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Full text of "Medicinische Studien über Salicylsäure und Salicylate : nach französischen und englischen officiellen Berichten"

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Medicinische  Studien 


über 


SALI  CYLSÄURE 

und 

SALICYLATE. 


Nach  französischen  und  englischen  officiellen  Berichten 
übersetzt  von 

M.  Witt  ich. 


Leipzig,  1878. 
von  Joh.  Ambr. 


Herausgegeben  durch 

Friedrich  v 


'IM-  SST-  W 


WELLCOi. : i'iTUTE 

LISP^Y 

Coli. 

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Cf.il 

No. 

ß.v. 

Druck  von  Metzger  & Wittig  in  Leipzig. 


Vorwort. 


In  der  Sitzung  des  26.  Juni  1877  der  Academie 
de  medecine  in  Paris  wurde  von  Prof.  Germain  See 
ein  Vortrag  über  den  medicinischen  Werth  der  Sali- 
cylsäure  und  deren  Präparate  gehalten,  welcher,  auf 
vielseitige,  höchst  exacte  Beobachtungen  und  Erfah- 
rungen sich  stützend,  eine  solche  Fülle  von  beach- 
tenswerthem  Material  enthält,  dass  es  berechtigt 
erscheinen  durfte,  mit  der  Erlaubniss  des  berühmten 
französischen  Klinikers  diese  so  ausführliche  Arbeit 
auch  den  deutschen  Medicinern  in  bequemerer  Weise 
zugänglich  zu  machen,  selbst  auf  die  Gefahr  hin, 
sehr  vielen  deutschen  Aerzten  nicht  durchweg  Neues 
zu  bieten. 

Einige  andere  Berichte  des  Auslandes  glaubte 
ich  zur  weiteren  Illustrirung  des  von  See  berührten 
Themas  nicht  übergehen  zu  sollen  und  habe  diese 
daher  der  klassischen  Arbeit  von  See  angeschlossen. 
Jede  derartige  Mittheilung  dient  schliesslich  immer 
dazu,  grössere  Klarheit  in  eine  Sache  zu  bringen, 
durch  welche  Aerzte  wie  Leidende  nur  gewinnen 
können. 


IV 


Man  hat  gegen  mich,  nachdem  ich  in  Folge  der 
epochemachenden  Entdeckungen  von  Kolbe  die 
Salicylsäure  allgemein  zugänglich  gemacht,  den  leicht- 
fertigen Vorwurf  erhoben,  dass  ich  die  Salicylsäure 
zu  einem  Universalmittel  aufgeputzt  hätte.  Die  Mo- 
tive für  solche  Insinuationen  waren  in  den  meisten 
Fällen  unschwer  zu  finden.  Man  wird  mich  aber  für 
urtheilsfähig  genug  halten  dürfen,  um  mir  zuzutrauen, 
dass  ich  sehr  genau  weiss,  wie  abgeschmackt  es 
wäre,  den  Männern  der  Wissenschaft  und  Praxis  mit 
einer  so  bizarren  Behauptung  gegenübertreten  zu 
wollen.  Die  Anwendung  der  Salicylpräparate  in  der 
Medicin  und  im  practischen  Leben  ist  einfach  die 
unabweisbare  logische  Folge  exacter  wissen- 
schaftlicher Untersuchungen.  Ich  habe  es  da- 
her für  richtig  und  würdig  gehalten,  die  Sache  sich 
selbst  entwickeln  zu  lassen,  da  ich  zuversichtlich  an- 
nehmen durfte,  dass  Diejenigen,  welche  von  den  Eigen- 
schaften des  Präparates  belehrt,  dasselbe  für  die  ge- 
eigneten Gebiete  hinlänglich  schätzen  und  gebrauchen 
lernen  würden,  wenn  es  seinen  Zwecken  entspräche. 
Meine  Erwartungen  sind  durch  die  Thatsachen  bei 
Weitem  übertroffen  worden,  und  wenn  auch  die  Salicyl- 
säure unmöglich  ein  Specificum  für  Alles  sein  konnte  — 
wie  auch  Prof.  See  in  dem  ersten  Theil  seiner  acade- 
mischcn  Rede  die  noch  nicht  völlig  geklärten  Ver- 
hältnisse und  zum  Theil  negativen  Resultate  ohne 
jede  Schönfärberei  darlegt  — so  haben  die  Salicyl- 
präparate innerhalb  ihres  fest  gezeichneten  Gebietes 
sich  doch  so  viel  Freunde  erworben,  dass  der  voll- 
gültige Beweis  der  Thatsachen  an  die  Stelle  der 


V 


wissenschaftlichen  Speculation  und  Hypo- 
these getreten  ist. 

Die  Arbeit  des  französischen  Klinikers  zerfällt 
wesentlich  in  3 Hauptabschnitte:  in  dem  ersten 
werden,  nach  einigen  historischen  und  chemischen 
Aufzeichnungen,  die  physiologischen  Wirkungen  der 
Salicylsäure  besprochen  und  als  Ergebniss  hervor- 
gehoben, dass  physiologische  Dosirungen  von 
2 bis  4 Gramm  pro  Tag  nicht  die  geringste  Stö- 
rung im  Organismus  hervorzurufen  geeignet  sind, 
während  als  therapeutisch  heilsamste  Dosen 
5 bis  6 Gramm  Salicylsäure  (oder  10  Gramm  sali- 
cylsaures  Natron)  angesehen  werden  dürfen.  Es 
stimmen  diese  Zahlen  auch  mit  den  von  anderer  Seite 
angegebenen  überein. 

Im  zweiten  Abschnitt  theilt  See  seine  Re- 
sultate bei  fieberhaften  Krankheiten,  Typhus  u.  s.  w., 
mit  und  kommt  zu  dem  Bekenntniss,  dass  er  hier 
keine  so  durchschlagenden  Erfolge  aufzuweisen  habe, 
um  in  diesen  Fällen  die  Salicylsäure  und  deren 
Natronsalz  als  Specificum  ansehen  zu  können; 
hierbei  lenkt  er  die  Aufmerksamkeit  der  Mediciner 
auf  das  Chinin,  salicyl.,  welches  da  voll  befriedigt 
hätte,  wo  ihn  Chinin,  sulf.  und  Natr.  salicyl.  jedes 
für  sich  bei  jahrealtem  Fieber  hartnäckig  im  Stich 
gelassen. 

Im  dritten  Abschnitt  endlich  führt  er  die 
Fälle  des  Rheumatismus  und  der  Gicht  vor,  für 
welche  die  Salicylsäure  als  sicherstes  Specificum  zu 
erklären  er  keinen  Anstand  nimmt.  Der  an  die 
Arbeit  von  See  sich  anschliessende  Aufsatz  von 


VI 


Hery  (aus  dem  Moniteur  scientifique,  Paris  1877) 
möge  als  Stimmungsbild  dafür  dienen , wie  man  in 
der  französischen  medicinischen  Welt  die  klinischen 
Ergebnisse  des  Prof.  See  aufgenommen  und  endlich 
die  dem  Londoner  Lancet  (1877)  entnommenen  No- 
tizen beanspruchen  durch  die  genauesten  klinischen 
Aufzeichnungen  der  dirigirenden  AerzteDr.  Whipham 
im  St.  George-Hospital  und  Dr.  Engledue  Pri- 
deaux  im  London  Hospital  um  so  mehr  Aufmerk- 
samkeit, als  in  ihnen  gerade  die  viel  verbreitete 
Ansicht,  dass  alte  verschleppte  Rheumatismen  mit 
Salicylpräparaten  nicht  geheilt  werden  könnten, 
schlagend  widerlegt  wird. 

Mein  verehrter  Freund  Witt  ich  hat  bei  der 
Herausgabe  und  Uebertragung  dieser  Arbeiten  durch 
seine  reichen  Sprachkenntnisse  mich  in  anerkennens- 
werther  Weise  eifrig  unterstützt,  wofür  ihm  meinen 
besonderen  Dank  hier  auszusprechen  ich  nicht  unter- 
lassen kann. 

Dresden,  im  Februar  1878. 


Friedrich  von  Heyden. 


I 

Inhalt. 

Seite 

Vorrede III 

I.  Abhandlung  von  Prof.  G.  See 1—77 

Geschichte  der  Salicylsäure i 

Chemie  der  Salicylsäure 4 

Verschiedene  Salicylpräparate,  Dosirung  und  Art  der 

Anwendung 6 

Wirkung  der  Salicylsäure  auf  Fermente  und  Gährung  10 

Physiologische  Wirkung  auf  Thiere 12 

Physiologische  Wirkung  der  Salicylsäure  und  ihrer 
Derivate  auf  den  gesunden  oder  kranken  Menschen  16 

Klinische  Beobachtungen 25 

Behandlung  septischer  Krankheiten 25 

Anwendung  des  salicylsauren  Natrons  als  Antipyreti- 
cum  bei  specifischem  Fieber  und  bei  Entzündungen  29 
Anwendung  der  Salicylsäure  bei  rheumatischen 
Affectionen,  Gelenkrheumatismen,  acuten, 
fieberhaften  und  fieberlosen  Rheumatismen  . 35 

Dauer  der  Krankheit  bei  Behandlung  mit  Salicyl- 

Medicamenten  42 

Vergleiche  mit  anderen  Behandlungsmethoden  ...  44 

Chronische  Rheumatismen.  — Trockene  Ar- 
thritis; knotige  Arthritis 47 

Acute  und  chronische  Gicht 53 


VIII 


Seite 

Resume  der  Beobachtungen  bei  acuter  Gicht  ...  64 

Beobachtungen  über  chronische  Gicht 65 

Nierensteine,  Nieren-  und  Blasenaffectionen  ...  69 

Neuralgie  

Schmerzhafte  Affectionen  des  Rückenmarks  ...  72 

Innerliche  Schmerzen 74 

Schlusssätze 75 

II.  Gicht  und  Rheumatismus,  von  Dr.  Hery  in  Paris  . 78 — 95 

Ueber  die  Erblichkeit  der  Gicht 79 

Der  Schmerz  bei  der  Gicht 80 

Definition  der  Gicht 81 

Ihr  Verlauf 83 

Natur  der  Gicht  85 

Die  Diät 87 

Behandlung 91 

III.  Ein  schwerer  Fall  von  acutem  Gelenkrheumatismus  mit 
Pericarditis  und  Bronchial-Pneumonie,  von  Dr.  Whipham 

in  London 96 

IV.  Behandlung  von  Gelenkrheumatismus,  von  E.  Prideaux 

in  London 107 


Studien  über  die  Salicylsäure 


Behandlung  des  acuten  und  chronischen  Rheumatismus , der 
acuten  und  chronischen  Gicht  und  der  verschiedenen  Affektionen 
des  Nervensystems  mit  salicylsaurem  Natron. 

Mittheilung  an  die  medicinische  Akademie  zu  Paris  am  26.  Juni 
und  3.  Juli  1877.  Von  Professor  Gemiciin  See. 


Im  Jahre  1830  entdeckte  der  Apotheker  Leroux 
in  Vitry-le-Frangois  während  des  Suchens  nach  einem 
Surrogat  des  Chinin -Sulfats  in  der  Weidenrinde  eine 
krystallisirende  Substanz,  der  er  den  Namen  Salicin  bei- 
legte. Dieselbe  besass  eine  dem  Alkaloid  der  China- 
rinde ähnliche  Bitterkeit  und  schien  berufen  zu  sein,  bei 
der  Behandlung  von  Fieberkrankheiten  ebenso  wie  das 
Chinin  eine  wichtige  Rolle  zu  spielen;  die  Versuche,  die 
man  aber  in  verschiedenen  Pariser  Hospitälern  damit 
unternahm,  realisirten  keineswegs  die  Hoffnungen,  welche 
man  darauf  gebaut  hatte.  Da  das  Mittel  nur  in  seltenen 
hallen  von  Ertolg  begleitet  war,  so  begann  man  seine 
Wirksamkeit  zu  bezweifeln  und  schliesslich  fiel  es  beinahe 
vollständig  der  Vergessenheit  anheim. 

v.  Heyden,  Studien  über  die  Salicylsiitirc. 


und  die 


Geschnellte  der  Salicylsäure. 


I 


Im  Jahre  1831  fand  Pagenstecher,  Apotheker  in 
Bern,  in  den  Blüthen  der  Spiraea  Ulmaria  oder  Wiesen- 
königin eine  Salicyl-Verbindung,  deren  Identität  mit  dem 
Bliithenöl  dieser  Pflanze  von  Dumas  und  Ettling  nach- 
gewiesen wurde. 

Später  erkannte  Cahours  bei  der  Prüfung  einer 
unter  dem  Namen  Gaultheria-  oder  Wintergreen-Oel  be- 
kannten Essenz  die  Identität  derselben  mit  dem  Methyl- 
Salicylat,  welches  man  durch  die  Destillation  von  zwei 
Theilen  Holzgeist,  zwei  Theilen  Salicylsäure  und  einem 
Theil  Schwefelsäure  erhält.  Man  lässt,  um  Salicylsäure 
zu  gewinnen,  das  Wintergreen-Oel  mit  kaustischem  Kali 
kochen,  präcipitirt  darauf  vermittelst  Chlorwasserstoff- 
säure, wäscht  das  Präcipitat  mit  kaltem  Wasser  und 
lässt  es  von  neuem  in  kochendem  Wasser  oder  Alkohol 
krystallisiren.  Heut  zu  Tage  bedient  man  sich  nur  noch 
des  Kolbe 'sehen  Verfahrens,  welches  auf  der  synthe- 
tischen Darstellung  beruht:  durch  Gewinnung  der  Salicyl- 
säure aus  Phenol.  Wenn  man  einen  Strom  Kohlensäure 
in  Phenol  leitet  während  zu  gleicher  Zeit  Natrium  darin 
sich  auflöst,  so  bildet  sich  unter  Entwicklung  von  Wasser- 
stoff Natron -Salicylat. 

Die  physiologische  Geschichte  dieses  Heilmittels 
reicht  bis  zum  Jahre  1855.  Zu  dieser  Zeit  machte 
Bertagnini  an  sich  selbst  Versuche,  welche  durch  ihre 
Präcision  höchst  bemerkenswerth  sind.  „Zwei  bis  drei 
Gramm  Salicylsäure,“  sagt  er,  „bringen  keine 
Wirkung  hervor;  wenn  man  aber  an  zwei  aut  einander 
folgenden  Tagen  sechs  bis  sieben  Gramm  täglich  ein- 
nimmt, so  verursacht  dies  Ohrensausen  und  ein  Gefühl 
von  Betäubung.“  Eine  Stunde  nach  dem  Einnehmen 


0 


der  Säure  erscheint  dieselbe  im  Urin  und  man  constatirt 
in  der  ausgeschiedenen  Flüssigkeit  eine  stickstoffhaltige 
Säure,  die  er  mit  dem  Namen  Salicylursäure  bezeichnet. 

Diese  Beobachtungen  sind  vollkommen  exact. 

Die  Substanz  war  indessen  in  Vergessenheit  ge- 
rathen,  bis  Kolbe  im  Jahre  1S74  und  1875  einer 
Reihe  von  Abhandlungen  die  Analogie  des  Derivates  mit 
der  Carbolsäure  selbst  nachwies  und  ihre  antiseptischen 
Eigenschaften  zur  allgemeinen  Kenntniss  brachte. 

Von  dieser  Zeit  an  bemächtigten  sich  die  Aerzte 
des  neuen  Mittels  und  wendeten  es  bei  allen  septischen, 
eiterigen,  zymotischen  oder  Fermenten  und  Parasiten  zu- 
geschriebenen Krankheiten  an.  — Die  Anwendungen 
wurden  so  zu  sagen  zahllos  und  die  wissenschaftlichen 
Fachzeitungen  Deutschlands,  Englands,  Amerika’s  und 
Italiens  sparten  kein  Loblied  auf  die  unvergleichlichen 
Tugenden  dieses  Universalmittels.  Man  wendete  es 
wirklich  bei  Septicämien , sowie  bei  allen  specifischen, 
typhösen  und  Ausschlags -Fiebern  an;  ferner  bei  ent- 
zündlichen Symptomfiebern  und  zuletzt  beim  fieberhaften 
Gelenkrheumatismus. 

Inmitten  dieser  unzähligen  Wunder  und  gewagtesten 
Behauptungen  unternahm  ich  es  vom  November  1876 
an,  die  Thatsachen  einer  strengen  Kritik  zu  unterwerfen 
und  alle  Behauptungen,  alle  statistischen  Nachrichten 
durch  zugleich  klinische  und  physiologische  Experimente 
zu  controliren.  Diese  Versuche  führten  mich  zwar  zum 
Negiren  mancher  gewagten  Behauptung,  aber  auch  zu 
neuen  Anwendungsarten.  Die  Wirkung  der  Salicylsäure 
bei  acutem  Rheumatismus  erregte  durch  ihre  Einfachheit 
und  Zuverlässigkeit  mein  Erstaunen  und  ich  unternahm 


1 


4 


in  Folge  dessen  weitere  Versuche  in  der  Behandlung 
des  chronischen  Rheumatismus  und  besonders  der  Gicht 
in  allen  ihren  Formen,  gleichviel  ob  sie  schmerzhaft, 
oder  langsam  und  chronisch  auftrat. 

Die  Unterdrückung  des  Schmerzes  bei  diesen  ver- 
schiedenen schweren  Krankheiten  veranlasste  mich,  mit 
Hülfe  dieses  Mittels  eine  gewisse  Anzahl  schmerzhafter 
Affectionen  zu  behandeln,  welche  mit  dem  Rückenmark 
oder  den  dasselbe  umgebenden  Nerven  in  engem  Zu- 
sammenhänge stehen. 

Es  sind  die  Resultate  dieser  zahlreichen  Unter- 
suchungen, welche  ich  der  Akademie  unterbreite.  Zuerst 
will  ich  die  chemischen  Eigenschaften  der  Säure  erwähnen 
und  sodann  die  pharmaceutischen  Präparate  und  die 
Gruppe  der  Derivate,  also  der  Salicylate,  welche  der 
reinen  Säure  vorzuziehen  sind,  beleuchten. 

Chemie  der  Salicylsäure. 

Die  chemischen  und  pharmaceutischen  Untersuchun- 
gen, welche  ich  über  diesen  Gegenstand  veröffentlichen 
will,  sind  mir  durch  die  Unterstützung  eines  ausgezeich- 
neten Apothekers,  des  Herrn  Gallois,  des  Chemikers 
Herrn  Gar  dy  und  meines  Pharmaceuten  Herrn  Val  mont 
in  seltenster  Weise  erleichtert  worden.  Man  löst,  um 
Salicylsäure  (nach  neuer  Kolbe’ scher  Methode)  zu 
bereiten , Phenol  in  seinem  Aequivalent  concentrirter 
Natronlauge  auf,  verdampft  und  erhitzt  das  Residuum 
so  lange,  bis  die  Masse  zu  einem  trockenen  Pulver 
geworden  ist.  Auf  diese  Weise  gewinnt  man  Phenol- 
natron, welches  man  bis  über  ioo  Grad  erhitzt  und  mit 


5 


einem  Strom  trockener  Kohlensäure  behandelt.  Darauf 
erhöht  man  die  Temperatur  nach  und  nach  so  lange, 
bis  sich  unter  dem  Einfluss  der  Kohlensäure  kein  Phenol 
mehr  entwickelt. 

So  bildet  sich  also  salicylsaures  Natron  in  Gestalt 
einer  braunen,  alkalischen  Flüssigkeit,  welche  man  mit 
Chlorwasserstoffsäure  präcipitirt. 

Die  frei  gewordene  Salicylsäure  ist  mit  etwas  Phenol 
vermischt  und  es  entsteht  eine  krystallinische  Masse,  welche 
man  durch  mehrere  auf  einander  folgende  Krystallisa- 
tionen  reinigt. 

Durch  das  Verfahren  von  Kolbe,  Rautert1)  und 
Tresh,  auf  welches  ich  nicht  näher  eingehen  kann, 
wird  sie  reiner  dargestellt. 

Wird  die  Salicylsäure  in  einer  wässrigen  Lösung 
krystallisirt,  so  nimmt  sie  die  Gestalt  langer  Nadeln  an. 

Sie  löst  sich  in  300  Theilen  kalten  (18  °)  und  20 
Theilen  kochenden  Wassers,  bedeutend  besser  dagegen 
im  Alkohol,  Aether  oder  Glycerin. 

Millon’s  Reagens  färbt  die  wässrige  Lösung  roth; 
ein  Zusatz  von  Eisensalzen  verursacht  eine  violette  Fär- 
bung, die  sehr  intensiv  und  selbst  bei  einer  Tausendstel- 
Lösung  bemerkbar  ist.  Es  ist  dies  ein  fast  sicheres 
Mittel,  um  die  Anwesenheit  von  Salicylsäure  im  Urin  zu 
entdecken,  in  welchen  sie  nach  Verlauf  einiger  Minuten 
übergeht. 

')  Rautert  reinigt  das  Product  durch  Sublimation;  hierbei 
tritt  aber  stets  partielle  Zerlegung  ein  und  die  also  mit  Phenol  ver- 
unreinigte, anfangs  schön  aussehende  Salicylsäure  ist  nicht  rein  und 
fällt  allmälicher  Zersetzung  anheim.  v.  H. 


6 


Die  Salicylsäure  verbindet  sich  leicht  mit  Basen, 
Natron  und  Ammoniak  und  bildet  in  diesen  Zusammen- 
setzungen sehr  leicht  lösliche  Salze,  welche  keinen 
kaustischen  Geschmack  besitzen.  Wir  werden  die  sehr 
verschiedenen  Compositionen  dieser  Salze  noch  näher 
bezeichnen. 

Verschiedene  Salicylpräparate,  Dosirung  und 
Art  der  Anwendung. 

Zu  den  bis  jetzt  angewendeten  Salicylpräparaten 
gehört  i)  die  Salicylsäure,  2)  das  salicylsaure  Natron, 
3)  das  salicylsaure  Chinin,  4)  das  salicylsaure  Lithium, 
welches  ich  darstellen  liess,  um  es  bei  der  Behandlung 
der  Gicht  in  Anwendung  zu  bringen,  und  5)  das  Salicin, 
das  bereits  gebraucht  wurde  und  jetzt  neuerdings  wieder 
von  englischen  Aerzten  empfohlen  wird. 

1)  Salicylsäure.  — Diese  Säure  ist  von  Anfang 
an  in  Gebrauch  gewesen  und  ihr  ist  die  Hauptwirkung 
der  Salicylate  übrigens  auch  zuzuschreiben.  Sie  bietet 
aber,  selbst  im  reinen  Zustande,  mancherlei  Unbequem- 
lichkeiten dar  und  da  sie  sich  in  Wasser  nur  schwer,  in  ver- 
dünntem Alkohol  nicht  viel  besser  auflöst1)  und  es  ferner 
geradezu  unmöglich  ist,  sie  in  Verbindung  mit  Glycerin 
einzunehmen,  so  ist  der  Gebrauch  dieses  Medicamentes 
mit  mancherlei  Schwierigkeiten  verknüpft.  Am  besten 
lässt  sie  sich  noch  als  Pulver  einnehmen  und  dies  habe 
ich  auch  angewendet.  Beim  Beginn  meiner  Unter- 
suchungen verschrieb  ich  täglich  5 bis  6 Gramm  in 

l)  Die  Salicylsäure  löst  sich  in  Alkohol  absol.  im  Verhältniss 
von  1:4!  v-  H. 


7 


io  oder  12  Theilen  und  liess  dieselben  zweistündlich  in 
ungesäuertem  Brod  oder  in  Oblaten  einnehmen. 

Das  Pulver  verursacht  jedoch,  wenn  es  nicht  gut 
eingewickelt  ist,  einen  irritirenden  Geschmack  und  kann 
durch  Anhängen  an  dem  Pharynx  oder  der  Speiseröhre 
in  imangenehmer  Weise  wirken.  Es  sollen  sogar  kleine 
Blutungen  dieses  Organes  vorgekommen  sein  (Wolfs- 
berg)  und  einige  Male  will  man  bei  der  Section  kleine 
Magengeschwüre  gefunden  haben.  Es  steht  übrigens  fest, 
dass  dieDosis  in  einigen  solcherFälle  übertrieben  gross 
war.  So  waren  einem  von  Goldammer  citirten  Tuber- 
culose-Kranken  täglich  12  Gramm  verabreicht  worden.1) 

Wenn  ich  die  tägliche  Dosis  auf  fünf  oder 
sechs  Gramm  beschränkte  und  das  Ganze  nicht 
auf  einmal,  sondern  nach  und  nach  einnehmen 
liess,  so  habe  ich,  wenn  das  Medicament  or- 
dentlich eingewickelt  war,  niemals  den  gering- 
sten unangenehm  en  Zufall  beobachten  können. 
Buss  hat  30  Sectionen  gemacht  und  die  Salicylsäure  hat 
niemals  Spuren  im  Magen  zurückgelassen. 

Man  hat  sich  bemüht,  die  Löslichkeit  der  Säure 
mit  Hülfe  von  Borax,  Ammoniak -Citrat  und  Natron- 
Phosphat  zu  vergrössern ; das  einfachste  Mittel  wird 
jedoch  die  Umwandlung  der  Säure  in  Salicylat  bleiben. 


')  Von  Seiten  vieler  Aerzte  wurde  unerklärlicher  Weise  Werth 
darauf  gelegt,  ein  möglichst  gross  und  hart  krystallisirtes 
Präparat  zu  erhalten,  welches  durch  die  Schärfe  seiner  spiessigen 
Nadeln  allerdings  leicht  den  Pharynx  reizen  konnte.  Seitdem  man 
die  Vorzüge  der  reinen,  sehr  weichen,  flockig  krystallisirten  Säure 
genügend  kennen  gelernt,  sind  solche  Uebelstände  nicht  mehr  be- 
hauptet worden.  v ij 


8 


2)  Salicylsaures  Natron.  — Dies  Salz  hat  gar 
keinen  kaustischen  Geschmack  und  zeigt  eine  bedeutende 
Löslichkeit  im  Wasser.  Da  sich  die  Salicylsäure  allem 
Anschein  nach  im  Organismus  mit  dem  Natron  verbindet, 
welches  sie  im  Blut  vorfindet,  so  sollte  das  salicylsaure 
Natron  vorzugsweise  mit  Kalisalzen  oder  Ammoniaksalzen 
verwendet  werden,  welche  man  gleichfalls  zu  verwerthen 
gesucht  hat. 

Dieses  Salz  besteht  nicht , wie  man  neulich  ge- 
schrieben hat,  aus  Salicylsäure  und  Salz  zu  gleichen 
Theilen.  Die  Analyse  meines  Pharmaceuten  Valmont 
hat  im  Gegentheil  ergeben,  dass  io  Gramm  salicylsaures 
Natron  in  runder  Zahl  8 Gramm  Salicylsäure  enthalten; 
es  besteht  also  aus  */5  Salicylsäure  und  lJ5  Natron  und 
man  verschreibt  mithin  eigentlich  nur  Salicylsäure,  die 
in  leicht  löslicher  Gestalt  und  um  1/B  reducirt  einge- 
nommen wird.  Die  Dosis  kann  natürlich  nicht  in  allen 
Fällen  die  gleiche  sein  und  richtet  sich  darnach,  ob  es 
sich  um  eine  mit  Fieber  verbundene  Krankheit,  eine 
fieberlose,  subacute  Affection,  oder  um  eine  chronische 
Krankheit  handelt.  Im  ersteren  Fall  muss  man,  um  eine 
therapeutische  Wirkung  zu  erreichen,  9 bis  10  Gramm 
täglich  verschreiben , während  im  zweiten , wenn  die 
Schmerzen  nicht  zu  heftig  sind,  die  Dosis  Anfangs  7 bis 
8 Gramm  nicht  überschreiten  darf.  Nur  in  dem  Fall 
besonders  heftiger  Schmerzen  müsste  die  Dosis  ebenfalls 
10  Gramm  betragen.  Wenn  es  sich  um  eine  chronische 
Krankheit  handelt,  so  sind  starke  Dosirungen  für  den 
Anfang  nicht  zu  empfehlen,  da  die  sich  in  ihrer  Folge 
entwickelnden  Inconvenienzen  den  Kranken  gleich  bei 
dem  Beginn  der  Behandlung  entmuthigen  können. 


9 


Zwei  unumgänglich  nothwendige  Vorsichtsmassregeln 
sind  dabei  zu  beobachten.  Wenn  die  Dosis  bestimmt 
ist,  muss  das  Salz  in  einer  grossen  Flüssigkeitsmenge 
aufgelöst  werden.  Ich  verschreibe  z.  B.  io  Gramm 
salicylsaures  Natron  in  ioo  Gramm  Wasser  und  lasse 
jeden  einzunehmenden  Esslötfel  voll  noch  mit  einem 
halben  Glase  Wasser  verdünnen.  Die  zweite  nicht  we- 
niger wichtige  Massregel  besteht  darin,  dass  die  Dosis 
gleichmässig  auf  den  ganzen  Tag  vertheilt  wird.  Es  ist 
von  grosser  Wichtigkeit,  dass  so  bedeutende  Dosen, 
wie  sie  früher  gewisse  deutsche  Aerzte  verschrieben, 
niemals  auf  Einmal  eingenommen  werden,  denn  dies 
ist  das  sicherste  Mittel  Intoxications-Erscheinungen  her- 
vorzurufen. Bei  fortgesetztem  Gebrauch  empfiehlt  es  sich 
auch,  das  Mittel  .so  viel  als  möglich  mit  den  Mahlzeiten 
zu  verbinden. 

Falls  es  der  Magen  nicht  gut  verträgt,  lasse  ich  es 
mit  Vichy- Brunnen  oder  gewöhnlichem  Wasser  unter 
Zusatz  von  eau-de-vie  verdünnen. 

3)  Salicylsaures  Lithium.  — Bei  der  acuten 
Gicht  und  gichtischen,  chronischen  Affectionen  erschien  es 
mir  rationell,  die  Salicylsäure  mit  Lithium  zu  verbinden, 
welches  bei  Behandlung  dieser  Krankheit  unbestreitbare 
Vortheile  darbietet.  Das  salicylsaure  Lithium,  dessen 
ich  mich  bedient  habe,  enthält  5/6  Salicylsäure,  so  dass 
man  also  5 Gramm  Salicylsäure  und  I Gramm  Lithium 
giebt,  wenn  man  6 Gramm  dieses  Salzes  verschreibt. 
Ich  konnte  mich  aber  noch  nicht  mit  Gewissheit  davon 
überzeugen,  ob  das  salicylsaure  Lithium  vor  dem  salicyl- 
sauren  Natron  irgend  welche  Vorzüge  besitzt. 


IO 


4)  Salicylsaures  Chinin.  — Wir  hatten  mit 
diesem  seit  zwei  Jahren  bekannten  Salze  bis  dahin  noch 
nicht  experimentirt.  Das  von  mir  in  Anwendung  ge- 
brachte Medicament  enthält  7/io  Chinin.  Brown1),  der 
es  als  Antipyreticum  benutzte,  zieht  es  dem  salicylsauren 
Natron  vor.  Wir  werden  bei  Gelegenheit  des  Wechsel- 
fiebers wieder  darauf  zurückkommen.2) 

5)  Sali  ein.  — Das  von  Maclag  an  in  der  Dosis 
von  1 bis  2 Gramm  zweistündlich  verschriebene  Salicin 
wirkt  durchaus  nicht  so  günstig  als  die  Salicylate,  da- 
gegen hat  es  nach  Herrn  G übler  seiner  kräftigenden 
Eigenschaften  wegen  einige  Vorzüge  vor  denselben  auf- 
zuweisen.3) 

Wirkung  der  Salicylsäure  auf  Fermente  und 

Gährung. 

Da  die  Salicylsäure  vom  Phenol  abgeleitet  wird,  so 
bemühte  man  sich  zu  untersuchen,  ob  sie  auch  im  Be- 
sitz von  dessen  desinficirenden , fäulnisswidrigen  Eigen- 
schaften sei.  Die  Resultate  Hessen  nicht  auf  sich  warten 
und  bestätigten  die  theoretischen  Vermuthungen. 

So  weiss  man  jetzt,  dass  eine  kleine,  einer  Mischung 
von  Amygdalin  und  süsser  Mandelmilch  zugesetzte  Quan- 
tität Salicylsäure  die  Entwickelung  des  Geruches  der 
bittern  Mandel-Essenz  verhindert. 

Ferner  weiss  man,  dass  Glycose,  der  eine  Spur 
Salicylsäure  zugesetzt  worden  ist,  bei  der  Berührupg  mit 

')  Edinburg  medical  Journal,  Nov.  1876. 

2)  Seite  31. 

3)  Dr.  Stricker  negirt  die  günstigeren  Wirkungen  des  Salicins 
geradezu.  (Deutsch,  milit.  ärztl.  Ztschr.  1877,  No.  1.)  v.  H. 


— II  — 

Hefe  nicht  mehr  in  Gährung  übergeht  und  dass  eine 
bereits  begonnene  Gährung  sofort  durch  den  Zusatz 
einer  ganz  kleinen  Menge  dieser  Substanz  gehemmt  wird. 
Die  Salicylsäure  verhindert  auch  die  Entstehung  von 
Pilzen  auf  der  Oberfläche  des  Bieres  und  manche  In- 
dustrielle brauchen  sie,  um  den  Wein  vor  dem  Um- 
schlagen zu  bewahren.  Frisches,  mit  Salicylsäure  einge- 
riebenes Fleisch  kann  der  Luft  mehrere  Wochen  lang 
ausgesetzt  werden  ohne  in  Fäulniss  überzugehen. 

Auch  Brod  conservirt  sich  im  Sommer,  wenn  der 
Hefe  eine  kleine  Quantität  dierer  Säure  hinzugefügt  wird 
oder  wenn  man  es  beim  Herauskommen  aus  dem  Ofen 
mit  einer  verdünnten  Lösung  der  erwähnten  Substanz 
befeuchtet.  Nach  Kolbe  genügt  x Gramm  Salicylsäure 
zur  Conservirung  von  20  Liter  Wasser  an  Bord  der 
Schiffe. 

