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Full text of "Aus Platos werdezeit; philologische untersuchungen von Max Pohlenz"

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AUS PLATOS WERDEZEIT 


PHILOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN 


VON 


MAX POHLENZ 


BERLIN 
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG 
1913 


Dem 


Göttinger Kränzchen 


gewidmet 


Die Entstehung des platonischen Dialoges 
und die Frage nach seiner historischen Treue. 


„Wir waren am Tage vorher abends aus Potidaea vom Lager 
zurückgekommen, und nach so langer Abwesenheit ging ich nun 
natürlich mit Vergnügen nach den gewohnten Stätten“ — so be- 
ginnt Plato einen seiner allerfrühesten Dialoge, den Charmides. 
Daß es Sokrates ist, der hier erzählt, erfahren wir bald darauf 
durch eine Anrede. Aber wem er erzählt, darüber hören wir 
kein Wort. Ein einziges Mal gebraucht Sokrates an einer Stelle, 
wo er von einer starken inneren Bewegung spricht, eine Anrede: 
τότε δή, ὦ γεννάδα, εἶδόν τε τὰ ἐντὸς Tod ἱματίου καὶ ἐφλεγόμην 
(155d). Aber hier spüren wir zwar eine Absicht, wenn Plato 
eine sonst zuletzt für uns in Aristophanes’ Fröschen nachweis- 
bare altertümliche Anredeformel gebraucht; dagegen tut er nicht 
das geringste, um in uns eine Vorstellung über den Angeredeten 
zu wecken. Auch für den Charakter der Erzählung ist dieser 
völlig gleichgültig. Es ist also im Effekt dasselbe als wenn der 
geneigte Leser angeredet würde. Es ist in Wahrheit das Publi- 
kum, an das dieser literarische Sokrates sich wendet. 

Genau dieselbe Form treffen wir im Lysis und im Staate 
wieder. Jetzt tritt aber auch keine vereinzelte Anrede mehr auf. 
Und dieselbe Icherzählung begegnet uns im Parmenides, nur daß 
wir dort nach drei Zeilen darüber aufgeklärt werden, daß nicht 
Sokrates, sondern Kephalos der Erzähler ist. 

Eine Abwandlung der Form zeigt der Protagoras. Hier 
richtet Sokrates seine Erzählung auf Aufforderung eines unge- 
nannten Gefährten an Bekannte, die wir uns in irgend einem 
Gymnasion sitzend denken mögen. Offenbar will Plato hier das 
Literarische der Form abstreifen und statt des Publikums einen 
Hörerkreis einführen. Aber daß er von der Form des Charmides 
ausgeht, zeigt sich doch darin, daß dieser Hörerkreis ebenso wie 
der ἑταῖρος nicht im geringsten charakterisiert wird und für die 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 1 


2 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


Erzählung nicht mehr zu bedeuten hat als das Publikum. Und 
wenn Plato den Gefährten die entscheidende Aufforderung so 
aussprechen läßt: Ti οὖν οὐ διηγήσω ἡμῖν τὴν συνουσίαν, ei μή 
σέ τι κωλύει, καϑεζόμενος ἐνταυϑί, ἐξαναστήσας τὸν παῖδα τουτονί; 
so wird man diesen etwas krampfhaften Versuch, eine lebendige 
Vorstellung zu geben, schwerlich sehr glücklich nennen können. 
Man hat den Eindruck, als wolle Plato nur eine Formalıtät erledigen. 

Kein Wunder, daß er später selber keine Lust hatte, die Form 
des Protagoras noch einmal anzuwenden. Dafür wird der Er- 
zählung einmal ein Gespräch mit einer bestimmten Persönlichkeit 
vorausgeschickt. Das ist im Euthydem. Aber hier ist der Grund 
klar. Sokrates-Plato will sich einem Tadler gegenüber recht- 
fertigen, daß er überhaupt es für nötig hält, sich mit der Eristik 
auseinanderzusetzen. Dazu ist nötig ein Rahmengespräch des 
Sokrates mit einem Manne wie Kriton, der es wagen durfte, als 
Freund Sokrates Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns auszu- 
sprechen. Ebenso deutlich ist, warum im Phaidon ein bestimmter 
Mitunterredner auftritt. Hier war Plato zum ersten Male genötigt, 
statt des Sokrates einen anderen als Erzähler einzuführen. Und 
daß es gänzlich unkünstlerisch gewesen wäre, wenn Phaidon von 
den letzten Stunden des Meisters nicht seinem Mitschüler Eche- 
krates, sondern einem größeren Kreise oder gar dem Publikum 
erzählt hätte, bedarf wohl keines Wortes. Ähnlich liegt es im 
Theaetet, den man natürlich trotz des Kunstgriffes, durch den die 
Erzählung ausgeschaltet wird, hierher stellen muß. Hier vertritt 
das Rahmengespräch die Stelle einer Widmung des Dialogs an den 
Verstorbenen. So bieten sich von selbst zwei Freunde des Toten 
wie im Phaidon als Gesprächsfiguren. Die Absicht der Widmung 
wird auch mitspielen, wenn im Symposion Plato seinen Alters- 
genossen (173a) Apollodor zum Erzähler macht. Aber wichtiger 
ist hier das andere: Das Gespräch über den Eros wiederzugeben 
ist eben keiner geeigneter als der μανικός Apollodor, der die 
Wirkung der ἐρωτικὴ μανία nicht weniger bei sich gespürt hat 
und in seinem ganzen Wesen verkörpert als Alkibiades, soweit 
er auch sonst von dessen genialem Wesen entfernt ist‘). Daß 


1) Wie man diesen Tatbestand verkennen und p. 173d die Corruptel μαλακός 
statt der in TW durch zweite Hand erhaltenen, durch Plutarch Cato min. 46 ge- 
sicherten Variante wavınds festhalten kann, ist mir gänzlich unverständlich. Außer- 
dem paßt doch μαλακός ganz und gar nicht in den Zusammenhang der Stelle — 


Die Icherzählung im referierten Dialog. 3 


die Charakterzeichnung des μανικός hier allein Platos Interesse 
in Anspruch nimmt, ergibt sich daraus, daß wie im Protagoras 
die Hörer wie ihr Wortführer vollkommen gleichgültig sind. Eine 
ehrende Widmung liegt endlich, wie schon das Altertum ver- 
merkt hat (Plut. de frat. am. 484f.), im Parmenides vor, wenn 
Platos Stiefbruder Antiphon trotz seines Aufgehens in sportlichen 
Interessen zum Vermittler der philosophischen Erzählung ge- 
macht wird. 

Ziehen wir das Ergebnis der bisherigen Untersuchung, so 
müssen wir sagen: Die literarische Icherzählung, die sich 
an das lesende Publikum wendet, ist die Form, die 
Plato in den referierten Dialogen nicht bloß zuerst und 
am häufigsten angewendet hat; sie ist auch die ur- 
sprüngliche Form, als deren Abwandlung sich alle Fälle 
herausstellen, in denen die Erzählung an eine bestimmte 
Person gerichtet ist. 


oder ist es etwa das Charakteristikum der μαλακοί, daß sie gegen sich und die 
anderen toben (dei τοιοῦτος εἶ, σαυτῷ τε nal τοῖς ἄλλοις ἀγριαίνεις πλὴν Σωκρά- 
τους) und diesen den Eindruck des κακοδαίμων, des Verrückten machen (173de)? 
„Wir waren alle in einer sonderbar gemischten Stimmung, bald lachten, bald weinten 
wir, einer von uns aber ganz besonders, Apollodor — du kennst ja wohl den Mann 
und sein Wesen“, heißt es im Phaidon 59a, doch nicht um seine Weichherzigkeit, 
sondern um sein exaltiertes Wesen zu bezeichnen, das nachher zu so leidenschaft- 
lichem Ausbruch des Schmerzes führt (117d). Und endlich: nach Plinius N.H.34,81 
und 84 hat Silanion die Büste eines Bildhauers Apollodor geschaffen, der den Bei- 
namen insanus hatte, nicht, weil er jähzornig war, sondern weil er die höchsten 
Anforderungen an sich stellte und nie mit sich zufrieden war. Sollen wir wirk- 
lich glauben, daß Platos Apollodor, für den nichts charakteristischer ist als die 
Unzufriedenheit mit sich selber, von diesem verschieden war, und daß es gleich- 
zeitig einen Apollodor ὁ μανικός und Apollodor ὁ μαλακός gab? Silanion hat 
die Büste Platos geschaffen; warum soll man seine Büste Apollodors nicht auf 
den Altersgenossen Platos beziehen, der ihn wegen seines Charakters interessierte? 

Wenn Plato den Fanatiker in solcher Weise auszeichnete, so muß er ihn 
für einen würdigen Jünger des Sokrates gehalten haben. Und er hat wohl tiefer 
in dessen Wesen geblickt als Xenophon, der in seiner Apologie im Anschluß an 
den Phaidon denselben Apollodor einführt und als ἐπιϑυμητὴς μὲν ἰσχυρῶς 
αὐτοῦ, ἄλλως δ᾽ εὐήϑης charakterisiert (28). Daß er aber mit dem ἐπιϑυμητὴς 
ἰσχυρῶς gerade den wavızdz bezeichnen will, zeigt uns deutlich eine Analogie. 
Plato führt in der Apologie Chairephon als den Mann ein, der aus leidenschaft- 
licher Zuneigung zu Sokrates das Orakel aus Delphi über ihn einholt. Dabei 
sagt Sokrates 218: ἴστε δὴ οἷος ἦν Χαιρεφῶν, ὡς σφοδρὸς ἐφ᾽ ὅτι ὁρμήσειεν. 
Im Anfang des Charmides wird derselbe Charakterzug mit den Worten ange- 
deutet: Χαιρεφῶν δέ, ἅτε nal μανικὸς iv, ἀναπηδήσας ἔκ μέσων ἔϑει πρός we. 

1 


4 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


Diese Tatsache muß man sich vor Augen halten, wenn man 
sich nun die Frage vorlegt, wie Plato dazu gekommen ist, gleich 
in den Anfängen seiner Schriftstellerei neben dem rein drama- 
tischen Dialoge den referierten anzuwenden. Soweit man sich diese 
Frage überhaupt bisher stellte, hat man sich mit dem Hinweis auf die 
künstlerischen Vorteile begnügt, die für Plato die Einführung eines 
Berichterstatters bot (Hirzel Dialog IS. 213ff. u. a.). Diese Vor- 
teile sind unleugbar und sie sind es gewesen, die Plato auf diese 
Form immer wieder zurückgreifen ließen, so lange ihm die künst- 
lerische Wirkung ein wesentliches Ziel war. Aber warum Plato 
gerade die vorhin charakterisierte Form der Erzählung wählte, 
ist damit nicht erklärt. Wenn er von der dramatischen Form 
oder vom Leben direkt ausging, war jedenfalls der Bericht an 
bestimmte Hörer das Natürlichere. Das gleiche Bedenken steigt 
auch auf, wenn man die Erklärung einfach darin sucht, daß die 
Wiedererzählung eines Gespräches durch Sokrates sich auch in 
Aischines’ Aspasia und in Xenophons Oikonomikos (7 ff.) findet, 
also wohl einer Gewohnheit des Sokrates entsprach (Hirzel Dia- 
log IS. 84°). Denn da Sokrates solche Erzählungen doch ganz 
gewiß nur mitten im Gespräch zur Beleuchtung des Problems ge- 
bracht hat, so sollte man, wie es tatsächlich in Aischines’ Aspasia ') 
und bei Xenophon der Fall ist, diese Wiedererzählung nur im 
Rahmen eines größeren Gespräches erwarten. Aber überhaupt 
spricht gegen eine einfache Wiedergabe des lebendigen Ge- 
spräches die Wendung an das Publikum. Sie nötigt uns zu der 
Frage, ob Plato an literarische Vorbilder angeknüpft hat. 

Wo hat die Icherzählung, die sich an das Lesepublikum wen- 
det, ihre Stätte? Die Antwort ist nicht schwer: Im Memoiren- 
stil. Und mindestens von einem Memoirenwerke wissen wir 
doch noch, das Plato gekannt hat oder jedenfalls kennen konnte, 
das sind die Erzählungen Ions von seinem Verkehr mit be- 
rühmten Zeitgenossen, wie er sie teils bei ihren Besuchen in Chios 
teils bei eignen Reisen kennen gelernt hatte. Freilich sind für 
Ion nicht die philosophischen Gespräche das Interessante, aber 
wenn er eine Erzählung beginnt: „Mit dem Dichter Sophokles 
kam ich in Chios zusammen, als er als Stratege nach Lesbos 

1) Dittmar Aischines von Sphettos 8.49. Dagegen scheint im Alkibiades, der sehr 


wohl mit den Worten ἐκαϑήμεϑα μὲν ἐπὶ τῶν ϑάκων ἐν Λυκείῳ (fr. 2) begonnen haben 
kann, Aischineseine Icherzählung von der Art Platos gebrachtzu haben(Dittmar 8.157). 


Einfluß der Memoirenliteratur. 5 


fuhr“ (Ath. 603e), so steht dem formell der Anfang des Charmides 
doch recht nahe. Daß Ions Werk das einzige in seiner Art ge- 
blieben sein sollte, wäre beispiellos in der griechischen Literatur- 
geschichte, und vielleicht war sogar in Platos nächster Nähe ein 
Werk in ähnlichem Stil entstanden. Jedenfalls steht nichts der 
Annahme im Wege, daß sein Verwandter Kritias, dem er gerade 
im Charmides ein Denkmal setzt, in seinen Ὁμιλίαι Gespräche 
erzählte, denen er beigewohnt hatte oder beigewohnt haben 
wollte). An einen Einfluß der Memoiren werden wir aber um 
so eher glauben dürfen, als auch inhaltlich Übereinstimmungen 
mit diesen in Platos Dialogen nicht zu verkennen sind. Das hat 
schon Bruns in seinem Buche über das literarische Porträt 5. 
239f. vortrefflich ausgeführt. Wenn ich über ihn hinausgehend 
den direkten Einfluß dieser Literaturgattung auf Plato annehme, 
so ist dafür eben entscheidend der von Bruns in seiner Be- 
deutung verkannte literarische Charakter”) der Icherzählung, 
wie wir ihn festgestellt haben. Aber freilich gilt es nun, neben 
der Ähnlichkeit sich auch die Umbildung klarzumachen, die Plato 
an jener Form vorgenommen hat. 

Ion wollte nicht seine eignen inneren Erlebnisse erzählen. 
Er wollte von berühmten Zeitgenossen ein Bild geben, indem er 
sie in charakteristischen Situationen, Gesprächen, Handlungen 
vorführte. Plato tut im Grunde im Protagoras dasselbe, und so 
manche Szene im Charmides oder Lysis kann einem wohl die 
anschaulichen Schilderungen Ions in Erinnerung rufen. Aber 
ein großer Unterschied springt in die Augen: Während Ion seine 
eignen Erlebnisse mitteilte, legt Plato die Icherzählung anderen 
in den Mund. Das war, auch wenn wir seinen Zweck in Be- 
tracht ziehen, durchaus nicht selbstverständlich. Auch wenn sein 
Ziel war, den Mann, der den Mittelpunkt seines Lebens bildete, 
zu schildern, konnte er sehr wohl daran denken, Szenen, wie er 


!) Das Gespräch war hier natürlich die Hauptsache (cf. fr. B. 40 Diels). — 
Vgl. Xen. Mem. IV, 3, 2 ἄλλοι μὲν οὖν αὐτῷ πρὸς ἄλλους οὕτως ὁμιλοῦντι 
παραγενόμενοι διηγοῦντο᾽ ἐγὼ δέ, ὅτε πρὸς Εἰὐϑύδημον τοιάδε διελέγετο, παρε- 
γενόμην. ΤΥ, τ, 1. 

2) Geahnt hat er ihn, wenn er 5. 328 davon spricht, daß der erzählende 
Sokrates des Staates nur literarische Form ist. Aber das ist für ihn nur ein 
Einzeltypus des referierten Dialoges.. — Bruns’ Ausführungen sind auch zum 
Folgenden zu vergleichen, ebenso natürlich in diesem ganzen Aufsatz Hirzels 
grundlegendes Buch über den Dialog. 


6 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


sie selber oft genug erlebt hatte, vorzuführen' und von sich aus 
zu erzählen. Wenn er es nicht getan hat, so mag ihn einmal 
die Scheu, mit der eignen Person hervorzutreten, zurückgehalten 
haben. Wichtiger aber war gewiß etwas anderes. [Mochten die 
einzelnen Szenen, in denen er den Meister gesehen hatte, auch 
noch so charakteristisch gewesen sein, jede einzelne war ein 
Augenblicksbild, dem alle möglichen Zufälligkeiten anhafteten. 
Nicht die aber wollte er wiedergeben, er wollte Sokrates schil- 
dern, wie er gewesen war, wie er selber ihn tausendmal beob- 
achtet hatte. Den wirklichen Sokrates wollte er zeigen, aber 
nicht durch die photographische Wiedergabe einer Einzelszene, 
sondern durch eine sei es auch ganz frei erfundene Situation, in 
der sein ganzes Wesen scharf und klar hervortrat. So mußte 
sich die Erzählung des wirklichen Erlebnisses wandeln in die 
künstlerische Wiedergabe eines erfundenen Vorgangs, und es zeugt 
nur von dem künstlerischen Empfinden Platos, wenn er dann 
auch nicht mehr persönlich der Erzähler sein wollte, sondern 
einem anderen — und das war am natürlichsten der Haupt- 
beteiligte, also Sokrates selber — den Bericht in den Mund legte. 
Wie bewußt Plato diesen Weg gegangen ist, zeigt uns gleich der 
Charmides. Denn die Szene, die er hier vorführt, liegt ein paar 
Jahre vor Platos Geburt. Und gewiß ist die an sich recht gleich- 
gültige Szene nicht noch dreißig Jahre hinterher den Teilnehmern 
so in Erinnerung geblieben, daß Plato auf fremden Bericht hin 
sie hätte schildern können. Nein, sie ist so frei erfunden wie die 
des Protagoras, zu der Eupolis’ Kolakes die Anregung gaben. 
Aber die diehterische Erfindung hat eine Grenze. Niemand wird 
die einzelnen Worte des Sokrates für authentisch halten wollen. 
Aber der Mann, der uns da so lebendig vorgeführt wird, ist doch 
der wirkliche, historische Sokrates. Gewiß hat Plato von seiner 
Mutter auch nicht erfahren, daß Onkel Charmides wirklich grade 
im Jahre 431 ein Gespräch über die σωφροσύνη mit Sokrates ge- 
habt hat. Aber daß er damals ein liebenswürdiger, begabter 
Junge, ein σῶφρον μειράκιον gewesen ist, das hat er gehört, hat 
so manchen anderen Zug aus jener Zeit noch erfahren und so in 
Verbindung mit den Eindrücken, die er selbst vom Manne er- 
halten, ein Bild von Charmides entworfen, das er selber für 
historisch, wenn auch vielleicht in besonders günstiges Licht ge- 
rückt hielt. 


Verhältnis des referierten Dialoges zum Memoirenstil. γί 


Dasselbe gilt von den übrigen referierten Dialogen. Wie in 
den Memoiren Ions ist das künstlerische Ziel, ein anschauliches 
charakteristisches Bild der beteiligten Personen und ihres Zu- 
sarmmenseins zu entwerfen, ein Bild, in dem das wirkliche Wesen 
der Personen treu zum Ausdruck kommen soll. Aber im Gegen- 
satz zu Ion darf die ganze Szenerie nicht als historisch in An- 
spruch genommen werden, ebensowenig die einzelnen Züge, 
mindestens nicht für die spezielle Szene. Eine Ausnahme macht 
natürlich der Phaidon, wo man an der historischen Treue auch 
der Einzelzüge nicht zweifeln wird. Immerhin wird man etwa 
bei der wundervollen Szene, wo Sokrates dem neben ihm sitzen- 
den Phaidon den Kopf streichelt und ihm die Haare im Nacken 
zusammendrückt (89b), ruhig fragen dürfen, ob sie sich wirklich 
so am Todestage ereignet hat oder ein andermal von Plato selber 
beobachtet ist‘. Umgekehrt ist die künstlerische Freiheit größer 
im letzten referierten Dialoge, dem Parmenides, wo Plato schwer- 
lich die Möglichkeit haben konnte, wirklich getreue Bilder von 
dem Wesen des Parmenides und Zenon zu entwerfen und auch 
tatsächlich mehr im Typischen bleibt. Das ändert aber an dem 
allgemeinen Charakter des referierten Dialoges nichts. 

Grade weil im Parmenides die künstlerische Freiheit in der 
Erfindung der Szene weiter geht als gewöhnlich, fällt uns um so 
mehr die Mühe auf, die Plato aufwendet, um die Vorstellung zu 
wecken, als ob der Erzählung letztlich der Bericht eines Augen- 
zeugen zugrunde liege. Daß es sich dabei um eine Eigenheit des 
Stiles handelt, ergibt der Vergleich mit dem Symposion und dem 
Kritias (vgl. Tim. p. 21. 2). Auch in Xenophons Oikonomikos liegt 
etwas Ähnliches vor, wenn hier Xenophon ein Gespräch des 
Sokrates mit Ischomachos wiedergibt, von dem er durch die 
Wiedererzählung des Sokrates in einem von jXenophon selber 
mitangehörten Gespräche Kunde hat. Da das Ziel des in diesen 
Fällen angewendeten, teilweise recht komplizierten Verfahrens ist, 
die Icherzählung eines Augenzeugen zu geben, so könnte man 
auch hier den Einfluß der Memoirenliteratur suchen wollen. Aber 
wir dürfen nicht vergessen, daß die Berufung auf den Bericht 
eines Augenzeugen auch sonst nahe lag, z. B. in der Gerichts- 
verhandlung. Tatsächlich finden wir die Berufung eines Augen- 


1) Matte Nachahmung ist Xen. Apol. 28. 


8 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


zeugen bei Xenophon in dem Bericht über Sokrates’ Ende, den 
wir in der Apologie‘) und Mem. IV, 8 lesen, ohne daß wir dort 
an Einfluß der Memoiren denken werden. Schon die indirekte 
Rede spricht gegen diesen. 

Wie steht es denn nun sonst bei Xenophon mit Einflüssen 
der Memoirenliteratur? Wir sollten erwarten, sie in den ’Amo- 
uvnuoveöuare mit Händen greifen zu können. Aber jedenfalls, 
wenn wir an Ions Memoiren denken, vermissen wir vollkommen 
die Schilderung der Szenerie. Viel wichtiger ist aber die bisher 
freilich nicht beachtete Tatsache’), daß Xenophon nur bei ganz 
wenigen der berichteten Gespräche sich auf seine persönliche 
Anwesenheit bezieht. Für den allgemeinen Nachweis, daß So- 
krates λέγων τε καὶ πράττων ἀνὴρ ἄριστος ἐγένετο περὶ τοὺς 
συνόντας (1, 8), schickt Xenophon freilich die Worte voraus 
τούτων δὴ γράφω ὁὅπόσα ἂν διαμνημονεύσω. Aber diese An- 
kündigung gilt eben nur für I; 3, nicht für den I, 4 neu ange- 
kündigten Nachweis, daß Sokrates keineswegs bloß ein Protrep- 
tiker war, sondern positive Anweisungen zur Tugend zu geben 
verstand. Denn bei den nun folgenden Einzelgesprächen finden 
wir ein ἤχουσα αὐτοῦ als Beglaubigung nur einmal zu Anfang 
(I, & mit Aristomedes über die Gottheit) und dann in den Ge- 
sprächen des zweiten Buches über die Freundschaft II, 4 (kein Part- 
ner genannt!), 5 (mit Antisthenes) und wohl auch 6 (mit Kritobulos) °). 

τὴ Die Unechtheit der Schrift scheint mir nicht erwiesen. Man muß sich 
vor allem gegenwärtig halten, daß Xenophon fern vom literarischen Zentrum 
schrieb und sehr wohl Platos Phaidon lesen konnte, ohne zugleich über die durch 
Polykrates entfachte Bewegung genau unterrichtet zu sein. 

Die Berufung auf einen Augenzeugen ist später ein beliebtes Kunstmittel 
geworden, durch das der Autor jede beliebige Szene aus der Vergangenheit ein- 
führen konnte. Wir kennen es durch Cicero, der es z.B. in de re publica an- 
wendet und dabei Herakleides zum Vorbild hatte. Vgl. ad Att. XIII, 19, 4: 
hoc in antiquis personis suaviter fit, ut et Heraclides in multis et nos in 
VI de re publica libris fecimus. Mit hoc meint Cicero, daß der Autor selbst 
κωφὸν πρόσωπον bleibt. Wie de re publica zeigt, denkt er hier an den Fall, 
daß der Autor die Verantwortung für den Bericht an einen Augenzeugen abgibt. 
Anders Hirzel Dial. I, 321, 1. 

2) So spricht Bruns Lit. Porträt S. 367 ganz allgemein von den Gesprächen, 
die Xenophon gehört haben will. Nach Hirzel Dialog I, S. 147 bezeichnet Xeno- 
phon I, 3, 1 sein Gedächtnis als die einzige Quelle seiner Nachrichten. 

3) Ausdrücklich ist die persönliche Anwesenheit allerdings in den Eingangs- 
worten ἐδόκει δέ μοι καὶ eig τὸ δοκιμάζειν plÄovg .. . φρενοῦν τοιάδε λέγων 
nicht hervorgehoben. 


Xenophon und der Memoirenstil. 


Dazu kommt IV, 3 bei dem zweiten theologischen Gespräch die 
Versicherung ἐγὼ δέ, ὅτε πρὸς Εὐθύδημον τοιάδε διελέγετο, παρε- 
γενόμην. Sonst finden wir aber entweder nur neutrale Angaben 
wie γνοὺς δέ τινα τῶν συνόντων ἀκολαστοτέρως ἔχοντα... ἔφη 
(II, 1) oder aber er beginnt mit der Wendung „ich weiß aber 
auch, daß er einmal mit N. N. folgende Unterhaltung geführt 
hat“ (οἴδα δὲ καὶ Διοδώρῳ αὐτὸν ἑταίρῳ ὄντι τοιάδε διαλεχϑέντα 
I, 10 und genau so II, 8; IV, 4. 5, vgl. noch ἐρῶ δὲ καὶ ἐν τού- 
τοις, ἃ σύνοιδα αὐτῷ). So spricht doch aber keiner, der selber 
bei der Unterredung anwesend war oder darauf Wert legt, seine 
Gegenwart zu betonen. Und dieser Eindruck wird noch ver- 
stärkt, wenn man die Formel mit dem vorhergenannten Eingang 
ἤκουσα αὐτοῦ vergleicht. Daß aber auch in der Erzählung selbst 
Xenophon durchaus nicht den Schein persönlicher Anteilnahme 
erstrebt, zeigt deutlich z. B. der Anfang von IH, 11. „Als einer 
die Schönheit der Theodote rühmte, machte Sokrates den Vor- 
schlag, zu ihr zu gehen. Und so machten sie sich auf und be- 
trachteten sie“ (&$edoavro). Mit Euthydem traf Sokrates nach 
IV, 2 dreimal zusammen. Das erste Mal heißt es, er ging in 
einen Laden τῶν μεϑ’ ἑαυτοῦ τινας ἔχων (1). Da könnte Xeno- 
phon noch dabei sein. Weniger wahrscheinlich ist das schon, 
wenn es beim zweiten Male heißt πάντες οὖν οἱ παρόντες ἐγέ- 
Aaoav, nicht ἐγελάσαμεν (5). Vom dritten Male berichtet Xeno- 
phon aber ausdrücklich, daß Sokrates ohne Begleitung zu Euthy- 
dem ging (8), und durch nichts deutet Xenophon an, daß er von 
einem der beiden Gesprächsteilnehmer das nun im Wortlaut fol- 
gende Gespräch erfahren habe. Die Berufung auf einen anderen 
als Augenzeugen in IV, 8 wurde schon erwähnt. 

Bei diesem Tatbestande kann davon keine Rede sein, daß 
Xenophon in seinem Werke von der Memoirenliteratur ausge- 
gangen sei. Am auffälligsten weicht er von dieser wohl ab, wenn 
er bei dem einzigen Gespräch, in dem er sich selber als Unter- 
redner anführt, nicht in der ersten, sondern in der dritten Per- 
son von sich spricht (I, 3, 8 παρόντος τοῦ Κριτοβούλου ἤρετο 
Ξενοφῶντα... Πάνυ μὲν οὖν, ἔφη ὃ Ξενοφῶν). Denn diese Ob- 
jektivierung steht im schärfsten Widerspruch zum Charakter der 
Memoiren‘). Daraufhin wird man auch bei der Etikette ἤκουσα 


1) Wenn man die Stelle allein ins Auge faßte, könnte man wohl gar die 
Vermutung hegen, Xenophon habe die ᾿Απομνημονεύματα Σωκράτους heraus- 


10 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


αὐτοῦ Bedenken tragen müssen, einen Einfluß von dieser Seite 
her anzunehmen. Daß Xenophon überhaupt Gespräche des So- 
krates mitangehört hat, ist nicht zu bezweifeln, und ebensowenig 
wird man die Möglichkeit abstreiten, daß ‚er Unterredungen mit 
Antisthenes und Euthydem über die angegebenen Themata bei- 
gewohnt hat. Da ergab sich das ἤκουσα von selber, auch wenn 
er die Unterredungen ganz frei gestaltete. 

Genau ebenso liegt die Sache !natürlich beim Oikonomikos, 
der nach seinem Anfang Ἤκουσα δέ ποτε αὐτοῦ καὶ περὶ 
οἰκονομίας τοιάδε διαλεγομένου Sich einfach als erweiterte und 
verselbständigte Form der ”Hxovo«a-Kapitel gibt. Einen ganz 
anderen Charakter trägt dagegen das Symposion. Schon wegen 
der Schilderung der Szenerie gehört dieses Werk mit der Me- 
moirenliteratur und mit Platos erzählten Dialogen auf eine Linie. 
Wenn nun hier Xenophon beginnt οἷς δὲ παραγενόμενος ταῦτα 
γιγνώσκω, δηλῶσαι βούλομαι. ἦν μὲν γὰρ κτλ., so sind alle Ab- 
schwächungsversuche, wie sie z. B. Bruns S. 386 vornimmt, ver- 
fehlt. Die Worte besagen: „ich will das erzählen, was ich selber 
erlebt habe’).“ Und da sie zur Beglaubigung dienen sollen, so 
setzen sie voraus, daß der Erzähler seine eignen Eindrücke mit- 
teilt, also als aufnahme- und urteilsfähiger Beobachter zugegen 
war. Andrerseits herrscht wohl heute Einigkeit, daß Xenophon 
in der Zeit, in der das Gastmahl stattgefunden haben soll, höch- 
stens ein Junge von zehn Jahren gewesen ist. Also hat er ent- 
weder seine Leser bewußt irregeführt — das ist aber an sich 
nicht zu glauben; außerdem aber wäre der Betrug ziemlich 
zwecklos gewesen und hätte leicht aufgedeckt werden können — 
oder aber Xenophon bedient sich eines literarischen Kunst- 


gegeben, ohne sich selber im Titel zu nennen. Aber dem widerspricht das son- 
stige starke Hervortreten des Autors. Wir müssen vielmehr daran denken, wie 
Thukydides von sich selbst im Laufe der Erzählung in der dritten Person spricht. 
Bei ihm ist das allerdings dadurch bedingt, daß die Überschrift vom Werke noch 
nicht abgelöst war und Thukydides deshalb im ersten Satze von sich in der 
dritten Person sprechen mußte. Wie unbequem das war, zeigt der Übergang 
in die erste Person, der bei ihm wie bei Herodot sehr bald eintritt. Daraufhin 
hat wohl auch Xenophon den Wechsel der dritten und ersten Person zugelassen, 
obwohl jener literarische Zwang für ihn nicht mehr vorlag. 

1 Man vergleiche doch, wie das παρεγενόμην an der S. 5! angeführten 
Stelle Apomn. IV, 3, 2 gebraucht ist, oder Plato Soph. 217 ὁ οἷόν ποτε καὶ 
Παρμενίδῃ... διεξιόντι λόγους παγκάλους παρεγενόμην. 


Xenophon und der Memoirenstil. 11 


griffes, den der Leser hinnimmt, ohne sich über die Fiktion im 
unklaren zu sein. Dieser Annahme steht durchaus nichts im 
Wege. Xenophon hat die von Plato durch Umbildung des Memoiren- 
stiles geschaffene Form aufgegriffen und sie nur insofern ge- 
ändert, als er an Stelle des anderen Erzählers sich selbst ein- 
setzte. Das mußte ihm nach dem ἤκουσα der Apomnemoneumata 
ohne weiteres naheliegen. Doch könnten ihm ἔπος andre Sokra- 
tiker vorausgegangen sein. 

Mit dem Einflusse dieser anderen Sokratiker müssen wir 
natürlich auch bei der Entwicklung von Platos erzähltem Dialog 
rechnen. Immerhin ist kaum anzunehmen, daß schon vor dein 
Charmides sokratische Dialoge erschienen waren, und jedenfalls 
gehört der einzige sokratische Dialog, für den wir mit einiger 
Sicherheit eine Icherzählung des Sokrates an das Publikum vor- 
aussetzen dürfen, Aischines’ Alkibiades (vgl. S. 4°), in spätere 
Zeit (darüber im Aufsatz über den Menon)'‘). Wenn wir deshalb 
nicht auf den von Aristoteles als Begründer des Dialoges aus- 
gegrabenen Alkamenes zurückgreifen wollen, so dürfen wir sagen: 
Platos eigne Tat ist es, wenn er schon im Charmides neben dem 
dramatischen Dialog den erzählten unter Umbildung des Memoiren- 
stiles schuf. Und auch die Abwandlungen der Form, die wir bei 
ihm finden, sind jedenfalls auch ohne äußere Einflüsse ver- 
ständlich. 

Aus unseren bisherigen Feststellungen erwächst nun aber 
ein neues Problem. Wir haben ein Erbteil des Memoirenstiles 
darin gesehen, daß der erzählte Dialog, sowenig auch Szenerie 
und Einzelzüge der Wirklichkeit entsprechen, doch insofern die 
historische Treue wahrt, als er historische Personen vorführen 
will, wie sie wirklich waren und handeln konnten. Zwingt uns 
das nicht zu der Folgerung, daß auch der Inhalt der Gespräche 
im großen und ganzen ihren Anschauungen entsprochen haben 
muß? Werden wir nicht zu dem Standpunkt von Ivo Bruns 
gedrängt, daß Plato, wenn er einmal-ein Bild des historischen 
Sokrates geben wollte, ihm auch nur Lehren in den Mund legen 


1) Bei Aischines bietet die Aspasia das 'Beispiel einer an eine bestimmte 
Person gerichteten Icherzählung (vgl. S. 4), der Kallias war wohl rein drama- 
tisch (Dittmar 5. 242). Bei Antisthenes deutet das Fragment bei Herodikos 
(Athen. 216c) auf einen rein dramatischen Dialog. Sonst sind sichere Indizien 
wohl nicht vorhanden. 


{2 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


durfte, zu denen er jedenfalls die Anregung von ihm empfangen 
zu haben glaubte? Ja, müssen wir nicht folgerichtig noch weiter 
gehen und mit anderen jeden Unterschied zwischen dem histo- 
rischen und platonischen Sokrates leugnen und behaupten, Plato 
hätte eine Mystifikation begangen, wenn die Ideenlehre und die 
Unsterblichkeitsgedanken, die er Sokrates im Phaidon im den 
Mund legt, nicht von diesem voll vertreten worden wären? 

Die Schwierigkeiten, die sich bei folgerichtiger Durchführung 
dieser Auffassung auftürmen, sind freilich klar. Was Sokrates recht 
ist, muß Nikias billig sein; wir müssen ihn also nach dem Laches 
für einen Mann halten, der mit sokratischen Gedankengängen 
wohl vertraut war. Und was vom Sokrates des Phaidon gilt, 
muß auch für den des Staates in Anspruch genommen werden. 
Wir müssen auch zu den Staatstheorien mindestens die An- 
regungen Sokrates selber geben. Wir kommen schließlich dazu, 
Platos langes Denkerleben voll Strebungen und Wandlungen 
als bloßen Reflex der sokratischen Lehre zu betrachten. 

So ist denn schon von den verschiedensten Seiten (zuletzt 
besonders von Wendland Gött. gel. Nachr. 1910) die Unmöglich- 
keit dieser Anschauung dargetan worden. Aber einen Stachel 
lassen Bruns’ Ausführungen doch zurück. Empfinden wir denn 
nicht wirklich beim Lesen des Phaidon einen Zwiespalt zwischen 
der Treue, mit der uns Plato das Charakterbild des historischen 
Sokrates vorführt, und der Freiheit, mit der er ihm seine philo- 
sophische Lehre in den Mund legt? Wir, gewiß — aber grade hier 
müssen wir wohl ansetzen, wenn wir zur Lösung des Problemes 
kommen wollen. Männer wie Bruns kommen deshalb zu 
einer undurehführbaren Auffassung, weil sie vom Stand- 
punkt des modernen Lesers ausgehen. Wir müssen viel- 
mehr die Frage so stellen: 

Welche Voraussetzungen brachte der Zeitgenosse 
Platos mit? Nahm er beim Lesen des Phaidon an, daß 
durch die langen Debatten über Ideenlehre und Un- 
sterblichkeit wirklich Sokrates’ Meinung sei es auch nur 
in den Grundzügen zum Ausdruck komme, oder war er 
sich darüber klar, daß er es mit ganz persönlichen An- 
schauungen Platos zu tun hat, die dieser aus bestimm- 
ten Gründen Sokrates in den Mund legte? 

Ich glaube, wir können diese Frage auch trotz unserer man- 


Die Auffassung der Debatte bei Platos Zeitgenossen. 13 


gelhaften Kenntnis der Literatur mit annähernder Sicherheit be- 
antworten. Wir müssen daran denken, wie unendlich oft der 
damalige Athener theoretische Erörterungen über allgemeine 
Fragen in Gesprächsform zu hören oder zu lesen bekam. Da 
hörte er in Euripides’ Dramen über die Vorzüge von Demokratie 
und Tyrannis, über Geschwisterehe und Naturrecht debattieren. 
Und ob nun Theseus oder Makareus oder ein andrer die These 
verfocht, das war für das Thema ziemlich gleichgültig, man 
wußte, daß der Dichter ein ihn persönlich interessierendes Pro- 
blem stellte und erörterte. Selbst in der lustigen Komödie bil- 
dete der Disput über ein aktuelles Thema, über alte und moderne 
Erziehung, über ästhetische Fragen einen wesentlichen Bestand- 
teil des Stückes, und trotz aller Scherze hatte man grade hier 
so gut wie in der Parabase die Empfindung, daß der Dichter 
hier sprach, der sich als διδάσκαλος des Volkes fühlte. In der 
Prosa bot die Historie Debatten ın Fülle. Daß Herodot, wenn er 
Xerxes, Mardonios und Artabanos im Kriegsrat sprechen ließ, die 
Reden so gut dichtete wie Vater Homer in der Gesandtschaft an 
Achill, wußte jeder. Aber das gleiche gilt doch auch von den 
Erörterungen allgemeiner Fragen. Und wenn in einem Einzel- 
falle Herodot ausdrücklich hervorhebt, daß nach der Ermordung 
des Smerdes Dareios und seine Genossen wirklich über die 
Verfassungsform debattierten, so hat doch gewiß kein Leser ge- 
glaubt, in III, 80ff. die wirklichen Ansichten der Perser genau 
wiedergegeben zu lesen. Es war ein Hinausgehen über die epi- 
sche Technik, wenn Thukydides versprach, auch bei den Reden 
sich an die Gesamttendenz des wirklich Gesprochenen möglichst 
zu halten. Aber innegehalten hat er dieses Versprechen nur ın 
seinen älteren Reden‘). Wenn er den Gesandten der Korinther 
oder Archidamos über den Charakter des athenischen und sparta- 
nischen Volkes sprechen läßt, so sollte sich gewiß jeder Leser 
klar sein, daß diese Männer gar nicht in der Lage gewesen 
wären, solche Probleme zu erörtern, daß es Thukydides selber 
war, der seine Ansichten darlegte. Und für den Dialog über die 
Frage, ob Macht oder Recht vorangeht, sind der Melier und der 
Athener ganz gleichgültige Mundstücke des Autors. 

Über die sophistische Literatur können wir nicht sicher ur- 


1) Die Begründung dieser Ansicht hoffe ich ein andermal zu geben. 


44 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


teilen. Aber daß in einer Zeit, wo die δισσοὶ λόγοι an der Tages- 
ordnung waren, auch bestimmte Verfasser der beiden Stand- 
punkte eingeführt wurden, liegt nahe, und schwerlich werden es 
immer Allegorien wie Tugend und Laster und Aöyog δίκαιος und 
ἄδικος gewesen sein. Von Hippias wissen wir außerdem so viel, 
daß in einer seiner Epideixeis Neoptolemos sich von Nestor Aus- 
kunft über die verschiedenen !Berufe erbat {und dieser auf die 
Frage antwortete. Der Ansatz zu einem Dialog war hier jeden- 
falls vorhanden. Und daß in solchen Fällen nicht der eine oder 
andere Gesprächsteilnehmer, sondern der Autor selber zu Worte 
kommen wollte, darüber war das Publikum klar. Auch wenn 
Kritias in den schon erwähnten Ὃμιλίαι Gespräche mit anderen 
Personen mitteilte, empfand |man diese nur als ein Kunstmittel, 
das Kritias anwandte, um seine eigne Ansicht darzulegen. 

Daß irgend ein Sophist soweit gegangen sein sollte, ein 
Thema einfach durch einen dramatischen Dialog zu erörtern, wird 
man bezweifeln. Aber jedenfalls darf man diese zahlreichen Ge- 
spräche nicht vergessen, wenn man sich fragt, wie Plato dazu 
kam, für das lebendige Gespräch des Sokrates ein künstlerisches 
Gegenbild dadurch zu schaffen, daß er ein Büchlein veröffent- 
lichte, das ein dramatisches Gespräch über das Wesen der Tapfer- 
keit enthielt und schon durch den Titel Πλάτωνος Λάχης an die 
Dichtung, das Drama erinnern mußte. 

Platos Zeitgenossen mögen beim Lesen seines ersten Dia- 
loges den Eindruck gehabt haben‘), einer ganz neuen litera- 
rischen Gattung gegenüberzustehen. Aber unmöglich können sie 
ihn losgelöst von allem literarischen Zusammenhange betrachtet 
haben. Dann mußten sie aber dieselbe Empfindung haben wie 
bei der Lektüre der vorhin geschilderten Debatten. Sie wußten, 
daß sie einem Kunstwerk gegenüberstanden, das die Anschau- 
ungen des Autors, Platos ganz persönliche Anschauungen zum 
Ausdruck brachte. Natürlich sagte sich der Leser, daß Plato mit 
outem Grunde Sokrates zum Leiter des Gespräches gemacht 
hatte, daß er sich damit als Jünger zu dem Verurteilten beken- 
nen wollte. Er wußte wahrscheinlich auch viel genauer als wir, 


1) Wenn ich als diesen den Laches betrachte und den Charmides bald folgen 
lasse, so nehme ich das Ergebnis des nächsten Aufsatzes voraus. Daß er der 
erste sokratische Dialog überhaupt war, glaube ich persönlich, kann ich aber 
nicht beweisen. 


Die Auffassung der Debatte bei Platos Zeitgenossen. 15 


wieviel von dem, was Sokrates im Gespräch äußerte, auf diesen 
selber zurückging. Aber daß die ganze Problemstellung, die 
Durchführung des Themas, die Ergebnisse Plato gehörten, darüber 
hatte er gewiß keinen Zweifel. 

Wohl bald nach dem Laches kam der Gharmides. Der 
brachte die Icherzählung. Aber daß diese kein objektiv gebun- 
denes Memoirenwerk, sondern ein Produkt freien künstlerischen 
Schaffens sein wollte, ‚das sah der Leser doch schon daran, daß 
nicht der Autor, sondern ein andrer erzählte. Um so weniger 
konnte es ihm unklar sein, daß die philosophischen Debatten 
nicht anders zu beurteilen waren als die des dramatischen Dia- 
loges. Aber selbst, wenn Plato hier im eignen Namen erzählt 
hätte, würde der Leser wohl ohne weiteres den Schnitt zwischen 
der Erzählung und der theoretischen Debatte gemacht haben, 
den Thukydides von seinem Leser fortwährend verlangt. 

Denselben Standpunkt mußte er dann aber auch einnehmen, 
falls einmal die Erzählung eines referierten Dialoges eine histo- 
rische Szene schilderte. Auch wer im Phaidon die getreue 
Schilderung von Sokrates’ Todesstunden las, der mochte zwar 
die vollendete Meisterschaft bewundern, mit der Plato die Schil- 
derung von Sokrates’ Ruhe und Todesfreudigkeit und die Be- 
weise für die Unsterblichkeit zu einer einzigartigen einheitlichen 
Wirkung verschmolzen hatte, aber daß diese Beweise Platos 
geistige Errungenschaft waren, das sagte er sich, auch wenn er 
nicht von vornherein wußte, daß Sokrates das Fortleben der 
Seele wohl erhofft, aber nicht für beweisbar gehalten hatte. 

Hier sollte aber der rechte Leser Platos noch mehr empfinden. 
Sollte nachfühlen, was es besagte, wenn Sokrates mit dem hell- 
seherischen Blicke des Sterbenden die entscheidenden Erkenntnisse 
vorwegnahm, zu denen sich sein Schüler nach langem Suchen durch- 
gerungen hatte. Nicht nach einzelnen inhaltlichen Berührungs- 
punkten mit sokratischen Gedanken sollte er fragen, sondern das 
sollte er empfinden: Plato hätte zu dieser Höhe der Erkenntnis 
nicht vordringen können, er wäre nicht das geworden, was er 
geworden ist, wenn er nicht in den Bannkreis des Sokrates ge- 
treten wäre. Im Phaidon drängt sich dieses Gefühl am stärksten 
auf. Aber natürlich mußten es Platos Zeitgenossen so gut wie wir 
auch haben, wenn sie sahen, wie in jedem Dialoge Sokrates es 
immer wieder war, den Plato zum Vertreter der eigenen An- 


16 Die Entstehung des platonischen Dialoges und seine historische Treue. 


schauungen machte. Gewiß ist es den Lesern nicht eingefallen, 
nach den einzelnen sokratischen Gedanken zu fragen, die in dieser 
oder jener Schrift Platos zu spüren waren. Aber das sahen sie, 
daß Plato sich als Sokrates’ Schüler fühlte, auch als er längst über 
diesen hinausgewachsen war, nicht bloß weil er ihm zahlreiche 
positive Anregungen, ja den Ausgangspunkt seiner wissenschaft- 
lichen Überzeugungen und sittlichen Grundsätze verdankte, sondern 
weil Sokrates das in ihm geweckt, was ihn zu jedem neuen Werke 
drängte, den unerbittlichen Wahrheitssinn und den unermüdlichen 
Forschertrieb. 

Durch die Wärme und Stetigkeit, mit der Plato Sokrates als 
Leiter des Gespräches einführt, hat er sich so gut wie Aischines 
und andere als Sokratiker dokumentiert und seine Gespräche in 
die engste innere Beziehung zur Person des Sokrates gebracht. 
Natürlich bestand zwischen deren Inhalt und den sokratischen An- 
schauungen auch ein ursächlicher Zusammenhang. Aber eine bloße 
Wiedergabe von Ausführungen des Sokrates ist kein platonischer 
Dialog. Sokratiker ist nicht, wer nachbetet, sondern wer weiter- 
forscht. Und primär lag in der bloßen Einführung des Sokrates 
als Gesprächsperson durchaus kein Anlaß vor, die vorgetragenen 
Ansichten für sokratisch zu halten. Das empfand der Zeitgenosse 
Platos auch beim Lesen der referierten Dialoge, auch des Phaidon 
ohne weiteres. Er hatte eben ein Gefühl dafür, daß in diesem zwei 
ganz verschiedene Elemente steckten, das Memoirenelement und 
das Debattenelement. Er hatte dieses Gefühl, obwohl Plato aus 
beiden etwas ganz Neues, Einheitliches geschaffen hatte. 

Viel schwerer als bei Platos referierten Dialogen ist es ja doch 
tatsächlich bei Xenophons Oikonomikos, sich vorzustellen, daß die 
Leser hier nicht Sokrates’, sondern Xenophons Ansichten wieder- 
zufinden gewiß waren. Denn Xenophon gibt nicht eine farben- 
reiche Szenerie, die den Leser von vornherein in die Welt künst- 
lerischen Schaffens versetzt, sondern er beginnt ganz nüchtern: 
„Ich hörte ihn aber auch einmal etwa folgendes Gespräch über 
die Hausverwaltung führen.“ Trotzdem herrscht gerade hier wohl 
heute Einigkeit, daß wir die vorgetragenen Anschauungen un- 
möglich für Sokrates in Anspruch nehmen dürfen. Wir stehen hier 
wieder vor der Alternative: Entweder hat Xenophon seine Leser 
anführen wollen — das ist ganz unglaublich — oder sie waren sich 
darüber klar, daß ein Buch, das den Titel Ξενοφῶντος Οἰκονομικός 


Die Auffassung des sokratischen Dialoges bei den Zeitgenossen. 17 


trug, Xenophons Ansichten enthielt und es zunächst ganz gleich- 
gültig war, ob im Dialog sein Lehrer Sokrates das Wort führte 
oder nicht. Etwas anders stand es natürlich, wenn das ganze 
Buch ausdrücklich dem Andenken des Sokrates gewidmet war. 
Aber daß selbst in den Kapiteln der Apomnemoneumata, wo 
Xenophon sich auf seine eigne Anwesenheit beruft, das Gespräch 
ganz frei gestaltet ist, wird wohl heute von den meisten zuge- 
standen. 

Dadurch daß Plato ständig Sokrates zum Vertreter seiner 
Ansichten machte, wurde dieser gleichsam ein Gegenbild seines 
Schülers. Das gab Plato den Anlaß, als er im Parmenides seine 
Anschauungen einer Revision unterzog, Sokrates die Rolle eines 
Lernenden zu geben. Das bildete wieder den Übergang zur 
Tetralogie (Staat)-Timaios-Kritias-Hermokrates, in der für die Ge- 
biete der Naturkunde und praktischen Politik Fachmänner gleich- 
berechtigt neben Sokrates traten. Wenn im Sophisten und Poli- 
tikos Sokrates nur noch der „Ehrenpräsident“ des Gespräches ist, 
so hat das von rallem den küstlerischen Grund, daß das trockene 
Frage- und Antwortspiel, das ja ausdrücklich als Wiedergabe 
eines Schulgesprächs bezeichnet wird, zu Sokrates’ Wesen gar 
nicht paßt. Ebensowenig würden ihm die langen Reden der Ge- 
setze anstehen. Wenn hier ein ungenannter Athener seine Stelle 
einnimmt, so soll der Leser wohl auch herausfühlen, daß Plato 
für die praktischen Gesetze [dem alten Athen ebenso sehr zu 
danken hat wie seiner philosophischen Ausbildung. 

Wir müssen uns natürlich gegenwärtig halten, daß das Bild, 
das wir hier entworfen haben, vielleicht in mancher Hinsicht ein- 
seitig ist, weil die Schriften der anderen Sokratiker für uns ver- 
loren sind und wir die Geschichte des sokratischen Dialogs nicht 
schreiben können. Immerhin bietet uns Plato selber doch 
glücklicherweise Material genug, um uns bei seinen Dialogen 
über ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zu Person und Lehre 
des Sokrates ein Urteil zu bilden. 


Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 2 


Platos sokratische Periode. 


I. Die Apologie. 


Das Unglaubliche war geschehen. Der beste, der klügste, 
der gerechteste Mann, den es auf Erden gab, war zum Tode ver- 
urteilt durch einen Spruch seiner Mitbürger, deren Heile sein 
ganzes Leben geweiht gewesen war. Wie war das möglich? 
Sokrates war doch dem größten Teile der Richter wohlbekannt. 
Wie hatten diese ihn für einen Gottesleugner, für einen Ver- 
führer der Jugend halten können? Sollten wirklich die ver- 
leumderischen Reden, die politischen Warnungen der Ankläger 
solchen Eindruck gemacht haben? Oder hatte Sokrates’ freies, 
selbstbewußtes Wesen die an so ganz anderes Verhalten ge- 
wöhnten Geschworenen so aufgebracht? Das konnte mitgewirkt 
haben. Aber der Hauptgrund mußte doch an anderer Stelle liegen. 
Die Jünger, die so sicher auf einen Freispruch gehofft hatten, 
hatten sich über die Stimmung des Volkes getäuscht. Tatsächlich 
mußten bei der Masse der Richter falsche Urteile, Mißtrauen, 
Feindschaft gegen Sokrates verbreitet gewesen sein, die den Ge- 
rechtigkeitssinn trübten und das Mitgefühl mit dem Altersgenossen 
nicht aufkommen ließen. Nur die Voreingenommenheit der 
Richter erklärte den Justizmord.. Und wenn man nun diesem 
Gedanken nachhing, dann tauchte so manches in der Erinnerung 
auf, was eine Gegnerschaft verständlich machte. Die Jünger 
hatten es so manches Mal erlebt, wie einer der großen Politiker 
ärgerlich wegging, wenn Sokrates ihm gezeigt hat, daß er wohl 
das Leder gut gerbe, aber über die wichtigsten Fragen, die letzten 
Ziele der Politik gar nichts wisse. Sie hatten es auch bei eige- Ὁ 
nen Gesprächen oft genug gesehen, wie leicht sich die Menschen 
persönlich gekränkt fühlten, wenn man ihnen Unklarheiten 


Anm. Ich hoffe, der Leser wird es mir Dank wissen, wenn ich nicht jedesmal 
besonders hervorhebe, was ich Männern wie Bonitz, Gomperz, Räder, Ritter ver- 
danke oder wo ich von ihnen abweiche. 


Die Konzeption der Apologie. 19 


- über sittliche Begriffe nachwies. Dazu mochte das Mißtrauen ge- 


kommen sein, das in der Masse gegen die Vertreter der moder- 
nen Bildung herrschte, und mancher Philister mochte wohl gar 
die tollen Späße des Aristophanes für Ernst gehalten oder wenig- 
stens in ihnen ein Körnchen Wahrheit gesucht haben. So 
mochte sich wohl Zündstoff genug aufgehäuft haben, aus dem 
ein einigermaßen geschickter Gegner den verderblichen Brand 
entfachen konnte. 

Sokrates war dahingegangen. Aber sollte man den Schatten, 
den die Verurteilung in den Augen Unkundiger auf ihn werfen 
konnte, nicht vertreiben? Sollte man das falsche Bild im Volke 
bestehen lassen und, wenn das Urteil unkorrigierbar war, nicht 
wenigstens die öffentliche Meinung korrigieren? Nach einem 
Justizmorde das Plaidoyer des Angeklagten herauszugeben war ja 
längst üblich. Freilich war das für Sokrates’ Jünger nicht so 
leicht wie für die Freunde Antiphons, die dessen fertiges Ma- 
nuskript zur Verfügung hatten. Denn Sokrates hatte diese Künste 
verschmäht und frei gesprochen. Aber das bot nach andrer Seite 
hin einen Vorteil. Denn so stand man der wirklichen Ver- 
teidigungsrede freier gegenüber und konnte noch mehr als es sonst 
geschah, auf den Verlauf des Prozesses Rücksicht nehmen. 

Die Gründe, die uns hindern, in Platos Apologie eine ein- 
fache Wiedergabe von Sokrates’ Rede zu sehen, sind oft dar- 
gelegt. Die Ansprache nach der Verurteilung ist vor dem wirk- 
lichen Gerichtshof ebenso undenkbar wie das Verhör mit Meletos 
in der Form, die wir jetzt lesen. Daß die eigentliche Anklage 
so kurz abgemacht wird, ist schwer verständlich, auch wenn wir 
in Rechnung stellen, daß auch Sokrates für die juristische Seite 
schwerlich Interesse hatte. Die Darstellung, wonach Sokrates’ 
ganze öffentliche Tätigkeit erst von dem Orakelspruch Apollons 
abgeleitet wird, ist unzutreffend und Sokrates selber nicht leicht 
zuzutrauen. Wichtiger aber als all das erscheint mir die Anlage 
des ganzen ersten Teiles (18a - 245). 

Das Thema ist hier der Nachweis, wie die falschen Vorstel- 
lungen, die üblen Nachreden, die Feindschaften gegen Sokrates 
entstanden sind. Wie mußte dieser Abschnitt als Teil der wirk- 
lichen Verteidigungsrede wirken? Für die Einleitung einer solchen 
Rede schreibt ja freilich die rhetorische Theorie vor: λυτέον 
πρῶτον τὴν διαβολήν (Arist. Rhet. 1415a 32, vgl. Anaximenes 


9% 


230 Die Apologie. 


c. 29 u. ö.) Aber mußte es günstig wirken, wenn Sokrates im- 
mer wieder feststellte, daß er einem großen Teile der Bürger- 
schaft verhaßt sei (bes. 28a)? Nun zeigte er freilich, daß er die 
Verhöre, die ihm Feindschaft und Haß eingetragen hatten, nicht 
aus Schikane angestellt habe, sondern durch das Orakel veranlaßt 
worden sei, auf die Suche nach einem an Klugheit ihm selber 
Überlegenen zu gehen. Aber ließ sich den Gekränkten, die etwa 
auf der Geschworenenbank saßen, die Objektivität zutrauen, daß 
sie nun die Kränkung mit ganz andern Augen ansehen würden? 
Sokrates selber glaubt jedenfalls an diese Objektivität nicht. Denn 
er schließt den Abschnitt mit den Worten ab: „Ich weiß freilich 
ganz gut, daß grade diese Ausführungen mir Haß zuziehen“ 
(24a). Also er weiß, daß dieser Teil seiner Rede nur die Wir- 
kung hat, alte Wunden aufzureißen. War es dann aber not- 
wendig und klug, dieses Thema so genau auszuführen, obwohl 
ein Verschweigen keinesfalls Mangel an Offenheit bedeutet hätte? 
Trotzdem bin ich natürlich weit entfernt zu leugnen, daß 
Sokrates an sich so gesprochen haben kann. Aber grade bei dem 
für die Beweisführung dieses Abschnittes bestimmenden Punkte, 
der Angabe, daß erst durch das Orakel Sokrates zur Anstellung 
der Verhöre veranlaßt sei, ist es anerkannt, daß diese Darstellung 
das Sachverhältnis umkehrt, und es ist kaum glaublich, daß sie 
von Sokrates selbst gewählt ist. Und ebenso möchte man lieber 
einem andern als ihm selber den ganzen Gedanken zutrauen, daß 
er die Gespräche mit seinen Mitbürgern nur geführt habe, um 
den Gott zu widerlegen (21c). Endlich ist auch nur durch die 
Frage, woher die üble Nachrede entstanden ist, das auffällige 
Zurückgreifen bis auf die aristophanischen Wolken veranlaßt. 
So ergeben sich, wenn wir den Abschnitt als Wiedergabe 
der wirklichen Rede fassen, nicht wenige Punkte, die man als 
auffällig, wenn auch gewiß nicht als unmöglich bezeichnen muß. 
Alle Schwierigkeiten lösen sich dagegen, wenn wir den andern, 
nach der antiken Technik an sich ebenso gut möglichen Fall ins 
Auge fassen, daß der Gedankengang in dieser Form Plato ge- 
hört. „Ich weiß, daß ich viele Feinde habe, und will euch zeigen, 
wie die Feindschaft entstanden ist, obwohl ich mir dadurch 
neuen Haß zuziehe* — so kann der Angeklagte sprechen, aber 
nur, wenn ihm am Freispruch nichts liegt. „Ich will zeigen, dal 
sich seit vielen, vielen Jahren ohne Sokrates’ Schuld in den ver- 


Die Frage nach der historischen Treue. οΊ 


schiedensten Ständen Haß gegen Sokrates gehäuft hatte, und 
der ist es, der zum Todesurteil geführt hat, nicht etwa der Be- 
weis, daß er sich im Sinne der Anklage schuldig gemacht habe“ — 
kann es einen besseren Gedankengang geben für den, der einen 
Justizmord als solchen nachweisen und von den voreingenom- 
menen Richtern an die besser zu unterrichtende Öffentlichkeit 
appellieren will? 

᾿Αλλὰ γάρ, ὦ ἄνδρες ᾿Αϑηναῖοι, ὡς μὲν ἐγὼ οὐκ ἀδικῶ κατὰ 
τὴν Μελήτου γραφήν, οὐ πολλῆς μοι δοκεῖ εἶναι ἀπολογίας, ἀλλὰ 
ἱκανὰ καὶ ταῦτα ὃ δὲ καὶ ἔμπροσθεν ἔλεγον, ὅτι πολλή μοι ἀπέχ- 
ϑεια γέγονεν καὶ πρὸς πολλούς, εὖ ἴστε ὅτι ἀληϑές ἐστιν. καὶ 
τοῦτ᾽ ἔστιν ὃ ἐμὲ αἱρήσει, ἐάνπερ αἱρῇ, οὐ Μέλητος οὐδὲ "Avvros 
ἀλλ᾽ ἡ τῶν πολλῶν διαβολή τε καὶ φϑόνος. ἃ δὴ καὶ ἄλλους 
πολλοὺς καὶ ἀγαθοὺς ἄνδρας ἥρηκεν, oiuaı δὲ καὶ αἱρήσει" οὐδὲν 
δὲ δεινὸν μὴ ἐν ἐμοὶ στῇ (28a) — so schwarz wird schwerlich 
Sokrates selber seine Sache angesehen haben. So spricht aber 
überhaupt nicht der Angeklagte, der die Richter von 
seiner Unschuld überzeugen will; so spricht der Jünger, 
der die vollendete Tatsache des Justizmordes vor Augen 
hat und nun zeigen will, wie es zur Verurteilung des 
Unschuldigen kommen konnte. 

Ich zweifle nicht, daß auch in diesem Abschnitte Plato sehr 
vieles aus Sokrates’ wirklicher Rede herübergenommen hat. Aber 
die Komposition gehört ihm selber. Und wir werden mit Be- 
wunderung den tiefen Blick Platos anerkennen, der die Miß- 
stimmung gegen Sokrates bis in ihre letzten (Quellen verfolgt. 
Wir werden auch die Pietät des Jüngers würdigen, der es ver- 
steht, der Elenktik des Sokrates das objektiv Gehässige, das in 
vieler Augen ihr anhaftete, dadurch zu nehmen, daß er sie aus 
dem göttlichen Orakel ableitete. 

Gehört aber Plato selbst der Aufbau dieses Abschnittes, so 
muß das in gewissem Sinn auch für die ganze Verteidigungs- 
rede gelten. Denn was Sokrates nach der kurzen Widerlegung 
der eigentlichen Anklage sagt, das ist das positive Gegenstück 
zum ersten Teil. War dieser bestimmt, die διαβολή zu wider- 
legen, so geht Sokrates dort zur positiven Schilderung seines 
Lebens über. Trat im ersten Abschnitt die elenktische Seite her- 
vor, so erfahren wir im zweiten, wie Sokrates positiv seine gött- 
liche Mission auffaßt, wie er nur die eine Lebensaufgabe kennt, 


232 Die Apologie. 


seine Mitbürger, vor allem aber die Jugend auf das eine hinzu- 
weisen, was not tut‘). Hat also Plato dem ersten Teil seinen 
Charakter aufgeprägt, so müssen wir ihm auch die Gegenüber- 
stellung des ersten und zweiten Teiles auf Rechnung setzen. 
Historisch treu ist die Apologie so gut wie die referierten Dialoge, 
sofern sie den Charakter des Sokrates treu wiedergibt. Sie hält 
sich sogar natürlich in viel höherem Maße als jene an die wirklichen 
Ansichten des Sokrates, an sein gesprochenes Wort. Aber so gut wie 
jene ist sie ein Werk des Künstlers Plato, keine Kopie nach Sokrates. 


In der frei komponierten Schlußansprache läßt Plato Sokrates 
den voreingenommenen Richtern sagen, sie sollten sich nicht ein- 
bilden, jetzt der Rechenschaft über ihre Lebensführung über- 
hoben zu sein. Im Gegenteil, πλείους ἔσονται ὑμᾶς οἱ ἐλέγχοντες, 
οὺς νῦν ἐγὼ κατεῖχον, ὑμεῖς δὲ οὐκ ἠσϑάνεσϑε " καὶ χαλεπώτεροι 
ἔσονται ὅσῳ νεώτεροί εἶσιν, καὶ ὑμεῖς μᾶλλον ἀγανακτήσετε (39 4). 
Daß mit diesen Worten Plato das Gelöbnis ablegt, in das Ver- 
mächtnis des Meisters einzutreten und seine göttliche Mission 
fortzuführen, ist klar. Die Worte oög νῦν ἐγὼ κατεῖχον 50 aul- 
zufassen, daß vor Sokrates’ Tode seine Jünger noch nicht mit 
sokratischen Schriften an die Öffentlichkeit getreten waren, ist 
gewiß das Natürlichste (Bruns S. 228 u. a.). Immerhin wird man 
denen, die eine Abfassung platonischer Schriften vor 399 an- 
nehmen, zugeben müssen, daß ein zwingender Gegenbeweis in 
der Stelle nicht gegeben ist. Viel stärker wird für viele die Er- 
wägung sein: „Die ganze künstlerische Verherrlichung des So- 
krates, die uns, nach seinem Tode gedacht, mit Recht als eine 
tief pietätvolle, poetische Erfassung des Dahingegangenen er- 
scheint, auf den Lebenden mußte sie als schmeichlerische Lüge 
wirken“ (Bruns 5. 229), und man wird wohl noch hinzufügen dürfen, 


1 Gewiß ist Sokrates kein Prediger gewesen, wie ihn der Kleitophon vor- 
führt. Aber Gomperz geht zu weit, wenn er darum die in p. 29d—30b Ἢ 
gebene Auffassung des Sokrates für unhistorisch erklärt (Gr. D. II, S. 86, 
Anschluß an die Darlegungen seines Sohnes). Ich meine sogar, daß diese Da 
stellung, bei der man natürlich die Wendung an die Richter berücksichtigen 
muß, erheblich mehr im Sinne des Sokrates war als die Behauptung, er sei zu 
seiner ganzen Menschenprüfung ursprünglich nur gekommen, weil er den Sinn 
des Orakels habe ermitteln wollen. — Übrigens weist Plato 29e mit den Worten 
ἐὰν φῇ ἐπιμελεῖσθαι, οὐκ εὐθὺς ἀφήσω. . ἀλλ᾽ ἐρήσομαι αὐτὸν καὶ ἐξετάσω 
καὶ ἐλέγξω bewußt auf die frühere Damtelinng zurück. 


Dialoge vor Sokrates’ Tod? 23 


wi 


daß auch das Publikum gegen die Idealisierung des Bildes bei 
Lebzeiten des Sokrates viel stärker opponieren mußte als nach 
dem Tode. Aber auf der andern Seite werden allgemeine Gründe 
geltend gemacht, die für eine Abfassung platonischer Dialoge vor 
399 sprechen, und der starke Stimmungswechsel zwischen Prota- 
goras und Gorgias scheint auf den ersten Blick sich am leich- 
testen zu erklären, wenn man das übermütige Spiel vor, das un- 
geheuer bittere Manifest nach Sokrates’ Tod setzt. 

So stehen die allgemeinen Erwägungen im Widerspruch zu 
einander. Wollen wir zu größerer Sicherheit kommen, so 
müssen wir zu dem altbewährten Mittel philologischer Interpreta- 
tion der Einzelschriften greifen. Ich hoffe, da wird sich zeigen, 
daß auch die anerkannt frühesten Dialoge Platos den Tod des 
Sokrates voraussetzen. 


Il. Laches. 


Im Aufbau des Laches ist die auffälligste Erscheinung die, 
daß die Debatte über das Wesen der Tapferkeit nur die Hälfte 
des Dialoges einnimmt, während dem „Rahmengespräch“ eben- 
soviel Raum verstattet wird. Schaarschmidt (Sammlung der pla- 
tonischen Schriften S. 414) sieht darin einen Kompositionsfehler, 
den er gegen die Echtheit der Schrift geltend macht, und selbst 
Bonitz (Platon. Studien S. 213) fühlt sich offenbar bei dem Ver- 
suche der Widerlegung dieses Vorwurfs nicht ganz sicher. Heute 
hält wohl niemand den Laches mehr für unecht. Umsomehr 
werden wir uns sagen, daß, wer den Anspruch erhebt, die Ten- 
denz des Laches zu erkennen, beide Teile des Dialoges gleich 
mäßig berücksichtigen muß. Aus praktischen Gründen wollen 
wir zunächst das eigentliche Gespräch über die Tapferkeit be- 
trachten (189d — 199e) ἢ. 

Da Lysimachos und Melesias auf die Frage, ob sie ihre 
Jungen Fechtunterricht nehmen lassen sollen, von den anerkannt 
besten Praktikern diametral entgegengesetzte Antworten erhalten 
haben, so entschließt sich endlich Sokrates auf langes Zureden, 
sich auch zur Sache zu äußern. Durch sein Eingreifen bekommt 
das Gespräch sofort eine ganz andre Wendung. Während wir 
vorher den verschiedenen Ansichten hülflos gegenüberstanden 


ἢ Den Laches analysiert gut Horn Platonstudien I (Wien 1893). Sonst vgl. 
S. 18 Anm. 


24. Laches. 


und nicht weiterzukommen wußten, zeigt Sokrates, warum 
Nikias und Laches so von einander abweichen konnten. Sie haben 
sich, wie das ja oft im Leben so geht, nicht gefragt, wo das 
Problem liegt, über das Klarheit herrschen muß, wenn man die 
vorliegende Einzelfrage entscheiden will. Beim Fechtunterricht 
ist die Hauptfrage, ob er die Ausbildung in der ἀρετή, speziell 
der Tapferkeit fördert. Entscheiden kann man also die Einzel- 
frage nicht, ehe man weiß, was ἀρετή, was ἀνδρεία ist. Da die 
Frage nach dem Wesen der Gesamttugend zu weit führt, soll 
nur das Wesen der Tapferkeit besprochen werden. 

Der hitzige Laches greift zuerst ein. Ähnlich wie Enthy- 
phron beginnt er: „Tapferkeit ist, wenn man im Kampfe stand- 
hält“, läßt sich aber schnell belehren, daß er damit nur einen Einzel- 
fall bezeichnet, nicht eine Definition gibt, die auch das tapfere Ver- 
halten gegenüber den eigenen Affekten, gegenüber Lust und Be- 
gierde umfassen muß (191d)'). So schlägt er als wirkliche Be- 
griffsbestimmung καρτερία τῆς ψυχῆς vor und läßt auf einen Hin- 
weis des Sokrates noch das Merkmal φρόνιμος hinzutreten. Aber 
es ergeben sich Schwierigkeiten. Der Arzt, der standhaft das 
vertritt, was seine Kunst ihn gelehrt, ist wohl ein φρονίμως 
καρτερῶν, aber tapfer ist er deshalb noch nicht. Und wenn ein 
Soldat standhält, weil er sich auf Grund kühler Berechnung sagt, 
daß alle Aussichten für ihn günstig sind und er nichts zu ris- 
kieren hat, so ist er φρονιμώτερος als sein Gegner, der ohne 
solche Berechnung sein Leben wagt, aber tapferer ist doch der 
andre, der ἀφρονέστερος. So ergibt sich ein Widerspruch zur 
Definition der Tapferkeit als φρόνιμος καρτερία, den Laches nicht 
zu lösen vermag und Sokrates nicht löst, sodaß die Untersuchung 
im Sande zu verlaufen droht (193d). 

Dabei ist das Ergebnis des ersten Teiles, daß nur die φρό- 
vınog καρτερία Tapferkeit heißen kann, aus den beiden Prämissen, 
„die Tapferkeit ist ein καλόν“ und „die ἀφροσύνη ist kein καλόν“ 
regelrecht gewonnen. Die Schwierigkeit kann also nur in den 
Einwänden des zweiten Teiles liegen. Und tatsächlich ist die be- 
denkliche Stelle leicht genug zu finden. Der Soldat, der ohne 
Besinnen sein Leben in die Schanze schlägt, kann doch höch- 


Τὴ Burnet hätte die Lesart des Papyrus οὐκοῦν ἀνδρείᾳ μὲν πάντες οὗτοι 
ἀνδρεῖοί εἶσιν nicht verschmähen sollen; vgl. Prot. 822 ἃ οὐκοῦν σωφροσύνῃ 
σωφρονοῦσιν ἃ. ὃ. 


Das Gespräch über die Tapferkeit. 25 


stens für den Philister hinterm Ofen, aber nicht für Plato abso- 
lut dpoov£oreoog heißen als der andre, der auf die Stärke seiner 
Position und seine militärische Ausbildung traut. Wie hier, so 
entstehen aber auch bei den übrigen Beispielen die Schwierig- 
keiten dadurch, daß als φρονίμως καρτερῶν ohne weiteres he- 
zeichnet wird, wer μετὰ τέχνης τινὸς καρτερεῖ. Einem solchen 
werden wir aber zwar ein bestimmtes Einzelwissen, aber nicht 
absolut die φρόνησις zuschreiben. Die Unklarheit des vielge- 
brauchten Begriffes φρόνιμος also ist es, die zu den Schwierig- 
keiten führt, nicht die Definition an sich. 

Laches kommt sich vor wie ein Wandrer, dessen Weg sich 
im Dickicht verliert. In solchem Falle ist es praktisch zurück- 
zugehen, bis man eine Wegmarke findet, die nach der gesuchten 
Richtung weist. Eine solche Marke gibt Sokrates deutlich, wenn 
er unmittelbar nach der Aufstellung der Definition als φρόνιμος 
καρτερία fragt: ίδωμεν δή, ἣ εἰς τί φρόνιμος; ἢ eis ἅπαντα καὶ τὰ 
μεγάλα καὶ τὰ σμικρά; (192e). Damit ist der Weg angedeutet, 
den die Untersuchung hätte nehmen sollen: Zu φρόνιμος mußte 
ein neues unterscheidendes Merkmal hinzukommen. Nicht ein 
technisches Wissen, sondern eine φρόνησις εἰς τὰ μεγάλα, eine 
Einsicht in die wichtigsten Probleme des Menschenlebens, in das 
Wertverhälinis der Güter des Lebens macht die καρτερία zur 
Tapferkeit‘). Und vielleicht ließ sich dabei noch zeigen, daß 
aus dieser Einsicht das Ausharren bei dem als wahr Erkannten 
sich von selbst ergebe, sodaß also der Begriff καρτερία entbehr- 
lich sei. 

In Laches ist durch Sokrates das heilsame Gefühl der gei- 
stigen Armut geweckt und damit das Streben zu weiterem 
Forschen. Aber bis zu der Wegemarke weiß er sich nicht zu- 
rückzufinden. So schlägt denn Nikias vor, bis zum Ausgangs- 
punkt zurückzugehen und es mit einer ganz andern Straße zu 
versuchen, die Sokrates selber wohl vertraut sein muß. Denn 
von ihm hat Nikias oft gehört, daß die Tugend ein Wissen ist, 
und er kann daraufhin die Tapferkeit als ἐπιστήμη δεινῶν καὶ 
ϑαρραλέων definieren (194c). Um die Haltbarkeit dieser Defi- 
nition dreht sich das übrige Gespräch. 

Interessant ist es nun, wie die Debatte trotz des scheinbar 


1) Vgl. die Auseinandersetzung im Alk. I p. 125. 


26 Laches. 


ganz neuen Anfanges an das Vorige anknüpft und die dort 
vorhandene Unklarheit aufhell. Denn die Grenze zwischen der 
Fachkenntnis und der φρόνησις eis τὰ μεγάλα, die Laches gar 
nicht bemerkt hatte, zieht Nikias sofort mit aller Bestimmtheit. 
Wenn man die Tapferkeit, so sagt er auf einen Einwand des 
Laches hin '), als ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων definiert, so 
meint man natürlich nicht die begrenzte Einsicht des Fachmanns, 
der auf seinem Gebiete weiß, was zu meiden oder zu suchen ist, 
sondern das Wissen von dem, was im letzten Grunde für den 
Menschen gut oder schädlich ist. Ein solches Wissen, das weit 
tiefer geht als der Zukunftsblick des Sehers, der nur den äußeren 
Verlauf, nicht. die innere Bedeutung der Dinge kennt, geht frei- 
lich über Laches’ Horizont hinaus, aber Sokrates hält die Defi- 
nition ernstlicher Prüfung für wert (— 1960). 

Zunächst macht er Nikias auf eine Konsequenz aufmerksam. 
Wer die Tapferkeit als ein Wissen von solcher Tiefe betrachtet, 
muß sie den Tieren absprechen. Nikias erschrickt vor dieser 
Konsequenz durchaus nicht. Er will den Tieren zwar Kühnheit, 
ϑρασύτης zugestehen ”), aber kein ἀνδρεία. Das erscheint freilich 
Laches als Haarspalterei, und er ergreift begierig Sokrates’ Hin- 
weis, daß eine solche Scheidung der Worte auf Prodikos’ Schule 
deute, um Nikias als Sophisten zu brandmarken (— 197d). 

Horneffer (Plato gegen Sokrates S. 44) sieht in dieser Stelle 
ein deutliches Zeichen, daß Plato Sokrates wirklich den Vorwurf 
der Haarspalterei macht, und Joel (Echter und xenophont. So- 
krates II, S. 141) stellt natürlich mit Freuden fest, daß Plato den 
Prodikeer Antisthenes ironisiert. Aber an sich wird man die Be- 
hauptung, daß nur den Menschen Sittlichkeit zukommt, doch nicht 
grade ‚bedenklich‘ nennen dürfen. Und die Wortscheidung selber 
wird jedenfalls von Sokrates nicht abgelehnt. Und wer sie so- 
phistisch nennt, der muß verkennen, daß beide Worte tatsächlich 
in Sokrates’ Zeit scharf geschieden werden. Im hippokratischen 


1) Laches fragt doch wohl 195}: ἐπεὶ αὐτίκα οὐχ οἱ ἰατροὶ τὰ δεινὰ Eni- 
στανται, ἢ (ἢ codd.) οἱ ἀνδρεῖοι δοκοῦσί σοι ἐπίστασϑαι; ἢ τοὺς ἰατροὺς σὺ ἀνδρείους 
καλεῖς; „Haben nicht die Ärzte ein Wissen in derselben Weise, wie du es von 
den Tapfern aussagst?‘“ 

2) oÖ γάρ τι, ὦ Λάχης, ἔγωγε ἀνδρεῖα καλῶ οὔτε ϑηρία οὔτε ἄλλο οὐδὲν 
τὸ τὰ δεινὰ ὑπὸ ἀνοίας μὴ φοβούμενον, ἄλλ᾽ ἄφοβον καὶ μῶρον (191 8). Gitl- 
bauer tilgt καὶ μῶρον. Näher läge, da ϑρασύτητος δὲ καὶ τόλμης καὶ τοῦ 
ἀφόβου folgt, die Schreibung τολμηρόν. Doch vgl. ἀνδρείας καὶ προμηϑέας. 


Das Gespräch über die Tapferkeit. 27 


Nomos (VI, 640 L) ist freilich der Text unsicher, aber soviel ist 
zweifellos, daß die ϑρασύτης von der ἀνδρεία himmelweit entfernt 
ist und mit der δειλία aus einer (Quelle, der Unwissenheit abge- 
leitet wird‘), und Gomperz (Apol. der Heilkunde’ S. 92) wird recht 
haben, wenn er meint, hier seien zwei Arten von Mut danach ge- 
schieden, ob er sich auf Einsicht gründet oder nicht. Thu- 
kydides stellt der wahren Tapferkeit das ϑράσος gegenüber, das 
aus der Unwissenheit entspringt (II, 40, 3). Demosthenes sagt 
später: ἐγὼ δὲ ϑρασὺς μὲν καὶ βδελυρὸς καὶ ἀναιδὴς οὔτ᾽ εἰμὶ μήτε 
γενοίμην, ἀνδρειότερον μέντοι πολλῶν... ἐμαυτὸν ἡγοῦμαι (8,68). 
Daß Plato selber die beiden Worte scheidet, werden wir noch 
genauer sehen (vgl. die letzte Anmerkung des Protagoraskapitels). 
Aristoteles grenzt in dem Kapitel, wo er das Verhalten gegen- 
über den φοβερά darstellt, ganz scharf die ἀνδρεία als richtige 
μεσότης von dem Extrem der ϑρασύτης und δειλία ab. Ὃ μὲν 
οὖν ἃ δεῖ... ὑπομένων καὶ φοβούμενος... ὁμοίως δὲ καὶ ϑαρρῶν 
ἀνδρεῖος .... ὃ δὲ τῷ ϑαρρεῖν ὑπερβάλλων περὶ τὰ φοβερὰ 
ϑρασύς (1115b 17. 28). 

Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Die ‚sophi- 
stische’ Scheidung von ϑρασύς und ἀνδρεῖος macht kein andrer 
als — Laches selber. Wo er nämlich die Fechtkunst als zwecklos er- 
weist, sagt er (184b): καὶ γὰρ οὖν μοι δοκεῖ, ei μὲν δειλός us ὧν 
οἴοιτο αὐτὸ ἐπίστασθαι, ϑρασύτερος ἂν di αὐτὸ γενόμενος ἐπι- 
φανέστερος γένοιτο οἷος ἣν, εἰ δὲ ἀνδρεῖος κτλ. Also der alte 
Haudegen Laches scheidet praktisch zwischen Tapferkeit und 
Kühnheit so scharf, daß er Kühnheit gelegentlich auch beim Feig- 
ling wahrnimmt. Wenn ihm aber dieselbe Scheidung als allge- 
mein gültiger Satz in der theoretischen Debatte entgegentritt, so 
verblüfft sie ihn als paradox. Wie fein psychologisch beobachtet 
das ist”) und welcher Humor in dieser Behandlung des Laches 
liegt, ist wohl deutlich; gut ist es aber auch, an solcher Stelle 
sich klarzumachen, was Plato von seinen Lesern verlangt. 


1 Die Unwissenheit heißt δειλέης τε καὶ ϑρασύτητος τιϑήνη, Δειλίη μὲν 
γὰρ ἀδυναμίην σημαίνει ϑρασύτης δὲ ἀτεχνίην͵ Es folgt δύο γὰρ („es gibt zwei 
Arten von Mut“ Gomperz), ὧν τὸ μὲν ἐπίστασϑαι ποιεῖ τὸ δὲ ἀγνοεῖν, wofür G. 
vorschlägt, ὧν τὸ μὲν τὸ ἐπίστασϑαι ἐμποιεῖ τὸ δὲ τὸ ἀγνοεῖν. 

5) Merkwürdig ist, wie im Eryxias (999 6) gezeigt wird, daß manche Leute 
sich dieselbe Behauptung gefallen lassen, wenn sie nicht vom Sophisten Prodikos, 
sondern von einem πολιτικός vorgebracht wird. 


28 Laches. 


Die Beschränkung der Tapferkeit auf den Menschen ist also 
eine Konsequenz der sokratischen Definition, gegen deren Rich- 
tigkeit beweist sie aber nichts. Und überhaupt hat sich bis 197e 
diese Definition durchaus bewährt. Aber jetzt geht allerdings So- 
krates, wie es scheint, selber zu einem wirklichen Angriff gegen 
diese vor. Drei Punkte stellt er fest. Erstens, die Tapferkeit ist zu 
Anfang des Gesprächs als einzelner Teil der Tugend vorausgesetzt. 
Zweitens δεινὰ und ϑαρραλέα sind künftige Güter und Übel. Drit- 
tens, jedes Wissen von einem Objekt umfaßt alle drei Zeitstufen, 
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Sind aber die beiden 
letzten Sätze richtig, so ist die ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων von 
der ἐπιστήμη κακῶν καὶ ἀγαϑῶν nicht zu scheiden. Das allgemeine 
Wissen vom Guten und Üblen ist aber das Merkmal aller Tugenden, 
der Tugend überhaupt. Also kann diese Definition nicht auf einen 
einzelnen Teil von ihr passen. So ergibt sich ein Widerspruch und So- 
krates schließt (199e): οὐκ ἄρα ηὑρήκαμεν, ὦ Νικία, ἀνδρεία ὅ τι ἔστιν. 

Aber Nikias fügt gleich hinzu ἐγὼ δ᾽ οἶμαι ἐμοὶ περὶ ὧν 
yon νῦν τε ἐπιεικῶς εἰρῆσϑαι, καὶ εἴ τι αὐτῶν μὴ ἱκανῶς εἴρηται, 

ὕστερον ἐπανορϑώσεσϑαι (2000). Und dem aufmerksamen Leser 
kann es auch gar nicht entgehen, daß Plato den Dialog nicht 
etwa deshalb ohne Ergebnis abschließt, weil er nicht aus noch ein 
weiß, sondern weil ein Punkt noch klarzustellen ist, den er hier 
nicht erledigen kann. Die Definition ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρρα- 
λέων hatte sich durchaus bewährt, aber auch gegen ihre Zurück- 
führung auf die Form ἐπιστήμη κακῶν καὶ ἀγαθῶν wird direkt 
nichts eingewendet. Ein einziges Moment tritt ihr von außen in 
den Weg. Das ist die Auffassung, daß die Tapferkeit nur en 
Teil der Gesamttugend sei. Diese Auffassung ist aber nicht etwa 
durch dialektische Untersuchung gewonnen, οἶσϑ᾽ ὅτι τὴν ἀνδρείαν 
κατ ἀρχὰς τοῦ λόγου ἐσκοποῦμεν ὡς μέρος ἀρετῆς σκοποῦντες 
(198a). Sie ist dort einfach zugrunde gelegt, weil das die all- 
gemeine Anschauung ist. Wenn diese nun mit der wohlbegründeten 
und allseitig erörterten Definition in Widerspruch gerät, so gehört 
für den Leser wirklich kein großes Nachdenken dazu, um sich 
zu sagen, daß der nächste Schritt sein muß, diese vulgäre An- 
schauung auf ihre Berechtigung zu prüfen. Und wohin Plato 
hinaus will, das wird er wohl daraus erraten, daß dieser schon 
im Gespräch des Sokrates mit Laches scheinbar absichtslos beton 
hat, daß die Tapferkeit sich im Kampfe gegen die eignen Be- 


Die Formulierung des neuen Problems. 29 


gierden und Affekte zeige (191d)'). Denn damit wird doch dem 
Leser die Vorstellung suggeriert, daß die Tapferkeit im Wesen von 
der Selbstbeherrschung, der σωφροσύνη kaum verschieden sein kann. 

Die scheinbare Ergebnislosigkeit ist also nichts als 
die Formulierung eines Problems. 

Die sokratische Definition der Tapferkeit als ἐπι- 
στήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων bewährt sich zunächst 
durchaus. Nur muß man sich klarhalten, daß unter 
Wissen kein Fachwissen, sondern eine Einsicht in das 
letzthin Gute und Üble zu verstehen ist. So werden 
wir aber gezwungen, die Definition auf die Form zurück- 
zuführen ἐπιστήμη κακῶν καὶ ἀγαθῶν, und damit ergibt 
sich als neues Problem die Frage, ob die Tapferkeit 
noch als Teil der Gesamttugend aufgefaßt werden kann 
oder mit ihr identisch ist. 

Von einem „Rätsel“ des Laches ist also für den Leser, der 
Platos deutliche Fingerzeige beachtet, gar keine Rede. Noch 
weniger freilich von einer Polemik gegen die sokratische Defini- 
tion, wie sie besonders Horneffer (Plato gegen Sokrates) und Joel 
(Echter und xenophont. Sokrates II, S. 141ff. und Hermes RER 
S. 310ff.) finden wollten. Völlig gesichert kann diese erst durch 
eine weitere Untersuchung werden, die den Rahmen des gegen- 
wärtigen Gespräches sprengen würde, πλέον γὰρ ἴσως ἔργον (190 0). 
Was man aber etwa zunächst gegen ihre Gültigkeit vorbringt, 
das ist, auch wenn man die letzten Konsequenzen zieht, nicht 
stichhaltig. 

Daß die Definition ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων von So- 
krates selber herrührt, hatte man früher allgemein angenommen. 
So auch Joel im ersten Bande seines Werkes. Im zweiten 
äußert er mit allem Vorbehalt Zweifel (II S. 147), im Hermes XLI 


1) Daß diese Anschauung dem Leser keineswegs überraschend war, ergibt 
sich aus dem Fehlen einer genaueren Begründung (vgl. Demokrit fr. 214 ἀνδρεῖος 
οὐχ ὁ τῶν πολεμίων μόνον, ἀλλὰ καὶ ὁ τῶν ἡδονῶν κρείσσων). Wiederholt 
hat Plato sie Rep. 429c, aber noch Ges. 688 οὗ. eine erneute Begründung für 
nötig gehalten. 

Auch die Aufstellung der vier Hauptaffekte (die gleichfalls Rep. 429c wieder- 
holt wird) muß schon geläufig gewesen sein. Natürlich ist es dabei unberechtigt. 
wenn Joel Hermes XLI 5. 313 auf Antisthenes als Urheber schließt. Schon 
Gorgias sagt in der Helena 14 οἱ μὲν ἐλύπησαν ol δὲ ἔτερψαν οἱ δὲ ἐφόβησαν 
οἱ δὲ εἰς ϑάρσος κατέστησαν. 


30 Laches. 


haben sich diese Zweifel zu der völlig sicheren Überzeugung ver- 
dichtet, daß die Definition Antisthenes gehört. Aber tatsächlich 
liegt die Sache ja hier ganz anders als in den Dialogen, wo 
Sokrates selber im Gespräch irgend eine Ansicht äußert. Ganz 
ausdrücklich sagt doch Nikias jedenfalls von der Auffassung, daß 
die Tugend ein Wissen sei, er habe diese oftmals aus Sokrates’ 
Munde gehört (19£c). Wie soll das auf einen Dialog des Antisthenes 
gehen? Die Definition selber wird zwar nicht ausdrücklich als 
die des Sokrates bezeichnet, aber die Selbstverständlichkeit, mit 
der sie Nikias aus jener Auffassung ableitet, legt doch jedem Leser 
auch hier den sokratischen Ursprung so nahe, daß es eine Irre- 
führung des Lesers bedeutet haben würde, wenn es sich in Wirk- 
lichkeit um die Definition eines andern handelte. Selbstverständlich 
ist es wahrscheinlich, daß Antisthenes die Definition so gut wie Plato 
von Sokrates übernommen hat. Aber wie nahe die ganze Auffassung 
Sokrates’ Zeit lag, zeigt Thukydides I, 40 χράτιστοι δ᾽ ἂν ψυχὴν 
δικαίως κριϑεῖεν οἱ τά TE δεινὰ καὶ ἥδέα σαφέστατα γιγνώσκοντες 
καὶ διὰ ταῦτα μὴ ἀποτρεπόμενοι ἐκ τῶν κινδύνων ἢ. Joels Be- 
weis, daß auch diese Stelle antisthenisch gefärbt ist, wird freilich 
nicht ausbleiben. 

Die Definition dürfen wir also ruhig als sokratisch betrachten. 
Dagegen spricht nichts dafür, daß Sokrates selber die Konse- 
quenzen gezogen und das Problem der Einheitlichkeit der Tugend 
so formuliert hat, wie es bei Plato geschieht, und wir werden 
hier Platos eigene Hand um so lieber sehen, weil er jenes Problem 
selber dann in einem anderen Dialoge in Angriff genommen hat. 
Bewundern muß man dabei wieder die Pietät des Schülers und die 
Feinheit der Komposition, durch die das Gespräch so gewendet 
wird, daß die Verteidigung der Definition Nikias zufällt, damit 
Sokrates selbst ihm gegenüber das neue Problem aufwerfen kann. 

So sehen wir also Plato zwar nicht in einer Polemik gegen 
Sokrates — davon ist keine Rede — aber bei dem Versuch, aus 
der Lehre des Meisters neue Probleme zu gewinnen und sie weiter 
zu bilden. Ob er das bei Sokrates’ Lebzeiten getan hat? 

Doch wenden wir uns nun einmal erstdem Rahmengespräch zu 
und fragen wir uns zuerst, ob dieses für die Debatte über die 


1) Vgl. II, 62,5. Auf die Übereinstimmung mit den Anschauungen des 
Laches weist auch Ed. Meyer Forschungen z. alten Geschichte II S. 387? hin. 


Das Rahmengespräch. 31 


Tapferkeit seine Bedeutung hat. Wenn Lysimachos und Mele- 
sias ein Urteil über den Wert des Fechtunterrichts einholen, so 
denken sie dabei nicht bloß und nicht in erster Linie an den 
praktischen Nutzen, sondern an seinen Erziehungswert (ἡμεῖς δὲ 
δὴ τοῦτο σκοποῦμεν, τί ἂν οὗτοι uadövres ἢ ἐπιτηδεύσαντες ὅτι 
ἄριστοι γένοιντο (1794), und es entspricht ihrem Wunsche, wenn 
Sokrates 185e sagt: οὐκοῦν νῦν φαμὲν περὶ μαϑήματος σκοπεῖν 
τῆς ψυχῆς ἕνεκα τῶν νεανίσκων; So versteht im wesentlichen 
die Frage auch Nikias. Viel weiß er allerdings in dieser Hinsicht 
nicht für die Fechtkunst vorzubringen; aber nachdem er den 
praktischen Nutzen gerühmt hat, sagt er 1826: προσϑήσομεν δ᾽ αὐτῷ 
οὐ σμικρὰν προσϑήκην, ὅτι πάντα ἄνδρα ἐν πολέμῳ καὶ ϑαρραλεώτερον 
καὶ ἀνδρειότερον ἂν ποιήσειεν αὐτὸν αὑτοῦ οὐκ ὀλίγῳ αὕτη ἣ ἐπιστήμη. 
Also die technische Fertigkeit macht den Menschen tapferer — 
das ist das Urteil des alten Praktikers. Aber auch Laches ist ein 
alter Praktiker, und er hat gerade überall die Erfahrung gemacht, 
daß die Leute mit bester technischer Ausbildung im Ernstfall‘) 
sich nicht bewähren, daß die Fechtkunst wohl $odoog geben kann, 
aber mit der Tapferkeit nichts zu tun hat (184b). 

Die Debatte über die Tapferkeit kommt auf die praktische 
Frage, die den Ausgangspunkt gebildet hat, ausdrücklich gar 
nicht zurück. Aber die Lösung, um die sich die beiden berufensten 
Praktiker vergeblich abgemüht hatten, weil sie nur von praktischen 
Einzelerfahrungen ausgingen, fällt von selbst mit ab, wenn man nur 
das Problem richtig faßt. Schon in dem Gespräch mit Laches 
stellt Sokrates kurz als selbstverständlich fest: τὸν μετ᾽ ἐπιστήμης 
ἄρα ἱππικῆς καρτεροῦντα ἐν ἱππομαχίᾳ ἧττον φήσεις ἀνδρεῖον 
εἶναι ἢ τὸν ἄνευ ἐπιστήμης (193b). Die technische Ausbildung 
hat mit der ἀνδρεία nichts zu tun, das hatte den Laches die prak- 
tische Erfahrung gelehrt, das stellt Sokrates im Gespräch mit ihm 
heraus’), und wie die Grenze zwischen Fachwissen und der auf 


1) Στησέλεων ... ἑτέρωϑι ἐγὼ κάλλιον ἐϑεασάμην ἔν τῇ ἀληϑείᾳ ὡς 
ἀληϑῶς ἐπιδεικνύμενον (1884). Die Worte ἐν τῇ ἀληϑείᾳ sind nicht etwa zu 
tilgen, denn ἀλήϑεια bezeichnet in der militärischen Sprache ganz konkret den 
Ernstfall, den Krieg. Polyb. I, 84, 6 τότε γὰρ ἦν συνιδεῖν En’ αὐτῆς τῆς ἀληϑείας 
πηλίκην ἔχει διαφορὰν ἐμπειρία μεϑοδικὴ καὶ στρατηγικὴ δύναμις ἀπειρίας καὶ 
τριβῆς ἀλόγου στρατιωτικῆς Χ, 25 (21), 10 κρένων πρὸς τὴν ἀλήϑειαν οὐδὲν ἀναγκαι- 
τερον εἶναι τῆς τῶν κατὰ μέρος ἡγεμόνων ἐμπειρίας. 

3) In den Gesetzen wird dasselbe 639b hervorgehoben. 


32 Laches. 


tieferen Wissen beruhende Tapferkeit von Nikias noch viel schärfer 
gezogen wird, das haben wir gesehen. 

Mit der technischen Ausbildung hat die Tapferkeit nichts zu 
tun, aber auch nicht das Urteil über die Tapferkeit. Selbst bei so 
scheinbar ganz einfachen Fragen kommen die Praktiker zu den 
widersprechendsten Urteilen, erst als der Theoretiker dem Gespräch 
die richtige Grundlage gibt, da bekommen wir das Gefühl der 
Sicherheit und folgen ihm wie die Praktiker gern. Freilich würde 
Laches nicht bei jedem Weisheitslehrer zuhören, aber bei Sokrates 
weiß er, wie seine Worte sich im Handeln äußern. Den hat er 
beim Delion gesehen. Wären damals die andern so gewesen wie 
Sokrates, so wäre der Vaterstadt die Niederlage erspart geblieben 
(181b vgl. 189b). Damals liefen die Leute mit der besten mili- 
tärischen Ausbildung davon. |Aber Sokrates tat das nicht, der 
trug etwas andres in der Brust, was ihm die Tugend zum unver- 
lierbaren Besitz macht. Was das ist, das möchte Laches wissen, 
und darum will er hören, worin Sokrates das Wesen der Tapferkeit 
sieht. Und auch wir werden unwillkürlich die Theorie des So- 
krates, die wir in der Debatte erkennen, anders wägen, wenn wir 
vorher aus berufenem Munde bezeugt sehen, daß für Sokrates 
jene Theorie nicht bloß eine Lehrmeinung, sondern eine Lebens- 
macht bedeutete. 

So bestehen zwischen dem einleitenden Gespräch und der 
Debatte über die Tapferkeit enge Beziehungen, aber trotzdem 
vermitteln sie noch kein volles Verständnis für die Tendenz, die 
Plato dort verfolgt. Denn es finden sich große Partien, wo von 
der Tapferkeit gar keine Rede ist. Umso mehr fällt dort etwas 
anderes auf. Dasist das Erziehungsproblem und die enge Beziehung, 
in die Sokrates’ Person zu diesem gebracht wird. Nach einem 
kurzen Hinweis darauf, daß man das Problem nicht nach Stimmen- 
mehrheit, sondern nach dem Wissen entscheiden müsse, beginnt 
Sokrates, sobald er eingreift, damit, daß es sich hier um ein Er- 
ziehungsproblem, um die Frage nach der Ausbildung der Seele 
junger Leute handle. Die dürfe man nur Sachverständigen an- 
vertrauen, nur solchen, die entweder selber bei anerkannten Lehrern 
ausgebildet seien oder durch eigene Erziehungsresultate den Be- 
fähigungsnachweis erbracht hätten‘). Das ist bei keinem der 


τὴ 186 ist nicht δοκοῦσι δή zu lesen, sondern δοκοῦσι δέ. Denn sie scheinen 
ihm zur Erziehung fähig nicht weil sie, wie vorher erwähnt, an sich die Fähigkeit 


Das Rahmengespräch. 33 


Gesprächsteilnehmer der Fall, auch nicht bei Sokrates, der ja 
noch als jüngerer Mann gedacht ist. So bleibt nur übrig, durch 
gemeinsames Gespräch sich über die Frage Klarheit zu verschaffen 
(184d—189d). Damit ist der Übergang zur eigentlichen Debatte 
geschaffen. Aber kaum ist diese beendet, so wird sofort auf das 
Erziehungsproblem zurückgegriffen. Für die Alten wie für die 
Jungen, hören wir 201a, ist es das wichtigste, einen richtigen 
Lehrer zu finden, und keine Mühe und Kosten darf man dabei 
scheuen. Sokrates selbst ist es, der so mahnt, und ausdrücklich 
betont er, daß er sich so gut wie die andern unwissend gezeigt 
habe, aber natürlich hat jeder Leser die Empfindung, daß da der 
εἴρων spricht, daß Laches und Nikias ganz recht haben, wenn 
sie Sokrates als den einzigen Lehrer der Jugend empfehlen, und 
daß Lysimachos nichts Besseres tun kann, als wenn er mit den 
Jungen bei Sokrates lernen will (201b). Ob die jungen Leute 
wirklich tüchtige Männer werden, das wissen wir nicht, wir kennen 
sie ja nicht; aber an Sokrates wird es sicher nicht liegen, wenn 
er keinen Erfolg hat'). 

Dieser Eindruck wird nicht bloß durch den Schluß hervor- 
gerufen. Laches erinnert selbst daran (200c), schon vorher habe 
er Sokrates als den Mann bezeichnet, der sich allein dauernd mit 
der Erziehungsfrage beschäftigt habe (180c), und dort weiß auch 
Nikias eine Tatsache zur Bestätigung beizubringen. Sokrates 
selber schließt sich freilich aus der Reihe der Lehrer aus, aber die 
Aussage des Laches bestätigt er, wenn er von sich erklärt, er habe 
von Jugend an nach Klarheit in der Erziehungsfrage gestrebt (186.c). 

Umso mehr fällt die Zurückhaltung auf, die Sokrates übt. 
Selbst in der eigentlichen Debatte kommt es zeitweilig dahin, 
daß er nur die Rolle des &peögog gegenüber den beiden Kämpen 


sich angeeignet haben können, sondern aus dem Grunde, der erst folgt: οὐ γὰρ 
ἄν ποτε ἀδεῶς ἀπεφαίνοντο περὶ ἐπιτηδευμάτων κτλ. 

1) Tatsächlich muß Lysimachos’ Sohn Aristeides sich ungünstig entwickelt 
haben. Denn Plato sucht ihn im Theaetet 151a abzuschütteln (vgl. Theages 130a, 
wo die Angabe des Theaetet οὖς, ὅταν πάλιν ἔλϑωσι δεόμενοι τῆς ἐμῆς συν- 
οὐσίας falsch auf Aristeides persönlich bezogen und dann unter ganz törichter Be- 
nutzung von Symp. 175c d eine dumme Geschichte herausgesponnen ist). Diese 
ungünstige Entwicklung fällt natürlich erst in die Zeit zwischen Laches und 
Theaetet, und im Theaetet sagt Plato ja auch: τελευτῶντες δ᾽ αὑτοῖς τε καὶ 
ἄλλοις ἔδοξαν ἀμαϑεῖς εἶναι. 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 3 


34 Laches. 


spielt. Vor allem aber tritt dieser Zug im Rahmengespräch hervor. 
Zunächst ist Sokrates überhaupt nur Statist, und selbst als Laches 
die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hat, bleibt er noch eine ganze 
Zeit trotz dreimaliger ausdrücklicher Anrede stumm. Als er dann 
endlich das Wort ergreift, da geschieht es nur, um zu erklären, 
er werde nur dann seine Meinung äußern, falls Nikias und Laches 
etwas zu sagen übrig ließen. Aber auch nachher bedarf es einer 
doppelten Aufforderung, um ihn zum Sprechen zu veranlassen 
(18406). Und als er dann am Schluß direkt gemahnt wird, die 
Erziehung der jungen Leute in die Hand zu nehmen, da bleibt 
er fest bei seiner Ansicht: Mitstrebender will er sein, nicht Lehrer. 
Aus Nikias’ Munde erfahren wir noch, daß er auch sonst wohl andere 
als Lehrer empfiehlt, selbst aber nicht dazu bereit ist (200e). 

Woher kommt es, daß Sokrates sich so sträubt? Er allein 
weiß, wie schwierig die Aufgabe ist, die menschliche Seele zu 
bilden, weiß, daß nur der sie lösen kann, der wirklich die mensch- 
liche Seele studiert hat. Er allein ist sich auch darüber klar, daß 
es bei diesen Fragen sich um das Höchste handelt, was der Mensch 
hat, um die eigene Seele, und während selbst der sonst so gewissen- 
hafte Nikias leichten Herzens sein Urteil abgibt, hält ihn das Gefühl 
der Verantwortung zurück. Solange wir uns nicht als Erzieher 
schon bewährt haben, solange wir nicht die volle Sicherheit haben, 
guten Einfluß üben zu können, solange wollen wir uns lieber 
zurückhalten καὶ un ἐν ἑταίρων ἀνδρῶν ὑέσιν κινδυνεύειν δια- 
φϑείροντας τὴν μεγίστην αἰτίαν ἔχειν ὑπὸ τῶν οἰκειοτάτων (186). 

Wann hat Plato diese Worte geschrieben? Ist wohl an- 
zunehmen, daß ihm, sagen wir im Jahre 402 der Gedanke kam, 
Sokrates könne beschuldigt werden, die Söhne seiner Freunde 
verführt zu haben, und sollte er zufällig den Gedanken mit dem 
Worte ausgedrückt haben, das später die Ankläger gebrauchten, 
Sokrates zu verderben? Nein, dieWorte sind geschrieben, als 
tatsächlich Meletos Sokrates das διαφϑείρειν τοὺς νέους 
schuld gegeben hatte. Sie sind geschrieben, als der platonische 
Sokrates bei seiner Verteidigung als letztes und wichtigstes Ar- 
oument das Verhalten der Angehörigen seiner Schüler angeführt 
hatte: εἰ γὰρ δὴ ἔγωγε τῶν νέων τοὺς μὲν διαφϑείρω τοὺς δὲ δι- 
έφϑαρκα, χρῆν δήπου... τῶν οἰκείων τινὰς τῶν ἐκείνων, . . . εἴπερ 
ὑπ᾽ ἐμοῦ τι κακὸν ἐπεπόνθεσαν αὐτῶν οἱ οἰκεῖοι, νῦν μεμνῆσϑαι 
καὶ τιμωρεῖσϑαι . .. ἀλλὰ τούτου πᾶν τοὐναντίον εὑρήσετε, 


Der Laches eine Apologie des Sokrates. 35 


ὦ ἄνδρες, πάντας ἐμοὶ Bondeiv ἑτοίμους τῷ διαφϑείροντι (Apol. 
884). 

Das Entscheidende ist hier aber nicht das einzelne Wort, 
sondern der Zweck des ganzes Abschnittes (184d—189d). Für 
die Debatte über das Wesen der Tapferkeit ist dieser voll- 
kommen überflüssig. Die Tendenz muß also eine andere sein. Es 
ist die Verteidigung des Sokrates gegen die Anklage des Meletos. 
„Der Mann soll die Jugend verführt haben, der so gewissenhaft 
sich prüfte, ehe er den jungen Menschen näher trat, der sich 
nicht etwa als Lehrer an diese herandrängte, sondern von den 
Eltern herangezogen werden mußte? Dabei war er tatsächlich 
der einzige, der die Wichtigkeit der Erziehungsfrage kannte, über 
die Probleme nachgedacht hatte und am ehesten imstande war. 
die Jugend zu fördern. So urteilen nicht bloß Sokrates’ Schüler, 
so urteilten auch die besten Männer der guten alten Zeit, die nach 
Angabe der Ankläger durch Sokrates untergraben sein soll. So 
urteilte ein Mann wie Laches, weil er Sokrates’ Tüchtigkeit per- 
sönlich kennen gelernt hatte, ein Mann wie Nikias, der eifrigste 
Vertreter der guten alten Sitte, der treue Bekenner des alten Götter- 
glaubens. Ein Nikias glaubte für die Söhne seiner Freunde und die 
eigenen Kinder keinen besseren Erzieher ausfindig machen zu können 
als Sokrates, und ihr verurteilt ihn als Verführer zum Tode°)?* 

Noch eins. Als Sokrates an Nikias und Laches die verfäng- 
liche Frage richtet, was sie denn eigentlich befähige, in Er- 
ziehungsfragen ihr Urteil abzugeben (186a—187b), da werden 
diese nicht etwa böse. Nikias sagt vielmehr, er habe es von 
vornherein gewußt, wer sich mit Sokrates in ein Gespräch ein- 
lasse, der komme nicht eher von ihm los, als bis er Rechenschaft 
über seine ganze Lebensführung abgelegt habe. Aber er wolle 


1) Wenn Sokrates im Gorgias 522b sagt: ἐάν τίς με ἢ νεωτέρους φῇ δια- 
φϑείρειν ἀπορεῖν ποιοῦντα (521ext. τοὺς νεωτάτους ὑμῶν dıapdeiger), wenn Anytos 
jeden sophistischen Unterricht als διαφϑορὰ τῶν συγγιγνομένων bezeichnet (Men. 91 c) 
und Sokrates daraufhin sein Erstaunen ausspricht, daß Protagoras, obwohl er beinahe 
70 Jahre alt geworden sei, so lange ἐλάνϑανεν διαφϑείρων τοὺς συγγιγνομένους 
(ib. 91e), wenn es im Staate 4928, heißt ἢ καὶ od ἡγῇ, ὥσπερ οἱ πολλοί, δια- 
φϑειρομένους τινὰς εἶναι ὑπὸ σοφιστῶν νέους, διαφϑείροντας δέ τινας σοφιστὰς 
ἰδιωτικούς ; so spürt man doch überall die Anspielung auf das Wort διαφϑείρειν 
der Anklage (ohne sichere Anspielung Gorg. 484c Euthyd. 275b). 

2) Über die Schätzung der Nikias in späterer Zeit vgl. bes. Bruns Lit. 
Porträt S. 490. 

3% 


96 Laches. 


sich gerne von ihm prüfen lassen, denn zulernen könne man 
immer. Laches stimmt von Herzen zu. Auch er will nach Solons 
Rat bis ins Alter gern lernen, freilich nur von einem achtbaren 
Lehrer. Aber Sokrates hat er im Handeln kennen gelernt, des- 
halb sagt er ἥδιστ᾽ ἂν ἐξεταζοίμην ὑπὸ Tod τοιούτου καὶ οὐκ ἂν 
ἀχϑοίμην μανϑάνων (1898). Nach dieser langen Vorbereitung 
ist es nun etwas auffällig, daß Sokrates doch schließlich seine 
Frage fallen läßt mit den Worten: ἃ μὲν οὖν νυνδὴ ἐπεχειρήσαμεν 
σκοπεῖν, τίνες ἢ "διδάσκαλοι ἡμῖν τῆς τοιαύτης παιδείας γεγόνασιν 
ἢ τίνας ἄλλους βελτίους πεποιήκαμεν, ἴσως μὲν οὐ κακῶς εἶχεν 
ἐξετάζειν καὶ τὰ τοιαῦτα ἡμᾶς αὐτούς" ἀλλ᾽ οἶμαι καὶ ἣ 
τοιάδε σκέψις εἰς ταὐτὸν φέρει (1894). Warum behandelt Plato das 
Motiv der Menschenprüfung durch Sokrates so ausführlich, wenn 
er es für seinen Hauptzweck nicht notwendig braucht? Die Ant- 
wort ergibt sich, wenn wir daran denken, daß dieselbe ἐξέτασις 
in der Apologie eine große Rolle spielt?). Dort gibt, wie wir 
sahen, der ganze erste Abschnitt den Nachweis, daß diese ἐξέτασις 
es gewesen ist, die ihm Haß und Feindschaft zugezogen und 
schließlich seine Verurteilung bewirkt hat. Hier erhalten wir das 
freundliche Gegenbild der Männer, die sich diese Prüfung gern 
gefallen lassen, weil sie wissen, daß Sokrates nur ihr Bestes will 
und jene Prüfung nur zu nötig ist. Wieder ruft Plato seinen 
Lesern zu: „So handelten die von euch so hoch geachteten Män- 
ner der letzten Generation, und ihr —?“ Wieder ist die Tendenz 
des Abschnitts nur verständlich, wenn der Laches auf die Apo- 
logie folgt und der Rechtfertigung des Verstorbenen dient. 

Nach dem Tode des Sokrates ist der Laches das schönste 
Zeichen für die Pietät Platos, der in Fortsetzung der Apologie 
das Bild des Meisters von allen Schlacken reinigen will. Wer 
den Laches vor 399 verfaßt sein läßt, muß Plato die Geschmack- 
losigkeit zutrauen, daß er als Schüler es für richtig hält, seinen 
Lehrer als geeignetsten Erzieher zu empfehlen. 


1 mn Ars. οὗ BT. 

2) ἐξετάξειν, das im Laches 189a und 1896 gebraucht wird, ist das tech- 
nische Wort Apol. 22extr., 23c, 29e, 33c, 41be. Wenn es an der letzten Stelle 
heißt οὐκ εὐϑὺς ἀφήσω αὐτὸν οὐδ᾽ ἄπειμι, ἀλλ᾽ ἐρήσομαι αὐτὸν nal ἐξετάσω καὶ 
ἐλέγξω, so erinnert daran auch im Wortlaut Laches 1888. οὐ πρότερον αὐτὸν 
ἀφήσει Σωκράτης, πρὴν ἂν βασανίσῃ ταῦτα. Danach trage ich auch Bedenken, 
den allerdings auffallenden Ausdruck zu ändern, der unmittelbar vorhergeht: 


Der Laches nach 399 geschrieben. 37 


Daß diese Apologetik, die unmittelbar an die Anklage an- 
knüpft, nur kurz nach 399 denkbar ist, scheint mir selbstver- 
ständlich. Da ist es nun wichtig, die Stimmung des Schriftchens 
richtig zu würdigen. 

Es ist kein flammender Protest, den Plato erhebt, unbeküm- 
mert, ob er die Gegner noch mehr dadurch reizen könnte. Es 
ist ein ruhiges Bild, an dem der Freund sich erbauen, der Gleich- 
gültige sich erwärmen, der Feind sein Unrecht einsehen und sich 
schämen lernen kann. Ruhe und Friede liegt über der ganzen 
Szene. Ist das nur eine äußere Maske, die Plato vornimmt, 
während im Innern der Sturm noch tobt? Es scheint, daß grade 
hier, wo Plato das Bild der guten alten Zeit wieder hervor- 
zaubert, sich auch die Stimmung der selbsterlebten schönen Tage 
auf ihn herabsenkt. Nicht bloß die Freude an der künstlerischen 
Gestaltung ist ihm deutlich anzumerken, auch den Humor hat er 
wiedergefunden. Das gilt besonders von der Schilderung der 
alten Kriegskameraden Nikias und Laches und von dem Gegen- 
satz, in den beide gebracht werden. Daß dabei Plato vom hi- 
storischen Charakterbilde ausgeht, ist wenigstens bei Nikias noch 
für uns zu erkennen. Denn wenn auch die vorausgesetzte Ver- 
trautheit des Feldherrn mit sokratischen Gedankengängen gewiß 
nur für die Debatte von Plato erfunden ist‘), das dürfen wir 
sicher glauben, daß er eine höhere Bildung besaß als Laches, 
wohl auch, daß er zu Sokrates persönliche Beziehungen hatte. 
Namentlich aber empfinden wir, wie gut der historische Nikias, 
dem bei anerkannter Tapferkeit nichts verhaßter war als blindes 
Drauflosgehen ohne vorsichtige Abwägung, sich zum Vertreter 
der Definition ἐπιστήμη δεινῶν καὶ ϑαρραλέων eignete. ᾿Εγὼ 
δὲ ἀνδρείας μὲν καὶ προμηϑίας πάνυ τισὶν ὀλίγοις οἶμαι μετ- 
eivaı, ϑρασύτητος δὲ καὶ τόλμης καὶ τοῦ ἀφόβου μετὰ ἀπρομηϑίας 
πάνυ πολλοῖς καὶ ἀνδρῶν καὶ γυναικῶν καὶ παίδων καὶ ϑηρίων 


ὃς ἂν ἐγγύτατα Σωκράτους ἢ λόγῳ ὥσπερ γένει καὶ πλησιάζῃ δια- 
λεγόμενος, ἀνάγκ ηαὐτῷ .. μὴ παύεσϑαι ὑπὸ τούτου περιαγόμενον τῷ λόγῳ, 
πρὺν ἂν ἐμπέσῃ εἰς τὸ διδόναι περὶ αὑτοῦ λόγον. Denn in der Apologie folgt 
gleich ταῦτα καὶ νεωτέρῳ καὶ πρεσβυτέρῳ ὅτῳ ἂν ἐντυγχάνω ποιήσω, καὶ ξένῳ 
καὶ ἀστῷ, μᾶλλον δὲ τοῖς ἀστοῖς, ὅσῳ μου ἐγγυτέρω ἐστὲ γένει. Das ἐλέγχειν 
der Apologie (23a, 296, 39c) steht Laches 189}. 

1) Eine bewußte idealisierende Abweichung vom historischen Bilde ist 
die freie Ansicht über die Mantik, die Plato Nikias 195e in den Mund legt. 


98 Laches. 


(197b) — diesen Satz hätte gewiß auch der historische Nikias 
Wort für Wort unterschrieben. Mit guter Absicht läßt Plato 
seinen Nikias die προμηϑία noch einmal preisen als die weise 
Vorsicht, die es rätlich macht, sich ruhig dem Verhör des So- 
krates zu unterwerfen und von ihm auf Mängel der eigenen 
Lebensführung hingewiesen zu werden (188b). Das schöne Ur- 
teil des Thukydides, Nikias habe am allerwenigsten sein Unglück 
verdient, wo doch sein ganzes Streben auf das Edle gerichtet 
war, ohne daß er dabei mit den Anschauungen seiner Umgebung 
in Konflikt geriet (VII, 86, 5), erhält eine Illustration durch die 
Rede des Nikias (181d—182d), in der er die Fechtkunst unter 
anderem darum empfiehlt, weil sie nicht bloß an sich für einen 
freien Mann die beste Übung ist, sondern auch zu den ver- 
schiedensten standesgemäßen Beschäftigungen führt: καὶ δὴ (codd. 
ἤδη) δῆλον ὅτι τὰ τούτων ἐχόμενα καὶ μαϑήματα πάντα καὶ 
ἐπιτηδεύματα καὶ καλὰ καὶ πολλοῦ ἄξια ἀνδρὶ μαϑεῖν TE καὶ 
ἐπιτηδεῦσαι, ὧν καϑηγήσαιτ᾽ ἂν τοῦτο τὸ μάϑημα (1820). 

Die Ruhe und Bedächtigkeit des Nikias tritt uns am meisten 
in der Debatte selbst entgegen, wo er nur eingreift, weil er in 
der sokratischen Definition eine Position sieht, die gegen jeden 
Angriff ihm gesicherte Deckung zu bieten scheint, und wo er 
sich selbst durch die heftigsten Anfälle seines Gegners kaum aus 
der Ruhe bringen läßt. 

Auf der andern Seite steht der hitzige Laches, der eine ganz 
andre Wahlstatt gewöhnt ist und mit demselben Ungestüm ins 
Gefecht geht, das er dort offenbar oft genug bewährt hat (ἀλλά 
μέ τις καὶ φιλονικία εἴληφεν bekennt er 1948). Sein Bild und 
der Gegensatz zu Nikias’ Charakter ist von Plato mit vollem 
Humor ausgestaltet. Solange Sokrates ihm gegenübersteht, hält 
sich Laches allerdings in der Verteidigung, Kaum aber tritt 
Nikias auf, dem er sich gewachsen fühlt, da geht er zum Angriff 
über. Mit voller Leidenschaft ist er dabei. Sehr sachlich ist er 
keineswegs. Und nicht immer beschränkt er sich auf harmlose 
Neckereien (wie 199extr.), auch mit Ausdrücken wie „Unsinn“ 
ist er bei der Hand (195b) oder er deutet durch ein „Beinah’ 
hätte ich etwas gesagt“ dem Kameraden an, daß er nur mit 
Rücksicht auf die Anwesenden auf bildliche Wendungen aus der 
Kasernensprache verzichtet (1970). In der Hitze des Gefechts 
vergißt er ganz, was er vorher gesagt (vgl. S. 27). Wenn er 


Die Stimmung des Dialoges. 39 


dann einsieht, daß seine Waffen versagen, so tritt er mit einem 
resignierten „ich habe wohl nun genug gefragt“ vom Schauplatz 
ab. Aber kaum führt Sokrates einen Streich gegen Nikias, der 
zu sitzen scheint, da ist auch Laches wieder da, und ehe noch 
Nikias sich verteidigen kann, fährt er dazwischen: „Siehst du, da 
fällst du doch noch herein; das sollst du uns einmal beant- 
worten* (197a). Von der Anschauung, daß es sich auch auf 
diesem Felde nur darum handelt, Sieger zu bleiben, kann er sich 
natürlich gar nicht losmachen (196a, 197e, 199a), und selbst als 
zum Schluß sich scheinbar herausstellt, daß die ganze Mühe ver- 
geblich gewesen ist, da hat Laches nur das Gefühl der Genug- 
tuung, daß auch Nikias eine Niederlage erlitten hat, und er muß 
erst von Nikias, der jetzt endlich etwas die Ruhe verliert, darüber 
belehrt werden, daß die Sache, um die gekämpft wird, doch auch 
etwas wert ist (200 8)". 

Nehmen wir noch andere kleinere Züge hinzu: den alten 
Sohn des berühmten Vaters, der am Ende seines langen Lebens 
sich endlich bewußt wird, daß er gar nichts geleistet hat und der 
seinen Söhnen keinen besseren Rat geben kann als den, sie sollten 
sich Vater zum abschreckenden Beispiel nehmen, den Spekulan- 
ten, der den reichen Gewinn voraussieht und dem es doch noch 
so schwer wird, sich vom Gelde zu trennen (καρτερεῖ ἀναλίσκων 
192e), von Stesileos gar nicht zu reden — so werden wir sagen 
müssen: Wer so zu schaffen vermag, des Herz ist jedenfalls nicht 
mehr ausschließlich von Grimm und Schmerz erfüllt. Die son- 
nige Heiterkeit, die das Leben des Meisters auch in den ernstesten 
Stunden verklärte, die ihn auch im Kerker als Sieger, als Schütz- 
ling der Götter, als εὐδαίμων erscheinen ließ, sie ist im Jünger 
zu neuem Leben erwacht. 


!) Auf die Verirrung, die im Laches an der „recht unfreundlichen Ver- 
spottung des ehrwürdigen alten Feldherrn Nikias durch Plato“ Anstoß nimmt 
(Hermes XL S. 636—8), braucht man nicht einzugehen. Ganz richtig sagt Joel 
(Hermes XLI S. 310), daß Nikias durchaus der Bevorzugte ist und eher man 
von Laches sagen könnte, daß er eine komische Figur macht. Richtig hebt Joel 
S. 314 auch die Übereinstimmungen mit dem historischen Nikias hervor. Leider 
trübt aber natürlich die Antisthenesmanie ihm sofort den Blick. Und es dauert 
nicht lange, so sind aus dem köstlichen Paar, das Plato uns hier in so lebendigen 
Zügen schildert, die antisthenischen Figuren Aias und Antisthenes geworden, 
oder vielmehr nur der eine Antisthenes, den Plato „in wunderbar raffiniertem, 
neckisch-dramatischem Spiel in die zwei verschiedenen Seiten seines Wesens ge- 
spalten hat“ (II S. 146)! 


40 Charmides. 


III. Charmides. 


Aus dem Lager von Potidaea zurückgekehrt, sucht Sokrates 
die gewohnten Stätten wieder auf und trifft in einer Palaestra 
mit Chairephon, Kritias und anderen zusammen. Bald bringt er 
das Gespräch auf die Studien der jungen Leute und erkundigt 
sich, ob es unter ihnen solche gebe, die an Klugheit oder Schön- 
heit hervorragen. Kritias nennt ihm seinen Vetter Oharmides 
als den, der unbestritten der Schönste sei. Und kaum sind wir 
so in der Weise des Dramas auf das Erscheinen der Hauptperson 
vorbereitet, so tritt diese selber auf. Ein Kopfweh, das Charmides 
kürzlich gehabt, bietet den Vorwand, ihn heranzuholen. Sokrates 
behauptet nämlich, Heilmittel und Zauberformeln dafür zu wissen. 
Aber als erst Charmides in seiner Nähe ist, da macht er ihm 
schnell klar, den Kopf könne man nicht heilen ohne den ganzen 
Leib, und der Gesundheit des Leibes wieder gehe der gesunde 
Sinn, die σωφροσύνη — die Etymologie sollen wir hier wie ım 
ganzen Dialog natürlich fühlen — voran. Hier müsse ein richtiger 
Arzt zuerst mit seinen ἐπῳδαί, die nichts anderes seien als καλοὶ 
λόγοι Ὗ, einsetzen (—157c). Freilich bezeugt Kritias seinem Ver- 
wandten sofort, daß dieser schon die σωφροσύνη besitze. Aber 
da dieser selber bescheiden erklärt, er wisse nicht, ob er sie in 
Anspruch nehmen dürfe, so hat ihn jetzt Sokrates so weit, wie 
er will, und fragt ihn nun, was er sich denn unter σωφροσύνη 
vorstelle. 

Charmides kommt mit einer Antwort, die ganz seinem Vor- 
stellungskreis entspricht. Für ihn ist σωφροσύνη die Sittsamkeit 
des Knaben, wie sie das Ziel der alten Erziehung war: einev 
ὅτι οἱ δοκοῖ σωφροσύνη εἶναι τὸ κοσμίως πάντα πράττειν καὶ 
ἡσυχῇ, ἔν τε ταῖς δδοῖς βαδίζειν καὶ διαλέγεσϑαι, καὶ τὰ ἄλλα πάντα 


1) Die ganze Erfindung beruht natürlich darauf, daß auch die bezaubernde 
Kunst der Rede als ἐπῳδή bezeichnet wurde. Am ausgeführtesten finden wir 
das bei Gorgias, der in der Helena 10 sagt συγγιγνομένη γὰρ τῇ δόξῃ τῆς 
ψυχῆς ἡ δύναμις τῆς ἐπῳδῆς ἔϑελξε nal ἔπεισε nal μετέστησεν αὐτὴν γοητείᾳ. 
γοητείας δὲ καὶ μαγείας δισσαὶ τέχναι ηὕρηνται, (ὧν ἣ μὲν φαρμάκοις ἐνεργάξζεται 
μεταβολάς, αἵ εἶσι σώματος ἀρρωστήματα καὶ σαρκὸς νοσήματα, ἣ δὲ λόγοις 
ἐμποιεῖ καινὰς διανοίας,) al εἰσι ψυχῆς ἁμαρτήματα καὶ δόξης ἀπατήματα. 
Daß eine Lücke etwa des angegebenen Inhalts anzunehmen ist, ergibt außer 
dem Zusammenhang oder vielmehr der Zusammenhanglosigkeit der Stelle das 


p. 153—162b. 41 


ὡσαύτως ποιεῖν (1590). Unwillkürlich wird man daran erinnert, 
wie bei Aristophanes der Λόγος δίκαιος das alte Erziehungsideal 
entwickelt (Wolken 961): 

λέξω τοίνυν τὴν ἀρχαίαν παιδείαν ὡς διέκειτο, 

ὅτ᾽ ἐγὼ τὰ δίκαια λέγων ἤνϑουν καὶ σωφροσύνη ᾿᾽νενόμιστο. 

πρῶτον μὲν ἔδει παιδὸς φωνὴν γρύξαντος μηδὲν 

ἀκοῦσαι, 

εἴτα βαδίζειν ἐνταῖσιν ὁδοῖς εὐτάκτως εἰς κιϑαριστοῦ κτλ. 
Fast möchte man glauben, daß der Anklang nicht auf Zufall be- 
ruht. Freilich der Begriff ἡσυχιότης, in den Charmides seine An- 
schauung zusammenfaßt, ist jedenfalls dem Wortlaut nach bei 
Aristophanes nicht zu finden. Aber wenn nach dessen Wider- 
legung Charmides seinen zweiten Vorschlag so formuliert: δοκεῖ 
τοίνυν μοι αἰσχύνεσϑαι ποιεῖν ἣ σωφροσύνη καὶ αἰσχυντηλὸν τὸν 
ἄνϑρωπον καὶ εἶναι ὅπερ αἰδὼς ἣ σωφροσύνη (1600 6), so entspricht 
es dem ganz, wenn der Λόγος δίκαιος als Ergebnis der Erziehung 
in Aussicht stellt, der Jüngling werde verstehen τοῖς αἰσχροῖς 
αἰσχύνεσθαι (992) . . . . ἄλλο τε μηδὲν αἰσχρὸν ποιεῖν, ὅτι τῆς 
αἰδοῦς μέλλει τἄγαλμ᾽ ἀναπλήσειν (I). 

“Ησυχιότης erweist sich als unbrauchbar für die Definition, 
weil es ein sittlich indifferenter Begriff ist. Ähnlich liegt es bei 
αἰδώς, und da jetzt Charmides mit den Begriffen des eigenen 
Vorstellungskreises zu Ende ist, so macht er es wie der Nikias 
des Laches, er bringt eine Definition vor, die er von einem 
andern gehört hat. σωφροσύνη 561 τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττειν (161). 
Sokrates vermutet gleich, der Urheber der Definition sei Kritias, 
und daß er damit das Rechte getroffen hat, bestätigt sich schnell. 
Denn als Charmides den Sinn dieser Definition nicht scharf zu 
geben vermag und gar mit einem Seitenblick auf Kritias sagt, 
vielleicht habe der Autor sich selber dabei nichts gedacht, da 
fährt dieser, der schon längst unruhig auf seinem Platze hin und 
her gerückt ist, gekränkt empor und übernimmt selber die Ver- 
teidigung der Definition (162b). 


Folgende, besonders 8 14, wo die zauberische Wirkung der φάρμακα auf den 
Leib und die der λόγοι auf die Seele nebeneinandergestellt werden. Etwas 
anders scheidet Plato Legg. 932extr als διτταὶ φαρμακεῖαι die Einwirkung durch 
materielle Mittel und die durch Zauberformeln. In übertragenem Sinne ver- 
wendet die ἐπῳδή auch Xen. Mem. II, 6, 10ff., wo er über die Mittel spricht, 
durch die man sich Freundschaft erwirbt. 


42 Charmides. 


Hier können wir innehalten, da von da an das Gespräch 
eine andre Wendung nimmt. Die Vorteile der referierten Form 
des Dialoges liegen hier auf der Hand. Denn so vermag es 
Plato, uns das lebendigste Bild von Sokrates’ Verkehr mit der‘ Jugend 
zu geben. Deutlich sehen wir hier dabei, wie Sokrates es ver- 
steht, einen beliebigen äußeren Anlaß zu benutzen, um auf das 
Thema zu kommen, das für den Angeredeten das wichtigste ist. 
Er sucht sich den schönsten Jüngling dazu aus, aber so stark 
auch hier Sokrates die sinnlichen Farben aufträgt, das spüren 
wir doch grade heraus, daß es der große εἴρων ist, der hier 
spricht, wenn er davon redet, wie ein Blick auf des Jünglings 
Körperformen ihn so in Verwirrung setzt, daß er kaum weiß, was 
er mit ihm reden soll, und erst allmählich wieder zu sich kommt 
(155e, 156d). Denn so empfänglich Sokrates für die Schönheit 
des Leibes ist, was ihn fesselt, ist doch die Schönheit der Seele, 
und was er von dem schönen Knaben will, ist die σωφροσύνη. 
So kann diese Schilderung gerade so wie die des Laches dazu 
dienen, ein richtiges Bild von Sokrates zu verbreiten und seinen 
Verkehr mit der Jugend, der so leicht Mißdeutungen ausgesetzt 
war, in wahrem Lichte zu zeigen. 

Neben Sokrates tritt merkwürdig stark hier der junge 
Charmides hervor. Das macht nicht so sehr seine körperliche 
Schönheit, so stark auch Plato aufträgt, um sie uns, wie Homer 
die Helenas, durch den Eindruck, den sie auf die ganze Umgebung 
macht, zu schildern. Es ist das κάλλος τῆς ψυχῆς, das uns eben- 
so wie Sokrates anzieht. Eben den Knabenschuhen entwachsen, 
steht er in dem Alter, für das die σωφροσύνη die eigentliche 
ἀρετή ist. Daß er sie besitzt, glauben wir Kritias gern. Die 
Scharen der Verehrer, die ihn umschwärmen, scheint er überhaupt 
nicht zu bemerken. Er ist eine Gestalt, an die sich keine Un- 
lauterkeit heranwagen wird. Und wenn er in der ersten Defi- 
nition der σωφροσύνη das Ideal jugendlicher Sittsamkeit entwickelt, 
so empfinden wir ohne weiteres, daß dies das Ideal ist, das er 
in seinem ganzen Verhalten zu verkörpern strebt. Dabei ist er 
aber durchaus nicht zaghaft oder schüchtern. Ohne Ängstlichkeit 
nähert er sich dem Mann, von dem unter seinen Altersgenossen 
so viel die Rede ist, und bald ist er in ungezwungenem Gespräche 
mit ihm. Als der ihm die verfängliche Frage vorlegt, ob er 
σώφρων sei, da wird er natürlich rot, aber seine Antwort zeigt 


Die Charakteristik des Charmides. 43 


nicht bloß klaren Verstand und Gewandtheit, sie zeigt auch keine 
Spur von Verlegenheit. Seine Antworten kommen nachher nicht 
sofort heraus, zeugen aber, so sehr sie natürlich in den Anschau- 
ungen seiner Jahre bleiben, von Nachdenken und Überlegung. 
Er fühlt sich auch so wenig beengt, daß er es wagt, seinen Vetter 
Kritias zu necken, und — um das gleich mit zu berücksichtigen 
— als am Schluß das Gespräch ergebnislos zu sein scheint, da 
hat er doch nicht bloß ein Gefühl für das Positive, das So- 
krates bringt, er wagt auch noch, ehe Kritias ihm das anrät, 
selbständig sich Sokrates als Schüler anzubieten, und wenn er 
auf Sokrates’ Frage τί βουλεύεσϑε ποιεῖν; antwortet οὐδέν, ἀλλὰ 
βεβουλεύμεϑα, so spüren wir da eine Fertigkeit und Sicherheit, die 
Plato den Altersgenossen des Charmides, die er sonst im Dialoge 
einführt, nicht beilegt. 

In Charmides zeichnet Plato eine starke Individualität, die 
freilich erst in den allerersten Entwicklungsstadien sich befindet. 
Daß diese Charakteristik Plato Selbstzweck ist, spüren wir, wenn 
er auch solche Züge, die für Dialog und Szenerie ganz unwesent- 
lich sind, an Charmides hervorhebt wie seine dichterische Be- 
gabung (155a). Wenn wir Charmides als den selbstverständ- 
lichen Mittelpunkt eines großen Kreises finden, so erwarten wir 
unwillkürlich von ihm, daß er auch im Leben seine Rolle spielen 
wird. Um so mehr, als er durch seine Abkunft dazu berufen ist. 
Merkwürdig stark hebt ja Sokrates zweimal hervor (155a und 157e), 
daß Charmides’ väterliches wie mütterliches Haus zu den er- 
lauchtesten Familien Athens gehört. Einen echten Sprossen vor- 
nehmen Hauses sehen wir auch in der Ungezwungenheit, mit der 
Charmides auftritt. Und wenn Kritias ihn als καλός καὶ ἀγαϑός 
bezeichnet (154e), so hat dieses Wort in diesem Munde natürlich 
den Klang der alten Zeit, wo esdas Ideal des Aristokraten bezeichnet'). 


1) 411 ist καλοὶ κἀγαϑοί bekanntlich direkte Bezeichnung der Oligarchen 
(Thuk. VIII, 48, 6 τοὺς καλοὺς κἀγαϑοὺς ὀνομαζομένους οὐκ ἐλάσσω... σφίσι 
πράγματα παρέξειν τοῦ δήμου). Die allgemeinere Bedeutung „vornehm, aristo- 
kratisch‘ hat es bei Aristoph. Eq. 185 μῶν ἐκ καλῶν εἶ κἀγαϑῶν, 225 καὶ τῶν 
πολιτῶν οἱ καλοέ ve κἀγαϑοί („wer etwas auf sich hält“), ähnlich Thuk. IV, 40, 
2, wo freilich ein Wortspiel vorliegt, da der gefangene Spartaner die Frage εἰ 
οἱ τεϑνεῶτες αὐτῶν καλοὶ κἀγαϑοί, die zunächst nur auf die vornehme Herkunft 
ging, als einen Zweifel an der Tüchtigkeit der Überlebenden auffaßt. καλοκά- 
yadeiv ἀσκοῦντας bildet Aristoph. Dait. fr. 198, um die Bestrebungen der vor- 
nehmen Jugend zu bezeichnen. 


44 Charmides. 


Eins kann uns vielleicht für die Entwicklung des Jünglings 
Sorge machen. Das ist der starke Einfluß, den sichtlich sein 
Verwandter und Vormund Kritias auf ihn ausübt. Auch der wird 
freilich durchaus nicht unsympathisch gezeichnet. Aber der Schule 
des Sokrates (156a) ist er längst entwachsen und steht innerlich jetzt 
auf dem Boden der Sophistik. Das zeigt uns die Art, wie er 
nicht bloß eigene philosophische Gedanken aufstellt, sondern auch 
mit ganz sophistischen Waffen zu verteidigen versteht (163b). 
Anders als Nikias, der ja auch Gedanken des Prodikos verwendet, 
geht er dabei mehr auf die Form als auf die Sache aus, und von 
Eitelkeit und Rechthaberei ist er im Gespräch nicht frei (162c, 
165a, 169c). Immerhin sind diese Züge nicht so stark aufge- 
tragen, daß uns sein Bild dadurch unsympathisch würde. 

Ohne Zweifel will der Dialog eine ideale Schilderung des 
Charmides geben. Aber Mutschmann geht zu weit, wenn er 
daraufhin den Dialog geradezu ein Enkomion nennt (Hermes 
XLI S. 473—80)'). Ganz abgesehen davon, daß dieser Idealisie- 
rung des CGharmides doch nur ein kleiner Teil des Dialoges ge- 
widmet ist, stimmt das charakteristische Momentbild, das der 
Charmides liefert, nicht zum Enkomion, das naturgemäß das 
ganze Leben des Verstorbenen zum Gegenstande hat, sondern 
zur Memoirenliteratur. Und wenn dabei die für die Jugend 
charakteristische Tugend der σωφροσύνη an Charmides hervorge- 
hoben wird, so empfindet der Leser weniger die enkomiastische 
Tendenz als die Absicht Platos, zum Gesprächsthema überzuleiten. 
Überhaupt sind wohl die Berührungen mit dem ganz festen Auf- 
bau des rhetorischen Enkomions nicht stark genug, um ohne 
weiteres dem Leser fühlbar zu werden. 

Wir werden Platos künstlerische Absichten besser verstehen, 
wenn wir vom Laches ausgehen. Der ist, wie wir sehen, der 
Rechtfertigung des verstorbenen Sokrates gewidmet. Aber es 
gab auch andere Verstorbene, deren Andenken verfehmt war und 
die Plato auch nahestanden. Eine Rechtfertigung von Charmides’ 
und Kritias’ letzten Taten konnte und wollte Plato freilich nicht 
geben. Im siebenten Brief spricht er noch mit Bitterkeit davon, 
wie sehr ihn das Treiben der Dreißig, besonders ihr Vorgehen 
gegen Sokrates empört hatte (324de). Aber der Haß gegen das 


1). Ähnlich auch schon Teichmüller Lit. Fehden II bes. 5, 6675, der 
aber natürlich mit Unrecht Polemik gegen Xenophon wittert. 


Die apologetische Idealisierung des Charmides. 45 


Andenken dieser Männer mußte wie ein Druck auf ihrem ganzen 
Hause lasten, und andrerseits verklärte sich in der Erinnerung 
allmählich unwillkürlich das Bild besonders seines Oheims, zu 
dem Plato in der Jugend mit Stolz und Bewunderung empor- 
geblickt hatte. So konnte ihm wohl der Gedanke kommen, wie 
bei Sokrates, so auch bei Charmides das Bild, das der Öffentlich- 
keit vorschwebte, zu korrigieren. Und wenn es nicht möglich 
war, den Mann als ideale Figur vorzuführen, so ließ sich vom 
Jüngling ein Bild geben, das noch keine Spur zeigte von den 
Schatten, durch die es später getrübt werden sollte. Damals 
jedenfalls hatte Charmides noch die σωφροσύνη, die man bei ihm 
später, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, vermißt hat. Damals 
glich er der schwellenden Knospe, die am edlen Baume gewachsen, 
die schönste Entfaltung versprach, mögen auch vielleicht später 
andere Einflüsse das Reifen der erwarteten Frucht verhindert 
haben. Wenn dabei Plato so stark hervorhebt, daß Charmides’ 
Haus von jeher Athens Stolz gewesen ist, daß es einen Solon, 
den Begründer der alten Demokratie Athens, zu seinen Verwandten 
zählt (157e, 155a), so werden wir nicht so sehr an enkomiastische 
Tendenzen gegenüber dem Verstorbenen denken; wir hören 
den Arıstokraten Plato, der den Radikalen seiner Zeit vor 
Augen führt, was sein geschmähtes Haus für Athen bedeutet. 
Nach Mutschmann muß der Charmides 403 oder unmittelbar 
darauf verfaßt sein. Denn „das Enkomion in seiner Abart als 
Nekrolog hinkt den Ereignissen nicht nach; das würde seiner 
Natur widersprechen, die eine noch frische Aufnahmefähigkeit 
voraussetzt.“ Aber das gilt doch nur für eine wirkliche Leichen- 
rede, oder glauben wir etwa, daß für eine Idealisierung, wie 
sie Platos Dialog bringt, zehn Jahre nach dem Tode des Char- 
mides keine Aufnahmefähigkeit im Publikum bestanden hätte? 
Tatsächlich erscheint es mir psychologisch ganz undenkbar, daß 
unmittelbar nach den Bluttaten der Dreißig, die Plato selber ab- 
gestoßen hatten, dieses liebliche Bild des jungen Charmides ent- 
standen sein sollte‘). Erst mußten die Eindrücke der letzten Zeit 
beim Publikum wie bei Plato selber etwas blassere Farben an- 
genommen haben, da konnte sich der Blick der schöneren Ver- 


ἢ Noch undenkbarer wäre natürlich, daß Plato bei Lebzeiten des 
Charmides seinen Onkel als fünfzehnjährigen Jungen geschildert hätte. 


46 Charmides. 


gangenheit zuwenden und der Gedanke entstehen, diese künstlerisch 
zu gestalten. 

Vielleicht dürfen wir hinzufügen: Erst als Plato das Bild 
seines Meisters zu idealisieren begonnen hatte, erwachte bei ihm 
der Gedanke, bei seinem Verwandten ein Gleiches zu tun. So- 
krates war die Macht, die Platos Leben bestimmte. Erst dann 
kam die Tradition seines Hauses, aber freilich sofort in zweiter 
Linie. 

Doch versuchen wir erst, ob das folgende Gespräch uns 
etwa Anhaltspunkte für die Bestimmung der Abfassungszeit gibt. 


Kritias sucht seine „rätselhafte* (161c, 162a) Definition 
σωφροσύνη — τὰ ἑαυτοῦ πράττειν dadurch zu retten, daß er für 
sie mit Hülfe prodikeischer Gedanken als gleich bedeutend ein- 
setzt τὰ οἰχεῖα καὶ τὰ αὑτοῦ ἀγαϑὰ πράττειν, so dal) die σωφροσύνη 
kurz als ἡ τῶν ἀγαϑῶν πρᾶξις definiert werden könne (108 6). 
Als aber Sokrates einwendet, es müsse mindestens die Bestim- 
mung hinzukommen, daß jemand mit Bewußtsein das Gute tue, 
da läßt Kritias, ein Dilettant, der kluge Gedanken eher zu pro- 
duzieren oder zu reproduzieren als folgerichtig durchzudenken 
vermag), plötzlich den Begriff des Guten ganz fallen, greift das 
von Sokrates suggerierte’) Motiv der Einsicht in das eigene 
Handeln auf und definiert unter ausdrücklichem Verzicht auf alle 
früheren Aufstellungen |die σωφροσύνη als Selbsterkenntnis (τὸ 
γιγνώσκειν αὐτὸν ἑαυτόν 1656). 

Das ist also nach Platos eigenen Andeutungen eine Definition, 
die nichts mit der vorigen zu tun hat, sondern einen neuen Aus- 
gangspunkt bildet. Sofort verschiebt sich aber die Grundlage noch 
einmal. Als nämlich Sokrates nach dem Effekt oder dem Objekt 
des der σωφροσύνη zugrunde liegenden Wissens fragt, behauptet 
Kritias, dadurch unterscheide diese sich grade von den übrigen 
Wissenschaften, daß sie kein außerhalb von ihr selbst liegendes 
Objekt habe. Sie ist τῶν re ἄλλων ἐπιστημῶν ἐπιστήμη καὶ αὐτὴ 
ἑαυτῆς (166ae). Das bedeutet aber eine Verschiebung der De- 
finition durch Kritias.. Denn für die Selbsterkenntnis ἐπιστήμη 


1) ἐκαλεῖτο ἰδιώτης μὲν ἐν φιλοσόφοις, φιλόσοφος δ᾽ ἐν ἰδιώταις heißt es 
bekanntlich vom historischen Kritias (Diels Vors.? II S. 309, 37). 

8) ἐνέοτε ἄρα ὠφελέμως πράξας . . ὁ ἰατρὸς οὐ γιγνώσκει ἑαυτὸν ὡς 
ἔπραξεν 104}. 


Das Hauptgespräch. 47 


ἑαυτοῦ ist damit ein Wissen vom Wissen eingesetzt ἐπιστήμη ἑαυτῆς 
bezw. ἐπιστήμης. Um die Haltbarkeit dieser Bestimmung dreht 
sich die folgende Untersuchung. 

Nach einer 167a angegebenen Disposition wird zunächst ge- 
prüft, ob eine ἐπιστήμη ἐπιστήμης überhaupt möglich ist. Es 
erheben sich Bedenken, ob es denn einen Verhältnisbegriff geben 
kann, der seine Beziehung nur in sich selber hat. Immerhin will 
Sokrates schließlich einmal, so zweifelhaft die Sache ist, die 
Möglichkeit zugestehen (169b—d)') und stellt zunächst die Frage, 
was denn in diesem Falle die σωφροσύνη, die doch Gutes bewirken 
soll, nützt. Es zeigt sich nun, daß ein solches formales Wissen, 
dem Kritias ausdrücklich jedes außer ihm liegende Objekt ab- 
gesprochen hat, zwar ein Wissen darüber in sich schlösse, daß 
man selbst oder ein anderer weiß, aber nicht was man weiß. Wer 
z. B. einen Arzt auf Grund dieses Wissens prüfen wollte, könnte 
wohl feststellen, daß dieser nach allen formellen Kriterien ein 
Wissen hat, aber da ihm jede Kenntnis des Inhalts der ärztlichen 
Wissenschaft fehlt, würde er nicht prüfen können, was der Arzt 
weiß (—171ec). Damit verschwindet aber jeder Gedanke an den 
großen Nutzen, den man mit Kritias’ ἐπιστήμη ἐπιστήμης ver- 
binden könnte, Gewiß wäre es etwas Großes, wenn es ein for- 
melles Wissen gäbe, das uns befähigte, über unsere eigenen Kennt- 
nisse und Fähigkeiten wie über die unserer Mitmenschen ein Urteil 
abzugeben und jeden an den richtigen Platz zu stellen. Aber 
dazu gehörte eben ein Wissen von dem, was man selbst oder 
ein anderer weiß, während die ἐπιστήμη ἐπιστήμης nur zeigen 
könnte, daß jemand ein Wissen hat (—172a). 

Aber selbst wenn wir zugestehen wollten, daß sie eine inhalt- 
liche Prüfung von dem, was die Menschen wissen, ermöglichte, 
wäre damit der Nutzen der ἐπιστήμη ἐπιστήμης nicht erwiesen. 
Denn selbst wenn in einem Staate alles nach festem Wissen ge- 
schehen könnte, so wäre die Glückseligkeit des Staates noch nicht 
gewährleistet. Das ist erst der Fall, wenn alles Einzelwissen einem 


1) 169d sagt Sokrates "AAN εἰ δοκεῖ, ὦ Κριτία, νῦν μὲν τοῦτο συγχω- 
ρήσωμεν, δυνατὸν εἶναι γενέσϑαι ἐπιστήμην ἐπιστήμης αὖϑις δὲ ἐπισκεψόμεϑα 
εἴτε οὕτως ἔχει εἴτε μή. Daß hier die letzten Worte nicht etwa, wie Siebeck 
Untt.?S. 124. 5 meint, eine Ankündigung einer geplanten Untersuchung enthalten, 
sondern nur Kritias über seine Verlegenheit hinweghelfen sollen, lehrt der Zu- 
sammenhang. 


48 Charmides. 


bestimmten Zwecke untergeordnet wird, wenn zu ihm hinzukommt 
das Wissen von dem, was für den Menschen gut und notwendig 
ist. Ohne dieses Wissen vom Guten muß jedes Wissen nutzlos 
sein, auch die ἐπιστήμη ἐπιστήμης, die ja nach Kritias kein außer 
ihr liegendes Objekt haben, also auch nicht das Gute erkennen 
darf. Da aber die σωφροσύνη notwendig etwas für den Menschen 
Nützliches ist, so ist auch diese von Kritias aufgestellte Definition 
als unhaltbar erwiesen (— 175a). 

So stehen wir wieder wie im Laches am Schluß einem Nichts 
gegenüber. Aber die Ursache ist hier offenbar eine ganz andre. 
Wir müssen uns vor allem gegenwärtig halten, daß es sich bei der 
ganzen letzten Erörterung um eine Definition handelt, die von 
Kritias aufgestellt ist. Von ihr betont nun Sokrates in einer Zu- 
sammenfassung 175bff. mit den stärksten Ausdrücken, daß sie 
zu keinem Ergebnis geführt hat. „Dabei haben wir alle möglichen 
Zugeständnisse gemacht, die wir gar nicht machen durften, haben 
die Möglichkeit einer ἐπιστήμη ἐπιστήμης zugegeben, obwohl 
unsre Erörterung dagegen sprach, haben eingeräumt, diese könne 
prüfen, was einer weiß und nicht weiß, obwohl sich das eigent- 
lich als unmöglich herausgestellt hatte — und trotz aller Kon- 
zessionen erwies sich die Definition als unbrauchbar, da das Mo- 
ment des Guten fehlte“ So spricht niemand, der von sich aus 
zu positiven Ergebnissen gelangen will; so geht nur der vor, 
der Kritik an einer fremden Ansicht übt und nachweisen will, 
daß auch bei der wohlwollendsten Beurteilung diese sich nicht 
halten läßt. 

Das negative Ergebnis des Charmides ist also nicht 
wie beim Laches dadurch hervorgerufen, daß Plato ein 
Problem formuliert, sondern dadurch, daß er Kritik an 
fremden Ansichten übt und diese als unhaltbar erweist. 

Es ist der Elenktiker Sokrates, in dessen Spuren Plato wan- 
delt. Und wie jener ruft er seinem Hauptgegner, ehe er in die 
Kritik der letzten Definition eintritt, zu (1666): Οἷον ποιεῖς ἡγού- 
μενος, εἰ ὅτι μάλιστά σε ἐλέγχω, ἄλλου τινὸς ἕνεκα ἐλέγχειν ἢ 
οὗπερ ἕνεχα κἂν ἐμαυτὸν διερευνῴμην τί λέγω, φοβούμενος μή 
note λάϑω οἰόμενος μέν τι εἰδέναι, εἰδὼς δὲ μή. Aber es ist nicht 
etwa ein Skeptizismus, der uns entgegentritt. Es fehlt nicht an 
Fingerzeigen, wo die positive Lösung zu suchen ist. 

Wir haben schon gesehen, daß die Erörterung der ersten 


Das negative Ergebnis durch die kritische Tendenz bedingt. 49 


Definition des Kritias durch sein eigenes Abspringen nicht regel- 
recht zu Ende geführt wird (163b—164c). Denn wenn Sokrates 
gegenüber der Definition der σωφροσύνη als τῶν ἀγαϑῶν πρᾶξις 
einwendet, daß eine solche bisweilen auch ohne Einsicht in den 
Nutzen der Handlung geschehe, so tut Kritias freilich recht, den 
Begriff der Einsicht in das eigne Handeln aufzunehmen; aber 
ohne jeden Grund greift er das γιγνώσκειν auf und deutet es in 
willkürlicher Weise um, statt mit dem Begriff des Guten, auf den 
er vorher so viel Wert gelegt hatte, weiter zu operieren. So- 
krates’ Einwand nötigte jedenfalls zunächst folgerichtig zu der 
Erörterung, ob nicht das gute Handeln auf Grund der Kenntnis 
des Guten das Wesen der σωφροσύνη bezeichne. Und eine 
weitere Erörterung konnte dazu führen, daß das Wesentliche 
dann das Wissen des Guten sei, aus dem das Handeln ohne 
weiteres folge. Daß Plato tatsächlich diese Gedanken dem Leser 
nahelegen will, zeigt sein Beispiel: 7 οὖν καὶ γιγνώσκειν ἀνάγκη 
τῷ ἰατρῷ, ὅταν ve ὠφελίμως ἰᾶται καὶ ὅταν un; (164b). Denn ge- 
nau mit diesem Beispiel war im Laches (195c) demonstriert, daß 
die Tapferkeit, die sich nachher als so verwandt mit der 
σωφροσύνη herausstellte, ein Wissen vom letzthin Guten und 
Üblen sei. 

Auf denselben Punkt werden wir aber durch die Kritik an 
Kritias’ zweiter Definition geführt. Denn diese ist durchaus 
nicht rein negativ, sondern bringt von 173a—174c ein sehr 
starkes positives Moment. Das ist der Nachweis, daß alle Fach- 
wissenschaften, alles Einzelwissen zur Glückseligkeit nicht das 
geringste beiträgt, daß vielmehr einzig und allein das Wissen 
vom Guten und Üblen diese zu bewirken vermag. ”Q μιαρέ, 
schilt Sokrates scherzhaft den Kritias, als er ihn endlich zu der 
entscheidenden Antwort gedrängt hat (174b), πάλαι με περιέλκεις 
χύχλῳ, ἀποκρυπτόμενος ὅτι οὐ τὸ ἐπιστημόνως ἣν ζῆν τὸ εὖ πράττειν 
τε καὶ εὐδαιμονεῖν ποιοῦν οὐδὲ συμπασῶν τῶν ἄλλων ἐπιστημῶν, 
ἀλλὰ μιᾶς οὔσης ταύτης μόνον τῆς περὶ ἀγαϑόν τε καὶ κακόν"). Das 
Wissen vom Guten und Üblen und dieses allein ist es, das wird 
mit vollster positiver Bestimmtheit von Plato hier und im folgen- 


1) Ganz richtig sagt Gomperz, Gr. Denker II, 5. 248: „Diese Wendung 
allein würde genügen, um hier den eigentlichen Zielpunkt des Gespräches er- 
kennen zu lassen.‘ 


Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 4 


50 Charmides. 


den ausgesprochen, was dem Menschen Glückseligkeit bringen 
kann. Wenn nun Plato fortfährt (174d): „Dieses Wissen ist aber, 
wie es scheint, von der σωφροσύνη verschieden, da es eben auf 
das Gute und Üble geht, nicht eine ἐπιστήμη ἐπιστήμης ist, und 
grade darum kann die σωφροσύνη, da sie von dem glückselig- 
machenden Wissen verschieden ist, nicht nützlich sein,“ so ıst 
ohne weiteres klar, daß eine Verschiedenheit von σωφροσύνη und 
ἐπιστήμη ἀγαθοῦ χαὶ κακοῦ nur deshalb angenommen werden 
muß, weil bei σωφροσύνη die Definition des Kritias zugrundege- 
legt wird. Tatsächlich ist es gerade die ἐπιστήμη dyadod καὶ 
κακοῦ, die das erfüllt, was wir von der σωφροσύνη als Tugend 
verlangen, nämlich daß sie nützlich ist. So zwingt uns diese 
Ausführung geradezu, die positive Lösung in der Richtung des 
Laches zu suchen, für den die σωφροσύνη mit der ἐπιστήμη ἀγαθοῦ 
καὶ κακοῦ identisch oder mindestens eng verwandt war. Wenn 
Sokrates diese Folgerung 174d nicht zieht, so geschieht es nur 
darum nicht, weil er die σωφροσύνη ganz vom Standpunkt des 
Kritias aus betrachtet. Das tut er auch nachher. Aber reinste 
εἰρωνεία ist es doch, wenn er die Widerlegung der Definition 
ἐπιστήμη ἐπιστήμης damit abschließt, daß er daraus seine eigene 
Unwissenheit folgert und Wendungen gebraucht, als habe er 
selber die Definition nicht bekämpft, sondern aufgestellt (vö» δὲ 
πανταχῇ γὰρ ἡττήμεϑα κτλ. 175b). Auch wenn er dabei sagt: οὐ 
γὰρ ἄν που ὅ γε κάλλιστον πάντων ὁμολογεῖται εἶναι, τοῦτο ἡμῖν 
ἀνωφελὲς ἐφάνη, εἴ τι ἐμοῦ ὄφελος ἢν πρὸς τὸ καλῶς ζητεῖν 
(1788, vgl. τοῦτο ἡμῖν πάνυ ὑβριστικῶς ἀνωφελὲς ὃν ἀπέφαινε 
50. ἣ ζήτησις), so wird wohl niemand die Ironie des Mannes ver- 
kennen, der sich hier ganz auf eine Kritik beschränkt hat. Ein- 
geprägt wird uns aber zugleich noch einmal der positive Hin- 
weis, daß jede Untersuchung über die σωφροσύνη scheitern muß, 
die nicht vom Begriff des Guten, das durch diese bewirkt wird, 
ausgeht. 

Die Interpretation des Dialoges selber zwingt uns 
also zu der Annahme, daß Plato nur deshalb zu einem 
negativen Ergebnis kommt, weil er sich bewußt darauf 
beschränkt, falsche Lehren aus dem Wege zu räumen, 
daß ihm aber eine positive Lösung durchaus vorschwebt 
und er für diese dem Leser unzweideutige Fingerzeige 
gibt. Verstehen mußte sie jedenfalls der ohne weiteres, 


| 
| 
| 


Die positiven Andeutungen im Dialoge. 51 


der mit dem Gedankengange des Laches vertraut 
war'). 


Es bleibt uns die Frage, an wessen Lehren Plato Kritik übt. 
Aus welchen Anschauungskreisen die beiden ersten Definitionen 
des jungen Charmides stammen, haben wir schon gesehen. Die 
dritte Definition τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττειν gibt Charmides nicht von 
sich aus, sondern leitet sie mit einem ὃ ἤδη του ἤκουσα λέγοντος 
ein (161b). Ganz so hatte im Laches Nikias die Auffassung, dab 
die Tapferkeit auf dem Wissen beruhe, eingeführt ὃ γὰρ ἐγὼ 
σοῦ ἤδη καλῶς λέγοντος ἀκήκοα (194). Dort wird kein Mensch 
zweifeln, daß Nikias mit Recht Sokrates als Urheber dieser An- 
schauung bezeichnet. Ebenso wenig dürfen wir aber hier Platos 
Andeutung, daß die Definition Kritias gehört, mißtrauen. Der 
ganze Humor der Stelle beruht ja doch darauf, daß Kritias, der 
zuerst die Urheberschaft ableugnen möchte, durch sein ganzes 
Verhalten widerlegt wird (161b—162c). Zudem wissen wir doch, 
daß Kritias in seinen Ὃμιλίαι und sonst über ethische Fragen ge- 
handelt hat, und an Galens Angabe, Kritias habe in seinem Buch 
περὶ φύσεως ἔρωτος ἢ ἀρετῶν eine Begriffsbestimmung von 
δυσάνιος gegeben (B 42 Π16]5), wird man doch nicht zweifeln 
dürfen, auch wenn der Sophist Antiphon dasselbe vorgetragen 
hat (B 89 Diels). Und wenn bei Herodot I, 8 das σκοπεῖν τινὰ 
τὰ ἑωυτοῦ als goldne alte Lebensregel bezeichnet wird, was in 
aller Welt steht der Annahme im Wege, daß Kritias in ihr das 
Wesen der σωφροσύνη angedeutet gefunden hat oder daß Plato, 
der ja noch im Timaios 20a Kritias’ philosophische Bildung an- 
erkennt, schon aus persönlichen Gründen seine Definition einer 
Erwähnung gewürdigt hat’)? Ganz anders steht es natürlich mit 
der weiteren Erörterung. Da dürfen wir Kritias’ Worte an sich 
so wenig für ihn selber in Anspruch nehmen wie etwa Nikias’ 
weitere Ausführungen im Laches. Wenn ferner Plato ausdrück- 
lich die Definition τὸ τὰ ἑαυτοῦ πράττει» als eine rätselhafte be- 


1) Stavenhagens Ansicht (Χάριτες für Leo 5. 10ff.), die Ergebnislosigkeit 
beruhe darauf, daß Plato wirklich keine positive Lösung habe bringen können, 
billige ich hier so wenig wie bei den anderen Dialogen. 

2) Von der Bedeutung, die später im Staate das τὰ ἑαυτοῦ πράττειν als 
Prinzip der Arbeitsteilung für Plato gewinnt, ist aber hier noch nichts zu spüren. 
(Unrichtig Gomperz, Gr. D. II, S. 249.) 

4* 


52 Charmides. 


zeichnet, deren Sinn man erst ermitteln müsse, so deutet er wohl 
an, daß Kritias seinen Einfall ohne tiefere Begründung gegeben 
hatte. Jedenfalls entspricht die Zurückführung auf die Formel 
ἣ τῶν ἀγαθῶν πρᾶξις so sehr den eigenen Absichten Platos, der 
den Begriff ἀγαϑός einführen will, daß wir hier sicher nur diesen 
selber hören ἢ). 

Die Erörterung über die Definition des Kritias nimmt trotz 
der positiven Weiterführung durch Plato einen geringen Raum ein. 
Die Hauptkritik richtet sich gegen die folgende Definition. Daß 
mit der Heranziehung des γνῶϑι σαυτόν (164cff.) etwas ganz 
Neues beginnt, sahen wir schon, ebenso, daß der Begriff dem 
Kritias von Sokrates selber suggeriert wird (S. 46). Damit deutet 
Plato klar an, daß wir jetzt sokratischen Boden betreten. Daß 
Sokrates die Selbsterkenntnis gefordert hat, dürfen wir ja auch 
aus Xen. Mem. IV, 2, 24—29 schließen. Während aber dort die 
Selbsterkenntnis in ihrer natürlichen und naheliegenden Bedeutung 
verstanden wird als Einsicht in die eigenen Fähigkeiten, Leistungs- 
möglichkeiten, Interessen, ist davon bei Plato zunächst gar nicht 
die Rede. Kritias bestreitet sofort, daß das der ᾿ἰσωφροσύνη zu- 
grunde liegende Wissen ein Objekt außer sich selber habe und 
setzt für ἐπιστήμη ἑαυτοῦ die ἐπιστήμη ἑαυτῆς ein. Sokrates selber 
entwickelt dann 167a den Begriff der Selbsterkenntnis etwa wie 
bei Xenophon, greift aber nicht ihn selber an, sondern bezweifelt, 
daß die Einsicht in das, was man weiß, in der ἐπιστήμη ἑαυτῆς 
liegen könne. Gegen diese Formulierung, nicht gegen das ἑαυτὸν 
γιγνώσκειν an Sich, richtet sich auch die Kritik im folgenden. 

Daß diese Formulierung ἐπιστήμη ἑαυτῆς nicht Plato gehört, 
der sie ja auf jede Weise für unmöglich erklärt, ist, wenn wir 


!) Absicht muß es natürlich sein, wenn Plato hier Kritias 163b den Hesiod- 
vers ἔργον δ᾽ οὐδὲν ὄνειδος besprechen und dahin deuten läßt, mit ἔργον sei nur 
das καλὸν καὶ ὠφέλιμον ἔργον gemeint. Denn wie wir aus Xen. Mem. 1, 2, 56 
wissen, erhob Polykrates später gegen Sokrates den Vorwurf, er habe diesen 
Vers angeführt, um zu zeigen ὡς ὁ ποιητὴς κελεύει μηδενὸς ἔργου μήτ᾽ ἀδίκου 
μήτ᾽ αἰσχροῦ ἀπέχεσϑαι. Der Vorwurf ist wohl schon älter, und so legt hier 
Plato grade dem Genossen des Sokrates, der kein unsittliches Tun gescheut 
haben sollte, eine sittliche Deutung in den Mund, läßt aber, da er von der 
Dichterauslegung wenig hält, Sokrates selber betonen, es komme auf die Sache, 
nicht auf die Worte an. Übrigens ist es für den Aristokraten Kritias bezeich- 
nend, daß er als αἰσχρὰ ἔργα keine Ungerechtigkeiten anführt, sondern niedere 
Gewerbe wie Schuhmacherei, Fischverkauf und Prostitution (163b). 


Die kritisierten Ansichten. 53 


nicht annehmen wollen, daß Plato auf selbstgebaute Kartenhäuser 
mit Kanonen schießt, selbstverständlich. Ebenso aber muß man 
daraus, daß die Gleichsetzung von ἐπιστήμη ἑαυτοῦ und ἐπιστήμη 
ἑαυτῆς von Kritias vollzogen wird, während Plato ihre Berechtigung 
bezweifelt, schließen, daß auch sie einem Gegner gehört. Den 
Fehlschluß, den dieser dabei begangen hat, lesen wir 169e: ei 
γάρ τις ἔχει ἐπιστήμην ἣ αὐτὴ αὑτὴν γιγνώσκει, τοιοῦτος ἂν αὐτὸς 
εἴη olövneg ἐστὶν ὃ ἔχει... ὅταν δὴ γνῶσιν αὐτῆν αὕὑτῆς τις ἔχῃ, 
γιγνώσκων που αὐτὸς ἑαυτὸν τότε ἔσται. Daß Plato den Fehl- 
schluß bemerkt, zeigt wohl Sokrates’ Antwort: οὐ τοῦτο ἀμφισβητῶ, 
ὡς οὐχ ὅταν τὸ αὑτὸ γιγνῶσκόν τις ἔχῃ, αὐτὸς αὑτὸν γνώσεται. 
Denn es ist natürlich Absicht, wenn Plato für γνῶσιν αὑτῆς den 
an thukydideische Weise gemahnenden neutralen Ausdruck τὸ 
αὑτὸ γιγνῶσκον einsetzt, der als Extrakt aus αὐτὸς αὑτὸν yıyvo- 
oxsı, als Sichselbsterkennen gefaßt werden sollte. Er konzentriert 
aber sein Interesse ganz auf die sachliche Widerlegung des vom 
Gegner eingesetzten Begriffes. 

Ist der Gegner Sokrates selber, wie Horneffer (Plato gegen 
Sokrates) 'gemeint hat? Wenn wir das glauben sollten, müßte 
uns schon jemand nachweisen, daß Sokrates je den in seiner 
Künstelei so ganz unsokratisch aussehenden Begriff ἐπιστήμη 
ἐπιστήμης gebraucht habe. Dagegen kann kaum ein Zweifel sein, 
daß es ein Sokratiker ist, gegen den Plato sich wendet. Fragen 
wir uns nun vor allem, was denn dieser mit der Definition ge- 
wollt hat. 

Wir werden dabei gut tun, uns vor dem Hineintragen moderner 
Vorstellungen zu hüten und einfach Plato selber zu fragen. Der 
sagt uns 171d genau, was der Gegner von der ἐπιστήμη ἐπιστή- 
uns erwartet: die Fähigkeit, sich und andre auf Wissen und Nicht- 
wissen zu prüfen, sodaß daraufhin die Möglichkeit bestände, 
jeden an den richtigen Platz zu stellen und seine Fähigkeiten 
richtig zu verwerten. Die Persönlichkeit des σώφρων, der im Be- 
sitze dieser Fähigkeit wäre, wird uns 167a geschildert: Ὁ ἄρα 
σώφρων μόνος αὐτός τε ἑαυτὸν γνώσεται καὶ οἷός τε ἔσται ἐξετάσαι 
τί τε τυγχάνει εἰδὼς καὶ τί μή, καὶ τοὺς ἄλλους ὡσαύτως δυνατὸς 
ἔσται ἐπισκοπεῖν τί τις οἶδεν καὶ οἴεται, εἴπερ οἶδεν, καὶ τί αὖ 
οἴεται μὲν εἰδέναι, οἶδεν δ᾽ οὔ, τῶν δὲ ἄλλων οὐδείς. Daß diese 
ideale Schilderung nach einem ganz bestimmten Modell entworfen 
ist, liegt auf der Hand. Es ist Sokrates selber, wie wir ihn aus 


54 Charmides. 


der Apologie kennen, wie er umhergeht und die Menschen prüft 
und ein große Menge findet οἰομένων μὲν εἰδέναι τι ἀνθρώπων; 
εἰδότων δὲ ὀλίγα ἢ οὐδέν (Ap.23c). Dieselbe Menschenprüfung 
finden wir aber auch im Folgenden immer wieder als Charakte- 
ristikum der ἐπιστήμη ἐπιστήμης, und gerade das Wort ἐξετάζειν, 
das wir in Apologie und Laches technisch verwendet lasen (vgl. 
S. 36%), kehrt in unserer Schrift nicht bloß an der eben aus- 
geschriebenen Stelle wieder, sondern auch 170d οὐδὲ ἄλλον ἄρα 
οἷός τε ἔσται οὗτος ἐξετάσαι φάσκοντά τι ἐπίστασϑαι, πότερον 
ἐπίσταται ὅ φησιν ἐπίστασϑαι ἢ οὐκ ἐπίσταται und im selben Zu- 
sammenhange noch zweimal 172}. 

Also das was der Gegner von seiner ἐπιστήμη ἐπιστή- 
ung erwartet, deckt sich genau mit der ἐξέτασις, wie sie 
der historische Sokrates veranstaltet hat. Dann kann 
aber auch kein Zweifel sein, daß ein ursächlicher Zu- 
sammenhang obwaltet und daß jene Definition im Hin- 
blick auf Sokrates’ persönliche Fähigkeit aufgestellt 
ist und zeigen wollte, worin diese bestand. 

Oft genug hatten es Sokrates’ Jünger gesehen, wie dieser 
die angeblich klügsten Leute auf den Sand setzte, die berühmten 
Weisheitslehrer sogut wie den Arzt oder Dichter. Was hatte ihm 
die Fähigkeit dazu gegeben? Er hatte doch immer erklärt, selber 
nichts zu wissen, und den Fachleuten gegenüber konnte jedenfalls 
seine Überlegenheit nicht auf einem Fachwissen beruhen. Ein 
einziges hatte er immer für sich in Anspruch genommen, die 
Klarheit über sich selbst und über seine Unwissenheit. Und mit 
ihr paarte sich, das zeigte jedes Gespräch, die Klarheit über die 
Unwissenheit der andern. Oft genug hatte er wohl auch seinen 
Schülern das γνῶϑε σαυτόν ins Herz geschrieben. Hier mußte 
man also einsetzen, wenn man erfahren wollte, worin jene Fähigkeit 
des Meisters zu der Menschenprüfung bestanden hatte, in der ihm 
nachzueifern die Jünger gelobt hatten. Ein Lösungsversuch der 
Frage ist der, den Plato hier kritisiert. Er geht aus von dem 
ἑαυτὸν γιγνώσκειν. Welcher Fehlschluß formell dabei zur ἐπι- 
στήμη ἑαυτῆς hinüberleitete, haben wir gesehen. Aber wichtiger 
war gewiß die materielle Erwägung, daß die Überlegenheit gegen- 
über den verschiedensten Menschen nicht auf einer Masse inhalt- 
licher Kenntnisse, sondern auf einer formellen Gabe, einem „Wissen 
über das Wissen“ beruhen müsse. Zu der Gleichsetzung dieser 


ἐπιστήμη ἐπιστήμης. 55 


Gabe mit der σωφροσύνη muß natürlich ein bestimmter Anlaß vor- 
gelegen haben. Wahrscheinlich hatte Sokrates selber bei dieser 
Tugend der Selbstbeherrschung die Selbsterkenntnis, das γιγνώσκειν 
ἑαυτόν als das Wesentliche bezeichnet. 

Plato hat den Lösungsversuch seines Mitjüngers verworfen. 
Das ἑαυτὸν γιγνώσκειν selber kritisiert er direkt nicht, aber an- 
nehmen konnte er es auch nur mit einer genaueren Bestimmung. 
Tugend ist ihm nur, was etwas Gutes bewirkt. Das Wissen an 
sich tut das aber noch nicht, sondern nur das Wissen vom Guten. 
Also kann auch die Selbsterkenntnis nur eine Tugend sein, wenn 
sie das Wissen vom Guten einschließt, wenn man sie versteht 
als ein Wissen von Werten, ein Wissen von dem, was für uns 
gut ist, wenn man sie mit dem Wissen vom Guten und Üblen 
gleichsetz. Wie weit Plato diese Gedanken bei Sokrates ge- 
funden hat, ist eine andere Frage. Aber soviel ist klar, daß Plato 
dem falschen Lösungsversuch als eignen entgegenstellen wollte: 
Sokrates’ Überlegenheit beruht darauf, daß er bei allem Tun nach 
dem fragte, was diesem Tun letzthin Wert ‘verleiht, daß er das 
Gute suchte, das den Endzweck der einzelnen Handlungen bildete. 
Darüber daß sie diesen Endzweck nicht kannten, waren sich die 
von ihm Geprüften nicht klar. Er selber hat sich auch kein 
Wissen über den Endzweck, über das Gute angemaßt. Aber wenn 
die Jünger seine Erben sein wollen, müssen sie danach suchen 
wie er. 

Wer ist nun der Sokratiker, mit dem Plato sich — übrigens 
in durchaus freundschaftlicher sachlicher Weise — auseinander- 
setzt? Ich weiß es nicht‘), und viel kommt auch nicht auf den 


!) An sich würde ich in dieser Zeit kurz nach Sokrates’ Tode durchaus 
mit der Möglichkeit rechnen, daß Plato jene Ansicht nur mündlich hatte auf- 
stellen und begründen hören. Dagegen könnte man aber die große Ähnlichkeit 
geltend machen, die zwischen der Schilderung des Nutzens der Selbsterkenntnis 
bei Xen. Mem. IV, 2, 25—29 und Charm. 171d besteht (Teichmüller Lit. Fehden 
II S. 29f. und Joel IS. 487). Denn da bei Plato diese Schilderung hypothetisch 
vom Standpunkt des Gegners gegeben wird, so liegtesnahe, diesen als Quelle Xenophons 
anzusehen. Immerhin halte ich freie Benutzung Platos durch Xenophon nicht 
für ausgeschlossen, da dieser IV, 2 frei nach verschiedenen Anregungen kompo- 
niert. (Auch Joel betont S. 424 die inhaltliche Zerrissenheit des Kapitels und 
hält jedenfalls bei den vorhergehenden Paragraphen Abhängigkeit von Plato für 
möglich S. 403.) — Im übrigen kann der Gegner Platos hier Antisthenes sein, 
aber einen Beweis sehe ich auch hier bei Joel nicht erbracht. 


56 Charmides. 


Namen an, denn die Definition der σωφροσύνη als ἐπιστήμη 
ἐπιστήμης wird später nie wieder erwähnt‘), Sie war ein 
ephemerer Einfall, den Plato wohl endgültig beseitigt hat. 

Wichtig ist dagegen etwas anderes. Der Charmides führt 
uns mitten hinein in Debatten der Sokratiker über die Frage, 
worin denn die Eigenart des Sokrates, seine Überlegenheit über 
die Mitmenschen besteht oder bestanden hat. Unmöglich können 
diese Debatten bei Lebzeiten des Meisters geführt oder gar 
literarisch ausgefochten sein. Der Charmides ist wie der 
Laches nur nach Sokrates’ Tod zu denken. 

Man hat den Charmides den Zwillingsbruder des Laches ge- 
nannt. Das ist vollkommen berechtigt. Schon das Thema, das 
Wesen einer Einzeltugend, und der ganze äußere Aufbau, die 
Hinlenkung von einer Einzelheit auf den Kernpunkt, die Teil- 
nahme zweier Partner am Gespräch, die Art, wie hier Charmides, 
dort Nikias eine von einem andern gehörte Definition vorbringt 
und diese Definition diskutiert wird, der Abschluß des Gesprächs 
durch das Anerbieten der Teilnehmer, Sokrates weiter zu hören’) 
— das alles weist auf engste Verwandtschaft hin. Dazu kommen 
Einzelheiten. Der Homervers αἰδὼς δ᾽ οὐκ ἀγαϑὴ κεχρημένῳ ἀνδρὶ 
παρεῖναι wird Laches 2010 und Charm. 161a angeführt. Das 
Motiv, daß Sokrates bei den jungen Leuten wohlbekannt ist, 
finden wir Laches 181a wie Charm. 156a. Prodikos’ Scheidung 
der Worte spielt Laches 197d und Charm. 163d eine Rolle. Auf 
die wörtliche Übereinstimmung der wichtigen Stellen Laches 
(94. ὃ γὰρ ἐγὼ σοῦ ἤδη καλῶς λέγοντος ἀκήκοα und Charm. 
161b ὃ ἤδη του ἤκουσα λέγοντος wurde schon hingewiesen. Viel 
wichtiger sind aber die inneren Berührungen. In Laches 1980 
zeigt Nikias, daß der Arzt wohl gesund zu machen versteht, aber 
ob die Gesundheit dem Kranken nützt, das weiß er nicht. Ge- 
nau dasselbe lesen wir Charm. 164b. Nach Nikias (Lach. 195e) ver- 
mag der Seher wohl die künftigen Ereignisse zu verkünden, aber 
ob sie nützen werden, weiß er nicht, weil er die Kenntnis des 


1) Die Frage an sich, ob es eine ἐπιστήμη ἐπιστήμης gebe, wird bekannt- 
lich Theaetet 200b von ganz anderem Gesichtspunkte aus berührt, sicher ohne 
Zusammenhang mit Charm. 169d. 

2) Räder betont $.”97 richtig, daß es eigentlich zur Icherzählung des So- 
krates nicht recht paßt, wenn Charmides und Kritias am Schluß des Dialoges 
Sokrates so lebhaften Beifall zollen. 


Der Charmides nach 399 geschrieben. 57 


Guten nicht hat. Auch im Charmides tritt zum Arzte der Seher, 
und wieder hören wir, daß der Blick in die Zukunft nichts nützt, 
wenn nicht das Wissen vom Guten hinzukommt (173ce). Der 
ganze Abschnitt des Charmides, in dem wir diese Ausführungen 
finden, hat, wie wir sahen, die Tendenz, die positive Lösung an- 
zudeuten, daß die σωφροσύνη mit dem Wissen vom Guten und 
Üblen eng verwandt, wenn nicht identisch ist. Am besten aber 
wird diese Andeutung verstehen, wer diese Lösung aus dem Laches 
kennt. 

Charmides und Laches müssen annähernd zur selben Zeit 
bald nach Sokrates’ Tode entstanden sein. Plato hat erst eine 
Einzeltugend behandelt und dabei das Problem der Einheitlich- 
keit der Tugend formuliert. Ehe er dieses Problem behandeln 
konnte; mußte er aber die Irrtümer, die grade in sokratischen 
Kreisen über das Wesen einer andern Einzeltugend aufgetaucht 
waren, hinwegräumen. 


IV. Der kleine Hippias. 


Die Echtheit des kleinen Hippias ist vielfach bezweifelt 
worden. Dabei wird nicht bloß von Aristoteles der Inhalt des 
Dialoges als ὃ ἐν τῷ Ἵππιᾳ λόγος, also mindestens als der eines 
wohlbekannten sokratischen Dialoges bezeichnet (Met. 10256), wir 
haben noch einen viel älteren Zeugen. Längst ist ja schon be- 
merkt, daß die vom Scholion zum ersten Verse der Odyssee auf- 
bewahrten Ausführungen des Antisthenes in engstem Zusammen- 
hange mit dem kleinen Hippias stehen‘). Freilich hat man aber 
diesen Zusammenhang vielfach falsch beurteilt, und wir müssen 
deshalb auf diesen eingehen. Das Scholion betrifft die Erklärung des 
Wortes πολύτροπος und bezeichnet zunächst die Aporie, um die 
es sich dabei handelt: οὐκ ἐπαινεῖν φησιν ᾿Αντισϑένης Ὅμηρον 
τὸν ᾿Οδυσσέα μᾶλλον ἢ ψέγειν, λέγοντα αὐτὸν πολύτροπον ' οὐκ 
οὖν τὸν ᾿Αχιλλέα καὶ τὸν Αἴαντα πολυτρόπους πεποιηκέναι, ἀλλὰ 
ἁπλοῦς καὶ γεννάδας, οὐδὲ τὸν Νέστορα τὸν σοφὸν οὐ μὰ Δία 
δόλιον καὶ παλίμβολον τὸ ἦϑος, ἀλλ᾽ ἁπλῶς τε ᾿Αγαμέμνονι συνόντα 
καὶ τοῖς ἄλλοις ἅπασι καὶ εἰς τὸ στρατόπεδον εἴ τι ἀγαϑὸν εἶχε 


1) Dümmler Antisthenica S. 31—35; Joel Echter und xenoph. Sokrates I, 
S. 404, Horneffer, Platon gegen Sokrates, 5. 24—28. 


