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Kl 4058
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Medicinische Studien
über
SALI CYLSÄURE
und
SALICYLATE.
Nach französischen und englischen officiellen Berichten
übersetzt von
M. Witt ich.
Leipzig, 1878.
von Joh. Ambr.
Herausgegeben durch
Friedrich v
'IM- SST- W
WELLCOi. : i'iTUTE
LISP^Y
Coli.
wr m ec
Cf.il
No.
ß.v.
Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.
Vorwort.
In der Sitzung des 26. Juni 1877 der Academie
de medecine in Paris wurde von Prof. Germain See
ein Vortrag über den medicinischen Werth der Sali-
cylsäure und deren Präparate gehalten, welcher, auf
vielseitige, höchst exacte Beobachtungen und Erfah-
rungen sich stützend, eine solche Fülle von beach-
tenswerthem Material enthält, dass es berechtigt
erscheinen durfte, mit der Erlaubniss des berühmten
französischen Klinikers diese so ausführliche Arbeit
auch den deutschen Medicinern in bequemerer Weise
zugänglich zu machen, selbst auf die Gefahr hin,
sehr vielen deutschen Aerzten nicht durchweg Neues
zu bieten.
Einige andere Berichte des Auslandes glaubte
ich zur weiteren Illustrirung des von See berührten
Themas nicht übergehen zu sollen und habe diese
daher der klassischen Arbeit von See angeschlossen.
Jede derartige Mittheilung dient schliesslich immer
dazu, grössere Klarheit in eine Sache zu bringen,
durch welche Aerzte wie Leidende nur gewinnen
können.
IV
Man hat gegen mich, nachdem ich in Folge der
epochemachenden Entdeckungen von Kolbe die
Salicylsäure allgemein zugänglich gemacht, den leicht-
fertigen Vorwurf erhoben, dass ich die Salicylsäure
zu einem Universalmittel aufgeputzt hätte. Die Mo-
tive für solche Insinuationen waren in den meisten
Fällen unschwer zu finden. Man wird mich aber für
urtheilsfähig genug halten dürfen, um mir zuzutrauen,
dass ich sehr genau weiss, wie abgeschmackt es
wäre, den Männern der Wissenschaft und Praxis mit
einer so bizarren Behauptung gegenübertreten zu
wollen. Die Anwendung der Salicylpräparate in der
Medicin und im practischen Leben ist einfach die
unabweisbare logische Folge exacter wissen-
schaftlicher Untersuchungen. Ich habe es da-
her für richtig und würdig gehalten, die Sache sich
selbst entwickeln zu lassen, da ich zuversichtlich an-
nehmen durfte, dass Diejenigen, welche von den Eigen-
schaften des Präparates belehrt, dasselbe für die ge-
eigneten Gebiete hinlänglich schätzen und gebrauchen
lernen würden, wenn es seinen Zwecken entspräche.
Meine Erwartungen sind durch die Thatsachen bei
Weitem übertroffen worden, und wenn auch die Salicyl-
säure unmöglich ein Specificum für Alles sein konnte —
wie auch Prof. See in dem ersten Theil seiner acade-
mischcn Rede die noch nicht völlig geklärten Ver-
hältnisse und zum Theil negativen Resultate ohne
jede Schönfärberei darlegt — so haben die Salicyl-
präparate innerhalb ihres fest gezeichneten Gebietes
sich doch so viel Freunde erworben, dass der voll-
gültige Beweis der Thatsachen an die Stelle der
V
wissenschaftlichen Speculation und Hypo-
these getreten ist.
Die Arbeit des französischen Klinikers zerfällt
wesentlich in 3 Hauptabschnitte: in dem ersten
werden, nach einigen historischen und chemischen
Aufzeichnungen, die physiologischen Wirkungen der
Salicylsäure besprochen und als Ergebniss hervor-
gehoben, dass physiologische Dosirungen von
2 bis 4 Gramm pro Tag nicht die geringste Stö-
rung im Organismus hervorzurufen geeignet sind,
während als therapeutisch heilsamste Dosen
5 bis 6 Gramm Salicylsäure (oder 10 Gramm sali-
cylsaures Natron) angesehen werden dürfen. Es
stimmen diese Zahlen auch mit den von anderer Seite
angegebenen überein.
Im zweiten Abschnitt theilt See seine Re-
sultate bei fieberhaften Krankheiten, Typhus u. s. w.,
mit und kommt zu dem Bekenntniss, dass er hier
keine so durchschlagenden Erfolge aufzuweisen habe,
um in diesen Fällen die Salicylsäure und deren
Natronsalz als Specificum ansehen zu können;
hierbei lenkt er die Aufmerksamkeit der Mediciner
auf das Chinin, salicyl., welches da voll befriedigt
hätte, wo ihn Chinin, sulf. und Natr. salicyl. jedes
für sich bei jahrealtem Fieber hartnäckig im Stich
gelassen.
Im dritten Abschnitt endlich führt er die
Fälle des Rheumatismus und der Gicht vor, für
welche die Salicylsäure als sicherstes Specificum zu
erklären er keinen Anstand nimmt. Der an die
Arbeit von See sich anschliessende Aufsatz von
VI
Hery (aus dem Moniteur scientifique, Paris 1877)
möge als Stimmungsbild dafür dienen , wie man in
der französischen medicinischen Welt die klinischen
Ergebnisse des Prof. See aufgenommen und endlich
die dem Londoner Lancet (1877) entnommenen No-
tizen beanspruchen durch die genauesten klinischen
Aufzeichnungen der dirigirenden AerzteDr. Whipham
im St. George-Hospital und Dr. Engledue Pri-
deaux im London Hospital um so mehr Aufmerk-
samkeit, als in ihnen gerade die viel verbreitete
Ansicht, dass alte verschleppte Rheumatismen mit
Salicylpräparaten nicht geheilt werden könnten,
schlagend widerlegt wird.
Mein verehrter Freund Witt ich hat bei der
Herausgabe und Uebertragung dieser Arbeiten durch
seine reichen Sprachkenntnisse mich in anerkennens-
werther Weise eifrig unterstützt, wofür ihm meinen
besonderen Dank hier auszusprechen ich nicht unter-
lassen kann.
Dresden, im Februar 1878.
Friedrich von Heyden.
I
Inhalt.
Seite
Vorrede III
I. Abhandlung von Prof. G. See 1—77
Geschichte der Salicylsäure i
Chemie der Salicylsäure 4
Verschiedene Salicylpräparate, Dosirung und Art der
Anwendung 6
Wirkung der Salicylsäure auf Fermente und Gährung 10
Physiologische Wirkung auf Thiere 12
Physiologische Wirkung der Salicylsäure und ihrer
Derivate auf den gesunden oder kranken Menschen 16
Klinische Beobachtungen 25
Behandlung septischer Krankheiten 25
Anwendung des salicylsauren Natrons als Antipyreti-
cum bei specifischem Fieber und bei Entzündungen 29
Anwendung der Salicylsäure bei rheumatischen
Affectionen, Gelenkrheumatismen, acuten,
fieberhaften und fieberlosen Rheumatismen . 35
Dauer der Krankheit bei Behandlung mit Salicyl-
Medicamenten 42
Vergleiche mit anderen Behandlungsmethoden ... 44
Chronische Rheumatismen. — Trockene Ar-
thritis; knotige Arthritis 47
Acute und chronische Gicht 53
VIII
Seite
Resume der Beobachtungen bei acuter Gicht ... 64
Beobachtungen über chronische Gicht 65
Nierensteine, Nieren- und Blasenaffectionen ... 69
Neuralgie
Schmerzhafte Affectionen des Rückenmarks ... 72
Innerliche Schmerzen 74
Schlusssätze 75
II. Gicht und Rheumatismus, von Dr. Hery in Paris . 78 — 95
Ueber die Erblichkeit der Gicht 79
Der Schmerz bei der Gicht 80
Definition der Gicht 81
Ihr Verlauf 83
Natur der Gicht 85
Die Diät 87
Behandlung 91
III. Ein schwerer Fall von acutem Gelenkrheumatismus mit
Pericarditis und Bronchial-Pneumonie, von Dr. Whipham
in London 96
IV. Behandlung von Gelenkrheumatismus, von E. Prideaux
in London 107
Studien über die Salicylsäure
Behandlung des acuten und chronischen Rheumatismus , der
acuten und chronischen Gicht und der verschiedenen Affektionen
des Nervensystems mit salicylsaurem Natron.
Mittheilung an die medicinische Akademie zu Paris am 26. Juni
und 3. Juli 1877. Von Professor Gemiciin See.
Im Jahre 1830 entdeckte der Apotheker Leroux
in Vitry-le-Frangois während des Suchens nach einem
Surrogat des Chinin -Sulfats in der Weidenrinde eine
krystallisirende Substanz, der er den Namen Salicin bei-
legte. Dieselbe besass eine dem Alkaloid der China-
rinde ähnliche Bitterkeit und schien berufen zu sein, bei
der Behandlung von Fieberkrankheiten ebenso wie das
Chinin eine wichtige Rolle zu spielen; die Versuche, die
man aber in verschiedenen Pariser Hospitälern damit
unternahm, realisirten keineswegs die Hoffnungen, welche
man darauf gebaut hatte. Da das Mittel nur in seltenen
hallen von Ertolg begleitet war, so begann man seine
Wirksamkeit zu bezweifeln und schliesslich fiel es beinahe
vollständig der Vergessenheit anheim.
v. Heyden, Studien über die Salicylsiitirc.
und die
Geschnellte der Salicylsäure.
I
Im Jahre 1831 fand Pagenstecher, Apotheker in
Bern, in den Blüthen der Spiraea Ulmaria oder Wiesen-
königin eine Salicyl-Verbindung, deren Identität mit dem
Bliithenöl dieser Pflanze von Dumas und Ettling nach-
gewiesen wurde.
Später erkannte Cahours bei der Prüfung einer
unter dem Namen Gaultheria- oder Wintergreen-Oel be-
kannten Essenz die Identität derselben mit dem Methyl-
Salicylat, welches man durch die Destillation von zwei
Theilen Holzgeist, zwei Theilen Salicylsäure und einem
Theil Schwefelsäure erhält. Man lässt, um Salicylsäure
zu gewinnen, das Wintergreen-Oel mit kaustischem Kali
kochen, präcipitirt darauf vermittelst Chlorwasserstoff-
säure, wäscht das Präcipitat mit kaltem Wasser und
lässt es von neuem in kochendem Wasser oder Alkohol
krystallisiren. Heut zu Tage bedient man sich nur noch
des Kolbe 'sehen Verfahrens, welches auf der synthe-
tischen Darstellung beruht: durch Gewinnung der Salicyl-
säure aus Phenol. Wenn man einen Strom Kohlensäure
in Phenol leitet während zu gleicher Zeit Natrium darin
sich auflöst, so bildet sich unter Entwicklung von Wasser-
stoff Natron -Salicylat.
Die physiologische Geschichte dieses Heilmittels
reicht bis zum Jahre 1855. Zu dieser Zeit machte
Bertagnini an sich selbst Versuche, welche durch ihre
Präcision höchst bemerkenswerth sind. „Zwei bis drei
Gramm Salicylsäure,“ sagt er, „bringen keine
Wirkung hervor; wenn man aber an zwei aut einander
folgenden Tagen sechs bis sieben Gramm täglich ein-
nimmt, so verursacht dies Ohrensausen und ein Gefühl
von Betäubung.“ Eine Stunde nach dem Einnehmen
0
der Säure erscheint dieselbe im Urin und man constatirt
in der ausgeschiedenen Flüssigkeit eine stickstoffhaltige
Säure, die er mit dem Namen Salicylursäure bezeichnet.
Diese Beobachtungen sind vollkommen exact.
Die Substanz war indessen in Vergessenheit ge-
rathen, bis Kolbe im Jahre 1S74 und 1875 einer
Reihe von Abhandlungen die Analogie des Derivates mit
der Carbolsäure selbst nachwies und ihre antiseptischen
Eigenschaften zur allgemeinen Kenntniss brachte.
Von dieser Zeit an bemächtigten sich die Aerzte
des neuen Mittels und wendeten es bei allen septischen,
eiterigen, zymotischen oder Fermenten und Parasiten zu-
geschriebenen Krankheiten an. — Die Anwendungen
wurden so zu sagen zahllos und die wissenschaftlichen
Fachzeitungen Deutschlands, Englands, Amerika’s und
Italiens sparten kein Loblied auf die unvergleichlichen
Tugenden dieses Universalmittels. Man wendete es
wirklich bei Septicämien , sowie bei allen specifischen,
typhösen und Ausschlags -Fiebern an; ferner bei ent-
zündlichen Symptomfiebern und zuletzt beim fieberhaften
Gelenkrheumatismus.
Inmitten dieser unzähligen Wunder und gewagtesten
Behauptungen unternahm ich es vom November 1876
an, die Thatsachen einer strengen Kritik zu unterwerfen
und alle Behauptungen, alle statistischen Nachrichten
durch zugleich klinische und physiologische Experimente
zu controliren. Diese Versuche führten mich zwar zum
Negiren mancher gewagten Behauptung, aber auch zu
neuen Anwendungsarten. Die Wirkung der Salicylsäure
bei acutem Rheumatismus erregte durch ihre Einfachheit
und Zuverlässigkeit mein Erstaunen und ich unternahm
1
4
in Folge dessen weitere Versuche in der Behandlung
des chronischen Rheumatismus und besonders der Gicht
in allen ihren Formen, gleichviel ob sie schmerzhaft,
oder langsam und chronisch auftrat.
Die Unterdrückung des Schmerzes bei diesen ver-
schiedenen schweren Krankheiten veranlasste mich, mit
Hülfe dieses Mittels eine gewisse Anzahl schmerzhafter
Affectionen zu behandeln, welche mit dem Rückenmark
oder den dasselbe umgebenden Nerven in engem Zu-
sammenhänge stehen.
Es sind die Resultate dieser zahlreichen Unter-
suchungen, welche ich der Akademie unterbreite. Zuerst
will ich die chemischen Eigenschaften der Säure erwähnen
und sodann die pharmaceutischen Präparate und die
Gruppe der Derivate, also der Salicylate, welche der
reinen Säure vorzuziehen sind, beleuchten.
Chemie der Salicylsäure.
Die chemischen und pharmaceutischen Untersuchun-
gen, welche ich über diesen Gegenstand veröffentlichen
will, sind mir durch die Unterstützung eines ausgezeich-
neten Apothekers, des Herrn Gallois, des Chemikers
Herrn Gar dy und meines Pharmaceuten Herrn Val mont
in seltenster Weise erleichtert worden. Man löst, um
Salicylsäure (nach neuer Kolbe’ scher Methode) zu
bereiten , Phenol in seinem Aequivalent concentrirter
Natronlauge auf, verdampft und erhitzt das Residuum
so lange, bis die Masse zu einem trockenen Pulver
geworden ist. Auf diese Weise gewinnt man Phenol-
natron, welches man bis über ioo Grad erhitzt und mit
5
einem Strom trockener Kohlensäure behandelt. Darauf
erhöht man die Temperatur nach und nach so lange,
bis sich unter dem Einfluss der Kohlensäure kein Phenol
mehr entwickelt.
So bildet sich also salicylsaures Natron in Gestalt
einer braunen, alkalischen Flüssigkeit, welche man mit
Chlorwasserstoffsäure präcipitirt.
Die frei gewordene Salicylsäure ist mit etwas Phenol
vermischt und es entsteht eine krystallinische Masse, welche
man durch mehrere auf einander folgende Krystallisa-
tionen reinigt.
Durch das Verfahren von Kolbe, Rautert1) und
Tresh, auf welches ich nicht näher eingehen kann,
wird sie reiner dargestellt.
Wird die Salicylsäure in einer wässrigen Lösung
krystallisirt, so nimmt sie die Gestalt langer Nadeln an.
Sie löst sich in 300 Theilen kalten (18 °) und 20
Theilen kochenden Wassers, bedeutend besser dagegen
im Alkohol, Aether oder Glycerin.
Millon’s Reagens färbt die wässrige Lösung roth;
ein Zusatz von Eisensalzen verursacht eine violette Fär-
bung, die sehr intensiv und selbst bei einer Tausendstel-
Lösung bemerkbar ist. Es ist dies ein fast sicheres
Mittel, um die Anwesenheit von Salicylsäure im Urin zu
entdecken, in welchen sie nach Verlauf einiger Minuten
übergeht.
') Rautert reinigt das Product durch Sublimation; hierbei
tritt aber stets partielle Zerlegung ein und die also mit Phenol ver-
unreinigte, anfangs schön aussehende Salicylsäure ist nicht rein und
fällt allmälicher Zersetzung anheim. v. H.
6
Die Salicylsäure verbindet sich leicht mit Basen,
Natron und Ammoniak und bildet in diesen Zusammen-
setzungen sehr leicht lösliche Salze, welche keinen
kaustischen Geschmack besitzen. Wir werden die sehr
verschiedenen Compositionen dieser Salze noch näher
bezeichnen.
Verschiedene Salicylpräparate, Dosirung und
Art der Anwendung.
Zu den bis jetzt angewendeten Salicylpräparaten
gehört i) die Salicylsäure, 2) das salicylsaure Natron,
3) das salicylsaure Chinin, 4) das salicylsaure Lithium,
welches ich darstellen liess, um es bei der Behandlung
der Gicht in Anwendung zu bringen, und 5) das Salicin,
das bereits gebraucht wurde und jetzt neuerdings wieder
von englischen Aerzten empfohlen wird.
1) Salicylsäure. — Diese Säure ist von Anfang
an in Gebrauch gewesen und ihr ist die Hauptwirkung
der Salicylate übrigens auch zuzuschreiben. Sie bietet
aber, selbst im reinen Zustande, mancherlei Unbequem-
lichkeiten dar und da sie sich in Wasser nur schwer, in ver-
dünntem Alkohol nicht viel besser auflöst1) und es ferner
geradezu unmöglich ist, sie in Verbindung mit Glycerin
einzunehmen, so ist der Gebrauch dieses Medicamentes
mit mancherlei Schwierigkeiten verknüpft. Am besten
lässt sie sich noch als Pulver einnehmen und dies habe
ich auch angewendet. Beim Beginn meiner Unter-
suchungen verschrieb ich täglich 5 bis 6 Gramm in
l) Die Salicylsäure löst sich in Alkohol absol. im Verhältniss
von 1:4! v- H.
7
io oder 12 Theilen und liess dieselben zweistündlich in
ungesäuertem Brod oder in Oblaten einnehmen.
Das Pulver verursacht jedoch, wenn es nicht gut
eingewickelt ist, einen irritirenden Geschmack und kann
durch Anhängen an dem Pharynx oder der Speiseröhre
in imangenehmer Weise wirken. Es sollen sogar kleine
Blutungen dieses Organes vorgekommen sein (Wolfs-
berg) und einige Male will man bei der Section kleine
Magengeschwüre gefunden haben. Es steht übrigens fest,
dass dieDosis in einigen solcherFälle übertrieben gross
war. So waren einem von Goldammer citirten Tuber-
culose-Kranken täglich 12 Gramm verabreicht worden.1)
Wenn ich die tägliche Dosis auf fünf oder
sechs Gramm beschränkte und das Ganze nicht
auf einmal, sondern nach und nach einnehmen
liess, so habe ich, wenn das Medicament or-
dentlich eingewickelt war, niemals den gering-
sten unangenehm en Zufall beobachten können.
Buss hat 30 Sectionen gemacht und die Salicylsäure hat
niemals Spuren im Magen zurückgelassen.
Man hat sich bemüht, die Löslichkeit der Säure
mit Hülfe von Borax, Ammoniak -Citrat und Natron-
Phosphat zu vergrössern ; das einfachste Mittel wird
jedoch die Umwandlung der Säure in Salicylat bleiben.
') Von Seiten vieler Aerzte wurde unerklärlicher Weise Werth
darauf gelegt, ein möglichst gross und hart krystallisirtes
Präparat zu erhalten, welches durch die Schärfe seiner spiessigen
Nadeln allerdings leicht den Pharynx reizen konnte. Seitdem man
die Vorzüge der reinen, sehr weichen, flockig krystallisirten Säure
genügend kennen gelernt, sind solche Uebelstände nicht mehr be-
hauptet worden. v ij
8
2) Salicylsaures Natron. — Dies Salz hat gar
keinen kaustischen Geschmack und zeigt eine bedeutende
Löslichkeit im Wasser. Da sich die Salicylsäure allem
Anschein nach im Organismus mit dem Natron verbindet,
welches sie im Blut vorfindet, so sollte das salicylsaure
Natron vorzugsweise mit Kalisalzen oder Ammoniaksalzen
verwendet werden, welche man gleichfalls zu verwerthen
gesucht hat.
Dieses Salz besteht nicht , wie man neulich ge-
schrieben hat, aus Salicylsäure und Salz zu gleichen
Theilen. Die Analyse meines Pharmaceuten Valmont
hat im Gegentheil ergeben, dass io Gramm salicylsaures
Natron in runder Zahl 8 Gramm Salicylsäure enthalten;
es besteht also aus */5 Salicylsäure und lJ5 Natron und
man verschreibt mithin eigentlich nur Salicylsäure, die
in leicht löslicher Gestalt und um 1/B reducirt einge-
nommen wird. Die Dosis kann natürlich nicht in allen
Fällen die gleiche sein und richtet sich darnach, ob es
sich um eine mit Fieber verbundene Krankheit, eine
fieberlose, subacute Affection, oder um eine chronische
Krankheit handelt. Im ersteren Fall muss man, um eine
therapeutische Wirkung zu erreichen, 9 bis 10 Gramm
täglich verschreiben , während im zweiten , wenn die
Schmerzen nicht zu heftig sind, die Dosis Anfangs 7 bis
8 Gramm nicht überschreiten darf. Nur in dem Fall
besonders heftiger Schmerzen müsste die Dosis ebenfalls
10 Gramm betragen. Wenn es sich um eine chronische
Krankheit handelt, so sind starke Dosirungen für den
Anfang nicht zu empfehlen, da die sich in ihrer Folge
entwickelnden Inconvenienzen den Kranken gleich bei
dem Beginn der Behandlung entmuthigen können.
9
Zwei unumgänglich nothwendige Vorsichtsmassregeln
sind dabei zu beobachten. Wenn die Dosis bestimmt
ist, muss das Salz in einer grossen Flüssigkeitsmenge
aufgelöst werden. Ich verschreibe z. B. io Gramm
salicylsaures Natron in ioo Gramm Wasser und lasse
jeden einzunehmenden Esslötfel voll noch mit einem
halben Glase Wasser verdünnen. Die zweite nicht we-
niger wichtige Massregel besteht darin, dass die Dosis
gleichmässig auf den ganzen Tag vertheilt wird. Es ist
von grosser Wichtigkeit, dass so bedeutende Dosen,
wie sie früher gewisse deutsche Aerzte verschrieben,
niemals auf Einmal eingenommen werden, denn dies
ist das sicherste Mittel Intoxications-Erscheinungen her-
vorzurufen. Bei fortgesetztem Gebrauch empfiehlt es sich
auch, das Mittel .so viel als möglich mit den Mahlzeiten
zu verbinden.
Falls es der Magen nicht gut verträgt, lasse ich es
mit Vichy- Brunnen oder gewöhnlichem Wasser unter
Zusatz von eau-de-vie verdünnen.
3) Salicylsaures Lithium. — Bei der acuten
Gicht und gichtischen, chronischen Affectionen erschien es
mir rationell, die Salicylsäure mit Lithium zu verbinden,
welches bei Behandlung dieser Krankheit unbestreitbare
Vortheile darbietet. Das salicylsaure Lithium, dessen
ich mich bedient habe, enthält 5/6 Salicylsäure, so dass
man also 5 Gramm Salicylsäure und I Gramm Lithium
giebt, wenn man 6 Gramm dieses Salzes verschreibt.
Ich konnte mich aber noch nicht mit Gewissheit davon
überzeugen, ob das salicylsaure Lithium vor dem salicyl-
sauren Natron irgend welche Vorzüge besitzt.
IO
4) Salicylsaures Chinin. — Wir hatten mit
diesem seit zwei Jahren bekannten Salze bis dahin noch
nicht experimentirt. Das von mir in Anwendung ge-
brachte Medicament enthält 7/io Chinin. Brown1), der
es als Antipyreticum benutzte, zieht es dem salicylsauren
Natron vor. Wir werden bei Gelegenheit des Wechsel-
fiebers wieder darauf zurückkommen.2)
5) Sali ein. — Das von Maclag an in der Dosis
von 1 bis 2 Gramm zweistündlich verschriebene Salicin
wirkt durchaus nicht so günstig als die Salicylate, da-
gegen hat es nach Herrn G übler seiner kräftigenden
Eigenschaften wegen einige Vorzüge vor denselben auf-
zuweisen.3)
Wirkung der Salicylsäure auf Fermente und
Gährung.
Da die Salicylsäure vom Phenol abgeleitet wird, so
bemühte man sich zu untersuchen, ob sie auch im Be-
sitz von dessen desinficirenden , fäulnisswidrigen Eigen-
schaften sei. Die Resultate Hessen nicht auf sich warten
und bestätigten die theoretischen Vermuthungen.
So weiss man jetzt, dass eine kleine, einer Mischung
von Amygdalin und süsser Mandelmilch zugesetzte Quan-
tität Salicylsäure die Entwickelung des Geruches der
bittern Mandel-Essenz verhindert.
Ferner weiss man, dass Glycose, der eine Spur
Salicylsäure zugesetzt worden ist, bei der Berührupg mit
') Edinburg medical Journal, Nov. 1876.
2) Seite 31.
3) Dr. Stricker negirt die günstigeren Wirkungen des Salicins
geradezu. (Deutsch, milit. ärztl. Ztschr. 1877, No. 1.) v. H.
— II —
Hefe nicht mehr in Gährung übergeht und dass eine
bereits begonnene Gährung sofort durch den Zusatz
einer ganz kleinen Menge dieser Substanz gehemmt wird.
Die Salicylsäure verhindert auch die Entstehung von
Pilzen auf der Oberfläche des Bieres und manche In-
dustrielle brauchen sie, um den Wein vor dem Um-
schlagen zu bewahren. Frisches, mit Salicylsäure einge-
riebenes Fleisch kann der Luft mehrere Wochen lang
ausgesetzt werden ohne in Fäulniss überzugehen.
Auch Brod conservirt sich im Sommer, wenn der
Hefe eine kleine Quantität dierer Säure hinzugefügt wird
oder wenn man es beim Herauskommen aus dem Ofen
mit einer verdünnten Lösung der erwähnten Substanz
befeuchtet. Nach Kolbe genügt x Gramm Salicylsäure
zur Conservirung von 20 Liter Wasser an Bord der
Schiffe.