Verdampft  man  die  Säure  auf  einer  nicht  zu  stark 
erhitzten  Platte,  so  reinigt  sie  die  Luft  und  desinficirt 
die  Mauern  des  Zimmers,  in  welchem  sie  sich  verflüch- 
tigt. In  diesen  Fällen  bietet  die  Salicylsäure  vor  der 
Carbolsäure  den  Vortheil  der  Geruchlosigkeit. 

Da  die  Salicylsäure  die  Eigenschaft  besitzt,  Fer- 
mente zu  neutralisiren  und  das  Entstehen  mikroskopischer 
Pilze  zu  verhindern  oder  aufzuhalten,  so  durfte  man  hoffen, 
sie  den  Intoxicationen  gegenüber,  welche  der  Entwicklung 
niedriger  Organismen  zugeschrieben  werden , von  der 
mächtigsten  Wirkung  zu  finden  und  man  glaubte,  sie 
würde  sich  durch  Vernichtung  dieser  noch  wenig  be- 
kannten schädlichen  Substanzen,  die  man  mit  den  Namen 
Sepsis  und  Zymose  bezeichnet,  als  Antisepticum  par 
excellence  documentiren. 


12 


Unter  dem  Rinfluss  dieses  Gedankens  präparirte 
Prof.  Thier  sch  für  die  Wundbehandlung  eine  Mischung 
von  Amylon  und  Salicylsäure,  sowie  eine  mit  einer 
V300  Salicylsäure -Lösung  durchtränkte  Watte.  Indessen 
war  er,  obgleich  er  sich  zu  den  erreichten  Resultaten 
Glück  wünschen  kann,  doch  zu  der  Erklärung  genöthigt, 
dass  sich  in  einzelnen  Fällen  der  Micrococcus  auf  der 
Wundfläche  entwickelt  habe1). 

Müller,  Buchholtz,  Jury  und  Lajoux  haben 
bei  dem  Studium  der  Bacterien  und  Schimmelbildungen 
ähnliche  Erfahrungen  gemacht. 

Physiologische  Wirkungen  auf  Thiere. 

Wenn  man  Thieren  längere  Zeit  schwache 
Dosen,  x bis  2 Gramm,  Salicylsäure  einflössl, 
so  erleidet  sowohl  ihre  Verdauungsthätigkeit, 
als  die  Ernährung  und  der  allgemeine  Gesund- 
heitszustand nicht  die  geringste  Störung  (Feser 
und  Friedberger);  die  Wirkung  des  Speichels 
und  Magensaftes  auf  die  Nahrung  wird  in 
keiner  Weise  gehemmt. 

Die  Pflanzenfresser  vertragen  grössere  Dosen  Salicyl- 
säure ohne  Unbequemlichkeiten  zu  empfinden,  als  die 
Fleischfresser  der  gleichen  Grösse , welches  Resultat 
darauf  schliessen  lässt,  dass  die  Ausscheidung  dieser 
Substanz  durch  die  Nieren  bei  den  Pflanzenfressern 
schneller  als  bei  den  Fleischfressern  vor  sich  geht.  In 
der  That  führen  die  Nahrungsmittel  der  Ersteren  dem 
Blut  bedeutende  Mengen  alkalischer  Salze,  besonders 


J)  Wie  auch  bei  Carbolsäure  beobachtet. 


v.  H. 


13 


Carbonate  zu,  welche  die  Ausscheidung  der  Salicylsäure 
befördern.  Man  beobachtet  übrigens  bei  den  Fleisch- 
fressern, welche  man  einer  Pflanzendiät  unterwirft,  eine 
analoge  Erscheinung.  Grössere,  längere  Zeit  fortgesetzte 
Gaben  der  Säure  bringen  bei  den  Pflanzenfressern  bei 
verminderter  täglicher  Futterration  Erscheinungen  hervor, 
welche  auf  verzögerte  Ausscheidung  der  Salicylsäure 
durch  geringere  Zuführung  alkalischer  Salze  schliessen 
lassen. 

Man  beobachtet  in  Folge  übertrieben  grosser 
Dosirungen  folgende  Erscheinungen: 

Athmungsbeschwerden.  — Buss  hat  bei  Kaninchen 
Dyspnoe,  langsamere  respiratorische  Bewegungen  und 
Zuckungen  constatirt. 

Unsere  Experimente  mit  Kaninchen  und  Hunden 
haben  die  Exactheit  dieser  Erscheinungen  erwiesen:  die 
Thiere  unterliegen  beinahe  stets  nach  2 oder  3 Injectionen 
von  je  1 bis  2 Gramm  salicylsaurem  Natron,  welches  mit 
xo  bis  15  Theilen  Wasser  verdünnt  ist. 

Köhler  schreibt  den  Tod  der  Asphyxie  zu.  Man 
findet,  sagt  er,  bei  der  Section  im  unteren  pleuralen 
Gewebe  Ecchymosen,  eine  passive  Lähmung  der  Lungen 
und  im  Herzbeutel  eine  seröse  Flüssigkeit.  Wenn  man 
den  nervus  vagus  noch  während  des  Lebens  untersuchen 
kann,  so  zeigt  sich  die  langsamere  Respiration  noch  deut- 
licher. Die  Salicylsäure  vermindert  also  die  Erregbarkeit 
des  nervus  vagus  der  Lunge,  woraus  eine  ungenügende 
Sauerstoff-Entwiökelung  und  ein  Ueberschuss  von  Kohlen- 
säure im  Blot  entsteht. 

Circulationsstörungen.  Modificationen  der  Tempe- 
ratur. — Köhler  behauptet,  beim  Hunde  eine  rasche 


Abnahme  der  vasculären  Spannung  beobachtet  zu  haben 
und  schreibt  dies  der  Wirkung  der  Salicylsäure  auf  die 
intracardialen  Nervenknoten  oder  auf  den  Herzmuskel 
selbst  zu,  deren  nervenbewegende  Thätigkeit  beeinflusst 
wird.  Dasselbe  Resultat  zeigte  sich  nach  der  Injection 
einer  Lösung  von  salicylsaurem  Natron  in  die  Jugular- 
Ader  eines  Kaninchens. 

Unsere  eigenen  Laborator ien-Versuche  con- 
statirten  niemals  die  geringste  Modification 
weder  der  Arterien  - Spannu  ng  noch  der  Herz- 
schläge. Die  letztere  Thatsache  stimmt  mit  den  Beob- 
achtungen von  Reiss  überein. 

Die  Temperatur  erfährt  bei  nicht  fiebernden  Thieren 
nur  sehr  unerhebliche  Modificationen.  Reiss  Hess  einen 
Hund  5 Gramm  in  Carbonat  oder  Natron-Phosphat  ge- 
löste Salicylsäure  einnehmen  und  erreichte  im  Durch- 
schnitt im  Zeitraum  von  vier  bis  sechs  Stunden  nur  eine 
Temperatur-Reduction  von  9/10  Grad.  Bei  Thieren,  wel- 
chen Fürbringer  Eiter  einspritzte,  um  eine  fieber- 
hafte Septicämie  zu  provociren,  brachte  in  der  Dosis  von 
2 Gramm  verabreichte  Salicylsäure  bei  neun  unter  sechs- 
zehn Fällen  keine  Abkühlung  der  Temperatur  hervor. 

Köhler,  der  salicylsaures  Natron  in  das  Blut  eines 
Hundes  einspritzte,  constatirte  zuerst  ein  Sinken  der 
Temperatur  und  des  Pulses;  als  er  aber  diese  Sub- 
stanz s elbst  in  zehnfacher  Dosis  in  den  Magen 
des  Thieres  ein  führte,  vermochte  er  keine 
Wirkung  mehr  zu  beobachten.  Meine  Experimente 
haben  sowohl  in  Bezug  auf  Temperatur  als  auf  Circula- 
tionsstörungen  niemals  irgendwie  bemerkenswerthe  Re- 
sultate ergeben. 


'5 


Nervöse  Erscheinungen.  — Das  Nervensystem  wird 
durch  betäubend  starke  Dosen  nicht  modificirt;  es  ent- 
wickeln sich  nach  Darreichung  solcher  schliesslich  Con- 
vulsionen  oder  starrkrampfähnliche  Zustände,  die  weniger 
das  Resultat  der  Asphyxie  als  der  Wirkung  der  in  über- 
triebener Menge  injicirten  Medicamente  auf  das  Nerven- 
sytem  sind.  Die  allgemeine  Sensibilität,  sowie  diejenige 
der  Haut  wird  nicht  modificirt;  andrerseits  wird  die 
fortleitende  Kraft  der  Nerven  nicht  verringert  und  die 
reflexive  Kraft  des  Rückenmarkes  erleidet  schliesslich 
anscheinend  keine  Veränderung. 

Diese  negativen  Thatsachen  sind  um  so  wichtiger, 
als  eine  der  merkwürdigsten  Eigenschaften  dieses  Medi- 
camentes  darin  besteht,  dass  es,  beim  Menschen  an- 
gewendet, eine  ausserordentlich  schmerzstillende  Wirk- 
samkeit entfaltet. 

Fasst  man  alle  die  an  Thieretl  gemachten 
Experimente  zusammen,  so  muss  man  gestehen, 
dass  sie  sehr  schwierig  und  zu  gleicher  Zeit 
von  geringem  Werth  sind.  Schwierig  sind  sie  in 
sofern,  als  man  in  das  Zellengewebe  nicht  viel  Salicyl- 
säure  oder  salicylsaures  Natron  einspritzen  kann,  ohne 
örtliche  Wirkungen  hervorzurufen.  Spritzt  man  diese 
Substanzen  in  die  Adern,  so  bringen  sie  mechanische 
W irkungen  hervor,  denen  nothwendig  Rechnung  getragen 
werden  muss,  da  man  zur  Injection  einiger  Gramm 
salicylsauren  Natrons  eine  grosse  Menge  Wasser  braucht. 
Das  Einnehmen  erregt  bei  Kaninchen  und  Hunden  im 
Magen  oft  Widerwillen  und  Erbrechen  und  man  kann 
die  physiologischen  Wirkungen  dann  nicht  mehr  mit 
Sicherheit  beobachten. 


iö 


Aus  diesen  Gründen  lassen  sich  aus  den  mit  Thieren 
unternommenen  Experimenten  noch  keine  richtigen 
Schlüsse  auf  die  Wirkungen  ziehen,  welche  das  Medi- 
cament  bei  dem  Menschen  hervorbringt. 

Physiologische  Wirkung  der  Salicylsäure  und 
ihrer  Derivate  auf  den  gesunden  oder 
kranken  Menschen. 

Um  physiologische  oder  heilende  Wirkungen  produ- 
ciren  zu  können,  muss  die  tägliche  Dosis  des  Medi- 
camentes  mehr  als  2 bis  3 Gramm  betragen;  die  thera- 
peutische Gabe  ist  5 bis  6 Gramm  Salicylsäure  oder 
7 bis  10  Gramm  salicylsaures  Natron,  welches  in  vieler 
Beziehung  vorzuziehen  ist. 

Man  beobachtete  Erscheinungen:  1)  auf  die  Ver- 
dauungsorgane; 2)  auf  das  Nervensystem  der  Sinne; 
3)  auf  das  Central-Nervensystem;  4)  auf  das  Herz,  den 
Puls,  die  Respiration,  die  Temperatur;  5)  auf  die  Aus- 
scheidungsorgane und  deren  Producte;  6)  auf  das  Blut. 

1.  Verdauungsorgane. 

Nimmt  man  2 bis  5 Gramm  Säure  auf  einmal  und  wieder- 
holt die  Dosis  noch  an  demselben  Tage,  so  verursacht  dies 
häufig  Schlafsucht  und  Uebelkeit,  zuweilen  auch  ein  brennendes 
Gefühl  in  der  Kehle  und  im  Magen.  Diese  Uebelstände  lassen 
sich  aber  sehr  leicht  vermeiden,  wenn  man  die  Dosis  von  5 bis 
6 Gramm  in  10  bis  12  Theile  theilt  und  dieselben  in  alkoho- 
ligem  Syrup  oder  ungesäuertem  Brod  einnimmt.  In  noch 
sichererer  Weise  verhindert  man  das  Auftreten  dieser  Erschei- 
nungen durch  8 Gramm  salicylsaures  Natron,  welches  in  einer 
grossen  Flüssigkeitsmenge  gelöst  und  in  4 oder  5 Theile  getheilt 
wird.  Auf  diese  Art  ist  die  directe  Wirkung  des  Medicamentes 
auf  die  Verdauung?- Schleimhäute  gleich  Null  und  mehrere 


17 


meiner  Schüler,  die  das  Salicylat  in  der  erwähnten  moderirten 
Weise  einnehmen,  konnten  ihre  Arbeiten  fortsetzen,  ohne  die 
geringste  Appetit-  oder  Verdauungsstörung  zu  empfinden.  Bei 
Fieberkranken  zeigten  sich,  nach  meinen  Beobachtungen,  nur 
sehr  selten  Schlafsucht  und  Erbrechen,  und  diese  Zufälle  waren 
selbst  dann  nur  vorübergehend,  wenn  die  Dosis  mehrere  Tage 
lang  in  derselben  Stärke  angewendet  wurde.  Wenn  ich  das 
Medicament  aber  bei  chronischen  Krankheiten  für  die  Dauer 
etlicher  Wochen  verschrieb,  sogeschah  es  doch  zuweilen,  dass 
die  Kranken  plötzlich,  wenn  auch  nur  ganz  vorübergehend,  einen 
gewissen  Ekel  davor  empfinden,  der  mich  nöthigte,  das  Medi- 
cament einige  Tage  auszusetzen.  Diese  Störung  in  den  Ver- 
dauungsorganen wird  übrigens  in  solchen  Fällen  sogleich 
beseitigt,  wenn  man  die  Lösung  in  Vichy-Brunnen  oder  mit 
etwas  Alkohol  zusammen  einnehmen  lässt. 

. Gehörsaff ectionen ; Ohrensausen,  Schwerhörig- 
keit. 

Die  beständigste,  oft  sehr  rasche  Wirkung  grosser  Dosen  der 
Salicylpräparate  ist  die  Entwicklung  von  Ohrensausen;  sowohl 
gesunde  Individuen  als  fieberfreie  Kranke,  ja  sogar  Fieberkranke 
empfinden  dasselbe  in  fast  gleichmässiger  Weise,  wenn  sie  die  täg- 
liche Dosis  von  5 bis  6 Gramm  Salicylsäure  oder  10  Gramm  sali- 
cylsaurem  Natron  erreicht  haben.  Beinahe  Alle  klagen  nicht  allein 
über  dies  seltsame  Geräusch  im  Gehörsorgan  und  im  ganzen 
Kopf,  sondern  vergleichen  es  noch  mit  einem  entfernten  Rollen, 
einem  gleichsam  wellenartigen  Gefühle.  Es  ist  indessen 
immerhin  bemerkenswert!!,  dass  diese  Empfindungen 
nicht  von  der  geringsten  geistigen  Störung,  weder 
von  Hallucinationen  noch  von  schwindelähnlichen 
Gesichtsillusionen,  begleitet  werden,  wie  dies  unter 
dem  Einfluss  des  Chinin-Sulfats  oder  bei  der  See- 
krankheit der  Fall  ist.  Es  kommt  sehr  selten  vor,  dass  die 
Kranken  Gegenstände  in  röhrender  Bewegung  zu  sehen  glauben 
oder  das  Gefühl  haben,  als  ob  sie  sich  selbst  im  Kreise  drehten; 
höchstens  entsteht  zuweilen  ein  gewisses  Schwanken  oder  viel- 
v.  Heyden,  Studien  über  die  Salicylsäure.  2 


i8 


mehr  eine  Unsicherheit  im  Gange,  die  indessen  durchaus  nicht 
von  längerer  Dauer  ist. 

Nächst  dem  Ohrensausen  und  Kopfgeräusch  bildet  die  Ab- 
nahme der  Sensibilität  des  Ohres,  sowie  eine  Schwerhörigkeit, 
welche  übrigens  niemals  oder  sehr  selten  bis  zu  völliger  Taub- 
heit vorschreitet,  die  gewöhnlichste  Erscheinung.  Die  erwähnte 
Schwerhörigkeit  stellt  sich  auch  nur  dann  ein,  wenn 
man  zwei  bis  drei  Tage  lang  täglich  mindestens 
6 Gramm  Salicylsäure  oder  io  Gramm  salicylsaures 
Natron  gebraucht  hat  und  nimmt  bei  fortgesetztem  Ge- 
brauch des  Mittels  keineswegs  zu;  sie  bleibt,  ebenso  wie  das 
Ohrensausen,  stationär  und  nimmt  sogar  meistens  ab, 
ohne  dass  die  Dosis  in  erheblicher  Weise  verkleinert 
worden  wäre. 

Jedenfalls  verschwindet  sowohl  das  Ohrensausen  als  das 
Geräusch  im  Kopfe  sofort,  wenn  das  Mittel  herabgemindert 
wird,  und  die  Schwerhörigkeit  lässt  niemals  die  ge- 
ringsten Spuren  zurück;  sie  ist  auch  nie  von  so 
langerDauer  wie  nach  längerem  Gebrauch  der  Chinin- 
Präparate  oder  starken  Dosirungen  der  letzteren. 

3.  Central- Nervensystem. 

Bei  therapeutischen  Dosen  lassen  sich  beim  ge- 
sunden Menschen  keine  Störungen  in  den  Func- 
tionen der  Gehirn-  und  Rückenmarksnerven  beob- 
achten. Die  Sinne  selbst  erleiden  mit  Ausnahme  des  Gehörs 
keine  Störung  und  wenn  man  in  einigen  Fällen  eine  Abnahme 
des  Gesichts  wahrzunehmen  glaubte,  so  könnte  dies  nur  eine 
Folge  übertrieben  starker  oder  zu  rasch  auf  einander  folgender 
Dosen  gewesen  sein. 

In  diesen  Fällen  beobachtete  man  auch  das  Auftreten  eines 
stillen  Deliriums,  ohne  Phantasien;  seltener  einen  dem  Deli- 
rium tremens  ähnlichen  Zustand.  Man  kann  dreist  be- 
haupten, dass  io  bis  12  Gramm  bei  einem  gesunden 
Menschen  nie  Störungen  der  Gehirn-  und  Rücken- 
marksnerven verursacht  haben.  Handelt  es  sich  um 


— I9  — 

Fieberkranke,  so  entwickelt  sich  natürlich  leichter  Delirium. 
Bei  zwei  Typhuskranken,  bei  welchen  der  Thermometer  40  Grad 
zeigte,  brachten  10  Gramm  salicylsaures  Natron  täglich  nach 
sieben  bis  acht  Tagen  ein  stilles  Delirium  hervor,  welches  von 
einem  beträchtlichen  Sinken  der  Temperatur  (2  bis  3 Grad)  be- 
gleitet war.  Als  man  das  Medicament  nicht  mehr  anwendete, 
hörte  das  Delirium  sofort  auf,  die  Hitze  stieg  jedoch  wieder 
bis  auf  40  Grad  und  die  Krankheit  nahm  bis  zur  Heilung 
ihren  regelmässigen  Verlauf. 

Uebrigens  habe  ich  niemals  Störungen  des  Gefühls-  oder 
Bewegungsvermögens  wahrnehmen  können.  Die  starrkrampf- 
artigen Zusammenziehungen,  von  denen  Leonardi- Aster  ein 
Beispiel  anführt,  sind  mir  bei  meinen  Beobachtungen  niemals 
vorgekommen  und  der  Collaps,  der  auf  das  Einnehmen  zu 
starker  Dosen  folgt,  hat  sich  ebensowenig  jemals  bei  meinen 
Kranken  gezeigt.  Indessen  genügt  der  Gedanke,  dass  eine  ein- 
zige Intoxications-Erscheinung,  wie  das  Delirium,  überhaupt 
Vorkommen  kann,  um  die  Wirkung  des  Medicamentes  auf  das 
strengste  überwachen  zu  lassen  und  darauf  zu  achten,  dass  die 
angegebene  Dosirung  nie  überschritten  und  nicht  in  zu  rasch 
aufeinander  folgender  Weise  verabreicht  wird. 

Schliesslich  muss  man  das  Mittel  sofort  herabsetzen,  sobald 
sich  das  geringste  Intoxicationszeichen  zeigen  sollte. 

4.  Wirkung  der  Salicylsäure  auf  Herz,  Puls  und 
Temperatur. 

Man  beobachtet  zuweilen  beim  gesunden  Menschen  partielle 
Vascularstörungen,  die  besonders  der  Blutcirculation  des  Ge- 
hirns und  Gesichts  zuzuschreiben  sind.  Das  Herz  schlägt  dabei 
regelmässig  fort,  der  Rhythmus  und  die  Anzahl  der  Herzschläge 
bleibt  in  normalem  Zustande  und  auch  der  Puls  erfährt  nicht 
die  geringste  Modification. 

Die  Respiration,  welche  bei  übertrieben  starken  Dosen  ent- 
schieden beeinflusst  wird,  erfährt  bei  dem  Gebrauch  von  8 bis 
12  Gramm  salicylsauren  Natrons  keine  Veränderung.  Die  Tem- 
peratur selbst  sinkt  nicht  im  Geringsten. 


Zwei  meiner  Schüler  nahmen  eine  Zeit  lang  täglich  5 bis 
6 Gramm  Salicylsäure,  dann  10  Gramm  salicylsaures  Natron 
ein  und  sie  sind  nie  im  Stande  gewesen,  die  geringste 
Modification  weder  der  Temperatur  noch  des  Puls- 
schlages constatiren  zu  können. 

Ge  dl  (in  Krakau)  verabreichte  8 fieberfreien  Personen  3 
bis  5 Gramm  Salicylsäure  und  konnte  bei  der  Hälfte  derselben 
nichts  Bemerkenswerthes  entdecken;  4 Mal  fand  ein  Sinken  der 
Temperatur  statt,  welches  jedoch  nie  mehr  als  0,8  Grad  betrug, 
und  3 Mal  waren  die  täglichen  Temperatur-Schwankungen 
ausserordentlich  unbedeutend. 

Riegel  (in  Cöln)  experimentirte  bei  gesunden  Individuen 
mit  4 bis  5 Gramm  reiner  Salicylsäure  und  konnte  dabei  keine 
wesentliche  Abnahme  der  Temperatur  beobachten.  Ja,  Lür- 
mann,  der  einem  Rheumatismuskranken  Salicylsäure  verschrie- 
ben hatte,  will  sogar  in  Folge  dessen  einen  heftigen  Fieber- 
anfall veranlasst  haben.  Der  Puls  stieg  auf  160,  die  Temperatur 
auf  41  Grad.  Er  wandte  das  Mittel  3 Mal  von  Neuem  an  und 
3 Mal  zeigten  sich  dieselben  Resultate.  Ich  habe  bei  einer 
jungen  Chorea-Kranken,  der  ich  salicylsaures  Natron  verschrieben 
hatte,  eine  ähnliche  Erfahrung  gemacht;  sie  bekam  einen  Fieber- 
anfall, dessen  Ursache  wir  nur  auf  das  Einnehmen  des  verord- 
nten Medicamentes  zurückzuführen  vermochten. 

Im  gesunden  oder  fieberfreien  Zustande  bleibt  die  Tem- 
peratur also  normal;  sie  sinkt  niemals  in  bemerkenswerther 
Weise  und  auf  längere  Zeit;  in  einigen  Ausnahmefällen  ist  sie 
sogar  so  hoch  gestiegen,  dass  ein  wirklicher  Fieberanfall  ent- 
stand. Wie  verhält  sich  die  Sache  nun  bei  Fieberkranken? 
Dies  ist  eine  Frage,  welche  wir  bei  Gelegenheit  der  antipyre- 
tischen Eigenschaften,  welche  man  der  Salicylsäure  bei  der  Be- 
handlung typhöser  und  rheumatischer  Fieber  zuschreibt,  erörtern 
wollen. 

Interpretation  der  Störungen  des  Gehirns  und  der  Sinne.  — 
Ist  die  vollständige  Integrität  der  Herzfunctionen,  die  Regel- 
mässigkeit des  Pulsschlages  und  das  integrale  Verhalten  des 
Vascular-Druckes  eine  Bürgschaft  dafür,  dass  sich  keine  Störungen 
der  localen  Blutcirculation  entwickeln  können?  Claude  Ber- 


21 


nard  behauptet  in  einigen  Fällen  die  Unabhängigkeit  der  Cir- 
culation  gewisser  Organe  und  es  giebt  Medicamente,  welche  auf 
die  vasomotorischen  Nerven  oder  auf  die  Blutgefässe  eines  be- 
stimmt abgegrenzten  Körpertheiles  einwirken.  Die  Arterien  des 
Gesichts  und  Gehirns  werden  vermöge  ihres  ausserordentlich 
zarten,  beweglichen  Gewebes  rascher  als  an  anderen  Stellen  zu 
erhöhter  Thätigkeit  angeregt  und  man  frägt  sich  in  solchen 
Fällen  mit  Recht,  ob  nicht  vielleicht  Congestionen  oder  im 
Gegentheil  Blutmangel  im  Gehirn  die  Folge  sein  könnten.  Ist 
im  gegenwärtigen  Fall  das  Geräusch  im  Gehirn,  das  Ohren- 
sausen und  die  Abnahme  der  Gehörsfähigkeit  mit  einer  Pertur- 
bation  der  Blutcirculation  in  Zusammenhang  zu  bringen? 

Nimmt  man  8 bis  io  Gramm  salicylsaures  Natron  auf  ein- 
mal oder  in  rasch  aufeinander  folgenden  Dosen,  so  erhitzt  sich 
das  Gesicht  und  es  entstehen  zuweilen  Wallungen,  sowie  eine  Art 
von  Trunkenheit.  Dies  ist  aber  nur  vorübergehend  und  ent- 
wickelt sich  überhaupt  nur  in  Folge  zu  rasch  auf  einander 
folgender  grosser  Dosen. 

Wird  dagegen  die  Säure  allmälig  verabreicht,  so  mani- 
festirt  sich  weder  Färbung  und  Entfärbung  des  Gesichtes,  noch 
Schwindel,  es  zeigt  sich  mit  einem  Wort  keine  Störung  der 
Circulation.  Es  ist  also  noch  keineswegs  bewiesen,  dass  die 
Gehörs-Perturbationen  mit  einer  Blutleere  oder  Blutüberfüllung 
des  Gehirns  in  Verbindung  stehen. 

Man  wird  also  eine  einfache  Störung  in  der  Function  der 
Gehörsnerven,  das  heisst  zuerst  eine  Hyperästhesie,  dann  eine 
eine  Abnahme  des  Gehörvermögens,  annehmen  müssen. 

5.  Elimination  der  Salicylsäure  und  des  salicyl- 
sauren  Natrons  im  Urin. 

Die  Elimination  des  salicylsauren  Natrons  und  der  Salicyl- 
säure geht  sowohl  bei  dem  gesunden  als  dem  kranken  Menschen 
sehr  rasch  von  Statten ; man  findet  diese  Substanzen  schon  zehn 
Minuten  nach  dem  Einnehmen  im  Urin  vor. 

Vermittelst  einer  Eisenchlorid-Lösung  lässt  sich  die  Gegen- 
wart von  Salicylsäure  leicht  constatiren;  der  Urin  nimmt  so- 
gleich eine  charakteristische  violette  Färbung  an. 


Man  findet  die  Säure  zum  grossen  Theil  in  freiem  Zustande. 
Fleischer  hat,  um  dies  darzulegen,  Urin  in  Gegenwart  einer 
Säure  destillirt  und  es  gelang  ihm  auch  mit  Hülfe  von  Aether 
einen  Theil  derselben  wiederzugewinnen.  Diese  Experimente 
können  jedoch  nicht  als  triftiger  Beweis  gelten,  da  ein  Ueber- 
schuss  an  Phosphat  in  dem  experimentirten  Urin  hinreichte,  um 
die  Gewinnung  der  freien  Salicylsäure  zu  ermöglichen. 

Ein  anderer  Theil  der  Säure  verbindet  sich  mit  Kali.  So- 
wohl die  Salicylsäure,  als  das  salicylsaure  Kali  ist  im  Aether 
löslich. 

Ein  dritter  Theil  endlich  ist  in  combinirtem  Zustande  im 
Aether  unlöslich. 

Ich  füge  noch  hinzu  (und  dies  ist  ein  Punkt  von  Bedeu- 
tung), dass  eine  partielle  Umwandlung  der  Salicylsäure  in  Sali- 
cylursäure  stattfindet.  Ebenso  wie  sich  die  Benzoesäure  im 
Körper  in  Hippursäure  umsetzt,  ebenso  fixirt  die  Salicylsäure 
im  Organismus  einen  Theil  der  Leimzucker-Elemente  und  bildet 
eine  der  Hippursäure  analoge  zusammengesetzte  Säure,  welcher 
Bertagnini  den  Namen  Salicylursäure  beigelegt  hat. 

Um  sie  darzustellen,  sammelt  man  Urin,  concentrirt  den- 
selben durch  Verdampfung,  scheidet  die  Mutterlauge  der  Salze 
aus,  säuert  mit  Chlorwasserstoflfsäure  an  und  schüttelt  das  Ganze 
mit  Aether  durch.  Die  Aetherlösung  lässt  nach  der  Verdampfung 
eine  stark  saure,  krystallisirbare  Flüssigkeit  zurück,  welche  man 
bis  zu  140  Grad  erhitzt;  es  verflüchtigt  sich  Salicylsäure  und 
das  Residuum  besteht  aus  Salicylursäure. 

Picard  verwendete  kürzlich  zur  Trennung  der  beiden  Pro- 
ducte  Benzol  und  Aether,  da  die  Salicylsäure  in  Aether  weit 
löslicher  ist,  als  die  Salicylursäure.  Die  letztere  Säure  löst  sich 
in  kochendem  Wasser  sehr  gut,  weniger  dagegen  in  Aether;  die 
wässrige  Lösung  färbt  ebenso  wie  die  Salicylsäure  Eisensalze 
violett. 

Die  vollständige  Elimination  der  Salicylsäure  ist  oft  nach 
24  Stunden,  meistens  jedoch  nach  48  Stunden  beendet;  trotz 
dessen  habe  ich  einmal  bei  einem  Typhuskranken,  der  das  Medi- 
cament  seit  sechs  Tagen  nicht  mehr  brauchte,  Spuren  desselben 
gefunden. 


Wenn  ich  diese  Schnelligkeit  der  Elimination  betone,  so 
geschieht  dies  nur,  um  darauf  hinzuweisen,  dass  das  Medica- 
ment  nicht  in  rasch  aufeinander  folgenden  Dosen  verschrieben 
werden  möge,  wie  sie  von  einigen  ausländischen  Aerzten  em- 
pfohlen werden.  Man  muss  es  (und  dies  ist  auch  das 
sicherste  Mittel,  jeder  Intoxications-Erscheinung 
vorzubeugen)  in  getheilten  Dosen  verordnen,  so  dass  der 
Kranke  beständig  unter  der  Einwirkung  des  Medica- 
mentes  bleibt.  Man  thut  am  besten  daran,  die  Dosis  von 
8 bis  io  Gramm  in  gleichmässiger  Weise  auf  die  24  Stunden 
des  Tages  zu  vertheilen  und  also  alle  fünf  oder  sechs  Stunden 
2 Gramm  zu  verabreichen. 

Die  Salicylsäure  wirkt  auch  bei  ihrer  Elimination,  und  in- 
dem sie  selbst  zahlreiche  Modificationen  erfährt,  auf  die  Nieren, 
die  Ausscheidung  des  Urins  und  die  Beschaffenheit  desselben. 

In  gewissen  Fällen  vermehrt  sie  die  Quantität  des  Urins 
und  scheint  als  diuretisches  Mittel  zu  wirken.  Diese  Wirkung 
ist  aber  keineswegs  stets  die  gleiche  und  kann  weder  bei  der 
Erklärung  der  übrigens  noch  zweifelhaften  antipyretischen  Thätig- 
keit  der  Säure  hoch  für  das  Verständniss  der  Herzstörungen, 
welche  einige  Beobachter  mitgetheilt  haben,  irgendwie  in  Be- 
tracht kommen. 

Die  Zusammensetzung  des  Urins  ist  im  Gegentheil  beinahe 
immer  modificirt,  höchstens  ist  eine  grössere  Menge  Indican  zu 
bemerken.  Zuweilen  hat  mein  Chemiker  auch  das  Vorhanden- 
sein einer  braunen,  dunkeln,  tanninartigen  Substanz  constatirt, 
welche  kürzlich  unter  dem  Namen  Pyrocatechin  besprochen 
worden  ist  und  welche  man  in  gewissen  Pflanzen  in  normalem 
Zustande  vorfindet. 

Nierensteinleidende  eliminiren  eine  grössere  Menge  Harn- 
säure oder  die  Nierensteine  scheiden  sich  vielmehr  mit  grösserer 
Leichtigkeit  aus. 

Bei  Gichtkranken  zeigt  die  Elimination  der  Harnsäure  zu- 
weilen eine  nicht  unbedeutende  Vermehrung.  Das  gilt  beson- 
ders von  den  acuten  Anfällen , die  von  Zeit  zu  Zeit  in  der 
chronischen  Gicht  Vorkommen.  Ich  habe  einst  bei  einem  Kran- 
ken die  Beobachtung  gemacht,  dass  die  Quantität  der  eliminirten 


24 


Harnsäure,  welche  in  normalem  Zustande  0,80  Gramm  pro  Liter 
beträgt,  drei  Tage  lang  sich  auf  der  Höhe  von  3 Gramm  erhielt, 
ohne  dass  die  geringste  Aenderung  der  Diät  statgefunden  hätte. 

Der  Harnstoff  erfährt  weder  im  normalen  Zustande  noch 
in  pathologischen  Verhältnissen  irgend  welche  bemerkenswerthe 
Modification. 

