε σκέψις εἰς ταὐτὸν φέρει (1894). Warum behandelt Plato das
Motiv der Menschenprüfung durch Sokrates so ausführlich, wenn
er es für seinen Hauptzweck nicht notwendig braucht? Die Ant-
wort ergibt sich, wenn wir daran denken, daß dieselbe ἐξέτασις
in der Apologie eine große Rolle spielt?). Dort gibt, wie wir
sahen, der ganze erste Abschnitt den Nachweis, daß diese ἐξέτασις
es gewesen ist, die ihm Haß und Feindschaft zugezogen und
schließlich seine Verurteilung bewirkt hat. Hier erhalten wir das
freundliche Gegenbild der Männer, die sich diese Prüfung gern
gefallen lassen, weil sie wissen, daß Sokrates nur ihr Bestes will
und jene Prüfung nur zu nötig ist. Wieder ruft Plato seinen
Lesern zu: „So handelten die von euch so hoch geachteten Män-
ner der letzten Generation, und ihr —?“ Wieder ist die Tendenz
des Abschnitts nur verständlich, wenn der Laches auf die Apo-
logie folgt und der Rechtfertigung des Verstorbenen dient.
Nach dem Tode des Sokrates ist der Laches das schönste
Zeichen für die Pietät Platos, der in Fortsetzung der Apologie
das Bild des Meisters von allen Schlacken reinigen will. Wer
den Laches vor 399 verfaßt sein läßt, muß Plato die Geschmack-
losigkeit zutrauen, daß er als Schüler es für richtig hält, seinen
Lehrer als geeignetsten Erzieher zu empfehlen.
1 mn Ars. οὗ BT.
2) ἐξετάξειν, das im Laches 189a und 1896 gebraucht wird, ist das tech-
nische Wort Apol. 22extr., 23c, 29e, 33c, 41be. Wenn es an der letzten Stelle
heißt οὐκ εὐϑὺς ἀφήσω αὐτὸν οὐδ᾽ ἄπειμι, ἀλλ᾽ ἐρήσομαι αὐτὸν nal ἐξετάσω καὶ
ἐλέγξω, so erinnert daran auch im Wortlaut Laches 1888. οὐ πρότερον αὐτὸν
ἀφήσει Σωκράτης, πρὴν ἂν βασανίσῃ ταῦτα. Danach trage ich auch Bedenken,
den allerdings auffallenden Ausdruck zu ändern, der unmittelbar vorhergeht:
Der Laches nach 399 geschrieben. 37
Daß diese Apologetik, die unmittelbar an die Anklage an-
knüpft, nur kurz nach 399 denkbar ist, scheint mir selbstver-
ständlich. Da ist es nun wichtig, die Stimmung des Schriftchens
richtig zu würdigen.
Es ist kein flammender Protest, den Plato erhebt, unbeküm-
mert, ob er die Gegner noch mehr dadurch reizen könnte. Es
ist ein ruhiges Bild, an dem der Freund sich erbauen, der Gleich-
gültige sich erwärmen, der Feind sein Unrecht einsehen und sich
schämen lernen kann. Ruhe und Friede liegt über der ganzen
Szene. Ist das nur eine äußere Maske, die Plato vornimmt,
während im Innern der Sturm noch tobt? Es scheint, daß grade
hier, wo Plato das Bild der guten alten Zeit wieder hervor-
zaubert, sich auch die Stimmung der selbsterlebten schönen Tage
auf ihn herabsenkt. Nicht bloß die Freude an der künstlerischen
Gestaltung ist ihm deutlich anzumerken, auch den Humor hat er
wiedergefunden. Das gilt besonders von der Schilderung der
alten Kriegskameraden Nikias und Laches und von dem Gegen-
satz, in den beide gebracht werden. Daß dabei Plato vom hi-
storischen Charakterbilde ausgeht, ist wenigstens bei Nikias noch
für uns zu erkennen. Denn wenn auch die vorausgesetzte Ver-
trautheit des Feldherrn mit sokratischen Gedankengängen gewiß
nur für die Debatte von Plato erfunden ist‘), das dürfen wir
sicher glauben, daß er eine höhere Bildung besaß als Laches,
wohl auch, daß er zu Sokrates persönliche Beziehungen hatte.
Namentlich aber empfinden wir, wie gut der historische Nikias,
dem bei anerkannter Tapferkeit nichts verhaßter war als blindes
Drauflosgehen ohne vorsichtige Abwägung, sich zum Vertreter
der Definition ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων eignete. ᾿Εγὼ
δὲ ἀνδρείας μὲν καὶ προμηϑίας πάνυ τισὶν ὀλίγοις οἶμαι μετ-
eivaı, ϑρασύτητος δὲ καὶ τόλμης καὶ τοῦ ἀφόβου μετὰ ἀπρομηϑίας
πάνυ πολλοῖς καὶ ἀνδρῶν καὶ γυναικῶν καὶ παίδων καὶ ϑηρίων
ὃς ἂν ἐγγύτατα Σωκράτους ἢ λόγῳ ὥσπερ γένει καὶ πλησιάζῃ δια-
λεγόμενος, ἀνάγκ ηαὐτῷ .. μὴ παύεσϑαι ὑπὸ τούτου περιαγόμενον τῷ λόγῳ,
πρὺν ἂν ἐμπέσῃ εἰς τὸ διδόναι περὶ αὑτοῦ λόγον. Denn in der Apologie folgt
gleich ταῦτα καὶ νεωτέρῳ καὶ πρεσβυτέρῳ ὅτῳ ἂν ἐντυγχάνω ποιήσω, καὶ ξένῳ
καὶ ἀστῷ, μᾶλλον δὲ τοῖς ἀστοῖς, ὅσῳ μου ἐγγυτέρω ἐστὲ γένει. Das ἐλέγχειν
der Apologie (23a, 296, 39c) steht Laches 189}.
1) Eine bewußte idealisierende Abweichung vom historischen Bilde ist
die freie Ansicht über die Mantik, die Plato Nikias 195e in den Mund legt.
98 Laches.
(197b) — diesen Satz hätte gewiß auch der historische Nikias
Wort für Wort unterschrieben. Mit guter Absicht läßt Plato
seinen Nikias die προμηϑία noch einmal preisen als die weise
Vorsicht, die es rätlich macht, sich ruhig dem Verhör des So-
krates zu unterwerfen und von ihm auf Mängel der eigenen
Lebensführung hingewiesen zu werden (188b). Das schöne Ur-
teil des Thukydides, Nikias habe am allerwenigsten sein Unglück
verdient, wo doch sein ganzes Streben auf das Edle gerichtet
war, ohne daß er dabei mit den Anschauungen seiner Umgebung
in Konflikt geriet (VII, 86, 5), erhält eine Illustration durch die
Rede des Nikias (181d—182d), in der er die Fechtkunst unter
anderem darum empfiehlt, weil sie nicht bloß an sich für einen
freien Mann die beste Übung ist, sondern auch zu den ver-
schiedensten standesgemäßen Beschäftigungen führt: καὶ δὴ (codd.
ἤδη) δῆλον ὅτι τὰ τούτων ἐχόμενα καὶ μαϑήματα πάντα καὶ
ἐπιτηδεύματα καὶ καλὰ καὶ πολλοῦ ἄξια ἀνδρὶ μαϑεῖν TE καὶ
ἐπιτηδεῦσαι, ὧν καϑηγήσαιτ᾽ ἂν τοῦτο τὸ μάϑημα (1820).
Die Ruhe und Bedächtigkeit des Nikias tritt uns am meisten
in der Debatte selbst entgegen, wo er nur eingreift, weil er in
der sokratischen Definition eine Position sieht, die gegen jeden
Angriff ihm gesicherte Deckung zu bieten scheint, und wo er
sich selbst durch die heftigsten Anfälle seines Gegners kaum aus
der Ruhe bringen läßt.
Auf der andern Seite steht der hitzige Laches, der eine ganz
andre Wahlstatt gewöhnt ist und mit demselben Ungestüm ins
Gefecht geht, das er dort offenbar oft genug bewährt hat (ἀλλά
μέ τις καὶ φιλονικία εἴληφεν bekennt er 1948). Sein Bild und
der Gegensatz zu Nikias’ Charakter ist von Plato mit vollem
Humor ausgestaltet. Solange Sokrates ihm gegenübersteht, hält
sich Laches allerdings in der Verteidigung, Kaum aber tritt
Nikias auf, dem er sich gewachsen fühlt, da geht er zum Angriff
über. Mit voller Leidenschaft ist er dabei. Sehr sachlich ist er
keineswegs. Und nicht immer beschränkt er sich auf harmlose
Neckereien (wie 199extr.), auch mit Ausdrücken wie „Unsinn“
ist er bei der Hand (195b) oder er deutet durch ein „Beinah’
hätte ich etwas gesagt“ dem Kameraden an, daß er nur mit
Rücksicht auf die Anwesenden auf bildliche Wendungen aus der
Kasernensprache verzichtet (1970). In der Hitze des Gefechts
vergißt er ganz, was er vorher gesagt (vgl. S. 27). Wenn er
Die Stimmung des Dialoges. 39
dann einsieht, daß seine Waffen versagen, so tritt er mit einem
resignierten „ich habe wohl nun genug gefragt“ vom Schauplatz
ab. Aber kaum führt Sokrates einen Streich gegen Nikias, der
zu sitzen scheint, da ist auch Laches wieder da, und ehe noch
Nikias sich verteidigen kann, fährt er dazwischen: „Siehst du, da
fällst du doch noch herein; das sollst du uns einmal beant-
worten* (197a). Von der Anschauung, daß es sich auch auf
diesem Felde nur darum handelt, Sieger zu bleiben, kann er sich
natürlich gar nicht losmachen (196a, 197e, 199a), und selbst als
zum Schluß sich scheinbar herausstellt, daß die ganze Mühe ver-
geblich gewesen ist, da hat Laches nur das Gefühl der Genug-
tuung, daß auch Nikias eine Niederlage erlitten hat, und er muß
erst von Nikias, der jetzt endlich etwas die Ruhe verliert, darüber
belehrt werden, daß die Sache, um die gekämpft wird, doch auch
etwas wert ist (200 8)".
Nehmen wir noch andere kleinere Züge hinzu: den alten
Sohn des berühmten Vaters, der am Ende seines langen Lebens
sich endlich bewußt wird, daß er gar nichts geleistet hat und der
seinen Söhnen keinen besseren Rat geben kann als den, sie sollten
sich Vater zum abschreckenden Beispiel nehmen, den Spekulan-
ten, der den reichen Gewinn voraussieht und dem es doch noch
so schwer wird, sich vom Gelde zu trennen (καρτερεῖ ἀναλίσκων
192e), von Stesileos gar nicht zu reden — so werden wir sagen
müssen: Wer so zu schaffen vermag, des Herz ist jedenfalls nicht
mehr ausschließlich von Grimm und Schmerz erfüllt. Die son-
nige Heiterkeit, die das Leben des Meisters auch in den ernstesten
Stunden verklärte, die ihn auch im Kerker als Sieger, als Schütz-
ling der Götter, als εὐδαίμων erscheinen ließ, sie ist im Jünger
zu neuem Leben erwacht.
!) Auf die Verirrung, die im Laches an der „recht unfreundlichen Ver-
spottung des ehrwürdigen alten Feldherrn Nikias durch Plato“ Anstoß nimmt
(Hermes XL S. 636—8), braucht man nicht einzugehen. Ganz richtig sagt Joel
(Hermes XLI S. 310), daß Nikias durchaus der Bevorzugte ist und eher man
von Laches sagen könnte, daß er eine komische Figur macht. Richtig hebt Joel
S. 314 auch die Übereinstimmungen mit dem historischen Nikias hervor. Leider
trübt aber natürlich die Antisthenesmanie ihm sofort den Blick. Und es dauert
nicht lange, so sind aus dem köstlichen Paar, das Plato uns hier in so lebendigen
Zügen schildert, die antisthenischen Figuren Aias und Antisthenes geworden,
oder vielmehr nur der eine Antisthenes, den Plato „in wunderbar raffiniertem,
neckisch-dramatischem Spiel in die zwei verschiedenen Seiten seines Wesens ge-
spalten hat“ (II S. 146)!
40 Charmides.
III. Charmides.
Aus dem Lager von Potidaea zurückgekehrt, sucht Sokrates
die gewohnten Stätten wieder auf und trifft in einer Palaestra
mit Chairephon, Kritias und anderen zusammen. Bald bringt er
das Gespräch auf die Studien der jungen Leute und erkundigt
sich, ob es unter ihnen solche gebe, die an Klugheit oder Schön-
heit hervorragen. Kritias nennt ihm seinen Vetter Oharmides
als den, der unbestritten der Schönste sei. Und kaum sind wir
so in der Weise des Dramas auf das Erscheinen der Hauptperson
vorbereitet, so tritt diese selber auf. Ein Kopfweh, das Charmides
kürzlich gehabt, bietet den Vorwand, ihn heranzuholen. Sokrates
behauptet nämlich, Heilmittel und Zauberformeln dafür zu wissen.
Aber als erst Charmides in seiner Nähe ist, da macht er ihm
schnell klar, den Kopf könne man nicht heilen ohne den ganzen
Leib, und der Gesundheit des Leibes wieder gehe der gesunde
Sinn, die σωφροσύνη — die Etymologie sollen wir hier wie ım
ganzen Dialog natürlich fühlen — voran. Hier müsse ein richtiger
Arzt zuerst mit seinen ἐπῳδαί, die nichts anderes seien als καλοὶ
λόγοι Ὗ, einsetzen (—157c). Freilich bezeugt Kritias seinem Ver-
wandten sofort, daß dieser schon die σωφροσύνη besitze. Aber
da dieser selber bescheiden erklärt, er wisse nicht, ob er sie in
Anspruch nehmen dürfe, so hat ihn jetzt Sokrates so weit, wie
er will, und fragt ihn nun, was er sich denn unter σωφροσύνη
vorstelle.
Charmides kommt mit einer Antwort, die ganz seinem Vor-
stellungskreis entspricht. Für ihn ist σωφροσύνη die Sittsamkeit
des Knaben, wie sie das Ziel der alten Erziehung war: einev
ὅτι οἱ δοκοῖ σωφροσύνη εἶναι τὸ κοσμίως πάντα πράττειν καὶ
ἡσυχῇ, ἔν τε ταῖς δδοῖς βαδίζειν καὶ διαλέγεσϑαι, καὶ τὰ ἄλλα πάντα
1) Die ganze Erfindung beruht natürlich darauf, daß auch die bezaubernde
Kunst der Rede als ἐπῳδή bezeichnet wurde. Am ausgeführtesten finden wir
das bei Gorgias, der in der Helena 10 sagt συγγιγνομένη γὰρ τῇ δόξῃ τῆς
ψυχῆς ἡ δύναμις τῆς ἐπῳδῆς ἔϑελξε nal ἔπεισε nal μετέστησεν αὐτὴν γοητείᾳ.
γοητείας δὲ καὶ μαγείας δισσαὶ τέχναι ηὕρηνται, (ὧν ἣ μὲν φαρμάκοις ἐνεργάξζεται
μεταβολάς, αἵ εἶσι σώματος ἀρρωστήματα καὶ σαρκὸς νοσήματα, ἣ δὲ λόγοις
ἐμποιεῖ καινὰς διανοίας,) al εἰσι ψυχῆς ἁμαρτήματα καὶ δόξης ἀπατήματα.
Daß eine Lücke etwa des angegebenen Inhalts anzunehmen ist, ergibt außer
dem Zusammenhang oder vielmehr der Zusammenhanglosigkeit der Stelle das
p. 153—162b. 41
ὡσαύτως ποιεῖν (1590). Unwillkürlich wird man daran erinnert,
wie bei Aristophanes der Λόγος δίκαιος das alte Erziehungsideal
entwickelt (Wolken 961):
λέξω τοίνυν τὴν ἀρχαίαν παιδείαν ὡς διέκειτο,
ὅτ᾽ ἐγὼ τὰ δίκαια λέγων ἤνϑουν καὶ σωφροσύνη ᾿᾽νενόμιστο.
πρῶτον μὲν ἔδει παιδὸς φωνὴν γρύξαντος μηδὲν
ἀκοῦσαι,
εἴτα βαδίζειν ἐνταῖσιν ὁδοῖς εὐτάκτως εἰς κιϑαριστοῦ κτλ.
Fast möchte man glauben, daß der Anklang nicht auf Zufall be-
ruht. Freilich der Begriff ἡσυχιότης, in den Charmides seine An-
schauung zusammenfaßt, ist jedenfalls dem Wortlaut nach bei
Aristophanes nicht zu finden. Aber wenn nach dessen Wider-
legung Charmides seinen zweiten Vorschlag so formuliert: δοκεῖ
τοίνυν μοι αἰσχύνεσϑαι ποιεῖν ἣ σωφροσύνη καὶ αἰσχυντηλὸν τὸν
ἄνϑρωπον καὶ εἶναι ὅπερ αἰδὼς ἣ σωφροσύνη (1600 6), so entspricht
es dem ganz, wenn der Λόγος δίκαιος als Ergebnis der Erziehung
in Aussicht stellt, der Jüngling werde verstehen τοῖς αἰσχροῖς
αἰσχύνεσθαι (992) . . . . ἄλλο τε μηδὲν αἰσχρὸν ποιεῖν, ὅτι τῆς
αἰδοῦς μέλλει τἄγαλμ᾽ ἀναπλήσειν (I).
“Ησυχιότης erweist sich als unbrauchbar für die Definition,
weil es ein sittlich indifferenter Begriff ist. Ähnlich liegt es bei
αἰδώς, und da jetzt Charmides mit den Begriffen des eigenen
Vorstellungskreises zu Ende ist, so macht er es wie der Nikias
des Laches, er bringt eine Definition vor, die er von einem
andern gehört hat. σωφροσύνη 561 τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττειν (161).
Sokrates vermutet gleich, der Urheber der Definition sei Kritias,
und daß er damit das Rechte getroffen hat, bestätigt sich schnell.
Denn als Charmides den Sinn dieser Definition nicht scharf zu
geben vermag und gar mit einem Seitenblick auf Kritias sagt,
vielleicht habe der Autor sich selber dabei nichts gedacht, da
fährt dieser, der schon längst unruhig auf seinem Platze hin und
her gerückt ist, gekränkt empor und übernimmt selber die Ver-
teidigung der Definition (162b).
Folgende, besonders 8 14, wo die zauberische Wirkung der φάρμακα auf den
Leib und die der λόγοι auf die Seele nebeneinandergestellt werden. Etwas
anders scheidet Plato Legg. 932extr als διτταὶ φαρμακεῖαι die Einwirkung durch
materielle Mittel und die durch Zauberformeln. In übertragenem Sinne ver-
wendet die ἐπῳδή auch Xen. Mem. II, 6, 10ff., wo er über die Mittel spricht,
durch die man sich Freundschaft erwirbt.
42 Charmides.
Hier können wir innehalten, da von da an das Gespräch
eine andre Wendung nimmt. Die Vorteile der referierten Form
des Dialoges liegen hier auf der Hand. Denn so vermag es
Plato, uns das lebendigste Bild von Sokrates’ Verkehr mit der‘ Jugend
zu geben. Deutlich sehen wir hier dabei, wie Sokrates es ver-
steht, einen beliebigen äußeren Anlaß zu benutzen, um auf das
Thema zu kommen, das für den Angeredeten das wichtigste ist.
Er sucht sich den schönsten Jüngling dazu aus, aber so stark
auch hier Sokrates die sinnlichen Farben aufträgt, das spüren
wir doch grade heraus, daß es der große εἴρων ist, der hier
spricht, wenn er davon redet, wie ein Blick auf des Jünglings
Körperformen ihn so in Verwirrung setzt, daß er kaum weiß, was
er mit ihm reden soll, und erst allmählich wieder zu sich kommt
(155e, 156d). Denn so empfänglich Sokrates für die Schönheit
des Leibes ist, was ihn fesselt, ist doch die Schönheit der Seele,
und was er von dem schönen Knaben will, ist die σωφροσύνη.
So kann diese Schilderung gerade so wie die des Laches dazu
dienen, ein richtiges Bild von Sokrates zu verbreiten und seinen
Verkehr mit der Jugend, der so leicht Mißdeutungen ausgesetzt
war, in wahrem Lichte zu zeigen.
Neben Sokrates tritt merkwürdig stark hier der junge
Charmides hervor. Das macht nicht so sehr seine körperliche
Schönheit, so stark auch Plato aufträgt, um sie uns, wie Homer
die Helenas, durch den Eindruck, den sie auf die ganze Umgebung
macht, zu schildern. Es ist das κάλλος τῆς ψυχῆς, das uns eben-
so wie Sokrates anzieht. Eben den Knabenschuhen entwachsen,
steht er in dem Alter, für das die σωφροσύνη die eigentliche
ἀρετή ist. Daß er sie besitzt, glauben wir Kritias gern. Die
Scharen der Verehrer, die ihn umschwärmen, scheint er überhaupt
nicht zu bemerken. Er ist eine Gestalt, an die sich keine Un-
lauterkeit heranwagen wird. Und wenn er in der ersten Defi-
nition der σωφροσύνη das Ideal jugendlicher Sittsamkeit entwickelt,
so empfinden wir ohne weiteres, daß dies das Ideal ist, das er
in seinem ganzen Verhalten zu verkörpern strebt. Dabei ist er
aber durchaus nicht zaghaft oder schüchtern. Ohne Ängstlichkeit
nähert er sich dem Mann, von dem unter seinen Altersgenossen
so viel die Rede ist, und bald ist er in ungezwungenem Gespräche
mit ihm. Als der ihm die verfängliche Frage vorlegt, ob er
σώφρων sei, da wird er natürlich rot, aber seine Antwort zeigt
Die Charakteristik des Charmides. 43
nicht bloß klaren Verstand und Gewandtheit, sie zeigt auch keine
Spur von Verlegenheit. Seine Antworten kommen nachher nicht
sofort heraus, zeugen aber, so sehr sie natürlich in den Anschau-
ungen seiner Jahre bleiben, von Nachdenken und Überlegung.
Er fühlt sich auch so wenig beengt, daß er es wagt, seinen Vetter
Kritias zu necken, und — um das gleich mit zu berücksichtigen
— als am Schluß das Gespräch ergebnislos zu sein scheint, da
hat er doch nicht bloß ein Gefühl für das Positive, das So-
krates bringt, er wagt auch noch, ehe Kritias ihm das anrät,
selbständig sich Sokrates als Schüler anzubieten, und wenn er
auf Sokrates’ Frage τί βουλεύεσϑε ποιεῖν; antwortet οὐδέν, ἀλλὰ
βεβουλεύμεϑα, so spüren wir da eine Fertigkeit und Sicherheit, die
Plato den Altersgenossen des Charmides, die er sonst im Dialoge
einführt, nicht beilegt.
In Charmides zeichnet Plato eine starke Individualität, die
freilich erst in den allerersten Entwicklungsstadien sich befindet.
Daß diese Charakteristik Plato Selbstzweck ist, spüren wir, wenn
er auch solche Züge, die für Dialog und Szenerie ganz unwesent-
lich sind, an Charmides hervorhebt wie seine dichterische Be-
gabung (155a). Wenn wir Charmides als den selbstverständ-
lichen Mittelpunkt eines großen Kreises finden, so erwarten wir
unwillkürlich von ihm, daß er auch im Leben seine Rolle spielen
wird. Um so mehr, als er durch seine Abkunft dazu berufen ist.
Merkwürdig stark hebt ja Sokrates zweimal hervor (155a und 157e),
daß Charmides’ väterliches wie mütterliches Haus zu den er-
lauchtesten Familien Athens gehört. Einen echten Sprossen vor-
nehmen Hauses sehen wir auch in der Ungezwungenheit, mit der
Charmides auftritt. Und wenn Kritias ihn als καλός καὶ ἀγαϑός
bezeichnet (154e), so hat dieses Wort in diesem Munde natürlich
den Klang der alten Zeit, wo esdas Ideal des Aristokraten bezeichnet').
1) 411 ist καλοὶ κἀγαϑοί bekanntlich direkte Bezeichnung der Oligarchen
(Thuk. VIII, 48, 6 τοὺς καλοὺς κἀγαϑοὺς ὀνομαζομένους οὐκ ἐλάσσω... σφίσι
πράγματα παρέξειν τοῦ δήμου). Die allgemeinere Bedeutung „vornehm, aristo-
kratisch‘ hat es bei Aristoph. Eq. 185 μῶν ἐκ καλῶν εἶ κἀγαϑῶν, 225 καὶ τῶν
πολιτῶν οἱ καλοέ ve κἀγαϑοί („wer etwas auf sich hält“), ähnlich Thuk. IV, 40,
2, wo freilich ein Wortspiel vorliegt, da der gefangene Spartaner die Frage εἰ
οἱ τεϑνεῶτες αὐτῶν καλοὶ κἀγαϑοί, die zunächst nur auf die vornehme Herkunft
ging, als einen Zweifel an der Tüchtigkeit der Überlebenden auffaßt. καλοκά-
yadeiv ἀσκοῦντας bildet Aristoph. Dait. fr. 198, um die Bestrebungen der vor-
nehmen Jugend zu bezeichnen.
44 Charmides.
Eins kann uns vielleicht für die Entwicklung des Jünglings
Sorge machen. Das ist der starke Einfluß, den sichtlich sein
Verwandter und Vormund Kritias auf ihn ausübt. Auch der wird
freilich durchaus nicht unsympathisch gezeichnet. Aber der Schule
des Sokrates (156a) ist er längst entwachsen und steht innerlich jetzt
auf dem Boden der Sophistik. Das zeigt uns die Art, wie er
nicht bloß eigene philosophische Gedanken aufstellt, sondern auch
mit ganz sophistischen Waffen zu verteidigen versteht (163b).
Anders als Nikias, der ja auch Gedanken des Prodikos verwendet,
geht er dabei mehr auf die Form als auf die Sache aus, und von
Eitelkeit und Rechthaberei ist er im Gespräch nicht frei (162c,
165a, 169c). Immerhin sind diese Züge nicht so stark aufge-
tragen, daß uns sein Bild dadurch unsympathisch würde.
Ohne Zweifel will der Dialog eine ideale Schilderung des
Charmides geben. Aber Mutschmann geht zu weit, wenn er
daraufhin den Dialog geradezu ein Enkomion nennt (Hermes
XLI S. 473—80)'). Ganz abgesehen davon, daß dieser Idealisie-
rung des CGharmides doch nur ein kleiner Teil des Dialoges ge-
widmet ist, stimmt das charakteristische Momentbild, das der
Charmides liefert, nicht zum Enkomion, das naturgemäß das
ganze Leben des Verstorbenen zum Gegenstande hat, sondern
zur Memoirenliteratur. Und wenn dabei die für die Jugend
charakteristische Tugend der σωφροσύνη an Charmides hervorge-
hoben wird, so empfindet der Leser weniger die enkomiastische
Tendenz als die Absicht Platos, zum Gesprächsthema überzuleiten.
Überhaupt sind wohl die Berührungen mit dem ganz festen Auf-
bau des rhetorischen Enkomions nicht stark genug, um ohne
weiteres dem Leser fühlbar zu werden.
Wir werden Platos künstlerische Absichten besser verstehen,
wenn wir vom Laches ausgehen. Der ist, wie wir sehen, der
Rechtfertigung des verstorbenen Sokrates gewidmet. Aber es
gab auch andere Verstorbene, deren Andenken verfehmt war und
die Plato auch nahestanden. Eine Rechtfertigung von Charmides’
und Kritias’ letzten Taten konnte und wollte Plato freilich nicht
geben. Im siebenten Brief spricht er noch mit Bitterkeit davon,
wie sehr ihn das Treiben der Dreißig, besonders ihr Vorgehen
gegen Sokrates empört hatte (324de). Aber der Haß gegen das
1). Ähnlich auch schon Teichmüller Lit. Fehden II bes. 5, 6675, der
aber natürlich mit Unrecht Polemik gegen Xenophon wittert.
Die apologetische Idealisierung des Charmides. 45
Andenken dieser Männer mußte wie ein Druck auf ihrem ganzen
Hause lasten, und andrerseits verklärte sich in der Erinnerung
allmählich unwillkürlich das Bild besonders seines Oheims, zu
dem Plato in der Jugend mit Stolz und Bewunderung empor-
geblickt hatte. So konnte ihm wohl der Gedanke kommen, wie
bei Sokrates, so auch bei Charmides das Bild, das der Öffentlich-
keit vorschwebte, zu korrigieren. Und wenn es nicht möglich
war, den Mann als ideale Figur vorzuführen, so ließ sich vom
Jüngling ein Bild geben, das noch keine Spur zeigte von den
Schatten, durch die es später getrübt werden sollte. Damals
jedenfalls hatte Charmides noch die σωφροσύνη, die man bei ihm
später, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, vermißt hat. Damals
glich er der schwellenden Knospe, die am edlen Baume gewachsen,
die schönste Entfaltung versprach, mögen auch vielleicht später
andere Einflüsse das Reifen der erwarteten Frucht verhindert
haben. Wenn dabei Plato so stark hervorhebt, daß Charmides’
Haus von jeher Athens Stolz gewesen ist, daß es einen Solon,
den Begründer der alten Demokratie Athens, zu seinen Verwandten
zählt (157e, 155a), so werden wir nicht so sehr an enkomiastische
Tendenzen gegenüber dem Verstorbenen denken; wir hören
den Arıstokraten Plato, der den Radikalen seiner Zeit vor
Augen führt, was sein geschmähtes Haus für Athen bedeutet.
Nach Mutschmann muß der Charmides 403 oder unmittelbar
darauf verfaßt sein. Denn „das Enkomion in seiner Abart als
Nekrolog hinkt den Ereignissen nicht nach; das würde seiner
Natur widersprechen, die eine noch frische Aufnahmefähigkeit
voraussetzt.“ Aber das gilt doch nur für eine wirkliche Leichen-
rede, oder glauben wir etwa, daß für eine Idealisierung, wie
sie Platos Dialog bringt, zehn Jahre nach dem Tode des Char-
mides keine Aufnahmefähigkeit im Publikum bestanden hätte?
Tatsächlich erscheint es mir psychologisch ganz undenkbar, daß
unmittelbar nach den Bluttaten der Dreißig, die Plato selber ab-
gestoßen hatten, dieses liebliche Bild des jungen Charmides ent-
standen sein sollte‘). Erst mußten die Eindrücke der letzten Zeit
beim Publikum wie bei Plato selber etwas blassere Farben an-
genommen haben, da konnte sich der Blick der schöneren Ver-
ἢ Noch undenkbarer wäre natürlich, daß Plato bei Lebzeiten des
Charmides seinen Onkel als fünfzehnjährigen Jungen geschildert hätte.
46 Charmides.
gangenheit zuwenden und der Gedanke entstehen, diese künstlerisch
zu gestalten.
Vielleicht dürfen wir hinzufügen: Erst als Plato das Bild
seines Meisters zu idealisieren begonnen hatte, erwachte bei ihm
der Gedanke, bei seinem Verwandten ein Gleiches zu tun. So-
krates war die Macht, die Platos Leben bestimmte. Erst dann
kam die Tradition seines Hauses, aber freilich sofort in zweiter
Linie.
Doch versuchen wir erst, ob das folgende Gespräch uns
etwa Anhaltspunkte für die Bestimmung der Abfassungszeit gibt.
Kritias sucht seine „rätselhafte* (161c, 162a) Definition
σωφροσύνη — τὰ ἑαυτοῦ πράττειν dadurch zu retten, daß er für
sie mit Hülfe prodikeischer Gedanken als gleich bedeutend ein-
setzt τὰ οἰχεῖα καὶ τὰ αὑτοῦ ἀγαϑὰ πράττειν, so dal) die σωφροσύνη
kurz als ἡ τῶν ἀγαϑῶν πρᾶξις definiert werden könne (108 6).
Als aber Sokrates einwendet, es müsse mindestens die Bestim-
mung hinzukommen, daß jemand mit Bewußtsein das Gute tue,
da läßt Kritias, ein Dilettant, der kluge Gedanken eher zu pro-
duzieren oder zu reproduzieren als folgerichtig durchzudenken
vermag), plötzlich den Begriff des Guten ganz fallen, greift das
von Sokrates suggerierte’) Motiv der Einsicht in das eigene
Handeln auf und definiert unter ausdrücklichem Verzicht auf alle
früheren Aufstellungen |die σωφροσύνη als Selbsterkenntnis (τὸ
γιγνώσκειν αὐτὸν ἑαυτόν 1656).
Das ist also nach Platos eigenen Andeutungen eine Definition,
die nichts mit der vorigen zu tun hat, sondern einen neuen Aus-
gangspunkt bildet. Sofort verschiebt sich aber die Grundlage noch
einmal. Als nämlich Sokrates nach dem Effekt oder dem Objekt
des der σωφροσύνη zugrunde liegenden Wissens fragt, behauptet
Kritias, dadurch unterscheide diese sich grade von den übrigen
Wissenschaften, daß sie kein außerhalb von ihr selbst liegendes
Objekt habe. Sie ist τῶν re ἄλλων ἐπιστημῶν ἐπιστήμη καὶ αὐτὴ
ἑαυτῆς (166ae). Das bedeutet aber eine Verschiebung der De-
finition durch Kritias.. Denn für die Selbsterkenntnis ἐπιστήμη
1) ἐκαλεῖτο ἰδιώτης μὲν ἐν φιλοσόφοις, φιλόσοφος δ᾽ ἐν ἰδιώταις heißt es
bekanntlich vom historischen Kritias (Diels Vors.? II S. 309, 37).
8) ἐνέοτε ἄρα ὠφελέμως πράξας . . ὁ ἰατρὸς οὐ γιγνώσκει ἑαυτὸν ὡς
ἔπραξεν 104}.
Das Hauptgespräch. 47
ἑαυτοῦ ist damit ein Wissen vom Wissen eingesetzt ἐπιστήμη ἑαυτῆς
bezw. ἐπιστήμης. Um die Haltbarkeit dieser Bestimmung dreht
sich die folgende Untersuchung.
Nach einer 167a angegebenen Disposition wird zunächst ge-
prüft, ob eine ἐπιστήμη ἐπιστήμης überhaupt möglich ist. Es
erheben sich Bedenken, ob es denn einen Verhältnisbegriff geben
kann, der seine Beziehung nur in sich selber hat. Immerhin will
Sokrates schließlich einmal, so zweifelhaft die Sache ist, die
Möglichkeit zugestehen (169b—d)') und stellt zunächst die Frage,
was denn in diesem Falle die σωφροσύνη, die doch Gutes bewirken
soll, nützt. Es zeigt sich nun, daß ein solches formales Wissen,
dem Kritias ausdrücklich jedes außer ihm liegende Objekt ab-
gesprochen hat, zwar ein Wissen darüber in sich schlösse, daß
man selbst oder ein anderer weiß, aber nicht was man weiß. Wer
z. B. einen Arzt auf Grund dieses Wissens prüfen wollte, könnte
wohl feststellen, daß dieser nach allen formellen Kriterien ein
Wissen hat, aber da ihm jede Kenntnis des Inhalts der ärztlichen
Wissenschaft fehlt, würde er nicht prüfen können, was der Arzt
weiß (—171ec). Damit verschwindet aber jeder Gedanke an den
großen Nutzen, den man mit Kritias’ ἐπιστήμη ἐπιστήμης ver-
binden könnte, Gewiß wäre es etwas Großes, wenn es ein for-
melles Wissen gäbe, das uns befähigte, über unsere eigenen Kennt-
nisse und Fähigkeiten wie über die unserer Mitmenschen ein Urteil
abzugeben und jeden an den richtigen Platz zu stellen. Aber
dazu gehörte eben ein Wissen von dem, was man selbst oder
ein anderer weiß, während die ἐπιστήμη ἐπιστήμης nur zeigen
könnte, daß jemand ein Wissen hat (—172a).
Aber selbst wenn wir zugestehen wollten, daß sie eine inhalt-
liche Prüfung von dem, was die Menschen wissen, ermöglichte,
wäre damit der Nutzen der ἐπιστήμη ἐπιστήμης nicht erwiesen.
Denn selbst wenn in einem Staate alles nach festem Wissen ge-
schehen könnte, so wäre die Glückseligkeit des Staates noch nicht
gewährleistet. Das ist erst der Fall, wenn alles Einzelwissen einem
1) 169d sagt Sokrates "AAN εἰ δοκεῖ, ὦ Κριτία, νῦν μὲν τοῦτο συγχω-
ρήσωμεν, δυνατὸν εἶναι γενέσϑαι ἐπιστήμην ἐπιστήμης αὖϑις δὲ ἐπισκεψόμεϑα
εἴτε οὕτως ἔχει εἴτε μή. Daß hier die letzten Worte nicht etwa, wie Siebeck
Untt.?S. 124. 5 meint, eine Ankündigung einer geplanten Untersuchung enthalten,
sondern nur Kritias über seine Verlegenheit hinweghelfen sollen, lehrt der Zu-
sammenhang.
48 Charmides.
bestimmten Zwecke untergeordnet wird, wenn zu ihm hinzukommt
das Wissen von dem, was für den Menschen gut und notwendig
ist. Ohne dieses Wissen vom Guten muß jedes Wissen nutzlos
sein, auch die ἐπιστήμη ἐπιστήμης, die ja nach Kritias kein außer
ihr liegendes Objekt haben, also auch nicht das Gute erkennen
darf. Da aber die σωφροσύνη notwendig etwas für den Menschen
Nützliches ist, so ist auch diese von Kritias aufgestellte Definition
als unhaltbar erwiesen (— 175a).
So stehen wir wieder wie im Laches am Schluß einem Nichts
gegenüber. Aber die Ursache ist hier offenbar eine ganz andre.
Wir müssen uns vor allem gegenwärtig halten, daß es sich bei der
ganzen letzten Erörterung um eine Definition handelt, die von
Kritias aufgestellt ist. Von ihr betont nun Sokrates in einer Zu-
sammenfassung 175bff. mit den stärksten Ausdrücken, daß sie
zu keinem Ergebnis geführt hat. „Dabei haben wir alle möglichen
Zugeständnisse gemacht, die wir gar nicht machen durften, haben
die Möglichkeit einer ἐπιστήμη ἐπιστήμης zugegeben, obwohl
unsre Erörterung dagegen sprach, haben eingeräumt, diese könne
prüfen, was einer weiß und nicht weiß, obwohl sich das eigent-
lich als unmöglich herausgestellt hatte — und trotz aller Kon-
zessionen erwies sich die Definition als unbrauchbar, da das Mo-
ment des Guten fehlte“ So spricht niemand, der von sich aus
zu positiven Ergebnissen gelangen will; so geht nur der vor,
der Kritik an einer fremden Ansicht übt und nachweisen will,
daß auch bei der wohlwollendsten Beurteilung diese sich nicht
halten läßt.
Das negative Ergebnis des Charmides ist also nicht
wie beim Laches dadurch hervorgerufen, daß Plato ein
Problem formuliert, sondern dadurch, daß er Kritik an
fremden Ansichten übt und diese als unhaltbar erweist.
Es ist der Elenktiker Sokrates, in dessen Spuren Plato wan-
delt. Und wie jener ruft er seinem Hauptgegner, ehe er in die
Kritik der letzten Definition eintritt, zu (1666): Οἷον ποιεῖς ἡγού-
μενος, εἰ ὅτι μάλιστά σε ἐλέγχω, ἄλλου τινὸς ἕνεκα ἐλέγχειν ἢ
οὗπερ ἕνεχα κἂν ἐμαυτὸν διερευνῴμην τί λέγω, φοβούμενος μή
note λάϑω οἰόμενος μέν τι εἰδέναι, εἰδὼς δὲ μή. Aber es ist nicht
etwa ein Skeptizismus, der uns entgegentritt. Es fehlt nicht an
Fingerzeigen, wo die positive Lösung zu suchen ist.
Wir haben schon gesehen, daß die Erörterung der ersten
Das negative Ergebnis durch die kritische Tendenz bedingt. 49
Definition des Kritias durch sein eigenes Abspringen nicht regel-
recht zu Ende geführt wird (163b—164c). Denn wenn Sokrates
gegenüber der Definition der σωφροσύνη als τῶν ἀγαϑῶν πρᾶξις
einwendet, daß eine solche bisweilen auch ohne Einsicht in den
Nutzen der Handlung geschehe, so tut Kritias freilich recht, den
Begriff der Einsicht in das eigne Handeln aufzunehmen; aber
ohne jeden Grund greift er das γιγνώσκειν auf und deutet es in
willkürlicher Weise um, statt mit dem Begriff des Guten, auf den
er vorher so viel Wert gelegt hatte, weiter zu operieren. So-
krates’ Einwand nötigte jedenfalls zunächst folgerichtig zu der
Erörterung, ob nicht das gute Handeln auf Grund der Kenntnis
des Guten das Wesen der σωφροσύνη bezeichne. Und eine
weitere Erörterung konnte dazu führen, daß das Wesentliche
dann das Wissen des Guten sei, aus dem das Handeln ohne
weiteres folge. Daß Plato tatsächlich diese Gedanken dem Leser
nahelegen will, zeigt sein Beispiel: 7 οὖν καὶ γιγνώσκειν ἀνάγκη
τῷ ἰατρῷ, ὅταν ve ὠφελίμως ἰᾶται καὶ ὅταν un; (164b). Denn ge-
nau mit diesem Beispiel war im Laches (195c) demonstriert, daß
die Tapferkeit, die sich nachher als so verwandt mit der
σωφροσύνη herausstellte, ein Wissen vom letzthin Guten und
Üblen sei.
Auf denselben Punkt werden wir aber durch die Kritik an
Kritias’ zweiter Definition geführt. Denn diese ist durchaus
nicht rein negativ, sondern bringt von 173a—174c ein sehr
starkes positives Moment. Das ist der Nachweis, daß alle Fach-
wissenschaften, alles Einzelwissen zur Glückseligkeit nicht das
geringste beiträgt, daß vielmehr einzig und allein das Wissen
vom Guten und Üblen diese zu bewirken vermag. ”Q μιαρέ,
schilt Sokrates scherzhaft den Kritias, als er ihn endlich zu der
entscheidenden Antwort gedrängt hat (174b), πάλαι με περιέλκεις
χύχλῳ, ἀποκρυπτόμενος ὅτι οὐ τὸ ἐπιστημόνως ἣν ζῆν τὸ εὖ πράττειν
τε καὶ εὐδαιμονεῖν ποιοῦν οὐδὲ συμπασῶν τῶν ἄλλων ἐπιστημῶν,
ἀλλὰ μιᾶς οὔσης ταύτης μόνον τῆς περὶ ἀγαϑόν τε καὶ κακόν"). Das
Wissen vom Guten und Üblen und dieses allein ist es, das wird
mit vollster positiver Bestimmtheit von Plato hier und im folgen-
1) Ganz richtig sagt Gomperz, Gr. Denker II, 5. 248: „Diese Wendung
allein würde genügen, um hier den eigentlichen Zielpunkt des Gespräches er-
kennen zu lassen.‘
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 4
50 Charmides.
den ausgesprochen, was dem Menschen Glückseligkeit bringen
kann. Wenn nun Plato fortfährt (174d): „Dieses Wissen ist aber,
wie es scheint, von der σωφροσύνη verschieden, da es eben auf
das Gute und Üble geht, nicht eine ἐπιστήμη ἐπιστήμης ist, und
grade darum kann die σωφροσύνη, da sie von dem glückselig-
machenden Wissen verschieden ist, nicht nützlich sein,“ so ıst
ohne weiteres klar, daß eine Verschiedenheit von σωφροσύνη und
ἐπιστήμη ἀγαθοῦ χαὶ κακοῦ nur deshalb angenommen werden
muß, weil bei σωφροσύνη die Definition des Kritias zugrundege-
legt wird. Tatsächlich ist es gerade die ἐπιστήμη dyadod καὶ
κακοῦ, die das erfüllt, was wir von der σωφροσύνη als Tugend
verlangen, nämlich daß sie nützlich ist. So zwingt uns diese
Ausführung geradezu, die positive Lösung in der Richtung des
Laches zu suchen, für den die σωφροσύνη mit der ἐπιστήμη ἀγαθοῦ
καὶ κακοῦ identisch oder mindestens eng verwandt war. Wenn
Sokrates diese Folgerung 174d nicht zieht, so geschieht es nur
darum nicht, weil er die σωφροσύνη ganz vom Standpunkt des
Kritias aus betrachtet. Das tut er auch nachher. Aber reinste
εἰρωνεία ist es doch, wenn er die Widerlegung der Definition
ἐπιστήμη ἐπιστήμης damit abschließt, daß er daraus seine eigene
Unwissenheit folgert und Wendungen gebraucht, als habe er
selber die Definition nicht bekämpft, sondern aufgestellt (vö» δὲ
πανταχῇ γὰρ ἡττήμεϑα κτλ. 175b). Auch wenn er dabei sagt: οὐ
γὰρ ἄν που ὅ γε κάλλιστον πάντων ὁμολογεῖται εἶναι, τοῦτο ἡμῖν
ἀνωφελὲς ἐφάνη, εἴ τι ἐμοῦ ὄφελος ἢν πρὸς τὸ καλῶς ζητεῖν
(1788, vgl. τοῦτο ἡμῖν πάνυ ὑβριστικῶς ἀνωφελὲς ὃν ἀπέφαινε
50. ἣ ζήτησις), so wird wohl niemand die Ironie des Mannes ver-
kennen, der sich hier ganz auf eine Kritik beschränkt hat. Ein-
geprägt wird uns aber zugleich noch einmal der positive Hin-
weis, daß jede Untersuchung über die σωφροσύνη scheitern muß,
die nicht vom Begriff des Guten, das durch diese bewirkt wird,
ausgeht.
Die Interpretation des Dialoges selber zwingt uns
also zu der Annahme, daß Plato nur deshalb zu einem
negativen Ergebnis kommt, weil er sich bewußt darauf
beschränkt, falsche Lehren aus dem Wege zu räumen,
daß ihm aber eine positive Lösung durchaus vorschwebt
und er für diese dem Leser unzweideutige Fingerzeige
gibt. Verstehen mußte sie jedenfalls der ohne weiteres,
|
|
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Die positiven Andeutungen im Dialoge. 51
der mit dem Gedankengange des Laches vertraut
war').
Es bleibt uns die Frage, an wessen Lehren Plato Kritik übt.
Aus welchen Anschauungskreisen die beiden ersten Definitionen
des jungen Charmides stammen, haben wir schon gesehen. Die
dritte Definition τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττειν gibt Charmides nicht von
sich aus, sondern leitet sie mit einem ὃ ἤδη του ἤκουσα λέγοντος
ein (161b). Ganz so hatte im Laches Nikias die Auffassung, dab
die Tapferkeit auf dem Wissen beruhe, eingeführt ὃ γὰρ ἐγὼ
σοῦ ἤδη καλῶς λέγοντος ἀκήκοα (194). Dort wird kein Mensch
zweifeln, daß Nikias mit Recht Sokrates als Urheber dieser An-
schauung bezeichnet. Ebenso wenig dürfen wir aber hier Platos
Andeutung, daß die Definition Kritias gehört, mißtrauen. Der
ganze Humor der Stelle beruht ja doch darauf, daß Kritias, der
zuerst die Urheberschaft ableugnen möchte, durch sein ganzes
Verhalten widerlegt wird (161b—162c). Zudem wissen wir doch,
daß Kritias in seinen Ὃμιλίαι und sonst über ethische Fragen ge-
handelt hat, und an Galens Angabe, Kritias habe in seinem Buch
περὶ φύσεως ἔρωτος ἢ ἀρετῶν eine Begriffsbestimmung von
δυσάνιος gegeben (B 42 Π16]5), wird man doch nicht zweifeln
dürfen, auch wenn der Sophist Antiphon dasselbe vorgetragen
hat (B 89 Diels). Und wenn bei Herodot I, 8 das σκοπεῖν τινὰ
τὰ ἑωυτοῦ als goldne alte Lebensregel bezeichnet wird, was in
aller Welt steht der Annahme im Wege, daß Kritias in ihr das
Wesen der σωφροσύνη angedeutet gefunden hat oder daß Plato,
der ja noch im Timaios 20a Kritias’ philosophische Bildung an-
erkennt, schon aus persönlichen Gründen seine Definition einer
Erwähnung gewürdigt hat’)? Ganz anders steht es natürlich mit
der weiteren Erörterung. Da dürfen wir Kritias’ Worte an sich
so wenig für ihn selber in Anspruch nehmen wie etwa Nikias’
weitere Ausführungen im Laches. Wenn ferner Plato ausdrück-
lich die Definition τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττει» als eine rätselhafte be-
1) Stavenhagens Ansicht (Χάριτες für Leo 5. 10ff.), die Ergebnislosigkeit
beruhe darauf, daß Plato wirklich keine positive Lösung habe bringen können,
billige ich hier so wenig wie bei den anderen Dialogen.
2) Von der Bedeutung, die später im Staate das τὰ ἑαυτοῦ πράττειν als
Prinzip der Arbeitsteilung für Plato gewinnt, ist aber hier noch nichts zu spüren.
(Unrichtig Gomperz, Gr. D. II, S. 249.)
4*
52 Charmides.
zeichnet, deren Sinn man erst ermitteln müsse, so deutet er wohl
an, daß Kritias seinen Einfall ohne tiefere Begründung gegeben
hatte. Jedenfalls entspricht die Zurückführung auf die Formel
ἣ τῶν ἀγαθῶν πρᾶξις so sehr den eigenen Absichten Platos, der
den Begriff ἀγαϑός einführen will, daß wir hier sicher nur diesen
selber hören ἢ).
Die Erörterung über die Definition des Kritias nimmt trotz
der positiven Weiterführung durch Plato einen geringen Raum ein.
Die Hauptkritik richtet sich gegen die folgende Definition. Daß
mit der Heranziehung des γνῶϑι σαυτόν (164cff.) etwas ganz
Neues beginnt, sahen wir schon, ebenso, daß der Begriff dem
Kritias von Sokrates selber suggeriert wird (S. 46). Damit deutet
Plato klar an, daß wir jetzt sokratischen Boden betreten. Daß
Sokrates die Selbsterkenntnis gefordert hat, dürfen wir ja auch
aus Xen. Mem. IV, 2, 24—29 schließen. Während aber dort die
Selbsterkenntnis in ihrer natürlichen und naheliegenden Bedeutung
verstanden wird als Einsicht in die eigenen Fähigkeiten, Leistungs-
möglichkeiten, Interessen, ist davon bei Plato zunächst gar nicht
die Rede. Kritias bestreitet sofort, daß das der ᾿ἰσωφροσύνη zu-
grunde liegende Wissen ein Objekt außer sich selber habe und
setzt für ἐπιστήμη ἑαυτοῦ die ἐπιστήμη ἑαυτῆς ein. Sokrates selber
entwickelt dann 167a den Begriff der Selbsterkenntnis etwa wie
bei Xenophon, greift aber nicht ihn selber an, sondern bezweifelt,
daß die Einsicht in das, was man weiß, in der ἐπιστήμη ἑαυτῆς
liegen könne. Gegen diese Formulierung, nicht gegen das ἑαυτὸν
γιγνώσκειν an Sich, richtet sich auch die Kritik im folgenden.
Daß diese Formulierung ἐπιστήμη ἑαυτῆς nicht Plato gehört,
der sie ja auf jede Weise für unmöglich erklärt, ist, wenn wir
!) Absicht muß es natürlich sein, wenn Plato hier Kritias 163b den Hesiod-
vers ἔργον δ᾽ οὐδὲν ὄνειδος besprechen und dahin deuten läßt, mit ἔργον sei nur
das καλὸν καὶ ὠφέλιμον ἔργον gemeint. Denn wie wir aus Xen. Mem. 1, 2, 56
wissen, erhob Polykrates später gegen Sokrates den Vorwurf, er habe diesen
Vers angeführt, um zu zeigen ὡς ὁ ποιητὴς κελεύει μηδενὸς ἔργου μήτ᾽ ἀδίκου
μήτ᾽ αἰσχροῦ ἀπέχεσϑαι. Der Vorwurf ist wohl schon älter, und so legt hier
Plato grade dem Genossen des Sokrates, der kein unsittliches Tun gescheut
haben sollte, eine sittliche Deutung in den Mund, läßt aber, da er von der
Dichterauslegung wenig hält, Sokrates selber betonen, es komme auf die Sache,
nicht auf die Worte an. Übrigens ist es für den Aristokraten Kritias bezeich-
nend, daß er als αἰσχρὰ ἔργα keine Ungerechtigkeiten anführt, sondern niedere
Gewerbe wie Schuhmacherei, Fischverkauf und Prostitution (163b).
Die kritisierten Ansichten. 53
nicht annehmen wollen, daß Plato auf selbstgebaute Kartenhäuser
mit Kanonen schießt, selbstverständlich. Ebenso aber muß man
daraus, daß die Gleichsetzung von ἐπιστήμη ἑαυτοῦ und ἐπιστήμη
ἑαυτῆς von Kritias vollzogen wird, während Plato ihre Berechtigung
bezweifelt, schließen, daß auch sie einem Gegner gehört. Den
Fehlschluß, den dieser dabei begangen hat, lesen wir 169e: ei
γάρ τις ἔχει ἐπιστήμην ἣ αὐτὴ αὑτὴν γιγνώσκει, τοιοῦτος ἂν αὐτὸς
εἴη olövneg ἐστὶν ὃ ἔχει... ὅταν δὴ γνῶσιν αὐτῆν αὕὑτῆς τις ἔχῃ,
γιγνώσκων που αὐτὸς ἑαυτὸν τότε ἔσται. Daß Plato den Fehl-
schluß bemerkt, zeigt wohl Sokrates’ Antwort: οὐ τοῦτο ἀμφισβητῶ,
ὡς οὐχ ὅταν τὸ αὑτὸ γιγνῶσκόν τις ἔχῃ, αὐτὸς αὑτὸν γνώσεται.
Denn es ist natürlich Absicht, wenn Plato für γνῶσιν αὑτῆς den
an thukydideische Weise gemahnenden neutralen Ausdruck τὸ
αὑτὸ γιγνῶσκον einsetzt, der als Extrakt aus αὐτὸς αὑτὸν yıyvo-
oxsı, als Sichselbsterkennen gefaßt werden sollte. Er konzentriert
aber sein Interesse ganz auf die sachliche Widerlegung des vom
Gegner eingesetzten Begriffes.
Ist der Gegner Sokrates selber, wie Horneffer (Plato gegen
Sokrates) 'gemeint hat? Wenn wir das glauben sollten, müßte
uns schon jemand nachweisen, daß Sokrates je den in seiner
Künstelei so ganz unsokratisch aussehenden Begriff ἐπιστήμη
ἐπιστήμης gebraucht habe. Dagegen kann kaum ein Zweifel sein,
daß es ein Sokratiker ist, gegen den Plato sich wendet. Fragen
wir uns nun vor allem, was denn dieser mit der Definition ge-
wollt hat.
Wir werden dabei gut tun, uns vor dem Hineintragen moderner
Vorstellungen zu hüten und einfach Plato selber zu fragen. Der
sagt uns 171d genau, was der Gegner von der ἐπιστήμη ἐπιστή-
uns erwartet: die Fähigkeit, sich und andre auf Wissen und Nicht-
wissen zu prüfen, sodaß daraufhin die Möglichkeit bestände,
jeden an den richtigen Platz zu stellen und seine Fähigkeiten
richtig zu verwerten. Die Persönlichkeit des σώφρων, der im Be-
sitze dieser Fähigkeit wäre, wird uns 167a geschildert: Ὁ ἄρα
σώφρων μόνος αὐτός τε ἑαυτὸν γνώσεται καὶ οἷός τε ἔσται ἐξετάσαι
τί τε τυγχάνει εἰδὼς καὶ τί μή, καὶ τοὺς ἄλλους ὡσαύτως δυνατὸς
ἔσται ἐπισκοπεῖν τί τις οἶδεν καὶ οἴεται, εἴπερ οἶδεν, καὶ τί αὖ
οἴεται μὲν εἰδέναι, οἶδεν δ᾽ οὔ, τῶν δὲ ἄλλων οὐδείς. Daß diese
ideale Schilderung nach einem ganz bestimmten Modell entworfen
ist, liegt auf der Hand. Es ist Sokrates selber, wie wir ihn aus
54 Charmides.
der Apologie kennen, wie er umhergeht und die Menschen prüft
und ein große Menge findet οἰομένων μὲν εἰδέναι τι ἀνθρώπων;
εἰδότων δὲ ὀλίγα ἢ οὐδέν (Ap.23c). Dieselbe Menschenprüfung
finden wir aber auch im Folgenden immer wieder als Charakte-
ristikum der ἐπιστήμη ἐπιστήμης, und gerade das Wort ἐξετάζειν,
das wir in Apologie und Laches technisch verwendet lasen (vgl.
S. 36%), kehrt in unserer Schrift nicht bloß an der eben aus-
geschriebenen Stelle wieder, sondern auch 170d οὐδὲ ἄλλον ἄρα
οἷός τε ἔσται οὗτος ἐξετάσαι φάσκοντά τι ἐπίστασϑαι, πότερον
ἐπίσταται ὅ φησιν ἐπίστασϑαι ἢ οὐκ ἐπίσταται und im selben Zu-
sammenhange noch zweimal 172}.
Also das was der Gegner von seiner ἐπιστήμη ἐπιστή-
ung erwartet, deckt sich genau mit der ἐξέτασις, wie sie
der historische Sokrates veranstaltet hat. Dann kann
aber auch kein Zweifel sein, daß ein ursächlicher Zu-
sammenhang obwaltet und daß jene Definition im Hin-
blick auf Sokrates’ persönliche Fähigkeit aufgestellt
ist und zeigen wollte, worin diese bestand.
Oft genug hatten es Sokrates’ Jünger gesehen, wie dieser
die angeblich klügsten Leute auf den Sand setzte, die berühmten
Weisheitslehrer sogut wie den Arzt oder Dichter. Was hatte ihm
die Fähigkeit dazu gegeben? Er hatte doch immer erklärt, selber
nichts zu wissen, und den Fachleuten gegenüber konnte jedenfalls
seine Überlegenheit nicht auf einem Fachwissen beruhen. Ein
einziges hatte er immer für sich in Anspruch genommen, die
Klarheit über sich selbst und über seine Unwissenheit. Und mit
ihr paarte sich, das zeigte jedes Gespräch, die Klarheit über die
Unwissenheit der andern. Oft genug hatte er wohl auch seinen
Schülern das γνῶϑε σαυτόν ins Herz geschrieben. Hier mußte
man also einsetzen, wenn man erfahren wollte, worin jene Fähigkeit
des Meisters zu der Menschenprüfung bestanden hatte, in der ihm
nachzueifern die Jünger gelobt hatten. Ein Lösungsversuch der
Frage ist der, den Plato hier kritisiert. Er geht aus von dem
ἑαυτὸν γιγνώσκειν. Welcher Fehlschluß formell dabei zur ἐπι-
στήμη ἑαυτῆς hinüberleitete, haben wir gesehen. Aber wichtiger
war gewiß die materielle Erwägung, daß die Überlegenheit gegen-
über den verschiedensten Menschen nicht auf einer Masse inhalt-
licher Kenntnisse, sondern auf einer formellen Gabe, einem „Wissen
über das Wissen“ beruhen müsse. Zu der Gleichsetzung dieser
ἐπιστήμη ἐπιστήμης. 55
Gabe mit der σωφροσύνη muß natürlich ein bestimmter Anlaß vor-
gelegen haben. Wahrscheinlich hatte Sokrates selber bei dieser
Tugend der Selbstbeherrschung die Selbsterkenntnis, das γιγνώσκειν
ἑαυτόν als das Wesentliche bezeichnet.
Plato hat den Lösungsversuch seines Mitjüngers verworfen.
Das ἑαυτὸν γιγνώσκειν selber kritisiert er direkt nicht, aber an-
nehmen konnte er es auch nur mit einer genaueren Bestimmung.
Tugend ist ihm nur, was etwas Gutes bewirkt. Das Wissen an
sich tut das aber noch nicht, sondern nur das Wissen vom Guten.
Also kann auch die Selbsterkenntnis nur eine Tugend sein, wenn
sie das Wissen vom Guten einschließt, wenn man sie versteht
als ein Wissen von Werten, ein Wissen von dem, was für uns
gut ist, wenn man sie mit dem Wissen vom Guten und Üblen
gleichsetz. Wie weit Plato diese Gedanken bei Sokrates ge-
funden hat, ist eine andere Frage. Aber soviel ist klar, daß Plato
dem falschen Lösungsversuch als eignen entgegenstellen wollte:
Sokrates’ Überlegenheit beruht darauf, daß er bei allem Tun nach
dem fragte, was diesem Tun letzthin Wert ‘verleiht, daß er das
Gute suchte, das den Endzweck der einzelnen Handlungen bildete.
Darüber daß sie diesen Endzweck nicht kannten, waren sich die
von ihm Geprüften nicht klar. Er selber hat sich auch kein
Wissen über den Endzweck, über das Gute angemaßt. Aber wenn
die Jünger seine Erben sein wollen, müssen sie danach suchen
wie er.
Wer ist nun der Sokratiker, mit dem Plato sich — übrigens
in durchaus freundschaftlicher sachlicher Weise — auseinander-
setzt? Ich weiß es nicht‘), und viel kommt auch nicht auf den
!) An sich würde ich in dieser Zeit kurz nach Sokrates’ Tode durchaus
mit der Möglichkeit rechnen, daß Plato jene Ansicht nur mündlich hatte auf-
stellen und begründen hören. Dagegen könnte man aber die große Ähnlichkeit
geltend machen, die zwischen der Schilderung des Nutzens der Selbsterkenntnis
bei Xen. Mem. IV, 2, 25—29 und Charm. 171d besteht (Teichmüller Lit. Fehden
II S. 29f. und Joel IS. 487). Denn da bei Plato diese Schilderung hypothetisch
vom Standpunkt des Gegners gegeben wird, so liegtesnahe, diesen als Quelle Xenophons
anzusehen. Immerhin halte ich freie Benutzung Platos durch Xenophon nicht
für ausgeschlossen, da dieser IV, 2 frei nach verschiedenen Anregungen kompo-
niert. (Auch Joel betont S. 424 die inhaltliche Zerrissenheit des Kapitels und
hält jedenfalls bei den vorhergehenden Paragraphen Abhängigkeit von Plato für
möglich S. 403.) — Im übrigen kann der Gegner Platos hier Antisthenes sein,
aber einen Beweis sehe ich auch hier bei Joel nicht erbracht.
56 Charmides.
Namen an, denn die Definition der σωφροσύνη als ἐπιστήμη
ἐπιστήμης wird später nie wieder erwähnt‘), Sie war ein
ephemerer Einfall, den Plato wohl endgültig beseitigt hat.
Wichtig ist dagegen etwas anderes. Der Charmides führt
uns mitten hinein in Debatten der Sokratiker über die Frage,
worin denn die Eigenart des Sokrates, seine Überlegenheit über
die Mitmenschen besteht oder bestanden hat. Unmöglich können
diese Debatten bei Lebzeiten des Meisters geführt oder gar
literarisch ausgefochten sein. Der Charmides ist wie der
Laches nur nach Sokrates’ Tod zu denken.
Man hat den Charmides den Zwillingsbruder des Laches ge-
nannt. Das ist vollkommen berechtigt. Schon das Thema, das
Wesen einer Einzeltugend, und der ganze äußere Aufbau, die
Hinlenkung von einer Einzelheit auf den Kernpunkt, die Teil-
nahme zweier Partner am Gespräch, die Art, wie hier Charmides,
dort Nikias eine von einem andern gehörte Definition vorbringt
und diese Definition diskutiert wird, der Abschluß des Gesprächs
durch das Anerbieten der Teilnehmer, Sokrates weiter zu hören’)
— das alles weist auf engste Verwandtschaft hin. Dazu kommen
Einzelheiten. Der Homervers αἰδὼς δ᾽ οὐκ ἀγαϑὴ κεχρημένῳ ἀνδρὶ
παρεῖναι wird Laches 2010 und Charm. 161a angeführt. Das
Motiv, daß Sokrates bei den jungen Leuten wohlbekannt ist,
finden wir Laches 181a wie Charm. 156a. Prodikos’ Scheidung
der Worte spielt Laches 197d und Charm. 163d eine Rolle. Auf
die wörtliche Übereinstimmung der wichtigen Stellen Laches
(94. ὃ γὰρ ἐγὼ σοῦ ἤδη καλῶς λέγοντος ἀκήκοα und Charm.
161b ὃ ἤδη του ἤκουσα λέγοντος wurde schon hingewiesen. Viel
wichtiger sind aber die inneren Berührungen. In Laches 1980
zeigt Nikias, daß der Arzt wohl gesund zu machen versteht, aber
ob die Gesundheit dem Kranken nützt, das weiß er nicht. Ge-
nau dasselbe lesen wir Charm. 164b. Nach Nikias (Lach. 195e) ver-
mag der Seher wohl die künftigen Ereignisse zu verkünden, aber
ob sie nützen werden, weiß er nicht, weil er die Kenntnis des
1) Die Frage an sich, ob es eine ἐπιστήμη ἐπιστήμης gebe, wird bekannt-
lich Theaetet 200b von ganz anderem Gesichtspunkte aus berührt, sicher ohne
Zusammenhang mit Charm. 169d.
2) Räder betont $.”97 richtig, daß es eigentlich zur Icherzählung des So-
krates nicht recht paßt, wenn Charmides und Kritias am Schluß des Dialoges
Sokrates so lebhaften Beifall zollen.
Der Charmides nach 399 geschrieben. 57
Guten nicht hat. Auch im Charmides tritt zum Arzte der Seher,
und wieder hören wir, daß der Blick in die Zukunft nichts nützt,
wenn nicht das Wissen vom Guten hinzukommt (173ce). Der
ganze Abschnitt des Charmides, in dem wir diese Ausführungen
finden, hat, wie wir sahen, die Tendenz, die positive Lösung an-
zudeuten, daß die σωφροσύνη mit dem Wissen vom Guten und
Üblen eng verwandt, wenn nicht identisch ist. Am besten aber
wird diese Andeutung verstehen, wer diese Lösung aus dem Laches
kennt.
Charmides und Laches müssen annähernd zur selben Zeit
bald nach Sokrates’ Tode entstanden sein. Plato hat erst eine
Einzeltugend behandelt und dabei das Problem der Einheitlich-
keit der Tugend formuliert. Ehe er dieses Problem behandeln
konnte; mußte er aber die Irrtümer, die grade in sokratischen
Kreisen über das Wesen einer andern Einzeltugend aufgetaucht
waren, hinwegräumen.
IV. Der kleine Hippias.
Die Echtheit des kleinen Hippias ist vielfach bezweifelt
worden. Dabei wird nicht bloß von Aristoteles der Inhalt des
Dialoges als ὃ ἐν τῷ Ἵππιᾳ λόγος, also mindestens als der eines
wohlbekannten sokratischen Dialoges bezeichnet (Met. 10256), wir
haben noch einen viel älteren Zeugen. Längst ist ja schon be-
merkt, daß die vom Scholion zum ersten Verse der Odyssee auf-
bewahrten Ausführungen des Antisthenes in engstem Zusammen-
hange mit dem kleinen Hippias stehen‘). Freilich hat man aber
diesen Zusammenhang vielfach falsch beurteilt, und wir müssen
deshalb auf diesen eingehen. Das Scholion betrifft die Erklärung des
Wortes πολύτροπος und bezeichnet zunächst die Aporie, um die
es sich dabei handelt: οὐκ ἐπαινεῖν φησιν ᾿Αντισϑένης Ὅμηρον
τὸν ᾿Οδυσσέα μᾶλλον ἢ ψέγειν, λέγοντα αὐτὸν πολύτροπον ' οὐκ
οὖν τὸν ᾿Αχιλλέα καὶ τὸν Αἴαντα πολυτρόπους πεποιηκέναι, ἀλλὰ
ἁπλοῦς καὶ γεννάδας, οὐδὲ τὸν Νέστορα τὸν σοφὸν οὐ μὰ Δία
δόλιον καὶ παλίμβολον τὸ ἦϑος, ἀλλ᾽ ἁπλῶς τε ᾿Αγαμέμνονι συνόντα
καὶ τοῖς ἄλλοις ἅπασι καὶ εἰς τὸ στρατόπεδον εἴ τι ἀγαϑὸν εἶχε
1) Dümmler Antisthenica S. 31—35; Joel Echter und xenoph. Sokrates I,
S. 404, Horneffer, Platon gegen Sokrates, 5. 24—28.
58 Der kleine Hippias.
συμβουλεύοντα nal οὐκ ἀποκρυπτόμενον. τοσοῦτον (δ᾽) ἀπεῖχε
τοιοῦτον τρόπον ἀποδέχεσϑαι ὃ ᾿Αχιλλεὺς ὡς ἐχϑρὸν ἡγεῖσϑαι
ὁμοίως τῷ ϑανάτῳ, ὅς χ᾽ ἕτερον μὲν κεύϑῃ ἐνὶ φρεσίν, ἄλλο δὲ
εἴπῃ (1 818). Als Lösung wird dann gegeben: Δύων οὖν ὃ ᾿Αν-
τισϑένης φησί: τί οὖν; ἄρά γε πονηρὸς ὃ ᾿Οδυσσεύς, ὅτι πολύ-
τροπος ἐκλήϑη; καὶ μὴν διότι σοφὸς οὕτως αὐτὸν προσείρηκε. μή-
ποτε οὖν ὃ τρόπος τὸ μέν τι σημαίνει τὸ ἦϑος, τὸ δέ τι σημαίνει
τὴν τοῦ λόγου χρῆσιν" εὔτροπος γὰρ ἀνὴρ ὃ τὸ ἦϑος ἔχων εἰς τὸ
εὖ τετραμμένον, τρόποι δὲ λόγων αἱ ποιαὶ πλάσεις. .. εἰ δὲ οἱ
σοφοὶ δεινοί εἶσι διαλέγεσθαι, καὶ ἐπίστανται τὸ αὐτὸ νόημα κατὰ
πολλοὺς λέγειν τρόπους. ἐπιστάμενοι δὲ πολλοὺς τρόπους λόγων
περὶ τοῦ αὐτοῦ πολύτροποι ἂν εἶεν δ. Die Erklärung des Wortes
πολύτροπος --- πολλοὺς τρόπους λόγων ἐπιστάμενος ist recht ge-
sucht, und Antisthenes gibt sie offenbar nur deshalb, weil er der
andern Erklärung ausweichen will, die πολύτροπος als Gegen-
satz zu ἁπλοῦς, als verschlagen und doppelzüngig faßt und in
diesem Beiwort einen sittlichen Makel des Odysseus angedeutet
findet.
Daß diese Erklärung, die Antisthenes ablehnt, positiv von
andrer Seite aufgestellt ist, zeigt die Stelle selber. Tatsächlich
finden wir sie im kleinen Hippias, Denn hier beginnt der So-
phist mit einer kurzen Charakteristik der drei wichtigsten Helden
Homers: φημὶ γὰρ Ὅμηρον πεποιηκέναι ἄριστον μὲν ἄνδρα ᾿Αχιλλέα
τῶν εἰς Τροίαν ἀφικομένων, σοφώτατον δὲ Νέστορα, πολυτροπώτα-
τον δὲ Ὀδυσσέα (864). Es sind dieselben drei Männer, die auch
in der von Antisthenes kritisierten Erklärung erwähnt”) und ge-
nau in der gleichen Weise charakterisiert werden. Für Achilles
gebraucht freilich Hippias zunächst das allgemeine ἄριστος, stellt
ihn aber 365b als ἀληϑὴς καὶ ἁπλοῦς dem πολύτροπος καὶ ψευδὴς
᾿Οδυσσεύς entgegen. Das Wichtigste ist aber, daß auch hier die Verse
ἐχϑρὸς γάρ μοι κεῖνος ὁμῶς ᾿Δίδαο πύλῃσιν, ὅς χ᾽ ἕτερον μὲν κεύϑῃ
ἐνὶ φρεσὶν ἄλλο δὲ εἴπῃ angeführt und in derselben Weise als
eine Anspielung des Achilles auf den Lügner Odysseus gedeutet
werden.
Unter diesen Umständen kann darüber kein Zweifel sein
1) δ᾽ om. Codd. Dindorf.
2) Ob Antisthenes noch etwas aus dem Folgenden gehört, ist zweifelhaft.
3) Antisthenes fügt von sich aus Aias hinzu, der ihn ja auch sonst in-
teressiert hat.
Echtheit des Dialogs. 59
daß ein Zusammenhang hier besteht. Aber offenbar ist es nicht
etwa, wie Dümmler und Joel annehmen, Plato, der gegen Anti-
sthenes polemisiert. Kommt doch Antisthenes’ eigene Erklärung
des Wortes πολύτροπος bei Plato überhaupt nicht vor. Die Sache
liegt vielmehr so, daß die bei Plato vorgetragene Deutung von Anti-
sthenes kritisiert und abgelehnt wird‘). Man kann also höchstens
fragen, ob diese Deutung von Plato selbst herrührt oder von ihm
nur aufgenommen ist und sie ursprünglich etwa Hippias gehört,
dem sie Plato in den Mund legt. Aber auch wenn sich etwa Anti-
sthenes’ Polemik nicht gegen den Dialog Hippias, sondern gegen
einen auch in diesem berücksichtigten Homererklärer richten
sollte?), so würde doch soviel sicher sein, daß der Dialog in die
Zeit des Antisthenes gehört. Daß er wirklich von Plato verfaßt
ist, ergibt sich aus den Beziehungen, die zwischen ihm und den
andern Jugenddialogen Platos bestehen.
In der Apologie und im Charmides hatte Sokrates’ Gewohn-
heit die Menschen zu prüfen und seine Überlegenheit allen an-
dern gegenüber im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Der
Hippias bietet uns ein Beispiel dieser Elenktik. Darauf bereiten
uns gleich die ersten Worte vor: Σὺ δὲ δὴ τί σιγᾷς, ὦ Σώκρατες,
“Ἱππίου τοσαῦτα ἐπιδειξαμένου, καὶ οὐχὶ ἢ συνεπαινεῖς τι τῶν
εἰρημένων ἢ καὶ ἐλέγχεις Ὗ; und tatsächlich ist der ganze Dialog,
äußerlich angesehen, nichts als eine ἐξέτασις Ἱππίου Natürlich
ist Sokrates urban genug, um seine Elenktik als Lerneifer zu
verbrämen. Aber wenn er zweimal mit einer nur im frühen
Dialoge verständlichen Ausführlichkeit betont λιπαρής εἶμι περὶ
τὰς ἐρωτήσεις τῶν σοφῶν) und erklärt, dei εἴωϑα, ἐπειδάν τις
λέγῃ τι, προσέχειν τὸν νοῦν, ἄλλως τε καὶ ἐπειδάν μοι δοκῇ σοφὸς
εἶναι ὃ λέγων (869), so ist ja niemand im Unklaren, daß dies
1) So richtig Horneffer S. 27.
2) Wahrscheinlich ist mir das bei den starken Berührungen im Wortlaut
nicht. Dagegen halte ich es für sehr möglich, daß die kurze Charakteristik
der drei Männer (364c) — die übrigens grade den Gegensatz ἁπλοῦς-πολύτροπος
noch nicht enthält — von Hippias selber stammt, und Diels hat sie Vors.? 5. 581,
21 als Zeugnis für die Anschauung des Sophisten aufgenommen.
3) Über den Terminus ἐλέγχειν vgl. 8. 861,
4) 369e und 372a. Da an der zweiten Stelle ausdrücklich die erste zitiert
wird, so ist wohl auch hier περί, nicht πρός zu lesen. Kommt λιπαρὴς πρός τι
wohl überhaupt vor?
60 Der kleine Hippias.
sachlich dasselbe besagt wie das, was wir Apol. 23b lesen: περιὼν
Emo καὶ ἐρευνῶ κατὰ τὸν ϑεὸν καὶ τῶν ἀστῶν καὶ τῶν ξένων, dv
τινα οἴωμαι σοφὸν εἶναι, καὶ ἐπειδάν μοι μὴ δοκῇ, τῷ ϑεῷ βοηϑῶν
ἐπιδείκνυμαι ὅτι οὐκ ἔστι σοφός. Im der Apologie war natur-
gemäß die Prüfung der Bürger in den Vordergrund getreten.
Jetzt führt Plato mit Sokrates einen der berühmten Weisheits-
lehrer zusammen und greift sich mit Bedacht unter den drei
Männern, deren gegenwärtige Wirksamkeit er Apol. 19e erwähnt,
Hippias von Elis heraus. Denn der ist der echte Typus τῶν
οἰομένων σοφῶν εἶναι. Keiner ist so berühmt durch sein viel-
seitiges Wissen und Können wie !dieser, und Plato führt uns in
den lebendigsten Farben den bildungsstolzen Mann vor Augen,
der sich auf geistigem Gebiete ein Olympionike dünkt und sich
rihmt, nie einen überlegenen Gegner gefunden zu haben’).
Mit Herablassung erklärt sich deshalb Hippias bereit, Sokrates
auf dem eigensten Gebiete der Sophistik, der Homerexegese, Aus-
kunft zu erteilen. Um so kläglicher wirkt dafür seine Hilflosig-
keit, als ihn Sokrates dann wirklich in ein Gespräch über die
einfachsten sittlichen Begriffe verwickelt. Dabei knüpft Sokrates
an ein grade damals sehr bekanntes und vielleicht von Hippias
selber behandeltes Problem an. In den etwa gleichzeitig mit
Platos Dialog entstandenen sophistischen Δισσοὶ Adyoı?) wird näm-
lich als viertes Problem erörtert, ob die Begriffe ψευδής und
ἀληϑής absolute Geltung haben oder dieselbe Rede je nach den
Umständen und dem subjektiven Standpunkt des Beurteilers das
eine oder andre Prädikat verdient. Dieses Problem greift So-
krates auf und gibt ihm eine neue Wendung, indem er für die
Rede die Person einsetzt und den scheinbar so selbstverständ-
lichen Satz, daß der Lügner und der Wahrhaftige verschieden
sind, in Zweifel zieht.
In rascher Folge führt Sokrates den Sophisten zu den Zuge-
ständnissen: Der Lügner ist fähig etwas zu tun, ist verschlagen
infolge einer gewissen Einsicht, weiß was er tut, hat also ein
Wissen und ist σοφός (— 365e). Hier zeigt sich nun allerdings,
daß Hippias gewandter ist als der Laie Laches. Der hatte es
sich ruhig gefallen lassen, daß ein Taucher als absolut φρόνιμος
1) 3648, 368.
®) Über diese vgl. den Anhang.
Inhalt des Gesprächs. 61
bezeichnet wurde, und hatte nicht gemerkt, was Sokrates mit
der Frage eig τί φρόνιμος; wollte (Lach. 193, vgl. 5. 25). Hip-
plas weiß so gut wie der Sokrates des Euthydem, daß Fang-
schlüsse oft darauf beruhen, daß absolute und relative Geltung
eines Wortes vermischt werden. Und wie Sokrates dort dem
Euthydem seine Kreise stört, indem er auf die Frage: πότερον
ἐπίστασαι... τούτῳ πάντα; antwortet: ἅπαντα, ἅ γ᾽ ἐπίσταμαι
(296b, vgl. 295e 2968), so antwortet Hippias hier auf Sokrates’
Frage: ἐπιστάμενοι δὲ ταῦτα ἃ ἐπίστανται πότερον ἀμαϑεῖς εἰσιν
ἢ σοφοί; mit der Einschränkung σοφοὶ μὲν οὖν αὐτά γε ταῦτα,
ἐξαπατᾶν (365 extr.)
Um so stärkere Blößen gibt sich Hippias aber nachher. So-
krates zwingt ihn zu den Folgerungen: Wie überhaupt die Lüge
ein Wissen voraussetzt, so auch die Lüge auf einem bestimmten
Wissensgebiete. Ja, hier wird grade der am besten lügen kön-
nen, der das größte Fachwissen hat. Derselbe ist es aber auch
natürlich, der das Richtige auf diesem Gebiete am besten sagen
kann. Da also der Sachkundige auch ἀληϑής ist, ἀναπέφανται
ὁ αὐτὸς ὧν ψευδής τε καὶ ἀληϑής (369b). Natürlich weiß Hip-
pias, daß er damit auf ein Paradoxon hereingefallen ist, wie es
die Eristik der Zeit zu erzielen liebte; er hat auch die Empfin-
dung, daß dieses Ergebnis nur durch Trugschlüsse erreicht werden
konnte (369c). Aber wo der Trugschluß sitzt, das findet er
nicht. Dabei ist dieser plump genug. Denn wenn Sokrates hier
den Satz aufstellt, daß auf jedem Gebiete der Sachkundige in
höchstem Maße ἀληϑής und ψευδής sei, so kann er das nur da-
durch, daß er diese Begriffe statt des an sich allein zulässigen
δυνατώτατος ἀληϑεύειν καὶ ψεύδεσϑαι einsetzt, und die Berech-
tigung zu dieser Vertauschung hat er sich durch ein grobes lo-
gisches Taschenspielerstück erworben. Er hat nämlich für den
richtigen Satz οἱ ψευδεῖς εἰσι δυνατοὶ ψεύδεσθαι zunächst das
identische Urteil οἱ ψευδεῖς εἶσιν οἷ σοφοί τε καὶ δυνατοὶ ψεύδεσθαι
eingeschmuggelt und ist so zu der unzulässigen Umkehrung οἱ
δυνατοὶ ψεύδεσθαι ψευδεῖς εἶσι gelangt (366aff). Τὸν δυνάμενον
ψεύσασθαι λαμβάνει ψευδῆ, wie Aristoteles Met. 102547 ganz
richtig sagt.
Daß Plato hier bewußt einen Trugschluß anwendet, zeigt
schon das absurde Ergebnis, das er damit erzwingen will. Es ist
aber gewiß auch kein Zufall, daß er selber in dem, wie wir noch
62 Der kleine Hippias.
sehen werden, sehr bald nach dem Hippias geschriebenen Pro-
tagoras die Fehlerhaftigkeit einer solchen Umkehrung ausdrück-
lich klarstellt. ἐρωτηϑεὶς ὑπὸ σοῦ, sagt dort Protagoras 350e,
35la, ei οἱ ἀνδρεῖοι ϑαρραλέοι εἰσίν, ὡμολόγησα ᾿ εἰ δὲ καὶ οἱ
ϑαρραλέοι ἀνδρεῖοι, οὐκ ἠρωτήϑην .. .. ὥστε συμβαίνει τοὺς μὲν
ἀνδρείους ϑαρραλέους εἶναι, μὴ μέντοι τούς γε θαρραλέους ἀνδρείους
πάντας. DBezeichnend ist dabei, daß diese Klarstellung Prota-
goras in den Mund gelegt wird. Denn damit ist deutlich, wie
hoch Plato diesen Mann über den Charlatan Hippias stellt.
Das Spiel, das Sokrates mit Hippias treibt, wird im zweiten
Teile des Gesprächs noch übermütiger. Sokrates begibt sich
nämlich jetzt selber auf das Gebiet der Homerexegese, und wie
er im Protag. 347e erklärt, im die Dichter könne jeder hinein-
deuten, was er wolle, so liest er hier aus Homer heraus, daß
Achilles ein viel schlimmerer Lügner sei als Odysseus (8694 ἢ).
Als dann Hippias ganz richtig einwirft, daß Achill dort nicht ab-
sichtlich das Unrichtige sage, schleudert Sokrates ihm das neue
Paradoxon ins Gesicht, wer bewußt lüge, sei besser als der un-
freiwillige Lügner. Angeblich soll dieses Paradoxon sogar schon
im ersten Teile des Gesprächs festgestellt sein (371e), und Hip-
pias ist so verblüfft, daß er diese Behauptung nicht bestreitet,
obwohl vorher höchstens zugegeben war, daß, wer in einem be-
stimmten Fachgebiete bewußt einen Fehler mache, tüchtiger sei
als der, dem es an Kenntnissen fehle. Wenn also Sokrates fragt
οὐκ ἄρτι ἐφάνησαν οἱ ἑκόντες ψευδόμενοι βελτίους ἢ οἱ ἄκοντες;
so macht er wieder absichtlich den Fehler, daß er ein absolutes
„besser“ für ein relatives „tüchtiger“ einsetzt.
Derselbe absichtliche Fehler ist es, der nachher zum absurden
Ergebnis führt, als Sokrates noch einmal das Problem erörtert
πότεροί more ἀμείνους, οἱ ἑκόντες ἢ οἱ ἄκοντες ἁμάρτανοντες;
(378 οἴ). Sokrates geht von einem Beispiel aus und zeigt: Beim
Laufen ist die Langsamkeit etwas Schlechtes; wer also langsam
läuft, tut im Laufen etwas Schlechtes, ist ein schlechter Läufer;
aber besser ist dabei, wer das Schlechte freiwillig, als wer es
aus Unvermögen tut (— 574). Dasselbe gilt auch von den andern
körperlichen Fertigkeiten, von den Fähigkeiten der Haustiere, der
Sklaven, ja von unseren eigenen psychischen Fähigkeiten. Auch.
von unserer Seele gilt: βελτίων ἔσται, ἐὰν ἑκοῦσα κακουργῇ TE
καὶ ἐξαμαρτάνῃ ἢ ἐὰν ἄκουσα (375d). Scheinbar ist hier alles
Inhalt des Gesprächs. 63
in bester Ordnung, und die Induktion steigt ganz regelrecht vom
Niederen zum Höheren, vom Unbeseelten zum Beseelten auf.
Und doch ist es gleich beim ersten Beispiel für den, der Plato
kennt, klar, daß Sokrates nicht im Ernste sagen kann: Wer
schlecht läuft, tut damit im Laufen etwas Schimpfliches (373e).
Nicht umsonst führt doch Plato hier dasselbe Beispiel so genau
aus, das er auch im Charmides behandelt. Dort erörtert er die
Definition der σωφροσύνη als ἡσυχιότης und verwirft sie, weil
Langsamkeit und Schnelligkeit sittlich indifferente Begriffe sind:
τῶν καλῶν τι ἡμῖν ἣ σωφροσύνη ὑπετέϑη, καλὰ δὲ οὐχ ἧττον τὰ
ταχέα τῶν ἡσυχίων πέφανται (100 4). Ob also jemand schnell
oder langsam läuft, hat an sich mit der Sittlichkeit, mit der
Frage, ob jemand absolut gut oder schlecht ist, nichts zu tun.
Und noch am Schluß des Beweisganges spielt Sokrates mit diesem
Doppelsinn. Er läßt sich nämlich zugestehen, wir würden Seelen
von Sklaven, die auf einem bestimmten Gebiete freiwillig Fehler
machen, höher schätzen ὡς ἀμείνους οὔσας εἰς ταῦτα, läßt aber
sofort dann diese einschränkende Relation fallen. Freilich deckt
er nun nicht soweit seine Karten auf, daß er folgert, Sklaven,
die absichtlich Dummheiten machen, seien absolut besser. Denn
dann hätte Hippias doch wohl gemerkt, daß es auf die Tendenz
des Handelns ankommt. Aber dieselbe unzulässige Einsetzung
des absoluten Begriffes für den relativen liegt dort vor, wenn
für die eigene Seele gefolgert wird οὐκοῦν βελτίων ἔσται, ἐὰν
ἑκοῦσα κακουργῇ (375d).
Hippias hätte merken müssen, daß es auf die Tendenz beim
Handeln ankommt — das führt uns auf einen andern Punkt, der
das absurde Ergebnis verursacht. Das ist die Unklarheit, die über
den Begriff ἑκών herrscht. Natürlich ist auch sie von Plato be-
wußt zugelassen. Es kann doch keine unfreiwillige Komik sein,
wenn Sokrates von den Füßen redet, die freiwillig hinken, von
der Nase, die absichtlich Böses tut, indem sie schlecht riecht’),
von der Pferdeseele, die freiwillig schlecht reitet — das dürfen
wir allerdings eigentlich nicht sagen, denn hier drückt sich Plato
1) Der Abschnitt des Charmides berührt sich ganz stark mit Hipp. 373c
—374b. Beide Male wird vom Körper zur Seele übergegangen; Laufen, Ringen
καὶ τὰ τοῦ σώματος ἅπαντα ἔργα, Zitherspielen und ἐπιστῆμαι sind hier wie dort
die Beispiele, und die Argumentation verläuft zum Teil ganz parallel,
2) 374.cd.
64 Der kleine Hippias.
zunächst vorsichtiger aus „die Pferdeseele, mit der man freiwillig
schlecht reitet“, aber daß die Pferdeseele es ist, die das Schlechte
tut, daran hält er fest (τῇ ἀμείνονι ἄρα ψυχῇ ἵππου τὰ τῆς
ψυχῆς ἔργα ταύτης τὰ πονηρὰ ἑκουσίως ἂν ποιοῖ, τῇ δὲ πο-
νηρᾷ ἀκουσίως; 8158), und darauf hat jedenfalls die Pferdeseele
in unserer Beweisführung so gut Anspruch wie die Sklavenseele,
die gleich darauf besprochen wird, weil sie freiwillig schlecht
schießt, und die gleichfalls nachher als Besitzstück in Betracht
gezogen wird. Gerade diese drastischen Beispiele hätte Plato un-
möglich anwenden können, wenn er sich nicht darüber klar ge-
wesen wäre, daß man ἑχὼν τὰ κακὰ ἐργάζεται nur von einem
Menschen sagen kann, der bestimmte als richtig erkannte Ziele
verfolgt‘). Nur die Absicht zu absurden Ergebnissen zu ge-
langen konnte so absurde Beispiele wählen lassen. |
Das gleiche Bild zeigt der letzte Abschnitt des Gespräches
(375d—376b). Da Hippias zwar keine Widerlegung der Para-
doxie zu finden weiß, aber doch ungläubig bleibt, so beginnt
Sokrates von neuem: Die Gerechtigkeit ist Fähigkeit oder Wissen
oder Beides. Also ist die fähigere oder klügere Seele die ge-
rechtere. Diese ist es aber, die nach dem Vorigen am ehesten
imstande sein muß, das Gute wie das Böse zu tun. Sie wird
also das Böse, wenn sie es tut, freiwillig tun. Also ist es der
Gute, der das Böse freiwillig tut. Ὃ ἄρα ἑκὼν ἁμαρτάνων καὶ
αἰσχρὰ καὶ ἄδικα ποιῶν, ὦ Ἱππία, εἴπερ τίς ἐστιν οὗτος, οὐκ ἂν
ἄλλος εἴη ἢ ὃ ἀγαϑός (8160). Das ist das Ergebnis, das freilich
Sokrates so wenig glauben will wie Hippias, das aber „jetzt
wenigstens nach der Untersuchung notwendig ist“.
Auch hier liegen die Trugschlüsse auf der Hand. Oöxoöv
εἰ μὲν δύναμίς ἐστι τῆς ψυχῆς ἣ δικαιοσύνη, ἣ δυνατωτέρα ψυχὴ
δικαιοτέρα ἐστί; fragt Sokrates 8766. Aber folgern durfte er
doch nur ἡἣ δικαιοτέρα ψυχὴ δυνατωτέρα ἐστι. Wir haben also
dieselbe unzulässige Umkehrung des Urteils, die Plato schon
vorher, wie wir sahen, mit vollem Bewußtsein anwendete. Und
wenn er ohne zwingenden Grund hinzufügt: βελτίων γάρ mov
ἡμῖν ἐφάνη ἣ τοιαύτη, so erinnert das an den anderen Fehlschluß,
bei dem die absolute Geltung für die relative eingesetzt wurde.
1 Wie bestimmte Anschauungen Plato über den Begriff ἑκών hat, werden
wir beim Protagoras sehen.
Der Hippias will absurde Ergebnisse erzielen. 65
Nachher erzwingt Sokrates das Zugeständnis οὐκοῦν ἣ δυνα-
τωτέρα καὶ ἀμείνων ψυχή, ὅτανπερ ἀδικῇ, ἑκοῦσα ἀδικήσει, N δὲ
πονηρὰ ἄκουσα (376a). Da kann uns auffallen, warum Sokrates
hier nicht für die fähigere Seele die gerechtere einsetzt, auf die
es ihm doch von vornherein ankam. Der Grund ist offenbar
wieder der, daß Plato seine Karten nicht zu weit aufdecken will.
Denn in diesem Falle hätte selbst ein Hippias doch wohl ein-
gewendet, bei einer δικαιοτέρα ψυχή sei der Fall ὅτανπερ ἀδικῇ
eben ausgeschlossen. Daß aber der Leser sich dies selber sagen
soll, das zeigt der Satz ὃ ἑχὼν ἁμαρτάνων καὶ αἰσχρὰ καὶ ἄδικα
ποιῶν, εἴπερ τίς ἐστιν οὗτος, οὐκ ἂν ἄλλος εἴη ἢ ὃ ἀγαϑός
(376b). Hier gibt, wie längst bemerkt ist, Plato dem Leser eine
Andeutung über seine wahre Ansicht, genau wie er es am Schluß
von Laches und Charmides tut. Das εἴπερ kann nach dem Zu-
sammenhang nicht anders verstanden werden als z. B. Rep. 381be,
wo Plato die Unveränderlichkeit der Gottheit damit dartut, daß
diese sich nur zum Schlechteren verändern könnte, εἴπερ ἀλλοιοῦται.
Der ganze zweite Teil des Hippias ist also ein bloßes Spiel.
Denn die Frage, ob der freiwillig oder der unfreiwillig Unrecht-
tuende besser ist, ist gegenstandslos, so lange es zweifelhaft ist,
ob es überhaupt einen gibt, der freiwillig Unrecht tut. Dieses
Problem müßte man im Ernste zuerst behandeln, und noch vor-
her wäre es nötig, Klarheit über den Begriff ἑκών zu erlangen.
Jedenfalls verlangt Plato von seinem Leser, daß er die Unmög-
lichkeit einer freiwillig schlecht riechenden Nase durchschaut und
den Begriff ἑχών auf den bewußt ein Endziel verfolgenden
Menschen beschränkt. Wenn der Leser einigermaßen mit sokra-
tischen Ideen vertraut ist, dann wird er auch wissen, daß dieses
bewußte Streben nach dem Guten als Endziel ein Unrechttun
für Sokrates ausschließt. Das οὐδεὶς ἑκὼν ἁμαρτάνει ist schon
für Sokrates’ Worte in der Apologie 25e 26a Voraussetzung.
Wir treffen denselben Satz im Gorgias mehrfach wieder (509e,
468, 488a). Noch in den Gesetzen 731c hat Plato ihn ver-
fochten, und im Protagoras, der unmittelbar auf den Hippias
folgt und mehrfach die Lösung der dortigen Trugschlüsse an-
deutet, wird ausdrücklich erklärt οὐδεὶς τῶν σοφῶν ἀνδρῶν ἡγεῖ-
ται οὐδένα ἀνϑρώπων ἑκόντα ἐξαμαρτάνειν οὐδὲ αἰσχρά τε καὶ
κακὰ ἑχόντα ἐργάζεσθαι (345e, vgl. 358e. Näheres nachher) ἢ).
1) In Xenophons Memorabilien IV, 2 will Sokrates in Euthydem das Be-
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 5
66 Der kleine Hippias.
Darüber, daß der Hippias ein παίγνιον ist, in dem
Plato bewußt Fehlschlüsse anwendet, um zu einem ab-
surden Ergebnis zu gelangen, kann also kein Zweifel
sein. Aber ist er nun ein reines Spiel oder verfolgt Plato doch
bestimmte Absichten ὃ
Wollen wir diese Frage beantworten, so müssen wir zunächst
eins beachten. Das ist die große Rolle, die hier die Persönlich-
keit von Sokrates’ Gegner spielt. In einer Weise, die uns aus
dem Drama wohlvertraut, aus Plato aber kaum geläufig ist, wird
der Charakter des bildungsstolzen Mannes uns exponiert, indem
Plato auf die „Vorfabel“ zurückgreift und eine Icherzählung des
Hippias über die Art, wie er in Olympia seine σοφία zur Schau
gestellt hat, einflicht (368). Das geht zweifellos den wirklichen
Sophisten Hippias an. Zu diesem steht aber auch das Gespräch
selbst in engster Beziehung. Wenn man nämlich den Abschnitt
366c—369b liest, so muß an sich die Ausführlichkeit verwunder-
lich erscheinen, mit der hier der einfache Satz, daß auf jedem
Gebiete der Sachkundige am ehesten imstande ist zu lügen wie
die Wahrheit zu sagen, durch die verschiedensten Fächer illustriert
wird. Was diese Breite bezweckt, das zeigt sich darin, daß wir
dreimal die Wendung lesen οὐ σὺ μέντοι ἔμπειρος εἶ λογισμῶν καὶ
λογιστικῆς; (366c) — οὐκοῦν καὶ γεωμετρίας ἔμπειρος εἶ; (567 4)
— ἔτι τοίνυν καὶ τὸν τρίτον ἐπισκεψώμεθα, τὸν ἀστρονόμον, ἧς
αὖ σὺ τέχνης ἔτι μᾶλλον ἐπιστήμων οἴει εἶναι ἢ τῶν ἔμπροσϑεν
(367e), wo dann die große Schilderung der Polyhistorie des
Hippias folgt. Grade diese Fächer sind es, auf die sich auch
wußtsein des Nichtwissens wecken und macht deshalb ὃ 19ff. auch auf die
Schwierigkeiten des Begriffes ἑκών aufmerksam. „Wer freiwillig schlecht schreibt,
ist ein besserer γραμματικός als wer unfreiwillig schlecht schreibt. Muß da
nicht auch, wer freiwillig Unrecht tut, besser sein, als wer es unfreiwillig tut?“
Die positive Lösung, daß es auf die Tendenz des Handelns ankommt, deutet
Xenophon an, wenn er Sokrates fragen läßt (19): τῶν δὲ τοὺς φέλους ἐξαπα-
τώντων ἐπὶ βλάβῃ, πότερος ἀδικώτερός ἔστιν, ὃ ἑκὼν ἢ ὃ ἄκων; — Ich halte
es für sehr möglich, daß Xenophon auch hier durch Plato beeinflußt ist (vgl.
S. 55"). Die Aporien selber, die hier mit Bezug auf die Begriffe „ungerecht“
und „gerecht“ aufgedeckt werden, sind natürlich aber allgemein bekannt und
gehen auf die Sophistenzeit zurück. Vgl. den dritten Abschnitt der Δισσοὶ Λόγοι,
die ähnlichen Erörterungen in Platos Rep. I und im pseudoplatonischen Dialog
περὶ δικαίου (das Material bei Joel, Echter und xenophont. Sokrates I, S. 383ff.,
der aber fälschlich an Einfluß der Sokratik auf die Δισσοὶ Adyoı denkt).
Der Sophist Hippias wird persönlich verspottet. 67
nach Prot. 318e der Unterricht des wirklichen Hippias in erster
Linie erstreckt (ἐμβάλλουσιν εἰς τέχνας, λογισμούς τε καὶ doTgo-
vouiav καὶ γεωμετρίαν καὶ μουσικὴν διδάσκοντες). Damit erhält
der Abschnitt eine ganz persönliche Spitze. Und wenn nun So-
krates jedesmal untersucht, wer der größte Lügner auf jedem
Gebiete ist, so muß Hippias darauf gefaßt sein, daß nicht bloß
die allgemeine Antwort „der Sachkundigste“ erfolgt, sondern daß
sein eigener Name fällt. Natürlich ist Sokrates zu urban, das
direkt auszusprechen, aber hart an die Grenze führt er den So-
phisten mehrfach heran, und man hat das Gefühl, daß dieser
selber es weiß und erleichtert aufatmet, als ihm Sokrates wenig-
stens die äußerste Blamage erspart.
Den wirklichen Polyhistor Hippias muß man sich
also vor Augen halten, wenn man den Humor dieser
Stelle verstehen will. Das ist wichtig, damit man sich
vor den Übertreibungen der modernen Maskenforschung
bewahrt. Wer an unserer Stelle hinter Hippias einen
anderen Gegner Platos wittert, wer etwa gar an Isokra-
tes oder Antisthenes denkt, die nie mit Mathematik und
Astronomie sich beschäftigt haben’), der verzichtet dar-
auf, Platos künstlerische Absichten zu verstehen. Mit
Hippias selber spielt Sokrates wie die Katze mit der
Maus. Der Sophist persönlich soll getroffen und lächer-
lich gemacht werden.
Das gleiche muß dann aber auch vom ganzen Dialog gelten.
Manche Anspielung mag noch drin stecken, die uns entgeht).
Aber eins dürfen wir gewiß sagen: Wir sollen den Eindruck er-
halten, daß der berühmte Vielwisser Hippias über die einfachsten
sittlichen Begriffe nicht nachgedacht hat und daß er die para-
doxesten Behauptungen wohl zu leugnen, aber nicht zu wider-
legen vermag, daß er wohl imstande wäre, eine Epideixis im
entgegengesetzten Sinne zu halten (369c), aber aus Mangel an
logischer Schulung in der Dialektik jedem Trugschluß wehrlos
ausgeliefert ist. Und dieser Eindruck wird natürlich dadurch
verstärkt, daß das Problem, das Plato hier behandelt, und die
Art, wie er es behandelt, vollkommen dem Unterrichtsbetriebe
der Sophisten entnommen scheint (vgl. S. 60). Ähnliches werden
ἢ Als πολυμαϑής erscheint Hippias auch bei Xen. Mem. IV, 4, 6.
3) Doch vgl. S. 59%,
ΘῈ
68 Der kleine Hippias.
wir gleich nachher im Protagoras finden, wo die lange Epideixis,
die dort Plato dem Sophisten in den Mund legt, auch die Un-
klarheit in den Anschauungen des Sophisten demonstrieren soll.
Viel näher in der ganzen Stimmung aber steht dem Hippias
natürlich der Euthydem. Wie Dionysodor und Euthydem, so ist
auch Hippias kein Mann, den man ernsthaft widerlegt. Er ver-
dient nur im komödienhaften Zerrbild vorgeführt zu werden.
Und wie dort Plato zeigt, daß er sehr wohl imstande ist, den
Eristikern auf ihr eigenes Feld zu folgen‘), so macht er sich
hier den Spaß, den Vielwisser mit den Waffen der Eristiker,
den Trugschlüssen, zu schlagen. Und wie im Protagoras Plato
von seinem Leser verlangt, daß er die Unklarheiten der Epideixis
durchschaue, so fordert er auch hier, daß der Leser selber sich die
Frage vorlegt, wo die Trugschlüsse stecken, die zu dem absurden
Ergebnis führen.
So steht es also mit dem Hauptvertreter der Sophisten, zu
denen, wie uns der Anfang des Protagoras veranschaulicht, die
Jugend blindlings hinströmt. Sollen wir denn wirklich glauben,
daß diese Männer imstande sind, wie sie es versprechen, die
Jugend besser zu machen, wo sie selber sich gar nicht klar sind,
was eigentlich „besser“ ist? „Falls wir Laien in solchen Fragen
unklar sind, so ist das kein Wunder. Aber falls auch ihr Weisen
darüber unklar seid, so ist es doch wirklich schlimm, wenn wir
nicht einmal durch den Verkehr mit euch unsere Unklarheit los-
werden können“ — das sind die Worte, mit denen der Leser
am Schluß des Dialogs entlassen wird. So nimmt er aus der
Komödie, die er miterlebt hat, eine ernste Mahnung mit, und
wer mit Sokrates selbst der Überzeugung ist, daß es keine
wichtigere Aufgabe gibt als die Sorge für die Seele ὅπως ὡς
ἀρίστη ἔσται (Apol. 23d—30b), der mag sich wohl fragen, ob er
sich diesen Sophisten anvertrauen darf, ob es nicht besser ist,
zu den Männern zu gehen, die wirklich über Erziehung und
Sittlicehkeit nachgedacht haben. Die Mängel der herrschenden
Riehtung in der Jugendbildung will also Plato aufdecken, indem
er einen ihrer Hauptvertreter lächerlich macht’), und die Über-
!) z.B. 8008, wo Ktesippos dem Euthydem die Pointe, die Mäntel seien
δυνατὰ ὁρᾶν (im aktiven Sinne), vorwegnimmt.
32). Damit tritt natürlich die Person des Hippias gegenüber der Gattung,
die er vertritt, zurück.
Ἐπ“ ΝΣ Zn Ν Br
Kritik an Hippias’ Bildungsideal. 69
legenheit des Sokrates tut er dar. Daß die jungen Leute Athens,
wenn sie das Buch läsen, dabei genau wissen würden, daß diese
Überlegenheit in Wirklichkeit nicht auf der Trugdialektik, sondern
auf positiven Überzeugungen beruhe, das konnte Plato ohne
weiteres voraussetzen. Den Vätern aber sollte vor allem das
eine deutlich werden, daß die ganze Bildungsrichtung, wie sie
Hippias vertritt, mit Sittlichkeit und Charakterbildung nichts zu
tun habe. Sie vermag wohl „allgemeine Bildung“, eine Fülle
von Kenntnissen zu vermitteln, aber ob der Schüler diese gut
benutzt oder ob er der größte Lump und Schwindler wird, darauf
hat sie keinen Einfluß. Das ist doch das positive Ergebnis des
Abschnittes 365—369b, in dem gezeigt wird, wie die Sachkunde
sich nach beiden Seiten hin, zum Guten und zum Schlechten,
gebrauchen läßt. Die sittliche Indifferenz und zugleich die Ge-
fährlichkeit zeigt Plato hier für die Polymathie des Hippias, wie
er sie später für die formelle Kunst der gorgianischen Rede
beweist ').
Wollen wir aber den Hippias ganz verstehen, so müssen wir
noch eins bedenken: Es ist der lebende Hippias, den Plato hier
im Zerrbild vorführt, so gut wie die Komödie es so gern mit
den zeitgenössischen Sophisten tat. In der Apologie wird uns
ja Hippias, der viel jünger war als Protagoras (Hipp. mai. 282d),
als einer der zur Zeit wirksamsten Weisheitslehrer genannt (196).
Der Dialog Hippias ist freilich, wie wir gleich sehen werden, erst
nach 399 verfaßt, aber viel später wird man ihn gewiß nicht
ansetzen, und daß Plato etwa einen eben Verstorbenen zur Ziel-
scheibe seines Spottes gemacht haben sollte, wird niemand glauben.
So ist es also der vielgefeierte Zeitgenosse, dem der junge Plato
hier keck den Fehdehandschuh hinwirft. Man hat freilich die
Vermutung geäußert, der Dialog sei nicht zur Veröffentlichung
bestimmt gewesen, da er zu üblen Mißdeutungen hätte Anlaß
geben können’). Aber dem Publikum, auf das Plato rechnete,
das sich für die Person des Sokrates und die Sophisten interes-
sierte, dürfen wir gewiß etwas mehr Verständnis für Platos
Absichten zutrauen als manchen Modernen. Ganz abgesehen
ferner davon, daß wohl Antisthenes auf den Dialog Bezug ge-
1) Ähnlich urteilt auch C. Ritter, Platon $. 307.
?) Ritter, Platon I, S. 308. Auch nach Gomperz, Gr. Denker II, 5. 239 soll
Plato den Dialog für einen engen Kreis geistesverwandter Leser bestimmt haben.
70 Der kleine Hippias.
nommen hat, zeigt schon die vollendete künstlerische Form, daß
Plato auf die Öffentlichkeit wirken wollte. Ungern würde man
doch wohl auch Plato zu den Leuten rechnen, die es lieben, in
kleinem Kreise ihre Konkurrenten zu kritisieren und lächerlich
zu machen, einen Angriff in der Öffentlichkeit aber fürsichtig
meiden. Nein, der Hippias ist der Dialog, in dem sich Plato zum
ersten Male gegen die hochgelehrten Herren wendet, die die Er-
ziehung des Volkes beherrschen. Es ist bezeichnend für sein
Siegesgefühl, daß er glaubt, das mit einer Komödie tun zu können.
Vielleicht hat er freilich darin sogar eine urbanere Form des
Angriffs gesehen. Gewirkt hat er gewiß damit ebenso wie mit
den bitterernsten Ausführungen, die später im Gorgias folgten.
Und schade ist nur, daß wir nicht wissen, wie Hippias sich zu
diesem Angriff gestellt hat.
An sich wäre es recht wohl denkbar, daß noch bei Lebzeiten
des Sokrates Plato diese Szene entworfen hat. Aber dagegen
spricht entschieden die enge Beziehung zu den Schriften, die
wir in die Zeit nach 399 verlegen mußten. Mit der Apologie
verbindet den Hippias, wie wir sahen, die ἐξέτασις, die Sokrates
hier anstellt (vgl. S. 59), mit dem Laches die Frage nach der
absoluten oder relativen Geltung des Begriffes φρόνιμος (S. 60),
mit dem Charmides die Erörterung über Langsamkeit und
Schnelligkeit und ihr Verhältnis zu den sittlichen Werturteilen
(S. 63). Eine Reminiszenz an die Szene im Charmides, wo Plato
dem Jüngling zeigt, daß die seelische Gesundheit wichtiger als
die leibliche ist (bes. 156e), lesen wir S. 372e, wo ziemlich un-
vermittelt Sokrates sagt σὺ οὖν χάρισαι καὶ un φϑονήσῃς ἰάσα-
σϑαι τὴν ψυχήν μου" πολὺ γάρ τοι μεῖζόν με ἀγαϑὸν ἐργάσῃ dug-
ϑίας παύσας τὴν ψυχὴν ἢ νόσου τὸ σῶμα. Wichtiger als diese
Einzelheiten ist aber das andere: Im Laches wie im Charmides
steht für Plato das Verhältnis der Tugend zum Wissen im Mittel-
punkt. Und so deutlich er auf die Lösung hinweist, daß die
Tugend mit dem Wissen vom Guten identisch ist, so scharf be-
tont er, daß das Wissen an sich mit Tugend noch nichts zu tun
hat. Genau dasselbe Problem behandelt der Hippias. Nur fällt
hier das Urteil über das Wissen viel schärfer aus. Natürlich
gilt dieses auch hier zunächst als sittlich indifferent. Aber un-
willkürlich drängt sich der Gedanke an den schlechten Gebrauch
in den Vordergrund. Der Sachkundige kann vor allem betrügen.
Zeit des Dialogs. 71
Gleich zu Anfang werden darum πανουργία und φρόνησις als eng
verwandt betrachtet (365e), und am Schluß des ersten Abschnittes
heißt es wieder: ἐν ἢ τινι βούλει σοφίᾳ τοῦτο σκέψαι ἢ πανουρ-
γίᾳ ἢ ὁτιοῦν χαίρεις ὀνομάζων (868 6). So heißt bei Plato noch
im Staate 409c der Richter, der selber die Schlechtigkeit gründ-
lich kennen gelernt hat, ein δεινὸς ἀνὴρ πολλὰ αὐτὸς ἠδικηκὼς
καὶ πανοῦργός τε καὶ σοφὸς οἰόμενος εἶναι). Daß aber ein
solches Wissen mit σοφία nichts zu tun hat, betont eine Stelle
des Menexenos, die ganz genau der Auffassung des Hippias ent-
spricht πᾶσα ἐπιστήμη χωριζομένη δικαιοσύνης καὶ τῆς ἄλλης
ἀρετῆς πανουργία, οὐ σοφία φαίνεται (240 extr.).
Woher es kommt, daß das Urteil im Hippias schärfer lautet
als im Laches und Charmides, ist klar. Dort hatte er an die
Fachwissenschaften wie die Medizin gedacht, jetzt schwebt ihm
die sophistische Ausbildung vor, der das Wissen nur dazu dient,
um jeden Preis äußere Vorteile zu erringen. Interessant ist es
dabei, zu sehen, wie bei Plato die innere Entwicklung, die ihm
die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Tugend schon
vorher nahegelegt hat, und der äußere Anlaß, der Wunsch, sich
mit dem von Männern wie Hippias vertretenen Bildungsideal
auseinanderzusetzen, zur Abfassung des Hippias zusammen-
wirken?). Die Bekämpfung dieses Bildungsideals, der positive
Beweis der sittlichen Indifferenz der Vielwisserei, die Aufforde-
rung zum scharfen Nachdenken über die Begriffe?), das Ver-
ἢ An diese Stelle knüpft Aristoteles Nik. Eth. 1144a 23 an, wo er die
δεινότης als eine Fähigkeit bezeichnet, die eine sittliche Qualität erst durch
das Ziel, das sie verfolgt, annimmt: ἂν μὲν οὖν ὁ σκοπὸς ἢ καλός, ἐπαινετή
ἔστιν, ἂν δὲ φαῦλος, πανουργία: διὸ καὶ τοὺς φρονίμους δεινοὺς καὶ {τοὺς
πανούργους φαμὲν εἶναι. --- Im Staate zeigt Plato 333eff., man dürfe die Ge-
rechtigkeit nicht als bloße δεινότης, als eine Geschicklichkeit nach Art des
Fachwissens in der materiellen Förderung der Freunde fassen, da diese sich
ebensowohl im Bewahren wie im Stehlen zeigen würde, also in Handlungen, die
vom sittlichen Standpunkte ganz entgegengesetzter Beurteilung unterliegen. Auch
an dieser Stelle knüpft Plato an die sophistischen Aporien über die Gerechtig-
keit an, die bei Xen. Mem. IV, 2 und in den Dialexeis behandelt sind. Das
Material bei Joel, Echter und xen. Sokrates I, ὅ. 395 ff.
?) Gegen die Polymathie der Peripatetiker kämpfen für die ἐπιστήμη τοῦ
βελτίστου der zweite Alkibiades und die Erastai. Vgl. Brünnecke De Alcibiade II
qui fertur Platonis Göttingen 1912, S. 81—86. Aber auch Aristoteles selbst er-
klärt (in m. παιδείας ἢ τὴν πολυμάϑειαν πολλὰς ταραχὰς ποιεῖν fr. 62.
®) Ich rechne hierhin auch das Nachdenken darüber, ob der scheinbar
72 Die Δισσοὶ Adyoı.
langen nach einer positiven Begründung der Sittlichkeit, nicht
zum wenigsten die Freude am künstlerischen Schaffen von
komödienhaften Szenen — das alles vereint sich in unserm
Dialoge.
Daß der Hippias wirklich in diese Periode von Platos Ent-
wicklung gehört, wird uns noch deutlicher werden, wenn wir
den Protagoras betrachten. Denn wenn wir vom Euthydem
absehen, der freilich der Stimmung nach der nächste Verwandte
des Hippias ist, steht diesem kein anderer Dialog näher als der
Protagoras.
Anhang.
Die Δισσοὶ λόγοι.
Die Δισσοὶ λόγοι, die man seit Stephanus auch Διαλέξεις
nennt, sind für uns von so unschätzbarem Werte, weil sie uns
zeigen, welche Probleme grade zu der Zeit, wo Plato zu schreiben
begann, das Interesse der Gebildeten erregten. Ihre Abfassung
unmittelbar nach 404, jedenfalls vor dem korinthischen Kriege,
ist bekanntlich durch 1, 8 bestimmt, wo Athens Fall als jüngstes
Ereignis erwähnt wird‘). Daß diese Doppelreden ein sophistisches
Erzeugnis sind, das mit der Sokratik nichts zu tun hat, ist wohl
heute anerkannt‘). Daß es keine zur Veröffentlichung bestimmte
Schrift ist, zeigt der Aufbau. Denn auf sechs Abschnitte, in
denen regelrecht wichtige Probleme nach dem protagoreischen
Schema des Pro und Contra erörtert werden, folgen drei Kapitel,
die sich auf keinen Fall in dieses Schema einpressen lassen °)
und unter sich ohne Zusammenhang sind. Das siebente behandelt
eine politische Frage, die Berechtigung der Loswahl, das
achte die Aufgabe des Sophisten, das neunte gibt eine Empfeh-
paradoxe Satz ὁ αὐτὸς ἀληϑὴς καὶ ψευδής nicht doch insofern eine gewisse
Richtigkeit hat, als der Endzweck unseres Handelns unter Umständen eine Lüge
rechtfertigt (Xen. Mem. IV, 2, 17).
1) Vgl. v. Wilamowitz, Gött. Index 1889, S. 7#. und Diels in den Vorbe-
merkungen zu seiner Ausgabe der Δισσοὶ λόγοι in den Vorsokratikern. Sonst
vgl. über die Schrift besonders Trieber, Hermes 27, und H. Gomperz, Sophistik
und Rhetorik, Leipzig 1912, S. 1581,
2) Vgl. bes. Gomperz, 8. 152ff., der aus Mißverständnis bei Diels die ent-
gegengesetzte Anschauung voraussetzt.
8) Falsch auch H. Gomperz, S. 187, der hier vereinfachte Formen jenes
Schemas sieht.
Inhalt und Aufbau. 73
lung der Mnemotechnik. Daß hier ein Zielpunkt erreicht ist,
zeigt der Anfang des Kapitels: μέγιστον δὲ καὶ κάλλιστον ἐξεύρημα
εὕρηται ἐς τὸν βίον μνάμα. Aber eine solche Vereinigung zu-
sammenhangloser Bestandteile kann natürlich nicht ediert sein.
Das merkwürdigste ist nun, daß gegen den Schluß hin die Dar-
stellung immer knapper wird und völlige Stillosigkeit einreißt.
Das neunte Kapitel lautet‘): (1) Μέγιστον δὲ καὶ κάλλιστον
ἐξεύρημα εὕρηται ἐς τὸν βίον μνάμα καὶ ἐς πάντα χρήσιμον, ἐς
φιλοσοφίαν τε καὶ σοφίαν. (2) ἔστι δὲ τοῦτο ' ἐὰν προσέχῃς τὸν
νοῦν, (Ta) διὰ τούτων] παρελθόνϑ'᾽ ἃ γνώμα .μᾶλλον αἰσϑησεῖται.
(3) δεύτερον δὲ μελετᾶν ἅ κα ἀκούσῃς ᾿ τῷ γὰρ πολλάκις ταὐτὰ
ἀκοῦσαι καὶ εἶπαι ἐς μνάμαν παρεγένετο σύνολον ὃ ἔμαϑες. (4)
τρίτον ἅ κα ἀκούσῃς ἐπὶ τὰ οἴδας καταϑέσθαι, οἷον τόδε ' δεῖ
μεμνᾶσθαι Χρύσιππον, κατϑέμεν ἐπὶ τὸν χρυσὸν καὶ τὸν ἵππον.
(5) ἄλλο " Πυριλάμπη κατϑέμεν ἐπὶ πῦρ καὶ τὸ λάμπειν. τάδε
μὲν περὶ τῶν ὀνυμάτων. (6) τὰ δὲ πράγματα οὕτως * περὶ
ἀνδρείας ἐπὶ τὸν "Agm καὶ τὸν ᾿Αχιλλῆα, περὶ χαλκείας δὲ ἐπὶ τὸν
Ἥφαιστον, περὶ δειλίας ἐπὶ τὸν ’Eneiöv. Eine ganze Anzahl von
Mängeln mag man hier auf die Überlieferung schieben, und ich
habe deshalb auch eine Reihe von modernen Konjekturen aufge-
nommen. Manches wie den Wechsel von Aussage und impera-
tivischem Infinitiv im zweiten und dritten Paragraphen kann man
auch als Unvollkommenheit des Stiles auffassen, wie sie uns bei
manchen hippokratischen Schriften entgegentritt. Aber besonders
die Schlußparagraphen zeigen überhaupt keinen Stil und finden
in ihrer abgerissenen Form höchstens eine Parallele in manchen
aristotelischen Schriften. Dort sind wir gewohnt, uns die Frage
zu stellen, ob nicht vielleicht das Kollegheft eines Schülers
1) Von Diels’ Varianten erwähne ich folgende:
1 εὕρηται μνάμα καὶ ἐς πάντα χρήσιμον, ἐς τὰν φιλοσοφίαν
(σοφέαν Diels) τε καὶ ἐς τὸν βίον Wilamowitz — Diels.
2 τοῦτο (πρᾶτον) Schanz, größere Lücke Wilamowitz.
(τὰ) Diels zaoeAdövra ἃ Wilamowitz: παρελϑοῦσα
Haäschr.
Nach αἰσϑησεῖται folgt σύνολον ὃ Zuades, das Diels in 8 3
versetzt.
3 τῷ γὰρ Schanz: τὸ γὰρ Hdschr.
ἐπὶ (τὸ) πῦρ Blaß.
Am Schluß hat A ἐλλιπὲς οὕτω καὶ τὸ ἀντίγραφον ὡς ὁρᾶτε, die übrigen
σημείωσαι ὅτι τὸ ἐπίλοιπον οὐχ εὑρέϑη.
74. Die Δισσοὶ λόγοι.
vorliegt‘). Dasselbe müssen wir auch hier tun Ἶ, und mir scheint,
daß alles für diese Auffassung spricht. Ein φιλοσοφῶν, also ein
Student in unserm Sinne, hat einen Vortrag aus einem sophi-
stischen Kursus nachgeschrieben. Dabei ist er gegen Schluß immer
knapper und flüchtiger geworden, hat im siebenten Abschnitt die
Besprechung der Ämter durch ein χαὶ τἄλλα — „usw.“ abge-
brochen und auch den Schluß der Vorlesung nicht mitgeschrieben.
Für durchaus möglich halte ich es z. B. auch, daß so grobe Nach-
lässigkeiten wie das ἐς φιλοσοφίαν τε καὶ σοφίαν, wo wir die Be-
griffe „bei Studium und Praxis“ erwarten’), auf seine eigne
Rechnung zu setzen sind‘). Grade dadurch aber ist diese Schrift
für uns so wichtig. Denn während wir sonst bei den Sophisten
nur von ihren Epideixeis, ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit
hören, blicken wir hier in den Hörsaal hinein und sehen, wie ein
Dozent ohne jede Pose über die aktuellsten Themata nach dem
beliebtesten Schema das vorbringt, was die jungen Leute inter-
essiert, und dann ein paar Erörterungen, die ihm am Herzen
lagen oder von den Hörern gewünscht waren, folgen läßt.
Wo dieser Kursus gehalten ist, das wird uns hoffentlich
einmaleine Inschriftlehren. Denn der siebente Abschnitt läßt keinen
Zweifel darüber, daß wir uns in einer gemäßigten Demokratie
befinden, in der die Losung der Ämter nicht üblich ist’) und in
1 Daß sie in manchen Fällen zu bejahen ist, steht mir auch nach Jägers
lehrreichen Ausführungen fest.
5) Ganz unmöglich ist Triebers Ansicht, in der Kaiserzeit sei diese Schrift
als Blumenlese aus den Schriften eines Sophisten entstanden.
®) „Praxis“ würde nach dem S. 31! erläuterten Sprachgebrauch ἀλάϑειαν
heißen können.
*) Wie weit man in der Annahme solcher Nachlässigkeiten gehen soll, ist
natürlich sehr schwer zu sagen, da auch die Überlieferung zweifellos Lücken
verschuldet hat. Am Schluß von 8 ist überliefert: ὃς δὲ βραχὺ δεῖ vw
ἐρωτώμενον dnorolveodaı περὶ πάντων " οὐκῶν δεῖ νιν πάντ᾽ ἐπίστασϑαι. Ich
glaube kaum, daß wir hier das Recht haben, mit Diels zu schreiben ὡς δὲ (καὶ
κατὰ) βραχὺ (διαλέγεσθαι δύναται, al na) δέῃ νιν xıl. So mag der Dozent
gesprochen haben. Ob aber der Student mehr nachgeschrieben hat als das Stich-
wort ὡς δὲ βραχὺ (oder κατὰ βραχὺ) δεῖ κτλ.
5) Über solche Demokratien vgl. Aristoteles ῬῸ]. 18004 80, (entschei-
dend ist für den demokratischen Charakter der Verfassung, daß alle Beamte
aus allen bestellt werden; ob κλήρῳ oder αἱρέσει, kommt primär nicht in Be-
tracht. Man vergleiche noch, wie Aristoteles dort beginnt τούτων δ᾽ αἱ μὲν δύο
καταστάσεις δημοτικαί und der Sophist die Frage erörtert, ob die Losung
Charakter und Dialekt. 75
der es νομοφύλακες gibt‘). Vorläufig ist damit aber kein sicherer
Anhaltspunkt gegeben. Auch der Dialekt hilft nicht viel weiter.
Die Handschriften zeigen eine konventionelle Doris mit Bei-
mischung einzelner dorischer Sonderformen und attischer Ele-
mente, die eine Lokalisierung nicht zuläßt. Gewiß dürfen wir
auch hier wieder die schlechte Überlieferung zum Teil verant-
wortlich machen. Aber noch etwas anderes bleibt doch sehr zu
bedenken. An sich ist freilich der Fall denkbar, daß der Dozent,
der hier vortrug, in einer dorischen Kleinstadt ansässig war. Aber
nach dem ganzen Bilde, das wir sonst vom sophistischen Unter-
richt haben, werden wir doch eher annehmen, daß ein Wander-
lehrer, nachdem er sich durch eine Epideixis eingeführt hatte,
seinen Kursus hielt, und die Art, wie er 4, 4 sich als μύστας
vorstellt, deutet eher auf einen Fremden hin. In welchem Dia-
lekt mag denn nun z. B. Hippias gesprochen haben, wenn er in Sparta
oder in Inykos Vorträge hielt? Der attischen Literatursprache,
in der er natürlich publizierte (fr. 4. 6), durfte er sich doch in
Sparta ganz gewiß um 400 nicht bedienen. Mit seinem Elisch
ist er auch nicht ausgekommen. Hat er nun wohl jedesmal nach
dem Vortragsort den Dialekt gewechselt? Näher liegt, daß er
auf dorischem Gebiete wohl dorisch sprach, aber ein Dorisch, das
kein festes Lokalkolorit trug. Besonders nach dem Falle Athens
durfte gewiß ein attischer oder jonischer Dozent, der in dorischen
Städten, etwa gar solchen, die sich eben von Athens Joch befreit
hatten, auftrat, kaum auf Erfolge hoffen, wenn er sich seiner
heimischen Mundart bediente, Daher ist der Dialekt der Doppel-
dauorızdv sei (7, 5). Es ist eine von den Stellen, wo man deutlich den
Zusammenhang von Aristoteles’ politischen Theorien mit denen der Sophisten-
zeit spürt.
1 Nomophylakes sind inschriftlich überall erst für spätere Zeit bezeugt,
und zwar für Athen Keos Korkyra Chalkedon Abdera Demetrias (vgl. Busolt in
der dritten Auflage der Staatsaltertümer 5. 490. 1, der mir freundlichst die Kor-
rekturbogen zur Verfügung stellte). Doch bezeugt sie schon Xen. Oik. IX, 14.
Aristoteles betrachtet sie als ein aristokratisches Element (Pol. 1323a 8), das aber
natürlich auch in gemäßigter Demokratie vorkommen kann. — Für ausgeschlossen
halte ich es, daß der Sophist mit völliger Gedankenlosigkeit die Schilderung der
politischen Zustände aus einer Vorlage, aus Protagoras, herübergenommen haben
sollte (H. Gomperz, S. 152).— An Chalkedon oder eine andre dorische Stadt, die
früher zum attischen Reiche gehört hatte, dachte Wilamowitz, Gött. Index 1889,
S. ΤΠ Jetzt nimmt er eher Kyrene (wegen Aristipps Schule) als Entstehungs-
ort an (Kult. d. Gegw. I, 8°, 5. 66).
76 Die Δισσοὶ λόγοι.
reden schwerlich geeignet, ein sicheres Kriterion für die Her-
kunft des Verfassers zu bilden.
Auch der Inhalt scheint gıade bei unserer Auffassung vom
Charakter der Schrift kaum weiter zu helfen. Man hat längst
gesehen, daß in den ersten Kapiteln nicht bloß die Form der
Δισσοὶ λόγοι, sondern auch die Probleme selbst zum großen Teile
auf Protagoras zurückgehen '), und wir werden das noch behan-
deln. In 3, 10 wird das berühmte Wort des Gorgias über die
Tragödie benutzt. Von Hippias wird gleich zu reden sein. Aber
das beweist an sich nur, was wir auch sonst voraussetzen würden,
daß nämlich die Sophisten, „diese Hausierer mit geistigen
Nahrungsmitteln“ (Prot. 313c), alle neueren Gedanken, gleichviel
von wem sie stammten, vortrugen. Immerhin ist es aber sehr
beachtenswert, daß uns eine Reihe von Zügen begegnet, die uns
unmittelbar auf den Sophisten hinführen, der grade zur Zeit der
Doppelreden in Hellas viel bewundert war. Das ist kein andrer
als Hippias von Rlis. Um von Unsicherem abzusehen‘), so ist
5, 11 die Erörterung über die Betonung (ἁρμονία) der Silben
und die Unterschiede der Worte nach den γράμματα vollkommen
im Geiste des Hippias, der nach Plato Hipp. min. 368d περὶ
ῥυϑμῶν καὶ ἁρμονιῶν καὶ γραμμάτων ὀρϑότητος lehrte”). Im achten
Kapitel erinnert die Erörterung, daß der Sophist alles beherrschen
muß, die Dialektik wie die Rhetorik und das Wissen vom All,
an den Mann, der sich auf seine Vielseitigkeit so viel einbildete,
und wenn in ὃ 1 verlangt wird, der Sophist solle περὶ φύσιος
τῶν ἁπάντων lehren können, so verweist Diels mit Recht auf
Hippias’ Worte in Platos Protagoras 337d: ὑμᾶς οὖν αἰσχρὸν τὴν
μὲν φύσιν τῶν πραγμάτων εἰδέναι κτλ. Das wichtigste ist aber
die Art, wie am Schluß die Mnemotechnik als μέγιστον καὶ
κάλλιστον ἐξεύρημα angepriesen wird. Denn diese Kunst ist keinallge-
meines sophistisches Schaustück, ganz ausschließlich als Erfindung
des Hippias betrachtet sie Xenophon (Symp. IV, 62 “Ἱππίᾳ τῷ ᾿Ηλείῳ
παρ᾽ οὗ οὗτος καὶ τὸ μνημονικὸν Zuade) wie Plato Hipp. min. 368e
(καίτοι τό γε μνημονικὸν ἐπελαϑόμην σου, ὡς ἔοικε, τέχνημα, Ev
1 Vgl. Trieber, Hermes 27 und besonders H. Gomperz, 5. 109 ἢ. Dieser
geht freilich wohl in der Zurückführung der formalen und sachlichen Elemente
auf Protagoras zu weit.
2) Darüber manches bei Trieber, Hermes 27.
3) Vgl. Hipp. mai. 285b und Trieber a. a. O., H. Gomperz, S. 172.
Beziehungen zu Hippias. 77
ᾧ σὺ οἴει λαμπρότατος eivaı)') und der Verfasser des größeren
Hippias (285 6). Sollen wir glauben, daß ein anderer Sophist am
Schluß seines Vortrages in so bedeutungsvoller Weise die Er-
findung seines Konkurrenten angepriesen habe? Näher liegt es
doch gewiß, an einen Schüler des Hippias zu denken oder — an
Hippias selber‘). Daß der Dialekt, das Arbeiten mit den alten
protagoreischen Motiven, die Magerkeit des Inhalts, das Fehlen
epideiktischer Formen im Schulvortrag kein Hindernis für diese
Annahme bilden, dürfte klar geworden sein. Immerhin ist der
Beweis nicht zwingend. Auf jeden Fall aber dürfen wir sagen,
daß Plato im kleinen Hippias an ein Problem anknüpft, das auch
im Kreise des Hippias behandelt wurde.
V. Protagoras.
Der Protagoras knüpft unmittelbar an Hippias und Laches
an. Denn wenn der Hippias am Schluß den Leser mit dem
warnenden Hinweis entläßt, daß von diesen σοφοί keine Klarheit
in sittlichen Dingen und keine Förderung zu erwarten sei, so
schildert uns der Anfang des Protagoras mit den lebendigsten
Farben, welche Aufregung trotzdem die vornehme Jugend Athens
erfaßt, sobald solch ein Sophist nach Athen kommt, wie sie alles
hintansetzen, um den σοφός zu hören und von seiner σοφία zu
profitieren (bes. 310d). Solchen Bildungshunger erweckt zu haben,
ist ein Verdienst der Sophisten, aber in diesem Bildungshunger
liegt auch eine schwere Gefahr. Im Laches hatte Plato gezeigt,
daß kein Problem wichtiger für den Menschen sei als die Er-
ziehung und daß es der größte Leichtsinn sei, wenn Unberufene
sich zur Erziehung drängen, sich als Lehrer erbieten. In starkem
ἢ Wenn Plato nachher sagt: Νυνὶ γὰρ ἴσως οὐ χρῇ τῷ μνημονικῷ
τεχνήματι --- δῆλον γὰρ ὅτι οὐκ οἴει δεῖν — ἀλλὰ ἐγώ σε ὑπομνήσω (909 8),
so ist die Parenthese für den Zusammenhang so entbehrlich, daß man an eine
Anspielung glauben möchte. Da scheint es mir beachtenswert, daß in den
Doppelreden c. 5 das Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Handeln der Weisen
und der Tollen so präzisiert wird: τοὶ μὲν σοφοὶ ἐν τῷ δέοντι, τοὶ δὲ μαινόμενοι
οὐ δεῖ (9, vgl. schon vorher ὅν δέοντι und 8 10) und daß auch in 8, 7.8 das
τὰ δέοντα πράσσεν betont wird. — Vgl. noch den kleinen sokratischen Dialog
περὶ δικαίου 375b (H. Gomperz 167).
2) Ähnlich Dümmler, Akademika, S.259. Trieber, Hermes 27. H. Gomperz,
Br 170]
78 Protagoras.
Anklang an diese Ausführungen ') weist der Sokrates des Protagoras
den Hippokrates auf die Gefahren hin, die ihm selber drohen,
wenn er sich leichtsinnig einem Lehrer anvertraut, ohne zu wissen,
was der ıhm bieten wird, was er selber von ihm will. Trotz
dieser Mahnungen begeben sich natürlich doch beide zu dem
berühmten Mann hin. Es ist diesmal kein Zeitgenosse Platos,
den dieser Sokrates gegenüberstell. Aber er ist mit ebenso
gutem Bedacht ausgewählt wie Hippias. Protagoras ist der Mann
— das sagt uns Plato an der für die Geschichte der Sophistik
wichtigsten Stelle 348e°), und dasselbe läßt er schon vorher
Protagoras selber aussprechen 316dff. —, der zuerst aus seiner
σοφία ein Gewerbe gemacht hat, zuerst öffentlich sich erboten hat,
wie Homer und Hesiod als Lehrer der Tugend für die ganze
Nation zu wirken und der von seinen pädagogischen Erfolgen
so überzeugt ist, daß er zuerst es gewagt hat, sich dafür Honorar
1) οἶσϑα eis οἷόν τινα κίνδυνον ἔρχῃ ὑποϑήσων τὴν ψυχήν; fragt Sokrates
den Jüngling 3198. Nur wenn du selber schon ein Urteil hast über die Waren,
die Protagoras feilbietet, darfst du sie einhandeln, εἰ δὲ μή, ὅρα, ὦ μακάριε, μὴ
περὶ τοῖς φιλτάτοις κυβεύῃς τε nal κινδυνεύῃς (3l3e). Im Laches sagt Sokrates
185a ἢ περὶ σμικροῦ οἴεσϑε νυνὶ κινδυνεύειν nal σὺ nal Λυσίμαχος ἀλλ᾽ οὐ
περὶ τούτου τοῦ κτήματος ὃ τῶν ὑμετέρων μέγιστον ὃν τυγχάνει; ὑέων γάρ που
ἢ χρηστῶν ἢ τἀναντία γενομένων καὶ πᾶς ὃ οἶκος ὁ τοῦ πατρὸς οὕτως οἴκήσεται,
ὁποῖοι ἄν τινες οἱ παῖδες γένωνται und wiederholt 187b σκοπεῖν χρὴ μὴ οὐκ Ev
τῷ Καρὶ ὑμῖν ὁ κίνδυνος κινδυνεύηται, ἀλλ᾽ ἐν τοῖς δέσι κτλ. Dab Prot. 313cd
wie Laches 185e die μαϑήματα als das bezeichnet werden, was die Seele fördert,
ist natürlich ohne Belang. Aber merkwürdig ist, daß im Zusammenhang damit
im Protagoras der Sophist als Händler mit Waren erscheint, über deren Wirkung
nicht er, sondern nur der Seelenarzt urteilen kann (313de), während er vorher
selber die Tätigkeit des Seelenarztes ausübt. Denn das schwebt doch vor, wenn
Sokrates ganz unvermittelt 312b fragt οἶσϑα οὖν .. ὅτι μέλλεις τὴν ψυχὴν
τὴν σαυτοῦ παρασχεῖν ϑεραπεῦσαι ἀνδρί, ὡς φῇς, σοφιστῇ. Grade diese Auf-
fassung, die hier so plötzlich auftritt, wird im Laches ausführlich begründet.
Denn daß die Erziehung eine ϑεραπεία der Seele ist, wird dort allmählich von
dem Beispiel der Augenheilkunde aus gewonnen (185ce, ganz wie im Protagoras
dann schon 186a πολλῶν νέων τεϑεραπευκότες ψυχάς). Aus dem Laches über-
trägt also doch wohl Plato diese Auffassung des Sophisten in den Protagoras
und fügt neu das Bild des Händlers hinzu. — Als Kleinigkeit sei noch erwähnt,
daß im Laches Sokrates 186c bedauernd sagt: τοῖς μὲν σοφισταῖς oön ἔχω
τελεῖν μισϑούς und im Protagoras die ganze Erörterung 311b—312a an den
Satz anknüpft Eine μοι, ὦ ᾿ππόκρατες, παρὰ Πρωταγόραν νῦν ἐπιχειρεῖς ἱέναι,
ἀργύριον τελῶν ἐκείνῳ μισϑὸν ὑπὲρ σεαυτοῦ, ὡς παρὰ viva ἀφιξόμενος καὶ τές
γενησόμενος.
2) H.Gomperz beachtet sie kaum. Vgl. den Anhang „Sophistik und Rhetorik“.
Vorgespräch. 79
zahlen zu lassen (349a). Es ist also der Begründer der Sophistik,
der Sophist κατ᾽ ἐξοχήν, dem Sokrates gegenübertritt, ein Mann,
der das wirklich zu leisten verspricht und geleistet zu haben be-
hauptet, was keiner der Gesprächsteilnehmer im Laches sich zu-
trauen durfte. In einer längeren Epideixis findet er zunächst
wirklich Gelegenheit, sich mit Stolz zu diesem Berufe, den er
seit langen Jahren ausübt, zu bekennen: ὁμολογῶ τε σοφιστὴς
εἶναι καὶ παιδεύειν ἀνθρώπους (317a)'). Und als dann Sokrates
ihm sofort die Frage vorlegt, über die Hippokrates im Unklaren
gewesen war, was nämlich der Jüngling von dem Unterricht zu
erwarten habe, da ruft er diesem zu: ἔσται τοίνυν σοι, ἐὰν ἐμοὶ
συνῇς, ἣ ἂν ἡμέρᾳ ἐμοὶ συγγένῃ, ἀπιέναι οἴκαδε βελτίονι γεγονότι
(8184). Damit ist das Wort gefallen, das uns im Hippias so viel
beschäftigt hat. Aber dort hatte Sokrates gezeigt, auf was für
Holzwege man gerät, wenn man das βελτίων nicht genauer prüft
und den absoluten und relativen Gebrauch nicht scheidet; und
auch im Laches hatte er sich nicht mit dem φρόνιμος begnügen
wollen, sondern εἰς τί φρόνιμος; gefragt (vgl. S. 25). So über-
rascht es uns nicht, wenn auch hier Sokrates sofort die weitere
Auskunft verlangt: εἰπὲ τῷ νεανίσκῳ καὶ ἐμοὶ ὑπὲρ τούτου
ἐρωτῶντι, “Ϊπποκράτης ὅδε Πρωταγόρᾳ συγγενόμενος, ἧ ἂν αὐτῷ
ἡμέρᾳ συγγένηται, βελτίων ἄπεισι γενόμενος... εἰς τί, ὦ Πρω-
ταγόρα, καὶ περὶ τοῦ; (318d). Das gibt Protagoras den will-
kommenen Anlaß zu einer programmatischen Erklärung, die so
1 Merkwürdigerweise beginnt er mit einem Zitat aus der platonischen
Apologie. Denn dort heißt es von den Sophisten (Protagoras ist als verstorben
nicht genannt) 19e τούτων γὰρ ἕκαστος, ὦ ἄνδρες, οἷός τ᾽ ἐστὶν ἰὼν eig ἑκάστην
τῶν πόλεων τοὺς νέους, οἷς ἔξεστι τῶν ἑαυτῶν πολιτῶν προῖκα συνεῖναι ᾧ
ἂν βούλωνται -- τούτους πείϑουσι τὰς ἐκείνων συνουσίας ἀπολιπόντας σφίσιν
ovveivaı χρήματα διδόντας καὶ χάριν προσειδέναι. Protagoras beginnt: ξένον
γὰρ ἄνδρα καὶ ἰόντα εἰς πόλεις μεγάλας καὶ ἐν ταύταις πείϑοντα τῶν νέων
τοὺς βελτίστους ἀπολείποντας τὰς τῶν ἄλλων συνουσίας, καὶ οἰκείων καὶ
ὀϑνείων καὶ πρεσβυτέρων καὶ νεωτέρων, ἑαυτῷ συνεῖναι ὡς βελτίους ἐσομένους
διὰ τὴν ἑαυτοῦ συνουσίαν, χρὴ εὐλαβεῖσϑαι τὸν ταῦτα πράττοντα. --- Im Laches
erklärt Sokrates ausführlich, nur der dürfe als Erzieher auftreten, der die Er-
ziehungskunst verstehe und sie entweder von andern erlernt oder selbst erfunden
habe (186—187, bes. 186 extr. εἴπετον ἡμῖν τίνι δὴ δεινοτάτῳ συγγεγόνατον
περὶ τῆς τῶν νέων τροφῆς καὶ πότερα μαϑόντε παράώ rov ἐπίστασϑον ἢ αὐτὼ
ἐξευρόντε). Zu Protagoras sagt Sokrates: „ich traue dir Erzieherfähigkeit zu
διὰ τὸ ἡγεῖσϑαί σε πολλῶν μὲν ἔμπειρον γεγονέναι, πολλὰ δὲ μεμαϑηκέναι,
τὰ δὲ αὐτὸν ἐξηυρηκέναι““ (320b).
80 Protagoras.
wichtig ist, daß sie ganz hier Platz finden muß: “Ἱπποκράτης
παρ᾽ ἐμὲ ἀφικόμενος οὐ πείσεται, ἅπερ ἂν Enadev ἄλλῳ τῳ
συγγενόμενος τῶν σοφιστῶν. οἱ μὲν γὰρ ἄλλοι λωβῶνται τοὺς
vEovg' τὰς γὰρ τέχνας αὐτοὺς πεφευγότας ἄκοντας πάλιν αὖ ἄγον-
τες ἐμβάλλουσιν εἰς τέχνας, λογισμούς τε καὶ ἀστρονομίαν καὶ
γεωμετρίαν καὶ μουσικὴν διδάσκοντες --- καὶ ἅμα εἰς τὸν “Ϊππίαν
ἀπέβλεψεν —, παρὰ δ᾽ ἐμὲ ἀφικόμενος μαϑήσεται οὐ περὶ ἄλλου
του ἢ περὶ οὗ ἥκει. τὸ δὲ μάϑημά ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν
οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν
τῆς πόλεως, ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν
καὶ λέγειν. Auf Sokrates’ Anregung faßt er dann noch kurz die
positiven Ausführungen dahin zusammen, daß das Ziel seines
Unterrichts die πολιτικὴ ἀρετή sei (319a).
Protagoras stellt sich also hier in allerschärfsten Gegensatz
zu Männern wie Hippias. Läßt ihn Plato das nur tun, um die
Eitelkeit des Mannes zu charakterisieren oder um Hippias noch
einen Hieb zu versetzen? Das dürften wir nur annehmen, wenn
nicht wirklich ein sachlicher Gegensatz zwischen den Ausbildungs-
zielen beider Männer bestände.e Ganz deutlich wird uns der
freilich erst, wenn wir nachher aus Protagoras’ eigenem Munde
genauer hören, was er unter πολιτικὴ ἀρετή versteht. „An einem
müssen alle Bürger Anteil haben, wenn ein staatliches Leben be-
stehen soll. Das ıst nicht Zimmerhandwerk, Schmiedekunst und
Töpferei, ἀλλὰ δικαιοσύνη καὶ σωφροσύνη καὶ τὸ ὅσιον εἶναι, καὶ
συλλήβδην Ev αὐτὸ προσαγορεύω εἶναι ἀνδρὸς ἀρετήν (920 8).
Αἰδώς und δίκη sind die göttliche Gabe, die ϑεία μοῖρα, die
allen Menschen innewohnt (322a—d, αἰδώς und δίκη viermal ver-
bunden). Aus ihnen entspringt die πολιτικὴ ἀρετή. Diese ist es,
die dem Zustande der Rechtlosigkeit in der Urzeit ein Ende ge-
macht hat (ἠδίκουν ἀλλήλους ἅτε οὐκ ἔχοντες τὴν πολιτικὴν
τέχνην 8220), die auch heute durch Gerechtigkeit und Selbst-
beherrschung den Bestand des Staates verbürgt (πολιτικῆς ἀρετῆς,
ἣν δεῖ διὰ δικαιοσύνης πᾶσαν ἰέναι καὶ σωφροσύνης 322e), dienament-
lich mit der Gerechtigkeit untrennbar verbunden ist (δικαιοσύνης
τε „ai τῆς ἄλλης ἀρετῆς 323a ἐν δὲ δικαιοσύνῃ καὶ ἐν τῇ ἄλλῃ
πολιτικῇ ἀρετῇ 323b). — Das alles trägt Protagoras in seinem
Mythos mit so starken Wiederholungen und mit solchem Nach-
druck vor, daß der Leser durchaus den Eindruck mitnimmt, für
Protagoras ist die πολιτικὴ ἀρετή, zu der er erziehen will, keine
Die verschiedenen Bildungsideale in der Sophistik. 81
formelle Fähigkeit, sondern Sittlichkeit. Und da Plato nichts tut,
um dies als Spiegelfechterei zu charakterisieren, da er im ganzen
Dialog Protagoras als ehrlichen Charakter hinstellt, so muß Plato
selber der Meinung gewesen sein, daß Protagoras eine sittliche
Erziehung als Ziel vorgeschwebt und daß er eine solche zu geben
geglaubt hat‘). Daraus ergibt sich aber, wie wir die Erklärung
des Protagoras an der zitierten Stelle (318d) auffassen sollen.
Plato selber will hier zeigen, daß in der Sophistik
ganz verschiedene Strömungen nebeneinander hergehen.
Protagoras, der Begründer der Sophistik, hat ausdrück-
lich die sittliche Ausbildung als Ziel anerkannt, gleich-
viel wie weit er es im einzelnen verfolgt oder gar er-
reicht hat. Hippias dagegen beschränkt sich auf die
Übermittlung von Fachwissen und -können. Er mag
sich auch ἀρετῆς διδάσκαλος nennen’), aber von be-
wußter Verfolgung eines sittlichen Zieles ist bei ihm
keine Rede. Wie genau diese Charakteristik des Mannes zu
dem Dialoge Hippias paßt, bedarf keines Wortes mehr. Und
wenn wir sehen, wie zur Kennzeichnung des Sophisten dieselben
Fächer, Arithmetik, Astronomie, Geometrie, verwendet werden, deren
sittliche Indifferenz in jenem Dialoge dargetan war (vgl. S. 69),
während im Protagoras selber-nachher ganz andre Seiten an ihm
hervorgehoben werden, wenn wir weiter bedenken, daß Hippias’
Richtung hier einfach beiseite geschoben wird, ohne daß er sich
zur Sache äußern kann, so werden wir wohl nicht zuviel in
Platos Stelle hineinlegen, wenn wir herauslesen: Plato ver-
weist hier selbst auf seinen Dialog Hippias und deutet
an, daß durch diesen für ihn die Auseinandersetzung
mit der Richtung, die Hippias innerhalb der Sophistik
vertritt, erledigt ist und er nun daran gehen will zu
prüfen, ob der Begründer der Sophistik selber das ge-
leistet hat oder zu leisten vermochte, was er versprach.
Voraussetzen werden wir dabei wohl ohne weiteres dürfen, daß
Hippias und Protagoras nicht als Einzelne in Betracht kommen,
sondern als Vertreter bestimmter Richtungen, die Plato innerhalb
der Sophistik scheidet, ohne daß damit natürlich gesagt ist, ob
1 Über die ganz abweichende Auffassung von H. Gomperz nachher.
?) Des wird jedenfalls Menon 95b von allen Sophisten ausgesagt. Darüber
nachher.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 6
82 Protagoras.
ein Mann wie Prodikos einfach der einen oder andern zugerech-
net werden kann.
Danach müssen wir im Protagoras eine Art Gegenstück zum
Hippias erwarten. Formell bestätigt sich das in überraschendem
Maße. Aufs schärfste wird in beiden Dialogen der Gegensatz
zwischen den langen Reden der Sophisten, die den Demegorien
gleichen (328e, 336b), und der sokratischen Dialektik, „die nicht
jedermanns Sache ist“, hervorgehoben (Prot. 329e 335ff. — Hipp.
373a)'). Scheinbar sind dabei die Sophisten im Vorteil. In den
Δισσοὶ λόγοι wird ja ausdrücklich der Satz vertreten, daß der So-
phist, der das ganze Wissen der Zeit beherrscht, auch die Fähig-
keit des χατὰ βραχὺ διαλέγεσθαι haben und in Frage und Ant-
wort Rede stehen muß (8, 1. 13), und im Dialog Hippias wird
deshalb die Bereitwilligkeit des Sophisten, auch in dieser Weise
zu diskutieren, ohne weiteres vorausgesetzt, wenn auch erst ein
paar Schmeicheleien notwendig sind, um ihn auf dieses Gebiet
herüberzulocken. Auch im Protagoras wird die Befähigung des
Sophisten zur Dialektik als selbstverständlich angesehen (329b)
und als Folge seiner Kunst, die βραχυλογία so gut wie die μακρο-
Aoyia zu lehren, betrachtet, und Protagoras selber läßt sich auch
zuerst gern auf diese Methode ein und macht erst Schwierig-
keiten, als er den kürzeren zu ziehen droht (334e — 336e)°).
Während also angeblich die Sophisten beide Methoden beherr-
schen, ist Sokrates vergeßlich und unfähig, den langen Reden zu
folgen (Hipp. 373a μακρὸν μὲν οὖν λόγον ei ᾽ϑέλεις λέγειν, προλέγω
σοι ὅτι οὐκ ἄν μὲ ἰάσαιο --- οὐ γὰρ ἂν ἀκολουϑήσαιμι —, ὥσπερ
1) Ebenso im Gorgias 447c, 448e, 449}, 401] 4, sowie 519d, wo das δημηγο-
ρεῖν wiederkehrt. — Protagoras hat die Eristik gepflegt, aber die Fragetechnik
der Trugschlüsse, der Meyagına ἐρωτήματα, wie man sie später gern nannte,
stammt doch wohl aus dem Eleatismus. Ganz unbegründet ist es vollends, wenn
H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik S. 288, behauptet, Sokrates habe seine dialek-
tische Fragemethode von Protagoras entlehnt.
3) Vgl. auch H. Gomperz, Rhetorik und Sophistik, bes. S. 129 und S. 178,
wo er auch darauf verweist, daß Prot. 929 ἢ dasselbe ἀποκρίνεσθαι κατὰ βραχύ
vorkommt, das wir in den Dialexeis als Erforderung des Sophisten trafen. —
Gorgias erklärt ausdrücklich (449c): καὶ γὰρ ad καὶ τοῦτο Ev ἔστυν ὧν φημι,
μηδένα ἂν ἐν βραχυτέροις ἐμοῦ τὰ αὐτὰ εἰπεῖν und legt dann Proben seiner
βραχυλογία ab. Vorher hat er freilich gesagt: εἰσὶ μὲν ἔνιαι τῶν ἀποκρίσεων
ἀναγκαῖαι διὰ μακρῶν τοὺς λόγους ποιεῖσϑαι. Ähnlich fragt Protagoras 334d:
πῶς οὖν κελεύεις με βραχέα ἀποκρίνεσθαι; ἢ βραχύτερά σοι, ἔφη, ἀποκρένωμαι
ἢ δεῖ;
Der Protagoras ein Gegenstück des Hippias. 83
δὲ ἄρτι εἰ ϑελεις μοι ἀποκρίνεσθαι, πάνυ ὀνήσεις. Prot. 336a sagt
Sokrates zu Kallıas: „Wie ich ım Laufen dem Wettläufer Krison
nicht folgen kann, so auch den langen Reden des Protagoras nicht,
ei οὖν ἐπιϑυμεῖς ἐμοῦ καὶ Πρωταγόρου ἀκούειν, τούτου δέου ὥσπερ
τὸ πρῶτόν μοι ἀπεκρίνατο διὰ βραχέων... οὕτω καὶ νῦν ἀπο-
χρίνεσϑαι vgl. 829}, 334a). Trotzdem zeigt sich sehr bald bei
beiden Sophisten, daß sie der Dialektik hilflos gegenüberstehen,
und als sie dann den Vorschlag machen, sich in längeren Reden
miteinander zu messen (ἀντιπαραβάλλειν λόγον παρὰ λόγον Hipp.
369c), da entwickelt im Protagoras plötzlich Sokrates eine merk-
würdige Gabe, durch eine Epideixis in Form einer Dichterinter-
pretation Protagoras zu überbieten, und noch merkwürdiger ist
es vielleicht, daß er auch im Hippias eine ähnliche Dichterinter-
pretation in längerer Rede vorbringt, nachdem er eben den Vor-
schlag des Sophisten abgelehnt hat (369e — 570 6) ').
Sobald Hippias merkt, daß er in der Dialektik Sokrates nicht
gewachsen ist, macht er Schwierigkeiten, und Sokrates, der den
langen Reden nicht folgen kann, wendet sich an Eudikos: ἐὰν
μή μοι ἐθέλῃ Ἱππίας ἀποκρίνεσθαι, δέου αὐτοῦ ὑπὲρ ἐμοῦ. Hip-
pias will nicht, aber da ihn Eudikos an sein Versprechen; auf
Fragen zu antworten, erinnert, entschließt er sich zur Fortsetzung
des Gesprächs (373a—c). Auch Protagoras sucht, als er seine
Unterlegenheit fühlt, durch eine längere Rede auszuweichen; auch
dort sträubt sich Sokrates gegen diese Methode, und nur durch
Vermittlung der anderen wird die Fortsetzung des Gespräches
möglich. Wieder bittet Sokrates den Kallias: ei οὖν ἐπιϑυμεῖς
ἐμοῦ καὶ Πρωταγόρου ἀκούειν, τούτου δέου, und Protagoras wird
namentlich durch Alkibiades’ Hinweis, daß er auf die Beherr-
schung der Dialektik verzichte, wenn er Sokrates nicht auf dieses
Gebiet folge, sehr wider seinen Willen zur Fortsetzung des Ge-
sprächs gezwungen (334c — 338c). Er schlägt dann die Dichter-
interpretation vor, die im Hippias den Ausgangspunkt bildet, und
Sokrates geht darauf zunächst ein. Aber 347b sagt er περὶ
doudıwv ve καὶ ἐπῶν ἐάσωμεν. Denn gebildete Männer οὐδὲν
δέονται ἀλλοτρίας φωνῆς οὐδὲ ποιητῶν, οὃς οὔτε ἀνερέσϑαι οἷόν
τ᾽ ἐστὶν περὶ ὧν λέγουσιν ἐπαγόμενοί τε αὐτοὺς οἱ πολλοὶ οἱ μὲν
1 Vgl. Gorg. 464. 5, 507—9, 511—3, 517—9. Darüber nachher. — Man
vergleiche noch, wie auch Prot. 347a Hippias’ Anerbieten, eine ἐπέδειξις zu
halten, freundlichst abgelehnt wird.
6*
84. Protagoras.
ταῦτά φασιν τὸν ποιητὴν νοεῖν οἱ δ᾽ ἕτερα. Der Hippias beginnt
gleich (365c) Τὸν μὲν ”Oungov τοίνυν ἐάσωμεν, ἐπειδὴ καὶ ἀδύνατον
ἐπανερέσϑαι τί ποτε νοῶν ταῦτα ἐποίησεν τὰ ἔπη, und daß jeder
in die Dichter hineindeuten kann, was ihm beliebt, das wird im
ganzen Dialoge aufs ergötzlichste illustriert. Nicht minder übrigens
im Protagoras. Denn wenn Sokrates in Simonides’ Skolion inter-
pungiert
πάντας δ᾽ ἐπαίνημι καὶ φιλέω
ἑκών, ὅστις ἔρδῃ
μηδὲν αἰσχρόν,
so ist er sich gewiß bewußt gewesen, gegen den Willen des
Dichters das ἑκών von ὅστις ἔρδῃ abzutrennen und diesem damit ge-
waltsam die eigene Erkenntnis unterzulegen ὅτε πάντες οἱ τὰ
αἰσχρὰ καὶ τὰ κακὰ ποιοῦντες ἄκοντες ποιοῦσιν (848 6) Ἶ. Warum
ihm daran gelegen hat, diesen Satz hier vorzubringen, werden
wir noch genauer sehen. Jedenfalls sollen wir aber auch an die
Worte denken, die am Schluß des Hippias dem Leser andeuteten,
wo der Fehler zu suchen sei: ὁ ἄρα ἑκὼν ἁμαρτάνων καὶ αἰσχρὰ
καὶ ἄδικα ποιῶν, ὦ Ἱππία, εἴπερ τίς ἐστιν οὗτος, οὐκ ἂν ἄλλος
εἴη ἢ ὃ ἀγαϑός 8160). Daß im Protagoras 350cd direkt die Un-
zulässigkeit eines im Hippias mehrfach angewendeten Trug-
schlusses aufgezeigt wird, haben wir schon S. 62 gesehen.
Endlich ist es gewiß kein Zufall, daß in beiden Dialogen das
Ergebnis in ähnlicher Weise ausgesprochen wird. ᾿Εγὼ περὶ
ταῦτα ἄνω καὶ κάτω πλανῶμαι καὶ οὐδέποτε ταὐτά μοι δοκεῖ,
so schließt Sokrates im Hippias, und ebenso muß er im Prota-
goras feststellen, daß alle Ansichten ins Wanken gekommen sind:
ἐγὼ οὖν, ὦ Πρωταγόρα, πάντα ταῦτα καϑορῶν ἄνω κάτω ταραττό-
μενα δεινῶς πᾶσαν προϑυμίαν ἔχω καταφανῆ αὐτὰ γενέσθαι
(861 ο). Einen andern Ton bringen aber hier die letzten Worte
hinein, denn die deuten doch darauf hin, daß die Untersuchung
des Protagoras nicht so negativ verlaufen ist wie die des Hip-
pias und es weiterer Untersuchung wohl gelingen kann, die noch
vorhandenen Bedenken zu heben. Wohl zu beachten ist dabei
1 Zur platonischen Deutung des Gedichtes vgl. v. Wilamowitz, Sappho und
Simonides 5. 159ff. Seinem Urteil über den Protagoras S. 179! vermag ich aber
nicht beizustimmen.
3) Vgl. noch Prot. 3580 ἄλλο τι οὖν ἐπί γε τὰ κακὰ οὐδεὶς ἑκὼν ἔρχεται
und vorhin S. 65. -
Der Protagoras ein Gegenstück des Hippias. 35
auch, wie im Hippias Sokrates einfach konstatiert, daß Hippias
sich erst recht unklar gezeigt hat, während er Protagoras
gegenüber den Wunsch ausspricht, mit ihm zusammen weiter
zu forschen. Auch Protagoras hat sich im Gespräch nichts
weniger als klar gezeigt. Trotzdem mag die Beschäftigung mit
seinen Anschauungen förderlich sein, ist mit ihm prinzipiell eine
Verständigung denkbar, die bei Hippias nicht möglich ist oder
sich nicht lohnt.
Doch damit kommen wir schon in die sachliche Beurteilung
des Protagoras hinein. Da wollen wir zunächst noch das Ergeb-
nis unserer letzten Erörterung feststellen: Der Hippias und der
Protagoras sind formell so eng mit einander verwandt wie kaum
zwei andre platonische Dialoge. Im Hippias wird dabei manches
kurz angedeutet, was im Protagoras ausführlich behandelt ist;
aber nirgends kann man im Hippias die Ähnlichkeiten des Auf-
baus auf die sklavische Anlehnung eines Nachahmers zurück-
führen. Vielmehr sind offenbar beide Dialoge gleichzeitig von
Plato konzipiert, und wenn dabei der Hippias neben seinem
Bruder sich ausnimmt wie die satirische Einzelszene neben der
Komödie, so entspricht das nur der verschiedenen Schätzung, die
Plato den beiden Sophisten entgegenbringt.
Den Protagoras eine Komödie zu nennen, hat uns Plato
selber das Recht gegeben, als er die Szene nach der von
Eupolis’ Schmeichlern gestaltete. Aber eine Komödie, das wußte
keiner besser als Plato selber, schließt tiefere Wirkung, schließt
den Ernst im Agon nicht aus. Unter diesem Gesichtspunkt
müssen wir den Dialog prüfen.
Die Komödie greift mitten ins Leben hinein. So beginnt
auch Sokrates mit zwei ganz aktuellen Fragen: „Wie kommt es,
daß bei politischen Beratungen jeder Schuster und Schneider
seine Meinung sagen darf, als verstände er etwas von der Sache?
Wie kommt es, daß Perikles seine Söhne die Tüchtigkeit nicht
lehren kann, die er selbst} besaß?“ (319), beides Fragen, die
nicht bloß im kleinen Kreise der Sokratik, sondern in der
weiten Öffentlichkeit diskutiert wurden. In Eupolis’ Demen klagt
ja Perikles ausdrücklich darüber, daß seine Söhne ihm so wenig
gleichen (fr. 99). Viel interessanter ist es aber noch, wenn in
derselben Komödie Aristeides gefragt wird, wie er denn seine vielge-
rühmte Gerechtigkeit erlangt habe, und er antwortet (91):
86 Protagoras.
ἣ μὲν φύσις τὸ μέγιστον ἦν, ἔπειτα δὲ
κἀγὼ προϑύμως τῇ φύσει συνελάμβανον.