Verdampft man die Säure auf einer nicht zu stark
erhitzten Platte, so reinigt sie die Luft und desinficirt
die Mauern des Zimmers, in welchem sie sich verflüch-
tigt. In diesen Fällen bietet die Salicylsäure vor der
Carbolsäure den Vortheil der Geruchlosigkeit.
Da die Salicylsäure die Eigenschaft besitzt, Fer-
mente zu neutralisiren und das Entstehen mikroskopischer
Pilze zu verhindern oder aufzuhalten, so durfte man hoffen,
sie den Intoxicationen gegenüber, welche der Entwicklung
niedriger Organismen zugeschrieben werden , von der
mächtigsten Wirkung zu finden und man glaubte, sie
würde sich durch Vernichtung dieser noch wenig be-
kannten schädlichen Substanzen, die man mit den Namen
Sepsis und Zymose bezeichnet, als Antisepticum par
excellence documentiren.
12
Unter dem Rinfluss dieses Gedankens präparirte
Prof. Thier sch für die Wundbehandlung eine Mischung
von Amylon und Salicylsäure, sowie eine mit einer
V300 Salicylsäure -Lösung durchtränkte Watte. Indessen
war er, obgleich er sich zu den erreichten Resultaten
Glück wünschen kann, doch zu der Erklärung genöthigt,
dass sich in einzelnen Fällen der Micrococcus auf der
Wundfläche entwickelt habe1).
Müller, Buchholtz, Jury und Lajoux haben
bei dem Studium der Bacterien und Schimmelbildungen
ähnliche Erfahrungen gemacht.
Physiologische Wirkungen auf Thiere.
Wenn man Thieren längere Zeit schwache
Dosen, x bis 2 Gramm, Salicylsäure einflössl,
so erleidet sowohl ihre Verdauungsthätigkeit,
als die Ernährung und der allgemeine Gesund-
heitszustand nicht die geringste Störung (Feser
und Friedberger); die Wirkung des Speichels
und Magensaftes auf die Nahrung wird in
keiner Weise gehemmt.
Die Pflanzenfresser vertragen grössere Dosen Salicyl-
säure ohne Unbequemlichkeiten zu empfinden, als die
Fleischfresser der gleichen Grösse , welches Resultat
darauf schliessen lässt, dass die Ausscheidung dieser
Substanz durch die Nieren bei den Pflanzenfressern
schneller als bei den Fleischfressern vor sich geht. In
der That führen die Nahrungsmittel der Ersteren dem
Blut bedeutende Mengen alkalischer Salze, besonders
J) Wie auch bei Carbolsäure beobachtet.
v. H.
13
Carbonate zu, welche die Ausscheidung der Salicylsäure
befördern. Man beobachtet übrigens bei den Fleisch-
fressern, welche man einer Pflanzendiät unterwirft, eine
analoge Erscheinung. Grössere, längere Zeit fortgesetzte
Gaben der Säure bringen bei den Pflanzenfressern bei
verminderter täglicher Futterration Erscheinungen hervor,
welche auf verzögerte Ausscheidung der Salicylsäure
durch geringere Zuführung alkalischer Salze schliessen
lassen.
Man beobachtet in Folge übertrieben grosser
Dosirungen folgende Erscheinungen:
Athmungsbeschwerden. — Buss hat bei Kaninchen
Dyspnoe, langsamere respiratorische Bewegungen und
Zuckungen constatirt.
Unsere Experimente mit Kaninchen und Hunden
haben die Exactheit dieser Erscheinungen erwiesen: die
Thiere unterliegen beinahe stets nach 2 oder 3 Injectionen
von je 1 bis 2 Gramm salicylsaurem Natron, welches mit
xo bis 15 Theilen Wasser verdünnt ist.
Köhler schreibt den Tod der Asphyxie zu. Man
findet, sagt er, bei der Section im unteren pleuralen
Gewebe Ecchymosen, eine passive Lähmung der Lungen
und im Herzbeutel eine seröse Flüssigkeit. Wenn man
den nervus vagus noch während des Lebens untersuchen
kann, so zeigt sich die langsamere Respiration noch deut-
licher. Die Salicylsäure vermindert also die Erregbarkeit
des nervus vagus der Lunge, woraus eine ungenügende
Sauerstoff-Entwiökelung und ein Ueberschuss von Kohlen-
säure im Blot entsteht.
Circulationsstörungen. Modificationen der Tempe-
ratur. — Köhler behauptet, beim Hunde eine rasche
Abnahme der vasculären Spannung beobachtet zu haben
und schreibt dies der Wirkung der Salicylsäure auf die
intracardialen Nervenknoten oder auf den Herzmuskel
selbst zu, deren nervenbewegende Thätigkeit beeinflusst
wird. Dasselbe Resultat zeigte sich nach der Injection
einer Lösung von salicylsaurem Natron in die Jugular-
Ader eines Kaninchens.
Unsere eigenen Laborator ien-Versuche con-
statirten niemals die geringste Modification
weder der Arterien - Spannu ng noch der Herz-
schläge. Die letztere Thatsache stimmt mit den Beob-
achtungen von Reiss überein.
Die Temperatur erfährt bei nicht fiebernden Thieren
nur sehr unerhebliche Modificationen. Reiss Hess einen
Hund 5 Gramm in Carbonat oder Natron-Phosphat ge-
löste Salicylsäure einnehmen und erreichte im Durch-
schnitt im Zeitraum von vier bis sechs Stunden nur eine
Temperatur-Reduction von 9/10 Grad. Bei Thieren, wel-
chen Fürbringer Eiter einspritzte, um eine fieber-
hafte Septicämie zu provociren, brachte in der Dosis von
2 Gramm verabreichte Salicylsäure bei neun unter sechs-
zehn Fällen keine Abkühlung der Temperatur hervor.
Köhler, der salicylsaures Natron in das Blut eines
Hundes einspritzte, constatirte zuerst ein Sinken der
Temperatur und des Pulses; als er aber diese Sub-
stanz s elbst in zehnfacher Dosis in den Magen
des Thieres ein führte, vermochte er keine
Wirkung mehr zu beobachten. Meine Experimente
haben sowohl in Bezug auf Temperatur als auf Circula-
tionsstörungen niemals irgendwie bemerkenswerthe Re-
sultate ergeben.
'5
Nervöse Erscheinungen. — Das Nervensystem wird
durch betäubend starke Dosen nicht modificirt; es ent-
wickeln sich nach Darreichung solcher schliesslich Con-
vulsionen oder starrkrampfähnliche Zustände, die weniger
das Resultat der Asphyxie als der Wirkung der in über-
triebener Menge injicirten Medicamente auf das Nerven-
sytem sind. Die allgemeine Sensibilität, sowie diejenige
der Haut wird nicht modificirt; andrerseits wird die
fortleitende Kraft der Nerven nicht verringert und die
reflexive Kraft des Rückenmarkes erleidet schliesslich
anscheinend keine Veränderung.
Diese negativen Thatsachen sind um so wichtiger,
als eine der merkwürdigsten Eigenschaften dieses Medi-
camentes darin besteht, dass es, beim Menschen an-
gewendet, eine ausserordentlich schmerzstillende Wirk-
samkeit entfaltet.
Fasst man alle die an Thieretl gemachten
Experimente zusammen, so muss man gestehen,
dass sie sehr schwierig und zu gleicher Zeit
von geringem Werth sind. Schwierig sind sie in
sofern, als man in das Zellengewebe nicht viel Salicyl-
säure oder salicylsaures Natron einspritzen kann, ohne
örtliche Wirkungen hervorzurufen. Spritzt man diese
Substanzen in die Adern, so bringen sie mechanische
W irkungen hervor, denen nothwendig Rechnung getragen
werden muss, da man zur Injection einiger Gramm
salicylsauren Natrons eine grosse Menge Wasser braucht.
Das Einnehmen erregt bei Kaninchen und Hunden im
Magen oft Widerwillen und Erbrechen und man kann
die physiologischen Wirkungen dann nicht mehr mit
Sicherheit beobachten.
iö
Aus diesen Gründen lassen sich aus den mit Thieren
unternommenen Experimenten noch keine richtigen
Schlüsse auf die Wirkungen ziehen, welche das Medi-
cament bei dem Menschen hervorbringt.
Physiologische Wirkung der Salicylsäure und
ihrer Derivate auf den gesunden oder
kranken Menschen.
Um physiologische oder heilende Wirkungen produ-
ciren zu können, muss die tägliche Dosis des Medi-
camentes mehr als 2 bis 3 Gramm betragen; die thera-
peutische Gabe ist 5 bis 6 Gramm Salicylsäure oder
7 bis 10 Gramm salicylsaures Natron, welches in vieler
Beziehung vorzuziehen ist.
Man beobachtete Erscheinungen: 1) auf die Ver-
dauungsorgane; 2) auf das Nervensystem der Sinne;
3) auf das Central-Nervensystem; 4) auf das Herz, den
Puls, die Respiration, die Temperatur; 5) auf die Aus-
scheidungsorgane und deren Producte; 6) auf das Blut.
1. Verdauungsorgane.
Nimmt man 2 bis 5 Gramm Säure auf einmal und wieder-
holt die Dosis noch an demselben Tage, so verursacht dies
häufig Schlafsucht und Uebelkeit, zuweilen auch ein brennendes
Gefühl in der Kehle und im Magen. Diese Uebelstände lassen
sich aber sehr leicht vermeiden, wenn man die Dosis von 5 bis
6 Gramm in 10 bis 12 Theile theilt und dieselben in alkoho-
ligem Syrup oder ungesäuertem Brod einnimmt. In noch
sichererer Weise verhindert man das Auftreten dieser Erschei-
nungen durch 8 Gramm salicylsaures Natron, welches in einer
grossen Flüssigkeitsmenge gelöst und in 4 oder 5 Theile getheilt
wird. Auf diese Art ist die directe Wirkung des Medicamentes
auf die Verdauung?- Schleimhäute gleich Null und mehrere
17
meiner Schüler, die das Salicylat in der erwähnten moderirten
Weise einnehmen, konnten ihre Arbeiten fortsetzen, ohne die
geringste Appetit- oder Verdauungsstörung zu empfinden. Bei
Fieberkranken zeigten sich, nach meinen Beobachtungen, nur
sehr selten Schlafsucht und Erbrechen, und diese Zufälle waren
selbst dann nur vorübergehend, wenn die Dosis mehrere Tage
lang in derselben Stärke angewendet wurde. Wenn ich das
Medicament aber bei chronischen Krankheiten für die Dauer
etlicher Wochen verschrieb, sogeschah es doch zuweilen, dass
die Kranken plötzlich, wenn auch nur ganz vorübergehend, einen
gewissen Ekel davor empfinden, der mich nöthigte, das Medi-
cament einige Tage auszusetzen. Diese Störung in den Ver-
dauungsorganen wird übrigens in solchen Fällen sogleich
beseitigt, wenn man die Lösung in Vichy-Brunnen oder mit
etwas Alkohol zusammen einnehmen lässt.
. Gehörsaff ectionen ; Ohrensausen, Schwerhörig-
keit.
Die beständigste, oft sehr rasche Wirkung grosser Dosen der
Salicylpräparate ist die Entwicklung von Ohrensausen; sowohl
gesunde Individuen als fieberfreie Kranke, ja sogar Fieberkranke
empfinden dasselbe in fast gleichmässiger Weise, wenn sie die täg-
liche Dosis von 5 bis 6 Gramm Salicylsäure oder 10 Gramm sali-
cylsaurem Natron erreicht haben. Beinahe Alle klagen nicht allein
über dies seltsame Geräusch im Gehörsorgan und im ganzen
Kopf, sondern vergleichen es noch mit einem entfernten Rollen,
einem gleichsam wellenartigen Gefühle. Es ist indessen
immerhin bemerkenswert!!, dass diese Empfindungen
nicht von der geringsten geistigen Störung, weder
von Hallucinationen noch von schwindelähnlichen
Gesichtsillusionen, begleitet werden, wie dies unter
dem Einfluss des Chinin-Sulfats oder bei der See-
krankheit der Fall ist. Es kommt sehr selten vor, dass die
Kranken Gegenstände in röhrender Bewegung zu sehen glauben
oder das Gefühl haben, als ob sie sich selbst im Kreise drehten;
höchstens entsteht zuweilen ein gewisses Schwanken oder viel-
v. Heyden, Studien über die Salicylsäure. 2
i8
mehr eine Unsicherheit im Gange, die indessen durchaus nicht
von längerer Dauer ist.
Nächst dem Ohrensausen und Kopfgeräusch bildet die Ab-
nahme der Sensibilität des Ohres, sowie eine Schwerhörigkeit,
welche übrigens niemals oder sehr selten bis zu völliger Taub-
heit vorschreitet, die gewöhnlichste Erscheinung. Die erwähnte
Schwerhörigkeit stellt sich auch nur dann ein, wenn
man zwei bis drei Tage lang täglich mindestens
6 Gramm Salicylsäure oder io Gramm salicylsaures
Natron gebraucht hat und nimmt bei fortgesetztem Ge-
brauch des Mittels keineswegs zu; sie bleibt, ebenso wie das
Ohrensausen, stationär und nimmt sogar meistens ab,
ohne dass die Dosis in erheblicher Weise verkleinert
worden wäre.
Jedenfalls verschwindet sowohl das Ohrensausen als das
Geräusch im Kopfe sofort, wenn das Mittel herabgemindert
wird, und die Schwerhörigkeit lässt niemals die ge-
ringsten Spuren zurück; sie ist auch nie von so
langerDauer wie nach längerem Gebrauch der Chinin-
Präparate oder starken Dosirungen der letzteren.
3. Central- Nervensystem.
Bei therapeutischen Dosen lassen sich beim ge-
sunden Menschen keine Störungen in den Func-
tionen der Gehirn- und Rückenmarksnerven beob-
achten. Die Sinne selbst erleiden mit Ausnahme des Gehörs
keine Störung und wenn man in einigen Fällen eine Abnahme
des Gesichts wahrzunehmen glaubte, so könnte dies nur eine
Folge übertrieben starker oder zu rasch auf einander folgender
Dosen gewesen sein.
In diesen Fällen beobachtete man auch das Auftreten eines
stillen Deliriums, ohne Phantasien; seltener einen dem Deli-
rium tremens ähnlichen Zustand. Man kann dreist be-
haupten, dass io bis 12 Gramm bei einem gesunden
Menschen nie Störungen der Gehirn- und Rücken-
marksnerven verursacht haben. Handelt es sich um
— I9 —
Fieberkranke, so entwickelt sich natürlich leichter Delirium.
Bei zwei Typhuskranken, bei welchen der Thermometer 40 Grad
zeigte, brachten 10 Gramm salicylsaures Natron täglich nach
sieben bis acht Tagen ein stilles Delirium hervor, welches von
einem beträchtlichen Sinken der Temperatur (2 bis 3 Grad) be-
gleitet war. Als man das Medicament nicht mehr anwendete,
hörte das Delirium sofort auf, die Hitze stieg jedoch wieder
bis auf 40 Grad und die Krankheit nahm bis zur Heilung
ihren regelmässigen Verlauf.
Uebrigens habe ich niemals Störungen des Gefühls- oder
Bewegungsvermögens wahrnehmen können. Die starrkrampf-
artigen Zusammenziehungen, von denen Leonardi- Aster ein
Beispiel anführt, sind mir bei meinen Beobachtungen niemals
vorgekommen und der Collaps, der auf das Einnehmen zu
starker Dosen folgt, hat sich ebensowenig jemals bei meinen
Kranken gezeigt. Indessen genügt der Gedanke, dass eine ein-
zige Intoxications-Erscheinung, wie das Delirium, überhaupt
Vorkommen kann, um die Wirkung des Medicamentes auf das
strengste überwachen zu lassen und darauf zu achten, dass die
angegebene Dosirung nie überschritten und nicht in zu rasch
aufeinander folgender Weise verabreicht wird.
Schliesslich muss man das Mittel sofort herabsetzen, sobald
sich das geringste Intoxicationszeichen zeigen sollte.
4. Wirkung der Salicylsäure auf Herz, Puls und
Temperatur.
Man beobachtet zuweilen beim gesunden Menschen partielle
Vascularstörungen, die besonders der Blutcirculation des Ge-
hirns und Gesichts zuzuschreiben sind. Das Herz schlägt dabei
regelmässig fort, der Rhythmus und die Anzahl der Herzschläge
bleibt in normalem Zustande und auch der Puls erfährt nicht
die geringste Modification.
Die Respiration, welche bei übertrieben starken Dosen ent-
schieden beeinflusst wird, erfährt bei dem Gebrauch von 8 bis
12 Gramm salicylsauren Natrons keine Veränderung. Die Tem-
peratur selbst sinkt nicht im Geringsten.
Zwei meiner Schüler nahmen eine Zeit lang täglich 5 bis
6 Gramm Salicylsäure, dann 10 Gramm salicylsaures Natron
ein und sie sind nie im Stande gewesen, die geringste
Modification weder der Temperatur noch des Puls-
schlages constatiren zu können.
Ge dl (in Krakau) verabreichte 8 fieberfreien Personen 3
bis 5 Gramm Salicylsäure und konnte bei der Hälfte derselben
nichts Bemerkenswerthes entdecken; 4 Mal fand ein Sinken der
Temperatur statt, welches jedoch nie mehr als 0,8 Grad betrug,
und 3 Mal waren die täglichen Temperatur-Schwankungen
ausserordentlich unbedeutend.
Riegel (in Cöln) experimentirte bei gesunden Individuen
mit 4 bis 5 Gramm reiner Salicylsäure und konnte dabei keine
wesentliche Abnahme der Temperatur beobachten. Ja, Lür-
mann, der einem Rheumatismuskranken Salicylsäure verschrie-
ben hatte, will sogar in Folge dessen einen heftigen Fieber-
anfall veranlasst haben. Der Puls stieg auf 160, die Temperatur
auf 41 Grad. Er wandte das Mittel 3 Mal von Neuem an und
3 Mal zeigten sich dieselben Resultate. Ich habe bei einer
jungen Chorea-Kranken, der ich salicylsaures Natron verschrieben
hatte, eine ähnliche Erfahrung gemacht; sie bekam einen Fieber-
anfall, dessen Ursache wir nur auf das Einnehmen des verord-
nten Medicamentes zurückzuführen vermochten.
Im gesunden oder fieberfreien Zustande bleibt die Tem-
peratur also normal; sie sinkt niemals in bemerkenswerther
Weise und auf längere Zeit; in einigen Ausnahmefällen ist sie
sogar so hoch gestiegen, dass ein wirklicher Fieberanfall ent-
stand. Wie verhält sich die Sache nun bei Fieberkranken?
Dies ist eine Frage, welche wir bei Gelegenheit der antipyre-
tischen Eigenschaften, welche man der Salicylsäure bei der Be-
handlung typhöser und rheumatischer Fieber zuschreibt, erörtern
wollen.
Interpretation der Störungen des Gehirns und der Sinne. —
Ist die vollständige Integrität der Herzfunctionen, die Regel-
mässigkeit des Pulsschlages und das integrale Verhalten des
Vascular-Druckes eine Bürgschaft dafür, dass sich keine Störungen
der localen Blutcirculation entwickeln können? Claude Ber-
21
nard behauptet in einigen Fällen die Unabhängigkeit der Cir-
culation gewisser Organe und es giebt Medicamente, welche auf
die vasomotorischen Nerven oder auf die Blutgefässe eines be-
stimmt abgegrenzten Körpertheiles einwirken. Die Arterien des
Gesichts und Gehirns werden vermöge ihres ausserordentlich
zarten, beweglichen Gewebes rascher als an anderen Stellen zu
erhöhter Thätigkeit angeregt und man frägt sich in solchen
Fällen mit Recht, ob nicht vielleicht Congestionen oder im
Gegentheil Blutmangel im Gehirn die Folge sein könnten. Ist
im gegenwärtigen Fall das Geräusch im Gehirn, das Ohren-
sausen und die Abnahme der Gehörsfähigkeit mit einer Pertur-
bation der Blutcirculation in Zusammenhang zu bringen?
Nimmt man 8 bis io Gramm salicylsaures Natron auf ein-
mal oder in rasch aufeinander folgenden Dosen, so erhitzt sich
das Gesicht und es entstehen zuweilen Wallungen, sowie eine Art
von Trunkenheit. Dies ist aber nur vorübergehend und ent-
wickelt sich überhaupt nur in Folge zu rasch auf einander
folgender grosser Dosen.
Wird dagegen die Säure allmälig verabreicht, so mani-
festirt sich weder Färbung und Entfärbung des Gesichtes, noch
Schwindel, es zeigt sich mit einem Wort keine Störung der
Circulation. Es ist also noch keineswegs bewiesen, dass die
Gehörs-Perturbationen mit einer Blutleere oder Blutüberfüllung
des Gehirns in Verbindung stehen.
Man wird also eine einfache Störung in der Function der
Gehörsnerven, das heisst zuerst eine Hyperästhesie, dann eine
eine Abnahme des Gehörvermögens, annehmen müssen.
5. Elimination der Salicylsäure und des salicyl-
sauren Natrons im Urin.
Die Elimination des salicylsauren Natrons und der Salicyl-
säure geht sowohl bei dem gesunden als dem kranken Menschen
sehr rasch von Statten ; man findet diese Substanzen schon zehn
Minuten nach dem Einnehmen im Urin vor.
Vermittelst einer Eisenchlorid-Lösung lässt sich die Gegen-
wart von Salicylsäure leicht constatiren; der Urin nimmt so-
gleich eine charakteristische violette Färbung an.
Man findet die Säure zum grossen Theil in freiem Zustande.
Fleischer hat, um dies darzulegen, Urin in Gegenwart einer
Säure destillirt und es gelang ihm auch mit Hülfe von Aether
einen Theil derselben wiederzugewinnen. Diese Experimente
können jedoch nicht als triftiger Beweis gelten, da ein Ueber-
schuss an Phosphat in dem experimentirten Urin hinreichte, um
die Gewinnung der freien Salicylsäure zu ermöglichen.
Ein anderer Theil der Säure verbindet sich mit Kali. So-
wohl die Salicylsäure, als das salicylsaure Kali ist im Aether
löslich.
Ein dritter Theil endlich ist in combinirtem Zustande im
Aether unlöslich.
Ich füge noch hinzu (und dies ist ein Punkt von Bedeu-
tung), dass eine partielle Umwandlung der Salicylsäure in Sali-
cylursäure stattfindet. Ebenso wie sich die Benzoesäure im
Körper in Hippursäure umsetzt, ebenso fixirt die Salicylsäure
im Organismus einen Theil der Leimzucker-Elemente und bildet
eine der Hippursäure analoge zusammengesetzte Säure, welcher
Bertagnini den Namen Salicylursäure beigelegt hat.
Um sie darzustellen, sammelt man Urin, concentrirt den-
selben durch Verdampfung, scheidet die Mutterlauge der Salze
aus, säuert mit Chlorwasserstoflfsäure an und schüttelt das Ganze
mit Aether durch. Die Aetherlösung lässt nach der Verdampfung
eine stark saure, krystallisirbare Flüssigkeit zurück, welche man
bis zu 140 Grad erhitzt; es verflüchtigt sich Salicylsäure und
das Residuum besteht aus Salicylursäure.
Picard verwendete kürzlich zur Trennung der beiden Pro-
ducte Benzol und Aether, da die Salicylsäure in Aether weit
löslicher ist, als die Salicylursäure. Die letztere Säure löst sich
in kochendem Wasser sehr gut, weniger dagegen in Aether; die
wässrige Lösung färbt ebenso wie die Salicylsäure Eisensalze
violett.
Die vollständige Elimination der Salicylsäure ist oft nach
24 Stunden, meistens jedoch nach 48 Stunden beendet; trotz
dessen habe ich einmal bei einem Typhuskranken, der das Medi-
cament seit sechs Tagen nicht mehr brauchte, Spuren desselben
gefunden.
Wenn ich diese Schnelligkeit der Elimination betone, so
geschieht dies nur, um darauf hinzuweisen, dass das Medica-
ment nicht in rasch aufeinander folgenden Dosen verschrieben
werden möge, wie sie von einigen ausländischen Aerzten em-
pfohlen werden. Man muss es (und dies ist auch das
sicherste Mittel, jeder Intoxications-Erscheinung
vorzubeugen) in getheilten Dosen verordnen, so dass der
Kranke beständig unter der Einwirkung des Medica-
mentes bleibt. Man thut am besten daran, die Dosis von
8 bis io Gramm in gleichmässiger Weise auf die 24 Stunden
des Tages zu vertheilen und also alle fünf oder sechs Stunden
2 Gramm zu verabreichen.
Die Salicylsäure wirkt auch bei ihrer Elimination, und in-
dem sie selbst zahlreiche Modificationen erfährt, auf die Nieren,
die Ausscheidung des Urins und die Beschaffenheit desselben.
In gewissen Fällen vermehrt sie die Quantität des Urins
und scheint als diuretisches Mittel zu wirken. Diese Wirkung
ist aber keineswegs stets die gleiche und kann weder bei der
Erklärung der übrigens noch zweifelhaften antipyretischen Thätig-
keit der Säure hoch für das Verständniss der Herzstörungen,
welche einige Beobachter mitgetheilt haben, irgendwie in Be-
tracht kommen.
Die Zusammensetzung des Urins ist im Gegentheil beinahe
immer modificirt, höchstens ist eine grössere Menge Indican zu
bemerken. Zuweilen hat mein Chemiker auch das Vorhanden-
sein einer braunen, dunkeln, tanninartigen Substanz constatirt,
welche kürzlich unter dem Namen Pyrocatechin besprochen
worden ist und welche man in gewissen Pflanzen in normalem
Zustande vorfindet.
Nierensteinleidende eliminiren eine grössere Menge Harn-
säure oder die Nierensteine scheiden sich vielmehr mit grösserer
Leichtigkeit aus.
Bei Gichtkranken zeigt die Elimination der Harnsäure zu-
weilen eine nicht unbedeutende Vermehrung. Das gilt beson-
ders von den acuten Anfällen , die von Zeit zu Zeit in der
chronischen Gicht Vorkommen. Ich habe einst bei einem Kran-
ken die Beobachtung gemacht, dass die Quantität der eliminirten
24
Harnsäure, welche in normalem Zustande 0,80 Gramm pro Liter
beträgt, drei Tage lang sich auf der Höhe von 3 Gramm erhielt,
ohne dass die geringste Aenderung der Diät statgefunden hätte.
Der Harnstoff erfährt weder im normalen Zustande noch
in pathologischen Verhältnissen irgend welche bemerkenswerthe
Modification.
Sind die Nieren lädirt, so ist das Medicament in grossen
Dosirungen nicht ohne Gefahr anzuwenden und es ist stets von
Wichtigkeit, der Integrität dieser Organe im Voraus hierfür sich
zu versichern. Ich habe selbst Gelegenheit gehabt, bei einem
Rheumatismuskranken, der an zeitweiliger Nephritis litt, eine
nicht unbedeutende Hämaturesie zu beobachten, und der gleiche
Fall ist bei einer parenchymatösen Nephritis vorgekommen.