Sind  die  Nieren  lädirt,  so  ist  das  Medicament  in  grossen 
Dosirungen  nicht  ohne  Gefahr  anzuwenden  und  es  ist  stets  von 
Wichtigkeit,  der  Integrität  dieser  Organe  im  Voraus  hierfür  sich 
zu  versichern.  Ich  habe  selbst  Gelegenheit  gehabt,  bei  einem 
Rheumatismuskranken,  der  an  zeitweiliger  Nephritis  litt,  eine 
nicht  unbedeutende  Hämaturesie  zu  beobachten,  und  der  gleiche 
Fall  ist  bei  einer  parenchymatösen  Nephritis  vorgekommen. 
Leonardi  Aster  will  dies  selbst  im  physiologischen  Zustande 
in  Folge  einer  zu  starken  Dosis  Salicylsäure  bemerkt  haben. 
Beiz  spricht  auch  von  Albuminurie  und  Nephritis;  er  fügt  aber 
hinzu,  dass  sich  diese  Irritation  nicht  mehr  gezeigt  habe,  seit 
er  an  Stelle  der  Salicylsäure  salicylsaures  Natron  verwendet. 

Nach  Buss  findet  man  auch  im  Schweiss  Salicylsäure, 
welche  Thatsache  indessen  nicht  verbürgt  ist. 

Gewiss  ist,  dass  die  Salicylsäure  oft  den  Schweiss  hervor- 
ruft ; man  kann  diese  Diaphorese  sowohl  im  fieberfreien  als 
fieberhaftem. Zustande  beobachten;  bei  Rheumatismuskranken  er- 
schien mir  indessen  die  natürliche  Tendenz  zum  Schweiss  nicht 
in  höherem  Maassstabe  vorhanden  zu  sein. 

Buss  hat  auch  im  Speichel  und  Auswurf  das  Vorhanden- 
sein von  Salicylsäure  constatirt  und  O ulmont  hat  sogar  in  der 
serösen  Flüssigkeit  einer  Hautblase  Spuren  davon  entdecken 
wollen. 


0.  Verhalten  der  Salicylsäure  im  Blut. 

Nach  Feser  und  Friedberger  verbindet  sich  die  Salicyl- 
säure im  Blut  mit  albuminösen  Stoffen  und  sie  haben  durch 
Experimente  mit  Eiweiss  oder  Serum  oder  Blut  selbst,  welchem 
Salicylsäure  zugesetzt  worden  war,  constatirt,  dass  es  unmöglich 
ist , die  letztere  auszuscheiden , wenn  das  Ganze  mit  Aether 
durchgeschüttelt  wird.  Daraus  schliessen  sie,  dass  das  Hinder- 


niss,  welches  dieser  Ausscheidung  entgegen  steht,  in  der  Ver- 
bindung liegt,  welche  sich  zwischen  der  Salicylsäure  und  den 
albuminösen  Stoffen  gebildet  hat. 

Mir  scheint  die  Meinung,  welche  Binz  über  diesen  Punkt 
äussert,  rationeller  zu  sein.  Nach  ihm  enthält  das  Blut  Salicyl- 
säure und  kein  salicylsaures  Natron ; letzteres  ist  der  fortwäh- 
renden Einwirkung  von  Kohlensäure  unterworfen,  welche  Salicyl- 
säure frei  macht. 

Fleischer  hat  die  Exactheit  dieser  Beobachtung  bestätigt; 
wollte  man  die  Salicylsäure  durch  einfaches  Schütteln  mit 
Aether  aus  dem  Blut  ausscheiden,  so  müsste  das  salicylsäure 
Natron  in  Aether  löslich  sein;  dies  ist  aber  nicht  der  Fall  und 
die  Salicylsäure  kann  nur  herausgezogen  werden,  wenn  das 
alkalische  Natron  vorher  durch  einen  Strom  Kohlensäure  oder 
durch  den  Zusatz  einer  anderen  Säure  zersetzt  wird. 

Friedberger  und  Zimmermann  glauben,  dass  die  Ver- 
bindung der  Säure  mit  den  Natronsalzen  des  thierischen  Blutes 
die  Wirkung  der  Säure  abzuschwächen  vermag.  Köhler  be- 
obachtete keinen  Unterschied  in  der  Wirkung,  gleichviel  ob  er 
Salicylsäure  oder  Salicylat  in  die  Adern  eines  Kaninchens  ein- 
spritzte. Wenn  man  dagegen  salicylsaures  Natron  in  den  Magen 
bringt,  so  ist  seine  Wirkung  weniger  energisch  als  die  der 
Salicylsäure.  Das  Salz  soll  besonders  Antipyreticum,  die  reine 
Säure  Antisepticum  sein;  in  Wirklichkeit  differiren  die  beiden 
Substanzen  aber  nur  in  Bezug  auf  den  letzten  Punkt:  die  Säure 
allein  ist  im  Besitz  antiseptischer  Eigenschaften. 

Soviel  über  die  physiologischen  Wirkungen  der  Salicyl- 
präparate. 


Klinische  Beobachtungen. 

I.  Behandlung  septischer  Krankheiten. 

Die  Untersuchungen  von  Kolbe  und  Thier  sch 
haben  bewiesen,  dass  die  Salicylsäure  in  ihrer  äusseren 
Anwendung  als  Antisepticum  bezeichnet  werden  kann, 


obgleich  sie  in  dieser  Beziehung,  ihre  Geruchlosigkeit 
(und  Nichtflüchtigkeit,  D.  Uebers.)  ausgenommen,  keine 
bedeutenden  Vorzüge  vor  der  Carbolsäure,  der  Thymian- 
säure und  Benzoesäure  (Salkowski)  besitzen  soll.  Ent- 
wickelt sie  diese  antiseptischen  Eigenschaften  auch  septi- 
cämischen,  miasmatischen,  ansteckenden,  eiterigen,  von 
Fermenten  oder  Bacterien  hergeleiteten  Krankheiten 
gegenüber  ? Es  sind  in  dieser  Richtung  zahlreiche  Ver- 
suche unternommen  worden. 

Septieämie.  — Fürbringer  hat  durch  Einspritzen  gesun- 
den oder  mit  einer  Chlor-Natriumlösung  verdünnten  Eiters  unter 
die  Haut  von  Hunden  und  Kaninchen  eine  künstliche  Septieämie 
hervorzubringen  versucht.  Nach  genügender  Entwicklung  des  sep- 
ticämischen  Fiebers  liess  er  die  Thiere  Salicylsäure  einnehmen, 
ohne  Resultate  damit  zu  erzielen.  Die  verabreichten  Dosen  waren 
allerdings  entschieden  viel  zu  schwach. 

Die  von  Feser  und  Friedberger  künstlich  hervorgerufene 
eiterige  Infection,  die  mit  stärkeren  Dosen  Salicylsäure  behandelt 
wurde,  erfuhr  keine  Modification. 

Als  inneres  Mittel  scheinen  die  Salicylpräparate  bei  diesen 
schweren  Krankheiten,  welche  sich  häufig  in  Folge  von  Trauma- 
tismus, chirurgischen  Operationen  oder  Puerperalzuständen  ent- 
wickeln, keine  Wirkung  hervorzubringen.  Ob  sie  an  Stelle  der  Car- 
bolsäure in  der  ListeFschen  Wundbehandlung,  bei  der  Wundbehand- 
lung im  Allgemeinen  oder  bei  krankhaften  puerperalen  Zuständen 
irgend  welche  Vortheile  darbieten,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden. 

DiphtEeritis.  — Die  Diphtheritis  ist  eine  im  höchsten  Grade 
ansteckende  Krankheit,  deren  Gift  noch  unbekannt  ist,  in  welcher 
man  aber  der  Thätigkeit  gewisser,  sich  auf  den  Schleimhäuten  des 
Pharynx  aufhaltenden  Parasiten  eine  bedeutende  Rolle  zuschreibt. 
Unter  dieser  Fahne  musste  sie  die  Vorkämpfer  der  Salicylsäure 
natürlich  zu  Experimenten  reizen  und  die  Versuche  sind  in  der 
That  gerade  bei  dieser  verhängvissvollen  Krankheit  mit  dem  grössten 
Vertrauen  auf  glänzende  Erfolge  unternommen  worden. 

Wagner  behauptet,  15  Diphtheritisfälle  mit  bestem  Erfolge 


mit  zweistündlich  0,10  Gramm  Salicylsäure,  die  er  sowohl  inner- 
lich, wie  als  Gurgelwasser  verordnete,  behandelt  zu  haben.  Jeden- 
falls sind  dabei  in  der  Diagnose  einige  Irrthümer  zu  verzeichnen 
und  die  einfache  Bräune  figurirt  unter  dem  Namen  Diphtheritis, 
ohne  es  in  der  That  zu  sein.  Wenn  die  Respiration  wirklich 
croupartig  wird  und  die  Krankheit  den  Larynx  ergreift,  ist  auch 
von  der  Salicylsäure  nichts  mehr  zu  hoffen  und  man  kann  sie  daher 
auch  nicht  für  ein  eigentliches  Diphtherjtismittel  ausgeben.  Stei- 
nitz  hat  34  an  Scarlatina  mit  diphtheritisartiger  Bräune  erkrankten 
Kindern  mit  Erfolg  Salicylsäure  verabreicht;  ich  kann  darin  nichts 
Wunderbares  finden,  da  diese  bei  Scarlatina  auftretende  Bräune 
beinahe  immer  schon  von  selbst  heilt. 

Derselbe  Autor  behauptet,  von  n wirklichen  Diphtheritis- 
fällen  9 geheilt  zu  haben. 

Schultze  hat  bei  10  Diphtheritisfällen,  welche  er  mit  localer 
Anwendung  pulverförmiger  Salicylsäure  behandelte,  nur  2 Todes- 
fälle zu  beklagen  gehabt.  Ruch,  Weber,  Tenholt  und  Stuart 
haben  ebenfalls  mit  Hülfe  dieses  Mittels  Erfolge  erreicht. 

In  den  meisten  dieser  Beobachtungen  scheint  die  Phantasie 
jedoch  keine  ganz  untergeordnete  Rolle  gespielt  zu  haben,  sie  sind 
unvollständig  und  lassen  sich  vom  diagnostischen  Standpunkte  aus 
nicht  genau  controlliren.  Bei  einem  wirklichen  Diphtheritisanfall, 
welchen  ich  im  Hospital  bei  einer  jungen  Frau  zu  behandeln  hatte, 
verschwanden  die  falschen  Membranen  sehr  rasch  und  kamen  auch 
nicht  wieder  zum  Vorschein.  Ich  hatte  Salicylsäure  als  Gurgel- 
wasser verschrieben,  Injectionen  in  den  Hals  verordnet  und  liess 
dabei  innerlich  salicylsaures  Natron  brauchen;  in  diesem  Fall  schien 
es  mir,  als  ob  die  locale  antiseptische  Wirkung  des  Medicamentes 
bei  der  Heilung  eine  Rolle  spiele;  die  Nützlichkeit  der  Salicyl- 
präparate  als  inneres  Mittel  bei  der  Behandlung  von  Diphtheritis 
ist  mir  indessen  noch  immer  zweifelhaft. ') 


*)  Unzweifelhaft  spielt  die  locale  Wirkung  der  Salicylsäure  bei  Diph- 
therie, Croup,  Bräune  eine  höchst  beachtenswerthe  Rolle;  jedoch  berichtet 
u,  A.  auch  neuerdings  Dr.  Laudon  in  Elbing  (Berl.  klin.  Wochenschr.  1878. 
No.  6)  von  einem  schweren  mit  maligner  Angina  (Diphtheritis)  complicirten 
Fall,  wo  Salicylsäure  auch  intern  gegeben  einen  entscheidenden  Erfolg 
erwies.  v.  H. 


28 


Herr  Mo i zart  äussert  sich  in  seiner  These  in  ähnlicher 
Weise  im  Namen  meines  Freundes  und  Collegen  Bergeron, 
welcher  bei  seinen  Beobachtungen  im  Hospital  St.  Eugenie  den 
Nutzen  localer  Anwendung  förmlich  constatirt,  in  Bezug  auf 
den  inneren  Gebrauch  des  Mittels  bei  dieser  schweren  Krankheit 
jedoch  seine  Zweifel  nicht  unterdrücken  kann. 

Sollte  das  Medicament  bei  seiner  örtlichen  Anwendung  wirk- 
lich die  Kraft  besitzen,  die  locale  Entwicklung  jener  Parasiten, 
welche  die  Ursache  der  Diphtheritis  sind,  zu  zerstören  und  aufzu- 
halten, so  würde  dei  IMedicin  schon  allein  damit  ein  grosser 
Dienst  erwiesen.  Indessen  sind  die  Versuche  nach  dieser  Richtung 
hin  auch  noch  nicht  in  endgültiger  Weise  zur  Entscheidung  gelangt. 

Mucor.  — Bezüglich  des  Mucor  kann  ich,  trotz  der  Be- 
hauptungen Berthold’s,  welcher  8 Kranke,  von  denen  3 sehr 
schwer  leidend  waren,  rasch  geheilt  haben  will,  nur  meine  früheren 
Ansichten  wiederholen. 

Ich  wende  mich  jetzt  zu  den  neuen,  bei  zymotischen  und 
eiterigen  Affectionen  angewendeten  Behandlungsmethoden: 

Lungenentzündung.  — Berthold  verschrieb  bei  einer 
Lungenentzündung  5 Gramm  Salicylsäure  und  stellte  den  Kranken 
wieder  her.  Dagegen  scheiterte  die  gleiche  Behandlung  in  einem 
ähnlichen  Fall  vollständig,  obgleich  der  üble  Geruch  des  Auswurfes 
allerdings  zu  verschwinden  schien. 

Diabetes.  — Man  nahm  auch  Veranlassung,  die  Salicylsäure 
bei  der  Zuckerkrankheit,  deren  Ursache  gewisse  Aerzte  der  Ent- 
wicklung eines  speciellen  Fermentes  zuschreiben,  in  Anwendung  zu 
bringen  und  Ebstein  und  Müller  experimentirten  in  der  That 
im  Jahre  1875  in  dieser  Richtung,  jedoch  ohne  Erfolg.  Später  be- 
handelte Dr.  Ebstein  in  Göttingen  zwei  schwere  Diabetesfälle,  von 
denen  der  eine  alt,  der  andere  von  kürzerem  Datum  war,  mit  salicyl- 
saurem  Natron.  In  dem  einen  Fall  verschwand  der  Zucker  nach 
elf  Tagen  aus  dem  Urin  und  in  dem  anderen  producirte  der  Kranke 
nach  23  Tagen  der  Behandlung  nur  880  Gramm  Urin,  in  welchem 
die  Glucose-Quantität  nur  noch  im  Verhältniss  von  13  zu  1000  Gramm 
vorzufinden  war.  — Spillmann  und  Kien  berichten  ebenfalls 
Günstiges  über  die  neue  Behandlungsmethode  und  der  Erstere  con- 
statirt bei  einem  veralteten,  der  Letztere  bei  zwei  Diabetesfallen, 


29 


von  denen  der  eine  von  kürzerem  Datum,  der  andere  chronisch  war, 
bemerkenswerthe  Besserung.— Dagegen  hat  Herrenschmidt  seiner- 
seits zwei  Diabeteskranken  täglich  sechs  Wochen  lang  drei  Gramm 
Salicylsäure  verordnet,  ohne  mehr  als  mit  den  gewöhnlichen  bei 
Glycosurie  angewendeten  Mitteln  auszurichten.  Man  kann  daraus 
wohl  den  Schluss  ziehen,  dass  das  Medicament,  mit  welchem  wir 
uns  beschäftigen,  nicht  eigentlich  als  Specificum  gegen  Diabetes  an- 
zusehen ist  und  dass  dasjenige,  welches  wirklich  im  Stande  sein  wird 
diese  Krankheit  radical  zu  heilen,  wohl  noch  aufgefunden  werden  soll. 

• 

H.  Anwendung  des  salicylsauren  Natrons  als 

Antipyreticum  bei  specifiscbem  Fieber 
und  bei  Entzündungen. 

Die  antiseptischen  Eigenschaften,  welche  die  Salicyl- 
säure als  äusserlich  angewendetes  Desinfectionsmittel 
entschieden  besitzt,  während  ihre  Kraft  als  innerlich 
wirkendes  Antipyreticum  noch  immer  nicht  voll  bewiesen 
ist,  mussten  natürlich  den  weiteren  Gebrauch  des  Medi- 
camentes  bei  Krankheiten  veranlassen,  in  welchen  das 
Fieberelement  mit  dem  specifischen  Charakter  auftritt. 
Man  experimentirte  also,  jedoch  ohne  Erfolg,  zuerst  bei 
eitrigen  Infectionen,  dann  bei  Ausschlagsfiebern  und 
schliesslich  beim  typhösen  Fieber.  Die  Anwendung  der 
Salicylpräparate  erschien  in  diesen  Krankheiten  um  so 
mehr  geboten,  als  man  ihnen  ausser  der  Fähigkeit  die 
Entwicklung  von  Fermenten  auf  halten  zu  können,  auch 
noch  antipyretische  Eigenschaften  zuschrieb. 

Fieber  im  Allgemeinen.  — Buss  in  St.  Gallen,  einer  der 
eifrigsten  Verfechter  der  Salicylmedicamente,  rühmte  ihre  Wirkung 
als  Antipyretica  und  erkannte  ihnen  nicht  allein  die  Kraft  zu,  die 
Körpertemperatur  herabzubringen,  sondern  auch  die  Fähigkeit,  einen 
ruhigeren  Pulsschlag  der  Fieberkranken  zu  veranlassen , vorausge- 


30 


setzt,  dass  die  verabreichte  Quantität  noch  einmal  so  gross  als  die 
in  solchen  Fällen  verordnete  übliche  Menge  Chinin  sei. 

Jahn  bestätigt  es,  dass  die  Salicylsäure  in  der  täglichen  Dosis 
von  4' bis  6 Gramm  ein  vortreffliches  Antipyreticum  bildet,  welches 
im  Stande  ist,  die  Temperatur  um  i,8  bis  3,6  Grad  F.  und  den 
Puls  um  10,  zuweilen  20  Pulsschläge  zu  ermässigen. 

Bei  12  Fällen  von  fieberhaften  Affectionen  will  Nathan  eine 
sehr  bedeutende  Temperaturabnahme,  in  einem  dieser  Fälle  eine 
Ermässigung  des  Pulses  um  60  Pulsschläge  bemerkt  haben.  Der- 
selbe Autor  zieht  das  salicylsaure  Natron  dem  Chinin,  Veratrin  und 
der  Digitalis  bei  weitem  vor. 

Miers  erklärt,  dass  er  oft  schon  eine  oder  zwei  Stunden  nach 
dem  Einnehmen  der  Salicylsäure  eine  Temperaturabnahme  von  2, 
3 und  selbst  6 Centigraden  beobachtet  habe.  Goldammer,  Beiz, 
Brand  und  besonders  Buss  sprechen  sich  in  demselben  Sinne  aus. 
Dagegen  will  Wolfsberg  in  Professor  Ziemssen’s  Klinik  in 
München  bei  der  Behandlung  von  anhaltendem,  sowie  bei  remitti- 
rendem  Wechselfieber  nur  vorübergehende,  unbedeutende  oder  gar 
keine  Erfolge  erreicht  haben.  - — Zimmermann  in  Greifswald  und 
Martelli  verzeichnen  dieselben  Resultate.  — Um  diese  wider- 
sprechenden Behauptungen  besser  beurtheilen  zu  können,  müsste 
man  die  Details  der  Beobachtungen  und  den  Charakter  der  Fieber, 
um  welche  es  sich  hier  handelt,  näher  betrachten  können. 

Aussehlagsfleber.  — Da  man  die  Salicylsäure  a priori  als 
inneres  Antiseplicum  und  Antipyreticum  ansah,  so  versuchte  man 
ihre  Wirkung  auch  bei  Ausschlagsfiebern  und  besonders  bei  Vario- 
liden  oder  Pocken.  — Schwimmer  verordnete  sie  bei  75  Pocken- 
fällen und  erreichte  nur  55  Heilungen.  Solche  Resultate  sind  nicht 
sehr  ermuthigend  und  geben  uns  noch  nicht  das  Recht,  die  Sälicyl- 
säure  bei  Ausschlagskrankheiten  als  Specificum  zu  betrachten. 

W eehselfleber.  — Aus  denselben  Gründen  versuchte  man 
bei  Wechselfieber  das  Miasma  zu  neutralisiren  und  die  dieser  Krank- 
heit eigenthümliche  Wiederkehr  des  Fiebers  zu  verhindern.  Senator, 
Fischer,  Rosenstein  (Leyden)  und  Hiller  experimentirten  in 
dieser  Richtung  mit  Salicylsäure,  erreichten  jedoch  sehr  verschieden- 
artige und  nicht  unanfechtbare  Resultate.  Wenn  das  Fieber  auch 


für  ein  oder  zwei  Tage  verschwand,  so  kehrte  es  doch  wieder  zurück 
und  wich  in  vielen  Fällen  dem  Einfluss  des  Chinin-Sulfats. 

Ich  gebe  hier  drei  Beobachtungen,  welche  die  Wirkungslosig- 
keit der  Salicylsäure  und  des  salicylsauren  Natrons  beim  Wechsel- 
fieber zu  beweisen  scheinen. 

Im  ersten  Fall  handelt  es  sich  um  ein  tägliches  Wechselfieber, 
welches  sich  der  Betreffende  vor  zwei  Jahren  in  der  Sologne  zuge- 
zogen hatte.  Das  Chinin -Sulfat  vermochte  die  Anfälle  nicht  in 
definitiver  Weise  zu  beseitigen  und  auch  io  Gramm  salicylsaures 
Natron  modificirten  dieselben  in  keiner  Weise. 

Der  zweite  Fall  bezieht  sich  auf  einen  Mechaniker,  der  drei 
Jahre  in  Rumänien  gelebt  und  dort  das  dreitägige  Fieber  bekom- 
men hatte.  Der  Kranke  war  seit  einem  Jahr  nach  Frankreich  zu- 
rückgekehrt und  war  weder  durch  Chinin  noch  durch  salicylsaures 
Natron  vollständig  zu  heilen. 

Dasselbe  fand  bei  einem  dreitägigen,  von  einem  Aufenthalt  in 
der  Sologne  herrührenden  Fieber  statt. 

Gegenüber  diesen  Misserfolgen  und  um  mir  von  der  Wirkung 
der  Salicylsäure  genaue  Rechenschaft  ablegen  zu  können,  versuchte 
ich  das  Medicament  mit  Chinin  in  Verbindung  zu  bringen.  Das 
salicylsäure  Chinin,  welches  sowohl  Herr  Hebert,  Ober- Apotheker 
am  Hotel-Dieu,  als  mein  Pharmaceut  Herr  Val mont  darstellen,  ist 
ein  sehr  beständiges  Salz,  welches  sich  im  Wasser  schwer,  in 
Alkohol  dagegen  leichter  löst.  Ich  liess  0,40  Gramm  in  Pillen  oder 
Pulvern  einnehmen  und  vom  ersten  Tage  ab  verschwanden 
die  Anfälle  sofort! 

Mithin  genügten  da,  wo  sich  sehr  bedeutende  Dosen 
Chinin  als  erfolglos  bewährt  hatten,  30  Centigramm  sali- 
cylsaures Chinin,  um  die  Anfälle  vollkommen  zu  be- 
seitigen. Ich  beobachtete  dieVorsicht,  das  Medicament 
noch  vierzehn  Tage  fortgesetzt  brauchen  zu  lassen  und 
das  Fieber  zeigte  sich  nicht  mehr  während  der  Zeit, 
welche  die  Kranken  noch  im  Hospital  zubrachten  (vier- 
zehn Tage). 

Indessen  kamen  mir  in  meiner  Privatpraxis  zwei  Fälle  von 
Wechselfieber  vor,  von  denen  sich  der  eine  als  Sumpffieber  mit  un- 


32 


regelmässigen  Anfällen,  der  andere  als  Symptomfi'eber  mit  Broncho- 
Lobular-Pneumonie  erwies.  Tn  diesen  beiden  Fällen  war  auch  die 
Anwendung  des  salicylsauren  Chinins  in  vorerwähnter  Dosirung  von 
keinem  Erfolge  begleitet  und  ich  konnte  erst  durch  Erhöhung  der 
Dosis  auf  90  Centigramm  eine  heilende  Wirkung  erreichen. 

Senator  war  in  mehreren  Fällen  von  Wechselfieber  nicht 
glücklicher,  dagegen  behauptet  Brown  (Edinburger  medic.  Journal, 
Nov.  1876)  mit  der  Dosis  von  60  Centigramm  bis  2,40  Gramm 
nach  Verlauf  einer  Stunde  eine  beträchtliche  Temperatur-Abnahme 
(bis  zu  5 Grad  F.),  sowie  eine  Ermässigung  des  Pulsschlages  herbei- 
geführt zu  haben. 

Das  salicylsaure  Chinin  würde  vor  dem  salicylsauren 
Natron  den  Vortheil  darbieten,  dass  es  keinen  Schweiss  provocirt 
und  dem  Chinin  insofern  vorzu ziehen  sein,  als  es  weder  Ohren- 
sausen noch  Schwerhörigkeit  wie  das  blosse  Chinin  verursacht. 
Wenn  ich  annehme,  dass  die  Zusammensetzung  des  salicylsauren 
Chinins  überall  mit  dem  von  mir  angewendeten  Medicament  iden- 
tisch ist,  so  verschreibt  man  in  der  Dosis  von  2,40  Gramm  salicyl- 
saurem  Chinin  in  der  That  1,60  Gramm  Chinin. 

Typhöses  Fieber.  — Gerade  beim  typhösen  Fieber  ist  das 
neue  Heilmittel  in  seiner  doppelten  Eigenschaft  als  Antisepticum 
und  Antipyreticum  am  meisten  gerühmt  worden.  Buss  hat  mit 

2 Gramm  Chinin  und  4 bis  8 Gramm  salicylsaurem  Natron  ver- 
gleichende Versuche  angestellt  und  die  dabei  erreichten  Resultate 
sprechen  alle  zu  Gunsten  des  letzteren  Mittels.  Die  Behandlung 
war  übrigens  complicirt  und  die  Temperatur- Abnahmen  von  2 bis 

3 Grad  müssen  zum  grossen  Theil  auch  der  Wirkung  der  Bäder 
zugeschrieben  werden. 

Riess  verschrieb  während  der  Typhus-Epidemie  in  Berlin  im 
Jahre  1875  260  Typhuskranken  salicylsaures  Natron  und  obgleich 
die  Sterblichkeit  damals  die  Höhe  von  24  Procent  erreichte,  fand 
doch  in  allen  Fällen  eine  Temperaturabnahme  von  1,  2 bis  3 Grad 
statt.  Gewöhnlich  jedoch  war  die  Abkühlung  der  Temperatur  nur 
von  der  Dauer  etlicher  Stunden,  sehr  gutartige  Fälle  natürlich 
ausgenommen.  Bei  diesen  letzteren  dauerte  sie  oft  ein  bis  zwei 
Tage,  jedoch  immer  erst  am  Ende  der  zweiten  Woche. 


33 


Die  Salicylpräparate  hatten  also  auf  die  Dauer  der  Krankheit 
keinen  Einfluss  und  vermochten  auch  nicht  auf  das  Endresultat  der- 
selben in  günstigerer  Weise  einzuwirken. 

ln  der  Klinik  in  Rostock  beobachtete  Moeli  ebenfalls  eine 
nicht  geringere  Sterblichkeit:  5 Todte  auf  34,  während  bei  der  Be- 
handlung.mit  Chinin-Sulfat  und  lauen  Bädern  nur  4 von  85  Fällen 
einen  tödtlichen  Verlauf  nahmen. 

In  der  Frer  i chs’ sehen  Klinik  in  Berlin  constatirte  Ewald 
bei  100  nach  dieser  Methode  behandelten  Kranken  80  Mal  eine 
leichte  Abkühlung  der  Temperatur.  Die  Abendtemperatur  überstieg 
nicht  die  des  Morgens , aber  die  Sterblichkeit  war  trotzdem  noch 
beträchtlich.  Sowohl  Moeli  als  Ewald  beobachteten  starken 
Schweiss,  den  sie  mit  Recht  als  unabhängig  von  dem  Sinken  der 
Temperatur  betrachteten,  welches  dem  Ersteren  oft  vorausgeht.  Die 
Temperaturabnahme  ist  auch  vom  Puls  unabhängig,  der  meistens 
sehr  rasch  schlägt;  die  Verbrennung  ist  mit  einem  Wort  geringer, 
der  Schweiss  stärker  und  im  Uebrigen  nehmen  alle  anderen  Vor- 
gänge ungestört  ihren  guten  oder  schlechten  Verlauf.  Damit  ziehe 
ich  die  Bilanz  dieser  Behandlungsmethode. 

Wunderlich’s  Klinik  liefert  Beiz  nur  transitorische  Re- 
sultate, die  Münchener  Klinik  veranlasste  Wolfsberg  zu  keinen 
günstigen  Schlüssen  und  die  im  Ffeidelberger  Flospital  gemachten 
Beobachtungen  haben  auch  keine  entscheidenden  Resultate  ergeben. 

In  England  hat  man  ähnliche  Erfahrungen  gemacht. 

Tn  Frankreich  haben  die  Herren  Gueneau  de  Mussy, 
Herard,  Jaccoud  und  O u 1 m o n t kürzlich  Versuche  unternommen, 
aus  welchen  hervorzugehen  scheint,  dass  die  Temperaturabnahme 
nur  eine  vorübergehende  ist. 

Bei  meinen  Beobachtungen,  welche  sich  auf  12  Fälle  be- 
schränken, habe  ich  niemals  eine  wirkliche,  dauerhafte  Fieberab- 
nahme, sondern  nur  temporäres,  einige  Zehntel  Grad  betragendes 
Sinken  der  Temperatur  bemerkt.  Nur  bei  zwei  Typhuskranken  habe 
ich  eine  wirkliche  Abkühlung  wahrgenommen;  der  Thermometer 
sank  auf  39  bis  37  Grad,  zu  gleicher  Zeit  entwickelte  sich  aber 
ein  Delirium,  welches  erst  nach  der  Unterdrückung  des  Medicamentes 
sein  Ende  erreichte.  Sofort  nach  dem  Aussetzen  des  Mittels  stieg 
die  Hitze  wieder  bis  beinahe  40  Grad.  Es  hat  aber  keinen  Sinn, 
v.  Heyden,  Studien  über  die  Salicylsänre,  3 


34 


wenn  man  eine  zweifelhafte  Temperatur-Ermässigung  um  den  Preis 
von  Zufällen  dieser  Art  erkaufen  wollte. 

Die  Schlüsse,  welche  ich  aus  meinen  experimentellen  und 
klinischen  Untersuchungen  ziehen  kann,  sind  dem  Medicament  in 
Bezug  auf  Krankheiten  dieser  Art  nicht  günstig  und  ich  vermag 
die  Salicylsäure  allein  nicht  als  eigentliches  Antipyreticum 
anzusehen. 

Phlegmasie,  Pneumonie,  Erysipelas,  Phthisis.  — 

Das  oben  Gesagte  findet  auch  auf  fieberhafte  Phlegmasien,  Symptom- 
fieber und  specifische  Pyrexie  seine  Anwendung.  Keine  Thatsache 
spricht  bis  jetzt  Bei  der  Behandlung  von  Pneumonie,  Erysipelas  oder 
Tuberculose  zu  Gunsten  der  Salicylsäure.  Eine  einzige  Art  der 
Phlegmasie  ist  diesem  Gesetz  nicht  unterworfen,  nämlich  der 
acute,  fieberhafte  Rheumatismus  und  wir  werden  sofort 
sehen,  in  welcher  Weise  dieser  Ausnahmefall  zu  interpretiren  ist. 


Anwendung  der  Salicylsäure  bei  rheuma- 
tischen Affectionen,  Gelenkrheumatismen, 
acuten,  fieberhaften  und  fieberlosen 
Rheumatismen. 


Es  war  natürlich,  dass  man  bei  einer  Krankheit,  in 
welcher  das  Fieber  in  den  meisten  Fällen  eine  'hervor- 
ragende Rolle  spielt,  ein  Heilmittel  versuchte,  welches 
als  energisches  Antipyreticum  galt  und  aus  diesem  Grunde 
wendete  man  sich  zur  Salicylsäure. 

Buss  verschrieb  zuerst,  nachdem  er  allerhand  Ver- 
suche angestellt,  einigen  Rheumatismuskranken  15  bis 
20  Gramm  salicylsaures  Natron;  die  Resultate  waren 
zufriedenstellend,  es  traten  jedoch  Nebenerscheinungen 
auf,  die  von  der  entschieden  übertriebenen  Dosis  her- 
rührten. 

Erst  Stricker1)  brachte  die  wahren  Eigenschaften 
der  Salicylsäure  zu  unserer  Kenntniss.  Er  behandelte 
14  an  acutem  Gelenkrheumatismus  Erkrankte  zweistünd- 
lich mit  Dosen  von  50  Centigramm  bis  1 Gramm  und 
heilte  Alle.  Der  Schmerz  hörte  auf  und  die  Temperatur 
sank  in  weniger  als  48  Stunden.  Nach  Stricker  ist  also 


J)  Berlin,  klin.  Wochenschrift  1876. 
Ztschr.  1877. 


Deutsch,  milit.  - ärztl. 
3* 


36 


die  Salicylsäure  das  wahre  Specificum  für  Rheuma- 
tismus, d.  h.  dasjenige  Mittel,  welches  sich  am  besten 
dazu  eignet,  eine  bisher  unbekannte  specielle  Schädlich- 
keit im  Blut  der  Rheumatismuskranken  zu  bekämpfen. 
Stricker  glaubte  mit  der  Salicylsäure  den  Rheumatismus 
direct  anzugreifen;  er  bekämpfte  mit  ihr  in  Wirklichkeit 
den  Schmerz  und  die  Geschwulst  der  Gelenke. 

Riess  behandelte  27  Kranke  in  derselben  Weise 
sobald  die  Temperatur  über  39  Grad  stieg;  er  hatte 
dabei  eben  nur  das  Fieber  im  Auge.  Sehr  oft  indessen 
traf  die  Fieberabnahme  nicht  mit  dem  Verschwinden  der 
localen  Erscheinungen  zusammen  und  die  letzteren  ver- 
schwanden oft  lange  vor  dem  Fall  der  Temperatur. 

Leonardi  Aster  beobachtete  39  Fälle,  bei  denen 
Heilung  erfolgte  und  verzeichnete  nur  einen  einzigen 
Misserfolg. 