Selbst das große Publikum interessierte sich also für die theo-
retische Frage, ob die Tugend auf Naturanlage oder auf späteren
Einflüssen beruhe. Und wie man sich mit dieser um 400 in den
Kreisen der Gebildeten beschäftigt, das können uns wieder die
Δισσοὶ λόγοι zeigen, in denen ein ganzer Ahschnitt handelt περὶ
τᾶς σοφίας καὶ τᾶς ἀρετᾶς, al διδακτόν (6)'). Ein höchst aktuelles
Thema ist es also, das Plato anschlägt, wenn Sokrates auf Grund
der genannten Fragen Zweifel an der Lehrbarkeit der Tugend
äußert und um den Nachweis bittet, ὡς διδακτόν ἐστιν ἣ ἀρετή
(320b).
Natürlich ist aber doch bei diesem Thema nicht das äußere
Interesse bestimmend für Plato, sondern die innere Bedeutung.
Protagoras war als διδάσκαλος τῆς ἀρετῆς aufgetreten und be-
zeichnet sich auch in unserem Dialog mit Stolz als solchen
(328ab, vgl. 349a). Sind aber Sokrates’ Zweifel an der Lehr-
barkeit der Tugend berechtigt, so ist damit Protagoras’ ganzer
Techne das Fundament entzogen. Die Frage, die Sokrates auf-
wirft, entscheidet über die ganze Möglichkeit der Erziehung, wie
sie Protagoras — und vielleicht nicht bloß ihm — als Ziel vor-
schwebt. Sie entscheidet also über die Berechtigung dieses
sophistischen Bildungsideales.. Das ist der Grund, warum sie
Plato in unserm Dialog behandelt. Sie gibt zugleich Gelegenheit
zu prüfen, wieweit sich die Sophistik selber über diese Grund-
bedingung ihrer Tätigkeit klar ist, sie nötigt, falls die Lehrbar-
keit zu erweisen ist, zu der weiteren Untersuchung, ob Prota-
goras’ Sophistik mit ihren Mitteln imstande ist, das vorschwebende
Ziel zu erreichen.
Protagoras selber empfindet hier selber kaum ein Problem.
Er hat die Antwort sofort zur Hand und stellt im Gefühl der
Sicherheit die Form zur Wahl, in der er sie geben soll. Die
Verbindung von uödog und λόγος, die er dann vorträgt, hat
folgenden Gedankengang: An der Tugend hat von Natur jeder
Mensch teil; sonst wäre gar keine soziale Organisation möglich.
Und wenn die Athener in der Volksversammlung jeden Bürger
zu Worte kommen lassen, so ist der Grund eben der, daß sie
1) Vgl. Thukydides’ Urteil über Themistokles I, 138 und dazu Wilamowitz’
Bemerkungen im Lesebuch.
Protagoras über die Lehrbarkeit der Tugend. 37
bei jedem die πολιτικὴ ἀρετή als Naturgabe voraussetzen (—323c).
Sie halten aber doch die Tugend für lehrbar. Denn sie machen die
Ungerechtigkeit zum Vorwurf, betrachten sie also als Verschulden,
nicht als Naturfehler und suchen die Verbrecher durch Strafe zu
bessern (—324c). Da aber alle von der Lehrbarkeit und Not-
wendigkeit der Tugend überzeugt sind, so liegt die Sache keines-
wegs so, wie Sokrates geglaubt hat, daß nämlich viele große
Männer ihre Söhne die Tugend nicht lehren. Vielmehr bemühen
sich alle Menschen von der Amme bis zum Strafrichter um die
Erziehung der Kinder (—326e). Aber gerade diese Allgemeinheit
der Bemühung bewirkt es, daß schließlich nicht der Einfluß des
einzelnen, z. B. des Vaters entscheidend ist. Den Ausschlag gibt
vielmehr die Naturanlage (327b). Einen einzelnen Lehrer kann
man im allgemeinen so wenig wie beim Erlernen der Mutter-
sprache nennen. Immerhin gibt es den einen oder andern, der
mehr als die übrigen die Fähigkeit besitzt, die Jugend zu
fördern. Und zu diesen wenigen darf sich wohl auch Protagoras
rechnen (—328b).
Das ist die Antwort, die Protagoras auf die Frage nach der
Lehrbarkeit der Tugend zu geben hat, das Fundament, auf dem
seine Lebensarbeit aufgebaut ist. Es ist schwach genug. Denn
was er positiv für seine These vorbringt, ist im Grunde nur die
Auffassung der πολλοί, die in der Ungerechtigkeit eine Schuld
sehen und die Verbrecher durch Strafen zu bessern suchen.
Es ist daher nur zu berechtigt, wenn er am Schluß sagt:
τοιοῦτόν σοι, ὦ Σώκρατες, ἐγὼ καὶ μῦϑον καὶ λόγον εἴρηκα,
ὡς διδακτὸν ἀρετὴ καὶ ᾿Αϑηναῖοι οὕτως ἡγοῦνται (928 c).
Er stützt sich tatsächlich nur auf die Anschauungen des Volkes,
ohne deren Richtigkeit zu untersuchen. Dabei sind diese so
widerspruchsvoll wie möglich. Denn dieselben Athener, die an
die Lehrbarkeit der Tugend glauben, billigen jedem das Beratungs-
recht zu, weil sie überzeugt sind, daß er die Tugend nicht wie
ein Fach erlernt zu haben braucht, sondern als Naturgabe in
sich trägt. In Protagoras’ Rede tritt auch dieser Widerspruch
ganz scharf hervor. Denn nachdem er eben erwiesen, daß die
Athener bei jedem die Gerechtigkeit als Naturbesitz voraussetzen,
leitet er den zweiten Abschnitt ein: ὅτε δὲ αὐτὴν οὐ φύσει
ἡγοῦνται εἶναι οὐδ’ ἀπὸ τοῦ αὐτομάτου, ἀλλὰ διδακτόν Te καὶ
ἐξ ἐπιμελείας παραγίγνεσθαι ᾧ ἂν παραγίγνηται, τοῦτό σοι
.«Β
88 Protagoras.
μετὰ τοῦτο πειράσομαι ἀποδεῖξαι (323c) und schließt ihn: ὡς
μὲν οὖν εἰκότως ἀποδέχονται οἵ σοὶ πολῖται καὶ χαλκέως καὶ
σκυτοτόμου συμβουλεύοντος τὰ πολιτικά, καὶ ὅτι διδακτὸν καὶ
παρασκευαστὸν ἡγοῦνται ἀρετήν, ἀποδέδεικται (324c). Aber Prota-
goras macht nicht den geringsten Versuch, die Widersprüche aus-
zugleichen. Ihm selber muß dabei nach dem Mythos, den er
gibt, die Anschauung näher liegen, daß die Tugend Naturgabe
ist. Nachher räumt er dann allerdings der Belehrung großen Spiel-
raum ein. Aber wenn er die Gerechtigkeit als etwas betrachtet,
was so gut wie die Sprache alle Mitmenschen uns übermitteln,
so kommt einmal dabei doch wieder die εὐφυία als das Ent-
scheidende heraus (8270), und zweitens entzieht er der eigenen
Lehrtätigkeit den Boden. Denn „daraus ergibt sich doch die
sonnenklare Folgerung, daß für den einzelnen Morallehrer und
dessen Leistungen überhaupt so gut als kein Spielraum übrig
bleibt“'). Mindestensmußte doch Protagoras, wenn er alle Menschen
als διδάσκαλοι τῆς ἀρετῆς anerkennt, zeigen, worauf dann denn
sein Anspruch beruhe, als διδάσκαλος κατ᾽ ἐξοχήν zu gelten.
Aber er weiß nur zu sagen, daß er selber etwas über die übrigen
hervorrage. Irgend etwas aber, was ihn spezifisch von den andern
unterscheide, weiß er nicht anzugeben (328b).
Und das ist kein Wunder. Im Laches (190b) hatte Plato
die eigentliche Erörterung damit begonnen, daß er in einem
einzigen Satze zeigte, was die Voraussetzung jeder sittlichen Er-
ziehertätigkeit sei: ”Ao’ οὖν τοῦτό γ᾽ ὑπάρχειν δεῖ, τὸ εἰδέναι ὅτι
ποτ᾽ ἔστιν ἀρετή; εἰ γάρ που μηδ᾽ ἀρετὴν εἰδεῖμεν τὸ nagdnav
ὅτι ποτὲ τυγχάνει ὄν, τίν᾽ ἂν τρόπον τούτου ξύμβουλοι γενοίμεϑ᾽
ἂν Örwoöv, ὅπως αὐτὸ καλλιστ᾽ ἂν κτήσαιτο; Protagoras erfüllt
diese selbstverständliche Voraussetzung nicht. Er spricht zwar
in seiner Rede unendlich oft von πολιτικὴ ἀρετή, von δικαιοσύνη
und σωφροσύνη, von αἰδώς und δίκη, aber was er darunter ver-
steht, sagt er nicht. Er bleibt einfach in den widerspruchsvollen
Anschauungen der Menge stecken und empfindet gar nicht, wo
die Probleme liegen. Leichten Herzens redet er deshalb über die
Lehrbarkeit der Tugend, ohne sich zu sagen, daß die Beant-
wortung dieser Frage von der Klarheit über das Wesen der Tugend
1 Th. Gomperz, Gr. Denker II, 8. 253, der überhaupt die Widersprüche der
Rede gut ausführt.
Protagoras’ Unklarheit über das Erziehungsproblem. 89
abhängt. Kein Wunder, daß seine Antwort so unklar und un-
befriedigend ausfällt.
Protagoras spricht sich selber das Urteil, wenn er
im Grunde alle Menschen als διδάσκαλοι τῆς ἀρετῆς hin-
stellt und sich nur graduell aus diesen heraushebt. Tat-
sächlich mag er, der Begründer der Sophistik, etwas
besser gewesen sein als die übrigen. Man mag auch
die gute Absicht anerkennen, wenn er die sittliche Aus-
bildung zum Ziele nahm. Aber erreichen konnte er
dieses Ziel nicht. Denn von dem Schlendrian der popu-
lären Moral hat er sich nicht frei gemacht, hat die not-
wendigste Voraussetzung für jede erziehliche Tätigkeit,
die Klarheit über die sittlichen Begriffe, sich nicht er-
arbeitet. Damit ist auch Protagoras und das sophistische
Bildungsideal, das er vertritt, gewogen und zu leicht
befunden, sogut wie Hippias und seine Richtung im
andern Dialoge. Zugleich aber sehen wir, welche Pro-
bleme lin Angriff zu nehmen sind, wenn man sich eine
wirkliche Grundlage für die Erziehertätigkeit schaffen,
ein wirkliches Bildungsideal aufstellen will.
Konnte denn aber Plato dem Publikum zutrauen, daß es die
versteckte Kritik an Protagoras verstehen würde, und war es nicht
unvorsichtig, wenn er durch Protagoras’ Mund eine Anerkennung
für die populäre Moral und den erziehlichen Einfluß der Öffent-
lichkeit aussprechen ließ, ohne den Leser über seine wahre An-
sicht aufzuklären?
Die Antwort auf die zweite Frage kann die Apologie geben.
Dort zeigt Sokrates, wie widersinnig Meletos’ Voraussetzung sei,
daß ein einzelner die Jugend verführe, während alle Athener,
die Menschen wie ihre Gesetze, sie zu bessern bemüht seien.
Ἦ καὶ περὶ ἵππους οὕτω σοι δοκεῖ ἔχειν; οἱ μὲν βελτίους ποι-
οὔντες αὐτοὺς πάντες ἄνϑρωποι εἶναι, εἷς δέ τις ὃ διαφϑείρων᾽);
ἢ τοὐναντίον τούτου πᾶν εἷς μέν τις ὃ βελτίους οἷός τ᾽ ἢν ποιεῖν
ἢ πάνυ ὀλίγοι, οἱ ἱππικοί, οἱ δὲ πολλοί, ἐάνπερ συνῶσι καὶ χρῶνται
ἵπποις, διαφϑείρουσιν; (20). Die Stelle ist nur zu verstehen,
1) Vgl. hierzu noch Protag. 327e νῦν δὲ τρυφᾷς, ὦ Σώκρατες, διότι
πάντες διδάσκαλοί εἶσιν ἀρετῆς, Sollen wir wohl annehmen, daß Plato in der
Apologie die Gedanken des Protagoras wiederholt hat, oder ist das Umgekehrte
wahrscheinlich?
90 Protagoras.
wenn man sie als Widerlegung einer verbreiteten Ansicht faßt.
Es ist das keine andre als die von Protagoras vorgetragene An-
schauung vom sittlichen Einfluß der Menge, die also gewiß dem
historischen Protagoras gehört. Plato ist übrigens nicht der
einzige, der gegen diese vom Boden der Sokratik aus protestiert.
Eine ganz überraschende Parallele zu Prot. 325c --326c bietet
nämlich Cicero Tusc. III, 2.3., der dort aus Chrysipp schöpft‘).
Denn dort wird uns der Einfluß von Amme, Eltern, Lehrern,
Dichtern, Öffentlichkeit genau in derselben Folge geschildert.
Aber nicht der gute Einfluß der Umgebung wird dort demonstriert,
sondern der schlechte, der allein erklärt, wie trotz der guten An-
lage im Menschen die Schlechtigkeit entsteht. Es ist also eine
genaue Umkehrung der protagoreischen Anschauung, die gewiß
nicht erst von Chrysipp, sondern von einem Sokratiker herrührt.
Man wird an Antisthenes denken. Wenn er es war, so hat er
gegen Protagoras Schulter an Schulter mit Plato gekämpft, der
auch noch im Staate 492a mit bitterstem Ernste erklärt, nicht
die einzelnen Lehrer seien es, die die Jugend verführen, sondern
das Volk selber, „der größte Sophist“.
Wenn wir uns dies klar machen, werden wir nun auch ver-
stehen, wie Plato die Rede des Protagoras einfach vorlegen
konnte, ohne ausdrücklich Kritik zu üben. Für den Abschnitt
325c—326c konnte jedenfalls jeder Sokratiker, aber wohl auch
jeder Gebildete die Widerlegung selbst geben. Die Gesamt-
tendenz Platos in der Vorführung der Rede war nach dem, was
vorhin ausgeführt ist, auch ohne weiteres zu durchschauen. Daß
Plato dabei auf die Widersprüche in Protagoras’ Ausführungen
ausdrücklich aufmerksam macht, wurde schon gesagt. Das wichtigste
ist aber, sich vor Augen zu halten, daf3 jeder einzelne in Prota-
goras’ Rede behandelte Punkt damals allseitig diskutiert war.
Das zeigt uns das vorher genannte sechste Kapitel der Δισσοὶ
λόγοι, in dem wie in Protagoras’ Rede der Satz bekämpft wird,
ὅτι σοφία καὶ ἀρετὰ οὔτε διδακτὸν ein οὔτε μαϑητόν. Es lohnt
sich, beide Ausführungen zu vergleichen’).
τς ἢ Vgl. meine Ausführungen Hermes, XLI 5. 351. Ähnlich Cie. auch Rep. IV,9
Legg. 1,47. — An Platos Protagoras knüpft Alk. I p. 110dff. an, an die
Apologie Libanius apol. Socratis 144ff., wo zuerst die Gesetze als Lehrer des
Volkes vorgeführt werden und es weithin heißt: τέ δ᾽ ἄν τις εἴποι περὶ τῶν πολὺ
φοβερωτέρων διδασκάλων, ὑμῶν, ὦ ᾿Αϑηναῖοι, τῶν δικαζόντων.
39) Zum folgenden vgl. H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik, S. 1112 ff.
Die Lehrbarkeit der Tugend ein aktuelles Problem. 91
Der Sophist erwähnt fünf Bedenken gegen die Lehrbarkeit
der Tugend und widerlegt sie. Das erste ist ganz sophistisch
gegen das Lehren überhaupt gerichtet: „was man einem andern
übermittle, könne man selbst nicht haben“. Der Sophist wider-
legt es durch den Hinweis auf den Elementarunterricht. Bei
Plato kommt es in der Rede des Protagoras nicht vor, aber man
wird vorher (314a) daran erinnert, wenn es heißt, daß die
μαϑήματα keine Ware sind, die man äußerlich übermittelt, sondern
die in die Seele des Hörers übergeht. Das zweite Bedenken ist,
wenn die Tugend lehrbar sei, so müßte es auch Lehrer der
Tugend geben! DerSophist verweist demgegenüber einfach darauf,
daß doch die Sophisten eben Tugendlehrer seien. Bei Plato
nimmt Protagoras stolz diese Bezeichnung für sich in Anspruch.
Der dritte Einwurf, ὡς τοὶ ἐν τῷ "EAAddı γενόμενοι σοφοὶ ἄνδρες
τὰν αὐτῶν τέχναν ἐδίδαξαν κα τὼς φίλως (645,22 " Diels), deckt
sich mit dem Bedenken, das Sokrates p. 519 6 ausspricht. Der
Sophist widerlegt es durch den Hinweis auf Polykleitos, der seinen
Sohn die Bildhauerei gelehrt habe (646,5). Wie eine Antwort
darauf nimmt es sich aus, wenn Plato Protagoras kühl erklären
läßt: χαὶ οἱ Πολυκλείτου ὑεῖς οὐδὲν πρὸς τὸν πατέρα εἰσίν (328C)').
Der vierte und fünfte Einwand hängen zusammen: Manchen hat
der sophistische Unterricht nichts genützt, andre sind ohne diesen
große Männer geworden (645, 23—25). Der Sophist gibt das zu,
verweist aber für das erste auf Nichterfolge, die auch der Elementar-
unterricht habe, und erklärt das zweite teils durch den Hinweis
ἔστι δέ τι καὶ φύσις, ἃ δή τις μὴ μαϑὼν παρὰ σοφιστᾶν ἱκανὸς
ἐγένετο, εὐφυής ya γενόμενος, teils dadurch, daß wir die ἀρετά
wie das ἑλλανίζειν, wie die Worte der Muttersprache lernen, ohne
Lehrer dafür angeben zu können (646,7ff.). Es ist genau die
Anschauung, die Protagoras 327. 8 (bes. 327b 328a) vorträgt?).
Der Vergleich kann uns mancherlei lehren. Zunächst sehen
wir deutlich, wie stark der Sophist der Δισσοὶ λόγοι unter Protagoras’
1) Daß es eine Inkonsequenz ist, wenn Protagoras hier aus den τέχναι
ein Beispiel wählt, obwohl er vorher von diesen die πολιτικὴ ἀρετή geschieden
hat, hebt H. Gomperz a. a. O. 85. 174 gut hervor. Natürlich ist es aber unrichtig,
wenn dieser glaubt, Plato sei sich nicht bewußt gewesen, Protagoras einen
Widerspruch aufzubürden.
2) Aber auch schon im Laches 185e wird gefragt: οὔπω ἑώρακας ἄνευ
διδασκάλων τεχνικωτέρους γεγονότας eis ἔνια ἢ μετὰ διδασκάλων:
99 Protagoras.
Einfluß steht. Dann kann uns jetzt der letzte Zweifel schwinden,
ob Plato wirkliche Ausführungen des Protagoras wiedergibt.
Freilich gehört die Komposition der Rede Plato, der ja Protagoras
auf bestimmte Fragen des Sokrates antworten 1831. Aber die
einzelnen Darlegungen, die Plato hier geschickt zu einem wider-
spruchsvollen Ganzen zusammenschiebt, sind alle echt prota-
goreisches Gut°). Weiter aber sehen wir deutlich, wie diese Dar-
legungen gerade in der Zeit, wo Platos Dialog entstanden ist,
besprochen wurden und ohne weiteres in ihrer satirischen Tendenz
verstanden werden konnten. Das wichtigste ist aber, daß die
Δισσοὶ λόγοι uns zeigen, wie die Nachfahren des Protagoras über
ihn keinen Schritt hinausgekommen waren. Auch bei ihnen nur
ein oberflächliches Gerede über die Frage, das den Kernpunkt
nicht berührt.
Den hat erst Plato erfaßt. Man hat bisher die Frage, wie in
Platos Dialog der Mythos mit dem folgenden Gespräch zusammen-
hängt, nicht scharf beantwortet. Der Zusammenhang ist der:
Protagoras hat die Erziehung zur Tugend als Ziel aufgestellt,
aber er hat es nicht erreichen können, weil er sich nicht darüber
klar geworden ist, was die Tugend ist. Ja, seine Epideixis zeigt,
daß er überhaupt nicht einmal weiß, wo die Probleme liegen.
Ob die Sokratik diese lösen kann, muß sich erst zeigen, aber
wenn sie mit dem Anspruch auf Überlegenheit gegenüber der
Sophistik auftritt, muß das erste sein, daß sie die Sache am
richtigen Ende anfaßt. Als positive Ergänzung zur Kritik an
Protagoras (und Hippias) ist die Untersuchung über das Wesen
der Tugend nötig.
Das Wesen der Tugend — das ist tatsächlich das Thema
der folgenden Untersuchung. Ihren Ausgang nimmt sie freilich
!) Daß Plato aus verschiedenen Schriften des Protagoras schöpft, ist wohl
angedeutet, wenn Protagoras zunächst (320c) nur einen Mythos geben will, von
324d an aber ausdrücklich einen A6yog hinzufügt.
3) Plato will Kritik an dem historischen Protagoras üben. Da hätte eine
Fiktion keinen Sinn, sowenig wie bei der Lysiasrede des Phaidros. Natürlich
kam es aber bei Protagoras nur auf die Gedanken, nicht auf die Worte oder
die Komposition der Rede an. — H. Gomperz lehnt S. 159ff. freilich zunächst
die Möglichkeit, Plato habe ein Exzerpt aus einer Schrift des Abderiten ge-
geben, rundweg ab, kommt aber schließlich aus inneren Gründen auch darauf
hinaus, die Gedanken der protagoreischen Rede in der Hauptsache alle auf den
Sophisten zurückzuführen.
Platos Dialog bringt Klarheit über das Wesen der Tugend. 93
wie so oft bei Sokrates von einem Einzelproblem. Und zwar
setzt sie genau bei dem Punkte ein, wo der Laches Halt ge-
macht hatte. Der hatte die Anschauung nahe gelegt, die Tapfer-
keit sei als ἐπιστήμη ἀγαϑῶν καὶ κακῶν mit den übrigen Tugen-
den und der Gesamttugend identisch, und das Problem formuliert,
ob die vulgäre Auffassung richtig sei, nach der die Tapferkeit
nur ein Teil der Gesamttugend ist. Im Protagoras fragt Sokrates,
πότερον ἕν μέν τί ἐστιν ἣ ἀρετή, μόρια δὲ αὐτῆς ἐστιν N δικαιο-
σύνη καὶ σωφροσύνη καὶ ὃὁσιότης, ἢ ταῦτ᾽ ἐστιν ἃ νυνδὴ ἐγὼ
ἔλεγον πάντα ὀνόματα τοῦ αὐτοῦ ἑνὸς ὄντος (929 0). In der Unter-
suchung stellt sich nun bald heraus, daß δικαιοσύνη ὅσιότης
σωφροσύνη σοφία aufs engste verwandt sind. Tatsächlich hatte
ja auch Protagoras für die ersten drei dieser Tugenden die enge
Zusammengehörigkeit selbst schon in seinem Mythos voraus-
gesetzt (δικαιοσύνη καὶ σωφροσύνη καὶ τὸ ὅσιον εἶναι, καὶ συλλή-
βδην Ev αὐτὸ προσαγορεύω εἶναι ἀνδρὸς ἀρετήν 820 4). Jetzt muß
er sehen, daß auch die σοφία zur πολιτικὴ ἀρετή gehört. Als
daher das Gespräch nach der Dichterinterpretation fortgesetzt wird,
gibt er das ausdrücklich zu (349d). Nur eine Tugend bleibt übrig,
die Tapferkeit. Die hatte er im Mythos kaum erwähnt. Einmal
hatte er freilich dort gesagt, daß ein Teil der πολιτικὴ ἀρετή die
πολεμική sei (822 ο). Aber sonst hatte er die Tapferkeit offenbar
von der πολιτική ἀρετή, die er zu lehren imstande sei, abge-
sondert, und so erklärt er auch jetzt: ταῦτα πάντα μόρια μέν ἐστιν
ἀρετῆς καὶ τὰ μὲν τέτταρα αὐτῶν ἐπιεικῶς παραπλήσια ἀλλήλοις
ἐστίν, ἡ δὲ ἀνδρεία πάνυ πολὺ διαφέρον πάντων τούτων (519 ἃ).
Als Beweis führt er an, daß viele Leute, denen alle übrigen
Tugenden fehlen, tapfer in höchstem Maße seien. Welches der
innere Grund ist, der ihn zu dieser Anschauung führt, das läßt
ihn Plato in der folgenden Erörterung (349e — 351b), die teil-
weise wörtlich aus dem Laches übernommen ist, aussprechen.
Protagoras faßt nämlich die Tapferkeit als eine Art des Mutes,
und bestimmt sie — freilich wieder nicht ohne innere Unklar-
heit — in einer Weise, die deutlich zeigt, daß sie mit dem Wissen
und den übrigen Tugenden nichts zu tun haben kann. Sie ist näm-
lich diejenige Art des Mutes, die nicht aus einem Wissen hervor-
geht, sondern ausschließlich auf der natürlichen Anlage und Ent-
wicklung beruht: ϑάρσος μὲν γὰρ καὶ ἀπὸ τέχνης γίγνεται ἀνϑρώ-
ποις καὶ ἀπὸ ϑυμοῦ γε καὶ ἀπὸ μανίας .. ἀνδρεία δὲ ἀπὸ φύσεως
94 Protagoras.
καὶ εὐτροφίας τῶν ψυχῶν γίγνεται (351 a)'). Aber Sokrates zwingt
ihn im folgenden Gespräch zu der Erkenntnis, daß ein Gegen-
satz zwischen Tapferkeit und den übrigen Tugenden nicht be-
steht. Denn sie ist identisch mit der ἐπιστήμη δεινῶν καὶ μὴ
δεινῶν und somit, da die δεινώ nichts anderes sind als die er-
warteten κακά (358d), auf das Wissen vom Guten und Schlechten
zurückzuführen, das auch den Kern der übrigen Tugenden bildet.
1) Der Abschnitt 349e — 861 Ὁ rekapituliert zunächst die Ausführungen des
Laches 192c — 193d (über diese vgl. 5. 24). Im Laches beginnt Plato: οἶδα,
ὦ Λάχης, ὅτι τῶν πάνυ καλῶν πραγμάτων ἡγῇ σὺ ἀνδρείαν elvaı — Eö μὲν οὖν
ἴσϑι ὅτι τῶν καλλίστων, im Protagoras: τὴν ἀρετὴν καλόν τι φὴς εἶναι; --
Κάλλιστον μὲν οὖν. Hier wie dort folgt der Nachweis, daß die κολυμβῶντες,
die ἱππικοί, ja selbst die πελταστικοί auf Grund ihrer technischen Fähigkeiten
Mut zeigen, und Protagoras ist das so geläufig, daß er die Folgerung οἱ ἐπι-
στήμονες τῶν μὴ ἐπισταμένων ϑαρραλεώτεροί εἶσιν Sokrates ungeduldig vorweg-
nehmen kann (8604). Neu ist dabei im Verhältnis zum Laches nur, daß der Be-
griff ϑαρραλέος eingeführt und als der Oberbegriff zu ἀνόρεῖος gleich zu An-
fang bezeichnet wird (949 6). Ganz dem Laches entspricht es natürlich auch,
wenn Sokrates den Protagoras fragt: ἤδη δέ τινας ἑώρακας πάντων τούτων
ἀνεπιστήμονας ὄντας, ϑαρροῦντας δὲ πρὸς ἕκαστα τούτων; (350b). Jeder Kenner
des Laches denkt hier mit Sokrates sofort an den Soldaten, der auch ohne tech-
nische Fähigkeit in ungünstiger Position auf seinem Posten ausharrt und im
Laches die höhere Tapferkeit zugebilligt erhält (193a, vgl. 8. 24). Stutzen muß
er daher, wenn Protagoras auf die Frage: οὐκοῦν οἱ ϑαρραλέοι οὗτοι καὶ
ἀνδρεῖοί εἶσιν; glatt antwortet: αἰσχρὸν μεντἂν εἴη ἣ ἀνδρεία, ἐπεὶ οὗτοί γε
μαινόμενοί εἶσιν. Offenbar hat Protagoras an solche Fälle, wo jemand um eines
hohen Zweckes willen sein Leben aufs Spiel setzt, überhaupt nicht gedacht.
Sokrates sticht ihm das nicht auf und benutzt scheinbar die Gelegenheit, um
schnell dem gewünschten Ziele zuzusteuern: „Du erklärst die ἀνεπιστημόνως
ϑαρραλέοι für μαινόμενοι, während die ἐπιστήμονες zugleich ϑαρραλέοι sind.
Müssen sie dann nicht auch ἀνδρεῖοι sein, καὶ κατὰ τοῦτον τὸν λόγον ἣ vopla
ἂν ἀνδρεία εἴη; (350c). Aber Protagoras läßt sich nicht so schnell fangen wie
Hippias. Er ist besser logisch geschult und weist Sokrates darauf hin, daß seine
Prämisse ϑαρραλεώτατοι δὲ ὄντες ἀνδρειότατοι unzulässig sei, denn es sei ein
logischer Fehler, den Satz οἱ ἀνδρεῖοι ϑαρραλέοι εἰσί umzukehren in οὗ ϑαρραλέοι
ἀνδρεῖοί εἰσι (vgl. δ. 62). Damit man die Beziehung auf den Hippias nicht ver-
kenne, macht er das an dem Beispiel der δύναμες klar, die dort grade im Fehl-
schluß die Rolle spielte. So richtig der Satz sei: οἱ ἐσχυροὶ δυνατοί εἶσι, SO UN-
zulässig sei die Umkehrung οἱ δυνατοὶ ἰσχυροί εἶσι. Denn die δύναμις gehe
nicht bloß aus der natürlichen Anlage hervor, auf der die ἰσχύς beruht, sondern
auch aus Wissen, Wahnsinn, Zorn. Genau so sei es bei ϑάρσος und dvögeia.
Auch der Mut stamme aus denselben Quellen, aus technischer Fertigkeit, Wahn-
sinn und Zorn, aber auch aus der Naturanlage. Nur den Mut, der ἀπὸ φύσεως
καὶ εὐτροφίας τῶν ψυχῶν γίγνεται, dürfe man als ἀνδρεία bezeichnen (351b).
Das Wissen vom Guten das Wesen der Tugend. 95
So ist die Frage nach dem Verhältnis der Einzeltugenden
nur der durch den Laches bedingte Ausgangspunkt. Das Ziel ist
der dort auch schon angedeutete Satz, daß alle Tugenden im
Wissen vom Guten beschlossen sind, daß dieses das Wesen der
Tugend ist. Und daß so Plato selbst das Gespräch aufgefabt
wissen will, das zeigen Sokrates’ abschließende Worte: Οὔτοι
ἄλλου ἕνεκα ἐρωτῶ πάντα ταῦτα ἢ σκέψασθαι βουλόμενος πῶς
ποτ᾽ ἔχει τὰ περὶ ἀρετῆς καὶ τί ποτ᾽ ἐστὶν αὐτό, ἣ ἀρετή
(8606). Mit einer hübschen Anspielung auf Protagoras’ relati-
Man hat sich gewundert, daß Protagoras hier Sokrates die Unzulässigkeit eines
Schlusses nachweisen darf, und hat dies wohl gar möglichst wegzudeuten gesucht (C.
Ritter, Plato 8. 333). Aber Plato will damit gerade dartun, daß er im Hippias
bewußt einen Fehlschluß zugelassen hat. Daß aber hier Sokrates selber den Fehl-
schluß unbewußt machen wollte, ist nicht gesagt. Er stellt ja nur eine Frage,
und wir haben viel eher die Empfindung, daß er als guter Spieler Protagoras
einen Zug vorgibt, um dem Mißgestimmten die weitere Teilnahme an der De-
batte zu erleichtern. An diese künstlerische Absicht Platos werden wir um 80
lieber denken, als uns so tatsächlich psychologisch verständlich wird, wie es
kommt, daß Protagoras, der sich vorher so gegen die Debatte gesträubt hat, ihr
jetzt gern folgt. Wichtiger ist aber natürlich noch, daß auf diese Weise Prota-
goras dazu geführt wird, seinen Standpunkt scharf zu formulieren und die Tapfer-
keit ausschießlich auf die Naturanlage zu gründen.
Daß wir dabei keinen Augenblick das Gefühl von Sokrates’ Überlegenheit
verlieren, dafür hat Plato schon gesorgt. Wie wir sahen, ist es eine bewußte
Abweichung vom Laches, wenn Protagoras denen, die ohne technische Fähigkeit
sich in Gefahr begeben, die Tapferkeit abspricht. Das darf er nach seiner eige-
nen Grundanschauung nicht tun. Denn damit schließt er alle ἀνεπιστημόνως
ϑαρραλέοι von der Tapferkeit aus, obwohl sie doch gewiß zu den φύσει ϑαρρα-
A£oı, also nach Protagoras’ eigner Anschauung zu den ἀνδρεῖοι gehören können.
Hier zeigt sich dieselbe Unklarheit, die wir im Mythos des Protagoras wahr-
nehmen konnten: Protagoras betrachtet einerseits die Tapferkeit als Natur-
anlage, andererseits bricht unwillkürlich bei ihm die Erkenntnis durch, daß das
Fehlen des Wissens mit der Tugend unvereinbar sei. Und Sokrates hat sachlich
ganz recht, wenn er aus Protagoras’ Äußerungen folgert, daß ein enger Zu-
sammenhang zwischen Wissen und Tugend bestehen müsse. Klarheit kann aber
hier noch nicht erzielt werden, weil Protagoras keinen klaren Begriff davon hat,
was unter Wissen zu verstehen ist, und nur an die technischen Fertigkeiten
denkt. Wie bewußt Plato diese Unklarheit hervorkehrt, zeigt der Schluß des
Abschnitte. Denn während er bei der δύναμις erklärt, sie stamme ἀπὸ ἐπιε-
στήμης, ἀπὸ μανίας nal ϑυμοῦ oder ἀπὸ φύσεως, setzt er bei der Tapferkeit-
wo sonst genau dieselben Ursachen angegeben werden, ἀπὸ τέχνης für ἀπὸ Emı-
στήμης ein (p. 35la). Die Widerlegung von Protagoras’ Ansicht beginnt des-
halb — scheinbar ganz unvermittelt — mit der Erörterung über das Endziel
alles Handelns; aber sobald dann darüber Einigkeit erzielt ist, daß unser Handeln
96 Protagoras.
vistischen Grundsatz’) erklärt er auch nachher als die Über-
zeugung, die sich ihm auf Grund der Untersuchung aufgedrängt
hat, ὡς πάντα χρήματά ἔστιν ἐπιστήμη, καὶ ἣ δικαιοσύνη καὶ σω-
φροσύνη (also die beiden Tugenden, die Protagoras von vorn-
herein als eng verbunden und für die πολιτικὴ ἀρετή notwendig
angesehen hatte) καὶ ἣ ἀνδρεία (361b) und schließt daran die wich-
tige Folgerung an ᾧ τρόπῳ μάλιστ᾽ ἂν διδακτὸν φανείη ἣ ἀρετή.
Während Protagoras’ Antwort auf die Frage nach der Lehrbar-
keit der Tugend so gut wie die sophistischen Deklamationen über
das Thema unbefriedigt ausfallen mußten, ergibt sich aus der
Erkenntnis, daß die Tugend ein Wissen ist, die Lehrbarkeit als
notwendige Folgerung.
Lehren wird sie freilich, das ist natürlich die weitere Folgerung,
nur der können, der das Wissen vom Guten besitzt. Unmöslich
kann dieses aber ein Mann besitzen, der wie Protagoras über
das Wesen der Sittlichkeit völlig im Unklaren ist und der Tugend
den intellektuellen Charakter auf jede Weise zu nehmen sucht
(Πρωταγόρας . . ἔοικεν σπεύδοντι ὀλίγου πάντα μᾶλλον φανῆναι
αὐτὸ ἢ ἐπιστήμην 361b). Damit ist der Anspruch des διδάσκαλος
ἀρετῆς erledigt. Der Nichtwisser Sokrates hat das Wissen vom
durch die Vorstellung eines künftigen Gutes oder Übels bestimmt wird — aus
dem Laches 198b wird besonders die Erkenntnis übernommen, daß die Furcht
eine προσδοκία κακοῦ ist (358d) — da greift Plato ausdrücklich auf unsern Ab-
schnitt zurück (359b) und zeigt unter wörtlicher Rekapitulation, wo der Fehler
des Protagoras saß. Dieser hat in der Tapferkeit deshalb einen bloßen Naturtrieb
gesehen, weil er die Tapferen einfach als Draufgänger ira: faßte, statt sich zu
fragen, ἐπὶ τέ ἴται εἷσέν (359c). Denn damit wäre er von selbst zu der Er-
kenntnis gekommen, daß man Leute, die ohne technische Fertigkeit ihr Leben
fürs Vaterland opfern, nicht ohne weiteres verrückt und unsittlich (αἰσχρόν
350b) nennen kann und daß für die Tapferkeit die Verfolgung eines als gut er-
kannten Zieles, also das intellektuelle Moment entscheidend ist (vgl. bes. 360b).
Wenn Xenophon Mem. IV, 6, 10 beginnt ᾿Ανδρείαν δέ, ὦ Εὐϑύδημε, ἄρα
τῶν καλῶν νομίζεις εἶναι; Κάλλιστον μὲν οὖν ἔγωγε, ἔφη, so kann die Über-
einstimmung mit 349e φέρε δή, τὴν ἀρετὴν καλόν τι φὴς elvaı ...; Κάλλιστον
μὲν οὖν, ἔφη kein Zufall sein. Auch das folgende zeigt dort deutlich, daß Xe-
nophon den Protagoras für den Nachweis des intellektuellen Charakters der
Tapferkeit benutzt, zu einer Zeit, wo Plato diesen längst preisgegeben hatte.
1) Der seinerseits mit seinem πάντων χρημάτων μέτρον ἄνϑρωπος wieder
an das ὁμοῦ πάντα χρήματα und ähnliche Ausdrücke des Anaxagoras anknüpit
(H. Gomperz. Soph. und Rhetorik 5. 252. Übrigens spricht die Platostelle für
Gomperz’ Auffassung (S. 201), daß πάντα χρήματα in Protagoras’ Satz nicht die
Summe der konkreten Einzeldinge, sondern „alles“ bedeutet).
Die Sokratiker treten an Protagoras’ Stelle. 97
Guten auch nicht, aber er formuliert auch hier wenigstens das
Problem richtig und schreitet so über Protagoras hinaus. Neidlos
erkennt dieser denn auch am Schluß die Tüchtigkeit des jüngeren
Mannes an, der zu den höchsten Erwartungen berechtige (361 e).
Aber wir dürfen dieses Urteil wohl auch umkehren, zumal wenn
wir an das ganz andre Ende des Hippias denken: Neidlos erkennt
auch der Sokratiker Plato an, daß Protagoras als Vorläufer der
Sokratik gelten kann. Er ist es, der die sittliche Ausbildung
zuerst als das Ziel hingestellt hat. Erreichen konnte er dieses
Ziel von seinen Voraussetzungen aus nicht. So müssen andre
an seine Stelle treten. Den richtigen Weg hat Sokrates ge-
wiesen. Ob wohl auf ihm die Sokratiker das Ziel erreichen
werden? Das wird davon abhängen, ob sie das Gute finden.
Aber haben wir denn ein Recht, diese positive Tendenz Plato
zuzutrauen? Spricht denn Sokrates nicht ausdrücklich am Schlusse
aus, daß das Gespräch ergebnislos verlaufen ist und beide sich
im Kreise gedreht haben? Sehen wir ein wenig genauer zu, als
es häufig geschieht. Ausdrücklich erklärt Sokrates p. 361a, daß
die wissenschaftliche Untersuchung, die er mit Protagoras geführt
hat, zu dem positiven Ergebnis nötigt, daß die Tugend ein
Wissen ist. Was ihn scheinbar hindert, dieses Ergebnis als
sicher hinzustellen, ist nur die Voraussetzung, von der er ur-
sprünglich ausgegangen ist. Die Sache liegt also genau wie im
Laches. Dort war das ähnliche Ergebnis, daß die Tapferkeit ein
Wissen vom Guten sei, allseitig wissenschaftlich gesichert worden
und wurde nur deshalb als problematisch hingestellt, weil die ur-
sprüngliche Hypothesis, daß die Tapferkeit nur ein Teil der
Tugend sei, dagegen sprach (S. 28). Diese unbewiesene Hypo-
thesis blieb also zu prüfen, und im Protagoras wird sie als un-
berechtigt erkannt. Auch in unserm Dialog muß sich also ein
leidlich verständiger Leser — und mit solchen hat Plato doch
wahrscheinlich gerechnet — sagen, daß Plato von ihm verlangt,
er solle sich an den Anfang erinnern und sich die Frage vor-
legen, ob denn die dort geäußerten Bedenken gegen die Lehr-
barkeit der Tugend wirklich ausreichen, das Ergebnis der wissen-
schaftlichen Untersuchung zu erschüttern, ob diese Bedenken
wirklich Sokrates’ tiefster Überzeugung entsprangen,
Ὅϑεν αὐτὸ ἡγοῦμαι οὐ διδακτὸν εἶναι und üm ἀνθρώπων
παρασκευαστὸν ἀνθρώποις, δίκαιός εἶμι εἰπεῖν, SO beginnt Sokra-
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 7
98 Protagoras.
tes 319b und formuliert sein erstes Bedenken so: ἐγὼ γὰρ ’Adn-
valovs, ὥσπερ καὶ οἱ ἄλλοι “Πλληνες, φημὶ σοφοὺς εἶναι, und die
hören in politischen Dingen, in Fragen der πολιτικὴ ἀρετή, jeden
an, ohne zu fragen, ob er etwas gelernt hat, δῆλον γὰρ ὅτι οὐχ
ἡγοῦνται διδακτὸν εἶναι. — Also der von Protagoras nachher
als widerspruchsvoll erkannte, von allen vernünftigen Hellenen
unendlich oft gebrandmarkte νόμος der Athener soll von Sokrates
ernsthaft genommen sein? Und der Mann, der oft genug erklärt
hatte: τῆς τῶν πολλῶν δόξης οὐ dei ἡμᾶς φροντίζειν, soll wohl
gar im Ernste die Athener σοφοί genannt haben? Von einer
ähnlichen σοφία geht aber auch das zweite Bedenken aus: μὴ
τοίνυν ὅτι τὸ κοινὸν τῆς πόλεως οὕτως ἔχει, ἀλλὰ ἰδίᾳ ἡμῖν οἵ
σοφώτατοι καὶ ἄριστοι τῶν πολιτῶν ταύτην τὴν ἀρετὴν ἣν ἔχουσιν
οὐχ οἷοί τε ἄλλοις παραδιδόναι (8194). Das scharfe Urteil über
die Praktiker, das wir im Gorgias lesen, hatte Plato, als er diese
Stelle schrieb, gewiß noch nicht. Aber soviel ist doch wohl
sicher: die ἐπιστήμη dyadov καὶ κακῶν im sokratischen Sinne
hatten diese angeblichen σοφώτατοι für Plato sicher nicht, und
jeder Leser des Folgenden konnte dieses Bedenken sich erledigen
mit der Antwort, wer das Wissen vom Guten nicht habe, der
könne auch keine Tugend lehren.
Der Dialog verläuft also ganz ähnlich wie der Laches.
Sokrates geht von unbewiesenen vulgären Anschauungen
aus, die er sich hier scheinbar zu eigen macht, um Pro-
tagoras zu einer Darstellung seines Standpunktes zu
veranlassen. Die Unhaltbarkeit dieser Anschauung wird
durch die wissenschaftliche Untersuchung erwiesen.
Wenn dieses positive Ergebnis trotzdem nicht als sicher
hingestellt wird, so kann der Grund nur der sein, daß
es Plato widerstrebt, Sokrates wie einen Dogmatiker
einzuführen, der befriedigt seine festen Sätze formuliert,
statt an die Fülle von neuen Problemen zu denken, die
sich anknüpfen, und auch dem Leser eine Kleinigkeit
zum selbständigen Durchdenken zu überlassen.
Wirkliche Bedenken könnten uns freilich aus dem Gange
der wissenschaftlichen Untersuchung selber aufsteigen. Denn be-
kanntlich wird schon in dem ersten Abschnitt 329d—334c die enge
Verwandtschaft oder gar Identität von δικαιοσύνη und ὅσιότης,
von σωφροσύνη und σοφία auf einem logisch nicht einwandfreien
Die positive Tendenz des Dialogs. 99
Wege erwiesen. Aber wie man die Sache auch erklären mag,
soviel ist zweifellos, daß wir nicht etwa wie im Hippias Trug-
schlüsse vor uns haben, die Plato bewußt anwendet, um ein ab-
surdes Ergebnis zu erzielen‘. Schon der Vergleich mit dem
Laches, wo das ganz ähnliche Ergebnis einwandfrei erzielt wird,
zeigt, daß auch hier Plato seine Beweise durchaus ernst meint.
Andrerseits ist aber auch deutlich, daß Plato diesen Teil nur als
ein Vorspiel betrachtet. Bei der Gerechtigkeit und Frömmigkeit
deutet er selber an, daß ihm hier nicht daran liegt, ihr Verhält-
nis zu voller Evidenz zu bringen’). Die Untersuchung über σω-
φροσύνη und ἀδικία wird durch Protagoras’ Schuld nicht zu
Ende geführt, und der Leser ist gezwungen, sich den Beweis
mit Hülfe des Charmides und der folgenden Untersuchungen zu
ergänzen®). Im ganzen will Plato nur eine vorläufige Überein-
stimmung darüber erzielen, daß Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Selbst-
beherrschung, Weisheit eng verwandt sind. Diesen Satz gibt Pro-
tagoras, wie erwähnt, p. 349d ausdrücklich zu, obwohl ein wirk-
licher Zwang für ihn nach dem bisherigen Gange der Unter-
1) Eine Erklärung bei Stavenhagen Χάριτες S.25ff. Ritters Deutung
S. 320 scheint mir gekünstelt.
®) 332a wird das Gespräch abgebrochen und 333b begnügt sich Sokrates
mit der Erklärung: τὸ δὲ πρότερον αὖ ἐφάνη ἡμῖν ἣ δικαιοσύνη καὶ ἡ ὁσιότης
σχεδόν τι ταὐτὸν ὄν.
®) Protagoras selber bekennt als seine Ansicht ὅτε οὐδεὶς ἀδικῶν σωφρονεῖ
(333ec), was uns nach dem Mythos nicht verwundern kann. Da aber die.Meinung
der Menge anders lautet, so. soll diese untersucht werden. Zunächst wird
das σωφρονεῖν auf das εὖ φρονεῖν, ed βουλεύεσθαι zurückgeführt (333d).
Wenn nun weiter Sokrates fragt, εἰ εὖ πράττουσιν ἀδικοῦντες, und von da aus
zum Begriff des Guten übergeht, so muß uns der Charmides einfallen, wo Kritias
163e die Definition aufstellte τὴν τῶν ἀγαϑῶν πρᾶξιν σωφροσύνην εἶναι σαφῶς
σοι διορίζομαι und Sokrates diese an sich brauchbare Definition dadurch korri-
giert, daß er den Begriff des bewußten Handelns, des Wissens vom Guten und
Nützlichen einführt (164 vgl. S. 49). Natürlich sollen wir uns aber überhaupt
im Anschluß an den Charmides gegenwärtig halten, daß die σωφροσύνη ein
Wissen vom Guten sein muß, wenn sie selber nützlich sein soll. Im Protagoras
geht Sokrates dann über zu der Frage, ob das Gute nicht mit dem Nützlichen
identisch ist (333d). Wenn Protagoras antwortet κἂν un τοῖς ἀνθρώποις ὠφέ-
Ana ἢ, ἔγωγε καλῶ dyadd, so schweben ihm offenbar solche Fälle vor, wo
das sittlich gute Handeln dem Menschen äußere Nachteile bringt. Ob in solchem
Falle wirklich eine Kollision zwischen ἀγαϑόν und ὠφέλιμον vorliegt, das will
Sokrates nun prüfen. Aber Protagoras, der sehr wohl fühlt, daß er den Unter-
schied von ἀγαϑόν und ὠφέλιμον nicht werde aufrecht erhalten können, wenn
Tr
100 Protagoras.
suchung noch nicht vorliegt. Plato glaubt sich offenbar dieses
Vorgehen nach den eigenen künstlerischen Voraussetzungen ge-
statten zu können, da Protagoras selber im Mythos diese Tugenden
als eng verwandt betrachtet (vgl. S. 80) und der historische Pro-
tagoras wohl sich ähnlich geäußert hatte. Die absolute Berechti-
gung liegt aber erst darin, daß der Beweis, der dann bezüglich
der am weitesten abliegenden Tugend, der Tapferkeit, geführt
wird, sich leicht auf die übrigen Tugenden übertragen läßt, jeden-
falls den Punkt behandelt, der nach Plato für die Auffassung
von der Tugend überhaupt entscheidend ist, die Frage, ob die
Tugend intellektuell bestimmt ist oder nicht‘).
Auch dieser große Beweis (349e—360d) hat etwas Auf-
fallendes. Plato geht nämlich, wie schon im letzten Teil des
Vorspiels (333c), von den Anschauungen der Menge aus, die
einen Gegensatz von Gut und Angenehm annimmt und deshalb
es für möglich hält, daß jemand unter dem Einfluß der Lust das
Schlechte tut. Ihr wird gezeigt, daß in solchem Falle nur die
er im sittlich Guten ein absolutes ἀγαϑόν anerkenne, weicht aus, indem er —
im Gegensatz zu seinen innersten Neigungen — sich ganz auf die Relativität
des Guten zurückzieht. Damit wird der Gedankengang unterbrochen. Aber
hieristesdoch ganz deutlich, daß bei dem scheinbar ergebnislosen
Abschluß Plato vom Leser verlangt, er solle sich den Abschluß
selber suchen oder jedenfalls die Formulierung des Problemes
empfinden. Es lautet: „Ist es denkbar, daß das sittlich Gute dem Menschen
jemals Schaden bringt? Ist es denkbar, daß das Unrechttun jemals vorteilhaft
ist?“ Wird die Frage, wie Plato erwartet, verneint, so ergibt sich die Folge-
rung, daß die Ungerechtigkeit zurückzuführen ist auf einen Mangel an Einsicht
in das Gute und wahrhaft Nützliche. Und sollte wirklich ein Leser diese Fol-
gerung nicht selber ziehen können, so sagt ihm Sokrates gleich drauf bei der
Gedichtinterpretation οὐδεὶς τῶν σοφῶν ἡγεῖται οὐδένα ἄνϑρωπον . .. αἰσχρά
te καὶ κακὰ ἑκόντα ἐργάζξεσϑαι (345e), und erklärt dann in der wissenschaft-
lichen Untersuchung nochmals: οὐδ᾽ ἔστι τοῦτο ἐν ἀνθρώπου φύσει, ἐπὶ ἃ οἴεται
κακὰ εἶναι ἐϑέλειν ἱέναι ἀντὶ τῶν ἀγαϑῶν (358d). Ich denke, wir sehen jetzt,
wie bewußt Plato den Dialog komponiert hat, wie auch die Gedichtinterpretation
mit den übrigen Teilen zusammenhängt.
Aber warum hat denn Plato den Beweis, daß das Unrechttun stets für
den Menschen schädlich sei, nicht ausdrücklich gebracht, um sein Thema voll
zu erledigen? Die Antwort ist leicht. Dann hätte er eben einen großen Teil
der Untersuchungen, die wir jetzt im Gorgias lesen, schon hier bringen müssen,
und vorläufig war der Künstler in Plato noch zu mächtig, um unförmliche
Gesprächskolosse zuzulassen.
ı) Wie der Beweis auch direkt auf das Vorspiel zurückwirkt, ist in der
vorigen Anmerkung gezeigt.
Der Gegensatz der Intellektualisten zur vulgären Psychologie. 101
kleinere Lust aus Mangel an Einsicht der größeren vorgezogen
wird. Und erst von da aus weist Plato nach, daß jedes Schlecht-
handeln, auch das feige Verhalten, auf einer Unwissenheit, jedes
Richtighandeln, auch die Tapferkeit, auf der richtigen Bewertung,
auf dem Wissen vom Guten beruht.
Wie kommt Plato, der sich doch sonst um die Anschauungen
der Menge nicht kümmert, zu diesem Verfahren? Da müssen
wir vor allem daran denken, daß dieser Hauptteil des Protagoras
eine genaue Parallele des Laches ist und dasselbe Beweisthema
hat, daß die Tapferkeit ein Wissen vom Guten ist. Plato muß
also den dort gegebenen Beweis selbst für nicht ausreichend ge-
halten haben. Tatsächlich haben auch wir beim Lesen des Laches
diese Empfindung. Denn gerade das, was für uns das Bedenk-
lichste ist, die rein intellektuelle Auffassung der Tapferkeit, wird
dort einfach zugrunde gelegt (195a). Freilich werden dann ein
paar Einwürfe widerlegt, die sich vom Boden der Sokratik aus
erheben, aber die Überzeugung, daß die Tapferkeit ein Wissen
ist, kann dort doch nur der mitnehmen, der innerlich eben schon
vom sokratischen Intellektualismus durchdrungen ist.
Dabei ist es selbstverständlich, daß dieser Intellektualismus
dem Volksempfinden durchaus widersprach. Dem gab Euripides
Ausdruck, wenn er Phaidra sagen läßt (Hipp. 380):
τὰ χρήστ᾽ ἐπιστάμεσθα καὶ γιγνώσκομεν,
οὐκ ἐχπονοῦμεν δ᾽, οἵ μὲν ἀργίας ὕπο,
οἱ δ᾽ ἡδονὴν προϑέντες ἀντὶ τοῦ καλοῦ
ἄλλην τινά,
oder wenn Medea erklärt (1078):
χαὶ μανϑάνω μὲν οἷα δρᾶν μέλλω κακᾶ,
ϑυμὸς δὲ κρείσσων τῶν ἐμῶν βουλευμάτων.
So pflegte ja auch das Volk von einem »geittwv ἑαυτοῦ, ἥττων
γαστρός oder ἡδονῆς, vom ἡττᾶσϑαι ὑφ᾽ ἡδονῆς (Thukyd. II, 38, 7,
Lysias 21, 19 und in der Phaidrosrede 233e οὐχ ὑπ᾽ ἔρωτος
ἡττώμενος ἀλλ᾽ ἐμαυτοῦ κρατῶν), vom ἄρχεσϑαι ὑπὸ τῶν διὰ τοῦ
σώματος ἡδονῶν (Xen. Mem. IV, ὅ, 8. u.ö.) zu sprechen. Wenn
Plato im Laches diese Anschauung ganz ignoriert, so tut er das
offenbar, weil er sich die Auseinandersetzung für ein anderes
Mal aufspart.
Der Protagoras sollte die Ergänzung bringen. Aber dabei
ergab sich eine Schwierigkeit. Die Sophisten hatten freilich
102 Protagoras.
keine feste psychologische Anschauung, und Protagoras ist un-
klar genug, die Tapferkeit ausschließlich auf die Naturanlage
zurückzuführen. Aber prinzipiell müssen diese Männer, die durch
ihren Unterricht den Menschen erziehen wollen, naturgemäß im
Gegensatz zur vulgären Anschauung dem Intellektualismus zu-
neigen und den Prinzipat des Wissens betonen, und es ist ganz
gewiß den Sophisten aus dem Herzen gesprochen, wenn bei
Plato Protagoras auf die Frage, ἄρα καὶ σοὶ δοκεῖ. . ἐάνπερ
γιγνώσκῃ τις τἀγαϑὰ καὶ τὰ κακά, μὴ ἂν κρατηϑῆναι ὑπὸ μηδε-
vos ὥστε ἄλλ᾽ ἄττα πράττειν ἢ ἃν ἐπιστήμη κελεύῃ ; mit aller Be-
stimmtheit 352d erklärt: καὶ δοκεῖ ὥσπερ σὺ λέγεις, ὦ Σώκρατες,
καὶ ἅμα εἴπερ τῳ ἄλλῳ αἰσχρόν ἐστι καὶ ἐμοὶ σοφίαν καὶ ἐπιστή-
μην μὴ οὐχὶ πάντων κράτιστον φάναι εἶναι τῶν ἀνθρωπείων
πραγμάτων. Und dabei bleibt er auch, als Sokrates ihn aus-
drücklich darauf aufmerksam macht, daß er damit in Wider-
spruch zur öffentlichen Meinung gerät: οἶσϑα οὖν ὅτι οἱ πολλοὶ
τῶν ἀνθρώπων ἐμοί τε καὶ σοὶ οὐ πείϑονται, ἀλλὰ πολλούς φασι
γιγνώσκοντας τὰ βέλτιστα οὐκ ἐϑέλειν πράττειν ἐξὸν αὐτοῖς, ἀλλὰ
ἄλλα πράττειν; Unwillkürlich fallen einem hier Phaidras Worte
ein, und jedenfalls muß es Euripides sich gefallen lassen, daß er
hier zu den πολλοί gerechnet wird, denen als geschlossene Phalanx
die Intellektualisten entgegentreten. Und daß zu diesen sowohl
die Sokratiker wie die Sophisten, jedenfalls Protagoras, prinzipiell
gehören, daß sie in diesem Punkte vollkommen einig sind, das
stellt Plato mit aller Bestimmtheit hier am Anfang des letzten
Teiles fest.
Damit ist aber gesagt, daß eine Debatte über diesen Punkt
zwischen Sokrates und Protagoras an sich nicht möglich war.
Und wenn Plato nicht etwa einen Vertreter der πολλοί, einen
Praktiker einführen wollte — das hätte aber das Interesse von
der Hauptfigur und dem Hauptproblem abgelenkt‘) — so mußte
er nach einem Ausweg suchen, und echt sokratisch ist es, wenn
er zu diesem Zwecke Sokrates ein Gespräch mit einem fingierten
Vertreter der πολλοί halten läßt (853—357). Ausdrücklich hebt
Plato am Schluß dieses Gesprächs noch einmal hervor, daß die
Sokratik mit dem Sophisten hier auf gleichem Boden steht und
Sokrates dehnt absichtlich diese Übereinstimmung auf Hippias
ἡ Man denke an den Kallikles des Gorgias.
Die Begründung der intellektualistischen Auffassung der Tugend. 103
und Prodikos aus — κοινὸς γὰρ δὴ ἔστω ὑμῖν ὃ λόγος (358a) —
und läßt sich von ihnen bestätigen, daß die vulgäre Anschauung
widerlegt ist ').
Bringt nun der Abschnitt tatsächlich das, was wir als Er-
gänzung zum Laches für notwendig hielten? Enthält er den Be-
weis, daß die Tugend intellektuell ist?
Plato sucht zu zeigen, daß das ἡττᾶσϑαι τῶν ἡδονῶν weiter
nichts ist als eine falsche Entscheidung des Intellekts, indem man
gegenüber der augenblicklichen Lust, die eine Handlung bringt,
die zukünftigen Schmerzen und Unannehmlichkeiten, die aus ihr
folgen müssen, zu gering einschätzt. Daraus folgert er weiter,
daß das richtige Verhalten des Menschen, die Tugend, auf einer
richtigen Abschätzung gegenwärtiger und künftiger Lust beruhe,
also eine Meßkunst sei, die aus der Fähigkeit, Werturteile zu
fällen, aus dem Wissen vom Guten und Schlechten stamme.
Die Unzulänglichkeit dieser Beweisführung empfindet man
am stärksten, wenn man an die Debatten der hellenistischen
Zeit denkt, wo Stoiker und Peripatetiker darüber streiten, ob bei
Medea, wenn sie erklärt καὶ μανϑάνω μὲν oia δρᾶν μέλλω κακά,
υμὸς δὲ κρείσσων τῶν ἐμῶν βουλευμάτων, wirklich ein Unter-
liegen des Intellekts gegenüber unvernünftigen Trieben oder nur
ein intellektueller Akt, ein falsches Urteil statthat (z. B. Chrysipp
fr. eth. 473). Denn Plato setzt ohne weiteres voraus, daß auch
der ἥττων ἡδονῆς der Lust nur deshalb fröhnt, weil er sich ver-
standesmäßig für die Lust entscheidet. Plato nimmt also das
eigentliche Beweisthema, daß hier der Intellekt das Handeln be-
stimmt, einfach vorweg und führt auf dieser Basis die Unter-
suchung. Daß hier ein psychologisches Problem vorliegt, sieht
er überhaupt nicht. Verwundern kann uns das nicht, denn seine
Zeitgenossen sehen es ebensowenig — wenigstens die ganz im
Banne des Rationalismus stehenden Träger der Aufklärung; Euri-
pides, den Plato hier zur Masse wirft, blickt tiefer ins Menschen-
herz — und wir beobachten ja bei Plato selber, wie erst all-
ἢ Natürlich sorgt Plato dafür, daß wir nun diese Gemeinschaft nicht zu
weit ausdehnen. Laut ertönt der Beifall der Sophisten zu dem ihnen genehmen
Ergebnis (358a), zumal Sokrates mit dem Rate an die πολλοί geschlossen hat,
sie sollen sich von ihrer Unwissenheit durch die berufenen Seelenärzte, die
Sophisten, kurieren lassen und die Kosten der Kur nicht scheuen (357e). Die
Ironie, die sie nicht merken, empfindet der Leser um so stärker.
104 Protagoras.
mählich ihm die Bedeutung des Problems aufgeht. Im vierten
Buche des Staates stellt er den Widerstreit von Urteil und Trieb
dar, um damit die Verschiedenheit der psychischen Funktionen
zu erweisen. Aber die Ausführlichkeit und der ganze Ton der
Beweisführung zeigen uns deutlich, wie neu die Entdeckung dieses
Widerstreites für ihn selber ist, wie genau er ihn und die daraus
sich ergebenden Folgerungen glaubt den Lesern erläutern zu
müssen (436ff.). Nirgends ermißt man die gewaltige Entwick-
lung in Platos psychologischer Erkenntnis deutlicher, als wenn
man diese Ausführung mit der des Protagoras vergleicht. Er
selber ignoriert im Staat seine frühere Darstellung, sieht sie als
überwundenen Standpunkt an. Aber daran, daß er im Protagoras
geglaubt hat, die vulgäre Anschauung vollkommen zu widerlegen
und den intellektuellen Charakter der Tugend zu erweisen, ist
nicht zu zweifeln.
Mit der einheitlichen Auffassung der psychischen Funktionen
hängt es eng zusammen, daß Plato hier auch das Ziel des mensch-
lichen Strebens als einheitlich zu erweisen unternimmt. Auch
hier tritt er der vulgären Anschauung entgegen. Denn die kennt
zwei Zielpunkte des Handelns, die Lust und das Gute, und geht
von der Voraussetzung aus, daß beide nur zu oft im Gegensatze
stehen. Wenn sie von einem Unterliegen gegenüber der Lust
spricht, so meint sie, daß der Mensch zwar das Gute sieht, das
er eigentlich tun sollte, aber das Schlechte tut. weil die Lust ihn
lockt (352d). Als das Gute schwebt dabei teils das Vorteilhafte,
teils in unklarer Weise der Begriff des Sittlichen vor, das eigent-
lich das Ziel des Handelns sein müßte. Aber das Gute ist oft so
bitter, das Schlechte so süß, und im Grunde ist doch der Dumme,
wer das Gute tut. Demgegenüber glaubt Plato zeigen zu kön-
nen, daß ein Widerstreit zwischen Gut und Angenehm in Wahr-
heit nicht besteht, daß jedem Menschen ein einheitliches Ziel des
Strebens vorschwebt (351c). Auch wer ganz bewußt die Lust
vom Guten scheidet und ihr allein fröhnt, verzichtet doch ge-
legentlich auf einen Genuß, der ihm übel bekommen würde,
unterzieht sich einer schmerzlichen Operation, von der er Ge-
nesung erhofft. Das tut er, weil er meint, daß die Operation für
ihn gut und vorteilhaft ist. Gut ist sie aber deshalb für ıhn,
weil sie ihm für den augenblicklichen Schmerz ein höheres Maß
von Lust erwirkt (354a). Alles aber, was Lust bewirkt, kann als
ἡδύ und ἀγαϑόν. 105
ἡδύ aufgefaßt werden — mit guter Absicht ist die Definition an
den Anfang gestellt ἡδέα ἐστὶ τὰ ἡδονῆς μετέχοντα ἢ ποιοῦντα
ἡδονήν (861) —, daher ließ sich folgerichtig selbst diese Ope-
ration, weil sie ἡδονὴν ποιεῖ, als nöd bezeichnen. Plato hat das
nicht ausdrücklich ausgesprochen, teils weil er den Schein der
Paradoxie vermeiden wollte, teils weil ın diesem Falle ein Ge-
misch von Add und ἀνιαρόν vorliegt, bei dem nur die Zusammen-
rechnung ein Plus von ἧδύ ergibt. Wichtiger ist ihm die Fest-
stellung, daß das Werturteil „gut“ bei diesem Standpunkt zu-
rückzuführen ist auf den Begriff des dv, das als einheitliches
Ziel des Handelns vorschwebt. Nur das ist gut, was Lust ver-
mittelt, und umgekehrt ist natürlich die Lust das für den Men-
schen Gute und Vorteilhafte, aber freilich nur die Lust, sofern
sie keine Unlust nach sich zieht (354c — 6).
Damit ergibt sich die Antwort auf das Thema, das 351c ge-
stellt war. Dort hatte Sokrates gefragt: un καὶ σύ, ὥσπερ οἱ
πολλοί, HdE ἄττα καλεῖς κακὰ καὶ ἀνιαρὰ dyadd; ἐγὼ γὰρ λέγω,
nad ὃ ἡδέα ἐστίν, ἄρα κατὰ τοῦτο οὐκ ἀγαϑά, μὴ εἴ τι ἀπ᾽ αὐτῶν
ἀποβήσεται ἄλλο; καὶ αὖϑις αὖ τὰ ἀνιαρὰ ὡσαύτως οὕτως οὐ καϑ'
ὅσον ἀνιαρά, κακά; und da Protagoras es für vorsichtiger hält, die
ἡδέα in gute, schlechte und indifferente einzuteilen, hatte er
35le nochmals das Thema präzisiert: τοῦτο τοίνυν λέγω, nad”
ὅσον ἡδέα ἐστίν, εἰ οὐκ dyadd, τὴν ἡδονὴν αὐτὴν ἐρωτῶν εἰ
οὐκ ἀγαϑόν ἐστιν. Jetzt ergibt sich, daß diese Frage tatsächlich
zu bejahen ist. Aber allerdings ist auch deutlich geworden,
warum es nötig war, den Begriff des ἡδύ so scharf zu umgrenzen,
wie es Sokrates tut. Denn nicht alles, was man gewöhnlich
ἡδύ nennt, verdient diesen Namen. Die χακὰ ἡδέα, von denen
die πολλοί reden, sind in Wahrheit gar keine ἡδέα, da sie, wenn
auch nur für die Zukunft, ein Plus von ἀνιαρόν in sich bergen.
Nur ihre ἀγαθὰ ἡδέα verdienen den Namen ἡδέα, und sie sind
gleichzeitig wirklich etwas Gutes.
So ergibt sich statt des Widerstreites von ἀγαϑόν
und nöd grade vom Standpunkt der vulgären An-
schauung aus die Identität beider Begriffe und die
Einheitlichkeit des Lebenszieles.
Aber Plato nimmt für diese Auffassung auch absolute Gel-
tung in Anspruch. Denn wo er sich von der Auseinandersetzung
mit den πολλοί abwendet, läßt er sich ausdrücklich auch von den
106 Protagoras.
Sophisten bestätigen: ὁμολογεῖτε ἄρα τὸ μὲν ἡδὺ ἀγαϑὸν εἶναι τὸ
δὲ ἀνιαρὸν κακόν (358a). Auch hier müssen wir natürlich uns
gegenwärtig halten, daß ἡδύ nur die reine Lust ist, die keine
Unlust im Gefolge hat. Wollen wir nun verstehen, wie Plato zu
dieser Auffassung gekommen ist, so gilt es, auf den Satz zurück-
zublicken, den er zum Ausgangspunkt der Debatte macht (351 b):
Es ist die Identität des εὖ ζῆν und des ἡδέως ζῆν. Daß mit dem
εὖ ζῆν nicht bloß das glückliche, sondern das sittliche Leben ge-
meint ist, ergibt das Folgende. Als nämlich Sokrates folgert
τὸ ἄρα ἡδέως ζῆν ἀγαθόν, will Protagoras die Einschränkung
machen, εἴπερ τοῖς καλοῖς γε ζῴη hödutvog. Diese Einschränkung
erklärt Sokrates für unnötig, weil die ἡδέα zugleich gut seien.
Das zeigt er in der vorher geschilderten Weise und greift dann
sofort 358b auf den Begriff καλόν zurück: αἱ ἐπὶ τούτου πράξεις
ἅπασαι, ἐπὶ τοῦ ἀλύπως ζῆν καὶ ἡδέως, ἄρ᾽ οὐ καλαί; diese καλαὶ
πράξεις, die zum ἡδέως ζῆν führen, sind aber die sittlichen
Handlungen, von denen im folgenden besonders die tapferen be-
sprochen werden. Natürlich will nun Plato nicht etwa wie Epikur
die Tugenden zu Dienerinnen der Lust machen und in ihnen nur
das Mittel sehen, um möglichst viel Lust, womöglich gar körper-
liche Lust zu gewinnen, und noch weniger denkt er daran, die
einzelne Lust zum Prinzip des Handelns zu erheben. Ziel bleibt
für ihn das sittlich Gute, aber sein Optimismus sagt ihm, daß das
sittliche Leben als das εὖ ζῆν die Glückseligkeit und die höchste
Lust verbürgt. Und mag auch die einzelne sittliche Handlung
oft von körperlichem Schmerze begleitet sein, sie ist doch etwas,
was ein viel größeres Maß von Lustgefühl für die Zukunft ver-
spricht, ist ein ποιοῦν ἡδονήν und damit ἡδύ. Andrerseits
liest kein Bedenken vor, das ἡδύ für ein Gut zu erklären. Man
muß nur festhalten, daß wahrhaft ἡδύ nur das ist, was nie zur
Quelle der Unlust werden kann. Und das wird in erster Linie
wieder das Lustgefühl sein, das sich aus der sittlichen Handlung
ergibt. Jedenfalls ist ein dauerndes ἡδέως ζῆν nur denkbar in
Verbindung mit dem sittlichen Leben.
So ist Plato dazu gekommen, die Lust nicht bloß wie Aristo-
teles für das Wohlgefühl zu erklären, das die vollkommene
Handlung begleitet, sondern gradezu sie mit dem Guten, das das
eigentliche ποιοῦν ἡδονήν ist, zu identifizieren. Das dulce est
pro patria mori hat für ihn den tiefen Sinn, daß die Hingabe
ἡδύ und ἀγαϑόν. ἔ 107
des Lebens als freie sittliche Tat vom höchsten, edelsten Lust-
gefühl begleitet ist. Und der Feigling flieht den Tod nur, weil
er von dieser höchsten Lust nichts weiß.
Er weiß nichts von ihr — damit werden wir auf das ur-
sprüngliche Problem zurückgeführt. Denn diese Identifikation des
Guten und Angenehmen, die einheitliche Auffassung des Lebens-
zieles ermöglicht erst vollständig, die psychischen Vorgänge als
intellektuell bestimmt aufzufassen. Denn nun ergibt sich für
Plato ohne weiteres, daß das ἡττᾶσϑαι τῆς ἡδονῆς nichts ist als
falsches Urteil über das eigentliche 566, das man als letztes Ziel
hat‘). Ohne weiteres ist jetzt klar, daß niemand aus Vorsatz das
Schlechte tut, das für ihn schädlich ist und λύπην ποιεῖ. Jetzt
kann sich auch Protagoras der Folgerung nicht entziehen, daß die
tapfere Handlung nichts andres ist als die bewußte Wahl des als
gut Erkannten (359 — 360e)’), und der Leser kann sich nunmehr
den 333e abgebrochenen Beweis”) dahin ergänzen, daß die σω-
φροσύνη wie die δικαιοσύνη in dem bewußten Tun des für den
Menschen Guten und Vorteilhaften, in derselben ἐπιστήμη ἀγαθῶν
καὶ κακῶν, die der Tapferkeit zugrunde liegt, ihr eigentliches
Wesen haben.
Was Plato hier bieten will, ist im Kern nichts andres als das,
was er später im Staat versucht hat. Es ist der Nachweis, daß
das sittlich Gute für den Menschen zugleich das Vorteilhafte und
Glückseligmachende ist. Zu diesem Zwecke hat er sich des Be-
griffes ἡδύ bedient. Er ist sich der Kühnheit des Schrittes be-
wußt gewesen. Das zeigen die ernsten Bedenken, die er Prota-
goras p. 851 4 in den Mund legt: Οὐκ οἶδα, ὦ Σώκρατες, ἁπλῶς
οὕτως, ὡς σὺ ἐρωτᾷς, εἰ ἐμοὶ ἀποκριτέον ἐστὶν ὡς τὰ ἡδέα τε ἀγαϑά
ἐστιν ἅπαντα καὶ τὰ ἀνιαρὰ κακά; ἀλλά μοι δοκεῖ οὐ μόνον πρὸς
τὴν νῦν ἀπόκρισιν ἐμοὶ ἀσφαλέστερον εἶναι ἀποκρίνασθαι, ἀλλὰ
καὶ πρὸς πάντα τὸν ἄλλον βίον τὸν ἐμόν, ὅτι ἔστι μὲν ἃ τῶν
τι
ἡδέων οὐκ ἔστιν ἀγαϑά, ἔστι δαὖ καὶ ἃ τῶν ἀνιαρῶν οὐκ ἔστι
1) Hier schwebt schon der Unterschied von Endziel und Ziel der einzelnen
Handlung vor, den der Gorgias 467. 8 ausführt.
2) Sie wird als σοφία δεινῶν καὶ μὴ δεινῶν definiert (8604). Μὴ δεινῶν
ist offenbar deshalb für das ϑαρραλέων des Laches (194 extr.) in der sokra-
tischen Definition eingesetzt, weil im Protagoras der Begriff ϑαρραλέος als Ober-
begriff von ἀνδρεῖος verwertet ist (349e vgl. 5. 94!).
a, Vel..S. 99.
108 Protagoras.
cl
κακά, ἔστι δ᾽ ἃ ἔστι, καὶ τρίτον ἃ οὐδέτερα, οὔτε κακὰ οὔτ᾽ dyadd.
Als Plato diese Worte schrieb, da hat er geglaubt, die Bedenken
überwinden zu können (vgl. p. 8516). An dieser Auffassung ist
er, das werden wir beim Gorgias sehen, bald irre geworden, und
hat eine scharfe Scheidung der Begriffe ἡδύ und ἀγαϑόν voll-
zogen. Aber daß die reine Lust etwas Gutes ist, daß sie die
Begleiterin des Sittlichen ist, das hat er — das werden wir dort
auch sehen — festgehalten.
Ob Plato in dem letzten Abschnitt des Gesprächs ganz
original ist, darf man vielleicht bezweifeln. Denn die ganze Lehre,
daß des Menschen Aufgabe die Meßkunst sei, die zwischen ge-
genwärtigen und künftigen Lüsten abwäge, macht doch sehr den
Eindruck, als sei sie auf dem Boden der Hedonik gewachsen.
Und tatsächlich kehren grade die Hauptpunkte dieser Ab-
schätzungslehre bei Epikur (fr. 439 Anf. 442. p. 63, 5ff. u. ö.) in
so frappanter Weise wieder, daß ein Zusammenhang zweifellos
besteht. Gewiß hat aber Epikur nicht aus dem Protagoras ge-
schöpft, sondern aus einem andern Hedoniker, an den auch Plato
anknüpft. Man denkt natürlich an Aristipp, und jedenfalls würde
die Bilanzierung der Lust, wenn sie sich auch für diesen nicht
sicher beweisen läßt, vortrefflich in seine Anschauungen passen.
Ist das richtig, so hat Plato die Hedonik Aristipps auf eine höhere
Stufe zu heben gesucht, indem er für das wahre ἡδύ nicht den
körperlichen Vorgang erklärte, sondern das Wohlgefühl, das die
gute Tat begleitet. Aber das bleibt natürlich unsicher.
Der Protagoras ist so fein komponiert wie kaum ein andrer
Dialog. Selbst die Teile, die nur in loser Verbindung mit dem
Hauptgespräche stehen, hängen innerlich mit diesem eng zu-
sammen. Selbst die Gedichtinterpretation, die scheinbar rein
künstlerischen Zwecken dient, spinnt inhaltlich, wie wir sahen
(5. 99°), den Faden weiter, der vorher abgerissen schien, und von
ihr aus wird derselbe Faden an den zweiten Teil des Gespräches
geknüpft‘). Die beiden Teile des Hauptgespräches, die durch das
lange Zwischenspiel und die Dichterinterpretation getrennt sind,
ergänzen sich genau wie zwei durch die Parabase getrennte
Teile der Komödie (S. 100). Und wenn dabei für die Verteilung
1) Natürlich soll die Gedichtinterpretation auch zeigen, daß dieses beliebte
Stück der sophistischen Erziehung ganz subjektiven Charakter trägt und darum
keinen absoluten Wert hat. Vgl. S. 84.
ν
N
ᾧ
᾿
"
4
Ζ
᾿
φ᾽
Die Komposition des Dialogs. 109
des Stoffes besonders wichtig ist, daß Protagoras der Tapferkeit
eine Sonderstellung gegenüber den übrigen Tugenden zuweist, so
sind wir darauf schon durch den Mythos des Sophisten vorbe-
reitet (vgl. S. 93). An diesem Mythos übt die folgende Debatte
über das Wesen der Tugend die beste Kritik. Und wie der
Mythos uns die Unklarheit des Sophisten illustriert, so zeigt uns
die Debatte Sokrates als Beherrscher der einzigen Methode, die
zur Klarheit führen kann. Ohne Klarheit über das Wesen der
Tugend ist aber auch die von den Sophisten so oft behandelte
Frage nach ihrer Lehrbarkeit nicht zu entscheiden. So hängt
diese Frage mit der Hauptdebatte aufs engste zusammen. Alles
aber zeigt uns, wie recht Sokrates hatte, wenn er im Vorgespräch
den Jüngling zur Vorsicht gegenüber den Sophisten mahnt, die
sich selber über den Charakter ihrer Lehren nicht klar sind. —
So schließen sich alle einzelnen Teile zu einem organischen
Ganzen zusammen, und sie alle eint die Tendenz, die Tugend als
das Wissen vom Guten zu erweisen und die Sokratiker als die
einzigen hinzustellen, die als Lehrer der Tugend in Betracht
kommen. Ob sie das Wissen vom Guten schon haben, das wissen
wir nicht. Aber auf dem richtigen Wege sind sie.
Im Protagoras tritt in der Schilderung der Situation und der
Charaktere wie in der ganzen Komposition die künstlerische
Meisterschaft des jungen Plato in solchem Maße zu Tage, daß man
es verstehen kann, wenn in moderner Zeit künstlerisch orientierte
Leser in dieser Kunst den eigentlichen Zweck Platos sehen. Aber
ganz gewiß hat Plato, das hat uns hoffentlich die Interpretation
gelehrt, im Protagoras kein bloßes Spiel geben wollen. Sehr ernste
Probleme verbergen sich unter der heitern Hülle. Auch der Dichter
dieser Komödie wollte διδάσκαλος des Volkes sein.
Für die Zeit, wo der Protagoras verfaßt ist, gibt uns der
Dialog selber keine sicheren Anhaltspunkte‘). Immerhin wird
man wohl sagen dürfen, daß die zwischen Apol. 19e und Prot.
316c, zwischen Apol. 24. 5 und Prot. 325cff. bestehenden Be-
ziehungen (vgl. S. 79 und S. 89) sich ungezwungen psychologisch
nur erklären lassen, wenn die Apologie vorangegangen ist. Auch
wird es, hoffe ich, manchen geben, der meint, es wäre nicht über-
Ἢ Daraus, daß Plato 350a anführt, selbst die durch Tapferkeit nicht son-
derlich berühmten πελταστικοί würden durch ihre technische Fertigkeit ϑαρρα-
λεώτεροι, ist garnichts zu schließen. Vgl. Xen. An. I, 3, 3. 6. 9. ὃ.
110 Protagoras.
mäßig geschmackvoll gewesen, wenn Plato bei Lebzeiten des
Sokrates seinem Lehrer attestiert hätte, er sei ein durch seine
Klugheit berühmter Mann!).
Aber das ist natürlich ein Argument, das höchstens subjek-
tive Überzeugungskraft hat. Und viel mehr möchte ich auch nicht
für die Besprechung einer andern Stelle in Anspruch nehmen.
Im Simonidesgedichte interpungiert Plato, wie wir sahen (S. 84),
gegen des Dichters Willen πάντας δ᾽ ἐπαίνημι καὶ φιλέω ἑκών,
ὅστις ἔρδῃ μηδὲν αἰσχρόν (845 Οἢ.). Er tat es zunächst, um in
Simonides’ Worte die sokratische Überzeugung, daß niemand
absichtlich Unrecht tut, hineinzudeuten (vgl. S. 89). Aber
sehr auffallend ist es, wie er den Gedanken φιλέω ἑκών er-
läutert. „Ein guter Mann kann in die Lage kommen, auch gegen
seinen Willen andern Lob und Liebe zollen zu müssen, wenn
nämlich Vater, Mutter oder auch das Vaterland ein verkehrtes
Verhalten zeigen. Die Schlechten haben in solchem Falle, meint
Sımonides, ihre Freude daran, die Fehler der Eltern oder des
Vaterlandes aufzudecken, um daraufhin jeder Verpflichtung gegen
diese ledig zu werden, τοὺς δ᾽ ἀγαθοὺς ἐπικρύπτεσθαί τε καὶ
ἐπαινεῖν ἀναγκάζεσθαι, καὶ ἄν τι ὀργισϑῶσιν τοῖς γονεῦσιν ἢ
πατρίδι ἀδικηϑέντες, αὐτοὺς ἑαυτοὺς παραμυϑεῖσθαι καὶ διαλλάτ-
τεσϑαι προσαναγκάζοντας ἑαυτοὺς φιλεῖν τοὺς ἑαυτῶν καὶ ἐπαινεῖν
(346a).“ Wie kommt Plato dazu, hier ausführlich vom Vaterlande
zu sprechen und es dreimal ausdrücklich mit den Eltern zu ver-
gleichen, wo doch das Simonidesgedicht nur von Individuen redet?
Ein Motiv, das durch die Interpretation des Gedichtes oder über-
haupt durch den Dialog selber gegeben wäre, wird man vergeb-
lich suchen. Um so näher liegt es, an ein anderes Motiv zu
denken. Im Kriton verficht ja Plato den Satz, daß man unter
keinen Umständen Unrecht mit Unrecht vergelten dürfe, am
wenigsten dem Vaterlande gegenüber, das Vaterstelle an uns
vertritt, in dessen Schutze wir aufgewachsen sind. ἢ οὕτως εἶ
σοφός, sagen dort die Gesetze zu Sokrates (Bla), ὥστε λέληϑέν
σε ὅτι μητρός TE καὶ πατρὸς καὶ τῶν ἄλλων προγόνων ἁπάντων
τιμιώτερόν ἐστιν πατρὶς καὶ σεμνότερον καὶ ἁγιώτερον καὶ ἐν
μείζονι μοίρᾳ καὶ παρὰ ϑεοῖς καὶ παρ’ ἀνϑρώποις τοῖς νοῦν
ἔχουσι; „Ihm muß man sich fügen, auch wenn es Unrecht tut,
1 Andres besagt doch die Prophezeiung des Protagoras am Schluß (361e)
nicht.
Die Zeit des Dialogs. — p. 346a. 111
darf nicht widersprechen. Man mag versuchen, gütlich zu ge-
rechterem Verhalten zu überreden, βιάζεσθαι δὲ οὐχ ὅσιον οὔτε
μητέρα οὔτε πατέρα, πολὺ δὲ τούτων ἔτι ἧττον τὴν πατρίδα." Über
vier Jahrzehnte waren verstrichen, seit Plato dies geschrieben,
da hielt man ihm höhnisch vor, warum er denn mit seinen po-
litischen Reformen nicht in der Heimat angefangen habe. Die
Antwort gab Plato an einer Stelle des siebenten Briefes (321b—d):
„Einen Sklaven kann ich wohl zwingen, nach meinem Willen zu
leben, πατέρα δὲ ἢ μητέρα οὐχ ὅσιον ἥγοῦμαι ngooßıdleodar....
ταὐτὸν δὴ καὶ περὶ πόλεως αὑτοῦ διανοούμενον χρὴ ζῆν τὸν ἔμφρονα.
Auch da darf man keinen Zwang ausüben, nicht mit Gewalt und
Blutvergießen eine neue Verfassung einführen, sondern man muß
sich zurückhalten und Gott das eigne Los wie das des Vater-
landes anheimstellen“ '). Ist es nicht derselbe Geist, der aus den
goldenen Worten des Protagoras spricht, und ist es zu kühn,
wenn wir nun in diesen ein Bekenntnis sehen, so persönlich wie
das der beiden andern Stellen? „Gewiß, Athen hat Unrecht ge-
tan, und den Grimm über sein Verhalten fühle ich so gut wie
einer. Aber wenn nun Heißsporne kommen und Athens Schande
möglichst breit treten und seine Ehre in den Staub ziehen, so
mache ich nicht mit. Schwer genug mag es mir mein Athen
machen an ihm festzuhalten. Aber es bleibt mein Vaterland,
und was ich ihm schuldig bin, das werde ich ihm nicht versagen,
und müßte ich mich zur Liebe zwingen.“ Daß in diesem Falle
das Unrecht, auf das Plato anspielt, kein andres ist als der Tod
des Sokrates, liegt an sich nahe und wird durch den Kriton be-
stätigt. Der Kriton kann uns auch zeigen, daß wir die Milde,
die in Platos Worten liegt, ihm auch bald nach 399 schon zu-
trauen dürfen. Wir wissen ja aber auch aus dem siebenten Briefe,
daß Plato die restaurierte Demokratie nicht ungünstig beurteilt
hatte: ἢν οὖν καὶ ἐν ἐκείνοις ἅτε τεταραγμένοις πολλὰ γιγνόμενα
ἅ τις ἂν δυσχεράνειεν, heißt es dort p. 325b, „aber im ganzen
mußte man die Mäßigung der leitenden Männer anerkennen“ °).
Ἢ An diese Stelle klingt der Schluß des dritten demosthenischen Briefes
an: ἔγνωκα γὰρ ἐξ ἀρχῆς παντὶ τῷ πολιτευομένῳ προσήκειν, ἄνπερ ἢ δίκαιος
πολίτης, ὥσπερ οἱ παῖδες πρὸς τοὺς γονέας, οὕτως πρὸς ἅπαντας τοὺς πολίτας
ἔχειν, εὔχεσϑαι μὲν ὡς εὐγνωμονεστάτων τυγχάνειν, φέρειν δὲ τοὺς ὄντας
εὐμενῶς.
2) δοκοῦσιν κάλλιστα δὴ καὶ πολιτικώτατα ἁπάντων καὶ ἰδίᾳ καὶ κοινῇ
112 Protagoras.
Dazu könnte man direkt als Begründung die Gedanken stellen,
die Plato im Protagoras unmittelbar nach der besprochenen Stelle
ausführt „Vollkommene Menschen gibt es eben nicht und Simo-
nides hat ganz recht, wenn er sagt ἔμοιγ᾽ ἐξαρκεῖ ὃς ἂν μὴ κακὸς
ἦ und ἄγαν ἀπάλαμνος“ (3466). So werden wir auch diesen
Worten eine ganz persönliche Bedeutung geben dürfen.
Trotzdem bin ich, wie gesagt, weit entfernt davon, für diese
Auffassung volle objektive Beweiskraft in Anspruch zu nehmen.
Glücklicherweise hängt ja aber auch die Entscheidung über die
Abfassungszeit des Protagoras von diesen Argumenten nicht ab.
Sie ergibt sich aus dem Früheren von selbst. Der Protagoras
ist nur denkbar als eine Parallele zum Hippias, als eine Fort-
setzung des Laches') und kann deshalb wie dieser erst nach 399
entstanden sein.
χρήσασϑαι ταῖς προγεγενημέναις συμφοραῖς, sagt bekanntlich Aristoteles Ath.
pol. 40, 4 von ihnen.
1) Darüber, daß C. Fr. Hermann recht hatte, wenn er gegen Schleiermacher
den Protagoras als Fortsetzung des Laches ansah, brauche ich wohl kein Wort
mehr zu sagen. Nur auf eins sei noch hingewiesen. Wir sahen, wie im Laches
Plato es dem Leser überläßt, sich die Begriffe ϑρασύς und ἀνδρεῖος gegenein-
ander abzugrenzen (S. 27). Im Protagoras lesen wir eine an Laches 184b er-
innernde Zusammenstellung 360b: οἱ δειλοὶ καὶ οἱ ϑρασεῖς καὶ οἱ μαινόμενοι
τοὐναντίον (im Gegensatz zu den ἀνδρεῖοι) αἰσχροὺς φόβους φοβοῦνται. Im
übrigen sorgt aber Plato hier dafür, daß das Verhältnis beider Begriffe ganz
geklärt wird. Dazu dient die S. 94! besprochene Erörterung 349e—351b. Denn
dort lernen wir, daß ϑαρραλέοι der weitere Begriff gegenüber ἀνδρεῖοι ist. Und
wenn am Schluß dort Protagoras als seine Ansicht ausspricht: ϑάρσος μὲν γὰρ
nal ἀπὸ τέχνης γίγνεται ἀνθρώποις καὶ ἀπὸ ϑυμοῦ γε nal ἀπὸ μανίας, ὥσπερ
ἡ δύναμις, ἀνδρεία δὲ ἀπὸ φύσεως καὶ εὐτροφίας τῶν ψυχῶν γίγνεται (851),
so kann sich der Leser des Folgenden leicht sagen, daß der erste Teil (— μανέας)
bestehen bleibt, daß aber dazu noch das ϑάρσος ἀπὸ φύσεως tritt und daß die
Tapferkeit nur derjenige Mut ist, der sich auf das Wissen gründet. Das Ver-
hältnis beider Begriffe setzt Plato natürlich als bekannt voraus, wenn er von
Euthydem (p. 275b) pointiert sagt, er habe sich zur Erziehung des jungen Kleinias
ἀνδρείως τε καὶ ϑαρραλέως erboten. Im Menon 88b sagt Plato: „Alles, was die
Seele ohne Wissen unternimmt, ist gefährlich. οἷον ἀνδρεία ei μή ἔστι φρόνη-
σις ἣ ἀνδρεία ἀλλ᾽ οἷον ϑάρρος τι' οὐχ ὅταν μὲν ἄνευ νοῦ ϑαρρῇ ἄνϑρωπος,
βλάπτεται, ὅταν δὲ σὺν νῷ, ὠφελεῖται;" Wenn er hier an eine ἀνδρεία denkt,
die nicht φρόνησις ist, so tut er das mit Rücksicht auf den zweiten Teil des
Menon, wo er die auf der ὀρϑὴ δόξα beruhende niedere Tugend anerkennt. Sonst
ist aber der Anschluß an den Protagoras unverkennbar.
Die volle Anerkennung erringt sich die niedere Tugend, als Plato die Drei-
teilung der Seele konzipiert hat. Jetzt wird die ἀνδρεία die Tugend des ϑυ-
Zum siebenten Brief. 113
Anhang.
Zum siebenten Brief.
Ich habe S. 111 eine Stelle des siebenten Briefes als platonisch
verwertet. Für die Echtheit dieses Briefes sind Ed. Meyer (V,$166,
747a, 987ff.), Adam, Über die Echtheit der platonischen Briefe,
Berl. Pr. 1906, Bertheau, de Platonis epistula septima, Diss.
Hal. XVII, Blaß (bes. Apophoreton S. 54ff.), Räder, Rh. M. LXI,
S. 521ff., Ritter, Komm. zu den Gesetzen, S. 367ff. und Neue
Untt. S. 404ff. so ausführlich und überzeugend eingetreten, daß
ich hier nur meine Stellung präzisieren will’).
μοειδές und der φύλακες. Diese haben nicht das Wissen vom Guten und
Üblen — das kann nur die höhere philosophische Ausbildung vermitteln —, son-
dern nur die durch die Erziehung vermittelte ὀρϑὴ δόξα δεινῶν τε πέρι καὶ μή.
Das betont Plato aufs schäriste Rep. 429 a—430c im Gegensatz zu der vorher ge-
schilderten ἐπιστήμη der ἄρχοντες, billigt aber trotzdem jetzt den φύλακες die
ἀνδρεία zu. Andrerseits ist die durch die Erziehung ausgebildete ὀρϑὴ δόξα
ihm jetzt so wesentlich, daß er, wo diese fehlt, nur einen tierischen oder den
Sklaven zukommenden Mut anerkennt, keine ἀνδρεία. (Bewußt ungenau spricht
Plato dem Wachhunde wie φιλοσοφία auch ἀνδρεία zu 375a, vgl. 376a.)
Bekanntlich hat Siebeck, Untt.? 5. 218, an die dort folgende Äußerung, er
werde vielleicht später auf die Sache zurückkommen, seine Vermutung geknüpft,
dieses Versprechen werde im Laches eingelöst. Das ist unmöglich, da in einer
späteren Schrift weder die Dreiteilung der Seele noch die ὀρϑὴ δόξα unberück-
sichtigt bleiben konnte.
Im Politikos 309 b heißt es von der ἀνδρεία ψυχή, sie werde ohne Erkennt-
nis des Wahren ἀποκλίνειν πρὸς ϑηριώδη τινὰ φύσιν. Die schärfste Korrektur
des Protagoras bringen aber die Gesetze. Natürlich wird auch hier festgehalten,
daß ἀνδρεία und φρόνησις beide unter den Begriff der ἀρετή fallen und der Ver-
wirklichung des sittlichen Zieles dienen. Aber nach einer Erörterung, die wohl
nicht unabsichtlich an den Protagoras anklingt, erklärt er hier 963e über diese
Tugenden: τὸ μέν ἐστιν περὶ φόβον, οὗ καὶ τὰ Imola μετέχει, τῆς ἀνδρείας, καὶ
τά γε τῶν παίδων HIN τῶν πάνυ νέων᾽ ἄνευ γὰρ λόγου καὶ φύσει γίγνεται ἀνδρεία
ψυχή; ἄνευ δ᾽ αὖ λόγου ψυχὴ φρόνιμός τε καὶ νοῦν ἔχουσα οὔτ᾽ ἐγένετο πώποτε
οὔτ᾽ ἔστιν. Die fast möchte man sagen Gereiztheit gegenüber der ἀνδρεία, die aus
diesen Worten spricht, erklärt sich aus dem Gegensatze zur spartanischen Tapfer-
keit, von der Plato in den Gesetzen ausgeht. Jedenfalls geht aber der alte Plato
bewußt damit in das Lager des Protagoras über, den der junge bekämpft hatte.
In der Epinomis werden dementsprechend ἀνδρεία und σοφία einander entgegen-
gestellt (975 6).
Θρασύς hat gegenüber ϑαρραλέος eine tadelnde Nüance. Dle objektive
Bedeutung von ϑαρραλέος, die wir im Laches fanden (= ἅ τις Yaggei), hat
Aristoteles Nik. Eth. III, 10 verwendet.
1) Für ganz unrichtig halte ich es, wenn Odau, Quaestiones de septima et
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 8
114 Zum siebenten Brief.
Die Stelle 331b—d, die ich eben zur Erläuterung des Pro-
tagoras angezogen habe, ist eine von den zahlreichen Stellen des
Briefes, wo dieser wörtliche Berührungen mit früheren Schriften
Platos zeigt, der Gedanke aber so leise und so echt platonisch
variiert ist, daß an eine Fälschung oder Nachahmung nicht ge-
dacht werden kann. Ich erinnere hier nur daran, wie 344c
(ὅταν ἴδῃ τίς τοῦ συγγράμματα γεγραμμένα εἴτε Ev νόμοις
νομοϑέτου εἴτε ἐν ἄλλοις τισὶν ἅττ᾽ οὖν, ὡς οὐκ ἢν τούτῳ ταῦτα
σπουδαιότατα) und 8444 (οὔτε γὰρ ὑπομνημάτων χάριν αὐτὰ
ἔγραψεν) die Gedanken des Phaidros wiederklingen (277 ἃ εἴτε
Λυσίας ἤ τις ἄλλος πώποτε ἔγραψεν ἢ γράψει ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ
νόμους τιϑείς, σύγγραμμα πολιτικὸν γράφων. 276b ἢ ταῦτα
μὲν δὴ παιδιᾶς τε καὶ ἑορτῆς χάριν δρῴη ἂν... ἐφ᾽ οἷς δ᾽ ἐσπού-
δακεν nıi. 276d τοὺς ἐν γράμμασι κήπους παιδιᾶς χάριν σπερεῖ
τε καὶ γράψει, ὅταν γράφῃ, ἑαυτῷ τε ὑπομνήματα ϑησαυριζό-
uevos), wie 340c (ὃ γὰρ ἀκούσας. . δδόν τε ἡγεῖται ϑαυμαστὴν
ἀκηκοέναι συντατέον TE εἶναι νῦν καὶ οὐ βιωτὸν ἄλλως ποιοῦντι"
μετὰ τοῦτο δὴ συντείνας αὐτός τε καὶ τὸν ἠγούμενον τὴν ὅδδόν, οὐκ
ἀνίησι πρὶν ἂν ἢ τέλος ἐπιϑῇ πᾶσιν ἢ λάβῃ δύναμιν, ὥστε αὐτὸς
αὑτὸν χωρὶς τοῦ δείξαντος μὴ ἀδύνατος εἶναι ποδηγεῖν) an den
philosophischen Aufstieg erinnert, den Sokrates am Schluß seiner
Rede im Symposion schildert (210a δεῖ πρῶτον μέν, ἐὰν ὀρθῶς
ἡγῆται ὃ ἡγούμενος, ἕνὸς αὐτῶν σώματος ἐρᾶν... ἔπειτα δὲ
αὐτὸν κατανοῆσαι κτλ. vgl. 2ilbextr. — 2110 σχεδὸν ἄν τι
ἅπτοιτο τοῦ τέλους, vgl. 210e 211. --- 211 ἐνταῦϑα τοῦ βίου ..
βιωτὸν ἀνθρώπῳ), oder wie das schöne Bild des Phaidros von
der Seele, die vom Eros getroffen vergeblich sich emporzu-
schwingen versucht (προϑυμούμενος ἀναπτέσϑαι, ἀδυνατῶν δὲ
ὄρνιϑος δίκην βλέπων ἄνω 249 4) in anderer nicht minder passen-
der Verwertung im Briefe vorkommt (τὸ δὲ μετὰ ταῦτα ἐζῶμεν
ἐγὼ καὶ Διονύσιος, ἐγὼ μὲν βλέπων ἔξω καϑάπερ ὄρνις ποϑῶν
ποϑεν ἀναπτέσϑαι 8484). Und wenn am Schluß des Briefes die
Gedanken noch einmal zu Dion zurückkehren, der so Großes ge-
wollt, so vieles schon erreicht, aber schließlich ἔπταισεν ἐπ᾽ ἄκρον
ἐλϑὼν Tod περιγενέσϑαι τῶν ἐχϑρῶν, und wenn dort Platos Schmerz
octava Platonis epistula, Diss. Königsberg 1906, und Ritter Teile des Briefes als
Interpolation ausscheiden wollen. Über den philosophischen Abschnitt 341 a—345 c
vgl. Adam a. ἃ. 0.
Übereinstimmung mit den sicher echten Schriften. 115
durchbricht in den Worten κεῖται Σικελίαν πένϑει περιβαλὼν
μυρίῳ, so fällt einem unwillkürlich das Epigramm ein, das Plato
dem verstorbenen Freunde widmete:
Σοὶ δέ, Δίων, δέξαντι καλῶν ἐπινίκιον ἔργων
δαίμονες εὐρείας ἐλπίδας ἐξέχεαν.
Κεῖσαι δ᾽ εὐρυχόρῳ ἐν πατρίδι τίμιος ἀστοῖς,
ὦ ἐμὸν Exrunvas ϑυμὸν ἔρωτι Δίων ᾽).
Überhaupt genügt eigentlich schon das Ethos, das der Brief an-
nimmt, sobald die Rede auf Dion kommt, um Plato selbst als
Verfasser zu erweisen’). Eine Parallele bieten dazu die einfach-
schönen Worte über Sokrates, auf die Ed. Meyer 747a mit Recht
hinweist: φίλον ἄνδρα ἐμοὶ πρεσβύτερον Σωκράτη, ὃν ἐγὼ σχεδὸν
οὐκ ἂν αἰσχυνοίμην εἰπὼν δικαιότατον εἶναι τῶν τότε (924).
Würde hier und im folgenden, wo von Sokrates’ Tod die Rede
ist (κατὰ δέ τινα τύχην αὖ τὸν Eraioov ἡμῶν Σωκράτη τοῦτον
δυναστεύοντές τινες εἰσάγουσιν εἰς δικαστήριον 325b), wohl ein
Fälscher darauf verzichtet haben, τραγικῶς zu reden? Daß der
ganze erste Abschnitt eine intime Kenntnis von Platos Ent-
wicklung verrät, die wir einem Nachahmer kaum zutrauen können,
werden wir noch sehen.
Anstoß hat besonders die Komposition des Briefes erregt.
Aber wenn z. B. Wendland, der Berl. ph. Woch. 1907, Sp. 1015ff.
die Gründe gegen die Echtheit des Briefes am besten vorgetragen
hat, tadelt, daß Platos erste und zweite sizilische Rede in selt-
samer Weise zusammengeworfen werden, so ist entgegenzuhalten,
daß ein historischer Verstoß jedenfalls nicht vorliegt. „Ich kam
nach Italien und Sizilien, als ich schon mit meinen politischen
Anschauungen im ganzen fertig war. An dem jungen Dion ge-
wann ich einen unbedingten Anhänger meiner Ideen. Die hielt
er fest und hat so bis zum Tode des Dionys im Gegensatz zu
den Anschauungen des Tyrannenhofes gestanden. Als Dionys
dann gestorben war, da glaubte er die Zeit zum Eingreifen ge-
kommen und bat mich hinzukommen, damit ich denselben Ein-
fluß auf den jungen Herrscher ausübte wie seinerzeit auf Dion
1) Vgl. noch 336b νῦν δὲ ἤ πού τις δαίμων ἤ τις ἀλιτήριος .. πάντα τὸ
δεύτερον ἀνέτρεψεν.
2) Rührend ist, wie 5514 Plato sogar den nur zu berechtigten Vorwurf,
Dion habe keine Menschenkenntnis besessen, abzuschwächen sucht,
8*
116 Zum siebenten Brief.
selber“ (326b—327b) — hier hätte ein Fälscher schwerlich ver-
säumt hervorzuheben, daß Plato von der ersten Reise zurück-
gekehrt war; aber notwendig zum Verständnis war das für Platos
Zeitgenossen gewiß nicht. Schwerer wiegt, daß 330be 337e ὃ
πρῶτος χρόνος τῆς εἰς Σικελίαν ἐπιδημίας und die ὑστέρα πορεία
gegenübergestellt werden; aber daß hier nur die Aufenthalte beim
jüngeren Dionys in Betracht gezogen werden, erklärt sich aus
dem aktuellen Zweck des Briefes.
Will man die Komposition des Briefes im übrigen verstehen, so
ist unbedingt davon auszugehen, daß wir keinen einfachen Privat-
brief vor uns haben. Diese Empfindung hatte schon das Altertum.
Demetrius περὶ ἑρμηνείας 234 sagt: ἐπεὶ δὲ καὶ πόλεσί ποτε καὶ
βασιλεῦσι γράφομεν, ἔστωσαν τοιαῦται αἱ ἐπιστολαὶ, οἷαι μικρὸν
ἐξηρμέναι πως" (στοχαστέον γὰρ καὶ τοῦ προσώπου ᾧ γράφεται)
ἐξηρμέναι μέντοι καὶ οὐχ ὥστε σύγγραμμα εἶναι ἀντ᾽ ἐπιστολῆς
ὥσπερ αἱ ᾿Αριστοτέλους πρὸς ᾿Αλέξανδρον καὶ πρὸς τοὺς Δίωνος
οἰκείους ἣ Πλάτωνος. Vgl. 228: αἱ δὲ ἄγαν μακραὶ καὶ προσέτι
κατὰ τὴν ἑρμηνείαν ὀγκωδέστεραι οὐ μὰ τὴν ἀλήϑειαν ἐπιστολαὶ
γένοιντο ἂν ἀλλὰ συγγράμματα, καϑάπερ τοῦ Πλάτωνος πολλαὶ καὶ
ἣ Θουκυδίδου. Es war ein offener Brief, in dem Plato die An-
frage der Dionpartei nur als Anlaß benützte, um seine Be-
ziehungen zu Dionys und Dion klarzustellen und sich und die
Akademie zu rechtfertigen’). Nötig war dies nur zu sehr. Auf
der einen Seite stand Dionys, der sich bitter beklagte, daß Plato
1) ἐξηρμένη die Hdschr. — καὶ tilgt Göller.
2) Woran bei Aristoteles gedacht ist, zeigen die bei Rose in den Frag-
menten ὅ. 408 T. angeführten Stellen, bes. μερικὰ μὲν οὖν ἔστιν ὅσα πρός τινα ἰδέᾳ
γέγραπται, ὡς ἐπιστολαὶ ἢ ὅσα ἐρωτηϑεὶς ὑπὸ ᾿Αλεξάνδρου τοῦ Mane-
δόνος περί τε βασιλείας καὶ ὅπως δεῖ τὰς ἀποικίας ποιεῖσϑαι yeygdpnne. Die
Schrift περὶ βασιλείας ist doch wohl wirklich identisch mit dem συμβουλεῦυτι-
κὸς πρὸς ᾿Αλέξανδρον, den Cicero in Händen hatte (Att. XII, 40, XIII, 28).
Wenn Cic. von diesem und Theopomps συμβουλευτικός sagt: adulescentem in-
censum cupiditate verissimae gloriae, cupientem sibi aliquid consilüi dari
. cohortantur, so ist der Charakter als Gratulationsschrift beim Regierungs-
antritt gegeben. Hier kann also nicht das berühmte Wort über die verschiedene
Behandlung von Griechen und Barbaren gestanden haben (fr. 658), das erst um
324 gefallen sein kann (Wilamowitz, Aristoteles und Athen I, 5. 339). Das
Sendschreiben an Alexander, in dem dieser Ratschlag stand, war natürlich auch
ein offener Brief, der auch dem Publikum bekannt gegeben wurde.
3) Ganz offen spricht er das 330c aus: ὧν δὲ ἕνεκα (πάλιν ἀφικόμην), καὶ
Charakter und Tendenz des Briefes. {17
die ihm gewährte Gastfreundschaft durch Unterstützung Dions
vergolten habe. Umgekehrt mochte Dions Anhängern diese
Unterstützung längst nicht weit genug gegangen sein (dagegen
ep. VII 350e, vgl. 340a). Dazu kam die von Dionys verbreitete
Behauptung, Plato habe ihm abgeraten, die verwüsteten Griechen-
städte zu besiedeln und Syrakus eine Verfassung zu geben (ep. II).
Empfindlicher war wohl noch der Hohn der Feinde über das
Mißlingen der platonischen Reformpläne, am schmerzlichsten aber
gewiß die Tatsache, daß der Mörder Dions ein Mann war, dessen
Beziehungen zur Akademie wohlbekannt waren (Plut. Dion 17).
Für die Öffentlichkeit, nicht bloß für die Freunde Dions sind
natürlich die Schilderungen bestimmt, die Plato von seinem Auf-
enthalt in Syrakus entwirft‘). Die praktischen Ratschläge, an
denen ihm sehr wenig liegt und von denen er selber wenig hofft,
hat er zwischen die Schilderung des ersten und zweiten Aufent-
halts eingelegt. Zugleich hat er aber diesen Abschnitt (330b—337 e) ἢ
dazu benutzt, um geschickt so manches zu sagen, was ihm am
Herzen liegt. Eine kurze Analyse mag das zeigen.
Plato beginnt mit einer prinzipiellen Erklärung. „Ihr wollt
einen politischen Rat von mir? So laßt euch zunächst einmal ge-
sagt sein: Wie ein verständiger Arzt die Behandlung einer akuten
Krankheit nur übernehmen wird, wenn er sieht, daß der Patient
im ganzen vernünftig lebt oder bereit ist, auf Verlangen seine
ganze ungesunde Lebensweise zu ändern, so haben auch einzelne
politische Ratschläge nur Sinn, wenn das ganze Staatswesen auf
gesunder Basis steht oder die Bereitwilligkeit zu einer Änderung
der Grundrichtung vorhanden ist“ (330c—331e). Prinzipiell wahrt
also Plato seinen Standpunkt, daß er sich eine Besserung der
politischen Verhältnisse nur von der Radikalkur, der Einführung
der ὀρϑὴ πολιτεία verspricht’). Die erwartet er in Syrakus nicht.
ὅσα ἔπραξα, ὡς εἰκότα τε καὶ δίκαια, ὑμῖν πρῶτον συμβουλεύσας... ὕστερον
τὰ περὶ ταῦτα διέξειμι, τῶν ἐπανερωτώντων ἕνεκα τί δὴ βουλόμενος ἤλϑον τὸ
δεύτερον.
1) „Die entscheidende Szene hat Plato ep. 3, 318c. 319. 7, 348. 349 mit
lebendigster Anschaulichkeit geschildert: das soll ein Fälscher erfunden haben!“
Ed. Meyer 990a.
2) Wörtliche Rückweise auf 330c markieren in 337e die Disposition.
3) Sehr richtig verweist Wendland auf Rep. 425f. (vgl. auch 426a zu ep.
335b). Daß aber „die ängstliche Sorge, den Ratgeber vor Lebensgefahr zu be-
wahren, zu einer Entgleisung geführt hat“, kann ich nicht zugeben. Denn wenn
118 Zum siebenten Brief.
'
Aber wenigstens kann er Befolgung verlangen, wenn er nachher
als ersten Ratschlag geben wird, den Σικελικὸς βίος, den er
mit guter Absicht schon vorher so entschieden getadelt hat
(326bc), abzuschaffen und eine wirklich dorische Lebensweise
einzuführen (336).
Wenn Plato daran die Erklärung anschließt, daß er mit Ge-
walt niemals den Idealstaat einführen werde, am wenigsten in
seinem Vaterlande (331b—d), so ist das, wie wir sahen, weniger
an die Adresse der Dionpartei gerichtet, als an die der Gegner,
die darüber spotten, daß Plato nach Sizilien sein Auge richtet,
statt in der Heimat mit den Reformplänen zu beginnen ’).
„Nur in diesem Sinn kann ich euch Ratschläge geben. In
diesem Sinn riet ich mit Dion auch schon Dionys, zunächst
einmal ein vernünftiges Leben anzufangen. Dazu riet ich ihm,
sich zuverlässige Stützen für seine Herrschaft zu verschaffen.
Das könne er erreichen, wenn er im Gegensatz zur Politik seines
Vaters die verödeten Griechenstädte in Sizilien besiedele und
den Siedlungen eine freie Verfassung bewillige”).. Damit biete
sich auch die Aussicht, die nationale Aufgabe zu erfüllen und
die Karthager von der Insel zu jagen (— 333a).
Plato sagt, ein Rat habe keinen Zweck, wenn der Staat auf verkehrter Bahn
sei (παρέκβασις schimmert hier durch) und doch vom Ratgeber verlange τὴν μὲν
πολιτείαν ἐᾶν καὶ μὴ κινεῖν, ὡς ἀποϑανουμένῳ ἐὰν κινῇ, ταῖς δὲ βουλήσεσιν
καὶ ἐπιϑυμίαις αὐτῶν ὑπηρετοῦντας συμβουλεύειν, so ist das zunächst durch
den Gedanken an den Widerstand der Syrakusaner gegen Dions Reform-
bestrebungen veranlaßt. Die Form ist durch die Gedanken des Gorgias be-
stimmt, wo der wahre Staatsmann und der διάκονος, der den Begierden der
Menge dient, 517bff. gegenübergestellt werden (Genaueres zum Gorgias). Das
bereitet dann die prinzipielle Erklärung über sein Verhältnis zum positiven
Staate, besonders zu Athen, vor.
!) Daß 331b—d Plato seine Stellung zu Athen klarlegen will, hat schon
das Altertum gefühlt, vgl. Cic. ep. I, 9, 18.
5) Zum älteren Dionys wird 332a im Gegensatz gestellt Dareios, der an
seinen Genossen eine Stütze suchte διένειμέ re μέρη μείζω ἕκαστα “Σικελίας
πάσης ἑπτὰ καὶ πιστοῖς ἐχρήσατο τοῖς κοινωνοῖς... ἔδειξέ τε παράδειγμα, οἷον
χρὴ τὸν νομοϑέτην καὶ βασιλέα τὸν ἀγαϑὸν γίγνεσθαι. Das stimmt genau
zur Schilderung des guten Königs Dareios Legg. 695c, wo selbst die Worte
wiederkehren (διεέλετο ἑπτὰ μέρη ἱ'τεμόμενος .. καὶ νόμους ἠξίου ϑέμενος
οἰχεῖν ἰσότητα κοινήν τινα εἰσφέρων .. φιλίαν πορίζων καὶ κοινωνίαν πᾶσιν
Πέρσαις). Noch bezeichnender ist, daß in den Gesetzen wie im Briefe neben
Dareios die alten Athener als Vorbild treten. — Über den Abschnitt der Ge-
setze vgl. den Aufsatz über die Kritik des perikleischen Ideals.
Die Komposition. Der Abschnitt 330b—337 6. 119
Dionys hörte auf diese Ratschläge nicht und trieb es soweit,
daß Dion ihm mit Taten statt mit Worten den Kopf zurecht-
setzen mußte. Dion befreite die Syrakusaner. Als er aber diesen
mit Reformvorschlägen kam, da geriet er wie bei Dionys bald
in Verdacht, als verfolge er nur eigensüchtige Pläne, und diese
Verdächtigungen führten zu einem schändlichen Ende. Was da
geschah, das muß ich, wo ihr mich jetzt um Rat angeht, aus-
sprechen ἢ. Athener haben zweimal in Dions Leben eingegriffen.
Während ich aber seinerzeit treu zu Dion hielt und mich von
Dionys nicht auf seine Seite ziehen ließ, haben später zwei
Athener die Mißstimmung gegen Dion benutzt und sind tatsäch-
lich Dions Mörder geworden. Von der Gottlosigkeit dieser Tat
brauche ich kein Wort zu sagen. Aber wenn man daraus Athen
einen Vorwurf macht, so soll man nicht vergessen, daß auch ich
ein Athener war, der ich bis zum Tode treu zu Dion gestanden
habe. Sagen soll man sich auch, daß die Mörder zu Dion nur
flüchtige Beziehungen hatten, wie man sie durch Gastfreundschaft
und in Mysterien anknüpft, während meine Freundschaft zu Dion
auf dem festen Grunde des gemeinschaftlichen Strebens nach der
Wissenschaft ruhte (— 334b).
Das mußte ich grade solchen Leuten sagen, die Dions
Freunde und Verwandte sind. Und was habe ich euch nun
daraufhin für einen Rat zu geben? Denselben, den ich Dionys
und Dion gegeben habe’): Laßt das Recht herrschen, nicht die
Gewalt! Das bringt Segen für Kinder und Kindeskinder. Und
selbst wenn im Diesseits wie bei Dion nichts winkt als ein
ehrenvoller Tod, so glaubt dem alten heiligen Wort, daß nach
1) οἷον γὰρ γέγονεν, ἀκοῦσαι χρὴ τοὺς ἐμὲ παρακαλοῦντας πρὸς τὰ νῦν
πράγματα 333c. Ist das nicht viel bedeutsamer als ein bloßes ὑμᾶς, und kann
man wirklich sagen, daß Plato hier durch Anwendung der dritten Person aus
der Rolle fällt? Er muß doch das Mißtrauen gegen den Fremden, den Athener
beseitigen, das gerade bei den Freunden Dions jetzt herrschen konnte. Deshalb sagt
er auch am Schluß dieses Teiles (9940): ταῦτα εἴρηται πάντα τῆς συμβουλῆς
ἕνεκα τῶν Διωνείων φίλων καὶ συγγενῶν (in der Überschrift steht der weitere
Begriff οἰκείοις ze καὶ Eraiooıs, und das wiederholt Plato 338a, wo es im Gegen-
satz steht zu dem ᾧ μέλει ἀκούειν ἔξεστι, das auf τῶν ἐπανερωτώντων ἕνεκα
330c zurückgreift).
?) 334c ist so zu akzentuieren und zu interpungieren: συμβουλεύω δὲ δὴ
τί (nicht δή τι) πρὸς τούτοις; τὴν αὐτὴν συμβουλὴν καὶ λόγον τὸν αὐτὸν λέγων
ἤδη τρίτον τρίτοις ὑμῖν, μὴ δουλοῦσϑαι κτλ.
120 Zum siebenten Brief.
dem Tode die Vergeltung kommt für die Guten wie für die
Gottlosen, die nur die elende Genußsucht als Leitmotiv haben
(— 335b) ').
Das waren die Grundsätze, die ich Dion einprägte, nach
denen er handelte. Zur Durchführung seiner Pläne ist er nicht
gekommen. Sonst hätte er das wahr gemacht, was ich von
Dionys erwartet hatte. Der sollte aller Welt zeigen, daß die
Verbindung der Philosophie mit der politischen Macht imstande
‚sei, Gerechtigkeit und Glückseligkeit zu bringen. Dionys hat das
nicht getan, und das ist es, was ich ihm zum Vorwurf mache.
Denselben Vorwurf mache ich auch Dions Mördern. Denn wäre
Dion am Leben geblieben, so hätte er — das versichere ich, wie
man überhaupt etwas von Menschen versichern kann — seinem
Vaterlande mit der Freiheit die Herrschaft der besten Gesetze
gegeben, hätte weiter Sizilien besiedelt und von den Barbaren
befreit und der Menschheit den Glauben an die Allmacht des
Guten gebracht, den Dionys hatte bringen sollen (— 336b).
Diese Hoffnungen hat ein Dämon oder der menschliche Un-
verstand, der den Tätern noch Fluch bringen wird, zunichte ge-
macht. Und jetzt — ich will kein böses Omen aussprechen 5),
es bleibt euch nur der Versuch übrig, Dion, seine Vaterlandsliebe
und seine sittliche Lebensweise nachzuahmen und von neuem
seine Pläne aufzunehmen, keinem Einfluß zu gewähren, der vom
ἢ 335a πείϑεσθϑαι δὲ ὄντως ἀεὶ χρὴ τοῖς παλαιοῖς τε καὶ ἱεροῖς λόγοις,
οἱ δὴ μηνύουσιν ἡμῖν ἀϑάνατον ψυχὴν εἶναι (Menon 81a!) δικαστάς τε ἴσχειν
καὶ τένειν τὰς μεγίστας τιμωρίας, ὅταν τις ἀπαλλαχϑῇ τοῦ σώματος (διὸ καὶ
τὰ μεγάλα ἁμαρτήματα καὶ ἀδικήματα σμικρότερον εἶναι χρὴ νομίζειν κακὸν
πάσχειν ἢ δρᾶσαι) ὧν (geht auf Δόγοις) ὁ φιλοχρήματος πένης τε ἀνὴρ τὴν
ψυχὴν (echt platonisches Wortspiel!) οὔτε ἀκούει, ἐάν τε ἀκούσῃ, καταγελῶν,
ὡς οἴεται, πανταχόϑεν ἀναιδῶς ἁρπάζει πᾶν ὅτι περ ἂν οἴηται, καϑάπερ ϑη-
ρίον, φαγεῖν ἢ πιεῖν ἢ περὶ τὴν ἀνδραποδώδη (von der ἡδονή Phaidros 208 6)
καὶ ἀχάριστον, ἀφροδίσιον λεγομένην οὐκ ὀρϑῶς (vgl. Rep. 420 4) ἡδονὴν ποριεῖν
αὑτῷ τοὐμπέμπλασϑαι. --- Das sind Gedanken und Stimmung des Gorgias.
Plato denkt dabei an Kallippos. der auf den Weg der Verdammnis gelangt ist,
weil er nur die Lust, den Zıxeiuınög βέος als Ziel kennt (336d), zur Befriedigung
seiner Triebe nach Macht strebt und auf diesem Wege vor nichts zurückscheut.
Er setzt Kallikles’ Theorie in die Praxis um. — Zu dem folgenden ἐπέ ze γῆς
στρεφομένῳ καὶ ὑπὸ γῆς νοστήσαντι πορείαν ἄτιμον usw. vgl. Phaidros 256d
εἰς γὰρ σκότον καὶ τὴν ὑπὸ γῆς πορείαν οὐ νόμος ἐστὶν ἔτι ἐλϑεῖν κτλ.
?) νῦν δὲ δή --- εὐφημῶμεν χάριν οἰωνοῦ 336c. Viel Hofinung hat er
nicht mehr.
330 b—337e. 121
„sizilischen Leben“ nicht lassen kann, Siziliens Städte wieder-
aufzubauen und ihnen gleiches Recht einzuräumen, dazu auch
die Hülfe Fremder, auch der Athener‘) nicht zu verschmähen
(— 336 d).
Das läßt sich freilich erst in Zukunft ausführen. Wenn ich
euch aber doch auch für den Augenblick (trotz meiner anfangs
geäußerten Bedenken) einen Rat geben soll, so ist es der: Ge-
währt den Besiegten Amnestie und richtet eine Gesetzesherrschaft
ein, bei der mit Furcht vor der Gewalt !sich der Respekt vor
den Regierenden, die selbst dem Gesetze sich beugen, paart °).
Zu diesem Zwecke muß eine Gesetzgeberkommission von fünfzig
Männern gebildet werden. Hat die ihre Aufgabe erfüllt, so hängt
alles davon ab, ob die Sieger wie die Besiegten dem Gesetz ge-
horchen °).
Was ich euch rate, ist im Grunde dasselbe, was Dion ge-
wollt hat, was ich schon Dionys zum Wohle aller geraten hatte.
So versucht ihr nun dieselbe Aufgabe durchzuführen, Gott gebe,
mit besserem Glücke“ (—337d).
Ich habe den Inhalt des Abschnitts skizziert, damit zunächst
einmal deutlich ist, daß nichts Unplatonisches vorkommt. Ins-
besondre der Gedanke, daß ohne die richtige Grundrichtung alle
praktischen Vorschläge wenig nützen, ist so echt platonisch wie
1) εἰσὶ γὰρ καὶ ἐκεῖ πάντων ἀνθρώπων διαφέροντες πρὸς ἀρετήν 9964.
Legg. 642c hatte er τὸ ὑπὸ πολλῶν λεγόμενον erwähnt, ὡς ὅσοι ᾿Αϑηναίων
εἰσὶν ἀγαϑοὶ διαφερόντως εἰσὶν τοιοῦτοι.
8) αἰδὼς καὶ φόβος stammen aus dem schon 332a (vgl. S. 1181) benützten
Abschnitt der Gesetze, wo es vom Athen der Perserkriege heißt (099 0) ταῦτ᾽
οὖν αὐτοῖς πάντα φιλίαν ἀλλήλων ἐνεποίει, ὃ φόβος ὃ τότε παρὼν ὅ τε ἐκ
τῶν νόμων τῶν ἔμπροσθεν γεγονώς, ὃν δουλεύοντες τοῖς πρόσϑεν νόμοις ἐκέ-
κτηντο, ἣν αἰδῶ πολλάκις ἐν τοῖς ἄνω λόγοις εἴπομεν (vgl. 647a). Da in den
Gesetzen Plato den Ausdruck αἰδώς mit voller Absicht neu einführt (vgl. darüber
nachher im Abschnitt über die Kritik des perikleischen Ideals), so muß die Ab-
fassung dieser Teile der Gesetze vor den Brief fallen.
3) 3370 τεϑέντων δὲ τῶν νόμων ἐν τούτῳ δὴ τὰ πάντα Eoriv ἂν μὲν γὰρ
ti. Nach ἐστίν ist kein Punkt zu setzen, denn ἔν τούτῳ erhält seine Erläute-
rung im folgenden Satze, der für ein schwerfälliges ἔν τῷ τοὺς νενικηκότας ..
αὑτοὺς παρέχεσϑαι eintritt. Das stammt aus der Umgangssprache. Genau so
Arist. Eg. 62 ὁ δ᾽ αὐτὸν ὡς ὁρᾷ μεμακκοακότα, τέχνην πεποίηται τοὺς γὰρ ἔνδον
ἄντικρυς ψευδῆ διαβάλλει (statt τὸ διαβάλλειν). Sonst vgl. z. B. Aristot. Phys.
1898. 28 πρὸς δὲ τούτοις ἔτι κἂν τόδε τις ἀπορήσειεν . . οὐϑενὸς γὰρ ὁρῶμεν
τῶν ὄντων οὐσίαν τἀναντία.
122 Zum siebenten Brief.
möglich. Dann ist aber wohl auch das klar, daß die Folge der
Gedanken zwar vielleicht bisweilen etwas gekünstelt ist, aber nie
ihr Ziel aus den Augen verliert. Vor allem ist aber der Zweck
der künstlichen Verschlingung der Gedanken offensichtlich: Nur
so vermag Plato die verschiedensten Vorwürfe und Mißdeutungen,
denen sein Verhalten ausgesetzt war, unauffällig abzuweisen.
Seine Stellung zum positiven Staate, zu Athen, zu Dionys und
seiner inneren und äußeren Politik weiß er zu streifen; besonders
aber versteht er es, Kallippos von der Akademie abzuschütteln.
Die Art, wie er diesen nicht einmal der Namensnennung würdigt,
wie er scheinbar nebenher erwähnt, Kallippos’ Bekanntschaft mit
Dion stamme nicht aus der Philosophie, sondern aus äußern Ver-
hältnissen, wie er dann die Sache so darstellt, als handle es sich
überhaupt nur darum, von Athen einen Vorwurf abzuwehren,
zeugt von einem Geschick, das durch das aktuelle Interesse ge-
geben wird, sicher einem Späteren nicht zuzutrauen ist. Gem
wird man dabei auch wieder sehen, wie der alte Plato sein Athen
in Schutz nimmt‘), und die leidenschaftliche Erregung, die an
verschiedenen Stellen des Abschnitts durchzittert, wird man eben-
sowenig einem Fälscher zutrauen wie den Gedanken, daß alles
Leid, das Dionys über Plato gebracht hat, nicht so schwer wiegt
wie der Schade, den er dadurch angerichtet hat, daß er der Welt
das Schauspiel eines gerechten Staates unter philosophischer
Leitung entzogen hat (335d).
Plato hat den Abschnitt zu einer Einheit gestaltet, aber die
Mannigfaltigkeit des Inhalts empfindet der Leser doch. Man
stelle sich nun einmal vor, Plato hätte nach der langen, einheit-
lichen, packenden Schilderung seines doppelten Aufenthalts in
Syrakus diesen Abschnitt als zweiten Hauptteil gebracht und den
Brief mit dem kurzen praktischen Vorschlag abgeschlossen. Dann
wird man sich wohl sagen, daß der Brief schwerlich eine be-
friedigende künstlerische Gestalt gewonnen hätte, und wird wohl
zugeben, daß Plato seine guten Gründe hatte, diesen Teil vor-
wegzunehmen und zu einer Digression zu gestalten.
1 334b τὸ δὲ ᾿4ϑηναίων πέρι λεγόμενον, ὡς αἰσχύνην οὗτοι περιῆψαν
τῇ πόλει, ἐξαιροῦμαι, vgl. 336d (ὃ. 1221).
Kein Dialog vor Sokrates’ Tod geschrieben. 123
VI. Abschluß.
Kein platonischer Dialog ist vor Sokrates’ Tod geschrieben.
Unechtheit des großen Hippias.
Jetzt können wir endlich zum Ausgangspunkt unserer Unter-
suchung zurückkehren. Wir haben Laches, Charmides, den
kleinen Hippias und den Protagoras interpretiert und gesehen,
daß diese alle den Tod des Sokrates voraussetzen. Dann dürfen
wir aber auch ohne weiteres sagen:
Kein platonischer Dialog ist bei Lebzeiten des So-
krates entstanden.
Denn daß die besprochene Gruppe die frühesten Dialoge
Platos enthält, ist heute wohl so ziemlich anerkannt, und jeden-
falls wird niemand gern einen andern einzelnen Dialog in
die Zeit vor 399 verweisen, falls alle übrigen später ent-
standen sind.
Daß jedenfalls der Phaidros nicht vor Sokrates’ Tod ge-
schrieben sein kann, werden wir noch sehen. Sonst wird viel-
leicht mancher am ehesten noch geneigt sein, dies für den großen
Hippias anzunehmen, weil man „die Schwächen des Dialoges
durch die Jugendlichkeit des Verfassers erklären möchte“ (Räder
S. 102). Aber für diesen Dialog hat grade Ὁ. Apelt in dem
Aufsatz, in dem er energisch die Echtheit verficht, den Beweis
erbracht, daß er auf den kleinen Hippias Bezug nimmt (Neue
Jahrb. 1907). Nicht bloß verweist der Verfasser 286b ausdrück-
lich auf die Szene des andern Dialoges, auch der Nachweis (296),
daß die δύναμις nur dann etwas Gutes sei, wenn sie ein be-
stimmtes, sittliches Ziel verfolge, kann nur als Korrektur der
Trugschlüsse des kleinen Hippias verstanden werden (vgl. S. 61).
Endlich hat Apelt auch soviel deutlich gemacht, daß sich nur
auf dieser Basis eine Erklärung für die auffallendste formelle
Eigentümlichkeit des großen Hippias, die Spaltung des Sokrates
in zwei Personen, denken ließe‘), Und gewiß ist es ein feiner
1) Der kleine Hippias schloß mit gutem Bedacht (vgl. 8. 68): ἐγὼ περὶ
ταῦτα ἄνω καὶ κάτω πλανῶμαι... el δὲ καὶ ὑμεῖς πλανήσεσϑε οἱ σοφοί, τοῦτο
ἤδη καὶ ἡμῖν δεινὸν εἰ μηδὲ παρ᾽ ὑμᾶς ἀφικόμενοι παυσόμεϑα τῆς πλάνης.
Daran knüpft der große an 286d. „Als mir einer vorwarf, ich redete vom καλόν,
ohne etwas davon zu verstehen, ἠπείλουν, ὁπότε πρῶτον ὑμῶν τῳ τῶν σοφῶν
124 Platos sokratische Periode. Abschluß.
Gedanke, Plato habe die Notwendigkeit empfunden, über das
übermütige Spiel des kleinen Dialoges Aufklärung zu geben, und
habe deshalb in einem zweiten Hippiasgespräch dem übermütigen
Sokrates sein „gutes Gewissen“ als alter ego zur Seite gestellt.
Aber ich glaube doch nicht, daß damit diese formelle Eigentüm-
lichkeit ganz erklärt ist. Denn die Geflissentlichkeit, mit der
dieses Motiv im Dialog zu Tode gehetzt wird, mit der die Neugier
des Hippias, wer der unbequeme Dritte sei, immer wieder hervor-
gekehrt wird‘), zeigt, daß es dem Verfasser nicht bloß auf die
Objektivierung des Sokrates ankommt. Offenbar soll der Leser
seinen Spaß daran haben, daß Hippias die Ironie des Sokrates
selbst dann nicht merkt, wenn dieser von dem Dritten sagt: „er
ist meines Vaters Sohn (298b), er wohnt in meinem Hause und
steht mir dem Geschlecht nach am nächsten (304d).“ Ein solcher
„Humor“ wäre doch aber nur bei Plato erklärbar, wenn er Hip-
pias gradezu als Trottel hätte zeichnen wollen und deshalb von
der Komödie zur Vorstadtposse herabgestiegen wäre. Beides wird
man nicht annehmen wollen, zumal wenn man die feine Satire
des kleineren Dialoges daneben hält.
Ich halte es für unmöglich, daß ein Mann, der Sokrates und
Hippias persönlich kannte’), beide in dieser Weise zeichnete. Voll-
kommen verständlich wird die Schilderung dagegen in einer Zeit,
wo man sich für die χαρακτῆρες interessierte und Sokrates als
Typus des εἴρων betrachtete, des Mannes, der unter der Maske
der Selbstverkleinerung sich über die andern lustig macht
(Ribbeck, Rhein. Mus. 31, S. 581). Ὃ μὲν γὰρ ἀλαζών ἐστιν ὃ
ἐντύχοιμι, ἀκούσας .. .. ἰέναι πάλιν ἐπὶ τὸν ἐρωτήσαντα, aber am Schluß be-
dauert Sokrates wieder ἐμὲ δὲ δαιμονία τις τύχη, ὡς ἔοικε, κατέχει, ὅστις πλα-
νῶμαι μὲν καὶ ἀπορῶ ἀεί, ἐπιδειηνὺς δὲ τὴν ἐμαυτοῦ ἀπορίαν ὑμῖν τοῖς σοφοῖς
λόγῳ αὖ ὑπὸ ὑμῶν προπηλακίζομαι. — Hipp. mai. 301b τὰ μὲν ὅλα τῶν πραγμά-
των οὐ σκοπεῖς, ngodere δὲ ἀπολαμβάνοντες τὸ καλόν etc. stammt aus H. min.
8690 ἀπολαμβάνων ὃ ἂν ἢ δυσχερέστατον τοῦ Λόγου, τούτου ἔχῃ . .. καὶ οὐχ
ὅλῳ ἀγωνίξζῃ τῷ πράγματι. — Das Motiv, es spreche wenig für Hippias’ Er-
ziehertüchtigkeit, daß er in Sparta keine Erfolge habe (283b — 285b), stammt
aus Laches 188 ἃ. Ὁ.
1) Besonders 2884, 2894, 2904, 2928, 298 "Ὁ.
2) Dagegen spricht bekanntlich auch die Art, wie Hippias 304b als Sach-
walter aufgefaßt wird, vgl. Horneffer de Hippia maiore qui fertur Platonis, Göt-
tingen 1895, 5. 35, dessen Dissertation überhaupt für die Unechtheitsmomente
zu vergleichen ist.
Der große Hippias gehört in Aristoteles’ Zeit. 125
πλείω τῶν ὑπαρχόντων αὑτῷ προσποιούμενος εἶναι ἢ εἰδέναι ἃ
μὴ οἶδεν, ὃ δ᾽ εἴρων ἐναντίος τούτῳ καὶ ἐλάττω τῶν ὑπαρχόντων
προσποιούμενος αὑτῷ εἶναι καὶ ἃ οἶδεν μὴ φάσκων ἀλλ᾽ ἐπικρυ-
πτόμενος εἰδέναι heißt es M. M. 1193a 29}. und in der ganz ähn-
lichen ausführlichen Darstellung der Nikomachischen Ethik 1127b
ff. wird als der Typus des εἴρων dann ausdrücklich Sokrates
genannt. Damals konnte es für einen Platoniker, der wie Aristo-
teles 1025a 6 (vgl. S. 61) die Trugschlüsse des kleinen Hippias
richtig stellen wollte, nahe liegen, Sokrates im Dialoge als den εἴρων
zu schildern‘) und ihm den ἀλαζών Hippias gegenüberzustellen,
und es ist vielleicht kein Zufall, wenn er Sokrates 298b sagen
läßt: (Τὸν Σωφρονίσκου) ἂν ἐγὼ μάλιστα αἰσχυνοίμην ληρῶν προσ-
ποιούμενός τι λέγειν μηδὲν λέγων. Denn grade προσποιεῖσθαι
erscheint in der Darstellung des Aristoteles fortwährend als Ter-
minus, der die ἀλαζονεία wie die εἰρωνεία bezeichnet und die
Worte klingen direkt an die ausgeschriebene Stelle der Magna
Moralia an.
In aristotelische Zeit weisen uns aber auch andre Momente.
Der Dialog beginnt mit einer scharfen Scheidung der jüngeren
Sophisten von der älteren Generation, den παλαιοί oder ἀρχαῖοι
(281cd 282aec 2888), die für ihren Unterricht kein Geld nahmen.
Die ältere Generation wird dabei genau abgegrenzt 2818: οἱ
παλαιοὶ ἐκεῖνοι, ὧν ὀνόματα μεγάλα λέγεται ἐπὶ σοφίᾳ, Πιττακοῦ
τε καὶ Βίαντος καὶ τῶν ἀμφὶ τὸν Μιλήσιον Θαλῆν καὶ ἔτι τῶν
ὕστερον μέχρι ᾿Αναξαγόρου und 2888, wo nochmals scharf betont
wird, wie sehr οἱ ἀρχαῖοι und οἱ νῦν sich unterscheiden, wird
Anaxagoras sogar allein als Typus der πρότεροι, der ἀρχαῖοι ge-
nannt. Sollen wir nun wirklich Plato zutrauen, er habe Sokrates,
den Mann, dessen Zeitgenosse er vierzig Jahre war, in solcher
Weise als ἀρχαῖος bezeichnen und mit Pittakos und Bias auf eine
Stufe stellen lassen? Sollen wir von Plato selber glauben, schon
er habe in dieser Weise ἀρχαῖοι und Sophisten geschieden? Ich
denke, die historische Betrachtungsweise ist hier mit Händen zu
greifen. Der Dialog gehört in die Zeit, wo Aristoteles in der
Metaphysik I, 2—5 eine Übersicht über die Philosophen von
1) Für die Spaltung in zwei Personen konnten ihm dabei Stellen wie die
Diotimaszene oder Phaidros 228a (vgl. Apelt a. a. O.), für das fiktive Gespräch
mit einem Dritten Prot. 353ff. zum Vorbild dienen. Grade der Vergleich mit
solchen Szenen lehrt aber die Ungeschicklichkeit des Hippias.
126 Platos sokratische Periode. Abschluß.
Thales bis Anaxagoras gab und diese ausdrücklich als die παλαιοί
zusammenfaßte (986b 9), wo in Theophrasts Doxographie die
Reihe von Thales bis Anaxagoras (Archelaos) regelmäßig die jo-
nischen Naturphilosophen der alten Zeit vor Sokrates repräsen-
tiert (Diels Dox. 132 — 140).
Hinzu kommt, daß Aristoteles doch wohl kaum einfach ge-
sagt hätte ὃ ἐν τῷ “Ἱππίᾳ λόγος (1025a 6), hätte er zwei Dialoge
dieses Namens gekannt, daß die Definitionen des Schönen, die
der Dialog bespricht, viel eher in aristotelische Zeit als in Platos
Frühzeit weisen. So wird die Definition τὸ χαλόν — τὸ ör
ἀκοῆς τε καὶ δι’ ὄψεως ἧδύ, die Sokrates im Hippias 298a von
sich aus aufstellt‘) und kritisiert, bei Aristoteles in der Topik als
Beispiel einer verkehrten Definition behandelt°), ohne daß er
irgendwie den Hippias berücksichtigt. Hipp. 293e schlägt So-
krates vor, das Schöne als τὸ πρέπον zu definieren’). Das ist
mindestens für Platos frühe Schriften ganz singulär, Aristoteles
führt Top. 102a6 als Schulbeispiel einer Definition an, ὅτι καλόν
ἐστι τὸ πρέπον und sagt dort 135a 13 οἷον ἐπεὶ ὃ εἴπας καλοῦ
τὸ πρέπον ἴδιον εἶναι αὐτὸ ἑαυτοῦ ἴδιον ἀπέδωκε -- ταὐτὸν γάρ
ἐστι τὸ καλὸν καὶ πρέπον -- οὐκ ἂν εἴη τὸ πρέπον τοῦ καλοῦ
ἴδιον. Im Hippias 303e wird als der eigentliche Vorzug der Lust
des Gesichts- und Gehörsinns recht unvermittelt angegeben, ὅτι
dowe£oraraı αὗται τῶν ἡδονῶν εἶσι. Berührungen mit diesem Ge-
danken finden wir erst in Platos spätesten Schriften. Im Phile-
bus 51 (vgl. 65) werden diese Lustgefühle als die καϑαραὶ ἥδοναί
erwiesen‘), und den Ausdruck ἀσινεῖς ἥδοναί finden wir von der
1) Bezeichnend ist, daß der Verfasser diese Form selber als etwas Unso-
kratisches empfindet und sie besonders motiviert (293d). Immerhin konnten
Stellen wie Euthyphron 11 extr., Gorg. 463d einen Anhalt geben.
8) Er sagt 1464.22 τὸ δι᾽ ὄψεως ἢ τὸ δι᾽ ἀκοῆς ἡδύ, geht aber sonst ganz
ähnlich vor.
3) Daß er die Definition selbst aufstellt, ist hier besonders ungeschickt, weil
sie sich im Anschluß an 291b gewinnen lieb.
4 An Phil. 5lcd erinnert auch Hipp. 298a, und daß die ἀφροδίσια, trotz
dem sie ἥδιστα sind, offen zu treiben “αἴσχιστον ist, lesen wir Phil. 66a und
Hipp. 299a ganz in gleicher Weise. — Was es mit den διανεκῆ σώματα τῆς
οὐσίας (301be) auf sich hat und wie weit sie mit den διανεκῆ σώματος μέρη
zusammenhängen, die bei Timotheos vorkamen (vgl. den Spott des Anaxandrides
II p. 137 K.), ist wohl nicht zu ermitteln.
Der große Hippias gehört in Aristoteles’ Zeit. 197
Lust an der Musik in den Gesetzen 670d angewandt‘). Nehmen
wir noch hinzu, daß die berüchtigte Formel ἀλλὰ τί μήν; im Dia-
loge vorkommt (292a), daß die unerhörte Verbindung εἶεν" πάνυ
μὲν οὖν 2888. doch wohl nur für eine Zeit denkbar ist, wo beide
Ausdrücke ganz formelhaft geworden waren; daß πάϑος nebst
seinen Ableitungen von 300b an als ganz fester Terminus gebraucht
und der οὐσία (301b ἢ πάϑος ἢ οὐσίαν) ebenso wie bei Aristoteles
(z. B. 983b 10 1038b 28 1071a 1) entgegengestellt wird, um die
Bestimmtheit (z. B. das „Einssein“ oder „Ungradesein“ 302a,
dasselbe Beispiel Arist. 1088a 17. 8) der Substanz zu bezeich-
1 Die ἀβλαβεῖς ἡδοναί ohne Beziehung auf Gesicht und Gehör finden wir
freilich schon im Protagoras und im Anfang von Rep. II. Darüber nachher.
2) Da πάσχειν usw. von 300b ermüdend oft wiederholt und dieser Ter-
minus ausdrücklich vom Einssein usw. gebraucht wird (οὐχ εἷς ἡμῶν ἑκάτερός
ἔστι καὶ πέπονϑε τοῦτο, εἷς εἶναι; 302a, vgl. 302c), da dabei πάϑος scharf von
oöcia geschieden wird, kann ich Stavenhagen (Χάριτες Fr. Leo dargebracht S. 19.
39) nicht beistimmen, wenn er meint, daß im Hippias das Schöne wie die Zahl
als ein öv, als eine feste, den Dingen anhaftende Eigenschaft aufgefaßt werde.
Damit entfällt auch die weitere Folgerung, die Stavenhagen dort zieht. Er
meint nämlich, Plato blicke im Phaidon 96a auf sein eignes, durch die Ideen-
lehre überwundenes geistiges Entwicklungsstadium zurück und spiele eben auf
den Hippias als bezeichnend für dieses Stadium an. Auch das zweite Beispiel,
das Stavenhagen anführt, fasse ich anders auf. Sokrates sagt Phaidon 96e, er habe
früher geglaubt, τὸ δίπηχυ τοῦ πηχυαίου μεῖζον εἶναι διὰ τὸ ἡμίσει αὐτοῦ
ὑπερέχειν, während er jetzt die Möglichkeit dieser Aussage nur im Anteil am
Begriff μέγεϑος sehe. Stavenhagen sieht hier einen Rückblick auf Hipp. 294 b
ἐκεῖνο ἐζητοῦμεν, ᾧ πάντα τὰ καλὰ πράγματα καλά ἐστιν — ὥσπερ ᾧ πάντα τὰ
μεγάλα ἐστὶ μεγάλα, τῷ ὑπερέχοντι’ τούτῳ γὰρ πάντα μεγάλα ἐστί, καὶ ἐὰν
μὴ φαίνηται ὑπερέχῃ δέ, ἀνάγκη αὐτοῖς μεγάλοις εἶναι. Das Auffallendste an
dieser Stelle ist doch aber, daß nicht vom μεῖζον, sondern vom μέγα gesprochen
wird und trotzdem die Relativität des Begriffes mit einer Selbstverständlichkeit
vorausgesetzt wird, die nur nach einer sehr langen Diskussion über diese Be-
griffe denkbar ist. Für Platos Jugendzeit erscheint mir das undenkbar. Da-
gegen stellt bekanntlich Aristoteles in cat. 6 (Ὁ Ὁ 15) ausdrücklich fest, daß μέγα
und wıxodv in die Kategorie des πρός τι gehören, οὐδὲν γὰρ αὐτὸ καϑ' αὑτὸ
μέγα λέγεται ἢ μικρὸν ἀλλὰ τῷ πρὸς ἕτερον ἀναφέρεσϑαι und später sagt er
in einer Erörterung, in der er von dem Begriffe μεῖζον ausgegangen ist, kurz
ὑπερέχον μὲν τὸ μέγα (1363b 11). Auch in der Topik lesen wir 125a 19 τὸ μὲν
γὰρ διπλάσιον τινὸς διπλάσιον, τὸ δ᾽ ὑπερέχον καὶ τὸ μεῖζον τινὸς καὶ tivi‘ πᾶν
γὰρ τὸ ὑπερέχον καὶ τὸ μεῖζον τινὶ ὑπερέχει καὶ τινὸς ὑπερέχει. Damals in-
teressierte man sich also für diese im Phaidon berührten Probleme so gut wie
für die des kleinen Hippias, und es ist sehr verständlich, daß derselbe Plato-
niker die einen wie die andern aufgriff. Dafür spricht auch, daß die Art, wie
128 Platos sokratische Periode. Abschluß.
nen, nehmen wir noch die vielen andern Ungeschicklichkeiten des
Dialoges hinzu, auf die man längst aufmerksam gemacht hat'),
so dürfen wir den großen Hippias ruhig aus der Reihe der
echten Dialoge streichen’). Aber selbst wer ihn für echt hält,
wird ihn nach Apelts Nachweis nicht etwa vor den kleinen Hip-
pias setzen können’).
Hipp. 301b die jetzige und die frühere δόξα gegenübergestellt werden, sehr wie
eine Nachahmung von Phaid. 900 ff. aussieht (das εὐηϑικῶς εἴχομεν findet seine
Parallele 100.d).
Als Ergebnis seiner neuen Anschauung spricht Plato Phaidon 100d aus:
οὐκ ἄλλο τι ποιεῖ αὐτὸ (τὸ καλόν) καλὸν ἢ ἣ ἐκείνου τοῦ καλοῦ εἴτε παρουσία
εἴτε κοινωνία εἴτε ὅπῃ δὴ καὶ ὅπως προσ(αγορευομένη χαίρει naga) γενομένη
(so etwa wird zu ergänzen 561η),. .. . ἡγοῦμαι ἀσφαλὲς εἶναι καὶ ἐμοὶ καὶ
ὁτῳοῦν ἄλλῳ ἀποκρίνασθαι ὅτι τῷ καλῷ τὰ καλὰ καλά. Würde er sich so aus-
gedrückt haben, wenn grade in der Schrift, die er eben als das überwundene
Stadium gekennzeichnet hatte, sich dieselben Anschauungen gefunden hätten?
Im Hippias aber fragt Sokrates 287c: "Ao’ οὖν οὐ καὶ τὰ καλὰ πάντα τῷ καλῷ
ἔστι καλά; und Hippias antwortet ohne Zögern Ναί, τῷ καλῷ. Und daß die
παρουσία des Schönen die Schönheit des Einzeldinges bedingt, ist dort ein ganz
geläufiger Satz (289 α ἢ. 294aff).
Danach scheint mir auch Stavenhagens Versuch, die Echtheit des Hippias
darzutun, mißlungen. Übrigens glaube ich auch nicht, daß Plato im Phaidon den
eigenen Entwicklungsgang schildern will. Er will nur zeigen, daß die Ideen-
lehre allein die Lösung der Schwierigkeiten bringt, die tatsächlich vorhanden
sind, auch wenn das gewöhnliche Bewußtsein sie nicht empfindet.
1) Vgl. besonders die S. 124? genannte Dissertation Horneffers.
?) Da der Verfasser 286a ausdrücklich auf die Szene des kleinen Hippias
anspielt, will er Plato sein. Hier liegt also Fälschung vor.
®) Während der Korrektur geht mir durch die Güte des Verfassers Rudolf
Hirzels schöner Aufsatz über die Entwicklung des Begriffes οὐσέα zu (Philol.
1913). Hier wird S. 57 gezeigt, daß der Terminus im größeren Hippias im
Gegensatz zu Platos Jugendzeit bereits ganz abgegriffen ist und „wie ein bereits
unentbehrliches Wort der Philosophensprache ohne weiteres dem Sophisten Hippias
in den Mund gelegt wird.“ Daher nimmt auch Hirzel an, daß der Dialog „ein
Werk wohl erst der platonischen Schule ist.“
Die Krisis.
VII. Gorgias.
In den aristotelischen Problemen (30, 1) wird Plato zu den
μελαγχολικοί gerechnet. Das sind nicht etwa unsre Melancholiker,
es sind die περιττοὶ ἄνδρες, bei denen die schwarze Galle in der
Mischung der körperlichen Säfte überwiegt und eine Neigung
zur Anormalität bedingt, die zum Genie wie zum Irrsinn führen
kann und sich beim einzelnen Menschen in starkem Stimmungs-
wechsel äußert. Daß Plato solchem Stimmungswechsel unterlag,
das können wir noch bei so mancher seiner Schriften feststellen,
nirgends deutlicher als wenn wir mit der sokratischen Schriften-
gruppe den Gorgias vergleichen. Dort sonnige Heiterkeit, frischer
Humor, ein Verstehen und Verzeihen für die Art der Heimat,
frohe Siegeszuversicht, hier tiefe Bitterkeit, herber Sarkasmus,
eine Schärfe des Urteils gegenüber Athen, wie wir sie nie wieder
finden, und eine ernste Entschiedenheit, die ihren Weg geht,
weil er notwendig ist, nicht weil die Schönheit des Zieles lockt.
Gern würde man sich die Stimmung der „Tragödie“ im
Gegensatz zur „Komödie“ dadurch verständlich machen, daß man
das Jahr 399 zwischen beide treten ließe. Das ist für uns nach
den früheren Ergebnissen nicht möglich So müssen wir nach
einer anderen Erklärung suchen.
Ohne weiteres fällt dabei in die Augen, daß der Gorgias an
den Protagoras anknüpft. Schon die Szenerie ist die gleiche.
Wieder treffen wir Sokrates mit einem der großen Jugendbild-
ner im Gespräch. Wie im Hippias ist es ein lebender Zeit-
genosse Platos; wie Hippias so hat auch Gorgias eben durch eine
Epideixis die Hörer entzückt, und beide Male vermittelt ein Athe-
ner das Gespräch zwischen Sokrates, der eine Frage auf dem
Herzen hat, und dem Sophisten, der gern antworten will, da er
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 9
130 Gorgias.
sich ja em für alle Mal zur Auskunft bereit erklärt hat und noch
nie einem Frager begegnet ist, der ihm Schwierigkeiten bereitet
hätte (Hipp. 364a Gorg. 4484). Im Gegensatz zum Hippias
sollen wir uns im Gorgias eine Corona anwesend denken, doch
erinnert die kurze Andeutung 458c nur leise an die lebendigen
Szenen des Protagoras (besonders 335d—338e). Wieder wird
der scharfe Unterschied zwischen der sokratischen Dialektik und
den sophistischen Demegorien hervorgehoben '), wieder finden
wir aber auch längere Reden des Sokrates, und diesmal hält
dieser es sogar für nötig, das „Unsokratische“, das darin liegt,
hervorzuheben: 465e ἴσως μὲν οὖν ἄτοπον πεποίηκα, ὅτι σὲ οὐκ
ἐῶν μακροὺς λόγους λέγειν αὐτὸς συχνὸν λόγον ἀποτέτακα, 519d
ὡς ἀληϑῶς δημηγορεῖν μὲ ἠνάγκασας, ὦ Καλλίκλεις, οὐκ ἐθέλων
ἀποκρίνεσθαι. So treffen wir noch eine Fülle von kleinen
Zügen im Gorgias, die an die früheren Dialoge erinnern’). Zum
Teil werden wir diese noch später berühren. Wichtiger aber ist,
es sich klar zu machen, wie der ganze Aufbau des ersten Teiles
durch den Protagoras beeinflußt ist. Dieser Dialog führte uns
zuerst ein Vorgespräch zwischen Sokrates und Hippokrates vor
über die Frage, was denn ein Sophist sei. Die Frage, was der
Rhetor sei, wird im Gorgias zum eigentlichen Thema, das aber
auch zunächst in einem kurzen Vorgespräch aufgestellt wird (zi
δή ἐστιν τοῦτο περὶ οὗ αὐτός τε ἐπιστήμων ἐστὶν ὃ σοφιστὴς καὶ τὸν
μαϑητὴν ποιεῖ; Prot. 312e τί ἐστιν ὃ ἐπαγγέλλεταί τε καὶ διδάσκει;
Gorg. 447c). Im eigentlichen Gespräch wird das erste Geplänkel
Chairephon überlassen, der wie Sokrates im Prot. 31ib 8128
durch das Beispiel des Arztes und Malers klarzumachen sucht,
was die Frage besagt. Freilich bleibt Polos trotzdem unfähig die
Sache klar zu erfassen, und Gorgias selbst wird deshalb noch-
mals gefragt: τίνα σὲ χρὴ καλεῖν ὡς τίνος ἐπιστήμονα τέχνης;
1 Vgl. 5. 82.
2) Das δημηγορεῖν stammt aus Prot. 328 extr., vgl. S. 82, und zu den
Reden des Sokrates S. 83. Im Gorgias vgl. noch p. 507 —509, wo Sokrates zu-
erst ähnlich wie Prot. 353ff. einen Dialog allein durchführt, und 511—513.
8) Hier sei noch erwähnt, daß Sokrates’ Aufforderung an Polos: καὶ νῦν
δὴ τούτων ὁπότερον βούλει ποίει, ἐρώτα ἢ ἀποκρίνου (462 b) im Protagoras 5516
ein Analogon hat. Wenn Sokrates vorher erklärt ἐϑέλω τῶν ὡμολογημένων,
εἴ τί σοι δοκεῖ μὴ καλῶς ὡμολογῆσϑαι, ἀναϑέσϑαι ὅτι Av σὺ βούλῃ (461 ἃ
462a), so entspricht das Prot. 846 ἀλλ᾽ ἔτι καὶ νῦν ἀναϑέσϑαι ἔξεστιν, εἴ πῇ
ἔχετε ἄλλο τι φάναι κτλ.
Der Eingang des Gorgias und des Protagoras. 131
(449a, vgl. Prot. 8114 τέ ὄνομα... λεγόμενον περὶ Πρωταγόρου
ἀχούομεν; — Σοφιστὴν δή τοι ὀνομάζουσί γε τὸν ἄνδρα). Im
Protagoras wird das Hauptgespräch dann dadurch eingeleitet, daß
Sokrates im Namen des Hippokrates, der gern Protagoras’
Schüler werden möchte, an diesen die Frage richtet, was ihm
der Unterricht nützen werde: ὅτε οὖν αὐτῷ ἀποβήσεται, ἐάν σοι
συνῇ, ἡδέως ἄν φησι πυϑέσϑαι (318a). Wie ein Reflex dieser leben-
digen Szene des referierten Dialoges mutet es doch an, wenn im
Gorgias Sokrates 455c sagt: χαὶ ἐμὲ νῦν νόμισον καὶ τὸ σὸν
σπεύδειν. ἴσως γάρ καὶ τυγχάνει τις τῶν ἔνδον ὄντων μαϑητής
σου βουλόμενος γενέσθαι, ὡς ἐγώ τινας σχεδὸν καὶ συχνοὺς αἰσϑά-
vouaı, οἱ ἴσως αἰσχύνοιντ᾽ ἄν σε ἀνερέσθαι " ὑπ’ ἐμοῦ οὖν ἀνερω-
τώμενος νόμισον καὶ ὑπ᾽ ἐκείνων ἀνερωτᾶσθϑαι " τί ἡμῖν, ὦ Looyia,
ἔσται, ἐάν σοι συνῶμεν. Wenn Protagoras auf Sokrates’ Frage
erklärt: τὸ δὲ udInud ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως
ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίων διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως,
ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν
(8186), so lesen wir ein direktes Zitat dieser Worte Gorg. 520e
ὅντιν᾽ ἄν τις τρόπον ὡς βέλτιστος εἴη καὶ ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν
διοικοῖ ἢ πόλιν und ähnlich hatte schon Kallıkles von den Leuten,
denen er die πολιτικὴ ἀρετή zuspricht, 491b gesagt: οἱ ἂν εἰς
τὰ τῆς πόλεως πράγματα φρόνιμοι ὦσιν, ὅντενα ἂν τρόπον εὖ
οἰκοῖτο.
In diesen Fällen haben wir freilich mehr nebensächliche Re-
miniszenzen, die den Gang der Erörterung nicht bestimmen. Um
so wichtiger ist etwas anderes. Im Protagoras stellt, wie wir
sahen, Plato innerhalb der Sophistik verschiedene Richtungen
einander gegenüber. Auffallen kann dabei, daß die Rhetorik, die
doch zweifellos im Jugendunterricht eine hohe Bedeutung hatte,
gar nicht berücksichtigt wird. Den Grund dafür gibt uns das Ge-
spräch über das Wesen der Sophistik, das Sokrates mit dem
jungen Hippokrates führt. Auf die Frage, was der Sopbhist sei,
erklärt hier schließlich Hippokrates 8124: τί ἂν εἴποιμεν αὐτὸν
εἶναι, ὦ Σώκρατες, ἢ ἐπιστάτην τοῦ ποιῆσαι δεινὸν λέγειν; Aber
Sokrates verwirft diese Definition mit der Begründung: ἐρω-
τήσεως γὰρ ἔτι ἣ ἀπόκρισις ἡμῖν δεῖται, περὶ ὅτου ὃ σοφιστὴς δει-
νὸν ποιεῖ λέγειν. Und da die Antwort allgemein lauten muß
περὶ οὗπερ καὶ ἐπίστασϑαι, so folgert er, wenn man das Wesen
der Sophistik bestimmen wolle, so dürfe man nicht von der Tat-
9*
182 Gorgias.
sache, daß sie zu reden befähige, ausgehen, sondern von dem
Stoffe, über den sie reden lehre. Über die Bedeutung dieser
Stelle werden wir noch in dem Abschnitt „Sophistik und Rhe-
torik“* zu handeln haben. Vorläufig genügt es hervorzuheben,
daß Plato hier das formale Moment des rhetorischen Unterrichts
nicht als charakteristisch für die Sophistik gelten läßt. Die Rhe-
torik ist für ihn hier nur ein sekundäres Moment; über das
Wesen der Sophistik entscheidet der Charakter des materiellen
Wissens, über das sie verfügt.
Diese Protagorasstelle ist die Keimzelle, aus der
sich die Erörterung im ersten Teile des Gorgias ent-
wickelt.
Sobald Gorgias auf Sokrates’ Frage erklärt hat, die Rhetorik
sei eine τέχνη περὶ λόγους, stellt Sokrates fest, daß nur spezielle
λόγοι in Betracht kommen könnten, und sagt dann 4496: ᾿4λλὰ
μὴν λέγειν γε ποιεῖ δυνατούς, und auf Gorgias’ Ja hin fragt er
weiter: οὐκοῦν περὶ ὧνπερ λέγειν, καὶ φρονεῖν; Damit ist auch
hier der sachliche Gesichtspunkt zum entscheidenden gemacht,
und Plato hält ihn mit aller Bestimmtheit fest, wenn er nun die
Rhetorik auf eine Stufe stellt mit den anderen τέχναι περὶ
λόγους wie Arithmetik und Astronomie‘) und deshalb ganz ana-
log dem Protagoras zur Bestimmung der differentia specifica die
weitere Frage aufwirft: τί ἐστι τοῦτο τῶν ὄντων, περὶ οὔ οὗτοι
οἱ λόγοι εἰσίν, οἷς ἣ δητορικὴ χρῆται (451 ἃ) ἡ. Natürlich kann
Plato aber im Gorgias doch an der rein formalen Auffassung der
Rhetorik nicht vorübergehen. Denn diese war ja doch von den
Rhetoren selber vorgetragen, wenn sie ihre Kunst als πειϑοῦς
δημιουργός bezeichneten°). So lenkt denn Plato das Gespräch ge-
schickt zu einer Kritik dieser Definition über (453a)‘). Gegen-
1). 451a, vgl. die Technai, die Hipp. 366c 367 e und Prot. 318e erwähnt werden.
2) Die Frage wird genau so vorbereitet wie Prot. 318b durch ein Beispiel mit
ὥσπερ ἂν εἴ τίς me ἔροιτο ὧν νῦν δὴ ἔλεγον περὶ ἡστινοσοῦν τῶν τεχνῶν κτλ.
8) Daß diese Definition tatsächlich von den Rhetoren aufgestellt war, würde
man aus der Art, wie Plato zu ihr überleitet, erschließen, auch wenn es nicht
ausdrücklich bezeugt wäre. Sonst vergl. Wendland, Anaximenes 5. 31, Süß,
Ethos 21.
‘) Er vollzieht den Übergang so, daß er Gorgias auf die Frage nach dem
Gegenstand der rhetorischen Adyoı die verschwommene Antwort geben läßt: τὰ
μέγιστα τῶν ἀνϑρωπίνων πραγμάτων (451d), die Gorgias dann dahin präzisiert,
er meine den praktischen Einfluß, den der Redner durch das πείϑειν erlange.