Leonardi Aster will dies selbst im physiologischen Zustande
in Folge einer zu starken Dosis Salicylsäure bemerkt haben.
Beiz spricht auch von Albuminurie und Nephritis; er fügt aber
hinzu, dass sich diese Irritation nicht mehr gezeigt habe, seit
er an Stelle der Salicylsäure salicylsaures Natron verwendet.
Nach Buss findet man auch im Schweiss Salicylsäure,
welche Thatsache indessen nicht verbürgt ist.
Gewiss ist, dass die Salicylsäure oft den Schweiss hervor-
ruft ; man kann diese Diaphorese sowohl im fieberfreien als
fieberhaftem. Zustande beobachten; bei Rheumatismuskranken er-
schien mir indessen die natürliche Tendenz zum Schweiss nicht
in höherem Maassstabe vorhanden zu sein.
Buss hat auch im Speichel und Auswurf das Vorhanden-
sein von Salicylsäure constatirt und O ulmont hat sogar in der
serösen Flüssigkeit einer Hautblase Spuren davon entdecken
wollen.
0. Verhalten der Salicylsäure im Blut.
Nach Feser und Friedberger verbindet sich die Salicyl-
säure im Blut mit albuminösen Stoffen und sie haben durch
Experimente mit Eiweiss oder Serum oder Blut selbst, welchem
Salicylsäure zugesetzt worden war, constatirt, dass es unmöglich
ist , die letztere auszuscheiden , wenn das Ganze mit Aether
durchgeschüttelt wird. Daraus schliessen sie, dass das Hinder-
niss, welches dieser Ausscheidung entgegen steht, in der Ver-
bindung liegt, welche sich zwischen der Salicylsäure und den
albuminösen Stoffen gebildet hat.
Mir scheint die Meinung, welche Binz über diesen Punkt
äussert, rationeller zu sein. Nach ihm enthält das Blut Salicyl-
säure und kein salicylsaures Natron ; letzteres ist der fortwäh-
renden Einwirkung von Kohlensäure unterworfen, welche Salicyl-
säure frei macht.
Fleischer hat die Exactheit dieser Beobachtung bestätigt;
wollte man die Salicylsäure durch einfaches Schütteln mit
Aether aus dem Blut ausscheiden, so müsste das salicylsäure
Natron in Aether löslich sein; dies ist aber nicht der Fall und
die Salicylsäure kann nur herausgezogen werden, wenn das
alkalische Natron vorher durch einen Strom Kohlensäure oder
durch den Zusatz einer anderen Säure zersetzt wird.
Friedberger und Zimmermann glauben, dass die Ver-
bindung der Säure mit den Natronsalzen des thierischen Blutes
die Wirkung der Säure abzuschwächen vermag. Köhler be-
obachtete keinen Unterschied in der Wirkung, gleichviel ob er
Salicylsäure oder Salicylat in die Adern eines Kaninchens ein-
spritzte. Wenn man dagegen salicylsaures Natron in den Magen
bringt, so ist seine Wirkung weniger energisch als die der
Salicylsäure. Das Salz soll besonders Antipyreticum, die reine
Säure Antisepticum sein; in Wirklichkeit differiren die beiden
Substanzen aber nur in Bezug auf den letzten Punkt: die Säure
allein ist im Besitz antiseptischer Eigenschaften.
Soviel über die physiologischen Wirkungen der Salicyl-
präparate.
Klinische Beobachtungen.
I. Behandlung septischer Krankheiten.
Die Untersuchungen von Kolbe und Thier sch
haben bewiesen, dass die Salicylsäure in ihrer äusseren
Anwendung als Antisepticum bezeichnet werden kann,
obgleich sie in dieser Beziehung, ihre Geruchlosigkeit
(und Nichtflüchtigkeit, D. Uebers.) ausgenommen, keine
bedeutenden Vorzüge vor der Carbolsäure, der Thymian-
säure und Benzoesäure (Salkowski) besitzen soll. Ent-
wickelt sie diese antiseptischen Eigenschaften auch septi-
cämischen, miasmatischen, ansteckenden, eiterigen, von
Fermenten oder Bacterien hergeleiteten Krankheiten
gegenüber ? Es sind in dieser Richtung zahlreiche Ver-
suche unternommen worden.
Septieämie. — Fürbringer hat durch Einspritzen gesun-
den oder mit einer Chlor-Natriumlösung verdünnten Eiters unter
die Haut von Hunden und Kaninchen eine künstliche Septieämie
hervorzubringen versucht. Nach genügender Entwicklung des sep-
ticämischen Fiebers liess er die Thiere Salicylsäure einnehmen,
ohne Resultate damit zu erzielen. Die verabreichten Dosen waren
allerdings entschieden viel zu schwach.
Die von Feser und Friedberger künstlich hervorgerufene
eiterige Infection, die mit stärkeren Dosen Salicylsäure behandelt
wurde, erfuhr keine Modification.
Als inneres Mittel scheinen die Salicylpräparate bei diesen
schweren Krankheiten, welche sich häufig in Folge von Trauma-
tismus, chirurgischen Operationen oder Puerperalzuständen ent-
wickeln, keine Wirkung hervorzubringen. Ob sie an Stelle der Car-
bolsäure in der ListeFschen Wundbehandlung, bei der Wundbehand-
lung im Allgemeinen oder bei krankhaften puerperalen Zuständen
irgend welche Vortheile darbieten, vermag ich nicht zu entscheiden.
DiphtEeritis. — Die Diphtheritis ist eine im höchsten Grade
ansteckende Krankheit, deren Gift noch unbekannt ist, in welcher
man aber der Thätigkeit gewisser, sich auf den Schleimhäuten des
Pharynx aufhaltenden Parasiten eine bedeutende Rolle zuschreibt.
Unter dieser Fahne musste sie die Vorkämpfer der Salicylsäure
natürlich zu Experimenten reizen und die Versuche sind in der
That gerade bei dieser verhängvissvollen Krankheit mit dem grössten
Vertrauen auf glänzende Erfolge unternommen worden.
Wagner behauptet, 15 Diphtheritisfälle mit bestem Erfolge
mit zweistündlich 0,10 Gramm Salicylsäure, die er sowohl inner-
lich, wie als Gurgelwasser verordnete, behandelt zu haben. Jeden-
falls sind dabei in der Diagnose einige Irrthümer zu verzeichnen
und die einfache Bräune figurirt unter dem Namen Diphtheritis,
ohne es in der That zu sein. Wenn die Respiration wirklich
croupartig wird und die Krankheit den Larynx ergreift, ist auch
von der Salicylsäure nichts mehr zu hoffen und man kann sie daher
auch nicht für ein eigentliches Diphtherjtismittel ausgeben. Stei-
nitz hat 34 an Scarlatina mit diphtheritisartiger Bräune erkrankten
Kindern mit Erfolg Salicylsäure verabreicht; ich kann darin nichts
Wunderbares finden, da diese bei Scarlatina auftretende Bräune
beinahe immer schon von selbst heilt.
Derselbe Autor behauptet, von n wirklichen Diphtheritis-
fällen 9 geheilt zu haben.
Schultze hat bei 10 Diphtheritisfällen, welche er mit localer
Anwendung pulverförmiger Salicylsäure behandelte, nur 2 Todes-
fälle zu beklagen gehabt. Ruch, Weber, Tenholt und Stuart
haben ebenfalls mit Hülfe dieses Mittels Erfolge erreicht.
In den meisten dieser Beobachtungen scheint die Phantasie
jedoch keine ganz untergeordnete Rolle gespielt zu haben, sie sind
unvollständig und lassen sich vom diagnostischen Standpunkte aus
nicht genau controlliren. Bei einem wirklichen Diphtheritisanfall,
welchen ich im Hospital bei einer jungen Frau zu behandeln hatte,
verschwanden die falschen Membranen sehr rasch und kamen auch
nicht wieder zum Vorschein. Ich hatte Salicylsäure als Gurgel-
wasser verschrieben, Injectionen in den Hals verordnet und liess
dabei innerlich salicylsaures Natron brauchen; in diesem Fall schien
es mir, als ob die locale antiseptische Wirkung des Medicamentes
bei der Heilung eine Rolle spiele; die Nützlichkeit der Salicyl-
präparate als inneres Mittel bei der Behandlung von Diphtheritis
ist mir indessen noch immer zweifelhaft. ')
*) Unzweifelhaft spielt die locale Wirkung der Salicylsäure bei Diph-
therie, Croup, Bräune eine höchst beachtenswerthe Rolle; jedoch berichtet
u, A. auch neuerdings Dr. Laudon in Elbing (Berl. klin. Wochenschr. 1878.
No. 6) von einem schweren mit maligner Angina (Diphtheritis) complicirten
Fall, wo Salicylsäure auch intern gegeben einen entscheidenden Erfolg
erwies. v. H.
28
Herr Mo i zart äussert sich in seiner These in ähnlicher
Weise im Namen meines Freundes und Collegen Bergeron,
welcher bei seinen Beobachtungen im Hospital St. Eugenie den
Nutzen localer Anwendung förmlich constatirt, in Bezug auf
den inneren Gebrauch des Mittels bei dieser schweren Krankheit
jedoch seine Zweifel nicht unterdrücken kann.
Sollte das Medicament bei seiner örtlichen Anwendung wirk-
lich die Kraft besitzen, die locale Entwicklung jener Parasiten,
welche die Ursache der Diphtheritis sind, zu zerstören und aufzu-
halten, so würde dei IMedicin schon allein damit ein grosser
Dienst erwiesen. Indessen sind die Versuche nach dieser Richtung
hin auch noch nicht in endgültiger Weise zur Entscheidung gelangt.
Mucor. — Bezüglich des Mucor kann ich, trotz der Be-
hauptungen Berthold’s, welcher 8 Kranke, von denen 3 sehr
schwer leidend waren, rasch geheilt haben will, nur meine früheren
Ansichten wiederholen.
Ich wende mich jetzt zu den neuen, bei zymotischen und
eiterigen Affectionen angewendeten Behandlungsmethoden:
Lungenentzündung. — Berthold verschrieb bei einer
Lungenentzündung 5 Gramm Salicylsäure und stellte den Kranken
wieder her. Dagegen scheiterte die gleiche Behandlung in einem
ähnlichen Fall vollständig, obgleich der üble Geruch des Auswurfes
allerdings zu verschwinden schien.
Diabetes. — Man nahm auch Veranlassung, die Salicylsäure
bei der Zuckerkrankheit, deren Ursache gewisse Aerzte der Ent-
wicklung eines speciellen Fermentes zuschreiben, in Anwendung zu
bringen und Ebstein und Müller experimentirten in der That
im Jahre 1875 in dieser Richtung, jedoch ohne Erfolg. Später be-
handelte Dr. Ebstein in Göttingen zwei schwere Diabetesfälle, von
denen der eine alt, der andere von kürzerem Datum war, mit salicyl-
saurem Natron. In dem einen Fall verschwand der Zucker nach
elf Tagen aus dem Urin und in dem anderen producirte der Kranke
nach 23 Tagen der Behandlung nur 880 Gramm Urin, in welchem
die Glucose-Quantität nur noch im Verhältniss von 13 zu 1000 Gramm
vorzufinden war. — Spillmann und Kien berichten ebenfalls
Günstiges über die neue Behandlungsmethode und der Erstere con-
statirt bei einem veralteten, der Letztere bei zwei Diabetesfallen,
29
von denen der eine von kürzerem Datum, der andere chronisch war,
bemerkenswerthe Besserung.— Dagegen hat Herrenschmidt seiner-
seits zwei Diabeteskranken täglich sechs Wochen lang drei Gramm
Salicylsäure verordnet, ohne mehr als mit den gewöhnlichen bei
Glycosurie angewendeten Mitteln auszurichten. Man kann daraus
wohl den Schluss ziehen, dass das Medicament, mit welchem wir
uns beschäftigen, nicht eigentlich als Specificum gegen Diabetes an-
zusehen ist und dass dasjenige, welches wirklich im Stande sein wird
diese Krankheit radical zu heilen, wohl noch aufgefunden werden soll.
•
H. Anwendung des salicylsauren Natrons als
Antipyreticum bei specifiscbem Fieber
und bei Entzündungen.
Die antiseptischen Eigenschaften, welche die Salicyl-
säure als äusserlich angewendetes Desinfectionsmittel
entschieden besitzt, während ihre Kraft als innerlich
wirkendes Antipyreticum noch immer nicht voll bewiesen
ist, mussten natürlich den weiteren Gebrauch des Medi-
camentes bei Krankheiten veranlassen, in welchen das
Fieberelement mit dem specifischen Charakter auftritt.
Man experimentirte also, jedoch ohne Erfolg, zuerst bei
eitrigen Infectionen, dann bei Ausschlagsfiebern und
schliesslich beim typhösen Fieber. Die Anwendung der
Salicylpräparate erschien in diesen Krankheiten um so
mehr geboten, als man ihnen ausser der Fähigkeit die
Entwicklung von Fermenten auf halten zu können, auch
noch antipyretische Eigenschaften zuschrieb.
Fieber im Allgemeinen. — Buss in St. Gallen, einer der
eifrigsten Verfechter der Salicylmedicamente, rühmte ihre Wirkung
als Antipyretica und erkannte ihnen nicht allein die Kraft zu, die
Körpertemperatur herabzubringen, sondern auch die Fähigkeit, einen
ruhigeren Pulsschlag der Fieberkranken zu veranlassen , vorausge-
30
setzt, dass die verabreichte Quantität noch einmal so gross als die
in solchen Fällen verordnete übliche Menge Chinin sei.
Jahn bestätigt es, dass die Salicylsäure in der täglichen Dosis
von 4' bis 6 Gramm ein vortreffliches Antipyreticum bildet, welches
im Stande ist, die Temperatur um i,8 bis 3,6 Grad F. und den
Puls um 10, zuweilen 20 Pulsschläge zu ermässigen.
Bei 12 Fällen von fieberhaften Affectionen will Nathan eine
sehr bedeutende Temperaturabnahme, in einem dieser Fälle eine
Ermässigung des Pulses um 60 Pulsschläge bemerkt haben. Der-
selbe Autor zieht das salicylsaure Natron dem Chinin, Veratrin und
der Digitalis bei weitem vor.
Miers erklärt, dass er oft schon eine oder zwei Stunden nach
dem Einnehmen der Salicylsäure eine Temperaturabnahme von 2,
3 und selbst 6 Centigraden beobachtet habe. Goldammer, Beiz,
Brand und besonders Buss sprechen sich in demselben Sinne aus.
Dagegen will Wolfsberg in Professor Ziemssen’s Klinik in
München bei der Behandlung von anhaltendem, sowie bei remitti-
rendem Wechselfieber nur vorübergehende, unbedeutende oder gar
keine Erfolge erreicht haben. - — Zimmermann in Greifswald und
Martelli verzeichnen dieselben Resultate. — Um diese wider-
sprechenden Behauptungen besser beurtheilen zu können, müsste
man die Details der Beobachtungen und den Charakter der Fieber,
um welche es sich hier handelt, näher betrachten können.
Aussehlagsfleber. — Da man die Salicylsäure a priori als
inneres Antiseplicum und Antipyreticum ansah, so versuchte man
ihre Wirkung auch bei Ausschlagsfiebern und besonders bei Vario-
liden oder Pocken. — Schwimmer verordnete sie bei 75 Pocken-
fällen und erreichte nur 55 Heilungen. Solche Resultate sind nicht
sehr ermuthigend und geben uns noch nicht das Recht, die Sälicyl-
säure bei Ausschlagskrankheiten als Specificum zu betrachten.
W eehselfleber. — Aus denselben Gründen versuchte man
bei Wechselfieber das Miasma zu neutralisiren und die dieser Krank-
heit eigenthümliche Wiederkehr des Fiebers zu verhindern. Senator,
Fischer, Rosenstein (Leyden) und Hiller experimentirten in
dieser Richtung mit Salicylsäure, erreichten jedoch sehr verschieden-
artige und nicht unanfechtbare Resultate. Wenn das Fieber auch
für ein oder zwei Tage verschwand, so kehrte es doch wieder zurück
und wich in vielen Fällen dem Einfluss des Chinin-Sulfats.
Ich gebe hier drei Beobachtungen, welche die Wirkungslosig-
keit der Salicylsäure und des salicylsauren Natrons beim Wechsel-
fieber zu beweisen scheinen.
Im ersten Fall handelt es sich um ein tägliches Wechselfieber,
welches sich der Betreffende vor zwei Jahren in der Sologne zuge-
zogen hatte. Das Chinin -Sulfat vermochte die Anfälle nicht in
definitiver Weise zu beseitigen und auch io Gramm salicylsaures
Natron modificirten dieselben in keiner Weise.
Der zweite Fall bezieht sich auf einen Mechaniker, der drei
Jahre in Rumänien gelebt und dort das dreitägige Fieber bekom-
men hatte. Der Kranke war seit einem Jahr nach Frankreich zu-
rückgekehrt und war weder durch Chinin noch durch salicylsaures
Natron vollständig zu heilen.
Dasselbe fand bei einem dreitägigen, von einem Aufenthalt in
der Sologne herrührenden Fieber statt.
Gegenüber diesen Misserfolgen und um mir von der Wirkung
der Salicylsäure genaue Rechenschaft ablegen zu können, versuchte
ich das Medicament mit Chinin in Verbindung zu bringen. Das
salicylsäure Chinin, welches sowohl Herr Hebert, Ober- Apotheker
am Hotel-Dieu, als mein Pharmaceut Herr Val mont darstellen, ist
ein sehr beständiges Salz, welches sich im Wasser schwer, in
Alkohol dagegen leichter löst. Ich liess 0,40 Gramm in Pillen oder
Pulvern einnehmen und vom ersten Tage ab verschwanden
die Anfälle sofort!
Mithin genügten da, wo sich sehr bedeutende Dosen
Chinin als erfolglos bewährt hatten, 30 Centigramm sali-
cylsaures Chinin, um die Anfälle vollkommen zu be-
seitigen. Ich beobachtete dieVorsicht, das Medicament
noch vierzehn Tage fortgesetzt brauchen zu lassen und
das Fieber zeigte sich nicht mehr während der Zeit,
welche die Kranken noch im Hospital zubrachten (vier-
zehn Tage).
Indessen kamen mir in meiner Privatpraxis zwei Fälle von
Wechselfieber vor, von denen sich der eine als Sumpffieber mit un-
32
regelmässigen Anfällen, der andere als Symptomfi'eber mit Broncho-
Lobular-Pneumonie erwies. Tn diesen beiden Fällen war auch die
Anwendung des salicylsauren Chinins in vorerwähnter Dosirung von
keinem Erfolge begleitet und ich konnte erst durch Erhöhung der
Dosis auf 90 Centigramm eine heilende Wirkung erreichen.
Senator war in mehreren Fällen von Wechselfieber nicht
glücklicher, dagegen behauptet Brown (Edinburger medic. Journal,
Nov. 1876) mit der Dosis von 60 Centigramm bis 2,40 Gramm
nach Verlauf einer Stunde eine beträchtliche Temperatur-Abnahme
(bis zu 5 Grad F.), sowie eine Ermässigung des Pulsschlages herbei-
geführt zu haben.
Das salicylsaure Chinin würde vor dem salicylsauren
Natron den Vortheil darbieten, dass es keinen Schweiss provocirt
und dem Chinin insofern vorzu ziehen sein, als es weder Ohren-
sausen noch Schwerhörigkeit wie das blosse Chinin verursacht.
Wenn ich annehme, dass die Zusammensetzung des salicylsauren
Chinins überall mit dem von mir angewendeten Medicament iden-
tisch ist, so verschreibt man in der Dosis von 2,40 Gramm salicyl-
saurem Chinin in der That 1,60 Gramm Chinin.
Typhöses Fieber. — Gerade beim typhösen Fieber ist das
neue Heilmittel in seiner doppelten Eigenschaft als Antisepticum
und Antipyreticum am meisten gerühmt worden. Buss hat mit
2 Gramm Chinin und 4 bis 8 Gramm salicylsaurem Natron ver-
gleichende Versuche angestellt und die dabei erreichten Resultate
sprechen alle zu Gunsten des letzteren Mittels. Die Behandlung
war übrigens complicirt und die Temperatur- Abnahmen von 2 bis
3 Grad müssen zum grossen Theil auch der Wirkung der Bäder
zugeschrieben werden.
Riess verschrieb während der Typhus-Epidemie in Berlin im
Jahre 1875 260 Typhuskranken salicylsaures Natron und obgleich
die Sterblichkeit damals die Höhe von 24 Procent erreichte, fand
doch in allen Fällen eine Temperaturabnahme von 1, 2 bis 3 Grad
statt. Gewöhnlich jedoch war die Abkühlung der Temperatur nur
von der Dauer etlicher Stunden, sehr gutartige Fälle natürlich
ausgenommen. Bei diesen letzteren dauerte sie oft ein bis zwei
Tage, jedoch immer erst am Ende der zweiten Woche.
33
Die Salicylpräparate hatten also auf die Dauer der Krankheit
keinen Einfluss und vermochten auch nicht auf das Endresultat der-
selben in günstigerer Weise einzuwirken.
ln der Klinik in Rostock beobachtete Moeli ebenfalls eine
nicht geringere Sterblichkeit: 5 Todte auf 34, während bei der Be-
handlung.mit Chinin-Sulfat und lauen Bädern nur 4 von 85 Fällen
einen tödtlichen Verlauf nahmen.
In der Frer i chs’ sehen Klinik in Berlin constatirte Ewald
bei 100 nach dieser Methode behandelten Kranken 80 Mal eine
leichte Abkühlung der Temperatur. Die Abendtemperatur überstieg
nicht die des Morgens , aber die Sterblichkeit war trotzdem noch
beträchtlich. Sowohl Moeli als Ewald beobachteten starken
Schweiss, den sie mit Recht als unabhängig von dem Sinken der
Temperatur betrachteten, welches dem Ersteren oft vorausgeht. Die
Temperaturabnahme ist auch vom Puls unabhängig, der meistens
sehr rasch schlägt; die Verbrennung ist mit einem Wort geringer,
der Schweiss stärker und im Uebrigen nehmen alle anderen Vor-
gänge ungestört ihren guten oder schlechten Verlauf. Damit ziehe
ich die Bilanz dieser Behandlungsmethode.
Wunderlich’s Klinik liefert Beiz nur transitorische Re-
sultate, die Münchener Klinik veranlasste Wolfsberg zu keinen
günstigen Schlüssen und die im Ffeidelberger Flospital gemachten
Beobachtungen haben auch keine entscheidenden Resultate ergeben.
In England hat man ähnliche Erfahrungen gemacht.
Tn Frankreich haben die Herren Gueneau de Mussy,
Herard, Jaccoud und O u 1 m o n t kürzlich Versuche unternommen,
aus welchen hervorzugehen scheint, dass die Temperaturabnahme
nur eine vorübergehende ist.
Bei meinen Beobachtungen, welche sich auf 12 Fälle be-
schränken, habe ich niemals eine wirkliche, dauerhafte Fieberab-
nahme, sondern nur temporäres, einige Zehntel Grad betragendes
Sinken der Temperatur bemerkt. Nur bei zwei Typhuskranken habe
ich eine wirkliche Abkühlung wahrgenommen; der Thermometer
sank auf 39 bis 37 Grad, zu gleicher Zeit entwickelte sich aber
ein Delirium, welches erst nach der Unterdrückung des Medicamentes
sein Ende erreichte. Sofort nach dem Aussetzen des Mittels stieg
die Hitze wieder bis beinahe 40 Grad. Es hat aber keinen Sinn,
v. Heyden, Studien über die Salicylsänre, 3
34
wenn man eine zweifelhafte Temperatur-Ermässigung um den Preis
von Zufällen dieser Art erkaufen wollte.
Die Schlüsse, welche ich aus meinen experimentellen und
klinischen Untersuchungen ziehen kann, sind dem Medicament in
Bezug auf Krankheiten dieser Art nicht günstig und ich vermag
die Salicylsäure allein nicht als eigentliches Antipyreticum
anzusehen.
Phlegmasie, Pneumonie, Erysipelas, Phthisis. —
Das oben Gesagte findet auch auf fieberhafte Phlegmasien, Symptom-
fieber und specifische Pyrexie seine Anwendung. Keine Thatsache
spricht bis jetzt Bei der Behandlung von Pneumonie, Erysipelas oder
Tuberculose zu Gunsten der Salicylsäure. Eine einzige Art der
Phlegmasie ist diesem Gesetz nicht unterworfen, nämlich der
acute, fieberhafte Rheumatismus und wir werden sofort
sehen, in welcher Weise dieser Ausnahmefall zu interpretiren ist.
Anwendung der Salicylsäure bei rheuma-
tischen Affectionen, Gelenkrheumatismen,
acuten, fieberhaften und fieberlosen
Rheumatismen.
Es war natürlich, dass man bei einer Krankheit, in
welcher das Fieber in den meisten Fällen eine 'hervor-
ragende Rolle spielt, ein Heilmittel versuchte, welches
als energisches Antipyreticum galt und aus diesem Grunde
wendete man sich zur Salicylsäure.
Buss verschrieb zuerst, nachdem er allerhand Ver-
suche angestellt, einigen Rheumatismuskranken 15 bis
20 Gramm salicylsaures Natron; die Resultate waren
zufriedenstellend, es traten jedoch Nebenerscheinungen
auf, die von der entschieden übertriebenen Dosis her-
rührten.
Erst Stricker1) brachte die wahren Eigenschaften
der Salicylsäure zu unserer Kenntniss. Er behandelte
14 an acutem Gelenkrheumatismus Erkrankte zweistünd-
lich mit Dosen von 50 Centigramm bis 1 Gramm und
heilte Alle. Der Schmerz hörte auf und die Temperatur
sank in weniger als 48 Stunden. Nach Stricker ist also
J) Berlin, klin. Wochenschrift 1876.
Ztschr. 1877.
Deutsch, milit. - ärztl.
3*
36
die Salicylsäure das wahre Specificum für Rheuma-
tismus, d. h. dasjenige Mittel, welches sich am besten
dazu eignet, eine bisher unbekannte specielle Schädlich-
keit im Blut der Rheumatismuskranken zu bekämpfen.
Stricker glaubte mit der Salicylsäure den Rheumatismus
direct anzugreifen; er bekämpfte mit ihr in Wirklichkeit
den Schmerz und die Geschwulst der Gelenke.
Riess behandelte 27 Kranke in derselben Weise
sobald die Temperatur über 39 Grad stieg; er hatte
dabei eben nur das Fieber im Auge. Sehr oft indessen
traf die Fieberabnahme nicht mit dem Verschwinden der
localen Erscheinungen zusammen und die letzteren ver-
schwanden oft lange vor dem Fall der Temperatur.