58 Der kleine Hippias. 


συμβουλεύοντα nal οὐκ ἀποκρυπτόμενον. τοσοῦτον (δ᾽) ἀπεῖχε 
τοιοῦτον τρόπον ἀποδέχεσϑαι ὃ ᾿Αχιλλεὺς ὡς ἐχϑρὸν ἡγεῖσϑαι 
ὁμοίως τῷ ϑανάτῳ, ὅς χ᾽ ἕτερον μὲν κεύϑῃ ἐνὶ φρεσίν, ἄλλο δὲ 
εἴπῃ (1 818). Als Lösung wird dann gegeben: Δύων οὖν ὃ ᾿Αν- 
τισϑένης φησί: τί οὖν; ἄρά γε πονηρὸς ὃ ᾿Οδυσσεύς, ὅτι πολύ- 
τροπος ἐκλήϑη; καὶ μὴν διότι σοφὸς οὕτως αὐτὸν προσείρηκε. μή- 
ποτε οὖν ὃ τρόπος τὸ μέν τι σημαίνει τὸ ἦϑος, τὸ δέ τι σημαίνει 
τὴν τοῦ λόγου χρῆσιν" εὔτροπος γὰρ ἀνὴρ ὃ τὸ ἦϑος ἔχων εἰς τὸ 
εὖ τετραμμένον, τρόποι δὲ λόγων αἱ ποιαὶ πλάσεις. .. εἰ δὲ οἱ 
σοφοὶ δεινοί εἶσι διαλέγεσθαι, καὶ ἐπίστανται τὸ αὐτὸ νόημα κατὰ 
πολλοὺς λέγειν τρόπους. ἐπιστάμενοι δὲ πολλοὺς τρόπους λόγων 
περὶ τοῦ αὐτοῦ πολύτροποι ἂν εἶεν δ. Die Erklärung des Wortes 
πολύτροπος --- πολλοὺς τρόπους λόγων ἐπιστάμενος ist recht ge- 
sucht, und Antisthenes gibt sie offenbar nur deshalb, weil er der 
andern Erklärung ausweichen will, die πολύτροπος als Gegen- 
satz zu ἁπλοῦς, als verschlagen und doppelzüngig faßt und in 
diesem Beiwort einen sittlichen Makel des Odysseus angedeutet 
findet. 

Daß diese Erklärung, die Antisthenes ablehnt, positiv von 
andrer Seite aufgestellt ist, zeigt die Stelle selber. Tatsächlich 
finden wir sie im kleinen Hippias, Denn hier beginnt der So- 
phist mit einer kurzen Charakteristik der drei wichtigsten Helden 
Homers: φημὶ γὰρ Ὅμηρον πεποιηκέναι ἄριστον μὲν ἄνδρα ᾿Αχιλλέα 
τῶν εἰς Τροίαν ἀφικομένων, σοφώτατον δὲ Νέστορα, πολυτροπώτα- 
τον δὲ Ὀδυσσέα (864). Es sind dieselben drei Männer, die auch 
in der von Antisthenes kritisierten Erklärung erwähnt”) und ge- 
nau in der gleichen Weise charakterisiert werden. Für Achilles 
gebraucht freilich Hippias zunächst das allgemeine ἄριστος, stellt 
ihn aber 365b als ἀληϑὴς καὶ ἁπλοῦς dem πολύτροπος καὶ ψευδὴς 
᾿Οδυσσεύς entgegen. Das Wichtigste ist aber, daß auch hier die Verse 
ἐχϑρὸς γάρ μοι κεῖνος ὁμῶς ᾿Δίδαο πύλῃσιν, ὅς χ᾽ ἕτερον μὲν κεύϑῃ 
ἐνὶ φρεσὶν ἄλλο δὲ εἴπῃ angeführt und in derselben Weise als 
eine Anspielung des Achilles auf den Lügner Odysseus gedeutet 
werden. 

Unter diesen Umständen kann darüber kein Zweifel sein 


1) δ᾽ om. Codd. Dindorf. 

2) Ob Antisthenes noch etwas aus dem Folgenden gehört, ist zweifelhaft. 

3) Antisthenes fügt von sich aus Aias hinzu, der ihn ja auch sonst in- 
teressiert hat. 


Echtheit des Dialogs. 59 


daß ein Zusammenhang hier besteht. Aber offenbar ist es nicht 
etwa, wie Dümmler und Joel annehmen, Plato, der gegen Anti- 
sthenes polemisiert. Kommt doch Antisthenes’ eigene Erklärung 
des Wortes πολύτροπος bei Plato überhaupt nicht vor. Die Sache 
liegt vielmehr so, daß die bei Plato vorgetragene Deutung von Anti- 
sthenes kritisiert und abgelehnt wird‘). Man kann also höchstens 
fragen, ob diese Deutung von Plato selbst herrührt oder von ihm 
nur aufgenommen ist und sie ursprünglich etwa Hippias gehört, 
dem sie Plato in den Mund legt. Aber auch wenn sich etwa Anti- 
sthenes’ Polemik nicht gegen den Dialog Hippias, sondern gegen 
einen auch in diesem berücksichtigten Homererklärer richten 
sollte?), so würde doch soviel sicher sein, daß der Dialog in die 
Zeit des Antisthenes gehört. Daß er wirklich von Plato verfaßt 
ist, ergibt sich aus den Beziehungen, die zwischen ihm und den 
andern Jugenddialogen Platos bestehen. 


In der Apologie und im Charmides hatte Sokrates’ Gewohn- 
heit die Menschen zu prüfen und seine Überlegenheit allen an- 
dern gegenüber im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Der 
Hippias bietet uns ein Beispiel dieser Elenktik. Darauf bereiten 
uns gleich die ersten Worte vor: Σὺ δὲ δὴ τί σιγᾷς, ὦ Σώκρατες, 
“Ἱππίου τοσαῦτα ἐπιδειξαμένου, καὶ οὐχὶ ἢ συνεπαινεῖς τι τῶν 
εἰρημένων ἢ καὶ ἐλέγχεις Ὗ; und tatsächlich ist der ganze Dialog, 
äußerlich angesehen, nichts als eine ἐξέτασις Ἱππίου Natürlich 
ist Sokrates urban genug, um seine Elenktik als Lerneifer zu 
verbrämen. Aber wenn er zweimal mit einer nur im frühen 
Dialoge verständlichen Ausführlichkeit betont λιπαρής εἶμι περὶ 
τὰς ἐρωτήσεις τῶν σοφῶν) und erklärt, dei εἴωϑα, ἐπειδάν τις 
λέγῃ τι, προσέχειν τὸν νοῦν, ἄλλως τε καὶ ἐπειδάν μοι δοκῇ σοφὸς 
εἶναι ὃ λέγων (869), so ist ja niemand im Unklaren, daß dies 


1) So richtig Horneffer S. 27. 

2) Wahrscheinlich ist mir das bei den starken Berührungen im Wortlaut 
nicht. Dagegen halte ich es für sehr möglich, daß die kurze Charakteristik 
der drei Männer (364c) — die übrigens grade den Gegensatz ἁπλοῦς-πολύτροπος 
noch nicht enthält — von Hippias selber stammt, und Diels hat sie Vors.? 5. 581, 
21 als Zeugnis für die Anschauung des Sophisten aufgenommen. 

3) Über den Terminus ἐλέγχειν vgl. 8. 861, 

4) 369e und 372a. Da an der zweiten Stelle ausdrücklich die erste zitiert 
wird, so ist wohl auch hier περί, nicht πρός zu lesen. Kommt λιπαρὴς πρός τι 
wohl überhaupt vor? 


60 Der kleine Hippias. 


sachlich dasselbe besagt wie das, was wir Apol. 23b lesen: περιὼν 
Emo καὶ ἐρευνῶ κατὰ τὸν ϑεὸν καὶ τῶν ἀστῶν καὶ τῶν ξένων, dv 
τινα οἴωμαι σοφὸν εἶναι, καὶ ἐπειδάν μοι μὴ δοκῇ, τῷ ϑεῷ βοηϑῶν 
ἐπιδείκνυμαι ὅτι οὐκ ἔστι σοφός. Im der Apologie war natur- 
gemäß die Prüfung der Bürger in den Vordergrund getreten. 
Jetzt führt Plato mit Sokrates einen der berühmten Weisheits- 
lehrer zusammen und greift sich mit Bedacht unter den drei 
Männern, deren gegenwärtige Wirksamkeit er Apol. 19e erwähnt, 
Hippias von Elis heraus. Denn der ist der echte Typus τῶν 
οἰομένων σοφῶν εἶναι. Keiner ist so berühmt durch sein viel- 
seitiges Wissen und Können wie !dieser, und Plato führt uns in 
den lebendigsten Farben den bildungsstolzen Mann vor Augen, 
der sich auf geistigem Gebiete ein Olympionike dünkt und sich 
rihmt, nie einen überlegenen Gegner gefunden zu haben’). 

Mit Herablassung erklärt sich deshalb Hippias bereit, Sokrates 
auf dem eigensten Gebiete der Sophistik, der Homerexegese, Aus- 
kunft zu erteilen. Um so kläglicher wirkt dafür seine Hilflosig- 
keit, als ihn Sokrates dann wirklich in ein Gespräch über die 
einfachsten sittlichen Begriffe verwickelt. Dabei knüpft Sokrates 
an ein grade damals sehr bekanntes und vielleicht von Hippias 
selber behandeltes Problem an. In den etwa gleichzeitig mit 
Platos Dialog entstandenen sophistischen Δισσοὶ Adyoı?) wird näm- 
lich als viertes Problem erörtert, ob die Begriffe ψευδής und 
ἀληϑής absolute Geltung haben oder dieselbe Rede je nach den 
Umständen und dem subjektiven Standpunkt des Beurteilers das 
eine oder andre Prädikat verdient. Dieses Problem greift So- 
krates auf und gibt ihm eine neue Wendung, indem er für die 
Rede die Person einsetzt und den scheinbar so selbstverständ- 
lichen Satz, daß der Lügner und der Wahrhaftige verschieden 
sind, in Zweifel zieht. 

In rascher Folge führt Sokrates den Sophisten zu den Zuge- 
ständnissen: Der Lügner ist fähig etwas zu tun, ist verschlagen 
infolge einer gewissen Einsicht, weiß was er tut, hat also ein 
Wissen und ist σοφός (— 365e). Hier zeigt sich nun allerdings, 
daß Hippias gewandter ist als der Laie Laches. Der hatte es 
sich ruhig gefallen lassen, daß ein Taucher als absolut φρόνιμος 


1) 3648, 368. 
®) Über diese vgl. den Anhang. 


Inhalt des Gesprächs. 61 


bezeichnet wurde, und hatte nicht gemerkt, was Sokrates mit 
der Frage eig τί φρόνιμος; wollte (Lach. 193, vgl. 5. 25). Hip- 
plas weiß so gut wie der Sokrates des Euthydem, daß Fang- 
schlüsse oft darauf beruhen, daß absolute und relative Geltung 
eines Wortes vermischt werden. Und wie Sokrates dort dem 
Euthydem seine Kreise stört, indem er auf die Frage: πότερον 
ἐπίστασαι... τούτῳ πάντα; antwortet: ἅπαντα, ἅ γ᾽ ἐπίσταμαι 
(296b, vgl. 295e 2968), so antwortet Hippias hier auf Sokrates’ 
Frage: ἐπιστάμενοι δὲ ταῦτα ἃ ἐπίστανται πότερον ἀμαϑεῖς εἰσιν 
ἢ σοφοί; mit der Einschränkung σοφοὶ μὲν οὖν αὐτά γε ταῦτα, 
ἐξαπατᾶν (365 extr.) 

Um so stärkere Blößen gibt sich Hippias aber nachher. So- 
krates zwingt ihn zu den Folgerungen: Wie überhaupt die Lüge 
ein Wissen voraussetzt, so auch die Lüge auf einem bestimmten 
Wissensgebiete. Ja, hier wird grade der am besten lügen kön- 
nen, der das größte Fachwissen hat. Derselbe ist es aber auch 
natürlich, der das Richtige auf diesem Gebiete am besten sagen 
kann. Da also der Sachkundige auch ἀληϑής ist, ἀναπέφανται 
ὁ αὐτὸς ὧν ψευδής τε καὶ ἀληϑής (369b). Natürlich weiß Hip- 
pias, daß er damit auf ein Paradoxon hereingefallen ist, wie es 
die Eristik der Zeit zu erzielen liebte; er hat auch die Empfin- 
dung, daß dieses Ergebnis nur durch Trugschlüsse erreicht werden 
konnte (369c). Aber wo der Trugschluß sitzt, das findet er 
nicht. Dabei ist dieser plump genug. Denn wenn Sokrates hier 
den Satz aufstellt, daß auf jedem Gebiete der Sachkundige in 
höchstem Maße ἀληϑής und ψευδής sei, so kann er das nur da- 
durch, daß er diese Begriffe statt des an sich allein zulässigen 
δυνατώτατος ἀληϑεύειν καὶ ψεύδεσϑαι einsetzt, und die Berech- 
tigung zu dieser Vertauschung hat er sich durch ein grobes lo- 
gisches Taschenspielerstück erworben. Er hat nämlich für den 
richtigen Satz οἱ ψευδεῖς εἰσι δυνατοὶ ψεύδεσθαι zunächst das 
identische Urteil οἱ ψευδεῖς εἶσιν οἷ σοφοί τε καὶ δυνατοὶ ψεύδεσθαι 
eingeschmuggelt und ist so zu der unzulässigen Umkehrung οἱ 
δυνατοὶ ψεύδεσθαι ψευδεῖς εἶσι gelangt (366aff). Τὸν δυνάμενον 
ψεύσασθαι λαμβάνει ψευδῆ, wie Aristoteles Met. 102547 ganz 
richtig sagt. 

Daß Plato hier bewußt einen Trugschluß anwendet, zeigt 
schon das absurde Ergebnis, das er damit erzwingen will. Es ist 
aber gewiß auch kein Zufall, daß er selber in dem, wie wir noch 


62 Der kleine Hippias. 


sehen werden, sehr bald nach dem Hippias geschriebenen Pro- 
tagoras die Fehlerhaftigkeit einer solchen Umkehrung ausdrück- 
lich klarstellt. ἐρωτηϑεὶς ὑπὸ σοῦ, sagt dort Protagoras 350e, 
35la, ei οἱ ἀνδρεῖοι ϑαρραλέοι εἰσίν, ὡμολόγησα ᾿ εἰ δὲ καὶ οἱ 
ϑαρραλέοι ἀνδρεῖοι, οὐκ ἠρωτήϑην .. .. ὥστε συμβαίνει τοὺς μὲν 
ἀνδρείους ϑαρραλέους εἶναι, μὴ μέντοι τούς γε θαρραλέους ἀνδρείους 
πάντας. DBezeichnend ist dabei, daß diese Klarstellung Prota- 
goras in den Mund gelegt wird. Denn damit ist deutlich, wie 
hoch Plato diesen Mann über den Charlatan Hippias stellt. 

Das Spiel, das Sokrates mit Hippias treibt, wird im zweiten 
Teile des Gesprächs noch übermütiger. Sokrates begibt sich 
nämlich jetzt selber auf das Gebiet der Homerexegese, und wie 
er im Protag. 347e erklärt, im die Dichter könne jeder hinein- 
deuten, was er wolle, so liest er hier aus Homer heraus, daß 
Achilles ein viel schlimmerer Lügner sei als Odysseus (8694 ἢ). 
Als dann Hippias ganz richtig einwirft, daß Achill dort nicht ab- 
sichtlich das Unrichtige sage, schleudert Sokrates ihm das neue 
Paradoxon ins Gesicht, wer bewußt lüge, sei besser als der un- 
freiwillige Lügner. Angeblich soll dieses Paradoxon sogar schon 
im ersten Teile des Gesprächs festgestellt sein (371e), und Hip- 
pias ist so verblüfft, daß er diese Behauptung nicht bestreitet, 
obwohl vorher höchstens zugegeben war, daß, wer in einem be- 
stimmten Fachgebiete bewußt einen Fehler mache, tüchtiger sei 
als der, dem es an Kenntnissen fehle. Wenn also Sokrates fragt 
οὐκ ἄρτι ἐφάνησαν οἱ ἑκόντες ψευδόμενοι βελτίους ἢ οἱ ἄκοντες; 
so macht er wieder absichtlich den Fehler, daß er ein absolutes 
„besser“ für ein relatives „tüchtiger“ einsetzt. 

Derselbe absichtliche Fehler ist es, der nachher zum absurden 
Ergebnis führt, als Sokrates noch einmal das Problem erörtert 
πότεροί more ἀμείνους, οἱ ἑκόντες ἢ οἱ ἄκοντες ἁμάρτανοντες; 
(378 οἴ). Sokrates geht von einem Beispiel aus und zeigt: Beim 
Laufen ist die Langsamkeit etwas Schlechtes; wer also langsam 
läuft, tut im Laufen etwas Schlechtes, ist ein schlechter Läufer; 
aber besser ist dabei, wer das Schlechte freiwillig, als wer es 
aus Unvermögen tut (— 574). Dasselbe gilt auch von den andern 
körperlichen Fertigkeiten, von den Fähigkeiten der Haustiere, der 
Sklaven, ja von unseren eigenen psychischen Fähigkeiten. Auch. 
von unserer Seele gilt: βελτίων ἔσται, ἐὰν ἑκοῦσα κακουργῇ TE 
καὶ ἐξαμαρτάνῃ ἢ ἐὰν ἄκουσα (375d). Scheinbar ist hier alles 


Inhalt des Gesprächs. 63 


in bester Ordnung, und die Induktion steigt ganz regelrecht vom 
Niederen zum Höheren, vom Unbeseelten zum Beseelten auf. 
Und doch ist es gleich beim ersten Beispiel für den, der Plato 
kennt, klar, daß Sokrates nicht im Ernste sagen kann: Wer 
schlecht läuft, tut damit im Laufen etwas Schimpfliches (373e). 
Nicht umsonst führt doch Plato hier dasselbe Beispiel so genau 
aus, das er auch im Charmides behandelt. Dort erörtert er die 
Definition der σωφροσύνη als ἡσυχιότης und verwirft sie, weil 
Langsamkeit und Schnelligkeit sittlich indifferente Begriffe sind: 
τῶν καλῶν τι ἡμῖν ἣ σωφροσύνη ὑπετέϑη, καλὰ δὲ οὐχ ἧττον τὰ 
ταχέα τῶν ἡσυχίων πέφανται (100 4). Ob also jemand schnell 
oder langsam läuft, hat an sich mit der Sittlichkeit, mit der 
Frage, ob jemand absolut gut oder schlecht ist, nichts zu tun. 
Und noch am Schluß des Beweisganges spielt Sokrates mit diesem 
Doppelsinn. Er läßt sich nämlich zugestehen, wir würden Seelen 
von Sklaven, die auf einem bestimmten Gebiete freiwillig Fehler 
machen, höher schätzen ὡς ἀμείνους οὔσας εἰς ταῦτα, läßt aber 
sofort dann diese einschränkende Relation fallen. Freilich deckt 
er nun nicht soweit seine Karten auf, daß er folgert, Sklaven, 
die absichtlich Dummheiten machen, seien absolut besser. Denn 
dann hätte Hippias doch wohl gemerkt, daß es auf die Tendenz 
des Handelns ankommt. Aber dieselbe unzulässige Einsetzung 
des absoluten Begriffes für den relativen liegt dort vor, wenn 
für die eigene Seele gefolgert wird οὐκοῦν βελτίων ἔσται, ἐὰν 
ἑκοῦσα κακουργῇ (375d). 

Hippias hätte merken müssen, daß es auf die Tendenz beim 
Handeln ankommt — das führt uns auf einen andern Punkt, der 
das absurde Ergebnis verursacht. Das ist die Unklarheit, die über 
den Begriff ἑκών herrscht. Natürlich ist auch sie von Plato be- 
wußt zugelassen. Es kann doch keine unfreiwillige Komik sein, 
wenn Sokrates von den Füßen redet, die freiwillig hinken, von 
der Nase, die absichtlich Böses tut, indem sie schlecht riecht’), 
von der Pferdeseele, die freiwillig schlecht reitet — das dürfen 
wir allerdings eigentlich nicht sagen, denn hier drückt sich Plato 


1) Der Abschnitt des Charmides berührt sich ganz stark mit Hipp. 373c 
—374b. Beide Male wird vom Körper zur Seele übergegangen; Laufen, Ringen 
καὶ τὰ τοῦ σώματος ἅπαντα ἔργα, Zitherspielen und ἐπιστῆμαι sind hier wie dort 
die Beispiele, und die Argumentation verläuft zum Teil ganz parallel, 

2) 374.cd. 


64 Der kleine Hippias. 


zunächst vorsichtiger aus „die Pferdeseele, mit der man freiwillig 
schlecht reitet“, aber daß die Pferdeseele es ist, die das Schlechte 
tut, daran hält er fest (τῇ ἀμείνονι ἄρα ψυχῇ ἵππου τὰ τῆς 
ψυχῆς ἔργα ταύτης τὰ πονηρὰ ἑκουσίως ἂν ποιοῖ, τῇ δὲ πο- 
νηρᾷ ἀκουσίως; 8158), und darauf hat jedenfalls die Pferdeseele 
in unserer Beweisführung so gut Anspruch wie die Sklavenseele, 
die gleich darauf besprochen wird, weil sie freiwillig schlecht 
schießt, und die gleichfalls nachher als Besitzstück in Betracht 
gezogen wird. Gerade diese drastischen Beispiele hätte Plato un- 
möglich anwenden können, wenn er sich nicht darüber klar ge- 
wesen wäre, daß man ἑχὼν τὰ κακὰ ἐργάζεται nur von einem 
Menschen sagen kann, der bestimmte als richtig erkannte Ziele 
verfolgt‘). Nur die Absicht zu absurden Ergebnissen zu ge- 
langen konnte so absurde Beispiele wählen lassen. | 

Das gleiche Bild zeigt der letzte Abschnitt des Gespräches 
(375d—376b). Da Hippias zwar keine Widerlegung der Para- 
doxie zu finden weiß, aber doch ungläubig bleibt, so beginnt 
Sokrates von neuem: Die Gerechtigkeit ist Fähigkeit oder Wissen 
oder Beides. Also ist die fähigere oder klügere Seele die ge- 
rechtere. Diese ist es aber, die nach dem Vorigen am ehesten 
imstande sein muß, das Gute wie das Böse zu tun. Sie wird 
also das Böse, wenn sie es tut, freiwillig tun. Also ist es der 
Gute, der das Böse freiwillig tut. Ὃ ἄρα ἑκὼν ἁμαρτάνων καὶ 
αἰσχρὰ καὶ ἄδικα ποιῶν, ὦ Ἱππία, εἴπερ τίς ἐστιν οὗτος, οὐκ ἂν 
ἄλλος εἴη ἢ ὃ ἀγαϑός (8160). Das ist das Ergebnis, das freilich 
Sokrates so wenig glauben will wie Hippias, das aber „jetzt 
wenigstens nach der Untersuchung notwendig ist“. 

Auch hier liegen die Trugschlüsse auf der Hand. Oöxoöv 
εἰ μὲν δύναμίς ἐστι τῆς ψυχῆς ἣ δικαιοσύνη, ἣ δυνατωτέρα ψυχὴ 
δικαιοτέρα ἐστί; fragt Sokrates 8766. Aber folgern durfte er 
doch nur ἡἣ δικαιοτέρα ψυχὴ δυνατωτέρα ἐστι. Wir haben also 
dieselbe unzulässige Umkehrung des Urteils, die Plato schon 
vorher, wie wir sahen, mit vollem Bewußtsein anwendete. Und 
wenn er ohne zwingenden Grund hinzufügt: βελτίων γάρ mov 
ἡμῖν ἐφάνη ἣ τοιαύτη, so erinnert das an den anderen Fehlschluß, 
bei dem die absolute Geltung für die relative eingesetzt wurde. 


1 Wie bestimmte Anschauungen Plato über den Begriff ἑκών hat, werden 
wir beim Protagoras sehen. 


Der Hippias will absurde Ergebnisse erzielen. 65 


Nachher erzwingt Sokrates das Zugeständnis οὐκοῦν ἣ δυνα- 
τωτέρα καὶ ἀμείνων ψυχή, ὅτανπερ ἀδικῇ, ἑκοῦσα ἀδικήσει, N δὲ 
πονηρὰ ἄκουσα (376a). Da kann uns auffallen, warum Sokrates 
hier nicht für die fähigere Seele die gerechtere einsetzt, auf die 
es ihm doch von vornherein ankam. Der Grund ist offenbar 
wieder der, daß Plato seine Karten nicht zu weit aufdecken will. 
Denn in diesem Falle hätte selbst ein Hippias doch wohl ein- 
gewendet, bei einer δικαιοτέρα ψυχή sei der Fall ὅτανπερ ἀδικῇ 
eben ausgeschlossen. Daß aber der Leser sich dies selber sagen 
soll, das zeigt der Satz ὃ ἑχὼν ἁμαρτάνων καὶ αἰσχρὰ καὶ ἄδικα 
ποιῶν, εἴπερ τίς ἐστιν οὗτος, οὐκ ἂν ἄλλος εἴη ἢ ὃ ἀγαϑός 
(376b). Hier gibt, wie längst bemerkt ist, Plato dem Leser eine 
Andeutung über seine wahre Ansicht, genau wie er es am Schluß 
von Laches und Charmides tut. Das εἴπερ kann nach dem Zu- 
sammenhang nicht anders verstanden werden als z. B. Rep. 381be, 
wo Plato die Unveränderlichkeit der Gottheit damit dartut, daß 
diese sich nur zum Schlechteren verändern könnte, εἴπερ ἀλλοιοῦται. 
Der ganze zweite Teil des Hippias ist also ein bloßes Spiel. 
Denn die Frage, ob der freiwillig oder der unfreiwillig Unrecht- 
tuende besser ist, ist gegenstandslos, so lange es zweifelhaft ist, 
ob es überhaupt einen gibt, der freiwillig Unrecht tut. Dieses 
Problem müßte man im Ernste zuerst behandeln, und noch vor- 
her wäre es nötig, Klarheit über den Begriff ἑκών zu erlangen. 
Jedenfalls verlangt Plato von seinem Leser, daß er die Unmög- 
lichkeit einer freiwillig schlecht riechenden Nase durchschaut und 
den Begriff ἑχών auf den bewußt ein Endziel verfolgenden 
Menschen beschränkt. Wenn der Leser einigermaßen mit sokra- 
tischen Ideen vertraut ist, dann wird er auch wissen, daß dieses 
bewußte Streben nach dem Guten als Endziel ein Unrechttun 
für Sokrates ausschließt. Das οὐδεὶς ἑκὼν ἁμαρτάνει ist schon 
für Sokrates’ Worte in der Apologie 25e 26a Voraussetzung. 
Wir treffen denselben Satz im Gorgias mehrfach wieder (509e, 
468, 488a). Noch in den Gesetzen 731c hat Plato ihn ver- 
fochten, und im Protagoras, der unmittelbar auf den Hippias 
folgt und mehrfach die Lösung der dortigen Trugschlüsse an- 
deutet, wird ausdrücklich erklärt οὐδεὶς τῶν σοφῶν ἀνδρῶν ἡγεῖ- 
ται οὐδένα ἀνϑρώπων ἑκόντα ἐξαμαρτάνειν οὐδὲ αἰσχρά τε καὶ 
κακὰ ἑχόντα ἐργάζεσθαι (345e, vgl. 358e. Näheres nachher) ἢ). 

1) In Xenophons Memorabilien IV, 2 will Sokrates in Euthydem das Be- 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 5 


66 Der kleine Hippias. 


Darüber, daß der Hippias ein παίγνιον ist, in dem 
Plato bewußt Fehlschlüsse anwendet, um zu einem ab- 
surden Ergebnis zu gelangen, kann also kein Zweifel 
sein. Aber ist er nun ein reines Spiel oder verfolgt Plato doch 
bestimmte Absichten ὃ 

Wollen wir diese Frage beantworten, so müssen wir zunächst 
eins beachten. Das ist die große Rolle, die hier die Persönlich- 
keit von Sokrates’ Gegner spielt. In einer Weise, die uns aus 
dem Drama wohlvertraut, aus Plato aber kaum geläufig ist, wird 
der Charakter des bildungsstolzen Mannes uns exponiert, indem 
Plato auf die „Vorfabel“ zurückgreift und eine Icherzählung des 
Hippias über die Art, wie er in Olympia seine σοφία zur Schau 
gestellt hat, einflicht (368). Das geht zweifellos den wirklichen 
Sophisten Hippias an. Zu diesem steht aber auch das Gespräch 
selbst in engster Beziehung. Wenn man nämlich den Abschnitt 
366c—369b liest, so muß an sich die Ausführlichkeit verwunder- 
lich erscheinen, mit der hier der einfache Satz, daß auf jedem 
Gebiete der Sachkundige am ehesten imstande ist zu lügen wie 
die Wahrheit zu sagen, durch die verschiedensten Fächer illustriert 
wird. Was diese Breite bezweckt, das zeigt sich darin, daß wir 
dreimal die Wendung lesen οὐ σὺ μέντοι ἔμπειρος εἶ λογισμῶν καὶ 
λογιστικῆς; (366c) — οὐκοῦν καὶ γεωμετρίας ἔμπειρος εἶ; (567 4) 
— ἔτι τοίνυν καὶ τὸν τρίτον ἐπισκεψώμεθα, τὸν ἀστρονόμον, ἧς 
αὖ σὺ τέχνης ἔτι μᾶλλον ἐπιστήμων οἴει εἶναι ἢ τῶν ἔμπροσϑεν 
(367e), wo dann die große Schilderung der Polyhistorie des 
Hippias folgt. Grade diese Fächer sind es, auf die sich auch 


wußtsein des Nichtwissens wecken und macht deshalb ὃ 19ff. auch auf die 
Schwierigkeiten des Begriffes ἑκών aufmerksam. „Wer freiwillig schlecht schreibt, 
ist ein besserer γραμματικός als wer unfreiwillig schlecht schreibt. Muß da 
nicht auch, wer freiwillig Unrecht tut, besser sein, als wer es unfreiwillig tut?“ 
Die positive Lösung, daß es auf die Tendenz des Handelns ankommt, deutet 
Xenophon an, wenn er Sokrates fragen läßt (19): τῶν δὲ τοὺς φέλους ἐξαπα- 
τώντων ἐπὶ βλάβῃ, πότερος ἀδικώτερός ἔστιν, ὃ ἑκὼν ἢ ὃ ἄκων; — Ich halte 
es für sehr möglich, daß Xenophon auch hier durch Plato beeinflußt ist (vgl. 
S. 55"). Die Aporien selber, die hier mit Bezug auf die Begriffe „ungerecht“ 
und „gerecht“ aufgedeckt werden, sind natürlich aber allgemein bekannt und 
gehen auf die Sophistenzeit zurück. Vgl. den dritten Abschnitt der Δισσοὶ Λόγοι, 
die ähnlichen Erörterungen in Platos Rep. I und im pseudoplatonischen Dialog 
περὶ δικαίου (das Material bei Joel, Echter und xenophont. Sokrates I, S. 383ff., 
der aber fälschlich an Einfluß der Sokratik auf die Δισσοὶ Adyoı denkt). 


Der Sophist Hippias wird persönlich verspottet. 67 


nach Prot. 318e der Unterricht des wirklichen Hippias in erster 
Linie erstreckt (ἐμβάλλουσιν εἰς τέχνας, λογισμούς τε καὶ doTgo- 
vouiav καὶ γεωμετρίαν καὶ μουσικὴν διδάσκοντες). Damit erhält 
der Abschnitt eine ganz persönliche Spitze. Und wenn nun So- 
krates jedesmal untersucht, wer der größte Lügner auf jedem 
Gebiete ist, so muß Hippias darauf gefaßt sein, daß nicht bloß 
die allgemeine Antwort „der Sachkundigste“ erfolgt, sondern daß 
sein eigener Name fällt. Natürlich ist Sokrates zu urban, das 
direkt auszusprechen, aber hart an die Grenze führt er den So- 
phisten mehrfach heran, und man hat das Gefühl, daß dieser 
selber es weiß und erleichtert aufatmet, als ihm Sokrates wenig- 
stens die äußerste Blamage erspart. 

Den wirklichen Polyhistor Hippias muß man sich 
also vor Augen halten, wenn man den Humor dieser 
Stelle verstehen will. Das ist wichtig, damit man sich 
vor den Übertreibungen der modernen Maskenforschung 
bewahrt. Wer an unserer Stelle hinter Hippias einen 
anderen Gegner Platos wittert, wer etwa gar an Isokra- 
tes oder Antisthenes denkt, die nie mit Mathematik und 
Astronomie sich beschäftigt haben’), der verzichtet dar- 
auf, Platos künstlerische Absichten zu verstehen. Mit 
Hippias selber spielt Sokrates wie die Katze mit der 
Maus. Der Sophist persönlich soll getroffen und lächer- 
lich gemacht werden. 

Das gleiche muß dann aber auch vom ganzen Dialog gelten. 
Manche Anspielung mag noch drin stecken, die uns entgeht). 
Aber eins dürfen wir gewiß sagen: Wir sollen den Eindruck er- 
halten, daß der berühmte Vielwisser Hippias über die einfachsten 
sittlichen Begriffe nicht nachgedacht hat und daß er die para- 
doxesten Behauptungen wohl zu leugnen, aber nicht zu wider- 
legen vermag, daß er wohl imstande wäre, eine Epideixis im 
entgegengesetzten Sinne zu halten (369c), aber aus Mangel an 
logischer Schulung in der Dialektik jedem Trugschluß wehrlos 
ausgeliefert ist. Und dieser Eindruck wird natürlich dadurch 
verstärkt, daß das Problem, das Plato hier behandelt, und die 
Art, wie er es behandelt, vollkommen dem Unterrichtsbetriebe 
der Sophisten entnommen scheint (vgl. S. 60). Ähnliches werden 

ἢ Als πολυμαϑής erscheint Hippias auch bei Xen. Mem. IV, 4, 6. 

3) Doch vgl. S. 59%, 


ΘῈ 


68 Der kleine Hippias. 


wir gleich nachher im Protagoras finden, wo die lange Epideixis, 
die dort Plato dem Sophisten in den Mund legt, auch die Un- 
klarheit in den Anschauungen des Sophisten demonstrieren soll. 
Viel näher in der ganzen Stimmung aber steht dem Hippias 
natürlich der Euthydem. Wie Dionysodor und Euthydem, so ist 
auch Hippias kein Mann, den man ernsthaft widerlegt. Er ver- 
dient nur im komödienhaften Zerrbild vorgeführt zu werden. 
Und wie dort Plato zeigt, daß er sehr wohl imstande ist, den 
Eristikern auf ihr eigenes Feld zu folgen‘), so macht er sich 
hier den Spaß, den Vielwisser mit den Waffen der Eristiker, 
den Trugschlüssen, zu schlagen. Und wie im Protagoras Plato 
von seinem Leser verlangt, daß er die Unklarheiten der Epideixis 
durchschaue, so fordert er auch hier, daß der Leser selber sich die 
Frage vorlegt, wo die Trugschlüsse stecken, die zu dem absurden 
Ergebnis führen. 

So steht es also mit dem Hauptvertreter der Sophisten, zu 
denen, wie uns der Anfang des Protagoras veranschaulicht, die 
Jugend blindlings hinströmt. Sollen wir denn wirklich glauben, 
daß diese Männer imstande sind, wie sie es versprechen, die 
Jugend besser zu machen, wo sie selber sich gar nicht klar sind, 
was eigentlich „besser“ ist? „Falls wir Laien in solchen Fragen 
unklar sind, so ist das kein Wunder. Aber falls auch ihr Weisen 
darüber unklar seid, so ist es doch wirklich schlimm, wenn wir 
nicht einmal durch den Verkehr mit euch unsere Unklarheit los- 
werden können“ — das sind die Worte, mit denen der Leser 
am Schluß des Dialogs entlassen wird. So nimmt er aus der 
Komödie, die er miterlebt hat, eine ernste Mahnung mit, und 
wer mit Sokrates selbst der Überzeugung ist, daß es keine 
wichtigere Aufgabe gibt als die Sorge für die Seele ὅπως ὡς 
ἀρίστη ἔσται (Apol. 23d—30b), der mag sich wohl fragen, ob er 
sich diesen Sophisten anvertrauen darf, ob es nicht besser ist, 
zu den Männern zu gehen, die wirklich über Erziehung und 
Sittlicehkeit nachgedacht haben. Die Mängel der herrschenden 
Riehtung in der Jugendbildung will also Plato aufdecken, indem 
er einen ihrer Hauptvertreter lächerlich macht’), und die Über- 


!) z.B. 8008, wo Ktesippos dem Euthydem die Pointe, die Mäntel seien 
δυνατὰ ὁρᾶν (im aktiven Sinne), vorwegnimmt. 

32). Damit tritt natürlich die Person des Hippias gegenüber der Gattung, 
die er vertritt, zurück. 


Ἐπ“ ΝΣ Zn Ν Br 


Kritik an Hippias’ Bildungsideal. 69 


legenheit des Sokrates tut er dar. Daß die jungen Leute Athens, 
wenn sie das Buch läsen, dabei genau wissen würden, daß diese 
Überlegenheit in Wirklichkeit nicht auf der Trugdialektik, sondern 
auf positiven Überzeugungen beruhe, das konnte Plato ohne 
weiteres voraussetzen. Den Vätern aber sollte vor allem das 
eine deutlich werden, daß die ganze Bildungsrichtung, wie sie 
Hippias vertritt, mit Sittlichkeit und Charakterbildung nichts zu 
tun habe. Sie vermag wohl „allgemeine Bildung“, eine Fülle 
von Kenntnissen zu vermitteln, aber ob der Schüler diese gut 
benutzt oder ob er der größte Lump und Schwindler wird, darauf 
hat sie keinen Einfluß. Das ist doch das positive Ergebnis des 
Abschnittes 365—369b, in dem gezeigt wird, wie die Sachkunde 
sich nach beiden Seiten hin, zum Guten und zum Schlechten, 
gebrauchen läßt. Die sittliche Indifferenz und zugleich die Ge- 
fährlichkeit zeigt Plato hier für die Polymathie des Hippias, wie 
er sie später für die formelle Kunst der gorgianischen Rede 
beweist '). 

Wollen wir aber den Hippias ganz verstehen, so müssen wir 
noch eins bedenken: Es ist der lebende Hippias, den Plato hier 
im Zerrbild vorführt, so gut wie die Komödie es so gern mit 
den zeitgenössischen Sophisten tat. In der Apologie wird uns 
ja Hippias, der viel jünger war als Protagoras (Hipp. mai. 282d), 
als einer der zur Zeit wirksamsten Weisheitslehrer genannt (196). 
Der Dialog Hippias ist freilich, wie wir gleich sehen werden, erst 
nach 399 verfaßt, aber viel später wird man ihn gewiß nicht 
ansetzen, und daß Plato etwa einen eben Verstorbenen zur Ziel- 
scheibe seines Spottes gemacht haben sollte, wird niemand glauben. 
So ist es also der vielgefeierte Zeitgenosse, dem der junge Plato 
hier keck den Fehdehandschuh hinwirft. Man hat freilich die 
Vermutung geäußert, der Dialog sei nicht zur Veröffentlichung 
bestimmt gewesen, da er zu üblen Mißdeutungen hätte Anlaß 
geben können’). Aber dem Publikum, auf das Plato rechnete, 
das sich für die Person des Sokrates und die Sophisten interes- 
sierte, dürfen wir gewiß etwas mehr Verständnis für Platos 
Absichten zutrauen als manchen Modernen. Ganz abgesehen 
ferner davon, daß wohl Antisthenes auf den Dialog Bezug ge- 


1) Ähnlich urteilt auch C. Ritter, Platon $. 307. 
?) Ritter, Platon I, S. 308. Auch nach Gomperz, Gr. Denker II, 5. 239 soll 
Plato den Dialog für einen engen Kreis geistesverwandter Leser bestimmt haben. 


70 Der kleine Hippias. 


nommen hat, zeigt schon die vollendete künstlerische Form, daß 
Plato auf die Öffentlichkeit wirken wollte. Ungern würde man 
doch wohl auch Plato zu den Leuten rechnen, die es lieben, in 
kleinem Kreise ihre Konkurrenten zu kritisieren und lächerlich 
zu machen, einen Angriff in der Öffentlichkeit aber fürsichtig 
meiden. Nein, der Hippias ist der Dialog, in dem sich Plato zum 
ersten Male gegen die hochgelehrten Herren wendet, die die Er- 
ziehung des Volkes beherrschen. Es ist bezeichnend für sein 
Siegesgefühl, daß er glaubt, das mit einer Komödie tun zu können. 
Vielleicht hat er freilich darin sogar eine urbanere Form des 
Angriffs gesehen. Gewirkt hat er gewiß damit ebenso wie mit 
den bitterernsten Ausführungen, die später im Gorgias folgten. 
Und schade ist nur, daß wir nicht wissen, wie Hippias sich zu 
diesem Angriff gestellt hat. 

An sich wäre es recht wohl denkbar, daß noch bei Lebzeiten 
des Sokrates Plato diese Szene entworfen hat. Aber dagegen 
spricht entschieden die enge Beziehung zu den Schriften, die 
wir in die Zeit nach 399 verlegen mußten. Mit der Apologie 
verbindet den Hippias, wie wir sahen, die ἐξέτασις, die Sokrates 
hier anstellt (vgl. S. 59), mit dem Laches die Frage nach der 
absoluten oder relativen Geltung des Begriffes φρόνιμος (S. 60), 
mit dem Charmides die Erörterung über Langsamkeit und 
Schnelligkeit und ihr Verhältnis zu den sittlichen Werturteilen 
(S. 63). Eine Reminiszenz an die Szene im Charmides, wo Plato 
dem Jüngling zeigt, daß die seelische Gesundheit wichtiger als 
die leibliche ist (bes. 156e), lesen wir S. 372e, wo ziemlich un- 
vermittelt Sokrates sagt σὺ οὖν χάρισαι καὶ un φϑονήσῃς ἰάσα- 
σϑαι τὴν ψυχήν μου" πολὺ γάρ τοι μεῖζόν με ἀγαϑὸν ἐργάσῃ dug- 
ϑίας παύσας τὴν ψυχὴν ἢ νόσου τὸ σῶμα. Wichtiger als diese 
Einzelheiten ist aber das andere: Im Laches wie im Charmides 
steht für Plato das Verhältnis der Tugend zum Wissen im Mittel- 
punkt. Und so deutlich er auf die Lösung hinweist, daß die 
Tugend mit dem Wissen vom Guten identisch ist, so scharf be- 
tont er, daß das Wissen an sich mit Tugend noch nichts zu tun 
hat. Genau dasselbe Problem behandelt der Hippias. Nur fällt 
hier das Urteil über das Wissen viel schärfer aus. Natürlich 
gilt dieses auch hier zunächst als sittlich indifferent. Aber un- 
willkürlich drängt sich der Gedanke an den schlechten Gebrauch 
in den Vordergrund. Der Sachkundige kann vor allem betrügen. 


Zeit des Dialogs. 71 


Gleich zu Anfang werden darum πανουργία und φρόνησις als eng 
verwandt betrachtet (365e), und am Schluß des ersten Abschnittes 
heißt es wieder: ἐν ἢ τινι βούλει σοφίᾳ τοῦτο σκέψαι ἢ πανουρ- 
γίᾳ ἢ ὁτιοῦν χαίρεις ὀνομάζων (868 6). So heißt bei Plato noch 
im Staate 409c der Richter, der selber die Schlechtigkeit gründ- 
lich kennen gelernt hat, ein δεινὸς ἀνὴρ πολλὰ αὐτὸς ἠδικηκὼς 
καὶ πανοῦργός τε καὶ σοφὸς οἰόμενος εἶναι). Daß aber ein 
solches Wissen mit σοφία nichts zu tun hat, betont eine Stelle 
des Menexenos, die ganz genau der Auffassung des Hippias ent- 
spricht πᾶσα ἐπιστήμη χωριζομένη δικαιοσύνης καὶ τῆς ἄλλης 
ἀρετῆς πανουργία, οὐ σοφία φαίνεται (240 extr.). 

Woher es kommt, daß das Urteil im Hippias schärfer lautet 
als im Laches und Charmides, ist klar. Dort hatte er an die 
Fachwissenschaften wie die Medizin gedacht, jetzt schwebt ihm 
die sophistische Ausbildung vor, der das Wissen nur dazu dient, 
um jeden Preis äußere Vorteile zu erringen. Interessant ist es 
dabei, zu sehen, wie bei Plato die innere Entwicklung, die ihm 
die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Tugend schon 
vorher nahegelegt hat, und der äußere Anlaß, der Wunsch, sich 
mit dem von Männern wie Hippias vertretenen Bildungsideal 
auseinanderzusetzen, zur Abfassung des Hippias zusammen- 
wirken?). Die Bekämpfung dieses Bildungsideals, der positive 
Beweis der sittlichen Indifferenz der Vielwisserei, die Aufforde- 
rung zum scharfen Nachdenken über die Begriffe?), das Ver- 


ἢ An diese Stelle knüpft Aristoteles Nik. Eth. 1144a 23 an, wo er die 
δεινότης als eine Fähigkeit bezeichnet, die eine sittliche Qualität erst durch 
das Ziel, das sie verfolgt, annimmt: ἂν μὲν οὖν ὁ σκοπὸς ἢ καλός, ἐπαινετή 
ἔστιν, ἂν δὲ φαῦλος, πανουργία: διὸ καὶ τοὺς φρονίμους δεινοὺς καὶ {τοὺς 
πανούργους φαμὲν εἶναι. --- Im Staate zeigt Plato 333eff., man dürfe die Ge- 
rechtigkeit nicht als bloße δεινότης, als eine Geschicklichkeit nach Art des 
Fachwissens in der materiellen Förderung der Freunde fassen, da diese sich 
ebensowohl im Bewahren wie im Stehlen zeigen würde, also in Handlungen, die 
vom sittlichen Standpunkte ganz entgegengesetzter Beurteilung unterliegen. Auch 
an dieser Stelle knüpft Plato an die sophistischen Aporien über die Gerechtig- 
keit an, die bei Xen. Mem. IV, 2 und in den Dialexeis behandelt sind. Das 
Material bei Joel, Echter und xen. Sokrates I, ὅ. 395 ff. 

?) Gegen die Polymathie der Peripatetiker kämpfen für die ἐπιστήμη τοῦ 
βελτίστου der zweite Alkibiades und die Erastai. Vgl. Brünnecke De Alcibiade II 
qui fertur Platonis Göttingen 1912, S. 81—86. Aber auch Aristoteles selbst er- 
klärt (in m. παιδείας ἢ τὴν πολυμάϑειαν πολλὰς ταραχὰς ποιεῖν fr. 62. 

®) Ich rechne hierhin auch das Nachdenken darüber, ob der scheinbar 


72 Die Δισσοὶ Adyoı. 


langen nach einer positiven Begründung der Sittlichkeit, nicht 
zum wenigsten die Freude am künstlerischen Schaffen von 
komödienhaften Szenen — das alles vereint sich in unserm 
Dialoge. 

Daß der Hippias wirklich in diese Periode von Platos Ent- 
wicklung gehört, wird uns noch deutlicher werden, wenn wir 
den Protagoras betrachten. Denn wenn wir vom Euthydem 
absehen, der freilich der Stimmung nach der nächste Verwandte 
des Hippias ist, steht diesem kein anderer Dialog näher als der 
Protagoras. 


Anhang. 
Die Δισσοὶ λόγοι. 


Die Δισσοὶ λόγοι, die man seit Stephanus auch Διαλέξεις 
nennt, sind für uns von so unschätzbarem Werte, weil sie uns 
zeigen, welche Probleme grade zu der Zeit, wo Plato zu schreiben 
begann, das Interesse der Gebildeten erregten. Ihre Abfassung 
unmittelbar nach 404, jedenfalls vor dem korinthischen Kriege, 
ist bekanntlich durch 1, 8 bestimmt, wo Athens Fall als jüngstes 
Ereignis erwähnt wird‘). Daß diese Doppelreden ein sophistisches 
Erzeugnis sind, das mit der Sokratik nichts zu tun hat, ist wohl 
heute anerkannt‘). Daß es keine zur Veröffentlichung bestimmte 
Schrift ist, zeigt der Aufbau. Denn auf sechs Abschnitte, in 
denen regelrecht wichtige Probleme nach dem protagoreischen 
Schema des Pro und Contra erörtert werden, folgen drei Kapitel, 
die sich auf keinen Fall in dieses Schema einpressen lassen °) 
und unter sich ohne Zusammenhang sind. Das siebente behandelt 
eine politische Frage, die Berechtigung der Loswahl, das 
achte die Aufgabe des Sophisten, das neunte gibt eine Empfeh- 


paradoxe Satz ὁ αὐτὸς ἀληϑὴς καὶ ψευδής nicht doch insofern eine gewisse 
Richtigkeit hat, als der Endzweck unseres Handelns unter Umständen eine Lüge 
rechtfertigt (Xen. Mem. IV, 2, 17). 

1) Vgl. v. Wilamowitz, Gött. Index 1889, S. 7#. und Diels in den Vorbe- 
merkungen zu seiner Ausgabe der Δισσοὶ λόγοι in den Vorsokratikern. Sonst 
vgl. über die Schrift besonders Trieber, Hermes 27, und H. Gomperz, Sophistik 
und Rhetorik, Leipzig 1912, S. 1581, 

2) Vgl. bes. Gomperz, 8. 152ff., der aus Mißverständnis bei Diels die ent- 
gegengesetzte Anschauung voraussetzt. 

8) Falsch auch H. Gomperz, S. 187, der hier vereinfachte Formen jenes 
Schemas sieht. 


Inhalt und Aufbau. 73 


lung der Mnemotechnik. Daß hier ein Zielpunkt erreicht ist, 
zeigt der Anfang des Kapitels: μέγιστον δὲ καὶ κάλλιστον ἐξεύρημα 
εὕρηται ἐς τὸν βίον μνάμα. Aber eine solche Vereinigung zu- 
sammenhangloser Bestandteile kann natürlich nicht ediert sein. 
Das merkwürdigste ist nun, daß gegen den Schluß hin die Dar- 
stellung immer knapper wird und völlige Stillosigkeit einreißt. 
Das neunte Kapitel lautet‘): (1) Μέγιστον δὲ καὶ κάλλιστον 
ἐξεύρημα εὕρηται ἐς τὸν βίον μνάμα καὶ ἐς πάντα χρήσιμον, ἐς 
φιλοσοφίαν τε καὶ σοφίαν. (2) ἔστι δὲ τοῦτο ' ἐὰν προσέχῃς τὸν 
νοῦν, (Ta) διὰ τούτων] παρελθόνϑ'᾽ ἃ γνώμα .μᾶλλον αἰσϑησεῖται. 
(3) δεύτερον δὲ μελετᾶν ἅ κα ἀκούσῃς ᾿ τῷ γὰρ πολλάκις ταὐτὰ 
ἀκοῦσαι καὶ εἶπαι ἐς μνάμαν παρεγένετο σύνολον ὃ ἔμαϑες. (4) 
τρίτον ἅ κα ἀκούσῃς ἐπὶ τὰ οἴδας καταϑέσθαι, οἷον τόδε ' δεῖ 
μεμνᾶσθαι Χρύσιππον, κατϑέμεν ἐπὶ τὸν χρυσὸν καὶ τὸν ἵππον. 
(5) ἄλλο " Πυριλάμπη κατϑέμεν ἐπὶ πῦρ καὶ τὸ λάμπειν. τάδε 
μὲν περὶ τῶν ὀνυμάτων. (6) τὰ δὲ πράγματα οὕτως * περὶ 
ἀνδρείας ἐπὶ τὸν "Agm καὶ τὸν ᾿Αχιλλῆα, περὶ χαλκείας δὲ ἐπὶ τὸν 
Ἥφαιστον, περὶ δειλίας ἐπὶ τὸν ’Eneiöv. Eine ganze Anzahl von 
Mängeln mag man hier auf die Überlieferung schieben, und ich 
habe deshalb auch eine Reihe von modernen Konjekturen aufge- 
nommen. Manches wie den Wechsel von Aussage und impera- 
tivischem Infinitiv im zweiten und dritten Paragraphen kann man 
auch als Unvollkommenheit des Stiles auffassen, wie sie uns bei 
manchen hippokratischen Schriften entgegentritt. Aber besonders 
die Schlußparagraphen zeigen überhaupt keinen Stil und finden 
in ihrer abgerissenen Form höchstens eine Parallele in manchen 
aristotelischen Schriften. Dort sind wir gewohnt, uns die Frage 
zu stellen, ob nicht vielleicht das Kollegheft eines Schülers 


1) Von Diels’ Varianten erwähne ich folgende: 
1 εὕρηται μνάμα καὶ ἐς πάντα χρήσιμον, ἐς τὰν φιλοσοφίαν 


(σοφέαν Diels) τε καὶ ἐς τὸν βίον Wilamowitz — Diels. 

2 τοῦτο (πρᾶτον) Schanz, größere Lücke Wilamowitz. 
(τὰ) Diels zaoeAdövra ἃ Wilamowitz: παρελϑοῦσα 
Haäschr. 
Nach αἰσϑησεῖται folgt σύνολον ὃ Zuades, das Diels in 8 3 
versetzt. 


3 τῷ γὰρ Schanz: τὸ γὰρ Hdschr. 
ἐπὶ (τὸ) πῦρ Blaß. 
Am Schluß hat A ἐλλιπὲς οὕτω καὶ τὸ ἀντίγραφον ὡς ὁρᾶτε, die übrigen 
σημείωσαι ὅτι τὸ ἐπίλοιπον οὐχ εὑρέϑη. 


74. Die Δισσοὶ λόγοι. 


vorliegt‘). Dasselbe müssen wir auch hier tun Ἶ, und mir scheint, 
daß alles für diese Auffassung spricht. Ein φιλοσοφῶν, also ein 
Student in unserm Sinne, hat einen Vortrag aus einem sophi- 
stischen Kursus nachgeschrieben. Dabei ist er gegen Schluß immer 
knapper und flüchtiger geworden, hat im siebenten Abschnitt die 
Besprechung der Ämter durch ein χαὶ τἄλλα — „usw.“ abge- 
brochen und auch den Schluß der Vorlesung nicht mitgeschrieben. 
Für durchaus möglich halte ich es z. B. auch, daß so grobe Nach- 
lässigkeiten wie das ἐς φιλοσοφίαν τε καὶ σοφίαν, wo wir die Be- 
griffe „bei Studium und Praxis“ erwarten’), auf seine eigne 
Rechnung zu setzen sind‘). Grade dadurch aber ist diese Schrift 
für uns so wichtig. Denn während wir sonst bei den Sophisten 
nur von ihren Epideixeis, ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit 
hören, blicken wir hier in den Hörsaal hinein und sehen, wie ein 
Dozent ohne jede Pose über die aktuellsten Themata nach dem 
beliebtesten Schema das vorbringt, was die jungen Leute inter- 
essiert, und dann ein paar Erörterungen, die ihm am Herzen 
lagen oder von den Hörern gewünscht waren, folgen läßt. 

Wo dieser Kursus gehalten ist, das wird uns hoffentlich 
einmaleine Inschriftlehren. Denn der siebente Abschnitt läßt keinen 
Zweifel darüber, daß wir uns in einer gemäßigten Demokratie 
befinden, in der die Losung der Ämter nicht üblich ist’) und in 


1 Daß sie in manchen Fällen zu bejahen ist, steht mir auch nach Jägers 
lehrreichen Ausführungen fest. 

5) Ganz unmöglich ist Triebers Ansicht, in der Kaiserzeit sei diese Schrift 
als Blumenlese aus den Schriften eines Sophisten entstanden. 

®) „Praxis“ würde nach dem S. 31! erläuterten Sprachgebrauch ἀλάϑειαν 
heißen können. 

*) Wie weit man in der Annahme solcher Nachlässigkeiten gehen soll, ist 
natürlich sehr schwer zu sagen, da auch die Überlieferung zweifellos Lücken 
verschuldet hat. Am Schluß von 8 ist überliefert: ὃς δὲ βραχὺ δεῖ vw 
ἐρωτώμενον dnorolveodaı περὶ πάντων " οὐκῶν δεῖ νιν πάντ᾽ ἐπίστασϑαι. Ich 
glaube kaum, daß wir hier das Recht haben, mit Diels zu schreiben ὡς δὲ (καὶ 
κατὰ) βραχὺ (διαλέγεσθαι δύναται, al na) δέῃ νιν xıl. So mag der Dozent 
gesprochen haben. Ob aber der Student mehr nachgeschrieben hat als das Stich- 
wort ὡς δὲ βραχὺ (oder κατὰ βραχὺ) δεῖ κτλ. 

5) Über solche Demokratien vgl. Aristoteles ῬῸ]. 18004 80, (entschei- 
dend ist für den demokratischen Charakter der Verfassung, daß alle Beamte 
aus allen bestellt werden; ob κλήρῳ oder αἱρέσει, kommt primär nicht in Be- 
tracht. Man vergleiche noch, wie Aristoteles dort beginnt τούτων δ᾽ αἱ μὲν δύο 
καταστάσεις δημοτικαί und der Sophist die Frage erörtert, ob die Losung 


Charakter und Dialekt. 75 


der es νομοφύλακες gibt‘). Vorläufig ist damit aber kein sicherer 
Anhaltspunkt gegeben. Auch der Dialekt hilft nicht viel weiter. 
Die Handschriften zeigen eine konventionelle Doris mit Bei- 
mischung einzelner dorischer Sonderformen und attischer Ele- 
mente, die eine Lokalisierung nicht zuläßt. Gewiß dürfen wir 
auch hier wieder die schlechte Überlieferung zum Teil verant- 
wortlich machen. Aber noch etwas anderes bleibt doch sehr zu 
bedenken. An sich ist freilich der Fall denkbar, daß der Dozent, 
der hier vortrug, in einer dorischen Kleinstadt ansässig war. Aber 
nach dem ganzen Bilde, das wir sonst vom sophistischen Unter- 
richt haben, werden wir doch eher annehmen, daß ein Wander- 
lehrer, nachdem er sich durch eine Epideixis eingeführt hatte, 
seinen Kursus hielt, und die Art, wie er 4, 4 sich als μύστας 
vorstellt, deutet eher auf einen Fremden hin. In welchem Dia- 
lekt mag denn nun z. B. Hippias gesprochen haben, wenn er in Sparta 
oder in Inykos Vorträge hielt? Der attischen Literatursprache, 
in der er natürlich publizierte (fr. 4. 6), durfte er sich doch in 
Sparta ganz gewiß um 400 nicht bedienen. Mit seinem Elisch 
ist er auch nicht ausgekommen. Hat er nun wohl jedesmal nach 
dem Vortragsort den Dialekt gewechselt? Näher liegt, daß er 
auf dorischem Gebiete wohl dorisch sprach, aber ein Dorisch, das 
kein festes Lokalkolorit trug. Besonders nach dem Falle Athens 
durfte gewiß ein attischer oder jonischer Dozent, der in dorischen 
Städten, etwa gar solchen, die sich eben von Athens Joch befreit 
hatten, auftrat, kaum auf Erfolge hoffen, wenn er sich seiner 
heimischen Mundart bediente, Daher ist der Dialekt der Doppel- 


dauorızdv sei (7, 5). Es ist eine von den Stellen, wo man deutlich den 
Zusammenhang von Aristoteles’ politischen Theorien mit denen der Sophisten- 
zeit spürt. 

1 Nomophylakes sind inschriftlich überall erst für spätere Zeit bezeugt, 
und zwar für Athen Keos Korkyra Chalkedon Abdera Demetrias (vgl. Busolt in 
der dritten Auflage der Staatsaltertümer 5. 490. 1, der mir freundlichst die Kor- 
rekturbogen zur Verfügung stellte). Doch bezeugt sie schon Xen. Oik. IX, 14. 
Aristoteles betrachtet sie als ein aristokratisches Element (Pol. 1323a 8), das aber 
natürlich auch in gemäßigter Demokratie vorkommen kann. — Für ausgeschlossen 
halte ich es, daß der Sophist mit völliger Gedankenlosigkeit die Schilderung der 
politischen Zustände aus einer Vorlage, aus Protagoras, herübergenommen haben 
sollte (H. Gomperz, S. 152).— An Chalkedon oder eine andre dorische Stadt, die 
früher zum attischen Reiche gehört hatte, dachte Wilamowitz, Gött. Index 1889, 
S. ΤΠ Jetzt nimmt er eher Kyrene (wegen Aristipps Schule) als Entstehungs- 
ort an (Kult. d. Gegw. I, 8°, 5. 66). 


76 Die Δισσοὶ λόγοι. 


reden schwerlich geeignet, ein sicheres Kriterion für die Her- 
kunft des Verfassers zu bilden. 

Auch der Inhalt scheint gıade bei unserer Auffassung vom 
Charakter der Schrift kaum weiter zu helfen. Man hat längst 
gesehen, daß in den ersten Kapiteln nicht bloß die Form der 
Δισσοὶ λόγοι, sondern auch die Probleme selbst zum großen Teile 
auf Protagoras zurückgehen '), und wir werden das noch behan- 
deln. In 3, 10 wird das berühmte Wort des Gorgias über die 
Tragödie benutzt. Von Hippias wird gleich zu reden sein. Aber 
das beweist an sich nur, was wir auch sonst voraussetzen würden, 
daß nämlich die Sophisten, „diese Hausierer mit geistigen 
Nahrungsmitteln“ (Prot. 313c), alle neueren Gedanken, gleichviel 
von wem sie stammten, vortrugen. Immerhin ist es aber sehr 
beachtenswert, daß uns eine Reihe von Zügen begegnet, die uns 
unmittelbar auf den Sophisten hinführen, der grade zur Zeit der 
Doppelreden in Hellas viel bewundert war. Das ist kein andrer 
als Hippias von Rlis. Um von Unsicherem abzusehen‘), so ist 
5, 11 die Erörterung über die Betonung (ἁρμονία) der Silben 
und die Unterschiede der Worte nach den γράμματα vollkommen 
im Geiste des Hippias, der nach Plato Hipp. min. 368d περὶ 
ῥυϑμῶν καὶ ἁρμονιῶν καὶ γραμμάτων ὀρϑότητος lehrte”). Im achten 
Kapitel erinnert die Erörterung, daß der Sophist alles beherrschen 
muß, die Dialektik wie die Rhetorik und das Wissen vom All, 
an den Mann, der sich auf seine Vielseitigkeit so viel einbildete, 
und wenn in ὃ 1 verlangt wird, der Sophist solle περὶ φύσιος 
τῶν ἁπάντων lehren können, so verweist Diels mit Recht auf 
Hippias’ Worte in Platos Protagoras 337d: ὑμᾶς οὖν αἰσχρὸν τὴν 
μὲν φύσιν τῶν πραγμάτων εἰδέναι κτλ. Das wichtigste ist aber 
die Art, wie am Schluß die Mnemotechnik als μέγιστον καὶ 
κάλλιστον ἐξεύρημα angepriesen wird. Denn diese Kunst ist keinallge- 
meines sophistisches Schaustück, ganz ausschließlich als Erfindung 
des Hippias betrachtet sie Xenophon (Symp. IV, 62 “Ἱππίᾳ τῷ ᾿Ηλείῳ 
παρ᾽ οὗ οὗτος καὶ τὸ μνημονικὸν Zuade) wie Plato Hipp. min. 368e 
(καίτοι τό γε μνημονικὸν ἐπελαϑόμην σου, ὡς ἔοικε, τέχνημα, Ev 

1 Vgl. Trieber, Hermes 27 und besonders H. Gomperz, 5. 109 ἢ. Dieser 
geht freilich wohl in der Zurückführung der formalen und sachlichen Elemente 
auf Protagoras zu weit. 

2) Darüber manches bei Trieber, Hermes 27. 

3) Vgl. Hipp. mai. 285b und Trieber a. a. O., H. Gomperz, S. 172. 


Beziehungen zu Hippias. 77 


ᾧ σὺ οἴει λαμπρότατος eivaı)') und der Verfasser des größeren 
Hippias (285 6). Sollen wir glauben, daß ein anderer Sophist am 
Schluß seines Vortrages in so bedeutungsvoller Weise die Er- 
findung seines Konkurrenten angepriesen habe? Näher liegt es 
doch gewiß, an einen Schüler des Hippias zu denken oder — an 
Hippias selber‘). Daß der Dialekt, das Arbeiten mit den alten 
protagoreischen Motiven, die Magerkeit des Inhalts, das Fehlen 
epideiktischer Formen im Schulvortrag kein Hindernis für diese 
Annahme bilden, dürfte klar geworden sein. Immerhin ist der 
Beweis nicht zwingend. Auf jeden Fall aber dürfen wir sagen, 
daß Plato im kleinen Hippias an ein Problem anknüpft, das auch 
im Kreise des Hippias behandelt wurde. 


V. Protagoras. 


Der Protagoras knüpft unmittelbar an Hippias und Laches 
an. Denn wenn der Hippias am Schluß den Leser mit dem 
warnenden Hinweis entläßt, daß von diesen σοφοί keine Klarheit 
in sittlichen Dingen und keine Förderung zu erwarten sei, so 
schildert uns der Anfang des Protagoras mit den lebendigsten 
Farben, welche Aufregung trotzdem die vornehme Jugend Athens 
erfaßt, sobald solch ein Sophist nach Athen kommt, wie sie alles 
hintansetzen, um den σοφός zu hören und von seiner σοφία zu 
profitieren (bes. 310d). Solchen Bildungshunger erweckt zu haben, 
ist ein Verdienst der Sophisten, aber in diesem Bildungshunger 
liegt auch eine schwere Gefahr. Im Laches hatte Plato gezeigt, 
daß kein Problem wichtiger für den Menschen sei als die Er- 
ziehung und daß es der größte Leichtsinn sei, wenn Unberufene 
sich zur Erziehung drängen, sich als Lehrer erbieten. In starkem 


ἢ Wenn Plato nachher sagt: Νυνὶ γὰρ ἴσως οὐ χρῇ τῷ μνημονικῷ 
τεχνήματι --- δῆλον γὰρ ὅτι οὐκ οἴει δεῖν — ἀλλὰ ἐγώ σε ὑπομνήσω (909 8), 
so ist die Parenthese für den Zusammenhang so entbehrlich, daß man an eine 
Anspielung glauben möchte. Da scheint es mir beachtenswert, daß in den 
Doppelreden c. 5 das Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Handeln der Weisen 
und der Tollen so präzisiert wird: τοὶ μὲν σοφοὶ ἐν τῷ δέοντι, τοὶ δὲ μαινόμενοι 
οὐ δεῖ (9, vgl. schon vorher ὅν δέοντι und 8 10) und daß auch in 8, 7.8 das 
τὰ δέοντα πράσσεν betont wird. — Vgl. noch den kleinen sokratischen Dialog 
περὶ δικαίου 375b (H. Gomperz 167). 

2) Ähnlich Dümmler, Akademika, S.259. Trieber, Hermes 27. H. Gomperz, 
Br 170] 


78 Protagoras. 


Anklang an diese Ausführungen ') weist der Sokrates des Protagoras 
den Hippokrates auf die Gefahren hin, die ihm selber drohen, 
wenn er sich leichtsinnig einem Lehrer anvertraut, ohne zu wissen, 
was der ıhm bieten wird, was er selber von ihm will. Trotz 
dieser Mahnungen begeben sich natürlich doch beide zu dem 
berühmten Mann hin. Es ist diesmal kein Zeitgenosse Platos, 
den dieser Sokrates gegenüberstell. Aber er ist mit ebenso 
gutem Bedacht ausgewählt wie Hippias. Protagoras ist der Mann 
— das sagt uns Plato an der für die Geschichte der Sophistik 
wichtigsten Stelle 348e°), und dasselbe läßt er schon vorher 
Protagoras selber aussprechen 316dff. —, der zuerst aus seiner 
σοφία ein Gewerbe gemacht hat, zuerst öffentlich sich erboten hat, 
wie Homer und Hesiod als Lehrer der Tugend für die ganze 
Nation zu wirken und der von seinen pädagogischen Erfolgen 
so überzeugt ist, daß er zuerst es gewagt hat, sich dafür Honorar 


1) οἶσϑα eis οἷόν τινα κίνδυνον ἔρχῃ ὑποϑήσων τὴν ψυχήν; fragt Sokrates 
den Jüngling 3198. Nur wenn du selber schon ein Urteil hast über die Waren, 
die Protagoras feilbietet, darfst du sie einhandeln, εἰ δὲ μή, ὅρα, ὦ μακάριε, μὴ 
περὶ τοῖς φιλτάτοις κυβεύῃς τε nal κινδυνεύῃς (3l3e). Im Laches sagt Sokrates 
185a ἢ περὶ σμικροῦ οἴεσϑε νυνὶ κινδυνεύειν nal σὺ nal Λυσίμαχος ἀλλ᾽ οὐ 
περὶ τούτου τοῦ κτήματος ὃ τῶν ὑμετέρων μέγιστον ὃν τυγχάνει; ὑέων γάρ που 
ἢ χρηστῶν ἢ τἀναντία γενομένων καὶ πᾶς ὃ οἶκος ὁ τοῦ πατρὸς οὕτως οἴκήσεται, 
ὁποῖοι ἄν τινες οἱ παῖδες γένωνται und wiederholt 187b σκοπεῖν χρὴ μὴ οὐκ Ev 
τῷ Καρὶ ὑμῖν ὁ κίνδυνος κινδυνεύηται, ἀλλ᾽ ἐν τοῖς δέσι κτλ. Dab Prot. 313cd 
wie Laches 185e die μαϑήματα als das bezeichnet werden, was die Seele fördert, 
ist natürlich ohne Belang. Aber merkwürdig ist, daß im Zusammenhang damit 
im Protagoras der Sophist als Händler mit Waren erscheint, über deren Wirkung 
nicht er, sondern nur der Seelenarzt urteilen kann (313de), während er vorher 
selber die Tätigkeit des Seelenarztes ausübt. Denn das schwebt doch vor, wenn 
Sokrates ganz unvermittelt 312b fragt οἶσϑα οὖν .. ὅτι μέλλεις τὴν ψυχὴν 
τὴν σαυτοῦ παρασχεῖν ϑεραπεῦσαι ἀνδρί, ὡς φῇς, σοφιστῇ. Grade diese Auf- 
fassung, die hier so plötzlich auftritt, wird im Laches ausführlich begründet. 
Denn daß die Erziehung eine ϑεραπεία der Seele ist, wird dort allmählich von 
dem Beispiel der Augenheilkunde aus gewonnen (185ce, ganz wie im Protagoras 
dann schon 186a πολλῶν νέων τεϑεραπευκότες ψυχάς). Aus dem Laches über- 
trägt also doch wohl Plato diese Auffassung des Sophisten in den Protagoras 
und fügt neu das Bild des Händlers hinzu. — Als Kleinigkeit sei noch erwähnt, 
daß im Laches Sokrates 186c bedauernd sagt: τοῖς μὲν σοφισταῖς oön ἔχω 
τελεῖν μισϑούς und im Protagoras die ganze Erörterung 311b—312a an den 
Satz anknüpft Eine μοι, ὦ ᾿ππόκρατες, παρὰ Πρωταγόραν νῦν ἐπιχειρεῖς ἱέναι, 
ἀργύριον τελῶν ἐκείνῳ μισϑὸν ὑπὲρ σεαυτοῦ, ὡς παρὰ viva ἀφιξόμενος καὶ τές 
γενησόμενος. 

2) H.Gomperz beachtet sie kaum. Vgl. den Anhang „Sophistik und Rhetorik“. 


Vorgespräch. 79 


zahlen zu lassen (349a). Es ist also der Begründer der Sophistik, 
der Sophist κατ᾽ ἐξοχήν, dem Sokrates gegenübertritt, ein Mann, 
der das wirklich zu leisten verspricht und geleistet zu haben be- 
hauptet, was keiner der Gesprächsteilnehmer im Laches sich zu- 
trauen durfte. In einer längeren Epideixis findet er zunächst 
wirklich Gelegenheit, sich mit Stolz zu diesem Berufe, den er 
seit langen Jahren ausübt, zu bekennen: ὁμολογῶ τε σοφιστὴς 
εἶναι καὶ παιδεύειν ἀνθρώπους (317a)'). Und als dann Sokrates 
ihm sofort die Frage vorlegt, über die Hippokrates im Unklaren 
gewesen war, was nämlich der Jüngling von dem Unterricht zu 
erwarten habe, da ruft er diesem zu: ἔσται τοίνυν σοι, ἐὰν ἐμοὶ 
συνῇς, ἣ ἂν ἡμέρᾳ ἐμοὶ συγγένῃ, ἀπιέναι οἴκαδε βελτίονι γεγονότι 
(8184). Damit ist das Wort gefallen, das uns im Hippias so viel 
beschäftigt hat. Aber dort hatte Sokrates gezeigt, auf was für 
Holzwege man gerät, wenn man das βελτίων nicht genauer prüft 
und den absoluten und relativen Gebrauch nicht scheidet; und 
auch im Laches hatte er sich nicht mit dem φρόνιμος begnügen 
wollen, sondern εἰς τί φρόνιμος; gefragt (vgl. S. 25). So über- 
rascht es uns nicht, wenn auch hier Sokrates sofort die weitere 
Auskunft verlangt: εἰπὲ τῷ νεανίσκῳ καὶ ἐμοὶ ὑπὲρ τούτου 
ἐρωτῶντι, “Ϊπποκράτης ὅδε Πρωταγόρᾳ συγγενόμενος, ἧ ἂν αὐτῷ 
ἡμέρᾳ συγγένηται, βελτίων ἄπεισι γενόμενος... εἰς τί, ὦ Πρω- 
ταγόρα, καὶ περὶ τοῦ; (318d). Das gibt Protagoras den will- 
kommenen Anlaß zu einer programmatischen Erklärung, die so 


1 Merkwürdigerweise beginnt er mit einem Zitat aus der platonischen 
Apologie. Denn dort heißt es von den Sophisten (Protagoras ist als verstorben 
nicht genannt) 19e τούτων γὰρ ἕκαστος, ὦ ἄνδρες, οἷός τ᾽ ἐστὶν ἰὼν eig ἑκάστην 
τῶν πόλεων τοὺς νέους, οἷς ἔξεστι τῶν ἑαυτῶν πολιτῶν προῖκα συνεῖναι ᾧ 
ἂν βούλωνται -- τούτους πείϑουσι τὰς ἐκείνων συνουσίας ἀπολιπόντας σφίσιν 
ovveivaı χρήματα διδόντας καὶ χάριν προσειδέναι. Protagoras beginnt: ξένον 
γὰρ ἄνδρα καὶ ἰόντα εἰς πόλεις μεγάλας καὶ ἐν ταύταις πείϑοντα τῶν νέων 
τοὺς βελτίστους ἀπολείποντας τὰς τῶν ἄλλων συνουσίας, καὶ οἰκείων καὶ 
ὀϑνείων καὶ πρεσβυτέρων καὶ νεωτέρων, ἑαυτῷ συνεῖναι ὡς βελτίους ἐσομένους 
διὰ τὴν ἑαυτοῦ συνουσίαν, χρὴ εὐλαβεῖσϑαι τὸν ταῦτα πράττοντα. --- Im Laches 
erklärt Sokrates ausführlich, nur der dürfe als Erzieher auftreten, der die Er- 
ziehungskunst verstehe und sie entweder von andern erlernt oder selbst erfunden 
habe (186—187, bes. 186 extr. εἴπετον ἡμῖν τίνι δὴ δεινοτάτῳ συγγεγόνατον 
περὶ τῆς τῶν νέων τροφῆς καὶ πότερα μαϑόντε παράώ rov ἐπίστασϑον ἢ αὐτὼ 
ἐξευρόντε). Zu Protagoras sagt Sokrates: „ich traue dir Erzieherfähigkeit zu 
διὰ τὸ ἡγεῖσϑαί σε πολλῶν μὲν ἔμπειρον γεγονέναι, πολλὰ δὲ μεμαϑηκέναι, 
τὰ δὲ αὐτὸν ἐξηυρηκέναι““ (320b). 


80 Protagoras. 


wichtig ist, daß sie ganz hier Platz finden muß: “Ἱπποκράτης 
παρ᾽ ἐμὲ ἀφικόμενος οὐ πείσεται, ἅπερ ἂν Enadev ἄλλῳ τῳ 
συγγενόμενος τῶν σοφιστῶν. οἱ μὲν γὰρ ἄλλοι λωβῶνται τοὺς 
vEovg' τὰς γὰρ τέχνας αὐτοὺς πεφευγότας ἄκοντας πάλιν αὖ ἄγον- 
τες ἐμβάλλουσιν εἰς τέχνας, λογισμούς τε καὶ ἀστρονομίαν καὶ 


γεωμετρίαν καὶ μουσικὴν διδάσκοντες --- καὶ ἅμα εἰς τὸν “Ϊππίαν 
ἀπέβλεψεν —, παρὰ δ᾽ ἐμὲ ἀφικόμενος μαϑήσεται οὐ περὶ ἄλλου 


του ἢ περὶ οὗ ἥκει. τὸ δὲ μάϑημά ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν 
οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν 
τῆς πόλεως, ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν 
καὶ λέγειν. Auf Sokrates’ Anregung faßt er dann noch kurz die 
positiven Ausführungen dahin zusammen, daß das Ziel seines 
Unterrichts die πολιτικὴ ἀρετή sei (319a). 

Protagoras stellt sich also hier in allerschärfsten Gegensatz 
zu Männern wie Hippias. Läßt ihn Plato das nur tun, um die 
Eitelkeit des Mannes zu charakterisieren oder um Hippias noch 
einen Hieb zu versetzen? Das dürften wir nur annehmen, wenn 
nicht wirklich ein sachlicher Gegensatz zwischen den Ausbildungs- 
zielen beider Männer bestände.e Ganz deutlich wird uns der 
freilich erst, wenn wir nachher aus Protagoras’ eigenem Munde 
genauer hören, was er unter πολιτικὴ ἀρετή versteht. „An einem 
müssen alle Bürger Anteil haben, wenn ein staatliches Leben be- 
stehen soll. Das ıst nicht Zimmerhandwerk, Schmiedekunst und 
Töpferei, ἀλλὰ δικαιοσύνη καὶ σωφροσύνη καὶ τὸ ὅσιον εἶναι, καὶ 
συλλήβδην Ev αὐτὸ προσαγορεύω εἶναι ἀνδρὸς ἀρετήν (920 8). 
Αἰδώς und δίκη sind die göttliche Gabe, die ϑεία μοῖρα, die 
allen Menschen innewohnt (322a—d, αἰδώς und δίκη viermal ver- 
bunden). Aus ihnen entspringt die πολιτικὴ ἀρετή. Diese ist es, 
die dem Zustande der Rechtlosigkeit in der Urzeit ein Ende ge- 
macht hat (ἠδίκουν ἀλλήλους ἅτε οὐκ ἔχοντες τὴν πολιτικὴν 
τέχνην 8220), die auch heute durch Gerechtigkeit und Selbst- 
beherrschung den Bestand des Staates verbürgt (πολιτικῆς ἀρετῆς, 
ἣν δεῖ διὰ δικαιοσύνης πᾶσαν ἰέναι καὶ σωφροσύνης 322e), dienament- 
lich mit der Gerechtigkeit untrennbar verbunden ist (δικαιοσύνης 
τε „ai τῆς ἄλλης ἀρετῆς 323a ἐν δὲ δικαιοσύνῃ καὶ ἐν τῇ ἄλλῃ 
πολιτικῇ ἀρετῇ 323b). — Das alles trägt Protagoras in seinem 
Mythos mit so starken Wiederholungen und mit solchem Nach- 
druck vor, daß der Leser durchaus den Eindruck mitnimmt, für 
Protagoras ist die πολιτικὴ ἀρετή, zu der er erziehen will, keine 


Die verschiedenen Bildungsideale in der Sophistik. 81 


formelle Fähigkeit, sondern Sittlichkeit. Und da Plato nichts tut, 
um dies als Spiegelfechterei zu charakterisieren, da er im ganzen 
Dialog Protagoras als ehrlichen Charakter hinstellt, so muß Plato 
selber der Meinung gewesen sein, daß Protagoras eine sittliche 
Erziehung als Ziel vorgeschwebt und daß er eine solche zu geben 
geglaubt hat‘). Daraus ergibt sich aber, wie wir die Erklärung 
des Protagoras an der zitierten Stelle (318d) auffassen sollen. 
Plato selber will hier zeigen, daß in der Sophistik 
ganz verschiedene Strömungen nebeneinander hergehen. 
Protagoras, der Begründer der Sophistik, hat ausdrück- 
lich die sittliche Ausbildung als Ziel anerkannt, gleich- 
viel wie weit er es im einzelnen verfolgt oder gar er- 
reicht hat. Hippias dagegen beschränkt sich auf die 
Übermittlung von Fachwissen und -können. Er mag 
sich auch ἀρετῆς διδάσκαλος nennen’), aber von be- 
wußter Verfolgung eines sittlichen Zieles ist bei ihm 
keine Rede. Wie genau diese Charakteristik des Mannes zu 
dem Dialoge Hippias paßt, bedarf keines Wortes mehr. Und 
wenn wir sehen, wie zur Kennzeichnung des Sophisten dieselben 
Fächer, Arithmetik, Astronomie, Geometrie, verwendet werden, deren 
sittliche Indifferenz in jenem Dialoge dargetan war (vgl. S. 69), 
während im Protagoras selber-nachher ganz andre Seiten an ihm 
hervorgehoben werden, wenn wir weiter bedenken, daß Hippias’ 
Richtung hier einfach beiseite geschoben wird, ohne daß er sich 
zur Sache äußern kann, so werden wir wohl nicht zuviel in 
Platos Stelle hineinlegen, wenn wir herauslesen: Plato ver- 
weist hier selbst auf seinen Dialog Hippias und deutet 
an, daß durch diesen für ihn die Auseinandersetzung 
mit der Richtung, die Hippias innerhalb der Sophistik 
vertritt, erledigt ist und er nun daran gehen will zu 
prüfen, ob der Begründer der Sophistik selber das ge- 
leistet hat oder zu leisten vermochte, was er versprach. 
Voraussetzen werden wir dabei wohl ohne weiteres dürfen, daß 
Hippias und Protagoras nicht als Einzelne in Betracht kommen, 
sondern als Vertreter bestimmter Richtungen, die Plato innerhalb 
der Sophistik scheidet, ohne daß damit natürlich gesagt ist, ob 


1 Über die ganz abweichende Auffassung von H. Gomperz nachher. 
?) Des wird jedenfalls Menon 95b von allen Sophisten ausgesagt. Darüber 
nachher. 
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 6 


82 Protagoras. 


ein Mann wie Prodikos einfach der einen oder andern zugerech- 
net werden kann. 

Danach müssen wir im Protagoras eine Art Gegenstück zum 
Hippias erwarten. Formell bestätigt sich das in überraschendem 
Maße. Aufs schärfste wird in beiden Dialogen der Gegensatz 
zwischen den langen Reden der Sophisten, die den Demegorien 
gleichen (328e, 336b), und der sokratischen Dialektik, „die nicht 
jedermanns Sache ist“, hervorgehoben (Prot. 329e 335ff. — Hipp. 
373a)'). Scheinbar sind dabei die Sophisten im Vorteil. In den 
Δισσοὶ λόγοι wird ja ausdrücklich der Satz vertreten, daß der So- 
phist, der das ganze Wissen der Zeit beherrscht, auch die Fähig- 
keit des χατὰ βραχὺ διαλέγεσθαι haben und in Frage und Ant- 
wort Rede stehen muß (8, 1. 13), und im Dialog Hippias wird 
deshalb die Bereitwilligkeit des Sophisten, auch in dieser Weise 
zu diskutieren, ohne weiteres vorausgesetzt, wenn auch erst ein 
paar Schmeicheleien notwendig sind, um ihn auf dieses Gebiet 
herüberzulocken. Auch im Protagoras wird die Befähigung des 
Sophisten zur Dialektik als selbstverständlich angesehen (329b) 
und als Folge seiner Kunst, die βραχυλογία so gut wie die μακρο- 
Aoyia zu lehren, betrachtet, und Protagoras selber läßt sich auch 
zuerst gern auf diese Methode ein und macht erst Schwierig- 
keiten, als er den kürzeren zu ziehen droht (334e — 336e)°). 
Während also angeblich die Sophisten beide Methoden beherr- 
schen, ist Sokrates vergeßlich und unfähig, den langen Reden zu 
folgen (Hipp. 373a μακρὸν μὲν οὖν λόγον ei ᾽ϑέλεις λέγειν, προλέγω 
σοι ὅτι οὐκ ἄν μὲ ἰάσαιο --- οὐ γὰρ ἂν ἀκολουϑήσαιμι —, ὥσπερ 


1) Ebenso im Gorgias 447c, 448e, 449}, 401] 4, sowie 519d, wo das δημηγο- 
ρεῖν wiederkehrt. — Protagoras hat die Eristik gepflegt, aber die Fragetechnik 
der Trugschlüsse, der Meyagına ἐρωτήματα, wie man sie später gern nannte, 
stammt doch wohl aus dem Eleatismus. Ganz unbegründet ist es vollends, wenn 
H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik S. 288, behauptet, Sokrates habe seine dialek- 
tische Fragemethode von Protagoras entlehnt. 

3) Vgl. auch H. Gomperz, Rhetorik und Sophistik, bes. S. 129 und S. 178, 
wo er auch darauf verweist, daß Prot. 929 ἢ dasselbe ἀποκρίνεσθαι κατὰ βραχύ 
vorkommt, das wir in den Dialexeis als Erforderung des Sophisten trafen. — 
Gorgias erklärt ausdrücklich (449c): καὶ γὰρ ad καὶ τοῦτο Ev ἔστυν ὧν φημι, 
μηδένα ἂν ἐν βραχυτέροις ἐμοῦ τὰ αὐτὰ εἰπεῖν und legt dann Proben seiner 
βραχυλογία ab. Vorher hat er freilich gesagt: εἰσὶ μὲν ἔνιαι τῶν ἀποκρίσεων 
ἀναγκαῖαι διὰ μακρῶν τοὺς λόγους ποιεῖσϑαι. Ähnlich fragt Protagoras 334d: 
πῶς οὖν κελεύεις με βραχέα ἀποκρίνεσθαι; ἢ βραχύτερά σοι, ἔφη, ἀποκρένωμαι 
ἢ δεῖ; 


Der Protagoras ein Gegenstück des Hippias. 83 


δὲ ἄρτι εἰ ϑελεις μοι ἀποκρίνεσθαι, πάνυ ὀνήσεις. Prot. 336a sagt 
Sokrates zu Kallıas: „Wie ich ım Laufen dem Wettläufer Krison 
nicht folgen kann, so auch den langen Reden des Protagoras nicht, 
ei οὖν ἐπιϑυμεῖς ἐμοῦ καὶ Πρωταγόρου ἀκούειν, τούτου δέου ὥσπερ 
τὸ πρῶτόν μοι ἀπεκρίνατο διὰ βραχέων... οὕτω καὶ νῦν ἀπο- 
χρίνεσϑαι vgl. 829}, 334a). Trotzdem zeigt sich sehr bald bei 
beiden Sophisten, daß sie der Dialektik hilflos gegenüberstehen, 
und als sie dann den Vorschlag machen, sich in längeren Reden 
miteinander zu messen (ἀντιπαραβάλλειν λόγον παρὰ λόγον Hipp. 
369c), da entwickelt im Protagoras plötzlich Sokrates eine merk- 
würdige Gabe, durch eine Epideixis in Form einer Dichterinter- 
pretation Protagoras zu überbieten, und noch merkwürdiger ist 
es vielleicht, daß er auch im Hippias eine ähnliche Dichterinter- 
pretation in längerer Rede vorbringt, nachdem er eben den Vor- 
schlag des Sophisten abgelehnt hat (369e — 570 6) '). 

Sobald Hippias merkt, daß er in der Dialektik Sokrates nicht 
gewachsen ist, macht er Schwierigkeiten, und Sokrates, der den 
langen Reden nicht folgen kann, wendet sich an Eudikos: ἐὰν 
μή μοι ἐθέλῃ Ἱππίας ἀποκρίνεσθαι, δέου αὐτοῦ ὑπὲρ ἐμοῦ. Hip- 
pias will nicht, aber da ihn Eudikos an sein Versprechen; auf 
Fragen zu antworten, erinnert, entschließt er sich zur Fortsetzung 
des Gesprächs (373a—c). Auch Protagoras sucht, als er seine 
Unterlegenheit fühlt, durch eine längere Rede auszuweichen; auch 
dort sträubt sich Sokrates gegen diese Methode, und nur durch 
Vermittlung der anderen wird die Fortsetzung des Gespräches 
möglich. Wieder bittet Sokrates den Kallias: ei οὖν ἐπιϑυμεῖς 
ἐμοῦ καὶ Πρωταγόρου ἀκούειν, τούτου δέου, und Protagoras wird 
namentlich durch Alkibiades’ Hinweis, daß er auf die Beherr- 
schung der Dialektik verzichte, wenn er Sokrates nicht auf dieses 
Gebiet folge, sehr wider seinen Willen zur Fortsetzung des Ge- 
sprächs gezwungen (334c — 338c). Er schlägt dann die Dichter- 
interpretation vor, die im Hippias den Ausgangspunkt bildet, und 
Sokrates geht darauf zunächst ein. Aber 347b sagt er περὶ 
doudıwv ve καὶ ἐπῶν ἐάσωμεν. Denn gebildete Männer οὐδὲν 
δέονται ἀλλοτρίας φωνῆς οὐδὲ ποιητῶν, οὃς οὔτε ἀνερέσϑαι οἷόν 
τ᾽ ἐστὶν περὶ ὧν λέγουσιν ἐπαγόμενοί τε αὐτοὺς οἱ πολλοὶ οἱ μὲν 

1 Vgl. Gorg. 464. 5, 507—9, 511—3, 517—9. Darüber nachher. — Man 
vergleiche noch, wie auch Prot. 347a Hippias’ Anerbieten, eine ἐπέδειξις zu 


halten, freundlichst abgelehnt wird. 
6* 


84. Protagoras. 


ταῦτά φασιν τὸν ποιητὴν νοεῖν οἱ δ᾽ ἕτερα. Der Hippias beginnt 
gleich (365c) Τὸν μὲν ”Oungov τοίνυν ἐάσωμεν, ἐπειδὴ καὶ ἀδύνατον 
ἐπανερέσϑαι τί ποτε νοῶν ταῦτα ἐποίησεν τὰ ἔπη, und daß jeder 
in die Dichter hineindeuten kann, was ihm beliebt, das wird im 
ganzen Dialoge aufs ergötzlichste illustriert. Nicht minder übrigens 
im Protagoras. Denn wenn Sokrates in Simonides’ Skolion inter- 
pungiert 

πάντας δ᾽ ἐπαίνημι καὶ φιλέω 

ἑκών, ὅστις ἔρδῃ 

μηδὲν αἰσχρόν, 
so ist er sich gewiß bewußt gewesen, gegen den Willen des 
Dichters das ἑκών von ὅστις ἔρδῃ abzutrennen und diesem damit ge- 
waltsam die eigene Erkenntnis unterzulegen ὅτε πάντες οἱ τὰ 
αἰσχρὰ καὶ τὰ κακὰ ποιοῦντες ἄκοντες ποιοῦσιν (848 6) Ἶ. Warum 
ihm daran gelegen hat, diesen Satz hier vorzubringen, werden 
wir noch genauer sehen. Jedenfalls sollen wir aber auch an die 
Worte denken, die am Schluß des Hippias dem Leser andeuteten, 
wo der Fehler zu suchen sei: ὁ ἄρα ἑκὼν ἁμαρτάνων καὶ αἰσχρὰ 
καὶ ἄδικα ποιῶν, ὦ Ἱππία, εἴπερ τίς ἐστιν οὗτος, οὐκ ἂν ἄλλος 
εἴη ἢ ὃ ἀγαϑός 8160). Daß im Protagoras 350cd direkt die Un- 
zulässigkeit eines im Hippias mehrfach angewendeten Trug- 
schlusses aufgezeigt wird, haben wir schon S. 62 gesehen. 

Endlich ist es gewiß kein Zufall, daß in beiden Dialogen das 

Ergebnis in ähnlicher Weise ausgesprochen wird. ᾿Εγὼ περὶ 
ταῦτα ἄνω καὶ κάτω πλανῶμαι καὶ οὐδέποτε ταὐτά μοι δοκεῖ, 
so schließt Sokrates im Hippias, und ebenso muß er im Prota- 
goras feststellen, daß alle Ansichten ins Wanken gekommen sind: 
ἐγὼ οὖν, ὦ Πρωταγόρα, πάντα ταῦτα καϑορῶν ἄνω κάτω ταραττό- 
μενα δεινῶς πᾶσαν προϑυμίαν ἔχω καταφανῆ αὐτὰ γενέσθαι 
(861 ο). Einen andern Ton bringen aber hier die letzten Worte 
hinein, denn die deuten doch darauf hin, daß die Untersuchung 
des Protagoras nicht so negativ verlaufen ist wie die des Hip- 
pias und es weiterer Untersuchung wohl gelingen kann, die noch 
vorhandenen Bedenken zu heben. Wohl zu beachten ist dabei 


1 Zur platonischen Deutung des Gedichtes vgl. v. Wilamowitz, Sappho und 
Simonides 5. 159ff. Seinem Urteil über den Protagoras S. 179! vermag ich aber 
nicht beizustimmen. 

3) Vgl. noch Prot. 3580 ἄλλο τι οὖν ἐπί γε τὰ κακὰ οὐδεὶς ἑκὼν ἔρχεται 
und vorhin S. 65. - 


Der Protagoras ein Gegenstück des Hippias. 35 


auch, wie im Hippias Sokrates einfach konstatiert, daß Hippias 
sich erst recht unklar gezeigt hat, während er Protagoras 
gegenüber den Wunsch ausspricht, mit ihm zusammen weiter 
zu forschen. Auch Protagoras hat sich im Gespräch nichts 
weniger als klar gezeigt. Trotzdem mag die Beschäftigung mit 
seinen Anschauungen förderlich sein, ist mit ihm prinzipiell eine 
Verständigung denkbar, die bei Hippias nicht möglich ist oder 
sich nicht lohnt. 

Doch damit kommen wir schon in die sachliche Beurteilung 
des Protagoras hinein. Da wollen wir zunächst noch das Ergeb- 
nis unserer letzten Erörterung feststellen: Der Hippias und der 
Protagoras sind formell so eng mit einander verwandt wie kaum 
zwei andre platonische Dialoge. Im Hippias wird dabei manches 
kurz angedeutet, was im Protagoras ausführlich behandelt ist; 
aber nirgends kann man im Hippias die Ähnlichkeiten des Auf- 
baus auf die sklavische Anlehnung eines Nachahmers zurück- 
führen. Vielmehr sind offenbar beide Dialoge gleichzeitig von 
Plato konzipiert, und wenn dabei der Hippias neben seinem 
Bruder sich ausnimmt wie die satirische Einzelszene neben der 
Komödie, so entspricht das nur der verschiedenen Schätzung, die 
Plato den beiden Sophisten entgegenbringt. 

Den Protagoras eine Komödie zu nennen, hat uns Plato 
selber das Recht gegeben, als er die Szene nach der von 
Eupolis’ Schmeichlern gestaltete. Aber eine Komödie, das wußte 
keiner besser als Plato selber, schließt tiefere Wirkung, schließt 
den Ernst im Agon nicht aus. Unter diesem Gesichtspunkt 
müssen wir den Dialog prüfen. 

Die Komödie greift mitten ins Leben hinein. So beginnt 
auch Sokrates mit zwei ganz aktuellen Fragen: „Wie kommt es, 
daß bei politischen Beratungen jeder Schuster und Schneider 
seine Meinung sagen darf, als verstände er etwas von der Sache? 
Wie kommt es, daß Perikles seine Söhne die Tüchtigkeit nicht 
lehren kann, die er selbst} besaß?“ (319), beides Fragen, die 
nicht bloß im kleinen Kreise der Sokratik, sondern in der 
weiten Öffentlichkeit diskutiert wurden. In Eupolis’ Demen klagt 
ja Perikles ausdrücklich darüber, daß seine Söhne ihm so wenig 
gleichen (fr. 99). Viel interessanter ist es aber noch, wenn in 
derselben Komödie Aristeides gefragt wird, wie er denn seine vielge- 
rühmte Gerechtigkeit erlangt habe, und er antwortet (91): 


86 Protagoras. 


ἣ μὲν φύσις τὸ μέγιστον ἦν, ἔπειτα δὲ 

κἀγὼ προϑύμως τῇ φύσει συνελάμβανον. 
Selbst das große Publikum interessierte sich also für die theo- 
retische Frage, ob die Tugend auf Naturanlage oder auf späteren 
Einflüssen beruhe. Und wie man sich mit dieser um 400 in den 
Kreisen der Gebildeten beschäftigt, das können uns wieder die 
Δισσοὶ λόγοι zeigen, in denen ein ganzer Ahschnitt handelt περὶ 
τᾶς σοφίας καὶ τᾶς ἀρετᾶς, al διδακτόν (6)'). Ein höchst aktuelles 
Thema ist es also, das Plato anschlägt, wenn Sokrates auf Grund 
der genannten Fragen Zweifel an der Lehrbarkeit der Tugend 
äußert und um den Nachweis bittet, ὡς διδακτόν ἐστιν ἣ ἀρετή 
(320b). 

Natürlich ist aber doch bei diesem Thema nicht das äußere 
Interesse bestimmend für Plato, sondern die innere Bedeutung. 
Protagoras war als διδάσκαλος τῆς ἀρετῆς aufgetreten und be- 
zeichnet sich auch in unserem Dialog mit Stolz als solchen 
(328ab, vgl. 349a). Sind aber Sokrates’ Zweifel an der Lehr- 
barkeit der Tugend berechtigt, so ist damit Protagoras’ ganzer 
Techne das Fundament entzogen. Die Frage, die Sokrates auf- 
wirft, entscheidet über die ganze Möglichkeit der Erziehung, wie 
sie Protagoras — und vielleicht nicht bloß ihm — als Ziel vor- 
schwebt. Sie entscheidet also über die Berechtigung dieses 
sophistischen Bildungsideales.. Das ist der Grund, warum sie 
Plato in unserm Dialog behandelt. Sie gibt zugleich Gelegenheit 
zu prüfen, wieweit sich die Sophistik selber über diese Grund- 
bedingung ihrer Tätigkeit klar ist, sie nötigt, falls die Lehrbar- 
keit zu erweisen ist, zu der weiteren Untersuchung, ob Prota- 
goras’ Sophistik mit ihren Mitteln imstande ist, das vorschwebende 
Ziel zu erreichen. 

Protagoras selber empfindet hier selber kaum ein Problem. 
Er hat die Antwort sofort zur Hand und stellt im Gefühl der 
Sicherheit die Form zur Wahl, in der er sie geben soll. Die 
Verbindung von uödog und λόγος, die er dann vorträgt, hat 
folgenden Gedankengang: An der Tugend hat von Natur jeder 
Mensch teil; sonst wäre gar keine soziale Organisation möglich. 
Und wenn die Athener in der Volksversammlung jeden Bürger 
zu Worte kommen lassen, so ist der Grund eben der, daß sie 


1) Vgl. Thukydides’ Urteil über Themistokles I, 138 und dazu Wilamowitz’ 
Bemerkungen im Lesebuch. 


Protagoras über die Lehrbarkeit der Tugend. 37 


bei jedem die πολιτικὴ ἀρετή als Naturgabe voraussetzen (—323c). 
Sie halten aber doch die Tugend für lehrbar. Denn sie machen die 
Ungerechtigkeit zum Vorwurf, betrachten sie also als Verschulden, 
nicht als Naturfehler und suchen die Verbrecher durch Strafe zu 
bessern (—324c). Da aber alle von der Lehrbarkeit und Not- 
wendigkeit der Tugend überzeugt sind, so liegt die Sache keines- 
wegs so, wie Sokrates geglaubt hat, daß nämlich viele große 
Männer ihre Söhne die Tugend nicht lehren. Vielmehr bemühen 
sich alle Menschen von der Amme bis zum Strafrichter um die 
Erziehung der Kinder (—326e). Aber gerade diese Allgemeinheit 
der Bemühung bewirkt es, daß schließlich nicht der Einfluß des 
einzelnen, z. B. des Vaters entscheidend ist. Den Ausschlag gibt 
vielmehr die Naturanlage (327b). Einen einzelnen Lehrer kann 
man im allgemeinen so wenig wie beim Erlernen der Mutter- 
sprache nennen. Immerhin gibt es den einen oder andern, der 
mehr als die übrigen die Fähigkeit besitzt, die Jugend zu 
fördern. Und zu diesen wenigen darf sich wohl auch Protagoras 
rechnen (—328b). 

Das ist die Antwort, die Protagoras auf die Frage nach der 
Lehrbarkeit der Tugend zu geben hat, das Fundament, auf dem 
seine Lebensarbeit aufgebaut ist. Es ist schwach genug. Denn 
was er positiv für seine These vorbringt, ist im Grunde nur die 
Auffassung der πολλοί, die in der Ungerechtigkeit eine Schuld 
sehen und die Verbrecher durch Strafen zu bessern suchen. 
Es ist daher nur zu berechtigt, wenn er am Schluß sagt: 
τοιοῦτόν σοι, ὦ Σώκρατες, ἐγὼ καὶ μῦϑον καὶ λόγον εἴρηκα, 
ὡς διδακτὸν ἀρετὴ καὶ ᾿Αϑηναῖοι οὕτως ἡγοῦνται (928 c). 
Er stützt sich tatsächlich nur auf die Anschauungen des Volkes, 
ohne deren Richtigkeit zu untersuchen. Dabei sind diese so 
widerspruchsvoll wie möglich. Denn dieselben Athener, die an 
die Lehrbarkeit der Tugend glauben, billigen jedem das Beratungs- 
recht zu, weil sie überzeugt sind, daß er die Tugend nicht wie 
ein Fach erlernt zu haben braucht, sondern als Naturgabe in 
sich trägt. In Protagoras’ Rede tritt auch dieser Widerspruch 
ganz scharf hervor. Denn nachdem er eben erwiesen, daß die 
Athener bei jedem die Gerechtigkeit als Naturbesitz voraussetzen, 
leitet er den zweiten Abschnitt ein: ὅτε δὲ αὐτὴν οὐ φύσει 
ἡγοῦνται εἶναι οὐδ’ ἀπὸ τοῦ αὐτομάτου, ἀλλὰ διδακτόν Te καὶ 
ἐξ ἐπιμελείας παραγίγνεσθαι ᾧ ἂν παραγίγνηται, τοῦτό σοι 


.«Β 


88 Protagoras. 


μετὰ τοῦτο πειράσομαι ἀποδεῖξαι (323c) und schließt ihn: ὡς 
μὲν οὖν εἰκότως ἀποδέχονται οἵ σοὶ πολῖται καὶ χαλκέως καὶ 
σκυτοτόμου συμβουλεύοντος τὰ πολιτικά, καὶ ὅτι διδακτὸν καὶ 
παρασκευαστὸν ἡγοῦνται ἀρετήν, ἀποδέδεικται (324c). Aber Prota- 
goras macht nicht den geringsten Versuch, die Widersprüche aus- 
zugleichen. Ihm selber muß dabei nach dem Mythos, den er 
gibt, die Anschauung näher liegen, daß die Tugend Naturgabe 
ist. Nachher räumt er dann allerdings der Belehrung großen Spiel- 
raum ein. Aber wenn er die Gerechtigkeit als etwas betrachtet, 
was so gut wie die Sprache alle Mitmenschen uns übermitteln, 
so kommt einmal dabei doch wieder die εὐφυία als das Ent- 
scheidende heraus (8270), und zweitens entzieht er der eigenen 
Lehrtätigkeit den Boden. Denn „daraus ergibt sich doch die 
sonnenklare Folgerung, daß für den einzelnen Morallehrer und 
dessen Leistungen überhaupt so gut als kein Spielraum übrig 
bleibt“'). Mindestensmußte doch Protagoras, wenn er alle Menschen 
als διδάσκαλοι τῆς ἀρετῆς anerkennt, zeigen, worauf dann denn 
sein Anspruch beruhe, als διδάσκαλος κατ᾽ ἐξοχήν zu gelten. 
Aber er weiß nur zu sagen, daß er selber etwas über die übrigen 
hervorrage. Irgend etwas aber, was ihn spezifisch von den andern 
unterscheide, weiß er nicht anzugeben (328b). 

Und das ist kein Wunder. Im Laches (190b) hatte Plato 
die eigentliche Erörterung damit begonnen, daß er in einem 
einzigen Satze zeigte, was die Voraussetzung jeder sittlichen Er- 
ziehertätigkeit sei: ”Ao’ οὖν τοῦτό γ᾽ ὑπάρχειν δεῖ, τὸ εἰδέναι ὅτι 
ποτ᾽ ἔστιν ἀρετή; εἰ γάρ που μηδ᾽ ἀρετὴν εἰδεῖμεν τὸ nagdnav 
ὅτι ποτὲ τυγχάνει ὄν, τίν᾽ ἂν τρόπον τούτου ξύμβουλοι γενοίμεϑ᾽ 
ἂν Örwoöv, ὅπως αὐτὸ καλλιστ᾽ ἂν κτήσαιτο; Protagoras erfüllt 
diese selbstverständliche Voraussetzung nicht. Er spricht zwar 
in seiner Rede unendlich oft von πολιτικὴ ἀρετή, von δικαιοσύνη 
und σωφροσύνη, von αἰδώς und δίκη, aber was er darunter ver- 
steht, sagt er nicht. Er bleibt einfach in den widerspruchsvollen 
Anschauungen der Menge stecken und empfindet gar nicht, wo 
die Probleme liegen. Leichten Herzens redet er deshalb über die 
Lehrbarkeit der Tugend, ohne sich zu sagen, daß die Beant- 
wortung dieser Frage von der Klarheit über das Wesen der Tugend 


1 Th. Gomperz, Gr. Denker II, 8. 253, der überhaupt die Widersprüche der 
Rede gut ausführt. 


Protagoras’ Unklarheit über das Erziehungsproblem. 89 


abhängt. Kein Wunder, daß seine Antwort so unklar und un- 
befriedigend ausfällt. 

Protagoras spricht sich selber das Urteil, wenn er 
im Grunde alle Menschen als διδάσκαλοι τῆς ἀρετῆς hin- 
stellt und sich nur graduell aus diesen heraushebt. Tat- 
sächlich mag er, der Begründer der Sophistik, etwas 
besser gewesen sein als die übrigen. Man mag auch 
die gute Absicht anerkennen, wenn er die sittliche Aus- 
bildung zum Ziele nahm. Aber erreichen konnte er 
dieses Ziel nicht. Denn von dem Schlendrian der popu- 
lären Moral hat er sich nicht frei gemacht, hat die not- 
wendigste Voraussetzung für jede erziehliche Tätigkeit, 
die Klarheit über die sittlichen Begriffe, sich nicht er- 
arbeitet. Damit ist auch Protagoras und das sophistische 
Bildungsideal, das er vertritt, gewogen und zu leicht 
befunden, sogut wie Hippias und seine Richtung im 
andern Dialoge. Zugleich aber sehen wir, welche Pro- 
bleme lin Angriff zu nehmen sind, wenn man sich eine 
wirkliche Grundlage für die Erziehertätigkeit schaffen, 
ein wirkliches Bildungsideal aufstellen will. 

Konnte denn aber Plato dem Publikum zutrauen, daß es die 
versteckte Kritik an Protagoras verstehen würde, und war es nicht 
unvorsichtig, wenn er durch Protagoras’ Mund eine Anerkennung 
für die populäre Moral und den erziehlichen Einfluß der Öffent- 
lichkeit aussprechen ließ, ohne den Leser über seine wahre An- 
sicht aufzuklären? 

Die Antwort auf die zweite Frage kann die Apologie geben. 
Dort zeigt Sokrates, wie widersinnig Meletos’ Voraussetzung sei, 
daß ein einzelner die Jugend verführe, während alle Athener, 
die Menschen wie ihre Gesetze, sie zu bessern bemüht seien. 
Ἦ καὶ περὶ ἵππους οὕτω σοι δοκεῖ ἔχειν; οἱ μὲν βελτίους ποι- 
οὔντες αὐτοὺς πάντες ἄνϑρωποι εἶναι, εἷς δέ τις ὃ διαφϑείρων᾽); 
ἢ τοὐναντίον τούτου πᾶν εἷς μέν τις ὃ βελτίους οἷός τ᾽ ἢν ποιεῖν 
ἢ πάνυ ὀλίγοι, οἱ ἱππικοί, οἱ δὲ πολλοί, ἐάνπερ συνῶσι καὶ χρῶνται 
ἵπποις, διαφϑείρουσιν; (20). Die Stelle ist nur zu verstehen, 


1) Vgl. hierzu noch Protag. 327e νῦν δὲ τρυφᾷς, ὦ Σώκρατες, διότι 
πάντες διδάσκαλοί εἶσιν ἀρετῆς, Sollen wir wohl annehmen, daß Plato in der 
Apologie die Gedanken des Protagoras wiederholt hat, oder ist das Umgekehrte 
wahrscheinlich? 


90 Protagoras. 


wenn man sie als Widerlegung einer verbreiteten Ansicht faßt. 
Es ist das keine andre als die von Protagoras vorgetragene An- 
schauung vom sittlichen Einfluß der Menge, die also gewiß dem 
historischen Protagoras gehört. Plato ist übrigens nicht der 
einzige, der gegen diese vom Boden der Sokratik aus protestiert. 
Eine ganz überraschende Parallele zu Prot. 325c --326c bietet 
nämlich Cicero Tusc. III, 2.3., der dort aus Chrysipp schöpft‘). 
Denn dort wird uns der Einfluß von Amme, Eltern, Lehrern, 
Dichtern, Öffentlichkeit genau in derselben Folge geschildert. 
Aber nicht der gute Einfluß der Umgebung wird dort demonstriert, 
sondern der schlechte, der allein erklärt, wie trotz der guten An- 
lage im Menschen die Schlechtigkeit entsteht. Es ist also eine 
genaue Umkehrung der protagoreischen Anschauung, die gewiß 
nicht erst von Chrysipp, sondern von einem Sokratiker herrührt. 
Man wird an Antisthenes denken. Wenn er es war, so hat er 
gegen Protagoras Schulter an Schulter mit Plato gekämpft, der 
auch noch im Staate 492a mit bitterstem Ernste erklärt, nicht 
die einzelnen Lehrer seien es, die die Jugend verführen, sondern 
das Volk selber, „der größte Sophist“. 

Wenn wir uns dies klar machen, werden wir nun auch ver- 
stehen, wie Plato die Rede des Protagoras einfach vorlegen 
konnte, ohne ausdrücklich Kritik zu üben. Für den Abschnitt 
325c—326c konnte jedenfalls jeder Sokratiker, aber wohl auch 
jeder Gebildete die Widerlegung selbst geben. Die Gesamt- 
tendenz Platos in der Vorführung der Rede war nach dem, was 
vorhin ausgeführt ist, auch ohne weiteres zu durchschauen. Daß 
Plato dabei auf die Widersprüche in Protagoras’ Ausführungen 
ausdrücklich aufmerksam macht, wurde schon gesagt. Das wichtigste 
ist aber, sich vor Augen zu halten, daf3 jeder einzelne in Prota- 
goras’ Rede behandelte Punkt damals allseitig diskutiert war. 
Das zeigt uns das vorher genannte sechste Kapitel der Δισσοὶ 
λόγοι, in dem wie in Protagoras’ Rede der Satz bekämpft wird, 
ὅτι σοφία καὶ ἀρετὰ οὔτε διδακτὸν ein οὔτε μαϑητόν. Es lohnt 
sich, beide Ausführungen zu vergleichen’). 
τς ἢ Vgl. meine Ausführungen Hermes, XLI 5. 351. Ähnlich Cie. auch Rep. IV,9 
Legg. 1,47. — An Platos Protagoras knüpft Alk. I p. 110dff. an, an die 
Apologie Libanius apol. Socratis 144ff., wo zuerst die Gesetze als Lehrer des 
Volkes vorgeführt werden und es weithin heißt: τέ δ᾽ ἄν τις εἴποι περὶ τῶν πολὺ 
φοβερωτέρων διδασκάλων, ὑμῶν, ὦ ᾿Αϑηναῖοι, τῶν δικαζόντων. 

39) Zum folgenden vgl. H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik, S. 1112 ff. 


Die Lehrbarkeit der Tugend ein aktuelles Problem. 91 


Der Sophist erwähnt fünf Bedenken gegen die Lehrbarkeit 
der Tugend und widerlegt sie. Das erste ist ganz sophistisch 
gegen das Lehren überhaupt gerichtet: „was man einem andern 
übermittle, könne man selbst nicht haben“. Der Sophist wider- 
legt es durch den Hinweis auf den Elementarunterricht. Bei 
Plato kommt es in der Rede des Protagoras nicht vor, aber man 
wird vorher (314a) daran erinnert, wenn es heißt, daß die 
μαϑήματα keine Ware sind, die man äußerlich übermittelt, sondern 
die in die Seele des Hörers übergeht. Das zweite Bedenken ist, 
wenn die Tugend lehrbar sei, so müßte es auch Lehrer der 
Tugend geben! DerSophist verweist demgegenüber einfach darauf, 
daß doch die Sophisten eben Tugendlehrer seien. Bei Plato 
nimmt Protagoras stolz diese Bezeichnung für sich in Anspruch. 
Der dritte Einwurf, ὡς τοὶ ἐν τῷ "EAAddı γενόμενοι σοφοὶ ἄνδρες 
τὰν αὐτῶν τέχναν ἐδίδαξαν κα τὼς φίλως (645,22 " Diels), deckt 
sich mit dem Bedenken, das Sokrates p. 519 6 ausspricht. Der 
Sophist widerlegt es durch den Hinweis auf Polykleitos, der seinen 
Sohn die Bildhauerei gelehrt habe (646,5). Wie eine Antwort 
darauf nimmt es sich aus, wenn Plato Protagoras kühl erklären 
läßt: χαὶ οἱ Πολυκλείτου ὑεῖς οὐδὲν πρὸς τὸν πατέρα εἰσίν (328C)'). 
Der vierte und fünfte Einwand hängen zusammen: Manchen hat 
der sophistische Unterricht nichts genützt, andre sind ohne diesen 
große Männer geworden (645, 23—25). Der Sophist gibt das zu, 
verweist aber für das erste auf Nichterfolge, die auch der Elementar- 
unterricht habe, und erklärt das zweite teils durch den Hinweis 
ἔστι δέ τι καὶ φύσις, ἃ δή τις μὴ μαϑὼν παρὰ σοφιστᾶν ἱκανὸς 
ἐγένετο, εὐφυής ya γενόμενος, teils dadurch, daß wir die ἀρετά 
wie das ἑλλανίζειν, wie die Worte der Muttersprache lernen, ohne 
Lehrer dafür angeben zu können (646,7ff.). Es ist genau die 
Anschauung, die Protagoras 327. 8 (bes. 327b 328a) vorträgt?). 

Der Vergleich kann uns mancherlei lehren. Zunächst sehen 
wir deutlich, wie stark der Sophist der Δισσοὶ λόγοι unter Protagoras’ 


1) Daß es eine Inkonsequenz ist, wenn Protagoras hier aus den τέχναι 
ein Beispiel wählt, obwohl er vorher von diesen die πολιτικὴ ἀρετή geschieden 
hat, hebt H. Gomperz a. a. O. 85. 174 gut hervor. Natürlich ist es aber unrichtig, 
wenn dieser glaubt, Plato sei sich nicht bewußt gewesen, Protagoras einen 
Widerspruch aufzubürden. 

2) Aber auch schon im Laches 185e wird gefragt: οὔπω ἑώρακας ἄνευ 
διδασκάλων τεχνικωτέρους γεγονότας eis ἔνια ἢ μετὰ διδασκάλων: 


99 Protagoras. 


Einfluß steht. Dann kann uns jetzt der letzte Zweifel schwinden, 
ob Plato wirkliche Ausführungen des Protagoras wiedergibt. 
Freilich gehört die Komposition der Rede Plato, der ja Protagoras 
auf bestimmte Fragen des Sokrates antworten 1831. Aber die 
einzelnen Darlegungen, die Plato hier geschickt zu einem wider- 
spruchsvollen Ganzen zusammenschiebt, sind alle echt prota- 
goreisches Gut°). Weiter aber sehen wir deutlich, wie diese Dar- 
legungen gerade in der Zeit, wo Platos Dialog entstanden ist, 
besprochen wurden und ohne weiteres in ihrer satirischen Tendenz 
verstanden werden konnten. Das wichtigste ist aber, daß die 
Δισσοὶ λόγοι uns zeigen, wie die Nachfahren des Protagoras über 
ihn keinen Schritt hinausgekommen waren. Auch bei ihnen nur 
ein oberflächliches Gerede über die Frage, das den Kernpunkt 
nicht berührt. 

Den hat erst Plato erfaßt. Man hat bisher die Frage, wie in 
Platos Dialog der Mythos mit dem folgenden Gespräch zusammen- 
hängt, nicht scharf beantwortet. Der Zusammenhang ist der: 
Protagoras hat die Erziehung zur Tugend als Ziel aufgestellt, 
aber er hat es nicht erreichen können, weil er sich nicht darüber 
klar geworden ist, was die Tugend ist. Ja, seine Epideixis zeigt, 
daß er überhaupt nicht einmal weiß, wo die Probleme liegen. 
Ob die Sokratik diese lösen kann, muß sich erst zeigen, aber 
wenn sie mit dem Anspruch auf Überlegenheit gegenüber der 
Sophistik auftritt, muß das erste sein, daß sie die Sache am 
richtigen Ende anfaßt. Als positive Ergänzung zur Kritik an 
Protagoras (und Hippias) ist die Untersuchung über das Wesen 
der Tugend nötig. 

Das Wesen der Tugend — das ist tatsächlich das Thema 
der folgenden Untersuchung. Ihren Ausgang nimmt sie freilich 


!) Daß Plato aus verschiedenen Schriften des Protagoras schöpft, ist wohl 
angedeutet, wenn Protagoras zunächst (320c) nur einen Mythos geben will, von 
324d an aber ausdrücklich einen A6yog hinzufügt. 

3) Plato will Kritik an dem historischen Protagoras üben. Da hätte eine 
Fiktion keinen Sinn, sowenig wie bei der Lysiasrede des Phaidros. Natürlich 
kam es aber bei Protagoras nur auf die Gedanken, nicht auf die Worte oder 
die Komposition der Rede an. — H. Gomperz lehnt S. 159ff. freilich zunächst 
die Möglichkeit, Plato habe ein Exzerpt aus einer Schrift des Abderiten ge- 
geben, rundweg ab, kommt aber schließlich aus inneren Gründen auch darauf 
hinaus, die Gedanken der protagoreischen Rede in der Hauptsache alle auf den 
Sophisten zurückzuführen. 


Platos Dialog bringt Klarheit über das Wesen der Tugend. 93 


wie so oft bei Sokrates von einem Einzelproblem. Und zwar 
setzt sie genau bei dem Punkte ein, wo der Laches Halt ge- 
macht hatte. Der hatte die Anschauung nahe gelegt, die Tapfer- 
keit sei als ἐπιστήμη ἀγαϑῶν καὶ κακῶν mit den übrigen Tugen- 
den und der Gesamttugend identisch, und das Problem formuliert, 
ob die vulgäre Auffassung richtig sei, nach der die Tapferkeit 
nur ein Teil der Gesamttugend ist. Im Protagoras fragt Sokrates, 
πότερον ἕν μέν τί ἐστιν ἣ ἀρετή, μόρια δὲ αὐτῆς ἐστιν N δικαιο- 
σύνη καὶ σωφροσύνη καὶ ὃὁσιότης, ἢ ταῦτ᾽ ἐστιν ἃ νυνδὴ ἐγὼ 
ἔλεγον πάντα ὀνόματα τοῦ αὐτοῦ ἑνὸς ὄντος (929 0). In der Unter- 
suchung stellt sich nun bald heraus, daß δικαιοσύνη ὅσιότης 
σωφροσύνη σοφία aufs engste verwandt sind. Tatsächlich hatte 
ja auch Protagoras für die ersten drei dieser Tugenden die enge 
Zusammengehörigkeit selbst schon in seinem Mythos voraus- 
gesetzt (δικαιοσύνη καὶ σωφροσύνη καὶ τὸ ὅσιον εἶναι, καὶ συλλή- 
βδην Ev αὐτὸ προσαγορεύω εἶναι ἀνδρὸς ἀρετήν 820 4). Jetzt muß 
er sehen, daß auch die σοφία zur πολιτικὴ ἀρετή gehört. Als 
daher das Gespräch nach der Dichterinterpretation fortgesetzt wird, 
gibt er das ausdrücklich zu (349d). Nur eine Tugend bleibt übrig, 
die Tapferkeit. Die hatte er im Mythos kaum erwähnt. Einmal 
hatte er freilich dort gesagt, daß ein Teil der πολιτικὴ ἀρετή die 
πολεμική sei (822 ο). Aber sonst hatte er die Tapferkeit offenbar 
von der πολιτική ἀρετή, die er zu lehren imstande sei, abge- 
sondert, und so erklärt er auch jetzt: ταῦτα πάντα μόρια μέν ἐστιν 
ἀρετῆς καὶ τὰ μὲν τέτταρα αὐτῶν ἐπιεικῶς παραπλήσια ἀλλήλοις 
ἐστίν, ἡ δὲ ἀνδρεία πάνυ πολὺ διαφέρον πάντων τούτων (519 ἃ). 
Als Beweis führt er an, daß viele Leute, denen alle übrigen 
Tugenden fehlen, tapfer in höchstem Maße seien. Welches der 
innere Grund ist, der ihn zu dieser Anschauung führt, das läßt 
ihn Plato in der folgenden Erörterung (349e — 351b), die teil- 
weise wörtlich aus dem Laches übernommen ist, aussprechen. 
Protagoras faßt nämlich die Tapferkeit als eine Art des Mutes, 
und bestimmt sie — freilich wieder nicht ohne innere Unklar- 
heit — in einer Weise, die deutlich zeigt, daß sie mit dem Wissen 
und den übrigen Tugenden nichts zu tun haben kann. Sie ist näm- 
lich diejenige Art des Mutes, die nicht aus einem Wissen hervor- 
geht, sondern ausschließlich auf der natürlichen Anlage und Ent- 
wicklung beruht: ϑάρσος μὲν γὰρ καὶ ἀπὸ τέχνης γίγνεται ἀνϑρώ- 
ποις καὶ ἀπὸ ϑυμοῦ γε καὶ ἀπὸ μανίας .. ἀνδρεία δὲ ἀπὸ φύσεως 


94 Protagoras. 


καὶ εὐτροφίας τῶν ψυχῶν γίγνεται (351 a)'). Aber Sokrates zwingt 
ihn im folgenden Gespräch zu der Erkenntnis, daß ein Gegen- 
satz zwischen Tapferkeit und den übrigen Tugenden nicht be- 
steht. Denn sie ist identisch mit der ἐπιστήμη δεινῶν καὶ μὴ 
δεινῶν und somit, da die δεινώ nichts anderes sind als die er- 
warteten κακά (358d), auf das Wissen vom Guten und Schlechten 
zurückzuführen, das auch den Kern der übrigen Tugenden bildet. 


1) Der Abschnitt 349e — 861 Ὁ rekapituliert zunächst die Ausführungen des 
Laches 192c — 193d (über diese vgl. 5. 24). Im Laches beginnt Plato: οἶδα, 
ὦ Λάχης, ὅτι τῶν πάνυ καλῶν πραγμάτων ἡγῇ σὺ ἀνδρείαν elvaı — Eö μὲν οὖν 
ἴσϑι ὅτι τῶν καλλίστων, im Protagoras: τὴν ἀρετὴν καλόν τι φὴς εἶναι; -- 
Κάλλιστον μὲν οὖν. Hier wie dort folgt der Nachweis, daß die κολυμβῶντες, 
die ἱππικοί, ja selbst die πελταστικοί auf Grund ihrer technischen Fähigkeiten 
Mut zeigen, und Protagoras ist das so geläufig, daß er die Folgerung οἱ ἐπι- 
στήμονες τῶν μὴ ἐπισταμένων ϑαρραλεώτεροί εἶσιν Sokrates ungeduldig vorweg- 
nehmen kann (8604). Neu ist dabei im Verhältnis zum Laches nur, daß der Be- 
griff ϑαρραλέος eingeführt und als der Oberbegriff zu ἀνόρεῖος gleich zu An- 
fang bezeichnet wird (949 6). Ganz dem Laches entspricht es natürlich auch, 
wenn Sokrates den Protagoras fragt: ἤδη δέ τινας ἑώρακας πάντων τούτων 
ἀνεπιστήμονας ὄντας, ϑαρροῦντας δὲ πρὸς ἕκαστα τούτων; (350b). Jeder Kenner 
des Laches denkt hier mit Sokrates sofort an den Soldaten, der auch ohne tech- 
nische Fähigkeit in ungünstiger Position auf seinem Posten ausharrt und im 
Laches die höhere Tapferkeit zugebilligt erhält (193a, vgl. 8. 24). Stutzen muß 
er daher, wenn Protagoras auf die Frage: οὐκοῦν οἱ ϑαρραλέοι οὗτοι καὶ 
ἀνδρεῖοί εἶσιν; glatt antwortet: αἰσχρὸν μεντἂν εἴη ἣ ἀνδρεία, ἐπεὶ οὗτοί γε 
μαινόμενοί εἶσιν. Offenbar hat Protagoras an solche Fälle, wo jemand um eines 
hohen Zweckes willen sein Leben aufs Spiel setzt, überhaupt nicht gedacht. 
Sokrates sticht ihm das nicht auf und benutzt scheinbar die Gelegenheit, um 
schnell dem gewünschten Ziele zuzusteuern: „Du erklärst die ἀνεπιστημόνως 
ϑαρραλέοι für μαινόμενοι, während die ἐπιστήμονες zugleich ϑαρραλέοι sind. 
Müssen sie dann nicht auch ἀνδρεῖοι sein, καὶ κατὰ τοῦτον τὸν λόγον ἣ vopla 
ἂν ἀνδρεία εἴη; (350c). Aber Protagoras läßt sich nicht so schnell fangen wie 
Hippias. Er ist besser logisch geschult und weist Sokrates darauf hin, daß seine 
Prämisse ϑαρραλεώτατοι δὲ ὄντες ἀνδρειότατοι unzulässig sei, denn es sei ein 
logischer Fehler, den Satz οἱ ἀνδρεῖοι ϑαρραλέοι εἰσί umzukehren in οὗ ϑαρραλέοι 
ἀνδρεῖοί εἰσι (vgl. δ. 62). Damit man die Beziehung auf den Hippias nicht ver- 
kenne, macht er das an dem Beispiel der δύναμες klar, die dort grade im Fehl- 
schluß die Rolle spielte. So richtig der Satz sei: οἱ ἐσχυροὶ δυνατοί εἶσι, SO UN- 
zulässig sei die Umkehrung οἱ δυνατοὶ ἰσχυροί εἶσι. Denn die δύναμις gehe 
nicht bloß aus der natürlichen Anlage hervor, auf der die ἰσχύς beruht, sondern 
auch aus Wissen, Wahnsinn, Zorn. Genau so sei es bei ϑάρσος und dvögeia. 
Auch der Mut stamme aus denselben Quellen, aus technischer Fertigkeit, Wahn- 
sinn und Zorn, aber auch aus der Naturanlage. Nur den Mut, der ἀπὸ φύσεως 
καὶ εὐτροφίας τῶν ψυχῶν γίγνεται, dürfe man als ἀνδρεία bezeichnen (351b). 


Das Wissen vom Guten das Wesen der Tugend. 95 


So ist die Frage nach dem Verhältnis der Einzeltugenden 
nur der durch den Laches bedingte Ausgangspunkt. Das Ziel ist 
der dort auch schon angedeutete Satz, daß alle Tugenden im 
Wissen vom Guten beschlossen sind, daß dieses das Wesen der 
Tugend ist. Und daß so Plato selbst das Gespräch aufgefabt 
wissen will, das zeigen Sokrates’ abschließende Worte: Οὔτοι 
ἄλλου ἕνεκα ἐρωτῶ πάντα ταῦτα ἢ σκέψασθαι βουλόμενος πῶς 
ποτ᾽ ἔχει τὰ περὶ ἀρετῆς καὶ τί ποτ᾽ ἐστὶν αὐτό, ἣ ἀρετή 
(8606). Mit einer hübschen Anspielung auf Protagoras’ relati- 


Man hat sich gewundert, daß Protagoras hier Sokrates die Unzulässigkeit eines 
Schlusses nachweisen darf, und hat dies wohl gar möglichst wegzudeuten gesucht (C. 
Ritter, Plato 8. 333). Aber Plato will damit gerade dartun, daß er im Hippias 
bewußt einen Fehlschluß zugelassen hat. Daß aber hier Sokrates selber den Fehl- 
schluß unbewußt machen wollte, ist nicht gesagt. Er stellt ja nur eine Frage, 
und wir haben viel eher die Empfindung, daß er als guter Spieler Protagoras 
einen Zug vorgibt, um dem Mißgestimmten die weitere Teilnahme an der De- 
batte zu erleichtern. An diese künstlerische Absicht Platos werden wir um 80 
lieber denken, als uns so tatsächlich psychologisch verständlich wird, wie es 
kommt, daß Protagoras, der sich vorher so gegen die Debatte gesträubt hat, ihr 
jetzt gern folgt. Wichtiger ist aber natürlich noch, daß auf diese Weise Prota- 
goras dazu geführt wird, seinen Standpunkt scharf zu formulieren und die Tapfer- 
keit ausschießlich auf die Naturanlage zu gründen. 

Daß wir dabei keinen Augenblick das Gefühl von Sokrates’ Überlegenheit 
verlieren, dafür hat Plato schon gesorgt. Wie wir sahen, ist es eine bewußte 
Abweichung vom Laches, wenn Protagoras denen, die ohne technische Fähigkeit 
sich in Gefahr begeben, die Tapferkeit abspricht. Das darf er nach seiner eige- 
nen Grundanschauung nicht tun. Denn damit schließt er alle ἀνεπιστημόνως 
ϑαρραλέοι von der Tapferkeit aus, obwohl sie doch gewiß zu den φύσει ϑαρρα- 
A£oı, also nach Protagoras’ eigner Anschauung zu den ἀνδρεῖοι gehören können. 
Hier zeigt sich dieselbe Unklarheit, die wir im Mythos des Protagoras wahr- 
nehmen konnten: Protagoras betrachtet einerseits die Tapferkeit als Natur- 
anlage, andererseits bricht unwillkürlich bei ihm die Erkenntnis durch, daß das 
Fehlen des Wissens mit der Tugend unvereinbar sei. Und Sokrates hat sachlich 
ganz recht, wenn er aus Protagoras’ Äußerungen folgert, daß ein enger Zu- 
sammenhang zwischen Wissen und Tugend bestehen müsse. Klarheit kann aber 
hier noch nicht erzielt werden, weil Protagoras keinen klaren Begriff davon hat, 
was unter Wissen zu verstehen ist, und nur an die technischen Fertigkeiten 
denkt. Wie bewußt Plato diese Unklarheit hervorkehrt, zeigt der Schluß des 
Abschnitte. Denn während er bei der δύναμις erklärt, sie stamme ἀπὸ ἐπιε- 
στήμης, ἀπὸ μανίας nal ϑυμοῦ oder ἀπὸ φύσεως, setzt er bei der Tapferkeit- 
wo sonst genau dieselben Ursachen angegeben werden, ἀπὸ τέχνης für ἀπὸ Emı- 
στήμης ein (p. 35la). Die Widerlegung von Protagoras’ Ansicht beginnt des- 
halb — scheinbar ganz unvermittelt — mit der Erörterung über das Endziel 
alles Handelns; aber sobald dann darüber Einigkeit erzielt ist, daß unser Handeln 


96 Protagoras. 


vistischen Grundsatz’) erklärt er auch nachher als die Über- 
zeugung, die sich ihm auf Grund der Untersuchung aufgedrängt 
hat, ὡς πάντα χρήματά ἔστιν ἐπιστήμη, καὶ ἣ δικαιοσύνη καὶ σω- 
φροσύνη (also die beiden Tugenden, die Protagoras von vorn- 
herein als eng verbunden und für die πολιτικὴ ἀρετή notwendig 
angesehen hatte) καὶ ἣ ἀνδρεία (361b) und schließt daran die wich- 
tige Folgerung an ᾧ τρόπῳ μάλιστ᾽ ἂν διδακτὸν φανείη ἣ ἀρετή. 
Während Protagoras’ Antwort auf die Frage nach der Lehrbar- 
keit der Tugend so gut wie die sophistischen Deklamationen über 
das Thema unbefriedigt ausfallen mußten, ergibt sich aus der 
Erkenntnis, daß die Tugend ein Wissen ist, die Lehrbarkeit als 
notwendige Folgerung. 

Lehren wird sie freilich, das ist natürlich die weitere Folgerung, 
nur der können, der das Wissen vom Guten besitzt. Unmöslich 
kann dieses aber ein Mann besitzen, der wie Protagoras über 
das Wesen der Sittlichkeit völlig im Unklaren ist und der Tugend 
den intellektuellen Charakter auf jede Weise zu nehmen sucht 
(Πρωταγόρας . . ἔοικεν σπεύδοντι ὀλίγου πάντα μᾶλλον φανῆναι 
αὐτὸ ἢ ἐπιστήμην 361b). Damit ist der Anspruch des διδάσκαλος 
ἀρετῆς erledigt. Der Nichtwisser Sokrates hat das Wissen vom 


durch die Vorstellung eines künftigen Gutes oder Übels bestimmt wird — aus 
dem Laches 198b wird besonders die Erkenntnis übernommen, daß die Furcht 
eine προσδοκία κακοῦ ist (358d) — da greift Plato ausdrücklich auf unsern Ab- 
schnitt zurück (359b) und zeigt unter wörtlicher Rekapitulation, wo der Fehler 
des Protagoras saß. Dieser hat in der Tapferkeit deshalb einen bloßen Naturtrieb 
gesehen, weil er die Tapferen einfach als Draufgänger ira: faßte, statt sich zu 
fragen, ἐπὶ τέ ἴται εἷσέν (359c). Denn damit wäre er von selbst zu der Er- 
kenntnis gekommen, daß man Leute, die ohne technische Fertigkeit ihr Leben 
fürs Vaterland opfern, nicht ohne weiteres verrückt und unsittlich (αἰσχρόν 
350b) nennen kann und daß für die Tapferkeit die Verfolgung eines als gut er- 
kannten Zieles, also das intellektuelle Moment entscheidend ist (vgl. bes. 360b). 

Wenn Xenophon Mem. IV, 6, 10 beginnt ᾿Ανδρείαν δέ, ὦ Εὐϑύδημε, ἄρα 
τῶν καλῶν νομίζεις εἶναι; Κάλλιστον μὲν οὖν ἔγωγε, ἔφη, so kann die Über- 
einstimmung mit 349e φέρε δή, τὴν ἀρετὴν καλόν τι φὴς elvaı ...; Κάλλιστον 
μὲν οὖν, ἔφη kein Zufall sein. Auch das folgende zeigt dort deutlich, daß Xe- 
nophon den Protagoras für den Nachweis des intellektuellen Charakters der 
Tapferkeit benutzt, zu einer Zeit, wo Plato diesen längst preisgegeben hatte. 

1) Der seinerseits mit seinem πάντων χρημάτων μέτρον ἄνϑρωπος wieder 
an das ὁμοῦ πάντα χρήματα und ähnliche Ausdrücke des Anaxagoras anknüpit 
(H. Gomperz. Soph. und Rhetorik 5. 252. Übrigens spricht die Platostelle für 
Gomperz’ Auffassung (S. 201), daß πάντα χρήματα in Protagoras’ Satz nicht die 
Summe der konkreten Einzeldinge, sondern „alles“ bedeutet). 


Die Sokratiker treten an Protagoras’ Stelle. 97 


Guten auch nicht, aber er formuliert auch hier wenigstens das 
Problem richtig und schreitet so über Protagoras hinaus. Neidlos 
erkennt dieser denn auch am Schluß die Tüchtigkeit des jüngeren 
Mannes an, der zu den höchsten Erwartungen berechtige (361 e). 
Aber wir dürfen dieses Urteil wohl auch umkehren, zumal wenn 
wir an das ganz andre Ende des Hippias denken: Neidlos erkennt 
auch der Sokratiker Plato an, daß Protagoras als Vorläufer der 
Sokratik gelten kann. Er ist es, der die sittliche Ausbildung 
zuerst als das Ziel hingestellt hat. Erreichen konnte er dieses 
Ziel von seinen Voraussetzungen aus nicht. So müssen andre 
an seine Stelle treten. Den richtigen Weg hat Sokrates ge- 
wiesen. Ob wohl auf ihm die Sokratiker das Ziel erreichen 
werden? Das wird davon abhängen, ob sie das Gute finden. 

Aber haben wir denn ein Recht, diese positive Tendenz Plato 
zuzutrauen? Spricht denn Sokrates nicht ausdrücklich am Schlusse 
aus, daß das Gespräch ergebnislos verlaufen ist und beide sich 
im Kreise gedreht haben? Sehen wir ein wenig genauer zu, als 
es häufig geschieht. Ausdrücklich erklärt Sokrates p. 361a, daß 
die wissenschaftliche Untersuchung, die er mit Protagoras geführt 
hat, zu dem positiven Ergebnis nötigt, daß die Tugend ein 
Wissen ist. Was ihn scheinbar hindert, dieses Ergebnis als 
sicher hinzustellen, ist nur die Voraussetzung, von der er ur- 
sprünglich ausgegangen ist. Die Sache liegt also genau wie im 
Laches. Dort war das ähnliche Ergebnis, daß die Tapferkeit ein 
Wissen vom Guten sei, allseitig wissenschaftlich gesichert worden 
und wurde nur deshalb als problematisch hingestellt, weil die ur- 
sprüngliche Hypothesis, daß die Tapferkeit nur ein Teil der 
Tugend sei, dagegen sprach (S. 28). Diese unbewiesene Hypo- 
thesis blieb also zu prüfen, und im Protagoras wird sie als un- 
berechtigt erkannt. Auch in unserm Dialog muß sich also ein 
leidlich verständiger Leser — und mit solchen hat Plato doch 
wahrscheinlich gerechnet — sagen, daß Plato von ihm verlangt, 
er solle sich an den Anfang erinnern und sich die Frage vor- 
legen, ob denn die dort geäußerten Bedenken gegen die Lehr- 
barkeit der Tugend wirklich ausreichen, das Ergebnis der wissen- 
schaftlichen Untersuchung zu erschüttern, ob diese Bedenken 
wirklich Sokrates’ tiefster Überzeugung entsprangen, 

Ὅϑεν αὐτὸ ἡγοῦμαι οὐ διδακτὸν εἶναι und üm ἀνθρώπων 
παρασκευαστὸν ἀνθρώποις, δίκαιός εἶμι εἰπεῖν, SO beginnt Sokra- 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 7 


98 Protagoras. 


tes 319b und formuliert sein erstes Bedenken so: ἐγὼ γὰρ ’Adn- 
valovs, ὥσπερ καὶ οἱ ἄλλοι “Πλληνες, φημὶ σοφοὺς εἶναι, und die 
hören in politischen Dingen, in Fragen der πολιτικὴ ἀρετή, jeden 
an, ohne zu fragen, ob er etwas gelernt hat, δῆλον γὰρ ὅτι οὐχ 
ἡγοῦνται διδακτὸν εἶναι. — Also der von Protagoras nachher 
als widerspruchsvoll erkannte, von allen vernünftigen Hellenen 
unendlich oft gebrandmarkte νόμος der Athener soll von Sokrates 
ernsthaft genommen sein? Und der Mann, der oft genug erklärt 
hatte: τῆς τῶν πολλῶν δόξης οὐ dei ἡμᾶς φροντίζειν, soll wohl 
gar im Ernste die Athener σοφοί genannt haben? Von einer 
ähnlichen σοφία geht aber auch das zweite Bedenken aus: μὴ 
τοίνυν ὅτι τὸ κοινὸν τῆς πόλεως οὕτως ἔχει, ἀλλὰ ἰδίᾳ ἡμῖν οἵ 
σοφώτατοι καὶ ἄριστοι τῶν πολιτῶν ταύτην τὴν ἀρετὴν ἣν ἔχουσιν 
οὐχ οἷοί τε ἄλλοις παραδιδόναι (8194). Das scharfe Urteil über 
die Praktiker, das wir im Gorgias lesen, hatte Plato, als er diese 
Stelle schrieb, gewiß noch nicht. Aber soviel ist doch wohl 
sicher: die ἐπιστήμη dyadov καὶ κακῶν im sokratischen Sinne 
hatten diese angeblichen σοφώτατοι für Plato sicher nicht, und 
jeder Leser des Folgenden konnte dieses Bedenken sich erledigen 
mit der Antwort, wer das Wissen vom Guten nicht habe, der 
könne auch keine Tugend lehren. 

Der Dialog verläuft also ganz ähnlich wie der Laches. 
Sokrates geht von unbewiesenen vulgären Anschauungen 
aus, die er sich hier scheinbar zu eigen macht, um Pro- 
tagoras zu einer Darstellung seines Standpunktes zu 
veranlassen. Die Unhaltbarkeit dieser Anschauung wird 
durch die wissenschaftliche Untersuchung erwiesen. 
Wenn dieses positive Ergebnis trotzdem nicht als sicher 
hingestellt wird, so kann der Grund nur der sein, daß 
es Plato widerstrebt, Sokrates wie einen Dogmatiker 
einzuführen, der befriedigt seine festen Sätze formuliert, 
statt an die Fülle von neuen Problemen zu denken, die 
sich anknüpfen, und auch dem Leser eine Kleinigkeit 
zum selbständigen Durchdenken zu überlassen. 

Wirkliche Bedenken könnten uns freilich aus dem Gange 
der wissenschaftlichen Untersuchung selber aufsteigen. Denn be- 
kanntlich wird schon in dem ersten Abschnitt 329d—334c die enge 
Verwandtschaft oder gar Identität von δικαιοσύνη und ὅσιότης, 
von σωφροσύνη und σοφία auf einem logisch nicht einwandfreien 


Die positive Tendenz des Dialogs. 99 


Wege erwiesen. Aber wie man die Sache auch erklären mag, 
soviel ist zweifellos, daß wir nicht etwa wie im Hippias Trug- 
schlüsse vor uns haben, die Plato bewußt anwendet, um ein ab- 
surdes Ergebnis zu erzielen‘. Schon der Vergleich mit dem 
Laches, wo das ganz ähnliche Ergebnis einwandfrei erzielt wird, 
zeigt, daß auch hier Plato seine Beweise durchaus ernst meint. 
Andrerseits ist aber auch deutlich, daß Plato diesen Teil nur als 
ein Vorspiel betrachtet. Bei der Gerechtigkeit und Frömmigkeit 
deutet er selber an, daß ihm hier nicht daran liegt, ihr Verhält- 
nis zu voller Evidenz zu bringen’). Die Untersuchung über σω- 
φροσύνη und ἀδικία wird durch Protagoras’ Schuld nicht zu 
Ende geführt, und der Leser ist gezwungen, sich den Beweis 
mit Hülfe des Charmides und der folgenden Untersuchungen zu 
ergänzen®). Im ganzen will Plato nur eine vorläufige Überein- 
stimmung darüber erzielen, daß Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Selbst- 
beherrschung, Weisheit eng verwandt sind. Diesen Satz gibt Pro- 
tagoras, wie erwähnt, p. 349d ausdrücklich zu, obwohl ein wirk- 
licher Zwang für ihn nach dem bisherigen Gange der Unter- 


1) Eine Erklärung bei Stavenhagen Χάριτες S.25ff. Ritters Deutung 
S. 320 scheint mir gekünstelt. 

®) 332a wird das Gespräch abgebrochen und 333b begnügt sich Sokrates 
mit der Erklärung: τὸ δὲ πρότερον αὖ ἐφάνη ἡμῖν ἣ δικαιοσύνη καὶ ἡ ὁσιότης 
σχεδόν τι ταὐτὸν ὄν. 

®) Protagoras selber bekennt als seine Ansicht ὅτε οὐδεὶς ἀδικῶν σωφρονεῖ 
(333ec), was uns nach dem Mythos nicht verwundern kann. Da aber die.Meinung 
der Menge anders lautet, so. soll diese untersucht werden. Zunächst wird 
das σωφρονεῖν auf das εὖ φρονεῖν, ed βουλεύεσθαι zurückgeführt (333d). 
Wenn nun weiter Sokrates fragt, εἰ εὖ πράττουσιν ἀδικοῦντες, und von da aus 
zum Begriff des Guten übergeht, so muß uns der Charmides einfallen, wo Kritias 
163e die Definition aufstellte τὴν τῶν ἀγαϑῶν πρᾶξιν σωφροσύνην εἶναι σαφῶς 
σοι διορίζομαι und Sokrates diese an sich brauchbare Definition dadurch korri- 
giert, daß er den Begriff des bewußten Handelns, des Wissens vom Guten und 
Nützlichen einführt (164 vgl. S. 49). Natürlich sollen wir uns aber überhaupt 
im Anschluß an den Charmides gegenwärtig halten, daß die σωφροσύνη ein 
Wissen vom Guten sein muß, wenn sie selber nützlich sein soll. Im Protagoras 
geht Sokrates dann über zu der Frage, ob das Gute nicht mit dem Nützlichen 
identisch ist (333d). Wenn Protagoras antwortet κἂν un τοῖς ἀνθρώποις ὠφέ- 
Ana ἢ, ἔγωγε καλῶ dyadd, so schweben ihm offenbar solche Fälle vor, wo 
das sittlich gute Handeln dem Menschen äußere Nachteile bringt. Ob in solchem 
Falle wirklich eine Kollision zwischen ἀγαϑόν und ὠφέλιμον vorliegt, das will 
Sokrates nun prüfen. Aber Protagoras, der sehr wohl fühlt, daß er den Unter- 
schied von ἀγαϑόν und ὠφέλιμον nicht werde aufrecht erhalten können, wenn 

Tr 


100 Protagoras. 


suchung noch nicht vorliegt. Plato glaubt sich offenbar dieses 
Vorgehen nach den eigenen künstlerischen Voraussetzungen ge- 
statten zu können, da Protagoras selber im Mythos diese Tugenden 
als eng verwandt betrachtet (vgl. S. 80) und der historische Pro- 
tagoras wohl sich ähnlich geäußert hatte. Die absolute Berechti- 
gung liegt aber erst darin, daß der Beweis, der dann bezüglich 
der am weitesten abliegenden Tugend, der Tapferkeit, geführt 
wird, sich leicht auf die übrigen Tugenden übertragen läßt, jeden- 
falls den Punkt behandelt, der nach Plato für die Auffassung 
von der Tugend überhaupt entscheidend ist, die Frage, ob die 
Tugend intellektuell bestimmt ist oder nicht‘). 

Auch dieser große Beweis (349e—360d) hat etwas Auf- 
fallendes. Plato geht nämlich, wie schon im letzten Teil des 
Vorspiels (333c), von den Anschauungen der Menge aus, die 
einen Gegensatz von Gut und Angenehm annimmt und deshalb 
es für möglich hält, daß jemand unter dem Einfluß der Lust das 
Schlechte tut. Ihr wird gezeigt, daß in solchem Falle nur die 


er im sittlich Guten ein absolutes ἀγαϑόν anerkenne, weicht aus, indem er — 
im Gegensatz zu seinen innersten Neigungen — sich ganz auf die Relativität 
des Guten zurückzieht. Damit wird der Gedankengang unterbrochen. Aber 
hieristesdoch ganz deutlich, daß bei dem scheinbar ergebnislosen 
Abschluß Plato vom Leser verlangt, er solle sich den Abschluß 
selber suchen oder jedenfalls die Formulierung des Problemes 
empfinden. Es lautet: „Ist es denkbar, daß das sittlich Gute dem Menschen 
jemals Schaden bringt? Ist es denkbar, daß das Unrechttun jemals vorteilhaft 
ist?“ Wird die Frage, wie Plato erwartet, verneint, so ergibt sich die Folge- 
rung, daß die Ungerechtigkeit zurückzuführen ist auf einen Mangel an Einsicht 
in das Gute und wahrhaft Nützliche. Und sollte wirklich ein Leser diese Fol- 
gerung nicht selber ziehen können, so sagt ihm Sokrates gleich drauf bei der 
Gedichtinterpretation οὐδεὶς τῶν σοφῶν ἡγεῖται οὐδένα ἄνϑρωπον . .. αἰσχρά 
te καὶ κακὰ ἑκόντα ἐργάζξεσϑαι (345e), und erklärt dann in der wissenschaft- 
lichen Untersuchung nochmals: οὐδ᾽ ἔστι τοῦτο ἐν ἀνθρώπου φύσει, ἐπὶ ἃ οἴεται 
κακὰ εἶναι ἐϑέλειν ἱέναι ἀντὶ τῶν ἀγαϑῶν (358d). Ich denke, wir sehen jetzt, 
wie bewußt Plato den Dialog komponiert hat, wie auch die Gedichtinterpretation 
mit den übrigen Teilen zusammenhängt. 

Aber warum hat denn Plato den Beweis, daß das Unrechttun stets für 
den Menschen schädlich sei, nicht ausdrücklich gebracht, um sein Thema voll 
zu erledigen? Die Antwort ist leicht. Dann hätte er eben einen großen Teil 
der Untersuchungen, die wir jetzt im Gorgias lesen, schon hier bringen müssen, 
und vorläufig war der Künstler in Plato noch zu mächtig, um unförmliche 
Gesprächskolosse zuzulassen. 

ı) Wie der Beweis auch direkt auf das Vorspiel zurückwirkt, ist in der 
vorigen Anmerkung gezeigt. 


Der Gegensatz der Intellektualisten zur vulgären Psychologie. 101 


kleinere Lust aus Mangel an Einsicht der größeren vorgezogen 
wird. Und erst von da aus weist Plato nach, daß jedes Schlecht- 
handeln, auch das feige Verhalten, auf einer Unwissenheit, jedes 
Richtighandeln, auch die Tapferkeit, auf der richtigen Bewertung, 
auf dem Wissen vom Guten beruht. 

Wie kommt Plato, der sich doch sonst um die Anschauungen 
der Menge nicht kümmert, zu diesem Verfahren? Da müssen 
wir vor allem daran denken, daß dieser Hauptteil des Protagoras 
eine genaue Parallele des Laches ist und dasselbe Beweisthema 
hat, daß die Tapferkeit ein Wissen vom Guten ist. Plato muß 
also den dort gegebenen Beweis selbst für nicht ausreichend ge- 
halten haben. Tatsächlich haben auch wir beim Lesen des Laches 
diese Empfindung. Denn gerade das, was für uns das Bedenk- 
lichste ist, die rein intellektuelle Auffassung der Tapferkeit, wird 
dort einfach zugrunde gelegt (195a). Freilich werden dann ein 
paar Einwürfe widerlegt, die sich vom Boden der Sokratik aus 
erheben, aber die Überzeugung, daß die Tapferkeit ein Wissen 
ist, kann dort doch nur der mitnehmen, der innerlich eben schon 
vom sokratischen Intellektualismus durchdrungen ist. 

Dabei ist es selbstverständlich, daß dieser Intellektualismus 
dem Volksempfinden durchaus widersprach. Dem gab Euripides 
Ausdruck, wenn er Phaidra sagen läßt (Hipp. 380): 

τὰ χρήστ᾽ ἐπιστάμεσθα καὶ γιγνώσκομεν, 
οὐκ ἐχπονοῦμεν δ᾽, οἵ μὲν ἀργίας ὕπο, 
οἱ δ᾽ ἡδονὴν προϑέντες ἀντὶ τοῦ καλοῦ 
ἄλλην τινά, 
oder wenn Medea erklärt (1078): 
χαὶ μανϑάνω μὲν οἷα δρᾶν μέλλω κακᾶ, 
ϑυμὸς δὲ κρείσσων τῶν ἐμῶν βουλευμάτων. 
So pflegte ja auch das Volk von einem »geittwv ἑαυτοῦ, ἥττων 
γαστρός oder ἡδονῆς, vom ἡττᾶσϑαι ὑφ᾽ ἡδονῆς (Thukyd. II, 38, 7, 
Lysias 21, 19 und in der Phaidrosrede 233e οὐχ ὑπ᾽ ἔρωτος 
ἡττώμενος ἀλλ᾽ ἐμαυτοῦ κρατῶν), vom ἄρχεσϑαι ὑπὸ τῶν διὰ τοῦ 
σώματος ἡδονῶν (Xen. Mem. IV, ὅ, 8. u.ö.) zu sprechen. Wenn 
Plato im Laches diese Anschauung ganz ignoriert, so tut er das 
offenbar, weil er sich die Auseinandersetzung für ein anderes 
Mal aufspart. 

Der Protagoras sollte die Ergänzung bringen. Aber dabei 

ergab sich eine Schwierigkeit. Die Sophisten hatten freilich 


102 Protagoras. 


keine feste psychologische Anschauung, und Protagoras ist un- 
klar genug, die Tapferkeit ausschließlich auf die Naturanlage 
zurückzuführen. Aber prinzipiell müssen diese Männer, die durch 
ihren Unterricht den Menschen erziehen wollen, naturgemäß im 
Gegensatz zur vulgären Anschauung dem Intellektualismus zu- 
neigen und den Prinzipat des Wissens betonen, und es ist ganz 
gewiß den Sophisten aus dem Herzen gesprochen, wenn bei 
Plato Protagoras auf die Frage, ἄρα καὶ σοὶ δοκεῖ. . ἐάνπερ 
γιγνώσκῃ τις τἀγαϑὰ καὶ τὰ κακά, μὴ ἂν κρατηϑῆναι ὑπὸ μηδε- 
vos ὥστε ἄλλ᾽ ἄττα πράττειν ἢ ἃν ἐπιστήμη κελεύῃ ; mit aller Be- 
stimmtheit 352d erklärt: καὶ δοκεῖ ὥσπερ σὺ λέγεις, ὦ Σώκρατες, 
καὶ ἅμα εἴπερ τῳ ἄλλῳ αἰσχρόν ἐστι καὶ ἐμοὶ σοφίαν καὶ ἐπιστή- 
μην μὴ οὐχὶ πάντων κράτιστον φάναι εἶναι τῶν ἀνθρωπείων 
πραγμάτων. Und dabei bleibt er auch, als Sokrates ihn aus- 
drücklich darauf aufmerksam macht, daß er damit in Wider- 
spruch zur öffentlichen Meinung gerät: οἶσϑα οὖν ὅτι οἱ πολλοὶ 
τῶν ἀνθρώπων ἐμοί τε καὶ σοὶ οὐ πείϑονται, ἀλλὰ πολλούς φασι 
γιγνώσκοντας τὰ βέλτιστα οὐκ ἐϑέλειν πράττειν ἐξὸν αὐτοῖς, ἀλλὰ 
ἄλλα πράττειν; Unwillkürlich fallen einem hier Phaidras Worte 
ein, und jedenfalls muß es Euripides sich gefallen lassen, daß er 
hier zu den πολλοί gerechnet wird, denen als geschlossene Phalanx 
die Intellektualisten entgegentreten. Und daß zu diesen sowohl 
die Sokratiker wie die Sophisten, jedenfalls Protagoras, prinzipiell 
gehören, daß sie in diesem Punkte vollkommen einig sind, das 
stellt Plato mit aller Bestimmtheit hier am Anfang des letzten 
Teiles fest. 

Damit ist aber gesagt, daß eine Debatte über diesen Punkt 
zwischen Sokrates und Protagoras an sich nicht möglich war. 
Und wenn Plato nicht etwa einen Vertreter der πολλοί, einen 
Praktiker einführen wollte — das hätte aber das Interesse von 
der Hauptfigur und dem Hauptproblem abgelenkt‘) — so mußte 
er nach einem Ausweg suchen, und echt sokratisch ist es, wenn 
er zu diesem Zwecke Sokrates ein Gespräch mit einem fingierten 
Vertreter der πολλοί halten läßt (853—357). Ausdrücklich hebt 
Plato am Schluß dieses Gesprächs noch einmal hervor, daß die 
Sokratik mit dem Sophisten hier auf gleichem Boden steht und 
Sokrates dehnt absichtlich diese Übereinstimmung auf Hippias 


ἡ Man denke an den Kallikles des Gorgias. 


Die Begründung der intellektualistischen Auffassung der Tugend. 103 


und Prodikos aus — κοινὸς γὰρ δὴ ἔστω ὑμῖν ὃ λόγος (358a) — 
und läßt sich von ihnen bestätigen, daß die vulgäre Anschauung 
widerlegt ist '). 

Bringt nun der Abschnitt tatsächlich das, was wir als Er- 
gänzung zum Laches für notwendig hielten? Enthält er den Be- 
weis, daß die Tugend intellektuell ist? 

Plato sucht zu zeigen, daß das ἡττᾶσϑαι τῶν ἡδονῶν weiter 
nichts ist als eine falsche Entscheidung des Intellekts, indem man 
gegenüber der augenblicklichen Lust, die eine Handlung bringt, 
die zukünftigen Schmerzen und Unannehmlichkeiten, die aus ihr 
folgen müssen, zu gering einschätzt. Daraus folgert er weiter, 
daß das richtige Verhalten des Menschen, die Tugend, auf einer 
richtigen Abschätzung gegenwärtiger und künftiger Lust beruhe, 
also eine Meßkunst sei, die aus der Fähigkeit, Werturteile zu 
fällen, aus dem Wissen vom Guten und Schlechten stamme. 

Die Unzulänglichkeit dieser Beweisführung empfindet man 
am stärksten, wenn man an die Debatten der hellenistischen 
Zeit denkt, wo Stoiker und Peripatetiker darüber streiten, ob bei 
Medea, wenn sie erklärt καὶ μανϑάνω μὲν oia δρᾶν μέλλω κακά, 
υμὸς δὲ κρείσσων τῶν ἐμῶν βουλευμάτων, wirklich ein Unter- 
liegen des Intellekts gegenüber unvernünftigen Trieben oder nur 
ein intellektueller Akt, ein falsches Urteil statthat (z. B. Chrysipp 
fr. eth. 473). Denn Plato setzt ohne weiteres voraus, daß auch 
der ἥττων ἡδονῆς der Lust nur deshalb fröhnt, weil er sich ver- 
standesmäßig für die Lust entscheidet. Plato nimmt also das 
eigentliche Beweisthema, daß hier der Intellekt das Handeln be- 
stimmt, einfach vorweg und führt auf dieser Basis die Unter- 
suchung. Daß hier ein psychologisches Problem vorliegt, sieht 
er überhaupt nicht. Verwundern kann uns das nicht, denn seine 
Zeitgenossen sehen es ebensowenig — wenigstens die ganz im 
Banne des Rationalismus stehenden Träger der Aufklärung; Euri- 
pides, den Plato hier zur Masse wirft, blickt tiefer ins Menschen- 
herz — und wir beobachten ja bei Plato selber, wie erst all- 


ἢ Natürlich sorgt Plato dafür, daß wir nun diese Gemeinschaft nicht zu 
weit ausdehnen. Laut ertönt der Beifall der Sophisten zu dem ihnen genehmen 
Ergebnis (358a), zumal Sokrates mit dem Rate an die πολλοί geschlossen hat, 
sie sollen sich von ihrer Unwissenheit durch die berufenen Seelenärzte, die 
Sophisten, kurieren lassen und die Kosten der Kur nicht scheuen (357e). Die 
Ironie, die sie nicht merken, empfindet der Leser um so stärker. 


104 Protagoras. 


mählich ihm die Bedeutung des Problems aufgeht. Im vierten 
Buche des Staates stellt er den Widerstreit von Urteil und Trieb 
dar, um damit die Verschiedenheit der psychischen Funktionen 
zu erweisen. Aber die Ausführlichkeit und der ganze Ton der 
Beweisführung zeigen uns deutlich, wie neu die Entdeckung dieses 
Widerstreites für ihn selber ist, wie genau er ihn und die daraus 
sich ergebenden Folgerungen glaubt den Lesern erläutern zu 
müssen (436ff.). Nirgends ermißt man die gewaltige Entwick- 
lung in Platos psychologischer Erkenntnis deutlicher, als wenn 
man diese Ausführung mit der des Protagoras vergleicht. Er 
selber ignoriert im Staat seine frühere Darstellung, sieht sie als 
überwundenen Standpunkt an. Aber daran, daß er im Protagoras 
geglaubt hat, die vulgäre Anschauung vollkommen zu widerlegen 
und den intellektuellen Charakter der Tugend zu erweisen, ist 
nicht zu zweifeln. 

Mit der einheitlichen Auffassung der psychischen Funktionen 
hängt es eng zusammen, daß Plato hier auch das Ziel des mensch- 
lichen Strebens als einheitlich zu erweisen unternimmt. Auch 
hier tritt er der vulgären Anschauung entgegen. Denn die kennt 
zwei Zielpunkte des Handelns, die Lust und das Gute, und geht 
von der Voraussetzung aus, daß beide nur zu oft im Gegensatze 
stehen. Wenn sie von einem Unterliegen gegenüber der Lust 
spricht, so meint sie, daß der Mensch zwar das Gute sieht, das 
er eigentlich tun sollte, aber das Schlechte tut. weil die Lust ihn 
lockt (352d). Als das Gute schwebt dabei teils das Vorteilhafte, 
teils in unklarer Weise der Begriff des Sittlichen vor, das eigent- 
lich das Ziel des Handelns sein müßte. Aber das Gute ist oft so 
bitter, das Schlechte so süß, und im Grunde ist doch der Dumme, 
wer das Gute tut. Demgegenüber glaubt Plato zeigen zu kön- 
nen, daß ein Widerstreit zwischen Gut und Angenehm in Wahr- 
heit nicht besteht, daß jedem Menschen ein einheitliches Ziel des 
Strebens vorschwebt (351c). Auch wer ganz bewußt die Lust 
vom Guten scheidet und ihr allein fröhnt, verzichtet doch ge- 
legentlich auf einen Genuß, der ihm übel bekommen würde, 
unterzieht sich einer schmerzlichen Operation, von der er Ge- 
nesung erhofft. Das tut er, weil er meint, daß die Operation für 
ihn gut und vorteilhaft ist. Gut ist sie aber deshalb für ıhn, 
weil sie ihm für den augenblicklichen Schmerz ein höheres Maß 
von Lust erwirkt (354a). Alles aber, was Lust bewirkt, kann als 


ἡδύ und ἀγαϑόν. 105 


ἡδύ aufgefaßt werden — mit guter Absicht ist die Definition an 
den Anfang gestellt ἡδέα ἐστὶ τὰ ἡδονῆς μετέχοντα ἢ ποιοῦντα 
ἡδονήν (861) —, daher ließ sich folgerichtig selbst diese Ope- 
ration, weil sie ἡδονὴν ποιεῖ, als nöd bezeichnen. Plato hat das 
nicht ausdrücklich ausgesprochen, teils weil er den Schein der 
Paradoxie vermeiden wollte, teils weil ın diesem Falle ein Ge- 
misch von Add und ἀνιαρόν vorliegt, bei dem nur die Zusammen- 
rechnung ein Plus von ἧδύ ergibt. Wichtiger ist ihm die Fest- 
stellung, daß das Werturteil „gut“ bei diesem Standpunkt zu- 
rückzuführen ist auf den Begriff des dv, das als einheitliches 
Ziel des Handelns vorschwebt. Nur das ist gut, was Lust ver- 
mittelt, und umgekehrt ist natürlich die Lust das für den Men- 
schen Gute und Vorteilhafte, aber freilich nur die Lust, sofern 
sie keine Unlust nach sich zieht (354c — 6). 

Damit ergibt sich die Antwort auf das Thema, das 351c ge- 
stellt war. Dort hatte Sokrates gefragt: un καὶ σύ, ὥσπερ οἱ 
πολλοί, HdE ἄττα καλεῖς κακὰ καὶ ἀνιαρὰ dyadd; ἐγὼ γὰρ λέγω, 
nad ὃ ἡδέα ἐστίν, ἄρα κατὰ τοῦτο οὐκ ἀγαϑά, μὴ εἴ τι ἀπ᾽ αὐτῶν 
ἀποβήσεται ἄλλο; καὶ αὖϑις αὖ τὰ ἀνιαρὰ ὡσαύτως οὕτως οὐ καϑ' 
ὅσον ἀνιαρά, κακά; und da Protagoras es für vorsichtiger hält, die 
ἡδέα in gute, schlechte und indifferente einzuteilen, hatte er 
35le nochmals das Thema präzisiert: τοῦτο τοίνυν λέγω, nad” 
ὅσον ἡδέα ἐστίν, εἰ οὐκ dyadd, τὴν ἡδονὴν αὐτὴν ἐρωτῶν εἰ 
οὐκ ἀγαϑόν ἐστιν. Jetzt ergibt sich, daß diese Frage tatsächlich 
zu bejahen ist. Aber allerdings ist auch deutlich geworden, 
warum es nötig war, den Begriff des ἡδύ so scharf zu umgrenzen, 
wie es Sokrates tut. Denn nicht alles, was man gewöhnlich 
ἡδύ nennt, verdient diesen Namen. Die χακὰ ἡδέα, von denen 
die πολλοί reden, sind in Wahrheit gar keine ἡδέα, da sie, wenn 
auch nur für die Zukunft, ein Plus von ἀνιαρόν in sich bergen. 
Nur ihre ἀγαθὰ ἡδέα verdienen den Namen ἡδέα, und sie sind 
gleichzeitig wirklich etwas Gutes. 

So ergibt sich statt des Widerstreites von ἀγαϑόν 
und nöd grade vom Standpunkt der vulgären An- 
schauung aus die Identität beider Begriffe und die 
Einheitlichkeit des Lebenszieles. 

Aber Plato nimmt für diese Auffassung auch absolute Gel- 
tung in Anspruch. Denn wo er sich von der Auseinandersetzung 
mit den πολλοί abwendet, läßt er sich ausdrücklich auch von den 


106 Protagoras. 


Sophisten bestätigen: ὁμολογεῖτε ἄρα τὸ μὲν ἡδὺ ἀγαϑὸν εἶναι τὸ 
δὲ ἀνιαρὸν κακόν (358a). Auch hier müssen wir natürlich uns 
gegenwärtig halten, daß ἡδύ nur die reine Lust ist, die keine 
Unlust im Gefolge hat. Wollen wir nun verstehen, wie Plato zu 
dieser Auffassung gekommen ist, so gilt es, auf den Satz zurück- 
zublicken, den er zum Ausgangspunkt der Debatte macht (351 b): 
Es ist die Identität des εὖ ζῆν und des ἡδέως ζῆν. Daß mit dem 
εὖ ζῆν nicht bloß das glückliche, sondern das sittliche Leben ge- 
meint ist, ergibt das Folgende. Als nämlich Sokrates folgert 
τὸ ἄρα ἡδέως ζῆν ἀγαθόν, will Protagoras die Einschränkung 
machen, εἴπερ τοῖς καλοῖς γε ζῴη hödutvog. Diese Einschränkung 
erklärt Sokrates für unnötig, weil die ἡδέα zugleich gut seien. 
Das zeigt er in der vorher geschilderten Weise und greift dann 
sofort 358b auf den Begriff καλόν zurück: αἱ ἐπὶ τούτου πράξεις 
ἅπασαι, ἐπὶ τοῦ ἀλύπως ζῆν καὶ ἡδέως, ἄρ᾽ οὐ καλαί; diese καλαὶ 
πράξεις, die zum ἡδέως ζῆν führen, sind aber die sittlichen 
Handlungen, von denen im folgenden besonders die tapferen be- 
sprochen werden. Natürlich will nun Plato nicht etwa wie Epikur 
die Tugenden zu Dienerinnen der Lust machen und in ihnen nur 
das Mittel sehen, um möglichst viel Lust, womöglich gar körper- 
liche Lust zu gewinnen, und noch weniger denkt er daran, die 
einzelne Lust zum Prinzip des Handelns zu erheben. Ziel bleibt 
für ihn das sittlich Gute, aber sein Optimismus sagt ihm, daß das 
sittliche Leben als das εὖ ζῆν die Glückseligkeit und die höchste 
Lust verbürgt. Und mag auch die einzelne sittliche Handlung 
oft von körperlichem Schmerze begleitet sein, sie ist doch etwas, 
was ein viel größeres Maß von Lustgefühl für die Zukunft ver- 
spricht, ist ein ποιοῦν ἡδονήν und damit ἡδύ. Andrerseits 
liest kein Bedenken vor, das ἡδύ für ein Gut zu erklären. Man 
muß nur festhalten, daß wahrhaft ἡδύ nur das ist, was nie zur 
Quelle der Unlust werden kann. Und das wird in erster Linie 
wieder das Lustgefühl sein, das sich aus der sittlichen Handlung 
ergibt. Jedenfalls ist ein dauerndes ἡδέως ζῆν nur denkbar in 
Verbindung mit dem sittlichen Leben. 

So ist Plato dazu gekommen, die Lust nicht bloß wie Aristo- 
teles für das Wohlgefühl zu erklären, das die vollkommene 
Handlung begleitet, sondern gradezu sie mit dem Guten, das das 
eigentliche ποιοῦν ἡδονήν ist, zu identifizieren. Das dulce est 
pro patria mori hat für ihn den tiefen Sinn, daß die Hingabe 


ἡδύ und ἀγαϑόν. ἔ 107 


des Lebens als freie sittliche Tat vom höchsten, edelsten Lust- 
gefühl begleitet ist. Und der Feigling flieht den Tod nur, weil 
er von dieser höchsten Lust nichts weiß. 

Er weiß nichts von ihr — damit werden wir auf das ur- 
sprüngliche Problem zurückgeführt. Denn diese Identifikation des 
Guten und Angenehmen, die einheitliche Auffassung des Lebens- 
zieles ermöglicht erst vollständig, die psychischen Vorgänge als 
intellektuell bestimmt aufzufassen. Denn nun ergibt sich für 
Plato ohne weiteres, daß das ἡττᾶσϑαι τῆς ἡδονῆς nichts ist als 
falsches Urteil über das eigentliche 566, das man als letztes Ziel 
hat‘). Ohne weiteres ist jetzt klar, daß niemand aus Vorsatz das 
Schlechte tut, das für ihn schädlich ist und λύπην ποιεῖ. Jetzt 
kann sich auch Protagoras der Folgerung nicht entziehen, daß die 
tapfere Handlung nichts andres ist als die bewußte Wahl des als 
gut Erkannten (359 — 360e)’), und der Leser kann sich nunmehr 
den 333e abgebrochenen Beweis”) dahin ergänzen, daß die σω- 
φροσύνη wie die δικαιοσύνη in dem bewußten Tun des für den 
Menschen Guten und Vorteilhaften, in derselben ἐπιστήμη ἀγαθῶν 
καὶ κακῶν, die der Tapferkeit zugrunde liegt, ihr eigentliches 
Wesen haben. 

Was Plato hier bieten will, ist im Kern nichts andres als das, 
was er später im Staat versucht hat. Es ist der Nachweis, daß 
das sittlich Gute für den Menschen zugleich das Vorteilhafte und 
Glückseligmachende ist. Zu diesem Zwecke hat er sich des Be- 
griffes ἡδύ bedient. Er ist sich der Kühnheit des Schrittes be- 
wußt gewesen. Das zeigen die ernsten Bedenken, die er Prota- 
goras p. 851 4 in den Mund legt: Οὐκ οἶδα, ὦ Σώκρατες, ἁπλῶς 
οὕτως, ὡς σὺ ἐρωτᾷς, εἰ ἐμοὶ ἀποκριτέον ἐστὶν ὡς τὰ ἡδέα τε ἀγαϑά 
ἐστιν ἅπαντα καὶ τὰ ἀνιαρὰ κακά; ἀλλά μοι δοκεῖ οὐ μόνον πρὸς 
τὴν νῦν ἀπόκρισιν ἐμοὶ ἀσφαλέστερον εἶναι ἀποκρίνασθαι, ἀλλὰ 
καὶ πρὸς πάντα τὸν ἄλλον βίον τὸν ἐμόν, ὅτι ἔστι μὲν ἃ τῶν 


τι 


ἡδέων οὐκ ἔστιν ἀγαϑά, ἔστι δαὖ καὶ ἃ τῶν ἀνιαρῶν οὐκ ἔστι 


1) Hier schwebt schon der Unterschied von Endziel und Ziel der einzelnen 
Handlung vor, den der Gorgias 467. 8 ausführt. 

2) Sie wird als σοφία δεινῶν καὶ μὴ δεινῶν definiert (8604). Μὴ δεινῶν 
ist offenbar deshalb für das ϑαρραλέων des Laches (194 extr.) in der sokra- 
tischen Definition eingesetzt, weil im Protagoras der Begriff ϑαρραλέος als Ober- 
begriff von ἀνδρεῖος verwertet ist (349e vgl. 5. 94!). 

a, Vel..S. 99. 


108 Protagoras. 
cl 


κακά, ἔστι δ᾽ ἃ ἔστι, καὶ τρίτον ἃ οὐδέτερα, οὔτε κακὰ οὔτ᾽ dyadd. 
Als Plato diese Worte schrieb, da hat er geglaubt, die Bedenken 
überwinden zu können (vgl. p. 8516). An dieser Auffassung ist 
er, das werden wir beim Gorgias sehen, bald irre geworden, und 
hat eine scharfe Scheidung der Begriffe ἡδύ und ἀγαϑόν voll- 
zogen. Aber daß die reine Lust etwas Gutes ist, daß sie die 
Begleiterin des Sittlichen ist, das hat er — das werden wir dort 
auch sehen — festgehalten. 

Ob Plato in dem letzten Abschnitt des Gesprächs ganz 
original ist, darf man vielleicht bezweifeln. Denn die ganze Lehre, 
daß des Menschen Aufgabe die Meßkunst sei, die zwischen ge- 
genwärtigen und künftigen Lüsten abwäge, macht doch sehr den 
Eindruck, als sei sie auf dem Boden der Hedonik gewachsen. 
Und tatsächlich kehren grade die Hauptpunkte dieser Ab- 
schätzungslehre bei Epikur (fr. 439 Anf. 442. p. 63, 5ff. u. ö.) in 
so frappanter Weise wieder, daß ein Zusammenhang zweifellos 
besteht. Gewiß hat aber Epikur nicht aus dem Protagoras ge- 
schöpft, sondern aus einem andern Hedoniker, an den auch Plato 
anknüpft. Man denkt natürlich an Aristipp, und jedenfalls würde 
die Bilanzierung der Lust, wenn sie sich auch für diesen nicht 
sicher beweisen läßt, vortrefflich in seine Anschauungen passen. 
Ist das richtig, so hat Plato die Hedonik Aristipps auf eine höhere 
Stufe zu heben gesucht, indem er für das wahre ἡδύ nicht den 
körperlichen Vorgang erklärte, sondern das Wohlgefühl, das die 
gute Tat begleitet. Aber das bleibt natürlich unsicher. 

Der Protagoras ist so fein komponiert wie kaum ein andrer 
Dialog. Selbst die Teile, die nur in loser Verbindung mit dem 
Hauptgespräche stehen, hängen innerlich mit diesem eng zu- 
sammen. Selbst die Gedichtinterpretation, die scheinbar rein 
künstlerischen Zwecken dient, spinnt inhaltlich, wie wir sahen 
(5. 99°), den Faden weiter, der vorher abgerissen schien, und von 
ihr aus wird derselbe Faden an den zweiten Teil des Gespräches 
geknüpft‘). Die beiden Teile des Hauptgespräches, die durch das 
lange Zwischenspiel und die Dichterinterpretation getrennt sind, 
ergänzen sich genau wie zwei durch die Parabase getrennte 
Teile der Komödie (S. 100). Und wenn dabei für die Verteilung 


1) Natürlich soll die Gedichtinterpretation auch zeigen, daß dieses beliebte 
Stück der sophistischen Erziehung ganz subjektiven Charakter trägt und darum 
keinen absoluten Wert hat. Vgl. S. 84. 


ν 
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ᾧ 

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φ᾽ 


Die Komposition des Dialogs. 109 


des Stoffes besonders wichtig ist, daß Protagoras der Tapferkeit 
eine Sonderstellung gegenüber den übrigen Tugenden zuweist, so 
sind wir darauf schon durch den Mythos des Sophisten vorbe- 
reitet (vgl. S. 93). An diesem Mythos übt die folgende Debatte 
über das Wesen der Tugend die beste Kritik. Und wie der 
Mythos uns die Unklarheit des Sophisten illustriert, so zeigt uns 
die Debatte Sokrates als Beherrscher der einzigen Methode, die 
zur Klarheit führen kann. Ohne Klarheit über das Wesen der 
Tugend ist aber auch die von den Sophisten so oft behandelte 
Frage nach ihrer Lehrbarkeit nicht zu entscheiden. So hängt 
diese Frage mit der Hauptdebatte aufs engste zusammen. Alles 
aber zeigt uns, wie recht Sokrates hatte, wenn er im Vorgespräch 
den Jüngling zur Vorsicht gegenüber den Sophisten mahnt, die 
sich selber über den Charakter ihrer Lehren nicht klar sind. — 
So schließen sich alle einzelnen Teile zu einem organischen 
Ganzen zusammen, und sie alle eint die Tendenz, die Tugend als 
das Wissen vom Guten zu erweisen und die Sokratiker als die 
einzigen hinzustellen, die als Lehrer der Tugend in Betracht 
kommen. Ob sie das Wissen vom Guten schon haben, das wissen 
wir nicht. Aber auf dem richtigen Wege sind sie. 

Im Protagoras tritt in der Schilderung der Situation und der 
Charaktere wie in der ganzen Komposition die künstlerische 
Meisterschaft des jungen Plato in solchem Maße zu Tage, daß man 
es verstehen kann, wenn in moderner Zeit künstlerisch orientierte 
Leser in dieser Kunst den eigentlichen Zweck Platos sehen. Aber 
ganz gewiß hat Plato, das hat uns hoffentlich die Interpretation 
gelehrt, im Protagoras kein bloßes Spiel geben wollen. Sehr ernste 
Probleme verbergen sich unter der heitern Hülle. Auch der Dichter 
dieser Komödie wollte διδάσκαλος des Volkes sein. 

Für die Zeit, wo der Protagoras verfaßt ist, gibt uns der 
Dialog selber keine sicheren Anhaltspunkte‘). Immerhin wird 
man wohl sagen dürfen, daß die zwischen Apol. 19e und Prot. 
316c, zwischen Apol. 24. 5 und Prot. 325cff. bestehenden Be- 
ziehungen (vgl. S. 79 und S. 89) sich ungezwungen psychologisch 
nur erklären lassen, wenn die Apologie vorangegangen ist. Auch 
wird es, hoffe ich, manchen geben, der meint, es wäre nicht über- 

Ἢ Daraus, daß Plato 350a anführt, selbst die durch Tapferkeit nicht son- 


derlich berühmten πελταστικοί würden durch ihre technische Fertigkeit ϑαρρα- 
λεώτεροι, ist garnichts zu schließen. Vgl. Xen. An. I, 3, 3. 6. 9. ὃ. 


110 Protagoras. 


mäßig geschmackvoll gewesen, wenn Plato bei Lebzeiten des 
Sokrates seinem Lehrer attestiert hätte, er sei ein durch seine 
Klugheit berühmter Mann!). 