Man  braucht  nur  die  Beobachtungen  von  Beiz, 
Steinitz,  Teuffel,  Hildebrand,  Putnan  und  Sie- 
weking  anzuführen,  um  dort  dieselben  Schlüsse  wieder- 
zufinden. Englische  und  amerikanische  Journale  bringen 
in  reichem  Masse  die  charakteristischsten  Thatsachen; 
To  wie,  Hodghem,  Warren  und  Brown  berichten 
von  100  Fällen,  in  welchen  Heilung  eintrat  und  Moore 
betrachtet  die  Salicylsäure  als  Specificum. 

In  Frankreich  hat  man  bisher  erst  wenige  Beob- 
achtungen über  die  Wirksamkeit  der  Salicyl  - Medi- 
camente  bei  acutem  Gelenkrheumatismus  gesammelt. 
Dessen  ungeachtet  haben  mehrere  Collegen,  die  Herren 
Laboulb^ne,  Hdrard,  Oulmont,  Guüneau  de 
Mussy,  Chauffard  Versuche  gemacht,  welche  in  pe- 
riodischen Sammlungen  oder  als  besondere  Mittheilungen 


37 


veröffentlicht  worden  sind.  Die  Vorträge  der  Herren 
Brouardel-Lasögne  und  Hardy  sprechen  sich  über 
diese  Behandlungsweise  sehr  günstig  aus,  während  sich  in 
der  Sociöte  des  hospitaux  zwischen  den  Herren  Löpine, 
Dujardin-Beaumetz  einerseits  und  Ernest  B esnier 
und  Dumontpallier  andrerseits  lebhafte  Debatten  er- 
hoben haben.  Die  ersteren  stimmen  für  die  Salicyl- 
Behandlung,  während  Herr  Besnier  zweifelt  und  Herr 
Dumontpallier,  allerdings  ohne  experimentirt  zu  haben, 
leugnet. 

Ich  beabsichtige  alle  im  Hospital  zu  Paris  und  in 
meiner  Privatpraxis  beobachteten  Thatsachen  hier  zur 
Kenntniss  zu  bringen. 

Die  Gesammtsumme  beträgt  52  Gelenkrheumatismus- 
Beobachtungen,  von  denen  19  fieberhaft  und  33  fieberlos 
waren.  Im  Hospital  wurden  davon  44  Fälle  beobachtet 
und  sowohl  vom  _Chef  der  Klinik  als  unter  meiner  Lei- 
tung von  meinen  Schülern  mit  der  grössten  Aufmerksam- 
keit verfolgt.  Einige  dieser  Kranken  wurden  täglich  mit 
6 Gramm  Salicylsäure  behandelt;  die  Mehrzahl  erhielt 
salicylsaures  Natron  in  der  Dosis  von  10  Gramm,  in 
200  Gramm  Wasser  gelöst  und  so  auf  24  Stunden  ver- 
theilt, dass  die  Gabe  5 Mal  erfolgte.  Da  das  Medi- 
cament  innerhalb  48  Stunden  zum  grössten  Theil  wieder 
ausgeschieden  wird,  so  ist  es  sehr  wichtig,  mit  dem  Ge- 
brauch desselben  noch  10 — 12  Tage  nach  der  Heilung 
fortzufahren;  ohne  Beobachtung  dieser  Vorsichtsmassregel 
sind  Rückfälle  ganz  unvermeidlich.  Unter  den  19  an 
fieberhaftem  Rheumatismus  Erkrankten  hatten  12  bereits 
die  zweiten,  dritten  und  vierten  Anfälle  und  fast  Alle 
litten  schon  an  Störungen  der  Herzfunctionen.  Bei  diesen 


- 3«  - 

1 2 Kranken  hatten  die  früheren  Anfälle  immer  3 Wochen 
bis  3 Monate  gedauert. 

Dagegen  dauerte  der  Anfall  bei  der  Behandlung 
mit  dem  Salicylat  nie  länger  als  drei  Tage  und  es  fand 
dabei  keine  Ausnahme  statt.  Die  Resultate  blieben  auch 
stets  dieselben,  gleichviel  ob  die  Krankheit  von  2,  4, 
8,  14  Tagen  datirte  und  nach  2 — 3 Tagen  war  sie  in 
jedem  Fall  gehoben.  • 

Das  Alter  der  Kranken  ist  nur  in  Bezug  auf  die 
Dosirung  des  Medicamentes  von  Bedeutung.  Zwei  Kin- 
dern von  8 und  12  Jahren  verschrieb  ich  täglich  2 bis 
3 Gramm  Salicylat  und  hatte  damit  nach  2 Tagen  den 
erwünschten  Erfolg.  Die  Ausbreitung  des  Rheumatismus 
auf  verschiedene  Theile  des  Körpers  bietet  der  Heilung 
kein  Hinderniss  dar;  der  einzige  Misserfolg,  welchen  ich 
zu  verzeichnen  habe , bezieht  sich  gerade  auf  einen 
Rheumatismus,  der  mono-articulär  geworden  war  und, 
nachdem  er  zuerst  in  den  vier  Gelenken  zum  Vorschein 
gekommen,  sich  im  Handgelenk  localisirt  hatte. 

Im  Allgemeinen  macht  man  folgende  Be- 
obachtungen: 

1)  Die  Schmerzen  hören  oft  schon  nach  12  bis 
18  Stunden  auf;  dies  ist  eine  beständige  Erscheinung. 

2)  Die  Entzündung  der  Gelenke  verliert  sich  nach 
1 bis  3 Tagen,  jedoch  niemals  früher,  als  der  Schmerz 
verschwindet.  Die  Geschwulst  nimmt  ab,  selbst  dann, 
wenn  Gelenkwassersucht  vorliegt;  natürlich  geschieht  dies 
schneller,  wenn  die  Anschwellung  die  periarticulären  Ge- 
webe noch  nicht  erreicht  hat. 

3)  Die  Bewegungen  werden  vom  dritten  Tage  an 
leicht  und  frei;  ich  habe  Kranke  gesehen,  deren  untere 


39 


Gliedmassen  vollständig  von  der  Krankheit  ergriffen 
waren  und  die  doch  nach  2 bis  3 Tagen  aufstehen 
konnten. 

4)  Das  Fieber,  welches  sich  in  einigen  Fällen  bis 
zu  einem  sehr  hohen  Grade  gesteigert  hatte,  wich  nie- 
mals vor  dem  vollständigen  Verschwinden  der  Schmerzen. 

Dies  beweist  nochmals,  dass  das  sogenannte  rheu- 
matische Fieber  keinen  wesentlichen  Fiebercharakter  be- 
sitzt und  dass  es  nur  die  Wirkung,  nicht  aber  die  Ur- 
sache des  rheumatischen  Zustandes  ist.  Wenn  das  Fieber 
auch  dann  noch  anhält,  wenn  die  Geschwulst  des  Ge- 
lenkes bereits  nachgelassen  hat,  so  ist  dies  ein  Zeichen, 
dass  sich  in  einem  anderen  Gelenk  eine  neue  Entzün- 
dung vorbereitet  und  in  solchem  Falle  ist  es  sehr  wichtig, 
dass  der  Gebrauch  des  Medicamentes  nicht  unter- 
brochen wird. 

Analyse  33  fieberloser  Fälle.  — Bei  heftigen 
oder  weniger  heftigen  fieberlosen  Rheumatismusfällen  sind 
die  Resultate  genau  ebenso  günstig,  als  bei  fieberhaftem 
Rheumatismus  und  ich  bin  sehr  erstaunt  darüber,  dass 
Stricker  die  Wirkung  des  Salicylates  bei  subacuten 
Affectionen  in  Abrede  stellt. 

Unter  den  33  Kranken,  von  denen  ungefähr  die 
Hälfte  bereits  früher  Anfälle  von  4,  6,  ja  sogar  12  Wochen 
gehabt  hatte,  befand  sich  nicht  ein  Einziger,  der  nicht 
schon  nach  2 bis  3 Tagen  geheilt  gewesen  wäre;  nach 
dem  Aufhören  der  Schmerzen  und  der  Geschwulst  der 
Gelenke  konnten  Alle  aufstehen  und  nachdem  die  Be- 
handlung 3 bis  4 Tage  gedauert  hatte,  waren  ebenso 
Alle  im  Stande  zu  gehen.  Trotz  dessen  war  die  Heilung 
nur  unter  der  Bedingung  als  vollendet  zu  betrachten, 


40 


dass  das  Medicament  noch  weitere  io  bis  14  Tage 
angewendet  wurde. 

Das  Unterlassen  dieser  Vorsichtsmassregel  führte  in 
fast  unvermeidlicher  Weise  Rückfälle  mit  sich.  Der 
Grund  datiir  ist  sehr  einfach;  das  Medicament  wird  sehr 
rasch  wieder  ausgeschieden  und  man  findet  nach  3 bis 
4 Tagen  im  Urin  nur  noch  selten  Spuren  davon;  ich 
habe  höchstens  nur  bei  2 oder  3 Ausnahmefällen  noch 
nach  5 bis  6 Tagen  Salicylsäure  im  Urin  entdeckt.  Man 
darf  also  nicht  auf  eine  verlängerte  Wirkung  des  Medi- 
camentes  rechnen. 

Rückfälle.  — Ich  musste  einige  Male  absichtlich 
die  Anwendung  des  Medicamentes  unterbrechen,  woraus 
Rückfälle  entstanden.  Sobald  ich  aber  aufs  neue  die- 
selbe Behandlungsweise  vorschrieb,  zeigte  sich  sofort 
wieder  die  am  Anfang  der  Krankheit  beobachtete  thera- 
peutische Wirkung.  Bei  4 Kranken  wiederholten  sich 
diese  Rückfälle  3 Mal,  aber  nach  1 bis  2 Tagen  fand 
jedes  Mal  wieder  die  Heilung  statt.  Daraus  lässt 
sich  schliessen,  dass  keine  Rückfälle  Vorkommen,  wenn 
das  Medicament  eine  Zeitlang  fortgesetzt  wird , dass 
sie  aber  sehr  häufig  sind,  wenn  die  Behandlung  nach 
4 bis  5 Tagen  unterbrochen  wird  und  dass  man  sie 
endlich  immer  wieder  durch  dasselbe  therapeutische 
Mittel  beherrschen  kann. 

Am  Anfang  meiner  Versuche  verlängerte  ich  den 
Aufenthalt  der  Kranken  im  Hospital,  um  den  Verlauf 
der  Krankheit  zu  beobachten.  Jetzt  lasse  ich  sie  nach 
einigen  Tagen  gehen  und  verpflichte  sie  nur  noch  zur 
Fortsetzung  des  Medicamentes.  Wir  haben  dafür  noch 
immer  keine  officielle  Erlaubniss,  obgleich  die  Abkürzung 


4> 


des  Aufenthaltes  der  Kranken  in  den  Sälen  für  die  öffent- 
liche Wohlthätigkeit  eine  bedeutende  Ersparniss  ist. 

Wirkungen  des  Salicyl-Medicaments  auf 
Complicationen.  — Am  Beginn  dieser  Versuche 
drängte  sich  mir  eine  ernste  Frage  auf:  Uebt  das 

Salicyl-Medicament  einen  günstigen  oder  un- 
günstigen Einfluss  auf  die  Entwicklung  oder 
den  Verlauf  der  Complicationen  aus,  welche 
den  Gelenkrheumatismus  so  oft  begleiten?  Die 
Blutarmuth,  die  sehr  oft  eine  Folge  des  langanhaltenden 
Rheumatismus  ist,  wollen  wir  mit  Stillschweigen  übergehen, 
da  sich  annehmen  läst,  dass  man  durch  Abkürzung  der 
Krankheit  die  schwächende,  entkräftende  Wirkung  des 
Rheumatismus  verhindert.  Ich  habe  dafür  schon  Be- 
weise erhalten  und  kann  keine  Blutarmuth  in  Folge  von 
Rheumatismus  mehr  constatiren.  Besonders  handelt  es 
sich  aber  um  Störungen  der  Herzfunctionen,  welche  den 
Rheumatismus  so  oft  begleiten.  Wenn  die  Herzklappen 
bereits  in  Folge  früherer  Anfälle  nicht  mehr  in  gehöriger 
Weise  functioniren,  so  sind  die  Salicyl-Medicamente  nicht 
im  Stande,  einen  modificirenden  Einfluss  auszuüben.  In 
einigen  Fällen,  bei  denen  einerseits  Dispnoe,  andrerseits 
Oedem  eintrat,  fürchtete  ich  fast,  dass  das  Medicament 
auf  den  Verlauf  der  Herzkrankheit  einen  schädlichen 
Einfluss  ausüben  könne.  Da  aber  auch  nach  Unter- 
drückung des  Medicamentes  dieselben  Erscheinungen 
andauerten,  so  konnte  man  dieselben  füglich  nicht  dem 
Gebrauch  des  Salicylates  zuschreiben. 

In  eine  andere  Kategorie  von  Thatsachen  gehören 
drei  Fälle,  bei  denen  sich  sofort  beim  Beginn  des  rheu- 
matischen Anfalles  Endocarditis  entwickelte;  das  Arznei- 


mittel  störte  den  Verlauf  der  Herzaffection  nicht,  ver- 
schlimmerte ihn  aber  auch  in  keiner  Weise. 

Bei  einer  dritten  Kategorie  von  Kranken,  die  wäh- 
rend der  drei  ersten  Tage  der  Krankheit  in  das  Hospital 
eintraten,  entwickelte  sich  keine  Entzündung,  weder  des 
Pericardiums  noch  des  Endocardiums.  Es  lässt  sich 
also  in  logischer  Weise  voraussetzen,  dass  man  durch 
schleuniges  „Unterdrücken“  der  Krankheit  eine  Erkran- 
kung "der  Herzmembranen  verhüten  kann.  Man  kann 
also,  wenn  der  Kranke  sofort  richtig  behandelt  wird, 
auf  die  Localisirung  und  Beschränkung  der  Krankheit  auf 
die  serösen  Höhlen  der  Gelenke  hoffen.  Man  hat  in 
Deutschland  indessen  einige  entgegengesetzte  Thatsachen 
beobachtet,  welche  die  Unabhängigkeit  des  Herzens  in 
Frage  zu  stellen  scheinen.  Ich  kann  diese  Beobachtungen 
aber  nicht  für  correct  halten,  da  sie  die  Dauer  der 
Krankheit  vor  dem  Beginn  der  Behandlung  nicht  an- 
geben. 

Ich  will  diese  wichtige  Frage  mit  der  Erklärung  ab- 
schliessen,  dass  das  Natron  salicyl.  auf  frühere  Störungen 
der  Herzfunctionen  von  keinem  Einfluss  ist,  dass  es 
aber,  wenn  es  sofort  beim  Auftreten  der  Krankheit  an- 
gewendet wird,  die  Erkrankung  der  inneren  serösen 
Theile  verhindern  kann. 


Dauer  der  Krankheit  bei  Behandlung  mit 
Salicyl-Medicamenten. 

Die  Dauer  der  Krankheit  wird  durch  Salicyl-Medi- 
camente  in  eigentümlicher  Weise  abgekürzt.  Nach 


43 


2 bis,  3 Tagen  sind  sowohl  die  Schmerzen,  als  das 
Fieber  und  die  Geschwulst  der  Gelenke  vorüber. 

Hier  handelt  es  sich  nun  also  nicht  mehr  um  nur 
einzelne  glückliche  Heilungen.  Alle  Kranken  (52)  haben 
ohne  Unterschied  den  ungeheuren  Vortheil  der  Ab- 
kürzung der  Krankheit  gemessen  können.  Ich  höre 
schon  im  Voraus  die  Einwendungen  gewisser  Gelehrten, 
welche  sich  jedem  Fortschritt,  jeder  bestimmten  Demon- 
stration widersetzen.  Man  wird  sagen:  die  Krankheit 
ist  wechselnd  und  verschiedenartig;  man  wird  an  die 
Enttäuschungen  erinnern,  welche  schon  manche  viel- 
gepriesene und  schnell  vergessene  Arznei  hervorgerufen 
hat;  man  wird  die  grossartige  Erwartung  und  schliess- 
liche  Verzweillung  der  Aerzte  ausmalen.  Meine  Ant- 
wort darauf  wird  von  der  weisen  Bemerkung 
eines  unserer  grossen  Kliniker,  Chomel’s,  dic- 
tirt  sein,  welcher,  um  überzeugt  zu  werden, 
verlangte,  dass  man  ihm  30  bis  40  Kranke 
zeige,  die  in  14  Tagen  geheilt  worden  seien. 
Ich  kann  deren  51  auf  52  aufweisen,  deren 
Heilung  binnen  2 bis  3 Tagen  erfolgte. 

Man  wolle  einmal  Vergleiche  mit  früheren  Zahlen 
anstellen.  Ein  ausgezeichneter,  zuverlässiger  Arzt,  Pro- 
fessor Lebert,  berichtete  seiner  Zeit  bei  einer  Statistik 
von  108  Fällen,  dass  von  denselben  10  Fälle  5 bis 
r4  läge,  58  16  bis  35  Tage,  40  36  bis  55  Tage  und 
darüber  gedauert  haben.  Unter  108  sind  also  nur  10 
nach  5 bis  14  Tagen  geheilt  worden,  die  übrigen  98 
haben  im  Durchschnitt  36  Tage  auf  ihre  Genesung 
warten  müssen. 


44 


Vergleiche  mit  anderen  Behandlungsmethoden. 

Unter  diesen  Methoden  erwähne  ich  zuerst  die  anti- 
phlogistische Methode,  welche,  nach  Herrn  Bouillaud’s 
Aussage,  die  Dauer  der  Krankheit  noch  am  meisten 
abkürzte.  Man  weiss  genugsam,  von  welcher  Bedeutung 
diese  Abkürzung  in  solchen  Fällen  ist.  Indessen  dauern 
die  den  besten  Verlauf  nehmenden,  nach  dieser  Me- 
thode behandelten  Fälle  immer  noch  länger,  als  die 
hartnäckigsten  und  schlimmsten  bei  der  Salicyl- 
Behandlung. 

Ich  spreche  nicht  weiter  vom  Kali-Nitrat,  der  Digi- 
talis, dem  Brech Weinstein,  Aconit,  Veratrin,  in  einem 
Wort  von  der  ganzen  Reihe  der  in  ähnlichen  Fällen 
angewendeten  antipyretischen  Mittel.  Die  darauf  bezüg- 
liche Statistik  hat  in  Betreff  der  Dauer  und  Schwere  der 
Krankheit  ein  recht  trauriges  Ansehen. 

Sind  die  mit  Pflanzensäuren  und  besonders  mit  den 
Alkalien  erreichten  Resultate  vielleicht  besser?  Die  Be- 
handlung mit  Alkalien  wird  in  England,  Deutschland, 
selbst  in  Frankreich  sehr  gerühmt,  da  sie  besonders  den 
Complicationen  in  energischer  Weise  entgegentreten  soll. 
Es  scheint  auch,  nach  englischen  Aerzten  (Dick, 
Chambers),  als  ob  die  Alkalien  die  Zahl  der  beglei- 
tenden Herzkrankheiten  auf  fünf  Procent  beschränkt  hätten. 

Ausser  der  antipyretischen  Methode  und  den  Oxy- 
dations-Mitteln (Säuren  und  Alkalien)  hat  man  noch  die 
ausleerende,  schweisstreibende  Methode  durch  das  Ja- 
borandi  und  sein  Alkaloid,  das  Pilocarpin  gerühmt.  Ich 
habe  letztere  Methode  mehrmals  versucht,  ohne  mehr 


45 


zu  erreichen,  als  einen  peinlichen  Speichelfluss,  häufiges 
Erbrechen  und  eine  unnütze  Diaphorese. 

Es  würden  mir  somit  noch  die  beruhigenden  Mittel 
zur  Erwähnung  übrig  bleiben:  Opium  und  Morphium 
als  Einspritzungen,  Kalium-Bromür  und  Chloral,  welche 
alle  nur  Palliativ-Mittel  zur  Linderung  der  Schmerzen 
bilden. 

Ferner  citire  ich  als  mit  schmerzstillenden  Eigen- 
schaften begabte  Mittel  das  Colchicum , welches  sich 
bei  der  Gichtbehandlung  eines  wohlverdienten  Rufes  er- 
freut, das  Propylamin,  von  Avenarius  vor  20  Jahren 
rühmlichst  erwähnt  und  trotz  der  schönen  Versuche 
Dujardin-Beaumetz’s  bald  vergessen,  das  von  Lut- 
ten angepriesene  Zink-Cyanür  und  endlich  die  Carbol- 
säure,  welche  in  einer  T/IOO  Verdünnung  als  Einspritzung 
unter  die  Haut  nach  Kunze  und  Senator  sofortige 
Linderung  herbeiführt.  Unter  diesen  Arznei -Mitteln, 
welche  man  schmerzstillend  nennen  könnte,  ist  das 
Chinin-Sulfat  aber  das  einzige,  welches  sich  mit  Berech- 
tigung auf  seinem  Platz  in  der  Wissenschaft  behauptet  hat. 

Beim  Vergleich  des  Natron  salicyl.  mit  dem 
Chinin-Sulfat  stellt  es  sich  heraus,  dass  das 
Letztere  die  Schmerzen  zwar  ebenso  wie  das 
Erstere  vermindert,  dass  es  dies  aber  lang- 
samer und  um  den  Preis  einer  wirklichen  In- 
toxication  thut;  es  lässt  die  Temperatur  und 
den  Puls  rascher  sinken,  aber  seine  Wirkung, 
welche  besonders  antifebril  ist,  ist  mit  der 
raschen,  entschiedenen,  unschädlichen  Wir- 
kung des  Salicylates  nicht  zu  vergleichen. 

Acuter  Muskelrheumatismus.  — Bei  2 Kranken 


4 6 


haben  wir  eine  schmerzhafte  Zusammenziehung  der  Hals- 
muskeln innerhalb  2 Tagen  unter  dem  Einfluss  des 
Salicyl-Medicamentes  weichen  sehen.  In  einem  andern 
Fall,  der  sich  durch  allgemeine  Muskelschmerzen  und 
bereits  1 tägiges  Fieber  charakterisirte,  wurde  die  schon 
eingetretene  Steifheit  des  ganzen  Körpers  durch  dasselbe 
Mittel  binnen  2 Tagen  in  definitiver  Weise  vollständig 
beseitigt. 

Die  gleichen  günstigen  Resultate  erreichte  ich  mit 
der  gleichen  Behandlungsweise  bei  2 Lumbago-Fällen, 
deren  Ursache  schwer  zu  erklären  war. 

Rheumatische  oder  bien norrhagi sehe  Ar- 
thritis.— Die  unter  dem  Namen  blennorrhagische  Ar- 
thritis oder  blennorrhagische  Synovitis  bekannten  acuten 
Gelenk- Affectionen  scheinen  durch  das  Salicyl-Medicament 
nicht  in  bemerkenswerther  Weise  beeinflusst  zu  werden, 
und  obgleich  Leonardi  Aster  einen  geheilten  Fall  citirt, 
so  können  wir  doch  keine  entschiedene  Wirkung  des 
Mittels  auf  diese  gewöhnlich  wenig  schmerzhaften  Schä- 
den constatiren,  welche  besonders  durch  Hydarthrosis, 
Muskelsteifheit  und  Sehnenentzündung  charakterisirt  sind. 

Verschiedene  rheumatische  Affectionen: 
Chorea.  — Es  war  nur  natürlich,  dass  man  wegen  des 
engen  Zusammenhanges  der  Chorea  mit  dem  Rheumatis- 
mus die  Anwendung  des  Salicylates  bei  der  rheumatischen 
Chorea  versuchte.  Nachdem  wir  aber  3 Chorea-Kranke 
in  dieser  Weise  behandelt  hatten,  bemerkten  wir  bald, 
dass  das  Medicament  auf  Chorea  keinen  Einfluss  ausübt. 

Dasselbe  lässt  sich  von  allen  rheumatischen  Affec- 
tionen sagen,  welche  nicht  Gelenkrheumatismus,  Muskel- 
rheumatismus oder  Neuralgie  sind. 


47 


Chronische  Rheumatismen.  — Trockene 
Arthritis;  knotige  Arthritis. 

Es  handelt  sich  hier  um  schwere,  hartnäckige  Rheu- 
matismen ; auch  spreche  ich  hier  nicht  von  jener  trocke- 
nen Arthritis,  auf  welche  Herr  Gosselin  gelegentlich 
der  Schwierigkeiten  der  Diagnose  der  trockenen  Arthritis 
des  Hüftgelenks  aufs  Neue  soeben  die  Aufmerksamkeit 
gelenkt  hat,  sondern  ich  beziehe  mich  nur  auf  eine  in 
dem  Namen  chronische,  lccalisirte  oder  allgemeine  ein- 
fache Arthritis  zusammengefasste  Gruppe,  welche  mit 
dem  Rheumatismus  zu  gleicher  Zeit  oder  in  dessen  Ver- 
lauf auftritt. 

In  eine  zweite  Reihe  von  Thatsachen  muss  man 
jene  abscheuliche  Arthritis,  jenen  chronisch  fibrösen 
Rheumatismus  stellen,  dessen  Typus  Jaccoud  so  genau 
schildert  und  det  von  Entstellungen  und  auffallenden 
Verkrümmungen  begleitet  ist. 

Eine  dritte,  viel  wichtigere  und  häufigere  Reihe 
umfasst  jene  Art  knotiger  Arthritis,  von  welcher  Char- 
cot  eine  ausgezeichnete  Beschreibung  gegeben  hat.  Es 
ist  dies  die  Knochen- Arthritis,  welche  nach  und  nach 
die  Gelenkdrüsen,  die  Knorpel,  das  Knochengewebe  der 
Gelenke  ergreift  und  schliesslich  dies  alles  zu  Elfenbein 
verknöchert,  nachdem  sie  die  schwersten  hypertrophischen 
Veränderungen  hervorgebracht  hat. 

Gerade  bei  diesem  knochigen  Rheumatismus  be- 
merkt man  am  häufigsten  Verkrümmungen  der  Finger, 
Hände  und  Fiisse,  Verunstaltung  der  Knochen,  Ver- 
schiebung der  Gelenke,  knochige  Geschwülste,  Verunstal- 
tung oder  Geschwulst  der  periarticularen,  extrasynovialen 


- 43  - 

Gewebe  mit  Zusammenziehung  der  Muskeln  und  benach- 
barten Sehnen. 

Eine  vierte  und  letzte  Serie  bezieht  sich  auf  die 
aus  dem  Rückenmark  hergeleitete  Arthritis,  über  welche 
kürzlich  verschiedene  Zweifel  aufgetaucht  sind. 

Ausserdem  muss  ich  noch  die  partiellen  knotigen 
Auswüchse  an  den  Fingern  erwähnen,  von  welchen 
Heberden  berichtet  und  die  ihren  Sitz  ebenfalls  im 
Knochengewebe  haben. 

Ich  habe  besonders  die  einfachen,  chronischen  Rheu- 
matismen im  Auge,  die  Sclerosis  (Verhärtung  der  Augen- 
lidränder) und  die  knochige  Arthritis.  Wir  müssen  uns 
um  so  mehr  damit  beschäftigen,  als  sowohl  die  Einen 
als  die  Andern  in  gewissen  Momenten  wirkliche,  acute, 
schmerzhafte  Paroxysmen  hervorbringen.  Es  sind  dies 
auf  verschiedene  Formen  des  chronischen  Rheumatismus 
übertragene  Anfälle  von  acutem  Rheumatismus. 

Gerade  diese  häufigen  und  schmerzhaften  Paroxys- 
men waren  es,  welche  den  Gedanken  herbeiführten,  die 
Salicyl-Behandlung  beim  chronischen  Rheumatismus  an- 
zuwenden. Meine  Voraussetzungen  realisirten  sich  in 
der  glücklichsten  Weise.  Diese  acuten  Anfälle  ver- 
schwanden genau  ebenso  wie  der  acute  Gelenk-Rheu- 
matismus nach  3 bis  4 Tagen.  Ich  habe  dies  3 Mal 
im  Hospital,  2 Mal  in  meiner  Privatpraxis  beobachten 
können.  Mein  Freund  Bouchard,  der  in  Bicetre  Arzt 
ist,  hat  dieselben  Erfahrungen  bei  4 Greisen  gemacht, 
welche  an  chronischem  Rheumatismus  mit  Paroxys- 
men litten. 

Dabei  ist  zu  bemerken,  dass  diese  Paroxysmen  sonst 
im  Allgemeinen  sehr  schwer  weichen.  Die  Morphium- 
Einspritzungen,  das  Kalium -Bromür  und  Chloral  helfen 


49 


entweder  nicht  oder  können  der  Länge  dieser  Anfälle 
wegen  nicht  fortgesetzt  gebraucht  werden,  da  das  Mor- 
phium oft  Ekel,  das  Kalium-Bromür  allgemeine  Ent- 
kräftung und  das  Chloral  eine  übertriebene  und  schäd- 
liche Schlafsucht  verursacht. 

Das  Natron  salicyl.  ist  deshalb  von  solcher  Bedeutung, 
weil  man  durch  einige  starke  Dosen  innerhalb  weniger 
Tage  das  Aufhören  der  Schmerzen  erreichen  und  darauf 
das  erlangte  Resultat  mit  viel  kleineren  Dosen  aufrecht 
erhalten  kann.  Während  ich  diese  Paroxysmen  behan- 
delte, machte  ich  oft  bezüglich  der  Abnahme  der  peri- 
articulären  Geschwulst  und  der  Muskelsteifheit  die  er- 
staunlichsten Wahrnehmungen.  Diese  Beobachtungen 
veranlassten  mich,  die  gleiche  Behandlungsweise  bei  chro- 
nischem Rheumatismus  ohne  diese  plötzlichen  Schmerz- 
Steigerungen  anzuwenden. 

Folgende  Resultate  wurden  in  dieser  Richtung  er- 
zielt: Bei  2 Fällen  von  einfachem,  chronischem  Rheu- 
matismus, welcher  beide  Kniee  und  Ellbogen  occupirte, 
verschwand  nach  3 Tagen  die  Entzündung  der  Gelenke, 
die  bereits  seit  6 Monaten  andauerte  und  die  Arbeiter 
vollständig  am  Arbeiten  gehindert  hatte.  Bei  dem  Einen 
von  Beiden  blieb  noch  eine  gewisse  Steifheit  im  Ell- 
bogen zurück. 

Bei  einem  dritten  Kranken,  der  mir  in’s  Hospital 
gesandt  wurde,  handelte  es  sich  um  allgemeine,  chro- 
nische, nicht  deformirende  Arthritis,  welche  diesen  Mann 
seit  11  Jahren  zu  vier  bis  sechs  Monaten  Unthätig- 
keit  jährlich  verdammte.  Dieses  Mal  wurde  er  nach 
sechs  Tagen  vollkommen  frei  in  allen  Gelenken  aus 
dem  Hospital  entlassen. 

v.  Heyden,  Studien  über  die  Salicylsäurc, 


4 


Bei  5 Kranken  aus  meiner  Stadtpraxis  beobachtete 
ich  genau  dieselben  Erscheinungen;  die  Geschwulst  der 
Gelenke,  welche  bereits  seit  Monaten,  bei  einem  dieser 
Kranken  seit  3 Jahren,  vorhanden  war,  wich  nach  6 bis 
8 Tagen  und  kam  auch  nicht  wieder  zum  Vorschein, 
da  das  Medicament  einen  Monat  hindurch 
nicht  einen  einzigen  Tag  lang  ausgesetzt  wor- 
den war. 

Also  weicht  die  ganze  Reihe  der  chronischen,  ein- 
fachen, von  selbst  oder  im  Verlauf  von  andern  Krank- 
heiten entstehenden  Rheumatismen  (von  der  Kategorie 
der  Paroxysmen  ganz  abgesehen)  dieser  Behandlungs- 
weise und  zwar  ohne  das  geringste  Hülfsmittel,  das 
heisst  also  ohne  gleichzeitige  Anwendung  von  warmen 
Bädern,  Dampfbädern  oder  anderen  innerlich  zu  ge- 
brauchenden Medicamenten. 

Eine  zweite  Reihe  Thatsachen  bezieht  sich  auf 
den  knorpeligen  Rheumatismus.  Ich  beobachtete  einen 
Arthritis-Fall  dieser  Art,  bei  welchem  Schulter  und  Ell- 
bogen der  linken  Seite  ergriffen  waren.  Die  Glieder 
fingen  bereits  an  sich  zusammenzuziehen:  nach  8 Tagen 
jedoch  war  völlige  Heilung  eingetreten.  Der  erstaun- 
lichste Fall  in  dieser  Art  bezieht  sich  indessen  auf  eine 
Dame,  welche  2 Jahr  nach  dem  Bruch  der  rechten 
Schulter  eine  wirkliche  Verkrümmung  der  Finger,  Atro- 
phie der  Hand,  bedeutende  Geschwulst  der  Fingergelenke 
aufwies.  Sie  hatte  bei  der  geringsten  Bewegung  die 
heftigsten  Schmerzen  und  die  Finger  waren  fast  voll- 
ständig unbeweglich  geworden.  Diese  Kranke,  bei 
welcher  einer  unserer  Collegen  knochigen,  fibrösen  Rheu- 
matismus constatirt  hatte,  sollte  nach  den  Quellen  von 


5i 


Bourbonne-les-Bains  gehen,  kam  jedoch  noch  8 Tage 
vorher  mich  wegen  ihres  zweijährigen  Uebels  zu  con- 
sultiren.  Nach  6 Tagen  war  jede  Zusammenziehung 
verschwunden,  sie  hatte  keine  Schmerzen  und  die  Hand 
hatte  ihre  vollkommene  Biegsamkeit  wiedererlangt. 

Ich  komme  zu  einer  dritten  Kategorie,  welche  bis 
jetzt  so  zu  sagen  der  ganzen  medicinischen  Wissenschaft 
Trotz  geboten  hat,  zur  Arthritis  deformans,  welche 
bisher  ohne  jeden  Erfolg  bald  mit  Alkalien,  Arsenikbädern, 
Jod  und  Leberthran,  bald  mit  Hydrotherapie,  schwefeligen 
oder  salzhaltigen  Mineralwässern  und  elektrischen  Strö- 
men behandelt  worden  ist.  Niemand  kann  die  Vor- 
züglichkeit dieses  oder  jenes  Mittels  behaupten,  obgleich 
ich  jüngst  in  einer  medicinischen  Zeitung  einen  wunder- 
baren Fall  erwähnt  finde,  bei  welchem  Herr  Guöneau 
de  Mussy  durch  Anwendung  von  Arsenikbädern  Hei- 
lung bewirkt  hat.  Man  liest  übrigens  auf  der  6.  oder 
7.  Zeile  dieser  Beobachtung:  Man  wendete  4 Gramm 
Natron  salicyl.  an  und  die  Heilung  liess  nicht 
auf  sich  warten. 