Leonardi Aster beobachtete 39 Fälle, bei denen
Heilung erfolgte und verzeichnete nur einen einzigen
Misserfolg.
Man braucht nur die Beobachtungen von Beiz,
Steinitz, Teuffel, Hildebrand, Putnan und Sie-
weking anzuführen, um dort dieselben Schlüsse wieder-
zufinden. Englische und amerikanische Journale bringen
in reichem Masse die charakteristischsten Thatsachen;
To wie, Hodghem, Warren und Brown berichten
von 100 Fällen, in welchen Heilung eintrat und Moore
betrachtet die Salicylsäure als Specificum.
In Frankreich hat man bisher erst wenige Beob-
achtungen über die Wirksamkeit der Salicyl - Medi-
camente bei acutem Gelenkrheumatismus gesammelt.
Dessen ungeachtet haben mehrere Collegen, die Herren
Laboulb^ne, Hdrard, Oulmont, Guüneau de
Mussy, Chauffard Versuche gemacht, welche in pe-
riodischen Sammlungen oder als besondere Mittheilungen
37
veröffentlicht worden sind. Die Vorträge der Herren
Brouardel-Lasögne und Hardy sprechen sich über
diese Behandlungsweise sehr günstig aus, während sich in
der Sociöte des hospitaux zwischen den Herren Löpine,
Dujardin-Beaumetz einerseits und Ernest B esnier
und Dumontpallier andrerseits lebhafte Debatten er-
hoben haben. Die ersteren stimmen für die Salicyl-
Behandlung, während Herr Besnier zweifelt und Herr
Dumontpallier, allerdings ohne experimentirt zu haben,
leugnet.
Ich beabsichtige alle im Hospital zu Paris und in
meiner Privatpraxis beobachteten Thatsachen hier zur
Kenntniss zu bringen.
Die Gesammtsumme beträgt 52 Gelenkrheumatismus-
Beobachtungen, von denen 19 fieberhaft und 33 fieberlos
waren. Im Hospital wurden davon 44 Fälle beobachtet
und sowohl vom _Chef der Klinik als unter meiner Lei-
tung von meinen Schülern mit der grössten Aufmerksam-
keit verfolgt. Einige dieser Kranken wurden täglich mit
6 Gramm Salicylsäure behandelt; die Mehrzahl erhielt
salicylsaures Natron in der Dosis von 10 Gramm, in
200 Gramm Wasser gelöst und so auf 24 Stunden ver-
theilt, dass die Gabe 5 Mal erfolgte. Da das Medi-
cament innerhalb 48 Stunden zum grössten Theil wieder
ausgeschieden wird, so ist es sehr wichtig, mit dem Ge-
brauch desselben noch 10 — 12 Tage nach der Heilung
fortzufahren; ohne Beobachtung dieser Vorsichtsmassregel
sind Rückfälle ganz unvermeidlich. Unter den 19 an
fieberhaftem Rheumatismus Erkrankten hatten 12 bereits
die zweiten, dritten und vierten Anfälle und fast Alle
litten schon an Störungen der Herzfunctionen. Bei diesen
- 3« -
1 2 Kranken hatten die früheren Anfälle immer 3 Wochen
bis 3 Monate gedauert.
Dagegen dauerte der Anfall bei der Behandlung
mit dem Salicylat nie länger als drei Tage und es fand
dabei keine Ausnahme statt. Die Resultate blieben auch
stets dieselben, gleichviel ob die Krankheit von 2, 4,
8, 14 Tagen datirte und nach 2 — 3 Tagen war sie in
jedem Fall gehoben. •
Das Alter der Kranken ist nur in Bezug auf die
Dosirung des Medicamentes von Bedeutung. Zwei Kin-
dern von 8 und 12 Jahren verschrieb ich täglich 2 bis
3 Gramm Salicylat und hatte damit nach 2 Tagen den
erwünschten Erfolg. Die Ausbreitung des Rheumatismus
auf verschiedene Theile des Körpers bietet der Heilung
kein Hinderniss dar; der einzige Misserfolg, welchen ich
zu verzeichnen habe , bezieht sich gerade auf einen
Rheumatismus, der mono-articulär geworden war und,
nachdem er zuerst in den vier Gelenken zum Vorschein
gekommen, sich im Handgelenk localisirt hatte.
Im Allgemeinen macht man folgende Be-
obachtungen:
1) Die Schmerzen hören oft schon nach 12 bis
18 Stunden auf; dies ist eine beständige Erscheinung.
2) Die Entzündung der Gelenke verliert sich nach
1 bis 3 Tagen, jedoch niemals früher, als der Schmerz
verschwindet. Die Geschwulst nimmt ab, selbst dann,
wenn Gelenkwassersucht vorliegt; natürlich geschieht dies
schneller, wenn die Anschwellung die periarticulären Ge-
webe noch nicht erreicht hat.
3) Die Bewegungen werden vom dritten Tage an
leicht und frei; ich habe Kranke gesehen, deren untere
39
Gliedmassen vollständig von der Krankheit ergriffen
waren und die doch nach 2 bis 3 Tagen aufstehen
konnten.
4) Das Fieber, welches sich in einigen Fällen bis
zu einem sehr hohen Grade gesteigert hatte, wich nie-
mals vor dem vollständigen Verschwinden der Schmerzen.
Dies beweist nochmals, dass das sogenannte rheu-
matische Fieber keinen wesentlichen Fiebercharakter be-
sitzt und dass es nur die Wirkung, nicht aber die Ur-
sache des rheumatischen Zustandes ist. Wenn das Fieber
auch dann noch anhält, wenn die Geschwulst des Ge-
lenkes bereits nachgelassen hat, so ist dies ein Zeichen,
dass sich in einem anderen Gelenk eine neue Entzün-
dung vorbereitet und in solchem Falle ist es sehr wichtig,
dass der Gebrauch des Medicamentes nicht unter-
brochen wird.
Analyse 33 fieberloser Fälle. — Bei heftigen
oder weniger heftigen fieberlosen Rheumatismusfällen sind
die Resultate genau ebenso günstig, als bei fieberhaftem
Rheumatismus und ich bin sehr erstaunt darüber, dass
Stricker die Wirkung des Salicylates bei subacuten
Affectionen in Abrede stellt.
Unter den 33 Kranken, von denen ungefähr die
Hälfte bereits früher Anfälle von 4, 6, ja sogar 12 Wochen
gehabt hatte, befand sich nicht ein Einziger, der nicht
schon nach 2 bis 3 Tagen geheilt gewesen wäre; nach
dem Aufhören der Schmerzen und der Geschwulst der
Gelenke konnten Alle aufstehen und nachdem die Be-
handlung 3 bis 4 Tage gedauert hatte, waren ebenso
Alle im Stande zu gehen. Trotz dessen war die Heilung
nur unter der Bedingung als vollendet zu betrachten,
40
dass das Medicament noch weitere io bis 14 Tage
angewendet wurde.
Das Unterlassen dieser Vorsichtsmassregel führte in
fast unvermeidlicher Weise Rückfälle mit sich. Der
Grund datiir ist sehr einfach; das Medicament wird sehr
rasch wieder ausgeschieden und man findet nach 3 bis
4 Tagen im Urin nur noch selten Spuren davon; ich
habe höchstens nur bei 2 oder 3 Ausnahmefällen noch
nach 5 bis 6 Tagen Salicylsäure im Urin entdeckt. Man
darf also nicht auf eine verlängerte Wirkung des Medi-
camentes rechnen.
Rückfälle. — Ich musste einige Male absichtlich
die Anwendung des Medicamentes unterbrechen, woraus
Rückfälle entstanden. Sobald ich aber aufs neue die-
selbe Behandlungsweise vorschrieb, zeigte sich sofort
wieder die am Anfang der Krankheit beobachtete thera-
peutische Wirkung. Bei 4 Kranken wiederholten sich
diese Rückfälle 3 Mal, aber nach 1 bis 2 Tagen fand
jedes Mal wieder die Heilung statt. Daraus lässt
sich schliessen, dass keine Rückfälle Vorkommen, wenn
das Medicament eine Zeitlang fortgesetzt wird , dass
sie aber sehr häufig sind, wenn die Behandlung nach
4 bis 5 Tagen unterbrochen wird und dass man sie
endlich immer wieder durch dasselbe therapeutische
Mittel beherrschen kann.
Am Anfang meiner Versuche verlängerte ich den
Aufenthalt der Kranken im Hospital, um den Verlauf
der Krankheit zu beobachten. Jetzt lasse ich sie nach
einigen Tagen gehen und verpflichte sie nur noch zur
Fortsetzung des Medicamentes. Wir haben dafür noch
immer keine officielle Erlaubniss, obgleich die Abkürzung
4>
des Aufenthaltes der Kranken in den Sälen für die öffent-
liche Wohlthätigkeit eine bedeutende Ersparniss ist.
Wirkungen des Salicyl-Medicaments auf
Complicationen. — Am Beginn dieser Versuche
drängte sich mir eine ernste Frage auf: Uebt das
Salicyl-Medicament einen günstigen oder un-
günstigen Einfluss auf die Entwicklung oder
den Verlauf der Complicationen aus, welche
den Gelenkrheumatismus so oft begleiten? Die
Blutarmuth, die sehr oft eine Folge des langanhaltenden
Rheumatismus ist, wollen wir mit Stillschweigen übergehen,
da sich annehmen läst, dass man durch Abkürzung der
Krankheit die schwächende, entkräftende Wirkung des
Rheumatismus verhindert. Ich habe dafür schon Be-
weise erhalten und kann keine Blutarmuth in Folge von
Rheumatismus mehr constatiren. Besonders handelt es
sich aber um Störungen der Herzfunctionen, welche den
Rheumatismus so oft begleiten. Wenn die Herzklappen
bereits in Folge früherer Anfälle nicht mehr in gehöriger
Weise functioniren, so sind die Salicyl-Medicamente nicht
im Stande, einen modificirenden Einfluss auszuüben. In
einigen Fällen, bei denen einerseits Dispnoe, andrerseits
Oedem eintrat, fürchtete ich fast, dass das Medicament
auf den Verlauf der Herzkrankheit einen schädlichen
Einfluss ausüben könne. Da aber auch nach Unter-
drückung des Medicamentes dieselben Erscheinungen
andauerten, so konnte man dieselben füglich nicht dem
Gebrauch des Salicylates zuschreiben.
In eine andere Kategorie von Thatsachen gehören
drei Fälle, bei denen sich sofort beim Beginn des rheu-
matischen Anfalles Endocarditis entwickelte; das Arznei-
mittel störte den Verlauf der Herzaffection nicht, ver-
schlimmerte ihn aber auch in keiner Weise.
Bei einer dritten Kategorie von Kranken, die wäh-
rend der drei ersten Tage der Krankheit in das Hospital
eintraten, entwickelte sich keine Entzündung, weder des
Pericardiums noch des Endocardiums. Es lässt sich
also in logischer Weise voraussetzen, dass man durch
schleuniges „Unterdrücken“ der Krankheit eine Erkran-
kung "der Herzmembranen verhüten kann. Man kann
also, wenn der Kranke sofort richtig behandelt wird,
auf die Localisirung und Beschränkung der Krankheit auf
die serösen Höhlen der Gelenke hoffen. Man hat in
Deutschland indessen einige entgegengesetzte Thatsachen
beobachtet, welche die Unabhängigkeit des Herzens in
Frage zu stellen scheinen. Ich kann diese Beobachtungen
aber nicht für correct halten, da sie die Dauer der
Krankheit vor dem Beginn der Behandlung nicht an-
geben.
Ich will diese wichtige Frage mit der Erklärung ab-
schliessen, dass das Natron salicyl. auf frühere Störungen
der Herzfunctionen von keinem Einfluss ist, dass es
aber, wenn es sofort beim Auftreten der Krankheit an-
gewendet wird, die Erkrankung der inneren serösen
Theile verhindern kann.
Dauer der Krankheit bei Behandlung mit
Salicyl-Medicamenten.
Die Dauer der Krankheit wird durch Salicyl-Medi-
camente in eigentümlicher Weise abgekürzt. Nach
43
2 bis, 3 Tagen sind sowohl die Schmerzen, als das
Fieber und die Geschwulst der Gelenke vorüber.
Hier handelt es sich nun also nicht mehr um nur
einzelne glückliche Heilungen. Alle Kranken (52) haben
ohne Unterschied den ungeheuren Vortheil der Ab-
kürzung der Krankheit gemessen können. Ich höre
schon im Voraus die Einwendungen gewisser Gelehrten,
welche sich jedem Fortschritt, jeder bestimmten Demon-
stration widersetzen. Man wird sagen: die Krankheit
ist wechselnd und verschiedenartig; man wird an die
Enttäuschungen erinnern, welche schon manche viel-
gepriesene und schnell vergessene Arznei hervorgerufen
hat; man wird die grossartige Erwartung und schliess-
liche Verzweillung der Aerzte ausmalen. Meine Ant-
wort darauf wird von der weisen Bemerkung
eines unserer grossen Kliniker, Chomel’s, dic-
tirt sein, welcher, um überzeugt zu werden,
verlangte, dass man ihm 30 bis 40 Kranke
zeige, die in 14 Tagen geheilt worden seien.
Ich kann deren 51 auf 52 aufweisen, deren
Heilung binnen 2 bis 3 Tagen erfolgte.
Man wolle einmal Vergleiche mit früheren Zahlen
anstellen. Ein ausgezeichneter, zuverlässiger Arzt, Pro-
fessor Lebert, berichtete seiner Zeit bei einer Statistik
von 108 Fällen, dass von denselben 10 Fälle 5 bis
r4 läge, 58 16 bis 35 Tage, 40 36 bis 55 Tage und
darüber gedauert haben. Unter 108 sind also nur 10
nach 5 bis 14 Tagen geheilt worden, die übrigen 98
haben im Durchschnitt 36 Tage auf ihre Genesung
warten müssen.
44
Vergleiche mit anderen Behandlungsmethoden.
Unter diesen Methoden erwähne ich zuerst die anti-
phlogistische Methode, welche, nach Herrn Bouillaud’s
Aussage, die Dauer der Krankheit noch am meisten
abkürzte. Man weiss genugsam, von welcher Bedeutung
diese Abkürzung in solchen Fällen ist. Indessen dauern
die den besten Verlauf nehmenden, nach dieser Me-
thode behandelten Fälle immer noch länger, als die
hartnäckigsten und schlimmsten bei der Salicyl-
Behandlung.
Ich spreche nicht weiter vom Kali-Nitrat, der Digi-
talis, dem Brech Weinstein, Aconit, Veratrin, in einem
Wort von der ganzen Reihe der in ähnlichen Fällen
angewendeten antipyretischen Mittel. Die darauf bezüg-
liche Statistik hat in Betreff der Dauer und Schwere der
Krankheit ein recht trauriges Ansehen.
Sind die mit Pflanzensäuren und besonders mit den
Alkalien erreichten Resultate vielleicht besser? Die Be-
handlung mit Alkalien wird in England, Deutschland,
selbst in Frankreich sehr gerühmt, da sie besonders den
Complicationen in energischer Weise entgegentreten soll.
Es scheint auch, nach englischen Aerzten (Dick,
Chambers), als ob die Alkalien die Zahl der beglei-
tenden Herzkrankheiten auf fünf Procent beschränkt hätten.
Ausser der antipyretischen Methode und den Oxy-
dations-Mitteln (Säuren und Alkalien) hat man noch die
ausleerende, schweisstreibende Methode durch das Ja-
borandi und sein Alkaloid, das Pilocarpin gerühmt. Ich
habe letztere Methode mehrmals versucht, ohne mehr
45
zu erreichen, als einen peinlichen Speichelfluss, häufiges
Erbrechen und eine unnütze Diaphorese.
Es würden mir somit noch die beruhigenden Mittel
zur Erwähnung übrig bleiben: Opium und Morphium
als Einspritzungen, Kalium-Bromür und Chloral, welche
alle nur Palliativ-Mittel zur Linderung der Schmerzen
bilden.
Ferner citire ich als mit schmerzstillenden Eigen-
schaften begabte Mittel das Colchicum , welches sich
bei der Gichtbehandlung eines wohlverdienten Rufes er-
freut, das Propylamin, von Avenarius vor 20 Jahren
rühmlichst erwähnt und trotz der schönen Versuche
Dujardin-Beaumetz’s bald vergessen, das von Lut-
ten angepriesene Zink-Cyanür und endlich die Carbol-
säure, welche in einer T/IOO Verdünnung als Einspritzung
unter die Haut nach Kunze und Senator sofortige
Linderung herbeiführt. Unter diesen Arznei -Mitteln,
welche man schmerzstillend nennen könnte, ist das
Chinin-Sulfat aber das einzige, welches sich mit Berech-
tigung auf seinem Platz in der Wissenschaft behauptet hat.
Beim Vergleich des Natron salicyl. mit dem
Chinin-Sulfat stellt es sich heraus, dass das
Letztere die Schmerzen zwar ebenso wie das
Erstere vermindert, dass es dies aber lang-
samer und um den Preis einer wirklichen In-
toxication thut; es lässt die Temperatur und
den Puls rascher sinken, aber seine Wirkung,
welche besonders antifebril ist, ist mit der
raschen, entschiedenen, unschädlichen Wir-
kung des Salicylates nicht zu vergleichen.
Acuter Muskelrheumatismus. — Bei 2 Kranken
4 6
haben wir eine schmerzhafte Zusammenziehung der Hals-
muskeln innerhalb 2 Tagen unter dem Einfluss des
Salicyl-Medicamentes weichen sehen. In einem andern
Fall, der sich durch allgemeine Muskelschmerzen und
bereits 1 tägiges Fieber charakterisirte, wurde die schon
eingetretene Steifheit des ganzen Körpers durch dasselbe
Mittel binnen 2 Tagen in definitiver Weise vollständig
beseitigt.
Die gleichen günstigen Resultate erreichte ich mit
der gleichen Behandlungsweise bei 2 Lumbago-Fällen,
deren Ursache schwer zu erklären war.
Rheumatische oder bien norrhagi sehe Ar-
thritis.— Die unter dem Namen blennorrhagische Ar-
thritis oder blennorrhagische Synovitis bekannten acuten
Gelenk- Affectionen scheinen durch das Salicyl-Medicament
nicht in bemerkenswerther Weise beeinflusst zu werden,
und obgleich Leonardi Aster einen geheilten Fall citirt,
so können wir doch keine entschiedene Wirkung des
Mittels auf diese gewöhnlich wenig schmerzhaften Schä-
den constatiren, welche besonders durch Hydarthrosis,
Muskelsteifheit und Sehnenentzündung charakterisirt sind.
Verschiedene rheumatische Affectionen:
Chorea. — Es war nur natürlich, dass man wegen des
engen Zusammenhanges der Chorea mit dem Rheumatis-
mus die Anwendung des Salicylates bei der rheumatischen
Chorea versuchte. Nachdem wir aber 3 Chorea-Kranke
in dieser Weise behandelt hatten, bemerkten wir bald,
dass das Medicament auf Chorea keinen Einfluss ausübt.
Dasselbe lässt sich von allen rheumatischen Affec-
tionen sagen, welche nicht Gelenkrheumatismus, Muskel-
rheumatismus oder Neuralgie sind.
47
Chronische Rheumatismen. — Trockene
Arthritis; knotige Arthritis.
Es handelt sich hier um schwere, hartnäckige Rheu-
matismen ; auch spreche ich hier nicht von jener trocke-
nen Arthritis, auf welche Herr Gosselin gelegentlich
der Schwierigkeiten der Diagnose der trockenen Arthritis
des Hüftgelenks aufs Neue soeben die Aufmerksamkeit
gelenkt hat, sondern ich beziehe mich nur auf eine in
dem Namen chronische, lccalisirte oder allgemeine ein-
fache Arthritis zusammengefasste Gruppe, welche mit
dem Rheumatismus zu gleicher Zeit oder in dessen Ver-
lauf auftritt.
In eine zweite Reihe von Thatsachen muss man
jene abscheuliche Arthritis, jenen chronisch fibrösen
Rheumatismus stellen, dessen Typus Jaccoud so genau
schildert und det von Entstellungen und auffallenden
Verkrümmungen begleitet ist.
Eine dritte, viel wichtigere und häufigere Reihe
umfasst jene Art knotiger Arthritis, von welcher Char-
cot eine ausgezeichnete Beschreibung gegeben hat. Es
ist dies die Knochen- Arthritis, welche nach und nach
die Gelenkdrüsen, die Knorpel, das Knochengewebe der
Gelenke ergreift und schliesslich dies alles zu Elfenbein
verknöchert, nachdem sie die schwersten hypertrophischen
Veränderungen hervorgebracht hat.
Gerade bei diesem knochigen Rheumatismus be-
merkt man am häufigsten Verkrümmungen der Finger,
Hände und Fiisse, Verunstaltung der Knochen, Ver-
schiebung der Gelenke, knochige Geschwülste, Verunstal-
tung oder Geschwulst der periarticularen, extrasynovialen
- 43 -
Gewebe mit Zusammenziehung der Muskeln und benach-
barten Sehnen.
Eine vierte und letzte Serie bezieht sich auf die
aus dem Rückenmark hergeleitete Arthritis, über welche
kürzlich verschiedene Zweifel aufgetaucht sind.
Ausserdem muss ich noch die partiellen knotigen
Auswüchse an den Fingern erwähnen, von welchen
Heberden berichtet und die ihren Sitz ebenfalls im
Knochengewebe haben.
Ich habe besonders die einfachen, chronischen Rheu-
matismen im Auge, die Sclerosis (Verhärtung der Augen-
lidränder) und die knochige Arthritis. Wir müssen uns
um so mehr damit beschäftigen, als sowohl die Einen
als die Andern in gewissen Momenten wirkliche, acute,
schmerzhafte Paroxysmen hervorbringen. Es sind dies
auf verschiedene Formen des chronischen Rheumatismus
übertragene Anfälle von acutem Rheumatismus.
Gerade diese häufigen und schmerzhaften Paroxys-
men waren es, welche den Gedanken herbeiführten, die
Salicyl-Behandlung beim chronischen Rheumatismus an-
zuwenden. Meine Voraussetzungen realisirten sich in
der glücklichsten Weise. Diese acuten Anfälle ver-
schwanden genau ebenso wie der acute Gelenk-Rheu-
matismus nach 3 bis 4 Tagen. Ich habe dies 3 Mal
im Hospital, 2 Mal in meiner Privatpraxis beobachten
können. Mein Freund Bouchard, der in Bicetre Arzt
ist, hat dieselben Erfahrungen bei 4 Greisen gemacht,
welche an chronischem Rheumatismus mit Paroxys-
men litten.
Dabei ist zu bemerken, dass diese Paroxysmen sonst
im Allgemeinen sehr schwer weichen. Die Morphium-
Einspritzungen, das Kalium -Bromür und Chloral helfen
49
entweder nicht oder können der Länge dieser Anfälle
wegen nicht fortgesetzt gebraucht werden, da das Mor-
phium oft Ekel, das Kalium-Bromür allgemeine Ent-
kräftung und das Chloral eine übertriebene und schäd-
liche Schlafsucht verursacht.
Das Natron salicyl. ist deshalb von solcher Bedeutung,
weil man durch einige starke Dosen innerhalb weniger
Tage das Aufhören der Schmerzen erreichen und darauf
das erlangte Resultat mit viel kleineren Dosen aufrecht
erhalten kann. Während ich diese Paroxysmen behan-
delte, machte ich oft bezüglich der Abnahme der peri-
articulären Geschwulst und der Muskelsteifheit die er-
staunlichsten Wahrnehmungen. Diese Beobachtungen
veranlassten mich, die gleiche Behandlungsweise bei chro-
nischem Rheumatismus ohne diese plötzlichen Schmerz-
Steigerungen anzuwenden.
Folgende Resultate wurden in dieser Richtung er-
zielt: Bei 2 Fällen von einfachem, chronischem Rheu-
matismus, welcher beide Kniee und Ellbogen occupirte,
verschwand nach 3 Tagen die Entzündung der Gelenke,
die bereits seit 6 Monaten andauerte und die Arbeiter
vollständig am Arbeiten gehindert hatte. Bei dem Einen
von Beiden blieb noch eine gewisse Steifheit im Ell-
bogen zurück.
Bei einem dritten Kranken, der mir in’s Hospital
gesandt wurde, handelte es sich um allgemeine, chro-
nische, nicht deformirende Arthritis, welche diesen Mann
seit 11 Jahren zu vier bis sechs Monaten Unthätig-
keit jährlich verdammte. Dieses Mal wurde er nach
sechs Tagen vollkommen frei in allen Gelenken aus
dem Hospital entlassen.
v. Heyden, Studien über die Salicylsäurc,
4
Bei 5 Kranken aus meiner Stadtpraxis beobachtete
ich genau dieselben Erscheinungen; die Geschwulst der
Gelenke, welche bereits seit Monaten, bei einem dieser
Kranken seit 3 Jahren, vorhanden war, wich nach 6 bis
8 Tagen und kam auch nicht wieder zum Vorschein,
da das Medicament einen Monat hindurch
nicht einen einzigen Tag lang ausgesetzt wor-
den war.
Also weicht die ganze Reihe der chronischen, ein-
fachen, von selbst oder im Verlauf von andern Krank-
heiten entstehenden Rheumatismen (von der Kategorie
der Paroxysmen ganz abgesehen) dieser Behandlungs-
weise und zwar ohne das geringste Hülfsmittel, das
heisst also ohne gleichzeitige Anwendung von warmen
Bädern, Dampfbädern oder anderen innerlich zu ge-
brauchenden Medicamenten.
Eine zweite Reihe Thatsachen bezieht sich auf
den knorpeligen Rheumatismus. Ich beobachtete einen
Arthritis-Fall dieser Art, bei welchem Schulter und Ell-
bogen der linken Seite ergriffen waren. Die Glieder
fingen bereits an sich zusammenzuziehen: nach 8 Tagen
jedoch war völlige Heilung eingetreten. Der erstaun-
lichste Fall in dieser Art bezieht sich indessen auf eine
Dame, welche 2 Jahr nach dem Bruch der rechten
Schulter eine wirkliche Verkrümmung der Finger, Atro-
phie der Hand, bedeutende Geschwulst der Fingergelenke
aufwies. Sie hatte bei der geringsten Bewegung die
heftigsten Schmerzen und die Finger waren fast voll-
ständig unbeweglich geworden. Diese Kranke, bei
welcher einer unserer Collegen knochigen, fibrösen Rheu-
matismus constatirt hatte, sollte nach den Quellen von
5i
Bourbonne-les-Bains gehen, kam jedoch noch 8 Tage
vorher mich wegen ihres zweijährigen Uebels zu con-
sultiren. Nach 6 Tagen war jede Zusammenziehung
verschwunden, sie hatte keine Schmerzen und die Hand
hatte ihre vollkommene Biegsamkeit wiedererlangt.