Aber das ist natürlich ein Argument, das höchstens subjek- 
tive Überzeugungskraft hat. Und viel mehr möchte ich auch nicht 
für die Besprechung einer andern Stelle in Anspruch nehmen. 
Im Simonidesgedichte interpungiert Plato, wie wir sahen (S. 84), 
gegen des Dichters Willen πάντας δ᾽ ἐπαίνημι καὶ φιλέω ἑκών, 
ὅστις ἔρδῃ μηδὲν αἰσχρόν (845 Οἢ.). Er tat es zunächst, um in 
Simonides’ Worte die sokratische Überzeugung, daß niemand 
absichtlich Unrecht tut, hineinzudeuten (vgl. S. 89). Aber 
sehr auffallend ist es, wie er den Gedanken φιλέω ἑκών er- 
läutert. „Ein guter Mann kann in die Lage kommen, auch gegen 
seinen Willen andern Lob und Liebe zollen zu müssen, wenn 
nämlich Vater, Mutter oder auch das Vaterland ein verkehrtes 
Verhalten zeigen. Die Schlechten haben in solchem Falle, meint 
Sımonides, ihre Freude daran, die Fehler der Eltern oder des 
Vaterlandes aufzudecken, um daraufhin jeder Verpflichtung gegen 
diese ledig zu werden, τοὺς δ᾽ ἀγαθοὺς ἐπικρύπτεσθαί τε καὶ 
ἐπαινεῖν ἀναγκάζεσθαι, καὶ ἄν τι ὀργισϑῶσιν τοῖς γονεῦσιν ἢ 
πατρίδι ἀδικηϑέντες, αὐτοὺς ἑαυτοὺς παραμυϑεῖσθαι καὶ διαλλάτ- 
τεσϑαι προσαναγκάζοντας ἑαυτοὺς φιλεῖν τοὺς ἑαυτῶν καὶ ἐπαινεῖν 
(346a).“ Wie kommt Plato dazu, hier ausführlich vom Vaterlande 
zu sprechen und es dreimal ausdrücklich mit den Eltern zu ver- 
gleichen, wo doch das Simonidesgedicht nur von Individuen redet? 
Ein Motiv, das durch die Interpretation des Gedichtes oder über- 
haupt durch den Dialog selber gegeben wäre, wird man vergeb- 
lich suchen. Um so näher liegt es, an ein anderes Motiv zu 
denken. Im Kriton verficht ja Plato den Satz, daß man unter 
keinen Umständen Unrecht mit Unrecht vergelten dürfe, am 
wenigsten dem Vaterlande gegenüber, das Vaterstelle an uns 
vertritt, in dessen Schutze wir aufgewachsen sind. ἢ οὕτως εἶ 
σοφός, sagen dort die Gesetze zu Sokrates (Bla), ὥστε λέληϑέν 
σε ὅτι μητρός TE καὶ πατρὸς καὶ τῶν ἄλλων προγόνων ἁπάντων 
τιμιώτερόν ἐστιν πατρὶς καὶ σεμνότερον καὶ ἁγιώτερον καὶ ἐν 
μείζονι μοίρᾳ καὶ παρὰ ϑεοῖς καὶ παρ’ ἀνϑρώποις τοῖς νοῦν 
ἔχουσι; „Ihm muß man sich fügen, auch wenn es Unrecht tut, 


1 Andres besagt doch die Prophezeiung des Protagoras am Schluß (361e) 
nicht. 


Die Zeit des Dialogs. — p. 346a. 111 


darf nicht widersprechen. Man mag versuchen, gütlich zu ge- 
rechterem Verhalten zu überreden, βιάζεσθαι δὲ οὐχ ὅσιον οὔτε 
μητέρα οὔτε πατέρα, πολὺ δὲ τούτων ἔτι ἧττον τὴν πατρίδα." Über 
vier Jahrzehnte waren verstrichen, seit Plato dies geschrieben, 
da hielt man ihm höhnisch vor, warum er denn mit seinen po- 
litischen Reformen nicht in der Heimat angefangen habe. Die 
Antwort gab Plato an einer Stelle des siebenten Briefes (321b—d): 
„Einen Sklaven kann ich wohl zwingen, nach meinem Willen zu 
leben, πατέρα δὲ ἢ μητέρα οὐχ ὅσιον ἥγοῦμαι ngooßıdleodar.... 
ταὐτὸν δὴ καὶ περὶ πόλεως αὑτοῦ διανοούμενον χρὴ ζῆν τὸν ἔμφρονα. 
Auch da darf man keinen Zwang ausüben, nicht mit Gewalt und 
Blutvergießen eine neue Verfassung einführen, sondern man muß 
sich zurückhalten und Gott das eigne Los wie das des Vater- 
landes anheimstellen“ '). Ist es nicht derselbe Geist, der aus den 
goldenen Worten des Protagoras spricht, und ist es zu kühn, 
wenn wir nun in diesen ein Bekenntnis sehen, so persönlich wie 
das der beiden andern Stellen? „Gewiß, Athen hat Unrecht ge- 
tan, und den Grimm über sein Verhalten fühle ich so gut wie 
einer. Aber wenn nun Heißsporne kommen und Athens Schande 
möglichst breit treten und seine Ehre in den Staub ziehen, so 
mache ich nicht mit. Schwer genug mag es mir mein Athen 
machen an ihm festzuhalten. Aber es bleibt mein Vaterland, 
und was ich ihm schuldig bin, das werde ich ihm nicht versagen, 
und müßte ich mich zur Liebe zwingen.“ Daß in diesem Falle 
das Unrecht, auf das Plato anspielt, kein andres ist als der Tod 
des Sokrates, liegt an sich nahe und wird durch den Kriton be- 
stätigt. Der Kriton kann uns auch zeigen, daß wir die Milde, 
die in Platos Worten liegt, ihm auch bald nach 399 schon zu- 
trauen dürfen. Wir wissen ja aber auch aus dem siebenten Briefe, 
daß Plato die restaurierte Demokratie nicht ungünstig beurteilt 
hatte: ἢν οὖν καὶ ἐν ἐκείνοις ἅτε τεταραγμένοις πολλὰ γιγνόμενα 
ἅ τις ἂν δυσχεράνειεν, heißt es dort p. 325b, „aber im ganzen 
mußte man die Mäßigung der leitenden Männer anerkennen“ °). 


Ἢ An diese Stelle klingt der Schluß des dritten demosthenischen Briefes 
an: ἔγνωκα γὰρ ἐξ ἀρχῆς παντὶ τῷ πολιτευομένῳ προσήκειν, ἄνπερ ἢ δίκαιος 
πολίτης, ὥσπερ οἱ παῖδες πρὸς τοὺς γονέας, οὕτως πρὸς ἅπαντας τοὺς πολίτας 
ἔχειν, εὔχεσϑαι μὲν ὡς εὐγνωμονεστάτων τυγχάνειν, φέρειν δὲ τοὺς ὄντας 
εὐμενῶς. 


2) δοκοῦσιν κάλλιστα δὴ καὶ πολιτικώτατα ἁπάντων καὶ ἰδίᾳ καὶ κοινῇ 


112 Protagoras. 


Dazu könnte man direkt als Begründung die Gedanken stellen, 
die Plato im Protagoras unmittelbar nach der besprochenen Stelle 
ausführt „Vollkommene Menschen gibt es eben nicht und Simo- 
nides hat ganz recht, wenn er sagt ἔμοιγ᾽ ἐξαρκεῖ ὃς ἂν μὴ κακὸς 
ἦ und ἄγαν ἀπάλαμνος“ (3466). So werden wir auch diesen 
Worten eine ganz persönliche Bedeutung geben dürfen. 

Trotzdem bin ich, wie gesagt, weit entfernt davon, für diese 
Auffassung volle objektive Beweiskraft in Anspruch zu nehmen. 
Glücklicherweise hängt ja aber auch die Entscheidung über die 
Abfassungszeit des Protagoras von diesen Argumenten nicht ab. 
Sie ergibt sich aus dem Früheren von selbst. Der Protagoras 
ist nur denkbar als eine Parallele zum Hippias, als eine Fort- 
setzung des Laches') und kann deshalb wie dieser erst nach 399 
entstanden sein. 


χρήσασϑαι ταῖς προγεγενημέναις συμφοραῖς, sagt bekanntlich Aristoteles Ath. 
pol. 40, 4 von ihnen. 

1) Darüber, daß C. Fr. Hermann recht hatte, wenn er gegen Schleiermacher 
den Protagoras als Fortsetzung des Laches ansah, brauche ich wohl kein Wort 
mehr zu sagen. Nur auf eins sei noch hingewiesen. Wir sahen, wie im Laches 
Plato es dem Leser überläßt, sich die Begriffe ϑρασύς und ἀνδρεῖος gegenein- 
ander abzugrenzen (S. 27). Im Protagoras lesen wir eine an Laches 184b er- 
innernde Zusammenstellung 360b: οἱ δειλοὶ καὶ οἱ ϑρασεῖς καὶ οἱ μαινόμενοι 
τοὐναντίον (im Gegensatz zu den ἀνδρεῖοι) αἰσχροὺς φόβους φοβοῦνται. Im 
übrigen sorgt aber Plato hier dafür, daß das Verhältnis beider Begriffe ganz 
geklärt wird. Dazu dient die S. 94! besprochene Erörterung 349e—351b. Denn 
dort lernen wir, daß ϑαρραλέοι der weitere Begriff gegenüber ἀνδρεῖοι ist. Und 
wenn am Schluß dort Protagoras als seine Ansicht ausspricht: ϑάρσος μὲν γὰρ 
nal ἀπὸ τέχνης γίγνεται ἀνθρώποις καὶ ἀπὸ ϑυμοῦ γε nal ἀπὸ μανίας, ὥσπερ 
ἡ δύναμις, ἀνδρεία δὲ ἀπὸ φύσεως καὶ εὐτροφίας τῶν ψυχῶν γίγνεται (851), 
so kann sich der Leser des Folgenden leicht sagen, daß der erste Teil (— μανέας) 
bestehen bleibt, daß aber dazu noch das ϑάρσος ἀπὸ φύσεως tritt und daß die 
Tapferkeit nur derjenige Mut ist, der sich auf das Wissen gründet. Das Ver- 
hältnis beider Begriffe setzt Plato natürlich als bekannt voraus, wenn er von 
Euthydem (p. 275b) pointiert sagt, er habe sich zur Erziehung des jungen Kleinias 
ἀνδρείως τε καὶ ϑαρραλέως erboten. Im Menon 88b sagt Plato: „Alles, was die 
Seele ohne Wissen unternimmt, ist gefährlich. οἷον ἀνδρεία ei μή ἔστι φρόνη- 
σις ἣ ἀνδρεία ἀλλ᾽ οἷον ϑάρρος τι' οὐχ ὅταν μὲν ἄνευ νοῦ ϑαρρῇ ἄνϑρωπος, 
βλάπτεται, ὅταν δὲ σὺν νῷ, ὠφελεῖται;" Wenn er hier an eine ἀνδρεία denkt, 
die nicht φρόνησις ist, so tut er das mit Rücksicht auf den zweiten Teil des 
Menon, wo er die auf der ὀρϑὴ δόξα beruhende niedere Tugend anerkennt. Sonst 
ist aber der Anschluß an den Protagoras unverkennbar. 

Die volle Anerkennung erringt sich die niedere Tugend, als Plato die Drei- 
teilung der Seele konzipiert hat. Jetzt wird die ἀνδρεία die Tugend des ϑυ- 


Zum siebenten Brief. 113 


Anhang. 


Zum siebenten Brief. 

Ich habe S. 111 eine Stelle des siebenten Briefes als platonisch 
verwertet. Für die Echtheit dieses Briefes sind Ed. Meyer (V,$166, 
747a, 987ff.), Adam, Über die Echtheit der platonischen Briefe, 
Berl. Pr. 1906, Bertheau, de Platonis epistula septima, Diss. 
Hal. XVII, Blaß (bes. Apophoreton S. 54ff.), Räder, Rh. M. LXI, 
S. 521ff., Ritter, Komm. zu den Gesetzen, S. 367ff. und Neue 
Untt. S. 404ff. so ausführlich und überzeugend eingetreten, daß 
ich hier nur meine Stellung präzisieren will’). 


μοειδές und der φύλακες. Diese haben nicht das Wissen vom Guten und 
Üblen — das kann nur die höhere philosophische Ausbildung vermitteln —, son- 
dern nur die durch die Erziehung vermittelte ὀρϑὴ δόξα δεινῶν τε πέρι καὶ μή. 
Das betont Plato aufs schäriste Rep. 429 a—430c im Gegensatz zu der vorher ge- 
schilderten ἐπιστήμη der ἄρχοντες, billigt aber trotzdem jetzt den φύλακες die 
ἀνδρεία zu. Andrerseits ist die durch die Erziehung ausgebildete ὀρϑὴ δόξα 
ihm jetzt so wesentlich, daß er, wo diese fehlt, nur einen tierischen oder den 
Sklaven zukommenden Mut anerkennt, keine ἀνδρεία. (Bewußt ungenau spricht 
Plato dem Wachhunde wie φιλοσοφία auch ἀνδρεία zu 375a, vgl. 376a.) 

Bekanntlich hat Siebeck, Untt.? 5. 218, an die dort folgende Äußerung, er 
werde vielleicht später auf die Sache zurückkommen, seine Vermutung geknüpft, 
dieses Versprechen werde im Laches eingelöst. Das ist unmöglich, da in einer 
späteren Schrift weder die Dreiteilung der Seele noch die ὀρϑὴ δόξα unberück- 
sichtigt bleiben konnte. 

Im Politikos 309 b heißt es von der ἀνδρεία ψυχή, sie werde ohne Erkennt- 
nis des Wahren ἀποκλίνειν πρὸς ϑηριώδη τινὰ φύσιν. Die schärfste Korrektur 
des Protagoras bringen aber die Gesetze. Natürlich wird auch hier festgehalten, 
daß ἀνδρεία und φρόνησις beide unter den Begriff der ἀρετή fallen und der Ver- 
wirklichung des sittlichen Zieles dienen. Aber nach einer Erörterung, die wohl 
nicht unabsichtlich an den Protagoras anklingt, erklärt er hier 963e über diese 
Tugenden: τὸ μέν ἐστιν περὶ φόβον, οὗ καὶ τὰ Imola μετέχει, τῆς ἀνδρείας, καὶ 
τά γε τῶν παίδων HIN τῶν πάνυ νέων᾽ ἄνευ γὰρ λόγου καὶ φύσει γίγνεται ἀνδρεία 
ψυχή; ἄνευ δ᾽ αὖ λόγου ψυχὴ φρόνιμός τε καὶ νοῦν ἔχουσα οὔτ᾽ ἐγένετο πώποτε 
οὔτ᾽ ἔστιν. Die fast möchte man sagen Gereiztheit gegenüber der ἀνδρεία, die aus 
diesen Worten spricht, erklärt sich aus dem Gegensatze zur spartanischen Tapfer- 
keit, von der Plato in den Gesetzen ausgeht. Jedenfalls geht aber der alte Plato 
bewußt damit in das Lager des Protagoras über, den der junge bekämpft hatte. 
In der Epinomis werden dementsprechend ἀνδρεία und σοφία einander entgegen- 
gestellt (975 6). 

Θρασύς hat gegenüber ϑαρραλέος eine tadelnde Nüance. Dle objektive 
Bedeutung von ϑαρραλέος, die wir im Laches fanden (= ἅ τις Yaggei), hat 
Aristoteles Nik. Eth. III, 10 verwendet. 

1) Für ganz unrichtig halte ich es, wenn Odau, Quaestiones de septima et 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 8 


114 Zum siebenten Brief. 


Die Stelle 331b—d, die ich eben zur Erläuterung des Pro- 
tagoras angezogen habe, ist eine von den zahlreichen Stellen des 
Briefes, wo dieser wörtliche Berührungen mit früheren Schriften 
Platos zeigt, der Gedanke aber so leise und so echt platonisch 
variiert ist, daß an eine Fälschung oder Nachahmung nicht ge- 
dacht werden kann. Ich erinnere hier nur daran, wie 344c 
(ὅταν ἴδῃ τίς τοῦ συγγράμματα γεγραμμένα εἴτε Ev νόμοις 
νομοϑέτου εἴτε ἐν ἄλλοις τισὶν ἅττ᾽ οὖν, ὡς οὐκ ἢν τούτῳ ταῦτα 
σπουδαιότατα) und 8444 (οὔτε γὰρ ὑπομνημάτων χάριν αὐτὰ 
ἔγραψεν) die Gedanken des Phaidros wiederklingen (277 ἃ εἴτε 
Λυσίας ἤ τις ἄλλος πώποτε ἔγραψεν ἢ γράψει ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ 
νόμους τιϑείς, σύγγραμμα πολιτικὸν γράφων. 276b ἢ ταῦτα 
μὲν δὴ παιδιᾶς τε καὶ ἑορτῆς χάριν δρῴη ἂν... ἐφ᾽ οἷς δ᾽ ἐσπού- 
δακεν nıi. 276d τοὺς ἐν γράμμασι κήπους παιδιᾶς χάριν σπερεῖ 
τε καὶ γράψει, ὅταν γράφῃ, ἑαυτῷ τε ὑπομνήματα ϑησαυριζό- 
uevos), wie 340c (ὃ γὰρ ἀκούσας. . δδόν τε ἡγεῖται ϑαυμαστὴν 
ἀκηκοέναι συντατέον TE εἶναι νῦν καὶ οὐ βιωτὸν ἄλλως ποιοῦντι" 
μετὰ τοῦτο δὴ συντείνας αὐτός τε καὶ τὸν ἠγούμενον τὴν ὅδδόν, οὐκ 
ἀνίησι πρὶν ἂν ἢ τέλος ἐπιϑῇ πᾶσιν ἢ λάβῃ δύναμιν, ὥστε αὐτὸς 
αὑτὸν χωρὶς τοῦ δείξαντος μὴ ἀδύνατος εἶναι ποδηγεῖν) an den 
philosophischen Aufstieg erinnert, den Sokrates am Schluß seiner 
Rede im Symposion schildert (210a δεῖ πρῶτον μέν, ἐὰν ὀρθῶς 
ἡγῆται ὃ ἡγούμενος, ἕνὸς αὐτῶν σώματος ἐρᾶν... ἔπειτα δὲ 
αὐτὸν κατανοῆσαι κτλ. vgl. 2ilbextr. — 2110 σχεδὸν ἄν τι 
ἅπτοιτο τοῦ τέλους, vgl. 210e 211. --- 211 ἐνταῦϑα τοῦ βίου .. 
βιωτὸν ἀνθρώπῳ), oder wie das schöne Bild des Phaidros von 
der Seele, die vom Eros getroffen vergeblich sich emporzu- 
schwingen versucht (προϑυμούμενος ἀναπτέσϑαι, ἀδυνατῶν δὲ 
ὄρνιϑος δίκην βλέπων ἄνω 249 4) in anderer nicht minder passen- 
der Verwertung im Briefe vorkommt (τὸ δὲ μετὰ ταῦτα ἐζῶμεν 
ἐγὼ καὶ Διονύσιος, ἐγὼ μὲν βλέπων ἔξω καϑάπερ ὄρνις ποϑῶν 
ποϑεν ἀναπτέσϑαι 8484). Und wenn am Schluß des Briefes die 
Gedanken noch einmal zu Dion zurückkehren, der so Großes ge- 
wollt, so vieles schon erreicht, aber schließlich ἔπταισεν ἐπ᾽ ἄκρον 
ἐλϑὼν Tod περιγενέσϑαι τῶν ἐχϑρῶν, und wenn dort Platos Schmerz 


octava Platonis epistula, Diss. Königsberg 1906, und Ritter Teile des Briefes als 
Interpolation ausscheiden wollen. Über den philosophischen Abschnitt 341 a—345 c 
vgl. Adam a. ἃ. 0. 


Übereinstimmung mit den sicher echten Schriften. 115 


durchbricht in den Worten κεῖται Σικελίαν πένϑει περιβαλὼν 
μυρίῳ, so fällt einem unwillkürlich das Epigramm ein, das Plato 
dem verstorbenen Freunde widmete: 


Σοὶ δέ, Δίων, δέξαντι καλῶν ἐπινίκιον ἔργων 
δαίμονες εὐρείας ἐλπίδας ἐξέχεαν. 

Κεῖσαι δ᾽ εὐρυχόρῳ ἐν πατρίδι τίμιος ἀστοῖς, 
ὦ ἐμὸν Exrunvas ϑυμὸν ἔρωτι Δίων ᾽). 


Überhaupt genügt eigentlich schon das Ethos, das der Brief an- 
nimmt, sobald die Rede auf Dion kommt, um Plato selbst als 
Verfasser zu erweisen’). Eine Parallele bieten dazu die einfach- 
schönen Worte über Sokrates, auf die Ed. Meyer 747a mit Recht 
hinweist: φίλον ἄνδρα ἐμοὶ πρεσβύτερον Σωκράτη, ὃν ἐγὼ σχεδὸν 
οὐκ ἂν αἰσχυνοίμην εἰπὼν δικαιότατον εἶναι τῶν τότε (924). 
Würde hier und im folgenden, wo von Sokrates’ Tod die Rede 
ist (κατὰ δέ τινα τύχην αὖ τὸν Eraioov ἡμῶν Σωκράτη τοῦτον 
δυναστεύοντές τινες εἰσάγουσιν εἰς δικαστήριον 325b), wohl ein 
Fälscher darauf verzichtet haben, τραγικῶς zu reden? Daß der 
ganze erste Abschnitt eine intime Kenntnis von Platos Ent- 
wicklung verrät, die wir einem Nachahmer kaum zutrauen können, 
werden wir noch sehen. 

Anstoß hat besonders die Komposition des Briefes erregt. 
Aber wenn z. B. Wendland, der Berl. ph. Woch. 1907, Sp. 1015ff. 
die Gründe gegen die Echtheit des Briefes am besten vorgetragen 
hat, tadelt, daß Platos erste und zweite sizilische Rede in selt- 
samer Weise zusammengeworfen werden, so ist entgegenzuhalten, 
daß ein historischer Verstoß jedenfalls nicht vorliegt. „Ich kam 
nach Italien und Sizilien, als ich schon mit meinen politischen 
Anschauungen im ganzen fertig war. An dem jungen Dion ge- 
wann ich einen unbedingten Anhänger meiner Ideen. Die hielt 
er fest und hat so bis zum Tode des Dionys im Gegensatz zu 
den Anschauungen des Tyrannenhofes gestanden. Als Dionys 
dann gestorben war, da glaubte er die Zeit zum Eingreifen ge- 
kommen und bat mich hinzukommen, damit ich denselben Ein- 
fluß auf den jungen Herrscher ausübte wie seinerzeit auf Dion 


1) Vgl. noch 336b νῦν δὲ ἤ πού τις δαίμων ἤ τις ἀλιτήριος .. πάντα τὸ 
δεύτερον ἀνέτρεψεν. 
2) Rührend ist, wie 5514 Plato sogar den nur zu berechtigten Vorwurf, 
Dion habe keine Menschenkenntnis besessen, abzuschwächen sucht, 
8* 


116 Zum siebenten Brief. 


selber“ (326b—327b) — hier hätte ein Fälscher schwerlich ver- 
säumt hervorzuheben, daß Plato von der ersten Reise zurück- 
gekehrt war; aber notwendig zum Verständnis war das für Platos 
Zeitgenossen gewiß nicht. Schwerer wiegt, daß 330be 337e ὃ 
πρῶτος χρόνος τῆς εἰς Σικελίαν ἐπιδημίας und die ὑστέρα πορεία 
gegenübergestellt werden; aber daß hier nur die Aufenthalte beim 
jüngeren Dionys in Betracht gezogen werden, erklärt sich aus 
dem aktuellen Zweck des Briefes. 

Will man die Komposition des Briefes im übrigen verstehen, so 
ist unbedingt davon auszugehen, daß wir keinen einfachen Privat- 
brief vor uns haben. Diese Empfindung hatte schon das Altertum. 
Demetrius περὶ ἑρμηνείας 234 sagt: ἐπεὶ δὲ καὶ πόλεσί ποτε καὶ 
βασιλεῦσι γράφομεν, ἔστωσαν τοιαῦται αἱ ἐπιστολαὶ, οἷαι μικρὸν 
ἐξηρμέναι πως" (στοχαστέον γὰρ καὶ τοῦ προσώπου ᾧ γράφεται) 
ἐξηρμέναι μέντοι καὶ οὐχ ὥστε σύγγραμμα εἶναι ἀντ᾽ ἐπιστολῆς 
ὥσπερ αἱ ᾿Αριστοτέλους πρὸς ᾿Αλέξανδρον καὶ πρὸς τοὺς Δίωνος 
οἰκείους ἣ Πλάτωνος. Vgl. 228: αἱ δὲ ἄγαν μακραὶ καὶ προσέτι 
κατὰ τὴν ἑρμηνείαν ὀγκωδέστεραι οὐ μὰ τὴν ἀλήϑειαν ἐπιστολαὶ 
γένοιντο ἂν ἀλλὰ συγγράμματα, καϑάπερ τοῦ Πλάτωνος πολλαὶ καὶ 
ἣ Θουκυδίδου. Es war ein offener Brief, in dem Plato die An- 
frage der Dionpartei nur als Anlaß benützte, um seine Be- 
ziehungen zu Dionys und Dion klarzustellen und sich und die 
Akademie zu rechtfertigen’). Nötig war dies nur zu sehr. Auf 
der einen Seite stand Dionys, der sich bitter beklagte, daß Plato 


1) ἐξηρμένη die Hdschr. — καὶ tilgt Göller. 

2) Woran bei Aristoteles gedacht ist, zeigen die bei Rose in den Frag- 
menten ὅ. 408 T. angeführten Stellen, bes. μερικὰ μὲν οὖν ἔστιν ὅσα πρός τινα ἰδέᾳ 
γέγραπται, ὡς ἐπιστολαὶ ἢ ὅσα ἐρωτηϑεὶς ὑπὸ ᾿Αλεξάνδρου τοῦ Mane- 
δόνος περί τε βασιλείας καὶ ὅπως δεῖ τὰς ἀποικίας ποιεῖσϑαι yeygdpnne. Die 
Schrift περὶ βασιλείας ist doch wohl wirklich identisch mit dem συμβουλεῦυτι- 
κὸς πρὸς ᾿Αλέξανδρον, den Cicero in Händen hatte (Att. XII, 40, XIII, 28). 
Wenn Cic. von diesem und Theopomps συμβουλευτικός sagt: adulescentem in- 
censum cupiditate verissimae gloriae, cupientem sibi aliquid consilüi dari 

. cohortantur, so ist der Charakter als Gratulationsschrift beim Regierungs- 
antritt gegeben. Hier kann also nicht das berühmte Wort über die verschiedene 
Behandlung von Griechen und Barbaren gestanden haben (fr. 658), das erst um 
324 gefallen sein kann (Wilamowitz, Aristoteles und Athen I, 5. 339). Das 
Sendschreiben an Alexander, in dem dieser Ratschlag stand, war natürlich auch 
ein offener Brief, der auch dem Publikum bekannt gegeben wurde. 

3) Ganz offen spricht er das 330c aus: ὧν δὲ ἕνεκα (πάλιν ἀφικόμην), καὶ 


Charakter und Tendenz des Briefes. {17 


die ihm gewährte Gastfreundschaft durch Unterstützung Dions 
vergolten habe. Umgekehrt mochte Dions Anhängern diese 
Unterstützung längst nicht weit genug gegangen sein (dagegen 
ep. VII 350e, vgl. 340a). Dazu kam die von Dionys verbreitete 
Behauptung, Plato habe ihm abgeraten, die verwüsteten Griechen- 
städte zu besiedeln und Syrakus eine Verfassung zu geben (ep. II). 
Empfindlicher war wohl noch der Hohn der Feinde über das 
Mißlingen der platonischen Reformpläne, am schmerzlichsten aber 
gewiß die Tatsache, daß der Mörder Dions ein Mann war, dessen 
Beziehungen zur Akademie wohlbekannt waren (Plut. Dion 17). 

Für die Öffentlichkeit, nicht bloß für die Freunde Dions sind 
natürlich die Schilderungen bestimmt, die Plato von seinem Auf- 
enthalt in Syrakus entwirft‘). Die praktischen Ratschläge, an 
denen ihm sehr wenig liegt und von denen er selber wenig hofft, 
hat er zwischen die Schilderung des ersten und zweiten Aufent- 
halts eingelegt. Zugleich hat er aber diesen Abschnitt (330b—337 e) ἢ 
dazu benutzt, um geschickt so manches zu sagen, was ihm am 
Herzen liegt. Eine kurze Analyse mag das zeigen. 

Plato beginnt mit einer prinzipiellen Erklärung. „Ihr wollt 
einen politischen Rat von mir? So laßt euch zunächst einmal ge- 
sagt sein: Wie ein verständiger Arzt die Behandlung einer akuten 
Krankheit nur übernehmen wird, wenn er sieht, daß der Patient 
im ganzen vernünftig lebt oder bereit ist, auf Verlangen seine 
ganze ungesunde Lebensweise zu ändern, so haben auch einzelne 
politische Ratschläge nur Sinn, wenn das ganze Staatswesen auf 
gesunder Basis steht oder die Bereitwilligkeit zu einer Änderung 
der Grundrichtung vorhanden ist“ (330c—331e). Prinzipiell wahrt 
also Plato seinen Standpunkt, daß er sich eine Besserung der 
politischen Verhältnisse nur von der Radikalkur, der Einführung 
der ὀρϑὴ πολιτεία verspricht’). Die erwartet er in Syrakus nicht. 


ὅσα ἔπραξα, ὡς εἰκότα τε καὶ δίκαια, ὑμῖν πρῶτον συμβουλεύσας... ὕστερον 
τὰ περὶ ταῦτα διέξειμι, τῶν ἐπανερωτώντων ἕνεκα τί δὴ βουλόμενος ἤλϑον τὸ 
δεύτερον. 


1) „Die entscheidende Szene hat Plato ep. 3, 318c. 319. 7, 348. 349 mit 
lebendigster Anschaulichkeit geschildert: das soll ein Fälscher erfunden haben!“ 
Ed. Meyer 990a. 

2) Wörtliche Rückweise auf 330c markieren in 337e die Disposition. 

3) Sehr richtig verweist Wendland auf Rep. 425f. (vgl. auch 426a zu ep. 
335b). Daß aber „die ängstliche Sorge, den Ratgeber vor Lebensgefahr zu be- 
wahren, zu einer Entgleisung geführt hat“, kann ich nicht zugeben. Denn wenn 


118 Zum siebenten Brief. 


' 


Aber wenigstens kann er Befolgung verlangen, wenn er nachher 
als ersten Ratschlag geben wird, den Σικελικὸς βίος, den er 
mit guter Absicht schon vorher so entschieden getadelt hat 
(326bc), abzuschaffen und eine wirklich dorische Lebensweise 
einzuführen (336). 

Wenn Plato daran die Erklärung anschließt, daß er mit Ge- 
walt niemals den Idealstaat einführen werde, am wenigsten in 
seinem Vaterlande (331b—d), so ist das, wie wir sahen, weniger 
an die Adresse der Dionpartei gerichtet, als an die der Gegner, 
die darüber spotten, daß Plato nach Sizilien sein Auge richtet, 
statt in der Heimat mit den Reformplänen zu beginnen ’). 

„Nur in diesem Sinn kann ich euch Ratschläge geben. In 
diesem Sinn riet ich mit Dion auch schon Dionys, zunächst 
einmal ein vernünftiges Leben anzufangen. Dazu riet ich ihm, 
sich zuverlässige Stützen für seine Herrschaft zu verschaffen. 
Das könne er erreichen, wenn er im Gegensatz zur Politik seines 
Vaters die verödeten Griechenstädte in Sizilien besiedele und 
den Siedlungen eine freie Verfassung bewillige”).. Damit biete 
sich auch die Aussicht, die nationale Aufgabe zu erfüllen und 
die Karthager von der Insel zu jagen (— 333a). 


Plato sagt, ein Rat habe keinen Zweck, wenn der Staat auf verkehrter Bahn 
sei (παρέκβασις schimmert hier durch) und doch vom Ratgeber verlange τὴν μὲν 
πολιτείαν ἐᾶν καὶ μὴ κινεῖν, ὡς ἀποϑανουμένῳ ἐὰν κινῇ, ταῖς δὲ βουλήσεσιν 
καὶ ἐπιϑυμίαις αὐτῶν ὑπηρετοῦντας συμβουλεύειν, so ist das zunächst durch 
den Gedanken an den Widerstand der Syrakusaner gegen Dions Reform- 
bestrebungen veranlaßt. Die Form ist durch die Gedanken des Gorgias be- 
stimmt, wo der wahre Staatsmann und der διάκονος, der den Begierden der 
Menge dient, 517bff. gegenübergestellt werden (Genaueres zum Gorgias). Das 
bereitet dann die prinzipielle Erklärung über sein Verhältnis zum positiven 
Staate, besonders zu Athen, vor. 

!) Daß 331b—d Plato seine Stellung zu Athen klarlegen will, hat schon 
das Altertum gefühlt, vgl. Cic. ep. I, 9, 18. 

5) Zum älteren Dionys wird 332a im Gegensatz gestellt Dareios, der an 
seinen Genossen eine Stütze suchte διένειμέ re μέρη μείζω ἕκαστα “Σικελίας 
πάσης ἑπτὰ καὶ πιστοῖς ἐχρήσατο τοῖς κοινωνοῖς... ἔδειξέ τε παράδειγμα, οἷον 
χρὴ τὸν νομοϑέτην καὶ βασιλέα τὸν ἀγαϑὸν γίγνεσθαι. Das stimmt genau 
zur Schilderung des guten Königs Dareios Legg. 695c, wo selbst die Worte 
wiederkehren (διεέλετο ἑπτὰ μέρη ἱ'τεμόμενος .. καὶ νόμους ἠξίου ϑέμενος 
οἰχεῖν ἰσότητα κοινήν τινα εἰσφέρων .. φιλίαν πορίζων καὶ κοινωνίαν πᾶσιν 
Πέρσαις). Noch bezeichnender ist, daß in den Gesetzen wie im Briefe neben 
Dareios die alten Athener als Vorbild treten. — Über den Abschnitt der Ge- 
setze vgl. den Aufsatz über die Kritik des perikleischen Ideals. 


Die Komposition. Der Abschnitt 330b—337 6. 119 


Dionys hörte auf diese Ratschläge nicht und trieb es soweit, 
daß Dion ihm mit Taten statt mit Worten den Kopf zurecht- 
setzen mußte. Dion befreite die Syrakusaner. Als er aber diesen 
mit Reformvorschlägen kam, da geriet er wie bei Dionys bald 
in Verdacht, als verfolge er nur eigensüchtige Pläne, und diese 
Verdächtigungen führten zu einem schändlichen Ende. Was da 
geschah, das muß ich, wo ihr mich jetzt um Rat angeht, aus- 
sprechen ἢ. Athener haben zweimal in Dions Leben eingegriffen. 
Während ich aber seinerzeit treu zu Dion hielt und mich von 
Dionys nicht auf seine Seite ziehen ließ, haben später zwei 
Athener die Mißstimmung gegen Dion benutzt und sind tatsäch- 
lich Dions Mörder geworden. Von der Gottlosigkeit dieser Tat 
brauche ich kein Wort zu sagen. Aber wenn man daraus Athen 
einen Vorwurf macht, so soll man nicht vergessen, daß auch ich 
ein Athener war, der ich bis zum Tode treu zu Dion gestanden 
habe. Sagen soll man sich auch, daß die Mörder zu Dion nur 
flüchtige Beziehungen hatten, wie man sie durch Gastfreundschaft 
und in Mysterien anknüpft, während meine Freundschaft zu Dion 
auf dem festen Grunde des gemeinschaftlichen Strebens nach der 
Wissenschaft ruhte (— 334b). 

Das mußte ich grade solchen Leuten sagen, die Dions 
Freunde und Verwandte sind. Und was habe ich euch nun 
daraufhin für einen Rat zu geben? Denselben, den ich Dionys 
und Dion gegeben habe’): Laßt das Recht herrschen, nicht die 
Gewalt! Das bringt Segen für Kinder und Kindeskinder. Und 
selbst wenn im Diesseits wie bei Dion nichts winkt als ein 
ehrenvoller Tod, so glaubt dem alten heiligen Wort, daß nach 


1) οἷον γὰρ γέγονεν, ἀκοῦσαι χρὴ τοὺς ἐμὲ παρακαλοῦντας πρὸς τὰ νῦν 
πράγματα 333c. Ist das nicht viel bedeutsamer als ein bloßes ὑμᾶς, und kann 
man wirklich sagen, daß Plato hier durch Anwendung der dritten Person aus 
der Rolle fällt? Er muß doch das Mißtrauen gegen den Fremden, den Athener 
beseitigen, das gerade bei den Freunden Dions jetzt herrschen konnte. Deshalb sagt 
er auch am Schluß dieses Teiles (9940): ταῦτα εἴρηται πάντα τῆς συμβουλῆς 
ἕνεκα τῶν Διωνείων φίλων καὶ συγγενῶν (in der Überschrift steht der weitere 
Begriff οἰκείοις ze καὶ Eraiooıs, und das wiederholt Plato 338a, wo es im Gegen- 
satz steht zu dem ᾧ μέλει ἀκούειν ἔξεστι, das auf τῶν ἐπανερωτώντων ἕνεκα 
330c zurückgreift). 

?) 334c ist so zu akzentuieren und zu interpungieren: συμβουλεύω δὲ δὴ 
τί (nicht δή τι) πρὸς τούτοις; τὴν αὐτὴν συμβουλὴν καὶ λόγον τὸν αὐτὸν λέγων 
ἤδη τρίτον τρίτοις ὑμῖν, μὴ δουλοῦσϑαι κτλ. 


120 Zum siebenten Brief. 


dem Tode die Vergeltung kommt für die Guten wie für die 
Gottlosen, die nur die elende Genußsucht als Leitmotiv haben 
(— 335b) '). 

Das waren die Grundsätze, die ich Dion einprägte, nach 
denen er handelte. Zur Durchführung seiner Pläne ist er nicht 
gekommen. Sonst hätte er das wahr gemacht, was ich von 
Dionys erwartet hatte. Der sollte aller Welt zeigen, daß die 
Verbindung der Philosophie mit der politischen Macht imstande 
‚sei, Gerechtigkeit und Glückseligkeit zu bringen. Dionys hat das 
nicht getan, und das ist es, was ich ihm zum Vorwurf mache. 
Denselben Vorwurf mache ich auch Dions Mördern. Denn wäre 
Dion am Leben geblieben, so hätte er — das versichere ich, wie 
man überhaupt etwas von Menschen versichern kann — seinem 
Vaterlande mit der Freiheit die Herrschaft der besten Gesetze 
gegeben, hätte weiter Sizilien besiedelt und von den Barbaren 
befreit und der Menschheit den Glauben an die Allmacht des 
Guten gebracht, den Dionys hatte bringen sollen (— 336b). 

Diese Hoffnungen hat ein Dämon oder der menschliche Un- 
verstand, der den Tätern noch Fluch bringen wird, zunichte ge- 
macht. Und jetzt — ich will kein böses Omen aussprechen 5), 
es bleibt euch nur der Versuch übrig, Dion, seine Vaterlandsliebe 
und seine sittliche Lebensweise nachzuahmen und von neuem 
seine Pläne aufzunehmen, keinem Einfluß zu gewähren, der vom 


ἢ 335a πείϑεσθϑαι δὲ ὄντως ἀεὶ χρὴ τοῖς παλαιοῖς τε καὶ ἱεροῖς λόγοις, 
οἱ δὴ μηνύουσιν ἡμῖν ἀϑάνατον ψυχὴν εἶναι (Menon 81a!) δικαστάς τε ἴσχειν 
καὶ τένειν τὰς μεγίστας τιμωρίας, ὅταν τις ἀπαλλαχϑῇ τοῦ σώματος (διὸ καὶ 
τὰ μεγάλα ἁμαρτήματα καὶ ἀδικήματα σμικρότερον εἶναι χρὴ νομίζειν κακὸν 
πάσχειν ἢ δρᾶσαι) ὧν (geht auf Δόγοις) ὁ φιλοχρήματος πένης τε ἀνὴρ τὴν 
ψυχὴν (echt platonisches Wortspiel!) οὔτε ἀκούει, ἐάν τε ἀκούσῃ, καταγελῶν, 
ὡς οἴεται, πανταχόϑεν ἀναιδῶς ἁρπάζει πᾶν ὅτι περ ἂν οἴηται, καϑάπερ ϑη- 
ρίον, φαγεῖν ἢ πιεῖν ἢ περὶ τὴν ἀνδραποδώδη (von der ἡδονή Phaidros 208 6) 
καὶ ἀχάριστον, ἀφροδίσιον λεγομένην οὐκ ὀρϑῶς (vgl. Rep. 420 4) ἡδονὴν ποριεῖν 
αὑτῷ τοὐμπέμπλασϑαι. --- Das sind Gedanken und Stimmung des Gorgias. 
Plato denkt dabei an Kallippos. der auf den Weg der Verdammnis gelangt ist, 
weil er nur die Lust, den Zıxeiuınög βέος als Ziel kennt (336d), zur Befriedigung 
seiner Triebe nach Macht strebt und auf diesem Wege vor nichts zurückscheut. 
Er setzt Kallikles’ Theorie in die Praxis um. — Zu dem folgenden ἐπέ ze γῆς 
στρεφομένῳ καὶ ὑπὸ γῆς νοστήσαντι πορείαν ἄτιμον usw. vgl. Phaidros 256d 
εἰς γὰρ σκότον καὶ τὴν ὑπὸ γῆς πορείαν οὐ νόμος ἐστὶν ἔτι ἐλϑεῖν κτλ. 

?) νῦν δὲ δή --- εὐφημῶμεν χάριν οἰωνοῦ 336c. Viel Hofinung hat er 
nicht mehr. 


330 b—337e. 121 


„sizilischen Leben“ nicht lassen kann, Siziliens Städte wieder- 
aufzubauen und ihnen gleiches Recht einzuräumen, dazu auch 
die Hülfe Fremder, auch der Athener‘) nicht zu verschmähen 
(— 336 d). 

Das läßt sich freilich erst in Zukunft ausführen. Wenn ich 
euch aber doch auch für den Augenblick (trotz meiner anfangs 
geäußerten Bedenken) einen Rat geben soll, so ist es der: Ge- 
währt den Besiegten Amnestie und richtet eine Gesetzesherrschaft 
ein, bei der mit Furcht vor der Gewalt !sich der Respekt vor 
den Regierenden, die selbst dem Gesetze sich beugen, paart °). 
Zu diesem Zwecke muß eine Gesetzgeberkommission von fünfzig 
Männern gebildet werden. Hat die ihre Aufgabe erfüllt, so hängt 
alles davon ab, ob die Sieger wie die Besiegten dem Gesetz ge- 
horchen °). 

Was ich euch rate, ist im Grunde dasselbe, was Dion ge- 
wollt hat, was ich schon Dionys zum Wohle aller geraten hatte. 
So versucht ihr nun dieselbe Aufgabe durchzuführen, Gott gebe, 
mit besserem Glücke“ (—337d). 

Ich habe den Inhalt des Abschnitts skizziert, damit zunächst 
einmal deutlich ist, daß nichts Unplatonisches vorkommt. Ins- 
besondre der Gedanke, daß ohne die richtige Grundrichtung alle 
praktischen Vorschläge wenig nützen, ist so echt platonisch wie 


1) εἰσὶ γὰρ καὶ ἐκεῖ πάντων ἀνθρώπων διαφέροντες πρὸς ἀρετήν 9964. 
Legg. 642c hatte er τὸ ὑπὸ πολλῶν λεγόμενον erwähnt, ὡς ὅσοι ᾿Αϑηναίων 
εἰσὶν ἀγαϑοὶ διαφερόντως εἰσὶν τοιοῦτοι. 

8) αἰδὼς καὶ φόβος stammen aus dem schon 332a (vgl. S. 1181) benützten 
Abschnitt der Gesetze, wo es vom Athen der Perserkriege heißt (099 0) ταῦτ᾽ 
οὖν αὐτοῖς πάντα φιλίαν ἀλλήλων ἐνεποίει, ὃ φόβος ὃ τότε παρὼν ὅ τε ἐκ 
τῶν νόμων τῶν ἔμπροσθεν γεγονώς, ὃν δουλεύοντες τοῖς πρόσϑεν νόμοις ἐκέ- 
κτηντο, ἣν αἰδῶ πολλάκις ἐν τοῖς ἄνω λόγοις εἴπομεν (vgl. 647a). Da in den 
Gesetzen Plato den Ausdruck αἰδώς mit voller Absicht neu einführt (vgl. darüber 
nachher im Abschnitt über die Kritik des perikleischen Ideals), so muß die Ab- 
fassung dieser Teile der Gesetze vor den Brief fallen. 

3) 3370 τεϑέντων δὲ τῶν νόμων ἐν τούτῳ δὴ τὰ πάντα Eoriv ἂν μὲν γὰρ 
ti. Nach ἐστίν ist kein Punkt zu setzen, denn ἔν τούτῳ erhält seine Erläute- 
rung im folgenden Satze, der für ein schwerfälliges ἔν τῷ τοὺς νενικηκότας .. 
αὑτοὺς παρέχεσϑαι eintritt. Das stammt aus der Umgangssprache. Genau so 
Arist. Eg. 62 ὁ δ᾽ αὐτὸν ὡς ὁρᾷ μεμακκοακότα, τέχνην πεποίηται τοὺς γὰρ ἔνδον 
ἄντικρυς ψευδῆ διαβάλλει (statt τὸ διαβάλλειν). Sonst vgl. z. B. Aristot. Phys. 
1898. 28 πρὸς δὲ τούτοις ἔτι κἂν τόδε τις ἀπορήσειεν . . οὐϑενὸς γὰρ ὁρῶμεν 
τῶν ὄντων οὐσίαν τἀναντία. 


122 Zum siebenten Brief. 


möglich. Dann ist aber wohl auch das klar, daß die Folge der 
Gedanken zwar vielleicht bisweilen etwas gekünstelt ist, aber nie 
ihr Ziel aus den Augen verliert. Vor allem ist aber der Zweck 
der künstlichen Verschlingung der Gedanken offensichtlich: Nur 
so vermag Plato die verschiedensten Vorwürfe und Mißdeutungen, 
denen sein Verhalten ausgesetzt war, unauffällig abzuweisen. 
Seine Stellung zum positiven Staate, zu Athen, zu Dionys und 
seiner inneren und äußeren Politik weiß er zu streifen; besonders 
aber versteht er es, Kallippos von der Akademie abzuschütteln. 
Die Art, wie er diesen nicht einmal der Namensnennung würdigt, 
wie er scheinbar nebenher erwähnt, Kallippos’ Bekanntschaft mit 
Dion stamme nicht aus der Philosophie, sondern aus äußern Ver- 
hältnissen, wie er dann die Sache so darstellt, als handle es sich 
überhaupt nur darum, von Athen einen Vorwurf abzuwehren, 
zeugt von einem Geschick, das durch das aktuelle Interesse ge- 
geben wird, sicher einem Späteren nicht zuzutrauen ist. Gem 
wird man dabei auch wieder sehen, wie der alte Plato sein Athen 
in Schutz nimmt‘), und die leidenschaftliche Erregung, die an 
verschiedenen Stellen des Abschnitts durchzittert, wird man eben- 
sowenig einem Fälscher zutrauen wie den Gedanken, daß alles 
Leid, das Dionys über Plato gebracht hat, nicht so schwer wiegt 
wie der Schade, den er dadurch angerichtet hat, daß er der Welt 
das Schauspiel eines gerechten Staates unter philosophischer 
Leitung entzogen hat (335d). 

Plato hat den Abschnitt zu einer Einheit gestaltet, aber die 
Mannigfaltigkeit des Inhalts empfindet der Leser doch. Man 
stelle sich nun einmal vor, Plato hätte nach der langen, einheit- 
lichen, packenden Schilderung seines doppelten Aufenthalts in 
Syrakus diesen Abschnitt als zweiten Hauptteil gebracht und den 
Brief mit dem kurzen praktischen Vorschlag abgeschlossen. Dann 
wird man sich wohl sagen, daß der Brief schwerlich eine be- 
friedigende künstlerische Gestalt gewonnen hätte, und wird wohl 
zugeben, daß Plato seine guten Gründe hatte, diesen Teil vor- 
wegzunehmen und zu einer Digression zu gestalten. 


1 334b τὸ δὲ ᾿4ϑηναίων πέρι λεγόμενον, ὡς αἰσχύνην οὗτοι περιῆψαν 
τῇ πόλει, ἐξαιροῦμαι, vgl. 336d (ὃ. 1221). 


Kein Dialog vor Sokrates’ Tod geschrieben. 123 


VI. Abschluß. 


Kein platonischer Dialog ist vor Sokrates’ Tod geschrieben. 
Unechtheit des großen Hippias. 


Jetzt können wir endlich zum Ausgangspunkt unserer Unter- 
suchung zurückkehren. Wir haben Laches, Charmides, den 
kleinen Hippias und den Protagoras interpretiert und gesehen, 
daß diese alle den Tod des Sokrates voraussetzen. Dann dürfen 
wir aber auch ohne weiteres sagen: 

Kein platonischer Dialog ist bei Lebzeiten des So- 
krates entstanden. 

Denn daß die besprochene Gruppe die frühesten Dialoge 
Platos enthält, ist heute wohl so ziemlich anerkannt, und jeden- 
falls wird niemand gern einen andern einzelnen Dialog in 
die Zeit vor 399 verweisen, falls alle übrigen später ent- 
standen sind. 

Daß jedenfalls der Phaidros nicht vor Sokrates’ Tod ge- 
schrieben sein kann, werden wir noch sehen. Sonst wird viel- 
leicht mancher am ehesten noch geneigt sein, dies für den großen 
Hippias anzunehmen, weil man „die Schwächen des Dialoges 
durch die Jugendlichkeit des Verfassers erklären möchte“ (Räder 
S. 102). Aber für diesen Dialog hat grade Ὁ. Apelt in dem 
Aufsatz, in dem er energisch die Echtheit verficht, den Beweis 
erbracht, daß er auf den kleinen Hippias Bezug nimmt (Neue 
Jahrb. 1907). Nicht bloß verweist der Verfasser 286b ausdrück- 
lich auf die Szene des andern Dialoges, auch der Nachweis (296), 
daß die δύναμις nur dann etwas Gutes sei, wenn sie ein be- 
stimmtes, sittliches Ziel verfolge, kann nur als Korrektur der 
Trugschlüsse des kleinen Hippias verstanden werden (vgl. S. 61). 
Endlich hat Apelt auch soviel deutlich gemacht, daß sich nur 
auf dieser Basis eine Erklärung für die auffallendste formelle 
Eigentümlichkeit des großen Hippias, die Spaltung des Sokrates 
in zwei Personen, denken ließe‘), Und gewiß ist es ein feiner 


1) Der kleine Hippias schloß mit gutem Bedacht (vgl. 8. 68): ἐγὼ περὶ 
ταῦτα ἄνω καὶ κάτω πλανῶμαι... el δὲ καὶ ὑμεῖς πλανήσεσϑε οἱ σοφοί, τοῦτο 
ἤδη καὶ ἡμῖν δεινὸν εἰ μηδὲ παρ᾽ ὑμᾶς ἀφικόμενοι παυσόμεϑα τῆς πλάνης. 
Daran knüpft der große an 286d. „Als mir einer vorwarf, ich redete vom καλόν, 
ohne etwas davon zu verstehen, ἠπείλουν, ὁπότε πρῶτον ὑμῶν τῳ τῶν σοφῶν 


124 Platos sokratische Periode. Abschluß. 


Gedanke, Plato habe die Notwendigkeit empfunden, über das 
übermütige Spiel des kleinen Dialoges Aufklärung zu geben, und 
habe deshalb in einem zweiten Hippiasgespräch dem übermütigen 
Sokrates sein „gutes Gewissen“ als alter ego zur Seite gestellt. 
Aber ich glaube doch nicht, daß damit diese formelle Eigentüm- 
lichkeit ganz erklärt ist. Denn die Geflissentlichkeit, mit der 
dieses Motiv im Dialog zu Tode gehetzt wird, mit der die Neugier 
des Hippias, wer der unbequeme Dritte sei, immer wieder hervor- 
gekehrt wird‘), zeigt, daß es dem Verfasser nicht bloß auf die 
Objektivierung des Sokrates ankommt. Offenbar soll der Leser 
seinen Spaß daran haben, daß Hippias die Ironie des Sokrates 
selbst dann nicht merkt, wenn dieser von dem Dritten sagt: „er 
ist meines Vaters Sohn (298b), er wohnt in meinem Hause und 
steht mir dem Geschlecht nach am nächsten (304d).“ Ein solcher 
„Humor“ wäre doch aber nur bei Plato erklärbar, wenn er Hip- 
pias gradezu als Trottel hätte zeichnen wollen und deshalb von 
der Komödie zur Vorstadtposse herabgestiegen wäre. Beides wird 
man nicht annehmen wollen, zumal wenn man die feine Satire 
des kleineren Dialoges daneben hält. 

Ich halte es für unmöglich, daß ein Mann, der Sokrates und 
Hippias persönlich kannte’), beide in dieser Weise zeichnete. Voll- 
kommen verständlich wird die Schilderung dagegen in einer Zeit, 
wo man sich für die χαρακτῆρες interessierte und Sokrates als 
Typus des εἴρων betrachtete, des Mannes, der unter der Maske 
der Selbstverkleinerung sich über die andern lustig macht 
(Ribbeck, Rhein. Mus. 31, S. 581). Ὃ μὲν γὰρ ἀλαζών ἐστιν ὃ 


ἐντύχοιμι, ἀκούσας .. .. ἰέναι πάλιν ἐπὶ τὸν ἐρωτήσαντα, aber am Schluß be- 
dauert Sokrates wieder ἐμὲ δὲ δαιμονία τις τύχη, ὡς ἔοικε, κατέχει, ὅστις πλα- 
νῶμαι μὲν καὶ ἀπορῶ ἀεί, ἐπιδειηνὺς δὲ τὴν ἐμαυτοῦ ἀπορίαν ὑμῖν τοῖς σοφοῖς 
λόγῳ αὖ ὑπὸ ὑμῶν προπηλακίζομαι. — Hipp. mai. 301b τὰ μὲν ὅλα τῶν πραγμά- 
των οὐ σκοπεῖς, ngodere δὲ ἀπολαμβάνοντες τὸ καλόν etc. stammt aus H. min. 
8690 ἀπολαμβάνων ὃ ἂν ἢ δυσχερέστατον τοῦ Λόγου, τούτου ἔχῃ . .. καὶ οὐχ 
ὅλῳ ἀγωνίξζῃ τῷ πράγματι. — Das Motiv, es spreche wenig für Hippias’ Er- 
ziehertüchtigkeit, daß er in Sparta keine Erfolge habe (283b — 285b), stammt 
aus Laches 188 ἃ. Ὁ. 

1) Besonders 2884, 2894, 2904, 2928, 298 "Ὁ. 

2) Dagegen spricht bekanntlich auch die Art, wie Hippias 304b als Sach- 
walter aufgefaßt wird, vgl. Horneffer de Hippia maiore qui fertur Platonis, Göt- 
tingen 1895, 5. 35, dessen Dissertation überhaupt für die Unechtheitsmomente 
zu vergleichen ist. 


Der große Hippias gehört in Aristoteles’ Zeit. 125 


πλείω τῶν ὑπαρχόντων αὑτῷ προσποιούμενος εἶναι ἢ εἰδέναι ἃ 
μὴ οἶδεν, ὃ δ᾽ εἴρων ἐναντίος τούτῳ καὶ ἐλάττω τῶν ὑπαρχόντων 
προσποιούμενος αὑτῷ εἶναι καὶ ἃ οἶδεν μὴ φάσκων ἀλλ᾽ ἐπικρυ- 
πτόμενος εἰδέναι heißt es M. M. 1193a 29}. und in der ganz ähn- 
lichen ausführlichen Darstellung der Nikomachischen Ethik 1127b 
ff. wird als der Typus des εἴρων dann ausdrücklich Sokrates 
genannt. Damals konnte es für einen Platoniker, der wie Aristo- 
teles 1025a 6 (vgl. S. 61) die Trugschlüsse des kleinen Hippias 
richtig stellen wollte, nahe liegen, Sokrates im Dialoge als den εἴρων 
zu schildern‘) und ihm den ἀλαζών Hippias gegenüberzustellen, 
und es ist vielleicht kein Zufall, wenn er Sokrates 298b sagen 
läßt: (Τὸν Σωφρονίσκου) ἂν ἐγὼ μάλιστα αἰσχυνοίμην ληρῶν προσ- 
ποιούμενός τι λέγειν μηδὲν λέγων. Denn grade προσποιεῖσθαι 
erscheint in der Darstellung des Aristoteles fortwährend als Ter- 
minus, der die ἀλαζονεία wie die εἰρωνεία bezeichnet und die 
Worte klingen direkt an die ausgeschriebene Stelle der Magna 
Moralia an. 

In aristotelische Zeit weisen uns aber auch andre Momente. 
Der Dialog beginnt mit einer scharfen Scheidung der jüngeren 
Sophisten von der älteren Generation, den παλαιοί oder ἀρχαῖοι 
(281cd 282aec 2888), die für ihren Unterricht kein Geld nahmen. 
Die ältere Generation wird dabei genau abgegrenzt 2818: οἱ 
παλαιοὶ ἐκεῖνοι, ὧν ὀνόματα μεγάλα λέγεται ἐπὶ σοφίᾳ, Πιττακοῦ 
τε καὶ Βίαντος καὶ τῶν ἀμφὶ τὸν Μιλήσιον Θαλῆν καὶ ἔτι τῶν 
ὕστερον μέχρι ᾿Αναξαγόρου und 2888, wo nochmals scharf betont 
wird, wie sehr οἱ ἀρχαῖοι und οἱ νῦν sich unterscheiden, wird 
Anaxagoras sogar allein als Typus der πρότεροι, der ἀρχαῖοι ge- 
nannt. Sollen wir nun wirklich Plato zutrauen, er habe Sokrates, 
den Mann, dessen Zeitgenosse er vierzig Jahre war, in solcher 
Weise als ἀρχαῖος bezeichnen und mit Pittakos und Bias auf eine 
Stufe stellen lassen? Sollen wir von Plato selber glauben, schon 
er habe in dieser Weise ἀρχαῖοι und Sophisten geschieden? Ich 
denke, die historische Betrachtungsweise ist hier mit Händen zu 
greifen. Der Dialog gehört in die Zeit, wo Aristoteles in der 
Metaphysik I, 2—5 eine Übersicht über die Philosophen von 


1) Für die Spaltung in zwei Personen konnten ihm dabei Stellen wie die 
Diotimaszene oder Phaidros 228a (vgl. Apelt a. a. O.), für das fiktive Gespräch 
mit einem Dritten Prot. 353ff. zum Vorbild dienen. Grade der Vergleich mit 
solchen Szenen lehrt aber die Ungeschicklichkeit des Hippias. 


126 Platos sokratische Periode. Abschluß. 


Thales bis Anaxagoras gab und diese ausdrücklich als die παλαιοί 
zusammenfaßte (986b 9), wo in Theophrasts Doxographie die 
Reihe von Thales bis Anaxagoras (Archelaos) regelmäßig die jo- 
nischen Naturphilosophen der alten Zeit vor Sokrates repräsen- 
tiert (Diels Dox. 132 — 140). 

Hinzu kommt, daß Aristoteles doch wohl kaum einfach ge- 
sagt hätte ὃ ἐν τῷ “Ἱππίᾳ λόγος (1025a 6), hätte er zwei Dialoge 
dieses Namens gekannt, daß die Definitionen des Schönen, die 
der Dialog bespricht, viel eher in aristotelische Zeit als in Platos 
Frühzeit weisen. So wird die Definition τὸ χαλόν — τὸ ör 
ἀκοῆς τε καὶ δι’ ὄψεως ἧδύ, die Sokrates im Hippias 298a von 
sich aus aufstellt‘) und kritisiert, bei Aristoteles in der Topik als 
Beispiel einer verkehrten Definition behandelt°), ohne daß er 
irgendwie den Hippias berücksichtigt. Hipp. 293e schlägt So- 
krates vor, das Schöne als τὸ πρέπον zu definieren’). Das ist 
mindestens für Platos frühe Schriften ganz singulär, Aristoteles 
führt Top. 102a6 als Schulbeispiel einer Definition an, ὅτι καλόν 
ἐστι τὸ πρέπον und sagt dort 135a 13 οἷον ἐπεὶ ὃ εἴπας καλοῦ 
τὸ πρέπον ἴδιον εἶναι αὐτὸ ἑαυτοῦ ἴδιον ἀπέδωκε -- ταὐτὸν γάρ 
ἐστι τὸ καλὸν καὶ πρέπον -- οὐκ ἂν εἴη τὸ πρέπον τοῦ καλοῦ 
ἴδιον. Im Hippias 303e wird als der eigentliche Vorzug der Lust 
des Gesichts- und Gehörsinns recht unvermittelt angegeben, ὅτι 
dowe£oraraı αὗται τῶν ἡδονῶν εἶσι. Berührungen mit diesem Ge- 
danken finden wir erst in Platos spätesten Schriften. Im Phile- 
bus 51 (vgl. 65) werden diese Lustgefühle als die καϑαραὶ ἥδοναί 
erwiesen‘), und den Ausdruck ἀσινεῖς ἥδοναί finden wir von der 


1) Bezeichnend ist, daß der Verfasser diese Form selber als etwas Unso- 
kratisches empfindet und sie besonders motiviert (293d). Immerhin konnten 
Stellen wie Euthyphron 11 extr., Gorg. 463d einen Anhalt geben. 

8) Er sagt 1464.22 τὸ δι᾽ ὄψεως ἢ τὸ δι᾽ ἀκοῆς ἡδύ, geht aber sonst ganz 
ähnlich vor. 

3) Daß er die Definition selbst aufstellt, ist hier besonders ungeschickt, weil 
sie sich im Anschluß an 291b gewinnen lieb. 

4 An Phil. 5lcd erinnert auch Hipp. 298a, und daß die ἀφροδίσια, trotz 
dem sie ἥδιστα sind, offen zu treiben “αἴσχιστον ist, lesen wir Phil. 66a und 
Hipp. 299a ganz in gleicher Weise. — Was es mit den διανεκῆ σώματα τῆς 
οὐσίας (301be) auf sich hat und wie weit sie mit den διανεκῆ σώματος μέρη 
zusammenhängen, die bei Timotheos vorkamen (vgl. den Spott des Anaxandrides 
II p. 137 K.), ist wohl nicht zu ermitteln. 


Der große Hippias gehört in Aristoteles’ Zeit. 197 


Lust an der Musik in den Gesetzen 670d angewandt‘). Nehmen 
wir noch hinzu, daß die berüchtigte Formel ἀλλὰ τί μήν; im Dia- 
loge vorkommt (292a), daß die unerhörte Verbindung εἶεν" πάνυ 
μὲν οὖν 2888. doch wohl nur für eine Zeit denkbar ist, wo beide 
Ausdrücke ganz formelhaft geworden waren; daß πάϑος nebst 
seinen Ableitungen von 300b an als ganz fester Terminus gebraucht 
und der οὐσία (301b ἢ πάϑος ἢ οὐσίαν) ebenso wie bei Aristoteles 
(z. B. 983b 10 1038b 28 1071a 1) entgegengestellt wird, um die 
Bestimmtheit (z. B. das „Einssein“ oder „Ungradesein“ 302a, 
dasselbe Beispiel Arist. 1088a 17. 8) der Substanz zu bezeich- 


1 Die ἀβλαβεῖς ἡδοναί ohne Beziehung auf Gesicht und Gehör finden wir 
freilich schon im Protagoras und im Anfang von Rep. II. Darüber nachher. 

2) Da πάσχειν usw. von 300b ermüdend oft wiederholt und dieser Ter- 
minus ausdrücklich vom Einssein usw. gebraucht wird (οὐχ εἷς ἡμῶν ἑκάτερός 
ἔστι καὶ πέπονϑε τοῦτο, εἷς εἶναι; 302a, vgl. 302c), da dabei πάϑος scharf von 
oöcia geschieden wird, kann ich Stavenhagen (Χάριτες Fr. Leo dargebracht S. 19. 
39) nicht beistimmen, wenn er meint, daß im Hippias das Schöne wie die Zahl 
als ein öv, als eine feste, den Dingen anhaftende Eigenschaft aufgefaßt werde. 
Damit entfällt auch die weitere Folgerung, die Stavenhagen dort zieht. Er 
meint nämlich, Plato blicke im Phaidon 96a auf sein eignes, durch die Ideen- 
lehre überwundenes geistiges Entwicklungsstadium zurück und spiele eben auf 
den Hippias als bezeichnend für dieses Stadium an. Auch das zweite Beispiel, 
das Stavenhagen anführt, fasse ich anders auf. Sokrates sagt Phaidon 96e, er habe 
früher geglaubt, τὸ δίπηχυ τοῦ πηχυαίου μεῖζον εἶναι διὰ τὸ ἡμίσει αὐτοῦ 
ὑπερέχειν, während er jetzt die Möglichkeit dieser Aussage nur im Anteil am 
Begriff μέγεϑος sehe. Stavenhagen sieht hier einen Rückblick auf Hipp. 294 b 
ἐκεῖνο ἐζητοῦμεν, ᾧ πάντα τὰ καλὰ πράγματα καλά ἐστιν — ὥσπερ ᾧ πάντα τὰ 
μεγάλα ἐστὶ μεγάλα, τῷ ὑπερέχοντι’ τούτῳ γὰρ πάντα μεγάλα ἐστί, καὶ ἐὰν 
μὴ φαίνηται ὑπερέχῃ δέ, ἀνάγκη αὐτοῖς μεγάλοις εἶναι. Das Auffallendste an 
dieser Stelle ist doch aber, daß nicht vom μεῖζον, sondern vom μέγα gesprochen 
wird und trotzdem die Relativität des Begriffes mit einer Selbstverständlichkeit 
vorausgesetzt wird, die nur nach einer sehr langen Diskussion über diese Be- 
griffe denkbar ist. Für Platos Jugendzeit erscheint mir das undenkbar. Da- 
gegen stellt bekanntlich Aristoteles in cat. 6 (Ὁ Ὁ 15) ausdrücklich fest, daß μέγα 
und wıxodv in die Kategorie des πρός τι gehören, οὐδὲν γὰρ αὐτὸ καϑ' αὑτὸ 
μέγα λέγεται ἢ μικρὸν ἀλλὰ τῷ πρὸς ἕτερον ἀναφέρεσϑαι und später sagt er 
in einer Erörterung, in der er von dem Begriffe μεῖζον ausgegangen ist, kurz 
ὑπερέχον μὲν τὸ μέγα (1363b 11). Auch in der Topik lesen wir 125a 19 τὸ μὲν 
γὰρ διπλάσιον τινὸς διπλάσιον, τὸ δ᾽ ὑπερέχον καὶ τὸ μεῖζον τινὸς καὶ tivi‘ πᾶν 
γὰρ τὸ ὑπερέχον καὶ τὸ μεῖζον τινὶ ὑπερέχει καὶ τινὸς ὑπερέχει. Damals in- 
teressierte man sich also für diese im Phaidon berührten Probleme so gut wie 
für die des kleinen Hippias, und es ist sehr verständlich, daß derselbe Plato- 
niker die einen wie die andern aufgriff. Dafür spricht auch, daß die Art, wie 


128 Platos sokratische Periode. Abschluß. 


nen, nehmen wir noch die vielen andern Ungeschicklichkeiten des 
Dialoges hinzu, auf die man längst aufmerksam gemacht hat'), 
so dürfen wir den großen Hippias ruhig aus der Reihe der 
echten Dialoge streichen’). Aber selbst wer ihn für echt hält, 
wird ihn nach Apelts Nachweis nicht etwa vor den kleinen Hip- 
pias setzen können’). 


Hipp. 301b die jetzige und die frühere δόξα gegenübergestellt werden, sehr wie 
eine Nachahmung von Phaid. 900 ff. aussieht (das εὐηϑικῶς εἴχομεν findet seine 
Parallele 100.d). 

Als Ergebnis seiner neuen Anschauung spricht Plato Phaidon 100d aus: 
οὐκ ἄλλο τι ποιεῖ αὐτὸ (τὸ καλόν) καλὸν ἢ ἣ ἐκείνου τοῦ καλοῦ εἴτε παρουσία 
εἴτε κοινωνία εἴτε ὅπῃ δὴ καὶ ὅπως προσ(αγορευομένη χαίρει naga) γενομένη 
(so etwa wird zu ergänzen 561η),. .. . ἡγοῦμαι ἀσφαλὲς εἶναι καὶ ἐμοὶ καὶ 
ὁτῳοῦν ἄλλῳ ἀποκρίνασθαι ὅτι τῷ καλῷ τὰ καλὰ καλά. Würde er sich so aus- 
gedrückt haben, wenn grade in der Schrift, die er eben als das überwundene 
Stadium gekennzeichnet hatte, sich dieselben Anschauungen gefunden hätten? 
Im Hippias aber fragt Sokrates 287c: "Ao’ οὖν οὐ καὶ τὰ καλὰ πάντα τῷ καλῷ 
ἔστι καλά; und Hippias antwortet ohne Zögern Ναί, τῷ καλῷ. Und daß die 
παρουσία des Schönen die Schönheit des Einzeldinges bedingt, ist dort ein ganz 
geläufiger Satz (289 α ἢ. 294aff). 

Danach scheint mir auch Stavenhagens Versuch, die Echtheit des Hippias 
darzutun, mißlungen. Übrigens glaube ich auch nicht, daß Plato im Phaidon den 
eigenen Entwicklungsgang schildern will. Er will nur zeigen, daß die Ideen- 
lehre allein die Lösung der Schwierigkeiten bringt, die tatsächlich vorhanden 
sind, auch wenn das gewöhnliche Bewußtsein sie nicht empfindet. 

1) Vgl. besonders die S. 124? genannte Dissertation Horneffers. 

?) Da der Verfasser 286a ausdrücklich auf die Szene des kleinen Hippias 
anspielt, will er Plato sein. Hier liegt also Fälschung vor. 

®) Während der Korrektur geht mir durch die Güte des Verfassers Rudolf 
Hirzels schöner Aufsatz über die Entwicklung des Begriffes οὐσέα zu (Philol. 
1913). Hier wird S. 57 gezeigt, daß der Terminus im größeren Hippias im 
Gegensatz zu Platos Jugendzeit bereits ganz abgegriffen ist und „wie ein bereits 
unentbehrliches Wort der Philosophensprache ohne weiteres dem Sophisten Hippias 
in den Mund gelegt wird.“ Daher nimmt auch Hirzel an, daß der Dialog „ein 
Werk wohl erst der platonischen Schule ist.“ 


Die Krisis. 


VII. Gorgias. 


In den aristotelischen Problemen (30, 1) wird Plato zu den 
μελαγχολικοί gerechnet. Das sind nicht etwa unsre Melancholiker, 
es sind die περιττοὶ ἄνδρες, bei denen die schwarze Galle in der 
Mischung der körperlichen Säfte überwiegt und eine Neigung 
zur Anormalität bedingt, die zum Genie wie zum Irrsinn führen 
kann und sich beim einzelnen Menschen in starkem Stimmungs- 
wechsel äußert. Daß Plato solchem Stimmungswechsel unterlag, 
das können wir noch bei so mancher seiner Schriften feststellen, 
nirgends deutlicher als wenn wir mit der sokratischen Schriften- 
gruppe den Gorgias vergleichen. Dort sonnige Heiterkeit, frischer 
Humor, ein Verstehen und Verzeihen für die Art der Heimat, 
frohe Siegeszuversicht, hier tiefe Bitterkeit, herber Sarkasmus, 
eine Schärfe des Urteils gegenüber Athen, wie wir sie nie wieder 
finden, und eine ernste Entschiedenheit, die ihren Weg geht, 
weil er notwendig ist, nicht weil die Schönheit des Zieles lockt. 

Gern würde man sich die Stimmung der „Tragödie“ im 
Gegensatz zur „Komödie“ dadurch verständlich machen, daß man 
das Jahr 399 zwischen beide treten ließe. Das ist für uns nach 
den früheren Ergebnissen nicht möglich So müssen wir nach 
einer anderen Erklärung suchen. 

Ohne weiteres fällt dabei in die Augen, daß der Gorgias an 
den Protagoras anknüpft. Schon die Szenerie ist die gleiche. 
Wieder treffen wir Sokrates mit einem der großen Jugendbild- 
ner im Gespräch. Wie im Hippias ist es ein lebender Zeit- 
genosse Platos; wie Hippias so hat auch Gorgias eben durch eine 
Epideixis die Hörer entzückt, und beide Male vermittelt ein Athe- 
ner das Gespräch zwischen Sokrates, der eine Frage auf dem 
Herzen hat, und dem Sophisten, der gern antworten will, da er 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 9 


130 Gorgias. 


sich ja em für alle Mal zur Auskunft bereit erklärt hat und noch 
nie einem Frager begegnet ist, der ihm Schwierigkeiten bereitet 
hätte (Hipp. 364a Gorg. 4484). Im Gegensatz zum Hippias 
sollen wir uns im Gorgias eine Corona anwesend denken, doch 
erinnert die kurze Andeutung 458c nur leise an die lebendigen 
Szenen des Protagoras (besonders 335d—338e). Wieder wird 
der scharfe Unterschied zwischen der sokratischen Dialektik und 
den sophistischen Demegorien hervorgehoben '), wieder finden 
wir aber auch längere Reden des Sokrates, und diesmal hält 
dieser es sogar für nötig, das „Unsokratische“, das darin liegt, 
hervorzuheben: 465e ἴσως μὲν οὖν ἄτοπον πεποίηκα, ὅτι σὲ οὐκ 
ἐῶν μακροὺς λόγους λέγειν αὐτὸς συχνὸν λόγον ἀποτέτακα, 519d 
ὡς ἀληϑῶς δημηγορεῖν μὲ ἠνάγκασας, ὦ Καλλίκλεις, οὐκ ἐθέλων 
ἀποκρίνεσθαι. So treffen wir noch eine Fülle von kleinen 
Zügen im Gorgias, die an die früheren Dialoge erinnern’). Zum 
Teil werden wir diese noch später berühren. Wichtiger aber ist, 
es sich klar zu machen, wie der ganze Aufbau des ersten Teiles 
durch den Protagoras beeinflußt ist. Dieser Dialog führte uns 
zuerst ein Vorgespräch zwischen Sokrates und Hippokrates vor 
über die Frage, was denn ein Sophist sei. Die Frage, was der 
Rhetor sei, wird im Gorgias zum eigentlichen Thema, das aber 
auch zunächst in einem kurzen Vorgespräch aufgestellt wird (zi 
δή ἐστιν τοῦτο περὶ οὗ αὐτός τε ἐπιστήμων ἐστὶν ὃ σοφιστὴς καὶ τὸν 
μαϑητὴν ποιεῖ; Prot. 312e τί ἐστιν ὃ ἐπαγγέλλεταί τε καὶ διδάσκει; 
Gorg. 447c). Im eigentlichen Gespräch wird das erste Geplänkel 
Chairephon überlassen, der wie Sokrates im Prot. 31ib 8128 
durch das Beispiel des Arztes und Malers klarzumachen sucht, 
was die Frage besagt. Freilich bleibt Polos trotzdem unfähig die 
Sache klar zu erfassen, und Gorgias selbst wird deshalb noch- 
mals gefragt: τίνα σὲ χρὴ καλεῖν ὡς τίνος ἐπιστήμονα τέχνης; 


1 Vgl. 5. 82. 

2) Das δημηγορεῖν stammt aus Prot. 328 extr., vgl. S. 82, und zu den 
Reden des Sokrates S. 83. Im Gorgias vgl. noch p. 507 —509, wo Sokrates zu- 
erst ähnlich wie Prot. 353ff. einen Dialog allein durchführt, und 511—513. 

8) Hier sei noch erwähnt, daß Sokrates’ Aufforderung an Polos: καὶ νῦν 
δὴ τούτων ὁπότερον βούλει ποίει, ἐρώτα ἢ ἀποκρίνου (462 b) im Protagoras 5516 
ein Analogon hat. Wenn Sokrates vorher erklärt ἐϑέλω τῶν ὡμολογημένων, 
εἴ τί σοι δοκεῖ μὴ καλῶς ὡμολογῆσϑαι, ἀναϑέσϑαι ὅτι Av σὺ βούλῃ (461 ἃ 
462a), so entspricht das Prot. 846 ἀλλ᾽ ἔτι καὶ νῦν ἀναϑέσϑαι ἔξεστιν, εἴ πῇ 
ἔχετε ἄλλο τι φάναι κτλ. 


Der Eingang des Gorgias und des Protagoras. 131 


(449a, vgl. Prot. 8114 τέ ὄνομα... λεγόμενον περὶ Πρωταγόρου 
ἀχούομεν; — Σοφιστὴν δή τοι ὀνομάζουσί γε τὸν ἄνδρα). Im 
Protagoras wird das Hauptgespräch dann dadurch eingeleitet, daß 
Sokrates im Namen des Hippokrates, der gern Protagoras’ 
Schüler werden möchte, an diesen die Frage richtet, was ihm 
der Unterricht nützen werde: ὅτε οὖν αὐτῷ ἀποβήσεται, ἐάν σοι 
συνῇ, ἡδέως ἄν φησι πυϑέσϑαι (318a). Wie ein Reflex dieser leben- 
digen Szene des referierten Dialoges mutet es doch an, wenn im 
Gorgias Sokrates 455c sagt: χαὶ ἐμὲ νῦν νόμισον καὶ τὸ σὸν 
σπεύδειν. ἴσως γάρ καὶ τυγχάνει τις τῶν ἔνδον ὄντων μαϑητής 
σου βουλόμενος γενέσθαι, ὡς ἐγώ τινας σχεδὸν καὶ συχνοὺς αἰσϑά- 
vouaı, οἱ ἴσως αἰσχύνοιντ᾽ ἄν σε ἀνερέσθαι " ὑπ’ ἐμοῦ οὖν ἀνερω- 
τώμενος νόμισον καὶ ὑπ᾽ ἐκείνων ἀνερωτᾶσθϑαι " τί ἡμῖν, ὦ Looyia, 
ἔσται, ἐάν σοι συνῶμεν. Wenn Protagoras auf Sokrates’ Frage 
erklärt: τὸ δὲ udInud ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως 
ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίων διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως, 
ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν 
(8186), so lesen wir ein direktes Zitat dieser Worte Gorg. 520e 
ὅντιν᾽ ἄν τις τρόπον ὡς βέλτιστος εἴη καὶ ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν 
διοικοῖ ἢ πόλιν und ähnlich hatte schon Kallıkles von den Leuten, 
denen er die πολιτικὴ ἀρετή zuspricht, 491b gesagt: οἱ ἂν εἰς 
τὰ τῆς πόλεως πράγματα φρόνιμοι ὦσιν, ὅντενα ἂν τρόπον εὖ 
οἰκοῖτο. 

In diesen Fällen haben wir freilich mehr nebensächliche Re- 
miniszenzen, die den Gang der Erörterung nicht bestimmen. Um 
so wichtiger ist etwas anderes. Im Protagoras stellt, wie wir 
sahen, Plato innerhalb der Sophistik verschiedene Richtungen 
einander gegenüber. Auffallen kann dabei, daß die Rhetorik, die 
doch zweifellos im Jugendunterricht eine hohe Bedeutung hatte, 
gar nicht berücksichtigt wird. Den Grund dafür gibt uns das Ge- 
spräch über das Wesen der Sophistik, das Sokrates mit dem 
jungen Hippokrates führt. Auf die Frage, was der Sopbhist sei, 
erklärt hier schließlich Hippokrates 8124: τί ἂν εἴποιμεν αὐτὸν 
εἶναι, ὦ Σώκρατες, ἢ ἐπιστάτην τοῦ ποιῆσαι δεινὸν λέγειν; Aber 
Sokrates verwirft diese Definition mit der Begründung: ἐρω- 
τήσεως γὰρ ἔτι ἣ ἀπόκρισις ἡμῖν δεῖται, περὶ ὅτου ὃ σοφιστὴς δει- 
νὸν ποιεῖ λέγειν. Und da die Antwort allgemein lauten muß 
περὶ οὗπερ καὶ ἐπίστασϑαι, so folgert er, wenn man das Wesen 
der Sophistik bestimmen wolle, so dürfe man nicht von der Tat- 

9* 


182 Gorgias. 


sache, daß sie zu reden befähige, ausgehen, sondern von dem 
Stoffe, über den sie reden lehre. Über die Bedeutung dieser 
Stelle werden wir noch in dem Abschnitt „Sophistik und Rhe- 
torik“* zu handeln haben. Vorläufig genügt es hervorzuheben, 
daß Plato hier das formale Moment des rhetorischen Unterrichts 
nicht als charakteristisch für die Sophistik gelten läßt. Die Rhe- 
torik ist für ihn hier nur ein sekundäres Moment; über das 
Wesen der Sophistik entscheidet der Charakter des materiellen 
Wissens, über das sie verfügt. 

Diese Protagorasstelle ist die Keimzelle, aus der 
sich die Erörterung im ersten Teile des Gorgias ent- 
wickelt. 

Sobald Gorgias auf Sokrates’ Frage erklärt hat, die Rhetorik 
sei eine τέχνη περὶ λόγους, stellt Sokrates fest, daß nur spezielle 
λόγοι in Betracht kommen könnten, und sagt dann 4496: ᾿4λλὰ 
μὴν λέγειν γε ποιεῖ δυνατούς, und auf Gorgias’ Ja hin fragt er 
weiter: οὐκοῦν περὶ ὧνπερ λέγειν, καὶ φρονεῖν; Damit ist auch 
hier der sachliche Gesichtspunkt zum entscheidenden gemacht, 
und Plato hält ihn mit aller Bestimmtheit fest, wenn er nun die 
Rhetorik auf eine Stufe stellt mit den anderen τέχναι περὶ 
λόγους wie Arithmetik und Astronomie‘) und deshalb ganz ana- 
log dem Protagoras zur Bestimmung der differentia specifica die 
weitere Frage aufwirft: τί ἐστι τοῦτο τῶν ὄντων, περὶ οὔ οὗτοι 
οἱ λόγοι εἰσίν, οἷς ἣ δητορικὴ χρῆται (451 ἃ) ἡ. Natürlich kann 
Plato aber im Gorgias doch an der rein formalen Auffassung der 
Rhetorik nicht vorübergehen. Denn diese war ja doch von den 
Rhetoren selber vorgetragen, wenn sie ihre Kunst als πειϑοῦς 
δημιουργός bezeichneten°). So lenkt denn Plato das Gespräch ge- 
schickt zu einer Kritik dieser Definition über (453a)‘). Gegen- 


1). 451a, vgl. die Technai, die Hipp. 366c 367 e und Prot. 318e erwähnt werden. 

2) Die Frage wird genau so vorbereitet wie Prot. 318b durch ein Beispiel mit 
ὥσπερ ἂν εἴ τίς me ἔροιτο ὧν νῦν δὴ ἔλεγον περὶ ἡστινοσοῦν τῶν τεχνῶν κτλ. 

8) Daß diese Definition tatsächlich von den Rhetoren aufgestellt war, würde 
man aus der Art, wie Plato zu ihr überleitet, erschließen, auch wenn es nicht 
ausdrücklich bezeugt wäre. Sonst vergl. Wendland, Anaximenes 5. 31, Süß, 
Ethos 21. 

‘) Er vollzieht den Übergang so, daß er Gorgias auf die Frage nach dem 
Gegenstand der rhetorischen Adyoı die verschwommene Antwort geben läßt: τὰ 
μέγιστα τῶν ἀνϑρωπίνων πραγμάτων (451d), die Gorgias dann dahin präzisiert, 
er meine den praktischen Einfluß, den der Redner durch das πείϑειν erlange. 


448. .-460. Die sittliche Indifferenz der formalen Rhetorik. 133 


über der Bestimmung τέχνη περὶ λόγους läßt diese, wie gesagt, 
das formelle Moment — zugleich unter Betonung des praktischen 
Zweckes — hervortreten, und Plato präzisiert dieses noch schärfer, 
indem er die πειϑώ bestimmt als eine Überredung, die nur 
Glauben, nicht Wissen erwecken will. Daneben fragt er aber 
auch hier sofort (453e): ποίας πειϑοῦς καὶ περὶ τί; So entlockt 
er Gorgias die Antwort: xai περὶ τούτων ἅ ἐστι δίκαιά τε καὶ 
ἄδικα (454b) und kann daraufhin die Definition formulieren: 9 
ῥητορικὴ ἄρα, ὡς ἔοικε, πειϑοῦς δημιουργός ἐστι πιστευτικῆς, ἀλλ᾽ οὐ 
διδασκαλικῆς περὶ τὸ δίκαιόν τε καὶ ἄδικον (4 ἃ). Die Bedeutung 
dieser Formulierung liegt darin, daß sie das formale und das 
sachliche Moment vereint. Und grade diese Vereinigung führt 
nach Plato zum inneren Widerspruch. Betrachtet man nämlich 
rein formal die Rhetorik als πειϑοῦς δημιουργός, so gibt sie eine 
δύναμις, die sich genau so wie die Fachwissenschaften des Hip- 
pias (vgl. S. 69) nach beiden Seiten, sittlich wie unsittlich, ge- 
brauchen läßt. Ist sie dagegen eine τέχνη περὶ τὸ δίκαιόν τε καὶ 
ἄδικον, so muß sie so gut wie die Arithmetik ein Wissen über 
diese vermitteln, und wer das Gerechte weiß, so sagt der Sokra- 
tiker und Intellektualist Plato, handelt gerecht, ist gerecht (455 bis 
459). Wer also konsequent sein will, darf beides nicht ver- 
einigen, muß sich für die eine oder die andere Auffassung ent- 
scheiden. Von den Rhetoren selber darf man diese Folgerichtig- 
keit nicht verlangen, und Gorgias tröstet sich mit der Halbheit, er 
gebe zwar eine formale Bildung, doch würden seine Schüler diese 
schon sittlich benützen, und jedenfalls sei er für unsittliche Ver- 
wendung seitens der Schüler nicht verantwortlich (460 ἃ) '). Im- 
merhin setzt Plato aus Höflichkeit bei ihm voraus, daß er inner- 
lich eine sittliche Bildung erstrebe und bei klarer Erkenntnis des 
Problems eine sachliche wissenschaftliche Belehrung über das 
Gerechte als notwendig erkennen werde (460a)°). Aber Polos 
hat ganz recht, wenn er erklärt, daß mit diesem Zugeständnis 
der Rhetorik der Boden entzogen sei, und sich auf das formelle 
πείϑειν beschränkt (461 b). 

Im Protagoras ging Plato davon aus, daß der Bil- 


1) Bekanntlich trägt Gorgias’ Schüler Isokrates dieselbe Argumentation 
Nikokles 3. 4, Antid. 251ff. vor. Also gibt wohl auch Plato hier wirklich Gorgias’ 
Gedanken wieder. 

2) Mit Unrecht, wie wir beim Menon sehen werden. 


134 Gorgias. 


dungswert des Jugendunterrichts ausschließlich davon 
abhänge, ob dieser sachlich ein Wissen über das Gute 
bringe und dadurch zur Sittlichkeit erziehe, und er be- 
handelt deshalb den formalen rhetorischen Unterricht 
als ein sekundäres Moment. Im ersten Teile des Gorgias 
zeigt er, wer die formale Rhetorik als das Primäre an- 
sehe, müsse folgerichtig bei ihr auf den sittlichen Er- 
ziehungswert verzichten. 


Mit dieser Auffassung der Rhetorik, die natürlich der nur 
auf die praktische Brauchbarkeit sehenden vulgären Anschauung 
entspricht und tatsächlich von Männern wie Polos mindestens un- 
bewußt vertreten wurde — über Gorgias selber werden wir bald 
noch zu handeln haben —, setzt sich Plato im zweiten Teile des 
Gespräches auseinander (461—481). Dieser Teil behandelt schein- 
bar ohne engen Zusammenhang zwei Probleme: Was ist die Rhe- 
torik? (461 — 4668) und: Verleiht sie nicht praktisch große 
Macht? (466 — 481). Im ersten Abschnitt stellt Plato zunächst 
fest, daß die Rhetorik keine Kunst, sondern nur Routine sel. 
Ein Beweis für diese Behauptung wird aber nicht gegeben, sondern 
nur angeboten: τέχνην δὲ αὐτὴν οὔ φημι εἶναι ἀλλ᾽. ἐμπειρίαν, 
ὅτι οὐκ ἔχει λόγον οὐδένα ᾧ προσφέρει ἃ προσφέρει ὅποῖ ἄττα τὴν 
φύσιν ἐστίν, ὥστε τὴν αἰτίαν ἑκάστου μὴ ἔχειν εἰπεῖν " ἐγὼ δὲ 
τέχνην οὐ καλῶ, ὃ ἂν ἦ ἄλογον πρᾶγμα. τούτων δὴ πέρι εἰ 
ἀμφισβητεῖς, ἐθέλω ὑποσχεῖν λόγον (4658) '), und selbst dieses An- 
gebot geschieht nicht in Bezug auf die Rhetorik selber, sondern 
in Bezug auf ihr Analogon, die Kochkunst. Offenbar will Plato 
seine Anschauung hier nur andeuten, den eigentlichen Beweis 
dafür, daß die Rhetorik der wissenschaftlichen Grundlage ent- 
behre, will er nicht ausführlich geben’). Der Grund ist natür- 
lich der, daß die Erürterung ihn hier zu weit führen würde. Und 
für die Zwecke, die er im Gorgias verfolgt, ist jedenfalls die 
theoretische Seite der Frage nicht entscheidend. Eins ist da- 
gegen wichtig: Das ist der Nachweis, daß die Rhetorik über ihre 


1) Das Kolon ist hinter εἰπεῖν, der Punkt hinter πρᾶγμα zu setzen; denn 
der Plural τούτων geht auf alles vorige. — Die letzten Worte sind hübsch ge- 
wählt, um anzudeuten, daß er und die Philosophie das vermag, was die Rhetorik 
nicht leistet, Adyov ὑποσχεῖν. 

2) Wir treffen ihn später im Phaidros. — Diesen Sachverhalt hat man 
schon im Altertum empfunden. Vgl. Aristides περὶ ῥητορικῆς πρ 9} 


461—466a. Die Rhetorik keine Kunst. 135 


letzten Ziele keine Rechenschaft zu geben vermag. Das hebt 
Plato schon 46&c hervor, wenn er von der Rhetorik sagt, sie 
handle οὐ γνοῦσα ἀλλὰ στοχασαμένη (vorbereitet durch 463a ψυχῆς 
στοχαστικῆς ἡ, und wir werden bald sehen, daß dafür der Beweis 
im folgenden Abschnitt gegeben wird. Damit verbindet Plato 
weiterhin die Scheidung der τέχναι und κολακεῖαι, der wahren 
Künste, die das Gute des Menschen zum Ziele haben, und der 
Afterkünste, die nur dem Angenehmen nachjagen. Daß zu den 
Afterkünsten die Rhetorik gehört, wird auch zunächst nur be- 
hauptet. Auch hier liefert den Beweis erst die folgende Unter- 
suchung. 

Ehe wir aber diese verfolgen, sei noch auf eins aufmerksam 
gemacht. Den Unterschied zwischen τέχνη und ἐμπειρία (τριβή) 
kann Plato offenbar so kurz angeben, weil er ihn in der Haupt- 
sache als bekannt voraussetzt. Wir wissen ja auch durch die 
hippokratischen Schriften, wie man im fünften Jahrhundert die 
Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter eines Berufes er- 
örterte. Grade von dieser Seite her möchte man aber im Gorgias 
Einfluß annehmen, weil Plato von der Medizin ausgeht und ihren 
Charakter als τέχνη betont’), und wenn er von der Kochkunst 
sagt: τέχνην δὲ αὐτὴν οὔ φημι εἶναι ἀλλ᾽ ἐμπειρίαν, ὅτι οὐκ ἔχει 
λόγον οὐδένα ᾧ προσφέρει ἃ προσφέρει ὅποῖ᾽ ἄττα τὴν φύσιν ἐστίν, 
ὥστε τὴν αἰτίαν ἑκάστου μὴ ἔχειν εἰπεῖν (406 8), so stammt hier 
nicht bloß das Wort προσφέρειν aus der medizinischen Termino- 
logie, auch der ganze Gedanke hat in den hippokratischen 
Schriften zahlreiche Parallelen. So sagt z. B. der Verfasser von 


1) Daß dieser Ausdruck auf Gorgias selbst zurückgeht, ist sehr wahr- 
scheinlich; darin kann ich Süß, Ethos 24ff. durchaus zustimmen. 

3) Süß, Ethos 5. 25 hält es freilich für ausgemacht, daß Plato hier Gorgias 
folgt. Daß dieser die Parallele von Rhetorik und Medizin gezogen hat, ist 
durch ΗΒ]. 14 τὸν αὐτὸν δὲ Λόγον ἔχει ἥ ve τοῦ λόγου δύναμις πρὸς τὴν τῆς 
ψυχῆς τάξιν ἥ τε τῶν φαρμάκων τάξις πρὸς τὴν τῶν σωμάτων φύσιν und durch 
ähnliche Gedanken bei Isokrates gesichert. Ich halte es auch für möglich, daß 
Plato hier von ihm Anregungen empfangen hat. Aber die im Text gleich zu 
behandelnde Phaidrosstelle zeigt doch deutlich, daß Plato auf die Mediziner 
selber zurückgreift. Und wenn er diese dort 268a 270 ausdrücklich nennt und 
dort wie Gorg. 464. 5 fortwährend Termini der medizinischen Sprache gebraucht, 
so ist es doch unmethodisch, immer nur von dem gorgianischen Vergleich zu 
reden, die ausdrückliche Beziehung auf die Mediziner aber zu ignorieren. Daß 
auch die scharfe Präzisierung des Unterschiedes von ἐμπειρία und τέχνη auf 
Gorgias zurückgehe, ist jedenfalls durch nichts wahrscheinlich zu machen. 


136 Gorgias. 


περὶ dexaing ἰητρικῆς, der doch sehr zur Empirie neigt, c 21: 
οἶδα δὲ τοὺς πολλοὺς ἰητροὺς ὥσπερ τοὺς ἰδιώτας, ἢν τύχωσι 
περὶ τὴν ἡμέρην ταύτην τι κεκαινουργηκότες, ἢ λουσάμενοι ἢ πε- 
ριπατήσαντες ἢ φαγόντες τι Eregoiov, ταῦτα δὲ πάντα βελτίω 
προσενηνεγμένα ἢ μή, οὐδὲν ἧσσον τὴν αἰτίην τούτων τινὶ dvanı- 
ϑέντας, τὸ μὲν αἴτιον ἀγνοεῦντας τὸ δὲ συμφορώτατον, ἢν οὕτω 
τύχῃ, ἀφαιρέοντας. δεῖ δὲ οὔ, ἀλλ᾽ εἰδέναι, τί λουτρὸν ἀκαίρως 
προσγενόμενον ἐργάσεται ἢ τί κόπος. Insbesondere wenn Plato 
465a und 501a kurz erklärt, das Kennzeichen der Wissenschaft 
sei, daß sie die αἰτία anzugeben vermöge — wir werden noch 
sehen, was dieser Gedanke später für eine Bedeutung für ihn 
gewinnt — so übernimmt er damit eine Anschauung, die bei den 
Medizinern allgemein anerkannter Grundsatz ist. Ein Beleg ist 
schon die eben angeführte Stelle. Prinzipiell erklärt ferner der 
Verfasser der Apologie der Heilkunst (c. 6): πᾶν γὰρ τὸ γινόμε- 
νον διὰ τὶ εὑρίσκοιτ᾽ ἂν γινόμενον, καὶ ἐν τῷ διὰ τὶ τὸ αὐτόμα- 
τον οὐ φαίνεται οὐσίην ἔχον οὐδεμίαν ἀλλ᾽ ἢ ὄνομα, ἣ δὲ ἰητρικὴ 
καὶ ἐν τοῖσι διὰ τὶ καὶ ἐν τοῖσι προνοουμένοισι φαίνεταί τε καὶ 
φανεῖται αἰεὶ οὐσίην ἔχουσα. Von den unzähligen Stellen, wo 
praktisch dieselbe Anschauung hervortritt, daß der Arzt über die 
αἰτίαι jeder Erscheinung im klaren sein muß, hebe ich nur die 
Schrift über die Epilepsie hervor. Hier stellt sich der Vertreter 
der Wissenschaft in schärfsten Gegensatz zur Charlatanerie, 
und worin die Wissenschaft besteht, das zeigt er, indem er die 
Ursache der Krankheit angibt (3 ἀλλὰ γὰρ αἴτιος ὃ ἐγκέφαλος 
τούτου τοῦ πάϑεος κτλ.) und die Möglichkeit der richtigen Be- 
handlung davon abhängig macht, ob der Arzt imstande ist, sich 
Rechenschaft von der Wirkung seiner Heilmittel mit Bezug auf 
diese Krankheitsursache abzulegen (17)°). 

Aber nicht bloß diese Auffassung der τέχνη, auch die Unter- 
scheidung von Routine und Wissenschaft fand Plato wohl bei den 
Medizinern schon vor. Ganz sicher dürfte man dies sagen und 
eine Anlehnung an die Mediziner im Gorgias voraussetzen, wenn 
man eine Stelle der Παραγγελίαι verwerten dürfte. Denn dort 
mahnt der Verfasser e. 1 (Littr& IX, 252): δεῖ γε μὴν ταῦτα εἰδότα 
μὴ λογισμῷ πρότερον πιϑανῷ προσέχοντα ἰητρεύειν ἀλλὰ τριβῇ 

!) τὸ Μ καὶ τὸ A. 

5) Dieselbe Anschauung bringt dieser Arzt auch in περὶ ἀέρων ὑδάτων 
τόπων fortwährend zum Ausdruck. 


In der Auffassung der Wissenschaft folgt Plato den Medizinern. 137 


μετὰ λόγου und setzt damit die Gegenüberstellung der τριβή, 
die für ihn offenbar wie für Plato (463b 501a) an sich ein d4o- 
γον πρᾶγμα ist, und des rationalen Elementes, die wir im Gorgias 
vorfinden, voraus, wenn er auch beide Elemente anders wertet 
als Plato. Aber viel Wert lege ich auf dieses Zeugnis nicht; 
denn diese Schrift ist, wenn sie auch mit altem Materiale arbeitet, 
schwerlich vor Epikurs Zeit entstanden‘). Dagegen sprechen bei 


1) Epikur sagt im Briefe an Herodot p. 26, 7 Us.: ἀλλὰ μὴν ὑποληπτέον 
καὶ τὴν φύσιν πολλὰ καὶ παντοῖα ὑπ᾽ αὐτῶν τῶν πραγμάτων διδαχϑῆναξ τε 
καὶ ἀναγκασϑῆναι, τὸν δὲ λογισμὸν τὰ ὑπὸ ταύτης παρεγγυηϑέντα ὕστερον 
ἐπακριβοῦν. Soll er das aus unserm Autor glatt abgeschrieben haben, bei dem es 
ec. 1 heißt: ὑποληπτέον οὖν τὴν φύσιν ὑπὸ τῶν πολλῶν καὶ παντοίων πρηγμά- 
των κινηϑῆναί τε καὶ διδαχϑῆναι βίης ὑπεούσης, ἣ δὲ διάνοια παρ᾽ αὐτῆς Au- 
βοῦσα, ὡς προεῖπον, ὕστερον εἰς ἀληϑείην ἤγαγεν Dagegen spricht auch, dab 
φύσις bei Epikur seinen festen Platz hat (es folgt ὅϑεν καὶ τὰ ὀνόματα ἐξ 
ἀρχῆς μὴ ϑέσει γενέσϑαι, ἀλλ᾽ αὐτὰς τὰς φύσεις τῶν ἀνθρώπων καϑ' ἕκαστα 
ἔϑνη ἴδια πασχούσας πάϑη .. ἰδίως τὸν ἀέρα ἐκπέμπειν κτλ.), während in den 
Praecepta der Begriff unmotiviert ist. — Im selben Kapitel steht: ξυγκαταινέω 
μὲν οὖν καὶ τὸν λογισμόν, ἤνπερ En περιπτώσιος ποιῆται τὴν ἀρχήν. Ist 
also περίπτωσις, das wir aus der epikureischen (fr. 36 καὶ γὰρ καὶ ἐπίνοιαι 
πᾶσαι ἀπὸ τῶν αἰσϑήσεων γεγόνασι κατά re περίπτωσιν καὶ κτλ) und stoischen 
(I fr. 86 τῶν νοουμένων τὰ μὲν κατὰ περίπτωσιν ἐνοήϑη .. κατὰ περίπτωσιν 
μὲν οὖν ἐνοήϑη τὰ αἰσϑητά) Erkenntnistheorie kennen, schon ein Jahrhundert 
früher Terminus gewesen? Und wenn es in 0. 2 dann heißt: προσέχειν οὖν δεῖ 
περιπτώσει .. τῇ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, so klingt uns das letzte doch merkwürdig 
aristotelisch (ὡς ἐπὶ τὸ πολύ selbst kommt freilich z. B. in de aeribus und de 
morbo sacro sechsmal vor), mehr aber noch wohl der Anfang dieses zweiten 
Kapitels: τῶν δ᾽ ὡς λόγου μόνου ξυμπεραινομένων μὴ ein ἐπαύρασϑαι τῶν δὲ 
ὡς ἔργου ἐνδείξιος. Sollen wir glauben, daß dieses Spiel mit dem Worte 
συμπεραίνειν möglich war, ehe Aristoteles den Syllogismus entdeckte und für 
diesen den Ausdruck λόγον συμπεραίνειν als Terminus prägte? Auch die dort 
gegebene Definition der Medizin als &£ıs ἀναμάρτητος möchte man älterer Zeit 
nicht zutrauen. 

Vor allem aber hat die ganze in c. 1 entwickelte Erkenntnistheorie, nach 
der zunächst ἡ αἴσϑησις φαντασιοῦται, dann von dieser die διάνοια die Ein- 
drücke übernimmt und im Gedächtnis festhält, ihre Parallelen nur in der 
späteren Zeit, teils bei Stoikern und Epikureern, teils aber auch bei Aristoteles 
Anal. post. II, p. 1002 3#f., Met. I, 1,980b 28#. (H. Maier, Syllogistik des Aristoteles 
IIa, S. 418). Bei Aristoteles wird speziell gezeigt, wie beim Menschen aus 
der Wahrnehmung die Erinnerung, aus der Erinnerung die Erfahrung, aus der 
zur Einheit zusammengefaßten Erfahrung die technische Regel wie das wissen- 
schaftliche Prinzip hervorgeht. Ähnlich wird der Vorgang in den Praecepta 
geschildert. Das wird uns noch deutlicher, wenn wir einen handschriftlichen 
Fehler verbessern. Nachdem der Verfasser die Wissenschaft auf τριβὴ μετὰ 


138 Gorgias. 


Hippokrates selber nicht bloß allgemeine Erwägungen dafür, daß 
er, den Plato als den Begründer der wissenschaftlichen Medizin 
ansieht, diese gegen die bloße Empirie abgegrenzt hat, sondern 
es lassen sich auch aus Plato selbst für diese Annahme Gründe 
geltend machen. Denn in der Erörterung des Phaidros, wo Plato 
die hier nur angedeutete Untersuchung über ἐμπειρία und τέχνη 
wirklich ausführt, beruft er sich ja ausdrücklich auf Hippokrates 
und auf seine Auffassung von der medizinischen Wissenschaft, 
um von da aus ein Kriterion für die Frage zu gewinnen, unter 
welchen Bedingungen die Rhetorik nicht bloß Empirie, sondern 
Wissenschaft sei (270), und wenn man hier vielleicht noch zweifeln 
kann, ob Hippokrates selber auch den Gegensatz zur Empirie 


λόγου gegründet hat, heißt es nach der Überlieferung weiter: ὁ γὰρ λογισμὸς 
μνήμη τίς ἔστι ξυνϑετικὴ τῶν μετ᾽ αἰσϑήσεως ληφϑέντων. Aber unmöglich 
kann der λογισμός so definiert werden, da nachher die μνήμη der διάνοια ZU- 
gewiesen wird, die vom /oyıouds scharf geschieden ist. Unmöglich ist auch, 
daß der Verfasser die τριβή ignoriert haben sollte. Da nun Aristoteles 980} 28 
einfach sagt γίγνεται δὲ ἔκ τῆς μνήμης ἐμπειρία und Plato 501a τριβῇ καὶ 
ἐμπειρίᾳ μνήμην μόνον σωξομένη (nämlich die Kochkunst) τοῦ εἰωθότος γίγνεσθαι, 
so ist wohl eine Lücke anzunehmen: ὁ γὰρ λογισμὸς (. . . ἡ δὲ τριβὴ) μνήμη 
(vgl. auch noch Sext. Emp. math. I, 61). 

Diese Erwägungen zwingen, wie mir scheint, dazu, die Entstehung der 
Schrift nicht vor etwa 300 anzusetzen. Nun hat freilich Daremberg, Notices et 
extraits 5. 200 aus einem Urb. 68 ein Scholion mit dem Lemma ἐκ τῶν TaAn- 
νοῦ zum Anfang der Praecepta veröffentlicht — wie ich aus einer durch 
Pasqualis freundliche Vermittlung mir zugegangenen Photographie ersehe, bis 
auf Kleinigkeiten richtig —, das gegen eine so späte Entstehung zu sprechen 
scheint. Denn hier heißt es mit Bezug auf die Anfangsworte der Schrift Χρόνος 
Eotiv ἐν ᾧ καιρός So: ὃ μὲν οὖν χρήσιππος (sic!) καὶ οἱ περὶ τοὺς στοικοὺς 
ἀλληγορικώτερον τὸν Λόγον διελθόντες χρόνον λέγειν τὴν ϑεωρίαν φασὶν ὡς 
διὰ χρόνου λαμβανομένην κτΆλ. .. ᾿Αρχιγένης δὲ... οὕτω φησέν κτλ. Aber 
daß der Stoiker Chrysipp eine medizinische Schrift kommentiert haben sollte, 
erscheint doch so unglaublich, daß man an sich nach einem Ausweg suchen 
muß. Entweder hat Archigenes (oder ein anderer Erklärer) nur eine chrysippische 
Erläuterung der Worte χρόνος und καιρός benützt, oder aber einer der Ärzte 
des Namens Chrysipp — Wellmann führt in der Realenzyklopädie s. v. Chrysippos 
verschiedene auf — ist erst nachträglich mit dem Stoiker verwechselt worden. 
Auch mit der Möglichkeit rechne ich, daß der aphoristische Anfangssatz der Prae- 
cepta: χρόνος ἐστὺὴν Ev ᾧ καιρὸς καὶ καιρὸς Ev ᾧ χρόνος οὐ πολύς" ἄκεσις χρόνῳ, 
ἔστι δὲ ἡνέκα καὶ καιρῷ, der vom Folgenden merkwürdig absticht, aus einer 
alten Schrift übernommen ist. Aber selbst wenn Chrysipp unsre Schrift gemeint 
haben sollte, würde ich eher an eine Fälschung denken als den alten Ursprung 
der Schrift annehmen. Doch ist natürlich eine genaue Untersuchung nötig. 


τέχνη und ἐμπειρία. τέχνη und κολακεία. 189 


so präzisiert hat, wie es Plato tut, so wird dies sehr wahrschein- 
lich, wenn man eine Stelle aus den Gesetzen heranzieht. Denn 
dort gibt p. 857c Plato doch wohl eine Schilderung im Sinne 
des Hippokrates, wenn er das Beispiel wählt: ὡς ei καταλά- 
βοι ποτέ τις ἰατρὸς τῶν ταῖς ἐμπειρίαις ἄνευ λόγου τὴν ἰατρι- 
κὴν μεταχειριζομένων ἐλεύϑερον ἐλευϑέρῳ νοσοῦντι διαλεγόμενον 
ἰατρὸν καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺς χρώμενον μὲν τοῖς λόγοις ἐξ 
ἀρχῆς τε ἁπτόμενον τοῦ νοσήματος, περὶ φύσεως πάσης ἐπανι- 
ὄντα τῆς τῶν σωμάτων. Wenn also die Medizin damals schon 
die Wissenschaft gegen die Routine abgrenzte, so mußte es 
Plato als Rückständigkeit erscheinen, wenn Polos die Technai 
einfach aus der Empirie ableitete, wie wir es nach Gorg. 4486 
vermuten dürfen '): Χαιρεφῶν, πολλαὶ τέχναι ἐν ἀνθρώποις εἰσὶν 
ἐκ τῶν ἐμπειριῶν ἐμπείρως εὑρημέναι ἐμπειρία μὲν γὰρ ποιεῖ τὸν 
αἰῶνα ἡμῶν πορεύεσθαι κατὰ τέχνην, ἀπειρία δὲ κατὰ τύχην Ἶ. 
Wir können es wohl verstehen, daß Plato eine solche Äußerung 
dahin auslegte, Polos erkenne überhaupt keinen Unterschied von 
Empirie und Wissenschaft an, und daß er ihm nun zeigen wollte, 
wie richtig er damit, ohne es zu merken, sein Handwerk beurteilte. 

Die Unterscheidung von Routine und Wissenschaft fand also 
Plato schon vor. Das müssen wir auch daraus schließen, daß 
er mit dieser Unterscheidung eine andere kombiniert, die tat- 
sächlich aus ganz andern Motiven hervorgeht. Er stellt nämlich 
nicht etwa, wie man erwarten sollte, empirische und wissenschaft- 
liche Medizin einander gegenüber, sondern medizinische Wissen- 
schaft und Kochkunst und konstruiert im Zusammenhang damit 
sein ganzes System, in dem neben den Wissenschaften die χολα- 
κεῖαι stehen, die nicht das Gute des Menschen ins Auge fassen, 
sondern nur χάριτος καὶ ἧδονῆς ἀπεργασίαι sein wollen’). Plato 


1 Natürlich braucht die Stelle deshalb nicht wörtliches Zitat zu sein. 
Aber Aristoteles sagt ja 98184 ἡ μὲν γὰρ ἐμπειρία τέχνην ἐποίησεν, ὥς φησι 
Πῶλος ὀρϑῶς λέγων, ἣ δ᾽ ἀπειρία τύχην. Diese Anerkennung seitens des 
Empirikers Aristoteles ist wohl nicht ohne Spitze gegen Plato. 

?) Den Gegensatz von τέχνη und τύχη behandelt das vierte Kapitel der 
Apologie der Heilkunst, wo Gomperz die Parallelstellen bietet. 

ὅ Eurip. fr. 362, 18 

φίλους δὲ τοὺς μὲν μὴ χαλῶντας Ev Adyoıs 
κέχτησο, τοὺς δὲ πρὸς χάριν σὺν ἡδονῇ 
τῇ σῇ πονηροὺς κλῇϑρον εἰργέτω στέγης. 
Die schlechten Freunde sind natürlich die Schmeichler. Vgl. die Schilderung der 


140 Gorgias. 


leitet zu dieser Scheidung durch den Gedanken über, daß die 
Routine sich über das wahre Ziel, das sie zu verfolgen hat, nicht 
Rechenschaft zu geben vermag. Aber es ist klar, dal) er auf diese 
Weise aus ethischen Motiven mit der Scheidung von τέχνη und ἐμ- 
πειρία, die natürlich nur an den verschiedenen Betrieb einer auf 
ein einheitliches Ziel gerichteten Tätigkeit denkt, einen Gegen- 
satz verknüpft, der dieser ursprünglich fremd ist. 


Auf das System der Wissenschaften und Schmeichelkünste 

folgt scheinbar ziemlich unvermittelt die Erörterung über die 
Frage, ob denn die Rhetorik nicht wenigstens praktisch große 
Macht verleihe, wie das schon Gorgias ausgesprochen hatte 
(452d 456ab) und Polos als selbstverständlich voraussetzt (467 
bis 480). Aber der Faden ist so wenig abgerissen wie etwa im 
Protagoras nach dem Mythos. Der Gedankengang ist nämlich 
folgender: Die Rhetorik mag wohl die Fähigkeit geben, alles 
Mögliche im Staate durchzusetzen. Aber von Macht kann man 
nur bei dem reden, der die Fähigkeit zu Handlungen hat, die 
das bewirken, was er wirklich will, die einem bestimmten End- 
ziele dienen. Dieses Endziel kann aber nur das Gute sein, das 
Gute aber ist identisch mit dem Sittlichen. Wenn daher die 
Rhetorik, wie ihre Vertreter rühmen, die Fähigkeit gibt, auch 
auf ungerechte Weise sich Vorteile zu verschaffen, so verleiht 
sie keine Macht, die ja dem Guten dienen müßte, sondern fügt 
dem Menschen nur Schaden zu, und dieser Schade wird nur 
noch gesteigert, wenn sie ihm Straflosigkeit für die Verbrechen 
erwirkt und somit verhindert, daß der Mensch von dem Übel 
der Ungerechtigkeit befreit wird. 
Kolakes in Eupolis’ Drama, die ebenso hervorheben, daß der Kolax χαρέεντα 
πολλά sagen muß (fr. 159, 12 K.), wie bei Epicharm fr. 35 der Parasit als seine 
Haupteigenschaft rühmt χαρέεις eiul (man darf beide Stellen wohl anführen, auch 
wenn χάρις hier etwas andre Bedeutung hat als bei Plato). Grade Eupolis’ Kolakes, 
die Plato im Protagoras als Vorbild hatte, konnten ihm auch hier Anregungen 
geben, da als Schmeichler und Parasiten dort die Sophisten auftraten. Eövoıa 
und Κολακείη stellt einander entgegen Demokrit B 286. Aristoteles scheidet 
1173b33 Freund und Schmeichler: ὁ μὲν γὰρ πρὸς τἀγαϑὸν ὁμιλεῖν δοκεῖ. ὁ δὲ 
πρὸς ἡδονήν, und Ähnliches findet sich unendlich oft in der späteren Popular- 
philosophie, wo die Scheidung von Freund und Schmeichler Lieblingsthema ist 
(z. B. Plutarch de adul. et amico 11. Einiges bei Bohnenblust, Beiträge zum Topos 
περὶ φιλίας S. 31). Über Phaidros 240b, wo Plato im Anschluß an den Gorgias 
den κόλαξ als ἡδύς erwähnt, nachher. 


πεν“ 


467—480. Die Rhetorik wird als κολακεία erwiesen. 141 


Während also im ersten Abschnitt gezeigt war, daß die 
Rhetorik (wie im Hippias die Polymathie) als formale Fähigkeit, 
die ebensowohl sittlichen wie unsittlichen Zwecken dienen könne, 
zum Nutzen wie zum Schaden andrer gebraucht werden kann, 
lernen wir hier, daß sie als solche auch dem Menschen selber 
eher Schaden als Nutzen bringt. Der Grund ist der, daß sie 
kein festes Endziel hat, nach dem sie auf Grund wissenschaft- 
licher Erkenntnis strebt. Sie begnügt sich damit, dem Menschen 
äußere Macht zu verleihen. Aber ob diese Macht dem wahren 
Vorteil des Menschen, dem Guten dient, das fragt sie nicht. 
Dunkel schwebt ihr allerdings ein Ziel vor. Aber das ist nicht 
das Gute, sondern etwas anderes. Wenn sie nämlich das Unrecht- 
leiden zwar für sittlich besser hält als das Unrechttun, aber doch 
mehr zu vermeiden sucht, so tut sie das, weil das Unrechtleiden 
mehr Schmerz bereitet (475c), und ebenso schätzt sie die Menschen 
glücklich, die sich der Bestrafung entziehen, weil diese mit 
Schmerzen verbunden ist (478). Sie duldet also die Ungerechtig- 
keit, das größte Übel, das den Menschen treffen kann, und verhilft 
sogar zu ihm, weil das Unrechttun mit keinem Schmerz, ja oft 
mit Lust verbunden ist. 

Die Rhetorik legt sich also gar nicht wissenschaftlich die 
Frage vor, ob das, wozu sie befähigt, wirklich für den Menschen 
vorteilhaft ist. Was ihr dunkel als Endziel vorschwebt und ihre 
Einzelhandlungen bestimmt, ist nicht das Gute, sondern die Lust 
und die Freiheit von Schmerz. Damit ist aber der Beweis ge- 
geben, daß Plato vorher das Wesen der Rhetorik richtig be- 
stimmt hat: Sie ist keine Wissenschaft, sondern Routine ohne 
feste Erkenntnis, sie hat nicht das βέλτιστον, sondern das ἣδύ 
zum Ziel. Sie gleicht der Kochkunst, die nur an die Annehm- 
lichkeit denkt, während die wahre πολιτικὴ ἀρετή wie die medi- 
zinische Wissenschaft nur die Gesundheit der Seele ins Auge 
faßt und auch die schmerzhafteste Operation nicht scheut, um 
die Seele von ihren Krankheiten zu befreien (480c, vgl. 478, 
479 ab). 


Damit ist das Urteil über die berufsmäßige Rhetorik gefällt. 
Aber mit dieser hat z. B. Archelaos von Makedonien, den Polos 
471 als sein Lebensideal nennt, blutwenig zu tun. Das zeigt 
uns, daß Plato schon hier die Kritik an der Berufsrhetorik 


142 Gorgias. 


keineswegs die Hauptsache ist. Jeden Zweifel über seine Ab- 
sichten hebt dann der dritte Teil, der sich schon durch seinen 
Umfang als Hauptteil gibt, das Gespräch mit Kallıkles (481 bis 
Schluß)‘). Hier wird es ganz deutlich: Plato nimmt die be- 
rufsmäßige Rhetorik nur zum Ausgangspunkt‘), Wenn 
sie unklarer Weise die Lust zum Zielpunkt macht, so 
ist das ein Symptom der im Volke herrschenden ethi- 
schen Anschauungen. Denn der Gegensatz von ἣδύ und 
ἀγαϑόν kehrt überall wieder. Und für das Leben des 
Individuums wie der Gesamtheit ist das die entschei- 
dende Frage, welches Prinzip herrschen soll, ob die 
Lust oder das Gute. Es ist die Frage, die sich nament- 
lich der in voller Klarheit vorlegen muß, der die Ab- 
sicht hat, auf das Leben der Gesamtheit einzuwirken. 
Die Lösung der Frage bringt zugleich die Entscheidung 
darüber, ob die Rhetorik in der Jugendbildung eine 
Existenzberechtigung hat oder nicht’). 


1) Daß Καλλικλῆς ᾿Αχαρνεύς (4954), der ἐραστής des Anwos Πυριλάμπους 
(481 4 513b), eine historische Person gewesen ist, kann man nicht wohl be- 
zweifeln, obwohl im dramatischen Dialoge an sich eine fingierte Person denkbar 
wäre. Entscheidend ist 487c: olda ὑμᾶς ἐγώ, ὦ Καλλίκλεις, τέτταρας ὄντας 
κοινωνοὺς γεγονότας σοφίας, σέ τε καὶ Τείσανδρον τὸν ᾿Αφιδναῖον καὶ ” Avögw- 
va τὸν ᾿Ανδροτίωνος καὶ Ναυσικύδην τὸν Χολαργέα: καί ποτὲ ὑμῶν ἐγὼ ἐπ- 
ἤκουσα βουλευομένων, μέχρι ὅποι τὴν σοφίαν ἀσκητέον εἴη κτλ. Undenkbar 
ist, daß hier eine völlig zwecklose Fiktion Platos vorliegen sollte. In späterer 
Zeit würde man bei einer solchen Szene gewiß an einen literarischen Dialog 
denken. Das ist aber für unsere Zeit nicht wahrscheinlich. Andrerseits wird 
man sich für das Athen des Sokrates nicht gern vorstellen, daß etwa ein 
Kallikles eine Schrift begonnen habe, wie es Alkmaion von Kroton tat: "Alrualo» 
Κροτωνιήτης τάδε ἔλεξε Πειρίϑου υἱὸς Βροτίνῳ καὶ Λέοντι καὶ Βαϑύλλῳ. 
So bleiben Zweifel. Aber daß hier wirklich eine historische oder literarische 
Szene gegeben war und sie Plato den Anlaß zur Einführung des Kallikles bot, 
das scheint mir sicher. 

2) Zu welcher Einseitigkeit es führt, wenn man die Rhetorik zum Kern- 
punkt des Dialoges macht, zeigt die konsequente Durchführung dieser An- 
schauung bei Süß, Ethos 98H. 

3) Kal γὰρ τυγχάνει περὶ ὧν ἀμφισβητοῦμεν οὐ πάνυ σμικρὰ ὄντα, ἀλλὰ 
σχεδόν τι ταῦτα, περὶ ὧν εἰδέναι τε κάλλιστον μὴ εἰδέναι τε αἴσχιστον τὸ γὰρ 
κεφάλαιον αὐτῶν ἐστιν ἢ γιγνώσκειν ἢ ἀγνοεῖν, ὅστις τε εὐδαίμων ἐστὶν καὶ 
ὅστις μή sagt Sokrates schon zu Polos 4172 ὁ (vgl. 470eff.). Und Kallikles gegen- 
über wiederholt er genauer 500: ὁρᾷς γάρ, ὅτι περὶ τούτου εἰσὶν ἡμῖν ol λόγοι, 
οὗ τί ἂν μᾶλλον σπουδάσειέ τις καὶ σμικρὸν νοῦν ἔχων ἄνϑρωπος ἢ τοῦτο, 


Die Berufsrhetorik nur Ausgangspunkt des Dialogs. 143 


Wollen wir diese Tendenz uns genauer klarmachen, so 
müssen wir wieder vom Protagoras ausgehen. Dort nahm Plato,,. 
um die Einheitlichkeit des ethischen Prinzips zu wahren, die 
Gleichsetzung von Add und ἀγαϑόν vor. Er lehnte die gewöhn- 
liche Scheidung von guten und schlechten ἡδέα mit der Begrün- 
dung ab, daß nur die ἡδέα diesen Namen wirklich verdienen, 
die keine Unlust mit sich bringen oder die jedenfalls einen Über- 
schuß von Lust in sich bergen. Diese wahren ἡδέα sind aber 
von den ἀγαθά nicht zu trennen (vgl. 5. 105). Aber bald sah er 
das Gekünstelte dieser Theorie ein. Konnte man wirklich dem 
Schlemmer, der durch seine Unmäßigkeit sich eine Krankheit 
zuzieht, für den Augenblick des Essens das Lustgefühl absprechen, 
nur weil seine Handlung für die Folgezeit einen Überschuß an 
Unlust ergab? Hier war also doch (trotz Prot. 353c) ein Gegen- 
satz von ἣδύ und ἀγαϑόν anzunehmen. Und andrerseits, auch 
wenn die Operation mit Rücksicht darauf, daß sie für die Dauer 
Gesundheit und Lust bringt, ein ἡδονὴν ποιοῦν genannt werden 
konnte, so war es doch eine Verkennung ihres Wesens, wenn 
man sie daraufhin als nöd statt als λυπηρόν bezeichnete. Also 
hatten die πολλοί doch recht, wenn sie meinten, ὅτε ταῦτα ἀγαϑὰ 
μέν ἐστιν ἀνιαρὰ δέ (Prot. 354a). Hier lag also ein Irrtum vor, 
und wer wirklich von sich sagen wollte: εἰμὲ τῶν ἡδέως μὲν ἂν 
ἐλεγχϑέντων, εἴ τε μὴ ἀληϑὲς λέγω, ἡδέως δ᾽ ἂν ἐλεγξάντων, 
εἴ τίς τι μὴ ἀληϑὲς λέγοι, οὐκ ἀηδέστερον μέντἂν ἐλεγχϑέντων 
ἢ ἐλεγξάντων" μεῖζον γὰρ αὐτὸ ἀγαϑὸν ἡγοῦμαι, ὅσῳπερ μεῖζον 
ἀγαθόν ἐστιν αὐτὸν ἀπαλλαγῆναι κακοῦ τοῦ μεγίστου ἢ ἄλλον 
ἀπαλλάξαι: οὐδὲν γὰρ οἶμαι τοσοῦτον κακὸν εἶναι ἀνθρώπῳ, ὅσον 
δόξα ψευδὴς περὶ ὧν τυγχάνει νῦν ἡμῖν ὃ λόγος dv (Go. 4688), 
der mußte die Folgerungen ziehen. So verwendet denn mit 
Absicht Plato grade das Beispiel der Operation, um sich zu 
korrigieren und zuzugeben, daß hier wirklich ein Widerstreit 


ὅντινα χρὴ τρόπον ζῆν, πότερον ἐπὶ ὃν σὺ παρακαλεῖς ἐμέ, τὰ τοῦ ἀνδρὸς δὴ 
ταῦτα πράττοντα, λέγοντά τε ἐν τῷ δήμῳ καὶ ῥητορικὴν ἀσκοῦντα καὶ πολιτευ- 
όμενον τοῦτον τὸν τρόπον ὃν ὑμεῖς νῦν πολιτεύεσϑε, ἢ τόνδε τὸν βίον τὸν 
ἐν φιλοσοφίᾳ. Die Rhetorik, die Kallikles übt, ist natürlich nicht die berufs- 
mäßige des Gorgias, sondern die praktische des πολιτικός, die allein im Ge- 
spräch mit Kallikles in Frage kommt. Daß die Eudämonie das Thema ist, wird 
auch sonst fortwährend betont (bes. 492c 6 494c 507c—508b) und den Mythos 
schließt Sokrates mit der Mahnung ab: ἐμοὶ οὖν πειϑόμενος ἀκολούϑησον ἐν- 
ταῦϑα, οἵ ἀφικόμενος εὐδαιμονήσεις καὶ ζῶν καὶ τελευτήσας (527ce). 


144 Gorgias. 


zwischen ἡδύ und ὠφέλιμον vorliegt (478b 4794 480c 525e) 

‚Im Protagoras hatte er die entgegengesetzte Anschauung mit 
dem Hinweis begründet, als Ziel (z&/os)") schwebe die Lust vor 
und erklärt, das Werturteil ἀγαϑόν bezeichne nur, daß die Hand- 
lung diesem Ziele diene. Daß dies eine Degradation des Guten 
bedeute, wurde ihm bald klar, und so ist ihm im Gorgias das 
Gute zum positiven Ziel geworden (ὦρα καὶ σοὶ συνδοκεῖ οὕτω, 
τέλος εἶναι ἁπασῶν τῶν πράξεων τὸ ἀγαϑὸν καὶ ἐκείνου ἕνεκεν δεῖν 
πάντα τἄλλα πράττεσθαι ἀλλ᾽ οὐκ ἐκεῖνο τῶν ἄλλων 499 6), und 
die ärztliche Kur wird jetzt nicht mehr als gut gewertet, weil 
sie Lust verschafft, sondern weil sie ἕνεκα τοῦ ἀγαϑοῦ geschieht 
(467 c—468b). Ein absolutes Gut ist sie deshalb freilich noch 
nicht. Das spricht mit voller Bestimmtheit die grundlegende 
Erörterung am Anfange des zweiten Buches des Staates aus, die 
uns am deutlichsten zeigt, was er von den Ausführungen des 
Protagoras festhält und wie er sie modifiziert. Plato scheidet 
dort unter Weiterbildung der Gedanken: des Gorgias drei Arten des 
Guten. Wieder treffen wir dabei das κάμνοντα ἰατρεύεσϑαι. Aber 
ausdrücklich wird hervorgehoben, daß dieses zu der Klasse von 
Gütern gehört, die wir nur um eines Endzweckes willen erstreben. 
Um seiner selbst willen würden wir es nicht suchen, da es 
zwar nützlich ist, aber schmerzhaft. Den Schmerz an sich 
meiden wir also, und dem entspricht es, wenn zu der zweiten 
Klasse von (Gütern, die wir um ihrer selbst willen erstreben, ge- 
rechnet werden τὸ χαίρειν καὶ ai ἡδοναὶ ὅσαι ἀβλαβεῖς καὶ un- 
δὲν εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον δι᾽ αὐτὰς γίγνεται ἄλλο ἢ χαίρειν ἔχοντα. 
Diese Schätzung der wahren ἥδοναί entspricht ganz dem Pro- 
tagoras (und klingt an Prot. 351e und 353d wörtlich an), aber 


1) ἢ ἔχετέ τι ἄλλο τέλος λέγειν, eis ὃ ἀποβλέψαντες αὐτὰ ἀγαϑὰ καλεῖτε 
ἀλλ ἢ ἡδονάς τε καὶ λύπας; ϑῦ4άο. Das Wort τέλος folgt im selben Sinne 
noch zweimal und wird 353ae 355a durch τελευτᾶν erläutert. 

5) In dieser Stelle liegt der Keim für die Teloslehre der hellenistischen 
Philosophie und die stoische Definition des τέλος ist direkt aus ihr entnommen 
(St. fr. III, 2 τέλος ἐστὴν οὗ ἕνεκα πάντα πράττεται καϑηκόντως, αὐτὸ δὲ πράττε- 
ται οὐδενὸς ἕνεκα“ κἀκείνως „od χάριν τἄλλα, αὐτὸ δὲ οὐδενὸς ἕνεκα.“ Sonst 
hat Plato diese Lehre noch vorbereitet in der gleich zu besprechenden Stelle 
des Staates, von der Aristot. Rhet. 1362a 21 ausgeht, durch die Ausführungen 
des Lysis über das letzte Gut, durch Sympos. 210—212, wo der Aufstieg des 
Menschen geschildert wird, bis er ἅπτεται τοῦ τέλους (211b). Bei Aristoteles 
im Anfang der nikomachischen Ethik ist der Begriff schon ganz fest. 


Der Gorgias verwirit die Gleichsetzung von ἡδύ und ἀγαϑόν. 145 


deutlich ist der Unterschied, daß offenbar Plato jetzt die Existenz 
von βλαβεραὶ ἧδοναί anerkennt. Wenn er endlich als das höchste 
Gut die Gerechtigkeit bezeichnet, die wir um ihrer selbst willen 
wie um der Folgen willen erstreben, und wir nachher im neunten 
Buch (bes. p. 586) sehen, daß mit den Folgen die wahren, reinen 
Lüste gemeint sind, so werden wir wieder an den Protagoras er- 
innert. Aber statt der Identifikation von ἣδύ und ἀγαϑόν finden 
wir hier die Auffassung, daß das Gute das Wesentliche, die reine 
Lust eine Begleiterscheinung ist. 

Doch kehren wir zum Gorgias zurück. Daß die Operation 
wirklich ὠφέλιμον μὲν ἀνιαρὸν δέ sei, das wurde Plato besonders 
durch eine Analogie des seelischen Lebens nahegelegt. Auch da 
gibt es eine Operation, die der Seele nützt, indem sie ihr Be- 
freiung von schlimmer Krankheit bringt und ihr so zum Gute 
der Gesundheit verhilft. Das ist die Bestrafung für begangenes 
Unrecht. Daß der Strafzweck nicht Vergeltung, sondern Besse- 
rung und Abschreckung sei, darüber war Plato mit Protagoras 
einig‘). Aber hier war es selbstverständlich, daß man die Be- 
strafung ihres Sinnes entkleidete, wenn man sie etwa als ἡδύ 
bezeichnen wollte: di’ ἀλγηδόνων καὶ ὀδυνῶν γίγνεται αὐτοῖς ἣ 
ὠφελία καὶ ἐνθάδε καὶ ἐν Ἅιδου sagt Plato von den Bestraften, 
od γὰρ οἷόν τε ἄλλως ἀδικίας ἀπαλλάττεσϑαι (525 0). Und nun 
zeigten sich auch manche andre Argumente, die es unmöglich 
machten, ἣδύ und ἀγαϑόν zu identifizieren. Im Protagoras hatte 
Plato geglaubt, den Satz, daß das εὖ ζῆν ein ἡδέως ζῆν sei, bei 
richtiger Fassung des Begriffs 565 auch umkehren zu dürfen 
(35l1a). Aber wenn man einmal sich dazu entschloß, ein Lust- 
gefühl auch da anzuerkennen, wo etwa später Unlust die Folge 
ist, dann war die Frage nicht abzuweisen, ob denn wirklich das 
ἡδέως ζῆν des κίναιδος etwa als εὐδαιμόνως ζῆν gelten dürfe 
(4946). Daß Lust und Unlust oft beim Menschen gleichzeitig 


ἢ Im Mythos läßt Plato den Sophisten — doch wohl nach dessen eigner 
Anschauung — sagen 324a: οὐδεὶς γὰρ κολάζει τοὺς ἀδικοῦντας . . τούτου 
ἕνεκα ὅτι ἠδίκησεν. .. ἀλλὰ Tod μέλλοντος χάριν, ἵνα μὴ αὖϑις ἀδικήσῃ 
μνἴἦτε αὐτὸς οὗτος μήτε ἄλλος ὃ τοῦτον ἰδὼν κολασϑέντα. Im Gorgias stellt 
er 418, fest, daß die Bestrafung dem Menschen Nutzen bringt, sofern er βελτίων 
τὴν ψυχὴν γίγνεται, εἴπερ δικαίως κολάζεται, und hebt bei den Hadesstrafen 
525bc daneben auch den Abschreckungszweck hervor. 

3) Vgl. 476—478. 505b. 507d und den Hadesmythos. 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 10 


146 Gorgias. 


auftreten, während ἀγαϑόν und κακόν sich ausschließende Gegen- 
sätze seien (495—497d), wird Plato selbst wohl kaum als ent- 
scheidend angesehen haben. Um so wichtiger war es, daß die 
sittliche Qualität eines Menschen, sein Charakter als ἀγαϑὸς ἀνήρ 
durch seinen Besitz an Einsicht, Tapferkeit und anderen Gütern 
bestimmt wird, während Lust und Schmerz bei Guten und 
Schlechten in gleicher Weise vorkommen (497 e—499b) '). Solche 
Erwägungen führten doch zu einem anderen Resultat als die im 
Protagoras, und während dort Sokrates erstaunt gefragt hatte: 
un καὶ σὺ ὥσπερ οἱ πολλοὶ ἡδέ᾽ ἄττα καλεῖς κακὰ καὶ ἀνιαρὰ 
ἀγαϑά; (351c), jubelt er im Gorgias auf, als er endlich Kallıkles 
zu dem Zugeständnis gebracht hat, ὅτε ἡδοναί τινές εἰσιν αἱ μὲν 
ἀγαϑαὶ αἱ δὲ κακαί (499c) und daß man nur die guten Lüste er- 
streben dürfe, daß also das Gute, nicht das Angenehme das Ziel 
des Lebens sei (499e). 

Die Einheitlichkeit des Lebenszieles hatte Plato im Protago- 
ras erweisen wollen. Das war berechtigt. Aber teuer hatte er 
diese durch die Gleichsetzung von Add und ἀγαϑόν erkauft. Tat- 
sächlich waren beide von Grund aus verschieden, und wenn es 
auch gute Lüste gab, die das sittliche Handeln begleiten oder 
jedenfalls mit diesen nicht in Konflikt geraten, so gab es doch 
auch schlechte Lüste, die den Menschen locken, sein Handeln 
bestimmen, obwohl sie ihm nur Schaden bringen. Und je mehr 
Plato seinen Blick schärfte für den Unterschied der Lüste, desto 
deutlicher trat ihm die verderbliche Macht dieser schlechten Lüste 
vor Augen, desto klarer wurde es ihm, daß alle Unsittlichkeit 
darauf heruhte, daß die Menschen nicht bloß der guten Lust 
nachjagen, sondern der Lust an sich, gleichsiltigs, ob sie gut 
oder schlecht ıst, ob sie für das sittliche Ziel förderlich ist oder 
nicht. Und mit einem Schlage wurde es ihm klar: Wer ein 
festes Fundament für die Sittlichkeit errichten wollte, der durfte 
nicht die wahre Lust zum Ausgangspunkte nehmen, die das sitt- 
liche Handeln begleitet und zum glückseligen Leben gehört; er 
mußte davon ausgehen, daß die Lust, die von den Menschen 
zumeist erstrebt wird, mit dem sittlichen Ziele nichts zu tun hat, 
ja ihn von diesem ablenkt und das größte Hindernis für dieses 


1 Wenn Plato 498 das Beispiel des Feiglings wählt, der beim Abzug der 
Feinde die größte Freude empfindet, so ist das wohl durch die Erörterung Prot. 
359. 360 veranlaßt. 


Das Streben nach der Lust der Quell aller Unsittlichkeit. 147 


bildet. Mochte es auch gute Lust geben, nicht auf der Identi- 
fikation des Guten mit diesen Lüsten, sondern nur auf dem 
schärfsten Gegensatz des ἣδύ an sich und des ἀγαϑόν war die 
Sittlichkeit zu begründen ἢ). 

Das soll uns das Gespräch des Sokrates mit Kallikles zeigen, 
der rücksichtslos die Folgerungen aus den sophistischen Lehren 
zieht. Polos gehörte zu den Halben, die zwar in dem ungerechten 
Archelaos ihr Lebensideal sehen, aber doch das Unrechttun für 
schimpflich erklären. Kallikles ist folgerichtig. Für ihn gibt es 
nur einen Schimpf, das ist das Unrechtleiden. Rücksichtslos ver- 
tritt er das Naturrecht des Egoismus, das keine sozialen Ver- 
pflichtungen anerkennt, das keine Schranke kennt als das Recht 
des überlegenen Gegners, und nichts ist ihm verhaßter, als die 
Weichherzigkeit der Philosophie, die dem Menschen unnötige 
Schranken ziehen will. Macht und Einfluß ist es, nach dem er 
sogut wie Polos strebt, aber wenn diesem erst gezeigt werden 
mußte, daß die Macht nicht Selbstzweck ist, so weiß Kallikles, 
was er will. Er hat ein Endziel sogut wie Sokrates und spricht 
das aus, was Polos und die Berufsrhetorik nur dunkel gefühlt 
hatte: Nicht Sokrates’ δικαιοσύνη, sondern τρυφὴ καὶ ἀκολασία 
καὶ ἐλευϑερία, ἐὰν ἐπικουρίαν ἔχῃ, τοῦτ᾽ ἐστὶν ἀρετή τε καὶ εὖδαι- 
μονία (4920). ᾿Εκπορίζεσθαι ταῖς ἥδοναῖς πλήρωσιν, kurz das 
ἡδύ ıst das Ziel (4928. 494}). 

Sokrates stellt ihm gegenüber zunächst kurz fest, daß dieses 
Lebensideal, bei dem es darauf ankomme, immer neue Begierden 
zu haben und zu erfüllen, nach der Ansicht anderer — der 
Pythagoreer — einer Danaidenarbeit gleiche), und tritt dann so- 


!) So erklärt es sich, daß im Gorgias nur dieser Gegensatz hervortritt, 
obwohl die Existenz der βελτέους ἥδοναί durchaus anerkannt wird (499 ἢ). 
Der Fehler ist eben, daß die Menschen die Lust zum Ziele nehmen, ohne zu 
fragen, ob sie gut ist oder nicht (501b). ‘H κολακεία τοῦ ἡδέος στοχάζεται 
ἄνευ τοῦ βελτίστου 465a. 

32 Mir will es nicht in den Kopf, daß Plato 493b zu τῶν ἐν “Διδου die 
Bemerkung τὸ ἀειδές (so B T Stob., ἀιδές nur F, ἀηδές Jamblich; wirkliche 
Varianten sind das natürlich nicht) δὴ λέγων ohne jede tiefere Absicht gemacht 
habe. Nun hat auch die Stelle des Kratylos, wo Plato wieder die Etymologie 
des Hades mit scherzhafter Willkür behandelt, und wo er mehrfach (403be) auf 
den Mythos des Gorgias Bezug nimmt, keinen Sinn, wenn man ἀιδής „unsicht- 
bar“ liest und versteht (403a, 404b). Die Menschen fürchten den Hades, weil 
der Gestorbene ἀεὶ ἐκεῖ ἐστιν (403b) und weil die Seele ohne Körper dort ist. 

10* 


148 Gorgias. 


fort in den schon vorhin 5. 146.7 von mir skizzierten Beweis ein, 
daß es gute und schlechte Lüste gebe und daß deshalb nicht 
das 566, sondern das Gute das Endziel sein müsse, auf das wir 
alle Handlungen zu beziehen haben (— 499e). Damit ist der Satz 
ἕνεκα τοῦ ἀγαϑοῦ ἅπαντα ταῦτα ποιοῦσιν οἱ ποιοῦντες (468b), den 
schon Polos zugegeben hatte, endgültig gesichert und die Grund- 
lage für die Entscheidung über die Frage, wie wir unser Leben 
einzurichten haben, geschaffen. Und jetzt kann Sokrates sofort 
auf die Scheidung der τέχναι und κολακεῖαι zurückgreifen (501). 
Denn nunmehr leuchtet ohne weiteres ein, daß alle sogenannten 
Künste, die nur das Angenehme als Ziel kennen, wirklich nur 
Schmeichelkünste sind. Zu ihnen gehören aber nicht bloß die 
Musik und die vielgepriesene Tragödie, sondern auch die prak- 
tische Beredsamkeit. Denn auch die Staatsmänner sehen in 
ihren Reden nicht auf das Beste des Volkes, sondern auf das, 
was angenehm ist. Sie streben nicht danach, ὅπως οἱ πολῖται 
ὡς βέλτιστοι ἔσονται διὰ τοὺς αὑτῶν λόγους, sondern wollen nur ihre 
und des Volkes Begierden stillen (502e — 503d). 

Das will freilich Kallikles wenigstens für die alten Staats- 
männer wie Themistokles und Perikles nicht gelten lassen (503 e). 
Um ihn zu widerlegen, muß Sokrates einen langen Umweg ein- 
schlagen. Denn um zu zeigen, daß auch diese die Bürger nicht 
besser gemacht haben, gilt es zunächst genauer festzustellen, was 
denn ein guter Mensch ist. So wird denn gezeigt, daß der 
Gesundheit des Körpers die der Seele entspricht und daß auch 
diese auf Ordnung und Harmonie beruht. Es ist die Unterord- 


Aber sie bleibt nur deshalb ewig dort, weil er sie nicht durch Zwang, sondern 
durch eine viel festere Fessel bindet, durch Wohltaten, indem er sie besser macht 
und die körperfreien Seelen viel Schönes lehrt. Er ist also ἀπὸ τοῦ πάντα τὰ 
καλὰ εἰδέναι genannt. Will wirklich mit εἰδέναι allein Plato die Etymologie 
geben und das d- ganz ignorieren? Warum betont er das de und gebraucht 
nicht weniger als zehnmal die Worte δεσμός und δέω (z. B. 4030 ἐπιϑυμίᾳ 
ἄρα τινὶ αὐτοὺς δεῖ, εἴπερ τῷ μεγέστῳ δεσμῷ δεῖ, καὶ οὐκ ἀνάγκῃ) Die Men- 
schen fürchten den Hades als den „ewig bindenden“. Aber er bindet sie kraft 
seines Wissens — natürlich ist auch εἰδέναι mit Absicht gebraucht — und sie 
bleiben gern dort. Nehmen wir diese Bedeutung im Gorgias an, so ergibt sich 
eine sehr passende Vergleichung des Lebens, wo die Seelen durch den Körper 
wie durch ein Grab gebunden sind, mit dem ewig bindenden Hades. An der für 
die Etymologie erfundenen Wortbildung ἀειδής wird man kaum Anstoß nehmen 
und ebensowenig sich wundern, daß Plato im Phaidon80d 81c eine andre Ety- 
mologie befolgt. 


Das Gespräch mit Kallikles. 149 


nung unter das Gesetz, die Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung, 
und der Redner hätte deshalb eigentlich die Aufgabe, die Be- 
gierden des Volkes wie die eigenen einzudämmen und die dxo- 
λασία zu hindern (505c). Damit ist Kallikles in seinem empfind- 
lichsten Punkte getroffen, aber als er nun nicht länger an der 
eignen Niederlage mitwirken will und Sokrates allein das Ge- 
spräch fortsetzt, bewährt sich aufs neue: nur die Gerechtigkeit 
und Tugend darf das Ziel des Handelns sein, nur so ist auch 
eine soziale Gemeinschaft (κοινωνία) möglich (— 508a). 

Wie hat nun der Einzelne, der auf das Leben der Gesamt- 
heit einwirken will, zu handeln? Zunächst ist es klar, daß er 
persönlich sein Leben nicht nach Kallikles’, sondern nach So- 
krates’ Grundsätzen einrichten muß (— 509e). Er wird dies auf 
Grund einer τέχνη tun, die ihn vor Schaden schützt. Das schwebt 
auch Kallikles sogut wie Polos vor. Aber wenn sie nun zu 
diesem Zweck empfehlen, sich Einfluß in der Öffentlichkeit zu 
sichern, so schützt dieser vielleicht vor dem ἀδικεῖσϑαι, aber nicht 
vor dem größten Übel, dem ἀδικεῖν. Denn wer sich in der Gunst 
des Souveräns, sei es des Tyrannen sei es des Demos, halten 
will, muß mit den Wölfen heulen, muß am Unrecht sich be- 
teiligen. Und das degradiert ihn dabei noch zum Schmeichler, 
der dem Umworbenen ähnlich zu sein sich bemüht. Und was wird 
schließlich erzielt? Die Beredsamkeit vermag sich so wohl das 
Leben zu retten, aber das kann der Steuermann, der Arzt auch, 
und der ist sich wenigstens bewußt — hier (5i1c) werden die 
Gedanken des Laches und des Charmides wiederholt --- ἡ, daß 
die Erhaltung des Lebens noch keineswegs für jeden ein Vorteil 
ist. Die Rhetorik aber denkt nur an das ἡδύ — ἡδὺ γὰρ τοῦτο 
μὲν τὸ ζῆν 512d —, aber daß es allein auf das ἀγαϑόν, das εὖ 
ζῆν ankommt, liegt außerhalb ihres Gesichtskreises (— 618). 

Deshalb ist sie aber auch unfähig, als wahre Staatskunst das 


ἢ Laches 195c, Charm 164b und 173b (wo auch zum Arzte der Steuer- 
mann hinzutritt). Vgl. S. 56. — Ähnlich wie im Laches 190b wird Gorg. 504e 
als Hauptsorge bezeichnet, ὅπως ἂν δικαιοσύνη μὲν ἐν ταῖς ψυχαῖς γίγνηται 
ἀδικία δὲ ἀπαλλάττηται. An Laches 191de erinnert es auch, wenn als Auf- 
gabe des ἀνδρεῖος bezeichnet wird 507b ἃ δεῖ καὶ πράγματα καὶ ἀνϑρώπους καὶ 
ἡδονὰς καὶ λύπας φεύγειν καὶ διώκειν, καὶ ὑπομένοντα καρτερεῖν ὅπου δεῖ. Und 
ὕῶθο φιλοσόφου τὰ αὑτοῦ πράξαντος καὶ οὐ πολυπραγμονήσαντος ἐν τῷ βίῳ 
weist auf Charm. 161ff. 


150 Gorgias. 


Gute der Gesamtheit ins Auge zu fassen und die Bürger besser 
zu machen. Sie ist die Schmeichelkunst, die nur πρὸς ἡδονὴν 
ὁμιλεῖ (513de). Damit kehrt Sokrates zu dem in 503d aufge- 
stellten Thema zurück und zeigt nach einer kurzen Abschweifung 
(514—515b, darüber nachher), daß auch Perikles, auch Themi- 
stokles die Bürger, wie das Verhalten des Volkes gegen sie selber 
nur zu deutlich zeigt, nicht besser gemacht haben. Sie sind 
eben nicht wahre Staatsmänner gewesen, die das Volk lenkten, 
seine Begierden zügelten und es zur Tugend erzogen, sie waren 
Diener (διάκονοι 517bd 518c) des Volkes, nur bemüht, seine Ge- 
lüste zu befriedigen. Sokrates hatte also recht gehabt, sie nicht 
mit den Ärzten, die auf die Gesundheit des Leibes hinarbeiten, 
auf eine Stufe zu stellen, sondern mit den Köchen wie Thearion 
(518b). Und auch der Vergleich der praktischen Redner mit den 
von ihnen so verachteten Sophisten (465c) war nur zu berechtigt. 
Die einen wie die anderen wären eigentlich berufen, die ihnen 
Anvertrauten besser zu machen. Und wenn sie nachher kom- 
men und sich über deren Undank beklagen, so ist das nur ein 
Zeichen, daß sie tatsächlich diesen Beruf nicht erfüllt haben 
(520). 

’Eni ποτέραν οὖν με παρακαλεῖς τὴν ϑεραπείαν τῆς πόλεως, 
διόρισόν μοι, τὴν τοῦ διαμάχεσθαι ’Admvaioıs ὅπως ὡς βέλτιστοι 
ἔσονται, ὡς ἰατρόν, ἢ ὡς διακονήσοντα καὶ πρὸς χάριν δμιλήσοντα; 
(521a). Kallikles ist innerlich nicht mehr im Zweifel, aber glaubt 
doch Sokrates nochmals warnen zu sollen vor dem Schicksal, 
das ihm droht, wenn er des Volkes Gelüsten nicht dient, sondern 
entgegentritt. Aber Sokrates schreckt die Warnung nicht. Ge- 
wiß, es kann ihm gehen wie dem Arzte, der vor Kindern ver- 
klagt würde, daß er ihnen Süßigkeiten verboten und bittre Arz- 
nei eingegeben, sie wohl gar operiert habe (521e, vgl. 464d). 
Aber wie der Arzt, so wird auch Sokrates dann das Bewußtsein 
haben, daß er recht gehandelt und das Eine was not tut erkannt 
hat. Er hat die wahre Staatskunst ausgeübt und kann von den 
irdischen Richtern, die nur fragen: „Was hat er uns für Lust 
verschafft?“ (522b) appellieren an die des Jenseits, die prüfen, 
ob der Mensch die Wahrheit gesucht und gut gewesen ist im 
Leben wie im Tode’). 


1) 526d πειράσομαι τῷ ὄντι ὡς ἂν δύνωμαι βέλτιστος ὧν καὶ ζῆν nal 
ἐπειδὰν ἀποϑνήσκω ἀποϑνήσκειν: klingt das nicht wie eine bewußte Korrektur 


Der Gorgias stellt den Menschen vor die Wahl zwischen zwei Lebenswegen. 151 


Der Aufbau des Gorgias, die allmähliche Erweiterung der 
Probleme ist im Gorgias durchsichtiger als im Protagoras, aber 
doch verlangt Plato die scharfe Mitarbeit des Lesers, damit er 
den Grundgedanken klar durchschaue. Man hat im Altertum dem 
Dialog, in dem der Rhetor Gorgias Sokrates’ Partner ist, den 
naheliegenden Nebentitel περὶ δητορικῆς gegeben, und noch heute 
ist wohl die Anschauung ziemlich allgemein, daß die Kritik der 
Rhetorik der eigentliche Zweck des Dialoges sei. Daran ist natür- 
lich etwas Richtiges. Plato will zeigen, daß die Berufsrhetorik 
eine verkehrte und verwerfliche Richtung der Jugendbildung dar- 
stellt. Aber damit ist der eigentliche Zweck des Dialoges nicht 
bestimmt. Denn daß hier Plato den Leser vor eine viel wich- 
tigere Frage stellen will als die nach dem Nutzen des rhetorischen 
Unterrichts, hat hoffentlich unsre Analyse gezeigt. Und es gibt 
einen wirklich kompetenten Beurteiler aus dem Altertum, der den 
Gorgias auch so aufgefaßt hat. Das ist Aristoteles. Der hat 
einen Dialog περὶ ῥητορικῆς geschrieben. Aber daß er ausdrück- 
lich von Platos Gorgias ausgegangen ist, wird uns bei einem 
andern, dem korinthischen Dialoge, berichtet (fr. 64). Und wenn 
Aristoteles dort schilderte, wie die Lektüre des Gorgias einen 
einfachen Bauer dermaßen packt, daß er Acker und Weinberg 
im Stiche läßt und zu Plato eilt, um die Saat, die der ausstreut, 
in seine Seele aufzunehmen, hat er als das Charakteristische des 
Gorgias ganz gewiß nicht die Auseinandersetzung mit der Rhe- 
torik angesehen, sondern den Hinweis auf das Eine, was allen 
Menschen not tut. 

Wie Prodikos seinen Herakles®), so stellt auch Plato den 
Menschen vor die Wahl, welchen von zwei Lebenswegen er 
einschlagen soll’). Auf dem einen winkt die Lust. Von ihr 
geblendet jagen die Menschen nach Reichtum und Macht, un- 
bekümmert, ob der Weg über Leichen geht, auch über das Wohl 


von Prot. 351b: τέ δ᾽ ei ἡδέως βιοὺς τὸν βίον τελευτήσειεν; οὐὖκ εὖ ἄν σοι 
δοκεῖ οὕτως βεβιωκέναι; 

ἢ Sachlich muß der Gryllos bei der Erörterung, ob die Rhetorik eine τέχνη 
sei, natürlich auf den Gorgias Bezug genommen haben. Mehr aber gewiß auf 
den Phaidros. 

2) Über die Prodikosfabel vgl. Alpers Hercules in bivio Göttingen 1912. 

ὃ ἴσως οὖν βέλτιστόν ἐστιν, ὡς ἄρτι ἐγὼ ἐπεχείρησα, διαιρεῖσϑαι, διελο- 
μένους δέ... εἰ ἔστι τούτω διττὼ τὼ βίω, σκέψασθϑαι, τί τε διαφέρετον ἀλλή- 
Aoıv καὶ ὁπότερον βιωτέον αὐτοῖν 500 ἃ, 


152 Gorgias. 


der eignen Seele, ob er schließlich im Verderben endet. Der 
andre ist der Pfad der Sittlichkeit. Wer ihn geht, hat vielleicht 
Schmerzen und Unrecht zu tragen und erfährt Spott und Hohn 
dazu, aber sein Leitstern ist das Gute, und der führt ihn sicher, 
wahrt ihm im Leben die Gesundheit der Seele und bringt ihm 
wohl auch im Jenseits den Lohn. Für den Pfad der Lust braucht 
der Mensch kaum einen Führer, da braucht er nur den Allzuvielen 
zu folgen, aber schneller wird er vorwärts kommen, auch zum 
Verderben, wenn er mit Hülfe der Rhetorik sich Einfluß im 
öffentlichen Leben gewinnt. Den Pfad der Sittlichkeit dagegen 
finden nur wenige, denen der Blick für die Wahrheit geschärft 
ist, sodaß sie das Gute erkennen. Sokrates hat ihn gefunden, 
und die berufene Führerin ist die Philosophie. Was aber für 
den Einzelnen gilt, das gilt auch für die Gesamtheit; auch sie 
hat zu wählen zwischen Sittlichkeit und Lust. Und wer sich 
unterfängt das Volk zu leiten, der muß selber den richtigen Weg 
eingeschlagen haben und das Volk denselben Weg zu führen ver- 
stehen. 


Als Plato den Protagoras schrieb, da suchte er nach dem 
Guten, weil von dessen Kenntnis der Besitz und die Lehrbarkeit 
der Tugend abhing. Er setzte es dort dem ἧδύ gleich. Wenn 
er jetzt seine Ansichten änderte und von dem Gegensatz zwischen 
Gut und Angenehm ausging, werden wir erwarten, daß er das 
Gute anderweitig positiv bestimmte. Tatsächlich findet er es jetzt im 
Begriff der Ordnung und Harmonie. Wie des Architekten Bau 
nur dann gut ausfällt, wenn alle Teile zueinander passen und 
ein harmonisches Ganzes ergeben, wie der Arzt die Gesundheit 
des Leibes herstellt, indem er κόσμος und τάξις herstellt, wie 
überall durch diese das Gute bedingt wird, so muß auch die Ge- 
sundheit der Seele auf Ordnung und Harmonie beruhen (008 6). 
Und wer die Gesamtheit zu fördern sucht, der muß auch da die 
Zucht und Ordnung herstellen, die allein ein Gemeinschaftsleben 
als Widerspiel des großen Weltenkosmos ermöglicht (508a). Auf 
der Ordnung und Zucht beruhen aber Gerechtigkeit und die 
übrigen Tugenden, sie stellen die Gesundheit der Seele dar (507). 
In ihnen muß deshalb auch das Gute für die Seele und den 
Menschen gegeben sein. 

Daß Plato diese Gedanken von anderen übernimmt, deutet 


ἣ 
Ἷ 
4 
; 


Das Gute sucht Plato jetzt in der Ordnung. 153 


er selber an, wenn er (508a) den Hinweis auf die χοινωνία des 
Weltenkosmos mit einer Berufung auf die σοφοί einleitet, und es 
bezweifelt niemand, daß er damit dieselben Pythagoreer meint, 
die er schon 493 anführt als Leute, die den χόσμιος βίος im 
Gegensatz zum ἀκόλαστος des Kallikles preisen‘). Wenn es da- 
bei 508a heißt: καὶ τὸ ὅλον τοῦτο διὰ ταῦτα κόσμον καλοῦσιν, ὦ 
ἑταῖρε, οὐκ ἀκοσμίαν οὐδὲ ἀκολασίαν, so werden wir direkt auf 
Philolaos geführt. Denn seine Fragmente zeigen (Β 1. 2. 6 Diels), 
wie viel Wert er auf den Terminus Kosmos legte, und wie er 
in ihm die gesetzmäßige, harmonische Ordnung der Welt ausge- 
drückt fand’). Grade dieser Begriff war für Plato besonders 
geeignet, weil er zwar jede Ordnung bezeichnete, mit Vorliebe 
aber vom wohlgeordneten Staatengebilde gebraucht wurde°). Da- 
her hat Plato ihm, wie die häufige Anwendung (503 — 504d, 
506d — 508a) zeigt, zentrale Bedeutung eingeräumt. Auch den 
bei Plato damit verbundenen Terminus τάξις scheint Philolaos 
technisch verwendet zu haben (A 16). Daß jedenfalls dieser Ter- 
minus an sich bei den Pythagoreern eine Rolle spielte, können 
wir aus Aristoxenos’ Schriften über das pythagoreische Lebens- 
ideal erweisen. Das ist freilich an sich eine trübe Quelle. Denn 
Aristoxenos benützt skrupellos das wenige, was er über altpytha- 
goreische Ethik wußte, als Rahmen, den er mit modernen Ge- 
danken ausfüllt. Aber als echt pythagoreisch werden wir es nach 
dem, was wir sonst über die Pythagoreer wissen, grade gern 
betrachten, wenn er berichtet: δεῖν δὲ ἔφασκον εὐθὺς ἐκ παίδων 
καὶ τὴν τροφὴν τεταγμένως προσφέρεσθαι, διδάσκοντες ὡς N) μὲν 


!) Nur eine Ausnahme kenne ich: Süß, Ethos 105 sieht grade in der Lehre 
vom »öowos wieder den Einfluß seines Gorgias, und da dieser p. 508a beim 
besten Willen nicht in Betracht kommen kann, so muß wenigstens Gorgias’ 
Lehrer Empedokles für die Pythagoreer eintreten, an die jeder, der nicht Scheu- 
klappen vorhat, hier denken muß. Gorgias Hel. 14 folgt mit seinem ψυχῆς 
τάξις selbst pythagoreischer Anschauung. Aber wenn er die Helena beginnt: 
κόσμος πόλει μὲν εὐανδρία κτλ., so hat das doch mit dem pythagoreisch-plato- 
nischen Sinn des Wortes nicht das geringste zu tun. 

2. Nach A16 hat er den Teil des Alls, wo Sonne, Mond und Planeten sich 
bewegen, im speziellen Sinn κόσμος genannt. 

») Vgl. Hirzel, Dike, Themis und Verwandtes S. 282ff., der mit Recht an- 
nimmt, daß das Wort vom menschlichen Leben auf die Natur übertragen wurde. 
Im Mythos des Protagoras heißt es 322c: Hermes brachte unter die Menschen 
αἰδῶ τε καὶ δίκην, ἵν᾽ εἶεν πόλεων κόσμοι τε καὶ δεσμοὶ φιλίας συναγωγοί. 


154 Gorgias. 


τάξις καὶ συμμετρία καλὴ καὶ σύμφορος, N δ᾽ ἀταξία καὶ 
ἀσυμμετρία αἰσχρά τε καὶ ἀσύμφορος (Diels, Vors.” 284, 
1-- 4, dasselbe ausführlicher 288, 1—7) und denselben Begriff 
der τάξις, der bei Plato offenbar technisch ist (503e—504d, 
506de begegnet er fortwährend; zu der Aristoxenosstelle vgl. 
bes. 504a τάξεως ἄρα καὶ κόσμου τυχοῦσα οἰκία χρηστὴ ἂν ein, 
ἀταξίας δὲ μοχϑηρά), finden wir als Terminus auch in Aristo- 
xenos’ Bericht noch mehrfach wieder 287, 33 und — mit dem 
Gegensatz ἀκολασία — 38; 291, 8). 


1) Von den σοφοί, also den Pythagoreern, stammt in 508a natürlich auch 
der Satz ὅτι ἡ ἰσότης N γεωμετρικὴ nal Ev ϑεοῖς nal Ev ἀνθρώποις μέγα δύ- 
ναται. Diese „geometrische Gleichheit“ ist uns ja wohlbekannt aus den politi- 
schen Debatten des vierten Jahrhunderts, wo die aristokratischen Theoretiker 
ständig dem arithmetischen Gleichheitsprinzip der Demokratie, die nur die 
Köpfe zählt und allen, auch den Ungleichen, gleiche Rechte gibt, die „geo- 
metrische Gleichheit“ gegenüberstellen, die in der Proportion von Rechten und 
Leistungen besteht (Plato Legg. 757 b—c, Rep. 558c, Xen. Kyr.II, 2, 18, Isokrates 
Nik. 14, Areop. 21, Aristot. Nik. Eth. 1181} 13, Pol. V, 1; III, 9; VI, 2, Dikaiarch 
bei Plut. Quaest. Conv. 719). Daß die Schlagworte aus dem fünften Jahrhundert 
stammen, würden wir an sich voraussetzen. Es wird gesichert z. B. durch Thuk. 
VI, 38, 5, wo Athenagoras den Aristokraten entgegenhält: Ihr wollt wohl nicht 
μετὰ πολλῶν ἱσονομεῖσϑαι; καὶ πῶς δίκαιον τοὺς αὐτοὺς μὴ τῶν αὐτῶν ἀξιοῦ- 
σϑαι; Aber überraschend ist es doch zu sehen, wie Plato den Begriff ἐσότης 
γεωμετρική mit Bezug auf das politische Gebiet ohne ein Wort der Erläuterung 
einführen kann und doch auf sofortiges Verständnis rechnet. Wichtig ist es 
aber auch, sich klarzumachen, daß es pythagoreische Staatstheoretiker gewesen 
sind — wir werden an Männer wie Hippodamos denken —, die entsprechend 
ihrer aristokratischen Tradition der demokratischen Gleichmacherei das Propor- 
tionalitätsprinzip entgegengestellt haben. (Die arithmetische und geometrische 
Proportion scheidet auch Archytas fr. B2 Diels, und wenn dieser B3 sagt: στά- 
σιν μὲν ἔπαυσεν, ὁμόνοιαν δὲ αὔξησεν Λογισμὸς εὑρεϑείς᾽ πλεονεξία τὲ γὰρ 
οὐκ ἔστι τούτου γινομένου καὶ ἰσότας ἐστίν, so würde er den Aoyıouös hier und 
im folgenden schwerlich so hoch gepriesen haben, hätte er darunter die rein 
arithmetische Gleichheit verstanden, nicht die auch bei Plato Legg. 757 als so 
schwierig bezeichnete proportionale Abwägung, die zweifellos auch seiner prak- 
tischen Politik entsprach. — Zu beachten ist übrigens, daß der Gegensatz von 
πλεονεξία — ἰσότης in der Gorgiasstelle wiederkehrt.) 

Mit Gorg. 5084 hat nun ganz merkwürdige Ähnlichkeit Euripides’ Phoen. 
535—545 
κεῖνο κάλλιον, τέκνον, 
ἰσότητα τιμᾶν, ἣ φέλους ἀεὶ φίλοις 
πόλεις τε πόλεσι συμμάχους τε συμμάχοις" 
συνδεῖ" τὸ γὰρ ἴσον μόνιμον ἀνϑρώποις ἔφυ, 
τῷ πλέονι δ᾽ αἰεὶ πολέμιον καϑίσταται 


Einfluß der Pythagoreer. 155 


Hier haben wir also den deutlichen Beweis, wie Plato ın 
dem Bestreben, die sokratische Philosophie mit positivem Inhalt 
zu füllen, dazu geführt wird, ein andres System zu studieren 


τοὔλασσον ἐχϑρᾶς # ἡμέρας κατάρχεται. 

καὶ γὰρ μέτρ᾽ ἀνϑρώποισι καὶ μέρη σταϑμῶν 

ἰσότης ἔταξε κἀριϑμὸν διώρισε, 

νυκτός τ᾽ ἀφεγγὲς βλέφαρον ἡλίου τε φῶς 

ἴσον βαδίζει τὸν ἐνιαύσιον κύκλον, 

κοὐδέτερον αὐτῶν φϑόνον ἔχει νικώμενον. 
Namentlich kann es kein Zufall sein, daß beide Male die Analogie mit dem 
Weltall gezogen wird. Daß bei Euripides Einfluß von Seiten der Pythagoreer 
vorliegt, hatte schon Dümmler, Kl. Schriften I, S. 160 (vgl. auch 8. 199 1.) an- 
genommen. Wenn wir den Gorgias heranziehen, werden wir genauer sagen 
dürfen: Die Pythagoreer beriefen sich für ihre aristokratische Staatsordnung 
auf die Ordnung der Welt und lasen aus ihr die geometrische Gleichheit heraus. 
Gegen sie polemisierte der Sophist, dem Euripides folgt — oder war er es selber? 
— und änderte ihre Deutung in demokratischem Sinne um. 

Bei Plut. Quaest. Conv. VII, 2, 2 will Florus die Frage, πῶς Πλάτων ἔλεγε 
τὸν ϑεὸν ἀεὶ γεωμετρεῖν, dem Spartaner Tyndares gegenüber so beantworten: 
ὅρα μή τι σοὶ προσῆκον ὁ ]Π] λάτων nal οἰκεῖον αἰνιττόμενος λέληϑεν, ἅτε δὴ 
τῷ Σωκράτει τὸν Λυκοῦργον ἀναμιγνὺς οὐχ ἧττον ἢ τὸν Πυϑαγόραν, (ὡς Gero 
Δικαίαρχος. ὁ γὰρ Λυκοῦργος οἶσϑα δήπουϑεν ὅτι τὴν ἀριϑμητικὴν ἀναλογίαν 
ὡς δημοκρατικὴν καὶ ὀχλικὴν οὖσαν ἐξέβαλεν ἐκ τῆς Λακεδαίμονος, ἐπεισήγαγε 
δὲ τὴν γεωμετρικήν, ὀλιγαρχίᾳ σώφρονι καὶ βασιλείᾳ νομέμῳ πρέπουσαν ἣ 
μὲν γὰρ ἀριϑμῷ τὸ ἴσον ἡ δὲ λόγῳ τὸ κατ᾽ ἀξίαν ἀπονέμει... ταύτην ὁ ϑεὸς 
ἐπάγει τὴν ἀναλογίαν τοῖς πράγμασι... διδάσκουσαν ἡμᾶς τὸ δίκαιον ἴσον, 
ἀλλὰ μὴ τὸ ἴσον δεῖν ποιεῖσϑαι δίκαιον. Hier finden wir also die geometrische 
Gleichheit als Prinzip der Gerechtigkeit, das sowohl göttlich ist, d.h. in der 
ganzen Welt gilt, wie speziell für die aristokratische Staatsform, deren Urbild Sparta 
ist. Auf Dikaiarch geht dabei doch wohl der ganze Gedanke zurück, daß Plato 
dieses Prinzip aus der spartanischen Verfassung ebenso gut wie aus der pytha- 
goreischen Theorie in die Sokratik übernommen habe. Die Übernahme aus dem 
Pythagoreismus war also für Dikaiarch anerkannt, und er betonte den sparta- 
nischen Einfluß. (Die lykurgische Verfassung als Typus der idealen gemischten 
Staatsform treffen wir wieder bei Polyb. VI, 3 und 10, wo gewiß, wie jetzt auch 
Laqueur in seinem Polybius richtig annimmt, Dikaiarch zu grunde liegt. Leider 
hat Laqueur für c. 5—9 an dem Einfluß des Panaitios festgehalten, obwohl nur 
ein paar Termini aus der Stoa stammen, während die Grundanschauung über 
die Entstehung des Staates und der sittlichen Begriffe so unstoisch wie möglich 
ist.) Daß bei diesen Erörterungen unsre Gorgiasstelle eine Rolle gespielt hat, 
ist anzunehmen. Doch hat man gewiß auch an die „geometrische“ Gliederung 
des Idealstaates gedacht. 

Zum Ganzen vgl. Hirzels ausführliche Darlegungen in „Dike, Themis und 
Verwandtes“, der auch 5. 277 die geometrische Gleichheit von den Pythagoreern 
ableitet. 


156 Gorgias. 


und für sich nutzbar zu machen). Man hat nicht den Eindruck, 
daß ihm die Verschmelzung der Gedanken schon voll gelungen 
ist‘). Denn der fortwährende, fast ermüdende Gebrauch der Ter- 
mini τάξις und κόσμος in den entscheidenden Partien 503e—504d, 
506 d—508a kann doch darüber nicht hinwegtäuschen, daß wir keine 
konkrete Vorstellung davon bekommen, wieso denn die Selbst- 
beherrschung und überhaupt die Tugend der Seele auf dieser 
Ordnung beruht. Unwillkürlich denkt man p. 506. 7. daran, wie 
Plato später diese Gedanken fruchtbar gemacht hat. Denn die 
ganze Parallele von Staat und Individuum und die Über- 
zeugung, daß das Gute für den Menschen in der Ge- 
rechtigkeit, diese selber in dem geordneten und harmo- 
nischen Zustande der Seele gegeben ist, liegt im Keime 
schon in dieser Gorgiasstelle vor. Aber hier ist die 
τάξις der Seele noch keine konkrete Vorstellung, weil 
die Scheidung verschiedener Vermögen innerhalb der 
Seele, weil überhaupt eine psychologische Theorie noch 
fehlt’). Wir könnten eine solche grade hier erwarten, weil 
Plato jetzt im Gegensatz zum Protagoras (vgl. S. 146) zwei ver- 
schiedene Zielpunkte des menschlichen Strebens anerkennt. An 
einer Stelle scheinen wir auch unmittelbar vor dieser Folgerung 
zu stehen. Im Protagoras hatte Plato im Gegensatz zu den 
πολλοί ausgeführt 358e: οὐδὲ τὸ ἥττω εἶναι αὑτοῦ ἄλλο τι τοῦτ᾽ 
ἐστὶν ἢ ἀμαϑία οὐδὲ κρείττω ἑαυτοῦ ἄλλο τι ἢ σοφία. Im Gor- 
gias kommt Sokrates 491 ἃ ausdrücklich auf diesen Begriff zurück 
und erklärt jetzt seine Übereinstimmung mit den πολλοί. Er ver- 
langt nämlich vom Menschen hier auch die Herrschaft über sich 


1) Zu den neuen Elementen gehört natürlich auch der Vergeltungsglaube, 
den Plato als nicht beweisbar in Form des Mythos bringt. 

8) Ganz anders freilich Natorp, Platos Ideenlehre S. 48ff., nach dem Plato 
in den Anschauungen des Phaidros schon lebt und sie nur noch nicht ganz offen 
aussprechen mag. Für Natorp ist auch die Gleichsetzung des Guten mit dem 
Gesetz in strenger Konsequenz der Entwicklung aus der Sokratik erwachsen. 

8) Völlig haltlos ist es, wenn Barwick, Comm. Jen. X. p. 31 auf den Gor- 
gias die Dreiteilung der Seele aus dem Staate zurückdatiert. Man muß sich doch 
klarhalten, daß diese Psychologie für Platos Zeitgenossen etwas ganz Neues ge- 
wesen ist. Hätte er also schon im Gorgias den Kosmos der Seele auf die Ver- 
schiedenheit ihrer Teile basiert, so mußte er doch das in einer Form aussprechen, 
die seinen Lesern verständlich war. Davon ist aber an der von Barwick an- 
geführten Stelle 506 keine Rede. 


Die τάξις der Seele ist noch nicht auf die Dreiteilung basiert. 157 


selbst, und auf Kallıkles’ Frage πῶς ἑαυτοῦ ἄρχοντα λέγεις ; gibt 
er die Erläuterung: οὐδὲν ποικίλον, ἀλλ: ὥσπερ οἱ πολλοί. 
σώφρονα ὄντα καὶ ἐγκρατῆ αὐτὸν Eavrod, τῶν ἣδονῶν καὶ ἐπι- 
ϑυμιῶν ἄρχοντα τῶν ἐν ἑαυτῷ. Aber die Zeit ist noch fern, 
wo Plato die wirkliche Folgerung aus der Annäherung an die 
πολλοί zieht. Im Staate sagt er 4806 mit deutlichem Bezug auf 
die Gorgiasstelle: Κόσμος πού τις ἣ σωφροσύνη ἐστὶν καὶ ἡδονῶν 
τίνων καὶ ἐπιϑυμιῶν ἐγκράτεια, ὥς φασι, κρείττω δὴ αὑτοῦ ἀπο- 
φαίνοντες οὐκ old ὅντινα τρόπον. An sich ist dieser Ausdruck, 
heißt es dort weiter, unsinnig, denn ein Individuum, das xeeir- 
των αὑτοῦ wäre, müßte auch ἥττων αὑτοῦ sein, ἀλλὰ φαίνεταί 
μοι βούλεσθαι λέγειν οὗτος ὃ λόγος ὥς τι ἔν αὐτῷ τῷ ἀνθρώπῳ 
περὶ τὴν ψυχὴν τὸ μὲν βέλτιον ἔνι τὸ δὲ χεῖρον, καὶ ὅταν μὲν τὸ 
βέλτιον φύσει τοῦ χείρονος ἐγκρατὲς ἧ, τοῦτο λέγειν τὸ κρείττω 
αὑτοῦ, und daran wird dort die Scheidung der Seelenvermögen 
angeknüpft, die durch den Widerstreit der Bestrebungen be- 
gründet wird. Im Gorgias dagegen ist von einer Verschieden- 
heit der Seelenvermögen noch nichts zu spüren. Unwillkürlich 
stellt Plato freilich die Begierden in einen Gegensatz zum In- 
tellekt, der im Menschen herrschen soll, ja in dem Berichte über 
die pythagoreische Lehre gebraucht er zweimal den Ausdruck 
τῆς δὲ ψυχῆς τοῦτο ἐν ᾧ ai ἐπιϑυμίαι εἰσί 493ab)'), aber sein 
Interesse ist durchaus nur auf das ethisch Wichtige gerichtet, 
und zu einer wirklichen psychologischen Theorie kommt es so 
wenig wie bei Xenophon, der ständig von den διὰ τοῦ σώματος 
höovai spricht?). Daß der Intellekt allein das Handeln bestimmt, 
und der Mensch, der das Gerechte weiß, ohne weiteres gerecht 
ist, steht für Plato hier so fest wie im Protagoras (p. 460), und 
wenn auch die Einheitlichkeit der Tugend und ihre Definition als 
ἐπιστήμη ἀγαϑῶν nicht ausdrücklich wiederholt wird, so läßt 
Plato doch mit Absicht den Kallikles p. 495 c aussprechen, er be- 


1 Barwick, der hier wieder Platos Dreiteilung der Seele findet ($. 30), hätte 
mindestens doch in Betracht ziehen müssen, daß Plato hier ausdrücklich sagt, 
er referiere eine fremde Lehre. 

A)#Mem.'T, Srexte./ II, 6, 5. IV, 5, 3.11: ‘Hell. IV, 8, 22. VI, 1, 16. Vgl. 
Mem. 1, 2, 23 ἐν γὰρ τῷ αὐτῷ σώματι συμπεφυτευμέναι τῇ ψυχῇ πείϑουσιν 
αὐτὴν μὴ σωφρονεῖν. Nur Hieron 1, 4. 5 scheidet er plötzlich reine psychische 
Freuden von denen, die aus der Gemeinschaft mit dem Leibe entstehen. — Stob. 
ΠῚ, 17, 27: Σωκράτης ἐγκράτειαν τὸ κρατεῖν τῆς ἐν τῷ σώματι ἡδονῆς ἔφη. — 
Über ähnliche Wendungen in Platos Phaidon nachher. 


1598 Gorgias. 


trachte Tapferkeit und Wissen als verschiedene Dinge, und zeigt 
dem gegenüber durch Sokrates’ Mund (p. 507), daß der σώφρων 
auch δίκαιος ὅσιος ἀνδρεῖος sein müsse ; und wenn dort die σωφροσύνη 
davon abgeleitet wird, daß man das eine Ziel, das Gute, ins 
Auge faßt und verfolgt, so ist eben die ἐπιστήμη τοῦ ἀγαϑοῦ 
die Grundlage der Tugend ὃ. 

So macht sich hier eine gewisse Unausgeglichenheit geltend. 
Besonders empfinden wir die, wenn wir nun fragen, wie denn 
die Tugend, die Ordnung in der Seele hervorgerufen werden 
sol. Grade diese Frage liegt Plato hier ebenso am Herzen wie 
im Protagoras. Ja, sie hat noch größere Bedeutung gewonnen. 
Denn der große Unterschied zwischen beiden Dialogen liegt 
darin: Im Protagoras denkt Sokrates nur an die Förde- 
rung, die sittliche Erziehung des Einzelnen, im Gorgias 
an die der Gesamtheit des Volkes (ὅπως οἱ πολῖται ὡς 
βέλτιστοι ἔσονται 502e 513e δίδο 520a 521a und überall im 
letzten Teil). Darum geht er bei der Scheidung der Künste von 
der Staatskunst aus, die das öffentliche Leben regelt, indem sie 
als νομοϑετική ihm Normen gibt und als δικαστική ἡ die verletzte 
Norm wiederherstellt. Praktisch ist diese Staatskunst freilich 
meist verdrängt durch ihr Zerrbild, die δητορική, die praktische 


1) Wie es scheint, will freilich Plato nicht mehr die Identität, sondern nur 
die Untrennbarkeit der Tugenden behaupten, wenn er sagt περὶ μὲν ἀνθρώπους 
τὰ προσήκοντα πράττων δίκαι᾽ ἂν πράττοι περὶ δὲ ϑεοὺς ὅσια und bei der Tapfer- 
keit das ὑπομένοντα καρτερεῖν hervorhebt (0017 Ὁ). Es schwebt ihm also wie 
Zenon und Chrysipp vor, daß die Tugend einheitlich ist, sofern sie auf einheit- 
licher Erkenntnis beruht, daß man aber nach den Sphären der Betätigung zu 
differenzieren habe. 

2) So 464be F und die Proll. zu Aristides, also eine antike Überlieferung. 
Wer die Lesart δικαιοσύνη vorzieht, müßte doch folgerichtig auch in der Re- 
kapitulation 520b τῇ δὲ ἀληϑείᾳ κάλλιόν ἐστιν σοφιστικὴ δητορικῆς ὅσῳπερ 
νομοϑετικὴ δικαστικῆς καὶ γυμναστικὴ ἰατρικῆς sie herstellen. Aber auch die 
Analogie von Einzelseele und Staat, die Plato im ganzen Dialoge sucht, spricht 
dagegen, daß er δικαιοσύνη hier im speziellen Sinn von Rechtspflege, also ganz 
anders als 507d gebraucht habe. (Die Stelle Rep. 332d durfte Sauppe nicht als 
Parallele anführen, da dort δικαιοσύνη nicht Rechtspflege bedeutet.) στρατηγέα 
καὶ διπαστικὴ καὶ ὅση βασιλικῇ κοινωνοῦσα dnrogela πείϑουσα τὸ δίκαιον συν- 
διακυβερνᾷ τὰς ἐν ταῖς πόλεσι πράξεις erscheinen Pol. 303eff., wo vieles an den 
Gorgias erinnert, als die Dienerinnen der πολιτική, die allein Ziele zu weisen 
vermag. Legg. 937e, wo Plato auf den Gorgias ausdrücklich zurückgreift, ist 
die Rhetorik die Kunst τοῦ re δικάσασϑαι καὶ συνδικεῖν ἄλλῳ. 


Die Förderung der Gesamtheit Ziel der Philosophie. 159 


Beredsamkeit der sogenannten Staatsmänner. Aber wenn sich 
nun zeigt, daß selbst ein Perikles und Kimon das Gute des 
Volkes nicht ins Auge gefaßt, sondern nur seinen Lüsten gedient 
haben, so ergibt sich für den wahren Freund des Volkes als 
höchste Aufgabe, die ideale Staatskunst zu verwirklichen und die 
Gesamtheit besser zu machen. Lösen kann diese Aufgabe nur, 
wer selbst den rechten Weg gefunden und das Gute erkannt 
hat, der Philosoph. Sokrates hat sie in Angriff genommen und 
tatsächlich kann es für den Philosophen kein höheres Ziel geben 
als dieses, die sittliche Hebung des Volkes. 

Diese Gedanken treten am deutlichsten im letzten Teile her- 
vor, aber tatsächlich ist der ganze Dialog, besonders die Ein- 
teilung der Künste auf sie angelegt. Eins kann uns vielleicht 
dabei auffallen. Sokrates sagt von sich 521d: οἶμαι μετ᾽ ὀλίγων 
᾿Αϑηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν τῇ ὡς ἀληϑῶς πολιτικῇ 
τέχνῃ καὶ πράττειν τὰ πολιτικὰ μόνος τῶν νῦν. Kann er das 
wirklich sagen, wo er nie unmittelbaren Einfluß auf die Gesamt- 
heit gesucht hat? Kann er sich wirklich in Parallele mit Perikles 
stellen, wie wir es doch nach dem Dialoge tun müssen, wie es 
besonders die Scheidung der Künste verlangt? Ich glaube, daß 
hier tätsächlich eine Unebenheit vorliegt. Aber deutlich ist auch, 
daß sie Plato nicht vermeiden konnte. Das System der Künste 
verlangt, daß eine Staatskunst, die unmittelbar ins Leben des 
Volkes eingreift, an der Spitze steht. Aber die hatte in Wirk- 
lichkeit Sokrates, dem Plato sie in den Mund legt, nicht geübt. 
Der hatte die ersten Schritte getan, aber richtig konnte sich das 
Ziel erst stecken, wer zu einem weiteren Ausblick gelangt war. 
Das war Plato. 

