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Full text of "Baruch de Spinoza : Sämtliche philosophische Werke"

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r.u/iv^  (itZii.  - 


Baruch  de  Spinoza: 
^llmtliche  philosophische  Werice. 


Herausgegeben  von 

Q.  Baensch,  A.  Buchenau,  O.  Gebhardt, 
J.  H.  V.  Kirchmann,    C.  Schaarschmidt. 


Zweiter    Band: 

1.  Prinzipien  der  Philosopliie  von  Descartes. 

2.  Verbesserung  des  Verstandes  nnd  politische  Abhandlung. 

3.  Briefwechsel. 


LEIPZIG. 
YEBLAQ  DEK  DÜRR'SCHEN  BUCHHANDLUNG. 


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TILDEN  FOUNOATIONS 
R  1928  L 


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Philosophische  Bibliothek 

Band  94. 

Baruch  de  Spinoza. 

I.  Descartes'  Prinzipien  der  Philosophie  auf 
geometrische  Weise  begründet 

II.  Anhang,  enthaltend  metaphysische 
Gedanken. 


Dritte  Auflage. 


Neu  übersetzt  und  herausgegeben 
von 

Dr.  Artur  Bnehenau. 


^ 


Leipzig. 

Verlag  der  Dürr'schen  Buchhandlung. 
1907. 

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Druck  voD  C.  Orambftch  in  Leipzig. 


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Einleitung. 


Nicht  weit  tmi  dem  hoUändischen  Flecken  Ehde- 
geest»  in  dem  einst  Descartes  seine  Prinzipien  aofi- 
gearbeitet,  liegt  das  ansehnliche  Dorf  Rijnsburg,  in 
das  sich  Spinoza  im  Jahre  1660  zurückzog.  Hier, 
,,nnt»  armen  Handwerkern  nnd  Banem,  fröhlichen, 
flachshaarigen  Kindern  lund  ernsten  HSnnern  hanste 
der  stille,  bleiche  Denker  fast  drei  Jahre*^.  Während 
Spinoza  sich  so  vor  der  Welt  Terschlofl,  entfaltete  er 
eine  rege  schriftstellerische  Tätigkeit  Es  entstand  zu- 
nächst der  kürze  Traktat  ,,Von  Gott,  dem  Menschen 
und  dessen  Glückseligkeit^,  auch  scheint  sich  ge- 
rade in  dieser  Zeit  die  Vorliebe  Spinozas  für  die 
geometrische  Methode  ansgebildet  za  haben.  So  ist 
er  nm  die  Mitte  des  Jahres  1661  damit  beschäftigt, 
das  zweite  Kapitel  des  ersten  Baches  dw  kurzen  Ethik 
in  .die  Form  der  Euklidischen  Geometrie  zu  kleiden. 
Im  folgenden  Jahre  begann  er  mit  der  Ethik  (&  d.  Ein- 
leitung zu  der  Übersetzung  von  Baensch.  Ph.  B. 
Bd.  92),  deren  erstes  Buch  er  im  Jahre  1663  im 
Manuskript  an  seine  Freunde  sandte.  Indessen  fand 
^  dieses  große  Werk  seinen  Abschluß  erst  im  Jahre  1675. 
^  In  Rijnsburg  .entstand  auch  die  unten  folgende 

O  Schrift^  die  einzige,  die  unser  Philosoph  mit  voller 
^  Neinnung  seines  Namens  herausgegeben  hat  Diese 
X  Schrift  ging  aus  dem  Unterricht  hervor,  den  Spi- 
Qfs  TkoiA  damals  einem  jungen  Theologen  namens  Johannes 

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IV  Einleitung. 