Ich komme zu einer dritten Kategorie, welche bis
jetzt so zu sagen der ganzen medicinischen Wissenschaft
Trotz geboten hat, zur Arthritis deformans, welche
bisher ohne jeden Erfolg bald mit Alkalien, Arsenikbädern,
Jod und Leberthran, bald mit Hydrotherapie, schwefeligen
oder salzhaltigen Mineralwässern und elektrischen Strö-
men behandelt worden ist. Niemand kann die Vor-
züglichkeit dieses oder jenes Mittels behaupten, obgleich
ich jüngst in einer medicinischen Zeitung einen wunder-
baren Fall erwähnt finde, bei welchem Herr Guöneau
de Mussy durch Anwendung von Arsenikbädern Hei-
lung bewirkt hat. Man liest übrigens auf der 6. oder
7. Zeile dieser Beobachtung: Man wendete 4 Gramm
Natron salicyl. an und die Heilung liess nicht
auf sich warten.
Beobachtungen über knotigen Rheumatis-
mus. — Ich gebe hiermit das Hauptergebnis meiner
Beobachtungen: Bei 2 Greisen, die im Hospital behan-
delt wurden, fand kein Erfolg statt; bei einem dritten
Fall knotiger Arthritis, einem noch jungen Mann, zeigte
sich eine bedeutende Besserung.
Die 3 bemerkenswerthesten Fälle aus meiner Privat-
praxis sind folgende:
Im ersten Fall handelte es sich um eine knotige
Arthritis, an welcher ein öojähriger Mann seit bereits
16 Jahren litt. Die Krankheit hatte die 4 grossen Ge-
52
lenke der unteren Gliedmaassen, die Rücken-Wirbelsäule,
die Handgelenke und Finger ergriffen; das Gehen war
unmöglich, der Körper so zu sagen unbeweglich und
das Erfassen von Gegenständen, sowie das Schreiben
seit 2 Jahren unausführbar. Nach i tägiger Behandlung
waren die oberen Gelenke frei und jetzt ist nur noch
eine gewisse Steifheit der Beingelenke zurückgeblieben.
Der zweite Fall bezieht sich auf eine knotige Arthri-
tis der Kniee und Finger.
Der dritte Fall war ausserordentlich schwierig. Eine
Dame von 42 Jahren, welche ich mit Herrn Briau zu-
sammen behandle, leidet seit 2 Jahren an knotiger
Arthritis der Kniee, Knöchel, kleinen Fussgelenke, Hand-
gelenke, Finger und Ellbogen. Diese sehr schmerz-
hafte Krankheit hatte ein intensives Fieber, verbunden
mit bedeutender Appetit- und Schlaflosigkeit, herbei-
geführt, welch letztere seit dem Auftreten der Krankheit
nicht einen einzigen Tag gewichen war.
Nach 8 Tagen waren, trotzdem das Einnehmen
von 8 Gramm Natron salicyl. viel Schwierigkeiten ver-
ursachte, die oberen Gelenke frei, die Schmerzen vor-
über und die Kniee ohne Geschwulst. Die Füsse blieben
geschwollen. Die Besserung ist evident, aber die Hei-
lung hat seitdem keine Fortschritte gemacht, weil die
Kranke nicht mehr als 4 bis 5 Gramm des Salicyl-Salzes
ertragen kann.
Ich fasse diesen Theil meiner Untersuchungen zu-
sammen und sage, dass an der Nützlichkeit des
Salicyl - Medicamentes bei den verschiedenen
Arten des chronischen Rheumatismus nicht zu
zweifeln ist. Der Rheumatismus mit Paroxysmen
53
wird sofort geheilt; der einfache chronische
Rheumatismus weicht mit derselben Leichtig-
keit; der scleröse oder fibröse Rheumatismus
verhält sich genau ebenso und bei der knotigen
Arthritis erlangt man endlich in den meisten
Fällen bedeutende Modificationen und beson-
ders gänzliches Aufhören der Schmerzen.
Wir müssen indessen hinzusetzen, dass in letzteren
Fällen bei fortgesetzt grossen Dosen die Heilung nur
um den Preis der schon erwähnten Unannehmlichkeiten
zu erreichen ist. Dieselben bestehen in Ohrensausen,
Brausen im Kopf, mehr oder weniger heftig auftreten-
der Schwerhörigkeit und im Anfang der Behandlung
in Beängstigungen, welche kürzere oder längere Zeit
anhalten.
Nach einiger Zeit tritt selbst beim fortgesetzten
Gebrauch der gleichen Dosen in diesen Zuständen,
welche ich Salicylismus nennen möchte, eine Verringerung
derselben ein. Für den übrigen Organismus ist
niemals eine üble Folge zu fürchten.
Acute und chronische Gicht.
Die schmerzstillenden Eigenschaften des Natron
salicyl. bei rheumatischen Affectionen veranlassten mich,
diese Methode bei jener so complicirten Krankheit an-
zuwenden, welcher man den Namen Gicht beigelegt
hat. Als ich vor 5 Monaten meine ersten Versuche in
dieser Richtung unternahm, hatte noch Niemand daran
gedacht, dieses Mittel bei solchen Zuständen anzuwenden
und meine therapeutischen Voraussetzungen wurden bald
54
durch die klinischen Ergebnisse völlig gerechtfertigt. Ich
konnte nicht allein das beinahe unmittelbare Verschwin-
den der Schmerzen constatiren, sondern auch das rasche
Aufhören der Gelenkschwellung. Die acuten Gicht-
anfälle waren in 48 Stunden überwunden!
Aber noch mehr. Als ich die Anwendung des
Medicamentes auch auf chronische Gicht erstreckte, war
ich nicht wenig überrascht, Zertheilung der ältesten Ge-
lenk-Schwellungen, Abnahme, ja sogar manchmal voll-
ständiges Verschwinden der Tophi und wiederkehrende
Beweglichkeit in Gelenken zu erreichen, welche seit
Monaten und Jahren von der Gicht so in Besitz ge-
nommen waren, dass sich falsche Ankylose gebildet hatte.
Diese unverhofften Resultate stellten selbst die-
jenigen in den Schatten, welche das Salicyl-Medicament
bei der Behandlung von Arthritis deformans hervor-
gebracht hatte. In der That eignet sich die ganze Con-
stitution der Krankheit, sowie die Natur der articulären
Läsionen besser für die Wirkung des Arzneimittels, als
dies bei den tiefergehenden , knochigen Läsionen des
knotigen Rheumatismus der Fall ist.
Andrerseits dient die specielle Alteration des Blutes,
welche die Gicht constituirt im Vergleich zu den gänz-
lich hypothetischen Modificationen der Blutflüssigkeit im
Rheumatismus, dafür bis zu einem gewissen Punkte zur
Erklärung, dass die Wirkung des Medicamentes bei der
Gicht noch günstiger ist als beim Rheumatismus.
Welches sind eigentlich die der Gicht charak-
teristischen Züge? Sie ist eine chronische, constitutio-
neile, meistens erbliche Krankheit und charakterisirt sich
55
1) durch einen Ueberschuss von Harnsäure im
Blut und deren correspondirende Abnahme im Urin;
2) durch acute Gelenkschwellungen, denen eine
bedeutendere Ausscheidung von Harnsäure durch die
Nieren folgt;
3) durch Ansammlung von Uraten in den Gelenken
und Muskel-Geweben, welche Bildungen Tophi genannt
werden;
4) durch vorübergehende oder permanente Stö-
rungen der wichtigsten Organe, wie des Magens, Her-
zens, der Blutgefässe, Lungen, Nieren und Haut. Daraus
entsteht dann Magengicht, atheromatöse Degeneration
der Blutgefässe (besonders des Gehirns), gichtisches
Asthma, Brustbeschwerden, Arthritis und endlich Nie-
rensteine, Harnstoff-Infarcte und jene schwere Krankheit,
welche man mit dem Namen „gichtische Nieren“ be-
zeichnet.
Der durch die Arbeiten Garrod’s bekannt ge-
wordene Ueberschuss an Harnsäure im Blut beträgt 28
bis 175 Milligramm Harnsäure auf 1000 Gramm Blut,
während diese Flüssigkeit im normalen Zustande kaum
wahrnehmbare Spuren davon enthält. Es handelt sich
nun darum, zu wissen, auf welche Weise dieser Zustand
des Blutes modificirt werden kann und vor Allem um
die Erforschung der Ursache dieser abnormen Anhäufung
von Harnsäure.
Theorie der Gicht. — Man hat in dieser Hin-
sicht mehrere zulässige Interpretationen angenommen.
Die erste derselben würde folgendermassen lauten: Ge-
schieht die Ernährung eines Individuums durch sehr
stickstoffhaltige Lebensmittel und findet zu gleicher Zeit
56
Mangel an Bewegung statt, so werden die Nahrungs-
principien nur einem unvollständigen Verbrennungsprocess
unterworfen; statt sich in Harnstoff umzubilden, der das
letzte Stadium des Verbrennungsprocesses der Eiweiss-
stoffe bezeichnet, gelangen sie nur zu einem in der
Oxydation weniger vorgeschrittenen Product und ver-
wandeln sich in Harnsäure, welche sich im Blut, der
Lymphe und in den Geweben ansammelt.
Diese Säure entsteht hauptsächlich in der Milz; sie
findet sich dort während und nach der Verdauung in
bedeutender Quantität und als Beweis dafür kann ein
mehrere Stunden nach dem Verzehren der Nahrungs-
mittel im Urin wahrgenommener Ueberschuss der Säure
gelten. Eine zu reichhaltige Nahrung veranlasst also in
doppelter Weise die Production von Harnsäure, indem
sie dem Körper erstens zu viel Material zuführt und
die Functionen der Milz andrerseits in aussergewöhn-
lichem Maasse steigert.
Unter die, eine Production der Gicht am meisten
begünstigende Lebensweise ist besonders die stickstoff-
haltige £>iät zu rechnen (Lehmann, Ranke); ferner die
Consumption übermässig fetter Genussmittel (Meisner
und Koch), welche den vollständigen Verbrennungs-
process der Gewebe stören, sowie diejenigen Substanzen,
welche Asparagin und apfelsauren Kalk enthalten.
Ungerechter Weise hat man auch schliesslich den
Alkohol als einen Stoff bezeichnet, welcher für sich selbst
und zu seiner eigenen Verbrennung Sauerstoff absorbirt
und somit die völlige Oxydation der Eiweissstofte und
ihre Umwandlung in Harnstoff verhindern würde. Dei
Verbrennungsprocess des Alkohols ist im Körper iibei-
57
haupt sehr mangelhaft und der grösste Theil desselben
geht ganz unverändert in die Gewebe und Ausschei-
dungsiliissigkeiten über. Man weiss übrigens auch, dass
die Alkoholiker, welche unsere Hospitäler bevölkern, nicht
an der Gicht leiden. Zu dieser veranlassen andere Er*
nährungsbedingungen und ich habe in dieser Beziehung
soeben eine zu reichliche, stickstoffhaltige und
fette Diät hervorgehoben.
Als Nebenbedingung der Gicht hat man eine sitzende
Lebensweise hingestellt und gesagt, dass der Mangel an
Bewegung bei geringerer Sauerstoff-Absorbirung ebenfalls
die völlige Verbrennung der Harnsäure verhindert, wäh-
rend Bewegung und Muskelthätigkeit den Eintritt des
Sauerstoffs in das Blut begünstigen und in Folge dessen
die völlige Verbrennung der Eiweissstoffe und die Bil-
dung des Harnstoffs aus Harnsäure veranlassen.
Dabei sind -ebenso viel Irrthümer als Worte zu
verzeichnen, denn die Muskelbewegung vermehrt einer-
seits niemals die kleine in den Muskeln enthaltene
Quantität Harnstoff, noch die Ausscheidung desselben
im Urin; andrerseits können alle Gichtkranke sowohl
vor, wie während ihrer Anfälle und in den dazwischen
liegenden Intervallen stets eine normale Quantität Harn-
stoff im Urin aufweisen, welche Quantität ebenso, wie
im physiologischen Zustande, nur durch die Ziffer der
absorbirten stickstoffhaltigen Principien eine Veränderung
erfährt.
Bezüglich des Einflusses der Bewegung auf die
Elimination der Harnsäure herrschen vollkommen wider-
sprechende Meinungen.
Uebrigens bedarf die aus der Diät entspringende
58
Uricämie zu ihrer Entstehung keiner weiteren Unter-
stützung, denn sie ist, wenn sie einmal existirt, allein in
Folge der Zuführung überschüssiger Stickstoff-Principien
vorhanden oder der Consumirung gewisser Lebensmittel,
wie z. B. dem Fett, welches den Sauerstoff von seiner
ursprünglichen Bestimmung ablenkt und dem Gebrauch
gewisser Substanzen zuzuschreiben, die sich leicht in
Harnsäure umwandeln. Es scheint also fast, als ob die
Uricämie nur eine vom chemischen oder hygieinischen
Standpunkt aus zu erledigende Frage wäre und als ob
eine Modification der Diät zur Heilung der Gicht führen
müsste.
Dagegen sind aber ernste Einwürfe zu erheben.
Wenn man in das Blut eines Hundes Harnsäure ein-
spritzt, so verwandelt sich diese Säure in Harnstoff
(Frerichs und Wühler); wie geht es aber zu, dass
das Thier nach wie vor Harnsäure ausscheidet? Warum
bleibt Harnsäure im Urin? Warum findet keine völlige
Umwandlung in Harnstoff statt? Die Antwort würde
dahin lauten, dass die uricämische Function normal und
unzerstörbar ist. Weiter kann man einwenden, dass die
im Urin eliminirte Quantität Harnsäure von der allge-
meinen Diät viel weniger als der Harnstoff beeinflusst
wird. So enthält der Urin also bei gemischter Nahrung
auf 1000 Gramm Urin 0,50 bis 0,80 Centigramm Harn-
säure und 23 Gramm Harnstoff, bei stickstoffhaltiger
Nahrung 0,98 Centigramm Säure und 86 Gramm Harn-
stoff. Der Letztere hat sich also um das Dreifache ver-
mehrt, während die Menge der Harnsäure fast die gleiche
geblieben ist. Woher kommt es, dass die stickstoffhaltige
Diät in beinahe exclusiver Weise bei der Entstehung der
59
Uricämie eine so schlimme Rolle spielt? Die Antwort
darauf ist nicht schwer zu finden und würde den dritten
Einwand gegen die allein von dem Genuss zu reich-
haltiger Nahrungsmittel herrührende Uricämie bilden.
Pettenkofer und Voit haben dargelegt, dass über-
mässig stickstoffhaltige Genussmittel eine grössere Quan-
tität Sauerstoff zur Erscheinung bringen und dass die-
selbe vollständig für die Verbrennung der Eiweissstoffe
und für ihre Umwandlung in Harnstoff ausreicht. Es
entsteht dann eine Art Ausgleich zwischen der eiweiss-
haltigen Nahrung und der Proportion des absorbirten
Sauerstoffs. Die Uricämie ist also nicht das ausschliess-
liche Ergebniss einer zu viel Albumin enthaltenden Diät;
die schädlichste und für die Entwicklung der Gicht ge-
eignetste Ernährung würde in reichlich stickstoffhaltigen
Genussmitteln bestehen, denen noch Zucker, Leimsub-
stanz und Fett beigemischt ist; in diesem Fall wird
weniger Sauerstoff als im zuerst angeführten absorbirt,
die Oxydation ist in Folge dessen geringer, es entwickelt
sich Fett in den Geweben und durch die zu reichliche
Consumption entsteht schliesslich eine wirkliche Verfettung
und vielleicht ein Ueberschuss von Harnsäure im Blut
und in den Geweben. In diesen Fällen ist die Uricämie
also in dem Sinne relativ, als Harnsäure sich nicht in
Harnstoff umwandelt, sondern sich ansammelt. Indessen
wird dadurch noch immer keine Erklärung für die Gicht
der mageren Individuen und die der Armen gefunden,
welche übrigens sehr selten ist.
Um in alle diese Probleme etwas Licht zu bringen,
hat man eine Theorie aufgestellt, welche mit der Er-
nährungstheorie in keinem Zusammenhänge mehr steht;
6o
man behauptet, dass die Harnsäure im Blut zurückge-
halten wird, weil die Nieren keine genügende Elimina-
tionskraft besitzen (Garrod).
Es giebt Thiere, welche sich für eine derartige Be-
weisführung vortrefflich eignen, nämlich die Vögel, die
ihrer Natur nach im Urin nur Harnsäure eliminiren.
Zalesky bewerkstelligte dadurch, dass er den Abgangs-
kanal eines Vogels beseitigte, eine Anhäufung dieser
Säure und des Harnstoffs in der Lymphe, dann im Blut
und beobachtete schliesslich eine harnstoffhaltige An-
sammlung in den peripherischen Organen.
Bei den Gichtkranken besteht aber für die Elimina-
tion des Harnstoffs wenigstens beim Beginn der Krank-
heit kein Hinderniss, die Nieren sind vollkommen intact
und werden erst in einer vorgeschritteneren Krankheits-
periode der Sitz atrophischer Läsionen oder harnstoff-
haltiger Ansammlungen. Ihre unzureichende Thätigkeit
kann also nicht als Ursache der Harnsäure- Anhäufung
im Blut angesehen werden.
Diese Hypothese der Uricämie lässt sich also nicht
aufrecht erhalten.
Ich erwähne noch eine dritte Theorie, welche weder
auf einem Zurückhalten, noch auf einem Ueberschuss in
der Production der Harnsäure beruht. Sie basirt auf
der Unlöslichkeit derselben im Blut unter gewissen
diätetischen Verhältnissen. Die stickstoffhaltige Diät
führt dem Blut einen Ueberschuss an Phosphor- und
Schwefelsäure zu, welche diese so mit den alkalischen
Basen verbinden, dass die Umwandlung der kaum lös-
lichen Harnsäure in lösliches Natron-Urat nicht vor sich
gehen kann. Wie entsteht aber in solchem Fall die
6i
Ansammlung der Harnsäure in den Geweben und Ge-
lenken?
Auf diese Weise liessen sich eher die Nierensteine,
nicht aber die Gicht erklären. Die Nierensteine ent-
stehen in der That in Folge der Unlöslichkeit der Harn-
säure im Urin, der zu concentrirt ist, um sie auflösen zu
können. Wenn diese Flüssigkeit zur Verdünnung des in
den Nieren enthaltenen Harnstoffs und der Harnsäure
nicht ausreicht, so bilden sich in den Nieren und der
Blase krystallinische Harnstoff-Ansammlungen, welche wir
Nierensteine nennen.
Die Nierensteine sind aber kein Synonym der Gicht,
denn erstens enthält der Urin der Steinkranken keinen
Ueberschuss an Harnsäure, sondern dieselbe einfach
krystallisirt oder amorph, ungelöst. Ausserdem können
Nierensteine ohne Gicht vorhanden sein und schliesslich
ist unter 4 Gichtkranken höchstens einer, der zu gleicher
Zeit an Gicht und Nierensteinen leidet.
Die beiden letzten Theorien sind also unhaltbar.
Wir können weder ein Zurückhalten noch ejne unlös-
liche Ansammlung der Harnsäure, sondern nur eine von
ursprünglich äusseren Ursachen abzuleitende Uricämie
anerkennen, die einem Ueberschuss an albuminösen Sub-
stanzen zuzuschreiben wäre. Da aber diese vielgestaltigen
Stoffe eine erhöhte Sauerstoff- Absorbirung veranlassen,
so muss man diejenige Diät als die schädlichste be-
trachten, welche nicht allein stickstoffhaltige Principien,
sondern noch grosse Quantitäten Fett, Leimsubstanz oder
Zucker in sich schliesst. Die Sauerstoff-Absorbirung ist
in diesem Fall eine normale, diese hinzugesetzten Sub-
stanzen verbrauchen jedoch für ihre eigene Rechnung
Ö2
eine gewisse Quantität Sauerstoff, welche zur Verbrennung,
also zur Bildung von Harnstoff im Verhältnis zu den
Nahrungsmitteln und den albuminösen Geweben, verwen-
det werden sollte. Auf diese Weise kann man sich die
von den Gichtkranken ausgeschiedene normale Quantität
Harnstoff, trotz der in den Organismus eingeführten
grösseren Menge stickstoffhaltiger Principien, erklären.
Die erste Function der hinzugetretenen kohlenwasserstoff-
und leimhaltigen Nahrungsmittel würde also darin be-
stehen, dass sie das Abnutzen der organischen Gewebe
verhindern und so für den Organismus gleichsam Er-
sparnisse machen. Ihre weitere Thätigkeit würde sich
auf die UmwandlHng der Gewebe oder Eiweissprincipien
im Fett erstrecken.
Man kann sich auf diese Weise den gewöhnlichen
Zustand der Gichtkranken erklären. Diese Regel bietet
jedoch zahllose Ausnahmen dar und man kann sich ver-
mittelst der von Genussmitteln abzuleitenden Uricämie
die Entwicklung der Gicht im Allgemeinen noch immer
nicht klar legen. Die von Aussen her entstandene Uri-
cämie ist nicht in absoluter Weise bewiesen und der
Einfluss der Diät ist durchaus nicht über jeden Einwand
erhaben. Wir müssen uns also damit begnügen, eine
Diathese der Harnsäure zu constatiren, ohne deren äusser-
lichen Ursprung ausschliesslich zu betonen und ohne es
zu vergessen, dass die Pathologie auch Ernährungsfehler
und Abweichungen des normalen Typus aufzuweisen hat.
Der Typus der ganzen Krankheit besteht in der diabe-
tischen Glycämie, deren äusserer Ursprung nicht immer
leicht zu beweisen ist und es ist die uricämische Function,
welche in ihrer Steigerung die Gicht oder wenigstens
- 63 -
ihren wirklichen chemischen und biologischen Charakter
bildet. Die Gicht ist in der That zu drei Vierteln eine
erbliche und immer eine constitutioneil chronische Krank-
heit, welche mit oder ohne acute Manifestationen auftritt.
Therapeutische Schlüsse. — Aus dieser Dis-
cussion geht hervor, dass die Diät bei der Production
neuer Anfälle nicht immer im Spiele ist, dass die Sauer-
stoff-Einwirkung nur eine zweifelhafte Rolle spielt und
dass es hauptsächlich darauf ankommt, die Elimination
der Harnsäure zu erleichtern oder ihre überschüssige
Entstehung zu verhüten.
Das Natron salicyl. ergiebt bei der Behandlung
folgende Resultate: bei Nierenleidenden begünstigt es vor
Allem die Ausscheidung der Harnsäure, ohne indessen
diese Wirkung zu übertreiben; man kann manchmal bei
Gichtkranken, die nicht an Nierensteinen leiden, per
Liter Urin i'/2 bis 3 Gramm Harnsäure constatiren.
Andrerseits bildet die Salicylsäure , indem sie sich
im Organismus theilweise in Salicylursäure verwandelt,
einen weiteren Vortheil; sie verbindet sich nämlich mit
dem in verschiedenen Organen, notorisch in der Leber,
vielleicht auch in den Nieren, enthaltenen Leimzucker
und wird so eine zusammengesetzte Säure, welche man
Salicylursäure nennt. Diese entführt nun dem Organis-
mus eine gewisse Quantität Leimzucker, welcher ein sehr
wichtiger blutbildender Stoff ist. In dieser Beziehung
gleicht die Salicylsäure Punkt für Punkt der Benzoe-
säure und die guten Eigenschaften der Benzoate ge-
messen bei der Gichtbehandlung eines wohlverdienten
Rufes. Indessen ist das Natron salicyl. der Benzoesäure
insofern wieder in jedem Punkt überlegen, als es ausser-
64
dem die schnellste Einwirkung auf den Schmerz und
auf die Schwellung der Gelenke zeigt, während die
Benzoate oder das Lithium diese Wirkung vermissen
lassen. Das Natron salicyl. hat also verschiedene gleich-
zeitig wirkende Eigenschaften: schmerzstillende Kraft,
zertheilende Wirkung, ausscheidende Wirkung in gewissen
Fällen; endlich die Fähigkeit, einen Theil des Leim-
zuckers zu assimiliren, der eine der wichtigsten blut-
bildenden Substanzen ist.
Resume der Beobachtungen bei acuter Gicht.
Ich habe 7 an acuter Gicht Leidende behandelt.
Der erste dieser Kranken ist 54 Jahre alt und leidet
seit 20 Jahren an der Gicht. Seine Anfälle wiederholen
sich jährlich 3- bis 4 Mal und dauern immer wenigstens
4 Wochen. Am 15. Januar zeigte sich die Krankheit
in intensivster Weise im rechten Handgelenk, sowie im
Knie und Gelenk des linken Beines. Die Schmerzen
und die Geschwulst waren sehr bedeutend. In Folge
des täglichen Gebrauches von 10 Gramm Natron salicyl.
verschwanden die bezeichneten Erscheinungen innerhalb
3 Tagen und die Gelenke erlangten wieder ihre völlige
Geschmeidigkeit. Bei einem berühmten Künstler von
75 Jahren, der seit 30 Jahren an Anfällen litt, erlangte
ich dieselben Resultate. Nach zweitägiger Behandlung
verschwanden alle Schwellungs-Erscheinungen, ohne dass
das Medicament die allgemeine Gesundheit irgendwie
schädlich beeinflusste. Bei einem Kranken , der an
Fingern und Knieen zahlreiche Tophi zeigte und dessen
sehr schmerzhafte Anfälle gewöhnlich mehrere Wochen
65
dauerten, bewirkte das Natron salicyl. zu io Gramm in
24 Stunden das Auf hören der Schmerzen. Das Mittel
wurde darauf in Dosen von 5 Gramm fortgesetzt ein-
gegeben und die tophischen Schwellungen nahmen in
sehr bedeutender Weise ab.
Ein anderer Kranker, welchen ich seit langer Zeit
täglich mit 3 Gramm Kalium-Jodtir behandelte und dem
seit 2 Jahren kein Mittel mehr half, bekam einen sehr
heftigen, weitausgedehnten Anfall, der durch den Ein-
fluss der Salicylpräparate nach 4 Tagen überwunden war.
Es wäre unnöthig, wenn ich noch weitere Beob-
achtungen anführen wollte; sie zeigen die vollkommenste
Analogie, nämlich rasches Aufhören der Schmerzen, Ab-
nahme der Gelenkschwellung und Heilung des Anfalles
in 3 oder 4 Tagen.
Dr. Bouchard, ausgezeichnetes Mitglied der Fa-
cultät, hat bei 2 'Kranken dieselben Erscheinungen be-
obachtet.
Beobachtungen über chronische Gicht.
Diese Beobachtungen, 14 an der Zahl, umfassen
die chronische Gicht in allen Formen; ein einziger
dieser Kranken zeigte den Typus der lähmungsartigen
indolenten Gicht, die sich in beiden Hand- und Fuss-
gelenken localisirt hatte. Bei diesem Kranken veran-
lasste das Medicament nach 14 Tagen eine sehr merk-
liche Abnahme der Gelenk-Anschwellungen.