Plato hatte es sich in der Apologie 39b gelobt, das Werk 
des Meisters fortzusetzen, das Gewissen Athens zu sein. Aber 
bald genug mag für ihn der Augenblick gekommen sein, wo er 
sich sagte, daß seiner Natur, seiner Stellung es näher lag, die 
sokratischen Ideale auf anderen Wegen zu verfolgen als Sokrates 
selber. Für ihn, den Angehörigen der ersten Familien Athens, 
den Verwandten des Kritias, war es selbstverständlich, daß er an 
die politische Laufbahn dachte, und durch den siebenten Brief 
wissen wir, wie lange die Beteiligung an der praktischen Politik 
sein Herzenswunsch war. So ergab sich für ihn im Gegensatz 
zu Sokrates bald das Ziel, das öffentliche Leben Athens unmittel- 


160 Gorgias. 


bar zu beeinflussen. Natürlich aber als Schüler des Sokrates. 
Praktische Politik bedeutete für ihn die sittliche Förderung des Volkes. 

Aber bald mußte ihm auch die unendliche Schwierigkeit der 
Aufgabe klar werden. Als er den Protagoras schrieb, da konnte 
es dem siegesfrohen Stürmer noch leicht erscheinen, die πολλοί 
auf den richtigen Weg zu lenken. Brauchte man ihnen doch nur 
zu zeigen, daß das sittliche Handeln die höchste Lust bringe. 
Aber im Gorgias stellte sich die Aufgabe anders. Konnte er denn 
hoffen, die Athener zu dem Ideale von Zucht und Ordnung zu 
bekehren? Mußte er nicht darauf gefaßt sein, daß man ihm zu- 
rief: τρυφὴ καὶ ἀκολασία καὶ ἐλευϑερία, ἐὰν ἐπικουρίαν ἔχῃ, τοῦτ᾽ 
ἐστὶν ἀρετή τε καὶ εὐδαιμονία, τὰ δὲ ἄλλα ταῦτ᾽ ἐστὶ φλυαρία καὶ 
οὐδενὸς ἄξια (4920) Ὁ 4 wenn er nun etwa trotzdem daran 
ging, ihnen von Gerechtigkeit zu reden und ihre Begierden zu 
zügeln, was mußte der Erfolg sein? Das Los des Sokrates, und 
das bedeutete im eignen Falle eine zwecklose Aufopferung. Oder 
sollte er es so machen wie mancher andre vor ihm, sich dem 
Willen des Volkes anbequemen, um dadurch dann Einfluß zu ge- 
winnen? Aber das hieß die Rolle des Schmeichlers spielen, in 
die Ungerechtigkeiten der Menge sich verstricken und schließlich 
doch nichts andres erreichen, als daß man, wie selbst der große 
Perikles, ein Sklave des Herrn Demos wurde. 

Der wahre Staatsmann darf sich nicht dazu erniedrigen, nur 
den Wünschen des Volkes zu gehorchen und seine Gelüste zu 
befriedigen. Er muß es verstehen, dessen Neigungen zu 
zügeln und zum Guten zu leiten, sei es auf gütlichem Wege, sei 
es mit Zwang'), sogut wie der Arzt auch nicht dem Willen des 
Menschen nachgibt, sondern ihm seine Diät vorschreibt. Wie 
die Medizin, so kann auch die Staatskunst nur da wirken, wo sie 
herrscht. Der Staatsmann darf nicht διάκονος, er muß προστάτης, 
ja δεσπότης sein. Das spricht mit aller Bestimmtheit Plato in dem 
entscheidenden Abschnitt 517—519 aus’). Schon vorher hat er 

1 517b ἀλλὰ γὰρ μεταβιβάζειν τὰς ἐπιϑυμίας καὶ μὴ ἐπιτρέπειν, πεί- 
ϑόοντες καὶ βιαζόμενοι ἐπὶ τοῦτο ὅϑεν ἔμελλον ἀμείνους ἔσεσϑαι οἱ πολῖται, 
ὡς ἔπος εἰπεῖν οὐδὲν τούτων διέφερον ἐκεῖνοι, ὅπερ μόνον ἔργον ἐστὴν ἀγαϑοῦ 
πολέτου. 

5) Interessant ist, wie grade dieser Punkt noch später Beachtung ge- 
funden hat. Bei Aristides ὑπὲρ τῶν τεττάρων kommt, die Apologie der Staats- 


männer immer wieder auf den Nachweis zurück, sie seien nicht διάκονοι des 
Volkes gewesen, z. B. II p. 165. 204. 215. 245. 251D. 


Die Herrschaft der Philosophen schon im Gorgias das Ideal. 161 


bedeutsam gesagt, wer sich vor dem Unrechtleiden schützen 
wolle, von dem gelte: ἢ αὐτὸν ἄρχειν δεῖν ἐν τῇ πόλει ἢ καὶ τυ- 
oavveiv ἢ τῆς ὑπαρχούσης πολιτείας ἑταῖρον εἶναι (5104), und da 
der zweite Weg ohne sittlichen Schaden nicht gangbhar ist, so 
bleibt nur das Herrschen übrig. 

Was will Plato damit sagen? Das Leben der Gesamtheit 
kann nur gesunden, wenn an die Stelle der heutigen 
Staatsmänner Leute treten, die wie der Arzt für die Ge- 
sundheit sorgen und das Leben des Volkes nach einem 
einheitlichen Ziele, dem Guten, regeln. Dazu sind nur 
die Philosophen fähig, und andrerseits gibt es für diese 
keine höhere Aufgabe als die sittliche Förderung der 
Gesamtheit (ὡς βελτίστους ποιεῖν τοὺς πολίτας). Er- 
füllen kann die Philosophie diese nicht durch Betei- 
ligung an der gegenwärtigen praktischen Politik, son- 
dern nur, wo sie selbst die Herrschaft hat. Kurz ausge- 
drückt: Auf Gesundung der politischen Verhältnisse ist 
erst zu hoffen, wenn die Philosophen den maßgebenden 
Einfluß im Staate haben. 

Im siebenten Briefe spricht Plato davon, wie er lange an die 
Beteiligung an der praktischen Politik gedacht habe, schließlich 
habe er aber eingesehen, daß die gegenwärtigen Staaten unheil- 
bar verderbt seien, und so sei er — noch vor der sizilischen 
Reise — dazu gekommen auszusprechen, ἐπαινῶν τὴν ὀρϑὴν 
φιλοσοφίων, ὡς ἐκ ταύτης ἔστιν τά τε πολιτικὰ δίκαια καὶ τὰ τῶν 
ἰδιωτῶν πάντα κατιδεῖν, κακῶν οὖν οὐ λήξειν τὰ ἀνθρώπινα γένη, 
πρὶν ἂν ἢ τὸ τῶν φιλοσοφούντων ὀρϑῶς γε καὶ ἀληϑῶς γένος 
εἰς ἀρχὰς ἔλϑῃ τὰς πολιτικὰς ἢ τὸ τῶν δυναστευόντων ἐν ταῖς 
πόλεσιν ἔκ τινος μοίρας ϑείας ὄντως φιλοσοφήσῃ (326b)'). Ob 
Plato die Formulierung, die wir Rep. 473d lesen, wirklich schon 
vor der sizilischen Reise gefunden hat, mag man bezweifeln. 
Aber der Gedanke ist im Grunde schon im Gorgias vorhanden. 
Der Verzicht auf die praktische Politik verlangt als Gegenstück 
die Herrschaft der Philosophie. Das Ziel ist in jedem Falle die 


1) Zu den letzten Worten vergleiche man, wie Plato im Mythos des Gor- 
gias davon spricht, daß die politische Macht eine Lockung zur Ungerechtigkeit 
bedeute. οὐδὲν μὴν κωλύει καὶ Ev τούτοις ἀγαϑοὺς ἄνδρας ἐγγίγνεσθαι... ὁλί- 
yoı δὲ γίγνονται οἱ τοιοῦτοι, zZ. Β. Aristeides (626). 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 11 


162 Gorgias. 


sittliche Reformation des Volkes, wie sie die wahre Staatskunst 
zu erstreben hat. 

Aber mit keinem Worte deutet Plato im Gorgias an, daß er 
eine Möglichkeit sieht, dieses Ziel zu erreichen. Man hat das 
Gefühl: Mit der Erkenntnis der Höhe des Zieles war zugleich der 
Zweifel, wenn nicht die Verzweiflung an der Erreichbarkeit ge- 
kommen. Sollen wir nicht grade damit die trübe Bitterkeit des 
Gorgias erklären im Gegensatz zur frohen Siegeszuversicht des 
Protagoras? Wenn man liest, wie Plato hier selbst einen Kimon, 
einen Perikles zu Schmeichlern degradiert, wie er der Tragödie 
vorwirft, daß sie an die niederen Instinkte appelliert, wie er in 
der Verehrung seines Volkes für seine große Zeit nur Götzen- 
dienst sieht, so hat man doch die Empfindung, daß er sich ge- 
waltsam die Ideale aus der Brust reißt, an denen er mit heißem 
Herzen gehangen. So spricht, wer lange sich mit festen Plänen 
getragen hat, aber endlich zur Erkenntnis gekommen ist, daß er 
auf falschem Wege war, und nun alle Brücken hinter sich ab- 
bricht, um unbeirrt den neuen, den richtigen Weg zu gehen. 
Und wenn nun dieser neue Weg zwar der einzig mögliche war, 
aber noch keine Sicherheit, ja kaum eine Hoffnung bot, das Ziel 
zu erreichen, dann können wir es wohl verstehen, daß trüber 
Ernst und Bitterkeit den Grundton des Dialogs bildet. 

Manches läßt sich denken, was diese Stimmung noch ver- 
schärfen konnte. Wir mögen uns vorstellen, wie seine Ver- 
wandten und Standesgenossen ihm vorhielten, daß er dazu be- 
rufen sei, an der verrotteten Demokratie den Tod des Kritias und 
Charmides zu rächen, und wie sie es nicht verstehen konnten, 
daß er diesen Weg nicht gehen mochte. Wir mögen an die an- 
dern Hemmnisse denken, die einem jungen Aristokraten in den 
Weg traten, wenn er mit der Philosophie Ernst machte (Rep. 
494). Aber wichtiger war gewiß der innere Zweifel. Plato 
schwebte vor, der Reformator seines Volkes zu werden. Aber 
war er denn wirklich dazu berufen? Besaß er denn selber die 
Kenntnis des Guten, die der wahre Staatsmann haben mußte, 
die schon nach dem Protagoras die Voraussetzung jeder sitt- 
lichen Einwirkung war? Konnte sich nicht die Gleichsetzung 
des Guten mit der Gesetzmäßigkeit und Ordnung als ebenso 
trügerisch erweisen wie die mit dem Angenehmen? War wirk- 
lich diese Theorie schon unumstößlich fundamentiert? Und wenn 


Woher die trübe Stimmung im Gorgias? 163 


er selbst im Protagoras deshalb Zweifel an der Lehrbarkeit der 
Tugend geäußert hatte, weil praktisch von Lehrerfolgen so wenig 
zu sehen war, galt das nicht auch gegenüber der eigenen Lehr- 
fähigkeit? 

Daß solche Bedenken ihn gequält haben, daß er geradezu 
zeitweilig an der Möglichkeit des Wissens und Lehrens gezweifelt 
haben muß, werden wir bald noch sehen. Hier sei auf eine 
Stelle des Gorgias hingewiesen, die wir bisher übergangen haben, 
weil sie für den Zusammenhang entbehrlich ist‘), die aber grade 
darum innerlich von Bedeutung für die Erkenntnis von Platos 
Entwicklung ist. Im Laches (186. 7.) hatte Sokrates erklärt, ehe 
man es wagen dürfe, die Erziehung eines jungen Menschen zu 
übernehmen, müsse man den Befähigungsnachweis erbringen, 
müsse zeigen, daß man die Erziehungskunst von einem tüchtigen 
Lehrer erlernt oder selbst schon Erfolge in der Erziehung erzielt 
habe. Denselben Gedanken finden wir unter wörtlichen An- 
klängen an den Laches’) im Gorgias 514. 515 so gewandt, daß 
man, ehe man das Volk zu bessern unternehme, den Nachweis 
der Befähigung im kleinen Kreise erbringen müsse. Das lehrt 
uns doch wohl nicht bloß, daß Plato sich der Schwierigkeit und 
Verantwortung voll bewußt gewesen ist; es zeigt uns auch, daß 
Plato, während er den Gorgias schreibt, sich vornimmt, im klei- 
nen Kreise zu wirken. Mit andern Worten, mochten auch seine 
Standesgenossen über die Leute spotten, die in irgend einem 
Winkel mit drei bis vier jungen Leuten hocken und disputieren 
(485d), Plato ist entschlossen, einen solchen Kreis um sich zu 


1) Niemand würde etwas vermissen, wenn auf die erneute Scheidung der 
wahren und falschen Staatskunst (513e) sofort der Nachweis folgte, daß auch 
Kimon und Perikles nur die falsche gepflegt haben (5l5c). — Sehr auffallend 
ist, daß 5l5a es von Kallikles heißt, daß er eben anfängt. sich mit Politik zu 
beschäftigen. Das pflegt doch der Athener, wenn nicht grade wie Glaukon mit 
20 Jahren, so doch jedenfalls nicht viel später zu tun. Kallikles, den Wirt des 
Gorgias, den Liebhaber eines νεανίας (481 6), wird man sich aber im ganzen Ge- 
spräch sonst als gereiften Mann vorstellen. Nicht Kallikles, sondern Plato selber 
steht in dem Alter, wo die politische Tätigkeit zu beginnen pflegt. 

3) Ich führe nur eins an. Laches 187b heißt es: ei νῦν πρῶτον ἄρξεσϑε 
παιδεύειν, σκοπεῖν χρὴ μὴ ... ἀτεχνῶς τὸ λεγόμενον κατὰ τὴν παροιμίαν 
ὑμῖν συμβαίνῃ ἐν πέϑῳ ἡ κεραμεία γιγνομένη, Gorg. 5146 ὥστε πρὶν ... γυμ- 
νάσασϑαι ἱκανῶς τὴν τέχνην, τὸ λεγόμενον δὴ τοῦτο ἐν τῷ πέϑῳ τὴν neganelav 
ἐπιχειρεῖν uavddvew, 

11Ὲ 


164 Gorgias. 


versammeln, auf den er durch φιλοσοφία einwirken will. Es ist 
ein bescheidener Anfang, an den wir zu denken haben, von einer 
geschlossenen Schule noch keine Rede, und der Ton, in dem 
Plato von diesen Absichten spricht, ist sehr verschieden von der 
selbstbewußten Rede des Phaidros. Wichtiger noch ist aber die 
Auffassung der Lehrtätigkeit, die uns hier entgegentritt: Von 
dem freudigen Stolze, mit dem später das Haupt der Akademie 
von dieser redet, ist noch nichts zu spüren. Die Lehrtätigkeit 
ist hier nur das Provisorium, bis das Feld für die größere Aufgabe 
frei wird. Wir dürfen wohl noch schärfer sagen: sie ist die 
Resignation des Philosophen, der vorläufig auf seine höchste Auf- 
gabe, die Reformation des Volkes, verzichten muß. 


Der Gorgias ist durch so viel Fäden mit dem Protagoras 
verknüpft, ist eine so deutliche Berichtigung dieses Dialoges, daß 
man schwerlich fehlgehen wird, wenn man annimmt, daß er die 
erste oder jedenfalls eine der ersten Schriften gewesen ist, die 
auf den Protagoras folgte. Andrerseits ist der Unterschied in 
Stimmung und Anschauung so groß, daß man zwischen beiden 
Dialogen eine längere Pause annehmen muß'). 

Beim Gorgias haben wir auch einen Anhalt für die absolute 
Bestimmung der Abfassungszeit. Denn daß zwischen ihm und 
Polykrates’ 393 oder 392 abgefaßter Anklagerede gegen Sokrates 
Beziehungen bestehen, hat Gercke vortrefflich dargetan°). Daß 


1) Von der Ideenlehre ist noch keine Spur vorhanden. 503e heißt es freilich: 
ὥσπερ καὶ οἱ ἄλλοι δημιουργοὶ πρὸς τὸ αὑτῶν ἔργον ἕκαστος οὐκ elnn Ende- 
γόμενος προσφέρει ἃ προσφέρει πρὸς τὸ ἔργον τὸ αὑτοῦ, ἀλλ᾽ ὅπως ἂν εἶδός 
τι αὐτῷ σχῇ τοῦτο ὃ ἐργάζεται" οἷον εἰ βούλει ἰδεῖν τοὺς ζωγράφους κτλ. Aber 
wenn das Ideenlehre ist, so hat die auch Empedokles (Β 28) 

ὡς δ᾽ ὁπόταν γραφέες ἀναϑήματα ποικίλλωσιν 

ἀνέρες ἀμφὶ τέχνης ὑπὸ μήτιος εὖ δεδαῶτες, 

οἵτ᾽ ἐπεὶ οὖν μάρψωσι πολύχροα φάρμακα χερσίν, 

ἁρμονέῃ μείξαντε τὰ μὲν πλέω ἄλλα δ᾽ ἐλάσσω, 

ἔκ τῶν εἴδεα πᾶσιν ἀλίγκια πορσύνουσι 
(vgl. B22, 7). Im übrigen genügt es jetzt wohl, auf Th. Gomperz Apologie der 
Heilkunst! S. 107 ff. zu verweisen. 

2) Einleitung zur Ausgabe des Gorgias XLIIIf. Von Späteren vgl. be- 
sonders Markowski, de Libanio Socratis defensore, Bresl. Abh., 40. Heft, 
1910. — Das in die Form eines vaticinium gekleidete Kompliment des 
Polykrates, Konon und Thrasybul würden Athens Seeherrschaft wieder auf- 
richten und ihm seine Mauern wiedergeben (D. L. II, 39 ef. Lib. ap. Socr. 160), ist 


Verhältnis des Gorgias zu Polykrates’ Anklage gegen Sokrates. 165 


freilich der Gorgias die Antwort auf Polykrates’ Broschüre dar- 
stelle, kann ich mindestens nicht als erwiesen betrachten. Man 
muß sich zunächst gegenwärtig halten: Polykrates hat gewiß 
nicht so sehr durch die Originalität seiner Gedanken gewirkt, als 
durch das Geschick, mit dem er die längst bekannten Vorwürfe 
gegen Sokrates und die Sokratiker literarisch darstelltee Wenn 
er z. B. Sokrates vorwarf, sein Schüler Alkıbiades habe Athen 
ruiniert, so ist neu daran doch nur, daß Alkibiades ausdrücklich 
als Schüler des Sokrates bezeichnet wurde (Isokr. Bus. 5). Denn 
daß dieser mit Sokrates in nahem Verkehr gestanden hatte, war 
natürlich bekannt und von Plato im Protagoras unbefangen vor- 
ausgesetzt. Im Gorgias führt ihn Plato p. 481d zweifellos nur 
ein, weil er nachher (519a) hervorheben will, Alkibiades trage 
verhältnismäßig weniger als die alten Staatsmänner Schuld an 
Athens Unglück. Er will also Alkibiades verteidigen gegen An- 
griffe, wie wir sie bei Lys. 14 lesen. Aber jede Beziehung auf 
die Neuerung des Polykrates fehlt. — Die ganze Schilderung der 
alten Staatsmänner als Schmeichler ohne Verdienste kann eine 
Antwort auf Polykrates’ Lob der unphilosophischen Praktiker sein 
(Lib. ap. Soer. 155). Aber sicher wäre das nur, wenn sie nicht aus 
Platos eigner Entwicklung verständlich wäre. Und mindestens 
ebenso glaublich ist, daß grade erst Platos Scheidung der wahren 
und falschen Staatsmänner Polykrates zu dem Nachweis veran- 
laßt hat, die philosophisch gebildeten Staatsmänner hätten Athen 
ins Verderben gebracht, die reinen Praktiker ihm genützt. — Der 
mehrfache Hinweis, daß Mauern und Häfen ohne Gerechtigkeit 
eitel Tand seien (519, vgl. 455b 514a 517c)'), weist gewiß auf 
eine Zeit, wo dieses Thema durch Konons Bau aktuell war. Aber 
verständlich ist die Stelle auch ohne Polykrates’ Broschüre. — Eine 
sichere Erwiderung auf Polykrates’ Anklage sieht Gercke in den 
Worten (522b): ἐάν τέ τίς με ἢ νεωτέρους φῇ διαφϑείρειν ἀπορεῖν 
ποιοῦντα ἢ τοὺς πρεσβυτέρους κακηγορεῖν λέγοντα πικροὺς λόγους 


nur so lange denkbar, als beide in Athen die großen Männer waren. Konon ver- 
schwand aber schon durch seine Gefangennahme 392/1 vom Schauplatz. Der stolze 
Steirier war schon lange vor seinem Tode vielfach unbeliebt (Ed. Meyer $ 872). 
So bleiben die Jahre 393 und 392 für Polykrates’ Schrift übrig. 

1) Das ist eine Antwort auf Kallikles’ Behauptung, daß außer dem äußeren 
Wohlergehen alles eitel Tand sei (492 ο). 


166 Gorgias. 


ἢ ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ. Denn der zweite Punkt‘) stamme nicht aus 
der wirklichen Anklage, sondern aus der des Polykrates, der be- 
hauptete, Sokrates mache vor der Jugend ihre Eltern schlecht, 
um seine Autorität an deren Stelle zu setzen (Lib. 102, Xen. I, 2, 
49ff.). Aber Plato stellt doch, wie das ἤ---ἤ deutlich zeigt, dem 
Verkehr mit der Jugend das Verhalten gegen die Alten gegen- 
über. Er deutet mit keinem Worte an, daß man Sokrates das 
Herabsetzen des Alters vor der Jugend vorwerfe (das müßte 
doch heißen ψεωτέρους διαφϑείρειν ἢ ἀπορεῖν ποιοῦντα N... 
κακηγοροῦντα), sondern denkt sich die Sache offenbar so wie im 
Menon, wo Anytos sein Gespräch mit Sokrates mit den Worten 
abschließt: ὦ Σώκρατες, ῥᾳδίως μοι δοκεῖς κακῶς λέγειν ἀνϑρώ- 
πους (94:6). Hier liegt also vielmehr ein direkter Widerspruch 
zu Polykrates vor, der von Sokrates behauptete, τοῖς μὲν γέοις 
αὐτὸν διαλέγεσϑαι τοῖς πρεσβυτέροις δ᾽ οὐκ ἐθέλειν (Lib. 117). 
Die Sache liegt wohl so, daß das κακηγορεῖν τοὺς πρεσβυτέρους 
ein älterer Vorwurf war, dem Polykrates eine neue Spitze gab. 
Das weist eher darauf hin, daß Polykrates der spätere war. — Auch 
sein in dieser pointierten Form gekünstelter Vorwurf: ἀλλ᾽ ἀργοὺς 
ἐποίει Σωκράτης (Lib. 127) erklärt sich am leichtesten, wenn wir 
annehmen, er habe damit den bekannten Vorwurf zurückgeben 
wollen, den Plato im Sinne der Aristokraten gegen Perikles er- 
hob (Go. Bilde): ταυτὶ γὰρ ἔγωγε ἀκούω, Περικλέα πεποιηκέναι 
᾿Αϑηναίους ἀργοὺς καὶ δειλοὺς καὶ λάλους καὶ φιλαργύρους, εἰς 
μισϑοφορίαν πρῶτον καταστήσαντα Ἷ. — Auch Polykrates’ Vorwürfe, 
daß Sokrates allein mit den jungen Leuten verkehre (Lib. 36. 7 
ὅτι ἄρα καταδὺς οὗτος eis γωνίαν κτλ. 114), daß er Haß gegen die 
Demokratie gesät und gepflegt habe‘), könnte man sich sehr 


1 Daß das ἀπορεῖν ποιεῖν bei Polykrates vorgekommen sei, wird durch 
nichts nahegelegt und deshalb auch von Markowski geleugnet. 

2) Sokrates sagt nach Anytos’ Abgang: oleral we πρῶτον μὲν κακηγορεῖν 
τούτους τοὺς ἄνδρας, ἔπειτα ἡγεῖται καὶ αὐτὸς εἶναι εἷς τούτων. (Genaueres 
hierüber nachher. Dazu kommt die öffentliche Kritik: ἢ ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ. Wie 
paßt das letzte Wort zu Gerckes Auffassung ? 

8) Wenn Th. Gomperz, Gr. Ὁ. II, 5. 569 das Verhältnis umkehrt, bedenkt 
er nicht, daß der bei Plato erhobene Vorwurf von ihm selber als bekannte Kritik 
seitens der Aristokraten bezeichnet wird (τῶν τὰ ὦτα κατεαγότων ἀκούεις ταῦτα 
sagt Kallikles) und uns auch sonst begegnet (vgl. Arist. Ath. pol. 27, 4; vgl. 
25, 3ff.). 

ἡ Lib, 54: μισόδημός ἔστι καὶ τοὺς συνόντας πείϑει τῆς δημοκρατίας 


Zeit des Gorgias. 167 


wohl durch Stellen wie Gorg. 485e und 510ff. 515ff. veranlaßt 
denken. 

So spricht manches dafür, daß grade Platos scharfe Absage 
an die athenische Demokratie die leitenden Staatsmänner dazu be- 
stimmt hat, einen Literaten zu einer Antikritik gegenüber den So- 
kratikern zu veranlassen '). Immerhin möchte ich das nicht als sicher 
hinstellen, und mehr liegt an der Einsicht, daß Platos Manifest 
sich ganz aus seiner inneren Entwicklung erklärt. 

Ist das Gesagte richtig, so würden wir den Gorgias um 394 
anzusetzen haben. Aber auch wenn Plato auf Polykrates ant- 
wortete, dürften wir kaum über 391 herabgehen. 


VIII. Menon. 


Der Anfang des Menon kann uns an die Exposition des 
Dramas erinnern. Denn da der junge Ausländer, dem Plato hier 
neben Sokrates die Hauptrolle zuweist, dem athenischen Publikum 
offenbar nicht sehr bekannt ist, so wird er uns gleich vorgestellt 
als ein Thessaler, der zu Aristippos von Larissa und damit zu 
den Aleuaden enge Beziehungen hat. Später hören wir noch, 
daß er der Sohn des Alexidamos ist und einem Geschlechte an- 
gehört, das in Gastfreundschaft mit dem Großkönig steht, und 
daß er mit großem Gefolge in Athen auftritt (76e 78d 82b)?). 
Wichtiger ist aber noch, daß er ein Schüler des Gorgias ist, der 

jetzt in Larissa weil. Und auf Gorgias lenkt Plato bewußt so- 
fort die Aufmerksamkeit des Lesers. Denn wenn Sokrates seine 
Unwissenheit in Gegensatz zu der jetzt in Thessalien herrschen- 
den naiven Sicherheit stellt, die über alles Bescheid weiß, so 
zielt er dabei natürlich auf den Urheber dieses Sicherheitsgefühls, 


καταγελᾶν und manches andere in 383—61 könnte direkt durch Gorg. 517—519 
hervorgerufen sein. 

!) Dasselbe Verhältnis nimmt v. Wilamowitz, Berl. SB. 1899, S. 781 an, na- 
mentlich weil Polykrates die Gorg. 484b vorgetragene Deutung der Pindarverse 
angegriffen habe (Lib. 70). Leider hat er seine Abhandlung nicht vollständig 
drucken lassen. 

®2) Über den Charakter Menons bei Plato und Xenophon vgl. Ew. Bruhn in 
den Χάριτες Friedrich Leo dargebracht 1911, der richtig in Xenophons Charak- 
teristik Polemik gegen Plato sieht. Nach Xenophon hätte Plato nicht mehr 
ohne weiteres voraussetzen können, daß Menon nur eine Herrschaft auf Grund 
der Gerechtigkeit schätzt (73c). 


1608 Menon. 


auf Gorgias‘). Wenn er ausdrücklich dabei von diesem sagt: 
ἅτε καὶ αὐτὸς παρέχων αὑτὸν ἐρωτᾶν τῶν Ἥ λλήνων τῷ βουλομέ- 
vp ὅτι ἄν τις βούληται καὶ οὐδενὶ ὅτῳ οὐκ ἀποκρινόμενος (70b), 
so fällt einem unwillkürlich der Anfang des Gorgias ein, wo 
Kallikles von dem Rhetor sagt: ἐχέλευε γοῦν νυνδὴ ἐρωτᾶν ὅτι 
τις βούλοιτο τῶν ἔνδον ὄντων καὶ πρὸς ἅπαντα ἔφη ἀποκρινεῖσϑαι 
(447c). Auch wenn gleich drauf in einem kleinen Exkurse So- 
krates kurz den Unterschied zwischen dem Wissen τί ἐστὶ und 
ὅποῖόν ἐστι erläutert (71b), erinnert das an Gorg. 448e οὐδεὶς 
ἠρώτα ποία τις ein ἣ Γοργίου τέχνη, ἀλλὰ τίς. Nicht ohne Ab- 
sicht kann weiterhin sein, was wir 710 lesen. Während wir vom 
Standpunkt des Dialoges selber aus etwa eine kurze Aufklärung 
darüber erwarten dürften, was Menon in Athen treibt, läßt Plato 
hier einfließen, daß Gorgias früher in Athen gewesen sei und 
mit Sokrates ein Gespräch geführt habe, in dem die Frage nach 
der Tugend berührt wurde. Hier ist es deutlich, daß für uns 
die Person des Gorgias hinter seinem Schüler stehen soll, und 
zugleich wird sich der unbefangene Leser schwer des Gedankens 
erwehren, daß Plato auf seinen Dialog Gorgias zurückver- 
weisen will. 

Hinter Menon steht Gorgias — den Eindruck haben wir 
gleich im Beginn auch des eigentlichen Dialoges. Denn wenn 
Menon auf die Frage, was die Tugend sei, zwar keine Wesens- 
bestimmung gibt, aber eine Menge von Einzeltugenden aufzählt 
und charakterisiert (71e), so wissen wir ja durch Aristoteles Pol. 
1260a 27, daß es Gorgias’ eigene Lehre ist, die Plato dem Schüler 
in den Mund legt und kritisiert?). Für das Verhältnis unseres 
Dialoges zum Dialoge Gorgias scheint mir aber eine spätere Stelle 
entscheidend, die deshalb gleich hier besprochen werden soll, 9 ο. 

Dort fragt Sokrates: Τί δὲ δή; οἱ σοφισταί σοι οὗτοι, οἵπερ 


1) Von dessen „Nihilismus“ ist hier jedenfalls nichts mehr zu spüren. 

2) Aristoteles tritt dort dafür ein, daß nicht ein absoluter Tugendmaßstab 
für die verschiedenen Individuen gelte, die Tapferkeit bei Mann und Weib nicht 
in gleicher Weise zu fordern sei ἀλλ᾽ ἡ μὲν ἀρχικὴ ἀνδρεία ἣ δ᾽ ὑπηρετική 
(nach Menon muß die Frau das Haus verwalten κατήκοον οὖσαν τοῦ ἀνδρός)... 
καϑόλου γὰρ ol λέγοντες ἐξαπατῶσιν ἑαυτοὺς ὅτι τὸ εὖ ἔχειν τὴν ψυχὴν dge- 
τὴ ἢ τὸ ὀρϑοπραγεῖν ἤ τι τῶν τοιούτων πολὺ γὰρ ἄμεινον λέγουσιν οἱ ἐξαριϑμοῦν- 
τες τὰς ἀρετάς, ὥσπερ Τοργέας, τῶν οὕτως ὁριζομένων. Es scheint danach, als 
habe schon Gorgias im Gegensatz zur Aufstellung einer absoluten Tugend die 
Aufzählung der Einzeltugenden vorgenommen. 


Der Menon später als der Gorgias. 169 


μόνοι ἐπαγγέλλονται, δοκοῦσι διδάσκαλοι εἴναι ἀρετῆς; und Menon 
antwortet: Καὶ Ποργίου μάλιστα, ὦ Σώκρατες, ταῦτα ἄγαμαι, ὅτι 
οὐκ ἄν ποτε αὐτοῦ τοῦτο ἀκούσαις ὑπισχνουμένου, ἀλλὰ καὶ τῶν 
ἄλλων καταγελᾷ, ὅταν ἀκούσῃ ὑπισχνουμένων" ἀλλὰ λέγειν οἴεται 
δεῖν ποιεῖν δεινούς. Daß Plato hier eine authentische Äußerung 
des wirklichen Gorgias wiedergibt, ist nicht zu bezweifeln. Da 
die Abtrennung des Gorgias von den Sophisten für den Gang 
der folgenden Untersuchung ohne Einfluß ist, möchte man an- 
nehmen, daß Plato bei der Anführung dieser Worte eine be- 
stimmte Absicht verfolgt hat. Nun erinnern sie uns ja aufs 
stärkste an den ersten Teil des Gorgias. Denn dort geht Plato 
von der Bestimmung aus, daß die Rhetorik λέγειν ποιεῖ δυνατούς 
(449e), und zeigt dann, wie wir 5. 132.3 sahen, in sehr um- 
ständlicher Beweisführung, daß mit dieser formalen Ausbildung 
ein sittliches Bildungsziel sich nicht vereinen lasse, daß Gorgias 
sich in Widersprüche verwickle, wenn er mit seinem formalen 
Prinzip eine materielle Unterweisung in der Gerechtigkeit ver- 
binden wolle. Ist diese Komposition denkbar, wenn er vorher 
im Menon die authentische Äußerung des Gorgias mitgeteilt hatte, 
daß er eine sittliche Ausbildung gar nicht anstrebe, daß er nur 
ein formales Prinzip habe? Nach dieser Äußerung war doch die 
ganze Debatte des Gorgias überflüssig, oder wenn Plato aus sach- 
lichen Gründen sie führen wollte, dann mußte er sie jedenfalls 
auf eine ganz andre Basis stellen, mußte die Äußerung des Gorgias 
zugrunde legen oder mindestens als Zeugnis für seine Anschauung 
verwerten. Vor allem durfte er nicht so vorgehen, daß er Gorgias 
ohne Zwang im Gespräch Zugeständnisse machen ließ, die mit 
seinen offenkundigen Ansichten im Widerspruch standen, und ihm 
grade daraufhin eine widerspruchsvolle Haltung zum Vorwurf 
machte. Nun gründet aber Plato diesen Vorwurf eben darauf, 
daß er 460a Gorgias zugestehen läßt, er werde seine Schüler 
auch in der Gerechtigkeit unterrichten. Hier zeigt zwar der zö- 
gernde Ton des Gorgias dem Leser deutlich, daß Plato nicht wirk- 
liche Äußerungen des Redners wiedergibt; andrerseits aber muß 
Plato geglaubt haben, ihm diese Ansicht als Folge seiner Grund- 
anschauung imputieren zu dürfen. Das war aber unmöglich, 
wenn Gorgias ausdrücklich einen Unterricht in der Tugend ab- 
gelehnt hatte. 

Als Plato also den Gorgias schrieb, war ihm die Äußerung 


170 Menon. 


des Rhetors, die er Menon 95c berichtet, noch nicht bekannt. 
Da wir aber doch wohl voraussetzen dürfen, daß Plato, als er 
in eine grundsätzliche Erörterung mit Gorgias über dessen Beruf 
eintrat, sich über die wichtigsten Punkte in dessen Anschauung 
unterrichtet hatte, so wird man annehmen müssen, daß Gorgias 
erst nach dem platonischen Dialoge seine Stellung so scharf prä- 
zisiert und sich ganz auf die formale Rhetorik als Bildungsideal 
beschränkt hat. Das ist nicht so befremdlich, wie es auf den 
ersten Augenblick erscheinen könnte. Man braucht nur die Fol- 
gerung aus einer wohl ziemlich allgemein anerkannten Tatsache 
zu ziehen, aus der Tatsache, daß Gorgias bei Abfassung des pla- 
tonischen Dialoges noch lebte. Über Gorgias’ Lebenszeit sind 
wir ja freilich nicht sicher unterrichtet. Immerhin scheint es, daß im 
Altertum Diels’ Ansatz auf483/482—3741/373 am weitesten verbreitet 
war und wohl tatsächlich auf Apollodor zurückging (zu dieser An- 
nahme neigt auch Jacoby, Apollodor S. 264f.). Aber auch als Wila- 
mowitz den Ansatz 500/497—391/388 begründete '), betrachtete er 
es als selbstverständlich, daß Gorgias lebte, als Plato seinen Dialog 
schrieb. Dann ist es doch aber auch selbstverständlich, daß der 
Mann, der bis zum letzten Atemzuge die völlige geistige Frische 
besaß, den Dialog las’) und dazu Stellung nahm. So dachte sich 
auch das Altertum die Sache, wie die bei Athen. 505de über- 
lieferten Anekdoten zeigen, und wenn es in einer von diesen 
heißt: ἀναγνοὺς ὃ T'ogyiag τὸν Πλάτωνος διάλογον πρὸς τοὺς πα- 
oövrag εἶπεν ὅτι οὐδὲν τούτων οὔτ᾽ εἶπεν οὔτ᾽ ἤκουσε, SO wird 
man das natürlich nicht als geschichtliche Überlieferung ansehen, 
aber daß die Anekdote der inneren Wahrheit nicht entbehrt, das 
müssen wir grade wegen der Menonstelle annehmen. Nach dieser 
müssen wir uns den Sachverhalt so vorstellen: 

Als Gorgias den platonischen Dialog las, da erklärte 
er: „Plato imputiert mir hier Widersprüche, die ich mir 
nicht zu schulden kommen lasse. Ich denke gar nicht 


1) Aristoteles und Athen, I, 5. 172. In der Literaturgeschichte setzt er 
aber Gorgias „um 390%. 

3) Ich glaube, es ist nicht zu modern gedacht, wenn wir annehmen, Plato 
‚habe dem Manne, den er im Dialoge „mit aufrichtiger persönlicher Hochachtung 
behandelt“ (Wilamowitz a. a. O.), sein Buch zugeschickt. Jedenfalls aber wird 
sich wohl niemand das literarische Leben der Zeit so primitiv vorstellen, daß 
er meint, Gorgias habe von dem Dialoge nichts erfahren. 


Der Menon berücksichtigt Gorgias’ Kritik an Platos Gorgias. 171 


daran, mit der formalen Bildung ein sittliches Ziel zu 
verbinden und mich ἀρετῆς διδάσκαλος zu nennen. Was 
heißt denn überhaupt ἀρετή Die absolute Tugend, von 
der ihr Sokratiker in Athen soviel Aufhebens macht, 
ohne euch über ihr Wesen einigen zu können, gibt es 
gar nicht. Ich kenne eine ἀρετή des Mannes, des Weibes, 
des Sklaven und des Freien, aber die sind sehr ver- 
schieden voneinander. Des Mannes ἀρετή ist aber ἱχα- 
vov εἶναι τὰ τῆς πόλεως πράττειν, καὶ πράττοντα τοὺς μὲν 
φίλους εὖ ποιεῖν τοὺς δ᾽ ἐχϑροὺς κακῶς, καὶ αὐτὸν εὐλα- 
βεῖσϑαι μηδὲν τοιοῦτον παϑεῖν (Menon 716). Für die 
wird meine Rhetorik vorbereiten, aber an Unterricht in 
der Gerechtigkeit denke ich nicht.“ 

Ob Gorgias diese Anschauung in einer besonderen Schrift 
niedergelegt hat oder ob er nur dafür gesorgt hat, daß seine 
athenischen Anhänger das Publikum über seine Stellung auf- 


klärten — daß Gorgias’ Schüler Isokrates bald nachher in seiner 
Programmrede die neuen Anschauungen des Meisters energisch 
verficht, werden wir noch sehen — das bleibe dahingestellt. 


Jedenfalls hat Plato von dieser Erklärung Notiz genommen und 
im Menon 95c anerkannt, er habe kein Recht gehabt, Gorgias 
des Widerspruches zu bezichtigen. Er konnte das um so lieber 
tun, als er grade damit in Gorgias einen Kronzeugen für seine 
Ansicht gewonnen hatte, daß mit der Rhetorik ein sittliches 
Bildungsideal unvereinbar sei. 

Jetzt verstehen wir es auch erst ganz, warum Plato in der 
eigentlichen Erörterung über das Wesen der Tugend, die er vor 
Beantwortung der Frage nach deren Lehrbarkeit vornimmt, von 
Gorgias’ Lehre ausgeht (71e). Gorgias wollte von einer absoluten 
Tugend nichts wissen und zählte eine Menge verschiedener Einzel- 
tugenden auf. Deshalb macht ihm Plato zuerst klar, daß alle 
Tugenden ein εἶδος haben und man also nach dem Wesen der 
Tugend fragen muß. Als Merkmal, das den verschiedensten 
Tugenden gemeinsam ist, ergibt sich dabei die σωφροσύνη und 
δικαιοσύνη (73b). Aber als nun Menon von neuem nach dem 
Wesen der Tugend gefragt wird, knüpft er daran nicht an, son- 
dern bringt die Definition τί ἄλλο γ᾽ ἢ ἄρχειν οἷόν τ᾽ εἶναι τῶν 
ἀνθρώπων (73c). Genau ebenso hatte aber Gorgias im gleich- 
namigen Dialog (452d) den Effekt der Rhetorik bestimmt: αἴτιον 


172 Menon. 


ἅμα μὲν ἐλευϑερίας αὐτοῖς τοῖς ἀνθρώποις, ἅμα δὲ Tod ἄλλων 
ἄρχειν ἐν τῇ αὑτοῦ πόλει ἑκάστῳ. Und da die Bestimmung der 
Mannestugend, wie sie im Anschluß an Gorgias Men. 71 6 gegeben 
wird, ganz ähnlich lautet, da ferner 73e ausdrücklich Sokrates 
fragt τί αὐτό φησι Γοργίας εἶναι καὶ σὺ μετ᾽ ἐκείνου, dürfen wir 
wohl annehmen, daß auch hier Gorgias’ eigne Lehre von Plato 
kritisiert wird. 

Plato stellt kurz fest, daß diese Definition nicht für die Ge- 
samttugend passe und kommt dann gleich wieder darauf zurück, 
daß zu dieser das gerechte Handeln gehöre. Da jetzt Menon 
neben der Gerechtigkeit sofort noch andre Tugenden zu nennen 
weiß, ergibt sich erneut die Frage, was der sie alle umfassende 
Begriff ist (τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν). Mit aller Ausführlichkeit zeigt 
nun Plato, daß er über eine wissenschaftliche Methode der Be- 
griffsbestimmung verfügt, nicht ohne dabei ausdrücklich (76c) 
Bestimmungen zu benutzen, die Gorgias praktisch gegeben 
hatte (— 76e). Jetzt ist Menon so weit, daß er wirklich eine 
Gesamtdefinition geben kann: ἐπιϑυμοῦντα τῶν καλῶν δυνατὸν 
εἶναι πορίζεσϑαι (77b): Das klingt in der Form an den Haupt- 
teil des Gorgias an, wo Kallikles 492a verächtlich von den 
Leuten redet, die οὐ δυνάμενοι ἐκπορίζεσθαι ταῖς hdovais πλή- 
ρωσιν ἐπαινοῦσι τὴν σωφροσύνην, und der Ausdruck πορίζεσθαι 
oder ἐκπορίζεσθαι im selben Sinne 492} 493e 517b 522b wieder- 
kehrt, ist aber sachlich natürlich anders gewendet. Sokrates macht 
hierauf Menon in einer Darstellung, die die Gedanken von Prot.358d 
und Gorg. 467. 8 zusammenfaßt und abrundet, klar, daß das 
Gute jeder will, also die Definition verkürzt werden kann auf 
δύναμις τοῦ nogiteodaı τἀγαθά. Da aber zum dritten Male das 
Gespenst der δικαιοσύνη erscheint und Menon diese in die Defi- 
nition aufnehmen will, so ergibt sich die umgekehrte Schwierig- 
keit wie im Laches. Dort war auf die Frage nach einem Teil 
der Tugend mit einer Definition der Gesamttugend geantwortet, 
hier tritt statt der Gesamttugend ein Teil auf (— 79b). 

Der selbstgewisse Menon wird jetzt ungeduldig und wirft So- 
krates vor, er verstehe nur in Aporien zu führen. Damit werden 
wir auf den Anfang des Dialoges zurückverwiesen, wo grade 
diese Aporien des Sokrates in Gegensatz zur Sicherheit des Gor- 
gias und Menon gestellt waren, für die es keine schwierigen Pro- 
bleme gab: οὐκ ἀπορία εἰπεῖν ἀρετῆς πέρι ὅτι ἔστι (72a). Jetzt 


Der Aufbau des Dialogs. 71e—86c. 173 


muß sich also zeigen, ob die Sokratik, ob Plato wirklich nur Ver- 
wirrung bringt oder positiv zu wirken vermag. So entwickelt 
Plato denn im folgenden, entscheidenden Teile des Dia- 
logs, daß die Möglichkeit eines Wissens besteht‘). Er fol- 
gert es aus der Lehre der Priester, „die sich Rechenschaft über ihre 
Religion geben wollen“ und an die Präexistenz der Seele glauben. 
Denn bei dieser Voraussetzung ist alles Lernen nur eine Wieder- 
erinnerung, und daß mit der Erinnerung die Möglichkeit gegeben 
ist, zu einem festen Wissen zu gelangen, das bestätigt sich in 
überraschender Weise dadurch, daß es Sokrates gelingt, einen 
ungebildeten Sklaven Menons grade auf dem Gebiete, das als das 
eigentliche Gebiet exakter Wissenschaft gilt, in der Mathematik, 
zu festem Wissen zu führen. Notwendig ist dazu zuerst, ihm ein 
Bewußtsein davon beizubringen, daß seine nächstliegenden Vor- 
stellungen irrig sind. Aber jetzt muß auch Menon einsehen, daß 
die Aporie, in die der Sklave dadurch gerät, ihm heilsam ist 
(3. ᾿Απορεῖν οὖν αὐτὸν ποιήσαντες καὶ ναρκᾶν ὥσπερ ἣ νάρκη μῶν τι 
ἐβλάψαμεν; M. Οὐκ ἔμοιγε δοκεῖ 84:0). Denn damit ist erst die 
Bahn zur positiven Förderung gegeben, und nun zeigt sich bald, 
daß der Sklave zu wirklichem Wissen gelangen kann, nicht in- 
dem man dieses von außen her in ihn hineintrichtert, sondern 
indem man die richtigen Vorstellungen, die in ihm schlummern, 
durch die Assoziation zum Wissen erhebt (ἀληϑεῖς δόξαι, αἱ 
ἐρωτήσει ἐπεγερϑεῖσαι ἐπιστῆμαι γίγνονται 86a). 

Die ungeheure Bedeutung dieses Abschnittes (808 --- 86}) 
liegt auf der Hand. Plato zeigt hier, daß das ἀπορεῖν ποιεῖν, 
das als Vorwurf der Gegner schon Gorg. 522b erwähnt wurde 
und das nach dem Anfange des Menon namentlich die Gorgianer 
den Sokratikern entgegenhielten, wirklich, wie es schon an der 
Gorgiasstelle angedeutet war, zum Heile der jungen Leute ge- 
schieht. Er zeigt weiter, daß die Sokratik in ihrer Fragemethode 
das Mittel zur Ergänzung ihrer Wirksamkeit, zur positiven För- 
derung hat. Aber dabei deutet er freilich so offen wie im Gor- 
gias bei der Übernahme pythagoreischer Gedanken an, daß er für 
seine Person die Heranziehung unsokratischer Elemente für not- 
wendig hält. Denn die sokratische Fragemethode erhält ihre 


1) Von Menons eristischer Bestreitung, daß ein Lernen möglich sei (80d), 
geht ausdrücklich noch Aristoteles aus, ehe er in der zweiten Analytik die Möglich- 
keit des wissenschaftlichen Beweises aufzeigt. 


174 Menon. 


wahre Bedeutung erst in der Verbindung mit der Wieder- 
erinnerungslehre, und diese selber gründet Plato auf die Prä- 
existenz der Seele, die er ausdrücklich p. 81 als theologische, 
d.h. orphische Lehre bezeichnet. Die Anamnesislehre selber aber 
ist für ihn deshalb als Hypothese — nur als solche betrachtet er 
sie 860 — so wichtig, weil sie ihm die Berechtigung der For- 
schung und die Möglichkeit des Wissens zeigt. Doch darauf 
kommen wir noch zurück. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß 
darin die Grundlage für den folgenden Abschnitt des Dialoges 
gegeben ist. 

Menon erkennt die Möglichkeit der Forschung, die er 80d 
in der Verlegenheit mit eristischen Argumenten bestritten hatte, 
jetzt ausdrücklich an (86c) und stellt von neuem die Frage nach 
der Lehrbarkeit der Tugend. Sokrates hält grundsätzlich daran 
fest, daß zuerst die Frage nach dem Wesen der Tugend ent- 
schieden werden müsse, kommt aber Menon in der Weise ent- 
gegen'), daß er wieder die mathematische Methode heranzieht, 
die sich vorher so fruchtbar erwiesen hatte, und nach deren Vor- 
bilde ἐξ ὑποϑέσεως den Beweis führen will. Er fragt: εἰ ποῖόν 
τέ ἐστι τῶν περὶ τὴν ψυχὴν ὄντων ἀρετή, διδακτὸν ἂν εἴη ἢ οὐ 
διδακτόν; und kann diese Frage gleich dahin beantworten lassen: 
ei ἐστὶν ἐπιστήμη τις ἣ ἀρετή, δῆλον ὅτι διδακτὸν ἂν ein (87 be). 
Damit ist zugleich ein Weg gewiesen, um Menons Frage zu be- 
antworten, die Antwort aber von dem anderen Problem, das 
φύσει πρότερον ist, abhängig zu machen. Das innere Motiv 
Platos bei diesem Vorgehen ist aber natürlich, daß er so den Be- 
weis für den Satz, daß die Tugend ein Wissen ist, führen kann, 
ohne auf den Inhalt dieses Wissens die Untersuchung ausdehnen 
zu müssen. 

Daß die Tugend ein Wissen sei, hatte Plato im Laches und 
Charmides mit Sokrates einfach vorausgesetzt, im Protagoras mit 
Hülfe der Identifizierung von Angenehm und Gut durch die 
Analyse der subjektiven Motive zu zeigen gesucht. Jetzt geht er 


1 Was die Worte des Sokrates ἐπειδὴ δὲ σὺ σαυτοῦ μὲν οὐδ᾽ ἐπιχειρεῖς 
ἄρχειν, ἵνα δὴ ἐλεύϑερος ἧς, ἐμοῦ δ᾽ ἐπιχειρεῖς ἄρχειν (80 ἃ) sollen, versteht 
ınan nur, wenn man sie als Reminiszenz an Gorg. 4914 6 faßt, wo Sokrates ver- 
langt, man müsse über sich selber herrschen, ehe man mit Kallikles (und Gor- 
gias) daran denken könne, über andre zu herrschen, während Kallikles diese 
Selbstbeherrschung als δουλεία auffaßbt. 


Der Aufbau des Dialogs. 86c—89e. 175 


von dem sokratischen Gedanken aus, daß die Tugend gut und 
nützlich sein müsse '), daß alle Dinge mit Ausnahme der φρόνησις 
bald nützen bald schaden und daß sie alle nur dann von wirk- 
lichem Werte sind, wenn sie der Mensch kraft seiner φρόνησις 
richtig gebrauche. Alle andern Dinge sind also nur relative Güter, 
das einzige absolute Gut ist die φρόνησις, auf ihr muß also die 
Tugend beruhen (— 89a). 

Wenn Plato dabei den Gedanken, daß die φρόνησις selber 
dem Menschen unter Umständen schaden könnte, gar nicht in 
Betracht zieht, so tut er das offenbar, weil er im ersten Teile ge- 
zeigt hatte, daß die Erkenntnis des Guten notwendig das Streben 
nach dem Guten nach sich zieht (77). Auch sonst blickt er auf 
diesen ersten Teil ständig zurück. Wenn er dort 78d mit be- 
wußter Anbequemung an Menons Auffassung gesagt hatte: ’Ayads« 
δὲ καλεῖς οὐχὶ οἷον ὑγίειάν τε καὶ πλοῦτον κτλ.; so zählt er 87e 
nochmals dieselben Dinge auf und zeigt erst jetzt, daß diese 
bald nützen bald schaden, also nur relativen Wert haben. Wenn 
dort fortwährend die σωφροσύνη und δικαιοσύνη als Einzeltugenden 
aufgetaucht waren, so hören wir jetzt, daß auch diese erst im 
Bunde mit dem Wissen absoluten Wert erhalten, ἄνευ νοῦ aber 
schädlich sind (880). Höchst überrascht sind wir dabei, wenn 
wir z. B. lesen, die Tapferkeit sei schädlich, εἰ μή ἐστι φρόνησις 
ἣ ἀνδρεία ἀλλ᾽ οἷον ϑάρρος τι. Denn nach dem Protagoras ist 
eine ἀνδρεία ἄνευ νοῦ unmöglich, das ϑάρσος eben keine ἀνδρεία 
(951 8). Wir sehen, daß Plato den Begriff ἀνδρεία jetzt anders 
faßt als früher, aber eine nähere Aufklärung erhalten wir zu- 
nächst nicht. 

Dagegen kann Plato aus dem Satze, daß die Tugend ein 
Wissen ist, erneut kurz die Folgerung des Protagoras ableiten: 
οὐκ ἂν εἶεν φύσει οἱ ἀγαϑοί und positiv hinzufügen δῆλον κατὰ 
τὴν ὑπόϑεσιν, εἴπερ ἐπιστήμη ἐστὶν ἀρετή, ὅτι διδακτόν ἐστιν (89 }). 

Aber nun macht sich gegen die Lehrbarkeit der Tugend ein 
Bedenken geltend, wie wir es schon aus dem Protagoras kennen. 
Dort hatte Sokrates gesagt, gegen die Lehrbarkeit spreche, daß 
Männer wie Perikles, die doch die πολιτικὴ ἀρετή nach allge- 
meinem Urteil besäßen, ihre Söhne diese nicht lehren könnten. 

1) Mit dem Satze καὶ μὴν ἀρετῇ γ᾽ ἐσμὲν ἀγαϑοί 87d ruft er die Er- 


örterung des Gorgias 4917 αἴ in Erinnerung, die beginnt τοὺς ἀγαϑοὺς οὐχὶ ἀγα- 
ϑῶν παρουσίᾳ ἀγαϑοὺς καλεῖς; 


176 Menon. 


Jetzt erweitert Sokrates das Bedenken dahin, wenn die Tugend 
lehrbar sei, müsse es doch Lehrer und Schüler geben, aber die 
habe er bisher nicht finden können (896). Da zum Glück 
Anytos erscheint, wird er in die Erörterung, ob es Tugendlehrer 
gebe, hineingezogen. Den Gedanken, daß etwa die Sophisten die 
Tugendlehrer seien, für die sie sich ausgeben, lehnt dieser ent- 
setzt ab. Aber als er dann auf die athenischen χαλοὶ κἀγαϑοί 
hinweist, da zählt ıhm Sokrates eine Menge von athenischen 
Staatsmännern auf — darunter erinnern uns Perikles an den 
Protagoras, Aristeides und Thukydides an den Laches —, die es 
nicht vermocht haben, ihren Söhnen die ἀρετή zu übermitteln. 
Anytos, der schon vorher seine Borniertheit darin gezeigt hat, 
daß er die Sophisten in Grund und Boden verdammt, obwohl er 
ausdrücklich erklärt sie nicht zu kennen (92b), bricht jetzt die 
Unterredung mit den Worten ab: ὦ Σώκρατες, δᾳδίως μοι δοκεῖς 
κακῶς λέγειν ἀνθρώπους, und fügt noch eine Drohung hinzu (9#e). 
Er ist also völlig unfähig, die sachlichen Motive, die Sokrates zu 
seinen Äußerungen über die athenischen Staatsmänner führen, 
zu würdigen und sieht in ihnen nur persönliche Gehässigkeit. 
Wir sehen daran recht anschaulich, wie leicht der Vorwurf, daß 
Sokrates τοὺς πρεσβυτέρους καχηγορεῖ λέγων πικροὺς λόγους ἢ 
ἰδίᾳ ἢ δημοσίᾳ (Gorg. 522b) entstehen konnte. Ob nicht Plato 
grade nach dem Gorgias Anlaß hatte deutlich zu machen, daß 
es kein κακῶς λέγειν sei, wenn er Kritik an den athenischen 
Staatsmännern übe)? 

Das Gespräch mit Anytos soll uns offenbar die Borniertheit 
des Mannes zeigen, der über Dinge urteilt, von denen er über- 
haupt nichts weiß. Wieweit trägt es nun sachlich zur Klärung 
der p. 896 gestellten Frage bei, ob es Lehrer der Tugend gibt? 
Daß die Praktiker nicht imstande sind, die Tugend zu lehren, 
wird man ohne weiteres als Ergebnis ansehen. Aber daß auch 
die berufsmäßigen Tugendlehrer es nicht vermögen, kann man 


1 An sich hat Anytos 946 zu seinem Vorwurf keinen wirklichen Anlaß. 
Denn daß Perikles und Thukydides ihre Söhne nicht zu Staatsmännern zu er- 
ziehen vermochten, war doch wirklich kein κακῶς λέγειν. Aber grade die Grund- 
losigkeit des Vorwurfs ist beabsichtigt. Auf den bei Xenophon Apol. 31 vor- 
gebrachten Klatsch, Anytos’ Sohn sei ein Säufer geworden, werden wir bei Plato 
mit keinem Worte hingewiesen. — Aristides bezeichnet in seiner Rede ὑπὲρ τῶν 
τεττάρων die Kritik an den Staatsmännern ständig als κακῶς λέγειν. 


Der Aufbau des Dialogs. 89d—Schluß. 177 


deshalb noch nicht als bewiesen betrachten, weil Anytos es be- 
hauptet. Sokrates aber nimmt, abgesehen davon, daß er die 
Honorierung des Unterrichts hervorhebt, eher Partei für die So- 
phisten und deutet nur am Schluß 92d an, daß an Anytos’ An- 
schauung vielleicht etwas Wahres sei (καὶ ἴσως τὶ λέγεις). Nach 
Anytos’ Weggang betrachtet deshalb Menon diese Frage noch 
keineswegs als entschieden (95c), aber jetzt weist doch Sokrates 
sehr bestimmt auf die Tatsache hin, daß allgemeine Zweifel über 
die Lehrbarkeit der Tugend herrschen und daß den berufsmäßigen 
Tugendlehrern von andern gerade die Kenntnis und der Besitz der 
Tugend abgesprochen wird, und kommt so zu dem Ergebnis: ἀρετῆς 
οὐδαμοῦ φαίνονται διδάσκαλοι und ἀρετὴ οὐκ ἂν εἴη διδακτόν (96 c). 

Wenn aber die Tugend weder auf Naturanlage beruht, noch 
durch Belehrung erworben wird, woher, so fragt nun Menon, 
gibt es denn dann dyadoi ἄνδρες — oder gibt es solche über- 
haupt nicht (96d)? Sokrates antwortet mit dem Hinweis, daß 
im praktischen Leben die richtige Vorstellung ebenso nützlich sei 
wie das Wissen, obwohl sie nicht wie dieses sich Rechenschaft 
über ihr Tun abzulegen vermöge. So mag es denn wohl auch 
ἀγαϑοὶ ἄνδρες geben, die im politischen Leben — auf dieses wird 
hier fortwährend hingewiesen — praktisch nützlich sein können, 
ohne ein Wissen zu haben. Aber dann muß ihre εὐδοξία, da sie 
weder aus der Naturanlage noch aus dem Wissen stammt, als 
eine Gottesgabe, eine ϑεία μοῖρα betrachtet werden, ei un τις εἴη 
τοιοῦτος τῶν πολιτικῶν ἀνδρῶν, οἷος καὶ ἄλλον ποιῆσαι πολιτι- 
κόν (100 8). 

Aber so ganz wohl ist es Sokrates bei diesen ϑεῖοι πολι- 
τικοί, die auf einer Stufe mit Propheten und Dichtern stehen, 
doch nicht. Deshalb schließt er: ’Ex μὲν τοίνυν τούτου τοῦ 
λογισμοῦ, ὦ Μένων, ϑείᾳ μοίρᾳ ἡμῖν φαίνεται παραγιγνομένη N 
ἀρετὴ οἷς παραγίγνεται ' τὸ δὲ σαφὲς περὶ αὐτοῦ εἰσόμεϑα τότε, 
ὅταν πρὶν ᾧτινι τρόπῳ τοῖς ἀνϑρώποις παραγίγνεται ἀρετή, πρό- 
τερον ἐπιχειρήσωμεν αὐτὸ καϑ' αὑτὸ ζητεῖν τί ποτ᾽ ἐστὶν ἀρετή. 

Damit ist dem Leser gesagt, daß er die Frage nach dem Ur- 
sprung der Tugend noch keineswegs als erledigt anzusehen hat, 
daß es vielleicht doch noch eine andre Möglichkeit als die ϑεία 
μοῖρα gibt, um zu ihr zu gelangen. Zugleich deutet Plato an, 
daß es doch nicht der richtige Weg war, mit der Frage zu be- 
ginnen, doa διδακτὸν ἣ ἀρετή; 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 12 


178 Menon. 


Dieselbe Frage hatte Plato schon im Protagoras behandelt. 
Auch dort tauchte gegen die Lehrbarkeit das Bedenken auf, daß 
die Staatsmänner wie Perikles die πολιτικὴ ἀρετή nicht zu lehren 
vermöchten. Aber dort sollte sich jeder sagen, daß diese eben 
selber das Wissen vom Guten, also die wahre ἀρετή nicht be- 
säßen. Mit dem Besitze dieses Wissens mußte die Lehrfähigkeit 
gegeben sein (vgl. S. 96). Im Menon finden wir dasselbe Be- 
denken viel stärker ausgesprochen, und ausdrücklich wird daraus, 
daß es keine Lehrer der Tugend noch Schüler gebe, von So- 
krates selber gefolgert, daß diese nicht lehrbar ist (96c). Und 
nichts deutet auf die Lösung hin, daß die Lehrbarkeit trotzdem 
prinzipiell möglich sei und es nur bisher an Leuten fehle, die das 
Tugendwissen besitzen und weiter übermitteln können. 

Hat also Plato wirklich die Lehrbarkeit der Tugend nicht 
mehr festgehalten? Was hat ihn überhaupt veranlaßt, die Frage 
des Protagoras noch einmal aufzunehmen ? 

Die Lösung müssen wir in dem grundlegenden Abschnitt 
über die Möglichkeit der Erkenntnis suchen, und dort lesen wir 
tatsächlich die unzweideutige Antwort: ἐρωτᾷς ei ἔχω σε διδάξαι, 
ὃς οὔ φημι διδαχὴν εἶναι ἀλλ᾽ ἀνάμνησιν (82a). Das ist kein 
Scherzwort, sondern es spricht Platos neugewonnene Überzeugung 
aus: Es gibt keinen Nürnberger Trichter, mit dessen Hülfe man 
einem andern Kenntnisse einflößen kann. Wenn Menons Sklave 
die Verdoppelung des (Juadrates verstehen lernt, so „lehrt“ ihn So- 
krates die nicht, sondern in dem Sklaven selber ruhten die 
ἀληϑεῖς δόξαι, αἱ ἐρωτήσει ἐπεγερϑεῖσαι ἐπιστῆμαι γίγνονται (86a). 

Das gleiche gilt aber natürlich auch von der Tugend. Der 
einzige, dem man den Titel eines ἀρετῆς διδάσκαλος wirklich hätte 
zubilligen mögen, war Sokrates, und grade der hatte nie so 
heißen wollen (Apol. 33a). Warum, das wurde jetzt Plato klar. 
Sokrates hatte gefühlt, daß ein Eintrichtern der Tugend undenk- 
bar sei. Nur dadurch, daß er die richtigen sittlichen Vorstel- 
lungen, die im Menschen schlummerten, durch seine Frage- 
methode zum Leben erweckte, hatte Sokrates gewirkt, kann man 
überhaupt einwirken. Ein „Lehren“ im gewöhnlichen Sinne gibt 
es deshalb überhaupt nicht. Deshalb muß die Frage ὥρα διδακτὸν 
ἣ ἀρετή; mit Nein beantwortet werden. Aber freilich wäre es 
nun auch verkehrt, wollte man daraufhin die Möglichkeit eines 
sittlichen Einflusses überhaupt leugnen oder wollte man nun den 


ΐ 
N 
f 


Die Erweckung zur Tugend. 179 


Schluß ziehen, daß dann die Tugend nur durch die Naturanlage 
oder auf übernatürlichem Wege übermittelt werden könnte. Wer 
den Abschnitt über die Anamnesis verstanden hat, der muß sich 
sagen, [daß es noch einen andern Weg geben muß, um zur 
Tugend zu erwecken.» Und er weiß auch, daß darauf Plato hin- 
deuten will, wenn er mit dem Satze schließt, die πολιτικὴ ἀρετή 
müsse ϑείᾳ μοίρᾳ entstehen, ei μή τις εἴη τοιοῦτος τῶν πολιτικῶν 
ἀνδρῶν, οἷος καὶ ἄλλον ποιῆσαι πολιτικόν (1008). Und wenn 
Plato dort anfügt, ein solcher Mann würde dem Tiresias unter dem 
Schatten gleichen, ὥσπερ παρὰ σκιὰς ἀληϑὲς ἂν πρᾶγμα ein πρὸς 
ἀρετήν, so wird er wohl wissen, wo er am ehesten diese Ver- 
körperung der Wahrheit zu suchen hat. 

Der Abschnitt über die Anamnesis ist auch nach anderer 
Hinsicht grundlegend, durch die Scheidung der ὀρϑὴ (ἀληϑὴς) 
δόξα und der ἐπιστήμη. Wir finden dieselbe Scheidung im letzten 
Teile wieder, und Plato sorgt durch Wiederholung der Termini 
dafür, daß wir die Fortsetzung desselben Gedankens empfinden. 
Dabei werden die Begriffe nach zwei Seiten hin beleuchtet. Bei 
Menons Sklaven sehen wir, daß richtige Vorstellungen in jedem 
Menschen schlummern und daß die Wiedererinnerung, die Er- 
weckung zum Wissen von ihnen auszugehen hat. Im letzten 
Teile wird ihr Verhältnis zum Wissen klargestell. Wir werden 
erinnert, daß im Einzelfalle, z. B. beim Auffinden eines Weges, 
beide praktisch gleich brauchbar sind, aber andrerseits auf den 
Unterschied hingewiesen, daß das Wissen ein fester Besitz der 
Seele ist, während die richtigen Vorstellungen bald auftauchen 
bald verschwinden, weil man sich nicht darüber klar ıst, warum 
sie richtig sind, ὥστε οὐ πολλοῦ ἄξιαί εἶσιν, ἕως dv τις αὐτὰς 
δήσῃ αἰτίας λογισμῷ" τοῦτο δ᾽ ἐστίν, Μένων ἑταῖρε, ἀνάμνησις, ὡς 
ἐν τοῖς πρόσϑεν ἡμῖν ὡμολόγηται. ἐπειδὰν δὲ δεϑῶσι, πρῶτον μὲν 
ἐπιστῆμαι γίγνονται, ἔπειτα μόνιμοι (98a). Auch Menons Sklave 
hatte richtige Vorstellungen von Quadrat und doppelter Größe, 
aber bevor Sokrates in ihm die Einsicht der inneren Zusammen- 
hänge weckte, war die Gefahr, daß die richtigen Vorstellungen 
verloren gingen, nur zu groß. 

Den Begriff αἰτίας λογισμός kennen wir schon. Denn schon 
im Gorgias 501a (vgl. 465a) wurde der Unterschied der Wissen- 
schaft und des unwissenschaftlichen Verfahrens am Beispiel der 


Medizin und Kochkunst so klargemacht: ἔλεγον δέ που ὅτι ἣ μὲν 
12* 


180 Menon. 


ὀψοποιικὴ οὔ μοι δοκεῖ τέχνη εἶναι ἀλλ᾽ ἐμπειρία ἣ δ᾽ ἰατρική, 
λέγων ὅτι ἣ μὲν τούτου οὗ ϑεραπεύει καὶ τὴν φύσιν ἔσκεπται καὶ 
τὴν αἰτίαν ὧν πράττει, καὶ λόγον ἔχει τούτων ἑκάστου δοῦναι, 
ἡ ἰατρική" ἣ δ᾽ ἑτέρα τῆς ἡδονῆς πρὸς ἣν N ϑεραπεία αὐτῇ ἐστιν 
ἅπασα, κομιδῇ ἀτέχνως ἐπ᾽ αὐτὴν ἔρχεται, οὔτε τι τὴν φύσιν σκε- 
ψαμένη τῆς ἡδονῆς οὔτε τὴν αἰτίαν ἀλόγως τε παντάπασιν ὡς 
εἰπεῖν οὐδὲν διαριϑμησαμένη, τριβῇ καὶ ἐμπειρίᾳ μνήμην μόνον 
σῳζομένη τοῦ εἰωθότος γίγνεσϑαι. Diese Unterscheidung, die, 
wie wir 5. 139 sahen, aus der Medizin stammt, verwertet Plato im 
Menon wieder. Natürlich läßt er hier, wo er an die einzelne 
Vorstellung denkt, das Moment der dauernden Erfahrung weg. 
Mit gutem Grunde läßt er auch den gekünstelten (vgl. S. 140) Ge- 
danken, daß die Empirie mit der Schmeichelkunst identisch sei, 
fallen, und andrerseits betont er für seine hiesigen Zwecke die 
praktische Brauchbarkeit. Aber daß er hier wie dort das Verhält- 
nis vom unwissenschaftlichen Verhalten zur Wissenschaft grund- 
sätzlich in der gleichen Weise bestimmt, ist klar. 

Der letzte Teil des Menon beschäftigt sich durchaus mit dem 
politischen Leben, den Staatsmännern. Wir hören von diesen, 
daß sie auch auf Grund der richtigen Vorstellungen ohne Wissen 
Nützliches leisten können. Aber auf der andern Seite müssen 
wir stets an Menons Sklaven als Analogon denken, und wie der 
gelegentlich doch in die größten Irrtümer verfällt, so ist das auch 
bei den Staatsmännern denkbar. Gewiß, wer immer die richtige 
Vorstellung hätte, würde praktisch immer das Richtige treffen 
(97c), aber wer bürgt denn dafür, daß das der Fall ist? Perikles 
mag über viel größere praktische Erfahrung verfügen als der 
Sklave, mag deshalb viel öfter das Richtige treffen, allein solange 
er keine Rechenschaft über die letzten Gründe geben kann, 
warum er so handeln muß, warum grade dies das Richtige ist, 
so lange müssen wir damit rechnen, daß er zur Verdoppelung 
des Quadrates die Seite verdoppelt, die größten Fehler begeht. 

Plato billigt trotzdem diesen Männern die Bezeichnung dya- 
ϑοὶ ἄνδρες zu (98. u. ö.). Das steht auf einer Stufe mit der 
Erörterung p. 88, wo wir im schärfsten Gegensatz zum Protago- 
ras davon hören, daß es Tapferkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherr- 
schung auch ohne Wissen gibt. Wir müssen auch da an tugend- 
artige Betätigungen denken, die sich auf richtige Vorstellungen 
gründen. Die erkennt Plato jetzt also an. Aber aufs schärfste 


Die Beurteilung der praktischen Politiker. 181 


hebt er dort hervor, daß diese ἄνευ νοῦ bald nützen, bald 
schaden und daß sie nur in Verbindung mit dem Wissen zur 
Glückseligkeit beitragen (88c), und das gleiche muß natürlich 
auch von der Tätigkeit der Staatsmänner im letzten Teile gelten. 
Daraus folgt aber auch, daß sie nur in uneigentlichem Sinne 
ἀγαϑοί heißen können. Denn wie die ἀρετή ihrem Wesen nach 
nützlich, also immer nützlich ist, so ist auch der ἀγαϑός immer 
ὠφέλιμος. Das sagt Plato 874, und 98c wiederholt er: καὶ μὴν 
ὅ γε ἀγαϑὸς ἀνὴρ ὠφέλιμος ἡμῖν ὡμολόγηται εἶναι. Sowenig also 
eine ἀνδρεία ἄνευ νοῦ eine wahre Tugend ist — 880. vermeidet 
er die Bezeichnung — sowenig hat ein Staatsmann, der bald 
nützt, bald schadet, Anspruch auf den Namen des ἀγαϑὸς ἀνήρ 
im eigentlichen Sinne. Nur in Konzession an die gewöhnliche 
Bewertung kann er so genannt werden. 

Grade darum aber müssen wir eine besondere Absicht darin 
sehen, wenn Plato mit Bestimmtheit Sokrates aussprechen 
läßt (93a): ἔμοιγε καὶ εἶναι δοκοῦσιν ἐνθάδε dyadoi τὰ πολιτικὰ 
καὶ γεγονέναι ἔτι oöy ἧττον ἢ εἶναι. Diese Absicht aber kann 
keine andre sein als die, zu zeigen, daß er das Verdammungs- 
urteil, das er im Gorgias über die Staatsmänner der Vergangen- 
heit ausgesprochen hat (vgl. bes. 517a οὐδένα ἡμεῖς ἴσμεν ἄνδρα 
ἀγαϑὸν γεγονότα τὰ πολιτικὰ Ev τῇδε τῇ πόλει, weder aus der 
Gegenwart noch aus der Vergangenheit), nicht mehr aufrecht 
erhalten kann noch will. Bestehen bleibt auch jetzt, daß diese 
Männer keine wahren Staatsmänner waren, daß sie neben einem 
wirklichen Staatsmann, der sich Rechenschaft gibt über die letzten 
Gründe und Ziele seines Handelns, dastehen wie die Schatten 
ohne Bewußtsein neben Tiresias. Aber daß sie es gewesen sind, 
die Athen verdorben haben, daß sie bewußt als Ziel nur die Lust, 
nicht das Gute hatten, davon hören wir jetzt nichts mehr, und 
noch wichtiger ist die positive Anerkennung, daß Männer wie 
Themistokles wirklich praktisch Nützliches geleistet haben. 


Was hat sie zu diesen Leistungen befähigt? Die richtigen 
Vorstellungen, auf die sie sich stützen, hat doch im Grunde auch 
Menons Sklave, hat jeder Mensch in sich. Was hebt also jene 
Staatsmänner aus den übrigen heraus und gibt ihnen die εὐδοξία, 
kraft deren sie in der Staatsleitung Richtiges treffen (99c)? Vom 
Gorgias her könnten wir erwarten, daß die Empirie zur Erklärung 


182 Menon. 


herangezogen würde. Statt dessen tritt uns im letzten Teile ein 
merkwürdiger neuer Begriff entgegen, die ϑεία μοῖρα. Da die 
πολιτικὴ ἀρετή dieser Leute weder auf Naturanlage noch auf Be- 
lehrung beruht, so muß sie als göttliche Gnadengabe aufgefaßt 
werden. 

Die ϑεία μοῖρα finden wir bei Plato in vollstem Ernste schon 
in der Apologie, wo Sokrates seine Elenktik auf den göttlichen Auf- 
trag zurückführt (58): ἐμοὶ δὲ τοῦτο, ὡς ἐγώ φημι, προστέτακται 
ὑπὸ τοῦ ϑεοῦ πράττειν καὶ ἐκ μαντείων καὶ ἐξ ἐνυπνίων καὶ 
παντὶ τρόπῳ ᾧπερ τίς ποτε καὶ ἄλλη ϑεία μοῖρα ἀνθρώπῳ καὶ 
δτιοῦν προσέταξε πράττειν. Ganz ernst spricht auch Protagoras 
im Mythos von der ϑεία μοῖρα, an der die Menschen teilhaben 
(322a)').. So könnte man auch im Menon an sich die ernste 
Behauptung erwarten, daß jene εὐδοξία der Staatsmänner als 
göttliche Begnadigung anzusehen sei. Aber schwer wird man 
sich doch entschließen, es völlig ernst zu nehmen, wenn 996 
Plato Männer wie Themistokles auf dieselbe Stufe stellt wie die 
χρησμῳδοὶ καὶ ϑεομάντεις und die Begründung hinzufügt: καὶ γὰρ 
οὗτοι ἐνθουσιῶντες λέγουσιν μὲν ἀληϑῆ καὶ πολλά, ἴσασι δὲ οὐδὲν 
ὧν λέγουσιν. Diese Worte sind bekanntlich ein wörtliches Zitat 
aus Apol. 22c; wir sollen also auch an die dort gegebene spöt- 
tische Charakteristik der Dichter denken, die so wenig wie die 
χρησμῳδοί über ihre eignen Werke Rechenschaft geben können 
und dahei sich einbilden, die allerklügsten Menschen zu sein. 
Sollen wir es ferner wirklich ganz ernst nehmen, wenn Plato 
Men. 99c anschließt: Οὐκοῦν, ὦ Μένων, ἄξιον τούτους ϑείους κα- 
λεῖν τοὺς ἄνδρας, οἵτινες νοῦν μὴ ἔχοντες πολλὰ καὶ μεγάλα κα- 
τορϑοῦσιν ὧν πράττουσι καὶ λέγουσιν; und wenn er sich dann 
darauf beruft, daß nicht bloß die Spartaner, sondern auch die 
Weiber die wackren Männer #etos nennen? Menon scheint jeden- 
falls gewisse Zweifel zu hegen, wenn er daraufhin bemerkt, Any- 
tos werde diese Charakteristik wohl kaum als Schmeichelei auf- 
fassen (99e). 

Der Begriff der ϑεία μοῖρα tritt uns im letzten Teil mit einer 
merkwürdigen Aufdringlichkeit entgegen, und man wird das Ge- 
fühl nicht los, daß dahinter noch eine besondere Absicht Platos 


1) Die späteren Stellen, wo ϑεία μοῖρα oder auch die Inspirations- 
theorie vorkommt, bietet Zeller IT, S. 594. 


ϑεία μοῖρα. 183 


steckt. Tatsächlich läßt sich wahrscheinlich machen, daß Plato 
ihn aus einem andren Sokratiker übernimmt und absichtlich mit 
leiser Ironie behandelt. 


Der scharfe Angriff, den Plato im Gorgias gegen Rhetorik 
und praktische Politik durchführt, ist bis in späte Zeit hinein 
nicht vergessen worden, und noch der Rhetor Aristides hält es 
für nötig, in seinen Werken περὶ Önroginjs und ὑπὲρ τῶν τεττά- 
ρων die Kritik Platos zurückzuweisen. In beiden Werken kann er 
sich dabei auf das Gegenzeugnis eines andern Sokratikers berufen, 
auf Aischines’ Alkibiades, und die umfänglichen Bruchstücke, die 
er dabei aus diesem Dialog aufbewahrt hat, zeigen uns deutlich, 
daß er mit vollem Rechte Plato und Aischines konfrontierte, daß 
zwischen Aischines’ Alkibiades einerseits und Platos Gorgias und 
Menon andrerseits Beziehungen polemischer Art bestanden. 

Bei Aischines erzählte Sokrates ein Gespräch mit dem jungen 
Alkibiades, in dem er den übermütigen Brausekopf, der selbst 
vor den zwölf Göttern keinen Respekt hatte, zur Erkenntnis 
seiner Unwissenheit führte, sodaß dieser schließlich sich nicht 
besser wie der gemeinste Handlanger vorkam und in Thränen 
ausbrach'), Ein Hauptstück des Dialoges war das: Alkibiades 
hatte sich verächtlich über Themistokles geäußert. Daraufhin 
zeigte Sokrates ihm, daß dieser Mann allein es gewesen sei, der 
den Herrscher ganz Asiens überwunden und Griechenland ge- 
rettet habe. Was ihn dazu befähigte, war seine ὠρετή, seine 
ἐπιστήμη. Die war es, die über die materielle Übermacht den 
Sieg davontrug (fr. 8). 

Daß hier ein scharfer Gegensatz zum Gorgias vorliegt, wo 
Themistokles wie den andern Staatsmännern die ἐπιστήμη und 
die Fähigkeit, dem Staate wirklich zu nützen, abgesprochen wurde, 
ist offensichtlich. Und schwerlich kann es Zufall sein, daß damit 
Plato die praktische Leistung eines Staatsmannes entgegengehalten 
wurde, die dieser doch gelten lassen mußte, die Rettung Griechen- 
lands von den Barbaren, bei der sich die praktische Klugheit als 
entscheidend erwiesen hatte. Was Alkibiades bei Aischines gegen 
Themistokles vorgebracht hatte, hat Aristides nicht aufbewahrt. 


1) Fr. 1—14. Ich zitiere nach Dittmar, Aischines von Sphettos (Philol. 
Untt. 21). 


184 Menon. 


Aber wenn man in fr. 8, 44 liest: τίς dv οὖν ἐκείνῳ τῷ χρόνῳ 
δικαίως αἰτίαν ἔχοι μέγιστον δύνασθαι ἄλλος ἢ Θεμιστοκλῆς; SO 
scheint das veranlaßt durch eine Bemerkung des Alkibiades, in 
der dieser ähnlich wie der Sokrates des Gorgias bestritt, daß die 
Redner μέγιστον δύνανται ἐν ταῖς πόλεσιν (466b, vgl. 517—519, 
wo Themistokles usw. Diener, nicht Leiter des Volkes heißen). 
Direkt an den Gorgias (516d) erinnert es uns dann, wenn auf 
die Verurteilung des Themistokles angespielt wird (8, 48), um zu 
zeigen, daß selbst so große ἐπιστήμη, wie er sie besaß, vor Ge- 
fahren nicht schützte. 

Unter diesen Umständen wird die Vermutung nicht zu kühn 
sein, daß Aischines mit seinem Alkibiades ein Gegenstück zu 
Platos Gorgias geben wollte (so schon Dittmar, Aischines von 
Sphettos 5. 158). Er mochte gesehen haben, wie Platos leiden- 
schaftliches Manifest Wasser auf die Mühlen der Sokratesgegner 
leitete, und legte darum seinem Sokrates eine Anerkennung des 
Siegers von Salamis in den Mund. 

Auf dieses Hervortreten der Themistoklesfigur möchte man 
es schon zurückführen, daß dieser im Gegensatz zum Gorgias 
im Menon 99b in den Vordergrund tritt, wo die angegriffenen 
Politiker plötzlich οἱ ἀμφὶ Θεμιστοκλέα heißen. Aber glücklicher- 
weise gibt uns Aristides stärkere Argumente für die Annahme 
an die Hand, daß Plato im Menon auf Aischines zurückblickt. 

Nachdem bei Aischines Sokrates die erschütternde Wirkung 
seiner Worte geschildert hatte, sprach er davon, worauf diese 
Einwirkung beruhe; ᾿γὼ δ᾽ ei μέν τινι τέχνῃ ᾧμην δύνασθαι 
ὠφελῆσαι, πάνυ ἂν πολλὴν ἐμαυτοῦ μωρίαν κατεγίγνωσκον" νῦν 
δὲ ϑείᾳ μοίρᾳ ᾧμην μοι τοῦτο δεδόσϑαι ἐπ᾽ ᾿Αλκιβιάδην (fr. 11 8). 
Da er gleich darauf noch sagt: χαὶ δὴ καὶ ἐγὼ οὐδὲν μάϑημα 
ἐπιστάμενος ὃ διδάξας ἄνϑρωπον ὠφελήσαιμ᾽ ἂν ὅμως ᾧμην ξυ- 
vov ἂν ἐχείνῳ διὰ τὸ ἐρᾶν βελτίω ποιῆσαι (11c), so ist es klar, 
worauf er hinaus will: Er will den Vorwurf des Polykrates wider- 
legen, daß Sokrates der διδάσκαλος des Alkibiades gewesen sei 
(vgl. Dittmar 5. 158), und betont deshalb, daß der Nichtwisser 
Sokrates nichts habe lehren können, daß er es aber als seine 
göttliche Mission betrachtet habe, bessernd auf Alkibiades einzu- 
wirken. Wenn er dabei von einer ϑεία μοῖρα spricht, so ist das 
zunächst nichts anderes als wenn Plato an der vorher zitierten 
Apologiestelle (33c) Sokrates von seinem göttlichen Beruf sprechen 


Die ϑεέα μοῖρα bei Plato und Aischines. 185 


läßt, aber eine andre Färbung erhält das Wort, wenn fr. 11c 
Sokrates sich daraufhin mit den Bakchantinnen vergleicht, die, 
ἐπειδὰν ἔνϑεοι γένωνται, aus dem Wasserquell Honig und Milch 
schöpfen. Denn damit wird Sokrates auf eine Linie gestellt mit 
den inspirierten (ἐνθουσιάζοντες) Orakelsängern, über die sich 
Plato an der andern Apologiestelle (22c) nicht allzu freundlich 
geäußert hatte. Und besonders bedenklich wurde diese Theorie, 
wenn die ϑεία μοῖρα in Gegensatz zu τέχνη und ἐπιστήμη gestellt 
und dabei dieses Wissen bei Männern wie Themistokles anerkannt 
wurde. 

Ihren Ausgangspunkt hatte die Theorie natürlich am Daimo- 
nion des Sokrates oder vielmehr an einer schwärmerischen Ver- 
ehrung der Schüler, die Sokrates aus der Reihe der gewöhnlichen 
Menschen herausheben, seine dämonische Einwirkung auf die 
Mitmenschen durch übernatürliche Kräfte erklären wollten. Ge- 
wiß ist bei Aischines von der magischen Auffassung des Theages 
noch keine Rede gewesen, aber wir verstehen es, wenn Plato 
schon in den Ansätzen, die da vorlagen, eine Verzerrung des 
Sokratesbildes sah und deshalb die Begriffe ἐπιστήμη und ϑεία 
μοῖρα in etwas anderem Lichte zeigen wollte. Die ἐπιστήμη 
selber konnte er freilich dem Nichtwisser Sokrates nicht zu- 
sprechen, aber das war ihm klar: wenn man die Alternative 
ἐπιστήμη — ϑεία μοῖρα stellte, dann konnte Sokrates nur auf 
die Seite der ἐπιστήμη gehören, zu der er durch seine Frage- 
methode zu erwecken verstand. Wo man dann aber von der 
ϑεία μοῖρα reden sollte, das ließ sich grade aus einem andern 
Gedanken des Aischines entnehmen. Der hatte den Unterschied 
von τέχνη und ϑεία μοῖρα an einem stark an den Gorgias er- 
innernden Beispiel erläutert (fr. 11b): Πολλοὶ γὰρ καὶ τῶν καμ- 
νόντων ὑγιεῖς γίγνονται οἵ μὲν ἀνθρωπίνῃ τέχνῃ οἱ δὲ ϑείᾳ wol- 
ou. ὅσοι μὲν οὖν ἀνθρωπίνῃ τέχνῃ, ὑπὸ ἰατρῶν ϑεραπευόμενοι, 
ὅσοι δὲ ϑείᾳ μοίρᾳ, ἐπιϑυμία αὐτοὺς ἄγει ἐπὶ τὸ ὀνῆσον. Hierin 
steckte etwas Richtiges, wenn man nur statt des inneren Triebes 
die richtige Vorstellung einsetzte, und so lesen wir im Menon 
Ῥ. 97 das ganz analoge Bild von den beiden Leuten, die nach 
Larissa gehen, der eine auf Grund seines Wissens, der andre auf 
Grund einer richtigen Vorstellung, und die beide das Ziel er- 
reichen. Hier wird auch der eine ἀνθρωπίνῃ τέχνῃ, der andre 
ϑείᾳ μοίρᾳ geleitet. Und wenn nun die Staatsmänner wie 


186 Menon. 


Themistokles in großen Fragen oder häufig auf Grund der rich- 
tigen Vorstellung Erfolge erzielten — und daß die Rettung 
Griechenlands ein Erfolg, ein Nutzen für das Land war, das 
konnte Plato nicht wohl leugnen —, dann war zwar deshalb 
noch lange nicht der Satz erschüttert, daß es ihnen an wahrem 
Wissen fehlte; aber eine Ausnahmestellung gegenüber den andern 
Menschen konnte man ihnen schon zugestehen, sie als Männer 
betrachten, die ϑείᾳ μοίρᾳ praktisch Wertvolles leisteten‘). Und 
wenn dadurch etwa die Gefahr entstand, daß damit die Politiker 
in einem göttlichen Schimmer verklärt würden, so ließ sich dem 
schon vorbeugen, indem man ihre richtigen Vorstellungen mit 
der Inspiration der Wahrsager und ähnlicher Leute auf eine 
Stufe stellte, οἵτινες νοῦν μὴ ἔχοντες πολλὰ καὶ μεγάλα κατορ- 
ϑοῦσιν (99 0). So konnte man aber auch am besten verhüten, 
daß die ϑεία μοῖρα in den Kreisen der Sokratiker Unfug stiftete 
und Sokrates selber in eine mystische Beleuchtung gerückt 
wurde. 

Aischines hat also zum Gorgias in seinem Alkibiades ein 
Gegenstück schreiben wollen, und auf diesen Dialog hat dann 
wieder Plato im Menon Bezug genommen’), hat aus ihm den 
Begriff der ϑεία μοῖρα aufgegriffen, aber unter Polemik gegen 
Aischines umgedeutet. Nun müssen wir aber noch einen Blick 
auf den kleinen platonischen Dialog werfen, der in engstem An- 
klang an den Menon die Begriffe τέχνη und ϑεία μοῖρα behandelt. 
Es ist der Ion. 


Der Ion gliedert sich in zwei Teile. Im ersten wird dem 
Rhapsoden klargemacht, daß schon seine Beschränkung auf Vor- 
trag und Exegese eines einzelnen Dichters den unwissenschaft- 
lichen Charakter seines Handwerks zeigt. Was er treibe, könne 
keine τέχνη sein, sondern sei ein göttlicher Beruf. Das wird mit 
dem bekannten prächtigen Bilde vom Magnetstrom erläutert. 


!) ϑείᾳ τινὶ μοίρᾳ ὑπὲρ τῆς “EAAddos πάσης ἔφυ sagt Aristides ὑπὲρ τῶν 
terrdowv II, p. 252D. Das mag wie noch so manches bei ihm aus Aischines 
stammen. 

2) Bei Aischines fr. 8, 53 fragt Sokrates bezüglich der φαῦλοι ἄνϑρωποι: 
οὐ ϑαυμαστὸν εἰ καὶ τὰ μικρὰ δύνανται κατορϑοῦν; Gleich drauf werden τύχη 
und ἐπιστήμη in ähnlicher Weise wie Men. 99a einander gegenübergestellt. 

3) So auch Dittmar S. 158. 


Die ϑεία μοῖρα im Ion. 187 


Wie dieser seine Wirkung bis in die letzten Glieder der Kette 
äußert, so geht die göttliche Kraft, der ἐνθουσιασμός, von der 
Gottheit über den Dichter und dessen Interpreten bis zum Zuhörer 
hin. Ion läßt sich’s zunächst gern gefallen, ein Glied dieser Kette von 
ἔνϑεοι zu sein, nur platzt er sehr zur Unzeit mit der Bemerkung 
hinein, er passe mitten in seinem Enthusiasmus genau auf den 
klingenden Erfolg seines Vortrags auf (535e), und ganz wohl 
fühlt er sich doch schließlich in der Rolle des κατεχόμενος nicht 
(— 536d). Im zweiten Teile wendet sich Plato gegen den Unfug, 
als ob man aus Homer wie aus einer Enzyklopädie technische 
Kenntnisse lernen könne, und zeigt, daß an Stellen, wo Tech- 
nisches vorkomme, die technischen Kenntnisse eher Voraussetzung 
für eine wissenschaftliche Dichtererklärung seien '),. Auch hier be- 
stätigt es sich, daß von τέχνη und ἐπιστήμη bei Ion keine Rede 
sein könne, und deutlich spüren wir natürlich die Ironie, wenn 
Sokrates ihm am Schluß den Rückzug auf die ϑεία μοῖρα 
offen läßt. 

Man hat den Ion viel verdächtigt, aber unplatonisch wird 
man seine Grundgedanken jedenfalls nicht nennen können’). 
Man muß sich dabei freilich eins klarhalten, wenn man Plato 
verstehen will: Das ist der Gegensatz von Ideal und Praxis. 
Daran, daß das Bild vom Magnetstrom völlig ernste Bedeutung 
hat, darf man nicht zweifeln. Aber diese ϑεία μανία, die am 
stärksten den Dichter selber packt, dann aber auch im echten 
Rhapsoden fortwirkt, ist ein Ideal, das wohl gelegentlich wirk- 
lich werden kann, dem aber Kerle wie Ion herzlich wenig 
entsprechen ὃ. 

Was uns nun hier angeht, das ist das Verhältnis zum Me- 


!) Die Möglichkeit einer ästhetischen Exegese soll aber 540bff. schwerlich 
geleugnet werden. 

ὅ Für die Echtheit sind besonders Janell, Fleck. Jahrb. Suppl. 26, der be- 
sonders auch die Priorität des Ion gegen Xenophons Symposion wahrscheinlich 
macht, und Ed. Meyer, Forsch. II, S. 174 eingetreten. — Wenn am Schluß 
(541cff.) Sokrates dem Ion sagt: „Warum läßt du dich denn nicht zum Stra- 
tegen wählen? Wenn die Athener einen Herakleides von Klazomenä in die 
höchsten Ämter berufen, da werden sie es mit Ion von Ephesos schon auch tun“, 
so ist das natürlich ein Seitenhieb auf das Söldnerwesen Athens im korinthischen 
Kriege. 

8) Das ist verkannt von Räder 5. 93, der vor allem auch nicht Dichter und 
Rhapsoden gleichstellen durfte. 


188 Menon. 


non, mit dem sich der Ion selbst im Wortlaut berührt‘, Auch 
im Ion ist das Verhältnis von ἐπιστήμη (τέχνη) ”) und ϑεία μοῖρα das 
Wesentliche (die Person Ions ist nur Demonstrationsobjekt). ‚Wie 
im Menon ist der Begriff ϑεία μοῖρα dahin umgebogen, daß 
darunter der ἐνθουσιασμός zu verstehen ist. Auch im Ion ist er 
an sich durchaus ernst zu nehmen, aber wenn schon im Menon 
eine leise Ironie bei seiner Anwendung zu spüren war, so bricht 
diese Ironie im Ion ganz offen durch. Hier ist das Streben ganz 
deutlich, den Begriff dadurch zu diskreditieren, daß er praktisch 
auf Fälle angewendet wird, wo er nur lächerlich wirken kann. 
Wer den Ion gelesen hat, wird nicht leicht mehr Sokrates’ Wesen 
und Wirken aus der ϑεία μοῖρα ableiten wollen. 

Das Interessanteste ist nun aber eins: Wir sahen, wie der 
Menon genau Bezug nimmt auf den Schluß von Aischines’ Dialog. 
Viel stärker ist noch die Berührung, die der Ion mit dieser 
Stelle des Aischines aufweist. Da merkwürdigerweise trotz aller 
modernen Suche nach Anspielungen bei Plato diese Berührung 
nicht beachtet zu sein scheint, setze ich die Stellen her: 


Aischines fr. 11c (p. 273, 11 D.) 

᾿Εγὼ δὲ διὰ τὸν ἔρωτα ὃν 
ἐτύγχανον ἐρῶν ᾿Αλκιβιάδου 
οὐδὲν διάφορον τῶν Βακχῶν 
ἐπεπόνϑειν. καὶ γὰρ αἱ Βαάχχαι 


Ion 534a. 
καὶ οἱ μελοποιοὶ οὐκ ἔμφρο- 
γες ὄντες τὰ καλὰ μέλη ταῦτα 
ποιοῦσιν, ἀλλ᾽ ἐπειδὰν ἐμβῶσιν 
εἰς τὴν ἁρμονίαν καὶ εἰς τὸν 
ῥδυϑμόν, βακχεύουσι καὶ κατε- 


ἐπειδὰν ἔνϑεοι γένωνται, ὅϑεν 


1) Ich führe nur an Menon 994 καὶ τοὺς πολιτικοὺς οὐχ ἥκιστα τούτων 
φαῖμεν ἂν ϑείους τε εἶναι καὶ ἐνθουσιάζειν, ἐπίπνους ὄντας καὶ κατεχομένους 
ἔκ τοῦ ϑεοῦ, ὅταν κατορϑῶσι λέγοντες πολλὰ καὶ μεγάλα πράγματα, μηδὲν 
εἰδότες ὧν λέγουσιν. Aus dem κατέχεσθαι ist wohl im Ion das Bild vom Magneten 
erwachsen (536b). Von den andern Stellen, wo das Wort vorkommt, sei 542a 
angeführt: εἰ δὲ μὴ τεχνικὸς el, ἀλλὰ ϑείᾳ μοίρᾳ κατεχόμενος ἐξ "Oungov 
μηδὲν εἰδὼς πολλὰ καὶ καλὰ λέγεις περὶ τοῦ ποιητοῦ. 

2) Niedlich ist das Spiel, das Plato im Dialoge mit dem Worte ἀτεχνῶς 
treibt, das immer auch in der ursprünglichen Bedeutung ἄνευ τέχνης empfunden 
werden soll (5326 ἀτεχνῶς νυστάξω charakterisiert sich Ion selber, vgl. 534d 
54le). Hübsch ist es auch, wenn Homer scheinbar absichtslos gleich 530b #eı- 
ότατος τῶν ποιητῶν heißt, oder wenn Ion immer von sich betont: εὐπορῶ ὅτι 
λέγω περὶ "Oungov 532c, 533c, vgl. 533a, 536cd). Er ist eben einer von den 
Männern, wie wir sie aus dem Anfang des Menon kennen, die nie das sokratische 
Bewußtsein der ἀπορία haben. 

8) Das Wort ist hübsch gewählt vom Hinaufsteigen auf das öynua des 
Metrons im Gegensatz zum πεζὸς Λόγος. 


Ion und Menon berücksichtigen Aischines’ Alkibiades. 189 


οἱ ἄλλοι ἐκ τῶν φρεάτων οὐδὲ χόμενοι, ὥσπερ ai Βάκχαι ἀρύ- 
ὕδωρ δύνανται ὑδρεύεσϑαι, ἐκεῖ- οντῶι ἔκ τῶν ποταμῶν μέλι 
ναι μέλι καὶ γάλα ἀρύονται. καὶ γάλα κατεχόμεναι ἔμφρονες 


δὲ οὖσαι οὔ, καὶ τῶν μελοποιῶν 
ἣ ψυχὴ τοῦτο ἐργάζεται ἢ). 

Man könnte versucht sein, grade aus dieser wörtlichen Über- 
einstimmung mit Aischines ein Argument für die Unechtheit des 
Ion zu entnehmen. Aber zu beachten ist, daß prinzipiell das 
Verhältnis zu Aischines dasselbe ist wie im engverwandten Me- 
non: Was Aischines von Sokrates selber ausgesagt hatte, wird 
auf andre Personen übertragen, und wenn grade aus dieser Über- 
tragung hervorgeht, daß der ἐνθουσιασμός einen Zustand der 
Verzückung bedeutet — χατέχεσϑαι wird deshalb im Ion fort- 
während gebraucht, — wo der Intellekt nicht funktioniert (οἷς 
νοῦς μὴ πάρεστιν lon 534d, vgl. 534be und überall) ’), so ist da- 
mit das Urteil über Aischines’ Auffassung von Sokrates’ Person 
gefällt. Wer noch weiterhin Lust hat, Sokrates’ Wesen an der 
ϑεία μοῖρα zu erklären, der soll sich sagen, daß er damit So- 
krates zu den »oöv μὴ ἔχοντες rechnet — das hören wir aus dem 
Menon wie aus dem Ion. Und diese Übereinstimmung spricht 
natürlich dafür, daß beide Dialoge platonisch und etwa zu gleicher 
Zeit verfaßt sind. 

Damit ist nun auch die Zeit des Menon bestimmt. Das Ver- 
hältnis zur Replik des Gorgias wie zu Aischines’ Alkibiades zeigt, 
daß er nicht lange nach dem Gorgias abgefaßt sein kann. Hinzu 
kommt noch, daß die persönliche Spitze, die die Anytosepisode 
durch die Charakterisierung dieses Staatsmanns hat, am ehesten 
kurz nach Polykrates’ Anklage verständlich ist, auf die ja auch 
Aischines in seinem Dialoge Bezug nahm. Der Menon gehört 
also an den Ausgang der neunziger Jahre®). 


1) Plato gestaltet dann Aischines’ hübsches Bild durch den Hinweis auf die 
κρῆναι μελίρρυτοι der Dichter weiter aus. 

?) Man denke an die Menonstelle über die ϑεῖοι, οἵτινες νοῦν μὴ ἔχοντες 
πολλὰ καὶ μεγάλα κατορϑοῦσιν (99 ο). 

») Die Stelle 90a ὁ νῦν νεωστὶ εἰληφὼς τὰ Πολυκράτους χρήματα ᾿Ισμηνίας 
ὁ Θηβαῖος läßt sich nicht auf die Bestechungsaffäre des Jahres 395 deuten. Denn 
abgesehen davon, daß ein Anlaß für den Anachronismus hier garnicht vorlag, 
heißt der persische Unterhändler bei Xenophon Hell. III, 5, 1 Timokrates, nicht 
Polykrates. Irre ich nicht, so hat Wilamowitz gelegentlich auf Zenobius V, 63 
verwiesen, der zur Erklärung des Sprichworts πάντα Al$ov κίνει davon erzählt, 


190 Menon. 


Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf den ganzen 
Dialog, so müssen wir sagen, daß der Menon den Eindruck ge- 
ringerer Geschlossenheit und Einheitlichkeit macht als die frühe- 
ren. Schon äußerlich. Eine Szene wie die Anytosepisode, wo eine 
Person als deus ex machina erscheint und wieder verschwindet, 
nur weil Plato sie braucht, hat keine Parallele in seinen andern 
Dialogen”). Sachlich dient diese Episode offenbar persönlicher 
Polemik, die zu dem Hauptthema keine enge Beziehung hat. 
Aber auch die Repliken auf Gorgias und Aischines führen dazu, 
daß Punkte von geringerer Bedeutung stärker hervortreten. In 
andern Partien wieder macht sich ein methodologisches Interesse 
geltend. Daher ist es beim Menon nicht so leicht wie sonst, den 
Inhalt auf eine einheitliche Formel zu bringen. 

Das bleibt aber trotzdem ganz deutlich, daß es ein 
zentraler Gedanke ist, um den sich alles gruppiert, und 
daß wir von diesem ausgehen müssen, wenn wir nach 
der inneren Notwendigkeit fragen, die Plato zur Ab- 
fassung des Dialoges trieb. Das ist die Lehre von der 
Wiedererinnerung, die uns den tiefsten Sinn der sokra- 
tischen Dialektik offenbaren will, die uns zeigen soll, 
wie man von der Aporie zum positiven Forschen vor- 
dringen kann, wie prinzipiell ein Erkennen und Wissen 
möglich ist). Und nun wollen wir uns einmal ansehen, wie 
Plato diesen zentralen Abschnitt einleitet: 

„Wenn wir die Präexistenz der Seele mit den Orphikern an- 


Polykrates von Theben habe einen Platz gekauft, auf dem der Schatz des Mar- 
donios vergraben sein sollte, und für die Suche nach dem Schatz jenen Spruch 
als Anweisung von Delphi erhalten. — Über das Verhältnis zu Xenophons Ana- 
basis vgl. 5. 167°. 

1) Auch der abrupte Eingang ist einzigartig. 

2) Unrichtig meint Th. Gomperz, Gr. Denker II, S. 303, daß „die Ehren- 
rettung der athenischen Staatsmänner den Kern- und Quellpunkt des Menon aus- 
mache“. Gewiß will Plato sein früheres Urteil über diese mildern, und dabei hat 
ihn sicher das Gefühl geleitet, er sei im Gorgias, wenn er einem Perikles vor- 
warf nur nach der Lust gestrebt zu haben, ungerecht geworden. Gewiß hat die 
Liebe zu seinem Athen dazu beigetragen, daß er die Bitterkeit überwand und 
die schroffe Verurteilung seiner großen Landsleute zurücknahm. Aber das wesent- 
liche ist doch, daß er inzwischen auf einen Standpunkt gelangt war, der ihm 
eine gerechtere Beurteilung der praktischen Tätigkeit ermöglichte. Und damit 
hängt es zusammen, daß jetzt seine ganze hoffnungsfreudige Stimmung ihn zur 
Milde gegen andere führte. 


Die Krisis in Platos Entwicklung und ihre Überwindung. 191 


nehmen, so ergibt sich, daß die Seele schon vor dem Eintritt 
ins irdische Leben alles kennen gelernt hat. Dann hindert nichts 
die Annahme, daß die Erinnerung an einen einzelnen Punkt 
genügt, um durch Assoziation auch die an alle andern wachzu- 
rufen. Forschen und Lernen ist nichts als Erinnerung. Daher 
dürfen wir dem eristischen Satze, daß ein Forschen nicht mög- 
lich sei, nicht trauen. Denn der würde uns faul machen und 
mag wohl bequemen Naturen angenehm klingen, der andre Stand- 
punkt aber gibt Kraft zum Arbeiten und Forschen. Ich glaube 
an seine Richtigkeit und will so zusammen mit dir erforschen, was 
die Tugend ist“ (81d). 

Nachdem dann Sokrates das Experiment mit Menons Skla- 
ven angestellt und dadurch die Lehre von der Unsterblichkeit 
der Seele bestätigt gefunden hat, schließt er 86b so ab: „Un- 
bedingte Sicherheit möchte ich für unser Ergebnis im ganzen 
nicht in Anspruch nehmen; aber daß die Überzeugung, wir 
müßten nach dem forschen, was wir nicht wissen, uns mehr 
Kraft und Energie gibt und uns weniger zur Faulheit verleitet 
als der Gedanke, wir könnten das, was wir nicht wissen, nie ent- 
decken und dürften darnach nicht forschen — für diesen Satz 
_ will ich mit aller Kraft eintreten, wenn ich dazu imstande bin, 
mit Worten und mit der Tat.“ 

Es gibt keine Stelle in den platonischen Dialogen, 
wo Plato uns selber einen wichtigeren Einblick in seine 
eigne Entwicklung gewährt als hier. Er betont aus- 
drücklich den hypothetischen Charakter der Über- 
zeugung, die ihm auf Grund des orphischen Unsterb- 
lichkeitsglaubens aufgegangen ist. Wenn er trotzdem 
mit so starken Worten sich zu dem neuen Standpunkt 
bekennt, wenn er ausdrücklich als das Wesentliche her- 
vorhebt, daß dieser neue Standpunkt ihm Mut und Kraft 
zur Arbeit, zum Forschen gibt, so muß er eine schwere 
Krisis hinter sich haben, muß eine Zeit erlebt haben, 
wo Mut und Kraft zu erlahmen drohten, weil ihm die 
Möglichkeit des Wissens und damit des Lehrens und 
Wirkens zu entschwinden schien. Wie leicht ein Mann, 
der vom sokratischen Bekenntnis des Nichtwissens aus. 
ging, in diese Krisis geraten konnte, das liegt auf der 
Hand. Im Menon hat Plato das Gefühl, über die Sokratik 


192 Menon. 


hinausgewachsen zu sein und sich einen neuen Boden, 
eine sichere Grundlage für eine eigene Weltanschauung 
geschaffen zu haben. Und wenn er auch über diese 
positiv noch kaum etwas sagt, so hat er doch über sie 
schon ganz bestimmte Vorstellungen. Das dürfen wir 
wohl daraus schließen, daß er nicht bloß am Schluß des 
Dialoges andeutet, er könne auf der neuen Grundlage 
die Untersuchung über das Wesen der Tugend führen, 
sondern schon vorher betont, daß die Seele ja schon in 
der Präexistenz alles kennen gelernt habe und deshalb 
sich sehr wohl an alles wieder erinnern könne (81c). 

Plato betont p. 86c ausdrücklich, daß die Lehre von der 
Wiedererinnerung für ihn zunächst den Wert einer Arbeitshypo- 
these hat, die nicht sicher erwiesen ist. Aber daß er für diese 
Hypothese wissenschaftlichen Charakter in Anpruch nimmt, das 
spricht er in seiner feinen Weise gleich zu Anfang aus, wenn 
er seine Gewährsmänner bezeichnet als die Priester und Prieste- 
rinnen ὅσοις μεμέληκε περὶ ὧν μεταχειρίζονται λόγον οἵοις τ᾽ εἶναι 
διδόναι (81a). Denn das heißt doch, daß die Orphiker bemüht 
sind, ihre Religion wissenschaftlich zu gestalten, sogut wie die 
Medizin deshalb eine Wissenschaft ist, weil sie λόγον ἔχει τούτων 
ἑκάστου δοῦναι (Gorg. 501a), und dadurch gewinnt nun natürlich 
auch seine feierliche Versicherung, daß er an diese Anschauung 
glaubt (81 6), die rechte Bedeutung‘). 

Ehe wir Platos Fortschreiten auf dem neuen Wege ver- 
folgen, werfen wir einen Blick auf den Gorgias zurück. Daß 
dieser dem Menon unmittelbar vorangegangen ist, haben wir aus 
verschiedenen Zeichen erschlossen. Im Menon ist Plato voller 
freudiger Hoffnung, aber er blickt zurück auf eine kritische Zeit, 
wo seine Freudigkeit zu erlahmen drohte, weil er an der Mög- 
lichkeit des Erkennens und Lehrens selber zweifelte. Ich denke, 
so wird es uns erst vollständig klar, wie es kommt, daß der Gorgias 
von allen platonischen Dialogen die trübste Stimmung zeigt. 

Als höchstes Ziel schwebte ihm schon im Gorgias, das sahen 
wir durch die Analyse des Dialogs, die politisch - ethische Refor- 
mation des ganzen Volkes vor. Aber den Weg, der zu diesem 
Ziele führte, sah er noch nicht. Nun kam die Entdeckung, von 


1) Das ist bei Ritter S. 571—573 nicht beachtet. 


Sophistik und Rhetorik. 193 


der im Menon sein Herz voll ist, und gab ihm die Gewißheit, 
daß das Wissen möglich sei, daß es möglich sei, auf andre sitt- 
lich einzuwirken. Sollen wir nicht erwarten, daß er jetzt ver- 
sucht hat, von der neuen Basis aus den Weg zum höchsten Ziele 
zu finden? 


Anhang. 
Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


Kürzlich hat Heinrich Gomperz in seinem in den Einzel- 
heiten vielfach anregenden und förderlichen Buche „Sophistik 
und Rhetorik“, Leipzig 1912 den Nachweis versucht, daß das 
Wesen der Sophistik überwiegend, wenn nicht ausschließlich, 
durch das rhetorische Interesse bestimmt ist. „Grade in dieser 
bewußten Proklamierung eines formalen Bildungsideals, in diesem 
Bekenntnis zu einer rhetorischen Kultur erblicke ich jenes Mo- 
ment, das neben der äußerlichen Gemeinschaft der Berufsübung 
und im Zusammenhange mit ihr die Sophisten zu einer Einheit 
zusammenschloß“ (S. 41). Daß Gomperz hier mit Unrecht die for- 
male Kunst wesentlich als Beredsamkeit faßt, daß er das rheto- 
rische Interesse stark übertreibt, hat schon Wendland in den 
Göttinger gel. Anzeigen 1913, S. 53ff. auf Grund der erhaltenen 
Fragmente vortrefflich ausgeführt. Wir dürfen hinzufügen, daß 
Gomperz’ Auffassung der Sophistik im schärfsten Gegensatz zu 
der des sachkundigsten Zeitgenossen, zu der Platos steht. 

Es ist für Gomperz verhängnisvoll gewesen, daß er nicht 
von dieser Auffassung der Zeitgenossen, sondern von subjektiven 
allgemeinen Erwägungen ausgegangen ist. Für ihn ist es von 
vornherein Voraussetzung, daß die Griechen des fünften und 
vierten Jahrhunderts die Sophisten als eine einheitliche Gruppe 
empfanden, und zwar keineswegs nur im Sinne einer äußerlichen 
Berufsgemeinschaft, sondern auch in der einer gemeinsamen Ver- 
tretung bestimmter Denkweise und Lebensanschauung (S. 39), 
und er sucht nun nach einem Moment, das von diesem Gesichts- 
punkte aus die Sophisten zu einer Einheit zusammenschließen 
konnte. Dieses Moment findet er aus allgemeinen Gründen in 
der Rhetorik und geht nun erst nachträglich an die Prüfung 
heran, ob diese Annahme sich an den Fragmenten und an 
den Zeugnissen der Zeitgenossen bestätigt. 

Mit den Zeugnissen der Zeitgenossen, die er für seine Auffas- 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. ᾿ 13 


194. Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


sung anführt, ist es aber sehr schlecht bestellt. Unberechtigt ist zu- 
nächst die Art, wie er aus Aristophanes’ Wolken die Gesamtvor- 
stellung, die man in Griechenland von der Sophistik hegte, gewinnt. 
Er stellt fest, daß Aristophanes in der Person des Sokrates zwei 
Elemente verbindet, die Naturphilosophie und die Kunst, dem λόγος 
ἄδικος zum Siege zu verhelfen. „Da wir nun wissen, daß dieses Ele- 
ment des Aristophanischen Bildes (die Erforschung der himm- 
lischen Dinge) nur zu den Naturphilosophen, zu den Sophisten 
aber gar nicht paßt, so müssen wir annehmen, was von jenem 
Bilde nach Abzug dieses Elementes übrig bleibt, sei etwa das- 
jenige, was dem großen Komödiendichter als Kennzeichen ‚der 
Sophistik‘ erschien“ (S. 39). Ich kann in diesem Satze nur eine 
petitio principi sehen‘. Denn das soll doch grade erst be- 
wiesen werden, daß das Lehren der Naturphilosophie — nur um 
das Lehren, nicht um die Wissenschaft handelt es sich hier na- 
türlieh — für die Zeitgenossen nicht zum Wesen der Sophistik 
gehört. Ich glaube, grade die Wolken zeigen uns deutlich, daß 
das athenische Publikum im sophistischen Lehrbetriebe sich den 
Unterricht in naturphilosophischen, geographischen, gramma- 
tischen, rhetorischen Dingen friedlich nebeneinander dachte, und 
z. B. bei Hippias lehrt ja doch die nicht voreingenommene Inter- 
pretation der Fragmente, daß sein Unterricht sich tatsächlich auf 
all diese Gegenstände und noch etliche mehr erstreckte. 
Gomperz beruft sich auch auf zwei ausdrückliche Äuße- 
rungen der Zeitgenossen. Aber wenn bei Thukydides III, 38, 7 
Kleon den Athenern vorwirft, sie glichen mehr dem Auditorium 
eines Sophisten als Leuten, die ernsthaft über politische Ange- 
legenheiten beraten, so beweist doch das nur die allbekannte Tat- 
sache, daß der Sophist in einer formvollendeten Epideixis sich 
dem Publikum vorstellte. Aber daß eine solche Epideixis nicht 
auch der Schaustellung sachlicher Kenntnisse dienen konnte, daß 
etwa eine Epideixis gar ein erschöpfendes Bild der sophistischen 
Ausbildung gab, das kann doch kein Unbefangener herauslesen. 
Außer dieser Thukydidesstelle führt Gomperz von Zeitge- 
nossen nur die beiden Stellen des Gorgias an (465c und 520a), 
1) Eine ähnliche petitio prineipii ist es, wenn Gomperz als Beweis dafür, 
daß Hippias ein Lehrer der Beredsamkeit war, S. 73 einzig die Stelle Apol. 19c 
anführt, obwohl er selber zugeben muß: „direkt bezeugt wird hier allerdings 


nur Jugendunterricht im allgemeinen“. — Natürlich bezweifle ich übrigens nicht, 
daß Hippias auch Rhetorik gelehrt hat. 


Heinrich Gomperz’ Auffassung der Sophistik. 195 


wo Plato hervorhebt, daß praktisch der Rhetor dem Sophisten 
ganz ähnlich ist, wenn nicht mit ihm zusammenfällt. Aber er 
übersieht dabei ganz, daß die ῥήτορες, von denen im Hauptteil 
des Gorgias die Rede ist, gar nicht die Berufsrhetoren, sondern 
die praktischen Redner sind (vgl. S. 150). Insbesondere an der 
von Gomperz angezogenen Stelle 520a ist es ganz klar, daß die 
ῥήτορες, die Plato mit den σοφισταί vergleicht, nicht das geringste 
mit den Lehrern der Rhetorik zu tun haben. Es sind die Staats- 
männer, οἱ φάσκοντες προεστάναι τῆς πόλεως, wie Plato dort mit 
größter Deutlichkeit 520a 519be sagt, Männer wie Perikles, Themi- 
stokles (519a), Kallikles, die auf die Berufslehrer, die Sophisten, 
als ἄνθρωποι οὐδενὸς ἄξιοι (520a) verächtlich herabsehen und 
sich nun von Plato sagen lassen müssen, daß sie tatsächlich nicht 
besser sind als diese, da sie ebensowenig wie diese das Beste 
des Volkes im Auge haben und nur eine Afterkunst treiben. 
Plato will also zeigen, daß zwei Tätigkeiten, die man selbstver- 
ständlich als ganz verschieden ansah, politische Beredsamkeit 
und sophistischer Unterricht, insofern zusammengehören, als sie 
beide Einfluß auf das Leben des Volkes suchen, ohne dessen 
Wohl wahrhaft fördern zu können. Mit der Frage, wie weit 
man den rhetorischen Unterricht als charakteristisch für die So- 
phistik und ihre Erziehungsmethode empfand, hat diese Stelle an 
sich nichts zu tun. 

Aber in dieser Erörterung fällt nun allerdings ein von Gom- 
perz nicht beachtetes Wort, das uns deutlich zeigt, wie man die 
Sophistik auffaßte. Es heißt 519e: οἱ σοφισταὶ τἄλλα σοφοὶ ὄντες 
τοῦτο ἄτοπον ἐργάζονται πρᾶγμα" φἅσκοντες γὰρ ἀρετῆς διδάσκα- 
λοι εἶναι πολλάκις κατηγοροῦσι τῶν μαϑητῶν ὡς ἀδικοῦσι σφᾶς αὐ- 
τούς (vgl. 519 extr. τῶν φασκόντων παιδεύειν ἀνθρώπους εἰς ἀρε- 
τήν). Also nicht Rhetorik, sondern ἀρετή wollen die Sophisten 
lehren, und daß bei ἀρετή hier an die Sittlichkeit, speziell die 
δικαιοσύνη gedacht ist, ergibt der Zusammenhang. Deutlich ist aber 
auch, daß Plato mit diesen Worten das ἐπάγγελμα, die Profession 
der Sophisten angeben will. Und diese Bezeichnung der So- 
phisten als ἀρετῆς διδάσκαλοι hat bei Plato auch sonst die 
Bedeutung eines festen Terminus. 

Das zeigt schon die grundlegende Stelle des Protagoras, wo 
Plato die Entstehung der Sophistik schildert (348e, Sokrates 
spricht zu Protagoras): σὺ δὲ καὶ αὐτὸς dyadög εἶ καὶ ἄλλους 

13* 


196 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


οἷός T εἶ ποιεῖν ἀγαθούς, καὶ οὕτω πεπίστευκας σαυτῷ, ὥστε καὶ 
ἄλλων ταύτην τὴν τέχνην ἀποκρυπτομένων σύ γ᾽ ἀναφανδὸν σεαυ- 
τὸν ὑποκηρυξάώμενος eis πάντας τοὺς “ἤλληνας, σοφιστὴν ἐπονο- 
udoag σεαυτόν, ἀπέφηνας παιδεύσεως καὶ ἀρετῆς διδάσκαλον, 
πρῶτος τούτου μισϑὸν ἀξιώσας ἄρνυσϑαι. Ob der Ausdruck, wie 
es diese Stelle nahelegt, von Protagoras selber stammt, lasse ich 
dahingestellt. Jedenfalls treffen wir ihn technisch nicht bloß an 
der besprochenen Gorgiasstelle, sondern auch in dem Dialog, der 
das Problem der Lehrbarkeit der Tugend wieder aufnimmt, im 
Menon. Dort fragt Menon 896: ἀρετῆς διδάσκαλοι οὐ δοκοῦσί 
σοι εἶναι; Als solche kommen zunächst die berufsmäßigen Tugend- 
lehrer in Betracht, und Sokrates fragt deshalb 91b Anytos, ob 
man nicht den Erziehungsbedürftigen schicken solle παρὰ τούτους 
τοὺς ὑπισχνουμένους ἀρετῆς διδασκάλους εἶναι καὶ ἀπο- 
φήναντας αὑτοὺς κοινοὺς τῶν ᾿Βλλήνων τῷ βουλομένῳ μανϑάνειν, 
μισϑὸν τούτου ταξαμένους τε καὶ πραττομένους (das Zitat der 
Protagorasstelle ist hier offensichtlich. Da Anytos sich über 
diesen Gedanken entsetzt, wird mit ihm weiter erörtert, ob ein 
Praktiker ἀρετῆς διδάσκαλος — der Terminus fällt 986. — ge- 
wesen sei. Nach seinem Weggang fragt aber Sokrates Menon 
nochmals (95b): οἱ σοφισταὶ οὗτοι, οἵπερ μόνοι ἐπαγγέλλονται, 
δοκοῦσι διδάσκαλοι εἶναι ἀρετῆς; Menon antwortet: Καὶ Ποργίου 
μάλιστα, ὦ Σώκρατες, ταῦτα ἄγαμαι, ὅτι οὐκ ἄν ποτε αὐτοῦ τοῦτο 
ἀκούσαις ὑπισχνουμένου, ἀλλὰ χαὶ τῶν ἄλλων καταγελᾷ, ὅταν 
ἀκούσῃ ὑπισχνουμένων * ἀλλὰ λέγειν οἴεται δεῖν ποιεῖν δεινούς. Auf 
die Sonderstellung, die damit Gorgias gegeben wird, haben wir 
schon 5. 170 hingewiesen und kommen gleich darauf zurück. 
Hier ist für uns wichtig, daß Plato es als einen scharfen Gegen- 
satz zur Sophistik betrachtet, wenn jemand darauf verzichtet, 
ἀρετῆς διδάσκαλος zu sein und sich die formale rhetorische Aus- 
bildung als Ziel steckt. 

Daß Protagoras selber nichts ferner gelegen hat als der Ge- 
danke, das Wesentliche der Sophistik sei die rhetorische Aus- 
bildung, das sehen wir aus seinen eigenen Ausführungen, die 
Plato Prot. 348e nur kurz zusammenfaßt. Denn offenbar gibt 
Plato doch vorher 316dff. des Sophisten eigene Gedanken wieder, 
wenn er ihn erklären läßt, die Sophistik sei eine Erziehungs- 
kunst, die seit alter Zeit geübt worden sei. Als seine Vorgänger 
betrachtet er die Dichter wie Homer, die Lehrer der Gymnastik 


Die Sophisten sind die ἀρετῆς διδάσκαλοι. 197 


wie Ikkos und Agathokles, also die Männer, die nach griechischer 
Auffassung als Erzieher zur xa/oxdyadia gelten konnten. Ihr 
Nachfolger will Protagoras sein. Hätte er die Erziehung aus- 
schließlich auf die Rhetorik basiert, würde er wohl andre An- 
knüpfungspunkte gesucht haben. 

Daß für Plato die Sophisten die Männer sind, die zur ἀρετή 
erziehen wollen, zeigen noch andre Stellen. In der Apologie 
werden Gorgias, Prodikos, Hippias, Euenos als die Männer ge- 
schildert, die es verstehen, die jungen Leute zu erziehen und 
ihnen die πολιτικὴ ἀρετή beizubringen. Von Rhetorik fällt kein 
Wort‘). Auch später erscheinen Männer wie Prodikos und Hip- 
pias bei Plato nie als Rhetoren. Von Protagoras wird wohl im 
Phaidros erwähnt, daß er durch seine ὀρϑοέπεια die Rhetorik ge- 
fördert habe (267c), aber Rhetor ist auch er für Plato nicht, und 
in der Apologie, die er dem Protagoras im Theaetet 166.7 ın 
den Mund legt, wird in einer an den Gorgias erinnernden Zu- 
sammenstellung ausdrücklich von dem Redner, der durch seine 
öffentliche Tätigkeit die Anschauungen des ganzen Volkes leitet, 
der Sophist geschieden, der sich auf die Jugenderziehung be- 
schränkt: χατὰ δὲ τὸν αὐτὸν λόγον καὶ ὃ σοφιστὴς τοὺς παιδευ- 
ομένους οὕτω (ἃ. ἢ. durch Beibringung besserer Erkenntnisse und 
Anschauungen) δυνάμενος παιδαγωγεῖν σοφός τε καὶ ἄξιος πολλῶν 
χρημάτων τοῖς παιδευϑεῖσιν (1670). Nehmen wir noch hinzu, 
daß auch in den sophistischen Doppelreden 6, 7 der Terminus 
ἀρετᾶς διδάσκαλοι uns wieder begegnet: πρὸς δὲ τὰν δευτέραν 
ἀπόδειξιν, ὡς ἄρα οὐκ ἐντὶ διδάσκαλοι (Sc. ἀρετᾶς) ἀποδεδεγμένοι, 
τί μὰν τοὶ σοφισταὶ διδάσκοντι ἀλλ᾽ ἢ σοφίαν καὶ ἀρετᾶν; ohne 
daß an Rhetorik zu denken ist, und daß im achten Kapitel dort 
die Rhetorik nur als einzelner Zweig des sophistischen Unter- 
richts erscheint, der ebensogut z. B. auch die Unterweisung in 
der Naturwissenschaft umfaßt, so dürfen wir wohl sagen: Die 
Anschauung, daß die Rhetorik das Gharakteristikum der 
Sophistik sei, steht im schärfsten Gegensatz zu der Auf- 
fassung Platos und seiner Zeitgenossen. Für sie sind die 
Sophisten die Männer, die als ihr Ziel die Erziehung der 
Jugend haben, die ἀρετῆς διδάσκαλοι. Natürlich bildet die 
formale Ausbildung ein Stück ihres Unterrichts, aber wer wie 


!) Über die falsche Benutzung der Stelle durch Gomperz vgl. S. 1941. 
2) Über diese Apologie vgl. sonst Gomperz 5. 261#f. 


198 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


Gorgias diese formale Ausbildung als sein eigentliches Ziel be- 
trachtet, stellt sich damit in Gegensatz zu Protagoras, dem Be- 
gründer der Sophistik, und zu der in dieser herrschenden Richtung. 

Welches ist nun die ἀρετή, zu der die Sophisten erziehen 
wollen, und welcher Weg führt zu ihr? Hier können wir jetzt 
auf das zurückgreifen, was uns die Analyse der platonischen 
Dialoge, zunächst des Hippias und Protagoras, gelehrt hat. Wir 
sahen (S. 81), daß Plato dort zwei Richtungen innerhalb der 
Sophistik mit aller Bestimmtheit scheidet. Die eine ist vertreten 
durch den Altmeister der Sophistik, durch Protagoras. Die andre 
hat ihren typischen Vertreter in Hippias. Beide haben als Ziel 
die Ausbildung der Jugend zur πολιτικὴ ἀρετή, das βελτίους 
ποιεῖν τοὺς νέους. Während aber Protagoras das Wesen der 
πολιτικὴ ἀρετή, wie besonders der Mythos zeigt (S. 80), in der 
σωφροσύνη und δικαιοσύνη findet und deshalb bewußt eine sitt- 
liche Erziehung zum Ziele nimmt, denkt der πολυμαϑής Hippias 
bei der πολιτικὴ ἀρετή nur an die Fähigkeit, sich im öffentlichen 
Leben durchzusetzen und steckt sich für seine Erziehungstätigkeit 
das Ziel, eine Menge von Kenntnissen, eine „allgemeine Bildung“ 
zu vermitteln. Natürlich will Plato dabei nur zwei Hauptrich- 
tungen sondern, und er legt keinen Wert darauf, etwa einen 
Mann wie Prodikos einzuordnen. Immerhin ist die Absıcht der 
Schonung diesem gegenüber unverkennbar, und wir werden ihn 
eher zu der Seite rechnen, die offenbar Plato mit größerer Sym- 
pathie behandelt. 

Trotz dieser Verschiedenheiten betrachtet Plato im Prota- 
goras die Sophisten als eine einheitliche Gruppe. Das zeigt sich 
am besten darin, daß er in dem Vorgespräch 312—314 das Wesen 
„des Sophisten“ zu bestimmen sucht. Die Definition, die er noch 
im Sophistes 223f. wieder verwertet, lautet (313d): ὁ σοφιστὴς 
τυγχάνει ὧν ἔμπορός τις ἢ κάπηλος τῶν ἀγωγίμων, dp ὧν ψυχὴ 
τρέφεται, und als die geistigen Waren, mit denen er hausiert, 
werden die μαϑήματα bezeichnet. Nehmen wir die andern Be- 
stimmungen des Protagoras hinzu, so ergibt sich: Plato be- 
trachtet trotz aller Verschiedenheiten im einzelnen die Sophisten 
als eine einheitliche Klasse. Es sind die Männer, die für Geld 
den Beruf des Jugendbildners ausüben. Charakteristisch ist da- 
bei für sie, daß sie Kenntnisse beibringen, die sie sich nicht 
selbst erarbeitet haben, sondern nur vermitteln. 


Die Rhetorik ist für Plato zuerst nur sekundäres Moment. 199 


Am wichtigsten ist dabei für uns, daß in diesen Dialogen 
Plato das formale Moment der Rhetorik bewußt ausscheidet. 
Ganz unberücksichtigt läßt er es natürlich nicht. Denn ab- 
gesehen davon, daß Protagoras sich als Meister der Form prä- 
sentiert, erklärt er als sein Erziehungsprinzip: τὸ δὲ μάϑημά 
ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ 
οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως, ὅπως τὰ τῆς πόλεως 
δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν (318e). Aber be- 
zeichnend ist, daß das sachliche Moment, die εὐβουλία, das 
eigentliche Ziel ist und daß nur, soweit diese im öffentlichen 
Leben sich nützlich machen soll, auch die rhetorische Ausbildung 
am Schluß ein Plätzchen findet‘). Daß Plato mit vollem Be- 
wußtsein so vorgeht, zeigt uns die grundsätzliche Erklärung, die 
er in dem Gespräch über das Wesen der Sophistik abgibt. Denn 
hier lehnt er p. 312d, wie wir schon S. 131 sahen, mit voller 
Bestimmtheit die Definition des Sophisten als ἐπιστάτης τοῦ ποι- 
ἦσαι δεινὸν λέγειν ab und scheidet das formale Moment für die 
Wesensbestimmung des Sophisten aus. Nur auf den Charakter 
der materiellen Kenntnisse, die der Sophist übermittelt, kommt 
es an. Wenn er, um die jungen Leute für die öffentliche Tätig- 
keit vorzubereiten, auch die Fähigkeit der Rede lehrt, so ist dieser 
rhetorische Unterricht ein sekundäres Moment, das sich aus dem 
Hauptziel, der Erziehung zur πολιτικὴ ἀρετή, nebenher ergibt. 

Aber der rhetorische Unterricht war praktisch jedenfalls für 
Männer wie Gorgias von solcher Wichtigkeit, daß mit einer 
solehen Erklärung die Sache auf die Dauer nicht erledigt war. 
Daher kommt Plato im Gorgias auf die Frage zurück. Hier geht 
er, wie wir sahen (8. 132), ausdrücklich von den kurzen An- 
deutungen des Protagoras aus, sucht aber nun zu zeigen, wer 
das sekundäre Moment, die rhetorische Ausbildung, zum primären 
erhebe, könne sich dann nicht mehr, ohne in innere Widersprüche 
zu geraten, ἀρετῆς διδάσκαλος nennen, müsse auf die sittliche Er- 
ziehung verzichten. Voraussetzung war dabei für Plato, daß 
Gorgias diese sittliche Erziehung tatsächlich als Ziel vorschwebe. 
Aber Gorgias zog nun die Konsequenzen aus seiner Erziehungs- 
methode. Ich muß die wichtige Stelle des Menon (95b), obwohl 


1) H. Gomperz, $. 127 verschiebt Platos bewußte Anordnung, wenn er trotz- 
dem das rhetorische Element für das wesentliche erklärt und die εὐβουλία in 
den Hintergrund drängt. 


200 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


ich sie schon S. 169 ausführlich behandelt habe, nochmals her- 
setzen: 8. Ti δὲ δή; οἱ σοφισταί σοι οὗτοι, οἵπερ μόνοι ἐπαγγέλλον- 
ται, δοκοῦσι διδάσκαλοι εἶναι ἀρετῆς; M. Καὶ Ποργίου μάλιστα, ὦ 
Σώκρατες, ταῦτα ἄγαμαι, ὅτι οὐκ ἄν ποτε αὐτοῦ τοῦτο ἀκούσαις 
ὑπισχνουμένου, ἀλλὰ καὶ τῶν ἄλλων καταγελᾷ, ὅταν ἀκούσῃ ὑπισχ- 
νουμένων" ἀλλὰ λέγειν οἴεται. δεῖν ποιεῖν δεινούς. Wieder er- 
scheint hier der Sophist als der Tugendlehrer, und Gorgias stellt 
sich nun mit dieser Erklärung, die Plato gewiß authentisch mit- 
teilt, nicht etwa in Gegensatz zu den übrigen Sophisten, sondern 
zu den Sophisten überhaupt. Er fühlt sich als Redelehrer und 
sondert sich deshalb von der Sophistik ab. 

Wenn wir Protagoras, Gorgias, Menon noch einmal über- 
blicken, so müssen wir sagen: Es kann keine Rede davon 
sein, daß etwa zu der Zeit, wo Plato den Protagoras 
schrieb, die Sophistik bewußt ein formales Bildungs- 
ideal proklamiert hatte oder daß man das stillsch wei- 
gende Bekenntnis zu diesem Ideal als charakteristisch 
für die Sophisten empfand. Sie waren die ἀρετῆς δι- 
δάσκαλοι. Zu ihrem Unterricht gehörte die Rhetorik. 
Der eine betrieb sie praktisch weniger, der andere mehr, 
bei manchem wie Gorgias nahm sie die erste Stelle ein. 
Aber zu einer prinzipiellen Klarheit über das Bildungs- 
ideal war es nicht gekommen. Erst Plato hat im Gorgias 
das Wesen einer formal-rhetorischen Bildung scharf 
herausgearbeitet. Und Gorgias hat, um nicht in Wider- 
spruch zu geraten, ausdrücklich sich zu diesem Bildungs- 
ideal bekannt. Aber damit hat er sich von den ἀρετῆς 
διδάσκαλοι, den Sophisten, abgesondert. 

Ein paar Jahre nach Gorgias’ programmatischer Erklärung 
hat Isokrates seine Schule in Athen eröffnet. Daß das nicht 
bloß eine Filiale des Gorgias sein sollte, zeigt der Stil seiner 
Programmschrift. Aber in seiner Grundanschauung war er frei- 
lich Gorgianer und wollte sich als solcher zeigen. Man hat sich 
bisher, soviel ich sehe, die Frage nicht scharf präzisiert, wie 
Isokrates seiner Programmschrift den Titel κατὰ τῶν σοφιστῶν 
eeben und sich somit in Gegensatz zu den Sophisten stellen 
konnte. Verstehen kann man ihn, glaube ich, nur, wenn man 
von der im Menon erhaltenen Erklärung des Gorgias ausgeht. 
Denn die Sophisten, gegen die Isokrates polemisiert, werden 


Die Herausarbeitung des formal-rhetorischen Bildungsideals. 201 


gleich zu Anfang gekennzeichnet als die Leute, die behaupten, 
ἀρετῆς διδάσκαλοι zu sein, und genau wie Gorgias erklärt Isokrates 
solche Versprechungen für übertrieben und lächerlich (1—8) '). 

Er selbst will wie Gorgias zur Tüchtigkeit im öffentlichen 
Leben durch die formale Ausbildung der Rede erziehen (τὴν τῶν 
λόγων τῶν πολιτικῶν ἐπιμέλειαν 21). Nun gab es aber damals 
in Athen seit einiger Zeit”) schon Leute, die auch die πολιτικοὶ 
λόγοι zu übermitteln versprachen. Von ihnen scheidet Isokrates 
sich im nächsten Abschnitt (9—13). Diese Leute glauben die 
Kunst der Rede, die dem künstlerischen Schaffen des Dichters 
entspricht, nach einer festen Schablone behandeln zu können’) 
und drücken damit die Lehrtätigkeit des Rhetors auf das Niveau 
des Elementarlehrers herab. Ihnen gegenüber entwickelt dann 
Isokrates in einem wieder von Gorgias stark beeinflußten*) Ab- 
schnitt (14—18) positiv, daß dieses mechanische Lehren der Rhe- 
torik überhaupt nicht möglich ist, da der Erfolg des Unterrichts 
nicht bloß von der ἐπιστήμη abhängig ist, sondern die gute 
Naturanlage des Schülers und vor allem die lange Übung und 
das Vorbild des Lehrers wirken muß. 


ἢ Vgl. 3 σύμπασαν δὲ τὴν ἀρετὴν καὶ τὴν εὐδαιμονίαν οὕτως ὀλίγου τι- 
μῶντες, ὡς νοῦν ἔχοντες διδάσκαλοι τῶν ἄλλων ἀξιοῦσιν γίγνεσϑαι. Wenn 
er gleich darauf sich über diese Leute lustig macht, die τὴν ἀρετὴν καὶ τὴν 
σωφροσύνην ἐνεργαξζόμενοι doch sich über das Unrecht und die Undankbarkeit 
der Schiller beklagen, so ist die Übereinstimmung mit Gorg. 519c gewiß kein 
Zufall. Natürlich kann hier nicht etwa Gorgias für beide Vorbild sein, sondern 
Plato ist original. 

?) Vgl. die gleich aus $ 19 anzuführende Stelle. Auf die besonders von 
Gercke, Hermes 32, Rh. Mus. 54 und Süß, Ethos 5. 31ff. behandelte Frage, an 
wen Isokrates hier denkt, kann ich nicht eingehen. Beistimmen möchte ich nur 
Süß darin, daß in 9—13 nur eine Klasse von Gegnern kritisiert wird. Wichtig 
ist für diese, daß sie im Gegensatz zu den 19.20 geschilderten Dikographen 
eine allgemeine παιδεία zu geben behaupten. 

?») 12 οἱ ποιητικοῦ πράγματος τεταγμένην τέχνην παράδειγμα φέροντες 
λελήϑασιν σφᾶς αὐτούς. Der γραμματοδιδάσκαλος kann eine ganz feste τέχνη 
anwenden, aber es ist verkehrt, solche Prinzipien auf die Rhetorik zu übertragen. 

Ὁ Vgl. Gercke und Süß. — Wenn Isokrates $ 14 sagt: ἡγοῦμαι πάντας 
dv μοι τοῖς εὖ φρονοῦντας συνειπεῖν, ὅτι πολλοὶ μὲν τῶν φιλοσοφησάντων 
ἰδιῶται διετέλεσαν ὄντες, ἄλλοι δέ τινες οὐδενὶ πώποτε συγγενόμενοι τῶν σο- 
φιστῶν καὶ λέγειν καὶ πολιτεύεσθαι δεινοὶ γέγονασιν, so sind das die alten 
Argumente gegen die Lehrbarkeit der Tugend. Vgl. Dialexeis 6, ὅ. 6: τέταρτα 
δέ, ὅτι ἤδη τινὲς παρὰ σοφιστὰς ἐλϑόντες οὐδὲν ὠφέληϑεν. πέμπτα δέ, ὅτι 
πολλοὶ οὐ συγγενόμενοι σοφισταῖς ἄξιοι λόγω γεγένηνται. Vgl. S, 91. 


202 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


Οἱ μὲν οὖν ἄρτι τῶν σοφιστῶν ἀναφυόμενοι καὶ νεωστὶ προσ- 
πεπτωκότες ταῖς ἀλαζονείαις εἰ καὶ νῦν πλεονάζουσιν, εὖ οἶδ᾽ ὅτι 
πάντες ἐπὶ ταύτην κατενεχϑήσονται τὴν ὑπόϑεσιν. Λοιποὶ δ᾽ ἡμῖν 
εἰσιν οἵ πρὸ ἡμῶν γενόμενοι καὶ τὰς καλουμένας τέχνας γράψαι 
τολμήσαντες (19). Dies sind die Fachrhetoren, die überhaupt keine 
allgemeine Ausbildung geben wollten und sich auf die Vorbereitung 
für die Gerichtsrede beschränkten. Sie haben der Rhetorik erst 
recht geschadet. Denn wenn die in 1—8 geschilderten Sophisten 
ἀρετῆς διδάσκαλοι zu sein behaupteten, gilt von diesen: πολυ- 
πραγμοσύνης καὶ πλεονεξίας ὑπέστησαν εἶναι διδάσκαλοι (19. 20). 

Καίτοι τοὺς βουλομένους πειϑαρχεῖν τοῖς ὑπὸ τῆς φιλοσοφίας 
ταύτης προσταττομένοις πολὺ ἂν ϑᾶττον πρὸς ἐπιείκειαν ἢ πρὸς 
δητορείαν ὠφελήσειεν. Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung ist 
freilich, das betont Isokrates nochmals, nicht lehrbar. Er ver- 
spricht nicht, ἀρετῆς διδάσκαλος zu sein. Aber wer sittlich gut 
veranlagt ist, der wird allerdings durch Isokrates’ Unterricht die 
beste Förderung erfahren (21). 

Von dem Gegensatz gegen die φάσκοντες ἀρετῆς διδάσκαλοι 
εἶναι geht Isokrates aus‘), und deutlich ist dabei, daß er in der 
ἀρετή die sittliche Beschaffenheit sieht. Dann faßt er freilich, 
was nach dem Gebrauch von ἀρετή möglich war, den Begriff 
Sophist in weiterem Sinne und versteht darunter alle, die eine 
höhere Ausbildung für Geld geben, sogar die Fachrhetoren, aber 
bezeichnend ist, daß er am Schluß zum Ausgangspunkt zurück- 
kehrt und sich nochmals zu den φάσκοντες ἀρετῆς διδάσκαλοι εἶναι 
in Gegensatz stellt. Daß er damit an die Auseinandersetzung 
zwischen Plato und Gorgias anknüpft und sich als Gorgianer 
bekennt, ist offenbar. Gorgianisch ist es gewiß auch, wenn er 
die Unmöglichkeit, die Tugend — oder auch die Rhetorik — 
mechanisch zu lehren, mit dem Hinweis auf die Bedeutung der 
Naturanlage und der praktischen Übung begründet. Aber eine 
Entfernung vom gorgianischen Standpunkt ist es wohl, wenn er 
ausdrücklich doch eine erziehliche Wirkung für seinen Unter- 
richt in Anspruch nimmt’). Lehren kann er die Sittlichkeit nicht, 
aber bei der unumgänglich notwendigen guten Anlage wird sein 


!) Bei diesen denkt er gewiß auch an Sokratiker wie Antisthenes, während 
Plato, der nicht für Geld lehrt, nicht in Betracht kam. 

3) Wenigstens spricht nichts dafür, daß Gorgias die sittliche Einwirkung 
als notwendige Folge der Formalbildung aufgefaßt habe. 


Das Bildungsideal in Isokrates’ Sophistenrede. 203 


Unterricht die beste sittliche Förderung geben (21). Damit hat 
sich das Verhältnis der beiden Faktoren freilich verschoben. Ur- 
sprünglich war die Erziehung zur ἀρετή das eigentliche Ziel, die 
formale Ausbildung ein sekundäres Moment. Gorgias hatte zu- 
nächst praktisch das sekundäre Moment an erste Stelle gerückt 
und es dann wohl ausdrücklich als sein alleiniges Ziel proklamiert. 
Isokrates will auf die sittliche Erziehung nicht verzichten, aber 
sie wird für ıhn ein sekundäres Element, das bei der formalen 
Ausbildung von selbst abfällt. 

Wieweit bei dieser Berücksichtigung der sittlichen Erziehung 
ein bewußtes Entgegenkommen gegen den platonischen Stand- 
punkt mitspielt, läßt sich schwer entscheiden. Interessant ist es 
aber zu sehen, wie hoch Isokrates faktisch dieses Moment be- 
wertet. Gorgias selber hatte sich als δήτωρ bezeichnet, seine 
τέχνη unbefangen ῥδητορική genannt (Platos Gorg. Anf.). Isokrates 
scheidet sich nicht bloß von den oogıorai'), er will auch nicht 
δήτωρ heißen. Denn da er πολὺ θᾶττον πρὸς ἐπιείκειαν ἢ πρὸς 
ῥδητορείαν ὠφελεῖ (21), so genügt dieser Name nicht, und wo er 
deshalb seine Tätigkeit bezeichnet (1. 11. 14.18 und bes. 21), 
wählt er den allgemeinen Ausdruck für das Streben nach einer 
höheren Ausbildung, φιλοσοφία ἡ. Hier mußten doch aber seine 
Leser wohl den stillschweigenden Gegensatz zu Platos Gorgias 
empfinden, wo φιλοσοφία und δητορική die beiden großen Gegen- 
sätze bilden. Isokrates will also zeigen, daß das, was er bringt, 
die höhere Einheit darstellt, in der sich diese Gegensätze auf- 
heben, daß die formale Bildung, wie er sie bezwecke, von den 
gewöhnlich gegen die Rhetorik erhobenen Vorwürfen nicht ge- 
troffen werde und zugleich eine für das praktische Leben brauch- 
bare φιλοσοφία darstelle. 

In der Berücksichtigung der sittlichen Erziehung lag eine 
gewisse Anerkennung für die Berechtigung der platonischen 
Kritik, und es ist kein Zweifel, daß diese Auffassung der for- 

1) Mit Unrecht sagt v. Arnim, Dio v. Prusa 8. 18: Schwerlich hatte er 
etwas dagegen einzuwenden, daß man ihn σοφιστής nannte. 

2) Ob Isokrates mit diesem Namen ausdrücken wollte, daß er nicht wie 
die σοφισταί Anspruch erhebe, die σοφία zu lehren, ist mir fraglich. Mit Recht 
sagt natürlich v. Arnim $. 18, daß Isokrates „auf Grund des vorsokratischen 
Sprachgebrauchs das unbestreitbare Recht hatte, sich so auszudrücken.“ Andrer- 


seits darf man aber nicht übersehen, daß er bewußt diese allgemeine Bezeich- 
nung statt σοφιστική oder ῥητορική für seine Tätigkeit wählte. 


204 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


malen Bildung Plato sympathischer sein mußte als der gorgia- 
nische Standpunkt oder gar die öde Fachrhetorik. Auf der andern 
Seite konnte er aber die Verwischung des Gegensatzes zwischen 
Philosophie und Rhetorik, den er im Gorgias angenommen hatte, 
nicht für berechtigt halten und mußte um so eher dagegen pro- 
testieren, als Isokrates mit dem Anspruch auftrat, die einzig 
richtige Ausbildung zu geben. So hat er, als er selbst seine 
Schule eröffnete, auf diesen Punkt zurückgegriffen und bei aller 
Höflichkeit gegen Isokrates mit Entschiedenheit ausgesprochen, 
daß er nach wie vor jenen Gegensatz festhalte. Freilich faßt er 
diesen Gegensatz jetzt etwas anders als im Gorgias auf. Dort 
waren Philosophie und Rhetorik die beiden Mächte, die auf das 
Leben des Volkes Einfluß gewinnen wollen, und der Unterschied 
beider war der, daß die Philosophie ein richtiges Ziel kennt und 
verfolgt, während die Rhetorik einem Trugbild nachjagt, und die 
Rhetorik wurde dort deshalb unbedingt verdammt. Jetzt faßt er 
diese rein als die formale Überredungskunst, die unter Umständen 
auch dem Guten dienen kann. Deshalb gibt er auch zu, daß 
diese praktisch eine Verbindung mit der Philosophie eingehen 
kann. Aber das kann nur so geschehen, daß sie sich als sekun- 
där gegenüber der Philosophie fühlt. Denn diese bestimmt jetzt 
Plato genauer als das Streben nach der Wahrheit, auf dem alle 
Wissenschaft beruht. Will deshalb die Rhetorik Wissenschaft 
sein, so muß sie aus der Philosophie ihre Prinzipien entnehmen. 
In diesem Falle kann sie als berechtigt gelten. Aber die Grund- 
lage muß eben immer die wissenschaftliche Ausbildung sein und diese 
kann nur die Philosophie geben, wie sie Plato versteht und lehrt ἢ). 

Damit ist die Rhetorik von neuem in die sekundäre Rolle 
verwiesen. Natürlich hat Isokrates dagegen Einspruch erhoben 
und die Allemberechtigung der platonischen φιλοσοφία damit zu 
widerlegen gesucht, daß er erklärte, jenes Streben nach der 
Wahrheit sei fruchtlos, da die Wahrheit unerreichbar sei. Darüber 
werden wir noch zu reden haben. Hier sei nur darauf hin- 
gewiesen, daß damit der Gegensatz der Bildungsideale eine neue 
Form erhielt. In der Auseinandersetzung zwischen Plato und 
Gorgias handelte es sich zunächst um den Gegensatz zwischen 
sittlicher Bildung und formaler Bildung ohne sittliches Ziel. Dabei 
war es für Plato als Sokratiker auch schon selbstverständlich, 


Ὁ Näheres im Abschnitt über den Phaidros. 


Das Bildungsideal bei Isokrates und Plato. Alkidamas. 205 


daß die sittliche Bildung auf dem Wissen beruhen müsse. Aber 
erst im Phaidros hat er als das allein berechtigte Ziel die wissen- 
schaftliche Ausbildung erwiesen, bei der sich der Mensch die Er- 
kenntnis der Wahrheit selbst erarbeitet. Ihm hat dann Isokrates 
das formale Bildungsideal gegenübergestellt, das bewußt auf die 
Erkenntnis der Wahrheit verzichtet, sich bei den vulgären An- 
schauungen beruhigt und die Kunst der Rede als das erste und 
eigentliche Ziel der Ausbildung betrachtet. 

Isokrates’ Programmschrift hat natürlich auch von anderer 
Seite Widerspruch erfahren. Er hatte in dieser zu den Sophisten, 
deren Minderwertigkeit er dartun wollte, auch die bisherigen 
Lehrer der Rhetorik gerechnet, hatte für sich allein die Fähig- 
keit beansprucht, das εὖ λέγειν zu lehren, aber gerade darum 
seine Tätigkeit nicht als δητορική, sondern als φιλοσοφία bezeich- 
net. So mußte es ihn am empfindlichsten treffen, wenn andre 
Gorgianer ihm grade den Vorwurf machten, er verstehe selbst 
nicht das ποιῆσαι εὖ λέγειν, da er selbst die freie Rede nicht be- 
herrsche und mit seinen geschriebenen und ausgefeilten Reden 
auch die Schüler nicht für diese vorbereite, Das hat Alkidamas 
in seiner Broschüre περὶ τῶν τοὺς γραπτοὺς λόγους γραφόντων 
getan‘). Daß diese gegen Isokrates’ Ansprüche gerichtet war, 
ist doch wohl durch Isokrates Replik im Panegyrikos (11) sicher. 
Es ist also eine beabsichtigte Bosheit, wenn Alkidamas beginnt 
ἐπειδή τινες τῶν καλουμένων σοφιστῶν ἱστορίας μὲν καὶ 
παιδείας ἠμελήκασι καὶ τοῦ δύνασϑαι λέγειν ὁμοίως τοῖς ἰδιώταις 
ἀπείρως ἔχουσι, γράφειν δὲ μεμελετηκότες λόγους .. μέγα φρονοῦ- 
σι. Deutlicher ist die Anspielung auf die Sophistenrede noch, 
wenn er nachher in Übereinstimmung mit Platos Phaidros ver- 
sichert, daß er selber das Schreiben nur als πάρεργον betrachte, 
τοὺς ἐπ᾽ αὐτὸ τοῦτο τὸν βίον καταναλίσκοντας ἀπολελεῖφϑαι πολὺ 
καὶ δητορικῆς καὶ φιλοσοφίας ὮὟ ὑπειληφώς, καὶ πολὺ δικαιό- 
τερον ποιητὰς ἢ σοφιστὰς προσαγορεύεσθαι νομίζων. 

1. Ob er unter den von Isokrates in der Sophistenrede Angegriffenen war, 
lasse ich dahingestellt. 

2) Das erinnert übrigens recht an die Art, wie am Schluß des Euthydem 
Plato seinem ungenannten Gegner zeigt, wer versuche, Philosophie und πολιτική 
zu verbinden, setze sich beiden gegenüber ins Nachteil — ἀμφοτέρων μετέχον- 
τες ἀμφοτέρων ἥττους εἰσὶν πρὸς ἑκάτερον πρὸς ὅ τε ἣ πολιτικὴ καὶ ἣ φιλοσο- 
φία ἀξίω λόγου ἐστόν (306 0). 

3) Vgl. 12 οἱ τοῖς ὀνόμασιν ἀκριβῶς ἐξειργασμένοι καὶ μᾶλλον ποιήμασιν 


206 Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung. 


Dieser Angriff des Alkidamas hat freilich Isokrates nicht viel 
geschadet. Um so mehr kränkte es ihn, daß die Akademie ihm 
die Geltung als φιλόσοφος bestritt. Und schließlich mußte er es 
ja erleben, daß Aristoteles kurzweg die formale Ausbildung als 
Zweig des philosophischen Unterrichts behandelte und ihr dabei 
sogar eine viel geringere Rolle zuwies, als sie selbst in der Zeit 
des Protagoras gespielt hatte. 


ἢ λόγοις ἐοικότες 34 ὅστις οὖν ἐπιϑυμεῖ ῥήτωρ γενέσϑαι δεινὸς μᾶλλον ἢ ποι- 
ητὴς λόγων ἱκανός. Daß auch hier Isokrates gemeint ist, der die Rhetorik als 
ποιητικὸν πρᾶγμα betrachtete (ca. soph. 12, vgl. S. 201) und z.B. im ᾿Ελένης 
ἐγκώμιον bewußt mit den Dichtern in Wettbewerb trat, scheint mir sicher. 
Nach Süß, Ethos S. 42 sollen freilich die urprosaischen Stücke der Techno- 
graphen mit Gedichten verglichen sein. (Die Stelle aus dem Briefe an Diony- 
5105 2 πάντες τοῖς λεγομένοις μᾶλλον ἢ τοῖς γεγραμμένοις πιστεύουσι, καὶ τῶν 
μὲν ὡς εἰσηγημάτων τῶν δ᾽ ὡς ποιημάτων ποιοῦνται τὴν ἀκρόασιν hat Süß 
S.39 falsch zur Erklärung von ποιητικός herangezogen, da er εἰσήγημα nicht 
interpretiert. „Mündliche Reden läßt man ernsthaft auf sich wirken wie einen 
offiziellen Vorschlag in Rat oder Ekklesie, schriftliche Darstellungen liest man 
wie ein Gedicht um des Genusses willen.“) 


Die sozialpolitischen Gedanken. 


IX. Die erste Ausgabe des Staates. 


Die Zeiten, wo die Erklärer von Platos Staat ihre Aufgabe 
darin sahen, überall Unstimmigkeiten und Widersprüche aufzu- 
zeigen und daraufhin das Werk in möglichst viele Stücke zu zer- 
reißen, die ebenso viele Stadien platonischer Entwicklung dar- 
stellen sollten, dürfen wir heute als überwunden betrachten. 
Campbell, Gomperz, Räder, Ritter u. a. haben gezeigt, daß die 
meisten Anstöße, die man genommen hatte, durch bewußte künst- 
lerische Absicht zu erklären sind. Insbesondere ist uns klar ge- 
worden, daß Plato nicht nur Einzelausführungen, sondern auch 
ganze Gedankenreihen zurückhält, weil er erst einen Teil des 
vielverzweigten Themas vollständig erledigen will. Und wenn im 
Gespräch auch bisweilen die Fäden scheinbar ohne Ordnung 
durcheinanderlaufen, so zeigt sich doch immer wieder, daß Plato 
sie fest in der Hand behält, bereit, sie im gegebenen Augenblick 
zu entwirren. Es ist hier nicht notwendig, auf diese Dinge 
näher einzugehen. Dagegen wird es gut sein, daran zu erinnern, 
wie man im Altertum den Aufbau des Staates beurteilt hat. 
Das beste Zeugnis dafür liefert uns ein Mann, dem man Ver- 
ständnis in Fragen künstlerischer Komposition nicht wird ab- 
sprechen können. Ich meine Üicero. 

Daß dieser in seinem Werke de re publica Platos Staat als 
künstlerisches Vorbild gewählt hat, ist bekannt‘). Weniger be- 


Anm. Diesem Aufsatz liegt im ganzen ein Vortrag zugrunde, den ich auf 
der Baseler Philologenversammlung 1907 gehalten habe. Inzwischen ist auch 
R. Adam, Archiv f. Gesch. d. Phil. 1909 S. 44 ff. zu ganz ähnlichen Ergebnissen 
gekommen. 

1) Vgl. Cic. ad Att IV, 16 


208 Die erste Ausgabe des Staates. 


achtet ist, daß er grade auch solche Eigenheiten der Komposition 
nachgeahmt hat, die bei den Modernen Anstoß erregt haben. 
Gleich das hat er besser als diese empfunden, wie die platonische 
Eingangsszene, die uns ein Bild der alten Generation mit ihren 
unsichern ethischen Grundsätzen und ihrer noch unsichereren 
Jenseitshoffnung gibt, und der grandiose Schlußmythos, der nach 
der wissenschaftlichen Fundierung der Ethik den neuen Unsterb- 
lichkeitsglauben vorträgt und begründet, aufeinander berechnet 
sind. Darum flicht Cicero in die prächtige Schilderung des 
Seipionenkreises die Erwähnung der Nebensonne ein (I, 15), die 
man zu Ciceros Zeit allgemein als Prodigium auf Scipios Tod 
(N. Ὁ. II, 14 Div. I, 97) deutete. Damit verbreitet sich von vorn- 
herein für den Leser über das folgende Gespräch, wo Scipio der 
Hauptträger ist, etwas von der weihevollen Stimmung des Phai- 
don, und diese steigert sich noch am Schluß des Werkes, wenn 
wir sehen, wie Seipios freier Geist im Grunde die Prodigienfurcht 
überwindet, da er den Tod nach einem würdig verbrachten Leben 
als Übel zu betrachten verlernt hat. Im eigentlichen Gespräch 
behandelt Cicero zuerst die Verfasssungsfrage und erweist dann 
im zweiten Buch, daß der alte römische Staat dem Ideale der 
Mischverfassung am nächsten gekommen ist. Nachdem dieser 
Teil II, 64 beendet ist, möchte Tubero noch wissen, istam ipsam 
rem publicam, quam laudas qua disciplina quibus moribus aut legi- 
bus constituere vel conservare possimus. Aber wie Plato am An- 
fang des 5. Buches als Thema des Folgenden die Erörterung der 
schlechten Verfassungen angibt, die er in Wirklichkeit erst nach 
Erledigung andrer Gegenstände im 8. und 9. Buch behandelt, so 
verfährt auch Cicero. Er bespricht erst in loser Folge die Paral- 
lele von Staat und Individuum (Schluß von II), die Frage nach 
dem Ursprung der Gerechtigkeit (III, 1—41), den Satz iustitia 
fundamentum regnorum (Schluß von Il), und erst im 4. Buch 
wird das in II, 64 angekündigte Thema durchgeführt. Der Rest 
des Werkes bringt dann die Auseinandersetzungen über den 
Staatsmann. Diese Komposition ist einzig in ihrer Art bei 
Cicero, und es ist kein Zweifel, daß er damit den Aufbau des 
platonischen Staates nachahmen wollte. Er hat also in der kunst- 
vollen Verschlingung der Themata einen besonderen Vorzug ge- 
sehen. 


Platos Politeia und Ciceros de re publica. 209 


Platos Staat ist also ein Kunstwerk, das nach einem ein- 
heitlichen Plane entworfen ist.: Aber ist damit die alte Frage, ob 
unserer Politeia eine erste Ausgabe vorangegangen ist, erledigt? 
Im Grunde ist doch damit nur anerkannt, was bei einem vom 
Autor selbst herausgegebenen Werke selbstverständlich ist. Gewiß, 
der platonische Staat ist ein Gebäude, dessen Teile überall einen 
festen Plan erkennen lassen. Das schließt aber keineswegs aus, 
daß der Architekt Bauglieder verwertet hat, die vorher eine selb- 
ständige Bedeutung hatten. Und wir sind keinesfalls der Not- 
wendigkeit überhoben, die Indizien zu prüfen, die für eine solche 
Entstehung sprechen. 

Schon die Komposition legt an manchen Stellen auch für 
den, der den festen Gesamtplan anerkennt, eine solehe Annahme 
nahe. Ich denke dabei nicht so sehr an Stellen, wo eine leise 
Änderung des Bauplanes zu bemerken ist, die sich durch eine 
Pause in der Ausführung erklären läßt‘). Ich denke an Stellen 
wie den Anfang des vierten Buches, wo Plato ohne jede Erläuterung 
sagt, aus der Erziehung werde sich die Gemeinschaft von Frauen 
und Kindern von selbst ergeben. Gewiß muß man die bewußte 
künstlerische Absicht anerkennen, wenn Plato die Erläuterung 
dieser Andeutung erst im fünften Buche bringt, aber schwerlich 
würde Plato die auffallende Lehre so eingeführt haben, hätte er 
nicht voraussetzen können, daß sie den Lesern in den Grundzügen 
bereits vertraut 56]. 

Die Beweiskraft dieser inneren Indizien wird aber stets 
subjektiv verschieden gewertet werden. Entscheidend sind 
die äußeren Momente. Da muß man zunächst daran fest- 
halten, daß es eine unantastbare Überlieferung aus dem 

1) In Betracht kommt hier besonders der Übergang vom ersten zum zweiten 
Buch. Für die frühere Abfassung des ersten Buches spricht bekanntlich auch 
die Sprachstatistik. Aber selbständig ist das erste Buch nie gewesen. Das 
zeigt die Eingangsszene, die nach Umfang und Stimmung weit über Buch I hin- 
ausweist, und die ganze Richtung, nach der die Gerechtigkeit erörtert wird. Es 
ist die soziale Gerechtigkeit (τὸ τῆς καϑεστηκυίας ἀρχῆς συμφέρον!), die ins 
Auge gefaßt wird. 

Die Disharmonie zwischen dem ersten und den folgenden Büchern muß 
Plato selbst empfunden haben. Es wäre deshalb kein Wunder. wenn er ver- 
sucht hätte, das erste Buch durch eine andre Einleitung zu ersetzen. Ich halte 
es für möglich, daß der Kleitophon, der ja in der Aufforderung gipfelt, das Wesen 
der Gerechtigkeit positiv zu enthüllen, einen solchen Versuch darstellt, mit dem 
Plato nie zu Ende gekommen ist. 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 14 


210 Die erste Ausgabe des Staates. 


Altertum gibt, die ausdrücklich von einer ersten Ausgabe des 
Staates redet. : 

Gellius XIV, 3 berichtet, daß Leute, qui de Xenophontis 
Platonisque vita et moribus pleraque omnia exquisitissime scripsere, 
von einer Rivalıtät beider Sokratiker erzählten. Sie führen an, 
daß beide sich gegenseitig in ihren Werken nicht nennen. Fer- 
ner habe Xenophon seine Kyrupädie im Gegensatz zu Platos Staat 
geschrieben, nachdem er etwa zwei Bücher des Staates, die zuerst 
erschienen waren, gelesen hatte. Plato habe sich dafür gerächt, in- 
dem er in den Gesetzen Kyros als Mann ohne jede παιδεία bezeichnete. 

Dieselbe Überlieferung finden wir bei dem platofeindlichen 
Autor bei Athen. XI 50#eff. und besonders bei Diog. L. III, 34 
in einem Abschnitt, der allgemein über die Rivalität der Sokra- 
tiker handelt. Hier heißt es: ἔοικε δὲ καὶ Ξενοφῶν πρὸς αὐτὸν 
ἔχειν οὐκ εὐμενῶς. ὥσπερ γοῦν διαφιλονικοῦντες τὰ ὅμοια γε- 
γράφασι, Συμπόσιον, Σωκράτους ἀπολογίαν, τὰ ἠθικὰ ἀπομνημο- 
νεύματα -- εἶθ᾽ ὃ μὲν Πολιτείαν ὃ δὲ Κύρου παιδείαν, καὶ Ev τοῖς 
Νόμοις ὃ Πλάτων πλάσμα φησὶν εἶναι τὴν παιδείαν αὐτοῦ ' μὴ 
γὰρ εἶναι Κῦρον τοιοῦτον --- ἀμφότεροί τε Σωκράτους μνημονεύοντες, 
ἀλλήλων οὐδαμοῦ, πλὴν Ξενοφῶν Πλάτωνος ἐν τρίτῳ ᾿Απομνης- 
μονευμάτων, und wir werden die Notiz εἶϑ᾽ ὃ μὲν Πολιτείαν ὃ 
δὲ Κύρου παιδείαν gewiß als eine kürzere Fassung der Notiz des 
Gellius ansehen dürfen. 

Die Tendenz, die namentlich bei Diogenes 34—36 hervor- 
tritt, ist die, auf die großen Gegensätze innerhalb der Sokratik 
hinzuweisen. Diese Tendenz kennen wir besonders aus der 
Schule, die von Anbeginn in einem Gegensatz zu sämtlichen So- 
kratikern stand und von diesen als gemeinsamer Gegner be- 
handelt wurde, bei den Epikureern. Da nun bei D. L. III, 36 
für die Rivalität zwischen Plato und Aischines der Epikureer 
Idomeneus als Gewährsmann genannt wird, so liegt es nahe, an 
dessen Buch über die Sokratiker als Quelle zu denken. Wir 
kämen damit in den Anfang des dritten Jahrhunderts zurück. 
Doch ist das natürlich nur eine unsichere Vermutung. 

Prüfen wir den sachlichen Wert speziell der bei Gellius 
überlieferten Notizen, so ist es natürlich richtig, daß Xenophon 
und Plato sich bewußt ignorieren‘). Auch der dritte Punkt ist 


') Gellius hat nur die bei Diogenes erhaltene Notiz, daß Plato bei Xeno- 
phon Mem. III, 6 nebenher genannt wird, nicht mitexzerpiert. 


Die Überlieferung über eine erste Ausgabe des Staates. 911 


mit gutem Grunde angeführt. Denn daß Plato auf die Kyru- 
pädie zurückblickt, wenn er von Kyros sagt: τὰ μὲν ἄλλ᾽ αὐτὸν 
στρατηγόν τε ἀγαϑὸν εἶναι καὶ φιλόπολιν, παιδείας δὲ ὀρϑῆς οὐχ 
ἦφϑαι τὸ παράπαν (Ges. 6940), ist nicht zu bezweifeln. 

Die zweite Notiz, die uns hier angeht, lautet: J/d etiam esse 
non sincerae neque amicae voluntatis indieium erediderunt, quod Xe- 
nophon inclito illi operi Platonos, quod de optimo statu rei publicae 
civitatisgue administrandae scriptum est, lectis ex eo duobus fere libris 
qui primi in vulgus exierant, opposuit contra consceripsitque diversum 
regiae administrationis genus, quod παιδείας Κύρου inscriptum_est. 
Hier ist mit dürren Worten gesagt, daß Xenophon Platos Staats- 
theorie nicht aus unserer Politeia zuerst kennen lernte, sondern aus 
einer Schrift, die an Umfang etwa zwei Büchern dieses Werkes 
glich. Anders läßt sich duobus fere libris nicht verstehen. Wenn 
damit die Notiz verbunden ist, Xenophon habe gegen diese erste 
Ausgabe seine Kyrupädie geschrieben, so ist die Voraussetzung, 
daß diese Ausgabe ein geschlossenes Ganzes darstellte und einen 
Gesamtüberblick über Platos Auffassung ermöglichte. Ausge- 
schlossen ist daher von vornherein jeder Versuch, dieses Werk 
von ungefähr zwei Büchern etwa mit Buch I und II oder über- 
haupt mit zwei Büchern unserer Politeia zu identifizieren. 

Hier haben wir also ein durchaus klares und in sich durch- 
aus unanstößiges Zeugnis für eine erste Ausgabe des platonischen 
Staates. Ja selbst die Notiz, daß die Kyrupädie ein Gegenstück 
zu Platos Staat sein will, ist keineswegs ganz unsinnig. Xeno- 
phons Haupttendenz ist anderer Art, aber mitgespielt hat wohl 
wirklich die Absicht, zu zeigen, daß die ethischen Ideale des So- 
krates sich im Staate auch ohne die Umsturzideen Platos ver- 
wirklichen lassen. 

Wie unbequem dieses Zeugnis für manche ist, das sieht man 
an dem letzten Versuche, es zu beseitigen. Constantin Ritter, 
Platon S. 277. 8 gibt ohne weiteres zu, daß er Bedenken trägt, 
die Notiz „als windige Konjektur eines späteren Zeugen“ zu be- 
trachten, findet aber bei Gellius ein Mißverständnis: „duo fere libri 
ist nur die mißverstandene Angabe eines griechischen δύο σχεδὸν 
λόγοι, und damit scheint mir ganz treffend der Inhalt des ersten 
Buches unserer Politeia bezeichnet zu sein, das die Auseinander- 
setzung des Sokrates mit Kephalos und Thrasymachos enthält.“ 
Ritter zeigt in seinem Buche deutlich, daß er allen philologischen 

14* 


212 Die erste Ausgabe des Staates. 


Untersuchungen mit erheblichem Mißtrauen gegenübersteht, und 
wo er einen Überblick über die philologischen Kontroversen gibt, 
schließt er gewöhnlich wegen der Subjektivität der Ansichten mit 
einem mitleidigen Blick auf die verschwendete Mühe und einem 
non liquet ab. Ich fürchte, bei seiner Erklärung werden wir 
uns nicht mit einem non liquet beruhigen dürfen. Denn außer 
ihm selber wird wohl niemand so leicht glauben, daß ein antiker 
Autor den Inhalt des ersten Buches durch δύο λόγοι bezeichnen 
konnte. Noch weniger wird man begreifen, daß jemand, um den Um- 
fang eines Werkes zu bezeichnen, diesen Ausdruck gewählt und 
den nächstliegenden „das erste Buch“ absichtlich vermieden haben 
sollte. Daß gegen dieses erste Buch niemals die Kyrupädie ge- 
schrieben sein kann, gibt Ritter selbst zu; er hilft sich deswegen 
mit der ganz unwahrscheinlichen Annahme, dieses Zeugnis sei 
erst nachträglich „aus unbekanntem Grunde“ mit der These von 
der Eifersüchtelei zwischen Plato und Xenophon verbunden 
worden. Er muß schließlich noch einen groben Übersetzungs- 
fehler annehmen — das alles, um eine in sich durchaus verständ- 
liche Stelle unverständlich zu machen. 

Ich glaube, grade wenn ein sonst so besonnener und gründ- 
licher Forscher wie Ritter zu solchen Ausflüchten greift, um das 
Zeugnis zu beseitigen, darf man wohl sagen, daß dieses eben 
durchaus unantastbar ist. Tatsächlich ist schlechterdings gar nicht 
abzusehen, wie eine so bestimmte Notiz erfunden sein sollte. Zu 
welchem Zwecke denn? Die These des Antisokratikers, Xeno- 
phon habe gegen Plato geschrieben, wurde doch wahrhaftig da- 
durch nicht gestützt, wenn man behauptete, er habe seine An- 
griffe nicht gegen die später vorliegende Politeia, sondern gegen 
eine frühere Ausgabe gerichtet. Und selbst wenn wir bei ihm 
voraussetzen wollten, er habe nur aus Lust am Fabulieren ge- 
handelt, so müßte er wirklich ein Schwachkopf gewesen sein, 
wenn er den zu erwartenden Gegnern ohne jeden Grund eine 
Angriffsfläche gegeben hätte. 

Also wir haben anzuerkennen, daß es aus dem Altertum eine 
unverdächtige Überlieferung gibt, nach der Plato seine Staats- 
theorie zuerst in einem Werke veröffentlicht hat, das an Um- 
fang ungefähr zwei Büchern der uns vorliegenden Politeia gleich- 
kam. Und wir haben kein Recht, diese Überlieferung auf Grund vor- 
gefaßter Meinungen über Platos Entwicklung zu verwerfen. 


|! 
| 


Allgemeine Gründe für die Glaubwürdigkeit der Überlieferung. 213 


Dabei spricht doch schon eine psychologische Erwägung 
nicht gegen sondern für diese Überlieferung. Wer in sich den 
Beruf zum Weltverbesserer fühlt, pflegt doch seine Pläne nicht 
allzulange der Allgemeinheit vorzuenthalten. Sollte da ein so 
fruchtbarer Schriftsteller wie Plato gewartet haben, bis er ein 
Fünfziger war? 

Aber wir brauchen uns glücklicherweise nicht auf allgemeine 
Erwägungen zu stützen. Wir können uns an unsere Analyse des 
Gorgias erinnern (vgl. S. 161). Wir sahen dort, daß für Plato 
der Verzicht auf die praktische Politik keineswegs auch den Ver- 
zicht auf die politische Einwirkung überhaupt einschließt. Im 
Gegenteil, er proklamiert ausdrücklich, daß die Philosophie ihre 
höchste Aufgabe erfülle, wenn sie als die wahre Staatskunst die 
Bürger zur Sittlichkeit erziehe und damit wahrhaft das Wohl der 
Gesamtheit fördere. Das kann sie nur, wenn sie die Herrschaft 
im Staate hat. Und da dieses Ziel im positiven Staate vorläufig 
nicht zu erreichen ist, so bleibt als Konsequenz nur die Kon- 
stitution eines idealen Staates übrig, die zunächst natürlich li- 
terarisch zu erfolgen hat, in der Hoffnung, daß sie im geeig- 
neten Augenblick in die Praxis übergeführt werden kann. Daß 
Plato diese Konsequenz sehr bald nach dem Gorgias gezogen hat, 
sehen wir aus der S. 161 angeführten Stelle des siebenten 
Briefes, wo er ausdrücklich hervorhebt, schon vor der sizilischen 
Reise habe er erklärt, nur die Philosophenherrschaft könne eine 
Besserung der politischen Zustände herbeiführen. 

Auch wer den siebenten Brief für unecht hält, muß 
glauben, daß er in der Akademie des vierten Jahrhunderts ent- 
standen ist. Mindestens in diesen Kreisen muß also die Über- 
zeugung bestanden haben, daß Plato schon vor der sizilischen 
Reise den Idealstaat als notwendig betrachtet habe. Viel wich- 
tiger ıst das Zeugnis natürlich noch, wenn Plato, wie es durch- 
aus wahrscheinlich ist, den Ausspruch selbst getan hat. Und 
wenn er dabei ausdrücklich sagt: λέγειν ἠναγκάσθην . ., ὡς ἐκ 
ταύτης (80. τῆς φιλοσοφίας) ἔστιν τά τε πολιτικὰ δίκαια καὶ τὰ τῶν 
ἰδιωτῶν πάντα κατιδεῖν κτλ (326a), sollen wir da an eine ein- 
zelne Äußerung denken? Viel näher liegt es doch, daß er schon 
damals nicht bloß den Gedanken gefaßt, sondern auch die Grund- 
züge eines idealen Staates entworfen und veröffentlicht hat. 

Daß tatsächlich die bei Gellius vorliegende Überlieferung auf 


214 Die erste Ausgabe des Staates. 


Wahrheit beruht, haben Usener, Rohde u. a.') bekanntlich aus 
dem Anfange des Timaios gefolgert. 

Dieser Dialog will die Fortsetzung eines Gespräches über 
den Idealstaat sein. Er rekapituliert aber in der Einleitung aus 
dem Inhalt unserer Politeia nur ein kleines festabgegrenztes Gebiet, 
die praktischen Vorschläge für die Gestaltung des Staatslebens. 
Dabei sagt Plato ausdrücklich, daß die Rekapitulation vollständig 
sein soll. Das müssen wir entweder als bewußte Beschränkung 
ansehen, oder Plato fingiert einen früheren Dialog, oder aber, er 
spielt auf ein verlorenes Werk an, das tatsächlich nur die prak- 
tischen Vorschläge für die Gestaltung des Idealstaates enthielt. 
Gegen eine Fiktion oder eine bewußte Beschränkung spricht 
aber entschieden, daß dabei manche Eigentümlichkeiten, die der 
Anfang des Timaios zeigt, ganz unerklärt bleiben. Das hat zu- 
letzt Wendland in einer Rezension von Räders Platobuch (Berl. 
ph. Woch. 1906, Sp. 393) gut dargelegt. Das wichtigste ist dabei 
der Umstand, daß Plato zu Anfang von einer Person spricht, die 
am vorigen Gespräche teilgenommen habe, jetzt aber verhindert 
se. Die abenteuerliche antike Erklärung, Plato meine damit 
sich selbst, hätte es wahrlich nicht verdient, von den Modernen 
aufgenommen zu werden. Eben so wenig befriedigen andre Er- 
klärungsversuche’). Tatsächlich ist die Bemerkung, daß der 
vierte wegen Krankheit fehle, nur als Rechtfertigung für die 
Ausschaltung einer überflüssig gewordenen Person zu verstehen. 
Dann ‚bleibt aber auch nur die Folgerung übrig, die schon 
Usener und Rohde gezogen haben: Plato knüpft den Timaios 
nicht an unsere Politeia an, sondern an ein andres Gespräch 
über den Idealstaat, an dem jene ungenannte Person tatsächlich 
teilnahm und das in seinem Inhalt nur dem Teile der Politeia 
entsprach, der die konkreten Vorschläge enthält. 

Ein Punkt sei aber gleich hervorgehoben, in dem Usener 
geirrt hat. Er glaubt, Plate habe in jenem ersten Werke über 
den Staat nur zwei Stände gekannt, den Krieger- und den Er- 
werbsstand, und den Herrscherstand noch nicht abgesondert. 


!, Usener bei Brandt, Zur Entwicklung der platonischen Lehre von den 
Seelenteilen, Pr. München-Gladbach 1890. Rohde, Psyche II? 8. 208 ἢ. 

5) Einen solchen bot z. B. Ritter im Philologus LXII, 5. 410ff., doch kommt 
er in seinem Plato S. 216. 7 nicht mehr auf ihn zurück. — Nach Joel, Fest- 
schrift zur Basler Philologenvers. 1907, S. 322 ist der Anonymus Isokrates, der 
im Busiris den Staat kritisiert hatte! 


Der Anfang des Timaios. 215 


Aber daß Plato jemals darauf verzichtet haben sollte, die Herr- 
schaft der Intelligenz im Staate ausdrücklich zu fordern, ist un- 
denkbar. Tatsächlich spricht er auch im Anfang des Timaios 
p. 18d von den ἄρχοντες in einer Weise, daß man sieht, er will 
an einem fest abgegrenzten Begriff festhalten, und andrerseits 
liegt doch auch in unserer Politeia die Sache so, daß Plato zwar 
die Scheidung der ἄρχοντες und φύλακες postuliert, in Wirklichkeit 
aber nach Strümpells Ausdruck die Herrscher zu einem Ausschuß 
der Kriegerkaste macht. 

Nun hat aber die Usenersche Anschauung ein schweres Be- 
denken gegen sich. Usener setzte ohne weiteres voraus, daß 
jenes verlorene Gespräch vor unserer Politeia verfaßt se. Wie 
soll dann Plato dazu gekommen sein, im Timaios auf die erste 
Ausgabe des Staates zurückzugreifen, wenn doch die zweite vor- 
lag? Um diese Schwierigkeit zu heben, hat Wendland den Aus- 
weg beschritten, jenes verlorene Gespräch sei nicht ein Vorläufer, 
sondern eine nachträgliche Umarbeitung unserer Politeia ge- 
wesen. Aber diese Umarbeitung hätte doch nur darin bestanden, 
daß Plato den größten Teil des Werkes, und zwar grade die 
philosophische Begründung der Staatstheorie wegließ. Was ihn 
dazu bewogen haben sollte, sieht man vorläufig nicht ein. 

Suchen wir zunächst einmal auf einem anderen Wege der 
Lösung des Problemes näher zu kommen. 

Isokrates will in seinem Busiris semen Konkurrenten Poly- 
krates übertrumpfen und widmet deshalb dem ägyptischen Herr- 
scher nicht nur eine Verteidigung, sondern eine Lobrede. Er 
macht deshalb den Menschenfresser zum politischen Organisator 
und schildert 8 15— 23 die Einrichtungen, die er getroffen habe. 
Busiris hat, hören wir da, die Bevölkerung in drei Kasten ein- 
geteilt, die Priester, die Krieger und den Erwerbsstand. Auf 
diese Weise hat er das Prinzip der Arbeitsteilung durchgeführt 
und dafür verdiente Anerkennung gefunden bei den angesehen- 
sten politischen Theoretikern wie bei den Spartanern, deren viel- 
gerühmte Einrichtungen aus Ägypten stammen. Auch für die 
Wissenschaft hat Busiris gesorgt, mdem er dem ersten Stande, 
den Priestern, die dazu nötige Muße verschafft. Und während 
die älteren Leute zu den Ämtern berufen wurden, fielen den 
jüngeren die mathematischen Studien zu, die nach dem Urteil 
mancher Leute die beste Vorschule für die ἀρετή sind. 