Casearius  erteilte  (s.  das  Nähere  in  Anm.  4).  Dem 
unreifen  Jüngling  glaubte  Spinoza  seine  eigene  Lehre 
vorenthalten  zu  müssen,  und  so  boten  sich  ihm  in 
seinem  Unterrichte  zwei  andere  Gedankenkreise  dar, 
welche  die  Grundlagen  der  philosophischen  Bildung 
der  damaligen  Zeit  bildeten:  die  jüngere  Scholastik 
und  die  Philosophie  von  Descartes.  ,,Die  erstere  war 
...  in  dieser  Zeit  keineswegs  aus  den  Schulen  der 
Niederlande  geschwunden.  Seit  den  dreißiger  Jahren 
aber  mußte  sie  die  Herrschaft  mit  der  cartesianischen 
Philosophie  teilen.  Diese  gewann  von  Jahr  zu  Jahr 
immer  zahlreichere  Anhänger,  freilich  unter  erbitt^ter 
Gegenwehr  der  um  Sein  oder  Nichtsein  kämpfenden 
Scholastik.  Während  man  auf  der  einen  Seite  Des- 
cartes zu  den  Sternen  hob,  ward  er  auf  der  anderen 
für  einen  der  geföhrlichsten  Feinde  des  Staates 
und  der  Religion  erklärt  .  .  .  Die  heftigen,  unauf- 
hörlich erneuten  Angriffe  blieben  nicht  wirkungslos, 
sondern  veranlaßten  wiederholte  Verbote  der  angeb- 
lich religionsfeindlichen  Lehre.  Im  Jahre  1642  unter- 
sagte der  Senat  der  Utrechter  Universität,  im  Jahre 
1648  das  Kuratorium  der  Leidener  Hochschule  das 
Studium  Descartes'.  Diesen  Verboten  folgte  im  Jahre 
1656  ein  Edikt  der  Staaten  von  Holland,  durch  welches 
der  Unterricht  in  der  cartesianischen  Philosophie  ver- 
boten wurde.''  So  drang  denn  die  Scholastik  auch  da 
wieder  ein,  wo  man  sie  zuvor  vertrieben  und  durch 
die  modernen  Lehren,  insbesondere  die  Descartes', 
ersetzt  hatte.  So  stand  es  um  die  Philosophie  in  den 
Niederlanden  ums  Jahr  1661,  als  Spinoza  begann, 
seinem  Hausgenossen  und  Schüler  Casearius  Unter- 
richt in  der  Philosophie  zu  geben.  „Er  lehrte  ihn 
die  grundlegenden  Teile  der  Philosophie  kennen,  d.  h. 
Metaphysik  und  Naturphilosophie,  die  Descartes  selbst 


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Binlaitimg.  V 

als  Wurzel  und  Stamm  der  Philosophie  bezeichnet 
hatte.  Hierbei  folg^  er  dem  im  benachbarten  Lieiden 
geltenden  System  des  philoeophisch^i  Unterrichts  und 
lehrte  Metaphysik  im  Anschluß  an  die  Formen  der 
Scholastik,  Physik  dagegen  völlig  nach  Anleitung  Des- 
cartee."  Spinoza  hielt  es  für  geraten,  sich  bei  der 
Darstellung  der  Metaphysik  nicht  so  sehr  an  Des- 
cartes,  als  an  die  jüngeren  Scholastiker  zu  halten, 
z.  B.  an  Suarez»  Martini,  Scheibler,  Burgersdijk.  „Da- 
durch erhielt  er  auch  Gelegenheit,  dem  Schüler  mit  der 
Bedeutung  wichtiger  Schulbegriffe  bekannt  zu  machen, 
über  die  man  bei  Descartes,  wie  man  diesem  in 
der  Tat  zum  Vorwurf  machte,  keine  Belehrung  fand.^ 
Indessen  ist  es  dabei  sein  Bestreben,  von  allen  scho- 
lastischen Spitzfindigkeiten  und  unnützen  Klopf- 
fechtereien  abzusehen  und  an  die  Schulbegriffe  selbst 
Untersuchungen  anzuknüpfen,  die  ganz  in  der  Rich- 
tung der  Lehren  Descartes'  liegen.  Die  eigenen  An- 
schauungen glaubte  er  zwar  zurückdrängen  zu  müssen, 
abear  „es  konnte  nicht  fehlen,  daß  er  des  öfteren, 
bald  in  leisen  Winken,  bald  in  verständlichen  An- 
deutungen, auf  seine  eigenen  Lehren  hinwies  und 
damit  sich  ebensoweit  von  Descartes,  wie  von  der 
Scholastik  entfernte'^  In  der  Darstellung  der  Physik 
(Teil  II  und  III)  hielt  Spinoza  sich  ganz  an  Descartes' 
Prinzipien,  wie  er  denn  überhaupt  auf  diesem  Gebiete 
wenig  Selbständigkeit  zeigt  (s.  unten  Anm.  65  und  76). 
Spinoza  würde  diese  Schrift  vielleicht  niemals 
veröffentlicht  haben,  wenn  ihn  nicht  seine  Freunde 
zur  Herausgabe  gedrängt  hätten.  „Die  meisten  von 
ihnen  waren  Anhänger  des  Cartesianismus,  aber  An- 
hänger, die  ihm  nicht  blindlings  ergeben  waren, 
sondern  mit  ihm  spinozische  Gedanken  zu  verbinden 
wußten.    Darum  mußte  ein   Lehrbuch  der  cartesia- 