Bei den andern 13 hatte die Krankheit seit mehreren
Monaten (bei 2 Kranken sogar seit 3 Jahren) alle Ge-
lenke der unteren Gliedmassen ergriffen und immobilisirt
und bei der geringsten Bewegung, ja sogar beim ruhigen
v, Heyden, Studien über die Salicylsäure. 5
66
Liegen zeigten sich sofort die heftigsten Schmerzen. Diese
Gelenke, hauptsächlich die Kniee, Füsse und Zehen, waren
beträchtlich angeschwollen, die Glieder zusammengezogen
und die periarticulären Gewebe sämmtlich ödematös. Bei
5 dieser Kranken hatte die Gicht noch zu gleicher Zeit
die Hand- und die kleinen Fingergelenke ergriffen, so
dass sie weder Gegenstände erfassen noch schreiben
konnten. Ausserdem liess sich bei 2 dieser Patienten
beschränkte Ankylose der Schulter und des einen Ell-
bogens constatiren und schliesslich zeigten von den
13 Kranken 10 an verschiedenen Körperstellen Tophi,
bald in der Nähe der Gelenke, bald von denselben
entfernt.
So war im Anfang meiner Behandlung der locale
Zustand der Kranken; die inneren Organe waren intact
mit Ausnahme des Herzens, welches bei 2 Kranken
Arythmus mit Fett-Degeneration zeigte; auch fand sich
bei diesen Beiden Oedem der Füsse. Bei 2 Anderen
bemerkte ich Nierensteine , bei einem Dritten Albumin-
spuren im Urin.
Alle diese Kranken hatten ohne Unterschied die
verschiedensten in solchen Fällen gebräuchlichen Mittel
angewendet, die ich hier anführen will;
1) Colchicum-Präparate in den verschiedensten Ge-
stalten, als Weintinctur, Elixir, Pillen, Syrup, Samen-
oder Knollenpräparate. Die meisten Kranken brauchten
die Medicin nur bei Steigerung des Uebels, viele fühlten
eine momentane Linderung, aber die meisten konnten
mit dem Gebrauch des Mittels nicht fortfahren.
2) Chinin -Sulfat mit oder ohne Colchicum.
3) Grüner Kaffee.
67
4) Eschen -Tisane.
5) Verschiedene Lithiumsalze.
6) Benzoate.
7) Alkalien.
Ich erwähne nur die gebräuchlichsten Mineral-
Brunnen, welche die meisten unserer Kranken tranken:
die warmen alkalischen Quellen von Vichy und Carls-
bad; die schwächeren, weniger mineralischen, aber oft
nützlicheren Brunnen von Plombieres, Neris, Wildbad,
Teplitz; die Chlornatrium.-haltigen Brunnen von Bour-
bonne und Wiesbaden, die Lithiumquellen von Ems und
Royat und schliesslich auch die Hydrotherapie.
Resultate der Behandlung. — Das Salicyl-
Medicament wurde also unter den ungünstigsten Verhält-
nissen angewendet. Ich gebe hier die erzielten Resultate
und erwähne zugleich die durch das Medicament veran-
lassten unangenehmen Zustände.
Alle diese Kranken, welche das Salicylat 1 — 4 Monate
ohne Unterbrechung brauchten, fühlten schon nach den
ersten Dosen eine ebenso rasche Linderung, ein ebenso
schnelles Verschwinden der Schmerzen, wie dies bei der
acuten Gicht oder beim Gelenkrheumatismus stattfindet.
Nach und nach, d. h. also innerhalb eines Zeitraumes
von 6 bis 14 Tagen verschwand die Geschwulst der
periarticulären Gewebe, die Bewegungen wurden frei und
bei den meisten Kranken blieb nur eine unbedeutende
Schwellung der Gelenke zurück, welche aber schliesslich
ebenfalls wich. Nur sehr wenige dieser Patienten be-
hielten Spuren von Anschwellung.
Indessen liess sich bei der nothwendigen hohen
Plosirung die Herstellung auch hier nicht immer ohne
5*
68
Unbequemlichkeiten erreichen. Es traten Gehörsstörungen,
Ohrensausen, Geräusch im Kopf und sehr oft eine mehr
oder weniger bedeutende Schwerhörigkeit ein, die ge-
wöhnlich wieder abnahm, sobald man die tägliche
Dosis Natron salicyl. auf 4 bis 5 Gramm herabsetzen
konnte.
Bei 2 Kranken beobachtete ich eine Art Trunken-
heit mit Schwäche in den Gliedern und Schwanken im
Gange; diese Erscheinungen hielten nur so lange an, als
das Medicament in täglichen Dosen von 8 bis 10 Gramm
verabreicht wurde.
Sehr oft entwickelt sich sehr reichliche Diaphorese,
welche ebenfalls nach etlichen Tagen verschwindet.
Bei einem Fall zeigte sich endlich eine peinliche
Schlafsucht, die nach einigen Tagen der Behandlung
mit diesen hohen Dosen wieder aufhörte.
Die unangenehmsten Erscheinungen des Salicylismus ■
sind also einerseits Schwerhörigkeit, andrerseits Muskel-
schwäche ; diese Erscheinungen zeigen sich besonders
bei Greisen.
Falls eine Herzkrankheit vorhanden ist, so erfahren
sowohl die anomalen Herzschläge, als der Puls und die
Spannung der Arterien keine Modificationen; trotz seiner
diuretischen Eigenschaften hat das Medicament auf Herz-
beutelwassersucht keinen Einfluss.
Mit grosser Vorsicht muss das Mittel angewendet
werden, sobald irgendwelche Alteration der Nieren (die
Nierensteine ausgenommen) constatirt wird. Wenn die
Nieren, sei es durch Krankheit oder durch Alter, be-
schädigt sind, so wird die Ausscheidung der grossen
Dosen des Medicaments verzögert und es entsteht daraus
6c,
einerseits die sich als Albuminurie charakterisirende
locale Nieren -Irritation, anderseits in Folge der An-
sammlung des Medicaments im Blut eine besondere In-
tensität des Salicylismus.
Metastase des Herzens oder Magens ist noch nie-
mals in Frage gekommen.
Nierensteine, Nieren- und Blasenaffectionen.
Bei Gelegenheit der Gicht will ich auch von der
Wirkung des Salicyl- Medicaments auf die Nierensteine
und deren verschiedene Manifestationen sprechen. Wenn
es sich um nephralgische Kolik handelt, so scheint das
Mittel die Beendigung der Krisis zu beschleunigen und
die Fortschaffung der Steine zu begünstigen. Handelt
es sich um schmerzlose Nierensteine, so provociren so-
wohl das Salicylat als die reine Salicylsäure ein reich-
liches Ausscheiden von Nierensand.
Selbst bei Kranken, bei welchen lange keine Aus-
scheidung des Sandes stattgefunden hat, veranlasst das
Medicament das Erscheinen krystallisirter oder amorpher
Harnsäure im Urin. Diese Thatsachen sind um so zu-
verlässiger, als ich den gleichzeitigen Gebrauch von
Mineralbrunnen nicht gestattete, um die Wirkung des
Heilmittels ohne jede andere Hülfe genau abschätzen
zu können.
Nephritis eignet sich mit Ausnahme der Nierensteine
nicht zur Anwendung dieses therapeutischen Mittels, wel-
ches hämorrhagische Congestionen veranlasst und die
Albuminurie vermehrt.
Bei Blasenkrankheiten, besonders Cystitis mit Urin-
Zersetzung, hat man Salicylsäure - Einspritzung zu ^300
70
oder V 500 empfohlen. Der innerliche Gebrauch von
3 Gramm Säure war nach Fürbringer bei mehreren
Kranken der Heidelberger Klinik genügend, um beim
Blasenkatarrh den Alkaliengehalt des Urins, den schlechten
Geruch und die in grosser Anzahl vorhandenen Bacterien
zu vernichten; die Eiterkügelchen blieben indessen vor-
handen, obgleich der Säuregehalt wieder in richtiger
Weise zum Vorschein kam; diese Thatsachen sind je-
doch im Ganzen noch wenig zuverlässig.
Herr G übler hat ganz Recht, wenn er sagt, dass
die Salicylsäure ein directes Antizymoticum ist,
welches gegen die in. den betreffenden Organen statt-
findenden Gährungen sehr energisch wirkt, auf welches
man aber in Bezug auf das Blut nicht mit Sicherheit
rechnen darf.
Neuralgie.
Als ich die schmerzstillende Wirkung der Salicyl-
Präparate bei der Behandlung von Gicht und Gelenk-
Rheumatismus kennen gelernt hatte, versuchte ich es
auch, sie bei der Behandlung schmerzhafter Affec-
tionen überhaupt anzuwenden. In der folgenden
Reihe nervöser Zustände erschien mir ihre Anwendung
geboten.
Neuralgia ischiadica. — Ich behandelte 4 Fälle
mit Salicylat und beobachtete Folgendes:
Bei *2 Fällen von schon alter Ischias erfolgte die
Heilung nach wenigen Tagen, dagegen muss ich auch
einen Misserfolg bei einem dritten Fall, ebenfalls aus
meiner Privatpraxis, constatiren. Es handelte sich in
diesem letzteren um einen seit 3 Jahren an Neuralgia
— 7i —
ischiadica Leidenden, bei welchem kein einziges Mittel
irgendwie geholfen hatte.
Bei einem vierten im Hospital behandelten Fall war
der Misserfolg ebenso schlagend. Es handelte sich um
ein junges Mädchen, welches übrigens auch durch das
Brennen mit dem Paquelin’schen Apparat nur eine
vorübergehende Erleichteruug empfand.
Tic douloureux des Gesichts. — Eine der
merkwürdigsten Thatsachen bezieht sich auf die Wirkung
dieses Heilmittels bei Tic douloureux des Gesichts. Es
handelte sich um einen Kranken, der seit io Jahren an
dieser Krankheit litt und regelmässig mehrere Monate
des Jahres im Hospital zubrachte. Er war im Hotel-Dieu
von Herrn Fauvel behandelt worden und durch An-
wendung von Chinin-Sulfat und Bromür hatte man seine
Schmerzen meistens etwas gelindert. Als er in meiner
Abtheilung anlangte, stand er gerade unter dem Einfluss
einer höchst schmerzhaften Krisis. Nach 24 Stunden
war er mit Hülfe von 10 Gramm Salicylat von allen
Schmerzen befreit. Nach seinem eigenen Geständniss
unterbrach er nach 3 Tagen den weiter vorgeschriebenen
Gebrauch des Mittels und bekam in Folge dessen einen
Rückfall. Dieses Mal verlangte er selbst wieder nach
dem Medicament und war in 48 Stunden geheilt. Nach
J4 Tagen verliess er das Hospital, ohne länger als 2
oder 3 Tage an Schmerzen gelitten zu haben.
Heftiger oder chronischer Kopfschmerz;
Migräne. — Ich sah 2 Kranke, welche an beständigem
Kopfweh litten und dadurch geheilt wurden, dass sie
6 Tage lang täglich 4 bis 6 Gramm Natron salicyl. ein-
nahmen.
7 2
Bei Migräne Hessen sich ebenfalls günstige Resultate
constatiren ; dieselben bilden jedoch keine Regel. Ich
behandelte 4 Kranke in dieser Weise, erhielt aber bei
2 derselben kein anderes Resultat, als ich es vorher mit
Chinin -Sulfat und Kalium -Bromür erzielt hatte, welch
letztere Behandlung bei den meisten Fällen hilft.
Schmerzhafte AfTectionen des Rückenmarks.
Es handelt sich hier um jene schweren Rücken-
marks-Affectionen, Myelitis superficialis, Sclerosis der
hinteren Nervenstränge und um andere Nervenstörungen,
die schwer zu definiren und von heftigen anhaltenden
Schmerzen in den Hüften, in der Gürtelgegend oder
von unbestimmten, in ihrer Verbreitung nicht genau zu
begrenzenden Schmerzempfindungen begleitet sind. Be-
sonders spreche ich von der schweren Krankheit, welche
unter dem Namen veränderliche Ataxie oder Sclerose der
hinteren Rückenmarksnerven vielfache Schmerzen, Hyper-
ästhesie, Krämpfe und partielle Zusammenziehungen her-
vorbringt, ohne dass bei diesen gleichsam blitzartigen
Schmerzen irgend welche Regelmässigkeit, irgend ein
bestimmter Typus zu constatiren wäre. Gerade die
Ataxiekranken sind es, welche uns den von Duchenne
(de Boulogne) so gut beschriebenen, traurigen Eindruck
machen. Sie leiden an keinen Bewegungs - Störungen,
keinen Ocular-Erscheinungen; die Krankheit ist, wie dies
C har cot auch bewiesen hat, gleichsam zusammenhangs-
los. In diesen Zuständen, gleichviel bis zu welchem
Grade die Motilität bereits zerstört ist, treten oft Perioden
der Verschlimmerung ein, welche man schneidende, blitz-
73
artige Schmerzen nennen könnte, heftige Krisen, welche
zuweilen mit Magenkrisen abwechseln und ganze Monate
lang andauern können.
Es gilt nun, die furchtbaren Schmerzen dieser un-
glücklichen Ataxiekranken zu lindern und wir haben zu
diesem Zweck, obwohl meistens ohne Erfolg, die ener-
gischsten Linderungsmittel, wie Morphium-Einspritzungen,
Chloral als Trank oder Klysma angewendet. Diese Mittel
veranlassen wohl einmal eine kleine Ruhepause, aber die
Dosis muss dann bis zum Morphinismus und Chloralis-
mus gesteigert werden.
Ferner hat man es mit electrischen Strömen ver-
sucht, welche aber gerade während der Krisen nicht zu
benutzen sind, ferner mit der Hydrotherapie, die bei
schmerzhaften Phasen der Krankheit kein irgendwie
günstiges Resultat producirt und mit den beruhigenden
Brunnen (z. B. Neris), welche wenigstens einiges Gute
zu bewirken scheinen. Endlich hat man auch Kaliurn-
Bromür gebraucht, welches die Kranken jedoch bedeu-
tend schwächt.
Selbst bei besonders schwierigen, schmerzhaften Zu-
ständen bringt das Natron salicyl. meistens ein fast un-
mittelbares Aufhören der Schmerzen hervor. Ich erhielt
dafür die schlagendsten Beweise bei einer 54jährigen
Frau im Hospital, bei 2 Fällen meiner Privatpraxis und
bei einem vierten Fall, den ich mit meinem Collegen
Vidal zusammen behandelte. Herr Bouchard hatte
seinerseits die Güte, mir 4 Beobachtungen mitzutheilen,
die er in Bicetre an Ataxiekranken machte, deren Lei-
den auf Jahre schon zurückzuführen war. Er verordnete
bei den schmerzhaften Krisen 10 Gramm Natron salicyl.
74
und die Schmerzen hörten noch denselben Tag oder
am anderen Morgen auf. Beinahe immer war man ge-
nöthigt, nach Unterbrechung des Gebrauchs nach etlichen
Tagen wieder auf das Mittel zurückzukommen und im
Verlauf von xo bis 14 Tagen hörten die Schmerzen dann
in definitiver Weise auf.
Bei einem Ataxiekranken, welchen ich im Hospital
beobachtete, verschwanden die Schmerzen nach 2 Tagen.
Als der Kranke aber wegen des Ohrensausens und der
Schwerhörigkeit das Einnehmen des Medicamentes ver-
weigerte, erschienen die Krisen von Neuem, wichen aber
in definitiver Weise, sobald der Kranke das Mittel wieder
anwendete.
In 2 Fällen, welche ich in meiner Praxis beobach-
tete, hörten die heftigen Schmerzen sehr rasch auf. Das-
selbe geschah bei einem Ataxiekranken, bezüglich dessen
mich Plerr Vidal um meinen Rath fragte; die Schmerzen
hörten sofort auf, es blieb nur ein schmerzloser Krampf
in den Füssen im Moment des Gehens zurück.
Ausser diesen Ataxiekranken hatte ich Gelegenheit,
3 an Myelitis Leidende zu behandeln, bei welchen theil-
weise Lähmung mit Schmerzen in den unteren Gliedern
eingetreten war. Es gelang mir, die Schmerzen zu stillen;
jedoch schien es mir, als ob das Medicament die Muskel-
schwäche vermehrte und ich liess es nicht mehr brauchen,
sobald die Schmerzempfindungen aufhörten.
Innerliche Schmerzen.
In Bezug auf Affectionen des Magens und der
Därme habe ich bemerkenswerthe Resultate nicht be-
obachtet.
75
Ich erwähne zum Schluss nur einen Fall von Leber-
kolik, der durch den Einfluss des Salicyl-Medicamentes
nach 2 Stunden aufhörte.
Nach diesen die rheumatischen und gichtischen
Krankheiten behandelnden Details kommt der gelehrte
Autor in seinem Vortrage zu folgenden Schlusssätzen:
1) Im Gelenkrheumatismus hat man die entschie-
densten, schnellsten Erfolge beobachtet, so dass man mit
Sicherheit im Verfolg von 2 bis 4 Tagen auf die Heilung
von acutem, fieberhaftem oder fieberlosem Rheumatismus
rechnen kann; 51 Fälle bekräftigen dies.
2) Bei chronischem, einfachem Rheumatismus sind
die von mir gemachten Versuche sehr befriedigend aus-
gefallen; das Gleiche lässt sich auch von den acuten
Krisen sagen, welche sich von Zeit zu Zeit sowohl beim
einfachen Rheumatismus als bei der knotigen Arthritis
zeigen; die schmerzhaften Anfälle weichen ebenso rasch
als im acuten Gelenkrheumatismus. Ausserdem nehmen
die Gelenk -Schwellungen bedeutend ab und die Be-
wegungen werden frei. Dies geschieht selbst nach jahre-
langen Schmerzen, nach Steifheit und Unbeweglichkeit,
sobald die Knochen-Verbildungen nicht zu arg und zu
weit vorgeschritten sind. (12 chronische Rheumatismus-
fälle geheilt oder gebessert.)
3) In der acuten und chronischen Gicht sind die
Resultate von grösster Bedeutung. Gleich bei meinen
ersten Versuchen überraschte mich die Schnelligkeit,
mit welcher die schmerzhaftesten acuten Anfälle ver-
76
schwanden. Im Zeitraum von 2 bis 3 Tagen waren
Schmerzen, Gelenkschwellung, Rothe der Haut und Em-
pfindlichkeit beim Berühren gewichen.
Bei der chronischen Gicht werden durch fortge-
setzte Behandlung mit ganz mässigen Dosen die Kranken
vor jedem acuten Anfall geschützt.
Andrerseits verschwinden die chronischen periarti-
culären Schwellungen mit Leichtigkeit; die Tophi der
Gelenke nehmen ab und entzünden sich nicht mehr;
mit einem Wort, die Heilung kann eine vollständige
sein, ohne dass sich irgend welche Metastase des
Herzens, Magens, der Respirationsorgane oder des Ge-
hirns entwickelt. Ich habe unter den 2 1 Fällen, welche
ich beobachtete, nicht ein einziges Mal die Erfahrung
gemacht, dass sich die Gicht auf innere Organe ge-
worfen hätte.
Andere unangenehme Zufälle, als Gehörsstörungen
und eine Art von Schwäche oder Narcotismus finden
nicht statt ; die beiden letzteren Erscheinungen ver-
schwinden aber sofort, wenn die Dosis kleiner ge-
geben wird.
Unter den Affectionen, welche hauptsächlich gich-
tischer Natur sind, müssen die Nierensteine erwähnt
werden, welche sich mit Hülfe des Natron salicyl.
leichter ausscheiden. Das Natron salicyl. bietet ausser-
dem den Vortheil, dass es die nephritischen Schmerzen
lindert.
4) Die Salicyl -Medicamente scheinen gewisse Fa-
cialis-Neuralgien in günstigster Weise zu modificiren;
diese Wirkung ist indessen noch nicht definitiv festge-
— 77 —
stellt; dasselbe lässt sich über die Behandlung von Ischias
durch dieses Mittel sagen.
5) Bei schmerzhaften Rückenmarkskrankheiten bringt
das Natron salicyl. die schätzenswertheste, beruhigendste
Wirkung hervor. Bei fortgesetzter Behandlung scheint
es nur- einen gewissen Grad von Schwäche zu veran-
lassen.
Eine medicinische Eroberung.
Gicht und Rheumatismus durch salicylsaures
Natron geheilt.
Von Dr. Iiery in Paris.
Tantum prodesse.
So lange die Salicylsäure aus der rein wissen-
schaftlichen Sphäre nicht heraustrat und sich ihre An-
wendung höchstens auf einige chirurgische Operationen
oder auf gewisse Fabrikationszweige der Industrie be-
schränkte, war das Interesse, welches man ihr widmete,
nur ein mässiges; als aber plötzlich eine der bedeu-
tendsten Autoritäten vor versammelter Akademie die
bewunderungswürdigen Eigenschaften dieses neuen thera-
peutischen Mittels bei Behandlung von Gicht und Rheu-
matismus in allen Gestalten proclamirte, da zollte ihr
die medicinische Presse einstimmig die Lobsprüche, die
sie verdiente, und sie nahm, gleichsam wie ein Künstler,
der sich durch ein Meisterwerk plötzlich als solcher
zeigt, den ihr gebührenden Platz ein.
Es handelt sich hier wohlverstanden nicht etwa nur
um einen vorübergehenden, übertriebenen Enthusiasmus
79
für eine gleichsam in die Mode gekommene Sache;
nach dem Geständniss selbst Derjenigen, welche jede
therapeutische Neuerung nur mit der äussersten Zurück-
haltung aufnehmen, hat die Salicylsäure eine sehr glück-
liche Revolution in der Behandlung dieser Krankheiten
hervorgebracht, welche sich bis jetzt jeder Behandlungs-
weise gegenüber ziemlich unzugänglich gezeigt haben.
Wir hielten uns also für vollkommen berechtigt, unserer
kleinen Abhandlung den Titel „eine medicinische Er-
oberung“ voranzusetzen, denn wir sind fest davon über-
zeugt, dass die glänzenden Erfolge, deren sich dieses
Arzneimittel bereits rühmen kann, alle Vorurtheile, welche
sich seiner Verbreitung noch entgegensetzen könnten, in
raschester Weise besiegen wird.
Ueber die Erblichkeit der Gicht.
Ist die Gicht ein Uebel, welches man sich zuziehen
kann, oder ist sie im Wesentlichen eben so erblich wie
der Krebs oder die Lungenschwindsucht? Ohne als
entscheidender Richter in einer Frage auftreten zu wollen,
über welche noch so vielfach hin und her debattirt wird,
neigen wir uns doch zu der Ansicht, dass die Erblich-
keit beim Entstehen dieser Krankheit eine vorherrschende
Rolle spielt und dass der erste Gichtstoff, abgesehen von
der Mitwirkung der gewöhnlichen bestimmenden Ur-
sachen, nach Art der Fermente mit einer Eigenthüm-
lichkeit und Sicherheit der Wirkung heimlich in uns
fortarbeitet, die ihres Gleichen in der Pathologie höch-
stens bei der Tuberculose, der Glycosurie und der In-
cubatio virulent, findet. Möge man die Sache erklären
So
und interpretiren, wie man wolle: die Erblichkeit der
Gicht erscheint uns als 'eine festbegründete Thatsache
und Herr Germain Söe selbst äussert sich in fast
identischer Weise, wenn er sagt, dass drei Viertel aller
Gichtfälle als erbliche Krankheiten zu betrachten seien.
Dies ist auch die Meinung eines alten, sehr geist-
reichen Gichtkranken, dessen Zeugniss wir hier anführen
wollen. „Ich bin, sagte er uns, ebenso wie viele Andere,
welche ich citiren könnte, ein schlagendes Beispiel für
die Bedeutung des Wortes Erblichkeit in der Aetiologie
der Gicht. Meine Vorfahren waren seit mehreren
Generationen gichtisch; ich habe Alles aufgeboten, um
dieser traurigen Erbschaft zu entgehen; das verhängniss-
volle Naturgesetz hatte aber seinen unwiderruflichen
Spruch gethan und ich konnte nichts weiter thun, als
mich seinem Verdammungsurtheil beugen. Wenn es
aber, wie Aza'is behauptet, wahr ist, dass jedes Unglück
irgend etwas Gutes mit sich bringt, so tröste ich mich
heute mit dem Gedanken, dass ich durch diese harte
Lehrzeit meinen unversöhnlichen Feind gut kennen ge-
lernt habe und nun besser im Stande bin, Diejenigen,
welche meine Rathschläge für die neue Behandlungs-
methode, die mir so ausserordentliche Dienste geleistet,
zu hören wünschen, auf den richtigen Weg zu weisen.“
Ohne dass er es direct sagt, ist constatirt, dass
hier von dem salicylsauren Natron die Rede ist.
Der Schmerz bei der Gicht.
Der Schmerz spielt nach Aussage aller Leidenden
bei dieser Krankheit eine so wichtige Rolle, dass es
Si
fast scheint, als seien alle anderen Erscheinungen darin
gleichsam zusammengefasst. Dies veranlasste auch einen
alten Professor der Klinik zu dem Ausspruch, dass die
zur Zeit des Hippokrates lebenden Griechen, falls sie
jemals versucht gewesen wären, dem Podagra einen
Tempel zu errichten, über die Eingangsthür nichts Bes-
seres hätten schreiben können, als das einfache Wort:
’:Uyoc.
Wie bei allen Krankheiten, in welchen dies Ele-
ment vorherrscht, hat auch der Gichtschmerz seine ver-
schiedenen Abstufungen, von jenen flüchtigen, hin und
wieder gleitenden Schmerzen an, die sich in den kleinen
Gelenken noch nicht fixirt haben, bis zu dem fürchter-
lichen, unerträglichen Gefühl („amarissimus“, wie Syden-
ham sagt) hin, welches die Zehen zusammenschnürt,
sie mit scharfen Dolchstichen durchbohrt und den Kran-
ken alle Phasen einer wirklichen Tortur durchleben lässt.
Ein alter normannischer Arzt des XVI. Jahrhunderts,
Bretonnagan, welcher der Gicht eine souveraine Ab-
neigung zu zollen scheint, sagte in marotischen Versen,
dass die Hölle einem Menschen, der jedes Verbrechen
begangen habe, keine grausamere Strafe auferlegen könne
und dass selbst das Rad des Ixion und die Qualen des
Tantalus der Gicht vorzuziehen .seien. Sydenham,
welcher, ohne sich in gleich hyperbolischer Weise zu
äussern, gegründete Ursache hatte, die Gefühle des nor-
mannischen Arztes zu theilen, da er seine Abhandlung
über das Podagra während der unaufhörlichen Anfälle
desselben verfasste, sagte, dass die Gicht mehr geist-
reiche als beschränkte Leute umbringe. Die Statistik
hat sich in dieser Richtung noch nicht vernehmen lassen,
v. Heyden, Studien über die Salicylsäure. 6
82
indessen ist dies immerhin eine recht liebenswürdige Art
und Weise, seine Leidensgefährten zu trösten.