448. .-460. Die sittliche Indifferenz der formalen Rhetorik. 133
über der Bestimmung τέχνη περὶ λόγους läßt diese, wie gesagt,
das formelle Moment — zugleich unter Betonung des praktischen
Zweckes — hervortreten, und Plato präzisiert dieses noch schärfer,
indem er die πειϑώ bestimmt als eine Überredung, die nur
Glauben, nicht Wissen erwecken will. Daneben fragt er aber
auch hier sofort (453e): ποίας πειϑοῦς καὶ περὶ τί; So entlockt
er Gorgias die Antwort: xai περὶ τούτων ἅ ἐστι δίκαιά τε καὶ
ἄδικα (454b) und kann daraufhin die Definition formulieren: 9
ῥητορικὴ ἄρα, ὡς ἔοικε, πειϑοῦς δημιουργός ἐστι πιστευτικῆς, ἀλλ᾽ οὐ
διδασκαλικῆς περὶ τὸ δίκαιόν τε καὶ ἄδικον (4 ἃ). Die Bedeutung
dieser Formulierung liegt darin, daß sie das formale und das
sachliche Moment vereint. Und grade diese Vereinigung führt
nach Plato zum inneren Widerspruch. Betrachtet man nämlich
rein formal die Rhetorik als πειϑοῦς δημιουργός, so gibt sie eine
δύναμις, die sich genau so wie die Fachwissenschaften des Hip-
pias (vgl. S. 69) nach beiden Seiten, sittlich wie unsittlich, ge-
brauchen läßt. Ist sie dagegen eine τέχνη περὶ τὸ δίκαιόν τε καὶ
ἄδικον, so muß sie so gut wie die Arithmetik ein Wissen über
diese vermitteln, und wer das Gerechte weiß, so sagt der Sokra-
tiker und Intellektualist Plato, handelt gerecht, ist gerecht (455 bis
459). Wer also konsequent sein will, darf beides nicht ver-
einigen, muß sich für die eine oder die andere Auffassung ent-
scheiden. Von den Rhetoren selber darf man diese Folgerichtig-
keit nicht verlangen, und Gorgias tröstet sich mit der Halbheit, er
gebe zwar eine formale Bildung, doch würden seine Schüler diese
schon sittlich benützen, und jedenfalls sei er für unsittliche Ver-
wendung seitens der Schüler nicht verantwortlich (460 ἃ) '). Im-
merhin setzt Plato aus Höflichkeit bei ihm voraus, daß er inner-
lich eine sittliche Bildung erstrebe und bei klarer Erkenntnis des
Problems eine sachliche wissenschaftliche Belehrung über das
Gerechte als notwendig erkennen werde (460a)°). Aber Polos
hat ganz recht, wenn er erklärt, daß mit diesem Zugeständnis
der Rhetorik der Boden entzogen sei, und sich auf das formelle
πείϑειν beschränkt (461 b).
Im Protagoras ging Plato davon aus, daß der Bil-
1) Bekanntlich trägt Gorgias’ Schüler Isokrates dieselbe Argumentation
Nikokles 3. 4, Antid. 251ff. vor. Also gibt wohl auch Plato hier wirklich Gorgias’
Gedanken wieder.
2) Mit Unrecht, wie wir beim Menon sehen werden.
134 Gorgias.
dungswert des Jugendunterrichts ausschließlich davon
abhänge, ob dieser sachlich ein Wissen über das Gute
bringe und dadurch zur Sittlichkeit erziehe, und er be-
handelt deshalb den formalen rhetorischen Unterricht
als ein sekundäres Moment. Im ersten Teile des Gorgias
zeigt er, wer die formale Rhetorik als das Primäre an-
sehe, müsse folgerichtig bei ihr auf den sittlichen Er-
ziehungswert verzichten.
Mit dieser Auffassung der Rhetorik, die natürlich der nur
auf die praktische Brauchbarkeit sehenden vulgären Anschauung
entspricht und tatsächlich von Männern wie Polos mindestens un-
bewußt vertreten wurde — über Gorgias selber werden wir bald
noch zu handeln haben —, setzt sich Plato im zweiten Teile des
Gespräches auseinander (461—481). Dieser Teil behandelt schein-
bar ohne engen Zusammenhang zwei Probleme: Was ist die Rhe-
torik? (461 — 4668) und: Verleiht sie nicht praktisch große
Macht? (466 — 481). Im ersten Abschnitt stellt Plato zunächst
fest, daß die Rhetorik keine Kunst, sondern nur Routine sel.
Ein Beweis für diese Behauptung wird aber nicht gegeben, sondern
nur angeboten: τέχνην δὲ αὐτὴν οὔ φημι εἶναι ἀλλ᾽. ἐμπειρίαν,
ὅτι οὐκ ἔχει λόγον οὐδένα ᾧ προσφέρει ἃ προσφέρει ὅποῖ ἄττα τὴν
φύσιν ἐστίν, ὥστε τὴν αἰτίαν ἑκάστου μὴ ἔχειν εἰπεῖν " ἐγὼ δὲ
τέχνην οὐ καλῶ, ὃ ἂν ἦ ἄλογον πρᾶγμα. τούτων δὴ πέρι εἰ
ἀμφισβητεῖς, ἐθέλω ὑποσχεῖν λόγον (4658) '), und selbst dieses An-
gebot geschieht nicht in Bezug auf die Rhetorik selber, sondern
in Bezug auf ihr Analogon, die Kochkunst. Offenbar will Plato
seine Anschauung hier nur andeuten, den eigentlichen Beweis
dafür, daß die Rhetorik der wissenschaftlichen Grundlage ent-
behre, will er nicht ausführlich geben’). Der Grund ist natür-
lich der, daß die Erürterung ihn hier zu weit führen würde. Und
für die Zwecke, die er im Gorgias verfolgt, ist jedenfalls die
theoretische Seite der Frage nicht entscheidend. Eins ist da-
gegen wichtig: Das ist der Nachweis, daß die Rhetorik über ihre
1) Das Kolon ist hinter εἰπεῖν, der Punkt hinter πρᾶγμα zu setzen; denn
der Plural τούτων geht auf alles vorige. — Die letzten Worte sind hübsch ge-
wählt, um anzudeuten, daß er und die Philosophie das vermag, was die Rhetorik
nicht leistet, Adyov ὑποσχεῖν.
2) Wir treffen ihn später im Phaidros. — Diesen Sachverhalt hat man
schon im Altertum empfunden. Vgl. Aristides περὶ ῥητορικῆς πρ 9}
461—466a. Die Rhetorik keine Kunst. 135
letzten Ziele keine Rechenschaft zu geben vermag. Das hebt
Plato schon 46&c hervor, wenn er von der Rhetorik sagt, sie
handle οὐ γνοῦσα ἀλλὰ στοχασαμένη (vorbereitet durch 463a ψυχῆς
στοχαστικῆς ἡ, und wir werden bald sehen, daß dafür der Beweis
im folgenden Abschnitt gegeben wird. Damit verbindet Plato
weiterhin die Scheidung der τέχναι und κολακεῖαι, der wahren
Künste, die das Gute des Menschen zum Ziele haben, und der
Afterkünste, die nur dem Angenehmen nachjagen. Daß zu den
Afterkünsten die Rhetorik gehört, wird auch zunächst nur be-
hauptet. Auch hier liefert den Beweis erst die folgende Unter-
suchung.
Ehe wir aber diese verfolgen, sei noch auf eins aufmerksam
gemacht. Den Unterschied zwischen τέχνη und ἐμπειρία (τριβή)
kann Plato offenbar so kurz angeben, weil er ihn in der Haupt-
sache als bekannt voraussetzt. Wir wissen ja auch durch die
hippokratischen Schriften, wie man im fünften Jahrhundert die
Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter eines Berufes er-
örterte. Grade von dieser Seite her möchte man aber im Gorgias
Einfluß annehmen, weil Plato von der Medizin ausgeht und ihren
Charakter als τέχνη betont’), und wenn er von der Kochkunst
sagt: τέχνην δὲ αὐτὴν οὔ φημι εἶναι ἀλλ᾽ ἐμπειρίαν, ὅτι οὐκ ἔχει
λόγον οὐδένα ᾧ προσφέρει ἃ προσφέρει ὅποῖ᾽ ἄττα τὴν φύσιν ἐστίν,
ὥστε τὴν αἰτίαν ἑκάστου μὴ ἔχειν εἰπεῖν (406 8), so stammt hier
nicht bloß das Wort προσφέρειν aus der medizinischen Termino-
logie, auch der ganze Gedanke hat in den hippokratischen
Schriften zahlreiche Parallelen. So sagt z. B. der Verfasser von
1) Daß dieser Ausdruck auf Gorgias selbst zurückgeht, ist sehr wahr-
scheinlich; darin kann ich Süß, Ethos 24ff. durchaus zustimmen.
3) Süß, Ethos 5. 25 hält es freilich für ausgemacht, daß Plato hier Gorgias
folgt. Daß dieser die Parallele von Rhetorik und Medizin gezogen hat, ist
durch ΗΒ]. 14 τὸν αὐτὸν δὲ Λόγον ἔχει ἥ ve τοῦ λόγου δύναμις πρὸς τὴν τῆς
ψυχῆς τάξιν ἥ τε τῶν φαρμάκων τάξις πρὸς τὴν τῶν σωμάτων φύσιν und durch
ähnliche Gedanken bei Isokrates gesichert. Ich halte es auch für möglich, daß
Plato hier von ihm Anregungen empfangen hat. Aber die im Text gleich zu
behandelnde Phaidrosstelle zeigt doch deutlich, daß Plato auf die Mediziner
selber zurückgreift. Und wenn er diese dort 268a 270 ausdrücklich nennt und
dort wie Gorg. 464. 5 fortwährend Termini der medizinischen Sprache gebraucht,
so ist es doch unmethodisch, immer nur von dem gorgianischen Vergleich zu
reden, die ausdrückliche Beziehung auf die Mediziner aber zu ignorieren. Daß
auch die scharfe Präzisierung des Unterschiedes von ἐμπειρία und τέχνη auf
Gorgias zurückgehe, ist jedenfalls durch nichts wahrscheinlich zu machen.
136 Gorgias.
περὶ dexaing ἰητρικῆς, der doch sehr zur Empirie neigt, c 21:
οἶδα δὲ τοὺς πολλοὺς ἰητροὺς ὥσπερ τοὺς ἰδιώτας, ἢν τύχωσι
περὶ τὴν ἡμέρην ταύτην τι κεκαινουργηκότες, ἢ λουσάμενοι ἢ πε-
ριπατήσαντες ἢ φαγόντες τι Eregoiov, ταῦτα δὲ πάντα βελτίω
προσενηνεγμένα ἢ μή, οὐδὲν ἧσσον τὴν αἰτίην τούτων τινὶ dvanı-
ϑέντας, τὸ μὲν αἴτιον ἀγνοεῦντας τὸ δὲ συμφορώτατον, ἢν οὕτω
τύχῃ, ἀφαιρέοντας. δεῖ δὲ οὔ, ἀλλ᾽ εἰδέναι, τί λουτρὸν ἀκαίρως
προσγενόμενον ἐργάσεται ἢ τί κόπος. Insbesondere wenn Plato
465a und 501a kurz erklärt, das Kennzeichen der Wissenschaft
sei, daß sie die αἰτία anzugeben vermöge — wir werden noch
sehen, was dieser Gedanke später für eine Bedeutung für ihn
gewinnt — so übernimmt er damit eine Anschauung, die bei den
Medizinern allgemein anerkannter Grundsatz ist. Ein Beleg ist
schon die eben angeführte Stelle. Prinzipiell erklärt ferner der
Verfasser der Apologie der Heilkunst (c. 6): πᾶν γὰρ τὸ γινόμε-
νον διὰ τὶ εὑρίσκοιτ᾽ ἂν γινόμενον, καὶ ἐν τῷ διὰ τὶ τὸ αὐτόμα-
τον οὐ φαίνεται οὐσίην ἔχον οὐδεμίαν ἀλλ᾽ ἢ ὄνομα, ἣ δὲ ἰητρικὴ
καὶ ἐν τοῖσι διὰ τὶ καὶ ἐν τοῖσι προνοουμένοισι φαίνεταί τε καὶ
φανεῖται αἰεὶ οὐσίην ἔχουσα. Von den unzähligen Stellen, wo
praktisch dieselbe Anschauung hervortritt, daß der Arzt über die
αἰτίαι jeder Erscheinung im klaren sein muß, hebe ich nur die
Schrift über die Epilepsie hervor. Hier stellt sich der Vertreter
der Wissenschaft in schärfsten Gegensatz zur Charlatanerie,
und worin die Wissenschaft besteht, das zeigt er, indem er die
Ursache der Krankheit angibt (3 ἀλλὰ γὰρ αἴτιος ὃ ἐγκέφαλος
τούτου τοῦ πάϑεος κτλ.) und die Möglichkeit der richtigen Be-
handlung davon abhängig macht, ob der Arzt imstande ist, sich
Rechenschaft von der Wirkung seiner Heilmittel mit Bezug auf
diese Krankheitsursache abzulegen (17)°).
Aber nicht bloß diese Auffassung der τέχνη, auch die Unter-
scheidung von Routine und Wissenschaft fand Plato wohl bei den
Medizinern schon vor. Ganz sicher dürfte man dies sagen und
eine Anlehnung an die Mediziner im Gorgias voraussetzen, wenn
man eine Stelle der Παραγγελίαι verwerten dürfte. Denn dort
mahnt der Verfasser e. 1 (Littr& IX, 252): δεῖ γε μὴν ταῦτα εἰδότα
μὴ λογισμῷ πρότερον πιϑανῷ προσέχοντα ἰητρεύειν ἀλλὰ τριβῇ
!) τὸ Μ καὶ τὸ A.
5) Dieselbe Anschauung bringt dieser Arzt auch in περὶ ἀέρων ὑδάτων
τόπων fortwährend zum Ausdruck.
In der Auffassung der Wissenschaft folgt Plato den Medizinern. 137
μετὰ λόγου und setzt damit die Gegenüberstellung der τριβή,
die für ihn offenbar wie für Plato (463b 501a) an sich ein d4o-
γον πρᾶγμα ist, und des rationalen Elementes, die wir im Gorgias
vorfinden, voraus, wenn er auch beide Elemente anders wertet
als Plato. Aber viel Wert lege ich auf dieses Zeugnis nicht;
denn diese Schrift ist, wenn sie auch mit altem Materiale arbeitet,
schwerlich vor Epikurs Zeit entstanden‘). Dagegen sprechen bei
1) Epikur sagt im Briefe an Herodot p. 26, 7 Us.: ἀλλὰ μὴν ὑποληπτέον
καὶ τὴν φύσιν πολλὰ καὶ παντοῖα ὑπ᾽ αὐτῶν τῶν πραγμάτων διδαχϑῆναξ τε
καὶ ἀναγκασϑῆναι, τὸν δὲ λογισμὸν τὰ ὑπὸ ταύτης παρεγγυηϑέντα ὕστερον
ἐπακριβοῦν. Soll er das aus unserm Autor glatt abgeschrieben haben, bei dem es
ec. 1 heißt: ὑποληπτέον οὖν τὴν φύσιν ὑπὸ τῶν πολλῶν καὶ παντοίων πρηγμά-
των κινηϑῆναί τε καὶ διδαχϑῆναι βίης ὑπεούσης, ἣ δὲ διάνοια παρ᾽ αὐτῆς Au-
βοῦσα, ὡς προεῖπον, ὕστερον εἰς ἀληϑείην ἤγαγεν Dagegen spricht auch, dab
φύσις bei Epikur seinen festen Platz hat (es folgt ὅϑεν καὶ τὰ ὀνόματα ἐξ
ἀρχῆς μὴ ϑέσει γενέσϑαι, ἀλλ᾽ αὐτὰς τὰς φύσεις τῶν ἀνθρώπων καϑ' ἕκαστα
ἔϑνη ἴδια πασχούσας πάϑη .. ἰδίως τὸν ἀέρα ἐκπέμπειν κτλ.), während in den
Praecepta der Begriff unmotiviert ist. — Im selben Kapitel steht: ξυγκαταινέω
μὲν οὖν καὶ τὸν λογισμόν, ἤνπερ En περιπτώσιος ποιῆται τὴν ἀρχήν. Ist
also περίπτωσις, das wir aus der epikureischen (fr. 36 καὶ γὰρ καὶ ἐπίνοιαι
πᾶσαι ἀπὸ τῶν αἰσϑήσεων γεγόνασι κατά re περίπτωσιν καὶ κτλ) und stoischen
(I fr. 86 τῶν νοουμένων τὰ μὲν κατὰ περίπτωσιν ἐνοήϑη .. κατὰ περίπτωσιν
μὲν οὖν ἐνοήϑη τὰ αἰσϑητά) Erkenntnistheorie kennen, schon ein Jahrhundert
früher Terminus gewesen? Und wenn es in 0. 2 dann heißt: προσέχειν οὖν δεῖ
περιπτώσει .. τῇ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, so klingt uns das letzte doch merkwürdig
aristotelisch (ὡς ἐπὶ τὸ πολύ selbst kommt freilich z. B. in de aeribus und de
morbo sacro sechsmal vor), mehr aber noch wohl der Anfang dieses zweiten
Kapitels: τῶν δ᾽ ὡς λόγου μόνου ξυμπεραινομένων μὴ ein ἐπαύρασϑαι τῶν δὲ
ὡς ἔργου ἐνδείξιος. Sollen wir glauben, daß dieses Spiel mit dem Worte
συμπεραίνειν möglich war, ehe Aristoteles den Syllogismus entdeckte und für
diesen den Ausdruck λόγον συμπεραίνειν als Terminus prägte? Auch die dort
gegebene Definition der Medizin als &£ıs ἀναμάρτητος möchte man älterer Zeit
nicht zutrauen.
Vor allem aber hat die ganze in c. 1 entwickelte Erkenntnistheorie, nach
der zunächst ἡ αἴσϑησις φαντασιοῦται, dann von dieser die διάνοια die Ein-
drücke übernimmt und im Gedächtnis festhält, ihre Parallelen nur in der
späteren Zeit, teils bei Stoikern und Epikureern, teils aber auch bei Aristoteles
Anal. post. II, p. 1002 3#f., Met. I, 1,980b 28#. (H. Maier, Syllogistik des Aristoteles
IIa, S. 418). Bei Aristoteles wird speziell gezeigt, wie beim Menschen aus
der Wahrnehmung die Erinnerung, aus der Erinnerung die Erfahrung, aus der
zur Einheit zusammengefaßten Erfahrung die technische Regel wie das wissen-
schaftliche Prinzip hervorgeht. Ähnlich wird der Vorgang in den Praecepta
geschildert. Das wird uns noch deutlicher, wenn wir einen handschriftlichen
Fehler verbessern. Nachdem der Verfasser die Wissenschaft auf τριβὴ μετὰ
138 Gorgias.
Hippokrates selber nicht bloß allgemeine Erwägungen dafür, daß
er, den Plato als den Begründer der wissenschaftlichen Medizin
ansieht, diese gegen die bloße Empirie abgegrenzt hat, sondern
es lassen sich auch aus Plato selbst für diese Annahme Gründe
geltend machen. Denn in der Erörterung des Phaidros, wo Plato
die hier nur angedeutete Untersuchung über ἐμπειρία und τέχνη
wirklich ausführt, beruft er sich ja ausdrücklich auf Hippokrates
und auf seine Auffassung von der medizinischen Wissenschaft,
um von da aus ein Kriterion für die Frage zu gewinnen, unter
welchen Bedingungen die Rhetorik nicht bloß Empirie, sondern
Wissenschaft sei (270), und wenn man hier vielleicht noch zweifeln
kann, ob Hippokrates selber auch den Gegensatz zur Empirie
λόγου gegründet hat, heißt es nach der Überlieferung weiter: ὁ γὰρ λογισμὸς
μνήμη τίς ἔστι ξυνϑετικὴ τῶν μετ᾽ αἰσϑήσεως ληφϑέντων. Aber unmöglich
kann der λογισμός so definiert werden, da nachher die μνήμη der διάνοια ZU-
gewiesen wird, die vom /oyıouds scharf geschieden ist. Unmöglich ist auch,
daß der Verfasser die τριβή ignoriert haben sollte. Da nun Aristoteles 980} 28
einfach sagt γίγνεται δὲ ἔκ τῆς μνήμης ἐμπειρία und Plato 501a τριβῇ καὶ
ἐμπειρίᾳ μνήμην μόνον σωξομένη (nämlich die Kochkunst) τοῦ εἰωθότος γίγνεσθαι,
so ist wohl eine Lücke anzunehmen: ὁ γὰρ λογισμὸς (. . . ἡ δὲ τριβὴ) μνήμη
(vgl. auch noch Sext. Emp. math. I, 61).
Diese Erwägungen zwingen, wie mir scheint, dazu, die Entstehung der
Schrift nicht vor etwa 300 anzusetzen. Nun hat freilich Daremberg, Notices et
extraits 5. 200 aus einem Urb. 68 ein Scholion mit dem Lemma ἐκ τῶν TaAn-
νοῦ zum Anfang der Praecepta veröffentlicht — wie ich aus einer durch
Pasqualis freundliche Vermittlung mir zugegangenen Photographie ersehe, bis
auf Kleinigkeiten richtig —, das gegen eine so späte Entstehung zu sprechen
scheint. Denn hier heißt es mit Bezug auf die Anfangsworte der Schrift Χρόνος
Eotiv ἐν ᾧ καιρός So: ὃ μὲν οὖν χρήσιππος (sic!) καὶ οἱ περὶ τοὺς στοικοὺς
ἀλληγορικώτερον τὸν Λόγον διελθόντες χρόνον λέγειν τὴν ϑεωρίαν φασὶν ὡς
διὰ χρόνου λαμβανομένην κτΆλ. .. ᾿Αρχιγένης δὲ... οὕτω φησέν κτλ. Aber
daß der Stoiker Chrysipp eine medizinische Schrift kommentiert haben sollte,
erscheint doch so unglaublich, daß man an sich nach einem Ausweg suchen
muß. Entweder hat Archigenes (oder ein anderer Erklärer) nur eine chrysippische
Erläuterung der Worte χρόνος und καιρός benützt, oder aber einer der Ärzte
des Namens Chrysipp — Wellmann führt in der Realenzyklopädie s. v. Chrysippos
verschiedene auf — ist erst nachträglich mit dem Stoiker verwechselt worden.
Auch mit der Möglichkeit rechne ich, daß der aphoristische Anfangssatz der Prae-
cepta: χρόνος ἐστὺὴν Ev ᾧ καιρὸς καὶ καιρὸς Ev ᾧ χρόνος οὐ πολύς" ἄκεσις χρόνῳ,
ἔστι δὲ ἡνέκα καὶ καιρῷ, der vom Folgenden merkwürdig absticht, aus einer
alten Schrift übernommen ist. Aber selbst wenn Chrysipp unsre Schrift gemeint
haben sollte, würde ich eher an eine Fälschung denken als den alten Ursprung
der Schrift annehmen. Doch ist natürlich eine genaue Untersuchung nötig.
τέχνη und ἐμπειρία. τέχνη und κολακεία. 189
so präzisiert hat, wie es Plato tut, so wird dies sehr wahrschein-
lich, wenn man eine Stelle aus den Gesetzen heranzieht. Denn
dort gibt p. 857c Plato doch wohl eine Schilderung im Sinne
des Hippokrates, wenn er das Beispiel wählt: ὡς ei καταλά-
βοι ποτέ τις ἰατρὸς τῶν ταῖς ἐμπειρίαις ἄνευ λόγου τὴν ἰατρι-
κὴν μεταχειριζομένων ἐλεύϑερον ἐλευϑέρῳ νοσοῦντι διαλεγόμενον
ἰατρὸν καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺς χρώμενον μὲν τοῖς λόγοις ἐξ
ἀρχῆς τε ἁπτόμενον τοῦ νοσήματος, περὶ φύσεως πάσης ἐπανι-
ὄντα τῆς τῶν σωμάτων. Wenn also die Medizin damals schon
die Wissenschaft gegen die Routine abgrenzte, so mußte es
Plato als Rückständigkeit erscheinen, wenn Polos die Technai
einfach aus der Empirie ableitete, wie wir es nach Gorg. 4486
vermuten dürfen '): Χαιρεφῶν, πολλαὶ τέχναι ἐν ἀνθρώποις εἰσὶν
ἐκ τῶν ἐμπειριῶν ἐμπείρως εὑρημέναι ἐμπειρία μὲν γὰρ ποιεῖ τὸν
αἰῶνα ἡμῶν πορεύεσθαι κατὰ τέχνην, ἀπειρία δὲ κατὰ τύχην Ἶ.
Wir können es wohl verstehen, daß Plato eine solche Äußerung
dahin auslegte, Polos erkenne überhaupt keinen Unterschied von
Empirie und Wissenschaft an, und daß er ihm nun zeigen wollte,
wie richtig er damit, ohne es zu merken, sein Handwerk beurteilte.
Die Unterscheidung von Routine und Wissenschaft fand also
Plato schon vor. Das müssen wir auch daraus schließen, daß
er mit dieser Unterscheidung eine andere kombiniert, die tat-
sächlich aus ganz andern Motiven hervorgeht. Er stellt nämlich
nicht etwa, wie man erwarten sollte, empirische und wissenschaft-
liche Medizin einander gegenüber, sondern medizinische Wissen-
schaft und Kochkunst und konstruiert im Zusammenhang damit
sein ganzes System, in dem neben den Wissenschaften die χολα-
κεῖαι stehen, die nicht das Gute des Menschen ins Auge fassen,
sondern nur χάριτος καὶ ἧδονῆς ἀπεργασίαι sein wollen’). Plato
1 Natürlich braucht die Stelle deshalb nicht wörtliches Zitat zu sein.
Aber Aristoteles sagt ja 98184 ἡ μὲν γὰρ ἐμπειρία τέχνην ἐποίησεν, ὥς φησι
Πῶλος ὀρϑῶς λέγων, ἣ δ᾽ ἀπειρία τύχην. Diese Anerkennung seitens des
Empirikers Aristoteles ist wohl nicht ohne Spitze gegen Plato.
?) Den Gegensatz von τέχνη und τύχη behandelt das vierte Kapitel der
Apologie der Heilkunst, wo Gomperz die Parallelstellen bietet.
ὅ Eurip. fr. 362, 18
φίλους δὲ τοὺς μὲν μὴ χαλῶντας Ev Adyoıs
κέχτησο, τοὺς δὲ πρὸς χάριν σὺν ἡδονῇ
τῇ σῇ πονηροὺς κλῇϑρον εἰργέτω στέγης.
Die schlechten Freunde sind natürlich die Schmeichler. Vgl. die Schilderung der
140 Gorgias.
leitet zu dieser Scheidung durch den Gedanken über, daß die
Routine sich über das wahre Ziel, das sie zu verfolgen hat, nicht
Rechenschaft zu geben vermag. Aber es ist klar, dal) er auf diese
Weise aus ethischen Motiven mit der Scheidung von τέχνη und ἐμ-
πειρία, die natürlich nur an den verschiedenen Betrieb einer auf
ein einheitliches Ziel gerichteten Tätigkeit denkt, einen Gegen-
satz verknüpft, der dieser ursprünglich fremd ist.
Auf das System der Wissenschaften und Schmeichelkünste
folgt scheinbar ziemlich unvermittelt die Erörterung über die
Frage, ob denn die Rhetorik nicht wenigstens praktisch große
Macht verleihe, wie das schon Gorgias ausgesprochen hatte
(452d 456ab) und Polos als selbstverständlich voraussetzt (467
bis 480). Aber der Faden ist so wenig abgerissen wie etwa im
Protagoras nach dem Mythos. Der Gedankengang ist nämlich
folgender: Die Rhetorik mag wohl die Fähigkeit geben, alles
Mögliche im Staate durchzusetzen. Aber von Macht kann man
nur bei dem reden, der die Fähigkeit zu Handlungen hat, die
das bewirken, was er wirklich will, die einem bestimmten End-
ziele dienen. Dieses Endziel kann aber nur das Gute sein, das
Gute aber ist identisch mit dem Sittlichen. Wenn daher die
Rhetorik, wie ihre Vertreter rühmen, die Fähigkeit gibt, auch
auf ungerechte Weise sich Vorteile zu verschaffen, so verleiht
sie keine Macht, die ja dem Guten dienen müßte, sondern fügt
dem Menschen nur Schaden zu, und dieser Schade wird nur
noch gesteigert, wenn sie ihm Straflosigkeit für die Verbrechen
erwirkt und somit verhindert, daß der Mensch von dem Übel
der Ungerechtigkeit befreit wird.
Kolakes in Eupolis’ Drama, die ebenso hervorheben, daß der Kolax χαρέεντα
πολλά sagen muß (fr. 159, 12 K.), wie bei Epicharm fr. 35 der Parasit als seine
Haupteigenschaft rühmt χαρέεις eiul (man darf beide Stellen wohl anführen, auch
wenn χάρις hier etwas andre Bedeutung hat als bei Plato). Grade Eupolis’ Kolakes,
die Plato im Protagoras als Vorbild hatte, konnten ihm auch hier Anregungen
geben, da als Schmeichler und Parasiten dort die Sophisten auftraten. Eövoıa
und Κολακείη stellt einander entgegen Demokrit B 286. Aristoteles scheidet
1173b33 Freund und Schmeichler: ὁ μὲν γὰρ πρὸς τἀγαϑὸν ὁμιλεῖν δοκεῖ. ὁ δὲ
πρὸς ἡδονήν, und Ähnliches findet sich unendlich oft in der späteren Popular-
philosophie, wo die Scheidung von Freund und Schmeichler Lieblingsthema ist
(z. B. Plutarch de adul. et amico 11. Einiges bei Bohnenblust, Beiträge zum Topos
περὶ φιλίας S. 31). Über Phaidros 240b, wo Plato im Anschluß an den Gorgias
den κόλαξ als ἡδύς erwähnt, nachher.
πεν“
467—480. Die Rhetorik wird als κολακεία erwiesen. 141
Während also im ersten Abschnitt gezeigt war, daß die
Rhetorik (wie im Hippias die Polymathie) als formale Fähigkeit,
die ebensowohl sittlichen wie unsittlichen Zwecken dienen könne,
zum Nutzen wie zum Schaden andrer gebraucht werden kann,
lernen wir hier, daß sie als solche auch dem Menschen selber
eher Schaden als Nutzen bringt. Der Grund ist der, daß sie
kein festes Endziel hat, nach dem sie auf Grund wissenschaft-
licher Erkenntnis strebt. Sie begnügt sich damit, dem Menschen
äußere Macht zu verleihen. Aber ob diese Macht dem wahren
Vorteil des Menschen, dem Guten dient, das fragt sie nicht.
Dunkel schwebt ihr allerdings ein Ziel vor. Aber das ist nicht
das Gute, sondern etwas anderes. Wenn sie nämlich das Unrecht-
leiden zwar für sittlich besser hält als das Unrechttun, aber doch
mehr zu vermeiden sucht, so tut sie das, weil das Unrechtleiden
mehr Schmerz bereitet (475c), und ebenso schätzt sie die Menschen
glücklich, die sich der Bestrafung entziehen, weil diese mit
Schmerzen verbunden ist (478). Sie duldet also die Ungerechtig-
keit, das größte Übel, das den Menschen treffen kann, und verhilft
sogar zu ihm, weil das Unrechttun mit keinem Schmerz, ja oft
mit Lust verbunden ist.
Die Rhetorik legt sich also gar nicht wissenschaftlich die
Frage vor, ob das, wozu sie befähigt, wirklich für den Menschen
vorteilhaft ist. Was ihr dunkel als Endziel vorschwebt und ihre
Einzelhandlungen bestimmt, ist nicht das Gute, sondern die Lust
und die Freiheit von Schmerz. Damit ist aber der Beweis ge-
geben, daß Plato vorher das Wesen der Rhetorik richtig be-
stimmt hat: Sie ist keine Wissenschaft, sondern Routine ohne
feste Erkenntnis, sie hat nicht das βέλτιστον, sondern das ἣδύ
zum Ziel. Sie gleicht der Kochkunst, die nur an die Annehm-
lichkeit denkt, während die wahre πολιτικὴ ἀρετή wie die medi-
zinische Wissenschaft nur die Gesundheit der Seele ins Auge
faßt und auch die schmerzhafteste Operation nicht scheut, um
die Seele von ihren Krankheiten zu befreien (480c, vgl. 478,
479 ab).
Damit ist das Urteil über die berufsmäßige Rhetorik gefällt.
Aber mit dieser hat z. B. Archelaos von Makedonien, den Polos
471 als sein Lebensideal nennt, blutwenig zu tun. Das zeigt
uns, daß Plato schon hier die Kritik an der Berufsrhetorik
142 Gorgias.
keineswegs die Hauptsache ist. Jeden Zweifel über seine Ab-
sichten hebt dann der dritte Teil, der sich schon durch seinen
Umfang als Hauptteil gibt, das Gespräch mit Kallıkles (481 bis
Schluß)‘). Hier wird es ganz deutlich: Plato nimmt die be-
rufsmäßige Rhetorik nur zum Ausgangspunkt‘), Wenn
sie unklarer Weise die Lust zum Zielpunkt macht, so
ist das ein Symptom der im Volke herrschenden ethi-
schen Anschauungen. Denn der Gegensatz von ἣδύ und
ἀγαϑόν kehrt überall wieder. Und für das Leben des
Individuums wie der Gesamtheit ist das die entschei-
dende Frage, welches Prinzip herrschen soll, ob die
Lust oder das Gute. Es ist die Frage, die sich nament-
lich der in voller Klarheit vorlegen muß, der die Ab-
sicht hat, auf das Leben der Gesamtheit einzuwirken.
Die Lösung der Frage bringt zugleich die Entscheidung
darüber, ob die Rhetorik in der Jugendbildung eine
Existenzberechtigung hat oder nicht’).
1) Daß Καλλικλῆς ᾿Αχαρνεύς (4954), der ἐραστής des Anwos Πυριλάμπους
(481 4 513b), eine historische Person gewesen ist, kann man nicht wohl be-
zweifeln, obwohl im dramatischen Dialoge an sich eine fingierte Person denkbar
wäre. Entscheidend ist 487c: olda ὑμᾶς ἐγώ, ὦ Καλλίκλεις, τέτταρας ὄντας
κοινωνοὺς γεγονότας σοφίας, σέ τε καὶ Τείσανδρον τὸν ᾿Αφιδναῖον καὶ ” Avögw-
va τὸν ᾿Ανδροτίωνος καὶ Ναυσικύδην τὸν Χολαργέα: καί ποτὲ ὑμῶν ἐγὼ ἐπ-
ἤκουσα βουλευομένων, μέχρι ὅποι τὴν σοφίαν ἀσκητέον εἴη κτλ. Undenkbar
ist, daß hier eine völlig zwecklose Fiktion Platos vorliegen sollte. In späterer
Zeit würde man bei einer solchen Szene gewiß an einen literarischen Dialog
denken. Das ist aber für unsere Zeit nicht wahrscheinlich. Andrerseits wird
man sich für das Athen des Sokrates nicht gern vorstellen, daß etwa ein
Kallikles eine Schrift begonnen habe, wie es Alkmaion von Kroton tat: "Alrualo»
Κροτωνιήτης τάδε ἔλεξε Πειρίϑου υἱὸς Βροτίνῳ καὶ Λέοντι καὶ Βαϑύλλῳ.
So bleiben Zweifel. Aber daß hier wirklich eine historische oder literarische
Szene gegeben war und sie Plato den Anlaß zur Einführung des Kallikles bot,
das scheint mir sicher.
2) Zu welcher Einseitigkeit es führt, wenn man die Rhetorik zum Kern-
punkt des Dialoges macht, zeigt die konsequente Durchführung dieser An-
schauung bei Süß, Ethos 98H.
3) Kal γὰρ τυγχάνει περὶ ὧν ἀμφισβητοῦμεν οὐ πάνυ σμικρὰ ὄντα, ἀλλὰ
σχεδόν τι ταῦτα, περὶ ὧν εἰδέναι τε κάλλιστον μὴ εἰδέναι τε αἴσχιστον τὸ γὰρ
κεφάλαιον αὐτῶν ἐστιν ἢ γιγνώσκειν ἢ ἀγνοεῖν, ὅστις τε εὐδαίμων ἐστὶν καὶ
ὅστις μή sagt Sokrates schon zu Polos 4172 ὁ (vgl. 470eff.). Und Kallikles gegen-
über wiederholt er genauer 500: ὁρᾷς γάρ, ὅτι περὶ τούτου εἰσὶν ἡμῖν ol λόγοι,
οὗ τί ἂν μᾶλλον σπουδάσειέ τις καὶ σμικρὸν νοῦν ἔχων ἄνϑρωπος ἢ τοῦτο,
Die Berufsrhetorik nur Ausgangspunkt des Dialogs. 143
Wollen wir diese Tendenz uns genauer klarmachen, so
müssen wir wieder vom Protagoras ausgehen. Dort nahm Plato,,.
um die Einheitlichkeit des ethischen Prinzips zu wahren, die
Gleichsetzung von Add und ἀγαϑόν vor. Er lehnte die gewöhn-
liche Scheidung von guten und schlechten ἡδέα mit der Begrün-
dung ab, daß nur die ἡδέα diesen Namen wirklich verdienen,
die keine Unlust mit sich bringen oder die jedenfalls einen Über-
schuß von Lust in sich bergen. Diese wahren ἡδέα sind aber
von den ἀγαθά nicht zu trennen (vgl. 5. 105). Aber bald sah er
das Gekünstelte dieser Theorie ein. Konnte man wirklich dem
Schlemmer, der durch seine Unmäßigkeit sich eine Krankheit
zuzieht, für den Augenblick des Essens das Lustgefühl absprechen,
nur weil seine Handlung für die Folgezeit einen Überschuß an
Unlust ergab? Hier war also doch (trotz Prot. 353c) ein Gegen-
satz von ἣδύ und ἀγαϑόν anzunehmen. Und andrerseits, auch
wenn die Operation mit Rücksicht darauf, daß sie für die Dauer
Gesundheit und Lust bringt, ein ἡδονὴν ποιοῦν genannt werden
konnte, so war es doch eine Verkennung ihres Wesens, wenn
man sie daraufhin als nöd statt als λυπηρόν bezeichnete. Also
hatten die πολλοί doch recht, wenn sie meinten, ὅτε ταῦτα ἀγαϑὰ
μέν ἐστιν ἀνιαρὰ δέ (Prot. 354a). Hier lag also ein Irrtum vor,
und wer wirklich von sich sagen wollte: εἰμὲ τῶν ἡδέως μὲν ἂν
ἐλεγχϑέντων, εἴ τε μὴ ἀληϑὲς λέγω, ἡδέως δ᾽ ἂν ἐλεγξάντων,
εἴ τίς τι μὴ ἀληϑὲς λέγοι, οὐκ ἀηδέστερον μέντἂν ἐλεγχϑέντων
ἢ ἐλεγξάντων" μεῖζον γὰρ αὐτὸ ἀγαϑὸν ἡγοῦμαι, ὅσῳπερ μεῖζον
ἀγαθόν ἐστιν αὐτὸν ἀπαλλαγῆναι κακοῦ τοῦ μεγίστου ἢ ἄλλον
ἀπαλλάξαι: οὐδὲν γὰρ οἶμαι τοσοῦτον κακὸν εἶναι ἀνθρώπῳ, ὅσον
δόξα ψευδὴς περὶ ὧν τυγχάνει νῦν ἡμῖν ὃ λόγος dv (Go. 4688),
der mußte die Folgerungen ziehen. So verwendet denn mit
Absicht Plato grade das Beispiel der Operation, um sich zu
korrigieren und zuzugeben, daß hier wirklich ein Widerstreit
ὅντινα χρὴ τρόπον ζῆν, πότερον ἐπὶ ὃν σὺ παρακαλεῖς ἐμέ, τὰ τοῦ ἀνδρὸς δὴ
ταῦτα πράττοντα, λέγοντά τε ἐν τῷ δήμῳ καὶ ῥητορικὴν ἀσκοῦντα καὶ πολιτευ-
όμενον τοῦτον τὸν τρόπον ὃν ὑμεῖς νῦν πολιτεύεσϑε, ἢ τόνδε τὸν βίον τὸν
ἐν φιλοσοφίᾳ. Die Rhetorik, die Kallikles übt, ist natürlich nicht die berufs-
mäßige des Gorgias, sondern die praktische des πολιτικός, die allein im Ge-
spräch mit Kallikles in Frage kommt. Daß die Eudämonie das Thema ist, wird
auch sonst fortwährend betont (bes. 492c 6 494c 507c—508b) und den Mythos
schließt Sokrates mit der Mahnung ab: ἐμοὶ οὖν πειϑόμενος ἀκολούϑησον ἐν-
ταῦϑα, οἵ ἀφικόμενος εὐδαιμονήσεις καὶ ζῶν καὶ τελευτήσας (527ce).
144 Gorgias.
zwischen ἡδύ und ὠφέλιμον vorliegt (478b 4794 480c 525e)
‚Im Protagoras hatte er die entgegengesetzte Anschauung mit
dem Hinweis begründet, als Ziel (z&/os)") schwebe die Lust vor
und erklärt, das Werturteil ἀγαϑόν bezeichne nur, daß die Hand-
lung diesem Ziele diene. Daß dies eine Degradation des Guten
bedeute, wurde ihm bald klar, und so ist ihm im Gorgias das
Gute zum positiven Ziel geworden (ὦρα καὶ σοὶ συνδοκεῖ οὕτω,
τέλος εἶναι ἁπασῶν τῶν πράξεων τὸ ἀγαϑὸν καὶ ἐκείνου ἕνεκεν δεῖν
πάντα τἄλλα πράττεσθαι ἀλλ᾽ οὐκ ἐκεῖνο τῶν ἄλλων 499 6), und
die ärztliche Kur wird jetzt nicht mehr als gut gewertet, weil
sie Lust verschafft, sondern weil sie ἕνεκα τοῦ ἀγαϑοῦ geschieht
(467 c—468b). Ein absolutes Gut ist sie deshalb freilich noch
nicht. Das spricht mit voller Bestimmtheit die grundlegende
Erörterung am Anfange des zweiten Buches des Staates aus, die
uns am deutlichsten zeigt, was er von den Ausführungen des
Protagoras festhält und wie er sie modifiziert. Plato scheidet
dort unter Weiterbildung der Gedanken: des Gorgias drei Arten des
Guten. Wieder treffen wir dabei das κάμνοντα ἰατρεύεσϑαι. Aber
ausdrücklich wird hervorgehoben, daß dieses zu der Klasse von
Gütern gehört, die wir nur um eines Endzweckes willen erstreben.
Um seiner selbst willen würden wir es nicht suchen, da es
zwar nützlich ist, aber schmerzhaft. Den Schmerz an sich
meiden wir also, und dem entspricht es, wenn zu der zweiten
Klasse von (Gütern, die wir um ihrer selbst willen erstreben, ge-
rechnet werden τὸ χαίρειν καὶ ai ἡδοναὶ ὅσαι ἀβλαβεῖς καὶ un-
δὲν εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον δι᾽ αὐτὰς γίγνεται ἄλλο ἢ χαίρειν ἔχοντα.
Diese Schätzung der wahren ἥδοναί entspricht ganz dem Pro-
tagoras (und klingt an Prot. 351e und 353d wörtlich an), aber
1) ἢ ἔχετέ τι ἄλλο τέλος λέγειν, eis ὃ ἀποβλέψαντες αὐτὰ ἀγαϑὰ καλεῖτε
ἀλλ ἢ ἡδονάς τε καὶ λύπας; ϑῦ4άο. Das Wort τέλος folgt im selben Sinne
noch zweimal und wird 353ae 355a durch τελευτᾶν erläutert.
5) In dieser Stelle liegt der Keim für die Teloslehre der hellenistischen
Philosophie und die stoische Definition des τέλος ist direkt aus ihr entnommen
(St. fr. III, 2 τέλος ἐστὴν οὗ ἕνεκα πάντα πράττεται καϑηκόντως, αὐτὸ δὲ πράττε-
ται οὐδενὸς ἕνεκα“ κἀκείνως „od χάριν τἄλλα, αὐτὸ δὲ οὐδενὸς ἕνεκα.“ Sonst
hat Plato diese Lehre noch vorbereitet in der gleich zu besprechenden Stelle
des Staates, von der Aristot. Rhet. 1362a 21 ausgeht, durch die Ausführungen
des Lysis über das letzte Gut, durch Sympos. 210—212, wo der Aufstieg des
Menschen geschildert wird, bis er ἅπτεται τοῦ τέλους (211b). Bei Aristoteles
im Anfang der nikomachischen Ethik ist der Begriff schon ganz fest.
Der Gorgias verwirit die Gleichsetzung von ἡδύ und ἀγαϑόν. 145
deutlich ist der Unterschied, daß offenbar Plato jetzt die Existenz
von βλαβεραὶ ἧδοναί anerkennt. Wenn er endlich als das höchste
Gut die Gerechtigkeit bezeichnet, die wir um ihrer selbst willen
wie um der Folgen willen erstreben, und wir nachher im neunten
Buch (bes. p. 586) sehen, daß mit den Folgen die wahren, reinen
Lüste gemeint sind, so werden wir wieder an den Protagoras er-
innert. Aber statt der Identifikation von ἣδύ und ἀγαϑόν finden
wir hier die Auffassung, daß das Gute das Wesentliche, die reine
Lust eine Begleiterscheinung ist.
Doch kehren wir zum Gorgias zurück. Daß die Operation
wirklich ὠφέλιμον μὲν ἀνιαρὸν δέ sei, das wurde Plato besonders
durch eine Analogie des seelischen Lebens nahegelegt. Auch da
gibt es eine Operation, die der Seele nützt, indem sie ihr Be-
freiung von schlimmer Krankheit bringt und ihr so zum Gute
der Gesundheit verhilft. Das ist die Bestrafung für begangenes
Unrecht. Daß der Strafzweck nicht Vergeltung, sondern Besse-
rung und Abschreckung sei, darüber war Plato mit Protagoras
einig‘). Aber hier war es selbstverständlich, daß man die Be-
strafung ihres Sinnes entkleidete, wenn man sie etwa als ἡδύ
bezeichnen wollte: di’ ἀλγηδόνων καὶ ὀδυνῶν γίγνεται αὐτοῖς ἣ
ὠφελία καὶ ἐνθάδε καὶ ἐν Ἅιδου sagt Plato von den Bestraften,
od γὰρ οἷόν τε ἄλλως ἀδικίας ἀπαλλάττεσϑαι (525 0). Und nun
zeigten sich auch manche andre Argumente, die es unmöglich
machten, ἣδύ und ἀγαϑόν zu identifizieren. Im Protagoras hatte
Plato geglaubt, den Satz, daß das εὖ ζῆν ein ἡδέως ζῆν sei, bei
richtiger Fassung des Begriffs 565 auch umkehren zu dürfen
(35l1a). Aber wenn man einmal sich dazu entschloß, ein Lust-
gefühl auch da anzuerkennen, wo etwa später Unlust die Folge
ist, dann war die Frage nicht abzuweisen, ob denn wirklich das
ἡδέως ζῆν des κίναιδος etwa als εὐδαιμόνως ζῆν gelten dürfe
(4946). Daß Lust und Unlust oft beim Menschen gleichzeitig
ἢ Im Mythos läßt Plato den Sophisten — doch wohl nach dessen eigner
Anschauung — sagen 324a: οὐδεὶς γὰρ κολάζει τοὺς ἀδικοῦντας . . τούτου
ἕνεκα ὅτι ἠδίκησεν. .. ἀλλὰ Tod μέλλοντος χάριν, ἵνα μὴ αὖϑις ἀδικήσῃ
μνἴἦτε αὐτὸς οὗτος μήτε ἄλλος ὃ τοῦτον ἰδὼν κολασϑέντα. Im Gorgias stellt
er 418, fest, daß die Bestrafung dem Menschen Nutzen bringt, sofern er βελτίων
τὴν ψυχὴν γίγνεται, εἴπερ δικαίως κολάζεται, und hebt bei den Hadesstrafen
525bc daneben auch den Abschreckungszweck hervor.
3) Vgl. 476—478. 505b. 507d und den Hadesmythos.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 10
146 Gorgias.
auftreten, während ἀγαϑόν und κακόν sich ausschließende Gegen-
sätze seien (495—497d), wird Plato selbst wohl kaum als ent-
scheidend angesehen haben. Um so wichtiger war es, daß die
sittliche Qualität eines Menschen, sein Charakter als ἀγαϑὸς ἀνήρ
durch seinen Besitz an Einsicht, Tapferkeit und anderen Gütern
bestimmt wird, während Lust und Schmerz bei Guten und
Schlechten in gleicher Weise vorkommen (497 e—499b) '). Solche
Erwägungen führten doch zu einem anderen Resultat als die im
Protagoras, und während dort Sokrates erstaunt gefragt hatte:
un καὶ σὺ ὥσπερ οἱ πολλοὶ ἡδέ᾽ ἄττα καλεῖς κακὰ καὶ ἀνιαρὰ
ἀγαϑά; (351c), jubelt er im Gorgias auf, als er endlich Kallıkles
zu dem Zugeständnis gebracht hat, ὅτε ἡδοναί τινές εἰσιν αἱ μὲν
ἀγαϑαὶ αἱ δὲ κακαί (499c) und daß man nur die guten Lüste er-
streben dürfe, daß also das Gute, nicht das Angenehme das Ziel
des Lebens sei (499e).
Die Einheitlichkeit des Lebenszieles hatte Plato im Protago-
ras erweisen wollen. Das war berechtigt. Aber teuer hatte er
diese durch die Gleichsetzung von Add und ἀγαϑόν erkauft. Tat-
sächlich waren beide von Grund aus verschieden, und wenn es
auch gute Lüste gab, die das sittliche Handeln begleiten oder
jedenfalls mit diesen nicht in Konflikt geraten, so gab es doch
auch schlechte Lüste, die den Menschen locken, sein Handeln
bestimmen, obwohl sie ihm nur Schaden bringen. Und je mehr
Plato seinen Blick schärfte für den Unterschied der Lüste, desto
deutlicher trat ihm die verderbliche Macht dieser schlechten Lüste
vor Augen, desto klarer wurde es ihm, daß alle Unsittlichkeit
darauf heruhte, daß die Menschen nicht bloß der guten Lust
nachjagen, sondern der Lust an sich, gleichsiltigs, ob sie gut
oder schlecht ıst, ob sie für das sittliche Ziel förderlich ist oder
nicht. Und mit einem Schlage wurde es ihm klar: Wer ein
festes Fundament für die Sittlichkeit errichten wollte, der durfte
nicht die wahre Lust zum Ausgangspunkte nehmen, die das sitt-
liche Handeln begleitet und zum glückseligen Leben gehört; er
mußte davon ausgehen, daß die Lust, die von den Menschen
zumeist erstrebt wird, mit dem sittlichen Ziele nichts zu tun hat,
ja ihn von diesem ablenkt und das größte Hindernis für dieses
1 Wenn Plato 498 das Beispiel des Feiglings wählt, der beim Abzug der
Feinde die größte Freude empfindet, so ist das wohl durch die Erörterung Prot.
359. 360 veranlaßt.
Das Streben nach der Lust der Quell aller Unsittlichkeit. 147
bildet. Mochte es auch gute Lust geben, nicht auf der Identi-
fikation des Guten mit diesen Lüsten, sondern nur auf dem
schärfsten Gegensatz des ἣδύ an sich und des ἀγαϑόν war die
Sittlichkeit zu begründen ἢ).
Das soll uns das Gespräch des Sokrates mit Kallikles zeigen,
der rücksichtslos die Folgerungen aus den sophistischen Lehren
zieht. Polos gehörte zu den Halben, die zwar in dem ungerechten
Archelaos ihr Lebensideal sehen, aber doch das Unrechttun für
schimpflich erklären. Kallikles ist folgerichtig. Für ihn gibt es
nur einen Schimpf, das ist das Unrechtleiden. Rücksichtslos ver-
tritt er das Naturrecht des Egoismus, das keine sozialen Ver-
pflichtungen anerkennt, das keine Schranke kennt als das Recht
des überlegenen Gegners, und nichts ist ihm verhaßter, als die
Weichherzigkeit der Philosophie, die dem Menschen unnötige
Schranken ziehen will. Macht und Einfluß ist es, nach dem er
sogut wie Polos strebt, aber wenn diesem erst gezeigt werden
mußte, daß die Macht nicht Selbstzweck ist, so weiß Kallikles,
was er will. Er hat ein Endziel sogut wie Sokrates und spricht
das aus, was Polos und die Berufsrhetorik nur dunkel gefühlt
hatte: Nicht Sokrates’ δικαιοσύνη, sondern τρυφὴ καὶ ἀκολασία
καὶ ἐλευϑερία, ἐὰν ἐπικουρίαν ἔχῃ, τοῦτ᾽ ἐστὶν ἀρετή τε καὶ εὖδαι-
μονία (4920). ᾿Εκπορίζεσθαι ταῖς ἥδοναῖς πλήρωσιν, kurz das
ἡδύ ıst das Ziel (4928. 494}).
Sokrates stellt ihm gegenüber zunächst kurz fest, daß dieses
Lebensideal, bei dem es darauf ankomme, immer neue Begierden
zu haben und zu erfüllen, nach der Ansicht anderer — der
Pythagoreer — einer Danaidenarbeit gleiche), und tritt dann so-
!) So erklärt es sich, daß im Gorgias nur dieser Gegensatz hervortritt,
obwohl die Existenz der βελτέους ἥδοναί durchaus anerkannt wird (499 ἢ).
Der Fehler ist eben, daß die Menschen die Lust zum Ziele nehmen, ohne zu
fragen, ob sie gut ist oder nicht (501b). ‘H κολακεία τοῦ ἡδέος στοχάζεται
ἄνευ τοῦ βελτίστου 465a.
32 Mir will es nicht in den Kopf, daß Plato 493b zu τῶν ἐν “Διδου die
Bemerkung τὸ ἀειδές (so B T Stob., ἀιδές nur F, ἀηδές Jamblich; wirkliche
Varianten sind das natürlich nicht) δὴ λέγων ohne jede tiefere Absicht gemacht
habe. Nun hat auch die Stelle des Kratylos, wo Plato wieder die Etymologie
des Hades mit scherzhafter Willkür behandelt, und wo er mehrfach (403be) auf
den Mythos des Gorgias Bezug nimmt, keinen Sinn, wenn man ἀιδής „unsicht-
bar“ liest und versteht (403a, 404b). Die Menschen fürchten den Hades, weil
der Gestorbene ἀεὶ ἐκεῖ ἐστιν (403b) und weil die Seele ohne Körper dort ist.
10*
148 Gorgias.
fort in den schon vorhin 5. 146.7 von mir skizzierten Beweis ein,
daß es gute und schlechte Lüste gebe und daß deshalb nicht
das 566, sondern das Gute das Endziel sein müsse, auf das wir
alle Handlungen zu beziehen haben (— 499e). Damit ist der Satz
ἕνεκα τοῦ ἀγαϑοῦ ἅπαντα ταῦτα ποιοῦσιν οἱ ποιοῦντες (468b), den
schon Polos zugegeben hatte, endgültig gesichert und die Grund-
lage für die Entscheidung über die Frage, wie wir unser Leben
einzurichten haben, geschaffen. Und jetzt kann Sokrates sofort
auf die Scheidung der τέχναι und κολακεῖαι zurückgreifen (501).
Denn nunmehr leuchtet ohne weiteres ein, daß alle sogenannten
Künste, die nur das Angenehme als Ziel kennen, wirklich nur
Schmeichelkünste sind. Zu ihnen gehören aber nicht bloß die
Musik und die vielgepriesene Tragödie, sondern auch die prak-
tische Beredsamkeit. Denn auch die Staatsmänner sehen in
ihren Reden nicht auf das Beste des Volkes, sondern auf das,
was angenehm ist. Sie streben nicht danach, ὅπως οἱ πολῖται
ὡς βέλτιστοι ἔσονται διὰ τοὺς αὑτῶν λόγους, sondern wollen nur ihre
und des Volkes Begierden stillen (502e — 503d).
Das will freilich Kallikles wenigstens für die alten Staats-
männer wie Themistokles und Perikles nicht gelten lassen (503 e).
Um ihn zu widerlegen, muß Sokrates einen langen Umweg ein-
schlagen. Denn um zu zeigen, daß auch diese die Bürger nicht
besser gemacht haben, gilt es zunächst genauer festzustellen, was
denn ein guter Mensch ist. So wird denn gezeigt, daß der
Gesundheit des Körpers die der Seele entspricht und daß auch
diese auf Ordnung und Harmonie beruht. Es ist die Unterord-
Aber sie bleibt nur deshalb ewig dort, weil er sie nicht durch Zwang, sondern
durch eine viel festere Fessel bindet, durch Wohltaten, indem er sie besser macht
und die körperfreien Seelen viel Schönes lehrt. Er ist also ἀπὸ τοῦ πάντα τὰ
καλὰ εἰδέναι genannt. Will wirklich mit εἰδέναι allein Plato die Etymologie
geben und das d- ganz ignorieren? Warum betont er das de und gebraucht
nicht weniger als zehnmal die Worte δεσμός und δέω (z. B. 4030 ἐπιϑυμίᾳ
ἄρα τινὶ αὐτοὺς δεῖ, εἴπερ τῷ μεγέστῳ δεσμῷ δεῖ, καὶ οὐκ ἀνάγκῃ) Die Men-
schen fürchten den Hades als den „ewig bindenden“. Aber er bindet sie kraft
seines Wissens — natürlich ist auch εἰδέναι mit Absicht gebraucht — und sie
bleiben gern dort. Nehmen wir diese Bedeutung im Gorgias an, so ergibt sich
eine sehr passende Vergleichung des Lebens, wo die Seelen durch den Körper
wie durch ein Grab gebunden sind, mit dem ewig bindenden Hades. An der für
die Etymologie erfundenen Wortbildung ἀειδής wird man kaum Anstoß nehmen
und ebensowenig sich wundern, daß Plato im Phaidon80d 81c eine andre Ety-
mologie befolgt.
Das Gespräch mit Kallikles. 149
nung unter das Gesetz, die Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung,
und der Redner hätte deshalb eigentlich die Aufgabe, die Be-
gierden des Volkes wie die eigenen einzudämmen und die dxo-
λασία zu hindern (505c). Damit ist Kallikles in seinem empfind-
lichsten Punkte getroffen, aber als er nun nicht länger an der
eignen Niederlage mitwirken will und Sokrates allein das Ge-
spräch fortsetzt, bewährt sich aufs neue: nur die Gerechtigkeit
und Tugend darf das Ziel des Handelns sein, nur so ist auch
eine soziale Gemeinschaft (κοινωνία) möglich (— 508a).
Wie hat nun der Einzelne, der auf das Leben der Gesamt-
heit einwirken will, zu handeln? Zunächst ist es klar, daß er
persönlich sein Leben nicht nach Kallikles’, sondern nach So-
krates’ Grundsätzen einrichten muß (— 509e). Er wird dies auf
Grund einer τέχνη tun, die ihn vor Schaden schützt. Das schwebt
auch Kallikles sogut wie Polos vor. Aber wenn sie nun zu
diesem Zweck empfehlen, sich Einfluß in der Öffentlichkeit zu
sichern, so schützt dieser vielleicht vor dem ἀδικεῖσϑαι, aber nicht
vor dem größten Übel, dem ἀδικεῖν. Denn wer sich in der Gunst
des Souveräns, sei es des Tyrannen sei es des Demos, halten
will, muß mit den Wölfen heulen, muß am Unrecht sich be-
teiligen. Und das degradiert ihn dabei noch zum Schmeichler,
der dem Umworbenen ähnlich zu sein sich bemüht. Und was wird
schließlich erzielt? Die Beredsamkeit vermag sich so wohl das
Leben zu retten, aber das kann der Steuermann, der Arzt auch,
und der ist sich wenigstens bewußt — hier (5i1c) werden die
Gedanken des Laches und des Charmides wiederholt --- ἡ, daß
die Erhaltung des Lebens noch keineswegs für jeden ein Vorteil
ist. Die Rhetorik aber denkt nur an das ἡδύ — ἡδὺ γὰρ τοῦτο
μὲν τὸ ζῆν 512d —, aber daß es allein auf das ἀγαϑόν, das εὖ
ζῆν ankommt, liegt außerhalb ihres Gesichtskreises (— 618).
Deshalb ist sie aber auch unfähig, als wahre Staatskunst das
ἢ Laches 195c, Charm 164b und 173b (wo auch zum Arzte der Steuer-
mann hinzutritt). Vgl. S. 56. — Ähnlich wie im Laches 190b wird Gorg. 504e
als Hauptsorge bezeichnet, ὅπως ἂν δικαιοσύνη μὲν ἐν ταῖς ψυχαῖς γίγνηται
ἀδικία δὲ ἀπαλλάττηται. An Laches 191de erinnert es auch, wenn als Auf-
gabe des ἀνδρεῖος bezeichnet wird 507b ἃ δεῖ καὶ πράγματα καὶ ἀνϑρώπους καὶ
ἡδονὰς καὶ λύπας φεύγειν καὶ διώκειν, καὶ ὑπομένοντα καρτερεῖν ὅπου δεῖ. Und
ὕῶθο φιλοσόφου τὰ αὑτοῦ πράξαντος καὶ οὐ πολυπραγμονήσαντος ἐν τῷ βίῳ
weist auf Charm. 161ff.
150 Gorgias.
Gute der Gesamtheit ins Auge zu fassen und die Bürger besser
zu machen. Sie ist die Schmeichelkunst, die nur πρὸς ἡδονὴν
ὁμιλεῖ (513de). Damit kehrt Sokrates zu dem in 503d aufge-
stellten Thema zurück und zeigt nach einer kurzen Abschweifung
(514—515b, darüber nachher), daß auch Perikles, auch Themi-
stokles die Bürger, wie das Verhalten des Volkes gegen sie selber
nur zu deutlich zeigt, nicht besser gemacht haben. Sie sind
eben nicht wahre Staatsmänner gewesen, die das Volk lenkten,
seine Begierden zügelten und es zur Tugend erzogen, sie waren
Diener (διάκονοι 517bd 518c) des Volkes, nur bemüht, seine Ge-
lüste zu befriedigen. Sokrates hatte also recht gehabt, sie nicht
mit den Ärzten, die auf die Gesundheit des Leibes hinarbeiten,
auf eine Stufe zu stellen, sondern mit den Köchen wie Thearion
(518b). Und auch der Vergleich der praktischen Redner mit den
von ihnen so verachteten Sophisten (465c) war nur zu berechtigt.
Die einen wie die anderen wären eigentlich berufen, die ihnen
Anvertrauten besser zu machen. Und wenn sie nachher kom-
men und sich über deren Undank beklagen, so ist das nur ein
Zeichen, daß sie tatsächlich diesen Beruf nicht erfüllt haben
(520).
’Eni ποτέραν οὖν με παρακαλεῖς τὴν ϑεραπείαν τῆς πόλεως,
διόρισόν μοι, τὴν τοῦ διαμάχεσθαι ’Admvaioıs ὅπως ὡς βέλτιστοι
ἔσονται, ὡς ἰατρόν, ἢ ὡς διακονήσοντα καὶ πρὸς χάριν δμιλήσοντα;
(521a). Kallikles ist innerlich nicht mehr im Zweifel, aber glaubt
doch Sokrates nochmals warnen zu sollen vor dem Schicksal,
das ihm droht, wenn er des Volkes Gelüsten nicht dient, sondern
entgegentritt. Aber Sokrates schreckt die Warnung nicht. Ge-
wiß, es kann ihm gehen wie dem Arzte, der vor Kindern ver-
klagt würde, daß er ihnen Süßigkeiten verboten und bittre Arz-
nei eingegeben, sie wohl gar operiert habe (521e, vgl. 464d).
Aber wie der Arzt, so wird auch Sokrates dann das Bewußtsein
haben, daß er recht gehandelt und das Eine was not tut erkannt
hat. Er hat die wahre Staatskunst ausgeübt und kann von den
irdischen Richtern, die nur fragen: „Was hat er uns für Lust
verschafft?“ (522b) appellieren an die des Jenseits, die prüfen,
ob der Mensch die Wahrheit gesucht und gut gewesen ist im
Leben wie im Tode’).
1) 526d πειράσομαι τῷ ὄντι ὡς ἂν δύνωμαι βέλτιστος ὧν καὶ ζῆν nal
ἐπειδὰν ἀποϑνήσκω ἀποϑνήσκειν: klingt das nicht wie eine bewußte Korrektur
Der Gorgias stellt den Menschen vor die Wahl zwischen zwei Lebenswegen. 151
Der Aufbau des Gorgias, die allmähliche Erweiterung der
Probleme ist im Gorgias durchsichtiger als im Protagoras, aber
doch verlangt Plato die scharfe Mitarbeit des Lesers, damit er
den Grundgedanken klar durchschaue. Man hat im Altertum dem
Dialog, in dem der Rhetor Gorgias Sokrates’ Partner ist, den
naheliegenden Nebentitel περὶ δητορικῆς gegeben, und noch heute
ist wohl die Anschauung ziemlich allgemein, daß die Kritik der
Rhetorik der eigentliche Zweck des Dialoges sei. Daran ist natür-
lich etwas Richtiges. Plato will zeigen, daß die Berufsrhetorik
eine verkehrte und verwerfliche Richtung der Jugendbildung dar-
stellt. Aber damit ist der eigentliche Zweck des Dialoges nicht
bestimmt. Denn daß hier Plato den Leser vor eine viel wich-
tigere Frage stellen will als die nach dem Nutzen des rhetorischen
Unterrichts, hat hoffentlich unsre Analyse gezeigt. Und es gibt
einen wirklich kompetenten Beurteiler aus dem Altertum, der den
Gorgias auch so aufgefaßt hat. Das ist Aristoteles. Der hat
einen Dialog περὶ ῥητορικῆς geschrieben. Aber daß er ausdrück-
lich von Platos Gorgias ausgegangen ist, wird uns bei einem
andern, dem korinthischen Dialoge, berichtet (fr. 64). Und wenn
Aristoteles dort schilderte, wie die Lektüre des Gorgias einen
einfachen Bauer dermaßen packt, daß er Acker und Weinberg
im Stiche läßt und zu Plato eilt, um die Saat, die der ausstreut,
in seine Seele aufzunehmen, hat er als das Charakteristische des
Gorgias ganz gewiß nicht die Auseinandersetzung mit der Rhe-
torik angesehen, sondern den Hinweis auf das Eine, was allen
Menschen not tut.
Wie Prodikos seinen Herakles®), so stellt auch Plato den
Menschen vor die Wahl, welchen von zwei Lebenswegen er
einschlagen soll’). Auf dem einen winkt die Lust. Von ihr
geblendet jagen die Menschen nach Reichtum und Macht, un-
bekümmert, ob der Weg über Leichen geht, auch über das Wohl
von Prot. 351b: τέ δ᾽ ei ἡδέως βιοὺς τὸν βίον τελευτήσειεν; οὐὖκ εὖ ἄν σοι
δοκεῖ οὕτως βεβιωκέναι;
ἢ Sachlich muß der Gryllos bei der Erörterung, ob die Rhetorik eine τέχνη
sei, natürlich auf den Gorgias Bezug genommen haben. Mehr aber gewiß auf
den Phaidros.
2) Über die Prodikosfabel vgl. Alpers Hercules in bivio Göttingen 1912.
ὃ ἴσως οὖν βέλτιστόν ἐστιν, ὡς ἄρτι ἐγὼ ἐπεχείρησα, διαιρεῖσϑαι, διελο-
μένους δέ... εἰ ἔστι τούτω διττὼ τὼ βίω, σκέψασθϑαι, τί τε διαφέρετον ἀλλή-
Aoıv καὶ ὁπότερον βιωτέον αὐτοῖν 500 ἃ,
152 Gorgias.
der eignen Seele, ob er schließlich im Verderben endet. Der
andre ist der Pfad der Sittlichkeit. Wer ihn geht, hat vielleicht
Schmerzen und Unrecht zu tragen und erfährt Spott und Hohn
dazu, aber sein Leitstern ist das Gute, und der führt ihn sicher,
wahrt ihm im Leben die Gesundheit der Seele und bringt ihm
wohl auch im Jenseits den Lohn. Für den Pfad der Lust braucht
der Mensch kaum einen Führer, da braucht er nur den Allzuvielen
zu folgen, aber schneller wird er vorwärts kommen, auch zum
Verderben, wenn er mit Hülfe der Rhetorik sich Einfluß im
öffentlichen Leben gewinnt. Den Pfad der Sittlichkeit dagegen
finden nur wenige, denen der Blick für die Wahrheit geschärft
ist, sodaß sie das Gute erkennen. Sokrates hat ihn gefunden,
und die berufene Führerin ist die Philosophie. Was aber für
den Einzelnen gilt, das gilt auch für die Gesamtheit; auch sie
hat zu wählen zwischen Sittlichkeit und Lust. Und wer sich
unterfängt das Volk zu leiten, der muß selber den richtigen Weg
eingeschlagen haben und das Volk denselben Weg zu führen ver-
stehen.
Als Plato den Protagoras schrieb, da suchte er nach dem
Guten, weil von dessen Kenntnis der Besitz und die Lehrbarkeit
der Tugend abhing. Er setzte es dort dem ἧδύ gleich. Wenn
er jetzt seine Ansichten änderte und von dem Gegensatz zwischen
Gut und Angenehm ausging, werden wir erwarten, daß er das
Gute anderweitig positiv bestimmte. Tatsächlich findet er es jetzt im
Begriff der Ordnung und Harmonie. Wie des Architekten Bau
nur dann gut ausfällt, wenn alle Teile zueinander passen und
ein harmonisches Ganzes ergeben, wie der Arzt die Gesundheit
des Leibes herstellt, indem er κόσμος und τάξις herstellt, wie
überall durch diese das Gute bedingt wird, so muß auch die Ge-
sundheit der Seele auf Ordnung und Harmonie beruhen (008 6).
Und wer die Gesamtheit zu fördern sucht, der muß auch da die
Zucht und Ordnung herstellen, die allein ein Gemeinschaftsleben
als Widerspiel des großen Weltenkosmos ermöglicht (508a). Auf
der Ordnung und Zucht beruhen aber Gerechtigkeit und die
übrigen Tugenden, sie stellen die Gesundheit der Seele dar (507).
In ihnen muß deshalb auch das Gute für die Seele und den
Menschen gegeben sein.
Daß Plato diese Gedanken von anderen übernimmt, deutet
ἣ
Ἷ
4
;
Das Gute sucht Plato jetzt in der Ordnung. 153
er selber an, wenn er (508a) den Hinweis auf die χοινωνία des
Weltenkosmos mit einer Berufung auf die σοφοί einleitet, und es
bezweifelt niemand, daß er damit dieselben Pythagoreer meint,
die er schon 493 anführt als Leute, die den χόσμιος βίος im
Gegensatz zum ἀκόλαστος des Kallikles preisen‘). Wenn es da-
bei 508a heißt: καὶ τὸ ὅλον τοῦτο διὰ ταῦτα κόσμον καλοῦσιν, ὦ
ἑταῖρε, οὐκ ἀκοσμίαν οὐδὲ ἀκολασίαν, so werden wir direkt auf
Philolaos geführt. Denn seine Fragmente zeigen (Β 1. 2. 6 Diels),
wie viel Wert er auf den Terminus Kosmos legte, und wie er
in ihm die gesetzmäßige, harmonische Ordnung der Welt ausge-
drückt fand’). Grade dieser Begriff war für Plato besonders
geeignet, weil er zwar jede Ordnung bezeichnete, mit Vorliebe
aber vom wohlgeordneten Staatengebilde gebraucht wurde°). Da-
her hat Plato ihm, wie die häufige Anwendung (503 — 504d,
506d — 508a) zeigt, zentrale Bedeutung eingeräumt. Auch den
bei Plato damit verbundenen Terminus τάξις scheint Philolaos
technisch verwendet zu haben (A 16). Daß jedenfalls dieser Ter-
minus an sich bei den Pythagoreern eine Rolle spielte, können
wir aus Aristoxenos’ Schriften über das pythagoreische Lebens-
ideal erweisen. Das ist freilich an sich eine trübe Quelle. Denn
Aristoxenos benützt skrupellos das wenige, was er über altpytha-
goreische Ethik wußte, als Rahmen, den er mit modernen Ge-
danken ausfüllt. Aber als echt pythagoreisch werden wir es nach
dem, was wir sonst über die Pythagoreer wissen, grade gern
betrachten, wenn er berichtet: δεῖν δὲ ἔφασκον εὐθὺς ἐκ παίδων
καὶ τὴν τροφὴν τεταγμένως προσφέρεσθαι, διδάσκοντες ὡς N) μὲν
!) Nur eine Ausnahme kenne ich: Süß, Ethos 105 sieht grade in der Lehre
vom »öowos wieder den Einfluß seines Gorgias, und da dieser p. 508a beim
besten Willen nicht in Betracht kommen kann, so muß wenigstens Gorgias’
Lehrer Empedokles für die Pythagoreer eintreten, an die jeder, der nicht Scheu-
klappen vorhat, hier denken muß. Gorgias Hel. 14 folgt mit seinem ψυχῆς
τάξις selbst pythagoreischer Anschauung. Aber wenn er die Helena beginnt:
κόσμος πόλει μὲν εὐανδρία κτλ., so hat das doch mit dem pythagoreisch-plato-
nischen Sinn des Wortes nicht das geringste zu tun.
2. Nach A16 hat er den Teil des Alls, wo Sonne, Mond und Planeten sich
bewegen, im speziellen Sinn κόσμος genannt.
») Vgl. Hirzel, Dike, Themis und Verwandtes S. 282ff., der mit Recht an-
nimmt, daß das Wort vom menschlichen Leben auf die Natur übertragen wurde.
Im Mythos des Protagoras heißt es 322c: Hermes brachte unter die Menschen
αἰδῶ τε καὶ δίκην, ἵν᾽ εἶεν πόλεων κόσμοι τε καὶ δεσμοὶ φιλίας συναγωγοί.
154 Gorgias.
τάξις καὶ συμμετρία καλὴ καὶ σύμφορος, N δ᾽ ἀταξία καὶ
ἀσυμμετρία αἰσχρά τε καὶ ἀσύμφορος (Diels, Vors.” 284,
1-- 4, dasselbe ausführlicher 288, 1—7) und denselben Begriff
der τάξις, der bei Plato offenbar technisch ist (503e—504d,
506de begegnet er fortwährend; zu der Aristoxenosstelle vgl.
bes. 504a τάξεως ἄρα καὶ κόσμου τυχοῦσα οἰκία χρηστὴ ἂν ein,
ἀταξίας δὲ μοχϑηρά), finden wir als Terminus auch in Aristo-
xenos’ Bericht noch mehrfach wieder 287, 33 und — mit dem
Gegensatz ἀκολασία — 38; 291, 8).
1) Von den σοφοί, also den Pythagoreern, stammt in 508a natürlich auch
der Satz ὅτι ἡ ἰσότης N γεωμετρικὴ nal Ev ϑεοῖς nal Ev ἀνθρώποις μέγα δύ-
ναται. Diese „geometrische Gleichheit“ ist uns ja wohlbekannt aus den politi-
schen Debatten des vierten Jahrhunderts, wo die aristokratischen Theoretiker
ständig dem arithmetischen Gleichheitsprinzip der Demokratie, die nur die
Köpfe zählt und allen, auch den Ungleichen, gleiche Rechte gibt, die „geo-
metrische Gleichheit“ gegenüberstellen, die in der Proportion von Rechten und
Leistungen besteht (Plato Legg. 757 b—c, Rep. 558c, Xen. Kyr.II, 2, 18, Isokrates
Nik. 14, Areop. 21, Aristot. Nik. Eth. 1181} 13, Pol. V, 1; III, 9; VI, 2, Dikaiarch
bei Plut. Quaest. Conv. 719). Daß die Schlagworte aus dem fünften Jahrhundert
stammen, würden wir an sich voraussetzen. Es wird gesichert z. B. durch Thuk.
VI, 38, 5, wo Athenagoras den Aristokraten entgegenhält: Ihr wollt wohl nicht
μετὰ πολλῶν ἱσονομεῖσϑαι; καὶ πῶς δίκαιον τοὺς αὐτοὺς μὴ τῶν αὐτῶν ἀξιοῦ-
σϑαι; Aber überraschend ist es doch zu sehen, wie Plato den Begriff ἐσότης
γεωμετρική mit Bezug auf das politische Gebiet ohne ein Wort der Erläuterung
einführen kann und doch auf sofortiges Verständnis rechnet. Wichtig ist es
aber auch, sich klarzumachen, daß es pythagoreische Staatstheoretiker gewesen
sind — wir werden an Männer wie Hippodamos denken —, die entsprechend
ihrer aristokratischen Tradition der demokratischen Gleichmacherei das Propor-
tionalitätsprinzip entgegengestellt haben. (Die arithmetische und geometrische
Proportion scheidet auch Archytas fr. B2 Diels, und wenn dieser B3 sagt: στά-
σιν μὲν ἔπαυσεν, ὁμόνοιαν δὲ αὔξησεν Λογισμὸς εὑρεϑείς᾽ πλεονεξία τὲ γὰρ
οὐκ ἔστι τούτου γινομένου καὶ ἰσότας ἐστίν, so würde er den Aoyıouös hier und
im folgenden schwerlich so hoch gepriesen haben, hätte er darunter die rein
arithmetische Gleichheit verstanden, nicht die auch bei Plato Legg. 757 als so
schwierig bezeichnete proportionale Abwägung, die zweifellos auch seiner prak-
tischen Politik entsprach. — Zu beachten ist übrigens, daß der Gegensatz von
πλεονεξία — ἰσότης in der Gorgiasstelle wiederkehrt.)
Mit Gorg. 5084 hat nun ganz merkwürdige Ähnlichkeit Euripides’ Phoen.
535—545
κεῖνο κάλλιον, τέκνον,
ἰσότητα τιμᾶν, ἣ φέλους ἀεὶ φίλοις
πόλεις τε πόλεσι συμμάχους τε συμμάχοις"
συνδεῖ" τὸ γὰρ ἴσον μόνιμον ἀνϑρώποις ἔφυ,
τῷ πλέονι δ᾽ αἰεὶ πολέμιον καϑίσταται
Einfluß der Pythagoreer. 155
Hier haben wir also den deutlichen Beweis, wie Plato ın
dem Bestreben, die sokratische Philosophie mit positivem Inhalt
zu füllen, dazu geführt wird, ein andres System zu studieren
τοὔλασσον ἐχϑρᾶς # ἡμέρας κατάρχεται.
καὶ γὰρ μέτρ᾽ ἀνϑρώποισι καὶ μέρη σταϑμῶν
ἰσότης ἔταξε κἀριϑμὸν διώρισε,
νυκτός τ᾽ ἀφεγγὲς βλέφαρον ἡλίου τε φῶς
ἴσον βαδίζει τὸν ἐνιαύσιον κύκλον,
κοὐδέτερον αὐτῶν φϑόνον ἔχει νικώμενον.
Namentlich kann es kein Zufall sein, daß beide Male die Analogie mit dem
Weltall gezogen wird. Daß bei Euripides Einfluß von Seiten der Pythagoreer
vorliegt, hatte schon Dümmler, Kl. Schriften I, S. 160 (vgl. auch 8. 199 1.) an-
genommen. Wenn wir den Gorgias heranziehen, werden wir genauer sagen
dürfen: Die Pythagoreer beriefen sich für ihre aristokratische Staatsordnung
auf die Ordnung der Welt und lasen aus ihr die geometrische Gleichheit heraus.
Gegen sie polemisierte der Sophist, dem Euripides folgt — oder war er es selber?
— und änderte ihre Deutung in demokratischem Sinne um.
Bei Plut. Quaest. Conv. VII, 2, 2 will Florus die Frage, πῶς Πλάτων ἔλεγε
τὸν ϑεὸν ἀεὶ γεωμετρεῖν, dem Spartaner Tyndares gegenüber so beantworten:
ὅρα μή τι σοὶ προσῆκον ὁ ]Π] λάτων nal οἰκεῖον αἰνιττόμενος λέληϑεν, ἅτε δὴ
τῷ Σωκράτει τὸν Λυκοῦργον ἀναμιγνὺς οὐχ ἧττον ἢ τὸν Πυϑαγόραν, (ὡς Gero
Δικαίαρχος. ὁ γὰρ Λυκοῦργος οἶσϑα δήπουϑεν ὅτι τὴν ἀριϑμητικὴν ἀναλογίαν
ὡς δημοκρατικὴν καὶ ὀχλικὴν οὖσαν ἐξέβαλεν ἐκ τῆς Λακεδαίμονος, ἐπεισήγαγε
δὲ τὴν γεωμετρικήν, ὀλιγαρχίᾳ σώφρονι καὶ βασιλείᾳ νομέμῳ πρέπουσαν ἣ
μὲν γὰρ ἀριϑμῷ τὸ ἴσον ἡ δὲ λόγῳ τὸ κατ᾽ ἀξίαν ἀπονέμει... ταύτην ὁ ϑεὸς
ἐπάγει τὴν ἀναλογίαν τοῖς πράγμασι... διδάσκουσαν ἡμᾶς τὸ δίκαιον ἴσον,
ἀλλὰ μὴ τὸ ἴσον δεῖν ποιεῖσϑαι δίκαιον. Hier finden wir also die geometrische
Gleichheit als Prinzip der Gerechtigkeit, das sowohl göttlich ist, d.h. in der
ganzen Welt gilt, wie speziell für die aristokratische Staatsform, deren Urbild Sparta
ist. Auf Dikaiarch geht dabei doch wohl der ganze Gedanke zurück, daß Plato
dieses Prinzip aus der spartanischen Verfassung ebenso gut wie aus der pytha-
goreischen Theorie in die Sokratik übernommen habe. Die Übernahme aus dem
Pythagoreismus war also für Dikaiarch anerkannt, und er betonte den sparta-
nischen Einfluß. (Die lykurgische Verfassung als Typus der idealen gemischten
Staatsform treffen wir wieder bei Polyb. VI, 3 und 10, wo gewiß, wie jetzt auch
Laqueur in seinem Polybius richtig annimmt, Dikaiarch zu grunde liegt. Leider
hat Laqueur für c. 5—9 an dem Einfluß des Panaitios festgehalten, obwohl nur
ein paar Termini aus der Stoa stammen, während die Grundanschauung über
die Entstehung des Staates und der sittlichen Begriffe so unstoisch wie möglich
ist.) Daß bei diesen Erörterungen unsre Gorgiasstelle eine Rolle gespielt hat,
ist anzunehmen. Doch hat man gewiß auch an die „geometrische“ Gliederung
des Idealstaates gedacht.
Zum Ganzen vgl. Hirzels ausführliche Darlegungen in „Dike, Themis und
Verwandtes“, der auch 5. 277 die geometrische Gleichheit von den Pythagoreern
ableitet.
156 Gorgias.
und für sich nutzbar zu machen). Man hat nicht den Eindruck,
daß ihm die Verschmelzung der Gedanken schon voll gelungen
ist‘). Denn der fortwährende, fast ermüdende Gebrauch der Ter-
mini τάξις und κόσμος in den entscheidenden Partien 503e—504d,
506 d—508a kann doch darüber nicht hinwegtäuschen, daß wir keine
konkrete Vorstellung davon bekommen, wieso denn die Selbst-
beherrschung und überhaupt die Tugend der Seele auf dieser
Ordnung beruht. Unwillkürlich denkt man p. 506. 7. daran, wie
Plato später diese Gedanken fruchtbar gemacht hat. Denn die
ganze Parallele von Staat und Individuum und die Über-
zeugung, daß das Gute für den Menschen in der Ge-
rechtigkeit, diese selber in dem geordneten und harmo-
nischen Zustande der Seele gegeben ist, liegt im Keime
schon in dieser Gorgiasstelle vor. Aber hier ist die
τάξις der Seele noch keine konkrete Vorstellung, weil
die Scheidung verschiedener Vermögen innerhalb der
Seele, weil überhaupt eine psychologische Theorie noch
fehlt’). Wir könnten eine solche grade hier erwarten, weil
Plato jetzt im Gegensatz zum Protagoras (vgl. S. 146) zwei ver-
schiedene Zielpunkte des menschlichen Strebens anerkennt. An
einer Stelle scheinen wir auch unmittelbar vor dieser Folgerung
zu stehen. Im Protagoras hatte Plato im Gegensatz zu den
πολλοί ausgeführt 358e: οὐδὲ τὸ ἥττω εἶναι αὑτοῦ ἄλλο τι τοῦτ᾽
ἐστὶν ἢ ἀμαϑία οὐδὲ κρείττω ἑαυτοῦ ἄλλο τι ἢ σοφία. Im Gor-
gias kommt Sokrates 491 ἃ ausdrücklich auf diesen Begriff zurück
und erklärt jetzt seine Übereinstimmung mit den πολλοί. Er ver-
langt nämlich vom Menschen hier auch die Herrschaft über sich
1) Zu den neuen Elementen gehört natürlich auch der Vergeltungsglaube,
den Plato als nicht beweisbar in Form des Mythos bringt.
8) Ganz anders freilich Natorp, Platos Ideenlehre S. 48ff., nach dem Plato
in den Anschauungen des Phaidros schon lebt und sie nur noch nicht ganz offen
aussprechen mag. Für Natorp ist auch die Gleichsetzung des Guten mit dem
Gesetz in strenger Konsequenz der Entwicklung aus der Sokratik erwachsen.
8) Völlig haltlos ist es, wenn Barwick, Comm. Jen. X. p. 31 auf den Gor-
gias die Dreiteilung der Seele aus dem Staate zurückdatiert. Man muß sich doch
klarhalten, daß diese Psychologie für Platos Zeitgenossen etwas ganz Neues ge-
wesen ist. Hätte er also schon im Gorgias den Kosmos der Seele auf die Ver-
schiedenheit ihrer Teile basiert, so mußte er doch das in einer Form aussprechen,
die seinen Lesern verständlich war. Davon ist aber an der von Barwick an-
geführten Stelle 506 keine Rede.
Die τάξις der Seele ist noch nicht auf die Dreiteilung basiert. 157
selbst, und auf Kallıkles’ Frage πῶς ἑαυτοῦ ἄρχοντα λέγεις ; gibt
er die Erläuterung: οὐδὲν ποικίλον, ἀλλ: ὥσπερ οἱ πολλοί.
σώφρονα ὄντα καὶ ἐγκρατῆ αὐτὸν Eavrod, τῶν ἣδονῶν καὶ ἐπι-
ϑυμιῶν ἄρχοντα τῶν ἐν ἑαυτῷ. Aber die Zeit ist noch fern,
wo Plato die wirkliche Folgerung aus der Annäherung an die
πολλοί zieht. Im Staate sagt er 4806 mit deutlichem Bezug auf
die Gorgiasstelle: Κόσμος πού τις ἣ σωφροσύνη ἐστὶν καὶ ἡδονῶν
τίνων καὶ ἐπιϑυμιῶν ἐγκράτεια, ὥς φασι, κρείττω δὴ αὑτοῦ ἀπο-
φαίνοντες οὐκ old ὅντινα τρόπον. An sich ist dieser Ausdruck,
heißt es dort weiter, unsinnig, denn ein Individuum, das xeeir-
των αὑτοῦ wäre, müßte auch ἥττων αὑτοῦ sein, ἀλλὰ φαίνεταί
μοι βούλεσθαι λέγειν οὗτος ὃ λόγος ὥς τι ἔν αὐτῷ τῷ ἀνθρώπῳ
περὶ τὴν ψυχὴν τὸ μὲν βέλτιον ἔνι τὸ δὲ χεῖρον, καὶ ὅταν μὲν τὸ
βέλτιον φύσει τοῦ χείρονος ἐγκρατὲς ἧ, τοῦτο λέγειν τὸ κρείττω
αὑτοῦ, und daran wird dort die Scheidung der Seelenvermögen
angeknüpft, die durch den Widerstreit der Bestrebungen be-
gründet wird. Im Gorgias dagegen ist von einer Verschieden-
heit der Seelenvermögen noch nichts zu spüren. Unwillkürlich
stellt Plato freilich die Begierden in einen Gegensatz zum In-
tellekt, der im Menschen herrschen soll, ja in dem Berichte über
die pythagoreische Lehre gebraucht er zweimal den Ausdruck
τῆς δὲ ψυχῆς τοῦτο ἐν ᾧ ai ἐπιϑυμίαι εἰσί 493ab)'), aber sein
Interesse ist durchaus nur auf das ethisch Wichtige gerichtet,
und zu einer wirklichen psychologischen Theorie kommt es so
wenig wie bei Xenophon, der ständig von den διὰ τοῦ σώματος
höovai spricht?). Daß der Intellekt allein das Handeln bestimmt,
und der Mensch, der das Gerechte weiß, ohne weiteres gerecht
ist, steht für Plato hier so fest wie im Protagoras (p. 460), und
wenn auch die Einheitlichkeit der Tugend und ihre Definition als
ἐπιστήμη ἀγαϑῶν nicht ausdrücklich wiederholt wird, so läßt
Plato doch mit Absicht den Kallikles p. 495 c aussprechen, er be-
1 Barwick, der hier wieder Platos Dreiteilung der Seele findet ($. 30), hätte
mindestens doch in Betracht ziehen müssen, daß Plato hier ausdrücklich sagt,
er referiere eine fremde Lehre.
A)#Mem.'T, Srexte./ II, 6, 5. IV, 5, 3.11: ‘Hell. IV, 8, 22. VI, 1, 16. Vgl.
Mem. 1, 2, 23 ἐν γὰρ τῷ αὐτῷ σώματι συμπεφυτευμέναι τῇ ψυχῇ πείϑουσιν
αὐτὴν μὴ σωφρονεῖν. Nur Hieron 1, 4. 5 scheidet er plötzlich reine psychische
Freuden von denen, die aus der Gemeinschaft mit dem Leibe entstehen. — Stob.
ΠῚ, 17, 27: Σωκράτης ἐγκράτειαν τὸ κρατεῖν τῆς ἐν τῷ σώματι ἡδονῆς ἔφη. —
Über ähnliche Wendungen in Platos Phaidon nachher.
1598 Gorgias.
trachte Tapferkeit und Wissen als verschiedene Dinge, und zeigt
dem gegenüber durch Sokrates’ Mund (p. 507), daß der σώφρων
auch δίκαιος ὅσιος ἀνδρεῖος sein müsse ; und wenn dort die σωφροσύνη
davon abgeleitet wird, daß man das eine Ziel, das Gute, ins
Auge faßt und verfolgt, so ist eben die ἐπιστήμη τοῦ ἀγαϑοῦ
die Grundlage der Tugend ὃ.
So macht sich hier eine gewisse Unausgeglichenheit geltend.
Besonders empfinden wir die, wenn wir nun fragen, wie denn
die Tugend, die Ordnung in der Seele hervorgerufen werden
sol. Grade diese Frage liegt Plato hier ebenso am Herzen wie
im Protagoras. Ja, sie hat noch größere Bedeutung gewonnen.
Denn der große Unterschied zwischen beiden Dialogen liegt
darin: Im Protagoras denkt Sokrates nur an die Förde-
rung, die sittliche Erziehung des Einzelnen, im Gorgias
an die der Gesamtheit des Volkes (ὅπως οἱ πολῖται ὡς
βέλτιστοι ἔσονται 502e 513e δίδο 520a 521a und überall im
letzten Teil). Darum geht er bei der Scheidung der Künste von
der Staatskunst aus, die das öffentliche Leben regelt, indem sie
als νομοϑετική ihm Normen gibt und als δικαστική ἡ die verletzte
Norm wiederherstellt. Praktisch ist diese Staatskunst freilich
meist verdrängt durch ihr Zerrbild, die δητορική, die praktische
1) Wie es scheint, will freilich Plato nicht mehr die Identität, sondern nur
die Untrennbarkeit der Tugenden behaupten, wenn er sagt περὶ μὲν ἀνθρώπους
τὰ προσήκοντα πράττων δίκαι᾽ ἂν πράττοι περὶ δὲ ϑεοὺς ὅσια und bei der Tapfer-
keit das ὑπομένοντα καρτερεῖν hervorhebt (0017 Ὁ). Es schwebt ihm also wie
Zenon und Chrysipp vor, daß die Tugend einheitlich ist, sofern sie auf einheit-
licher Erkenntnis beruht, daß man aber nach den Sphären der Betätigung zu
differenzieren habe.
2) So 464be F und die Proll. zu Aristides, also eine antike Überlieferung.
Wer die Lesart δικαιοσύνη vorzieht, müßte doch folgerichtig auch in der Re-
kapitulation 520b τῇ δὲ ἀληϑείᾳ κάλλιόν ἐστιν σοφιστικὴ δητορικῆς ὅσῳπερ
νομοϑετικὴ δικαστικῆς καὶ γυμναστικὴ ἰατρικῆς sie herstellen. Aber auch die
Analogie von Einzelseele und Staat, die Plato im ganzen Dialoge sucht, spricht
dagegen, daß er δικαιοσύνη hier im speziellen Sinn von Rechtspflege, also ganz
anders als 507d gebraucht habe. (Die Stelle Rep. 332d durfte Sauppe nicht als
Parallele anführen, da dort δικαιοσύνη nicht Rechtspflege bedeutet.) στρατηγέα
καὶ διπαστικὴ καὶ ὅση βασιλικῇ κοινωνοῦσα dnrogela πείϑουσα τὸ δίκαιον συν-
διακυβερνᾷ τὰς ἐν ταῖς πόλεσι πράξεις erscheinen Pol. 303eff., wo vieles an den
Gorgias erinnert, als die Dienerinnen der πολιτική, die allein Ziele zu weisen
vermag. Legg. 937e, wo Plato auf den Gorgias ausdrücklich zurückgreift, ist
die Rhetorik die Kunst τοῦ re δικάσασϑαι καὶ συνδικεῖν ἄλλῳ.
Die Förderung der Gesamtheit Ziel der Philosophie. 159
Beredsamkeit der sogenannten Staatsmänner. Aber wenn sich
nun zeigt, daß selbst ein Perikles und Kimon das Gute des
Volkes nicht ins Auge gefaßt, sondern nur seinen Lüsten gedient
haben, so ergibt sich für den wahren Freund des Volkes als
höchste Aufgabe, die ideale Staatskunst zu verwirklichen und die
Gesamtheit besser zu machen. Lösen kann diese Aufgabe nur,
wer selbst den rechten Weg gefunden und das Gute erkannt
hat, der Philosoph. Sokrates hat sie in Angriff genommen und
tatsächlich kann es für den Philosophen kein höheres Ziel geben
als dieses, die sittliche Hebung des Volkes.
Diese Gedanken treten am deutlichsten im letzten Teile her-
vor, aber tatsächlich ist der ganze Dialog, besonders die Ein-
teilung der Künste auf sie angelegt. Eins kann uns vielleicht
dabei auffallen. Sokrates sagt von sich 521d: οἶμαι μετ᾽ ὀλίγων
᾿Αϑηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν τῇ ὡς ἀληϑῶς πολιτικῇ
τέχνῃ καὶ πράττειν τὰ πολιτικὰ μόνος τῶν νῦν. Kann er das
wirklich sagen, wo er nie unmittelbaren Einfluß auf die Gesamt-
heit gesucht hat? Kann er sich wirklich in Parallele mit Perikles
stellen, wie wir es doch nach dem Dialoge tun müssen, wie es
besonders die Scheidung der Künste verlangt? Ich glaube, daß
hier tätsächlich eine Unebenheit vorliegt. Aber deutlich ist auch,
daß sie Plato nicht vermeiden konnte. Das System der Künste
verlangt, daß eine Staatskunst, die unmittelbar ins Leben des
Volkes eingreift, an der Spitze steht. Aber die hatte in Wirk-
lichkeit Sokrates, dem Plato sie in den Mund legt, nicht geübt.
Der hatte die ersten Schritte getan, aber richtig konnte sich das
Ziel erst stecken, wer zu einem weiteren Ausblick gelangt war.
Das war Plato.
Plato hatte es sich in der Apologie 39b gelobt, das Werk
des Meisters fortzusetzen, das Gewissen Athens zu sein. Aber
bald genug mag für ihn der Augenblick gekommen sein, wo er
sich sagte, daß seiner Natur, seiner Stellung es näher lag, die
sokratischen Ideale auf anderen Wegen zu verfolgen als Sokrates
selber. Für ihn, den Angehörigen der ersten Familien Athens,
den Verwandten des Kritias, war es selbstverständlich, daß er an
die politische Laufbahn dachte, und durch den siebenten Brief
wissen wir, wie lange die Beteiligung an der praktischen Politik
sein Herzenswunsch war. So ergab sich für ihn im Gegensatz
zu Sokrates bald das Ziel, das öffentliche Leben Athens unmittel-
160 Gorgias.
bar zu beeinflussen. Natürlich aber als Schüler des Sokrates.
Praktische Politik bedeutete für ihn die sittliche Förderung des Volkes.
Aber bald mußte ihm auch die unendliche Schwierigkeit der
Aufgabe klar werden. Als er den Protagoras schrieb, da konnte
es dem siegesfrohen Stürmer noch leicht erscheinen, die πολλοί
auf den richtigen Weg zu lenken. Brauchte man ihnen doch nur
zu zeigen, daß das sittliche Handeln die höchste Lust bringe.
Aber im Gorgias stellte sich die Aufgabe anders. Konnte er denn
hoffen, die Athener zu dem Ideale von Zucht und Ordnung zu
bekehren? Mußte er nicht darauf gefaßt sein, daß man ihm zu-
rief: τρυφὴ καὶ ἀκολασία καὶ ἐλευϑερία, ἐὰν ἐπικουρίαν ἔχῃ, τοῦτ᾽
ἐστὶν ἀρετή τε καὶ εὐδαιμονία, τὰ δὲ ἄλλα ταῦτ᾽ ἐστὶ φλυαρία καὶ
οὐδενὸς ἄξια (4920) Ὁ 4 wenn er nun etwa trotzdem daran
ging, ihnen von Gerechtigkeit zu reden und ihre Begierden zu
zügeln, was mußte der Erfolg sein? Das Los des Sokrates, und
das bedeutete im eignen Falle eine zwecklose Aufopferung. Oder
sollte er es so machen wie mancher andre vor ihm, sich dem
Willen des Volkes anbequemen, um dadurch dann Einfluß zu ge-
winnen? Aber das hieß die Rolle des Schmeichlers spielen, in
die Ungerechtigkeiten der Menge sich verstricken und schließlich
doch nichts andres erreichen, als daß man, wie selbst der große
Perikles, ein Sklave des Herrn Demos wurde.
Der wahre Staatsmann darf sich nicht dazu erniedrigen, nur
den Wünschen des Volkes zu gehorchen und seine Gelüste zu
befriedigen. Er muß es verstehen, dessen Neigungen zu
zügeln und zum Guten zu leiten, sei es auf gütlichem Wege, sei
es mit Zwang'), sogut wie der Arzt auch nicht dem Willen des
Menschen nachgibt, sondern ihm seine Diät vorschreibt. Wie
die Medizin, so kann auch die Staatskunst nur da wirken, wo sie
herrscht. Der Staatsmann darf nicht διάκονος, er muß προστάτης,
ja δεσπότης sein. Das spricht mit aller Bestimmtheit Plato in dem
entscheidenden Abschnitt 517—519 aus’). Schon vorher hat er
1 517b ἀλλὰ γὰρ μεταβιβάζειν τὰς ἐπιϑυμίας καὶ μὴ ἐπιτρέπειν, πεί-
ϑόοντες καὶ βιαζόμενοι ἐπὶ τοῦτο ὅϑεν ἔμελλον ἀμείνους ἔσεσϑαι οἱ πολῖται,
ὡς ἔπος εἰπεῖν οὐδὲν τούτων διέφερον ἐκεῖνοι, ὅπερ μόνον ἔργον ἐστὴν ἀγαϑοῦ
πολέτου.
5) Interessant ist, wie grade dieser Punkt noch später Beachtung ge-
funden hat. Bei Aristides ὑπὲρ τῶν τεττάρων kommt, die Apologie der Staats-
männer immer wieder auf den Nachweis zurück, sie seien nicht διάκονοι des
Volkes gewesen, z. B. II p. 165. 204. 215. 245. 251D.
Die Herrschaft der Philosophen schon im Gorgias das Ideal. 161
bedeutsam gesagt, wer sich vor dem Unrechtleiden schützen
wolle, von dem gelte: ἢ αὐτὸν ἄρχειν δεῖν ἐν τῇ πόλει ἢ καὶ τυ-
oavveiv ἢ τῆς ὑπαρχούσης πολιτείας ἑταῖρον εἶναι (5104), und da
der zweite Weg ohne sittlichen Schaden nicht gangbhar ist, so
bleibt nur das Herrschen übrig.
Was will Plato damit sagen? Das Leben der Gesamtheit
kann nur gesunden, wenn an die Stelle der heutigen
Staatsmänner Leute treten, die wie der Arzt für die Ge-
sundheit sorgen und das Leben des Volkes nach einem
einheitlichen Ziele, dem Guten, regeln. Dazu sind nur
die Philosophen fähig, und andrerseits gibt es für diese
keine höhere Aufgabe als die sittliche Förderung der
Gesamtheit (ὡς βελτίστους ποιεῖν τοὺς πολίτας). Er-
füllen kann die Philosophie diese nicht durch Betei-
ligung an der gegenwärtigen praktischen Politik, son-
dern nur, wo sie selbst die Herrschaft hat. Kurz ausge-
drückt: Auf Gesundung der politischen Verhältnisse ist
erst zu hoffen, wenn die Philosophen den maßgebenden
Einfluß im Staate haben.
Im siebenten Briefe spricht Plato davon, wie er lange an die
Beteiligung an der praktischen Politik gedacht habe, schließlich
habe er aber eingesehen, daß die gegenwärtigen Staaten unheil-
bar verderbt seien, und so sei er — noch vor der sizilischen
Reise — dazu gekommen auszusprechen, ἐπαινῶν τὴν ὀρϑὴν
φιλοσοφίων, ὡς ἐκ ταύτης ἔστιν τά τε πολιτικὰ δίκαια καὶ τὰ τῶν
ἰδιωτῶν πάντα κατιδεῖν, κακῶν οὖν οὐ λήξειν τὰ ἀνθρώπινα γένη,
πρὶν ἂν ἢ τὸ τῶν φιλοσοφούντων ὀρϑῶς γε καὶ ἀληϑῶς γένος
εἰς ἀρχὰς ἔλϑῃ τὰς πολιτικὰς ἢ τὸ τῶν δυναστευόντων ἐν ταῖς
πόλεσιν ἔκ τινος μοίρας ϑείας ὄντως φιλοσοφήσῃ (326b)'). Ob
Plato die Formulierung, die wir Rep. 473d lesen, wirklich schon
vor der sizilischen Reise gefunden hat, mag man bezweifeln.
Aber der Gedanke ist im Grunde schon im Gorgias vorhanden.
Der Verzicht auf die praktische Politik verlangt als Gegenstück
die Herrschaft der Philosophie. Das Ziel ist in jedem Falle die
1) Zu den letzten Worten vergleiche man, wie Plato im Mythos des Gor-
gias davon spricht, daß die politische Macht eine Lockung zur Ungerechtigkeit
bedeute. οὐδὲν μὴν κωλύει καὶ Ev τούτοις ἀγαϑοὺς ἄνδρας ἐγγίγνεσθαι... ὁλί-
yoı δὲ γίγνονται οἱ τοιοῦτοι, zZ. Β. Aristeides (626).
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 11
162 Gorgias.
sittliche Reformation des Volkes, wie sie die wahre Staatskunst
zu erstreben hat.
Aber mit keinem Worte deutet Plato im Gorgias an, daß er
eine Möglichkeit sieht, dieses Ziel zu erreichen. Man hat das
Gefühl: Mit der Erkenntnis der Höhe des Zieles war zugleich der
Zweifel, wenn nicht die Verzweiflung an der Erreichbarkeit ge-
kommen. Sollen wir nicht grade damit die trübe Bitterkeit des
Gorgias erklären im Gegensatz zur frohen Siegeszuversicht des
Protagoras? Wenn man liest, wie Plato hier selbst einen Kimon,
einen Perikles zu Schmeichlern degradiert, wie er der Tragödie
vorwirft, daß sie an die niederen Instinkte appelliert, wie er in
der Verehrung seines Volkes für seine große Zeit nur Götzen-
dienst sieht, so hat man doch die Empfindung, daß er sich ge-
waltsam die Ideale aus der Brust reißt, an denen er mit heißem
Herzen gehangen. So spricht, wer lange sich mit festen Plänen
getragen hat, aber endlich zur Erkenntnis gekommen ist, daß er
auf falschem Wege war, und nun alle Brücken hinter sich ab-
bricht, um unbeirrt den neuen, den richtigen Weg zu gehen.
Und wenn nun dieser neue Weg zwar der einzig mögliche war,
aber noch keine Sicherheit, ja kaum eine Hoffnung bot, das Ziel
zu erreichen, dann können wir es wohl verstehen, daß trüber
Ernst und Bitterkeit den Grundton des Dialogs bildet.
Manches läßt sich denken, was diese Stimmung noch ver-
schärfen konnte. Wir mögen uns vorstellen, wie seine Ver-
wandten und Standesgenossen ihm vorhielten, daß er dazu be-
rufen sei, an der verrotteten Demokratie den Tod des Kritias und
Charmides zu rächen, und wie sie es nicht verstehen konnten,
daß er diesen Weg nicht gehen mochte. Wir mögen an die an-
dern Hemmnisse denken, die einem jungen Aristokraten in den
Weg traten, wenn er mit der Philosophie Ernst machte (Rep.
494). Aber wichtiger war gewiß der innere Zweifel. Plato
schwebte vor, der Reformator seines Volkes zu werden. Aber
war er denn wirklich dazu berufen? Besaß er denn selber die
Kenntnis des Guten, die der wahre Staatsmann haben mußte,
die schon nach dem Protagoras die Voraussetzung jeder sitt-
lichen Einwirkung war? Konnte sich nicht die Gleichsetzung
des Guten mit der Gesetzmäßigkeit und Ordnung als ebenso
trügerisch erweisen wie die mit dem Angenehmen? War wirk-
lich diese Theorie schon unumstößlich fundamentiert? Und wenn
Woher die trübe Stimmung im Gorgias? 163
er selbst im Protagoras deshalb Zweifel an der Lehrbarkeit der
Tugend geäußert hatte, weil praktisch von Lehrerfolgen so wenig
zu sehen war, galt das nicht auch gegenüber der eigenen Lehr-
fähigkeit?
Daß solche Bedenken ihn gequält haben, daß er geradezu
zeitweilig an der Möglichkeit des Wissens und Lehrens gezweifelt
haben muß, werden wir bald noch sehen. Hier sei auf eine
Stelle des Gorgias hingewiesen, die wir bisher übergangen haben,
weil sie für den Zusammenhang entbehrlich ist‘), die aber grade
darum innerlich von Bedeutung für die Erkenntnis von Platos
Entwicklung ist. Im Laches (186. 7.) hatte Sokrates erklärt, ehe
man es wagen dürfe, die Erziehung eines jungen Menschen zu
übernehmen, müsse man den Befähigungsnachweis erbringen,
müsse zeigen, daß man die Erziehungskunst von einem tüchtigen
Lehrer erlernt oder selbst schon Erfolge in der Erziehung erzielt
habe. Denselben Gedanken finden wir unter wörtlichen An-
klängen an den Laches’) im Gorgias 514. 515 so gewandt, daß
man, ehe man das Volk zu bessern unternehme, den Nachweis
der Befähigung im kleinen Kreise erbringen müsse. Das lehrt
uns doch wohl nicht bloß, daß Plato sich der Schwierigkeit und
Verantwortung voll bewußt gewesen ist; es zeigt uns auch, daß
Plato, während er den Gorgias schreibt, sich vornimmt, im klei-
nen Kreise zu wirken. Mit andern Worten, mochten auch seine
Standesgenossen über die Leute spotten, die in irgend einem
Winkel mit drei bis vier jungen Leuten hocken und disputieren
(485d), Plato ist entschlossen, einen solchen Kreis um sich zu
1) Niemand würde etwas vermissen, wenn auf die erneute Scheidung der
wahren und falschen Staatskunst (513e) sofort der Nachweis folgte, daß auch
Kimon und Perikles nur die falsche gepflegt haben (5l5c). — Sehr auffallend
ist, daß 5l5a es von Kallikles heißt, daß er eben anfängt. sich mit Politik zu
beschäftigen. Das pflegt doch der Athener, wenn nicht grade wie Glaukon mit
20 Jahren, so doch jedenfalls nicht viel später zu tun. Kallikles, den Wirt des
Gorgias, den Liebhaber eines νεανίας (481 6), wird man sich aber im ganzen Ge-
spräch sonst als gereiften Mann vorstellen. Nicht Kallikles, sondern Plato selber
steht in dem Alter, wo die politische Tätigkeit zu beginnen pflegt.
3) Ich führe nur eins an. Laches 187b heißt es: ei νῦν πρῶτον ἄρξεσϑε
παιδεύειν, σκοπεῖν χρὴ μὴ ... ἀτεχνῶς τὸ λεγόμενον κατὰ τὴν παροιμίαν
ὑμῖν συμβαίνῃ ἐν πέϑῳ ἡ κεραμεία γιγνομένη, Gorg. 5146 ὥστε πρὶν ... γυμ-
νάσασϑαι ἱκανῶς τὴν τέχνην, τὸ λεγόμενον δὴ τοῦτο ἐν τῷ πέϑῳ τὴν neganelav
ἐπιχειρεῖν uavddvew,
11Ὲ
164 Gorgias.
versammeln, auf den er durch φιλοσοφία einwirken will. Es ist
ein bescheidener Anfang, an den wir zu denken haben, von einer
geschlossenen Schule noch keine Rede, und der Ton, in dem
Plato von diesen Absichten spricht, ist sehr verschieden von der
selbstbewußten Rede des Phaidros. Wichtiger noch ist aber die
Auffassung der Lehrtätigkeit, die uns hier entgegentritt: Von
dem freudigen Stolze, mit dem später das Haupt der Akademie
von dieser redet, ist noch nichts zu spüren. Die Lehrtätigkeit
ist hier nur das Provisorium, bis das Feld für die größere Aufgabe
frei wird. Wir dürfen wohl noch schärfer sagen: sie ist die
Resignation des Philosophen, der vorläufig auf seine höchste Auf-
gabe, die Reformation des Volkes, verzichten muß.
Der Gorgias ist durch so viel Fäden mit dem Protagoras
verknüpft, ist eine so deutliche Berichtigung dieses Dialoges, daß
man schwerlich fehlgehen wird, wenn man annimmt, daß er die
erste oder jedenfalls eine der ersten Schriften gewesen ist, die
auf den Protagoras folgte. Andrerseits ist der Unterschied in
Stimmung und Anschauung so groß, daß man zwischen beiden
Dialogen eine längere Pause annehmen muß').
Beim Gorgias haben wir auch einen Anhalt für die absolute
Bestimmung der Abfassungszeit. Denn daß zwischen ihm und
Polykrates’ 393 oder 392 abgefaßter Anklagerede gegen Sokrates
Beziehungen bestehen, hat Gercke vortrefflich dargetan°). Daß
1) Von der Ideenlehre ist noch keine Spur vorhanden. 503e heißt es freilich:
ὥσπερ καὶ οἱ ἄλλοι δημιουργοὶ πρὸς τὸ αὑτῶν ἔργον ἕκαστος οὐκ elnn Ende-
γόμενος προσφέρει ἃ προσφέρει πρὸς τὸ ἔργον τὸ αὑτοῦ, ἀλλ᾽ ὅπως ἂν εἶδός
τι αὐτῷ σχῇ τοῦτο ὃ ἐργάζεται" οἷον εἰ βούλει ἰδεῖν τοὺς ζωγράφους κτλ. Aber
wenn das Ideenlehre ist, so hat die auch Empedokles (Β 28)
ὡς δ᾽ ὁπόταν γραφέες ἀναϑήματα ποικίλλωσιν
ἀνέρες ἀμφὶ τέχνης ὑπὸ μήτιος εὖ δεδαῶτες,
οἵτ᾽ ἐπεὶ οὖν μάρψωσι πολύχροα φάρμακα χερσίν,
ἁρμονέῃ μείξαντε τὰ μὲν πλέω ἄλλα δ᾽ ἐλάσσω,
ἔκ τῶν εἴδεα πᾶσιν ἀλίγκια πορσύνουσι
(vgl. B22, 7). Im übrigen genügt es jetzt wohl, auf Th. Gomperz Apologie der
Heilkunst! S. 107 ff. zu verweisen.
2) Einleitung zur Ausgabe des Gorgias XLIIIf. Von Späteren vgl. be-
sonders Markowski, de Libanio Socratis defensore, Bresl. Abh., 40. Heft,
1910. — Das in die Form eines vaticinium gekleidete Kompliment des
Polykrates, Konon und Thrasybul würden Athens Seeherrschaft wieder auf-
richten und ihm seine Mauern wiedergeben (D. L. II, 39 ef. Lib. ap. Socr. 160), ist
Verhältnis des Gorgias zu Polykrates’ Anklage gegen Sokrates. 165
freilich der Gorgias die Antwort auf Polykrates’ Broschüre dar-
stelle, kann ich mindestens nicht als erwiesen betrachten. Man
muß sich zunächst gegenwärtig halten: Polykrates hat gewiß
nicht so sehr durch die Originalität seiner Gedanken gewirkt, als
durch das Geschick, mit dem er die längst bekannten Vorwürfe
gegen Sokrates und die Sokratiker literarisch darstelltee Wenn
er z. B. Sokrates vorwarf, sein Schüler Alkıbiades habe Athen
ruiniert, so ist neu daran doch nur, daß Alkibiades ausdrücklich
als Schüler des Sokrates bezeichnet wurde (Isokr. Bus. 5). Denn
daß dieser mit Sokrates in nahem Verkehr gestanden hatte, war
natürlich bekannt und von Plato im Protagoras unbefangen vor-
ausgesetzt. Im Gorgias führt ihn Plato p. 481d zweifellos nur
ein, weil er nachher (519a) hervorheben will, Alkibiades trage
verhältnismäßig weniger als die alten Staatsmänner Schuld an
Athens Unglück. Er will also Alkibiades verteidigen gegen An-
griffe, wie wir sie bei Lys. 14 lesen. Aber jede Beziehung auf
die Neuerung des Polykrates fehlt. — Die ganze Schilderung der
alten Staatsmänner als Schmeichler ohne Verdienste kann eine
Antwort auf Polykrates’ Lob der unphilosophischen Praktiker sein
(Lib. ap. Soer. 155). Aber sicher wäre das nur, wenn sie nicht aus
Platos eigner Entwicklung verständlich wäre. Und mindestens
ebenso glaublich ist, daß grade erst Platos Scheidung der wahren
und falschen Staatsmänner Polykrates zu dem Nachweis veran-
laßt hat, die philosophisch gebildeten Staatsmänner hätten Athen
ins Verderben gebracht, die reinen Praktiker ihm genützt. — Der
mehrfache Hinweis, daß Mauern und Häfen ohne Gerechtigkeit
eitel Tand seien (519, vgl. 455b 514a 517c)'), weist gewiß auf
eine Zeit, wo dieses Thema durch Konons Bau aktuell war. Aber
verständlich ist die Stelle auch ohne Polykrates’ Broschüre. — Eine
sichere Erwiderung auf Polykrates’ Anklage sieht Gercke in den
Worten (522b): ἐάν τέ τίς με ἢ νεωτέρους φῇ διαφϑείρειν ἀπορεῖν
ποιοῦντα ἢ τοὺς πρεσβυτέρους κακηγορεῖν λέγοντα πικροὺς λόγους
nur so lange denkbar, als beide in Athen die großen Männer waren. Konon ver-
schwand aber schon durch seine Gefangennahme 392/1 vom Schauplatz. Der stolze
Steirier war schon lange vor seinem Tode vielfach unbeliebt (Ed. Meyer $ 872).
So bleiben die Jahre 393 und 392 für Polykrates’ Schrift übrig.
1) Das ist eine Antwort auf Kallikles’ Behauptung, daß außer dem äußeren
Wohlergehen alles eitel Tand sei (492 ο).
166 Gorgias.
ἢ ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ. Denn der zweite Punkt‘) stamme nicht aus
der wirklichen Anklage, sondern aus der des Polykrates, der be-
hauptete, Sokrates mache vor der Jugend ihre Eltern schlecht,
um seine Autorität an deren Stelle zu setzen (Lib. 102, Xen. I, 2,
49ff.). Aber Plato stellt doch, wie das ἤ---ἤ deutlich zeigt, dem
Verkehr mit der Jugend das Verhalten gegen die Alten gegen-
über. Er deutet mit keinem Worte an, daß man Sokrates das
Herabsetzen des Alters vor der Jugend vorwerfe (das müßte
doch heißen ψεωτέρους διαφϑείρειν ἢ ἀπορεῖν ποιοῦντα N...
κακηγοροῦντα), sondern denkt sich die Sache offenbar so wie im
Menon, wo Anytos sein Gespräch mit Sokrates mit den Worten
abschließt: ὦ Σώκρατες, ῥᾳδίως μοι δοκεῖς κακῶς λέγειν ἀνϑρώ-
πους (94:6). Hier liegt also vielmehr ein direkter Widerspruch
zu Polykrates vor, der von Sokrates behauptete, τοῖς μὲν γέοις
αὐτὸν διαλέγεσϑαι τοῖς πρεσβυτέροις δ᾽ οὐκ ἐθέλειν (Lib. 117).
Die Sache liegt wohl so, daß das κακηγορεῖν τοὺς πρεσβυτέρους
ein älterer Vorwurf war, dem Polykrates eine neue Spitze gab.
Das weist eher darauf hin, daß Polykrates der spätere war. — Auch
sein in dieser pointierten Form gekünstelter Vorwurf: ἀλλ᾽ ἀργοὺς
ἐποίει Σωκράτης (Lib. 127) erklärt sich am leichtesten, wenn wir
annehmen, er habe damit den bekannten Vorwurf zurückgeben
wollen, den Plato im Sinne der Aristokraten gegen Perikles er-
hob (Go. Bilde): ταυτὶ γὰρ ἔγωγε ἀκούω, Περικλέα πεποιηκέναι
᾿Αϑηναίους ἀργοὺς καὶ δειλοὺς καὶ λάλους καὶ φιλαργύρους, εἰς
μισϑοφορίαν πρῶτον καταστήσαντα Ἷ. — Auch Polykrates’ Vorwürfe,
daß Sokrates allein mit den jungen Leuten verkehre (Lib. 36. 7
ὅτι ἄρα καταδὺς οὗτος eis γωνίαν κτλ. 114), daß er Haß gegen die
Demokratie gesät und gepflegt habe‘), könnte man sich sehr
1 Daß das ἀπορεῖν ποιεῖν bei Polykrates vorgekommen sei, wird durch
nichts nahegelegt und deshalb auch von Markowski geleugnet.
2) Sokrates sagt nach Anytos’ Abgang: oleral we πρῶτον μὲν κακηγορεῖν
τούτους τοὺς ἄνδρας, ἔπειτα ἡγεῖται καὶ αὐτὸς εἶναι εἷς τούτων. (Genaueres
hierüber nachher. Dazu kommt die öffentliche Kritik: ἢ ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ. Wie
paßt das letzte Wort zu Gerckes Auffassung ?
8) Wenn Th. Gomperz, Gr. Ὁ. II, 5. 569 das Verhältnis umkehrt, bedenkt
er nicht, daß der bei Plato erhobene Vorwurf von ihm selber als bekannte Kritik
seitens der Aristokraten bezeichnet wird (τῶν τὰ ὦτα κατεαγότων ἀκούεις ταῦτα
sagt Kallikles) und uns auch sonst begegnet (vgl. Arist. Ath. pol. 27, 4; vgl.
25, 3ff.).
ἡ Lib, 54: μισόδημός ἔστι καὶ τοὺς συνόντας πείϑει τῆς δημοκρατίας
Zeit des Gorgias. 167
wohl durch Stellen wie Gorg. 485e und 510ff. 515ff. veranlaßt
denken.
So spricht manches dafür, daß grade Platos scharfe Absage
an die athenische Demokratie die leitenden Staatsmänner dazu be-
stimmt hat, einen Literaten zu einer Antikritik gegenüber den So-
kratikern zu veranlassen '). Immerhin möchte ich das nicht als sicher
hinstellen, und mehr liegt an der Einsicht, daß Platos Manifest
sich ganz aus seiner inneren Entwicklung erklärt.
Ist das Gesagte richtig, so würden wir den Gorgias um 394
anzusetzen haben. Aber auch wenn Plato auf Polykrates ant-
wortete, dürften wir kaum über 391 herabgehen.
VIII. Menon.
Der Anfang des Menon kann uns an die Exposition des
Dramas erinnern. Denn da der junge Ausländer, dem Plato hier
neben Sokrates die Hauptrolle zuweist, dem athenischen Publikum
offenbar nicht sehr bekannt ist, so wird er uns gleich vorgestellt
als ein Thessaler, der zu Aristippos von Larissa und damit zu
den Aleuaden enge Beziehungen hat. Später hören wir noch,
daß er der Sohn des Alexidamos ist und einem Geschlechte an-
gehört, das in Gastfreundschaft mit dem Großkönig steht, und
daß er mit großem Gefolge in Athen auftritt (76e 78d 82b)?).
Wichtiger ist aber noch, daß er ein Schüler des Gorgias ist, der
jetzt in Larissa weil. Und auf Gorgias lenkt Plato bewußt so-
fort die Aufmerksamkeit des Lesers. Denn wenn Sokrates seine
Unwissenheit in Gegensatz zu der jetzt in Thessalien herrschen-
den naiven Sicherheit stellt, die über alles Bescheid weiß, so
zielt er dabei natürlich auf den Urheber dieses Sicherheitsgefühls,
καταγελᾶν und manches andere in 383—61 könnte direkt durch Gorg. 517—519
hervorgerufen sein.
!) Dasselbe Verhältnis nimmt v. Wilamowitz, Berl. SB. 1899, S. 781 an, na-
mentlich weil Polykrates die Gorg. 484b vorgetragene Deutung der Pindarverse
angegriffen habe (Lib. 70). Leider hat er seine Abhandlung nicht vollständig
drucken lassen.
®2) Über den Charakter Menons bei Plato und Xenophon vgl. Ew. Bruhn in
den Χάριτες Friedrich Leo dargebracht 1911, der richtig in Xenophons Charak-
teristik Polemik gegen Plato sieht. Nach Xenophon hätte Plato nicht mehr
ohne weiteres voraussetzen können, daß Menon nur eine Herrschaft auf Grund
der Gerechtigkeit schätzt (73c).
1608 Menon.
auf Gorgias‘). Wenn er ausdrücklich dabei von diesem sagt:
ἅτε καὶ αὐτὸς παρέχων αὑτὸν ἐρωτᾶν τῶν Ἥ λλήνων τῷ βουλομέ-
vp ὅτι ἄν τις βούληται καὶ οὐδενὶ ὅτῳ οὐκ ἀποκρινόμενος (70b),
so fällt einem unwillkürlich der Anfang des Gorgias ein, wo
Kallikles von dem Rhetor sagt: ἐχέλευε γοῦν νυνδὴ ἐρωτᾶν ὅτι
τις βούλοιτο τῶν ἔνδον ὄντων καὶ πρὸς ἅπαντα ἔφη ἀποκρινεῖσϑαι
(447c). Auch wenn gleich drauf in einem kleinen Exkurse So-
krates kurz den Unterschied zwischen dem Wissen τί ἐστὶ und
ὅποῖόν ἐστι erläutert (71b), erinnert das an Gorg. 448e οὐδεὶς
ἠρώτα ποία τις ein ἣ Γοργίου τέχνη, ἀλλὰ τίς. Nicht ohne Ab-
sicht kann weiterhin sein, was wir 710 lesen. Während wir vom
Standpunkt des Dialoges selber aus etwa eine kurze Aufklärung
darüber erwarten dürften, was Menon in Athen treibt, läßt Plato
hier einfließen, daß Gorgias früher in Athen gewesen sei und
mit Sokrates ein Gespräch geführt habe, in dem die Frage nach
der Tugend berührt wurde. Hier ist es deutlich, daß für uns
die Person des Gorgias hinter seinem Schüler stehen soll, und
zugleich wird sich der unbefangene Leser schwer des Gedankens
erwehren, daß Plato auf seinen Dialog Gorgias zurückver-
weisen will.
Hinter Menon steht Gorgias — den Eindruck haben wir
gleich im Beginn auch des eigentlichen Dialoges. Denn wenn
Menon auf die Frage, was die Tugend sei, zwar keine Wesens-
bestimmung gibt, aber eine Menge von Einzeltugenden aufzählt
und charakterisiert (71e), so wissen wir ja durch Aristoteles Pol.
1260a 27, daß es Gorgias’ eigene Lehre ist, die Plato dem Schüler
in den Mund legt und kritisiert?). Für das Verhältnis unseres
Dialoges zum Dialoge Gorgias scheint mir aber eine spätere Stelle
entscheidend, die deshalb gleich hier besprochen werden soll, 9 ο.
Dort fragt Sokrates: Τί δὲ δή; οἱ σοφισταί σοι οὗτοι, οἵπερ
1) Von dessen „Nihilismus“ ist hier jedenfalls nichts mehr zu spüren.
2) Aristoteles tritt dort dafür ein, daß nicht ein absoluter Tugendmaßstab
für die verschiedenen Individuen gelte, die Tapferkeit bei Mann und Weib nicht
in gleicher Weise zu fordern sei ἀλλ᾽ ἡ μὲν ἀρχικὴ ἀνδρεία ἣ δ᾽ ὑπηρετική
(nach Menon muß die Frau das Haus verwalten κατήκοον οὖσαν τοῦ ἀνδρός)...
καϑόλου γὰρ ol λέγοντες ἐξαπατῶσιν ἑαυτοὺς ὅτι τὸ εὖ ἔχειν τὴν ψυχὴν dge-
τὴ ἢ τὸ ὀρϑοπραγεῖν ἤ τι τῶν τοιούτων πολὺ γὰρ ἄμεινον λέγουσιν οἱ ἐξαριϑμοῦν-
τες τὰς ἀρετάς, ὥσπερ Τοργέας, τῶν οὕτως ὁριζομένων. Es scheint danach, als
habe schon Gorgias im Gegensatz zur Aufstellung einer absoluten Tugend die
Aufzählung der Einzeltugenden vorgenommen.
Der Menon später als der Gorgias. 169
μόνοι ἐπαγγέλλονται, δοκοῦσι διδάσκαλοι εἴναι ἀρετῆς; und Menon
antwortet: Καὶ Ποργίου μάλιστα, ὦ Σώκρατες, ταῦτα ἄγαμαι, ὅτι
οὐκ ἄν ποτε αὐτοῦ τοῦτο ἀκούσαις ὑπισχνουμένου, ἀλλὰ καὶ τῶν
ἄλλων καταγελᾷ, ὅταν ἀκούσῃ ὑπισχνουμένων" ἀλλὰ λέγειν οἴεται
δεῖν ποιεῖν δεινούς. Daß Plato hier eine authentische Äußerung
des wirklichen Gorgias wiedergibt, ist nicht zu bezweifeln. Da
die Abtrennung des Gorgias von den Sophisten für den Gang
der folgenden Untersuchung ohne Einfluß ist, möchte man an-
nehmen, daß Plato bei der Anführung dieser Worte eine be-
stimmte Absicht verfolgt hat. Nun erinnern sie uns ja aufs
stärkste an den ersten Teil des Gorgias. Denn dort geht Plato
von der Bestimmung aus, daß die Rhetorik λέγειν ποιεῖ δυνατούς
(449e), und zeigt dann, wie wir 5. 132.3 sahen, in sehr um-
ständlicher Beweisführung, daß mit dieser formalen Ausbildung
ein sittliches Bildungsziel sich nicht vereinen lasse, daß Gorgias
sich in Widersprüche verwickle, wenn er mit seinem formalen
Prinzip eine materielle Unterweisung in der Gerechtigkeit ver-
binden wolle. Ist diese Komposition denkbar, wenn er vorher
im Menon die authentische Äußerung des Gorgias mitgeteilt hatte,
daß er eine sittliche Ausbildung gar nicht anstrebe, daß er nur
ein formales Prinzip habe? Nach dieser Äußerung war doch die
ganze Debatte des Gorgias überflüssig, oder wenn Plato aus sach-
lichen Gründen sie führen wollte, dann mußte er sie jedenfalls
auf eine ganz andre Basis stellen, mußte die Äußerung des Gorgias
zugrunde legen oder mindestens als Zeugnis für seine Anschauung
verwerten. Vor allem durfte er nicht so vorgehen, daß er Gorgias
ohne Zwang im Gespräch Zugeständnisse machen ließ, die mit
seinen offenkundigen Ansichten im Widerspruch standen, und ihm
grade daraufhin eine widerspruchsvolle Haltung zum Vorwurf
machte. Nun gründet aber Plato diesen Vorwurf eben darauf,
daß er 460a Gorgias zugestehen läßt, er werde seine Schüler
auch in der Gerechtigkeit unterrichten. Hier zeigt zwar der zö-
gernde Ton des Gorgias dem Leser deutlich, daß Plato nicht wirk-
liche Äußerungen des Redners wiedergibt; andrerseits aber muß
Plato geglaubt haben, ihm diese Ansicht als Folge seiner Grund-
anschauung imputieren zu dürfen. Das war aber unmöglich,
wenn Gorgias ausdrücklich einen Unterricht in der Tugend ab-
gelehnt hatte.
Als Plato also den Gorgias schrieb, war ihm die Äußerung
170 Menon.
des Rhetors, die er Menon 95c berichtet, noch nicht bekannt.
Da wir aber doch wohl voraussetzen dürfen, daß Plato, als er
in eine grundsätzliche Erörterung mit Gorgias über dessen Beruf
eintrat, sich über die wichtigsten Punkte in dessen Anschauung
unterrichtet hatte, so wird man annehmen müssen, daß Gorgias
erst nach dem platonischen Dialoge seine Stellung so scharf prä-
zisiert und sich ganz auf die formale Rhetorik als Bildungsideal
beschränkt hat. Das ist nicht so befremdlich, wie es auf den
ersten Augenblick erscheinen könnte. Man braucht nur die Fol-
gerung aus einer wohl ziemlich allgemein anerkannten Tatsache
zu ziehen, aus der Tatsache, daß Gorgias bei Abfassung des pla-
tonischen Dialoges noch lebte. Über Gorgias’ Lebenszeit sind
wir ja freilich nicht sicher unterrichtet. Immerhin scheint es, daß im
Altertum Diels’ Ansatz auf483/482—3741/373 am weitesten verbreitet
war und wohl tatsächlich auf Apollodor zurückging (zu dieser An-
nahme neigt auch Jacoby, Apollodor S. 264f.). Aber auch als Wila-
mowitz den Ansatz 500/497—391/388 begründete '), betrachtete er
es als selbstverständlich, daß Gorgias lebte, als Plato seinen Dialog
schrieb. Dann ist es doch aber auch selbstverständlich, daß der
Mann, der bis zum letzten Atemzuge die völlige geistige Frische
besaß, den Dialog las’) und dazu Stellung nahm. So dachte sich
auch das Altertum die Sache, wie die bei Athen. 505de über-
lieferten Anekdoten zeigen, und wenn es in einer von diesen
heißt: ἀναγνοὺς ὃ T'ogyiag τὸν Πλάτωνος διάλογον πρὸς τοὺς πα-
oövrag εἶπεν ὅτι οὐδὲν τούτων οὔτ᾽ εἶπεν οὔτ᾽ ἤκουσε, SO wird
man das natürlich nicht als geschichtliche Überlieferung ansehen,
aber daß die Anekdote der inneren Wahrheit nicht entbehrt, das
müssen wir grade wegen der Menonstelle annehmen. Nach dieser
müssen wir uns den Sachverhalt so vorstellen:
Als Gorgias den platonischen Dialog las, da erklärte
er: „Plato imputiert mir hier Widersprüche, die ich mir
nicht zu schulden kommen lasse. Ich denke gar nicht
1) Aristoteles und Athen, I, 5. 172. In der Literaturgeschichte setzt er
aber Gorgias „um 390%.
3) Ich glaube, es ist nicht zu modern gedacht, wenn wir annehmen, Plato
‚habe dem Manne, den er im Dialoge „mit aufrichtiger persönlicher Hochachtung
behandelt“ (Wilamowitz a. a. O.), sein Buch zugeschickt. Jedenfalls aber wird
sich wohl niemand das literarische Leben der Zeit so primitiv vorstellen, daß
er meint, Gorgias habe von dem Dialoge nichts erfahren.
Der Menon berücksichtigt Gorgias’ Kritik an Platos Gorgias. 171
daran, mit der formalen Bildung ein sittliches Ziel zu
verbinden und mich ἀρετῆς διδάσκαλος zu nennen. Was
heißt denn überhaupt ἀρετή Die absolute Tugend, von
der ihr Sokratiker in Athen soviel Aufhebens macht,
ohne euch über ihr Wesen einigen zu können, gibt es
gar nicht. Ich kenne eine ἀρετή des Mannes, des Weibes,
des Sklaven und des Freien, aber die sind sehr ver-
schieden voneinander. Des Mannes ἀρετή ist aber ἱχα-
vov εἶναι τὰ τῆς πόλεως πράττειν, καὶ πράττοντα τοὺς μὲν
φίλους εὖ ποιεῖν τοὺς δ᾽ ἐχϑροὺς κακῶς, καὶ αὐτὸν εὐλα-
βεῖσϑαι μηδὲν τοιοῦτον παϑεῖν (Menon 716). Für die
wird meine Rhetorik vorbereiten, aber an Unterricht in
der Gerechtigkeit denke ich nicht.“
Ob Gorgias diese Anschauung in einer besonderen Schrift
niedergelegt hat oder ob er nur dafür gesorgt hat, daß seine
athenischen Anhänger das Publikum über seine Stellung auf-
klärten — daß Gorgias’ Schüler Isokrates bald nachher in seiner
Programmrede die neuen Anschauungen des Meisters energisch
verficht, werden wir noch sehen — das bleibe dahingestellt.
Jedenfalls hat Plato von dieser Erklärung Notiz genommen und
im Menon 95c anerkannt, er habe kein Recht gehabt, Gorgias
des Widerspruches zu bezichtigen. Er konnte das um so lieber
tun, als er grade damit in Gorgias einen Kronzeugen für seine
Ansicht gewonnen hatte, daß mit der Rhetorik ein sittliches
Bildungsideal unvereinbar sei.
Jetzt verstehen wir es auch erst ganz, warum Plato in der
eigentlichen Erörterung über das Wesen der Tugend, die er vor
Beantwortung der Frage nach deren Lehrbarkeit vornimmt, von
Gorgias’ Lehre ausgeht (71e). Gorgias wollte von einer absoluten
Tugend nichts wissen und zählte eine Menge verschiedener Einzel-
tugenden auf. Deshalb macht ihm Plato zuerst klar, daß alle
Tugenden ein εἶδος haben und man also nach dem Wesen der
Tugend fragen muß. Als Merkmal, das den verschiedensten
Tugenden gemeinsam ist, ergibt sich dabei die σωφροσύνη und
δικαιοσύνη (73b). Aber als nun Menon von neuem nach dem
Wesen der Tugend gefragt wird, knüpft er daran nicht an, son-
dern bringt die Definition τί ἄλλο γ᾽ ἢ ἄρχειν οἷόν τ᾽ εἶναι τῶν
ἀνθρώπων (73c). Genau ebenso hatte aber Gorgias im gleich-
namigen Dialog (452d) den Effekt der Rhetorik bestimmt: αἴτιον
172 Menon.
ἅμα μὲν ἐλευϑερίας αὐτοῖς τοῖς ἀνθρώποις, ἅμα δὲ Tod ἄλλων
ἄρχειν ἐν τῇ αὑτοῦ πόλει ἑκάστῳ. Und da die Bestimmung der
Mannestugend, wie sie im Anschluß an Gorgias Men. 71 6 gegeben
wird, ganz ähnlich lautet, da ferner 73e ausdrücklich Sokrates
fragt τί αὐτό φησι Γοργίας εἶναι καὶ σὺ μετ᾽ ἐκείνου, dürfen wir
wohl annehmen, daß auch hier Gorgias’ eigne Lehre von Plato
kritisiert wird.
Plato stellt kurz fest, daß diese Definition nicht für die Ge-
samttugend passe und kommt dann gleich wieder darauf zurück,
daß zu dieser das gerechte Handeln gehöre. Da jetzt Menon
neben der Gerechtigkeit sofort noch andre Tugenden zu nennen
weiß, ergibt sich erneut die Frage, was der sie alle umfassende
Begriff ist (τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν). Mit aller Ausführlichkeit zeigt
nun Plato, daß er über eine wissenschaftliche Methode der Be-
griffsbestimmung verfügt, nicht ohne dabei ausdrücklich (76c)
Bestimmungen zu benutzen, die Gorgias praktisch gegeben
hatte (— 76e). Jetzt ist Menon so weit, daß er wirklich eine
Gesamtdefinition geben kann: ἐπιϑυμοῦντα τῶν καλῶν δυνατὸν
εἶναι πορίζεσϑαι (77b): Das klingt in der Form an den Haupt-
teil des Gorgias an, wo Kallikles 492a verächtlich von den
Leuten redet, die οὐ δυνάμενοι ἐκπορίζεσθαι ταῖς hdovais πλή-
ρωσιν ἐπαινοῦσι τὴν σωφροσύνην, und der Ausdruck πορίζεσθαι
oder ἐκπορίζεσθαι im selben Sinne 492} 493e 517b 522b wieder-
kehrt, ist aber sachlich natürlich anders gewendet. Sokrates macht
hierauf Menon in einer Darstellung, die die Gedanken von Prot.358d
und Gorg. 467. 8 zusammenfaßt und abrundet, klar, daß das
Gute jeder will, also die Definition verkürzt werden kann auf
δύναμις τοῦ nogiteodaı τἀγαθά. Da aber zum dritten Male das
Gespenst der δικαιοσύνη erscheint und Menon diese in die Defi-
nition aufnehmen will, so ergibt sich die umgekehrte Schwierig-
keit wie im Laches. Dort war auf die Frage nach einem Teil
der Tugend mit einer Definition der Gesamttugend geantwortet,
hier tritt statt der Gesamttugend ein Teil auf (— 79b).
Der selbstgewisse Menon wird jetzt ungeduldig und wirft So-
krates vor, er verstehe nur in Aporien zu führen. Damit werden
wir auf den Anfang des Dialoges zurückverwiesen, wo grade
diese Aporien des Sokrates in Gegensatz zur Sicherheit des Gor-
gias und Menon gestellt waren, für die es keine schwierigen Pro-
bleme gab: οὐκ ἀπορία εἰπεῖν ἀρετῆς πέρι ὅτι ἔστι (72a). Jetzt
Der Aufbau des Dialogs. 71e—86c. 173
muß sich also zeigen, ob die Sokratik, ob Plato wirklich nur Ver-
wirrung bringt oder positiv zu wirken vermag. So entwickelt
Plato denn im folgenden, entscheidenden Teile des Dia-
logs, daß die Möglichkeit eines Wissens besteht‘). Er fol-
gert es aus der Lehre der Priester, „die sich Rechenschaft über ihre
Religion geben wollen“ und an die Präexistenz der Seele glauben.
Denn bei dieser Voraussetzung ist alles Lernen nur eine Wieder-
erinnerung, und daß mit der Erinnerung die Möglichkeit gegeben
ist, zu einem festen Wissen zu gelangen, das bestätigt sich in
überraschender Weise dadurch, daß es Sokrates gelingt, einen
ungebildeten Sklaven Menons grade auf dem Gebiete, das als das
eigentliche Gebiet exakter Wissenschaft gilt, in der Mathematik,
zu festem Wissen zu führen. Notwendig ist dazu zuerst, ihm ein
Bewußtsein davon beizubringen, daß seine nächstliegenden Vor-
stellungen irrig sind. Aber jetzt muß auch Menon einsehen, daß
die Aporie, in die der Sklave dadurch gerät, ihm heilsam ist
(3. ᾿Απορεῖν οὖν αὐτὸν ποιήσαντες καὶ ναρκᾶν ὥσπερ ἣ νάρκη μῶν τι
ἐβλάψαμεν; M. Οὐκ ἔμοιγε δοκεῖ 84:0). Denn damit ist erst die
Bahn zur positiven Förderung gegeben, und nun zeigt sich bald,
daß der Sklave zu wirklichem Wissen gelangen kann, nicht in-
dem man dieses von außen her in ihn hineintrichtert, sondern
indem man die richtigen Vorstellungen, die in ihm schlummern,
durch die Assoziation zum Wissen erhebt (ἀληϑεῖς δόξαι, αἱ
ἐρωτήσει ἐπεγερϑεῖσαι ἐπιστῆμαι γίγνονται 86a).
Die ungeheure Bedeutung dieses Abschnittes (808 --- 86})
liegt auf der Hand. Plato zeigt hier, daß das ἀπορεῖν ποιεῖν,
das als Vorwurf der Gegner schon Gorg. 522b erwähnt wurde
und das nach dem Anfange des Menon namentlich die Gorgianer
den Sokratikern entgegenhielten, wirklich, wie es schon an der
Gorgiasstelle angedeutet war, zum Heile der jungen Leute ge-
schieht. Er zeigt weiter, daß die Sokratik in ihrer Fragemethode
das Mittel zur Ergänzung ihrer Wirksamkeit, zur positiven För-
derung hat. Aber dabei deutet er freilich so offen wie im Gor-
gias bei der Übernahme pythagoreischer Gedanken an, daß er für
seine Person die Heranziehung unsokratischer Elemente für not-
wendig hält. Denn die sokratische Fragemethode erhält ihre
1) Von Menons eristischer Bestreitung, daß ein Lernen möglich sei (80d),
geht ausdrücklich noch Aristoteles aus, ehe er in der zweiten Analytik die Möglich-
keit des wissenschaftlichen Beweises aufzeigt.
174 Menon.
wahre Bedeutung erst in der Verbindung mit der Wieder-
erinnerungslehre, und diese selber gründet Plato auf die Prä-
existenz der Seele, die er ausdrücklich p. 81 als theologische,
d.h. orphische Lehre bezeichnet. Die Anamnesislehre selber aber
ist für ihn deshalb als Hypothese — nur als solche betrachtet er
sie 860 — so wichtig, weil sie ihm die Berechtigung der For-
schung und die Möglichkeit des Wissens zeigt. Doch darauf
kommen wir noch zurück. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß
darin die Grundlage für den folgenden Abschnitt des Dialoges
gegeben ist.
Menon erkennt die Möglichkeit der Forschung, die er 80d
in der Verlegenheit mit eristischen Argumenten bestritten hatte,
jetzt ausdrücklich an (86c) und stellt von neuem die Frage nach
der Lehrbarkeit der Tugend. Sokrates hält grundsätzlich daran
fest, daß zuerst die Frage nach dem Wesen der Tugend ent-
schieden werden müsse, kommt aber Menon in der Weise ent-
gegen'), daß er wieder die mathematische Methode heranzieht,
die sich vorher so fruchtbar erwiesen hatte, und nach deren Vor-
bilde ἐξ ὑποϑέσεως den Beweis führen will. Er fragt: εἰ ποῖόν
τέ ἐστι τῶν περὶ τὴν ψυχὴν ὄντων ἀρετή, διδακτὸν ἂν εἴη ἢ οὐ
διδακτόν; und kann diese Frage gleich dahin beantworten lassen:
ei ἐστὶν ἐπιστήμη τις ἣ ἀρετή, δῆλον ὅτι διδακτὸν ἂν ein (87 be).
Damit ist zugleich ein Weg gewiesen, um Menons Frage zu be-
antworten, die Antwort aber von dem anderen Problem, das
φύσει πρότερον ist, abhängig zu machen. Das innere Motiv
Platos bei diesem Vorgehen ist aber natürlich, daß er so den Be-
weis für den Satz, daß die Tugend ein Wissen ist, führen kann,
ohne auf den Inhalt dieses Wissens die Untersuchung ausdehnen
zu müssen.
Daß die Tugend ein Wissen sei, hatte Plato im Laches und
Charmides mit Sokrates einfach vorausgesetzt, im Protagoras mit
Hülfe der Identifizierung von Angenehm und Gut durch die
Analyse der subjektiven Motive zu zeigen gesucht. Jetzt geht er
1 Was die Worte des Sokrates ἐπειδὴ δὲ σὺ σαυτοῦ μὲν οὐδ᾽ ἐπιχειρεῖς
ἄρχειν, ἵνα δὴ ἐλεύϑερος ἧς, ἐμοῦ δ᾽ ἐπιχειρεῖς ἄρχειν (80 ἃ) sollen, versteht
ınan nur, wenn man sie als Reminiszenz an Gorg. 4914 6 faßt, wo Sokrates ver-
langt, man müsse über sich selber herrschen, ehe man mit Kallikles (und Gor-
gias) daran denken könne, über andre zu herrschen, während Kallikles diese
Selbstbeherrschung als δουλεία auffaßbt.
Der Aufbau des Dialogs. 86c—89e. 175
von dem sokratischen Gedanken aus, daß die Tugend gut und
nützlich sein müsse '), daß alle Dinge mit Ausnahme der φρόνησις
bald nützen bald schaden und daß sie alle nur dann von wirk-
lichem Werte sind, wenn sie der Mensch kraft seiner φρόνησις
richtig gebrauche. Alle andern Dinge sind also nur relative Güter,
das einzige absolute Gut ist die φρόνησις, auf ihr muß also die
Tugend beruhen (— 89a).
Wenn Plato dabei den Gedanken, daß die φρόνησις selber
dem Menschen unter Umständen schaden könnte, gar nicht in
Betracht zieht, so tut er das offenbar, weil er im ersten Teile ge-
zeigt hatte, daß die Erkenntnis des Guten notwendig das Streben
nach dem Guten nach sich zieht (77). Auch sonst blickt er auf
diesen ersten Teil ständig zurück. Wenn er dort 78d mit be-
wußter Anbequemung an Menons Auffassung gesagt hatte: ’Ayads«
δὲ καλεῖς οὐχὶ οἷον ὑγίειάν τε καὶ πλοῦτον κτλ.; so zählt er 87e
nochmals dieselben Dinge auf und zeigt erst jetzt, daß diese
bald nützen bald schaden, also nur relativen Wert haben. Wenn
dort fortwährend die σωφροσύνη und δικαιοσύνη als Einzeltugenden
aufgetaucht waren, so hören wir jetzt, daß auch diese erst im
Bunde mit dem Wissen absoluten Wert erhalten, ἄνευ νοῦ aber
schädlich sind (880). Höchst überrascht sind wir dabei, wenn
wir z. B. lesen, die Tapferkeit sei schädlich, εἰ μή ἐστι φρόνησις
ἣ ἀνδρεία ἀλλ᾽ οἷον ϑάρρος τι. Denn nach dem Protagoras ist
eine ἀνδρεία ἄνευ νοῦ unmöglich, das ϑάρσος eben keine ἀνδρεία
(951 8). Wir sehen, daß Plato den Begriff ἀνδρεία jetzt anders
faßt als früher, aber eine nähere Aufklärung erhalten wir zu-
nächst nicht.
Dagegen kann Plato aus dem Satze, daß die Tugend ein
Wissen ist, erneut kurz die Folgerung des Protagoras ableiten:
οὐκ ἂν εἶεν φύσει οἱ ἀγαϑοί und positiv hinzufügen δῆλον κατὰ
τὴν ὑπόϑεσιν, εἴπερ ἐπιστήμη ἐστὶν ἀρετή, ὅτι διδακτόν ἐστιν (89 }).
Aber nun macht sich gegen die Lehrbarkeit der Tugend ein
Bedenken geltend, wie wir es schon aus dem Protagoras kennen.
Dort hatte Sokrates gesagt, gegen die Lehrbarkeit spreche, daß
Männer wie Perikles, die doch die πολιτικὴ ἀρετή nach allge-
meinem Urteil besäßen, ihre Söhne diese nicht lehren könnten.
1) Mit dem Satze καὶ μὴν ἀρετῇ γ᾽ ἐσμὲν ἀγαϑοί 87d ruft er die Er-
örterung des Gorgias 4917 αἴ in Erinnerung, die beginnt τοὺς ἀγαϑοὺς οὐχὶ ἀγα-
ϑῶν παρουσίᾳ ἀγαϑοὺς καλεῖς;
176 Menon.
Jetzt erweitert Sokrates das Bedenken dahin, wenn die Tugend
lehrbar sei, müsse es doch Lehrer und Schüler geben, aber die
habe er bisher nicht finden können (896). Da zum Glück
Anytos erscheint, wird er in die Erörterung, ob es Tugendlehrer
gebe, hineingezogen. Den Gedanken, daß etwa die Sophisten die
Tugendlehrer seien, für die sie sich ausgeben, lehnt dieser ent-
setzt ab. Aber als er dann auf die athenischen χαλοὶ κἀγαϑοί
hinweist, da zählt ıhm Sokrates eine Menge von athenischen
Staatsmännern auf — darunter erinnern uns Perikles an den
Protagoras, Aristeides und Thukydides an den Laches —, die es
nicht vermocht haben, ihren Söhnen die ἀρετή zu übermitteln.
Anytos, der schon vorher seine Borniertheit darin gezeigt hat,
daß er die Sophisten in Grund und Boden verdammt, obwohl er
ausdrücklich erklärt sie nicht zu kennen (92b), bricht jetzt die
Unterredung mit den Worten ab: ὦ Σώκρατες, δᾳδίως μοι δοκεῖς
κακῶς λέγειν ἀνθρώπους, und fügt noch eine Drohung hinzu (9#e).
Er ist also völlig unfähig, die sachlichen Motive, die Sokrates zu
seinen Äußerungen über die athenischen Staatsmänner führen,
zu würdigen und sieht in ihnen nur persönliche Gehässigkeit.
Wir sehen daran recht anschaulich, wie leicht der Vorwurf, daß
Sokrates τοὺς πρεσβυτέρους καχηγορεῖ λέγων πικροὺς λόγους ἢ
ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ (Gorg. 522b) entstehen konnte. Ob nicht Plato
grade nach dem Gorgias Anlaß hatte deutlich zu machen, daß
es kein κακῶς λέγειν sei, wenn er Kritik an den athenischen
Staatsmännern übe)?
Das Gespräch mit Anytos soll uns offenbar die Borniertheit
des Mannes zeigen, der über Dinge urteilt, von denen er über-
haupt nichts weiß. Wieweit trägt es nun sachlich zur Klärung
der p. 896 gestellten Frage bei, ob es Lehrer der Tugend gibt?
Daß die Praktiker nicht imstande sind, die Tugend zu lehren,
wird man ohne weiteres als Ergebnis ansehen. Aber daß auch
die berufsmäßigen Tugendlehrer es nicht vermögen, kann man
1 An sich hat Anytos 946 zu seinem Vorwurf keinen wirklichen Anlaß.
Denn daß Perikles und Thukydides ihre Söhne nicht zu Staatsmännern zu er-
ziehen vermochten, war doch wirklich kein κακῶς λέγειν. Aber grade die Grund-
losigkeit des Vorwurfs ist beabsichtigt. Auf den bei Xenophon Apol. 31 vor-
gebrachten Klatsch, Anytos’ Sohn sei ein Säufer geworden, werden wir bei Plato
mit keinem Worte hingewiesen. — Aristides bezeichnet in seiner Rede ὑπὲρ τῶν
τεττάρων die Kritik an den Staatsmännern ständig als κακῶς λέγειν.
Der Aufbau des Dialogs. 89d—Schluß. 177
deshalb noch nicht als bewiesen betrachten, weil Anytos es be-
hauptet. Sokrates aber nimmt, abgesehen davon, daß er die
Honorierung des Unterrichts hervorhebt, eher Partei für die So-
phisten und deutet nur am Schluß 92d an, daß an Anytos’ An-
schauung vielleicht etwas Wahres sei (καὶ ἴσως τὶ λέγεις). Nach
Anytos’ Weggang betrachtet deshalb Menon diese Frage noch
keineswegs als entschieden (95c), aber jetzt weist doch Sokrates
sehr bestimmt auf die Tatsache hin, daß allgemeine Zweifel über
die Lehrbarkeit der Tugend herrschen und daß den berufsmäßigen
Tugendlehrern von andern gerade die Kenntnis und der Besitz der
Tugend abgesprochen wird, und kommt so zu dem Ergebnis: ἀρετῆς
οὐδαμοῦ φαίνονται διδάσκαλοι und ἀρετὴ οὐκ ἂν εἴη διδακτόν (96 c).
Wenn aber die Tugend weder auf Naturanlage beruht, noch
durch Belehrung erworben wird, woher, so fragt nun Menon,
gibt es denn dann dyadoi ἄνδρες — oder gibt es solche über-
haupt nicht (96d)? Sokrates antwortet mit dem Hinweis, daß
im praktischen Leben die richtige Vorstellung ebenso nützlich sei
wie das Wissen, obwohl sie nicht wie dieses sich Rechenschaft
über ihr Tun abzulegen vermöge. So mag es denn wohl auch
ἀγαϑοὶ ἄνδρες geben, die im politischen Leben — auf dieses wird
hier fortwährend hingewiesen — praktisch nützlich sein können,
ohne ein Wissen zu haben. Aber dann muß ihre εὐδοξία, da sie
weder aus der Naturanlage noch aus dem Wissen stammt, als
eine Gottesgabe, eine ϑεία μοῖρα betrachtet werden, ei un τις εἴη
τοιοῦτος τῶν πολιτικῶν ἀνδρῶν, οἷος καὶ ἄλλον ποιῆσαι πολιτι-
κόν (100 8).
Aber so ganz wohl ist es Sokrates bei diesen ϑεῖοι πολι-
τικοί, die auf einer Stufe mit Propheten und Dichtern stehen,
doch nicht. Deshalb schließt er: ’Ex μὲν τοίνυν τούτου τοῦ
λογισμοῦ, ὦ Μένων, ϑείᾳ μοίρᾳ ἡμῖν φαίνεται παραγιγνομένη N
ἀρετὴ οἷς παραγίγνεται ' τὸ δὲ σαφὲς περὶ αὐτοῦ εἰσόμεϑα τότε,
ὅταν πρὶν ᾧτινι τρόπῳ τοῖς ἀνϑρώποις παραγίγνεται ἀρετή, πρό-
τερον ἐπιχειρήσωμεν αὐτὸ καϑ' αὑτὸ ζητεῖν τί ποτ᾽ ἐστὶν ἀρετή.
Damit ist dem Leser gesagt, daß er die Frage nach dem Ur-
sprung der Tugend noch keineswegs als erledigt anzusehen hat,
daß es vielleicht doch noch eine andre Möglichkeit als die ϑεία
μοῖρα gibt, um zu ihr zu gelangen. Zugleich deutet Plato an,
daß es doch nicht der richtige Weg war, mit der Frage zu be-
ginnen, doa διδακτὸν ἣ ἀρετή;
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 12
178 Menon.
Dieselbe Frage hatte Plato schon im Protagoras behandelt.
Auch dort tauchte gegen die Lehrbarkeit das Bedenken auf, daß
die Staatsmänner wie Perikles die πολιτικὴ ἀρετή nicht zu lehren
vermöchten. Aber dort sollte sich jeder sagen, daß diese eben
selber das Wissen vom Guten, also die wahre ἀρετή nicht be-
säßen. Mit dem Besitze dieses Wissens mußte die Lehrfähigkeit
gegeben sein (vgl. S. 96). Im Menon finden wir dasselbe Be-
denken viel stärker ausgesprochen, und ausdrücklich wird daraus,
daß es keine Lehrer der Tugend noch Schüler gebe, von So-
krates selber gefolgert, daß diese nicht lehrbar ist (96c). Und
nichts deutet auf die Lösung hin, daß die Lehrbarkeit trotzdem
prinzipiell möglich sei und es nur bisher an Leuten fehle, die das
Tugendwissen besitzen und weiter übermitteln können.
Hat also Plato wirklich die Lehrbarkeit der Tugend nicht
mehr festgehalten? Was hat ihn überhaupt veranlaßt, die Frage
des Protagoras noch einmal aufzunehmen ?
Die Lösung müssen wir in dem grundlegenden Abschnitt
über die Möglichkeit der Erkenntnis suchen, und dort lesen wir
tatsächlich die unzweideutige Antwort: ἐρωτᾷς ei ἔχω σε διδάξαι,
ὃς οὔ φημι διδαχὴν εἶναι ἀλλ᾽ ἀνάμνησιν (82a). Das ist kein
Scherzwort, sondern es spricht Platos neugewonnene Überzeugung
aus: Es gibt keinen Nürnberger Trichter, mit dessen Hülfe man
einem andern Kenntnisse einflößen kann. Wenn Menons Sklave
die Verdoppelung des (Juadrates verstehen lernt, so „lehrt“ ihn So-
krates die nicht, sondern in dem Sklaven selber ruhten die
ἀληϑεῖς δόξαι, αἱ ἐρωτήσει ἐπεγερϑεῖσαι ἐπιστῆμαι γίγνονται (86a).
Das gleiche gilt aber natürlich auch von der Tugend. Der
einzige, dem man den Titel eines ἀρετῆς διδάσκαλος wirklich hätte
zubilligen mögen, war Sokrates, und grade der hatte nie so
heißen wollen (Apol. 33a). Warum, das wurde jetzt Plato klar.
Sokrates hatte gefühlt, daß ein Eintrichtern der Tugend undenk-
bar sei. Nur dadurch, daß er die richtigen sittlichen Vorstel-
lungen, die im Menschen schlummerten, durch seine Frage-
methode zum Leben erweckte, hatte Sokrates gewirkt, kann man
überhaupt einwirken. Ein „Lehren“ im gewöhnlichen Sinne gibt
es deshalb überhaupt nicht. Deshalb muß die Frage ὥρα διδακτὸν
ἣ ἀρετή; mit Nein beantwortet werden. Aber freilich wäre es
nun auch verkehrt, wollte man daraufhin die Möglichkeit eines
sittlichen Einflusses überhaupt leugnen oder wollte man nun den
ΐ
N
f
Die Erweckung zur Tugend. 179
Schluß ziehen, daß dann die Tugend nur durch die Naturanlage
oder auf übernatürlichem Wege übermittelt werden könnte. Wer
den Abschnitt über die Anamnesis verstanden hat, der muß sich
sagen, [daß es noch einen andern Weg geben muß, um zur
Tugend zu erwecken.» Und er weiß auch, daß darauf Plato hin-
deuten will, wenn er mit dem Satze schließt, die πολιτικὴ ἀρετή
müsse ϑείᾳ μοίρᾳ entstehen, ei μή τις εἴη τοιοῦτος τῶν πολιτικῶν
ἀνδρῶν, οἷος καὶ ἄλλον ποιῆσαι πολιτικόν (1008). Und wenn
Plato dort anfügt, ein solcher Mann würde dem Tiresias unter dem
Schatten gleichen, ὥσπερ παρὰ σκιὰς ἀληϑὲς ἂν πρᾶγμα ein πρὸς
ἀρετήν, so wird er wohl wissen, wo er am ehesten diese Ver-
körperung der Wahrheit zu suchen hat.
Der Abschnitt über die Anamnesis ist auch nach anderer
Hinsicht grundlegend, durch die Scheidung der ὀρϑὴ (ἀληϑὴς)
δόξα und der ἐπιστήμη. Wir finden dieselbe Scheidung im letzten
Teile wieder, und Plato sorgt durch Wiederholung der Termini
dafür, daß wir die Fortsetzung desselben Gedankens empfinden.
Dabei werden die Begriffe nach zwei Seiten hin beleuchtet. Bei
Menons Sklaven sehen wir, daß richtige Vorstellungen in jedem
Menschen schlummern und daß die Wiedererinnerung, die Er-
weckung zum Wissen von ihnen auszugehen hat. Im letzten
Teile wird ihr Verhältnis zum Wissen klargestell. Wir werden
erinnert, daß im Einzelfalle, z. B. beim Auffinden eines Weges,
beide praktisch gleich brauchbar sind, aber andrerseits auf den
Unterschied hingewiesen, daß das Wissen ein fester Besitz der
Seele ist, während die richtigen Vorstellungen bald auftauchen
bald verschwinden, weil man sich nicht darüber klar ıst, warum
sie richtig sind, ὥστε οὐ πολλοῦ ἄξιαί εἶσιν, ἕως dv τις αὐτὰς
δήσῃ αἰτίας λογισμῷ" τοῦτο δ᾽ ἐστίν, Μένων ἑταῖρε, ἀνάμνησις, ὡς
ἐν τοῖς πρόσϑεν ἡμῖν ὡμολόγηται. ἐπειδὰν δὲ δεϑῶσι, πρῶτον μὲν
ἐπιστῆμαι γίγνονται, ἔπειτα μόνιμοι (98a). Auch Menons Sklave
hatte richtige Vorstellungen von Quadrat und doppelter Größe,
aber bevor Sokrates in ihm die Einsicht der inneren Zusammen-
hänge weckte, war die Gefahr, daß die richtigen Vorstellungen
verloren gingen, nur zu groß.
Den Begriff αἰτίας λογισμός kennen wir schon. Denn schon
im Gorgias 501a (vgl. 465a) wurde der Unterschied der Wissen-
schaft und des unwissenschaftlichen Verfahrens am Beispiel der
Medizin und Kochkunst so klargemacht: ἔλεγον δέ που ὅτι ἣ μὲν
12*
180 Menon.
ὀψοποιικὴ οὔ μοι δοκεῖ τέχνη εἶναι ἀλλ᾽ ἐμπειρία ἣ δ᾽ ἰατρική,
λέγων ὅτι ἣ μὲν τούτου οὗ ϑεραπεύει καὶ τὴν φύσιν ἔσκεπται καὶ
τὴν αἰτίαν ὧν πράττει, καὶ λόγον ἔχει τούτων ἑκάστου δοῦναι,
ἡ ἰατρική" ἣ δ᾽ ἑτέρα τῆς ἡδονῆς πρὸς ἣν N ϑεραπεία αὐτῇ ἐστιν
ἅπασα, κομιδῇ ἀτέχνως ἐπ᾽ αὐτὴν ἔρχεται, οὔτε τι τὴν φύσιν σκε-
ψαμένη τῆς ἡδονῆς οὔτε τὴν αἰτίαν ἀλόγως τε παντάπασιν ὡς
εἰπεῖν οὐδὲν διαριϑμησαμένη, τριβῇ καὶ ἐμπειρίᾳ μνήμην μόνον
σῳζομένη τοῦ εἰωθότος γίγνεσϑαι. Diese Unterscheidung, die,
wie wir 5. 139 sahen, aus der Medizin stammt, verwertet Plato im
Menon wieder. Natürlich läßt er hier, wo er an die einzelne
Vorstellung denkt, das Moment der dauernden Erfahrung weg.