Beobachtungen  über  knotigen  Rheumatis- 
mus. — Ich  gebe  hiermit  das  Hauptergebnis  meiner 
Beobachtungen:  Bei  2 Greisen,  die  im  Hospital  behan- 
delt wurden,  fand  kein  Erfolg  statt;  bei  einem  dritten 
Fall  knotiger  Arthritis,  einem  noch  jungen  Mann,  zeigte 
sich  eine  bedeutende  Besserung. 

Die  3 bemerkenswerthesten  Fälle  aus  meiner  Privat- 
praxis sind  folgende: 

Im  ersten  Fall  handelte  es  sich  um  eine  knotige 
Arthritis,  an  welcher  ein  öojähriger  Mann  seit  bereits 
16  Jahren  litt.  Die  Krankheit  hatte  die  4 grossen  Ge- 


52 


lenke  der  unteren  Gliedmaassen,  die  Rücken-Wirbelsäule, 
die  Handgelenke  und  Finger  ergriffen;  das  Gehen  war 
unmöglich,  der  Körper  so  zu  sagen  unbeweglich  und 
das  Erfassen  von  Gegenständen,  sowie  das  Schreiben 
seit  2 Jahren  unausführbar.  Nach  i tägiger  Behandlung 
waren  die  oberen  Gelenke  frei  und  jetzt  ist  nur  noch 
eine  gewisse  Steifheit  der  Beingelenke  zurückgeblieben. 

Der  zweite  Fall  bezieht  sich  auf  eine  knotige  Arthri- 
tis der  Kniee  und  Finger. 

Der  dritte  Fall  war  ausserordentlich  schwierig.  Eine 
Dame  von  42  Jahren,  welche  ich  mit  Herrn  Briau  zu- 
sammen behandle,  leidet  seit  2 Jahren  an  knotiger 
Arthritis  der  Kniee,  Knöchel,  kleinen  Fussgelenke,  Hand- 
gelenke, Finger  und  Ellbogen.  Diese  sehr  schmerz- 
hafte Krankheit  hatte  ein  intensives  Fieber,  verbunden 
mit  bedeutender  Appetit-  und  Schlaflosigkeit,  herbei- 
geführt, welch  letztere  seit  dem  Auftreten  der  Krankheit 
nicht  einen  einzigen  Tag  gewichen  war. 

Nach  8 Tagen  waren,  trotzdem  das  Einnehmen 
von  8 Gramm  Natron  salicyl.  viel  Schwierigkeiten  ver- 
ursachte, die  oberen  Gelenke  frei,  die  Schmerzen  vor- 
über und  die  Kniee  ohne  Geschwulst.  Die  Füsse  blieben 
geschwollen.  Die  Besserung  ist  evident,  aber  die  Hei- 
lung hat  seitdem  keine  Fortschritte  gemacht,  weil  die 
Kranke  nicht  mehr  als  4 bis  5 Gramm  des  Salicyl-Salzes 
ertragen  kann. 

Ich  fasse  diesen  Theil  meiner  Untersuchungen  zu- 
sammen und  sage,  dass  an  der  Nützlichkeit  des 
Salicyl  - Medicamentes  bei  den  verschiedenen 
Arten  des  chronischen  Rheumatismus  nicht  zu 
zweifeln  ist.  Der  Rheumatismus  mit  Paroxysmen 


53 


wird  sofort  geheilt;  der  einfache  chronische 
Rheumatismus  weicht  mit  derselben  Leichtig- 
keit; der  scleröse  oder  fibröse  Rheumatismus 
verhält  sich  genau  ebenso  und  bei  der  knotigen 
Arthritis  erlangt  man  endlich  in  den  meisten 
Fällen  bedeutende  Modificationen  und  beson- 
ders gänzliches  Aufhören  der  Schmerzen. 

Wir  müssen  indessen  hinzusetzen,  dass  in  letzteren 
Fällen  bei  fortgesetzt  grossen  Dosen  die  Heilung  nur 
um  den  Preis  der  schon  erwähnten  Unannehmlichkeiten 
zu  erreichen  ist.  Dieselben  bestehen  in  Ohrensausen, 
Brausen  im  Kopf,  mehr  oder  weniger  heftig  auftreten- 
der Schwerhörigkeit  und  im  Anfang  der  Behandlung 
in  Beängstigungen,  welche  kürzere  oder  längere  Zeit 
anhalten. 

Nach  einiger  Zeit  tritt  selbst  beim  fortgesetzten 
Gebrauch  der  gleichen  Dosen  in  diesen  Zuständen, 
welche  ich  Salicylismus  nennen  möchte,  eine  Verringerung 
derselben  ein.  Für  den  übrigen  Organismus  ist 
niemals  eine  üble  Folge  zu  fürchten. 

Acute  und  chronische  Gicht. 

Die  schmerzstillenden  Eigenschaften  des  Natron 
salicyl.  bei  rheumatischen  Affectionen  veranlassten  mich, 
diese  Methode  bei  jener  so  complicirten  Krankheit  an- 
zuwenden, welcher  man  den  Namen  Gicht  beigelegt 
hat.  Als  ich  vor  5 Monaten  meine  ersten  Versuche  in 
dieser  Richtung  unternahm,  hatte  noch  Niemand  daran 
gedacht,  dieses  Mittel  bei  solchen  Zuständen  anzuwenden 
und  meine  therapeutischen  Voraussetzungen  wurden  bald 


54 


durch  die  klinischen  Ergebnisse  völlig  gerechtfertigt.  Ich 
konnte  nicht  allein  das  beinahe  unmittelbare  Verschwin- 
den der  Schmerzen  constatiren,  sondern  auch  das  rasche 
Aufhören  der  Gelenkschwellung.  Die  acuten  Gicht- 
anfälle waren  in  48  Stunden  überwunden! 

Aber  noch  mehr.  Als  ich  die  Anwendung  des 
Medicamentes  auch  auf  chronische  Gicht  erstreckte,  war 
ich  nicht  wenig  überrascht,  Zertheilung  der  ältesten  Ge- 
lenk-Schwellungen, Abnahme,  ja  sogar  manchmal  voll- 
ständiges Verschwinden  der  Tophi  und  wiederkehrende 
Beweglichkeit  in  Gelenken  zu  erreichen,  welche  seit 
Monaten  und  Jahren  von  der  Gicht  so  in  Besitz  ge- 
nommen waren,  dass  sich  falsche  Ankylose  gebildet  hatte. 

Diese  unverhofften  Resultate  stellten  selbst  die- 
jenigen in  den  Schatten,  welche  das  Salicyl-Medicament 
bei  der  Behandlung  von  Arthritis  deformans  hervor- 
gebracht hatte.  In  der  That  eignet  sich  die  ganze  Con- 
stitution der  Krankheit,  sowie  die  Natur  der  articulären 
Läsionen  besser  für  die  Wirkung  des  Arzneimittels,  als 
dies  bei  den  tiefergehenden , knochigen  Läsionen  des 
knotigen  Rheumatismus  der  Fall  ist. 

Andrerseits  dient  die  specielle  Alteration  des  Blutes, 
welche  die  Gicht  constituirt  im  Vergleich  zu  den  gänz- 
lich hypothetischen  Modificationen  der  Blutflüssigkeit  im 
Rheumatismus,  dafür  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  zur 
Erklärung,  dass  die  Wirkung  des  Medicamentes  bei  der 
Gicht  noch  günstiger  ist  als  beim  Rheumatismus. 

Welches  sind  eigentlich  die  der  Gicht  charak- 
teristischen Züge?  Sie  ist  eine  chronische,  constitutio- 
neile, meistens  erbliche  Krankheit  und  charakterisirt  sich 


55 


1)  durch  einen  Ueberschuss  von  Harnsäure  im 
Blut  und  deren  correspondirende  Abnahme  im  Urin; 

2)  durch  acute  Gelenkschwellungen,  denen  eine 
bedeutendere  Ausscheidung  von  Harnsäure  durch  die 
Nieren  folgt; 

3)  durch  Ansammlung  von  Uraten  in  den  Gelenken 
und  Muskel-Geweben,  welche  Bildungen  Tophi  genannt 
werden; 

4)  durch  vorübergehende  oder  permanente  Stö- 
rungen der  wichtigsten  Organe,  wie  des  Magens,  Her- 
zens, der  Blutgefässe,  Lungen,  Nieren  und  Haut.  Daraus 
entsteht  dann  Magengicht,  atheromatöse  Degeneration 
der  Blutgefässe  (besonders  des  Gehirns),  gichtisches 
Asthma,  Brustbeschwerden,  Arthritis  und  endlich  Nie- 
rensteine, Harnstoff-Infarcte  und  jene  schwere  Krankheit, 
welche  man  mit  dem  Namen  „gichtische  Nieren“  be- 
zeichnet. 

Der  durch  die  Arbeiten  Garrod’s  bekannt  ge- 
wordene Ueberschuss  an  Harnsäure  im  Blut  beträgt  28 
bis  175  Milligramm  Harnsäure  auf  1000  Gramm  Blut, 
während  diese  Flüssigkeit  im  normalen  Zustande  kaum 
wahrnehmbare  Spuren  davon  enthält.  Es  handelt  sich 
nun  darum,  zu  wissen,  auf  welche  Weise  dieser  Zustand 
des  Blutes  modificirt  werden  kann  und  vor  Allem  um 
die  Erforschung  der  Ursache  dieser  abnormen  Anhäufung 
von  Harnsäure. 

Theorie  der  Gicht.  — Man  hat  in  dieser  Hin- 
sicht mehrere  zulässige  Interpretationen  angenommen. 
Die  erste  derselben  würde  folgendermassen  lauten:  Ge- 
schieht die  Ernährung  eines  Individuums  durch  sehr 
stickstoffhaltige  Lebensmittel  und  findet  zu  gleicher  Zeit 


56 


Mangel  an  Bewegung  statt,  so  werden  die  Nahrungs- 
principien  nur  einem  unvollständigen  Verbrennungsprocess 
unterworfen;  statt  sich  in  Harnstoff  umzubilden,  der  das 
letzte  Stadium  des  Verbrennungsprocesses  der  Eiweiss- 
stoffe bezeichnet,  gelangen  sie  nur  zu  einem  in  der 
Oxydation  weniger  vorgeschrittenen  Product  und  ver- 
wandeln sich  in  Harnsäure,  welche  sich  im  Blut,  der 
Lymphe  und  in  den  Geweben  ansammelt. 

Diese  Säure  entsteht  hauptsächlich  in  der  Milz;  sie 
findet  sich  dort  während  und  nach  der  Verdauung  in 
bedeutender  Quantität  und  als  Beweis  dafür  kann  ein 
mehrere  Stunden  nach  dem  Verzehren  der  Nahrungs- 
mittel im  Urin  wahrgenommener  Ueberschuss  der  Säure 
gelten.  Eine  zu  reichhaltige  Nahrung  veranlasst  also  in 
doppelter  Weise  die  Production  von  Harnsäure,  indem 
sie  dem  Körper  erstens  zu  viel  Material  zuführt  und 
die  Functionen  der  Milz  andrerseits  in  aussergewöhn- 
lichem  Maasse  steigert. 

Unter  die,  eine  Production  der  Gicht  am  meisten 
begünstigende  Lebensweise  ist  besonders  die  stickstoff- 
haltige £>iät  zu  rechnen  (Lehmann,  Ranke);  ferner  die 
Consumption  übermässig  fetter  Genussmittel  (Meisner 
und  Koch),  welche  den  vollständigen  Verbrennungs- 
process der  Gewebe  stören,  sowie  diejenigen  Substanzen, 
welche  Asparagin  und  apfelsauren  Kalk  enthalten. 

Ungerechter  Weise  hat  man  auch  schliesslich  den 
Alkohol  als  einen  Stoff  bezeichnet,  welcher  für  sich  selbst 
und  zu  seiner  eigenen  Verbrennung  Sauerstoff  absorbirt 
und  somit  die  völlige  Oxydation  der  Eiweissstofte  und 
ihre  Umwandlung  in  Harnstoff  verhindern  würde.  Dei 
Verbrennungsprocess  des  Alkohols  ist  im  Körper  iibei- 


57 


haupt  sehr  mangelhaft  und  der  grösste  Theil  desselben 
geht  ganz  unverändert  in  die  Gewebe  und  Ausschei- 
dungsiliissigkeiten  über.  Man  weiss  übrigens  auch,  dass 
die  Alkoholiker,  welche  unsere  Hospitäler  bevölkern,  nicht 
an  der  Gicht  leiden.  Zu  dieser  veranlassen  andere  Er* 
nährungsbedingungen  und  ich  habe  in  dieser  Beziehung 
soeben  eine  zu  reichliche,  stickstoffhaltige  und 
fette  Diät  hervorgehoben. 

Als  Nebenbedingung  der  Gicht  hat  man  eine  sitzende 
Lebensweise  hingestellt  und  gesagt,  dass  der  Mangel  an 
Bewegung  bei  geringerer  Sauerstoff-Absorbirung  ebenfalls 
die  völlige  Verbrennung  der  Harnsäure  verhindert,  wäh- 
rend Bewegung  und  Muskelthätigkeit  den  Eintritt  des 
Sauerstoffs  in  das  Blut  begünstigen  und  in  Folge  dessen 
die  völlige  Verbrennung  der  Eiweissstoffe  und  die  Bil- 
dung des  Harnstoffs  aus  Harnsäure  veranlassen. 

Dabei  sind  -ebenso  viel  Irrthümer  als  Worte  zu 
verzeichnen,  denn  die  Muskelbewegung  vermehrt  einer- 
seits niemals  die  kleine  in  den  Muskeln  enthaltene 
Quantität  Harnstoff,  noch  die  Ausscheidung  desselben 
im  Urin;  andrerseits  können  alle  Gichtkranke  sowohl 
vor,  wie  während  ihrer  Anfälle  und  in  den  dazwischen 
liegenden  Intervallen  stets  eine  normale  Quantität  Harn- 
stoff im  Urin  aufweisen,  welche  Quantität  ebenso,  wie 
im  physiologischen  Zustande,  nur  durch  die  Ziffer  der 
absorbirten  stickstoffhaltigen  Principien  eine  Veränderung 
erfährt. 

Bezüglich  des  Einflusses  der  Bewegung  auf  die 
Elimination  der  Harnsäure  herrschen  vollkommen  wider- 
sprechende Meinungen. 

Uebrigens  bedarf  die  aus  der  Diät  entspringende 


58 


Uricämie  zu  ihrer  Entstehung  keiner  weiteren  Unter- 
stützung, denn  sie  ist,  wenn  sie  einmal  existirt,  allein  in 
Folge  der  Zuführung  überschüssiger  Stickstoff-Principien 
vorhanden  oder  der  Consumirung  gewisser  Lebensmittel, 
wie  z.  B.  dem  Fett,  welches  den  Sauerstoff  von  seiner 
ursprünglichen  Bestimmung  ablenkt  und  dem  Gebrauch 
gewisser  Substanzen  zuzuschreiben,  die  sich  leicht  in 
Harnsäure  umwandeln.  Es  scheint  also  fast,  als  ob  die 
Uricämie  nur  eine  vom  chemischen  oder  hygieinischen 
Standpunkt  aus  zu  erledigende  Frage  wäre  und  als  ob 
eine  Modification  der  Diät  zur  Heilung  der  Gicht  führen 
müsste. 

Dagegen  sind  aber  ernste  Einwürfe  zu  erheben. 
Wenn  man  in  das  Blut  eines  Hundes  Harnsäure  ein- 
spritzt, so  verwandelt  sich  diese  Säure  in  Harnstoff 
(Frerichs  und  Wühler);  wie  geht  es  aber  zu,  dass 
das  Thier  nach  wie  vor  Harnsäure  ausscheidet?  Warum 
bleibt  Harnsäure  im  Urin?  Warum  findet  keine  völlige 
Umwandlung  in  Harnstoff  statt?  Die  Antwort  würde 
dahin  lauten,  dass  die  uricämische  Function  normal  und 
unzerstörbar  ist.  Weiter  kann  man  einwenden,  dass  die 
im  Urin  eliminirte  Quantität  Harnsäure  von  der  allge- 
meinen Diät  viel  weniger  als  der  Harnstoff  beeinflusst 
wird.  So  enthält  der  Urin  also  bei  gemischter  Nahrung 
auf  1000  Gramm  Urin  0,50  bis  0,80  Centigramm  Harn- 
säure und  23  Gramm  Harnstoff,  bei  stickstoffhaltiger 
Nahrung  0,98  Centigramm  Säure  und  86  Gramm  Harn- 
stoff. Der  Letztere  hat  sich  also  um  das  Dreifache  ver- 
mehrt, während  die  Menge  der  Harnsäure  fast  die  gleiche 
geblieben  ist.  Woher  kommt  es,  dass  die  stickstoffhaltige 
Diät  in  beinahe  exclusiver  Weise  bei  der  Entstehung  der 


59 


Uricämie  eine  so  schlimme  Rolle  spielt?  Die  Antwort 
darauf  ist  nicht  schwer  zu  finden  und  würde  den  dritten 
Einwand  gegen  die  allein  von  dem  Genuss  zu  reich- 
haltiger Nahrungsmittel  herrührende  Uricämie  bilden. 

Pettenkofer  und  Voit  haben  dargelegt,  dass  über- 
mässig stickstoffhaltige  Genussmittel  eine  grössere  Quan- 
tität Sauerstoff  zur  Erscheinung  bringen  und  dass  die- 
selbe vollständig  für  die  Verbrennung  der  Eiweissstoffe 
und  für  ihre  Umwandlung  in  Harnstoff  ausreicht.  Es 
entsteht  dann  eine  Art  Ausgleich  zwischen  der  eiweiss- 
haltigen Nahrung  und  der  Proportion  des  absorbirten 
Sauerstoffs.  Die  Uricämie  ist  also  nicht  das  ausschliess- 
liche Ergebniss  einer  zu  viel  Albumin  enthaltenden  Diät; 
die  schädlichste  und  für  die  Entwicklung  der  Gicht  ge- 
eignetste Ernährung  würde  in  reichlich  stickstoffhaltigen 
Genussmitteln  bestehen,  denen  noch  Zucker,  Leimsub- 
stanz und  Fett  beigemischt  ist;  in  diesem  Fall  wird 
weniger  Sauerstoff  als  im  zuerst  angeführten  absorbirt, 
die  Oxydation  ist  in  Folge  dessen  geringer,  es  entwickelt 
sich  Fett  in  den  Geweben  und  durch  die  zu  reichliche 
Consumption  entsteht  schliesslich  eine  wirkliche  Verfettung 
und  vielleicht  ein  Ueberschuss  von  Harnsäure  im  Blut 
und  in  den  Geweben.  In  diesen  Fällen  ist  die  Uricämie 
also  in  dem  Sinne  relativ,  als  Harnsäure  sich  nicht  in 
Harnstoff  umwandelt,  sondern  sich  ansammelt.  Indessen 
wird  dadurch  noch  immer  keine  Erklärung  für  die  Gicht 
der  mageren  Individuen  und  die  der  Armen  gefunden, 
welche  übrigens  sehr  selten  ist. 

Um  in  alle  diese  Probleme  etwas  Licht  zu  bringen, 
hat  man  eine  Theorie  aufgestellt,  welche  mit  der  Er- 
nährungstheorie in  keinem  Zusammenhänge  mehr  steht; 


6o 


man  behauptet,  dass  die  Harnsäure  im  Blut  zurückge- 
halten wird,  weil  die  Nieren  keine  genügende  Elimina- 
tionskraft besitzen  (Garrod). 

Es  giebt  Thiere,  welche  sich  für  eine  derartige  Be- 
weisführung vortrefflich  eignen,  nämlich  die  Vögel,  die 
ihrer  Natur  nach  im  Urin  nur  Harnsäure  eliminiren. 
Zalesky  bewerkstelligte  dadurch,  dass  er  den  Abgangs- 
kanal eines  Vogels  beseitigte,  eine  Anhäufung  dieser 
Säure  und  des  Harnstoffs  in  der  Lymphe,  dann  im  Blut 
und  beobachtete  schliesslich  eine  harnstoffhaltige  An- 
sammlung in  den  peripherischen  Organen. 

Bei  den  Gichtkranken  besteht  aber  für  die  Elimina- 
tion des  Harnstoffs  wenigstens  beim  Beginn  der  Krank- 
heit kein  Hinderniss,  die  Nieren  sind  vollkommen  intact 
und  werden  erst  in  einer  vorgeschritteneren  Krankheits- 
periode der  Sitz  atrophischer  Läsionen  oder  harnstoff- 
haltiger Ansammlungen.  Ihre  unzureichende  Thätigkeit 
kann  also  nicht  als  Ursache  der  Harnsäure- Anhäufung 
im  Blut  angesehen  werden. 

Diese  Hypothese  der  Uricämie  lässt  sich  also  nicht 
aufrecht  erhalten. 

Ich  erwähne  noch  eine  dritte  Theorie,  welche  weder 
auf  einem  Zurückhalten,  noch  auf  einem  Ueberschuss  in 
der  Production  der  Harnsäure  beruht.  Sie  basirt  auf 
der  Unlöslichkeit  derselben  im  Blut  unter  gewissen 
diätetischen  Verhältnissen.  Die  stickstoffhaltige  Diät 
führt  dem  Blut  einen  Ueberschuss  an  Phosphor-  und 
Schwefelsäure  zu,  welche  diese  so  mit  den  alkalischen 
Basen  verbinden,  dass  die  Umwandlung  der  kaum  lös- 
lichen Harnsäure  in  lösliches  Natron-Urat  nicht  vor  sich 
gehen  kann.  Wie  entsteht  aber  in  solchem  Fall  die 


6i 


Ansammlung  der  Harnsäure  in  den  Geweben  und  Ge- 
lenken? 

Auf  diese  Weise  liessen  sich  eher  die  Nierensteine, 
nicht  aber  die  Gicht  erklären.  Die  Nierensteine  ent- 
stehen in  der  That  in  Folge  der  Unlöslichkeit  der  Harn- 
säure im  Urin,  der  zu  concentrirt  ist,  um  sie  auflösen  zu 
können.  Wenn  diese  Flüssigkeit  zur  Verdünnung  des  in 
den  Nieren  enthaltenen  Harnstoffs  und  der  Harnsäure 
nicht  ausreicht,  so  bilden  sich  in  den  Nieren  und  der 
Blase  krystallinische  Harnstoff-Ansammlungen,  welche  wir 
Nierensteine  nennen. 

Die  Nierensteine  sind  aber  kein  Synonym  der  Gicht, 
denn  erstens  enthält  der  Urin  der  Steinkranken  keinen 
Ueberschuss  an  Harnsäure,  sondern  dieselbe  einfach 
krystallisirt  oder  amorph,  ungelöst.  Ausserdem  können 
Nierensteine  ohne  Gicht  vorhanden  sein  und  schliesslich 
ist  unter  4 Gichtkranken  höchstens  einer,  der  zu  gleicher 
Zeit  an  Gicht  und  Nierensteinen  leidet. 

Die  beiden  letzten  Theorien  sind  also  unhaltbar. 
Wir  können  weder  ein  Zurückhalten  noch  ejne  unlös- 
liche Ansammlung  der  Harnsäure,  sondern  nur  eine  von 
ursprünglich  äusseren  Ursachen  abzuleitende  Uricämie 
anerkennen,  die  einem  Ueberschuss  an  albuminösen  Sub- 
stanzen zuzuschreiben  wäre.  Da  aber  diese  vielgestaltigen 
Stoffe  eine  erhöhte  Sauerstoff- Absorbirung  veranlassen, 
so  muss  man  diejenige  Diät  als  die  schädlichste  be- 
trachten, welche  nicht  allein  stickstoffhaltige  Principien, 
sondern  noch  grosse  Quantitäten  Fett,  Leimsubstanz  oder 
Zucker  in  sich  schliesst.  Die  Sauerstoff-Absorbirung  ist 
in  diesem  Fall  eine  normale,  diese  hinzugesetzten  Sub- 
stanzen verbrauchen  jedoch  für  ihre  eigene  Rechnung 


Ö2 


eine  gewisse  Quantität  Sauerstoff,  welche  zur  Verbrennung, 
also  zur  Bildung  von  Harnstoff  im  Verhältnis  zu  den 
Nahrungsmitteln  und  den  albuminösen  Geweben,  verwen- 
det werden  sollte.  Auf  diese  Weise  kann  man  sich  die 
von  den  Gichtkranken  ausgeschiedene  normale  Quantität 
Harnstoff,  trotz  der  in  den  Organismus  eingeführten 
grösseren  Menge  stickstoffhaltiger  Principien,  erklären. 
Die  erste  Function  der  hinzugetretenen  kohlenwasserstoff- 
und  leimhaltigen  Nahrungsmittel  würde  also  darin  be- 
stehen, dass  sie  das  Abnutzen  der  organischen  Gewebe 
verhindern  und  so  für  den  Organismus  gleichsam  Er- 
sparnisse machen.  Ihre  weitere  Thätigkeit  würde  sich 
auf  die  UmwandlHng  der  Gewebe  oder  Eiweissprincipien 
im  Fett  erstrecken. 

Man  kann  sich  auf  diese  Weise  den  gewöhnlichen 
Zustand  der  Gichtkranken  erklären.  Diese  Regel  bietet 
jedoch  zahllose  Ausnahmen  dar  und  man  kann  sich  ver- 
mittelst der  von  Genussmitteln  abzuleitenden  Uricämie 
die  Entwicklung  der  Gicht  im  Allgemeinen  noch  immer 
nicht  klar  legen.  Die  von  Aussen  her  entstandene  Uri- 
cämie ist  nicht  in  absoluter  Weise  bewiesen  und  der 
Einfluss  der  Diät  ist  durchaus  nicht  über  jeden  Einwand 
erhaben.  Wir  müssen  uns  also  damit  begnügen,  eine 
Diathese  der  Harnsäure  zu  constatiren,  ohne  deren  äusser- 
lichen  Ursprung  ausschliesslich  zu  betonen  und  ohne  es 
zu  vergessen,  dass  die  Pathologie  auch  Ernährungsfehler 
und  Abweichungen  des  normalen  Typus  aufzuweisen  hat. 
Der  Typus  der  ganzen  Krankheit  besteht  in  der  diabe- 
tischen Glycämie,  deren  äusserer  Ursprung  nicht  immer 
leicht  zu  beweisen  ist  und  es  ist  die  uricämische  Function, 
welche  in  ihrer  Steigerung  die  Gicht  oder  wenigstens 


- 63  - 

ihren  wirklichen  chemischen  und  biologischen  Charakter 
bildet.  Die  Gicht  ist  in  der  That  zu  drei  Vierteln  eine 
erbliche  und  immer  eine  constitutioneil  chronische  Krank- 
heit, welche  mit  oder  ohne  acute  Manifestationen  auftritt. 

Therapeutische  Schlüsse.  — Aus  dieser  Dis- 
cussion  geht  hervor,  dass  die  Diät  bei  der  Production 
neuer  Anfälle  nicht  immer  im  Spiele  ist,  dass  die  Sauer- 
stoff-Einwirkung nur  eine  zweifelhafte  Rolle  spielt  und 
dass  es  hauptsächlich  darauf  ankommt,  die  Elimination 
der  Harnsäure  zu  erleichtern  oder  ihre  überschüssige 
Entstehung  zu  verhüten. 

Das  Natron  salicyl.  ergiebt  bei  der  Behandlung 
folgende  Resultate:  bei  Nierenleidenden  begünstigt  es  vor 
Allem  die  Ausscheidung  der  Harnsäure,  ohne  indessen 
diese  Wirkung  zu  übertreiben;  man  kann  manchmal  bei 
Gichtkranken,  die  nicht  an  Nierensteinen  leiden,  per 
Liter  Urin  i'/2  bis  3 Gramm  Harnsäure  constatiren. 

Andrerseits  bildet  die  Salicylsäure , indem  sie  sich 
im  Organismus  theilweise  in  Salicylursäure  verwandelt, 
einen  weiteren  Vortheil;  sie  verbindet  sich  nämlich  mit 
dem  in  verschiedenen  Organen,  notorisch  in  der  Leber, 
vielleicht  auch  in  den  Nieren,  enthaltenen  Leimzucker 
und  wird  so  eine  zusammengesetzte  Säure,  welche  man 
Salicylursäure  nennt.  Diese  entführt  nun  dem  Organis- 
mus eine  gewisse  Quantität  Leimzucker,  welcher  ein  sehr 
wichtiger  blutbildender  Stoff  ist.  In  dieser  Beziehung 
gleicht  die  Salicylsäure  Punkt  für  Punkt  der  Benzoe- 
säure und  die  guten  Eigenschaften  der  Benzoate  ge- 
messen bei  der  Gichtbehandlung  eines  wohlverdienten 
Rufes.  Indessen  ist  das  Natron  salicyl.  der  Benzoesäure 
insofern  wieder  in  jedem  Punkt  überlegen,  als  es  ausser- 


64 


dem  die  schnellste  Einwirkung  auf  den  Schmerz  und 
auf  die  Schwellung  der  Gelenke  zeigt,  während  die 
Benzoate  oder  das  Lithium  diese  Wirkung  vermissen 
lassen.  Das  Natron  salicyl.  hat  also  verschiedene  gleich- 
zeitig wirkende  Eigenschaften:  schmerzstillende  Kraft, 
zertheilende  Wirkung,  ausscheidende  Wirkung  in  gewissen 
Fällen;  endlich  die  Fähigkeit,  einen  Theil  des  Leim- 
zuckers zu  assimiliren,  der  eine  der  wichtigsten  blut- 
bildenden Substanzen  ist. 

Resume  der  Beobachtungen  bei  acuter  Gicht. 

Ich  habe  7 an  acuter  Gicht  Leidende  behandelt. 
Der  erste  dieser  Kranken  ist  54  Jahre  alt  und  leidet 
seit  20  Jahren  an  der  Gicht.  Seine  Anfälle  wiederholen 
sich  jährlich  3-  bis  4 Mal  und  dauern  immer  wenigstens 
4 Wochen.  Am  15.  Januar  zeigte  sich  die  Krankheit 
in  intensivster  Weise  im  rechten  Handgelenk,  sowie  im 
Knie  und  Gelenk  des  linken  Beines.  Die  Schmerzen 
und  die  Geschwulst  waren  sehr  bedeutend.  In  Folge 
des  täglichen  Gebrauches  von  10  Gramm  Natron  salicyl. 
verschwanden  die  bezeichneten  Erscheinungen  innerhalb 
3 Tagen  und  die  Gelenke  erlangten  wieder  ihre  völlige 
Geschmeidigkeit.  Bei  einem  berühmten  Künstler  von 
75  Jahren,  der  seit  30  Jahren  an  Anfällen  litt,  erlangte 
ich  dieselben  Resultate.  Nach  zweitägiger  Behandlung 
verschwanden  alle  Schwellungs-Erscheinungen,  ohne  dass 
das  Medicament  die  allgemeine  Gesundheit  irgendwie 
schädlich  beeinflusste.  Bei  einem  Kranken , der  an 
Fingern  und  Knieen  zahlreiche  Tophi  zeigte  und  dessen 
sehr  schmerzhafte  Anfälle  gewöhnlich  mehrere  Wochen 


65 


dauerten,  bewirkte  das  Natron  salicyl.  zu  io  Gramm  in 
24  Stunden  das  Auf  hören  der  Schmerzen.  Das  Mittel 
wurde  darauf  in  Dosen  von  5 Gramm  fortgesetzt  ein- 
gegeben und  die  tophischen  Schwellungen  nahmen  in 
sehr  bedeutender  Weise  ab. 

Ein  anderer  Kranker,  welchen  ich  seit  langer  Zeit 
täglich  mit  3 Gramm  Kalium-Jodtir  behandelte  und  dem 
seit  2 Jahren  kein  Mittel  mehr  half,  bekam  einen  sehr 
heftigen,  weitausgedehnten  Anfall,  der  durch  den  Ein- 
fluss der  Salicylpräparate  nach  4 Tagen  überwunden  war. 

Es  wäre  unnöthig,  wenn  ich  noch  weitere  Beob- 
achtungen anführen  wollte;  sie  zeigen  die  vollkommenste 
Analogie,  nämlich  rasches  Aufhören  der  Schmerzen,  Ab- 
nahme der  Gelenkschwellung  und  Heilung  des  Anfalles 
in  3 oder  4 Tagen. 

Dr.  Bouchard,  ausgezeichnetes  Mitglied  der  Fa- 
cultät,  hat  bei  2 'Kranken  dieselben  Erscheinungen  be- 
obachtet. 

Beobachtungen  über  chronische  Gicht. 

Diese  Beobachtungen,  14  an  der  Zahl,  umfassen 
die  chronische  Gicht  in  allen  Formen;  ein  einziger 
dieser  Kranken  zeigte  den  Typus  der  lähmungsartigen 
indolenten  Gicht,  die  sich  in  beiden  Hand-  und  Fuss- 
gelenken  localisirt  hatte.  Bei  diesem  Kranken  veran- 
lasste  das  Medicament  nach  14  Tagen  eine  sehr  merk- 
liche Abnahme  der  Gelenk-Anschwellungen. 