216 Die erste Ausgabe des Staates. 


Daß Isokrates hier ein stilisiertes Gemälde entwirft, ist klar. 
Manche Züge lieferte das zweite Buch Herodots (164 — 168), der 
nicht nur die Kasteneinteilung schildert, sondern auch die Be- 
merkung anknüpft, aus Ägypten sei die Bevorzugung der Krieger- 
kaste zu den Griechen, besonders den Spartanern gekommen. 
Aber es ist noch ganz etwas anderes, wenn nun Isokrates die 
einzelnen Einrichtungen, die man an Sparta rühmte, auf Ägypten 
zurückführt. Das ist dasselbe Verfahren, das er im Panathenaikos 
einschlägt, wenn er ($ 153) die Entlehnung der spartanischen 
Verfassung aus Urathen behauptet. Bewußte Stilisierung zeigen 
auch der Schematismus der drei Kasten (Herodot 164 nennt sieben), 
die Begründung dieser Gliederung durch die Arbeitsteilung, die 
Philosophie der Priester und die Erziehungsprinzipien. 

Isokrates erklärt selbst, daß er dieses Bild nicht von sich aus 
gibt, sondern dem Urteile der angesehensten politischen Theoretiker 
folgt (ὥστε καὶ τῶν φιλοσόφων τοὺς ὑπὲρ τῶν τοιούτων λέγειν 
ἐπιχειροῦντας καὶ μάλιστ᾽ εὐδοκιμοῦντας τὴν ἐν Αἰγύπτῳ προ- 
αιρεῖσϑαι πολιτείαν ἐπαινεῖν 17). 

Wen meint er damit? Sehen wir zunächst von der Beziehung 
auf Ägypten ab, so werden wir Schritt auf Schritt an Plato er- 
innert. Aus Aristoteles müssen wir schließen, daß außer Plato von 
alten Theoretikern nur noch Hippodamos die Dreiteilung der Stände 
gelehrt hat. Aber dessen Einteilung in Handwerker, Bauern, Krieger 
(1267b 32) stimmt nicht zu der des Isokrates, während die plato- 
nische genau entspricht. Wie Isokrates führt Plato oft den dritten 
Stand als den der Bauern und Handwerker zusammen an'), die 
zweite Klasse deckt sich bei beiden vollständig, und Platos 
Philosophenstand hat seine Parallele in den Priestern, die in ὃ 22 
ausdrücklich Vertreter der φιλοσοφία heißen. Nachher wird sich 
diese Übereinstimmung noch deutlicher zeigen. 

Noch wichtiger ist die Begründung der ständischen Gliederung 
durch die Arbeitsteilung. Denn dieses Prinzip ist ja für Platos 
Staatstheorie grundlegend und wird mit ganz ähnlichen Worten 


Ἢ Isokr. 15 χωρὶς ἑκάστους τοὺς μὲν ἐπὶ τὰς ἱερωσύνας κατέστησεν τοὺς 
δ᾽ ἐπὶ τὰς (γεωργίας καὶ τὰς) τέχνας ἔτρεψεν τοὺς δὲ τὰ περὶ τὸν πόλεμον μελετᾶν 
ἠνάγκασεν — Plato 4188. ὅσοι μὲν ὑμῶν ἱκανοὶ ἄρχειν... ὅσοι δ᾽ ἐπέκουροι .. 
τοῖς τε γεωργοῖς καὶ τοῖς ἄλλοις δημιουργοῖς (οἷ. 415c Kritias 1100 112b und 
Rep. 374c τὰ δὲ περὶ τὸν πόλεμον πότερον od περὶ πλεέστου ἐστὶν εὖ ἀπεργασϑέντα ;). 


Isokrates’ Busiris und Platos Staat. 917 


bei diesem dargestellt‘). Und wenn Isokrates $ 17 ausführt, daß 
die Arbeitsteilung auch für die ganze Organisation der Staaten die 
größten Vorteile bietet (καὶ πρὸς τὴν σύνταξιν, δι᾿ ἧς τήν τε βασιλείαν 
καὶ τὴν ἄλλην πολιτείαν διαφυλάττουσιν .., καλῶς ἔχοντας), SO 
ist dieser Satz überhaupt nur zu verstehen, wenn man an Platos 
Theorie denkt, daß die Gerechtigkeit und damit der Bestand des 
Staates so lange gesichert ist, als die drei Stände an dem Prinzip der 
Arbeitsteilung festhalten und ihre Sphäre nicht überschreiten. 

Auch die Züge, die nach Isokrates spartanische Entlehnungen 
aus Ägypten sind, die Syssitien, die Beschränkung auf den Kriegs- 
dienst, selbst das Verbot der Auslandsreisen finden wir bei Plato 
in der Lebensordnung der Kriegerkaste wieder). 

Endlich bietet auch für den letzten Satz des Isokrates, daß 
die älteren Leute die Ämter bekleiden, die jüngeren Mathematik 
treiben sollen, Plato eine wörtliche Parallele’). 

Nimmt man hinzu, daß auch im weiteren Verlaufe der Rede 
Isokrates Berührungen mit Platos Staat zeigt‘), so kann man nicht 
zweifeln, daß Isokrates hier an Platos Idealstaat denkt. 

Das hat schon Teichmüller ausgesprochen (Litt. Fehden I, 
S. 106 ἢ) und neuerdings haben H. Gomperz (Wiener Studien 


1) Isokr. 16 dei τοῖς αὐτοῖς τὰς αὐτὰς πράξεις μεταχειρέξζεσϑαι προσέταξεν, 
εἰδὼς τοὺς μὲν μεταβαλλομένους τὰς ἐργασίας οὐδὲ πρὸς ὃν τῶν ἔργων ἀκριβῶς 
ἔχοντας τοὺς δ᾽ ἐπὶ ταῖς αὐταῖς πράξεσιν συνεχῶς διαμένοντας eis ὑπερβολὴν 
ἕκαστον ἀποτελοῦντας --- Plato 369 6 ff. 394 εἷς ἕκαστος Ev μὲν ἂν ἐπιτήδευμα καλῶς 
ἐπιτηδεύοι πολλὰ δ᾽ οὔ, ἀλλ᾽ εἰ τοῦτο ἐπιχειροῖ, πολλῶν ἐφαπτόμενος πάντων 
ἀποτυγχάνοι ch. 395c 434 und 374b καὶ τῶν ἄλλων ἑνὶ ἑκάστῳ ὡσαύτως Ev 
ἀποδίδομεν .. ἐφ᾽ ᾧ ἔμελλε τῶν ἄλλων σχολὴν ἄγων διὰ βίου αὐτὸ ἐργαζόμενος 
οὐ παριεὶς τοὺς καιροὺς καλῶς ἀπεργάσεσθϑαι. 

3) Isokr. 18 καὶ γὰρ τὸ μηδένα τῶν μαχίμων ἄνευ τῆς τῶν ἀρχόντων γνώμης 
ἀποδημεῖν καὶ τὰ συσσίτια καὶ τὴν τῶν σωμάτων ἄσκησιν, ἔτε δὲ τὸ μηδενὸς 
τῶν ἀναγκαίων ἀποροῦντας τῶν κοινῶν προσταγμάτων ἀμελεῖν μηδ᾽ ἐπὶ ταῖς 
ἄλλαις τέχναις διατρίβειν, ἀλλὰ τοῖς ὅπλοις καὶ ταῖς στρατείαις τὸν νοῦν προσέχειν, 
ἐκεῖϑεν ἅπαντα ταῦτ᾽ εἰλήφασιν --- Plato 4208 ὥστε, οὐδ᾽ ἂν ἀποδημῆσαι βούλωνται 
ἰδίᾳ, ἐξεῖναι 4166 φοιτῶντας δὲ eig συσσίτια... κοινῇ ζῆν 4164. 

3) Isokr. 28 καὶ τοὺς μὲν πρεσβυτέρους ἐπὶ τὰ μέγιστα τῶν πραγμάτων 
ἔταξαν τοὺς δὲ νεωτέρους .. En’ ἀστρολογίᾳ καὶ λογισμοῖς καὶ γεωμετρίᾳ διατρέβειν 
ἔπεισαν --- Plato 412. οὐκοῦν ὅτι μὲν πρεσβυτέρους τοὺς ἄρχοντας δεῖ εἶναι, νεω- 
τέρους δὲ τοὺς ἀρχομένους, δῆλον; 536cd ἐν μὲν τῇ προτέρᾳ ἐκλογῇ πρεσβύτας 
ἐξελέγομεν ... τὰ μὲν τοίνυν λογισμῶν τε καὶ γεωμετριῶν καὶ πάσης τῆς προ- 
παιδείας... παισὶν οὖσι χρὴ προβάλλειν. 

Ἢ 8 38.9 vgl. Rep. 377.8, 8 41 vgl. Rep. 3914. 

5) Vgl. auch Dümnler, Kl. Schriften I, S. 124. 


218 Die erste Ausgabe des Staates. 


1905 S. 192—7) und Joel (Festschrift zur Baseler Philologen- 
versammlung 1907 S.321) sich zur selben Ansicht bekannt. Gomperz 
und Joel gehen dabei von der Voraussetzung aus, daß Isokrates 
unsere Politeia vor Augen hat. Das ist schon aus chronologischen 
Gründen ausgeschlossen. Gomperz setzt freilich den Busiris erst 
etwa in das Jahr 372, und ähnlich urteilt Ed. Meyer 8 906 Anm. 
Aber alle Indizien führen tatsächlich in erheblich frühere Zeit. Die 
Hypothesis zu Isokrates’ Helena sagt ausdrücklich, daß Polykrates 
gegen die Helena schrieb, wie Isokrates im Busiris den Polykrates 
angegriffen hat. Da nun im Busiris kein Angriff des Polykrates 
erwähnt wird, müssen wir annehmen, daß die Reihenfolge war: 
Polykrates’ Busiris-Isokrates’ Busiris-Isokrates’ Helena-Polykrates’ 
Angriff (wohl im Alexandros). Da ferner die Helena nach ὃ 67, 
wo sie die Tendenz des Panegyrikos vorbereitet (Drerup CXXXI), 
vor 380 fällt, ist der Busiris in die achtziger Jahre, und zwar eher 
in den Anfang zu verlegen. Ferner hat das ganze Vorwort der 
Rede nur die Tendenz, Polykrates als Konkurrenten tot zu machen. 
Diese Tendenz ist nur erklärlich in einer Zeit, wo Isokrates diese 
Konkurrenz noch zu fürchten hatte. Insbesondere ist die ausführ- 
liche Kritik, die Isokrates an Polykrates’ sicher um 393.2 verfaßter 
(vgl. S. 164 Anklagerede gegen Sokrates übt, nur am Anfang der 
achtziger Jahre, keineswegs 20 Jahre nach dem Erscheinen ver- 
ständlich. Das Wichtigste aber ist der Schluß des Busiris, wo 
Isokrates sich als jünger gegenüber Polykrates bezeichnet: zei u 
Yavudons, εἰ νεώτερος ὧν καὶ μηδέν σοι προσήκων οὕτω προχείρως 
ἐπιχειρῶ σε vovdereiv' ἡγοῦμαι γὰρ οὐ τῶν πρεσβυτάτων οὐδὲ τῶν 
οἰκειοτάτων, ἀλλὰ τῶν πλεῖστ᾽ εἰδότων χαὶ βουλομένων ὠφελεῖν 
ἔργον elvaı περὶ τῶν τοιούτων συμβουλεύειν. Die entscheidenden 
Worteveoreogog dv und τῶν πρεσβυτάτων οὐδέ fehlen hierallerdings ım 
Urbinas von erster Hand. Aber sie werden durch die Konzinnität 
der Satzbildung verlangt. Denn wie die Worte μηδέν σοι προσ- 
Nov und τῶν οἰκειοτάτων dem βουλομένων ὠφελεῖν entsprechen, 
so verlangt das τῶν πλεῖστ᾽ εἰδότων als Gegensatz die Betonung 
der Jugend des Autors. Nach Aristoteles 1378 a9 muß, wer einen 
Rat geben will, φρόνησις καὶ εὔνοια besitzen, und Anaximenes 
schreibt p. 69, 14H. dem Jüngling vor: δητέον δὲ καὶ ὡς εἰ μήπω 
καϑ' ἡλικίαν τὸ φρονεῖν, ἀλλὰ κατὰ φύσιν καὶ ἐπιμέλειαν. Endlich 
hat Münscher gewiß recht, wenn er G. g. A. 1907, S. 775° sagt: 
„Den Interpolator möchte ich kennen lernen, der die sonst nirgends 


Isokrates spielt auf eine frühere Politeia Platos an. 219 


bezeugte Tatsache, daß Polykrates der ältere Mann und jüngere 
Rhetor war, interpoliert‘).“ Auch Gomperz hält die im Urbinas 
fehlenden Worte ausdrücklich fest (S. 193). Dann ist es aber doch 
unmöglich, die Rede später als etwa 385 anzusetzen. Oder sollen 
wir wirklich glauben, ein Mann von 64 Jahren habe es für nötig 
gehalten, sich wegen seiner Jugend zu entschuldigen’)? 

Dann ist es aber natürlich auch ausgeschlossen, daß Isokrates 
im Busiris auf unsere Politeia anspielt. Dagegen würde sich auch 
ein sachliches Bedenken erheben. Isokrates sagt $ 17 nicht etwa: 
„Die ägyptischen Einrichtungen entsprechen dem philosophischen 
Ideale“, sondern er erklärt ausdrücklich: „Die angesehensten Philo- 
sophen geben den ägyptischen Emrichtungen den Vorzug.“ Wie 
kann er das, wenn er unsre Politeia meint? Hier wird von der 
ägyptischen Verfassung nie gesprochen, das Volk wird nur einmal 
beiläufig erwähnt. Wir können diese Schwierigkeiten auch nicht 
mit Teichmüller und Joel in der Weise heben, daß wir beim Isokrates 
nur ein verleumderisches Lob sehen. Der unbefangene Leser wird 
davon bei Isokrates nichts spüren, und hätte Isokrates wirklich 
andeuten wollen, Plato habe in seinem Idealstaat nur die ägyptischen 
Einrichtungen kopiert, so hätte er seiner ganzen Art nach diese 
Tendenz gewiß nicht in einer beiläufigen Bemerkung versteckt. 
Sicher hätte er dann auch nicht seiner Polemik die Spitze dadurch 
abgebrochen, daß er die Spartaner in denselben Vorwurf einschloß; 
schwerlich auch hätte er im selben Atemzuge Plato den angesehensten 
Philosophen genannt. 

Namentlich muß man aber beachten, daß Isokrates keineswegs 
der einzige ist, der Beziehungen zwischen Platos Idealstaat und 
Ägypten annimmt. Teichmüller und Joel haben ganz richtig eine 
Stelle Krantors herangezogen, der erwähnt, Plato sei von seinen 
Zeitgenossen damit verspottet worden, er habe den Idealstaat aus 
Ägypten entlehnt’). Ebenso sehr ınuß man aber betonen, daß 


1) Zuerst waren wohl die Worte τῶν πρεσβ. οὐδὲ vor τῶν οἷν. ausgefallen, worauf 
dann νεώτερος ὧν καὶ von einem Kenner isokrateischen Stiles gestrichen wurde. 

2) Auch der Hinweis auf die Uneinnehmbarkeit Ägyptens zwingt uns nicht, 
mit Ed. Meyer $ 906a bis in die siebziger Jahre hinabzugehen. Er ist mindestens 
nach dem erfolglosen Kampfe der Perser gegen Akoris (nach Meyer 385—3, nach 
Judeich schon 389—7) verständlich, war aber für den Rhetor überhaupt gerecht- 
fertigt, wenn Ägypten 10—15 Jahre seine Unabhängigkeit behauptet hatte. 

ὃ). Im Phaidros beruft sich Sokrates für die Verwerfung der Schrift auf 
den Ägypter Theuth, und als Phaidros diesen Autor von Sokrates’ Lehre etwas 


220 Die erste Ausgabe des Staates. 


auch Männer, die Plato nahestanden, die Ähnlichkeit hervorheben. 
Ausdrücklich tut das Aristoteles in der Politik 1929 02. Aber auch 
wenn Dikaiarch fr. 7 im Anschluß an diese Aristotelesstelle vom 
ägyptischen König Sesonchosis — so nennt er Aristoteles’ Sesostris — 
erzählt, er habe das Gesetz gegeben, ὥστε μηδένα καταλιπεῖν τὴν 
πατρῴαν τέχνην" τοῦτο γὰρ ᾧετο ἀρχὴν εἶναι πλεονεξίας, oder wenn 
die Theoretiker der hellenistischen Zeit die platonischen Gedanken 
auf den ägyptischen Kastenstaat übertragen '), so ist das ein Zeichen, 


komisch findet, verweist Sokrates ihm das. Die Alten kümmerten sich nicht 
darum, wer etwas sagte, sondern ob das Gesagte wahr sei: σοὶ δ᾽ ἴσως διαφέρει 
τίς ὁ λέγων καὶ ποδαπός. οὐ γὰρ ἐκεῖνο μόνον σκοπεῖς, εἴτε οὕτως εἴτε ἄλλως 
ἔχει (275b). Daß Plato bei diesem Ausfall eine besondere Absicht hat, scheint 
der Zusammenhang anzudeuten. Man könnte sich vorstellen, daß er durch den 
im Text angegebenen Vorwurf veranlaßt war. 

1) Am deutlichsten tut das bekanntlich Hekataios von Teos. Schon Diod. I, 28, 
wo in direkter Weiterbildung von Platos Timaios die Athener als Kolonisten von 
Sais bezeichnet und ihre drei alten Stände mit den platonisch-ägyptischen Kasten 
parallelisiert werden, geht wohl auf Hekataios zurück. Sicher ist das der Fall 
bei I, 73—4, wo wieder die platonische Dreiteilung der Kasten auftritt und der 
Segen der Arbeitsteilung nicht genug in platonischen Tönen gerühmt werden 
kann. Und ebenso hören wir Hekataids, wenn wir I, 98 lesen: καὶ Λυκοῦργον 
καὶ Πλάτωνα καὶ Σόλωνα (man denke wieder an den Timaios!) πολλὰ τῶν ἐξ 
Αἰγύπτου νομέμων εἰς τὰς ἑαυτῶν κατατάξαι νομοϑεσίας (vgl. zum Ganzen 
Schwartz in der Realenz. V, Sp. 610 ff., Jacoby ebendort VII, Sp. 2763). Auch in 
der Schilderung, die Strabo XVII, p. 787 von den drei Kasten der ägyptischen 
Monarchie gibt, schimmern die platonischen Farben durch, freilich unter einer 
Übermalung, die teilweise Hekataios’ Hand (vgl. Diod. I, 73) verrät. Von Hekataios 
ist wie sonst (Jacoby Realenz. VI, Sp. 969) auch hier Euemeros in der Schilderung 
der Verfassung von Panchaia beeinflußt. 

Es lohnt sich, die verschiedenen Einteilungen zusammenzustellen: 

1. Herodot II, 164 io&es μάχιμοι βουκόλοι συβῶται κάπηλοι ἑρμηνέες κυβερνῆται 


2. Hippodamos: τεχνῖται γεωργοί τὸ προπολεμοῦν καὶ τὰ 
ὅπλα ἔχον 

3. Plato Rep. ἄρχοντες φύλακες, ἐπέκουροι γεωργοὶ δημιουργοέ 

(urspr. μάχεμοι Ὁ) 

4. Plato Tim. ἱερεῖς μάχιμοι γεωργοὶ νομεῖς ϑηρευταὶ 
δημιουργοί 

5. Isokrates’ Bus. ἱερεῖς μάχιμοι γεωργοὶ τεχνῖται 

6. Diod.I, 28 ἱερεῖς μάχιμοι — γεωργοί δημιουργοί 

7. Hekataios Ὁ. Diod.I, 73 ἑερεῖς βασιλεῖς οἱ μάχιμοι καλούμενοι 

νομεῖς γεωργοί τεχνῖται 
8. Strabo p. 787 ἱερεῖς στρατιῶται γεωργοί 
9. Euemeros (Diod. V,45) ἱερεῖς στρατιῶται γεωργοί 


(προσκειμένων τ. τεχνιτῶν) (προσκειμ. τ. νομέων) 


Nr. 1,4—8 schildern Ägypten, 2—3 den Idealstaat, 9 Panchaia. 


Isokrates’ Busiris und Platos Timaios. 921 


daß man gewöhnt war, Platos Idealstaat und den Kastenstaat in 
Zusammenhang zu bringen. 

Sollen diese Männer alle von Isokrates oder einem andren 
Gegner Platos abhängig sein? Nein, wenn Freund und Feind 
gleichmäßig diese Parallele zogen, die doch auch wir in gewissen 
Grenzen als berechtigt anerkennen müssen, so kann kein andrer 
als Plato selbst den Anlaß geboten haben. Krantors Notiz ist uns 
im Kommentar des Proklos zum Tim. p. 20d (II p. 76, 2D) erhalten. 
In dieser Timaiosstelle leitet Plato die Fiktion des Idealstaates Ur- 
athen durch die Erzählung ein, wie Solon nach Ägypten kommt und 
dort von den Priestern erfährt, in Athen hätten in grauer Vorzeit 
dieselben Einrichtungen bestanden, die noch jetzt in Ägypten zu 
finden seien. Als solche nennt Plato die Sonderung der Bevölkerung 
in Priester-, Krieger- und Erwerbsstand, die scharfe Abgrenzung 
auch innerhalb des Gewerbslebens, die wissenschaftliche Ausbildung 
des Priesterstandes. Sehen wir von einer kleinen Notiz über die Be- 
waffnung ab, so sind es dieselben Züge, die Isokrates hervorhebt. 
Ja, selbst in Einzelheiten sind Übereinstimmungen zu bemerken. 
Denn wie Isokrates $ 21 auf die Scheidung der Stände den Satz 
folgen läßt: zai μὲν δὴ καὶ τῆς περὶ τὴν φρόνησιν ἐπιμελείας εἰκότως 
ἄν τις ἐκεῖνον αἴτιον νομίσειεν, so sagt Flato genau an der ent- 
sprechenden Stelle: τὸ δ᾽ αὖ περὶ τῆς φρονήσεως δρᾷς που τὸν νόμον 
τῇδε ὅσην ἐπιμέλειαν ἐποιήσατο (24b), und bei beiden wird in der 
Wissenschaft neben der eigentlichen Philosophie die Medizin her- 
vorgehoben (Isokr. 22, Tim. 21 e). 

Dazu kommen Ähnlichkeiten im Wortlaut bei einzelnen Stellen '). 
Wichtiger ist eine scheinbare Kleinigkeit. Während nämlich im Staat 
und in der Einleitung des Timaios die Krieger stets als φύλακες 
oder ἐπίκουροι bezeichnet werden, erscheint hier plötzlich das jonische 
Wort μάχιμοι, das auch bei Isokrates ὃ 18 steht. Es ist das Wort, 


1) Isokr. 15 μετὰ δὲ ταῦτα διελόμενος χωρὶς ἑκάστους τοὺς μὲν κτλ. 
Tim. 17c de’ οὖν οὐ τὸ τῶν γεωργῶν .. πρῶτον ἔν αὐτῇ χωρὶς διειλόμεϑα 
ἀπὸ τοῦ γένους τοῦ τῶν προπολεμησόντων; — Isokr. ib. τοὺς δὲ τὰ περὶ τὸν 
πόλεμον μελετᾶν ἠνάγκασεν Tim. 24a οἷς οὐδὲν ἄλλο πλὴν τὰ περὶ τὸν πόλεμον 
ὑπὸ τοῦ νόμου προσετάχϑη μέλειν. — Von den Angehörigen des Herrscherstandes 
sagt Plato Tim. 18}, ἐλέχϑη ζῆν... ἐπιμέλειαν ἔχοντας ἀρετῆς διὰ παντός, τῶν 
ἄλλων ἐπιτηδευμάτων ἄγοντας σχολήν. Mit denselben beiden Termini sagt 
das Isokrates 21 von den ägyptischen Priestern. Vgl. Aristoteles Met. 981} 23: 
περὶ Αἴγυπτον αἱ μαϑηματικαὶ πρῶτον τέχναι συνέστησαν᾽ ἐκεῖ γὰρ ἀφείϑη 
σχολάξειν τὸ τῶν ἱερέων ἔϑνος. 


222 Die erste Ausgabe des Staates. 


das Herodot für die ägyptische Kriegerkaste und auch sonst oft 
brauchte, und das bei Aristoteles, Hekataios, Plutarch Lyk.4 u.a. 
wiederkehrt. Plato verwendet es im Timaios zweimal (24a 25d) 
und setzt es im Kritias p. 110c bewußt für den früheren Terminus 
ein, wenn er sagt, von den μάχιμοι solle gelten, ὅσα περὶ τῶν 
ὑποτεϑέντων φυλάκων ἐρρήϑη). Erwähnt sei dabei noch, daß der 
Kritias von einem Philosophenstande nichts weiß, wohl aber eine 
Kriegerkaste kennt. Denn nach einer sicheren Konjektur Hermanns’) 
wird den μάχιμοι und den Priestern die Akropolis als Wohnsitz 
getrennt vom dritten Stande angewiesen. 

Wie ist nun das Verhältnis des Busiris zum Timaios aufzufassen ? 
Daß Isokrates den Timaios benutzt, ist aus chronologischen Gründen 
ausgeschlossen; daß Plato auf seinem eigensten Gebiete an den 
Rhetor selbst im Wortlaut sich anlehnen soll, ist psychologisch 
undenkbar. Also sind beide einer früheren Darstellung gefolgt. 
Bei Plato ist es aber selbstverständlich, daß er dann hier wie im 
Anfange des Dialoges auf ein früheres Werk von sich selbst zurück- 
greift. Also hat er schon vor dem Timaios die ägyptischen Ein- 
richtungen schon einmal in ähnlicher Weise besprochen. Diese 
Darstellung ist es, auf die Isokrates mit seiner Bemerkung über 
die Anerkennung der ägyptischen Einrichtungen anspielt. An bloß 
mündliche Vorträge zu denken, verbieten die wörtlichen Berührungen. 
So bleibt nur die Annahme übrig, daß Plato selbst in einer ersten 
Ausgabe des Staates etwa einleitungsweise auf Ägypten hingewiesen 
und dadurch selbst den billigen Spott über die Abhängigkeit vom 
Kastenstaat hervorgerufen hat. 

Fassen wir nun erst einmal vorläufig das Ergebnis unserer 
Betrachtung zusammen: Der Anfang des Timaios setzt eine von 
unserer Politeia abweichende Form des platonischen Staates vor- 
aus, die nur die konkreten Vorschläge für die Gestaltung des 
Staates enthielt. Ein Werk genau desselben Charakters müssen 
wir nach den Anspielungen des Isokrates im Busiris vermuten, 
nur daß dieser das Paradoxon der Frauen- und Kindergemeinschaft 
bei der Schilderung der ägyptischen Zustände wegließ. Der Burisis 
zeigt uns, daß Platos Werk am Anfang der achtziger Jahre all- 


1). Als Adjektiv — „kriegerisch“ steht es Menex 2408. Gleich „Kriegerschaft“ 
ist τὸ τῆς πόλεως μάχιμον dann Legg. 830c. 

ἢ 112b καὶ πάντα ὅσα πρέποντ᾽ ἦν τῇ κοινῇ πολιτείᾳ δι᾽ olnodoungewv 
ὑπάρχειν αὐτῶν τε nal τῶν ἱερέων (ἱερῶν codd., doch vgl. den Gegensatz αὐτῶν). 


Plato muß selbst auf den ägyptischen Kastenstaat verwiesen haben. 223 


gemein bekannt war. Daß hierzu die Vorstellung über Platos Ent- 
wicklung, die wir durch die Analyse des Gorgias gewinnen, die 
Angaben des siebenten Briefes, die psychologischen Erwägungen 
und die Notiz des Gellius stimmen, bedarf keines Wortes mehr. 

Als Kleinigkeit sei noch erwähnt, daß im Phaidros, der nicht 
hinter die Mitte der achtziger Jahre fallen kann (vgl. den Aufsatz 
über diesen Dialog), Plato der Gedanke der Philosophenherrschaft 
doch wohl vertraut ist, wenn ihm ein φιλόσοφός τε καὶ ἡγεμονικὸς 
τὴν φύσιν am höchsten steht (252e)'). 

Nachdem wir uns so den Boden geebnet haben, können wir 
schließlich noch an ein Problem herantreten, an das Verhältnis 
der Ekklesiazusen zu Plato. Freilich ist ja von den verschieden- 
sten Seiten behauptet worden, man dürfe dieses Problem über- 
haupt nicht mehr aufwerfen. So hat sich Ivo Bruns in dem 
schönen Aufsatz über die Frauenemanzipation in Athen (jetzt in 
seinen Reden und Vorträgen gedruckt) ausgesprochen, indem er 
auf die große Rolle hinwies, die die Frauenfrage schon im 5. Jahr- 
hundert in Athen gespielt hat. Vom Standpunkt des National- 
ökonomen aus hat ferner Dietzel in der Ztschr. f, Lit. u. Gesch. 
d. Staatsw. I unwiderleglich gezeigt, daß der von Aristoteles ver- 
spottete Kommunismus des Proletariats, das nur nach indivi- 
duellem Genusse strebt, völlig verschieden ist von dem plato- 
nischen Sozialismus, der Verzicht auf den Genuß verlangt, und 
z.,B. Pöhlmann erklärt daraufhin in seiner Gesch. d. soz. Frage I, 
S. 392° die Frage für endgültig erledigt. Aber mir scheint, daß 
man dabei doch wichtige Punkte übersehen hat. 

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Komposition der 
Ekklesiazusen. Sie erinnert zunächst an den Bau der älteren 
Stücke, wo die eigentliche Entwicklung der Handlung vor der 
Parabase zu Ende geführt wird und die zweite Hälfte nur die 
Probe aufs Exempel bringt. Denn auch hier ist das Anfangs- 
motiv, das Streben der Frauen nach der Herrschaft im Staate, 
in der Mitte des Stückes, wo früher die Parabase stand, erledigt, 
da die Frauen ihr Ziel erreicht haben. Wir könnten also eine 
Fortsetzung etwa in der Art der Acharner erwarten, wo die 
lustigen Szenen nach der Parabase uns die Segnungen von Dikaio- 
polis’ Friedensschluß vorführen. Das Überraschende in den 


!) Vgl. Rep. 474c τοῖς μὲν προσήκει φύσει ἅπτεσθαξ τε φιλοσοφίας 
ἡγεμονεύειν τ᾽ ἐν πόλει. 


224 Die erste Ausgabe des Staates. 


Ekklesiazusen ist aber nun, daß der zweite Teil plötzlich ein 
ganz neues Motiv bringt. Von 571 an entwickelt Praxagora als 
Regierungsprogramm den Kommunismus und verteidigt diesen 
geschickt gegen alle Angriffe; und der Rest des Stückes zeigt 
uns, daß die Verwirklichung des Programmes zwar auf Schwierig- 
keiten stößt, aber schließlich doch das Schlaraffenland auf Erden 
herbeiführt. 

Der Kommunismus bildet ein ganz neues Motiv, das mit der 
Frauenherrschaft an sich nicht das geringste zu tun hat. Denn 
warum grade die Frauen, deren konservativen Sinn Aristophanes 
rühmt, die alles treiben ὥσπερ χαὶ πρὸ τοῦ, diese die ganze 
Lebensordnung umstürzende Neuerung einführen müssen, ist 
wirklich nicht zu sagen. Das ganze Programm der Praxagora 
könnte ebenso gut von ihrem ehrsamen Eheherrn entwickelt 
werden, und andrerseits haben z. B. die hübschen Szenen, wo 
Chremes mit der Ablieferung seines Eigentums wartet und noch 
einmal wartet, zum gemeinsamen Essen aber sehr pünktlich da 
ist, mit der Frauenherrschaft gar nichts zu schaffen. Verknüpft 
sind beide Motive nur durch die Liebesszenen des zweiten Teiles, 
wo die Frauen ihr Regiment ausnützen, um von der staatlichen 
Regulierung des Liebesgenusses ausgiebigen Gebrauch zu machen. 
Diese Szenen haben gewiß Dichtern wie Publikum den größten 
Spaß gemacht, aber wenn wir uns psychologisch erklären wollen, 
wie Aristophanes zur Verknüpfung beider Motive gekommen ist, 
müssen wir wohl weiter zurückgreifen. 

Das Frauenproblem hatte Aristophanes schon zweimal mit 
Erfolg verwertet. Kein Wunder, daß ihm auch einmal der Ge- 
danke der Frauenherrschaft aufblitzte.e Eine Reihe amüsanter 
Szenen ergab sich ohne weiteres mit dem Streben nach der 
Übertragung des Regimentes. Aber wenn sie dieses inne hatten, 
was dann? Etwas Neues müssen sie natürlich einführen. Daß 
das sexuelle Moment nicht fehlen durfte, war selbstverständlich. 
So mochte Aristophanes zur Verstaatlichung der Liebe kommen. 
Von da aus führt eine Brücke zum Kommunismus des Besitzes, 
immerhin. liegt diese Assoziation noch keineswegs nahe. Man 
möchte also an eine äußere Anregung denken. 

Daß dabei die Frauenherrschaft den Ausgangspunkt, der 
Kommunismus nur das Hülfsmotiv bildet, zeigt nicht nur der 
Titel des Stückes und die ganze erste Hälfte, sondern die Be- 


Platos Staat und Aristophanes’ Ekklesiazusen. 2925 


handlung der kommunistischen Ideen selber. Gewiß enthalten die 
„Saturnalien der Kanaille“ die treffendste Satire auf den Essens- 
und Liebeshunger des Proletariats. Aber wenn das Interesse des 
Dichters von vornherein an der kommunistischen Theorie gehaf- 
tet hätte, würde er sich schwerlich damit begnügt haben, Praxa- 
gora ihr Regierungsprogramm entwickeln zu lassen, ohne nach- 
her auf diese Punkte zurückzukommen und zu zeigen, wie der 
Zukunftsstaat mit diesen Idealen aufräumt. 

Bruns hat nun zweifellos recht, daß das Motiv der Frauen- 
herrschaft aus den Debatten des 5. Jahrhunderts zu erklären ist. 
Für Aristophanes’ Verhältnis zu Plato beweist das aber gar 
nichts. Denn da handelt es sich um die kommunistischen Ideen. 
Daß diese in den Köpfen von Blepyros und Ühremes ganz an- 
ders aussehen als in Platos Sozialismus, ist Dietzel ohne weiteres 
zuzugeben. Aber eine Berücksichtigung Platos wäre dadurch nur 
ausgeschlossen, wenn man vom Komiker verlangen könnte, daß 
er eine wirkliche Satire gegen die Prinzipien von Platos Lehre 
schriebe. Tatsächlich ist es ihm doch nur um ein komisches 
Motiv zu tun. Und wenn heutzutage ein Witzblatt Späße über 
den Sozialismus macht, kümmert es sich wohl wirklich darum, 
ob die vorausgesetzte Praxis zu den Lehren von Marx und Las- 
salle stimmt, ob vom wissenschaftlichen Standpunkt die zu 
Grunde liegende Theorie individualistisch oder sozialistisch ist? 

Vor allem geht aber Dietzel ebenso wenig wie Bruns auf 
den Punkt ein, der das eigentliche Problem bildet. Es kann 
nicht stark genug betont werden, daß es sich nicht um 
allgemeine Ideen handelt, die Aristophanes persifliert, 
sondern um eine Menge einzelner Gedanken, ja Wen- 
dungen, die er mit Plato auf dem Raum von hundert 
Versen gemeinsam hat'). 

Aristophanes beginnt 590 mit dem Satze, daß alle alles ge- 
meinsam haben sollen. Plato hat denselben Gedanken mit Bezug 
auf seine herrschenden Stände oft genug, bald positiv, bald nega- 
tiv ausgedrückt’). Beide erklären als ihr Ziel, daß die Bürger- 
schaft eine wirkliche Einheit bilden, der Unterschied von Reich 


1, Vgl. auch Teichmüller, Litt. Fehden I, 5. 14 ff. 
2) 590 κοινωνεῖν γὰρ πάντας φήσω χρῆναι πάντων μετέχοντας --- Tim. 110c 
(τὸ μάχιμον ἔϑνος ᾧκει) ἴδιον μὲν αὐτῶν οὐδεὶς οὐδὲν κεχτημένος, ἅπαντα δὲ 
πάντων κοινὰ voulbovres αὑτῶν οἷ. Rep. 4285, 416d. 
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 15 


226 Die erste Ausgabe des Staates. 


und Arm aufhören soll‘). Beide wollen namentlich den Grund 
und Boden für gemeinsam erklären’). v. 614 kommt Aristophanes 
auf den Kommunismus der Liebe mit Worten, die an Rep. 457c 
erinnern, faßt aber natürlich den Satz in einem für ihn brauch- 
baren Sinne auf’). Besonders wichtig ist dann 635, wo Blepyros 
eine Frage aufwirft, mit der sich die Vertreter der freien Liebe 
meist nicht allzusehr abquälen, nämlich wie die Eltern ihre 
Kinder erkennen würden. Fast wörtlich stimmt er zu Plato, und 
beide Male erhält der neugierige Frager nicht etwa eine direkte 
Antwort, sondern die Erklärung, daß die Frage überflüssig ist. 
Die Begründung ist beide Male die gleiche‘). 638 befürchtet 
Blepyros Mißhandlungen gegen die Eltern und wird damit be- 
ruhigt, daß diese jetzt bei den Altersgenossen als ihren Ver- 
wandten Schutz finden werden. Auch diese keineswegs so ganz 
selbstverständliche Gedankenfolge treffen wir bei Plato°). 657 er- 
wartet Praxagora ebenso wie Sokrates 464d, daß nach Aufhebung 
des Privateigentums die Prozesse wegen Geldangelegenheiten auf- 
hören werden. Sokrates fügt hinzu, daß das gleiche auch von 
den Klagen wegen Mißhandlung gilt. Auch diese Gedankenfolge hat 


1) 591 κἀκ ταὐτοῦ ζῆν καὶ μὴ τὸν μὲν πλουτεῖν τὸν δ᾽ ἄϑλιον εἶναι... 
ἀλλ᾽ ἕνα ποιῶ κοινὸν ἅπασιν βίοτον καὶ τοῦτον ὅμοιον — Rep. 4044 ἀλλ᾽ ἑνὶ 
δόγματι τοῦ οἰκείου πέρι ἐπὶ τὸ αὐτὸ τείνοντας πάντας εἷς τὸ δυνατὸν ὁμοιο- 
παϑεῖς λύπης τε καὶ ἡδονῆς εἶναι οἷ. 462b und 55lb τὸ μὴ μέαν ἀλλὰ δύο 
ἀνάγκῃ εἶναι τὴν τοιαύτην πόλιν, τὴν μὲν πενήτων τὴν δὲ πλουσίων. 
3) 597 cf. Rep. 416d 4198. 
ὅ Ar.: καὶ ταύτας γὰρ κοινὰς ποιῶ τοῖς ἀνδράσι συγκατακεῖσϑαι nal παι- 
δοποιεῖν τῷ βουλομένῳ --- Plato: τὰς γυναῖκας ταύτας τῶν ἀνδρῶν τούτων 
πάντων πάσας εἶναι κοινάς.. καὶ τοὺς παῖδας αὖ κοινούς. 
Ἢ Ar.: Πῶς οὖν οὕτω ζώντων ἡμῶν τοὺς αὑτοῦ παῖδας ἕκαστος 
ἔσται δυνατὸς διαγιγνώσκειν; — Τί δὲ δεῖ; πατέρας γὰρ 
ἅπαντας 

τοὺς πρεσβυτέρους αὑτῶν εἶναι τοῖσι χρόνοισιν νομιοῦσιν. 
Plato 461c: Πατέρας δὲ καὶ ϑυγατέρας... πῶς διαγνώσονται ἀλλήλων; — 
Οὐδαμῶς, ἦν δ᾽ ἐγώ, ἀλλ᾽ ἀφ᾽ ἧς ἂν ἡμέρας τις αὐτῶν νυμφίος γένηται, μετ᾽ 
ἐκείνην δεκάτῳ μηνὶ καὶ ἑβδόμῳ δὴ ἃ ἂν γένηται Enyova, ταῦτα πάντα προσ- 
ερεῖ τὰ μὲν ἄρρενα ὑεῖς τὰ δὲ ϑήλεα ϑυγατέρας, καὶ ἐκεῖνα ἐκεῖνον πατέρα οἷ. 4θ8 c. 
>) Ar. 641 ἀλλ᾽ ὁ παρεστὼς οὐκ ἐπιτρέψει " τότε δ᾽ αὐτοῖς οὐκ ἔμελ᾽ οὐδέν 

τῶν ἀλλοτρίων ὅστις τύπτοι κτλ. 
Plato 465a καὶ μὴν ὅτι γε νεώτερος πρεσβύτερον οὔτε ἄλλο Bıdkeodaı ἐπι- 
χειρήσει ποτὲ οὔτε τύπτειν... δέος (γὰρ) τὸ τῷ πάσχοντι τοὺς ἄλλους βοηϑεῖν 
τοὺς μὲν ὡς ὑεῖς κτλ. cf. 463c (keiner ist ἀλλότριος). 


Platos Staat und Aristophanes’ Ekklesiazusen. 3937 


Aristophanes, wenn er auch den Gedanken selber witzig um- 
biegt’). 

Wer diesem Tatbestande gegenüber sich mit der Ausflucht 
hilft, daß solche Gedanken damals „in der Luft lagen“, der löst 
selber das Problem in Nebel auf, statt es konkret und scharf zu 
erfassen. Was wir eben betrachtet haben, sind doch nicht etwa 
allgemeine kommunistische Ideen, wie sie in den Köpfen einer 
unklaren Menge spuken, es sind Einzelheiten eines durchdachten 
und gegen Einwürfe gesicherten Programmes. Daß Aristophanes 
selber hier als Theoretiker auftritt und Plato sich dann später an 
ihn in Gedanken und Worten angelehnt hat, wird wohl niemand 
elauben. Also folgt Aristophanes selbst einem Theoretiker, und 
der kann nur Plato sein, der nach Aristoteles’ ausdrücklicher An- 
gabe (1266a 33) der einzige Politiker war, der die Frauengemein- 
schaft gefordert hat’). Daran daß Aristophanes Plato berück- 
sichtigt, würde ja auch niemals ein Mensch gezweifelt haben, 
wenn nicht die chronologischen Gründe scheinbar dagegen ge- 
sprochen hätten. Daß diese Gründe tatsächlich nicht vorliegen, 
haben wir geseben. Um 390 muß eine platonische Politeia vor- 
gelegen haben, die grade die bei Aristophanes vorausgesetzten 
konkreten Vorschläge enthielt. Von einer Polemik gegen Plato 
ist dabei in den Ekklesiazusen natürlich keine Rede. Ganz ab- 
gesehen davon, daß Platos Gedanken tatsächlich nicht widerlegt 
werden, träfe man hier den Sinn der Komödie nicht, wenn man 
eine aus sachlichen Gründen geführte Satire annähme. Die Sache 
liegt einfach so: Aristophanes brauchte für seine Frauenkomödie 
ein Hilfsmotiv. Mit welchem Vergnügen er Platos tiefernste Aus- 
führungen über die Frauenfrage gelesen haben wird, kann man 
sich vorstellen. Aber vor allem hatte er jetzt, was er für das 
Stück brauchte. Daß er in seiner Komödie für den sozialistischen 


1 Ar. 657 "AAN οὐδὲ δίκαι πρῶτον ἔσονται. 
τοῦ γάρ, τάλαν, οὕνεκ᾽ ἔσονται .. 
ἐν τῷ κοινῷ πάντων ὄντων; 
663 Τὴν αἰκίας οἱ τύπτοντες πόϑεν ἐκτείσουσιν; 
Plato 464d τέ δέ; δίκαι τε καὶ ἐγκλήματα πρὸς ἀλλήλους οὐκ οἰχήσεται ἐξ aö- 
τῶν... διὰ τὸ μηδὲν ἴδιον ἐκτῆσθαι; 
464e καὶ μὴν .. οὐδ᾽ oinias δίκαι δικαίως ἂν εἶεν Ev αὐτοῖς. 

2) Aus diesem Grunde kommt auch die von H. Gomperz, Sophistik und Rhe- 
torik 5. 181 erwogene Möglichkeit, Protagoras habe die von Aristophanes ver- 
zerrten Ideen vertreten, nicht in Betracht. 

15* 


228 Die erste Ausgabe des Staates. 


Verzicht auf den Genuß das Recht auf den Genuß einsetzte, er- 
gab sich von selbst durch die Rücksicht auf die komische Wir- 
kung. Natürlich wurden damit Platos politische Ideen ins Lächer- 
liche verkehrt. Das werden die Gebildeten auch gewußt haben. 
Aber Plato war kein Mann wie Euripides, der keinen Spaß ver- 
stand. Ein μισῶ γελοίους, οἵτινες τήτει σοφῶν ἀχάλιν᾽ ἔχουσι 
στόματα (fr. 492), lag ihm fern, wenn er auch 4520 τὰ τῶν 
χαριέντων σκώμματα in der ernsten Debatte nicht mitreden lassen 
will, und falls der Dichter Gelegenheit hatte, den Sieg seines 
Stückes zu feiern, wird auch Plato auf dem Symposion nicht ge- 
fehlt und beim Becher Wein weidlich über den weiblichen So- 
krates gelacht haben. 

Für die Aufführung der Ekklesiazusen hat Ed. Schwartz 
(Rostocker Index 1893) mit Recht geltend gemacht, daß Aristo- 
phanes in v. 202 und 356 auf die durch Thrasybul vereitelten 
Friedensverhandlungen anspielt. Durch das Philochoroszitat im 
Didymoskommentar zu Demosthenes col. 7, 19 wissen wir jetzt, 
daß diese 392/91 stattgefunden haben. Demnach sind die Ekkle- 
siazusen an den Lenäen 391 oder 390 aufgeführt. Kurz vorher 
muß Platos erste Politeia entstanden sein. 

Wenn aber dieses Ergebnis Anspruch auf Glaubwürdigkeit 
haben soll, müssen wir noch zu erklären versuchen, was Plato 
dazu bewogen hat, verhältnismäßig so schnell seinen ersten Staats- 
entwurf durch einen zweiten zu ersetzen. Natürlich kommt da 
die ganze schnelle Weiterentwicklung seiner Gesamtanschauung 
in Betracht. Ein Punkt scheint mir aber besonders zur Erklärung 
geeignet. 

Für die Staatstheorie, wie sie in unserer Politeia dargestellt 
wird, ist nichts charakteristischer als die Verbindung von Sozial- und 
Individualethik, der Parallelismus von Staat und Individuum, die 
beide die gleiche Gliederung in drei Teile aufweisen und ihre 
Vollkommenheit erreichen, wenn zwischen den drei Teilen völ- 
lige Harmonie herrscht. Hier liegt ein bisher, so viel ich sehe, 
nicht gewürdigtes Problem vor, das für die Entwicklung nicht 
bloß der Staatstheorie Platos von großer Bedeutung ist. 

Die Dreiteilung des Staates und die der Seele liegen doch 
auf so verschiedenen Gebieten, daß sie nicht auf eine einheitliche 
Gedankenkonzeption zurückgeführt werden können. Andrerseits 
können so parallele Gliederungen auch nicht unabhängig von ein- 


Die Motive für die Weiterbildung der Staatstheorie. 23929 


ander sein. Die Frage ist also: von welcher Konzeption ist Plato 
ausgegangen? Hat er zuerst die Dreiteilung der Seele 
oder die des Staates konzipiert? 

Zur Entscheidung der Frage dürfen wir uns natürlich nicht 
darauf berufen, daß Plato selbst in der Politeia erst „die große 
Sehrift“ der staatlichen Verhältnisse lesen will, ehe er zur Seele 
des Individuums übergeht (368d). Denn das kann durch lite- 
rarische Motive bedingt sein. Wichtiger ist, daß sich jedenfalls 
die Staatstheorie nicht ohne weiteres aus der psychologischen 
Dreiteilung ableiten läßt. Denn ohne Zweifel ist richtig, was 
Pöhlmann, Gesch. ἃ. sozialen Frage I, 5. 14ff. ausführt. Die 
grundlegende Forderung der Arbeitsleistung, auf der die stän- 
dische Gliederung beruht, entspringt aus rein politischen Er- 
wägungen, nicht zum wenigsten aus einer Reaktion gegen das 
demokratische Prinzip, das dem Einzelnen die Fähigkeit zutraut, 
alles in einer Person zu sein, gegen die πολυπραγμοσύνη, wie sie 
sich unter der Herrschaft des Freiheits- und Gleichheitsprinzips 
breitmachte. Mit Recht hob Pöhlmann auch in seiner früheren 
Darstellung (Kommun. und Sozialismus I, S. 274ff.) hervor, dab 
aus diesen praktischen Erwägungen schon die sokratische For- 
derung der Fachkenntnisse für die Beamtenschaft hervorgegangen 
ist, und mit gutem Grunde bekämpfte er die Anschauung, daß 
die Lehre von der Arbeitsteilung erst nachträglich zur wissen- 
schaftlichen Rechtfertigung der Ständegliederung hinzugefügt sei, 
als eine Ansicht, in der sich auf Kosten der historisch-politischen 
Auffassung eine einseitig spekulative Betrachtung geltend macht. 
Nicht von der Psychologie geht Plato aus: „Die Parallelisierung 
mit der Menschenseele erscheint als etwas Sekundäres: ... sie 
will nur zeigen, daß das für die staatliche Ordnung schon vor- 
her und auf selbständigem Wege gefundene Gerechtigkeitsideal 
seine Richtigkeit eben dadurch erweise, daß es auch mit dem- 
jenigen Sittlichkeitsprinzip übereinstimmt, welches als die Be- 
dingung einer gesunden seelischen Konstitution, als individuelles 
Sittliehkeitsideal zu gelten habe. Die Staatslehre wird also hier 
nicht auf die Psychologie begründet, sondern sucht in derselben 
nur die Bestätigung ihrer Ergebnisse.“ 

Daß die psychologiche Dreiteilung aus der politischen abge- 
leitet ist, könnte man andrerseits schon deshalb annehmen wollen, 
weil sie anerkanntermaßen nicht aus rein psychologischen, sondern 


230 Die erste Ausgabe des Staates. 


aus ethischen Interessen hervorgegangen ist, wie sie sich ja ganz 
auf die ethisch wichtigen Funktionen beschränkt. 

Wichtiger aber erscheint mir eins: sehr auffallend ist in un- 
serer Politeia die Auffassung der Gerechtigkeit. Sie soll erwiesen 
werden als identisch mit der Gesundheit der Seele. Hier liegt 
gewiß eine Fortbildung der Anschauungen des Gorgias vor, wo 
von einer Dreiteilung der Seele noch keine Rede war, aber doch 
schon τάξις und χόσμος als der vollkommene Zustand, als die 
ἀρετή der Seele bezeichnet wurden (vgl. S. 156). Aber ist es 
nicht höchst merkwürdig, daß speziell die Gerechtigkeit mit dieser 
Gesundheit der Seele identifiziert wird? Ganz abgesehen von der 
bekannten Schwierigkeit, daß sich die Scheidung von Gerechtig- 
keit und Selbstbeherrschung bei Plato nur schwer durchführen läßt: 
muß nicht jeder bei dieser Auffassung der Gerechtigkeit gerade 
das Moment vermissen, das für ihr Wesen als bestimmend gilt? 
Die Gerechtigkeit betätigt sich doch in der Beziehung zu den 
Mitmenschen, und gerade diese wird außer acht gelassen, wenn 
die Gerechtigkeit ausschließlich als innerseelische Harmonie ge- 
faßt wird. Es kann auch nicht etwa die Rede davon sein, daß 
die hellenische Denkweise von der unseren abwiche. Auch dem 
Griechen ist die Gerechtigkeit die Tugend, die dem Nächsten 
sein Recht widerfahren läßt. Am bezeichnendsten ist Aristoteles. 
Denn wenn wir auch einen gewissen Einfluß Platos darin spüren, 
daß er neben der Gerechtigkeit im engeren Sinne eine weitere 
anerkennt, die im Grunde mit der moralischen Tugend überhaupt 
identisch ist und die Grundlage der staatlichen Gemeinschaft 
bildet (Nik. Eth. V, 1—3), so ist doch diese Gerechtigkeit für 
ihn die Tugend eben nur insofern, als sie sich im Verhältnis zum 
Mitmenschen äußert (ἀρετὴ μέν ἐστιν τελεία, ἀλλ᾽ οὐχ ἁπλῶς ἀλλὰ 
πρὸς ἕτερον {129} 26, vgl. 11804138). Und ebenso sagt er nach 
der Charakterisierung der speziellen Gerechtigkeit nochmals 
1130b1: ἄμφω γὰρ ἐν τῷ πρὸς ἕτερον ἔχουσι τὴν δύναμιν"). Die 
platonische Auffassung der Gerechtigkeit erscheint ihm so ge- 
künstelt, daß er sie in einer kurzen Schlußbemerkung abfertigt; 


1) So auch schon im Dialog über die Gerechtigkeit, falls fr. 85 wirklich aus 
diesem stammt. Jedenfalls paßt es zu dieser Auffassung der Gerechtigkeit, wenn 
er dort zu zeigen suchte, daß diese aufgehoben wird, sobald man bei der Be- 
stimmung des Lebenszieles von egoistischen Trieben, von der Lust ausgeht (fr. 86). 
Vgl. Bernays Dial. d. Aristoteles 49. 


Die Dreiteilung des Staates ist früher als die der Seele. 231 


diese Gerechtigkeit kann nach ihm nur χατὰ μεταφορὰν καὶ 
ὁμοιότητα so genannt werden (113856) '). 

Wie ist nun Plato dazu gekommen, diese natürliche Be- 
ziehung auf den Mitmenschen zu ignorieren? Ich glaube, es 
gibt nur eine Erklärung. Wenn er sich gewöhnt hatte, den 
Staat als dreifach gegliederten Organismus zu betrachten, so lag 
yür ihn die Frage nahe, worin die Vollkommenheit, die ἀρετή des 
Staates bestehe. Nahe genug lag es auch, jedem der einzelnen 
Stände eine der bekannten Kardinaltugenden zuzuweisen. Wich- 
tiger aber für die Vollkommenheit des Staates war es noch, daß 
die Arbeitssphären der Stände innegehalten wurden, und so hat 
er in dieser Innehaltung die Gerechtigkeit des Staates gesehen. 
Hier schwebte noch der Begriff der Gerechtigkeit vor, sofern es 
sich um das gegenseitige Verhältnis der Stände zueinander han- 
delte. Verloren ging dieser erst, als Plato die Parallele mit dem 
Individuum zog und auch die individuelle Gerechtigkeit nach der 
Analogie der staatlichen auffaßte. 

Schon das weist darauf hin, daß die Dreiteilung der Seele aus 
der Dreiteilung des Staates abgeleitet ist. Die Entscheidung bringt 
aber erst eine andre Erwägung. Wir müssen uns doch fragen, 
ob wir zu der Zeit, wo Plato seine Theorien aufstellte, schon die 
eine oder die andere der beiden Dreiteilungen als bekannt voraus- 
setzen dürfen. Hier ist nun gar kein Zweifel möglich. Schon der 
erste Staatstheoretiker, Hippodamos von Milet, hat als echter 
Pythagoreer unter dem Banne der Zahl, und zwar der Dreizahl 
gestanden, und als Städtebauer hat er den Plan des Staates mit 
ebenso klarer architektonischer Gliederung entworfen wie den 
Bebauungsplan des Piräus. Drei Arten von Gesetzen gibt es in 
seinem Staate, in drei Teile wird Grund und Boden geteilt, drei 
Stände gliedern die Bevölkerung, ἐποίει γὰρ ὃν μὲν μέρος τεχνίτας. 
Ev δὲ γεωργούς ' τρίτον δὲ τὸ προπολεμοῦν καὶ τὰ ὅπλα ἔχον (Arist. 
Pol. 1267} 31). 

Daß Plato diesen Vorgänger kannte, so gut wie Aristoteles 
und die Theoretiker der hellenistischen Zeit?), wird man ohne 


1 Auch Chrysipp verwarf Platos Auffassung der Gerechtigkeit: εἶναι γὰρ 
πρὸς ἕτερον, οὐ πρὸς ἑαυτὸν τὴν ἀδικέαν (bei Plut. Stoic. rep. 16). 

5) Mindestens Hekataios scheint ihn zu kennen, wenn er Diod. I, 73 eine 
besondere Dreiteilung des Grund und Bodens neben der Dreiteilung der Bevöl- 
kerung vornimmt (vgl. zu S. 220). 


232 Die erste Ausgabe des Staates. 


weiteres annehmen. Dann war aber auch die Dreiteilung der Stände 
für ihn gegeben. Er hat sie allerdings völlig umgestaltet, indem 
er als eine besondere Gruppe die sachkundigen Leiter des Staates 
faßte, aber festgehalten hat er sie doch, indem er Hippodamos’ 
τεχνῖται und γεωργοί zu einer Klasse vereinigte (τοῖς τε γεωργοῖς καὶ 
τοῖς ἄλλοις δημιουργοῖς 415a 415c, und direkt an Hippodamos klingt 
es an, wenn er Tim. 17c sagt: do’ οὖν οὐ τὸ τῶν γεωργῶν ὅσαι 
τε ἄλλαι τέχναι πρῶτον Ev αὐτῇ χωρὶς διειλόμεϑα ἀπὸ Tod γένους 
τοῦ τῶν προπολεμησόντων; 

Dagegen fehlt für die Dreiteilung der Seele bei den Früheren 
jeder Anknüpfungspunkt, und Plato selber ist in den Schriften der 
neunziger Jahre von jeder Einteilung der Seele weit entfernt. Am 
deutlichsten haben wir das beim Gorgias gesehen, wo er 493a τῆς 
ψυχῆς τοῦτο Ev ῳ ἐπιϑυμίαι εἰσίν erwähnt, ohne darausirgend welche 
psychologische Folgerung zu ziehen. Entscheidend für unsere Frage 
ist der Phaidon. Wenn dort 78a der Unsterblichkeitsbeweis da- 
mit beginnt, daß die einfache Seele in Gegensatz zu den zusammen- 
gesetzten Dingen gestellt wird, so ist für jeden Unbefangenen selbst- 
verständlich, daß die Dreiteilung der Seele für Plato noch nicht 
existiert. Man sucht ja dieser Tatsache dadurch aus dem Wege 
zu gehen, daß man erklärt, Plato habe hier nur die Unsterblich- 
keit des vernünftigen Seelenteiles gemeint. Aber Plato hätte doch 
geradezu absichtlich seinem Beweise die Kraft genommen, wenn 
er nicht durch eine kurze Klarstellung die notwendigen Bedenken 
seiner Leser hinweggeräumt hätte. Daß er eine solche Klarstellung 
durchaus nicht verschmäht, zeigt uns ja deutlich das zehnte Buch 
des Staates, wo er gerade deshalb die Unsterblichkeitsfrage noch 
einmal aufnimmt, weil die Dreiteilung der Seele gegen die Beweise 
des Phaidon, besonders gegen den Beweis aus der Einfachheit 
bedenklich machen konnte‘). Wie er es dort für notwendig hält, 
zu zeigen, daß die niederen Seelenvermögen dem wahren, ein- 
fachen Wesen der Seele fremd sind, so hätte er es sicher schon 


1) Es ist doch ganz offensichtlich, daß Plato auf den Beweis Phaidon 78a (ἄρ᾽ 
οὖν τῷ μὲν συντεϑέντι τε nal συνθέτῳ ὄντι φύσει προσήκει τοῦτο πάσχειν, διαιρε- 
ϑῆναι ταύτῃ a περ συνετέϑη " εἶ δέ τε τυγχάνει ὃ ἀσύνϑετον κτλ.) direkt zurückver- 
weist, wenn er Rep. 611b Sokrates den Selbsteinwurf machen läßt: οὐ ῥάδιον ἀέδιον 
εἶναι σύνϑετόν τε nal μὴ τῇ καλλίστῃ κεχρημένον συνϑέσει, ὡς νῦν ἡμῖν 
ἐφάνη ἡ ψυχή. Und wenn Sokrates dann fortfährt: ὅτε μὲν τοίνυν ἀϑάνατον 
ψυχή, καὶ ὁ ἄρτι λόγος καὶ οἱ ἄλλοι ἀναγκάσειαν ἄν, und dann den Einwand aus 


Die Dreiteilung des Staates ist früher als die der Seele. 233 


im Phaidon getan, hätte er damals die Dreiteilung der Seele schon 
gekannt‘). 

Sollte aber hier noch ein: Zweifel bleiben, so läßt sich von 
anderer Seite her zeigen, daß zwischen Phaidon und Staat die 
Entwicklung Platos von der einheitlichen Auffassung der Seele 
zur Dreiteilung liegt. In dem Abschnitt, wo Plato die Auffassung 
der Seele als Harmonie des Leibes widerlegt, macht er p. 940 
geltend, daß die Seele die Herrschaft über den Leib hat, und fragt 
nun: πότερον συγχωροῦσαν τοῖς κατὰ τὸ σῶμα πάϑεσιν ἢ καὶ Evaprıov- 
μένην; λέγω δὲ τὸ τοιόνδε, οἷον καύματος ἐνόντος καὶ δίψους ἐπὶ 
τοὐναντίον ἕλκειν, τὸ μὴ πίνειν, καὶ πείνης ἐνούσης ἐπὶ τὸ μὴ ἐσϑίειν, 
χαὶ ἄλλα μυρία που δρῶμεν ἐναντιουμένην τὴν ψυχὴν τοῖς κατὰ 
τὸ σῶμα: ἢ οὔ; Hier wird also der Kampf, ob man den Durst stillen 
soll, so aufgefaßt, daß die Seele das Trinken verbietet, während 
der Leib danach strebt, den Durst zu löschen. Die Begierde fällt 
dem Leibe zu. Und so istes im ganzen Dialoge: Überall liegt ein ethi- 
scher Gegensatz zwischen Leib und Seele vor, und der Seele werden 
dabei die intellektuellen Fähigkeiten zugewiesen, dem Leibe die 
Sinne’) und die Begierden und Lüste (66d τὸ σῶμα καὶ αἱ τούτου 
ἐπιϑυμίαι 826 τῶν κατὰ τὸ σῶμα ἐπιϑυμιῶν 65a τῶν ἡδονῶν ai 
διὰ τοῦ σὠματός εἰσιν 1146 τὰς ἡδονὰς τὰς περὶ τὸ σῶμα u. ὃ. 
Leissner 5. 18). Es ist genau dieselbe naive Psychologie oder, 
richtiger gesagt, derselbe Mangel an Psychologie, den wir bei 
Xenophon treffen, der auch ständig von αἱ διὰ τοῦ σώματος ἧδοναί 
spricht’). Die Stellen habe ich schon 5. 157° angeführt und dort 


der σύνϑεσις damit widerlegt, daß die Teilbarkeit nur der irdischen Verbindung 
mit dem Leibe entspringt, das wahre Wesen der Seele aber einfach ist, so ist doch 
klar, daß Plato sagen will: Die Beweise des Phaidon für die Unsterblichkeit halte 
ich fest, und ich will hier nur einem Einwand begegnen, der aus der neugefun- 
denen Dreiteilung der Seele erhoben werden könnte. 

1) Über die platonische Psychologie handeln am besten Fr. Schulthess, Plato- 
nische Forschungen, und Leissner, Die platonische Lehre von den Seelenteilen. 
Münchener Diss. 1909. Gegen Leissner möchte ich nur betonen, daß auch im 
Timaios Platos Ansicht bleibt, daß die einfache Seele in ihrer Verbindung mit 
dem Leibe die niederen Funktionen entwickelt, die dann an verschiedenen Teilen 
des Körpers zur Erscheinung kommen. So hat schon Poseidonios die dichterische 
Darstellung Platos verstanden und sich zu eigen gemacht. 

?) τοῦτο γάρ ἐστιν τὸ διὰ τοῦ σώματος τὸ δι᾿ αἰσϑήσεως σκοπεῖν Tu 190. 

ὃ) Das Entscheidende ist, daß hier eben noch keine psychologische Auffassung 
der Begierden usw. vorliegt und für Plato nur der Gegensatz Leib — Seele 
Interesse hat. Deshalb besagt es gar nichts, wenn Barwick, Comm. Jen. X p.32 


234 Die erste Ausgabe des Staates. 


auch darauf hingewiesen, daß Plato im Gorgias denselben Stand- 
punkt einnimmt. Verlassen hat er den erst, als er die Dreiteilung 
der Seele entdeckte, und nun ist es doch ganz gewiß kein 
Zufall, wenn er im Staate den Beweis für die Ver- 
schiedenheit der psychischen Funktionen gerade mit 
Berufung auf die Tatsache führt, die er im Phaidon 
als Symptom für den Gegensatz der einheitlichen Seele 
zum Leibe angesehen hatte: Τοῦ διψῶντος ἄρα ἣ ψυχή, nad" 
ὅσον διψῇ, οὐκ ἄλλο τι βούλεται ἢ πιεῖν"... οὐκοῦν εἴ ποτέ τι αὐτὴν 
ἀνϑέλκει διψῶσαν, ἕτερον ἄν τι ἐν αὐτῇ εἴη αὐτοῦ τοῦ διψῶντος; 
... τί οὖν φαίη τις ἂν τούτων πέρι; οὐκ ἐνεῖναι μὲν ἐν τῇ ψυχῇ 
αὐτῶν τὸ χελεῦον ἐνεῖναι δὲ τὸ κωλῦον πιεῖν (Rep. 499 ο) ;') 

Im Phaidon verweist Sokrates 944 darauf, daß auch sonst die 
Seele in Gegensatz zum Leibe tritt ταῖς ἐπιϑυμίαις καὶ ὀργαῖς καὶ 
φόβοις ὡς ἄλλη οὖσα ἄλλῳ πράγματι διαλεγομένη und führt als Beleg 
den Homervers an: 

στῆϑος δὲ πλήξας κραδίην ἠνίπαπε μύϑῳ" 

τέτλαϑι δή, κραδίη" καὶ κύντερον ἄλλο ποτ᾽ ἔτλης. 
ἄρ᾽ οἴει αὐτὸν ταῦτα ποιῆσαι διανοούμενον ὡς ἁρμονίας αὐτῆς οὔσης 
χαὶ οἵας ἄγεσθαι ὑπὸ τῶν τοῦ σώματος παϑημάτων κτλ.; Im 
Staate schließt er seine Beweise für die Verschiedenheit von ϑυμός 
und λογιστικόν mit dem Zitat desselben Homerverses ab und sagt: 
ἐνταῦϑα γὰρ δὴ σαφῶς ὡς ἕτερον ἑτέρῳ ἐπιπλῆττον πεποίηκεν “Ὅμηρος 
τὸ ἀναλογισάμενον ... τῷ ἀλογίστως ϑυμουμένῳ (441b). Hier ist 
doch wohl kein Zweifel möglich, daß Sokrates sich selber korrigiert, 
so offensichtlich, wie er es gegenüber Äußerungen, die er an seinem 
Sterbetage getan hat, vermag’). 


gegen Leissner einwendet, daß gelegentlich Plato auch von der Lust der Seele 
spricht. Mit seinen Argumenten könnte er auch bei Xenophon eine Einteilung 
der Seele erweisen. Vgl. die zweitnächste Anmerkung. 

1 Der psychische Charakter des Durstgefühls ist schon vorher ohne aus- 
führliche Begründung festgestellt (z. B. 4874 ἄρ᾽ οὖν, nad” ὅσον δέψα ἐστί, πλέονος 
ἄν τινος ἢ οὗ λέγομεν ἐπιϑυμία Ev τῇ ψυχῇ εἴη) 

3) Es ist mir unverständlich, wie Barwick in seiner manches Gute ent- 
haltenden Abhandlung über die Zeit des Phaidros (Comm. Jen. X) den Sinn unsres 
Abschnittes vollkommen verkennen konnte. Er sieht nämlich p. 32.3 grade hier 
den Hauptbeweis, daß Plato die Dreiteilung der Seele schon kennt. Schon 93c—e 
sei deutlich, daß Plato, wenn er die Tugend als eine Harmonie in der Seele be- 
trachte, sich die Seele mehrteilig denke. Entscheidend sei dann 940 νῦν οὖν οὐ 
πᾶν τοὐναντίον ἡμῖν φαίνεται ἐργαζομένη, ἡγεμονεύουσά τε ἐκείνων πάντων ἐξ 


Die Entdeckung des Parallelismus von Staat und Individuum. 235 


Der Phaidon weiß also noch nichts von einer Dreiteilung der 
Seele. Er kann uns aber auch gerade zeigen, wie Plato zu dieser 
gekommen ist. Zweimal (68 und 82c) stellt er die Leute in Gegen- 
satz, die der Seele und die dem Leibe alle Sorge widmen. Die 
einen sind die φιλόσοφοι, die anderen die φιλοσώματοι. Diese 
φιλοσώματοι aber zerfallen in zwei Klassen, die φιλοχρήματοι und 
die φιλότιμοι. Hier ist es klar, daß ihm drei Menschentypen ge- 
läufig sind, φιλόσοφοι, φιλότιμοι, φιλοχρήματοι. Es sind dieselben 
Typen, die wir auch Rep. 581d, 435e, 347b u. ö. finden und die 
dort in deutlicher Beziehung zu den drei Ständen des Staates 
stehen. Damit ist doch wohl der Beweis gegeben, daß Plato die 
Dreiteilung des Staates zuerst vertreten hat und von da erst zur 
Dreiteilung der Seele gekommen ist. 

Wir können es verstehen, daß diese Entdeckung von dem 
Parallelismus zwischen Staat und Individuum ihm von ungeheurer 
Wichtigkeit gewesen ist, weil sie ihm die Bestätigung für die Richtig- 
keit seiner politischen Theorien zu liefern schien. Daß er nun den 
Plan faßte, seine früher rein praktisch begründete Darstellung des 
Idealstaates auf eine ganz andre Grundlage zu stellen, wird uns 
nun wohl auch verständlich. So ist er zu dem zweiten Entwurf 
der Staatslehre, unserer heutigen Politeia gekommen, für die die 
Verbindung von Sozialethik und Individualethik charakteristisch ist. 


ὧν φησί τις αὐτὴν εἶναι, καὶ Evavrıovuson δλίγου πάντα διὰ παντὸς τοῦ βίου 
καὶ δεσπόξζουσα πάντας τρόπους. „Distinctius, opinor, quam hie fit, diei ommino 
non potest animum ex partibus constare. Atque anima si ἡγεμονεύειν dieitur 
ἐχείνων πάντων ἐξ ὧν φησί τις αὐτὴν εἶναι, apparet praeter ἡγεμονεύουσαν 
partem, quae quidem ipsa per se atque κατ᾽ ἐξοχήν ut dicunt ψυχή vocatur, 
certe duas etiam esse quae reguntur.“ Tatsächlich ist doch für jeden, der inter- 
pretiert, Klar, daß die Mehrheit von Teilen nur für den zig gilt, von dem Plato 
redet, den Gegner, den er widerlegt. Die Auffassung der Seele als Harmonie würde 
eine Mehrzahl von Teilen voraussetzen. Aber Plato selber hat diese Auffassung 
nicht. Und der ganze Sinn des Abschnittes ist doch der, daß die Seele nicht als 
Harmonie vom Körper abhängig sein kann, weil sie ihn, den Körper, beherrscht 
und leitet. So haben wir ja den Gegensatz zwischen der gottähnlichen Seele und 
dem sterblichen Leibe auch schon an der Stelle, die auf unseren Beweis vordeutet, 
802. Was sollte denn da ein Hinweis darauf, daß innerhalb der Seele selber ein 
herrschender und mehrere dienende Teile existieren? Auf den aus diesem πρῶτον 
ψεῦδος stammenden Gesamtirrtum, daß Phaidon und Politeia hier in schönster 
Harmonie seien, brauche ich nicht weiter einzugehen. — Über die Rückdatierung 
der psychologischen Dreiteilung auf den Gorgias vgl. 5. 156°. Sonst vgl. den Ab- 
schnitt über den Phaidon. 


236 Die erste Ausgabe des Staates. 


Natürlich hat er seine früheren Darlegungen in das neue Werk 
hineingearbeitet, und namentlich für 368—461 (473cd) dürfen wir 
dies vermuten. Aber wie stark die Umarbeitung im einzelnen war, 
kann niemand sagen. Deshalb kann auch die Sprachstatistik keine 
Gründe für oder wider unsere Annahme liefern. 

In den siebziger Jahren wurde das neue Werk veröffentlicht. 
Damit war die erste Ausgabe überflüssig geworden. Exemplare von 
ihr gab der Verlag der Akademie natürlich nicht mehr aus. So 
verschwand sie aus dem Buchhandel, wie aus den Händen der Leser. 


Einmal aber war diese erste Ausgabe nahe daran, aus der 
Versenkung emporgezogen zu werden. Das war nach Platos zweiter 
sizilischer Reise. Die alten Militärs am Hofe des jüngeren Dionys 
haben offenbar Plato entgegengehalten, beim ersten bewaffneten 
Konflikt werde die ganze Herrlichkeit des Idealstaates über den 
Haufen fallen. Das wurmte Plato, und er faßte den Plan, in einem 
besonderen Werke zu zeigen, wie der Idealstaat den Kampf gegen 
die größte materielle Macht bestehen würde. Die gegebene Form 
für dieses Werk war der Roman, der bestimmte geschichtliche 
Verhältnisse voraussetzen konnte. Diese Form bot noch einen 
Vorteil. Gleich den heutigen Sozialisten sah Plato die Notwendigkeit 
ein, im Zukunftsstaate neue Bildungsstoffe für die Jugend zu be- 
schaffen. So sollten seine Gesetze nach der ausdrücklichen An- 
gabe auf p. 811 die alten Lesebücher im Jugendunterricht ver- 
drängen. Der gleiche Gedanke hat ihn aber wohl schon früher be- 
stimmt, mit dem Kritiasroman die kosmogonische Dichtung des 
Timaios und noch zwei andere Werke zu einer Einheit zu verbinden, 
die ein Gegenstück zur tragischen Tetralogie bilden konnten’). 
Und wenn er dabei an erster Stelle die systematische Darstellung 


1) Mir erscheint es sicher, daß der Kritias und damit die ganze Tetralogie 
vor den Politikos gehört, was auch nach der Sprachstatistik möglich ist (vgl. 
v. Arnim, Wiener 5. Β. 1912, 8. 227). Im Kritias soll doch die Leistungsfähigkeit 
des Idealstaates gezeigt werden; er wird also noch als realisierbar gedacht. Wie 
kann er da hinter den Politikos oder gar die Gesetze fallen, wo Plato auf den 
Idealstaat ausdrücklich verzichtet? Die alte Legende, Plato sei durch den Tod 
an der Vollendung des Kritias verhindert worden, sollte man jedenfalls endlich 
fallen lassen, sogut wie die ähnlichen Geschichten, die sich an Aristoteles’ als 
unfertig empfundene Werke knüpfen (vgl. Jäger, Studien z. Entstehungsgesch. 
d. Metaphysik 98). — Der Hermokrates sollte wohl als Parallele zum Kritias ein 
Bild geben, wie sich im Frieden das Leben des Idealstaates gestalten würde. 


Die erste Politeia sollte mit der Timaiostetralogie verbunden werden. 237 


des Staatsideales bringen wollte, so empfahl sich schon aus äußeren 
Gründen die erste Ausgabe mit ihrem geringen Umfange für die 
Einfügung in die Tetralogie und für die Aufnahme in den Unter- 
richt. Das innere Motiv aber, das ihn zu dieser zurückführte, war 
wohl eher der Umstand, daß dort die Anknüpfung an das geschicht- 
lich Gegebene schon vorlag, die er für den Kritias brauchte. Natür- 
lich ist damit nicht gesagt, daß der erste Entwurf unverändert 
bleiben sollte, und gerade den Hinweis auf Ägypten hat er in den 
zweiten Dialog der neuen Tetralogie übernommen. Die ganze 
Ausführung des Planes ist aber nicht weit gediehen, weil der Ideal- 
staat selber Platos Blicken entschwand. Schon der dritte Dialog 
blieb unvollendet, und schwerlich wird Plato zur Umarbeitung der 
ersten Politeia gekommen sein'). Sicherlich ist jedenfalls eine neue 
Ausgabe der ersten Politeia nicht erfolgt, und damit fiel diese 
endgültig der Vergessenheit anheim. 


ἢ Auf die bekannte Nachricht, daß man in Platos Nachlaß den Anfang der 
Politeia vielfach korrigiert gefunden habe, möchte ich für unsere Frage kein 
Gewicht legen, da es sich dort um den Anfang der zweiten Ausgabe handelt. 


Platos Stellung zur athenischen Demokratie. 


X. Kritik des perikleischen Ideals. 
Plato und Thukydides. 


Die Grundlage, auf der Plato seinen Idealstaat aufbaut, ist 
der strengste Sozialismus. Daß das Individuum unbedingt dem 
Ganzen sich unterzuordnen hat, ist für ihn selbstverständlich. 
Wenn die Interessen der Gesamtheit von den regierenden Ständen 
eine Gesellschaftsordnung verlangen, in der sie auf Familie und 
Eigentum verzichten müssen, so kommt die Frage, ob dieser 
Kommunismus für sie selber etwas Gutes bedeutet, durchaus erst 
in zweiter Linie. Auch wenn der Verzicht eine Entbehrung be- 
deutete, müßten sie ihn tragen. „Wenn ein Künstler eine Statue 
schafft, so bildet er das einzelne Glied nur so, wie dieses zum 
ganzen Körper paßt, und wenn wir hier einen Staat gründen, so 
sehen wir nicht darauf, daß ein Stand besonders glücklich wird, 
sondern daß der ganze Staat es ist“ (Rep. 420). Nur das In- 
teresse der Gesamtheit gilt. Gewiß wird die Eudämonie des 
Staates auch die des Individuums zur Folge haben. Aber sollten 
irgendwo die Interessen des Individuums in Gegensatz zu denen 
der Gesamtheit geraten, so müßten sie selbstverständlich zurück- 
treten. Darum regelt der Staat die Zeugung des Individuums so, 
wie sie für ihn zweckmäßig ist. Er überwacht die Erziehung, 
läßt aber auch dem Erwachsenen nicht freie Verfügung über 
seine Person, sondern stellt ihn an den Platz, wo er seine Kräfte 
im Interesse der Gesamtheit entfalten kann, und wacht streng 
darüber, daß die schärfste Arbeitsteilung durchgeführt wird, daß 
der Einzelne seine Sphäre nicht überschreitet, sondern seinem 
Berufe treu bleibt (τὰ ἑαυτοῦ πράττει) und nicht etwa seine Kräfte 
zersplittert, statt einseitig, aber dafür gründlich seine Kenntnisse 
und Fertigkeiten auszubilden. 

An diesem Sozialismus hat Plato bis an sein Lebensende fest- 


Platos Sozialismus. 239 


gehalten. Auch in den Gesetzen schärft er dem Bürger, der 
Testament machen will, ein: „Ich erkläre euch, daß weder eure 
Person noch euer Vermögen euch selber gehört, sie gehören dem 
ganzen Geschlecht, dem, das vor euch war wie dem das nach euch 
kommt, und in noch höherem Grade gehört das ganze Geschlecht 
und sein Vermögen dem Staate“ (923a). Und wenn auch im 
Gesetzesstaate bei der Erziehung wie bei der Entwicklung und 
Entfaltung der Persönlichkeit größerer Spielraum gelassen wird, 
so wird um so schärfer hervorgehoben, daß im geordneten Staats- 
wesen auch das Privatleben streng nach den Interessen der Ge- 
samtheit geregelt und eingeschränkt werden muß. „Wer Ge- 
setze über das öffentliche Leben der Bürger zu geben gedenkt 
und glaubt, er brauche das Privatleben nicht zu regeln, sondern 
könne da jedem die Freiheit geben, sein tägliches Leben nach 
seinem Belieben einzurichten, und es brauche nicht alles einer 
festen Ordnung unterworfen zu sein, wer also das Privatleben 
ohne gesetzliche Regelung läßt und sich einbildet, die Menschen 
würden dann im öffentlichen Leben die Gesetze beobachten, der 
irrt gewaltig“ (780a). Ja, die Beschränkung der individuellen 
Persönlichkeit, die in der Konsequenz des Sozialismus liegt, nimmt 
beim alten Plato noch viel schärfere Formen an. Es genügt, an 
die Strenge zu erinnern, mit der jede Abweichung von der staat- 
lich approbierten Religion geahndet wird, oder an die Abneigung 
gegen jede freie Entwicklung, die es bei der Kunst als erstrebens- 
werten Zustand erscheinen läßt, wenn wie in Ägypten dieselben 
Melodien gesungen werden wie in uralter Zeit (656e), und die 
eine Möglichkeit des Fortschritts nur da zuläßt, wo dieser von 
der höchsten Behörde gebilligt wird. 

Es ist gewiß, daß dieser Sozialismus mit Platos ganzer Welt- 
anschauung aufs engste zusammenhängt. Wer im Individuum im 
wesentlichen eine flüchtige, wechselnde Erscheinung sieht, die nur 
den Zweck und Sinn hat, an der Erhaltung und Entfaltung der Gat- 
tung mitzuarbeiten, der wird natürgemäß in der Staatstheorie, wo 
es gilt, die Rechte von Gesamtheit und Individuum gegeneinander 
abzugrenzen, durchaus die der Gesamtheit voranstellen und ein 
Recht des Einzelnen auf Geltendmachung seiner Persönlichkeit 
nur soweit anerkennen, als dies im Interesse des Ganzen liegt. 
Aber wie wir bei der Entwicklung von Platos ganzer Ge- 
dankenwelt mannigfache äußere Einflüsse wirksam sehen, so 


ο40 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


ist das natürlich auch bei seiner politischen Anschauung 
der Fall). 

Platos Sozialismus steht in allerschärfstem Gegensatz zu dem 
Liberalismus des perikleischen Staatsideals. Denn dort ist das 
Recht des Individuums der Ausgangspunkt. Von der freien Ent- 
faltung der Persönlichkeit, dem ungehinderten Wettbewerb der 
Kräfte werden die höchsten politischen, wirtschaftlichen und kul- 
turellen Leistungen erwartet, und der Staatsverband wird mög- 
lichst lose gestaltet, damit er der Entfaltung der individuellen 
Talente nicht hemmend in den Weg tritt. Jeder Eingriff aber 
in das Privatleben, wie er in Sparta üblich war, wird als uner- 
hörte Bevormundung des freien Mannes ausgeschlossen. 

Plato ist aufgewachsen in einer Zeit, als dieses Staatsideal 
eine schwere Prüfung bestehen sollte und nicht bestand. Er ge- 
hörte Gesellschaftskreisen an, die von vornherein im Gegensatz 
zur Demokratie standen und nur zu geneigt waren, alle übrigen 
Ursachen, die zum Niedergang Athens führten, zu übersehen und 
alle Schuld auf die verfehlte Verfassungsform zu wälzen. Hier 
war der Blick dafür geschärft, daß mit der Befreiung des Indi- 
viduums nicht, wie Perikles erwartet hatte, das Verantwortlich- 
keitsgefühl gestiegen war, daß diese Individuen keineswegs ge- 
neigt waren, aus freiem Willen die eignen Interessen denen der 
Gesamtheit unterzuordnen. Statt der großen Zahl politischer 
Intelligenzen, die Perikles erhofft hatte, sah man nur eine ur- 
teilslose Masse, die dem größten Schreier folgte. Und wie wenig 
die einzelnen Individuen, die aus dieser Masse der Zufall des 
Loses in die Ämter führte, zur Regierung geeignet waren, das 
mußte vor allem der Schüler des Sokrates empfinden, der ge- 
wohnt war alles richtige Handeln aus dem Wissen, der Sach- 
kunde abzuleiten. 

Es ist kein Zweifel, daß Plato, als er das Bild eines idealen 
Staates zu zeichnen begann, auch von dem Gedanken geleitet 
war, die Schäden, die er im politischen Leben seiner Vaterstadt 
so deutlich wahrnahm, zu vermeiden. Sein Sozialismus ist 
eine Reaktion gegen Perikles’ Individualismus. 

Wie stark er selbst diesen Gegensatz empfand, zeigt am 


1) Vgl. auch Wendlands Aufsatz „Entwicklung und Motive der platonischen 
Staatslehre“ Preuß. Jahrb. 136, S. 193 —220. 


Platos Sozialismus eine Reaktion gegen Perikles’ Individualismus. 241 


deutlichsten das achte Buch der Politeia, wo er die einzelnen fal- 
schen Staatsverfassungen kritisiert und in philosophischer Be- 
trachtung ihre Beschaffenheit aus dem Charakter der Bewohner 
ableitet. Daß er bei der Schilderung der Demokratie, die er von 
p- 557 an gibt, die Verhältnisse seiner Heimat im Auge hat, ist 
anerkannt. Mit beißendstem Sarkasmus spricht er hier p. 558 
von dem Verständnis für fremde Art und der Abneigung gegen 
alle Kleinigkeitskrämerei, die in der Demokratie herrscht und jede 
staatliche Erziehung, wie sie Plato unbedingt für nötig hält (κα- 
ταφρόνησις ὧν ἡμεῖς ἐλέγομεν σεμνύγνοντες, ὅτε τὴν πόλιν φκίζομεν, 
ὡς κτλ. 558b, vgl. 424.6{.}, als gleichgültig behandelt und die 
Gesinnungstüchtigkeit des Demokraten als ausreichend für die Be- 
setzung der Ämter betrachtet. Hier spricht Plato den Gegensatz 
einmal ausdrücklich aus. Aber auch sonst fühlt man ihn überall 
in diesem Abschnitt durch. 

Es verlohnt sich, seine Darstellung im ganzen zu prüfen. 
Die Demokratie entsteht danach aus der Oligarchie, wenn die 
Armen die Regierung in die Hand bekommen und die Gleichheit 
politischer Rechte durchführen, und wenn die Losung für die Be- 
setzung der Ämter in der Regel maßgebend wird. Jetzt ist das 
erste, daß Freiheit und freies Wort eingeführt werden, daß jeder 
tun darf, was er will. Jeder kann sich so sein Leben nach Be- 
lieben gestalten; die verschiedenartigsten Menschen trifft man in 
der Demokratie an. Wundervoll wirkt daher solche Verfassung. 
Wie bei einem bunten Gewande kann man hier ein buntes Bild 
von Charakteren sehen, und große Kinder mögen an dieser Bunt- 
heit ihre Freude haben. Aber auch die Verfassung selber schil- 
lert in allen Farben, und wer einen neuen Staat gründen will, 
dem liefert die eine Demokratie Verfassungselemente als Muster 
genug. Hier gibt es keine Pedanten, die fragen, ob ein Be- 
werber zum Amte auch die Fähigkeit hat, ob die Gerichtsurteile 
durchgeführt werden, oder wie es mit der Erziehung steht. Es 
ist eine ἡδεῖα πολιτεία καὶ ἄναρχος xai ποικίλη, ἰσότητά τινὰ 
ὁμοίως ἴσοις τε καὶ ἀνίσοις διανέμουσα (—558c). Ein ebenso buntes 
Bild bietet der Bürger dieser Verfassung, der δημοκρατικὸς ἀνήρ. 
Er ist kein einheitlicher Charakter wie der ὀλιγαρχικός, den die 
Begierde nach Geld ganz beherrscht, oder wie der τυραννικός. 
der sich den wildesten Trieben überläßt; bei ihm finden sich gute 
wie schlechte Begierden in gleicher Weise, und ohne Einsicht 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 16 


949 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


und Grundsatz überläßt er sich wahllos bald dieser bald jener. 
So gibt er ein buntes Bild, ist vielgestaltig, voll der verschieden- 
artigsten Charakterzüge (--- 861 6). 

Die Schäden der Demokratie treten aber erst dann voll her- 
vor, wenn sie ausartet und ihr Prinzip, die Freiheit, überspannt. Dann 
werden die Beamten, die den Rauschtrank der Freiheit nicht voll ein- 
schenkten, verjagt. Gehorsam gegen die Beamten gilt als Knechtes- 
sinn. Freiheit ist die Parole, auch im Privatleben, kein Sohn 
hat mehr Respekt vor dem Vater, kein Schüler vor dem Lehrer, 
kein Sklave vor dem Herrn. Ja selbst die Tiere fühlen sich als 
freie Demokraten. Was ein richtiger athenischer Esel ist, der 
geht keinem Menschen aus dem Wege'). Schließlich hört auch 
die Achtung der Gesetze auf, und es kommt zur vollsten Anar- 
chie. Damit ist aber das Maß voll. Der Boden für den Tyran- 
nen ist bereitet. Die Überspannung des Freiheitsprinzips schlägt 
in Knechtschaft um (— 648). 

Überblicken wir diese Darstellung, so ist es ja deutlich, daß 
Plato grade die Züge hervorhebt, die in seinem Staatenbild ge- 
ändert sind. Wie die ἐλευϑερία notwendig in ἀναρχία ausartet, 
wie der Individualismus zu völliger Zuchtlosigkeit ım öffentlichen 
und privaten Leben führt, das will er zeigen. Und wenn uns 
bei dem δημοκρατικὸς ἀνήρ die „Buntheit“ vorgeführt wird, mit 
der er ohne Grundsatz bald dieser bald jener Tätigkeit sich hin- 
gibt, so sollen wir sehen, was es mit der vielgerühmten freien 
Entfaltung der Persönlichkeit auf sich hat, wenn jeder Zwang 
verpönt wird, Zucht und Ordnung fehlt. 

Den Abschnitt über das demokratische Individuum schließt 
Plato mit den Worten ab: ὃν πολλοὶ ἂν καὶ πολλαὶ ζηλώσειαν 
τοῦ βίου, παραδείγματα πολιτειῶν TE καὶ τρόπων πλεῖστα Ev αὑτῷ 
ἔχοντα (661 6). Diese Worte sind mit Bedacht gewählt. Sie 
weisen uns auf den Zusammenhang von Verfassung und Indivi- 
duum hin und rufen uns in Erinnerung, was vorher über die 
Buntheit der Verfassung gesagt ist. Da heißt es 557c mit wört- 


1 Man lese dazu den Oligarchen der ᾿ϑηναίων πολιτεία, der sich (1, 10) 
darüber ärgert, daß in Athen kein Sklave einem anständigen Menschen aus dem 
Wege geht, und daß man ihm dafür nicht einmal ein paar hinter die Ohren 
geben darf, ohne befürchten zu müssen, vor den Kadi zitiert zu werden. Man 
muß sich diese Stelle in richtigem Tone rezitieren, dann wird der Typus le- 
bendig. 


Platos Kritik an der athenischen Demokratie Rep. 557—564. 943 


lichem Anklang ἴσως καὶ ταύτην, ὥσπερ οἱ παῖδές τε καὶ γυναῖκες 
τὰ ποικίλα ϑεώμενοι, καλλίστην ἂν πολλοὶ κρίνειαν. Den Ge- 
danken παραδείγματα-ἔχοντα finden wir aber noch deutlicher 
wieder, wenn wir gleich darauf 557d lesen: πάντα γένη πολιτειῶν 
ἔχει διὰ τὴν ἐξουσίαν, καὶ κινδυνεύει τῷ βουλομένῳ πόλιν κατα- 
σχευάζειν, ὃ νυνδὴ ἡμεῖς ἐποιοῦμεν, ἀναγκαῖον εἶναι εἰς δημοκρα- 
τουμένην ἐλϑόντι πόλιν, ὃς ἂν αὐτὸν ἀρέσκῃ τρόπος, τοῦτον ἐκλέ- 
ξασϑαι, ὥσπερ εἰς παντοπώλιον ἀφικομένῳ πολιτειῶν, καὶ Enke- 
ξαμένῳ οὕτω κατοικίζειν. Beide Stellen entsprechen sich genau, 
und wenn hier die Demokratie mit einem Warenhaus verglichen 
wird, wo man alle möglichen Verfassungsmuster findet, so wollen 
wir daran denken, daß in Athen die Börse, wo man die Waren- 
muster ausstellte, δεῖγμα hieß, daß also die Worte der zweiten 
Stelle παραδείγματα πολιτειῶν .... Ev αὑτῷ ἔχοντα im selben 
Bilde bleiben. Offenbar liegt Plato an diesem Bilde, dem der 
Vergleich mit dem bunten Gewande zur Seite tritt, sehr viel, so 
viel, daß darüber die Erläuterung des zu Grunde liegenden Ge- 
dankens selber zu kurz kommt, wenigstens so weit es den Staat 
angeht. Denn während es beim Individuum ohne weiteres deut- 
lich wird, daß die freie Entwicklung zur Vereinigung der ver- 
schiedensten Charakterelemente führt, wird es nicht genügend be- 
gründet, inwiefern die Demokratie als Ganzes verschiedene Ver- 
fassungsmuster liefern kann oder, anders ausgedrückt, verschiedene 
Verfassungselemente enthält. Denn das einzige, was Plato für 
die Buntheit der Verfassung anführt, ist die Verschiedenheit der 
Individuen: παντοδαποὶ δὴ ἂν oluaı ἐν ταύτῃ τῇ πολιτείᾳ μάλιστ᾽ 
ἐγγίγνοιντο ἄνϑρωποι (557c)'). Diese Verschiedenheit ist gewiß 
bedingt durch die individualistische Grundlage der Verfassung, 
aber wieso damit verschiedene Verfassungselemente gegeben sind, 
wird nicht klar. 

Plato ist nun aber gewiß nicht der Mann, der so etwas 
niederschreibt, ohne eine ganz bestimmte Anschauung zu haben. 
Diese kann also nur deshalb im Hintergrund bleiben, weil sie für 
ihn schon fest gegeben ist. Was kann es denn nun wohl heißen, daß 
die Demokratie verschiedene Verfassungselemente vereinigt? Man 
wird daran denken, daß in späterer Zeit Isokrates von der alten 


ἡ Wir dürfen daraus entnehmen, daß diesmal für Plato das Individuum 
bei der Parallele zwischen diesem und der Gesamtheit der Ausgangspunkt war. 
16* 


44 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


athenischen Demokratie gesagt hat, sie sei mit aristokratischen 
Elementen durchsetzt gewesen (τὴν δημοκρατίαν . . τὴν ἀριστο- 
κρατίᾳ μεμιγμένην, ἥπερ ἣν παρ᾽ ἡμῖν Panath. 153, vgl. 131), und da- 
gegen würde es nicht sprechen, wenn Isokrates das aristokratische 
Element darin findet, daß die ἀρχαὶ οὐ κληρωταὶ ἀλλ᾽ αἱρεταὶ 
ἦσαν, während Plato als charakteristisch für die Demokratie es 
grade betrachtet ὡς τὸ πολὺ ἀπὸ κλήρων ai ἀρχαὶ Ev αὐτῇ yiyvov- 
ται (557a). Denn das ὡς τὸ πολύ läßt den Gedanken an die Be- 
stallung der Strategen durch die Wahl einschlüpfen. Aber wenn 
wir eine wirkliche Erläuterung für Plato suchen wollen, werden 
wir nicht an die viel spätere Äußerung des Isokrates denken 
dürfen, sonden an eine andere Stelle. Sie steht im Menexenos 
(238c). Daß dieser platonischen Ursprungs ist, werden wir im 
folgenden Aufsatz sehen. Hier gilt es nur, den Abschnitt zu be- 
trachten, wo der Verfasser ähnlich wie Thukydides in der Leichen- 
rede zeigen will, aus welcher Verfassung die Gesinnung erwach- 
sen ist, die das Volk Athens zu seinen Großtaten befähigt hat). 

Gleich der Anfang ist hier recht überraschend: ἣ γὰρ αὐτὴ 
πολιτεία καὶ τότε Tv καὶ νῦν, ἀριστοκρατία, Ev ἣ νῦν τε πολιτευό- 
μεϑα καὶ τὸν ἀεὶ χρόνον ἐξ ἐκείνου ὡς τὰ πολλά. Der Athener 
ist ja in den patriotischen Festreden gewöhnt, daß der Redner 
es mit der Wahrheit nicht genau nimmt. Aber daß ım Jahre 
386 jemand behauptet, die athenische Verfassung sei zu allen 
Zeiten die gleiche gewesen, daß er besonders 411 und 404 ganz 
mit dem Mantel der Liebe zudeckt, ist etwas viel. Wer aber 
einmal solche Kühnheit hat, von dem sollte man wenigstens 
Konsequenz erwarten; statt dessen hebt der Verfasser, der eben 
die vollsten Töne angeschlagen hat, mit einem scheinbar neben- 
sächlichen ὡς τὰ πολλά alles wieder auf. Macht uns schon das 
mißtrauisch gegen die Annahme, als ob hier ernsthaft gesprochen 
werde, so noch mehr die Bezeichnung der Verfassung als ἄριστο- 
xoatia. Wir sehen ja bei Isokrates, daß man später für das 
alte Athen aristokratische Elemente in Anspruch nahm. Aber 
konnte es ernsthaft wohl einem Redner, der vor dem souveränen, 
auf seine Verfassung stolzen Demos sprechen wollte, einfallen, 
der Verfassung den Namen Demokratie abzusprechen, als ob das 
Volk sich dieses Namens schämen müßte? Offenbar beabsichtigt 


1) Thuk. II, 36, 4. 


Die Satire auf die athenische Demokratie Menex. 2980. 245 


ist es dabei, wie dieses ἀριστοκρατία mit voller Betonung heraus- 
geschleudert, zunächst aber eine Zeitlang ohne Begründung ge- 
lassen wird. Denn damit wird die Spannung der Zuhörer ge- 
steigert und sie werden so für die Offenbarung vorbereitet, was 
die fälschlich so genannte Demokratie in Wirklichkeit ist, wer’ 
εὐδοξίας πλήϑους ἀριστοκρατία. Denn da die Wissenschaft sich 
schon längst darüber klar war, daß für die Demokratie die Sou- 
veränität des πλῆϑος, für die Aristokratie der Ausschluß eben 
dieses πλῆϑος und die Beschränkung der Regierung auf eine kleine 
Zahl von ἄριστοι charakteristisch ist (z. B. Herod. III, 80 — 82), so 
erinnert diese staatsrechtliche Definition, „eine Aristokratie, in der 
das πλῆϑος volle Geltung hat“, doch zu bedenklich an die Repu- 
blik mit dem Großherzog an der Spitze. Und ebenso hübsch ist, 
was nun folgt. Denn da erfahren wir, daß die Demokratie so- 
gar auch ein monarchisches Element hat. Athen hat ja seinen 
βασιλεύς, und wenn der Redner geflissentlich als Unterschied des 
heutigen Königtums von dem der alten Zeit das Fehlen der Erb- 
lichkeit anerkennt, so mag die staunende Hörerschaft wohl ver- 
gessen, daß auch sonst noch diese Institution sich ein wenig ge- 
ändert hat. Souveränität, so hören wir dann, übt „im ganzen“ 
die große Menge aus, ἐγχρατὲς δὲ τῆς πόλεως τὰ πολλὰ τὸ πλῆ- 
ϑος. Also ist die Verfassung doch demokratisch? — Bewahre! 
Das Volk überträgt die Ämter und die Souveränität (τὰς ἀρχὰς 
καὶ τὸ κράτος) denen, die es für die ἄρεστοι hält, stellt also selbst 
die Aristokratie her. Nur ein Kriterium gilt bei der Besetzung 
der Ämter: ὃ δόξας σοφὸς ἢ ἀγαϑὸς εἶναι κρατεῖ καὶ ἄρχει. Der 
Grund dafür ist der, daß in Athen alle von Geburt einander 
gleich und Brüder sind. Das führt von selbst zur ἰσονομία, 
führt dazu, daß nur ἀρετή und φρόνησις ausschlaggebend sind. 
Die letzten Gedanken konnten in der Hauptsache gewiß auch 
die χύλακες τοῦ δήμου aussprechen. Aber daß die Durcheinander- 
wirblung der staatsrechtlichen Begriffe, die Berufung auf die mo- 
narchische Institution der βασιλῆς, auf die Beständigkeit der Ver- 
fassung, die ganze Bezeichnung der athenischen Verfassung als 
Aristokratie nicht ernsthaft gemeint sein kann, ist klar. Liegt da 
Satire vor, dann sollen wir auch im folgenden an den Kontrast 
zwischen den schönen Reden und der nackten Wirklichkeit 
denken, sollen bei dem Satze τὰς ἀρχὰς δίδωσι τοῖς dei δόξασιν 
ἀρίστοις εἶναι uns an die anerkannte Tatsache erinnern, die Plato 


246 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


im Staat gleich zu Anfang seiner Darstellung ausspricht, wenn er 
als Charakteristikum der Demokratie kühl bezeichnet ὡς τὸ πολὺ 
ἀπὸ κλήρων αἱ ἀρχαὶ Ev αὐτῇ γίγνονται (9972). 

Und wenn im Menexenos es heißt εἷς ὅρος, ὃ δόξας σοφὸς 
ἢ ἀγαϑὸς εἶναι κρατεῖ καὶ ἄρχει, so fällt einem unwillkürlich Rep. 
558b ein, wo Plato sarkastisch schildert, wie die Demokratie sich 
nicht im geringsten darum kümmert, ob einer durch seine Aus- 
bildung die Bürgschaft dafür bietet, daß er ὠγαϑός ist, ἀλλὰ τιμᾷ, 
ἐὰν φῇ μόνον εὔνους εἶναι τῷ πλήϑει᾽). Im Menexenos schließt 
sich der Preis der ioovouia an, im Staate die zusammenfassende 
Charakteristik der Demokratie als einer ἡδεῖα πολιτεία, ἰσότητά 
τινα ὁμοίως ἴσοις τε καὶ ἀνίσοις διανέμουσα (558c). Plato scheint 
also dem Satze, daß alle Athener kraft ihrer ἰσογονία nun auch 
wirklich gleich seien, nicht so ganz zu trauen. Aber auch der 
Verfasser des Menexenos müßte sehr unvorsichtig gewesen sein, 
wenn er den Satz ἡ iooyovia ἡμᾶς ἣ κατὰ φύσιν ἰσονομίαν dvay- 
χάζει ζητεῖν κατὰ νόμον so fortsetzt: καὶ μηδενὶ ἄλλῳ ὑπείκειν 
ἀλλήλοις ἢ ἀρετῆς δόξῃ καὶ φρονήσεως. Dieser Satz mochte ja 
den oberflächlichen Hörern vielleicht glatt eingehen. Wer aber 
nicht so ganz auf die demokratischen Gedankengänge einge- 
‚schworen war, dem fiel es doch wohl auf, daß der Satz nicht die 
nächstliegende Form erhalten hatte μηδενὶ noouudodaı (oder 
πλεονεκτεῖν) τῶν ἄλλων, sondern μηδενὶ ὑπείκειν. Denn da 
konnte ein böswilliger Geist doch zu leicht das herauslesen, 
was schon der Oligarch der ᾿ϑηναίων πολιτεία als tatsächliche 
und notwendige Maxime der Demokratie hinstellt: πανταχοῦ πλέον 
ψέμουσι τοῖς πονηροῖς .. ἢ τοῖς χρηστοῖς. Die Demokratie bevor- 
zugt bewußt die Schlechten vor den ἄριστοι, denn in diesen wittert 
sie instinktiv ihre Feinde, mit Recht, denn die Guten sind über- 
all Gegner der Demokratie (1, 5): φημὶ οὖν ἔγωγε τὸν δῆμον τὸν 
Αϑήνησι γιγνώσκειν οἵτινες χρηστοί εἰσι τῶν πολιτῶν καὶ οἵτινες 
πονηροί, γιγνώσκοντες δὲ τοῦς μὲν σφίσιν αὐτοῖς ἐπιτηδείους καὶ 
συμφόρους φιλοῦσι, κἂν πονηροὶ ὦσι, τοὺς δὲ χρηστοὺς μισοῦσι 
μᾶλλον. οὐ γὰρ νομίζουσι τὴν ἀρετὴν αὐτοῖς πρὸς τῷ σφετέρῳ 
ἀγαϑῷ πεφυκέναι, ἀλλ᾽ ἐπὶ τῷ κακῷ (2, 19). Nur wenn man im 
Menexenos auch die Ausführungen über die ἐσονομία und die Be- 


1) [Xen.] Ath. pol. 1, 7 οἱ δὲ γιγνώσκουσιν ὅτι ἣ τούτου ἀμαϑία καὶ πο- 
νηρία καὶ εὔνοια μᾶλλον λυσιτελεῖ ἢ ἡ τοῦ χρηστοῦ ἀρετὴ καὶ σοφία καὶ κα- 
πόνοια. 


Die Satire auf die athenische Demokratie Menex. 238c. 347 


setzung der Ämter als blutige Satire auf die tatsächlichen Zu- 
stände auffaßt, kommt man zu einer einheitlichen Auffassung des 
Abschnitts, und daß wir damit auf dem richtigen Wege sind, be- 
stätigt sich dadurch, daß auf diese Weise der ganze Abschnitt 
des Menexenos seine genaue Parallele hat an der satirischen Kritik 
der Demokratie in der Politeia. Bei der ioovouia sahen wir das 
schon, vor allem aber — und damit kommen wir nach langem 
Umweg auf unseren ursprünglichen Pfad zurück — sehen wir 
erst aus dem Menexenos, was Plato im Staate vorschwebt, wenn 
er von einerVereinigung der verschiedensten Verfassungselemente 
in der athenischen Demokratie spricht. Er hatte freilich guten 
Grund, auf diesen Punkt im Staate nicht näher einzugehen; denn 
die Argumentation des Menexenos war doch zu wenig ernsthaft 
gemeint. Deshalb läßt er sie im Staat absichtlich im Dunkeln 
und begnügt sich damit, die Buntheit der Verfassung aus der 
Buntheit der Individuen abzuleiten. 

Aber was hat Plato denn den Anlaß gegeben, im Menexe- 
nos — daß der ihm gehört, dürfen wir wohl jetzt vorläufig in 
Rechnung stellen — die Demokratie als Aristokratie zu bezeich- 
nen? Warum prägt er im Staat das Bild vom Warenhaus, wo 
man alle möglichen παραδείγματα von Verfassungen findet, den 
Lesern so geflissentlich en? Da müssen irgendwelche Be- 
ziehungen stecken. Plato muß an eine Darstellung denken, wo 
ernsthaft für die Demokratie die Pflege der ἀρετή behauptet, sie 
als Muster hingestellt wurde. 

Wenn wir uns heute das perikleische Staatsideal klarmachen 
wollen, so schließen wir nicht bloß aus den einzelnen Institu- 
tionen, sondern lesen die Leichenrede, die Thukydides Perikles 
in den Mund legt, weil er nach Athens Fall zeigen wollte, welcher 
Geist in jener Verfassung gelebt hatte. Daß Plato die Möglich- 
keit hatte, ebenso vorzugehen, kann niemand bestreiten. Denn daß 
das Werk des Thukydides in den neunziger Jahren erschienen ist, 
liegt doch am nächsten. Freilich haben wir vor Xenophons 
Hellenika keine sicheren Spuren seiner Benutzung, aber auf- 
werfen müssen wir jedenfalls die Frage, ob vielleicht Plato bei 
seiner Darstellung der Demokratie an die des Thukydides ge- 
dacht hat. 

Thukydides will nicht von den Taten der Athener reden, 
ἀπὸ δὲ οἵας τε ἐπιτηδεύσεως ἤλθομεν ἐπ᾽ αὐτὰ καὶ used οἵας πο- 


248 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


λιτείας καὶ τρόπων ἐξ οἵων μεγάλα ἐγένετο, ταῦτα δηλώσας 
πρῶτον εἶμι καὶ ἐπὶ τὸν τῶνδε ἔπαινον (30, 4). Ähnliches bietet 
der Menexenos 2980: ὡς οὖν Ev καλῇ πολιτείᾳ ἐτράφησαν oi 
πρόσϑεν ἡμῶν, ἀγαγκαῖον δηλῶσαι, δι’ ἣν δὴ κἀκεῖνοι ἀγαϑοὶ καὶ 
oi νῦν εἰσιν. Als programmatischen Satz stellt Thukydides voran: 
χρώμεϑα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόμους, παρώ- 
deıyua δὲ μᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἤ μιμούμενοι ἑτέρους und 
knüpft sofort daran an, man nenne die Verfassung wohl Demo- 
kratie im Gegensatz zu. den Staatsformen, wo die politische 
Macht in den Händen weniger liege (καὶ ὄνομα μὲν διὰ τὸ μὴ 
ἐς ὀλίγους ἀλλ᾽ ἐς πλείονας οἰκεῖν δημοκρατία κέκληται), allein da- 
mit sei nicht gesagt, daß die ἰσότης, die man als demokratisches 
Prinzip betrachte, mechanisch durchgeführt sei. Die ἰσονομία gilt 
unbedingt in dem privaten Rechtsverhältnisse, aber im öffent- 
lichen Leben ist die Geltung der Bürger so gut verschieden wie 
in jenen Staatsformen, nur regelt sich die Verschiedenheit nach 
einem anderen Prinzip: nicht die Zugehörigkeit zu einem be- 
stimmten Teil der Bevölkerung gibt wie bei der Oligarchie den 
Vorrang’), sondern die ἀρετή, die Tüchtigkeit, das Verdienst, und 
der Vorzug der Demokratie ist es, daß jeder Bürger solch Ver- 
dienst sich erwerben kann, während in anderen Staaten, wo die 
politischen Rechte an die Zugehörigkeit zu einer Zensusklasse ge- 
bunden sind, dem Armen dies unmöglich gemacht ist. Also die 
ἰσότης bringt die Gleichheit der Bürger in privaten Rechtsver- 
hältnissen; im öffentlichen Leben, wo sie längst von der Kritik 
als Unsinn bezeichnet worden war‘), herrscht ein andres Prin- 
zip, die ἀρετή. Nur die ἄριστοι kommen an die Spitze des 
Volkes, oder drücken wir es anders aus, nicht in den Oligarchien 
und Plutokratien, sondern in der athenischen Demokratie ist die 
ἀριστοκρατία der Theoretiker zu finden. 


1) Plato Rep. 558b οὐδὲν φροντίζει ἐξ ὁποίων ἄν τις ἐπιτηδευμάτων ἐπὶ 
τὰ πολιτικὰ ἰὼν πράττῃ 016 παραδείγματα πολιτειῶν τε καὶ τρόπων. 

2) πολιτεία γὰρ τροφὴ (nicht τροφός, das vom Lande gesagt wird) ἀνϑρώ- 
πων ἐστίν. 

3) οὐκ ἀπὸ μέρους τὸ πλέον προτιμᾶται muß man nach der verwandten 
Stelle VI, 39, 1 erklären: ἐγὼ δέ φημι πρῶτα μὲν δῆμον ξύμπαν ὠνομάσθαι, 
ὀλιγαρχίαν δὲ μέρος κτλ. 

Ἢ VI, 39 φήσει τις δημοκρατίαν οὔτε ξυνετὸν οὔτ᾽ ἴσον εἶναι. Nicht die 
arithmetische, sondern die geometrische Gleichheit gilt. Vgl. 5, 1541. 


Plato und Thukydides’ Leichenrede. 949 


Thukydides hat diese Sätze programmatisch an den Anfang , 
gestellt, offenbar, weil er damit den Grundgedanken des Perikles 
wiederzugeben glaubte. Er selber wußte es genau und hat es 
in seinem Geschichtswerke dargestellt, wie wenig die Wirklich- 
keit später diesem Idealbild entsprach. Konnte das nicht andre 
Gegner der perikleischen Demokratie zur satirischen Darstellung 
reizen? So verstehen wir, wie Plato in leiser Übertreibung, die 
wir bei ihm aus Protagoras’ Mythos, aus Agathons Erosrede so 
eut kennen, die entartete athenische Demokratie seiner Zeit 
schlankweg als Aristokratie bezeichnet. Und wenn wir an Thuky- 
dides’ Worte παράδειγμα δὲ μᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ μιμούμενοι 
ἑτέρους denken, sehen wir auch, woher die παραδείγματα πολιτειῶν 
Rep. 56le, das παντοπώλιον der Verfassungen in 557d stammen. ᾿ 
Mit geschiekter Benützung des Gedankens, daß Perikles die Viel- 
seitigkeit der menschlichen Natur entwickeln will, ruft er höhnisch 
aus: Muster für andere nennt man die athenische Demokratie? 
Viel zu wenig des Lobes! Eine ganze Musterkarte von ver- 
schiedenen Verfassungen findet man in ihr, wenn man sich die 
Mühe gibt, die verschiedenen Menschen und Verfassungselemente 
zu prüfen, die sich auf dem Boden völliger individueller Freiheit 
entwickeln! „Perikles (Thue. II, 37,1) regarded the Athenian 
constitution as a παράδειγμα, Plato humorously describes it as a 
motley aggregate of παραδείγματα“, so urteilt ganz richtig schon 
Adam in seinem Kommentar zu Rep. 557d, ohne freilich diesen 
Gedanken weiter zu verfolgen. 

Daß Thukydides’ Worte οὐκ ἀπὸ μέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ 
ἢ ἀπ᾽ ἀρετῆς προτιμᾶται οὐδ᾽ αὖ κατὰ πενίαν... ἀξιώματος ἀφανείᾳ 
κεκώλυται ihr genaues Gegenbild im Menexenos haben οὔτε πενίᾳ 
οὔτ᾽ ἀγνωσίᾳ πατέρων ἀπελήλαται οὐδεὶς οὐδὲ τοῖς ἐναντίοις TETI- 
uni ..., ἀλλὰ εἷς ὅρος, ὃ δόξας σοφὸς ἢ ἀγαϑὸς εἶναι κρατεῖ καὶ 
ἄρχει (258 4), sei nur nebenher erwähnt. 

Nach der ἰσότης behandelt Thukydides 37,2 das zweite Schlag- 
wort der Demokratie, die &ievdegia. Hier ist die politische Frei- 
heit so selbstverständlich, daß sie mit einem Worte abgemacht 
wird; um so mehr wird hervorgehoben, daß der Staat jede Be- 
einträchtigung der individuellen Freiheit im Privatleben vermeidet: 
ἐλευϑέρως δὲ τά TE πρὸς τὸ κοινὸν πολιτεύομεν καὶ ἐς τὴν πρὸς 
ἀλλήλους τῶν zaI ἡμέραν ἐπιτηδευμάτων ὑποψίαν, οὐ δι᾿ ὀργῆς 
τὸν πέλας, εἰ nad ἡδονήν τι δρῷ, ἔχοντες κτῆ. Ebenso verfährt Plato 


250 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


Rep. 557b οὐκοῦν πρῶτον μὲν δὴ ἐλεύϑεροι καὶ ἐλευϑερίας ἡ πόλις 
μεστὴ καὶ παρρησίας γίγνεται, καὶ ἐξουσία Ev αὐτῇ ποιεῖν ὅτι τις βού- 
λεται; ... ὅπου δέ γε ἐξουσία, δῆλον ὅτι ἰδίαν ἕκαστος ἂν κατασχευὴν 
τοῦ αὑτοῦ βίου κατασκευάζοιτο ἐν αὐτῇ, ἥτις ἕκαστον ἀρέσκοι. Weiter 
heißt es bei Thukydides (37,3): „Aber wenn wir auch möglichste 
Freiheit lassen, so reißt damit nicht etwa Zügellosigkeit ein. Statt 
des äußeren Zwanges wirkt bei uns die sittliche Achtung vor der 
Staatsgewalt, vor dem Gesetz, dem geschriebenen und noch mehr dem 
ungeschriebenen: ἀνεπαχϑῶς δὲ τὰ ἴδια προσομιλοῦντες τὰ δημόσια 
διὰ δέος μάλιστα οὐ παρανομοῦμεν, τῶν τε αἰεὶ ἔν ἀρχῇ ὄντων 
ἀκροάσει καὶ τῶν νόμων καὶ μάλιστα αὐτῶν.... ὅσοι ἄγραφοι ὄντες 
αἰσχύνην ὁμολογουμένην φέρουσιν.“ Plato führt 562 aus, wie die 
ἐλευϑερία in völlige ἀναρχία ausartet, wie die Achtung vor den Be- 
hörden nicht mehr als sittlich ehrenwert, sondern als Feigheit gilt 
(τοὺς τῶν ἀρχόντων κατηκόους προπηλακίζει ὡς ἐϑελοδούλους TE καὶ 
οὐδὲν ὄντας 562 4) und schließlich man auch das Gesetz nicht mehr 
als Herrn gelten läßt: τελευτῶντες γάρ που οἶσϑ᾽ ὅτι οὐδὲ [τῶν] νόμων 
φροντίζουσιν γεγραμμένων ἢ ἀγράφων, ἵνα δὴ μηδαμῇ μηδεὶς αὐτοῖς 
ἢ δεσπότης (505). 

Damit hat Thukydides die beiden Grundlagen der Demokratie, 
die Gleichheit und die Freiheit, vorgeführt. Er schildert dann im 
folgenden, wie sich von da aus das Leben in der Demokratie ge- 
staltet, und schließt seine Schilderung 41, 1 zusammenfassend so 
ab: ξυνελών τε λέγω τήν τε πᾶσαν πόλιν τῆς ᾿ Ελλάδος παίδευσιν 
εἶναι καὶ καϑ' ἕκαστον δοκεῖν dv μοι τὸν αὐτὸν ἄνδρα παρ᾽ ἡμῖν ἐπὶ 
πλεῖστ᾽ ἂν εἴδη καὶ μετὰ χαρίτων μάλιστ᾽ ἂν εὐτραπέλως τὸ σῶμα 
αὔταρκες παρέχεσθαι. 

Der Staat als Ganzes ist also berufen, ganz Hellas zu bilden, 
jeder einzelne aber besitzt die Elastizität, die ihn befähigt, sich in 
jede Form der Tätigkeit so hineinzufinden, daß er mit natürlicher 
Leichtigkeit seinen Posten ganz ausfüllt. 

Auch Plato kennt diese Elastizität als Folge der individuellen 
Freiheit, aber sein Demokrat ist nicht bloß fähig, jeden Posten 
auszufüllen (ἐπὶ πλεῖστ᾽ ἂν εἴδη — παρέχεσϑαι), er ist ewig πλείστων 
ἡϑῶν μεστός, παραδείγματα πολιτειῶν τε καὶ τρόπων πλεῖστα ἔχων 
(661 6), und wie sich seine Elastizität zeigt, wird köstlich 561 ὁ 
illustriert: „Er folgt jeder Begierde, die ihm grade kommt. Heute 
betrinkt er sich und findet sich in den Armen einer Flötenspielerin, 
morgen trinkt er Wasser und fastet. Ein andermal macht er körper- 


Pi 


Plato und Thukydides’ Leichenrede. 951 


liche Übungen, dann wieder streckt er sich auf die Bärenhaut und 
kümmert sich um gar nichts. Das nächste Mal studiert er eifrig. 
Oft auch treibt er Politik, springt auf die Rednerbühne und sagt 
und tut, was ihm gerade einfällt. Und wenn er einmal nach 
kriegerischen Lorbeeren lüstern wird, dann treibt es ihn dorthin, 
wenn nach dem Gewinn der Geldleute, dann dahin. Ordnung und 
Zwang kennt er nicht. Das ist sein lustiges, freies, seliges Leben.“ 
Noch beißender wird die Satire, wenn er ausführt, wie in Athen 
auch die Greise nicht etwa die Würde des Alters repräsentieren, 
sondern nur den einen Ehrgeiz kennen, den jungen Leuten es an 
spielender Rleganz und Elastizität gleichzutun, eörganekiag τε καὶ 
χαριεντισμοῦ ἐμπίμπλανται (5632). Auch sie wissen eben, daß 
εὐτραπέλως καὶ μετὰ χαρίτων (Thuk. 41,1) das Gepräge des athe- 
nischen Demokraten ist. 

Bei den übrigen Stellen Platos, die wir mit Thukydides ver- 
glichen haben, konnte man vielleicht noch den Ausweg suchen, 
daß es sich um allgemeine Anschauungen über die Demokratie 
handelt’), ohne daß eine direkte Beziehung besteht. Hier ist es, 
glaube ich, nicht mehr möglich. Denn daß 41,1 nach Inhalt und 
Form ganz Eigentum des Thukydides ist, daß insbesondere die 
Worte εὐτραπέλως καὶ μετὰ χαρίτων von ihm ganz persönlich ge- 
prägt sind, wird schwerlich jemand bezweifeln. Und kann es jemand 
für Zufall halten, daß Plato, als er satirisch die Elastizität des Atheners 
bei den alten Leuten hervorhob, just diese wahrlich nicht so häufigen 
Worte (χαριεντισμός ist natürlich eine beabsichtigte leise Umbiegung 
von χάριτες, die das Tändelnde, Spielerische hervortreten läßt) ge- 
braucht? 

Plato hat also bei seiner Satire auf die athenische Demokratie 
es nicht versäumt, die einzige literarische Darstellung des peri- 
kleischen Ideals, die wir kennen, die einzige wahrscheinlich, die 
es damals gab, in einem Bilde wiederzugeben, das freilich wie ein 
Zerrbild anmutet, aber nur zu sehr der Wirklichkeit platonischer 
Zeit entsprach. Auf einen Gegensatz zu Thukydides braucht man 
darum nicht zu schließen; denn daß dieser selber den Widerspruch 
zwischen Ideal und Erfüllung empfunden hatte, wird Plato natürlich 
gewußt haben. Aber freilich ist die Feindschaft gegen die Demo- 
kratie inzwischen schärfer geworden, und Plato bringt sie viel 
leidenschaftlicher zum Ausdruck als der verhaltene Thhukydides. 


1) Deren Ausprägung man dann etwa auf Perikles zurückführen könnte. 


252 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


Bei der Schilderung, wie der Sohn des sparsamen Oligarchen 
unter fremdem Einfluß alle möglichen Begierden in sich eindringen 
läßt, führt Plato aus, wie die sittlichen Begriffe sich ändern: die 
αἰδώς gilt jetzt als ἠλιϑιότης, σωφροσύνη als ἀνανδρία, andrerseits 
(560 4) ὕβρις als εὐπαιδευσία, ἀναρχία als ἐλευϑερία usw. Das erinnert 
an Thukydides’ Worte III, 82,4 τὴν εἰωϑυῖαν ἀξίωσιν τῶν ὀνομάτων 
ἐς τὰ ἔργα ἀντήλλαξαν τῇ δικαιώσει. τόλμα μὲν γὰρ ἀλόγιστος ἀνδρεία 
φιλέταιρος ἐνομίσϑη, μέλλησις δὲ προμηϑὴς δειλία εὐπρεπής, τὸ δὲ 
σῶφρον τοῦ ἀνάνδρου πρόσχημα usw. An sich würden diese 
Anklänge, da der Zusammenhang verschieden ist, nicht viel be- 
weisen. Aber da einmal sicher steht, daß Plato in diesem Abschnitt 
Thukydides vor Augen hat, so werden wir auch hier Reminiszenzen 
aus diesem zu sehen haben (so auch Gomperz, Gr. D. II, S. 579). 

Wichtiger ist eine andere Parallele. Rep. 452c erinnert Plato 
die Komiker daran, ὅτε οὐ πολὺς χρόνος ἐξ οὗ τοῖς “Πλλησιν ἐδόκει 
αἰσχρὰ εἶναι καὶ γελοῖα ἅπερ νῦν τοῖς πολλοῖς τῶν βαρβάρων, γυμνοὺς 
ἄνδρας δρᾶσϑαι, καὶ ὅτε ἤρχοντο τῶν γυμνασίων πρῶτοι μὲν Κρῆτες 
ἔπειτα Λακεδαιμόνιοι, ἐξῆν τοῖς τότε ἀστείοις πάντα ταῦτα κωμῳδεῖν. 
Das erinnert doch sofort an Thuk. I, 8, wo dieser zeigt, daß die 
alten Griechen in ihrer Lebensweise zu den Barbaren stimmten, 
und von den Spartanern sagt: ἐγυμνώϑησών τε πρῶτοι καὶ ἐς τὸ 
φανερὸν ἀποδύντες λίπα μετὰ τοῦ γυμνάζεσθαι ἠλείψαντο. τὸ δὲ 
πάλαι καὶ ἐν τῷ ᾿Ολυμπικῷῳ ἀγῶνι διαζώματα ἔχοντες περὶ τὰ αἰδοῖα 
οἱ ἀϑληταὶ ἠγωνίζοντο, καὶ οὐ πολλὰ ἔτη ἐπειδὴ πέπαυνται. ἔτι δὲ 
καὶ ἐν τοῖς βαρβάροις ἔστιν οἷς νῦν κτλ. Plato bringt in πρῶτοι 
μὲν Κρῆτες eine Berichtigung, aber die Anregung hat er doch wohl 
aus Thukydides. 

Daß im Menexenos die Worte der Gefallenen ἡμῖν δὲ ἐξὸν ζῆν 
μὴ καλῶς, καλῶς αἱρούμεϑα μᾶλλον τελευτᾶν (246d) bei Thukydides 
II, 42, 4 eine Parallele haben, ist längst bemerkt‘). Auch hier 
würde man aus der Übereinstimmung an sich nichts schließen 
können, noch weniger aus den anderen Stellen, die man aus beiden 
Reden verglichen hat. Aber natürlich werden wir jetzt auch hier 
mit Reminiszenzen rechnen dürfen. Schwerer wiegt, daß über- 
haupt beide Epitaphioi eine Schilderung der athenischen Demo- 
kratie geben. Freilich ist auch da nicht sicher, wie weit etwa 
z. B. Gorgias bestimmend sein konnte. (Näheres im nächsten Auf- 
satz.) Aber Beachtung verdient, daß Dionys von Halıkarnass, dem 

') Ganz ähnlich aber z.B. auch Isokr. Paneg. 95. 


Plato und Thukydides. 253 


gewiß mehr Material zur Verfügung stand, doch eine Nachahmung 
des Thukydides im Menexenos annimmt (de Demosth. 23) '). 

Sehr interessant, wenn auch nicht überraschend ıst es nun, 
wie Plato im Alter wenigstens eine Annäherung an das Idealbild 
des Perikles versucht. 

Im dritten Buche der Gesetze will Plato, ehe er sein neues 
Staatenbild entwirft, die Lehren aus der historischen Entwicklung 
ziehen. Sein Ziel ist der Nachweis, daß nur eine gemäßigte, aus 
monarchischen und demokratischen Elementen gemischte Ver- 
fassung die innere Eintracht und den Bestand des Staates verbürgt. 
Das will er an den beiden Extremen zeigen, die das monarchische 
und das demokratische Prinzip einseitig durchgeführt und über- 
spannt haben. Das eine ist in Persien, das andere in Athen der 
Fall (693e). Beide Staaten haben auf der Höhe ihrer Leistungen 
gestanden, als die Verfassung noch gemäßigt war. Mit der radikalen 
Entwicklung war der Niedergang gegeben. Persien war mächtig 
unter Kyros, der seinen Untertanen noch Freiheiten gönnte und 
ihre Kräfte für die Regierung heranzog. ‘Aber da er sich um die 
Erziehung seines Sohnes nicht kümmerte, geriet dieser unter den 
Einfluß von Frauen, die ıhn schon selbstverständlich auf dem 
Gipfel des Glückes glaubten, von Schmeichlern und Liebedienern, 
die jeden seiner Wünsche erfüllten, und so wuchs in Kambyses 
eine Despotennatur heran. Das gleiche wiederholte sich bei dem 
Sohne des tüchtigen, volksfreundlichen Dareios, bei Xerxes, und 
seitdem herrscht in Persien eine Despotie, die nur ihre eigenen 
Interessen wahrnimmt (vgl. Rep. I τὸ τῆς καϑεστηκυίας ἀρχῆς ovu- 
φέρον) und im Falle eines Krieges zwar Geld und Menschen auf- 
treiben kann in Fülle, aber keine Bürger, die für ihre eigenen 
höchsten Güter kämpfen (—698a). 

Ebenso entwickelte Athen die höchsten Leistungen in der Zeit, 
wo noch die solonischen Zensusklassen bestanden und strenge 
Gesetzlichkeit das Staatswesen beherrschte. Die innere Disziplin 
wurde dabei noch verstärkt durch den äußeren Druck, die Perser- 
gefahr (— 699d). Als dieser fehlte, kam die radikale Entwicklung. 
Wie bei den Persern die äußerste Knechtschaft, so trat in Athen 


1ὴ In der Schilderung der Oligarchie heißt es Menex. 238e οἰκοῦσιν οὖν ἔνιοι 
μὲν δούλους, οἱ δὲ δεσπότας ἀλλήλους νομίζοντες. Zu ändern ist nichts, denn 
Subjekt sind alle nicht demokratisch regierten Völker, und ἔνιοι μὲν ist statt οἱ 
μὲν gesetzt, weil es eben nur wenige sind, die dort die Herren spielen. Aber ist 
diese Prägnanz nicht thukydideischer Stil? 


254 Kritik des perikleischen Ideals. Plato und Thukydides. 


der äußerste Grad von Freiheit und damit der Verfall des Staates 
ein (— 701e)'). 

Überall schweben hier die Ausführungen von Rep. VII vor. 
Ein zweifelloser Nachhall ist die Schilderung, wie durch schlechte 
häusliche Erziehung und üble äußere Einflüsse der Sohn des βασιλικὸς 
ἀνήρ Kyros zum ᾿ δεσποτικός wird (694 4) und wie damit die ganze 
monarchische Verfassung der Perser despotischen Charakter an- 
nimmt. Ganz zu den Ausführungen der Politeia stimmt es, wenn 
die Darstellung darauf basiert, daß die Überspannung des Ver- 
fassungsprinzips den Verfall bedingt (Rep. 562c, Legg. 698a, 699e), 
und wenn dabei gesagt wird, ταὐτὸν ἡμῖν ξυμβεβήκει πάϑος ὅπερ 
Πέρσαις, ἐκείνοις μὲν ἐπὶ πᾶσαν δουλείαν ἄγουσι τὸν δῆμον, ἡμῖν 
δ᾽ αὖ τοὐναντίον ἐπὶ πᾶσαν ἐλευϑερίαν προτρέπουσι τὰ πλήϑη, SO 
gibt das die Worte de’ οὐκ ἀνάγκη Ev τοιαύτῃ πόλει ἐπὶ πᾶν τὸ 
τῆς ἐλευϑερίας ἰέναι; aus Rep. 562d wieder, nur daß in den Ge- 
setzen die Beziehung auf!Athen auch ausdrücklich ausgesprochen 
wird. Im Staate wird dort gezeigt, wie dann ein Zustand völliger 
Anarchie einreißt, wo man (a) τοὺς τῶν ἀρχόντων κατηκόους προ- 
πηλακίζει ὡς ἐϑελοδούλους (562d), wo (b) der Respekt vor den Eltern 
(562e) und dem Alter (563a) aufhört, wo die Menschen (0) τελευ- 
τῶντες οὐδὲ νόμων φροντίζουσιν (563e). In den Gesetzen werden 
diese Züge zu dem Gesamtbilde zusammengefügt (701b) ᾿Εφεξῆς 
δὴ ταύτῃ τῇ ἐλευϑερίᾳ (a) ἣ Tod μὴ ἐθέλειν τοῖς ἄρχουσι δουλεύειν 
γίγνοιτ᾽ ἄν, καὶ ἑπομένη ταύτῃ (b) φεύγειν πατρὸς καὶ μητρὸς καὶ 
πρεσβυτέρων δουλείαν καὶ νουϑέτησιν, (C) καὶ ἐγγὺς τοῦ τέλους οὖσιν 
νόμων ζητεῖν μὴ ὑπηκόοις εἶναι. Das ist ein einfaches Exzerpt 
aus der Politeia, und es ist nur für den alten Plato bezeichnend, 
wenn er hinzufügt πρὸς αὐτῷ δὲ ἤδη τῷ τέλει ὅρκων καὶ πίστεων 
χαὶ τὸ παράπαν ϑεῶν μὴ φροντίζειν. 

Wichtiger ist aber für uns hier, zu beobachten, wie Platos 
Anschauungen sich in einem anderen Punkte geändert haben. Wie 
in der Politeia unterscheidet er auch hier zwei Stadien in der 
Entwicklung der athenischen Verfassung und behält die Schilderung 
des zweiten Stadiums, der entarteten Demokratie, wie wir sehen, 
einfach bei. Während er aber im Staate als erste Epoche die 
perikleische Demokratie betrachtet hatte, in der auch schon völlige 
Freiheit und Gleichheit als Schlagworte herrschen, lenken sich in 


1 Über die Berührungen des siebenten Briefes mit diesem Abschnitt vgl. 
8.1182. 


Die Beurteilung der athenischen Demokratie in den Gesetzen. 255 


den Gesetzen seine Blicke weiter zurück auf die gute alte Zeit, 
wo noch nicht die radikale Gleichheit bestand, sondern πολιτεία 
ἣν παλαιὰ καὶ ἐκ τιμημάτων ἀρχαί τινες τεττάρων (698b), und 
ebenso war die ἄχρατος ἐλευϑερία, die keine Spur von δουλεία 
verträgt, noch nicht vorhanden, sondern δεσπότις ἐνῆν τις αἰδώς, 
δι’ ἣν δουλεύοντες τοῖς τότε νόμοις ζῆν ἠϑέλομεν" καὶ πρὸς τούτοις 
δὴ τὸ μέγεϑος τοῦ (Περσικοῦ) στόλου... φόβον ἄπορον ἐμβαλὸν 
δουλείαν ἔτι μείζονα ἐποίησεν ἡμᾶς τοῖς τε ἄρχουσιν καὶ τοῖς νόμοις 
δουλεῦσαι (ebenda), und dasselbe schärft er mit wörtlicher Wieder- 
holung nachher (6996) noch einmal ein, und 700a faßt er sein 
Urteil so zusammen: οὐκ ἦν, ὦ φίλοι, ἡμῖν ἐπὶ τῶν παλαιῶν νόμων 
ὃ δῆμός τινων κύριος, ἀλλὰ τρόπον τινὰ ἑκὼν ἐδούλευε τοῖς νόμοις. 
Unwillkürlich denken wir an Perikle®’ Worte Thuk. Il, 37, 3 
ἀνεπαχϑῶς δὲ τὰ ἴδια προσομιλοῦντες τὰ δημόσια διὰ δέος μάλιστα 
οὐ παρανομοῦμεν, τῶν Te αἰεὶ ἐν ἀρχῇ ὄντων ἀκροάσει καὶ τῶν 
νόμων. | 

Es ist genau der gleiche Gedanke, und es bedeutet keine 
Änderung des Sinnes, wenn Plato dem veränderten Sprachgebrauch 
Rechnung trägt und den Begriff der sittlichen Scheu nicht mehr 
durch δέος, sondern durch αἰδώς ausdrückt. Ja, er will wohl gradezu 
auf den Bedeutungswechsel von δέος aufmerksam machen, wenn 
er 6990 jvon dieser Scheu sagt ἣν αἰδῶ πολλάκις Ev τοῖς ἄνω 
λόγοις εἴπομεν ... ἧς ὃ δῆμος  ἐλεύϑερος καὶ ἄφοβος" ὃν εἰ τότε 
μὴ δέος (= Furcht vor dem äußeren Feinde, φόβος kurz vorher 
699 wie 698b) ἔλαβεν, οὐκ ἄν ποτε συνελϑὼν ἠμύνατο. 

Wir wissen ja, wie die öffentliche Meinung Athens in den 
fünfziger Jahren sich der Vergangenheit zuwendet, wir spüren es 
auf jeder Seite der Gesetze wie des Kritias, wie warm im alten 
Plato das Herz für sein Vaterland, sein Athen schlägt und er sich 
über die traurige Gegenwart hinwegtröstet, indem er sich das Bild 
von Altathen hervorzaubert und in die Wirklichkeit umsetzen 
möchte. Da verstehen wir es, daß er jetzt Thukydides’ Worte mit 
anderen Augen ansieht. Zwar das Urteil über Perikles’ Verfassung 


1) Diese Emendation Hermanns (δειλός codd.) wird gesichert dadurch, 
daß nach Rep. 563 eben das Fehlen dieser αἰδώς für die radikale Herrschaft des 
önuos charakteristisch ist. 

2) Denselben Bedeutungswechsel spürt man im ps.-demosthenischen Epita- 
phios 25 ai μὲν γὰρ διὰ τῶν ὀλίγων δυναστεῖαι δέος μὲν Evegydbovraı τοῖς 
πολίταις, αἰσχύνην δ᾽ οὐ παριστᾶσιν. — Über die Wiederkehr des Gedankens im 
siebenten Briefe vgl. S. 1215, 


256 Kritik des perikleischen Ideals.. Plato und Thukydides. 


steht ihm zu fest. Die reine Demokratie ist und bleibt ein Irrweg, 
und keine Idealisierung darf uns über ihre Verfehltheit hinweg- 
täuschen. Aber der Gedanke des freien Athenervolkes, das aus 
freiem Willen dem Gesetze gehorcht, ist doch etwas Schönes, und 
der Philosoph, der nicht die Verpflichtung hat, jede einzelne Periode 
der vaterländischen Geschichte darzustellen, mag wohl die Zeit des 
Perikles stillschweigend übergehen und die Zeit der Marathon- 
kämpfer, die das Ideal seiner Jugendzeit gewesen war, in den 
hellen Farben erstrahlen lassen, mit denen Perikles sich selber 
seine Demokratie malte. 


XI. Kritik der auswärtigen Politik Athens. 
Menexenos. 


‚An der Echtheit des Menexenos hat im Altertum niemand 
gezweifelt. Er wurde in späterer Zeit offiziell bei der Epitaphien- 
feier verlesen, doch gewiß als platonisches Werk (Cie. or. 151), 
und die Rhetoren, Dionysios von Halikarnass an der Spitze’), 
legen gerade ihn zu Grunde, wenn sie über Platos Stil urteilen 
wollen. Und wenn Aristoteles ein Wort aus dem Menexenos 
(235d) so anführt ὃ γὰρ λέγει Σωκράτης Ev τῷ ἐπιταφίῳ, ἀληϑές, 
ὅτι οὐ χαλεπὸν ᾿Αϑηναίους ἐν ᾿Αϑηναίοις ἐπαινεῖν ἀλλ’ ἐν Λακε- 
δαιμονίοις (1415b 30, νρ]. 1867} 8), so müssen schon sehr ge- 
wichtige Gegeninstanzen vorliegen, wenn wir die Annahme ab- 
lehnen sollen, daß er einen platonischen Epitaphios meint’). 

Dagegen ist die Echtheit neuerdings vielfach in Zweifel ge- 
zogen worden. Denn „sollte der Todfeind der verflachenden Rhe- 
torik dem Laster der Rhetoren verfallen sein, tralatizische Phrasen 
urteilslos nachzuplappern?“ (Schwartz, Hermes 35, S. 124.) 

Verteidigt haben den: Menexenos besonders Wendland (im 
Hermes 25) und Trendelenburg (Erläuterungen zu Platos Menexe- 
nos, Berlin, Progr. d. Friedrichs-Gymnasiums 1905). Beide haben 


1) De Demosthene 23 ff, Vgl. noch [Dionysios’] Techne VI (über die Epitaphioi). 

8) Trotz Schwartz, Hermes 35, 5. 1241, Für Schwartz beweist das Aristo- 
teleszitat nur, was ohnehin wahrscheinlich sei, daß der Menexenos in der Zeit 
Alexanders geschrieben ist. Aber soll wirklich Aristoteles ein eben erschienenes 
„elendes Machwerk“ so zitieren: ὥσπερ γὰρ ὁ Σωκράτης ἔλεγεν (1367b 8)? 


Der Menexenos. 357 


das Verständnis des Dialoges außerordentlich gefördert. Wenn 
sie ihn aber im ganzen ausschließlich aus einer satirischen Ten- 
denz gegen die Rhetorik heraus erklären wollen ‘), so werden sie, 
scheint es mir, Platos Absichten nicht gerecht. Ich habe schon 
im vorigen Aufsatze eine Stelle der Rede in anderm Sinn aus- 
gebeutet und will nunmehr-versuchen, durch eine allseitige Be- 
trachtung den platonischen Ursprung des Menexenos zu beweisen 
und seine Tendenz klarzustellen. 

Den Menexenos, mit dem Sokrates hier spricht, kennen wir 
aus dem Lysis, Da ist er ein munterer Junge von etwa 15 
Jahren, etwas dreist, schon von philosophischen Diskussionen be- 
rührt, ja, er ist ἐριστικός (211 b), und wir verstehen es, daß sein 
Freund Lysis ihm einen kleinen Dämpfer gönnt (ib.), und So- 
krates scheint derselben Ansicht zu sein, denn wenn er im gleich 
folgenden Gespräch alle möglichen Schattierungen des Begriffs 
φίλος durcheinander mischt, so will er vor allem gründlich in 
Menexenos ’) das Gefühl der geistigen πενία erwecken. 

Ganz anders tritt er uns in dem nach ihm benannten Dialog 
entgegen: bescheiden, zurückhaltend, voll unbedingter Hingabe 
an Sokrates und bereit, ihm aufs Wort zu folgen. „Wenn du 
mir erlaubst und rätst, politisch tätig zu sein, so will ich’s gern 
tun, sonst nicht“ (234b). Ist das nicht gleich ein Beweis, daß 
dieser Dialog nicht vom Verfasser des Lysis sein kann? — Ich 
glaube nicht. Wir haben das Charakterbild, das der Lysis liefert, 
nur zur Hälfte wiedergegeben. Denn vor allem gehört zu diesem, 
daß er ein Freund des Lysis ist. Der mutet in seiner schüch- 
ternen, leicht verlegenen Art ja zunächst wie ein Gegensatz zu 
Menexenos an. Und doch sind beide Freunde, sollen sie beide 
für die Theorie von der φιλία eine praktische Illustration liefern 
(212a). Freundschaft kann aber nicht zwischen ἀνόμοιοι be- 
stehen. Ebensowenig aber zwischen gleichen Menschen, die sich 
nichts zu geben haben. Die Liebe geht auf das οἰκεῖον. Sie be- 
steht zwischen denen, die πῇ μὲν ὅμοιοι, πῇ δὲ ἀνόμοιοι Sind, 
zwischen Individuen, die wesensverwandt sind, aber doch so weit 


1) Nach Wendland will Plato dabei vor allem in einem zalyvıov zeigen 
wie leicht es sei, den vielgerühmten Epideixeis der Rhetoren eine gleichwertige 
zur Seite zu stellen. Trendelenburg sucht die Satire mehr in den karikierenden 
Übertreibungen der Ausführung. 

2) Natürlich auch im Leser. 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 17 


258 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


verschieden, daß sie sich erst gegenseitig ergänzen. Der Grund- 
zug des Charakters ist bei Lysis wie bei Menexenos derselbe, die 
yıAouadia'). Und wenn sich nun beide gegenseitig beeinflussen 
und abschleifen, wenn der läuternde Einfluß des Sokrates hinzu 
tritt, dann wird nach fünf, sechs Jahren Menexenos gewiß das 
vorlaute Wesen des ἐριστικός abgelegt haben, reifer, bescheidener 
geworden sein, kurz so, wie der gleichnamige Dialog den etwa 
20 jährigen Jüngling zeichnet. 

So ergänzt dieses Charakterbild in glücklichster Weise das 
andere, das wir aus dem Lysis kennen. Gehört dann aber wohl 
der Verfasser des Menexenos zu den oberflächlichen Nachahmern? 
Die mögen Charaktere wohl nachzeichnen, nachempfinden und 
ergänzen werden sie diese nicht. 


Sokrates trifft den-Menexenos vor dem Rathaus. „Du glaubst 
wohl jetzt mit der Ausbildung und der Philosophie fertig zu sein, 
sodaß du dich größeren Dingen zuwenden kannst?“ so fragt er 
im Scherz, ἃ. h.: „Du denkst wohl wie Kallikles, der erklärt gı- 
λοσοφίας μὲν ὅσον παιδείας χάριν καλὸν μετέχειν καὶ οὐκ αἰσχρὸν 
μειρακίῳ ὄντι φιλοσοφεῖν, ἐπειδὰν δὲ ἤδη πρεσβύτερος ὧν ἄνϑρω- 
πος ἔτι φιλοσοφῇ, καταγέλαστον τὸ χρῆμα γίγνεται (Gorg. 486 8), 
und für den Erwachsenen nur die politische Tätigkeit gelten 
lassen will, oder wie die Rhetoren, die in der Philosophie nur 
die Vorschule für die Rhetorik sehen (Isokr. Panath. 26ff.)?°)*“, 

Also das Verhältnis der Philosophie zur Rhetorik und prak- 
tischen Politik ist der Ausgangspunkt, und die Philosophie hat 
sich gegen die geringschätzige Beurteilung der Gegner zu weh- 
ren. Aber statt wie im Gorgias eine Verteidigung zu geben, ver- 
fährt Sokrates hier nach dem Grundsatz: Die beste Parade ist der 
Hieb. Denn kaum hat Menexenos vom Epitaphios ein Wort ge- 
sagt, so greift das Sokrates auf und beginnt ein ironisches Lob 
auf diese Lobreden ἡ. Da preist er, wie schön es ist, wenn die Red- 
ner οὕτως καλῶς ἐπαινοῦσιν, ὥστε καὶ τὰ προσόντα καὶ τὰ μὴ περὶ 
ἑχάστου λέγοντες, κάλλιστά πως τοῖς ὀνόμασι ποικίλλοντες, γοη- 
τεύουσιν ἡμῶν τὰς ψυχάς (235a) — es ist derselbe Sokrates, der 
im Anfang der Apologie χεκαλλιεπημένους λόγους δήμασί τε καὶ 


1) Auf den Lysis gehe ich im Aufsatz über das Symposion ein. 
3) Vgl. auch Wendland, Hermes 25, 8. 171. 
») Der Übergang ist absichtlich sprunghaft. 


Das Einleitungsgespräch. 959 


ὀνόμασιν verwirft und den Satz verficht δήτορος ἀρετὴ τἀληϑῆ 
λέγειν, es ist der Sokrates, der nach Symposion 198c auch bei 
der Lobrede nur die Wahrheit sagen kann, mögen auch die an- 
deren es als Aufgabe des ἐγκώμιον ansehen τὸ ὡς μέγιστα ἀνατιϑέ- 
ναι τῷ πράγματι καὶ ὡς κάλλιστα, Edv τε N) οὕτως ἔχοντα ἐάν τε un‘). 

Dann schildert er den Zauber, den diese Reden auf ihn aus- 
üben. Er, der Bürger des demokratischen Athen, kommt sich 
ordentlich vornehm und adlig vor (γενναίως διατίϑεμαι — γενναι- 
ὄτερος γεγονέναι), soviel wird der ganzen Bürgerschaft von den 
Rednern angedichtet. Ja, noch volle drei Tage lang klingt ihm 
diese Rede in den Ohren, so lange fühlt er sich stolz, und erst 
allmählich kommt es ihm zum Bewußtsein, daß er nicht auf den 
Gefilden der Seligen lebt, sondern in der nüchternen Wirklich- 
keit seines Athen (—235c). Drei Tage lang! Wir denken daran, 
wie der Sokrates des Phaidros 276b höchstens im Scherze (παιδιᾶς 
χάριν) Reden gelten läßt, die auf eine Augenblickswirkung be- 
rechnet sind, wie er sie mit den Adonisgärten vergleicht, die in 
acht Tagen emporsprießen, aber ebenso schnell vergehen. 

So kann uns der ausdrückliche Hinweis, daß Sokrates hier 
wieder einmal sein Spiel mit den Rednern treibt (dei σὺ προσπαί- 
ζεις τοὺς δήτορας) nicht überraschen, und damit wir sehen, daß 
es nicht ein einzelner Rhetor ist, an den Sokrates denkt, be- 
kommt jede der um die Zeit des Königsfriedens herrschenden 
Richtungen einen Teil ab, die Leute wie Isokrates, die zu einer 
Rede Jahre brauchen (2540), die Techniker, die mit Muster- 
stücken arbeiten, die Stegreifredner wie Alkidamas (235d) °). 

Dabei fällt scheinbar unabsichtlich das Wort, solche Lobrede 
sei gar nicht schwer. Das greift wieder Menexenos auf und fragt 
lächelnd: „Ja, würdest du denn das können?“ Aber zu seinem 
Erstaunen wehrt diesmal der εἴρων, der Großes niemals für sich 
in Anspruch nimmt, nicht ab. Er macht es wie der Sokrates des 
Phaidros, der auch dem jungen Freunde nicht glauben will, daß 
Lysias’ Rede unübertrefflich sei (235c). Und wie jener erklärt 
πλῆρές πως τὸ στῆϑος ἔχων αἰσθάνομαι παρὰ ταῦτα ἂν ἔχειν 

1) Vgl. Wendland S. 175, der auch auf Isokrates’ Vorschrift (ca. soph. 16) 
ὅλον τὸν λόγον καταποικῖλαι verweist und Gorgias’ Bezeichnung der Redekunst 
als γοητεία heranzieht (Hel. 10. 14). 

3) Wendland S. 173— 177, der mit Recht betont, daß dies nur in die Zeit 
des Königsfriedens paßt. 


17° 


260 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


εἰπεῖν ἕτερα μὴ χείρω, 50 fühlt sich auch unser Sokrates fällig, 
einen Epitaphios zu halten. Ὅτι μὲν οὖν παρά γε ἐμαυτοῦ οὐδὲν 
αὐτῶν ἐννενόηκα, εὖ οἶδα fährt jener fort, αὐτὸς μὲν παρ᾽ ἐμαυτοῦ 
ἴσως οὐδὲν (ἔχοιμι ἂν λέγει») dieser (2508). Also muß wohl ein 
fremder Geist über Sokrates gekommen sein, aber während der 
Sokrates des Phaidros gestehen muß: ὑπὸ δὲ νωϑείας αὖ καὶ αὐὖ- 
τὸ τοῦτο ἐπιλέλησμαι, ὅπως TE καὶ ὥντινων ἤκουσα (235d), ist bei 
dem des Menexenos Vergeßlichkeit nicht zu befürchten: Der 
fremde Geist, der ihn inspiriert hat, ist Aspasia, und noch gestern 
hat er sie einen Epitaphios vortragen hören, teils aus dem Steg- 
reif, teils mit Einflechtung von Topoi aus der Leichenrede des 
Perikles. 

Es ist die gleiche Technik, die wir im Phaidros und im Me- 
nexenos beobachten. Und schwerlich wird man behaupten kön- 
nen, daß im Menexenos dabei Nachahmung fühlbar wird. Aber 
freilich Aspasia selbst soll diese deutlich zeigen. „Sollte Plato 
eine so dumme Erfindung sich erlaubt haben wie die, daß Perikles’ 
Maitresse dem Sokrates im Jahre 386 eine Rede hält?“ (Schwartz, 
Hermes 35, S. 124). Das müßte man gelten lassen, wenn nicht 
eins zu bedenken wäre: Die scheinbar so dumme Erfindung kann 
durch aktuelle Beziehungen bedingt sein, wie wir sie in der Sa- 
tire gegen die Rhetoren vorher zweifellos feststellen konnten. 
Freilich auf einen Rhetor kann diesmal Plato nicht zielen. Aber 
wir wissen ja, was Aspasia in der sokratischen Literatur für eine 
Rolle spielt. Aischines.hat die Aspasia, deren geistige Bedeutung 
Wilamowitz in der Reaktion gegen frühere unberechtigte Über- 
schätzung doch wohl zu sehr herabdrückt, in seinem gleich- 
namigen Dialog zur Lehrerin des Sokrates gemacht‘). Er ist 
dazu gekommen, weil er zeigen wollte, daß auch im Verkehr der 
Geschlechter das sittliche Moment ausschlaggebend sei, daß auch 
das Weib imstande sei, den Mann βελτίονα ποιεῖν. Ich zweifle 
nicht, daß Sokrates tatsächlich gelegentlich von dem Einfluß ge- 
sprochen hat, den Aspasia durch ihren Geist mehr noch als durch 
ihre Körperschönheit auf die Männerwelt gehabt hat. Jedenfalls 
wurde bei Aischines erwähnt, wie Sokrates zu Aspasia geht, um 
von ihr zu lernen, und wie er andere als Schüler zu ihr hin- 


1 Zum Folgenden vergl. Natorp, Philol. 51; Dittmar, Aischines v. Sphettos 
Ὁ. 1—59. 


Das Aspasiamotiv. 261 


schickt (fr. 17. 19 ὅς γε καὶ eig ᾿Ασπασίας τῆς Μιλησίας παρακε- 
λεύῃ Καλλίᾳ τὸν υἱὸν πέμπειν, εἰς γυναικὸς ἄνδρα, καὶ αὐτὸς τηλι- 
κοῦτος ὦν παρ᾽ ἐκείνην φοιτᾷς). Sokrates selber wies im Gespräch 
daraufhin, daß auch andre Frauen (Rhodogune und Thargelia) 
Einfluß auf die Männer gewonnen hätten, und gab ein Gespräch 
der Aspasia mit dem jungen Xenophon wieder (Cie. de inv. I, 31), 
in dem sie ihre Auffassung von der sittlichen Bedeutung der Ehe 
vortrug. 

Aber nicht nur allgemein ward ihre sittliche Einwirkung ge- 
schildert, sie wurde als σοφή und πολιτική gerühmt (fr. 23) und 
ihr Einfluß in politischen Dingen auf Perikles wie auf Lysikles 
besprochen. Sie war nicht nur selbst rhetorisch ausgebildet (δεινὴ 
περὶ λόγους), sondern Aischines wagte es sogar, von der Unter- 
weisung des Perikles in der gorgianischen Beredsamkeit durch 
Aspasia zu sprechen (καὶ Περικλέα δημηγορεῖν παρεσκεύασεν, ὡς 
Αἰσχίνης ὃ Σωκρατικὸς ἐν διαλόγῳ ᾿Ασπασίᾳ fr. 23"), vgl. fr. 24 λέ- 
γεται δὲ καὶ ᾿Ασπασία ἣ Μιλησία τὴν τοῦ Περικλέους γλῶσσαν 
κατὰ τὸν Ποργίαν ϑῆξαι und dazu Menex. 235e ἥπερ καὶ ἄλλους 
πολλοὺς καὶ ἀγαϑοὺς πεποίηκε δήτορας, ἕνα δὲ καὶ διαφέροντα τῶν 
Ἑλλήνων, Περικλέα τὸν Ξανϑίππου). 

Aischines’ Kühnheit war groß. Das Thema selbst, daß auch 
das Weib im sokratischen Sinne veredelnd wirken könne, mochte 
man in der Zeit der Frauendebatten hingehen lassen. Aber daß 
gerade die von den Komikern so oft als πόρνη verspottete Aspasia 
als sittliches Vorbild hingestellt und daß Sokrates vorgeführt wurde, 
wie er bei ihr lernte, das ging weit, und andre Sokratiker em- 
pfanden das Bedürfnis, diese Anschauung, die Sokrates’ Person 
ins Lächerliche ziehen konnte, gründlich abzuschütteln. Anti- 
sthenes schlug wie gewöhnlich mit Keulen drein, er führte in 
seinem Dialog Aspasia diese als die Vertreterin der sinnlichen 


1) Schol. Menex. Überliefert ist ἐν διαλόγῳ Καλλίᾳ und es folgt καὶ Πλάτων 
ὁμοίως Πεδιηταῖς. Für Καλλέᾳ hat Bergk Com. att. rel. p. 238 gewiß richtig 
᾿Ασπασέᾳ geschrieben, und ebenso einleuchtend ist seine Vermutung, daß in Kal- 
Δίας der Dichter der Πεδῆται steckt. Doch ist schwerlich mit ihm “Πλάτων in 
Καλλέας zu ändern, sondern eher eine Lücke anzunehmen καὶ Πλάτων ὁμοίως 
(ἐν τῷ Enıtapip .... Καλλίας) Πεδήταις. Ich glaube nicht, daß Kallias schon 
Aspasia als Redelehrerin des Perikles eingeführt hat. Einen Komikerscherz in 
bitterem Ernste zu wiederholen, wäre doch wohl auch für Aischines zu kühn ge- 
wesen. 


262 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


ἡδονή vor, die nur korrumpierend auf Perikles wirkte und sein 
Familienleben zerstörte. Der Verfasser des Menexenos verfährt 
feiner. Er greift das Motiv „Sokrates lernt bei Aspasia“ auf, aber 
nur um zu zeigen, daß man so etwas nicht ernsthaft nehmen 
kann, daß ein Sokrates, der von Aspasia lernt, nicht der echte 
Sokrates ist. Vor allem aber heftet er diesem Motiv den Fluch 
der Lächerlichkeit an, indem er die Figur der Lehrerin Aspasia 
plastisch herausarbeitet, wie sie den vergeßlichen Sokrates mit dem 
Rohrstock bedroht und ganz nach der Art der Rhetoren fürch- 
tet, ihre Schulgeheimnisse könnten ausgeplaudert werden (236c). 

Diese Art, ein Motiv oder einzelnes Wort dadurch lächerlich 
zu machen, daß man es möglichst wörtlich nimmt, ist uns aus 
der Komödie wohl bekannt. Es ist dieselbe Technik, wenn Aristo- 
phanes seinem Dikaiopolis- Telephos einen veritablen Richtblock 
aus dem Hause bringen läßt, während dieser bei Euripides nur er- 
klärt hatte, er würde selbst unter dem Henkerbeil das Recht ver- 
treten. Ein guter Schüler der Komödie ist aber, wie so oft, auch 
Plato, wenn er Euthyd. 272c Sokrates eine Schilderung davon 
geben läßt, wie er bei Konnos') Zither spielen lernt und die 
Jungen, seine Mitschüler, ihn wegen seiner Dummheit auslachen 
(ganz ähnlich 295d). Noch mehr werden wir aber natürlich an 
die Art erinnert, wie Plato im Ion einen anderen Gedanken, den 
derselbe Aischines in Bezug auf Sokrates geäußert hatte, abtut, 
indem er die ϑεία μοῖρα durch die Person des Rhapsoden illu- 
striert und damit lächerlich macht. 

Mit diesem Motiv steht es also ganz ebenso wie mit der Sa- 
tire auf die Rhetoren. Aus den literarischen Kämpfen der acht- 
ziger Jahre, als ein Produkt Platos, der die Lächerlichkeit des 
Motivs von Sokrates auf Aischines selber abwälzt, verstehen wir 


1) Konnos ist natürlich von dem heruntergekommenen Kovväs (Spottform 
wie τρεσᾶς χεσᾶς ᾿Αργᾶς), den Kratinos verulkte, nicht zu trennen. Was Amei- 
psias den Anlaß gegeben hat, 423 Sokrates zu seinem Schüler zu machen, wissen 
wir nicht. Die Euthydemstellen deuten darauf hin, daß ein Sokratiker das auf- 
gegriffen hat. Jedenfalls führt Menex. 235 ext. Plato Konnos nur ein, um das Aspasia- 
motiv lächerlich zu machen. Mit Rhetorik hat Konnos gar nichts zu tun. Er 
wird ja auch nur mit Lampros verglichen, wie Aspasia spöttisch über den be- 
rühmtesten Redelehrer, über Antiphon, gestellt wird. „Selbst wenn einer schlechtere 
Bildung als ich genossen hat, bloß bei Lampros und Antiphon in die Schule ge- 
gangen ist, kann er so etwas.“ Daß an einen bestimmten nicht zu denken ist, 
zeigt schon das allgemeine ὅστις. 


Die rhetorische Epideixis ein παέγνιον. 263 


die Erwähnung der Aspasia sehr wohl. Wie ein später Nach- 
ahmer auf diese verfallen sein sollte, ist nicht abzusehen. 

Also Sokrates hat von Aspasia einen Epitaphios gehört und 
könnte ihn schon vortragen. Natürlich ziert er sich aber noch 
ein Weilchen ganz wie der Sokrates des Phaidros, an den wir schon 
vorher erinnert wurden‘). Aber wie jener, so kann auch er dem 
Drängen des χαλὸς παῖς auf die Dauer nicht widerstehen und 
muß seine Rede von sich geben. 

Wieder ist die Technik des Menexenos der des Phaidros so 
ähnlich, daß wir denselben Verfasser oder einen Nachahmer vor 
uns haben müssen, Aber daß es kein Nachahmer ist, zeigt eine 
Feinheit, die grade in dem Punkte zu finden ist, wo der Dialog 
vom Phaidros abweicht. Beide Male fürchtet Sokrates, sich lächer- 
lich zu machen; aber im Phaidros hat er Angst, sich mit Lysias 
zu messen (γελοῖος ἔσομαι παρ᾽ ἀγαϑὸν ποιητὴν ἰδιώτης αὐτο- 
σχεδιάζων περὶ τῶν αὐτῶν Phaidros 2304). Unser Sokrates sagt: 
ἴσως μου καταγελάσῃ, ἄν σοι δόξω πρεσβύτης ὧν ἔτι παίζειν 
(860) und kennzeichnet damit nicht bloß seine folgende Rede 
als παίγνιον, er bezeichnet die Rhetorik selber als etwas, was 
den παῖδες zukommt. Und nun denken wir an den Anfang. 
Dort wehrt sich der Verfasser gegen die Leute, die die Philosophie 
nur als Kinderschule, als παίδευσις für Politik und Rhetorik an- 
sehen. Jetzt ist der Spieß umgekehrt. Die Rhetorik steht den 
παῖδες an, und der Erwachsene muß fürchten, sich lächerlich zu 
machen, wenn er sich mit ihr abgibt. 


1) Menex. 236c drängt Phaidros: μηδαμῶς, ὦ Σώκρατες, ἀλλ᾽ eine,im Phai- 
dros 234e sagt er: μηδαμῶς, ὦ Σώκρατες, ἀλλ᾽ ὡς ἀληϑῶς εἰπέ κτλ. Hier 
gehen die Worte des Sokrates voraus: δοκῶ γάρ σοι παίζειν; Im Menexenos folgen 
die im Text behandelten Worte: ἀλλ᾽ ἴσως μου καταγελάσῃ, ἄν σοι δόξω πρε- 
σβύτης ὧν ἔτι παίζειν. Als Sokrates sich im Phaidros weiter ziert, droht sein 
junger Freund schließlich im Scherz mit Gewalt, ἐσμὲν δὲ μόνω Ev gonula, ἰσχυ- 
ρότερος δ᾽ ἐγώ (2800). Im Menexenos erklärt Sokrates schließlich alles tun zu 
wollen, was der junge Freund verlangt, ἐπειδή γε μόνω ἐσμέν. — Wenn übrigens 
Sokrates dabei sagt ὥστε κἂν ὀλίγου, el me κελεύοις ἀποδύντα ὀρχήσασϑαι 
ὀρχησαίμην ἄν, so ist darin gewiß eine Spitze enthalten. Xenophon erläutert 
Symp. 2, 18 den sokratischen Gedanken, daß man durch jedes Mittel sich zu 
fördern suchen müsse, durch eine Empfehlung des Tanzes und läßt dabei So- 
krates sagen: οὐ δεήσει we συγγυμναστὴν ζητεῖν οὐδ᾽ Ev ὄχλῳ πρεσβύτην ὄντα 
ἀποδύεσϑαι. Gewiß ist schon ein anderer Sokratiker (Antisthenes?) in derselben 
pedantischen Weise, die Plato gründlich haßte, vorgegangen, und Plato spielt im 
Menexenos darauf an. 


964 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


Wenden wir uns nun dem Epitaphios selber zu, so liegt es 
auf der Hand, daß Plato in der Form hier die rhetorischen Mätz- 
chen, namentlich die gorgianischen Figuren imitiert und über- 
treibt. Das ist besonders von Berndt de ironia Menexeni Münster 
1881 im einzelnen dargelegt, und es mögen deshalb ein paar 
Hinweise genügen. ‘Es ist im ganzen dieselbe Imitation, die wir 
in der Agathonrede des Symposion finden, nur daß dort die 
Farben stärker und konzentrierter aufgetragen werden und 
Sprecher wie Thema mehr zu geistreichem Spiel, gelegentlich zu 
humoristischem Tone Anlaß bieten. Wie dort finden wir die 
Alliteration (z. B. πᾶν πλῆϑος καὶ πλοῦτος ἀρετῇ ὑπείκει 240d), 
die Parechese in jeder Form (κτῆσίν τε καὶ χρῆσιν 258} ἰσογονία --- 
ἰσονομίαν 2598 οἵτε ἐπ᾽ Βὐρυμέδοντι ναυμαχήσαντες καὶ οἱ εἰς 
Κύπρον στρατεύσαντες καὶ οἱ εἰς Αἴγυπτον πλεύσαντες 241d). 
Neben der bloßen Wiederholung eines Wortes‘) finden wir das 
Fortwirken eines „Motivs“, wie es Thiele im Hermes XXXVI für 
Gorgias aufgezeigt hat. Bald ist es dabei einfach der Klang eines 
Vokals, der immer wieder hervortritt (erst es, dann o-Laut in 239d: 
dei δὴ αὐτὴν eineiv’), ei μέλλει τις καλῶς ἐπαινεῖν, Ev ἐκείνῳ τῷ 
χρόνῳ γενόμενον {τῷ λόγῳ), bald gibt dasselbe Wort oder der- 
selbe Wortstamm den Unterton‘). So 239b ὅ re χρόνος βραχὺς 
ἀξίως διηγήσασθαι. . . ἐπειδὴ καὶ ἔχει τὴν ἀξίαν .. ὧν δὲ οὔτε 
ποιητής πω δόξαν ἀξίαν ἐπ᾽ ἀξίοις λαβὼν ἔχει. . oder noch 
stärker 2578. πόϑεν ἂν ὀρθῶς ἀρξαίμεϑα ἄνδρας ἀγαϑοὺς ἐπαι- 
γοῦντες . .; δοκεῖ μοι χρῆναι κατὰ φύσιν, ὥσπερ ἀγαϑοὶ ἐγέ- 
vovTo, οὕτω καὶ ἐπαινεῖν αὐτούς. ἀγαϑοὶ δέ γε ἐγένοντο διὰ 


1) Mit dem Prachtstück οὐ γὰρ γῆ γυναῖκα μεμέμηται κυήσει καὶ γεννή- 
σει ἀλλὰ γυνὴ γῆν 288 ἃ, vgl. Symp. 190 ἃ οὐ γὰρ ἔχει "Eowra ἤάρης ἀλλ᾽ "ἔρως 
”Aon oder 196}. 

2) Stallbaums Änderung εἰπεῖν für ἰδεῖν ist dem Sinne nach notwendig und 
wird durch Agathons Anfangsworte (194e) gestützt, wo dasselbe Spiel mit εἰ 
vorliegt: ἐγὼ δὲ δὴ βούλομαι πρῶτον μὲν εἰπεῖν ὡς χρή we εἰπεῖν, ἔπειτα εἰπεῖν. 

3) Der Artikel („in seiner Rede“, vgl. 240 ἃ; ganz falsch erklärt Trendelen- 
burg „scheinbar“) ist nötig nach Legg. 683c γενώμεϑα δὴ ταῖς διανοίαις Ev τῷ 
τότε χρόνῳ, ὅτε... Aisch. g. Ktes. 153 Plato Rep. 396c ἐπειδὰν ἀφίκηται Ev τῇ 
διηγήσει eig λέξιν τινά κτλ. Vgl. noch Menex. p. 240e τὰ ἀριστεῖα τῷ λόγῳ 
ἐκείνοις ἀναϑετέον und αοτρ. Hel. ὅ τὸν χρόνον δὲ τῷ λόγῳ τὸν τότε τῷ νῦν ὑπερβάς. 

4 Aus Agathons Rede vgl. z. B. 196a (ἄνϑος) 1908 (ποιεῖν ποιῆσαι USW. 
in Verbindung mit πᾶς und mehrfacher Alliteration). 

5) γε hat F, es fehlt in den übrigen Codd. 


Formell ähnelt der Menexenos der Agathonrede. 265 


τὸ φῦναι ἐξ ἀγαϑῶν. τὴν εὐγένειαν οὖν πρῶτον αὐτῶν ἐγκω- 
μιάζωμεν . .. τῆς δ᾽ εὐγενείας πρῶτον ὑπῆρξε τοῖσδε ἡ τῶν 
προγόνων γένεσις οὐκ ἔπηλυς οὖσα οὐδὲ τοὺς ἐκγόνους τού- 
τους ἀποφηναμένη μετοικοῦντας κτλ. (am Schluß des Abschnittes 
nochmals εὐγένεια 2576). In dieser Stelle treffen wir auch eine 
ganz gorgianisch kühne, schon von Dionys von Halikarnass ge- 
rügte Verwendung des Abstraktums ἣ γένεσις. . ἔπηλυς οὖσα, der 
sich 238a μετὰ δὲ τοῦτο ἐλαίου γένεσιν, πόνων ἀρωγὴν ἀνῆκεν 
würdig anreiht‘). Mit Isokola, durch Antithesen und Homoioteleuta 
noch verstärkt, glänzt besonders das Prooemium , so die Stelle, 
die die Disposition des Ganzen gibt (236e): 
δεῖ δὴ τοιούτου τινὸς λόγου, ὅστις 
τοὺς μὲν τετελευτηκότας ἱκανῶς ἐπαινέσεται, 
τοῖς δὲ ζῶσιν εὐμενῶς παραινέσεται, 
ἐχγόνοις μὲν καὶ ἀδελφοῖς μιμεῖσθαι τὴν τῶνδε ἀρετὴν παρακε- 
λευόμενος, 
πατέρας δὲ καὶ μητέρας καὶ εἴ τινες τῶν ἄνωϑεν ἔτι προγόνων λείπον- 
ται, τούτους δὲ παραμυϑούμενος ὃ. 
Die kurzen Kola führen leicht zu übermäßig in die Ohren fallen- 
den Rhythmen, und wie Agathon 195c unbewußt in die Metra 
der Poesie verfällt: ποιητοῦ δ᾽ ἐστὶν ἐνδεὴς οἷος ἦν “Ὅμηρος, 50 
lesen wir Menex. 238c (πολιτεία γὰρ τροφὴ ἀνθρώπων ἐστίν), καλὴ 
μὲν ἀγαθῶν ἣ δ᾽ ἐναντία κακῶν und 245d, wo die begeisterten 
Tiraden der Volksversammlung nachhallen (vgl. nachher), καϑαρὸν 
τὸ μῖσος ἐντέτηκε τῇ πόλει). An die Agathonrede erinnert uns 
besonders noch das Streben nach überraschenden Wendungen 
(z. B. 237d n χώρα... ἐξελέξατο τῶν ζῴων καὶ ἐγέννησεν ἄν- 


1) Vielleicht nach älteren Mustern, vgl. Wendland 5. 182. Die Agathon- 
rede bietet so Starkes nicht, doch gehört hierher φασὶν οἱ πόλεως βασιλῆς 
νόμοι 196 c. 

5) Auch Isokrates trägt im Prooemium stärker auf, z. B. im Panegyrikos. 

®) Gelegentlich wird daneben bewußt Inkonzinnität gesucht. Wie bei Gorg. 
Hel. ὃ οὐδὲ πρὸς τοῦτο χαλεπὸν ἀπολογήσασϑα: καὶ τὴν αἰτίαν ἀπολύσασϑαι 
ὧδε das letzte Wort sich ohne weiteres ablöst, so empfindet man bei richtiger 
Rezitation sehr wohl, warum Menex. 236d nach den Worten ὅ ze νόμος προσ- 
τάττει ἀποδοῦναι τοῖς ἀνδράσιν kurz und schwer folgt καὶ χρή, Worte, die als 
subjektives Bekenntnis zur Berechtigung des νόμος ihren guten, selbständigen 
Sinn haben. 

*) Aus demselben Anlaß Symp. 208c καὶ κλέος ἐς τὸν del χρόνον ἀϑάνα- 
τον καταϑέσϑαι. 


266 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


ϑρωπον, ὅ κτλ.) und blendenden Sophismen (darüber nachher), 
wobei natürlich stets τεχμήρια zur Hand sind (Symp. 195d καλῷ 
οὖν δοκεῖ μοι τεκμηρίῳ τὴν ἁπαλότητα ἀποφαίνειν — Menex. 238a 
μᾶλλον δὲ ὑπὲρ γῆς ἢ γυναικὸς προσήκει δέχεσθαι τοιαῦτα τε- 
κμήρια. Vgl. Symp. 1988. 6 Menex. 2876, μαρτύριον Symp. 196e 
Menex. 2870), ferner die scharfe Disposition und die Markierung 
der einzelnen Teile durch rekapitulierende und vorweisende Über- 
gänge, wie wir sie auch aus Gorgias’ Helena kennen. Vgl. Symp. 
196a νεώτατος μὲν δή ἐστι καὶ ἁπαλώτατος, πρὸς δὲ τούτοις ὑγρὸς 
τὸ εἶδος Menex. 2898 ὅϑεν δὴ ἐν πάσῃ ἐλευϑερίᾳ τεϑραμμένοι.... 
καὶ καλῶς φύντες πολλὰ δὴ καὶ καλὰ ἔργα ἀπεφήναντο. Wenn 
dabei Agathon 196} die Worte gebraucht περὶ μὲν οὖν κάλλους 
τοῦ ϑεοῦ καὶ ταῦτα inava καὶ ἔτι πολλὰ λείπεται, περὶ δὲ ἀρε- 
τῆς κτλ., so spürt man den Rhetor, der von der Fülle seines 
Stoffes den Eindruck erwecken will. Genau so Menex. 246a: 
καὶ τὰ μὲν δὴ ἔργα ταῦτα τῶν ἀνδρῶν... . πολλὰ μὲν τὰ εἰρη- 
μένα καὶ καλά, πολὺ δ᾽ ἔτι πλείω καὶ καλλίω τὰ ὑπολει- 
πόμενα. Μαίοί nun dies schon etwas schülerhaft an, so noch 
mehr Menex. 2870 ἔστι δὲ ἀξία ἣ χώρα καὶ ὑπὸ πάντων ἀνϑρώπων 
ἐπαινεῖσθαι, οὐ μόνον ὑφ᾽ ἡμῶν, πολλαχῇ μὲν καὶ ἄλλῃ, πρῶ- 
τον δὲ καὶ μέγιστον ὅτι. . .. So flach ist Agathon nicht, aber 
der noch nicht der Rhetorenschule entwachsene Phaidros beginnt 
seinen ἔπαινος damit, Eros sei ein großer Gott καὶ θαυμαστὸς 
ἐν ἀνθρώποις τε καὶ ϑεοῖς, πολλαχῇ μὲν καὶ ἄλλῃ οὐχ ἥκιστα 
δὲ κατὰ τὴν γένεσιν (Symp. 1788). Ganz in der Art der Phai- 
drosrede sind auch die vollklingenden inhaltsleeren Worte, die im 
Menexenos die Periode abrunden. Man vergleiche etwa Menex. 
239a πολλὰ δὴ καὶ καλὰ ἔργα ἀπεφήναντο eis πάντας ἀνϑρώ- 
ποῦς mit Symp. 179} τούτου δὲ καὶ ἣ Πελίου ϑυγάτηρ "Αλκηστις 
ἱκανὴν μαρτυρίαν παρέχεται ὑπὲρ τοῦδε τοῦ λόγου εἰς τοὺς "EA- 
ληνας oder Men. 237b τὴν τῶν ἔργων πρᾶξιν ἐπιδείξωμεν ὡς 
καλὴν καὶ ἀξίαν τούτων ἀπεφήναντο mit Sym. 1790 τοῦτ᾽ ἐργασα- 
μένη τὸ ἔργον οὕτω καλὸν ἔδοξεν ἐργάσαϑαι οὐ μόνον ἀνθρώποις 
ἀλλὰ ϑεοῖς ), ὥστε πολλῶν πολλὰ καὶ καλὰ ἐργασαμένων κτλ. ὃ). 

Namentlich in den letzten Fällen ist es klar, daß Plato 


Ἢ ἣν δὴ ϑεοὶ ἐπήνεσαν, πῶς οὐχ ὑπ᾽ ἀνϑρώπων γε συμπάντων δικαία 
ἐπαινεῖσθαι Menex. 277d. 

®) Zu den letzten Worten vgl. auch die vorher angeführte Stelle Menex. 
239 a. 


Sokrates redet gorgianisch wie in Aischines’ Aspasia. 267 


nur die Rhetorik im allgemeinen treffen will. Dagegen wird 
man sonst mehrfach speziell an Gorgias erinnert. Das liegt 
wahrscheinlich weniger an der Bedeutung, die der Gorgianismus 
in den achtziger Jahren noch hatte, sondern es hat einen anderen 
Grund. Aischines hatte in seiner Aspasia nicht nur behauptet, 
Aspasia habe Perikles in gorgianischer Beredsamkeit unterwiesen 
fr. 22, er hatte auch Sokrates selber dort zum Gorgianer gemacht, 
wie die von Philostratos aufbewahrte Probe zeigt: Θαργηλία 
Μιλησία ἐλϑοῦσα εἰς Θετταλίαν ξυνῆν ᾿Αντιόχῳ Θετταλῷ βασιλεύ- 
οντι πάντων Θετταλῶν. Vergleicht man mit dieser Probe die 
vorhin so behandelten Stellen 237a, 239b, so ist die Ähnlich- 
keit unverkennbar. 


Die Disposition, die in den S. 265 ausgeschriebenen Worten 
p. 236e gegeben wird, entspringt aus der Natur der Epitaphioi. 
Zuerst kommt das Enkomion auf die Toten (237—245), dann die 
Wendung an die Überlebenden (246—249c), die sich in eine 
παραίνεσις an die Kinder und Brüder der Gefallenen (246—247 0) 
und eine παραμυϑία für die Eltern (247c—249c) gliedert. 

Um die Disposition des wichtigsten Teiles, des Enkomions, zu 
verstehen, müssen wir einen Blick auf die übrigen Epitaphioi werfen °). 
In diesen war es althergebracht, daß neben den Gefallenen auch 
das Vaterland sein Lob erhielt, und die natürlichste und einfachste 
Anordnung des Stoffes war die, daß man in chronologischer Folge 
die Großtaten Athens von der Urzeit an bis auf die Gegenwart 
erzählte und mit dem Lobe der jetzt Gefallenen abschloß. Dieses 
einfache Schema ist noch in später Zeit anwendbar gewesen. Wir 
kennen es am besten aus dem pseudolysianischen Epitaphios, der 
in der Zeit der Lysiasimitation am Ende des vierten Jahrhunderts 
entstanden ist. Vorausgesetzt wird es aber im ganzen auch von 
Thukydides, der II, 36 mit den Vorfahren beginnt und in raschem 
chronologischem Überblick bis zu seiner Generation gelangt. Wenn 
er vor dem Lobe der Gefallenen einschiebt, ἀπὸ οἵας τε ἐπιτηδεύσεως 
ἤλθομεν ἐπ᾽ αὐτὰ καὶ μεϑ' οἵας πολιτείας καὶ τρόπων ἐξ οἵων μεγάλα 
ἐγένετο (36, A), so ist die genaue Schilderung der Verfassung gewiß 


1) Dittmar, Aischines von Sphettos, 3. 26. 

3) Fraustadt Encomiorum in litteris Graeeis usque ad Romanam aetatem 
historia Leipzig 1909 beurteilt das Verhältnis des Epitaphios zum Enkomion nur 
zum Teil richtig. 


268 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


sein eigenstes Werk, aber schwerlich würde er gerade einen 
Epitaphios zur Einlegung der Schilderung benützt haben, wenn 
ihm nicht die Technik der Epitaphioi oder auch ein einzelner 
Epitaphios den äußeren Anlaß dazu geboten hätte. Man kann sich 
das in verschiedener Weise vorstellen. Nahe liegt der Gedanke, 
daß Perikles selber, wenn er in seinem Epitaphios Athens Ruhm 
verkündete, sich so wenig wie Thukydides auf τὰ κατὰ πόλεμον 
ἔργα beschränkte, sondern als Leistung Athens auch die freie Ver- 
fassung, die es sich gegeben, würdigte (etwa so, wie das Isokr. 
Paneg. 88---ὅ0 und mit törichtem Anschluß an diesen Ps.-Lysias 18 
tut). Man kann aber auch daran denken, daß Gorgias, nach der 
Agathonrede in Platos Symposion zu schließen, als Disposition des 
ἐγκώμιον empfohlen hat, διελϑεῖν οἷος οἵων αἴτιος Ev τυγχάνει, περὶ 
οὗ dv ὃ λόγος ἢ (195a). Danach ist es sehr möglich, daß Gorgias 
in seinem Epitaphios vor den ἔργα der Athener eine Schilderung, 
οἷοι ἦσαν, gegeben hat, wie er dies in den Enkomien tat "), oder 
eine solche an anderer Stelle eingelegt hat’). Entscheiden läßt 
sich das nicht. Sicher hat die Technik des Enkomion in der fol- 
genden Zeit auf den entsprechenden Teil des Epitaphios ein- 
gewirkt. 

Das verbreitetste Schema des Enkomion war nun jedenfalls 
das, das wir aus Isokrates abstrahieren und bei Anaximenes p.80#. 
lesen: Erst wird die εὐγένεια gerühmt, dann der Stoff nach den 


1) So weit kann ich mit Seyffert De Xenophontis Agesilao Göttingen 1909 
gehen, der 5. 27ff. wahrscheinlich macht, daß Gorgias in seinem Enkomion die 
ἔργα von den ἀρεταί getrennt hat. Dagegen ist es unzulässig, wenn Seyffert die 
Technik des Enkomion mit der des Epitaphios einfach-gleichsetzt; und bei Thuydides 
II, 36 übersieht er, daß die chronologische Folge das Gegebene ist, von dem 
Thukydides ausgeht. Daß das ganze Enkomion in Gorgias’ Epitaphios nach 
jenem Schema disponiert gewesen ist, ist ganz unwahrscheinlich. Eine andere 
Möglichkeit wird sich uns noch zeigen. 