Mit gutem Grunde läßt er auch den gekünstelten (vgl. S. 140) Ge-
danken, daß die Empirie mit der Schmeichelkunst identisch sei,
fallen, und andrerseits betont er für seine hiesigen Zwecke die
praktische Brauchbarkeit. Aber daß er hier wie dort das Verhält-
nis vom unwissenschaftlichen Verhalten zur Wissenschaft grund-
sätzlich in der gleichen Weise bestimmt, ist klar.
Der letzte Teil des Menon beschäftigt sich durchaus mit dem
politischen Leben, den Staatsmännern. Wir hören von diesen,
daß sie auch auf Grund der richtigen Vorstellungen ohne Wissen
Nützliches leisten können. Aber auf der andern Seite müssen
wir stets an Menons Sklaven als Analogon denken, und wie der
gelegentlich doch in die größten Irrtümer verfällt, so ist das auch
bei den Staatsmännern denkbar. Gewiß, wer immer die richtige
Vorstellung hätte, würde praktisch immer das Richtige treffen
(97c), aber wer bürgt denn dafür, daß das der Fall ist? Perikles
mag über viel größere praktische Erfahrung verfügen als der
Sklave, mag deshalb viel öfter das Richtige treffen, allein solange
er keine Rechenschaft über die letzten Gründe geben kann,
warum er so handeln muß, warum grade dies das Richtige ist,
so lange müssen wir damit rechnen, daß er zur Verdoppelung
des Quadrates die Seite verdoppelt, die größten Fehler begeht.
Plato billigt trotzdem diesen Männern die Bezeichnung dya-
ϑοὶ ἄνδρες zu (98. u. ö.). Das steht auf einer Stufe mit der
Erörterung p. 88, wo wir im schärfsten Gegensatz zum Protago-
ras davon hören, daß es Tapferkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherr-
schung auch ohne Wissen gibt. Wir müssen auch da an tugend-
artige Betätigungen denken, die sich auf richtige Vorstellungen
gründen. Die erkennt Plato jetzt also an. Aber aufs schärfste
Die Beurteilung der praktischen Politiker. 181
hebt er dort hervor, daß diese ἄνευ νοῦ bald nützen, bald
schaden und daß sie nur in Verbindung mit dem Wissen zur
Glückseligkeit beitragen (88c), und das gleiche muß natürlich
auch von der Tätigkeit der Staatsmänner im letzten Teile gelten.
Daraus folgt aber auch, daß sie nur in uneigentlichem Sinne
ἀγαϑοί heißen können. Denn wie die ἀρετή ihrem Wesen nach
nützlich, also immer nützlich ist, so ist auch der ἀγαϑός immer
ὠφέλιμος. Das sagt Plato 874, und 98c wiederholt er: καὶ μὴν
ὅ γε ἀγαϑὸς ἀνὴρ ὠφέλιμος ἡμῖν ὡμολόγηται εἶναι. Sowenig also
eine ἀνδρεία ἄνευ νοῦ eine wahre Tugend ist — 880. vermeidet
er die Bezeichnung — sowenig hat ein Staatsmann, der bald
nützt, bald schadet, Anspruch auf den Namen des ἀγαϑὸς ἀνήρ
im eigentlichen Sinne. Nur in Konzession an die gewöhnliche
Bewertung kann er so genannt werden.
Grade darum aber müssen wir eine besondere Absicht darin
sehen, wenn Plato mit Bestimmtheit Sokrates aussprechen
läßt (93a): ἔμοιγε καὶ εἶναι δοκοῦσιν ἐνθάδε dyadoi τὰ πολιτικὰ
καὶ γεγονέναι ἔτι oöy ἧττον ἢ εἶναι. Diese Absicht aber kann
keine andre sein als die, zu zeigen, daß er das Verdammungs-
urteil, das er im Gorgias über die Staatsmänner der Vergangen-
heit ausgesprochen hat (vgl. bes. 517a οὐδένα ἡμεῖς ἴσμεν ἄνδρα
ἀγαϑὸν γεγονότα τὰ πολιτικὰ Ev τῇδε τῇ πόλει, weder aus der
Gegenwart noch aus der Vergangenheit), nicht mehr aufrecht
erhalten kann noch will. Bestehen bleibt auch jetzt, daß diese
Männer keine wahren Staatsmänner waren, daß sie neben einem
wirklichen Staatsmann, der sich Rechenschaft gibt über die letzten
Gründe und Ziele seines Handelns, dastehen wie die Schatten
ohne Bewußtsein neben Tiresias. Aber daß sie es gewesen sind,
die Athen verdorben haben, daß sie bewußt als Ziel nur die Lust,
nicht das Gute hatten, davon hören wir jetzt nichts mehr, und
noch wichtiger ist die positive Anerkennung, daß Männer wie
Themistokles wirklich praktisch Nützliches geleistet haben.
Was hat sie zu diesen Leistungen befähigt? Die richtigen
Vorstellungen, auf die sie sich stützen, hat doch im Grunde auch
Menons Sklave, hat jeder Mensch in sich. Was hebt also jene
Staatsmänner aus den übrigen heraus und gibt ihnen die εὐδοξία,
kraft deren sie in der Staatsleitung Richtiges treffen (99c)? Vom
Gorgias her könnten wir erwarten, daß die Empirie zur Erklärung
182 Menon.
herangezogen würde. Statt dessen tritt uns im letzten Teile ein
merkwürdiger neuer Begriff entgegen, die ϑεία μοῖρα. Da die
πολιτικὴ ἀρετή dieser Leute weder auf Naturanlage noch auf Be-
lehrung beruht, so muß sie als göttliche Gnadengabe aufgefaßt
werden.
Die ϑεία μοῖρα finden wir bei Plato in vollstem Ernste schon
in der Apologie, wo Sokrates seine Elenktik auf den göttlichen Auf-
trag zurückführt (58): ἐμοὶ δὲ τοῦτο, ὡς ἐγώ φημι, προστέτακται
ὑπὸ τοῦ ϑεοῦ πράττειν καὶ ἐκ μαντείων καὶ ἐξ ἐνυπνίων καὶ
παντὶ τρόπῳ ᾧπερ τίς ποτε καὶ ἄλλη ϑεία μοῖρα ἀνθρώπῳ καὶ
δτιοῦν προσέταξε πράττειν. Ganz ernst spricht auch Protagoras
im Mythos von der ϑεία μοῖρα, an der die Menschen teilhaben
(322a)').. So könnte man auch im Menon an sich die ernste
Behauptung erwarten, daß jene εὐδοξία der Staatsmänner als
göttliche Begnadigung anzusehen sei. Aber schwer wird man
sich doch entschließen, es völlig ernst zu nehmen, wenn 996
Plato Männer wie Themistokles auf dieselbe Stufe stellt wie die
χρησμῳδοὶ καὶ ϑεομάντεις und die Begründung hinzufügt: καὶ γὰρ
οὗτοι ἐνθουσιῶντες λέγουσιν μὲν ἀληϑῆ καὶ πολλά, ἴσασι δὲ οὐδὲν
ὧν λέγουσιν. Diese Worte sind bekanntlich ein wörtliches Zitat
aus Apol. 22c; wir sollen also auch an die dort gegebene spöt-
tische Charakteristik der Dichter denken, die so wenig wie die
χρησμῳδοί über ihre eignen Werke Rechenschaft geben können
und dahei sich einbilden, die allerklügsten Menschen zu sein.
Sollen wir es ferner wirklich ganz ernst nehmen, wenn Plato
Men. 99c anschließt: Οὐκοῦν, ὦ Μένων, ἄξιον τούτους ϑείους κα-
λεῖν τοὺς ἄνδρας, οἵτινες νοῦν μὴ ἔχοντες πολλὰ καὶ μεγάλα κα-
τορϑοῦσιν ὧν πράττουσι καὶ λέγουσιν; und wenn er sich dann
darauf beruft, daß nicht bloß die Spartaner, sondern auch die
Weiber die wackren Männer #etos nennen? Menon scheint jeden-
falls gewisse Zweifel zu hegen, wenn er daraufhin bemerkt, Any-
tos werde diese Charakteristik wohl kaum als Schmeichelei auf-
fassen (99e).
Der Begriff der ϑεία μοῖρα tritt uns im letzten Teil mit einer
merkwürdigen Aufdringlichkeit entgegen, und man wird das Ge-
fühl nicht los, daß dahinter noch eine besondere Absicht Platos
1) Die späteren Stellen, wo ϑεία μοῖρα oder auch die Inspirations-
theorie vorkommt, bietet Zeller IT, S. 594.
ϑεία μοῖρα. 183
steckt. Tatsächlich läßt sich wahrscheinlich machen, daß Plato
ihn aus einem andren Sokratiker übernimmt und absichtlich mit
leiser Ironie behandelt.
Der scharfe Angriff, den Plato im Gorgias gegen Rhetorik
und praktische Politik durchführt, ist bis in späte Zeit hinein
nicht vergessen worden, und noch der Rhetor Aristides hält es
für nötig, in seinen Werken περὶ Önroginjs und ὑπὲρ τῶν τεττά-
ρων die Kritik Platos zurückzuweisen. In beiden Werken kann er
sich dabei auf das Gegenzeugnis eines andern Sokratikers berufen,
auf Aischines’ Alkibiades, und die umfänglichen Bruchstücke, die
er dabei aus diesem Dialog aufbewahrt hat, zeigen uns deutlich,
daß er mit vollem Rechte Plato und Aischines konfrontierte, daß
zwischen Aischines’ Alkibiades einerseits und Platos Gorgias und
Menon andrerseits Beziehungen polemischer Art bestanden.
Bei Aischines erzählte Sokrates ein Gespräch mit dem jungen
Alkibiades, in dem er den übermütigen Brausekopf, der selbst
vor den zwölf Göttern keinen Respekt hatte, zur Erkenntnis
seiner Unwissenheit führte, sodaß dieser schließlich sich nicht
besser wie der gemeinste Handlanger vorkam und in Thränen
ausbrach'), Ein Hauptstück des Dialoges war das: Alkibiades
hatte sich verächtlich über Themistokles geäußert. Daraufhin
zeigte Sokrates ihm, daß dieser Mann allein es gewesen sei, der
den Herrscher ganz Asiens überwunden und Griechenland ge-
rettet habe. Was ihn dazu befähigte, war seine ὠρετή, seine
ἐπιστήμη. Die war es, die über die materielle Übermacht den
Sieg davontrug (fr. 8).
Daß hier ein scharfer Gegensatz zum Gorgias vorliegt, wo
Themistokles wie den andern Staatsmännern die ἐπιστήμη und
die Fähigkeit, dem Staate wirklich zu nützen, abgesprochen wurde,
ist offensichtlich. Und schwerlich kann es Zufall sein, daß damit
Plato die praktische Leistung eines Staatsmannes entgegengehalten
wurde, die dieser doch gelten lassen mußte, die Rettung Griechen-
lands von den Barbaren, bei der sich die praktische Klugheit als
entscheidend erwiesen hatte. Was Alkibiades bei Aischines gegen
Themistokles vorgebracht hatte, hat Aristides nicht aufbewahrt.
1) Fr. 1—14. Ich zitiere nach Dittmar, Aischines von Sphettos (Philol.
Untt. 21).
184 Menon.
Aber wenn man in fr. 8, 44 liest: τίς dv οὖν ἐκείνῳ τῷ χρόνῳ
δικαίως αἰτίαν ἔχοι μέγιστον δύνασθαι ἄλλος ἢ Θεμιστοκλῆς; SO
scheint das veranlaßt durch eine Bemerkung des Alkibiades, in
der dieser ähnlich wie der Sokrates des Gorgias bestritt, daß die
Redner μέγιστον δύνανται ἐν ταῖς πόλεσιν (466b, vgl. 517—519,
wo Themistokles usw. Diener, nicht Leiter des Volkes heißen).
Direkt an den Gorgias (516d) erinnert es uns dann, wenn auf
die Verurteilung des Themistokles angespielt wird (8, 48), um zu
zeigen, daß selbst so große ἐπιστήμη, wie er sie besaß, vor Ge-
fahren nicht schützte.
Unter diesen Umständen wird die Vermutung nicht zu kühn
sein, daß Aischines mit seinem Alkibiades ein Gegenstück zu
Platos Gorgias geben wollte (so schon Dittmar, Aischines von
Sphettos 5. 158). Er mochte gesehen haben, wie Platos leiden-
schaftliches Manifest Wasser auf die Mühlen der Sokratesgegner
leitete, und legte darum seinem Sokrates eine Anerkennung des
Siegers von Salamis in den Mund.
Auf dieses Hervortreten der Themistoklesfigur möchte man
es schon zurückführen, daß dieser im Gegensatz zum Gorgias
im Menon 99b in den Vordergrund tritt, wo die angegriffenen
Politiker plötzlich οἱ ἀμφὶ Θεμιστοκλέα heißen. Aber glücklicher-
weise gibt uns Aristides stärkere Argumente für die Annahme
an die Hand, daß Plato im Menon auf Aischines zurückblickt.
Nachdem bei Aischines Sokrates die erschütternde Wirkung
seiner Worte geschildert hatte, sprach er davon, worauf diese
Einwirkung beruhe; ᾿γὼ δ᾽ ei μέν τινι τέχνῃ ᾧμην δύνασθαι
ὠφελῆσαι, πάνυ ἂν πολλὴν ἐμαυτοῦ μωρίαν κατεγίγνωσκον" νῦν
δὲ ϑείᾳ μοίρᾳ ᾧμην μοι τοῦτο δεδόσϑαι ἐπ᾽ ᾿Αλκιβιάδην (fr. 11 8).
Da er gleich darauf noch sagt: χαὶ δὴ καὶ ἐγὼ οὐδὲν μάϑημα
ἐπιστάμενος ὃ διδάξας ἄνϑρωπον ὠφελήσαιμ᾽ ἂν ὅμως ᾧμην ξυ-
vov ἂν ἐχείνῳ διὰ τὸ ἐρᾶν βελτίω ποιῆσαι (11c), so ist es klar,
worauf er hinaus will: Er will den Vorwurf des Polykrates wider-
legen, daß Sokrates der διδάσκαλος des Alkibiades gewesen sei
(vgl. Dittmar 5. 158), und betont deshalb, daß der Nichtwisser
Sokrates nichts habe lehren können, daß er es aber als seine
göttliche Mission betrachtet habe, bessernd auf Alkibiades einzu-
wirken. Wenn er dabei von einer ϑεία μοῖρα spricht, so ist das
zunächst nichts anderes als wenn Plato an der vorher zitierten
Apologiestelle (33c) Sokrates von seinem göttlichen Beruf sprechen
Die ϑεέα μοῖρα bei Plato und Aischines. 185
läßt, aber eine andre Färbung erhält das Wort, wenn fr. 11c
Sokrates sich daraufhin mit den Bakchantinnen vergleicht, die,
ἐπειδὰν ἔνϑεοι γένωνται, aus dem Wasserquell Honig und Milch
schöpfen. Denn damit wird Sokrates auf eine Linie gestellt mit
den inspirierten (ἐνθουσιάζοντες) Orakelsängern, über die sich
Plato an der andern Apologiestelle (22c) nicht allzu freundlich
geäußert hatte. Und besonders bedenklich wurde diese Theorie,
wenn die ϑεία μοῖρα in Gegensatz zu τέχνη und ἐπιστήμη gestellt
und dabei dieses Wissen bei Männern wie Themistokles anerkannt
wurde.
Ihren Ausgangspunkt hatte die Theorie natürlich am Daimo-
nion des Sokrates oder vielmehr an einer schwärmerischen Ver-
ehrung der Schüler, die Sokrates aus der Reihe der gewöhnlichen
Menschen herausheben, seine dämonische Einwirkung auf die
Mitmenschen durch übernatürliche Kräfte erklären wollten. Ge-
wiß ist bei Aischines von der magischen Auffassung des Theages
noch keine Rede gewesen, aber wir verstehen es, wenn Plato
schon in den Ansätzen, die da vorlagen, eine Verzerrung des
Sokratesbildes sah und deshalb die Begriffe ἐπιστήμη und ϑεία
μοῖρα in etwas anderem Lichte zeigen wollte. Die ἐπιστήμη
selber konnte er freilich dem Nichtwisser Sokrates nicht zu-
sprechen, aber das war ihm klar: wenn man die Alternative
ἐπιστήμη — ϑεία μοῖρα stellte, dann konnte Sokrates nur auf
die Seite der ἐπιστήμη gehören, zu der er durch seine Frage-
methode zu erwecken verstand. Wo man dann aber von der
ϑεία μοῖρα reden sollte, das ließ sich grade aus einem andern
Gedanken des Aischines entnehmen. Der hatte den Unterschied
von τέχνη und ϑεία μοῖρα an einem stark an den Gorgias er-
innernden Beispiel erläutert (fr. 11b): Πολλοὶ γὰρ καὶ τῶν καμ-
νόντων ὑγιεῖς γίγνονται οἵ μὲν ἀνθρωπίνῃ τέχνῃ οἱ δὲ ϑείᾳ wol-
ou. ὅσοι μὲν οὖν ἀνθρωπίνῃ τέχνῃ, ὑπὸ ἰατρῶν ϑεραπευόμενοι,
ὅσοι δὲ ϑείᾳ μοίρᾳ, ἐπιϑυμία αὐτοὺς ἄγει ἐπὶ τὸ ὀνῆσον. Hierin
steckte etwas Richtiges, wenn man nur statt des inneren Triebes
die richtige Vorstellung einsetzte, und so lesen wir im Menon
Ῥ. 97 das ganz analoge Bild von den beiden Leuten, die nach
Larissa gehen, der eine auf Grund seines Wissens, der andre auf
Grund einer richtigen Vorstellung, und die beide das Ziel er-
reichen. Hier wird auch der eine ἀνθρωπίνῃ τέχνῃ, der andre
ϑείᾳ μοίρᾳ geleitet. Und wenn nun die Staatsmänner wie
186 Menon.
Themistokles in großen Fragen oder häufig auf Grund der rich-
tigen Vorstellung Erfolge erzielten — und daß die Rettung
Griechenlands ein Erfolg, ein Nutzen für das Land war, das
konnte Plato nicht wohl leugnen —, dann war zwar deshalb
noch lange nicht der Satz erschüttert, daß es ihnen an wahrem
Wissen fehlte; aber eine Ausnahmestellung gegenüber den andern
Menschen konnte man ihnen schon zugestehen, sie als Männer
betrachten, die ϑείᾳ μοίρᾳ praktisch Wertvolles leisteten‘). Und
wenn dadurch etwa die Gefahr entstand, daß damit die Politiker
in einem göttlichen Schimmer verklärt würden, so ließ sich dem
schon vorbeugen, indem man ihre richtigen Vorstellungen mit
der Inspiration der Wahrsager und ähnlicher Leute auf eine
Stufe stellte, οἵτινες νοῦν μὴ ἔχοντες πολλὰ καὶ μεγάλα κατορ-
ϑοῦσιν (99 0). So konnte man aber auch am besten verhüten,
daß die ϑεία μοῖρα in den Kreisen der Sokratiker Unfug stiftete
und Sokrates selber in eine mystische Beleuchtung gerückt
wurde.
Aischines hat also zum Gorgias in seinem Alkibiades ein
Gegenstück schreiben wollen, und auf diesen Dialog hat dann
wieder Plato im Menon Bezug genommen’), hat aus ihm den
Begriff der ϑεία μοῖρα aufgegriffen, aber unter Polemik gegen
Aischines umgedeutet. Nun müssen wir aber noch einen Blick
auf den kleinen platonischen Dialog werfen, der in engstem An-
klang an den Menon die Begriffe τέχνη und ϑεία μοῖρα behandelt.
Es ist der Ion.
Der Ion gliedert sich in zwei Teile. Im ersten wird dem
Rhapsoden klargemacht, daß schon seine Beschränkung auf Vor-
trag und Exegese eines einzelnen Dichters den unwissenschaft-
lichen Charakter seines Handwerks zeigt. Was er treibe, könne
keine τέχνη sein, sondern sei ein göttlicher Beruf. Das wird mit
dem bekannten prächtigen Bilde vom Magnetstrom erläutert.
!) ϑείᾳ τινὶ μοίρᾳ ὑπὲρ τῆς “EAAddos πάσης ἔφυ sagt Aristides ὑπὲρ τῶν
terrdowv II, p. 252D. Das mag wie noch so manches bei ihm aus Aischines
stammen.
2) Bei Aischines fr. 8, 53 fragt Sokrates bezüglich der φαῦλοι ἄνϑρωποι:
οὐ ϑαυμαστὸν εἰ καὶ τὰ μικρὰ δύνανται κατορϑοῦν; Gleich drauf werden τύχη
und ἐπιστήμη in ähnlicher Weise wie Men. 99a einander gegenübergestellt.
3) So auch Dittmar S. 158.
Die ϑεία μοῖρα im Ion. 187
Wie dieser seine Wirkung bis in die letzten Glieder der Kette
äußert, so geht die göttliche Kraft, der ἐνθουσιασμός, von der
Gottheit über den Dichter und dessen Interpreten bis zum Zuhörer
hin. Ion läßt sich’s zunächst gern gefallen, ein Glied dieser Kette von
ἔνϑεοι zu sein, nur platzt er sehr zur Unzeit mit der Bemerkung
hinein, er passe mitten in seinem Enthusiasmus genau auf den
klingenden Erfolg seines Vortrags auf (535e), und ganz wohl
fühlt er sich doch schließlich in der Rolle des κατεχόμενος nicht
(— 536d). Im zweiten Teile wendet sich Plato gegen den Unfug,
als ob man aus Homer wie aus einer Enzyklopädie technische
Kenntnisse lernen könne, und zeigt, daß an Stellen, wo Tech-
nisches vorkomme, die technischen Kenntnisse eher Voraussetzung
für eine wissenschaftliche Dichtererklärung seien '),. Auch hier be-
stätigt es sich, daß von τέχνη und ἐπιστήμη bei Ion keine Rede
sein könne, und deutlich spüren wir natürlich die Ironie, wenn
Sokrates ihm am Schluß den Rückzug auf die ϑεία μοῖρα
offen läßt.
Man hat den Ion viel verdächtigt, aber unplatonisch wird
man seine Grundgedanken jedenfalls nicht nennen können’).
Man muß sich dabei freilich eins klarhalten, wenn man Plato
verstehen will: Das ist der Gegensatz von Ideal und Praxis.
Daran, daß das Bild vom Magnetstrom völlig ernste Bedeutung
hat, darf man nicht zweifeln. Aber diese ϑεία μανία, die am
stärksten den Dichter selber packt, dann aber auch im echten
Rhapsoden fortwirkt, ist ein Ideal, das wohl gelegentlich wirk-
lich werden kann, dem aber Kerle wie Ion herzlich wenig
entsprechen ὃ.
Was uns nun hier angeht, das ist das Verhältnis zum Me-
!) Die Möglichkeit einer ästhetischen Exegese soll aber 540bff. schwerlich
geleugnet werden.
ὅ Für die Echtheit sind besonders Janell, Fleck. Jahrb. Suppl. 26, der be-
sonders auch die Priorität des Ion gegen Xenophons Symposion wahrscheinlich
macht, und Ed. Meyer, Forsch. II, S. 174 eingetreten. — Wenn am Schluß
(541cff.) Sokrates dem Ion sagt: „Warum läßt du dich denn nicht zum Stra-
tegen wählen? Wenn die Athener einen Herakleides von Klazomenä in die
höchsten Ämter berufen, da werden sie es mit Ion von Ephesos schon auch tun“,
so ist das natürlich ein Seitenhieb auf das Söldnerwesen Athens im korinthischen
Kriege.
8) Das ist verkannt von Räder 5. 93, der vor allem auch nicht Dichter und
Rhapsoden gleichstellen durfte.
188 Menon.
non, mit dem sich der Ion selbst im Wortlaut berührt‘, Auch
im Ion ist das Verhältnis von ἐπιστήμη (τέχνη) ”) und ϑεία μοῖρα das
Wesentliche (die Person Ions ist nur Demonstrationsobjekt). ‚Wie
im Menon ist der Begriff ϑεία μοῖρα dahin umgebogen, daß
darunter der ἐνθουσιασμός zu verstehen ist. Auch im Ion ist er
an sich durchaus ernst zu nehmen, aber wenn schon im Menon
eine leise Ironie bei seiner Anwendung zu spüren war, so bricht
diese Ironie im Ion ganz offen durch. Hier ist das Streben ganz
deutlich, den Begriff dadurch zu diskreditieren, daß er praktisch
auf Fälle angewendet wird, wo er nur lächerlich wirken kann.
Wer den Ion gelesen hat, wird nicht leicht mehr Sokrates’ Wesen
und Wirken aus der ϑεία μοῖρα ableiten wollen.
Das Interessanteste ist nun aber eins: Wir sahen, wie der
Menon genau Bezug nimmt auf den Schluß von Aischines’ Dialog.
Viel stärker ist noch die Berührung, die der Ion mit dieser
Stelle des Aischines aufweist. Da merkwürdigerweise trotz aller
modernen Suche nach Anspielungen bei Plato diese Berührung
nicht beachtet zu sein scheint, setze ich die Stellen her:
Aischines fr. 11c (p. 273, 11 D.)
᾿Εγὼ δὲ διὰ τὸν ἔρωτα ὃν
ἐτύγχανον ἐρῶν ᾿Αλκιβιάδου
οὐδὲν διάφορον τῶν Βακχῶν
ἐπεπόνϑειν. καὶ γὰρ αἱ Βαάχχαι
Ion 534a.
καὶ οἱ μελοποιοὶ οὐκ ἔμφρο-
γες ὄντες τὰ καλὰ μέλη ταῦτα
ποιοῦσιν, ἀλλ᾽ ἐπειδὰν ἐμβῶσιν
εἰς τὴν ἁρμονίαν καὶ εἰς τὸν
ῥδυϑμόν, βακχεύουσι καὶ κατε-
ἐπειδὰν ἔνϑεοι γένωνται, ὅϑεν
1) Ich führe nur an Menon 994 καὶ τοὺς πολιτικοὺς οὐχ ἥκιστα τούτων
φαῖμεν ἂν ϑείους τε εἶναι καὶ ἐνθουσιάζειν, ἐπίπνους ὄντας καὶ κατεχομένους
ἔκ τοῦ ϑεοῦ, ὅταν κατορϑῶσι λέγοντες πολλὰ καὶ μεγάλα πράγματα, μηδὲν
εἰδότες ὧν λέγουσιν. Aus dem κατέχεσθαι ist wohl im Ion das Bild vom Magneten
erwachsen (536b). Von den andern Stellen, wo das Wort vorkommt, sei 542a
angeführt: εἰ δὲ μὴ τεχνικὸς el, ἀλλὰ ϑείᾳ μοίρᾳ κατεχόμενος ἐξ "Oungov
μηδὲν εἰδὼς πολλὰ καὶ καλὰ λέγεις περὶ τοῦ ποιητοῦ.
2) Niedlich ist das Spiel, das Plato im Dialoge mit dem Worte ἀτεχνῶς
treibt, das immer auch in der ursprünglichen Bedeutung ἄνευ τέχνης empfunden
werden soll (5326 ἀτεχνῶς νυστάξω charakterisiert sich Ion selber, vgl. 534d
54le). Hübsch ist es auch, wenn Homer scheinbar absichtslos gleich 530b #eı-
ότατος τῶν ποιητῶν heißt, oder wenn Ion immer von sich betont: εὐπορῶ ὅτι
λέγω περὶ "Oungov 532c, 533c, vgl. 533a, 536cd). Er ist eben einer von den
Männern, wie wir sie aus dem Anfang des Menon kennen, die nie das sokratische
Bewußtsein der ἀπορία haben.
8) Das Wort ist hübsch gewählt vom Hinaufsteigen auf das öynua des
Metrons im Gegensatz zum πεζὸς Λόγος.
Ion und Menon berücksichtigen Aischines’ Alkibiades. 189
οἱ ἄλλοι ἐκ τῶν φρεάτων οὐδὲ χόμενοι, ὥσπερ ai Βάκχαι ἀρύ-
ὕδωρ δύνανται ὑδρεύεσϑαι, ἐκεῖ- οντῶι ἔκ τῶν ποταμῶν μέλι
ναι μέλι καὶ γάλα ἀρύονται. καὶ γάλα κατεχόμεναι ἔμφρονες
δὲ οὖσαι οὔ, καὶ τῶν μελοποιῶν
ἣ ψυχὴ τοῦτο ἐργάζεται ἢ).
Man könnte versucht sein, grade aus dieser wörtlichen Über-
einstimmung mit Aischines ein Argument für die Unechtheit des
Ion zu entnehmen. Aber zu beachten ist, daß prinzipiell das
Verhältnis zu Aischines dasselbe ist wie im engverwandten Me-
non: Was Aischines von Sokrates selber ausgesagt hatte, wird
auf andre Personen übertragen, und wenn grade aus dieser Über-
tragung hervorgeht, daß der ἐνθουσιασμός einen Zustand der
Verzückung bedeutet — χατέχεσϑαι wird deshalb im Ion fort-
während gebraucht, — wo der Intellekt nicht funktioniert (οἷς
νοῦς μὴ πάρεστιν lon 534d, vgl. 534be und überall) ’), so ist da-
mit das Urteil über Aischines’ Auffassung von Sokrates’ Person
gefällt. Wer noch weiterhin Lust hat, Sokrates’ Wesen an der
ϑεία μοῖρα zu erklären, der soll sich sagen, daß er damit So-
krates zu den »oöv μὴ ἔχοντες rechnet — das hören wir aus dem
Menon wie aus dem Ion. Und diese Übereinstimmung spricht
natürlich dafür, daß beide Dialoge platonisch und etwa zu gleicher
Zeit verfaßt sind.
Damit ist nun auch die Zeit des Menon bestimmt. Das Ver-
hältnis zur Replik des Gorgias wie zu Aischines’ Alkibiades zeigt,
daß er nicht lange nach dem Gorgias abgefaßt sein kann. Hinzu
kommt noch, daß die persönliche Spitze, die die Anytosepisode
durch die Charakterisierung dieses Staatsmanns hat, am ehesten
kurz nach Polykrates’ Anklage verständlich ist, auf die ja auch
Aischines in seinem Dialoge Bezug nahm. Der Menon gehört
also an den Ausgang der neunziger Jahre®).
1) Plato gestaltet dann Aischines’ hübsches Bild durch den Hinweis auf die
κρῆναι μελίρρυτοι der Dichter weiter aus.
?) Man denke an die Menonstelle über die ϑεῖοι, οἵτινες νοῦν μὴ ἔχοντες
πολλὰ καὶ μεγάλα κατορϑοῦσιν (99 ο).
») Die Stelle 90a ὁ νῦν νεωστὶ εἰληφὼς τὰ Πολυκράτους χρήματα ᾿Ισμηνίας
ὁ Θηβαῖος läßt sich nicht auf die Bestechungsaffäre des Jahres 395 deuten. Denn
abgesehen davon, daß ein Anlaß für den Anachronismus hier garnicht vorlag,
heißt der persische Unterhändler bei Xenophon Hell. III, 5, 1 Timokrates, nicht
Polykrates. Irre ich nicht, so hat Wilamowitz gelegentlich auf Zenobius V, 63
verwiesen, der zur Erklärung des Sprichworts πάντα Al$ov κίνει davon erzählt,
190 Menon.
Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf den ganzen
Dialog, so müssen wir sagen, daß der Menon den Eindruck ge-
ringerer Geschlossenheit und Einheitlichkeit macht als die frühe-
ren. Schon äußerlich. Eine Szene wie die Anytosepisode, wo eine
Person als deus ex machina erscheint und wieder verschwindet,
nur weil Plato sie braucht, hat keine Parallele in seinen andern
Dialogen”). Sachlich dient diese Episode offenbar persönlicher
Polemik, die zu dem Hauptthema keine enge Beziehung hat.
Aber auch die Repliken auf Gorgias und Aischines führen dazu,
daß Punkte von geringerer Bedeutung stärker hervortreten. In
andern Partien wieder macht sich ein methodologisches Interesse
geltend. Daher ist es beim Menon nicht so leicht wie sonst, den
Inhalt auf eine einheitliche Formel zu bringen.
Das bleibt aber trotzdem ganz deutlich, daß es ein
zentraler Gedanke ist, um den sich alles gruppiert, und
daß wir von diesem ausgehen müssen, wenn wir nach
der inneren Notwendigkeit fragen, die Plato zur Ab-
fassung des Dialoges trieb. Das ist die Lehre von der
Wiedererinnerung, die uns den tiefsten Sinn der sokra-
tischen Dialektik offenbaren will, die uns zeigen soll,
wie man von der Aporie zum positiven Forschen vor-
dringen kann, wie prinzipiell ein Erkennen und Wissen
möglich ist). Und nun wollen wir uns einmal ansehen, wie
Plato diesen zentralen Abschnitt einleitet:
„Wenn wir die Präexistenz der Seele mit den Orphikern an-
Polykrates von Theben habe einen Platz gekauft, auf dem der Schatz des Mar-
donios vergraben sein sollte, und für die Suche nach dem Schatz jenen Spruch
als Anweisung von Delphi erhalten. — Über das Verhältnis zu Xenophons Ana-
basis vgl. 5. 167°.
1) Auch der abrupte Eingang ist einzigartig.
2) Unrichtig meint Th. Gomperz, Gr. Denker II, S. 303, daß „die Ehren-
rettung der athenischen Staatsmänner den Kern- und Quellpunkt des Menon aus-
mache“. Gewiß will Plato sein früheres Urteil über diese mildern, und dabei hat
ihn sicher das Gefühl geleitet, er sei im Gorgias, wenn er einem Perikles vor-
warf nur nach der Lust gestrebt zu haben, ungerecht geworden. Gewiß hat die
Liebe zu seinem Athen dazu beigetragen, daß er die Bitterkeit überwand und
die schroffe Verurteilung seiner großen Landsleute zurücknahm. Aber das wesent-
liche ist doch, daß er inzwischen auf einen Standpunkt gelangt war, der ihm
eine gerechtere Beurteilung der praktischen Tätigkeit ermöglichte. Und damit
hängt es zusammen, daß jetzt seine ganze hoffnungsfreudige Stimmung ihn zur
Milde gegen andere führte.
Die Krisis in Platos Entwicklung und ihre Überwindung. 191
nehmen, so ergibt sich, daß die Seele schon vor dem Eintritt
ins irdische Leben alles kennen gelernt hat. Dann hindert nichts
die Annahme, daß die Erinnerung an einen einzelnen Punkt
genügt, um durch Assoziation auch die an alle andern wachzu-
rufen. Forschen und Lernen ist nichts als Erinnerung. Daher
dürfen wir dem eristischen Satze, daß ein Forschen nicht mög-
lich sei, nicht trauen. Denn der würde uns faul machen und
mag wohl bequemen Naturen angenehm klingen, der andre Stand-
punkt aber gibt Kraft zum Arbeiten und Forschen. Ich glaube
an seine Richtigkeit und will so zusammen mit dir erforschen, was
die Tugend ist“ (81d).
Nachdem dann Sokrates das Experiment mit Menons Skla-
ven angestellt und dadurch die Lehre von der Unsterblichkeit
der Seele bestätigt gefunden hat, schließt er 86b so ab: „Un-
bedingte Sicherheit möchte ich für unser Ergebnis im ganzen
nicht in Anspruch nehmen; aber daß die Überzeugung, wir
müßten nach dem forschen, was wir nicht wissen, uns mehr
Kraft und Energie gibt und uns weniger zur Faulheit verleitet
als der Gedanke, wir könnten das, was wir nicht wissen, nie ent-
decken und dürften darnach nicht forschen — für diesen Satz
_ will ich mit aller Kraft eintreten, wenn ich dazu imstande bin,
mit Worten und mit der Tat.“
Es gibt keine Stelle in den platonischen Dialogen,
wo Plato uns selber einen wichtigeren Einblick in seine
eigne Entwicklung gewährt als hier. Er betont aus-
drücklich den hypothetischen Charakter der Über-
zeugung, die ihm auf Grund des orphischen Unsterb-
lichkeitsglaubens aufgegangen ist. Wenn er trotzdem
mit so starken Worten sich zu dem neuen Standpunkt
bekennt, wenn er ausdrücklich als das Wesentliche her-
vorhebt, daß dieser neue Standpunkt ihm Mut und Kraft
zur Arbeit, zum Forschen gibt, so muß er eine schwere
Krisis hinter sich haben, muß eine Zeit erlebt haben,
wo Mut und Kraft zu erlahmen drohten, weil ihm die
Möglichkeit des Wissens und damit des Lehrens und
Wirkens zu entschwinden schien. Wie leicht ein Mann,
der vom sokratischen Bekenntnis des Nichtwissens aus.
ging, in diese Krisis geraten konnte, das liegt auf der
Hand. Im Menon hat Plato das Gefühl, über die Sokratik
192 Menon.
hinausgewachsen zu sein und sich einen neuen Boden,
eine sichere Grundlage für eine eigene Weltanschauung
geschaffen zu haben. Und wenn er auch über diese
positiv noch kaum etwas sagt, so hat er doch über sie
schon ganz bestimmte Vorstellungen. Das dürfen wir
wohl daraus schließen, daß er nicht bloß am Schluß des
Dialoges andeutet, er könne auf der neuen Grundlage
die Untersuchung über das Wesen der Tugend führen,
sondern schon vorher betont, daß die Seele ja schon in
der Präexistenz alles kennen gelernt habe und deshalb
sich sehr wohl an alles wieder erinnern könne (81c).
Plato betont p. 86c ausdrücklich, daß die Lehre von der
Wiedererinnerung für ihn zunächst den Wert einer Arbeitshypo-
these hat, die nicht sicher erwiesen ist. Aber daß er für diese
Hypothese wissenschaftlichen Charakter in Anpruch nimmt, das
spricht er in seiner feinen Weise gleich zu Anfang aus, wenn
er seine Gewährsmänner bezeichnet als die Priester und Prieste-
rinnen ὅσοις μεμέληκε περὶ ὧν μεταχειρίζονται λόγον οἵοις τ᾽ εἶναι
διδόναι (81a). Denn das heißt doch, daß die Orphiker bemüht
sind, ihre Religion wissenschaftlich zu gestalten, sogut wie die
Medizin deshalb eine Wissenschaft ist, weil sie λόγον ἔχει τούτων
ἑκάστου δοῦναι (Gorg. 501a), und dadurch gewinnt nun natürlich
auch seine feierliche Versicherung, daß er an diese Anschauung
glaubt (81 6), die rechte Bedeutung‘).
Ehe wir Platos Fortschreiten auf dem neuen Wege ver-
folgen, werfen wir einen Blick auf den Gorgias zurück. Daß
dieser dem Menon unmittelbar vorangegangen ist, haben wir aus
verschiedenen Zeichen erschlossen. Im Menon ist Plato voller
freudiger Hoffnung, aber er blickt zurück auf eine kritische Zeit,
wo seine Freudigkeit zu erlahmen drohte, weil er an der Mög-
lichkeit des Erkennens und Lehrens selber zweifelte. Ich denke,
so wird es uns erst vollständig klar, wie es kommt, daß der Gorgias
von allen platonischen Dialogen die trübste Stimmung zeigt.
Als höchstes Ziel schwebte ihm schon im Gorgias, das sahen
wir durch die Analyse des Dialogs, die politisch - ethische Refor-
mation des ganzen Volkes vor. Aber den Weg, der zu diesem
Ziele führte, sah er noch nicht. Nun kam die Entdeckung, von
1) Das ist bei Ritter S. 571—573 nicht beachtet.
Sophistik und Rhetorik. 193
der im Menon sein Herz voll ist, und gab ihm die Gewißheit,
daß das Wissen möglich sei, daß es möglich sei, auf andre sitt-
lich einzuwirken. Sollen wir nicht erwarten, daß er jetzt ver-
sucht hat, von der neuen Basis aus den Weg zum höchsten Ziele
zu finden?
Anhang.
Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
Kürzlich hat Heinrich Gomperz in seinem in den Einzel-
heiten vielfach anregenden und förderlichen Buche „Sophistik
und Rhetorik“, Leipzig 1912 den Nachweis versucht, daß das
Wesen der Sophistik überwiegend, wenn nicht ausschließlich,
durch das rhetorische Interesse bestimmt ist. „Grade in dieser
bewußten Proklamierung eines formalen Bildungsideals, in diesem
Bekenntnis zu einer rhetorischen Kultur erblicke ich jenes Mo-
ment, das neben der äußerlichen Gemeinschaft der Berufsübung
und im Zusammenhange mit ihr die Sophisten zu einer Einheit
zusammenschloß“ (S. 41). Daß Gomperz hier mit Unrecht die for-
male Kunst wesentlich als Beredsamkeit faßt, daß er das rheto-
rische Interesse stark übertreibt, hat schon Wendland in den
Göttinger gel. Anzeigen 1913, S. 53ff. auf Grund der erhaltenen
Fragmente vortrefflich ausgeführt. Wir dürfen hinzufügen, daß
Gomperz’ Auffassung der Sophistik im schärfsten Gegensatz zu
der des sachkundigsten Zeitgenossen, zu der Platos steht.
Es ist für Gomperz verhängnisvoll gewesen, daß er nicht
von dieser Auffassung der Zeitgenossen, sondern von subjektiven
allgemeinen Erwägungen ausgegangen ist. Für ihn ist es von
vornherein Voraussetzung, daß die Griechen des fünften und
vierten Jahrhunderts die Sophisten als eine einheitliche Gruppe
empfanden, und zwar keineswegs nur im Sinne einer äußerlichen
Berufsgemeinschaft, sondern auch in der einer gemeinsamen Ver-
tretung bestimmter Denkweise und Lebensanschauung (S. 39),
und er sucht nun nach einem Moment, das von diesem Gesichts-
punkte aus die Sophisten zu einer Einheit zusammenschließen
konnte. Dieses Moment findet er aus allgemeinen Gründen in
der Rhetorik und geht nun erst nachträglich an die Prüfung
heran, ob diese Annahme sich an den Fragmenten und an
den Zeugnissen der Zeitgenossen bestätigt.
Mit den Zeugnissen der Zeitgenossen, die er für seine Auffas-
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. ᾿ 13
194. Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
sung anführt, ist es aber sehr schlecht bestellt. Unberechtigt ist zu-
nächst die Art, wie er aus Aristophanes’ Wolken die Gesamtvor-
stellung, die man in Griechenland von der Sophistik hegte, gewinnt.
Er stellt fest, daß Aristophanes in der Person des Sokrates zwei
Elemente verbindet, die Naturphilosophie und die Kunst, dem λόγος
ἄδικος zum Siege zu verhelfen. „Da wir nun wissen, daß dieses Ele-
ment des Aristophanischen Bildes (die Erforschung der himm-
lischen Dinge) nur zu den Naturphilosophen, zu den Sophisten
aber gar nicht paßt, so müssen wir annehmen, was von jenem
Bilde nach Abzug dieses Elementes übrig bleibt, sei etwa das-
jenige, was dem großen Komödiendichter als Kennzeichen ‚der
Sophistik‘ erschien“ (S. 39). Ich kann in diesem Satze nur eine
petitio principi sehen‘. Denn das soll doch grade erst be-
wiesen werden, daß das Lehren der Naturphilosophie — nur um
das Lehren, nicht um die Wissenschaft handelt es sich hier na-
türlieh — für die Zeitgenossen nicht zum Wesen der Sophistik
gehört. Ich glaube, grade die Wolken zeigen uns deutlich, daß
das athenische Publikum im sophistischen Lehrbetriebe sich den
Unterricht in naturphilosophischen, geographischen, gramma-
tischen, rhetorischen Dingen friedlich nebeneinander dachte, und
z. B. bei Hippias lehrt ja doch die nicht voreingenommene Inter-
pretation der Fragmente, daß sein Unterricht sich tatsächlich auf
all diese Gegenstände und noch etliche mehr erstreckte.
Gomperz beruft sich auch auf zwei ausdrückliche Äuße-
rungen der Zeitgenossen. Aber wenn bei Thukydides III, 38, 7
Kleon den Athenern vorwirft, sie glichen mehr dem Auditorium
eines Sophisten als Leuten, die ernsthaft über politische Ange-
legenheiten beraten, so beweist doch das nur die allbekannte Tat-
sache, daß der Sophist in einer formvollendeten Epideixis sich
dem Publikum vorstellte. Aber daß eine solche Epideixis nicht
auch der Schaustellung sachlicher Kenntnisse dienen konnte, daß
etwa eine Epideixis gar ein erschöpfendes Bild der sophistischen
Ausbildung gab, das kann doch kein Unbefangener herauslesen.
Außer dieser Thukydidesstelle führt Gomperz von Zeitge-
nossen nur die beiden Stellen des Gorgias an (465c und 520a),
1) Eine ähnliche petitio prineipii ist es, wenn Gomperz als Beweis dafür,
daß Hippias ein Lehrer der Beredsamkeit war, S. 73 einzig die Stelle Apol. 19c
anführt, obwohl er selber zugeben muß: „direkt bezeugt wird hier allerdings
nur Jugendunterricht im allgemeinen“. — Natürlich bezweifle ich übrigens nicht,
daß Hippias auch Rhetorik gelehrt hat.
Heinrich Gomperz’ Auffassung der Sophistik. 195
wo Plato hervorhebt, daß praktisch der Rhetor dem Sophisten
ganz ähnlich ist, wenn nicht mit ihm zusammenfällt. Aber er
übersieht dabei ganz, daß die ῥήτορες, von denen im Hauptteil
des Gorgias die Rede ist, gar nicht die Berufsrhetoren, sondern
die praktischen Redner sind (vgl. S. 150). Insbesondere an der
von Gomperz angezogenen Stelle 520a ist es ganz klar, daß die
ῥήτορες, die Plato mit den σοφισταί vergleicht, nicht das geringste
mit den Lehrern der Rhetorik zu tun haben. Es sind die Staats-
männer, οἱ φάσκοντες προεστάναι τῆς πόλεως, wie Plato dort mit
größter Deutlichkeit 520a 519be sagt, Männer wie Perikles, Themi-
stokles (519a), Kallikles, die auf die Berufslehrer, die Sophisten,
als ἄνθρωποι οὐδενὸς ἄξιοι (520a) verächtlich herabsehen und
sich nun von Plato sagen lassen müssen, daß sie tatsächlich nicht
besser sind als diese, da sie ebensowenig wie diese das Beste
des Volkes im Auge haben und nur eine Afterkunst treiben.
Plato will also zeigen, daß zwei Tätigkeiten, die man selbstver-
ständlich als ganz verschieden ansah, politische Beredsamkeit
und sophistischer Unterricht, insofern zusammengehören, als sie
beide Einfluß auf das Leben des Volkes suchen, ohne dessen
Wohl wahrhaft fördern zu können. Mit der Frage, wie weit
man den rhetorischen Unterricht als charakteristisch für die So-
phistik und ihre Erziehungsmethode empfand, hat diese Stelle an
sich nichts zu tun.
Aber in dieser Erörterung fällt nun allerdings ein von Gom-
perz nicht beachtetes Wort, das uns deutlich zeigt, wie man die
Sophistik auffaßte. Es heißt 519e: οἱ σοφισταὶ τἄλλα σοφοὶ ὄντες
τοῦτο ἄτοπον ἐργάζονται πρᾶγμα" φἅσκοντες γὰρ ἀρετῆς διδάσκα-
λοι εἶναι πολλάκις κατηγοροῦσι τῶν μαϑητῶν ὡς ἀδικοῦσι σφᾶς αὐ-
τούς (vgl. 519 extr. τῶν φασκόντων παιδεύειν ἀνθρώπους εἰς ἀρε-
τήν). Also nicht Rhetorik, sondern ἀρετή wollen die Sophisten
lehren, und daß bei ἀρετή hier an die Sittlichkeit, speziell die
δικαιοσύνη gedacht ist, ergibt der Zusammenhang. Deutlich ist aber
auch, daß Plato mit diesen Worten das ἐπάγγελμα, die Profession
der Sophisten angeben will. Und diese Bezeichnung der So-
phisten als ἀρετῆς διδάσκαλοι hat bei Plato auch sonst die
Bedeutung eines festen Terminus.
Das zeigt schon die grundlegende Stelle des Protagoras, wo
Plato die Entstehung der Sophistik schildert (348e, Sokrates
spricht zu Protagoras): σὺ δὲ καὶ αὐτὸς dyadög εἶ καὶ ἄλλους
13*
196 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
οἷός T εἶ ποιεῖν ἀγαθούς, καὶ οὕτω πεπίστευκας σαυτῷ, ὥστε καὶ
ἄλλων ταύτην τὴν τέχνην ἀποκρυπτομένων σύ γ᾽ ἀναφανδὸν σεαυ-
τὸν ὑποκηρυξάώμενος eis πάντας τοὺς “ἤλληνας, σοφιστὴν ἐπονο-
udoag σεαυτόν, ἀπέφηνας παιδεύσεως καὶ ἀρετῆς διδάσκαλον,
πρῶτος τούτου μισϑὸν ἀξιώσας ἄρνυσϑαι. Ob der Ausdruck, wie
es diese Stelle nahelegt, von Protagoras selber stammt, lasse ich
dahingestellt. Jedenfalls treffen wir ihn technisch nicht bloß an
der besprochenen Gorgiasstelle, sondern auch in dem Dialog, der
das Problem der Lehrbarkeit der Tugend wieder aufnimmt, im
Menon. Dort fragt Menon 896: ἀρετῆς διδάσκαλοι οὐ δοκοῦσί
σοι εἶναι; Als solche kommen zunächst die berufsmäßigen Tugend-
lehrer in Betracht, und Sokrates fragt deshalb 91b Anytos, ob
man nicht den Erziehungsbedürftigen schicken solle παρὰ τούτους
τοὺς ὑπισχνουμένους ἀρετῆς διδασκάλους εἶναι καὶ ἀπο-
φήναντας αὑτοὺς κοινοὺς τῶν ᾿Βλλήνων τῷ βουλομένῳ μανϑάνειν,
μισϑὸν τούτου ταξαμένους τε καὶ πραττομένους (das Zitat der
Protagorasstelle ist hier offensichtlich. Da Anytos sich über
diesen Gedanken entsetzt, wird mit ihm weiter erörtert, ob ein
Praktiker ἀρετῆς διδάσκαλος — der Terminus fällt 986. — ge-
wesen sei. Nach seinem Weggang fragt aber Sokrates Menon
nochmals (95b): οἱ σοφισταὶ οὗτοι, οἵπερ μόνοι ἐπαγγέλλονται,
δοκοῦσι διδάσκαλοι εἶναι ἀρετῆς; Menon antwortet: Καὶ Ποργίου
μάλιστα, ὦ Σώκρατες, ταῦτα ἄγαμαι, ὅτι οὐκ ἄν ποτε αὐτοῦ τοῦτο
ἀκούσαις ὑπισχνουμένου, ἀλλὰ χαὶ τῶν ἄλλων καταγελᾷ, ὅταν
ἀκούσῃ ὑπισχνουμένων * ἀλλὰ λέγειν οἴεται δεῖν ποιεῖν δεινούς. Auf
die Sonderstellung, die damit Gorgias gegeben wird, haben wir
schon 5. 170 hingewiesen und kommen gleich darauf zurück.
Hier ist für uns wichtig, daß Plato es als einen scharfen Gegen-
satz zur Sophistik betrachtet, wenn jemand darauf verzichtet,
ἀρετῆς διδάσκαλος zu sein und sich die formale rhetorische Aus-
bildung als Ziel steckt.
Daß Protagoras selber nichts ferner gelegen hat als der Ge-
danke, das Wesentliche der Sophistik sei die rhetorische Aus-
bildung, das sehen wir aus seinen eigenen Ausführungen, die
Plato Prot. 348e nur kurz zusammenfaßt. Denn offenbar gibt
Plato doch vorher 316dff. des Sophisten eigene Gedanken wieder,
wenn er ihn erklären läßt, die Sophistik sei eine Erziehungs-
kunst, die seit alter Zeit geübt worden sei. Als seine Vorgänger
betrachtet er die Dichter wie Homer, die Lehrer der Gymnastik
Die Sophisten sind die ἀρετῆς διδάσκαλοι. 197
wie Ikkos und Agathokles, also die Männer, die nach griechischer
Auffassung als Erzieher zur xa/oxdyadia gelten konnten. Ihr
Nachfolger will Protagoras sein. Hätte er die Erziehung aus-
schließlich auf die Rhetorik basiert, würde er wohl andre An-
knüpfungspunkte gesucht haben.
Daß für Plato die Sophisten die Männer sind, die zur ἀρετή
erziehen wollen, zeigen noch andre Stellen. In der Apologie
werden Gorgias, Prodikos, Hippias, Euenos als die Männer ge-
schildert, die es verstehen, die jungen Leute zu erziehen und
ihnen die πολιτικὴ ἀρετή beizubringen. Von Rhetorik fällt kein
Wort‘). Auch später erscheinen Männer wie Prodikos und Hip-
pias bei Plato nie als Rhetoren. Von Protagoras wird wohl im
Phaidros erwähnt, daß er durch seine ὀρϑοέπεια die Rhetorik ge-
fördert habe (267c), aber Rhetor ist auch er für Plato nicht, und
in der Apologie, die er dem Protagoras im Theaetet 166.7 ın
den Mund legt, wird in einer an den Gorgias erinnernden Zu-
sammenstellung ausdrücklich von dem Redner, der durch seine
öffentliche Tätigkeit die Anschauungen des ganzen Volkes leitet,
der Sophist geschieden, der sich auf die Jugenderziehung be-
schränkt: χατὰ δὲ τὸν αὐτὸν λόγον καὶ ὃ σοφιστὴς τοὺς παιδευ-
ομένους οὕτω (ἃ. ἢ. durch Beibringung besserer Erkenntnisse und
Anschauungen) δυνάμενος παιδαγωγεῖν σοφός τε καὶ ἄξιος πολλῶν
χρημάτων τοῖς παιδευϑεῖσιν (1670). Nehmen wir noch hinzu,
daß auch in den sophistischen Doppelreden 6, 7 der Terminus
ἀρετᾶς διδάσκαλοι uns wieder begegnet: πρὸς δὲ τὰν δευτέραν
ἀπόδειξιν, ὡς ἄρα οὐκ ἐντὶ διδάσκαλοι (Sc. ἀρετᾶς) ἀποδεδεγμένοι,
τί μὰν τοὶ σοφισταὶ διδάσκοντι ἀλλ᾽ ἢ σοφίαν καὶ ἀρετᾶν; ohne
daß an Rhetorik zu denken ist, und daß im achten Kapitel dort
die Rhetorik nur als einzelner Zweig des sophistischen Unter-
richts erscheint, der ebensogut z. B. auch die Unterweisung in
der Naturwissenschaft umfaßt, so dürfen wir wohl sagen: Die
Anschauung, daß die Rhetorik das Gharakteristikum der
Sophistik sei, steht im schärfsten Gegensatz zu der Auf-
fassung Platos und seiner Zeitgenossen. Für sie sind die
Sophisten die Männer, die als ihr Ziel die Erziehung der
Jugend haben, die ἀρετῆς διδάσκαλοι. Natürlich bildet die
formale Ausbildung ein Stück ihres Unterrichts, aber wer wie
!) Über die falsche Benutzung der Stelle durch Gomperz vgl. S. 1941.
2) Über diese Apologie vgl. sonst Gomperz 5. 261#f.
198 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
Gorgias diese formale Ausbildung als sein eigentliches Ziel be-
trachtet, stellt sich damit in Gegensatz zu Protagoras, dem Be-
gründer der Sophistik, und zu der in dieser herrschenden Richtung.
Welches ist nun die ἀρετή, zu der die Sophisten erziehen
wollen, und welcher Weg führt zu ihr? Hier können wir jetzt
auf das zurückgreifen, was uns die Analyse der platonischen
Dialoge, zunächst des Hippias und Protagoras, gelehrt hat. Wir
sahen (S. 81), daß Plato dort zwei Richtungen innerhalb der
Sophistik mit aller Bestimmtheit scheidet. Die eine ist vertreten
durch den Altmeister der Sophistik, durch Protagoras. Die andre
hat ihren typischen Vertreter in Hippias. Beide haben als Ziel
die Ausbildung der Jugend zur πολιτικὴ ἀρετή, das βελτίους
ποιεῖν τοὺς νέους. Während aber Protagoras das Wesen der
πολιτικὴ ἀρετή, wie besonders der Mythos zeigt (S. 80), in der
σωφροσύνη und δικαιοσύνη findet und deshalb bewußt eine sitt-
liche Erziehung zum Ziele nimmt, denkt der πολυμαϑής Hippias
bei der πολιτικὴ ἀρετή nur an die Fähigkeit, sich im öffentlichen
Leben durchzusetzen und steckt sich für seine Erziehungstätigkeit
das Ziel, eine Menge von Kenntnissen, eine „allgemeine Bildung“
zu vermitteln. Natürlich will Plato dabei nur zwei Hauptrich-
tungen sondern, und er legt keinen Wert darauf, etwa einen
Mann wie Prodikos einzuordnen. Immerhin ist die Absıcht der
Schonung diesem gegenüber unverkennbar, und wir werden ihn
eher zu der Seite rechnen, die offenbar Plato mit größerer Sym-
pathie behandelt.
Trotz dieser Verschiedenheiten betrachtet Plato im Prota-
goras die Sophisten als eine einheitliche Gruppe. Das zeigt sich
am besten darin, daß er in dem Vorgespräch 312—314 das Wesen
„des Sophisten“ zu bestimmen sucht. Die Definition, die er noch
im Sophistes 223f. wieder verwertet, lautet (313d): ὁ σοφιστὴς
τυγχάνει ὧν ἔμπορός τις ἢ κάπηλος τῶν ἀγωγίμων, dp ὧν ψυχὴ
τρέφεται, und als die geistigen Waren, mit denen er hausiert,
werden die μαϑήματα bezeichnet. Nehmen wir die andern Be-
stimmungen des Protagoras hinzu, so ergibt sich: Plato be-
trachtet trotz aller Verschiedenheiten im einzelnen die Sophisten
als eine einheitliche Klasse. Es sind die Männer, die für Geld
den Beruf des Jugendbildners ausüben. Charakteristisch ist da-
bei für sie, daß sie Kenntnisse beibringen, die sie sich nicht
selbst erarbeitet haben, sondern nur vermitteln.
Die Rhetorik ist für Plato zuerst nur sekundäres Moment. 199
Am wichtigsten ist dabei für uns, daß in diesen Dialogen
Plato das formale Moment der Rhetorik bewußt ausscheidet.
Ganz unberücksichtigt läßt er es natürlich nicht. Denn ab-
gesehen davon, daß Protagoras sich als Meister der Form prä-
sentiert, erklärt er als sein Erziehungsprinzip: τὸ δὲ μάϑημά
ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ
οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως, ὅπως τὰ τῆς πόλεως
δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν (318e). Aber be-
zeichnend ist, daß das sachliche Moment, die εὐβουλία, das
eigentliche Ziel ist und daß nur, soweit diese im öffentlichen
Leben sich nützlich machen soll, auch die rhetorische Ausbildung
am Schluß ein Plätzchen findet‘). Daß Plato mit vollem Be-
wußtsein so vorgeht, zeigt uns die grundsätzliche Erklärung, die
er in dem Gespräch über das Wesen der Sophistik abgibt. Denn
hier lehnt er p. 312d, wie wir schon S. 131 sahen, mit voller
Bestimmtheit die Definition des Sophisten als ἐπιστάτης τοῦ ποι-
ἦσαι δεινὸν λέγειν ab und scheidet das formale Moment für die
Wesensbestimmung des Sophisten aus. Nur auf den Charakter
der materiellen Kenntnisse, die der Sophist übermittelt, kommt
es an. Wenn er, um die jungen Leute für die öffentliche Tätig-
keit vorzubereiten, auch die Fähigkeit der Rede lehrt, so ist dieser
rhetorische Unterricht ein sekundäres Moment, das sich aus dem
Hauptziel, der Erziehung zur πολιτικὴ ἀρετή, nebenher ergibt.
Aber der rhetorische Unterricht war praktisch jedenfalls für
Männer wie Gorgias von solcher Wichtigkeit, daß mit einer
solehen Erklärung die Sache auf die Dauer nicht erledigt war.
Daher kommt Plato im Gorgias auf die Frage zurück. Hier geht
er, wie wir sahen (8. 132), ausdrücklich von den kurzen An-
deutungen des Protagoras aus, sucht aber nun zu zeigen, wer
das sekundäre Moment, die rhetorische Ausbildung, zum primären
erhebe, könne sich dann nicht mehr, ohne in innere Widersprüche
zu geraten, ἀρετῆς διδάσκαλος nennen, müsse auf die sittliche Er-
ziehung verzichten. Voraussetzung war dabei für Plato, daß
Gorgias diese sittliche Erziehung tatsächlich als Ziel vorschwebe.
Aber Gorgias zog nun die Konsequenzen aus seiner Erziehungs-
methode. Ich muß die wichtige Stelle des Menon (95b), obwohl
1) H. Gomperz, $. 127 verschiebt Platos bewußte Anordnung, wenn er trotz-
dem das rhetorische Element für das wesentliche erklärt und die εὐβουλία in
den Hintergrund drängt.
200 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
ich sie schon S. 169 ausführlich behandelt habe, nochmals her-
setzen: 8. Ti δὲ δή; οἱ σοφισταί σοι οὗτοι, οἵπερ μόνοι ἐπαγγέλλον-
ται, δοκοῦσι διδάσκαλοι εἶναι ἀρετῆς; M. Καὶ Ποργίου μάλιστα, ὦ
Σώκρατες, ταῦτα ἄγαμαι, ὅτι οὐκ ἄν ποτε αὐτοῦ τοῦτο ἀκούσαις
ὑπισχνουμένου, ἀλλὰ καὶ τῶν ἄλλων καταγελᾷ, ὅταν ἀκούσῃ ὑπισχ-
νουμένων" ἀλλὰ λέγειν οἴεται. δεῖν ποιεῖν δεινούς. Wieder er-
scheint hier der Sophist als der Tugendlehrer, und Gorgias stellt
sich nun mit dieser Erklärung, die Plato gewiß authentisch mit-
teilt, nicht etwa in Gegensatz zu den übrigen Sophisten, sondern
zu den Sophisten überhaupt. Er fühlt sich als Redelehrer und
sondert sich deshalb von der Sophistik ab.
Wenn wir Protagoras, Gorgias, Menon noch einmal über-
blicken, so müssen wir sagen: Es kann keine Rede davon
sein, daß etwa zu der Zeit, wo Plato den Protagoras
schrieb, die Sophistik bewußt ein formales Bildungs-
ideal proklamiert hatte oder daß man das stillsch wei-
gende Bekenntnis zu diesem Ideal als charakteristisch
für die Sophisten empfand. Sie waren die ἀρετῆς δι-
δάσκαλοι. Zu ihrem Unterricht gehörte die Rhetorik.
Der eine betrieb sie praktisch weniger, der andere mehr,
bei manchem wie Gorgias nahm sie die erste Stelle ein.
Aber zu einer prinzipiellen Klarheit über das Bildungs-
ideal war es nicht gekommen. Erst Plato hat im Gorgias
das Wesen einer formal-rhetorischen Bildung scharf
herausgearbeitet. Und Gorgias hat, um nicht in Wider-
spruch zu geraten, ausdrücklich sich zu diesem Bildungs-
ideal bekannt. Aber damit hat er sich von den ἀρετῆς
διδάσκαλοι, den Sophisten, abgesondert.
Ein paar Jahre nach Gorgias’ programmatischer Erklärung
hat Isokrates seine Schule in Athen eröffnet. Daß das nicht
bloß eine Filiale des Gorgias sein sollte, zeigt der Stil seiner
Programmschrift. Aber in seiner Grundanschauung war er frei-
lich Gorgianer und wollte sich als solcher zeigen. Man hat sich
bisher, soviel ich sehe, die Frage nicht scharf präzisiert, wie
Isokrates seiner Programmschrift den Titel κατὰ τῶν σοφιστῶν
eeben und sich somit in Gegensatz zu den Sophisten stellen
konnte. Verstehen kann man ihn, glaube ich, nur, wenn man
von der im Menon erhaltenen Erklärung des Gorgias ausgeht.
Denn die Sophisten, gegen die Isokrates polemisiert, werden
Die Herausarbeitung des formal-rhetorischen Bildungsideals. 201
gleich zu Anfang gekennzeichnet als die Leute, die behaupten,
ἀρετῆς διδάσκαλοι zu sein, und genau wie Gorgias erklärt Isokrates
solche Versprechungen für übertrieben und lächerlich (1—8) ').
Er selbst will wie Gorgias zur Tüchtigkeit im öffentlichen
Leben durch die formale Ausbildung der Rede erziehen (τὴν τῶν
λόγων τῶν πολιτικῶν ἐπιμέλειαν 21). Nun gab es aber damals
in Athen seit einiger Zeit”) schon Leute, die auch die πολιτικοὶ
λόγοι zu übermitteln versprachen. Von ihnen scheidet Isokrates
sich im nächsten Abschnitt (9—13). Diese Leute glauben die
Kunst der Rede, die dem künstlerischen Schaffen des Dichters
entspricht, nach einer festen Schablone behandeln zu können’)
und drücken damit die Lehrtätigkeit des Rhetors auf das Niveau
des Elementarlehrers herab. Ihnen gegenüber entwickelt dann
Isokrates in einem wieder von Gorgias stark beeinflußten*) Ab-
schnitt (14—18) positiv, daß dieses mechanische Lehren der Rhe-
torik überhaupt nicht möglich ist, da der Erfolg des Unterrichts
nicht bloß von der ἐπιστήμη abhängig ist, sondern die gute
Naturanlage des Schülers und vor allem die lange Übung und
das Vorbild des Lehrers wirken muß.
ἢ Vgl. 3 σύμπασαν δὲ τὴν ἀρετὴν καὶ τὴν εὐδαιμονίαν οὕτως ὀλίγου τι-
μῶντες, ὡς νοῦν ἔχοντες διδάσκαλοι τῶν ἄλλων ἀξιοῦσιν γίγνεσϑαι. Wenn
er gleich darauf sich über diese Leute lustig macht, die τὴν ἀρετὴν καὶ τὴν
σωφροσύνην ἐνεργαξζόμενοι doch sich über das Unrecht und die Undankbarkeit
der Schiller beklagen, so ist die Übereinstimmung mit Gorg. 519c gewiß kein
Zufall. Natürlich kann hier nicht etwa Gorgias für beide Vorbild sein, sondern
Plato ist original.
?) Vgl. die gleich aus $ 19 anzuführende Stelle. Auf die besonders von
Gercke, Hermes 32, Rh. Mus. 54 und Süß, Ethos 5. 31ff. behandelte Frage, an
wen Isokrates hier denkt, kann ich nicht eingehen. Beistimmen möchte ich nur
Süß darin, daß in 9—13 nur eine Klasse von Gegnern kritisiert wird. Wichtig
ist für diese, daß sie im Gegensatz zu den 19.20 geschilderten Dikographen
eine allgemeine παιδεία zu geben behaupten.
?») 12 οἱ ποιητικοῦ πράγματος τεταγμένην τέχνην παράδειγμα φέροντες
λελήϑασιν σφᾶς αὐτούς. Der γραμματοδιδάσκαλος kann eine ganz feste τέχνη
anwenden, aber es ist verkehrt, solche Prinzipien auf die Rhetorik zu übertragen.
Ὁ Vgl. Gercke und Süß. — Wenn Isokrates $ 14 sagt: ἡγοῦμαι πάντας
dv μοι τοῖς εὖ φρονοῦντας συνειπεῖν, ὅτι πολλοὶ μὲν τῶν φιλοσοφησάντων
ἰδιῶται διετέλεσαν ὄντες, ἄλλοι δέ τινες οὐδενὶ πώποτε συγγενόμενοι τῶν σο-
φιστῶν καὶ λέγειν καὶ πολιτεύεσθαι δεινοὶ γέγονασιν, so sind das die alten
Argumente gegen die Lehrbarkeit der Tugend. Vgl. Dialexeis 6, ὅ. 6: τέταρτα
δέ, ὅτι ἤδη τινὲς παρὰ σοφιστὰς ἐλϑόντες οὐδὲν ὠφέληϑεν. πέμπτα δέ, ὅτι
πολλοὶ οὐ συγγενόμενοι σοφισταῖς ἄξιοι λόγω γεγένηνται. Vgl. S, 91.
202 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
Οἱ μὲν οὖν ἄρτι τῶν σοφιστῶν ἀναφυόμενοι καὶ νεωστὶ προσ-
πεπτωκότες ταῖς ἀλαζονείαις εἰ καὶ νῦν πλεονάζουσιν, εὖ οἶδ᾽ ὅτι
πάντες ἐπὶ ταύτην κατενεχϑήσονται τὴν ὑπόϑεσιν. Λοιποὶ δ᾽ ἡμῖν
εἰσιν οἵ πρὸ ἡμῶν γενόμενοι καὶ τὰς καλουμένας τέχνας γράψαι
τολμήσαντες (19). Dies sind die Fachrhetoren, die überhaupt keine
allgemeine Ausbildung geben wollten und sich auf die Vorbereitung
für die Gerichtsrede beschränkten. Sie haben der Rhetorik erst
recht geschadet. Denn wenn die in 1—8 geschilderten Sophisten
ἀρετῆς διδάσκαλοι zu sein behaupteten, gilt von diesen: πολυ-
πραγμοσύνης καὶ πλεονεξίας ὑπέστησαν εἶναι διδάσκαλοι (19. 20).
Καίτοι τοὺς βουλομένους πειϑαρχεῖν τοῖς ὑπὸ τῆς φιλοσοφίας
ταύτης προσταττομένοις πολὺ ἂν ϑᾶττον πρὸς ἐπιείκειαν ἢ πρὸς
δητορείαν ὠφελήσειεν. Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung ist
freilich, das betont Isokrates nochmals, nicht lehrbar. Er ver-
spricht nicht, ἀρετῆς διδάσκαλος zu sein. Aber wer sittlich gut
veranlagt ist, der wird allerdings durch Isokrates’ Unterricht die
beste Förderung erfahren (21).
Von dem Gegensatz gegen die φάσκοντες ἀρετῆς διδάσκαλοι
εἶναι geht Isokrates aus‘), und deutlich ist dabei, daß er in der
ἀρετή die sittliche Beschaffenheit sieht. Dann faßt er freilich,
was nach dem Gebrauch von ἀρετή möglich war, den Begriff
Sophist in weiterem Sinne und versteht darunter alle, die eine
höhere Ausbildung für Geld geben, sogar die Fachrhetoren, aber
bezeichnend ist, daß er am Schluß zum Ausgangspunkt zurück-
kehrt und sich nochmals zu den φάσκοντες ἀρετῆς διδάσκαλοι εἶναι
in Gegensatz stellt. Daß er damit an die Auseinandersetzung
zwischen Plato und Gorgias anknüpft und sich als Gorgianer
bekennt, ist offenbar. Gorgianisch ist es gewiß auch, wenn er
die Unmöglichkeit, die Tugend — oder auch die Rhetorik —
mechanisch zu lehren, mit dem Hinweis auf die Bedeutung der
Naturanlage und der praktischen Übung begründet. Aber eine
Entfernung vom gorgianischen Standpunkt ist es wohl, wenn er
ausdrücklich doch eine erziehliche Wirkung für seinen Unter-
richt in Anspruch nimmt’). Lehren kann er die Sittlichkeit nicht,
aber bei der unumgänglich notwendigen guten Anlage wird sein
!) Bei diesen denkt er gewiß auch an Sokratiker wie Antisthenes, während
Plato, der nicht für Geld lehrt, nicht in Betracht kam.
3) Wenigstens spricht nichts dafür, daß Gorgias die sittliche Einwirkung
als notwendige Folge der Formalbildung aufgefaßt habe.
Das Bildungsideal in Isokrates’ Sophistenrede. 203
Unterricht die beste sittliche Förderung geben (21). Damit hat
sich das Verhältnis der beiden Faktoren freilich verschoben. Ur-
sprünglich war die Erziehung zur ἀρετή das eigentliche Ziel, die
formale Ausbildung ein sekundäres Moment. Gorgias hatte zu-
nächst praktisch das sekundäre Moment an erste Stelle gerückt
und es dann wohl ausdrücklich als sein alleiniges Ziel proklamiert.
Isokrates will auf die sittliche Erziehung nicht verzichten, aber
sie wird für ıhn ein sekundäres Element, das bei der formalen
Ausbildung von selbst abfällt.
Wieweit bei dieser Berücksichtigung der sittlichen Erziehung
ein bewußtes Entgegenkommen gegen den platonischen Stand-
punkt mitspielt, läßt sich schwer entscheiden. Interessant ist es
aber zu sehen, wie hoch Isokrates faktisch dieses Moment be-
wertet. Gorgias selber hatte sich als δήτωρ bezeichnet, seine
τέχνη unbefangen ῥδητορική genannt (Platos Gorg. Anf.). Isokrates
scheidet sich nicht bloß von den oogıorai'), er will auch nicht
δήτωρ heißen. Denn da er πολὺ θᾶττον πρὸς ἐπιείκειαν ἢ πρὸς
ῥδητορείαν ὠφελεῖ (21), so genügt dieser Name nicht, und wo er
deshalb seine Tätigkeit bezeichnet (1. 11. 14.18 und bes. 21),
wählt er den allgemeinen Ausdruck für das Streben nach einer
höheren Ausbildung, φιλοσοφία ἡ. Hier mußten doch aber seine
Leser wohl den stillschweigenden Gegensatz zu Platos Gorgias
empfinden, wo φιλοσοφία und δητορική die beiden großen Gegen-
sätze bilden. Isokrates will also zeigen, daß das, was er bringt,
die höhere Einheit darstellt, in der sich diese Gegensätze auf-
heben, daß die formale Bildung, wie er sie bezwecke, von den
gewöhnlich gegen die Rhetorik erhobenen Vorwürfen nicht ge-
troffen werde und zugleich eine für das praktische Leben brauch-
bare φιλοσοφία darstelle.
In der Berücksichtigung der sittlichen Erziehung lag eine
gewisse Anerkennung für die Berechtigung der platonischen
Kritik, und es ist kein Zweifel, daß diese Auffassung der for-
1) Mit Unrecht sagt v. Arnim, Dio v. Prusa 8. 18: Schwerlich hatte er
etwas dagegen einzuwenden, daß man ihn σοφιστής nannte.
2) Ob Isokrates mit diesem Namen ausdrücken wollte, daß er nicht wie
die σοφισταί Anspruch erhebe, die σοφία zu lehren, ist mir fraglich. Mit Recht
sagt natürlich v. Arnim $. 18, daß Isokrates „auf Grund des vorsokratischen
Sprachgebrauchs das unbestreitbare Recht hatte, sich so auszudrücken.“ Andrer-
seits darf man aber nicht übersehen, daß er bewußt diese allgemeine Bezeich-
nung statt σοφιστική oder ῥητορική für seine Tätigkeit wählte.
204 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
malen Bildung Plato sympathischer sein mußte als der gorgia-
nische Standpunkt oder gar die öde Fachrhetorik. Auf der andern
Seite konnte er aber die Verwischung des Gegensatzes zwischen
Philosophie und Rhetorik, den er im Gorgias angenommen hatte,
nicht für berechtigt halten und mußte um so eher dagegen pro-
testieren, als Isokrates mit dem Anspruch auftrat, die einzig
richtige Ausbildung zu geben. So hat er, als er selbst seine
Schule eröffnete, auf diesen Punkt zurückgegriffen und bei aller
Höflichkeit gegen Isokrates mit Entschiedenheit ausgesprochen,
daß er nach wie vor jenen Gegensatz festhalte. Freilich faßt er
diesen Gegensatz jetzt etwas anders als im Gorgias auf. Dort
waren Philosophie und Rhetorik die beiden Mächte, die auf das
Leben des Volkes Einfluß gewinnen wollen, und der Unterschied
beider war der, daß die Philosophie ein richtiges Ziel kennt und
verfolgt, während die Rhetorik einem Trugbild nachjagt, und die
Rhetorik wurde dort deshalb unbedingt verdammt. Jetzt faßt er
diese rein als die formale Überredungskunst, die unter Umständen
auch dem Guten dienen kann. Deshalb gibt er auch zu, daß
diese praktisch eine Verbindung mit der Philosophie eingehen
kann. Aber das kann nur so geschehen, daß sie sich als sekun-
där gegenüber der Philosophie fühlt. Denn diese bestimmt jetzt
Plato genauer als das Streben nach der Wahrheit, auf dem alle
Wissenschaft beruht. Will deshalb die Rhetorik Wissenschaft
sein, so muß sie aus der Philosophie ihre Prinzipien entnehmen.
In diesem Falle kann sie als berechtigt gelten. Aber die Grund-
lage muß eben immer die wissenschaftliche Ausbildung sein und diese
kann nur die Philosophie geben, wie sie Plato versteht und lehrt ἢ).
Damit ist die Rhetorik von neuem in die sekundäre Rolle
verwiesen. Natürlich hat Isokrates dagegen Einspruch erhoben
und die Allemberechtigung der platonischen φιλοσοφία damit zu
widerlegen gesucht, daß er erklärte, jenes Streben nach der
Wahrheit sei fruchtlos, da die Wahrheit unerreichbar sei. Darüber
werden wir noch zu reden haben. Hier sei nur darauf hin-
gewiesen, daß damit der Gegensatz der Bildungsideale eine neue
Form erhielt. In der Auseinandersetzung zwischen Plato und
Gorgias handelte es sich zunächst um den Gegensatz zwischen
sittlicher Bildung und formaler Bildung ohne sittliches Ziel. Dabei
war es für Plato als Sokratiker auch schon selbstverständlich,
Ὁ Näheres im Abschnitt über den Phaidros.
Das Bildungsideal bei Isokrates und Plato. Alkidamas. 205
daß die sittliche Bildung auf dem Wissen beruhen müsse. Aber
erst im Phaidros hat er als das allein berechtigte Ziel die wissen-
schaftliche Ausbildung erwiesen, bei der sich der Mensch die Er-
kenntnis der Wahrheit selbst erarbeitet. Ihm hat dann Isokrates
das formale Bildungsideal gegenübergestellt, das bewußt auf die
Erkenntnis der Wahrheit verzichtet, sich bei den vulgären An-
schauungen beruhigt und die Kunst der Rede als das erste und
eigentliche Ziel der Ausbildung betrachtet.
Isokrates’ Programmschrift hat natürlich auch von anderer
Seite Widerspruch erfahren. Er hatte in dieser zu den Sophisten,
deren Minderwertigkeit er dartun wollte, auch die bisherigen
Lehrer der Rhetorik gerechnet, hatte für sich allein die Fähig-
keit beansprucht, das εὖ λέγειν zu lehren, aber gerade darum
seine Tätigkeit nicht als δητορική, sondern als φιλοσοφία bezeich-
net. So mußte es ihn am empfindlichsten treffen, wenn andre
Gorgianer ihm grade den Vorwurf machten, er verstehe selbst
nicht das ποιῆσαι εὖ λέγειν, da er selbst die freie Rede nicht be-
herrsche und mit seinen geschriebenen und ausgefeilten Reden
auch die Schüler nicht für diese vorbereite, Das hat Alkidamas
in seiner Broschüre περὶ τῶν τοὺς γραπτοὺς λόγους γραφόντων
getan‘). Daß diese gegen Isokrates’ Ansprüche gerichtet war,
ist doch wohl durch Isokrates Replik im Panegyrikos (11) sicher.
Es ist also eine beabsichtigte Bosheit, wenn Alkidamas beginnt
ἐπειδή τινες τῶν καλουμένων σοφιστῶν ἱστορίας μὲν καὶ
παιδείας ἠμελήκασι καὶ τοῦ δύνασϑαι λέγειν ὁμοίως τοῖς ἰδιώταις
ἀπείρως ἔχουσι, γράφειν δὲ μεμελετηκότες λόγους .. μέγα φρονοῦ-
σι. Deutlicher ist die Anspielung auf die Sophistenrede noch,
wenn er nachher in Übereinstimmung mit Platos Phaidros ver-
sichert, daß er selber das Schreiben nur als πάρεργον betrachte,
τοὺς ἐπ᾽ αὐτὸ τοῦτο τὸν βίον καταναλίσκοντας ἀπολελεῖφϑαι πολὺ
καὶ δητορικῆς καὶ φιλοσοφίας ὮὟ ὑπειληφώς, καὶ πολὺ δικαιό-
τερον ποιητὰς ἢ σοφιστὰς προσαγορεύεσθαι νομίζων.
1. Ob er unter den von Isokrates in der Sophistenrede Angegriffenen war,
lasse ich dahingestellt.
2) Das erinnert übrigens recht an die Art, wie am Schluß des Euthydem
Plato seinem ungenannten Gegner zeigt, wer versuche, Philosophie und πολιτική
zu verbinden, setze sich beiden gegenüber ins Nachteil — ἀμφοτέρων μετέχον-
τες ἀμφοτέρων ἥττους εἰσὶν πρὸς ἑκάτερον πρὸς ὅ τε ἣ πολιτικὴ καὶ ἣ φιλοσο-
φία ἀξίω λόγου ἐστόν (306 0).
3) Vgl. 12 οἱ τοῖς ὀνόμασιν ἀκριβῶς ἐξειργασμένοι καὶ μᾶλλον ποιήμασιν
206 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung.
Dieser Angriff des Alkidamas hat freilich Isokrates nicht viel
geschadet. Um so mehr kränkte es ihn, daß die Akademie ihm
die Geltung als φιλόσοφος bestritt. Und schließlich mußte er es
ja erleben, daß Aristoteles kurzweg die formale Ausbildung als
Zweig des philosophischen Unterrichts behandelte und ihr dabei
sogar eine viel geringere Rolle zuwies, als sie selbst in der Zeit
des Protagoras gespielt hatte.
ἢ λόγοις ἐοικότες 34 ὅστις οὖν ἐπιϑυμεῖ ῥήτωρ γενέσϑαι δεινὸς μᾶλλον ἢ ποι-
ητὴς λόγων ἱκανός. Daß auch hier Isokrates gemeint ist, der die Rhetorik als
ποιητικὸν πρᾶγμα betrachtete (ca. soph. 12, vgl. S. 201) und z.B. im ᾿Ελένης
ἐγκώμιον bewußt mit den Dichtern in Wettbewerb trat, scheint mir sicher.
Nach Süß, Ethos S. 42 sollen freilich die urprosaischen Stücke der Techno-
graphen mit Gedichten verglichen sein. (Die Stelle aus dem Briefe an Diony-
5105 2 πάντες τοῖς λεγομένοις μᾶλλον ἢ τοῖς γεγραμμένοις πιστεύουσι, καὶ τῶν
μὲν ὡς εἰσηγημάτων τῶν δ᾽ ὡς ποιημάτων ποιοῦνται τὴν ἀκρόασιν hat Süß
S.39 falsch zur Erklärung von ποιητικός herangezogen, da er εἰσήγημα nicht
interpretiert. „Mündliche Reden läßt man ernsthaft auf sich wirken wie einen
offiziellen Vorschlag in Rat oder Ekklesie, schriftliche Darstellungen liest man
wie ein Gedicht um des Genusses willen.“)
Die sozialpolitischen Gedanken.
IX. Die erste Ausgabe des Staates.
Die Zeiten, wo die Erklärer von Platos Staat ihre Aufgabe
darin sahen, überall Unstimmigkeiten und Widersprüche aufzu-
zeigen und daraufhin das Werk in möglichst viele Stücke zu zer-
reißen, die ebenso viele Stadien platonischer Entwicklung dar-
stellen sollten, dürfen wir heute als überwunden betrachten.
Campbell, Gomperz, Räder, Ritter u. a. haben gezeigt, daß die
meisten Anstöße, die man genommen hatte, durch bewußte künst-
lerische Absicht zu erklären sind. Insbesondere ist uns klar ge-
worden, daß Plato nicht nur Einzelausführungen, sondern auch
ganze Gedankenreihen zurückhält, weil er erst einen Teil des
vielverzweigten Themas vollständig erledigen will. Und wenn im
Gespräch auch bisweilen die Fäden scheinbar ohne Ordnung
durcheinanderlaufen, so zeigt sich doch immer wieder, daß Plato
sie fest in der Hand behält, bereit, sie im gegebenen Augenblick
zu entwirren. Es ist hier nicht notwendig, auf diese Dinge
näher einzugehen. Dagegen wird es gut sein, daran zu erinnern,
wie man im Altertum den Aufbau des Staates beurteilt hat.
Das beste Zeugnis dafür liefert uns ein Mann, dem man Ver-
ständnis in Fragen künstlerischer Komposition nicht wird ab-
sprechen können. Ich meine Üicero.
Daß dieser in seinem Werke de re publica Platos Staat als
künstlerisches Vorbild gewählt hat, ist bekannt‘). Weniger be-
Anm. Diesem Aufsatz liegt im ganzen ein Vortrag zugrunde, den ich auf
der Baseler Philologenversammlung 1907 gehalten habe. Inzwischen ist auch
R. Adam, Archiv f. Gesch. d. Phil. 1909 S. 44 ff. zu ganz ähnlichen Ergebnissen
gekommen.
1) Vgl. Cic. ad Att IV, 16
208 Die erste Ausgabe des Staates.
achtet ist, daß er grade auch solche Eigenheiten der Komposition
nachgeahmt hat, die bei den Modernen Anstoß erregt haben.
Gleich das hat er besser als diese empfunden, wie die platonische
Eingangsszene, die uns ein Bild der alten Generation mit ihren
unsichern ethischen Grundsätzen und ihrer noch unsichereren
Jenseitshoffnung gibt, und der grandiose Schlußmythos, der nach
der wissenschaftlichen Fundierung der Ethik den neuen Unsterb-
lichkeitsglauben vorträgt und begründet, aufeinander berechnet
sind. Darum flicht Cicero in die prächtige Schilderung des
Seipionenkreises die Erwähnung der Nebensonne ein (I, 15), die
man zu Ciceros Zeit allgemein als Prodigium auf Scipios Tod
(N. Ὁ. II, 14 Div. I, 97) deutete. Damit verbreitet sich von vorn-
herein für den Leser über das folgende Gespräch, wo Scipio der
Hauptträger ist, etwas von der weihevollen Stimmung des Phai-
don, und diese steigert sich noch am Schluß des Werkes, wenn
wir sehen, wie Seipios freier Geist im Grunde die Prodigienfurcht
überwindet, da er den Tod nach einem würdig verbrachten Leben
als Übel zu betrachten verlernt hat. Im eigentlichen Gespräch
behandelt Cicero zuerst die Verfasssungsfrage und erweist dann
im zweiten Buch, daß der alte römische Staat dem Ideale der
Mischverfassung am nächsten gekommen ist. Nachdem dieser
Teil II, 64 beendet ist, möchte Tubero noch wissen, istam ipsam
rem publicam, quam laudas qua disciplina quibus moribus aut legi-
bus constituere vel conservare possimus. Aber wie Plato am An-
fang des 5. Buches als Thema des Folgenden die Erörterung der
schlechten Verfassungen angibt, die er in Wirklichkeit erst nach
Erledigung andrer Gegenstände im 8. und 9. Buch behandelt, so
verfährt auch Cicero. Er bespricht erst in loser Folge die Paral-
lele von Staat und Individuum (Schluß von II), die Frage nach
dem Ursprung der Gerechtigkeit (III, 1—41), den Satz iustitia
fundamentum regnorum (Schluß von Il), und erst im 4. Buch
wird das in II, 64 angekündigte Thema durchgeführt. Der Rest
des Werkes bringt dann die Auseinandersetzungen über den
Staatsmann. Diese Komposition ist einzig in ihrer Art bei
Cicero, und es ist kein Zweifel, daß er damit den Aufbau des
platonischen Staates nachahmen wollte. Er hat also in der kunst-
vollen Verschlingung der Themata einen besonderen Vorzug ge-
sehen.
Platos Politeia und Ciceros de re publica. 209
Platos Staat ist also ein Kunstwerk, das nach einem ein-
heitlichen Plane entworfen ist.: Aber ist damit die alte Frage, ob
unserer Politeia eine erste Ausgabe vorangegangen ist, erledigt?
Im Grunde ist doch damit nur anerkannt, was bei einem vom
Autor selbst herausgegebenen Werke selbstverständlich ist. Gewiß,
der platonische Staat ist ein Gebäude, dessen Teile überall einen
festen Plan erkennen lassen. Das schließt aber keineswegs aus,
daß der Architekt Bauglieder verwertet hat, die vorher eine selb-
ständige Bedeutung hatten. Und wir sind keinesfalls der Not-
wendigkeit überhoben, die Indizien zu prüfen, die für eine solche
Entstehung sprechen.
Schon die Komposition legt an manchen Stellen auch für
den, der den festen Gesamtplan anerkennt, eine solehe Annahme
nahe. Ich denke dabei nicht so sehr an Stellen, wo eine leise
Änderung des Bauplanes zu bemerken ist, die sich durch eine
Pause in der Ausführung erklären läßt‘). Ich denke an Stellen
wie den Anfang des vierten Buches, wo Plato ohne jede Erläuterung
sagt, aus der Erziehung werde sich die Gemeinschaft von Frauen
und Kindern von selbst ergeben. Gewiß muß man die bewußte
künstlerische Absicht anerkennen, wenn Plato die Erläuterung
dieser Andeutung erst im fünften Buche bringt, aber schwerlich
würde Plato die auffallende Lehre so eingeführt haben, hätte er
nicht voraussetzen können, daß sie den Lesern in den Grundzügen
bereits vertraut 56].
Die Beweiskraft dieser inneren Indizien wird aber stets
subjektiv verschieden gewertet werden. Entscheidend sind
die äußeren Momente. Da muß man zunächst daran fest-
halten, daß es eine unantastbare Überlieferung aus dem
1) In Betracht kommt hier besonders der Übergang vom ersten zum zweiten
Buch. Für die frühere Abfassung des ersten Buches spricht bekanntlich auch
die Sprachstatistik. Aber selbständig ist das erste Buch nie gewesen. Das
zeigt die Eingangsszene, die nach Umfang und Stimmung weit über Buch I hin-
ausweist, und die ganze Richtung, nach der die Gerechtigkeit erörtert wird. Es
ist die soziale Gerechtigkeit (τὸ τῆς καϑεστηκυίας ἀρχῆς συμφέρον!), die ins
Auge gefaßt wird.
Die Disharmonie zwischen dem ersten und den folgenden Büchern muß
Plato selbst empfunden haben. Es wäre deshalb kein Wunder. wenn er ver-
sucht hätte, das erste Buch durch eine andre Einleitung zu ersetzen. Ich halte
es für möglich, daß der Kleitophon, der ja in der Aufforderung gipfelt, das Wesen
der Gerechtigkeit positiv zu enthüllen, einen solchen Versuch darstellt, mit dem
Plato nie zu Ende gekommen ist.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 14
210 Die erste Ausgabe des Staates.
Altertum gibt, die ausdrücklich von einer ersten Ausgabe des
Staates redet. :
Gellius XIV, 3 berichtet, daß Leute, qui de Xenophontis
Platonisque vita et moribus pleraque omnia exquisitissime scripsere,
von einer Rivalıtät beider Sokratiker erzählten. Sie führen an,
daß beide sich gegenseitig in ihren Werken nicht nennen. Fer-
ner habe Xenophon seine Kyrupädie im Gegensatz zu Platos Staat
geschrieben, nachdem er etwa zwei Bücher des Staates, die zuerst
erschienen waren, gelesen hatte. Plato habe sich dafür gerächt, in-
dem er in den Gesetzen Kyros als Mann ohne jede παιδεία bezeichnete.
Dieselbe Überlieferung finden wir bei dem platofeindlichen
Autor bei Athen. XI 50#eff. und besonders bei Diog. L. III, 34
in einem Abschnitt, der allgemein über die Rivalität der Sokra-
tiker handelt. Hier heißt es: ἔοικε δὲ καὶ Ξενοφῶν πρὸς αὐτὸν
ἔχειν οὐκ εὐμενῶς. ὥσπερ γοῦν διαφιλονικοῦντες τὰ ὅμοια γε-
γράφασι, Συμπόσιον, Σωκράτους ἀπολογίαν, τὰ ἠθικὰ ἀπομνημο-
νεύματα -- εἶθ᾽ ὃ μὲν Πολιτείαν ὃ δὲ Κύρου παιδείαν, καὶ Ev τοῖς
Νόμοις ὃ Πλάτων πλάσμα φησὶν εἶναι τὴν παιδείαν αὐτοῦ ' μὴ
γὰρ εἶναι Κῦρον τοιοῦτον --- ἀμφότεροί τε Σωκράτους μνημονεύοντες,
ἀλλήλων οὐδαμοῦ, πλὴν Ξενοφῶν Πλάτωνος ἐν τρίτῳ ᾿Απομνης-
μονευμάτων, und wir werden die Notiz εἶϑ᾽ ὃ μὲν Πολιτείαν ὃ
δὲ Κύρου παιδείαν gewiß als eine kürzere Fassung der Notiz des
Gellius ansehen dürfen.
Die Tendenz, die namentlich bei Diogenes 34—36 hervor-
tritt, ist die, auf die großen Gegensätze innerhalb der Sokratik
hinzuweisen. Diese Tendenz kennen wir besonders aus der
Schule, die von Anbeginn in einem Gegensatz zu sämtlichen So-
kratikern stand und von diesen als gemeinsamer Gegner be-
handelt wurde, bei den Epikureern. Da nun bei D. L. III, 36
für die Rivalität zwischen Plato und Aischines der Epikureer
Idomeneus als Gewährsmann genannt wird, so liegt es nahe, an
dessen Buch über die Sokratiker als Quelle zu denken. Wir
kämen damit in den Anfang des dritten Jahrhunderts zurück.
Doch ist das natürlich nur eine unsichere Vermutung.
Prüfen wir den sachlichen Wert speziell der bei Gellius
überlieferten Notizen, so ist es natürlich richtig, daß Xenophon
und Plato sich bewußt ignorieren‘). Auch der dritte Punkt ist
') Gellius hat nur die bei Diogenes erhaltene Notiz, daß Plato bei Xeno-
phon Mem. III, 6 nebenher genannt wird, nicht mitexzerpiert.
Die Überlieferung über eine erste Ausgabe des Staates. 911
mit gutem Grunde angeführt. Denn daß Plato auf die Kyru-
pädie zurückblickt, wenn er von Kyros sagt: τὰ μὲν ἄλλ᾽ αὐτὸν
στρατηγόν τε ἀγαϑὸν εἶναι καὶ φιλόπολιν, παιδείας δὲ ὀρϑῆς οὐχ
ἦφϑαι τὸ παράπαν (Ges. 6940), ist nicht zu bezweifeln.
Die zweite Notiz, die uns hier angeht, lautet: J/d etiam esse
non sincerae neque amicae voluntatis indieium erediderunt, quod Xe-
nophon inclito illi operi Platonos, quod de optimo statu rei publicae
civitatisgue administrandae scriptum est, lectis ex eo duobus fere libris
qui primi in vulgus exierant, opposuit contra consceripsitque diversum
regiae administrationis genus, quod παιδείας Κύρου inscriptum_est.
Hier ist mit dürren Worten gesagt, daß Xenophon Platos Staats-
theorie nicht aus unserer Politeia zuerst kennen lernte, sondern aus
einer Schrift, die an Umfang etwa zwei Büchern dieses Werkes
glich. Anders läßt sich duobus fere libris nicht verstehen. Wenn
damit die Notiz verbunden ist, Xenophon habe gegen diese erste
Ausgabe seine Kyrupädie geschrieben, so ist die Voraussetzung,
daß diese Ausgabe ein geschlossenes Ganzes darstellte und einen
Gesamtüberblick über Platos Auffassung ermöglichte. Ausge-
schlossen ist daher von vornherein jeder Versuch, dieses Werk
von ungefähr zwei Büchern etwa mit Buch I und II oder über-
haupt mit zwei Büchern unserer Politeia zu identifizieren.
Hier haben wir also ein durchaus klares und in sich durch-
aus unanstößiges Zeugnis für eine erste Ausgabe des platonischen
Staates. Ja selbst die Notiz, daß die Kyrupädie ein Gegenstück
zu Platos Staat sein will, ist keineswegs ganz unsinnig. Xeno-
phons Haupttendenz ist anderer Art, aber mitgespielt hat wohl
wirklich die Absicht, zu zeigen, daß die ethischen Ideale des So-
krates sich im Staate auch ohne die Umsturzideen Platos ver-
wirklichen lassen.
Wie unbequem dieses Zeugnis für manche ist, das sieht man
an dem letzten Versuche, es zu beseitigen. Constantin Ritter,
Platon S. 277. 8 gibt ohne weiteres zu, daß er Bedenken trägt,
die Notiz „als windige Konjektur eines späteren Zeugen“ zu be-
trachten, findet aber bei Gellius ein Mißverständnis: „duo fere libri
ist nur die mißverstandene Angabe eines griechischen δύο σχεδὸν
λόγοι, und damit scheint mir ganz treffend der Inhalt des ersten
Buches unserer Politeia bezeichnet zu sein, das die Auseinander-
setzung des Sokrates mit Kephalos und Thrasymachos enthält.“
Ritter zeigt in seinem Buche deutlich, daß er allen philologischen
14*
212 Die erste Ausgabe des Staates.
Untersuchungen mit erheblichem Mißtrauen gegenübersteht, und
wo er einen Überblick über die philologischen Kontroversen gibt,
schließt er gewöhnlich wegen der Subjektivität der Ansichten mit
einem mitleidigen Blick auf die verschwendete Mühe und einem
non liquet ab. Ich fürchte, bei seiner Erklärung werden wir
uns nicht mit einem non liquet beruhigen dürfen. Denn außer
ihm selber wird wohl niemand so leicht glauben, daß ein antiker
Autor den Inhalt des ersten Buches durch δύο λόγοι bezeichnen
konnte. Noch weniger wird man begreifen, daß jemand, um den Um-
fang eines Werkes zu bezeichnen, diesen Ausdruck gewählt und
den nächstliegenden „das erste Buch“ absichtlich vermieden haben
sollte. Daß gegen dieses erste Buch niemals die Kyrupädie ge-
schrieben sein kann, gibt Ritter selbst zu; er hilft sich deswegen
mit der ganz unwahrscheinlichen Annahme, dieses Zeugnis sei
erst nachträglich „aus unbekanntem Grunde“ mit der These von
der Eifersüchtelei zwischen Plato und Xenophon verbunden
worden. Er muß schließlich noch einen groben Übersetzungs-
fehler annehmen — das alles, um eine in sich durchaus verständ-
liche Stelle unverständlich zu machen.
Ich glaube, grade wenn ein sonst so besonnener und gründ-
licher Forscher wie Ritter zu solchen Ausflüchten greift, um das
Zeugnis zu beseitigen, darf man wohl sagen, daß dieses eben
durchaus unantastbar ist. Tatsächlich ist schlechterdings gar nicht
abzusehen, wie eine so bestimmte Notiz erfunden sein sollte. Zu
welchem Zwecke denn? Die These des Antisokratikers, Xeno-
phon habe gegen Plato geschrieben, wurde doch wahrhaftig da-
durch nicht gestützt, wenn man behauptete, er habe seine An-
griffe nicht gegen die später vorliegende Politeia, sondern gegen
eine frühere Ausgabe gerichtet. Und selbst wenn wir bei ihm
voraussetzen wollten, er habe nur aus Lust am Fabulieren ge-
handelt, so müßte er wirklich ein Schwachkopf gewesen sein,
wenn er den zu erwartenden Gegnern ohne jeden Grund eine
Angriffsfläche gegeben hätte.
Also wir haben anzuerkennen, daß es aus dem Altertum eine
unverdächtige Überlieferung gibt, nach der Plato seine Staats-
theorie zuerst in einem Werke veröffentlicht hat, das an Um-
fang ungefähr zwei Büchern der uns vorliegenden Politeia gleich-
kam. Und wir haben kein Recht, diese Überlieferung auf Grund vor-
gefaßter Meinungen über Platos Entwicklung zu verwerfen.
|!
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Allgemeine Gründe für die Glaubwürdigkeit der Überlieferung. 213
Dabei spricht doch schon eine psychologische Erwägung
nicht gegen sondern für diese Überlieferung. Wer in sich den
Beruf zum Weltverbesserer fühlt, pflegt doch seine Pläne nicht
allzulange der Allgemeinheit vorzuenthalten. Sollte da ein so
fruchtbarer Schriftsteller wie Plato gewartet haben, bis er ein
Fünfziger war?
Aber wir brauchen uns glücklicherweise nicht auf allgemeine
Erwägungen zu stützen. Wir können uns an unsere Analyse des
Gorgias erinnern (vgl. S. 161). Wir sahen dort, daß für Plato
der Verzicht auf die praktische Politik keineswegs auch den Ver-
zicht auf die politische Einwirkung überhaupt einschließt. Im
Gegenteil, er proklamiert ausdrücklich, daß die Philosophie ihre
höchste Aufgabe erfülle, wenn sie als die wahre Staatskunst die
Bürger zur Sittlichkeit erziehe und damit wahrhaft das Wohl der
Gesamtheit fördere. Das kann sie nur, wenn sie die Herrschaft
im Staate hat. Und da dieses Ziel im positiven Staate vorläufig
nicht zu erreichen ist, so bleibt als Konsequenz nur die Kon-
stitution eines idealen Staates übrig, die zunächst natürlich li-
terarisch zu erfolgen hat, in der Hoffnung, daß sie im geeig-
neten Augenblick in die Praxis übergeführt werden kann. Daß
Plato diese Konsequenz sehr bald nach dem Gorgias gezogen hat,
sehen wir aus der S. 161 angeführten Stelle des siebenten
Briefes, wo er ausdrücklich hervorhebt, schon vor der sizilischen
Reise habe er erklärt, nur die Philosophenherrschaft könne eine
Besserung der politischen Zustände herbeiführen.
Auch wer den siebenten Brief für unecht hält, muß
glauben, daß er in der Akademie des vierten Jahrhunderts ent-
standen ist. Mindestens in diesen Kreisen muß also die Über-
zeugung bestanden haben, daß Plato schon vor der sizilischen
Reise den Idealstaat als notwendig betrachtet habe. Viel wich-
tiger ıst das Zeugnis natürlich noch, wenn Plato, wie es durch-
aus wahrscheinlich ist, den Ausspruch selbst getan hat. Und
wenn er dabei ausdrücklich sagt: λέγειν ἠναγκάσθην . ., ὡς ἐκ
ταύτης (80. τῆς φιλοσοφίας) ἔστιν τά τε πολιτικὰ δίκαια καὶ τὰ τῶν
ἰδιωτῶν πάντα κατιδεῖν κτλ (326a), sollen wir da an eine ein-
zelne Äußerung denken? Viel näher liegt es doch, daß er schon
damals nicht bloß den Gedanken gefaßt, sondern auch die Grund-
züge eines idealen Staates entworfen und veröffentlicht hat.
Daß tatsächlich die bei Gellius vorliegende Überlieferung auf
214 Die erste Ausgabe des Staates.
Wahrheit beruht, haben Usener, Rohde u. a.') bekanntlich aus
dem Anfange des Timaios gefolgert.
Dieser Dialog will die Fortsetzung eines Gespräches über
den Idealstaat sein. Er rekapituliert aber in der Einleitung aus
dem Inhalt unserer Politeia nur ein kleines festabgegrenztes Gebiet,
die praktischen Vorschläge für die Gestaltung des Staatslebens.
Dabei sagt Plato ausdrücklich, daß die Rekapitulation vollständig
sein soll. Das müssen wir entweder als bewußte Beschränkung
ansehen, oder Plato fingiert einen früheren Dialog, oder aber, er
spielt auf ein verlorenes Werk an, das tatsächlich nur die prak-
tischen Vorschläge für die Gestaltung des Idealstaates enthielt.
Gegen eine Fiktion oder eine bewußte Beschränkung spricht
aber entschieden, daß dabei manche Eigentümlichkeiten, die der
Anfang des Timaios zeigt, ganz unerklärt bleiben. Das hat zu-
letzt Wendland in einer Rezension von Räders Platobuch (Berl.
ph. Woch. 1906, Sp. 393) gut dargelegt. Das wichtigste ist dabei
der Umstand, daß Plato zu Anfang von einer Person spricht, die
am vorigen Gespräche teilgenommen habe, jetzt aber verhindert
se. Die abenteuerliche antike Erklärung, Plato meine damit
sich selbst, hätte es wahrlich nicht verdient, von den Modernen
aufgenommen zu werden. Eben so wenig befriedigen andre Er-
klärungsversuche’). Tatsächlich ist die Bemerkung, daß der
vierte wegen Krankheit fehle, nur als Rechtfertigung für die
Ausschaltung einer überflüssig gewordenen Person zu verstehen.
Dann ‚bleibt aber auch nur die Folgerung übrig, die schon
Usener und Rohde gezogen haben: Plato knüpft den Timaios
nicht an unsere Politeia an, sondern an ein andres Gespräch
über den Idealstaat, an dem jene ungenannte Person tatsächlich
teilnahm und das in seinem Inhalt nur dem Teile der Politeia
entsprach, der die konkreten Vorschläge enthält.
Ein Punkt sei aber gleich hervorgehoben, in dem Usener
geirrt hat. Er glaubt, Plate habe in jenem ersten Werke über
den Staat nur zwei Stände gekannt, den Krieger- und den Er-
werbsstand, und den Herrscherstand noch nicht abgesondert.
!, Usener bei Brandt, Zur Entwicklung der platonischen Lehre von den
Seelenteilen, Pr. München-Gladbach 1890. Rohde, Psyche II? 8. 208 ἢ.
5) Einen solchen bot z. B. Ritter im Philologus LXII, 5. 410ff., doch kommt
er in seinem Plato S. 216. 7 nicht mehr auf ihn zurück. — Nach Joel, Fest-
schrift zur Basler Philologenvers. 1907, S. 322 ist der Anonymus Isokrates, der
im Busiris den Staat kritisiert hatte!
Der Anfang des Timaios. 215
Aber daß Plato jemals darauf verzichtet haben sollte, die Herr-
schaft der Intelligenz im Staate ausdrücklich zu fordern, ist un-
denkbar. Tatsächlich spricht er auch im Anfang des Timaios
p. 18d von den ἄρχοντες in einer Weise, daß man sieht, er will
an einem fest abgegrenzten Begriff festhalten, und andrerseits
liegt doch auch in unserer Politeia die Sache so, daß Plato zwar
die Scheidung der ἄρχοντες und φύλακες postuliert, in Wirklichkeit
aber nach Strümpells Ausdruck die Herrscher zu einem Ausschuß
der Kriegerkaste macht.
Nun hat aber die Usenersche Anschauung ein schweres Be-
denken gegen sich. Usener setzte ohne weiteres voraus, daß
jenes verlorene Gespräch vor unserer Politeia verfaßt se. Wie
soll dann Plato dazu gekommen sein, im Timaios auf die erste
Ausgabe des Staates zurückzugreifen, wenn doch die zweite vor-
lag? Um diese Schwierigkeit zu heben, hat Wendland den Aus-
weg beschritten, jenes verlorene Gespräch sei nicht ein Vorläufer,
sondern eine nachträgliche Umarbeitung unserer Politeia ge-
wesen. Aber diese Umarbeitung hätte doch nur darin bestanden,
daß Plato den größten Teil des Werkes, und zwar grade die
philosophische Begründung der Staatstheorie wegließ. Was ihn
dazu bewogen haben sollte, sieht man vorläufig nicht ein.
Suchen wir zunächst einmal auf einem anderen Wege der
Lösung des Problemes näher zu kommen.
Isokrates will in seinem Busiris semen Konkurrenten Poly-
krates übertrumpfen und widmet deshalb dem ägyptischen Herr-
scher nicht nur eine Verteidigung, sondern eine Lobrede. Er
macht deshalb den Menschenfresser zum politischen Organisator
und schildert 8 15— 23 die Einrichtungen, die er getroffen habe.
Busiris hat, hören wir da, die Bevölkerung in drei Kasten ein-
geteilt, die Priester, die Krieger und den Erwerbsstand. Auf
diese Weise hat er das Prinzip der Arbeitsteilung durchgeführt
und dafür verdiente Anerkennung gefunden bei den angesehen-
sten politischen Theoretikern wie bei den Spartanern, deren viel-
gerühmte Einrichtungen aus Ägypten stammen. Auch für die
Wissenschaft hat Busiris gesorgt, mdem er dem ersten Stande,
den Priestern, die dazu nötige Muße verschafft. Und während
die älteren Leute zu den Ämtern berufen wurden, fielen den
jüngeren die mathematischen Studien zu, die nach dem Urteil
mancher Leute die beste Vorschule für die ἀρετή sind.
216 Die erste Ausgabe des Staates.
Daß Isokrates hier ein stilisiertes Gemälde entwirft, ist klar.
Manche Züge lieferte das zweite Buch Herodots (164 — 168), der
nicht nur die Kasteneinteilung schildert, sondern auch die Be-
merkung anknüpft, aus Ägypten sei die Bevorzugung der Krieger-
kaste zu den Griechen, besonders den Spartanern gekommen.
Aber es ist noch ganz etwas anderes, wenn nun Isokrates die
einzelnen Einrichtungen, die man an Sparta rühmte, auf Ägypten
zurückführt. Das ist dasselbe Verfahren, das er im Panathenaikos
einschlägt, wenn er ($ 153) die Entlehnung der spartanischen
Verfassung aus Urathen behauptet. Bewußte Stilisierung zeigen
auch der Schematismus der drei Kasten (Herodot 164 nennt sieben),
die Begründung dieser Gliederung durch die Arbeitsteilung, die
Philosophie der Priester und die Erziehungsprinzipien.
Isokrates erklärt selbst, daß er dieses Bild nicht von sich aus
gibt, sondern dem Urteile der angesehensten politischen Theoretiker
folgt (ὥστε καὶ τῶν φιλοσόφων τοὺς ὑπὲρ τῶν τοιούτων λέγειν
ἐπιχειροῦντας καὶ μάλιστ᾽ εὐδοκιμοῦντας τὴν ἐν Αἰγύπτῳ προ-
αιρεῖσϑαι πολιτείαν ἐπαινεῖν 17).
Wen meint er damit? Sehen wir zunächst von der Beziehung
auf Ägypten ab, so werden wir Schritt auf Schritt an Plato er-
innert. Aus Aristoteles müssen wir schließen, daß außer Plato von
alten Theoretikern nur noch Hippodamos die Dreiteilung der Stände
gelehrt hat. Aber dessen Einteilung in Handwerker, Bauern, Krieger
(1267b 32) stimmt nicht zu der des Isokrates, während die plato-
nische genau entspricht. Wie Isokrates führt Plato oft den dritten
Stand als den der Bauern und Handwerker zusammen an'), die
zweite Klasse deckt sich bei beiden vollständig, und Platos
Philosophenstand hat seine Parallele in den Priestern, die in ὃ 22
ausdrücklich Vertreter der φιλοσοφία heißen. Nachher wird sich
diese Übereinstimmung noch deutlicher zeigen.
Noch wichtiger ist die Begründung der ständischen Gliederung
durch die Arbeitsteilung. Denn dieses Prinzip ist ja für Platos
Staatstheorie grundlegend und wird mit ganz ähnlichen Worten
Ἢ Isokr. 15 χωρὶς ἑκάστους τοὺς μὲν ἐπὶ τὰς ἱερωσύνας κατέστησεν τοὺς
δ᾽ ἐπὶ τὰς (γεωργίας καὶ τὰς) τέχνας ἔτρεψεν τοὺς δὲ τὰ περὶ τὸν πόλεμον μελετᾶν
ἠνάγκασεν — Plato 4188. ὅσοι μὲν ὑμῶν ἱκανοὶ ἄρχειν... ὅσοι δ᾽ ἐπέκουροι ..
τοῖς τε γεωργοῖς καὶ τοῖς ἄλλοις δημιουργοῖς (οἷ. 415c Kritias 1100 112b und
Rep. 374c τὰ δὲ περὶ τὸν πόλεμον πότερον od περὶ πλεέστου ἐστὶν εὖ ἀπεργασϑέντα ;).
Isokrates’ Busiris und Platos Staat. 917
bei diesem dargestellt‘). Und wenn Isokrates $ 17 ausführt, daß
die Arbeitsteilung auch für die ganze Organisation der Staaten die
größten Vorteile bietet (καὶ πρὸς τὴν σύνταξιν, δι᾿ ἧς τήν τε βασιλείαν
καὶ τὴν ἄλλην πολιτείαν διαφυλάττουσιν .., καλῶς ἔχοντας), SO
ist dieser Satz überhaupt nur zu verstehen, wenn man an Platos
Theorie denkt, daß die Gerechtigkeit und damit der Bestand des
Staates so lange gesichert ist, als die drei Stände an dem Prinzip der
Arbeitsteilung festhalten und ihre Sphäre nicht überschreiten.
Auch die Züge, die nach Isokrates spartanische Entlehnungen
aus Ägypten sind, die Syssitien, die Beschränkung auf den Kriegs-
dienst, selbst das Verbot der Auslandsreisen finden wir bei Plato
in der Lebensordnung der Kriegerkaste wieder).
Endlich bietet auch für den letzten Satz des Isokrates, daß
die älteren Leute die Ämter bekleiden, die jüngeren Mathematik
treiben sollen, Plato eine wörtliche Parallele’).
Nimmt man hinzu, daß auch im weiteren Verlaufe der Rede
Isokrates Berührungen mit Platos Staat zeigt‘), so kann man nicht
zweifeln, daß Isokrates hier an Platos Idealstaat denkt.
Das hat schon Teichmüller ausgesprochen (Litt. Fehden I,
S. 106 ἢ) und neuerdings haben H. Gomperz (Wiener Studien
1) Isokr. 16 dei τοῖς αὐτοῖς τὰς αὐτὰς πράξεις μεταχειρέξζεσϑαι προσέταξεν,
εἰδὼς τοὺς μὲν μεταβαλλομένους τὰς ἐργασίας οὐδὲ πρὸς ὃν τῶν ἔργων ἀκριβῶς
ἔχοντας τοὺς δ᾽ ἐπὶ ταῖς αὐταῖς πράξεσιν συνεχῶς διαμένοντας eis ὑπερβολὴν
ἕκαστον ἀποτελοῦντας --- Plato 369 6 ff. 394 εἷς ἕκαστος Ev μὲν ἂν ἐπιτήδευμα καλῶς
ἐπιτηδεύοι πολλὰ δ᾽ οὔ, ἀλλ᾽ εἰ τοῦτο ἐπιχειροῖ, πολλῶν ἐφαπτόμενος πάντων
ἀποτυγχάνοι ch. 395c 434 und 374b καὶ τῶν ἄλλων ἑνὶ ἑκάστῳ ὡσαύτως Ev
ἀποδίδομεν .. ἐφ᾽ ᾧ ἔμελλε τῶν ἄλλων σχολὴν ἄγων διὰ βίου αὐτὸ ἐργαζόμενος
οὐ παριεὶς τοὺς καιροὺς καλῶς ἀπεργάσεσθϑαι.
3) Isokr. 18 καὶ γὰρ τὸ μηδένα τῶν μαχίμων ἄνευ τῆς τῶν ἀρχόντων γνώμης
ἀποδημεῖν καὶ τὰ συσσίτια καὶ τὴν τῶν σωμάτων ἄσκησιν, ἔτε δὲ τὸ μηδενὸς
τῶν ἀναγκαίων ἀποροῦντας τῶν κοινῶν προσταγμάτων ἀμελεῖν μηδ᾽ ἐπὶ ταῖς
ἄλλαις τέχναις διατρίβειν, ἀλλὰ τοῖς ὅπλοις καὶ ταῖς στρατείαις τὸν νοῦν προσέχειν,
ἐκεῖϑεν ἅπαντα ταῦτ᾽ εἰλήφασιν --- Plato 4208 ὥστε, οὐδ᾽ ἂν ἀποδημῆσαι βούλωνται
ἰδίᾳ, ἐξεῖναι 4166 φοιτῶντας δὲ eig συσσίτια... κοινῇ ζῆν 4164.
3) Isokr. 28 καὶ τοὺς μὲν πρεσβυτέρους ἐπὶ τὰ μέγιστα τῶν πραγμάτων
ἔταξαν τοὺς δὲ νεωτέρους .. En’ ἀστρολογίᾳ καὶ λογισμοῖς καὶ γεωμετρίᾳ διατρέβειν
ἔπεισαν --- Plato 412. οὐκοῦν ὅτι μὲν πρεσβυτέρους τοὺς ἄρχοντας δεῖ εἶναι, νεω-
τέρους δὲ τοὺς ἀρχομένους, δῆλον; 536cd ἐν μὲν τῇ προτέρᾳ ἐκλογῇ πρεσβύτας
ἐξελέγομεν ... τὰ μὲν τοίνυν λογισμῶν τε καὶ γεωμετριῶν καὶ πάσης τῆς προ-
παιδείας... παισὶν οὖσι χρὴ προβάλλειν.
Ἢ 8 38.9 vgl. Rep. 377.8, 8 41 vgl. Rep. 3914.
5) Vgl. auch Dümnler, Kl. Schriften I, S. 124.
218 Die erste Ausgabe des Staates.
1905 S. 192—7) und Joel (Festschrift zur Baseler Philologen-
versammlung 1907 S.321) sich zur selben Ansicht bekannt. Gomperz
und Joel gehen dabei von der Voraussetzung aus, daß Isokrates
unsere Politeia vor Augen hat. Das ist schon aus chronologischen
Gründen ausgeschlossen. Gomperz setzt freilich den Busiris erst
etwa in das Jahr 372, und ähnlich urteilt Ed. Meyer 8 906 Anm.
Aber alle Indizien führen tatsächlich in erheblich frühere Zeit. Die
Hypothesis zu Isokrates’ Helena sagt ausdrücklich, daß Polykrates
gegen die Helena schrieb, wie Isokrates im Busiris den Polykrates
angegriffen hat. Da nun im Busiris kein Angriff des Polykrates
erwähnt wird, müssen wir annehmen, daß die Reihenfolge war:
Polykrates’ Busiris-Isokrates’ Busiris-Isokrates’ Helena-Polykrates’
Angriff (wohl im Alexandros). Da ferner die Helena nach ὃ 67,
wo sie die Tendenz des Panegyrikos vorbereitet (Drerup CXXXI),
vor 380 fällt, ist der Busiris in die achtziger Jahre, und zwar eher
in den Anfang zu verlegen. Ferner hat das ganze Vorwort der
Rede nur die Tendenz, Polykrates als Konkurrenten tot zu machen.
Diese Tendenz ist nur erklärlich in einer Zeit, wo Isokrates diese
Konkurrenz noch zu fürchten hatte. Insbesondere ist die ausführ-
liche Kritik, die Isokrates an Polykrates’ sicher um 393.2 verfaßter
(vgl. S. 164 Anklagerede gegen Sokrates übt, nur am Anfang der
achtziger Jahre, keineswegs 20 Jahre nach dem Erscheinen ver-
ständlich. Das Wichtigste aber ist der Schluß des Busiris, wo
Isokrates sich als jünger gegenüber Polykrates bezeichnet: zei u
Yavudons, εἰ νεώτερος ὧν καὶ μηδέν σοι προσήκων οὕτω προχείρως
ἐπιχειρῶ σε vovdereiv' ἡγοῦμαι γὰρ οὐ τῶν πρεσβυτάτων οὐδὲ τῶν
οἰκειοτάτων, ἀλλὰ τῶν πλεῖστ᾽ εἰδότων χαὶ βουλομένων ὠφελεῖν
ἔργον elvaı περὶ τῶν τοιούτων συμβουλεύειν. Die entscheidenden
Worteveoreogog dv und τῶν πρεσβυτάτων οὐδέ fehlen hierallerdings ım
Urbinas von erster Hand. Aber sie werden durch die Konzinnität
der Satzbildung verlangt. Denn wie die Worte μηδέν σοι προσ-
Nov und τῶν οἰκειοτάτων dem βουλομένων ὠφελεῖν entsprechen,
so verlangt das τῶν πλεῖστ᾽ εἰδότων als Gegensatz die Betonung
der Jugend des Autors. Nach Aristoteles 1378 a9 muß, wer einen
Rat geben will, φρόνησις καὶ εὔνοια besitzen, und Anaximenes
schreibt p. 69, 14H. dem Jüngling vor: δητέον δὲ καὶ ὡς εἰ μήπω
καϑ' ἡλικίαν τὸ φρονεῖν, ἀλλὰ κατὰ φύσιν καὶ ἐπιμέλειαν. Endlich
hat Münscher gewiß recht, wenn er G. g. A. 1907, S. 775° sagt:
„Den Interpolator möchte ich kennen lernen, der die sonst nirgends
Isokrates spielt auf eine frühere Politeia Platos an. 219
bezeugte Tatsache, daß Polykrates der ältere Mann und jüngere
Rhetor war, interpoliert‘).“ Auch Gomperz hält die im Urbinas
fehlenden Worte ausdrücklich fest (S. 193). Dann ist es aber doch
unmöglich, die Rede später als etwa 385 anzusetzen. Oder sollen
wir wirklich glauben, ein Mann von 64 Jahren habe es für nötig
gehalten, sich wegen seiner Jugend zu entschuldigen’)?
Dann ist es aber natürlich auch ausgeschlossen, daß Isokrates
im Busiris auf unsere Politeia anspielt. Dagegen würde sich auch
ein sachliches Bedenken erheben. Isokrates sagt $ 17 nicht etwa:
„Die ägyptischen Einrichtungen entsprechen dem philosophischen
Ideale“, sondern er erklärt ausdrücklich: „Die angesehensten Philo-
sophen geben den ägyptischen Emrichtungen den Vorzug.“ Wie
kann er das, wenn er unsre Politeia meint? Hier wird von der
ägyptischen Verfassung nie gesprochen, das Volk wird nur einmal
beiläufig erwähnt. Wir können diese Schwierigkeiten auch nicht
mit Teichmüller und Joel in der Weise heben, daß wir beim Isokrates
nur ein verleumderisches Lob sehen. Der unbefangene Leser wird
davon bei Isokrates nichts spüren, und hätte Isokrates wirklich
andeuten wollen, Plato habe in seinem Idealstaat nur die ägyptischen
Einrichtungen kopiert, so hätte er seiner ganzen Art nach diese
Tendenz gewiß nicht in einer beiläufigen Bemerkung versteckt.
Sicher hätte er dann auch nicht seiner Polemik die Spitze dadurch
abgebrochen, daß er die Spartaner in denselben Vorwurf einschloß;
schwerlich auch hätte er im selben Atemzuge Plato den angesehensten
Philosophen genannt.
Namentlich muß man aber beachten, daß Isokrates keineswegs
der einzige ist, der Beziehungen zwischen Platos Idealstaat und
Ägypten annimmt. Teichmüller und Joel haben ganz richtig eine
Stelle Krantors herangezogen, der erwähnt, Plato sei von seinen
Zeitgenossen damit verspottet worden, er habe den Idealstaat aus
Ägypten entlehnt’). Ebenso sehr ınuß man aber betonen, daß
1) Zuerst waren wohl die Worte τῶν πρεσβ. οὐδὲ vor τῶν οἷν. ausgefallen, worauf
dann νεώτερος ὧν καὶ von einem Kenner isokrateischen Stiles gestrichen wurde.
2) Auch der Hinweis auf die Uneinnehmbarkeit Ägyptens zwingt uns nicht,
mit Ed. Meyer $ 906a bis in die siebziger Jahre hinabzugehen. Er ist mindestens
nach dem erfolglosen Kampfe der Perser gegen Akoris (nach Meyer 385—3, nach
Judeich schon 389—7) verständlich, war aber für den Rhetor überhaupt gerecht-
fertigt, wenn Ägypten 10—15 Jahre seine Unabhängigkeit behauptet hatte.
ὃ). Im Phaidros beruft sich Sokrates für die Verwerfung der Schrift auf
den Ägypter Theuth, und als Phaidros diesen Autor von Sokrates’ Lehre etwas
220 Die erste Ausgabe des Staates.
auch Männer, die Plato nahestanden, die Ähnlichkeit hervorheben.
Ausdrücklich tut das Aristoteles in der Politik 1929 02. Aber auch
wenn Dikaiarch fr. 7 im Anschluß an diese Aristotelesstelle vom
ägyptischen König Sesonchosis — so nennt er Aristoteles’ Sesostris —
erzählt, er habe das Gesetz gegeben, ὥστε μηδένα καταλιπεῖν τὴν
πατρῴαν τέχνην" τοῦτο γὰρ ᾧετο ἀρχὴν εἶναι πλεονεξίας, oder wenn
die Theoretiker der hellenistischen Zeit die platonischen Gedanken
auf den ägyptischen Kastenstaat übertragen '), so ist das ein Zeichen,
komisch findet, verweist Sokrates ihm das. Die Alten kümmerten sich nicht
darum, wer etwas sagte, sondern ob das Gesagte wahr sei: σοὶ δ᾽ ἴσως διαφέρει
τίς ὁ λέγων καὶ ποδαπός. οὐ γὰρ ἐκεῖνο μόνον σκοπεῖς, εἴτε οὕτως εἴτε ἄλλως
ἔχει (275b). Daß Plato bei diesem Ausfall eine besondere Absicht hat, scheint
der Zusammenhang anzudeuten. Man könnte sich vorstellen, daß er durch den
im Text angegebenen Vorwurf veranlaßt war.
1) Am deutlichsten tut das bekanntlich Hekataios von Teos. Schon Diod. I, 28,
wo in direkter Weiterbildung von Platos Timaios die Athener als Kolonisten von
Sais bezeichnet und ihre drei alten Stände mit den platonisch-ägyptischen Kasten
parallelisiert werden, geht wohl auf Hekataios zurück. Sicher ist das der Fall
bei I, 73—4, wo wieder die platonische Dreiteilung der Kasten auftritt und der
Segen der Arbeitsteilung nicht genug in platonischen Tönen gerühmt werden
kann. Und ebenso hören wir Hekataids, wenn wir I, 98 lesen: καὶ Λυκοῦργον
καὶ Πλάτωνα καὶ Σόλωνα (man denke wieder an den Timaios!) πολλὰ τῶν ἐξ
Αἰγύπτου νομέμων εἰς τὰς ἑαυτῶν κατατάξαι νομοϑεσίας (vgl. zum Ganzen
Schwartz in der Realenz. V, Sp. 610 ff., Jacoby ebendort VII, Sp. 2763). Auch in
der Schilderung, die Strabo XVII, p. 787 von den drei Kasten der ägyptischen
Monarchie gibt, schimmern die platonischen Farben durch, freilich unter einer
Übermalung, die teilweise Hekataios’ Hand (vgl. Diod. I, 73) verrät. Von Hekataios
ist wie sonst (Jacoby Realenz. VI, Sp. 969) auch hier Euemeros in der Schilderung
der Verfassung von Panchaia beeinflußt.
Es lohnt sich, die verschiedenen Einteilungen zusammenzustellen:
1. Herodot II, 164 io&es μάχιμοι βουκόλοι συβῶται κάπηλοι ἑρμηνέες κυβερνῆται
2. Hippodamos: τεχνῖται γεωργοί τὸ προπολεμοῦν καὶ τὰ
ὅπλα ἔχον
3. Plato Rep. ἄρχοντες φύλακες, ἐπέκουροι γεωργοὶ δημιουργοέ
(urspr. μάχεμοι Ὁ)
4. Plato Tim. ἱερεῖς μάχιμοι γεωργοὶ νομεῖς ϑηρευταὶ
δημιουργοί
5. Isokrates’ Bus. ἱερεῖς μάχιμοι γεωργοὶ τεχνῖται
6. Diod.I, 28 ἱερεῖς μάχιμοι — γεωργοί δημιουργοί
7. Hekataios Ὁ. Diod.I, 73 ἑερεῖς βασιλεῖς οἱ μάχιμοι καλούμενοι
νομεῖς γεωργοί τεχνῖται
8. Strabo p. 787 ἱερεῖς στρατιῶται γεωργοί
9. Euemeros (Diod. V,45) ἱερεῖς στρατιῶται γεωργοί
(προσκειμένων τ. τεχνιτῶν) (προσκειμ. τ. νομέων)
Nr. 1,4—8 schildern Ägypten, 2—3 den Idealstaat, 9 Panchaia.
Isokrates’ Busiris und Platos Timaios. 921
daß man gewöhnt war, Platos Idealstaat und den Kastenstaat in
Zusammenhang zu bringen.
Sollen diese Männer alle von Isokrates oder einem andren
Gegner Platos abhängig sein? Nein, wenn Freund und Feind
gleichmäßig diese Parallele zogen, die doch auch wir in gewissen
Grenzen als berechtigt anerkennen müssen, so kann kein andrer
als Plato selbst den Anlaß geboten haben. Krantors Notiz ist uns
im Kommentar des Proklos zum Tim. p. 20d (II p. 76, 2D) erhalten.
In dieser Timaiosstelle leitet Plato die Fiktion des Idealstaates Ur-
athen durch die Erzählung ein, wie Solon nach Ägypten kommt und
dort von den Priestern erfährt, in Athen hätten in grauer Vorzeit
dieselben Einrichtungen bestanden, die noch jetzt in Ägypten zu
finden seien. Als solche nennt Plato die Sonderung der Bevölkerung
in Priester-, Krieger- und Erwerbsstand, die scharfe Abgrenzung
auch innerhalb des Gewerbslebens, die wissenschaftliche Ausbildung
des Priesterstandes. Sehen wir von einer kleinen Notiz über die Be-
waffnung ab, so sind es dieselben Züge, die Isokrates hervorhebt.
Ja, selbst in Einzelheiten sind Übereinstimmungen zu bemerken.
Denn wie Isokrates $ 21 auf die Scheidung der Stände den Satz
folgen läßt: zai μὲν δὴ καὶ τῆς περὶ τὴν φρόνησιν ἐπιμελείας εἰκότως
ἄν τις ἐκεῖνον αἴτιον νομίσειεν, so sagt Flato genau an der ent-
sprechenden Stelle: τὸ δ᾽ αὖ περὶ τῆς φρονήσεως δρᾷς που τὸν νόμον
τῇδε ὅσην ἐπιμέλειαν ἐποιήσατο (24b), und bei beiden wird in der
Wissenschaft neben der eigentlichen Philosophie die Medizin her-
vorgehoben (Isokr. 22, Tim. 21 e).
Dazu kommen Ähnlichkeiten im Wortlaut bei einzelnen Stellen ').
Wichtiger ist eine scheinbare Kleinigkeit. Während nämlich im Staat
und in der Einleitung des Timaios die Krieger stets als φύλακες
oder ἐπίκουροι bezeichnet werden, erscheint hier plötzlich das jonische
Wort μάχιμοι, das auch bei Isokrates ὃ 18 steht. Es ist das Wort,
1) Isokr. 15 μετὰ δὲ ταῦτα διελόμενος χωρὶς ἑκάστους τοὺς μὲν κτλ.
Tim. 17c de’ οὖν οὐ τὸ τῶν γεωργῶν .. πρῶτον ἔν αὐτῇ χωρὶς διειλόμεϑα
ἀπὸ τοῦ γένους τοῦ τῶν προπολεμησόντων; — Isokr. ib. τοὺς δὲ τὰ περὶ τὸν
πόλεμον μελετᾶν ἠνάγκασεν Tim. 24a οἷς οὐδὲν ἄλλο πλὴν τὰ περὶ τὸν πόλεμον
ὑπὸ τοῦ νόμου προσετάχϑη μέλειν. — Von den Angehörigen des Herrscherstandes
sagt Plato Tim. 18}, ἐλέχϑη ζῆν... ἐπιμέλειαν ἔχοντας ἀρετῆς διὰ παντός, τῶν
ἄλλων ἐπιτηδευμάτων ἄγοντας σχολήν. Mit denselben beiden Termini sagt
das Isokrates 21 von den ägyptischen Priestern. Vgl. Aristoteles Met. 981} 23:
περὶ Αἴγυπτον αἱ μαϑηματικαὶ πρῶτον τέχναι συνέστησαν᾽ ἐκεῖ γὰρ ἀφείϑη
σχολάξειν τὸ τῶν ἱερέων ἔϑνος.
222 Die erste Ausgabe des Staates.
das Herodot für die ägyptische Kriegerkaste und auch sonst oft
brauchte, und das bei Aristoteles, Hekataios, Plutarch Lyk.4 u.a.
wiederkehrt. Plato verwendet es im Timaios zweimal (24a 25d)
und setzt es im Kritias p. 110c bewußt für den früheren Terminus
ein, wenn er sagt, von den μάχιμοι solle gelten, ὅσα περὶ τῶν
ὑποτεϑέντων φυλάκων ἐρρήϑη). Erwähnt sei dabei noch, daß der
Kritias von einem Philosophenstande nichts weiß, wohl aber eine
Kriegerkaste kennt. Denn nach einer sicheren Konjektur Hermanns’)
wird den μάχιμοι und den Priestern die Akropolis als Wohnsitz
getrennt vom dritten Stande angewiesen.
Wie ist nun das Verhältnis des Busiris zum Timaios aufzufassen ?
Daß Isokrates den Timaios benutzt, ist aus chronologischen Gründen
ausgeschlossen; daß Plato auf seinem eigensten Gebiete an den
Rhetor selbst im Wortlaut sich anlehnen soll, ist psychologisch
undenkbar. Also sind beide einer früheren Darstellung gefolgt.
Bei Plato ist es aber selbstverständlich, daß er dann hier wie im
Anfange des Dialoges auf ein früheres Werk von sich selbst zurück-
greift. Also hat er schon vor dem Timaios die ägyptischen Ein-
richtungen schon einmal in ähnlicher Weise besprochen. Diese
Darstellung ist es, auf die Isokrates mit seiner Bemerkung über
die Anerkennung der ägyptischen Einrichtungen anspielt. An bloß
mündliche Vorträge zu denken, verbieten die wörtlichen Berührungen.
So bleibt nur die Annahme übrig, daß Plato selbst in einer ersten
Ausgabe des Staates etwa einleitungsweise auf Ägypten hingewiesen
und dadurch selbst den billigen Spott über die Abhängigkeit vom
Kastenstaat hervorgerufen hat.
Fassen wir nun erst einmal vorläufig das Ergebnis unserer
Betrachtung zusammen: Der Anfang des Timaios setzt eine von
unserer Politeia abweichende Form des platonischen Staates vor-
aus, die nur die konkreten Vorschläge für die Gestaltung des
Staates enthielt. Ein Werk genau desselben Charakters müssen
wir nach den Anspielungen des Isokrates im Busiris vermuten,
nur daß dieser das Paradoxon der Frauen- und Kindergemeinschaft
bei der Schilderung der ägyptischen Zustände wegließ. Der Burisis
zeigt uns, daß Platos Werk am Anfang der achtziger Jahre all-
1). Als Adjektiv — „kriegerisch“ steht es Menex 2408. Gleich „Kriegerschaft“
ist τὸ τῆς πόλεως μάχιμον dann Legg. 830c.
ἢ 112b καὶ πάντα ὅσα πρέποντ᾽ ἦν τῇ κοινῇ πολιτείᾳ δι᾽ olnodoungewv
ὑπάρχειν αὐτῶν τε nal τῶν ἱερέων (ἱερῶν codd., doch vgl. den Gegensatz αὐτῶν).
Plato muß selbst auf den ägyptischen Kastenstaat verwiesen haben. 223
gemein bekannt war. Daß hierzu die Vorstellung über Platos Ent-
wicklung, die wir durch die Analyse des Gorgias gewinnen, die
Angaben des siebenten Briefes, die psychologischen Erwägungen
und die Notiz des Gellius stimmen, bedarf keines Wortes mehr.
Als Kleinigkeit sei noch erwähnt, daß im Phaidros, der nicht
hinter die Mitte der achtziger Jahre fallen kann (vgl. den Aufsatz
über diesen Dialog), Plato der Gedanke der Philosophenherrschaft
doch wohl vertraut ist, wenn ihm ein φιλόσοφός τε καὶ ἡγεμονικὸς
τὴν φύσιν am höchsten steht (252e)').
Nachdem wir uns so den Boden geebnet haben, können wir
schließlich noch an ein Problem herantreten, an das Verhältnis
der Ekklesiazusen zu Plato. Freilich ist ja von den verschieden-
sten Seiten behauptet worden, man dürfe dieses Problem über-
haupt nicht mehr aufwerfen. So hat sich Ivo Bruns in dem
schönen Aufsatz über die Frauenemanzipation in Athen (jetzt in
seinen Reden und Vorträgen gedruckt) ausgesprochen, indem er
auf die große Rolle hinwies, die die Frauenfrage schon im 5. Jahr-
hundert in Athen gespielt hat. Vom Standpunkt des National-
ökonomen aus hat ferner Dietzel in der Ztschr. f, Lit. u. Gesch.
d. Staatsw. I unwiderleglich gezeigt, daß der von Aristoteles ver-
spottete Kommunismus des Proletariats, das nur nach indivi-
duellem Genusse strebt, völlig verschieden ist von dem plato-
nischen Sozialismus, der Verzicht auf den Genuß verlangt, und
z.,B. Pöhlmann erklärt daraufhin in seiner Gesch. d. soz. Frage I,
S. 392° die Frage für endgültig erledigt. Aber mir scheint, daß
man dabei doch wichtige Punkte übersehen hat.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Komposition der
Ekklesiazusen. Sie erinnert zunächst an den Bau der älteren
Stücke, wo die eigentliche Entwicklung der Handlung vor der
Parabase zu Ende geführt wird und die zweite Hälfte nur die
Probe aufs Exempel bringt. Denn auch hier ist das Anfangs-
motiv, das Streben der Frauen nach der Herrschaft im Staate,
in der Mitte des Stückes, wo früher die Parabase stand, erledigt,
da die Frauen ihr Ziel erreicht haben. Wir könnten also eine
Fortsetzung etwa in der Art der Acharner erwarten, wo die
lustigen Szenen nach der Parabase uns die Segnungen von Dikaio-
polis’ Friedensschluß vorführen. Das Überraschende in den
!) Vgl. Rep. 474c τοῖς μὲν προσήκει φύσει ἅπτεσθαξ τε φιλοσοφίας
ἡγεμονεύειν τ᾽ ἐν πόλει.
224 Die erste Ausgabe des Staates.
Ekklesiazusen ist aber nun, daß der zweite Teil plötzlich ein
ganz neues Motiv bringt. Von 571 an entwickelt Praxagora als
Regierungsprogramm den Kommunismus und verteidigt diesen
geschickt gegen alle Angriffe; und der Rest des Stückes zeigt
uns, daß die Verwirklichung des Programmes zwar auf Schwierig-
keiten stößt, aber schließlich doch das Schlaraffenland auf Erden
herbeiführt.
Der Kommunismus bildet ein ganz neues Motiv, das mit der
Frauenherrschaft an sich nicht das geringste zu tun hat. Denn
warum grade die Frauen, deren konservativen Sinn Aristophanes
rühmt, die alles treiben ὥσπερ χαὶ πρὸ τοῦ, diese die ganze
Lebensordnung umstürzende Neuerung einführen müssen, ist
wirklich nicht zu sagen. Das ganze Programm der Praxagora
könnte ebenso gut von ihrem ehrsamen Eheherrn entwickelt
werden, und andrerseits haben z. B. die hübschen Szenen, wo
Chremes mit der Ablieferung seines Eigentums wartet und noch
einmal wartet, zum gemeinsamen Essen aber sehr pünktlich da
ist, mit der Frauenherrschaft gar nichts zu schaffen. Verknüpft
sind beide Motive nur durch die Liebesszenen des zweiten Teiles,
wo die Frauen ihr Regiment ausnützen, um von der staatlichen
Regulierung des Liebesgenusses ausgiebigen Gebrauch zu machen.
Diese Szenen haben gewiß Dichtern wie Publikum den größten
Spaß gemacht, aber wenn wir uns psychologisch erklären wollen,
wie Aristophanes zur Verknüpfung beider Motive gekommen ist,
müssen wir wohl weiter zurückgreifen.
Das Frauenproblem hatte Aristophanes schon zweimal mit
Erfolg verwertet. Kein Wunder, daß ihm auch einmal der Ge-
danke der Frauenherrschaft aufblitzte.e Eine Reihe amüsanter
Szenen ergab sich ohne weiteres mit dem Streben nach der
Übertragung des Regimentes. Aber wenn sie dieses inne hatten,
was dann? Etwas Neues müssen sie natürlich einführen. Daß
das sexuelle Moment nicht fehlen durfte, war selbstverständlich.
So mochte Aristophanes zur Verstaatlichung der Liebe kommen.
Von da aus führt eine Brücke zum Kommunismus des Besitzes,
immerhin. liegt diese Assoziation noch keineswegs nahe. Man
möchte also an eine äußere Anregung denken.
Daß dabei die Frauenherrschaft den Ausgangspunkt, der
Kommunismus nur das Hülfsmotiv bildet, zeigt nicht nur der
Titel des Stückes und die ganze erste Hälfte, sondern die Be-
Platos Staat und Aristophanes’ Ekklesiazusen. 2925
handlung der kommunistischen Ideen selber. Gewiß enthalten die
„Saturnalien der Kanaille“ die treffendste Satire auf den Essens-
und Liebeshunger des Proletariats. Aber wenn das Interesse des
Dichters von vornherein an der kommunistischen Theorie gehaf-
tet hätte, würde er sich schwerlich damit begnügt haben, Praxa-
gora ihr Regierungsprogramm entwickeln zu lassen, ohne nach-
her auf diese Punkte zurückzukommen und zu zeigen, wie der
Zukunftsstaat mit diesen Idealen aufräumt.
Bruns hat nun zweifellos recht, daß das Motiv der Frauen-
herrschaft aus den Debatten des 5. Jahrhunderts zu erklären ist.
Für Aristophanes’ Verhältnis zu Plato beweist das aber gar
nichts. Denn da handelt es sich um die kommunistischen Ideen.
Daß diese in den Köpfen von Blepyros und Ühremes ganz an-
ders aussehen als in Platos Sozialismus, ist Dietzel ohne weiteres
zuzugeben. Aber eine Berücksichtigung Platos wäre dadurch nur
ausgeschlossen, wenn man vom Komiker verlangen könnte, daß
er eine wirkliche Satire gegen die Prinzipien von Platos Lehre
schriebe. Tatsächlich ist es ihm doch nur um ein komisches
Motiv zu tun. Und wenn heutzutage ein Witzblatt Späße über
den Sozialismus macht, kümmert es sich wohl wirklich darum,
ob die vorausgesetzte Praxis zu den Lehren von Marx und Las-
salle stimmt, ob vom wissenschaftlichen Standpunkt die zu
Grunde liegende Theorie individualistisch oder sozialistisch ist?
Vor allem geht aber Dietzel ebenso wenig wie Bruns auf
den Punkt ein, der das eigentliche Problem bildet. Es kann
nicht stark genug betont werden, daß es sich nicht um
allgemeine Ideen handelt, die Aristophanes persifliert,
sondern um eine Menge einzelner Gedanken, ja Wen-
dungen, die er mit Plato auf dem Raum von hundert
Versen gemeinsam hat').
Aristophanes beginnt 590 mit dem Satze, daß alle alles ge-
meinsam haben sollen. Plato hat denselben Gedanken mit Bezug
auf seine herrschenden Stände oft genug, bald positiv, bald nega-
tiv ausgedrückt’). Beide erklären als ihr Ziel, daß die Bürger-
schaft eine wirkliche Einheit bilden, der Unterschied von Reich
1, Vgl. auch Teichmüller, Litt. Fehden I, 5. 14 ff.
2) 590 κοινωνεῖν γὰρ πάντας φήσω χρῆναι πάντων μετέχοντας --- Tim. 110c
(τὸ μάχιμον ἔϑνος ᾧκει) ἴδιον μὲν αὐτῶν οὐδεὶς οὐδὲν κεχτημένος, ἅπαντα δὲ
πάντων κοινὰ voulbovres αὑτῶν οἷ. Rep. 4285, 416d.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 15
226 Die erste Ausgabe des Staates.
und Arm aufhören soll‘). Beide wollen namentlich den Grund
und Boden für gemeinsam erklären’). v. 614 kommt Aristophanes
auf den Kommunismus der Liebe mit Worten, die an Rep. 457c
erinnern, faßt aber natürlich den Satz in einem für ihn brauch-
baren Sinne auf’). Besonders wichtig ist dann 635, wo Blepyros
eine Frage aufwirft, mit der sich die Vertreter der freien Liebe
meist nicht allzusehr abquälen, nämlich wie die Eltern ihre
Kinder erkennen würden. Fast wörtlich stimmt er zu Plato, und
beide Male erhält der neugierige Frager nicht etwa eine direkte
Antwort, sondern die Erklärung, daß die Frage überflüssig ist.
Die Begründung ist beide Male die gleiche‘). 638 befürchtet
Blepyros Mißhandlungen gegen die Eltern und wird damit be-
ruhigt, daß diese jetzt bei den Altersgenossen als ihren Ver-
wandten Schutz finden werden. Auch diese keineswegs so ganz
selbstverständliche Gedankenfolge treffen wir bei Plato°). 657 er-
wartet Praxagora ebenso wie Sokrates 464d, daß nach Aufhebung
des Privateigentums die Prozesse wegen Geldangelegenheiten auf-
hören werden. Sokrates fügt hinzu, daß das gleiche auch von
den Klagen wegen Mißhandlung gilt. Auch diese Gedankenfolge hat
1) 591 κἀκ ταὐτοῦ ζῆν καὶ μὴ τὸν μὲν πλουτεῖν τὸν δ᾽ ἄϑλιον εἶναι...
ἀλλ᾽ ἕνα ποιῶ κοινὸν ἅπασιν βίοτον καὶ τοῦτον ὅμοιον — Rep. 4044 ἀλλ᾽ ἑνὶ
δόγματι τοῦ οἰκείου πέρι ἐπὶ τὸ αὐτὸ τείνοντας πάντας εἷς τὸ δυνατὸν ὁμοιο-
παϑεῖς λύπης τε καὶ ἡδονῆς εἶναι οἷ. 462b und 55lb τὸ μὴ μέαν ἀλλὰ δύο
ἀνάγκῃ εἶναι τὴν τοιαύτην πόλιν, τὴν μὲν πενήτων τὴν δὲ πλουσίων.
3) 597 cf. Rep. 416d 4198.
ὅ Ar.: καὶ ταύτας γὰρ κοινὰς ποιῶ τοῖς ἀνδράσι συγκατακεῖσϑαι nal παι-
δοποιεῖν τῷ βουλομένῳ --- Plato: τὰς γυναῖκας ταύτας τῶν ἀνδρῶν τούτων
πάντων πάσας εἶναι κοινάς.. καὶ τοὺς παῖδας αὖ κοινούς.
Ἢ Ar.: Πῶς οὖν οὕτω ζώντων ἡμῶν τοὺς αὑτοῦ παῖδας ἕκαστος
ἔσται δυνατὸς διαγιγνώσκειν; — Τί δὲ δεῖ; πατέρας γὰρ
ἅπαντας
τοὺς πρεσβυτέρους αὑτῶν εἶναι τοῖσι χρόνοισιν νομιοῦσιν.
Plato 461c: Πατέρας δὲ καὶ ϑυγατέρας... πῶς διαγνώσονται ἀλλήλων; —
Οὐδαμῶς, ἦν δ᾽ ἐγώ, ἀλλ᾽ ἀφ᾽ ἧς ἂν ἡμέρας τις αὐτῶν νυμφίος γένηται, μετ᾽
ἐκείνην δεκάτῳ μηνὶ καὶ ἑβδόμῳ δὴ ἃ ἂν γένηται Enyova, ταῦτα πάντα προσ-
ερεῖ τὰ μὲν ἄρρενα ὑεῖς τὰ δὲ ϑήλεα ϑυγατέρας, καὶ ἐκεῖνα ἐκεῖνον πατέρα οἷ. 4θ8 c.
>) Ar. 641 ἀλλ᾽ ὁ παρεστὼς οὐκ ἐπιτρέψει " τότε δ᾽ αὐτοῖς οὐκ ἔμελ᾽ οὐδέν
τῶν ἀλλοτρίων ὅστις τύπτοι κτλ.
Plato 465a καὶ μὴν ὅτι γε νεώτερος πρεσβύτερον οὔτε ἄλλο Bıdkeodaı ἐπι-
χειρήσει ποτὲ οὔτε τύπτειν... δέος (γὰρ) τὸ τῷ πάσχοντι τοὺς ἄλλους βοηϑεῖν
τοὺς μὲν ὡς ὑεῖς κτλ. cf. 463c (keiner ist ἀλλότριος).
Platos Staat und Aristophanes’ Ekklesiazusen. 3937
Aristophanes, wenn er auch den Gedanken selber witzig um-
biegt’).
Wer diesem Tatbestande gegenüber sich mit der Ausflucht
hilft, daß solche Gedanken damals „in der Luft lagen“, der löst
selber das Problem in Nebel auf, statt es konkret und scharf zu
erfassen. Was wir eben betrachtet haben, sind doch nicht etwa
allgemeine kommunistische Ideen, wie sie in den Köpfen einer
unklaren Menge spuken, es sind Einzelheiten eines durchdachten
und gegen Einwürfe gesicherten Programmes. Daß Aristophanes
selber hier als Theoretiker auftritt und Plato sich dann später an
ihn in Gedanken und Worten angelehnt hat, wird wohl niemand
elauben. Also folgt Aristophanes selbst einem Theoretiker, und
der kann nur Plato sein, der nach Aristoteles’ ausdrücklicher An-
gabe (1266a 33) der einzige Politiker war, der die Frauengemein-
schaft gefordert hat’). Daran daß Aristophanes Plato berück-
sichtigt, würde ja auch niemals ein Mensch gezweifelt haben,
wenn nicht die chronologischen Gründe scheinbar dagegen ge-
sprochen hätten. Daß diese Gründe tatsächlich nicht vorliegen,
haben wir geseben. Um 390 muß eine platonische Politeia vor-
gelegen haben, die grade die bei Aristophanes vorausgesetzten
konkreten Vorschläge enthielt. Von einer Polemik gegen Plato
ist dabei in den Ekklesiazusen natürlich keine Rede. Ganz ab-
gesehen davon, daß Platos Gedanken tatsächlich nicht widerlegt
werden, träfe man hier den Sinn der Komödie nicht, wenn man
eine aus sachlichen Gründen geführte Satire annähme. Die Sache
liegt einfach so: Aristophanes brauchte für seine Frauenkomödie
ein Hilfsmotiv. Mit welchem Vergnügen er Platos tiefernste Aus-
führungen über die Frauenfrage gelesen haben wird, kann man
sich vorstellen. Aber vor allem hatte er jetzt, was er für das
Stück brauchte. Daß er in seiner Komödie für den sozialistischen
1 Ar. 657 "AAN οὐδὲ δίκαι πρῶτον ἔσονται.
τοῦ γάρ, τάλαν, οὕνεκ᾽ ἔσονται ..
ἐν τῷ κοινῷ πάντων ὄντων;
663 Τὴν αἰκίας οἱ τύπτοντες πόϑεν ἐκτείσουσιν;
Plato 464d τέ δέ; δίκαι τε καὶ ἐγκλήματα πρὸς ἀλλήλους οὐκ οἰχήσεται ἐξ aö-
τῶν... διὰ τὸ μηδὲν ἴδιον ἐκτῆσθαι;
464e καὶ μὴν .. οὐδ᾽ oinias δίκαι δικαίως ἂν εἶεν Ev αὐτοῖς.
2) Aus diesem Grunde kommt auch die von H. Gomperz, Sophistik und Rhe-
torik 5. 181 erwogene Möglichkeit, Protagoras habe die von Aristophanes ver-
zerrten Ideen vertreten, nicht in Betracht.
15*
228 Die erste Ausgabe des Staates.
Verzicht auf den Genuß das Recht auf den Genuß einsetzte, er-
gab sich von selbst durch die Rücksicht auf die komische Wir-
kung. Natürlich wurden damit Platos politische Ideen ins Lächer-
liche verkehrt. Das werden die Gebildeten auch gewußt haben.
Aber Plato war kein Mann wie Euripides, der keinen Spaß ver-
stand. Ein μισῶ γελοίους, οἵτινες τήτει σοφῶν ἀχάλιν᾽ ἔχουσι
στόματα (fr. 492), lag ihm fern, wenn er auch 4520 τὰ τῶν
χαριέντων σκώμματα in der ernsten Debatte nicht mitreden lassen
will, und falls der Dichter Gelegenheit hatte, den Sieg seines
Stückes zu feiern, wird auch Plato auf dem Symposion nicht ge-
fehlt und beim Becher Wein weidlich über den weiblichen So-
krates gelacht haben.
Für die Aufführung der Ekklesiazusen hat Ed. Schwartz
(Rostocker Index 1893) mit Recht geltend gemacht, daß Aristo-
phanes in v. 202 und 356 auf die durch Thrasybul vereitelten
Friedensverhandlungen anspielt. Durch das Philochoroszitat im
Didymoskommentar zu Demosthenes col. 7, 19 wissen wir jetzt,
daß diese 392/91 stattgefunden haben. Demnach sind die Ekkle-
siazusen an den Lenäen 391 oder 390 aufgeführt. Kurz vorher
muß Platos erste Politeia entstanden sein.
Wenn aber dieses Ergebnis Anspruch auf Glaubwürdigkeit
haben soll, müssen wir noch zu erklären versuchen, was Plato
dazu bewogen hat, verhältnismäßig so schnell seinen ersten Staats-
entwurf durch einen zweiten zu ersetzen. Natürlich kommt da
die ganze schnelle Weiterentwicklung seiner Gesamtanschauung
in Betracht. Ein Punkt scheint mir aber besonders zur Erklärung
geeignet.
Für die Staatstheorie, wie sie in unserer Politeia dargestellt
wird, ist nichts charakteristischer als die Verbindung von Sozial- und
Individualethik, der Parallelismus von Staat und Individuum, die
beide die gleiche Gliederung in drei Teile aufweisen und ihre
Vollkommenheit erreichen, wenn zwischen den drei Teilen völ-
lige Harmonie herrscht. Hier liegt ein bisher, so viel ich sehe,
nicht gewürdigtes Problem vor, das für die Entwicklung nicht
bloß der Staatstheorie Platos von großer Bedeutung ist.
Die Dreiteilung des Staates und die der Seele liegen doch
auf so verschiedenen Gebieten, daß sie nicht auf eine einheitliche
Gedankenkonzeption zurückgeführt werden können. Andrerseits
können so parallele Gliederungen auch nicht unabhängig von ein-
Die Motive für die Weiterbildung der Staatstheorie. 23929
ander sein. Die Frage ist also: von welcher Konzeption ist Plato
ausgegangen? Hat er zuerst die Dreiteilung der Seele
oder die des Staates konzipiert?
Zur Entscheidung der Frage dürfen wir uns natürlich nicht
darauf berufen, daß Plato selbst in der Politeia erst „die große
Sehrift“ der staatlichen Verhältnisse lesen will, ehe er zur Seele
des Individuums übergeht (368d). Denn das kann durch lite-
rarische Motive bedingt sein. Wichtiger ist, daß sich jedenfalls
die Staatstheorie nicht ohne weiteres aus der psychologischen
Dreiteilung ableiten läßt. Denn ohne Zweifel ist richtig, was
Pöhlmann, Gesch. ἃ. sozialen Frage I, 5. 14ff. ausführt. Die
grundlegende Forderung der Arbeitsleistung, auf der die stän-
dische Gliederung beruht, entspringt aus rein politischen Er-
wägungen, nicht zum wenigsten aus einer Reaktion gegen das
demokratische Prinzip, das dem Einzelnen die Fähigkeit zutraut,
alles in einer Person zu sein, gegen die πολυπραγμοσύνη, wie sie
sich unter der Herrschaft des Freiheits- und Gleichheitsprinzips
breitmachte. Mit Recht hob Pöhlmann auch in seiner früheren
Darstellung (Kommun. und Sozialismus I, S. 274ff.) hervor, dab
aus diesen praktischen Erwägungen schon die sokratische For-
derung der Fachkenntnisse für die Beamtenschaft hervorgegangen
ist, und mit gutem Grunde bekämpfte er die Anschauung, daß
die Lehre von der Arbeitsteilung erst nachträglich zur wissen-
schaftlichen Rechtfertigung der Ständegliederung hinzugefügt sei,
als eine Ansicht, in der sich auf Kosten der historisch-politischen
Auffassung eine einseitig spekulative Betrachtung geltend macht.
Nicht von der Psychologie geht Plato aus: „Die Parallelisierung
mit der Menschenseele erscheint als etwas Sekundäres: ... sie
will nur zeigen, daß das für die staatliche Ordnung schon vor-
her und auf selbständigem Wege gefundene Gerechtigkeitsideal
seine Richtigkeit eben dadurch erweise, daß es auch mit dem-
jenigen Sittlichkeitsprinzip übereinstimmt, welches als die Be-
dingung einer gesunden seelischen Konstitution, als individuelles
Sittliehkeitsideal zu gelten habe. Die Staatslehre wird also hier
nicht auf die Psychologie begründet, sondern sucht in derselben
nur die Bestätigung ihrer Ergebnisse.“
Daß die psychologiche Dreiteilung aus der politischen abge-
leitet ist, könnte man andrerseits schon deshalb annehmen wollen,
weil sie anerkanntermaßen nicht aus rein psychologischen, sondern
230 Die erste Ausgabe des Staates.
aus ethischen Interessen hervorgegangen ist, wie sie sich ja ganz
auf die ethisch wichtigen Funktionen beschränkt.
Wichtiger aber erscheint mir eins: sehr auffallend ist in un-
serer Politeia die Auffassung der Gerechtigkeit. Sie soll erwiesen
werden als identisch mit der Gesundheit der Seele. Hier liegt
gewiß eine Fortbildung der Anschauungen des Gorgias vor, wo
von einer Dreiteilung der Seele noch keine Rede war, aber doch
schon τάξις und χόσμος als der vollkommene Zustand, als die
ἀρετή der Seele bezeichnet wurden (vgl. S. 156). Aber ist es
nicht höchst merkwürdig, daß speziell die Gerechtigkeit mit dieser
Gesundheit der Seele identifiziert wird? Ganz abgesehen von der
bekannten Schwierigkeit, daß sich die Scheidung von Gerechtig-
keit und Selbstbeherrschung bei Plato nur schwer durchführen läßt:
muß nicht jeder bei dieser Auffassung der Gerechtigkeit gerade
das Moment vermissen, das für ihr Wesen als bestimmend gilt?
Die Gerechtigkeit betätigt sich doch in der Beziehung zu den
Mitmenschen, und gerade diese wird außer acht gelassen, wenn
die Gerechtigkeit ausschließlich als innerseelische Harmonie ge-
faßt wird. Es kann auch nicht etwa die Rede davon sein, daß
die hellenische Denkweise von der unseren abwiche. Auch dem
Griechen ist die Gerechtigkeit die Tugend, die dem Nächsten
sein Recht widerfahren läßt. Am bezeichnendsten ist Aristoteles.
Denn wenn wir auch einen gewissen Einfluß Platos darin spüren,
daß er neben der Gerechtigkeit im engeren Sinne eine weitere
anerkennt, die im Grunde mit der moralischen Tugend überhaupt
identisch ist und die Grundlage der staatlichen Gemeinschaft
bildet (Nik. Eth. V, 1—3), so ist doch diese Gerechtigkeit für
ihn die Tugend eben nur insofern, als sie sich im Verhältnis zum
Mitmenschen äußert (ἀρετὴ μέν ἐστιν τελεία, ἀλλ᾽ οὐχ ἁπλῶς ἀλλὰ
πρὸς ἕτερον {129} 26, vgl. 11804138). Und ebenso sagt er nach
der Charakterisierung der speziellen Gerechtigkeit nochmals
1130b1: ἄμφω γὰρ ἐν τῷ πρὸς ἕτερον ἔχουσι τὴν δύναμιν"). Die
platonische Auffassung der Gerechtigkeit erscheint ihm so ge-
künstelt, daß er sie in einer kurzen Schlußbemerkung abfertigt;
1) So auch schon im Dialog über die Gerechtigkeit, falls fr. 85 wirklich aus
diesem stammt. Jedenfalls paßt es zu dieser Auffassung der Gerechtigkeit, wenn
er dort zu zeigen suchte, daß diese aufgehoben wird, sobald man bei der Be-
stimmung des Lebenszieles von egoistischen Trieben, von der Lust ausgeht (fr. 86).
Vgl. Bernays Dial. d. Aristoteles 49.
Die Dreiteilung des Staates ist früher als die der Seele. 231
diese Gerechtigkeit kann nach ihm nur χατὰ μεταφορὰν καὶ
ὁμοιότητα so genannt werden (113856) ').
Wie ist nun Plato dazu gekommen, diese natürliche Be-
ziehung auf den Mitmenschen zu ignorieren? Ich glaube, es
gibt nur eine Erklärung. Wenn er sich gewöhnt hatte, den
Staat als dreifach gegliederten Organismus zu betrachten, so lag
yür ihn die Frage nahe, worin die Vollkommenheit, die ἀρετή des
Staates bestehe. Nahe genug lag es auch, jedem der einzelnen
Stände eine der bekannten Kardinaltugenden zuzuweisen. Wich-
tiger aber für die Vollkommenheit des Staates war es noch, daß
die Arbeitssphären der Stände innegehalten wurden, und so hat
er in dieser Innehaltung die Gerechtigkeit des Staates gesehen.
Hier schwebte noch der Begriff der Gerechtigkeit vor, sofern es
sich um das gegenseitige Verhältnis der Stände zueinander han-
delte. Verloren ging dieser erst, als Plato die Parallele mit dem
Individuum zog und auch die individuelle Gerechtigkeit nach der
Analogie der staatlichen auffaßte.