Bei  den  andern  13  hatte  die  Krankheit  seit  mehreren 
Monaten  (bei  2 Kranken  sogar  seit  3 Jahren)  alle  Ge- 
lenke der  unteren  Gliedmassen  ergriffen  und  immobilisirt 
und  bei  der  geringsten  Bewegung,  ja  sogar  beim  ruhigen 

v,  Heyden,  Studien  über  die  Salicylsäure.  5 


66 


Liegen  zeigten  sich  sofort  die  heftigsten  Schmerzen.  Diese 
Gelenke,  hauptsächlich  die  Kniee,  Füsse  und  Zehen,  waren 
beträchtlich  angeschwollen,  die  Glieder  zusammengezogen 
und  die  periarticulären  Gewebe  sämmtlich  ödematös.  Bei 
5 dieser  Kranken  hatte  die  Gicht  noch  zu  gleicher  Zeit 
die  Hand-  und  die  kleinen  Fingergelenke  ergriffen,  so 
dass  sie  weder  Gegenstände  erfassen  noch  schreiben 
konnten.  Ausserdem  liess  sich  bei  2 dieser  Patienten 
beschränkte  Ankylose  der  Schulter  und  des  einen  Ell- 
bogens constatiren  und  schliesslich  zeigten  von  den 
13  Kranken  10  an  verschiedenen  Körperstellen  Tophi, 
bald  in  der  Nähe  der  Gelenke,  bald  von  denselben 
entfernt. 

So  war  im  Anfang  meiner  Behandlung  der  locale 
Zustand  der  Kranken;  die  inneren  Organe  waren  intact 
mit  Ausnahme  des  Herzens,  welches  bei  2 Kranken 
Arythmus  mit  Fett-Degeneration  zeigte;  auch  fand  sich 
bei  diesen  Beiden  Oedem  der  Füsse.  Bei  2 Anderen 
bemerkte  ich  Nierensteine , bei  einem  Dritten  Albumin- 
spuren im  Urin. 

Alle  diese  Kranken  hatten  ohne  Unterschied  die 
verschiedensten  in  solchen  Fällen  gebräuchlichen  Mittel 
angewendet,  die  ich  hier  anführen  will; 

1)  Colchicum-Präparate  in  den  verschiedensten  Ge- 
stalten, als  Weintinctur,  Elixir,  Pillen,  Syrup,  Samen- 
oder Knollenpräparate.  Die  meisten  Kranken  brauchten 
die  Medicin  nur  bei  Steigerung  des  Uebels,  viele  fühlten 
eine  momentane  Linderung,  aber  die  meisten  konnten 
mit  dem  Gebrauch  des  Mittels  nicht  fortfahren. 

2)  Chinin -Sulfat  mit  oder  ohne  Colchicum. 

3)  Grüner  Kaffee. 


67 


4)  Eschen -Tisane. 

5)  Verschiedene  Lithiumsalze. 

6)  Benzoate. 

7)  Alkalien. 

Ich  erwähne  nur  die  gebräuchlichsten  Mineral- 
Brunnen,  welche  die  meisten  unserer  Kranken  tranken: 
die  warmen  alkalischen  Quellen  von  Vichy  und  Carls- 
bad;  die  schwächeren,  weniger  mineralischen,  aber  oft 
nützlicheren  Brunnen  von  Plombieres,  Neris,  Wildbad, 
Teplitz;  die  Chlornatrium.-haltigen  Brunnen  von  Bour- 
bonne  und  Wiesbaden,  die  Lithiumquellen  von  Ems  und 
Royat  und  schliesslich  auch  die  Hydrotherapie. 

Resultate  der  Behandlung.  — Das  Salicyl- 
Medicament  wurde  also  unter  den  ungünstigsten  Verhält- 
nissen angewendet.  Ich  gebe  hier  die  erzielten  Resultate 
und  erwähne  zugleich  die  durch  das  Medicament  veran- 
lassten  unangenehmen  Zustände. 

Alle  diese  Kranken,  welche  das  Salicylat  1 — 4 Monate 
ohne  Unterbrechung  brauchten,  fühlten  schon  nach  den 
ersten  Dosen  eine  ebenso  rasche  Linderung,  ein  ebenso 
schnelles  Verschwinden  der  Schmerzen,  wie  dies  bei  der 
acuten  Gicht  oder  beim  Gelenkrheumatismus  stattfindet. 
Nach  und  nach,  d.  h.  also  innerhalb  eines  Zeitraumes 
von  6 bis  14  Tagen  verschwand  die  Geschwulst  der 
periarticulären  Gewebe,  die  Bewegungen  wurden  frei  und 
bei  den  meisten  Kranken  blieb  nur  eine  unbedeutende 
Schwellung  der  Gelenke  zurück,  welche  aber  schliesslich 
ebenfalls  wich.  Nur  sehr  wenige  dieser  Patienten  be- 
hielten Spuren  von  Anschwellung. 

Indessen  liess  sich  bei  der  nothwendigen  hohen 
Plosirung  die  Herstellung  auch  hier  nicht  immer  ohne 

5* 


68 


Unbequemlichkeiten  erreichen.  Es  traten  Gehörsstörungen, 
Ohrensausen,  Geräusch  im  Kopf  und  sehr  oft  eine  mehr 
oder  weniger  bedeutende  Schwerhörigkeit  ein,  die  ge- 
wöhnlich wieder  abnahm,  sobald  man  die  tägliche 
Dosis  Natron  salicyl.  auf  4 bis  5 Gramm  herabsetzen 
konnte. 

Bei  2 Kranken  beobachtete  ich  eine  Art  Trunken- 
heit mit  Schwäche  in  den  Gliedern  und  Schwanken  im 
Gange;  diese  Erscheinungen  hielten  nur  so  lange  an,  als 
das  Medicament  in  täglichen  Dosen  von  8 bis  10  Gramm 
verabreicht  wurde. 

Sehr  oft  entwickelt  sich  sehr  reichliche  Diaphorese, 
welche  ebenfalls  nach  etlichen  Tagen  verschwindet. 

Bei  einem  Fall  zeigte  sich  endlich  eine  peinliche 
Schlafsucht,  die  nach  einigen  Tagen  der  Behandlung 
mit  diesen  hohen  Dosen  wieder  aufhörte. 

Die  unangenehmsten  Erscheinungen  des  Salicylismus  ■ 
sind  also  einerseits  Schwerhörigkeit,  andrerseits  Muskel- 
schwäche ; diese  Erscheinungen  zeigen  sich  besonders 
bei  Greisen. 

Falls  eine  Herzkrankheit  vorhanden  ist,  so  erfahren 
sowohl  die  anomalen  Herzschläge,  als  der  Puls  und  die 
Spannung  der  Arterien  keine  Modificationen;  trotz  seiner 
diuretischen  Eigenschaften  hat  das  Medicament  auf  Herz- 
beutelwassersucht keinen  Einfluss. 

Mit  grosser  Vorsicht  muss  das  Mittel  angewendet 
werden,  sobald  irgendwelche  Alteration  der  Nieren  (die 
Nierensteine  ausgenommen)  constatirt  wird.  Wenn  die 
Nieren,  sei  es  durch  Krankheit  oder  durch  Alter,  be- 
schädigt sind,  so  wird  die  Ausscheidung  der  grossen 
Dosen  des  Medicaments  verzögert  und  es  entsteht  daraus 


6c, 


einerseits  die  sich  als  Albuminurie  charakterisirende 
locale  Nieren -Irritation,  anderseits  in  Folge  der  An- 
sammlung des  Medicaments  im  Blut  eine  besondere  In- 
tensität des  Salicylismus. 

Metastase  des  Herzens  oder  Magens  ist  noch  nie- 
mals in  Frage  gekommen. 

Nierensteine,  Nieren-  und  Blasenaffectionen. 

Bei  Gelegenheit  der  Gicht  will  ich  auch  von  der 
Wirkung  des  Salicyl- Medicaments  auf  die  Nierensteine 
und  deren  verschiedene  Manifestationen  sprechen.  Wenn 
es  sich  um  nephralgische  Kolik  handelt,  so  scheint  das 
Mittel  die  Beendigung  der  Krisis  zu  beschleunigen  und 
die  Fortschaffung  der  Steine  zu  begünstigen.  Handelt 
es  sich  um  schmerzlose  Nierensteine,  so  provociren  so- 
wohl das  Salicylat  als  die  reine  Salicylsäure  ein  reich- 
liches Ausscheiden  von  Nierensand. 

Selbst  bei  Kranken,  bei  welchen  lange  keine  Aus- 
scheidung des  Sandes  stattgefunden  hat,  veranlasst  das 
Medicament  das  Erscheinen  krystallisirter  oder  amorpher 
Harnsäure  im  Urin.  Diese  Thatsachen  sind  um  so  zu- 
verlässiger, als  ich  den  gleichzeitigen  Gebrauch  von 
Mineralbrunnen  nicht  gestattete,  um  die  Wirkung  des 
Heilmittels  ohne  jede  andere  Hülfe  genau  abschätzen 
zu  können. 

Nephritis  eignet  sich  mit  Ausnahme  der  Nierensteine 
nicht  zur  Anwendung  dieses  therapeutischen  Mittels,  wel- 
ches hämorrhagische  Congestionen  veranlasst  und  die 
Albuminurie  vermehrt. 

Bei  Blasenkrankheiten,  besonders  Cystitis  mit  Urin- 
Zersetzung,  hat  man  Salicylsäure  - Einspritzung  zu  ^300 


70 


oder  V 500  empfohlen.  Der  innerliche  Gebrauch  von 
3 Gramm  Säure  war  nach  Fürbringer  bei  mehreren 
Kranken  der  Heidelberger  Klinik  genügend,  um  beim 
Blasenkatarrh  den  Alkaliengehalt  des  Urins,  den  schlechten 
Geruch  und  die  in  grosser  Anzahl  vorhandenen  Bacterien 
zu  vernichten;  die  Eiterkügelchen  blieben  indessen  vor- 
handen, obgleich  der  Säuregehalt  wieder  in  richtiger 
Weise  zum  Vorschein  kam;  diese  Thatsachen  sind  je- 
doch im  Ganzen  noch  wenig  zuverlässig. 

Herr  G übler  hat  ganz  Recht,  wenn  er  sagt,  dass 
die  Salicylsäure  ein  directes  Antizymoticum  ist, 
welches  gegen  die  in.  den  betreffenden  Organen  statt- 
findenden Gährungen  sehr  energisch  wirkt,  auf  welches 
man  aber  in  Bezug  auf  das  Blut  nicht  mit  Sicherheit 
rechnen  darf. 


Neuralgie. 

Als  ich  die  schmerzstillende  Wirkung  der  Salicyl- 
Präparate  bei  der  Behandlung  von  Gicht  und  Gelenk- 
Rheumatismus  kennen  gelernt  hatte,  versuchte  ich  es 
auch,  sie  bei  der  Behandlung  schmerzhafter  Affec- 
tionen  überhaupt  anzuwenden.  In  der  folgenden 
Reihe  nervöser  Zustände  erschien  mir  ihre  Anwendung 
geboten. 

Neuralgia  ischiadica.  — Ich  behandelte  4 Fälle 
mit  Salicylat  und  beobachtete  Folgendes: 

Bei  *2  Fällen  von  schon  alter  Ischias  erfolgte  die 
Heilung  nach  wenigen  Tagen,  dagegen  muss  ich  auch 
einen  Misserfolg  bei  einem  dritten  Fall,  ebenfalls  aus 
meiner  Privatpraxis,  constatiren.  Es  handelte  sich  in 
diesem  letzteren  um  einen  seit  3 Jahren  an  Neuralgia 


— 7i  — 

ischiadica  Leidenden,  bei  welchem  kein  einziges  Mittel 
irgendwie  geholfen  hatte. 

Bei  einem  vierten  im  Hospital  behandelten  Fall  war 
der  Misserfolg  ebenso  schlagend.  Es  handelte  sich  um 
ein  junges  Mädchen,  welches  übrigens  auch  durch  das 
Brennen  mit  dem  Paquelin’schen  Apparat  nur  eine 
vorübergehende  Erleichteruug  empfand. 

Tic  douloureux  des  Gesichts.  — Eine  der 
merkwürdigsten  Thatsachen  bezieht  sich  auf  die  Wirkung 
dieses  Heilmittels  bei  Tic  douloureux  des  Gesichts.  Es 
handelte  sich  um  einen  Kranken,  der  seit  io  Jahren  an 
dieser  Krankheit  litt  und  regelmässig  mehrere  Monate 
des  Jahres  im  Hospital  zubrachte.  Er  war  im  Hotel-Dieu 
von  Herrn  Fauvel  behandelt  worden  und  durch  An- 
wendung von  Chinin-Sulfat  und  Bromür  hatte  man  seine 
Schmerzen  meistens  etwas  gelindert.  Als  er  in  meiner 
Abtheilung  anlangte,  stand  er  gerade  unter  dem  Einfluss 
einer  höchst  schmerzhaften  Krisis.  Nach  24  Stunden 
war  er  mit  Hülfe  von  10  Gramm  Salicylat  von  allen 
Schmerzen  befreit.  Nach  seinem  eigenen  Geständniss 
unterbrach  er  nach  3 Tagen  den  weiter  vorgeschriebenen 
Gebrauch  des  Mittels  und  bekam  in  Folge  dessen  einen 
Rückfall.  Dieses  Mal  verlangte  er  selbst  wieder  nach 
dem  Medicament  und  war  in  48  Stunden  geheilt.  Nach 
J4  Tagen  verliess  er  das  Hospital,  ohne  länger  als  2 
oder  3 Tage  an  Schmerzen  gelitten  zu  haben. 

Heftiger  oder  chronischer  Kopfschmerz; 
Migräne.  — Ich  sah  2 Kranke,  welche  an  beständigem 
Kopfweh  litten  und  dadurch  geheilt  wurden,  dass  sie 
6 Tage  lang  täglich  4 bis  6 Gramm  Natron  salicyl.  ein- 
nahmen. 


7 2 


Bei  Migräne  Hessen  sich  ebenfalls  günstige  Resultate 
constatiren ; dieselben  bilden  jedoch  keine  Regel.  Ich 
behandelte  4 Kranke  in  dieser  Weise,  erhielt  aber  bei 
2 derselben  kein  anderes  Resultat,  als  ich  es  vorher  mit 
Chinin -Sulfat  und  Kalium -Bromür  erzielt  hatte,  welch 
letztere  Behandlung  bei  den  meisten  Fällen  hilft. 

Schmerzhafte  AfTectionen  des  Rückenmarks. 

Es  handelt  sich  hier  um  jene  schweren  Rücken- 
marks-Affectionen,  Myelitis  superficialis,  Sclerosis  der 
hinteren  Nervenstränge  und  um  andere  Nervenstörungen, 
die  schwer  zu  definiren  und  von  heftigen  anhaltenden 
Schmerzen  in  den  Hüften,  in  der  Gürtelgegend  oder 
von  unbestimmten,  in  ihrer  Verbreitung  nicht  genau  zu 
begrenzenden  Schmerzempfindungen  begleitet  sind.  Be- 
sonders spreche  ich  von  der  schweren  Krankheit,  welche 
unter  dem  Namen  veränderliche  Ataxie  oder  Sclerose  der 
hinteren  Rückenmarksnerven  vielfache  Schmerzen,  Hyper- 
ästhesie, Krämpfe  und  partielle  Zusammenziehungen  her- 
vorbringt, ohne  dass  bei  diesen  gleichsam  blitzartigen 
Schmerzen  irgend  welche  Regelmässigkeit,  irgend  ein 
bestimmter  Typus  zu  constatiren  wäre.  Gerade  die 
Ataxiekranken  sind  es,  welche  uns  den  von  Duchenne 
(de  Boulogne)  so  gut  beschriebenen,  traurigen  Eindruck 
machen.  Sie  leiden  an  keinen  Bewegungs  - Störungen, 
keinen  Ocular-Erscheinungen;  die  Krankheit  ist,  wie  dies 
C har  cot  auch  bewiesen  hat,  gleichsam  zusammenhangs- 
los. In  diesen  Zuständen,  gleichviel  bis  zu  welchem 
Grade  die  Motilität  bereits  zerstört  ist,  treten  oft  Perioden 
der  Verschlimmerung  ein,  welche  man  schneidende,  blitz- 


73 


artige  Schmerzen  nennen  könnte,  heftige  Krisen,  welche 
zuweilen  mit  Magenkrisen  abwechseln  und  ganze  Monate 
lang  andauern  können. 

Es  gilt  nun,  die  furchtbaren  Schmerzen  dieser  un- 
glücklichen Ataxiekranken  zu  lindern  und  wir  haben  zu 
diesem  Zweck,  obwohl  meistens  ohne  Erfolg,  die  ener- 
gischsten Linderungsmittel,  wie  Morphium-Einspritzungen, 
Chloral  als  Trank  oder  Klysma  angewendet.  Diese  Mittel 
veranlassen  wohl  einmal  eine  kleine  Ruhepause,  aber  die 
Dosis  muss  dann  bis  zum  Morphinismus  und  Chloralis- 
mus  gesteigert  werden. 

Ferner  hat  man  es  mit  electrischen  Strömen  ver- 
sucht, welche  aber  gerade  während  der  Krisen  nicht  zu 
benutzen  sind,  ferner  mit  der  Hydrotherapie,  die  bei 
schmerzhaften  Phasen  der  Krankheit  kein  irgendwie 
günstiges  Resultat  producirt  und  mit  den  beruhigenden 
Brunnen  (z.  B.  Neris),  welche  wenigstens  einiges  Gute 
zu  bewirken  scheinen.  Endlich  hat  man  auch  Kaliurn- 
Bromür  gebraucht,  welches  die  Kranken  jedoch  bedeu- 
tend schwächt. 

Selbst  bei  besonders  schwierigen,  schmerzhaften  Zu- 
ständen bringt  das  Natron  salicyl.  meistens  ein  fast  un- 
mittelbares Aufhören  der  Schmerzen  hervor.  Ich  erhielt 
dafür  die  schlagendsten  Beweise  bei  einer  54jährigen 
Frau  im  Hospital,  bei  2 Fällen  meiner  Privatpraxis  und 
bei  einem  vierten  Fall,  den  ich  mit  meinem  Collegen 
Vidal  zusammen  behandelte.  Herr  Bouchard  hatte 
seinerseits  die  Güte,  mir  4 Beobachtungen  mitzutheilen, 
die  er  in  Bicetre  an  Ataxiekranken  machte,  deren  Lei- 
den auf  Jahre  schon  zurückzuführen  war.  Er  verordnete 
bei  den  schmerzhaften  Krisen  10  Gramm  Natron  salicyl. 


74 


und  die  Schmerzen  hörten  noch  denselben  Tag  oder 
am  anderen  Morgen  auf.  Beinahe  immer  war  man  ge- 
nöthigt,  nach  Unterbrechung  des  Gebrauchs  nach  etlichen 
Tagen  wieder  auf  das  Mittel  zurückzukommen  und  im 
Verlauf  von  xo  bis  14  Tagen  hörten  die  Schmerzen  dann 
in  definitiver  Weise  auf. 

Bei  einem  Ataxiekranken,  welchen  ich  im  Hospital 
beobachtete,  verschwanden  die  Schmerzen  nach  2 Tagen. 
Als  der  Kranke  aber  wegen  des  Ohrensausens  und  der 
Schwerhörigkeit  das  Einnehmen  des  Medicamentes  ver- 
weigerte, erschienen  die  Krisen  von  Neuem,  wichen  aber 
in  definitiver  Weise,  sobald  der  Kranke  das  Mittel  wieder 
anwendete. 

In  2 Fällen,  welche  ich  in  meiner  Praxis  beobach- 
tete, hörten  die  heftigen  Schmerzen  sehr  rasch  auf.  Das- 
selbe geschah  bei  einem  Ataxiekranken,  bezüglich  dessen 
mich  Plerr  Vidal  um  meinen  Rath  fragte;  die  Schmerzen 
hörten  sofort  auf,  es  blieb  nur  ein  schmerzloser  Krampf 
in  den  Füssen  im  Moment  des  Gehens  zurück. 

Ausser  diesen  Ataxiekranken  hatte  ich  Gelegenheit, 
3 an  Myelitis  Leidende  zu  behandeln,  bei  welchen  theil- 
weise  Lähmung  mit  Schmerzen  in  den  unteren  Gliedern 
eingetreten  war.  Es  gelang  mir,  die  Schmerzen  zu  stillen; 
jedoch  schien  es  mir,  als  ob  das  Medicament  die  Muskel- 
schwäche vermehrte  und  ich  liess  es  nicht  mehr  brauchen, 
sobald  die  Schmerzempfindungen  aufhörten. 

Innerliche  Schmerzen. 

In  Bezug  auf  Affectionen  des  Magens  und  der 
Därme  habe  ich  bemerkenswerthe  Resultate  nicht  be- 
obachtet. 


75 


Ich  erwähne  zum  Schluss  nur  einen  Fall  von  Leber- 
kolik, der  durch  den  Einfluss  des  Salicyl-Medicamentes 
nach  2 Stunden  aufhörte. 


Nach  diesen  die  rheumatischen  und  gichtischen 
Krankheiten  behandelnden  Details  kommt  der  gelehrte 
Autor  in  seinem  Vortrage  zu  folgenden  Schlusssätzen: 

1)  Im  Gelenkrheumatismus  hat  man  die  entschie- 
densten, schnellsten  Erfolge  beobachtet,  so  dass  man  mit 
Sicherheit  im  Verfolg  von  2 bis  4 Tagen  auf  die  Heilung 
von  acutem,  fieberhaftem  oder  fieberlosem  Rheumatismus 
rechnen  kann;  51  Fälle  bekräftigen  dies. 

2)  Bei  chronischem,  einfachem  Rheumatismus  sind 
die  von  mir  gemachten  Versuche  sehr  befriedigend  aus- 
gefallen; das  Gleiche  lässt  sich  auch  von  den  acuten 
Krisen  sagen,  welche  sich  von  Zeit  zu  Zeit  sowohl  beim 
einfachen  Rheumatismus  als  bei  der  knotigen  Arthritis 
zeigen;  die  schmerzhaften  Anfälle  weichen  ebenso  rasch 
als  im  acuten  Gelenkrheumatismus.  Ausserdem  nehmen 
die  Gelenk -Schwellungen  bedeutend  ab  und  die  Be- 
wegungen werden  frei.  Dies  geschieht  selbst  nach  jahre- 
langen Schmerzen,  nach  Steifheit  und  Unbeweglichkeit, 
sobald  die  Knochen-Verbildungen  nicht  zu  arg  und  zu 
weit  vorgeschritten  sind.  (12  chronische  Rheumatismus- 
fälle geheilt  oder  gebessert.) 

3)  In  der  acuten  und  chronischen  Gicht  sind  die 
Resultate  von  grösster  Bedeutung.  Gleich  bei  meinen 
ersten  Versuchen  überraschte  mich  die  Schnelligkeit, 
mit  welcher  die  schmerzhaftesten  acuten  Anfälle  ver- 


76 


schwanden.  Im  Zeitraum  von  2 bis  3 Tagen  waren 
Schmerzen,  Gelenkschwellung,  Rothe  der  Haut  und  Em- 
pfindlichkeit beim  Berühren  gewichen. 

Bei  der  chronischen  Gicht  werden  durch  fortge- 
setzte Behandlung  mit  ganz  mässigen  Dosen  die  Kranken 
vor  jedem  acuten  Anfall  geschützt. 

Andrerseits  verschwinden  die  chronischen  periarti- 
culären  Schwellungen  mit  Leichtigkeit;  die  Tophi  der 
Gelenke  nehmen  ab  und  entzünden  sich  nicht  mehr; 
mit  einem  Wort,  die  Heilung  kann  eine  vollständige 
sein,  ohne  dass  sich  irgend  welche  Metastase  des 
Herzens,  Magens,  der  Respirationsorgane  oder  des  Ge- 
hirns entwickelt.  Ich  habe  unter  den  2 1 Fällen,  welche 
ich  beobachtete,  nicht  ein  einziges  Mal  die  Erfahrung 
gemacht,  dass  sich  die  Gicht  auf  innere  Organe  ge- 
worfen hätte. 

Andere  unangenehme  Zufälle,  als  Gehörsstörungen 
und  eine  Art  von  Schwäche  oder  Narcotismus  finden 
nicht  statt ; die  beiden  letzteren  Erscheinungen  ver- 
schwinden aber  sofort,  wenn  die  Dosis  kleiner  ge- 
geben wird. 

Unter  den  Affectionen,  welche  hauptsächlich  gich- 
tischer Natur  sind,  müssen  die  Nierensteine  erwähnt 
werden,  welche  sich  mit  Hülfe  des  Natron  salicyl. 
leichter  ausscheiden.  Das  Natron  salicyl.  bietet  ausser- 
dem den  Vortheil,  dass  es  die  nephritischen  Schmerzen 
lindert. 

4)  Die  Salicyl -Medicamente  scheinen  gewisse  Fa- 
cialis-Neuralgien  in  günstigster  Weise  zu  modificiren; 
diese  Wirkung  ist  indessen  noch  nicht  definitiv  festge- 


— 77  — 

stellt;  dasselbe  lässt  sich  über  die  Behandlung  von  Ischias 
durch  dieses  Mittel  sagen. 

5)  Bei  schmerzhaften  Rückenmarkskrankheiten  bringt 
das  Natron  salicyl.  die  schätzenswertheste,  beruhigendste 
Wirkung  hervor.  Bei  fortgesetzter  Behandlung  scheint 
es  nur-  einen  gewissen  Grad  von  Schwäche  zu  veran- 
lassen. 


Eine  medicinische  Eroberung. 

Gicht  und  Rheumatismus  durch  salicylsaures 
Natron  geheilt. 

Von  Dr.  Iiery  in  Paris. 


Tantum  prodesse. 

So  lange  die  Salicylsäure  aus  der  rein  wissen- 
schaftlichen Sphäre  nicht  heraustrat  und  sich  ihre  An- 
wendung höchstens  auf  einige  chirurgische  Operationen 
oder  auf  gewisse  Fabrikationszweige  der  Industrie  be- 
schränkte, war  das  Interesse,  welches  man  ihr  widmete, 
nur  ein  mässiges;  als  aber  plötzlich  eine  der  bedeu- 
tendsten Autoritäten  vor  versammelter  Akademie  die 
bewunderungswürdigen  Eigenschaften  dieses  neuen  thera- 
peutischen Mittels  bei  Behandlung  von  Gicht  und  Rheu- 
matismus in  allen  Gestalten  proclamirte,  da  zollte  ihr 
die  medicinische  Presse  einstimmig  die  Lobsprüche,  die 
sie  verdiente,  und  sie  nahm,  gleichsam  wie  ein  Künstler, 
der  sich  durch  ein  Meisterwerk  plötzlich  als  solcher 
zeigt,  den  ihr  gebührenden  Platz  ein. 

Es  handelt  sich  hier  wohlverstanden  nicht  etwa  nur 
um  einen  vorübergehenden,  übertriebenen  Enthusiasmus 


79 


für  eine  gleichsam  in  die  Mode  gekommene  Sache; 
nach  dem  Geständniss  selbst  Derjenigen,  welche  jede 
therapeutische  Neuerung  nur  mit  der  äussersten  Zurück- 
haltung aufnehmen,  hat  die  Salicylsäure  eine  sehr  glück- 
liche Revolution  in  der  Behandlung  dieser  Krankheiten 
hervorgebracht,  welche  sich  bis  jetzt  jeder  Behandlungs- 
weise gegenüber  ziemlich  unzugänglich  gezeigt  haben. 
Wir  hielten  uns  also  für  vollkommen  berechtigt,  unserer 
kleinen  Abhandlung  den  Titel  „eine  medicinische  Er- 
oberung“ voranzusetzen,  denn  wir  sind  fest  davon  über- 
zeugt, dass  die  glänzenden  Erfolge,  deren  sich  dieses 
Arzneimittel  bereits  rühmen  kann,  alle  Vorurtheile,  welche 
sich  seiner  Verbreitung  noch  entgegensetzen  könnten,  in 
raschester  Weise  besiegen  wird. 


Ueber  die  Erblichkeit  der  Gicht. 

Ist  die  Gicht  ein  Uebel,  welches  man  sich  zuziehen 
kann,  oder  ist  sie  im  Wesentlichen  eben  so  erblich  wie 
der  Krebs  oder  die  Lungenschwindsucht?  Ohne  als 
entscheidender  Richter  in  einer  Frage  auftreten  zu  wollen, 
über  welche  noch  so  vielfach  hin  und  her  debattirt  wird, 
neigen  wir  uns  doch  zu  der  Ansicht,  dass  die  Erblich- 
keit beim  Entstehen  dieser  Krankheit  eine  vorherrschende 
Rolle  spielt  und  dass  der  erste  Gichtstoff,  abgesehen  von 
der  Mitwirkung  der  gewöhnlichen  bestimmenden  Ur- 
sachen, nach  Art  der  Fermente  mit  einer  Eigenthüm- 
lichkeit  und  Sicherheit  der  Wirkung  heimlich  in  uns 
fortarbeitet,  die  ihres  Gleichen  in  der  Pathologie  höch- 
stens bei  der  Tuberculose,  der  Glycosurie  und  der  In- 
cubatio  virulent,  findet.  Möge  man  die  Sache  erklären 


So 


und  interpretiren,  wie  man  wolle:  die  Erblichkeit  der 
Gicht  erscheint  uns  als  'eine  festbegründete  Thatsache 
und  Herr  Germain  Söe  selbst  äussert  sich  in  fast 
identischer  Weise,  wenn  er  sagt,  dass  drei  Viertel  aller 
Gichtfälle  als  erbliche  Krankheiten  zu  betrachten  seien. 

Dies  ist  auch  die  Meinung  eines  alten,  sehr  geist- 
reichen Gichtkranken,  dessen  Zeugniss  wir  hier  anführen 
wollen.  „Ich  bin,  sagte  er  uns,  ebenso  wie  viele  Andere, 
welche  ich  citiren  könnte,  ein  schlagendes  Beispiel  für 
die  Bedeutung  des  Wortes  Erblichkeit  in  der  Aetiologie 
der  Gicht.  Meine  Vorfahren  waren  seit  mehreren 
Generationen  gichtisch;  ich  habe  Alles  aufgeboten,  um 
dieser  traurigen  Erbschaft  zu  entgehen;  das  verhängniss- 
volle  Naturgesetz  hatte  aber  seinen  unwiderruflichen 
Spruch  gethan  und  ich  konnte  nichts  weiter  thun,  als 
mich  seinem  Verdammungsurtheil  beugen.  Wenn  es 
aber,  wie  Aza'is  behauptet,  wahr  ist,  dass  jedes  Unglück 
irgend  etwas  Gutes  mit  sich  bringt,  so  tröste  ich  mich 
heute  mit  dem  Gedanken,  dass  ich  durch  diese  harte 
Lehrzeit  meinen  unversöhnlichen  Feind  gut  kennen  ge- 
lernt habe  und  nun  besser  im  Stande  bin,  Diejenigen, 
welche  meine  Rathschläge  für  die  neue  Behandlungs- 
methode, die  mir  so  ausserordentliche  Dienste  geleistet, 
zu  hören  wünschen,  auf  den  richtigen  Weg  zu  weisen.“ 

Ohne  dass  er  es  direct  sagt,  ist  constatirt,  dass 
hier  von  dem  salicylsauren  Natron  die  Rede  ist. 

Der  Schmerz  bei  der  Gicht. 

Der  Schmerz  spielt  nach  Aussage  aller  Leidenden 
bei  dieser  Krankheit  eine  so  wichtige  Rolle,  dass  es 


Si 


fast  scheint,  als  seien  alle  anderen  Erscheinungen  darin 
gleichsam  zusammengefasst.  Dies  veranlasste  auch  einen 
alten  Professor  der  Klinik  zu  dem  Ausspruch,  dass  die 
zur  Zeit  des  Hippokrates  lebenden  Griechen,  falls  sie 
jemals  versucht  gewesen  wären,  dem  Podagra  einen 
Tempel  zu  errichten,  über  die  Eingangsthür  nichts  Bes- 
seres hätten  schreiben  können,  als  das  einfache  Wort: 
’:Uyoc. 

Wie  bei  allen  Krankheiten,  in  welchen  dies  Ele- 
ment vorherrscht,  hat  auch  der  Gichtschmerz  seine  ver- 
schiedenen Abstufungen,  von  jenen  flüchtigen,  hin  und 
wieder  gleitenden  Schmerzen  an,  die  sich  in  den  kleinen 
Gelenken  noch  nicht  fixirt  haben,  bis  zu  dem  fürchter- 
lichen, unerträglichen  Gefühl  („amarissimus“,  wie  Syden- 
ham  sagt)  hin,  welches  die  Zehen  zusammenschnürt, 
sie  mit  scharfen  Dolchstichen  durchbohrt  und  den  Kran- 
ken alle  Phasen  einer  wirklichen  Tortur  durchleben  lässt. 

Ein  alter  normannischer  Arzt  des  XVI.  Jahrhunderts, 
Bretonnagan,  welcher  der  Gicht  eine  souveraine  Ab- 
neigung zu  zollen  scheint,  sagte  in  marotischen  Versen, 
dass  die  Hölle  einem  Menschen,  der  jedes  Verbrechen 
begangen  habe,  keine  grausamere  Strafe  auferlegen  könne 
und  dass  selbst  das  Rad  des  Ixion  und  die  Qualen  des 
Tantalus  der  Gicht  vorzuziehen  .seien.  Sydenham, 
welcher,  ohne  sich  in  gleich  hyperbolischer  Weise  zu 
äussern,  gegründete  Ursache  hatte,  die  Gefühle  des  nor- 
mannischen Arztes  zu  theilen,  da  er  seine  Abhandlung 
über  das  Podagra  während  der  unaufhörlichen  Anfälle 
desselben  verfasste,  sagte,  dass  die  Gicht  mehr  geist- 
reiche als  beschränkte  Leute  umbringe.  Die  Statistik 
hat  sich  in  dieser  Richtung  noch  nicht  vernehmen  lassen, 

v.  Heyden,  Studien  über  die  Salicylsäure.  6 


82 


indessen  ist  dies  immerhin  eine  recht  liebenswürdige  Art 
und  Weise,  seine  Leidensgefährten  zu  trösten. 

Definition  der  Gicht. 

Ein  moderner  Schriftsteller,  Ferrus,  beschränkt 
sich  bei  der  Definition  der  Gicht  zu  ihrer  Charakterisi- 
rung  auf  die  Aufzählung  der  hauptsächlichsten  Krankheits- 
erscheinungen, welche  sie  hervorruft:  scheinbar  ohne 
äussere  Veranlassung  entstehende  periodische  Schmerzen, 
Entstehung  von  Tophi.  Das  ist  Alles. 