Definition der Gicht.
Ein moderner Schriftsteller, Ferrus, beschränkt
sich bei der Definition der Gicht zu ihrer Charakterisi-
rung auf die Aufzählung der hauptsächlichsten Krankheits-
erscheinungen, welche sie hervorruft: scheinbar ohne
äussere Veranlassung entstehende periodische Schmerzen,
Entstehung von Tophi. Das ist Alles.
Cruveilhier, der nicht weniger sparsam mit den
Details ist, erblickt in ihr nur den schmerzhaften Aus-
bruch eines seiner Natur nach unbekannten Krank-
heitsstofifes.
Viele Andere haben uns Definitionen geliefert, die
man eher Beschreibungen nennen könnte, und es unter-
liegt auch keinem Zweifel, dass die beste Definitions--
weise der Gicht eben ihre Beschreibung ist. Ohne den
Letzteren nachsprechen zu wollen, müssen wir doch,
sagen, dass dif Gicht, gleichviel ob sie erblich oder
nicht erblich, acut oder chronisch auftritt, sich durch
einen Ueberschuss von Harnsäure im Blut charakterisirt, .
welcher Ueberschuss sich äusserlich durch periarticuläre
Anschwellungen, sowie durch plastische Stoff- Ansamm-
lungen bemerkbar macht, welche sich unter dem Namen
Tophi in den Gelenken oder fibromusculären Geweben
bilden. Innerlich offenbart sich die Gicht in vorüber-
gehenden oder permanenten Störungen der Organe,
welche unter dem Namen Asthma, Nierensteine, nephro-
tische Kolik und selbst Blasen-Catarrh mehr oder weni-
ger auf eine gichtische Diathese zurückzuführen sind.
$3
Ihr Verlauf.
Es existirt nichts Hinterlistigeres, nichts Ueber-
raschenderes als das Auftreten dieser launenhaften Krank-
heit. Wenn sie sich auch häufig durch nicht misszu-
deutende Vorboten ankündigt, so überrascht sie uns
ebenso oft mitten in der Nacht im blühendsten Gesund-
heitszustand und erreicht mit rasender Schnelligkeit ihren
Höhepunkt. Dann stösst der arme Patient, wenn er
nicht mit aussergewöhnlichem Stoicismus begabt ist, die
herzzerreissendsten Seufzer aus, der Druck selbst der
leichtesten Decke wird ihm unerträglich und er wendet
alle möglichen Mittel an, um sich Linderung zu ver-
schaffen. Wenn dieser Anfall, nach Paroxysmen von
sehr verschiedenartiger Zeitdauer, sich durch seine eigene
Heftigkeit erschöpft zu haben scheint, stellt sich wieder
vollkommene Ruhe ein. Höchstens erscheinen noch
dann und wann, wie die letzten Blitze nach einem Ge-
witter, andere Anfälle, die aber nach und nach mit all-
mählich sich ‘vermindernder Heftigkeit auftreten.
Leider darf man aber nicht vergessen, dass nach
jedem Anfall die gichtische Anlage zurückbleibt,
welche sich wohl einmal während etlicher Wochen
oder Monate austobt, aber bei der geringsten Ver-
anlassung und selbst ohne eine solche sofort wieder
andere Anfälle, erneute Schmerzen zu veranlassen ver-
mag. Dies Schwanken zwischen momentaner Besserung
und plötzlichen Anfällen bildet jahrelang die Existenz
der unglücklichen Gichtkranken, bis sie endlich, in
schweren Fällen, von der eisernen Faust des Uebels
völlig bezwungen werden und halb oder ganz gelähmt,
6*
84
mit verkrümmten Gliedern vegetiren müssen. Haben
nicht schon viele gekrönte Häupter, viele berühmte
Leute, wie unsere liebenswürdigen Dichter Roger de
Beauvoir und Thdophile Gauthier, in dieser Weise
enden müssen? Auch unser vortrefflicher Fabeldichter,
der seiner Zeit täglicher Zeuge des durch die Gicht an-
gerichteten Unheils war, schreibt ihr einen ihrer würdigen
Ursprung zu, wenn er sagt:
Quand l’enfer eut produit la goutte
Andrerseits schreibt Dr. Erasmus, welcher sehr
leidend war, an einen Freund: „Ich habe Nierensteine,
Du hast die Gicht, wir haben diese beiden Schwestern
geheirathet.“ Er täuschte sich nicht! Dieser gemein-
same Ursprung, der seinem Scharfblick nicht entgehen
konnte, wurde später von unsern geschickten Klinikern
Recamier und Trousseau klar bewiesen, so dass er
keinem Zweifel mehr unterliegen konnte. Sie legten
ausserdem noch dar, dass das nervöse Asthma und die
Migraine unter verschiedenen Masken und Benennungen
auf die gleiche Abstammung zurückzuführen sei. Uebri-
gens sprechen sie zu gleicher Zeit die tröstliche Wahr-
heit aus, dass die verschiedenen Glieder dieser Familie
nur wechselweise von unseren Geweben Besitz ergreifen
und dass ein Collectiv-Auftreten derselben noch niemals
vorgekommen ist. Trousseau liebte es, für diesen
bizarren Wechsel ein interessantes Beispiel zu citiren.
„Ich habe einen Freund,“ sagte er, „der sehr zeitig
bereits an Asthma und Gichtanfällen litt. Wenn er in
den Gelenken eine anschwellende Bewegung fühlt, ist
sein Athem ganz ausgezeichnet; dagegen sind die Ge-
lenke frei, sowie sich Erstickungsanfälle seiner bemäch-
35
tigen. Schliesslich, wenn er an nephritischer Kolik und
an Nierensteinen leidet, hat er weder Gicht noch
Asthma.“
Natur der Gicht.
Vielleicht wäre hier der geeignete Ort, um unsere
Ansicht über die Natur der Gicht kurz auseinanderzu-
setzen; aber die Entwicklung dieser These, welche kein
irgendwie praktisches Interesse darbietet, würde uns über
die Grenzen einer einfachen Abhandlung hinausführen.
Ueberdies sind alle auf diese Sachen bezüglichen Fragen,
nach den mehr oder weniger geistreichen Hypothesen
zu urtheilen, welche Prof. See in seiner letzten Arbeit
der Feuerprobe seiner strengen Kritik unterwirft, noch
weit davon entfernt, einigermaassen klar und entschieden
beantwortet werden zu können. Wenn wir unter diesen
Hypothesen eine Wahl zu treffen hätten, so würden wir
uns ohne Zögern mit derjenigen einverstanden erklären,
welche in der Gicht eine Steigerung oder vielmehr
eine Abweichung der Function erblickt, die bei der
Bildung der Harnsäure das Hauptmoment bildet. Diese
Ansicht ist ganz gewiss die richtige, und an dem Tage,
an welchem es uns gelingen wird, diese Function auf
ihre normale, regelmässige Thätigkeit zu beschränken,
werden alle Erscheinungen der Gicht sicher sofort ver-
schwinden, um allen Attributen der Gesundheit Platz
zu machen.
Lassen wir indessen diese noch so vielfach be-
strittene Frage ruhen und wenden wir uns zu einer an-
deren, die zwar auch noch nicht völlig erledigt ist,
86
obgleich sie schon lange durch klinische Beobachtungen
endgültig entschieden sein sollte. Es handelt sich darum,
zu wissen, bis zu welchem Punkte und innerhalb welcher
Grenzen die Gicht zu behandeln ist. Wir haben weiter
oben die Meinung eines Arztes citirt, nach welcher die
Gicht nichts anderes wäre als der Ausbruch eines seiner
Natur nach unbekannten Krankheitsstoffes. Heisst es
nun nicht die Anstrengungen der sich selbst helfenden
Natur, dieses pharmacum naturae des grossen englischen
Praktikers durchkreuzen, wenn man durch einen vielleicht
ungestümen Eingriff dieses geheimnissvolle Arbeiten
stört? Ist es nicht besser, um noch klarer zu sprechen,
dass man eine Krankheit conservirt, welche gleichsam
mit dem Leben verbunden ist, anstatt den Ausbruch
einer anderen Krankheit zu provociren oder vorzu-
bereiten, bei welcher dies nicht der Fall ist?
Ueber diese Doctrin wird seit langer Zeit in der
Wissenschaft hin und her gestritten und man muss
gestehen, dass sie bei gewissen Formen der Gicht, bei
sehr alten Leuten zum Beispiel, zuweilen ihre Berech-
tigung hat.
Heisst das aber, dass man in allen anderen Fällen
dem Uebel seinen ungestörten Verlauf lassen muss, an-
statt es in seinen Fortschritten zu hemmen? Wenn man
logisch verfahren wollte, dürfte man es dann auch nicht
wagen, irgend welches Mittel gegen chronische Haut-
krankheiten anzuwenden, und Ausschlagskrankheiten, wie
Pocken, Masern und Scharlachfieber könnten wir aus
den gleichen Gründen nur als müssige Zuschauer be-
obachten, da wir ja fürchten müssten, durch die An-
wendung eines Arzneimittels eine innere Krankheit
- 87 -
hervorzurufen, die vielleicht schlimmer wäre als das
ursprüngliche Uebel selbst.
Ein solches System, strikte durchgeführt, würde
nichts Geringeres als das ruhige Abwarten bei jeder
Krankheit zum Gesetz erheben, was ungefähr auf die
Aufhebung der ganzen Arzneiwissenschaft hinauskäme.
Ich weiss nicht, ob die Kranken viel dabei verlieren
würden, aber das weiss ich bestimmt, dass es bezüglich
der Gicht unsere Pflicht ist, gegen die Verbreitung einer
solchen Doctrin zu protestiren, besonders seit Anwen-
dung der neuen Behandlungsmethode.
So sehr man auch nach unserer bescheidenen Mei-
nung diesen besonderen Krankheiten gegenüber bei sehr
alten Leuten, denen sie, um mit Trousseau zu reden,
gewissermaassen zur Gewohnheit geworden sind, mit
äusserster Vorsicht zu handeln hat, ebenso sehr muss
man sich von veralteten Retrocessions-Theorien fern zu
halten suchen.
Wir freuen uns, dass wir in diesem Punkt mit einer
so grossen Autorität, wie Prof. G. Sde ist, überein-
stimmen. Dieser Letztere sagt, dass er bei 21 von ihm
beobachteten Fällen kein einziges Mal irgend welches
Zurücktreten der Gicht auf innere Organe zu constatiren
gehabt habe. Ist dies entgegen jenen Behauptungen
Sydenham’s und Trousseau’s nicht genug gesagt?
Die Diät.
Unserer Meinung nach, die mit derjenigen der
meisten Aerzte übereinstimmt, welche über Gicht ge-
schrieben haben, ist die Diät bei Behandlung dieser
88
das mächtigste Hülfsmittel. Natürlich wird
man vollblütige, sinnliche, seit langer Zeit an gute Kost
und Müssiggang gewöhnte Menschen nicht ebenso be-
handeln können wie solche Personen, die von schwäch-
licher Constitution sind, viel im Zimmer arbeiten und
deren Blut wenig bildende Kraft besitzt. Im ersten Fall
muss man vor Allem durch geeignete Diät und Be-
wegung auf Ausscheidung flüssiger Stoffe hinwirken; im
zweiten, in welchem die atonische Gicht vorzuherrschen
scheint, gilt es, dem Organismus die ihm mangelnden
Widerstandsmittel zuzuführen.
In der That spielt die Verdauungsthätigkeit bei der
periodischen Wiederkehr und Intensität der Anfälle eine
so bedeutende Rolle, dass allen Kranken, denen ihre
Heilung am Herzen liegt, vor allen Dingen eine sorg-
fältige Diät zu verordnen ist. Der Ausdruck „seine
Gicht ernähren“ heisst also, sich selbst mit ausserordent-
lich stickstoffhaltigen, albuminösen Substanzen ernähren,
welche eine kräftige Verarbeitung oder Verbrennung
erfordern. Wenn die Verdauungs- und Athmungsorgane
in diesem Falle ihre Thätigkeit nicht verdoppeln, so entsteht
ein Missverhältnis zwischen Production und Consumtion
und in dessen Folge die Gicht, welche im Grunde nichts
anderes ist als eine Reaction, die der Organismus in
der geeignetsten, wenn auch vielleicht nicht gerade lin-
desten Form bewerkstelligt, um das Individuum am
Leben zu erhalten. Müssen wir hierin nicht die weise
Vorsehung der Natur bewundern, welche in den Kreis-
lauf des Lebens eingreift und auf verschiedenen Rei-
nigungswegen gewisse heterogene Producte beseitigt,
welche im richtigen Moment das regelmässige Spiel
89
unserer Organe in’s Stocken bringen könnten? Aber nicht
allein eine zu stickstoffhaltige Ernährung ist, mit Aus-
nahme der Erblichkeit, im Stande, die Wiederkehr der
Anfälle zu veranlassen, oder die Krankheit bei Solchen
zum Ausbruch zu bringen, die bis dahin von derselben
befreit waren. Alle anstrengenden geistigen Arbeiten,
im Uebermaass genossenes Vergnügen, Alles, was die
Fähigkeiten oder Leidenschaften zur höchsten Entwick-
lung bringt, in einem Wort Alles, was anstrengt, ent-
nervt, überreizt, muss unter die nächsten entscheidenden
Ursachen der Gicht gerechnet werden. Wir dürfen im In-
teresse unserer Gichtkranken ohne Zögern das Höchste for-
dern, um das Geringste zu erhalten. „Die Leidenden möch-
ten alles mögliche thun,“ sagt Ferrus, „wenn sich ihre
Schmerzen erneuern, und sie verzichten auf die kleinste
Vorsichtsmaassregel, sobald sie weder gesund sind.“
Verhält sich die Sache nicht so in den meisten Fällen?
Uebrigens hat die Gicht, jederzeit ihre Unheilbaren
aufzuweisen gehabt, die man „Volontaire“ nennen könnte.
Während der strengen römischen Republik waren der-
artige Kranke selten; als Augustus aber nach seinen
Siegen in seinem Gefolge alle jene von Luxus und Ver-
gnügen und von den Schätzen des Orientes Ueber-
sättigten nach Rom brachte, da war die Gicht bald
nichts Ungewöhnliches mehr. Was vermochten die weisen
Rathschläge und Mittel der Schüler des Galenus gegen
den allgemeinen, Alles mit sich fortreissenden Zug der
Zeit? Daher stammt vielleicht der berühmte ovidische
Vers über die Unheilbarkeit der Gicht:
Nodosam nescit curare medicina podagram.
Wir brauchen nicht so weit zurückzugreifen. Die
90
Dinge lagen zur Zeit der Regentschaft und des Direc-
toriums, jenen Uebergangszeiten, ziemlich ebenso. Und
selbst heut zu Tage, wie Viele giebt es nicht unter den
berühmtesten und bewundertsten Männern, die mit dem
raffinirtesten Epicurismus ihren Angriffen Trotz bieten,
um schliesslich doch auch zu einem verspäteten Nach-
denken über sich selbst zu erwachen!
Wir haben also gegründete Ursache, die Gicht als
einen Feind zu betrachten, mit welchem nicht zu spassen
ist, denn sie bereitet selbst Denen zuweilen unerwartete
Ueberraschungen, welche sie mit der grössten Aufmerk-
samkeit beobachten. Erkläre sich wer es kann diese
seltsamen Evolutionen ein und derselben Krankheit,
diese schmerzhafte Thätigkeit sowohl auf der Oberfläche
als im Innern unserer Gewebe, welche heute die Lunge
fast bis zur Erstickung zusammenpresst (gichtisches
Asthma) und morgen im Kopfe ein Gefühl hervorruft,
als wenn er zerspringen müsste (Migraine), welche un-
erträgliche nephritische Schmerzen verursacht (Nieren-
steine) und wechselweise in den verschiedensten Organen
des Körpers zur Erscheinung kommt. Pierre Desault,
der Verfasser einer vortrefflichen Abhandlung über die
Gicht, sagt ebenfalls, durchdrungen von den ernstlichen
Verlegenheiten, welche eine in ihrem Auftreten so
wechselnde Krankheit dem Praktiker bereitet: „Wenn ich
zu einem sonst Gichtkranken gerufen werde, der an irgend
einer beliebigen anderen Krankheit, die Ansteckungs-
krankheiten ausgenommen, leidet, so verliere ich die Gicht
nie aus dem Auge, sondern untersuche immer erst arg-
wöhnisch, ob ihre Laune sich nicht hinter einer neuen
Maske versteckt hat.“
91
Solche scharfsichtige Reflexionen dürfen in der
Praxis nie ausser Acht gelassen werden.
Behandlung.
Wenn man diesen Punkt der Geschichte der Gicht
erreicht hat, wird man von dem sicheren Ton über-
rascht, mit welchem die meisten Aerzte ihrer Behand-
lungsmethode Vortheile zuschreiben, deren Privilegium
sie allein zu besitzen scheint. Und dennoch, was finden
wir auf dem Grunde jeder dieser Methoden beinahe
immer wieder? mehr oder weniger maskirt das Colchi-
cum, welches die Basis aller dieser Behandlungsmethoden
bildet, wie das Opium diejenige des Brustsyrups; das-
selbe Colchicum, welches seit Paul d’Egine unter dem
Namen „Hermodacte“, *) bis auf Storckes, der es zuerst
unter seinem wirklichen Namen anwendete, immer in
allen gut empfohlenen antiarthritischen Compositionen
zu finden gewesen ist. Die Geschichte des Colchicums
müsste also eigentlich auch die Geschichte der Gicht
von ihrem Ursprung bis zum heutigen Tage umfassen.
Da wir, als wir uns dem Studium der Gicht und
ihrer Behandlung widmeten, durchaus nicht die Präten-
sion hatten, eine neue Methode aufzubringen, sondern
nur bereits erworbene Erfahrungen benutzen wollten, so
wendeten wir uns natürlicherweise zum Colchicum und
ahmten darin das Beispiel Scudamore’s nach, welcher
x) Unter dem Namen Hermodactyli scheinen im Alter-
thum und noch im Mittelalter die Knollen mehrerer Colchicum-
Arten auch mit denen anderer Pflanzen zusammengeworfen worden
v. H.
zu sein.
92
es vielfach anwendete, obgleich er es im Grunde als
ein sehr unsicheres und manchmal sogar gefährliches
Arzneimittel betrachtete. Das Colchicum besitzt neben
andern Eigenschaften auch diejenige der raschen Ein-
wirkung auf den Schmerz, welcher, wie wir bereits ge-
sagt haben, bei der Gicht eine so bedeutende Rolle
spielt. Daher schien seine Anwendung geeigneter, als
diejenige anderer Mittel, welche zwar nicht seine Incon-
venienzen, aber noch viel weniger seine Vortheile dar-
boten. Wir waren indessen immer weit davon entfernt,
die übertrieben günstige Meinung Everard Home’s
zu theilen, welcher nach iSmonatlichem eigenem Ge-
brauch das Colchicum als Specificum betrachtete. Eben-
sowenig konnten wir mit Fievöe übereinstimmen, der
seine Wirkung bei der Gicht mit der Wirkung des
Chinins bei Wechselfieber in Vergleich brachte. Zwischen
unserer aufrichtigen Meinung und einem absoluten Ver-
trauen lag eben immer der ganze Spielraum, welcher eine
Möglichkeit von einer Gewissheit trennt. Wir wollen
damit sagen, dass wir im Laufe der Zeit auf etwas
Besseres hofften. Unsere Hoffnung ging auch beinahe
bald in Erfüllung. Im Jahre 1855 erschien eine vor-
treffliche Broschüre der Herren Bonjean und Soc-
quet, welche die vortreffliche Wirksamkeit der Ben-
zoate und Natron-Silicate besprach. Diese Mittel mussten
erprobt werden und wir thaten es auch sofort mit dem
lobenswerthesten Eifer. Um der Wahrheit die Ehre zu
geben, müssen wir hier erklären, dass wir allerdings
unter den bis dahin angewendeten Mitteln keines kannten,
dessen Wirkungen sich sicherer, dauerhafter und weniger
gefährlich erwiesen. Wir können aber nicht einräumen, dass
93
diese Methode schnellere Heilung veranlasste, da ihr das
Colchicum in dieser Beziehung ohne Zweifel vorzuziehen
war. Durch Verbindung der verschiedenen Mittel war es uns
indessen möglich, gute und legitime Erfolge zu erreichen,
und ohne zu glauben, dass die Wissenschaft in diesem
Punkte ihr letztes entscheidendes Wort gesprochen habe,
dachten wir doch, wir würden noch lange im Besitz
des einzigen therapeutischen Mittels bleiben müssen,
welches unseren Anforderungen einigermaassen entsprach.
Da brachte die ausländische Litteratur das Lob der
Salicylsäure und ihrer Derivate und besprach ihre An-
wendung bei denjenigen Krankheiten, bei welchen uns
die Benzoate und Silicate geboten erschienen. Die
medicinische Welt begann sich zu regen: Herr Ger-
main See, der berühmte Professor der Klinik, unter-
nahm in seinem Hospital klinische Versuche und unterwarf
alle in den Fachjournalen mitgetheilten Gelenkrheuma-
tismus-Fälle der strengsten Kritik. Sobald er aus diesen
Untersuchungen sichere Schlüsse zu ziehen vermochte
und Beobachtungen gesammelt hatte, die zur Ueber-
zeugung zwingen mussten, las er vor versammelter Aca-
demie im Juni und Juli 1877 eine Abhandlung, welche
das grösste Aufsehen erregte.
Der Mittheilung einer solchen Autorität gegenüber,
die von den unbestreitbarsten Thatsachen unterstützt
wurde, verstummte jeder Zweifel.
Der Verfasser giebt hierauf ein Resume der vorstehenden
Arbeit von See, welche hier füglich übergangen werden kann; er
fährt sodann fort:
Wir müssen gestehen, dass alle diese vollkommen
verbürgten Thatsachen dermassen von der gewöhnlichen
94
Regel abweichen, dass sie kaum Glauben finden würden,
wenn sie nicht von einer unserer bedeutendsten medi-
cinischen Autoritäten bestätigt worden wären, wenn sie
nicht in Gegenwart vieler competenter Zeugen statt-
gefunden und vor einer Versammlung von Fachgelehrten,
der sie öffentlich vorgetragen wurden, ihre Sanctionirung
erlangt hätten.
Vor einer solchen Menge von Beweisen muss jeder
Scepticismus weichen.
Hatten wir also nicht Recht, als wir am Anfang
unseres Aufsatzes von einer medicinischen Eroberung,
einer friedlichen Eroberung sprachen, welche der Mensch-
heit nur Gutes erweisen kann?
Eine andere, wenn auch nur nebensächliche gute
Eigenschaft des salicylsauren Natrons, welche indessen
durchaus nicht verachtet werden darf, ist, dass es sich
sehr leicht einnehmen lässt, da es sich in Wasser voll-
kommen gut auflöst, weder Geruch noch besonders
unangenehmen Geschmack entwickelt und ausserdem i
zu sehr mässigem Preise zu beschaffen ist. Man hat:
es deshalb schon das Chinin der Armen genannt.
Sollte damit gesagt werden, dass es mit seinen anderem
bereits so zahlreichen Eigenschaften auch noch diejenige
eines antipyretisehen Mittels par excellence verbindet?
Bis jetzt haben wir noch keinen positiven Grund daran
zu glauben, aber ebenso wenig dürfen wir dem Mittel
eine Zukunft in dieser Richtung schon jetzt absprechen.
Wir haben in dieser Beziehung noch die kommenden
Ereignisse abzuwarten.
Es wird Viele geben, welche sich berufen fühlen
werden, die Unannehmlichkeiten des neuen Mittels her-
95
vorzuheben, denn welches Medicament hätte deren nicht.
Haben wir nicht beim Chinin, beim Jod eine Art von
Betäubung, ohne von den zahlreichen anderen vorüber-
gehenden Intoxicationen zu sprechen? Wir werden also
auch bei sehr starken Dosirungen eine Salicyl-Reaction
haben, das Ungefährlichste, was in dieser Art existiren
kann. Uebrigens kennen wir kein einziges Medicament,
welches sich die öffentlichen Sympathien schneller ge-
wonnen hätte, und wir können es uns nicht versagen,
auf diesen neuen Ankömmling, welcher gleich durch die
Pforte des Erfolges und unter dem Patronat einer
hohen wissenschaftlichen Autorität in die Mitte der
medicinischen Welt eingetreten ist, mit einem gewissen
Gefühl von Dankbarkeit hinzublicken.
Den Zweifelnden rufen wir nur zu: Versucht es!
Unser erblicher . Gichtkranker, der seit seiner Heilung
keinen Rückfall gehabt, kann uns dies nicht oft genug
wiederholen.
(Auszug aus dem Moniteur scientifique des Dr. Quesneville.
December 1877.)
Die folgenden Notizen, welche dem Londoner Lan-
cet vom 13. October und 3. November 1877 entnommen
sind, mögen, wie schon in der Vorrede hervorgehoben,
noch als Beweis dafür gelten, dass die Salicylsäure bei
Gelenkrheumatismen , im Gegensatz zu verschiedenen
widersprechenden Behauptungen, selbst dann noch in-
dicirt ist, wenn die Krankheit in Folge von Verschleppung
und längerer Dauer bereits den schlimmsten Charakter
angenommen hat.
Ein schwerer Fall von acutem Gelenkrheumatismus mit Pericarditis
und Bronehial-Pneumonie, welcher, als der Patient anscheinend
bereits im Sterben lag und die Alkalien-Behandlung sich als
erfolglos erwiesen hatte, durch Anwendung von salicyl-
saurem Natron geheilt wurde.
Unter Behandlung von Dr. Whipham im St. George-
Hospital zu London.
Dr. Owen hat die Güte gehabt, folgende Beobach-
tungen aufzuzeichnen.
Sydney D., 21 Jahre alt, Klempner, wurde am
13. Dec. 1876 mit einem heftigen Anfall von acutem
97
Gelenkrheumatismus im Hospital aufgenommen. Sein
Vater hatte 2 Mal das rheumatische Fieber gehabt und
seine Mutier war, wie man sagte, „gichtisch“. Der
Patient selbst hatte als Kind Masern und Scharlach-
fieber überstanden und litt bis zu seinem 15. Jahre an
Kopfweh und einem übelriechenden Ohrenfluss. In
späteren Jahren war er trotz seines übermässigen Bier-
trinkens kräftig und gesund gewesen. Andere geistige
Getränke hatte er selten zu sich genommen. Schon
3 Wochen vor der Aufnahme im Hospital litt er an
Catarrh, allgemeinem Uebelbefinden und Schmerzen in
den Schultern und 14 Tage vor dem Beginn unserer
Beobachtungen stellten sich bereits nach und nach hef-
tige Schmerzen in den Gelenken ein, welche mehrere
der Letzteren gleichzeitig afficirten. Der ihn behan-
delnde Arzt wollte es vorläufig nicht gestatten, dass er
in das Krankenhaus gebracht würde. Ungefähr 1 Woche
nach Beginn des acuten Gelenkschmerzes warf er eines
Nachts die Bettdecken von sich, worauf sich am fol-
genden Morgen Husten und Dyspnoe zeigte. In diesem
Zustande verharrte er bis zu seiner Aufnahme. 5 Tage
vorher entstand auch noch Diarrhöe. Bei der Auf-
nahme wurde Schmerz, Anschwellung, Rothe der Hand-
und Fussgelenke, Husten mit leicht schaumigem Aus-
wurf und Dyspnoe constatirt; die Zunge war roth und
dick belegt. Diarrhöe unbedeutend, kein Erbrechen.