Schon das weist darauf hin, daß die Dreiteilung der Seele aus
der Dreiteilung des Staates abgeleitet ist. Die Entscheidung bringt
aber erst eine andre Erwägung. Wir müssen uns doch fragen,
ob wir zu der Zeit, wo Plato seine Theorien aufstellte, schon die
eine oder die andere der beiden Dreiteilungen als bekannt voraus-
setzen dürfen. Hier ist nun gar kein Zweifel möglich. Schon der
erste Staatstheoretiker, Hippodamos von Milet, hat als echter
Pythagoreer unter dem Banne der Zahl, und zwar der Dreizahl
gestanden, und als Städtebauer hat er den Plan des Staates mit
ebenso klarer architektonischer Gliederung entworfen wie den
Bebauungsplan des Piräus. Drei Arten von Gesetzen gibt es in
seinem Staate, in drei Teile wird Grund und Boden geteilt, drei
Stände gliedern die Bevölkerung, ἐποίει γὰρ ὃν μὲν μέρος τεχνίτας.
Ev δὲ γεωργούς ' τρίτον δὲ τὸ προπολεμοῦν καὶ τὰ ὅπλα ἔχον (Arist.
Pol. 1267} 31).
Daß Plato diesen Vorgänger kannte, so gut wie Aristoteles
und die Theoretiker der hellenistischen Zeit?), wird man ohne
1 Auch Chrysipp verwarf Platos Auffassung der Gerechtigkeit: εἶναι γὰρ
πρὸς ἕτερον, οὐ πρὸς ἑαυτὸν τὴν ἀδικέαν (bei Plut. Stoic. rep. 16).
5) Mindestens Hekataios scheint ihn zu kennen, wenn er Diod. I, 73 eine
besondere Dreiteilung des Grund und Bodens neben der Dreiteilung der Bevöl-
kerung vornimmt (vgl. zu S. 220).
232 Die erste Ausgabe des Staates.
weiteres annehmen. Dann war aber auch die Dreiteilung der Stände
für ihn gegeben. Er hat sie allerdings völlig umgestaltet, indem
er als eine besondere Gruppe die sachkundigen Leiter des Staates
faßte, aber festgehalten hat er sie doch, indem er Hippodamos’
τεχνῖται und γεωργοί zu einer Klasse vereinigte (τοῖς τε γεωργοῖς καὶ
τοῖς ἄλλοις δημιουργοῖς 415a 415c, und direkt an Hippodamos klingt
es an, wenn er Tim. 17c sagt: do’ οὖν οὐ τὸ τῶν γεωργῶν ὅσαι
τε ἄλλαι τέχναι πρῶτον Ev αὐτῇ χωρὶς διειλόμεϑα ἀπὸ Tod γένους
τοῦ τῶν προπολεμησόντων;
Dagegen fehlt für die Dreiteilung der Seele bei den Früheren
jeder Anknüpfungspunkt, und Plato selber ist in den Schriften der
neunziger Jahre von jeder Einteilung der Seele weit entfernt. Am
deutlichsten haben wir das beim Gorgias gesehen, wo er 493a τῆς
ψυχῆς τοῦτο Ev ῳ ἐπιϑυμίαι εἰσίν erwähnt, ohne darausirgend welche
psychologische Folgerung zu ziehen. Entscheidend für unsere Frage
ist der Phaidon. Wenn dort 78a der Unsterblichkeitsbeweis da-
mit beginnt, daß die einfache Seele in Gegensatz zu den zusammen-
gesetzten Dingen gestellt wird, so ist für jeden Unbefangenen selbst-
verständlich, daß die Dreiteilung der Seele für Plato noch nicht
existiert. Man sucht ja dieser Tatsache dadurch aus dem Wege
zu gehen, daß man erklärt, Plato habe hier nur die Unsterblich-
keit des vernünftigen Seelenteiles gemeint. Aber Plato hätte doch
geradezu absichtlich seinem Beweise die Kraft genommen, wenn
er nicht durch eine kurze Klarstellung die notwendigen Bedenken
seiner Leser hinweggeräumt hätte. Daß er eine solche Klarstellung
durchaus nicht verschmäht, zeigt uns ja deutlich das zehnte Buch
des Staates, wo er gerade deshalb die Unsterblichkeitsfrage noch
einmal aufnimmt, weil die Dreiteilung der Seele gegen die Beweise
des Phaidon, besonders gegen den Beweis aus der Einfachheit
bedenklich machen konnte‘). Wie er es dort für notwendig hält,
zu zeigen, daß die niederen Seelenvermögen dem wahren, ein-
fachen Wesen der Seele fremd sind, so hätte er es sicher schon
1) Es ist doch ganz offensichtlich, daß Plato auf den Beweis Phaidon 78a (ἄρ᾽
οὖν τῷ μὲν συντεϑέντι τε nal συνθέτῳ ὄντι φύσει προσήκει τοῦτο πάσχειν, διαιρε-
ϑῆναι ταύτῃ a περ συνετέϑη " εἶ δέ τε τυγχάνει ὃ ἀσύνϑετον κτλ.) direkt zurückver-
weist, wenn er Rep. 611b Sokrates den Selbsteinwurf machen läßt: οὐ ῥάδιον ἀέδιον
εἶναι σύνϑετόν τε nal μὴ τῇ καλλίστῃ κεχρημένον συνϑέσει, ὡς νῦν ἡμῖν
ἐφάνη ἡ ψυχή. Und wenn Sokrates dann fortfährt: ὅτε μὲν τοίνυν ἀϑάνατον
ψυχή, καὶ ὁ ἄρτι λόγος καὶ οἱ ἄλλοι ἀναγκάσειαν ἄν, und dann den Einwand aus
Die Dreiteilung des Staates ist früher als die der Seele. 233
im Phaidon getan, hätte er damals die Dreiteilung der Seele schon
gekannt‘).
Sollte aber hier noch ein: Zweifel bleiben, so läßt sich von
anderer Seite her zeigen, daß zwischen Phaidon und Staat die
Entwicklung Platos von der einheitlichen Auffassung der Seele
zur Dreiteilung liegt. In dem Abschnitt, wo Plato die Auffassung
der Seele als Harmonie des Leibes widerlegt, macht er p. 940
geltend, daß die Seele die Herrschaft über den Leib hat, und fragt
nun: πότερον συγχωροῦσαν τοῖς κατὰ τὸ σῶμα πάϑεσιν ἢ καὶ Evaprıov-
μένην; λέγω δὲ τὸ τοιόνδε, οἷον καύματος ἐνόντος καὶ δίψους ἐπὶ
τοὐναντίον ἕλκειν, τὸ μὴ πίνειν, καὶ πείνης ἐνούσης ἐπὶ τὸ μὴ ἐσϑίειν,
χαὶ ἄλλα μυρία που δρῶμεν ἐναντιουμένην τὴν ψυχὴν τοῖς κατὰ
τὸ σῶμα: ἢ οὔ; Hier wird also der Kampf, ob man den Durst stillen
soll, so aufgefaßt, daß die Seele das Trinken verbietet, während
der Leib danach strebt, den Durst zu löschen. Die Begierde fällt
dem Leibe zu. Und so istes im ganzen Dialoge: Überall liegt ein ethi-
scher Gegensatz zwischen Leib und Seele vor, und der Seele werden
dabei die intellektuellen Fähigkeiten zugewiesen, dem Leibe die
Sinne’) und die Begierden und Lüste (66d τὸ σῶμα καὶ αἱ τούτου
ἐπιϑυμίαι 826 τῶν κατὰ τὸ σῶμα ἐπιϑυμιῶν 65a τῶν ἡδονῶν ai
διὰ τοῦ σὠματός εἰσιν 1146 τὰς ἡδονὰς τὰς περὶ τὸ σῶμα u. ὃ.
Leissner 5. 18). Es ist genau dieselbe naive Psychologie oder,
richtiger gesagt, derselbe Mangel an Psychologie, den wir bei
Xenophon treffen, der auch ständig von αἱ διὰ τοῦ σώματος ἧδοναί
spricht’). Die Stellen habe ich schon 5. 157° angeführt und dort
der σύνϑεσις damit widerlegt, daß die Teilbarkeit nur der irdischen Verbindung
mit dem Leibe entspringt, das wahre Wesen der Seele aber einfach ist, so ist doch
klar, daß Plato sagen will: Die Beweise des Phaidon für die Unsterblichkeit halte
ich fest, und ich will hier nur einem Einwand begegnen, der aus der neugefun-
denen Dreiteilung der Seele erhoben werden könnte.
1) Über die platonische Psychologie handeln am besten Fr. Schulthess, Plato-
nische Forschungen, und Leissner, Die platonische Lehre von den Seelenteilen.
Münchener Diss. 1909. Gegen Leissner möchte ich nur betonen, daß auch im
Timaios Platos Ansicht bleibt, daß die einfache Seele in ihrer Verbindung mit
dem Leibe die niederen Funktionen entwickelt, die dann an verschiedenen Teilen
des Körpers zur Erscheinung kommen. So hat schon Poseidonios die dichterische
Darstellung Platos verstanden und sich zu eigen gemacht.
?) τοῦτο γάρ ἐστιν τὸ διὰ τοῦ σώματος τὸ δι᾿ αἰσϑήσεως σκοπεῖν Tu 190.
ὃ) Das Entscheidende ist, daß hier eben noch keine psychologische Auffassung
der Begierden usw. vorliegt und für Plato nur der Gegensatz Leib — Seele
Interesse hat. Deshalb besagt es gar nichts, wenn Barwick, Comm. Jen. X p.32
234 Die erste Ausgabe des Staates.
auch darauf hingewiesen, daß Plato im Gorgias denselben Stand-
punkt einnimmt. Verlassen hat er den erst, als er die Dreiteilung
der Seele entdeckte, und nun ist es doch ganz gewiß kein
Zufall, wenn er im Staate den Beweis für die Ver-
schiedenheit der psychischen Funktionen gerade mit
Berufung auf die Tatsache führt, die er im Phaidon
als Symptom für den Gegensatz der einheitlichen Seele
zum Leibe angesehen hatte: Τοῦ διψῶντος ἄρα ἣ ψυχή, nad"
ὅσον διψῇ, οὐκ ἄλλο τι βούλεται ἢ πιεῖν"... οὐκοῦν εἴ ποτέ τι αὐτὴν
ἀνϑέλκει διψῶσαν, ἕτερον ἄν τι ἐν αὐτῇ εἴη αὐτοῦ τοῦ διψῶντος;
... τί οὖν φαίη τις ἂν τούτων πέρι; οὐκ ἐνεῖναι μὲν ἐν τῇ ψυχῇ
αὐτῶν τὸ χελεῦον ἐνεῖναι δὲ τὸ κωλῦον πιεῖν (Rep. 499 ο) ;')
Im Phaidon verweist Sokrates 944 darauf, daß auch sonst die
Seele in Gegensatz zum Leibe tritt ταῖς ἐπιϑυμίαις καὶ ὀργαῖς καὶ
φόβοις ὡς ἄλλη οὖσα ἄλλῳ πράγματι διαλεγομένη und führt als Beleg
den Homervers an:
στῆϑος δὲ πλήξας κραδίην ἠνίπαπε μύϑῳ"
τέτλαϑι δή, κραδίη" καὶ κύντερον ἄλλο ποτ᾽ ἔτλης.
ἄρ᾽ οἴει αὐτὸν ταῦτα ποιῆσαι διανοούμενον ὡς ἁρμονίας αὐτῆς οὔσης
χαὶ οἵας ἄγεσθαι ὑπὸ τῶν τοῦ σώματος παϑημάτων κτλ.; Im
Staate schließt er seine Beweise für die Verschiedenheit von ϑυμός
und λογιστικόν mit dem Zitat desselben Homerverses ab und sagt:
ἐνταῦϑα γὰρ δὴ σαφῶς ὡς ἕτερον ἑτέρῳ ἐπιπλῆττον πεποίηκεν “Ὅμηρος
τὸ ἀναλογισάμενον ... τῷ ἀλογίστως ϑυμουμένῳ (441b). Hier ist
doch wohl kein Zweifel möglich, daß Sokrates sich selber korrigiert,
so offensichtlich, wie er es gegenüber Äußerungen, die er an seinem
Sterbetage getan hat, vermag’).
gegen Leissner einwendet, daß gelegentlich Plato auch von der Lust der Seele
spricht. Mit seinen Argumenten könnte er auch bei Xenophon eine Einteilung
der Seele erweisen. Vgl. die zweitnächste Anmerkung.
1 Der psychische Charakter des Durstgefühls ist schon vorher ohne aus-
führliche Begründung festgestellt (z. B. 4874 ἄρ᾽ οὖν, nad” ὅσον δέψα ἐστί, πλέονος
ἄν τινος ἢ οὗ λέγομεν ἐπιϑυμία Ev τῇ ψυχῇ εἴη)
3) Es ist mir unverständlich, wie Barwick in seiner manches Gute ent-
haltenden Abhandlung über die Zeit des Phaidros (Comm. Jen. X) den Sinn unsres
Abschnittes vollkommen verkennen konnte. Er sieht nämlich p. 32.3 grade hier
den Hauptbeweis, daß Plato die Dreiteilung der Seele schon kennt. Schon 93c—e
sei deutlich, daß Plato, wenn er die Tugend als eine Harmonie in der Seele be-
trachte, sich die Seele mehrteilig denke. Entscheidend sei dann 940 νῦν οὖν οὐ
πᾶν τοὐναντίον ἡμῖν φαίνεται ἐργαζομένη, ἡγεμονεύουσά τε ἐκείνων πάντων ἐξ
Die Entdeckung des Parallelismus von Staat und Individuum. 235
Der Phaidon weiß also noch nichts von einer Dreiteilung der
Seele. Er kann uns aber auch gerade zeigen, wie Plato zu dieser
gekommen ist. Zweimal (68 und 82c) stellt er die Leute in Gegen-
satz, die der Seele und die dem Leibe alle Sorge widmen. Die
einen sind die φιλόσοφοι, die anderen die φιλοσώματοι. Diese
φιλοσώματοι aber zerfallen in zwei Klassen, die φιλοχρήματοι und
die φιλότιμοι. Hier ist es klar, daß ihm drei Menschentypen ge-
läufig sind, φιλόσοφοι, φιλότιμοι, φιλοχρήματοι. Es sind dieselben
Typen, die wir auch Rep. 581d, 435e, 347b u. ö. finden und die
dort in deutlicher Beziehung zu den drei Ständen des Staates
stehen. Damit ist doch wohl der Beweis gegeben, daß Plato die
Dreiteilung des Staates zuerst vertreten hat und von da erst zur
Dreiteilung der Seele gekommen ist.
Wir können es verstehen, daß diese Entdeckung von dem
Parallelismus zwischen Staat und Individuum ihm von ungeheurer
Wichtigkeit gewesen ist, weil sie ihm die Bestätigung für die Richtig-
keit seiner politischen Theorien zu liefern schien. Daß er nun den
Plan faßte, seine früher rein praktisch begründete Darstellung des
Idealstaates auf eine ganz andre Grundlage zu stellen, wird uns
nun wohl auch verständlich. So ist er zu dem zweiten Entwurf
der Staatslehre, unserer heutigen Politeia gekommen, für die die
Verbindung von Sozialethik und Individualethik charakteristisch ist.
ὧν φησί τις αὐτὴν εἶναι, καὶ Evavrıovuson δλίγου πάντα διὰ παντὸς τοῦ βίου
καὶ δεσπόξζουσα πάντας τρόπους. „Distinctius, opinor, quam hie fit, diei ommino
non potest animum ex partibus constare. Atque anima si ἡγεμονεύειν dieitur
ἐχείνων πάντων ἐξ ὧν φησί τις αὐτὴν εἶναι, apparet praeter ἡγεμονεύουσαν
partem, quae quidem ipsa per se atque κατ᾽ ἐξοχήν ut dicunt ψυχή vocatur,
certe duas etiam esse quae reguntur.“ Tatsächlich ist doch für jeden, der inter-
pretiert, Klar, daß die Mehrheit von Teilen nur für den zig gilt, von dem Plato
redet, den Gegner, den er widerlegt. Die Auffassung der Seele als Harmonie würde
eine Mehrzahl von Teilen voraussetzen. Aber Plato selber hat diese Auffassung
nicht. Und der ganze Sinn des Abschnittes ist doch der, daß die Seele nicht als
Harmonie vom Körper abhängig sein kann, weil sie ihn, den Körper, beherrscht
und leitet. So haben wir ja den Gegensatz zwischen der gottähnlichen Seele und
dem sterblichen Leibe auch schon an der Stelle, die auf unseren Beweis vordeutet,
802. Was sollte denn da ein Hinweis darauf, daß innerhalb der Seele selber ein
herrschender und mehrere dienende Teile existieren? Auf den aus diesem πρῶτον
ψεῦδος stammenden Gesamtirrtum, daß Phaidon und Politeia hier in schönster
Harmonie seien, brauche ich nicht weiter einzugehen. — Über die Rückdatierung
der psychologischen Dreiteilung auf den Gorgias vgl. 5. 156°. Sonst vgl. den Ab-
schnitt über den Phaidon.
236 Die erste Ausgabe des Staates.
Natürlich hat er seine früheren Darlegungen in das neue Werk
hineingearbeitet, und namentlich für 368—461 (473cd) dürfen wir
dies vermuten. Aber wie stark die Umarbeitung im einzelnen war,
kann niemand sagen. Deshalb kann auch die Sprachstatistik keine
Gründe für oder wider unsere Annahme liefern.
In den siebziger Jahren wurde das neue Werk veröffentlicht.
Damit war die erste Ausgabe überflüssig geworden. Exemplare von
ihr gab der Verlag der Akademie natürlich nicht mehr aus. So
verschwand sie aus dem Buchhandel, wie aus den Händen der Leser.
Einmal aber war diese erste Ausgabe nahe daran, aus der
Versenkung emporgezogen zu werden. Das war nach Platos zweiter
sizilischer Reise. Die alten Militärs am Hofe des jüngeren Dionys
haben offenbar Plato entgegengehalten, beim ersten bewaffneten
Konflikt werde die ganze Herrlichkeit des Idealstaates über den
Haufen fallen. Das wurmte Plato, und er faßte den Plan, in einem
besonderen Werke zu zeigen, wie der Idealstaat den Kampf gegen
die größte materielle Macht bestehen würde. Die gegebene Form
für dieses Werk war der Roman, der bestimmte geschichtliche
Verhältnisse voraussetzen konnte. Diese Form bot noch einen
Vorteil. Gleich den heutigen Sozialisten sah Plato die Notwendigkeit
ein, im Zukunftsstaate neue Bildungsstoffe für die Jugend zu be-
schaffen. So sollten seine Gesetze nach der ausdrücklichen An-
gabe auf p. 811 die alten Lesebücher im Jugendunterricht ver-
drängen. Der gleiche Gedanke hat ihn aber wohl schon früher be-
stimmt, mit dem Kritiasroman die kosmogonische Dichtung des
Timaios und noch zwei andere Werke zu einer Einheit zu verbinden,
die ein Gegenstück zur tragischen Tetralogie bilden konnten’).
Und wenn er dabei an erster Stelle die systematische Darstellung
1) Mir erscheint es sicher, daß der Kritias und damit die ganze Tetralogie
vor den Politikos gehört, was auch nach der Sprachstatistik möglich ist (vgl.
v. Arnim, Wiener 5. Β. 1912, 8. 227). Im Kritias soll doch die Leistungsfähigkeit
des Idealstaates gezeigt werden; er wird also noch als realisierbar gedacht. Wie
kann er da hinter den Politikos oder gar die Gesetze fallen, wo Plato auf den
Idealstaat ausdrücklich verzichtet? Die alte Legende, Plato sei durch den Tod
an der Vollendung des Kritias verhindert worden, sollte man jedenfalls endlich
fallen lassen, sogut wie die ähnlichen Geschichten, die sich an Aristoteles’ als
unfertig empfundene Werke knüpfen (vgl. Jäger, Studien z. Entstehungsgesch.
d. Metaphysik 98). — Der Hermokrates sollte wohl als Parallele zum Kritias ein
Bild geben, wie sich im Frieden das Leben des Idealstaates gestalten würde.
Die erste Politeia sollte mit der Timaiostetralogie verbunden werden. 237
des Staatsideales bringen wollte, so empfahl sich schon aus äußeren
Gründen die erste Ausgabe mit ihrem geringen Umfange für die
Einfügung in die Tetralogie und für die Aufnahme in den Unter-
richt. Das innere Motiv aber, das ihn zu dieser zurückführte, war
wohl eher der Umstand, daß dort die Anknüpfung an das geschicht-
lich Gegebene schon vorlag, die er für den Kritias brauchte. Natür-
lich ist damit nicht gesagt, daß der erste Entwurf unverändert
bleiben sollte, und gerade den Hinweis auf Ägypten hat er in den
zweiten Dialog der neuen Tetralogie übernommen. Die ganze
Ausführung des Planes ist aber nicht weit gediehen, weil der Ideal-
staat selber Platos Blicken entschwand. Schon der dritte Dialog
blieb unvollendet, und schwerlich wird Plato zur Umarbeitung der
ersten Politeia gekommen sein'). Sicherlich ist jedenfalls eine neue
Ausgabe der ersten Politeia nicht erfolgt, und damit fiel diese
endgültig der Vergessenheit anheim.
ἢ Auf die bekannte Nachricht, daß man in Platos Nachlaß den Anfang der
Politeia vielfach korrigiert gefunden habe, möchte ich für unsere Frage kein
Gewicht legen, da es sich dort um den Anfang der zweiten Ausgabe handelt.
Platos Stellung zur athenischen Demokratie.
X. Kritik des perikleischen Ideals.
Plato und Thukydides.
Die Grundlage, auf der Plato seinen Idealstaat aufbaut, ist
der strengste Sozialismus. Daß das Individuum unbedingt dem
Ganzen sich unterzuordnen hat, ist für ihn selbstverständlich.
Wenn die Interessen der Gesamtheit von den regierenden Ständen
eine Gesellschaftsordnung verlangen, in der sie auf Familie und
Eigentum verzichten müssen, so kommt die Frage, ob dieser
Kommunismus für sie selber etwas Gutes bedeutet, durchaus erst
in zweiter Linie. Auch wenn der Verzicht eine Entbehrung be-
deutete, müßten sie ihn tragen. „Wenn ein Künstler eine Statue
schafft, so bildet er das einzelne Glied nur so, wie dieses zum
ganzen Körper paßt, und wenn wir hier einen Staat gründen, so
sehen wir nicht darauf, daß ein Stand besonders glücklich wird,
sondern daß der ganze Staat es ist“ (Rep. 420). Nur das In-
teresse der Gesamtheit gilt. Gewiß wird die Eudämonie des
Staates auch die des Individuums zur Folge haben. Aber sollten
irgendwo die Interessen des Individuums in Gegensatz zu denen
der Gesamtheit geraten, so müßten sie selbstverständlich zurück-
treten. Darum regelt der Staat die Zeugung des Individuums so,
wie sie für ihn zweckmäßig ist. Er überwacht die Erziehung,
läßt aber auch dem Erwachsenen nicht freie Verfügung über
seine Person, sondern stellt ihn an den Platz, wo er seine Kräfte
im Interesse der Gesamtheit entfalten kann, und wacht streng
darüber, daß die schärfste Arbeitsteilung durchgeführt wird, daß
der Einzelne seine Sphäre nicht überschreitet, sondern seinem
Berufe treu bleibt (τὰ ἑαυτοῦ πράττει) und nicht etwa seine Kräfte
zersplittert, statt einseitig, aber dafür gründlich seine Kenntnisse
und Fertigkeiten auszubilden.
An diesem Sozialismus hat Plato bis an sein Lebensende fest-
Platos Sozialismus. 239
gehalten. Auch in den Gesetzen schärft er dem Bürger, der
Testament machen will, ein: „Ich erkläre euch, daß weder eure
Person noch euer Vermögen euch selber gehört, sie gehören dem
ganzen Geschlecht, dem, das vor euch war wie dem das nach euch
kommt, und in noch höherem Grade gehört das ganze Geschlecht
und sein Vermögen dem Staate“ (923a). Und wenn auch im
Gesetzesstaate bei der Erziehung wie bei der Entwicklung und
Entfaltung der Persönlichkeit größerer Spielraum gelassen wird,
so wird um so schärfer hervorgehoben, daß im geordneten Staats-
wesen auch das Privatleben streng nach den Interessen der Ge-
samtheit geregelt und eingeschränkt werden muß. „Wer Ge-
setze über das öffentliche Leben der Bürger zu geben gedenkt
und glaubt, er brauche das Privatleben nicht zu regeln, sondern
könne da jedem die Freiheit geben, sein tägliches Leben nach
seinem Belieben einzurichten, und es brauche nicht alles einer
festen Ordnung unterworfen zu sein, wer also das Privatleben
ohne gesetzliche Regelung läßt und sich einbildet, die Menschen
würden dann im öffentlichen Leben die Gesetze beobachten, der
irrt gewaltig“ (780a). Ja, die Beschränkung der individuellen
Persönlichkeit, die in der Konsequenz des Sozialismus liegt, nimmt
beim alten Plato noch viel schärfere Formen an. Es genügt, an
die Strenge zu erinnern, mit der jede Abweichung von der staat-
lich approbierten Religion geahndet wird, oder an die Abneigung
gegen jede freie Entwicklung, die es bei der Kunst als erstrebens-
werten Zustand erscheinen läßt, wenn wie in Ägypten dieselben
Melodien gesungen werden wie in uralter Zeit (656e), und die
eine Möglichkeit des Fortschritts nur da zuläßt, wo dieser von
der höchsten Behörde gebilligt wird.
Es ist gewiß, daß dieser Sozialismus mit Platos ganzer Welt-
anschauung aufs engste zusammenhängt. Wer im Individuum im
wesentlichen eine flüchtige, wechselnde Erscheinung sieht, die nur
den Zweck und Sinn hat, an der Erhaltung und Entfaltung der Gat-
tung mitzuarbeiten, der wird natürgemäß in der Staatstheorie, wo
es gilt, die Rechte von Gesamtheit und Individuum gegeneinander
abzugrenzen, durchaus die der Gesamtheit voranstellen und ein
Recht des Einzelnen auf Geltendmachung seiner Persönlichkeit
nur soweit anerkennen, als dies im Interesse des Ganzen liegt.
Aber wie wir bei der Entwicklung von Platos ganzer Ge-
dankenwelt mannigfache äußere Einflüsse wirksam sehen, so
ο40 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
ist das natürlich auch bei seiner politischen Anschauung
der Fall).
Platos Sozialismus steht in allerschärfstem Gegensatz zu dem
Liberalismus des perikleischen Staatsideals. Denn dort ist das
Recht des Individuums der Ausgangspunkt. Von der freien Ent-
faltung der Persönlichkeit, dem ungehinderten Wettbewerb der
Kräfte werden die höchsten politischen, wirtschaftlichen und kul-
turellen Leistungen erwartet, und der Staatsverband wird mög-
lichst lose gestaltet, damit er der Entfaltung der individuellen
Talente nicht hemmend in den Weg tritt. Jeder Eingriff aber
in das Privatleben, wie er in Sparta üblich war, wird als uner-
hörte Bevormundung des freien Mannes ausgeschlossen.
Plato ist aufgewachsen in einer Zeit, als dieses Staatsideal
eine schwere Prüfung bestehen sollte und nicht bestand. Er ge-
hörte Gesellschaftskreisen an, die von vornherein im Gegensatz
zur Demokratie standen und nur zu geneigt waren, alle übrigen
Ursachen, die zum Niedergang Athens führten, zu übersehen und
alle Schuld auf die verfehlte Verfassungsform zu wälzen. Hier
war der Blick dafür geschärft, daß mit der Befreiung des Indi-
viduums nicht, wie Perikles erwartet hatte, das Verantwortlich-
keitsgefühl gestiegen war, daß diese Individuen keineswegs ge-
neigt waren, aus freiem Willen die eignen Interessen denen der
Gesamtheit unterzuordnen. Statt der großen Zahl politischer
Intelligenzen, die Perikles erhofft hatte, sah man nur eine ur-
teilslose Masse, die dem größten Schreier folgte. Und wie wenig
die einzelnen Individuen, die aus dieser Masse der Zufall des
Loses in die Ämter führte, zur Regierung geeignet waren, das
mußte vor allem der Schüler des Sokrates empfinden, der ge-
wohnt war alles richtige Handeln aus dem Wissen, der Sach-
kunde abzuleiten.
Es ist kein Zweifel, daß Plato, als er das Bild eines idealen
Staates zu zeichnen begann, auch von dem Gedanken geleitet
war, die Schäden, die er im politischen Leben seiner Vaterstadt
so deutlich wahrnahm, zu vermeiden. Sein Sozialismus ist
eine Reaktion gegen Perikles’ Individualismus.
Wie stark er selbst diesen Gegensatz empfand, zeigt am
1) Vgl. auch Wendlands Aufsatz „Entwicklung und Motive der platonischen
Staatslehre“ Preuß. Jahrb. 136, S. 193 —220.
Platos Sozialismus eine Reaktion gegen Perikles’ Individualismus. 241
deutlichsten das achte Buch der Politeia, wo er die einzelnen fal-
schen Staatsverfassungen kritisiert und in philosophischer Be-
trachtung ihre Beschaffenheit aus dem Charakter der Bewohner
ableitet. Daß er bei der Schilderung der Demokratie, die er von
p- 557 an gibt, die Verhältnisse seiner Heimat im Auge hat, ist
anerkannt. Mit beißendstem Sarkasmus spricht er hier p. 558
von dem Verständnis für fremde Art und der Abneigung gegen
alle Kleinigkeitskrämerei, die in der Demokratie herrscht und jede
staatliche Erziehung, wie sie Plato unbedingt für nötig hält (κα-
ταφρόνησις ὧν ἡμεῖς ἐλέγομεν σεμνύγνοντες, ὅτε τὴν πόλιν φκίζομεν,
ὡς κτλ. 558b, vgl. 424.6{.}, als gleichgültig behandelt und die
Gesinnungstüchtigkeit des Demokraten als ausreichend für die Be-
setzung der Ämter betrachtet. Hier spricht Plato den Gegensatz
einmal ausdrücklich aus. Aber auch sonst fühlt man ihn überall
in diesem Abschnitt durch.
Es verlohnt sich, seine Darstellung im ganzen zu prüfen.
Die Demokratie entsteht danach aus der Oligarchie, wenn die
Armen die Regierung in die Hand bekommen und die Gleichheit
politischer Rechte durchführen, und wenn die Losung für die Be-
setzung der Ämter in der Regel maßgebend wird. Jetzt ist das
erste, daß Freiheit und freies Wort eingeführt werden, daß jeder
tun darf, was er will. Jeder kann sich so sein Leben nach Be-
lieben gestalten; die verschiedenartigsten Menschen trifft man in
der Demokratie an. Wundervoll wirkt daher solche Verfassung.
Wie bei einem bunten Gewande kann man hier ein buntes Bild
von Charakteren sehen, und große Kinder mögen an dieser Bunt-
heit ihre Freude haben. Aber auch die Verfassung selber schil-
lert in allen Farben, und wer einen neuen Staat gründen will,
dem liefert die eine Demokratie Verfassungselemente als Muster
genug. Hier gibt es keine Pedanten, die fragen, ob ein Be-
werber zum Amte auch die Fähigkeit hat, ob die Gerichtsurteile
durchgeführt werden, oder wie es mit der Erziehung steht. Es
ist eine ἡδεῖα πολιτεία καὶ ἄναρχος xai ποικίλη, ἰσότητά τινὰ
ὁμοίως ἴσοις τε καὶ ἀνίσοις διανέμουσα (—558c). Ein ebenso buntes
Bild bietet der Bürger dieser Verfassung, der δημοκρατικὸς ἀνήρ.
Er ist kein einheitlicher Charakter wie der ὀλιγαρχικός, den die
Begierde nach Geld ganz beherrscht, oder wie der τυραννικός.
der sich den wildesten Trieben überläßt; bei ihm finden sich gute
wie schlechte Begierden in gleicher Weise, und ohne Einsicht
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 16
949 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
und Grundsatz überläßt er sich wahllos bald dieser bald jener.
So gibt er ein buntes Bild, ist vielgestaltig, voll der verschieden-
artigsten Charakterzüge (--- 861 6).
Die Schäden der Demokratie treten aber erst dann voll her-
vor, wenn sie ausartet und ihr Prinzip, die Freiheit, überspannt. Dann
werden die Beamten, die den Rauschtrank der Freiheit nicht voll ein-
schenkten, verjagt. Gehorsam gegen die Beamten gilt als Knechtes-
sinn. Freiheit ist die Parole, auch im Privatleben, kein Sohn
hat mehr Respekt vor dem Vater, kein Schüler vor dem Lehrer,
kein Sklave vor dem Herrn. Ja selbst die Tiere fühlen sich als
freie Demokraten. Was ein richtiger athenischer Esel ist, der
geht keinem Menschen aus dem Wege'). Schließlich hört auch
die Achtung der Gesetze auf, und es kommt zur vollsten Anar-
chie. Damit ist aber das Maß voll. Der Boden für den Tyran-
nen ist bereitet. Die Überspannung des Freiheitsprinzips schlägt
in Knechtschaft um (— 648).
Überblicken wir diese Darstellung, so ist es ja deutlich, daß
Plato grade die Züge hervorhebt, die in seinem Staatenbild ge-
ändert sind. Wie die ἐλευϑερία notwendig in ἀναρχία ausartet,
wie der Individualismus zu völliger Zuchtlosigkeit ım öffentlichen
und privaten Leben führt, das will er zeigen. Und wenn uns
bei dem δημοκρατικὸς ἀνήρ die „Buntheit“ vorgeführt wird, mit
der er ohne Grundsatz bald dieser bald jener Tätigkeit sich hin-
gibt, so sollen wir sehen, was es mit der vielgerühmten freien
Entfaltung der Persönlichkeit auf sich hat, wenn jeder Zwang
verpönt wird, Zucht und Ordnung fehlt.
Den Abschnitt über das demokratische Individuum schließt
Plato mit den Worten ab: ὃν πολλοὶ ἂν καὶ πολλαὶ ζηλώσειαν
τοῦ βίου, παραδείγματα πολιτειῶν TE καὶ τρόπων πλεῖστα Ev αὑτῷ
ἔχοντα (661 6). Diese Worte sind mit Bedacht gewählt. Sie
weisen uns auf den Zusammenhang von Verfassung und Indivi-
duum hin und rufen uns in Erinnerung, was vorher über die
Buntheit der Verfassung gesagt ist. Da heißt es 557c mit wört-
1 Man lese dazu den Oligarchen der ᾿ϑηναίων πολιτεία, der sich (1, 10)
darüber ärgert, daß in Athen kein Sklave einem anständigen Menschen aus dem
Wege geht, und daß man ihm dafür nicht einmal ein paar hinter die Ohren
geben darf, ohne befürchten zu müssen, vor den Kadi zitiert zu werden. Man
muß sich diese Stelle in richtigem Tone rezitieren, dann wird der Typus le-
bendig.
Platos Kritik an der athenischen Demokratie Rep. 557—564. 943
lichem Anklang ἴσως καὶ ταύτην, ὥσπερ οἱ παῖδές τε καὶ γυναῖκες
τὰ ποικίλα ϑεώμενοι, καλλίστην ἂν πολλοὶ κρίνειαν. Den Ge-
danken παραδείγματα-ἔχοντα finden wir aber noch deutlicher
wieder, wenn wir gleich darauf 557d lesen: πάντα γένη πολιτειῶν
ἔχει διὰ τὴν ἐξουσίαν, καὶ κινδυνεύει τῷ βουλομένῳ πόλιν κατα-
σχευάζειν, ὃ νυνδὴ ἡμεῖς ἐποιοῦμεν, ἀναγκαῖον εἶναι εἰς δημοκρα-
τουμένην ἐλϑόντι πόλιν, ὃς ἂν αὐτὸν ἀρέσκῃ τρόπος, τοῦτον ἐκλέ-
ξασϑαι, ὥσπερ εἰς παντοπώλιον ἀφικομένῳ πολιτειῶν, καὶ Enke-
ξαμένῳ οὕτω κατοικίζειν. Beide Stellen entsprechen sich genau,
und wenn hier die Demokratie mit einem Warenhaus verglichen
wird, wo man alle möglichen Verfassungsmuster findet, so wollen
wir daran denken, daß in Athen die Börse, wo man die Waren-
muster ausstellte, δεῖγμα hieß, daß also die Worte der zweiten
Stelle παραδείγματα πολιτειῶν .... Ev αὑτῷ ἔχοντα im selben
Bilde bleiben. Offenbar liegt Plato an diesem Bilde, dem der
Vergleich mit dem bunten Gewande zur Seite tritt, sehr viel, so
viel, daß darüber die Erläuterung des zu Grunde liegenden Ge-
dankens selber zu kurz kommt, wenigstens so weit es den Staat
angeht. Denn während es beim Individuum ohne weiteres deut-
lich wird, daß die freie Entwicklung zur Vereinigung der ver-
schiedensten Charakterelemente führt, wird es nicht genügend be-
gründet, inwiefern die Demokratie als Ganzes verschiedene Ver-
fassungsmuster liefern kann oder, anders ausgedrückt, verschiedene
Verfassungselemente enthält. Denn das einzige, was Plato für
die Buntheit der Verfassung anführt, ist die Verschiedenheit der
Individuen: παντοδαποὶ δὴ ἂν oluaı ἐν ταύτῃ τῇ πολιτείᾳ μάλιστ᾽
ἐγγίγνοιντο ἄνϑρωποι (557c)'). Diese Verschiedenheit ist gewiß
bedingt durch die individualistische Grundlage der Verfassung,
aber wieso damit verschiedene Verfassungselemente gegeben sind,
wird nicht klar.
Plato ist nun aber gewiß nicht der Mann, der so etwas
niederschreibt, ohne eine ganz bestimmte Anschauung zu haben.
Diese kann also nur deshalb im Hintergrund bleiben, weil sie für
ihn schon fest gegeben ist. Was kann es denn nun wohl heißen, daß
die Demokratie verschiedene Verfassungselemente vereinigt? Man
wird daran denken, daß in späterer Zeit Isokrates von der alten
ἡ Wir dürfen daraus entnehmen, daß diesmal für Plato das Individuum
bei der Parallele zwischen diesem und der Gesamtheit der Ausgangspunkt war.
16*
44 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
athenischen Demokratie gesagt hat, sie sei mit aristokratischen
Elementen durchsetzt gewesen (τὴν δημοκρατίαν . . τὴν ἀριστο-
κρατίᾳ μεμιγμένην, ἥπερ ἣν παρ᾽ ἡμῖν Panath. 153, vgl. 131), und da-
gegen würde es nicht sprechen, wenn Isokrates das aristokratische
Element darin findet, daß die ἀρχαὶ οὐ κληρωταὶ ἀλλ᾽ αἱρεταὶ
ἦσαν, während Plato als charakteristisch für die Demokratie es
grade betrachtet ὡς τὸ πολὺ ἀπὸ κλήρων ai ἀρχαὶ Ev αὐτῇ yiyvov-
ται (557a). Denn das ὡς τὸ πολύ läßt den Gedanken an die Be-
stallung der Strategen durch die Wahl einschlüpfen. Aber wenn
wir eine wirkliche Erläuterung für Plato suchen wollen, werden
wir nicht an die viel spätere Äußerung des Isokrates denken
dürfen, sonden an eine andere Stelle. Sie steht im Menexenos
(238c). Daß dieser platonischen Ursprungs ist, werden wir im
folgenden Aufsatz sehen. Hier gilt es nur, den Abschnitt zu be-
trachten, wo der Verfasser ähnlich wie Thukydides in der Leichen-
rede zeigen will, aus welcher Verfassung die Gesinnung erwach-
sen ist, die das Volk Athens zu seinen Großtaten befähigt hat).
Gleich der Anfang ist hier recht überraschend: ἣ γὰρ αὐτὴ
πολιτεία καὶ τότε Tv καὶ νῦν, ἀριστοκρατία, Ev ἣ νῦν τε πολιτευό-
μεϑα καὶ τὸν ἀεὶ χρόνον ἐξ ἐκείνου ὡς τὰ πολλά. Der Athener
ist ja in den patriotischen Festreden gewöhnt, daß der Redner
es mit der Wahrheit nicht genau nimmt. Aber daß ım Jahre
386 jemand behauptet, die athenische Verfassung sei zu allen
Zeiten die gleiche gewesen, daß er besonders 411 und 404 ganz
mit dem Mantel der Liebe zudeckt, ist etwas viel. Wer aber
einmal solche Kühnheit hat, von dem sollte man wenigstens
Konsequenz erwarten; statt dessen hebt der Verfasser, der eben
die vollsten Töne angeschlagen hat, mit einem scheinbar neben-
sächlichen ὡς τὰ πολλά alles wieder auf. Macht uns schon das
mißtrauisch gegen die Annahme, als ob hier ernsthaft gesprochen
werde, so noch mehr die Bezeichnung der Verfassung als ἄριστο-
xoatia. Wir sehen ja bei Isokrates, daß man später für das
alte Athen aristokratische Elemente in Anspruch nahm. Aber
konnte es ernsthaft wohl einem Redner, der vor dem souveränen,
auf seine Verfassung stolzen Demos sprechen wollte, einfallen,
der Verfassung den Namen Demokratie abzusprechen, als ob das
Volk sich dieses Namens schämen müßte? Offenbar beabsichtigt
1) Thuk. II, 36, 4.
Die Satire auf die athenische Demokratie Menex. 2980. 245
ist es dabei, wie dieses ἀριστοκρατία mit voller Betonung heraus-
geschleudert, zunächst aber eine Zeitlang ohne Begründung ge-
lassen wird. Denn damit wird die Spannung der Zuhörer ge-
steigert und sie werden so für die Offenbarung vorbereitet, was
die fälschlich so genannte Demokratie in Wirklichkeit ist, wer’
εὐδοξίας πλήϑους ἀριστοκρατία. Denn da die Wissenschaft sich
schon längst darüber klar war, daß für die Demokratie die Sou-
veränität des πλῆϑος, für die Aristokratie der Ausschluß eben
dieses πλῆϑος und die Beschränkung der Regierung auf eine kleine
Zahl von ἄριστοι charakteristisch ist (z. B. Herod. III, 80 — 82), so
erinnert diese staatsrechtliche Definition, „eine Aristokratie, in der
das πλῆϑος volle Geltung hat“, doch zu bedenklich an die Repu-
blik mit dem Großherzog an der Spitze. Und ebenso hübsch ist,
was nun folgt. Denn da erfahren wir, daß die Demokratie so-
gar auch ein monarchisches Element hat. Athen hat ja seinen
βασιλεύς, und wenn der Redner geflissentlich als Unterschied des
heutigen Königtums von dem der alten Zeit das Fehlen der Erb-
lichkeit anerkennt, so mag die staunende Hörerschaft wohl ver-
gessen, daß auch sonst noch diese Institution sich ein wenig ge-
ändert hat. Souveränität, so hören wir dann, übt „im ganzen“
die große Menge aus, ἐγχρατὲς δὲ τῆς πόλεως τὰ πολλὰ τὸ πλῆ-
ϑος. Also ist die Verfassung doch demokratisch? — Bewahre!
Das Volk überträgt die Ämter und die Souveränität (τὰς ἀρχὰς
καὶ τὸ κράτος) denen, die es für die ἄρεστοι hält, stellt also selbst
die Aristokratie her. Nur ein Kriterium gilt bei der Besetzung
der Ämter: ὃ δόξας σοφὸς ἢ ἀγαϑὸς εἶναι κρατεῖ καὶ ἄρχει. Der
Grund dafür ist der, daß in Athen alle von Geburt einander
gleich und Brüder sind. Das führt von selbst zur ἰσονομία,
führt dazu, daß nur ἀρετή und φρόνησις ausschlaggebend sind.
Die letzten Gedanken konnten in der Hauptsache gewiß auch
die χύλακες τοῦ δήμου aussprechen. Aber daß die Durcheinander-
wirblung der staatsrechtlichen Begriffe, die Berufung auf die mo-
narchische Institution der βασιλῆς, auf die Beständigkeit der Ver-
fassung, die ganze Bezeichnung der athenischen Verfassung als
Aristokratie nicht ernsthaft gemeint sein kann, ist klar. Liegt da
Satire vor, dann sollen wir auch im folgenden an den Kontrast
zwischen den schönen Reden und der nackten Wirklichkeit
denken, sollen bei dem Satze τὰς ἀρχὰς δίδωσι τοῖς dei δόξασιν
ἀρίστοις εἶναι uns an die anerkannte Tatsache erinnern, die Plato
246 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
im Staat gleich zu Anfang seiner Darstellung ausspricht, wenn er
als Charakteristikum der Demokratie kühl bezeichnet ὡς τὸ πολὺ
ἀπὸ κλήρων αἱ ἀρχαὶ Ev αὐτῇ γίγνονται (9972).
Und wenn im Menexenos es heißt εἷς ὅρος, ὃ δόξας σοφὸς
ἢ ἀγαϑὸς εἶναι κρατεῖ καὶ ἄρχει, so fällt einem unwillkürlich Rep.
558b ein, wo Plato sarkastisch schildert, wie die Demokratie sich
nicht im geringsten darum kümmert, ob einer durch seine Aus-
bildung die Bürgschaft dafür bietet, daß er ὠγαϑός ist, ἀλλὰ τιμᾷ,
ἐὰν φῇ μόνον εὔνους εἶναι τῷ πλήϑει᾽). Im Menexenos schließt
sich der Preis der ioovouia an, im Staate die zusammenfassende
Charakteristik der Demokratie als einer ἡδεῖα πολιτεία, ἰσότητά
τινα ὁμοίως ἴσοις τε καὶ ἀνίσοις διανέμουσα (558c). Plato scheint
also dem Satze, daß alle Athener kraft ihrer ἰσογονία nun auch
wirklich gleich seien, nicht so ganz zu trauen. Aber auch der
Verfasser des Menexenos müßte sehr unvorsichtig gewesen sein,
wenn er den Satz ἡ iooyovia ἡμᾶς ἣ κατὰ φύσιν ἰσονομίαν dvay-
χάζει ζητεῖν κατὰ νόμον so fortsetzt: καὶ μηδενὶ ἄλλῳ ὑπείκειν
ἀλλήλοις ἢ ἀρετῆς δόξῃ καὶ φρονήσεως. Dieser Satz mochte ja
den oberflächlichen Hörern vielleicht glatt eingehen. Wer aber
nicht so ganz auf die demokratischen Gedankengänge einge-
‚schworen war, dem fiel es doch wohl auf, daß der Satz nicht die
nächstliegende Form erhalten hatte μηδενὶ noouudodaı (oder
πλεονεκτεῖν) τῶν ἄλλων, sondern μηδενὶ ὑπείκειν. Denn da
konnte ein böswilliger Geist doch zu leicht das herauslesen,
was schon der Oligarch der ᾿ϑηναίων πολιτεία als tatsächliche
und notwendige Maxime der Demokratie hinstellt: πανταχοῦ πλέον
ψέμουσι τοῖς πονηροῖς .. ἢ τοῖς χρηστοῖς. Die Demokratie bevor-
zugt bewußt die Schlechten vor den ἄριστοι, denn in diesen wittert
sie instinktiv ihre Feinde, mit Recht, denn die Guten sind über-
all Gegner der Demokratie (1, 5): φημὶ οὖν ἔγωγε τὸν δῆμον τὸν
Αϑήνησι γιγνώσκειν οἵτινες χρηστοί εἰσι τῶν πολιτῶν καὶ οἵτινες
πονηροί, γιγνώσκοντες δὲ τοῦς μὲν σφίσιν αὐτοῖς ἐπιτηδείους καὶ
συμφόρους φιλοῦσι, κἂν πονηροὶ ὦσι, τοὺς δὲ χρηστοὺς μισοῦσι
μᾶλλον. οὐ γὰρ νομίζουσι τὴν ἀρετὴν αὐτοῖς πρὸς τῷ σφετέρῳ
ἀγαϑῷ πεφυκέναι, ἀλλ᾽ ἐπὶ τῷ κακῷ (2, 19). Nur wenn man im
Menexenos auch die Ausführungen über die ἐσονομία und die Be-
1) [Xen.] Ath. pol. 1, 7 οἱ δὲ γιγνώσκουσιν ὅτι ἣ τούτου ἀμαϑία καὶ πο-
νηρία καὶ εὔνοια μᾶλλον λυσιτελεῖ ἢ ἡ τοῦ χρηστοῦ ἀρετὴ καὶ σοφία καὶ κα-
πόνοια.
Die Satire auf die athenische Demokratie Menex. 238c. 347
setzung der Ämter als blutige Satire auf die tatsächlichen Zu-
stände auffaßt, kommt man zu einer einheitlichen Auffassung des
Abschnitts, und daß wir damit auf dem richtigen Wege sind, be-
stätigt sich dadurch, daß auf diese Weise der ganze Abschnitt
des Menexenos seine genaue Parallele hat an der satirischen Kritik
der Demokratie in der Politeia. Bei der ioovouia sahen wir das
schon, vor allem aber — und damit kommen wir nach langem
Umweg auf unseren ursprünglichen Pfad zurück — sehen wir
erst aus dem Menexenos, was Plato im Staate vorschwebt, wenn
er von einerVereinigung der verschiedensten Verfassungselemente
in der athenischen Demokratie spricht. Er hatte freilich guten
Grund, auf diesen Punkt im Staate nicht näher einzugehen; denn
die Argumentation des Menexenos war doch zu wenig ernsthaft
gemeint. Deshalb läßt er sie im Staat absichtlich im Dunkeln
und begnügt sich damit, die Buntheit der Verfassung aus der
Buntheit der Individuen abzuleiten.
Aber was hat Plato denn den Anlaß gegeben, im Menexe-
nos — daß der ihm gehört, dürfen wir wohl jetzt vorläufig in
Rechnung stellen — die Demokratie als Aristokratie zu bezeich-
nen? Warum prägt er im Staat das Bild vom Warenhaus, wo
man alle möglichen παραδείγματα von Verfassungen findet, den
Lesern so geflissentlich en? Da müssen irgendwelche Be-
ziehungen stecken. Plato muß an eine Darstellung denken, wo
ernsthaft für die Demokratie die Pflege der ἀρετή behauptet, sie
als Muster hingestellt wurde.
Wenn wir uns heute das perikleische Staatsideal klarmachen
wollen, so schließen wir nicht bloß aus den einzelnen Institu-
tionen, sondern lesen die Leichenrede, die Thukydides Perikles
in den Mund legt, weil er nach Athens Fall zeigen wollte, welcher
Geist in jener Verfassung gelebt hatte. Daß Plato die Möglich-
keit hatte, ebenso vorzugehen, kann niemand bestreiten. Denn daß
das Werk des Thukydides in den neunziger Jahren erschienen ist,
liegt doch am nächsten. Freilich haben wir vor Xenophons
Hellenika keine sicheren Spuren seiner Benutzung, aber auf-
werfen müssen wir jedenfalls die Frage, ob vielleicht Plato bei
seiner Darstellung der Demokratie an die des Thukydides ge-
dacht hat.
Thukydides will nicht von den Taten der Athener reden,
ἀπὸ δὲ οἵας τε ἐπιτηδεύσεως ἤλθομεν ἐπ᾽ αὐτὰ καὶ used οἵας πο-
248 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
λιτείας καὶ τρόπων ἐξ οἵων μεγάλα ἐγένετο, ταῦτα δηλώσας
πρῶτον εἶμι καὶ ἐπὶ τὸν τῶνδε ἔπαινον (30, 4). Ähnliches bietet
der Menexenos 2980: ὡς οὖν Ev καλῇ πολιτείᾳ ἐτράφησαν oi
πρόσϑεν ἡμῶν, ἀγαγκαῖον δηλῶσαι, δι’ ἣν δὴ κἀκεῖνοι ἀγαϑοὶ καὶ
oi νῦν εἰσιν. Als programmatischen Satz stellt Thukydides voran:
χρώμεϑα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόμους, παρώ-
deıyua δὲ μᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἤ μιμούμενοι ἑτέρους und
knüpft sofort daran an, man nenne die Verfassung wohl Demo-
kratie im Gegensatz zu. den Staatsformen, wo die politische
Macht in den Händen weniger liege (καὶ ὄνομα μὲν διὰ τὸ μὴ
ἐς ὀλίγους ἀλλ᾽ ἐς πλείονας οἰκεῖν δημοκρατία κέκληται), allein da-
mit sei nicht gesagt, daß die ἰσότης, die man als demokratisches
Prinzip betrachte, mechanisch durchgeführt sei. Die ἰσονομία gilt
unbedingt in dem privaten Rechtsverhältnisse, aber im öffent-
lichen Leben ist die Geltung der Bürger so gut verschieden wie
in jenen Staatsformen, nur regelt sich die Verschiedenheit nach
einem anderen Prinzip: nicht die Zugehörigkeit zu einem be-
stimmten Teil der Bevölkerung gibt wie bei der Oligarchie den
Vorrang’), sondern die ἀρετή, die Tüchtigkeit, das Verdienst, und
der Vorzug der Demokratie ist es, daß jeder Bürger solch Ver-
dienst sich erwerben kann, während in anderen Staaten, wo die
politischen Rechte an die Zugehörigkeit zu einer Zensusklasse ge-
bunden sind, dem Armen dies unmöglich gemacht ist. Also die
ἰσότης bringt die Gleichheit der Bürger in privaten Rechtsver-
hältnissen; im öffentlichen Leben, wo sie längst von der Kritik
als Unsinn bezeichnet worden war‘), herrscht ein andres Prin-
zip, die ἀρετή. Nur die ἄριστοι kommen an die Spitze des
Volkes, oder drücken wir es anders aus, nicht in den Oligarchien
und Plutokratien, sondern in der athenischen Demokratie ist die
ἀριστοκρατία der Theoretiker zu finden.
1) Plato Rep. 558b οὐδὲν φροντίζει ἐξ ὁποίων ἄν τις ἐπιτηδευμάτων ἐπὶ
τὰ πολιτικὰ ἰὼν πράττῃ 016 παραδείγματα πολιτειῶν τε καὶ τρόπων.
2) πολιτεία γὰρ τροφὴ (nicht τροφός, das vom Lande gesagt wird) ἀνϑρώ-
πων ἐστίν.
3) οὐκ ἀπὸ μέρους τὸ πλέον προτιμᾶται muß man nach der verwandten
Stelle VI, 39, 1 erklären: ἐγὼ δέ φημι πρῶτα μὲν δῆμον ξύμπαν ὠνομάσθαι,
ὀλιγαρχίαν δὲ μέρος κτλ.
Ἢ VI, 39 φήσει τις δημοκρατίαν οὔτε ξυνετὸν οὔτ᾽ ἴσον εἶναι. Nicht die
arithmetische, sondern die geometrische Gleichheit gilt. Vgl. 5, 1541.
Plato und Thukydides’ Leichenrede. 949
Thukydides hat diese Sätze programmatisch an den Anfang ,
gestellt, offenbar, weil er damit den Grundgedanken des Perikles
wiederzugeben glaubte. Er selber wußte es genau und hat es
in seinem Geschichtswerke dargestellt, wie wenig die Wirklich-
keit später diesem Idealbild entsprach. Konnte das nicht andre
Gegner der perikleischen Demokratie zur satirischen Darstellung
reizen? So verstehen wir, wie Plato in leiser Übertreibung, die
wir bei ihm aus Protagoras’ Mythos, aus Agathons Erosrede so
eut kennen, die entartete athenische Demokratie seiner Zeit
schlankweg als Aristokratie bezeichnet. Und wenn wir an Thuky-
dides’ Worte παράδειγμα δὲ μᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ μιμούμενοι
ἑτέρους denken, sehen wir auch, woher die παραδείγματα πολιτειῶν
Rep. 56le, das παντοπώλιον der Verfassungen in 557d stammen. ᾿
Mit geschiekter Benützung des Gedankens, daß Perikles die Viel-
seitigkeit der menschlichen Natur entwickeln will, ruft er höhnisch
aus: Muster für andere nennt man die athenische Demokratie?
Viel zu wenig des Lobes! Eine ganze Musterkarte von ver-
schiedenen Verfassungen findet man in ihr, wenn man sich die
Mühe gibt, die verschiedenen Menschen und Verfassungselemente
zu prüfen, die sich auf dem Boden völliger individueller Freiheit
entwickeln! „Perikles (Thue. II, 37,1) regarded the Athenian
constitution as a παράδειγμα, Plato humorously describes it as a
motley aggregate of παραδείγματα“, so urteilt ganz richtig schon
Adam in seinem Kommentar zu Rep. 557d, ohne freilich diesen
Gedanken weiter zu verfolgen.
Daß Thukydides’ Worte οὐκ ἀπὸ μέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ
ἢ ἀπ᾽ ἀρετῆς προτιμᾶται οὐδ᾽ αὖ κατὰ πενίαν... ἀξιώματος ἀφανείᾳ
κεκώλυται ihr genaues Gegenbild im Menexenos haben οὔτε πενίᾳ
οὔτ᾽ ἀγνωσίᾳ πατέρων ἀπελήλαται οὐδεὶς οὐδὲ τοῖς ἐναντίοις TETI-
uni ..., ἀλλὰ εἷς ὅρος, ὃ δόξας σοφὸς ἢ ἀγαϑὸς εἶναι κρατεῖ καὶ
ἄρχει (258 4), sei nur nebenher erwähnt.
Nach der ἰσότης behandelt Thukydides 37,2 das zweite Schlag-
wort der Demokratie, die &ievdegia. Hier ist die politische Frei-
heit so selbstverständlich, daß sie mit einem Worte abgemacht
wird; um so mehr wird hervorgehoben, daß der Staat jede Be-
einträchtigung der individuellen Freiheit im Privatleben vermeidet:
ἐλευϑέρως δὲ τά TE πρὸς τὸ κοινὸν πολιτεύομεν καὶ ἐς τὴν πρὸς
ἀλλήλους τῶν zaI ἡμέραν ἐπιτηδευμάτων ὑποψίαν, οὐ δι᾿ ὀργῆς
τὸν πέλας, εἰ nad ἡδονήν τι δρῷ, ἔχοντες κτῆ. Ebenso verfährt Plato
250 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
Rep. 557b οὐκοῦν πρῶτον μὲν δὴ ἐλεύϑεροι καὶ ἐλευϑερίας ἡ πόλις
μεστὴ καὶ παρρησίας γίγνεται, καὶ ἐξουσία Ev αὐτῇ ποιεῖν ὅτι τις βού-
λεται; ... ὅπου δέ γε ἐξουσία, δῆλον ὅτι ἰδίαν ἕκαστος ἂν κατασχευὴν
τοῦ αὑτοῦ βίου κατασκευάζοιτο ἐν αὐτῇ, ἥτις ἕκαστον ἀρέσκοι. Weiter
heißt es bei Thukydides (37,3): „Aber wenn wir auch möglichste
Freiheit lassen, so reißt damit nicht etwa Zügellosigkeit ein. Statt
des äußeren Zwanges wirkt bei uns die sittliche Achtung vor der
Staatsgewalt, vor dem Gesetz, dem geschriebenen und noch mehr dem
ungeschriebenen: ἀνεπαχϑῶς δὲ τὰ ἴδια προσομιλοῦντες τὰ δημόσια
διὰ δέος μάλιστα οὐ παρανομοῦμεν, τῶν τε αἰεὶ ἔν ἀρχῇ ὄντων
ἀκροάσει καὶ τῶν νόμων καὶ μάλιστα αὐτῶν.... ὅσοι ἄγραφοι ὄντες
αἰσχύνην ὁμολογουμένην φέρουσιν.“ Plato führt 562 aus, wie die
ἐλευϑερία in völlige ἀναρχία ausartet, wie die Achtung vor den Be-
hörden nicht mehr als sittlich ehrenwert, sondern als Feigheit gilt
(τοὺς τῶν ἀρχόντων κατηκόους προπηλακίζει ὡς ἐϑελοδούλους TE καὶ
οὐδὲν ὄντας 562 4) und schließlich man auch das Gesetz nicht mehr
als Herrn gelten läßt: τελευτῶντες γάρ που οἶσϑ᾽ ὅτι οὐδὲ [τῶν] νόμων
φροντίζουσιν γεγραμμένων ἢ ἀγράφων, ἵνα δὴ μηδαμῇ μηδεὶς αὐτοῖς
ἢ δεσπότης (505).
Damit hat Thukydides die beiden Grundlagen der Demokratie,
die Gleichheit und die Freiheit, vorgeführt. Er schildert dann im
folgenden, wie sich von da aus das Leben in der Demokratie ge-
staltet, und schließt seine Schilderung 41, 1 zusammenfassend so
ab: ξυνελών τε λέγω τήν τε πᾶσαν πόλιν τῆς ᾿ Ελλάδος παίδευσιν
εἶναι καὶ καϑ' ἕκαστον δοκεῖν dv μοι τὸν αὐτὸν ἄνδρα παρ᾽ ἡμῖν ἐπὶ
πλεῖστ᾽ ἂν εἴδη καὶ μετὰ χαρίτων μάλιστ᾽ ἂν εὐτραπέλως τὸ σῶμα
αὔταρκες παρέχεσθαι.
Der Staat als Ganzes ist also berufen, ganz Hellas zu bilden,
jeder einzelne aber besitzt die Elastizität, die ihn befähigt, sich in
jede Form der Tätigkeit so hineinzufinden, daß er mit natürlicher
Leichtigkeit seinen Posten ganz ausfüllt.
Auch Plato kennt diese Elastizität als Folge der individuellen
Freiheit, aber sein Demokrat ist nicht bloß fähig, jeden Posten
auszufüllen (ἐπὶ πλεῖστ᾽ ἂν εἴδη — παρέχεσϑαι), er ist ewig πλείστων
ἡϑῶν μεστός, παραδείγματα πολιτειῶν τε καὶ τρόπων πλεῖστα ἔχων
(661 6), und wie sich seine Elastizität zeigt, wird köstlich 561 ὁ
illustriert: „Er folgt jeder Begierde, die ihm grade kommt. Heute
betrinkt er sich und findet sich in den Armen einer Flötenspielerin,
morgen trinkt er Wasser und fastet. Ein andermal macht er körper-
Pi
Plato und Thukydides’ Leichenrede. 951
liche Übungen, dann wieder streckt er sich auf die Bärenhaut und
kümmert sich um gar nichts. Das nächste Mal studiert er eifrig.
Oft auch treibt er Politik, springt auf die Rednerbühne und sagt
und tut, was ihm gerade einfällt. Und wenn er einmal nach
kriegerischen Lorbeeren lüstern wird, dann treibt es ihn dorthin,
wenn nach dem Gewinn der Geldleute, dann dahin. Ordnung und
Zwang kennt er nicht. Das ist sein lustiges, freies, seliges Leben.“
Noch beißender wird die Satire, wenn er ausführt, wie in Athen
auch die Greise nicht etwa die Würde des Alters repräsentieren,
sondern nur den einen Ehrgeiz kennen, den jungen Leuten es an
spielender Rleganz und Elastizität gleichzutun, eörganekiag τε καὶ
χαριεντισμοῦ ἐμπίμπλανται (5632). Auch sie wissen eben, daß
εὐτραπέλως καὶ μετὰ χαρίτων (Thuk. 41,1) das Gepräge des athe-
nischen Demokraten ist.
Bei den übrigen Stellen Platos, die wir mit Thukydides ver-
glichen haben, konnte man vielleicht noch den Ausweg suchen,
daß es sich um allgemeine Anschauungen über die Demokratie
handelt’), ohne daß eine direkte Beziehung besteht. Hier ist es,
glaube ich, nicht mehr möglich. Denn daß 41,1 nach Inhalt und
Form ganz Eigentum des Thukydides ist, daß insbesondere die
Worte εὐτραπέλως καὶ μετὰ χαρίτων von ihm ganz persönlich ge-
prägt sind, wird schwerlich jemand bezweifeln. Und kann es jemand
für Zufall halten, daß Plato, als er satirisch die Elastizität des Atheners
bei den alten Leuten hervorhob, just diese wahrlich nicht so häufigen
Worte (χαριεντισμός ist natürlich eine beabsichtigte leise Umbiegung
von χάριτες, die das Tändelnde, Spielerische hervortreten läßt) ge-
braucht?
Plato hat also bei seiner Satire auf die athenische Demokratie
es nicht versäumt, die einzige literarische Darstellung des peri-
kleischen Ideals, die wir kennen, die einzige wahrscheinlich, die
es damals gab, in einem Bilde wiederzugeben, das freilich wie ein
Zerrbild anmutet, aber nur zu sehr der Wirklichkeit platonischer
Zeit entsprach. Auf einen Gegensatz zu Thukydides braucht man
darum nicht zu schließen; denn daß dieser selber den Widerspruch
zwischen Ideal und Erfüllung empfunden hatte, wird Plato natürlich
gewußt haben. Aber freilich ist die Feindschaft gegen die Demo-
kratie inzwischen schärfer geworden, und Plato bringt sie viel
leidenschaftlicher zum Ausdruck als der verhaltene Thhukydides.
1) Deren Ausprägung man dann etwa auf Perikles zurückführen könnte.
252 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
Bei der Schilderung, wie der Sohn des sparsamen Oligarchen
unter fremdem Einfluß alle möglichen Begierden in sich eindringen
läßt, führt Plato aus, wie die sittlichen Begriffe sich ändern: die
αἰδώς gilt jetzt als ἠλιϑιότης, σωφροσύνη als ἀνανδρία, andrerseits
(560 4) ὕβρις als εὐπαιδευσία, ἀναρχία als ἐλευϑερία usw. Das erinnert
an Thukydides’ Worte III, 82,4 τὴν εἰωϑυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνομάτων
ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλμα μὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία
φιλέταιρος ἐνομίσϑη, μέλλησις δὲ προμηϑὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ
σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχημα usw. An sich würden diese
Anklänge, da der Zusammenhang verschieden ist, nicht viel be-
weisen. Aber da einmal sicher steht, daß Plato in diesem Abschnitt
Thukydides vor Augen hat, so werden wir auch hier Reminiszenzen
aus diesem zu sehen haben (so auch Gomperz, Gr. D. II, S. 579).
Wichtiger ist eine andere Parallele. Rep. 452c erinnert Plato
die Komiker daran, ὅτε οὐ πολὺς χρόνος ἐξ οὗ τοῖς “Πλλησιν ἐδόκει
αἰσχρὰ εἶναι καὶ γελοῖα ἅπερ νῦν τοῖς πολλοῖς τῶν βαρβάρων, γυμνοὺς
ἄνδρας δρᾶσϑαι, καὶ ὅτε ἤρχοντο τῶν γυμνασίων πρῶτοι μὲν Κρῆτες
ἔπειτα Λακεδαιμόνιοι, ἐξῆν τοῖς τότε ἀστείοις πάντα ταῦτα κωμῳδεῖν.
Das erinnert doch sofort an Thuk. I, 8, wo dieser zeigt, daß die
alten Griechen in ihrer Lebensweise zu den Barbaren stimmten,
und von den Spartanern sagt: ἐγυμνώϑησών τε πρῶτοι καὶ ἐς τὸ
φανερὸν ἀποδύντες λίπα μετὰ τοῦ γυμνάζεσθαι ἠλείψαντο. τὸ δὲ
πάλαι καὶ ἐν τῷ ᾿Ολυμπικῷῳ ἀγῶνι διαζώματα ἔχοντες περὶ τὰ αἰδοῖα
οἱ ἀϑληταὶ ἠγωνίζοντο, καὶ οὐ πολλὰ ἔτη ἐπειδὴ πέπαυνται. ἔτι δὲ
καὶ ἐν τοῖς βαρβάροις ἔστιν οἷς νῦν κτλ. Plato bringt in πρῶτοι
μὲν Κρῆτες eine Berichtigung, aber die Anregung hat er doch wohl
aus Thukydides.
Daß im Menexenos die Worte der Gefallenen ἡμῖν δὲ ἐξὸν ζῆν
μὴ καλῶς, καλῶς αἱρούμεϑα μᾶλλον τελευτᾶν (246d) bei Thukydides
II, 42, 4 eine Parallele haben, ist längst bemerkt‘). Auch hier
würde man aus der Übereinstimmung an sich nichts schließen
können, noch weniger aus den anderen Stellen, die man aus beiden
Reden verglichen hat. Aber natürlich werden wir jetzt auch hier
mit Reminiszenzen rechnen dürfen. Schwerer wiegt, daß über-
haupt beide Epitaphioi eine Schilderung der athenischen Demo-
kratie geben. Freilich ist auch da nicht sicher, wie weit etwa
z. B. Gorgias bestimmend sein konnte. (Näheres im nächsten Auf-
satz.) Aber Beachtung verdient, daß Dionys von Halıkarnass, dem
') Ganz ähnlich aber z.B. auch Isokr. Paneg. 95.
Plato und Thukydides. 253
gewiß mehr Material zur Verfügung stand, doch eine Nachahmung
des Thukydides im Menexenos annimmt (de Demosth. 23) ').
Sehr interessant, wenn auch nicht überraschend ıst es nun,
wie Plato im Alter wenigstens eine Annäherung an das Idealbild
des Perikles versucht.
Im dritten Buche der Gesetze will Plato, ehe er sein neues
Staatenbild entwirft, die Lehren aus der historischen Entwicklung
ziehen. Sein Ziel ist der Nachweis, daß nur eine gemäßigte, aus
monarchischen und demokratischen Elementen gemischte Ver-
fassung die innere Eintracht und den Bestand des Staates verbürgt.
Das will er an den beiden Extremen zeigen, die das monarchische
und das demokratische Prinzip einseitig durchgeführt und über-
spannt haben. Das eine ist in Persien, das andere in Athen der
Fall (693e). Beide Staaten haben auf der Höhe ihrer Leistungen
gestanden, als die Verfassung noch gemäßigt war. Mit der radikalen
Entwicklung war der Niedergang gegeben. Persien war mächtig
unter Kyros, der seinen Untertanen noch Freiheiten gönnte und
ihre Kräfte für die Regierung heranzog. ‘Aber da er sich um die
Erziehung seines Sohnes nicht kümmerte, geriet dieser unter den
Einfluß von Frauen, die ıhn schon selbstverständlich auf dem
Gipfel des Glückes glaubten, von Schmeichlern und Liebedienern,
die jeden seiner Wünsche erfüllten, und so wuchs in Kambyses
eine Despotennatur heran. Das gleiche wiederholte sich bei dem
Sohne des tüchtigen, volksfreundlichen Dareios, bei Xerxes, und
seitdem herrscht in Persien eine Despotie, die nur ihre eigenen
Interessen wahrnimmt (vgl. Rep. I τὸ τῆς καϑεστηκυίας ἀρχῆς ovu-
φέρον) und im Falle eines Krieges zwar Geld und Menschen auf-
treiben kann in Fülle, aber keine Bürger, die für ihre eigenen
höchsten Güter kämpfen (—698a).
Ebenso entwickelte Athen die höchsten Leistungen in der Zeit,
wo noch die solonischen Zensusklassen bestanden und strenge
Gesetzlichkeit das Staatswesen beherrschte. Die innere Disziplin
wurde dabei noch verstärkt durch den äußeren Druck, die Perser-
gefahr (— 699d). Als dieser fehlte, kam die radikale Entwicklung.
Wie bei den Persern die äußerste Knechtschaft, so trat in Athen
1ὴ In der Schilderung der Oligarchie heißt es Menex. 238e οἰκοῦσιν οὖν ἔνιοι
μὲν δούλους, οἱ δὲ δεσπότας ἀλλήλους νομίζοντες. Zu ändern ist nichts, denn
Subjekt sind alle nicht demokratisch regierten Völker, und ἔνιοι μὲν ist statt οἱ
μὲν gesetzt, weil es eben nur wenige sind, die dort die Herren spielen. Aber ist
diese Prägnanz nicht thukydideischer Stil?
254 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides.
der äußerste Grad von Freiheit und damit der Verfall des Staates
ein (— 701e)').
Überall schweben hier die Ausführungen von Rep. VII vor.
Ein zweifelloser Nachhall ist die Schilderung, wie durch schlechte
häusliche Erziehung und üble äußere Einflüsse der Sohn des βασιλικὸς
ἀνήρ Kyros zum ᾿ δεσποτικός wird (694 4) und wie damit die ganze
monarchische Verfassung der Perser despotischen Charakter an-
nimmt. Ganz zu den Ausführungen der Politeia stimmt es, wenn
die Darstellung darauf basiert, daß die Überspannung des Ver-
fassungsprinzips den Verfall bedingt (Rep. 562c, Legg. 698a, 699e),
und wenn dabei gesagt wird, ταὐτὸν ἡμῖν ξυμβεβήκει πάϑος ὅπερ
Πέρσαις, ἐκείνοις μὲν ἐπὶ πᾶσαν δουλείαν ἄγουσι τὸν δῆμον, ἡμῖν
δ᾽ αὖ τοὐναντίον ἐπὶ πᾶσαν ἐλευϑερίαν προτρέπουσι τὰ πλήϑη, SO
gibt das die Worte de’ οὐκ ἀνάγκη Ev τοιαύτῃ πόλει ἐπὶ πᾶν τὸ
τῆς ἐλευϑερίας ἰέναι; aus Rep. 562d wieder, nur daß in den Ge-
setzen die Beziehung auf!Athen auch ausdrücklich ausgesprochen
wird. Im Staate wird dort gezeigt, wie dann ein Zustand völliger
Anarchie einreißt, wo man (a) τοὺς τῶν ἀρχόντων κατηκόους προ-
πηλακίζει ὡς ἐϑελοδούλους (562d), wo (b) der Respekt vor den Eltern
(562e) und dem Alter (563a) aufhört, wo die Menschen (0) τελευ-
τῶντες οὐδὲ νόμων φροντίζουσιν (563e). In den Gesetzen werden
diese Züge zu dem Gesamtbilde zusammengefügt (701b) ᾿Εφεξῆς
δὴ ταύτῃ τῇ ἐλευϑερίᾳ (a) ἣ Tod μὴ ἐθέλειν τοῖς ἄρχουσι δουλεύειν
γίγνοιτ᾽ ἄν, καὶ ἑπομένη ταύτῃ (b) φεύγειν πατρὸς καὶ μητρὸς καὶ
πρεσβυτέρων δουλείαν καὶ νουϑέτησιν, (C) καὶ ἐγγὺς τοῦ τέλους οὖσιν
νόμων ζητεῖν μὴ ὑπηκόοις εἶναι. Das ist ein einfaches Exzerpt
aus der Politeia, und es ist nur für den alten Plato bezeichnend,
wenn er hinzufügt πρὸς αὐτῷ δὲ ἤδη τῷ τέλει ὅρκων καὶ πίστεων
χαὶ τὸ παράπαν ϑεῶν μὴ φροντίζειν.
Wichtiger ist aber für uns hier, zu beobachten, wie Platos
Anschauungen sich in einem anderen Punkte geändert haben. Wie
in der Politeia unterscheidet er auch hier zwei Stadien in der
Entwicklung der athenischen Verfassung und behält die Schilderung
des zweiten Stadiums, der entarteten Demokratie, wie wir sehen,
einfach bei. Während er aber im Staate als erste Epoche die
perikleische Demokratie betrachtet hatte, in der auch schon völlige
Freiheit und Gleichheit als Schlagworte herrschen, lenken sich in
1 Über die Berührungen des siebenten Briefes mit diesem Abschnitt vgl.
8.1182.
Die Beurteilung der athenischen Demokratie in den Gesetzen. 255
den Gesetzen seine Blicke weiter zurück auf die gute alte Zeit,
wo noch nicht die radikale Gleichheit bestand, sondern πολιτεία
ἣν παλαιὰ καὶ ἐκ τιμημάτων ἀρχαί τινες τεττάρων (698b), und
ebenso war die ἄχρατος ἐλευϑερία, die keine Spur von δουλεία
verträgt, noch nicht vorhanden, sondern δεσπότις ἐνῆν τις αἰδώς,
δι’ ἣν δουλεύοντες τοῖς τότε νόμοις ζῆν ἠϑέλομεν" καὶ πρὸς τούτοις
δὴ τὸ μέγεϑος τοῦ (Περσικοῦ) στόλου... φόβον ἄπορον ἐμβαλὸν
δουλείαν ἔτι μείζονα ἐποίησεν ἡμᾶς τοῖς τε ἄρχουσιν καὶ τοῖς νόμοις
δουλεῦσαι (ebenda), und dasselbe schärft er mit wörtlicher Wieder-
holung nachher (6996) noch einmal ein, und 700a faßt er sein
Urteil so zusammen: οὐκ ἦν, ὦ φίλοι, ἡμῖν ἐπὶ τῶν παλαιῶν νόμων
ὃ δῆμός τινων κύριος, ἀλλὰ τρόπον τινὰ ἑκὼν ἐδούλευε τοῖς νόμοις.
Unwillkürlich denken wir an Perikle®’ Worte Thuk. Il, 37, 3
ἀνεπαχϑῶς δὲ τὰ ἴδια προσομιλοῦντες τὰ δημόσια διὰ δέος μάλιστα
οὐ παρανομοῦμεν, τῶν Te αἰεὶ ἐν ἀρχῇ ὄντων ἀκροάσει καὶ τῶν
νόμων. |
Es ist genau der gleiche Gedanke, und es bedeutet keine
Änderung des Sinnes, wenn Plato dem veränderten Sprachgebrauch
Rechnung trägt und den Begriff der sittlichen Scheu nicht mehr
durch δέος, sondern durch αἰδώς ausdrückt. Ja, er will wohl gradezu
auf den Bedeutungswechsel von δέος aufmerksam machen, wenn
er 6990 jvon dieser Scheu sagt ἣν αἰδῶ πολλάκις Ev τοῖς ἄνω
λόγοις εἴπομεν ... ἧς ὃ δῆμος ἐλεύϑερος καὶ ἄφοβος" ὃν εἰ τότε
μὴ δέος (= Furcht vor dem äußeren Feinde, φόβος kurz vorher
699 wie 698b) ἔλαβεν, οὐκ ἄν ποτε συνελϑὼν ἠμύνατο.
Wir wissen ja, wie die öffentliche Meinung Athens in den
fünfziger Jahren sich der Vergangenheit zuwendet, wir spüren es
auf jeder Seite der Gesetze wie des Kritias, wie warm im alten
Plato das Herz für sein Vaterland, sein Athen schlägt und er sich
über die traurige Gegenwart hinwegtröstet, indem er sich das Bild
von Altathen hervorzaubert und in die Wirklichkeit umsetzen
möchte. Da verstehen wir es, daß er jetzt Thukydides’ Worte mit
anderen Augen ansieht. Zwar das Urteil über Perikles’ Verfassung
1) Diese Emendation Hermanns (δειλός codd.) wird gesichert dadurch,
daß nach Rep. 563 eben das Fehlen dieser αἰδώς für die radikale Herrschaft des
önuos charakteristisch ist.
2) Denselben Bedeutungswechsel spürt man im ps.-demosthenischen Epita-
phios 25 ai μὲν γὰρ διὰ τῶν ὀλίγων δυναστεῖαι δέος μὲν Evegydbovraı τοῖς
πολίταις, αἰσχύνην δ᾽ οὐ παριστᾶσιν. — Über die Wiederkehr des Gedankens im
siebenten Briefe vgl. S. 1215,
256 Kritik des perikleischen Ideals.. Plato und Thukydides.
steht ihm zu fest. Die reine Demokratie ist und bleibt ein Irrweg,
und keine Idealisierung darf uns über ihre Verfehltheit hinweg-
täuschen. Aber der Gedanke des freien Athenervolkes, das aus
freiem Willen dem Gesetze gehorcht, ist doch etwas Schönes, und
der Philosoph, der nicht die Verpflichtung hat, jede einzelne Periode
der vaterländischen Geschichte darzustellen, mag wohl die Zeit des
Perikles stillschweigend übergehen und die Zeit der Marathon-
kämpfer, die das Ideal seiner Jugendzeit gewesen war, in den
hellen Farben erstrahlen lassen, mit denen Perikles sich selber
seine Demokratie malte.
XI. Kritik der auswärtigen Politik Athens.
Menexenos.
‚An der Echtheit des Menexenos hat im Altertum niemand
gezweifelt. Er wurde in späterer Zeit offiziell bei der Epitaphien-
feier verlesen, doch gewiß als platonisches Werk (Cie. or. 151),
und die Rhetoren, Dionysios von Halikarnass an der Spitze’),
legen gerade ihn zu Grunde, wenn sie über Platos Stil urteilen
wollen. Und wenn Aristoteles ein Wort aus dem Menexenos
(235d) so anführt ὃ γὰρ λέγει Σωκράτης Ev τῷ ἐπιταφίῳ, ἀληϑές,
ὅτι οὐ χαλεπὸν ᾿Αϑηναίους ἐν ᾿Αϑηναίοις ἐπαινεῖν ἀλλ’ ἐν Λακε-
δαιμονίοις (1415b 30, νρ]. 1867} 8), so müssen schon sehr ge-
wichtige Gegeninstanzen vorliegen, wenn wir die Annahme ab-
lehnen sollen, daß er einen platonischen Epitaphios meint’).
Dagegen ist die Echtheit neuerdings vielfach in Zweifel ge-
zogen worden. Denn „sollte der Todfeind der verflachenden Rhe-
torik dem Laster der Rhetoren verfallen sein, tralatizische Phrasen
urteilslos nachzuplappern?“ (Schwartz, Hermes 35, S. 124.)
Verteidigt haben den: Menexenos besonders Wendland (im
Hermes 25) und Trendelenburg (Erläuterungen zu Platos Menexe-
nos, Berlin, Progr. d. Friedrichs-Gymnasiums 1905). Beide haben
1) De Demosthene 23 ff, Vgl. noch [Dionysios’] Techne VI (über die Epitaphioi).
8) Trotz Schwartz, Hermes 35, 5. 1241, Für Schwartz beweist das Aristo-
teleszitat nur, was ohnehin wahrscheinlich sei, daß der Menexenos in der Zeit
Alexanders geschrieben ist. Aber soll wirklich Aristoteles ein eben erschienenes
„elendes Machwerk“ so zitieren: ὥσπερ γὰρ ὁ Σωκράτης ἔλεγεν (1367b 8)?
Der Menexenos. 357
das Verständnis des Dialoges außerordentlich gefördert. Wenn
sie ihn aber im ganzen ausschließlich aus einer satirischen Ten-
denz gegen die Rhetorik heraus erklären wollen ‘), so werden sie,
scheint es mir, Platos Absichten nicht gerecht. Ich habe schon
im vorigen Aufsatze eine Stelle der Rede in anderm Sinn aus-
gebeutet und will nunmehr-versuchen, durch eine allseitige Be-
trachtung den platonischen Ursprung des Menexenos zu beweisen
und seine Tendenz klarzustellen.
Den Menexenos, mit dem Sokrates hier spricht, kennen wir
aus dem Lysis, Da ist er ein munterer Junge von etwa 15
Jahren, etwas dreist, schon von philosophischen Diskussionen be-
rührt, ja, er ist ἐριστικός (211 b), und wir verstehen es, daß sein
Freund Lysis ihm einen kleinen Dämpfer gönnt (ib.), und So-
krates scheint derselben Ansicht zu sein, denn wenn er im gleich
folgenden Gespräch alle möglichen Schattierungen des Begriffs
φίλος durcheinander mischt, so will er vor allem gründlich in
Menexenos ’) das Gefühl der geistigen πενία erwecken.
Ganz anders tritt er uns in dem nach ihm benannten Dialog
entgegen: bescheiden, zurückhaltend, voll unbedingter Hingabe
an Sokrates und bereit, ihm aufs Wort zu folgen. „Wenn du
mir erlaubst und rätst, politisch tätig zu sein, so will ich’s gern
tun, sonst nicht“ (234b). Ist das nicht gleich ein Beweis, daß
dieser Dialog nicht vom Verfasser des Lysis sein kann? — Ich
glaube nicht. Wir haben das Charakterbild, das der Lysis liefert,
nur zur Hälfte wiedergegeben. Denn vor allem gehört zu diesem,
daß er ein Freund des Lysis ist. Der mutet in seiner schüch-
ternen, leicht verlegenen Art ja zunächst wie ein Gegensatz zu
Menexenos an. Und doch sind beide Freunde, sollen sie beide
für die Theorie von der φιλία eine praktische Illustration liefern
(212a). Freundschaft kann aber nicht zwischen ἀνόμοιοι be-
stehen. Ebensowenig aber zwischen gleichen Menschen, die sich
nichts zu geben haben. Die Liebe geht auf das οἰκεῖον. Sie be-
steht zwischen denen, die πῇ μὲν ὅμοιοι, πῇ δὲ ἀνόμοιοι Sind,
zwischen Individuen, die wesensverwandt sind, aber doch so weit
1) Nach Wendland will Plato dabei vor allem in einem zalyvıov zeigen
wie leicht es sei, den vielgerühmten Epideixeis der Rhetoren eine gleichwertige
zur Seite zu stellen. Trendelenburg sucht die Satire mehr in den karikierenden
Übertreibungen der Ausführung.
2) Natürlich auch im Leser.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 17
258 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
verschieden, daß sie sich erst gegenseitig ergänzen. Der Grund-
zug des Charakters ist bei Lysis wie bei Menexenos derselbe, die
yıAouadia'). Und wenn sich nun beide gegenseitig beeinflussen
und abschleifen, wenn der läuternde Einfluß des Sokrates hinzu
tritt, dann wird nach fünf, sechs Jahren Menexenos gewiß das
vorlaute Wesen des ἐριστικός abgelegt haben, reifer, bescheidener
geworden sein, kurz so, wie der gleichnamige Dialog den etwa
20 jährigen Jüngling zeichnet.
So ergänzt dieses Charakterbild in glücklichster Weise das
andere, das wir aus dem Lysis kennen. Gehört dann aber wohl
der Verfasser des Menexenos zu den oberflächlichen Nachahmern?
Die mögen Charaktere wohl nachzeichnen, nachempfinden und
ergänzen werden sie diese nicht.
Sokrates trifft den-Menexenos vor dem Rathaus. „Du glaubst
wohl jetzt mit der Ausbildung und der Philosophie fertig zu sein,
sodaß du dich größeren Dingen zuwenden kannst?“ so fragt er
im Scherz, ἃ. h.: „Du denkst wohl wie Kallikles, der erklärt gı-
λοσοφίας μὲν ὅσον παιδείας χάριν καλὸν μετέχειν καὶ οὐκ αἰσχρὸν
μειρακίῳ ὄντι φιλοσοφεῖν, ἐπειδὰν δὲ ἤδη πρεσβύτερος ὧν ἄνϑρω-
πος ἔτι φιλοσοφῇ, καταγέλαστον τὸ χρῆμα γίγνεται (Gorg. 486 8),
und für den Erwachsenen nur die politische Tätigkeit gelten
lassen will, oder wie die Rhetoren, die in der Philosophie nur
die Vorschule für die Rhetorik sehen (Isokr. Panath. 26ff.)?°)*“,
Also das Verhältnis der Philosophie zur Rhetorik und prak-
tischen Politik ist der Ausgangspunkt, und die Philosophie hat
sich gegen die geringschätzige Beurteilung der Gegner zu weh-
ren. Aber statt wie im Gorgias eine Verteidigung zu geben, ver-
fährt Sokrates hier nach dem Grundsatz: Die beste Parade ist der
Hieb. Denn kaum hat Menexenos vom Epitaphios ein Wort ge-
sagt, so greift das Sokrates auf und beginnt ein ironisches Lob
auf diese Lobreden ἡ. Da preist er, wie schön es ist, wenn die Red-
ner οὕτως καλῶς ἐπαινοῦσιν, ὥστε καὶ τὰ προσόντα καὶ τὰ μὴ περὶ
ἑχάστου λέγοντες, κάλλιστά πως τοῖς ὀνόμασι ποικίλλοντες, γοη-
τεύουσιν ἡμῶν τὰς ψυχάς (235a) — es ist derselbe Sokrates, der
im Anfang der Apologie χεκαλλιεπημένους λόγους δήμασί τε καὶ
1) Auf den Lysis gehe ich im Aufsatz über das Symposion ein.
3) Vgl. auch Wendland, Hermes 25, 8. 171.
») Der Übergang ist absichtlich sprunghaft.
Das Einleitungsgespräch. 959
ὀνόμασιν verwirft und den Satz verficht δήτορος ἀρετὴ τἀληϑῆ
λέγειν, es ist der Sokrates, der nach Symposion 198c auch bei
der Lobrede nur die Wahrheit sagen kann, mögen auch die an-
deren es als Aufgabe des ἐγκώμιον ansehen τὸ ὡς μέγιστα ἀνατιϑέ-
ναι τῷ πράγματι καὶ ὡς κάλλιστα, Edv τε N) οὕτως ἔχοντα ἐάν τε un‘).
Dann schildert er den Zauber, den diese Reden auf ihn aus-
üben. Er, der Bürger des demokratischen Athen, kommt sich
ordentlich vornehm und adlig vor (γενναίως διατίϑεμαι — γενναι-
ὄτερος γεγονέναι), soviel wird der ganzen Bürgerschaft von den
Rednern angedichtet. Ja, noch volle drei Tage lang klingt ihm
diese Rede in den Ohren, so lange fühlt er sich stolz, und erst
allmählich kommt es ihm zum Bewußtsein, daß er nicht auf den
Gefilden der Seligen lebt, sondern in der nüchternen Wirklich-
keit seines Athen (—235c). Drei Tage lang! Wir denken daran,
wie der Sokrates des Phaidros 276b höchstens im Scherze (παιδιᾶς
χάριν) Reden gelten läßt, die auf eine Augenblickswirkung be-
rechnet sind, wie er sie mit den Adonisgärten vergleicht, die in
acht Tagen emporsprießen, aber ebenso schnell vergehen.
So kann uns der ausdrückliche Hinweis, daß Sokrates hier
wieder einmal sein Spiel mit den Rednern treibt (dei σὺ προσπαί-
ζεις τοὺς δήτορας) nicht überraschen, und damit wir sehen, daß
es nicht ein einzelner Rhetor ist, an den Sokrates denkt, be-
kommt jede der um die Zeit des Königsfriedens herrschenden
Richtungen einen Teil ab, die Leute wie Isokrates, die zu einer
Rede Jahre brauchen (2540), die Techniker, die mit Muster-
stücken arbeiten, die Stegreifredner wie Alkidamas (235d) °).
Dabei fällt scheinbar unabsichtlich das Wort, solche Lobrede
sei gar nicht schwer. Das greift wieder Menexenos auf und fragt
lächelnd: „Ja, würdest du denn das können?“ Aber zu seinem
Erstaunen wehrt diesmal der εἴρων, der Großes niemals für sich
in Anspruch nimmt, nicht ab. Er macht es wie der Sokrates des
Phaidros, der auch dem jungen Freunde nicht glauben will, daß
Lysias’ Rede unübertrefflich sei (235c). Und wie jener erklärt
πλῆρές πως τὸ στῆϑος ἔχων αἰσθάνομαι παρὰ ταῦτα ἂν ἔχειν
1) Vgl. Wendland S. 175, der auch auf Isokrates’ Vorschrift (ca. soph. 16)
ὅλον τὸν λόγον καταποικῖλαι verweist und Gorgias’ Bezeichnung der Redekunst
als γοητεία heranzieht (Hel. 10. 14).
3) Wendland S. 173— 177, der mit Recht betont, daß dies nur in die Zeit
des Königsfriedens paßt.
17°
260 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
εἰπεῖν ἕτερα μὴ χείρω, 50 fühlt sich auch unser Sokrates fällig,
einen Epitaphios zu halten. Ὅτι μὲν οὖν παρά γε ἐμαυτοῦ οὐδὲν
αὐτῶν ἐννενόηκα, εὖ οἶδα fährt jener fort, αὐτὸς μὲν παρ᾽ ἐμαυτοῦ
ἴσως οὐδὲν (ἔχοιμι ἂν λέγει») dieser (2508). Also muß wohl ein
fremder Geist über Sokrates gekommen sein, aber während der
Sokrates des Phaidros gestehen muß: ὑπὸ δὲ νωϑείας αὖ καὶ αὐὖ-
τὸ τοῦτο ἐπιλέλησμαι, ὅπως TE καὶ ὥντινων ἤκουσα (235d), ist bei
dem des Menexenos Vergeßlichkeit nicht zu befürchten: Der
fremde Geist, der ihn inspiriert hat, ist Aspasia, und noch gestern
hat er sie einen Epitaphios vortragen hören, teils aus dem Steg-
reif, teils mit Einflechtung von Topoi aus der Leichenrede des
Perikles.
Es ist die gleiche Technik, die wir im Phaidros und im Me-
nexenos beobachten. Und schwerlich wird man behaupten kön-
nen, daß im Menexenos dabei Nachahmung fühlbar wird. Aber
freilich Aspasia selbst soll diese deutlich zeigen. „Sollte Plato
eine so dumme Erfindung sich erlaubt haben wie die, daß Perikles’
Maitresse dem Sokrates im Jahre 386 eine Rede hält?“ (Schwartz,
Hermes 35, S. 124). Das müßte man gelten lassen, wenn nicht
eins zu bedenken wäre: Die scheinbar so dumme Erfindung kann
durch aktuelle Beziehungen bedingt sein, wie wir sie in der Sa-
tire gegen die Rhetoren vorher zweifellos feststellen konnten.
Freilich auf einen Rhetor kann diesmal Plato nicht zielen. Aber
wir wissen ja, was Aspasia in der sokratischen Literatur für eine
Rolle spielt. Aischines.hat die Aspasia, deren geistige Bedeutung
Wilamowitz in der Reaktion gegen frühere unberechtigte Über-
schätzung doch wohl zu sehr herabdrückt, in seinem gleich-
namigen Dialog zur Lehrerin des Sokrates gemacht‘). Er ist
dazu gekommen, weil er zeigen wollte, daß auch im Verkehr der
Geschlechter das sittliche Moment ausschlaggebend sei, daß auch
das Weib imstande sei, den Mann βελτίονα ποιεῖν. Ich zweifle
nicht, daß Sokrates tatsächlich gelegentlich von dem Einfluß ge-
sprochen hat, den Aspasia durch ihren Geist mehr noch als durch
ihre Körperschönheit auf die Männerwelt gehabt hat. Jedenfalls
wurde bei Aischines erwähnt, wie Sokrates zu Aspasia geht, um
von ihr zu lernen, und wie er andere als Schüler zu ihr hin-
1 Zum Folgenden vergl. Natorp, Philol. 51; Dittmar, Aischines v. Sphettos
Ὁ. 1—59.
Das Aspasiamotiv. 261
schickt (fr. 17. 19 ὅς γε καὶ eig ᾿Ασπασίας τῆς Μιλησίας παρακε-
λεύῃ Καλλίᾳ τὸν υἱὸν πέμπειν, εἰς γυναικὸς ἄνδρα, καὶ αὐτὸς τηλι-
κοῦτος ὦν παρ᾽ ἐκείνην φοιτᾷς). Sokrates selber wies im Gespräch
daraufhin, daß auch andre Frauen (Rhodogune und Thargelia)
Einfluß auf die Männer gewonnen hätten, und gab ein Gespräch
der Aspasia mit dem jungen Xenophon wieder (Cie. de inv. I, 31),
in dem sie ihre Auffassung von der sittlichen Bedeutung der Ehe
vortrug.
Aber nicht nur allgemein ward ihre sittliche Einwirkung ge-
schildert, sie wurde als σοφή und πολιτική gerühmt (fr. 23) und
ihr Einfluß in politischen Dingen auf Perikles wie auf Lysikles
besprochen. Sie war nicht nur selbst rhetorisch ausgebildet (δεινὴ
περὶ λόγους), sondern Aischines wagte es sogar, von der Unter-
weisung des Perikles in der gorgianischen Beredsamkeit durch
Aspasia zu sprechen (καὶ Περικλέα δημηγορεῖν παρεσκεύασεν, ὡς
Αἰσχίνης ὃ Σωκρατικὸς ἐν διαλόγῳ ᾿Ασπασίᾳ fr. 23"), vgl. fr. 24 λέ-
γεται δὲ καὶ ᾿Ασπασία ἣ Μιλησία τὴν τοῦ Περικλέους γλῶσσαν
κατὰ τὸν Ποργίαν ϑῆξαι und dazu Menex. 235e ἥπερ καὶ ἄλλους
πολλοὺς καὶ ἀγαϑοὺς πεποίηκε δήτορας, ἕνα δὲ καὶ διαφέροντα τῶν
Ἑλλήνων, Περικλέα τὸν Ξανϑίππου).
Aischines’ Kühnheit war groß. Das Thema selbst, daß auch
das Weib im sokratischen Sinne veredelnd wirken könne, mochte
man in der Zeit der Frauendebatten hingehen lassen. Aber daß
gerade die von den Komikern so oft als πόρνη verspottete Aspasia
als sittliches Vorbild hingestellt und daß Sokrates vorgeführt wurde,
wie er bei ihr lernte, das ging weit, und andre Sokratiker em-
pfanden das Bedürfnis, diese Anschauung, die Sokrates’ Person
ins Lächerliche ziehen konnte, gründlich abzuschütteln. Anti-
sthenes schlug wie gewöhnlich mit Keulen drein, er führte in
seinem Dialog Aspasia diese als die Vertreterin der sinnlichen
1) Schol. Menex. Überliefert ist ἐν διαλόγῳ Καλλίᾳ und es folgt καὶ Πλάτων
ὁμοίως Πεδιηταῖς. Für Καλλέᾳ hat Bergk Com. att. rel. p. 238 gewiß richtig
᾿Ασπασέᾳ geschrieben, und ebenso einleuchtend ist seine Vermutung, daß in Kal-
Δίας der Dichter der Πεδῆται steckt. Doch ist schwerlich mit ihm “Πλάτων in
Καλλέας zu ändern, sondern eher eine Lücke anzunehmen καὶ Πλάτων ὁμοίως
(ἐν τῷ Enıtapip .... Καλλίας) Πεδήταις. Ich glaube nicht, daß Kallias schon
Aspasia als Redelehrerin des Perikles eingeführt hat. Einen Komikerscherz in
bitterem Ernste zu wiederholen, wäre doch wohl auch für Aischines zu kühn ge-
wesen.
262 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
ἡδονή vor, die nur korrumpierend auf Perikles wirkte und sein
Familienleben zerstörte. Der Verfasser des Menexenos verfährt
feiner. Er greift das Motiv „Sokrates lernt bei Aspasia“ auf, aber
nur um zu zeigen, daß man so etwas nicht ernsthaft nehmen
kann, daß ein Sokrates, der von Aspasia lernt, nicht der echte
Sokrates ist. Vor allem aber heftet er diesem Motiv den Fluch
der Lächerlichkeit an, indem er die Figur der Lehrerin Aspasia
plastisch herausarbeitet, wie sie den vergeßlichen Sokrates mit dem
Rohrstock bedroht und ganz nach der Art der Rhetoren fürch-
tet, ihre Schulgeheimnisse könnten ausgeplaudert werden (236c).
Diese Art, ein Motiv oder einzelnes Wort dadurch lächerlich
zu machen, daß man es möglichst wörtlich nimmt, ist uns aus
der Komödie wohl bekannt. Es ist dieselbe Technik, wenn Aristo-
phanes seinem Dikaiopolis- Telephos einen veritablen Richtblock
aus dem Hause bringen läßt, während dieser bei Euripides nur er-
klärt hatte, er würde selbst unter dem Henkerbeil das Recht ver-
treten. Ein guter Schüler der Komödie ist aber, wie so oft, auch
Plato, wenn er Euthyd. 272c Sokrates eine Schilderung davon
geben läßt, wie er bei Konnos') Zither spielen lernt und die
Jungen, seine Mitschüler, ihn wegen seiner Dummheit auslachen
(ganz ähnlich 295d). Noch mehr werden wir aber natürlich an
die Art erinnert, wie Plato im Ion einen anderen Gedanken, den
derselbe Aischines in Bezug auf Sokrates geäußert hatte, abtut,
indem er die ϑεία μοῖρα durch die Person des Rhapsoden illu-
striert und damit lächerlich macht.
Mit diesem Motiv steht es also ganz ebenso wie mit der Sa-
tire auf die Rhetoren. Aus den literarischen Kämpfen der acht-
ziger Jahre, als ein Produkt Platos, der die Lächerlichkeit des
Motivs von Sokrates auf Aischines selber abwälzt, verstehen wir
1) Konnos ist natürlich von dem heruntergekommenen Kovväs (Spottform
wie τρεσᾶς χεσᾶς ᾿Αργᾶς), den Kratinos verulkte, nicht zu trennen. Was Amei-
psias den Anlaß gegeben hat, 423 Sokrates zu seinem Schüler zu machen, wissen
wir nicht. Die Euthydemstellen deuten darauf hin, daß ein Sokratiker das auf-
gegriffen hat. Jedenfalls führt Menex. 235 ext. Plato Konnos nur ein, um das Aspasia-
motiv lächerlich zu machen. Mit Rhetorik hat Konnos gar nichts zu tun. Er
wird ja auch nur mit Lampros verglichen, wie Aspasia spöttisch über den be-
rühmtesten Redelehrer, über Antiphon, gestellt wird. „Selbst wenn einer schlechtere
Bildung als ich genossen hat, bloß bei Lampros und Antiphon in die Schule ge-
gangen ist, kann er so etwas.“ Daß an einen bestimmten nicht zu denken ist,
zeigt schon das allgemeine ὅστις.
Die rhetorische Epideixis ein παέγνιον. 263
die Erwähnung der Aspasia sehr wohl. Wie ein später Nach-
ahmer auf diese verfallen sein sollte, ist nicht abzusehen.
Also Sokrates hat von Aspasia einen Epitaphios gehört und
könnte ihn schon vortragen. Natürlich ziert er sich aber noch
ein Weilchen ganz wie der Sokrates des Phaidros, an den wir schon
vorher erinnert wurden‘). Aber wie jener, so kann auch er dem
Drängen des χαλὸς παῖς auf die Dauer nicht widerstehen und
muß seine Rede von sich geben.
Wieder ist die Technik des Menexenos der des Phaidros so
ähnlich, daß wir denselben Verfasser oder einen Nachahmer vor
uns haben müssen, Aber daß es kein Nachahmer ist, zeigt eine
Feinheit, die grade in dem Punkte zu finden ist, wo der Dialog
vom Phaidros abweicht. Beide Male fürchtet Sokrates, sich lächer-
lich zu machen; aber im Phaidros hat er Angst, sich mit Lysias
zu messen (γελοῖος ἔσομαι παρ᾽ ἀγαϑὸν ποιητὴν ἰδιώτης αὐτο-
σχεδιάζων περὶ τῶν αὐτῶν Phaidros 2304). Unser Sokrates sagt:
ἴσως μου καταγελάσῃ, ἄν σοι δόξω πρεσβύτης ὧν ἔτι παίζειν
(860) und kennzeichnet damit nicht bloß seine folgende Rede
als παίγνιον, er bezeichnet die Rhetorik selber als etwas, was
den παῖδες zukommt. Und nun denken wir an den Anfang.
Dort wehrt sich der Verfasser gegen die Leute, die die Philosophie
nur als Kinderschule, als παίδευσις für Politik und Rhetorik an-
sehen. Jetzt ist der Spieß umgekehrt. Die Rhetorik steht den
παῖδες an, und der Erwachsene muß fürchten, sich lächerlich zu
machen, wenn er sich mit ihr abgibt.
1) Menex. 236c drängt Phaidros: μηδαμῶς, ὦ Σώκρατες, ἀλλ᾽ eine,im Phai-
dros 234e sagt er: μηδαμῶς, ὦ Σώκρατες, ἀλλ᾽ ὡς ἀληϑῶς εἰπέ κτλ. Hier
gehen die Worte des Sokrates voraus: δοκῶ γάρ σοι παίζειν; Im Menexenos folgen
die im Text behandelten Worte: ἀλλ᾽ ἴσως μου καταγελάσῃ, ἄν σοι δόξω πρε-
σβύτης ὧν ἔτι παίζειν. Als Sokrates sich im Phaidros weiter ziert, droht sein
junger Freund schließlich im Scherz mit Gewalt, ἐσμὲν δὲ μόνω Ev gonula, ἰσχυ-
ρότερος δ᾽ ἐγώ (2800). Im Menexenos erklärt Sokrates schließlich alles tun zu
wollen, was der junge Freund verlangt, ἐπειδή γε μόνω ἐσμέν. — Wenn übrigens
Sokrates dabei sagt ὥστε κἂν ὀλίγου, el me κελεύοις ἀποδύντα ὀρχήσασϑαι
ὀρχησαίμην ἄν, so ist darin gewiß eine Spitze enthalten. Xenophon erläutert
Symp. 2, 18 den sokratischen Gedanken, daß man durch jedes Mittel sich zu
fördern suchen müsse, durch eine Empfehlung des Tanzes und läßt dabei So-
krates sagen: οὐ δεήσει we συγγυμναστὴν ζητεῖν οὐδ᾽ Ev ὄχλῳ πρεσβύτην ὄντα
ἀποδύεσϑαι. Gewiß ist schon ein anderer Sokratiker (Antisthenes?) in derselben
pedantischen Weise, die Plato gründlich haßte, vorgegangen, und Plato spielt im
Menexenos darauf an.
964 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
Wenden wir uns nun dem Epitaphios selber zu, so liegt es
auf der Hand, daß Plato in der Form hier die rhetorischen Mätz-
chen, namentlich die gorgianischen Figuren imitiert und über-
treibt. Das ist besonders von Berndt de ironia Menexeni Münster
1881 im einzelnen dargelegt, und es mögen deshalb ein paar
Hinweise genügen. ‘Es ist im ganzen dieselbe Imitation, die wir
in der Agathonrede des Symposion finden, nur daß dort die
Farben stärker und konzentrierter aufgetragen werden und
Sprecher wie Thema mehr zu geistreichem Spiel, gelegentlich zu
humoristischem Tone Anlaß bieten. Wie dort finden wir die
Alliteration (z. B. πᾶν πλῆϑος καὶ πλοῦτος ἀρετῇ ὑπείκει 240d),
die Parechese in jeder Form (κτῆσίν τε καὶ χρῆσιν 258} ἰσογονία ---
ἰσονομίαν 2598 οἵτε ἐπ᾽ Βὐρυμέδοντι ναυμαχήσαντες καὶ οἱ εἰς
Κύπρον στρατεύσαντες καὶ οἱ εἰς Αἴγυπτον πλεύσαντες 241d).
Neben der bloßen Wiederholung eines Wortes‘) finden wir das
Fortwirken eines „Motivs“, wie es Thiele im Hermes XXXVI für
Gorgias aufgezeigt hat. Bald ist es dabei einfach der Klang eines
Vokals, der immer wieder hervortritt (erst es, dann o-Laut in 239d:
dei δὴ αὐτὴν eineiv’), ei μέλλει τις καλῶς ἐπαινεῖν, Ev ἐκείνῳ τῷ
χρόνῳ γενόμενον {τῷ λόγῳ), bald gibt dasselbe Wort oder der-
selbe Wortstamm den Unterton‘). So 239b ὅ re χρόνος βραχὺς
ἀξίως διηγήσασθαι. . . ἐπειδὴ καὶ ἔχει τὴν ἀξίαν .. ὧν δὲ οὔτε
ποιητής πω δόξαν ἀξίαν ἐπ᾽ ἀξίοις λαβὼν ἔχει. . oder noch
stärker 2578. πόϑεν ἂν ὀρθῶς ἀρξαίμεϑα ἄνδρας ἀγαϑοὺς ἐπαι-
γοῦντες . .; δοκεῖ μοι χρῆναι κατὰ φύσιν, ὥσπερ ἀγαϑοὶ ἐγέ-
vovTo, οὕτω καὶ ἐπαινεῖν αὐτούς. ἀγαϑοὶ δέ γε ἐγένοντο διὰ
1) Mit dem Prachtstück οὐ γὰρ γῆ γυναῖκα μεμέμηται κυήσει καὶ γεννή-
σει ἀλλὰ γυνὴ γῆν 288 ἃ, vgl. Symp. 190 ἃ οὐ γὰρ ἔχει "Eowra ἤάρης ἀλλ᾽ "ἔρως
”Aon oder 196}.
2) Stallbaums Änderung εἰπεῖν für ἰδεῖν ist dem Sinne nach notwendig und
wird durch Agathons Anfangsworte (194e) gestützt, wo dasselbe Spiel mit εἰ
vorliegt: ἐγὼ δὲ δὴ βούλομαι πρῶτον μὲν εἰπεῖν ὡς χρή we εἰπεῖν, ἔπειτα εἰπεῖν.
3) Der Artikel („in seiner Rede“, vgl. 240 ἃ; ganz falsch erklärt Trendelen-
burg „scheinbar“) ist nötig nach Legg. 683c γενώμεϑα δὴ ταῖς διανοίαις Ev τῷ
τότε χρόνῳ, ὅτε... Aisch. g. Ktes. 153 Plato Rep. 396c ἐπειδὰν ἀφίκηται Ev τῇ
διηγήσει eig λέξιν τινά κτλ. Vgl. noch Menex. p. 240e τὰ ἀριστεῖα τῷ λόγῳ
ἐκείνοις ἀναϑετέον und αοτρ. Hel. ὅ τὸν χρόνον δὲ τῷ λόγῳ τὸν τότε τῷ νῦν ὑπερβάς.
4 Aus Agathons Rede vgl. z. B. 196a (ἄνϑος) 1908 (ποιεῖν ποιῆσαι USW.
in Verbindung mit πᾶς und mehrfacher Alliteration).
5) γε hat F, es fehlt in den übrigen Codd.
Formell ähnelt der Menexenos der Agathonrede. 265
τὸ φῦναι ἐξ ἀγαϑῶν. τὴν εὐγένειαν οὖν πρῶτον αὐτῶν ἐγκω-
μιάζωμεν . .. τῆς δ᾽ εὐγενείας πρῶτον ὑπῆρξε τοῖσδε ἡ τῶν
προγόνων γένεσις οὐκ ἔπηλυς οὖσα οὐδὲ τοὺς ἐκγόνους τού-
τους ἀποφηναμένη μετοικοῦντας κτλ. (am Schluß des Abschnittes
nochmals εὐγένεια 2576). In dieser Stelle treffen wir auch eine
ganz gorgianisch kühne, schon von Dionys von Halikarnass ge-
rügte Verwendung des Abstraktums ἣ γένεσις. . ἔπηλυς οὖσα, der
sich 238a μετὰ δὲ τοῦτο ἐλαίου γένεσιν, πόνων ἀρωγὴν ἀνῆκεν
würdig anreiht‘). Mit Isokola, durch Antithesen und Homoioteleuta
noch verstärkt, glänzt besonders das Prooemium , so die Stelle,
die die Disposition des Ganzen gibt (236e):
δεῖ δὴ τοιούτου τινὸς λόγου, ὅστις
τοὺς μὲν τετελευτηκότας ἱκανῶς ἐπαινέσεται,
τοῖς δὲ ζῶσιν εὐμενῶς παραινέσεται,
ἐχγόνοις μὲν καὶ ἀδελφοῖς μιμεῖσθαι τὴν τῶνδε ἀρετὴν παρακε-
λευόμενος,
πατέρας δὲ καὶ μητέρας καὶ εἴ τινες τῶν ἄνωϑεν ἔτι προγόνων λείπον-
ται, τούτους δὲ παραμυϑούμενος ὃ.
Die kurzen Kola führen leicht zu übermäßig in die Ohren fallen-
den Rhythmen, und wie Agathon 195c unbewußt in die Metra
der Poesie verfällt: ποιητοῦ δ᾽ ἐστὶν ἐνδεὴς οἷος ἦν “Ὅμηρος, 50
lesen wir Menex. 238c (πολιτεία γὰρ τροφὴ ἀνθρώπων ἐστίν), καλὴ
μὲν ἀγαθῶν ἣ δ᾽ ἐναντία κακῶν und 245d, wo die begeisterten
Tiraden der Volksversammlung nachhallen (vgl. nachher), καϑαρὸν
τὸ μῖσος ἐντέτηκε τῇ πόλει). An die Agathonrede erinnert uns
besonders noch das Streben nach überraschenden Wendungen
(z. B. 237d n χώρα... ἐξελέξατο τῶν ζῴων καὶ ἐγέννησεν ἄν-
1) Vielleicht nach älteren Mustern, vgl. Wendland 5. 182. Die Agathon-
rede bietet so Starkes nicht, doch gehört hierher φασὶν οἱ πόλεως βασιλῆς
νόμοι 196 c.
5) Auch Isokrates trägt im Prooemium stärker auf, z. B. im Panegyrikos.
®) Gelegentlich wird daneben bewußt Inkonzinnität gesucht. Wie bei Gorg.
Hel. ὃ οὐδὲ πρὸς τοῦτο χαλεπὸν ἀπολογήσασϑα: καὶ τὴν αἰτίαν ἀπολύσασϑαι
ὧδε das letzte Wort sich ohne weiteres ablöst, so empfindet man bei richtiger
Rezitation sehr wohl, warum Menex. 236d nach den Worten ὅ ze νόμος προσ-
τάττει ἀποδοῦναι τοῖς ἀνδράσιν kurz und schwer folgt καὶ χρή, Worte, die als
subjektives Bekenntnis zur Berechtigung des νόμος ihren guten, selbständigen
Sinn haben.
*) Aus demselben Anlaß Symp. 208c καὶ κλέος ἐς τὸν del χρόνον ἀϑάνα-
τον καταϑέσϑαι.
266 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
ϑρωπον, ὅ κτλ.) und blendenden Sophismen (darüber nachher),
wobei natürlich stets τεχμήρια zur Hand sind (Symp. 195d καλῷ
οὖν δοκεῖ μοι τεκμηρίῳ τὴν ἁπαλότητα ἀποφαίνειν — Menex. 238a
μᾶλλον δὲ ὑπὲρ γῆς ἢ γυναικὸς προσήκει δέχεσθαι τοιαῦτα τε-
κμήρια. Vgl. Symp. 1988. 6 Menex. 2876, μαρτύριον Symp. 196e
Menex. 2870), ferner die scharfe Disposition und die Markierung
der einzelnen Teile durch rekapitulierende und vorweisende Über-
gänge, wie wir sie auch aus Gorgias’ Helena kennen. Vgl. Symp.
196a νεώτατος μὲν δή ἐστι καὶ ἁπαλώτατος, πρὸς δὲ τούτοις ὑγρὸς
τὸ εἶδος Menex. 2898 ὅϑεν δὴ ἐν πάσῃ ἐλευϑερίᾳ τεϑραμμένοι....
καὶ καλῶς φύντες πολλὰ δὴ καὶ καλὰ ἔργα ἀπεφήναντο. Wenn
dabei Agathon 196} die Worte gebraucht περὶ μὲν οὖν κάλλους
τοῦ ϑεοῦ καὶ ταῦτα inava καὶ ἔτι πολλὰ λείπεται, περὶ δὲ ἀρε-
τῆς κτλ., so spürt man den Rhetor, der von der Fülle seines
Stoffes den Eindruck erwecken will. Genau so Menex. 246a:
καὶ τὰ μὲν δὴ ἔργα ταῦτα τῶν ἀνδρῶν... . πολλὰ μὲν τὰ εἰρη-
μένα καὶ καλά, πολὺ δ᾽ ἔτι πλείω καὶ καλλίω τὰ ὑπολει-
πόμενα. Μαίοί nun dies schon etwas schülerhaft an, so noch
mehr Menex. 2870 ἔστι δὲ ἀξία ἣ χώρα καὶ ὑπὸ πάντων ἀνϑρώπων
ἐπαινεῖσθαι, οὐ μόνον ὑφ᾽ ἡμῶν, πολλαχῇ μὲν καὶ ἄλλῃ, πρῶ-
τον δὲ καὶ μέγιστον ὅτι. . .. So flach ist Agathon nicht, aber
der noch nicht der Rhetorenschule entwachsene Phaidros beginnt
seinen ἔπαινος damit, Eros sei ein großer Gott καὶ θαυμαστὸς
ἐν ἀνθρώποις τε καὶ ϑεοῖς, πολλαχῇ μὲν καὶ ἄλλῃ οὐχ ἥκιστα
δὲ κατὰ τὴν γένεσιν (Symp. 1788). Ganz in der Art der Phai-
drosrede sind auch die vollklingenden inhaltsleeren Worte, die im
Menexenos die Periode abrunden. Man vergleiche etwa Menex.
239a πολλὰ δὴ καὶ καλὰ ἔργα ἀπεφήναντο eis πάντας ἀνϑρώ-
ποῦς mit Symp. 179} τούτου δὲ καὶ ἣ Πελίου ϑυγάτηρ "Αλκηστις
ἱκανὴν μαρτυρίαν παρέχεται ὑπὲρ τοῦδε τοῦ λόγου εἰς τοὺς "EA-
ληνας oder Men. 237b τὴν τῶν ἔργων πρᾶξιν ἐπιδείξωμεν ὡς
καλὴν καὶ ἀξίαν τούτων ἀπεφήναντο mit Sym. 1790 τοῦτ᾽ ἐργασα-
μένη τὸ ἔργον οὕτω καλὸν ἔδοξεν ἐργάσαϑαι οὐ μόνον ἀνθρώποις
ἀλλὰ ϑεοῖς ), ὥστε πολλῶν πολλὰ καὶ καλὰ ἐργασαμένων κτλ. ὃ).
Namentlich in den letzten Fällen ist es klar, daß Plato
Ἢ ἣν δὴ ϑεοὶ ἐπήνεσαν, πῶς οὐχ ὑπ᾽ ἀνϑρώπων γε συμπάντων δικαία
ἐπαινεῖσθαι Menex. 277d.
®) Zu den letzten Worten vgl. auch die vorher angeführte Stelle Menex.
239 a.
Sokrates redet gorgianisch wie in Aischines’ Aspasia. 267
nur die Rhetorik im allgemeinen treffen will. Dagegen wird
man sonst mehrfach speziell an Gorgias erinnert. Das liegt
wahrscheinlich weniger an der Bedeutung, die der Gorgianismus
in den achtziger Jahren noch hatte, sondern es hat einen anderen
Grund. Aischines hatte in seiner Aspasia nicht nur behauptet,
Aspasia habe Perikles in gorgianischer Beredsamkeit unterwiesen
fr. 22, er hatte auch Sokrates selber dort zum Gorgianer gemacht,
wie die von Philostratos aufbewahrte Probe zeigt: Θαργηλία
Μιλησία ἐλϑοῦσα εἰς Θετταλίαν ξυνῆν ᾿Αντιόχῳ Θετταλῷ βασιλεύ-
οντι πάντων Θετταλῶν. Vergleicht man mit dieser Probe die
vorhin so behandelten Stellen 237a, 239b, so ist die Ähnlich-
keit unverkennbar.
Die Disposition, die in den S. 265 ausgeschriebenen Worten
p. 236e gegeben wird, entspringt aus der Natur der Epitaphioi.
Zuerst kommt das Enkomion auf die Toten (237—245), dann die
Wendung an die Überlebenden (246—249c), die sich in eine
παραίνεσις an die Kinder und Brüder der Gefallenen (246—247 0)
und eine παραμυϑία für die Eltern (247c—249c) gliedert.
Um die Disposition des wichtigsten Teiles, des Enkomions, zu
verstehen, müssen wir einen Blick auf die übrigen Epitaphioi werfen °).
In diesen war es althergebracht, daß neben den Gefallenen auch
das Vaterland sein Lob erhielt, und die natürlichste und einfachste
Anordnung des Stoffes war die, daß man in chronologischer Folge
die Großtaten Athens von der Urzeit an bis auf die Gegenwart
erzählte und mit dem Lobe der jetzt Gefallenen abschloß. Dieses
einfache Schema ist noch in später Zeit anwendbar gewesen. Wir
kennen es am besten aus dem pseudolysianischen Epitaphios, der
in der Zeit der Lysiasimitation am Ende des vierten Jahrhunderts
entstanden ist. Vorausgesetzt wird es aber im ganzen auch von
Thukydides, der II, 36 mit den Vorfahren beginnt und in raschem
chronologischem Überblick bis zu seiner Generation gelangt. Wenn
er vor dem Lobe der Gefallenen einschiebt, ἀπὸ οἵας τε ἐπιτηδεύσεως
ἤλθομεν ἐπ᾽ αὐτὰ καὶ μεϑ' οἵας πολιτείας καὶ τρόπων ἐξ οἵων μεγάλα
ἐγένετο (36, A), so ist die genaue Schilderung der Verfassung gewiß
1) Dittmar, Aischines von Sphettos, 3. 26.
3) Fraustadt Encomiorum in litteris Graeeis usque ad Romanam aetatem
historia Leipzig 1909 beurteilt das Verhältnis des Epitaphios zum Enkomion nur
zum Teil richtig.
268 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
sein eigenstes Werk, aber schwerlich würde er gerade einen
Epitaphios zur Einlegung der Schilderung benützt haben, wenn
ihm nicht die Technik der Epitaphioi oder auch ein einzelner
Epitaphios den äußeren Anlaß dazu geboten hätte. Man kann sich
das in verschiedener Weise vorstellen. Nahe liegt der Gedanke,
daß Perikles selber, wenn er in seinem Epitaphios Athens Ruhm
verkündete, sich so wenig wie Thukydides auf τὰ κατὰ πόλεμον
ἔργα beschränkte, sondern als Leistung Athens auch die freie Ver-
fassung, die es sich gegeben, würdigte (etwa so, wie das Isokr.
Paneg. 88---ὅ0 und mit törichtem Anschluß an diesen Ps.-Lysias 18
tut). Man kann aber auch daran denken, daß Gorgias, nach der
Agathonrede in Platos Symposion zu schließen, als Disposition des
ἐγκώμιον empfohlen hat, διελϑεῖν οἷος οἵων αἴτιος Ev τυγχάνει, περὶ
οὗ dv ὃ λόγος ἢ (195a). Danach ist es sehr möglich, daß Gorgias
in seinem Epitaphios vor den ἔργα der Athener eine Schilderung,
οἷοι ἦσαν, gegeben hat, wie er dies in den Enkomien tat "), oder
eine solche an anderer Stelle eingelegt hat’). Entscheiden läßt
sich das nicht. Sicher hat die Technik des Enkomion in der fol-
genden Zeit auf den entsprechenden Teil des Epitaphios ein-
gewirkt.
Das verbreitetste Schema des Enkomion war nun jedenfalls
das, das wir aus Isokrates abstrahieren und bei Anaximenes p.80#.
lesen: Erst wird die εὐγένεια gerühmt, dann der Stoff nach den
1) So weit kann ich mit Seyffert De Xenophontis Agesilao Göttingen 1909
gehen, der 5. 27ff. wahrscheinlich macht, daß Gorgias in seinem Enkomion die
ἔργα von den ἀρεταί getrennt hat. Dagegen ist es unzulässig, wenn Seyffert die
Technik des Enkomion mit der des Epitaphios einfach-gleichsetzt; und bei Thuydides
II, 36 übersieht er, daß die chronologische Folge das Gegebene ist, von dem
Thukydides ausgeht. Daß das ganze Enkomion in Gorgias’ Epitaphios nach
jenem Schema disponiert gewesen ist, ist ganz unwahrscheinlich. Eine andere
Möglichkeit wird sich uns noch zeigen.
Übrigens darf man auch nicht übersehen, daß es grundverschieden ist, ob
man wie in der Agathonrede und bei Thukydides aus dem Wesen einer Person
bezw. ihrer Lebensweise oder auch aus der Umgebung, in der sie groß geworden,
ihre Taten ableitet, oder ob man die Taten vorführt wie Xenophon und daraus
die Charakterschilderung gewinnt. Aber mir ist überhaupt fraglich (trotz Symp.
195a), ob Gorgias sich auf ein Schema festgelegt hat.
2) Isokrates legt ja auch im Panegyrikos vor der Erzählung, daß die Athener
in den Perserkriegen πλείστων ἀγαϑῶν αἴτιοι ἐγένοντο (75, dieses gorgianische
Stichwort auch 26. 100. 6.), 75—81 eine Schilderung ein, ἀπὸ οἵας ἐπιτηδεύσεως
καὶ μεϑ'᾽ οἵων τρόπων ἦλϑον En’ αὐτά (82).
Die Disposition der Epitaphien. 269
Lebensaltern des παῖς νεανίσκος ἀνήρ geordnet und bei jeder Stufe
die ἀρετή des zu Lobenden erwiesen’). Die einfachste Übertragung
dieses Schemas auf die Leichenrede zeigt der demosthenische
Epitaphios, der 4+—14 die εὐγένεια, 16 die Jugendzeit, von 17 an
das Mannesalter und die eigentlichen Verdienste der Gefallenen
1) Ähnlich Quintil. III, 7, 15 alias aetatis gradus gestarumque rerum
ordinem sequi speciosius fuit, ut in primis annis laudaretur indoles, tum
disciplinae, post hoc operum id est factorum dictorumque contextus, alias
6645. Vgl. Leo, Griech.-röm. Biographie, bes. 87if., 209, 210. Wendland, Hermes
XXV, 8.183. Anaximenes S.57. Es ist auch durchaus das Schema des Euagoras,
nur daß Isokrates bei der Schilderung des Mannesalters passend die weitere
chronologische Trennung vornimmt, wie Euagoras die Herrschaft erwarb (24 bis 40
vgl. τὸν τὸ κάλλιστον τῶν ὄντων κάλλιστα κτησάμενον 40 und 34. 35.39. 71), und
wie er sich als Regent betätigte (41—69, hierbei 41—46 die Charakterschilderung,
47 — 64 die ἔργα, 65—69 αὔξησις durch σύγκρισις). Die Scheidung der
ἔργα und ἀρεταί, die Isokrates nur als Untereinteilung anwendet (41—64),
(ähnlich bez. Timotheos Antid. 107—113, 115—128), ist wohl Gorgias’ Prinzip
(vgl. vor. Anm.); aber auch Xenophon, der sie im Agesilaos anwendet, erwähnt
c. 10,4 die Disposition nach den Lebensstufen, er folgt dieser aber auch schon
im Enkomion auf Kyros Anab. 1,9 (2—5 παῖς, 6 veavionos, 7—29 ἀνήρ, 30.1 der
Tod, vgl. Fraustadt a. a. Ὁ. S. 56). Ich kann zwischen diesem Enkomion auf
Kyros und dem Euagoras nur den Unterschied finden, daß Xenophon über die
selbstverständliche εὐγένεια des Kyros nicht redet, andrerseits Isokrates mit den
Altersstufen die vier Kardinaltugenden nicht eben glücklich verquickt. (Sie
schneien in 23 unmotiviert herein und bilden zwar eine gewisse Grundlage für
das Folgende, werden aber nachher kaum berücksichtigt) Ganz ähnlich ist z.B.
die Schilderung der Kindheit, Xen. An. 1, 9, 2—5 und Euag. 23. Natürlich schließt
sich Isokrates nicht Xenophon, sondern einem älteren Schema an.
Dagegen komme ich um die Annahme eines xenophontischen Einflusses bei
Isokrates an einer anderen Stelle nicht herum. Denn wenn Nikokles (ad Nic. 24)
gemahnt wird: ἀρχικὸς εἶναι βούλου μὴ χαλεπότητι μηδὲ τῷ σφόδρα κολάζειν,
ἀλλὰ τῷ πάντας ἡττᾶσϑαι τῆς σῆς διανοίας καὶ νομίζειν ὑπὲρ τῆς αὑτῶν σωτηρίας
ἄμεινον ἑαυτῶν σὲ βουλεύεσθαι. πολεμικὸς μὲν ἴσϑι κτΆλ., so finden wir die-
selben Eigenschaften in der Öharakteristik Klearchs An. II, 6,7.8 wieder (πολε-
μικὸς δὲ .... καὶ ἀρχικὸς δέ) und die blassen Mahnungen an Nikokles erhalten
Farbe erst durch das lebendige Bild Klearchs. Der sorgte vortrefflich für das Heer
und hielt Disziplin ; τοῦτο δ᾽ ἐποίει ἐκ τοῦ χαλεπὸς εἶναι καὶ γὰρ. .... ἐκόλαζε
ἱσχυρῶς. Deshalb war er gefürchtet, aber in der Gefahr τὸ χαλεπὸν ἐρρωμένον
πρὸς τοὺς πολεμίους ἐδόκει εἶναι, ὥστε σωτήριον, οὐκέτι χαλεπὸν ἐφαίνετο.
Die Folgerung, daß die Anabasis vor 374 verfaßt sein muß, ergibt sich
hieraus von selbst. Auch für die Rede an Nikokles ist diese Beobachtung nicht
unwichtig. Denn mit der Xenophonstelle (δκόλαζέ re ἰσχυρῶς καὶ ὀργῇ Eviore)
zeigt nicht bloß $ 24 Berührung, sondern auch $ 23 (ποίει μὲν μηδὲν wer’ ὀργῆς
u.a.), der zu der ausführlichen Fassung der Rede gehört. Das spricht für deren
Ursprünglichkeit.
270 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
behandelt (vgl. die in 3 gegebene Disposition καὶ γεγενῆσϑαι καλῶς
καὶ πεπαιδεῦσϑαι σωφρόνως καὶ βεβιωκέναι φιλοτίμως συμβέβηκεν
αὐτοῖς) ). Dasselbe Schema setzt aber auch Hypereides voraus,
wenn er col. 3 sagt: ἀπορῶ δὲ πόϑεν ἄρξωμαι λέγων; .. πότερα
περὶ τοῦ γένους αὐτῶν ἑκάστων διεξέλθω; ... ἀλλὰ περὶ τῆς παιδείας
αὐτῶν ἐπιμνησϑῶ καὶ ὡς ἐν πολλῇ σωφροσύνῃ παῖδες ὄντες ἐτράφησαν
καὶ ἐπαιδεύϑησαν ἅπερ εἰώϑασι νέοι μαϑεῖν; Aber Hyper-
eides, der wirklich über die Gegenwart etwas zu sagen hat, weiß
wohl, warum er sich in der Form der Praeteritio von dem Schema
losmacht und die Jugendzeit, über die sich doch bei einer ganzen
Generation nur Trivialitäten sagen ließen (vgl. Ps.-Dem. 16), über-
springt. Es war eben verkehrt gewesen, ein für das private Enkomion
erfundenes Schema auf die Masse der Gefallenen zu übertragen.
Hinzu kommt, daß das Lob des Staates, das beim Epitaphios nun
einmal notwendig war, sich schlecht einfügte. Ps. Demosthenes
bringt es teils bei der εὐγενέια unter, die Hypereides auf die Ab-
kunft der einzelnen bezieht, teils flickt er es 25. 6 als Ursache der
ἀρετή. des Mannesalters an. Hypereides setzt voraus (col. 2), daß
der ἔπαινος der Stadt einen besonderen Teil bildet, und mit ihm
stimmt die spätere Theorie überein’).
Kein Wunder, daß man schon früh versucht hat, auch auf andere
Weise das Schema des Enkomion auf den Epitaphios zu übertragen.
Wir sehen es im Menexenos. Scheinbar ist es freilich ganz die
eben geschilderte Disposition, wenn es 237a heißt: τὴν εὐγένειαν
οὖν πρῶτον αὐτῶν ἐγκωμιάζωμεν (237 b—238), δεύτερον δὲ τροφήν
τε καὶ παιδείαν (παιδεία 2580, τροφή 238b—239a), ἐπὶ δὲ τούτοις
τὴν τῶν ἔργων πρᾶξιν ἐπιδείξωμεν (239a—246a). Aber wenn
wir die Ausführung näher betrachten, so ist nicht an die Lebens-
stufen der jetzt Gefallenen gedacht, sondern an die des Athener-
volkes im ganzen. Denn der Teil über die ἔργα behandelt nicht
bloß die Verdienste der Gefallenen, sondern die Großtaten ganz
Athens, auch der Vorfahren, die bei Ps.-Demosthenes unter die
εὐγένεια geschoben werden. Ebenso schildert der Abschnitt über
die εὐγένεια nur den Adel des ganzen Volkes, die Autochthonie.
Bezüglich der τροφή aber wird im Übergang zum folgenden Teil
1) Die Disposition wird freilich von 25 an nicht genau eingehalten.
5) [Dionys Hal.] Ars p. 278, 15 Us. συνελόντι μὲν οὖν ὁ ἐπιτάφιος ἔπαινός
ἐστι τῶν κατοιχομένων᾽ εἰ δὲ τοῦτο, δῆλόν που, ὡς nal ἀπὸ τῶν αὐτῶν τόπων
ληπτέον ἀφ᾽ ὧνπερ καὶ τὰ ἐγκώμια" πατρέδος γένους φύσεως ἀγωγῆς πράξεως.
Die Disposition des Menexenos. 71
ausdrücklich hervorgehoben, daß sie nicht allein von den Gefallenen
gilt: ὅϑεν δὴ ἐν πάσῃ ἐλευϑερίᾳ τεϑραμμένοι οἱ τῶνδέ γε πατέρες
καὶ οἱ ἡμέτεροι καὶ αὐτοὶ οὗτοι 2598). Am merkwürdigsten ist
aber der Abschnitt über die παιδεία. Denn nachdem in dem Teile
über die εὐγένεια geschildert ist, wie die Erde selber das Athenervolk
hervorgebracht hat, heißt es 238b: ϑρεψαμένη δὲ καὶ αὐξήσασα
πρὸς ἥβην ἄρχοντας καὶ διδασκάλους αὐτῶν ϑεοὺς ἐπηγάγετο.
ὧν τὰ μὲν ὀνόματα πρέπει ἔν τῷ τοιῷδε ἐᾶν, (ἀλλ) ἴσμεν γὰρ
ὅτι Ἶ τὸν βίον ἡμῶν κατεσκεύασαν πρός τε τὴν nad” ἡμέραν δίαιταν,
τέχνας πρώτους παιδευσάμενοι καὶ πρὸς τὴν ὑπὲρ τῆς χώρας
φυλακὴν ὅπλων κτῆσίν τε καὶ χρῆσιν διδαξάμενοι. Daß wir diesen
Abschnitt als besonderen Abschnitt über die παιδεία empfinden,
dafür sorgt der rekapitulierende Übergang zum Folgenden: yevvr-
ϑέντες δὲ καὶ παιδευϑέντες οὕτως οἱ τῶνδε πρόγονοι κτλ. Hier ist
es nun ganz klar, daß die Kindheit, die παιδεία des ganzen Volkes
gemeint ist. Wie genau dabei dieser Teil zur Technik des Privat-
enkomion stimmt, zeigt Anaximenes, wenn er bezüglich der Jugend-
zeit p. 82, 10 sagt: dei φυλάττειν, ὅπως πρέποντα ταῖς ἡλικίαις ἐρεῖς
καὶ μὴ μακρά. τοὺς γὰρ παῖδας οὐχ οὕτω δι᾿ αὑτοὺς ὡς διὰ τοὺς
ἐφεστῶτας οἴονται κοσμίους εἶναι καὶ σώφρονας. διὸ βραχυλογητέον
περὶ αὐτῶν. Liest man diese Worte, so wirkt geradezu komisch
die Pedanterie, mit der im Menexenos das Kindesalter in sechs
Zeilen abgemacht wird und statt der Athener tatsächlich ihre
ἐφεστῶτες gerühmt werden. Noch sonderbarer ist natürlich die
ganze Art, wie hier das Volk buchstäblich als Kind genommen
wird. Und wenn man nun sieht, wie gerade diese komische Vor-
stellung geflissentlich durch die Worte ϑρεψαμένη καὶ αὐξήσασα πρὸς
ἥβην, durch den Gedanken, daß Mama Erde für ihre Kinder Haus-
lehrer engagiert (ἐπηγάγετο), genährt wird, so kann, glaube ich,
über die Tendenz dieses Abschnittes kein Zweifel sein: Plato will
diese Art der Übertragung des Enkomionschemas auf den Epitaphios
lächerlich machen, indem er den Begriff παιδεία möglichst wört-
lich faßt und den Leser zur buchstäblichen Auffassung zwingt.
‘) Von dem alten Athen wird vorsichtigerweise (trotz 238c) die ἐλευϑερία
doch nicht ausgesagt.
?) ἐᾶν ---ἴσμεν γάρ --- οἵ die Handschr. ἔσμεν γάρ tilgt Wilamowitz, Hermes
33, S. 520, verteidigt Trendelenburg. In beiden Fällen bleibt aber der stärkste
Anstoß, daß τὰ μὲν ὀνόματα keine Fortsetzung hätte.
©
=
272 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
Es ist derselbe Kunstgriff, den wir bei der Behandlung des Motivs
„Aspasia die Lehrerin des Sokrates“ fanden.
Ist diese Annahme richtig, so ergibt sich, daß dieses Schema
des Epitaphios Plato bereits vorlag. Und daß es tatsächlich älter
war als jene andere Art der Übertragung des Enkomionschemas,
die wir bei Hypereides und Ps.-Demosthenes fanden, möchte man
schon darum annehmen, weil es sich viel besser mit der ursprüng-
lichen Form des Epitaphios, der einfachen chronologischen Auf-
zählung aller Heldentaten Athens vertrug. Ob dieses Schema aber
allgemein verbreitet war oder ob ein bestimmter Epitaphios von
Plato persifliert wird, wissen wir nicht. Insbesondere läßt sich
nicht mit Bestimmtheit sagen, ob und wieweit Beziehungen zu
Gorgias vorliegen ἢ).
Gehen wir nun zu den einzelnen Teilen der Rede über’) und
lesen zunächst den Abschnitt über die εὐγένεια, so finden wir wieder
den eben berührten Kunstgriff ausgiebig angewendet. Geläufige
(oder im bestimmten Einzelfalle gebrauchte) Wendungen, die ein
Bild. geben, eine Vorstellung erwecken wollen, ohne daß wir dieser
zu sehr nachgehen dürfen, werden ganz buchstäblich gefaßt und
durch plastische Herausarbeitung der Vorstellung lächerlich ge-
macht. Zum ständigen Apparate der Enkomia auf Athen gehörte
die Autochthonie der Bewohner, die Behauptung, sie dürften allein
ihr Mutterland wahrhaft als Mutter bezeichnen, denn sie seien
γηγενεῖς (Isokr. Paneg. 23.4, Panath. 124, Lys.2, 17, Demosth. 60,4).
Der Menexenos hält die genaue Angabe für nötig (237b), daß
Attika nicht die Stiefmutter, sondern die richtige Mutter war, und
die Toten werden nicht einfach im Schoße der Erde gebettet, sondern
ἐν οἰκείοις τόποις τῆς τεκούσης καὶ ϑρεψάσης καὶ ὑποδεξαμένης.
Und wenn wir hierbei an das spätere Verhalten der Mutter zu
den Kindern denken, so bleibt uns auch die genaue Vorstellung
der Schwangerschaft und Geburt nicht erspart. Attika war nicht
so dumm wie die anderen Länder, die Tiere und Pflanzen hervor-
brachten, es suchte sich den Menschen als Kind aus und als für-
1) Gorgias kann so vorgegangen sein, daß er erst von der παιδεία der
Athener redete, dann schilderte, οἷον ἦσαν (ἐγένοντο), dann οἵα ἔπραξαν (vergl.
S. 268), aber das ist eben nur eine Möglichkeit.
2) Beim Prooemium mache ich nur auf die große Ähnlichkeit mit dem
Schluß des thukydideischen Epitaphios aufmerksam (II, 46). Die Antithese von
λόγῳ und ἔργῳ finden wir auch im Prooemium bei Thukydides wieder (35).
9878. 9380. 273
sorgliche Mutter sorgte es auch gleich für die Nahrung des Kindes,
indem sie die spezifisch menschliche Nahrung, das Getreide, her-
vorbrachte. Das war auch noch aus einem anderen Grunde vor-
sichtig: sie beugte damit jeder Anzweiflung ihrer Mutterschaft vor.
πᾶν γὰρ τὸ τεκὸν τροφὴν ἔχει ἐπιτηδείαν ᾧ ἂν τέκῃ, ᾧ καὶ γυνή
δήλη τεκοῦσά τε ἀληθῶς καὶ μή, ἀλλ᾽ ὑποβαλλομένη, ἐὰν μὴ ἔχῃ
πηγὰς τροφῆς τῷ γεννωμένῳ.... μᾶλλον δὲ ὑπὲρ γῆς ἤ γυναικὸς προ-
σήκει δέχεσϑαι τοιαῦτα τεκμήρια. οὐ γὰρ γῆ γυναῖκα μεμίμηται κυήσει
καὶ γεννήσει, ἀλλὰ γυνὴ γῆν (251 6). Man muß sich hier erinnern,
daß die spätere Logik (Aristot. Anal.pr.70a 13, Rhet.1357b 15, Stoie.
fr. log. 221) den Schluß εἰ γάλα ἔχε: ἐν μαστοῖς ἥδε, κεκύηκεν ἥδε
als typisches Beispiel eines Rückschlusses von einem Symptom auf
eine Erscheinung (σημεῖον) aus der medizinischen Theorie‘) über-
nommen hat, und muß die ebenso zwingenden Schlüsse der Agathon-
rede daneben halten, dann wird man die Tendenz der Stelle richtig
würdigen. Zugleich kann man sich klar machen, mit welcher
Geschicklichkeit hier mit dem Motiv des Erdursprunges ein anderes
in den Enkomien unentbehrliches Lob Athens, die Schenkung des
Getreidebaues durch Demeter’), verbunden ist.
Noch ein größerer Ruhm Attikas wird aber vorher angeführt:
es ist Heopılng' μαρτυρεῖ δὲ ἡμῶν τῷ λόγῳ ἣ τῶν ἀμφισβητησάν-
1) Die Beispiele für das σημεῖον sind an den genannten Stellen vorwiegend
medizinisch, vgl. bes. Stoic. fr. II. p. 73,26 ἔνιοι καὶ παρὸν παρῳχημένου ϑέλουσιν
εἶναι σημεῖον, ὡς ἐπὶ τοῦ εἰ οὐλὴν ἔχει οὗτος, ἕλκος ἔσχηκεν οὗτος mit Galen
ὅροι ἰατρ. XIX 397 παρόντα τῶν προγεγονότων σημεῖα... ὡς ἢ οὐλὴ τοῦ προ-
γεγενημένου ἕλκους. Über den Gebrauch von σημεῖον bei den Medizinern vgl.
bes. die hippokratischen Prognostika. Im Menexenos steht τεκμήριον, in der
Nachahmung bei Ps.-Demosthenes 5 tritt'passend σημεῖον ein.
5) Isokrates spricht darüber im Panegyr. 28, leitet aber den Abschnitt mit
der entschuldigenden Bemerkung ein: καὶ γὰρ εἰ μυϑώδης ὁ λόγος γέγονεν, ὅμως
αὐτῷ καὶ νῦν ῥηϑῆναι nooonzeıjund hält es für notwendig, die Tatsache, daß der
Getreidebau von Attika aus Verbreitung gefunden hat, durch eine Reihe von
σημεῖα (30—33) zu beweisen, die in der Methode an Thukydides’ Archaeologie
erinnern und zu Isokrates’ Zeit gewiß bei vielen für ebenso wissenschaftlich galten.
Das erklärt sich am besten, wenn man annimmt, Isokrates will den Topos gegen-
über dem Spotte, den seine Behandlung im Menexenos erfahren hat, rechtfertigen.
Als Absicht möchte man es auch betrachten, wenn bei Isokrates (33) die Athener
πρὸς τὰς reyvag,eöpv£oraro. heißen (vgl. 40), während Menexenos 238b die Götter
sie in den τέχναι unterrichten. Mit diesem (p. 238a τούτου δὲ Tod καρποῦ οὐκ
ἐφϑόνησεν, ἀλλ᾽ ἔνειμεν καὶ τοῖς ἄλλοις) berührt sich eng noch Isokr. 29
τοσούτων ἀγαϑῶν οὐκ ἐφϑόνησε τοῖς ἄλλοις, ἀλλ᾽ ὧν ἔλαβεν, ἅπασι μετέδωκεν.
Auch der Passus über die Autochthonie 24.5 (63) ist Menex. 237c sehr ähnlich,
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 18
2374 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
των περὶ αὐτὴν") ϑεῶν ἔρις τε καὶ κρίσις. Daß auch der Hin-
weis auf den Streit Poseidons und Athens zum Enkomion ge-
᾿ hörte, sagt Dion. Hal. de Demosthene 28. Der Rhetor tadelt, daß
dieser Punkt hier so knapp und unrhetorisch abgemacht wird.
Ich glaube, gerade diese knappe Zusammenfassung soll uns die
Kritik nahelegen, soll uns das Unwürdige einer Anschauung vor-
führen, die für die Liebe der Götter zu dem Lande keinen bes-
seren Beweis kennt als ihren Zank und Streit untereinander.
Jedem Leser fällt ja doch sofort ein, wie Plato im Euthyphron
gerade in einer Erörterung über den Begriff ϑεοφιλές jeden
Streit der Götter als gottlosen Aberglauben brandmarkt (6b— 8b),
und für den, der etwa Platos Worte hier ernst nehmen wollte,
heißt es im Kritias 109b: Θεοὶ γὰρ ἅπασαν γῆν ποτὲ κατὰ τοὺς
τόπους διελάγχανον --- οὐ κατ᾽ ἔριν. οὐ γὰρ ἂν ὀρϑὸν ἔχοι λόγον
ϑεοὺς ἀγνοεῖν τὰ πρέποντα ἑκάστοις αὐτῶν οὐδ᾽ αὖ γιγνώσκοντας
τὸ μᾶλλον ἄλλοις προσῆκον τοῦτο ἑτέρους αὑτοῖς δι᾿ ἐρίδων ἐπιχει-
ρεῖν κτᾶσθαι.
Die Abschnitte über die παιδεία und τροφή (238b— 259 8)
sind schon auf S. 270 und S. 272 behandelt. Wir können daher
gleich zu den ἔργα, den Großtaten Athens übergehen. Daß der
Übergang 239a nicht bloß in gorgianischer Weise rekapituliert
und vorbereitet, sondern auch dem Klange zuliebe unnütze
Wortfüllsel enthält, sahen wir schon (S. 266). Wichtig ist
der Zusatz οἰόμενοι δεῖν ὑπὲρ τῆς ἐλευϑερίας καὶ “Βλλησιν ὑπὲρ
Ἑλλήνων μάχεσϑαι καὶ βαρβάροις ὑπὲρ ἁπάντων τῶν ᾿Πλλήνων.
Denn hier wird zunächst ein innerer Zusammenhang der Teile
hergestellt: Wer in der Freiheitsatmosphäre Athens aufgewachsen
ist, der weiß die Freiheit natürlich zu schätzen und für sie zu
kämpfen. Daß das eine Mal ἐλευϑερία die bürgerliche Freiheit,
das andere Mal die staatliche Unabhängigkeit bedeutet, bleibt
natürlich unbeachtet. Zugleich erhalten wir aber das Schlagwort,
das den Grundton des folgenden Abschnittes abgibt: Wo Athen
das Schwert zieht, da kämpft es für die Freiheit, mag es nun die
eigene, mag es die anderer sein. Wie dieses Schlagwort im Me-
nexenos selber parodiert wird, das werden wir noch sehen. Hier
sei kurz daran erinnert, wie tatsächlich dieses Wort als Zauber-
') So TW, vgl. die Parallelstelle Euthyphron 8a (αὐτῆς F. Dionys).
2) τὴν δὲ τῶν ὅρκων... σύγχυσιν... οὐκ ἐπαινεσόμεϑα οὐδὲ ϑεῶν
ἔριν τε καὶ κρέσεν Rep. 380 ἃ.
239 a—c. 275
wort in der Politik von Hellas gewirkt hat. Mochte es gegen
Persien gehen, mochte Sparta die Macht Athens brechen wollen,
dann wieder gegen Sparta eine Koalition sich bilden, stets war
es die ἐλευϑερία, mit der man Stimmung zu machen suchte. Das
zeigt uns keiner besser als Thukydides. Der wußte genau, was
für ein Schwindel mit dem Eintreten für die Freiheit anderer ge-
trieben wurde (VI, 83, 2 sagt der Athener: οὐ καλλιεπούμεϑα ὡς
εἰκότως ἄρχομεν, ἐπ᾽ ἐλευϑερίᾳ τῇ τῶνδε --- der Bundesgenossen —
μᾶλλον ἢ τῶν ξυμπάντων τε καὶ τῇ ἡμετέρᾳ αὐτῶν κινδυνεύσαντες) ;
trotzdem hebt er bei jeder Gelegenheit hervor, wie die Pelopon-
nesier die Befreiung von Hellas auf ihr Programm schreiben (bes.
Brasidas IV, 86, 1 und sonst). Das war eben ein Faktor, der
die Stimmung von Hellas tatsächlich aufs stärkste beeinflußt hat.
Endlich enthalten die Worte οἰόμενοι δεῖν ὑπὲρ τῆς ἐλευϑε-
ρίας καὶ “λλησιν ὑπὲρ “Ελλήνων μάχεσϑαι καὶ βαρβάροις ὑπὲρ
ἁπάντων τῶν ᾿Ελλήνων (239b) die Disposition des ganzen fol-
genden Abschnittes. Dann 239c—241e werden die Freiheits-
kämpfe Athens gegen die Barbaren geschildert, alles Folgende
unter die Spitzmarke gestellt: οὗτοι δὴ πρῶτοι μετὰ τὸν Περσικὸν
πόλεμον, “Ἕλλησιν ἤδη ὑπὲρ τῆς ἐλευϑερίας βοηϑοῦντες πρὸς
Ἕλληνας .., ἐν τῷδε τῷ μνήματι ἐτέϑησαν (242).
Die mythischen Kämpfe, die zum Schema des Epitaphios ge-
hörten, erwähnt Plato vorher nur ganz kurz (239b), obwohl sie
zur Satire auf die formellen Künste der Rhetorik natürlich eben-
sogut Gelegenheit geboten hätten. Das ist ein deutliches Zeichen,
daß es ihm mehr auf anderes ankommt und er sich deshalb wie
Thukydides bewußt auf bestimmte Gebiete beschränkt.
Äußerlich begründet er die Übergehung damit, daß diese
Kämpfe schon poetisch dargestellt und für die Poesie wirklich
besser geeignet seien (da hier die Phantasie zu walten hat). Nur
solche Stoffe will er behandeln, die noch kein Dichter würdig
gestaltet hat, die ein jungfräuliches, noch zu umwerbendes Ge-
biet darstellen, und er selber will den Freiwerber spielen, der die
Dichter auf das begehrenswerte Objekt aufmerksam macht:
ταῦτα μὲν οὖν διὰ ταῦτα δοκεῖ μοι ἐᾶν, ἐπειδὴ καὶ ἔχει τὴν ἀξίαν'
ὧν δὲ οὔτε ποιητής πω δόξαν ἀξίαν En’ ἀξίοις λαβὼν ἔχει ἔτι τ᾽
ἐστὶν ἐν μνηστείᾳ, τούτων πέρι μοι δοκεῖ χρῆναι ἐπιμνησϑῆναι
ἐπαινοῦντά τε καὶ προμνώμενον ἄλλοις ἐς ᾧδάς τε καὶ τὴν ἄλλην
ποίησιν αὐτὰ ϑεῖναι πρεπόντως τῶν πραξάντων (289 6). Das ist
18:
276 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
ein Glanzstück gorgianischer Diktion, nicht nur durch die Allite-
ration der letzten Worte, sondern durch die Wiederholung von
Stichworten. Über ἀξία ist schon 5. 264 gesprochen. Noch
mehr tritt das Spiel mit dem Stamme wuva- hervor. ἐπιμνησθῆναι
ist das Stichwort, das aus p. 238c stammt‘), aber dadurch wird
nicht nur das uvnoteia hervorgerufen, das zwar nicht „Ermne-
rung“ bedeuten soll ἢ, sondern Werbung’), aber durchaus als zum
Stamme uva- gehörig empfunden wird, und diese zieht als Gegen-
stick zum ἐπιμνησθῆναι dann προμνώμενον nach sich (nachher
239d μεμνημένους ἐπαινέσαι entsprechend dem ἐπιμνησθῆναι ἔπαι-
voövra). Formell ist hier die Nachahmung des gorgianischen Stils
klar‘), sachlich hat man den Eindruck, daß Plato wirklich für die
panegyrische Behandlung solcher Stoffe die Poesie geeigneter er-
scheint als die Prosa. Man wird daran erinnert, wie in den Ge-
setzen 801e Plato neben den religiösen Gesängen die patriotischen
Lieder, ἐγκώμια auf die großen Taten verstorbener Bürger emp-
fiehlt°).
Von den Großtaten, die Plato nun behandeln will, sind die
ersten natürlich die Siege der Perserkriege. Damit der Freiheits-
sinn der Athener in hellerem Lichte erstrahlt, wird zuerst als
düsterer Hintergrund die Knechtschaft gemalt, unter der damals
1) Wiederholt 241d.
3) So hat es freilich schon der Nachahmer des Menexenos im demosthe-
nischen Epitaphios gefaßt, 8 9 & δὲ τῇ μὲν ἀξίᾳ τῶν ἔργων οὐδέν ἔστι τούτων
ἐλάττω. τῷ δ᾽ ὑπογυιότερ᾽ εἶναι τοῖς χρόνοις οὔπω μεμυϑολόγηται. .. ., ταῦτ᾽
ἤδη λέξω.
®) Das Bild ist hier frisch, aber μνηστεύειν χειροτονίαν Isokr. 8,15, μνώ-
μενος βασιληίην Herod. I, 205 sind ganz gewöhnliche Metaphern. duvnoria für
wvnoteia hat F. Das ist sicher hier eine Interpolation, wie sie die dieser Hand-
schrift zugrunde liegende Rezension neben Gutem so häufig hat.
4 Möglicherweise liegt noch eine uns verborgene Beziehung vor. Denn
von Aspasia erzählt Xenophon Mem. II, 6, 36 ἔφη τὰς ἀγαϑὰς προμνηστρίας
μετὰ μὲν ἀληϑείας τἀγαϑὰ διαγγελλούσας δεινὰς εἶναι συνάγειν ἀνϑρώπους
εἰς κηδείαν κτᾶ. Das stammt wohl aus Aischines’ Dialog (Dittmar, Aischines
S. 35), der als Gorgianer statt des διαγγελλούσας eine Wendung mit νη μο-
νεύειν gebraucht haben mag.
5) Ich kann daher Schwartz Hermes 35 S. 124 nicht zugeben, daß diese
Stelle gegen Platos Autorschaft spricht. Schwartz geht davon aus, daß Plato
gerade Choirilos’ Epos über die Perserkriege abfällig beurteilt hat (Proclus ad
Plat. Tim. I p. 28), aber abgesehen davon, daß dieser Tadel die Ausführung allein
betroffen haben kann, ohne daß das Thema mißbilligt wurde, redet Plato hier
in erster Linie von φδαΐ, nicht vom Epos.
Die Schilderung der Perserkriege 289 ο---241 6. 977
Asien ἐκ τριγονίας seufzte'). Zugleich wird in knappen Worten
geschickt eine Vorstellung von der gewaltigen Macht gegeben ’),
die Kyros begründet, Kambyses und Dareios bis nach Libyen und
Skythien und vor allem auch über das Meer hin ausgedehnt
haben. Kein Wunder, daß selbst große kriegerische Völker nicht
bloß äußerlich, sondern auch innerlich (ei δὲ γνῶμαι δεδουλωμέναι
ἁπάντων ἀνθρώπων ἦσαν) jeden Widerstand gegen die persische
Herrschaft aufgegeben hatten.
Unwillkürlich denken wir darum auch an die brutale Erobe-
rungspolitik der Orientalen, wenn die folgende Schilderung mit
den Worten αἰτιασάμενος δὲ Δαρεῖος ἡμᾶς τε καὶ ᾿Πρετριᾶς, Ddg-
δεσιν ἐπιβουλεῦσαι προφασιζόμενος κτλ. eingeleitet wird, und der
Ausdruck ist gewiß gewählt, um die falsche Vorstellung zu
nähren, als ob Dareios unter nichtigen Vorwänden’°) den Krieg
vom Zaune gebrochen habe. Aber wir wollen nicht vergessen,
daß auch in Herodots Augen Athen und Eretria und die Unter-
stützung des jonischen Aufstandes nur Vorwand für den Zug des
Datis waren und in erster Linie die Absicht bestand, ganz
Griechenland zu unterwerfen (VI, 44. 94). In der folgenden
Schilderung spürt man vor allem das Bestreben, die ganze Größe
der Gefahr, die Athen 490 bedroht, vor Augen zu führen. 50000
Mann (dieselbe Zahl im lysianischen Epitaphios 21) und 300 Schiffe
ziehen heran. Datis ist bei Todesstrafe verpflichtet, die Athener und
Eretrier zu Sklaven zu machen. Bei Eretria gelingt das ohne
Schwierigkeit. Denn obwohl die Eretrier ein vortreffliches, zahl-
reiches Heer hatten, wurden sie in drei Tagen überwältigt, und
eine große Razzia, die das persische Heer veranstaltete, sorgte
dafür, daß der Befehl des Großkönigs buchstäblich erfüllt wurde
und keiner entkam. Dasselbe Schicksal hofften die Perser mit
Leichtigkeit auch den Athenern zu bereiten, und in ganz Hellas
1) ὅτε πᾶσα μὲν ἡ ᾿Ασία ἐδούλευε τρίτῳ ἤδη βασιλεῖ 239d (ἐδουλώσατο
239 6, αἱ δὲ γνῶμαι δεδουλωμέναι ἁπάντων ἀνθρώπων ἦσαν 2408 und gleich
darauf καταδεδουλωμένη ἦν schärfen den Begriff ein).
2) Wie Trendelenburg es tadeln kann, daß diese „weltbewegenden Ereig-
nisse“ nur sieben Zeilen füllen und weniger Raum einnehmen als z. B. Marathon,
ist mir ganz unerfindlich. Will denn Plato eine Geschichte der Welt oder auch:
nur Griechenlands schreiben ?
8) Daran muß man hier bei προφασιζόμενος denken, das mit guter Ab-
sicht nach dem allgemeinen αἰτιασάμενος (suchte einen Grund zum Kriege) ge-
setzt ist.
278 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
war die Angst so groß, daß niemand den Athenern zu Hülfe kam
außer den Spartanern, und die kamen zur Entscheidung zu spät.
Um so größer ist der Ruhm der Athener, die allein dem Barbaren-
heer standhielten und den Übermut ganz Asiens züchtigten
(2402 —d).
Die Darstellung ist an sich geschickt, und die Schilderung
der Gefahr geht über das, was wir gewöhnlich lesen, nicht hin-
aus. Die Razzia, bei der die persischen Soldaten eine lange
Kette bilden, die von einer Grenze des eretrischen Gebietes zur
anderen reicht, nötigt uns freilich ein Lächeln ab. Aber gerade
hier ist Vorsicht geboten. Denn in völligem Ernste berichtet
Herodot VI, 31, daß die Perser dieses Verfahren regelmäßig an-
wendeten, wenn sie die Bevölkerung eines Gebietes vollständig
aufheben wollten. ὅχως δὲ λάβοι τινὰ τῶν νήσων (Chios Lesbos
Tenedos), ὡς ἑχάστην αἱρέοντες οἱ βάρβαροι ἐσαγήνευον τοὺς dv-
ϑρώπους. σαγηνεύουσι δὲ τόνδε τὸν τρόπον. ἀνὴρ ἀνδρὸς ἅψά-
μενος τῆς χειρὸς ἐκ ϑαλάσσης τῆς βορηίης ἐπὶ τὴν νοτίην διήκουσι
καὶ ἔπειτα διὰ πάσης τῆς νήσου διέρχονται ἐχϑηρεύοντες τοὺς
ἀνθρώπους. An Herodot schließt Menex. p. 240b wörtlich an.
Daß aber nicht erst der Verfasser scherzhaft die allgemeine Schil-
derung auf Eretria überträgt, daß vielmehr tatsächlich solche Er-
zählungen 490 in Athen in Umlauf waren, sagt uns kein anderer
als Plato selber.
Wir haben im vorigen Aufsatz einen Abschnitt der Gesetze
genauer besprochen, weil Plato in ihm auf die Rep. VIII ge-
gebene Kritik der athenischen Demokratie zurückgreift Dort
will Plato p. 698 zeigen, wie in der alten Verfassung Athens die
innere Disziplin durch den äußeren Druck der Persergefahr ge-
stärkt wurde (vgl. oben 5. 253). Diese Schilderung berührt sich
aufs engste mit dem Menenexos.
Men. 240a.
(Dareios)
πέμψας μυριάδας μὲν πεντή-
κοντὰ... ναῦς δὲ τριακοσίας,
Δᾶτιν δὲ ἄρχοντα, εἶπεν ἥκειν
ἄγοντα ᾿Βρετριᾶς καὶ ᾿Αϑηναί-
ους, εἰ βούλοιτο τὴν ἑαυτοῦ
κεφαλὴν ἔχειν.
Legg. 6980.
σχεδὸν γὰρ δέκα ἔτεσιν πρὸ τῆς
ἐν Σαλαμῖνι ναυμαχίας ἀφίκετο
Δᾶτις Περσικὸν στόλον ἄγων,
πέμψαντος Δαρείου διαρρήδην
ἐπί τε ᾿Αϑηναίους καὶ ᾿Ερε-
τριέας ἐξανδραποδισάμενον ἀγα-
-
Menex. 240 und Legg. 698 ο.
ὃ δὲ πλεύσας eis ᾿Πρέτριαν En’
ἄνδρας οἱ τῶν τότε Ελλήνων ἐν
τοῖς εὐδοκιμώτατοι ἦσαν τὰ πρὸς
τὸν πόλεμον καὶ οὐκ ὀλίγοι, τού-
τους ἐχειρώσατο μὲν Ev τρισὶν ἡμέ-
ραις. διερευνήσατο δὲ αὐτῶν πᾶ-
σαν τὴν χώραν, ἵνα μηδεὶς ἀπο-
φύγοι, τρόπῳ τοιῷδε. ἐπὶ τὰ ὅρια
ἐλϑόντες τῆς ᾿Βρετρικῆς ol στρα-
τιῶται αὐτοῦ. . . συνάψαντες
τὰς χεῖρας διῆλϑον ἅπασαν τὴν
χώραν, ἵν᾽ ἔχοιεν τῷ βασιλεῖ
εἰπεῖν, ὅτι οὐδεὶς σφᾶς ἀποπε-
φευγὼς εἴη.