Übrigens darf man auch nicht übersehen, daß es grundverschieden ist, ob 
man wie in der Agathonrede und bei Thukydides aus dem Wesen einer Person 
bezw. ihrer Lebensweise oder auch aus der Umgebung, in der sie groß geworden, 
ihre Taten ableitet, oder ob man die Taten vorführt wie Xenophon und daraus 
die Charakterschilderung gewinnt. Aber mir ist überhaupt fraglich (trotz Symp. 
195a), ob Gorgias sich auf ein Schema festgelegt hat. 

2) Isokrates legt ja auch im Panegyrikos vor der Erzählung, daß die Athener 
in den Perserkriegen πλείστων ἀγαϑῶν αἴτιοι ἐγένοντο (75, dieses gorgianische 
Stichwort auch 26. 100. 6.), 75—81 eine Schilderung ein, ἀπὸ οἵας ἐπιτηδεύσεως 
καὶ μεϑ'᾽ οἵων τρόπων ἦλϑον En’ αὐτά (82). 


Die Disposition der Epitaphien. 269 


Lebensaltern des παῖς νεανίσκος ἀνήρ geordnet und bei jeder Stufe 
die ἀρετή des zu Lobenden erwiesen’). Die einfachste Übertragung 
dieses Schemas auf die Leichenrede zeigt der demosthenische 
Epitaphios, der 4+—14 die εὐγένεια, 16 die Jugendzeit, von 17 an 
das Mannesalter und die eigentlichen Verdienste der Gefallenen 


1) Ähnlich Quintil. III, 7, 15 alias aetatis gradus gestarumque rerum 
ordinem sequi speciosius fuit, ut in primis annis laudaretur indoles, tum 
disciplinae, post hoc operum id est factorum dictorumque contextus, alias 
6645. Vgl. Leo, Griech.-röm. Biographie, bes. 87if., 209, 210. Wendland, Hermes 
XXV, 8.183. Anaximenes S.57. Es ist auch durchaus das Schema des Euagoras, 
nur daß Isokrates bei der Schilderung des Mannesalters passend die weitere 
chronologische Trennung vornimmt, wie Euagoras die Herrschaft erwarb (24 bis 40 
vgl. τὸν τὸ κάλλιστον τῶν ὄντων κάλλιστα κτησάμενον 40 und 34. 35.39. 71), und 
wie er sich als Regent betätigte (41—69, hierbei 41—46 die Charakterschilderung, 
47 — 64 die ἔργα, 65—69 αὔξησις durch σύγκρισις). Die Scheidung der 
ἔργα und ἀρεταί, die Isokrates nur als Untereinteilung anwendet (41—64), 
(ähnlich bez. Timotheos Antid. 107—113, 115—128), ist wohl Gorgias’ Prinzip 
(vgl. vor. Anm.); aber auch Xenophon, der sie im Agesilaos anwendet, erwähnt 
c. 10,4 die Disposition nach den Lebensstufen, er folgt dieser aber auch schon 
im Enkomion auf Kyros Anab. 1,9 (2—5 παῖς, 6 veavionos, 7—29 ἀνήρ, 30.1 der 
Tod, vgl. Fraustadt a. a. Ὁ. S. 56). Ich kann zwischen diesem Enkomion auf 
Kyros und dem Euagoras nur den Unterschied finden, daß Xenophon über die 
selbstverständliche εὐγένεια des Kyros nicht redet, andrerseits Isokrates mit den 
Altersstufen die vier Kardinaltugenden nicht eben glücklich verquickt. (Sie 
schneien in 23 unmotiviert herein und bilden zwar eine gewisse Grundlage für 
das Folgende, werden aber nachher kaum berücksichtigt) Ganz ähnlich ist z.B. 
die Schilderung der Kindheit, Xen. An. 1, 9, 2—5 und Euag. 23. Natürlich schließt 
sich Isokrates nicht Xenophon, sondern einem älteren Schema an. 

Dagegen komme ich um die Annahme eines xenophontischen Einflusses bei 
Isokrates an einer anderen Stelle nicht herum. Denn wenn Nikokles (ad Nic. 24) 
gemahnt wird: ἀρχικὸς εἶναι βούλου μὴ χαλεπότητι μηδὲ τῷ σφόδρα κολάζειν, 
ἀλλὰ τῷ πάντας ἡττᾶσϑαι τῆς σῆς διανοίας καὶ νομίζειν ὑπὲρ τῆς αὑτῶν σωτηρίας 
ἄμεινον ἑαυτῶν σὲ βουλεύεσθαι. πολεμικὸς μὲν ἴσϑι κτΆλ., so finden wir die- 
selben Eigenschaften in der Öharakteristik Klearchs An. II, 6,7.8 wieder (πολε- 
μικὸς δὲ .... καὶ ἀρχικὸς δέ) und die blassen Mahnungen an Nikokles erhalten 
Farbe erst durch das lebendige Bild Klearchs. Der sorgte vortrefflich für das Heer 
und hielt Disziplin ; τοῦτο δ᾽ ἐποίει ἐκ τοῦ χαλεπὸς εἶναι καὶ γὰρ. .... ἐκόλαζε 
ἱσχυρῶς. Deshalb war er gefürchtet, aber in der Gefahr τὸ χαλεπὸν ἐρρωμένον 
πρὸς τοὺς πολεμίους ἐδόκει εἶναι, ὥστε σωτήριον, οὐκέτι χαλεπὸν ἐφαίνετο. 

Die Folgerung, daß die Anabasis vor 374 verfaßt sein muß, ergibt sich 
hieraus von selbst. Auch für die Rede an Nikokles ist diese Beobachtung nicht 
unwichtig. Denn mit der Xenophonstelle (δκόλαζέ re ἰσχυρῶς καὶ ὀργῇ Eviore) 
zeigt nicht bloß $ 24 Berührung, sondern auch $ 23 (ποίει μὲν μηδὲν wer’ ὀργῆς 
u.a.), der zu der ausführlichen Fassung der Rede gehört. Das spricht für deren 
Ursprünglichkeit. 


270 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


behandelt (vgl. die in 3 gegebene Disposition καὶ γεγενῆσϑαι καλῶς 
καὶ πεπαιδεῦσϑαι σωφρόνως καὶ βεβιωκέναι φιλοτίμως συμβέβηκεν 
αὐτοῖς) ). Dasselbe Schema setzt aber auch Hypereides voraus, 
wenn er col. 3 sagt: ἀπορῶ δὲ πόϑεν ἄρξωμαι λέγων; .. πότερα 
περὶ τοῦ γένους αὐτῶν ἑκάστων διεξέλθω; ... ἀλλὰ περὶ τῆς παιδείας 
αὐτῶν ἐπιμνησϑῶ καὶ ὡς ἐν πολλῇ σωφροσύνῃ παῖδες ὄντες ἐτράφησαν 
καὶ ἐπαιδεύϑησαν ἅπερ εἰώϑασι νέοι μαϑεῖν; Aber Hyper- 
eides, der wirklich über die Gegenwart etwas zu sagen hat, weiß 
wohl, warum er sich in der Form der Praeteritio von dem Schema 
losmacht und die Jugendzeit, über die sich doch bei einer ganzen 
Generation nur Trivialitäten sagen ließen (vgl. Ps.-Dem. 16), über- 
springt. Es war eben verkehrt gewesen, ein für das private Enkomion 
erfundenes Schema auf die Masse der Gefallenen zu übertragen. 
Hinzu kommt, daß das Lob des Staates, das beim Epitaphios nun 
einmal notwendig war, sich schlecht einfügte. Ps. Demosthenes 
bringt es teils bei der εὐγενέια unter, die Hypereides auf die Ab- 
kunft der einzelnen bezieht, teils flickt er es 25. 6 als Ursache der 
ἀρετή. des Mannesalters an. Hypereides setzt voraus (col. 2), daß 
der ἔπαινος der Stadt einen besonderen Teil bildet, und mit ihm 
stimmt die spätere Theorie überein’). 

Kein Wunder, daß man schon früh versucht hat, auch auf andere 
Weise das Schema des Enkomion auf den Epitaphios zu übertragen. 
Wir sehen es im Menexenos. Scheinbar ist es freilich ganz die 
eben geschilderte Disposition, wenn es 237a heißt: τὴν εὐγένειαν 
οὖν πρῶτον αὐτῶν ἐγκωμιάζωμεν (237 b—238), δεύτερον δὲ τροφήν 
τε καὶ παιδείαν (παιδεία 2580, τροφή 238b—239a), ἐπὶ δὲ τούτοις 
τὴν τῶν ἔργων πρᾶξιν ἐπιδείξωμεν (239a—246a). Aber wenn 
wir die Ausführung näher betrachten, so ist nicht an die Lebens- 
stufen der jetzt Gefallenen gedacht, sondern an die des Athener- 
volkes im ganzen. Denn der Teil über die ἔργα behandelt nicht 
bloß die Verdienste der Gefallenen, sondern die Großtaten ganz 
Athens, auch der Vorfahren, die bei Ps.-Demosthenes unter die 
εὐγένεια geschoben werden. Ebenso schildert der Abschnitt über 
die εὐγένεια nur den Adel des ganzen Volkes, die Autochthonie. 
Bezüglich der τροφή aber wird im Übergang zum folgenden Teil 


1) Die Disposition wird freilich von 25 an nicht genau eingehalten. 

5) [Dionys Hal.] Ars p. 278, 15 Us. συνελόντι μὲν οὖν ὁ ἐπιτάφιος ἔπαινός 
ἐστι τῶν κατοιχομένων᾽ εἰ δὲ τοῦτο, δῆλόν που, ὡς nal ἀπὸ τῶν αὐτῶν τόπων 
ληπτέον ἀφ᾽ ὧνπερ καὶ τὰ ἐγκώμια" πατρέδος γένους φύσεως ἀγωγῆς πράξεως. 


Die Disposition des Menexenos. 71 


ausdrücklich hervorgehoben, daß sie nicht allein von den Gefallenen 
gilt: ὅϑεν δὴ ἐν πάσῃ ἐλευϑερίᾳ τεϑραμμένοι οἱ τῶνδέ γε πατέρες 
καὶ οἱ ἡμέτεροι καὶ αὐτοὶ οὗτοι 2598). Am merkwürdigsten ist 
aber der Abschnitt über die παιδεία. Denn nachdem in dem Teile 
über die εὐγένεια geschildert ist, wie die Erde selber das Athenervolk 
hervorgebracht hat, heißt es 238b: ϑρεψαμένη δὲ καὶ αὐξήσασα 
πρὸς ἥβην ἄρχοντας καὶ διδασκάλους αὐτῶν ϑεοὺς ἐπηγάγετο. 
ὧν τὰ μὲν ὀνόματα πρέπει ἔν τῷ τοιῷδε ἐᾶν, (ἀλλ) ἴσμεν γὰρ 
ὅτι Ἶ τὸν βίον ἡμῶν κατεσκεύασαν πρός τε τὴν nad” ἡμέραν δίαιταν, 
τέχνας πρώτους παιδευσάμενοι καὶ πρὸς τὴν ὑπὲρ τῆς χώρας 
φυλακὴν ὅπλων κτῆσίν τε καὶ χρῆσιν διδαξάμενοι. Daß wir diesen 
Abschnitt als besonderen Abschnitt über die παιδεία empfinden, 
dafür sorgt der rekapitulierende Übergang zum Folgenden: yevvr- 
ϑέντες δὲ καὶ παιδευϑέντες οὕτως οἱ τῶνδε πρόγονοι κτλ. Hier ist 
es nun ganz klar, daß die Kindheit, die παιδεία des ganzen Volkes 
gemeint ist. Wie genau dabei dieser Teil zur Technik des Privat- 
enkomion stimmt, zeigt Anaximenes, wenn er bezüglich der Jugend- 
zeit p. 82, 10 sagt: dei φυλάττειν, ὅπως πρέποντα ταῖς ἡλικίαις ἐρεῖς 
καὶ μὴ μακρά. τοὺς γὰρ παῖδας οὐχ οὕτω δι᾿ αὑτοὺς ὡς διὰ τοὺς 
ἐφεστῶτας οἴονται κοσμίους εἶναι καὶ σώφρονας. διὸ βραχυλογητέον 
περὶ αὐτῶν. Liest man diese Worte, so wirkt geradezu komisch 
die Pedanterie, mit der im Menexenos das Kindesalter in sechs 
Zeilen abgemacht wird und statt der Athener tatsächlich ihre 
ἐφεστῶτες gerühmt werden. Noch sonderbarer ist natürlich die 
ganze Art, wie hier das Volk buchstäblich als Kind genommen 
wird. Und wenn man nun sieht, wie gerade diese komische Vor- 
stellung geflissentlich durch die Worte ϑρεψαμένη καὶ αὐξήσασα πρὸς 
ἥβην, durch den Gedanken, daß Mama Erde für ihre Kinder Haus- 
lehrer engagiert (ἐπηγάγετο), genährt wird, so kann, glaube ich, 
über die Tendenz dieses Abschnittes kein Zweifel sein: Plato will 
diese Art der Übertragung des Enkomionschemas auf den Epitaphios 
lächerlich machen, indem er den Begriff παιδεία möglichst wört- 
lich faßt und den Leser zur buchstäblichen Auffassung zwingt. 


‘) Von dem alten Athen wird vorsichtigerweise (trotz 238c) die ἐλευϑερία 
doch nicht ausgesagt. 

?) ἐᾶν ---ἴσμεν γάρ --- οἵ die Handschr. ἔσμεν γάρ tilgt Wilamowitz, Hermes 
33, S. 520, verteidigt Trendelenburg. In beiden Fällen bleibt aber der stärkste 
Anstoß, daß τὰ μὲν ὀνόματα keine Fortsetzung hätte. 


© 


= 


272 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


Es ist derselbe Kunstgriff, den wir bei der Behandlung des Motivs 
„Aspasia die Lehrerin des Sokrates“ fanden. 

Ist diese Annahme richtig, so ergibt sich, daß dieses Schema 
des Epitaphios Plato bereits vorlag. Und daß es tatsächlich älter 
war als jene andere Art der Übertragung des Enkomionschemas, 
die wir bei Hypereides und Ps.-Demosthenes fanden, möchte man 
schon darum annehmen, weil es sich viel besser mit der ursprüng- 
lichen Form des Epitaphios, der einfachen chronologischen Auf- 
zählung aller Heldentaten Athens vertrug. Ob dieses Schema aber 
allgemein verbreitet war oder ob ein bestimmter Epitaphios von 
Plato persifliert wird, wissen wir nicht. Insbesondere läßt sich 
nicht mit Bestimmtheit sagen, ob und wieweit Beziehungen zu 
Gorgias vorliegen ἢ). 

Gehen wir nun zu den einzelnen Teilen der Rede über’) und 
lesen zunächst den Abschnitt über die εὐγένεια, so finden wir wieder 
den eben berührten Kunstgriff ausgiebig angewendet. Geläufige 
(oder im bestimmten Einzelfalle gebrauchte) Wendungen, die ein 
Bild. geben, eine Vorstellung erwecken wollen, ohne daß wir dieser 
zu sehr nachgehen dürfen, werden ganz buchstäblich gefaßt und 
durch plastische Herausarbeitung der Vorstellung lächerlich ge- 
macht. Zum ständigen Apparate der Enkomia auf Athen gehörte 
die Autochthonie der Bewohner, die Behauptung, sie dürften allein 
ihr Mutterland wahrhaft als Mutter bezeichnen, denn sie seien 
γηγενεῖς (Isokr. Paneg. 23.4, Panath. 124, Lys.2, 17, Demosth. 60,4). 
Der Menexenos hält die genaue Angabe für nötig (237b), daß 
Attika nicht die Stiefmutter, sondern die richtige Mutter war, und 
die Toten werden nicht einfach im Schoße der Erde gebettet, sondern 
ἐν οἰκείοις τόποις τῆς τεκούσης καὶ ϑρεψάσης καὶ ὑποδεξαμένης. 
Und wenn wir hierbei an das spätere Verhalten der Mutter zu 
den Kindern denken, so bleibt uns auch die genaue Vorstellung 
der Schwangerschaft und Geburt nicht erspart. Attika war nicht 
so dumm wie die anderen Länder, die Tiere und Pflanzen hervor- 
brachten, es suchte sich den Menschen als Kind aus und als für- 


1) Gorgias kann so vorgegangen sein, daß er erst von der παιδεία der 
Athener redete, dann schilderte, οἷον ἦσαν (ἐγένοντο), dann οἵα ἔπραξαν (vergl. 
S. 268), aber das ist eben nur eine Möglichkeit. 

2) Beim Prooemium mache ich nur auf die große Ähnlichkeit mit dem 
Schluß des thukydideischen Epitaphios aufmerksam (II, 46). Die Antithese von 
λόγῳ und ἔργῳ finden wir auch im Prooemium bei Thukydides wieder (35). 


9878. 9380. 273 


sorgliche Mutter sorgte es auch gleich für die Nahrung des Kindes, 
indem sie die spezifisch menschliche Nahrung, das Getreide, her- 
vorbrachte. Das war auch noch aus einem anderen Grunde vor- 
sichtig: sie beugte damit jeder Anzweiflung ihrer Mutterschaft vor. 
πᾶν γὰρ τὸ τεκὸν τροφὴν ἔχει ἐπιτηδείαν ᾧ ἂν τέκῃ, ᾧ καὶ γυνή 
δήλη τεκοῦσά τε ἀληθῶς καὶ μή, ἀλλ᾽ ὑποβαλλομένη, ἐὰν μὴ ἔχῃ 
πηγὰς τροφῆς τῷ γεννωμένῳ.... μᾶλλον δὲ ὑπὲρ γῆς ἤ γυναικὸς προ- 
σήκει δέχεσϑαι τοιαῦτα τεκμήρια. οὐ γὰρ γῆ γυναῖκα μεμίμηται κυήσει 
καὶ γεννήσει, ἀλλὰ γυνὴ γῆν (251 6). Man muß sich hier erinnern, 
daß die spätere Logik (Aristot. Anal.pr.70a 13, Rhet.1357b 15, Stoie. 
fr. log. 221) den Schluß εἰ γάλα ἔχε: ἐν μαστοῖς ἥδε, κεκύηκεν ἥδε 
als typisches Beispiel eines Rückschlusses von einem Symptom auf 
eine Erscheinung (σημεῖον) aus der medizinischen Theorie‘) über- 
nommen hat, und muß die ebenso zwingenden Schlüsse der Agathon- 
rede daneben halten, dann wird man die Tendenz der Stelle richtig 
würdigen. Zugleich kann man sich klar machen, mit welcher 
Geschicklichkeit hier mit dem Motiv des Erdursprunges ein anderes 
in den Enkomien unentbehrliches Lob Athens, die Schenkung des 
Getreidebaues durch Demeter’), verbunden ist. 

Noch ein größerer Ruhm Attikas wird aber vorher angeführt: 
es ist Heopılng' μαρτυρεῖ δὲ ἡμῶν τῷ λόγῳ ἣ τῶν ἀμφισβητησάν- 


1) Die Beispiele für das σημεῖον sind an den genannten Stellen vorwiegend 
medizinisch, vgl. bes. Stoic. fr. II. p. 73,26 ἔνιοι καὶ παρὸν παρῳχημένου ϑέλουσιν 
εἶναι σημεῖον, ὡς ἐπὶ τοῦ εἰ οὐλὴν ἔχει οὗτος, ἕλκος ἔσχηκεν οὗτος mit Galen 
ὅροι ἰατρ. XIX 397 παρόντα τῶν προγεγονότων σημεῖα... ὡς ἢ οὐλὴ τοῦ προ- 
γεγενημένου ἕλκους. Über den Gebrauch von σημεῖον bei den Medizinern vgl. 
bes. die hippokratischen Prognostika. Im Menexenos steht τεκμήριον, in der 
Nachahmung bei Ps.-Demosthenes 5 tritt'passend σημεῖον ein. 

5) Isokrates spricht darüber im Panegyr. 28, leitet aber den Abschnitt mit 
der entschuldigenden Bemerkung ein: καὶ γὰρ εἰ μυϑώδης ὁ λόγος γέγονεν, ὅμως 
αὐτῷ καὶ νῦν ῥηϑῆναι nooonzeıjund hält es für notwendig, die Tatsache, daß der 
Getreidebau von Attika aus Verbreitung gefunden hat, durch eine Reihe von 
σημεῖα (30—33) zu beweisen, die in der Methode an Thukydides’ Archaeologie 
erinnern und zu Isokrates’ Zeit gewiß bei vielen für ebenso wissenschaftlich galten. 
Das erklärt sich am besten, wenn man annimmt, Isokrates will den Topos gegen- 
über dem Spotte, den seine Behandlung im Menexenos erfahren hat, rechtfertigen. 
Als Absicht möchte man es auch betrachten, wenn bei Isokrates (33) die Athener 
πρὸς τὰς reyvag,eöpv£oraro. heißen (vgl. 40), während Menexenos 238b die Götter 
sie in den τέχναι unterrichten. Mit diesem (p. 238a τούτου δὲ Tod καρποῦ οὐκ 
ἐφϑόνησεν, ἀλλ᾽ ἔνειμεν καὶ τοῖς ἄλλοις) berührt sich eng noch Isokr. 29 
τοσούτων ἀγαϑῶν οὐκ ἐφϑόνησε τοῖς ἄλλοις, ἀλλ᾽ ὧν ἔλαβεν, ἅπασι μετέδωκεν. 
Auch der Passus über die Autochthonie 24.5 (63) ist Menex. 237c sehr ähnlich, 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 18 


2374 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


των περὶ αὐτὴν") ϑεῶν ἔρις τε καὶ κρίσις. Daß auch der Hin- 
weis auf den Streit Poseidons und Athens zum Enkomion ge- 
᾿ hörte, sagt Dion. Hal. de Demosthene 28. Der Rhetor tadelt, daß 
dieser Punkt hier so knapp und unrhetorisch abgemacht wird. 
Ich glaube, gerade diese knappe Zusammenfassung soll uns die 
Kritik nahelegen, soll uns das Unwürdige einer Anschauung vor- 
führen, die für die Liebe der Götter zu dem Lande keinen bes- 
seren Beweis kennt als ihren Zank und Streit untereinander. 
Jedem Leser fällt ja doch sofort ein, wie Plato im Euthyphron 
gerade in einer Erörterung über den Begriff ϑεοφιλές jeden 
Streit der Götter als gottlosen Aberglauben brandmarkt (6b— 8b), 
und für den, der etwa Platos Worte hier ernst nehmen wollte, 
heißt es im Kritias 109b: Θεοὶ γὰρ ἅπασαν γῆν ποτὲ κατὰ τοὺς 
τόπους διελάγχανον --- οὐ κατ᾽ ἔριν. οὐ γὰρ ἂν ὀρϑὸν ἔχοι λόγον 
ϑεοὺς ἀγνοεῖν τὰ πρέποντα ἑκάστοις αὐτῶν οὐδ᾽ αὖ γιγνώσκοντας 
τὸ μᾶλλον ἄλλοις προσῆκον τοῦτο ἑτέρους αὑτοῖς δι᾿ ἐρίδων ἐπιχει- 
ρεῖν κτᾶσθαι. 

Die Abschnitte über die παιδεία und τροφή (238b— 259 8) 
sind schon auf S. 270 und S. 272 behandelt. Wir können daher 
gleich zu den ἔργα, den Großtaten Athens übergehen. Daß der 
Übergang 239a nicht bloß in gorgianischer Weise rekapituliert 
und vorbereitet, sondern auch dem Klange zuliebe unnütze 
Wortfüllsel enthält, sahen wir schon (S. 266). Wichtig ist 
der Zusatz οἰόμενοι δεῖν ὑπὲρ τῆς ἐλευϑερίας καὶ “Βλλησιν ὑπὲρ 
Ἑλλήνων μάχεσϑαι καὶ βαρβάροις ὑπὲρ ἁπάντων τῶν ᾿Πλλήνων. 
Denn hier wird zunächst ein innerer Zusammenhang der Teile 
hergestellt: Wer in der Freiheitsatmosphäre Athens aufgewachsen 
ist, der weiß die Freiheit natürlich zu schätzen und für sie zu 
kämpfen. Daß das eine Mal ἐλευϑερία die bürgerliche Freiheit, 
das andere Mal die staatliche Unabhängigkeit bedeutet, bleibt 
natürlich unbeachtet. Zugleich erhalten wir aber das Schlagwort, 
das den Grundton des folgenden Abschnittes abgibt: Wo Athen 
das Schwert zieht, da kämpft es für die Freiheit, mag es nun die 
eigene, mag es die anderer sein. Wie dieses Schlagwort im Me- 
nexenos selber parodiert wird, das werden wir noch sehen. Hier 
sei kurz daran erinnert, wie tatsächlich dieses Wort als Zauber- 


') So TW, vgl. die Parallelstelle Euthyphron 8a (αὐτῆς F. Dionys). 
2) τὴν δὲ τῶν ὅρκων... σύγχυσιν... οὐκ ἐπαινεσόμεϑα οὐδὲ ϑεῶν 
ἔριν τε καὶ κρέσεν Rep. 380 ἃ. 


239 a—c. 275 


wort in der Politik von Hellas gewirkt hat. Mochte es gegen 
Persien gehen, mochte Sparta die Macht Athens brechen wollen, 
dann wieder gegen Sparta eine Koalition sich bilden, stets war 
es die ἐλευϑερία, mit der man Stimmung zu machen suchte. Das 
zeigt uns keiner besser als Thukydides. Der wußte genau, was 
für ein Schwindel mit dem Eintreten für die Freiheit anderer ge- 
trieben wurde (VI, 83, 2 sagt der Athener: οὐ καλλιεπούμεϑα ὡς 
εἰκότως ἄρχομεν, ἐπ᾽ ἐλευϑερίᾳ τῇ τῶνδε --- der Bundesgenossen — 
μᾶλλον ἢ τῶν ξυμπάντων τε καὶ τῇ ἡμετέρᾳ αὐτῶν κινδυνεύσαντες) ; 
trotzdem hebt er bei jeder Gelegenheit hervor, wie die Pelopon- 
nesier die Befreiung von Hellas auf ihr Programm schreiben (bes. 
Brasidas IV, 86, 1 und sonst). Das war eben ein Faktor, der 
die Stimmung von Hellas tatsächlich aufs stärkste beeinflußt hat. 

Endlich enthalten die Worte οἰόμενοι δεῖν ὑπὲρ τῆς ἐλευϑε- 
ρίας καὶ “λλησιν ὑπὲρ “Ελλήνων μάχεσϑαι καὶ βαρβάροις ὑπὲρ 
ἁπάντων τῶν ᾿Ελλήνων (239b) die Disposition des ganzen fol- 
genden Abschnittes. Dann 239c—241e werden die Freiheits- 
kämpfe Athens gegen die Barbaren geschildert, alles Folgende 
unter die Spitzmarke gestellt: οὗτοι δὴ πρῶτοι μετὰ τὸν Περσικὸν 
πόλεμον, “Ἕλλησιν ἤδη ὑπὲρ τῆς ἐλευϑερίας βοηϑοῦντες πρὸς 
Ἕλληνας .., ἐν τῷδε τῷ μνήματι ἐτέϑησαν (242). 

Die mythischen Kämpfe, die zum Schema des Epitaphios ge- 
hörten, erwähnt Plato vorher nur ganz kurz (239b), obwohl sie 
zur Satire auf die formellen Künste der Rhetorik natürlich eben- 
sogut Gelegenheit geboten hätten. Das ist ein deutliches Zeichen, 
daß es ihm mehr auf anderes ankommt und er sich deshalb wie 
Thukydides bewußt auf bestimmte Gebiete beschränkt. 

Äußerlich begründet er die Übergehung damit, daß diese 
Kämpfe schon poetisch dargestellt und für die Poesie wirklich 
besser geeignet seien (da hier die Phantasie zu walten hat). Nur 
solche Stoffe will er behandeln, die noch kein Dichter würdig 
gestaltet hat, die ein jungfräuliches, noch zu umwerbendes Ge- 
biet darstellen, und er selber will den Freiwerber spielen, der die 
Dichter auf das begehrenswerte Objekt aufmerksam macht: 
ταῦτα μὲν οὖν διὰ ταῦτα δοκεῖ μοι ἐᾶν, ἐπειδὴ καὶ ἔχει τὴν ἀξίαν' 
ὧν δὲ οὔτε ποιητής πω δόξαν ἀξίαν En’ ἀξίοις λαβὼν ἔχει ἔτι τ᾽ 
ἐστὶν ἐν μνηστείᾳ, τούτων πέρι μοι δοκεῖ χρῆναι ἐπιμνησϑῆναι 
ἐπαινοῦντά τε καὶ προμνώμενον ἄλλοις ἐς ᾧδάς τε καὶ τὴν ἄλλην 
ποίησιν αὐτὰ ϑεῖναι πρεπόντως τῶν πραξάντων (289 6). Das ist 

18: 


276 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


ein Glanzstück gorgianischer Diktion, nicht nur durch die Allite- 
ration der letzten Worte, sondern durch die Wiederholung von 
Stichworten. Über ἀξία ist schon 5. 264 gesprochen. Noch 
mehr tritt das Spiel mit dem Stamme wuva- hervor. ἐπιμνησθῆναι 
ist das Stichwort, das aus p. 238c stammt‘), aber dadurch wird 
nicht nur das uvnoteia hervorgerufen, das zwar nicht „Ermne- 
rung“ bedeuten soll ἢ, sondern Werbung’), aber durchaus als zum 
Stamme uva- gehörig empfunden wird, und diese zieht als Gegen- 
stick zum ἐπιμνησθῆναι dann προμνώμενον nach sich (nachher 
239d μεμνημένους ἐπαινέσαι entsprechend dem ἐπιμνησθῆναι ἔπαι- 
voövra). Formell ist hier die Nachahmung des gorgianischen Stils 
klar‘), sachlich hat man den Eindruck, daß Plato wirklich für die 
panegyrische Behandlung solcher Stoffe die Poesie geeigneter er- 
scheint als die Prosa. Man wird daran erinnert, wie in den Ge- 
setzen 801e Plato neben den religiösen Gesängen die patriotischen 
Lieder, ἐγκώμια auf die großen Taten verstorbener Bürger emp- 
fiehlt°). 

Von den Großtaten, die Plato nun behandeln will, sind die 
ersten natürlich die Siege der Perserkriege. Damit der Freiheits- 
sinn der Athener in hellerem Lichte erstrahlt, wird zuerst als 
düsterer Hintergrund die Knechtschaft gemalt, unter der damals 


1) Wiederholt 241d. 

3) So hat es freilich schon der Nachahmer des Menexenos im demosthe- 
nischen Epitaphios gefaßt, 8 9 & δὲ τῇ μὲν ἀξίᾳ τῶν ἔργων οὐδέν ἔστι τούτων 
ἐλάττω. τῷ δ᾽ ὑπογυιότερ᾽ εἶναι τοῖς χρόνοις οὔπω μεμυϑολόγηται. .. ., ταῦτ᾽ 
ἤδη λέξω. 

®) Das Bild ist hier frisch, aber μνηστεύειν χειροτονίαν Isokr. 8,15, μνώ- 
μενος βασιληίην Herod. I, 205 sind ganz gewöhnliche Metaphern. duvnoria für 
wvnoteia hat F. Das ist sicher hier eine Interpolation, wie sie die dieser Hand- 
schrift zugrunde liegende Rezension neben Gutem so häufig hat. 

4 Möglicherweise liegt noch eine uns verborgene Beziehung vor. Denn 
von Aspasia erzählt Xenophon Mem. II, 6, 36 ἔφη τὰς ἀγαϑὰς προμνηστρίας 
μετὰ μὲν ἀληϑείας τἀγαϑὰ διαγγελλούσας δεινὰς εἶναι συνάγειν ἀνϑρώπους 
εἰς κηδείαν κτᾶ. Das stammt wohl aus Aischines’ Dialog (Dittmar, Aischines 
S. 35), der als Gorgianer statt des διαγγελλούσας eine Wendung mit νη μο- 
νεύειν gebraucht haben mag. 

5) Ich kann daher Schwartz Hermes 35 S. 124 nicht zugeben, daß diese 
Stelle gegen Platos Autorschaft spricht. Schwartz geht davon aus, daß Plato 
gerade Choirilos’ Epos über die Perserkriege abfällig beurteilt hat (Proclus ad 
Plat. Tim. I p. 28), aber abgesehen davon, daß dieser Tadel die Ausführung allein 
betroffen haben kann, ohne daß das Thema mißbilligt wurde, redet Plato hier 
in erster Linie von φδαΐ, nicht vom Epos. 


Die Schilderung der Perserkriege 289 ο---241 6. 977 


Asien ἐκ τριγονίας seufzte'). Zugleich wird in knappen Worten 
geschickt eine Vorstellung von der gewaltigen Macht gegeben ’), 
die Kyros begründet, Kambyses und Dareios bis nach Libyen und 
Skythien und vor allem auch über das Meer hin ausgedehnt 
haben. Kein Wunder, daß selbst große kriegerische Völker nicht 
bloß äußerlich, sondern auch innerlich (ei δὲ γνῶμαι δεδουλωμέναι 
ἁπάντων ἀνθρώπων ἦσαν) jeden Widerstand gegen die persische 
Herrschaft aufgegeben hatten. 

Unwillkürlich denken wir darum auch an die brutale Erobe- 
rungspolitik der Orientalen, wenn die folgende Schilderung mit 
den Worten αἰτιασάμενος δὲ Δαρεῖος ἡμᾶς τε καὶ ᾿Πρετριᾶς, Ddg- 
δεσιν ἐπιβουλεῦσαι προφασιζόμενος κτλ. eingeleitet wird, und der 
Ausdruck ist gewiß gewählt, um die falsche Vorstellung zu 
nähren, als ob Dareios unter nichtigen Vorwänden’°) den Krieg 
vom Zaune gebrochen habe. Aber wir wollen nicht vergessen, 
daß auch in Herodots Augen Athen und Eretria und die Unter- 
stützung des jonischen Aufstandes nur Vorwand für den Zug des 
Datis waren und in erster Linie die Absicht bestand, ganz 
Griechenland zu unterwerfen (VI, 44. 94). In der folgenden 
Schilderung spürt man vor allem das Bestreben, die ganze Größe 
der Gefahr, die Athen 490 bedroht, vor Augen zu führen. 50000 
Mann (dieselbe Zahl im lysianischen Epitaphios 21) und 300 Schiffe 
ziehen heran. Datis ist bei Todesstrafe verpflichtet, die Athener und 
Eretrier zu Sklaven zu machen. Bei Eretria gelingt das ohne 
Schwierigkeit. Denn obwohl die Eretrier ein vortreffliches, zahl- 
reiches Heer hatten, wurden sie in drei Tagen überwältigt, und 
eine große Razzia, die das persische Heer veranstaltete, sorgte 
dafür, daß der Befehl des Großkönigs buchstäblich erfüllt wurde 
und keiner entkam. Dasselbe Schicksal hofften die Perser mit 
Leichtigkeit auch den Athenern zu bereiten, und in ganz Hellas 


1) ὅτε πᾶσα μὲν ἡ ᾿Ασία ἐδούλευε τρίτῳ ἤδη βασιλεῖ 239d (ἐδουλώσατο 
239 6, αἱ δὲ γνῶμαι δεδουλωμέναι ἁπάντων ἀνθρώπων ἦσαν 2408 und gleich 
darauf καταδεδουλωμένη ἦν schärfen den Begriff ein). 

2) Wie Trendelenburg es tadeln kann, daß diese „weltbewegenden Ereig- 
nisse“ nur sieben Zeilen füllen und weniger Raum einnehmen als z. B. Marathon, 
ist mir ganz unerfindlich. Will denn Plato eine Geschichte der Welt oder auch: 
nur Griechenlands schreiben ? 

8) Daran muß man hier bei προφασιζόμενος denken, das mit guter Ab- 
sicht nach dem allgemeinen αἰτιασάμενος (suchte einen Grund zum Kriege) ge- 
setzt ist. 


278 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


war die Angst so groß, daß niemand den Athenern zu Hülfe kam 
außer den Spartanern, und die kamen zur Entscheidung zu spät. 
Um so größer ist der Ruhm der Athener, die allein dem Barbaren- 
heer standhielten und den Übermut ganz Asiens züchtigten 
(2402 —d). 

Die Darstellung ist an sich geschickt, und die Schilderung 
der Gefahr geht über das, was wir gewöhnlich lesen, nicht hin- 
aus. Die Razzia, bei der die persischen Soldaten eine lange 
Kette bilden, die von einer Grenze des eretrischen Gebietes zur 
anderen reicht, nötigt uns freilich ein Lächeln ab. Aber gerade 
hier ist Vorsicht geboten. Denn in völligem Ernste berichtet 
Herodot VI, 31, daß die Perser dieses Verfahren regelmäßig an- 
wendeten, wenn sie die Bevölkerung eines Gebietes vollständig 
aufheben wollten. ὅχως δὲ λάβοι τινὰ τῶν νήσων (Chios Lesbos 
Tenedos), ὡς ἑχάστην αἱρέοντες οἱ βάρβαροι ἐσαγήνευον τοὺς dv- 
ϑρώπους. σαγηνεύουσι δὲ τόνδε τὸν τρόπον. ἀνὴρ ἀνδρὸς ἅψά- 
μενος τῆς χειρὸς ἐκ ϑαλάσσης τῆς βορηίης ἐπὶ τὴν νοτίην διήκουσι 
καὶ ἔπειτα διὰ πάσης τῆς νήσου διέρχονται ἐχϑηρεύοντες τοὺς 
ἀνθρώπους. An Herodot schließt Menex. p. 240b wörtlich an. 
Daß aber nicht erst der Verfasser scherzhaft die allgemeine Schil- 
derung auf Eretria überträgt, daß vielmehr tatsächlich solche Er- 
zählungen 490 in Athen in Umlauf waren, sagt uns kein anderer 
als Plato selber. 

Wir haben im vorigen Aufsatz einen Abschnitt der Gesetze 
genauer besprochen, weil Plato in ihm auf die Rep. VIII ge- 
gebene Kritik der athenischen Demokratie zurückgreift Dort 
will Plato p. 698 zeigen, wie in der alten Verfassung Athens die 
innere Disziplin durch den äußeren Druck der Persergefahr ge- 
stärkt wurde (vgl. oben 5. 253). Diese Schilderung berührt sich 
aufs engste mit dem Menenexos. 


Men. 240a. 
(Dareios) 
πέμψας μυριάδας μὲν πεντή- 
κοντὰ... ναῦς δὲ τριακοσίας, 


Δᾶτιν δὲ ἄρχοντα, εἶπεν ἥκειν 
ἄγοντα ᾿Βρετριᾶς καὶ ᾿Αϑηναί- 
ους, εἰ βούλοιτο τὴν ἑαυτοῦ 
κεφαλὴν ἔχειν. 


Legg. 6980. 


σχεδὸν γὰρ δέκα ἔτεσιν πρὸ τῆς 
ἐν Σαλαμῖνι ναυμαχίας ἀφίκετο 
Δᾶτις Περσικὸν στόλον ἄγων, 
πέμψαντος Δαρείου διαρρήδην 
ἐπί τε ᾿Αϑηναίους καὶ ᾿Ερε- 
τριέας ἐξανδραποδισάμενον ἀγα- 


- 


Menex. 240 und Legg. 698 ο. 


ὃ δὲ πλεύσας eis ᾿Πρέτριαν En’ 
ἄνδρας οἱ τῶν τότε Ελλήνων ἐν 
τοῖς εὐδοκιμώτατοι ἦσαν τὰ πρὸς 
τὸν πόλεμον καὶ οὐκ ὀλίγοι, τού- 
τους ἐχειρώσατο μὲν Ev τρισὶν ἡμέ- 
ραις. διερευνήσατο δὲ αὐτῶν πᾶ- 
σαν τὴν χώραν, ἵνα μηδεὶς ἀπο- 
φύγοι, τρόπῳ τοιῷδε. ἐπὶ τὰ ὅρια 
ἐλϑόντες τῆς ᾿Βρετρικῆς ol στρα- 
τιῶται αὐτοῦ. . . συνάψαντες 
τὰς χεῖρας διῆλϑον ἅπασαν τὴν 
χώραν, ἵν᾽ ἔχοιεν τῷ βασιλεῖ 
εἰπεῖν, ὅτι οὐδεὶς σφᾶς ἀποπε- 
φευγὼς εἴη. 


τούτων δὲ τῶν μὲν πραχϑέν- 
των τῶν δ᾽ ἐπιχειρουμένων οὔτ᾽ 
᾿Ερετριεῦσιν ἐβοήϑησεν ᾿Πλλή- 
νων οὐδεὶς οὔτε ᾿Αϑηναίοις πλὴν 
Λακεδαιμονίων. οὗτοι δὲ τῇ bore- 
ραίᾳ τῆς μάχης ἀφίκοντο --- oi 
δ᾽ ἄλλοι πάντες ἐκπεπληγμένοι 
«νον ἡσυχίαν ἦγον 


279 


yeiv, ϑάνατον αὐτῷ προειπὼν 
μὴ πράξαντι ταῦτα. 


καὶ ὃ Δᾶτις τοὺς μὲν ᾿Πρετριᾶς 
ἔν τινι βραχεῖ χρόνῳ παντάπασιν 
κατὰ κράτος τε εἷλεν μυριάσι συχ- 
ναῖς καί τινὰ λόγον εἰς τὴν ἣμε- 
τέραν πόλιν ἀφῆκεν φοβερόν, ὡς 
οὐδεὶς ᾿ΗΠρετριῶν αὐτὸν ἀποπε- 
φευγὼς εἴη. συνάψαντες γὰρ ἄρα 
τὰς χεῖρας σαγηνεύσαιεν πᾶσαν 
τὴν ᾿ΕΒρετρικὴν οἱ στρατιῶται τοῦ 
Δάτιδος 


ὃ δὴ λόγος, εἴτε ἀληϑὴς εἴτε 
καὶ ὅπῃ ἀφίκετο, τούς τε ἄλλους 
“Eiinvas καὶ δὴ καὶ ᾿Αϑηναί- 
ους ἐξέπληττεν, καὶ πρεσβευ- 
ομένοις αὐτοῖς πανταχόσε βοη- 
ϑεῖν οὐδεὶς ἤϑελεν πλήν γε 
Λακεδαιμονίων . οὗτοι δὲ ὑπό 
te τοῦ πρὸς Μεσσήνην ὄντος 
τότε πολέμου καὶ εἰ δή τι διε- 
κώλυεν ἄλλο αὐτούς --- οὐ γὰρ 
ἴσμεν λεγόμενον --- ὕστεροι δ᾽ οὖν 
ἀφίκοντο τῆς ἐν Μαραϑῶνι μά- 
χης γενομένης μιᾷ ἡμέρᾳ. 


Wieder einmal haben wir die engste Berührung zwischen 
dem Menexenos und einer Schrift Platos, und wieder wird man 


1ὴ Es ist also keine bewußte Geschichtsfälschung, wenn der Menexenos 
die Hülfe der Plataeer verschweigt. In den Gesetzen wird 699a sogar noch ein- 
mal mit Bezug auf Marathon eingeschärft: οὐδεὶς τότε ἐβοήϑησεν οὐδ᾽ ἐκινδύ- 


vevgEv συμμαχόμενος. 


280 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexos. 


schwerlich eine Nachahmung im Menexenos nachweisen können. 
Ja, manches spricht hier dafür, daß ihm die Priorität zukommt. 
Zweimal vermeiden die Gesetze vorsichtig eine bestimmte Zahl- 
angabe, die er hat (μυριάδας πεντήκοντα — μυριάσι συχναῖς, ἐν 
τρισὶν ἡμέραις — ἔν τινι βραχεῖ χρόνῳ). Bei der Einnahme von 
Eretria ist das παντάπασιν κατὰ κράτος εἷλε viel blasser als des. 
Menexenos Angabe über die Kriegstüchtigkeit der Bewohner, und 
das μυριάσι συχναῖς klappt neben εἶλε etwas nach, während es 
in der ausführlicheren Fassung des Menexenos neben πέμψας 
ganz am Platze ist. Auffallend ist auch, daß über das Gerücht 
von der Razzia gesagt wird: τούς τε ἄλλους "EAAnvag καὶ δὴ καὶ ᾿Αϑη- 
ναίους ἐξέπληττεν. Denn daß auch in Athen eine Panik herrscht, 
paßt zu dem Preise der Marathonkämpfer wenig, ist auch durch 
Herodot nicht begründet, während im Menexenos οἱ δ᾽ ἄλλοι 
πάντες ἐκπεπληγμένοι ἡσυχίαν ἦγον das ist, was wir erwarten. 
Dabei ist der Grund der Änderung klar. Plato will in den Ge- 
setzen ja zeigen, wie die Furcht auf Athens innere Politik wirkt. 
Freilich sieht man nun überhaupt nicht recht ein, warum für 
diesen Zweck gerade dieses Gerücht, das doch nur eine momen- 
tane Wirkung haben konnte, so ausführlich wiedergegeben wird. 
Man hat das Gefühl, daß ein anderer Grund mitspielt. Schwer- 
lich ist das die bloße Lust des Alters am Fabulieren; die Ge- 
flissentlichkeit, mit der Plato zu λόγος hinzusetzt εἴτε ἀληθὴς 
εἴτε καὶ ὅπῃ dpiaero'), deutet wohl eher darauf hin, daß ihm daran 
lag, eine Geschichte, die er früher als einfache Tatsache berichtet 
hatte, jetzt als ein seinerzeit in Athen verbreitetes Gerücht zu 
bezeichnen, das er nicht mehr unbedingt als richtig hinstellen 
wolle, zu dessen Wiedergabe er aber jedenfalls berechtigt ge- 
wesen sei. 

Zu beachten ist auch, daß in beiden Schriften erst von Ky- 
ros Kambyses Dareios”), dann von den Perserkriegen die Rede 
ist. Das ist an sich auch in den Gesetzen nicht auffallend, da 


1) Die Geschichte von der Treibjagd auf Eretria wird also nicht als fal- 
sches von Datis ausgesprengtes Gerücht bezeichnet. 

8) Da Plato in den Gesetzen die innere Entwicklung des Perserreichs schil- 
dert, war die Angabe, daß die Perser unter Kyros πρῶτον μὲν ἐλεύϑεροι ἐγέ- 
vovro ἔπειτα δὲ ἄλλων πολλῶν δεσπόται (694 8) jedenfalls nicht unbedingt not- 
wendig. Im Men. 239 ἃ ff. ist diese Schilderung durch den Zusammenhang bedingt. 


Menex. 240a und Legg. 698 ο. 281 


Plato die Entwicklung der persischen Monarchie von Kyros bis 
zu dem Despoten Xerxes verfolgen will und andrerseits bei der 
Schilderung der großen Leistungen Athens kein Anlaß vorlag, 
über die Perserkriege hinaufzugehen. Aber noch viel natürlicher 
ergibt sich diese Darstellung im Menexenos einfach aus der histo- 
rischen Folge der Ereignisse. Entscheidend aber für die Annahme, 
daß Plato in den Gesetzen wirklich auf den Menexenos zurück- 
blickt, ist ein anderer Umstand. Wir haben im vorigen Aufsatz 
gesehen, daß in diesem Abschnitt der Gesetze Plato ausdrücklich 
auf die Kritik zurückgreift, die er in der Politeia an der Demo- 
kratie übt. Wir haben ferner gesehen, daß eben jener Abschnitt 
der Politeia aufs engste mit dem Menexenos zusammenhängt. 
Was kann natürlicher sein, als daß Plato in den Gesetzen auch 
an diesen Dialog denkt und dessen Ausführungen für seine 
Zwecke verwertet oder auch teilweise in andre Beleuchtung 
rückt? 


Wir wenden uns nun zu der Schlacht von Marathon selber, 
‘die Plato von 240d an bespricht. Wenn man an die anderen 
panegyrischen Darstellungen denkt, so erwartet man unwillkürlich 
einen rhetorischen Bericht über die Schlacht selber (etwa wie [Lys.] 
ep. 23—26), und wer es für nötig hält, daß dem lauschenden Publikum 
Dinge, die jeder längst auswendig wußte, noch einmal vorgekaut 
werden, mag diese Stelle des Menexenos „ebenso inhaltsarm 
wie wortreich“ finden. Aber dem Verfasser liegt offenbar nur an 
etwas anderem. Das ist einmal die trotz ihrer gorgianischen Form 
recht ernste Lehre πᾶν πλῆϑος καὶ πᾶς πλοῦτος ἀρετῇ ὑπείκει. Vor 
allem aber wird das, was die Marathonkämpfer durch ihre Tüch- 
tigkeit erreicht haben, sehr bestimmt herausgehoben. Sie sind die 
ersten, die einen Sieg über die Perser errungen haben ; ihnen danken 
nicht nur die Athener ihre Freiheit, sondern ganz Europa. Denn 
erst Marathon gab den anderen Hellenen den Mut, den Kampf für 
ihre Existenz‘) aufzunehmen. Mit bewußter Absicht wird dies 
240d auf die Formel gebracht, die Marathonkämpfer seien Lehrer 
der Hellenen gewesen (ἡγεμόνες καὶ διδάσκαλοι τοῖς ἄλλοις γενό- 
μενοι), und am Schluß des Abschnittes wird derselbe Gedanke be- 


1) Man beachte, daß die Athener die Freiheit erwerben, die anderen ὑπὲρ 
τῆς σωτηρίας kämpfen. 


282 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


deutungsvoll wiederholt (εἰς ἐκεῖνο γὰρ τὸ ἔργον ἀποβλέψαντες καὶ 
τὰς ὕστερον μάχας ἐτόλμησαν διακινδυνεύειν οἱ “λληνες ὑπὲρ τῆς 
σωτηρίας, μαϑηταὶ τῶν Μαραϑῶνι γενόμενοι 240 6). Genau in der- 
selben Weise verfährt Plato in dem Abschnitt über Salamis. Auch 
hier verzichtet er (in der Form der Praeteritio 241a) bewußt darauf, 
die Glanzstücke der Rhetorik vorzuführen oder zu überbieten. Von 
der Überbrückung des Hellesponts, von der Durchstechung des 
Athos‘) hören wir nichts, und ebensowenig wird die Seeschlacht 
ausgemalt. Ganz nüchtern wird wieder präzisiert, was die Athener 
geleistet haben. Wie die Marathonkämpfer den anderen Hellenen 
zeigten, ὅτε οὐκ ἄμαχος εἴη ἡ Περσῶν δύναμις κατὰ γῆν (240d, 
wiederholt 2418), so zeigten die Athener bei Salamis, daß auch 
die übermächtige Flotte Persiens nicht unüberwindlich sei: ὅσ᾽ 
ἀμφοτέρων δὴ συμβαίνει, so schließt Plato zusammenfassend 241b 
ab, τῶν τε Μαραϑῶνι μαχεσαμένων nal τῶν Ev Σαλαμῖνι vavuaxn- 
σάντων, παιδευϑῆναι τοὺς ἄλλους “Ἕλληνας, ὑπὸ μὲν τῶν κατὰ 
γῆν ὑπὸ δὲ τῶν κατὰ ϑάλατταν μαϑόντας καὶ ἐϑθισϑέντας μὴ φοβεῖσϑαι 
τοὺς βαρβάρους. 

Wieder ist also der ganze Bericht darauf zugespitzt, daß die 
Athener in den Perserkriegen die Erzieher von Hellas gewesen 
sind. Warum ist gerade diese Pointierung gesucht? Ich finde nur 
eine Erklärung. Wir haben gesehen, wie stark Plato die Leichen- 
rede des Thukydides beschäftigt und wie speziell die Worte, in 
denen dieser seine Ansicht über die athenische Demokratie zu- 
sammenfaßt (c. 41, 1), von ihm im Staate karikiert werden. Nur 
auf die ersten Worte des Paragraphen geht Plato dort nicht aus- 
drücklich ein. Sie lauten ξυνελών τε λέγω τήν τε πᾶσαν πόλιν 
τῆς “Ελλάδος παίδευσιν εἶναι κτλ. Sollte hier nicht Plato die An- 
regung erhalten haben zu dem Gedanken: „Ja, es hat einmal eine 
Zeit gegeben, wo dieses Wort für Athen galt, wenn auch nicht auf 
dem Gebiete der inneren Politik. In den Perserkriegen sind wirklich 
die Athener die Erzieher von Hellas gewesen’)‘? Wenn wir daran 


1) In den Gesetzen (699a) versagt es sich Plato nicht, die Wirkung dieser 
beiden Ereignisse auf Athen hervorzuheben. 

®) Ähnlich Isokr. Paneg. 91 βουλόμενοι προαγαγέσϑαι τοὺς "EAAnvas ἐπὶ 
τὸ διαναυμαχεῖν ἐπιδείξαντες αὐτοῖς ὁμοίως Ev τοῖς ναυτικοῖς κινδύνοις ὥσπερ 
ἐν τοῖς πεζοῖς τὴν ἀρετὴν τοῦ πλήϑους περιγιγνομένην (vgl. Menex. 2404 πᾶν 
πλῆϑος... ἀρετῇ ὑπείκει). 

3) Einen Nachhall des thukydideischen (perikleischen?) Gedankens vernimmt 


Die Schilderung der Perserkriege 239c—241e. 283 


denken, in welchem Lichte die Marathonkämpfer bei Aristophanes 
strahlen, werden wir uns nicht wundern, daß Plato ebenso 
denkt. | 

Auch wir werden dem Urteil gern zustimmen. Etwas anders 
werden wir freilich über das denken, was 241 folgt: τρίτον δὲ 
λέγω τὸ ἐν Πλαταιαῖς ἔργον καὶ ἀριϑμῷ καὶ ἀρετῇ γενέσϑαι τῆς 
“Ελληνικῆς σωτηρίας, κοινὸν ἤδη τοῦτο Λακεδαιμονίων τε καὶ ᾿Α4ϑη- 
ναίων. Denn hier tritt die Absicht, dem harmlosen Leser die An- 
schauung zu suggerieren, als ob 480 Athen allein beteiligt gewesen 
sei, zu deutlich hervor. Zweifellos will Plato daran erinnern, daß 
sein Sokrates die Rolle des Rhetors spielt, der mit der Geschichte 
nach Belieben umspringt. Immerhin tut man auch hier gut, wieder 
den Abschnitt der Gesetze p. 699 heranzuziehen. Dort ist aller- 
dings nicht von den Ereignissen selber die Rede, sondern von 
der Stimmung Athens beim Herannahen des Xerxes. Aber eine 
korrekte historische Darstellung ist es auch dort nicht, wenn 
Plato von dem hellenischen Bunde und Sparta kein Wort sagt, 
sondern aufs allerschärfste hervorhebt, Athen habe sich nur auf 
sich und auf die Götter verlassen und auf keine fremde Hülfe 
gehofft '). 

Durch einen formellen Abschluß (241c τὸ μὲν οὖν — ὕστερον) 
wird gekennzeichnet, daß mit Platää die eigentlichen Freiheitskriege 


man auch bei Isokrates, wenn er Paneg. 50 von seiner Vaterstadt sagt: ὥσϑ᾽ 
οἱ ταύτης μαϑηταὶ τῶν ἄλλων διδάσκαλοι γεγόνασι, καὶ τὸ τῶν “Ελλήνων 
ὄνομα πεποίηκε (sc. ἡ πόλις) μηκέτι τοῦ γένους ἀλλὰ τῆς διανοίας δοκεῖν εἶναι 
καὶ μᾶλλον “Βλληνας καλεῖσϑαι τοὺς τῆς παιδεύσεως τῆς ἡμετέρας ἢ 
τοὺς τῆς κοινῆς φύσεως μετέχοντας. Der ganze Abschnitt des Isokrates über 
Athens kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung (38—50) berührt sich mit 
Thukydides (45 extr. mit Thuk. II, 38, 1; 42 mit Th. 38, 2, der Preis des λόγος 
48 mit Thuk. 40,3), doch läßt sich natürlich nicht sagen, wie weit etwa Gorgias 
oder auch Perikles nachwirkt, und man kann nicht behaupten, daß Isokrates den 
Epitaphios gekannt hat. Freilich nimmt sich der Abschluß 51 Ἵνα δὲ μὴ δοκῶ 
ἐκ τούτων ἐγκωμιάζειν τὴν πόλιν ἀπορῶν τὰ πρὸς τὸν πόλεμον αὐτὴν ἐπαινεῖν, 
ταῦτα μὲν εἰρήσϑω μοι πρὸς τοὺς ἐπὶ τοῖς τοιούτοις φιλοτιμουμένους, ἡγοῦμαι 
δέ κτλ." fast wie ein Rückblick auf Thuk. II, 36, 4 aus ὧν ἐγὼ τὰ μὲν κατὰ 
πολέμους ἔργα... μακρηγορεῖν Ev εἰδόσιν οὐ βουλόμενος ἐάσω, ἀπὸ δέ κτλ., 
noch mehr die Ablehnung des Lobes der Demokratie mit einem ἣν οὐκ οἶδ᾽ 
ὅτι δεῖ διὰ μακροτέρων ἐπαινεῖν (106). 

1) Kleine wörtliche Anklänge an den Menexenos zeigt auch diese Stelle; 
so erinnert uns das öre.. τὰ περὶ ᾿Ερέτριαν διεπράξαντο Legg. 699a an Men. 
241a ὅτι τὸ ἑξῆς ἔργον τοῖς Μαραϑῶνι διεπράξαντο. 


284 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


zu Ende sind. Aber noch droht der Großkönig, noch stehen viele 
Hellenen unter seiner Herrschaft, darum verdienen auch diejenigen 
Athener rühmende Erwähnung, οἱ τοῖς τῶν προτέρων ἔργοις τέλος 
τῆς σωτηρίας ἐπέϑεσαν ἀνακαϑηράμενοι καὶ ἐξελάσαντες «πᾶν τὸ 
βάρβαρον ἐκ τῆς ϑαλάττης" ἦσαν δὲ οὗτοι οἵ τε ἐπ᾽ Πὐρυμέδοντι 
ναυμαχήσαντες καὶ οἱ εἰς Κύπρον στρατεύσαντες χαὶ οἱ εἰς Αἴγυπ- 
τον πλεύσαντες καὶ ἄλλοσε πολλαχόσε (211 d). Schwartz (Hermes 
ΧΧΧΥ, 5. 115) hat an der Aufzählung der Ereignisse hier An- 
stoß genommen, weil nicht deutlich werde, wie oft die Athener 
nach Cypern und Ägypten gegangen seien und ob wir an die Züge 
von 459 oder die von 449 zu denken haben. Ich glaube, dieser An- 
stoß ist unberechtigt. Denn abgesehen davon, daß jedenfalls keine 
tatsächlich falsche Angabe vorliegt, kann es Plato hier auf eine ge- 
naue Angabe der historischen Ereignisse nach dem Zusammenhang 
überhaupt nicht ankommen. Er will zeigen, wie die Athener das 
ganze Meer von den Barbaren gesäubert haben. Das wird uns an- 
schaulich, wenn wir hören, wie die Athener immer weiter vor- 
gedrungen sind, bis zum Eurymedon, bis nach Cypern, ja bis nach 
Ägypten hin. Geographisch, nicht chronologisch ist in erster Linie 
diese Aufzählung, und passend wird das Bild vervollständigt durch 
den Zusatz καὶ ἄλλοσε πολλαχόσε, der, sachlich durchaus berechtigt, 
uns das freie Schalten Athens auf dem Meere vor Augen führt. 
Und wie sehr dieser ganze Gedanke hier am Platze ist, das wird 
man ermessen, wenn man auf 239e zurückblickt, wo die gewaltige 
Macht des Großkönigs vor den Perserkriegen geschildert wird: 
ναυσὶ δὲ τῆς τε ϑαλάττης ἐκράτει καὶ τῶν νήσων, ὥστε μηδὲ ἀξιοῦν 
ἀντίπαλον αὐτῷ μηδένα εἶναι. Jetzt ist er vom Meere vollständig 
verdrängt, und wenn damals kein Mensch Widerstand wagte und 
er an die Eroberung von ganz Hellas denken konnte, so ist das Er- 
gebnis der Perserkämpfe, das Verdienst Athens, ὅτε βασιλέα ἐποίησαν 
δείσαντα τῇ ἑαυτοῦ σωτηρίᾳ τὸν νοῦν προσέχειν, ἀλλὰ μὴ τῇ τῶν 
“Ἑλλήνων ἐπιβουλεύειν φϑορᾷ (24le). Mit diesen Schlußworten 
rundet sich der Abschnitt über die Perserkriege in vortrefflicher 
Weise zu einem künstlerischen Ganzen ab. 

In den Perserkriegen haben die Athener gegen die Barbaren 
für die Freiheit von ganz Griechenland gekämpft. Jetzt folgt die 
Zeit, wo sie “Ἕλλησιν ὑπὲρ “Ελλήνων ἐμάχοντο (239b). Beide Teile 
werden ganz scharf getrennt, und die strenge Markierung der Dis- 
position führt sogar dazu, daß die historische Folge der Ereignisse 


---. 


241 d—242b. 285 


in gröblicher Weise verletzt wird. Denn wenn 242a von dem 
Abschluß der Perserkriege und dem Eintreten des Friedens ge- 
redet wird (εἰρήνης δὲ γενομένης), so können wir nur an die Zeit 
des Kalliasfriedens denken, und es ist ein grober chronologischer 
Verstoß, wenn danach mit einem μετὰ δὲ τοῦτο zur Schlacht von 
Tanagra übergegangen wird. Aber dürfen wir nun daraus mit 
Schwartz a. a. Ὁ. 115 schließen, daß der Menexenos nicht von 
Plato sein kann? Das wäre doch nur berechtigt, wenn Plato ganz 
in eignem Namen redete und Belehrungen gäbe‘). Wo er aber 
hier als Rhetor spricht, da kann er eben auch die Freiheit des 
Rhetors gegenüber den historischen Tatsachen ausnützen, wo es 
ihm aus künstlerischen Gründen paßt. Wie sehr aber gerade diese 
scharfe Trennung der Teile und der Abschluß mit dem Kallias- 
frieden von ihm beabsichtigt ist, werden wir noch sehen. 

Daß Plato hier überhaupt bewußt im Tone der tendenziösen 
Geschichtsfärbung redet, das ist ohne weiteres klar. Um von Einzel- 
heiten zu schweigen wie der Angabe, daß der Sieg bei Oinophyta 
schon 3 Tage nach Tanagra fällt’), wird natürlich die ganze Politik 
Athens unter dem Gesichtspunkte betrachtet, der schon p. 239b 
angedeutet ist. Natürlich ist Athen wider seinen Willen in die 
hellenischen Kämpfe gedrängt (242a), und wo es eingreift, da kämpft 
es für die Freiheit der Unterdrückten. Wenn bei Thukydides III, 
62,5 die Thebaner behaupten, sie hätten Böotien vor der Knech- 
tung durch die Athener geschützt und bei Koronea Böotien befreit, 
so gut wie sie im peloponnesischen Kriege nur die Befreiung der 
Hellenen vom Joche Athens als Ziel hätten, so behauptet der 
Menexenos natürlich, die Athener hätten bei Tanagra ὑπὲρ τῆς 
Βοιωτῶν ἐλευϑερίας gekämpft (242a). Auch die sizilische Expe- 
dition erfolgt natürlich ὑπὲρ τῆς Λεοντίνων ἐλευϑερίας (243a). Wir 
haben von diesem Schlagwort schon gesprochen (S. 274) und werden 
es noch weiter verfolgen. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß 
das Wort ἐλευϑερία (nebst den Ableitungen vom selben Stamm) 
in diesem historischen Abschnitt nicht weniger als zwölfmal (242ab 
allein dreimal!), sein Gegenstück δουλεία (nebst Verwandten) neun- 


1 Ich muß freilich gestehen, daß die Art, wie Plato Legg. 698d die Hilfe- 
leistung der Plataeer bei Marathon verschweigt, mich auch dann gegen den Schluß 
bedenklich machen würde. 

®) Das hätte Ed. Meyer 8 330 Anm. nicht als Tradition behandeln sollen. 
Thuk. I, 108 gibt 62 Tage an. 


286 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


mal vorkommt. Man spürt, wie dem Athener bei den patriotischen 
Reden die Ohren von diesem Schlagwort gellen. Wie sehr aber 
gerade die übertreibende Wiederholung des Schlagwortes in Platos 
Art ist, das sieht man aus Rep. VIII, p. 562c—564a, wo in derselben 
Absicht ἐλευϑερία usw. nicht weniger als vierzehnmal (δουλεία 
fünfmal) vorkommt. 

Wenn aus den Hellenenkämpfen der Pentekontaetie nur 
Oinophyta erwähnt wird, so entspricht das der Wertschätzung, 
die dieser Sieg bei Ephoros (Diod. XI, 82), die Μυρωνίδης ὃ γεννάδας 
gerade noch während des korinthischen Krieges bei Platos 
Gesinnungsgenossen Aristophanes (Ekkl. 303, vgl. Lys. 801) 
erfährt. 

Dann geht Plato sofort zum archidamischen Kriege über. 
Zweierlei hebt er hervor. Einmal hatte Athen jetzt, wo es ganz 
Hellas zum Feinde hatte, Gelegenheit zu zeigen, daß es mit Recht 
für sich das Verdienst in Anspruch nahm, im Freiheitskrieg das 
Größte geleistet zu haben. Dann aber wird die Mäßigung gerühmt, 
mit der die Athener im Besitze der lakonischen Gefangenen Frieden 
schlossen, ἡγούμενοι πρὸς μὲν τὸ ὁμόφυλον μέχρι νίκης δεῖν πολεμεῖν 
καὶ μὴ δι’ ὀργὴν ἰδίαν πόλεως τὸ κοινὸν τῶν ᾿Βλλήνων διολλύναι, 
πρὸς δὲ τοὺς βαρβάρους μέχρι διαφϑορᾶς (2424). Hier könnte man 
wohl einen Augenblick glauben, einen Verfasser vor sich zu haben, 
der einfach im Fahrwasser des Gorgias schwimmt und ihm nach- 
spricht, ὅτε τὰ μὲν κατὰ τῶν βαρβάρων τρόπαια ὕμνους ἀπαιτεῖ, τὰ 
δὲ κατὰ τῶν ᾿Βλλήνων ϑρήνους (Diels Vors.” 544, 33). Aber anders 
wird man urteilen, wenn man liest, was Plato Rep. 470c in heiligem 
Ernste den Hellenen einschärft: φημὶ γὰρ τὸ μὲν “Βλληνικὸν γένος 
αὐτὸ αὑτῷ οἰκεῖον εἶναι καὶ συγγενές, τῷ δὲ βαρβαρικῷ ὀϑνεῖόν τε 
καὶ ἀλλότριον (vgl. im Men. ὁμόφυλον und schon 2428 ὑπὲρ τῶν 
δὁμοφώνων πρὸς τοὺς βαρβάρους). Und warum der Menexenos 2426 
plötzlich den Ausdruck στασιασάσης gebraucht, wird einem erst 
klar, wenn man in der Politeia gleich darauf liest, daß nur der 
Kampf gegen die Barbaren als πόλεμος, der Bruderkampf dagegen 
als bloße στάσις (und νόσος) zu gelten hat. Und warum Men. 242c 
hervorhebt, daß die undankbaren Spartaner Attika verwüsteten 
(τεμόντων τὴν χώραν), das versteht man, wenn man in der Politeia 
liest, wie Plato erklärt: Frevel ist es darum bei solchem Bruder- 
krieg, ἐὰν ἑκάτεροι ἑκατέρων τέμνωσιν ἀγρούς (4104). Und wenn 
er dort fortfährt: Beide Parteien müssen sich als Kinder eines 


Dic Schilderung des peloponnesischen Krieges 242 c—243d. 287 


Volkes fühlen, müssen bei einem Bruderkriege stets an Versöhnung 
denken, nicht an ewigen Krieg, οὐκ ἐπὶ δουλείᾳ κολάζοντες οὐδ᾽ ἐπ᾽ 
ὀλέϑρῳ (470e 471 8), so steht genau dasselbe an der zitierten Stelle 
des Menexenos. Auch die Gegenüberstellung mit den Barbaren fehlt 
in der Politeia nicht, und es klingt eine unsägliche Bitterkeit aus der 
Mahnung, mit der Plato schließt: ἐγὼ μὲν ÖuoAoy& οὕτω δεῖν πρὸς 
τοὺς ἐναντίους τοὺς ἡμετέρους πολίτας προσφέρεσϑαι, πρὸς δὲ τοὺς 
βαρβάρους, ὡς νῦν οἱ “Ελληνες πρὸς ἀλλήλους (471b). Auch im 
Menexenos will Plato gewiß nicht Aufklärung über die Motive der 
Friedenspartei von 421 geben, sondern eine Mahnung. Und mit 
welchen Gefühlen mochten nach dem Königsfrieden von 386 
Patrioten die Mahnung lesen: πρὸς μὲν τὸ ὁμόφυλον μέχρι νίκης 
δεῖν πολεμεῖν καὶ μὴ δι᾿ ὀργὴν ἰδίαν πόλεως τὸ κοινὸν τῶν ᾿λλήνων 
διολλύναι, πρὸς δὲ τοὺς βαρβάρους μέχρι διαφϑορᾶς Ὁ 

Von dem archidamischen Kriege scheidet Plato den großen 
Krieg, der mit der sizilischen Expedition beginnt und mit dem 
Untergang Athens endet. Da ist Thukydides’ Betrachtungsweise 
noch nicht durchgedrungen, und Plato teilt den Standpunkt, den 
Andokides 392/1 in der Friedensrede (8. 9 = Aisch. II, 175) ein- 
nimmt. Bei der Schilderung dieses Krieges spürt man wieder mehr- 
fach in der Form das Bestreben, die Phrasen der Rhetorik zu 
persiflieren. Aber bitter ernst ist es Plato, wenn er es als unglaub- 
lich und unerhört betrachtet, daß Athens Gegner sich soweit ver- 
gaßen, ὥστε τολμῆσαι τῷ ἐχϑίστῳ ἐπικηρυκεύσασϑαι (ἐπικηρυκευ- 
σαμένους Ὁ) βασιλεῖ, ὃν κοινῇ ἐξέβαλον μεϑ᾽ ἡμῶν, ἰδίᾳ τοῦτον πάλιν 
ἐπάγεσϑαι, βάρβαρον ἐφ᾽ “Βλληνας, καὶ συναϑροῖσαι ἐπὶ τὴν πόλιν 
πάντας “Ελληνάς τε καὶ βαρβάρους (248. Zu den letzten Worten 
vgl. Isokr. Panath. 57). Auch im folgenden ist die Anerkennung 
der Energie, die Athen gerade in der letzten schweren Zeit, be- 
sonders bei den Arginusen entfaltet hat, gewiß ernst gemeint. 
Stimmt sie doch ganz zu Thuk. VIH,2. Und an des Geschichts- 
schreibers Wort II, 65, 12 οὐ πρότερον ἐνέδοσαν ἢ αὐτοὶ ἔν σφίσιν 
αὐτοῖς κατὰ τὰς ἰδίας διαφορὰς περιπεσόντες ἐσφάλησαν werden wir 
gemahnt, wenn hier Plato — bitter genug — erklärt ἀήττητοι γὰρ 
ἔτι καὶ νῦν ὑπό γε ἐκείνων ἐσμέν, ἡμεῖς δὲ αὐτοὶ ἡμᾶς αὐτοὺς καὶ 
ἐνικήσαμεν καὶ ἡττήϑημεν (248 ἃ). Formell finden wir freilich auch 


1) αὐτοὶ ἐν σφίσιν αὐτοῖς ..... περιπεσόντες Scheint mir nach Analogie 
von inter se nocere haltbar. 


288 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


hier Wendungen, die zeigen, daß Plato Sokrates hier auf den Bahnen 
gedankenloser Rhetorik wandeln läßt. Denn wenn auch das xeiued« 
auf den Kenotaphien durchaus seinen Platz hat, würde Plato im 
Ernste natürlich die Zusammenstellung οὐκ ἀναιρεϑέντες κεῖνται 
ἐνθάδε vermieden haben '),. Und wenn wir lesen τῇ ἐκείνων ἀρετῇ 
ἐνικήσαμεν οὐ μόνον τὴν τότε ναυμαχίαν, ἀλλὰ καὶ τὸν ἄλλον πόὄλεμον, 
so spüren wir, wie mit leiser Übertreibung eine rhetorische Wen- 
dung wie: ταῖς ψυχαῖς νικῶντες τοῖς σώμασιν ἀπεῖπον" οὐ γὰρ δὴ 
τοῦτό γε ϑέμις εἰπεῖν, ὡς ἡττήϑησαν (Isokr. Paneg. 92) ins Lächer- 
liche gewendet wird. 

Schwerer ist es, über den folgenden Abschnitt zu urteilen, 
der die inneren Kämpfe nach 404 behandelt (243d μετὰ δὲ ταῦτα 
—244b ἐπάϑομεν). Nur Bitterkeit kann den Anfang eingegeben 
haben: ὃ οἰκεῖος ἡμῖν πόλεμος οὕτως ἐπολεμήϑη, ὥστε, εἴπερ 
εἱμαρμένον εἴη ἀνθρώποις στασιάσαι, μὴ ἂν ἄλλως εὔξασϑαι μηδένα 
πόλιν ἑαυτοῦ νοσῆσαι Ὗ. Aber wenn dann Plato mit stillschweigender 
Übergehung der Dreißig die Mäßigkeit rühmt, mit der die Ver- 
ständigung der Piräusleute mit den in der Stadt Gebliebenen und 
mit den Oligarchen in Eleusis durchgeführt ist, darf man das als 
Ironie auffassen? 

Wenn man an Einzelheiten denkt wie den Überfall auf die 
eleusinischen Feldherren, von dem Xen. Hell. II, 4,43 erzählt, scheint 
es notwendig. Aber schon früher haben wir gesehen, daß nicht 
bloß Aristoteles die Mäßigung der demokratischen Führer in der 
Restaurationszeit rühmt, sondern daß auch Plato selbst das gleiche 
Urteil gehabt zu haben scheint (S. 111). Wenn er im Menexenos 
an die strenge Beobachtung der Amnestie erinnerte (244a), so mochte 
er dabei noch besondere Absichten haben. „Wir wollen auch der 
Toten jener Zeit gedenken und sie mit einander durch Opfer und 
Gebete versöhnen, wie wir versöhnt sind“ — ist es ein trügliches 
Gefühl, wenn man bei diesen Worten (244a) den Neffen des 
Charmides heraushört, der den Athenern zuruft: „Laßt doch endlich 
die Amnestie auch dem Andenken der Dreißig zugute kommen! 


1) Zu beachten ist, wie Plato die Abschnitte durch die Formel ἔν τῷδε 
τῷ μνήματι πρῶτοι ἐτέϑησαν (2420) und ἐνθάδε κεῖνται beim zweiten (242d) 
sowie beim dritten (242 6, 248 0) markiert. 

 Νδη denke wieder an Rep. 470c: einen hellenischen Bruderkrieg dürfe 
man nicht als πόλεμος führen, sondern man solle meinen, νοσεῖν ἐν τῷ τοιούτῳ 
τὴν "EAAdda καὶ στασιάξειν. 


2484 --- 245 ἃ. 289 


Ihr mögt verurteilen, was sie getan haben, aber sie haben doch 
auch in ihrer Weise das Beste des Landes gewollt, sind doch auch 
Söhne unseres Vaterlandes gewesen (οὐ γὰρ κακίᾳ ἀλλήλων ἥψαντο 
οὐδ᾽ ἔχϑρᾳ ἀλλὰ δυστυχίᾳ)“. Und wenn Plato dann von der Gegen- 
wart sagt: οἱ αὐτοὶ γὰρ ὄντες ἐκείνοις γένει συγγνώμην ἀλλήλοις 
ἔχομεν ὧν τ᾽ ἐποιήσαμεν ὧν τ᾽ ἐπάϑομεν (244), so mögen uns leicht 
die gewissenlosen Hetzereien der radikalen Demokraten, für die 
Lysias schreibt, einfallen. Für die offizielle Politik Athens gilt 
aber Xenophons Anerkennung, daß der Demos die Amnestie, die 
er geschworen, treulich „noch heute“ hält (Hell. II extr.), und so 
mochten Platos Leser wohl weniger eine Satire auf die Radikalen 
und Geschäftsadvokaten als den warmen Appell an das Gemein- 
schaftsgefühl vernehmen. 

Der folgende Abschnitt (244b μετὰ δὲ τοῦτο — 246a), der 
die äußere Politik Athens behandelt, schlägt einen andern Ton 
an: Athen zog jetzt die Lehre aus seinen Erfahrungen, es faßte 
den festen Entschluß, mit seiner bisherigen Politik zu brechen, 
sich nicht mehr in fremde Dinge einzumischen und keinem Unter- 
drückten mehr beizustehen (μὴ ἂν ἔτι ἀμῦναι μήτε “Βλλησι πρὸς 
ἀλλήλων δουλουμένοις μήτε ὑπὸ βαρβάρων 244c)'). Aber als nun 
Sparta die Situation ausnützte und Hellas knechtete, als Ar- 
gos Theben Korinth, ja der Großkönig selber bei Athen Zuflucht 
suchten, da bekam die Stadt es nicht fertig, an ihren festen 
Grundsätzen festzuhalten. Zu stark war ihr Mitleid mit den 
Schwachen, zu tief saß ihr die Eleutheritis im Blute: sie mußte 
wieder befreien, und wenn die Hülfesuchenden auch die helle- 
nischen Todfeinde waren, die 404 Athens Untergang aufs schärfste 
betrieben hatten, ja wenn der Großkönig selber kam, der nichts 
sehnlicher wünschte als Athens Untergang (ἣν προϑύμως ἀπώλλυ 
244d) — Athen mußte helfen, mußte befreien. Ganz wohl war 
ihm freilich bei dieser Politik nicht. Man schämte sich in Athen 
doch etwas vor den Trophäen von Marathon, Salamis und Platää 
(245a) und ließ deshalb in Asien nur Freiwillige und Verbannte 

1) 244b ist wohl zu lesen ὅτε παϑόντες ὑπ᾽ αὐτῆς [κακῶς] ἱκανῶς οὐκ 
ἐνδεῶς ἠμύναντο. Denn die Antithese ἱκανὸς --- ἐνδεής haben wir auch Prot. 522 Ὁ, 
Legg. 802b, und κακῶς ist (trotz des folgenden &d) entbehrlich. — 244 4 sollte 
die Konjektur von F οὐ πάλαι οὐδὲ παλαιῶν (οὐδὲ πολλῶν die ühr.) ἀνϑρώ- 
πῶὼν γεγονότα nicht aufgenommen werden. „Was ich jetzt sage, ist nicht in 
ferner Vorzeit noch in fernen Landen geschehen.“ Also ist mit Dobree nur ein 


Buchstabe zu ändern und οὐδ᾽ ἐπ᾽ ἄλλων zu schreiben. 
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 19 


200 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


(wie Konon und Demainetos) für die Perser kämpfen, aber das 
muß jeder zugeben: Athen ist es gewesen, das den Großkönig 
gerettet hat (δμολογουμένως ἔσωσεν 245a). 

Muß man über die Tendenz dieses Abschnittes ein Wort ver- 
lieren? Oder ist es nötig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß 
Plato mit vollster Berechnung den Abschnitt über die Perser- 
kriege damit abgeschlossen hatte, man müsse den alten Athenern 
Dank wissen, ὅτε βασιλέα ἐποίησαν δείσαντα τῇ ἑαυτοῦ σωτηρίᾳ 
τὸν νοῦν προσέχειν, ἀλλὰ μὴ τῇ τῶν “Πλλήνων ἐπιβουλεύειν φϑορᾷ 
(241e)? So einst — und jetzt? Es war wahrlich eine göttliche 
Fügung τὸ καὶ βασιλέα εἰς τοῦτο ἀπορίας ἀφικέσϑαι, ὥστε περι- 
στῆναι αὐτῷ μηδαμόϑεν ἄλλοθεν τὴν σωτηρίαν γενέσϑαι ἀλλ᾽ ἢ 
ἐκ ταύτης τῆς πόλεως, ἣν προϑύμως ἀπώλλυ (244d), und was 
würden die alten Marathonkämpfer, von denen die Redner so 
gerne sprechen, wohl von den Epigonen sagen, die Agesilaos in 
den Arm fielen? 

„Seine Mauern und seine Flotte bekam Athen jetzt wieder“, 
— so fährt Plato fort; wir wissen aus Gorg. 519a, wie er über 
deren Wert dachte — „und die Stadt führte nun Krieg mit Sparta 
ὑπὲρ — überliefert ist 245b Παρίων, zu schreiben gewiß Περσῶν '). 
„Aber dem Großkönig war in Athens Gesellschaft nicht wohl, er wollte 
einen Vorwand zur Aufhebung des Vertrages haben, und stellte 
deshalb eine, wie er selbst meinte, unerfüllbare Forderung, die Aus- 
lieferung der kleinasiatischen Griechen. Das hellenische Gefühl der 
meisten Bundesgenossen hatte er dabei überschätzt, allein Athen 
blieb fest und konnte sich nicht entschließen, die Brüder preis- 
zugeben. Nur die Athener sind eben die geborenen Feinde der 
Barbaren. Gleichwohl — sie wurden schließlich isoliert und 
kamen in die schwierige Lage des dekeleischen Krieges, wo sie 
sich der Kollation von Sparta und dem Großkönig gegenüber- 
sahen, erlangten aber schließlich doch einen Frieden zu leidlichen 
Bedingungen (— 245e).“ 

Was einem an diesem Abschnitt zunächst auffällt, das ist die 
genaue Kenntnis des korinthischen Krieges. Denn daß mit den 
Worten 245b βασιλεὺς ἐξήτει τοὺς “ἤλληνας τοὺς ἐν τῇ ἠπείρῳ ..., 


1) Die Verderbnis eines so bekannten Wortes ist an sich natürlich nicht 
sehr wahrscheinlich. Aber mußte man nicht in den Zeiten, wo man den Epi- 
taphios ernsthaft nahm und offiziell vorlas, hier Anstoß nehmen und inter- 
polieren ? 


σον 


Der korinthische Krieg 244b—245e. 291 


μόνοι δὲ ἡμεῖς οὐκ ἐτολμήσαμεν οὔτε ἐκδοῦναι οὔτε ὀμόσαι ganz 
genau auf die Verhandlungen von 392/1 angespielt wird, das ist ja 
jetzt durch Philochoros außer Zweifel gestellt, der bei Didymos 
zu Demosth. col. 7, 19 zu diesem Jahre vermerkt: χαὶ τὴν 
εἰρήνην τὴν ἐπ᾽ ᾿Αντιαλκίδου κατέπεμψεν ὃ βασιλεύς, ἣν ᾿Α4ϑη- 
vaioı οὐκ ἐδέξαντο, διότι ἐγέγραπτο ἐν αὐτῇ τοὺς τὴν ᾿Ασίαν 
οἰκοῦντας “Βλληνας Ev βασιλέως οἴκῳ πάντας εἶναι συννεμημένους. 
Sollen wir wirklich glauben, ein Nachahmer bätte fünfzig Jahre 
später die Ereignisse so genau gekannt und dann nur mit einem οὐκ 
ἐτολμήσαμεν ὀμόσαι auf den fast perfekt gewordenen Friedens- 
vertrag angespielt, statt ihn ausdrücklich zu erwähnen‘)? Wie 
am Schluß des vierten Jahrhunderts ein Rhetor seine Unkennt- 
nis des korinthischen Krieges hinter nichtssagenden Phrasen zu 
verstecken sucht, zeigt Ps. Lysias ep. 67. 8°). Im Menexenos redet 
ein Mann, der die Dinge selbst erlebt hat, äußerlich wie innerlich. 

Es sind die radikalen Demokraten gewesen, die den Frieden 
392/1 hintertrieben , und man glaubt förmlich die Tiraden dieser 
Volksredner zu hören, wenn Plato 245ec die Athener als die ein- 
zigen Hellenen hinstellt, diereine Hellenen sind und keinen Tropfen 
Barbarenblut in sich haben, die deshalb den Haß gegen alles 
Barbarentum als ihr Erbteil betrachten und pflegen ‘). Aber nun em- 
pfinden wir bei Plato auch: Es sind dieselben berufenen Hüter des 
Hellenentums, die allein den Großkönig durch ihre Politik gerettet 
haben, die ihm tatsächlich 395 die kleinasiatischen Hellenen aus- 
geliefert haben und die 386 wieder — einen leidlichen Frieden ab- 
schlossen. Denn daß sie jetzt nach fünf Jahren zwecklosen 
Kampfes genau die Forderungen bewilligt haben, die sie früher 


1 Daß auf die Friedensverhandlungen von 392/1 angespielt wird, sah richtig 
schon Wendland S. 191. 

2) Daran ändern auch die paar Phrasen über ὁμόνοια, die der Verfasser 
aus einem älteren Epitaphios herausholt, nichts. — Die Ansicht, Lysias selber, 
der heißblütige Verfasser des Olympikos von 388, oder überhaupt ein Zeitgenosse 
könne dieses Machwerk verfaßt haben, ist für mich völlig indiskutabel. Daß 
der Verfasser nach Isokrates’ Panegyrikos schreibt, ist zudem schon durch die eine 
Stelle $ 18 erwiesen, wo der Unsinn ἐκβαλόντες τὰς παρὰ σφίσιν αὐτοῖς δυνα- 
oteiag sich nur durch Mißverständnis von Isokr. 4,39 erklärt. — Was Trendelen- 
burg im Menexenos an Anspielungen auf Ps. Lysias findet, geht auf die Epita- 
phien im allgemeinen, nicht auf einen einzelnen. 

8) Thrasybul nach Aristophanes Ekkl. 202. 

4 Über Isokr. Paneg. 157. 8 nachher. 

198 


292 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


ablehnten, das spricht der Redner natürlich nicht aus‘), aber 
Platos Leser weiß, daß sie „die schimpfliche und gottlose Aus- 
lieferung der Hellenen an die Barbaren“ (διὰ τὸ μὴ ἐϑέλειν 
αἰσχρὸν καὶ ἀνόσιον ἔργον ἐργάσασϑαι “Πλληνας βαρβάροις ἐκδόντες 
245 4) eben doch auf sich genommen haben. Und wenn er noch 
im Zweifel sein sollte, wie Plato über die athenische Politik ım 
korinthischen Kriege denkt, so mag er sich die nächsten Worte 
(246a) merken. Der Friede ist geschlossen, den der Großkönig 
Athen diktiert hat. Nun gilt es, der Gefallenen zu gedenken. 
„Ehre verdienen die Kämpfer, die in Hellas den Tod gefunden 
haben, ἀγαϑοὶ δὲ καὶ οἱ βασιλέα ἐλευϑερώσαντες (!) καὶ ἐκβαλόν- 
τες ἐκ τῆς ϑαλάττης Λακεδαιμονίους.“ Mögen sie ruhen neben 
den Männern, die Griechenland retteten ὠνακαϑηράμενοι καὶ ἐξε- 
λάσαντες πᾶν τὸ βάρβαρον ἐκ τῆς ϑαλάττης (241d). Möge Konon, 
der die persische Flotte nach Knidos führte, seinen Ehrenplatz 
haben neben den Männern, die im Kalliasfrieden das Erscheinen 
eines persischen Schiffes im ägeischen Meere verboten. 


Der zweite Hauptteil der Rede, die Ansprache an die Hinter- 
bliebenen (246a— 249 0), ist wieder in einem andern Ton gehalten. 
Gelegentlich mahnt uns auch hier die scharfe Markierung des Über- 
ganges, eine rhetorische Figur , ein gedankenloses Wortfüllsel ὃ 
daran, daß wir glauben sollen, einen Rhetor zu hören. Aber 
was die Redner in diesem Teile vorzubringen pflegten, war doch 
dem Philosophen etwas sympathischer, der philosophischen Rede 
verwandter, und so finden wir hier so manchen Satz, der nach 
Form und Inhalt auch in ernsten Schriften Platos stehen könnte. 
Der Ton ist natürlich populärer als gewöhnlich, aber die προοίμια 
der Gesetze sind ebenso gehalten. 


1) Ganz vortreffllich ist es, wie Sokrates zwischen die Verhandlungen von 
392/1 und die von 386 die lange Periode οὕτω δὴ — φύσεως einschaltet, die den 
harmlosen Leser den Gegensatz zwischen beiden weniger fühlen läßt und die Pause 
zwischen den Ereignissen ausfüllt wie ein Chorlied in der Tragödie. 

2) Aber das besonders auffällige διὰ παντὸς πᾶσαν πάντως προϑυμίαν πει- 
ρᾶσϑε ἔχειν (247a, vgl. 249c) ist nur eine Steigerung der Formel, die wir 24θ8ἃ 
finden τούτων οὖν χρὴ μεμνημένους τοῖς τούτων ἐχγόνοις πάντ᾽ ἄνδρα παρα- 
κελεύεσθαι, und in dieser ist auch sonst die eindringliche Wiederholung regel- 
mäßig, vgl. Symp. 193a ἀλλὰ τούτων ἕνεκα πάντ᾽ ἄνδρα χρὴ ἅπαντι nagane- 
λεύεσθϑαι εὐσεβεῖν, vgl. Symp. 212} Legg. 4989, 

3) Vgl. Trendelenburg, der freilich sehr stark über das Ziel hinausschießt. 


Der zweite Hauptteil der Rede 24θ8 -- 249 ο. 293 


Eine satirische Beziehung, die für uns nicht mehr kenntlich 
ist, liegt gewiß vor, wenn die Vorstellung, daß die Krieger in 
der Schlacht ihrem künftigen Leichenredner die lange Paränese an 
die Hinterbliebenen mitgeben, pedantisch und breitspurig dem 
Leser aufgedrängt wird (246c 247c 248d)'). Aber ganz gewiß 
soll es nicht lächerlich wirken, wenn es unmittelbar vorher heißt 
(246b): ἐγὼ μὲν οὖν καὶ αὐτός, ὦ παῖδες ἀνδρῶν ἀγαθῶν, νῦν TE πα- 
ρακελεύομαι καὶ ἐν τῷ λοιπῷ χρόνῳ, ὅπου ἄν τῳ ἐντυγχάνω ὑμῶν, 
καὶ ἀναμνήσω καὶ διακελεύσομαι προϑυμεῖσϑαι εἶναι ὡς ἀρίστους Ἶ. 
Denn da sollen wir Plato uns denken, dessen Meister einst ebenso 
eindringlich erklärt hatte (Apol. 30a): ταῦτα καὶ νεωτέρῳ καὶ 
πρεσβυτέρῳ ὅτῳ ἂν ἐντυγχάνω ποιήσω . .. οὐδὲν γὰρ ἄλλο πρατ- 
των ἐγὼ περιέρχομαι ἢ πείϑων ὑμῶν καὶ νεωτέρους καὶ πρε- 
σβυτέρους μήτε σωμάτων ἐπιμελεῖσθαι μήτε χρημάτων πρότερον 
μηδὲ οὕτω σφόδρα ὡς τῆς ψυχῆς ὅπως ὡς ἀρίστη ἔσται, λέγων 
ὅτι οὐκ ἐκ χρημάτων ἀρετὴ γίγνεται, ἀλλ᾽ ἐξ ἀρετῆς χρήματα κτλ. 
Denn das ist die Mahnung, die auch hier die Gefallenen ihren 
Kindern mitgeben: „yon μεμνημένους τῶν ἡμετέρων λόγων, ἐάν τι 
καὶ ἄλλο ἀσκῆτε, ἀσκεῖν μετ᾽ ἀρετῆς, εἰδότας ὅτι τούτου λειπόμενα 
πάντα καὶ κτήματα καὶ ἐπιτηδεύματα αἰσχρὰ καὶ κακά (240). 
Wir haben den καλός ϑάνατος gewählt; so sorget auch ihr für 
das xdAAog der Seele‘). Sucht uns womöglich zu übertreffen, 
und vor allem betrachtet den Ruhm der Vorfahren nicht als 
einen Schatz. den man tatenlos aufzehren kann. Für einen 


1) Vgl. Trendelenburg. 

2) Wie verkehrt es ist, hier παρακελεύομαι, das als Präsens neben νῦν 
im Gegensatz zu ἀναμνήσω nötig ist, zu streichen oder an der eindringlichen 
Wortfülle zu mäkeln, kann ein Vergleich mit Symp. 212b lehren. — Unmittelbar 
vorher mahnt Plato die Kinder, wie es die Väter im Kriege getan haben, μὴ 
λείπειν τὴν τάξιν τὴν τῶν προγόνων μηδ᾽ εἰς τοὐπίσω ἀναχωρεῖν εἴκοντας ndum. 
Rep. 468a stößt Plato aus dem Kriegerstande τὸν λιπόντα τάξιν... διὰ κάκην. 

3) Zu den gleich folgenden Worten ἄλλῳ γὰρ ὁ τοιοῦτος πλουτεῖ nal οὐχ 
ἑαυτῷ vergleicht schon Berndt a. a. Ὁ. 5. 11 gut Gorg. 4526 ὁ δὲ χρηματιστὴς 
οὗτος ἄλλῳ ἀναφανήσεται χρηματιζόμενος καὶ οὖχ δαυτῷ. 

Ἢ κάλλος darf in 2406. auf keinen Fall mit Trendelenburg geändert 
werden. Wenn es kurz darauf von der physischen Stärkung heißt: καὶ ἐπιφανέσ- 
τερον ποιεῖ τὸν ἔχοντα καὶ ἐκφαίνει τὴν δειλίαν, so lesen wir im Laches 184 b 
von der Fechtkunst: εἰ μὲν δειλός τις ὧν οἴοιτο αὐτὸ ἐπίστασϑαι, ϑρασύτερος 
ἂν δι᾽ αὐτὸ γενόμενος ἐπιφανέστερος γένοιτο, οἷος ἦν. Gleich darauf heißt es 
Menex. 247a πᾶσα ἐπιστήμη χωριζομένη δικαιοσύνης... πανουργία οὐ σοφία 
φαίνεται. Dazu stimmt genau Hipp. min. 365e (vgl. S. 11). 


294 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


Menschen, der einen Funken Ehrgefühl hat, gibt es nichts 
Schimpflicheres als wenn man ihm Ehre bezeugt, nicht weil er 
selber diese verdient, sondern weil seine Ahnen sie verdienten. 
Der Ruhm der Vorfahren ist das schönste Erbe, aber wer dieses 
Erbe nur besitzen will, ohne es neu zu erwerben und so seinen 
Nachkommen zu überliefern, der ıst ein elender Wicht und kein 
Mann“ (2475). 

Sind das triviale Ermahnungen, wie sie jeder Rhetor bei jeder 
Gelegenheit aussprechen konnte‘)? Wenn wir an den vorigen 
Abschnitt denken, werden wir anders urteilen. Das ist es ja 
gerade, was Plato den Politikern seiner Zeit vorwirft: „Ihr zehrt 
von dem Ruhme der Vorfahren, redet fortwährend von Athens 
ruhmvoller Vergangenheit, aber eure eigne Politik steht m voll- 
ständigem Gegensatz zu deren Politik, und das kostbare Erbe, 
das sie euch hinterlassen haben, das verschleudert ihr, statt es zu 
erhalten und zu mehren.“ Dort haben wir die bitterste Kritik 
an der gegenwärtigen Politik, hier die ernste Mahnung. Wer 
Ohren hat zu hören, der höre. 

Die παραμυϑία an die Eltern will auf den billigen Erfolg 
verzichten, den die auf die Thränendrüsen der Hörer spekulieren- 
den Leichenredner erzielen (247c, man denke etwa an Ps. Lys. 
ep. 73), und dafür wirklich Trost spenden. Die Gedanken, die 
nun folgen, sind uns zumeist aus den späteren prosaischen Trost- 
schriften geläufig, die damit aber vielfach nur den alten Dichtern 
(den Epikedeien, der Gnomenpoesie, Euripides) folgen. Es ist 
der Hinweis, daß die Kinder das höchste Glück, das ihnen als 
Sterblichen beschieden war, doch gefunden haben, daß es darum 
für die Eltern gilt, sich dem Geschick zu fügen, daß sie sich 
nicht zwecklosem Jammern ergeben, sondern durch werktätige 
Sorge für die Kinder der Gefallenen ihren Schmerz vergessen und 
das Andenken der Söhne ehren sollen. All diese populären Mah- 
nungen sind aber nur das Rankenwerk; den festen Block, der 
allein Halt gewährt, liefert ein einziger Gedanke (247e): Wirklich 


1 Der Gedanke ist natürlich an sich dem Enkomion nicht, fremd (οὐκ 
ἠξίωσεν αὐτὸς μὲν ῥᾳϑύμως ζῆν, σεμνύνεσθαι δ᾽ ἐπὶ ταῖς τῶν προγόνων ἀρεταῖς, 
ἄλλ᾽... οὕτω μέγ᾽ ἐφρόνησεν, ὥστ᾽ φήϑη δεῖν δι αὑτὸν καὶ τἀκείνων ἔργα 
μνημονεύεσθαι Isokrates im Enkomion auf Alkibiades x. τ. ζεύγους 29). Aber 
es kommt hier eben auf die Art an, wie er für die Paramythie im Zusammen- 
hang mit dem Hauptteil verwendet wird. 


Die παραμυϑία 247c—249c. 295 


zu überwinden vermag solchen Schicksalsschlag nur, wer auf 
sich selbst gestellt ist, wer da weiß, daß seine εὐδαιμονία nicht 
von äußeren Dingen, sondern von seinem Innern abhängt. Nur 
der wird auch im Unglück das μηδὲν ἄγαν wahren; οὔτε γὰρ 
χαίρων οὔτε λυπούμενος ἄγαν φανήσεται διὰ τὸ αὑτῷ πεποιϑέ- 
ναι (2488). Daß wir mit solchen Gedanken in eine andre Sphäre 
hineinkommen, fühlen wir ohne weiteres. Daß es Plato selber 
ist, der hier spricht, zeigt Rep. 387d (ὃ ἐπιεικὴς ἀνὴρ) μάλιστα 
αὐτὸς αὕὗτῳ αὐτάρκης πρὸς τὸ εὖ ζῆν καὶ διαφερόντως τῶν ἄλλων 
ἥκιστα ἑτέρου προσδεῖται. --- 4ληϑῆ, ἔφη. --- Πκιστ᾽ ἄρ᾽ αὐτῷ δει- 
vov στερηϑῆναι ὑέος κτλ. --- “Πκιστα μέντοι. --- Ἥκιστ᾽ ἄρα καὶ ὀδύ- 
ρέσϑαι, φέρειν δὲ ὡς πρᾳότατα, ὅταν τις αὐτὸν τοιαύτη συμφορὰ 
καταλάβῃ. Das sind die Erwägungen, aus denen heraus Plato 
dort die ϑρῆνοι der Dichter verbannt; 603e zitiert er diese Stelle 
ausdrücklich und fügt hinzu: νῦν δέ γε τόδ᾽ ἐπισκεινώμεϑα, πότερον 
οὐδὲν ἀχϑέσεται, ἢ τοῦτο μὲν ἀδύνατον, μετριάσει δέ πως πρὸς 
λύπην. Diese μετρία λύπη wird zugestanden wie im Menexenos 
(2480): κούφως δὲ καὶ μετρίως (SC. φέροντες) μάλιστ᾽ ἂν χαρί- 
Cowro. Und wie dort mahnt Plato Rep. 604b μὴ ἀγανακτεῖν, 
ὡς οὔτε δήλου ὄντος τοῦ ἀγαϑοῦ TE καὶ κακοῦ τῶν τοιούτων, οὔτε 
εἰς τὸ πρόσϑεν οὐδὲν προβαῖνον τῷ χαλεπῶς φέροντι, οὔτε τι τῶν 
ἀνθρωπίνων ἄξιον ὃν μεγάλης σπουδῆς. Vor allem aber empfiehlt er 
604.d (vgl.387 de) wie Menex. 247 c (248 Ὁ ο) statt nutzloser ϑρῆνοι und 
öövguoi energische Tätigkeit, die uns über den Verlust hinweghilft. 

Im Staate verwirft Plato die verweichlichenden ϑρῆνοι der 
Dichter. Im Menexenos zeigt er, was er an ihre Stelle zu setzen hat. 

Die Ansprache an die Hinterbliebenen schließt mit dem trost- 
lichen Hinweise auf die Fürsorge, die der Staat den Kindern der 
Gefallenen an Vaterstelle angedeihen lassen wird. Ähnlich schließt 
Thuk. II, 46. Während aber dieser kurz sagt αὐτῶν τοὺς παῖδας 
τὸ ἀπὸ τοῦδε δημοσίᾳ ἣ πόλις μέχρι ἥβης ϑρέψει, gibt Plato eine 
ausführliche Schilderung namentlich von der schönen Sitte, wie 
der Staat die Waisen nach erlangter Mannbarkeit mit einer Waffen- 
rüstung ausstattet und wie er das Gedächtnis der Toten durch 
Spiele feiert (xza9” ἕκαστον ἐνιαυτὸν. . ἀγῶνας γυμνικοὺς καὶ 
ἱππικοὺς τιϑεῖσα καὶ μουσικῆς πάσης 2498). Wie sehr Plato die 
zuletzt genannte Ehrung schätzte‘), sieht man daran, daß er in 


1) Über diese Ps. Lys. ep. 80; Arist. Ath. pol. 58; Wilamowitz Aristoteles 
und Athen I, S. 249. 


296 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


den Gesetzen 947e für die höchsten Beamten seines idealen 
Staates Gedächtnisfeiern mit denselben Worten verordnet (κατ᾽ 
ἐνιαυτὸν δὲ ἀγῶνα μουσικῆς αὐτοῖς καὶ γυμνικὸν ἱππικόν ve ϑή- 
σουσι). Die Ausstattung der Waisen mit der Waffenrüstung ken- 
nen wir durch Aischines geg. Ktesiphon 154. Aber zu dessen Zeit 
fand sie nicht mehr statt. Aischines kennt sie nur als eine schöne 
Sitte aus der guten alten Zeit, ὅτ᾽ εὐνομεῖτο μᾶλλον ἣ πόλις. 
Wann diese abgeschafft worden ist, wissen wir nicht. Aber 
grade wenn man die Geflissentlichkeit sieht, mit der Plato zwei- 
mal die Tatsächlichkeit der gesetzlichen Fürsorge hervorhebt 
(248 e τῆς δὲ πόλεως ἴστε που καὶ αὐτοὶ τὴν ἐπιμέλειαν, ὅτι νόμους 
ϑεμένη .. ἐπιμελεῖται, vgl. 2484), regt sich der Verdacht, daß 
dieser Brauch schon damals eingeschlafen war und Plato ihn 
zu neuem Leben erwecken wollte. 

Den Schluß des Epitaphios bildet wie gewöhnlich die Mahnung, 
nunmehr den rituellen Klageruf ertönen zu lassen '). 

Οὗτός σοι ὃ λόγος, ὦ Μενέξενε, ᾿Ασπασίας τῆς Μιλησίας ἐστίν 
(249 6ὴ — wir denken an die 5. 261 berührte Angabe des Philostratos 
ep. 73 aus Aischines’ Dialog: λέγεται δὲ καὶ ᾿Ασπασία ἣ Μιλησία τὴν 
τοῦ Περικλέους γλῶσσαν κατὰ τὸν Γοργίαν ϑῆξαι oder an die Worte, 
die er daraus noch zitiert Θαργηλία Μιλησία ἐλϑοῦσα εἰς Θετταλίαν 
κτλ. Scherzhaft verspricht dann Sokrates noch Menexenos, falls er 
die Schulgeheimnisse nicht ausplaudere (vgl. 236c), solle er noch 
mehr λόγοι πολιτικοί der Aspasia zu hören bekommen. Der ist’s 
zufrieden, denn er weiß, daß die Rede tieferen Inhalt gehabt hat, 
als eine Aspasia ihn hätte geben können. 


Auch wir würden wohl gerne noch mehr solche Aspasiareden 
lesen. Denn das hat hoffentlich unsere Untersuchung gezeigt, daß 
in dem Epitaphios mehr steckt, als man gewöhnlich angenommen 
hat. Und wenn wir nicht alle Stellen befriedigend erklären konnten, 
so ist soviel wohl gesichert, daß daran nicht die Unklarheit eines 
rhetorischen Nachahmers schuld ist — die pflegen ihre Plattheiten 
nur zu verständlich vorzutragen —, sondern daß aktuelle Bezie- 

1) κοινῇ κατὰ τὸν νόμον τοὺς τετελευτηκότας ἀπολοφυράμενοι ἄπιτε. Nach 
Trendelenburg soll das freilich wegen κατὰ τὸν νόμον die Persiflage der gewöhn- 
lichen Schlußformel sein. Aber wenn er aus diesen Worten „den witzigen Gegen- 
satz der gesetzlichen Verpflichtung zur moralischen“ herausquetscht, dann muß 
auch Perikles einen Witz beabsichtigen, wenn er Thuk. II 46, sagt: εἴρηται καὶ 
ἐμοὶ λόγῳ κατὰ τὸν νόμον ὅσα εἶχον πρόσφορα. 


Panhellenische Stimmungen in Platos Jugend. 297 


hungen und Anspielungen vorliegen, die wir nicht mehr voll ver- 
stehen. Aber was wir verstehen, das ist genug, um sagen zu können: 
Plato ist es, der die Schrift verfaßt hat, und sie ist eins der wert- 
vollsten Dokumente zu seiner Beurteilung, da er hier allein ganz 
unmittelbar seine Ansicht über die Gegenwart ausspricht. 

Wollen wir verstehen, wie er dazu gekommen ist, so müssen 
wir zunächst einmal weit zurückgreifen. 

Plato entstammte den konservativen Kreisen Athens, deren 
Stimmung in der Zeit des archidamischen Krieges wir so gut durch 
Aristophanes kennen. Auch sie fühlten den Grimm gegen den 
Feind im Herzen, wenn sie sahen, wie ihr schönes Attika von den 
Lakonen verwüstet wurde, schlimmer als es die Barbaren je getan 
(Men. 242c Rep. 470). Auch für Platos Vater mochte das Wort 
gelten: xduoi γάρ ἐστιν ἀμπέλια κεκομμένα, und das Landlos in 
Aegina wird ihn innerlich über die Verwüstung des angestammten 
Besitzes so wenig hinweggehoben haben wie den Dichter. Aber 
die Gegensätze der inneren Politik waren so stark, daß) das andere 
Gefühl überwog: Nicht die Spartaner allein tragen Schuld; der 
Krieg hätte sich schon vermeiden lassen, und wir würden auch jetzt 
leicht zu einer Verständigung mit Sparta gelangen, wären nicht 
die radikalen Demokraten am Ruder, die vom Kriege nichts zu 
leiden haben und den Frieden hintertreiben. Verständigung mit 
Sparta und Teilung der Herrschaft in Hellas — es war das alte 
Kimonische Programm, das die Konservativen damit wieder- 
aufnahmen. Verwirklicht ward es durch den Frieden von 421. 
Plato rühmt die staatsmännische Mäßigung, die damals die führen- 
den Männer an den Tag legten, noch im Menexenos (242d), aber 
bezeichnender ist vielleicht noch etwas anderes: Als er in seinem 
ersten Dialoge über das Wesen der Tapferkeit zu reden hatte, da 
wußte er keine sachkundigeren Praktiker für den Disput zu finden 
als Nikias und Laches, die Männer, die 421 den Frieden durchgesetzt 
hatten, unbekümmert um das Geschrei der Radikalen, die jedes 
Nachgeben für Feigheit erklärten. 

Wie weit bei diesen Männern der zweite Punkt des Kimonischen 
Programms, die Frontstellung gegen Persien, bewußt nachwirkte, 
wissen wir nicht. Aber wenn einige Zeit darauf, als die Stimmung 
gegen Sparta schon wieder gereizt war, Gorgias in seinem Epitaphios 
die Athener auf Persien als den wahren Feind hinzuweisen suchte ἢ), 

2) Als Gorgias den Epitaphios hielt, wagte er über die ὁμόνοια nicht zu 


298 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


muß er doch damit gerechnet haben, daß er in vielen Athenerherzen 
Widerhall finden werde. 

Alkibiades’ Politik machte das Einvernehmen mit Sparta un- 
möglich, und als dieses allein Athen nicht niederringen konnte, 
da scheute es sich nicht, mit dem Erbfeinde der Hellenen den Bund 
zu schließen und Barbaren gegen Hellenen heranzuführen (Menex. 
245b). Überraschend war das nicht, denn lange schon waren die 
Gesandten beider Staaten in Susa ständige Gäste. Aber als un- 
natürlich, als unwürdig empfand man die Lage doch. Im Jahre 411 
hat Aristophanes seine Lysistrata aufgeführt, ein Stück voll tollen 
Humors, aber mit tiefernstem Hintergrunde’). Es gibt wohl keine 
ergreifendere Stelle in Aristophanes’ Komödien als das Liedchen, 
in dem der Chor erklärt, auf die gewöhnliche Scheltrede der Parabase 
verzichten zu wollen, ἱκανὰ γὰρ τὰ κακὰ καὶ τὰ παρακείμενα (1047). 
Gleich darauf redet Lysistrata — die Leidenschaften der Männer 
sind ja zu erhitzt — den Vertretern beider Staaten ins Gewissen, 
weist sie mit tiefem Ernst auf das Unsinnige hin, daß sie, durch 


reden, da die Athener nach der Hegemonie strebten. Vorsokr.? 8.544, 25ff. Das 
kann nicht nach 414 gewesen sein. Andrerseits ist die Rede ἐπὶ τοῖς ἔκ τῶν 
πολέμων πεσοῦσιν gehalten, also nach dem Frieden von 421. Wie weit der Plural 
πολέμων zu pressen ist, mag fraglich sein. — Die Sophisten waren gewiß schon 
durch ihr panhellenisches Publikum darauf hingewiesen, panhellenische Ideen zu 
verbreiten. Aber ihren Ursprung haben diese in Zeiten, wo die Sophistik noch 
keine Macht ist, und auch später sind, besonders wo es sich um praktische Fragen 
handelt, die Publizisten die Geführten, nicht die Führer. 

!) Von der neuesten Anschauung, die den Komiker nur verstehen kann, wenn 
sie ihn als einen Nachtwandler betrachtet, der die Zeit der heißesten Parteikämpfe 
seines Vaterlandes ohne innere Anteilnahme durchlebt, der als Possenreißer bei- 
leibe kein positives Lebensideal zeigen darf, brauche ich für Kenner des Dichters 
wohl nicht viel zu sagen. Gegenüber der früheren Tendenzschnüffelei ist es gewiß 
eine gesunde Reaktion, die sich bei Süß zeigt, und für die Kasperleszenen hat er 
vollkommen recht. Aber wer den Satz schreibt: „Nur ein Tor kann glauben, daß 
der Komiker nun auch wirklich eine direkte Wirkung im Sinne einer Bekehrung 
auf den Hörer haben wolle oder könne“ (Aristophanes und die Nachwelt S. 209), 
der muß doch nie mit Bewußtsein gelesen haben, was Aristophanes in der Parabase 
der Frösche sagt: τὸν ἱερὸν χορὸν δίκαιόν ἐστι χρηστὰ τῇ πόλει ξυμπαραινεῖν nal 
διδάσκειν, muß nicht beachten, daß nach der antiken Tradition gerade der Ernst 
dieser Parabase es gewesen ist, dem das Stück eine zweite Aufführung zu danken 
hatte. Der Dichter, der den Chor an heiliger Stätte erhält, ist in Athen Mahner 
des Volkes, mag er nun Komiker oder Tragiker sein. Und Aristophanes hat vor 
allem in den Parabasen, aber auch im Agon und teilweise in der ganzen Fabel 
gezeigt, daß er sich als διδάσκαλος des Volkes fühlt. τὸ γὰρ δίκαιον οἷδε καὶ 
τρυγφῳδία. 


DA 


EEE 


[2 


Panhellenische Stimmungen in Platos Entwicklungsjahren. 399 


Blut, Religion und die großen Nationalfeste verbunden, sich bis zur 
Vernichtung bekriegen ἐχϑρῶν παρόντων βαρβάρων στρατεύματι 
(1133). Hat denn Sparta, das jetzt Attika verwüstet, ganz vergessen, 
wie Kimon ihm in höchster Not Rettung brachte? Weiß Athen nichts 
mehr von der Hülfe, die Sparta ihm gegen die Tyrannen einst ge- 
leistet? (1137—1156). 

Solche Worte waren wohl dazu bestimmt, nicht bloß in Athen 
gehört und gelesen zu werden. Auch drüben in Sparta gab es noch 
Männer wie Kallikratidas, der es nicht fertig bekam, vor dem Perser- 
prinzen zu antichambrieren, dem sich gerade in Kleinasien die 
Erkenntnis aufdrängte, wie bitter not Hellas der Friede der Groß- 
mächte tue, der erklärte, so lange er zu befehlen habe, solle kein 
Hellene zum Sklaven gemacht werden (Xen. Hell. I, 6, 7, 14). 

Solche Stimmungen sind gewiß auch noch im Jahre 404 in 
Sparta vorhanden gewesen, und Athen hat es ihnen mitzudanken, 
daß es vor völliger Vernichtung bewahrt blieb. Im übrigen aber 
bestimmte kein Kallikratidas, sondern Lysander die Politik, und 
Persiens Ansprüche auf die Hellenen in Kleinasien waren anerkannt. 
Aber als dann der Zug der Zehntausend den Hellenenstolz neu ge- 
weckt, die Verachtung gegenüber den Barbaren gesteigert hatte, 
als die Kleinasiaten um Hülfe gegen Tissaphernes riefen, da über- 
nahm Sparta den Schutz der Hellenen; ja, Agesilaos konnte daran 
denken, an ihrer Spitze den Großkönig selber anzugreifen. Wieder 
ein Mann, der den konservativen Kreisen Athens entstammte, hat 
uns den Eindruck bewahrt, den Agesilaos’ Plan in Hellas machte, 
und wir mögen es Xenophon glauben, daß manchem Hellenen das 
Herz höher schlug bei dem Gedanken, daß jetzt der Tag gekommen 
sei, den Spieß umzukehren, Rache an dem Erbfeinde zu nehmen 
und um Asien statt um Hellas zu kämpfen (Agesil. I, 8). Es ist 
sehr bezeichnend, daß Xenophon in seinem Enkomion als besondere 
ἀρετή des Agesilaos hervorhebt, er habe über seinem Sparta noch 
ein größeres Vaterland anerkannt, sei nicht blos φιλόπολις, sondern 
φιλέλλην — das Wort, das man früher für hellenenfreundliche 
Ausländer anwendete, nimmt jetzt eine tiefere Bedeutung an ') — 


1) Herodot II, 178 gebraucht es von Amasis (ähnlich Xen. Ages. 2, 31), aber 
schon Isokr. Paneg. 96 von den Athenern, die 480, Hellas zu retten, ihre Stadt 
preisgeben. Plato stellt an der mehrfach berührten Stelle Rep. 470e fest, seine 
Kolonisten würden natürlich Hellenen sein, demnach ἥμεροι καὶ ἀγαϑοί. Dann 
fragt er weiter ἀλλ᾽οὐ φιλέλληνες; οὐδὲ οἰκείαν τὴν ᾿Ελλάδα ἡγήσονται οὐδὲ 


300 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


gewesen (c.7,1.4 ff). Wenn er zum Beweise Aussprüche des 
Königs ausführt, in denen dieser die gefallenen hellenischen Feinde 
beklagt oder über Fehler, die auf hellenischer Seite gemacht sind, 
hinwegsehen will, so spürt man zu deutlich fremde Einflüsse, um 
viel darauf zu geben‘). Aber daß Agesilaos an das hellenische 
Nationalgefühl appellierte und es als eine Macht betrachtete, die er 
für sich ausnutzen könnte, ist ja bekannt. Er opferte in Aulis, um 
zu zeigen, daß er als neuer Agamemnon ganz Hellas zum Rache- 
kriege gegen die Barbaren führen wolle (Plut. Ages. 6). 

Der Partikularismus war stärker, und um das drückende Über- 
gewicht Spartas zu beseitigen, fand sich Athen mit seinen griechischen 
Todfeinden zusammen und ergriff nur zu gern die Hand, die der 
Großkönig ihm jetzt entgegenstreckte. Aber ganz verrechnet hatte 
sich Agamemnon mit seinem Appell an das hellenische Gefühl nicht. 
Auch in Athen gab es Männer, die in der offiziellen Politik ihres 
Landes einen Verrat an der hellenischen Sache, eine Preisgabe der 
besten athenischen Überlieferungen sahen. Sie mochten für die 
augenblicklichen Erfolge Athens nicht blind sein, aber die waren 
zu teuer erkauft, und in Konon konnten sie nicht den Befreier Athens, 
sondern nur den Retter Persiens erblicken (Menex. 244d ff.). Zu 


κοινωνήσουσιν ὥνπερ οἱ ἄλλοι ἱερῶν (vgl. Arist. Lys. 1131). Wenn er daraus 
für den Fall eines hellenischen Krieges folgert: εὐμενῶς δὴ σωφρονιοῦσιν, οὐκ 
ἐπὶ δουλείᾳ κολάζοντες οὐδ᾽ ἐπ᾿ ὀλέϑρῳ, σωφρονισταὶ ὄντες. οὐ πολέμιοι, so stimmt 
dazu der Ausspruch des Agesilaos bei Xen. Ages. 7, 6 ὅτε οὐκ ἀνδραποδίζεσθαι 
δέοι ᾿Ελληνίδας πόλεις ἀλλὰ σωφρονίξειν so genau, daß man an die Unabhängigkeit 
des Agesilaos-Xenophon kaum glauben wird, zumal in den Hellenika Xenophon 
von diesem Ausspruch nichts weiß. Hinzu kommt, daß die ganze Tendenz beider 
Stellen ganz ähnlich ist. Das Wort φιλέλλην, in das wir sie zusammenfassen 
können, kehrt bei Xenophon wieder (εἴ γε μὴν αὖ καλὸν “Βλληνα ὄντα φιλέλληνα 
elvaı 7,4) und das Stichwort φιλόπολις (8 1), das er ihm gegenüberstellt, steht 
auch bei Plato 470d, der freilich als πόλις ganz Hellas ansieht (vgl.Isokr. Paneg. 81). 
— Sehr bezeichnend ist es auch, wie Xenophon Mem. II, 1, 28 in den Pflichten- 
kreis, den er hier ganz unabhängig von Prodikos skizziert, neben der Pflicht gegen 
die einzelne πόλιες auch die gegen ganz Hellas einbezieht: εἴτε ὑπὸ τῆς “EAAdöog 
πάσης ἀξιοῖς ἐπ’ ἀρετῇ ϑαυμάξεσϑαι, τὴν ᾿Ελλάδα πειρατέον εὖ ποιεῖν (die 
Parallelstelle Oec. 11. 8 hat nur τιμῆς ἐν πόλει). 

1) Der erste erinnert stark an Gorgias’ bekanntes Wort ὅτε τὰ κατὰ τῶν 
“Ελλήνων τρόπαια ϑρήνους ἀπαιτεῖ. Hell. IV, 3, 1 bringt es Xenophon noch 
nicht, hat auch noch nicht die bestimmte Zahl 10000, die er im Agesilaos einführt, 
um dem Apophthegma eine besondere Pointe durch die Beziehung auf den Zug 
der Zehntausend zu geben. Sonst vgl. die vorige Anmerkung. 


Die Stimmung während des korinthischen Krieges. 301 


ihnen gehörte Plato, er tritt als dritter Konservativer Aristophanes 
und Xenophon zur Seite. 

Die nächsten Jahre haben diese Stimmungen nur verstärkt, 
und wenn 392 der greise Gorgias bei der panhellenischen ') Fest- 
feier von Olympia, während drüben in Sardes vielleicht schon die 
Abgesandten der Griechen unter persischer Aufsicht tagten, noch 
einmal seine Stimme erhob und die Griechen mahnte, sich lieber 
mit einander als mit dem Perser zu vertragen, hat er gewiß bei 
den Besten vieler Stämme Beifall gefunden’). An der offiziellen 
Politik änderte das aber natürlich nichts. Sparta war schon von 
der Unmöglichkeit überzeugt, die nationale Aufgabe in Kleinasien 
durchzuführen, und wenn jetzt plötzlich die Radikalen in Athen 
ihr hellenisches Herz entdeckten und wieder die Schützer aller 
Hellenen spielen wollten, so konnten solche Aspirationen bei jedem, 
der die Verhältnisse überschaute, nur ein Lächeln über die 
᾿Αϑηναῖοι μετάβουλοι hervorrufen. Die Politik von 395 war nicht 
mehr rückgängig zu machen, und 386 gab auch Athen die Brüder 
in Asien preis. 

Die Not der letzten Kriegsjahre war in Athen so groß gewesen, 
daß man den Frieden sehnlichst erwartete (Lys. 22, 14). Die Be- 
dingungen waren leidlich. Athen wurde als autonom anerkannt, 
behielt die Mauern und die Flotte und die drei Kolonisteninseln. 
Es war gewiß alles, was man erreichen konnte, und es ist ver- 
ständlich, daß man gern den Vergleich mit dem Ende des vorigen 
Krieges zog, wo man auch der Koalition von Sparta und Persien 
gegenübergestanden hatte, und daß man sich freute, diesmal besser 
abgeschnitten zu haben und die drückenden Bedingungen von 404 
losgeworden zu sein (Menex. 249 6) ὃ. 

Aber nur zu deutlich empfand man es doch, wie wenig die 
Autonomie bei dem tatsächlichen Übergewicht Spartas zu bedeuten 
hatte‘). Und vor allem: es war der Perserkönig, der den Frieden 


1) Diesen Charakter betonen Isokr. Paneg. 43.4, Arist. Lys. 1131 und Plato 
Rep. 470e (S. 299 mit Anm.!). 

2) Mir ist durch Didymos jetzt die Ansetzung des Olympikos auf 392 wahr- 
scheinlicher als die auf 408 (Wilamowitz, Aristoteles und Athen I, 8. 172). 

3) Menex. 245e ἐλθόντες οὖν eig ταὐτὰ ἐξ ὧν καὶ τὸ πρότερον κατεπολε- 
μήϑημεν. Xen. Hell. V, 1,29 φοβούμενοι δὲ μὴ ὡς πρότερον καταπολεμηϑείησαν, 
συμμάχου Λακεδαιμονίοις βασιλέως γεγενημένου. Die Übereinstimmung ist 
interessant, erklärt sich aber aus der politischen Situation. 

*) Kurz und treffend drückt die Stimmung Menex. 245a aus: μέχρι οὗ πάλιν 


302 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


diktiert, die Autonomie in Hellas dekretiert hatte. Und wer noch 
etwas Hellenengefühl in sich hatte, dem mußte die Scham das Blut 
in die Wange treiben, wenn er sah, was aus den Errungenschaften 
der Freiheitskriege geworden war, dem mußte sich das Herz zu- 
sammenkrampfen, wenn er an all das Weh dachte, das die unselige 
Zwietracht über Hellas gebracht. 

Gesündigt hatten alle Stämme‘). Aber wenn nun in Athen 
bei der Leichenfeier für die Gefallenen der Redner sich hinstellte, 
die Segnungen dieses Friedens in den Himmel hob, im Brusttone 
der Trivialität die Großtaten der Ahnen pries und die uneigen- 
nützige, womöglich panhellenische Politik rühmte, die Athen von 
jeher und auch in diesem Kriege wieder befolgt habe, dann mochte 
es einem Hörer wie Plato wohl schwer werden, auf eine Satire zu 
verzichten; dann mochte er wohl Lust bekommen, dem Redner die 
Maske abzureißen und ihm zu sagen, daß gerade diese athenische 
Politik die Erfolge der Ahnen schmachvoll zunichte gemacht habe. 
Dann mochte ihm wohl der Gedanke durch den Kopf schießen, daß 
man diesem Epitaphios einen anderen gegenüberstellen könne, der 
Athens Politik in anderem Lichte zeige. 

Aber schwerlich würde aus diesem Gedanken ein schrift- 
stellerischer Plan geworden sein, wäre nicht ein Zufall hinzu- 
gekommen. Wohl nicht lange vorher war Aischines’ Aspasia er- 
schienen. Plato hatte sich darüber geärgert, wie dieses Weib hier 
idealisiert und zur Lehrerin des Sokrates gemacht worden war, 
und hatte wohl schon daran gedacht, diese Schrift gelegentlich — 
natürlich spöttisch — abzufertigen. Jetzt bot sich Gelegenheit: 
Bei Aischines lernte Sokrates von Aspasia gorgianische Figuren 
und erzählte davon, auch Perikles habe in seiner Redekunst vieles 
Aspasia zu danken gehabt. Konnte man dann zur Karikatur nicht 
Sokrates eine regelrechte Rede, einen Epitaphios in den Mund legen ? 

Freilich mußte das dann ein Epitaphios werden, den Sokrates 
dreizehn Jahre nach seinem eigenen Tode hielt. Aber bei Aischines 
hatte Perikles ja auch die Künste des Gorgias gelernt, der erst zwei 
Jahre nach Perikles’ Tod in Athen erschienen war, und zu dem 


αὐτοὶ αὑτοὺς κατεδουλώσαντο. Isokr. Paneg. 117 τοσοῦτον δ᾽ ἀπέχουσι τῆς ἐλευ- 
ϑερίας καὶ τῆς αὐτονομέας ὥστε κτλ. malt den Zustand genauer aus. Vgl. 176 ἢ, 

!) Wieder treffen Aristoph. Lys. 1129 (vgl. die Acharner), Plato, der den 
Spartanern die Verwüstung Attikas, den Bund mit Persien, das Verhalten nach 
404 gründlich vorhält, und Xen. Ages. 7,6 zusammen. 


Platos Stimmung gegenüber dem Königsfrieden. 303 


übermütigen παίγνιον, zu dem allein der Stoff sich eignete, paßte 
es ganz gut, wenn man diesen Anachronismus noch übertrumpfte. 
Das παίγνιον hatte aber noch einen Vorteil. Denn da konnte Plato 
so nebenher gleich einmal den wichtigtuenden Rhetoren, die der 
Philosophie mit herablassender Miene im Jugendunterricht einen 
Platz anwiesen, zeigen, daß in Wahrheit ihre Künste ein Kinder- 
spiel seien, konnte ihre Mätzchen anwenden, überbieten, karikieren ἢ). 
Und den Triumph hat Plato ja gehabt, daß jedenfalls die späteren 
Rhetoren sich mystifizieren ließen und Fleisch von ihrem Fleisch 
zu spüren glaubten’). 

So ist der Menexenos entstanden, als Gelegenheitsschrift, bei 
der die verschiedensten Motive wirksam waren. Das spürt man 
beim Lesen. Denn einheitlich ist der Eindruck nicht, und neben 
dem übermütigsten Spott finden wir die ernste Mahnung, und im 
schärfsten Sarkasmus hört man einen anderen Grundton heraus. 
Denn wie Gorgias’ Epitaphios ein λόγος ἐσχηματισμένος gewesen 
war, der versteckt zum Kampfe gegen den Erbfeind mahnen wollte 
(Vors. S. 544, 28), so soll auch hier der Leser eine Lehre zwischen 
den Zeilen finden, die bittere Mahnung, daß es mit der Zwietracht 
in Hellas ein Ende nehmen müsse, solle nicht die ganze hellenische 
Kultur zu Grunde gehen. 

Zum letzten Male drängt sich dem Leser vielleicht hier die 
Frage auf: Ist nicht doch dieser Mangel an Einheitlichkeit der 
Stimmung eine Ungeschicklichkeit, die wir wohl einem Nachahmer 
zutrauen dürfen, nicht aber einem Stilkünstler, wie es Plato war? 
Eine Berechtigung wird man diesem Bedenken nicht absprechen 
dürfen. Aber als ausschlaggebend können wir es an sich bei einem 
παίγνιον nicht ansehen, und jedenfalls müssen wir bedenken, daß 
gerade die literarische Gattung, an die wir beim Menexenos am 
ehesten erinnert werden, die Einheitlichkeit der Stimmung kaum 
angestrebt hat, jedenfalls nach ihrer ganzen historischen Entwicklung 
nicht erreichen konnte. Ich meine die Komödie. In den Fröschen 

1) Als eine Kriegserklärung an Isokrates brauchte. aber dieses παίγνιον 
natürlich nicht aufgefaßt zu werden. In der Kritik der äußeren Politik ging Plato 
ja sogar Hand in Hand mit ihm, und den isokrateischen Stil karikiert der Menexenos 
mit Absicht nicht. Immerhin wird Isokrates den Epitaphios, der wohl nicht lange 
nach dem Phaidros erschienen ist, mit ebenso geteilten Empfindungen gelesen 
haben wie diesen selber. 


2) Sicher gilt das schon von dem pseudodemosthenischen Epitaphios, der 
besonders in $ 4.5 den Menexenos ausnützt. 


2 
304 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. _ 


belustigt der Dichter sein Publikum im ersten Teile durch die 
ausgelassensten Späße, aber der Agon, für den er so die Stimmung 
bereitet, behandelt ein Problem, das trotz des komischen Gewandes 
recht ernst genommen sein will, und gar in der Parabase fühlt sich 
Aristophanes als der Lehrer des Volkes, der an heiliger Stätte durch 
seinen Chor Malmungen aussprechen läßt, wie sie eindringlicher bei 
keiner Beratung über die Existenz des Vaterlandes in der Volks- 
versammlung ertönen können. 

Wie Plato Aristophanes geschätzt und was er von ihm gelernt 
hat, das zeigt uns der Mythos im Symposion am besten. Von 
Eupolis hat er schon als junger Mensch die Szene des Protagoras 
übernommen, und noch mancher andre Zug bei ihm erinnert an 
die Komödie‘). Daß er auch im Menexenos sich bewußt war, in 
diesen Pfaden zu wandeln und in ihrem Geiste die ἰαμβικὴ ἰδέα, die 


1) Berührungen mit Eupolis fanden wir S. 85. Sehr möglich ist, daß auch 
in der 5.941 ff. besprochenen Karikatur der athenischen Demokratie Rep. 557 #. und 
Men. 238c Plato an Komödienschilderungen gedacht hat. So hatte Eupolis im 
Χρυσοῦν γένος das freie Athen geschildert, οὗ δεῖ πρῶτον. μὲν ὑπάρχειν πάντων 
ἰσηγορίαν (fr. 291), Plato beginnt Rep. 557b: οὐκοῦν πρῶτον μὲν δὴ ἐλεύϑεροι, 
καὶ ἐλευϑερίας ἡ πόλις μεστὴ καὶ ἰσηγορίας γίγνεται. Und wenn Plato weiter 
das Lob der ἡδεῖα πολιτεία singt, an der die Kinder ihre Freude haben mögen, 
in der auch der Niedrigste sich politisch betätigen kann und niemand fragt, ob 
der Politiker etwas versteht, ἀλλὰ τιμᾷ, ἐὰν φῇ μόνον εὔνους εἶναι τῷ πλήϑει 
(Rep. 558b, vgl. 557c und Men. 284), so hatte Eupolis weiter gesagt: 

πῶς οὐκ ἄν τις ὁμιλῶν yalooı τοιᾷδε πόλει, 

ἵν᾽ ἔξεστιν πάνυ λεπτῷ κακῷ τε τὴν ἰδέαν (στρατηγεῖν ο. ἃ.) 
und bei Aristophanes erfährt in den Rittern der verjüngte Demos mit Scham, wie 
er sich früher ohne weiteres ködern ließ (1340), 

ὁπότ᾽ εἴποι τις Ev τὴκκλησίᾳ 
,ὦ Anu’, ἐραστής εἶμι σὸς φιλῶ τέ σεῦ. 

Natürlich kamen solche Stimmungen nicht bloß in der Komödie zu Worte. Aber 
sicher aus demselben aristophanischen Stücke stammt in Platos Staat der Ver- 
gleich des Demos mit dem halbtauben, halbblinden Schwachkopf, der im Besitze 
des Staatsschiffes ist, vgl. bes. 488a ναύκληρον μεγέϑει μὲν καὶ ῥώμῃ ὑπὲρ τοὺς 
ἔν τῇ νηὶ πάντας, ὑπόκωφον δέ mit Arist. Eg. 42 Δῆμιος πυκνίτης, δύσκολον 
γερόντιον ὑπόκωφον. 'Erwähnt sei endlich auch noch, daß Eupolis ganz wie 
Menex. 247b von dem Ruhme der Perserkriege als einem hinterlassenen Erbe 
spricht: ὃς τὴν Μαραϑῶνι κατέλιφ᾽ ἡμῖν οὐσίαν ἵν. 216. 

Aber wichtiger als die Einzelheiten ist natürlich die ganze Art, wie Plato 
die Schwächen seiner Mitmenschen, gelegentlich der verstorbenen, lieber der 
lebenden im Hohlspiegel der Karikatur vorführt. Und ich denke, da lassen uns 
der Hippias, der Protagoras, der Menexenos und das Symposion gleich wenig im 
Zweifel, wo er das gelernt hat. 


Die Zeit des Menexenos. 305 


Kritik an den öffentlichen Zuständen zu üben, dürfen wir ohne 
weiteres annehmen. Da mag er sich wohl auch berechtigt geglaubt 
haben, nach ihrem Vorbilde in diesem παίγνιον auf die volle künst- 
lerische Geschlossenheit zu verzichten, wenn ihm dafür die Gelegen- 
heit geboten war, alles, was er auf dem Herzen hatte, in dieser 
Gelegenheitsschrift zusammenzudrängen und als Lehrer des Volkes 
ausgelassenen Scherz mit herber Satire und tiefernsten Mahnungen 
zu verbinden. 


Eine solche Gelegenheitsschrift kann nur im unmittelbaren Zu- 
sammenhang mit den Ereignissen entstanden sein. Der Menexenos 
ist — abgesehen von den Briefen — die einzige Schrift Platos, die 
wir absolut datieren können. Er ist 386 oder 385 geschrieben. Dazu 
stimmt, was wir an Berührungen mit anderen platonischen Schriften 
in ihm finden. Denn wenn wir von den Gesetzen absehen, in denen 
Plato bewußt auf ihn zurückgreift, fanden wir Übereinstimmungen 
außer mit ein paar Jugendschriften besonders mit dem Phaidros und 
dem Lysis, die etwa in dieselben Jahre gehören. Die engsten Berüh- 
rungen mit dem Menexenos zeigt naturgemäß die Politeia. Nament- 
lich die Karikatur der perikleischen Demokratie und der schöne 
Abschnitt über die allhellenische Gemeinschaft atmen so ganz die 
gleiche Stimmung, daß man sie gern zur selben Zeit konzipiert 
glauben möchte. Unmöglich ist das nicht. Aber denkbar ist natürlich 
auch, daß Plato nach zehn bis fünfzehn Jahren in derselben Stim- 
mung auf den Menexenos zurückgegriffen hat. 

Die politische Stimmung, aus der heraus der Menexenos ge- 
schrieben ist, war in Hellas weit verbreitet, und der Nachweis, 
ὡς χρὴ διαλυσαμένους τὰς πρὸς ἡμᾶς αὐτοὺς ἔχϑρας ἐπὶ τὸν βάρ- 
βαρον τραπέσϑαι ward ein Lieblingsthema der Publizisten (Isokr. 
Paneg. 15). Die beste Witterung für die öffentliche Meinung 
hatte wie immer Isokrates, und da er Fühlung mit den leitenden 
Politikern Athens hatte, ward er in den Stand gesetzt, ein Werk 
zu schreiben, das seinerseits nun die Volksmeinung nach be- 
stimmter Richtung beeinflussen sollte und beeinflußt hat‘). Es 
ist der Panegyrikos, in dem er für die nationale Einigung zum 
Kriege gegen den Erbfeind eintrat, aber als unumgängliche Vor- 
aussetzung die spartanische Anerkennung der athenischen An- 
sprüche auf die Hegemonie zur See erwies. 


ἢ Wilamowitz, Aristoteles und Athen II, S. 380#. 
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 20 


> 


306 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos. 


Das zweite Ziel war natürlich recht verschieden von dem, was 
Plato positiv wollte. Und während dieser, getreu der konser- 
vativen Abneigung gegen die Seeherrschaft, das attische Reich 
keines Wortes würdigt, ist für Isokrates die Rechtfertigung Athens 
wegen seiner ἀρχή die Hauptsache. Er will zeigen, daß ein ein- 
facher Volksbeschluß genüge, etwaige Übergriffe Athens dauernd 
zu verhindern und Sicherheit für einen neuen Seebund zu schaffen. 
Im Gegensatz zu Plato steht er natürlich auch, wenn er Athens 
antinationale Politik von 395 maskiert und die persische Über- 
macht vom Falle Athens an datiert (119)'), wenn er die ganze 
Schuld an der Preisgabe der kleinasiatischen Griechen den Spar- 
tanern gibt (181 u. ö.).. Damit hängt zusammen die scharfe 
Kritik, die auch sonst an Spartas Vorherrschaft geübt wird, eine 
Kritik, die freilich mit ihrer Schärfe auch deutlich zeigt, wie seit 
386 die Stimmung von Hellas durch Spartas Brutalitäten erbittert 
worden war. Wenn Isokrates daneben die Verdienste der Spar- 
taner aus den Perserkriegen geflissentlich viel mehr hervorhebt, 
als es sonst in den athenischen Epitaphioi und speziell im Me- 
nexenos geschieht’), so ist das nur bezeichnend für die Raffiniert- 
heit, mit der er den Schein der Unparteilichkeit zu wahren sucht. 

Ganz einig ist Isokrates mit Plato dagegen in der Beur- 
teilung des Königsfriedens und der dadurch geschaffenen Lage. 
Der Friede ist eine Schmach für ganz Hellas, er erkennt zum 
ersten Male die Herrschaft Persiens über die kleinasiatischen 
Griechen an, ja er macht den Großkönig zum Herrn in Griechen- 
land, und alles, was von Freiheit und Autonomie im Friedens- 
instrument zu lesen ist, ist eitel Spiegelfechterei: Sparta knechtet 
die Griechen jetzt im Bunde mit dem Großkönige’). 

Wie anders war’s, als Athen die Hegemonie zur See hatte! 
Athen brachte es dahin, daß der Großkönig nicht nur jede Ab- 
sicht auf Hellas aufgab, sondern Verwüstungen des eigenen 
Landes sich gefallen ließ (118, vgl. Menex. 241e). Athen zwang 
ihn zum Kalliasfrieden, nach dem kein persisches Kriegsschiff 


1) Nicht der Ausbruch des peloponnesischen Krieges, wie der spartanische 
Herold bei Thuk. II, 12 meint, sondern Athens Fall τοῖς "EAAnoıw ἀρχὴ τῶν 
κακῶν ἐγίγνετο. 

2) Man vergleiche die Art, wie Isokrates 87 die Eile der Spartaner schil- 
dert, mit dem kurzen οὗτοι δὲ τῇ ὑστεραίᾳ. τῆς μάχης ἀφίκοντο Menex. 240c. 

8) Vgl. 5: 301*. 


Platos Menexenos und Isokrates’ Panegyrikos. 307 


sich diesseits von Phaselis blicken lassen durfte; Athen setzte da- 
mals die Grenzen für die persische Macht fest. Jetzt bestimmt der 
Großkönig über den Krieg und Frieden in Hellas, beherrscht das 
Meer, und Sparta wie Athen erhoffen von dem Unterstützung und 
Rettung, der sie beide am liebsten vernichten würde (117—121)'). 

Auf den Gegensatz des Kalliasfriedens und des Königsfriedens 
war auch die Darstellung des Menexenos zugespitzt (S. 290. 2). 
Aber ein ausdrücklicher Vergleich findet sich dort nicht. Der 
Leser sollte selber aus den nackten Tatsachen seine Folgerungen 
ziehen. Nun lag der Vergleich gewiß nach 386 nahe. Aber der 
Verdacht wird doch rege, daß Isokrates an den Menexenos an- 
knüpft. Und ist es wohl Zufall, daß Isokrates 117 sich nicht 
bloß über Athens Erfolge mit derselben Antithese äußert wie 
Plato 241e, sondern daß auch die Worte, mit denen er den 
ganzen Abschnitt abschließt: ἐν ἐκείνῳ τὰς ἐλπίδας ἔχομεν τῆς 
σωτηρίας, ὃς ἀμφοτέρους ἡμᾶς ἡδέως ἂν ἀπολέσειεν (121) an Me- 
nex. 244d anklingen: ὥστε περιστῆναι αὐτῷ (τῷ βασιλεῖ μηδαμό- 
ϑὲεν ἄλλοϑεν τὴν σωτηρίαν γενέσθαι ἄλλ᾽ ἢ ἐκ ταύτης τῆς πόλεως 
ἣν προϑύμως ἀπώλλυ 

Plato fährt an dieser Stelle fort: Καὶ δὴ καὶ εἴ τις βούλοιτο 
τῆς πόλεως κατηγορῆσαι δικαίως, τοῦτ᾽ ἂν μόνον λέγων ὀρϑῶς ἂν 
κατηγοροῖ, ὡς ἀεὶ λίαν φιλοικτίρμων ἐστὶ καὶ τοῦ ἥττονος ϑερα- 
πίς. Isokrates sagt 53: διὸ δὴ καὶ κατηγοροῦσί τινες ἡμῶν ὡς 


1) Mit diesem Urteil vergleiche man den Euagoras. Da findet der Rhetor 
für den Zug der Spartaner unter Agesilaos nur die Worte: eis τοῦτ᾽ ἀπληστίας 
ἤλϑον, ὥστε καὶ τὴν ᾿Ασίαν κακῶς ποιεῖν ἐπεχείρησαν! Und als Ruhmestat 
des Euagoras und Konon wird es gepriesen, daß sie den persischen Satrapen den 
richtigen Weg zur Gegenwehr zeigten. Sie haben das Verdienst, daß Λακεδαι- 
μόνιοι μὲν κατεναυμαχήϑησαν καὶ τῆς ἀρχῆς ἀπεστερήϑησαν, οἱ δ᾽ “Ελληνες 
ἠλευϑερώϑησαν (56, vgl. Phil. 63). Ihnen haben die Perser den Sieg von Knidos 
zu danken, durch den βασιλεὺς μὲν ἁπάσης τῆς ᾿Ασίας κύριος κατέστη, Λακε- 
δαιμόνιοι δ᾽ ἀντὶ τοῦ τὴν ἤπειρον πορϑεῖν περὶ τῆς αὑτῶν κινδυνεύειν ἠναγκά- 
σϑησαν, οἱ δ᾽ "EAAnves ἀντὶ δουλείας αὐτονομίας ἔτυχον (68). So schreibt der 
Mann, der ein paar Jahre vorher den Vorkämpfer der panhellenischen Idee ge- 
spielt hatte, in Worten, die direkt an den Panegyrikos anknüpfen (vgl. dort 117 
τοσοῦτον δ᾽ Ameyovoı τῆς ἐλευϑερίας καὶ αὐτονομίας ὥστε nri., 118 die Athe- 
ner brachten in den Perserkriegen die Barbaren dahin, ὥστε un μόνον παύσα- 
σϑαι στρατείας ἐφ᾽ ἡμᾶς ποιουμένους ἀλλὰ καὶ τὴν αὑτῶν χώραν ἀνέχεσϑαι 
πορϑουμένην, 119 bei Knidos ἐνέκησαν μὲν οἱ βάρβαροι ναυμαχοῦντες, ἦρξαν δὲ 
τῆς ϑαλάττης). Isokrates ist eben Rhetor, und jeder Rhetor kann schreiben rechts 
und kann schreiben links. 

20* 


308 Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexonos. 


οὐκ ὀρϑῶς βουλευομένων, ὅτι τοὺς ἀσϑενεστέρους εἰϑίσμεϑα ϑερα- 
πεύειν. Daß er damit auf Plato antwortet‘), wäre an sich nicht 
gesagt, denn dieser Vorwurf war tatsächlich öfters erhoben (An- 
dok. de pace 28). Aber hinzu kommt, daß bei Plato in dem 
angeführten Satze die ganze Satire auf die angeblich so uneigen- 
nützige Politik der Athener gipfelt, die stets den Unterdrückten 
beistehen und für die Freiheit der anderen kämpfen. Isokrates 
nimmt ausdrücklich diesen Punkt wieder für Athen in Anspruch. - 
Er stellt an den Anfang seines Abschnittes über Athens Kriegs- 
taten (52, unmittelbar vor den eben angeführten Worten) den 
Satz, daß sie teils für sich, teils ὑπὲρ τῆς τῶν ἄλλων ἐλευϑερίας 
kämpften, ἅπαντα γὰρ τὸν χρόνον διετέλεσαν κοινὴν τὴν πόλιν 
παρέχοντες καὶ τοῖς ἀδικουμένοις ἀεὶ τῶν “Ελλήνων ἐπαμύνουσαν. 
Aber er hütet sich wohl, diesen Satz für die von Plato behandelte 
Zeit nach den Perserkriegen zu erweisen. Um so lieber führt 
er diese selber und noch mehr die mythischen Kämpfe als Belege 
an. Ein ähnliches Verfahren haben wir schon in dem Abschnitt. 
über die Erfindung des Getreidebaus (28—33) beobachtet (vgl. 
S. 273°). Beide Male nimmt Isokrates offenbar auf eine im ent- 
gegengesetzten Sinne gehaltene Behandlung Rücksicht und recht- 
fertigt, daß er sich der alten Technik der Epitaphioi anschließt. 
Daß er an den Menexenos denkt, ist an sich naheliegend und 
wird noch durch weitere Übereinstimmungen wahrscheinlich’). 


1). So schon Wendland, Hermes 25, 5. 178. 

2) Außer denen, die im Text schon berührt sind (Isokr. 24. 283—33. 52. 53. 
87. 91. 92. 117— 121) nenne ich Folgendes. In $ 13 will sich Isokrates nicht 
darauf berufen, ὡς ἐξ ὑπογύου γέγονεν ἣ παρασκευή, vgl. Men. 235c. — 82 „Über 
die Perserkriege hat noch kein Dichter oder Prosaiker bisher ἀξέως τῶν πεπρα- 
γμένων geredet“, vgl. die S. 275. 6 behandelte Stelle des Menexenos. — 150 τοὺς 
οὕτω τρεφομένους καὶ πολιτευομένους, vgl. Men. 2880 πολιτεία γὰρ τροφὴ dv- 
ϑροώπων ἐστί. --- 151 (von den Oligarchieen) ὁμαλῶς μὲν οὐδὲ κοινῶς οὐδὲ πο- 
λιτικῶς οὐδεπώποτ᾽ ἐβέωσαν, ἅπαντα δὲ τὸν χρόνον διάγουσνν εἷς μὲν τοὺς ὑβρέ- 
ζοντες τοῖς δὲ δουλεύοντες, Men. 2886 ὥστε αὐτῶν ἀνώμαλοι καὶ αἱ πολιτεῖαι... 
οἰκοῦσιν οὖν ἔνιοι μὲν δούλους οἱ δὲ δεσπότας ἀλλήλους νομίξοντες. --- 157 
„Den Hellenen gegenüber vergessen die Athener den Haß, sobald der Friede ge- 
schlossen ist, den Barbaren gegenüber nie, οὕτως ἀείμνηστον τὴν ὀργὴν πρὸς 
αὐτοὺς ἔχουσιν, vgl. 158 οὕτω δὲ φύσει πολεμικῶς πρὸς αὐτοὺς ἔχομεν (184 
φύσει πολεμίους) und Men. 2498 (vgl. S. 290), 240 ἃ τὸ τῆς πόλεως γενναῖον. 
καὶ φύσει μισοβάρβαρον (vgl. auch Xen. Ag. 7,7). Auch nach Wendland nimmt 
Isokrates auf den Menexenos Bezug. 


Platos Menexenos und Isokrates’ Panegyrikos. 309 


Aber natürlich ıst Isokrates ein viel zu geschickter Schrift- 
steller, als daß man Abhängigkeit bei ihm mit Sicherheit nach- 
weisen könnte. Noch weniger dürfen wir erwarten, daß er sich 
mit dem platonischen παίγνιον, dessen Tendenz er natürlich 
durchschaute, ausdrücklich auseinandersetzte. 


Wir haben uns lange mit dem Menexenos beschäftigen 
müssen; aber ich denke, es ist auch manches herausgekommen, 
was für das Verständnis Platos wichtig ist. Das Wertvollste ist 
aber doch wohl, daß wir sehen, wie auch in dieser Zeit, wo er 
die Politik Athens so unbedingt ablehnt, sein Herz an den Groß- 
taten seines Volkes hängt, wie warm es für sein größeres Vater- 
land schlägt. 


Die neue Weltanschauung. 


XI. Phaidon. 


Als Plato den Menon schrieb, war er sich bewußt, daß er 
über die Sokratik hinausgewachsen, daß eine neue Epoche für 
ihn angebrochen war. Das Moment, dem er selber die ent- 
scheidende Bedeutung beimaß, war die Überzeugung, daß wirk- 
lich ein Wissen und Lehren möglich sei. Und diese Überzeugung 
verknüpfte sich für ihn mit der Lehre von der Anamnesis. Wie 
er zu dieser Entdeckung gekommen ist, sagt er uns selber. Der 
Glaube an die Unsterblichkeit, an die Präexistenz der Seele ist 
es, die ihm den Ausgangspunkt geboten hat. Präexistenz der 
Seele und Anamnesis bedingen sich gegenseitig, das erklärt er 
deutlich in dem grundlegenden Abschnitt 81a—86b, und wie die 
Anamnesis ein Argument für die Präexistenz liefert, so ist diese 
wieder für jene Lehre die Voraussetzung. Ausdrücklich weist 
Plato dabei 81a die Leser auf die orphische Theologie hin. Daß 
diese die individuelle Unsterblichkeit als Glaubenssatz hatte, 
darüber war zu seiner Zeit niemand im Zweifel. So konnte auch 
darüber kein Leser Platos einen Zweifel hegen, daß dieser, wenn 
er ausdrücklich 816. sagte: ᾧ ἐγὼ πιστεύω ἀληϑεῖ εἶναι, diesen 
Glauben an die individuelle Unsterblichkeit bekennen wollte. 
Wer also diesen Glauben hinwegzudeuten oder als unwesentlich 
für Platos Grundanschauung hinzustellen versucht, stellt sich zu 
Platos eigener Auffassung in Widerspruch. Ausdrücklich spricht 
es Plato auch aus, daß die Lehre, auf die er seine ihm ganz neu 
aufgegangene Anschauung gründet, unsokratisch ist. Es wider- 
spricht also auch Platos Auffassung, wenn man eine gradlinige 
Entwicklung vom Standpunkt der sokratischen Dialoge zu dem 
des Menon und Phaidon annimmt’). 


1) Wie es Natorp 8. 35 tut. Daß grade der enge Zusammenhang mit der Un- 
sterblichkeitslehre gegen Natorps ganze Auffassung von Platos Ideenlehre spricht, 
betont mit Recht Heinrich Gomperz, Archiv f. Gesch. der Phil. XVII. 


Phaidon. aid 


Plato behandelt die Präexistenz nur als eine Hypothesis. Das 
gleiche gilt natürlich auch von der auf ihr aufgebauten Anamne- 
sislehre. Warum er sie trotzdem aufgenommen hat und als seine 
wissenschaftliche” Überzeugung ausspricht, erfahren wir wieder 
von ihm selber. Nur diese Annahme einer im Menschen von 
Geburt an ruhenden, nicht aus der sinnlichen Erfahrung ge- 
schöpften richtigen Anschauung zeigt ihm die Möglichkeit zum 
Lernen und Lehren, gibt ihm Mut und Kraft zum eigenen For- 
schen wie zur Einwirkung auf andere. Die Anamnesislehre hat 
also für ihn zunächst die Bedeutung einer Arbeitshypothese. 

Neben der Anamnesislehre tritt stark im Menon die Mathematik 
hervor. Sie ist es, an der er die eine Zeitlang ihm zweifelhaft gewor- 
dene Möglichkeit wissenschaftlichen Forschens und Beweisens de- 
monstriert. Aber die Verdoppelung des (Juadrates soll nur ein Ein- 
zelbeispiel sein. Auf demselben Wege muß sich auch alles andere 
erkennen und beweisen lassen (81c). Bei Menons Sklaven sehen 
wir, daß er a priori die richtige Vorstellung der mathematischen 
Figuren in sich trägt, natürlich nicht der Einzelfigur, sondern 
dessen, was ım ersten Teile als das ἕν εἶδος τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν 
bewiesen ist (72ce 75a), und wie es nur der Erinnerung durch 
die sokratische Methode bedarf, um die richtigen Vorstellungen 
zu begrifflicher Klarheit zu erheben. So gut aber der Mensch 
die mathematischen Begriffe in der Präexistenz geschaut hat, muß 
er natürlich auch z. B. auf ethischem Gebiete τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν 
kennen gelernt haben, ὥστε οὐδὲν ϑαυμαστὸν καὶ περὶ ἀρετῆς 
καὶ περὶ ἄλλων οἷόν τ᾽ εἶναι αὐτὴν ἀναμνησθῆναι, ἅ γε καὶ πρό- 
τερον ἠπίστατο (Slc). Wenn Plato hier fortfährt: ἅτε γὰρ τῆς 
φύσεως ἅπασης συγγενοῦς οὔσης καὶ μεμαϑηκυίας τῆς ψυχῆς 
ἅπαντα, οὐδὲν κωλύει ἕν μόνον ἀναμνησϑέντα τἄλλα πάντα αὐτὸν 
ἀνευρεῖν, so ist der Hinweis auf die Verwandtschaft der Natur 
aus sich kaum verständlich. Aber wir werden nicht fehlgehen, 
wenn wir einen Satz des Phaidon als Erläuterung heranziehen 
(794): ὅταν δέ γε αὐτὴ nad αὑτὴν σκοπῇ (80.. ἣ ψυχή), ἐκεῖσε 
οἴχεται εἰς τὸ καϑαρόν τε καὶ ἀεὶ ὃν καὶ ἀϑάνατου καὶ ὡσαύτως 
ἔχον, καὶ ὧς συγγενὴς 0000 αὐτοῦ μετ᾽ ἐκείνου γίγνεται). Also 
deutet Plato auch im Menon schon darauf hin, daß die präexistente 
Seele kraft ihrer Verwandtschaft mit den ewigen εἴδη diese zu er- 


1!) Von Ritter Platon S. 572 nicht beachtet. 


312 Phaidon. 


fassen fähig war. Den Eindruck, daß der Menon nur vorläufige 
Andeutungen geben, nicht die ganze Tragweite der neuen Ent- 
deckung erschließen will, hat man aber auch sonst. Die Ausführlich- 
keit, mit der im Dialog der mathematische Beweis geführt wird, 
kann doch nur als Mittel zum Zweck betrachtet werden, hat 
methodische Bedeutung. Das eigentliche Interesse gilt auch hier 
schon den ethischen Untersuchungen, und wenn Plato am Schluß 
das Problem, τί ἐστιν ἣ ἀρετή; aufwirft, so werden wir ruhig vor- 
aussetzen dürfen, daß ihm eine feste Lösung vorschwebt. So 
gut er im mathematischen Abschnitt αὐτὸ τὸ τετράγωνον voraus- 
setzt, so gut muß ihm auch feststehen, daß αὐτὴ ἣ ἀρετή existiert, 
wenn er auch in dem Abschnitt, wo er zeigt, daß es überall gilt 
τὸ ἐπὶ πᾶσι ταὐτόν, τὸ εἶδος τῆς ἀρετῆς festzustellen, den Aus- 
druck nicht gebraucht. Die „Ideenlehre“ ist im Kern schon für 
den Menon Voraussetzung, und wenn Plato sich hier mit einer 
vorläufigen Orientierung, mit methodischen Darlegungen begnügt 
und dabei dann ein paar aktuelle Fragen miterledigt, so tut er 
das, weil ihm eine ausführliche Behandlung des Hauptproblems in 
anderem Zusammenhange schon vorschwebt. 

Die bringt der Phaidon. 

Auf die engen Beziehungen dieses Dialoges zum Menon weist 
Plato selber hin, wenn Kebes p. 72e sagt: χαὶ κατ᾽ ἐκεῖνόν γε τὸν 
λόγον, ὃν σὺ εἴωθας ϑαμὰ λέγειν, ὅτι ἡμῖν ἣ μάϑησις οὐκ ἄλλο τι ἢ 
ἀνάμνησις τυγχάνει οὖσα, καὶ κατὰ τοῦτον ἀνάγκη που ἡμᾶς ἐν 
προτέρῳ τινὶ χρόνῳ μεμαϑηκέναι ἃ νῦν ἀναμιμνῃσκόμεϑα Ὃ und 
eine direkte Rekapitulation von Menon 81—86 anschließt). 
Wirklich sind es im Grunde dieselben Probleme, die Plato hier 
wie dort beschäftigen, nur daß im Phaidon die Untersuchung 
viel weiter in die Breite und in die Tiefe geführt wird. 

Man hat beim Phaidon gefragt, ob die Unsterblichkeitsfrage 
oder die Ideenlehre das Thema sei. Tatsächlich bedingen sich 
wie beim Menon beide Themata gegenseitig. Daß die Unsterb- 
lichkeitsfrage Selbstzweck ist, das sieht man schon an der Wider- 
legung der Anschauung, daß die Seele nur eine Harmonie des 
Leibes sei (91c—94). Denn hier kommt die Ideenlehre direkt 


1 Vgl. Menon 8146 86a. 
?2) Vgl. bes. in 73a den Hinweis auf die sokratische Fragemethode (Menon 
85cd) und auf die mathematischen Figuren. 


Der Menon und der Phaidon. 313 


gar nicht in Frage‘). Ausdrücklich gibt ja auch Plato die wissen- 
schaftliche Begründung der individuellen Unsterblichkeitshoff- 
nung mehrfach als sein Thema an (63e 69de u. ö), und wenn 
er dabei an den Anfang des eigentlichen Beweisganges den Satz 
stellt (700): σκεψώμεθα .., εἴτ᾽ ἄρα ἐν ” Audov εἰσὶν ai ψυχαὶ τελευ- 
τησάντων τῶν ἀνθρώπων εἴτε καὶ οὔ. παλαιὸς μὲν οὖν ἔστι τις 
λόγος οὗ μεμνήμεθα, ὡς εἰσὶν ἐνθένδε ἀφικόμεναι ἐκεῖ, καὶ πάλιν 
γε δεῦρο ἀφικνοῦνται καὶ γίγνονται ἐκ τῶν τεϑνεώτων᾽ καὶ εἰ τοῦϑ᾽ 
οὕτως ἔχει, πάλιν γίγνεσθαι ἐκ τῶν ἀποθανόντων τοὺς ζῶντας, 
ἄλλο τι ἢ εἶεν ἂν ai ψυχαὶ ἡμῶν ἐκεῖ; so haben wir auch hier 
einen Rückweis auf den Menon. Denn dieser παλαιὸς λὸγος ist 
nichts anderes als die Lehre der Orphiker, von denen es Men. 81b 
hieß: φασὶ γὰρ τὴν ψυχὴν τοῦ ἀνθρώπου εἶναι ἀϑάνατον καὶ τοτὲ 
μὲν τελευτᾶν — ὃ δὴ ἀποϑνήσκειν καλοῦσι --- τοτὲ δὲ πάλιν γί- 
yveodaı. Von den Orphikern sagte Plato hier, daß sie darnach 
streben περὶ ὧν μεταχειρίζονται λόγον οἵοις τ᾽ εἶναι διδόναι. Wenn 
Plato im Phaidon von derselben Lehre ausgeht und mehrfach her- 
vorhebt, er wolle für diese λόγον διδόναι (63e 76b 964 101d), 
so heißt doch das, daß er jene theologische Lehre aufnimmt und 
jetzt genauer wissenschaftlich begründen will — ἀνὴρ ἐπιστάμενος 
περὶ ὧν ἐπίσταται ἔχοι ἂν δοῦναι λόγον (76b, vgl. S. 180). 
Schon im Menon erklärte Plato, daß die Anamnesis selber ein 
Beweis für die Präexistenz der Seele ist (86b), Im Phaidon rekapi- 
tuliert er diesen Beweis 72e 73a und vertieft ihn durch den ge- 
nauen Nachweis, daß die Allgemeinbegriffe nicht aus der sinn- 
lichen Erfahrung geschöpft sein können. Zu diesem Zwecke 
präzisiert Sokrates mit gutem Grunde schon 65dff. scharf den 
Unterschied zwischen rationaler und sensualer Erkenntnis und be- 
zeichnet als das Objekt der rationalen Erkenntnis das Gute, Schöne, 
Gerechte an sich. Jetzt stellt er 75d nochmals fest, daß es sich 


ὅ Der Hauptgrund, den Plato zuletzt gegen die Harmonielehre anführt, 
die Herrschaft der Seele über den Leib, ist geschickt schon vorher dem Leser 
suggeriert (80a). — Die Auffassung der Seele als Harmonie vertritt später ähn- 
lich Aristoxenos. Innerhalb der pythagoreischen Schule gab es also zwei Strö- 
mungen, von denen die eine die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung 
lehrte, eine andere — gewiß die jüngere — sie verwarf. Vgl. m. Komm. zu 
Cicero Tusc. I, 19. — Lehrreich ist, wie Aristoteles im Eudemos die Unsterblich- 
keitsfrage im Anschluß an den Phaidon behandelt und z. B. die Beweise gegen 
die Harmonielehre modernisiert, als Gegner der Ideenlehre aber diese ausschaltet. 


314 Phaidon. 


nicht bloß um die mathematischen Begriffe, sondern um alles 
handelt, was wir αὐτὸ ὃ ἔστι nennen, und folgert: Wenn es eine 
solche Wesenheit des Ansichseienden gibt und wir den Inhalt der 
sinnlichen Wahrnehmungen auf diese beziehen müssen, um ihn 
zu verstehen, wenn also die Begriffe des Gerechten und Guten 
an sich einen apriorischen Besitz der Seele bilden, so ist damit 
die Präexistenz der Seele erwiesen (76d). Und Simmias bestätigt: 
eis καλόν γε καταφεύγει ὃ λόγος eis τὸ ὁμοίως εἶναι τήν TE ψυχὴν 
ἡμῶν πρὶν γενέσϑαι ἡμᾶς καὶ τὴν οὐσίαν ἣν σὺ νῦν λέγεις (77a). 

Aber der Beweis des Menon bedarf nicht bloß der Ver- 
tiefung, sondern der Ergänzung. Dort ‘hatte Plato aus der 
Anamnesis ohne weiteres die Unsterblichkeit der Seele gefolgert 
(86b). Jetzt stellt er fest, daß sie nur die Präexistenz beweist, 
während für die Postexistenz noch besondere Beweise nötig sind 
(77b). Diese Ergänzung bringt zunächst der nach Platos eige- 
nem Zeugnis (70, vgl. S. 313) von der Seelenwanderungslehre 
angeregte Gedanke, daß Leben und Tod (d. h. irdische und 
körperfreie Existenz der Seele) Zustände sind, die wechselweise 
auseinander hervorgehen (70c—72d, 77c). Dazu kommt aber der 
Beweis aus dem immateriellen Wesen der Seele (78bff.) Hier 
deutet.aber Plato selber an, daß er jetzt auf einen Punkt kommt, 
der nicht nur für die Unsterblichkeit der Seele von Wichtigkeit 
ist: αὐτὴ N οὐσία, ἧς λόγον δίδομεν Tod εἶναι καὶ ἐρωτῶντες 
καὶ ἀποκρινόμενοι, πότερον ὡσαύτως ἀεὶ ἔχει κατὰ ταὐτὰ ἢ ἄλλοτ᾽ 
ἄλλως; αὐτὸ τὸ ἴσον, αὐτὸ τὸ καλόν, αὐτὸ ἕκαστον ὃ ἔστιν, τὸ ὄν, μή- 
ποτε μεταβολὴν καὶ ἡντινοῦν ἐνδέχεται; (186). Damit weist er 
doch darauf hin, daß die genauere Bestimmung dieser οὐσία und 
die wissenschaftliche Begründung der Annahme ihrer Realität hier 
zum Selbstzweck wird. ‘Schon vorher hatte er bei der Anamnesis- 
lehre die Existenz dieser Wesenheiten als der Objekte rationaler 
Erkenntnis in Rechnung gestellt. Jetzt präzisiert er noch ein- 
mal die Scheidung zwischen den Objekten der sinnlichen Er- 
kenntnis und den Dingen, die wir nur τῷ τῆς διανοίας λογισμῷ 
erfassen können, und fragt 79a: ϑῶμεν οὖν βούλει δύο εἴδη τῶν 
ὄντων, τὸ μὲν δρατὸν τὸ δὲ ἀιδές; Den beiden Arten der Erkennt- 
nis entsprechen zwei Arten des Seins, die ebenso scharf ge- 
schieden sind. Was wir mit den Sinnen wahrnehmen, sind die 
vielen schönen, gleichen, irgendwie gearteten Einzeldinge, die 
ständiger Veränderung, fortwährendem Wechsel unterworfen sind, 


an 


0 TEN ARE 


Die Unsterblichkeitsbeweise. 315 


die entstehen und vergehen, während das Ansichseiende, αὐτὸ τὸ 
καλόν, das wahre, jedem Wechsel und Vergehen enthobene Sein 
hat, das dei κατὰ ταὐτὰ καὶ ὡσαύτως ἔχει. Zu erfassen vermag 
die Seele dieses nur, wenn sie sich ganz vom Körper und den 
Sinnen losmacht. Daraus müssen wir schließen, daß sie ihrem 
Wesen nach mit diesem verwandt ist, daß sie bei der großen 
Scheidung der ὄντα, die wir zu vollziehen haben, auf die Seite 
der ewigen, sich gleichbleibenden Wesenheiten gehört und im 
Gegensatz zu dem verwesenden vergänglichen Leibe in ihrem 
Bestande durch die Trennung vom Leibe nicht gefährdet werden 
kann (78b — 80 6). 

Zwingend wäre dieser Unsterblichkeitsbeweis freilich nur, 
wenn die Seele selbst zu den ewigen Wesenheiten gehörte. Aber 
natürlich verkennt Plato auch bei seinem Standpunkt nicht, daß 
die Seele, die immer individuell bleibt, auch wenn sie sich mit 
dem vergänglichen Leibe verbindet, von den Ideen, die in der 
Vielheit der Einzeldinge in Erscheinung treten, wesenhaft ver- 
schieden ist. Deshalb kann er nur eine Verwandtschaft der Seele 
mit dem Ansichseienden behaupten, die auf ihrem immateriellen 
Wesen beruht. Dann kann aber die Ewigkeit der Seele darum 
noch nicht als erwiesen gelten, weil das Ansichseiende nur ewig 
gedacht werden kann’). Dessen ist sich Plato voll bewußt. Er 
läßt es sogar durch Kebes direkt aussprechen, und Sokrates prä- 
zisiert diesen Einwand ausdrücklich 95ce dahin, daß die Gottver- 
wandtschaft der Seele zwar ein Überdauern des Leibes, aber 
noch nicht die Ewigkeit verbürge. Aber auch das Ansichseiende 
ist in diesem Abschnitt mehr in seiner postulierten Wesenheit 
geschildert als wirklich als denknotwendig erwiesen. Daß auch 
dies Plato so auffaßt, zeigt der letzte große Abschnitt 95e-- 106, 
der erst die wirkliche wissenschaftliche Begründung der Ideen- 


1) Daß dieser Abschnitt nach Plato keinen zwingenden Unsterblichkeits- 
beweis liefert, hat nach Räder $. 172 u. a. auch Barwick, Comm. Ien. X p. 36 
ausgesprochen. Aber falsch ist es, wenn er meint, Plato habe deshalb Bedenken 
gehegt, weil ihm nicht feststand, daß die niederen Seelenteile beim Tode ver- 
schwinden. Daß von einer Dreiteilung der Seele Plato im Phaidon nichts weiß, 
haben wir schon gesehen (8. 232 —4), und grade auch hier rechnet er nur damit, 
daß die — einheitliche — Seele durch die Verbindung mit dem Körper ihren un- 
materiellen Charakter nicht rein erhalten hat, sondern etwas Körperartiges an- 
genommen hat (806 μηδὲν τοῦ σώματος συνεφέλκουσα, 81h τὸ σωματοειδές, ὃ 
αὐτῇ ἡ ὁμιλία τε καὶ συνουσία τοῦ σώματος . . ἐνεποίησε σύμφυτον 8] 6). 


916 Phaidon. 


lehre bringt und auf sie den eigentlichen Unsterblichkeitsbeweis 
gründet. 

Der Beweis, daß die Seele deshalb unsterblich sein muß, 
weil sie nach ihrem Wesen an der den Tod ausschließenden Idee 
des Lebens Anteil hat, nimmt dabei nur einen kleinen Raum ein 
((024--- 106). Um so wichtiger ist die Fundamentierung der 
Grundanschauung, auf der sich dieser Beweis aufbaut. Οὐ φαῦ- 
λον πρᾶγμα, ἔφη, ὦ Κέβης, ζητεῖς " ὅλως γὰρ δεῖ περὶ γενέσεως 
καὶ φϑορᾶς τὴν αἰτίαν διαπραγματεύσασϑαι (95 extr.). Hier fällt 
ein Wort, das uns wieder aufs stärkste an den Menon erinnert, 
αἰτία. Wir haben schon beim Gorgias (ὃ. 139) gesehen, daß 
Plato den wissenschaftlichen Charakter der Medizin darin sieht, 
daß sie τούτου οὗ Yeganedsı καὶ τὴν φύσιν ἔσκεπται καὶ τὴν Qi- 
τίαν ὧν πράττει, καὶ λόγον ἔχει τούτων ἑκάστου δοῦναι (801 ἃ 
4658), und im Menon erhielten wir den bedeutungsvollen Hin- 
weis, daß die richtigen Vorstellungen zur Wissenschaft nur er- 
hoben werden könnten, wenn man sie αἰτίας λογισμῷ binde, sich 
durch die Wiedererinnerung in den Stand setze, über die Rich- 
tigkeit der Vorstellung Rechenschaft zu geben (98a, vgl. S. 180). 

Dieser Hinweis wird dort freilich so kurz gegeben, daß der 
Leser höchstens eine Ahnung von der Wichtigkeit des Gedankens 
erhält. Die genauere Behandlung hat sich Plato für den Phaidon 
aufgespart. Wie sehr er hier auch äußerlich im Hauptabschnitt 
die Aufmerksamkeit auf den Begriff αἰτία lenken will, das sehen 
wir daran, daß das Wort (nebst Ableitungen) auf p. 96—101 mehr 
als dreißig Mal vorkommt. Und wenn er gleich zu Anfang aus- 
drücklich erklärt, daß es sich hier um nichts Geringeres handelt, 
als um die αἰτία von Werden und Vergehen, um das Begreifen 
alles Geschehens, so sagt er damit, daß er hier die Grundlage seiner 
ganzen Weltanschauung vorträgt, und daß er zeigen will, warum 
er für diese wissenschaftlichen Charakter in Anspruch nimmt. 

Daher beginnt er hier mit einer Polemik gegen die Männer, 
die bisher darauf Anspruch machten, eine wissenschaftliche Welt- 
anschauung zu vermitteln. Es sind die Naturphilosophen, die Ver- 
treter ταύτης τῆς σοφίας ἣν δὴ καλοῦσι περὶ φύσεως ἱστορίαν (96a). 
Sie haben es sehr wohl als Erfordernis der Wissenschaft empfunden, 
die Ursache des Geschehens aufzuzeigen, aber ihre Lösungsversuche 
befriedigen nicht. Denn die materialistische Erklärung, auf die sie 
sich beschränken — das gilt selbst für Anaxagoras — versagt gerade 


Die Darlegung der neuen Weltanschauung 95e — 106. 317 


da, wo die wahren Schwierigkeiten beginnen, vermag z. B. nicht 
darüber Aufklärung zu geben, wie dasselbe sinnliche Maß, der 
Kopf, den Anlaß zu entgegengesetzten Urteilen gibt, sofern Sokrates 
τῇ κεφαλῇ bald kleiner, bald größer als ein anderer genannt wird, 
noch auch darüber, wie die entgegengesetzten sinnlichen Vorgänge, 
Zusammensetzung und Spaltung, zu einem Ergebnis führen, das 
wir beide Male in gleicher Weise als Zweiheit bezeichnen. Noch 
wichtiger ist aber, daß die mechanischen Vorgänge, auf die die 
Naturphilosophie verweist, uns höchstens bis zur Erkenntnis der 
zur Verwirklichung notwendigen Vorbedingungen (ὧν οὐκ ἄνευ), 
nicht aber bis zur Erkenntnis der wahren Ursache, des αἴτιον selber, 
führen‘. Wenn Sokrates im Gefängnis verbleibt, so ist das Zu- 
sammenhalten der Knochen und die für das Sitzen notwendige Lage 
der Glieder ein ὧν οὐκ ἄνευ, die wahre Ursache des Bleibens ist, 
daß dieses einem bestimmten Zwecke, der in diesem Falle durch 
Sokrates’ Entschluß gegeben ist, dient. So kann auch sonst bei jedem 
Vorgange die wahre Ursache nur die sein, daß dieser einem bestimm- 
ten Zwecke dient, daß es gut ist, wenn er sich so vollzieht (—99e). 

Wenn wir fragen, warum alle von der Naturphilosophie ver- 
suchten materialistischen Erklärungen nicht zum Ziele führen, so 
muß die Antwort lauten, daß diese von der sinnlichen Wahrneh- 
mung und den durch diese gegebenen ewig wechselnden Objekten 
ausging, über die es kein Wissen gibt, und in ihnen befangen blieb. 

!, Die Unterscheidung der eigentlichen und der sekundären Ursache hat 
Plato wohl wie die von τέχνη und τριβή von den Medizinern. Vgl. z. φυσῶν 15: 
φαίνονται οὖν αἱ φῦσαι διὰ πάντων τῶν νοσημάτων μάλιστα πολυπραγμονοῦσανι, 
τὰ δ᾽ ἄλλα πάντα συναίτια καὶ μεταίτια, τὸ δὲ αἴτιον τῶν νούσων ἐὸν τοῦτο 
ἐπιδέδεικταί μοι. (Über die Verwandtschaft von ὧν oöx ἄνευ und συναέτιον 
vgl. Arist. Met. A 1015a 20.) Daß die Wissenschaft das αἴτιον aufzudecken hat, 
hebt x. φυσῶν fortwährend hervor. Interessant ist, daß Plato nach der Schei- 
dung von αἴτιον und ὧν oöx ἄνευ 99} einen Naturphilosophen erwähnt, der der 
Erde ὥσπερ καρδόπῳ πλατείᾳ βάϑορον τὸν ἀέρα ὑπερείδει, und π. φυσῶν ὃ ἴῃ dem 
durch Diogenes von Apollonia hervorgerufenen Enkomion auf die Luft es von 
dieser heißt: καὶ μὴν ἥ τε γῆ τούτου βάϑρον οὗτός τε τῆς γῆς ὄχημα. (Vgl. 
auch 51C2 Diels) Auch wenn Plato 96a sagt: πότερον τὸ αἷμά ἐστιν ᾧ φρο- 
νοῦμεν ἢ ὃ ἀὴρ ἢ τὸ πῦρ; ἢ τούτων μὲν οὐδέν, ὁ δ᾽ ἐγκέφαλός ἐστιν ὁ τὰς 
αἰσϑήσεις παρέχων τοῦ ἀκούειν καὶ ὁρᾶν καὶ ὀσφραίνεσθαι κτλ., weist das auf 
dieselbe Sphäre. Vgl. de morbo sacro 14 τούτῳ (sc. τῷ ἐγκεφάλῳ) φρονέομεν καὶ 
βλέπομεν nal ἀκούομεν, der Arzt aber lehnt sich bekanntlich wieder an Diogenes an, 
vgl. 51 A 19 Diels. (Freilich kommt hier auch Alkmaion in Frage, 14 A 11 Diels.) 


Diogenes’ Einfluß ist auch in x. ἀέρων ὑδάτων τόπων, aber auch sonst bei den Medi- 
zinern stark zu spüren. 


ΘΙ ἢ Phaidon. 


So hat Plato den δεύτερος πλοῦς unternommen, hat versucht, die 
auf die Sinneswahrnehmung gegründeten Vorstellungen dadurch 
wissenschaftlich verwertbar zu machen, daß er sie auf die rationale 
Erkenntnis bezog, und mit deren Hilfe sie zu begreifen suchte. 
Wir reden soviel von dem Schönen, Guten, Gleichen '), obwohl wir 
dieses, wie p. 78.9 nachgewiesen, nicht mit den Sinnen, sondern 
nur mit der Vernunft erfassen. Sollen wir nun nicht annehmen, 
daß die Objekte dieses unseres Denkens eben so viel Sein enthalten 
als die unserer sinnlichen Wahrnehmung? Ja, sollen wir nicht noch 
weitergehen? Während die Dinge, die wir mit den Sinnen wahr- 
nehmen, stets der Veränderung unterliegen, nie ein wirkliches Sein 
enthalten können, vermögen wir das an sich Gute und Schöne nur 
unveränderlich, unvergänglich, ewig zu denken. Müssen wir also 
nicht gerade diesen Objekten unseres Denkens das wahre Sein zu- 
schreiben, das wir in der Sinnenwelt als Halt für unser Erkennen 
schmerzlich vermissen? Jedenfalls wie in der Mathematik nur die 
Voraussetzung einer Linie, deren Punkte alle von einem Punkte 
innerhalb gleich weit entfernt sind, uns die Erscheinungen, die 
wir an den einzelnen gezeichneten Kreisen wahrnehmen, begreif- 
lich macht, so kann auch nur die Existenz eines Ansichgleichen uns 
ein Recht geben, von zwei sinnlichen Dingen Gleichheit auszusagen. 

Das sind die Gedankengänge gewesen, die Plato zu der An- 
nahme geführt haben, daß es wirklich eine ewig sich gleich bleibende 
Wesenheit des Ansichschönen, Ansichguten usw. gebe. Darüber 
ist er sich dabei wie im Menon vollkommen klar, daß diese An- 
nahme eine Hypothesis ist, die sich direkt nicht beweisen läßt. 
Aber nicht umsonst hatte er auch im Menon schon auf die Be- 
deutung der Hypothesis für die mathematische Wissenschaft hin- 
gewiesen (87e). Die Lehre vom Ansichseienden ist nur eine Hypo- 
thesis, aber sie ist es allein, die den αἰτίας λογισμός vermittelt und 
damit eine wissenschaftliche Weltanschauung ermöglicht®). Denn 


1ὴ Wenn Plato 76d sagt: εἰ μὲν ἔστιν ἃ ϑρυλοῦμεν ἀεί, καλόν τέ τι καὶ 
ἀγαϑὸν καὶ πᾶσα ἡ τοιαύτη οὐσία, so brauchte das an sich weiter gar nichts zu 
heißen, als daß wir in der gewöhnlichen Rede diese Begriffe fortwährend verwenden. 
Aus 100b geht aber freilich hervor, daß er die häufige Anwendung dieser Begriffe 
in seinen Untersuchungen meint. Daraus ist aber nicht etwa zu schließen, daß der 
Phaidon in eine Zeit fällt, wo die Ideenlehre schon seit langer Zeit ausgebildet war. 
Gerade in den ersten Jahren mußte das fortwährende Zurückgreifen auf diese Begriffe 
viel mehr auffallen. Vgl. von der Anamnesis ὅν (λόγον) σὺ εἴωϑας ϑαμὰ λέγειν T2e. 
?) Auch der Begriff ὑπόϑεσις als der wissenschaftlichen Arbeitshypothese 


Die Ideenlehre. 319 


mit ihrer Hilfe vermag man die Schwierigkeiten zu lösen, an denen 
die jonischen Philosophen vorbeigingen, kann man sich sagen, daß 
es die ewig sich gleich bleibende Größe ist, die uns ein Recht gibt, 
im Einzelfalle den früher kleinen Menschen groß zu nennen, daß 
die Zweiheit der Grund ist, daß aus den verschiedensten sinnlichen 
Vorgängen etwas entsteht, das wir mit dem Prädikat Zwei belegen. 
(—101 extr.) Die Annahme eines Ansichseienden ist die einzige, 
die uns das Entstehen und Vergehen begrifflich macht. Darin liegt 
ein indirekter Beweis für die Hypothesis, und ihre innere Berech- 
tigung ist damit wissenschaftlich erwiesen. Und so kann Plato 
erklären, an dieser Hypothesis unbedingt festhalten zu wollen, so 
lange sie nicht mit zwingenden Gründen erschüttert wird (100d). 