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VI  Einleitong. 

nischen  Metaphysik  und  Physik  in  geometrischer  Form, 
wie  es  von  Spinoza  geschaffen  war,  ihnen  und  allen 
Gleichgesinnten  höchst  willkommen  sein.  Zugleich 
konnte  es  zur  Rechtfertigung  Spinozas  und  zur  Ab- 
wehr der  Angriffe  dienen,  die  von  den  orthodoxen 
Anhängern  Descartes'  gegen  ihn  gerichtet  wurden . . . 
Daß  man  derartiges  von  der  Herausgabe  der  Prin- 
cipia  und  Cogitata  erhoffte,  hebt  einer  der  Bio- 
graphen Spinozas  hervor/'  Spinoza  erklärte  sich  mit 
der  Absicht  seiner  Freunde  einverstanden,  verlangte 
aber,  daD  einer  von  diesen  den  Stil  der  Schrift  glätten 
und  eine  Einleitung  dazu  schreiben  solle.  Diesem 
doppelten  Wunsche  kam  sein  Freund,  der  Arzt  Ludwig 
Meyer,  nach  (s.  unten  Anm.  1).  „Spinoza  selbst  unter- 
warf die  früher  abgefaßten  Teile  der  Schrift  einer 
Durchsicht,  verbesserte  und  ergänzte  manches  und 
schloß  durch  Verweisung^  von  den  metaphysischen 
Gedanken  auf  die  Prinzipien  und  von  diesen  auf  jene 
die  ursprünglich  getrennten  Teile  des  Werkes  fest 
an  einander.  Die  in  der  üblichen  Form  philosophischer 
Schriften  abgefaßten  metaphysischen  Gedanken  wurden 
nun,  besonders  infolge  des  hohen  Wertes,  den 
man  der  geometrischen  Form  der  Prinzipien  zuer- 
kannte, aus  ihrer  bevorzugten  Stellung  verdrängt  und 
nur  als  Anhang  dem  Ganzen  beigefügt  So  er- 
schien denn  das  Werk  im  Jahre  1663  zu  Amsterdam 
im  Verlage  des  wackeren  Rieuwertsz  unter  dem  Titel: 
Renati  des  Cartes  principiorum  philosophiae  Pars  I 
et  II,  More  Geometrico  demonstratae  per  Benedictum 
de  Spinoza  Amstelodamensem.  Accesserunt  Ejusdem 
Cogitata  metaphysica.^ 

Spinoza  selbst  hat  der  Schrift,  und  zwar,  wie  mir 
scheint,  mit  Recht»  nur  wenig  Wert  beigelegt.  Sie 
sollte  ihm  wohl  nur  den  Weg  zu  anderen  Veröffent- 