Der Patient war sehr schwach und niedergeschlagen.
Das Thermometer zeigte am Morgen 102,1° Fahrenheit,
Abends 102,6° F. Die Brust war von guter Resonnanz
und nur an der Herzspitze verhältnissmässig dumpfer
Klang. Die linke Brustseite zeigte sich bei Druck
v. Heyden, Studien über die Salicylsäure. 7
98
empfindlich. Dabei war die Respiration nicht ohne
Schwierigkeit und man hörte an Spitze und Basis ein
heiseres Röcheln. Die Empfindlichkeit der Leber er-
streckte sich ungefähr bis 2 Zoll unter die Rippen, nahm
dagegen nach oben hin nicht zu. Der ganze Unterleib
zeigte sich im Allgemeinen sehr geschwächt, die Haut
war feucht und strömte einen eigenthiimlich starken
Mäusegeruch aus. Alle 4 Stunden wurden 2 Gran
Chinin-Sulfat und 1 Drachme Kali Bicarbonat mit Citro-
nensäure verabreicht; ausserdem täglich 3 Unzen Brannt-
wein und zur Schlafenszeit einen 15 Gran Chloral ent-
haltenden Trank.
14. Dec. — Temperatur: Morgens ioi°F.; Abends
102,1° F. ; Puls 88; Respiration 44. Die Schmerzen in
den Gelenken haben abgenommen und alle Symptome
deuten auf Besserung hin. Zweimalige Ausleerungen.
Die Zunge zeigt über dem weissen Belag auf jeder Seite
einen schmutzig braunen Streifen. Der Unterleib ist
noch sehr empfindlich und auf der Haut wird eine An-
zahl hellrother Flecke sichtbar, welche bei Druck ver-
schwinden und keine eigentliche Erhöhung bilden. Der
Urin ist natürlich gefärbt, durch harnsaure Salze getrübt,
enthält kein Eiweiss und die Phosphate sind in fast
normaler Quantität vorhanden.
15. Dec. — Temperatur: Morgens 101, i° F.;
Abends io2,4°F.; Puls 88, nicht ganz regelmässig; Re-
spiration 44. Die Schmerzen haben keine Veränderung
erfahren, Husten und Dyspnoe sind gebessert, nur der
Auswurf etwas blutstreifig und eiterig. Dreimalige Aus-
leerungen; Unterleib empfindlich, jedoch keine Flecke;
die Zunge ist trocken und die braunen Flecke treten
99
noch deutlicher hervor. Ebenso ist der Hautgeruch
noch ausgesprochener. Die präcordiale Dumpfheit zeigt
sich in derselben bis jetzt beobachteten Ausdehnung;
die während eines Theiles des gestrigen Tages hörbare
Friction ist verschwunden und die Herzschläge klingen
sehr entfernt. Zur Schlafenszeit wird dem Patienten ein
Morphiumtrank verabreicht.
17. Dec. — Temperatur: Morgens 103,2° F.;
Abends 103,6° F.; Puls 104, stark; Respiration 44.
Schmerz und Anschwellung haben nachgelassen; geringes
Delirium; zweimalige Ausleerungen; Zunge sehr belegt;
Herzschläge stark; keine Friction (Patient scheint für
Percussion zu krank zu sein); Unterleib empfindlich;
leichter hirseförmiger Ausschlag, aber keine rothen
Flecke. Der Urin ist von natürlicher Farbe, klar, alka-
lisch, etwas albuminös und wenig Phosphat enthaltend.
18. Dec. — Temperatur: Morgens 103,6° F.;
Abends 103,6° F.; Puls 120, hart; Respiration 54. —
xx Uhr Morgens: Während der Nacht delirös, am Mor-
gen bei Bewusstsein; beim Husten Brustschmerzen, sowie
Schmerzen beim Bewegen der Hände. Der Hautgeruch
ist weniger bedeutend; Patient ist sehr herunter. Alle
4 Stunden werden 5 Gran Ammoniak-Carbonat, 20
Tropfen Aethergeist und 1 Drachme einer aus 1 Unze
Chinchona und zja Unze Camphorwasser bestehenden
Composition verabreicht. Zur Nacht wird ein Chloral-
trank verschrieben, sowie ausserdem täglich eine Mischung
von 1 1 Unzen Branntwein.
19. Dec. — Temperatur: Morgens 103,2° F.;
Abends 102,8° F.; Puls 110; Respiration 44. — Mittags:
Patient hatte eine schlaflose Nacht ohne bedeutendes
7*
IOO
Delirium. Seit der letzten Notiz siebenmalige Aus-
leerungen; Zunge dick belegt; der Zustand ist im Ganzen
so wie gestern. Urin natürlich gefärbt, klar, sehr sauer,
etwas albuminös und mit mässigem Phosphatgehalt. Das
Herz war seit dem 17. aus Furcht vor Erkältung nicht
untersucht worden. Heute liess sich keine pericardiale
Friction vernehmen. Es werden 20 Gran Bismuth-Nitrat
zum sofortigen Einnehmen verschrieben und die Wieder-
holung des Medicamentes für den Abend angeordnet.
Ausserdem noch zur Nacht ein Morphiumtrank (J/4 Gran).
20. Dec. — Temperatur: Morgens ioi,x° F.;
Abends roi,8°F.; Puls 108, schwach; Respiration 43. —
ix Uhr Vormittags: Bis zur vorigen Nacht Diarrhöe,
die sich indessen mit Hülfe von Bismuth unterdrücken
lässt. Kein Delirium und fester Schlaf. Patient fühlt
sich wohler, hat aber in den Gelenken immer noch be-
deutende Schmerzen. Der Unterleib ist ausserordentlich
empfindlich und es zeigt sich reichlicher Schweiss. Für
gelegentlich erforderliche Anwendung wird eine Kreide-
mischung verschrieben.
21. Dec. — Temperatur: Morgens 100,1 0 F.;
Abends ioi,i° F. — Mittags: kein Delirium. Während
der Nacht zweimalige Ausleerungen. Patient schläft jetzt.
23. Dec. — Temperatur: Morgens ioi,i° F.;
Abends ioi,i° F. ; Puls 104, schwach; Respiration 36. —
Mittags: Kein Delirium. Neigung zu Diarrhöe, welche
vermittelst der Kreidemischung unterdrückt wird. Der
Schmerz in den Gelenken und der Schweiss ist so wie
früher. Bei festem Druck findet grosse abdominale und
präcordiale Empfindlichkeit statt. Die Herzspitze (Prä-
cordia) ist resonnirend, die Herzschläge klingen schwach
IOI
und man vermag kein Murmeln oder keine Friction
wahrzunehmen. Der Urin ist hellbraun, durch harn-
saure Salze getrübt und schwach albuminös.
24. Dec. — Temperatur: Morgens 99,4° F.;
Abends ioi,i° F. Die Schmerzen in den Gelenken sind
nicht mehr so heftig.
25. Dec. — Temperatur: Morgens 99,4° F.;
Abends 100, 6° F. Natron-Umschläge. Wiederkehr der
Schmerzen in den Gelenken.
26. Dec. — Temperatur: Morgens 99,4° F.; Abends
101° F.; Puls 96; Respiration 30. Die Schmerzen in
den Gelenken bessern sich durch die Umschläge. In
der Nacht Ausleerung, jedoch keine wirkliche Diarrhöe.
Die Haut ist trocken, das Gesicht blass und der Aus-
wurf eiterig; auch ist der Mäusegeruch noch immer
etwas vorhanden und der Unterleib und die Herzspitze
sehr empfindlich. Der Urin ist dunkel, klar, sauer und
mit schwachen Eiweissspuren versehen.
28. Dec. — Temperatur: Morgens 990 F.; Abends
iox° F.; Respiration 32. Auch während des ruhigen
Liegens zeitweilige Schmerzen in den Hand- und Fuss-
gelenken; die anderen Gelenke schmerzen jedoch nur,
wenn sie bewegt werden. Reichlicher Schweiss und
Mäusegeruch, keine Diarrhöe. Die Zunge ist sehr be-
legt, der Urin klar, dunkel und sauer.
1. Jan. 1877. — Temperatur: Morgens 99,8° F.;
Abends ioi,6° F.
2. Jan. — Temperatur: Morgens 100, 6° F.; Abends
ioi,2° F.; 3 Uhr Nachmittags: Puls 100. Die Zunge
ist weniger belegt, die Haut feucht und der Mäuse-
102
geruch nicht mehr so intensiv. In beiden Handgelenken
sind die Schmerzen sehr heftig.
5. Jan. — Es werden 10 Gran Bismuth und
6 Tropfen schmerzstillende Opiumlösung in ix/2 Unze
Gewürznelken-Infusion verschrieben.
6. Jan. — Temperatur: Morgens 990 F.; Abends
99,6° F.; Puls 104. Der charakteristische Geruch ist
kaum noch wahrnehmbar. Der Schweiss ist reichlich,
die Schmerzen in den Handgelenken haben nachgelassen.
Erbrechen. Ausleerung.
10. Jan. — Temperatur: Morgens ioo,4°F.; Abends
101,5° Puls I3°- Zunge beinahe rein. Der Schmerz
hat im rechten Handgelenk abgenommen, steigert sich
aber im linken Handgelenk und linken Ellbogen. Er-
brechen.
13. Jan. — ix Uhr 45 Min. Vormittags: Zunge
roth und rein; heftige Schmerzen; keine Uebelkeit;
leichter Husten mit einer geringen Quantität eiterigen
Auswurfs. Man verschreibt x/2 Drachme Aethergeist in
ix/2 Unze Chinin und eine vierstündlich einzunehmende
Eisenmixtur. Ausserdem täglich 8 Unzen Portwein und
4 Unzen Branntwein.
14. Jan. — Temperatur: Morgens 99° F.; Abends
99° F. Ein flechtenartiger Ausschlag, der vom rechten
Mundwinkel ausgeht und sich über einen Theil der
Wange verbreitet. Erbrechen.
15. Jan. — Leichte Linderung der Schmerzen.
Sehr beunruhigendes Erbrechen. Alle 4 Stunden eine
aufbrausende Ammonik-Citrat-Mixtur einzunehmen.
17. Jan. — Temperatur: Morgens 98° F.; Abends
98° F. Keine Schmerzen. Während der letzten 2 Tage
— 103 —
Husten. Die Untersuchung ergiebt etwas Dumpfheit
der linken Basis; das Athrnen klingt natürlich, mit Aus-
nahme des erwähnten Theiles, an welchem sich heiseres
Röcheln vernehmen lässt.
18. Jan. — 5 Gran Ammoniak-Carbonat, 5 Gran
Kalium-Jodid in einem Chinchona-Trank von 1 1j2 Unze
dreimal täglich einzunehmen.
19. Jan. — Temperatur 99,1° F.; Puls 92; Respi-
ration 33. Der Schmerz zeigt sich von Neuem in der
linken Schulter und im linken Handgelenk, der Husten
hat dagegen nachgelassen. Der Auswurf ist bei dem-
selben jedoch zähe, schaumig und an einigen Stellen
moderfleckig. Die linke Basis klingt dumpf und lässt
beim Athrnen einige schleimige Töne hören. Der Appe-
tit ist gut und die Zunge rein und roth.
23. Jan. — 10 Tropfen Eisen-Perchlorid in einer
bitteren Mixtur dreimal täglich einzunehmen. Ausser-
dem Branntwein.
26. Jan. — Seit dem gestrigen Morgen klagt Pa-
tient über erneute heftige Schmerzen im linken Arm
und Bein, die sich auch bis zu einem gewissen Grade
auf den rechten Arm erstrecken. Die Zunge ist rein.
Temperatur ioo° F. ; Puls 108, sehr schwach. Es wer-
den jetzt 20 Gran salicylsaures Natron, in Kümmel-
wasser alle 2 Stunden einzunehmen, verordnet.
27. Jan. — • Temperatur 99,1° F.; Puls 112,
schwach. Zunge rein und Appetit gut. Die Schmerzen
haben seit gestern bedeutend nachgelassen. Der linke
Arm ist viel besser, dagegen schmerzt das linke Knie
sehr heftig. Patient ist weniger muthlos. Die Mixtur
104
wird alle 4 Stunden eingegeben und für das Knie eine
Jod-Salbe verordnet.
30. Jan. — Temperatur 98,5° F.; Puls 96. Zunge
rein. Keine Schmerzen. Patient fühlt sich viel wohler.
Die Mixtur wird sechsstündlich wiederholt.
5. Febr. — Temperatur 98,5° F.; Puls 88. Patient
ist während der letzten 3 Tage aufgewesen und bessert
sich sehr rasch. Die Mixtur wird zweimal am Tage
verabreicht.
10. Febr. — Puls 92. Leichte Wiederkehr des
Schmerzes im rechten Knie und Rücken. Die Mixtur
wird dreistündlich fortgebraucht.
14. Febr. — Patient hat gar keine Schmerzen mehr.
27. Febr. — Gelegentliche vorübergehende Schmer-
zen in den Schultern. Der Gang ist in Folge der
Schwäche etwas schwankend. Zunge rein und Athmung
regelmässig; Appetit gut, Puls 100. Patient wird nach
Morley’s Reconvalescenten- Hospital in Wimbledon
geschickt.
x. März. — Gelegentlich Schmerzen. Drei Mal
täglich 1 Drachme Eisen-Phosphat-Syrup. Im Fall ein-
tretender Schmerzen 20 Gran salicylsaures Natron.
18. März. — Seit einer Woche keine Schmerzen.
Patient ist viel kräftiger.
28. März. — Aus dem Reconvalescenten-Hospital
entlassen.
Bemerkungen von Dr. Wipham. — Von dem
heftigen Auftreten des rheumatischen Anfalles ganz ab-
gesehen, ist obiger Fall auch noch insofern interessant,
als er die segensreiche Wirkung der jetzt allgemein be-
kannten Salicylsäure in klarster Weise darlegt . und zu-
io5
gleich die Thatsache feststellt, dass die Anwendung des
Medicamentes auch dann noch angezeigt erscheint, wenn
die lang anhaltende Dauer der rheumatischen Symptome
bereits äusserste Erschöpfung herbeigeführt hat. Der
Patient war schon bei der Aufnahme ausserordentlich
schwach und empfand heftige acute Schmerzen, zu deren
Linderung starke Dosen Alkalien mit 2 Gran Chinin
verordnet wurden. Da bereits Diarrhöe vorhanden war
und sich dieselbe bekanntlich in Folge solcher starken
Alkaliendosen sehr häufig in noch höherem Grade ent-
wickelt, so fügte man noch Kali-Bicarbonat hinzu, in der
Hoffnung, dass der acute Schmerz, welcher das bei
Weitem vorherrschende Element bildete, dadurch besei-
tigt werden würde. Der anfänglich mit harnsauren Salzen
getrübte Urin wurde nach 5 Tagen alkalisch, am
6. Tage war def Patient jedoch so schwach, dass Be-
lebungsmittel und stärkende Mixturen in Anwendung
kommen mussten. Die Diarrhöe hielt immer noch an
und wich erst am 8. Tage nach dem- Gebrauch 2 starker
Dosen Bismuth. Die Schmerzen in den Gelenken blie-
ben ohne Linderung und es fand trotz aller angewen-
deten Mittel in den nächsten 3 Wochen wenig oder gar
keine Besserung statt. Man debattirte oft darüber, ob
der Gebrauch der Salicylsäure nicht gerathen sei, ver-
warf die darauf bezüglichen Vorschläge jedoch stets
wieder wegen der grossen Schwäche des Pa-
tienten, die man vermittelst dieses Medicamentes zu
vermehren fürchtete. Die Temperatur des Kranken war
inzwischen von 102 0 F. allmählich auf 99 0 F. herab-
gegangen. Am 11. Jan. 1877, 4 Wochen nach der
Aufnahme, wurde dem Patienten Chinin, Eisen und
io6
Aether mit Alkohol (Branntwein und Portwein) ver-
schrieben und 3 Tage später zeigten sich an der linken
Lungen-Basis Symptome von Broncho-Pneumonie. Vom
15. bis zum 23. Jan. nahm er verschiedene Mixturen,
wie Ammoniak, Kalium-Jodid, Eisen-Perchlorid, Phos-
phorsäure und Strychnin. Am 26. Jan. kehrten die
Schmerzen, die kürzlich etwas nachgelassen hatten, mit
erneuter Gewalt zurück und am folgenden Tage, als
man an der Rettung des jungen Mannes bereits
verzweifelte, entschloss man sich endlich zur An-
wendung der Salicylsäure und verschrieb als letz-
tes Zufluchtsmittel salicylsaures Natron in kleinen
Dosen, zweistündlich einzunehmen. Das Resultat dieser
Veränderung in der Behandlung war ein fast unmittel-
bares und die Fortschritte der Besserung setzten Alle
in Erstaunen, welche den Fall beobachtet hatten. Noch
am 25. Jan. hatte man alle Hoffnung auf Besserung
aufgegeben und am 26. Jan. mit dem Gebrauch des
salicylsauren Natrons angefangen. Am 27. Jan. war der
Patient viel wohler und kräftiger und 3 Tage später
hatte er keine Schmerzen mehr und fühlte sich viel
besser. Noch 3 Tage später (2. Febr.) stand er be-
reits auf.
Im Februar und März litt Patient noch an gelegent-
lichen unbedeutenden Schmerzen in verschiedenen Ge-
lenken, welche nach Einnehmen des Medicamentes
immer sofort auf hörten, und am 28. März verliess er
Atkinson Morley’s Reconvalescenten- Hospital in ver-
hältnissmässig guter Gesundheit.
107
Behandlung des acuten Rheumatismus durch
Salicylsäure-Präparate.
Von Engledue Prideaux, Resident Surgeon am Scarborough
Dispensary und Accident Hospital in London.
Es sind im Lancet kürzlich verschiedene Fälle von
acutem Gelenkrheumatismus berichtet worden, welche
mit Hülfe der Salicylsäure und deren Präparate geheilt
wurden; die erreichten Resultate erscheinen jedoch in
keinem derselben bezeichnend genug und die durch die
neue Behandlungsweise erzielten Wirkungen werden nir-
gends so klar dargelegt, wie man es wohl erwarten könnte.
Nachdem ich einige 20 Fälle mit Salicylsäure be-
handelt habe, finde ich, dass die Erfolge in schlagend-
ster Weise den' Beweis dafür liefern, dass dieses Prä-
parat die Kraft besitzt, durch seine fast unfehlbare
Wirksamkeit die Krankheitsdauer abzukürzen. Meine Be-
handlungsmethode scheint indessen von der gewöhnlich
gebräuchlichen einigermaassen abzuweichen und sie ist
es gerade, der ich meine grossen Erfolge jedenfalls zu-
zuschreiben habe. Da die im Gefolge der Krankheit
auftretenden Complicationen, besonders die Herzcompli-
cationen, mehr zu fürchten sind, als die Krankheit selbst,
so scheint es mir in der Hauptsache darauf anzukommen,
dass die Dauer der Krankheit abgekürzt und ihre In-
tensität vermindert wird, denn es unterliegt keinem
Zweifel, dass die Gefahr der Herzcomplicationen um so
näher liegt, je länger die Krankheit dauert und je hef-
tiger sie sich entwickelt. Ich halte aus diesem Grunde
diejenige Behandlung für die beste, welche die Dauer
io8
der Krankheit am schnellsten abkürzt und durch Ge-
brauch von Salicylsäure in den von mir angewendeten
Dosirungen lässt sich dieselbe, wie ich mit Bestimmtheit
behaupten kann, in den meisten Fällen auf 36 bis
48 Stunden im Ganzen beschränken.
Nach meiner Methode verordne ich Erwachsenen
während der ersten 12 Stunden stündlich oder zwei-
stündlich 20 Gran Salicylsäure in Lösung, je nach der
Heftigkeit der Symptome und der Art und Weise wie
sie verschwinden. Als ich die Methode zuerst anwen-
dete, löste ich die Säure in Natron-Bicarbonat und fand
den plötzlichen raschen Fall der Temperatur häufig be-
unruhigend. Später benutzte ich Ammoniak-Carbonat,
um diesen Collaps zu vermeiden und die Wirkung der
Salicylsäure doch dabei nicht zu beeinträchtigen, und
jetzt gebrauche ich stets folgende Formel: Salicylsäure
20 Gran; Ammoniak-Carbonat 5 Gran; Natron-
Bicarbonat 5 Gran und 1 Unze Wasser. Dies
bildet eine sehr angenehme Mischung, welche Kinder
gern einnehmen und die kein Erbrechen hervorruft.
Meine Patienten zeigen nach den ersten 12 Stunden
der Behandlung nicht ganz unbedeutende Symptome
von Salicylismus, wenn ich es so nennen darf. Da-
gegen ist die Temperatur eine fast normale geworden
und alle Krankheitssymptome sind in beinahe magischer
Weise verschwunden. Die Schmerzen und die Gelenk-
Anschwellungen haben aufgehört und nachgelassen, die
Patienten geben dem Arzt die Versicherung, dass sie
fürchterlich geschwitzt hätten, und drücken den Wunsch
aus aufzustehen. Nun lasse ich die 20 Gran-Mixtur
nur alle 4 bis 6 Stunden, je nach den Umständen, ein-
109
nehmen und die Salicylismus-Erscheinungen verschwin-
den, sobald die Dosis nicht mehr so häufig verabreicht
wird. Nach i oder 2 Tagen setze ich einer Unze Mix-
tur noch 5 Gran Eisen-Citrat und Ammoniak zu und
lasse dies eine Zeit lang brauchen.
Ich fuge hier noch einige Notizen über einige mir
kürzlich vorgekommene Fälle bei.
Fall 1. — 30 Jahre alter Mann. Anschwellung im
linken Knie und Knöchel; intensive Schmerzen. Tem-
peratur um 6 Uhr Nachmittags 102,8 F.; Puls 142.
Die 20 Gran-Mixtur stündlich verordnet. Nach Verlauf
von 6 Stunden ist die Temperatur 99,8° F. Am näch-
sten Tage ist sie normal und alle Symptome verschwunden.
Fall 2. — i9jähriges Mädchen. Beide Kniee und
Knöchel sind sehr geschwollen. Pericardiale Effusion
mit heftigem Schmerz. Die 20 Gran-Mixtur alle 2 Stun-
den einzunehmen. Temperatur ioi,8° F.; Puls 142. —
Am 2. Tag: Temperatur 98° F. ; Puls 88. Anschwel-
lungen und Schmerzen beseitigt. Unbedeutende peri-
cardiale Frictionstöne. Patientin steht am 3. Tage auf.
Fall 3. — 20 Jahre alter Mann. Ist bereits die
ganze Woche krank gewesen. Beide Kniee stark ge-
schwollen. Patient stöhnt vor Schmerzen und vermag
sich nicht zu bewegen. Temperatur 101,2° F. ; Puls 140.
Die 20 Gran-Mixtur wird alle 2 Stunden verabreicht. —
2. Tag: Patient ist aufgestanden, die Geschwulst ist
verschwunden, ebenso die Schmerzen. Temperatur
99° F.; Puls 96. Dieser Mann ging am 4. Tage bereits
wieder arbeiten.
Bei dieser Behandlungsmethode, welche ich auch
bei Kindern, natürlich in proportionirter Dosirung, an-
I IO
wende, erreiche ich stets die besten Resultate und ich
kann dreist behaupten, dass sich nach Beginn derselben
niemals Herzcomplicationen entwickelten, ja dass sogar
bereits vorhandenes Herzgeräusch (welches übrigens
vielleicht nicht von organischen Läsionen herrührte)
beseitigt wurde, während die pericardiale Effusion immer
entschieden abnimmt.
Allerdings ist es richtig, dass diese rasche Methode
die Kranken vielleicht mehr schwächt, als es auf andere
Weise geschieht, sie ist aber die bei Weitem sicherste
und zuverlässigste. Die Reconvalescenz zieht sich in
einigen Fällen etwas in die Länge, dafür ist aber die
Krankheit selbst unendlich mehr abgekürzt und der
Patient wird bei dieser Behandlung am schnellsten
wieder hergestellt.
Unglückliche Symptome sind mir in meiner Praxis
niemals vorgekommen, und wenn die begleitenden
Symptome zuerst auch manchmal beunruhigend aussehen,
so verschwinden sie doch bei Verminderung der Dosis
sehr rasch, ohne eine Spur zurückzulassen.
Es sind allerdings Fälle berichtet worden, in denen
die Salicylsäure keinen Erfolg hatte. Da ihre vortreff-
liche Wirkung aber sonst so einstimmig anerkannt wird,
so ist die Annahme wohl erlaubt, dass die Dosis in
diesen Fällen zu klein war und in Folge dessen die
gewünschten Resultate ausblieben. (Hierbei erwähne
ich, dass 20 Gran Salicylsäure 30 Gran salicylsaurem
Natron gleichkommen, welch Letzteres jetzt fast allge-
mein angewendet wird.) Aber trotz dieser wenigen
Misserfolge erscheint mir die Salicylsäure bei der Be-
handlung des acuten Rheumatismus von ungleich grösserem
1 1 1
Werth, als jedes andere bis jetzt zu diesem Zweck ver-
wendete Mittel, da ihre Wirkung bei geeignetem Ge-
brauch ausserordentlich sicher ist und die Gefahr der
Herzcomplicationen durch rasche Abkürzung der Krank-
heit am Besten vermieden wird. Schon die letztere
Eigenschaft allein müsste die allgemeine Einführung des
Salicyl-Medicamentes bei Rheumatismen rechtfertigen.
Verlag von Joh. Ambr. Barth in Leipzig.
Fontheim, K. , H. Kolbe u. F. A. Zürn. Ueber die
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Heyden, Friedr. v. Die Salicylsäure und ihre Anwen-
wendung in der Medicin, der Technik und im Hause.
gr.-8°. 36 Seit. 1876. M. 0,80.
Hüfner, G-. Betrachtungen über die Wirkungsweise der
ungeformten Fermente als theoret. Einleitung in die
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Kolbe, Herrn. Chemische Winke für praktische Ver-
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schnitten. 1877. L20-
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