Wie das Verhältnis des einzelnen ziemlich wahrnehmbaren 
Großen zur absoluten Größe zu denken ist, wie es durch diese 
bedingt ist, das läßt Plato dahingestellt sein. Er ist sich der Grenzen 
seiner Erkenntnis durchaus bewußt, und will sich ruhig gefallen 
lassen, daß man seine Erkenntnis als εὔηϑες, als Binsenwahrheit 
verspottet. Aber das steht ihm fest, daß nur auf dieser Grundlage 
wir Rechenschaft über unsere Aussagen zu geben vermögen '), daß 
sich überhaupt nur bei seiner Hypothesis wissenschaftlich arbeiten 
läßt. Und daß man doch ein gut Stück weiterkommen kann, wenn 
man die Beziehungen zwischen den Objekten der rationalen Er- 
kenntnis verfolgt, das zeigt er hier an dem Beispiel des Unsterb- 
lichkeitsbeweises (102d—106). Wir sollen aber auch natürlich an 
den Menon denken. Dort haben wir gesehen, wie man von den 
einfachsten mathematischen Begriffen zu weiteren Folgerungen 
gelangen kann, die schließlich zum Aufbau einer ganzen Wissen- 
schaft führen (85c). Das gleiche muß auf allen Gebieten gelten. 
So lange man an den Objekten der sinnlichen Wahrnehmung haftet, 


ist wie den Mathematikern so den Medizinern geläufig. In de prisca med. 1. 2 
ist es Kennzeichen der spekulativen Medizin, daß sie nicht von der Empirie, sondern 
von einer Hypothesis ausgehen, obwohl eine solche nur bei den ἀφανέα, z. B. in 
der Astronomie nötig ist. Vgl. π. φυσῶν 15. 

ἢ τοῦτο δὲ ἁπλῶς καὶ ἀτέχνως καὶ ἴσως εὐήϑως ἔχω παρ᾽ ἐμαυτῷ, ὅτι οὐκ 
ἄλλο τι ποιεῖ αὐτὸ καλὸν ἢ ἣ ἐκείνου τοῦ καλοῦ εἴτε παρουσία εἴτε κοινωνία 
εἴτε ὅπῃ δὴ καὶ ὅπως προσ(αγορευομένη χαίρει παρα)γενομένη" οὐ γὰρ ἔτι τοῦτο 
διισχυρίξομαι. (Über den Text 5. 127°.) Eine starke Verkennung des Zusammen- 
hanges ist, wenn man im letzten Satze οὐ γὰρ ἔτι zeitlich statt logisch faßt und 
große Schlüsse darauf aufbaut. Der Sinn ist doch: „so weit gehe ich nicht, 
daß..“ Vgl. z.B. Xen. I, 5, 8; Epiktet I, 9,7. 


320 Phaidon. 


erreicht man nichts Festes, weil man über den Fluß der Dinge 
nicht hinaus kommt (Ph. 78e); Wissenschaft gibt es nur, wo man 
die Objekte unserer apriorischen Erkenntnis zugrunde legt. 

Ich fasse zusammen, was sich auf Grund des Menon und Phaidon 
über die Motive sagen läßt, die Plato zu der Ideenlehre geführt 
haben, über die Bedeutung und den Sinn, den diese im Anfangs- 
stadium für ihn gehabt hat. 

Plato will mit seiner Ideenlehre nicht etwa in Wett- 
bewerb mit den jonischen Naturphilosophen treten, die 
eine Ableitung der einzelnen sinnlichen Vorgänge aus- 
einander versuchen und zeigen wollen, wie und aus 
welchen Prinzipien die sinnliche Welt entstanden ist'). 
Für ihn stellt sich das Problem ganz anders. Er will 
zunächst erst einmal die Aussagen, die wir über die sinn- 
liche Welt fortwährend machen, wissenschaftlich be- 
greifen, feststellen, was für sie den objektiven Halt bietet. 
Er sucht im Gegensatz zu den ewig wechselnden, dem 
Wissen entzogenen Erscheinungen nach dem, was dauernd 
sich gleich bleibt und darum Gegenstand wissenschaft- 
licher Erkenntnis sein kann, Mit anderen Worten, wenn 
er eine Zeitlang an der Möglichkeit, Wissenschaft zu 
treiben und zu lehren und durch sie zu wirken, irre ge- 
worden war, so soll ihm die neue Theorie diese Möglich- 
keit sichern. 

Den Weg zu dem Ziele zeigt ihm die Mathematik. 
Ihr anerkannt wissenschaftlicher Charakter, ihre 
Exaktheit beruht darauf, daß sie nicht mitdem sinn- 
lich gegebenen Materialarbeitet, sondern von diesem 
abstrahiert und den im .Denken gegebenen Begriff 
der mathematischen Figuren zu Grunde legt. Indem 
sie diese unveränderlichen Figuren als objektiv ge- 
geben voraussetzt, ist sieimstande, ein wissenschaft- 
liches System zu errichten, dessen Konsequenzen 
sich niemand entziehen kann. Sie bautsich aufeiner 
Hypothesis auf, aber diese erweist sich als brauch- 
bar, da sie allein auch den Aussagen über die sinn- 
lichen Figuren einen logischen Halt gibt. 


1) Immerhin deutet er 108 extr. an, daß er eine bestimmte Stellung zu den 
einzelnen naturphilosophbischen Theorien einnimmt. 


ΕΞ 3 


— 


N μενιρηθμαραρσεν. τα σρνερνβρ αν κυ Ἐτο τσπεῖς 


Die Ideenlehre. 321 


“πὶ 


Dasselbe muß aber auch von den anderen Gebieten 
gelten, auch von der Plato besonders am Herzen liegen- 
den Welt des Ethischen. Eine Wissenschaft läßt sich 
auch da nur aufbauen, wenn man wie der Mathematiker 
von den einzelnen Erscheinungen abstrahiert und den 
Inhalt des in unserer Vernunft vorhandenen Allgemein- 
begriffes als objektiv gegeben, als real und wahrhaft 
seiend voraussetzt — dvev γὰρ τοῦ καϑόλου οὐκ ἔστιν 
ἐπιστήμην λαβεῖν sagt Aristoteles ganz in Platos Sinne 
Met. 1086b5 — und daraus die Folgerungen zieht. Das 
ist zunächst nur eine Arbeitshypothese, aber wissen- 
schaftlichen Charakter kann man für sie in Anspruch 
nehmen, weil für sie nicht bloß positive Gründe sprechen, 
insbesondere die Verschiedenheit der rationalen und 
sinnlichen Erkenntnis, sondern sie die einzige ist, die 
unsern Aussagen über die Erscheinungswelt einen 
objektiven Halt gibt und überhaupt ein exaktes Arbeiten 
ermöglicht. 

Dagegen darf man von dieser Hypothese nicht etwa 
eine genaue Erklärung darüber verlangen, wie sich die 
einzelne sinnliche Erscheinung zur Idee verhält. Auch 
die Mathematik will ja nicht etwa die einzelnen gezeich- 
neten Quadrate aus den (Juadraten an sich ableiten, und 
Plato denkt nicht etwa daran, seine neue Anschauung 
durch gewagte Hülfshypothesen zu belasten. 

Die innere Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese, die den 
Gegenständen unserer rationalen Erkenntnis objektive Realität 
zuspricht, wird nun aber dadurch für Plato erhöht, daß sie sich 
mit einer anderen Hypothese, der Annahme einer außerleiblichen 
Existenz der Seele, aufs beste verträgt und gegenseitig stützt. In 
neuerer Zeit hat man ja freilich mehrfach die enge Verbindung 
beider Hypothesen zu lockern versucht. So gibt Ritter, Platon 
S. 585 zwar zu, daß Plato „durch seine ganze Betrachtungsweise 
und namentlich die Richtung seiner Beweisführung im Phaidon 
die Annahme der persönlichen Unsterblichkeit uns recht nahe legt“, 
sucht aber den Gedanken, daß die präexistente Seele die Ideen 
geschaut habe, möglichst seiner Bedeutung zu entkleiden. (Vgl. 
Neue Unters. über Platon S. 280.) Aber das ist unzulässig. Gewiß 
ist die persönliche Unsterblichkeit für Plato nur eine Hypothesis, 


Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 21 


322 Phaidon. 


aber sie ist es nicht mehr als die „Ideenlehre“. Fig καλόν γε κατα- 
φεύγει ὃ λόγος eig τὸ ὁμοίως εἶναι τήν TE ψυχὴν ἡμῶν πρὶν γενέσϑαι 
ἡμᾶς καὶ τὴν οὐσίαν ἣν σὺ νῦν λέγεις (Sc. αὐτὸ τὸ καλόν usw. — 
so lesen wir 77a, und 916 fragt Sokrates: τί οὖν περὶ ἐκείνου τοῦ 
λόγου λέγετε ἐν ᾧ ἔφαμεν τὴν μάϑησιν ἀνάμνησιν εἶναι καὶ τούτου 
οὕτως ἔχοντος ἀναγκαίως ἔχειν ἄλλοϑι πρότερον ἡμῶν εἶναι τὴν 
ψυχήν, πρὶν ἐν τῷ σώματι ἐνδεϑῆναι; Kebes antwortet: ᾿γὼ μὲν 
χαὶ τότε ϑαυμαστῶς ὡς ἐπείσθην ὑπ᾽ αὐτοῦ καὶ νῦν ἐμμένω ὡς 
οὐδενὶ λόγῳ und Simmias bestätigt: zai μὴν καὶ αὐτὸς οὕτως ἔχω 
χαὶ πάνυ ἂν ϑαυμάζοιμι εἴ μοι περί γε τούτου ἄλλο ποτέ τι δόξειεν. 
Schreibt denn Plato solche Stellen rein zum Spaß? Schärfer kann 
er es doch nicht ausdrücken, daß die persönliche Unsterblichkeit 
für ihn ebenso gut wissenschaftliche Überzeugung ist wie die Ideen- 
lehre selber. Beide stützen sich gegenseitig. An beide will er 
glauben, solange nicht die Hypothesis selber als unhaltbar er- 
wiesen ist. 

Wenn Ritter sich der Anerkennung dieser Tatsache entziehen 
möchte, so ist das durch die Besorgnis zu erklären, die Anerkennung 
der Präexistenz der Seele könne zu der Annahme zwingen, Plato 
habe sich hier die Ideen nach Analogie der Sinnendinge gedacht. 
Ich glaube mit Ritter, daß man zu dieser Annahme nicht das Recht 
hat. Das Ansichseiende ist für Plato nur das, was unserem All- 
gemeinbegriff objektiv entspricht, dessen objektives Vorhandensein 
uns allein das Recht gibt, von schön, gut, gleich im Einzelfalle 
zu reden. Eine genauere Bestimmung, die es in Analogie zur 
sinnlichen Erscheinung setzen würde, gibt Plato hier nicht und 
kann er nicht geben. Aber wenn daraufhin Ritter den Gedanken, 
daß die präexistente Seele Kenntnis von den Ideen hat, als höchst 
bedenkliche Phantasterei ansieht, dann muß das gleiche auch von 
dem Abschnitt 82d ff. gelten. Mit guter Absicht schildert Plato 
dort, wie die Philosophie schon auf Erden die Seele möglichst von 
den körperlichen Einflüssen freimacht und sie mit Mißtrauen gegen 
den Trug der sinnlichen Wahrnehmung erfüllt, πείϑουσα ἐκ τούτων 
μὲν ἀναχωρεῖν, ὅσον μὴ ἀνάγκη αὐτοῖς χρῆσϑαι, αὐτὴν δὲ εἰς αὑτὴν 
συλλέγεσϑαι καὶ ἁϑροίζεσϑαι παρακελευομένη, πιστεύειν δὲ μηδενὶ 
ἄλλῳ ἀλλ᾽ ἣ αὐτὴν αὑτῇ, ὅτι ἂν νοήσῃ αὐτὴ nad” αὑτὴν αὐτὸ καϑ' 
αὑτὸ τῶν ὄντων (83a). Diese Schilderung soll uns doch gewiß einen 
Schluß auf die intellektuelle Tätigkeit der präexistenten Seele nahe- 
legen, und wenn an unserer Stelle uns nichts dazu zwingt, die 


Der Unsterblichkeitsglaube. 323 


Ideen als Analoga der Sinnendinge aufzufassen, so ist nicht ab- 
zusehen, was daran durch die Annahme der Präexistenz für Plato 
geändert werden sollte. Wir haben vorhin gesehen (S. 315), daß 
die Seele wohl verwandt mit den immateriellen Ideen ist, aber 
keineswegs zu ihnen gehört. Wenn wir also genötigt sind, ihr 
eine individuelle Existenz getrennt von aller Leiblichkeit zuzu- 
schreiben, so zwingt das noch keineswegs dazu, den objektiven 
Inhalt unserer Allgemeinbegriffe als ein Sonderding neben den 
sinnlichen Einzeldingen vorzustellen. Festzuhalten ist vor allem 
immer, daß Plato selber uns diese Frage abschneidet. Nur an dem 
einen liegt ihm, an der Erkenntnis, daß unseren Allgemeinbegriffen 
objektiv etwas entsprechen muß, wenn wir (Jualität, Wechsel, Ver- 
änderung der sinnlichen Erscheinungen wissenschaftlich begreifen 
wollen. 

Die Annahme der persönlichen Unsterblichkeit hat für Plato 
aber natürlich nicht bloß theoretisches Interesse. “ζγμῖν δὴ τοῖς 
δικασταῖς βούλομαι ἤδη τὸν λόγον ἀποδοῦναι, ὥς μοι φαίνεται εἰκότως 
ἀνὴρ τῷ ὄντι ἐν φιλοσοφίᾳ διατρίψας τὸν βίον ϑαρρεῖν μέλλων 
ἀποϑανεῖσϑαι καὶ εὔελπις εἶναι ἐκεῖ μέγιστα οἴσεσθαι ἀγαϑὰ, ἐπειδὰν 
τελευτήσῃ sagt er im Beginn des eigentlichen Gesprächs 63 extr. 
Und daß er damit ausdrücklich dem Leser sagen will, unter welchem 
Gesichtspunkt er das Thema behandelt, das zeigt er dadurch, daß 
er nicht bloß dieselben Wendungen gebraucht, um den Schluß des 
ersten Teiles zu markieren (69d), sondern ausdrücklich auch vor 
dem letzten Unsterblichkeitsbeweis noch einmal diese Jenseits- 
hoffnung als den eigentlichen Zielpunkt (κεφάλαιον) der Unter- 
suchung mit denselben Worten bezeichnet (95b). Nur unter diesem 
Gesichtspunkt ist dort auch schon der Abschnitt 80—84b voll zu 
verstehen, wo Plato das Schicksal der Seelen nach dem Tode 
schildert. Eine noch deutlichere Sprache redet natürlich der Mythos, 
durch den er den Vergeltungsgedanken des Gorgias in Verbindung 
mit der Seelenwanderung bringt. Hier ist sich Plato natürlich genau 
bewußt, daß er die Grenzen überschreitet, die den Glauben von 
der Wissenschaft trennen. Aber nachdem er 114c das selige Los 
der philosophischen Seele in bewußter Erinnerung an das 63 extr. 
aufgestellte Thema geschildert hat, fährt er 114d fort: Τὸ μὲν οὖν 
ταῦτα διισχυρίσασϑαι οὕτως ἔχειν ὡς ἐγὼ διελήλυϑα, οὐ πρέπει νοῦν 
ἔχοντι ἀνδρί" ὅτι μέντοι ἢ ταῦτ᾽ ἐστιν ἢ τοιαῦτ᾽ ἄττα περὶ τὰς ψυχὰς 
ἡμῶν καὶ τὰς οἰκήσεις, ἐπείπερ ἀϑανατόν γε ἣ ψυχὴ φαίνεται οὖσα, 

21* 


524. Phaidon. 


τοῦτο καὶ πρέπειν μοι δοχεῖ καὶ ἄξιον κινδυνεῦσαι οἰομένῳ οὕτως 
ἔχειν. Man mag persönlich zur Unsterblichkeitsfrage und zum 
Vergeltungsglauben stehen wie man will, das kann Plato wohl 
verlangen, daß man an diesen Worten nicht herumdeutet und sie 
abzuschwächen versucht, statt sie so hinzunehmen, wie sie gemeint 
sind, als ein Glaubensbekenntnis, das abzulegen ihm innerstes Be- | 
dürfnis und heiligste Pflicht ist. 


Phaidon und Menon erweisen sich als eng zusammengehörig, 
da sie dieselben Probleme, Unsterblichkeit, Anamnesislehre, Ideen- 
lehre in gleicher Verbindung und im ganzen vom gleichen Standpunkt 
aus behandeln. Für den zeitlichen Zusammenhang beider spricht 
aber vielleicht noch deutlicher der Umstand, daß auch Einzel- 
fragen, die zum Hauptthema nur in loser Beziehung stehen, in 
beiden Dialogen berührt und in gleichem Sinne behandelt werden. 
Hier wie dort protestiert Platon, ehe er an die positive Dar- 
legung der eignen Anschauung geht, gegen die Eristiker, die sich 
wunder wie klug vorkommen, wenn sie schließlich die Unmög- 
lichkeit fester Erkenntnis erwiesen zu haben glauben, und mahnt 
sich durch solche Bedenken den Mut zum Forschen nicht rauben 
zu lassen (Men. 806, Phaidon 9006). Wichtiger aber ist, was über 
die Tugend gesagt wird. Im Menon wirkt auf den, der von den 
sokratischen Anschauungen herkommt, kaum etwas überraschen- 
der als die Darlegung p. 88, wo als selbstverständlich angenom- 
men wird, daß es eine doppelte Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, 
Tapferkeit gibt, eine die unter Leitung der φρόνησις steht 
und stets zur Glückseligkeit beiträgt, und eine andre die 
ἄνευ νοῦ funktioniert und bald nützlich, bald schädlich ist (vgl. 
S. 175). Eine gewisse Klarheit schafft ja dann der letzte Ab- 
schnitt, wo die doppelte Grundlage der Tugend, das Wissen und 
die richtige Vorstellung, geschieden wird. Aber eine erschöpfende 
Behandlung des Themas haben wir auch dort nicht. Die gibt 
erst der Phaidon. Hier zeigt Plato p. 68, daß die Tugend der 
Philosophen von der vulgären nach Motiven und Inhalt ganz ver- 
schieden ist. Die vulgäre schildert er uns dann mit einer Herb- 
heit, die uns zeigt, wie scharf er jetzt über seine eigenen Aus- 
führungen im Protagoras denkt, wo er ἡδύ und ἀγαϑόν hatte ver- 
einigen wollen. Denn wenn er 68e als den Inhalt der vulgären 
σωφροσύνη bezeichnet, daß die Menschen gegen die Lüste nur 


Die niedere Tugend im Menon und Phaidon. 335 


kämpfen, weil sie Schmerz fürchten oder größere Lust hoffen, 
und wenn er solch Verhalten ein Wechelgeschäft nennt, das kei- 
nen wahren sittlichen Wert hat‘), so ist damit nicht anderes als 
die μετρητική des Protagoras gemeint, die dort zwar auch schon 
für das Verhalten der πολλοί bezeichnend war, aber doch zum 
Ausgangspunkt für die wahre ethische Theorie genommen wurde’). 
Das wird jetzt durchaus abgelehnt, und wenn auch diese „Tu- 
gend“ immer noch eine gewisse Anerkennung erfährt, so wird 
doch mit aller Bestimmtheit der scharfe Gegensatz zu der wahren 
Tugend aufgestellt. An Menon 88 erinnert es, wenn als charak- 
teristisch für diese 69b bezeichnet wird, daß sie μετὰ φρονήσεως 
ist. Aber erst jetzt erfahren wir, worauf diese φρόνησις sich 
gründet: auf die philosophische Grundanschauung, die sich auf 
die Seele schon hier im Leben zurückzieht und den Leib und die 
äußeren Dinge auf ihren Unwert zu prüfen gelernt hat (69). 
Worin aber dieses Wissen besteht, das der wahren Tugend zu 
Grunde liegt, das haben wir unmittelbar vorher (p. 65) gehört, 
wo die rationale Erkenntnis in Gegensatz zur sinnlichen gestellt 
und als ihr Objekt das Ansichseiende aufgezeigt ist, und nach- 
her wird noch einmal ausdrücklich versichert, daß grade diese 
Beschäftigung der Vernunft mit ihren ewigen Objekten φρόνησις 
heißt (79d). Damit verstehen wir erst vollständig auch den 
letzten Abschnitt des Menon. Dort hatte Plato nur die auf der 
ἀληϑὴς δόξα beruhende praktische Tugend behandelt, das Wesen 
der auf dem Wissen beruhenden Tugend dagegen hatte er noch 
nicht darstellen können und deshalb die Frage τί ποτ᾽ ἐστὶν A 
ἀρετή; offen gelassen. Wir sehen jetzt, warum: Die Beantwortung 
der Frage war eben nicht möglich ohne die weitläufige Unter- 
suchung über das Wesen der Seele, die sich im Rahmen des 
Menon nicht erledigen ließ. Plato hat es auch im Phaidon nicht 
versäumt, ausdrücklich auch an diesen Teil des Menon anzu- 
knüpfen. Wenn wir 82a lesen: οἱ τὴν δημοτικὴν καὶ πολιτικὴν 

ἢ μὴ γὰρ οὐχ αὕτη ἢ ὀρϑὴ πρὸς ἀρετὴν ἀλλαγή, ἡδονὰς πρὸς ἡδονὰς καὶ 
λύπας πρὸς λύπας καὶ φόβον πρὸς φόβον καταλλάττεσθαι, μείζω πρὸς ἐλάττω 
ὥσπερ νομίσματα 69a. Wenn nachher gesagt wird, solche ἀρετή sei τῷ ὄντι 
ἀνδραποδώδης, So gibt das den Vorwurf von Männern wie Kallikles zurück, wo- 
nach die Philosophie nichts für freie Männer sei. 

2) Zu 68e 69a vgl. bes. Prot. 354ce. Gleich darauf 69c erinnert Plato an 


den Mythos des Gorgias. Auf diesen Dialog (p. 496) verweist Sokrates auch, wenn er 
60b hervorhebt, ἡδύ und λυπηρόν träten im Körper meist zusammen auf. 


526 Phaidros. 


ἀρετὴν ἐπιτετηδευκότες, ἣν δὴ καλοῦσι σωφροσύνην TE καὶ δικαιο- 
σύνην, ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης γεγονυῖαν ἄνευ φιλοσοφίας τε καὶ 
vod, so erinnert der Ausdruck πολιτικὴ ἀρετή und die Gleich- 
setzung mit σωφροσύνη und δικαιοσύνη uns an den Protagoras 
(vgl. S. 80.1), der ganze Gedanke aber weist auf die πολιτικοί 
des Menon zurück, und es ist natürlich nicht unabsichtlich, daß 
Plato deren Tugend nicht mehr durch die ϑεία μοῖρα, sondern auf 
erheblich natürlichere Weise erklärt. Er kommt jetzt im Grunde 
auf den Gegensatz von Wissenschaft und Empirie zurück, von 
dem er im Gorgias ausgegangen war. 

Der Phaidon kann nicht lange nach dem Menon entstanden 
sein. Seine Abfassung mag in die Zeit der sizilischen Reise oder 
unmittelbar danach fallen. Dafür würde dann auch die Er- 
wähnung der sizilischen Lavaströme 111e sprechen, die aber na- 
türlich an sich keine festen chronologischen Schlüsse erlaubt. 


XIH. Phaidros. 


Auf die wonnige Frühlingsszene, in die uns das Gespräch des 
Sokrates mit dem χαλὸς παῖς versetzt, fällt ein Rauhreif durch 
die frostige Rede des Lysias. Fast noch abstoßender als die un- 
verhüllte Sinnlichkeit, die trotz des gelegentlichen Geredes von 
Freundschaft im Eros im Grunde doch nur das Streben nach der 
Befriedigung der tierischen Triebe sieht, wirkt die Nüchternheit 
des Verstandes, mit der sie sich bei dem Sprecher paart. Da 
führt uns Sokrates’ Parallelrede gleich in eine andere Sphäre der 
Betrachtung. Hier ist der Eros von vornherein die Leidenschaft, 
die den ganzen Menschen beherrscht und den nüchternen Ver- 
stand nicht aufkommen läßt. Aber die ursprüngliche Stimmung 
kann natürlich auch bei dieser Behandlung des Themas os μὴ 
ἐρῶντι πρὸ τοῦ ἐρῶντος δεῖ χαρίζεσθαι, nicht aufkommen. 

Die Rede beginnt mit der methodischen Vorbemerkung, man 
müsse bei jeder Überlegung vor allem das Wesen des Dinges 
sich klarmachen, das den Gegenstand der Überlegung bildet, und 
bestimmt deshalb dann sofort das Wesen des Eros. Zwei Treib- 
federn sind es, die unser Handeln bestimmen, die eine ist die 
in uns wurzelnde Begierde nach Lust, die andere das später von 


Die erste Rede des Sokrates 237b—241c. 3937 


uns angeeignete Streben nach dem Guten (237d). Dieses führt 
zur σωφροσύνη, die Herrschaft der Begierde zur Hybris. Diese 
Hybris hat verschiedene Arten; die unvernünftige Begierde, die 
sich auf den Genuß des schönen Leibes richtet, ist der Eros 
(238c). Es fragt sich nun, welcher Nutzen oder Schade dem 
χαριζόμενος erwächst (238d). Der Liebhaber denkt nur an die 
eigene Lust, und um sie zu befriedigen, sucht er den Geliebten 
abhängig und schwach zu erhalten, sieht also bei diesem nicht 
auf das Gute, sondern schädigt ihn geistig (— 239b), körperlich 
(— 239d) und in den äußeren Dingen (— 240a). Dabei gewährt 
er dem Geliebten nicht einmal Lust, wird ihm im Gegenteil 
widerwärtig (--- 2406), καὶ ἐρῶν μὲν βλαβερός τε καὶ ἀηδής, λή- 
ξας δὲ τοῦ ἔρωτος εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον ἄπιστος. Denn da ist 
er ein anderer geworden. Statt der μανία des Eros herrscht jetzt 
der νοῦς und die σωφροσύνη, und er flieht jetzt die Gemeinschaft, 
die er früher gesucht (— 241 ο). 

Man hat als Parallele zu unserer Rede Xenophons Enkomion 
auf den psychischen Eros (Symp. 8) mit seiner Verwerfung der sinn- 
lichen Leidenschaft herangezogen. Aber die Berührungen, die 
sich tatsächlich finden, sind mindestens zum Teil wohl durch die 
Benutzung Platos bei Xenophon zu erklären. Für das Verständ- 
nis der Phaidrosrede ist es jedenfalls viel wichtiger, an eine Schrift 
Platos zu denken, an den Gorgias'). Denn es kann doch kein 
Zufall sein, daß Plato wie dort von ἣδύ und ἀγαϑόν als den 
beiden Zielpunkten menschlichen Strebens ausgeht und auf diesen 
beiden Begriffen auch die Disposition des Ganzen aufbaut‘). Wenn 
der Liebhaber 239e gekennzeichnet wird als Mann, ὃς ἡδὺ πρὸ 
dyadod ἠνάγκασται διώκειν, so erinnert das formell ganz an Gorg. 
465a ὅτι τοῦ δέος στοχάζεται ἄνευ τοῦ βελτίστου. Im Gorgias 
wird dies von den Schmeichelkünsten gesagt, z. B. der Putz- 
kunst. Wenn nun an dieser unmittelbar darauf getadelt wird, 
daß sie die Menschen verführt, ὥστε ποιεῖν ἀλλότριον κάλλος 
ἐφελκομένους τοῦ οἰκείου τοῦ διὰ τῆς γυμναστικῆς ἀμελεῖν (465b), 
so ist es gewiß kein Zufall, wenn an der Stelle des Phaidros der 
Liebhaber sich einen Geliebten wünscht πόνων μὲν ἀνδρείων... 


1) So schon Räder S. 249. 

2) Vgl. die eben gegebene Analyse und die Rekapitulation 241c ἀναγκαῖον 
ἐνδοῦναι αὑτὸν... ἀηδεῖ, βλαβερῷ μὲν πρὸς οὐσίαν βλαβερῷ δὲ πρὸς τὴν τοῦ 
σώματος ἕξιν πολὺ δὲ βλαβερωτάτῳ πρὸς τὴν τῆς ψυχῆς παίδευσιν. 


328 Phaidros. 


ἄπειρον, ἔμπειρον δὲ οὖς ἀνάνδρου διαίτης, ἀλλοτρίοις χρώμασι καὶ 
κόσμοις χήτει οἰκείων κοσμούμενον, und ebensowenig kann es zu- 
fällig sein, daß 240b ohne zwingenden Grund der Schmeichler er- 
wähnt wird, der zwar schadet, aber wenigstens Lust bringt (οἷον 
κόλακι, δεινῷ ϑηρίῳ καὶ βλάβῃ μεγάλῃ, ὅμως ἐπέμειξεν ἣ φύσις 
ἡδονήν τινὰ οὐκ ἄμουσον ἢ). 

So erinnert uns Plato also hier bewußt an die Scheidung 
von Add und ἀγαϑόν, auf der sich der Gorgias aufbaute. Zu- 
gleich aber gibt er uns deutlich zu erkennen, daß wir den Stand- 
punkt unserer Rede nicht etwa als absolutgültigen zu betrachten 
haben. Mit voller Absicht stellt nämlich Plato dem unvernünf- 
tigen Lustbegehren nicht das Wissen entgegen, das nach dem 
Guten strebt, sondern die δόξα, vgl. 237d ἣ μὲν ἔμφυτος οὖσα 
ἐπιϑυμία ἡδονῶν, ἄλλη δὲ ἐπίκτητος δόξα ἐφιεμένη τοῦ ἀρίστου 
288} ἣ γὰρ ἄνευ λόγου δόξης ἐπὶ τὸ ὀρϑὸν δρμώσης κρατήσασα 
ἐπιϑυμία, 237e δόξης μὲν οὖν ἐπὶ τὸ ἄριστον λόγῳ ἀγούσης καὶ 
κρατούσης τῷ κράτει σωφροσύνη ὄνομα. Diese Stellen erinnern 
uns doch direkt an die ὀρϑὴ δόξα des Menon und die auf dieser 
beruhende niedere Tugend des Menon und Phaidon (vgl.S.325). Sie 
zeigen uns also, daß wir uns in dieser niederen Sphäre befinden, 
und es bedarf kaum der ausdrücklichen Erklärung des Sokrates 
(243), daß eine Betrachtung des Eros, die nichts Höheres kennt 
als diese δόξα, eine banausische bleiben muß?). 

Wie sollen wir also nach Platos Absicht die Rede auffassen? 
Zweifellos geht sie von sokratischen Gedanken aus, wie sie Plato 
selber im Gorgias geteilt hat; sie enthält gewiß auch Richtiges, 
aber die volle Wahrheit dürfen wir von einem Standpunkte nicht er- 
warten, dem die wahre philosophische Erkenntnis verschlossen ist). 


1) Auch wenn am Schluß gesagt wird, daß die Liebe des ἐραστὴς od wer" 
εὐνοίας γίγνεται ἀλλὰ σιτίου τρόπον χάριν πλησμονῆς, So erinnert das an Gorg. 
496e, wo das Wesen der Begierde im Anschluß an die Mediziner als ein Streben 
nach πλήρωσις bezeichnet wird (τὸ δὲ zivew nAngwois τε τῆς ἐνδείας nal ἣἡ δονή). 
Ähnlich aber auch schon die Lysiasrede 2386 τοὺς προσαιτοῦντας καὶ τοὺς δεο- 
μένους πλησμονῆς. 

2) Wenn 2814 die δόξα als ἐπέκτητος bezeichnet wird, so ist zu beachten, 
daß Phaid. 82b die niedere Tugend ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης zuteil wird, wäh- 
rend nach 75e das uavddvew ein οἰκείαν ἐπιστήμην ἀναλαμβάνειν ist. 

3) Die Möglichkeit, daß Plato auch polemisch auf einen andern Sokratiker 
Bezug nimmt, etwa auf Antisthenes, würde ich nicht für ausgeschlossen halten. 
Aber sie käme nur sekundär in Betracht. 


Die erste Rede des Sokrates und die Palinodie. 339 


So ist die Palinodie, zu der das Daimonion Sokrates veran- 
laßt, nur zu berechtigt. Sie gibt uns das Bild des Eros, wie es 
Plato von der höheren Warte schaut, auf die ihn die Ideenlehre 
hinaufgeführt. 

Sie klärt uns sofort über das πρῶτον ψεῦδος der ersten so- 
kratischen Rede auf. Die Schädlichkeit des Eros war dort aus 
seinem Charakter als μανία abgeleitet. Aber dabei ist übersehen, 
daß es neben der schädlichen μανία auch eine göttliche gibt, die 
dem Menschen die höchsten Güter verleiht. Den verschiedenen 
Zweigen sinnlicher Leidenschaft, die dort p. 238 aufgezählt waren, 
lassen sich die prophetische, mystische, poetische μανία gegen- 
überstellen, und in diese Reihe der durch göttliche Einwirkung 
hervorgerufenen uaviaı gehört auch der Eros. Und es läßt sich 
zeigen, ὡς ἐπ᾽ εὐτυχίᾳ τῇ μεγίστῃ παρὰ ϑεῶν ἣ τοιαύτη μανία 
δίδοται (2456). Freilich läßt sich dieser Beweis nur geben, wenn 
man die Natur der Seele ganz erkannt hat. 

Zunächst wird deshalb die Unsterblichkeit der Seele noch 
einmal begründet. Im Phaidon hatte Plato den Hauptbeweis so 
geführt, daß er zeigte, die Seele sei es, die überall Leben bringe, 
deshalb habe sie an der Idee des Lebens notwendig Anteil und 
sei damit von der des Todes ausgeschlossen (105). Ein Mangel 
dieses Beweises lag darin, daß Plato zwar sagt: ψυχὴ ὅτι ἂν αὐτὴ 
κατάσχῃ, dei ἥκει ἐπ᾽ ἐκεῖνο φέρουσα ζῳήν (105d), aber nicht, wie 
dieses Lebenspenden in dem Wesen der Seele begründet sei, ob 
es notwendig zu diesem gehöre. Deshalb greift Plato jetzt auf 
diesen Punkt zurück und erklärt ausdrücklich, gerade darin 
müsse das Wesen der Seele gesehen werden, daß sie Bewegung 
und Leben verleihe. Das könne sie aber nur, weil sie selbst das 
Bewegungsprinzip sei, als solches aber könne sie nur unsterblich 
gedacht werden (vgl. bes. ἀϑανάτου δὲ πεφασμένου Tod ὑφ᾽ Eav- 
τοῦ κινουμένου, ψυχῆς οὐσίαν TE καὶ λόγον τοῦτον αὐτόν τις AE- 
γων οὐκ αἰσχυνεῖται. πᾶν γὰρ σῶμα, ᾧ μὲν ἔξωϑεν τὸ κινεῖσϑαι, 
ἄψυχον, ᾧ δὲ ἔνδοθεν αὐτῷ ἐξ αὑτοῦ, ἔμψυχον, ὡς ταύτης οὔσης 
φύσεως ψυχῆς 245e, und vorher τὸ δ᾽ ἄλλο κινοῦν καὶ ὑπ᾽ ἄλλου 
χινούμενον παῦλαν ἔχον κινήσεως παῦλαν ἔχει ζωῆς). 

Die Seele ist es, die Bewegung und Leben bewirkt. So 
muß sie überall in der Welt vorhanden sein, wo Bewegung und 
Leben ist. Speziell verbindet sie sich auch mit dem irdischen 
Leibe. Wie es zu dieser Verbindung kommt, kann uns die Ein- 


330 Phaidros. 


sicht in das Wesen der Seele lehren. Zwar dieses vollständig 
darzustellen, erfordert viele Mühe und übersteigt wohl die mensch- 
lichen Kräfte‘); so mag denn ein εἰκάζειν genügen. Die Seele 
vereinigt in sich verschiedene Kräfte und gleicht einem beflügelten 
Gespann, wo der Wagenlenker zwei unter sich ungleiche Rosse 
lenkt. Bei den Göttern freilich sind Roß und Lenker gleich gut, 
der Unterschied also kaum spürbar, und sie vermögen darum 
droben in der Höhe in ewiger Ordnung ihren Weg zu durch- 
messen. Die andern Seelen aber verlieren leicht ihre Flügel und 
werden durch die Rosse hinabgezogen zu irdischen Leibern, mit 
denen sie sich zu sterblichen’) Wesen verbinden (— 2466) Ἷ. 


1) 246a. Konnte sich Plato wohl so ausdrücken, wenn er bereits in der 
Politeia die Dreiteilung der Seele genau begründet hatte? 

5 Daß das aus Seele und Leib zusammengesetzte Lebewesen notwendig 
sterblich ist, darf Plato voraussetzen, weil im Phaidon 78c die Auflösbarkeit 
jedes σύνϑετον erwiesen ist. 

ὅ Während der Korrektur lese ich v. Arnims gegen Barwicks Ansatz des 
Phaidros gerichtete Polemik, Ztschr. f. d. österr. Gymn. LXIV. Hier finden wir - 
p: 98 die programmatischen Sätze: „Als Platon seine Schule gründete und als 
Lehrer der Philosophie auftrat, da, dürfen wir zuversichtlich glauben, sah er die 
Grundlinien seiner Weltanschauung bereits klar und deutlich vor sich ... Die 
Einheit von Platons Lehre in diesem Sinne müssen wir gegen die Entwicklungs- 
theoretiker soweit es möglich ist ist zu verteidigen suchen, damit er nicht als 
ein leichtfertiger und gewissenloser Lehrer erscheine usw.“ Eine grundsätzliche 
Auseinandersetzung mit dieser Anschauung wäre hier natürlich zwecklos, und 
hoffentlich wird ja diese Methode, für die nicht die Interpretation, sondern die 
Harmonistik an erster Stelle steht, ebensowenig Anklang finden wie ihre Voraus- 
setzung, für die z. B. Kant beim Antritt seiner akademischen Laufbahn ein 
ziemlich leichtsinniger und gewissenloser Bursche war. Praktisch wird sich wohl 
doch vielfach mit v. Arnim eine Verständigung erreichen lassen, und wenn er 
die Argumente, mit denen Barwick die Dreiteilung der Seele für Gorgias und 
Phaidon zu erweisen sucht, ablehnt, befinde ich mich ganz mit ihm im Einklang 
(S. 156. 7 und 234). Dagegen führt die rein harmonistische Tendenz dazu, daß 
er in dem Abschnitt über den Phaidrosmythos S. 113ff., obwohl er dort viel 
Richtiges bringt, gerade den wichtigsten Punkt nicht berührt. Während nämlich 
im Phaidon die niederen Triebe erst aus dem Zusammensein mit dem Leibe er- 
wachsen und dementsprechend im Staate und im Timaios ϑυμός und ἐπιϑυμητικόν 
erst vom leiblichen Dasein an datieren, werden im Phaidros die Seelen schon vor 
der πρώτη γένεσις, ja auch die Götterseelen unter dem Bilde des Gespannes darge- 
stellt (246a), also als mehrteilig gedacht, und der Leser wird mit nichts darauf 
hingewiesen, daß er an eine andre Teilung zu denken habe als an die, die der 
Seele auch im Erdendasein anhaftet. Man kann das auch nicht einfach als 
mythischen Zug ansprechen. Denn für Plato lag hier wirklich ein Problem vor 


Die zweite Rede des Sokrates p. 234θ8 ---α. 331 


Wenn Plato im Anschluß hieran schildert, wıe von den zwölf 
Göttern die Hestia allein unbewegt bleibt, während die andern 
im Gefolge des Zeus in geregelten Bahnen sich bewegen, so hat 
schon Böckh darauf hingewiesen, daß Plato hier an Philolaos’ 
Weltbild mit den zehn Weltkörpern, die sich zwischen Zentral- 
feuer und dem äußersten Feuerkreis, dem Olympos, bewegen, an- 


die Frage, wie die Seele zur Verbindung mit dem Leibe ursprünglich gekommen 
ist. Man kommt deshalb um die Annahme kaum herum, daß Plato im Anfangs- 
stadium seiner neuen Psychologie die Dreigliederung auch auf die vorleibliche 
Existenz ausgedehnt hat. 

Wie er diese Anschauung mit der des Phaidon innerlich ausgeglichen hat, 
läßt sich nicht sagen. Sicher ist, daß im Phaidon, wo er die Unvergänglichkeit der 
Seele aus ihrem immateriellen, nicht zusammengesetzten Wesen beweist, dieses 
Problem für ihn noch nicht existiert (vgl. S. 232°). Sicher ist andrerseits, daß 
im zehnten Buche des Staates Plato ausdrücklich (611 b) die Beweise des Phai- 
don dadurch ergänzt, daß er den aus der Dreiteilung der Seele zu entnehmenden 
Einwand widerlegt. Hier hat sich v. Arnim durch seine Harmonistik sehr irre- 
führen lassen. Man muß doch bedenken, daß der ganze Staat die Dreiteilung 
der Psychologie vorträgt, daß gerade noch im neunten Buche er auf diese zu- 
rückgreift (580d ἐπειδὴ ὥσπερ πόλις διῴρηται κατὰ τρία εἴδη, οὕτω καὶ ψυχὴ 
ἑνὸς ἑκάστου τριχῇ κτλ.) und ganz am Schluß dort die Seele als ein σύνϑετον aus 
drei ἐδέαι schildert, in dem gleichsam einem Menschen ein Löwe und ein vielköpfiges 
Tier angewachsen sind. Wenn nun nach dem Exkurs über die Dichter p. 611b 
Plato vor dem Abschluß des ganzen Werkes die Unsterblichkeitsfrage aufnimmt 
und das Bedenken entwickelt: οὐ ῥάδιον ἀΐδιον εἶναι σύνϑετόν τε En πολλῶν 
καὶ μὴ τῇ καλλίστῃ κεχρημένον συνϑέσει, ὡς νῦν ἡμῖν ἐφάνη ἣ ψυχή, so zeigen 
doch die letzten Worte wirklich deutlich genug, daß Plato auf das Bild des 
neunten Buches zurückweist, und ein Unbefangener wird schwerlich als Platos 
Ansicht herauslesen, „daß die vollkommene Seele die καλλέστη σύνϑεσις besitzt“ 
(v. Arnim 5. 123). Er wird vielmehr an den Beweis Phaidon 78a denken, daß 
nur das ἀσύνϑετον unvergänglich ist, und daß Plato diesen Beweis gegen einen 
Einwand sichern will, das sieht er deutlich, wenn er das Folgende liest: “Ὅτι 
μὲν volvvv ἀϑάνατον ψυχή, καὶ ὁ ἄρτι λόγος καὶ οἱ ἄλλοι ἀναγκάσειαν ἄν κτλ. 
Plato widerlegt dann den aus der σύνϑεσις genommenen Einwand, indem er die 
Seele mit Glaukos vergleicht, der seine wahre Natur verloren hat, da sein alter 
Gliederbau entstellt ist und Muscheln, Tang und Gestein ihm angewachsen sind. 
v. Arnim legt hier viel Wert auf die Worte 6114 τὰ παλαιὰ τοῦ σώματος μέρη 
und möchte daraus folgern, daß Plato auch für die ursprüngliche Natur der Seele 
Teile voraussetzt. Aber daß es Plato nur auf das Anwachsen der fremden Teile 
ankommt, zeigt er doch sofort 611 6 deutlich, wenn er nur diesen Zug wieder- 
holt: „Man muß die Seele in ihrem gottverwandten Wesen betrachten, wie sie 
ist περιπρουσϑεῖσα πέτρας τε nal ὄστρεα ἃ νῦν αὐτῇ, ἅτε γῆν ἑστιωμένῃ, γεηρὰ 
καὶ πετρώδη πολλὰ καὶ ἄγρια περιπέφυκεν." 

Und wenn nun bei Plato folgt: καὶ τότ᾽ ἄν τις ἴδοι αὐτῆς τὴν ἀληϑῆ 


332 Phaidros. 


knüpft‘). Tatsächlich ist das Zitat kaum zu verkennen, wenn 
Plato sagt (247a): μένει γὰρ “Eoria ἐν ϑεῶν οἴκῳ μόνη und wir 
über Philolaos bei Aetios den Bericht lesen: Φιλόλαος πῦρ ἐν 
μέσῳ περὶ τὸ κέντρον, ὅπερ ἑστίαν τοῦ παντὸς καλεῖ καὶ Διὸς ol- 
κὸν (32A 16 οἵ. Β 7. 1615). Andrerseits handelt es sich dabei 
aber nur um eine äußere Anknüpfung. Denn nach dem Zusam- 
menhang kann Plato selber bei seiner Hestia wohl nur die Erde 
meinen, die er sich mit der gewöhnlichen Anschauung als Mittel- 
punkt des Weltalls denkt. Die Sache liegt ganz wie beim My- 


φύσιν εἴτε πολυειδὴς εἴτε μονοειδὴς εἴτε ὅπῃ ἔχει καὶ ὅπως " νῦν δὲ τὰ ἐν τῷ 
ἀνϑρωπίνῳ βίῳ πάϑη τε καὶ εἴδη. ὡς ἐγῷμαι, ἐπιεικῶς αὐτῆς διεληλύϑαμεν, 
so verschließt man sich doch wirklich den Sinn den ganzen Abschnittes, wenn 
man bei εἴδη an die Charaktertypen denkt, die im achten und neunten Buche 
entwickelt sind (v. Arnim S. 124), statt an die Frage, die für die ganze Auf- 
fassung der Menschenseele im Staate grundlegend ist: εἴτε ἔχει τὰ τρία εἴδη 
ταῦτα Ev αὑτῇ εἴτε μή (435c, vgl εἴδη 435e 481 439e 4406 572a 58le 590c 
595b). Und wenn wirklich über das εἴτε πολυειδὴς εἴτε μονοειδής ein Zweifel 
sein könnte (nach v. Arnim läßt Plato dahingestellt, „ob es auch unter den voll- 
kommenen Seelen Artunterschiede gibt“!), so braucht man doch nur Phaidros 
270d zu lesen, wo das erste psychologische Problem ist, ob ἁπλοῦν ἢ πολυειδές 
ἐστιν οὗ πέρι βουλησόμεϑα εἶναι reyvınol. „Ich habe hier im Staate die Seele 
als ein πολυειδές geschildert; aber das betrifit nur ihr Erdendasein, nicht ihre 
wahre Natur. Wenn man die betrachtet, wird man sehen, daß sie kein solches 
σύνϑετον ist, daß also die Beweise des Phaidon bestehen bleiben“. 

Daß nach diesen Erörterungen der Mythos des Phaidros unmöglich war, 
scheint mir selbstverständlich. Nur die Folge Phaidon Phaidros Rep. X ist 
denkbar. 

1) Böckh, Philolaos des Pythagoreers Lehren, Berlin 1819, 8.105. Gegen seine 
Auffassung, als sei auch im Phaidros Hestia das Zentralfeuer, vgl. Susemihl, 
Genet. Entw. der plat. Philosophie I, S. 235 u. a. 

2) Vgl. auch 45 B37 (anonyme Pythagoreer).. Wenn in dem Exzerpt des 
Aetios es heißt: περὶ δὲ τοῦτο (sc. τὸ μέσον) δέκα σώματα ϑεῖα χορεύειν, SO Er- 
innert daran der ϑεῖος χορός bei Plato 2478. Auch daß dieser erklärt: τῶν δὲ 
ἄλλων ὅσοι ἐν τῷ τῶν δώδεκα ἀριϑμῷ τεταγμένοι ϑεοὶ ἄρχοντες ἡγοῦνται 
κατὰ τάξιν ἣν ἕκαστος ἐτάχϑη, ist wohl kein Zufall. Wir haben τάξες schon 
als Terminus der Pythagoreer kennen gelernt (S. 154), und in dem Exzerpt des 
Aetios kommt es mehrfach technisch vor. Wenn Plato den einzelnen Göttern 
die Menschentypen zuweist, so waren solche Zuweisungen an die Götter offen- 
bar bei Philolaos sehr beliebt (vgl. A 14 παρὰ τοῖς Πυϑαγορείοις εὑρήσομεν 
ἄλλας γωνίας ἄλλοις ϑεοῖς ἀνακειμένας, ὥσπερ καὶ ὁ Φιλόλαος πεποίηκε κτλ.) — 
Phaidros 250e ἀσήμαντοι τούτου ὃ νῦν δὴ σῶμα περιφέροντες ὀνομάζομεν spielt 
natürlich auf Philolaos’ auch Gorg. 499 ἃ benützte Gleichung σῶμα --- σῆμα (Β 14 
Diels) an. 


Die Mythen des Phaidon und des Phaidros. 333 


thos des Phaidon. Dort erklärt Plato 109a ausdrücklich, die Erde 
befinde sich in der Mitte der Welt und habe diesen Platz kraft 
ihres eigenen Gleichgewichts: ἰσόρροπον γὰρ πρᾶγμα ὁμοίου τινὸς 
ἐν μέσῳ τεϑὲν οὐχ ἕξει μᾶλλον οὐδ᾽ ἧττον οὐδαμόσε κλιϑῆγαι, 
ὁμοίως δ᾽ ἔχον ἀκλινὲς μενεῖ. Das ist nicht Philolaos’ An- 
schauung, sondern die des Parmenides, vgl. 18 A 44 Diels: Παρ- 
μενίδης Δημόκριτος διὰ τὸ πανταχόϑεν ἴσον ἀφεστῶσαν μένειν (Sc. 
τὴν γῆν) ἐπὶ τῆς ἰσορροπίας, οὐκ ἔχουσαν αἰτίαν δι’ ἣν δεῦρο μᾶλ- 
λον ἢ ἐκεῖσε δέψειεν dv‘ διὰ τοῦτο μόνον μὲν κραδαίνεσθϑαι μὴ 
κινεῖσθαι δέ, und auch von Parmenides hören wir ausdrücklich, 
daß er diesen Mittelpunkt des Weltalls “Ἑστία genannt habe (vgl. 
Anatol. p. 30 Heib., den Diels an derselben Stelle anführt). Aber 
zu der dem Mythos als Grundlage dienenden Vorstellung, daß 
die wahre Oberfläche der Erde erst da ist, wo die Atmosphäre 
zu Ende ist und der Äther beginnt, und daß dort Steine, Pflan- 
zen, Tiere, Menschen analog den irdischen, nur unendlich viel 
schöner existieren, hat ihm die Anregung wieder Philolaos ge- 
geben (vgl. 1104 -- 111}, z. B. 110c xai ἔτι πλειόνων καὶ καλ- 
μόνων ἢ ὅσα ἡμεῖς ἑωράκαμεν — Phil. A 20 τῶν Πυϑαγορείων 
τινὲς μέν, ὧν ἐστι Φιλόλαος, γεώδη φαίνεσθαι τὴν σελήνην διὰ τὸ 
περιοικεῖσϑαι αὐτὴν καϑάπερ τὴν παρ᾽ ἡμῖν γῆν ζῴοις καὶ φυτοῖς 
μείζοσι καὶ καλλίοσιν) ἧ. 

Es scheint mir nicht unwichtig, daß Plato in den mythischen 
Konzeptionen beider Dialoge mit demselben Material arbeitet. 
Denn dadurch gewinnt noch ein Zug an Bedeutung. Im Phai- 
don 109e sagt Plato: εἴ τις αὐτοῦ (τοῦ ἀέρος) ἐπ᾽ ἄκρα ἔλϑοι ἢ 
πτηνὸς γενόμενος ἀνάπτοιτο, κατιδεῖν ἂν ἀνακύψαντα, ὥσπερ ἐν- 
ϑάδε οἱ ἐκ τῆς ϑαλάττης ἰχϑύες ἀνακύπτοντες δρῶσι τὰ ἐνθάδε, οὕ- 
τως ἄν τινὰ καὶ τὰ ἐχεῖ κατιδεῖν, καὶ εἰ ἣ φύσις ἱκανὴ εἴη ἀνασχέ- 
σθαι ϑεωροῦσα, γνῶναι ἂν ὅτι ἐκεῖνός ἐστιν ὃ ἀληϑῶς οὐρανὸς 
χαὶ τὸ ἀληϑινὸν φῶς καὶ ἣ ὡς ἀληθῶς γῆ, Mutet es nicht ge- 
radezu wie eine Fortsetzung dieser Konzeption an, wenn Plato 
im Phaidros uns schildert, wie die Seele kraft ihrer Schwingen 
aus dem Bereiche des Himmels, wo es auch schon viel Herrliches 
zu schauen gibt (247a), sogar bis zum ὑπερουράνιος τόπος zu ge- 


1 Parmenides folgt selbt Anaximander cf. Aristot. de caelo 295b 12. 

3) Natürlich müssen wir auch mit der Möglichkeit rechnen, daß Plato an 
einen anderen Pythagoreer anknüpft, der die Erde als Mittelpunkt der Welt 
festhielt. 


994 Phaidros. 


langen oder doch wenigstens ihr Haupt dorthin emporzurecken 
vermag, wenn er erzählt, wie die Seele, die kräftig genug ist 
Gott zu folgen, dort das Gefilde der Wahrheit schaut, dort allein 
erkennt, was Wahrheit ist‘)? Soviel ist jedenfalls sicher: Vom 
Mythos des Phaidon führt ohne weiteres eine psychologische 
Assoziation hinüber zu dem des Phaidros, während man das Um- 
gekehrte schwerlich behaupten kann’). 

Τὸν δὲ ὑπερουράνιον τόπον οὔτε τις ὕμνησέ πω τῶν τῇδε ποιη- 
τὴς οὔτε ποτὲ ὑμνήσει κατ᾽ ἀξίαν. ἔχει δὲ ὧδε --- τολμητέον γὰρ 
οὖν τό γε ἀληϑὲς εἰπεῖν, ἄλλως τε καὶ περὶ ἀληϑείας λέγοντα --- 
ἣ γὰρ ἀχρώματός τε καὶ ἀσχημάτιστος καὶ ἀναφὴς οὐσία ... τοῦ- 
τον ἔχει τὸν τόπον. Es ist merkwürdig, wie hartnäckig und ver- 
hängnisvoll diese Stelle in neuerer Zeit mißverstanden wird. 
„Wenn noch kein Dichter jenen Raum besungen hat“, so folgert 
man, „so geschieht es hier zum ersten Male, gibt Plato hier zum 
ersten Male eine Schilderung der Ideen.“ Aber dabei vergißt 
man vollkommen das οὔτε ποτὲ öuvnosı und das zart’ ἀξίαν. „Den 
überhimmlischen Ort kann kein Irdischer würdig preisen, das hat 
noch keiner vermocht und wird auch nie einer vermögen’). Trotz- 
dem muß man versuchen, wenigstens die schlichte Wahrheit über 
ihn auszusagen.* Kann man wirklich aus dieser Stelle folgern, 
daß der Phaidros die erste Schrift über die Ideenlehre ist? Und 
sind etwa die dialektischen Ausführungen des Phaidon ein ἄξιος 
ὕμνος im Sinne unserer Stelle, sodaß seine Abfassung vor dem 
Phaidros ausgeschlossen wäre? Auch im Phaidros will Plato doch 
keinen Hymnos geben, nur die schlichte Wahrheit, und was er 


1) Von einzelnen Ausdrücken der Phaidonstelle, die wiederkehren, erwähne 
ich außer dem ständigen πτηνός noch 247 a ἄκραν ἐπὶ τὴν ὑπουράνιον ἁψῖδα 
πορεύονται 3414 καϑορᾷ μὲν .. καϑορᾷ δέ 2488 ὑπερῆρεν eis τὸν ἔξω τόπον 
τὴν τοῦ ἡνιόχου κεφαλήν (vgl. ἀνακύπτοντες) 3848. ἥτις ἂν ψυχὴ .. κατίδῃ τι 
τῶν ἀληϑῶν.. .. ὅταν δὲ ἀδυνατήσασα ἐπισπέσϑανι μὴ ἴδῃ 249. ἀνακύψασα 
eis τὸ ὃν ὄντως 2498 ὅταν πτερῶταί τε καὶ ἀναπτερούμενος προϑυμούμενος 
ἀναπτέσϑαι κτλ. 

2, An den Mythos des Phaidon erinnert auch Phaidros 256d: εἰς γὰρ σκό- 
τον καὶ τὴν ὑπὸ γῆς πορείαν οὐ νόμος ἐστὶν ἔτι ἔλϑεῖν τοῖς κατηργμένοις ἤδη τῆς 
ὑπουρανίου πορείας. Philolaos bezeichnete den οὐρανός, den er allerdings auf 
den Raum unter dem Monde beschränkte, als den Raum, ἐν ᾧ τὰ τῆς φιλομετα- 
βόλου γενέσεως (A 16 Diels). 

3) Man vergleiche Wendungen wie τοῦ έγειν ἔτυμος τέχνη ἄνευ τοῦ ἀληϑείας 
ἦφϑαι οὔτ᾽ ἔστιν οὔτε μή ποτε ὕστερον γένηται 200 9, 


Der überhimmlische Ort. 335 


über den ὑπερουρώνιος τόπος sagt — daß mit diesem weiter 
nichts gemeint ist als der Bereich des Immateriellen, jenseits der 
sinnlichen Erkenntnis Liegenden, darüber kann kein Leser des 
Phaidon im Zweifel sein‘) —, das bringt vielleicht eine genauere 
Präzisierung, sofern bei dem Ansichseienden der Gegensatz zum 
Werden, die absolute Geltung im Unterschied von dem Wechsel 
der (Jualitäten in den sinnlichen Erscheinungen stärker hervor- 
gehoben wird, aber es geht tatsächlich über die Grundanschauung 
des Phaidon nicht hinaus. 

Die ganze Stelle hat im Organismus der Rede auch nur vor- 
bereitende Bedeutung. Sie stellt durch eine Rekapitulation jener 
Grundanschauung die Voraussetzungen fest für das Neue, was 
nun kommt, die Lehre vom Eros. Auch p. 248. 9 werden wir 
zunächst noch an etwas Bekanntes erinnert, an die Anamnesis- 
lehre. Was den Menschen über die Tiere erhebt, ist die Fähig- 
keit, von der Fülle der sinnlichen Eindrücke fortzuschreiten zur 
begrifflichen Erkenntnis, συνιέναι κατ᾽ εἶδος λεγόμενον. τοῦτο δ᾽ 
ἐστὶν ἀνάμνησις ἐκείνων ἅ ποτ᾽ εἶδεν ἡμῶν ἣ ψυχὴ συμπορευϑεῖσα 
ϑε (2490). Aber was ist es denn, was zuerst diese Anamnesis 
anregt, was den ersten Antrieb zum Forschen und zur Erkennt- 
nis gibt? Das ist der Eros, die leidenschaftliche Erregung, die 
den Menschen erfaßt, wenn der Anblick irdischer Schönheit die 
Erinnerung an die absolute in ihm entzündet und die Sehnsucht 
nach dem überhimmlischen Orte wachruft, sodaß er das Sinnliche 
alles gering achtet und bei den Diesseitsmenschen in den Ruf 
des μανικός kommt. Gerade der Anblick der Schönheit vermag diese 
Wirkung zu üben, weil bei ihr die Idee im Sinnlichen den rein- 
sten Abglanz hat, und hat sie erst einmal die Anregung gegeben, 
οὐδὲν κωλύει Ev μόνον ἀναμνησϑέντα τἄλλα πάντα αὐτὸν ἀνευρεῖν 


(Menon 81 ἃ). 


1 Vgl. etwa Phaidr. 247d ἅτ᾽ οὖν ϑεοῦ διάνοια νῷ τε καὶ ἐπιστήμῃ ἄκη- 
ράτῳ τρεφομένη καὶ ἁπάσης ψυχῆς ὅσῃ ἂν μέλῃ τὸ προσῆκον δέξασϑαι, ἰδοῦσα 
διὰ χρόνου τὸ ὃν ἀγαπᾷ τε καὶ ϑεωροῦσα τἀληϑῆ τρέφεται Phaidon 84a (von 
der Seele des Philosophen) ἑπομένη τῷ λογισμῷ καὶ ἀεὶ ἐν τούτῳ οὖσα, τὸ ἀλη- 
ϑὲς καὶ τὸ ϑεῖον καὶ τὸ ἀδόξαστον ϑεωμένη καὶ ὑπ᾽ ἐκείνου τρεφομένη κτλ. 
Diese Stelle kann uns zugleich als Beleg dafür dienen, daß der „überhimmlische 
Ort“ rein mythisch gemeint ist — wenn ein solcher Beleg nötig wäre. Ein 
Unterschied in der Auffassung der Ideen ist zwischen Phaidon und Phaidros nicht 
vorhanden. 


336 Phaidros. 


Wie nun der Anblick der Schönheit wirkt, wie er teils sinn- 
liche Triebe erregt, teils aber auch im Intellekte die Erinnerung 
an das wahrhaft Schöne weckt und damit der Seele die Flügel 
gibt, auf denen sie sich zum übersinnlichen Orte emporschwingt, 
das kann jetzt Plato anschaulich schildern, da er durch die Psychc- 
logie und Ideenlehre sich die Grundlage geschaffen hat. Jetzt kann 
er aueh für die gewaltige Erschütterung, die im menschlichen Wesen 
die Liebe hervorruft, τὴν αἰτίαν ἀποδιδόναι (252 0), die wissenschaft- 
liche Erklärung geben, und er verfehlt nicht, durch wörtliche An- 
klänge an die erste Rede deutlich zumachen, daß man auf dieser Stufe 
der Erkenntnis zu einer ganz anderen Wertung des für den nüch- 
ternen Verstand einfach unsinnigen Verhaltens gelangt (— 252c)'). 

Viel wichtiger ist aber die Korrektur der ersten Rede, die dann 
folgt. Dort hatten wir gehört, wie der Liebhaber den Geliebten 
möglichst schädigt, um ihn in Abhängigkeit zu halten. Das war die 
banausische Anschauung, die nur an den sinnlichen Genuß denkt. 
Jetzt sehen wir, daß die Liebe deshalb so mächtig ist, weil dieses 
bestimmte Individuum, der ἐρώμενος, den Menschen an ein Ideal- 
bild erinnert, das er einst geschaut hat. Dieses Idealbild ist je 
nach den Naturen — je nach dem Gotte, dem man einst gefolgt 
ist — verschieden. Jedenfalls aber wirkt die Erinnerung so mächtig, 
daß der Liebende dieses Idealbild nicht nur selber in sich zu ver- 
wirklichen sucht, sondern auch in dem Geliebten, der in ihm die 
Erinnerung wachgerufen hat, den er als wesensverwandt empfindet 
(252c—253e). Da bleibt für den φϑονερὸς ἐραστής, vor dem die 
erste Rede, die keinen ἐλεύϑερος ἔρως kannte, warnte (243c, 241 c), 
kein Platz: οὐ φϑόνῳ οὐδ᾽ ἀνελευϑέρῳ δυσμενείᾳ χρώμενοι πρὸς τὰ 
παιδικά, ἀλλ᾽ εἰς ὅμοιότητα αὑτοῖς καὶ τῷ ϑεῷ ὃν ἂν τιμῶσι πᾶσαν 


1) 3406 οὔϑ᾽ ἡμέρας οὔτε νυκτὸς ἑκὼν ἀπολείπεται, ἀλλ᾽ ὑπ᾽ ἀνάγκης τε 
καὶ οἴστρου ἐλαύνεται — 251 schildert Plato erst die Wirkungen, die die Schön- 
heit beim Liebenden auslöst, und fährt fort: ὥστε πᾶσα κεντουμένη κύκλῳ ἣ 
ψυχὴ olorgü καὶ ἐμμανὴς οὖσα οὔτε νυκτὸς δύναται καϑεύδειν οὔτε we) 
ἡμέραν οὗ ἂν ἦ μένειν... ὅϑεν δὴ ἑκοῦσα εἶναι οὐκ ἀπολείπεται. 2408 τὸ αὑτοῦ 
γλυκὺ ὡς πλεῖστον χρόνον καρποῦσϑαι ἐπιϑυμῶν — 201 extr. ἡδονὴν δ᾽ αὖ 
ταύτην γλυκυτάτην ἐν τῷ παρόντι καρποῦται. 239e heißt es von dem Verhalten 
des Liebhabers gegenüber dem Geliebten: πατρὸς καὶ μητρὸς καὶ συγγενῶν καὶ 
φίλων στέρεσϑαι ἂν αὐτὸν δέξαιτο, ... ἀνάγκη ἐραστὴν παιδικοῖς φϑονεῖν μὲν 
οὐσίαν κεχτημένοις ἀπολλυμένης δὲ χαίρειν --- 252 ἃ vom Liebhaber selber: μητέρων 
τε καὶ ἀδελφῶν καὶ ἑταίρων πάντων λέλησται καὶ οὐσίας δι᾽ ἀμέλειαν ἀπολλυ- 
μένης παρ᾽ οὐδὲν τέϑεται U. ἃ. 


p. 2494--2ῷθει. Korrektur der ersten Sokratesrede. 337 


πάντως ὅτι μάλιστα πειρώμενοι ἄγειν οὕτω ποιοῦσι. Nicht schäd- 
lich ist diese Leidenschaft, sondern χαλή τε καὶ εὐδαιμονική (258 ο). 

Für den Banausenstandpunkt der ersten Rede war die Liebe 
das Streben nach sinnlichem Genuß, und der genußgierige Lieb- 
haber mußte dem Geliebten widerwärtig erscheinen (240b—e). 
Wie ganz anders gestaltet sich das Bild von der höheren Warte! 
Gewiß gewahrt man auch da, wie das ungebärdige Roß der Seele 
beim Anblick des schönen Knaben in die höchste Erregung gerät 
und zum sinnlichen Genusse drängt. Aber neben ihm steht der 
Wagenlenker der Seele, der νοῦς, und er erinnert sich an die gött- 
liche Schönheit, sieht auch in ihrem irdischen Abbild ein Götter- 
bild, und wenn die Seele recht beschaffen ist, der νοῦς die Herr- 
schaft hat, wird der Liebhaber den Geliebten als etwas Heiliges 
ansehen, dem er nur ın Ehrfurcht und Scheu sich nahen darf 
(254 extr.). Der Geliebte aber, der ja kein zufällig gewähltes Objekt 
sinnlicher Lust, sondern φύσει φίλος τῷ ϑεραπεύοντι ist (258 8), 
kann für diese εὔνοια nicht unempfänglich bleiben '). Das Gerede 
der Leute kümmert ihn nicht, und je mehr er mit dem Liebenden 
in Verkehr tritt, desto mehr fällt ein Abglanz der Schönheit, die 
er auf diesen ausgestrahlt hat, wie aus einem Spiegel auf ihn selbst 
zurück und entzündet in ihm selber — nicht die φιλία, wie man 
meist sagt, sondern ein Abbild des Eros, die Gegenliebe, und selbst 
die Sinnlichkeit wird bei ihm, wenn auch schwächer als beim 
Liebhaber, erregt (--- 3568). 

Kann da noch davon die Rede sein, daß der Liebhaber dem 
Geliebten ἀηδής wäre? Aber auch die Befürchtung, daß mit dem 
Aufhören der Leidenschaft die Gemeinschaft der beiden aufhören 
werde, ist jetzt verschwunden. Denn diese μανία erschöpft sich 
eben nicht im sinnlichen Genuß. Im Gegenteil, die höchste Form 
der Liebe, die freilich nur bei den philosophischen Seelen auftritt, 
überwindet die Sinnlichkeit und befreit gerade die rein geistigen 
Regungen. Beiden wachsen jetzt die Schwingen, die sie zum 
Olymp emporheben, οὗ μεῖζον ἀγαϑὸν οὔτε σωφροσύνη ἀνθρωπίνη 
οὔτε ϑεία μανία δυνατὴ πορίσαι ἀνθρώπῳ (256). Aber selbst wenn 


1) 2558 ἐγγύϑεν ἡ εὔνοια γιγνομένη τοῦ ἐρῶντος ἐκπλήττει τὸν ἐρώμενον 
διαισϑανόμενον ὅτι οὐδ᾽ οἱ σύμπαντες ἄλλοι φίλοι τε καὶ οἱκεῖοι μοῖραν φιλίας 
οὐδεμίαν παρέχονται πρὸς τὸν ἔνϑεον φίλον ist die Antwort auf den Abschluß 
der ersten Rede: χρή, ὦ παῖ, .. εἰδέναι τὴν ἐραστοῦ φιλίαν ὅτι οὐ μετ᾽ εὐνοίας 
γίγνεται, ἀλλὰ σιτίου τρόπον χάριν πλησμονῆς. 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 22 


338 Phaidros. 


die Liebenden nicht dem »voög allein folgen und unphilosophisch 
leben, kann der Eros segensreich wirken. Wenn nämlich der Leit- 
stern für sie die φιλοτιμία des besseren Seelenrosses ist, so wird 
es wohl gelegentlich zum Durchbruch der Sinnenlust kommen, 
aber doch gilt vom Liebhaber nicht der Satz der ersten Rede: λήξας 
τοῦ ἔρωτος εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον ἄπιστος, εἰς ὃν πολλὰ καὶ μετὰ 
πολλῶν ὅρκων τε καὶ δεήσεων ὑπισχνούμενος μόγις κατεῖχε τήν 
γ᾽ἐν τῷ τότε συνουσίαν (240 6), vielmehr bleiben auch hier die 
Liebenden dauernd einander freund, πίστεις τὰς μεγίστας ἡγουμένω 
ἀλλήλοιν δεδωκέναι τε καὶ δεδέχϑαι, ἃς οὐ ϑεμιτὸν εἶναι λύσαντας 
εἰς ἔχϑραν ποτὲ ἐλθεῖν (256d). Auch sie spüren etwas davon, daß 
der Eros es ist, der die Glückseligkeit gibt im Diesseits wie für 
das Jenseits. 

Im zweiten Teile des Dialoges kommt Plato 264e auf seine 
beiden Reden zurück und sagt uns ausdrücklich, was wir aus 
ihnen formell lernen können. An dem Einzelfall der ἐρωτικὴ 
μανία haben sie gezeigt, wie man von den vielen Einzelbeobach- 
tungen kraft der Anamnesis zu der Intuition der einen Idee ge- 
langen und wie man dann den allgemeinen Begriff, der dieser 
Idee entspricht, wieder in seine Unterabteilungen zerlegen kann. 
Das Redenpaar ist also ein Einzelbeispiel für das dialektische Ver- 
fahren mit seinen beiden Zweigen, der συναγωγή und διαίρεσις. 
Die erste Rede sah dabei in der μανία nur eine Krankheits- 
erscheinung, die zweite eine göttliche Veränderung der mensch- 
lichen Natur. Beide Betrachtungsarten muß man zusammennehmen, 
um ein allseitiges Bild zu erhalten, und p. 263 hebt Plato hervor, 
wie bei Streitfragen gerade der Wissende die einseitige Betrachtung 
dazu benutzen kann, um seine Anschauung dem Hörer zu suggerieren 
und ihn dadurch irrezuleiten. Aber das gilt in vollem Sinne doch 
nur von der ersten Rede. Sie hält sich bewußt an die Auffassung 
der Liebe als der rein sinnlichen Leidenschaft. Die zweite Rede 
hebt im Gegensatz dazu die ϑεία ἐξαλλαγή hervor, ist aber nicht 
so einseitig, das sinnliche Moment zu ignorieren. Wir dürfen die 
Schattenseiten der Liebe, wie sie die erste Rede schildert, nicht 
vergessen, wenn wir ein vollständiges Bild erhalten wollen; aber 
im ganzen liegt die Sache doch so, daß diese in der zweiten Rede 
nur deshalb verschwinden, weil auf dem höheren Standpunkte die 
Lichtseiten viel mehr den Blick auf sich ziehen. Über das Wesen 
des Eros gibt uns jedenfalls die zweite Rede die Aufklärung. 


Verhältnis der beiden Sokratesreden zueinander. Der Eros. 339 


Sie vermag das, weil hier nicht mehr der Sokratiker des Gorgias 
das Wort führt, sondern der Plato, der bei sich selber die leiden- 
schaftliche Sehnsucht nach dem übersinnlichen Ort gespürt, der 
die Ideen geschaut hat. Damit hat er den Standpunkt überwunden, 
wo er sich an die ὀρϑαὶ δοξαι halten (vgl. S. 328), sich mit der 
δοξαστὴ τροφή begnügen mußte (2486) '), und gar eine Anschauung, 
die bei den Mahnungen zur σωφροσύνη mit dem Hinweis auf äußer- 
liche Schädigungen, die der Eros bringt, operiert, rückt jetzt von 
selber auf eine Stufe mit den Anschauungen der Menge und der 
Tugend, die schon der Phaidon (p. 68 vgl. S. 324.5) als banausisch 
abgetan hatte (N δὲ ἀπὸ τοῦ μὴ ἐρῶντος οἰκειότης, σωφροσύνῃ ϑνητῇ 
κεκραμένη, ϑνητά τε καὶ φειδωλὰ οἰκονομοῦσα, ἀνελευϑερίαν ὑπὸ 
πλήϑους ἐπαινουμένην ὡς ἀρετὴν τῇ φίλῃ ψυχῇ ἐντεκοῦσα ἐννέα 
χιλιάδας ἐτῶν περὶ γῆν κυλινδουμένην αὐτὴν καὶ ὑπὸ γῆς ἄνουν 
παρέξει (250 6). ; 

Die zweite Rede hat zur Voraussetzung die Lehre vom An- 
sichseienden und von der Anamnesis, wie sie im Menon und Phaidon 
entwickelt ist. Das Neue, das sie bringt, ist die Auffassung des 
Eros. Im Menon hatte Plato gezeigt, wie die sokratische Methode 
die Anamnesis benutzt, um zur wissenschaftlichen Erkenntnis zu 
führen. Aber inzwischen hat Plato die Erfahrung gemacht, daß 
noch ein Moment hinzukommen muß, ohne das alle wissenschaft- 
liche Methode fruchtlos bleibt. Das ist der Trieb nach der Erkenntnis, 
die Sehnsucht, über das Sinnliche hinauszukommen. Dieser Trieb 
ist es, der die Anamnesis fruchtbar gestaltet. Es ist der Eros. Ganz 
neu ist natürlich auch die Wertung der Schönheit, die Plato lange 
unter dem Drucke der rein ethischen sokratischen Betrachtung 
aus den Augen verloren hatte, die aber nun, wo sie ihm plötzlich 
wieder zum Bewußtsein kommt, um so mächtiger hervordrängt 
und die Vermittlung zwischen Sinnlichem und Immateriellem über- 
nimmt. Neu und unsokratisch ist auch das irrationale Element, 
das damit in die geistige Entwicklung des Menschen, in den Er- 
kenntnisprozeß hereinkommt. Im Menon und Ion hatte Plato 
Aischines’ Gedanken, daß Sokrates’ sittliche Einwirkung durch den 
Eros auf einer ϑεία μοῖρα beruht habe (fr. 11D., vel. 5. 182 f£f.), 
spöttisch abgewiesen und eine ϑεῖα μοῖρα nur bei der niederen Tugend 


1) ἀτελεῖς τῆς τοῦ ὄντος ϑέας ἀπέρχονται καὶ ἀπελϑοῦσαι τροφῇ δοξαστῇ 
χρῶνται vgl. Phaid. 84 τὸ ἀληϑὲς καὶ τὸ ϑεῖον καὶ τὸ ἀδόξαστον ϑεωμένη καὶ 
ὑπ᾽ ἐκείνου τρεφομένη. 

22* 


940 Phaidros. 


anerkennen wollen. Jetzt gilt es ihm als ausgemacht, daß der Eros, 
der uns und die andern, auf die wir einwirken, zu Erkenntnis und 
Glückseligkeit führt, ein irrationales Element ist, das ϑείᾳ μοίρᾳ 
(244ac) uns zu Teil wird. Daß freilich Sokrates’ ganzes Wesen 
damit erklärt werden kann, das räumt er nicht ein. Es ist nicht 
der wahre Sokrates; drum müssen des Acheloos Töchter, die Nym- 
phen, aus ihm sprechen und eine ϑεία ἐξαλλαγή bei ihm hervorrufen. 
Aber Plato selber jedenfalls hat diese ϑεία μοῖρα bei sich empfunden 
und erkennt sie grundsätzlich in ihrer Bedeutung an). 

Wie sollen wir uns diesen Wandel in Platos Anschauungen 
erklären? Mitgewirkt hat gewiß die neue Psychologie, die mit der 
Alleinherrschaft des Intellekts brach. Aber der einzige, der Haupt- 
grund, ist sie gewiß nicht gewesen. Wenn man die zweite Rede 
des Sokrates liest, die Schilderung, wie gewaltig den Menschen 
der Anblick des Schönen packt, wie damit die vita nuova für ihn 
beginnt, wie sich allmählich zwischen Liebhaber und Geliebten das 
geistige Band festschlingt und die anfangs so mächtige Sinnlich- 
keit überwunden wird, so kann man sich schwer des Eindrucks 
erwehren, daß es ganz persönliche Erlebnisse sind, die Plato hier 
bekennt, und die so mächtig auf ihn eingewirkt haben, daß er ihnen 
typische Bedeutung geben möchte. Damit rühren wir an einen 
Punkt persönlicher Entwicklung, wo es vermessen wäre, wollte 
man sich einbilden, man könne τὴν αἰτίαν ἀποδιδόναι. Und selbst 
ein εἰκός möchte ich kaum in Anspruch nehmen, wenn ich den 
subjektiven Eindruck äußere, daß eine Stelle besondere Beachtung 
verdient. Wenn Plato 252e sagt: οἱ μὲν δὴ οὖν Διὸς δῖόν τινα εἶναι 
εἶναι ζητοῦσι τὴν ψυχὴν τὸν ὑφ᾽ αὑτῶν ἐρώμενον᾽ σκοποῦσιν οὖν 
ei φιλόσοφός τε καὶ ἡγεμονικὸς τὴν φύσιν, καὶ ὅταν αὐτὸν εὑρόντες 
ἐρασϑῶσι, πᾶν ποιοῦσιν ὅπως τοιοῦτος ἔσται, ist es da ganz un- 


1) Schon im ersten Teile finden sich mehrfach Ausdrücke, die an Aischines 
oder an den Ion erinnern, z. B. 235c λείπεται δὴ oluaı ἐξ ἀλλοτρέων ποϑὲν 
ναμάτων διὰ τῆς ἀκοῆς neninooodal we δίκην ἀγγείου. Wichtiger aber ist die 
Stelle aus Sokrates’ Hauptrede 253a. Bei Aischines hatte Sokrates seinen durch 
den Eros hervorgerufenen ἐνϑουσιασμός, kraft dessen er sittlich auf Alkibiades 
einwirkt, mit dem der Bakchantinnen verglichen, die, ὅϑεν οἱ ἄλλοι ἐκ τῶν φρεάτων 
οὐδὲ ὕδωρ δύνανται ὑδρεύεσθϑαι, ἐκεῖναι μέλι nal γάλα ἀρύονται (fr. 11cD). 
Welches der Quell ist, aus dem sie schöpfen, ist dabei nicht klar. Plato denkt 
an die Ideenwelt, die die Liebenden unter Zeus’ Führung geschaut, und sagt κἂν 
ἔκ Διὸς ἀρύτωσιν ὥσπερ αἱ Βάκχαι, ἐπὶ τὴν Tod ἐρωμένου ψυχὴν ἐπαντλοῦντες 
ποιοῦσιν ὡς δυνατὸν ὁμοιότατον τῷ σφετέρῳ ϑεῷ. 

®2) Über diese Zusammenstellung vgl. 5. 223. 


Der Eros. Der zweite Teil des Phaidros. 341 


erlaubt, an das Bekenntnis ὦ ἐμὸν ἐκμήνας ϑυμὸν ἔρωτι Δίων zu 
denken‘)? Καὶ τὰ μὲν ἄλλα παιδιᾷ πεπαίσϑω, soviel aber scheint 
mir sicher, daß die ganze Art, wie Plato hier vom Eros redet, wie 
er insbesondere die Glut der sinnlichen Liebe schildert, nicht dazu 
rät, die Abfassung des Phaidros in eine Zeit zu verlegen, wo Plato 
ein hoher Fünfziger war. 


Scheinbar ganz unvermittelt beginnt nach Sokrates’ zweiter 
Rede ein theoretisches Gespräch über die Rhetorik. Ähnliches 
haben wir schon im Protagoras nach dem Mythos und im Gorgias 
nach der Einteilung der Künste getroffen (S. 140). Wir werden 
deshalb nicht von vornherein über die mangelhafte Komposition des 
Phaidros den Stab brechen, sondern lieber uns bemühen, die 
Gedankenarbeit zu leisten, die Plato von seinem Leser verlangt. 
Vielleicht soll dieser auch hier εἰς μίαν ἰδέων συνορῶν ἄγειν τὰ πολ- 
Aayn διεσπαρμένα. 

Plato beginnt mit einem leichten Geplänkel. Es gab nämlich 
noch immer so manche vornehme Herren, die jede schriftstellerische 
Tätigkeit λογογραφία schalten und als nicht standesgemäß ver- 
warfen’). Ihnen hält Plato entgegen, die Anträge in der Volks- 
versammlung, die Gesetze seien doch auch συγγράμματα, die prin- 
zipiell von den publizierten Schriften nicht verschieden seien’). 
Nicht das Schreiben an sıch darf man also zum Vorwurf machen, 
wohl aber ist die Frage wichtig, wie man beim Schreiben und 
Reden — auf dieses wird die Untersuchung gleich ausgedehnt — 
vorzugehen hat‘). 

Was bei dieser Untersuchung entscheidend sein muß, stellt 
Plato gleich 259e heraus: Der Redner muß die Wahrheit wissen 

1 Beim Phaidros habe ich viel stärker die Empfindung, daß Plato Selbst- 
erlebtes bekennt, als beim Symposion, wo Gomperz, Gr. D. IH S. 319 auf Dion 
hinweist. 

5) Daß Plato in eigener Sache redet und die Verteidigung des Lysias gegen 
den Vorwurf der Aoyoyoapia nur zum Vorwand nimmt, ist doch deutlich. Da- 
mit entfallen Useners Folgerungen aus unserer Stelle. 

®) Der Sokratiker Aischines vergleicht die Gesetze mit den Reden und nennt 
sie λόγοι γεγραμμένοι fr. 51D. 

Ἢ 258e läßt Plato den Phaidros die Freuden betonen, die man von der 
wissenschaftlichen Tätigkeit hat. Wenn er dabei diesen die körperlichen Lüste 
entgegenstellt, bei denen meistens προλυπηϑῆναι δεῖ ἢ μηδὲ ἡσθῆναι, so weist 


das auf Gorg. 496 zurück. Diese heißen ἀνδραποδώδεις wie im siebenten Briefe 
335b. Zu dem Worte vgl. Phaidon 69b. 


942 Phaidros. 


über das, wovon er reden soll. Das widerspricht freilich der ge- 
wöhnlichen Auffassung der Rhetorik. Denn die lehrt, um die Menge 
zu überreden, brauche man nicht die Wahrheit zu wissen, sondern 
τὰ δόξαντ᾽ ἂν πλήϑει οἵπερ δικάσουσιν, οὐδὲ τὰ ὄντως ἀγαϑὰ ἢ καλὰ 
ἀλλ᾽ ὅσα δόξει. (2604). Es ist die Auffassung, die z. Β. Isokrates in 
seiner Programmrede vertritt, wenn er ὃ 8 erklärt, οἱ ταῖς δόξαις 
χρώμενοι hätten größere praktische Erfolge als die Leute, die ein 
Wissen zu besitzen behaupten, und die er sein ganzes Leben gegen 
Plato verfochten hat‘). Wohin solche Anschauung führt, das macht 
Plato an dem drastischen Beispiel klar, wo Redner und Auditorium 
in der δόξα einig sind, daß das Pferd an langen Eselsohren kenntlich 
sei (260) ἢ. 

Damit ist eigentlich die Unhaltbarkeit der herrschenden Auf- 
fassung der Rhetorik schon erwiesen. Aber man könnte diese 
doch noch als besondere Kunst festhalten, weil auch für den, der 
die Wahrheit weiß, die Überredungskunst unentbehrlich sei, weil 
ohne sie keine Einwirkung auf andere möglich sei (260d). Die 
Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, ob sie wirklich eine 
Kunst ist. Denn Sokrates glaubt Reden zu vernehmen, die diesen 
Anspruch aufs heftigste bestreiten und erklären, ὅτε ψεύδεται καὶ 
οὐχ ἔστι τέχνη ἀλλ᾽ ἄτεχνος τριβή. Es kann nicht bezweifelt werden, 
daß damit Plato auf seinen Gorgias hinweist, wo es 409} von der 
Rhetorik heißt: οὐκ ἔστι τέχνη, ἀλλ᾽ ἐμπειρία καὶ τριβή. Aber 
wenn er nun erklärt, diese λόγοι prüfen zu wollen, so denkt er 
natürlich nicht an eine Einzelkritik der Ausführungen des Gorgias, 
sondern den unbestimmten Ausdruck λόγοι wählt er, um die ganze 
Anschauung von der Rhetorik, die in jenen Worten zum Ausdruck 

1) Darauf kommen wir nachher zurück. 

3) Vgl. das Witzwort des Antisthenes bei D.L. VI, 8: συνεβούλευεν ᾿Αϑηναίοις 
τοὺς ὄνους ἵππους wnploaodaı: ἄλογον δὲ ἡγουμένων , ἀλλὰ μὴν nal στρατηγοί“, 
φησί, ςφαένονται παρ᾽ ὑμῖν μηδὲν μαϑόντες, μόνον ὃὲ χειροτονηϑέντες“. 

3) Gercke, Rh. M. LXII S. 176 übergeht grade diese entscheidenden Worte. 
Wenn er ein Zitat des Gorgias nicht anerkennen will, so bestimmt ihn außer 
seiner Gesamtanschauung über das Verhältnis von Gorgias und Phaidros wohl 
besonders der an sich im ganzen richtige Gedanke, daß die folgende Beweisreihe 
mit dem Gorgias nichts zu tun hat. Darüber vgl. den Text. Süß, Ethos 5. 21 ἢ, 
faßt das Problem nicht scharf an. Die Frage nach dem Verhältnis unserer Stelle 
zu Gorg. 463b, die doch Ausgangspunkt sein muß, stellt er nicht klar. Auch 
er sieht in den λόγοι ein Zitat aus einer Schrift des Gorgias selber. Aber Plato 


sagt doch ausdrücklich, daß diese λόγοι die Rhetorik, und zwar die ganze, — 
von einer einzelnen Richtung der Rhetorik ist hier wie p. 260 gar keine Rede 


p. 259e—261b. Ist die Rhetorik eine Kunst? 343 


kam, auf ihre Berechtigung zu prüfen; und daß er dabei seine 
Auffassung gegenüber dem Gorgias modifizieren will, das deutet 
er sofort an, indem er den λόγοι die bestimmte Aufgabe zuweist: 
Daidoov neidere ὡς ἐὰν μὴ ἱκανῶς φιλοσοφήσῃ, οὐδὲ ἱκανός more 
λέγειν ἔσται περὶ οὐδενός (261a). Er will also die absolute Scheidung 
von Philosophie und Rhetorik aufgeben und in der Philosophie 
die Grundlage der wahren Rhetorik aufzeigen. 

Die rhetorikfeindlichen Logoi beginnen: "Ao’ οὖν οὐ τὸ μὲν 
ὅλον A ῥητορικὴ ἂν εἴη τέχνη ψυχαγωγία τις διὰ λόγων, οὐ μόνον 
ἐν δικαστηρίοις καὶ ὅσοι ἄλλοι δημόσιοι σύλλογοι, ἀλλὰ καὶ ἐν ἰδίοις, 
ἡ αὐτὴ σμικρῶν τε καὶ μεγάλων πέρι, καὶ οὐδὲν ἐντιμότερον τό γε 
ὀρϑὸν περὶ σπουδαῖα ἢ περὶ φαῦλα γιγνόμενον; Siebeck hat be- 
kanntlich auch in diesen Worten ein Zitat aus dem Gorgias ge-. 
sehen, wo der Redner 452e als Aufgabe der Rhetorik bezeichnet 
τὸ πείϑειν οἷόν τ᾽ εἶναι τοῖς λόγοις καὶ Ev δικαστηρίῳ δικαστὰς καὶ 
ἐν βουλευτηρίῳ βουλευτὰς καὶ ἐν ἐκκλησίᾳ ἐκκλησιαστὰς καὶ ἐν ἄλλῳ 
συλλόγῳ παντί, ὅστις ἂν πολιτικὸς σύλλογος γίγνηται. Demgegen- 
über sieht Süß auch hier ein Zitat aus einer Schrift des Gorgias 
selber. Er schließt mit Recht nach dem Vorgange von Scheel aus 
Helena 10 ἔνϑεοι διὰ λόγων ἐπῳδαὶ ἐπαγωγοὶ ἡδονῆς dnayaywyoi 
λύπης und aus dem ψυχαγωγεῖν τοὺς ἀκροωμένους bei Isokr. ad 
Nik. 49 Euag. 10 sowie aus der Wiederkehr des Terminus im 
Phaidros 271c, daß die Definition der Rhetorik als ψυχαγωγία von 
Gorgias selbst herrührt. Auch das ist mir durchaus wahrscheinlich, 
daß im Gorgias 452 Plato dem Redner Worte in den Mund legt, 
wie er sie wirklich gesprochen hat, und man mag deshalb auch 
im Phaidros "Ao’ — σύλλογοι als Zitat aus einer Schrift des Rhetors 
ansehen. Aber ein folgenschwerer Irrtum ist es, wenn Süß auch 
die folgenden Worte, die gerade die Ausdehnung der Redekunst 
über das gewöhnliche Gebiet der Rhetorik bringen, als gorgianisch 
betrachtet (S. 22). Denn daß die Worte ἀλλὰ καὶ ἐν ἰδίοις — 


— als unwissenschaftlich bezeichnen. So könnte er sich doch nicht ausdrücken, 
wenn er Einwände, die Gorgias gegen eine bestimmte Richtung erhoben hatte, 
gegen ihn selber kehren wollte. 

In den Gesetzen spricht Plato 937d ff. von der schlechten Einrichtung, die 
sich an die Stelle des δώκη zu drängen sucht und für Geld verspricht, der gerechten 
wie der ungerechten Sache den Sieg zu bringen. Die soll im Idealstaat nicht er- 
laubt sein, εἴτ᾽ οὖν τέχνη εἴτε ἄτεχνός ἐστίν τις ἐμπειρία καὶ τριβή. Hier faht 
Plato die Rhetorik wie im Gorgias als Afterkunst, berücksichtigt aber den 
Phaidros mit. 


544 Phaidros. 


γιγνόμενον Plato ganz persönlich gehören, das spricht er doch selbst 
aus, wenn er Sokrates die Frage anschließen läßt ἢ πῶς σὺ ταῦτ᾽ 
ἀκήκοας; worauf Phaidros antwortet: Οὐ μὰ τὸν Δι’ οὐ παντάπασιν 
οὕτως, ἀλλὰ μάλιστα μέν πως περὶ τὰς δίκας λέγεταί τε καὶ γράφεται 
τέχνη, λέγεται δὲ καὶ περὶ δημηγορίας" ἐπὶ πλέον δὲ οὐκ ἀκήκοα. 
Dabei kennt er, wie er ausdrücklich hinzufügt, Gorgias’ Lehren so 
gut wie die des Thrasymachos und Theodoros’). 

Plato geht also von der Anschauung über die Rhe- 
torik aus, die deren Hauptwortführer Gorgias zum Aus- 
druck gebracht hat, korrigiert aber diese sofort, indem 
er zeigt, daß die Seelenleitung keineswegs bloß auf den 
von der Rhetorik beanspruchten Gebieten gilt, sondern 
überall, wo eine Einwirkung von Mensch zu Mensch 
mittels des Wortes stattfindet. Damit erweitert er die Auf- 
gabe der Rhetorik, entkleidet sie aber zugleich des Charakters, den 
ihr die Schulrhetorik aufgedrückt hat. 

Daß tatsächlich Plato selber erst diese Erweiterung vor- 
nimmt, zeigt unzweideutig das Folgende. Denn nachdem er mit 
einem τούτους μὲν ἐῶμεν Gorgias und seine Leute ausgeschaltet 
hat, ist das erste, daß er von sich aus den Beweis dafür gibt, 
daß dieselbe Kunst, eine Handlung bald gerecht bald ungerecht 
erscheinen zu lassen, die vor Gericht und in der Volksversamm- 
lung ihre Rolle spielt, auch von dem Eleaten Zenon geübt wird. 
Οὐκ ἄρα μόνον περὶ δικαστήριά τέ ἐστιν ἣ ἀντιλογικὴ καὶ περὶ 
δημηγορίαν, ἀλλ᾽ ὡς ἔοικε, περὶ πάντα τὰ λεγόμενα μία τις τέχνη, 
εἴπερ ἔστιν, αὕτη ἂν ein, N τις οἷός τ᾽ ἔσται πᾶν παντὶ ὁμοιοῦν 
τῶν δυνατῶν καὶ οἷς δυνατόν, καὶ ἄλλου ÖuoLoövrog καὶ ἀποκρυπτο- 
μένου εἰς φῶς ἄγειν (261). Und nun kann er von diesem 
Standpunkt aus sofort den gegen Gorgias sogut wie gegen Ly- 
sias gerichteten Beweis führen, daß die Lenkung der Seelen nur 


ἡ „Man spricht mündlich wie literarisch auf dem Gebiet der Rechtspflege 
von der ῥητορικὴ τέχνη.“ Also ist wohl τέχνη (B) vor τέχνῃ (T) vorzuziehen. 

3) Wenn also Alkidamas $ 9 sagt: τές γὰρ οὐκ οἶδεν, ὅτι λέγειν μὲν ἔκ τοῦ 
παραυτίκα καὶ δημηγοροῦσι καὶ δικαζομένοις καὶ τὰς ἰδέας ὁμιλίας ποιοῦσιν 
ἀναγκαῖόν ἔστι, so hat entweder Plato ihn ignoriert oder aber Alkidamas schließt 
sich an Plato an. Das letzte ist mir wahrscheinlicher, da für Alkidamas diese 
Stegreifrede im privaten Kreise herzlich wenig Bedeutung hat, und er schwerlich 
in seinem Unterricht auf diese vorbereitet hat. Jedenfalls ist es nicht richtig, 
wenn Gercke, Rh. M. LXII 85. 175 gerade umgekehrt meint, Plato liege hier ein 
tieferer Gedanke gewiß ferne und er lasse diesen Einfall sofort fallen. 


p. 261—266c. Erweiterung des Begriffes ψυχαγωγία. 345 


für den Wissenden möglich ist. Denn die Täuschung der Hörer 
vollzieht sich dadurch, daß man durch unmerkliche Übergänge 
unter Benutzung der Ähnlichkeiten von einem Punkte zum an- 
deren führt. Diese Täuschung ausführen oder aufdecken wird 
aber nur der können, der die Ähnlichkeiten kennt. Λόγων ἄρα 
τέχνην ὃ τὴν ἀλήϑειαν μὴ εἰδὼς δόξας δὲ τεϑηρευκὼς γελοίαν 
τινά, ὡς ἔοικε, καὶ ἄτεχνον παρέξεται (2620). Ohne das Wissen 
vom Objekt bleibt also die Rhetorik wirklich eine ἄτεχνος τριβή. 

Was Plato theoretisch erwiesen hat, macht er dann an dem 
Beispiel der Reden des ersten Teiles klar. Auch bei den Reden 
über den Eros handelte es sich für den Verfasser darum, die 
Hörer nach seinem eigenen Willen zu lenken, und das Thema 
war hier besonders geeignet, weil der Eros zu den Dingen ge- 
hört, deren Wesen umstritten ist. Es kam also darauf an, die 
eigene Auffassung dem Hörer zu suggerieren. Das hat Sokrates 
erreicht, indem er von vornherein die Hörer durch eine Definition 
des Eros in einen bestimmten Gedankenkreis bannte und sie 
darin festhielt, während Lysias keinen Versuch dazu machte, 
weder im Anfang noch im Verlaufe seiner überhaupt nicht nach 
einem festen Plane aufgebauten Rede (— 264e). Sokrates hat es 
vermocht, weil er die Kunst der Induktion und Deduktion be- 
herrscht, die er zusammenfassend Dialektik nennen will, und 
durch sie in den Stand gesetzt war die Wahrheit zu erkennen. 
Mit deren Hülfe kann man also auch zu einer λόγων τέχνη kom- 
men. Lysias und Konsorten haben sie nicht (— 266 ce). 

Damit ist die Frage von 260d zu beantworten. Es liegt 
nicht etwa so, daß neben der Erkenntnis der Wahrheit eine von 
ihr völlig unabhängige, auf anderen Prinzipien beruhende Rede- 
kunst existiert. Sondern soweit die ψυχαγωγία den Charakter 
einer τέχνη beanspruchen kann, ist die Erkenntnis des Objekts 
kraft der Dialektik Vorbedingung. 

Aber gibt es denn nun überhaupt eine solche formelle Kunst? 
Und worin besteht sie? Ganz gewiß nicht in dem, was die rhe- 
torischen τέχναι bringen. Denn das sind einzelne Kunstgriffe, 
die wohl aus der Empirie gewonnen und praktisch brauchbar, 
vielleicht sogar notwendig sein mögen, aber keinen wissenschaft- 
lichen Charakter tragen. Wer sich mit ihnen begnügt, gleicht 
dem Kurpfuscher, der ein paar praktische Rezepte gelernt hat 
und sich daraufhin einbildet, ein Arzt zu sein, obwohl er nicht 


346 Phaidros. 


Rechenschaft darüber geben kann, wann und wie diese Rezepte 
anzuwenden sind. Wenn die Rhetoren trotzdem ihre praktischen 
Mätzchen als Wissenschaft ansehen, so zeigen sie einfach, daß 
sie aus Mangel an dialektischer Schulung nicht imstande sind, das 
Wesen οἰ που. τέχνη zu erfassen (— 269 e). 

Was müßten wir nun aber positiv als Inhalt einer wirklichen 
δητορικὴ τέχνη betrachten? Welches die Faktoren sind, die prak- 
tisch zu großen, rednerischen Leistungen befähigen, darüber 
kann kein Zweifel sein. Schon Protagoras hatte erklärt (fr. 3): 
φύσεως καὶ ἀσκήσεως διδασκαλία δεῖται, im hippokratischen Νο- 
mos 2 ist für den Arzt nötig φύσις διδασκαλίη .. φιλοπονίη, und 
schwerlich dachte der Verfasser der Apologie der Heilkunst an- 
ders, wenn er auch nur παιδείη und φύσις ausdrücklich erwähnt 
(e. 9, wo Gomperz noch andere Stellen gibt); gewiß hat auch 
Süß 5. 27 recht, wenn er aus der Übereinstimmung von Plato 
mit Isokrates ca. soph. 17 schließt, daß Gorgias scharf die drei 
für den Redner nötigen Faktoren φύσις μελέτη ἐπιστήμη formu- 
liert hat. Aber beachten muß man, daß Plato diesen Punkt, in 
dem er mit der vulgären Anschauung übereinstimmt, nur der 
Vollständigkeit halber erwähnt und zwei Faktoren ganz kurz ab- 
macht, dafür aber desto ausführlicher bei der ἐπιστήμη verweilt. 
Und hier greift er nun naturgemäß auf den Gegensatz τέχνη — 
ἄτεχνος τριβή und auf den Gorgias zurück. Natürlich lag dabei 
keine Veranlassung für ihn vor, das ganze System der Künste 
aus Gorg. 465 zu verkapitulieren. Insbesondere konnte er bei 
der neuen Auffassung der Rhetorik als der allgemeinen Kunst 
der Einwirkung mittels der Rede diese nicht mehr als Schmeichel- 
kunst bezeichnen. Um so wichtiger war die Parallelisierung der 
Einwirkung auf den Leib und der auf die Seele. Diese trägt er 
deshalb 270b wieder vor und überträgt wieder die in der Medizin 
übliche Scheidung von Wissenschaft und Routine (vgl. S. 135 ff.) 
auf die Rhetorik. Jetzt läßt er aber noch schärfer hervortreten, 
was er der medizinischen Wissenschaft verdankt. Er beruft sich 
ausdrücklich auf deren anerkannten Meister, auf Hippokrates, und 
auf seine Lehre, daß medizinische Wissenschaft nur da vorhanden 
sei, wo man die Natur des Körpers kenne und diese Kenntnis 
selber auf die Kenntnis der gesamten Natur gründe. Das gleiche 
muß von der Seele gelten. Damit kommt er natürlich zu einer 
Auffassung, die über den Horizont der Berufsrhetoren weit hin- 


p. 2664— 270. Die Seelenkunde Voraussetzung der ψυχαγωγία. 547 


ausgeht. Von der Wichtigkeit einer klaren Psychologie für die 
Kunst der Überredung wußten die nichts, und gar die Speku- 
lation über die Natur des Alls erschien ihnen als ἀδολεσχία und 
μετεωρολογία). Aber der Mann, der von allen als der größte 
praktische Redner anerkannt war, verdankt die Großzügigkeit 
und den Weitblick seiner Reden neben seiner Anlage vor allem 
dem Umstande, daß er durch Anaxagoras Verständnis für die 
Naturphilosophie gewonnen hatte. Es sind auch keine utopi- 
stischen Forderungen, wenn Plato hier die Psychologie für die 
Wissenschaft der Seelenführung verlangt. In den Reden des 
ersten Teiles hat er ja eine Psychologie gegeben und sie auf 
eine umfassende Weltanschauung fest gegründet. Und gerade 
die dort gegebene Psychologie zeigt die Notwendigkeit, Klarheit 
über die Möglichkeit und Art der Einwirkung auf die verschiede- 
nen εἴδη der Seele zu gewinnen. Die einzelnen methodischen 
Forderungen kann er dabei wieder aus der medizinischen Wissen- 
schaft übernehmen. Selbst der Verfasser der Schrift über die 
alte Medizin, der Hippokrates’ Forderungen der absoluten Kennt- 
nis der menschlichen Natur oder gar des Alls verwirft (20), ver- 
langt doch vom Mediziner das Wissen ὅτι τέ ἐστιν dvdowsog 
πρὸς τὰ ἐσϑιόμενά τε καὶ πινόμενα καὶ ὅτι πρὸς τὰ ἄλλα ἐπιτη- 
δεύματα καὶ ὅτι ἀφ᾽’ Exdorov ἑκάστῳ συμβήσεται, καὶ μὴ ἁπλῶς 
οὕτως -πονηρόν ἐστι βρῶμα τυρός ' πόνον γὰρ παρέχει τῷ πλη- 
ρωϑέντι αὐτοῦ,“ ἀλλὰ τίνα τε πόνον καὶ διὰ τί καὶ τίνι τῶν ἐν 
τῷ ἀνθρώπῳ ἐνεόντων ἀνεπιτήδειον (ebenda) und wird nicht müde 
einzuschärfen, daß der Arzt sich über die Wirkung jeder ein- 
zelnen Maßnahme, jeder einzelnen Arznei klar sein, daß er ins- 
besondere die Bedeutung der Säfte, sowie die Beschaffenheit der 
Organe des Körpers kennen müsse. Denn es gibt im Körper 
sehr verschiedene εἴδεα σχημάτων ἃ δεῖ ndvra εἰδέναι N διαφέρει, 
ὅπως τὰ αἴτια ἑκάστων εἰδὼς ὀρϑῶς φυλάσσηται " περὶ δὲ δυνα- 
μίων χυμῶν αὐτῶν τε ἕκαστος ὅτι δύναται ποιεῖν τὸν ἄνϑρωπον 
ἐσκέφϑαι κτλ. (28. 4). Ein Widerhall solcher Erörterungen ist es 
doch. wenn Plato unter ausdrücklichem Hinweis auf die Medizin 
für die Kunst der psychischen Einwirkung die Forderungen prä- 
zisiert: Der Lehrer der Rhetorik muß erstens das Wesen der 


1. Daran daß an dieser Stelle (270a), die ganz auf Perikles zugespitzt ist, 
Plato auf Gorgias anspiele oder gorgianische Gedanken vortrage, hat gewiß kein 
Leser Platos gedacht. 


348 Phaidros. 


Seele prüfen, πότερον Ev zul ὅμοιον πέφυκεν ἢ κατὰ σώματος 
μορφὴν πολυειδές, zweitens, ὅτῳ τί ποιεῖν ἢ παϑεῖν ὑπὸ τοῦ πέ- 
φυκεν" τρίτον δὲ δὴ διαταξάμενος τὰ λόγων τε καὶ ψυχῆς γένη καὶ 
τὰ τούτων παϑήματα δίεισι πάσας αἰτίας, προσαρμόττων ἕκαστον 
ἑκάστῳ καὶ διδάσκων οἵα οὖσα ὑφ᾽ οἵων λόγων δι’ ἣν αἰτίαν ἐξ 
ἀνάγκης ἣ μὲν πείϑεται ἣ δὲ ἀπειϑεῖ (211 8). 

So nahe die Übertragung der medizinischen Grundsätze auf 
die Seelentherapie liegt, die berufsmäßigen Vertreter der Rhe- 
torik wissen von ihr nichts. Οἱ νῦν γράφοντες, ὧν σὺ ἀκήκοας, 
τέχνας λόγων, bemerkt Sokrates spöttisch mit ausdrücklichem 
Hinweis auf 261b, wo Phaidros seme Bekanntschaft mit den 
τέχναι des Gorgias, Thrasymachos und Theodoros ausgesprochen 
hatte, πανοῦργοί εἶσιν καὶ ἀποκρύπτονται εἰδότες ψυχῆς πέρι 
παγκάλως. Das schließt natürlich nicht aus, daß die empirisch 
gefundenen Einzelvorschriften, die sie lehren, einen gewissen 
Wert haben. Gorgias hat mit Recht eine Kenntnis der εἴδη τῶν 
λόγων, der Redegattungen verlangt. Richtig ist auch seine For- 
derung, daß der Redner über den passenden Zeitpunkt, den xaı- 
ρός, klar sein muß, wo er seine Kunstgriffe anwenden kann. 
Auch die Kunst des knappen Ausdrucks und Thrasymachos’ Vor- 
schriften über die Erregung der Affekte, die ἐλεινολογία und dei- 
vooıs mag man benützen. Aber wissenschaftlichen Charakter er- 
hält das alles erst, wenn die Psychologie die Grundlage geschaffen 
hat und man nicht bloß auf Grund von unsicheren Vorstellungen 
die Seele des andern als Zielpunkt für seine Reden nimmt, son- 
dern über die Wirkung der λόγοι auf die Hörer sich wirklich 
genau Rechenschaft zu geben vermag. So kann denn die Skizze, 
die Plato p. 271 von einer wirklichen τέχνη δητορική entwirft, 
gar manche Einzelheit aus den bisherigen τέχναι anerkennen und 
bewußt aufnehmen. Der Gesamtcharakter aber ist von Grund 
auf geändert. 

Damit hat Plato die 266d in Aussicht genommene Aufgabe 
gelöst und gezeigt, wie die Wissenschaft von der Einwirkung 
mittels der Rede, die wissenschaftliche ψυχαγωγία beschaffen sein 
müsse. Aber wie die Redner nach der positiven Darlegung noch 
τὰ πρὸς τὸν ἀντίδικον bringen, so hält er es doch für notwendig, 
seine p. 260 — 6 erwiesene Grundthese, daß die Kenntnis des 
Objekts, das Wissen der Wahrheit die Voraussetzung sein müsse, 
gegen einen Einwurf der Berufsrhetoren zu sichern. Es ist die 


271—277 a. Die neue ῥητορικὴ τέχνη. Mündliche und geschriebene Rede. 349 


Lehre des Teisias, daß man auf die Menge viel besser durch das 
εἰκός als durch das ἀληϑές einwirke. Da aber das εἰκός nichts 
anderes ist als τὸ τῷ πλήϑει δοκοῦν (273a, Zitat von 260a) und 
es deswegen der Menge glaubhaft erscheint, weil es der Wahr- 
heit ähnlich ist, so genügt zur Widerlegung des Einwurfs die 
Erinnerung an den p. 261. 2 gegebenen Nachweis, daß die Ähn- 
lichkeiten nur der herausfinden kann, der die Wahrheit weiß 
(272d — 279 6). 

Οὐκοῦν τὸ μὲν τέχνης τε καὶ ἀτεχνίας λόγων πέρι ἱκανῶς 
ἐχέτω, schließt Plato 2748. die Untersuchung ab und fährt fort: 
τὸ δ᾽ εὐπρεπείας δὴ γραφῆς πέρι καὶ ἀπρεπείας, πῇ γιγνόμενον 
καλῶς ἂν ἔχοι καὶ ὅπῃ ἀπρεπῶς, λοιπόν. Damit greift er auf 
258d zurück, wo er zu Gunsten des Lysias festgestellt hatte, ὅτι 
οὐκ αἰσχρὸν αὐτό γε τὸ γράφειν λόγους. Aber jetzt trıtt er mit 
einem ganz neuen Gesichtspunkt an die Frage heran. Während 
die τέχνη λόγων, die er vorher behandelte, die schriftliche wie die 
mündliche Einwirkung umfaßte, stellt er diese jetzt in Gegensatz 
zueinander. Zunächst nimmt er dabei gegenüber den Vertretern 
der τέχνη τῶν γραμμάτων für sich als Außenstehenden das Recht 
in Anspruch — der Ägypter Thamus hat es ebenso gemacht — 
über den Wert dieser Kunst abzuurteilen (274 extr.), und das 
Urteil muß lauten, daß die Schrift nicht Selbstzweck, sondern 
ein Notbehelf neben der mündlichen Rede ist, daß sie ohne diese 
nicht Verständnis, sondern nur den Schein des Wissens bringt. 
Denn die geschriebene Rede gleicht dem stummen Standbilde, 
das wohl an das Urbild zu erinnern, aber nicht selber Rede zu 
stehen und Verständnis zu vermitteln vermag. Primär hat nur 
der mündliche Unterricht Wert, der durch Frage und Antwort, 
durch die Dialektik wirkliches Wissen vermittelt und Samen 
streut, der nicht wie die Adonisgärten bald verwelkt, sondern 
ewige Frucht trägt. Nur sekundäre Bedeutung also hat die 
Schrift. Sie mag zur Erinnerung an die mündliche Belehrung 
dienen, sie darf als Erholung, als die würdigste παιδιά des 
Menschengeistes gelten. Aber nur im Zusammenhang mit dem 
mündlichen Unterricht hat sie Wert (— 277a). 

Wie man längst bemerkt hat, hebt auch Plato hier bewußt 
hervor, daß er ein Stück mit verständigen Rhetoren wie Gorgias 
oder Isokrates zusammengehen kann. Der Vergleich des stummen 
Bildes mit dem lebendigen Menschen lag in dem statuenreichen 


350 Phaidros. 


Athen natürlich nahe, und in Aristophanes’ Fröschen singt der 
Chor 533: ταῦτα μὲν πρὸς ἀνδρός ἐστι νοῦν ἔχοντος καὶ φρένας 
χαὶ πολλὰ περιπεπλευκότος, μετακυλίνδειν αὑτὸν ἀεὶ πρὸς τὸν 
εὖ πράττοντα τοῖχον μᾶλλον ἢ γεγραμμένην εἰκόν᾽ ἑστάναι λαβόνϑ᾽ 
ὃν σχῆμα. Aber wenn Alkidamas 27.8 ausführlich diesen Vergleich 
auf das Verhältnis der mündlichen zur geschriebenen Rede an- 
wendet’) und Isokrates in ähnlicher Weise die toten Musterstücke 
der Technographen der lebendigen beweglichen Rede gegenüber- 
stellt, so folgert Süß, Ethos S. 34 ff. wohl mit Recht, daß dieser 
Vergleich schon bei Gorgias vorlag. Daß Plato an einen gegebenen 
Vergleich anknüpft, deutet er auch selbst an, wenn er 275d sagt: 
δεινὸν γάρ που τοῦτ᾽ ἔχει γραφὴ καὶ ὡς ἀληϑῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. 
Auch der Gedanke, daß die geschriebenen Reden nicht Rede und 
Antwort stehen, ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαϑεῖν, 
ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί (275c), hat seine Parallelen bei 
Isokrates (ca. soph. 12 und im Briefe an Dionysios 3); wichtiger 
ist es aber hier jedenfalls, daran zu erinnern, daß diese Kritik aus 
der Sokratik naturgemäß erwachsen mußte und wirklich Sokrates 
schon im Protagoras 329a den Sophisten lobt, weil er sich erbiete 
auch Rede und Antwort zu stehen, und es nicht so mache wie die 
Volksredner, die lange Reden halten, ei δὲ ἐπανέροιτο τινώ τι, ὥσπερ 
βιβλία οὐδὲν ἔχουσιν οὔτε dnoxgivaodaı οὔτε αὐτοὶ ἐρέσϑαι. End- 
lich knüpft Plato noch in einem anderen Punkte an die Rhetorik 
an. Wenn von Thrasymachos eine Sammlung παίγνια zitiert wird, 
wenn Gorgias seine Helena abschließt ἐβουλήϑην γράψαι τὸν λόγον 
“Ἑλένης μὲν ἐγκώμιον ἐμὸν δὲ παίγνιον, wenn Plato dies in der 
Agathonrede so nachahmt: οὗτος ὃ παρ᾽ ἐμοῦ λόγος τῷ ϑεῷ 
ἀνακείσϑω, τὰ μὲν παιδιᾶς τὰ δὲ σπουδῆς μετρίας, nad” ὅσον ἐγὼ 
δύναμαι, μετέχων, so kann man nicht zweifeln, daß hier ein rheto- 
rischer Terminus vorliegt’). Der Sinn ist gewiß der des lusus ingenii, 
das „technische Experiment“ im Gegensatz zu der durch den Ernst- 
fall gebotenen Rede oder der praktischen Vorbereitung für diese. 
Daß nicht überhaupt das γράφειν als παιδιώ betrachtet wird, scheint 


1) Sein Ausdruck ὁ γεγραμμένος λόγος, Evi σχήματι καὶ τάξει κε- 
χρημένος Stimmt so merkwürdig zu Aristophanes, daß ich die Möglichkeit 
nicht ausschließen möchte, daß der Dichter auch hier wie 1021 mit seinem δρᾶμα 
"Aoewg μεστόν ein Zitat aus Gorgias gibt, dem er vielleicht noch mehr verdankt. 

2) Maaß, Hermes 22, 8.575; Gercke ib. 32, 8.355; Süß, Ethos 55.67. Daß der Ter- 
minus aber aus der Poesie stammı, zeigt Reitzenstein Epigramm und Skolion 87°. 


Mündliche und geschriebene Rede. 351 


mir an sich selbstverständlich und ist an allen drei Stellen deutlich'). 
An der dritten ist vom Schreiben ja überhaupt keine Rede. Aber auch 
Thrasymachos konnte doch nicht eine Einzelsammlung im Gegensatz 
z.B. zu seinem ovußovievrızoi als παίγνια bezeichnen, wenn er jede 
Publikation als παίγνιον ansah, und ebensowenig durfte in diesem 
Falle Gorgias das Wort als Gharakteristikum einer Einzelrede ver- 
wenden. Es ist also eine Weiterbildung des Terminus und der 
ihm zu Grunde liegenden Anschauung, wenn Alkidamas am Schlusse 
seiner Rede die Übung in der Stegreifrede als den eigentlichen 
Zweck des rhetorischen Unterrichts, das γράφειν dagegen als παιδιά 
und πάρεργον bezeichnet, und wenn Plato 276b ff. in derselben 
Weise die publizistische Tätigkeit dem mündlichen Unterricht 
gegenüberstellt. Hier bleibt also die Prioritätsfrage bestehen. Ich 
glaube, daß sie zu Gunsten Platos zu entscheiden ist’). Doch kommt 
darauf nicht viel an. Denn das Wesentliche bleibt das Motiv, aus 
dem heraus Plato das γρώφειν nur als Ergänzung des mündlichen 
Unterrichts gelten lassen will. Und dieses Motiv steht im Gegen- 
satz zu aller Rhetorik. Es ist der Gedanke, daß nur der mündliche 
Verkehr, nur die lebendige Wechselwirkung von Lehrer und Schüler 
diesen zum Selbstdenken, zum Forschen und Erkennen erzieht. 

Daß das die Hauptsache ist, hebt Plato in der Zusammen- 
fassung, mit der er nach Art der Redner seine Untersuchung ab- 
schließt, nochmals aufs schärfste hervor (277.8): Ohne Wissen 
von dem Objekt, über das man redet, ohne dialektische Schulung 
und psychologische Kenntnis ist keine τέχνη λόγων, keine Wissen- 
schaft der ψυχαγωγία durch Überredung oder Belehrung denkbar. 
Wo diese wissenschaftliche Grundlage vorhanden ist, da ist die 
Einwirkung auf andere, mag man sie als Redner, als Gesetzgeber 
oder sonstwie üben, berechtigt, sonst nicht. Die richtige Art 
der Einwirkung ist aber die des mündlichen Verkehrs, weil er 
allein wirkliche Belehrung gibt, dauernde Erkenntnis vermittelt. 
Immerhin ist das weniger wichtig, in welcher Form man ein- 
zuwirken sucht. Entscheidend ist, ob man von dem, was man 

!) Auch die Analogie des poetischen zalyvıov spricht dafür. Vgl. vor. Anm. 

3) Vgl. 5. 344°. Wenn Gercke, Rh. M. LXII S. 173 ff. für die Priorität des 
Alkidamas eintritt, weil Platos Eintreten für den mündlichen Unterricht mit dem 
übrigen Inhalt des Phaidros schlecht verknüpft sei, so kann ich dem nach meiner 
Analyse nicht beitreten. — Da Isokrates im Panegyrikos 11 wohl wirklich auf 


Alkidamas repliziert, würde die Priorität des Phaidros für deren Abfassung längere 
Zeit vor 380 entscheiden. 


352 Phaidros. 


vorbringt, ein wirkliches Wissen hat und Rechenschaft darüber 
geben kann oder nicht (2780). Nur wer dieses Streben nach der 
Wahrheit hat, den darf man φιλόσοφος nennen. 

Damit ist Sokrates am Ende. p. 2618 hatte er den Aöyoı, die 
den wissenschaftlichen Charakter der Rhetorik bezweifelten, die 
Aufgabe gestellt: Φαῖδρον πείϑετε ὡς ἐὰν μὴ ἱκανῶς φιλοσοφήσῃς 
οὐδὲ ἱκανός more ἔσται λέγεινπερὶ οὐδενός. Jetzt haben sie ihre 
Aufgabe gelöst, und Sokrates kann sie verabschieden (278})). 


Müssen wir uns jetzt noch mit der Anschauung auseinander- 
setzen, daß „das spezifisch platonische Gut im Phaidros bei weitem 
nicht den Umfang hat, den man ihm gemeinhin zubillist“, daß 
Plato wohl versucht, hier und da einen Faktor der gorgianischen 
Theorie zu verstärken, aber „keinen Versuch macht, seine Neue- 
rungen in die ἐπιστήμη einzubeziehen“, sodaß „seine Seelenkunde 
ein Hors d’oeuvre bleibt“ und „seine Forderung, daß der Redner 
das ἀληϑές kennen muß, in keiner Weise organisch mit dem übrigen 
Bestande ausgeglichen ist“ (Süß, Ethos 5. 80—82)? Süß hat das 
Verdienst, an mehr als einer Stelle die Beziehungen zu Gorgias 
bei Plato und seinen Zeitgenossen klargestellt zu haben, aber wenn 
er daraufhin Plato zum verpfuschten Gorgianer macht, so zeigt 
das nur, zu welchen Verirrungen man kommt, wenn man den 
Phaidros einfach unter die rhetorischen τέχναι einreiht und sich 
nicht darum kümmert, was der Dialog mit Platos eigenstem Denken 
zu tun hat. Dabei liegt doch soviel auf der Hand: Plato nimmt 
bewußt von den Rhetoren auf, was ihm brauchbar er- 
scheint; aber er tut es nur, um ihnen dann um so deut- 
licher zu zeigen, daß es ganz anderer Grundlagen be- 
darf, um ihre Routine zur Wissenschaft zu erheben. 

Aber es wird Zeit, daß wir genauer die Komposition und 
Tendenz des ganzen Dialoges ins Auge fassen. 

Die mannigfachen Fäden, die zwischen den beiden scheinbar 
unverbundenen Teilen des Dialoges hin und her laufen, hat zumeist 
schon Bonitz aufgedeckt (Platon. Studien 252). Einen deutlichen 
Fingerzeig gibt uns Plato selber p. 262d, wenn er ausdrücklich die 
Reden des ersten Teilen als Anschauungsmaterial bezeichnet. Die 
Forderung, daß die Rede ein wohldisponiertes organisches Ganzes 
sein muß, der Satz, daß auch zur Täuschung das Wissen gehört, 
daß sonst man περὶ ὄνου σχιᾶς streitet, die Notwendigkeit der 


Die wissenschaftliche ψυχαγωγία. 353 


dialektischen Schulung und das Wesen von Induktion und De- 
duktion, das alles wird uns ausdrücklich an den Reden erläutert. 
Aber niemand wird glauben, daß Plato die zweite Sokratesrede nur 
als formelles Anschauungsmaterial für die rhetorische Theorie ge- 
schrieben habe, Daß bei ihr auch der Inhalt zu dem zweiten Teil 
in enger Beziehung steht, haben wir schon vorher gesehen. Wenn 
Plato die Forderung einer wirklichen Psychologie für die rhetorische 
Wissenschaft aufstellen wollte, so mußte er zeigen, daß eine solche 
möglich sei, daß er selbst sie beherrsche. Noch wichtiger ist das 
andere. Das A und das O ist im zweiten Teile, daß man die Wahr- 
heit wissen müsse, wenn man τεχνικός sein wolle. Daß man die 
Wahrheit wissen könne und wie man das Wissen erlangen könne, 
zeigt die Sokratesrede. 

Bedenken müssen wir vor allem noch einmal, daß der zweite 
Teil nicht bloß die Rhetorik im landläufigen Sinne behandelt. Die 
τέχνη λόγων umfaßt nicht bloß die politischen und gerichtlichen 
Reden, sondern auch die Gesetze und die Volksbeschlüsse, sie gilt 
aber ebenso auch im kleinen Kreise, und das Lehren fällt ebenso 
in ihren Bereich wie das Überreden (277b). So erweitert sich für 
Plato die τέχνη λόγων zu einer wirklichen ψυχαγωγία und umfaßt 
das gesamte Gebiet der Gedankenmitteilung, der Einwirkung auf 
andere mittels des Wortes. So verschieden aber auch die Formen 
sind, in denen sich diese Einwirkung vollzieht, eins gilt für alle: 
Die einzige Ausbildung, die uns zu dieser Einwirkung wirklich 
befähigt, ist die, die das ἀληϑές ermitteln will (278b ff.). Nur wer 
dieses erreicht, der hat das Bildungsziel, „nach dem wir beide 
trachten“, ist φιλόσοφος. Wie er nachher seine Ausbildung ver- 
wertet, ob als Politiker, als Dichter oder Redner, das ist an sich 
gleich. Aber auch wenn er nachher vor der Volksversammlung 
spricht, wird er τέχνῃ nur reden können, wenn er ein Wissen, ein 
eigenes Urteil hat und nicht darauf angewiesen ist, fremde Gedanken 
aneinanderzuleimen und zu variieren. 

Ist diese Ausbildung, die der zweite Teil als höchstes Ziel 
erweist, möglich? Ja. Das zeigt uns eben die zweite Sokrates- 
rede, indem sie die Möglichkeit der Erkenntnis des ἀληϑές erweist. 
Wie ist ihre Methode? Das Hauptstück ist die Dialektik, die uns 
die beiden Sokratesreden praktisch kennen lehren und Sokrates 
nachher theoretisch erläutert. Die äußere Form ist der mündliche 
Unterricht, der in die Herzen der Hörer den Samen streut und sie 
. Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 23 


354 Phaidros. 


dazu führt, daß sie sich selber die Wahrheit erarbeiten. Der Lehrer 
kann hier viel tun, aber auch wenn er noch so gute Methode hat, 
wenn alles noch so rationell geordnet ist, so fehlt doch noch das 
Wichtigste: Das ist das eigene Streben des Hörers nach der Er- 
kenntnis, der Eros, der aus der Erinnerung an die einstmals ge- 
schaute Ideenwelt erwächst. Den Eros kann aber kein Lehrer hinein- 
pflanzen. Er läßt sich überhaupt nicht auf rationalem Wege er- 
wecken, noch könnte Plato in der begrifflichen Untersuchung des 
zweiten Teiles seine Entstehung schildern. Wie er sich am Anblick 
des Sinnlichschönen entzündet, wie er ein geheimnisvolles Band 
zwischen Liebhaber und Geliebtem schlingt und beiden die Schwingen 
gibt zum Fluge in das Reich des Idealen, das ließ sich nur in der 
Dichtung des ersten Teiles andeuten. 

Hier ist erst der Punkt, wo wir in den innersten Zusammen- 
hang der beiden Teile hinemblicken: Was uns der zweite 
Teil an Theorien über die höchste Ausbildung des Men- 
schen bietet, das wird erst vollständig, wenn wir das 
irrationale Element hinzunehmen, das uns der erste Teil 
in seiner Wirksamkeit zeigt. Im Menschen das Streben 
nach dem Höchsten zu wecken ist wichtiger als alle 
Methodik und Didaktik des Unterrichts. 

Und die Tendenz des Dialoges? Gewiß spielt hier die be- 
rufsmäßige Rhetorik eine viel größere Rolle als im Gorgias. Aber 
mit der Frage, unter welchen Bedingungen eine Kunst 
der Rhetorik möglich ist, ist der Inhalt des Dialoges 
ganz sicher nicht erschöpft. Schon deshalb nicht, weil 
Plato bewußt die Kunst des Redens allgemein als die 
Kunst der Einwirkung auf andere mittels des Wortes 
faßt. Um diese Einwirkung hat es sich für Plato von 
vornherein gehandelt, um sie handelt es sich für jeden, 
der Einfluß gewinnen will. Und nun zeigt er: man mag 
diesen Einfluß ausüben, wie man will, als Politiker, 
Redner, Dichter oder sonstwie, entscheidend für den 
Wert der Tätigkeit ist die Frage, ob man ein selbst- 
erarbeitetes Wissen auf dem Gebiete hat oder ein 
Pfuscher ist, der sich mit den δόξαι der Menge beruhigt 
(278cd). Dieser Alternative gegenüber ist sogar die 
Frage sekundär, ob man die Seelenführung im kleinen 
oder großen Kreise ausübt, ob man das Überreden oder 


Der Phaidros das Programm der Akademie. 355 


Lehren vorzieht (2770). Plato läßt freilich keinen Zweifel 
darüber, daß die rein wissenschaftliche Einwirkung die 
ist, der er persönlich den Vorzug gibt: ἣν οὐχ ἕνεκα 
τοῦ λέγειν καὶ πράττειν πρὸς ἀνθρώπους dei διαπονεῖσϑαι 
τὸν σώφρονα, ἀλλὰ τοῦ ϑεοῖς κεχαρισμένα μὲν λέγειν δύ- 
νασϑαι, κεχαρισμένως δὲ πράττειν τὸ πᾶν εἰς δύναμιν 
(273e). Aber natürlich will er die Wissenschaft nicht 
als den alleinseligmachenden Lebensberuf hinstellen. 
Wohl aber will er das zeigen, daß die wissenschaftliche 
Ausbildung, die Erziehung zum eigenen Forschen und 
Denken, zur selbsterarbeiteten Erkenntnis für jeden 
Vorbedingung sein muß, der im Leben Einfluß gewin- 
nen will. Nur diese Ausbildung, die das Streben nach 
der Wahrheit zum Inhalt hat, darf den Namen φιλοσοφία 
beanspruchen. 

Und wenn der junge Leser Platos nun fragt: „Wo ist diese 
φιλοσοφία zu finden, wo wird die richtige Ausbildung fürs Leben 
gegeben, wo wird man dialektisch geschult, lernt man die Kunst 
der Darstellung, wo wird vor allem die Seele beschwingt, daß sie 
zu den höchsten Höhen der Erkenntnis empordringen kann?“ so 
wird er nicht im Zweifel sein, welche Antwort er sich zu geben 
hat. Es ist die Akademie. 

Als Isokrates seine Schule eröffnete, veröffentlichte er eine 
Flugschrift, in der er nicht ein positives Programm gab, sondern 
die Schäden der bisherigen Ausbildung darlegte.e. Wenn Alki- 
damas für seinen Stegreifunterricht Propaganda machen will, 
polemisiert er gegen das Schreiben der Reden. So ist auch hier 
Plato von der Polemik gegen die in der Jugendbildung herr- 
schende Richtung ausgegangen. Aber er läßt einen viel tieferen 
Einblick in seine positiven Ziele tun als jene. Ich zweifle nicht, 
daßman den Phaidros mit Recht das Programm der Aka- 
demie genannt hat. 

Auf die Auffassungen, die den Phaidros in ganz andere Zeit 
verlegen, gehe ich nur kurz ein. Schleiermachers Ansicht, der Phai- 
dros sei ein Jugendwerk Platos, ist für jeden undiskutabel, der 
sich überzeugt hat, daß Plato in seinen ersten Dialogen bis zum 
Gorgias von der Ideenlehre nichts weiß. Aber etwas Richtiges 
lag doch in der Betonung der „Jugendlichkeit“ des Dialoges. 


Denn tatsächlich ist es psychologisch schwer denkbar, daß z. B. 
23* 


356 Phaidros. 


die glühende Schilderung der Wirkungen des Eros von Plato ge- 
schrieben sein soll, als er hoher Fünfziger war (vgl. S. 341). 

In diese Zeit rückt den Phaidros im Grunde ein einziges, 
allerdings sehr gewichtiges Argument. Das ist die Sprachstatistik. 
Aber selbst .der radikalste Sprachstatistiker sollte doch zugeben, 
daß eine Reihe von Erscheinungen, die der Phaidros mit den 
Altersdialogen gemeinsam hat, sich aus dem besonderen Stil des 
Dialoges erklären. Es ist nicht alles stichhaltig, was Natorp nach 
dieser Hinsicht im Arch. f. Gesch. d. Phil. XH. XIII vorgebracht 
hat. Aber daß man aus den poetischen Wörtern und Wen- 
dungen keine Schlüsse ziehen darf, wo Plato ausdrücklich er- 
klärt, daß er sie hier mit bewußter Absicht anwendet‘), ist doch 
selbstverständlich. Das gleiche gilt aber von den ungewöhn- 
lichen Wortbildungen, von den „jonischen“ Dativen usw. Am 
deutlichsten ist die Sache beim Hiat. Hier ist nach Janells Nach- 
weis (Fleck. Jahrb. Suppl. XXV]) die grundsätzliche Meidung ganz 
klar in der Altersgruppe, wo nur 0,44—5,85 unerlaubte Hiate 
auf der Seite vorkommen. Vorher ist von grundsätzlicher Mei- 
dung keine Rede, der Staat hat 35,27, der Theätet 32,70, der 
Parmenides 44,10 Hiate. Wenn nun der Phaidros mit nur 23,90 
Hiaten auftritt, so ist das doch ganz gewiß nicht durch seine 
Zugehörigkeit zur Altersgruppe zu erklären; die Erklärung hat 
man vielmehr, wenn man den ihm am nächsten stehenden Dialog, 
den Menexenos, mit seinen 28,19 Hiaten heranzieht. Beide Dia- 
loge sind in einer Kunstsprache geschrieben, die von selbst eine 
gewisse Meidung des Hiates herbeiführt. Wie sehr dadurch aber 
der ganze Sprachcharakter beeinflußt wird, ist bekannt. Für manche 
andere Erscheinungen verweise ich auf Barwick, Comm. Ien. X, 
p. 50ff., der z.B. das starke Vorkommen von ὄντως gut dadurch 
erklärt, daß Plato es speziell für das Sein der Ideen gebraucht. 

Wer möchte sich zutrauen zu begrenzen, wie weit der be- 
sondere Stil des Phaidros auch auf die einfachsten Ausdrucks- 
mittel eingewirkt hat! Trotzdem ist natürlich zuzugeben, daß 
Erscheinungen genug übrig bleiben, die sich so nicht ohne weiteres 
erledigen lassen. So hat kürzlich wieder v. Arnim die Zustim- 
mungsformeln der platonischen Dialoge untersucht (Wiener SB. 


1) Das erklärt Plato allerdings p. 257a zunächst nur mit Rücksicht auf 
die zweite Sokratesrede.. Aber daß auch weite Strecken des übrigen Dialoges 
einen anderen Stil zeigen als die übrigen Dialoge, muß doch jeder empfinden. 


Zeit des Phaidros. Sprachstatistik. 357 


1912) und ist auch da zu dem Ergebnis gekommen, daß der 
Phaidros sogar in die Zeit nach dem Parmenides gehört. Sein 
Material erscheint erdrückend, und bei einem Manne wie v. Ar- 
nim wiegt auch das Selbstzeugnis schwer, er habe „in logisch 
einwandfreier, streng wissenschaftlicher Weise die Reihenfolge 
der Schriften ermittelt“ (S. 230). Immerhin, wenn man nicht bloß 
Arnims Schlußkapitel liest, wo alles aufs beste zu stimmen scheint, 
ergibt doch sein eigenes Material manche Merkwürdigkeiten. So 
hat der Parmenides unter seinen nächsten zehn Verwandten zwar 
auch das zwölfte Buch der Gesetze, aber ebenso Lysis, Char- 
mides und Rep. I, die nach v. Arnim zu den frühesten Schriften 
gehören, und die mit diesen eng verwandten Dialoge Phaidon 
und Euthyphron korınmen an elfter und vierzehnter Stelle. Beim 
Symposion gibt v. Arnim selbst zu, daß das Material zu klein 
ist, um sichere Schlüsse zu ziehen. Aber auch beim Phaidros 
ist es keineswegs groß — v. Arnim zählt 50 Formeln, die mit 
anderen Dialogen gemeinsam sind, gegen 208 beim Theätet, 283 
beim Parmenides und z. B. 66 in einem so kleinen Dialog wie 
Charmides — und sieht man sich die einzelnen Formeln an, so 
ist das Schwergewicht, das den Dialog in die späte Zeit hinab- 
zieht, in der Hauptsache nur das ominöse τί μήν; das elfmal auf- 
taucht. Sollte hier aber nicht Dittenbergers Beobachtung, daß 
Plato τί μήν; aus der sizilischen Umgangssprache aufgegriffen zu 
haben scheint, in Betracht zu ziehen sein')? Was ist natürlicher 
als daß eine solche Wendung gerade nach der Rückkehr aus 
Sizilien mit einem Male besonders in die Feder fließt, um dann 
vielleicht eine Zeitlang wieder zurückzutreten °’)? 

So erheben sich gegen v. Arnims Folgerungen Bedenken, 
auch wenn man sonst seiner Untersuchung folgt. Aber ganz ab- 
gesehen davon, daß seine Methode vielleicht nicht ganz einwand- 
frei ist’), so ist es selbstverständlich, daß bei einem so großen 


1 Daß τέ μήν; nicht auf Sizilien beschränkt war, macht dabei nichts aus. 

2) Ritter, Neue Untt. 219 erwähnt, daß Schleiermacher auf eine fremde 
Erinnerung hin das Wörtchen „eben“, das er vorher übermäßig gebraucht hatte, 
jetzt ein Semester lang ganz mied. Dürfen wir den mit so feinem Stilgefühl be- 
gabten Griechen nicht Ähnliches zutrauen? — Ich weiß natürlich, daß Ritter 
und v. Aınim auf die einzelne Erscheinung keinen Wert legen, aber tatsächlich 
beeinflußt in diesem Falle der eine Faktor die Rechnung sehr stark. 

3) Zunächst mußten die negativen Formeln der Vollständigkeit halber heran- 
gezogen werden, da das οὐκ ἔμοιγε δοκεῖ doch auf demselben Brett steht wie 


358 Phaidros. 


Material auch der gewissenhafte Forscher nicht überall genau 
ist, nicht überall ohne Subjektivität verfährt. Ich wählte zur 
Nachprüfung den Lysis, weil ich diesen Dialog aus inhaltlichen 
Gründen hinter den Phaidros und vor das Symposion setze. Auch 
Ritter verbindet ihn mit diesem und betont S. 503 ausdrücklich, 
daß der sprachliche Befund für die Zusammengehörigkeit beider 
Dialoge spricht, während v. Arnim den Lysis mit Laches, Char- 
mides u. a. zu den allerfrühesten Werken zählt, obwohl auch 
nach ihm unter den zehn am nächsten verwandten Dialogen 
Parmenides, Phaidon und Theätet (an 4., 9., 10. Stelle) er- 
scheinen. 

Sieht man sich nun die einzelnen Formeln des Lysis an 
(auf S. 66), so fällt auf, daß er eine ganze Reihe hat, die in den 
späteren Dialogen stärker hervortreten, so ἀληϑῆ, κινδυνεύει, πῶς 
δ᾽οὔ; καὶ μάλα, οὕτως, τί μήν; σφόδρα γε ὀρϑῶς λέγεις, ἀλλὰ 
τί μήν; κομιδῇ, während keine Formel da ist, die der Dialog aus- 
schließlich mit den jüngeren gemeinsam hätte, und wenige für 
die ‚Altersdialoge bezeichnenden Formeln fehlen. Dieses wird noch 
klarer, wenn man Arnims wichtigste Posten — nur bei denen habe iches 
getan— nachprüft. ᾿Ανάγκη, dasbesonders im Theätetund Parmenides 
auftritt (10 bezw. 23 Mal), kommt im Lysis nicht viermal vor, wie 
v. Arnim angibt, sondern sechsmal (210a 213b 216b — zweimal 
— 218d 219d), wozu noch ἀνάγκη, ὡς ἔοικεν 217a tritt, und im 
Phaidros, der es angeblich gar nicht hat, steht 262a ἀνάγκη μὲν 
οὖν. — Mit dem einen καὶ μάλα meint v. Arnim wohl Lysis 208b. 
Aber Berücksichtigung verdiente nach seiner sonstigen Gewohnheit 
auch 207 e vai μὰ Δία ἐμέγε, ὦ Σώκρατες, καὶ μάλα γε πολλὰ κωλύου- 
σιν, und der Phaidros bietet nicht drei, sondern vier Beispiele (258be 
263a 274b). — Σφόδρα γε führt er einmal an, wohl nach 221}, 
aber steht 2126 σφόδρα γε, ἔφη, ἀληϑές grundsätzlich anders? — 
Zu des Phaidros συγχωρῶ ὃ λέγεις führt A. als Parallele συγχωρῶ 
aus Rep. I und Theätet an, aber dieses finden wir auch Lys. 
210c (wo allerdings σνγχωρεῖς οὕτως ἔχειν; vorhergeht). — Und 
wenn wir 218b lesen: παντάπασιν ἐφάτην TE καὶ συνεχωρείτην 
οὕτω τοῦτ᾽ ἔχειν, so ist das die nächste Parallele zu dem παντά- 


ἔμοιγε δοκεῖ. Über die rechnerische Methode v. Arnims wage ich kein Urteil, 
wenn es mir auch als das Gegebene erschienen wäre, nicht von der absoluten 
Zahl der zwei Dialogen gemeinsamen Formeln, sondern von dem Verhältnis dieser 
Zahl zur Gesamtzahl der im Dialoge vorkommenden Erscheinungen auszugehen. 


Sprachstatistik. 359 


πᾶσιν οὕτως ἔχει, das A. 5. 28 aus Rep. III anführt‘). — Am 
merkwürdigsten ist aber, daß A. für die vielbeachtete Formel 
ἀλλὰ τί μήν; nur einen Beleg kennt, obwohl 2080 ὁ kurz hinter- 
einander zwei Fälle stehen’). 

Für so ganz unbedingt zwingend dürfen wir also v. Arnims 
Material nicht halten, und was wir hier angeführt haben, nötigt 
uns, den Lysis erheblich später zu setzen. Dazu kommen ja auch 
Erscheinungen, die ihn direkt mit den späteren Dialogen ver- 
wandt erscheinen lassen. Außer dem schon erwähnten τί μήν; 
führt Ritter besonders die vier ἀλλὰ --- μήν und xai πῶς; an. 
Wenn demgegenüber die kurzen Partikeln wie πάνυ γε und ναί 
ähnlich wie in den Jugenddialogen überwiegen, so darf man nicht 
vergessen, daß der Lysis wie diese große Partien hat, wo kurze 
Fragen ebenso kurze Antworten erheischen. Auch daß die Part- 
ner des Sokrates hier unreife Jungen sind, scheint mir ein Im- 
ponderabile, das z. B. das Fehlen von starken Superlativen in 
der Antwort erklärt). 

Endlich sei auf eine merkwürdige Erscheinung aufmerksam 
gemacht. In dem kurzen Abschnitt 207d—208e finden wir nicht 
bloß neben dem zweimaligen χαὶ μάλα zweimal ἀλλὰ τί μήν; 
sondern auch die beiden anderen Beispielen von ἀλλὰ... μήν, 
und zwar in der merkwürdigen Form ἀλλὰ τίνα μήν; und ἀλλ᾽ 
ἀντὶ τίνος μήν κτλ. ἡ; während sonst von verwandten Wendungen 
nur noch einmal τί μήν; p. 2196 steht. Dazu kommen plötzlich 
noch drei Beispiele von μῶν, das nach Kugler, De particula τοί, 
Basler Diss. 1886 p. 40 bei Plato recht selten ist und besonders 


1) Überhaupt ist esm. E. unzulässig, wenn man die indirekten Wendungen 
ignoriert, z.B. Symp. 1996 φάναι, 2004 ovupavaı, dagegen φημέ und σύμφημι, 
die besonders in den späten Dialogen vorkommen, mitzählt. 

5) Oder scheidet A. ἀλλὰ τί μήν; ἔφη und ἀλλὰ τί μήν; ἡμέτερός γε, ἔφη 

8) Daß man selbst bei den Zustimmungsformeln rein mechanische Verwen- 
dung nicht ohne weiteres voraussetzen darf, kann Aristoteles zeigen, wenn er 
Top. 156a 17ff. Vorschriften darüber gibt, wann man in der Debatte ναί oder 
οὔ, wann anders zu antworten hat. 

*) Außer dem Lysis bietet von den Dialogen, die Ritter zur ersten Gruppe 
rechnet, bekanntlich nur noch das Symposion 2 ἀλλὰ... μήν, beide in der 
Form der Frage ἀλλὰ τέ μήν; 202d 206e. — Beim Symposion gibt v. Arnim an, 
es habe das in späterer Zeit häufige καλῶς λέγεις nur einmal (200 b), aber ἀλλὰ 
καλῶς (μὲν) λέγεις steht auch 194e 214c. Auch zu dem einen πάνυ μὲν οὖν 
206e tritt noch das πάνυ μὲν οὖν ἔστυν 1996. Auf S. 35 mußte v. Arnim das 
ed ἴσϑι aus Symp. 208c anführen. Auch 2000 κἀμοὶ δοκεῖ (= Rep. N) fehlt. 


360 Phaidros. 


den Altersdialogen angehört‘). Speziell für μῶν μή, das hier 
zweimal auftritt, führt Kugler nur aus Phaidon 1, Rep. 2, Soph. 1, 
Phil. 1 Fälle an. Eine Erklärung dieser Häufung auffälliger Er- 
scheinungen wird schwerlich ein Mensch geben können. Sollten 
nicht aber solche Auffälligkeiten auch einmal in einem ganzen 
Dialoge vorkommen können? 

Man kann die großen Verdienste, die die Sprachstatistik sich 
durch Abgrenzung der Hauptgruppen erworben hat, dankbar an- 
erkennen, und kann doch Zweifel hegen, ob sie imstande ist, 
wirklich alle Erscheinungen von Stil und Sprache so ‚herauszu- 
präparieren, daß sie keinen Raum für Ausnahmen übrig läßt, ob 
nicht doch eine wirkliche Erforschung der individuellen Bedingt- 
heiten des Stiles notwendig wäre, damit sie nicht bloß τὰ πρὸ 
τῆς τέχνης ἀναγκαῖα, sondern αὐτὴν τὴν τέχνην böte. Ritter gibt 
in seinem Aufsatz, wo er die Richtigkeit der Sprachstatistik durch die 
Anwendung auf Goethe zu erweisen sucht (Neue Untt. S. 224), eine 
Tabelle über den Sprachgebrauch Zellers. Hier weist er einwand- 
frei nach, daß bei diesem allmählich „welcher“ durch „der“ ver- 
drängt worden ist. Das Verhältnis ändert sich in den drei unter- 
suchten Gruppen von 209:156 zu 73:84 zu 76:140. Aber aus 
Ritters eigener Tabelle sieht man auch, daß ein Aufsatz der 
ersten Gruppe das Verhältnis 11:29 zeigt, und wenn nicht 
glücklicherweise das Jahr 1843 als Abfassungszeit feststände, 
würde Ritter, da die anderen Spracherscheinungen nicht ent- 
scheidend sind, den Aufsatz mindestens 50 Jahre herabrücken 
müssen. Wenn solche Ausnahmen sich am grünen Holze des als 
Beweis präsentierten modernen Materiales finden, wird ein Zweifel 
an der Ausnahmlosigkeit der durch die Sprachstatistik postulierten 
Gesetze erlaubt sein müssen. Jedenfalls bleibt es eine Hypothese, 
„daß die Umbildung der psychischen Disposition, durch welche die 
Ausdruckswahl geregelt wird, nur ganz allmählich, ohne Sprünge, 
in unmerklichen Übergängen erfolgen kann” (v. Arnim S. 13). 
Auch die Stimmung, auch die Tendenz kann die Ausdruckswahl 
bestimmen, und wo Plato selber uns darauf hinweist, daß beim 
Phaidros besondere Stilgesetze obwalten, ist es doch wissenschaft- 
lieh unzulässig, darüber mit oder ohne Achselzucken hinwegzugehen. 


1) Nach Kugler haben Menon, Euthydem, Lysis je 3, Protagoras 2, Phai- 
don 1, Republik 4, Theätet 3, dagegen Sophist, Politikos, Philebos und Leges zu- 
sammen 59 Beispiele! 


Der Phaidros und die nächstverwandten Dialoge. 361 


Ritter ist vorsichtig genug, über Staat und Phaidros auf 
Grund der Sprachstatistik allein kein Urteil abzugeben (Platon 
261—4). Beim Symposion wieder gibt v. Arnim zu, dab das 
geringe Material keinen sicheren Schluß gestattet. Und gerade 
bei diesem haben Bruns („Attische Liebestheorien“, jetzt in den 
Vorträgen und Aufsätzen), Crain Comm. Ien. VII, Barwick Comm. 
Ien. X und andere gezeigt, wieviele sachliche Gründe für die 
Abfassung nach dem Phaidros sprechen, und wir werden diese 
Gründe noch verstärken. — Andrerseits weisen die engen Be- 
ziehungen zum Menon und Phaidon darauf hin, daß der Phaidros 
von diesen Dialogen nicht weit abliegt. Ich glaube, daß inhalt- 
lich vieles dafür spricht, den Euthydem (nebst Kratylos) hinter 
den Phaidros zu setzen. Immerhin betrachte ich das angesichts 
der sprachstatistischen Gründe nicht als sicher‘). Sehen wir da- 
von ab, so reduziert sich der Unterschied zwischen meiner Ghrono- 
logie und der von Räder und von Ritter, Platon S. 254 gegebe- 
nen darauf, daß diese die Folge ansetzen: Symposion, Phaidon, 
Politeia, Phaidros, während ich das Symposion (nebst Lysis) hinter 
den Phaidros rücke. Die Abfassung der Politeia hält Ritter, wie 
gesagt, auf Grund der Sprachstatistik auch nach dem Phaidros 
für denkbar. Ich glaube, daß ihre Ausarbeitung neben Phaidros, 
Lysis und Symposion hergegangen, die Veröffentlichung später 
erfolgt ist. 

Daß Plato an der Spitze einer Schule stand, als er den 
mündlichen Unterricht unbedingt für die gegebene Ausbildungs- 
methode erklärte, scheint mir selbstverständlich. Andererseits 
ist aus der Geringschätzung der Schriftstellerei gar nichts zu 
schließen. Plato erklärt einfach: „Das Schwergewicht meiner 
Tätigkeit liegt in meinem Unterricht, der allein die wissenschaft- 
liche Ausbildung begründet. Was ich jetzt und sonst publiziere, 
sind πάρεργα“. Warum soll er solche Grundsätze nicht in einer 
Zeit aussprechen, wo er παίγνια wie den Menexenos veröffent- 
licht? Alkidamas hat seine Verurteilung der γεγραμμένοι λόγοι 
in einem γεγραμμένος λόγος ausgesprochen. Sollen wir es für un- 
möglich halten, daß Plato seine programmatischen Sätze in einer 
Programmschrift der Akademie veröffentlicht hat? 


1) Über das Verhältnis zu Isokrates nachher. Die sprachstatistischen Gründe 
sucht jetzt Barwick, Comm. Ien. X p. 5öff. zu beseitigen. 


362 Phaidros. 


Endlich noch einige Worte über die Stellung Platos zu Iso- 
krates. Ich muß gestehen, daß mir die vielbehandelte Frage 
nach dem persönlichen Verhältnis der beiden Männer verhältnis- 
mäßig: wenig wichtig erscheint‘), Wichtig ist dagegen der sach- 
liche Gegensatz, und hier ist glücklicherweise kein Zweifel mög- 
lich. Er läßt sich zusammenfassen in die beiden Schlagworte 
ἐπιστήμη — δόξα Ὗ. Das zeigt Isokrates Antid. 271: ἐπειδὴ γὰρ οὐκ 
ἔνεστιν ἐν τῇ φύσει τῇ τῶν ἀνθρώπων ἐπιστήμην λαβεῖν, ἣν ἔχον- 
τες ἂν εἰδεῖμεν ὅτι πρακτέον ἢ λεκτέον ἐστίν, ἐκ τῶν λοιπῶν 
σοφοὺς μὲν νομίζω τοὺς ταῖς δόξαις ἐπιτυγχάνειν ὡς ἐπὶ τὸ 
πολὺ τοῦ βελτίστου δυναμένους, φιλοσόφους δὲ τοὺς Ev τούτοις 
διατρίβοντας, ἐξ ὧν τάχιστα λήψονται τὴν τοιαύτην φρόνησιν Ἷ. 
Daß hier Isokrates seine Anschauung im Gegensatz zu den Män- 
nern formuliert, die allen Wert auf die ἐπιστήμη legen und für 
sich den Namen φιλόσοφοι in Anspruch nehmen, zeigen die zur 
Eimleitung vorausgeschickten Worte: τὴν καλουμένην ὑπό τινων 
φιλοσοφίαν οὐκ εἶναί φημι. Die gegnerische Anschauung ent- 
wickelt Plato am Schluß von Staat V. Dort nimmt er 474c die 
am Schluß des Phaidros kurz behandelte Frage nach dem Be- 
griff des φιλόσοφος wieder auf und definiert ihn, den σοφίας 
ἐπιϑυμητῆής, genauer als dAndeiasg φιλοϑεάμων. Die Wahrheit ist 
aber im Ansichseienden enthalten, auf diese geht das Wissen, 
während auf die vielen Einzeldinge sich die δόξα richtet. So 
kommt er zu der Gegenüberstellung: 


ὄν ἐπιστήμη φιλόσοφος 
μὴ ὄν ἄγνοια ἀγνώμων 
μεταξύ δόξα φιλόδοξος 


1 Wer freilich ein gutes persönliches Verhältnis aus der Dichtung des 
Praxiphanes erschließt, der beide in einem Dialog zusammenführte (D. L. II, 8), 
der muß auch die andere Praxiphanesszene als historisch ansehen, wo Thuky- 
dides am Hofe des Archelaos mit je einem Vertreter der verschiedenen poetischen 
Gattungen disputiert (Marcellin v. Thuk. 29). Und wenn man darauf verweist, 
daß sie gemeinsame Schüler gehabt haben — nun, es soll doch auch heute vor- 
kommen, daß zwei Dozenten, bei denen dieselben Studenten hören, nicht über- 
mäßig gut miteinander stehen. 

5) Ich kann mich hier kurz fassen, da ich eine Spezialarbeit über dieses 
Thema von einem Schüler erhofie. 

») Vgl. dazu besonders Panath. 26—30, wo Isokrates sich ganz als Gor- 
gianer fühlt, wenn er als die Gebildeten nicht die Wissenden ansieht, sondern 
τοὺς τὴν δόξαν ἐπιτυχῆ τῶν καιρῶν ἔχοντας καὶ δυναμένην ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ 
στοχάξεσϑαι τοῦ συμφέροντος. 


Plato und Isokrates. 363 


Hier präzisiert also Plato aufs schärfste, daß er ausschließlich für 
seine Richtung den Namen φιλοσοφία in Anspruch nimmt, weil 
sie nach der ἐπιστήμη strebt, und denen, die in den δόξαι be- 
fangen bleiben, ihn nicht zuerkennt’). Daß in der Beziehung 
φιλόδοξοι eine kleine Bosheit enthalten ist, wird man kaum ver- 
kennen; wichtiger ist, daß sachlich die Richtung des Isokrates 
getroffen wird. Darüber läßt die Replik der Antidosis keinen 
Zweifel, und schon in der Helena (5) sagt Isokrates: πολὺ κρεῖτ- 
τόν ἐστι περὶ τῶν χρησίμων ἐπιεικῶς δοξάζειν ἢ περὶ τῶν ἀχρή- 
στων ἀκριβῶς ἐπίστασθαι. 

Als Plato also das fünfte Buch des Staates schrieb, war der 
sachliche Gegensatz zwischen ihm und Isokrates schon ganz scharf 
ausgeprägt. Beide erhoben Anspruch auf den Namen φιλόσοφος, 
aber Plato stritt jedem, also auch Isokrates, das Recht ab, sich so 
zu nennen, der nicht wirklich nach dem Wissen strebe. Nun ist 
die Darlegung des Staates nichts andres als eine genauere 
Präzisierung der Stelle des Phaidros, wo Plato offenbar p. 2784. 
zum ersten Mal ausdrücklich den Namen φιλοσόφος für den 
reserviert, der nach der wissenschaftlichen Ausbildung, nach dem 
ἀληϑές strebt. Das muß man vor allem ins Auge fassen, wenn man 
das bekannte Vaticinium des Sokrates über Isokrates am Schluß 
des Phaidros betrachtet. Denn wenn er dort sagt: φύσει γάρ, ὦ 
φίλε, ἔνεστί τις φιλοσοφία τῇ τοῦ ἀνδρὸς διανοίᾳ, so kann das 
nach der Definition des φιλόσοφος, die unmittelbar vor- 
hergeht, nur heißen: In Isokrates liegt von Natur das 
Streben, über die richtigen Vorstellungen hinauszu- 
kommen undzur Wahrheitd.h.zur Anerkennung derlIdeen- 
lehre, die allein die Wahrheit bringt, vorzudringen. 


1 An diesen Abschnitt des Staates erinnert formell der Schluß das Euthy- 
dem. Denn dort wird der ungenannte Gegner der Philosophie als ein Mann 
charakterisiert, der, um die δόξα σοφίας davonzutragen, das Gute von Philo- 
sophie und Praxis zu verbinden sucht, aber gerade dadurch in eine Mittelstellung 
gerät, die ihn an die dritte Stelle, hinter Philosophie und Praktiker rückt. Diese 
Parallele ist es, die mir am meisten dafür zu sprechen scheint, daß Isokrates 
dort der Gegner ist. Dann muß der Euthydem hinter den Phaidros fallen. Vgl. 
S. 361. Doch sagt auch Phaidros p. 275a Plato: σοφίας δὲ τοῖς μαϑηταῖς δόξαν, 
οὐκ ἀλήϑειαν mogiteıs. Man hat das Gefühl, daß er auch dort bestimmte Leute 
vor Augen hat, aber schwerlich Isokrates. So könnte auch im Euthydem ein 
für uns nicht mehr kemntlicher Gegner gemeint sein. Dann fiele der Dialog 
zwischen Menon und Phaidros. — Vgl. noch S. 205°. 


904 Phaidros. 


Es scheint mir schlechterdings unmöglich, daß Plato eine 
solche Äußerung getan haben sollte, nachdem er das fünfte Buch 
des Staates geschrieben hatte. Sobald sich der sachliche Gegen- 
satz zwischen den beiden Schulhäuptern ausgebildet und beide 
sich auf ihrem Standpunkt festgelegt hatten, hätte sich doch Plato 
einfach lächerlich gemacht, wenn er die Hoffnung ausgesprochen 
hätte, Isokrates würde sich noch zu seiner Weltauffassung bekehren. 

Nein, Platos Äußerung ist nur verständlich in einer Zeit, wo 
der Gegensatz noch nicht ausgebildet war, wo Plato noch von 
der Missionskraft seiner neuen Weltanschauung unbedingt über- 
zeugt war. Durchaus möglich ist sie noch nach Isokrates Pro- 
gerammrede. Dort findet sich freilich auch schon der Gedanke, 
daß man mit Hülfe der δόξαι praktisch mehr erreiche als mit der 
ἐπιστήμη (8); aber er ist nur beiläufig ausgesprochen, von einem 
grundsätzlichen Gegensatz gegen Plato, der ja noch nicht als 
Lehrer in Athen eine Rolle spielte, ist keine Rede, und es ist 
sehr denkbar, daß Plato den Gegensatz des Isokrates gegen den 
alten mechanischen Betrieb der Rhetorik mit großen Hoffnungen 
begleitete. Andererseits hat wohl auch Isokrates in Plato einen 
Bundesgenossen erhofft und darum im Busiris den Anlaß ge- 
nommen, ihm ein Kompliment über seine Staatstheorieen zu machen 
(S. 217). Als dann Plato an die Spitze der Akademie getreten 
war, da empfand er freilich die Notwendigkeit, den sachlichen 
Unterschied klar zum Ausdruck zu bringen und zu zeigen, daß 
er glaube, einen richtigeren Weg als Isokrates, den einzig richtigen 
Weg einzuschlagen. Aber jede persönliche Gegnerschaft wollte 
er vermeiden. Darum richtete er seine Darlegung so ein, daß 
die Politik scheinbar nur einen anderen, den auch von Isokrates 
bekämpften Lysias, traf, und zog am Schluß eine Gelegenheit 
herbei, um Isokrates sein Kompliment zurückzugeben. Ob er 
innerlich dabei wirklich so sehr die Hoffnung gehegt hat, die in 
seinen Worten liegt, das kann man wohl bezweifeln. Wir wollen 
nicht übersehen, daß am Schluß seiner zweiten Rede (257 Ὁ) Sokrates 
zu Eros betet: Λυσίαν τὸν τοῦ λόγου πατέρα αἰτιώμενος παῦε τῶν 
τοιούτων λόγων, ἐπὶ φιλοσοφίαν δέ. ὥσπερ ἁδελφὸς αὐτοῦ Πολέμαρχος 
τέτραπται, τρέψον. Das ist doch eine beabsichtigte"Parallele, die uns 
mahnt, das Vatieinium über Isokrates nicht allzu ernst zu nehmen‘). 


1) Gegen Räders Auffassung, der in Platos Worten Spott und Bosheit sieht, 
ist schon soviel Einspruch erhoben, daß ich darauf nicht eingehe. 


XIV. Lysis und Symposion. 


Nichts wirkt in Platos Phaidros, ja vielleicht in seiner ganzen 
Lehre auf uns fremdartiger als die Anschauung vom Eros. Für 
eins haben wir dabei freilich wohl Verständnis. Das ist der Ge- 
danke, daß das Streben nach dem Idealen wichtiger ist als alle 
Methodik, daß es durch keinen Lehrer in die Seele gepflanzt 
werden kann, sondern drin schlummern muß und nur geweckt 
und angeregt werden kann. Um so schwerer aber ist es für uns 
heute, uns hineinzufühlen in eine Denk- und Empfindungsweise, 
für die sich diese Erweckung aufs engste verbindet mit der Liebe 
des Einwirkenden, die sich an der sinnlichen Schönheit entzündet 
und ihre Rückwirkung auf den Geliebten übt. Wir denken 
natürlich sofort an die Bedeutung, die der Eros in Athen wie in 
ganz Hellas für die Jugend hatte, die sich an den Pflegstätten 
des Körpers und Geistes tummelte, an die erotischen Verhältnisse, 
die sich dort anspannen und alle Nüancen von der Schwärmerei 
des Backfisches bis zur gröbsten Sinnlichkeit und andrerseits der 
dauernden geistigen φιλία aufweisen '). 

Wie sehr man auch theoretisch sich mit dieser so tief ins 
Leben eingreifenden Erscheinung beschäftigte, das sehen wir an 
den ἐρωτικοί, von denen der des Lysias und der bald zu be- 
sprechende des Pausanias nur Einzelbeispiele sind, wie an den 
Debatten der Sokratiker. Diese zeigen uns aber auch, daß für 
sie ein spezielles Moment hinzutrat, die Erotik des Sokrates. 
᾿Εγὼ γὰρ οὐκ ἔχω χρόνον εἰπεῖν ἐν ᾧ οὐκ ἐρῶν τινος διατελῶ, 
läßt ihn Xenophon am Anfang seiner Erosrede sagen (Symp 8,2), 
und die ‘übereinstimmenden Äußerungen der andern Sokratiker 
lassen keinen Zweifel darüber, daß Sokrates sich wirklich als 
ἐρωτικός den jungen Leuten nahte, auf die er einzuwirken suchte’). 
Oft genug mag dabei die Ironie über seinen Worten gelegen 
haben, aber soviel dürfen wir gewiß sagen: Zu den geheimmis- 
vollen Zügen dieser dämonischen Natur gehörte auch eine starke 
Empfänglichkeit für die sinnliche Schönheit des jugendlichen 


1 Das Material bietet am besten Bethe, Rh. M. LXII. Seinen Theorien über 
den eigentlichen Sinn der Knabenliebe vermag ich aber nicht zu folgen. 
32) Bes. Xen. Mem. IV, 1,2, Plato, Symp. 177d, Aischines fr. 11. 


366 Lysis und Symposion. 


Menschen '), wenn auch der willensstarke Mann es erreicht hatte, 
daß sein Eros sich über das Sinnliche erhob und auf die schöne 
Seele, die im schönen Leibe wohnte, konzentrierte. 

Es ist natürlich, daß auch diese Seite von Sokrates Person 
die Aufmerksamkeit seiner Schüler fesselte.e Man sollte erwarten, 
dies wäre auch bei Plato von vornherein der Fall gewesen, zumal 
doch die von ihm erstrebte Einwirkung auf andre bei Sokrates 
eben mit dem Eros zusammenhing. Aber in den Jugenddialogen 
ist davon wenig zu spüren. Besonders im Charmides, aber auch 
im Protagoras und Menon hört man leise immer den ironischen 
Unterton heraus, wenn Sokrates von dem Eindruck spricht, den 
die χαλοί und ihre sinnliche Schönheit auf ihn machen. Und 
wir haben gesehen, wie Plato den Versuch des Aischines, Sokrates’ 
Wirksamkeit aus seinem irrationalen Eros zu begreifen, mit Ironie 
behandelte (S. 185). 

Mit einem Schlage wird das anders. Im Phaidros nimmt 
plötzlich auch für ihn der Eros eine zentrale Stellung ein, und 
er.ist es, der allein die wahre Einwirkung auf die Mitmenschen 
ermöglicht. Hier ist dieser noch die Liebe des Individuums zum 
Individuum. Die höhere Stufe, wo der Eros die Individuen hinter 
sich läßt und zum Bande der ganzen Gemeinschaft wird, hat 
Plato erst im Symposion geschildert, aber zum Schutzpatron der 
Akademie hat er den ποικιλομήχανος ”Eows, dem im Gymnasion 
Charmos den Altar errichtet hatte (Athen. 609d), gewiß schon in 
der Zeit, wo er den Phaidros schrieb, erhoben. 

Daß persönliche Erlebnisse es gewesen sind, die Plato plötz- 
lich zu dieser Schätzung des Eros führten, haben wir vermutet. 
Doch mag das dahingestellt bleiben. Das scheint mir aber 
selbstverständlich, daß die Spekulation Platos über den 
Eros von dem Eros der Gymnasien, vom Eros des 
Sokrates ausgegangen ist und erst nachträglich auf 
weitere Gebiete übergegriffen haben kann. 

-Plötzlich ist Plato die Bedeutung des Eros aufgegangen, und 
was er im Phaidros gibt, macht ganz den Eindruck des ersten 
Wurfes. Aber bald spannen sich weitere Fragen an. Im Phaidros 
hatte er unbefangen das Sprichwort zitiert ἥλιξ ἥλικα τέρπει 
und wie im Gorgias 510b vorausgesetzt, die ὁμοιότης sei die 


1 Charm. 155d, Xen. Symp. 4,28 müssen einen gewissen Anhalt an Äuße- 
rungen des Sokrates haben. 


Die Entwicklung der Spekulation über den Eros. 367 


Grundlage der φιλία (240c, vgl. Aristot. Rhet. 1371b 15). Aber 
es gab doch auch Leute, die behaupteten, ὡς παντὸς δέοι τὸ 
ὅμοιον τῷ ὁμοίῳ φίλον εἶναι, ἀλλ᾽ αὐτὸ τὸ ἐναντίον ein τούτου ' 
τὸ γὰρ ἐναντιώτατον τῷ ἐναντιωτάτῳ εἶναι μάλιστα φίλον und 
darum die φιλία ähnlich wie Heraklit seine Harmonie auf das 
Zusammenstreben des Entgegengesetzten gründeten (Lys 215e). 
Seinem natürlichen Gefühle folgend hatte Plato Phaidr. p. 255b 
erklärt: οὐ γὰρ δήποτε εἵμαρται κακὸν κακῷ φίλον οὐδ᾽ ἀγαϑὸν 
μὴ φίλον ἀγαϑῷ εἶναι. Aber war wirklich das so selbstverständ- 
lich, daß die Freundschaft zwischen den Guten bestehe? Ὃ 
ἐπιεικὴς μάλιστα αὐτὸς αὑτῷ αὐτάρκης πρὸς τὸ εὖ ζῆν καὶ δια- 
φερόντως τῶν ἄλλων ἥκιστα ἑτέρου προσδεῖται (Rep. 387d). Und 
was wichtiger war: der Eros, wie ihn Plato selber im Phaidros 
schilderte, hatte seine Bedeutung nicht für die Fertigen, die 
c0poi, sondern die φιλοσοφοῦντες, nicht für die Guten, sondern 
für die, die gut werden wollen. 

Aus solchen Gedanken ist der Lysis erwachsen. Unwillkürlich 
ruft uns hier so manches den Charmides in Erinnerung. Schon 
der äußere Umfang des Dialoges, mehr aber noch die wundervolle 
Szene, die uns die Macht des Eros in den Gymnasien so an- 
schaulich vorführt, und die Art, wie Sokrates als ἐρωτικός mit 
dem κάλλιστος καὶ ἄριστος unter den Jungen verkehrt. Aber die 
Probleme sind viel spezieller geworden, die Behandlung viel tiefer, 
die Form straffer (vgl. Ritter S. 503), und der ganze Inhalt zeigt, 
daß wir ein παίγνιον vor uns haben, das bald nach dem Phaidros 
entstanden ist. Zunächst erfolgt hier eine wichtige Klarstellung. 
Im Phaidros lasen wır 255d, daß der Geliebte ein Abbild des 
Eros in sich hat, den dvreowg ' καλεῖ δὲ αὐτὸν χαὶ οἴεται οὐκ 
ἔρωτα ἀλλὰ φιλίαν εἴναι" ἐπιϑυμεῖ δὲ ἐκείνῳ παραπλησίως κτλ. 
Also sein Gefühl ist nicht φιλία, sondern Eros, weil er auch eine 
ἐπιϑυμία in sich trägt. Tatsächlich war eben für den Griechen 
das der Unterschied der φιλία vom ἔρως, daß sie das Moment 
des Begehrens nicht enthielt. Daß dies nicht ganz richtig sei, 
führt der Lysis aus, das Gespräch περὶ φιλίας. Denn hier zeigt 
der bedeutsame Schlußabschnitt, daß jede Freundschaft der Ver- 
wirklichung eines Gutes diene und das Streben nach diesem Gute 
die Ursache der Freundschaft sei: Age’ οὖν... ἣ ἐπιϑυμία τῆς 
φιλίας αἰτία; ... Τοῦ οἰκείου δή — über diesen Begriff gleich — ὅ 
τε ἔρως καὶ ἣ φιλία καὶ ἣ ἐπιϑυμία τυγχάνει οὖσα (221de). Andres 


368 Lysis und Symposion. 


weist uns noch direkter auf den Phaidros. Denn im Lysis wird 
nun die Frage, ob das Gleiche dem Gleichen fremd sei, genauer 
diskutiert, und eine direkte Korrektur des Phaidros ist es, wenn 
ausdrücklich auf Grund der Anschauung, die wir eben aus Rep. ΠῚ 
kennen gelernt haben, bestritten wird, daß die Freundschaft 
zwischen Guten bestehe‘). Und wenn dann positiv geschlossen 
wird, τὸ μήτε κακὸν μήτε ἀγαθὸν τοῦ ἀγαϑοῦ φίλον (2180), 50 
erfolgt dieser Schluß wieder unter Weiterbildung eines Gedankens 
des Phaidros. Denn wenn dort Plato p. 278d einfach gesagt 
hatte, der Name σοφός komme wohl nur Gott zu, den Menschen, 
der nach Wahrheit strebe, nenne er φιλόσοφος, so präzisiert Plato 
jetzt Lysis 2188: διὰ ταῦτα δὴ φαῖμεν ἂν καὶ τοὺς ἤδη σοφοὺς 
μηκέτι φιλοσοφεῖν, εἴτε ϑεοὶ εἴτε ἄνϑρωποί εἰσιν οὗτοι... φιλο- 
σοφοῦσιν οἱ οὔτε ἀγαϑοὶ οὔτε κακοί πω ὄντες. Es ist die Auf- 
fassung, die Plato im Symposion 2048 mit wörtlichem Anklang 
wieder aufnimmt und weiter ausbaut. 

Damit hängt etwas anderes zusammen, was noch wichtiger 
ist. Im Phaidros entsteht der Eros dadurch, daß durch die Er- 
innerung an das, was die Seele einstmals geschaut hat, das 
Streben nach den wahren, höchsten Gütern wachgerufen wird. 
Auch diese Anschauung wird im Lysis weiter gebildet. Daß hier 
auch in die φιλία das Moment des Begehrens hineingetragen 
wird und ein Gut, dessen Verwirklichung den φίλοι vorschwebt, 
als der eigentliche Grund der φιλία angesehen wird, sahen wir 
schon. Gegenüber dem Phaidros wird aber genauer präzisiert, 
daß dies letztlich ein höchstes Gut ist, auf das wir alle einzelnen 
Güter beziehen (218c—221d). Dazu tritt aber noch ein bedeut- 
sames Moment. Wenn nämlich auch das zu verwirklichende Gut 
als die eigentliche Ursache betrachtet werden muß, die den Eros 
erregt und dadurch die Freunde zusammenführt, so ist ein 
συναίτιον doch die Anwesenheit eines Übels, wie es p. 217 hieß, 
das Gefühl eines Mangels und das Bedürfnis nach Ergänzung, 
wie wir jetzt 221e genauer hören. Wie sehr Plato das Be- 
wußtsein hatte, damit die Anschauung vom Eros gegenüber dem 
Phaidros psychologisch vertieft zu haben, kann uns wieder das 


1). Ti δέ; οὐχ ὁ ἀγαϑός, καϑ' ὅσον ἀγαϑός, κατὰ τοσοῦτον ἱκανὸς ἂν εἴη 
αὑτῷ; --- Ναί. --- Ὃ δέ γε ἱκανὸς οὐδενὸς δεόμενος κατὰ τὴν ἱκανότητα κτλ. 
215a. — κανός wird Rep. II bes. p. 373. 4 fortwährend als Terminus gebraucht, 
wenn es sich um die αὐτάρκεια des Staates oder Individuums handelt. 


Der Eros. Scheinbare Ergebnislosigkeit des Lysis. 369 


Symposion zeigen, wo der ganze Mythos von der Geburt des 
Eros, ja die ganze Anschauung von seinem Wesen, auf dieser 
Doppelseitigkeit, dem Gefühl des Mangels und dem Streben nach 
dem wahren Gute, aufgebaut ist‘). Die beiden Vorgespräche 
des Sokrates mit den καλοὶ παῖδες 207 d—210d und 211 d—213d?) 
zeigen uns, wie der wahre Erotiker in diesen zunächst das Ge- 
fühl der geistigen πενία weckt, ehe er sie positiv zur Er- 
kenntnis führt. 

Das Gespräch schließt dann aber scheinbar ergebnislos ab 
wie die Jugenddialoge. Plato hat zunächst das Ergebnis gewonnen: 
Τὸ οὔτε κακὸν οὔτε ἀγαϑὸν διὰ τὸ κακὸν καὶ τὸ ἐχϑρὸν τοῦ ἀγαϑοῦ 
φίλον ἐστὶν ἕνεκα τοῦ ἀγαϑοῦ καὶ φίλου (219 4). Er modifiziert dieses 
dann in der Weise, daß er als den eigentlichen Grund der Liebe 
das Gute bezw. das Streben nach diesem erweist. Da nun das 
absolut Gute nur den letzten Zielpunkt abgibt, ergibt sich zunächst 
als Wesen der Liebe das aus dem Bedürfnis nach Ergänzung des 
eigenen Ich entsprungene Verlangen nach dem Wesensverwandten, 
dem οἰκεῖον. (221 6 222a). Da aber οἰκεῖος, wie es scheint, entweder 
gleich ὅμοιος oder gleich ἀνόμοιος sein müßte und vorher schon 
gezeigt ist, daß weder zwischen ὅμοιοι noch zwischen dvöuoıoı 
Freundschaft besteht, so schließt der Dialog mit einer Aporie ab. 

Weiß hier Plato wieder einmal nicht aus noch ein? Ich glaube, 
es wäre für ihn wirklich keine Schwierigkeit gewesen zu sagen, 
daß der oixeiog πῇ μὲν ὅμοιος πῇ δὲ ἀνόμοιος sei. Aber damit hätte 
er allerdings das ganze Problem nicht erschöpft. Sokrates sagt 
221e zu den Jungen: ὑμεῖς ἄρα ei φίλοι ἐστὸν ἀλλήλοις, φύσει πῃ 
οἰκεῖοί E00” Öuiv αὐτοῖς. Da hat er gewiß eine ganz bestimmte 
Vorstellung, aber auf eine begriffliche Formel läßt sich diese 
individuelle Wesensverwandtschaft nicht ziehen. Wer den Phaidros 
vor dem Lysis gelesen hat, wird sich erinnern, daß auch da der 
ἐρώμενος φύσει φίλος τῷ ἐρῶντι heißt (255a). Warum? Weil „beider 
Seelen einstmals in der Präexistenz demselben Gotte folgten“. Wem 
diese Auskunft nicht genügt, der mag sich im Lysis an das Bild der 
beiden Jungen halten, durch deren verschiedene Charakterisierung 


1 Wer den Phaidros hinter Lysis und Symposion setzt, hat die Verpflichtung, 
zu erklären, warum Plato diese Erkenntnis wieder fallen läßt oder jedenfalls diesen 
so wichtigen Zug ignoriert. 

2) Dem fortgeschritteneren, aber auch keckeren Menexenos wird nur gezeigt, 
wieviele Schwierigkeiten in einem so einfachen Worte wie piAos stecken. Vgl. 5.257. 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 24 


370 Lysis und Symposion. 


Plato ja seinen Gedanken illustriert‘). Mehr wird uns der Dichter 
Aristophanes im Symposion darüber zu sagen haben. 


Mit dem Phaidros stimmt der Lysis darin überein, daß er sich 
auf die Betrachtung des παιδικὸς ἔρως beschränkt. Nur an einer 
Stelle greift er darüber hinaus. Das ist 215e, wo Plato auf die 
naturwissenschaftliche Lehre zu sprechen kommt, nach der alles 
nach dem Entgegengesetzten, das Trockene nach dem Feuchten, 
das Süße nach dem Bitteren, das Leere nach Füllung, das Volle 
nach Leerung strebt’). Diese Lehre wird hier nur beiläufig als 
Beispiel erwähnt. Aber sollte solch eine Theorie nicht auch selb- 
ständige Bedeutung für die Erforschung des Eros haben? Schwer- 
lich hat Plato geglaubt, im Phaidros und Lysis das Wesen des 
geheimnisvollen Triebes ganz ergründet zu haben. Vielleicht konnte 
man weiter kommen, wenn man die Untersuchung auf die ver- 
wandten Erscheinungen ausdehnte, wenn man nicht bloß die ver- 


1 Über den Charakter der beiden Jungen vgl. 5. 257. Der Lysis fällt etwa 
in dieselbe Zeit wie der Menexenos. 

2) Daß Plato hier einen bestimmten Gelehrten vor Augen hat, deutet er durch 
ἤδη ποτέ του ἤκουσα λέγοντος und auch sonst mehrfach an. Heraklit kann es 
nicht wohl sein, da er nicht die φιελέα, sondern die ἔρις als das Entscheidende 
betrachtet, und Aristoteles sagt an der Stelle, wo er an den Lysis anknüpft (Eth. 
N. 1155b4) Ἡράκλειτος ... En τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν καὶ πάντα 
κατ᾽ ἔριν ylveodaı. Aber auch Empedokles’ φελέα kann kaum in Betracht kommen. 
Denn wenn auch Stellen wie 21 Α 39 ἐκ τεσσάρων οὖν στοιχείων τὸ πᾶν, τῆς τούτων 
φύσεως ἐξ ἐναντίων συνεστώσης, ξηρότητός τε καὶ ὑγρότητος καὶ ϑερμότητος 
καὶ ψυχρότητος, ὑπὸ τῆς πρὸς ἄλληλα ἀναλογίας καὶ κράσεως ἐναπεργαζομένης 
τὸ πᾶν (vgl. A 29.42.29) deutlich zeigen, dab er als Zweck der Φελέα die Harmonie 
des Entgegengesetzten betrachtet hat, so hat er doch andererseits auch ein Streben 
von Gleichem zu Gleichem anerkannt, und Aristoteles fährt a. ο. Ὁ. geradezu fort: 
ἐξ ἐναντίας δὲ τούτοις ἄλλοι τε nal ᾿Εμπεδοκλῆς, τὸ γὰρ ὅμοιον Tod ὁμοίου 
ἐφίεσθαι. Nach diesen Worten müßte man eigentlich sogar annehmen, gerade 
hierin habe Empedokles die pıAia gesehen. Aber Gomperz wird wohl recht haben, 
wenn er in dieser Anziehung des Gleichen, die zur Isolierung der Elemente führen 
muß, das Werk des Zwistes sieht (Gr. Ὁ. I, S. 190—193). Jedenfalls kann auch 
Empedokles im Lysis nicht wohl gemeint sein. Ja, wenn es heißt, ὡς ἄρα παντὸς 
δέοι τὸ ὅμοιον τῷ ὁμοίῳ φίλον elvaı, ἀλλ᾽ αὐτὸ τὸ ἐναντίον ein τούτου, 80 sieht 
das wie eine Polemik gegen Empedokles aus. Und das gleich folgende τροφὴν 
γὰρ elvaı τὸ ἐναντίον τῷ ἐναντέῳ steht im schärfsten Gegensatz zu dem sömilibus 
similia nutriri des Empedokles (21B90, aus Macrobius mit dem Beleg 
ὡς γλυκὺ μὲν γλυκὺ udonte, πικρὸν δ᾽ ἐπὶ πικρὸν ὄρουσεν κτλ.). Wir müssen 
also wohl an einen Jüngeren denken, der Empedokles’ Lehre modifiziert hat. 
Eryximachos im Symposion geht von derselben Anschauung aus. 


Die Erweiterung der Erostheorie. 371 


schiedenen Formen, die der παιδικὸς ἔρως bei den einzelnen Stäm- 
men zeigte, nicht nur die Liebe der Geschlechter zueinander studierte, 
sondern all das, was sonst der griechische Geist vom Eros wußte, 
in die Betrachtung einbezog, den bittersüßen Liebesgott, der Sapphos 
Herz erschütterte wie der Sturmwind die Eichen, den unbezwing- 
lichen Herrscher, dem, wenn er im Frühling von Kypros aus seinen 
Siegeszug antritt, die Götter ebenso sich beugen, wie die zarte 
Jungfrau und das Getier des Feldes‘), den jugendlichen Sohn 
Aphrodites, wie ihn die bildende Kunst darstellte, ebenso gut wie 
den plumpen Steinblock, in dem man drüben in Thespiae den Eros 
verehrte, und die kosmogonischen Spekulationen, die in ihm das 
Prinzip der Zeugung und Entwicklung sahen, sowie die an diese 
anknüpfenden philosophischen Theorien. 

Auf dieser über den ursprünglichen Ausgangspunkt 
unendlich erweiterten Basis’) führt das Symposion die 
Untersuchung über das Wesen des Eros. 