τούτων δὲ τῶν μὲν πραχϑέν-
των τῶν δ᾽ ἐπιχειρουμένων οὔτ᾽
᾿Ερετριεῦσιν ἐβοήϑησεν ᾿Πλλή-
νων οὐδεὶς οὔτε ᾿Αϑηναίοις πλὴν
Λακεδαιμονίων. οὗτοι δὲ τῇ bore-
ραίᾳ τῆς μάχης ἀφίκοντο --- oi
δ᾽ ἄλλοι πάντες ἐκπεπληγμένοι
«νον ἡσυχίαν ἦγον
279
yeiv, ϑάνατον αὐτῷ προειπὼν
μὴ πράξαντι ταῦτα.
καὶ ὃ Δᾶτις τοὺς μὲν ᾿Πρετριᾶς
ἔν τινι βραχεῖ χρόνῳ παντάπασιν
κατὰ κράτος τε εἷλεν μυριάσι συχ-
ναῖς καί τινὰ λόγον εἰς τὴν ἣμε-
τέραν πόλιν ἀφῆκεν φοβερόν, ὡς
οὐδεὶς ᾿ΗΠρετριῶν αὐτὸν ἀποπε-
φευγὼς εἴη. συνάψαντες γὰρ ἄρα
τὰς χεῖρας σαγηνεύσαιεν πᾶσαν
τὴν ᾿ΕΒρετρικὴν οἱ στρατιῶται τοῦ
Δάτιδος
ὃ δὴ λόγος, εἴτε ἀληϑὴς εἴτε
καὶ ὅπῃ ἀφίκετο, τούς τε ἄλλους
“Eiinvas καὶ δὴ καὶ ᾿Αϑηναί-
ους ἐξέπληττεν, καὶ πρεσβευ-
ομένοις αὐτοῖς πανταχόσε βοη-
ϑεῖν οὐδεὶς ἤϑελεν πλήν γε
Λακεδαιμονίων . οὗτοι δὲ ὑπό
te τοῦ πρὸς Μεσσήνην ὄντος
τότε πολέμου καὶ εἰ δή τι διε-
κώλυεν ἄλλο αὐτούς --- οὐ γὰρ
ἴσμεν λεγόμενον --- ὕστεροι δ᾽ οὖν
ἀφίκοντο τῆς ἐν Μαραϑῶνι μά-
χης γενομένης μιᾷ ἡμέρᾳ.
Wieder einmal haben wir die engste Berührung zwischen
dem Menexenos und einer Schrift Platos, und wieder wird man
1ὴ Es ist also keine bewußte Geschichtsfälschung, wenn der Menexenos
die Hülfe der Plataeer verschweigt. In den Gesetzen wird 699a sogar noch ein-
mal mit Bezug auf Marathon eingeschärft: οὐδεὶς τότε ἐβοήϑησεν οὐδ᾽ ἐκινδύ-
vevgEv συμμαχόμενος.
280 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexos.
schwerlich eine Nachahmung im Menexenos nachweisen können.
Ja, manches spricht hier dafür, daß ihm die Priorität zukommt.
Zweimal vermeiden die Gesetze vorsichtig eine bestimmte Zahl-
angabe, die er hat (μυριάδας πεντήκοντα — μυριάσι συχναῖς, ἐν
τρισὶν ἡμέραις — ἔν τινι βραχεῖ χρόνῳ). Bei der Einnahme von
Eretria ist das παντάπασιν κατὰ κράτος εἷλε viel blasser als des.
Menexenos Angabe über die Kriegstüchtigkeit der Bewohner, und
das μυριάσι συχναῖς klappt neben εἶλε etwas nach, während es
in der ausführlicheren Fassung des Menexenos neben πέμψας
ganz am Platze ist. Auffallend ist auch, daß über das Gerücht
von der Razzia gesagt wird: τούς τε ἄλλους "EAAnvag καὶ δὴ καὶ ᾿Αϑη-
ναίους ἐξέπληττεν. Denn daß auch in Athen eine Panik herrscht,
paßt zu dem Preise der Marathonkämpfer wenig, ist auch durch
Herodot nicht begründet, während im Menexenos οἱ δ᾽ ἄλλοι
πάντες ἐκπεπληγμένοι ἡσυχίαν ἦγον das ist, was wir erwarten.
Dabei ist der Grund der Änderung klar. Plato will in den Ge-
setzen ja zeigen, wie die Furcht auf Athens innere Politik wirkt.
Freilich sieht man nun überhaupt nicht recht ein, warum für
diesen Zweck gerade dieses Gerücht, das doch nur eine momen-
tane Wirkung haben konnte, so ausführlich wiedergegeben wird.
Man hat das Gefühl, daß ein anderer Grund mitspielt. Schwer-
lich ist das die bloße Lust des Alters am Fabulieren; die Ge-
flissentlichkeit, mit der Plato zu λόγος hinzusetzt εἴτε ἀληθὴς
εἴτε καὶ ὅπῃ dpiaero'), deutet wohl eher darauf hin, daß ihm daran
lag, eine Geschichte, die er früher als einfache Tatsache berichtet
hatte, jetzt als ein seinerzeit in Athen verbreitetes Gerücht zu
bezeichnen, das er nicht mehr unbedingt als richtig hinstellen
wolle, zu dessen Wiedergabe er aber jedenfalls berechtigt ge-
wesen sei.
Zu beachten ist auch, daß in beiden Schriften erst von Ky-
ros Kambyses Dareios”), dann von den Perserkriegen die Rede
ist. Das ist an sich auch in den Gesetzen nicht auffallend, da
1) Die Geschichte von der Treibjagd auf Eretria wird also nicht als fal-
sches von Datis ausgesprengtes Gerücht bezeichnet.
8) Da Plato in den Gesetzen die innere Entwicklung des Perserreichs schil-
dert, war die Angabe, daß die Perser unter Kyros πρῶτον μὲν ἐλεύϑεροι ἐγέ-
vovro ἔπειτα δὲ ἄλλων πολλῶν δεσπόται (694 8) jedenfalls nicht unbedingt not-
wendig. Im Men. 239 ἃ ff. ist diese Schilderung durch den Zusammenhang bedingt.
Menex. 240a und Legg. 698 ο. 281
Plato die Entwicklung der persischen Monarchie von Kyros bis
zu dem Despoten Xerxes verfolgen will und andrerseits bei der
Schilderung der großen Leistungen Athens kein Anlaß vorlag,
über die Perserkriege hinaufzugehen. Aber noch viel natürlicher
ergibt sich diese Darstellung im Menexenos einfach aus der histo-
rischen Folge der Ereignisse. Entscheidend aber für die Annahme,
daß Plato in den Gesetzen wirklich auf den Menexenos zurück-
blickt, ist ein anderer Umstand. Wir haben im vorigen Aufsatz
gesehen, daß in diesem Abschnitt der Gesetze Plato ausdrücklich
auf die Kritik zurückgreift, die er in der Politeia an der Demo-
kratie übt. Wir haben ferner gesehen, daß eben jener Abschnitt
der Politeia aufs engste mit dem Menexenos zusammenhängt.
Was kann natürlicher sein, als daß Plato in den Gesetzen auch
an diesen Dialog denkt und dessen Ausführungen für seine
Zwecke verwertet oder auch teilweise in andre Beleuchtung
rückt?
Wir wenden uns nun zu der Schlacht von Marathon selber,
‘die Plato von 240d an bespricht. Wenn man an die anderen
panegyrischen Darstellungen denkt, so erwartet man unwillkürlich
einen rhetorischen Bericht über die Schlacht selber (etwa wie [Lys.]
ep. 23—26), und wer es für nötig hält, daß dem lauschenden Publikum
Dinge, die jeder längst auswendig wußte, noch einmal vorgekaut
werden, mag diese Stelle des Menexenos „ebenso inhaltsarm
wie wortreich“ finden. Aber dem Verfasser liegt offenbar nur an
etwas anderem. Das ist einmal die trotz ihrer gorgianischen Form
recht ernste Lehre πᾶν πλῆϑος καὶ πᾶς πλοῦτος ἀρετῇ ὑπείκει. Vor
allem aber wird das, was die Marathonkämpfer durch ihre Tüch-
tigkeit erreicht haben, sehr bestimmt herausgehoben. Sie sind die
ersten, die einen Sieg über die Perser errungen haben ; ihnen danken
nicht nur die Athener ihre Freiheit, sondern ganz Europa. Denn
erst Marathon gab den anderen Hellenen den Mut, den Kampf für
ihre Existenz‘) aufzunehmen. Mit bewußter Absicht wird dies
240d auf die Formel gebracht, die Marathonkämpfer seien Lehrer
der Hellenen gewesen (ἡγεμόνες καὶ διδάσκαλοι τοῖς ἄλλοις γενό-
μενοι), und am Schluß des Abschnittes wird derselbe Gedanke be-
1) Man beachte, daß die Athener die Freiheit erwerben, die anderen ὑπὲρ
τῆς σωτηρίας kämpfen.
282 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
deutungsvoll wiederholt (εἰς ἐκεῖνο γὰρ τὸ ἔργον ἀποβλέψαντες καὶ
τὰς ὕστερον μάχας ἐτόλμησαν διακινδυνεύειν οἱ “λληνες ὑπὲρ τῆς
σωτηρίας, μαϑηταὶ τῶν Μαραϑῶνι γενόμενοι 240 6). Genau in der-
selben Weise verfährt Plato in dem Abschnitt über Salamis. Auch
hier verzichtet er (in der Form der Praeteritio 241a) bewußt darauf,
die Glanzstücke der Rhetorik vorzuführen oder zu überbieten. Von
der Überbrückung des Hellesponts, von der Durchstechung des
Athos‘) hören wir nichts, und ebensowenig wird die Seeschlacht
ausgemalt. Ganz nüchtern wird wieder präzisiert, was die Athener
geleistet haben. Wie die Marathonkämpfer den anderen Hellenen
zeigten, ὅτε οὐκ ἄμαχος εἴη ἡ Περσῶν δύναμις κατὰ γῆν (240d,
wiederholt 2418), so zeigten die Athener bei Salamis, daß auch
die übermächtige Flotte Persiens nicht unüberwindlich sei: ὅσ᾽
ἀμφοτέρων δὴ συμβαίνει, so schließt Plato zusammenfassend 241b
ab, τῶν τε Μαραϑῶνι μαχεσαμένων nal τῶν Ev Σαλαμῖνι vavuaxn-
σάντων, παιδευϑῆναι τοὺς ἄλλους “Ἕλληνας, ὑπὸ μὲν τῶν κατὰ
γῆν ὑπὸ δὲ τῶν κατὰ ϑάλατταν μαϑόντας καὶ ἐϑθισϑέντας μὴ φοβεῖσϑαι
τοὺς βαρβάρους.
Wieder ist also der ganze Bericht darauf zugespitzt, daß die
Athener in den Perserkriegen die Erzieher von Hellas gewesen
sind. Warum ist gerade diese Pointierung gesucht? Ich finde nur
eine Erklärung. Wir haben gesehen, wie stark Plato die Leichen-
rede des Thukydides beschäftigt und wie speziell die Worte, in
denen dieser seine Ansicht über die athenische Demokratie zu-
sammenfaßt (c. 41, 1), von ihm im Staate karikiert werden. Nur
auf die ersten Worte des Paragraphen geht Plato dort nicht aus-
drücklich ein. Sie lauten ξυνελών τε λέγω τήν τε πᾶσαν πόλιν
τῆς “Ελλάδος παίδευσιν εἶναι κτλ. Sollte hier nicht Plato die An-
regung erhalten haben zu dem Gedanken: „Ja, es hat einmal eine
Zeit gegeben, wo dieses Wort für Athen galt, wenn auch nicht auf
dem Gebiete der inneren Politik. In den Perserkriegen sind wirklich
die Athener die Erzieher von Hellas gewesen’)‘? Wenn wir daran
1) In den Gesetzen (699a) versagt es sich Plato nicht, die Wirkung dieser
beiden Ereignisse auf Athen hervorzuheben.
®) Ähnlich Isokr. Paneg. 91 βουλόμενοι προαγαγέσϑαι τοὺς "EAAnvas ἐπὶ
τὸ διαναυμαχεῖν ἐπιδείξαντες αὐτοῖς ὁμοίως Ev τοῖς ναυτικοῖς κινδύνοις ὥσπερ
ἐν τοῖς πεζοῖς τὴν ἀρετὴν τοῦ πλήϑους περιγιγνομένην (vgl. Menex. 2404 πᾶν
πλῆϑος... ἀρετῇ ὑπείκει).
3) Einen Nachhall des thukydideischen (perikleischen?) Gedankens vernimmt
Die Schilderung der Perserkriege 239c—241e. 283
denken, in welchem Lichte die Marathonkämpfer bei Aristophanes
strahlen, werden wir uns nicht wundern, daß Plato ebenso
denkt. |
Auch wir werden dem Urteil gern zustimmen. Etwas anders
werden wir freilich über das denken, was 241 folgt: τρίτον δὲ
λέγω τὸ ἐν Πλαταιαῖς ἔργον καὶ ἀριϑμῷ καὶ ἀρετῇ γενέσϑαι τῆς
“Ελληνικῆς σωτηρίας, κοινὸν ἤδη τοῦτο Λακεδαιμονίων τε καὶ ᾿Α4ϑη-
ναίων. Denn hier tritt die Absicht, dem harmlosen Leser die An-
schauung zu suggerieren, als ob 480 Athen allein beteiligt gewesen
sei, zu deutlich hervor. Zweifellos will Plato daran erinnern, daß
sein Sokrates die Rolle des Rhetors spielt, der mit der Geschichte
nach Belieben umspringt. Immerhin tut man auch hier gut, wieder
den Abschnitt der Gesetze p. 699 heranzuziehen. Dort ist aller-
dings nicht von den Ereignissen selber die Rede, sondern von
der Stimmung Athens beim Herannahen des Xerxes. Aber eine
korrekte historische Darstellung ist es auch dort nicht, wenn
Plato von dem hellenischen Bunde und Sparta kein Wort sagt,
sondern aufs allerschärfste hervorhebt, Athen habe sich nur auf
sich und auf die Götter verlassen und auf keine fremde Hülfe
gehofft ').
Durch einen formellen Abschluß (241c τὸ μὲν οὖν — ὕστερον)
wird gekennzeichnet, daß mit Platää die eigentlichen Freiheitskriege
man auch bei Isokrates, wenn er Paneg. 50 von seiner Vaterstadt sagt: ὥσϑ᾽
οἱ ταύτης μαϑηταὶ τῶν ἄλλων διδάσκαλοι γεγόνασι, καὶ τὸ τῶν “Ελλήνων
ὄνομα πεποίηκε (sc. ἡ πόλις) μηκέτι τοῦ γένους ἀλλὰ τῆς διανοίας δοκεῖν εἶναι
καὶ μᾶλλον “Βλληνας καλεῖσϑαι τοὺς τῆς παιδεύσεως τῆς ἡμετέρας ἢ
τοὺς τῆς κοινῆς φύσεως μετέχοντας. Der ganze Abschnitt des Isokrates über
Athens kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung (38—50) berührt sich mit
Thukydides (45 extr. mit Thuk. II, 38, 1; 42 mit Th. 38, 2, der Preis des λόγος
48 mit Thuk. 40,3), doch läßt sich natürlich nicht sagen, wie weit etwa Gorgias
oder auch Perikles nachwirkt, und man kann nicht behaupten, daß Isokrates den
Epitaphios gekannt hat. Freilich nimmt sich der Abschluß 51 Ἵνα δὲ μὴ δοκῶ
ἐκ τούτων ἐγκωμιάζειν τὴν πόλιν ἀπορῶν τὰ πρὸς τὸν πόλεμον αὐτὴν ἐπαινεῖν,
ταῦτα μὲν εἰρήσϑω μοι πρὸς τοὺς ἐπὶ τοῖς τοιούτοις φιλοτιμουμένους, ἡγοῦμαι
δέ κτλ." fast wie ein Rückblick auf Thuk. II, 36, 4 aus ὧν ἐγὼ τὰ μὲν κατὰ
πολέμους ἔργα... μακρηγορεῖν Ev εἰδόσιν οὐ βουλόμενος ἐάσω, ἀπὸ δέ κτλ.,
noch mehr die Ablehnung des Lobes der Demokratie mit einem ἣν οὐκ οἶδ᾽
ὅτι δεῖ διὰ μακροτέρων ἐπαινεῖν (106).
1) Kleine wörtliche Anklänge an den Menexenos zeigt auch diese Stelle;
so erinnert uns das öre.. τὰ περὶ ᾿Ερέτριαν διεπράξαντο Legg. 699a an Men.
241a ὅτι τὸ ἑξῆς ἔργον τοῖς Μαραϑῶνι διεπράξαντο.
284 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
zu Ende sind. Aber noch droht der Großkönig, noch stehen viele
Hellenen unter seiner Herrschaft, darum verdienen auch diejenigen
Athener rühmende Erwähnung, οἱ τοῖς τῶν προτέρων ἔργοις τέλος
τῆς σωτηρίας ἐπέϑεσαν ἀνακαϑηράμενοι καὶ ἐξελάσαντες «πᾶν τὸ
βάρβαρον ἐκ τῆς ϑαλάττης" ἦσαν δὲ οὗτοι οἵ τε ἐπ᾽ Πὐρυμέδοντι
ναυμαχήσαντες καὶ οἱ εἰς Κύπρον στρατεύσαντες χαὶ οἱ εἰς Αἴγυπ-
τον πλεύσαντες καὶ ἄλλοσε πολλαχόσε (211 d). Schwartz (Hermes
ΧΧΧΥ, 5. 115) hat an der Aufzählung der Ereignisse hier An-
stoß genommen, weil nicht deutlich werde, wie oft die Athener
nach Cypern und Ägypten gegangen seien und ob wir an die Züge
von 459 oder die von 449 zu denken haben. Ich glaube, dieser An-
stoß ist unberechtigt. Denn abgesehen davon, daß jedenfalls keine
tatsächlich falsche Angabe vorliegt, kann es Plato hier auf eine ge-
naue Angabe der historischen Ereignisse nach dem Zusammenhang
überhaupt nicht ankommen. Er will zeigen, wie die Athener das
ganze Meer von den Barbaren gesäubert haben. Das wird uns an-
schaulich, wenn wir hören, wie die Athener immer weiter vor-
gedrungen sind, bis zum Eurymedon, bis nach Cypern, ja bis nach
Ägypten hin. Geographisch, nicht chronologisch ist in erster Linie
diese Aufzählung, und passend wird das Bild vervollständigt durch
den Zusatz καὶ ἄλλοσε πολλαχόσε, der, sachlich durchaus berechtigt,
uns das freie Schalten Athens auf dem Meere vor Augen führt.
Und wie sehr dieser ganze Gedanke hier am Platze ist, das wird
man ermessen, wenn man auf 239e zurückblickt, wo die gewaltige
Macht des Großkönigs vor den Perserkriegen geschildert wird:
ναυσὶ δὲ τῆς τε ϑαλάττης ἐκράτει καὶ τῶν νήσων, ὥστε μηδὲ ἀξιοῦν
ἀντίπαλον αὐτῷ μηδένα εἶναι. Jetzt ist er vom Meere vollständig
verdrängt, und wenn damals kein Mensch Widerstand wagte und
er an die Eroberung von ganz Hellas denken konnte, so ist das Er-
gebnis der Perserkämpfe, das Verdienst Athens, ὅτε βασιλέα ἐποίησαν
δείσαντα τῇ ἑαυτοῦ σωτηρίᾳ τὸν νοῦν προσέχειν, ἀλλὰ μὴ τῇ τῶν
“Ἑλλήνων ἐπιβουλεύειν φϑορᾷ (24le). Mit diesen Schlußworten
rundet sich der Abschnitt über die Perserkriege in vortrefflicher
Weise zu einem künstlerischen Ganzen ab.
In den Perserkriegen haben die Athener gegen die Barbaren
für die Freiheit von ganz Griechenland gekämpft. Jetzt folgt die
Zeit, wo sie “Ἕλλησιν ὑπὲρ “Ελλήνων ἐμάχοντο (239b). Beide Teile
werden ganz scharf getrennt, und die strenge Markierung der Dis-
position führt sogar dazu, daß die historische Folge der Ereignisse
---.
241 d—242b. 285
in gröblicher Weise verletzt wird. Denn wenn 242a von dem
Abschluß der Perserkriege und dem Eintreten des Friedens ge-
redet wird (εἰρήνης δὲ γενομένης), so können wir nur an die Zeit
des Kalliasfriedens denken, und es ist ein grober chronologischer
Verstoß, wenn danach mit einem μετὰ δὲ τοῦτο zur Schlacht von
Tanagra übergegangen wird. Aber dürfen wir nun daraus mit
Schwartz a. a. Ὁ. 115 schließen, daß der Menexenos nicht von
Plato sein kann? Das wäre doch nur berechtigt, wenn Plato ganz
in eignem Namen redete und Belehrungen gäbe‘). Wo er aber
hier als Rhetor spricht, da kann er eben auch die Freiheit des
Rhetors gegenüber den historischen Tatsachen ausnützen, wo es
ihm aus künstlerischen Gründen paßt. Wie sehr aber gerade diese
scharfe Trennung der Teile und der Abschluß mit dem Kallias-
frieden von ihm beabsichtigt ist, werden wir noch sehen.
Daß Plato hier überhaupt bewußt im Tone der tendenziösen
Geschichtsfärbung redet, das ist ohne weiteres klar. Um von Einzel-
heiten zu schweigen wie der Angabe, daß der Sieg bei Oinophyta
schon 3 Tage nach Tanagra fällt’), wird natürlich die ganze Politik
Athens unter dem Gesichtspunkte betrachtet, der schon p. 239b
angedeutet ist. Natürlich ist Athen wider seinen Willen in die
hellenischen Kämpfe gedrängt (242a), und wo es eingreift, da kämpft
es für die Freiheit der Unterdrückten. Wenn bei Thukydides III,
62,5 die Thebaner behaupten, sie hätten Böotien vor der Knech-
tung durch die Athener geschützt und bei Koronea Böotien befreit,
so gut wie sie im peloponnesischen Kriege nur die Befreiung der
Hellenen vom Joche Athens als Ziel hätten, so behauptet der
Menexenos natürlich, die Athener hätten bei Tanagra ὑπὲρ τῆς
Βοιωτῶν ἐλευϑερίας gekämpft (242a). Auch die sizilische Expe-
dition erfolgt natürlich ὑπὲρ τῆς Λεοντίνων ἐλευϑερίας (243a). Wir
haben von diesem Schlagwort schon gesprochen (S. 274) und werden
es noch weiter verfolgen. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß
das Wort ἐλευϑερία (nebst den Ableitungen vom selben Stamm)
in diesem historischen Abschnitt nicht weniger als zwölfmal (242ab
allein dreimal!), sein Gegenstück δουλεία (nebst Verwandten) neun-
1 Ich muß freilich gestehen, daß die Art, wie Plato Legg. 698d die Hilfe-
leistung der Plataeer bei Marathon verschweigt, mich auch dann gegen den Schluß
bedenklich machen würde.
®) Das hätte Ed. Meyer 8 330 Anm. nicht als Tradition behandeln sollen.
Thuk. I, 108 gibt 62 Tage an.
286 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
mal vorkommt. Man spürt, wie dem Athener bei den patriotischen
Reden die Ohren von diesem Schlagwort gellen. Wie sehr aber
gerade die übertreibende Wiederholung des Schlagwortes in Platos
Art ist, das sieht man aus Rep. VIII, p. 562c—564a, wo in derselben
Absicht ἐλευϑερία usw. nicht weniger als vierzehnmal (δουλεία
fünfmal) vorkommt.
Wenn aus den Hellenenkämpfen der Pentekontaetie nur
Oinophyta erwähnt wird, so entspricht das der Wertschätzung,
die dieser Sieg bei Ephoros (Diod. XI, 82), die Μυρωνίδης ὃ γεννάδας
gerade noch während des korinthischen Krieges bei Platos
Gesinnungsgenossen Aristophanes (Ekkl. 303, vgl. Lys. 801)
erfährt.
Dann geht Plato sofort zum archidamischen Kriege über.
Zweierlei hebt er hervor. Einmal hatte Athen jetzt, wo es ganz
Hellas zum Feinde hatte, Gelegenheit zu zeigen, daß es mit Recht
für sich das Verdienst in Anspruch nahm, im Freiheitskrieg das
Größte geleistet zu haben. Dann aber wird die Mäßigung gerühmt,
mit der die Athener im Besitze der lakonischen Gefangenen Frieden
schlossen, ἡγούμενοι πρὸς μὲν τὸ ὁμόφυλον μέχρι νίκης δεῖν πολεμεῖν
καὶ μὴ δι’ ὀργὴν ἰδίαν πόλεως τὸ κοινὸν τῶν ᾿Βλλήνων διολλύναι,
πρὸς δὲ τοὺς βαρβάρους μέχρι διαφϑορᾶς (2424). Hier könnte man
wohl einen Augenblick glauben, einen Verfasser vor sich zu haben,
der einfach im Fahrwasser des Gorgias schwimmt und ihm nach-
spricht, ὅτε τὰ μὲν κατὰ τῶν βαρβάρων τρόπαια ὕμνους ἀπαιτεῖ, τὰ
δὲ κατὰ τῶν ᾿Βλλήνων ϑρήνους (Diels Vors.” 544, 33). Aber anders
wird man urteilen, wenn man liest, was Plato Rep. 470c in heiligem
Ernste den Hellenen einschärft: φημὶ γὰρ τὸ μὲν “Βλληνικὸν γένος
αὐτὸ αὑτῷ οἰκεῖον εἶναι καὶ συγγενές, τῷ δὲ βαρβαρικῷ ὀϑνεῖόν τε
καὶ ἀλλότριον (vgl. im Men. ὁμόφυλον und schon 2428 ὑπὲρ τῶν
δὁμοφώνων πρὸς τοὺς βαρβάρους). Und warum der Menexenos 2426
plötzlich den Ausdruck στασιασάσης gebraucht, wird einem erst
klar, wenn man in der Politeia gleich darauf liest, daß nur der
Kampf gegen die Barbaren als πόλεμος, der Bruderkampf dagegen
als bloße στάσις (und νόσος) zu gelten hat. Und warum Men. 242c
hervorhebt, daß die undankbaren Spartaner Attika verwüsteten
(τεμόντων τὴν χώραν), das versteht man, wenn man in der Politeia
liest, wie Plato erklärt: Frevel ist es darum bei solchem Bruder-
krieg, ἐὰν ἑκάτεροι ἑκατέρων τέμνωσιν ἀγρούς (4104). Und wenn
er dort fortfährt: Beide Parteien müssen sich als Kinder eines
Dic Schilderung des peloponnesischen Krieges 242 c—243d. 287
Volkes fühlen, müssen bei einem Bruderkriege stets an Versöhnung
denken, nicht an ewigen Krieg, οὐκ ἐπὶ δουλείᾳ κολάζοντες οὐδ᾽ ἐπ᾽
ὀλέϑρῳ (470e 471 8), so steht genau dasselbe an der zitierten Stelle
des Menexenos. Auch die Gegenüberstellung mit den Barbaren fehlt
in der Politeia nicht, und es klingt eine unsägliche Bitterkeit aus der
Mahnung, mit der Plato schließt: ἐγὼ μὲν ÖuoAoy& οὕτω δεῖν πρὸς
τοὺς ἐναντίους τοὺς ἡμετέρους πολίτας προσφέρεσϑαι, πρὸς δὲ τοὺς
βαρβάρους, ὡς νῦν οἱ “Ελληνες πρὸς ἀλλήλους (471b). Auch im
Menexenos will Plato gewiß nicht Aufklärung über die Motive der
Friedenspartei von 421 geben, sondern eine Mahnung. Und mit
welchen Gefühlen mochten nach dem Königsfrieden von 386
Patrioten die Mahnung lesen: πρὸς μὲν τὸ ὁμόφυλον μέχρι νίκης
δεῖν πολεμεῖν καὶ μὴ δι᾿ ὀργὴν ἰδίαν πόλεως τὸ κοινὸν τῶν ᾿λλήνων
διολλύναι, πρὸς δὲ τοὺς βαρβάρους μέχρι διαφϑορᾶς Ὁ
Von dem archidamischen Kriege scheidet Plato den großen
Krieg, der mit der sizilischen Expedition beginnt und mit dem
Untergang Athens endet. Da ist Thukydides’ Betrachtungsweise
noch nicht durchgedrungen, und Plato teilt den Standpunkt, den
Andokides 392/1 in der Friedensrede (8. 9 = Aisch. II, 175) ein-
nimmt. Bei der Schilderung dieses Krieges spürt man wieder mehr-
fach in der Form das Bestreben, die Phrasen der Rhetorik zu
persiflieren. Aber bitter ernst ist es Plato, wenn er es als unglaub-
lich und unerhört betrachtet, daß Athens Gegner sich soweit ver-
gaßen, ὥστε τολμῆσαι τῷ ἐχϑίστῳ ἐπικηρυκεύσασϑαι (ἐπικηρυκευ-
σαμένους Ὁ) βασιλεῖ, ὃν κοινῇ ἐξέβαλον μεϑ᾽ ἡμῶν, ἰδίᾳ τοῦτον πάλιν
ἐπάγεσϑαι, βάρβαρον ἐφ᾽ “Βλληνας, καὶ συναϑροῖσαι ἐπὶ τὴν πόλιν
πάντας “Ελληνάς τε καὶ βαρβάρους (248. Zu den letzten Worten
vgl. Isokr. Panath. 57). Auch im folgenden ist die Anerkennung
der Energie, die Athen gerade in der letzten schweren Zeit, be-
sonders bei den Arginusen entfaltet hat, gewiß ernst gemeint.
Stimmt sie doch ganz zu Thuk. VIH,2. Und an des Geschichts-
schreibers Wort II, 65, 12 οὐ πρότερον ἐνέδοσαν ἢ αὐτοὶ ἔν σφίσιν
αὐτοῖς κατὰ τὰς ἰδίας διαφορὰς περιπεσόντες ἐσφάλησαν werden wir
gemahnt, wenn hier Plato — bitter genug — erklärt ἀήττητοι γὰρ
ἔτι καὶ νῦν ὑπό γε ἐκείνων ἐσμέν, ἡμεῖς δὲ αὐτοὶ ἡμᾶς αὐτοὺς καὶ
ἐνικήσαμεν καὶ ἡττήϑημεν (248 ἃ). Formell finden wir freilich auch
1) αὐτοὶ ἐν σφίσιν αὐτοῖς ..... περιπεσόντες Scheint mir nach Analogie
von inter se nocere haltbar.
288 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
hier Wendungen, die zeigen, daß Plato Sokrates hier auf den Bahnen
gedankenloser Rhetorik wandeln läßt. Denn wenn auch das xeiued«
auf den Kenotaphien durchaus seinen Platz hat, würde Plato im
Ernste natürlich die Zusammenstellung οὐκ ἀναιρεϑέντες κεῖνται
ἐνθάδε vermieden haben '),. Und wenn wir lesen τῇ ἐκείνων ἀρετῇ
ἐνικήσαμεν οὐ μόνον τὴν τότε ναυμαχίαν, ἀλλὰ καὶ τὸν ἄλλον πόὄλεμον,
so spüren wir, wie mit leiser Übertreibung eine rhetorische Wen-
dung wie: ταῖς ψυχαῖς νικῶντες τοῖς σώμασιν ἀπεῖπον" οὐ γὰρ δὴ
τοῦτό γε ϑέμις εἰπεῖν, ὡς ἡττήϑησαν (Isokr. Paneg. 92) ins Lächer-
liche gewendet wird.
Schwerer ist es, über den folgenden Abschnitt zu urteilen,
der die inneren Kämpfe nach 404 behandelt (243d μετὰ δὲ ταῦτα
—244b ἐπάϑομεν). Nur Bitterkeit kann den Anfang eingegeben
haben: ὃ οἰκεῖος ἡμῖν πόλεμος οὕτως ἐπολεμήϑη, ὥστε, εἴπερ
εἱμαρμένον εἴη ἀνθρώποις στασιάσαι, μὴ ἂν ἄλλως εὔξασϑαι μηδένα
πόλιν ἑαυτοῦ νοσῆσαι Ὗ. Aber wenn dann Plato mit stillschweigender
Übergehung der Dreißig die Mäßigkeit rühmt, mit der die Ver-
ständigung der Piräusleute mit den in der Stadt Gebliebenen und
mit den Oligarchen in Eleusis durchgeführt ist, darf man das als
Ironie auffassen?
Wenn man an Einzelheiten denkt wie den Überfall auf die
eleusinischen Feldherren, von dem Xen. Hell. II, 4,43 erzählt, scheint
es notwendig. Aber schon früher haben wir gesehen, daß nicht
bloß Aristoteles die Mäßigung der demokratischen Führer in der
Restaurationszeit rühmt, sondern daß auch Plato selbst das gleiche
Urteil gehabt zu haben scheint (S. 111). Wenn er im Menexenos
an die strenge Beobachtung der Amnestie erinnerte (244a), so mochte
er dabei noch besondere Absichten haben. „Wir wollen auch der
Toten jener Zeit gedenken und sie mit einander durch Opfer und
Gebete versöhnen, wie wir versöhnt sind“ — ist es ein trügliches
Gefühl, wenn man bei diesen Worten (244a) den Neffen des
Charmides heraushört, der den Athenern zuruft: „Laßt doch endlich
die Amnestie auch dem Andenken der Dreißig zugute kommen!
1) Zu beachten ist, wie Plato die Abschnitte durch die Formel ἔν τῷδε
τῷ μνήματι πρῶτοι ἐτέϑησαν (2420) und ἐνθάδε κεῖνται beim zweiten (242d)
sowie beim dritten (242 6, 248 0) markiert.
Νδη denke wieder an Rep. 470c: einen hellenischen Bruderkrieg dürfe
man nicht als πόλεμος führen, sondern man solle meinen, νοσεῖν ἐν τῷ τοιούτῳ
τὴν "EAAdda καὶ στασιάξειν.
2484 --- 245 ἃ. 289
Ihr mögt verurteilen, was sie getan haben, aber sie haben doch
auch in ihrer Weise das Beste des Landes gewollt, sind doch auch
Söhne unseres Vaterlandes gewesen (οὐ γὰρ κακίᾳ ἀλλήλων ἥψαντο
οὐδ᾽ ἔχϑρᾳ ἀλλὰ δυστυχίᾳ)“. Und wenn Plato dann von der Gegen-
wart sagt: οἱ αὐτοὶ γὰρ ὄντες ἐκείνοις γένει συγγνώμην ἀλλήλοις
ἔχομεν ὧν τ᾽ ἐποιήσαμεν ὧν τ᾽ ἐπάϑομεν (244), so mögen uns leicht
die gewissenlosen Hetzereien der radikalen Demokraten, für die
Lysias schreibt, einfallen. Für die offizielle Politik Athens gilt
aber Xenophons Anerkennung, daß der Demos die Amnestie, die
er geschworen, treulich „noch heute“ hält (Hell. II extr.), und so
mochten Platos Leser wohl weniger eine Satire auf die Radikalen
und Geschäftsadvokaten als den warmen Appell an das Gemein-
schaftsgefühl vernehmen.
Der folgende Abschnitt (244b μετὰ δὲ τοῦτο — 246a), der
die äußere Politik Athens behandelt, schlägt einen andern Ton
an: Athen zog jetzt die Lehre aus seinen Erfahrungen, es faßte
den festen Entschluß, mit seiner bisherigen Politik zu brechen,
sich nicht mehr in fremde Dinge einzumischen und keinem Unter-
drückten mehr beizustehen (μὴ ἂν ἔτι ἀμῦναι μήτε “Βλλησι πρὸς
ἀλλήλων δουλουμένοις μήτε ὑπὸ βαρβάρων 244c)'). Aber als nun
Sparta die Situation ausnützte und Hellas knechtete, als Ar-
gos Theben Korinth, ja der Großkönig selber bei Athen Zuflucht
suchten, da bekam die Stadt es nicht fertig, an ihren festen
Grundsätzen festzuhalten. Zu stark war ihr Mitleid mit den
Schwachen, zu tief saß ihr die Eleutheritis im Blute: sie mußte
wieder befreien, und wenn die Hülfesuchenden auch die helle-
nischen Todfeinde waren, die 404 Athens Untergang aufs schärfste
betrieben hatten, ja wenn der Großkönig selber kam, der nichts
sehnlicher wünschte als Athens Untergang (ἣν προϑύμως ἀπώλλυ
244d) — Athen mußte helfen, mußte befreien. Ganz wohl war
ihm freilich bei dieser Politik nicht. Man schämte sich in Athen
doch etwas vor den Trophäen von Marathon, Salamis und Platää
(245a) und ließ deshalb in Asien nur Freiwillige und Verbannte
1) 244b ist wohl zu lesen ὅτε παϑόντες ὑπ᾽ αὐτῆς [κακῶς] ἱκανῶς οὐκ
ἐνδεῶς ἠμύναντο. Denn die Antithese ἱκανὸς --- ἐνδεής haben wir auch Prot. 522 Ὁ,
Legg. 802b, und κακῶς ist (trotz des folgenden &d) entbehrlich. — 244 4 sollte
die Konjektur von F οὐ πάλαι οὐδὲ παλαιῶν (οὐδὲ πολλῶν die ühr.) ἀνϑρώ-
πῶὼν γεγονότα nicht aufgenommen werden. „Was ich jetzt sage, ist nicht in
ferner Vorzeit noch in fernen Landen geschehen.“ Also ist mit Dobree nur ein
Buchstabe zu ändern und οὐδ᾽ ἐπ᾽ ἄλλων zu schreiben.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 19
200 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
(wie Konon und Demainetos) für die Perser kämpfen, aber das
muß jeder zugeben: Athen ist es gewesen, das den Großkönig
gerettet hat (δμολογουμένως ἔσωσεν 245a).
Muß man über die Tendenz dieses Abschnittes ein Wort ver-
lieren? Oder ist es nötig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß
Plato mit vollster Berechnung den Abschnitt über die Perser-
kriege damit abgeschlossen hatte, man müsse den alten Athenern
Dank wissen, ὅτε βασιλέα ἐποίησαν δείσαντα τῇ ἑαυτοῦ σωτηρίᾳ
τὸν νοῦν προσέχειν, ἀλλὰ μὴ τῇ τῶν “Πλλήνων ἐπιβουλεύειν φϑορᾷ
(241e)? So einst — und jetzt? Es war wahrlich eine göttliche
Fügung τὸ καὶ βασιλέα εἰς τοῦτο ἀπορίας ἀφικέσϑαι, ὥστε περι-
στῆναι αὐτῷ μηδαμόϑεν ἄλλοθεν τὴν σωτηρίαν γενέσϑαι ἀλλ᾽ ἢ
ἐκ ταύτης τῆς πόλεως, ἣν προϑύμως ἀπώλλυ (244d), und was
würden die alten Marathonkämpfer, von denen die Redner so
gerne sprechen, wohl von den Epigonen sagen, die Agesilaos in
den Arm fielen?
„Seine Mauern und seine Flotte bekam Athen jetzt wieder“,
— so fährt Plato fort; wir wissen aus Gorg. 519a, wie er über
deren Wert dachte — „und die Stadt führte nun Krieg mit Sparta
ὑπὲρ — überliefert ist 245b Παρίων, zu schreiben gewiß Περσῶν ').
„Aber dem Großkönig war in Athens Gesellschaft nicht wohl, er wollte
einen Vorwand zur Aufhebung des Vertrages haben, und stellte
deshalb eine, wie er selbst meinte, unerfüllbare Forderung, die Aus-
lieferung der kleinasiatischen Griechen. Das hellenische Gefühl der
meisten Bundesgenossen hatte er dabei überschätzt, allein Athen
blieb fest und konnte sich nicht entschließen, die Brüder preis-
zugeben. Nur die Athener sind eben die geborenen Feinde der
Barbaren. Gleichwohl — sie wurden schließlich isoliert und
kamen in die schwierige Lage des dekeleischen Krieges, wo sie
sich der Kollation von Sparta und dem Großkönig gegenüber-
sahen, erlangten aber schließlich doch einen Frieden zu leidlichen
Bedingungen (— 245e).“
Was einem an diesem Abschnitt zunächst auffällt, das ist die
genaue Kenntnis des korinthischen Krieges. Denn daß mit den
Worten 245b βασιλεὺς ἐξήτει τοὺς “ἤλληνας τοὺς ἐν τῇ ἠπείρῳ ...,
1) Die Verderbnis eines so bekannten Wortes ist an sich natürlich nicht
sehr wahrscheinlich. Aber mußte man nicht in den Zeiten, wo man den Epi-
taphios ernsthaft nahm und offiziell vorlas, hier Anstoß nehmen und inter-
polieren ?
σον
Der korinthische Krieg 244b—245e. 291
μόνοι δὲ ἡμεῖς οὐκ ἐτολμήσαμεν οὔτε ἐκδοῦναι οὔτε ὀμόσαι ganz
genau auf die Verhandlungen von 392/1 angespielt wird, das ist ja
jetzt durch Philochoros außer Zweifel gestellt, der bei Didymos
zu Demosth. col. 7, 19 zu diesem Jahre vermerkt: χαὶ τὴν
εἰρήνην τὴν ἐπ᾽ ᾿Αντιαλκίδου κατέπεμψεν ὃ βασιλεύς, ἣν ᾿Α4ϑη-
vaioı οὐκ ἐδέξαντο, διότι ἐγέγραπτο ἐν αὐτῇ τοὺς τὴν ᾿Ασίαν
οἰκοῦντας “Βλληνας Ev βασιλέως οἴκῳ πάντας εἶναι συννεμημένους.
Sollen wir wirklich glauben, ein Nachahmer bätte fünfzig Jahre
später die Ereignisse so genau gekannt und dann nur mit einem οὐκ
ἐτολμήσαμεν ὀμόσαι auf den fast perfekt gewordenen Friedens-
vertrag angespielt, statt ihn ausdrücklich zu erwähnen‘)? Wie
am Schluß des vierten Jahrhunderts ein Rhetor seine Unkennt-
nis des korinthischen Krieges hinter nichtssagenden Phrasen zu
verstecken sucht, zeigt Ps. Lysias ep. 67. 8°). Im Menexenos redet
ein Mann, der die Dinge selbst erlebt hat, äußerlich wie innerlich.
Es sind die radikalen Demokraten gewesen, die den Frieden
392/1 hintertrieben , und man glaubt förmlich die Tiraden dieser
Volksredner zu hören, wenn Plato 245ec die Athener als die ein-
zigen Hellenen hinstellt, diereine Hellenen sind und keinen Tropfen
Barbarenblut in sich haben, die deshalb den Haß gegen alles
Barbarentum als ihr Erbteil betrachten und pflegen ‘). Aber nun em-
pfinden wir bei Plato auch: Es sind dieselben berufenen Hüter des
Hellenentums, die allein den Großkönig durch ihre Politik gerettet
haben, die ihm tatsächlich 395 die kleinasiatischen Hellenen aus-
geliefert haben und die 386 wieder — einen leidlichen Frieden ab-
schlossen. Denn daß sie jetzt nach fünf Jahren zwecklosen
Kampfes genau die Forderungen bewilligt haben, die sie früher
1 Daß auf die Friedensverhandlungen von 392/1 angespielt wird, sah richtig
schon Wendland S. 191.
2) Daran ändern auch die paar Phrasen über ὁμόνοια, die der Verfasser
aus einem älteren Epitaphios herausholt, nichts. — Die Ansicht, Lysias selber,
der heißblütige Verfasser des Olympikos von 388, oder überhaupt ein Zeitgenosse
könne dieses Machwerk verfaßt haben, ist für mich völlig indiskutabel. Daß
der Verfasser nach Isokrates’ Panegyrikos schreibt, ist zudem schon durch die eine
Stelle $ 18 erwiesen, wo der Unsinn ἐκβαλόντες τὰς παρὰ σφίσιν αὐτοῖς δυνα-
oteiag sich nur durch Mißverständnis von Isokr. 4,39 erklärt. — Was Trendelen-
burg im Menexenos an Anspielungen auf Ps. Lysias findet, geht auf die Epita-
phien im allgemeinen, nicht auf einen einzelnen.
8) Thrasybul nach Aristophanes Ekkl. 202.
4 Über Isokr. Paneg. 157. 8 nachher.
198
292 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
ablehnten, das spricht der Redner natürlich nicht aus‘), aber
Platos Leser weiß, daß sie „die schimpfliche und gottlose Aus-
lieferung der Hellenen an die Barbaren“ (διὰ τὸ μὴ ἐϑέλειν
αἰσχρὸν καὶ ἀνόσιον ἔργον ἐργάσασϑαι “Πλληνας βαρβάροις ἐκδόντες
245 4) eben doch auf sich genommen haben. Und wenn er noch
im Zweifel sein sollte, wie Plato über die athenische Politik ım
korinthischen Kriege denkt, so mag er sich die nächsten Worte
(246a) merken. Der Friede ist geschlossen, den der Großkönig
Athen diktiert hat. Nun gilt es, der Gefallenen zu gedenken.
„Ehre verdienen die Kämpfer, die in Hellas den Tod gefunden
haben, ἀγαϑοὶ δὲ καὶ οἱ βασιλέα ἐλευϑερώσαντες (!) καὶ ἐκβαλόν-
τες ἐκ τῆς ϑαλάττης Λακεδαιμονίους.“ Mögen sie ruhen neben
den Männern, die Griechenland retteten ὠνακαϑηράμενοι καὶ ἐξε-
λάσαντες πᾶν τὸ βάρβαρον ἐκ τῆς ϑαλάττης (241d). Möge Konon,
der die persische Flotte nach Knidos führte, seinen Ehrenplatz
haben neben den Männern, die im Kalliasfrieden das Erscheinen
eines persischen Schiffes im ägeischen Meere verboten.
Der zweite Hauptteil der Rede, die Ansprache an die Hinter-
bliebenen (246a— 249 0), ist wieder in einem andern Ton gehalten.
Gelegentlich mahnt uns auch hier die scharfe Markierung des Über-
ganges, eine rhetorische Figur , ein gedankenloses Wortfüllsel ὃ
daran, daß wir glauben sollen, einen Rhetor zu hören. Aber
was die Redner in diesem Teile vorzubringen pflegten, war doch
dem Philosophen etwas sympathischer, der philosophischen Rede
verwandter, und so finden wir hier so manchen Satz, der nach
Form und Inhalt auch in ernsten Schriften Platos stehen könnte.
Der Ton ist natürlich populärer als gewöhnlich, aber die προοίμια
der Gesetze sind ebenso gehalten.
1) Ganz vortreffllich ist es, wie Sokrates zwischen die Verhandlungen von
392/1 und die von 386 die lange Periode οὕτω δὴ — φύσεως einschaltet, die den
harmlosen Leser den Gegensatz zwischen beiden weniger fühlen läßt und die Pause
zwischen den Ereignissen ausfüllt wie ein Chorlied in der Tragödie.
2) Aber das besonders auffällige διὰ παντὸς πᾶσαν πάντως προϑυμίαν πει-
ρᾶσϑε ἔχειν (247a, vgl. 249c) ist nur eine Steigerung der Formel, die wir 24θ8ἃ
finden τούτων οὖν χρὴ μεμνημένους τοῖς τούτων ἐχγόνοις πάντ᾽ ἄνδρα παρα-
κελεύεσθαι, und in dieser ist auch sonst die eindringliche Wiederholung regel-
mäßig, vgl. Symp. 193a ἀλλὰ τούτων ἕνεκα πάντ᾽ ἄνδρα χρὴ ἅπαντι nagane-
λεύεσθϑαι εὐσεβεῖν, vgl. Symp. 212} Legg. 4989,
3) Vgl. Trendelenburg, der freilich sehr stark über das Ziel hinausschießt.
Der zweite Hauptteil der Rede 24θ8 -- 249 ο. 293
Eine satirische Beziehung, die für uns nicht mehr kenntlich
ist, liegt gewiß vor, wenn die Vorstellung, daß die Krieger in
der Schlacht ihrem künftigen Leichenredner die lange Paränese an
die Hinterbliebenen mitgeben, pedantisch und breitspurig dem
Leser aufgedrängt wird (246c 247c 248d)'). Aber ganz gewiß
soll es nicht lächerlich wirken, wenn es unmittelbar vorher heißt
(246b): ἐγὼ μὲν οὖν καὶ αὐτός, ὦ παῖδες ἀνδρῶν ἀγαθῶν, νῦν TE πα-
ρακελεύομαι καὶ ἐν τῷ λοιπῷ χρόνῳ, ὅπου ἄν τῳ ἐντυγχάνω ὑμῶν,
καὶ ἀναμνήσω καὶ διακελεύσομαι προϑυμεῖσϑαι εἶναι ὡς ἀρίστους Ἶ.
Denn da sollen wir Plato uns denken, dessen Meister einst ebenso
eindringlich erklärt hatte (Apol. 30a): ταῦτα καὶ νεωτέρῳ καὶ
πρεσβυτέρῳ ὅτῳ ἂν ἐντυγχάνω ποιήσω . .. οὐδὲν γὰρ ἄλλο πρατ-
των ἐγὼ περιέρχομαι ἢ πείϑων ὑμῶν καὶ νεωτέρους καὶ πρε-
σβυτέρους μήτε σωμάτων ἐπιμελεῖσθαι μήτε χρημάτων πρότερον
μηδὲ οὕτω σφόδρα ὡς τῆς ψυχῆς ὅπως ὡς ἀρίστη ἔσται, λέγων
ὅτι οὐκ ἐκ χρημάτων ἀρετὴ γίγνεται, ἀλλ᾽ ἐξ ἀρετῆς χρήματα κτλ.
Denn das ist die Mahnung, die auch hier die Gefallenen ihren
Kindern mitgeben: „yon μεμνημένους τῶν ἡμετέρων λόγων, ἐάν τι
καὶ ἄλλο ἀσκῆτε, ἀσκεῖν μετ᾽ ἀρετῆς, εἰδότας ὅτι τούτου λειπόμενα
πάντα καὶ κτήματα καὶ ἐπιτηδεύματα αἰσχρὰ καὶ κακά (240).
Wir haben den καλός ϑάνατος gewählt; so sorget auch ihr für
das xdAAog der Seele‘). Sucht uns womöglich zu übertreffen,
und vor allem betrachtet den Ruhm der Vorfahren nicht als
einen Schatz. den man tatenlos aufzehren kann. Für einen
1) Vgl. Trendelenburg.
2) Wie verkehrt es ist, hier παρακελεύομαι, das als Präsens neben νῦν
im Gegensatz zu ἀναμνήσω nötig ist, zu streichen oder an der eindringlichen
Wortfülle zu mäkeln, kann ein Vergleich mit Symp. 212b lehren. — Unmittelbar
vorher mahnt Plato die Kinder, wie es die Väter im Kriege getan haben, μὴ
λείπειν τὴν τάξιν τὴν τῶν προγόνων μηδ᾽ εἰς τοὐπίσω ἀναχωρεῖν εἴκοντας ndum.
Rep. 468a stößt Plato aus dem Kriegerstande τὸν λιπόντα τάξιν... διὰ κάκην.
3) Zu den gleich folgenden Worten ἄλλῳ γὰρ ὁ τοιοῦτος πλουτεῖ nal οὐχ
ἑαυτῷ vergleicht schon Berndt a. a. Ὁ. 5. 11 gut Gorg. 4526 ὁ δὲ χρηματιστὴς
οὗτος ἄλλῳ ἀναφανήσεται χρηματιζόμενος καὶ οὖχ δαυτῷ.
Ἢ κάλλος darf in 2406. auf keinen Fall mit Trendelenburg geändert
werden. Wenn es kurz darauf von der physischen Stärkung heißt: καὶ ἐπιφανέσ-
τερον ποιεῖ τὸν ἔχοντα καὶ ἐκφαίνει τὴν δειλίαν, so lesen wir im Laches 184 b
von der Fechtkunst: εἰ μὲν δειλός τις ὧν οἴοιτο αὐτὸ ἐπίστασϑαι, ϑρασύτερος
ἂν δι᾽ αὐτὸ γενόμενος ἐπιφανέστερος γένοιτο, οἷος ἦν. Gleich darauf heißt es
Menex. 247a πᾶσα ἐπιστήμη χωριζομένη δικαιοσύνης... πανουργία οὐ σοφία
φαίνεται. Dazu stimmt genau Hipp. min. 365e (vgl. S. 11).
294 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
Menschen, der einen Funken Ehrgefühl hat, gibt es nichts
Schimpflicheres als wenn man ihm Ehre bezeugt, nicht weil er
selber diese verdient, sondern weil seine Ahnen sie verdienten.
Der Ruhm der Vorfahren ist das schönste Erbe, aber wer dieses
Erbe nur besitzen will, ohne es neu zu erwerben und so seinen
Nachkommen zu überliefern, der ıst ein elender Wicht und kein
Mann“ (2475).
Sind das triviale Ermahnungen, wie sie jeder Rhetor bei jeder
Gelegenheit aussprechen konnte‘)? Wenn wir an den vorigen
Abschnitt denken, werden wir anders urteilen. Das ist es ja
gerade, was Plato den Politikern seiner Zeit vorwirft: „Ihr zehrt
von dem Ruhme der Vorfahren, redet fortwährend von Athens
ruhmvoller Vergangenheit, aber eure eigne Politik steht m voll-
ständigem Gegensatz zu deren Politik, und das kostbare Erbe,
das sie euch hinterlassen haben, das verschleudert ihr, statt es zu
erhalten und zu mehren.“ Dort haben wir die bitterste Kritik
an der gegenwärtigen Politik, hier die ernste Mahnung. Wer
Ohren hat zu hören, der höre.
Die παραμυϑία an die Eltern will auf den billigen Erfolg
verzichten, den die auf die Thränendrüsen der Hörer spekulieren-
den Leichenredner erzielen (247c, man denke etwa an Ps. Lys.
ep. 73), und dafür wirklich Trost spenden. Die Gedanken, die
nun folgen, sind uns zumeist aus den späteren prosaischen Trost-
schriften geläufig, die damit aber vielfach nur den alten Dichtern
(den Epikedeien, der Gnomenpoesie, Euripides) folgen. Es ist
der Hinweis, daß die Kinder das höchste Glück, das ihnen als
Sterblichen beschieden war, doch gefunden haben, daß es darum
für die Eltern gilt, sich dem Geschick zu fügen, daß sie sich
nicht zwecklosem Jammern ergeben, sondern durch werktätige
Sorge für die Kinder der Gefallenen ihren Schmerz vergessen und
das Andenken der Söhne ehren sollen. All diese populären Mah-
nungen sind aber nur das Rankenwerk; den festen Block, der
allein Halt gewährt, liefert ein einziger Gedanke (247e): Wirklich
1 Der Gedanke ist natürlich an sich dem Enkomion nicht, fremd (οὐκ
ἠξίωσεν αὐτὸς μὲν ῥᾳϑύμως ζῆν, σεμνύνεσθαι δ᾽ ἐπὶ ταῖς τῶν προγόνων ἀρεταῖς,
ἄλλ᾽... οὕτω μέγ᾽ ἐφρόνησεν, ὥστ᾽ φήϑη δεῖν δι αὑτὸν καὶ τἀκείνων ἔργα
μνημονεύεσθαι Isokrates im Enkomion auf Alkibiades x. τ. ζεύγους 29). Aber
es kommt hier eben auf die Art an, wie er für die Paramythie im Zusammen-
hang mit dem Hauptteil verwendet wird.
Die παραμυϑία 247c—249c. 295
zu überwinden vermag solchen Schicksalsschlag nur, wer auf
sich selbst gestellt ist, wer da weiß, daß seine εὐδαιμονία nicht
von äußeren Dingen, sondern von seinem Innern abhängt. Nur
der wird auch im Unglück das μηδὲν ἄγαν wahren; οὔτε γὰρ
χαίρων οὔτε λυπούμενος ἄγαν φανήσεται διὰ τὸ αὑτῷ πεποιϑέ-
ναι (2488). Daß wir mit solchen Gedanken in eine andre Sphäre
hineinkommen, fühlen wir ohne weiteres. Daß es Plato selber
ist, der hier spricht, zeigt Rep. 387d (ὃ ἐπιεικὴς ἀνὴρ) μάλιστα
αὐτὸς αὕὗτῳ αὐτάρκης πρὸς τὸ εὖ ζῆν καὶ διαφερόντως τῶν ἄλλων
ἥκιστα ἑτέρου προσδεῖται. --- 4ληϑῆ, ἔφη. --- Πκιστ᾽ ἄρ᾽ αὐτῷ δει-
vov στερηϑῆναι ὑέος κτλ. --- “Πκιστα μέντοι. --- Ἥκιστ᾽ ἄρα καὶ ὀδύ-
ρέσϑαι, φέρειν δὲ ὡς πρᾳότατα, ὅταν τις αὐτὸν τοιαύτη συμφορὰ
καταλάβῃ. Das sind die Erwägungen, aus denen heraus Plato
dort die ϑρῆνοι der Dichter verbannt; 603e zitiert er diese Stelle
ausdrücklich und fügt hinzu: νῦν δέ γε τόδ᾽ ἐπισκεινώμεϑα, πότερον
οὐδὲν ἀχϑέσεται, ἢ τοῦτο μὲν ἀδύνατον, μετριάσει δέ πως πρὸς
λύπην. Diese μετρία λύπη wird zugestanden wie im Menexenos
(2480): κούφως δὲ καὶ μετρίως (SC. φέροντες) μάλιστ᾽ ἂν χαρί-
Cowro. Und wie dort mahnt Plato Rep. 604b μὴ ἀγανακτεῖν,
ὡς οὔτε δήλου ὄντος τοῦ ἀγαϑοῦ TE καὶ κακοῦ τῶν τοιούτων, οὔτε
εἰς τὸ πρόσϑεν οὐδὲν προβαῖνον τῷ χαλεπῶς φέροντι, οὔτε τι τῶν
ἀνθρωπίνων ἄξιον ὃν μεγάλης σπουδῆς. Vor allem aber empfiehlt er
604.d (vgl.387 de) wie Menex. 247 c (248 Ὁ ο) statt nutzloser ϑρῆνοι und
öövguoi energische Tätigkeit, die uns über den Verlust hinweghilft.
Im Staate verwirft Plato die verweichlichenden ϑρῆνοι der
Dichter. Im Menexenos zeigt er, was er an ihre Stelle zu setzen hat.
Die Ansprache an die Hinterbliebenen schließt mit dem trost-
lichen Hinweise auf die Fürsorge, die der Staat den Kindern der
Gefallenen an Vaterstelle angedeihen lassen wird. Ähnlich schließt
Thuk. II, 46. Während aber dieser kurz sagt αὐτῶν τοὺς παῖδας
τὸ ἀπὸ τοῦδε δημοσίᾳ ἣ πόλις μέχρι ἥβης ϑρέψει, gibt Plato eine
ausführliche Schilderung namentlich von der schönen Sitte, wie
der Staat die Waisen nach erlangter Mannbarkeit mit einer Waffen-
rüstung ausstattet und wie er das Gedächtnis der Toten durch
Spiele feiert (xza9” ἕκαστον ἐνιαυτὸν. . ἀγῶνας γυμνικοὺς καὶ
ἱππικοὺς τιϑεῖσα καὶ μουσικῆς πάσης 2498). Wie sehr Plato die
zuletzt genannte Ehrung schätzte‘), sieht man daran, daß er in
1) Über diese Ps. Lys. ep. 80; Arist. Ath. pol. 58; Wilamowitz Aristoteles
und Athen I, S. 249.
296 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
den Gesetzen 947e für die höchsten Beamten seines idealen
Staates Gedächtnisfeiern mit denselben Worten verordnet (κατ᾽
ἐνιαυτὸν δὲ ἀγῶνα μουσικῆς αὐτοῖς καὶ γυμνικὸν ἱππικόν ve ϑή-
σουσι). Die Ausstattung der Waisen mit der Waffenrüstung ken-
nen wir durch Aischines geg. Ktesiphon 154. Aber zu dessen Zeit
fand sie nicht mehr statt. Aischines kennt sie nur als eine schöne
Sitte aus der guten alten Zeit, ὅτ᾽ εὐνομεῖτο μᾶλλον ἣ πόλις.
Wann diese abgeschafft worden ist, wissen wir nicht. Aber
grade wenn man die Geflissentlichkeit sieht, mit der Plato zwei-
mal die Tatsächlichkeit der gesetzlichen Fürsorge hervorhebt
(248 e τῆς δὲ πόλεως ἴστε που καὶ αὐτοὶ τὴν ἐπιμέλειαν, ὅτι νόμους
ϑεμένη .. ἐπιμελεῖται, vgl. 2484), regt sich der Verdacht, daß
dieser Brauch schon damals eingeschlafen war und Plato ihn
zu neuem Leben erwecken wollte.
Den Schluß des Epitaphios bildet wie gewöhnlich die Mahnung,
nunmehr den rituellen Klageruf ertönen zu lassen ').
Οὗτός σοι ὃ λόγος, ὦ Μενέξενε, ᾿Ασπασίας τῆς Μιλησίας ἐστίν
(249 6ὴ — wir denken an die 5. 261 berührte Angabe des Philostratos
ep. 73 aus Aischines’ Dialog: λέγεται δὲ καὶ ᾿Ασπασία ἣ Μιλησία τὴν
τοῦ Περικλέους γλῶσσαν κατὰ τὸν Γοργίαν ϑῆξαι oder an die Worte,
die er daraus noch zitiert Θαργηλία Μιλησία ἐλϑοῦσα εἰς Θετταλίαν
κτλ. Scherzhaft verspricht dann Sokrates noch Menexenos, falls er
die Schulgeheimnisse nicht ausplaudere (vgl. 236c), solle er noch
mehr λόγοι πολιτικοί der Aspasia zu hören bekommen. Der ist’s
zufrieden, denn er weiß, daß die Rede tieferen Inhalt gehabt hat,
als eine Aspasia ihn hätte geben können.
Auch wir würden wohl gerne noch mehr solche Aspasiareden
lesen. Denn das hat hoffentlich unsere Untersuchung gezeigt, daß
in dem Epitaphios mehr steckt, als man gewöhnlich angenommen
hat. Und wenn wir nicht alle Stellen befriedigend erklären konnten,
so ist soviel wohl gesichert, daß daran nicht die Unklarheit eines
rhetorischen Nachahmers schuld ist — die pflegen ihre Plattheiten
nur zu verständlich vorzutragen —, sondern daß aktuelle Bezie-
1) κοινῇ κατὰ τὸν νόμον τοὺς τετελευτηκότας ἀπολοφυράμενοι ἄπιτε. Nach
Trendelenburg soll das freilich wegen κατὰ τὸν νόμον die Persiflage der gewöhn-
lichen Schlußformel sein. Aber wenn er aus diesen Worten „den witzigen Gegen-
satz der gesetzlichen Verpflichtung zur moralischen“ herausquetscht, dann muß
auch Perikles einen Witz beabsichtigen, wenn er Thuk. II 46, sagt: εἴρηται καὶ
ἐμοὶ λόγῳ κατὰ τὸν νόμον ὅσα εἶχον πρόσφορα.
Panhellenische Stimmungen in Platos Jugend. 297
hungen und Anspielungen vorliegen, die wir nicht mehr voll ver-
stehen. Aber was wir verstehen, das ist genug, um sagen zu können:
Plato ist es, der die Schrift verfaßt hat, und sie ist eins der wert-
vollsten Dokumente zu seiner Beurteilung, da er hier allein ganz
unmittelbar seine Ansicht über die Gegenwart ausspricht.
Wollen wir verstehen, wie er dazu gekommen ist, so müssen
wir zunächst einmal weit zurückgreifen.
Plato entstammte den konservativen Kreisen Athens, deren
Stimmung in der Zeit des archidamischen Krieges wir so gut durch
Aristophanes kennen. Auch sie fühlten den Grimm gegen den
Feind im Herzen, wenn sie sahen, wie ihr schönes Attika von den
Lakonen verwüstet wurde, schlimmer als es die Barbaren je getan
(Men. 242c Rep. 470). Auch für Platos Vater mochte das Wort
gelten: xduoi γάρ ἐστιν ἀμπέλια κεκομμένα, und das Landlos in
Aegina wird ihn innerlich über die Verwüstung des angestammten
Besitzes so wenig hinweggehoben haben wie den Dichter. Aber
die Gegensätze der inneren Politik waren so stark, daß) das andere
Gefühl überwog: Nicht die Spartaner allein tragen Schuld; der
Krieg hätte sich schon vermeiden lassen, und wir würden auch jetzt
leicht zu einer Verständigung mit Sparta gelangen, wären nicht
die radikalen Demokraten am Ruder, die vom Kriege nichts zu
leiden haben und den Frieden hintertreiben. Verständigung mit
Sparta und Teilung der Herrschaft in Hellas — es war das alte
Kimonische Programm, das die Konservativen damit wieder-
aufnahmen. Verwirklicht ward es durch den Frieden von 421.
Plato rühmt die staatsmännische Mäßigung, die damals die führen-
den Männer an den Tag legten, noch im Menexenos (242d), aber
bezeichnender ist vielleicht noch etwas anderes: Als er in seinem
ersten Dialoge über das Wesen der Tapferkeit zu reden hatte, da
wußte er keine sachkundigeren Praktiker für den Disput zu finden
als Nikias und Laches, die Männer, die 421 den Frieden durchgesetzt
hatten, unbekümmert um das Geschrei der Radikalen, die jedes
Nachgeben für Feigheit erklärten.
Wie weit bei diesen Männern der zweite Punkt des Kimonischen
Programms, die Frontstellung gegen Persien, bewußt nachwirkte,
wissen wir nicht. Aber wenn einige Zeit darauf, als die Stimmung
gegen Sparta schon wieder gereizt war, Gorgias in seinem Epitaphios
die Athener auf Persien als den wahren Feind hinzuweisen suchte ἢ),
2) Als Gorgias den Epitaphios hielt, wagte er über die ὁμόνοια nicht zu
298 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
muß er doch damit gerechnet haben, daß er in vielen Athenerherzen
Widerhall finden werde.
Alkibiades’ Politik machte das Einvernehmen mit Sparta un-
möglich, und als dieses allein Athen nicht niederringen konnte,
da scheute es sich nicht, mit dem Erbfeinde der Hellenen den Bund
zu schließen und Barbaren gegen Hellenen heranzuführen (Menex.
245b). Überraschend war das nicht, denn lange schon waren die
Gesandten beider Staaten in Susa ständige Gäste. Aber als un-
natürlich, als unwürdig empfand man die Lage doch. Im Jahre 411
hat Aristophanes seine Lysistrata aufgeführt, ein Stück voll tollen
Humors, aber mit tiefernstem Hintergrunde’). Es gibt wohl keine
ergreifendere Stelle in Aristophanes’ Komödien als das Liedchen,
in dem der Chor erklärt, auf die gewöhnliche Scheltrede der Parabase
verzichten zu wollen, ἱκανὰ γὰρ τὰ κακὰ καὶ τὰ παρακείμενα (1047).
Gleich darauf redet Lysistrata — die Leidenschaften der Männer
sind ja zu erhitzt — den Vertretern beider Staaten ins Gewissen,
weist sie mit tiefem Ernst auf das Unsinnige hin, daß sie, durch
reden, da die Athener nach der Hegemonie strebten. Vorsokr.? 8.544, 25ff. Das
kann nicht nach 414 gewesen sein. Andrerseits ist die Rede ἐπὶ τοῖς ἔκ τῶν
πολέμων πεσοῦσιν gehalten, also nach dem Frieden von 421. Wie weit der Plural
πολέμων zu pressen ist, mag fraglich sein. — Die Sophisten waren gewiß schon
durch ihr panhellenisches Publikum darauf hingewiesen, panhellenische Ideen zu
verbreiten. Aber ihren Ursprung haben diese in Zeiten, wo die Sophistik noch
keine Macht ist, und auch später sind, besonders wo es sich um praktische Fragen
handelt, die Publizisten die Geführten, nicht die Führer.
!) Von der neuesten Anschauung, die den Komiker nur verstehen kann, wenn
sie ihn als einen Nachtwandler betrachtet, der die Zeit der heißesten Parteikämpfe
seines Vaterlandes ohne innere Anteilnahme durchlebt, der als Possenreißer bei-
leibe kein positives Lebensideal zeigen darf, brauche ich für Kenner des Dichters
wohl nicht viel zu sagen. Gegenüber der früheren Tendenzschnüffelei ist es gewiß
eine gesunde Reaktion, die sich bei Süß zeigt, und für die Kasperleszenen hat er
vollkommen recht. Aber wer den Satz schreibt: „Nur ein Tor kann glauben, daß
der Komiker nun auch wirklich eine direkte Wirkung im Sinne einer Bekehrung
auf den Hörer haben wolle oder könne“ (Aristophanes und die Nachwelt S. 209),
der muß doch nie mit Bewußtsein gelesen haben, was Aristophanes in der Parabase
der Frösche sagt: τὸν ἱερὸν χορὸν δίκαιόν ἐστι χρηστὰ τῇ πόλει ξυμπαραινεῖν nal
διδάσκειν, muß nicht beachten, daß nach der antiken Tradition gerade der Ernst
dieser Parabase es gewesen ist, dem das Stück eine zweite Aufführung zu danken
hatte. Der Dichter, der den Chor an heiliger Stätte erhält, ist in Athen Mahner
des Volkes, mag er nun Komiker oder Tragiker sein. Und Aristophanes hat vor
allem in den Parabasen, aber auch im Agon und teilweise in der ganzen Fabel
gezeigt, daß er sich als διδάσκαλος des Volkes fühlt. τὸ γὰρ δίκαιον οἷδε καὶ
τρυγφῳδία.
DA
EEE
[2
Panhellenische Stimmungen in Platos Entwicklungsjahren. 399
Blut, Religion und die großen Nationalfeste verbunden, sich bis zur
Vernichtung bekriegen ἐχϑρῶν παρόντων βαρβάρων στρατεύματι
(1133). Hat denn Sparta, das jetzt Attika verwüstet, ganz vergessen,
wie Kimon ihm in höchster Not Rettung brachte? Weiß Athen nichts
mehr von der Hülfe, die Sparta ihm gegen die Tyrannen einst ge-
leistet? (1137—1156).
Solche Worte waren wohl dazu bestimmt, nicht bloß in Athen
gehört und gelesen zu werden. Auch drüben in Sparta gab es noch
Männer wie Kallikratidas, der es nicht fertig bekam, vor dem Perser-
prinzen zu antichambrieren, dem sich gerade in Kleinasien die
Erkenntnis aufdrängte, wie bitter not Hellas der Friede der Groß-
mächte tue, der erklärte, so lange er zu befehlen habe, solle kein
Hellene zum Sklaven gemacht werden (Xen. Hell. I, 6, 7, 14).
Solche Stimmungen sind gewiß auch noch im Jahre 404 in
Sparta vorhanden gewesen, und Athen hat es ihnen mitzudanken,
daß es vor völliger Vernichtung bewahrt blieb. Im übrigen aber
bestimmte kein Kallikratidas, sondern Lysander die Politik, und
Persiens Ansprüche auf die Hellenen in Kleinasien waren anerkannt.
Aber als dann der Zug der Zehntausend den Hellenenstolz neu ge-
weckt, die Verachtung gegenüber den Barbaren gesteigert hatte,
als die Kleinasiaten um Hülfe gegen Tissaphernes riefen, da über-
nahm Sparta den Schutz der Hellenen; ja, Agesilaos konnte daran
denken, an ihrer Spitze den Großkönig selber anzugreifen. Wieder
ein Mann, der den konservativen Kreisen Athens entstammte, hat
uns den Eindruck bewahrt, den Agesilaos’ Plan in Hellas machte,
und wir mögen es Xenophon glauben, daß manchem Hellenen das
Herz höher schlug bei dem Gedanken, daß jetzt der Tag gekommen
sei, den Spieß umzukehren, Rache an dem Erbfeinde zu nehmen
und um Asien statt um Hellas zu kämpfen (Agesil. I, 8). Es ist
sehr bezeichnend, daß Xenophon in seinem Enkomion als besondere
ἀρετή des Agesilaos hervorhebt, er habe über seinem Sparta noch
ein größeres Vaterland anerkannt, sei nicht blos φιλόπολις, sondern
φιλέλλην — das Wort, das man früher für hellenenfreundliche
Ausländer anwendete, nimmt jetzt eine tiefere Bedeutung an ') —
1) Herodot II, 178 gebraucht es von Amasis (ähnlich Xen. Ages. 2, 31), aber
schon Isokr. Paneg. 96 von den Athenern, die 480, Hellas zu retten, ihre Stadt
preisgeben. Plato stellt an der mehrfach berührten Stelle Rep. 470e fest, seine
Kolonisten würden natürlich Hellenen sein, demnach ἥμεροι καὶ ἀγαϑοί. Dann
fragt er weiter ἀλλ᾽οὐ φιλέλληνες; οὐδὲ οἰκείαν τὴν ᾿Ελλάδα ἡγήσονται οὐδὲ
300 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
gewesen (c.7,1.4 ff). Wenn er zum Beweise Aussprüche des
Königs ausführt, in denen dieser die gefallenen hellenischen Feinde
beklagt oder über Fehler, die auf hellenischer Seite gemacht sind,
hinwegsehen will, so spürt man zu deutlich fremde Einflüsse, um
viel darauf zu geben‘). Aber daß Agesilaos an das hellenische
Nationalgefühl appellierte und es als eine Macht betrachtete, die er
für sich ausnutzen könnte, ist ja bekannt. Er opferte in Aulis, um
zu zeigen, daß er als neuer Agamemnon ganz Hellas zum Rache-
kriege gegen die Barbaren führen wolle (Plut. Ages. 6).
Der Partikularismus war stärker, und um das drückende Über-
gewicht Spartas zu beseitigen, fand sich Athen mit seinen griechischen
Todfeinden zusammen und ergriff nur zu gern die Hand, die der
Großkönig ihm jetzt entgegenstreckte. Aber ganz verrechnet hatte
sich Agamemnon mit seinem Appell an das hellenische Gefühl nicht.
Auch in Athen gab es Männer, die in der offiziellen Politik ihres
Landes einen Verrat an der hellenischen Sache, eine Preisgabe der
besten athenischen Überlieferungen sahen. Sie mochten für die
augenblicklichen Erfolge Athens nicht blind sein, aber die waren
zu teuer erkauft, und in Konon konnten sie nicht den Befreier Athens,
sondern nur den Retter Persiens erblicken (Menex. 244d ff.). Zu
κοινωνήσουσιν ὥνπερ οἱ ἄλλοι ἱερῶν (vgl. Arist. Lys. 1131). Wenn er daraus
für den Fall eines hellenischen Krieges folgert: εὐμενῶς δὴ σωφρονιοῦσιν, οὐκ
ἐπὶ δουλείᾳ κολάζοντες οὐδ᾽ ἐπ᾿ ὀλέϑρῳ, σωφρονισταὶ ὄντες. οὐ πολέμιοι, so stimmt
dazu der Ausspruch des Agesilaos bei Xen. Ages. 7, 6 ὅτε οὐκ ἀνδραποδίζεσθαι
δέοι ᾿Ελληνίδας πόλεις ἀλλὰ σωφρονίξειν so genau, daß man an die Unabhängigkeit
des Agesilaos-Xenophon kaum glauben wird, zumal in den Hellenika Xenophon
von diesem Ausspruch nichts weiß. Hinzu kommt, daß die ganze Tendenz beider
Stellen ganz ähnlich ist. Das Wort φιλέλλην, in das wir sie zusammenfassen
können, kehrt bei Xenophon wieder (εἴ γε μὴν αὖ καλὸν “Βλληνα ὄντα φιλέλληνα
elvaı 7,4) und das Stichwort φιλόπολις (8 1), das er ihm gegenüberstellt, steht
auch bei Plato 470d, der freilich als πόλις ganz Hellas ansieht (vgl.Isokr. Paneg. 81).
— Sehr bezeichnend ist es auch, wie Xenophon Mem. II, 1, 28 in den Pflichten-
kreis, den er hier ganz unabhängig von Prodikos skizziert, neben der Pflicht gegen
die einzelne πόλιες auch die gegen ganz Hellas einbezieht: εἴτε ὑπὸ τῆς “EAAdöog
πάσης ἀξιοῖς ἐπ’ ἀρετῇ ϑαυμάξεσϑαι, τὴν ᾿Ελλάδα πειρατέον εὖ ποιεῖν (die
Parallelstelle Oec. 11. 8 hat nur τιμῆς ἐν πόλει).
1) Der erste erinnert stark an Gorgias’ bekanntes Wort ὅτε τὰ κατὰ τῶν
“Ελλήνων τρόπαια ϑρήνους ἀπαιτεῖ. Hell. IV, 3, 1 bringt es Xenophon noch
nicht, hat auch noch nicht die bestimmte Zahl 10000, die er im Agesilaos einführt,
um dem Apophthegma eine besondere Pointe durch die Beziehung auf den Zug
der Zehntausend zu geben. Sonst vgl. die vorige Anmerkung.
Die Stimmung während des korinthischen Krieges. 301
ihnen gehörte Plato, er tritt als dritter Konservativer Aristophanes
und Xenophon zur Seite.
Die nächsten Jahre haben diese Stimmungen nur verstärkt,
und wenn 392 der greise Gorgias bei der panhellenischen ') Fest-
feier von Olympia, während drüben in Sardes vielleicht schon die
Abgesandten der Griechen unter persischer Aufsicht tagten, noch
einmal seine Stimme erhob und die Griechen mahnte, sich lieber
mit einander als mit dem Perser zu vertragen, hat er gewiß bei
den Besten vieler Stämme Beifall gefunden’). An der offiziellen
Politik änderte das aber natürlich nichts. Sparta war schon von
der Unmöglichkeit überzeugt, die nationale Aufgabe in Kleinasien
durchzuführen, und wenn jetzt plötzlich die Radikalen in Athen
ihr hellenisches Herz entdeckten und wieder die Schützer aller
Hellenen spielen wollten, so konnten solche Aspirationen bei jedem,
der die Verhältnisse überschaute, nur ein Lächeln über die
᾿Αϑηναῖοι μετάβουλοι hervorrufen. Die Politik von 395 war nicht
mehr rückgängig zu machen, und 386 gab auch Athen die Brüder
in Asien preis.
Die Not der letzten Kriegsjahre war in Athen so groß gewesen,
daß man den Frieden sehnlichst erwartete (Lys. 22, 14). Die Be-
dingungen waren leidlich. Athen wurde als autonom anerkannt,
behielt die Mauern und die Flotte und die drei Kolonisteninseln.
Es war gewiß alles, was man erreichen konnte, und es ist ver-
ständlich, daß man gern den Vergleich mit dem Ende des vorigen
Krieges zog, wo man auch der Koalition von Sparta und Persien
gegenübergestanden hatte, und daß man sich freute, diesmal besser
abgeschnitten zu haben und die drückenden Bedingungen von 404
losgeworden zu sein (Menex. 249 6) ὃ.
Aber nur zu deutlich empfand man es doch, wie wenig die
Autonomie bei dem tatsächlichen Übergewicht Spartas zu bedeuten
hatte‘). Und vor allem: es war der Perserkönig, der den Frieden
1) Diesen Charakter betonen Isokr. Paneg. 43.4, Arist. Lys. 1131 und Plato
Rep. 470e (S. 299 mit Anm.!).
2) Mir ist durch Didymos jetzt die Ansetzung des Olympikos auf 392 wahr-
scheinlicher als die auf 408 (Wilamowitz, Aristoteles und Athen I, 8. 172).
3) Menex. 245e ἐλθόντες οὖν eig ταὐτὰ ἐξ ὧν καὶ τὸ πρότερον κατεπολε-
μήϑημεν. Xen. Hell. V, 1,29 φοβούμενοι δὲ μὴ ὡς πρότερον καταπολεμηϑείησαν,
συμμάχου Λακεδαιμονίοις βασιλέως γεγενημένου. Die Übereinstimmung ist
interessant, erklärt sich aber aus der politischen Situation.
*) Kurz und treffend drückt die Stimmung Menex. 245a aus: μέχρι οὗ πάλιν
302 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
diktiert, die Autonomie in Hellas dekretiert hatte. Und wer noch
etwas Hellenengefühl in sich hatte, dem mußte die Scham das Blut
in die Wange treiben, wenn er sah, was aus den Errungenschaften
der Freiheitskriege geworden war, dem mußte sich das Herz zu-
sammenkrampfen, wenn er an all das Weh dachte, das die unselige
Zwietracht über Hellas gebracht.
Gesündigt hatten alle Stämme‘). Aber wenn nun in Athen
bei der Leichenfeier für die Gefallenen der Redner sich hinstellte,
die Segnungen dieses Friedens in den Himmel hob, im Brusttone
der Trivialität die Großtaten der Ahnen pries und die uneigen-
nützige, womöglich panhellenische Politik rühmte, die Athen von
jeher und auch in diesem Kriege wieder befolgt habe, dann mochte
es einem Hörer wie Plato wohl schwer werden, auf eine Satire zu
verzichten; dann mochte er wohl Lust bekommen, dem Redner die
Maske abzureißen und ihm zu sagen, daß gerade diese athenische
Politik die Erfolge der Ahnen schmachvoll zunichte gemacht habe.
Dann mochte ihm wohl der Gedanke durch den Kopf schießen, daß
man diesem Epitaphios einen anderen gegenüberstellen könne, der
Athens Politik in anderem Lichte zeige.
Aber schwerlich würde aus diesem Gedanken ein schrift-
stellerischer Plan geworden sein, wäre nicht ein Zufall hinzu-
gekommen. Wohl nicht lange vorher war Aischines’ Aspasia er-
schienen. Plato hatte sich darüber geärgert, wie dieses Weib hier
idealisiert und zur Lehrerin des Sokrates gemacht worden war,
und hatte wohl schon daran gedacht, diese Schrift gelegentlich —
natürlich spöttisch — abzufertigen. Jetzt bot sich Gelegenheit:
Bei Aischines lernte Sokrates von Aspasia gorgianische Figuren
und erzählte davon, auch Perikles habe in seiner Redekunst vieles
Aspasia zu danken gehabt. Konnte man dann zur Karikatur nicht
Sokrates eine regelrechte Rede, einen Epitaphios in den Mund legen ?
Freilich mußte das dann ein Epitaphios werden, den Sokrates
dreizehn Jahre nach seinem eigenen Tode hielt. Aber bei Aischines
hatte Perikles ja auch die Künste des Gorgias gelernt, der erst zwei
Jahre nach Perikles’ Tod in Athen erschienen war, und zu dem
αὐτοὶ αὑτοὺς κατεδουλώσαντο. Isokr. Paneg. 117 τοσοῦτον δ᾽ ἀπέχουσι τῆς ἐλευ-
ϑερίας καὶ τῆς αὐτονομέας ὥστε κτλ. malt den Zustand genauer aus. Vgl. 176 ἢ,
!) Wieder treffen Aristoph. Lys. 1129 (vgl. die Acharner), Plato, der den
Spartanern die Verwüstung Attikas, den Bund mit Persien, das Verhalten nach
404 gründlich vorhält, und Xen. Ages. 7,6 zusammen.
Platos Stimmung gegenüber dem Königsfrieden. 303
übermütigen παίγνιον, zu dem allein der Stoff sich eignete, paßte
es ganz gut, wenn man diesen Anachronismus noch übertrumpfte.
Das παίγνιον hatte aber noch einen Vorteil. Denn da konnte Plato
so nebenher gleich einmal den wichtigtuenden Rhetoren, die der
Philosophie mit herablassender Miene im Jugendunterricht einen
Platz anwiesen, zeigen, daß in Wahrheit ihre Künste ein Kinder-
spiel seien, konnte ihre Mätzchen anwenden, überbieten, karikieren ἢ).
Und den Triumph hat Plato ja gehabt, daß jedenfalls die späteren
Rhetoren sich mystifizieren ließen und Fleisch von ihrem Fleisch
zu spüren glaubten’).
So ist der Menexenos entstanden, als Gelegenheitsschrift, bei
der die verschiedensten Motive wirksam waren. Das spürt man
beim Lesen. Denn einheitlich ist der Eindruck nicht, und neben
dem übermütigsten Spott finden wir die ernste Mahnung, und im
schärfsten Sarkasmus hört man einen anderen Grundton heraus.
Denn wie Gorgias’ Epitaphios ein λόγος ἐσχηματισμένος gewesen
war, der versteckt zum Kampfe gegen den Erbfeind mahnen wollte
(Vors. S. 544, 28), so soll auch hier der Leser eine Lehre zwischen
den Zeilen finden, die bittere Mahnung, daß es mit der Zwietracht
in Hellas ein Ende nehmen müsse, solle nicht die ganze hellenische
Kultur zu Grunde gehen.
Zum letzten Male drängt sich dem Leser vielleicht hier die
Frage auf: Ist nicht doch dieser Mangel an Einheitlichkeit der
Stimmung eine Ungeschicklichkeit, die wir wohl einem Nachahmer
zutrauen dürfen, nicht aber einem Stilkünstler, wie es Plato war?
Eine Berechtigung wird man diesem Bedenken nicht absprechen
dürfen. Aber als ausschlaggebend können wir es an sich bei einem
παίγνιον nicht ansehen, und jedenfalls müssen wir bedenken, daß
gerade die literarische Gattung, an die wir beim Menexenos am
ehesten erinnert werden, die Einheitlichkeit der Stimmung kaum
angestrebt hat, jedenfalls nach ihrer ganzen historischen Entwicklung
nicht erreichen konnte. Ich meine die Komödie. In den Fröschen
1) Als eine Kriegserklärung an Isokrates brauchte. aber dieses παίγνιον
natürlich nicht aufgefaßt zu werden. In der Kritik der äußeren Politik ging Plato
ja sogar Hand in Hand mit ihm, und den isokrateischen Stil karikiert der Menexenos
mit Absicht nicht. Immerhin wird Isokrates den Epitaphios, der wohl nicht lange
nach dem Phaidros erschienen ist, mit ebenso geteilten Empfindungen gelesen
haben wie diesen selber.
2) Sicher gilt das schon von dem pseudodemosthenischen Epitaphios, der
besonders in $ 4.5 den Menexenos ausnützt.
2
304 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. _
belustigt der Dichter sein Publikum im ersten Teile durch die
ausgelassensten Späße, aber der Agon, für den er so die Stimmung
bereitet, behandelt ein Problem, das trotz des komischen Gewandes
recht ernst genommen sein will, und gar in der Parabase fühlt sich
Aristophanes als der Lehrer des Volkes, der an heiliger Stätte durch
seinen Chor Malmungen aussprechen läßt, wie sie eindringlicher bei
keiner Beratung über die Existenz des Vaterlandes in der Volks-
versammlung ertönen können.
Wie Plato Aristophanes geschätzt und was er von ihm gelernt
hat, das zeigt uns der Mythos im Symposion am besten. Von
Eupolis hat er schon als junger Mensch die Szene des Protagoras
übernommen, und noch mancher andre Zug bei ihm erinnert an
die Komödie‘). Daß er auch im Menexenos sich bewußt war, in
diesen Pfaden zu wandeln und in ihrem Geiste die ἰαμβικὴ ἰδέα, die
1) Berührungen mit Eupolis fanden wir S. 85. Sehr möglich ist, daß auch
in der 5.941 ff. besprochenen Karikatur der athenischen Demokratie Rep. 557 #. und
Men. 238c Plato an Komödienschilderungen gedacht hat. So hatte Eupolis im
Χρυσοῦν γένος das freie Athen geschildert, οὗ δεῖ πρῶτον. μὲν ὑπάρχειν πάντων
ἰσηγορίαν (fr. 291), Plato beginnt Rep. 557b: οὐκοῦν πρῶτον μὲν δὴ ἐλεύϑεροι,
καὶ ἐλευϑερίας ἡ πόλις μεστὴ καὶ ἰσηγορίας γίγνεται. Und wenn Plato weiter
das Lob der ἡδεῖα πολιτεία singt, an der die Kinder ihre Freude haben mögen,
in der auch der Niedrigste sich politisch betätigen kann und niemand fragt, ob
der Politiker etwas versteht, ἀλλὰ τιμᾷ, ἐὰν φῇ μόνον εὔνους εἶναι τῷ πλήϑει
(Rep. 558b, vgl. 557c und Men. 284), so hatte Eupolis weiter gesagt:
πῶς οὐκ ἄν τις ὁμιλῶν yalooı τοιᾷδε πόλει,
ἵν᾽ ἔξεστιν πάνυ λεπτῷ κακῷ τε τὴν ἰδέαν (στρατηγεῖν ο. ἃ.)
und bei Aristophanes erfährt in den Rittern der verjüngte Demos mit Scham, wie
er sich früher ohne weiteres ködern ließ (1340),
ὁπότ᾽ εἴποι τις Ev τὴκκλησίᾳ
,ὦ Anu’, ἐραστής εἶμι σὸς φιλῶ τέ σεῦ.
Natürlich kamen solche Stimmungen nicht bloß in der Komödie zu Worte. Aber
sicher aus demselben aristophanischen Stücke stammt in Platos Staat der Ver-
gleich des Demos mit dem halbtauben, halbblinden Schwachkopf, der im Besitze
des Staatsschiffes ist, vgl. bes. 488a ναύκληρον μεγέϑει μὲν καὶ ῥώμῃ ὑπὲρ τοὺς
ἔν τῇ νηὶ πάντας, ὑπόκωφον δέ mit Arist. Eg. 42 Δῆμιος πυκνίτης, δύσκολον
γερόντιον ὑπόκωφον. 'Erwähnt sei endlich auch noch, daß Eupolis ganz wie
Menex. 247b von dem Ruhme der Perserkriege als einem hinterlassenen Erbe
spricht: ὃς τὴν Μαραϑῶνι κατέλιφ᾽ ἡμῖν οὐσίαν ἵν. 216.
Aber wichtiger als die Einzelheiten ist natürlich die ganze Art, wie Plato
die Schwächen seiner Mitmenschen, gelegentlich der verstorbenen, lieber der
lebenden im Hohlspiegel der Karikatur vorführt. Und ich denke, da lassen uns
der Hippias, der Protagoras, der Menexenos und das Symposion gleich wenig im
Zweifel, wo er das gelernt hat.
Die Zeit des Menexenos. 305
Kritik an den öffentlichen Zuständen zu üben, dürfen wir ohne
weiteres annehmen. Da mag er sich wohl auch berechtigt geglaubt
haben, nach ihrem Vorbilde in diesem παίγνιον auf die volle künst-
lerische Geschlossenheit zu verzichten, wenn ihm dafür die Gelegen-
heit geboten war, alles, was er auf dem Herzen hatte, in dieser
Gelegenheitsschrift zusammenzudrängen und als Lehrer des Volkes
ausgelassenen Scherz mit herber Satire und tiefernsten Mahnungen
zu verbinden.
Eine solche Gelegenheitsschrift kann nur im unmittelbaren Zu-
sammenhang mit den Ereignissen entstanden sein. Der Menexenos
ist — abgesehen von den Briefen — die einzige Schrift Platos, die
wir absolut datieren können. Er ist 386 oder 385 geschrieben. Dazu
stimmt, was wir an Berührungen mit anderen platonischen Schriften
in ihm finden. Denn wenn wir von den Gesetzen absehen, in denen
Plato bewußt auf ihn zurückgreift, fanden wir Übereinstimmungen
außer mit ein paar Jugendschriften besonders mit dem Phaidros und
dem Lysis, die etwa in dieselben Jahre gehören. Die engsten Berüh-
rungen mit dem Menexenos zeigt naturgemäß die Politeia. Nament-
lich die Karikatur der perikleischen Demokratie und der schöne
Abschnitt über die allhellenische Gemeinschaft atmen so ganz die
gleiche Stimmung, daß man sie gern zur selben Zeit konzipiert
glauben möchte. Unmöglich ist das nicht. Aber denkbar ist natürlich
auch, daß Plato nach zehn bis fünfzehn Jahren in derselben Stim-
mung auf den Menexenos zurückgegriffen hat.
Die politische Stimmung, aus der heraus der Menexenos ge-
schrieben ist, war in Hellas weit verbreitet, und der Nachweis,
ὡς χρὴ διαλυσαμένους τὰς πρὸς ἡμᾶς αὐτοὺς ἔχϑρας ἐπὶ τὸν βάρ-
βαρον τραπέσϑαι ward ein Lieblingsthema der Publizisten (Isokr.
Paneg. 15). Die beste Witterung für die öffentliche Meinung
hatte wie immer Isokrates, und da er Fühlung mit den leitenden
Politikern Athens hatte, ward er in den Stand gesetzt, ein Werk
zu schreiben, das seinerseits nun die Volksmeinung nach be-
stimmter Richtung beeinflussen sollte und beeinflußt hat‘). Es
ist der Panegyrikos, in dem er für die nationale Einigung zum
Kriege gegen den Erbfeind eintrat, aber als unumgängliche Vor-
aussetzung die spartanische Anerkennung der athenischen An-
sprüche auf die Hegemonie zur See erwies.
ἢ Wilamowitz, Aristoteles und Athen II, S. 380#.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 20
>
306 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos.
Das zweite Ziel war natürlich recht verschieden von dem, was
Plato positiv wollte. Und während dieser, getreu der konser-
vativen Abneigung gegen die Seeherrschaft, das attische Reich
keines Wortes würdigt, ist für Isokrates die Rechtfertigung Athens
wegen seiner ἀρχή die Hauptsache. Er will zeigen, daß ein ein-
facher Volksbeschluß genüge, etwaige Übergriffe Athens dauernd
zu verhindern und Sicherheit für einen neuen Seebund zu schaffen.
Im Gegensatz zu Plato steht er natürlich auch, wenn er Athens
antinationale Politik von 395 maskiert und die persische Über-
macht vom Falle Athens an datiert (119)'), wenn er die ganze
Schuld an der Preisgabe der kleinasiatischen Griechen den Spar-
tanern gibt (181 u. ö.).. Damit hängt zusammen die scharfe
Kritik, die auch sonst an Spartas Vorherrschaft geübt wird, eine
Kritik, die freilich mit ihrer Schärfe auch deutlich zeigt, wie seit
386 die Stimmung von Hellas durch Spartas Brutalitäten erbittert
worden war. Wenn Isokrates daneben die Verdienste der Spar-
taner aus den Perserkriegen geflissentlich viel mehr hervorhebt,
als es sonst in den athenischen Epitaphioi und speziell im Me-
nexenos geschieht’), so ist das nur bezeichnend für die Raffiniert-
heit, mit der er den Schein der Unparteilichkeit zu wahren sucht.
Ganz einig ist Isokrates mit Plato dagegen in der Beur-
teilung des Königsfriedens und der dadurch geschaffenen Lage.
Der Friede ist eine Schmach für ganz Hellas, er erkennt zum
ersten Male die Herrschaft Persiens über die kleinasiatischen
Griechen an, ja er macht den Großkönig zum Herrn in Griechen-
land, und alles, was von Freiheit und Autonomie im Friedens-
instrument zu lesen ist, ist eitel Spiegelfechterei: Sparta knechtet
die Griechen jetzt im Bunde mit dem Großkönige’).
Wie anders war’s, als Athen die Hegemonie zur See hatte!
Athen brachte es dahin, daß der Großkönig nicht nur jede Ab-
sicht auf Hellas aufgab, sondern Verwüstungen des eigenen
Landes sich gefallen ließ (118, vgl. Menex. 241e). Athen zwang
ihn zum Kalliasfrieden, nach dem kein persisches Kriegsschiff
1) Nicht der Ausbruch des peloponnesischen Krieges, wie der spartanische
Herold bei Thuk. II, 12 meint, sondern Athens Fall τοῖς "EAAnoıw ἀρχὴ τῶν
κακῶν ἐγίγνετο.
2) Man vergleiche die Art, wie Isokrates 87 die Eile der Spartaner schil-
dert, mit dem kurzen οὗτοι δὲ τῇ ὑστεραίᾳ. τῆς μάχης ἀφίκοντο Menex. 240c.
8) Vgl. 5: 301*.
Platos Menexenos und Isokrates’ Panegyrikos. 307
sich diesseits von Phaselis blicken lassen durfte; Athen setzte da-
mals die Grenzen für die persische Macht fest. Jetzt bestimmt der
Großkönig über den Krieg und Frieden in Hellas, beherrscht das
Meer, und Sparta wie Athen erhoffen von dem Unterstützung und
Rettung, der sie beide am liebsten vernichten würde (117—121)').
Auf den Gegensatz des Kalliasfriedens und des Königsfriedens
war auch die Darstellung des Menexenos zugespitzt (S. 290. 2).
Aber ein ausdrücklicher Vergleich findet sich dort nicht. Der
Leser sollte selber aus den nackten Tatsachen seine Folgerungen
ziehen. Nun lag der Vergleich gewiß nach 386 nahe. Aber der
Verdacht wird doch rege, daß Isokrates an den Menexenos an-
knüpft. Und ist es wohl Zufall, daß Isokrates 117 sich nicht
bloß über Athens Erfolge mit derselben Antithese äußert wie
Plato 241e, sondern daß auch die Worte, mit denen er den
ganzen Abschnitt abschließt: ἐν ἐκείνῳ τὰς ἐλπίδας ἔχομεν τῆς
σωτηρίας, ὃς ἀμφοτέρους ἡμᾶς ἡδέως ἂν ἀπολέσειεν (121) an Me-
nex. 244d anklingen: ὥστε περιστῆναι αὐτῷ (τῷ βασιλεῖ μηδαμό-
ϑὲεν ἄλλοϑεν τὴν σωτηρίαν γενέσθαι ἄλλ᾽ ἢ ἐκ ταύτης τῆς πόλεως
ἣν προϑύμως ἀπώλλυ
Plato fährt an dieser Stelle fort: Καὶ δὴ καὶ εἴ τις βούλοιτο
τῆς πόλεως κατηγορῆσαι δικαίως, τοῦτ᾽ ἂν μόνον λέγων ὀρϑῶς ἂν
κατηγοροῖ, ὡς ἀεὶ λίαν φιλοικτίρμων ἐστὶ καὶ τοῦ ἥττονος ϑερα-
πίς. Isokrates sagt 53: διὸ δὴ καὶ κατηγοροῦσί τινες ἡμῶν ὡς
1) Mit diesem Urteil vergleiche man den Euagoras. Da findet der Rhetor
für den Zug der Spartaner unter Agesilaos nur die Worte: eis τοῦτ᾽ ἀπληστίας
ἤλϑον, ὥστε καὶ τὴν ᾿Ασίαν κακῶς ποιεῖν ἐπεχείρησαν! Und als Ruhmestat
des Euagoras und Konon wird es gepriesen, daß sie den persischen Satrapen den
richtigen Weg zur Gegenwehr zeigten. Sie haben das Verdienst, daß Λακεδαι-
μόνιοι μὲν κατεναυμαχήϑησαν καὶ τῆς ἀρχῆς ἀπεστερήϑησαν, οἱ δ᾽ “Ελληνες
ἠλευϑερώϑησαν (56, vgl. Phil. 63). Ihnen haben die Perser den Sieg von Knidos
zu danken, durch den βασιλεὺς μὲν ἁπάσης τῆς ᾿Ασίας κύριος κατέστη, Λακε-
δαιμόνιοι δ᾽ ἀντὶ τοῦ τὴν ἤπειρον πορϑεῖν περὶ τῆς αὑτῶν κινδυνεύειν ἠναγκά-
σϑησαν, οἱ δ᾽ "EAAnves ἀντὶ δουλείας αὐτονομίας ἔτυχον (68). So schreibt der
Mann, der ein paar Jahre vorher den Vorkämpfer der panhellenischen Idee ge-
spielt hatte, in Worten, die direkt an den Panegyrikos anknüpfen (vgl. dort 117
τοσοῦτον δ᾽ Ameyovoı τῆς ἐλευϑερίας καὶ αὐτονομίας ὥστε nri., 118 die Athe-
ner brachten in den Perserkriegen die Barbaren dahin, ὥστε un μόνον παύσα-
σϑαι στρατείας ἐφ᾽ ἡμᾶς ποιουμένους ἀλλὰ καὶ τὴν αὑτῶν χώραν ἀνέχεσϑαι
πορϑουμένην, 119 bei Knidos ἐνέκησαν μὲν οἱ βάρβαροι ναυμαχοῦντες, ἦρξαν δὲ
τῆς ϑαλάττης). Isokrates ist eben Rhetor, und jeder Rhetor kann schreiben rechts
und kann schreiben links.
20*
308 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexonos.
οὐκ ὀρϑῶς βουλευομένων, ὅτι τοὺς ἀσϑενεστέρους εἰϑίσμεϑα ϑερα-
πεύειν. Daß er damit auf Plato antwortet‘), wäre an sich nicht
gesagt, denn dieser Vorwurf war tatsächlich öfters erhoben (An-
dok. de pace 28). Aber hinzu kommt, daß bei Plato in dem
angeführten Satze die ganze Satire auf die angeblich so uneigen-
nützige Politik der Athener gipfelt, die stets den Unterdrückten
beistehen und für die Freiheit der anderen kämpfen. Isokrates
nimmt ausdrücklich diesen Punkt wieder für Athen in Anspruch. -
Er stellt an den Anfang seines Abschnittes über Athens Kriegs-
taten (52, unmittelbar vor den eben angeführten Worten) den
Satz, daß sie teils für sich, teils ὑπὲρ τῆς τῶν ἄλλων ἐλευϑερίας
kämpften, ἅπαντα γὰρ τὸν χρόνον διετέλεσαν κοινὴν τὴν πόλιν
παρέχοντες καὶ τοῖς ἀδικουμένοις ἀεὶ τῶν “Ελλήνων ἐπαμύνουσαν.
Aber er hütet sich wohl, diesen Satz für die von Plato behandelte
Zeit nach den Perserkriegen zu erweisen. Um so lieber führt
er diese selber und noch mehr die mythischen Kämpfe als Belege
an. Ein ähnliches Verfahren haben wir schon in dem Abschnitt.
über die Erfindung des Getreidebaus (28—33) beobachtet (vgl.
S. 273°). Beide Male nimmt Isokrates offenbar auf eine im ent-
gegengesetzten Sinne gehaltene Behandlung Rücksicht und recht-
fertigt, daß er sich der alten Technik der Epitaphioi anschließt.
Daß er an den Menexenos denkt, ist an sich naheliegend und
wird noch durch weitere Übereinstimmungen wahrscheinlich’).
1). So schon Wendland, Hermes 25, 5. 178.
2) Außer denen, die im Text schon berührt sind (Isokr. 24. 283—33. 52. 53.
87. 91. 92. 117— 121) nenne ich Folgendes. In $ 13 will sich Isokrates nicht
darauf berufen, ὡς ἐξ ὑπογύου γέγονεν ἣ παρασκευή, vgl. Men. 235c. — 82 „Über
die Perserkriege hat noch kein Dichter oder Prosaiker bisher ἀξέως τῶν πεπρα-
γμένων geredet“, vgl. die S. 275. 6 behandelte Stelle des Menexenos. — 150 τοὺς
οὕτω τρεφομένους καὶ πολιτευομένους, vgl. Men. 2880 πολιτεία γὰρ τροφὴ dv-
ϑροώπων ἐστί. --- 151 (von den Oligarchieen) ὁμαλῶς μὲν οὐδὲ κοινῶς οὐδὲ πο-
λιτικῶς οὐδεπώποτ᾽ ἐβέωσαν, ἅπαντα δὲ τὸν χρόνον διάγουσνν εἷς μὲν τοὺς ὑβρέ-
ζοντες τοῖς δὲ δουλεύοντες, Men. 2886 ὥστε αὐτῶν ἀνώμαλοι καὶ αἱ πολιτεῖαι...
οἰκοῦσιν οὖν ἔνιοι μὲν δούλους οἱ δὲ δεσπότας ἀλλήλους νομίξοντες. --- 157
„Den Hellenen gegenüber vergessen die Athener den Haß, sobald der Friede ge-
schlossen ist, den Barbaren gegenüber nie, οὕτως ἀείμνηστον τὴν ὀργὴν πρὸς
αὐτοὺς ἔχουσιν, vgl. 158 οὕτω δὲ φύσει πολεμικῶς πρὸς αὐτοὺς ἔχομεν (184
φύσει πολεμίους) und Men. 2498 (vgl. S. 290), 240 ἃ τὸ τῆς πόλεως γενναῖον.
καὶ φύσει μισοβάρβαρον (vgl. auch Xen. Ag. 7,7). Auch nach Wendland nimmt
Isokrates auf den Menexenos Bezug.
Platos Menexenos und Isokrates’ Panegyrikos. 309
Aber natürlich ıst Isokrates ein viel zu geschickter Schrift-
steller, als daß man Abhängigkeit bei ihm mit Sicherheit nach-
weisen könnte. Noch weniger dürfen wir erwarten, daß er sich
mit dem platonischen παίγνιον, dessen Tendenz er natürlich
durchschaute, ausdrücklich auseinandersetzte.
Wir haben uns lange mit dem Menexenos beschäftigen
müssen; aber ich denke, es ist auch manches herausgekommen,
was für das Verständnis Platos wichtig ist. Das Wertvollste ist
aber doch wohl, daß wir sehen, wie auch in dieser Zeit, wo er
die Politik Athens so unbedingt ablehnt, sein Herz an den Groß-
taten seines Volkes hängt, wie warm es für sein größeres Vater-
land schlägt.
Die neue Weltanschauung.
XI. Phaidon.
Als Plato den Menon schrieb, war er sich bewußt, daß er
über die Sokratik hinausgewachsen, daß eine neue Epoche für
ihn angebrochen war. Das Moment, dem er selber die ent-
scheidende Bedeutung beimaß, war die Überzeugung, daß wirk-
lich ein Wissen und Lehren möglich sei. Und diese Überzeugung
verknüpfte sich für ihn mit der Lehre von der Anamnesis. Wie
er zu dieser Entdeckung gekommen ist, sagt er uns selber. Der
Glaube an die Unsterblichkeit, an die Präexistenz der Seele ist
es, die ihm den Ausgangspunkt geboten hat. Präexistenz der
Seele und Anamnesis bedingen sich gegenseitig, das erklärt er
deutlich in dem grundlegenden Abschnitt 81a—86b, und wie die
Anamnesis ein Argument für die Präexistenz liefert, so ist diese
wieder für jene Lehre die Voraussetzung. Ausdrücklich weist
Plato dabei 81a die Leser auf die orphische Theologie hin. Daß
diese die individuelle Unsterblichkeit als Glaubenssatz hatte,
darüber war zu seiner Zeit niemand im Zweifel. So konnte auch
darüber kein Leser Platos einen Zweifel hegen, daß dieser, wenn
er ausdrücklich 816. sagte: ᾧ ἐγὼ πιστεύω ἀληϑεῖ εἶναι, diesen
Glauben an die individuelle Unsterblichkeit bekennen wollte.
Wer also diesen Glauben hinwegzudeuten oder als unwesentlich
für Platos Grundanschauung hinzustellen versucht, stellt sich zu
Platos eigener Auffassung in Widerspruch. Ausdrücklich spricht
es Plato auch aus, daß die Lehre, auf die er seine ihm ganz neu
aufgegangene Anschauung gründet, unsokratisch ist. Es wider-
spricht also auch Platos Auffassung, wenn man eine gradlinige
Entwicklung vom Standpunkt der sokratischen Dialoge zu dem
des Menon und Phaidon annimmt’).
1) Wie es Natorp 8. 35 tut. Daß grade der enge Zusammenhang mit der Un-
sterblichkeitslehre gegen Natorps ganze Auffassung von Platos Ideenlehre spricht,
betont mit Recht Heinrich Gomperz, Archiv f. Gesch. der Phil. XVII.
Phaidon. aid
Plato behandelt die Präexistenz nur als eine Hypothesis. Das
gleiche gilt natürlich auch von der auf ihr aufgebauten Anamne-
sislehre. Warum er sie trotzdem aufgenommen hat und als seine
wissenschaftliche” Überzeugung ausspricht, erfahren wir wieder
von ihm selber. Nur diese Annahme einer im Menschen von
Geburt an ruhenden, nicht aus der sinnlichen Erfahrung ge-
schöpften richtigen Anschauung zeigt ihm die Möglichkeit zum
Lernen und Lehren, gibt ihm Mut und Kraft zum eigenen For-
schen wie zur Einwirkung auf andere. Die Anamnesislehre hat
also für ihn zunächst die Bedeutung einer Arbeitshypothese.
Neben der Anamnesislehre tritt stark im Menon die Mathematik
hervor. Sie ist es, an der er die eine Zeitlang ihm zweifelhaft gewor-
dene Möglichkeit wissenschaftlichen Forschens und Beweisens de-
monstriert. Aber die Verdoppelung des (Juadrates soll nur ein Ein-
zelbeispiel sein. Auf demselben Wege muß sich auch alles andere
erkennen und beweisen lassen (81c). Bei Menons Sklaven sehen
wir, daß er a priori die richtige Vorstellung der mathematischen
Figuren in sich trägt, natürlich nicht der Einzelfigur, sondern
dessen, was ım ersten Teile als das ἕν εἶδος τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν
bewiesen ist (72ce 75a), und wie es nur der Erinnerung durch
die sokratische Methode bedarf, um die richtigen Vorstellungen
zu begrifflicher Klarheit zu erheben. So gut aber der Mensch
die mathematischen Begriffe in der Präexistenz geschaut hat, muß
er natürlich auch z. B. auf ethischem Gebiete τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν
kennen gelernt haben, ὥστε οὐδὲν ϑαυμαστὸν καὶ περὶ ἀρετῆς
καὶ περὶ ἄλλων οἷόν τ᾽ εἶναι αὐτὴν ἀναμνησθῆναι, ἅ γε καὶ πρό-
τερον ἠπίστατο (Slc). Wenn Plato hier fortfährt: ἅτε γὰρ τῆς
φύσεως ἅπασης συγγενοῦς οὔσης καὶ μεμαϑηκυίας τῆς ψυχῆς
ἅπαντα, οὐδὲν κωλύει ἕν μόνον ἀναμνησϑέντα τἄλλα πάντα αὐτὸν
ἀνευρεῖν, so ist der Hinweis auf die Verwandtschaft der Natur
aus sich kaum verständlich. Aber wir werden nicht fehlgehen,
wenn wir einen Satz des Phaidon als Erläuterung heranziehen
(794): ὅταν δέ γε αὐτὴ nad αὑτὴν σκοπῇ (80.. ἣ ψυχή), ἐκεῖσε
οἴχεται εἰς τὸ καϑαρόν τε καὶ ἀεὶ ὃν καὶ ἀϑάνατου καὶ ὡσαύτως
ἔχον, καὶ ὧς συγγενὴς 0000 αὐτοῦ μετ᾽ ἐκείνου γίγνεται). Also
deutet Plato auch im Menon schon darauf hin, daß die präexistente
Seele kraft ihrer Verwandtschaft mit den ewigen εἴδη diese zu er-
1!) Von Ritter Platon S. 572 nicht beachtet.
312 Phaidon.
fassen fähig war. Den Eindruck, daß der Menon nur vorläufige
Andeutungen geben, nicht die ganze Tragweite der neuen Ent-
deckung erschließen will, hat man aber auch sonst. Die Ausführlich-
keit, mit der im Dialog der mathematische Beweis geführt wird,
kann doch nur als Mittel zum Zweck betrachtet werden, hat
methodische Bedeutung. Das eigentliche Interesse gilt auch hier
schon den ethischen Untersuchungen, und wenn Plato am Schluß
das Problem, τί ἐστιν ἣ ἀρετή; aufwirft, so werden wir ruhig vor-
aussetzen dürfen, daß ihm eine feste Lösung vorschwebt. So
gut er im mathematischen Abschnitt αὐτὸ τὸ τετράγωνον voraus-
setzt, so gut muß ihm auch feststehen, daß αὐτὴ ἣ ἀρετή existiert,
wenn er auch in dem Abschnitt, wo er zeigt, daß es überall gilt
τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν, τὸ εἶδος τῆς ἀρετῆς festzustellen, den Aus-
druck nicht gebraucht. Die „Ideenlehre“ ist im Kern schon für
den Menon Voraussetzung, und wenn Plato sich hier mit einer
vorläufigen Orientierung, mit methodischen Darlegungen begnügt
und dabei dann ein paar aktuelle Fragen miterledigt, so tut er
das, weil ihm eine ausführliche Behandlung des Hauptproblems in
anderem Zusammenhange schon vorschwebt.
Die bringt der Phaidon.
Auf die engen Beziehungen dieses Dialoges zum Menon weist
Plato selber hin, wenn Kebes p. 72e sagt: χαὶ κατ᾽ ἐκεῖνόν γε τὸν
λόγον, ὃν σὺ εἴωθας ϑαμὰ λέγειν, ὅτι ἡμῖν ἣ μάϑησις οὐκ ἄλλο τι ἢ
ἀνάμνησις τυγχάνει οὖσα, καὶ κατὰ τοῦτον ἀνάγκη που ἡμᾶς ἐν
προτέρῳ τινὶ χρόνῳ μεμαϑηκέναι ἃ νῦν ἀναμιμνῃσκόμεϑα Ὃ und
eine direkte Rekapitulation von Menon 81—86 anschließt).
Wirklich sind es im Grunde dieselben Probleme, die Plato hier
wie dort beschäftigen, nur daß im Phaidon die Untersuchung
viel weiter in die Breite und in die Tiefe geführt wird.
Man hat beim Phaidon gefragt, ob die Unsterblichkeitsfrage
oder die Ideenlehre das Thema sei. Tatsächlich bedingen sich
wie beim Menon beide Themata gegenseitig. Daß die Unsterb-
lichkeitsfrage Selbstzweck ist, das sieht man schon an der Wider-
legung der Anschauung, daß die Seele nur eine Harmonie des
Leibes sei (91c—94). Denn hier kommt die Ideenlehre direkt
1 Vgl. Menon 8146 86a.
?2) Vgl. bes. in 73a den Hinweis auf die sokratische Fragemethode (Menon
85cd) und auf die mathematischen Figuren.
Der Menon und der Phaidon. 313
gar nicht in Frage‘). Ausdrücklich gibt ja auch Plato die wissen-
schaftliche Begründung der individuellen Unsterblichkeitshoff-
nung mehrfach als sein Thema an (63e 69de u. ö), und wenn
er dabei an den Anfang des eigentlichen Beweisganges den Satz
stellt (700): σκεψώμεθα .., εἴτ᾽ ἄρα ἐν ” Audov εἰσὶν ai ψυχαὶ τελευ-
τησάντων τῶν ἀνθρώπων εἴτε καὶ οὔ. παλαιὸς μὲν οὖν ἔστι τις
λόγος οὗ μεμνήμεθα, ὡς εἰσὶν ἐνθένδε ἀφικόμεναι ἐκεῖ, καὶ πάλιν
γε δεῦρο ἀφικνοῦνται καὶ γίγνονται ἐκ τῶν τεϑνεώτων᾽ καὶ εἰ τοῦϑ᾽
οὕτως ἔχει, πάλιν γίγνεσθαι ἐκ τῶν ἀποθανόντων τοὺς ζῶντας,
ἄλλο τι ἢ εἶεν ἂν ai ψυχαὶ ἡμῶν ἐκεῖ; so haben wir auch hier
einen Rückweis auf den Menon. Denn dieser παλαιὸς λὸγος ist
nichts anderes als die Lehre der Orphiker, von denen es Men. 81b
hieß: φασὶ γὰρ τὴν ψυχὴν τοῦ ἀνθρώπου εἶναι ἀϑάνατον καὶ τοτὲ
μὲν τελευτᾶν — ὃ δὴ ἀποϑνήσκειν καλοῦσι --- τοτὲ δὲ πάλιν γί-
yveodaı. Von den Orphikern sagte Plato hier, daß sie darnach
streben περὶ ὧν μεταχειρίζονται λόγον οἵοις τ᾽ εἶναι διδόναι. Wenn
Plato im Phaidon von derselben Lehre ausgeht und mehrfach her-
vorhebt, er wolle für diese λόγον διδόναι (63e 76b 964 101d),
so heißt doch das, daß er jene theologische Lehre aufnimmt und
jetzt genauer wissenschaftlich begründen will — ἀνὴρ ἐπιστάμενος
περὶ ὧν ἐπίσταται ἔχοι ἂν δοῦναι λόγον (76b, vgl. S. 180).
Schon im Menon erklärte Plato, daß die Anamnesis selber ein
Beweis für die Präexistenz der Seele ist (86b), Im Phaidon rekapi-
tuliert er diesen Beweis 72e 73a und vertieft ihn durch den ge-
nauen Nachweis, daß die Allgemeinbegriffe nicht aus der sinn-
lichen Erfahrung geschöpft sein können. Zu diesem Zwecke
präzisiert Sokrates mit gutem Grunde schon 65dff. scharf den
Unterschied zwischen rationaler und sensualer Erkenntnis und be-
zeichnet als das Objekt der rationalen Erkenntnis das Gute, Schöne,
Gerechte an sich. Jetzt stellt er 75d nochmals fest, daß es sich
ὅ Der Hauptgrund, den Plato zuletzt gegen die Harmonielehre anführt,
die Herrschaft der Seele über den Leib, ist geschickt schon vorher dem Leser
suggeriert (80a). — Die Auffassung der Seele als Harmonie vertritt später ähn-
lich Aristoxenos. Innerhalb der pythagoreischen Schule gab es also zwei Strö-
mungen, von denen die eine die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung
lehrte, eine andere — gewiß die jüngere — sie verwarf. Vgl. m. Komm. zu
Cicero Tusc. I, 19. — Lehrreich ist, wie Aristoteles im Eudemos die Unsterblich-
keitsfrage im Anschluß an den Phaidon behandelt und z. B. die Beweise gegen
die Harmonielehre modernisiert, als Gegner der Ideenlehre aber diese ausschaltet.
314 Phaidon.
nicht bloß um die mathematischen Begriffe, sondern um alles
handelt, was wir αὐτὸ ὃ ἔστι nennen, und folgert: Wenn es eine
solche Wesenheit des Ansichseienden gibt und wir den Inhalt der
sinnlichen Wahrnehmungen auf diese beziehen müssen, um ihn
zu verstehen, wenn also die Begriffe des Gerechten und Guten
an sich einen apriorischen Besitz der Seele bilden, so ist damit
die Präexistenz der Seele erwiesen (76d). Und Simmias bestätigt:
eis καλόν γε καταφεύγει ὃ λόγος eis τὸ ὁμοίως εἶναι τήν TE ψυχὴν
ἡμῶν πρὶν γενέσϑαι ἡμᾶς καὶ τὴν οὐσίαν ἣν σὺ νῦν λέγεις (77a).
Aber der Beweis des Menon bedarf nicht bloß der Ver-
tiefung, sondern der Ergänzung. Dort ‘hatte Plato aus der
Anamnesis ohne weiteres die Unsterblichkeit der Seele gefolgert
(86b). Jetzt stellt er fest, daß sie nur die Präexistenz beweist,
während für die Postexistenz noch besondere Beweise nötig sind
(77b). Diese Ergänzung bringt zunächst der nach Platos eige-
nem Zeugnis (70, vgl. S. 313) von der Seelenwanderungslehre
angeregte Gedanke, daß Leben und Tod (d. h. irdische und
körperfreie Existenz der Seele) Zustände sind, die wechselweise
auseinander hervorgehen (70c—72d, 77c). Dazu kommt aber der
Beweis aus dem immateriellen Wesen der Seele (78bff.) Hier
deutet.aber Plato selber an, daß er jetzt auf einen Punkt kommt,
der nicht nur für die Unsterblichkeit der Seele von Wichtigkeit
ist: αὐτὴ N οὐσία, ἧς λόγον δίδομεν Tod εἶναι καὶ ἐρωτῶντες
καὶ ἀποκρινόμενοι, πότερον ὡσαύτως ἀεὶ ἔχει κατὰ ταὐτὰ ἢ ἄλλοτ᾽
ἄλλως; αὐτὸ τὸ ἴσον, αὐτὸ τὸ καλόν, αὐτὸ ἕκαστον ὃ ἔστιν, τὸ ὄν, μή-
ποτε μεταβολὴν καὶ ἡντινοῦν ἐνδέχεται; (186). Damit weist er
doch darauf hin, daß die genauere Bestimmung dieser οὐσία und
die wissenschaftliche Begründung der Annahme ihrer Realität hier
zum Selbstzweck wird. ‘Schon vorher hatte er bei der Anamnesis-
lehre die Existenz dieser Wesenheiten als der Objekte rationaler
Erkenntnis in Rechnung gestellt. Jetzt präzisiert er noch ein-
mal die Scheidung zwischen den Objekten der sinnlichen Er-
kenntnis und den Dingen, die wir nur τῷ τῆς διανοίας λογισμῷ
erfassen können, und fragt 79a: ϑῶμεν οὖν βούλει δύο εἴδη τῶν
ὄντων, τὸ μὲν δρατὸν τὸ δὲ ἀιδές; Den beiden Arten der Erkennt-
nis entsprechen zwei Arten des Seins, die ebenso scharf ge-
schieden sind. Was wir mit den Sinnen wahrnehmen, sind die
vielen schönen, gleichen, irgendwie gearteten Einzeldinge, die
ständiger Veränderung, fortwährendem Wechsel unterworfen sind,
an
0 TEN ARE
Die Unsterblichkeitsbeweise. 315
die entstehen und vergehen, während das Ansichseiende, αὐτὸ τὸ
καλόν, das wahre, jedem Wechsel und Vergehen enthobene Sein
hat, das dei κατὰ ταὐτὰ καὶ ὡσαύτως ἔχει. Zu erfassen vermag
die Seele dieses nur, wenn sie sich ganz vom Körper und den
Sinnen losmacht. Daraus müssen wir schließen, daß sie ihrem
Wesen nach mit diesem verwandt ist, daß sie bei der großen
Scheidung der ὄντα, die wir zu vollziehen haben, auf die Seite
der ewigen, sich gleichbleibenden Wesenheiten gehört und im
Gegensatz zu dem verwesenden vergänglichen Leibe in ihrem
Bestande durch die Trennung vom Leibe nicht gefährdet werden
kann (78b — 80 6).
Zwingend wäre dieser Unsterblichkeitsbeweis freilich nur,
wenn die Seele selbst zu den ewigen Wesenheiten gehörte. Aber
natürlich verkennt Plato auch bei seinem Standpunkt nicht, daß
die Seele, die immer individuell bleibt, auch wenn sie sich mit
dem vergänglichen Leibe verbindet, von den Ideen, die in der
Vielheit der Einzeldinge in Erscheinung treten, wesenhaft ver-
schieden ist. Deshalb kann er nur eine Verwandtschaft der Seele
mit dem Ansichseienden behaupten, die auf ihrem immateriellen
Wesen beruht. Dann kann aber die Ewigkeit der Seele darum
noch nicht als erwiesen gelten, weil das Ansichseiende nur ewig
gedacht werden kann’). Dessen ist sich Plato voll bewußt. Er
läßt es sogar durch Kebes direkt aussprechen, und Sokrates prä-
zisiert diesen Einwand ausdrücklich 95ce dahin, daß die Gottver-
wandtschaft der Seele zwar ein Überdauern des Leibes, aber
noch nicht die Ewigkeit verbürge. Aber auch das Ansichseiende
ist in diesem Abschnitt mehr in seiner postulierten Wesenheit
geschildert als wirklich als denknotwendig erwiesen. Daß auch
dies Plato so auffaßt, zeigt der letzte große Abschnitt 95e-- 106,
der erst die wirkliche wissenschaftliche Begründung der Ideen-
1) Daß dieser Abschnitt nach Plato keinen zwingenden Unsterblichkeits-
beweis liefert, hat nach Räder $. 172 u. a. auch Barwick, Comm. Ien. X p. 36
ausgesprochen. Aber falsch ist es, wenn er meint, Plato habe deshalb Bedenken
gehegt, weil ihm nicht feststand, daß die niederen Seelenteile beim Tode ver-
schwinden. Daß von einer Dreiteilung der Seele Plato im Phaidon nichts weiß,
haben wir schon gesehen (8. 232 —4), und grade auch hier rechnet er nur damit,
daß die — einheitliche — Seele durch die Verbindung mit dem Körper ihren un-
materiellen Charakter nicht rein erhalten hat, sondern etwas Körperartiges an-
genommen hat (806 μηδὲν τοῦ σώματος συνεφέλκουσα, 81h τὸ σωματοειδές, ὃ
αὐτῇ ἡ ὁμιλία τε καὶ συνουσία τοῦ σώματος . . ἐνεποίησε σύμφυτον 8] 6).
916 Phaidon.
lehre bringt und auf sie den eigentlichen Unsterblichkeitsbeweis
gründet.
Der Beweis, daß die Seele deshalb unsterblich sein muß,
weil sie nach ihrem Wesen an der den Tod ausschließenden Idee
des Lebens Anteil hat, nimmt dabei nur einen kleinen Raum ein
((024--- 106). Um so wichtiger ist die Fundamentierung der
Grundanschauung, auf der sich dieser Beweis aufbaut. Οὐ φαῦ-
λον πρᾶγμα, ἔφη, ὦ Κέβης, ζητεῖς " ὅλως γὰρ δεῖ περὶ γενέσεως
καὶ φϑορᾶς τὴν αἰτίαν διαπραγματεύσασϑαι (95 extr.). Hier fällt
ein Wort, das uns wieder aufs stärkste an den Menon erinnert,
αἰτία. Wir haben schon beim Gorgias (ὃ. 139) gesehen, daß
Plato den wissenschaftlichen Charakter der Medizin darin sieht,
daß sie τούτου οὗ Yeganedsı καὶ τὴν φύσιν ἔσκεπται καὶ τὴν Qi-
τίαν ὧν πράττει, καὶ λόγον ἔχει τούτων ἑκάστου δοῦναι (801 ἃ
4658), und im Menon erhielten wir den bedeutungsvollen Hin-
weis, daß die richtigen Vorstellungen zur Wissenschaft nur er-
hoben werden könnten, wenn man sie αἰτίας λογισμῷ binde, sich
durch die Wiedererinnerung in den Stand setze, über die Rich-
tigkeit der Vorstellung Rechenschaft zu geben (98a, vgl. S. 180).
Dieser Hinweis wird dort freilich so kurz gegeben, daß der
Leser höchstens eine Ahnung von der Wichtigkeit des Gedankens
erhält. Die genauere Behandlung hat sich Plato für den Phaidon
aufgespart. Wie sehr er hier auch äußerlich im Hauptabschnitt
die Aufmerksamkeit auf den Begriff αἰτία lenken will, das sehen
wir daran, daß das Wort (nebst Ableitungen) auf p. 96—101 mehr
als dreißig Mal vorkommt. Und wenn er gleich zu Anfang aus-
drücklich erklärt, daß es sich hier um nichts Geringeres handelt,
als um die αἰτία von Werden und Vergehen, um das Begreifen
alles Geschehens, so sagt er damit, daß er hier die Grundlage seiner
ganzen Weltanschauung vorträgt, und daß er zeigen will, warum
er für diese wissenschaftlichen Charakter in Anspruch nimmt.
Daher beginnt er hier mit einer Polemik gegen die Männer,
die bisher darauf Anspruch machten, eine wissenschaftliche Welt-
anschauung zu vermitteln. Es sind die Naturphilosophen, die Ver-
treter ταύτης τῆς σοφίας ἣν δὴ καλοῦσι περὶ φύσεως ἱστορίαν (96a).
Sie haben es sehr wohl als Erfordernis der Wissenschaft empfunden,
die Ursache des Geschehens aufzuzeigen, aber ihre Lösungsversuche
befriedigen nicht. Denn die materialistische Erklärung, auf die sie
sich beschränken — das gilt selbst für Anaxagoras — versagt gerade
Die Darlegung der neuen Weltanschauung 95e — 106. 317
da, wo die wahren Schwierigkeiten beginnen, vermag z. B. nicht
darüber Aufklärung zu geben, wie dasselbe sinnliche Maß, der
Kopf, den Anlaß zu entgegengesetzten Urteilen gibt, sofern Sokrates
τῇ κεφαλῇ bald kleiner, bald größer als ein anderer genannt wird,
noch auch darüber, wie die entgegengesetzten sinnlichen Vorgänge,
Zusammensetzung und Spaltung, zu einem Ergebnis führen, das
wir beide Male in gleicher Weise als Zweiheit bezeichnen. Noch
wichtiger ist aber, daß die mechanischen Vorgänge, auf die die
Naturphilosophie verweist, uns höchstens bis zur Erkenntnis der
zur Verwirklichung notwendigen Vorbedingungen (ὧν οὐκ ἄνευ),
nicht aber bis zur Erkenntnis der wahren Ursache, des αἴτιον selber,
führen‘. Wenn Sokrates im Gefängnis verbleibt, so ist das Zu-
sammenhalten der Knochen und die für das Sitzen notwendige Lage
der Glieder ein ὧν οὐκ ἄνευ, die wahre Ursache des Bleibens ist,
daß dieses einem bestimmten Zwecke, der in diesem Falle durch
Sokrates’ Entschluß gegeben ist, dient. So kann auch sonst bei jedem
Vorgange die wahre Ursache nur die sein, daß dieser einem bestimm-
ten Zwecke dient, daß es gut ist, wenn er sich so vollzieht (—99e).
Wenn wir fragen, warum alle von der Naturphilosophie ver-
suchten materialistischen Erklärungen nicht zum Ziele führen, so
muß die Antwort lauten, daß diese von der sinnlichen Wahrneh-
mung und den durch diese gegebenen ewig wechselnden Objekten
ausging, über die es kein Wissen gibt, und in ihnen befangen blieb.
!, Die Unterscheidung der eigentlichen und der sekundären Ursache hat
Plato wohl wie die von τέχνη und τριβή von den Medizinern. Vgl. z. φυσῶν 15:
φαίνονται οὖν αἱ φῦσαι διὰ πάντων τῶν νοσημάτων μάλιστα πολυπραγμονοῦσανι,
τὰ δ᾽ ἄλλα πάντα συναίτια καὶ μεταίτια, τὸ δὲ αἴτιον τῶν νούσων ἐὸν τοῦτο
ἐπιδέδεικταί μοι. (Über die Verwandtschaft von ὧν oöx ἄνευ und συναέτιον
vgl. Arist. Met. A 1015a 20.) Daß die Wissenschaft das αἴτιον aufzudecken hat,
hebt x. φυσῶν fortwährend hervor. Interessant ist, daß Plato nach der Schei-
dung von αἴτιον und ὧν oöx ἄνευ 99} einen Naturphilosophen erwähnt, der der
Erde ὥσπερ καρδόπῳ πλατείᾳ βάϑορον τὸν ἀέρα ὑπερείδει, und π. φυσῶν ὃ ἴῃ dem
durch Diogenes von Apollonia hervorgerufenen Enkomion auf die Luft es von
dieser heißt: καὶ μὴν ἥ τε γῆ τούτου βάϑρον οὗτός τε τῆς γῆς ὄχημα. (Vgl.
auch 51C2 Diels) Auch wenn Plato 96a sagt: πότερον τὸ αἷμά ἐστιν ᾧ φρο-
νοῦμεν ἢ ὃ ἀὴρ ἢ τὸ πῦρ; ἢ τούτων μὲν οὐδέν, ὁ δ᾽ ἐγκέφαλός ἐστιν ὁ τὰς
αἰσϑήσεις παρέχων τοῦ ἀκούειν καὶ ὁρᾶν καὶ ὀσφραίνεσθαι κτλ., weist das auf
dieselbe Sphäre. Vgl. de morbo sacro 14 τούτῳ (sc. τῷ ἐγκεφάλῳ) φρονέομεν καὶ
βλέπομεν nal ἀκούομεν, der Arzt aber lehnt sich bekanntlich wieder an Diogenes an,
vgl. 51 A 19 Diels. (Freilich kommt hier auch Alkmaion in Frage, 14 A 11 Diels.)
Diogenes’ Einfluß ist auch in x. ἀέρων ὑδάτων τόπων, aber auch sonst bei den Medi-
zinern stark zu spüren.
ΘΙ ἢ Phaidon.
So hat Plato den δεύτερος πλοῦς unternommen, hat versucht, die
auf die Sinneswahrnehmung gegründeten Vorstellungen dadurch
wissenschaftlich verwertbar zu machen, daß er sie auf die rationale
Erkenntnis bezog, und mit deren Hilfe sie zu begreifen suchte.
Wir reden soviel von dem Schönen, Guten, Gleichen '), obwohl wir
dieses, wie p. 78.9 nachgewiesen, nicht mit den Sinnen, sondern
nur mit der Vernunft erfassen. Sollen wir nun nicht annehmen,
daß die Objekte dieses unseres Denkens eben so viel Sein enthalten
als die unserer sinnlichen Wahrnehmung? Ja, sollen wir nicht noch
weitergehen? Während die Dinge, die wir mit den Sinnen wahr-
nehmen, stets der Veränderung unterliegen, nie ein wirkliches Sein
enthalten können, vermögen wir das an sich Gute und Schöne nur
unveränderlich, unvergänglich, ewig zu denken. Müssen wir also
nicht gerade diesen Objekten unseres Denkens das wahre Sein zu-
schreiben, das wir in der Sinnenwelt als Halt für unser Erkennen
schmerzlich vermissen? Jedenfalls wie in der Mathematik nur die
Voraussetzung einer Linie, deren Punkte alle von einem Punkte
innerhalb gleich weit entfernt sind, uns die Erscheinungen, die
wir an den einzelnen gezeichneten Kreisen wahrnehmen, begreif-
lich macht, so kann auch nur die Existenz eines Ansichgleichen uns
ein Recht geben, von zwei sinnlichen Dingen Gleichheit auszusagen.
Das sind die Gedankengänge gewesen, die Plato zu der An-
nahme geführt haben, daß es wirklich eine ewig sich gleich bleibende
Wesenheit des Ansichschönen, Ansichguten usw. gebe. Darüber
ist er sich dabei wie im Menon vollkommen klar, daß diese An-
nahme eine Hypothesis ist, die sich direkt nicht beweisen läßt.
Aber nicht umsonst hatte er auch im Menon schon auf die Be-
deutung der Hypothesis für die mathematische Wissenschaft hin-
gewiesen (87e). Die Lehre vom Ansichseienden ist nur eine Hypo-
thesis, aber sie ist es allein, die den αἰτίας λογισμός vermittelt und
damit eine wissenschaftliche Weltanschauung ermöglicht®). Denn
1ὴ Wenn Plato 76d sagt: εἰ μὲν ἔστιν ἃ ϑρυλοῦμεν ἀεί, καλόν τέ τι καὶ
ἀγαϑὸν καὶ πᾶσα ἡ τοιαύτη οὐσία, so brauchte das an sich weiter gar nichts zu
heißen, als daß wir in der gewöhnlichen Rede diese Begriffe fortwährend verwenden.
Aus 100b geht aber freilich hervor, daß er die häufige Anwendung dieser Begriffe
in seinen Untersuchungen meint. Daraus ist aber nicht etwa zu schließen, daß der
Phaidon in eine Zeit fällt, wo die Ideenlehre schon seit langer Zeit ausgebildet war.
Gerade in den ersten Jahren mußte das fortwährende Zurückgreifen auf diese Begriffe
viel mehr auffallen. Vgl. von der Anamnesis ὅν (λόγον) σὺ εἴωϑας ϑαμὰ λέγειν T2e.
?) Auch der Begriff ὑπόϑεσις als der wissenschaftlichen Arbeitshypothese
Die Ideenlehre. 319
mit ihrer Hilfe vermag man die Schwierigkeiten zu lösen, an denen
die jonischen Philosophen vorbeigingen, kann man sich sagen, daß
es die ewig sich gleich bleibende Größe ist, die uns ein Recht gibt,
im Einzelfalle den früher kleinen Menschen groß zu nennen, daß
die Zweiheit der Grund ist, daß aus den verschiedensten sinnlichen
Vorgängen etwas entsteht, das wir mit dem Prädikat Zwei belegen.
(—101 extr.) Die Annahme eines Ansichseienden ist die einzige,
die uns das Entstehen und Vergehen begrifflich macht. Darin liegt
ein indirekter Beweis für die Hypothesis, und ihre innere Berech-
tigung ist damit wissenschaftlich erwiesen. Und so kann Plato
erklären, an dieser Hypothesis unbedingt festhalten zu wollen, so
lange sie nicht mit zwingenden Gründen erschüttert wird (100d).
Wie das Verhältnis des einzelnen ziemlich wahrnehmbaren
Großen zur absoluten Größe zu denken ist, wie es durch diese
bedingt ist, das läßt Plato dahingestellt sein. Er ist sich der Grenzen
seiner Erkenntnis durchaus bewußt, und will sich ruhig gefallen
lassen, daß man seine Erkenntnis als εὔηϑες, als Binsenwahrheit
verspottet. Aber das steht ihm fest, daß nur auf dieser Grundlage
wir Rechenschaft über unsere Aussagen zu geben vermögen '), daß
sich überhaupt nur bei seiner Hypothesis wissenschaftlich arbeiten
läßt. Und daß man doch ein gut Stück weiterkommen kann, wenn
man die Beziehungen zwischen den Objekten der rationalen Er-
kenntnis verfolgt, das zeigt er hier an dem Beispiel des Unsterb-
lichkeitsbeweises (102d—106). Wir sollen aber auch natürlich an
den Menon denken. Dort haben wir gesehen, wie man von den
einfachsten mathematischen Begriffen zu weiteren Folgerungen
gelangen kann, die schließlich zum Aufbau einer ganzen Wissen-
schaft führen (85c). Das gleiche muß auf allen Gebieten gelten.
So lange man an den Objekten der sinnlichen Wahrnehmung haftet,
ist wie den Mathematikern so den Medizinern geläufig. In de prisca med. 1. 2
ist es Kennzeichen der spekulativen Medizin, daß sie nicht von der Empirie, sondern
von einer Hypothesis ausgehen, obwohl eine solche nur bei den ἀφανέα, z. B. in
der Astronomie nötig ist. Vgl. π. φυσῶν 15.
ἢ τοῦτο δὲ ἁπλῶς καὶ ἀτέχνως καὶ ἴσως εὐήϑως ἔχω παρ᾽ ἐμαυτῷ, ὅτι οὐκ
ἄλλο τι ποιεῖ αὐτὸ καλὸν ἢ ἣ ἐκείνου τοῦ καλοῦ εἴτε παρουσία εἴτε κοινωνία
εἴτε ὅπῃ δὴ καὶ ὅπως προσ(αγορευομένη χαίρει παρα)γενομένη" οὐ γὰρ ἔτι τοῦτο
διισχυρίξομαι. (Über den Text 5. 127°.) Eine starke Verkennung des Zusammen-
hanges ist, wenn man im letzten Satze οὐ γὰρ ἔτι zeitlich statt logisch faßt und
große Schlüsse darauf aufbaut. Der Sinn ist doch: „so weit gehe ich nicht,
daß..“ Vgl. z.B. Xen. I, 5, 8; Epiktet I, 9,7.
320 Phaidon.
erreicht man nichts Festes, weil man über den Fluß der Dinge
nicht hinaus kommt (Ph. 78e); Wissenschaft gibt es nur, wo man
die Objekte unserer apriorischen Erkenntnis zugrunde legt.
Ich fasse zusammen, was sich auf Grund des Menon und Phaidon
über die Motive sagen läßt, die Plato zu der Ideenlehre geführt
haben, über die Bedeutung und den Sinn, den diese im Anfangs-
stadium für ihn gehabt hat.
Plato will mit seiner Ideenlehre nicht etwa in Wett-
bewerb mit den jonischen Naturphilosophen treten, die
eine Ableitung der einzelnen sinnlichen Vorgänge aus-
einander versuchen und zeigen wollen, wie und aus
welchen Prinzipien die sinnliche Welt entstanden ist').
Für ihn stellt sich das Problem ganz anders. Er will
zunächst erst einmal die Aussagen, die wir über die sinn-
liche Welt fortwährend machen, wissenschaftlich be-
greifen, feststellen, was für sie den objektiven Halt bietet.
Er sucht im Gegensatz zu den ewig wechselnden, dem
Wissen entzogenen Erscheinungen nach dem, was dauernd
sich gleich bleibt und darum Gegenstand wissenschaft-
licher Erkenntnis sein kann, Mit anderen Worten, wenn
er eine Zeitlang an der Möglichkeit, Wissenschaft zu
treiben und zu lehren und durch sie zu wirken, irre ge-
worden war, so soll ihm die neue Theorie diese Möglich-
keit sichern.
Den Weg zu dem Ziele zeigt ihm die Mathematik.
Ihr anerkannt wissenschaftlicher Charakter, ihre
Exaktheit beruht darauf, daß sie nicht mitdem sinn-
lich gegebenen Materialarbeitet, sondern von diesem
abstrahiert und den im .Denken gegebenen Begriff
der mathematischen Figuren zu Grunde legt. Indem
sie diese unveränderlichen Figuren als objektiv ge-
geben voraussetzt, ist sieimstande, ein wissenschaft-
liches System zu errichten, dessen Konsequenzen
sich niemand entziehen kann. Sie bautsich aufeiner
Hypothesis auf, aber diese erweist sich als brauch-
bar, da sie allein auch den Aussagen über die sinn-
lichen Figuren einen logischen Halt gibt.
1) Immerhin deutet er 108 extr. an, daß er eine bestimmte Stellung zu den
einzelnen naturphilosophbischen Theorien einnimmt.
ΕΞ 3
—
N μενιρηθμαραρσεν. τα σρνερνβρ αν κυ Ἐτο τσπεῖς
Die Ideenlehre. 321
“πὶ
Dasselbe muß aber auch von den anderen Gebieten
gelten, auch von der Plato besonders am Herzen liegen-
den Welt des Ethischen. Eine Wissenschaft läßt sich
auch da nur aufbauen, wenn man wie der Mathematiker
von den einzelnen Erscheinungen abstrahiert und den
Inhalt des in unserer Vernunft vorhandenen Allgemein-
begriffes als objektiv gegeben, als real und wahrhaft
seiend voraussetzt — dvev γὰρ τοῦ καϑόλου οὐκ ἔστιν
ἐπιστήμην λαβεῖν sagt Aristoteles ganz in Platos Sinne
Met. 1086b5 — und daraus die Folgerungen zieht. Das
ist zunächst nur eine Arbeitshypothese, aber wissen-
schaftlichen Charakter kann man für sie in Anspruch
nehmen, weil für sie nicht bloß positive Gründe sprechen,
insbesondere die Verschiedenheit der rationalen und
sinnlichen Erkenntnis, sondern sie die einzige ist, die
unsern Aussagen über die Erscheinungswelt einen
objektiven Halt gibt und überhaupt ein exaktes Arbeiten
ermöglicht.
Dagegen darf man von dieser Hypothese nicht etwa
eine genaue Erklärung darüber verlangen, wie sich die
einzelne sinnliche Erscheinung zur Idee verhält. Auch
die Mathematik will ja nicht etwa die einzelnen gezeich-
neten Quadrate aus den (Juadraten an sich ableiten, und
Plato denkt nicht etwa daran, seine neue Anschauung
durch gewagte Hülfshypothesen zu belasten.
Die innere Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese, die den
Gegenständen unserer rationalen Erkenntnis objektive Realität
zuspricht, wird nun aber dadurch für Plato erhöht, daß sie sich
mit einer anderen Hypothese, der Annahme einer außerleiblichen
Existenz der Seele, aufs beste verträgt und gegenseitig stützt. In
neuerer Zeit hat man ja freilich mehrfach die enge Verbindung
beider Hypothesen zu lockern versucht. So gibt Ritter, Platon
S. 585 zwar zu, daß Plato „durch seine ganze Betrachtungsweise
und namentlich die Richtung seiner Beweisführung im Phaidon
die Annahme der persönlichen Unsterblichkeit uns recht nahe legt“,
sucht aber den Gedanken, daß die präexistente Seele die Ideen
geschaut habe, möglichst seiner Bedeutung zu entkleiden. (Vgl.
Neue Unters. über Platon S. 280.) Aber das ist unzulässig. Gewiß
ist die persönliche Unsterblichkeit für Plato nur eine Hypothesis,
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 21
322 Phaidon.
aber sie ist es nicht mehr als die „Ideenlehre“. Fig καλόν γε κατα-
φεύγει ὃ λόγος eig τὸ ὁμοίως εἶναι τήν TE ψυχὴν ἡμῶν πρὶν γενέσϑαι
ἡμᾶς καὶ τὴν οὐσίαν ἣν σὺ νῦν λέγεις (Sc. αὐτὸ τὸ καλόν usw. —
so lesen wir 77a, und 916 fragt Sokrates: τί οὖν περὶ ἐκείνου τοῦ
λόγου λέγετε ἐν ᾧ ἔφαμεν τὴν μάϑησιν ἀνάμνησιν εἶναι καὶ τούτου
οὕτως ἔχοντος ἀναγκαίως ἔχειν ἄλλοϑι πρότερον ἡμῶν εἶναι τὴν
ψυχήν, πρὶν ἐν τῷ σώματι ἐνδεϑῆναι; Kebes antwortet: ᾿γὼ μὲν
χαὶ τότε ϑαυμαστῶς ὡς ἐπείσθην ὑπ᾽ αὐτοῦ καὶ νῦν ἐμμένω ὡς
οὐδενὶ λόγῳ und Simmias bestätigt: zai μὴν καὶ αὐτὸς οὕτως ἔχω
χαὶ πάνυ ἂν ϑαυμάζοιμι εἴ μοι περί γε τούτου ἄλλο ποτέ τι δόξειεν.
Schreibt denn Plato solche Stellen rein zum Spaß? Schärfer kann
er es doch nicht ausdrücken, daß die persönliche Unsterblichkeit
für ihn ebenso gut wissenschaftliche Überzeugung ist wie die Ideen-
lehre selber. Beide stützen sich gegenseitig. An beide will er
glauben, solange nicht die Hypothesis selber als unhaltbar er-
wiesen ist.
Wenn Ritter sich der Anerkennung dieser Tatsache entziehen
möchte, so ist das durch die Besorgnis zu erklären, die Anerkennung
der Präexistenz der Seele könne zu der Annahme zwingen, Plato
habe sich hier die Ideen nach Analogie der Sinnendinge gedacht.
Ich glaube mit Ritter, daß man zu dieser Annahme nicht das Recht
hat. Das Ansichseiende ist für Plato nur das, was unserem All-
gemeinbegriff objektiv entspricht, dessen objektives Vorhandensein
uns allein das Recht gibt, von schön, gut, gleich im Einzelfalle
zu reden. Eine genauere Bestimmung, die es in Analogie zur
sinnlichen Erscheinung setzen würde, gibt Plato hier nicht und
kann er nicht geben. Aber wenn daraufhin Ritter den Gedanken,
daß die präexistente Seele Kenntnis von den Ideen hat, als höchst
bedenkliche Phantasterei ansieht, dann muß das gleiche auch von
dem Abschnitt 82d ff. gelten. Mit guter Absicht schildert Plato
dort, wie die Philosophie schon auf Erden die Seele möglichst von
den körperlichen Einflüssen freimacht und sie mit Mißtrauen gegen
den Trug der sinnlichen Wahrnehmung erfüllt, πείϑουσα ἐκ τούτων
μὲν ἀναχωρεῖν, ὅσον μὴ ἀνάγκη αὐτοῖς χρῆσϑαι, αὐτὴν δὲ εἰς αὑτὴν
συλλέγεσϑαι καὶ ἁϑροίζεσϑαι παρακελευομένη, πιστεύειν δὲ μηδενὶ
ἄλλῳ ἀλλ᾽ ἣ αὐτὴν αὑτῇ, ὅτι ἂν νοήσῃ αὐτὴ nad” αὑτὴν αὐτὸ καϑ'
αὑτὸ τῶν ὄντων (83a). Diese Schilderung soll uns doch gewiß einen
Schluß auf die intellektuelle Tätigkeit der präexistenten Seele nahe-
legen, und wenn an unserer Stelle uns nichts dazu zwingt, die
Der Unsterblichkeitsglaube. 323
Ideen als Analoga der Sinnendinge aufzufassen, so ist nicht ab-
zusehen, was daran durch die Annahme der Präexistenz für Plato
geändert werden sollte. Wir haben vorhin gesehen (S. 315), daß
die Seele wohl verwandt mit den immateriellen Ideen ist, aber
keineswegs zu ihnen gehört. Wenn wir also genötigt sind, ihr
eine individuelle Existenz getrennt von aller Leiblichkeit zuzu-
schreiben, so zwingt das noch keineswegs dazu, den objektiven
Inhalt unserer Allgemeinbegriffe als ein Sonderding neben den
sinnlichen Einzeldingen vorzustellen. Festzuhalten ist vor allem
immer, daß Plato selber uns diese Frage abschneidet. Nur an dem
einen liegt ihm, an der Erkenntnis, daß unseren Allgemeinbegriffen
objektiv etwas entsprechen muß, wenn wir (Jualität, Wechsel, Ver-
änderung der sinnlichen Erscheinungen wissenschaftlich begreifen
wollen.
Die Annahme der persönlichen Unsterblichkeit hat für Plato
aber natürlich nicht bloß theoretisches Interesse. “ζγμῖν δὴ τοῖς
δικασταῖς βούλομαι ἤδη τὸν λόγον ἀποδοῦναι, ὥς μοι φαίνεται εἰκότως
ἀνὴρ τῷ ὄντι ἐν φιλοσοφίᾳ διατρίψας τὸν βίον ϑαρρεῖν μέλλων
ἀποϑανεῖσϑαι καὶ εὔελπις εἶναι ἐκεῖ μέγιστα οἴσεσθαι ἀγαϑὰ, ἐπειδὰν
τελευτήσῃ sagt er im Beginn des eigentlichen Gesprächs 63 extr.
Und daß er damit ausdrücklich dem Leser sagen will, unter welchem
Gesichtspunkt er das Thema behandelt, das zeigt er dadurch, daß
er nicht bloß dieselben Wendungen gebraucht, um den Schluß des
ersten Teiles zu markieren (69d), sondern ausdrücklich auch vor
dem letzten Unsterblichkeitsbeweis noch einmal diese Jenseits-
hoffnung als den eigentlichen Zielpunkt (κεφάλαιον) der Unter-
suchung mit denselben Worten bezeichnet (95b). Nur unter diesem
Gesichtspunkt ist dort auch schon der Abschnitt 80—84b voll zu
verstehen, wo Plato das Schicksal der Seelen nach dem Tode
schildert. Eine noch deutlichere Sprache redet natürlich der Mythos,
durch den er den Vergeltungsgedanken des Gorgias in Verbindung
mit der Seelenwanderung bringt. Hier ist sich Plato natürlich genau
bewußt, daß er die Grenzen überschreitet, die den Glauben von
der Wissenschaft trennen. Aber nachdem er 114c das selige Los
der philosophischen Seele in bewußter Erinnerung an das 63 extr.
aufgestellte Thema geschildert hat, fährt er 114d fort: Τὸ μὲν οὖν
ταῦτα διισχυρίσασϑαι οὕτως ἔχειν ὡς ἐγὼ διελήλυϑα, οὐ πρέπει νοῦν
ἔχοντι ἀνδρί" ὅτι μέντοι ἢ ταῦτ᾽ ἐστιν ἢ τοιαῦτ᾽ ἄττα περὶ τὰς ψυχὰς
ἡμῶν καὶ τὰς οἰκήσεις, ἐπείπερ ἀϑανατόν γε ἣ ψυχὴ φαίνεται οὖσα,
21*
524. Phaidon.
τοῦτο καὶ πρέπειν μοι δοχεῖ καὶ ἄξιον κινδυνεῦσαι οἰομένῳ οὕτως
ἔχειν. Man mag persönlich zur Unsterblichkeitsfrage und zum
Vergeltungsglauben stehen wie man will, das kann Plato wohl
verlangen, daß man an diesen Worten nicht herumdeutet und sie
abzuschwächen versucht, statt sie so hinzunehmen, wie sie gemeint
sind, als ein Glaubensbekenntnis, das abzulegen ihm innerstes Be- |
dürfnis und heiligste Pflicht ist.
Phaidon und Menon erweisen sich als eng zusammengehörig,
da sie dieselben Probleme, Unsterblichkeit, Anamnesislehre, Ideen-
lehre in gleicher Verbindung und im ganzen vom gleichen Standpunkt
aus behandeln. Für den zeitlichen Zusammenhang beider spricht
aber vielleicht noch deutlicher der Umstand, daß auch Einzel-
fragen, die zum Hauptthema nur in loser Beziehung stehen, in
beiden Dialogen berührt und in gleichem Sinne behandelt werden.
Hier wie dort protestiert Platon, ehe er an die positive Dar-
legung der eignen Anschauung geht, gegen die Eristiker, die sich
wunder wie klug vorkommen, wenn sie schließlich die Unmög-
lichkeit fester Erkenntnis erwiesen zu haben glauben, und mahnt
sich durch solche Bedenken den Mut zum Forschen nicht rauben
zu lassen (Men. 806, Phaidon 9006). Wichtiger aber ist, was über
die Tugend gesagt wird. Im Menon wirkt auf den, der von den
sokratischen Anschauungen herkommt, kaum etwas überraschen-
der als die Darlegung p. 88, wo als selbstverständlich angenom-
men wird, daß es eine doppelte Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung,
Tapferkeit gibt, eine die unter Leitung der φρόνησις steht
und stets zur Glückseligkeit beiträgt, und eine andre die
ἄνευ νοῦ funktioniert und bald nützlich, bald schädlich ist (vgl.
S. 175). Eine gewisse Klarheit schafft ja dann der letzte Ab-
schnitt, wo die doppelte Grundlage der Tugend, das Wissen und
die richtige Vorstellung, geschieden wird. Aber eine erschöpfende
Behandlung des Themas haben wir auch dort nicht. Die gibt
erst der Phaidon. Hier zeigt Plato p. 68, daß die Tugend der
Philosophen von der vulgären nach Motiven und Inhalt ganz ver-
schieden ist. Die vulgäre schildert er uns dann mit einer Herb-
heit, die uns zeigt, wie scharf er jetzt über seine eigenen Aus-
führungen im Protagoras denkt, wo er ἡδύ und ἀγαϑόν hatte ver-
einigen wollen. Denn wenn er 68e als den Inhalt der vulgären
σωφροσύνη bezeichnet, daß die Menschen gegen die Lüste nur
Die niedere Tugend im Menon und Phaidon. 335
kämpfen, weil sie Schmerz fürchten oder größere Lust hoffen,
und wenn er solch Verhalten ein Wechelgeschäft nennt, das kei-
nen wahren sittlichen Wert hat‘), so ist damit nicht anderes als
die μετρητική des Protagoras gemeint, die dort zwar auch schon
für das Verhalten der πολλοί bezeichnend war, aber doch zum
Ausgangspunkt für die wahre ethische Theorie genommen wurde’).
Das wird jetzt durchaus abgelehnt, und wenn auch diese „Tu-
gend“ immer noch eine gewisse Anerkennung erfährt, so wird
doch mit aller Bestimmtheit der scharfe Gegensatz zu der wahren
Tugend aufgestellt. An Menon 88 erinnert es, wenn als charak-
teristisch für diese 69b bezeichnet wird, daß sie μετὰ φρονήσεως
ist. Aber erst jetzt erfahren wir, worauf diese φρόνησις sich
gründet: auf die philosophische Grundanschauung, die sich auf
die Seele schon hier im Leben zurückzieht und den Leib und die
äußeren Dinge auf ihren Unwert zu prüfen gelernt hat (69).
Worin aber dieses Wissen besteht, das der wahren Tugend zu
Grunde liegt, das haben wir unmittelbar vorher (p. 65) gehört,
wo die rationale Erkenntnis in Gegensatz zur sinnlichen gestellt
und als ihr Objekt das Ansichseiende aufgezeigt ist, und nach-
her wird noch einmal ausdrücklich versichert, daß grade diese
Beschäftigung der Vernunft mit ihren ewigen Objekten φρόνησις
heißt (79d). Damit verstehen wir erst vollständig auch den
letzten Abschnitt des Menon. Dort hatte Plato nur die auf der
ἀληϑὴς δόξα beruhende praktische Tugend behandelt, das Wesen
der auf dem Wissen beruhenden Tugend dagegen hatte er noch
nicht darstellen können und deshalb die Frage τί ποτ᾽ ἐστὶν A
ἀρετή; offen gelassen. Wir sehen jetzt, warum: Die Beantwortung
der Frage war eben nicht möglich ohne die weitläufige Unter-
suchung über das Wesen der Seele, die sich im Rahmen des
Menon nicht erledigen ließ. Plato hat es auch im Phaidon nicht
versäumt, ausdrücklich auch an diesen Teil des Menon anzu-
knüpfen. Wenn wir 82a lesen: οἱ τὴν δημοτικὴν καὶ πολιτικὴν
ἢ μὴ γὰρ οὐχ αὕτη ἢ ὀρϑὴ πρὸς ἀρετὴν ἀλλαγή, ἡδονὰς πρὸς ἡδονὰς καὶ
λύπας πρὸς λύπας καὶ φόβον πρὸς φόβον καταλλάττεσθαι, μείζω πρὸς ἐλάττω
ὥσπερ νομίσματα 69a. Wenn nachher gesagt wird, solche ἀρετή sei τῷ ὄντι
ἀνδραποδώδης, So gibt das den Vorwurf von Männern wie Kallikles zurück, wo-
nach die Philosophie nichts für freie Männer sei.
2) Zu 68e 69a vgl. bes. Prot. 354ce. Gleich darauf 69c erinnert Plato an
den Mythos des Gorgias. Auf diesen Dialog (p. 496) verweist Sokrates auch, wenn er
60b hervorhebt, ἡδύ und λυπηρόν träten im Körper meist zusammen auf.
526 Phaidros.
ἀρετὴν ἐπιτετηδευκότες, ἣν δὴ καλοῦσι σωφροσύνην TE καὶ δικαιο-
σύνην, ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης γεγονυῖαν ἄνευ φιλοσοφίας τε καὶ
vod, so erinnert der Ausdruck πολιτικὴ ἀρετή und die Gleich-
setzung mit σωφροσύνη und δικαιοσύνη uns an den Protagoras
(vgl. S. 80.1), der ganze Gedanke aber weist auf die πολιτικοί
des Menon zurück, und es ist natürlich nicht unabsichtlich, daß
Plato deren Tugend nicht mehr durch die ϑεία μοῖρα, sondern auf
erheblich natürlichere Weise erklärt. Er kommt jetzt im Grunde
auf den Gegensatz von Wissenschaft und Empirie zurück, von
dem er im Gorgias ausgegangen war.
Der Phaidon kann nicht lange nach dem Menon entstanden
sein. Seine Abfassung mag in die Zeit der sizilischen Reise oder
unmittelbar danach fallen. Dafür würde dann auch die Er-
wähnung der sizilischen Lavaströme 111e sprechen, die aber na-
türlich an sich keine festen chronologischen Schlüsse erlaubt.
XIH. Phaidros.
Auf die wonnige Frühlingsszene, in die uns das Gespräch des
Sokrates mit dem χαλὸς παῖς versetzt, fällt ein Rauhreif durch
die frostige Rede des Lysias. Fast noch abstoßender als die un-
verhüllte Sinnlichkeit, die trotz des gelegentlichen Geredes von
Freundschaft im Eros im Grunde doch nur das Streben nach der
Befriedigung der tierischen Triebe sieht, wirkt die Nüchternheit
des Verstandes, mit der sie sich bei dem Sprecher paart. Da
führt uns Sokrates’ Parallelrede gleich in eine andere Sphäre der
Betrachtung. Hier ist der Eros von vornherein die Leidenschaft,
die den ganzen Menschen beherrscht und den nüchternen Ver-
stand nicht aufkommen läßt. Aber die ursprüngliche Stimmung
kann natürlich auch bei dieser Behandlung des Themas os μὴ
ἐρῶντι πρὸ τοῦ ἐρῶντος δεῖ χαρίζεσθαι, nicht aufkommen.
Die Rede beginnt mit der methodischen Vorbemerkung, man
müsse bei jeder Überlegung vor allem das Wesen des Dinges
sich klarmachen, das den Gegenstand der Überlegung bildet, und
bestimmt deshalb dann sofort das Wesen des Eros. Zwei Treib-
federn sind es, die unser Handeln bestimmen, die eine ist die
in uns wurzelnde Begierde nach Lust, die andere das später von
Die erste Rede des Sokrates 237b—241c. 3937
uns angeeignete Streben nach dem Guten (237d). Dieses führt
zur σωφροσύνη, die Herrschaft der Begierde zur Hybris. Diese
Hybris hat verschiedene Arten; die unvernünftige Begierde, die
sich auf den Genuß des schönen Leibes richtet, ist der Eros
(238c). Es fragt sich nun, welcher Nutzen oder Schade dem
χαριζόμενος erwächst (238d). Der Liebhaber denkt nur an die
eigene Lust, und um sie zu befriedigen, sucht er den Geliebten
abhängig und schwach zu erhalten, sieht also bei diesem nicht
auf das Gute, sondern schädigt ihn geistig (— 239b), körperlich
(— 239d) und in den äußeren Dingen (— 240a). Dabei gewährt
er dem Geliebten nicht einmal Lust, wird ihm im Gegenteil
widerwärtig (--- 2406), καὶ ἐρῶν μὲν βλαβερός τε καὶ ἀηδής, λή-
ξας δὲ τοῦ ἔρωτος εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον ἄπιστος. Denn da ist
er ein anderer geworden. Statt der μανία des Eros herrscht jetzt
der νοῦς und die σωφροσύνη, und er flieht jetzt die Gemeinschaft,
die er früher gesucht (— 241 ο).
Man hat als Parallele zu unserer Rede Xenophons Enkomion
auf den psychischen Eros (Symp. 8) mit seiner Verwerfung der sinn-
lichen Leidenschaft herangezogen. Aber die Berührungen, die
sich tatsächlich finden, sind mindestens zum Teil wohl durch die
Benutzung Platos bei Xenophon zu erklären. Für das Verständ-
nis der Phaidrosrede ist es jedenfalls viel wichtiger, an eine Schrift
Platos zu denken, an den Gorgias'). Denn es kann doch kein
Zufall sein, daß Plato wie dort von ἣδύ und ἀγαϑόν als den
beiden Zielpunkten menschlichen Strebens ausgeht und auf diesen
beiden Begriffen auch die Disposition des Ganzen aufbaut‘). Wenn
der Liebhaber 239e gekennzeichnet wird als Mann, ὃς ἡδὺ πρὸ
dyadod ἠνάγκασται διώκειν, so erinnert das formell ganz an Gorg.