Cruveilhier,  der  nicht  weniger  sparsam  mit  den 
Details  ist,  erblickt  in  ihr  nur  den  schmerzhaften  Aus- 
bruch eines  seiner  Natur  nach  unbekannten  Krank- 
heitsstofifes. 

Viele  Andere  haben  uns  Definitionen  geliefert,  die 
man  eher  Beschreibungen  nennen  könnte,  und  es  unter- 
liegt auch  keinem  Zweifel,  dass  die  beste  Definitions-- 
weise  der  Gicht  eben  ihre  Beschreibung  ist.  Ohne  den 
Letzteren  nachsprechen  zu  wollen,  müssen  wir  doch, 
sagen,  dass  dif  Gicht,  gleichviel  ob  sie  erblich  oder 
nicht  erblich,  acut  oder  chronisch  auftritt,  sich  durch 
einen  Ueberschuss  von  Harnsäure  im  Blut  charakterisirt, . 
welcher  Ueberschuss  sich  äusserlich  durch  periarticuläre 
Anschwellungen,  sowie  durch  plastische  Stoff- Ansamm- 
lungen bemerkbar  macht,  welche  sich  unter  dem  Namen 
Tophi  in  den  Gelenken  oder  fibromusculären  Geweben 
bilden.  Innerlich  offenbart  sich  die  Gicht  in  vorüber- 
gehenden oder  permanenten  Störungen  der  Organe, 
welche  unter  dem  Namen  Asthma,  Nierensteine,  nephro- 
tische Kolik  und  selbst  Blasen-Catarrh  mehr  oder  weni- 
ger auf  eine  gichtische  Diathese  zurückzuführen  sind. 


$3 


Ihr  Verlauf. 

Es  existirt  nichts  Hinterlistigeres,  nichts  Ueber- 
raschenderes  als  das  Auftreten  dieser  launenhaften  Krank- 
heit. Wenn  sie  sich  auch  häufig  durch  nicht  misszu- 
deutende Vorboten  ankündigt,  so  überrascht  sie  uns 
ebenso  oft  mitten  in  der  Nacht  im  blühendsten  Gesund- 
heitszustand und  erreicht  mit  rasender  Schnelligkeit  ihren 
Höhepunkt.  Dann  stösst  der  arme  Patient,  wenn  er 
nicht  mit  aussergewöhnlichem  Stoicismus  begabt  ist,  die 
herzzerreissendsten  Seufzer  aus,  der  Druck  selbst  der 
leichtesten  Decke  wird  ihm  unerträglich  und  er  wendet 
alle  möglichen  Mittel  an,  um  sich  Linderung  zu  ver- 
schaffen. Wenn  dieser  Anfall,  nach  Paroxysmen  von 
sehr  verschiedenartiger  Zeitdauer,  sich  durch  seine  eigene 
Heftigkeit  erschöpft  zu  haben  scheint,  stellt  sich  wieder 
vollkommene  Ruhe  ein.  Höchstens  erscheinen  noch 
dann  und  wann,  wie  die  letzten  Blitze  nach  einem  Ge- 
witter, andere  Anfälle,  die  aber  nach  und  nach  mit  all- 
mählich sich  ‘vermindernder  Heftigkeit  auftreten. 

Leider  darf  man  aber  nicht  vergessen,  dass  nach 
jedem  Anfall  die  gichtische  Anlage  zurückbleibt, 
welche  sich  wohl  einmal  während  etlicher  Wochen 
oder  Monate  austobt,  aber  bei  der  geringsten  Ver- 
anlassung und  selbst  ohne  eine  solche  sofort  wieder 
andere  Anfälle,  erneute  Schmerzen  zu  veranlassen  ver- 
mag. Dies  Schwanken  zwischen  momentaner  Besserung 
und  plötzlichen  Anfällen  bildet  jahrelang  die  Existenz 
der  unglücklichen  Gichtkranken,  bis  sie  endlich,  in 
schweren  Fällen,  von  der  eisernen  Faust  des  Uebels 
völlig  bezwungen  werden  und  halb  oder  ganz  gelähmt, 

6* 


84 


mit  verkrümmten  Gliedern  vegetiren  müssen.  Haben 
nicht  schon  viele  gekrönte  Häupter,  viele  berühmte 
Leute,  wie  unsere  liebenswürdigen  Dichter  Roger  de 
Beauvoir  und  Thdophile  Gauthier,  in  dieser  Weise 
enden  müssen?  Auch  unser  vortrefflicher  Fabeldichter, 
der  seiner  Zeit  täglicher  Zeuge  des  durch  die  Gicht  an- 
gerichteten Unheils  war,  schreibt  ihr  einen  ihrer  würdigen 
Ursprung  zu,  wenn  er  sagt: 

Quand  l’enfer  eut  produit  la  goutte 

Andrerseits  schreibt  Dr.  Erasmus,  welcher  sehr 
leidend  war,  an  einen  Freund:  „Ich  habe  Nierensteine, 
Du  hast  die  Gicht,  wir  haben  diese  beiden  Schwestern 
geheirathet.“  Er  täuschte  sich  nicht!  Dieser  gemein- 
same Ursprung,  der  seinem  Scharfblick  nicht  entgehen 
konnte,  wurde  später  von  unsern  geschickten  Klinikern 
Recamier  und  Trousseau  klar  bewiesen,  so  dass  er 
keinem  Zweifel  mehr  unterliegen  konnte.  Sie  legten 
ausserdem  noch  dar,  dass  das  nervöse  Asthma  und  die 
Migraine  unter  verschiedenen  Masken  und  Benennungen 
auf  die  gleiche  Abstammung  zurückzuführen  sei.  Uebri- 
gens  sprechen  sie  zu  gleicher  Zeit  die  tröstliche  Wahr- 
heit aus,  dass  die  verschiedenen  Glieder  dieser  Familie 
nur  wechselweise  von  unseren  Geweben  Besitz  ergreifen 
und  dass  ein  Collectiv-Auftreten  derselben  noch  niemals 
vorgekommen  ist.  Trousseau  liebte  es,  für  diesen 
bizarren  Wechsel  ein  interessantes  Beispiel  zu  citiren. 
„Ich  habe  einen  Freund,“  sagte  er,  „der  sehr  zeitig 
bereits  an  Asthma  und  Gichtanfällen  litt.  Wenn  er  in 
den  Gelenken  eine  anschwellende  Bewegung  fühlt,  ist 
sein  Athem  ganz  ausgezeichnet;  dagegen  sind  die  Ge- 
lenke frei,  sowie  sich  Erstickungsanfälle  seiner  bemäch- 


35 


tigen.  Schliesslich,  wenn  er  an  nephritischer  Kolik  und 
an  Nierensteinen  leidet,  hat  er  weder  Gicht  noch 
Asthma.“ 


Natur  der  Gicht. 

Vielleicht  wäre  hier  der  geeignete  Ort,  um  unsere 
Ansicht  über  die  Natur  der  Gicht  kurz  auseinanderzu- 
setzen; aber  die  Entwicklung  dieser  These,  welche  kein 
irgendwie  praktisches  Interesse  darbietet,  würde  uns  über 
die  Grenzen  einer  einfachen  Abhandlung  hinausführen. 
Ueberdies  sind  alle  auf  diese  Sachen  bezüglichen  Fragen, 
nach  den  mehr  oder  weniger  geistreichen  Hypothesen 
zu  urtheilen,  welche  Prof.  See  in  seiner  letzten  Arbeit 
der  Feuerprobe  seiner  strengen  Kritik  unterwirft,  noch 
weit  davon  entfernt,  einigermaassen  klar  und  entschieden 
beantwortet  werden  zu  können.  Wenn  wir  unter  diesen 
Hypothesen  eine  Wahl  zu  treffen  hätten,  so  würden  wir 
uns  ohne  Zögern  mit  derjenigen  einverstanden  erklären, 
welche  in  der  Gicht  eine  Steigerung  oder  vielmehr 
eine  Abweichung  der  Function  erblickt,  die  bei  der 
Bildung  der  Harnsäure  das  Hauptmoment  bildet.  Diese 
Ansicht  ist  ganz  gewiss  die  richtige,  und  an  dem  Tage, 
an  welchem  es  uns  gelingen  wird,  diese  Function  auf 
ihre  normale,  regelmässige  Thätigkeit  zu  beschränken, 
werden  alle  Erscheinungen  der  Gicht  sicher  sofort  ver- 
schwinden, um  allen  Attributen  der  Gesundheit  Platz 
zu  machen. 

Lassen  wir  indessen  diese  noch  so  vielfach  be- 
strittene Frage  ruhen  und  wenden  wir  uns  zu  einer  an- 
deren, die  zwar  auch  noch  nicht  völlig  erledigt  ist, 


86 


obgleich  sie  schon  lange  durch  klinische  Beobachtungen 
endgültig  entschieden  sein  sollte.  Es  handelt  sich  darum, 
zu  wissen,  bis  zu  welchem  Punkte  und  innerhalb  welcher 
Grenzen  die  Gicht  zu  behandeln  ist.  Wir  haben  weiter 
oben  die  Meinung  eines  Arztes  citirt,  nach  welcher  die 
Gicht  nichts  anderes  wäre  als  der  Ausbruch  eines  seiner 
Natur  nach  unbekannten  Krankheitsstoffes.  Heisst  es 
nun  nicht  die  Anstrengungen  der  sich  selbst  helfenden 
Natur,  dieses  pharmacum  naturae  des  grossen  englischen 
Praktikers  durchkreuzen,  wenn  man  durch  einen  vielleicht 
ungestümen  Eingriff  dieses  geheimnissvolle  Arbeiten 
stört?  Ist  es  nicht  besser,  um  noch  klarer  zu  sprechen, 
dass  man  eine  Krankheit  conservirt,  welche  gleichsam 
mit  dem  Leben  verbunden  ist,  anstatt  den  Ausbruch 
einer  anderen  Krankheit  zu  provociren  oder  vorzu- 
bereiten, bei  welcher  dies  nicht  der  Fall  ist? 

Ueber  diese  Doctrin  wird  seit  langer  Zeit  in  der 
Wissenschaft  hin  und  her  gestritten  und  man  muss 
gestehen,  dass  sie  bei  gewissen  Formen  der  Gicht,  bei 
sehr  alten  Leuten  zum  Beispiel,  zuweilen  ihre  Berech- 
tigung hat. 

Heisst  das  aber,  dass  man  in  allen  anderen  Fällen 
dem  Uebel  seinen  ungestörten  Verlauf  lassen  muss,  an- 
statt es  in  seinen  Fortschritten  zu  hemmen?  Wenn  man 
logisch  verfahren  wollte,  dürfte  man  es  dann  auch  nicht 
wagen,  irgend  welches  Mittel  gegen  chronische  Haut- 
krankheiten anzuwenden,  und  Ausschlagskrankheiten,  wie 
Pocken,  Masern  und  Scharlachfieber  könnten  wir  aus 
den  gleichen  Gründen  nur  als  müssige  Zuschauer  be- 
obachten, da  wir  ja  fürchten  müssten,  durch  die  An- 
wendung eines  Arzneimittels  eine  innere  Krankheit 


- 87  - 

hervorzurufen,  die  vielleicht  schlimmer  wäre  als  das 
ursprüngliche  Uebel  selbst. 

Ein  solches  System,  strikte  durchgeführt,  würde 
nichts  Geringeres  als  das  ruhige  Abwarten  bei  jeder 
Krankheit  zum  Gesetz  erheben,  was  ungefähr  auf  die 
Aufhebung  der  ganzen  Arzneiwissenschaft  hinauskäme. 
Ich  weiss  nicht,  ob  die  Kranken  viel  dabei  verlieren 
würden,  aber  das  weiss  ich  bestimmt,  dass  es  bezüglich 
der  Gicht  unsere  Pflicht  ist,  gegen  die  Verbreitung  einer 
solchen  Doctrin  zu  protestiren,  besonders  seit  Anwen- 
dung der  neuen  Behandlungsmethode. 

So  sehr  man  auch  nach  unserer  bescheidenen  Mei- 
nung diesen  besonderen  Krankheiten  gegenüber  bei  sehr 
alten  Leuten,  denen  sie,  um  mit  Trousseau  zu  reden, 
gewissermaassen  zur  Gewohnheit  geworden  sind,  mit 
äusserster  Vorsicht  zu  handeln  hat,  ebenso  sehr  muss 
man  sich  von  veralteten  Retrocessions-Theorien  fern  zu 
halten  suchen. 

Wir  freuen  uns,  dass  wir  in  diesem  Punkt  mit  einer 
so  grossen  Autorität,  wie  Prof.  G.  Sde  ist,  überein- 
stimmen. Dieser  Letztere  sagt,  dass  er  bei  21  von  ihm 
beobachteten  Fällen  kein  einziges  Mal  irgend  welches 
Zurücktreten  der  Gicht  auf  innere  Organe  zu  constatiren 
gehabt  habe.  Ist  dies  entgegen  jenen  Behauptungen 
Sydenham’s  und  Trousseau’s  nicht  genug  gesagt? 

Die  Diät. 

Unserer  Meinung  nach,  die  mit  derjenigen  der 
meisten  Aerzte  übereinstimmt,  welche  über  Gicht  ge- 
schrieben haben,  ist  die  Diät  bei  Behandlung  dieser 


88 


das  mächtigste  Hülfsmittel.  Natürlich  wird 
man  vollblütige,  sinnliche,  seit  langer  Zeit  an  gute  Kost 
und  Müssiggang  gewöhnte  Menschen  nicht  ebenso  be- 
handeln können  wie  solche  Personen,  die  von  schwäch- 
licher Constitution  sind,  viel  im  Zimmer  arbeiten  und 
deren  Blut  wenig  bildende  Kraft  besitzt.  Im  ersten  Fall 
muss  man  vor  Allem  durch  geeignete  Diät  und  Be- 
wegung auf  Ausscheidung  flüssiger  Stoffe  hinwirken;  im 
zweiten,  in  welchem  die  atonische  Gicht  vorzuherrschen 
scheint,  gilt  es,  dem  Organismus  die  ihm  mangelnden 
Widerstandsmittel  zuzuführen. 

In  der  That  spielt  die  Verdauungsthätigkeit  bei  der 
periodischen  Wiederkehr  und  Intensität  der  Anfälle  eine 
so  bedeutende  Rolle,  dass  allen  Kranken,  denen  ihre 
Heilung  am  Herzen  liegt,  vor  allen  Dingen  eine  sorg- 
fältige Diät  zu  verordnen  ist.  Der  Ausdruck  „seine 
Gicht  ernähren“  heisst  also,  sich  selbst  mit  ausserordent- 
lich stickstoffhaltigen,  albuminösen  Substanzen  ernähren, 
welche  eine  kräftige  Verarbeitung  oder  Verbrennung 
erfordern.  Wenn  die  Verdauungs-  und  Athmungsorgane 
in  diesem  Falle  ihre  Thätigkeit  nicht  verdoppeln,  so  entsteht 
ein  Missverhältnis  zwischen  Production  und  Consumtion 
und  in  dessen  Folge  die  Gicht,  welche  im  Grunde  nichts 
anderes  ist  als  eine  Reaction,  die  der  Organismus  in 
der  geeignetsten,  wenn  auch  vielleicht  nicht  gerade  lin- 
desten Form  bewerkstelligt,  um  das  Individuum  am 
Leben  zu  erhalten.  Müssen  wir  hierin  nicht  die  weise 
Vorsehung  der  Natur  bewundern,  welche  in  den  Kreis- 
lauf des  Lebens  eingreift  und  auf  verschiedenen  Rei- 
nigungswegen gewisse  heterogene  Producte  beseitigt, 
welche  im  richtigen  Moment  das  regelmässige  Spiel 


89 


unserer  Organe  in’s  Stocken  bringen  könnten?  Aber  nicht 
allein  eine  zu  stickstoffhaltige  Ernährung  ist,  mit  Aus- 
nahme der  Erblichkeit,  im  Stande,  die  Wiederkehr  der 
Anfälle  zu  veranlassen,  oder  die  Krankheit  bei  Solchen 
zum  Ausbruch  zu  bringen,  die  bis  dahin  von  derselben 
befreit  waren.  Alle  anstrengenden  geistigen  Arbeiten, 
im  Uebermaass  genossenes  Vergnügen,  Alles,  was  die 
Fähigkeiten  oder  Leidenschaften  zur  höchsten  Entwick- 
lung bringt,  in  einem  Wort  Alles,  was  anstrengt,  ent- 
nervt, überreizt,  muss  unter  die  nächsten  entscheidenden 
Ursachen  der  Gicht  gerechnet  werden.  Wir  dürfen  im  In- 
teresse unserer  Gichtkranken  ohne  Zögern  das  Höchste  for- 
dern, um  das  Geringste  zu  erhalten.  „Die  Leidenden  möch- 
ten alles  mögliche  thun,“  sagt  Ferrus,  „wenn  sich  ihre 
Schmerzen  erneuern,  und  sie  verzichten  auf  die  kleinste 
Vorsichtsmaassregel,  sobald  sie  weder  gesund  sind.“ 
Verhält  sich  die  Sache  nicht  so  in  den  meisten  Fällen? 

Uebrigens  hat  die  Gicht,  jederzeit  ihre  Unheilbaren 
aufzuweisen  gehabt,  die  man  „Volontaire“  nennen  könnte. 
Während  der  strengen  römischen  Republik  waren  der- 
artige Kranke  selten;  als  Augustus  aber  nach  seinen 
Siegen  in  seinem  Gefolge  alle  jene  von  Luxus  und  Ver- 
gnügen und  von  den  Schätzen  des  Orientes  Ueber- 
sättigten  nach  Rom  brachte,  da  war  die  Gicht  bald 
nichts  Ungewöhnliches  mehr.  Was  vermochten  die  weisen 
Rathschläge  und  Mittel  der  Schüler  des  Galenus  gegen 
den  allgemeinen,  Alles  mit  sich  fortreissenden  Zug  der 
Zeit?  Daher  stammt  vielleicht  der  berühmte  ovidische 
Vers  über  die  Unheilbarkeit  der  Gicht: 

Nodosam  nescit  curare  medicina  podagram. 

Wir  brauchen  nicht  so  weit  zurückzugreifen.  Die 


90 


Dinge  lagen  zur  Zeit  der  Regentschaft  und  des  Direc- 
toriums,  jenen  Uebergangszeiten,  ziemlich  ebenso.  Und 
selbst  heut  zu  Tage,  wie  Viele  giebt  es  nicht  unter  den 
berühmtesten  und  bewundertsten  Männern,  die  mit  dem 
raffinirtesten  Epicurismus  ihren  Angriffen  Trotz  bieten, 
um  schliesslich  doch  auch  zu  einem  verspäteten  Nach- 
denken über  sich  selbst  zu  erwachen! 

Wir  haben  also  gegründete  Ursache,  die  Gicht  als 
einen  Feind  zu  betrachten,  mit  welchem  nicht  zu  spassen 
ist,  denn  sie  bereitet  selbst  Denen  zuweilen  unerwartete 
Ueberraschungen,  welche  sie  mit  der  grössten  Aufmerk- 
samkeit beobachten.  Erkläre  sich  wer  es  kann  diese 
seltsamen  Evolutionen  ein  und  derselben  Krankheit, 
diese  schmerzhafte  Thätigkeit  sowohl  auf  der  Oberfläche 
als  im  Innern  unserer  Gewebe,  welche  heute  die  Lunge 
fast  bis  zur  Erstickung  zusammenpresst  (gichtisches 
Asthma)  und  morgen  im  Kopfe  ein  Gefühl  hervorruft, 
als  wenn  er  zerspringen  müsste  (Migraine),  welche  un- 
erträgliche nephritische  Schmerzen  verursacht  (Nieren- 
steine) und  wechselweise  in  den  verschiedensten  Organen 
des  Körpers  zur  Erscheinung  kommt.  Pierre  Desault, 
der  Verfasser  einer  vortrefflichen  Abhandlung  über  die 
Gicht,  sagt  ebenfalls,  durchdrungen  von  den  ernstlichen 
Verlegenheiten,  welche  eine  in  ihrem  Auftreten  so 
wechselnde  Krankheit  dem  Praktiker  bereitet:  „Wenn  ich 
zu  einem  sonst  Gichtkranken  gerufen  werde,  der  an  irgend 
einer  beliebigen  anderen  Krankheit,  die  Ansteckungs- 
krankheiten ausgenommen,  leidet,  so  verliere  ich  die  Gicht 
nie  aus  dem  Auge,  sondern  untersuche  immer  erst  arg- 
wöhnisch, ob  ihre  Laune  sich  nicht  hinter  einer  neuen 
Maske  versteckt  hat.“ 


91 


Solche  scharfsichtige  Reflexionen  dürfen  in  der 
Praxis  nie  ausser  Acht  gelassen  werden. 

Behandlung. 

Wenn  man  diesen  Punkt  der  Geschichte  der  Gicht 
erreicht  hat,  wird  man  von  dem  sicheren  Ton  über- 
rascht, mit  welchem  die  meisten  Aerzte  ihrer  Behand- 
lungsmethode Vortheile  zuschreiben,  deren  Privilegium 
sie  allein  zu  besitzen  scheint.  Und  dennoch,  was  finden 
wir  auf  dem  Grunde  jeder  dieser  Methoden  beinahe 
immer  wieder?  mehr  oder  weniger  maskirt  das  Colchi- 
cum, welches  die  Basis  aller  dieser  Behandlungsmethoden 
bildet,  wie  das  Opium  diejenige  des  Brustsyrups;  das- 
selbe Colchicum,  welches  seit  Paul  d’Egine  unter  dem 
Namen „Hermodacte“, *)  bis  auf  Storckes,  der  es  zuerst 
unter  seinem  wirklichen  Namen  anwendete,  immer  in 
allen  gut  empfohlenen  antiarthritischen  Compositionen 
zu  finden  gewesen  ist.  Die  Geschichte  des  Colchicums 
müsste  also  eigentlich  auch  die  Geschichte  der  Gicht 
von  ihrem  Ursprung  bis  zum  heutigen  Tage  umfassen. 

Da  wir,  als  wir  uns  dem  Studium  der  Gicht  und 
ihrer  Behandlung  widmeten,  durchaus  nicht  die  Präten- 
sion hatten,  eine  neue  Methode  aufzubringen,  sondern 
nur  bereits  erworbene  Erfahrungen  benutzen  wollten,  so 
wendeten  wir  uns  natürlicherweise  zum  Colchicum  und 
ahmten  darin  das  Beispiel  Scudamore’s  nach,  welcher 

x)  Unter  dem  Namen  Hermodactyli  scheinen  im  Alter- 
thum und  noch  im  Mittelalter  die  Knollen  mehrerer  Colchicum- 
Arten  auch  mit  denen  anderer  Pflanzen  zusammengeworfen  worden 

v.  H. 


zu  sein. 


92 


es  vielfach  anwendete,  obgleich  er  es  im  Grunde  als 
ein  sehr  unsicheres  und  manchmal  sogar  gefährliches 
Arzneimittel  betrachtete.  Das  Colchicum  besitzt  neben 
andern  Eigenschaften  auch  diejenige  der  raschen  Ein- 
wirkung auf  den  Schmerz,  welcher,  wie  wir  bereits  ge- 
sagt haben,  bei  der  Gicht  eine  so  bedeutende  Rolle 
spielt.  Daher  schien  seine  Anwendung  geeigneter,  als 
diejenige  anderer  Mittel,  welche  zwar  nicht  seine  Incon- 
venienzen,  aber  noch  viel  weniger  seine  Vortheile  dar- 
boten. Wir  waren  indessen  immer  weit  davon  entfernt, 
die  übertrieben  günstige  Meinung  Everard  Home’s 
zu  theilen,  welcher  nach  iSmonatlichem  eigenem  Ge- 
brauch das  Colchicum  als  Specificum  betrachtete.  Eben- 
sowenig konnten  wir  mit  Fievöe  übereinstimmen,  der 
seine  Wirkung  bei  der  Gicht  mit  der  Wirkung  des 
Chinins  bei  Wechselfieber  in  Vergleich  brachte.  Zwischen 
unserer  aufrichtigen  Meinung  und  einem  absoluten  Ver- 
trauen lag  eben  immer  der  ganze  Spielraum,  welcher  eine 
Möglichkeit  von  einer  Gewissheit  trennt.  Wir  wollen 
damit  sagen,  dass  wir  im  Laufe  der  Zeit  auf  etwas 
Besseres  hofften.  Unsere  Hoffnung  ging  auch  beinahe 
bald  in  Erfüllung.  Im  Jahre  1855  erschien  eine  vor- 
treffliche Broschüre  der  Herren  Bonjean  und  Soc- 
quet,  welche  die  vortreffliche  Wirksamkeit  der  Ben- 
zoate und  Natron-Silicate  besprach.  Diese  Mittel  mussten 
erprobt  werden  und  wir  thaten  es  auch  sofort  mit  dem 
lobenswerthesten  Eifer.  Um  der  Wahrheit  die  Ehre  zu 
geben,  müssen  wir  hier  erklären,  dass  wir  allerdings 
unter  den  bis  dahin  angewendeten  Mitteln  keines  kannten, 
dessen  Wirkungen  sich  sicherer,  dauerhafter  und  weniger 
gefährlich  erwiesen.  Wir  können  aber  nicht  einräumen,  dass 


93 


diese  Methode  schnellere  Heilung  veranlasste,  da  ihr  das 
Colchicum  in  dieser  Beziehung  ohne  Zweifel  vorzuziehen 
war.  Durch  Verbindung  der  verschiedenen  Mittel  war  es  uns 
indessen  möglich,  gute  und  legitime  Erfolge  zu  erreichen, 
und  ohne  zu  glauben,  dass  die  Wissenschaft  in  diesem 
Punkte  ihr  letztes  entscheidendes  Wort  gesprochen  habe, 
dachten  wir  doch,  wir  würden  noch  lange  im  Besitz 
des  einzigen  therapeutischen  Mittels  bleiben  müssen, 
welches  unseren  Anforderungen  einigermaassen  entsprach. 
Da  brachte  die  ausländische  Litteratur  das  Lob  der 
Salicylsäure  und  ihrer  Derivate  und  besprach  ihre  An- 
wendung bei  denjenigen  Krankheiten,  bei  welchen  uns 
die  Benzoate  und  Silicate  geboten  erschienen.  Die 
medicinische  Welt  begann  sich  zu  regen:  Herr  Ger- 
main  See,  der  berühmte  Professor  der  Klinik,  unter- 
nahm in  seinem  Hospital  klinische  Versuche  und  unterwarf 
alle  in  den  Fachjournalen  mitgetheilten  Gelenkrheuma- 
tismus-Fälle der  strengsten  Kritik.  Sobald  er  aus  diesen 
Untersuchungen  sichere  Schlüsse  zu  ziehen  vermochte 
und  Beobachtungen  gesammelt  hatte,  die  zur  Ueber- 
zeugung  zwingen  mussten,  las  er  vor  versammelter  Aca- 
demie  im  Juni  und  Juli  1877  eine  Abhandlung,  welche 
das  grösste  Aufsehen  erregte. 

Der  Mittheilung  einer  solchen  Autorität  gegenüber, 
die  von  den  unbestreitbarsten  Thatsachen  unterstützt 
wurde,  verstummte  jeder  Zweifel. 

Der  Verfasser  giebt  hierauf  ein  Resume  der  vorstehenden 
Arbeit  von  See,  welche  hier  füglich  übergangen  werden  kann;  er 
fährt  sodann  fort: 

Wir  müssen  gestehen,  dass  alle  diese  vollkommen 
verbürgten  Thatsachen  dermassen  von  der  gewöhnlichen 


94 


Regel  abweichen,  dass  sie  kaum  Glauben  finden  würden, 
wenn  sie  nicht  von  einer  unserer  bedeutendsten  medi- 
cinischen  Autoritäten  bestätigt  worden  wären,  wenn  sie 
nicht  in  Gegenwart  vieler  competenter  Zeugen  statt- 
gefunden und  vor  einer  Versammlung  von  Fachgelehrten, 
der  sie  öffentlich  vorgetragen  wurden,  ihre  Sanctionirung 
erlangt  hätten. 

Vor  einer  solchen  Menge  von  Beweisen  muss  jeder 
Scepticismus  weichen. 

Hatten  wir  also  nicht  Recht,  als  wir  am  Anfang 
unseres  Aufsatzes  von  einer  medicinischen  Eroberung, 
einer  friedlichen  Eroberung  sprachen,  welche  der  Mensch- 
heit nur  Gutes  erweisen  kann? 

Eine  andere,  wenn  auch  nur  nebensächliche  gute 
Eigenschaft  des  salicylsauren  Natrons,  welche  indessen 
durchaus  nicht  verachtet  werden  darf,  ist,  dass  es  sich 
sehr  leicht  einnehmen  lässt,  da  es  sich  in  Wasser  voll- 
kommen gut  auflöst,  weder  Geruch  noch  besonders 
unangenehmen  Geschmack  entwickelt  und  ausserdem  i 
zu  sehr  mässigem  Preise  zu  beschaffen  ist.  Man  hat: 
es  deshalb  schon  das  Chinin  der  Armen  genannt. 
Sollte  damit  gesagt  werden,  dass  es  mit  seinen  anderem 
bereits  so  zahlreichen  Eigenschaften  auch  noch  diejenige 
eines  antipyretisehen  Mittels  par  excellence  verbindet? 
Bis  jetzt  haben  wir  noch  keinen  positiven  Grund  daran 
zu  glauben,  aber  ebenso  wenig  dürfen  wir  dem  Mittel 
eine  Zukunft  in  dieser  Richtung  schon  jetzt  absprechen. 
Wir  haben  in  dieser  Beziehung  noch  die  kommenden 
Ereignisse  abzuwarten. 

Es  wird  Viele  geben,  welche  sich  berufen  fühlen 
werden,  die  Unannehmlichkeiten  des  neuen  Mittels  her- 


95 


vorzuheben,  denn  welches  Medicament  hätte  deren  nicht. 
Haben  wir  nicht  beim  Chinin,  beim  Jod  eine  Art  von 
Betäubung,  ohne  von  den  zahlreichen  anderen  vorüber- 
gehenden Intoxicationen  zu  sprechen?  Wir  werden  also 
auch  bei  sehr  starken  Dosirungen  eine  Salicyl-Reaction 
haben,  das  Ungefährlichste,  was  in  dieser  Art  existiren 
kann.  Uebrigens  kennen  wir  kein  einziges  Medicament, 
welches  sich  die  öffentlichen  Sympathien  schneller  ge- 
wonnen hätte,  und  wir  können  es  uns  nicht  versagen, 
auf  diesen  neuen  Ankömmling,  welcher  gleich  durch  die 
Pforte  des  Erfolges  und  unter  dem  Patronat  einer 
hohen  wissenschaftlichen  Autorität  in  die  Mitte  der 
medicinischen  Welt  eingetreten  ist,  mit  einem  gewissen 
Gefühl  von  Dankbarkeit  hinzublicken. 

Den  Zweifelnden  rufen  wir  nur  zu:  Versucht  es! 
Unser  erblicher . Gichtkranker,  der  seit  seiner  Heilung 
keinen  Rückfall  gehabt,  kann  uns  dies  nicht  oft  genug 
wiederholen. 

(Auszug  aus  dem  Moniteur  scientifique  des  Dr.  Quesneville. 

December  1877.) 


Die  folgenden  Notizen,  welche  dem  Londoner  Lan- 
cet  vom  13.  October  und  3.  November  1877  entnommen 
sind,  mögen,  wie  schon  in  der  Vorrede  hervorgehoben, 
noch  als  Beweis  dafür  gelten,  dass  die  Salicylsäure  bei 
Gelenkrheumatismen , im  Gegensatz  zu  verschiedenen 
widersprechenden  Behauptungen,  selbst  dann  noch  in- 
dicirt  ist,  wenn  die  Krankheit  in  Folge  von  Verschleppung 
und  längerer  Dauer  bereits  den  schlimmsten  Charakter 
angenommen  hat. 


Ein  schwerer  Fall  von  acutem  Gelenkrheumatismus  mit  Pericarditis 
und  Bronehial-Pneumonie,  welcher,  als  der  Patient  anscheinend 
bereits  im  Sterben  lag  und  die  Alkalien-Behandlung  sich  als 
erfolglos  erwiesen  hatte,  durch  Anwendung  von  salicyl- 
saurem  Natron  geheilt  wurde. 

Unter  Behandlung  von  Dr.  Whipham  im  St.  George- 
Hospital  zu  London. 

Dr.  Owen  hat  die  Güte  gehabt,  folgende  Beobach- 
tungen aufzuzeichnen. 