Im Symposion weist alles auf den Phaidros zurück. Daß der 
μανικός Apollodor als Erzähler eingeführt und so anschaulich ge- 
schildert wird, ist künstlerisch nur verständlich, wenn wir ihn als 
den Vertreter der ἐρωτικὴ μανία fassen, die uns aus dem Phaidros 

bekannt ist (vgl. S.2'). Wie Plato dazu gekommen ist, die allein 
berechtigte sokratische Methode zu verlassen und aus einer Reihe 
von Reden das Wesen des Eros zu entwickeln, begreift sich so- 
fort, wenn wir diese Form als eine Erweiterung des im Phaidros 
geübten Verfahrens fassen, wo er in bewußter dialektischer Ab- 
sicht die zwei verschiedenen Auffassungen über den Eros in zwei 
längeren Reden entwickelt hatte, und wir werden, hoffe ich, uns 
noch überzeugen, daß im Symposion wie im Phaidros es nötig ist, 
eis μίαν ἰδέαν συνορᾶν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα, um zu einem wirk- 
lichen Bilde des Eros zu gelangen, 

Im Phaidros nennt Sokrates p. 257a im Scherze Lysias, der 
den Anlaß zu seiner Rede gegeben hat, τὸν τοῦ λόγου πατέρα. 
Im Symposion muß Phaidros selber die erste Rede halten, ἐπειδὴ 
καὶ πρῶτος κατάκειται καὶ ἔστιν ἅμα πατὴρ τοῦ λόγου (177d). Warum 
gerade er, der jüngste und unbedeutendste des Kreises, das Thema 


1 Theognis 1275; Soph. Ant. 781. 
3) Ginge das Symposion dem Phaidros voraus, wäre mir die Entwicklung 
psychologisch unverständlich. 
24* 


372 Lysis und Symposion. 


angibt, würden wir schwerlich einsehen, wäre er uns nicht aus dem 
Phaidros (242b) bekannt als der Mann, der neben Simmias den 
Anstoß zu den meisten Reden gegeben hat. Daß er eigentlich in 
dieser Gesellschaft nicht dazu berechtigt wäre, das läßt uns Plato 
ja empfinden, wenn er Phaidros nicht persönlich, sondern durch 
seinen älteren, uns auch aus dem Phaidros (268a vgl. Prot. 315c) 
bekannten Freund Eryximachos den Vorschlag machen läßt. 
Auch in seinem Wesen ist Phaidros ganz der καλὸς παῖς, den 
wir aus dem nach ihm benannten Dialoge kennen: jugendlich un- 
reif, der Sophistenschule weder äußerlich noch innerlich entwachsen, 
durch Äußerlichkeiten leicht zu blenden, aber doch kein hohler 
Kopf, keine oberflächliche Natur, sondern eine empfängliche, be- 
geisterungsfähige Seele, die, wie der ἐρωτικός Sokrates wohl er- 
kennt, nur durch eine zügellose Wißbegier zur Sophistik hinge- 
trieben ist und unter guter Leitung bei richtiger Mäeutik ihren 
Reichtum erschließen wird, weich wie Wachs, dem Bäumchen gleich, 
das sich noch nach jedem Winde biegt, aber, wenn es erst inneren 
Halt gewinnt, die schönste Entwicklung zeigen kann. Von der- 
selben Art ist seine Lobrede auf den Eros, die er offenbar ebenso 
gerne los werden möchte wie im andern Dialog die Lysiasrede, 
schülerhaft in der Form, unreif im Inhalt. Nach einer Einleitung, 
die sehr an einen Sekundaneraufsatz erinnert, bringt er ein paar 
Reminiszenzen aus der Schullektüre an, ohne recht eine Ahnung 
zu haben, was der Eros für Hesiod und Parmenides bedeutet. 
Dann springt er sofort zu dem Thema über, das ihm am Herzen 
liegt. Als den Unterschied der beiden Sokratesreden hatte er im 
andern Dialoge wohl erkannt, ὡς βλάβη τέ ἐστι τῷ ἐρωμένῳ καὶ 
ἐρῶντι (ὃ ἔρως) καὶ αὖϑις ὡς μέγιστον ὃν τῶν ἀγαϑῶν τυγχάνει 
(268 ο), und Sokrates hatte 266a bestätigt, die zweite Rede habe 
Eros gelobt ὡς μεγίστων αἴτιον ἡμῖν ἀγαθῶν. Das gibt Phaidros 
den Grundgedanken für seine Lobrede: μεγίστων ἀγαθῶν ἣμῖν 
αἴτιός ἐστιν (1180). Auch in dem, was er jetzt bringt, ist die 
Form schülerhaft, aber wir spüren, wie warm es ihm ums Herz 


1) Natürlich formulieren auch sonst die Enkomien seit Gorgias ihre Themen 
ähnlich (vgl. S. 268), Selbst im ἐγκώμιον Πενίας, auf dem Aristophanes im Plutos 
seinen Agon aufbaut, stellt sich Penia die Aufgabe (468): 

κἂν μὲν ἀποφήνω μόνην 
ἀγαϑῶν ἁπάντων οὖσαν αἰτίαν ἐμέ 
ὑμῖν κτλ. 


Der ἐρώμενος Phaidros und der ἐραστής Pausanias. 373 


wird, wenn er die Segnungen des ἔρως — natürlich nur des παιδικὸς 
ἔρως — schildert. Phaidros hat das Vorrecht der Jugend, alles in 
rosigem Lichte zu sehen. Von den Abgründen, an denen sein Pfad 
vorbeiführt, ahnt er nichts. Er weiß nur, daß in ihm selber der 
Eros Schamgefühl und Ehrgeiz weckt, und setzt das ohne weiteres 
überall voraus. Der Eros ist ihm darum die beste Triebfeder zu 
sittlichem Tun, und keinen idealeren Zustand könnte es nach ihm 
geben, als wenn die ganze Welt aus Liebenden und Geliebten 
bestände. Begeistert redet er davon, daß die Liebe sogar zur eigenen 
Aufopferung treibt. Das Höchste aber ist, wenn der Geliebte für 
den Liebhaber sein Leben dahingibt. Davon träumt er wie unsere 
Jungen vom Heldentod fürs Vaterland (180b). | 
Auf Phaidros, der durchaus noch wie ein ἐρώμενος fühlt, folgt 

Pausanias, der erklärte ἐραστής des Agathon (Prot. 315e Xen. Symp. 
8,32). Er ist kein Schwärmer, er kennt die Welt, und die Erfahrung 
hat ihn gelehrt: Οὐκ ἄρα μοῦνον Env’Egwrwv γένος. Und wenn schon 
Euripides gelegentlich einen doppelten Eros geschieden hatte (fr. 388): 

ἀλλ᾿ ἔστι δή τις ἄλλος ἐν βροτοῖς ἔρως 

ψυχῆς δικαίας σώφρονος τε κἀγαϑῆς. 

χαὶ χρῆν δὲ τοῖς βροτοῖσι τόνδ᾽ εἶναι νόμον 

τῶν εὐσεβούντων οἵτινές TE σώφρονες 

ἐρᾶν, Κύπριν δὲ τὴν Διὸς χαίρειν ἐᾶν"), 
so führt Pausanias diese Scheidung prinzipiell durch, und stellt 
nicht bloß der Tochter des Zeus”), der Aphrodite πάνδημος, die 
Tochter des Uranos gegenüber, sondern er scheidet auch einen 
himmlischen und einen gemeinen Eros. Nur der erste, der sich 
auf das männliche Geschlecht, und zwar auf bereits heranreifende 
Jünglinge und mehr auf die Seele als auf den Leib richtet, ist wert- 
voll. Aus dem Doppelcharakter des Eros ergibt sich aber, daß 
man den Eros nicht absolut preisen oder verurteilen darf. Das 
tun freilich die gesellschaftlichen Anschauungen bei manchen 


ἢ Aus dem Theseus. Vgl. auch fr. 671 
Ὃ δ'εἰς τὸ σῶφρον En’ ἀρετήν τ᾽ ἄγων ἔρως 
ζηλωτὸς ἀνθρώποισιν: ὧν εἴην ἐγώ 
und mit Festhaltung eines Eros fr. 547 
᾿Ενὸς δ᾽ ἔρωτος ὄντος οὐ ul’ ἡδονή. 
οἱ μὲν κακῶν ἐρῶσιν οἱ δὲ τῶν καλῶν. 
?) Man beachte, wie bei Euripides Κύπρις ἣ Διός dem guten Eros gegenüber- 
gestellt wird. Zu dem dritten Verse des Fragments vgl. 181d χρῆν δὲ καὶ νόμον 
εἶναι μὴ ἐρᾶν παίδων. 


974 Lysis und Symposion. 


griechischen Stämmen. Richtiger denken aber außer den Spartanern 
die Athener. Ihr νόμος wird dem Doppelcharakter des Eros ge- 
recht, ist freilich nicht leicht zu interpretieren. Das Liebeswerben 
des ἐραστής wird hier durchaus erlaubt und gefördert, die Hingabe 
des Geliebten dagegen gilt als Makel und wird gehindert. Der 
Sinn des νόμος ist der: Die Liebe als solche ist sittlich indifferent; 
es kommt auf die Art an, wie man sie übt. Deshalb gilt die schnelle 
Hingabe ohne Prüfung des Liebhabers oder um materieller Vor- 
teile willen als schimpflich. Hat dagegen der Geliebte die Über- 
zeugung, daß der Liebhaber auch seine Seele liebt und zum Dank 
für die Hingabe ihn geistig fördern will und kann, dann soll er 
ihm in allem zu Willen sein; οὕτω πᾶν πάντως γε καλὸν ἀρετῆς 
ἕνεκα χαρίζεσθαι (1855). 

Man mißversteht diese Rede vollkommen, wenn man sie mit 
der Verherrlichung des psychischen Eros in Xenophons Symposion 8 
zusammenstellt. Worauf Pausanias hinauswill, das zeigt er am 
deutlichsten 182a, wo er sich gegen die wendet, die zu behaupten 
wagen, ὡς αἰσχρὸν xagiteodaı ἐρασταῖς. Denn was Pausanias mit 
χαρίζεσθαι, das ebenso gut erotischer Terminus ist wie sein eben- 
so oft hier gebrauchtes Pendant διαπράττεσθαι, meint, darüber 
war doch ein Athener so wenig im Zweifel, wie wenn er Lysias’ 
Rede über das Thema ὡς χαριστέον μὴ ἐρῶντι μᾶλλον ἢ ἐρῶντι 
las. Und wenn hier Pausanias verlangt, der Geliebte solle bereit 
sein, τῷ ποιοῦντι αὐτὸν σοφόν τε nal ἀγαϑὸν δτιοῦν ὑπουργεῖν (184d), 
so erhält das seine Illustration durch Alkıbiades’ Verhalten, der 
von sich sagt: ἐγὼ δὲ τοιούτῳ ἀνδρὶ πολὺ μᾶλλον ἂν μὴ χαριζόμενος 
αἰσχυνοίμην τοὺς φρονίμους ἢ χαριζόμενος τούς Te πολλοὺς καὶ 
ἄφρονας (2184). Da spüren wir freilich aber auch, was es für einen 
Unterschied macht, ob ein Jüngling, den die ἐρωτικὴ μανία be- 
herrscht, πᾶν τολμᾷ δρᾶν τε καὶ λέγειν ὑπὸ τῆς ὀδύνης (218a), oder 
ob ein ἐραστής, ein kühler Verstandesmensch, der uns an den Sprecher 
der Lysiasrede erinnert — der behauptete auch, δι᾽ ἀρετὴν zu handeln 
Phaidr. 232d vgl. 234a -- dies als Norm proklamiert. 

Nichts ist aber für Pausanias bezeichnender, als daß er nach 
Sophistenmanier') weiter nichts tun will als den athenischen »owog 
— den spartanischen erwähnt er als gleichbedeutend p. 182a, läßt 
ihn aber sofort unter den Tisch fallen — interpretieren und recht- 
fertigen (οὐ ῥάδιον κατανοῆσαι 182da, τούτους δὴ βούλεται ὃ 


1) Darüber im Exkurs. 


Die Rede des Pausanias. 375 


ἡμέτερος νόμος εὖ καὶ καλῶς βασανίζειν 183e, ὡς ὃ νόμος φησὶν ὃ 
ἐνθάδε 183c vgl. 184be u.6.) Er weiß genau, daß dieser wider- 
spruchsvoll ist, wie es die gesellschaftlichen Anschauungen in diesem 
Punkte noch heute sind, wo der Verführer imponiert, die Verführte 
Schande trifft. Wenn er trotzdem diesem Nomos schließlich den 
Sinn abquält, daß er zur genauen Prüfung mahnen wolle, so zeigt 
sich durch alle Sophistik hindurch, wes Geistes Kind der Mann ist. 

Er ist der Typus der vornehmen Herren Athens, die in der 
Knabenliebe etwas Selbstverständliches sehen und die gegenüber 
modern auftauchenden ethischen Skrupeln die Rechtfertigung 
ihrer Passion aus den gesellschaftlichen Anschauungen entnehmen. 
Natürlich sind das keine Leute, die ins Bordell gehen. Sie stehen 
auch nicht auf dem krassen Standpunkt der Dialexeis, wo es 2,2 
einfach heißt: παιδὶ ὡραίῳ ἐραστᾷ μὲν χαρίζεσθαι καλόν, μὴ ἐραστᾷ 
δὲ αἰσχρόν. Sie verwerfen die ausschließlich sinnlichen Triebe 
und suchen ihr Verhältnis zum ἐρώμενος dadurch zu idealisieren, 
daß sie in spartanischer Weise die Erotik für die geistige För- 
derung der Jüngeren nutzbar machen wollen, einen Freundschafts- 
bund fürs Leben als Ziel nehmen. Aber der Gedanke, daß der 
sinnliche Liebesgenuß dabei παρὰ φύσιν sei, kommt ihnen absurd 
vor. So stehen sie höchstens auf dem Standpunkt der φιλότιμοι, 
die Sokrates am Schluß seiner zweiten Rede im Phaidros charak- 
terisiert. Nichts ist bezeichnender für den athenischen »öwos, als 
daß Pausanias diese Rede auf dem Gastmahl des Agathon, seines 
erklärten Geliebten, halten darf. 

Im Exkurs werden wir sehen, daß Plato diese Rede wahr- 
scheinlich nicht ganz frei komponiert, sondern daß es wirklich eine 
Apologie des athenischen Nomos von Pausanias gab, die Plato hier 
frei wiedergibt. 

Während die beiden ersten Reden wie die Sokratesreden im 
Phaidros sich ganz auf den παιδικὸς ἔρως beschränken, führt uns 
Eryximachos in eine ganz andere Sphäre. Ihn, den Naturwissen- 
schaftler, interessiert der Eros nur als kosmisches Prinzip. Er 
geht aus von der im Lysis 215e skizzierten Grundanschauung, 
daß der gute Zustand des Leibes wie der ganzen Natur auf 
einem Ausgleich der Gegensätze von Kalt und Warm, Trocken 
und Feucht, Süß und Bitter usw. beruht. Das Streben der 
entgegengesetzten Elemente nach Vereinigung miteinander, das 

1) χρηστῷ nach μὲν und καλῷ nach δέ hat Wilamowitz mit Recht getilgt. 


376 Lysis und Symposion. 


zur Harmonie führt, das die Erhaltung und die Gesundheit 
des Organismus bedingt, ist für diese Anschauung der Eros. Aber 
leider ist im Leibe, das weiß Eryximachos als Mediziner nur zu 
genau, nicht immer bloß dieses Streben nach Harmonie vor- 
handen. Daher nimmt er die von Pausanias entwickelte Theorie 
vom doppelten Eros gern auf, und indem er die Medizin defi- 
niert als ἐπιστήμη τῶν τοῦ σώματος ἐρωτικῶν πρὸς πλησμονὴν 
καὶ κένωσιν (1860), sieht er ihre Aufgabe darin, dem guten Eros 
gegenüber den entgegengesetzten Tendenzen nach Unordnung 
und Disharmonie zum Siege zu verhelfen oder wohl gar ihn erst 
künstlich hervorzurufen. Schon hier kann er freilich die Schei- 
dung der beiden Arten des Eros nicht ohne Zwang auf die, Me- 
dizin übertragen (vgl. Hug-Schöne zu 186c). Bedenklicher wird 
die Sache noch, wenn er dann nicht bloß im Reich der Töne 
wie der Temperatur jenes Streben nach Harmonie und Dishar- 
monie vorfindet, sondern überall sich bemüht auf die mensch- 
liche Kunst und Wissenschaft das Schema anzuwenden, daß sie 
dem guten Eros willfahren, den schlechten hemmen müsse '). Und 
wenn er schließlich gar glaubt, das Wesen von Religion, Kultus 
und Ethik nach derselben Formel bestimmen zu können, kommt 
er über ein unklares, oberflächliches Gerede nicht hinaus. 

Eryximachos hat gegenüber seinen Vorrednern den Vorzug 
des weiten Blickes, mit dem er den Menschen in das Weltganze 
einordnet. Er ist ein tüchtiger Vertreter seines Faches, und 
ganz gewiß enthält der Gedanke, daß die Erhaltung und der 
gute Zustand des großen wie des kleinen Organismus auf dem 
Streben der entgegengesetzten Elemente nach Harmonie beruht, 
auch in Platos Augen etwas Richtiges. Aber Eryximachos macht 
den Fehler, daß er die in seinem Fache als richtig erprobten 
Prinzipien auf alle möglichen Gebiete überträgt, ohne zu fragen, 
ob sie dort wirklich Geltung haben können. Und so weit auch 
sein Blick scheinbar trägt, geschärft ist er doch nur für das, was 
sich unter Lupe und Seziermesser nehmen läßt. Für das spezi- 
fisch Menschliche, für das Geistige hat er nicht das geringste Ver- 
ständnis. Um so mehr ist er bereit, auch auf diese Gebiete seine 
Prinzipien zu übertragen. 

Nehmen wir noch hinzu das Selbstbewußtsein, mit dem er 


3) Vgl. bes. 187d über die praktische Anwendungder Musik als Erziehungs- 
mittel. Bei der Astronomie 188b verzichtet er auf das Schema notgedrungen ganz. 


Eryximachos und Aristophanes. 377 


am Schluß glaubt konstatieren zu können, daß er eine allseitig 
erschöpfende Erklärung gegeben habe, den herablassenden Ton 
gegenüber den andern, die noch nicht zur Höhe seiner Erkennt- 
nis aufgestiegen sind, die schulmeisterliche Art, mit der er einen 
Verireter der Geisteswissenschaft wie Heraklit, dem er das Beste 
in seiner Grundanschauung verdankt, bei einer verhältnismäßig 
kleinen Abweichung abkanzelt, den gänzlichen Mangel an jeder 
χάρις, der seine Befürchtung, ἀηδής zu sein (176c), nicht unbe- 
gründet erscheinen läßt‘), so werden wir nicht verkennen, daß 
Plato hier einen Typus des Naturwissenschaftlers hat zeichnen 
wollen, der auch heute noch nicht ausgestorben sein soll. 

Auf den nüchternen wissenschaftlichen Vortrag folgt der 
ausgelassene Mythos des Komikers,. Den lockt es nicht in die 
weite Welt, ihn fesselt das spezifisch Menschliche. Ihm ist die 
Liebe nicht das kosmische Prinzip, sondern das Band, das die 
Individuen aneinander kettet. Was ist es, das den Menschen zu 
einem andern Individuum, gerade zu diesem bestimmten Indivi- 
duum zieht, so unwiderstehlich zieht, daß er keinen Augenblick 
von ihm lassen möchte? Was wollen die Liebenden von ein- 
ander? Sie wissen’s selber nicht. Nur soviel ist klar: der Geschlechts- 
genuß allein ist es ganz gewiß nicht. Es ist das unbewußte 
rätselhafte Streben, mit dem anderen ein Wesen zu bilden, ein Herz 
eine Seele, ein Leib zu sein. Und was ist es, das diesen zum 
Manne, jenen zum Weibe, jeden gerade zu diesem bestimmten 
Individuum zieht? Im Phaidros hatte Plato angedeutet, daß 
beide von Natur verwandt sind, im Lysis gesagt, daß das Wesens- 
verwandte, das οἰκεῖον Ziel der Liebe ist, das uns ähnlich und 
doch nicht gleich, uns verwandt und doch nicht mit uns iden- 
tisch ist, das unser eigenes Wesen ergänzt. Begrifflich läßt sich 
diese intimste Beziehung der Individuen nicht darstellen. Des- 
halb mußte der Lysis mit einem Fragezeichen abschließen. Jetzt 


1) Von Eryximachos’ „trockenem Humor“ spüre ich nicht viel. Die drei 
Rezepte für Aristophanes (185d) zeigen doch nur den wichtigtuenden Pedanten. 
Und wenn er sich bemüht, auf Aristophanes’ Scherze einzugehen, so tut er das — 
Aristophanes wird den Vergleich nicht übelnehmen — mit der Gewandtheit eines 
täppischen Bernhardiners, der von einem flinken Terrier gezaust wird. 

Bei Aristophanes’ Schlucken sollte man wirklich Aristeides’ Erklärung, Plato 
habe ihn εἰς ἀπληστίαν verspotten wollen, nicht wiederholen. Er ist der richtige 
Komiker, der das Publikum lachen macht, noch ehe er ein Wort geredet hat. 
Und πλησμονή ist doch nur wegen 186c gewählt. 


378 Lysis und Symposion. 


kann uns der Dichter, der auch etwas von der ἐρωτικὴ μανία ver- 
spürt hat, im Mythos schildern, daß der Einzelmensch sich nicht 
selbst genug ist, daß erst zwei Menschen, diese zwei Menschen 
ein Ganzes bilden. Darum liegt in unserer Natur das Streben 
nach Ergänzung unseres Ich durch ein anderes Wesen, das uns 
von altersher verwandt ist: 

Sag, was will das Schicksal uns bereiten? 

Sag, wie band es uns so rein genau? 

Ach, du warst in abgelebten Zeiten 

Meine Schwester oder meine Frau. 
Und dieses Streben nach der Ergänzung unseres eigenen Wesens 
ist die Liebe. 

So tief in das Menschenherz wie Aristophanes blickt Aga- 
thon nicht. Aber er hat uns doch viel mehr zu sagen als Phai- 
dros, mit dem man den ἐρώμενος des Pausanias, den νεανίσκος und 
Sophistenschüler unwillkürlich zusammenstellt. In der Form ist 
er ganz der Schüler des Gorgias. Aber wie bei seinem Lehrer 
hat man doch die Empfindung, daß sie das gegebene Kleid für 
das geistreiche Spiel der Gedanken ist und andererseits in dieser 
Form sein Wesen so wenig aufgeht wie in den sophistischen 
Kunststückchen, mit denen er seine Hörer amüsiert. Von Gor- 
gias hat er auch die scharfe Gliederung der Rede gelernt. Mit 
dieser Schärfe kontrastiert es aber merkwürdig, daß er im übrigen 
bewußt auf eine logische Gedankenentwicklung verzichtet. Da 
ist er der Dichter, der Stimmungen erwecken, nicht dozieren 
will, dem die Assoziationen von Liebe, Jugend, Lenz und Blumen 
wesentlicher sind als die logischen Beweise, die er nur zum 
Scherze handhabt. Aber wenn er nun das Bild des Eros ent- 
wirft, der mit und in der Jugend lebt‘), des zarten Gottes, der 
geschmeidig sich in die Herzen schleicht, der allem Häßlichen, 
allem Zwange feind ist, wenn er weiter davon spricht, wie dem 
Eros alles was lebt und webt sein Dasein dankt, wie er es ist, 
der die Fittiche zu großen Taten gibt, wenn er endlich als erster 
von den Lobrednern des Eros bewußt die Schönheit als den Gegen- 


1) 195b ist natürlich durchaus richtig μετὰ δὲ νέων dei σύνεστέ te nal 
ἔστι, vgl. den prägnanten Gebrauch von εἶναι Eurip. Hec. 264 καὶ ἐγὼ γὰρ ἦν ποτ᾽, 
ἀλλὰ νῦν οὐκ εἴμ᾽ ἔτι, Herod. I, 120 ἔστι τε ὁ παῖς καὶ περίεστι, Arist. Lys. 665. 
Übrigens singen auch Aristophanes’ Vögel 704 πετόμεσϑά τε γὰρ καὶ τοῖσιν 
ἐρῶσι σύνεσμεν. 


Agathon. 379 


stand der Liebe bestimmt, so spüren wir, es spricht hier ein 
Mann, der das, was im Volksbewußtsein an Vorstellungen über 
den Eros vorhanden ist, mit seiner Phantasie zu einem Vollbilde 
ausgestaltet sogut wie Anakreon oder Praxiteles. 

Wir werden ungern glauben, daß in diesem Bilde, das der 
Künstler als Interpret des Volksempfindens entwirft, nicht wenig- 
stens eine ὀρϑὴ δόξα stecken sollte. Aber nötig wird es freilich 
sein, das Richtige erst von dem Falschen zu sondern, die Vor- 
stellung zu begrifflicher Klarheit zu erheben. Das besorgt So- 
krates, indem er mit unbarmherziger Dialektik Agathons Ideal- 
bild zu Leibe geht und mit wenigen Worten zeigt, daß das Volks- 
empfinden den Eros mit seinem Objekte verwechselt, daß der 
Eros, gerade wenn er nach Schönheit strebt, diese noch nicht be- 
sitzen kann (199e — 201 ο). 

Sokrates’ Gespräch mit Agathon führt uns in eine andere 
Welt. Vorher haben wir den verschiedenen Auffassungen, die 
in den fünf Reden zum Ausdruck kamen, hilflos gegenüber- 
gestanden, wie es im Laches bei den Reden der beiden Prak- 
tiker der Fall war (S. 32). Sobald Sokrates das Wort ergreift, 
wird es dort wie hier anders. Er zeigt den Weg, auf dem wir 
zur Wahrheit, zum eigenen Urteil über das Problem kommen 
können. Der Eros ist Verlangen nach der Schönheit, das muß 
von jetzt an der Grundstein jeder Untersuchung sein. 

Aber so sehr wir Sokrates recht geben, so regt sich doch 
bei uns etwas wie ein peinliches Gefühl, wenn wir sehen, wie 
Sokrates hier seinem Wirte, dem eben noch beifallumrauschten 
Künstler sein Werk mit ein paar Schlägen zertrümmert, und aus 
den letzten Worten Agathons 201c klingt auch eine leise Emp- 
findlichkeit durch. Er ist eben doch kein Junge mehr wie Lysis 
und empfindet deshalb schmerzlicher das Gefühl der nzevia, das 
Sokrates in ihm weckt. Und nun soll Sokrates seine Rede auf 
den Eros halten, die, wie wir wissen (199a), kein rhetorisches 
Enkomion werden, sondern Aufklärung über das Wesen des Eros 
bringen, die Wahrheit aufzeigen soll. Künstlerisch war das nicht 
ohne Bedenken. Denn schwerlich konnte es befriedigen, wenn 
Sokrates einfach eine Parallelrede zu den früheren hielt und 
diesen damit eine Niederlage bereitete. Auch formell würde So- 
krates die lange Rede nicht gut angestanden haben. Wo Plato 
ihm früher eine solche gegeben hatte, da hatte er deutlich ge- 


380 Lysis und Symposion. 


zeigt, daß dies Sokrates’ Wesen widersprach. Im Menexenos 
mußte Aspasia, im Phaidros die Nymphen und Zikaden ihn zu 
der Rede inspirieren. Mit diesen Fiktionen war aber auch hier 
der künstlerische Ausweg gewiesen, auf dem Plato Sokrates die 
Rolle des überlegenen Schulmeisters ersparen konnte. Der εἴρων 
mußte sich auch hier selber als Schüler hinstellen. Aber wem 
sollte er seine Liebeskunst verdanken? Wer konnte Sokrates 
in die Mysterien des Eros, die Plato selber erst so spät geschaut 
hatte, einweihen? Eine historische Person ganz gewiß nicht. Im 
Phaidros waren’s die Nymphen gewesen. Jetzt mag es die Mav- 
τινικὴ Διοτίμα sein, die schon in ihrem Namen zeigt, daß sie nur 
eine Repräsentantin der ϑεία μοῖρα sein will, der Sokrates den 
Eros wie die ἐρωτικά verdankt. Und wenn Plato noch hinzu- 
fügt, diese weise Frau habe seinerzeit den Athenern auf ihr Opfer 
hin einen zehnjährigen Aufschub der Pest bewirkt, so wird der 
Kenner platonischer Schriften kaum im Zweifel gewesen sein, 
warum Plato die bekannte Erzählung über das Wirken des Sühne- 
priesters Epimenides') auf seine Diotima überträgt: Er erinnert 
an den Phaidros, wo unter den göttlichen μανίαν außer der &ow- 
τική, der μαντική und ποιητική auch die Verzückung der Sühne- 
priester erscheint und so geschildert wird (2444): ἀλλὰ μὴν νό- 
σων γε καὶ πόνων τῶν μεγίστων, ἃ δὴ παλαιῶν ἐκ μηνιμάτων πο- 
ϑὲν ἔν τισι τῶν γενῶν (ἐγένετο, ἣ μανία ἐγγενομένη καὶ προ- 
φητεύσασα οἷς ἔδει ἀπαλλαγὴν ηὕρετο καταφυγοῦσα πρὸς ϑεῶν 
εὐχάς τε καὶ λατρείας. Einer solchen Frau trauen wir auch ein 
Wissen über die verwandten uaviaı zu. 

Ehe Sokrates Diotima kennen lernte, stand er auf Agathons 
Standpunkt, ὡς ein ὃ "Eows μέγας ϑεός, εἴη δὲ τῶν καλῶν (201 6). 
Wir empfinden, daß damit Sokrates Agathons Irrtum als ver- 
zeihlich hinstellt; wir werden aber nach Platos Absicht auch 
daran denken sollen, daß der Sokrates des Phaidros unbefangen 
(p. 242e) gesagt hatte: εἰ δ᾽ ἔστιν, ὥσπερ οὖν ἔστι, ϑεὸς ἢ τι 
ϑεῖον ὃ Ἔρως ἡ. Diese Auffassung ist nicht aufrecht zu erhalten, 
wenn man sich klar geworden ist, daß der Eros das Streben 


1) Nach Legg. 642d kommt Epimenides vor den Perserkriegen nach Athen, 
opfert und weissagt, daß der Krieg erst nach zehn Jahren kommen werde. 

®) Daß Plato hier die Anschauungen des Phaidros korrigiert, hat Barwick 
Comm. Ien. X. p. 11 gut hervorgehoben und v. Arnim, Zeitschr. f. d. öst. 
Gymnasialw. 1913 S. 99ff., nicht widerlegt. 


Diotima und ihre Rede. p. 201d—204c. 381 


nach etwas ist, was man noch nicht hat. Sein Wesen — Sokrates 
macht Agathon das Kompliment, daß er dessen Disposition auf- 
nehmen will’) — ist deshalb anders zu bestimmen. Den Weg 
hatte schon der Lysis gezeigt, wenn er das Streben auf die μήτε 
dyadoi μήτε κακοί beschränkte und darauf hinwies, daß weder 
die vollkommenen Götter noch die Unwissenden das Streben nach 
der Weisheit haben, daß vielmehr die φιλοσοφοῦντες in der Mitte 
zwischen Wissenden und Nichtwissenden stehen (Lys. 218a). 
Plato zitiert hier diesen Satz ausdrücklich 204a und erinnert 
durch eine scheinbar beiläufige Bemerkung (202a) an die Aus- 
führung des Menon, daß auch die ὀρϑὴ δόξα zwischen Wissen 
und Unwissenheit steht und daß sie zum Wissen nur erhoben 
wird, wenn der Mensch lernt, sich Rechenschaft über seine Vor- 
stellung abzulegen’). Das Streben, über die richtigen Vorstellungen 
zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis vorzudringen, muß also 
der Eros sein. Aus Menon und Phaidon wissen wir auch, daß 
diese Erkenntnis nur zu erlangen ist, wenn wir von der sinn- 
lichen Welt, den vielen Einzelwahrnehmungen empordringen zu 
den ewigen, einheitlichen Begriffen, dem Ansichseienden, Gött- 
lichen. Wenn daher schon im Phaidros der Eros zwischen der 
Sinnenwelt und dem Ewigen vermittelt, so wird er jetzt aus- 
drücklich als der Daimon, der Mittler zwischen Menschlichem und 
Göttlichem bestimmt. Und wenn der Lysis psychologisch das 
Wesen des Eros zu erfassen suchte als des Triebes, der auf das 
Gute gerichtet ist und als Anlaß das Gefühl des Mangels hat, so 
findet der Künstler Plato für diesen Gedanken jetzt das Bild von 
dem Sohne der Πενία und des Πόρος, der von seiner Mutter das ewige 
Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selber, vom Vater das rastlose 
Vorwärtsdrängen und Forschen als Erbteil bekommen hat (203). 

So bietet der ganze Abschnitt über das Wesen des Eros 
(201d—204c) eine Präzisierung und Weiterbildung dessen, was 
Phaidros und Lysias über den Eros gelehrt. Weiter über diese 
Dialoge geht noch der folgende Teil hinaus, in dem Sokrates die 
Segnungen des Eros für die Menschen entwickelt. 

1) Freilich hatte Agathon im ersten Teile nur geschildert οἷός &ozıv, während 
Sokrates fragt: τίς ἐστιν ὁ "Eowg καὶ ποῖός τις. Daß es einen großen Unter- 
schied macht, ob man τέ ἐστιν; oder ποῖόν ἐστιν; fragt, hatte schon der Gorgias 
448e ausgeführt (vgl. S. 168). 

ὁ ἄλογον γὰρ πρᾶγμα πῶς ἂν εἴη ἐπιστήμη; ist Zitat von Gorgias 465a: 
ἐγὼ δὲ τέχνην οὐ καλῶ ὃ ἂν ἢ ἄλογον πρᾶγμα. 


382 Lysis und Symposion. 


Im Lysis hatte Plato gezeigt, daß das letzte Ziel des Strebens 
das absolute Gute ist, auf das wir alle Einzelgüter beziehen 
(220b—d). Auch jetzt geht Plato davon aus, daß das mensch- 
liche Streben letzthin dem Besitz des absoluten Guten, der Glück- 
seligkeit gilt und daß mit dieser Bestimmung ein τέλος gegeben 
ist (205a); aber gewöhnlich fassen wir den Eros nicht in dieser 
allgemeinsten Bedeutung, sondern wir denken an ein bestimmtes 
Einzelstreben. Als dessen Objekt müssen wir freilich wieder das 
Gute bezeichnen — denn der Gedanke, daß die Ergänzung unsres 
Wesens (so Aristophanes) oder das οἰκεῖον (so der Schluß der Lysis) 
Gegenstand desEros ist, hat nur Sinn, wenn man diese Begriffe auf 
das für uns Gute zurückführt (205e) —, aber zunächst die weitere 
Bestimmung hinzufügen, daß die Liebe auf den ewigen Besitz 
des Guten geht. Aber auch diese Bestimmung ist zu weit. Nur 
die Form dieses Strebens ist als Liebe zu bezeichnen, die ihr 
Ziel durch die Zeugung im Schönen, sei es leiblich, sei es geistig 
erreichen will (206b). 

Damit gibt Diotima eine Definition des Eros, die uns auch 
nach Phaidros und Lysias ganz überraschend kommt, sodaß wir 
ganz wie Sokrates selber auf die nähere Erläuterung gespannt sind. 

Sie geht vom Nächstliegenden aus. Im Phaidros hatte 
Sokrates poetisch von den Wirkungen der Schönheit auf den 
Liebenden gesprochen, von den Schmerzen, die sie bei ihm hervor- 
ruft, wenn der Geliebte fern ist, von der Lust, die der erneute 
Anblick der Schönheit bereitet: πρὸς γὰρ τῷ σέβεσθαι τὸν τὸ 
κάλλος ἔχοντα ἰατρὸν ηὕρηκε μόνον τῶν μεγίστων πόνων (202 8). 
Jetzt weiß Plato für dieses Phänomen eine tiefere Erklärung zu 
geben. Die leidenschaftliche Erregung in der Liebe ist ja nicht 
auf den Menschen beschränkt. Wir beobachten sie auch bei den 
Tieren, und da kann der Grund nicht zweifelhaft sein: es ist der 
in bestimmtem Alter eintretende Drang zu zeugen, und zwar im 
Schönen zu zeugen, das allein dem göttlichen Triebe angemessen 
ist; ὅϑεν δὴ τῷ κυοῦντί τε καὶ ἤδη σπαργῶντι πολλὴ ἣ πτοίησις 
γέγονε περὶ τὸ καλὸν διὰ τὸ μεγάλης ὠδῖνος ἀπολύειν τὸν ἔχοντα 
(2064). Was ist aber der Sinn dieses Dranges? Was treibt so 
gewaltig zum Zeugen, was pflanzt die Liebe zu den Jungen ein, 
so daß das schwächste Tierchen sein Leben für sie wagt? Nur 
eine Erklärung gibt es: Jedes Lebewesen hat den Drang in sich, 
ein sich gleiches Wesen zu hinterlassen, dadurch die Gattung zu 


Die Sokratesrede. 204d — 209. 383 


erhalten und damit Anteil am Ewigen und an der Unsterblich- 
keit zu erhalten. Denn wie der Mensch nicht von der Kindheit 
bis zum Alter derselbe bleibt, sondern fortwährend sich erneut, 
so hat überhaupt das Sterbliche Dauer nicht dadurch, daß es 
ewig sich gleich bleibt, sondern dadurch, daß immer etwas gleich- 
geartetes Neues an Stelle des Alten tritt. Der Sinn des Ge- 
schlechtstriebes- ist also das unbewußte Streben nach Unsterblich- 
keit (205b—208b). 

Das ist aber nur der niedere Eros, der durch leibliche Zeugung 
Anteil an der Ewigkeit sucht. Höher steht der geistige. Nicht 
umsonst preisen Sophisten und Redner die Leute, die um des un- 
sterblichen Ruhmes willen Gefahren bestanden, ja das Leben 
aufgeopfert haben. Tatsächlich liegt im Menschen das Streben, 
Taten zu vollbringen, die sein Leben überdauern. Und dieser 
Eros ist es, der Achilles zu den von Phaidros gepriesenen Taten 
getrieben hat. Aber auch hier auf dem geistigen Gebiete wirkt 
am stärksten der Trieb zur Zeugung im Schönen. Das sehen 
wir daran, daß Dichter, Politiker und Gesetzgeber um die Wette 
bemüht sind, ihre Gedanken in andere hineinzupflanzen und durch 
diese Einwirkung auf andere sich das Fortleben und die Un- 
sterblichkeit zu sichern (208c—209e). 

Hier hat Plato ein Stück mit den Vertretern der populären 
Moral gehen können, und auch in der Form hat scheinbar un- 
willkürlich seine Rede sich den Panegyrici und Epitaphioi an- 
geähnelt. Aber wie im Menexenos klingt auch hier ein spöttischer 
Ton durch, der uns nicht vergessen läßt, daß wir uns hier noch bei 
den φιλότιμοι (Phaidros 256 b), bei den Vertretern der πολιτικὴ ἀρετή 
befinden, denen die wahre Erkenntnis fehlt‘. Die höchsten 
Weihen, das eigentliche Mysterium des Eros erschließt sich nur 
dem, der sich ganz Platos Führung anvertraut °). 

Wie im Phaidros ist es auch hier die Schönheit des einzelnen 


1) Phaidon 82a οἱ τὴν Ömuorinyv nal πολιτικὴν ἀρετὴν ἐπιτετηδευκότες, 
ἣν δὴ καλοῦσι σωφροσύνην τε καὶ δικαιοσύνην, ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης γε- 
yovviav ἄνευ φιλοσοφίας καὶ νοῦ, Symp. 2098 πολὺ δὲ μεγίστη καὶ καλλίστη 
τῆς φρονήσεως ἣ περὶ τὰς τῶν πόλεών τε καὶ οἰκήσεων διακοσμήσεις, ἢ δὴ 
ὄνομά ἐστι σωφροσύνη Te καὶ δικαιοσύνη, So hatte Protagoras 325a die 
πολιτικὴ ἀρετή definiert, vgl. S. 80. 

?) 2096. Die Apostrophe an Sokrates soll zunächst nur den Gegensatz 
zwischen der populären Moral und Platos eigenster Lehre markieren, aber richtig 
ist freilich, daß auch Sokrates selbst nicht die Mysterienweihe erhalten hat. 


984 Lysis und Symposion. 


Körpers, an der sich der Eros entzündet. Aber dabei soll der 
wahre Erotiker jetzt nicht stehen bleiben. Er soll von der 
Schönheit des einzelnen Körpers aufsteigen zur sinnlichen Schön- 
heit im ganzen und dadurch die heftige Liebe zum einzelnen 
Leibe überwinden. Dann muß er die seelische Schönheit höher 
stellen als die leibliche, und wo er schöne Seelen findet, Reden 
zu zeugen suchen, die diese besser machen. Und immer höher 
führt dann der Weg, von den schönen Handlungen und Ein- 
richtungen zu den Wissenschaften und von den Einzelwissen- 
schaften zu der einen Wissenschaft, die ihm die dyewuerog καὶ 
ἀσχημάτιστος καὶ ἀναφὴς οὐσία des Phaidros (247c) offenbart. 
Wer so allmählich, seies aus eigener Kraft sei es unter guter Leitung, 
von Stufe zu Stufe bis zu dem überhimmlischen Orte aufgestiegen 
ist, wer das weite Meer der Schönheit geschaut hat, das dort n 
Immateriellen sich auftut, der hat das Ziel seines Lebens erreicht. 
Er wird nicht mehr wie vordem in heißer Glut das einzelne 
Individuum lieben und in ihm allein den unsterblichen Samen zu 
streuen suchen, ihn hat der Eros bis zur Schönheit und Wahr- 
heit selber emporgeführt, wo er nicht mehr Schattenbilder der 
Tugend, sondern wahre Tugend hervorbringt und so sich den un- 
mittelbaren Anteil am Ewigen sichert (210—212e). 


Damit ist auch schriftstellerisch der Höhepunkt unsres Werkes 
erreicht, und wir werden gut tun, Halt zu machen und zurück- 
zuschauen auf den Weg, den wir durchmessen haben, und zu 
überlegen, was wir über den Eros gelernt haben. Der Rückblick 
gilt zunächst Sokrates’ Rede, aber wie diese selber bald hier bald 
dort auf die früheren Reden zurückgreift, so werden auch wir 
diese nicht vergessen dürfen. 

Der Eros ist kein bloßes Wohlwollen, keine christliche Liebe, 
er ist Verlangen nach etwas, ein Streben nach Ergänzung, das 
aus dem Gefühl des Mangels geboren ist‘). Er ist das Streben 


!) Als alter Mann hat Plato in den Gesetzen seine Anschauungen über 
den Eros revidiert (836. 7). Hier verwirft er die ἀρρενομειξέα als widernatür- 
lich und hält die spartanische Anschauung, die den παιδικὸς ἔρως als Er- 
ziehungsmittel betrachtet, für sittlich bedenklich. Das begründet er so: φέλον 
μέν mov καλοῦμεν ὅμοιον ὁμοέῳ κατ᾽ ἀρετὴν nal ἴσον Low, φέλον δ᾽ αὖ καὶ τὸ 
δεόμενον τοῦ πεπλουτηκότος, ἐναντίον ὃν τῷ γένει ὅταν δὲ ἑκάτερον γέγνηται 
σφοδρόν, ἔρωτα ἐπονομάζομεν. Hier erkennt er also die φιλέα der ὅμοιοι, der 
Guten, die er im Lysis und Symposion leugnete, an. Er spricht von ihr in 


Der Eros. 385 


nach einem Gute, in letzter Linie nach dem Besitz des Guten, 
der Glückseligkeit. 

Aber dieser Begriff ist zu allgemein. Der spezielle Eros muß 
positiver bestimmt werden. Er ist das Streben nach Zeugung, 
nach Produktivität. Am deutlichsten ist das bei der geschlecht- 
lichen Liebe, aber es gilt auch von den höheren Formen des Eros. 
Was Agathon dunkel gefühlt hatte, wenn er sagte, bei allen großen 
Entdeckungen und Schöpfungen sei der Eros im Spiel, ist schon 
richtig. Tief wurzelt im Menschen das Streben nach Produktivität. 

In der menschlichen Natur ist es aber begründet, daß nur 
in der Gemeinschaft mit einem andern Wesen diese Produktivität 
sich verwirklicht. Wieder ist das am klarsten bei der geschlecht- 
lichen Liebe. Aber auch auf geistigem Gebiete ist der Mensch, 
dem geistige Gemeinschaft fehlt, unproduktiv. Andrerseits, wer 
Gedanken in sich produziert, der hat das Bedürfnis, sie als Samen 
in andre Seelen zu pflanzen, damit sie dort zu selbständiger Ent- 
wicklung gelangen. Selbst der einsam lebende Denker — ein 
Timon gilt freilich dem Griechen als etwas Anormales — hat das 
Bedürfnis, sich an ein Publikum zu wenden. Aber viel stärker 
ist an sich der Drang, auf uns nahestehende Individuen zu wirken, 
die Jugend, unsere Mitbürger zu beeinflussen. Auf der höchsten 
Stufe der Produktion hört vielleicht gerade diese Rücksicht auf 
bestimmte Menschen auf, aber der Ausgangspunkt ist auch hier 
der Drang, in die Einzelseele den Samen zu streuen. 

Als ein Geheimnis, das nur der Dichter zur Anschauung 
bringen darf, müssen wir es dabei hinnehmen, daß dieser Eros 
zwei ganz bestimmte Individuen zueinander führt, die bald als 
Gatten, bald als Freunde, deren Liebe auf der Sinnlichkeit basiert, 
bald wieder als zwei geistig verwandte Naturen, die gemeinsam 


Ausdrücken, die aus dem Phaidros stammen (σέβεσϑαι, σῶφρον, ἁγνός cf. Phaidros 
2518, 252a 254b), bemüht sich aber dabei, das sinnliche Moment möglichst aus- 
zuscheiden, und wenn er auch den Ausdruck τῇ ψυχῇ ὄντως τῆς ψυχῆς ἐπιτε- 
ϑυμηκώς festhält, so ist doch an diesem Eros --- τῶν λεγομένων ἐρώτων sagt 
er mit guter Absicht 837a — das Verlangen nach dem Geliebten ausgeschaltet. 
Es ist eine rein psychische Freundschaft, bei der der Liebende nur trachtet ἁγνεύειν 
Gel μεϑ' ἁγνεύοντος τοῦ ἐρωμένου. Verwerflich ist demgegenüber der sinnliche 
Eros, aber auch der weıxrög, der Sinnlichkeit mit seelischer Freundschaft ver- 
einigen möchte. Plato nähert sich hier dem Standpunkt, den Xenophons Sokrates 
im Symposion 8 wohl nach Antisthenes — darin hat Joel recht — vertritt. 
Wie lange Zeit muß zwischen Phaidros und Gesetzen liegen! 
Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 25 


386 Lysis und Symposion. 


dem höchsten Ziele zustreben, sich zu einem Wesen ergänzen. 
Daß diese Wesensgemeinschaft zum wahren Eros gehört, empfindet 
auch ein Pausanias. Aber den tiefen Sinn des Eros erkennt selbst 
Aristophanes nicht. 

Der tiefe Sinn des Eros ist das Streben nach dem Anteil an 
der Ewigkeit. In der Produktivität ist der Individualität die 
Möglichkeit gegeben, die Schranken des Vergänglichen zu über- 
schreiten und am Unvergänglichen teilzunehmen. Was der Eros 
hier auf der tiefsten Stufe zu leisten vermag, ist Eryximachos 
aufgegangen. Selbst in den Einzeldingen der unbeseelten Natur 
ist als Grundzug ein Streben nach Harmonie vorhanden, das die 
Dauer, die Erhaltung des Ganzen zum Ziele hat. Höher entfaltet 
sich dann der Eros im Geschlechtstrieb der Tiere, der in sie ge- 
pflanzt ist, ἕνα γίγνοιτο τὸ γένος, und die Gewalt, mit der er dort 
auftritt, zeigt uns, daß er zu den wichtigsten Lebensäußerungen 
gehört. Auf der Stufe der Tiere bleibt auch der Eros vieler 
Menschen, der gemeine Eros. Höher müssen wir wieder das 
Streben nach unsterblichen Taten stellen, wie es Phaidros 
vorschwebt, nach dem unsterblichen Ruhm, den Dichter und 
Redner preisen. Aber himmelweit über den Menschen, die diesem 
Eros huldigen, steht doch, wen der Eros in seiner höchsten Ent- 
faltung zum Schauen der Ideen und damit zur höchsten Pro- 
duktivität und zum unmittelbaren Anteil am Ewigen führt. 

Hier tritt noch ein Moment zu Tage, das alle Redner dunkel 
gefühlt haben, der Dichter Agathon zuerst grundsätzlich zum 
Ausdruck bringt. Das ist die uns aus dem Phaidros wohlbekannte 
Verbindung des Eros mit der Idee, die im Sinnlichen den deut- 
lichsten Abglanz hat, mit der Schönheit. Der Eros ist Zeugung 
im Schönen. Wieder gilt das schon beim sinnlichen Triebe. 
Aber höher und reiner ist es bei der geistigen Gemeinschaft und 
Produktion der Fall. Auch hier ist die sinnliche Schönheit der 
Ausgangspunkt, sie kann auch zum Fallstrick werden. Aber wen 
der Eros richtig leitet, der ruht nicht, bis er zu einer Welt- 
anschauung aufgestiegen ist, die ihm die Schönheit abgelöst von 
allem Sinnlichen zeigt. 

Was ist also schließlich der Eros, wenn wir alle seine Er- 
scheinungsformen in Betracht ziehen? Er ist das Streben des 
Sterblichen, Individuellen, durch Produktivität Anteil am Ewigen, 
Allgemeinen zu erlangen, ein Streben, das die ganze vergängliche 


Der Eros. Sinn und Zweck der Erscheinungswelt. 387 


Natur durchzieht, das die verschiedensten Formen annimmt und 
am schönsten sich da entfaltet, wo der Mensch von dem Ver- 
langen nach der einzelnen schönen Erscheinung aufsteigend in 
allmählichem Fortschritt zur Erkenntnis der Ideenwelt gelangt 
und damit zur Produktion unvergänglicher Gedanken befähigt 
wird. So ist der Eros wirklich der μέγας δαίμων, der Mittler 
zwischen Sinnlichkeit und Ewigkeit. 

Und nun verstehen wir auch, was Plato im Symposion sagen 
will. Als er auf der Suche nach der Möglichkeit einer Wissen- 
schaft sich aus der Welt des Vergänglichen und Wechselnden 
in das Reich des Ansichseienden geflüchtet hatte, da war ihm ım 
Immateriellen zu seiner Überraschung eine Welt von Schönheit 
aufgegangen, von deren Glanz sein Auge geblendet wurde. Aber 
wenn er dort nun das Ansichgute, Ansichschöne erklickte, so 
drohte gegenüber dem absolut Wertvollen die sinnliche Erschei- 
nung jeden Wert zu verlieren. Da mußte allmählich die 
Frage kommen: Was solldenn all dieses Unvollkommene, 
Vergängliche? Was ist der Sinn der sinnlichen Erschei- 
nung? Was hat das Leben der einzelnen Ameise, was 
hat mein Leben, mein Streben für einen Zweck? Die 
Antwort gibt uns das Symposion: Wert hat nicht das ein- 
zelne Exemplar, sondern die Gattung, Wert nicht der 
Mensch als Individuum, sondern die Menschheit. Der 
Sinn aber unseres Einzellebens ist die Mitarbeit am 
Leben der Menschheit, die Mitarbeit an ihrer Er- 
haltung nicht bloß in leiblicher Beziehung, sondern 
auch an dem geistigen Besitz, der das Wesen der 
Menschheit ausmacht. Der Sinn unseres Strebens ist die 
Verwirklichung des Ewigen in uns und durch uns. 

Plato hat sogut wie Schopenhauer das Bedürfnis 
empfunden, sich alles Geschehen, alle Entwicklung in 
der Welt durch eine einheitliche Formel verständlich zu 
machen. Er findet sie indem die ganze Erscheinungswelt 
durchziehenden Streben, das Allgemeine, die Gattung in 
sich zu verwirklichen und so am Ewigen, absolut Wert- 
vollen teilzuhaben. Und dieses Streben ist der Eros. 

Ob Plato diese Gedanken über die sinnliche Welt für streng 
wissenschaftlich erwiesen gehalten hat, darf man bezweifeln. Aber 
lebendig geblieben sind sie, das zeigt uns am besten Aristoteles, wenn 

25* 


388 Lysis und Symposion. 


er als die allgemeinste Form organischen Lebens Ernährung und Fort- 
pflanzung bestimmt: φυσικώτατον γὰρ τῶν ἔργων τοῖς ζῶσιν... 
τὸ ποιῆσαι ἕτερον οἷον αὐτό, ζῷον μὲν ζῷον, wvrov δὲ φυτόν, 
ἵνα τοῦ ἀεὶ καὶ Tod ϑείου μετέχωσιν N δύνανται " πάντα γὰρ ἐκεί- 
vov ὀρέγεται, καὶ ἐκείνου ἕνεκα πράττει ὅσα πράττει κατὰ φύσιν... 
ἐπεὶ οὖν κοινωνεῖν ἀδυνατεῖ τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ ϑείου τῇ συνεχείᾳ 
διὰ τὸ μηδὲν ἐνδέχεσϑαι τῶν φϑαρτῶν ταὐτὸ καὶ Ev ἀριϑμῷ διαμέ- 
vew, N δύναται μετέχειν ἕκαστον, κοινωνεῖ ταύτῃ... καὶ δια- 
μένει οὐκ αὐτὸ ἀλλ᾽ οἷον αὐτό, ἀριϑμῷ μὲν οὐχ ἕν, εἴδει δ᾽ ἕν 
(de an. II, 4, p. 415a 25)'). Das ist direktes Zitat von Symp. 
206—8 (vgl. bes. 2074 ἣ ϑνητὴ φύσις ζητεῖ κατὰ τὸ δυνατὸν 
dei τε εἶναι καὶ ἀϑάνατος. δύναται δὲ ταύτῃ μόνον, τῇ γεννήσει Ἶ), 
ὅτι ἀεὶ καταλείπει ἕτερον νέον ἀντὶ τοῦ παλαιοῦ und 2088: τούτῳ 
γὰρ τῷ τρόπῳ πᾶν τὸ ϑνητὸν σῴζεται, οὐ τῷ παντάπασιν ταὐτὸν 
ἀεὶ εἶναι ὥσπερ τὸ ϑεῖον, ἀλλὰ τῷ τὸ ἀπιὸν καὶ παλαιούμενον ἕτε- 
ρον νέον ἐγκαταλείπειν οἷον αὐτὸ ἦν. ταύτῃ τῇ μηχανῇ . . . ϑνητὸν 
ἀϑανασίας μετέχει, καὶ σῶμα καὶ τἄλλα πάντα, ἀδύνατον ὃ) δὲ ἄλλῃ). 
Aber wichtiger ist vielleicht noch der Einfluß, den Aristoteles 
unbewußt aus diesem Dialoge erfahren hat. Denn wenn wir die 
Konzeption des berühmten κινεῖ ὡς ἐρώμενον in ihre Anfänge 
verfolgen, werden wir an der Eroslehre des Symposion nicht 
vorübergehen dürfen. 


Einen merkwürdigen Irrtum müssen wir noch beseitigen, 
der sich an das Symposion geheftet hat. Das ist der, wie es 
scheint, ziemlich allgemein verbreitete Glaube, als habe Plato im 
Symposion die Unsterblichkeit der Seele „noch nicht gelehrt“ 
oder gar verworfen, als wolle Sokrates in seiner Rede zeigen, in 
welcher Weise die Seele Anteil an der Unsterblichkeit erlangen 
könne. Dabei macht doch Plato ganz deutlich, daß ihn 
hier die Frage nach dem Wesen und der Fortdauer der 
Seele überhaupt nichts angeht. Dieses Problem ist offen- 
bar für ihn erledigt. Nur davon will er reden, in welcher 
Weise das Sterbliche Anteil am Ewigen erlangt (207d 
bis 208b, vgl. besonders die eben ausgeschriebenen 


ἢ Vgl. de gen. an. II, 1 (731b 8515. und 735a 18), Pol. I, 2 (1252a 28). 
?) γενέσει codd. 
’) So sicher richtig Creuzer für ἀϑάνατον, vgl. die Zitate bei Aristoteles. 


Das Symposion hat mit der Unsterblichkeit der Seele nichts zu tun. 5989 


Stellen). Das Sterbliche ist aber nicht etwa die Seele, 
sondern das Lebewesen, das aus Leib und Seele be- 
stehende Gesamtwesen und das muß als σύνϑετον na- 
türlich sterblich sein, kann nur durch Fortpflanzung 
sich in der Gattung erhalten. Wer hieran zweifeln wollte, 
den kann eine Stelle des Phaidros belehren, wo Plato ausdrück- 
lich über das Verhältnis von Seele und ϑνητόν spricht. Unmittel- 
bar nachdem Plato dort die Seele als Bewegungsprinzip und da- 
mit als unsterblich erwiesen hat, fährt er 246b fort: „Die unsterb- 
liche Seele hat für alles Unbeseelte zu sorgen, muß überall vor- 
handen sein, wo Bewegung und Leben ist; wenn sie sich aber 
mit einem irdischen Leibe verbindet, ζῷον τὸ σύμπαν ἐκλήϑη, 
ψυχὴ καὶ σῶμα παγέν, ϑνητόν τ᾽ ἔσχεν ἐπωνυμίαν. Ein unsterbliches 
Lebewesen gibt es nicht.“ Diese Stelle müssen wir uns gegenwärtig 
halten, wenn wir das Symposion lesen. Nicht der geringste Anlaß 
liegt vor zu glauben, Plato habe dort seine Anschauung von der Seele 
geändert. Ohne ein Prinzip, das Bewegung und Leben hervorruft, 
ist der Eros nicht zu denken. Nichts führt aber auch zu der Annahme, 
Plato habe die Unsterblichkeit der individuellen Seele fallen ge- 
lassen ἢ). 

Damit sind wir wieder zu dem Verhältnis des Symposion 
zum Phaidros zurückgeführt. Hierüber noch einige Worte. Im 
Phaidros hatte Sokrates das Wesen des Eros nach seinen beiden 
Seiten hin durch seine zwei Reden veranschaulicht. Die zweite 
bot des Wahren unendlich viel mehr als die erste. Aber doch 
mußten wir beide Reden zusammennehmen, wollten wir ein rich- 
tiges Bild erhalten. Genau so verfährt Plato im Symposion. Auch 
hier nimmt die letzte Rede das Wesentliche aus den vorher- 
gehenden auf; aber wenn wir Platos Gesamtauffassung verstehen 
wollen, dürfen wir diese nicht unberücksichtigt lassen. Auch in 
diesen unphilosophischen Anschauungen sind doch richtige Vor- 
stellungen enthalten, und die verschiedenen Auffassungen lehren 
uns doch auch verschiedene Seiten des Eros kennen. Im Phai- 
dros war der Gedanke, das Wesen des Eros durch zwei Reden 
darzustellen, durch methodische Erwägungen nahegelegt (S. 338). 
Eine Weiterbildung dieses Verfahrens ist es, wenn Plato im 


!) Im letzten Teile der Sokratesrede handelt es sich natürlich um die 
psychischen Fähigkeiten des Menschen. Aber auch da ist die Unsterblichkeit der 
Seele kein Problem. 


990 Lysis und Symposion. 


Symposion sechs Reden zu einer großen Induktion vereinigt und 
dabei die Scheidung der zwei Seiten des Eros, die er hier durch 
Pausanias schematisch durchführen läßt, endgültig in einer höhe- 
ren Einheit aufhebt!). 

Der Phaidros ist das Programm der Akademie, das nach der 
Gewohnheit der Zeit unter Polemik gegen die herrschende Rich- 
tung den Nachweis erbringt, daß nur die Akademie die höchste 
menschliche Ausbildung durch die Philosophie zu geben vermag. 
Aber v. Sybel?) hatte nicht so unrecht, auch das Symposion als 
Programm der Akademie zu fassen. Denn auch hier wird ganz 
scharf ein Schnitt gezogen zwischen den gewöhnlichen Bestre- 
bungen und der Philosophie, wie die Akademie sie bringt. Aber 
hier wird nicht bloß wie im Phaidros die Philosophie als das 
Streben nach Erkenntnis geschildert, das für die menschen- 
würdige Betätigung in jedem Berufe Voraussetzung ist, hier wird 
uns vielmehr die Macht gezeigt, die die Philosophie besitzt, wenn 
sie den Menschen dauernd unter ihrer Leitung behält. Da führt 
sie ihn durch die einzelnen Fachwissenschaften, nicht bloß die 
niederen, die Eryximachos vertritt, sondern auch die Geistes- 
wissenschaften bis zu der einen Wissenschaft, bis zur idealistischen 
Weltanschauung, die erst den Blick öffnet für die Prinzipien des 
Alls, die absolute Schönheit und Gesetzmäßigkeit, die in der Welt 
des Immateriellen herrscht und die zu verwirklichen die Sinn- 
lichkeit nur unvollkommen vermag. Das ist das Ziel, das das 
Leben lebenswert macht. Der Führer auf dem langen Wege ist 
auch hier der Eros. Aber die Auffassung des Phaidros, daß der 
Eros die Liebe zum Schönen sei, wird hier ausdrücklich dahin 
korrigiert, daß er sich auf die Zeugung im Schönen richte (206 8). 
Der Eros ist auch nicht mehr die Liebe, die zwei Individuen an- 
einander fesselt — die wird ausdrücklich als die niedere Stufe be- 
zeichnet (211d) — sie ist das Band, das die Gemeinschaft der 
Akademie umschlingt?°). 


1 Vgl. auch Barwick, Comm. Ien. X, p. 13. 

3) Platos Symposion, ein Programm der Akademie, Marburg 1888. 

3) Das ist für die Zeit des Phaidros natürlich sehr wichtig. Denn die Zeit 
des Symposions scheint mir immer noch dadurch bestimmt, daß Plato den über 
Zeit und Raum erhabenen Komiker 193a auf den im Jahre 384 erfolgten διοι- 
κισμός von Mantinea (Xen. Hell. V, 2, 1—7) anspielen läßt, wie schon Ari- 


Auch das Symposion ist ein Programm der Akademie. 391 


Die antiken Philosophenschulen vereinigen in sich die Vor- 
züge von Hochschule und Studentenverbindung. Das ist das 
Ziel, das schon Plato bewußt verfolgt hat. In der Akademie soll 
der Novize nicht bloß den Mystagogen finden, der ihn auf die 
höchsten Weiten vorbereitet; er soll auch eine Lebensgemein- 
schaft haben, die fester kettet als der Eros zweier Individuen 
und die das Leben der Individuen überdauert, Anteil am ewigen 
Leben der Wissenschaft gibt. 

Ernste Arbeit fordert die Akademie, aber auf die Arbeit folgt 
die Erholung. Im Phaidros hatte Plato gesagt (276d): „Wenn 
andere Leute andere Vergnügungen suchen, sich auf Symposien 
betrinken oder was es sonst dergleichen gibt, dann wird der 
Philosoph seine Erholung im Schreiben finden.“ Jetzt hat er 
gelernt, daß für die Gemeinschaft auch solche gemeinsame Er- 
holungen wertvoll sind. Daß da nicht Flötenspielerinnen und 
Taschenspieler die Unterhaltung geben, dafür werden die Musen 
der Akademie schon sorgen. Dionysos wird nicht fehlen, und 
wenn bei einem Fest ein Akademiker ihm zu sehr huldigt, 
Plato wird’s nicht zu sehr übelnehmen. Aber wichtiger ist noch, 
daß Eros in der Gemeinschaft waltet. 


In Platos Dialog steht Sokrates im Mittelpunkt. Ihm ist das 
Vorspiel gewidmet, und seiner Person gilt die Lobrede, die Alki- 
biades eigentlich auf den Eros halten sollte. Er ist der Mittel- 
punkt des ganzen Kreises, den Agathon geladen hat. Er bewegt 
sich in ihm wie in seinem eigensten Elemente, er beherrscht 
selbstverständlich die gesellschaftlichen Formen, trägt selbst ın 
Äußerlichkeiten dem festlichen Anlaß Rechnung, weiß zu plau- 


stides II 371 annimmt. Wenn dort gesagt ist διῳκέσϑημεν καϑάπερ ᾿Αρκάδες 
ὑπὸ Λακεδαιμονίων, so scheint mir das nicht auffälliger, als wenn Demosth. 19, 
74 sagt τὴν Βοιωτίαν οἰκέξειν, obwohl es sich nur um Thespiä und Platää 
handelt, vgl. 8 325. Wilamowitz, Hermes 32, 102, Textg. d. Lyr. 1051 bezieht 
die Anspielung auf die Auflösung des arkadischen Bundes nach 418. Aber ab- 
gesehen davon, daß diese Anspielung um 380 kaum verstanden wäre, spricht 
διῳκίσϑημεν dagegen. Denn dieses Wort wird, soviel ich sehe, nie von Auf- 
. lösung eines Bundes, sondern stets von der einer Stadtgemeinde gebraucht, von 
Mantinea Xen. Hell. V, 2, 7; Isokr. 8, 100; Ephoros fr. 138; Pol. IV, 27, 6; sonst 
vgl. Dem. 19, 81 διῳκισμένοι κατὰ κώμας, 5, 10, Harpokration 8. v. διοικιεῖν" 
διαιρήσειν ὥστε μὴ ἐν ταὐτῷ πάντας οἰκεῖν, ἀλλὰ χωρὶς καὶ κατὰ μέρος. 


392 Lysis und Symposion. 


i 


dern, zu scherzen, zu zechen wie kein anderer, gibt sich dem 
heiteren Genuß der Stunde harmlos hin. Ja Sokrates ist genuß- 
fähiger als sie alle, aber keinen Augenblick verlieren wir die 
Empfindung, daß er über diesen Genuß erhaben ist und es ihm 
nur auf das Gespräch mit den Freunden ankommt, dem er die 
Wendung auf die höchsten Ziele der Menschheit zu geben weiß. 
Und wenn schließlich selbst die größten Zecher versagen, sein 
Geist bleibt klar wie zuvor. Sein Geist ist unbedingter Herr 
über den Körper, das ist der Eindruck, den wir überhaupt von 
ihm bekommen. Schon die kleine Szene am Anfang, wo er in 
Gedanken versunken stehen bleibt, zeigt uns den Philosophen 
des Phaidon, bei dem der Geist das Körperliche zu verlassen 
scheint. Ganz lernen wir ihn aber erst kennen durch das, was 
Alkibiades von ihm zu erzählen weiß. Da hören wir, wie keine 
körperliche Beschwerde, nicht Hitze noch Frost, nicht Schmerz 
noch Lust diesem Manne etwas anhaben kann, wie die geistige 
Konzentration ihn sogar über das Bedürfnis nach Essen, Trinken 
und Schlaf erhaben macht. Wie ein Wesen aus einer höheren 
Sphäre mutet uns da dieser Sokrates an, den wir eben noch als 
Glied des geselligen Kreises sahen. Aber die wahre Größe dieses 
δαιμόνιος ἀνήρ hat Alkibiades nicht damals erfahren, als er 
Sokrates den ganzen kalten Wintertag in Nachdenken stehen 
sah, sondern in der stillen Nachtstunde, wo er selber sich 
dem Sokrates preisgab und dieser die fast übermenschlich 
schwere Versuchung, die Alkibiades ihm bereitete, überhaupt 
nicht zu empfinden schien. Und wie die σωφροσύνη, so ist 
die Tapferkeit, ja die ganze Tugend gleichsam in Sokrates 
verkörpert. Er übt sie nicht aus blödem Eudämonismus, 
sondern weil er die absolute Überzeugung von dem ein- 
zigen Werte der Tugend in sich trägt und darum garnicht an- 
ders kann. 

Ein δαιμόνιος ἀνήρ ist Sokrates auch durch den Einfluß, den 
er ausübt. Sie alle, die in seinen Bannkreis getreten sind, haben 
die ἐρωτικὴ μανία in sich gespürt. Aber keiner stärker als Alkı- 
biades. Wo die Worte des Perikles glatt abgleiten, da ruft So- 
krates die erschütterndste Wirkung hervor. Den verwöhnten 
Liebling des Volkes, der gewohnt ist, alles sich verziehen zu 
sehen, bringt er zu Thränen der Scham. Und wenn der Mann 
auch längst sich andere Götter gewählt hat, so fühlt er doch mit 


Sokrates die Verkörperung des Eros. 393 


jähem Schreck die alte Zerrissenheit des Herzens wieder, sobald 
er Sokrates erblickt ἢ. 

Dämonisch wirkt bei diesem Mann auch der Gegensatz der 
äußeren Erscheinung und des Inneren. Ist’s doch, als habe die 
Natur zeigen wollen, daß die καλοκάἀγαϑία nur die Schönheit der 
Seele verlange. Ein Silen von Häßlichkeit im Äußeren, ein Geist, 
dessen Inhalt, wenn er sich ganz erschließt, wie eine Offenbarung 
aus einer höheren Welt anmutet. 

Endlich ist er der ἐρωτικός. Äußerlich verliebt wie ein 
Silen, stets auf der Jagd nach jungen Leuten, die durch die leib- 
liche Schönheit den Adel der Seele verraten, und dabei ein Herr- 
scher über die Sinnlichkeit, der dem schönsten Jüngling wie der 
Vater dem Sohne gegenübertritt. Gerade darum hat er aber die 
dämonische Macht über die Jugend, weckt er den ἀντέρως, wird 
er aus dem ἐραστής immer bald zum ἐρώμενος. So ist er wirk- 
lich der beste Kenner der Liebeskunst. Aber er ist auch in 
allen Formen des menschlichen Eros, die er selbst in seiner Rede 
schildert, Meister. Wir wollen nicht vergessen, daß Sokrates 
Gatte und Vater ist; aber wichtiger ist es freilich, daß sich in 
ihm der Forscherdrang verkörpert, der den Menschen rastlos 
ohne Ermatten vorwärts drängt, die heiße Liebe zum Ideale, der 
Mitteilungstrieb, der den Menschen zwingt, wenn er schwanger 
ist mit hohen Gedanken, sich einen anderen, einen κχαλός zu 
suchen, in dem er zeugend fortwirken kann, damit auch der 
mit ihm in gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit dem gleichen 
Ziele zugeführt werden kann. 

So ist Sokrates wirklich der ἐρωτικός, ja er ist noch mehr, 
er ist die Verkörperung des μέγας δαίμων, des Eros, auf Erden. 
Es ist kein Zufall, daß auf die Lobreden auf den Eros die auf 
Sokrates folgt: Schon wenn Diotima vorher (203d) an die Stelle 
des falschen Eros, den die Künstler irrtümlich nach dem Ero- 
menos gezeichnet haben, den echten setzt, hat das Bild unwill- 
kürlich die Züge des Sokrates angenommen. 

Dem Individualismus und Persönlichkeitskultus des fünften 
Jahrhunderts hat niemand sich stärker entgegengeworfen als 


1) Schön ist es, wie Plato von der verklärten Gestalt des historischen Sokrates 
einen Abglanz auch auf seinen genialsten Anhänger fallen läßt. Den Eros hatte 
dieser in sich gespürt wie keiner. Aber bei ihm waren die beiden Seelenrosse 
zu stark, und ihr Lenker unterlag. 


394 Exkurs 


Sokrates, und Platos Ideenlehre mußte diese Tendenz noch ver- 
stärken, Da ist es wohl bezeichnend und für alle Zeiten lehr- 
reich, daß es nicht bloß den Künstler Plato inmer wieder ge- 
reizt hat, das Bild des Mannes zu zeichnen, sondern daß auch der 
Philosoph gerade in der Schrift, wo alles Individuelle nur den 
Zweck hat, am Allgemeinen, an der Gattung mitzuarbeiten, 
der Persönlichkeit seinen Tribut zollt. Der göttliche Schutz- 
patron der Akademie soll Eros sein. Aber wenn der Aka- 
demiker ein Idealbild sucht, das ihm Kraft und Mut zum eige- 
nen Forschen und Streben geben soll, dann blickt er auf die 
menschliche Persönlichkeit hin, in der Eros Fleisch geworden ist, 
auf Sokrates. 


Exkurs. 
Pausanias’ Erotikos. Platos und Xenophons Symposion. 


In der Erosrede von Xenophons Symposion sagt Sokrates 
(8,32): Καίτοι Παυσανίας γε ὃ ᾿Αγάϑωνος τοῦ ποιητοῦ ἐραστὴς 
ἀπολογούμενος ὑπὲρ τῶν ἀκρασίᾳ συγκυλινδουμένων εἴρηκεν ὡς 
καὶ στράτευμα ἀλκιμώτατον ἂν γένοιτο ἐκ παιδικῶν τε καὶ ἐραστῶν. 
τούτους γὰρ ἂν ἔφη οἴεσθαι μάλιστα αἰδεῖσϑαι ἀλλήλους ἀπολείπειν 
ἐνν χαὶ μαρτύρια δὲ ἐπήγετο ὡς ταῦτα ἐγνωκότες εἶεν καὶ Θηβαῖοι 
καὶ ᾿Ηλεῖοι " συγκαϑεύδοντας γοῦν αὐτοῖς ὅμως παρατάττεσθαι ἔφη 
τὰ παιδικὰ εἰς τὸν ἀγῶνα, οὐδὲν τοῦτο σημεῖον λέγων ὅμοιον" ἐκείνοις 
μὲν γὰρ ταῦτα νόμιμα, ἡμῖν δ᾽ ἐπονείδιστα. Diesem Ψψόμος wird dann 
der spartanische gegenübergestellt, der das körperliche Begehren 
verpönt und die Aidog als Göttin hat. 

Wenn man diese Stelle unbefangen liest, so wird man sich 
des Eindrucks schwer erwehren können, daß Xenophon hier den 
geschlossenen Gedankengang eines anderen wiedergibt, und nament- 
lich Ausdrücke wie das Imperfektum ἐπήγετο lassen kaum eine 
andere Deutung zu. An sich wäre es nun gewiß denkbar, daß es 
ein literarischer Pausanias ist, den Xenophon zitiert. Aber der 
platonische kann es jedenfalls nicht sein‘). Denn bei Plato sind 
höchstens die einzelnen Gedanken, aber nicht der ganze Zusammen- 
hang vorhanden. Ein Gedanke ferner, den Xenophon ausdrück- 
lich mit ἔφη einführt (συγκαϑεύδοντας --- ἀγῶνα), fehlt dort ganz. 


1) So schon Boeckh, Hug, Rettig u. a. 


Pausanias’ Erotikos. 395 


Den Gedanken an das Liebesheer, den Xenophon an erster Stelle 
aus Pausanias zitiert, äußert bei Plato nicht dieser, sondern Phaidros 
(178e). Und endlich wäre die Charakterisierung von Platos Pausanias- 
rede durch ἀπολογούμενος ὑπὲρ τῶν ἀκρασίᾳ συγκυλινδουμένων eine 
Gehässigkeit, die Xenophon sonst Plato gegenüber nicht zeigt. 
Nun hat Joel einen andern literarischen Pausanias ausfindig 
gemacht, der in Antisthenes’ Symposion vorkam (Echter und xenoph. 
Sokrates II, 5. 710 ff., 912 ff.). Aber von diesem antisthenischen 
Symposion weiß kein Mensch im Altertum etwas. Im Schriften- 
verzeichnis des Antisthenes existiert es nicht. Joel muß es des- 
halb in den Προτρεπτικοί suchen. Aus diesem sind freilich nur 
drei Glossen erhalten, Ausdrücke für einen kleinen Becher, für 
Ferkelnahrung und für das Nachtgeschirr. Ich muß bekennen, daß 
ich nicht imstande wäre, daraus weitgehende Schlüsse zu ziehen. Joel 
findet in ihnen untrügliche Zeichen für ein Symposion. Denn „man 
wird zugeben: dergleichen Themata gehören selbst beim Kyniker 
höchstens in den Kneipton“ (S. 711). Nun ist es an sich Geschmack- 
sache, ob man sich besagte Dinge als Gegenstand des Tischgesprächs 
denken will; jedenfalls kommen z. B. χοῖρος und duig bei Epiktet 
in sehr ernsten theoretischen Erörterungen vor. Daß Joel Platos 
Pausaniasrede nicht richtig interpretiert, wenn er sie mit Xeno- 
phons Sokratesrede zusammenstellt, haben wir schon gesehen 
(S. 374). Aber auch sonst ist nicht der Schatten eines Beweises 
dafür erbracht, daß Antisthenes ein Symposion geschrieben habe 
oder daß bei ihm Pausanias als Dialogfigur vorgekommen sei. 
Fällt aber der literarische Pausanias weg, so bleibt nur übrig, 
daß Xenophon eine Schrift des historischen Pausanias zitiert, auf 
die dann natürlich auch Plato Rücksicht nimmt. Gegen diese An- 
nahme spricht nichts, für sie ein wichtiges Moment. Platos Pausanias- 
rede hatte, wie wir sahen, als eigentlichen Inhalt die Auslegung 
und Rechtfertigung des athenischen νόμος über den Eros. Man 
wird nicht sagen können, daß diese spezielle Tendenz durch Platos 
Gesamtabsicht erfordert war, würde sie also gern einer originalen 
Pausaniasrede zutrauen. Nun spielt gerade der νόμος auch im Zitat 
beiXenophon seine Rolle. Eine objektive Wiedergabe von Pausanias’ 
Tendenz dürfen wir dort freilich nicht erwarten. Die wird gehässig 
in eine Apologie der Unsittlichkeit verzerrt‘). Aber auch dort hören 


1) Den Anlaß bot Pausanias’ Stellungnahme gegen die Leute, die zu be- 
haupten wagen, ὡς αἰσχρὸν yagiteodaı ἐρασταῖς (Plato Symp. 182a). 


996 Exkurs. 


wir, daß Pausanias die νόμοι der Thebaner und Eleer über die Liebe 
herangezogen hat‘). Und wenn Xenophon ihnen den spartanischen 
νόμος mit bewußter Idealisierung gegenüberstellt, so liegt der Ge- 
danke nahe, daß er dies tut, weil auch Pausanias den spartanischen 
νόμος so für sich verwendet hatte, wie er es bei Plato (182a) tut. 
Dieselbe Vergeistigung des spartanischen Eros bringt Xenophon 
auch in seinem Staate der Spartaner 2,12—4. Nur scheidet er hier 
in einer Weise, die an den Pausanias Platos erinnert, schärfer den 
doppelten Eros, den psychischen und den sinnlichen, und behauptet, 
nur der psychische sei in Sparta erlaubt und gelte dort als καλλίστη 
παιδεία. Τὸ μέντοι ταῦτα ἀπιστεῖσθαι ὑπό τινων οὐ ϑαυμάζω" Ev 
πολλαῖς γὰρ τῶν πόλεων οἱ νόμοι οὐκ ἐναντιοῦνται ταῖς πρὸς τοὺς 
παῖδας ἐπιϑυμίαις. Vorher sagt er schon (12): οἱ μὲν τοίνυν ἄλλοι 
"Eilnves ἢ ὥσπερ Βοιωτοὶ ἀνὴρ καὶ παῖς συζυγέντες ὁμιλοῦσιν ἢ 
ὥσπερ ᾿Ηλεῖοι διὰ χαρίτων τῇ ὥρᾳ χρῶνται" εἰσὶ δὲ καὶ οἱ παντάπασι 
τοῦ διαλέγεσθαι τοὺς ἐραστὰς εἴργουσιν ἀπὸ τῶν παίδων. Daß Xeno- 
phon hier mit demselben Material arbeitet wie im Symposion, aber 
mehr bietet, ist klar. Die letzte Angabe stimmt zu dem, was Platos 
Pausanias über die Ionier sagt. Was speziell über Eleer und Böoter 
gebracht wird, geht über ihn hinaus. Dagegen paßt es ganz zu 
Pausanias’ Anschauungen, wenn der Eros als παιδεία aufgefaßt wird 
(das Wort παίδευσις p. 184e): Und wieder haben wir die ver- 
gleichende Wertung der νόμοι. 

Ich glaube, das spricht dafür, daß an all diesen Stellen ein 
wirklicher ἐρωτικός des Pausanias die Anregung gegeben hat. Er 
hatte die Form einer Interpretation und Rechtfertigung der athe- 
nischen gesellschaftlichen Anschauungen über den Eros. Das kann 
uns in der Sophistenzeit nicht verwundern. Auch Protagoras inter- 
pretiert und verteidigt in seinem Mythos die widerspruchsvollen 
Anschauungen der Athener über die Lehrbarkeit der Tugend (323c 
bis 32#c, vgl. 5. 87). Ein wirkliches Gesetz interpretiert Pheidippides 
und beginnt Nub. 1186 οὐ γάρ, οἶμαι, τὸν νόμον ἴσασιν ὀρϑῶς ὅτι 
voei. (Gerade ebenso drückt sich aber noch der alte Plato aus, wo 


1) Hier ist gewiß Xenophon treuer als Plato. Denn für das Liebesheer auf 
die Thebaner zu verweisen (schon vor der Organisierung der heiligen Schar durch 
Gorgidas hat es doch gewiß Ähnliches dort gegeben), war für Pausanias von selbst; 
gegeben. Plato hat diese Beweisführung weggelassen, weil er den Gedanken an 
das Liebesheer Phaidros in den Mund legte und die νόμοι sich für Pausanias” 
Rede aufsparte. 


Pausanias’ Erotikos. 397 


er den spartanischen νόμος über den Eros ablehnt und ein Ein- 
gehen auf die Frage nach dem tieferen Sinn ablehnt: τὸν δὲ νόμον 
ὑμῶν ὅτι νοεῖ περὶ τὰ τοιαῦτα, οὐδέν με ἐξετάζειν δεῖ (Legg. 837e)'). 
Plato kritisiert in diesem Abschnitt kurz die früheren Anschauungen 
über den Eros, seine eigenen wie die der andern (S. 384"). Und 
hier deutet er an, daß er Ansichten kennt, die den spartanischen 
νόμος als ποικίλος aufseinen Sinn prüften und lobten. Sein Pausanias 
tut dies im Symp. 182a nur in einer beiläufigen Bemerkung, der 
historische hatte es gewiß ausführlich getan. 

Daß Plato hier ein individuelles literarisches Erzeugnis vor 
Augen hat, zeigt, wie mir scheint, auch der Stil seiner Pausanias- 
rede. Wir lesen p. 180e: πᾶσα γὰρ πρᾶξις ὧδ᾽ ἔχει αὐτὴ ἐφ᾽ 
ἑαυτῆς πραττομένηῃ οὔτε καλὴ οὔτε αἰσχρά. οἷον ὃ νῦν ἡμεῖς 
ποιοῦμεν, ἢ πίνειν ἢ ἄδειν ἢ διαλέγεσϑαι, οὐκ ἔστι τούτων 
αὐτὸ καλὸν οὐδένν ἀλλ᾽ ἐν τῇ πράξει, ὡς ἂν πραχϑῇ, τοι- 
odrov ἀπέβη καλῶς μὲν γὰρ πραττόμενον καὶ ὀρθῶς καλὸν 
γίγνεται, μὴ ὀρϑῶς δὲ αἰσχρόν. Οὕτω δὴ καὶ τὸ ἐρᾶν" καὶ 
ὃ Ἔρως οὐ πᾶς ἐστι καλὸὲ οὐδὲ ἄξιος ἐγκωμιάζεσϑαι, ἀλλὰ 
ὃ χαλῶς προτρέπων ἐρᾶν. Schon Gellius XVII, 20 empfindet hier 
das rhetorische ἐνθύμημα .. brevibus et rotundis numeris cum qua- 
dam aequabili eircumactione devinetum, und die Farben sind tat- 
sächlich so aufdringlich aufgetragen, daß man nach Analogie der 
Agathonrede erwartet, diesen Stil durchgeführt zu sehen. Aber 
davon ist keine Rede. Dafür tritt mehr ein Streben nach Sym- 
metrie des Satzbaus hervor. Hug und Schöne haben die Stellen 
schon gut analysiert. Ich setze p. 185 her: 

Ia. Ei γάρ τις ἐραστῇ ὡς πλουσίῳ πλούτου ἕνεκα χαρισάμενος 
ἐξαπατηϑείη καὶ μὴ λάβοι χρήματα, 
ἀναφανέντος τοῦ ἐραστοῦ πένητος, 

οὐδὲν ἧττον αἰσχρόν" 

Ib. δοκεῖ γὰρ ὃ τοιοῦτος τό γε αὑτοῦ ἐπιδεῖξαι, 
ὅτι ἕνεκα χρημάτων ὅδτιοῦν ἂν ὁτῳοῦν ὕπηρετοῖ᾽ 
τοῦτο δὲ οὐ καλόν. 
Κατὰ τὸν αὐτὸν δὴ λόγον κἂν 
118. εἴ τις ὡς ἀγαϑῷ χαρισάμενος καὶ αὐτὸς ὡς ἀμείνων ἐσόμε- 
vos διὰ τὴν φιλίαν ἐραστοῦ ἐξαπατηϑείη, 

1) Wenn Plato vorher sagt: μεικτὴ δὲ ἔκ τούτων γενομένη (Sc. φιλία) πρῶτον 
μὲν καταμαϑεῖν οὐ ῥᾳδία κτλ., so schwebt das οὐ ῥάδιον κατανοῆσαι aus der 
Pausaniasrede Symp. 1824 vor. 


998 Exkurs. 


ἀναφανέντος ἐκείνου κακοῦ καὶ οὐ κεκτημένου ἀρετήν, 
ὅμως καλὴ ἣ ἀπάτη; 
ΠΡ. δοκεὶ γὰρ αὖ καὶ οὗτος τὸ καϑ' αὑτὸν δεδηλωκέναι, 
ὅτι ἀρετῆς γ᾽ ἕνεκα καὶ τοῦ βελτίων γενέσθαι πᾶν ἂν παντὶ 
: προϑυμηϑείη; 
τοῦτο δ᾽ αὖ πάντων κάλλιστον. 


Wieder ist die Absicht ganz augenfällig, aber die rhetorischen 
Mittel sind ganz anderer Art. Nehmen wir nun hinzu, daß da- 
neben sich in der Pausaniasrede lange Strecken finden, die über- 
haupt keine rhetorische Kunst zeigen, so ergibt sich daraus eine 
Ungleichmäßigkeit des Stils, die ganz gewiß von Plato gewollt 
ist und in schärfstem Gegensatze zur Agathonrede steht. Daraus 
ergibt sich aber auch, daß Plato hier nicht etwa den Stil eines 
der großen Redelehrer anwenden will. Er zeichnet einen Dilet- 
tanten, der die verschiedensten rhetorischen Kunststücke sich an- 
gelernt hat, aber nicht zur Einheitlichkeit des Stiles vorgedrungen 
ist. Gerade das erklärt sich aber am leichtesten, wenn wir an- 
nehmen, daß Plato den literarischen Charakter einer bestimmten 
Schrift imitiert, und das kann dann nur der Erotikos des Pausanias 
sein. Daß wir gegen Ausgang das fünften Jahrhunderts so etwas 
voraussetzen dürfen, zeigen manche hippokratische Schriften. 
Der Verfasser von de prisca medieina z. B. schreibt im all- 
gemeinen einfach und wissenschaftlich, aber gelegentlich (c. 2) 
bringt er Gorgianismen, und in c. 8 lesen wir folgende Periode, 
die wie die vorher ausgeschriebene nach Symmetrie strebt, wenn 
sie diese aus sachlichen Gründen auch gelegentlich durchbricht: 


la. ᾿Ανὴρ γὰρ κάμνων νοσήματι 
b. μήτε τῶν χαλεπῶν τὲ καὶ ἀπόρων μήτε αὖ τῶν παντάπασιν 
εὐηϑέων, 
ἀλλ᾽ οὗ τι αὐτῷ ἐξαμαρτάνοντι μέλλει ἐπίδηλον ἔσεσθαι, 
ὁ. εἰ ἐθέλοι καταφαγεῖν ἄρτον καὶ κρέας ἢ ἄλλο τι ὧν οἱ ὑγι- 
αίἰνοντες ἐσθίοντες ὠφελέονται, 
d. μὴ πολλόν, ἀλλὰ πολλῷ ἔλασσον ἢ ὑγιαίνων ἂν ἐδύνατο, 
lla. ἄλλος τε τῶν ὑγιαινόντων 
b. φύσιν ἔχων μήτε παντάπασιν ἀσϑενέα μήτε αὖ ἰσχυρὴν 
Ὁ, φάγοι τι ὧν βοῦς ἢ ἵππος φαγὼν ὠφελοῖτό TE καὶ ἰσχύοι, ὀρό- 
βους ἢ κριϑὰς ἢ ἄλλο τι τῶν τοιούτων, 
d. μὴ πολύ, ἀλλὰ πολλῷ μεῖον ἢ δύναιτο, 


Pausanias’ Erotikos. 399 


IH. οὐκ ἂν ἧσσσν ὃ ὑγιαίνων τοῦτο ποιήσας πονήσειέ τε καὶ κιν- 
δυνεύσειε κτλ. 


Pausanias hatte also in einem Erotikos, in dem er wohl Agathon 
anredete'), eine Apologie der athenischen gesellschaftlichen An- 
schauungen über die Knabenliebe unternommen und zu zeigen 
gesucht, daß diese ähnlich wie die spartanischen nur die Form 
des Eros billigten, wo dieser sich nicht bloß auf den Leib erstrecke, 
sondern als Erziehungsmittel, als Grundlage einer dauernden Freund- 
schaft diene. Plato hat diesen Erotikos zum Anlaß genommen, 
Pausanias als Dialogfigur im Symposion zu verwerten — ja die 
ganze Szene des Symposion ist wohl nicht ohne Einfluß der Schrift 
konzipiert — und hat Pausanias’ Rede dabei in einer für seine Leser 
natürlich deutlich kenntlichen Weise benutzt. Er ist frei vorge- 
gangen, hat manches in Phaidros’ Rede übertragen, hat aber die 
Tendenz im ganzen treu wiedergegeben’), nur vielleicht etwas 
verfeinert. Andere Sokratiker — und hier glaube ich Joel durch- 
aus, daß Antisthenes als Apostel der rein psychischen Liebe Xeno- 
phon vorangegangen ist — haben Pausanias’ Erotikos als bloße 
Apologie seiner eigenen sinnlichen Neigungen gedeutet, und Xeno- 
phon ist wohl gerade durch Platos Symposion veranlaßt worden, 
vom Standpunkte der Sokratik aus Pausanias aufs schärfste zu 
verurteilen. 


Auf die vielbehandelte Frage nach dem Verhältnis von Platos 
und Xenophons Symposion genauer einzugehen, liegt nicht in 
meiner Absicht. Zwei Punkte scheinen mir entscheidend: 

Wenn zwei Sokratiker einmal auf den Gedanken verfallen, die 
offizielle Form der sokratischen Literatur zu verlassen und ein 
Symposion zu schreiben, so sind sie nicht unabhängig von ein- 
ander. Die Priorität aber wird man dem zuschreiben, bei dem sich 
die Wahl dieser Form aus inneren Gründen erklärt. Bei Plato haben 
wir gesehen, daß die sechs Reden des Symposions eine große In- 
duktion darstellen, daß diese Form ihre Analogie in den Erosreden 
des Phaidros hat und die Weiterbildung des dort geübten Verfahrens 


1). So Schenkl. 

5) Zur Tendenz des Pausanias würde auch die Scheidung des doppelten Eros 
passen, die schon durch Euripides nahegelegt war. (Das hat Barwick Comm. Ien.X. 
p. 14.5 übersehen. Vgl. jetzt v. Arnim, Ztschr. f. d. öst. Gymn. 1913 5. 99.) 


400 Exkurs. 


darstellt (S. 389). Bei Xenophon wird man nach inneren Motiven, 
die zur Form des Gastmahls führen mußten, vergeblich suchen. 

Das zweite ist: Bei Xenophon beginnt Sokrates seine Eros- 
rede (8,1): ρ΄, ὦ ἄνδρες, εἰκὸς ἡμᾶς παρόντος δαίμονος μεγάλου 
χαὶ τῷ μὲν χρόνῳ ἰσήλικος τοῖς ἀειγενέσι ϑεοῖς, τῇ δὲ μορφῇ νεωτάτου, 
καὶ μεγέϑει μὲν πάντα ἐπέχοντος, (ἐν) ψυχῇ δὲ ἀνθρώπου ἱδρυμένου, 
Ἔρωτος, μὴ ἀμνημονῆσαι, ἄλλως τε καὶ ἐπειδὴ πάντες ἐσμὲν τοῦ 
ϑεοῦ τούτου ϑιασῶται; Längst ist bemerkt, daß jeder Ausdruck hier 
seine Parallele bei Plato hat. Als einen δαίμων μέγας bestimmt So- 
krates — im Gegensatz zur gewöhnlichen Anschauung, die Eros für 
einen Gott hält — den Eros p. 202d, als ältesten von den Göttern 
Phaidros 178a. Gegen Phaidros zeigt Agathon, daß Eros νεώτατός 
ἐστι τῇ μορφῇ 195a—c und fügt hinzu, daß er ἐν ἤϑεσι καὶ ψυχαῖς 
ϑεῶν καὶ ἀνϑρώπων τὴν οἴκησιν ἵδρυται. Daß der Eros πάντα ἐπέχει, 
führt Eryximachos aus. Daß alle Anwesenden unter Eros’ Ein- 
fluß stehen, hebt nachher Alkibiades 218b hervor’). 

Hier gibt es doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat Xeno- 
phon, ehe er auf sein spezielles Thema, die Lobrede auf den rein 
seelischen Eros, kam, in der Einleitung kurz im Anschluß an Plato 
auf das gesamte Wesen des Eros hingewiesen, oder aber Plato hat 
aus diesem einen Paragraphen Xenophons nicht bloß die Wesens- 
bestimmung des Eros als δαίμων entnommen, sondern hat auch aus 
den einzelnen Attributen seine verschiedenen Lobreden auf den 
Eros herausgesponnen; er verdankt ihm also im Grunde die ganze 
Konzeption seines Werkes. 

Welche von diesen beiden Möglichkeiten hat die innere Wahr- 
scheinlichkeit für sich? 


») Auf Pausanias’ Scheidung des doppelten Eros kommt Xenophon 8,9 und 
zieht sie in Zweifel: εἰ μὲν οὖν μέα Eoriv ᾿Αφροδίτη ἢ διτταί, Οὐρανία τε καὶ 
Πάνδημος, οὐκ olda. Doch könnte Xenophon hier sich auf den historischen 
Pausanias beziehen. 


Aus Platos Werdezeit. 


„Plato wurde schon als junger Mensch mit Kratylos und 
Heraklits Lehren bekannt; dann schloß er sich an Sokrates an“, 
so lesen wir bei Aristoteles in dem bald nach Platos Tode ver- 
faßten) kritischen Überblick über die Geschichte der Philosophie 
(Met. A 6 p. 987a 32), und tatsächlich bezeichnet Aristoteles damit 
die beiden philosophischen Haupteinflüsse, die Plato in seiner 
Jugend erfahren hat, die dauernd auf ihn eingewirkt haben. In 
der späteren Fassung des Gedankens (Met. M 4, p. 1078b 12) hat 
Aristoteles mit richtigem Empfinden den Namen des Kratylos 
weggelassen. Denn dieser war doch nur der Vermittler der An- 
schauung, „daß alle Sinnendinge in ewigem Fluß begriffen sind 
und es kein Wissen von ihnen geben kann“ (Arist. an der ersten 
Stelle). Plato hat später seinem Lehrer die Pietät nicht ganz 
versagt, aber ernst konnte er den unmethodischen und unselb- 
ständigen Denker nicht mehr nehmen. Und schon der junge 
Plato hat sich wohl bald von der Unfruchtbarkeit einer Denk- 
weise überzeugt, die aus Heraklits Lehre die Folgerung zog, man 
dürfe überhaupt kein Urteil mehr aussprechen, man dürfe, wenn 
man den Eindruck eines Dinges subjektiv bezeichnen wolle, sich 
eigentlich nicht einmal des Mediums der Worte bedienen, da 
diese immer etwas Bleibendes, Dauerndes bezeichnen (Met. 7) ὃ 
p- 1010a 12). 

Ganz die entgegengesetzte Anschauung trat Plato bei Sokrates 
entgegen. Für den war gerade der bleibende Inhalt der Worte 


1 Daß das erste Buch der Metaphysik zu einer Zeit verfaßt ist, wo 
Aristoteles sich noch ganz als Platoniker fühlte, hat Jäger Studien zur Ent- 
stehungsgesch. der Metaphysik des Aristoteles 5. 33ff. erwiesen. Aber auch die 
Geschichte der Philosophie im Dialoge περὶ φιλοσοφίας, die doch wohl eine 
populäre Parallele zu Met. A bildete, ist sicher früh verfasst. Denn der leiden- 
schaftliche Ausbruch (κεκραγώς), er könne der Ideenlehre nicht beistimmen, 
κἄν τις αὐτὸν οἴηται διὰ φιλονικίαν ἀντιλέγειν (fr. 8), pabt nur in frühe Zeit. 

Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. 26 


402 Aus Platos Werdezeit. 


der Ausgangspunkt jeder Untersuchung. Und daß er damit auf 
dem rechten Wege war, das bestätigte sich bei jedem Gespräch, 
das er mit anderen führte. Denn mochten auch die Meinungen 
noch so verschieden sein, das stellte sich jedesmal wieder heraus, 
daß die verschiedensten Menschen im Grunde mit den Worten, 
die sie gebrauchten, den gleichen Begriff verbanden, und daß es 
bei methodischem Vorgehen möglich war, diese Begriffe so weit 
zu klären, daß sie von allen als der bleibende, feste Inhalt der 
Worte anerkannt werden mußten. Damit war aber etwas Festes 
gegeben, das nicht bloß zur gegenseitigen Verständigung unent- 
behrlich war, sondern das auch dem individuellen Denken Schranken 
und Normen setzte. Es zeigte sich, daß über der augenblick- 
lichen Empfindung, auf die Kratylos ausschließlich sein Augen- 
merk richtete, über den individuellen Meinungen noch etwas 
anderes da war, was dem Denken den festen Halt bot, den ein 
Jünger des Kratylos nicht finden konnte, den auch die sub- 
jektivistischen Theorien der anderen Weisheitslehrer, die Plato 
natürlich kannte, nicht gewährten. 

Es mochte den jungen Plato vielleicht zuerst befremden, daß 
Sokrates sich auf eine Bekämpfung der metaphysichen Voraus- 
setzungen Heraklits wie überhaupt auf die beliebten naturphilo- 
sophischen Spekulationen gar nicht einließ. Aber dafür ent- 
schädigte ihn nicht bloß das Bewußtsein, daß er jetzt festen 
Boden unter den Füßen hatte; er empfand auch bald den Reich- 
tum, der in der Selbstbeschränkung des Sokrates lag. Denn die 
ethischen Begriffe, auf deren Klärung Sokrates im Gespräch allein 
ausging, boten nicht bloß dem theoretischen Denken eine Norm, 
sie bestimmten als Wertbegriffe zugleich das Handeln, zeigten 
dem Menschen das Ziel, nach dem er zu streben hatte, und setzten 
ihn in den Stand, es zu erreichen. Wer sich einmal klargemacht 
hatte, was das Gute für ihn war, wer im Gespräch immer 
wieder bestätigt fand, daß die wahren Werte im Menschen selber 
ruhen und deshalb das sittlich Gute für den Menschen schlechthin 
gut ist, das glückselige Leben mit dem sittlichen Leben identisch ist, 
der konnte ja gar nicht anders als nach diesen Normen leben. 


Und dahin weisen auch die Ausführungen über die Kreisbewegung der Gestirne 
fr. 24, die in einer von de caelo 2, 3 abweichenden (Bernays Dialoge des 
Aristoteles 5. 103) und eher an das zehnte Buch von Platos Gesetzen erinnernden 
Weise aus der Freiwilligkeit der Bewegung erklärt wird. 


Plato bei Sokrates. 403 


Aus dem Wissen vom Guten mußte das richtige Handeln fließen. 
Andrerseits aber war auch dieses Wissen unentbehrlich für den, 
der sein Leben wirklich gut führen wollte. 

Das Wissen vom Guten zu erreichen war die wichtigste Auf- 
gabe des Menschen. Daß es ein solches Wissen gäbe, betrachtet 
Sokrates als selbstverständlich und mochte auch Plato als selbst- 
verständlich ansehen, da ja doch das Gute selbst im Gegensatz 
zu den Objekten der sinnlichen Wahrnehmungen etwas Festes, 
Bleibendes war. Eine andere Frage aber war es, ob es subjektive 
Träger dieses Wissens gäbe. Sokrates selbst lehnte es durchaus 
ab, dieses Wissen zu besitzen. Und das tat er gewiß nicht bloß 
als εἴρων, auch nicht bloß im Gegensatz zu den Alleswissern, 
die für Geld ihren Schülern jedes Wissen beizubringen behaupteten. 
Sein Bekenntnis zum Nichtwissen floß aus einer tiefinnerlichen 
Bescheidenheit, einer demütigen Einsicht in die Schranken, die 
dem menschlichen Individuum gesetzt sind. Andrerseits lag aber 
Sokrates nichts ferner als eine müde unfruchtbare Skepsis. Das 
Bewußtsein des Nichtwissens sollte für ihn selbst und für andre 
nur anspornend wirken. Das höchste Ziel, das menschlicher 
gemeinsamer Arbeit gesteckt ist, blieb das Wissen, und in der 
selbständigen Forschung nach der Wahrheit zeigte Sokrates den 
Weg, auf dem man diesem Ziele näher kommen konnte. 

Kratylos’ Person hatte geringen Eindruck auf Plato gemacht; 
in Sokrates fand Plato den Mann, der von den objektiven Normen 
für Erkenntnis und Handeln nicht bloß redete, sondern auch in 
seinem ganzen Wesen die Macht des Sittlichen verkörperte und 
dabei im Leben wie im Sterben den Beweis für seinen Optimismus 
lieferte, daß mit dem sittlichen Handeln die Glückseligkeit gegeben 
sei. Er fand in Sokrates die dämonische Natur, die nicht nur 
selbst ihr ganzes Leben dem Streben nach Erkenntnis weihte, 
sondern auch in anderen die Seligkeit und Unseligkeit des rast- 
losen Forschergeistes weckte und sie aus dem faulen Schlendrian, 
der von der sittlichen Bestimmung des Menschen nichts wissen 
wollte oder wußte, aufrüttelte. Ja gerade dieser Zug war vielleicht 
der bezeichnendste für den Mann, der unermüdliche Eifer, mit 
dem er das durchführte, was er als seine göttliche Mission empfand, 
und jung und alt immer wieder auf das eine, was not tut, hin- 
wies, auf das, was wertvoller ist als jeder äußere Besitz. 

Das offizielle Athen ertrug Sokrates’ mahnende Stimme nicht; 

26* 


404 Aus Platos Werdezeit. 


aber als dieser dahin ging, da gelobte sich Plato, das Ver- 
mächtnis seines Meisters hochzuhalten, Auch er wollte das Ge- 
wissen seiner Mitbürger sein, nicht müde werden, jung und alt 
auf den rechten Weg zu weisen (Apol. 39e). 

Diesem Gedanken ist Plato sein ganzes Leben hindurch treu 
geblieben. Man kann seine Entwicklung nicht verstehen, wenn 
man ihn sich als den einsamen Denker vorstellt, der sich nur 
selbst eine Weltanschauung erarbeitet; man muß sich immer vor 
Augen halten, daß ihn in erster Linie das Streben beseelt, auf 
die Jugend, auf sein Volk, auf die Menschheit einzuwirken, sie 
in Sokrates’ Sinne sittlich zu fördern. 


Ob er wohl, als er öffentlich gelobte das Werk seines Meisters 
fortzuführen, schon eine feste Vorstellung hatte, auf welchem 
Wege er vorgehen sollte? Daß eine Persönlichkeit wie Sokrates 
sich nicht einfach kopieren ließ, darüber hat ihn sein künstlerischer 
Takt gewiß keinen Augenblick im Zweifel gelassen. Auch daran 
konnte er nach seinem ganzen Wesen nicht denken, als bezahlter 
Weisheitslehrer aufzutreten. Literarisch konnte er wohl seine 
Ideen vertreten wie sein Oheim Kritias, aber das eigentliche Ge- 
biet, auf das ihn Herkunft und Stellung wies, war doch die Be- 
teiligung am öffentlichen Leben Athens. Mit politischen Plänen 
hatte er sich gerade in der Restaurationszeit nach 403 getragen. 
Sokrates’ Tod zeigte freilich mit erschreckender Deutlichkeit die 
Borniertheit der Führer wie der Massen Athens, erfüllte ihn mit 
Widerwillen gegen das demokratische Treiben und stellte ihm die 
Schwierigkeit seiner Aufgabe nur zu deutlich vor Augen. Aber 
vorläufig war er doch noch Optimist genug, um die Hoffnung 
nicht aufzugeben, er könne allmählich den ethischen Ideen auch 
im öffentlichen Leben seines Volkes Eingang verschaffen (ep. VI 
p. 325). Aber das ließ sich natürlich nicht mit einem Tage machen. 
Da galt es Geduld zu haben, bis sich eine günstige Gelegenheit 
zum Eingreifen fände. Und vor allem hatte Plato das Gefühl, 
daß er selbst noch reifen, sich abklären mußte. 

Fragen gab es genug, die sich gerade nach Sokrates’ Tode 
jetzt aufdrängten. Und so unhistorisch die Vorstellung ist, als 
hätten Sokrates’ Anhänger nach seinem Tode eine allgemeine 
Jüngerverfolgung zu befürchten gehabt, so glaublich ist es, daß 
sie das Bedürfnis hatten, sich miteinander über das, was Sokrates 


u 


Die erste Zeit nach Sokrates’ Tode. 405 


ihnen gewesen war, was er gewollt hatte und was nun werden 
sollte, auszusprechen und daß manche gern die Einladung des 
Eukleides annahmen, eine Zeitlang fern vom Treiben Athens 
bei ihm zu weilen. Bei Jesu Jüngern sehen wir, wie nach 
seinem Tode sehr bald die größten Meinungsverschiedenheiten 
ausbrechen, obwohl sie alle in gleicher Weise seine Nachfolger 
sein wollten. Dabei hatte Jesus feste Sätze gepredigt, deren 
viele jedem selbst in der Form unzweifelhaft gegenwärtig waren. 
Auch Sokrates hatte so manche Überzeugung mit feuriger 
Schrift den Seinen ins Herz geschrieben. Aber Dogmen hatte 
er mit vollem Bewußtsein aufzustellen vermieden, hatte nur die 
Probleme formuliert, zu selbständigem Forschen heranziehen wollen. 
Ein Wunder wäre es gewesen, wenn da so verschiedene Naturen 
wie Antisthenes und Aristipp, Eukleides und Piato auf derselben 
geistigen Linie zusammengeblieben wären, als der Zusammenhalt 
durch Sokrates’ Gegenwart nicht mehr gegeben war. Auch sie 
alle wollten des Meisters Nachfolger sein. Aber welches war 
denn nun der echte Sokrates? Waren die im Rechte, die in ihm 
den nüchternen Realisten sahen, der die Menschen dadurch lenkte, 
daß er ihnen zeigte, was für sie das Vorteilhafte war? Oder die 
in ihm eine Art von Wundermann erblieckten, der kraft einer 
überirdischen Fähigkeit die Herzen bezwang? Was hatte dem 
Nichtwisser die Fähigkeit gegeben, alle anderen, die sich so weise 
dünkten, zu überwinden? Ein Fachwissen sicher nicht. Also 
vielleicht eine formale Fähigkeit? Ein Wissen vom Wissen? 
Das konnte freilich Plato als unhaltbar erweisen. Nur ein Wissen, 
das einen objektiven Inhalt hatte, konnte wertvoll sein, und in 
seinen Gesprächen hatte Sokrates selber z. B. das Wesen der Tapfer- 
keit als Wissen von einem bestimmten Objekt, als ἐπιστήμη δεινῶν 
καὶ ϑαρραλέων bestimmt. Wenn man diesem Gedanken nach- 
ging, mußte die Tugend, von deren Besitz alles abhing, ein 
Wissen vom Guten sein. Aber nun kamen neue Probleme. Die 
Konsequenz, daß damit die qualitativen Unterschiede der Einzel- 
tugenden zu verschwinden drohten, konnte man ruhig ziehen. 
Aber viel schwerer war etwas anderes: was war denn nun das 
Gute, dessen Wissen die Tugend ausmachte? Hier lag das zen- 
trale Problem, das der Lösung harrte. 

Die ersten Schriften Platos zeigen uns, wie man solche Pro- 
bleme in den Kreisen der Sokratiker erörterte, und am Prota- 


406 Aus Platos Werdezeit. 


goras sehen wir, wie er selbst sofort auch das Hauptproblem in 
Angriff nimmt. Die Sehnsucht nach einer positiven Ergänzung 
der sokratischen Anschauung führt ihn zu dem Versuch, das 
sittlich Gute mit dem Angenehmen auszusöhnen, indem er im 
Sittlichen den Quell der höchsten Lust aufzeigte. 

Bei diesen ersten Schriften Platos sind aber auch noch an- 
dere Motive wirksam. Natürlich beschäftigt ihn die Verteidigung 
des Meisters, die direkte und noch mehr die indirekte, in der er 
dem mißleiteten Publikum die Gestalt des Sokrates von den 
Schlacken der Verleumdung gereinigt vorführte, und mit Stau- 
nen mochte sich der Künstler Plato bewußt werden, wie viel- 
seitig der dämonische Mann sich dargestellt hatte und darstellen 
ließ. Dazu kam aber noch etwas anderes. Sokrates hatte es als 
seinen göttlichen Beruf angesehen, seine Mitbürger, vor allem die 
Jugend sittlich zu fördern, und die Sokratiker wollen sein Werk 
fortsetzen. Aber wenn sie so das βελτίους ποιεῖν τοὺς νέους auf 
ihre Fahne schrieben, so war das ein Zeichen, unter dem auch 
andere für sich warben. Es war das Programm der Weisheits- 
lehrer, die den Jugendunterricht beherrschten. Hier ergab sich 
eine Auseinandersetzung von selbst. Dem Aristokraten Plato 
waren diese bezahlten Händler mit geistiger Ware ebenso un- 
sympathisch wie dem Sokratiker ihr Unterrichtsbetrieb, die Ein- 
trichterung der Kenntnisse. Freilich war er sachlich genug an- 
zuerkennen, daß der Begründer der Sophistik, Protagoras, jeden- 
falls ebenso wie Sokrates ein sittliches Ziel gehabt hätte. Aber 
wenn man schon ihm und seinen tüchtigeren Nachfolgern zeigen 
konnte und mußte, daß sie von den wirklichen Erziehungs- 
problemen keine Ahnung hätten, so ließen sich gar die Männer 
wie Hippias, die sich zur Zeit in Hellas breitmachten und bloß 
äußerliche Kenntnisse vermittelten oder zur Debatte anleiteten, 
nur im Ton der Komödie behandeln oder mit ihrem eigenen 
Rüstzeug, den Waffen der Sophistik schlagen. 


In rascher Folge hat Plato eine Anzahl von Schriften hin- 
geworfen. In dieser Periode des Schaffens wich von ihm der 
schwere Druck, der seit dem Frühling des Jahres 399 auf ıhm 
lastete. Daß man Sokrates’ Andenken schlecht ehren würde, 
wenn man sich nutzlosem Trauern und untätiger Verbitterung 
überließe, das hatten seine Jünger von vornherein empfunden. 


Siegeshoffnung und Enttäuschung. 407 


Aber die sonnige Heiterkeit, die Sokrates bis zu seinem Tode sich 
gewahrt hatte, die zog doch wohl erst wieder in Platos Herz 
ein, als sich die Gestaltungsfreudigkeit des Künstlers in ihm regte, 
als ihn das frohe Bewußtsein überkam, daß er sein Gelübde ein- 
lösen werde, daß er den großen Aufgaben, die er sich gestellt 
hatte, gewachsen sei. Am deutlichsten spürt man die Sieges- 
zuversicht im Protagoras, wo es ihm so leicht scheint, sogar die 
ungebildete Menge zur Erkenntnis zu führen und sittlich zu 
fördern '). 

Der Rückschlag blieb nicht aus. Die Gelegenheit zum Ein- 
greifen in die praktische Politik wollte und wollte nicht kommen. 
Wenn er eingriff, das stand ihm fest, konnte es nur in sokra- 
tischem Sinne geschehen. Aber je mehr er das Treiben der 
Menge beobachtete, desto mehr verzweifelte er daran, sie in sitt- 
liche Bahnen zu lenken. Zudem ließ sich doch Einfluß nur ge- 
winnen, wenn er einen starken Rückhalt an Gleichgesinnten 
hatte. Und wo die finden? (ep. VO p. 325d). Wagte er es 
aber als Einzelner, sich der Menge zu widersetzen, so war ihm 
das Schicksal des Sokrates gewiß. So wurde es ihm schließlich 
klar: wollte er nicht entweder sich zum Sklaven der Menge er- 
niedrigen oder sich nutzlos aufopfern, mußte er den Gedanken 
an die praktische Politik aufgeben. 

Wie schwer ihm dieser Verzicht geworden ist, zeigt die 
trübe, verbitterte Stimmung des Gorgias. Dabei spricht es Plato 
dort schärfer denn je aus, daß die sittliche Förderung der Ge- 
samtheit die höchste Aufgabe der Philosophie ist. Aber klar ist 
es ihm auch: die Philosophie kann dieses Ziel nicht erreichen, 
wenn sie nicht über der Menge steht, wenn sie nicht den maß- 
gebenden Einfluß im Staate hat. Und auch das ist ihm zur 
festen Überzeugung geworden, daß das im heutigen Staatswesen 
nicht geschehen kann. So war das Ziel nur zu verwirklichen in 
einem idealen Staate, in dem die Philosophen die Herrschaft 
hätten (ep. VII p. 8268). Aber war denn auf Verwirklichung 
dieses Zieles zu hoffen, auch wenn man den unbedingten Glauben 
an die Werbekraft der sokratischen Idee, an die Macht des Sitt- 
lichen hatte? 


1 Das tritt im letzten Teile deutlich hervor, vgl. 5. 101#. Sein nächstes 
Bemühen gilt freilich, wie schon die Auseinandersetzung mit dem Begründer der 
Sophistik zeigt, den Herzen der Jugend. Vgl. 5. 158. 


408 Aus Platos Werdezeit. 


Dazu gesellten sich nun noch viel bösere Zweifel. Sieges- 
froh hatte er im Protagoras geglaubt, ein Mittel gefunden zu 
haben, um die Menschen nach seinem Willen zu lenken, indem 
er sie darüber aufklärte, daß das Gute nichts anderes sei als die 
wahre Lust, nach der sie selber strebten. Das hatte sich als ein 
gefährlicher Irrtum erwiesen, und wenn er jetzt den Inhalt des 
Guten anders zu bestimmen suchte, es mit den Pythagoreern als 
Prinzip der Ordnung und Harmonie ansah, war da nicht auch 
eine Täuschung möglich? Ja war nicht etwas anderes noch viel 
bedenklicher? Die Einwirkung auf andere, die sein Ziel war, 
hing doch davon ab, daß er selbst ein Wissen hatte. Und in den 
ersten Schriften hatte er unbedenklich mit dem Begriff der 
ἐπιστήμη gearbeitet, es als selbstverständlich angenommen, daß 
man das Wissen vom Guten erreichen könne. Nur die Frage 
hatte er sich vorgelegt, welches der Inhalt des Wissens, wie das 
Gute zu bestimmen sei. Das Wissen selber war für ıhn so 
wenig wie für Sokrates ein Problem gewesen. Aber nun kamen 
ihm die Zweifeil: glich er denn, wenn er so vorging, nicht dem 
Manne, der sein Haus auf den Sand baut und es versäumt, ein 
festes Fundament zu legen? Hatten denn nicht doch vielleicht 
die Eristiker recht, wenn sie die Möglichkeit des Wissens und 
Forschens selber leugneten? (Menon 806). Lange hatte er sich 
einfach in Sokrates’ Gedankengängen bewegt. Aber war denn, 
was einst Kratylos ihm eingeprägt hatte, in Abrede zu stellen, 
daß jedenfalls in den Sinnendingen nichts Festes zu finden war 
(Phaidon 78e), und durfte man der Auseinandersetzung mit de- 
nen aus dem Wege gehen, die daraufhin überhaupt ein Wissen 
für unmöglich erklärten ? 

Damit kam für Plato die Zeit einer schweren Krisis, die ihm 
Lebensmut und Arbeitskraft zu lähmen drohte. Denn woher 
sollte er noch Mut und Zuversicht zum Arbeiten nehmen, wie 
sollte er noch versuchen, auf andere einzuwirken, wenn ein 
Wissen und damit ein Lehren unmöglich wäre? 

Daß Plato eine solche Krisis durchgemacht hat, sagt er selber 
im Menon (81d, 86b, vgl. S. 191), wo er auf die kritische Zeit 
zurückbliekt und frohen Mutes von neuem beginnt. Über die 
Krisis selbst dürfen wir natürlich keinen direkten Aufschluß von 
ihm erwarten. Vermessen wäre es auch, wollte man sich ein- 
bilden, man könnte den Schleier von Platos innersten Erleb- 


Die Krisis. 409 


nissen wegziehen. Nur auf ein paar Indizien, die wir seinen früheren 
wie den unmittelbar folgenden Schriften entnehmen, können wir 
hinweisen und damit einige Notizen über seinen äußeren Lebens- 
gang kombinieren. 

Schon im Protagoras sehen wir, wie es Plato drängt, zu dem 
Nichtwissen der Sokratik eine positive Ergänzung zu suchen. 
Viel stärker wird dieser Zug im Gorgias. Da treibt ihn das Be- 
dürfnis nach einer Theodicee, den religiösen Vergeltungsglauben 
mit seiner wissenschaftlichen Überzeugung in Verbindung zu 
setzen. Die Schriften der Pythagoreer hat er studiert, um mit 
ihrer Hilfe das Gute positiv zu bestimmen. Bei den Medizinern, 
bei Hippokrates hat er sich Rat geholt über die formalen An- 
forderungen, die man an eine Wissenschaft zu stellen habe. 
Wissenschaftlichen Charakter nimmt er daraufhin dort auch für 
seine Philosophie in Anspruch. Aber konnte er das wirklich? 
War er wirklich imstande, für alle seine Sätze und Handlungen 
Rechenschaft abzulegen (λόγον διδόναι, vgl. S. 134), ihnen eine 
genügende theoretische Begründung zu geben? Als Sokratiker 
hatte er ein Wissen unbefangen da vorausgesetzt, wo man Klar- 
heit über die Begriffe hatte. Aber wer bürgte dafür, daß der 
Inhalt dieser Begriffe wirklich Objekt des Wissens sein konnte? 
Er hatte vor dem der einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen den 
Vorzug des Dauernden, des Sichgleichbleibenden. Aber war man zu 
den Begriffen selber nicht von den einzelnen sinnlichen Wahr- 
nehmungen aufgestiegen und konnten sie mehr als diese Grund- 
lage der Erkenntnis sein? Ja, war es denn gewiß, daß der Inhalt 
der Begriffe eine objektive Realität besaß? Oder bewegte man 
sich da nicht in einer Phantasiewelt, die für die Erkenntnis der 
realen Verhältnisse, in die Plato umgestaltend eingreifen wollte, 
wenig oder nichts zu bedeuten hatte? 

Solche Bedenken hatten früher deshalb zurücktreten können, 
weil Plato ganz in der sokratischen Denkweise befangen war 
und sich auf die Behandlung der ethischen Probleme beschränkt 
hatte, wo es sich nicht darum handelte, das Verhältnis des Be- 
griffs zu den sinnlich gegebenen Einzelobjekten zu bestimmen. 
Aber der Wunsch, die Natur zu erkennen und in das Wesen der 
sinnlich wahrnehmbaren Welt einzudringen, der ihn einst zu 
Kratylos getrieben hatte, erwachte doch allmählich wieder. Zu- 
dem hatte er bei den Pythagoreern die Anschauung getroffen, 


410 Aus Platos Werdezeit. 


daß in der Welt des sittlichen Handelns dasselbe Ordnungs- 
prinzip herrsche wie im Weltall (Gorg. 508a, vgl. S. 155). Bei 
Hippokrates las er, man könne den Körper des Menschen nicht 
verstehen, wenn man ihn aus dem Zusammenhang mit der ganzen 
Natur ablöse (Phaidros 270c, vgl. S. 138). War es dann für den, 
der die Seele des Menschen und ihre Betätigungen betrachtete, 
angängig, das Wesen des Alls zu ignorieren? 

Das alles mußte Plato dahin drängen, die Selbstbeschränkung 
des Sokrates aufzugeben und sein Auge auf die Welt als Ganzes 
zu richten. Wollte er hier zur Erkenntnis gelangen, so war es 


das Nächste, sich an die Naturphilosophen zu wenden, und der 


Phaidon zeigt uns deutlich, daß Plato gerade in der kritischen 
Periode, ehe ihm seine neue Weltanschauung aufging, deren 
Werke eifrig studiert hat‘). Hier traf er eine gänzlich andere 
Denkweise, ganz andere Probleme als bei Sokrates an. Hier 
nahm man das Sinnliche als das Gegebene, wollte dieses 
aus seinen Prinzipien ableiten, Werden und Entstehen im ein- 
zelnen erklären. Das hatte Sokrates durchaus abgelehnt, und 
wie es schien, konnte man von seinen Voraussetzungen aus 
auch nur wenig zur Förderung dieser Probleme beitragen. 
Als Sokratiker konnte man wohl den Begriff des Baumes 
bestimmen, aber wie der Baum entstand, das ließ sich auf 
diesem Wege nicht zeigen. Aber boten denn die Naturphilo- 
sophen Besseres? Ganz abgesehen von der greuligen mecha- 
nischen Erklärungsweise, die alle Werte und Zwecke, alles Walten 
der Vernunft und des Guten bewußt oder unbewußt völlig aus- 
schaltete, sie sahen die wahren Schwierigkeiten überhaupt nicht. 
Sie wollten das einzelne Werden und Entstehen erklären. Aber 
für Plato war das Werden selber ein viel größeres Problem. Die 
Naturphilosophen erläuterten wohl die mechanischen Vorgänge, 
wie aus einem Ding zwei werden. Aber daß überhaupt aus einem 


1) 96a ἐγὼ γάρ, ἔφη, ὦ Κέβης, νέος ὧν ϑαυμαστῶς ὡς ἐπεϑύμησα Tad- 
τῆς τῆς σοφίας ἣν δὴ καλοῦσι περὶ φύσεως ἱστορίαν. An sich wäre durchaus 
denkbar, daß Sokrates seinen jungen Freunden gelegentlich erzählt hat, ehe er 
sich auf die menschlichen Dinge beschränkte, habe auch er einmal höher hinaus- 
gewollt. Aber was dann uns vorgetragen wird, das sind die Studien, die Zweifel 
und Überlegungen, die Plato durchgemacht hat, ehe er den δεύτερος πλοῦς unter- 
nahm, die auch der Platoniker durchmachen soll, damit er desto mehr von der 
Notwendigkeit der neuen ὑπόϑεσις sich überzeugt. 


BE 


ARE » 


Die Zeit des Suchens. 411 


Ding zwei werden können, das empfanden sie nicht als Problem, 
und doch machte gerade das dem Denken die größten Schwierig- 
keiten, wie aus den verschiedendsten mechanischen Vorgängen 
etwas entsteht, dem wir das Prädikat zwei beilegen, wie wir 
überhaupt dazu kommen, den Maßstab der Zahl an die Dinge zu 
legen oder von Größe und Kleinheit zu reden. War das aber 
eine Wissenschaft, die nicht einmal für so alltägliche Vorgänge 
eine Begründung geben, über die einfachsten Aussagen Rechen- 
schaft ablegen konnte? 

So drohte dieser Pfad im Abgrund der Skepsis zu enden, 
und es galt weiter nach einem Ausweg zu suchen, der zu der 
Höhe emporführte, von der aus Wissen und Lehren möglich 
wäre. „Wo werden wir, wenn du uns verläßt, einen Zauberer 
finden, der uns die Furcht vor dem Tode aus dem Herzen bannt?* 
fragt Kebes in Sokrates’ Todesstunde (Phaidon 78a). Da tröstet 
ihn Sokrates: „Hellas ist groß, und es gibt so manchen klugen 
Mann darin, und zahlreich sind auch die Barbarenvölker; die 
mögt ihr alle, wenn ihr diesen Zauberer sucht, durchforschen, 
dürft Geld und Mühe dabei nicht sparen. Nichts gibt es, wofür 
ihr besser euer Geld verwenden könnt.“ Gewiß spielt hier Plato 
auf seine eigenen inneren Erlebnisse, auf sein eigenes Suchen und 
Wandern an. Als er erkannte, daß er mit den sokratischen Ge- 
dankengängen allein nicht weiterkam, da hat er sich überall um- 
gesehen, wo er etwa auf Förderung oder Anregung hoffen konnte. 
Ich sehe keinen Grund zu bezweifeln, daß er wirklich weite 
Reisen gemacht hat, daß er auch zu den Barbaren nach Ägypten 
gekommen ist‘). In welche Zeit diese Reisen fallen, ist äußer- 
lich nur bei der sizilischen bezeugt. Daß in den ersten Jahren 
nach 399 Plato, wenn wir von dem Aufenthalt in Megara ab- 
sehen, in Athen geweilt hat, ist durch den siebenten Brief ge- 


1) Prächter Gött. Nachr. 1902, 5. 959 bezweifelt die Reisen nach Ägypten 
und Kyrene, weil sie im Index Acad. col. X (p. 6 Mekler) nicht erwähnt werden. 
Aber aus demselben Grunde müßte jedenfalls auch der Aufenthalt in Megara 
fallen, obwohl ihn Hermodor bei Diog. Laert. III, 6 bezeugt. Aber der ganze 
Bericht Πλάτων Σωκράτους γεγονὼς μαϑητὴς ἀπολειφϑέντος, ὅτ᾽ ἦν ἐτῶν ei- 
χοσι ἑπτά, ἀπῆρεν eis Σικελίαν καὶ ᾿Ιταλίαν ist doch wirklich etwas zu sum- 
marisch, als daß man Schlüsse ex silentio ziehen könnte. Wie es scheint, gibt 
der Autor auch gerade vorher in den sehr zerstörten Worten an, daß er Voll- 
ständigkeit nicht anstrebt. 


412 Aus Platos Werdezeit. 


sichert (Ritter, Platon, 5. 87). Innere Gründe sprechen dafür, 
daß die Reisen nach Ägypten und Kyrene zwischen die Ab- 
fassung des Gorgias und des Menon fallen, und es ist auch leicht 
verständlich, daß die Unzufriedenheit mit der unhellenischen 
Politik Athens ihm das Verlassen der Heimat in den Anfangs- 
jahren des korinthischen Krieges nahelegtee Am wichtigsten 
wurde für ihn wohl der Aufenthalt in Kyrene, wo er den ihm 
wahrscheinlich von Athen her schon bekannten Mathematiker 
Theodoros besuchte. 

Theodoros hatte einst der reinen Spekulation, dem prota- 
goreischen Subjektivismus gehuldigt (Theätet 165a, vgl. Gomperz, 
Griech. Denk. I, 5. 210). Vielleicht hatte er einen ähnlichen 
Drang nach einem festen Wissen in sich gefühlt wie Plato und 
war so dazu geführt worden, zur Mathematik überzugehen. Hatte 
er dort wohl die Wissenschaft gefunden, die auch Plato so sehn- 
lich suchte? Das ließ sich nicht wohl bezweifeln. In der Mathe- 
matik gab es feste Sätze, die keiner bestritt. Hier legte man sich 
Rechenschaft über jede Aussage ab. Hier suchte man nicht durch 
Wahrscheinlichkeitsgründe zu überzeugen, sondern durch wirkliche 
Beweise, durch logische Zwangsmittel, denen sich keiner ent- 
ziehen konnte (Theätet 162e ἀπόδειξιν καὶ ἀνάγκην οὐδ᾽ ἡντινοῦν 
λέγετε, ἀλλὰ τῷ εἰκότι χρῆσϑε, ᾧ εἰ ἐϑέλοι Θεόδωρος ἢ ἄλλος τις 
τῶν γεωμετρῶν χρώμενος γεωμετρεῖν, ἄξιος οὐδ᾽ ἑνὸς μόνου ἂν εἴη. 
σκοπεῖτε οὖν σύ τε καὶ Θεόδωρος εἰ ἀποδέξεσϑε πιϑανολογίᾳ TE καὶ 
εἰκόσι περὶ τηλικούτων λεγομένους λόγους). Also war die 
Mathematik keine Scheinwissenschaft wie die Rhetorik, die Plato 
im Gorgias gebrandmarkt hatte. Sie war eine wirkliche Wissen- 
schaft, die sich als solche auch dadurch dokumentierte, daß man 
ihre Sätze jeden normal begabten Kopf lehren konnte (Menon 
82b--86h°). Sollte das, was hier auf einem Spezialgebiet möglich 
war, sich nicht auf andere übertragen lassen? 


1) Phaidon 926 ἐγὼ δὲ τοῖς διὰ τῶν εἰκότων τὰς ἀποδείξεις ποιουμένοις 
λόγοις σύνοιδα οὖσιν ἀλαζόσιν, κἄν τις αὐτοὺς μὴ φυλάττηται, εὖ μάλα ἐξ- 
απατῶσι καὶ ἐν γεωμετρίᾳ καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις ἅπασιν" ὁ δὲ περὶ τῆς dva- 
μνήσεως καὶ μαϑήσεως λόγος δι’ ὑποϑέσεως ἀξίας ἀποδέξασϑαι εἴρηται. Wenn 
hier an εἰκότα auch auf mathematischem Gebiete gedacht wird, kann es sich 
natürlich nicht um die wissenschaftliche Mathematik handeln. 

2) Vgl. τοῦτό γε παντὶ δῆλον, ὅτι οὐδὲν ἄλλο διδάσκεται ἄνϑρωπος ἢ 
ἐπιστήμην Menon 87c (vgl. 5. 174. 5), διδακτὴ πᾶσα ἐπιστήμη δοκεῖ εἶναι καὶ 
τὸ ἐπιστητὸν μαϑητόν Arist. Eth. Nic. 1139b 25. 


Die Begründung der wissenschaftlichen Weltanschauung. 413 


Worauf beruht der wissenschaftliche Charakter der Mathe- 
matik, worauf die zwingende Kraft ihrer Beweise? Sie operierte 
nicht mit den sinnlichen, vergänglichen, unvollkommenen Zeich- 
nungen, sondern mit immateriellen Figuren, und gelangte so zu 
den Schlußfolgerungen, die jeder anerkennen mußte (Rep. 510e). 
Wenn der Mathematiker diese immateriellen Figuren als etwas 
objektiv Gegebenes zu Grunde legte, so war das gewiß nur eine 
Hypothesis, aber der indirekte Beweis für deren Richtigkeit lag 
darin, daß man auf diesem Wege wirklich dazu gelangte, die 
Aussagen über die gezeichneten Figuren logisch zu begründen 
und sich über die Eigenschaften, die ihnen zukamen, die Be- 
ziehungen, die zwischen ihnen obwalteten, Rechenschaft zu geben. 
Jedenfalls war diese Voraussetzung als wissenschaftliche Arbeits- 
hypothese unentbehrlich. 

Damit war der Weg gewiesen, wie man die Wissenschaft 
auch auf anderen Gebieten zu begründen hatte. Wie man über 
die gezeichneten Figuren wissenschaftliche Aussagen nur machen 
konnte, wenn man sie auf die immateriellen bezog und diese als 
objektiv gegeben annahm, so mußte es auch sonst stehen: auch 
wenn wir uns klar werden wollen, was uns das Recht gibt, vom 
Wachsen des Baumes, von der Spaltung in zwei Teile, von der 
Größe des Sokrates zu sprechen, so können wir das nur in der 
Weise, daß wir unsere Aussagen auf die Begriffe Baum, Zweiheit, 
Größe beziehen und voraussetzen, daß diese Begriffe einen ob- 
jektiven Halt haben, daß ihnen etwas entspricht, was ewig sich 
gleich bleibt und deshalb den Aussagen über die wechselnden 
Erscheinungen in jedem Einzelfalle Gültigkeit verleiht. Wie der 
einzelne gezeichnete Kreis nur darum so genannt wird, weil in ihm 
die immaterielle Linie, deren Punkte alle von einem Punkte 
innerhalb gleichweit entfernt sind, sich ingendwie verwirklicht, so 
ist auch jeder Baum nur deshalb ein Baum, weil er an dem all- 
gemeinen Begriff des Baumes irgendwie Anteil hat. Und so gut 
die Mathematiker den ideellen Kreis nicht von sich aus schaffen, 
sondern ihn als gegeben voraussetzen, ihm objektives Sein bei- 
legen’), so kann auch das, was uns das Recht gibt, etwas als 


1) Die γεωμέτραι, ἀστρονόμοι und Aoyıorızol werden Enthydem 290b zu den 
Vertretern der ϑηρευτική gerechnet mit der Begründung: ϑηρευτικοὶ γάρ εἶσι καὶ 
οὗτοι" οὐ γὰρ ποιοῦσι τὰ διαγράμματα ἕκαστοι τούτων, ἀλλὰ τὰ ὄντα ἀνευρίσκουσιν. 
Ebenso vom Erkennen der Ideen ἕκαστον ϑηρεύειν τῶν ὄντων Phaidon 66a. 


414 Aus Platos Werdezeit. 


Baum zu bezeichnen, nicht etwa nur in unserem subjektiven Be- 
wußtsein existieren, es muß unserem Begriff des Baumes etwas 
entsprechen, was ein objektives Sein besitzt. 

Sokrates hatte also nicht Unrecht gehabt, immer darauf zu 
dringen, man solle sich über die allgemeine Bedeutung der Worte, 
die wir gebrauchen, über die Begriffe, die wir mit ihnen ver- 
binden, klar werden. Denn tatsächlich war es der objektive In- 
halt dieser Begriffe, die Idee, die im Gegensatz zu der veränder- 
lichen Erscheinung kraft ihres ewig sich gleichbleibenden Charakters 
den festen Halt für unsere Erkenntnis bieten, den Gegenstand 
des Wissens bilden konnte. Dagegen war er darin, das konnte 
wieder die Mathematik lehren, nicht richtig vorgegangen, daß er 
geglaubt hatte, die Begriffe einfach aus den sinnlichen Er- 
scheinungen abstrahieren zu können. Die Vorstellung des im- 
materiellen Kreises konnte der Mensch nimmermehr aus den un- 
vollkommenen gezeichneten Kreisen gewinnen, von denen keiner 
jener Vorstellung voll entsprach. Ebenso wenig ließ sich aber 
das absolut Gleiche aus der Erfahrung abstrahieren, wo es zwei 
absolut gleiche Dinge gar nicht gab (Phaidon 74a). Also ist von 
der sinnlichen Erkenntnis die rationale, mit deren Hülfe wir die 
Allgemeinbegriffe gewinnen, nicht etwa abhängig, sie bildet viel- 
mehr eine höhere selbständige Erkenntnis. Unmöglich aber konnte 
man glauben, daß die Objekte dieser höheren Erkenntnis, der 
ewig sich gleichbleibende Inhalt unserer Begriffe, weniger Sein 
hätte als die wechselnden Objekte der sinnlichen Wahrnehmung. 
Auch von hier aus bestätigte sich also, daß den Ideen Realität 
zukäme'’). 

Wie wir allmählich die Objekte unserer sinnlichen Wahr- 
nehmung kennen lernen, darüber war kein Zweifel. Aber wann 
und wie beginnt unsere rationale Erkenntnis? Der Mensch ver- 
wendet Begriffe wie „gleich“, obwohl keines der sinnlich wahr- 
genommenen Dinge die absolute Gleichheit in sich enthält, ihn 
höchstens unvollkommen an diese erinnern kann. Mußte man 
dann nicht folgern, daß die rationale Erkenntnis schon vor jeder 


1) In der späteren Zeit, wo er die Objekte der Mathematik und Dialektik 
scharf zu scheiden gelernt hatte (darüber gleich!), führte er den Beweis für die 
Existenz der Ideen gerade von hier aus: „Wenn es zwei verschiedene Erkenntnis- 
arten gibt, ἐπιστήμη und ἀληϑὴς δόξα, so muß es auch zwei Klassen von Er- 
kenntnisobjekten geben‘ Tim. 51d (ähnlich schon Rep. 471ff.). 


Die neue Weltanschauung. 415 


sinnlichen Wahrnehmung „apriorisch* im Menschen vorhanden 
ist? (Phaidon 74. 5). Von hier aus fiel plötzlich ein Licht auf 
eine Lehre, die Plato wegen ihres religiösen Gehaltes schon lange 
innerlich angezogen hatte, auf die Lehre der Orphiker und Pytha- 
goreer von der Präexistenz der Seele. Wenn die Seele die 
rationalen Erkenntnisse nicht aus der Erfahrung entnahm, so 
mußte sie diese vorleiblich geschaut haben. Das sprach aber für 
jene Lehre der Orphiker. Auch diese war zunächst nur eine 
Hypothese, aber sie stützte sich gegenseitig mit der Annahme 
einer nicht aus der Erfahrung stammenden rationalen Erkenntnis, 
mit der Hypothese von der Realität des Ansichseienden, auf die 
Plato von ganz anderen Gesichtspunkten aus geführt war. Und 
beide Annahmen zusammen mochten nun wohl das Fundament 
einer neuen Weltanschauung abgeben. Ihr Kern mußte sein, 
daß dem Ansichseienden, das wir kraft unserer von Geburt an 
vor aller sinnlichen Wahrnehmung vorhandenen rationalen Er- 
kenntnis begreifen, objektive Existenz und das wahre Sein 
gegenüber dem Sinnlichen zukommt. 

Daß er mit dieser neuen Anschauung nicht etwa eine Welt- 
erklärung wie die Naturphilosophen geben könne, dessen war sich 
Plato wohl bewußt. Wie die sinnlichen Dinge aus den Ideen 
abzuleiten wären, das wußte er so wenig wie der Mathematiker 
etwa den sinnlichen Kreis aus dem immateriellen entstehen ließ. 
Aber das war seine feste Überzeugung: Nur so ließen sich wissen- 
schaftliche Aussagen über die sinnlichen Dinge machen, nur so 
ließ sich wissenschaftlich arbeiten, lehren, wirken. Und seinem 
tiefsten religiösem Bedürfnisse entprach es, daß er nun auch den 
religiösen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele wissenschaft- 
lich begründen konnte. 


Plato war sich selbstverständlich vollkommen klar, daß diese 
neue Weltanschauung ganz seine eigene Schöpfung war. Aber 
er wußte auch die Anregungen zu schätzen, die er erfahren hatte. 
Das Wichtigste war dabei natürlich Sokrates’ Begriffsphilosophie, 
als deren Weiterbildung er die neue Anschauung gewiß auffaßte. 
Dankbar erkennt er im Menon und Phaidon aber auch die 
Förderung an, die ihm die Orphiker, die Mathematiker, die Pytha- 
goreer gegeben haben. Auch daß er in der Auffassung der 
Sinnenwelt mit Heraklit übereinstimmt, läßt er Phaidon 78e 


410 Aus Platos Werdezeit. 


deutlich durchblicken. Dort schildert er unmittelbar vorher das 
ewig sich gleichbleibende Wesen der Ideen. Man faßt heute die 
Sache gern so auf, als habe Plato in seiner „Zweiweltenlehre“ 
Heraklits Lehre vom Werden mit dem eleatischen Seinsbegriff 
verbunden, und eine mittelbare Wirkung hat dieser wohl auch 
wirklich ausgeübt. Aber Plato selbst hat dieses Bewußtsein 
schwerlich gehabt; erst in einer viel späteren Zeit hat er dem 
Eleatismus wirklich Beachtung geschenkt, und wenn er im Phaidon 
den Ideen das dei χατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχειν zuschrieb, glaubte 
er ganz gewiß nur einen Satz auszusprechen, der sich von selbst 
ergab, wenn man den sokratischen Begriffen einen objektiven 
Inhalt zubilligte. 

Von den Anregungen, die Plato in dieser Zeit empfangen 
hat, sind offenbar die von der Mathematik ausgehenden am 
wichtigsten gewesen‘). Plato hat freilich später einen scharfen 
Schnitt zwischen der Mathematik und der Dialektik gemacht 
(Rep. 510.1, 521—534). Er hat ihre Objekte so scharf geschieden, 
daß er schließlich sogar bei der Trennung von idealen und mathe- 
matischen Zahlen anlangen konnte. Er hat ferner die subjektiven 
Erkenntnisfunktionen, auf die sich beide gründen, als ἐπιστήμη 
und διάνοια getrennt (611 4, 533e). Er hat auch den Erkenntnis- 
wert der mathematischen Methode tief unter den der Dialektik 
gestellt, da die Mathematik die sinnlichen Figuren jedenfalls zur 
Nlustration nicht entbehren kann (510) und sie von Hypothesen 
ausgeht, über die nicht sie selbst, sondern nur die Dialektik 
Rechenschaft ablegen kann, so daß ihr die Geltung als Wissen- 
schaft im höchsten Sinne abzusprechen ist”), während er der 
2) In der Annahme, daß die Mathematik einen starken Einfluß auf die 
Ausbildung von Platos Ideenlehre gehabt hat; stimme ich ganz mit Cohen, 
Platons Ideenlehre und Mathematik, Progr. Marburg 1878 überein, obwohl ich 
natürlich seine Auffassung der platonischen Ideenlehre ablehne. Hervorheben 
möchte ich hier nochmals, daß Plato ausdrücklich auch von der Mathematik 
erklärt, sie suche objektiv gegebene ὄντα auf (5. 418). Ungünstig wirkt auf 
Cohens Arbeit auch ein, daß er von den Erörterungen des Staates ausgeht statt 
von den Dialogen, die allein uns Aufschluß über die Entstehung der Ideen- 
lehre geben können. — Sonst ist besonders zu vergleichen Ebeling, Mathematik 
und Philosophie bei Plato, Progr. Hann. Münden, 1909. 

2) ’A2Aa δὴ μὴ δυνατοὶ οἵτινες δοῦναί τε nal ἀποδέξασϑαι λόγον, εἴσεσϑαί 
ποτέ τι ὧν φαμεν δεῖν εἰδέναι (δοκοῦσιν); Rep. ὅ916. ai δὲ λοιπαί, ἃς τοῦ 
ὄντος τι ἔφαμεν ἐπιλαμβάνεσϑαι, γεωμετρίας τε καὶ τὰς ταύτῃ ἑπομένας, ὁρῶμεν 
ὡς ὀνειρώττουσι μὲν περὶ τὸ ὄν, ὕπαρ δὲ ἀδύνατον αὐταῖς ἰδεῖν, ἕως ἂν 


Der Einfluß der Mathematik. 417 


Dialektik nunmehr die Kraft zutraut, von den Voraussetzungen 
bis zum Voraussetzungslosen emporzusteigen (511. 533d). Er hat 
die Mathematik natürlich überhaupt unter die Dialektik gestellt, 
sie als Gehülfin bezeichnet, die ihre Ergebnisse der Dialektik zur 
Verwertung zu übergeben hat (Euthyd. 290c Rep. 527—533b). 
Das alles könnte bedenklich gegen die Annahme machen, daß 
gerade die mathematische Wissenschaft für die Ausbildung der 
Ideenlehre von größerer Bedeutung gewesen sei. Aber da muß 
man sich vor allen Dingen gegenwärtig halten, daß gerade im 
Menon und Phaidon jener Gegensatz von Mathematik und Begrifis- 
erkenntnis noch nicht existiert, mindestens nicht zum Ausdruck 
gebracht ist‘). Auch hier ist ganz gewiß freilich die Erkenntnis 
des Ansichseienden die königliche Kunst, der gegenüber die 
Mathematik nur eine dienende Stellung einzunehmen hat. Aber 
das beruht nur darauf, daß zwischen den Objekten der mathe- 
matischen und der begrifflichen Erkenntnis ein Unterschied des 
Wertes, der Bedeutung für die Lebensführung statthat. Im 
übrigen ist aber auch die Mathematik durchaus eine Wissenschaft 
(Menon 85d), wie sich besonders darin zeigt, daß sie nicht mit 
Wahrscheinlichkeitsgründen wie die Rhetorik, sondern mit strin- 
genten Beweisen operiert (Phaidon 92c, Theätet 162e, vgl. S. 412) 
und daß sie lehrbar ist (S. 412). Sie ist die „Erkenntnis des 
Ewigseienden“, wie sie ja noch im Staate (527b) heißt’). Das 
Verfahren, das die Mathematik einschlägt, ist einfach das Vorbild 
für die neuzugründende Wissenschaft vom Ansichseienden, und 
der Leser wird nirgends darauf hingewiesen, daß ein Unterschied 
zwischen dem Verfahren der beiden Wissenschaften besteht‘). 
ὑποϑέσεσι χρώμεναι ταύτας ἀκινήτους ἐῶσι, μὴ δυνάμεναι λόγον διδόναι 
αὐτῶν. ᾧ γὰρ ἀρχὴ μὲν ὃ μὴ οἵδε, τελευτὴ δὲ καὶ τὰ μεταξὺ ἐξ οὗ μὴ οἶδεν 
συμπέπλεκται, τίς μηχανὴ τὴν τοιαύτην ὁμολογίαν ποτὲ ἐπιστήμην γενέ- 
σϑαι; 5336.) 

1) Ganz sicher ist es, daß Phaidon 65e: "Ag’ οὖν ἐκεῖνος ἂν τοῦτο ποιή- 
σειεν καϑαρώτατα, ὅστις ὅτε μάλιστα αὐτῇ τῇ διανοίᾳ ἴοι ἐφ᾽’ ἕκαστον μήτε 
τὴν ὄψιν παρατιϑέμενος ἐν τῷ διανοεῖσϑαι μήτε ἄλλην αἴσϑησιν ἐφέλκων 
μηδεμίαν μετὰ τοῦ λογισμοῦ, ἀλλ᾽ αὐτῇ nad’ αὑτὴν εἰλικρινεῖ χρώμενος αὐτὸ 
καϑ' αὑτὸ εἰλικρινὲς ἕκαστον ἐπιχειροῖ ϑηρεύειν τῶν ὄντων die scharfe Scheidung 
zwischen der dialektischen ἐπιστήμη und der zwischen δόξα und νοῦς stehenden 
διά-νοια der Mathematik (Rep. 511 4) noch ganz unbekannt ist. 

3) Die Wichtigkeit dieses Satzes betont auch Cohen 8.19: „rückhaltlos 
scheint hier das Objekt der Geometrie mit dem Objekt der Dialektik identifiziert“. 

3) Auch im Phaidon 100 cd ist von der scharfen Unterscheidung der mathe- 
Aus Platos Werdezeit. 27 


418 Aus Platos Werdezeit. 


Und die Geflissentlichkeit, mit der im Menon (82—86 und 87a) die 
Mathematik als vorbildlich bezeichnet, mit der auch im Phaidon 73b 
bei der Rekapitulation der Gedanken des Menon gerade wieder auf 
die διαγράμματα verwiesen wird, läßt darüber keinen Zweifel, daß 
Plato anerkennen will, wie stark die Mathematik wirklich auf die 
Bildung seiner eigenen Wissenschaft von Einfluß gewesen ist. 

Als Plato den Menon schrieb, stand ihm die neue Welt- 
anschauung in den Grundzügen fest, und frohen Mutes konnte er 
wieder an die Arbeit gehen. Wir haben auch allen Grund zu glauben, 
daß er jetzt den Entwurf eines idealen Staates veröffentlichte, wozu 
ihm im Gorgias noch der Mut gefehlt hatte. Plato war nicht der 
erste, der einen solchen Staatsentwurf dem Publikum vorlegte, und 
sichtlich hat er von Männern wie Hippodamos gelernt (S. 231). 
Was ıhn aber von diesen grundsätzlich unterschied, das waren 
weniger die konkreten Vorschläge, so paradox sie teilweise klingen 
mochten, als vielmehr der Grundsatz, daß an der Spitze des Staates 
die Philosophen stehen müßten, die allein die Einsicht in die wahren 
Bedürfnisse der Gesamtheit hätten, sie sittlich fördern und zum 
wahren Guten führen könnten. Das war sokratisch gedacht, und 
sokratisch war auch die im stärksten Gegensatz zur perikleischen 
Demokratie erhobene Forderung der scharfen Arbeitsteilung, die 
allein Sachkunde ermöglicht. Wenn er aber dieses Prinzip im 
einzelnen durchzuführen suchte, so waren ihm wertvoll auch die 
Ergebnisse seiner Reise nach Ägypten, dessen Kastenstaat ihm ein 
konkretes Beispiel der Arbeitsteilung geboten hatte. 

Im ganzen waren aber seine Lernjahre noch nicht zu Ende, 
und namentlich fühlte er das Bedürfnis, mit der Schule engere 
Fühlung zu gewinnen, die gleich ihm das Immaterielle als das 
Bestimmende, Wesenhafte gegenüber der sinnlichen Erscheinung 
ansah'). So ging er nach Italien zu Archytas, zu dem ihn auch 
die Verbindung der Philosophie mit der politischen Macht locken 
konnte. Durch diesen erhielt er dann wohl die Einladung, die ihm 
den Besuch von Dionysios’ Hof ermöglichte. Wir können uns denken, 
matischen und dialektischen Methode, die wir Rep. 5lle, 533bc lesen, noch 
nicht die Rede. Vgl. über diese Stelle jetzt Ritter, Platon, S. 574—6. 

1) Aristoteles behauptet bekanntlich Met. A6 p. 987b 10, Platos Ideenlehre 
sei im Anschluß an die pythagoreische Lehre entwickelt, οἱ μὲν γὰρ Πυϑαγόρειοι 
μιμήσει τὰ ὄντα φασὶν εἶναι τῶν ἀριϑμῶν, Πλάτων δὲ μεϑέξει. Aber hier zeigt 


die Hervorhebung der Zahlen, daß es sich nicht um die erste Konzeption der 
Ideenlehre handelt. 


Die Reise nach dem Westen. Begründung der Akademie. 419 


wie ihm gerade im Gegensatze zu dem leidigen Kriege in der 
Heimat der Fürst imponierte, der trotz allem der Hort des Hellenen- 
tums gegen die Barbaren war. Für eine Politik nach ethischen 
Grundsätzen war dieser freilich nicht zu haben; dafür fand Plato 
in Dion einen Jünger, der ihm zeigte, es sei kein leerer Traum, 
daß einmal auch die Herrscher Philosophen werden könnten. 
Der Verkehr mit Dion brachte aber noch nach anderer Hin- 
sicht für Plato ein inneres Erlebnis, das für seine Entwicklung von 
höchstem Werte war. Das war die Freude und Genugtuung des 
Mannes, dem es gelingt, in einem geistesverwandten, gut veran- 
lagten Jüngling durch persönlichen Verkehr Begeisterung für die 
eigenen Ideale zu wecken, ihn zum Streben nach den gleichen 
Zielen anzuspornen und Samen in sein Herz zu streuen, der be- 
stimmt ist, ewige Frucht zu tragen. Als Plato einst im Gorgias 
auf die praktische Politik verzichtete, hatte er daran gedacht, einen 
kleinen Kreis von Schülern um sich zu sammeln (S. 163), aber 
müde Resignation war es, die diesen Gedanken geboren hatte, und 
man hat nicht den Eindruck, daß der Plan zur Ausführung gelangt 
ist. Mußten doch die gerade damals hervortretenden Zweifel an 
der Erreichbarkeit des Wissens, an der Möglichkeit des Lehrens 
hinderlich in den Weg treten. Als Plato dagegen von Sizilien 
zurückkehrte, da begründete er den Schulverband der Akademie, 
und die helle Begeisterung des jungen Lehrers, der sich mit Feuer- 
eifer der neuen Tätigkeit widmet, klingt aus dem Phaidros hervor, 
den er als Programmschrift veröffentlichte. Wie es die Sitte der 
Zeit war, entwickelte er in diesem zunächst die Unzulänglichkeit 
der bisher den Hochschulunterricht beherrschenden Richtungen. 
Aber besonders am Schluß kommt klar und deutlich das eigene 
Programm heraus: Nur eine Ausbildung darf es für den freien Mann 
geben, das ist die wissenschaftliche Ausbildung, die ihn zum eigenen 
Denken erzieht und ihm die Begeisterung einpflanzt, die ihn zum 
eigenen Streben nach der Erkenntnis des Wahren, nach dem Tun 
des Guten befähigt. Das war ein Programm, das ihm die Herzen 
der Besten in der hellenischen Jugend gewinnen mußte, wie es ihm 
Dions Herz gewonnen hatte. Da winkte jetzt ein festes Ziel, eine 
Aufgabe, des Schweißes der Edlen wert. Da konnte Plato einlösen, 
was er einst nach Sokrates’ Tod gelobt hatte, konnte als Sokrates’ 
wahrer Nachfolger βελτίους ποιεῖν τοὺς νέους. Jetzt war das auch 


keine Resignation gegenüber dem höheren Ziel mehr. Im Protagoras 
Dun 


420 Aus Platos Werdezeit. 


hatte er einst gehofft, auch die Menge dazu bekehren zu können, daß 
das Gute die höchste Lust gewähre. Inzwischen hatte er sich über- 
zeugt, φιλόσοφον πλῆϑος ἀδύνατον eivaı. Für die Menge ist es des- 
halb notwendig, sich der Leitung der Wissenden zu fügen. Aber wenn 
esnun gelang, die Besten, die zu den führenden Stellungen Berufenen 
für die eigenen Ideale zu gewinnen, so war damit auch die sittliche 
Förderung der Gesamtheit gewährleistet oder wenigstens angebahnt. 

Den Gedanken an einen unmittelbaren Einfluß auf die Gestal- 
tung des Staatswesens brauchte er deshalb nicht fallen zu lassen. 
Gerade die neue Psychologie, die er im Anschluß an die Dreiteilung 
des Staatswesens gefunden hatte, die ihn zum Bruch mit dem 
sokratischen Intellektualismus führte, zeigte ihm die Möglichkeit, 
aber auch die Notwendigkeit, den ersten Entwurf des Idealstaates 
breiter und tiefer zu fundamentieren. In einer neuen Politeia legte 
er darum den Zusammenhang von Sozial- und Individualethik dar, 
suchte vor allem den Beweis zu führen, daß die Gerechtigkeit an 
sich ohne jeden äußeren Lohn das Vorteilhafte für den Menschen 
sei, und stützte diesen Beweis, indem er ihn teils in seinen tiefsten 
wissenschaftlichen Überzeugungen verankerte, für die das Gute 
das bestimmende Prinzip in der Welt war, teils auch die religiösen 
Stimmungen zu ihrem Rechte kommen ließ, denen der Glaube an 
ein gerechtes Weltenregiment Bedürfnis war. Während er sonst 
seine schriftstellerische Tätigkeit in dieser Zeit nur als πάρεργον 
und παίγνιον betrachtete, sollte die neue Politeia ein χτῆμα ἐς dei 
sein. Die allgemeinen Gedanken traten dabei so stark hervor, daß 
das konkrete Programm äußerlich jedenfalls nur noch einen kleinen 
Raum einnahm. Aber an dessen wesentlicher Bedeutung sollte da- 
durch nichts geändert werden. Wenn einmal der Augenblick kommen 
sollte, wo die Herrscher Philosophen oder die Philosophen Herrscher 
würden, dann wollte Plato seine Schuldigkeit getan haben. Die 
theoretischen Grundlagen des neuen Staatswesens waren aufgezeigt. 

Ob dieser Augenblick jemals kommen würde, das mußte Gott 
anheimgestellt bleiben. Zunächst galt es, sich der Lehrtätigkeit 
in der Akademie zu widmen. An Wechsel der Stimmungen hat 
es auch in der nächsten Zeit nicht gefehlt. Aber im ganzen über- 
wog doch die Freudigkeit, die er aus den Erfolgen seiner Tätig- 
keit, aus dem Bewußtsein der Mitarbeit an den ewigen Aufgaben 
der Menschheit schöpfte. Auch seine Werdezeit war noch nicht 
zu Ende. Plato gehörte nicht zu den früh fertigen Naturen 


Die Akademie als Stätte der wissenschaftlichen Ausbildung. 421: 


wie Aristoteles, noch viel weniger zu den selbstzufriedenen 
Köpfen, die es nicht nötig haben, durch weitere Besinnung ihre 
früheren Ansätze abzuändern. An den Grundlinien seiner neuen 
Weltanschauung hat er festgehalten. Aber nicht bloß im ein- 
zelnen hat er sie weiterentwickelt, es kam noch einmal eine kri- 
tische Zeit, wo er eine wichtige Ergänzung vornehmen mußte. 
In der ersten Zeit hatte er gegenüber der vergänglichen sinn- 
lichen Erscheinung nur das Feste, Bleibende festhalten wollen, 
das allein Gegenstand des Wissens sein konnte; das Verhältnis 
des Sinnlichen zur Idee genauer zu bestimmen hatte er aus- 
drücklich abgelehnt. Als er den Parmenides schrieb, sah er ein, 
daß er auf diesem Standpunkt nicht beharren dürfe, und auf 
mannigfache Weise hat er sich dann im Alter bemüht, zwar 
nicht etwa das Sinnliche aus den Ideen abzuleiten, wohl aber 
die ewigen Faktoren aufzuzeigen, mit deren Hülfe wir uns das 
Sinnliche verständlich machen können. 

Seine Lösung hat den Beifall seines größten Schülers nicht ge- 
funden. Aber als dieser seine höchste Philosophie darlegen wollte und 
ihr allgemeine Erörterungen über das Wesen der Wissenschaft voraus- 
schiekte, da hat er in einer für jeden Leser verständlichen Weise an 
die Erörterungen Platos im Gorgias, Menon und Phaidon angeknüpft. 
Und obwohl er die Empirie viel stärker wertet als Plato, bestimmt 
er doch den Unterschied zwischen ihr und der Wissenschaft in ganz 
ähnlicher Weise: οἱ μὲν γὰρ ἔμπειροι τὸ ὅτι μὲν ἴσασι, διότι δ᾽ οὐκ 
ἴσασιν" οἱ δὲ τὸ διότι καὶ τὴν αἰτίαν γνωρίζουσιν (Met. Al, p. 951 ἃ 
28). In der Art, wie er dieses Warum bestimmt, geht er freilich 
ganz seine eigenen Wege, aber was Wissenschaft ist und bedeutet, 
das hat er bei Plato gelernt. 


Plato war ausgezogen, das Gute zu suchen und zu lehren. 
Die Wissenschaft hat er gefunden. Und mag von den einzelnen 
Ergebnissen, zu denen er gelangt ist, noch so viel vergänglich 
sein, unvergänglich bleibt seine Erkenntnis, daß es nur ein 
Bildungsziel geben darf, die wissenschaftliche Ausbildung, die den 
Menschen zum eigenen Denken, zum selbständigen Streben nach 
dem Wahren und Guten erzieht. Damit hat Plato ein Programm 
aufgestellt, das für alle Zeiten und für alle Völker gilt, die auf 
Kultur Anspruch machen wollen. 


Register. 


Ägypten 215. 219. 220. 237 
Affekte 291 
Agathon 378 
Agesilaos 299 
Aischines der Sokratiker 
als Gorgianer 264—267. 302 
und Plato 183—189. 260 —262 
ϑεία μοῖρα 183—189 
Alkibiades 183 
Aspasia 260—262. 296 
Akademie 390. 419 
Alkidamas 205. 259. 344. 350. 351 
Anaximenes c. 35 269. 271 
Ansichseiendes 314— 326 
Antisthenes 90. 342°. 395 
Aspasia 261 
gegen Platos Hippias 58 
Anytos 176 
Arbeitsteilung!) 215—217. 229. 418 


Aristeides ὑπὲρ τ. τεττάρων 160°. 176.183 


Aristippos 108 

Aristophanes 
positive Tendenzen 298: 304 
politische Ideale 298—304 
Ekklesiazusen 223—228 
Lysistrata 298 
in Platos Symposion 377 

Aristoteles 
und Plato 388. 421 
und der große Hippias 126—128 
über die Gerechtigkeit 230 
über die Wissenschaft 421 
Eudemos 313! 
Metaphysik A 401 
Korinth. Dialog 151 


συμβουλευτικὸς π. ᾿Αλέξανδρον 116? 


σε. φιλοσοφέας 401: 
Aristoxenos 152.193. 3131 
Aspasia 260—262 
Athen Autochthonie 272 

Geschichte 275—302 

Stimmung der Konservativen 

279—301 


1, 


᾿Αϑηναέων πολιτεία 2421. 246 
Bildungsideale 69. 80. 81. 86—89. 131. 
141. 169. 170. 193—206. 351—355 


Brief und Broschüre 116 
Charmides 42—44. 288 
Cicero de re publica 207. 208 
Debatte 12 
[Demosthenes] Epitaphios 270. 276 
Dialektik 353. 417 
Dialog 
dramatischer 12—16 
referierter 1—17 
historische Treue 1—17 
bei Aischines Ἅ: 41: 
— Antisthenes je 
— 'Plato 1—17 
— Xenophon 7—11. 16 
Dichterinterpretation 83 
Dikaiarch 155° 
Diogenes v. Apollonia 3171 


Dion 115—122. 340. 341. 419 
Dionysios I. 118 
Diotima 380 
Δισσοὶ λόγοι 60. 72—77. 90---92 
Empedokles 370? 
Enkomion 267— 272. 372 
Epikur 137 
Epitaphioi 258. 267—275 
Eros 326—341. 354. 365—396 
Eryximachos 375 
Erziehung 32. 33. 


68. 77—89. 163. 406. 419. 420 
der Gesamtheit 148. 158. 161. 421 


Eupolis 85. 86. 304! 
Euripides 101. 154! 373 
Frauengemeinschaft 227 
Gespräch, sokratisches, und 
Epideixis 82. 130 
Gorgias 
Bildungsideal 171. 196. 200 
Leben?) 170 
Lehre 1331, 135°. 167—172. 343—352 
Stil 264—267 


1) 8.229 ist versehentlich „Arbeitsleistung“ gedruckt. 
2) 5. 1701 ist übersehen, daß in der 3. Aufl. der Literaturgeschichte Wila- 
mowitz von Gorgias sagt: „f um 390°. 


Register. 


Verhältnis zu Plato 


167—170. 
199. 343—352 
Enkomien 268 
Epitaphios 268. 269. 297. 303 
Olympikos 301 
Das Gute 5. ἀγαϑόν 
Hekataios v. Teos 220!. 231? 
Herodot 278 
Hiatmeidung 356 
Hippias 60. 67. 1. 81. 198 
Hippodamos 216. 231 
Hippokrates 
über die Wissenschaft 135—139. 
346. 347. 409. 410 
π. ἀρχαίης ἰητρικῆς 347. 397 
παραγγέλματα 1371 
π. φυσῶν 317! 
Hypereides’ Epitaphios 270 
Icherzählung 1—11 
Idomeneus 210 
Intellektualismus 101—107. 133. 157 
Ion 186 
Isokrates 
Enkomienschema 268. 269 
als Gorgianer 202 


Panhellenisches u. Unhellenisches 307 


als φιλόσοφος 203. 362— 364 
und Alkidamas 205 
— Plato 
Gorgias 203 
Menexenos 259. 


273°. 282°. 2991, 305—309 


Phaidros 349. 350. 362—364 

Staat 215—222 
Timaios 221. 222 

— Polykrates 218 
— die Technographen 350 
— Thukydides 2823 
— Xenophon 269% 
Busiris 215—222 
Panegyrikos 305—308 
Sophistenrede 200—205 
Kalliasfriede 285. 292. 307 
Kallikles 1421, 1631 
Kallippos 122 
Kimon 297 
Königsfriede 287. 301. 302. 306 
Kommunismus 224. 225 
Komödie 262. 304 
Konnos 2621 
Konon 290. 300 
Korinth. Krieg 289—292 


423 
Kratylos 401 
Kritias 51. 52 
Lebensziel 151. 152 
Lust 5. ἡδύ, ἡδονή 
Lysias 345. 364 
[Lysias] Epitaphios 267. 291? 
Lysis 257 
Mathematik 311. 318. 412—417 
Medizin 135—139. 346 
Memoiren 4- - 
Menexenos 257 
Menon 167 
Mnemotechnik 76 
Naturphilosophen 316. 410 
Nomophylakes 75! 
Oinophyta 285. 286 
Panhellenismus!) 286. 297—301 
Pausanias 373 
Erotikos 394—399 
Peloponn. Krieg 286—288 
Perserkriege 275—284 
Persien 253 
Phaidros 372 
Philolaos 332. 333 
Philosophie und Rhetorik 204. 


258. 263. 343—353. 362— 364 


Plato 
Anachronismen 189°. 302. 390° 
Anamnesis173—179.310.311. 324.335 
Charakterzeichnung 37—39. 42. 
43. 60. 257. 372—378. 391—394 
Dialog 1—17 
Entwicklung 401—421 


Ergebnislosigkeit, scheinbare, der Dia- 


loge 29. 48—50. 98. 991. 369 
Fehlschlüsse 61—66. 941. 99 
Humor 37—39. 67. 406. 407 


Ideenlehre 312—324. 335. 384. 414.415 


Panhellenismus 286. 297—302 
Psychologie 
Intellektualismus 103 
rationale Erkenntnis 313—315. 
414. 415. 
Seelenteile 157. 232-235, 3302 
Unsterblichkeit 310—316. 
321—324. 329. 330°. 388 
Reisen 411 
Staatstheorie 
Gegensatz zur perikleischen Demo- 
kratie 241—256 
Parallele von Staat u. Individuum 
156. 228—236 


1) Vgl.nochz.B.Herodot VIII, 144 τὸ “Ε΄ λληνικὸν ἐὸν ὅμαιμόν τε καὶ ὁμόγλωσ- 
σον, καὶ ϑεῶν ἱδρύματά τε κοινὰ καὶ ϑυσίαι ἤϑεά τε ὁμότροπα. Zu beachten ist auch, 
wie stark die euripideische Iphigenie (Iph. Aul. 1368ff.) ihren plötzlich gefaßten Ent- 
schluß der Selbstaufopferung mit ihren Pflichten gegen Allhellas motiviert (bes. 


1386. 1400). 


424 


Idealstaat 161. 213. 407. 420 
Dreiteilung ἃ. Stände 229— 231. 235 


Sozialismus 224. 225. 238—240 
Zur Lehre vgl. noch die sachlichen 
Stichworte. 
und Aischines 183—189. 260—262 
— Antisthenes 58. 90 
— Aristophanes 41. 223—228. 
3044. 377 
— Athen 111. 122. 161. 162. 255. 309 
Verfassung 238—256 
auswärtige Politik 256—309 
— Eleaten 416 
— Gorgias 167—171. 343—352 
— Hippodamos 216. 231. 418 
— Hippokrates 135—139. 


317. 346—348. 409. 410 
Isokrates 203—205. 215—222. 
305—309. 349. 350. 362—364 
— die Komödie 304 


— die Mathematik 311. 318. 320. 
412—417 

— die Medizin vgl. Hippokrates 
— die Naturphilosophie 410 
— Orphiker 173. 190. 191. 313. 415 
— Polykrates 164—166 
— Protagoras 81. 89 
— Pythagoreer 147. 152—155. 
331—333. 4181 
— Rhetorik 131—151. 193—206. 
338—364 
— Sokrates 18—23. 401—404 
— Sophistik 57—102. 131. 
193—206. 406 
— Thukydides 247—256 
— Xenophon 96°. 211. 399. 400 
Apologie 18—23 
siebenter Brief 111. 113—122. 
161. 213. 407. 408 
Charmides 40—57 
und Gorgias 149: 
— Hippias min. 63%. 70 
— Laches 56 
Epigramm auf Dion 115 
Euthydem 361. 363! 

Gesetze 

und Menexenos 278 
— Phaidros 9841 
— Staat 253—255 
Gorgias 129—167 
und Hippias min. 129 
— Laches 149!. 163 
— Menon 167—175 
— Phaidros 328. 342 
— Protagoras 129—134. 
143— 147. 150! 
— Staat 157 


— Aischines’ Alkibiades 183—186 


Register. 


164—166 
57—72 


und Polykrates 
Hippias minor 
und Apologie Charmides 


Laches 70 
— Protagoras 81—85 
— der große Hippias 123 
Ion 186—189 
Kleitophon 209! 
Kritias 2361 
Laches 23—39 
und Protagoras 19... 791.93. 
9043, 98. 101. 1121 
Lysis 358. 365—371 
Menexenos 256—309 
und Gesetze 278 
— Phaidros 260. 263 
— Staat 244—247 
Menon 167—193. 408. 
und Ion 186—189 
— Phaidon 310-315. 324. 325 
— Aischines 184—186 
Parmenides 421 
Phaidon 310-326 
und Phaidros 333—335 
Phaidros 326—364 
und Lysis, Symposion 365—372. 
389. 390 
Protagoras 77—112 
und die Apologie TE 
Staat, 1. Ausgabe 207— 237. 418 


— 2. Ausgabe 207—209. 241—256. 
286. 3041. 330°. 420 

Symposion 571—394 
und Xenophons Symposion 399. 400 
Timaios 214. 221. 222. 236 
Ps. Plato Hippias mai. 123—128 
Politiker, falsche und wahre 142. 149. 
150. 158—161. 177. 179—181. 195 
Polykrates der Rhetor 164—166. 189 


— v. Theben 1891 
Polymathie 7} 
Praxiphanes 3621 
Protagoras 77—92. 196—198 
Bildungsideal 80. 81. 89. 196—199 
Mythos 86—92. 1451 
Psychologie 

Einheit od. Mehrheit der psychischen 
Funktionen 101—104. 
157. 231—235. 330° 
Harmonielehre 313 
Präexistenz bei den Orphikern 173. 
190.:131313 

Platos s. Plato 
der Pythagoreer 157 
der Sophistenzeit 101—104 
Xenophons 1572. 233 
Pythagoreer 147. 152—154. 157. 313. 
331—8333. 418 


Register. 


Reden, geschriebene u. mündl. 349—351 
Rhetorik 131—133. 140—151. 169. 
170. 341—364 

und Philosophie s. Philosophie 


— Sophistik 132. 133. 193—206 
Rhapsoden 188 
Sizilien 117—122 
Sokrates 

Daimonion 185 

ἐλεγκτικός 54 

ἐρωτικός 365. 866. 391—394 

Auffassung des Aischines 184—186 

als Lehrer Platos 401—404 

Anklage des Polykrates 164—166 
Sokratiker 55 
Sophistik vgl. ἀρετῆς διδάσκαλοι 

Wesen 131 

verschiedene Strömungen 81 

Intellektualismus 101. 102 

Panhellenismus 298° 

Unterrichtsbetrieb 74 


vgl. „Rhetorik“, „Plato und die So- 
phistik“ 


Sparta 286. 297—302. 306 
Sprachstatistik 356—361 
Staatstheoretiker 216. 2201, 231. 418 
Strafzweck 145 
Technai, rhetorische 345—349 
Theodoros 412 
Thukydides’ Epitaphios 247 —256 


"Ayadov 
und ἡδύ 104—108. 142—147. 151. 
328. 406 
ἀγαϑὸς ἀνήρ 177. 180. 181 
αἰδώς 41. 1212. δοῦ 
αἰτία 136. 179. 316. 317. 336. 421 
ὧν οὐκ ἄνευ 317 
συναίτιον 3171 
ἀλαζών 125 
ἀλήϑεια 311. 343—364 
“ὁ ἀληϑής 61 


ἀνδρεία 24—29. 93. 94. 107. 1121. 175 
ἀρετή vgl. Tugend 
— πολιτική 


80. 93. 141. 175. 
197. 198. 202. 325. 383 


ἀρετῆς διδάσκαλοι 81. 88. 
168—170. 177. 195—206 
οἱ ἀρχαῖοι (παλαιοῦ 125 
αὐτὸ ὃ ἔστι 914 
βελτίους ποιεῖν vgl. Erziehung 
γιγνώσκειν ἑαυτόν 52—55 
γράφειν 849---581 
δέος 255 
διάνοια 410. 417: 
διαφϑείέρειν τ. νέους 34. 35 


49. 50. 92—97 | δικαιοσύνη 


425 

Disposition 267. 263 

Totenfeier 295 
Tugend 

Wesen 92—98. 157. 174—176 


Einheitlichkeit 28. 92. 157. 158. 171 
Entstehung (Lehrbarkeit) 85—109. 
163. 174-193 
höhere und niedere ld: 
180. 181. 324—326. 328. 339 

vgl. ἀνδρεία usw. 

Wissen 

und technische Kenntnisse 31. 56. 
70. 941 
Möglichkeit des Wissens 173— 192.408 
vom Guten 29. 49. 50. 92—97. 405 
vom Wissen 46. 52—54 


Wissenschaft 134—140. 318—321. 
352. 354. 355. 412. 413. 421 
Xenophon 
Dialog 7—11. 16 
Eros 327. 394 
Panhellenismus 299 
Psychologie 157°. 233 
und Isokrates 269! 
— Plato 96°. 211. 399. 400 
Anabasis 209: 
Memorabilien 8 
Kyrupädie 211 
Oikonomikos 10. 16 
Symposion 10. 399. 400 


172. 175. 230 


δόξα---ἀλήϑεια  342—355. 362—364 


ὀρϑή (ἀληϑής) 178-—180. 325. 
328. 339. 381. 414: 

εἶδος 104: 
εἴδη λόγων 948 
— ψυχῆς 332 
einös 349. 412 
εἴρων 124 
ἑκών 62—65. 84. 995 
ἐλέγχω 36°. 59 


ἐλευϑερία 249. 250. 254. 274. 275. 285 
ἐμπειρία---τέχνη (ἐπιστήμη) 134—139. 
180. 342--352. 421 


ἐξετάζω 36. 54. τὸ 
ἐπιστήμη 5. Wissen, δόξα, ἐμπειρία 
ἔρως 5. Eros 

Βστία 332. 333 
εὐδοξία 181 
εὔνοια 337 
ἡδύ 5. ἀγαϑόν 

ἡδοναί 325. 541: 
— χαϑαραί 120. 144 
ἥττων, κρείττων ἑαυτοῦ 101. 156 


ϑάρρος, ϑαρραλέος 941, 1121. 175 


426 
ϑρασύς, ϑρασύτης 26. 27. 1189 
ϑεῖος (ϑεία μοῖρα, ἔνϑεος) 177. 
182—189. 326. 338. 340 
ϑρῆνοι 295 
ἱκανός 968 
ἐσονομέα 246. 247 
ἰσότης 250 
— γεωμετρική 154! 
κακῶς Mayr 110 
καλόν 126 
καλὸς κἀγαϑός 431 
κολακεία 135—140. 180 
κόσμος 152—154 
Aoyoygaypia 313. 314 
λόγον διδόναι 134. 192, 313. 
314. 409. 416° 
μανέα, μανικός 21. 187. 329. 
337. 338. 371 
μάχιμος 220—222 
ἱετρητική 108. 325 | 
μῶν; 359 
νόμος 374. 395. 396 
οἰκεῖος 369. 377. 382 
ὀλοφυρμός 296 
ὄντα 314. 315. 418: 
οὐσία 127. 1288, 334. 384 
πάϑος 127 
παέζειν, παίγνιον 208. 860. 351 
παραμυϑία 294 
Aischines fr. 11 Ὁ. 188 
Alkidamas ca. soph. 27.28 350 
Antisthenes al 57 
Aristophanes 
Ekkl. 590—663 225—227 
Εᾳ. 42 304 
Plut. 468 3721 
Ran. 533 350 
Aristoteles 
de an. 415a 25 388 
Eth. Nik. 1144a 23 1: 
Met. 9818 28 421 
987a 32 und 1078b 12 401 
Pol. 1260a 27 168 
Cicero Tusc. III, 2.3 90 
Demetrius x. ἑρμηνείας 234 116 
Diog. Laert. III, 34 210 
Δισσοὶ λόγοι 9 13 
Euripides’ Phoen. 535 —545 154! 
fr. 388 . 373 
«ellius XIV, 3 210. 211 
Gorgias’ Helena 10 40: 
Hippokrates 
π. ἀρχαίης iImremng 8 398 


Register. 


πειϑοῦς δημιουργός 132. 133 
περίπτωσις 1371 
οἱ πολλοί 100—102. 156 
τὰ ἑαυτοῦ πράττειν öl 
πρέπον 126 
δήτορες 195. 203—205 
vgl. Rhetorik 

σημεῖον 2731 
συμμετρέα 154 
συμπεραίνειν λόγον“ 137! 
σωφροσύνη 40. 158. 324. 339 
τάξις 152—154. 332? 
τέλος 144 
τέχνη--ἐπιστήμη 9ὅ 

-- ϑεία μοῖρα 185 


vgl. &urzeigia, κολακεία 
τί; εἷς τί; (βελτέων o.ä.) 25.61.63.79.133 


III. 


τί μήν; 357—359 
τριβή vgl. ἐμπειρία 
ὑπερουράνιος τόπος 334 
ὑπόϑεσις 174. 8185, 4121. 416° 
φιλέλλην 299 
φιλία 257. 337. 365—370 
φιλόσοφος, φιλοσοφία 203—205. 353. 
362—364. 368 
φρόνησις 25. 175 
φύσει 86—95. 346 
χαρέξεσϑαι 374 
ψυχαγωγία 343. 353 
7. ἀρχαίης ἰητρικῆς 20 347 
exXaıns ἐητρυκῆ 51 136 
παραγγέλματα 1 1371 
Isokrates 
Antidosis 271 362 
Busiris 50 218 
ad Nic. 23.24 269 
Panath. 26—30 3623 
Paneg. 28 2731 
91 2825 
50—52 2825 
117 301* 
Plato 
Apol. 25b 89 
Brief VII 331b—d1) 111 
940 1192 
335a 120! 
5970 1215 
Charmides 163b 521 
169d 47! 
Gesetze693— 701 253—255.278—280 
836. 837 3841. 397 
9514 3430 
Gorgias 464bc 158? 


') Versehentlich ist 321b—d gedruckt. 


Gorgias 465a 
493b 
519.20 
522b 
Hipp. min. 372a 
Ion 534a 
Kriton 5la 
Laches 182c 
183d 
186c 
187 e 
189d 
191e 
195b 
197 a 
Lysis 207d—208e 
Menexenos 236d 
237 ἃ 
237c 
238b 
238cd 
2590 
2594 
244bd 
245 Ὁ 
246be 
3 Menexenos 235 e 
Menon 90a 
95b 
Phaidon 65e 
76d 
920 
94b—d 
96a 
100d 
Phaidros 244d 
2752 
275b 


Register. 


211 

244—246. 253! 
276 

264 

2891 

290 

293 

261! 

189 

170. 196. 200 
417! 

318! 

412! 

233. 234 

317 

128°. 319! 
380 

363! 

219° 


427 

Protagoras 333 c 995 
346a 110 
349e—351b 94! 

Staat 333e it 
439 c—441b 234 

452c 252 
470.471 286. 287. 2991 

4884 304 

557 —564 241— 256 

557b 304! 

560d 252 

563a 251 

611 2321 3303 
Symposion 173d 21 
180e 185 397 
194e—197e 264—267 

195b 3781 

207d 208a 383 


Plutarch Quaest. Conv. VIII, 2,2 155° 
Thukydides I, 8 


252 


II, 36—46 247-56. 267.268 


{ΠῚ Ὁ 247—250 

II, 40, 3 30 

II, 41,1 251. 282 

I, 62,5 30! 

I, 65, 12 287 

III, 82, 4 252 

Xenophon 

Ages. 1,8; 7,1—6 299. 300 
Anab. I,9 2691 
I, 6, 7.8 2691 

Mem. II, 6, 36 276 
IV,2 552269 

IV, 6, 10 909 

Staat d. Lak. 2, 12—14 396 
Symp. 2, 18 263! 
Sl 400 

8,32 394 


Inhalt. 


Die Entstehung des platonischen Dialoges und die Frage nach seiner 
historischen Treue . 


Platos sokratische Periode. 
I. Die Apologie a ee Ἢ 
II: Baches nn N ae ee ee 
III. Charmides 
IV. Der kleine Hippias . 
Anhang. Die Δισσοὶ on. 
V. Protagoras . 
Anhang. Zum eben) Brief 
VI. Abschluß. Kein platonischer Dialog en vor ne Tod 
geschrieben. Unechtheit des großen Hippias . : 


Die Krisis. 
VI. Gorgias 
VII. Menon NEN ER ie HE 2 Ὁ ὦ ὁ. τὉ 
Anhang. Sophistik und Rhetorik nach Platos Auffassung 
Die sozialpolitischen Gedanken. 
IX. Die erste Ausgabe des Staates . 


Platos Stellung zur athenischen Demokratie. 
X. Kritik des ‚perikleischen Ideals.. Plato und Thukydides . 
XI. Kritik der auswärtigen Politik Athens. Menexenos . 
Die neue Weltanschauung. 
XII. Phaidon 
XIII. Phaidros . 
XIV. Lysis und ἜΤ με RR NOIR ER ER ς  ς 
Exkurs. Pausanias’ Erotikos. Platos und Xenophons Sym- 
posion ee N ee 
Aus Platos Werdezeit 


Register 


113 


123 


129 
167 
193 


207 


238 
256 


310 
326 
365 


394 
401 


422 


᾿ 
Sy 
| 
1 
4 
3 
δ 
| 


Β Pohlenz, Max 
395 Aus Platos werdezeit 


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