465a ὅτι τοῦ δέος στοχάζεται ἄνευ τοῦ βελτίστου. Im Gorgias
wird dies von den Schmeichelkünsten gesagt, z. B. der Putz-
kunst. Wenn nun an dieser unmittelbar darauf getadelt wird,
daß sie die Menschen verführt, ὥστε ποιεῖν ἀλλότριον κάλλος
ἐφελκομένους τοῦ οἰκείου τοῦ διὰ τῆς γυμναστικῆς ἀμελεῖν (465b),
so ist es gewiß kein Zufall, wenn an der Stelle des Phaidros der
Liebhaber sich einen Geliebten wünscht πόνων μὲν ἀνδρείων...
1) So schon Räder S. 249.
2) Vgl. die eben gegebene Analyse und die Rekapitulation 241c ἀναγκαῖον
ἐνδοῦναι αὑτὸν... ἀηδεῖ, βλαβερῷ μὲν πρὸς οὐσίαν βλαβερῷ δὲ πρὸς τὴν τοῦ
σώματος ἕξιν πολὺ δὲ βλαβερωτάτῳ πρὸς τὴν τῆς ψυχῆς παίδευσιν.
328 Phaidros.
ἄπειρον, ἔμπειρον δὲ οὖς ἀνάνδρου διαίτης, ἀλλοτρίοις χρώμασι καὶ
κόσμοις χήτει οἰκείων κοσμούμενον, und ebensowenig kann es zu-
fällig sein, daß 240b ohne zwingenden Grund der Schmeichler er-
wähnt wird, der zwar schadet, aber wenigstens Lust bringt (οἷον
κόλακι, δεινῷ ϑηρίῳ καὶ βλάβῃ μεγάλῃ, ὅμως ἐπέμειξεν ἣ φύσις
ἡδονήν τινὰ οὐκ ἄμουσον ἢ).
So erinnert uns Plato also hier bewußt an die Scheidung
von Add und ἀγαϑόν, auf der sich der Gorgias aufbaute. Zu-
gleich aber gibt er uns deutlich zu erkennen, daß wir den Stand-
punkt unserer Rede nicht etwa als absolutgültigen zu betrachten
haben. Mit voller Absicht stellt nämlich Plato dem unvernünf-
tigen Lustbegehren nicht das Wissen entgegen, das nach dem
Guten strebt, sondern die δόξα, vgl. 237d ἣ μὲν ἔμφυτος οὖσα
ἐπιϑυμία ἡδονῶν, ἄλλη δὲ ἐπίκτητος δόξα ἐφιεμένη τοῦ ἀρίστου
288} ἣ γὰρ ἄνευ λόγου δόξης ἐπὶ τὸ ὀρϑὸν δρμώσης κρατήσασα
ἐπιϑυμία, 237e δόξης μὲν οὖν ἐπὶ τὸ ἄριστον λόγῳ ἀγούσης καὶ
κρατούσης τῷ κράτει σωφροσύνη ὄνομα. Diese Stellen erinnern
uns doch direkt an die ὀρϑὴ δόξα des Menon und die auf dieser
beruhende niedere Tugend des Menon und Phaidon (vgl.S.325). Sie
zeigen uns also, daß wir uns in dieser niederen Sphäre befinden,
und es bedarf kaum der ausdrücklichen Erklärung des Sokrates
(243), daß eine Betrachtung des Eros, die nichts Höheres kennt
als diese δόξα, eine banausische bleiben muß?).
Wie sollen wir also nach Platos Absicht die Rede auffassen?
Zweifellos geht sie von sokratischen Gedanken aus, wie sie Plato
selber im Gorgias geteilt hat; sie enthält gewiß auch Richtiges,
aber die volle Wahrheit dürfen wir von einem Standpunkte nicht er-
warten, dem die wahre philosophische Erkenntnis verschlossen ist).
1) Auch wenn am Schluß gesagt wird, daß die Liebe des ἐραστὴς od wer"
εὐνοίας γίγνεται ἀλλὰ σιτίου τρόπον χάριν πλησμονῆς, So erinnert das an Gorg.
496e, wo das Wesen der Begierde im Anschluß an die Mediziner als ein Streben
nach πλήρωσις bezeichnet wird (τὸ δὲ zivew nAngwois τε τῆς ἐνδείας nal ἣἡ δονή).
Ähnlich aber auch schon die Lysiasrede 2386 τοὺς προσαιτοῦντας καὶ τοὺς δεο-
μένους πλησμονῆς.
2) Wenn 2814 die δόξα als ἐπέκτητος bezeichnet wird, so ist zu beachten,
daß Phaid. 82b die niedere Tugend ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης zuteil wird, wäh-
rend nach 75e das uavddvew ein οἰκείαν ἐπιστήμην ἀναλαμβάνειν ist.
3) Die Möglichkeit, daß Plato auch polemisch auf einen andern Sokratiker
Bezug nimmt, etwa auf Antisthenes, würde ich nicht für ausgeschlossen halten.
Aber sie käme nur sekundär in Betracht.
Die erste Rede des Sokrates und die Palinodie. 339
So ist die Palinodie, zu der das Daimonion Sokrates veran-
laßt, nur zu berechtigt. Sie gibt uns das Bild des Eros, wie es
Plato von der höheren Warte schaut, auf die ihn die Ideenlehre
hinaufgeführt.
Sie klärt uns sofort über das πρῶτον ψεῦδος der ersten so-
kratischen Rede auf. Die Schädlichkeit des Eros war dort aus
seinem Charakter als μανία abgeleitet. Aber dabei ist übersehen,
daß es neben der schädlichen μανία auch eine göttliche gibt, die
dem Menschen die höchsten Güter verleiht. Den verschiedenen
Zweigen sinnlicher Leidenschaft, die dort p. 238 aufgezählt waren,
lassen sich die prophetische, mystische, poetische μανία gegen-
überstellen, und in diese Reihe der durch göttliche Einwirkung
hervorgerufenen uaviaı gehört auch der Eros. Und es läßt sich
zeigen, ὡς ἐπ᾽ εὐτυχίᾳ τῇ μεγίστῃ παρὰ ϑεῶν ἣ τοιαύτη μανία
δίδοται (2456). Freilich läßt sich dieser Beweis nur geben, wenn
man die Natur der Seele ganz erkannt hat.
Zunächst wird deshalb die Unsterblichkeit der Seele noch
einmal begründet. Im Phaidon hatte Plato den Hauptbeweis so
geführt, daß er zeigte, die Seele sei es, die überall Leben bringe,
deshalb habe sie an der Idee des Lebens notwendig Anteil und
sei damit von der des Todes ausgeschlossen (105). Ein Mangel
dieses Beweises lag darin, daß Plato zwar sagt: ψυχὴ ὅτι ἂν αὐτὴ
κατάσχῃ, dei ἥκει ἐπ᾽ ἐκεῖνο φέρουσα ζῳήν (105d), aber nicht, wie
dieses Lebenspenden in dem Wesen der Seele begründet sei, ob
es notwendig zu diesem gehöre. Deshalb greift Plato jetzt auf
diesen Punkt zurück und erklärt ausdrücklich, gerade darin
müsse das Wesen der Seele gesehen werden, daß sie Bewegung
und Leben verleihe. Das könne sie aber nur, weil sie selbst das
Bewegungsprinzip sei, als solches aber könne sie nur unsterblich
gedacht werden (vgl. bes. ἀϑανάτου δὲ πεφασμένου Tod ὑφ᾽ Eav-
τοῦ κινουμένου, ψυχῆς οὐσίαν TE καὶ λόγον τοῦτον αὐτόν τις AE-
γων οὐκ αἰσχυνεῖται. πᾶν γὰρ σῶμα, ᾧ μὲν ἔξωϑεν τὸ κινεῖσϑαι,
ἄψυχον, ᾧ δὲ ἔνδοθεν αὐτῷ ἐξ αὑτοῦ, ἔμψυχον, ὡς ταύτης οὔσης
φύσεως ψυχῆς 245e, und vorher τὸ δ᾽ ἄλλο κινοῦν καὶ ὑπ᾽ ἄλλου
χινούμενον παῦλαν ἔχον κινήσεως παῦλαν ἔχει ζωῆς).
Die Seele ist es, die Bewegung und Leben bewirkt. So
muß sie überall in der Welt vorhanden sein, wo Bewegung und
Leben ist. Speziell verbindet sie sich auch mit dem irdischen
Leibe. Wie es zu dieser Verbindung kommt, kann uns die Ein-
330 Phaidros.
sicht in das Wesen der Seele lehren. Zwar dieses vollständig
darzustellen, erfordert viele Mühe und übersteigt wohl die mensch-
lichen Kräfte‘); so mag denn ein εἰκάζειν genügen. Die Seele
vereinigt in sich verschiedene Kräfte und gleicht einem beflügelten
Gespann, wo der Wagenlenker zwei unter sich ungleiche Rosse
lenkt. Bei den Göttern freilich sind Roß und Lenker gleich gut,
der Unterschied also kaum spürbar, und sie vermögen darum
droben in der Höhe in ewiger Ordnung ihren Weg zu durch-
messen. Die andern Seelen aber verlieren leicht ihre Flügel und
werden durch die Rosse hinabgezogen zu irdischen Leibern, mit
denen sie sich zu sterblichen’) Wesen verbinden (— 2466) Ἷ.
1) 246a. Konnte sich Plato wohl so ausdrücken, wenn er bereits in der
Politeia die Dreiteilung der Seele genau begründet hatte?
5 Daß das aus Seele und Leib zusammengesetzte Lebewesen notwendig
sterblich ist, darf Plato voraussetzen, weil im Phaidon 78c die Auflösbarkeit
jedes σύνϑετον erwiesen ist.
ὅ Während der Korrektur lese ich v. Arnims gegen Barwicks Ansatz des
Phaidros gerichtete Polemik, Ztschr. f. d. österr. Gymn. LXIV. Hier finden wir -
p: 98 die programmatischen Sätze: „Als Platon seine Schule gründete und als
Lehrer der Philosophie auftrat, da, dürfen wir zuversichtlich glauben, sah er die
Grundlinien seiner Weltanschauung bereits klar und deutlich vor sich ... Die
Einheit von Platons Lehre in diesem Sinne müssen wir gegen die Entwicklungs-
theoretiker soweit es möglich ist ist zu verteidigen suchen, damit er nicht als
ein leichtfertiger und gewissenloser Lehrer erscheine usw.“ Eine grundsätzliche
Auseinandersetzung mit dieser Anschauung wäre hier natürlich zwecklos, und
hoffentlich wird ja diese Methode, für die nicht die Interpretation, sondern die
Harmonistik an erster Stelle steht, ebensowenig Anklang finden wie ihre Voraus-
setzung, für die z. B. Kant beim Antritt seiner akademischen Laufbahn ein
ziemlich leichtsinniger und gewissenloser Bursche war. Praktisch wird sich wohl
doch vielfach mit v. Arnim eine Verständigung erreichen lassen, und wenn er
die Argumente, mit denen Barwick die Dreiteilung der Seele für Gorgias und
Phaidon zu erweisen sucht, ablehnt, befinde ich mich ganz mit ihm im Einklang
(S. 156. 7 und 234). Dagegen führt die rein harmonistische Tendenz dazu, daß
er in dem Abschnitt über den Phaidrosmythos S. 113ff., obwohl er dort viel
Richtiges bringt, gerade den wichtigsten Punkt nicht berührt. Während nämlich
im Phaidon die niederen Triebe erst aus dem Zusammensein mit dem Leibe er-
wachsen und dementsprechend im Staate und im Timaios ϑυμός und ἐπιϑυμητικόν
erst vom leiblichen Dasein an datieren, werden im Phaidros die Seelen schon vor
der πρώτη γένεσις, ja auch die Götterseelen unter dem Bilde des Gespannes darge-
stellt (246a), also als mehrteilig gedacht, und der Leser wird mit nichts darauf
hingewiesen, daß er an eine andre Teilung zu denken habe als an die, die der
Seele auch im Erdendasein anhaftet. Man kann das auch nicht einfach als
mythischen Zug ansprechen. Denn für Plato lag hier wirklich ein Problem vor
Die zweite Rede des Sokrates p. 234θ8 ---α. 331
Wenn Plato im Anschluß hieran schildert, wıe von den zwölf
Göttern die Hestia allein unbewegt bleibt, während die andern
im Gefolge des Zeus in geregelten Bahnen sich bewegen, so hat
schon Böckh darauf hingewiesen, daß Plato hier an Philolaos’
Weltbild mit den zehn Weltkörpern, die sich zwischen Zentral-
feuer und dem äußersten Feuerkreis, dem Olympos, bewegen, an-
die Frage, wie die Seele zur Verbindung mit dem Leibe ursprünglich gekommen
ist. Man kommt deshalb um die Annahme kaum herum, daß Plato im Anfangs-
stadium seiner neuen Psychologie die Dreigliederung auch auf die vorleibliche
Existenz ausgedehnt hat.
Wie er diese Anschauung mit der des Phaidon innerlich ausgeglichen hat,
läßt sich nicht sagen. Sicher ist, daß im Phaidon, wo er die Unvergänglichkeit der
Seele aus ihrem immateriellen, nicht zusammengesetzten Wesen beweist, dieses
Problem für ihn noch nicht existiert (vgl. S. 232°). Sicher ist andrerseits, daß
im zehnten Buche des Staates Plato ausdrücklich (611 b) die Beweise des Phai-
don dadurch ergänzt, daß er den aus der Dreiteilung der Seele zu entnehmenden
Einwand widerlegt. Hier hat sich v. Arnim durch seine Harmonistik sehr irre-
führen lassen. Man muß doch bedenken, daß der ganze Staat die Dreiteilung
der Psychologie vorträgt, daß gerade noch im neunten Buche er auf diese zu-
rückgreift (580d ἐπειδὴ ὥσπερ πόλις διῴρηται κατὰ τρία εἴδη, οὕτω καὶ ψυχὴ
ἑνὸς ἑκάστου τριχῇ κτλ.) und ganz am Schluß dort die Seele als ein σύνϑετον aus
drei ἐδέαι schildert, in dem gleichsam einem Menschen ein Löwe und ein vielköpfiges
Tier angewachsen sind. Wenn nun nach dem Exkurs über die Dichter p. 611b
Plato vor dem Abschluß des ganzen Werkes die Unsterblichkeitsfrage aufnimmt
und das Bedenken entwickelt: οὐ ῥάδιον ἀΐδιον εἶναι σύνϑετόν τε En πολλῶν
καὶ μὴ τῇ καλλίστῃ κεχρημένον συνϑέσει, ὡς νῦν ἡμῖν ἐφάνη ἣ ψυχή, so zeigen
doch die letzten Worte wirklich deutlich genug, daß Plato auf das Bild des
neunten Buches zurückweist, und ein Unbefangener wird schwerlich als Platos
Ansicht herauslesen, „daß die vollkommene Seele die καλλέστη σύνϑεσις besitzt“
(v. Arnim 5. 123). Er wird vielmehr an den Beweis Phaidon 78a denken, daß
nur das ἀσύνϑετον unvergänglich ist, und daß Plato diesen Beweis gegen einen
Einwand sichern will, das sieht er deutlich, wenn er das Folgende liest: “Ὅτι
μὲν volvvv ἀϑάνατον ψυχή, καὶ ὁ ἄρτι λόγος καὶ οἱ ἄλλοι ἀναγκάσειαν ἄν κτλ.
Plato widerlegt dann den aus der σύνϑεσις genommenen Einwand, indem er die
Seele mit Glaukos vergleicht, der seine wahre Natur verloren hat, da sein alter
Gliederbau entstellt ist und Muscheln, Tang und Gestein ihm angewachsen sind.
v. Arnim legt hier viel Wert auf die Worte 6114 τὰ παλαιὰ τοῦ σώματος μέρη
und möchte daraus folgern, daß Plato auch für die ursprüngliche Natur der Seele
Teile voraussetzt. Aber daß es Plato nur auf das Anwachsen der fremden Teile
ankommt, zeigt er doch sofort 611 6 deutlich, wenn er nur diesen Zug wieder-
holt: „Man muß die Seele in ihrem gottverwandten Wesen betrachten, wie sie
ist περιπρουσϑεῖσα πέτρας τε nal ὄστρεα ἃ νῦν αὐτῇ, ἅτε γῆν ἑστιωμένῃ, γεηρὰ
καὶ πετρώδη πολλὰ καὶ ἄγρια περιπέφυκεν."
Und wenn nun bei Plato folgt: καὶ τότ᾽ ἄν τις ἴδοι αὐτῆς τὴν ἀληϑῆ
332 Phaidros.
knüpft‘). Tatsächlich ist das Zitat kaum zu verkennen, wenn
Plato sagt (247a): μένει γὰρ “Eoria ἐν ϑεῶν οἴκῳ μόνη und wir
über Philolaos bei Aetios den Bericht lesen: Φιλόλαος πῦρ ἐν
μέσῳ περὶ τὸ κέντρον, ὅπερ ἑστίαν τοῦ παντὸς καλεῖ καὶ Διὸς ol-
κὸν (32A 16 οἵ. Β 7. 1615). Andrerseits handelt es sich dabei
aber nur um eine äußere Anknüpfung. Denn nach dem Zusam-
menhang kann Plato selber bei seiner Hestia wohl nur die Erde
meinen, die er sich mit der gewöhnlichen Anschauung als Mittel-
punkt des Weltalls denkt. Die Sache liegt ganz wie beim My-
φύσιν εἴτε πολυειδὴς εἴτε μονοειδὴς εἴτε ὅπῃ ἔχει καὶ ὅπως " νῦν δὲ τὰ ἐν τῷ
ἀνϑρωπίνῳ βίῳ πάϑη τε καὶ εἴδη. ὡς ἐγῷμαι, ἐπιεικῶς αὐτῆς διεληλύϑαμεν,
so verschließt man sich doch wirklich den Sinn den ganzen Abschnittes, wenn
man bei εἴδη an die Charaktertypen denkt, die im achten und neunten Buche
entwickelt sind (v. Arnim S. 124), statt an die Frage, die für die ganze Auf-
fassung der Menschenseele im Staate grundlegend ist: εἴτε ἔχει τὰ τρία εἴδη
ταῦτα Ev αὑτῇ εἴτε μή (435c, vgl εἴδη 435e 481 439e 4406 572a 58le 590c
595b). Und wenn wirklich über das εἴτε πολυειδὴς εἴτε μονοειδής ein Zweifel
sein könnte (nach v. Arnim läßt Plato dahingestellt, „ob es auch unter den voll-
kommenen Seelen Artunterschiede gibt“!), so braucht man doch nur Phaidros
270d zu lesen, wo das erste psychologische Problem ist, ob ἁπλοῦν ἢ πολυειδές
ἐστιν οὗ πέρι βουλησόμεϑα εἶναι reyvınol. „Ich habe hier im Staate die Seele
als ein πολυειδές geschildert; aber das betrifit nur ihr Erdendasein, nicht ihre
wahre Natur. Wenn man die betrachtet, wird man sehen, daß sie kein solches
σύνϑετον ist, daß also die Beweise des Phaidon bestehen bleiben“.
Daß nach diesen Erörterungen der Mythos des Phaidros unmöglich war,
scheint mir selbstverständlich. Nur die Folge Phaidon Phaidros Rep. X ist
denkbar.
1) Böckh, Philolaos des Pythagoreers Lehren, Berlin 1819, 8.105. Gegen seine
Auffassung, als sei auch im Phaidros Hestia das Zentralfeuer, vgl. Susemihl,
Genet. Entw. der plat. Philosophie I, S. 235 u. a.
2) Vgl. auch 45 B37 (anonyme Pythagoreer).. Wenn in dem Exzerpt des
Aetios es heißt: περὶ δὲ τοῦτο (sc. τὸ μέσον) δέκα σώματα ϑεῖα χορεύειν, SO Er-
innert daran der ϑεῖος χορός bei Plato 2478. Auch daß dieser erklärt: τῶν δὲ
ἄλλων ὅσοι ἐν τῷ τῶν δώδεκα ἀριϑμῷ τεταγμένοι ϑεοὶ ἄρχοντες ἡγοῦνται
κατὰ τάξιν ἣν ἕκαστος ἐτάχϑη, ist wohl kein Zufall. Wir haben τάξες schon
als Terminus der Pythagoreer kennen gelernt (S. 154), und in dem Exzerpt des
Aetios kommt es mehrfach technisch vor. Wenn Plato den einzelnen Göttern
die Menschentypen zuweist, so waren solche Zuweisungen an die Götter offen-
bar bei Philolaos sehr beliebt (vgl. A 14 παρὰ τοῖς Πυϑαγορείοις εὑρήσομεν
ἄλλας γωνίας ἄλλοις ϑεοῖς ἀνακειμένας, ὥσπερ καὶ ὁ Φιλόλαος πεποίηκε κτλ.) —
Phaidros 250e ἀσήμαντοι τούτου ὃ νῦν δὴ σῶμα περιφέροντες ὀνομάζομεν spielt
natürlich auf Philolaos’ auch Gorg. 499 ἃ benützte Gleichung σῶμα --- σῆμα (Β 14
Diels) an.
Die Mythen des Phaidon und des Phaidros. 333
thos des Phaidon. Dort erklärt Plato 109a ausdrücklich, die Erde
befinde sich in der Mitte der Welt und habe diesen Platz kraft
ihres eigenen Gleichgewichts: ἰσόρροπον γὰρ πρᾶγμα ὁμοίου τινὸς
ἐν μέσῳ τεϑὲν οὐχ ἕξει μᾶλλον οὐδ᾽ ἧττον οὐδαμόσε κλιϑῆγαι,
ὁμοίως δ᾽ ἔχον ἀκλινὲς μενεῖ. Das ist nicht Philolaos’ An-
schauung, sondern die des Parmenides, vgl. 18 A 44 Diels: Παρ-
μενίδης Δημόκριτος διὰ τὸ πανταχόϑεν ἴσον ἀφεστῶσαν μένειν (Sc.
τὴν γῆν) ἐπὶ τῆς ἰσορροπίας, οὐκ ἔχουσαν αἰτίαν δι’ ἣν δεῦρο μᾶλ-
λον ἢ ἐκεῖσε δέψειεν dv‘ διὰ τοῦτο μόνον μὲν κραδαίνεσθϑαι μὴ
κινεῖσθαι δέ, und auch von Parmenides hören wir ausdrücklich,
daß er diesen Mittelpunkt des Weltalls “Ἑστία genannt habe (vgl.
Anatol. p. 30 Heib., den Diels an derselben Stelle anführt). Aber
zu der dem Mythos als Grundlage dienenden Vorstellung, daß
die wahre Oberfläche der Erde erst da ist, wo die Atmosphäre
zu Ende ist und der Äther beginnt, und daß dort Steine, Pflan-
zen, Tiere, Menschen analog den irdischen, nur unendlich viel
schöner existieren, hat ihm die Anregung wieder Philolaos ge-
geben (vgl. 1104 -- 111}, z. B. 110c xai ἔτι πλειόνων καὶ καλ-
μόνων ἢ ὅσα ἡμεῖς ἑωράκαμεν — Phil. A 20 τῶν Πυϑαγορείων
τινὲς μέν, ὧν ἐστι Φιλόλαος, γεώδη φαίνεσθαι τὴν σελήνην διὰ τὸ
περιοικεῖσϑαι αὐτὴν καϑάπερ τὴν παρ᾽ ἡμῖν γῆν ζῴοις καὶ φυτοῖς
μείζοσι καὶ καλλίοσιν) ἧ.
Es scheint mir nicht unwichtig, daß Plato in den mythischen
Konzeptionen beider Dialoge mit demselben Material arbeitet.
Denn dadurch gewinnt noch ein Zug an Bedeutung. Im Phai-
don 109e sagt Plato: εἴ τις αὐτοῦ (τοῦ ἀέρος) ἐπ᾽ ἄκρα ἔλϑοι ἢ
πτηνὸς γενόμενος ἀνάπτοιτο, κατιδεῖν ἂν ἀνακύψαντα, ὥσπερ ἐν-
ϑάδε οἱ ἐκ τῆς ϑαλάττης ἰχϑύες ἀνακύπτοντες δρῶσι τὰ ἐνθάδε, οὕ-
τως ἄν τινὰ καὶ τὰ ἐχεῖ κατιδεῖν, καὶ εἰ ἣ φύσις ἱκανὴ εἴη ἀνασχέ-
σθαι ϑεωροῦσα, γνῶναι ἂν ὅτι ἐκεῖνός ἐστιν ὃ ἀληϑῶς οὐρανὸς
χαὶ τὸ ἀληϑινὸν φῶς καὶ ἣ ὡς ἀληθῶς γῆ, Mutet es nicht ge-
radezu wie eine Fortsetzung dieser Konzeption an, wenn Plato
im Phaidros uns schildert, wie die Seele kraft ihrer Schwingen
aus dem Bereiche des Himmels, wo es auch schon viel Herrliches
zu schauen gibt (247a), sogar bis zum ὑπερουράνιος τόπος zu ge-
1 Parmenides folgt selbt Anaximander cf. Aristot. de caelo 295b 12.
3) Natürlich müssen wir auch mit der Möglichkeit rechnen, daß Plato an
einen anderen Pythagoreer anknüpft, der die Erde als Mittelpunkt der Welt
festhielt.
994 Phaidros.
langen oder doch wenigstens ihr Haupt dorthin emporzurecken
vermag, wenn er erzählt, wie die Seele, die kräftig genug ist
Gott zu folgen, dort das Gefilde der Wahrheit schaut, dort allein
erkennt, was Wahrheit ist‘)? Soviel ist jedenfalls sicher: Vom
Mythos des Phaidon führt ohne weiteres eine psychologische
Assoziation hinüber zu dem des Phaidros, während man das Um-
gekehrte schwerlich behaupten kann’).
Τὸν δὲ ὑπερουράνιον τόπον οὔτε τις ὕμνησέ πω τῶν τῇδε ποιη-
τὴς οὔτε ποτὲ ὑμνήσει κατ᾽ ἀξίαν. ἔχει δὲ ὧδε --- τολμητέον γὰρ
οὖν τό γε ἀληϑὲς εἰπεῖν, ἄλλως τε καὶ περὶ ἀληϑείας λέγοντα ---
ἣ γὰρ ἀχρώματός τε καὶ ἀσχημάτιστος καὶ ἀναφὴς οὐσία ... τοῦ-
τον ἔχει τὸν τόπον. Es ist merkwürdig, wie hartnäckig und ver-
hängnisvoll diese Stelle in neuerer Zeit mißverstanden wird.
„Wenn noch kein Dichter jenen Raum besungen hat“, so folgert
man, „so geschieht es hier zum ersten Male, gibt Plato hier zum
ersten Male eine Schilderung der Ideen.“ Aber dabei vergißt
man vollkommen das οὔτε ποτὲ öuvnosı und das zart’ ἀξίαν. „Den
überhimmlischen Ort kann kein Irdischer würdig preisen, das hat
noch keiner vermocht und wird auch nie einer vermögen’). Trotz-
dem muß man versuchen, wenigstens die schlichte Wahrheit über
ihn auszusagen.* Kann man wirklich aus dieser Stelle folgern,
daß der Phaidros die erste Schrift über die Ideenlehre ist? Und
sind etwa die dialektischen Ausführungen des Phaidon ein ἄξιος
ὕμνος im Sinne unserer Stelle, sodaß seine Abfassung vor dem
Phaidros ausgeschlossen wäre? Auch im Phaidros will Plato doch
keinen Hymnos geben, nur die schlichte Wahrheit, und was er
1) Von einzelnen Ausdrücken der Phaidonstelle, die wiederkehren, erwähne
ich außer dem ständigen πτηνός noch 247 a ἄκραν ἐπὶ τὴν ὑπουράνιον ἁψῖδα
πορεύονται 3414 καϑορᾷ μὲν .. καϑορᾷ δέ 2488 ὑπερῆρεν eis τὸν ἔξω τόπον
τὴν τοῦ ἡνιόχου κεφαλήν (vgl. ἀνακύπτοντες) 3848. ἥτις ἂν ψυχὴ .. κατίδῃ τι
τῶν ἀληϑῶν.. .. ὅταν δὲ ἀδυνατήσασα ἐπισπέσϑανι μὴ ἴδῃ 249. ἀνακύψασα
eis τὸ ὃν ὄντως 2498 ὅταν πτερῶταί τε καὶ ἀναπτερούμενος προϑυμούμενος
ἀναπτέσϑαι κτλ.
2, An den Mythos des Phaidon erinnert auch Phaidros 256d: εἰς γὰρ σκό-
τον καὶ τὴν ὑπὸ γῆς πορείαν οὐ νόμος ἐστὶν ἔτι ἔλϑεῖν τοῖς κατηργμένοις ἤδη τῆς
ὑπουρανίου πορείας. Philolaos bezeichnete den οὐρανός, den er allerdings auf
den Raum unter dem Monde beschränkte, als den Raum, ἐν ᾧ τὰ τῆς φιλομετα-
βόλου γενέσεως (A 16 Diels).
3) Man vergleiche Wendungen wie τοῦ έγειν ἔτυμος τέχνη ἄνευ τοῦ ἀληϑείας
ἦφϑαι οὔτ᾽ ἔστιν οὔτε μή ποτε ὕστερον γένηται 200 9,
Der überhimmlische Ort. 335
über den ὑπερουρώνιος τόπος sagt — daß mit diesem weiter
nichts gemeint ist als der Bereich des Immateriellen, jenseits der
sinnlichen Erkenntnis Liegenden, darüber kann kein Leser des
Phaidon im Zweifel sein‘) —, das bringt vielleicht eine genauere
Präzisierung, sofern bei dem Ansichseienden der Gegensatz zum
Werden, die absolute Geltung im Unterschied von dem Wechsel
der (Jualitäten in den sinnlichen Erscheinungen stärker hervor-
gehoben wird, aber es geht tatsächlich über die Grundanschauung
des Phaidon nicht hinaus.
Die ganze Stelle hat im Organismus der Rede auch nur vor-
bereitende Bedeutung. Sie stellt durch eine Rekapitulation jener
Grundanschauung die Voraussetzungen fest für das Neue, was
nun kommt, die Lehre vom Eros. Auch p. 248. 9 werden wir
zunächst noch an etwas Bekanntes erinnert, an die Anamnesis-
lehre. Was den Menschen über die Tiere erhebt, ist die Fähig-
keit, von der Fülle der sinnlichen Eindrücke fortzuschreiten zur
begrifflichen Erkenntnis, συνιέναι κατ᾽ εἶδος λεγόμενον. τοῦτο δ᾽
ἐστὶν ἀνάμνησις ἐκείνων ἅ ποτ᾽ εἶδεν ἡμῶν ἣ ψυχὴ συμπορευϑεῖσα
ϑε (2490). Aber was ist es denn, was zuerst diese Anamnesis
anregt, was den ersten Antrieb zum Forschen und zur Erkennt-
nis gibt? Das ist der Eros, die leidenschaftliche Erregung, die
den Menschen erfaßt, wenn der Anblick irdischer Schönheit die
Erinnerung an die absolute in ihm entzündet und die Sehnsucht
nach dem überhimmlischen Orte wachruft, sodaß er das Sinnliche
alles gering achtet und bei den Diesseitsmenschen in den Ruf
des μανικός kommt. Gerade der Anblick der Schönheit vermag diese
Wirkung zu üben, weil bei ihr die Idee im Sinnlichen den rein-
sten Abglanz hat, und hat sie erst einmal die Anregung gegeben,
οὐδὲν κωλύει Ev μόνον ἀναμνησϑέντα τἄλλα πάντα αὐτὸν ἀνευρεῖν
(Menon 81 ἃ).
1 Vgl. etwa Phaidr. 247d ἅτ᾽ οὖν ϑεοῦ διάνοια νῷ τε καὶ ἐπιστήμῃ ἄκη-
ράτῳ τρεφομένη καὶ ἁπάσης ψυχῆς ὅσῃ ἂν μέλῃ τὸ προσῆκον δέξασϑαι, ἰδοῦσα
διὰ χρόνου τὸ ὃν ἀγαπᾷ τε καὶ ϑεωροῦσα τἀληϑῆ τρέφεται Phaidon 84a (von
der Seele des Philosophen) ἑπομένη τῷ λογισμῷ καὶ ἀεὶ ἐν τούτῳ οὖσα, τὸ ἀλη-
ϑὲς καὶ τὸ ϑεῖον καὶ τὸ ἀδόξαστον ϑεωμένη καὶ ὑπ᾽ ἐκείνου τρεφομένη κτλ.
Diese Stelle kann uns zugleich als Beleg dafür dienen, daß der „überhimmlische
Ort“ rein mythisch gemeint ist — wenn ein solcher Beleg nötig wäre. Ein
Unterschied in der Auffassung der Ideen ist zwischen Phaidon und Phaidros nicht
vorhanden.
336 Phaidros.
Wie nun der Anblick der Schönheit wirkt, wie er teils sinn-
liche Triebe erregt, teils aber auch im Intellekte die Erinnerung
an das wahrhaft Schöne weckt und damit der Seele die Flügel
gibt, auf denen sie sich zum übersinnlichen Orte emporschwingt,
das kann jetzt Plato anschaulich schildern, da er durch die Psychc-
logie und Ideenlehre sich die Grundlage geschaffen hat. Jetzt kann
er aueh für die gewaltige Erschütterung, die im menschlichen Wesen
die Liebe hervorruft, τὴν αἰτίαν ἀποδιδόναι (252 0), die wissenschaft-
liche Erklärung geben, und er verfehlt nicht, durch wörtliche An-
klänge an die erste Rede deutlich zumachen, daß man auf dieser Stufe
der Erkenntnis zu einer ganz anderen Wertung des für den nüch-
ternen Verstand einfach unsinnigen Verhaltens gelangt (— 252c)').
Viel wichtiger ist aber die Korrektur der ersten Rede, die dann
folgt. Dort hatten wir gehört, wie der Liebhaber den Geliebten
möglichst schädigt, um ihn in Abhängigkeit zu halten. Das war die
banausische Anschauung, die nur an den sinnlichen Genuß denkt.
Jetzt sehen wir, daß die Liebe deshalb so mächtig ist, weil dieses
bestimmte Individuum, der ἐρώμενος, den Menschen an ein Ideal-
bild erinnert, das er einst geschaut hat. Dieses Idealbild ist je
nach den Naturen — je nach dem Gotte, dem man einst gefolgt
ist — verschieden. Jedenfalls aber wirkt die Erinnerung so mächtig,
daß der Liebende dieses Idealbild nicht nur selber in sich zu ver-
wirklichen sucht, sondern auch in dem Geliebten, der in ihm die
Erinnerung wachgerufen hat, den er als wesensverwandt empfindet
(252c—253e). Da bleibt für den φϑονερὸς ἐραστής, vor dem die
erste Rede, die keinen ἐλεύϑερος ἔρως kannte, warnte (243c, 241 c),
kein Platz: οὐ φϑόνῳ οὐδ᾽ ἀνελευϑέρῳ δυσμενείᾳ χρώμενοι πρὸς τὰ
παιδικά, ἀλλ᾽ εἰς ὅμοιότητα αὑτοῖς καὶ τῷ ϑεῷ ὃν ἂν τιμῶσι πᾶσαν
1) 3406 οὔϑ᾽ ἡμέρας οὔτε νυκτὸς ἑκὼν ἀπολείπεται, ἀλλ᾽ ὑπ᾽ ἀνάγκης τε
καὶ οἴστρου ἐλαύνεται — 251 schildert Plato erst die Wirkungen, die die Schön-
heit beim Liebenden auslöst, und fährt fort: ὥστε πᾶσα κεντουμένη κύκλῳ ἣ
ψυχὴ olorgü καὶ ἐμμανὴς οὖσα οὔτε νυκτὸς δύναται καϑεύδειν οὔτε we)
ἡμέραν οὗ ἂν ἦ μένειν... ὅϑεν δὴ ἑκοῦσα εἶναι οὐκ ἀπολείπεται. 2408 τὸ αὑτοῦ
γλυκὺ ὡς πλεῖστον χρόνον καρποῦσϑαι ἐπιϑυμῶν — 201 extr. ἡδονὴν δ᾽ αὖ
ταύτην γλυκυτάτην ἐν τῷ παρόντι καρποῦται. 239e heißt es von dem Verhalten
des Liebhabers gegenüber dem Geliebten: πατρὸς καὶ μητρὸς καὶ συγγενῶν καὶ
φίλων στέρεσϑαι ἂν αὐτὸν δέξαιτο, ... ἀνάγκη ἐραστὴν παιδικοῖς φϑονεῖν μὲν
οὐσίαν κεχτημένοις ἀπολλυμένης δὲ χαίρειν --- 252 ἃ vom Liebhaber selber: μητέρων
τε καὶ ἀδελφῶν καὶ ἑταίρων πάντων λέλησται καὶ οὐσίας δι᾽ ἀμέλειαν ἀπολλυ-
μένης παρ᾽ οὐδὲν τέϑεται U. ἃ.
p. 2494--2ῷθει. Korrektur der ersten Sokratesrede. 337
πάντως ὅτι μάλιστα πειρώμενοι ἄγειν οὕτω ποιοῦσι. Nicht schäd-
lich ist diese Leidenschaft, sondern χαλή τε καὶ εὐδαιμονική (258 ο).
Für den Banausenstandpunkt der ersten Rede war die Liebe
das Streben nach sinnlichem Genuß, und der genußgierige Lieb-
haber mußte dem Geliebten widerwärtig erscheinen (240b—e).
Wie ganz anders gestaltet sich das Bild von der höheren Warte!
Gewiß gewahrt man auch da, wie das ungebärdige Roß der Seele
beim Anblick des schönen Knaben in die höchste Erregung gerät
und zum sinnlichen Genusse drängt. Aber neben ihm steht der
Wagenlenker der Seele, der νοῦς, und er erinnert sich an die gött-
liche Schönheit, sieht auch in ihrem irdischen Abbild ein Götter-
bild, und wenn die Seele recht beschaffen ist, der νοῦς die Herr-
schaft hat, wird der Liebhaber den Geliebten als etwas Heiliges
ansehen, dem er nur ın Ehrfurcht und Scheu sich nahen darf
(254 extr.). Der Geliebte aber, der ja kein zufällig gewähltes Objekt
sinnlicher Lust, sondern φύσει φίλος τῷ ϑεραπεύοντι ist (258 8),
kann für diese εὔνοια nicht unempfänglich bleiben '). Das Gerede
der Leute kümmert ihn nicht, und je mehr er mit dem Liebenden
in Verkehr tritt, desto mehr fällt ein Abglanz der Schönheit, die
er auf diesen ausgestrahlt hat, wie aus einem Spiegel auf ihn selbst
zurück und entzündet in ihm selber — nicht die φιλία, wie man
meist sagt, sondern ein Abbild des Eros, die Gegenliebe, und selbst
die Sinnlichkeit wird bei ihm, wenn auch schwächer als beim
Liebhaber, erregt (--- 3568).
Kann da noch davon die Rede sein, daß der Liebhaber dem
Geliebten ἀηδής wäre? Aber auch die Befürchtung, daß mit dem
Aufhören der Leidenschaft die Gemeinschaft der beiden aufhören
werde, ist jetzt verschwunden. Denn diese μανία erschöpft sich
eben nicht im sinnlichen Genuß. Im Gegenteil, die höchste Form
der Liebe, die freilich nur bei den philosophischen Seelen auftritt,
überwindet die Sinnlichkeit und befreit gerade die rein geistigen
Regungen. Beiden wachsen jetzt die Schwingen, die sie zum
Olymp emporheben, οὗ μεῖζον ἀγαϑὸν οὔτε σωφροσύνη ἀνθρωπίνη
οὔτε ϑεία μανία δυνατὴ πορίσαι ἀνθρώπῳ (256). Aber selbst wenn
1) 2558 ἐγγύϑεν ἡ εὔνοια γιγνομένη τοῦ ἐρῶντος ἐκπλήττει τὸν ἐρώμενον
διαισϑανόμενον ὅτι οὐδ᾽ οἱ σύμπαντες ἄλλοι φίλοι τε καὶ οἱκεῖοι μοῖραν φιλίας
οὐδεμίαν παρέχονται πρὸς τὸν ἔνϑεον φίλον ist die Antwort auf den Abschluß
der ersten Rede: χρή, ὦ παῖ, .. εἰδέναι τὴν ἐραστοῦ φιλίαν ὅτι οὐ μετ᾽ εὐνοίας
γίγνεται, ἀλλὰ σιτίου τρόπον χάριν πλησμονῆς.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 22
338 Phaidros.
die Liebenden nicht dem »voög allein folgen und unphilosophisch
leben, kann der Eros segensreich wirken. Wenn nämlich der Leit-
stern für sie die φιλοτιμία des besseren Seelenrosses ist, so wird
es wohl gelegentlich zum Durchbruch der Sinnenlust kommen,
aber doch gilt vom Liebhaber nicht der Satz der ersten Rede: λήξας
τοῦ ἔρωτος εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον ἄπιστος, εἰς ὃν πολλὰ καὶ μετὰ
πολλῶν ὅρκων τε καὶ δεήσεων ὑπισχνούμενος μόγις κατεῖχε τήν
γ᾽ἐν τῷ τότε συνουσίαν (240 6), vielmehr bleiben auch hier die
Liebenden dauernd einander freund, πίστεις τὰς μεγίστας ἡγουμένω
ἀλλήλοιν δεδωκέναι τε καὶ δεδέχϑαι, ἃς οὐ ϑεμιτὸν εἶναι λύσαντας
εἰς ἔχϑραν ποτὲ ἐλθεῖν (256d). Auch sie spüren etwas davon, daß
der Eros es ist, der die Glückseligkeit gibt im Diesseits wie für
das Jenseits.
Im zweiten Teile des Dialoges kommt Plato 264e auf seine
beiden Reden zurück und sagt uns ausdrücklich, was wir aus
ihnen formell lernen können. An dem Einzelfall der ἐρωτικὴ
μανία haben sie gezeigt, wie man von den vielen Einzelbeobach-
tungen kraft der Anamnesis zu der Intuition der einen Idee ge-
langen und wie man dann den allgemeinen Begriff, der dieser
Idee entspricht, wieder in seine Unterabteilungen zerlegen kann.
Das Redenpaar ist also ein Einzelbeispiel für das dialektische Ver-
fahren mit seinen beiden Zweigen, der συναγωγή und διαίρεσις.
Die erste Rede sah dabei in der μανία nur eine Krankheits-
erscheinung, die zweite eine göttliche Veränderung der mensch-
lichen Natur. Beide Betrachtungsarten muß man zusammennehmen,
um ein allseitiges Bild zu erhalten, und p. 263 hebt Plato hervor,
wie bei Streitfragen gerade der Wissende die einseitige Betrachtung
dazu benutzen kann, um seine Anschauung dem Hörer zu suggerieren
und ihn dadurch irrezuleiten. Aber das gilt in vollem Sinne doch
nur von der ersten Rede. Sie hält sich bewußt an die Auffassung
der Liebe als der rein sinnlichen Leidenschaft. Die zweite Rede
hebt im Gegensatz dazu die ϑεία ἐξαλλαγή hervor, ist aber nicht
so einseitig, das sinnliche Moment zu ignorieren. Wir dürfen die
Schattenseiten der Liebe, wie sie die erste Rede schildert, nicht
vergessen, wenn wir ein vollständiges Bild erhalten wollen; aber
im ganzen liegt die Sache doch so, daß diese in der zweiten Rede
nur deshalb verschwinden, weil auf dem höheren Standpunkte die
Lichtseiten viel mehr den Blick auf sich ziehen. Über das Wesen
des Eros gibt uns jedenfalls die zweite Rede die Aufklärung.
Verhältnis der beiden Sokratesreden zueinander. Der Eros. 339
Sie vermag das, weil hier nicht mehr der Sokratiker des Gorgias
das Wort führt, sondern der Plato, der bei sich selber die leiden-
schaftliche Sehnsucht nach dem übersinnlichen Ort gespürt, der
die Ideen geschaut hat. Damit hat er den Standpunkt überwunden,
wo er sich an die ὀρϑαὶ δοξαι halten (vgl. S. 328), sich mit der
δοξαστὴ τροφή begnügen mußte (2486) '), und gar eine Anschauung,
die bei den Mahnungen zur σωφροσύνη mit dem Hinweis auf äußer-
liche Schädigungen, die der Eros bringt, operiert, rückt jetzt von
selber auf eine Stufe mit den Anschauungen der Menge und der
Tugend, die schon der Phaidon (p. 68 vgl. S. 324.5) als banausisch
abgetan hatte (N δὲ ἀπὸ τοῦ μὴ ἐρῶντος οἰκειότης, σωφροσύνῃ ϑνητῇ
κεκραμένη, ϑνητά τε καὶ φειδωλὰ οἰκονομοῦσα, ἀνελευϑερίαν ὑπὸ
πλήϑους ἐπαινουμένην ὡς ἀρετὴν τῇ φίλῃ ψυχῇ ἐντεκοῦσα ἐννέα
χιλιάδας ἐτῶν περὶ γῆν κυλινδουμένην αὐτὴν καὶ ὑπὸ γῆς ἄνουν
παρέξει (250 6). ;
Die zweite Rede hat zur Voraussetzung die Lehre vom An-
sichseienden und von der Anamnesis, wie sie im Menon und Phaidon
entwickelt ist. Das Neue, das sie bringt, ist die Auffassung des
Eros. Im Menon hatte Plato gezeigt, wie die sokratische Methode
die Anamnesis benutzt, um zur wissenschaftlichen Erkenntnis zu
führen. Aber inzwischen hat Plato die Erfahrung gemacht, daß
noch ein Moment hinzukommen muß, ohne das alle wissenschaft-
liche Methode fruchtlos bleibt. Das ist der Trieb nach der Erkenntnis,
die Sehnsucht, über das Sinnliche hinauszukommen. Dieser Trieb
ist es, der die Anamnesis fruchtbar gestaltet. Es ist der Eros. Ganz
neu ist natürlich auch die Wertung der Schönheit, die Plato lange
unter dem Drucke der rein ethischen sokratischen Betrachtung
aus den Augen verloren hatte, die aber nun, wo sie ihm plötzlich
wieder zum Bewußtsein kommt, um so mächtiger hervordrängt
und die Vermittlung zwischen Sinnlichem und Immateriellem über-
nimmt. Neu und unsokratisch ist auch das irrationale Element,
das damit in die geistige Entwicklung des Menschen, in den Er-
kenntnisprozeß hereinkommt. Im Menon und Ion hatte Plato
Aischines’ Gedanken, daß Sokrates’ sittliche Einwirkung durch den
Eros auf einer ϑεία μοῖρα beruht habe (fr. 11D., vel. 5. 182 f£f.),
spöttisch abgewiesen und eine ϑεῖα μοῖρα nur bei der niederen Tugend
1) ἀτελεῖς τῆς τοῦ ὄντος ϑέας ἀπέρχονται καὶ ἀπελϑοῦσαι τροφῇ δοξαστῇ
χρῶνται vgl. Phaid. 84 τὸ ἀληϑὲς καὶ τὸ ϑεῖον καὶ τὸ ἀδόξαστον ϑεωμένη καὶ
ὑπ᾽ ἐκείνου τρεφομένη.
22*
940 Phaidros.
anerkennen wollen. Jetzt gilt es ihm als ausgemacht, daß der Eros,
der uns und die andern, auf die wir einwirken, zu Erkenntnis und
Glückseligkeit führt, ein irrationales Element ist, das ϑείᾳ μοίρᾳ
(244ac) uns zu Teil wird. Daß freilich Sokrates’ ganzes Wesen
damit erklärt werden kann, das räumt er nicht ein. Es ist nicht
der wahre Sokrates; drum müssen des Acheloos Töchter, die Nym-
phen, aus ihm sprechen und eine ϑεία ἐξαλλαγή bei ihm hervorrufen.
Aber Plato selber jedenfalls hat diese ϑεία μοῖρα bei sich empfunden
und erkennt sie grundsätzlich in ihrer Bedeutung an).
Wie sollen wir uns diesen Wandel in Platos Anschauungen
erklären? Mitgewirkt hat gewiß die neue Psychologie, die mit der
Alleinherrschaft des Intellekts brach. Aber der einzige, der Haupt-
grund, ist sie gewiß nicht gewesen. Wenn man die zweite Rede
des Sokrates liest, die Schilderung, wie gewaltig den Menschen
der Anblick des Schönen packt, wie damit die vita nuova für ihn
beginnt, wie sich allmählich zwischen Liebhaber und Geliebten das
geistige Band festschlingt und die anfangs so mächtige Sinnlich-
keit überwunden wird, so kann man sich schwer des Eindrucks
erwehren, daß es ganz persönliche Erlebnisse sind, die Plato hier
bekennt, und die so mächtig auf ihn eingewirkt haben, daß er ihnen
typische Bedeutung geben möchte. Damit rühren wir an einen
Punkt persönlicher Entwicklung, wo es vermessen wäre, wollte
man sich einbilden, man könne τὴν αἰτίαν ἀποδιδόναι. Und selbst
ein εἰκός möchte ich kaum in Anspruch nehmen, wenn ich den
subjektiven Eindruck äußere, daß eine Stelle besondere Beachtung
verdient. Wenn Plato 252e sagt: οἱ μὲν δὴ οὖν Διὸς δῖόν τινα εἶναι
εἶναι ζητοῦσι τὴν ψυχὴν τὸν ὑφ᾽ αὑτῶν ἐρώμενον᾽ σκοποῦσιν οὖν
ei φιλόσοφός τε καὶ ἡγεμονικὸς τὴν φύσιν, καὶ ὅταν αὐτὸν εὑρόντες
ἐρασϑῶσι, πᾶν ποιοῦσιν ὅπως τοιοῦτος ἔσται, ist es da ganz un-
1) Schon im ersten Teile finden sich mehrfach Ausdrücke, die an Aischines
oder an den Ion erinnern, z. B. 235c λείπεται δὴ oluaı ἐξ ἀλλοτρέων ποϑὲν
ναμάτων διὰ τῆς ἀκοῆς neninooodal we δίκην ἀγγείου. Wichtiger aber ist die
Stelle aus Sokrates’ Hauptrede 253a. Bei Aischines hatte Sokrates seinen durch
den Eros hervorgerufenen ἐνϑουσιασμός, kraft dessen er sittlich auf Alkibiades
einwirkt, mit dem der Bakchantinnen verglichen, die, ὅϑεν οἱ ἄλλοι ἐκ τῶν φρεάτων
οὐδὲ ὕδωρ δύνανται ὑδρεύεσθϑαι, ἐκεῖναι μέλι nal γάλα ἀρύονται (fr. 11cD).
Welches der Quell ist, aus dem sie schöpfen, ist dabei nicht klar. Plato denkt
an die Ideenwelt, die die Liebenden unter Zeus’ Führung geschaut, und sagt κἂν
ἔκ Διὸς ἀρύτωσιν ὥσπερ αἱ Βάκχαι, ἐπὶ τὴν Tod ἐρωμένου ψυχὴν ἐπαντλοῦντες
ποιοῦσιν ὡς δυνατὸν ὁμοιότατον τῷ σφετέρῳ ϑεῷ.
®2) Über diese Zusammenstellung vgl. 5. 223.
Der Eros. Der zweite Teil des Phaidros. 341
erlaubt, an das Bekenntnis ὦ ἐμὸν ἐκμήνας ϑυμὸν ἔρωτι Δίων zu
denken‘)? Καὶ τὰ μὲν ἄλλα παιδιᾷ πεπαίσϑω, soviel aber scheint
mir sicher, daß die ganze Art, wie Plato hier vom Eros redet, wie
er insbesondere die Glut der sinnlichen Liebe schildert, nicht dazu
rät, die Abfassung des Phaidros in eine Zeit zu verlegen, wo Plato
ein hoher Fünfziger war.
Scheinbar ganz unvermittelt beginnt nach Sokrates’ zweiter
Rede ein theoretisches Gespräch über die Rhetorik. Ähnliches
haben wir schon im Protagoras nach dem Mythos und im Gorgias
nach der Einteilung der Künste getroffen (S. 140). Wir werden
deshalb nicht von vornherein über die mangelhafte Komposition des
Phaidros den Stab brechen, sondern lieber uns bemühen, die
Gedankenarbeit zu leisten, die Plato von seinem Leser verlangt.
Vielleicht soll dieser auch hier εἰς μίαν ἰδέων συνορῶν ἄγειν τὰ πολ-
Aayn διεσπαρμένα.
Plato beginnt mit einem leichten Geplänkel. Es gab nämlich
noch immer so manche vornehme Herren, die jede schriftstellerische
Tätigkeit λογογραφία schalten und als nicht standesgemäß ver-
warfen’). Ihnen hält Plato entgegen, die Anträge in der Volks-
versammlung, die Gesetze seien doch auch συγγράμματα, die prin-
zipiell von den publizierten Schriften nicht verschieden seien’).
Nicht das Schreiben an sıch darf man also zum Vorwurf machen,
wohl aber ist die Frage wichtig, wie man beim Schreiben und
Reden — auf dieses wird die Untersuchung gleich ausgedehnt —
vorzugehen hat‘).
Was bei dieser Untersuchung entscheidend sein muß, stellt
Plato gleich 259e heraus: Der Redner muß die Wahrheit wissen
1 Beim Phaidros habe ich viel stärker die Empfindung, daß Plato Selbst-
erlebtes bekennt, als beim Symposion, wo Gomperz, Gr. D. IH S. 319 auf Dion
hinweist.
5) Daß Plato in eigener Sache redet und die Verteidigung des Lysias gegen
den Vorwurf der Aoyoyoapia nur zum Vorwand nimmt, ist doch deutlich. Da-
mit entfallen Useners Folgerungen aus unserer Stelle.
®) Der Sokratiker Aischines vergleicht die Gesetze mit den Reden und nennt
sie λόγοι γεγραμμένοι fr. 51D.
Ἢ 258e läßt Plato den Phaidros die Freuden betonen, die man von der
wissenschaftlichen Tätigkeit hat. Wenn er dabei diesen die körperlichen Lüste
entgegenstellt, bei denen meistens προλυπηϑῆναι δεῖ ἢ μηδὲ ἡσθῆναι, so weist
das auf Gorg. 496 zurück. Diese heißen ἀνδραποδώδεις wie im siebenten Briefe
335b. Zu dem Worte vgl. Phaidon 69b.
942 Phaidros.
über das, wovon er reden soll. Das widerspricht freilich der ge-
wöhnlichen Auffassung der Rhetorik. Denn die lehrt, um die Menge
zu überreden, brauche man nicht die Wahrheit zu wissen, sondern
τὰ δόξαντ᾽ ἂν πλήϑει οἵπερ δικάσουσιν, οὐδὲ τὰ ὄντως ἀγαϑὰ ἢ καλὰ
ἀλλ᾽ ὅσα δόξει. (2604). Es ist die Auffassung, die z. Β. Isokrates in
seiner Programmrede vertritt, wenn er ὃ 8 erklärt, οἱ ταῖς δόξαις
χρώμενοι hätten größere praktische Erfolge als die Leute, die ein
Wissen zu besitzen behaupten, und die er sein ganzes Leben gegen
Plato verfochten hat‘). Wohin solche Anschauung führt, das macht
Plato an dem drastischen Beispiel klar, wo Redner und Auditorium
in der δόξα einig sind, daß das Pferd an langen Eselsohren kenntlich
sei (260) ἢ.
Damit ist eigentlich die Unhaltbarkeit der herrschenden Auf-
fassung der Rhetorik schon erwiesen. Aber man könnte diese
doch noch als besondere Kunst festhalten, weil auch für den, der
die Wahrheit weiß, die Überredungskunst unentbehrlich sei, weil
ohne sie keine Einwirkung auf andere möglich sei (260d). Die
Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, ob sie wirklich eine
Kunst ist. Denn Sokrates glaubt Reden zu vernehmen, die diesen
Anspruch aufs heftigste bestreiten und erklären, ὅτε ψεύδεται καὶ
οὐχ ἔστι τέχνη ἀλλ᾽ ἄτεχνος τριβή. Es kann nicht bezweifelt werden,
daß damit Plato auf seinen Gorgias hinweist, wo es 409} von der
Rhetorik heißt: οὐκ ἔστι τέχνη, ἀλλ᾽ ἐμπειρία καὶ τριβή. Aber
wenn er nun erklärt, diese λόγοι prüfen zu wollen, so denkt er
natürlich nicht an eine Einzelkritik der Ausführungen des Gorgias,
sondern den unbestimmten Ausdruck λόγοι wählt er, um die ganze
Anschauung von der Rhetorik, die in jenen Worten zum Ausdruck
1) Darauf kommen wir nachher zurück.
3) Vgl. das Witzwort des Antisthenes bei D.L. VI, 8: συνεβούλευεν ᾿Αϑηναίοις
τοὺς ὄνους ἵππους wnploaodaı: ἄλογον δὲ ἡγουμένων , ἀλλὰ μὴν nal στρατηγοί“,
φησί, ςφαένονται παρ᾽ ὑμῖν μηδὲν μαϑόντες, μόνον ὃὲ χειροτονηϑέντες“.
3) Gercke, Rh. M. LXII S. 176 übergeht grade diese entscheidenden Worte.
Wenn er ein Zitat des Gorgias nicht anerkennen will, so bestimmt ihn außer
seiner Gesamtanschauung über das Verhältnis von Gorgias und Phaidros wohl
besonders der an sich im ganzen richtige Gedanke, daß die folgende Beweisreihe
mit dem Gorgias nichts zu tun hat. Darüber vgl. den Text. Süß, Ethos 5. 21 ἢ,
faßt das Problem nicht scharf an. Die Frage nach dem Verhältnis unserer Stelle
zu Gorg. 463b, die doch Ausgangspunkt sein muß, stellt er nicht klar. Auch
er sieht in den λόγοι ein Zitat aus einer Schrift des Gorgias selber. Aber Plato
sagt doch ausdrücklich, daß diese λόγοι die Rhetorik, und zwar die ganze, —
von einer einzelnen Richtung der Rhetorik ist hier wie p. 260 gar keine Rede
p. 259e—261b. Ist die Rhetorik eine Kunst? 343
kam, auf ihre Berechtigung zu prüfen; und daß er dabei seine
Auffassung gegenüber dem Gorgias modifizieren will, das deutet
er sofort an, indem er den λόγοι die bestimmte Aufgabe zuweist:
Daidoov neidere ὡς ἐὰν μὴ ἱκανῶς φιλοσοφήσῃ, οὐδὲ ἱκανός more
λέγειν ἔσται περὶ οὐδενός (261a). Er will also die absolute Scheidung
von Philosophie und Rhetorik aufgeben und in der Philosophie
die Grundlage der wahren Rhetorik aufzeigen.
Die rhetorikfeindlichen Logoi beginnen: "Ao’ οὖν οὐ τὸ μὲν
ὅλον A ῥητορικὴ ἂν εἴη τέχνη ψυχαγωγία τις διὰ λόγων, οὐ μόνον
ἐν δικαστηρίοις καὶ ὅσοι ἄλλοι δημόσιοι σύλλογοι, ἀλλὰ καὶ ἐν ἰδίοις,
ἡ αὐτὴ σμικρῶν τε καὶ μεγάλων πέρι, καὶ οὐδὲν ἐντιμότερον τό γε
ὀρϑὸν περὶ σπουδαῖα ἢ περὶ φαῦλα γιγνόμενον; Siebeck hat be-
kanntlich auch in diesen Worten ein Zitat aus dem Gorgias ge-.
sehen, wo der Redner 452e als Aufgabe der Rhetorik bezeichnet
τὸ πείϑειν οἷόν τ᾽ εἶναι τοῖς λόγοις καὶ Ev δικαστηρίῳ δικαστὰς καὶ
ἐν βουλευτηρίῳ βουλευτὰς καὶ ἐν ἐκκλησίᾳ ἐκκλησιαστὰς καὶ ἐν ἄλλῳ
συλλόγῳ παντί, ὅστις ἂν πολιτικὸς σύλλογος γίγνηται. Demgegen-
über sieht Süß auch hier ein Zitat aus einer Schrift des Gorgias
selber. Er schließt mit Recht nach dem Vorgange von Scheel aus
Helena 10 ἔνϑεοι διὰ λόγων ἐπῳδαὶ ἐπαγωγοὶ ἡδονῆς dnayaywyoi
λύπης und aus dem ψυχαγωγεῖν τοὺς ἀκροωμένους bei Isokr. ad
Nik. 49 Euag. 10 sowie aus der Wiederkehr des Terminus im
Phaidros 271c, daß die Definition der Rhetorik als ψυχαγωγία von
Gorgias selbst herrührt. Auch das ist mir durchaus wahrscheinlich,
daß im Gorgias 452 Plato dem Redner Worte in den Mund legt,
wie er sie wirklich gesprochen hat, und man mag deshalb auch
im Phaidros "Ao’ — σύλλογοι als Zitat aus einer Schrift des Rhetors
ansehen. Aber ein folgenschwerer Irrtum ist es, wenn Süß auch
die folgenden Worte, die gerade die Ausdehnung der Redekunst
über das gewöhnliche Gebiet der Rhetorik bringen, als gorgianisch
betrachtet (S. 22). Denn daß die Worte ἀλλὰ καὶ ἐν ἰδίοις —
— als unwissenschaftlich bezeichnen. So könnte er sich doch nicht ausdrücken,
wenn er Einwände, die Gorgias gegen eine bestimmte Richtung erhoben hatte,
gegen ihn selber kehren wollte.
In den Gesetzen spricht Plato 937d ff. von der schlechten Einrichtung, die
sich an die Stelle des δώκη zu drängen sucht und für Geld verspricht, der gerechten
wie der ungerechten Sache den Sieg zu bringen. Die soll im Idealstaat nicht er-
laubt sein, εἴτ᾽ οὖν τέχνη εἴτε ἄτεχνός ἐστίν τις ἐμπειρία καὶ τριβή. Hier faht
Plato die Rhetorik wie im Gorgias als Afterkunst, berücksichtigt aber den
Phaidros mit.
544 Phaidros.
γιγνόμενον Plato ganz persönlich gehören, das spricht er doch selbst
aus, wenn er Sokrates die Frage anschließen läßt ἢ πῶς σὺ ταῦτ᾽
ἀκήκοας; worauf Phaidros antwortet: Οὐ μὰ τὸν Δι’ οὐ παντάπασιν
οὕτως, ἀλλὰ μάλιστα μέν πως περὶ τὰς δίκας λέγεταί τε καὶ γράφεται
τέχνη, λέγεται δὲ καὶ περὶ δημηγορίας" ἐπὶ πλέον δὲ οὐκ ἀκήκοα.
Dabei kennt er, wie er ausdrücklich hinzufügt, Gorgias’ Lehren so
gut wie die des Thrasymachos und Theodoros’).
Plato geht also von der Anschauung über die Rhe-
torik aus, die deren Hauptwortführer Gorgias zum Aus-
druck gebracht hat, korrigiert aber diese sofort, indem
er zeigt, daß die Seelenleitung keineswegs bloß auf den
von der Rhetorik beanspruchten Gebieten gilt, sondern
überall, wo eine Einwirkung von Mensch zu Mensch
mittels des Wortes stattfindet. Damit erweitert er die Auf-
gabe der Rhetorik, entkleidet sie aber zugleich des Charakters, den
ihr die Schulrhetorik aufgedrückt hat.
Daß tatsächlich Plato selber erst diese Erweiterung vor-
nimmt, zeigt unzweideutig das Folgende. Denn nachdem er mit
einem τούτους μὲν ἐῶμεν Gorgias und seine Leute ausgeschaltet
hat, ist das erste, daß er von sich aus den Beweis dafür gibt,
daß dieselbe Kunst, eine Handlung bald gerecht bald ungerecht
erscheinen zu lassen, die vor Gericht und in der Volksversamm-
lung ihre Rolle spielt, auch von dem Eleaten Zenon geübt wird.
Οὐκ ἄρα μόνον περὶ δικαστήριά τέ ἐστιν ἣ ἀντιλογικὴ καὶ περὶ
δημηγορίαν, ἀλλ᾽ ὡς ἔοικε, περὶ πάντα τὰ λεγόμενα μία τις τέχνη,
εἴπερ ἔστιν, αὕτη ἂν ein, N τις οἷός τ᾽ ἔσται πᾶν παντὶ ὁμοιοῦν
τῶν δυνατῶν καὶ οἷς δυνατόν, καὶ ἄλλου ÖuoLoövrog καὶ ἀποκρυπτο-
μένου εἰς φῶς ἄγειν (261). Und nun kann er von diesem
Standpunkt aus sofort den gegen Gorgias sogut wie gegen Ly-
sias gerichteten Beweis führen, daß die Lenkung der Seelen nur
ἡ „Man spricht mündlich wie literarisch auf dem Gebiet der Rechtspflege
von der ῥητορικὴ τέχνη.“ Also ist wohl τέχνη (B) vor τέχνῃ (T) vorzuziehen.
3) Wenn also Alkidamas $ 9 sagt: τές γὰρ οὐκ οἶδεν, ὅτι λέγειν μὲν ἔκ τοῦ
παραυτίκα καὶ δημηγοροῦσι καὶ δικαζομένοις καὶ τὰς ἰδέας ὁμιλίας ποιοῦσιν
ἀναγκαῖόν ἔστι, so hat entweder Plato ihn ignoriert oder aber Alkidamas schließt
sich an Plato an. Das letzte ist mir wahrscheinlicher, da für Alkidamas diese
Stegreifrede im privaten Kreise herzlich wenig Bedeutung hat, und er schwerlich
in seinem Unterricht auf diese vorbereitet hat. Jedenfalls ist es nicht richtig,
wenn Gercke, Rh. M. LXII 85. 175 gerade umgekehrt meint, Plato liege hier ein
tieferer Gedanke gewiß ferne und er lasse diesen Einfall sofort fallen.
p. 261—266c. Erweiterung des Begriffes ψυχαγωγία. 345
für den Wissenden möglich ist. Denn die Täuschung der Hörer
vollzieht sich dadurch, daß man durch unmerkliche Übergänge
unter Benutzung der Ähnlichkeiten von einem Punkte zum an-
deren führt. Diese Täuschung ausführen oder aufdecken wird
aber nur der können, der die Ähnlichkeiten kennt. Λόγων ἄρα
τέχνην ὃ τὴν ἀλήϑειαν μὴ εἰδὼς δόξας δὲ τεϑηρευκὼς γελοίαν
τινά, ὡς ἔοικε, καὶ ἄτεχνον παρέξεται (2620). Ohne das Wissen
vom Objekt bleibt also die Rhetorik wirklich eine ἄτεχνος τριβή.
Was Plato theoretisch erwiesen hat, macht er dann an dem
Beispiel der Reden des ersten Teiles klar. Auch bei den Reden
über den Eros handelte es sich für den Verfasser darum, die
Hörer nach seinem eigenen Willen zu lenken, und das Thema
war hier besonders geeignet, weil der Eros zu den Dingen ge-
hört, deren Wesen umstritten ist. Es kam also darauf an, die
eigene Auffassung dem Hörer zu suggerieren. Das hat Sokrates
erreicht, indem er von vornherein die Hörer durch eine Definition
des Eros in einen bestimmten Gedankenkreis bannte und sie
darin festhielt, während Lysias keinen Versuch dazu machte,
weder im Anfang noch im Verlaufe seiner überhaupt nicht nach
einem festen Plane aufgebauten Rede (— 264e). Sokrates hat es
vermocht, weil er die Kunst der Induktion und Deduktion be-
herrscht, die er zusammenfassend Dialektik nennen will, und
durch sie in den Stand gesetzt war die Wahrheit zu erkennen.
Mit deren Hülfe kann man also auch zu einer λόγων τέχνη kom-
men. Lysias und Konsorten haben sie nicht (— 266 ce).
Damit ist die Frage von 260d zu beantworten. Es liegt
nicht etwa so, daß neben der Erkenntnis der Wahrheit eine von
ihr völlig unabhängige, auf anderen Prinzipien beruhende Rede-
kunst existiert. Sondern soweit die ψυχαγωγία den Charakter
einer τέχνη beanspruchen kann, ist die Erkenntnis des Objekts
kraft der Dialektik Vorbedingung.
Aber gibt es denn nun überhaupt eine solche formelle Kunst?
Und worin besteht sie? Ganz gewiß nicht in dem, was die rhe-
torischen τέχναι bringen. Denn das sind einzelne Kunstgriffe,
die wohl aus der Empirie gewonnen und praktisch brauchbar,
vielleicht sogar notwendig sein mögen, aber keinen wissenschaft-
lichen Charakter tragen. Wer sich mit ihnen begnügt, gleicht
dem Kurpfuscher, der ein paar praktische Rezepte gelernt hat
und sich daraufhin einbildet, ein Arzt zu sein, obwohl er nicht
346 Phaidros.
Rechenschaft darüber geben kann, wann und wie diese Rezepte
anzuwenden sind. Wenn die Rhetoren trotzdem ihre praktischen
Mätzchen als Wissenschaft ansehen, so zeigen sie einfach, daß
sie aus Mangel an dialektischer Schulung nicht imstande sind, das
Wesen οἰ που. τέχνη zu erfassen (— 269 e).
Was müßten wir nun aber positiv als Inhalt einer wirklichen
δητορικὴ τέχνη betrachten? Welches die Faktoren sind, die prak-
tisch zu großen, rednerischen Leistungen befähigen, darüber
kann kein Zweifel sein. Schon Protagoras hatte erklärt (fr. 3):
φύσεως καὶ ἀσκήσεως διδασκαλία δεῖται, im hippokratischen Νο-
mos 2 ist für den Arzt nötig φύσις διδασκαλίη .. φιλοπονίη, und
schwerlich dachte der Verfasser der Apologie der Heilkunst an-
ders, wenn er auch nur παιδείη und φύσις ausdrücklich erwähnt
(e. 9, wo Gomperz noch andere Stellen gibt); gewiß hat auch
Süß 5. 27 recht, wenn er aus der Übereinstimmung von Plato
mit Isokrates ca. soph. 17 schließt, daß Gorgias scharf die drei
für den Redner nötigen Faktoren φύσις μελέτη ἐπιστήμη formu-
liert hat. Aber beachten muß man, daß Plato diesen Punkt, in
dem er mit der vulgären Anschauung übereinstimmt, nur der
Vollständigkeit halber erwähnt und zwei Faktoren ganz kurz ab-
macht, dafür aber desto ausführlicher bei der ἐπιστήμη verweilt.
Und hier greift er nun naturgemäß auf den Gegensatz τέχνη —
ἄτεχνος τριβή und auf den Gorgias zurück. Natürlich lag dabei
keine Veranlassung für ihn vor, das ganze System der Künste
aus Gorg. 465 zu verkapitulieren. Insbesondere konnte er bei
der neuen Auffassung der Rhetorik als der allgemeinen Kunst
der Einwirkung mittels der Rede diese nicht mehr als Schmeichel-
kunst bezeichnen. Um so wichtiger war die Parallelisierung der
Einwirkung auf den Leib und der auf die Seele. Diese trägt er
deshalb 270b wieder vor und überträgt wieder die in der Medizin
übliche Scheidung von Wissenschaft und Routine (vgl. S. 135 ff.)
auf die Rhetorik. Jetzt läßt er aber noch schärfer hervortreten,
was er der medizinischen Wissenschaft verdankt. Er beruft sich
ausdrücklich auf deren anerkannten Meister, auf Hippokrates, und
auf seine Lehre, daß medizinische Wissenschaft nur da vorhanden
sei, wo man die Natur des Körpers kenne und diese Kenntnis
selber auf die Kenntnis der gesamten Natur gründe. Das gleiche
muß von der Seele gelten. Damit kommt er natürlich zu einer
Auffassung, die über den Horizont der Berufsrhetoren weit hin-
p. 2664— 270. Die Seelenkunde Voraussetzung der ψυχαγωγία. 547
ausgeht. Von der Wichtigkeit einer klaren Psychologie für die
Kunst der Überredung wußten die nichts, und gar die Speku-
lation über die Natur des Alls erschien ihnen als ἀδολεσχία und
μετεωρολογία). Aber der Mann, der von allen als der größte
praktische Redner anerkannt war, verdankt die Großzügigkeit
und den Weitblick seiner Reden neben seiner Anlage vor allem
dem Umstande, daß er durch Anaxagoras Verständnis für die
Naturphilosophie gewonnen hatte. Es sind auch keine utopi-
stischen Forderungen, wenn Plato hier die Psychologie für die
Wissenschaft der Seelenführung verlangt. In den Reden des
ersten Teiles hat er ja eine Psychologie gegeben und sie auf
eine umfassende Weltanschauung fest gegründet. Und gerade
die dort gegebene Psychologie zeigt die Notwendigkeit, Klarheit
über die Möglichkeit und Art der Einwirkung auf die verschiede-
nen εἴδη der Seele zu gewinnen. Die einzelnen methodischen
Forderungen kann er dabei wieder aus der medizinischen Wissen-
schaft übernehmen. Selbst der Verfasser der Schrift über die
alte Medizin, der Hippokrates’ Forderungen der absoluten Kennt-
nis der menschlichen Natur oder gar des Alls verwirft (20), ver-
langt doch vom Mediziner das Wissen ὅτι τέ ἐστιν dvdowsog
πρὸς τὰ ἐσϑιόμενά τε καὶ πινόμενα καὶ ὅτι πρὸς τὰ ἄλλα ἐπιτη-
δεύματα καὶ ὅτι ἀφ᾽’ Exdorov ἑκάστῳ συμβήσεται, καὶ μὴ ἁπλῶς
οὕτως -πονηρόν ἐστι βρῶμα τυρός ' πόνον γὰρ παρέχει τῷ πλη-
ρωϑέντι αὐτοῦ,“ ἀλλὰ τίνα τε πόνον καὶ διὰ τί καὶ τίνι τῶν ἐν
τῷ ἀνθρώπῳ ἐνεόντων ἀνεπιτήδειον (ebenda) und wird nicht müde
einzuschärfen, daß der Arzt sich über die Wirkung jeder ein-
zelnen Maßnahme, jeder einzelnen Arznei klar sein, daß er ins-
besondere die Bedeutung der Säfte, sowie die Beschaffenheit der
Organe des Körpers kennen müsse. Denn es gibt im Körper
sehr verschiedene εἴδεα σχημάτων ἃ δεῖ ndvra εἰδέναι N διαφέρει,
ὅπως τὰ αἴτια ἑκάστων εἰδὼς ὀρϑῶς φυλάσσηται " περὶ δὲ δυνα-
μίων χυμῶν αὐτῶν τε ἕκαστος ὅτι δύναται ποιεῖν τὸν ἄνϑρωπον
ἐσκέφϑαι κτλ. (28. 4). Ein Widerhall solcher Erörterungen ist es
doch. wenn Plato unter ausdrücklichem Hinweis auf die Medizin
für die Kunst der psychischen Einwirkung die Forderungen prä-
zisiert: Der Lehrer der Rhetorik muß erstens das Wesen der
1. Daran daß an dieser Stelle (270a), die ganz auf Perikles zugespitzt ist,
Plato auf Gorgias anspiele oder gorgianische Gedanken vortrage, hat gewiß kein
Leser Platos gedacht.
348 Phaidros.
Seele prüfen, πότερον Ev zul ὅμοιον πέφυκεν ἢ κατὰ σώματος
μορφὴν πολυειδές, zweitens, ὅτῳ τί ποιεῖν ἢ παϑεῖν ὑπὸ τοῦ πέ-
φυκεν" τρίτον δὲ δὴ διαταξάμενος τὰ λόγων τε καὶ ψυχῆς γένη καὶ
τὰ τούτων παϑήματα δίεισι πάσας αἰτίας, προσαρμόττων ἕκαστον
ἑκάστῳ καὶ διδάσκων οἵα οὖσα ὑφ᾽ οἵων λόγων δι’ ἣν αἰτίαν ἐξ
ἀνάγκης ἣ μὲν πείϑεται ἣ δὲ ἀπειϑεῖ (211 8).
So nahe die Übertragung der medizinischen Grundsätze auf
die Seelentherapie liegt, die berufsmäßigen Vertreter der Rhe-
torik wissen von ihr nichts. Οἱ νῦν γράφοντες, ὧν σὺ ἀκήκοας,
τέχνας λόγων, bemerkt Sokrates spöttisch mit ausdrücklichem
Hinweis auf 261b, wo Phaidros seme Bekanntschaft mit den
τέχναι des Gorgias, Thrasymachos und Theodoros ausgesprochen
hatte, πανοῦργοί εἶσιν καὶ ἀποκρύπτονται εἰδότες ψυχῆς πέρι
παγκάλως. Das schließt natürlich nicht aus, daß die empirisch
gefundenen Einzelvorschriften, die sie lehren, einen gewissen
Wert haben. Gorgias hat mit Recht eine Kenntnis der εἴδη τῶν
λόγων, der Redegattungen verlangt. Richtig ist auch seine For-
derung, daß der Redner über den passenden Zeitpunkt, den xaı-
ρός, klar sein muß, wo er seine Kunstgriffe anwenden kann.
Auch die Kunst des knappen Ausdrucks und Thrasymachos’ Vor-
schriften über die Erregung der Affekte, die ἐλεινολογία und dei-
vooıs mag man benützen. Aber wissenschaftlichen Charakter er-
hält das alles erst, wenn die Psychologie die Grundlage geschaffen
hat und man nicht bloß auf Grund von unsicheren Vorstellungen
die Seele des andern als Zielpunkt für seine Reden nimmt, son-
dern über die Wirkung der λόγοι auf die Hörer sich wirklich
genau Rechenschaft zu geben vermag. So kann denn die Skizze,
die Plato p. 271 von einer wirklichen τέχνη δητορική entwirft,
gar manche Einzelheit aus den bisherigen τέχναι anerkennen und
bewußt aufnehmen. Der Gesamtcharakter aber ist von Grund
auf geändert.
Damit hat Plato die 266d in Aussicht genommene Aufgabe
gelöst und gezeigt, wie die Wissenschaft von der Einwirkung
mittels der Rede, die wissenschaftliche ψυχαγωγία beschaffen sein
müsse. Aber wie die Redner nach der positiven Darlegung noch
τὰ πρὸς τὸν ἀντίδικον bringen, so hält er es doch für notwendig,
seine p. 260 — 6 erwiesene Grundthese, daß die Kenntnis des
Objekts, das Wissen der Wahrheit die Voraussetzung sein müsse,
gegen einen Einwurf der Berufsrhetoren zu sichern. Es ist die
271—277 a. Die neue ῥητορικὴ τέχνη. Mündliche und geschriebene Rede. 349
Lehre des Teisias, daß man auf die Menge viel besser durch das
εἰκός als durch das ἀληϑές einwirke. Da aber das εἰκός nichts
anderes ist als τὸ τῷ πλήϑει δοκοῦν (273a, Zitat von 260a) und
es deswegen der Menge glaubhaft erscheint, weil es der Wahr-
heit ähnlich ist, so genügt zur Widerlegung des Einwurfs die
Erinnerung an den p. 261. 2 gegebenen Nachweis, daß die Ähn-
lichkeiten nur der herausfinden kann, der die Wahrheit weiß
(272d — 279 6).
Οὐκοῦν τὸ μὲν τέχνης τε καὶ ἀτεχνίας λόγων πέρι ἱκανῶς
ἐχέτω, schließt Plato 2748. die Untersuchung ab und fährt fort:
τὸ δ᾽ εὐπρεπείας δὴ γραφῆς πέρι καὶ ἀπρεπείας, πῇ γιγνόμενον
καλῶς ἂν ἔχοι καὶ ὅπῃ ἀπρεπῶς, λοιπόν. Damit greift er auf
258d zurück, wo er zu Gunsten des Lysias festgestellt hatte, ὅτι
οὐκ αἰσχρὸν αὐτό γε τὸ γράφειν λόγους. Aber jetzt trıtt er mit
einem ganz neuen Gesichtspunkt an die Frage heran. Während
die τέχνη λόγων, die er vorher behandelte, die schriftliche wie die
mündliche Einwirkung umfaßte, stellt er diese jetzt in Gegensatz
zueinander. Zunächst nimmt er dabei gegenüber den Vertretern
der τέχνη τῶν γραμμάτων für sich als Außenstehenden das Recht
in Anspruch — der Ägypter Thamus hat es ebenso gemacht —
über den Wert dieser Kunst abzuurteilen (274 extr.), und das
Urteil muß lauten, daß die Schrift nicht Selbstzweck, sondern
ein Notbehelf neben der mündlichen Rede ist, daß sie ohne diese
nicht Verständnis, sondern nur den Schein des Wissens bringt.
Denn die geschriebene Rede gleicht dem stummen Standbilde,
das wohl an das Urbild zu erinnern, aber nicht selber Rede zu
stehen und Verständnis zu vermitteln vermag. Primär hat nur
der mündliche Unterricht Wert, der durch Frage und Antwort,
durch die Dialektik wirkliches Wissen vermittelt und Samen
streut, der nicht wie die Adonisgärten bald verwelkt, sondern
ewige Frucht trägt. Nur sekundäre Bedeutung also hat die
Schrift. Sie mag zur Erinnerung an die mündliche Belehrung
dienen, sie darf als Erholung, als die würdigste παιδιά des
Menschengeistes gelten. Aber nur im Zusammenhang mit dem
mündlichen Unterricht hat sie Wert (— 277a).
Wie man längst bemerkt hat, hebt auch Plato hier bewußt
hervor, daß er ein Stück mit verständigen Rhetoren wie Gorgias
oder Isokrates zusammengehen kann. Der Vergleich des stummen
Bildes mit dem lebendigen Menschen lag in dem statuenreichen
350 Phaidros.
Athen natürlich nahe, und in Aristophanes’ Fröschen singt der
Chor 533: ταῦτα μὲν πρὸς ἀνδρός ἐστι νοῦν ἔχοντος καὶ φρένας
χαὶ πολλὰ περιπεπλευκότος, μετακυλίνδειν αὑτὸν ἀεὶ πρὸς τὸν
εὖ πράττοντα τοῖχον μᾶλλον ἢ γεγραμμένην εἰκόν᾽ ἑστάναι λαβόνϑ᾽
ὃν σχῆμα. Aber wenn Alkidamas 27.8 ausführlich diesen Vergleich
auf das Verhältnis der mündlichen zur geschriebenen Rede an-
wendet’) und Isokrates in ähnlicher Weise die toten Musterstücke
der Technographen der lebendigen beweglichen Rede gegenüber-
stellt, so folgert Süß, Ethos S. 34 ff. wohl mit Recht, daß dieser
Vergleich schon bei Gorgias vorlag. Daß Plato an einen gegebenen
Vergleich anknüpft, deutet er auch selbst an, wenn er 275d sagt:
δεινὸν γάρ που τοῦτ᾽ ἔχει γραφὴ καὶ ὡς ἀληϑῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ.
Auch der Gedanke, daß die geschriebenen Reden nicht Rede und
Antwort stehen, ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαϑεῖν,
ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί (275c), hat seine Parallelen bei
Isokrates (ca. soph. 12 und im Briefe an Dionysios 3); wichtiger
ist es aber hier jedenfalls, daran zu erinnern, daß diese Kritik aus
der Sokratik naturgemäß erwachsen mußte und wirklich Sokrates
schon im Protagoras 329a den Sophisten lobt, weil er sich erbiete
auch Rede und Antwort zu stehen, und es nicht so mache wie die
Volksredner, die lange Reden halten, ei δὲ ἐπανέροιτο τινώ τι, ὥσπερ
βιβλία οὐδὲν ἔχουσιν οὔτε dnoxgivaodaı οὔτε αὐτοὶ ἐρέσϑαι. End-
lich knüpft Plato noch in einem anderen Punkte an die Rhetorik
an. Wenn von Thrasymachos eine Sammlung παίγνια zitiert wird,
wenn Gorgias seine Helena abschließt ἐβουλήϑην γράψαι τὸν λόγον
“Ἑλένης μὲν ἐγκώμιον ἐμὸν δὲ παίγνιον, wenn Plato dies in der
Agathonrede so nachahmt: οὗτος ὃ παρ᾽ ἐμοῦ λόγος τῷ ϑεῷ
ἀνακείσϑω, τὰ μὲν παιδιᾶς τὰ δὲ σπουδῆς μετρίας, nad” ὅσον ἐγὼ
δύναμαι, μετέχων, so kann man nicht zweifeln, daß hier ein rheto-
rischer Terminus vorliegt’). Der Sinn ist gewiß der des lusus ingenii,
das „technische Experiment“ im Gegensatz zu der durch den Ernst-
fall gebotenen Rede oder der praktischen Vorbereitung für diese.
Daß nicht überhaupt das γράφειν als παιδιώ betrachtet wird, scheint
1) Sein Ausdruck ὁ γεγραμμένος λόγος, Evi σχήματι καὶ τάξει κε-
χρημένος Stimmt so merkwürdig zu Aristophanes, daß ich die Möglichkeit
nicht ausschließen möchte, daß der Dichter auch hier wie 1021 mit seinem δρᾶμα
"Aoewg μεστόν ein Zitat aus Gorgias gibt, dem er vielleicht noch mehr verdankt.
2) Maaß, Hermes 22, 8.575; Gercke ib. 32, 8.355; Süß, Ethos 55.67. Daß der Ter-
minus aber aus der Poesie stammı, zeigt Reitzenstein Epigramm und Skolion 87°.
Mündliche und geschriebene Rede. 351
mir an sich selbstverständlich und ist an allen drei Stellen deutlich').
An der dritten ist vom Schreiben ja überhaupt keine Rede. Aber auch
Thrasymachos konnte doch nicht eine Einzelsammlung im Gegensatz
z.B. zu seinem ovußovievrızoi als παίγνια bezeichnen, wenn er jede
Publikation als παίγνιον ansah, und ebensowenig durfte in diesem
Falle Gorgias das Wort als Gharakteristikum einer Einzelrede ver-
wenden. Es ist also eine Weiterbildung des Terminus und der
ihm zu Grunde liegenden Anschauung, wenn Alkidamas am Schlusse
seiner Rede die Übung in der Stegreifrede als den eigentlichen
Zweck des rhetorischen Unterrichts, das γράφειν dagegen als παιδιά
und πάρεργον bezeichnet, und wenn Plato 276b ff. in derselben
Weise die publizistische Tätigkeit dem mündlichen Unterricht
gegenüberstellt. Hier bleibt also die Prioritätsfrage bestehen. Ich
glaube, daß sie zu Gunsten Platos zu entscheiden ist’). Doch kommt
darauf nicht viel an. Denn das Wesentliche bleibt das Motiv, aus
dem heraus Plato das γρώφειν nur als Ergänzung des mündlichen
Unterrichts gelten lassen will. Und dieses Motiv steht im Gegen-
satz zu aller Rhetorik. Es ist der Gedanke, daß nur der mündliche
Verkehr, nur die lebendige Wechselwirkung von Lehrer und Schüler
diesen zum Selbstdenken, zum Forschen und Erkennen erzieht.
Daß das die Hauptsache ist, hebt Plato in der Zusammen-
fassung, mit der er nach Art der Redner seine Untersuchung ab-
schließt, nochmals aufs schärfste hervor (277.8): Ohne Wissen
von dem Objekt, über das man redet, ohne dialektische Schulung
und psychologische Kenntnis ist keine τέχνη λόγων, keine Wissen-
schaft der ψυχαγωγία durch Überredung oder Belehrung denkbar.
Wo diese wissenschaftliche Grundlage vorhanden ist, da ist die
Einwirkung auf andere, mag man sie als Redner, als Gesetzgeber
oder sonstwie üben, berechtigt, sonst nicht. Die richtige Art
der Einwirkung ist aber die des mündlichen Verkehrs, weil er
allein wirkliche Belehrung gibt, dauernde Erkenntnis vermittelt.
Immerhin ist das weniger wichtig, in welcher Form man ein-
zuwirken sucht. Entscheidend ist, ob man von dem, was man
!) Auch die Analogie des poetischen zalyvıov spricht dafür. Vgl. vor. Anm.
3) Vgl. 5. 344°. Wenn Gercke, Rh. M. LXII S. 173 ff. für die Priorität des
Alkidamas eintritt, weil Platos Eintreten für den mündlichen Unterricht mit dem
übrigen Inhalt des Phaidros schlecht verknüpft sei, so kann ich dem nach meiner
Analyse nicht beitreten. — Da Isokrates im Panegyrikos 11 wohl wirklich auf
Alkidamas repliziert, würde die Priorität des Phaidros für deren Abfassung längere
Zeit vor 380 entscheiden.
352 Phaidros.
vorbringt, ein wirkliches Wissen hat und Rechenschaft darüber
geben kann oder nicht (2780). Nur wer dieses Streben nach der
Wahrheit hat, den darf man φιλόσοφος nennen.
Damit ist Sokrates am Ende. p. 2618 hatte er den Aöyoı, die
den wissenschaftlichen Charakter der Rhetorik bezweifelten, die
Aufgabe gestellt: Φαῖδρον πείϑετε ὡς ἐὰν μὴ ἱκανῶς φιλοσοφήσῃς
οὐδὲ ἱκανός more ἔσται λέγεινπερὶ οὐδενός. Jetzt haben sie ihre
Aufgabe gelöst, und Sokrates kann sie verabschieden (278})).
Müssen wir uns jetzt noch mit der Anschauung auseinander-
setzen, daß „das spezifisch platonische Gut im Phaidros bei weitem
nicht den Umfang hat, den man ihm gemeinhin zubillist“, daß
Plato wohl versucht, hier und da einen Faktor der gorgianischen
Theorie zu verstärken, aber „keinen Versuch macht, seine Neue-
rungen in die ἐπιστήμη einzubeziehen“, sodaß „seine Seelenkunde
ein Hors d’oeuvre bleibt“ und „seine Forderung, daß der Redner
das ἀληϑές kennen muß, in keiner Weise organisch mit dem übrigen
Bestande ausgeglichen ist“ (Süß, Ethos 5. 80—82)? Süß hat das
Verdienst, an mehr als einer Stelle die Beziehungen zu Gorgias
bei Plato und seinen Zeitgenossen klargestellt zu haben, aber wenn
er daraufhin Plato zum verpfuschten Gorgianer macht, so zeigt
das nur, zu welchen Verirrungen man kommt, wenn man den
Phaidros einfach unter die rhetorischen τέχναι einreiht und sich
nicht darum kümmert, was der Dialog mit Platos eigenstem Denken
zu tun hat. Dabei liegt doch soviel auf der Hand: Plato nimmt
bewußt von den Rhetoren auf, was ihm brauchbar er-
scheint; aber er tut es nur, um ihnen dann um so deut-
licher zu zeigen, daß es ganz anderer Grundlagen be-
darf, um ihre Routine zur Wissenschaft zu erheben.
Aber es wird Zeit, daß wir genauer die Komposition und
Tendenz des ganzen Dialoges ins Auge fassen.
Die mannigfachen Fäden, die zwischen den beiden scheinbar
unverbundenen Teilen des Dialoges hin und her laufen, hat zumeist
schon Bonitz aufgedeckt (Platon. Studien 252). Einen deutlichen
Fingerzeig gibt uns Plato selber p. 262d, wenn er ausdrücklich die
Reden des ersten Teilen als Anschauungsmaterial bezeichnet. Die
Forderung, daß die Rede ein wohldisponiertes organisches Ganzes
sein muß, der Satz, daß auch zur Täuschung das Wissen gehört,
daß sonst man περὶ ὄνου σχιᾶς streitet, die Notwendigkeit der
Die wissenschaftliche ψυχαγωγία. 353
dialektischen Schulung und das Wesen von Induktion und De-
duktion, das alles wird uns ausdrücklich an den Reden erläutert.
Aber niemand wird glauben, daß Plato die zweite Sokratesrede nur
als formelles Anschauungsmaterial für die rhetorische Theorie ge-
schrieben habe, Daß bei ihr auch der Inhalt zu dem zweiten Teil
in enger Beziehung steht, haben wir schon vorher gesehen. Wenn
Plato die Forderung einer wirklichen Psychologie für die rhetorische
Wissenschaft aufstellen wollte, so mußte er zeigen, daß eine solche
möglich sei, daß er selbst sie beherrsche. Noch wichtiger ist das
andere. Das A und das O ist im zweiten Teile, daß man die Wahr-
heit wissen müsse, wenn man τεχνικός sein wolle. Daß man die
Wahrheit wissen könne und wie man das Wissen erlangen könne,
zeigt die Sokratesrede.
Bedenken müssen wir vor allem noch einmal, daß der zweite
Teil nicht bloß die Rhetorik im landläufigen Sinne behandelt. Die
τέχνη λόγων umfaßt nicht bloß die politischen und gerichtlichen
Reden, sondern auch die Gesetze und die Volksbeschlüsse, sie gilt
aber ebenso auch im kleinen Kreise, und das Lehren fällt ebenso
in ihren Bereich wie das Überreden (277b). So erweitert sich für
Plato die τέχνη λόγων zu einer wirklichen ψυχαγωγία und umfaßt
das gesamte Gebiet der Gedankenmitteilung, der Einwirkung auf
andere mittels des Wortes. So verschieden aber auch die Formen
sind, in denen sich diese Einwirkung vollzieht, eins gilt für alle:
Die einzige Ausbildung, die uns zu dieser Einwirkung wirklich
befähigt, ist die, die das ἀληϑές ermitteln will (278b ff.). Nur wer
dieses erreicht, der hat das Bildungsziel, „nach dem wir beide
trachten“, ist φιλόσοφος. Wie er nachher seine Ausbildung ver-
wertet, ob als Politiker, als Dichter oder Redner, das ist an sich
gleich. Aber auch wenn er nachher vor der Volksversammlung
spricht, wird er τέχνῃ nur reden können, wenn er ein Wissen, ein
eigenes Urteil hat und nicht darauf angewiesen ist, fremde Gedanken
aneinanderzuleimen und zu variieren.
Ist diese Ausbildung, die der zweite Teil als höchstes Ziel
erweist, möglich? Ja. Das zeigt uns eben die zweite Sokrates-
rede, indem sie die Möglichkeit der Erkenntnis des ἀληϑές erweist.
Wie ist ihre Methode? Das Hauptstück ist die Dialektik, die uns
die beiden Sokratesreden praktisch kennen lehren und Sokrates
nachher theoretisch erläutert. Die äußere Form ist der mündliche
Unterricht, der in die Herzen der Hörer den Samen streut und sie
. Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 23
354 Phaidros.
dazu führt, daß sie sich selber die Wahrheit erarbeiten. Der Lehrer
kann hier viel tun, aber auch wenn er noch so gute Methode hat,
wenn alles noch so rationell geordnet ist, so fehlt doch noch das
Wichtigste: Das ist das eigene Streben des Hörers nach der Er-
kenntnis, der Eros, der aus der Erinnerung an die einstmals ge-
schaute Ideenwelt erwächst. Den Eros kann aber kein Lehrer hinein-
pflanzen. Er läßt sich überhaupt nicht auf rationalem Wege er-
wecken, noch könnte Plato in der begrifflichen Untersuchung des
zweiten Teiles seine Entstehung schildern. Wie er sich am Anblick
des Sinnlichschönen entzündet, wie er ein geheimnisvolles Band
zwischen Liebhaber und Geliebtem schlingt und beiden die Schwingen
gibt zum Fluge in das Reich des Idealen, das ließ sich nur in der
Dichtung des ersten Teiles andeuten.
Hier ist erst der Punkt, wo wir in den innersten Zusammen-
hang der beiden Teile hinemblicken: Was uns der zweite
Teil an Theorien über die höchste Ausbildung des Men-
schen bietet, das wird erst vollständig, wenn wir das
irrationale Element hinzunehmen, das uns der erste Teil
in seiner Wirksamkeit zeigt. Im Menschen das Streben
nach dem Höchsten zu wecken ist wichtiger als alle
Methodik und Didaktik des Unterrichts.
Und die Tendenz des Dialoges? Gewiß spielt hier die be-
rufsmäßige Rhetorik eine viel größere Rolle als im Gorgias. Aber
mit der Frage, unter welchen Bedingungen eine Kunst
der Rhetorik möglich ist, ist der Inhalt des Dialoges
ganz sicher nicht erschöpft. Schon deshalb nicht, weil
Plato bewußt die Kunst des Redens allgemein als die
Kunst der Einwirkung auf andere mittels des Wortes
faßt. Um diese Einwirkung hat es sich für Plato von
vornherein gehandelt, um sie handelt es sich für jeden,
der Einfluß gewinnen will. Und nun zeigt er: man mag
diesen Einfluß ausüben, wie man will, als Politiker,
Redner, Dichter oder sonstwie, entscheidend für den
Wert der Tätigkeit ist die Frage, ob man ein selbst-
erarbeitetes Wissen auf dem Gebiete hat oder ein
Pfuscher ist, der sich mit den δόξαι der Menge beruhigt
(278cd). Dieser Alternative gegenüber ist sogar die
Frage sekundär, ob man die Seelenführung im kleinen
oder großen Kreise ausübt, ob man das Überreden oder
Der Phaidros das Programm der Akademie. 355
Lehren vorzieht (2770). Plato läßt freilich keinen Zweifel
darüber, daß die rein wissenschaftliche Einwirkung die
ist, der er persönlich den Vorzug gibt: ἣν οὐχ ἕνεκα
τοῦ λέγειν καὶ πράττειν πρὸς ἀνθρώπους dei διαπονεῖσϑαι
τὸν σώφρονα, ἀλλὰ τοῦ ϑεοῖς κεχαρισμένα μὲν λέγειν δύ-
νασϑαι, κεχαρισμένως δὲ πράττειν τὸ πᾶν εἰς δύναμιν
(273e). Aber natürlich will er die Wissenschaft nicht
als den alleinseligmachenden Lebensberuf hinstellen.
Wohl aber will er das zeigen, daß die wissenschaftliche
Ausbildung, die Erziehung zum eigenen Forschen und
Denken, zur selbsterarbeiteten Erkenntnis für jeden
Vorbedingung sein muß, der im Leben Einfluß gewin-
nen will. Nur diese Ausbildung, die das Streben nach
der Wahrheit zum Inhalt hat, darf den Namen φιλοσοφία
beanspruchen.
Und wenn der junge Leser Platos nun fragt: „Wo ist diese
φιλοσοφία zu finden, wo wird die richtige Ausbildung fürs Leben
gegeben, wo wird man dialektisch geschult, lernt man die Kunst
der Darstellung, wo wird vor allem die Seele beschwingt, daß sie
zu den höchsten Höhen der Erkenntnis empordringen kann?“ so
wird er nicht im Zweifel sein, welche Antwort er sich zu geben
hat. Es ist die Akademie.
Als Isokrates seine Schule eröffnete, veröffentlichte er eine
Flugschrift, in der er nicht ein positives Programm gab, sondern
die Schäden der bisherigen Ausbildung darlegte.e. Wenn Alki-
damas für seinen Stegreifunterricht Propaganda machen will,
polemisiert er gegen das Schreiben der Reden. So ist auch hier
Plato von der Polemik gegen die in der Jugendbildung herr-
schende Richtung ausgegangen. Aber er läßt einen viel tieferen
Einblick in seine positiven Ziele tun als jene. Ich zweifle nicht,
daßman den Phaidros mit Recht das Programm der Aka-
demie genannt hat.
Auf die Auffassungen, die den Phaidros in ganz andere Zeit
verlegen, gehe ich nur kurz ein. Schleiermachers Ansicht, der Phai-
dros sei ein Jugendwerk Platos, ist für jeden undiskutabel, der
sich überzeugt hat, daß Plato in seinen ersten Dialogen bis zum
Gorgias von der Ideenlehre nichts weiß. Aber etwas Richtiges
lag doch in der Betonung der „Jugendlichkeit“ des Dialoges.
Denn tatsächlich ist es psychologisch schwer denkbar, daß z. B.
23*
356 Phaidros.
die glühende Schilderung der Wirkungen des Eros von Plato ge-
schrieben sein soll, als er hoher Fünfziger war (vgl. S. 341).
In diese Zeit rückt den Phaidros im Grunde ein einziges,
allerdings sehr gewichtiges Argument. Das ist die Sprachstatistik.
Aber selbst .der radikalste Sprachstatistiker sollte doch zugeben,
daß eine Reihe von Erscheinungen, die der Phaidros mit den
Altersdialogen gemeinsam hat, sich aus dem besonderen Stil des
Dialoges erklären. Es ist nicht alles stichhaltig, was Natorp nach
dieser Hinsicht im Arch. f. Gesch. d. Phil. XH. XIII vorgebracht
hat. Aber daß man aus den poetischen Wörtern und Wen-
dungen keine Schlüsse ziehen darf, wo Plato ausdrücklich er-
klärt, daß er sie hier mit bewußter Absicht anwendet‘), ist doch
selbstverständlich. Das gleiche gilt aber von den ungewöhn-
lichen Wortbildungen, von den „jonischen“ Dativen usw. Am
deutlichsten ist die Sache beim Hiat. Hier ist nach Janells Nach-
weis (Fleck. Jahrb. Suppl. XXV]) die grundsätzliche Meidung ganz
klar in der Altersgruppe, wo nur 0,44—5,85 unerlaubte Hiate
auf der Seite vorkommen. Vorher ist von grundsätzlicher Mei-
dung keine Rede, der Staat hat 35,27, der Theätet 32,70, der
Parmenides 44,10 Hiate. Wenn nun der Phaidros mit nur 23,90
Hiaten auftritt, so ist das doch ganz gewiß nicht durch seine
Zugehörigkeit zur Altersgruppe zu erklären; die Erklärung hat
man vielmehr, wenn man den ihm am nächsten stehenden Dialog,
den Menexenos, mit seinen 28,19 Hiaten heranzieht. Beide Dia-
loge sind in einer Kunstsprache geschrieben, die von selbst eine
gewisse Meidung des Hiates herbeiführt. Wie sehr dadurch aber
der ganze Sprachcharakter beeinflußt wird, ist bekannt. Für manche
andere Erscheinungen verweise ich auf Barwick, Comm. Ien. X,
p. 50ff., der z.B. das starke Vorkommen von ὄντως gut dadurch
erklärt, daß Plato es speziell für das Sein der Ideen gebraucht.
Wer möchte sich zutrauen zu begrenzen, wie weit der be-
sondere Stil des Phaidros auch auf die einfachsten Ausdrucks-
mittel eingewirkt hat! Trotzdem ist natürlich zuzugeben, daß
Erscheinungen genug übrig bleiben, die sich so nicht ohne weiteres
erledigen lassen. So hat kürzlich wieder v. Arnim die Zustim-
mungsformeln der platonischen Dialoge untersucht (Wiener SB.
1) Das erklärt Plato allerdings p. 257a zunächst nur mit Rücksicht auf
die zweite Sokratesrede.. Aber daß auch weite Strecken des übrigen Dialoges
einen anderen Stil zeigen als die übrigen Dialoge, muß doch jeder empfinden.
Zeit des Phaidros. Sprachstatistik. 357
1912) und ist auch da zu dem Ergebnis gekommen, daß der
Phaidros sogar in die Zeit nach dem Parmenides gehört. Sein
Material erscheint erdrückend, und bei einem Manne wie v. Ar-
nim wiegt auch das Selbstzeugnis schwer, er habe „in logisch
einwandfreier, streng wissenschaftlicher Weise die Reihenfolge
der Schriften ermittelt“ (S. 230). Immerhin, wenn man nicht bloß
Arnims Schlußkapitel liest, wo alles aufs beste zu stimmen scheint,
ergibt doch sein eigenes Material manche Merkwürdigkeiten. So
hat der Parmenides unter seinen nächsten zehn Verwandten zwar
auch das zwölfte Buch der Gesetze, aber ebenso Lysis, Char-
mides und Rep. I, die nach v. Arnim zu den frühesten Schriften
gehören, und die mit diesen eng verwandten Dialoge Phaidon
und Euthyphron korınmen an elfter und vierzehnter Stelle. Beim
Symposion gibt v. Arnim selbst zu, daß das Material zu klein
ist, um sichere Schlüsse zu ziehen. Aber auch beim Phaidros
ist es keineswegs groß — v. Arnim zählt 50 Formeln, die mit
anderen Dialogen gemeinsam sind, gegen 208 beim Theätet, 283
beim Parmenides und z. B. 66 in einem so kleinen Dialog wie
Charmides — und sieht man sich die einzelnen Formeln an, so
ist das Schwergewicht, das den Dialog in die späte Zeit hinab-
zieht, in der Hauptsache nur das ominöse τί μήν; das elfmal auf-
taucht. Sollte hier aber nicht Dittenbergers Beobachtung, daß
Plato τί μήν; aus der sizilischen Umgangssprache aufgegriffen zu
haben scheint, in Betracht zu ziehen sein')? Was ist natürlicher
als daß eine solche Wendung gerade nach der Rückkehr aus
Sizilien mit einem Male besonders in die Feder fließt, um dann
vielleicht eine Zeitlang wieder zurückzutreten °’)?
So erheben sich gegen v. Arnims Folgerungen Bedenken,
auch wenn man sonst seiner Untersuchung folgt. Aber ganz ab-
gesehen davon, daß seine Methode vielleicht nicht ganz einwand-
frei ist’), so ist es selbstverständlich, daß bei einem so großen
1 Daß τέ μήν; nicht auf Sizilien beschränkt war, macht dabei nichts aus.
2) Ritter, Neue Untt. 219 erwähnt, daß Schleiermacher auf eine fremde
Erinnerung hin das Wörtchen „eben“, das er vorher übermäßig gebraucht hatte,
jetzt ein Semester lang ganz mied. Dürfen wir den mit so feinem Stilgefühl be-
gabten Griechen nicht Ähnliches zutrauen? — Ich weiß natürlich, daß Ritter
und v. Aınim auf die einzelne Erscheinung keinen Wert legen, aber tatsächlich
beeinflußt in diesem Falle der eine Faktor die Rechnung sehr stark.
3) Zunächst mußten die negativen Formeln der Vollständigkeit halber heran-
gezogen werden, da das οὐκ ἔμοιγε δοκεῖ doch auf demselben Brett steht wie
358 Phaidros.
Material auch der gewissenhafte Forscher nicht überall genau
ist, nicht überall ohne Subjektivität verfährt. Ich wählte zur
Nachprüfung den Lysis, weil ich diesen Dialog aus inhaltlichen
Gründen hinter den Phaidros und vor das Symposion setze. Auch
Ritter verbindet ihn mit diesem und betont S. 503 ausdrücklich,
daß der sprachliche Befund für die Zusammengehörigkeit beider
Dialoge spricht, während v. Arnim den Lysis mit Laches, Char-
mides u. a. zu den allerfrühesten Werken zählt, obwohl auch
nach ihm unter den zehn am nächsten verwandten Dialogen
Parmenides, Phaidon und Theätet (an 4., 9., 10. Stelle) er-
scheinen.
Sieht man sich nun die einzelnen Formeln des Lysis an
(auf S. 66), so fällt auf, daß er eine ganze Reihe hat, die in den
späteren Dialogen stärker hervortreten, so ἀληϑῆ, κινδυνεύει, πῶς
δ᾽οὔ; καὶ μάλα, οὕτως, τί μήν; σφόδρα γε ὀρϑῶς λέγεις, ἀλλὰ
τί μήν; κομιδῇ, während keine Formel da ist, die der Dialog aus-
schließlich mit den jüngeren gemeinsam hätte, und wenige für
die ‚Altersdialoge bezeichnenden Formeln fehlen. Dieses wird noch
klarer, wenn man Arnims wichtigste Posten — nur bei denen habe iches
getan— nachprüft. ᾿Ανάγκη, dasbesonders im Theätetund Parmenides
auftritt (10 bezw. 23 Mal), kommt im Lysis nicht viermal vor, wie
v. Arnim angibt, sondern sechsmal (210a 213b 216b — zweimal
— 218d 219d), wozu noch ἀνάγκη, ὡς ἔοικεν 217a tritt, und im
Phaidros, der es angeblich gar nicht hat, steht 262a ἀνάγκη μὲν
οὖν. — Mit dem einen καὶ μάλα meint v. Arnim wohl Lysis 208b.
Aber Berücksichtigung verdiente nach seiner sonstigen Gewohnheit
auch 207 e vai μὰ Δία ἐμέγε, ὦ Σώκρατες, καὶ μάλα γε πολλὰ κωλύου-
σιν, und der Phaidros bietet nicht drei, sondern vier Beispiele (258be
263a 274b). — Σφόδρα γε führt er einmal an, wohl nach 221},
aber steht 2126 σφόδρα γε, ἔφη, ἀληϑές grundsätzlich anders? —
Zu des Phaidros συγχωρῶ ὃ λέγεις führt A. als Parallele συγχωρῶ
aus Rep. I und Theätet an, aber dieses finden wir auch Lys.
210c (wo allerdings σνγχωρεῖς οὕτως ἔχειν; vorhergeht). — Und
wenn wir 218b lesen: παντάπασιν ἐφάτην TE καὶ συνεχωρείτην
οὕτω τοῦτ᾽ ἔχειν, so ist das die nächste Parallele zu dem παντά-
ἔμοιγε δοκεῖ. Über die rechnerische Methode v. Arnims wage ich kein Urteil,
wenn es mir auch als das Gegebene erschienen wäre, nicht von der absoluten
Zahl der zwei Dialogen gemeinsamen Formeln, sondern von dem Verhältnis dieser
Zahl zur Gesamtzahl der im Dialoge vorkommenden Erscheinungen auszugehen.
Sprachstatistik. 359
πᾶσιν οὕτως ἔχει, das A. 5. 28 aus Rep. III anführt‘). — Am
merkwürdigsten ist aber, daß A. für die vielbeachtete Formel
ἀλλὰ τί μήν; nur einen Beleg kennt, obwohl 2080 ὁ kurz hinter-
einander zwei Fälle stehen’).
Für so ganz unbedingt zwingend dürfen wir also v. Arnims
Material nicht halten, und was wir hier angeführt haben, nötigt
uns, den Lysis erheblich später zu setzen. Dazu kommen ja auch
Erscheinungen, die ihn direkt mit den späteren Dialogen ver-
wandt erscheinen lassen. Außer dem schon erwähnten τί μήν;
führt Ritter besonders die vier ἀλλὰ --- μήν und xai πῶς; an.
Wenn demgegenüber die kurzen Partikeln wie πάνυ γε und ναί
ähnlich wie in den Jugenddialogen überwiegen, so darf man nicht
vergessen, daß der Lysis wie diese große Partien hat, wo kurze
Fragen ebenso kurze Antworten erheischen. Auch daß die Part-
ner des Sokrates hier unreife Jungen sind, scheint mir ein Im-
ponderabile, das z. B. das Fehlen von starken Superlativen in
der Antwort erklärt).
Endlich sei auf eine merkwürdige Erscheinung aufmerksam
gemacht. In dem kurzen Abschnitt 207d—208e finden wir nicht
bloß neben dem zweimaligen χαὶ μάλα zweimal ἀλλὰ τί μήν;
sondern auch die beiden anderen Beispielen von ἀλλὰ... μήν,
und zwar in der merkwürdigen Form ἀλλὰ τίνα μήν; und ἀλλ᾽
ἀντὶ τίνος μήν κτλ. ἡ; während sonst von verwandten Wendungen
nur noch einmal τί μήν; p. 2196 steht. Dazu kommen plötzlich
noch drei Beispiele von μῶν, das nach Kugler, De particula τοί,
Basler Diss. 1886 p. 40 bei Plato recht selten ist und besonders
1) Überhaupt ist esm. E. unzulässig, wenn man die indirekten Wendungen
ignoriert, z.B. Symp. 1996 φάναι, 2004 ovupavaı, dagegen φημέ und σύμφημι,
die besonders in den späten Dialogen vorkommen, mitzählt.
5) Oder scheidet A. ἀλλὰ τί μήν; ἔφη und ἀλλὰ τί μήν; ἡμέτερός γε, ἔφη
8) Daß man selbst bei den Zustimmungsformeln rein mechanische Verwen-
dung nicht ohne weiteres voraussetzen darf, kann Aristoteles zeigen, wenn er
Top. 156a 17ff. Vorschriften darüber gibt, wann man in der Debatte ναί oder
οὔ, wann anders zu antworten hat.
*) Außer dem Lysis bietet von den Dialogen, die Ritter zur ersten Gruppe
rechnet, bekanntlich nur noch das Symposion 2 ἀλλὰ... μήν, beide in der
Form der Frage ἀλλὰ τέ μήν; 202d 206e. — Beim Symposion gibt v. Arnim an,
es habe das in späterer Zeit häufige καλῶς λέγεις nur einmal (200 b), aber ἀλλὰ
καλῶς (μὲν) λέγεις steht auch 194e 214c. Auch zu dem einen πάνυ μὲν οὖν
206e tritt noch das πάνυ μὲν οὖν ἔστυν 1996. Auf S. 35 mußte v. Arnim das
ed ἴσϑι aus Symp. 208c anführen. Auch 2000 κἀμοὶ δοκεῖ (= Rep. N) fehlt.
360 Phaidros.
den Altersdialogen angehört‘). Speziell für μῶν μή, das hier
zweimal auftritt, führt Kugler nur aus Phaidon 1, Rep. 2, Soph. 1,
Phil. 1 Fälle an. Eine Erklärung dieser Häufung auffälliger Er-
scheinungen wird schwerlich ein Mensch geben können. Sollten
nicht aber solche Auffälligkeiten auch einmal in einem ganzen
Dialoge vorkommen können?
Man kann die großen Verdienste, die die Sprachstatistik sich
durch Abgrenzung der Hauptgruppen erworben hat, dankbar an-
erkennen, und kann doch Zweifel hegen, ob sie imstande ist,
wirklich alle Erscheinungen von Stil und Sprache so ‚herauszu-
präparieren, daß sie keinen Raum für Ausnahmen übrig läßt, ob
nicht doch eine wirkliche Erforschung der individuellen Bedingt-
heiten des Stiles notwendig wäre, damit sie nicht bloß τὰ πρὸ
τῆς τέχνης ἀναγκαῖα, sondern αὐτὴν τὴν τέχνην böte. Ritter gibt
in seinem Aufsatz, wo er die Richtigkeit der Sprachstatistik durch die
Anwendung auf Goethe zu erweisen sucht (Neue Untt. S. 224), eine
Tabelle über den Sprachgebrauch Zellers. Hier weist er einwand-
frei nach, daß bei diesem allmählich „welcher“ durch „der“ ver-
drängt worden ist. Das Verhältnis ändert sich in den drei unter-
suchten Gruppen von 209:156 zu 73:84 zu 76:140. Aber aus
Ritters eigener Tabelle sieht man auch, daß ein Aufsatz der
ersten Gruppe das Verhältnis 11:29 zeigt, und wenn nicht
glücklicherweise das Jahr 1843 als Abfassungszeit feststände,
würde Ritter, da die anderen Spracherscheinungen nicht ent-
scheidend sind, den Aufsatz mindestens 50 Jahre herabrücken
müssen. Wenn solche Ausnahmen sich am grünen Holze des als
Beweis präsentierten modernen Materiales finden, wird ein Zweifel
an der Ausnahmlosigkeit der durch die Sprachstatistik postulierten
Gesetze erlaubt sein müssen. Jedenfalls bleibt es eine Hypothese,
„daß die Umbildung der psychischen Disposition, durch welche die
Ausdruckswahl geregelt wird, nur ganz allmählich, ohne Sprünge,
in unmerklichen Übergängen erfolgen kann” (v. Arnim S. 13).
Auch die Stimmung, auch die Tendenz kann die Ausdruckswahl
bestimmen, und wo Plato selber uns darauf hinweist, daß beim
Phaidros besondere Stilgesetze obwalten, ist es doch wissenschaft-
lieh unzulässig, darüber mit oder ohne Achselzucken hinwegzugehen.
1) Nach Kugler haben Menon, Euthydem, Lysis je 3, Protagoras 2, Phai-
don 1, Republik 4, Theätet 3, dagegen Sophist, Politikos, Philebos und Leges zu-
sammen 59 Beispiele!
Der Phaidros und die nächstverwandten Dialoge. 361
Ritter ist vorsichtig genug, über Staat und Phaidros auf
Grund der Sprachstatistik allein kein Urteil abzugeben (Platon
261—4). Beim Symposion wieder gibt v. Arnim zu, dab das
geringe Material keinen sicheren Schluß gestattet. Und gerade
bei diesem haben Bruns („Attische Liebestheorien“, jetzt in den
Vorträgen und Aufsätzen), Crain Comm. Ien. VII, Barwick Comm.
Ien. X und andere gezeigt, wieviele sachliche Gründe für die
Abfassung nach dem Phaidros sprechen, und wir werden diese
Gründe noch verstärken. — Andrerseits weisen die engen Be-
ziehungen zum Menon und Phaidon darauf hin, daß der Phaidros
von diesen Dialogen nicht weit abliegt. Ich glaube, daß inhalt-
lich vieles dafür spricht, den Euthydem (nebst Kratylos) hinter
den Phaidros zu setzen. Immerhin betrachte ich das angesichts
der sprachstatistischen Gründe nicht als sicher‘). Sehen wir da-
von ab, so reduziert sich der Unterschied zwischen meiner Ghrono-
logie und der von Räder und von Ritter, Platon S. 254 gegebe-
nen darauf, daß diese die Folge ansetzen: Symposion, Phaidon,
Politeia, Phaidros, während ich das Symposion (nebst Lysis) hinter
den Phaidros rücke. Die Abfassung der Politeia hält Ritter, wie
gesagt, auf Grund der Sprachstatistik auch nach dem Phaidros
für denkbar. Ich glaube, daß ihre Ausarbeitung neben Phaidros,
Lysis und Symposion hergegangen, die Veröffentlichung später
erfolgt ist.
Daß Plato an der Spitze einer Schule stand, als er den
mündlichen Unterricht unbedingt für die gegebene Ausbildungs-
methode erklärte, scheint mir selbstverständlich. Andererseits
ist aus der Geringschätzung der Schriftstellerei gar nichts zu
schließen. Plato erklärt einfach: „Das Schwergewicht meiner
Tätigkeit liegt in meinem Unterricht, der allein die wissenschaft-
liche Ausbildung begründet. Was ich jetzt und sonst publiziere,
sind πάρεργα“. Warum soll er solche Grundsätze nicht in einer
Zeit aussprechen, wo er παίγνια wie den Menexenos veröffent-
licht? Alkidamas hat seine Verurteilung der γεγραμμένοι λόγοι
in einem γεγραμμένος λόγος ausgesprochen. Sollen wir es für un-
möglich halten, daß Plato seine programmatischen Sätze in einer
Programmschrift der Akademie veröffentlicht hat?
1) Über das Verhältnis zu Isokrates nachher. Die sprachstatistischen Gründe
sucht jetzt Barwick, Comm. Ien. X p. 5öff. zu beseitigen.
362 Phaidros.
Endlich noch einige Worte über die Stellung Platos zu Iso-
krates. Ich muß gestehen, daß mir die vielbehandelte Frage
nach dem persönlichen Verhältnis der beiden Männer verhältnis-
mäßig: wenig wichtig erscheint‘), Wichtig ist dagegen der sach-
liche Gegensatz, und hier ist glücklicherweise kein Zweifel mög-
lich. Er läßt sich zusammenfassen in die beiden Schlagworte
ἐπιστήμη — δόξα Ὗ. Das zeigt Isokrates Antid. 271: ἐπειδὴ γὰρ οὐκ
ἔνεστιν ἐν τῇ φύσει τῇ τῶν ἀνθρώπων ἐπιστήμην λαβεῖν, ἣν ἔχον-
τες ἂν εἰδεῖμεν ὅτι πρακτέον ἢ λεκτέον ἐστίν, ἐκ τῶν λοιπῶν
σοφοὺς μὲν νομίζω τοὺς ταῖς δόξαις ἐπιτυγχάνειν ὡς ἐπὶ τὸ
πολὺ τοῦ βελτίστου δυναμένους, φιλοσόφους δὲ τοὺς Ev τούτοις
διατρίβοντας, ἐξ ὧν τάχιστα λήψονται τὴν τοιαύτην φρόνησιν Ἷ.
Daß hier Isokrates seine Anschauung im Gegensatz zu den Män-
nern formuliert, die allen Wert auf die ἐπιστήμη legen und für
sich den Namen φιλόσοφοι in Anspruch nehmen, zeigen die zur
Eimleitung vorausgeschickten Worte: τὴν καλουμένην ὑπό τινων
φιλοσοφίαν οὐκ εἶναί φημι. Die gegnerische Anschauung ent-
wickelt Plato am Schluß von Staat V. Dort nimmt er 474c die
am Schluß des Phaidros kurz behandelte Frage nach dem Be-
griff des φιλόσοφος wieder auf und definiert ihn, den σοφίας
ἐπιϑυμητῆής, genauer als dAndeiasg φιλοϑεάμων. Die Wahrheit ist
aber im Ansichseienden enthalten, auf diese geht das Wissen,
während auf die vielen Einzeldinge sich die δόξα richtet. So
kommt er zu der Gegenüberstellung:
ὄν ἐπιστήμη φιλόσοφος
μὴ ὄν ἄγνοια ἀγνώμων
μεταξύ δόξα φιλόδοξος
1 Wer freilich ein gutes persönliches Verhältnis aus der Dichtung des
Praxiphanes erschließt, der beide in einem Dialog zusammenführte (D. L. II, 8),
der muß auch die andere Praxiphanesszene als historisch ansehen, wo Thuky-
dides am Hofe des Archelaos mit je einem Vertreter der verschiedenen poetischen
Gattungen disputiert (Marcellin v. Thuk. 29). Und wenn man darauf verweist,
daß sie gemeinsame Schüler gehabt haben — nun, es soll doch auch heute vor-
kommen, daß zwei Dozenten, bei denen dieselben Studenten hören, nicht über-
mäßig gut miteinander stehen.
5) Ich kann mich hier kurz fassen, da ich eine Spezialarbeit über dieses
Thema von einem Schüler erhofie.
») Vgl. dazu besonders Panath. 26—30, wo Isokrates sich ganz als Gor-
gianer fühlt, wenn er als die Gebildeten nicht die Wissenden ansieht, sondern
τοὺς τὴν δόξαν ἐπιτυχῆ τῶν καιρῶν ἔχοντας καὶ δυναμένην ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ
στοχάξεσϑαι τοῦ συμφέροντος.
Plato und Isokrates. 363
Hier präzisiert also Plato aufs schärfste, daß er ausschließlich für
seine Richtung den Namen φιλοσοφία in Anspruch nimmt, weil
sie nach der ἐπιστήμη strebt, und denen, die in den δόξαι be-
fangen bleiben, ihn nicht zuerkennt’). Daß in der Beziehung
φιλόδοξοι eine kleine Bosheit enthalten ist, wird man kaum ver-
kennen; wichtiger ist, daß sachlich die Richtung des Isokrates
getroffen wird. Darüber läßt die Replik der Antidosis keinen
Zweifel, und schon in der Helena (5) sagt Isokrates: πολὺ κρεῖτ-
τόν ἐστι περὶ τῶν χρησίμων ἐπιεικῶς δοξάζειν ἢ περὶ τῶν ἀχρή-
στων ἀκριβῶς ἐπίστασθαι.
Als Plato also das fünfte Buch des Staates schrieb, war der
sachliche Gegensatz zwischen ihm und Isokrates schon ganz scharf
ausgeprägt. Beide erhoben Anspruch auf den Namen φιλόσοφος,
aber Plato stritt jedem, also auch Isokrates, das Recht ab, sich so
zu nennen, der nicht wirklich nach dem Wissen strebe. Nun ist
die Darlegung des Staates nichts andres als eine genauere
Präzisierung der Stelle des Phaidros, wo Plato offenbar p. 2784.
zum ersten Mal ausdrücklich den Namen φιλοσόφος für den
reserviert, der nach der wissenschaftlichen Ausbildung, nach dem
ἀληϑές strebt. Das muß man vor allem ins Auge fassen, wenn man
das bekannte Vaticinium des Sokrates über Isokrates am Schluß
des Phaidros betrachtet. Denn wenn er dort sagt: φύσει γάρ, ὦ
φίλε, ἔνεστί τις φιλοσοφία τῇ τοῦ ἀνδρὸς διανοίᾳ, so kann das
nach der Definition des φιλόσοφος, die unmittelbar vor-
hergeht, nur heißen: In Isokrates liegt von Natur das
Streben, über die richtigen Vorstellungen hinauszu-
kommen undzur Wahrheitd.h.zur Anerkennung derlIdeen-
lehre, die allein die Wahrheit bringt, vorzudringen.
1 An diesen Abschnitt des Staates erinnert formell der Schluß das Euthy-
dem. Denn dort wird der ungenannte Gegner der Philosophie als ein Mann
charakterisiert, der, um die δόξα σοφίας davonzutragen, das Gute von Philo-
sophie und Praxis zu verbinden sucht, aber gerade dadurch in eine Mittelstellung
gerät, die ihn an die dritte Stelle, hinter Philosophie und Praktiker rückt. Diese
Parallele ist es, die mir am meisten dafür zu sprechen scheint, daß Isokrates
dort der Gegner ist. Dann muß der Euthydem hinter den Phaidros fallen. Vgl.
S. 361. Doch sagt auch Phaidros p. 275a Plato: σοφίας δὲ τοῖς μαϑηταῖς δόξαν,
οὐκ ἀλήϑειαν mogiteıs. Man hat das Gefühl, daß er auch dort bestimmte Leute
vor Augen hat, aber schwerlich Isokrates. So könnte auch im Euthydem ein
für uns nicht mehr kemntlicher Gegner gemeint sein. Dann fiele der Dialog
zwischen Menon und Phaidros. — Vgl. noch S. 205°.
904 Phaidros.
Es scheint mir schlechterdings unmöglich, daß Plato eine
solche Äußerung getan haben sollte, nachdem er das fünfte Buch
des Staates geschrieben hatte. Sobald sich der sachliche Gegen-
satz zwischen den beiden Schulhäuptern ausgebildet und beide
sich auf ihrem Standpunkt festgelegt hatten, hätte sich doch Plato
einfach lächerlich gemacht, wenn er die Hoffnung ausgesprochen
hätte, Isokrates würde sich noch zu seiner Weltauffassung bekehren.
Nein, Platos Äußerung ist nur verständlich in einer Zeit, wo
der Gegensatz noch nicht ausgebildet war, wo Plato noch von
der Missionskraft seiner neuen Weltanschauung unbedingt über-
zeugt war. Durchaus möglich ist sie noch nach Isokrates Pro-
gerammrede. Dort findet sich freilich auch schon der Gedanke,
daß man mit Hülfe der δόξαι praktisch mehr erreiche als mit der
ἐπιστήμη (8); aber er ist nur beiläufig ausgesprochen, von einem
grundsätzlichen Gegensatz gegen Plato, der ja noch nicht als
Lehrer in Athen eine Rolle spielte, ist keine Rede, und es ist
sehr denkbar, daß Plato den Gegensatz des Isokrates gegen den
alten mechanischen Betrieb der Rhetorik mit großen Hoffnungen
begleitete. Andererseits hat wohl auch Isokrates in Plato einen
Bundesgenossen erhofft und darum im Busiris den Anlaß ge-
nommen, ihm ein Kompliment über seine Staatstheorieen zu machen
(S. 217). Als dann Plato an die Spitze der Akademie getreten
war, da empfand er freilich die Notwendigkeit, den sachlichen
Unterschied klar zum Ausdruck zu bringen und zu zeigen, daß
er glaube, einen richtigeren Weg als Isokrates, den einzig richtigen
Weg einzuschlagen. Aber jede persönliche Gegnerschaft wollte
er vermeiden. Darum richtete er seine Darlegung so ein, daß
die Politik scheinbar nur einen anderen, den auch von Isokrates
bekämpften Lysias, traf, und zog am Schluß eine Gelegenheit
herbei, um Isokrates sein Kompliment zurückzugeben. Ob er
innerlich dabei wirklich so sehr die Hoffnung gehegt hat, die in
seinen Worten liegt, das kann man wohl bezweifeln. Wir wollen
nicht übersehen, daß am Schluß seiner zweiten Rede (257 Ὁ) Sokrates
zu Eros betet: Λυσίαν τὸν τοῦ λόγου πατέρα αἰτιώμενος παῦε τῶν
τοιούτων λόγων, ἐπὶ φιλοσοφίαν δέ. ὥσπερ ἁδελφὸς αὐτοῦ Πολέμαρχος
τέτραπται, τρέψον. Das ist doch eine beabsichtigte"Parallele, die uns
mahnt, das Vatieinium über Isokrates nicht allzu ernst zu nehmen‘).
1) Gegen Räders Auffassung, der in Platos Worten Spott und Bosheit sieht,
ist schon soviel Einspruch erhoben, daß ich darauf nicht eingehe.
XIV. Lysis und Symposion.
Nichts wirkt in Platos Phaidros, ja vielleicht in seiner ganzen
Lehre auf uns fremdartiger als die Anschauung vom Eros. Für
eins haben wir dabei freilich wohl Verständnis. Das ist der Ge-
danke, daß das Streben nach dem Idealen wichtiger ist als alle
Methodik, daß es durch keinen Lehrer in die Seele gepflanzt
werden kann, sondern drin schlummern muß und nur geweckt
und angeregt werden kann. Um so schwerer aber ist es für uns
heute, uns hineinzufühlen in eine Denk- und Empfindungsweise,
für die sich diese Erweckung aufs engste verbindet mit der Liebe
des Einwirkenden, die sich an der sinnlichen Schönheit entzündet
und ihre Rückwirkung auf den Geliebten übt. Wir denken
natürlich sofort an die Bedeutung, die der Eros in Athen wie in
ganz Hellas für die Jugend hatte, die sich an den Pflegstätten
des Körpers und Geistes tummelte, an die erotischen Verhältnisse,
die sich dort anspannen und alle Nüancen von der Schwärmerei
des Backfisches bis zur gröbsten Sinnlichkeit und andrerseits der
dauernden geistigen φιλία aufweisen ').
Wie sehr man auch theoretisch sich mit dieser so tief ins
Leben eingreifenden Erscheinung beschäftigte, das sehen wir an
den ἐρωτικοί, von denen der des Lysias und der bald zu be-
sprechende des Pausanias nur Einzelbeispiele sind, wie an den
Debatten der Sokratiker. Diese zeigen uns aber auch, daß für
sie ein spezielles Moment hinzutrat, die Erotik des Sokrates.
᾿Εγὼ γὰρ οὐκ ἔχω χρόνον εἰπεῖν ἐν ᾧ οὐκ ἐρῶν τινος διατελῶ,
läßt ihn Xenophon am Anfang seiner Erosrede sagen (Symp 8,2),
und die ‘übereinstimmenden Äußerungen der andern Sokratiker
lassen keinen Zweifel darüber, daß Sokrates sich wirklich als
ἐρωτικός den jungen Leuten nahte, auf die er einzuwirken suchte’).
Oft genug mag dabei die Ironie über seinen Worten gelegen
haben, aber soviel dürfen wir gewiß sagen: Zu den geheimmis-
vollen Zügen dieser dämonischen Natur gehörte auch eine starke
Empfänglichkeit für die sinnliche Schönheit des jugendlichen
1 Das Material bietet am besten Bethe, Rh. M. LXII. Seinen Theorien über
den eigentlichen Sinn der Knabenliebe vermag ich aber nicht zu folgen.
32) Bes. Xen. Mem. IV, 1,2, Plato, Symp. 177d, Aischines fr. 11.
366 Lysis und Symposion.
Menschen '), wenn auch der willensstarke Mann es erreicht hatte,
daß sein Eros sich über das Sinnliche erhob und auf die schöne
Seele, die im schönen Leibe wohnte, konzentrierte.
Es ist natürlich, daß auch diese Seite von Sokrates Person
die Aufmerksamkeit seiner Schüler fesselte.e Man sollte erwarten,
dies wäre auch bei Plato von vornherein der Fall gewesen, zumal
doch die von ihm erstrebte Einwirkung auf andre bei Sokrates
eben mit dem Eros zusammenhing. Aber in den Jugenddialogen
ist davon wenig zu spüren. Besonders im Charmides, aber auch
im Protagoras und Menon hört man leise immer den ironischen
Unterton heraus, wenn Sokrates von dem Eindruck spricht, den
die χαλοί und ihre sinnliche Schönheit auf ihn machen. Und
wir haben gesehen, wie Plato den Versuch des Aischines, Sokrates’
Wirksamkeit aus seinem irrationalen Eros zu begreifen, mit Ironie
behandelte (S. 185).
Mit einem Schlage wird das anders. Im Phaidros nimmt
plötzlich auch für ihn der Eros eine zentrale Stellung ein, und
er.ist es, der allein die wahre Einwirkung auf die Mitmenschen
ermöglicht. Hier ist dieser noch die Liebe des Individuums zum
Individuum. Die höhere Stufe, wo der Eros die Individuen hinter
sich läßt und zum Bande der ganzen Gemeinschaft wird, hat
Plato erst im Symposion geschildert, aber zum Schutzpatron der
Akademie hat er den ποικιλομήχανος ”Eows, dem im Gymnasion
Charmos den Altar errichtet hatte (Athen. 609d), gewiß schon in
der Zeit, wo er den Phaidros schrieb, erhoben.
Daß persönliche Erlebnisse es gewesen sind, die Plato plötz-
lich zu dieser Schätzung des Eros führten, haben wir vermutet.
Doch mag das dahingestellt bleiben. Das scheint mir aber
selbstverständlich, daß die Spekulation Platos über den
Eros von dem Eros der Gymnasien, vom Eros des
Sokrates ausgegangen ist und erst nachträglich auf
weitere Gebiete übergegriffen haben kann.
-Plötzlich ist Plato die Bedeutung des Eros aufgegangen, und
was er im Phaidros gibt, macht ganz den Eindruck des ersten
Wurfes. Aber bald spannen sich weitere Fragen an. Im Phaidros
hatte er unbefangen das Sprichwort zitiert ἥλιξ ἥλικα τέρπει
und wie im Gorgias 510b vorausgesetzt, die ὁμοιότης sei die
1 Charm. 155d, Xen. Symp. 4,28 müssen einen gewissen Anhalt an Äuße-
rungen des Sokrates haben.
Die Entwicklung der Spekulation über den Eros. 367
Grundlage der φιλία (240c, vgl. Aristot. Rhet. 1371b 15). Aber
es gab doch auch Leute, die behaupteten, ὡς παντὸς δέοι τὸ
ὅμοιον τῷ ὁμοίῳ φίλον εἶναι, ἀλλ᾽ αὐτὸ τὸ ἐναντίον ein τούτου '
τὸ γὰρ ἐναντιώτατον τῷ ἐναντιωτάτῳ εἶναι μάλιστα φίλον und
darum die φιλία ähnlich wie Heraklit seine Harmonie auf das
Zusammenstreben des Entgegengesetzten gründeten (Lys 215e).
Seinem natürlichen Gefühle folgend hatte Plato Phaidr. p. 255b
erklärt: οὐ γὰρ δήποτε εἵμαρται κακὸν κακῷ φίλον οὐδ᾽ ἀγαϑὸν
μὴ φίλον ἀγαϑῷ εἶναι. Aber war wirklich das so selbstverständ-
lich, daß die Freundschaft zwischen den Guten bestehe? Ὃ
ἐπιεικὴς μάλιστα αὐτὸς αὑτῷ αὐτάρκης πρὸς τὸ εὖ ζῆν καὶ δια-
φερόντως τῶν ἄλλων ἥκιστα ἑτέρου προσδεῖται (Rep. 387d). Und
was wichtiger war: der Eros, wie ihn Plato selber im Phaidros
schilderte, hatte seine Bedeutung nicht für die Fertigen, die
c0poi, sondern die φιλοσοφοῦντες, nicht für die Guten, sondern
für die, die gut werden wollen.
Aus solchen Gedanken ist der Lysis erwachsen. Unwillkürlich
ruft uns hier so manches den Charmides in Erinnerung. Schon
der äußere Umfang des Dialoges, mehr aber noch die wundervolle
Szene, die uns die Macht des Eros in den Gymnasien so an-
schaulich vorführt, und die Art, wie Sokrates als ἐρωτικός mit
dem κάλλιστος καὶ ἄριστος unter den Jungen verkehrt. Aber die
Probleme sind viel spezieller geworden, die Behandlung viel tiefer,
die Form straffer (vgl. Ritter S. 503), und der ganze Inhalt zeigt,
daß wir ein παίγνιον vor uns haben, das bald nach dem Phaidros
entstanden ist. Zunächst erfolgt hier eine wichtige Klarstellung.
Im Phaidros lasen wır 255d, daß der Geliebte ein Abbild des
Eros in sich hat, den dvreowg ' καλεῖ δὲ αὐτὸν χαὶ οἴεται οὐκ
ἔρωτα ἀλλὰ φιλίαν εἴναι" ἐπιϑυμεῖ δὲ ἐκείνῳ παραπλησίως κτλ.
Also sein Gefühl ist nicht φιλία, sondern Eros, weil er auch eine
ἐπιϑυμία in sich trägt. Tatsächlich war eben für den Griechen
das der Unterschied der φιλία vom ἔρως, daß sie das Moment
des Begehrens nicht enthielt. Daß dies nicht ganz richtig sei,
führt der Lysis aus, das Gespräch περὶ φιλίας. Denn hier zeigt
der bedeutsame Schlußabschnitt, daß jede Freundschaft der Ver-
wirklichung eines Gutes diene und das Streben nach diesem Gute
die Ursache der Freundschaft sei: Age’ οὖν... ἣ ἐπιϑυμία τῆς
φιλίας αἰτία; ... Τοῦ οἰκείου δή — über diesen Begriff gleich — ὅ
τε ἔρως καὶ ἣ φιλία καὶ ἣ ἐπιϑυμία τυγχάνει οὖσα (221de). Andres
368 Lysis und Symposion.
weist uns noch direkter auf den Phaidros. Denn im Lysis wird
nun die Frage, ob das Gleiche dem Gleichen fremd sei, genauer
diskutiert, und eine direkte Korrektur des Phaidros ist es, wenn
ausdrücklich auf Grund der Anschauung, die wir eben aus Rep. ΠῚ
kennen gelernt haben, bestritten wird, daß die Freundschaft
zwischen Guten bestehe‘). Und wenn dann positiv geschlossen
wird, τὸ μήτε κακὸν μήτε ἀγαθὸν τοῦ ἀγαϑοῦ φίλον (2180), 50
erfolgt dieser Schluß wieder unter Weiterbildung eines Gedankens
des Phaidros. Denn wenn dort Plato p. 278d einfach gesagt
hatte, der Name σοφός komme wohl nur Gott zu, den Menschen,
der nach Wahrheit strebe, nenne er φιλόσοφος, so präzisiert Plato
jetzt Lysis 2188: διὰ ταῦτα δὴ φαῖμεν ἂν καὶ τοὺς ἤδη σοφοὺς
μηκέτι φιλοσοφεῖν, εἴτε ϑεοὶ εἴτε ἄνϑρωποί εἰσιν οὗτοι... φιλο-
σοφοῦσιν οἱ οὔτε ἀγαϑοὶ οὔτε κακοί πω ὄντες. Es ist die Auf-
fassung, die Plato im Symposion 2048 mit wörtlichem Anklang
wieder aufnimmt und weiter ausbaut.
Damit hängt etwas anderes zusammen, was noch wichtiger
ist. Im Phaidros entsteht der Eros dadurch, daß durch die Er-
innerung an das, was die Seele einstmals geschaut hat, das
Streben nach den wahren, höchsten Gütern wachgerufen wird.
Auch diese Anschauung wird im Lysis weiter gebildet. Daß hier
auch in die φιλία das Moment des Begehrens hineingetragen
wird und ein Gut, dessen Verwirklichung den φίλοι vorschwebt,
als der eigentliche Grund der φιλία angesehen wird, sahen wir
schon. Gegenüber dem Phaidros wird aber genauer präzisiert,
daß dies letztlich ein höchstes Gut ist, auf das wir alle einzelnen
Güter beziehen (218c—221d). Dazu tritt aber noch ein bedeut-
sames Moment. Wenn nämlich auch das zu verwirklichende Gut
als die eigentliche Ursache betrachtet werden muß, die den Eros
erregt und dadurch die Freunde zusammenführt, so ist ein
συναίτιον doch die Anwesenheit eines Übels, wie es p. 217 hieß,
das Gefühl eines Mangels und das Bedürfnis nach Ergänzung,
wie wir jetzt 221e genauer hören. Wie sehr Plato das Be-
wußtsein hatte, damit die Anschauung vom Eros gegenüber dem
Phaidros psychologisch vertieft zu haben, kann uns wieder das
1). Ti δέ; οὐχ ὁ ἀγαϑός, καϑ' ὅσον ἀγαϑός, κατὰ τοσοῦτον ἱκανὸς ἂν εἴη
αὑτῷ; --- Ναί. --- Ὃ δέ γε ἱκανὸς οὐδενὸς δεόμενος κατὰ τὴν ἱκανότητα κτλ.
215a. — κανός wird Rep. II bes. p. 373. 4 fortwährend als Terminus gebraucht,
wenn es sich um die αὐτάρκεια des Staates oder Individuums handelt.
Der Eros. Scheinbare Ergebnislosigkeit des Lysis. 369
Symposion zeigen, wo der ganze Mythos von der Geburt des
Eros, ja die ganze Anschauung von seinem Wesen, auf dieser
Doppelseitigkeit, dem Gefühl des Mangels und dem Streben nach
dem wahren Gute, aufgebaut ist‘). Die beiden Vorgespräche
des Sokrates mit den καλοὶ παῖδες 207 d—210d und 211 d—213d?)
zeigen uns, wie der wahre Erotiker in diesen zunächst das Ge-
fühl der geistigen πενία weckt, ehe er sie positiv zur Er-
kenntnis führt.
Das Gespräch schließt dann aber scheinbar ergebnislos ab
wie die Jugenddialoge. Plato hat zunächst das Ergebnis gewonnen:
Τὸ οὔτε κακὸν οὔτε ἀγαϑὸν διὰ τὸ κακὸν καὶ τὸ ἐχϑρὸν τοῦ ἀγαϑοῦ
φίλον ἐστὶν ἕνεκα τοῦ ἀγαϑοῦ καὶ φίλου (219 4). Er modifiziert dieses
dann in der Weise, daß er als den eigentlichen Grund der Liebe
das Gute bezw. das Streben nach diesem erweist. Da nun das
absolut Gute nur den letzten Zielpunkt abgibt, ergibt sich zunächst
als Wesen der Liebe das aus dem Bedürfnis nach Ergänzung des
eigenen Ich entsprungene Verlangen nach dem Wesensverwandten,
dem οἰκεῖον. (221 6 222a). Da aber οἰκεῖος, wie es scheint, entweder
gleich ὅμοιος oder gleich ἀνόμοιος sein müßte und vorher schon
gezeigt ist, daß weder zwischen ὅμοιοι noch zwischen dvöuoıoı
Freundschaft besteht, so schließt der Dialog mit einer Aporie ab.
Weiß hier Plato wieder einmal nicht aus noch ein? Ich glaube,
es wäre für ihn wirklich keine Schwierigkeit gewesen zu sagen,
daß der oixeiog πῇ μὲν ὅμοιος πῇ δὲ ἀνόμοιος sei. Aber damit hätte
er allerdings das ganze Problem nicht erschöpft. Sokrates sagt
221e zu den Jungen: ὑμεῖς ἄρα ei φίλοι ἐστὸν ἀλλήλοις, φύσει πῃ
οἰκεῖοί E00” Öuiv αὐτοῖς. Da hat er gewiß eine ganz bestimmte
Vorstellung, aber auf eine begriffliche Formel läßt sich diese
individuelle Wesensverwandtschaft nicht ziehen. Wer den Phaidros
vor dem Lysis gelesen hat, wird sich erinnern, daß auch da der
ἐρώμενος φύσει φίλος τῷ ἐρῶντι heißt (255a). Warum? Weil „beider
Seelen einstmals in der Präexistenz demselben Gotte folgten“. Wem
diese Auskunft nicht genügt, der mag sich im Lysis an das Bild der
beiden Jungen halten, durch deren verschiedene Charakterisierung
1 Wer den Phaidros hinter Lysis und Symposion setzt, hat die Verpflichtung,
zu erklären, warum Plato diese Erkenntnis wieder fallen läßt oder jedenfalls diesen
so wichtigen Zug ignoriert.
2) Dem fortgeschritteneren, aber auch keckeren Menexenos wird nur gezeigt,
wieviele Schwierigkeiten in einem so einfachen Worte wie piAos stecken. Vgl. 5.257.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 24
370 Lysis und Symposion.
Plato ja seinen Gedanken illustriert‘). Mehr wird uns der Dichter
Aristophanes im Symposion darüber zu sagen haben.
Mit dem Phaidros stimmt der Lysis darin überein, daß er sich
auf die Betrachtung des παιδικὸς ἔρως beschränkt. Nur an einer
Stelle greift er darüber hinaus. Das ist 215e, wo Plato auf die
naturwissenschaftliche Lehre zu sprechen kommt, nach der alles
nach dem Entgegengesetzten, das Trockene nach dem Feuchten,
das Süße nach dem Bitteren, das Leere nach Füllung, das Volle
nach Leerung strebt’). Diese Lehre wird hier nur beiläufig als
Beispiel erwähnt. Aber sollte solch eine Theorie nicht auch selb-
ständige Bedeutung für die Erforschung des Eros haben? Schwer-
lich hat Plato geglaubt, im Phaidros und Lysis das Wesen des
geheimnisvollen Triebes ganz ergründet zu haben. Vielleicht konnte
man weiter kommen, wenn man die Untersuchung auf die ver-
wandten Erscheinungen ausdehnte, wenn man nicht bloß die ver-
1 Über den Charakter der beiden Jungen vgl. 5. 257. Der Lysis fällt etwa
in dieselbe Zeit wie der Menexenos.
2) Daß Plato hier einen bestimmten Gelehrten vor Augen hat, deutet er durch
ἤδη ποτέ του ἤκουσα λέγοντος und auch sonst mehrfach an. Heraklit kann es
nicht wohl sein, da er nicht die φιελέα, sondern die ἔρις als das Entscheidende
betrachtet, und Aristoteles sagt an der Stelle, wo er an den Lysis anknüpft (Eth.
N. 1155b4) Ἡράκλειτος ... En τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν καὶ πάντα
κατ᾽ ἔριν ylveodaı. Aber auch Empedokles’ φελέα kann kaum in Betracht kommen.
Denn wenn auch Stellen wie 21 Α 39 ἐκ τεσσάρων οὖν στοιχείων τὸ πᾶν, τῆς τούτων
φύσεως ἐξ ἐναντίων συνεστώσης, ξηρότητός τε καὶ ὑγρότητος καὶ ϑερμότητος
καὶ ψυχρότητος, ὑπὸ τῆς πρὸς ἄλληλα ἀναλογίας καὶ κράσεως ἐναπεργαζομένης
τὸ πᾶν (vgl. A 29.42.29) deutlich zeigen, dab er als Zweck der Φελέα die Harmonie
des Entgegengesetzten betrachtet hat, so hat er doch andererseits auch ein Streben
von Gleichem zu Gleichem anerkannt, und Aristoteles fährt a. ο. Ὁ. geradezu fort:
ἐξ ἐναντίας δὲ τούτοις ἄλλοι τε nal ᾿Εμπεδοκλῆς, τὸ γὰρ ὅμοιον Tod ὁμοίου
ἐφίεσθαι. Nach diesen Worten müßte man eigentlich sogar annehmen, gerade
hierin habe Empedokles die pıAia gesehen. Aber Gomperz wird wohl recht haben,
wenn er in dieser Anziehung des Gleichen, die zur Isolierung der Elemente führen
muß, das Werk des Zwistes sieht (Gr. Ὁ. I, S. 190—193). Jedenfalls kann auch
Empedokles im Lysis nicht wohl gemeint sein. Ja, wenn es heißt, ὡς ἄρα παντὸς
δέοι τὸ ὅμοιον τῷ ὁμοίῳ φίλον elvaı, ἀλλ᾽ αὐτὸ τὸ ἐναντίον ein τούτου, 80 sieht
das wie eine Polemik gegen Empedokles aus. Und das gleich folgende τροφὴν
γὰρ elvaı τὸ ἐναντίον τῷ ἐναντέῳ steht im schärfsten Gegensatz zu dem sömilibus
similia nutriri des Empedokles (21B90, aus Macrobius mit dem Beleg
ὡς γλυκὺ μὲν γλυκὺ udonte, πικρὸν δ᾽ ἐπὶ πικρὸν ὄρουσεν κτλ.). Wir müssen
also wohl an einen Jüngeren denken, der Empedokles’ Lehre modifiziert hat.
Eryximachos im Symposion geht von derselben Anschauung aus.
Die Erweiterung der Erostheorie. 371
schiedenen Formen, die der παιδικὸς ἔρως bei den einzelnen Stäm-
men zeigte, nicht nur die Liebe der Geschlechter zueinander studierte,
sondern all das, was sonst der griechische Geist vom Eros wußte,
in die Betrachtung einbezog, den bittersüßen Liebesgott, der Sapphos
Herz erschütterte wie der Sturmwind die Eichen, den unbezwing-
lichen Herrscher, dem, wenn er im Frühling von Kypros aus seinen
Siegeszug antritt, die Götter ebenso sich beugen, wie die zarte
Jungfrau und das Getier des Feldes‘), den jugendlichen Sohn
Aphrodites, wie ihn die bildende Kunst darstellte, ebenso gut wie
den plumpen Steinblock, in dem man drüben in Thespiae den Eros
verehrte, und die kosmogonischen Spekulationen, die in ihm das
Prinzip der Zeugung und Entwicklung sahen, sowie die an diese
anknüpfenden philosophischen Theorien.
Auf dieser über den ursprünglichen Ausgangspunkt
unendlich erweiterten Basis’) führt das Symposion die
Untersuchung über das Wesen des Eros.
Im Symposion weist alles auf den Phaidros zurück. Daß der
μανικός Apollodor als Erzähler eingeführt und so anschaulich ge-
schildert wird, ist künstlerisch nur verständlich, wenn wir ihn als
den Vertreter der ἐρωτικὴ μανία fassen, die uns aus dem Phaidros
bekannt ist (vgl. S.2'). Wie Plato dazu gekommen ist, die allein
berechtigte sokratische Methode zu verlassen und aus einer Reihe
von Reden das Wesen des Eros zu entwickeln, begreift sich so-
fort, wenn wir diese Form als eine Erweiterung des im Phaidros
geübten Verfahrens fassen, wo er in bewußter dialektischer Ab-
sicht die zwei verschiedenen Auffassungen über den Eros in zwei
längeren Reden entwickelt hatte, und wir werden, hoffe ich, uns
noch überzeugen, daß im Symposion wie im Phaidros es nötig ist,
eis μίαν ἰδέαν συνορᾶν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα, um zu einem wirk-
lichen Bilde des Eros zu gelangen,
Im Phaidros nennt Sokrates p. 257a im Scherze Lysias, der
den Anlaß zu seiner Rede gegeben hat, τὸν τοῦ λόγου πατέρα.
Im Symposion muß Phaidros selber die erste Rede halten, ἐπειδὴ
καὶ πρῶτος κατάκειται καὶ ἔστιν ἅμα πατὴρ τοῦ λόγου (177d). Warum
gerade er, der jüngste und unbedeutendste des Kreises, das Thema
1 Theognis 1275; Soph. Ant. 781.
3) Ginge das Symposion dem Phaidros voraus, wäre mir die Entwicklung
psychologisch unverständlich.
24*
372 Lysis und Symposion.
angibt, würden wir schwerlich einsehen, wäre er uns nicht aus dem
Phaidros (242b) bekannt als der Mann, der neben Simmias den
Anstoß zu den meisten Reden gegeben hat. Daß er eigentlich in
dieser Gesellschaft nicht dazu berechtigt wäre, das läßt uns Plato
ja empfinden, wenn er Phaidros nicht persönlich, sondern durch
seinen älteren, uns auch aus dem Phaidros (268a vgl. Prot. 315c)
bekannten Freund Eryximachos den Vorschlag machen läßt.
Auch in seinem Wesen ist Phaidros ganz der καλὸς παῖς, den
wir aus dem nach ihm benannten Dialoge kennen: jugendlich un-
reif, der Sophistenschule weder äußerlich noch innerlich entwachsen,
durch Äußerlichkeiten leicht zu blenden, aber doch kein hohler
Kopf, keine oberflächliche Natur, sondern eine empfängliche, be-
geisterungsfähige Seele, die, wie der ἐρωτικός Sokrates wohl er-
kennt, nur durch eine zügellose Wißbegier zur Sophistik hinge-
trieben ist und unter guter Leitung bei richtiger Mäeutik ihren
Reichtum erschließen wird, weich wie Wachs, dem Bäumchen gleich,
das sich noch nach jedem Winde biegt, aber, wenn es erst inneren
Halt gewinnt, die schönste Entwicklung zeigen kann. Von der-
selben Art ist seine Lobrede auf den Eros, die er offenbar ebenso
gerne los werden möchte wie im andern Dialog die Lysiasrede,
schülerhaft in der Form, unreif im Inhalt. Nach einer Einleitung,
die sehr an einen Sekundaneraufsatz erinnert, bringt er ein paar
Reminiszenzen aus der Schullektüre an, ohne recht eine Ahnung
zu haben, was der Eros für Hesiod und Parmenides bedeutet.
Dann springt er sofort zu dem Thema über, das ihm am Herzen
liegt. Als den Unterschied der beiden Sokratesreden hatte er im
andern Dialoge wohl erkannt, ὡς βλάβη τέ ἐστι τῷ ἐρωμένῳ καὶ
ἐρῶντι (ὃ ἔρως) καὶ αὖϑις ὡς μέγιστον ὃν τῶν ἀγαϑῶν τυγχάνει
(268 ο), und Sokrates hatte 266a bestätigt, die zweite Rede habe
Eros gelobt ὡς μεγίστων αἴτιον ἡμῖν ἀγαθῶν. Das gibt Phaidros
den Grundgedanken für seine Lobrede: μεγίστων ἀγαθῶν ἣμῖν
αἴτιός ἐστιν (1180). Auch in dem, was er jetzt bringt, ist die
Form schülerhaft, aber wir spüren, wie warm es ihm ums Herz
1) Natürlich formulieren auch sonst die Enkomien seit Gorgias ihre Themen
ähnlich (vgl. S. 268), Selbst im ἐγκώμιον Πενίας, auf dem Aristophanes im Plutos
seinen Agon aufbaut, stellt sich Penia die Aufgabe (468):
κἂν μὲν ἀποφήνω μόνην
ἀγαϑῶν ἁπάντων οὖσαν αἰτίαν ἐμέ
ὑμῖν κτλ.
Der ἐρώμενος Phaidros und der ἐραστής Pausanias. 373
wird, wenn er die Segnungen des ἔρως — natürlich nur des παιδικὸς
ἔρως — schildert. Phaidros hat das Vorrecht der Jugend, alles in
rosigem Lichte zu sehen. Von den Abgründen, an denen sein Pfad
vorbeiführt, ahnt er nichts. Er weiß nur, daß in ihm selber der
Eros Schamgefühl und Ehrgeiz weckt, und setzt das ohne weiteres
überall voraus. Der Eros ist ihm darum die beste Triebfeder zu
sittlichem Tun, und keinen idealeren Zustand könnte es nach ihm
geben, als wenn die ganze Welt aus Liebenden und Geliebten
bestände. Begeistert redet er davon, daß die Liebe sogar zur eigenen
Aufopferung treibt. Das Höchste aber ist, wenn der Geliebte für
den Liebhaber sein Leben dahingibt. Davon träumt er wie unsere
Jungen vom Heldentod fürs Vaterland (180b). |
Auf Phaidros, der durchaus noch wie ein ἐρώμενος fühlt, folgt
Pausanias, der erklärte ἐραστής des Agathon (Prot. 315e Xen. Symp.
8,32). Er ist kein Schwärmer, er kennt die Welt, und die Erfahrung
hat ihn gelehrt: Οὐκ ἄρα μοῦνον Env’Egwrwv γένος. Und wenn schon
Euripides gelegentlich einen doppelten Eros geschieden hatte (fr. 388):
ἀλλ᾿ ἔστι δή τις ἄλλος ἐν βροτοῖς ἔρως
ψυχῆς δικαίας σώφρονος τε κἀγαϑῆς.
χαὶ χρῆν δὲ τοῖς βροτοῖσι τόνδ᾽ εἶναι νόμον
τῶν εὐσεβούντων οἵτινές TE σώφρονες
ἐρᾶν, Κύπριν δὲ τὴν Διὸς χαίρειν ἐᾶν"),
so führt Pausanias diese Scheidung prinzipiell durch, und stellt
nicht bloß der Tochter des Zeus”), der Aphrodite πάνδημος, die
Tochter des Uranos gegenüber, sondern er scheidet auch einen
himmlischen und einen gemeinen Eros. Nur der erste, der sich
auf das männliche Geschlecht, und zwar auf bereits heranreifende
Jünglinge und mehr auf die Seele als auf den Leib richtet, ist wert-
voll. Aus dem Doppelcharakter des Eros ergibt sich aber, daß
man den Eros nicht absolut preisen oder verurteilen darf. Das
tun freilich die gesellschaftlichen Anschauungen bei manchen
ἢ Aus dem Theseus. Vgl. auch fr. 671
Ὃ δ'εἰς τὸ σῶφρον En’ ἀρετήν τ᾽ ἄγων ἔρως
ζηλωτὸς ἀνθρώποισιν: ὧν εἴην ἐγώ
und mit Festhaltung eines Eros fr. 547
᾿Ενὸς δ᾽ ἔρωτος ὄντος οὐ ul’ ἡδονή.
οἱ μὲν κακῶν ἐρῶσιν οἱ δὲ τῶν καλῶν.
?) Man beachte, wie bei Euripides Κύπρις ἣ Διός dem guten Eros gegenüber-
gestellt wird. Zu dem dritten Verse des Fragments vgl. 181d χρῆν δὲ καὶ νόμον
εἶναι μὴ ἐρᾶν παίδων.
974 Lysis und Symposion.
griechischen Stämmen. Richtiger denken aber außer den Spartanern
die Athener. Ihr νόμος wird dem Doppelcharakter des Eros ge-
recht, ist freilich nicht leicht zu interpretieren. Das Liebeswerben
des ἐραστής wird hier durchaus erlaubt und gefördert, die Hingabe
des Geliebten dagegen gilt als Makel und wird gehindert. Der
Sinn des νόμος ist der: Die Liebe als solche ist sittlich indifferent;
es kommt auf die Art an, wie man sie übt. Deshalb gilt die schnelle
Hingabe ohne Prüfung des Liebhabers oder um materieller Vor-
teile willen als schimpflich. Hat dagegen der Geliebte die Über-
zeugung, daß der Liebhaber auch seine Seele liebt und zum Dank
für die Hingabe ihn geistig fördern will und kann, dann soll er
ihm in allem zu Willen sein; οὕτω πᾶν πάντως γε καλὸν ἀρετῆς
ἕνεκα χαρίζεσθαι (1855).
Man mißversteht diese Rede vollkommen, wenn man sie mit
der Verherrlichung des psychischen Eros in Xenophons Symposion 8
zusammenstellt. Worauf Pausanias hinauswill, das zeigt er am
deutlichsten 182a, wo er sich gegen die wendet, die zu behaupten
wagen, ὡς αἰσχρὸν xagiteodaı ἐρασταῖς. Denn was Pausanias mit
χαρίζεσθαι, das ebenso gut erotischer Terminus ist wie sein eben-
so oft hier gebrauchtes Pendant διαπράττεσθαι, meint, darüber
war doch ein Athener so wenig im Zweifel, wie wenn er Lysias’
Rede über das Thema ὡς χαριστέον μὴ ἐρῶντι μᾶλλον ἢ ἐρῶντι
las. Und wenn hier Pausanias verlangt, der Geliebte solle bereit
sein, τῷ ποιοῦντι αὐτὸν σοφόν τε nal ἀγαϑὸν δτιοῦν ὑπουργεῖν (184d),
so erhält das seine Illustration durch Alkıbiades’ Verhalten, der
von sich sagt: ἐγὼ δὲ τοιούτῳ ἀνδρὶ πολὺ μᾶλλον ἂν μὴ χαριζόμενος
αἰσχυνοίμην τοὺς φρονίμους ἢ χαριζόμενος τούς Te πολλοὺς καὶ
ἄφρονας (2184). Da spüren wir freilich aber auch, was es für einen
Unterschied macht, ob ein Jüngling, den die ἐρωτικὴ μανία be-
herrscht, πᾶν τολμᾷ δρᾶν τε καὶ λέγειν ὑπὸ τῆς ὀδύνης (218a), oder
ob ein ἐραστής, ein kühler Verstandesmensch, der uns an den Sprecher
der Lysiasrede erinnert — der behauptete auch, δι᾽ ἀρετὴν zu handeln
Phaidr. 232d vgl. 234a -- dies als Norm proklamiert.
Nichts ist aber für Pausanias bezeichnender, als daß er nach
Sophistenmanier') weiter nichts tun will als den athenischen »owog
— den spartanischen erwähnt er als gleichbedeutend p. 182a, läßt
ihn aber sofort unter den Tisch fallen — interpretieren und recht-
fertigen (οὐ ῥάδιον κατανοῆσαι 182da, τούτους δὴ βούλεται ὃ
1) Darüber im Exkurs.
Die Rede des Pausanias. 375
ἡμέτερος νόμος εὖ καὶ καλῶς βασανίζειν 183e, ὡς ὃ νόμος φησὶν ὃ
ἐνθάδε 183c vgl. 184be u.6.) Er weiß genau, daß dieser wider-
spruchsvoll ist, wie es die gesellschaftlichen Anschauungen in diesem
Punkte noch heute sind, wo der Verführer imponiert, die Verführte
Schande trifft. Wenn er trotzdem diesem Nomos schließlich den
Sinn abquält, daß er zur genauen Prüfung mahnen wolle, so zeigt
sich durch alle Sophistik hindurch, wes Geistes Kind der Mann ist.
Er ist der Typus der vornehmen Herren Athens, die in der
Knabenliebe etwas Selbstverständliches sehen und die gegenüber
modern auftauchenden ethischen Skrupeln die Rechtfertigung
ihrer Passion aus den gesellschaftlichen Anschauungen entnehmen.