Sydney  D.,  21  Jahre  alt,  Klempner,  wurde  am 
13.  Dec.  1876  mit  einem  heftigen  Anfall  von  acutem 


97 


Gelenkrheumatismus  im  Hospital  aufgenommen.  Sein 
Vater  hatte  2 Mal  das  rheumatische  Fieber  gehabt  und 
seine  Mutier  war,  wie  man  sagte,  „gichtisch“.  Der 
Patient  selbst  hatte  als  Kind  Masern  und  Scharlach- 
fieber überstanden  und  litt  bis  zu  seinem  15.  Jahre  an 
Kopfweh  und  einem  übelriechenden  Ohrenfluss.  In 
späteren  Jahren  war  er  trotz  seines  übermässigen  Bier- 
trinkens kräftig  und  gesund  gewesen.  Andere  geistige 
Getränke  hatte  er  selten  zu  sich  genommen.  Schon 
3 Wochen  vor  der  Aufnahme  im  Hospital  litt  er  an 
Catarrh,  allgemeinem  Uebelbefinden  und  Schmerzen  in 
den  Schultern  und  14  Tage  vor  dem  Beginn  unserer 
Beobachtungen  stellten  sich  bereits  nach  und  nach  hef- 
tige Schmerzen  in  den  Gelenken  ein,  welche  mehrere 
der  Letzteren  gleichzeitig  afficirten.  Der  ihn  behan- 
delnde Arzt  wollte  es  vorläufig  nicht  gestatten,  dass  er 
in  das  Krankenhaus  gebracht  würde.  Ungefähr  1 Woche 
nach  Beginn  des  acuten  Gelenkschmerzes  warf  er  eines 
Nachts  die  Bettdecken  von  sich,  worauf  sich  am  fol- 
genden Morgen  Husten  und  Dyspnoe  zeigte.  In  diesem 
Zustande  verharrte  er  bis  zu  seiner  Aufnahme.  5 Tage 
vorher  entstand  auch  noch  Diarrhöe.  Bei  der  Auf- 
nahme wurde  Schmerz,  Anschwellung,  Rothe  der  Hand- 
und  Fussgelenke,  Husten  mit  leicht  schaumigem  Aus- 
wurf und  Dyspnoe  constatirt;  die  Zunge  war  roth  und 
dick  belegt.  Diarrhöe  unbedeutend,  kein  Erbrechen. 
Der  Patient  war  sehr  schwach  und  niedergeschlagen. 
Das  Thermometer  zeigte  am  Morgen  102,1°  Fahrenheit, 
Abends  102,6°  F.  Die  Brust  war  von  guter  Resonnanz 
und  nur  an  der  Herzspitze  verhältnissmässig  dumpfer 
Klang.  Die  linke  Brustseite  zeigte  sich  bei  Druck 

v.  Heyden,  Studien  über  die  Salicylsäure.  7 


98 


empfindlich.  Dabei  war  die  Respiration  nicht  ohne 
Schwierigkeit  und  man  hörte  an  Spitze  und  Basis  ein 
heiseres  Röcheln.  Die  Empfindlichkeit  der  Leber  er- 
streckte sich  ungefähr  bis  2 Zoll  unter  die  Rippen,  nahm 
dagegen  nach  oben  hin  nicht  zu.  Der  ganze  Unterleib 
zeigte  sich  im  Allgemeinen  sehr  geschwächt,  die  Haut 
war  feucht  und  strömte  einen  eigenthiimlich  starken 
Mäusegeruch  aus.  Alle  4 Stunden  wurden  2 Gran 
Chinin-Sulfat  und  1 Drachme  Kali  Bicarbonat  mit  Citro- 
nensäure  verabreicht;  ausserdem  täglich  3 Unzen  Brannt- 
wein und  zur  Schlafenszeit  einen  15  Gran  Chloral  ent- 
haltenden Trank. 

14.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  ioi°F.;  Abends 
102,1°  F. ; Puls  88;  Respiration  44.  Die  Schmerzen  in 
den  Gelenken  haben  abgenommen  und  alle  Symptome 
deuten  auf  Besserung  hin.  Zweimalige  Ausleerungen. 
Die  Zunge  zeigt  über  dem  weissen  Belag  auf  jeder  Seite 
einen  schmutzig  braunen  Streifen.  Der  Unterleib  ist 
noch  sehr  empfindlich  und  auf  der  Haut  wird  eine  An- 
zahl hellrother  Flecke  sichtbar,  welche  bei  Druck  ver- 
schwinden und  keine  eigentliche  Erhöhung  bilden.  Der 
Urin  ist  natürlich  gefärbt,  durch  harnsaure  Salze  getrübt, 
enthält  kein  Eiweiss  und  die  Phosphate  sind  in  fast 
normaler  Quantität  vorhanden. 

15.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  101, i°  F.; 

Abends  io2,4°F.;  Puls  88,  nicht  ganz  regelmässig;  Re- 
spiration 44.  Die  Schmerzen  haben  keine  Veränderung 
erfahren,  Husten  und  Dyspnoe  sind  gebessert,  nur  der 
Auswurf  etwas  blutstreifig  und  eiterig.  Dreimalige  Aus- 
leerungen; Unterleib  empfindlich,  jedoch  keine  Flecke; 
die  Zunge  ist  trocken  und  die  braunen  Flecke  treten 


99 


noch  deutlicher  hervor.  Ebenso  ist  der  Hautgeruch 
noch  ausgesprochener.  Die  präcordiale  Dumpfheit  zeigt 
sich  in  derselben  bis  jetzt  beobachteten  Ausdehnung; 
die  während  eines  Theiles  des  gestrigen  Tages  hörbare 
Friction  ist  verschwunden  und  die  Herzschläge  klingen 
sehr  entfernt.  Zur  Schlafenszeit  wird  dem  Patienten  ein 
Morphiumtrank  verabreicht. 

17.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  103,2°  F.; 
Abends  103,6°  F.;  Puls  104,  stark;  Respiration  44. 
Schmerz  und  Anschwellung  haben  nachgelassen;  geringes 
Delirium;  zweimalige  Ausleerungen;  Zunge  sehr  belegt; 
Herzschläge  stark;  keine  Friction  (Patient  scheint  für 
Percussion  zu  krank  zu  sein);  Unterleib  empfindlich; 
leichter  hirseförmiger  Ausschlag,  aber  keine  rothen 
Flecke.  Der  Urin  ist  von  natürlicher  Farbe,  klar,  alka- 
lisch, etwas  albuminös  und  wenig  Phosphat  enthaltend. 

18.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  103,6°  F.; 
Abends  103,6°  F.;  Puls  120,  hart;  Respiration  54.  — 
xx  Uhr  Morgens:  Während  der  Nacht  delirös,  am  Mor- 
gen bei  Bewusstsein;  beim  Husten  Brustschmerzen,  sowie 
Schmerzen  beim  Bewegen  der  Hände.  Der  Hautgeruch 
ist  weniger  bedeutend;  Patient  ist  sehr  herunter.  Alle 
4 Stunden  werden  5 Gran  Ammoniak-Carbonat,  20 
Tropfen  Aethergeist  und  1 Drachme  einer  aus  1 Unze 
Chinchona  und  zja  Unze  Camphorwasser  bestehenden 
Composition  verabreicht.  Zur  Nacht  wird  ein  Chloral- 
trank verschrieben,  sowie  ausserdem  täglich  eine  Mischung 
von  1 1 Unzen  Branntwein. 

19.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  103,2°  F.; 
Abends  102,8°  F.;  Puls  110;  Respiration  44.  — Mittags: 
Patient  hatte  eine  schlaflose  Nacht  ohne  bedeutendes 


7* 


IOO 


Delirium.  Seit  der  letzten  Notiz  siebenmalige  Aus- 
leerungen; Zunge  dick  belegt;  der  Zustand  ist  im  Ganzen 
so  wie  gestern.  Urin  natürlich  gefärbt,  klar,  sehr  sauer, 
etwas  albuminös  und  mit  mässigem  Phosphatgehalt.  Das 
Herz  war  seit  dem  17.  aus  Furcht  vor  Erkältung  nicht 
untersucht  worden.  Heute  liess  sich  keine  pericardiale 
Friction  vernehmen.  Es  werden  20  Gran  Bismuth-Nitrat 
zum  sofortigen  Einnehmen  verschrieben  und  die  Wieder- 
holung des  Medicamentes  für  den  Abend  angeordnet. 
Ausserdem  noch  zur  Nacht  ein  Morphiumtrank  (J/4  Gran). 

20.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  ioi,x°  F.; 

Abends  roi,8°F.;  Puls  108,  schwach;  Respiration  43.  — 
ix  Uhr  Vormittags:  Bis  zur  vorigen  Nacht  Diarrhöe, 
die  sich  indessen  mit  Hülfe  von  Bismuth  unterdrücken 
lässt.  Kein  Delirium  und  fester  Schlaf.  Patient  fühlt 
sich  wohler,  hat  aber  in  den  Gelenken  immer  noch  be- 
deutende Schmerzen.  Der  Unterleib  ist  ausserordentlich 
empfindlich  und  es  zeigt  sich  reichlicher  Schweiss.  Für 
gelegentlich  erforderliche  Anwendung  wird  eine  Kreide- 
mischung verschrieben. 

21.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  100,1 0 F.; 
Abends  ioi,i°  F.  — Mittags:  kein  Delirium.  Während 
der  Nacht  zweimalige  Ausleerungen.  Patient  schläft  jetzt. 

23.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  ioi,i°  F.; 
Abends  ioi,i°  F. ; Puls  104,  schwach;  Respiration  36.  — 
Mittags:  Kein  Delirium.  Neigung  zu  Diarrhöe,  welche 
vermittelst  der  Kreidemischung  unterdrückt  wird.  Der 
Schmerz  in  den  Gelenken  und  der  Schweiss  ist  so  wie 
früher.  Bei  festem  Druck  findet  grosse  abdominale  und 
präcordiale  Empfindlichkeit  statt.  Die  Herzspitze  (Prä- 
cordia)  ist  resonnirend,  die  Herzschläge  klingen  schwach 


IOI 


und  man  vermag  kein  Murmeln  oder  keine  Friction 
wahrzunehmen.  Der  Urin  ist  hellbraun,  durch  harn- 
saure Salze  getrübt  und  schwach  albuminös. 

24.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  99,4°  F.; 

Abends  ioi,i°  F.  Die  Schmerzen  in  den  Gelenken  sind 
nicht  mehr  so  heftig. 

25.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  99,4°  F.; 

Abends  100, 6°  F.  Natron-Umschläge.  Wiederkehr  der 
Schmerzen  in  den  Gelenken. 

26.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  99,4°  F.;  Abends 
101°  F.;  Puls  96;  Respiration  30.  Die  Schmerzen  in 
den  Gelenken  bessern  sich  durch  die  Umschläge.  In 
der  Nacht  Ausleerung,  jedoch  keine  wirkliche  Diarrhöe. 
Die  Haut  ist  trocken,  das  Gesicht  blass  und  der  Aus- 
wurf eiterig;  auch  ist  der  Mäusegeruch  noch  immer 
etwas  vorhanden  und  der  Unterleib  und  die  Herzspitze 
sehr  empfindlich.  Der  Urin  ist  dunkel,  klar,  sauer  und 
mit  schwachen  Eiweissspuren  versehen. 

28.  Dec.  — Temperatur:  Morgens  990  F.;  Abends 
iox°  F.;  Respiration  32.  Auch  während  des  ruhigen 
Liegens  zeitweilige  Schmerzen  in  den  Hand-  und  Fuss- 
gelenken;  die  anderen  Gelenke  schmerzen  jedoch  nur, 
wenn  sie  bewegt  werden.  Reichlicher  Schweiss  und 
Mäusegeruch,  keine  Diarrhöe.  Die  Zunge  ist  sehr  be- 
legt, der  Urin  klar,  dunkel  und  sauer. 

1.  Jan.  1877.  — Temperatur:  Morgens  99,8°  F.; 
Abends  ioi,6°  F. 

2.  Jan.  — Temperatur:  Morgens  100, 6°  F.;  Abends 
ioi,2°  F.;  3 Uhr  Nachmittags:  Puls  100.  Die  Zunge 
ist  weniger  belegt,  die  Haut  feucht  und  der  Mäuse- 


102 


geruch  nicht  mehr  so  intensiv.  In  beiden  Handgelenken 
sind  die  Schmerzen  sehr  heftig. 

5.  Jan.  — Es  werden  10  Gran  Bismuth  und 
6 Tropfen  schmerzstillende  Opiumlösung  in  ix/2  Unze 
Gewürznelken-Infusion  verschrieben. 

6.  Jan.  — Temperatur:  Morgens  990  F.;  Abends 
99,6°  F.;  Puls  104.  Der  charakteristische  Geruch  ist 
kaum  noch  wahrnehmbar.  Der  Schweiss  ist  reichlich, 
die  Schmerzen  in  den  Handgelenken  haben  nachgelassen. 
Erbrechen.  Ausleerung. 

10.  Jan.  — Temperatur:  Morgens  ioo,4°F.;  Abends 
101,5°  Puls  I3°-  Zunge  beinahe  rein.  Der  Schmerz 
hat  im  rechten  Handgelenk  abgenommen,  steigert  sich 
aber  im  linken  Handgelenk  und  linken  Ellbogen.  Er- 
brechen. 

13.  Jan.  — ix  Uhr  45  Min.  Vormittags:  Zunge 
roth  und  rein;  heftige  Schmerzen;  keine  Uebelkeit; 
leichter  Husten  mit  einer  geringen  Quantität  eiterigen 
Auswurfs.  Man  verschreibt  x/2  Drachme  Aethergeist  in 
ix/2  Unze  Chinin  und  eine  vierstündlich  einzunehmende 
Eisenmixtur.  Ausserdem  täglich  8 Unzen  Portwein  und 
4 Unzen  Branntwein. 

14.  Jan.  — Temperatur:  Morgens  99°  F.;  Abends 
99°  F.  Ein  flechtenartiger  Ausschlag,  der  vom  rechten 
Mundwinkel  ausgeht  und  sich  über  einen  Theil  der 
Wange  verbreitet.  Erbrechen. 

15.  Jan.  — Leichte  Linderung  der  Schmerzen. 
Sehr  beunruhigendes  Erbrechen.  Alle  4 Stunden  eine 
aufbrausende  Ammonik-Citrat-Mixtur  einzunehmen. 

17.  Jan.  — Temperatur:  Morgens  98°  F.;  Abends 
98°  F.  Keine  Schmerzen.  Während  der  letzten  2 Tage 


— 103  — 

Husten.  Die  Untersuchung  ergiebt  etwas  Dumpfheit 
der  linken  Basis;  das  Athrnen  klingt  natürlich,  mit  Aus- 
nahme des  erwähnten  Theiles,  an  welchem  sich  heiseres 
Röcheln  vernehmen  lässt. 

18.  Jan.  — 5 Gran  Ammoniak-Carbonat,  5 Gran 
Kalium-Jodid  in  einem  Chinchona-Trank  von  1 1j2  Unze 
dreimal  täglich  einzunehmen. 

19.  Jan.  — Temperatur  99,1°  F.;  Puls  92;  Respi- 
ration 33.  Der  Schmerz  zeigt  sich  von  Neuem  in  der 
linken  Schulter  und  im  linken  Handgelenk,  der  Husten 
hat  dagegen  nachgelassen.  Der  Auswurf  ist  bei  dem- 
selben jedoch  zähe,  schaumig  und  an  einigen  Stellen 
moderfleckig.  Die  linke  Basis  klingt  dumpf  und  lässt 
beim  Athrnen  einige  schleimige  Töne  hören.  Der  Appe- 
tit ist  gut  und  die  Zunge  rein  und  roth. 

23.  Jan.  — 10  Tropfen  Eisen-Perchlorid  in  einer 
bitteren  Mixtur  dreimal  täglich  einzunehmen.  Ausser- 
dem Branntwein. 

26.  Jan.  — Seit  dem  gestrigen  Morgen  klagt  Pa- 
tient über  erneute  heftige  Schmerzen  im  linken  Arm 
und  Bein,  die  sich  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
auf  den  rechten  Arm  erstrecken.  Die  Zunge  ist  rein. 
Temperatur  ioo°  F. ; Puls  108,  sehr  schwach.  Es  wer- 
den jetzt  20  Gran  salicylsaures  Natron,  in  Kümmel- 
wasser alle  2 Stunden  einzunehmen,  verordnet. 

27.  Jan.  — • Temperatur  99,1°  F.;  Puls  112, 
schwach.  Zunge  rein  und  Appetit  gut.  Die  Schmerzen 
haben  seit  gestern  bedeutend  nachgelassen.  Der  linke 
Arm  ist  viel  besser,  dagegen  schmerzt  das  linke  Knie 
sehr  heftig.  Patient  ist  weniger  muthlos.  Die  Mixtur 


104 


wird  alle  4 Stunden  eingegeben  und  für  das  Knie  eine 
Jod-Salbe  verordnet. 

30.  Jan.  — Temperatur  98,5°  F.;  Puls  96.  Zunge 
rein.  Keine  Schmerzen.  Patient  fühlt  sich  viel  wohler. 
Die  Mixtur  wird  sechsstündlich  wiederholt. 

5.  Febr.  — Temperatur  98,5°  F.;  Puls  88.  Patient 
ist  während  der  letzten  3 Tage  aufgewesen  und  bessert 
sich  sehr  rasch.  Die  Mixtur  wird  zweimal  am  Tage 
verabreicht. 

10.  Febr.  — Puls  92.  Leichte  Wiederkehr  des 
Schmerzes  im  rechten  Knie  und  Rücken.  Die  Mixtur 
wird  dreistündlich  fortgebraucht. 

14.  Febr.  — Patient  hat  gar  keine  Schmerzen  mehr. 

27.  Febr.  — Gelegentliche  vorübergehende  Schmer- 
zen in  den  Schultern.  Der  Gang  ist  in  Folge  der 
Schwäche  etwas  schwankend.  Zunge  rein  und  Athmung 
regelmässig;  Appetit  gut,  Puls  100.  Patient  wird  nach 
Morley’s  Reconvalescenten-  Hospital  in  Wimbledon 
geschickt. 

x.  März.  — Gelegentlich  Schmerzen.  Drei  Mal 
täglich  1 Drachme  Eisen-Phosphat-Syrup.  Im  Fall  ein- 
tretender Schmerzen  20  Gran  salicylsaures  Natron. 

18.  März.  — Seit  einer  Woche  keine  Schmerzen. 
Patient  ist  viel  kräftiger. 

28.  März.  — Aus  dem  Reconvalescenten-Hospital 
entlassen. 

Bemerkungen  von  Dr.  Wipham.  — Von  dem 
heftigen  Auftreten  des  rheumatischen  Anfalles  ganz  ab- 
gesehen, ist  obiger  Fall  auch  noch  insofern  interessant, 
als  er  die  segensreiche  Wirkung  der  jetzt  allgemein  be- 
kannten Salicylsäure  in  klarster  Weise  darlegt . und  zu- 


io5 


gleich  die  Thatsache  feststellt,  dass  die  Anwendung  des 
Medicamentes  auch  dann  noch  angezeigt  erscheint,  wenn 
die  lang  anhaltende  Dauer  der  rheumatischen  Symptome 
bereits  äusserste  Erschöpfung  herbeigeführt  hat.  Der 
Patient  war  schon  bei  der  Aufnahme  ausserordentlich 
schwach  und  empfand  heftige  acute  Schmerzen,  zu  deren 
Linderung  starke  Dosen  Alkalien  mit  2 Gran  Chinin 
verordnet  wurden.  Da  bereits  Diarrhöe  vorhanden  war 
und  sich  dieselbe  bekanntlich  in  Folge  solcher  starken 
Alkaliendosen  sehr  häufig  in  noch  höherem  Grade  ent- 
wickelt, so  fügte  man  noch  Kali-Bicarbonat  hinzu,  in  der 
Hoffnung,  dass  der  acute  Schmerz,  welcher  das  bei 
Weitem  vorherrschende  Element  bildete,  dadurch  besei- 
tigt werden  würde.  Der  anfänglich  mit  harnsauren  Salzen 
getrübte  Urin  wurde  nach  5 Tagen  alkalisch,  am 
6.  Tage  war  def  Patient  jedoch  so  schwach,  dass  Be- 
lebungsmittel und  stärkende  Mixturen  in  Anwendung 
kommen  mussten.  Die  Diarrhöe  hielt  immer  noch  an 
und  wich  erst  am  8.  Tage  nach  dem- Gebrauch  2 starker 
Dosen  Bismuth.  Die  Schmerzen  in  den  Gelenken  blie- 
ben ohne  Linderung  und  es  fand  trotz  aller  angewen- 
deten Mittel  in  den  nächsten  3 Wochen  wenig  oder  gar 
keine  Besserung  statt.  Man  debattirte  oft  darüber,  ob 
der  Gebrauch  der  Salicylsäure  nicht  gerathen  sei,  ver- 
warf die  darauf  bezüglichen  Vorschläge  jedoch  stets 
wieder  wegen  der  grossen  Schwäche  des  Pa- 
tienten, die  man  vermittelst  dieses  Medicamentes  zu 
vermehren  fürchtete.  Die  Temperatur  des  Kranken  war 
inzwischen  von  102 0 F.  allmählich  auf  99 0 F.  herab- 
gegangen. Am  11.  Jan.  1877,  4 Wochen  nach  der 
Aufnahme,  wurde  dem  Patienten  Chinin,  Eisen  und 


io6 


Aether  mit  Alkohol  (Branntwein  und  Portwein)  ver- 
schrieben und  3 Tage  später  zeigten  sich  an  der  linken 
Lungen-Basis  Symptome  von  Broncho-Pneumonie.  Vom 
15.  bis  zum  23.  Jan.  nahm  er  verschiedene  Mixturen, 
wie  Ammoniak,  Kalium-Jodid,  Eisen-Perchlorid,  Phos- 
phorsäure und  Strychnin.  Am  26.  Jan.  kehrten  die 
Schmerzen,  die  kürzlich  etwas  nachgelassen  hatten,  mit 
erneuter  Gewalt  zurück  und  am  folgenden  Tage,  als 
man  an  der  Rettung  des  jungen  Mannes  bereits 
verzweifelte,  entschloss  man  sich  endlich  zur  An- 
wendung der  Salicylsäure  und  verschrieb  als  letz- 
tes Zufluchtsmittel  salicylsaures  Natron  in  kleinen 
Dosen,  zweistündlich  einzunehmen.  Das  Resultat  dieser 
Veränderung  in  der  Behandlung  war  ein  fast  unmittel- 
bares und  die  Fortschritte  der  Besserung  setzten  Alle 
in  Erstaunen,  welche  den  Fall  beobachtet  hatten.  Noch 
am  25.  Jan.  hatte  man  alle  Hoffnung  auf  Besserung 
aufgegeben  und  am  26.  Jan.  mit  dem  Gebrauch  des 
salicylsauren  Natrons  angefangen.  Am  27.  Jan.  war  der 
Patient  viel  wohler  und  kräftiger  und  3 Tage  später 
hatte  er  keine  Schmerzen  mehr  und  fühlte  sich  viel 
besser.  Noch  3 Tage  später  (2.  Febr.)  stand  er  be- 
reits auf. 

Im  Februar  und  März  litt  Patient  noch  an  gelegent- 
lichen unbedeutenden  Schmerzen  in  verschiedenen  Ge- 
lenken, welche  nach  Einnehmen  des  Medicamentes 
immer  sofort  auf  hörten,  und  am  28.  März  verliess  er 
Atkinson  Morley’s  Reconvalescenten- Hospital  in  ver- 
hältnissmässig  guter  Gesundheit. 


107 


Behandlung  des  acuten  Rheumatismus  durch 
Salicylsäure-Präparate. 

Von  Engledue  Prideaux,  Resident  Surgeon  am  Scarborough 
Dispensary  und  Accident  Hospital  in  London. 

Es  sind  im  Lancet  kürzlich  verschiedene  Fälle  von 
acutem  Gelenkrheumatismus  berichtet  worden,  welche 
mit  Hülfe  der  Salicylsäure  und  deren  Präparate  geheilt 
wurden;  die  erreichten  Resultate  erscheinen  jedoch  in 
keinem  derselben  bezeichnend  genug  und  die  durch  die 
neue  Behandlungsweise  erzielten  Wirkungen  werden  nir- 
gends so  klar  dargelegt,  wie  man  es  wohl  erwarten  könnte. 

Nachdem  ich  einige  20  Fälle  mit  Salicylsäure  be- 
handelt habe,  finde  ich,  dass  die  Erfolge  in  schlagend- 
ster Weise  den' Beweis  dafür  liefern,  dass  dieses  Prä- 
parat die  Kraft  besitzt,  durch  seine  fast  unfehlbare 
Wirksamkeit  die  Krankheitsdauer  abzukürzen.  Meine  Be- 
handlungsmethode scheint  indessen  von  der  gewöhnlich 
gebräuchlichen  einigermaassen  abzuweichen  und  sie  ist 
es  gerade,  der  ich  meine  grossen  Erfolge  jedenfalls  zu- 
zuschreiben habe.  Da  die  im  Gefolge  der  Krankheit 
auftretenden  Complicationen,  besonders  die  Herzcompli- 
cationen,  mehr  zu  fürchten  sind,  als  die  Krankheit  selbst, 
so  scheint  es  mir  in  der  Hauptsache  darauf  anzukommen, 
dass  die  Dauer  der  Krankheit  abgekürzt  und  ihre  In- 
tensität vermindert  wird,  denn  es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  dass  die  Gefahr  der  Herzcomplicationen  um  so 
näher  liegt,  je  länger  die  Krankheit  dauert  und  je  hef- 
tiger sie  sich  entwickelt.  Ich  halte  aus  diesem  Grunde 
diejenige  Behandlung  für  die  beste,  welche  die  Dauer 


io8 


der  Krankheit  am  schnellsten  abkürzt  und  durch  Ge- 
brauch von  Salicylsäure  in  den  von  mir  angewendeten 
Dosirungen  lässt  sich  dieselbe,  wie  ich  mit  Bestimmtheit 
behaupten  kann,  in  den  meisten  Fällen  auf  36  bis 
48  Stunden  im  Ganzen  beschränken. 

Nach  meiner  Methode  verordne  ich  Erwachsenen 
während  der  ersten  12  Stunden  stündlich  oder  zwei- 
stündlich 20  Gran  Salicylsäure  in  Lösung,  je  nach  der 
Heftigkeit  der  Symptome  und  der  Art  und  Weise  wie 
sie  verschwinden.  Als  ich  die  Methode  zuerst  anwen- 
dete, löste  ich  die  Säure  in  Natron-Bicarbonat  und  fand 
den  plötzlichen  raschen  Fall  der  Temperatur  häufig  be- 
unruhigend. Später  benutzte  ich  Ammoniak-Carbonat, 
um  diesen  Collaps  zu  vermeiden  und  die  Wirkung  der 
Salicylsäure  doch  dabei  nicht  zu  beeinträchtigen,  und 
jetzt  gebrauche  ich  stets  folgende  Formel:  Salicylsäure 
20  Gran;  Ammoniak-Carbonat  5 Gran;  Natron- 
Bicarbonat  5 Gran  und  1 Unze  Wasser.  Dies 
bildet  eine  sehr  angenehme  Mischung,  welche  Kinder 
gern  einnehmen  und  die  kein  Erbrechen  hervorruft. 

Meine  Patienten  zeigen  nach  den  ersten  12  Stunden 
der  Behandlung  nicht  ganz  unbedeutende  Symptome 
von  Salicylismus,  wenn  ich  es  so  nennen  darf.  Da- 
gegen ist  die  Temperatur  eine  fast  normale  geworden 
und  alle  Krankheitssymptome  sind  in  beinahe  magischer 
Weise  verschwunden.  Die  Schmerzen  und  die  Gelenk- 
Anschwellungen  haben  aufgehört  und  nachgelassen,  die 
Patienten  geben  dem  Arzt  die  Versicherung,  dass  sie 
fürchterlich  geschwitzt  hätten,  und  drücken  den  Wunsch 
aus  aufzustehen.  Nun  lasse  ich  die  20  Gran-Mixtur 
nur  alle  4 bis  6 Stunden,  je  nach  den  Umständen,  ein- 


109 


nehmen  und  die  Salicylismus-Erscheinungen  verschwin- 
den, sobald  die  Dosis  nicht  mehr  so  häufig  verabreicht 
wird.  Nach  i oder  2 Tagen  setze  ich  einer  Unze  Mix- 
tur noch  5 Gran  Eisen-Citrat  und  Ammoniak  zu  und 
lasse  dies  eine  Zeit  lang  brauchen. 

Ich  fuge  hier  noch  einige  Notizen  über  einige  mir 
kürzlich  vorgekommene  Fälle  bei. 

Fall  1.  — 30  Jahre  alter  Mann.  Anschwellung  im 
linken  Knie  und  Knöchel;  intensive  Schmerzen.  Tem- 
peratur um  6 Uhr  Nachmittags  102,8  F.;  Puls  142. 
Die  20  Gran-Mixtur  stündlich  verordnet.  Nach  Verlauf 
von  6 Stunden  ist  die  Temperatur  99,8°  F.  Am  näch- 
sten Tage  ist  sie  normal  und  alle  Symptome  verschwunden. 

Fall  2.  — i9jähriges  Mädchen.  Beide  Kniee  und 
Knöchel  sind  sehr  geschwollen.  Pericardiale  Effusion 
mit  heftigem  Schmerz.  Die  20  Gran-Mixtur  alle  2 Stun- 
den einzunehmen.  Temperatur  ioi,8°  F.;  Puls  142.  — 
Am  2.  Tag:  Temperatur  98°  F. ; Puls  88.  Anschwel- 
lungen und  Schmerzen  beseitigt.  Unbedeutende  peri- 
cardiale Frictionstöne.  Patientin  steht  am  3.  Tage  auf. 

Fall  3.  — 20  Jahre  alter  Mann.  Ist  bereits  die 
ganze  Woche  krank  gewesen.  Beide  Kniee  stark  ge- 
schwollen. Patient  stöhnt  vor  Schmerzen  und  vermag 
sich  nicht  zu  bewegen.  Temperatur  101,2°  F. ; Puls  140. 
Die  20  Gran-Mixtur  wird  alle  2 Stunden  verabreicht.  — 
2.  Tag:  Patient  ist  aufgestanden,  die  Geschwulst  ist 
verschwunden,  ebenso  die  Schmerzen.  Temperatur 
99°  F.;  Puls  96.  Dieser  Mann  ging  am  4.  Tage  bereits 
wieder  arbeiten. 

Bei  dieser  Behandlungsmethode,  welche  ich  auch 
bei  Kindern,  natürlich  in  proportionirter  Dosirung,  an- 


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wende,  erreiche  ich  stets  die  besten  Resultate  und  ich 
kann  dreist  behaupten,  dass  sich  nach  Beginn  derselben 
niemals  Herzcomplicationen  entwickelten,  ja  dass  sogar 
bereits  vorhandenes  Herzgeräusch  (welches  übrigens 
vielleicht  nicht  von  organischen  Läsionen  herrührte) 
beseitigt  wurde,  während  die  pericardiale  Effusion  immer 
entschieden  abnimmt. 

Allerdings  ist  es  richtig,  dass  diese  rasche  Methode 
die  Kranken  vielleicht  mehr  schwächt,  als  es  auf  andere 
Weise  geschieht,  sie  ist  aber  die  bei  Weitem  sicherste 
und  zuverlässigste.  Die  Reconvalescenz  zieht  sich  in 
einigen  Fällen  etwas  in  die  Länge,  dafür  ist  aber  die 
Krankheit  selbst  unendlich  mehr  abgekürzt  und  der 
Patient  wird  bei  dieser  Behandlung  am  schnellsten 
wieder  hergestellt. 

Unglückliche  Symptome  sind  mir  in  meiner  Praxis 
niemals  vorgekommen,  und  wenn  die  begleitenden 
Symptome  zuerst  auch  manchmal  beunruhigend  aussehen, 
so  verschwinden  sie  doch  bei  Verminderung  der  Dosis 
sehr  rasch,  ohne  eine  Spur  zurückzulassen. 

Es  sind  allerdings  Fälle  berichtet  worden,  in  denen 
die  Salicylsäure  keinen  Erfolg  hatte.  Da  ihre  vortreff- 
liche Wirkung  aber  sonst  so  einstimmig  anerkannt  wird, 
so  ist  die  Annahme  wohl  erlaubt,  dass  die  Dosis  in 
diesen  Fällen  zu  klein  war  und  in  Folge  dessen  die 
gewünschten  Resultate  ausblieben.  (Hierbei  erwähne 
ich,  dass  20  Gran  Salicylsäure  30  Gran  salicylsaurem 
Natron  gleichkommen,  welch  Letzteres  jetzt  fast  allge- 
mein angewendet  wird.)  Aber  trotz  dieser  wenigen 
Misserfolge  erscheint  mir  die  Salicylsäure  bei  der  Be- 
handlung des  acuten  Rheumatismus  von  ungleich  grösserem 


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Werth,  als  jedes  andere  bis  jetzt  zu  diesem  Zweck  ver- 
wendete Mittel,  da  ihre  Wirkung  bei  geeignetem  Ge- 
brauch ausserordentlich  sicher  ist  und  die  Gefahr  der 
Herzcomplicationen  durch  rasche  Abkürzung  der  Krank- 
heit am  Besten  vermieden  wird.  Schon  die  letztere 
Eigenschaft  allein  müsste  die  allgemeine  Einführung  des 
Salicyl-Medicamentes  bei  Rheumatismen  rechtfertigen. 


Verlag  von  Joh.  Ambr.  Barth  in  Leipzig. 


Fontheim,  K. , H.  Kolbe  u.  F.  A.  Zürn.  Ueber  die 
Wirkung  der  Salicylsäure  als  Arzneimittel.  Drei  Abh. 
8°.  12  Seit.  1875.  M.  0,40. 

Heyden,  Friedr.  v.  Die  Salicylsäure  und  ihre  Anwen- 
wendung  in  der  Medicin,  der  Technik  und  im  Hause. 
gr.-8°.  36  Seit.  1876.  M.  0,80. 

Hüfner,  G-.  Betrachtungen  über  die  Wirkungsweise  der 
ungeformten  Fermente  als  theoret.  Einleitung  in  die 
Lehre  v.  d.  Verdauung,  gr.  8°.  29  S.  1872.  M.  0,75. 

Kolbe,  Herrn.  Chemische  Winke  für  praktische  Ver- 
wendungen der  Salicylsäure.  gr.-8°.  15  Seit.  1876. 

M.  0,40. 

Abweisung  nicht  begründeter  Urtheile  von  Halb- 
chemikern üb.  d.  antiseptischen  Eigenschaften  d.  Sa- 
licylsäure. — E.  v.  Meyer  u.  H.  Kolbe,  über  die 
antisept.  Wirk.  d.  Salicyl-  u.  Benzoesäure  in  Bierwürze 
u.  Harn.  6°.  43  Seit.  1875.  M.  0,90. 

Meyer,  Ernst  v. , u.  H.  Kolbe.  Versuche  über  die 
gährungshemmende  Wirkung  der  Salicylsäure  u.  and. 
aromat.  Säuren.  8°.  21  Seit.  1875.  M.  0,50. 

Neubauer,  C.  Ueber  die  gährungshemmende  Wirkung 
der  Salicylsäure.  (3.  Abh.)  8°.  16  Seit.  1875.  M.  0,40. 


Erdmann,  B.  A.  Die  Anwendung  der  Electricität  in 
der  praktischen  Medicin.  4.  ganz  umgearb.  Aufl.  von 
Duchenne-Erdmann,  die  örtl.  Anwend.  d.  Electr.  u. 
s.  w.  gr.  8°.  VIII,  311  Seit.  m.  72  eingedr.  Holz- 
schnitten. 1877.  L20- 


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