Natürlich sind das keine Leute, die ins Bordell gehen. Sie stehen
auch nicht auf dem krassen Standpunkt der Dialexeis, wo es 2,2
einfach heißt: παιδὶ ὡραίῳ ἐραστᾷ μὲν χαρίζεσθαι καλόν, μὴ ἐραστᾷ
δὲ αἰσχρόν. Sie verwerfen die ausschließlich sinnlichen Triebe
und suchen ihr Verhältnis zum ἐρώμενος dadurch zu idealisieren,
daß sie in spartanischer Weise die Erotik für die geistige För-
derung der Jüngeren nutzbar machen wollen, einen Freundschafts-
bund fürs Leben als Ziel nehmen. Aber der Gedanke, daß der
sinnliche Liebesgenuß dabei παρὰ φύσιν sei, kommt ihnen absurd
vor. So stehen sie höchstens auf dem Standpunkt der φιλότιμοι,
die Sokrates am Schluß seiner zweiten Rede im Phaidros charak-
terisiert. Nichts ist bezeichnender für den athenischen »öwos, als
daß Pausanias diese Rede auf dem Gastmahl des Agathon, seines
erklärten Geliebten, halten darf.
Im Exkurs werden wir sehen, daß Plato diese Rede wahr-
scheinlich nicht ganz frei komponiert, sondern daß es wirklich eine
Apologie des athenischen Nomos von Pausanias gab, die Plato hier
frei wiedergibt.
Während die beiden ersten Reden wie die Sokratesreden im
Phaidros sich ganz auf den παιδικὸς ἔρως beschränken, führt uns
Eryximachos in eine ganz andere Sphäre. Ihn, den Naturwissen-
schaftler, interessiert der Eros nur als kosmisches Prinzip. Er
geht aus von der im Lysis 215e skizzierten Grundanschauung,
daß der gute Zustand des Leibes wie der ganzen Natur auf
einem Ausgleich der Gegensätze von Kalt und Warm, Trocken
und Feucht, Süß und Bitter usw. beruht. Das Streben der
entgegengesetzten Elemente nach Vereinigung miteinander, das
1) χρηστῷ nach μὲν und καλῷ nach δέ hat Wilamowitz mit Recht getilgt.
376 Lysis und Symposion.
zur Harmonie führt, das die Erhaltung und die Gesundheit
des Organismus bedingt, ist für diese Anschauung der Eros. Aber
leider ist im Leibe, das weiß Eryximachos als Mediziner nur zu
genau, nicht immer bloß dieses Streben nach Harmonie vor-
handen. Daher nimmt er die von Pausanias entwickelte Theorie
vom doppelten Eros gern auf, und indem er die Medizin defi-
niert als ἐπιστήμη τῶν τοῦ σώματος ἐρωτικῶν πρὸς πλησμονὴν
καὶ κένωσιν (1860), sieht er ihre Aufgabe darin, dem guten Eros
gegenüber den entgegengesetzten Tendenzen nach Unordnung
und Disharmonie zum Siege zu verhelfen oder wohl gar ihn erst
künstlich hervorzurufen. Schon hier kann er freilich die Schei-
dung der beiden Arten des Eros nicht ohne Zwang auf die, Me-
dizin übertragen (vgl. Hug-Schöne zu 186c). Bedenklicher wird
die Sache noch, wenn er dann nicht bloß im Reich der Töne
wie der Temperatur jenes Streben nach Harmonie und Dishar-
monie vorfindet, sondern überall sich bemüht auf die mensch-
liche Kunst und Wissenschaft das Schema anzuwenden, daß sie
dem guten Eros willfahren, den schlechten hemmen müsse '). Und
wenn er schließlich gar glaubt, das Wesen von Religion, Kultus
und Ethik nach derselben Formel bestimmen zu können, kommt
er über ein unklares, oberflächliches Gerede nicht hinaus.
Eryximachos hat gegenüber seinen Vorrednern den Vorzug
des weiten Blickes, mit dem er den Menschen in das Weltganze
einordnet. Er ist ein tüchtiger Vertreter seines Faches, und
ganz gewiß enthält der Gedanke, daß die Erhaltung und der
gute Zustand des großen wie des kleinen Organismus auf dem
Streben der entgegengesetzten Elemente nach Harmonie beruht,
auch in Platos Augen etwas Richtiges. Aber Eryximachos macht
den Fehler, daß er die in seinem Fache als richtig erprobten
Prinzipien auf alle möglichen Gebiete überträgt, ohne zu fragen,
ob sie dort wirklich Geltung haben können. Und so weit auch
sein Blick scheinbar trägt, geschärft ist er doch nur für das, was
sich unter Lupe und Seziermesser nehmen läßt. Für das spezi-
fisch Menschliche, für das Geistige hat er nicht das geringste Ver-
ständnis. Um so mehr ist er bereit, auch auf diese Gebiete seine
Prinzipien zu übertragen.
Nehmen wir noch hinzu das Selbstbewußtsein, mit dem er
3) Vgl. bes. 187d über die praktische Anwendungder Musik als Erziehungs-
mittel. Bei der Astronomie 188b verzichtet er auf das Schema notgedrungen ganz.
Eryximachos und Aristophanes. 377
am Schluß glaubt konstatieren zu können, daß er eine allseitig
erschöpfende Erklärung gegeben habe, den herablassenden Ton
gegenüber den andern, die noch nicht zur Höhe seiner Erkennt-
nis aufgestiegen sind, die schulmeisterliche Art, mit der er einen
Verireter der Geisteswissenschaft wie Heraklit, dem er das Beste
in seiner Grundanschauung verdankt, bei einer verhältnismäßig
kleinen Abweichung abkanzelt, den gänzlichen Mangel an jeder
χάρις, der seine Befürchtung, ἀηδής zu sein (176c), nicht unbe-
gründet erscheinen läßt‘), so werden wir nicht verkennen, daß
Plato hier einen Typus des Naturwissenschaftlers hat zeichnen
wollen, der auch heute noch nicht ausgestorben sein soll.
Auf den nüchternen wissenschaftlichen Vortrag folgt der
ausgelassene Mythos des Komikers,. Den lockt es nicht in die
weite Welt, ihn fesselt das spezifisch Menschliche. Ihm ist die
Liebe nicht das kosmische Prinzip, sondern das Band, das die
Individuen aneinander kettet. Was ist es, das den Menschen zu
einem andern Individuum, gerade zu diesem bestimmten Indivi-
duum zieht, so unwiderstehlich zieht, daß er keinen Augenblick
von ihm lassen möchte? Was wollen die Liebenden von ein-
ander? Sie wissen’s selber nicht. Nur soviel ist klar: der Geschlechts-
genuß allein ist es ganz gewiß nicht. Es ist das unbewußte
rätselhafte Streben, mit dem anderen ein Wesen zu bilden, ein Herz
eine Seele, ein Leib zu sein. Und was ist es, das diesen zum
Manne, jenen zum Weibe, jeden gerade zu diesem bestimmten
Individuum zieht? Im Phaidros hatte Plato angedeutet, daß
beide von Natur verwandt sind, im Lysis gesagt, daß das Wesens-
verwandte, das οἰκεῖον Ziel der Liebe ist, das uns ähnlich und
doch nicht gleich, uns verwandt und doch nicht mit uns iden-
tisch ist, das unser eigenes Wesen ergänzt. Begrifflich läßt sich
diese intimste Beziehung der Individuen nicht darstellen. Des-
halb mußte der Lysis mit einem Fragezeichen abschließen. Jetzt
1) Von Eryximachos’ „trockenem Humor“ spüre ich nicht viel. Die drei
Rezepte für Aristophanes (185d) zeigen doch nur den wichtigtuenden Pedanten.
Und wenn er sich bemüht, auf Aristophanes’ Scherze einzugehen, so tut er das —
Aristophanes wird den Vergleich nicht übelnehmen — mit der Gewandtheit eines
täppischen Bernhardiners, der von einem flinken Terrier gezaust wird.
Bei Aristophanes’ Schlucken sollte man wirklich Aristeides’ Erklärung, Plato
habe ihn εἰς ἀπληστίαν verspotten wollen, nicht wiederholen. Er ist der richtige
Komiker, der das Publikum lachen macht, noch ehe er ein Wort geredet hat.
Und πλησμονή ist doch nur wegen 186c gewählt.
378 Lysis und Symposion.
kann uns der Dichter, der auch etwas von der ἐρωτικὴ μανία ver-
spürt hat, im Mythos schildern, daß der Einzelmensch sich nicht
selbst genug ist, daß erst zwei Menschen, diese zwei Menschen
ein Ganzes bilden. Darum liegt in unserer Natur das Streben
nach Ergänzung unseres Ich durch ein anderes Wesen, das uns
von altersher verwandt ist:
Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.
Und dieses Streben nach der Ergänzung unseres eigenen Wesens
ist die Liebe.
So tief in das Menschenherz wie Aristophanes blickt Aga-
thon nicht. Aber er hat uns doch viel mehr zu sagen als Phai-
dros, mit dem man den ἐρώμενος des Pausanias, den νεανίσκος und
Sophistenschüler unwillkürlich zusammenstellt. In der Form ist
er ganz der Schüler des Gorgias. Aber wie bei seinem Lehrer
hat man doch die Empfindung, daß sie das gegebene Kleid für
das geistreiche Spiel der Gedanken ist und andererseits in dieser
Form sein Wesen so wenig aufgeht wie in den sophistischen
Kunststückchen, mit denen er seine Hörer amüsiert. Von Gor-
gias hat er auch die scharfe Gliederung der Rede gelernt. Mit
dieser Schärfe kontrastiert es aber merkwürdig, daß er im übrigen
bewußt auf eine logische Gedankenentwicklung verzichtet. Da
ist er der Dichter, der Stimmungen erwecken, nicht dozieren
will, dem die Assoziationen von Liebe, Jugend, Lenz und Blumen
wesentlicher sind als die logischen Beweise, die er nur zum
Scherze handhabt. Aber wenn er nun das Bild des Eros ent-
wirft, der mit und in der Jugend lebt‘), des zarten Gottes, der
geschmeidig sich in die Herzen schleicht, der allem Häßlichen,
allem Zwange feind ist, wenn er weiter davon spricht, wie dem
Eros alles was lebt und webt sein Dasein dankt, wie er es ist,
der die Fittiche zu großen Taten gibt, wenn er endlich als erster
von den Lobrednern des Eros bewußt die Schönheit als den Gegen-
1) 195b ist natürlich durchaus richtig μετὰ δὲ νέων dei σύνεστέ te nal
ἔστι, vgl. den prägnanten Gebrauch von εἶναι Eurip. Hec. 264 καὶ ἐγὼ γὰρ ἦν ποτ᾽,
ἀλλὰ νῦν οὐκ εἴμ᾽ ἔτι, Herod. I, 120 ἔστι τε ὁ παῖς καὶ περίεστι, Arist. Lys. 665.
Übrigens singen auch Aristophanes’ Vögel 704 πετόμεσϑά τε γὰρ καὶ τοῖσιν
ἐρῶσι σύνεσμεν.
Agathon. 379
stand der Liebe bestimmt, so spüren wir, es spricht hier ein
Mann, der das, was im Volksbewußtsein an Vorstellungen über
den Eros vorhanden ist, mit seiner Phantasie zu einem Vollbilde
ausgestaltet sogut wie Anakreon oder Praxiteles.
Wir werden ungern glauben, daß in diesem Bilde, das der
Künstler als Interpret des Volksempfindens entwirft, nicht wenig-
stens eine ὀρϑὴ δόξα stecken sollte. Aber nötig wird es freilich
sein, das Richtige erst von dem Falschen zu sondern, die Vor-
stellung zu begrifflicher Klarheit zu erheben. Das besorgt So-
krates, indem er mit unbarmherziger Dialektik Agathons Ideal-
bild zu Leibe geht und mit wenigen Worten zeigt, daß das Volks-
empfinden den Eros mit seinem Objekte verwechselt, daß der
Eros, gerade wenn er nach Schönheit strebt, diese noch nicht be-
sitzen kann (199e — 201 ο).
Sokrates’ Gespräch mit Agathon führt uns in eine andere
Welt. Vorher haben wir den verschiedenen Auffassungen, die
in den fünf Reden zum Ausdruck kamen, hilflos gegenüber-
gestanden, wie es im Laches bei den Reden der beiden Prak-
tiker der Fall war (S. 32). Sobald Sokrates das Wort ergreift,
wird es dort wie hier anders. Er zeigt den Weg, auf dem wir
zur Wahrheit, zum eigenen Urteil über das Problem kommen
können. Der Eros ist Verlangen nach der Schönheit, das muß
von jetzt an der Grundstein jeder Untersuchung sein.
Aber so sehr wir Sokrates recht geben, so regt sich doch
bei uns etwas wie ein peinliches Gefühl, wenn wir sehen, wie
Sokrates hier seinem Wirte, dem eben noch beifallumrauschten
Künstler sein Werk mit ein paar Schlägen zertrümmert, und aus
den letzten Worten Agathons 201c klingt auch eine leise Emp-
findlichkeit durch. Er ist eben doch kein Junge mehr wie Lysis
und empfindet deshalb schmerzlicher das Gefühl der nzevia, das
Sokrates in ihm weckt. Und nun soll Sokrates seine Rede auf
den Eros halten, die, wie wir wissen (199a), kein rhetorisches
Enkomion werden, sondern Aufklärung über das Wesen des Eros
bringen, die Wahrheit aufzeigen soll. Künstlerisch war das nicht
ohne Bedenken. Denn schwerlich konnte es befriedigen, wenn
Sokrates einfach eine Parallelrede zu den früheren hielt und
diesen damit eine Niederlage bereitete. Auch formell würde So-
krates die lange Rede nicht gut angestanden haben. Wo Plato
ihm früher eine solche gegeben hatte, da hatte er deutlich ge-
380 Lysis und Symposion.
zeigt, daß dies Sokrates’ Wesen widersprach. Im Menexenos
mußte Aspasia, im Phaidros die Nymphen und Zikaden ihn zu
der Rede inspirieren. Mit diesen Fiktionen war aber auch hier
der künstlerische Ausweg gewiesen, auf dem Plato Sokrates die
Rolle des überlegenen Schulmeisters ersparen konnte. Der εἴρων
mußte sich auch hier selber als Schüler hinstellen. Aber wem
sollte er seine Liebeskunst verdanken? Wer konnte Sokrates
in die Mysterien des Eros, die Plato selber erst so spät geschaut
hatte, einweihen? Eine historische Person ganz gewiß nicht. Im
Phaidros waren’s die Nymphen gewesen. Jetzt mag es die Mav-
τινικὴ Διοτίμα sein, die schon in ihrem Namen zeigt, daß sie nur
eine Repräsentantin der ϑεία μοῖρα sein will, der Sokrates den
Eros wie die ἐρωτικά verdankt. Und wenn Plato noch hinzu-
fügt, diese weise Frau habe seinerzeit den Athenern auf ihr Opfer
hin einen zehnjährigen Aufschub der Pest bewirkt, so wird der
Kenner platonischer Schriften kaum im Zweifel gewesen sein,
warum Plato die bekannte Erzählung über das Wirken des Sühne-
priesters Epimenides') auf seine Diotima überträgt: Er erinnert
an den Phaidros, wo unter den göttlichen μανίαν außer der &ow-
τική, der μαντική und ποιητική auch die Verzückung der Sühne-
priester erscheint und so geschildert wird (2444): ἀλλὰ μὴν νό-
σων γε καὶ πόνων τῶν μεγίστων, ἃ δὴ παλαιῶν ἐκ μηνιμάτων πο-
ϑὲν ἔν τισι τῶν γενῶν (ἐγένετο, ἣ μανία ἐγγενομένη καὶ προ-
φητεύσασα οἷς ἔδει ἀπαλλαγὴν ηὕρετο καταφυγοῦσα πρὸς ϑεῶν
εὐχάς τε καὶ λατρείας. Einer solchen Frau trauen wir auch ein
Wissen über die verwandten uaviaı zu.
Ehe Sokrates Diotima kennen lernte, stand er auf Agathons
Standpunkt, ὡς ein ὃ "Eows μέγας ϑεός, εἴη δὲ τῶν καλῶν (201 6).
Wir empfinden, daß damit Sokrates Agathons Irrtum als ver-
zeihlich hinstellt; wir werden aber nach Platos Absicht auch
daran denken sollen, daß der Sokrates des Phaidros unbefangen
(p. 242e) gesagt hatte: εἰ δ᾽ ἔστιν, ὥσπερ οὖν ἔστι, ϑεὸς ἢ τι
ϑεῖον ὃ Ἔρως ἡ. Diese Auffassung ist nicht aufrecht zu erhalten,
wenn man sich klar geworden ist, daß der Eros das Streben
1) Nach Legg. 642d kommt Epimenides vor den Perserkriegen nach Athen,
opfert und weissagt, daß der Krieg erst nach zehn Jahren kommen werde.
®) Daß Plato hier die Anschauungen des Phaidros korrigiert, hat Barwick
Comm. Ien. X. p. 11 gut hervorgehoben und v. Arnim, Zeitschr. f. d. öst.
Gymnasialw. 1913 S. 99ff., nicht widerlegt.
Diotima und ihre Rede. p. 201d—204c. 381
nach etwas ist, was man noch nicht hat. Sein Wesen — Sokrates
macht Agathon das Kompliment, daß er dessen Disposition auf-
nehmen will’) — ist deshalb anders zu bestimmen. Den Weg
hatte schon der Lysis gezeigt, wenn er das Streben auf die μήτε
dyadoi μήτε κακοί beschränkte und darauf hinwies, daß weder
die vollkommenen Götter noch die Unwissenden das Streben nach
der Weisheit haben, daß vielmehr die φιλοσοφοῦντες in der Mitte
zwischen Wissenden und Nichtwissenden stehen (Lys. 218a).
Plato zitiert hier diesen Satz ausdrücklich 204a und erinnert
durch eine scheinbar beiläufige Bemerkung (202a) an die Aus-
führung des Menon, daß auch die ὀρϑὴ δόξα zwischen Wissen
und Unwissenheit steht und daß sie zum Wissen nur erhoben
wird, wenn der Mensch lernt, sich Rechenschaft über seine Vor-
stellung abzulegen’). Das Streben, über die richtigen Vorstellungen
zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis vorzudringen, muß also
der Eros sein. Aus Menon und Phaidon wissen wir auch, daß
diese Erkenntnis nur zu erlangen ist, wenn wir von der sinn-
lichen Welt, den vielen Einzelwahrnehmungen empordringen zu
den ewigen, einheitlichen Begriffen, dem Ansichseienden, Gött-
lichen. Wenn daher schon im Phaidros der Eros zwischen der
Sinnenwelt und dem Ewigen vermittelt, so wird er jetzt aus-
drücklich als der Daimon, der Mittler zwischen Menschlichem und
Göttlichem bestimmt. Und wenn der Lysis psychologisch das
Wesen des Eros zu erfassen suchte als des Triebes, der auf das
Gute gerichtet ist und als Anlaß das Gefühl des Mangels hat, so
findet der Künstler Plato für diesen Gedanken jetzt das Bild von
dem Sohne der Πενία und des Πόρος, der von seiner Mutter das ewige
Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selber, vom Vater das rastlose
Vorwärtsdrängen und Forschen als Erbteil bekommen hat (203).
So bietet der ganze Abschnitt über das Wesen des Eros
(201d—204c) eine Präzisierung und Weiterbildung dessen, was
Phaidros und Lysias über den Eros gelehrt. Weiter über diese
Dialoge geht noch der folgende Teil hinaus, in dem Sokrates die
Segnungen des Eros für die Menschen entwickelt.
1) Freilich hatte Agathon im ersten Teile nur geschildert οἷός &ozıv, während
Sokrates fragt: τίς ἐστιν ὁ "Eowg καὶ ποῖός τις. Daß es einen großen Unter-
schied macht, ob man τέ ἐστιν; oder ποῖόν ἐστιν; fragt, hatte schon der Gorgias
448e ausgeführt (vgl. S. 168).
ὁ ἄλογον γὰρ πρᾶγμα πῶς ἂν εἴη ἐπιστήμη; ist Zitat von Gorgias 465a:
ἐγὼ δὲ τέχνην οὐ καλῶ ὃ ἂν ἢ ἄλογον πρᾶγμα.
382 Lysis und Symposion.
Im Lysis hatte Plato gezeigt, daß das letzte Ziel des Strebens
das absolute Gute ist, auf das wir alle Einzelgüter beziehen
(220b—d). Auch jetzt geht Plato davon aus, daß das mensch-
liche Streben letzthin dem Besitz des absoluten Guten, der Glück-
seligkeit gilt und daß mit dieser Bestimmung ein τέλος gegeben
ist (205a); aber gewöhnlich fassen wir den Eros nicht in dieser
allgemeinsten Bedeutung, sondern wir denken an ein bestimmtes
Einzelstreben. Als dessen Objekt müssen wir freilich wieder das
Gute bezeichnen — denn der Gedanke, daß die Ergänzung unsres
Wesens (so Aristophanes) oder das οἰκεῖον (so der Schluß der Lysis)
Gegenstand desEros ist, hat nur Sinn, wenn man diese Begriffe auf
das für uns Gute zurückführt (205e) —, aber zunächst die weitere
Bestimmung hinzufügen, daß die Liebe auf den ewigen Besitz
des Guten geht. Aber auch diese Bestimmung ist zu weit. Nur
die Form dieses Strebens ist als Liebe zu bezeichnen, die ihr
Ziel durch die Zeugung im Schönen, sei es leiblich, sei es geistig
erreichen will (206b).
Damit gibt Diotima eine Definition des Eros, die uns auch
nach Phaidros und Lysias ganz überraschend kommt, sodaß wir
ganz wie Sokrates selber auf die nähere Erläuterung gespannt sind.
Sie geht vom Nächstliegenden aus. Im Phaidros hatte
Sokrates poetisch von den Wirkungen der Schönheit auf den
Liebenden gesprochen, von den Schmerzen, die sie bei ihm hervor-
ruft, wenn der Geliebte fern ist, von der Lust, die der erneute
Anblick der Schönheit bereitet: πρὸς γὰρ τῷ σέβεσθαι τὸν τὸ
κάλλος ἔχοντα ἰατρὸν ηὕρηκε μόνον τῶν μεγίστων πόνων (202 8).
Jetzt weiß Plato für dieses Phänomen eine tiefere Erklärung zu
geben. Die leidenschaftliche Erregung in der Liebe ist ja nicht
auf den Menschen beschränkt. Wir beobachten sie auch bei den
Tieren, und da kann der Grund nicht zweifelhaft sein: es ist der
in bestimmtem Alter eintretende Drang zu zeugen, und zwar im
Schönen zu zeugen, das allein dem göttlichen Triebe angemessen
ist; ὅϑεν δὴ τῷ κυοῦντί τε καὶ ἤδη σπαργῶντι πολλὴ ἣ πτοίησις
γέγονε περὶ τὸ καλὸν διὰ τὸ μεγάλης ὠδῖνος ἀπολύειν τὸν ἔχοντα
(2064). Was ist aber der Sinn dieses Dranges? Was treibt so
gewaltig zum Zeugen, was pflanzt die Liebe zu den Jungen ein,
so daß das schwächste Tierchen sein Leben für sie wagt? Nur
eine Erklärung gibt es: Jedes Lebewesen hat den Drang in sich,
ein sich gleiches Wesen zu hinterlassen, dadurch die Gattung zu
Die Sokratesrede. 204d — 209. 383
erhalten und damit Anteil am Ewigen und an der Unsterblich-
keit zu erhalten. Denn wie der Mensch nicht von der Kindheit
bis zum Alter derselbe bleibt, sondern fortwährend sich erneut,
so hat überhaupt das Sterbliche Dauer nicht dadurch, daß es
ewig sich gleich bleibt, sondern dadurch, daß immer etwas gleich-
geartetes Neues an Stelle des Alten tritt. Der Sinn des Ge-
schlechtstriebes- ist also das unbewußte Streben nach Unsterblich-
keit (205b—208b).
Das ist aber nur der niedere Eros, der durch leibliche Zeugung
Anteil an der Ewigkeit sucht. Höher steht der geistige. Nicht
umsonst preisen Sophisten und Redner die Leute, die um des un-
sterblichen Ruhmes willen Gefahren bestanden, ja das Leben
aufgeopfert haben. Tatsächlich liegt im Menschen das Streben,
Taten zu vollbringen, die sein Leben überdauern. Und dieser
Eros ist es, der Achilles zu den von Phaidros gepriesenen Taten
getrieben hat. Aber auch hier auf dem geistigen Gebiete wirkt
am stärksten der Trieb zur Zeugung im Schönen. Das sehen
wir daran, daß Dichter, Politiker und Gesetzgeber um die Wette
bemüht sind, ihre Gedanken in andere hineinzupflanzen und durch
diese Einwirkung auf andere sich das Fortleben und die Un-
sterblichkeit zu sichern (208c—209e).
Hier hat Plato ein Stück mit den Vertretern der populären
Moral gehen können, und auch in der Form hat scheinbar un-
willkürlich seine Rede sich den Panegyrici und Epitaphioi an-
geähnelt. Aber wie im Menexenos klingt auch hier ein spöttischer
Ton durch, der uns nicht vergessen läßt, daß wir uns hier noch bei
den φιλότιμοι (Phaidros 256 b), bei den Vertretern der πολιτικὴ ἀρετή
befinden, denen die wahre Erkenntnis fehlt‘. Die höchsten
Weihen, das eigentliche Mysterium des Eros erschließt sich nur
dem, der sich ganz Platos Führung anvertraut °).
Wie im Phaidros ist es auch hier die Schönheit des einzelnen
1) Phaidon 82a οἱ τὴν Ömuorinyv nal πολιτικὴν ἀρετὴν ἐπιτετηδευκότες,
ἣν δὴ καλοῦσι σωφροσύνην τε καὶ δικαιοσύνην, ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης γε-
yovviav ἄνευ φιλοσοφίας καὶ νοῦ, Symp. 2098 πολὺ δὲ μεγίστη καὶ καλλίστη
τῆς φρονήσεως ἣ περὶ τὰς τῶν πόλεών τε καὶ οἰκήσεων διακοσμήσεις, ἢ δὴ
ὄνομά ἐστι σωφροσύνη Te καὶ δικαιοσύνη, So hatte Protagoras 325a die
πολιτικὴ ἀρετή definiert, vgl. S. 80.
?) 2096. Die Apostrophe an Sokrates soll zunächst nur den Gegensatz
zwischen der populären Moral und Platos eigenster Lehre markieren, aber richtig
ist freilich, daß auch Sokrates selbst nicht die Mysterienweihe erhalten hat.
984 Lysis und Symposion.
Körpers, an der sich der Eros entzündet. Aber dabei soll der
wahre Erotiker jetzt nicht stehen bleiben. Er soll von der
Schönheit des einzelnen Körpers aufsteigen zur sinnlichen Schön-
heit im ganzen und dadurch die heftige Liebe zum einzelnen
Leibe überwinden. Dann muß er die seelische Schönheit höher
stellen als die leibliche, und wo er schöne Seelen findet, Reden
zu zeugen suchen, die diese besser machen. Und immer höher
führt dann der Weg, von den schönen Handlungen und Ein-
richtungen zu den Wissenschaften und von den Einzelwissen-
schaften zu der einen Wissenschaft, die ihm die dyewuerog καὶ
ἀσχημάτιστος καὶ ἀναφὴς οὐσία des Phaidros (247c) offenbart.
Wer so allmählich, seies aus eigener Kraft sei es unter guter Leitung,
von Stufe zu Stufe bis zu dem überhimmlischen Orte aufgestiegen
ist, wer das weite Meer der Schönheit geschaut hat, das dort n
Immateriellen sich auftut, der hat das Ziel seines Lebens erreicht.
Er wird nicht mehr wie vordem in heißer Glut das einzelne
Individuum lieben und in ihm allein den unsterblichen Samen zu
streuen suchen, ihn hat der Eros bis zur Schönheit und Wahr-
heit selber emporgeführt, wo er nicht mehr Schattenbilder der
Tugend, sondern wahre Tugend hervorbringt und so sich den un-
mittelbaren Anteil am Ewigen sichert (210—212e).
Damit ist auch schriftstellerisch der Höhepunkt unsres Werkes
erreicht, und wir werden gut tun, Halt zu machen und zurück-
zuschauen auf den Weg, den wir durchmessen haben, und zu
überlegen, was wir über den Eros gelernt haben. Der Rückblick
gilt zunächst Sokrates’ Rede, aber wie diese selber bald hier bald
dort auf die früheren Reden zurückgreift, so werden auch wir
diese nicht vergessen dürfen.
Der Eros ist kein bloßes Wohlwollen, keine christliche Liebe,
er ist Verlangen nach etwas, ein Streben nach Ergänzung, das
aus dem Gefühl des Mangels geboren ist‘). Er ist das Streben
!) Als alter Mann hat Plato in den Gesetzen seine Anschauungen über
den Eros revidiert (836. 7). Hier verwirft er die ἀρρενομειξέα als widernatür-
lich und hält die spartanische Anschauung, die den παιδικὸς ἔρως als Er-
ziehungsmittel betrachtet, für sittlich bedenklich. Das begründet er so: φέλον
μέν mov καλοῦμεν ὅμοιον ὁμοέῳ κατ᾽ ἀρετὴν nal ἴσον Low, φέλον δ᾽ αὖ καὶ τὸ
δεόμενον τοῦ πεπλουτηκότος, ἐναντίον ὃν τῷ γένει ὅταν δὲ ἑκάτερον γέγνηται
σφοδρόν, ἔρωτα ἐπονομάζομεν. Hier erkennt er also die φιλέα der ὅμοιοι, der
Guten, die er im Lysis und Symposion leugnete, an. Er spricht von ihr in
Der Eros. 385
nach einem Gute, in letzter Linie nach dem Besitz des Guten,
der Glückseligkeit.
Aber dieser Begriff ist zu allgemein. Der spezielle Eros muß
positiver bestimmt werden. Er ist das Streben nach Zeugung,
nach Produktivität. Am deutlichsten ist das bei der geschlecht-
lichen Liebe, aber es gilt auch von den höheren Formen des Eros.
Was Agathon dunkel gefühlt hatte, wenn er sagte, bei allen großen
Entdeckungen und Schöpfungen sei der Eros im Spiel, ist schon
richtig. Tief wurzelt im Menschen das Streben nach Produktivität.
In der menschlichen Natur ist es aber begründet, daß nur
in der Gemeinschaft mit einem andern Wesen diese Produktivität
sich verwirklicht. Wieder ist das am klarsten bei der geschlecht-
lichen Liebe. Aber auch auf geistigem Gebiete ist der Mensch,
dem geistige Gemeinschaft fehlt, unproduktiv. Andrerseits, wer
Gedanken in sich produziert, der hat das Bedürfnis, sie als Samen
in andre Seelen zu pflanzen, damit sie dort zu selbständiger Ent-
wicklung gelangen. Selbst der einsam lebende Denker — ein
Timon gilt freilich dem Griechen als etwas Anormales — hat das
Bedürfnis, sich an ein Publikum zu wenden. Aber viel stärker
ist an sich der Drang, auf uns nahestehende Individuen zu wirken,
die Jugend, unsere Mitbürger zu beeinflussen. Auf der höchsten
Stufe der Produktion hört vielleicht gerade diese Rücksicht auf
bestimmte Menschen auf, aber der Ausgangspunkt ist auch hier
der Drang, in die Einzelseele den Samen zu streuen.
Als ein Geheimnis, das nur der Dichter zur Anschauung
bringen darf, müssen wir es dabei hinnehmen, daß dieser Eros
zwei ganz bestimmte Individuen zueinander führt, die bald als
Gatten, bald als Freunde, deren Liebe auf der Sinnlichkeit basiert,
bald wieder als zwei geistig verwandte Naturen, die gemeinsam
Ausdrücken, die aus dem Phaidros stammen (σέβεσϑαι, σῶφρον, ἁγνός cf. Phaidros
2518, 252a 254b), bemüht sich aber dabei, das sinnliche Moment möglichst aus-
zuscheiden, und wenn er auch den Ausdruck τῇ ψυχῇ ὄντως τῆς ψυχῆς ἐπιτε-
ϑυμηκώς festhält, so ist doch an diesem Eros --- τῶν λεγομένων ἐρώτων sagt
er mit guter Absicht 837a — das Verlangen nach dem Geliebten ausgeschaltet.
Es ist eine rein psychische Freundschaft, bei der der Liebende nur trachtet ἁγνεύειν
Gel μεϑ' ἁγνεύοντος τοῦ ἐρωμένου. Verwerflich ist demgegenüber der sinnliche
Eros, aber auch der weıxrög, der Sinnlichkeit mit seelischer Freundschaft ver-
einigen möchte. Plato nähert sich hier dem Standpunkt, den Xenophons Sokrates
im Symposion 8 wohl nach Antisthenes — darin hat Joel recht — vertritt.
Wie lange Zeit muß zwischen Phaidros und Gesetzen liegen!
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 25
386 Lysis und Symposion.
dem höchsten Ziele zustreben, sich zu einem Wesen ergänzen.
Daß diese Wesensgemeinschaft zum wahren Eros gehört, empfindet
auch ein Pausanias. Aber den tiefen Sinn des Eros erkennt selbst
Aristophanes nicht.
Der tiefe Sinn des Eros ist das Streben nach dem Anteil an
der Ewigkeit. In der Produktivität ist der Individualität die
Möglichkeit gegeben, die Schranken des Vergänglichen zu über-
schreiten und am Unvergänglichen teilzunehmen. Was der Eros
hier auf der tiefsten Stufe zu leisten vermag, ist Eryximachos
aufgegangen. Selbst in den Einzeldingen der unbeseelten Natur
ist als Grundzug ein Streben nach Harmonie vorhanden, das die
Dauer, die Erhaltung des Ganzen zum Ziele hat. Höher entfaltet
sich dann der Eros im Geschlechtstrieb der Tiere, der in sie ge-
pflanzt ist, ἕνα γίγνοιτο τὸ γένος, und die Gewalt, mit der er dort
auftritt, zeigt uns, daß er zu den wichtigsten Lebensäußerungen
gehört. Auf der Stufe der Tiere bleibt auch der Eros vieler
Menschen, der gemeine Eros. Höher müssen wir wieder das
Streben nach unsterblichen Taten stellen, wie es Phaidros
vorschwebt, nach dem unsterblichen Ruhm, den Dichter und
Redner preisen. Aber himmelweit über den Menschen, die diesem
Eros huldigen, steht doch, wen der Eros in seiner höchsten Ent-
faltung zum Schauen der Ideen und damit zur höchsten Pro-
duktivität und zum unmittelbaren Anteil am Ewigen führt.
Hier tritt noch ein Moment zu Tage, das alle Redner dunkel
gefühlt haben, der Dichter Agathon zuerst grundsätzlich zum
Ausdruck bringt. Das ist die uns aus dem Phaidros wohlbekannte
Verbindung des Eros mit der Idee, die im Sinnlichen den deut-
lichsten Abglanz hat, mit der Schönheit. Der Eros ist Zeugung
im Schönen. Wieder gilt das schon beim sinnlichen Triebe.
Aber höher und reiner ist es bei der geistigen Gemeinschaft und
Produktion der Fall. Auch hier ist die sinnliche Schönheit der
Ausgangspunkt, sie kann auch zum Fallstrick werden. Aber wen
der Eros richtig leitet, der ruht nicht, bis er zu einer Welt-
anschauung aufgestiegen ist, die ihm die Schönheit abgelöst von
allem Sinnlichen zeigt.
Was ist also schließlich der Eros, wenn wir alle seine Er-
scheinungsformen in Betracht ziehen? Er ist das Streben des
Sterblichen, Individuellen, durch Produktivität Anteil am Ewigen,
Allgemeinen zu erlangen, ein Streben, das die ganze vergängliche
Der Eros. Sinn und Zweck der Erscheinungswelt. 387
Natur durchzieht, das die verschiedensten Formen annimmt und
am schönsten sich da entfaltet, wo der Mensch von dem Ver-
langen nach der einzelnen schönen Erscheinung aufsteigend in
allmählichem Fortschritt zur Erkenntnis der Ideenwelt gelangt
und damit zur Produktion unvergänglicher Gedanken befähigt
wird. So ist der Eros wirklich der μέγας δαίμων, der Mittler
zwischen Sinnlichkeit und Ewigkeit.
Und nun verstehen wir auch, was Plato im Symposion sagen
will. Als er auf der Suche nach der Möglichkeit einer Wissen-
schaft sich aus der Welt des Vergänglichen und Wechselnden
in das Reich des Ansichseienden geflüchtet hatte, da war ihm ım
Immateriellen zu seiner Überraschung eine Welt von Schönheit
aufgegangen, von deren Glanz sein Auge geblendet wurde. Aber
wenn er dort nun das Ansichgute, Ansichschöne erklickte, so
drohte gegenüber dem absolut Wertvollen die sinnliche Erschei-
nung jeden Wert zu verlieren. Da mußte allmählich die
Frage kommen: Was solldenn all dieses Unvollkommene,
Vergängliche? Was ist der Sinn der sinnlichen Erschei-
nung? Was hat das Leben der einzelnen Ameise, was
hat mein Leben, mein Streben für einen Zweck? Die
Antwort gibt uns das Symposion: Wert hat nicht das ein-
zelne Exemplar, sondern die Gattung, Wert nicht der
Mensch als Individuum, sondern die Menschheit. Der
Sinn aber unseres Einzellebens ist die Mitarbeit am
Leben der Menschheit, die Mitarbeit an ihrer Er-
haltung nicht bloß in leiblicher Beziehung, sondern
auch an dem geistigen Besitz, der das Wesen der
Menschheit ausmacht. Der Sinn unseres Strebens ist die
Verwirklichung des Ewigen in uns und durch uns.
Plato hat sogut wie Schopenhauer das Bedürfnis
empfunden, sich alles Geschehen, alle Entwicklung in
der Welt durch eine einheitliche Formel verständlich zu
machen. Er findet sie indem die ganze Erscheinungswelt
durchziehenden Streben, das Allgemeine, die Gattung in
sich zu verwirklichen und so am Ewigen, absolut Wert-
vollen teilzuhaben. Und dieses Streben ist der Eros.
Ob Plato diese Gedanken über die sinnliche Welt für streng
wissenschaftlich erwiesen gehalten hat, darf man bezweifeln. Aber
lebendig geblieben sind sie, das zeigt uns am besten Aristoteles, wenn
25*
388 Lysis und Symposion.
er als die allgemeinste Form organischen Lebens Ernährung und Fort-
pflanzung bestimmt: φυσικώτατον γὰρ τῶν ἔργων τοῖς ζῶσιν...
τὸ ποιῆσαι ἕτερον οἷον αὐτό, ζῷον μὲν ζῷον, wvrov δὲ φυτόν,
ἵνα τοῦ ἀεὶ καὶ Tod ϑείου μετέχωσιν N δύνανται " πάντα γὰρ ἐκεί-
vov ὀρέγεται, καὶ ἐκείνου ἕνεκα πράττει ὅσα πράττει κατὰ φύσιν...
ἐπεὶ οὖν κοινωνεῖν ἀδυνατεῖ τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ ϑείου τῇ συνεχείᾳ
διὰ τὸ μηδὲν ἐνδέχεσϑαι τῶν φϑαρτῶν ταὐτὸ καὶ Ev ἀριϑμῷ διαμέ-
vew, N δύναται μετέχειν ἕκαστον, κοινωνεῖ ταύτῃ... καὶ δια-
μένει οὐκ αὐτὸ ἀλλ᾽ οἷον αὐτό, ἀριϑμῷ μὲν οὐχ ἕν, εἴδει δ᾽ ἕν
(de an. II, 4, p. 415a 25)'). Das ist direktes Zitat von Symp.
206—8 (vgl. bes. 2074 ἣ ϑνητὴ φύσις ζητεῖ κατὰ τὸ δυνατὸν
dei τε εἶναι καὶ ἀϑάνατος. δύναται δὲ ταύτῃ μόνον, τῇ γεννήσει Ἶ),
ὅτι ἀεὶ καταλείπει ἕτερον νέον ἀντὶ τοῦ παλαιοῦ und 2088: τούτῳ
γὰρ τῷ τρόπῳ πᾶν τὸ ϑνητὸν σῴζεται, οὐ τῷ παντάπασιν ταὐτὸν
ἀεὶ εἶναι ὥσπερ τὸ ϑεῖον, ἀλλὰ τῷ τὸ ἀπιὸν καὶ παλαιούμενον ἕτε-
ρον νέον ἐγκαταλείπειν οἷον αὐτὸ ἦν. ταύτῃ τῇ μηχανῇ . . . ϑνητὸν
ἀϑανασίας μετέχει, καὶ σῶμα καὶ τἄλλα πάντα, ἀδύνατον ὃ) δὲ ἄλλῃ).
Aber wichtiger ist vielleicht noch der Einfluß, den Aristoteles
unbewußt aus diesem Dialoge erfahren hat. Denn wenn wir die
Konzeption des berühmten κινεῖ ὡς ἐρώμενον in ihre Anfänge
verfolgen, werden wir an der Eroslehre des Symposion nicht
vorübergehen dürfen.
Einen merkwürdigen Irrtum müssen wir noch beseitigen,
der sich an das Symposion geheftet hat. Das ist der, wie es
scheint, ziemlich allgemein verbreitete Glaube, als habe Plato im
Symposion die Unsterblichkeit der Seele „noch nicht gelehrt“
oder gar verworfen, als wolle Sokrates in seiner Rede zeigen, in
welcher Weise die Seele Anteil an der Unsterblichkeit erlangen
könne. Dabei macht doch Plato ganz deutlich, daß ihn
hier die Frage nach dem Wesen und der Fortdauer der
Seele überhaupt nichts angeht. Dieses Problem ist offen-
bar für ihn erledigt. Nur davon will er reden, in welcher
Weise das Sterbliche Anteil am Ewigen erlangt (207d
bis 208b, vgl. besonders die eben ausgeschriebenen
ἢ Vgl. de gen. an. II, 1 (731b 8515. und 735a 18), Pol. I, 2 (1252a 28).
?) γενέσει codd.
’) So sicher richtig Creuzer für ἀϑάνατον, vgl. die Zitate bei Aristoteles.
Das Symposion hat mit der Unsterblichkeit der Seele nichts zu tun. 5989
Stellen). Das Sterbliche ist aber nicht etwa die Seele,
sondern das Lebewesen, das aus Leib und Seele be-
stehende Gesamtwesen und das muß als σύνϑετον na-
türlich sterblich sein, kann nur durch Fortpflanzung
sich in der Gattung erhalten. Wer hieran zweifeln wollte,
den kann eine Stelle des Phaidros belehren, wo Plato ausdrück-
lich über das Verhältnis von Seele und ϑνητόν spricht. Unmittel-
bar nachdem Plato dort die Seele als Bewegungsprinzip und da-
mit als unsterblich erwiesen hat, fährt er 246b fort: „Die unsterb-
liche Seele hat für alles Unbeseelte zu sorgen, muß überall vor-
handen sein, wo Bewegung und Leben ist; wenn sie sich aber
mit einem irdischen Leibe verbindet, ζῷον τὸ σύμπαν ἐκλήϑη,
ψυχὴ καὶ σῶμα παγέν, ϑνητόν τ᾽ ἔσχεν ἐπωνυμίαν. Ein unsterbliches
Lebewesen gibt es nicht.“ Diese Stelle müssen wir uns gegenwärtig
halten, wenn wir das Symposion lesen. Nicht der geringste Anlaß
liegt vor zu glauben, Plato habe dort seine Anschauung von der Seele
geändert. Ohne ein Prinzip, das Bewegung und Leben hervorruft,
ist der Eros nicht zu denken. Nichts führt aber auch zu der Annahme,
Plato habe die Unsterblichkeit der individuellen Seele fallen ge-
lassen ἢ).
Damit sind wir wieder zu dem Verhältnis des Symposion
zum Phaidros zurückgeführt. Hierüber noch einige Worte. Im
Phaidros hatte Sokrates das Wesen des Eros nach seinen beiden
Seiten hin durch seine zwei Reden veranschaulicht. Die zweite
bot des Wahren unendlich viel mehr als die erste. Aber doch
mußten wir beide Reden zusammennehmen, wollten wir ein rich-
tiges Bild erhalten. Genau so verfährt Plato im Symposion. Auch
hier nimmt die letzte Rede das Wesentliche aus den vorher-
gehenden auf; aber wenn wir Platos Gesamtauffassung verstehen
wollen, dürfen wir diese nicht unberücksichtigt lassen. Auch in
diesen unphilosophischen Anschauungen sind doch richtige Vor-
stellungen enthalten, und die verschiedenen Auffassungen lehren
uns doch auch verschiedene Seiten des Eros kennen. Im Phai-
dros war der Gedanke, das Wesen des Eros durch zwei Reden
darzustellen, durch methodische Erwägungen nahegelegt (S. 338).
Eine Weiterbildung dieses Verfahrens ist es, wenn Plato im
!) Im letzten Teile der Sokratesrede handelt es sich natürlich um die
psychischen Fähigkeiten des Menschen. Aber auch da ist die Unsterblichkeit der
Seele kein Problem.
990 Lysis und Symposion.
Symposion sechs Reden zu einer großen Induktion vereinigt und
dabei die Scheidung der zwei Seiten des Eros, die er hier durch
Pausanias schematisch durchführen läßt, endgültig in einer höhe-
ren Einheit aufhebt!).
Der Phaidros ist das Programm der Akademie, das nach der
Gewohnheit der Zeit unter Polemik gegen die herrschende Rich-
tung den Nachweis erbringt, daß nur die Akademie die höchste
menschliche Ausbildung durch die Philosophie zu geben vermag.
Aber v. Sybel?) hatte nicht so unrecht, auch das Symposion als
Programm der Akademie zu fassen. Denn auch hier wird ganz
scharf ein Schnitt gezogen zwischen den gewöhnlichen Bestre-
bungen und der Philosophie, wie die Akademie sie bringt. Aber
hier wird nicht bloß wie im Phaidros die Philosophie als das
Streben nach Erkenntnis geschildert, das für die menschen-
würdige Betätigung in jedem Berufe Voraussetzung ist, hier wird
uns vielmehr die Macht gezeigt, die die Philosophie besitzt, wenn
sie den Menschen dauernd unter ihrer Leitung behält. Da führt
sie ihn durch die einzelnen Fachwissenschaften, nicht bloß die
niederen, die Eryximachos vertritt, sondern auch die Geistes-
wissenschaften bis zu der einen Wissenschaft, bis zur idealistischen
Weltanschauung, die erst den Blick öffnet für die Prinzipien des
Alls, die absolute Schönheit und Gesetzmäßigkeit, die in der Welt
des Immateriellen herrscht und die zu verwirklichen die Sinn-
lichkeit nur unvollkommen vermag. Das ist das Ziel, das das
Leben lebenswert macht. Der Führer auf dem langen Wege ist
auch hier der Eros. Aber die Auffassung des Phaidros, daß der
Eros die Liebe zum Schönen sei, wird hier ausdrücklich dahin
korrigiert, daß er sich auf die Zeugung im Schönen richte (206 8).
Der Eros ist auch nicht mehr die Liebe, die zwei Individuen an-
einander fesselt — die wird ausdrücklich als die niedere Stufe be-
zeichnet (211d) — sie ist das Band, das die Gemeinschaft der
Akademie umschlingt?°).
1 Vgl. auch Barwick, Comm. Ien. X, p. 13.
3) Platos Symposion, ein Programm der Akademie, Marburg 1888.
3) Das ist für die Zeit des Phaidros natürlich sehr wichtig. Denn die Zeit
des Symposions scheint mir immer noch dadurch bestimmt, daß Plato den über
Zeit und Raum erhabenen Komiker 193a auf den im Jahre 384 erfolgten διοι-
κισμός von Mantinea (Xen. Hell. V, 2, 1—7) anspielen läßt, wie schon Ari-
Auch das Symposion ist ein Programm der Akademie. 391
Die antiken Philosophenschulen vereinigen in sich die Vor-
züge von Hochschule und Studentenverbindung. Das ist das
Ziel, das schon Plato bewußt verfolgt hat. In der Akademie soll
der Novize nicht bloß den Mystagogen finden, der ihn auf die
höchsten Weiten vorbereitet; er soll auch eine Lebensgemein-
schaft haben, die fester kettet als der Eros zweier Individuen
und die das Leben der Individuen überdauert, Anteil am ewigen
Leben der Wissenschaft gibt.
Ernste Arbeit fordert die Akademie, aber auf die Arbeit folgt
die Erholung. Im Phaidros hatte Plato gesagt (276d): „Wenn
andere Leute andere Vergnügungen suchen, sich auf Symposien
betrinken oder was es sonst dergleichen gibt, dann wird der
Philosoph seine Erholung im Schreiben finden.“ Jetzt hat er
gelernt, daß für die Gemeinschaft auch solche gemeinsame Er-
holungen wertvoll sind. Daß da nicht Flötenspielerinnen und
Taschenspieler die Unterhaltung geben, dafür werden die Musen
der Akademie schon sorgen. Dionysos wird nicht fehlen, und
wenn bei einem Fest ein Akademiker ihm zu sehr huldigt,
Plato wird’s nicht zu sehr übelnehmen. Aber wichtiger ist noch,
daß Eros in der Gemeinschaft waltet.
In Platos Dialog steht Sokrates im Mittelpunkt. Ihm ist das
Vorspiel gewidmet, und seiner Person gilt die Lobrede, die Alki-
biades eigentlich auf den Eros halten sollte. Er ist der Mittel-
punkt des ganzen Kreises, den Agathon geladen hat. Er bewegt
sich in ihm wie in seinem eigensten Elemente, er beherrscht
selbstverständlich die gesellschaftlichen Formen, trägt selbst ın
Äußerlichkeiten dem festlichen Anlaß Rechnung, weiß zu plau-
stides II 371 annimmt. Wenn dort gesagt ist διῳκέσϑημεν καϑάπερ ᾿Αρκάδες
ὑπὸ Λακεδαιμονίων, so scheint mir das nicht auffälliger, als wenn Demosth. 19,
74 sagt τὴν Βοιωτίαν οἰκέξειν, obwohl es sich nur um Thespiä und Platää
handelt, vgl. 8 325. Wilamowitz, Hermes 32, 102, Textg. d. Lyr. 1051 bezieht
die Anspielung auf die Auflösung des arkadischen Bundes nach 418. Aber ab-
gesehen davon, daß diese Anspielung um 380 kaum verstanden wäre, spricht
διῳκίσϑημεν dagegen. Denn dieses Wort wird, soviel ich sehe, nie von Auf-
. lösung eines Bundes, sondern stets von der einer Stadtgemeinde gebraucht, von
Mantinea Xen. Hell. V, 2, 7; Isokr. 8, 100; Ephoros fr. 138; Pol. IV, 27, 6; sonst
vgl. Dem. 19, 81 διῳκισμένοι κατὰ κώμας, 5, 10, Harpokration 8. v. διοικιεῖν"
διαιρήσειν ὥστε μὴ ἐν ταὐτῷ πάντας οἰκεῖν, ἀλλὰ χωρὶς καὶ κατὰ μέρος.
392 Lysis und Symposion.
i
dern, zu scherzen, zu zechen wie kein anderer, gibt sich dem
heiteren Genuß der Stunde harmlos hin. Ja Sokrates ist genuß-
fähiger als sie alle, aber keinen Augenblick verlieren wir die
Empfindung, daß er über diesen Genuß erhaben ist und es ihm
nur auf das Gespräch mit den Freunden ankommt, dem er die
Wendung auf die höchsten Ziele der Menschheit zu geben weiß.
Und wenn schließlich selbst die größten Zecher versagen, sein
Geist bleibt klar wie zuvor. Sein Geist ist unbedingter Herr
über den Körper, das ist der Eindruck, den wir überhaupt von
ihm bekommen. Schon die kleine Szene am Anfang, wo er in
Gedanken versunken stehen bleibt, zeigt uns den Philosophen
des Phaidon, bei dem der Geist das Körperliche zu verlassen
scheint. Ganz lernen wir ihn aber erst kennen durch das, was
Alkibiades von ihm zu erzählen weiß. Da hören wir, wie keine
körperliche Beschwerde, nicht Hitze noch Frost, nicht Schmerz
noch Lust diesem Manne etwas anhaben kann, wie die geistige
Konzentration ihn sogar über das Bedürfnis nach Essen, Trinken
und Schlaf erhaben macht. Wie ein Wesen aus einer höheren
Sphäre mutet uns da dieser Sokrates an, den wir eben noch als
Glied des geselligen Kreises sahen. Aber die wahre Größe dieses
δαιμόνιος ἀνήρ hat Alkibiades nicht damals erfahren, als er
Sokrates den ganzen kalten Wintertag in Nachdenken stehen
sah, sondern in der stillen Nachtstunde, wo er selber sich
dem Sokrates preisgab und dieser die fast übermenschlich
schwere Versuchung, die Alkibiades ihm bereitete, überhaupt
nicht zu empfinden schien. Und wie die σωφροσύνη, so ist
die Tapferkeit, ja die ganze Tugend gleichsam in Sokrates
verkörpert. Er übt sie nicht aus blödem Eudämonismus,
sondern weil er die absolute Überzeugung von dem ein-
zigen Werte der Tugend in sich trägt und darum garnicht an-
ders kann.
Ein δαιμόνιος ἀνήρ ist Sokrates auch durch den Einfluß, den
er ausübt. Sie alle, die in seinen Bannkreis getreten sind, haben
die ἐρωτικὴ μανία in sich gespürt. Aber keiner stärker als Alkı-
biades. Wo die Worte des Perikles glatt abgleiten, da ruft So-
krates die erschütterndste Wirkung hervor. Den verwöhnten
Liebling des Volkes, der gewohnt ist, alles sich verziehen zu
sehen, bringt er zu Thränen der Scham. Und wenn der Mann
auch längst sich andere Götter gewählt hat, so fühlt er doch mit
Sokrates die Verkörperung des Eros. 393
jähem Schreck die alte Zerrissenheit des Herzens wieder, sobald
er Sokrates erblickt ἢ.
Dämonisch wirkt bei diesem Mann auch der Gegensatz der
äußeren Erscheinung und des Inneren. Ist’s doch, als habe die
Natur zeigen wollen, daß die καλοκάἀγαϑία nur die Schönheit der
Seele verlange. Ein Silen von Häßlichkeit im Äußeren, ein Geist,
dessen Inhalt, wenn er sich ganz erschließt, wie eine Offenbarung
aus einer höheren Welt anmutet.
Endlich ist er der ἐρωτικός. Äußerlich verliebt wie ein
Silen, stets auf der Jagd nach jungen Leuten, die durch die leib-
liche Schönheit den Adel der Seele verraten, und dabei ein Herr-
scher über die Sinnlichkeit, der dem schönsten Jüngling wie der
Vater dem Sohne gegenübertritt. Gerade darum hat er aber die
dämonische Macht über die Jugend, weckt er den ἀντέρως, wird
er aus dem ἐραστής immer bald zum ἐρώμενος. So ist er wirk-
lich der beste Kenner der Liebeskunst. Aber er ist auch in
allen Formen des menschlichen Eros, die er selbst in seiner Rede
schildert, Meister. Wir wollen nicht vergessen, daß Sokrates
Gatte und Vater ist; aber wichtiger ist es freilich, daß sich in
ihm der Forscherdrang verkörpert, der den Menschen rastlos
ohne Ermatten vorwärts drängt, die heiße Liebe zum Ideale, der
Mitteilungstrieb, der den Menschen zwingt, wenn er schwanger
ist mit hohen Gedanken, sich einen anderen, einen κχαλός zu
suchen, in dem er zeugend fortwirken kann, damit auch der
mit ihm in gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit dem gleichen
Ziele zugeführt werden kann.
So ist Sokrates wirklich der ἐρωτικός, ja er ist noch mehr,
er ist die Verkörperung des μέγας δαίμων, des Eros, auf Erden.
Es ist kein Zufall, daß auf die Lobreden auf den Eros die auf
Sokrates folgt: Schon wenn Diotima vorher (203d) an die Stelle
des falschen Eros, den die Künstler irrtümlich nach dem Ero-
menos gezeichnet haben, den echten setzt, hat das Bild unwill-
kürlich die Züge des Sokrates angenommen.
Dem Individualismus und Persönlichkeitskultus des fünften
Jahrhunderts hat niemand sich stärker entgegengeworfen als
1) Schön ist es, wie Plato von der verklärten Gestalt des historischen Sokrates
einen Abglanz auch auf seinen genialsten Anhänger fallen läßt. Den Eros hatte
dieser in sich gespürt wie keiner. Aber bei ihm waren die beiden Seelenrosse
zu stark, und ihr Lenker unterlag.
394 Exkurs
Sokrates, und Platos Ideenlehre mußte diese Tendenz noch ver-
stärken, Da ist es wohl bezeichnend und für alle Zeiten lehr-
reich, daß es nicht bloß den Künstler Plato inmer wieder ge-
reizt hat, das Bild des Mannes zu zeichnen, sondern daß auch der
Philosoph gerade in der Schrift, wo alles Individuelle nur den
Zweck hat, am Allgemeinen, an der Gattung mitzuarbeiten,
der Persönlichkeit seinen Tribut zollt. Der göttliche Schutz-
patron der Akademie soll Eros sein. Aber wenn der Aka-
demiker ein Idealbild sucht, das ihm Kraft und Mut zum eige-
nen Forschen und Streben geben soll, dann blickt er auf die
menschliche Persönlichkeit hin, in der Eros Fleisch geworden ist,
auf Sokrates.
Exkurs.
Pausanias’ Erotikos. Platos und Xenophons Symposion.
In der Erosrede von Xenophons Symposion sagt Sokrates
(8,32): Καίτοι Παυσανίας γε ὃ ᾿Αγάϑωνος τοῦ ποιητοῦ ἐραστὴς
ἀπολογούμενος ὑπὲρ τῶν ἀκρασίᾳ συγκυλινδουμένων εἴρηκεν ὡς
καὶ στράτευμα ἀλκιμώτατον ἂν γένοιτο ἐκ παιδικῶν τε καὶ ἐραστῶν.
τούτους γὰρ ἂν ἔφη οἴεσθαι μάλιστα αἰδεῖσϑαι ἀλλήλους ἀπολείπειν
ἐνν χαὶ μαρτύρια δὲ ἐπήγετο ὡς ταῦτα ἐγνωκότες εἶεν καὶ Θηβαῖοι
καὶ ᾿Ηλεῖοι " συγκαϑεύδοντας γοῦν αὐτοῖς ὅμως παρατάττεσθαι ἔφη
τὰ παιδικὰ εἰς τὸν ἀγῶνα, οὐδὲν τοῦτο σημεῖον λέγων ὅμοιον" ἐκείνοις
μὲν γὰρ ταῦτα νόμιμα, ἡμῖν δ᾽ ἐπονείδιστα. Diesem Ψψόμος wird dann
der spartanische gegenübergestellt, der das körperliche Begehren
verpönt und die Aidog als Göttin hat.
Wenn man diese Stelle unbefangen liest, so wird man sich
des Eindrucks schwer erwehren können, daß Xenophon hier den
geschlossenen Gedankengang eines anderen wiedergibt, und nament-
lich Ausdrücke wie das Imperfektum ἐπήγετο lassen kaum eine
andere Deutung zu. An sich wäre es nun gewiß denkbar, daß es
ein literarischer Pausanias ist, den Xenophon zitiert. Aber der
platonische kann es jedenfalls nicht sein‘). Denn bei Plato sind
höchstens die einzelnen Gedanken, aber nicht der ganze Zusammen-
hang vorhanden. Ein Gedanke ferner, den Xenophon ausdrück-
lich mit ἔφη einführt (συγκαϑεύδοντας --- ἀγῶνα), fehlt dort ganz.
1) So schon Boeckh, Hug, Rettig u. a.
Pausanias’ Erotikos. 395
Den Gedanken an das Liebesheer, den Xenophon an erster Stelle
aus Pausanias zitiert, äußert bei Plato nicht dieser, sondern Phaidros
(178e). Und endlich wäre die Charakterisierung von Platos Pausanias-
rede durch ἀπολογούμενος ὑπὲρ τῶν ἀκρασίᾳ συγκυλινδουμένων eine
Gehässigkeit, die Xenophon sonst Plato gegenüber nicht zeigt.
Nun hat Joel einen andern literarischen Pausanias ausfindig
gemacht, der in Antisthenes’ Symposion vorkam (Echter und xenoph.
Sokrates II, 5. 710 ff., 912 ff.). Aber von diesem antisthenischen
Symposion weiß kein Mensch im Altertum etwas. Im Schriften-
verzeichnis des Antisthenes existiert es nicht. Joel muß es des-
halb in den Προτρεπτικοί suchen. Aus diesem sind freilich nur
drei Glossen erhalten, Ausdrücke für einen kleinen Becher, für
Ferkelnahrung und für das Nachtgeschirr. Ich muß bekennen, daß
ich nicht imstande wäre, daraus weitgehende Schlüsse zu ziehen. Joel
findet in ihnen untrügliche Zeichen für ein Symposion. Denn „man
wird zugeben: dergleichen Themata gehören selbst beim Kyniker
höchstens in den Kneipton“ (S. 711). Nun ist es an sich Geschmack-
sache, ob man sich besagte Dinge als Gegenstand des Tischgesprächs
denken will; jedenfalls kommen z. B. χοῖρος und duig bei Epiktet
in sehr ernsten theoretischen Erörterungen vor. Daß Joel Platos
Pausaniasrede nicht richtig interpretiert, wenn er sie mit Xeno-
phons Sokratesrede zusammenstellt, haben wir schon gesehen
(S. 374). Aber auch sonst ist nicht der Schatten eines Beweises
dafür erbracht, daß Antisthenes ein Symposion geschrieben habe
oder daß bei ihm Pausanias als Dialogfigur vorgekommen sei.
Fällt aber der literarische Pausanias weg, so bleibt nur übrig,
daß Xenophon eine Schrift des historischen Pausanias zitiert, auf
die dann natürlich auch Plato Rücksicht nimmt. Gegen diese An-
nahme spricht nichts, für sie ein wichtiges Moment. Platos Pausanias-
rede hatte, wie wir sahen, als eigentlichen Inhalt die Auslegung
und Rechtfertigung des athenischen νόμος über den Eros. Man
wird nicht sagen können, daß diese spezielle Tendenz durch Platos
Gesamtabsicht erfordert war, würde sie also gern einer originalen
Pausaniasrede zutrauen. Nun spielt gerade der νόμος auch im Zitat
beiXenophon seine Rolle. Eine objektive Wiedergabe von Pausanias’
Tendenz dürfen wir dort freilich nicht erwarten. Die wird gehässig
in eine Apologie der Unsittlichkeit verzerrt‘). Aber auch dort hören
1) Den Anlaß bot Pausanias’ Stellungnahme gegen die Leute, die zu be-
haupten wagen, ὡς αἰσχρὸν yagiteodaı ἐρασταῖς (Plato Symp. 182a).
996 Exkurs.
wir, daß Pausanias die νόμοι der Thebaner und Eleer über die Liebe
herangezogen hat‘). Und wenn Xenophon ihnen den spartanischen
νόμος mit bewußter Idealisierung gegenüberstellt, so liegt der Ge-
danke nahe, daß er dies tut, weil auch Pausanias den spartanischen
νόμος so für sich verwendet hatte, wie er es bei Plato (182a) tut.
Dieselbe Vergeistigung des spartanischen Eros bringt Xenophon
auch in seinem Staate der Spartaner 2,12—4. Nur scheidet er hier
in einer Weise, die an den Pausanias Platos erinnert, schärfer den
doppelten Eros, den psychischen und den sinnlichen, und behauptet,
nur der psychische sei in Sparta erlaubt und gelte dort als καλλίστη
παιδεία. Τὸ μέντοι ταῦτα ἀπιστεῖσθαι ὑπό τινων οὐ ϑαυμάζω" Ev
πολλαῖς γὰρ τῶν πόλεων οἱ νόμοι οὐκ ἐναντιοῦνται ταῖς πρὸς τοὺς
παῖδας ἐπιϑυμίαις. Vorher sagt er schon (12): οἱ μὲν τοίνυν ἄλλοι
"Eilnves ἢ ὥσπερ Βοιωτοὶ ἀνὴρ καὶ παῖς συζυγέντες ὁμιλοῦσιν ἢ
ὥσπερ ᾿Ηλεῖοι διὰ χαρίτων τῇ ὥρᾳ χρῶνται" εἰσὶ δὲ καὶ οἱ παντάπασι
τοῦ διαλέγεσθαι τοὺς ἐραστὰς εἴργουσιν ἀπὸ τῶν παίδων. Daß Xeno-
phon hier mit demselben Material arbeitet wie im Symposion, aber
mehr bietet, ist klar. Die letzte Angabe stimmt zu dem, was Platos
Pausanias über die Ionier sagt. Was speziell über Eleer und Böoter
gebracht wird, geht über ihn hinaus. Dagegen paßt es ganz zu
Pausanias’ Anschauungen, wenn der Eros als παιδεία aufgefaßt wird
(das Wort παίδευσις p. 184e): Und wieder haben wir die ver-
gleichende Wertung der νόμοι.
Ich glaube, das spricht dafür, daß an all diesen Stellen ein
wirklicher ἐρωτικός des Pausanias die Anregung gegeben hat. Er
hatte die Form einer Interpretation und Rechtfertigung der athe-
nischen gesellschaftlichen Anschauungen über den Eros. Das kann
uns in der Sophistenzeit nicht verwundern. Auch Protagoras inter-
pretiert und verteidigt in seinem Mythos die widerspruchsvollen
Anschauungen der Athener über die Lehrbarkeit der Tugend (323c
bis 32#c, vgl. 5. 87). Ein wirkliches Gesetz interpretiert Pheidippides
und beginnt Nub. 1186 οὐ γάρ, οἶμαι, τὸν νόμον ἴσασιν ὀρϑῶς ὅτι
voei. (Gerade ebenso drückt sich aber noch der alte Plato aus, wo
1) Hier ist gewiß Xenophon treuer als Plato. Denn für das Liebesheer auf
die Thebaner zu verweisen (schon vor der Organisierung der heiligen Schar durch
Gorgidas hat es doch gewiß Ähnliches dort gegeben), war für Pausanias von selbst;
gegeben. Plato hat diese Beweisführung weggelassen, weil er den Gedanken an
das Liebesheer Phaidros in den Mund legte und die νόμοι sich für Pausanias”
Rede aufsparte.
Pausanias’ Erotikos. 397
er den spartanischen νόμος über den Eros ablehnt und ein Ein-
gehen auf die Frage nach dem tieferen Sinn ablehnt: τὸν δὲ νόμον
ὑμῶν ὅτι νοεῖ περὶ τὰ τοιαῦτα, οὐδέν με ἐξετάζειν δεῖ (Legg. 837e)').
Plato kritisiert in diesem Abschnitt kurz die früheren Anschauungen
über den Eros, seine eigenen wie die der andern (S. 384"). Und
hier deutet er an, daß er Ansichten kennt, die den spartanischen
νόμος als ποικίλος aufseinen Sinn prüften und lobten. Sein Pausanias
tut dies im Symp. 182a nur in einer beiläufigen Bemerkung, der
historische hatte es gewiß ausführlich getan.
Daß Plato hier ein individuelles literarisches Erzeugnis vor
Augen hat, zeigt, wie mir scheint, auch der Stil seiner Pausanias-
rede. Wir lesen p. 180e: πᾶσα γὰρ πρᾶξις ὧδ᾽ ἔχει αὐτὴ ἐφ᾽
ἑαυτῆς πραττομένηῃ οὔτε καλὴ οὔτε αἰσχρά. οἷον ὃ νῦν ἡμεῖς
ποιοῦμεν, ἢ πίνειν ἢ ἄδειν ἢ διαλέγεσϑαι, οὐκ ἔστι τούτων
αὐτὸ καλὸν οὐδένν ἀλλ᾽ ἐν τῇ πράξει, ὡς ἂν πραχϑῇ, τοι-
odrov ἀπέβη καλῶς μὲν γὰρ πραττόμενον καὶ ὀρθῶς καλὸν
γίγνεται, μὴ ὀρϑῶς δὲ αἰσχρόν. Οὕτω δὴ καὶ τὸ ἐρᾶν" καὶ
ὃ Ἔρως οὐ πᾶς ἐστι καλὸὲ οὐδὲ ἄξιος ἐγκωμιάζεσϑαι, ἀλλὰ
ὃ χαλῶς προτρέπων ἐρᾶν. Schon Gellius XVII, 20 empfindet hier
das rhetorische ἐνθύμημα .. brevibus et rotundis numeris cum qua-
dam aequabili eircumactione devinetum, und die Farben sind tat-
sächlich so aufdringlich aufgetragen, daß man nach Analogie der
Agathonrede erwartet, diesen Stil durchgeführt zu sehen. Aber
davon ist keine Rede. Dafür tritt mehr ein Streben nach Sym-
metrie des Satzbaus hervor. Hug und Schöne haben die Stellen
schon gut analysiert. Ich setze p. 185 her:
Ia. Ei γάρ τις ἐραστῇ ὡς πλουσίῳ πλούτου ἕνεκα χαρισάμενος
ἐξαπατηϑείη καὶ μὴ λάβοι χρήματα,
ἀναφανέντος τοῦ ἐραστοῦ πένητος,
οὐδὲν ἧττον αἰσχρόν"
Ib. δοκεῖ γὰρ ὃ τοιοῦτος τό γε αὑτοῦ ἐπιδεῖξαι,
ὅτι ἕνεκα χρημάτων ὅδτιοῦν ἂν ὁτῳοῦν ὕπηρετοῖ᾽
τοῦτο δὲ οὐ καλόν.
Κατὰ τὸν αὐτὸν δὴ λόγον κἂν
118. εἴ τις ὡς ἀγαϑῷ χαρισάμενος καὶ αὐτὸς ὡς ἀμείνων ἐσόμε-
vos διὰ τὴν φιλίαν ἐραστοῦ ἐξαπατηϑείη,
1) Wenn Plato vorher sagt: μεικτὴ δὲ ἔκ τούτων γενομένη (Sc. φιλία) πρῶτον
μὲν καταμαϑεῖν οὐ ῥᾳδία κτλ., so schwebt das οὐ ῥάδιον κατανοῆσαι aus der
Pausaniasrede Symp. 1824 vor.
998 Exkurs.
ἀναφανέντος ἐκείνου κακοῦ καὶ οὐ κεκτημένου ἀρετήν,
ὅμως καλὴ ἣ ἀπάτη;
ΠΡ. δοκεὶ γὰρ αὖ καὶ οὗτος τὸ καϑ' αὑτὸν δεδηλωκέναι,
ὅτι ἀρετῆς γ᾽ ἕνεκα καὶ τοῦ βελτίων γενέσθαι πᾶν ἂν παντὶ
: προϑυμηϑείη;
τοῦτο δ᾽ αὖ πάντων κάλλιστον.
Wieder ist die Absicht ganz augenfällig, aber die rhetorischen
Mittel sind ganz anderer Art. Nehmen wir nun hinzu, daß da-
neben sich in der Pausaniasrede lange Strecken finden, die über-
haupt keine rhetorische Kunst zeigen, so ergibt sich daraus eine
Ungleichmäßigkeit des Stils, die ganz gewiß von Plato gewollt
ist und in schärfstem Gegensatze zur Agathonrede steht. Daraus
ergibt sich aber auch, daß Plato hier nicht etwa den Stil eines
der großen Redelehrer anwenden will. Er zeichnet einen Dilet-
tanten, der die verschiedensten rhetorischen Kunststücke sich an-
gelernt hat, aber nicht zur Einheitlichkeit des Stiles vorgedrungen
ist. Gerade das erklärt sich aber am leichtesten, wenn wir an-
nehmen, daß Plato den literarischen Charakter einer bestimmten
Schrift imitiert, und das kann dann nur der Erotikos des Pausanias
sein. Daß wir gegen Ausgang das fünften Jahrhunderts so etwas
voraussetzen dürfen, zeigen manche hippokratische Schriften.
Der Verfasser von de prisca medieina z. B. schreibt im all-
gemeinen einfach und wissenschaftlich, aber gelegentlich (c. 2)
bringt er Gorgianismen, und in c. 8 lesen wir folgende Periode,
die wie die vorher ausgeschriebene nach Symmetrie strebt, wenn
sie diese aus sachlichen Gründen auch gelegentlich durchbricht:
la. ᾿Ανὴρ γὰρ κάμνων νοσήματι
b. μήτε τῶν χαλεπῶν τὲ καὶ ἀπόρων μήτε αὖ τῶν παντάπασιν
εὐηϑέων,
ἀλλ᾽ οὗ τι αὐτῷ ἐξαμαρτάνοντι μέλλει ἐπίδηλον ἔσεσθαι,
ὁ. εἰ ἐθέλοι καταφαγεῖν ἄρτον καὶ κρέας ἢ ἄλλο τι ὧν οἱ ὑγι-
αίἰνοντες ἐσθίοντες ὠφελέονται,
d. μὴ πολλόν, ἀλλὰ πολλῷ ἔλασσον ἢ ὑγιαίνων ἂν ἐδύνατο,
lla. ἄλλος τε τῶν ὑγιαινόντων
b. φύσιν ἔχων μήτε παντάπασιν ἀσϑενέα μήτε αὖ ἰσχυρὴν
Ὁ, φάγοι τι ὧν βοῦς ἢ ἵππος φαγὼν ὠφελοῖτό TE καὶ ἰσχύοι, ὀρό-
βους ἢ κριϑὰς ἢ ἄλλο τι τῶν τοιούτων,
d. μὴ πολύ, ἀλλὰ πολλῷ μεῖον ἢ δύναιτο,
Pausanias’ Erotikos. 399
IH. οὐκ ἂν ἧσσσν ὃ ὑγιαίνων τοῦτο ποιήσας πονήσειέ τε καὶ κιν-
δυνεύσειε κτλ.
Pausanias hatte also in einem Erotikos, in dem er wohl Agathon
anredete'), eine Apologie der athenischen gesellschaftlichen An-
schauungen über die Knabenliebe unternommen und zu zeigen
gesucht, daß diese ähnlich wie die spartanischen nur die Form
des Eros billigten, wo dieser sich nicht bloß auf den Leib erstrecke,
sondern als Erziehungsmittel, als Grundlage einer dauernden Freund-
schaft diene. Plato hat diesen Erotikos zum Anlaß genommen,
Pausanias als Dialogfigur im Symposion zu verwerten — ja die
ganze Szene des Symposion ist wohl nicht ohne Einfluß der Schrift
konzipiert — und hat Pausanias’ Rede dabei in einer für seine Leser
natürlich deutlich kenntlichen Weise benutzt. Er ist frei vorge-
gangen, hat manches in Phaidros’ Rede übertragen, hat aber die
Tendenz im ganzen treu wiedergegeben’), nur vielleicht etwas
verfeinert. Andere Sokratiker — und hier glaube ich Joel durch-
aus, daß Antisthenes als Apostel der rein psychischen Liebe Xeno-
phon vorangegangen ist — haben Pausanias’ Erotikos als bloße
Apologie seiner eigenen sinnlichen Neigungen gedeutet, und Xeno-
phon ist wohl gerade durch Platos Symposion veranlaßt worden,
vom Standpunkte der Sokratik aus Pausanias aufs schärfste zu
verurteilen.
Auf die vielbehandelte Frage nach dem Verhältnis von Platos
und Xenophons Symposion genauer einzugehen, liegt nicht in
meiner Absicht. Zwei Punkte scheinen mir entscheidend:
Wenn zwei Sokratiker einmal auf den Gedanken verfallen, die
offizielle Form der sokratischen Literatur zu verlassen und ein
Symposion zu schreiben, so sind sie nicht unabhängig von ein-
ander. Die Priorität aber wird man dem zuschreiben, bei dem sich
die Wahl dieser Form aus inneren Gründen erklärt. Bei Plato haben
wir gesehen, daß die sechs Reden des Symposions eine große In-
duktion darstellen, daß diese Form ihre Analogie in den Erosreden
des Phaidros hat und die Weiterbildung des dort geübten Verfahrens
1). So Schenkl.
5) Zur Tendenz des Pausanias würde auch die Scheidung des doppelten Eros
passen, die schon durch Euripides nahegelegt war. (Das hat Barwick Comm. Ien.X.
p. 14.5 übersehen. Vgl. jetzt v. Arnim, Ztschr. f. d. öst. Gymn. 1913 5. 99.)
400 Exkurs.
darstellt (S. 389). Bei Xenophon wird man nach inneren Motiven,
die zur Form des Gastmahls führen mußten, vergeblich suchen.
Das zweite ist: Bei Xenophon beginnt Sokrates seine Eros-
rede (8,1): ρ΄, ὦ ἄνδρες, εἰκὸς ἡμᾶς παρόντος δαίμονος μεγάλου
χαὶ τῷ μὲν χρόνῳ ἰσήλικος τοῖς ἀειγενέσι ϑεοῖς, τῇ δὲ μορφῇ νεωτάτου,
καὶ μεγέϑει μὲν πάντα ἐπέχοντος, (ἐν) ψυχῇ δὲ ἀνθρώπου ἱδρυμένου,
Ἔρωτος, μὴ ἀμνημονῆσαι, ἄλλως τε καὶ ἐπειδὴ πάντες ἐσμὲν τοῦ
ϑεοῦ τούτου ϑιασῶται; Längst ist bemerkt, daß jeder Ausdruck hier
seine Parallele bei Plato hat. Als einen δαίμων μέγας bestimmt So-
krates — im Gegensatz zur gewöhnlichen Anschauung, die Eros für
einen Gott hält — den Eros p. 202d, als ältesten von den Göttern
Phaidros 178a. Gegen Phaidros zeigt Agathon, daß Eros νεώτατός
ἐστι τῇ μορφῇ 195a—c und fügt hinzu, daß er ἐν ἤϑεσι καὶ ψυχαῖς
ϑεῶν καὶ ἀνϑρώπων τὴν οἴκησιν ἵδρυται. Daß der Eros πάντα ἐπέχει,
führt Eryximachos aus. Daß alle Anwesenden unter Eros’ Ein-
fluß stehen, hebt nachher Alkibiades 218b hervor’).
Hier gibt es doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat Xeno-
phon, ehe er auf sein spezielles Thema, die Lobrede auf den rein
seelischen Eros, kam, in der Einleitung kurz im Anschluß an Plato
auf das gesamte Wesen des Eros hingewiesen, oder aber Plato hat
aus diesem einen Paragraphen Xenophons nicht bloß die Wesens-
bestimmung des Eros als δαίμων entnommen, sondern hat auch aus
den einzelnen Attributen seine verschiedenen Lobreden auf den
Eros herausgesponnen; er verdankt ihm also im Grunde die ganze
Konzeption seines Werkes.
Welche von diesen beiden Möglichkeiten hat die innere Wahr-
scheinlichkeit für sich?
») Auf Pausanias’ Scheidung des doppelten Eros kommt Xenophon 8,9 und
zieht sie in Zweifel: εἰ μὲν οὖν μέα Eoriv ᾿Αφροδίτη ἢ διτταί, Οὐρανία τε καὶ
Πάνδημος, οὐκ olda. Doch könnte Xenophon hier sich auf den historischen
Pausanias beziehen.
Aus Platos Werdezeit.
„Plato wurde schon als junger Mensch mit Kratylos und
Heraklits Lehren bekannt; dann schloß er sich an Sokrates an“,
so lesen wir bei Aristoteles in dem bald nach Platos Tode ver-
faßten) kritischen Überblick über die Geschichte der Philosophie
(Met. A 6 p. 987a 32), und tatsächlich bezeichnet Aristoteles damit
die beiden philosophischen Haupteinflüsse, die Plato in seiner
Jugend erfahren hat, die dauernd auf ihn eingewirkt haben. In
der späteren Fassung des Gedankens (Met. M 4, p. 1078b 12) hat
Aristoteles mit richtigem Empfinden den Namen des Kratylos
weggelassen. Denn dieser war doch nur der Vermittler der An-
schauung, „daß alle Sinnendinge in ewigem Fluß begriffen sind
und es kein Wissen von ihnen geben kann“ (Arist. an der ersten
Stelle). Plato hat später seinem Lehrer die Pietät nicht ganz
versagt, aber ernst konnte er den unmethodischen und unselb-
ständigen Denker nicht mehr nehmen. Und schon der junge
Plato hat sich wohl bald von der Unfruchtbarkeit einer Denk-
weise überzeugt, die aus Heraklits Lehre die Folgerung zog, man
dürfe überhaupt kein Urteil mehr aussprechen, man dürfe, wenn
man den Eindruck eines Dinges subjektiv bezeichnen wolle, sich
eigentlich nicht einmal des Mediums der Worte bedienen, da
diese immer etwas Bleibendes, Dauerndes bezeichnen (Met. 7) ὃ
p- 1010a 12).
Ganz die entgegengesetzte Anschauung trat Plato bei Sokrates
entgegen. Für den war gerade der bleibende Inhalt der Worte
1 Daß das erste Buch der Metaphysik zu einer Zeit verfaßt ist, wo
Aristoteles sich noch ganz als Platoniker fühlte, hat Jäger Studien zur Ent-
stehungsgesch. der Metaphysik des Aristoteles 5. 33ff. erwiesen. Aber auch die
Geschichte der Philosophie im Dialoge περὶ φιλοσοφίας, die doch wohl eine
populäre Parallele zu Met. A bildete, ist sicher früh verfasst. Denn der leiden-
schaftliche Ausbruch (κεκραγώς), er könne der Ideenlehre nicht beistimmen,
κἄν τις αὐτὸν οἴηται διὰ φιλονικίαν ἀντιλέγειν (fr. 8), pabt nur in frühe Zeit.
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 26
402 Aus Platos Werdezeit.
der Ausgangspunkt jeder Untersuchung. Und daß er damit auf
dem rechten Wege war, das bestätigte sich bei jedem Gespräch,
das er mit anderen führte. Denn mochten auch die Meinungen
noch so verschieden sein, das stellte sich jedesmal wieder heraus,
daß die verschiedensten Menschen im Grunde mit den Worten,
die sie gebrauchten, den gleichen Begriff verbanden, und daß es
bei methodischem Vorgehen möglich war, diese Begriffe so weit
zu klären, daß sie von allen als der bleibende, feste Inhalt der
Worte anerkannt werden mußten. Damit war aber etwas Festes
gegeben, das nicht bloß zur gegenseitigen Verständigung unent-
behrlich war, sondern das auch dem individuellen Denken Schranken
und Normen setzte. Es zeigte sich, daß über der augenblick-
lichen Empfindung, auf die Kratylos ausschließlich sein Augen-
merk richtete, über den individuellen Meinungen noch etwas
anderes da war, was dem Denken den festen Halt bot, den ein
Jünger des Kratylos nicht finden konnte, den auch die sub-
jektivistischen Theorien der anderen Weisheitslehrer, die Plato
natürlich kannte, nicht gewährten.
Es mochte den jungen Plato vielleicht zuerst befremden, daß
Sokrates sich auf eine Bekämpfung der metaphysichen Voraus-
setzungen Heraklits wie überhaupt auf die beliebten naturphilo-
sophischen Spekulationen gar nicht einließ. Aber dafür ent-
schädigte ihn nicht bloß das Bewußtsein, daß er jetzt festen
Boden unter den Füßen hatte; er empfand auch bald den Reich-
tum, der in der Selbstbeschränkung des Sokrates lag. Denn die
ethischen Begriffe, auf deren Klärung Sokrates im Gespräch allein
ausging, boten nicht bloß dem theoretischen Denken eine Norm,
sie bestimmten als Wertbegriffe zugleich das Handeln, zeigten
dem Menschen das Ziel, nach dem er zu streben hatte, und setzten
ihn in den Stand, es zu erreichen. Wer sich einmal klargemacht
hatte, was das Gute für ihn war, wer im Gespräch immer
wieder bestätigt fand, daß die wahren Werte im Menschen selber
ruhen und deshalb das sittlich Gute für den Menschen schlechthin
gut ist, das glückselige Leben mit dem sittlichen Leben identisch ist,
der konnte ja gar nicht anders als nach diesen Normen leben.
Und dahin weisen auch die Ausführungen über die Kreisbewegung der Gestirne
fr. 24, die in einer von de caelo 2, 3 abweichenden (Bernays Dialoge des
Aristoteles 5. 103) und eher an das zehnte Buch von Platos Gesetzen erinnernden
Weise aus der Freiwilligkeit der Bewegung erklärt wird.
Plato bei Sokrates. 403
Aus dem Wissen vom Guten mußte das richtige Handeln fließen.
Andrerseits aber war auch dieses Wissen unentbehrlich für den,
der sein Leben wirklich gut führen wollte.
Das Wissen vom Guten zu erreichen war die wichtigste Auf-
gabe des Menschen. Daß es ein solches Wissen gäbe, betrachtet
Sokrates als selbstverständlich und mochte auch Plato als selbst-
verständlich ansehen, da ja doch das Gute selbst im Gegensatz
zu den Objekten der sinnlichen Wahrnehmungen etwas Festes,
Bleibendes war. Eine andere Frage aber war es, ob es subjektive
Träger dieses Wissens gäbe. Sokrates selbst lehnte es durchaus
ab, dieses Wissen zu besitzen. Und das tat er gewiß nicht bloß
als εἴρων, auch nicht bloß im Gegensatz zu den Alleswissern,
die für Geld ihren Schülern jedes Wissen beizubringen behaupteten.
Sein Bekenntnis zum Nichtwissen floß aus einer tiefinnerlichen
Bescheidenheit, einer demütigen Einsicht in die Schranken, die
dem menschlichen Individuum gesetzt sind. Andrerseits lag aber
Sokrates nichts ferner als eine müde unfruchtbare Skepsis. Das
Bewußtsein des Nichtwissens sollte für ihn selbst und für andre
nur anspornend wirken. Das höchste Ziel, das menschlicher
gemeinsamer Arbeit gesteckt ist, blieb das Wissen, und in der
selbständigen Forschung nach der Wahrheit zeigte Sokrates den
Weg, auf dem man diesem Ziele näher kommen konnte.
Kratylos’ Person hatte geringen Eindruck auf Plato gemacht;
in Sokrates fand Plato den Mann, der von den objektiven Normen
für Erkenntnis und Handeln nicht bloß redete, sondern auch in
seinem ganzen Wesen die Macht des Sittlichen verkörperte und
dabei im Leben wie im Sterben den Beweis für seinen Optimismus
lieferte, daß mit dem sittlichen Handeln die Glückseligkeit gegeben
sei. Er fand in Sokrates die dämonische Natur, die nicht nur
selbst ihr ganzes Leben dem Streben nach Erkenntnis weihte,
sondern auch in anderen die Seligkeit und Unseligkeit des rast-
losen Forschergeistes weckte und sie aus dem faulen Schlendrian,
der von der sittlichen Bestimmung des Menschen nichts wissen
wollte oder wußte, aufrüttelte. Ja gerade dieser Zug war vielleicht
der bezeichnendste für den Mann, der unermüdliche Eifer, mit
dem er das durchführte, was er als seine göttliche Mission empfand,
und jung und alt immer wieder auf das eine, was not tut, hin-
wies, auf das, was wertvoller ist als jeder äußere Besitz.
Das offizielle Athen ertrug Sokrates’ mahnende Stimme nicht;
26*
404 Aus Platos Werdezeit.
aber als dieser dahin ging, da gelobte sich Plato, das Ver-
mächtnis seines Meisters hochzuhalten, Auch er wollte das Ge-
wissen seiner Mitbürger sein, nicht müde werden, jung und alt
auf den rechten Weg zu weisen (Apol. 39e).
Diesem Gedanken ist Plato sein ganzes Leben hindurch treu
geblieben. Man kann seine Entwicklung nicht verstehen, wenn
man ihn sich als den einsamen Denker vorstellt, der sich nur
selbst eine Weltanschauung erarbeitet; man muß sich immer vor
Augen halten, daß ihn in erster Linie das Streben beseelt, auf
die Jugend, auf sein Volk, auf die Menschheit einzuwirken, sie
in Sokrates’ Sinne sittlich zu fördern.
Ob er wohl, als er öffentlich gelobte das Werk seines Meisters
fortzuführen, schon eine feste Vorstellung hatte, auf welchem
Wege er vorgehen sollte? Daß eine Persönlichkeit wie Sokrates
sich nicht einfach kopieren ließ, darüber hat ihn sein künstlerischer
Takt gewiß keinen Augenblick im Zweifel gelassen. Auch daran
konnte er nach seinem ganzen Wesen nicht denken, als bezahlter
Weisheitslehrer aufzutreten. Literarisch konnte er wohl seine
Ideen vertreten wie sein Oheim Kritias, aber das eigentliche Ge-
biet, auf das ihn Herkunft und Stellung wies, war doch die Be-
teiligung am öffentlichen Leben Athens. Mit politischen Plänen
hatte er sich gerade in der Restaurationszeit nach 403 getragen.
Sokrates’ Tod zeigte freilich mit erschreckender Deutlichkeit die
Borniertheit der Führer wie der Massen Athens, erfüllte ihn mit
Widerwillen gegen das demokratische Treiben und stellte ihm die
Schwierigkeit seiner Aufgabe nur zu deutlich vor Augen. Aber
vorläufig war er doch noch Optimist genug, um die Hoffnung
nicht aufzugeben, er könne allmählich den ethischen Ideen auch
im öffentlichen Leben seines Volkes Eingang verschaffen (ep. VI
p. 325). Aber das ließ sich natürlich nicht mit einem Tage machen.
Da galt es Geduld zu haben, bis sich eine günstige Gelegenheit
zum Eingreifen fände. Und vor allem hatte Plato das Gefühl,
daß er selbst noch reifen, sich abklären mußte.
Fragen gab es genug, die sich gerade nach Sokrates’ Tode
jetzt aufdrängten. Und so unhistorisch die Vorstellung ist, als
hätten Sokrates’ Anhänger nach seinem Tode eine allgemeine
Jüngerverfolgung zu befürchten gehabt, so glaublich ist es, daß
sie das Bedürfnis hatten, sich miteinander über das, was Sokrates
u
Die erste Zeit nach Sokrates’ Tode. 405
ihnen gewesen war, was er gewollt hatte und was nun werden
sollte, auszusprechen und daß manche gern die Einladung des
Eukleides annahmen, eine Zeitlang fern vom Treiben Athens
bei ihm zu weilen. Bei Jesu Jüngern sehen wir, wie nach
seinem Tode sehr bald die größten Meinungsverschiedenheiten
ausbrechen, obwohl sie alle in gleicher Weise seine Nachfolger
sein wollten. Dabei hatte Jesus feste Sätze gepredigt, deren
viele jedem selbst in der Form unzweifelhaft gegenwärtig waren.
Auch Sokrates hatte so manche Überzeugung mit feuriger
Schrift den Seinen ins Herz geschrieben. Aber Dogmen hatte
er mit vollem Bewußtsein aufzustellen vermieden, hatte nur die
Probleme formuliert, zu selbständigem Forschen heranziehen wollen.
Ein Wunder wäre es gewesen, wenn da so verschiedene Naturen
wie Antisthenes und Aristipp, Eukleides und Piato auf derselben
geistigen Linie zusammengeblieben wären, als der Zusammenhalt
durch Sokrates’ Gegenwart nicht mehr gegeben war. Auch sie
alle wollten des Meisters Nachfolger sein. Aber welches war
denn nun der echte Sokrates? Waren die im Rechte, die in ihm
den nüchternen Realisten sahen, der die Menschen dadurch lenkte,
daß er ihnen zeigte, was für sie das Vorteilhafte war? Oder die
in ihm eine Art von Wundermann erblieckten, der kraft einer
überirdischen Fähigkeit die Herzen bezwang? Was hatte dem
Nichtwisser die Fähigkeit gegeben, alle anderen, die sich so weise
dünkten, zu überwinden? Ein Fachwissen sicher nicht. Also
vielleicht eine formale Fähigkeit? Ein Wissen vom Wissen?
Das konnte freilich Plato als unhaltbar erweisen. Nur ein Wissen,
das einen objektiven Inhalt hatte, konnte wertvoll sein, und in
seinen Gesprächen hatte Sokrates selber z. B. das Wesen der Tapfer-
keit als Wissen von einem bestimmten Objekt, als ἐπιστήμη δεινῶν
καὶ ϑαρραλέων bestimmt. Wenn man diesem Gedanken nach-
ging, mußte die Tugend, von deren Besitz alles abhing, ein
Wissen vom Guten sein. Aber nun kamen neue Probleme. Die
Konsequenz, daß damit die qualitativen Unterschiede der Einzel-
tugenden zu verschwinden drohten, konnte man ruhig ziehen.
Aber viel schwerer war etwas anderes: was war denn nun das
Gute, dessen Wissen die Tugend ausmachte? Hier lag das zen-
trale Problem, das der Lösung harrte.
Die ersten Schriften Platos zeigen uns, wie man solche Pro-
bleme in den Kreisen der Sokratiker erörterte, und am Prota-
406 Aus Platos Werdezeit.
goras sehen wir, wie er selbst sofort auch das Hauptproblem in
Angriff nimmt. Die Sehnsucht nach einer positiven Ergänzung
der sokratischen Anschauung führt ihn zu dem Versuch, das
sittlich Gute mit dem Angenehmen auszusöhnen, indem er im
Sittlichen den Quell der höchsten Lust aufzeigte.
Bei diesen ersten Schriften Platos sind aber auch noch an-
dere Motive wirksam. Natürlich beschäftigt ihn die Verteidigung
des Meisters, die direkte und noch mehr die indirekte, in der er
dem mißleiteten Publikum die Gestalt des Sokrates von den
Schlacken der Verleumdung gereinigt vorführte, und mit Stau-
nen mochte sich der Künstler Plato bewußt werden, wie viel-
seitig der dämonische Mann sich dargestellt hatte und darstellen
ließ. Dazu kam aber noch etwas anderes. Sokrates hatte es als
seinen göttlichen Beruf angesehen, seine Mitbürger, vor allem die
Jugend sittlich zu fördern, und die Sokratiker wollen sein Werk
fortsetzen. Aber wenn sie so das βελτίους ποιεῖν τοὺς νέους auf
ihre Fahne schrieben, so war das ein Zeichen, unter dem auch
andere für sich warben. Es war das Programm der Weisheits-
lehrer, die den Jugendunterricht beherrschten. Hier ergab sich
eine Auseinandersetzung von selbst. Dem Aristokraten Plato
waren diese bezahlten Händler mit geistiger Ware ebenso un-
sympathisch wie dem Sokratiker ihr Unterrichtsbetrieb, die Ein-
trichterung der Kenntnisse. Freilich war er sachlich genug an-
zuerkennen, daß der Begründer der Sophistik, Protagoras, jeden-
falls ebenso wie Sokrates ein sittliches Ziel gehabt hätte. Aber
wenn man schon ihm und seinen tüchtigeren Nachfolgern zeigen
konnte und mußte, daß sie von den wirklichen Erziehungs-
problemen keine Ahnung hätten, so ließen sich gar die Männer
wie Hippias, die sich zur Zeit in Hellas breitmachten und bloß
äußerliche Kenntnisse vermittelten oder zur Debatte anleiteten,
nur im Ton der Komödie behandeln oder mit ihrem eigenen
Rüstzeug, den Waffen der Sophistik schlagen.
In rascher Folge hat Plato eine Anzahl von Schriften hin-
geworfen. In dieser Periode des Schaffens wich von ihm der
schwere Druck, der seit dem Frühling des Jahres 399 auf ıhm
lastete. Daß man Sokrates’ Andenken schlecht ehren würde,
wenn man sich nutzlosem Trauern und untätiger Verbitterung
überließe, das hatten seine Jünger von vornherein empfunden.
Siegeshoffnung und Enttäuschung. 407
Aber die sonnige Heiterkeit, die Sokrates bis zu seinem Tode sich
gewahrt hatte, die zog doch wohl erst wieder in Platos Herz
ein, als sich die Gestaltungsfreudigkeit des Künstlers in ihm regte,
als ihn das frohe Bewußtsein überkam, daß er sein Gelübde ein-
lösen werde, daß er den großen Aufgaben, die er sich gestellt
hatte, gewachsen sei. Am deutlichsten spürt man die Sieges-
zuversicht im Protagoras, wo es ihm so leicht scheint, sogar die
ungebildete Menge zur Erkenntnis zu führen und sittlich zu
fördern ').
Der Rückschlag blieb nicht aus. Die Gelegenheit zum Ein-
greifen in die praktische Politik wollte und wollte nicht kommen.
Wenn er eingriff, das stand ihm fest, konnte es nur in sokra-
tischem Sinne geschehen. Aber je mehr er das Treiben der
Menge beobachtete, desto mehr verzweifelte er daran, sie in sitt-
liche Bahnen zu lenken. Zudem ließ sich doch Einfluß nur ge-
winnen, wenn er einen starken Rückhalt an Gleichgesinnten
hatte. Und wo die finden? (ep. VO p. 325d). Wagte er es
aber als Einzelner, sich der Menge zu widersetzen, so war ihm
das Schicksal des Sokrates gewiß. So wurde es ihm schließlich
klar: wollte er nicht entweder sich zum Sklaven der Menge er-
niedrigen oder sich nutzlos aufopfern, mußte er den Gedanken
an die praktische Politik aufgeben.
Wie schwer ihm dieser Verzicht geworden ist, zeigt die
trübe, verbitterte Stimmung des Gorgias. Dabei spricht es Plato
dort schärfer denn je aus, daß die sittliche Förderung der Ge-
samtheit die höchste Aufgabe der Philosophie ist. Aber klar ist
es ihm auch: die Philosophie kann dieses Ziel nicht erreichen,
wenn sie nicht über der Menge steht, wenn sie nicht den maß-
gebenden Einfluß im Staate hat. Und auch das ist ihm zur
festen Überzeugung geworden, daß das im heutigen Staatswesen
nicht geschehen kann. So war das Ziel nur zu verwirklichen in
einem idealen Staate, in dem die Philosophen die Herrschaft
hätten (ep. VII p. 8268). Aber war denn auf Verwirklichung
dieses Zieles zu hoffen, auch wenn man den unbedingten Glauben
an die Werbekraft der sokratischen Idee, an die Macht des Sitt-
lichen hatte?
1 Das tritt im letzten Teile deutlich hervor, vgl. 5. 101#. Sein nächstes
Bemühen gilt freilich, wie schon die Auseinandersetzung mit dem Begründer der
Sophistik zeigt, den Herzen der Jugend. Vgl. 5. 158.
408 Aus Platos Werdezeit.
Dazu gesellten sich nun noch viel bösere Zweifel. Sieges-
froh hatte er im Protagoras geglaubt, ein Mittel gefunden zu
haben, um die Menschen nach seinem Willen zu lenken, indem
er sie darüber aufklärte, daß das Gute nichts anderes sei als die
wahre Lust, nach der sie selber strebten. Das hatte sich als ein
gefährlicher Irrtum erwiesen, und wenn er jetzt den Inhalt des
Guten anders zu bestimmen suchte, es mit den Pythagoreern als
Prinzip der Ordnung und Harmonie ansah, war da nicht auch
eine Täuschung möglich? Ja war nicht etwas anderes noch viel
bedenklicher? Die Einwirkung auf andere, die sein Ziel war,
hing doch davon ab, daß er selbst ein Wissen hatte. Und in den
ersten Schriften hatte er unbedenklich mit dem Begriff der
ἐπιστήμη gearbeitet, es als selbstverständlich angenommen, daß
man das Wissen vom Guten erreichen könne. Nur die Frage
hatte er sich vorgelegt, welches der Inhalt des Wissens, wie das
Gute zu bestimmen sei. Das Wissen selber war für ıhn so
wenig wie für Sokrates ein Problem gewesen. Aber nun kamen
ihm die Zweifeil: glich er denn, wenn er so vorging, nicht dem
Manne, der sein Haus auf den Sand baut und es versäumt, ein
festes Fundament zu legen? Hatten denn nicht doch vielleicht
die Eristiker recht, wenn sie die Möglichkeit des Wissens und
Forschens selber leugneten? (Menon 806). Lange hatte er sich
einfach in Sokrates’ Gedankengängen bewegt. Aber war denn,
was einst Kratylos ihm eingeprägt hatte, in Abrede zu stellen,
daß jedenfalls in den Sinnendingen nichts Festes zu finden war
(Phaidon 78e), und durfte man der Auseinandersetzung mit de-
nen aus dem Wege gehen, die daraufhin überhaupt ein Wissen
für unmöglich erklärten ?
Damit kam für Plato die Zeit einer schweren Krisis, die ihm
Lebensmut und Arbeitskraft zu lähmen drohte. Denn woher
sollte er noch Mut und Zuversicht zum Arbeiten nehmen, wie
sollte er noch versuchen, auf andere einzuwirken, wenn ein
Wissen und damit ein Lehren unmöglich wäre?
Daß Plato eine solche Krisis durchgemacht hat, sagt er selber
im Menon (81d, 86b, vgl. S. 191), wo er auf die kritische Zeit
zurückbliekt und frohen Mutes von neuem beginnt. Über die
Krisis selbst dürfen wir natürlich keinen direkten Aufschluß von
ihm erwarten. Vermessen wäre es auch, wollte man sich ein-
bilden, man könnte den Schleier von Platos innersten Erleb-
Die Krisis. 409
nissen wegziehen. Nur auf ein paar Indizien, die wir seinen früheren
wie den unmittelbar folgenden Schriften entnehmen, können wir
hinweisen und damit einige Notizen über seinen äußeren Lebens-
gang kombinieren.
Schon im Protagoras sehen wir, wie es Plato drängt, zu dem
Nichtwissen der Sokratik eine positive Ergänzung zu suchen.
Viel stärker wird dieser Zug im Gorgias. Da treibt ihn das Be-
dürfnis nach einer Theodicee, den religiösen Vergeltungsglauben
mit seiner wissenschaftlichen Überzeugung in Verbindung zu
setzen. Die Schriften der Pythagoreer hat er studiert, um mit
ihrer Hilfe das Gute positiv zu bestimmen. Bei den Medizinern,
bei Hippokrates hat er sich Rat geholt über die formalen An-
forderungen, die man an eine Wissenschaft zu stellen habe.
Wissenschaftlichen Charakter nimmt er daraufhin dort auch für
seine Philosophie in Anspruch. Aber konnte er das wirklich?
War er wirklich imstande, für alle seine Sätze und Handlungen
Rechenschaft abzulegen (λόγον διδόναι, vgl. S. 134), ihnen eine
genügende theoretische Begründung zu geben? Als Sokratiker
hatte er ein Wissen unbefangen da vorausgesetzt, wo man Klar-
heit über die Begriffe hatte. Aber wer bürgte dafür, daß der
Inhalt dieser Begriffe wirklich Objekt des Wissens sein konnte?
Er hatte vor dem der einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen den
Vorzug des Dauernden, des Sichgleichbleibenden. Aber war man zu
den Begriffen selber nicht von den einzelnen sinnlichen Wahr-
nehmungen aufgestiegen und konnten sie mehr als diese Grund-
lage der Erkenntnis sein? Ja, war es denn gewiß, daß der Inhalt
der Begriffe eine objektive Realität besaß? Oder bewegte man
sich da nicht in einer Phantasiewelt, die für die Erkenntnis der
realen Verhältnisse, in die Plato umgestaltend eingreifen wollte,
wenig oder nichts zu bedeuten hatte?
Solche Bedenken hatten früher deshalb zurücktreten können,
weil Plato ganz in der sokratischen Denkweise befangen war
und sich auf die Behandlung der ethischen Probleme beschränkt
hatte, wo es sich nicht darum handelte, das Verhältnis des Be-
griffs zu den sinnlich gegebenen Einzelobjekten zu bestimmen.
Aber der Wunsch, die Natur zu erkennen und in das Wesen der
sinnlich wahrnehmbaren Welt einzudringen, der ihn einst zu
Kratylos getrieben hatte, erwachte doch allmählich wieder. Zu-
dem hatte er bei den Pythagoreern die Anschauung getroffen,
410 Aus Platos Werdezeit.
daß in der Welt des sittlichen Handelns dasselbe Ordnungs-
prinzip herrsche wie im Weltall (Gorg. 508a, vgl. S. 155). Bei
Hippokrates las er, man könne den Körper des Menschen nicht
verstehen, wenn man ihn aus dem Zusammenhang mit der ganzen
Natur ablöse (Phaidros 270c, vgl. S. 138). War es dann für den,
der die Seele des Menschen und ihre Betätigungen betrachtete,
angängig, das Wesen des Alls zu ignorieren?
Das alles mußte Plato dahin drängen, die Selbstbeschränkung
des Sokrates aufzugeben und sein Auge auf die Welt als Ganzes
zu richten. Wollte er hier zur Erkenntnis gelangen, so war es
das Nächste, sich an die Naturphilosophen zu wenden, und der
Phaidon zeigt uns deutlich, daß Plato gerade in der kritischen
Periode, ehe ihm seine neue Weltanschauung aufging, deren
Werke eifrig studiert hat‘). Hier traf er eine gänzlich andere
Denkweise, ganz andere Probleme als bei Sokrates an. Hier
nahm man das Sinnliche als das Gegebene, wollte dieses
aus seinen Prinzipien ableiten, Werden und Entstehen im ein-
zelnen erklären. Das hatte Sokrates durchaus abgelehnt, und
wie es schien, konnte man von seinen Voraussetzungen aus
auch nur wenig zur Förderung dieser Probleme beitragen.
Als Sokratiker konnte man wohl den Begriff des Baumes
bestimmen, aber wie der Baum entstand, das ließ sich auf
diesem Wege nicht zeigen. Aber boten denn die Naturphilo-
sophen Besseres? Ganz abgesehen von der greuligen mecha-
nischen Erklärungsweise, die alle Werte und Zwecke, alles Walten
der Vernunft und des Guten bewußt oder unbewußt völlig aus-
schaltete, sie sahen die wahren Schwierigkeiten überhaupt nicht.
Sie wollten das einzelne Werden und Entstehen erklären. Aber
für Plato war das Werden selber ein viel größeres Problem. Die
Naturphilosophen erläuterten wohl die mechanischen Vorgänge,
wie aus einem Ding zwei werden. Aber daß überhaupt aus einem
1) 96a ἐγὼ γάρ, ἔφη, ὦ Κέβης, νέος ὧν ϑαυμαστῶς ὡς ἐπεϑύμησα Tad-
τῆς τῆς σοφίας ἣν δὴ καλοῦσι περὶ φύσεως ἱστορίαν. An sich wäre durchaus
denkbar, daß Sokrates seinen jungen Freunden gelegentlich erzählt hat, ehe er
sich auf die menschlichen Dinge beschränkte, habe auch er einmal höher hinaus-
gewollt. Aber was dann uns vorgetragen wird, das sind die Studien, die Zweifel
und Überlegungen, die Plato durchgemacht hat, ehe er den δεύτερος πλοῦς unter-
nahm, die auch der Platoniker durchmachen soll, damit er desto mehr von der
Notwendigkeit der neuen ὑπόϑεσις sich überzeugt.
BE
ARE »
Die Zeit des Suchens. 411
Ding zwei werden können, das empfanden sie nicht als Problem,
und doch machte gerade das dem Denken die größten Schwierig-
keiten, wie aus den verschiedendsten mechanischen Vorgängen
etwas entsteht, dem wir das Prädikat zwei beilegen, wie wir
überhaupt dazu kommen, den Maßstab der Zahl an die Dinge zu
legen oder von Größe und Kleinheit zu reden. War das aber
eine Wissenschaft, die nicht einmal für so alltägliche Vorgänge
eine Begründung geben, über die einfachsten Aussagen Rechen-
schaft ablegen konnte?
So drohte dieser Pfad im Abgrund der Skepsis zu enden,
und es galt weiter nach einem Ausweg zu suchen, der zu der
Höhe emporführte, von der aus Wissen und Lehren möglich
wäre. „Wo werden wir, wenn du uns verläßt, einen Zauberer
finden, der uns die Furcht vor dem Tode aus dem Herzen bannt?*
fragt Kebes in Sokrates’ Todesstunde (Phaidon 78a). Da tröstet
ihn Sokrates: „Hellas ist groß, und es gibt so manchen klugen
Mann darin, und zahlreich sind auch die Barbarenvölker; die
mögt ihr alle, wenn ihr diesen Zauberer sucht, durchforschen,
dürft Geld und Mühe dabei nicht sparen. Nichts gibt es, wofür
ihr besser euer Geld verwenden könnt.“ Gewiß spielt hier Plato
auf seine eigenen inneren Erlebnisse, auf sein eigenes Suchen und
Wandern an. Als er erkannte, daß er mit den sokratischen Ge-
dankengängen allein nicht weiterkam, da hat er sich überall um-
gesehen, wo er etwa auf Förderung oder Anregung hoffen konnte.
Ich sehe keinen Grund zu bezweifeln, daß er wirklich weite
Reisen gemacht hat, daß er auch zu den Barbaren nach Ägypten
gekommen ist‘). In welche Zeit diese Reisen fallen, ist äußer-
lich nur bei der sizilischen bezeugt. Daß in den ersten Jahren
nach 399 Plato, wenn wir von dem Aufenthalt in Megara ab-
sehen, in Athen geweilt hat, ist durch den siebenten Brief ge-
1) Prächter Gött. Nachr. 1902, 5. 959 bezweifelt die Reisen nach Ägypten
und Kyrene, weil sie im Index Acad. col. X (p. 6 Mekler) nicht erwähnt werden.
Aber aus demselben Grunde müßte jedenfalls auch der Aufenthalt in Megara
fallen, obwohl ihn Hermodor bei Diog. Laert. III, 6 bezeugt. Aber der ganze
Bericht Πλάτων Σωκράτους γεγονὼς μαϑητὴς ἀπολειφϑέντος, ὅτ᾽ ἦν ἐτῶν ei-
χοσι ἑπτά, ἀπῆρεν eis Σικελίαν καὶ ᾿Ιταλίαν ist doch wirklich etwas zu sum-
marisch, als daß man Schlüsse ex silentio ziehen könnte. Wie es scheint, gibt
der Autor auch gerade vorher in den sehr zerstörten Worten an, daß er Voll-
ständigkeit nicht anstrebt.
412 Aus Platos Werdezeit.
sichert (Ritter, Platon, 5. 87). Innere Gründe sprechen dafür,
daß die Reisen nach Ägypten und Kyrene zwischen die Ab-
fassung des Gorgias und des Menon fallen, und es ist auch leicht
verständlich, daß die Unzufriedenheit mit der unhellenischen
Politik Athens ihm das Verlassen der Heimat in den Anfangs-
jahren des korinthischen Krieges nahelegtee Am wichtigsten
wurde für ihn wohl der Aufenthalt in Kyrene, wo er den ihm
wahrscheinlich von Athen her schon bekannten Mathematiker
Theodoros besuchte.
Theodoros hatte einst der reinen Spekulation, dem prota-
goreischen Subjektivismus gehuldigt (Theätet 165a, vgl. Gomperz,
Griech. Denk. I, 5. 210). Vielleicht hatte er einen ähnlichen
Drang nach einem festen Wissen in sich gefühlt wie Plato und
war so dazu geführt worden, zur Mathematik überzugehen. Hatte
er dort wohl die Wissenschaft gefunden, die auch Plato so sehn-
lich suchte? Das ließ sich nicht wohl bezweifeln. In der Mathe-
matik gab es feste Sätze, die keiner bestritt. Hier legte man sich
Rechenschaft über jede Aussage ab. Hier suchte man nicht durch
Wahrscheinlichkeitsgründe zu überzeugen, sondern durch wirkliche
Beweise, durch logische Zwangsmittel, denen sich keiner ent-
ziehen konnte (Theätet 162e ἀπόδειξιν καὶ ἀνάγκην οὐδ᾽ ἡντινοῦν
λέγετε, ἀλλὰ τῷ εἰκότι χρῆσϑε, ᾧ εἰ ἐϑέλοι Θεόδωρος ἢ ἄλλος τις
τῶν γεωμετρῶν χρώμενος γεωμετρεῖν, ἄξιος οὐδ᾽ ἑνὸς μόνου ἂν εἴη.
σκοπεῖτε οὖν σύ τε καὶ Θεόδωρος εἰ ἀποδέξεσϑε πιϑανολογίᾳ TE καὶ
εἰκόσι περὶ τηλικούτων λεγομένους λόγους). Also war die
Mathematik keine Scheinwissenschaft wie die Rhetorik, die Plato
im Gorgias gebrandmarkt hatte. Sie war eine wirkliche Wissen-
schaft, die sich als solche auch dadurch dokumentierte, daß man
ihre Sätze jeden normal begabten Kopf lehren konnte (Menon
82b--86h°). Sollte das, was hier auf einem Spezialgebiet möglich
war, sich nicht auf andere übertragen lassen?
1) Phaidon 926 ἐγὼ δὲ τοῖς διὰ τῶν εἰκότων τὰς ἀποδείξεις ποιουμένοις
λόγοις σύνοιδα οὖσιν ἀλαζόσιν, κἄν τις αὐτοὺς μὴ φυλάττηται, εὖ μάλα ἐξ-
απατῶσι καὶ ἐν γεωμετρίᾳ καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις ἅπασιν" ὁ δὲ περὶ τῆς dva-
μνήσεως καὶ μαϑήσεως λόγος δι’ ὑποϑέσεως ἀξίας ἀποδέξασϑαι εἴρηται. Wenn
hier an εἰκότα auch auf mathematischem Gebiete gedacht wird, kann es sich
natürlich nicht um die wissenschaftliche Mathematik handeln.
2) Vgl. τοῦτό γε παντὶ δῆλον, ὅτι οὐδὲν ἄλλο διδάσκεται ἄνϑρωπος ἢ
ἐπιστήμην Menon 87c (vgl. 5. 174. 5), διδακτὴ πᾶσα ἐπιστήμη δοκεῖ εἶναι καὶ
τὸ ἐπιστητὸν μαϑητόν Arist. Eth. Nic. 1139b 25.
Die Begründung der wissenschaftlichen Weltanschauung. 413
Worauf beruht der wissenschaftliche Charakter der Mathe-
matik, worauf die zwingende Kraft ihrer Beweise? Sie operierte
nicht mit den sinnlichen, vergänglichen, unvollkommenen Zeich-
nungen, sondern mit immateriellen Figuren, und gelangte so zu
den Schlußfolgerungen, die jeder anerkennen mußte (Rep. 510e).
Wenn der Mathematiker diese immateriellen Figuren als etwas
objektiv Gegebenes zu Grunde legte, so war das gewiß nur eine
Hypothesis, aber der indirekte Beweis für deren Richtigkeit lag
darin, daß man auf diesem Wege wirklich dazu gelangte, die
Aussagen über die gezeichneten Figuren logisch zu begründen
und sich über die Eigenschaften, die ihnen zukamen, die Be-
ziehungen, die zwischen ihnen obwalteten, Rechenschaft zu geben.
Jedenfalls war diese Voraussetzung als wissenschaftliche Arbeits-
hypothese unentbehrlich.
Damit war der Weg gewiesen, wie man die Wissenschaft
auch auf anderen Gebieten zu begründen hatte. Wie man über
die gezeichneten Figuren wissenschaftliche Aussagen nur machen
konnte, wenn man sie auf die immateriellen bezog und diese als
objektiv gegeben annahm, so mußte es auch sonst stehen: auch
wenn wir uns klar werden wollen, was uns das Recht gibt, vom
Wachsen des Baumes, von der Spaltung in zwei Teile, von der
Größe des Sokrates zu sprechen, so können wir das nur in der
Weise, daß wir unsere Aussagen auf die Begriffe Baum, Zweiheit,
Größe beziehen und voraussetzen, daß diese Begriffe einen ob-
jektiven Halt haben, daß ihnen etwas entspricht, was ewig sich
gleich bleibt und deshalb den Aussagen über die wechselnden
Erscheinungen in jedem Einzelfalle Gültigkeit verleiht. Wie der
einzelne gezeichnete Kreis nur darum so genannt wird, weil in ihm
die immaterielle Linie, deren Punkte alle von einem Punkte
innerhalb gleichweit entfernt sind, sich ingendwie verwirklicht, so
ist auch jeder Baum nur deshalb ein Baum, weil er an dem all-
gemeinen Begriff des Baumes irgendwie Anteil hat. Und so gut
die Mathematiker den ideellen Kreis nicht von sich aus schaffen,
sondern ihn als gegeben voraussetzen, ihm objektives Sein bei-
legen’), so kann auch das, was uns das Recht gibt, etwas als
1) Die γεωμέτραι, ἀστρονόμοι und Aoyıorızol werden Enthydem 290b zu den
Vertretern der ϑηρευτική gerechnet mit der Begründung: ϑηρευτικοὶ γάρ εἶσι καὶ
οὗτοι" οὐ γὰρ ποιοῦσι τὰ διαγράμματα ἕκαστοι τούτων, ἀλλὰ τὰ ὄντα ἀνευρίσκουσιν.
Ebenso vom Erkennen der Ideen ἕκαστον ϑηρεύειν τῶν ὄντων Phaidon 66a.
414 Aus Platos Werdezeit.
Baum zu bezeichnen, nicht etwa nur in unserem subjektiven Be-
wußtsein existieren, es muß unserem Begriff des Baumes etwas
entsprechen, was ein objektives Sein besitzt.
Sokrates hatte also nicht Unrecht gehabt, immer darauf zu
dringen, man solle sich über die allgemeine Bedeutung der Worte,
die wir gebrauchen, über die Begriffe, die wir mit ihnen ver-
binden, klar werden. Denn tatsächlich war es der objektive In-
halt dieser Begriffe, die Idee, die im Gegensatz zu der veränder-
lichen Erscheinung kraft ihres ewig sich gleichbleibenden Charakters
den festen Halt für unsere Erkenntnis bieten, den Gegenstand
des Wissens bilden konnte. Dagegen war er darin, das konnte
wieder die Mathematik lehren, nicht richtig vorgegangen, daß er
geglaubt hatte, die Begriffe einfach aus den sinnlichen Er-
scheinungen abstrahieren zu können. Die Vorstellung des im-
materiellen Kreises konnte der Mensch nimmermehr aus den un-
vollkommenen gezeichneten Kreisen gewinnen, von denen keiner
jener Vorstellung voll entsprach. Ebenso wenig ließ sich aber
das absolut Gleiche aus der Erfahrung abstrahieren, wo es zwei
absolut gleiche Dinge gar nicht gab (Phaidon 74a). Also ist von
der sinnlichen Erkenntnis die rationale, mit deren Hülfe wir die
Allgemeinbegriffe gewinnen, nicht etwa abhängig, sie bildet viel-
mehr eine höhere selbständige Erkenntnis. Unmöglich aber konnte
man glauben, daß die Objekte dieser höheren Erkenntnis, der
ewig sich gleichbleibende Inhalt unserer Begriffe, weniger Sein
hätte als die wechselnden Objekte der sinnlichen Wahrnehmung.
Auch von hier aus bestätigte sich also, daß den Ideen Realität
zukäme'’).
Wie wir allmählich die Objekte unserer sinnlichen Wahr-
nehmung kennen lernen, darüber war kein Zweifel. Aber wann
und wie beginnt unsere rationale Erkenntnis? Der Mensch ver-
wendet Begriffe wie „gleich“, obwohl keines der sinnlich wahr-
genommenen Dinge die absolute Gleichheit in sich enthält, ihn
höchstens unvollkommen an diese erinnern kann. Mußte man
dann nicht folgern, daß die rationale Erkenntnis schon vor jeder
1) In der späteren Zeit, wo er die Objekte der Mathematik und Dialektik
scharf zu scheiden gelernt hatte (darüber gleich!), führte er den Beweis für die
Existenz der Ideen gerade von hier aus: „Wenn es zwei verschiedene Erkenntnis-
arten gibt, ἐπιστήμη und ἀληϑὴς δόξα, so muß es auch zwei Klassen von Er-
kenntnisobjekten geben‘ Tim. 51d (ähnlich schon Rep. 471ff.).
Die neue Weltanschauung. 415
sinnlichen Wahrnehmung „apriorisch* im Menschen vorhanden
ist? (Phaidon 74. 5). Von hier aus fiel plötzlich ein Licht auf
eine Lehre, die Plato wegen ihres religiösen Gehaltes schon lange
innerlich angezogen hatte, auf die Lehre der Orphiker und Pytha-
goreer von der Präexistenz der Seele. Wenn die Seele die
rationalen Erkenntnisse nicht aus der Erfahrung entnahm, so
mußte sie diese vorleiblich geschaut haben. Das sprach aber für
jene Lehre der Orphiker. Auch diese war zunächst nur eine
Hypothese, aber sie stützte sich gegenseitig mit der Annahme
einer nicht aus der Erfahrung stammenden rationalen Erkenntnis,
mit der Hypothese von der Realität des Ansichseienden, auf die
Plato von ganz anderen Gesichtspunkten aus geführt war. Und
beide Annahmen zusammen mochten nun wohl das Fundament
einer neuen Weltanschauung abgeben. Ihr Kern mußte sein,
daß dem Ansichseienden, das wir kraft unserer von Geburt an
vor aller sinnlichen Wahrnehmung vorhandenen rationalen Er-
kenntnis begreifen, objektive Existenz und das wahre Sein
gegenüber dem Sinnlichen zukommt.
Daß er mit dieser neuen Anschauung nicht etwa eine Welt-
erklärung wie die Naturphilosophen geben könne, dessen war sich
Plato wohl bewußt. Wie die sinnlichen Dinge aus den Ideen
abzuleiten wären, das wußte er so wenig wie der Mathematiker
etwa den sinnlichen Kreis aus dem immateriellen entstehen ließ.
Aber das war seine feste Überzeugung: Nur so ließen sich wissen-
schaftliche Aussagen über die sinnlichen Dinge machen, nur so
ließ sich wissenschaftlich arbeiten, lehren, wirken. Und seinem
tiefsten religiösem Bedürfnisse entprach es, daß er nun auch den
religiösen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele wissenschaft-
lich begründen konnte.
Plato war sich selbstverständlich vollkommen klar, daß diese
neue Weltanschauung ganz seine eigene Schöpfung war. Aber
er wußte auch die Anregungen zu schätzen, die er erfahren hatte.
Das Wichtigste war dabei natürlich Sokrates’ Begriffsphilosophie,
als deren Weiterbildung er die neue Anschauung gewiß auffaßte.
Dankbar erkennt er im Menon und Phaidon aber auch die
Förderung an, die ihm die Orphiker, die Mathematiker, die Pytha-
goreer gegeben haben. Auch daß er in der Auffassung der
Sinnenwelt mit Heraklit übereinstimmt, läßt er Phaidon 78e
410 Aus Platos Werdezeit.
deutlich durchblicken. Dort schildert er unmittelbar vorher das
ewig sich gleichbleibende Wesen der Ideen. Man faßt heute die
Sache gern so auf, als habe Plato in seiner „Zweiweltenlehre“
Heraklits Lehre vom Werden mit dem eleatischen Seinsbegriff
verbunden, und eine mittelbare Wirkung hat dieser wohl auch
wirklich ausgeübt. Aber Plato selbst hat dieses Bewußtsein
schwerlich gehabt; erst in einer viel späteren Zeit hat er dem
Eleatismus wirklich Beachtung geschenkt, und wenn er im Phaidon
den Ideen das dei χατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχειν zuschrieb, glaubte
er ganz gewiß nur einen Satz auszusprechen, der sich von selbst
ergab, wenn man den sokratischen Begriffen einen objektiven
Inhalt zubilligte.
Von den Anregungen, die Plato in dieser Zeit empfangen
hat, sind offenbar die von der Mathematik ausgehenden am
wichtigsten gewesen‘). Plato hat freilich später einen scharfen
Schnitt zwischen der Mathematik und der Dialektik gemacht
(Rep. 510.1, 521—534). Er hat ihre Objekte so scharf geschieden,
daß er schließlich sogar bei der Trennung von idealen und mathe-
matischen Zahlen anlangen konnte. Er hat ferner die subjektiven
Erkenntnisfunktionen, auf die sich beide gründen, als ἐπιστήμη
und διάνοια getrennt (611 4, 533e). Er hat auch den Erkenntnis-
wert der mathematischen Methode tief unter den der Dialektik
gestellt, da die Mathematik die sinnlichen Figuren jedenfalls zur
Nlustration nicht entbehren kann (510) und sie von Hypothesen
ausgeht, über die nicht sie selbst, sondern nur die Dialektik
Rechenschaft ablegen kann, so daß ihr die Geltung als Wissen-
schaft im höchsten Sinne abzusprechen ist”), während er der
2) In der Annahme, daß die Mathematik einen starken Einfluß auf die
Ausbildung von Platos Ideenlehre gehabt hat; stimme ich ganz mit Cohen,
Platons Ideenlehre und Mathematik, Progr. Marburg 1878 überein, obwohl ich
natürlich seine Auffassung der platonischen Ideenlehre ablehne. Hervorheben
möchte ich hier nochmals, daß Plato ausdrücklich auch von der Mathematik
erklärt, sie suche objektiv gegebene ὄντα auf (5. 418). Ungünstig wirkt auf
Cohens Arbeit auch ein, daß er von den Erörterungen des Staates ausgeht statt
von den Dialogen, die allein uns Aufschluß über die Entstehung der Ideen-
lehre geben können. — Sonst ist besonders zu vergleichen Ebeling, Mathematik
und Philosophie bei Plato, Progr. Hann. Münden, 1909.
2) ’A2Aa δὴ μὴ δυνατοὶ οἵτινες δοῦναί τε nal ἀποδέξασϑαι λόγον, εἴσεσϑαί
ποτέ τι ὧν φαμεν δεῖν εἰδέναι (δοκοῦσιν); Rep. ὅ916. ai δὲ λοιπαί, ἃς τοῦ
ὄντος τι ἔφαμεν ἐπιλαμβάνεσϑαι, γεωμετρίας τε καὶ τὰς ταύτῃ ἑπομένας, ὁρῶμεν
ὡς ὀνειρώττουσι μὲν περὶ τὸ ὄν, ὕπαρ δὲ ἀδύνατον αὐταῖς ἰδεῖν, ἕως ἂν
Der Einfluß der Mathematik. 417
Dialektik nunmehr die Kraft zutraut, von den Voraussetzungen
bis zum Voraussetzungslosen emporzusteigen (511. 533d). Er hat
die Mathematik natürlich überhaupt unter die Dialektik gestellt,
sie als Gehülfin bezeichnet, die ihre Ergebnisse der Dialektik zur
Verwertung zu übergeben hat (Euthyd. 290c Rep. 527—533b).
Das alles könnte bedenklich gegen die Annahme machen, daß
gerade die mathematische Wissenschaft für die Ausbildung der
Ideenlehre von größerer Bedeutung gewesen sei. Aber da muß
man sich vor allen Dingen gegenwärtig halten, daß gerade im
Menon und Phaidon jener Gegensatz von Mathematik und Begrifis-
erkenntnis noch nicht existiert, mindestens nicht zum Ausdruck
gebracht ist‘). Auch hier ist ganz gewiß freilich die Erkenntnis
des Ansichseienden die königliche Kunst, der gegenüber die
Mathematik nur eine dienende Stellung einzunehmen hat. Aber
das beruht nur darauf, daß zwischen den Objekten der mathe-
matischen und der begrifflichen Erkenntnis ein Unterschied des
Wertes, der Bedeutung für die Lebensführung statthat. Im
übrigen ist aber auch die Mathematik durchaus eine Wissenschaft
(Menon 85d), wie sich besonders darin zeigt, daß sie nicht mit
Wahrscheinlichkeitsgründen wie die Rhetorik, sondern mit strin-
genten Beweisen operiert (Phaidon 92c, Theätet 162e, vgl. S. 412)
und daß sie lehrbar ist (S. 412). Sie ist die „Erkenntnis des
Ewigseienden“, wie sie ja noch im Staate (527b) heißt’). Das
Verfahren, das die Mathematik einschlägt, ist einfach das Vorbild
für die neuzugründende Wissenschaft vom Ansichseienden, und
der Leser wird nirgends darauf hingewiesen, daß ein Unterschied
zwischen dem Verfahren der beiden Wissenschaften besteht‘).
ὑποϑέσεσι χρώμεναι ταύτας ἀκινήτους ἐῶσι, μὴ δυνάμεναι λόγον διδόναι
αὐτῶν. ᾧ γὰρ ἀρχὴ μὲν ὃ μὴ οἵδε, τελευτὴ δὲ καὶ τὰ μεταξὺ ἐξ οὗ μὴ οἶδεν
συμπέπλεκται, τίς μηχανὴ τὴν τοιαύτην ὁμολογίαν ποτὲ ἐπιστήμην γενέ-
σϑαι; 5336.)
1) Ganz sicher ist es, daß Phaidon 65e: "Ag’ οὖν ἐκεῖνος ἂν τοῦτο ποιή-
σειεν καϑαρώτατα, ὅστις ὅτε μάλιστα αὐτῇ τῇ διανοίᾳ ἴοι ἐφ᾽’ ἕκαστον μήτε
τὴν ὄψιν παρατιϑέμενος ἐν τῷ διανοεῖσϑαι μήτε ἄλλην αἴσϑησιν ἐφέλκων
μηδεμίαν μετὰ τοῦ λογισμοῦ, ἀλλ᾽ αὐτῇ nad’ αὑτὴν εἰλικρινεῖ χρώμενος αὐτὸ
καϑ' αὑτὸ εἰλικρινὲς ἕκαστον ἐπιχειροῖ ϑηρεύειν τῶν ὄντων die scharfe Scheidung
zwischen der dialektischen ἐπιστήμη und der zwischen δόξα und νοῦς stehenden
διά-νοια der Mathematik (Rep. 511 4) noch ganz unbekannt ist.
3) Die Wichtigkeit dieses Satzes betont auch Cohen 8.19: „rückhaltlos
scheint hier das Objekt der Geometrie mit dem Objekt der Dialektik identifiziert“.
3) Auch im Phaidon 100 cd ist von der scharfen Unterscheidung der mathe-
Aus Platos Werdezeit. 27
418 Aus Platos Werdezeit.
Und die Geflissentlichkeit, mit der im Menon (82—86 und 87a) die
Mathematik als vorbildlich bezeichnet, mit der auch im Phaidon 73b
bei der Rekapitulation der Gedanken des Menon gerade wieder auf
die διαγράμματα verwiesen wird, läßt darüber keinen Zweifel, daß
Plato anerkennen will, wie stark die Mathematik wirklich auf die
Bildung seiner eigenen Wissenschaft von Einfluß gewesen ist.
Als Plato den Menon schrieb, stand ihm die neue Welt-
anschauung in den Grundzügen fest, und frohen Mutes konnte er
wieder an die Arbeit gehen. Wir haben auch allen Grund zu glauben,
daß er jetzt den Entwurf eines idealen Staates veröffentlichte, wozu
ihm im Gorgias noch der Mut gefehlt hatte. Plato war nicht der
erste, der einen solchen Staatsentwurf dem Publikum vorlegte, und
sichtlich hat er von Männern wie Hippodamos gelernt (S. 231).
Was ıhn aber von diesen grundsätzlich unterschied, das waren
weniger die konkreten Vorschläge, so paradox sie teilweise klingen
mochten, als vielmehr der Grundsatz, daß an der Spitze des Staates
die Philosophen stehen müßten, die allein die Einsicht in die wahren
Bedürfnisse der Gesamtheit hätten, sie sittlich fördern und zum
wahren Guten führen könnten. Das war sokratisch gedacht, und
sokratisch war auch die im stärksten Gegensatz zur perikleischen
Demokratie erhobene Forderung der scharfen Arbeitsteilung, die
allein Sachkunde ermöglicht. Wenn er aber dieses Prinzip im
einzelnen durchzuführen suchte, so waren ihm wertvoll auch die
Ergebnisse seiner Reise nach Ägypten, dessen Kastenstaat ihm ein
konkretes Beispiel der Arbeitsteilung geboten hatte.
Im ganzen waren aber seine Lernjahre noch nicht zu Ende,
und namentlich fühlte er das Bedürfnis, mit der Schule engere
Fühlung zu gewinnen, die gleich ihm das Immaterielle als das
Bestimmende, Wesenhafte gegenüber der sinnlichen Erscheinung
ansah'). So ging er nach Italien zu Archytas, zu dem ihn auch
die Verbindung der Philosophie mit der politischen Macht locken
konnte. Durch diesen erhielt er dann wohl die Einladung, die ihm
den Besuch von Dionysios’ Hof ermöglichte. Wir können uns denken,
matischen und dialektischen Methode, die wir Rep. 5lle, 533bc lesen, noch
nicht die Rede. Vgl. über diese Stelle jetzt Ritter, Platon, S. 574—6.
1) Aristoteles behauptet bekanntlich Met. A6 p. 987b 10, Platos Ideenlehre
sei im Anschluß an die pythagoreische Lehre entwickelt, οἱ μὲν γὰρ Πυϑαγόρειοι
μιμήσει τὰ ὄντα φασὶν εἶναι τῶν ἀριϑμῶν, Πλάτων δὲ μεϑέξει. Aber hier zeigt
die Hervorhebung der Zahlen, daß es sich nicht um die erste Konzeption der
Ideenlehre handelt.
Die Reise nach dem Westen. Begründung der Akademie. 419
wie ihm gerade im Gegensatze zu dem leidigen Kriege in der
Heimat der Fürst imponierte, der trotz allem der Hort des Hellenen-
tums gegen die Barbaren war. Für eine Politik nach ethischen
Grundsätzen war dieser freilich nicht zu haben; dafür fand Plato
in Dion einen Jünger, der ihm zeigte, es sei kein leerer Traum,
daß einmal auch die Herrscher Philosophen werden könnten.
Der Verkehr mit Dion brachte aber noch nach anderer Hin-
sicht für Plato ein inneres Erlebnis, das für seine Entwicklung von
höchstem Werte war. Das war die Freude und Genugtuung des
Mannes, dem es gelingt, in einem geistesverwandten, gut veran-
lagten Jüngling durch persönlichen Verkehr Begeisterung für die
eigenen Ideale zu wecken, ihn zum Streben nach den gleichen
Zielen anzuspornen und Samen in sein Herz zu streuen, der be-
stimmt ist, ewige Frucht zu tragen. Als Plato einst im Gorgias
auf die praktische Politik verzichtete, hatte er daran gedacht, einen
kleinen Kreis von Schülern um sich zu sammeln (S. 163), aber
müde Resignation war es, die diesen Gedanken geboren hatte, und
man hat nicht den Eindruck, daß der Plan zur Ausführung gelangt
ist. Mußten doch die gerade damals hervortretenden Zweifel an
der Erreichbarkeit des Wissens, an der Möglichkeit des Lehrens
hinderlich in den Weg treten. Als Plato dagegen von Sizilien
zurückkehrte, da begründete er den Schulverband der Akademie,
und die helle Begeisterung des jungen Lehrers, der sich mit Feuer-
eifer der neuen Tätigkeit widmet, klingt aus dem Phaidros hervor,
den er als Programmschrift veröffentlichte. Wie es die Sitte der
Zeit war, entwickelte er in diesem zunächst die Unzulänglichkeit
der bisher den Hochschulunterricht beherrschenden Richtungen.
Aber besonders am Schluß kommt klar und deutlich das eigene
Programm heraus: Nur eine Ausbildung darf es für den freien Mann
geben, das ist die wissenschaftliche Ausbildung, die ihn zum eigenen
Denken erzieht und ihm die Begeisterung einpflanzt, die ihn zum
eigenen Streben nach der Erkenntnis des Wahren, nach dem Tun
des Guten befähigt. Das war ein Programm, das ihm die Herzen
der Besten in der hellenischen Jugend gewinnen mußte, wie es ihm
Dions Herz gewonnen hatte. Da winkte jetzt ein festes Ziel, eine
Aufgabe, des Schweißes der Edlen wert. Da konnte Plato einlösen,
was er einst nach Sokrates’ Tod gelobt hatte, konnte als Sokrates’
wahrer Nachfolger βελτίους ποιεῖν τοὺς νέους. Jetzt war das auch
keine Resignation gegenüber dem höheren Ziel mehr. Im Protagoras
Dun
420 Aus Platos Werdezeit.
hatte er einst gehofft, auch die Menge dazu bekehren zu können, daß
das Gute die höchste Lust gewähre. Inzwischen hatte er sich über-
zeugt, φιλόσοφον πλῆϑος ἀδύνατον eivaı. Für die Menge ist es des-
halb notwendig, sich der Leitung der Wissenden zu fügen. Aber wenn
esnun gelang, die Besten, die zu den führenden Stellungen Berufenen
für die eigenen Ideale zu gewinnen, so war damit auch die sittliche
Förderung der Gesamtheit gewährleistet oder wenigstens angebahnt.
Den Gedanken an einen unmittelbaren Einfluß auf die Gestal-
tung des Staatswesens brauchte er deshalb nicht fallen zu lassen.
Gerade die neue Psychologie, die er im Anschluß an die Dreiteilung
des Staatswesens gefunden hatte, die ihn zum Bruch mit dem
sokratischen Intellektualismus führte, zeigte ihm die Möglichkeit,
aber auch die Notwendigkeit, den ersten Entwurf des Idealstaates
breiter und tiefer zu fundamentieren. In einer neuen Politeia legte
er darum den Zusammenhang von Sozial- und Individualethik dar,
suchte vor allem den Beweis zu führen, daß die Gerechtigkeit an
sich ohne jeden äußeren Lohn das Vorteilhafte für den Menschen
sei, und stützte diesen Beweis, indem er ihn teils in seinen tiefsten
wissenschaftlichen Überzeugungen verankerte, für die das Gute
das bestimmende Prinzip in der Welt war, teils auch die religiösen
Stimmungen zu ihrem Rechte kommen ließ, denen der Glaube an
ein gerechtes Weltenregiment Bedürfnis war. Während er sonst
seine schriftstellerische Tätigkeit in dieser Zeit nur als πάρεργον
und παίγνιον betrachtete, sollte die neue Politeia ein χτῆμα ἐς dei
sein. Die allgemeinen Gedanken traten dabei so stark hervor, daß
das konkrete Programm äußerlich jedenfalls nur noch einen kleinen
Raum einnahm. Aber an dessen wesentlicher Bedeutung sollte da-
durch nichts geändert werden. Wenn einmal der Augenblick kommen
sollte, wo die Herrscher Philosophen oder die Philosophen Herrscher
würden, dann wollte Plato seine Schuldigkeit getan haben. Die
theoretischen Grundlagen des neuen Staatswesens waren aufgezeigt.
Ob dieser Augenblick jemals kommen würde, das mußte Gott
anheimgestellt bleiben. Zunächst galt es, sich der Lehrtätigkeit
in der Akademie zu widmen. An Wechsel der Stimmungen hat
es auch in der nächsten Zeit nicht gefehlt. Aber im ganzen über-
wog doch die Freudigkeit, die er aus den Erfolgen seiner Tätig-
keit, aus dem Bewußtsein der Mitarbeit an den ewigen Aufgaben
der Menschheit schöpfte. Auch seine Werdezeit war noch nicht
zu Ende. Plato gehörte nicht zu den früh fertigen Naturen
Die Akademie als Stätte der wissenschaftlichen Ausbildung. 421:
wie Aristoteles, noch viel weniger zu den selbstzufriedenen
Köpfen, die es nicht nötig haben, durch weitere Besinnung ihre
früheren Ansätze abzuändern. An den Grundlinien seiner neuen
Weltanschauung hat er festgehalten. Aber nicht bloß im ein-
zelnen hat er sie weiterentwickelt, es kam noch einmal eine kri-
tische Zeit, wo er eine wichtige Ergänzung vornehmen mußte.
In der ersten Zeit hatte er gegenüber der vergänglichen sinn-
lichen Erscheinung nur das Feste, Bleibende festhalten wollen,
das allein Gegenstand des Wissens sein konnte; das Verhältnis
des Sinnlichen zur Idee genauer zu bestimmen hatte er aus-
drücklich abgelehnt. Als er den Parmenides schrieb, sah er ein,
daß er auf diesem Standpunkt nicht beharren dürfe, und auf
mannigfache Weise hat er sich dann im Alter bemüht, zwar
nicht etwa das Sinnliche aus den Ideen abzuleiten, wohl aber
die ewigen Faktoren aufzuzeigen, mit deren Hülfe wir uns das
Sinnliche verständlich machen können.
Seine Lösung hat den Beifall seines größten Schülers nicht ge-
funden. Aber als dieser seine höchste Philosophie darlegen wollte und
ihr allgemeine Erörterungen über das Wesen der Wissenschaft voraus-
schiekte, da hat er in einer für jeden Leser verständlichen Weise an
die Erörterungen Platos im Gorgias, Menon und Phaidon angeknüpft.
Und obwohl er die Empirie viel stärker wertet als Plato, bestimmt
er doch den Unterschied zwischen ihr und der Wissenschaft in ganz
ähnlicher Weise: οἱ μὲν γὰρ ἔμπειροι τὸ ὅτι μὲν ἴσασι, διότι δ᾽ οὐκ
ἴσασιν" οἱ δὲ τὸ διότι καὶ τὴν αἰτίαν γνωρίζουσιν (Met. Al, p. 951 ἃ
28). In der Art, wie er dieses Warum bestimmt, geht er freilich
ganz seine eigenen Wege, aber was Wissenschaft ist und bedeutet,
das hat er bei Plato gelernt.
Plato war ausgezogen, das Gute zu suchen und zu lehren.
Die Wissenschaft hat er gefunden. Und mag von den einzelnen
Ergebnissen, zu denen er gelangt ist, noch so viel vergänglich
sein, unvergänglich bleibt seine Erkenntnis, daß es nur ein
Bildungsziel geben darf, die wissenschaftliche Ausbildung, die den
Menschen zum eigenen Denken, zum selbständigen Streben nach
dem Wahren und Guten erzieht. Damit hat Plato ein Programm
aufgestellt, das für alle Zeiten und für alle Völker gilt, die auf
Kultur Anspruch machen wollen.
Register.
Ägypten 215. 219. 220. 237
Affekte 291
Agathon 378
Agesilaos 299
Aischines der Sokratiker
als Gorgianer 264—267. 302
und Plato 183—189. 260 —262
ϑεία μοῖρα 183—189
Alkibiades 183
Aspasia 260—262. 296
Akademie 390. 419
Alkidamas 205. 259. 344. 350. 351
Anaximenes c. 35 269. 271
Ansichseiendes 314— 326
Antisthenes 90. 342°. 395
Aspasia 261
gegen Platos Hippias 58
Anytos 176
Arbeitsteilung!) 215—217. 229. 418
Aristeides ὑπὲρ τ. τεττάρων 160°. 176.183
Aristippos 108
Aristophanes
positive Tendenzen 298: 304
politische Ideale 298—304
Ekklesiazusen 223—228
Lysistrata 298
in Platos Symposion 377
Aristoteles
und Plato 388. 421
und der große Hippias 126—128
über die Gerechtigkeit 230
über die Wissenschaft 421
Eudemos 313!
Metaphysik A 401
Korinth. Dialog 151
συμβουλευτικὸς π. ᾿Αλέξανδρον 116?
σε. φιλοσοφέας 401:
Aristoxenos 152.193. 3131
Aspasia 260—262
Athen Autochthonie 272
Geschichte 275—302
Stimmung der Konservativen
279—301
1,
᾿Αϑηναέων πολιτεία 2421. 246
Bildungsideale 69. 80. 81. 86—89. 131.
141. 169. 170. 193—206. 351—355
Brief und Broschüre 116
Charmides 42—44. 288
Cicero de re publica 207. 208
Debatte 12
[Demosthenes] Epitaphios 270. 276
Dialektik 353. 417
Dialog
dramatischer 12—16
referierter 1—17
historische Treue 1—17
bei Aischines Ἅ: 41:
— Antisthenes je
— 'Plato 1—17
— Xenophon 7—11. 16
Dichterinterpretation 83
Dikaiarch 155°
Diogenes v. Apollonia 3171
Dion 115—122. 340. 341. 419
Dionysios I. 118
Diotima 380
Δισσοὶ λόγοι 60. 72—77. 90---92
Empedokles 370?
Enkomion 267— 272. 372
Epikur 137
Epitaphioi 258. 267—275
Eros 326—341. 354. 365—396
Eryximachos 375
Erziehung 32. 33.
68. 77—89. 163. 406. 419. 420
der Gesamtheit 148. 158. 161. 421
Eupolis 85. 86. 304!
Euripides 101. 154! 373
Frauengemeinschaft 227
Gespräch, sokratisches, und
Epideixis 82. 130
Gorgias
Bildungsideal 171. 196. 200
Leben?) 170
Lehre 1331, 135°. 167—172. 343—352
Stil 264—267
1) 8.229 ist versehentlich „Arbeitsleistung“ gedruckt.
2) 5. 1701 ist übersehen, daß in der 3. Aufl. der Literaturgeschichte Wila-
mowitz von Gorgias sagt: „f um 390°.
Register.
Verhältnis zu Plato
167—170.
199. 343—352
Enkomien 268
Epitaphios 268. 269. 297. 303
Olympikos 301
Das Gute 5. ἀγαϑόν
Hekataios v. Teos 220!. 231?
Herodot 278
Hiatmeidung 356
Hippias 60. 67. 1. 81. 198
Hippodamos 216. 231
Hippokrates
über die Wissenschaft 135—139.
346. 347. 409. 410
π. ἀρχαίης ἰητρικῆς 347. 397
παραγγέλματα 1371
π. φυσῶν 317!
Hypereides’ Epitaphios 270
Icherzählung 1—11
Idomeneus 210
Intellektualismus 101—107. 133. 157
Ion 186
Isokrates
Enkomienschema 268. 269
als Gorgianer 202
Panhellenisches u. Unhellenisches 307
als φιλόσοφος 203. 362— 364
und Alkidamas 205
— Plato
Gorgias 203
Menexenos 259.
273°. 282°. 2991, 305—309
Phaidros 349. 350. 362—364
Staat 215—222
Timaios 221. 222
— Polykrates 218
— die Technographen 350
— Thukydides 2823
— Xenophon 269%
Busiris 215—222
Panegyrikos 305—308
Sophistenrede 200—205
Kalliasfriede 285. 292. 307
Kallikles 1421, 1631
Kallippos 122
Kimon 297
Königsfriede 287. 301. 302. 306
Kommunismus 224. 225
Komödie 262. 304
Konnos 2621
Konon 290. 300
Korinth. Krieg 289—292
423
Kratylos 401
Kritias 51. 52
Lebensziel 151. 152
Lust 5. ἡδύ, ἡδονή
Lysias 345. 364
[Lysias] Epitaphios 267. 291?
Lysis 257
Mathematik 311. 318. 412—417
Medizin 135—139. 346
Memoiren 4- -
Menexenos 257
Menon 167
Mnemotechnik 76
Naturphilosophen 316. 410
Nomophylakes 75!
Oinophyta 285. 286
Panhellenismus!) 286. 297—301
Pausanias 373
Erotikos 394—399
Peloponn. Krieg 286—288
Perserkriege 275—284
Persien 253
Phaidros 372
Philolaos 332. 333
Philosophie und Rhetorik 204.
258. 263. 343—353. 362— 364
Plato
Anachronismen 189°. 302. 390°
Anamnesis173—179.310.311. 324.335
Charakterzeichnung 37—39. 42.
43. 60. 257. 372—378. 391—394
Dialog 1—17
Entwicklung 401—421
Ergebnislosigkeit, scheinbare, der Dia-
loge 29. 48—50. 98. 991. 369
Fehlschlüsse 61—66. 941. 99
Humor 37—39. 67. 406. 407
Ideenlehre 312—324. 335. 384. 414.415
Panhellenismus 286. 297—302
Psychologie
Intellektualismus 103
rationale Erkenntnis 313—315.
414. 415.
Seelenteile 157. 232-235, 3302
Unsterblichkeit 310—316.
321—324. 329. 330°. 388
Reisen 411
Staatstheorie
Gegensatz zur perikleischen Demo-
kratie 241—256
Parallele von Staat u. Individuum
156. 228—236
1) Vgl.nochz.B.Herodot VIII, 144 τὸ “Ε΄ λληνικὸν ἐὸν ὅμαιμόν τε καὶ ὁμόγλωσ-
σον, καὶ ϑεῶν ἱδρύματά τε κοινὰ καὶ ϑυσίαι ἤϑεά τε ὁμότροπα. Zu beachten ist auch,
wie stark die euripideische Iphigenie (Iph. Aul. 1368ff.) ihren plötzlich gefaßten Ent-
schluß der Selbstaufopferung mit ihren Pflichten gegen Allhellas motiviert (bes.
1386. 1400).
424
Idealstaat 161. 213. 407. 420
Dreiteilung ἃ. Stände 229— 231. 235
Sozialismus 224. 225. 238—240
Zur Lehre vgl. noch die sachlichen
Stichworte.
und Aischines 183—189. 260—262
— Antisthenes 58. 90
— Aristophanes 41. 223—228.
3044. 377
— Athen 111. 122. 161. 162. 255. 309
Verfassung 238—256
auswärtige Politik 256—309
— Eleaten 416
— Gorgias 167—171. 343—352
— Hippodamos 216. 231. 418
— Hippokrates 135—139.
317. 346—348. 409. 410
Isokrates 203—205. 215—222.
305—309. 349. 350. 362—364
— die Komödie 304
— die Mathematik 311. 318. 320.
412—417
— die Medizin vgl. Hippokrates
— die Naturphilosophie 410
— Orphiker 173. 190. 191. 313. 415
— Polykrates 164—166
— Protagoras 81. 89
— Pythagoreer 147. 152—155.
331—333. 4181
— Rhetorik 131—151. 193—206.
338—364
— Sokrates 18—23. 401—404
— Sophistik 57—102. 131.
193—206. 406
— Thukydides 247—256
— Xenophon 96°. 211. 399. 400
Apologie 18—23
siebenter Brief 111. 113—122.
161. 213. 407. 408
Charmides 40—57
und Gorgias 149:
— Hippias min. 63%. 70
— Laches 56
Epigramm auf Dion 115
Euthydem 361. 363!
Gesetze
und Menexenos 278
— Phaidros 9841
— Staat 253—255
Gorgias 129—167
und Hippias min. 129
— Laches 149!. 163
— Menon 167—175
— Phaidros 328. 342
— Protagoras 129—134.
143— 147. 150!
— Staat 157
— Aischines’ Alkibiades 183—186
Register.
164—166
57—72
und Polykrates
Hippias minor
und Apologie Charmides
Laches 70
— Protagoras 81—85
— der große Hippias 123
Ion 186—189
Kleitophon 209!
Kritias 2361
Laches 23—39
und Protagoras 19... 791.93.
9043, 98. 101. 1121
Lysis 358. 365—371
Menexenos 256—309
und Gesetze 278
— Phaidros 260. 263
— Staat 244—247
Menon 167—193. 408.
und Ion 186—189
— Phaidon 310-315. 324. 325
— Aischines 184—186
Parmenides 421
Phaidon 310-326
und Phaidros 333—335
Phaidros 326—364
und Lysis, Symposion 365—372.
389. 390
Protagoras 77—112
und die Apologie TE
Staat, 1. Ausgabe 207— 237. 418
— 2. Ausgabe 207—209. 241—256.
286. 3041. 330°. 420
Symposion 571—394
und Xenophons Symposion 399. 400
Timaios 214. 221. 222. 236
Ps. Plato Hippias mai. 123—128
Politiker, falsche und wahre 142. 149.
150. 158—161. 177. 179—181. 195
Polykrates der Rhetor 164—166. 189
— v. Theben 1891
Polymathie 7}
Praxiphanes 3621
Protagoras 77—92. 196—198
Bildungsideal 80. 81. 89. 196—199
Mythos 86—92. 1451
Psychologie
Einheit od. Mehrheit der psychischen
Funktionen 101—104.
157. 231—235. 330°
Harmonielehre 313
Präexistenz bei den Orphikern 173.
190.:131313
Platos s. Plato
der Pythagoreer 157
der Sophistenzeit 101—104
Xenophons 1572. 233
Pythagoreer 147. 152—154. 157. 313.
331—8333. 418
Register.
Reden, geschriebene u. mündl. 349—351
Rhetorik 131—133. 140—151. 169.
170. 341—364
und Philosophie s. Philosophie
— Sophistik 132. 133. 193—206
Rhapsoden 188
Sizilien 117—122
Sokrates
Daimonion 185
ἐλεγκτικός 54
ἐρωτικός 365. 866. 391—394
Auffassung des Aischines 184—186
als Lehrer Platos 401—404
Anklage des Polykrates 164—166
Sokratiker 55
Sophistik vgl. ἀρετῆς διδάσκαλοι
Wesen 131
verschiedene Strömungen 81
Intellektualismus 101. 102
Panhellenismus 298°
Unterrichtsbetrieb 74
vgl. „Rhetorik“, „Plato und die So-
phistik“
Sparta 286. 297—302. 306
Sprachstatistik 356—361
Staatstheoretiker 216. 2201, 231. 418
Strafzweck 145
Technai, rhetorische 345—349
Theodoros 412
Thukydides’ Epitaphios 247 —256
"Ayadov
und ἡδύ 104—108. 142—147. 151.
328. 406
ἀγαϑὸς ἀνήρ 177. 180. 181
αἰδώς 41. 1212. δοῦ
αἰτία 136. 179. 316. 317. 336. 421
ὧν οὐκ ἄνευ 317
συναίτιον 3171
ἀλαζών 125
ἀλήϑεια 311. 343—364
“ὁ ἀληϑής 61
ἀνδρεία 24—29. 93. 94. 107. 1121. 175
ἀρετή vgl. Tugend
— πολιτική
80. 93. 141. 175.
197. 198. 202. 325. 383
ἀρετῆς διδάσκαλοι 81. 88.
168—170. 177. 195—206
οἱ ἀρχαῖοι (παλαιοῦ 125
αὐτὸ ὃ ἔστι 914
βελτίους ποιεῖν vgl. Erziehung
γιγνώσκειν ἑαυτόν 52—55
γράφειν 849---581
δέος 255
διάνοια 410. 417:
διαφϑείέρειν τ. νέους 34. 35
49. 50. 92—97 | δικαιοσύνη
425
Disposition 267. 263
Totenfeier 295
Tugend
Wesen 92—98. 157. 174—176
Einheitlichkeit 28. 92. 157. 158. 171
Entstehung (Lehrbarkeit) 85—109.
163. 174-193
höhere und niedere ld:
180. 181. 324—326. 328. 339
vgl. ἀνδρεία usw.
Wissen
und technische Kenntnisse 31. 56.
70. 941
Möglichkeit des Wissens 173— 192.408
vom Guten 29. 49. 50. 92—97. 405
vom Wissen 46. 52—54
Wissenschaft 134—140. 318—321.
352. 354. 355. 412. 413. 421
Xenophon
Dialog 7—11. 16
Eros 327. 394
Panhellenismus 299
Psychologie 157°. 233
und Isokrates 269!
— Plato 96°. 211. 399. 400
Anabasis 209:
Memorabilien 8
Kyrupädie 211
Oikonomikos 10. 16
Symposion 10. 399. 400
172. 175. 230
δόξα---ἀλήϑεια 342—355. 362—364
ὀρϑή (ἀληϑής) 178-—180. 325.
328. 339. 381. 414:
εἶδος 104:
εἴδη λόγων 948
— ψυχῆς 332
einös 349. 412
εἴρων 124
ἑκών 62—65. 84. 995
ἐλέγχω 36°. 59
ἐλευϑερία 249. 250. 254. 274. 275. 285
ἐμπειρία---τέχνη (ἐπιστήμη) 134—139.
180. 342--352. 421
ἐξετάζω 36. 54. τὸ
ἐπιστήμη 5. Wissen, δόξα, ἐμπειρία
ἔρως 5. Eros
Βστία 332. 333
εὐδοξία 181
εὔνοια 337
ἡδύ 5. ἀγαϑόν
ἡδοναί 325. 541:
— χαϑαραί 120. 144
ἥττων, κρείττων ἑαυτοῦ 101. 156
ϑάρρος, ϑαρραλέος 941, 1121. 175
426
ϑρασύς, ϑρασύτης 26. 27. 1189
ϑεῖος (ϑεία μοῖρα, ἔνϑεος) 177.
182—189. 326. 338. 340
ϑρῆνοι 295
ἱκανός 968
ἐσονομέα 246. 247
ἰσότης 250
— γεωμετρική 154!
κακῶς Mayr 110
καλόν 126
καλὸς κἀγαϑός 431
κολακεία 135—140. 180
κόσμος 152—154
Aoyoygaypia 313. 314
λόγον διδόναι 134. 192, 313.
314. 409. 416°
μανέα, μανικός 21. 187. 329.
337. 338. 371
μάχιμος 220—222
ἱετρητική 108. 325 |
μῶν; 359
νόμος 374. 395. 396
οἰκεῖος 369. 377. 382
ὀλοφυρμός 296
ὄντα 314. 315. 418:
οὐσία 127. 1288, 334. 384
πάϑος 127
παέζειν, παίγνιον 208. 860. 351
παραμυϑία 294
Aischines fr. 11 Ὁ. 188
Alkidamas ca. soph. 27.28 350
Antisthenes al 57
Aristophanes
Ekkl. 590—663 225—227
Εᾳ. 42 304
Plut. 468 3721
Ran. 533 350
Aristoteles
de an. 415a 25 388
Eth. Nik. 1144a 23 1:
Met. 9818 28 421
987a 32 und 1078b 12 401
Pol. 1260a 27 168
Cicero Tusc. III, 2.3 90
Demetrius x. ἑρμηνείας 234 116
Diog. Laert. III, 34 210
Δισσοὶ λόγοι 9 13
Euripides’ Phoen. 535 —545 154!
fr. 388 . 373
«ellius XIV, 3 210. 211
Gorgias’ Helena 10 40:
Hippokrates
π. ἀρχαίης iImremng 8 398
Register.
πειϑοῦς δημιουργός 132. 133
περίπτωσις 1371
οἱ πολλοί 100—102. 156
τὰ ἑαυτοῦ πράττειν öl
πρέπον 126
δήτορες 195. 203—205
vgl. Rhetorik
σημεῖον 2731
συμμετρέα 154
συμπεραίνειν λόγον“ 137!
σωφροσύνη 40. 158. 324. 339
τάξις 152—154. 332?
τέλος 144
τέχνη--ἐπιστήμη 9ὅ
-- ϑεία μοῖρα 185
vgl. &urzeigia, κολακεία
τί; εἷς τί; (βελτέων o.ä.) 25.61.63.79.133
III.
τί μήν; 357—359
τριβή vgl. ἐμπειρία
ὑπερουράνιος τόπος 334
ὑπόϑεσις 174. 8185, 4121. 416°
φιλέλλην 299
φιλία 257. 337. 365—370
φιλόσοφος, φιλοσοφία 203—205. 353.
362—364. 368
φρόνησις 25. 175
φύσει 86—95. 346
χαρέξεσϑαι 374
ψυχαγωγία 343. 353
7. ἀρχαίης ἰητρικῆς 20 347
exXaıns ἐητρυκῆ 51 136
παραγγέλματα 1 1371
Isokrates
Antidosis 271 362
Busiris 50 218
ad Nic. 23.24 269
Panath. 26—30 3623
Paneg. 28 2731
91 2825
50—52 2825
117 301*
Plato
Apol. 25b 89
Brief VII 331b—d1) 111
940 1192
335a 120!
5970 1215
Charmides 163b 521
169d 47!
Gesetze693— 701 253—255.278—280
836. 837 3841. 397
9514 3430
Gorgias 464bc 158?
') Versehentlich ist 321b—d gedruckt.
Gorgias 465a
493b
519.20
522b
Hipp. min. 372a
Ion 534a
Kriton 5la
Laches 182c
183d
186c
187 e
189d
191e
195b
197 a
Lysis 207d—208e
Menexenos 236d
237 ἃ
237c
238b
238cd
2590
2594
244bd
245 Ὁ
246be
3 Menexenos 235 e
Menon 90a
95b
Phaidon 65e
76d
920
94b—d
96a
100d
Phaidros 244d
2752
275b
Register.
211
244—246. 253!
276
264
2891
290
293
261!
189
170. 196. 200
417!
318!
412!
233. 234
317
128°. 319!
380
363!
219°
427
Protagoras 333 c 995
346a 110
349e—351b 94!
Staat 333e it
439 c—441b 234
452c 252
470.471 286. 287. 2991
4884 304
557 —564 241— 256
557b 304!
560d 252
563a 251
611 2321 3303
Symposion 173d 21
180e 185 397
194e—197e 264—267
195b 3781
207d 208a 383
Plutarch Quaest. Conv. VIII, 2,2 155°
Thukydides I, 8
252
II, 36—46 247-56. 267.268
{ΠῚ Ὁ 247—250
II, 40, 3 30
II, 41,1 251. 282
I, 62,5 30!
I, 65, 12 287
III, 82, 4 252
Xenophon
Ages. 1,8; 7,1—6 299. 300
Anab. I,9 2691
I, 6, 7.8 2691
Mem. II, 6, 36 276
IV,2 552269
IV, 6, 10 909
Staat d. Lak. 2, 12—14 396
Symp. 2, 18 263!
Sl 400
8,32 394
Inhalt.
Die Entstehung des platonischen Dialoges und die Frage nach seiner
historischen Treue .
Platos sokratische Periode.
I. Die Apologie a ee Ἢ
II: Baches nn N ae ee ee
III. Charmides
IV. Der kleine Hippias .
Anhang. Die Δισσοὶ on.
V. Protagoras .
Anhang. Zum eben) Brief
VI. Abschluß. Kein platonischer Dialog en vor ne Tod
geschrieben. Unechtheit des großen Hippias . :
Die Krisis.
VI. Gorgias
VII. Menon NEN ER ie HE 2 Ὁ ὦ ὁ. τὉ
Anhang. Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung
Die sozialpolitischen Gedanken.
IX. Die erste Ausgabe des Staates .
Platos Stellung zur athenischen Demokratie.
X. Kritik des ‚perikleischen Ideals.. Plato und Thukydides .
XI. Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos .
Die neue Weltanschauung.
XII. Phaidon
XIII. Phaidros .
XIV. Lysis und ἜΤ με RR NOIR ER ER ς ς
Exkurs. Pausanias’ Erotikos. Platos und Xenophons Sym-
posion ee N ee
Aus Platos Werdezeit
Register
113
123
129
167
193
207
238
256
310
326
365
394
401
422
᾿
Sy
|
1
4
3
δ
|
Β Pohlenz, Max
395 Aus Platos werdezeit
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