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EinleikiDg.  VII 

lichungen  bahnen.  Das  in  der  Originalausgabe  la- 
teinisch geschriebene  Werk  wurde  im  folgenden  Jahre 
(1664)  ins  Holländische  übersetzt.  Da  sich  nicht  fest- 
stellen lieD,  inwieweit  die  Abweichungen  in  dieser 
Übersetzung  von  Spinoza  selbst  herrühren,  so  habe 
ich  bei  meiner  Übersetzimg  nur  den  lateinischen  Text 
zugrunde  gelegt  Benutzt  habe  ich  dabei  die  beiden 
Teztausgaben  von  van  Vloten  und  Land  (Opera  Bene- 
dicti  de  Spinoza  rec.  J.  van  Vloten  et  J.  P.  Land. 
Editio  altera.  Tomus  tertius  Hagae  1895  pag. 
105 — 234)  und  von  Ginsberg  (Spinozae  Opera  philo- 
fiophica  voL  IV.  Heidelberg  1882.  XXIV  und  131  S.). 
Die  erstere  Ausgabe  ist  in  kritischer  Beziehung  vor- 
zuziehen, enthalt  aber  eine  Reihe  störender  Drude- 
fehler.  Von  der  Eirchmannschen  Übertragung  ist  nicht 
viel  stehen  geblieben,  da  ich  mich  gerade  bei  den 
wichtigsten  metaphysischen  und  physikalischen  Be- 
griffen gezwungen  gesehen  habe,  die  Terminologie 
gänzlich  zu  ändern.  Ich  habe  versucht,  konsequent 
dasselbe  lateinische  Wort  durch  denselben  Aus- 
druck im  Deutschen  wiederzugeben  und  den  Haupt- 
wert auf  Klarheit  und  Durchsichtigkeit  des  gedank- 
lichen Zusammenhangs  gelegt  In  stilistischer  Be- 
ziehung ist  die  Schrift  auch  im  lateinischen  Urtext 
wenig  hervorragend.  Das  erklärt  sich  ohne  weiteres 
ans  der  Kürze  der  Abfassungszeit  (s.  u.  Anm.'l)  und 
aus  dem  geringen  Wert»  den  Spinoza  selbst  ihr  beilegte. 
Bei  der  obigen  Einleitung  und  den  Anmerkungen 
habe  ich  mich  hauptsächlich  auf  die  Untersuchungen 
Freudenthals  gestützt  (s.  betreffs  der  Spinoza-Literatur 
Baenschs  Ausgabe  der  Ethik  S.  VIII),  aus  dessen 
Werk:  Spinoza,  sein  Leben  und  seine  Lehre.  Erster 
Band.  Das  Leben  Spinozas  (Fünftee  Kapitel)  ich  die 
obigen  Zitate  mit  Genehmigung  des  Autors  entnommen 


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VIU  Einleitang. 

habe.  Da  dem  Texte  ein  ausführliches  Inhaltsver- 
zeichnis hinzugefügt  ist^  so  glaubte  ich  auf  ein  Sach- 
register verzichten  zu  dürfen. 

Wenngleich  die  vorliegende  Schrift  heute  nur 
noch  geringen  sachlichen  Wert  besitzt,  so  ist  sie 
doch  für  denjenigen  nicht  ohne  historisches  Interesse, 
der  sich  über  die  Beziehungen  zwischen  Descartes 
und  Spinoza  und  über  die  Nachwirkungen  der  Scho- 
lastik im  17.  Jahrhundert  klar  zu  werden  sucht,  und 
so  darf  sie  wohl  in  einer  Ausgabe  der  Werke  Spi- 
nozas nicht  fehlen. 

Zum  Schluß  erübrigt  es  mir  noch,  Herrn  Ge- 
heimrat Professor  Dr.  Freudenthal  in  Breslau  meinen 
herzlichsten  Dank  für  die  Liebenswürdigkeit  auszu- 
sprechen, mit  der  er  mir  erlaubt  hat,  mich  bei  der 
vorliegenden  Ausgabe  der  gesicherten  Ergebnisse 
seiner  langjährigen  Studien  über  Spinoza  zu  bedienen. 

Darmstadt,  im  Dezember  1906. 

Artur  Buehenau. 


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Den  genelg^ten  Leser 

grüßt 

Ludwig  Meyer/) 


Daß  die  mathematische  Methode»  bei  der  ane 
Definitioiieni  Postulaten  und  Grundsätzen  die  Schlul}- 
folgen  abgeleitet  werden,  bei  der  Erforschung  und 
Oberlieferung  der  Wissenschaften  der  beste  und 
sicherste  Weg  zur  Auffindung  und  Mitteilung  der 
Wahrheit  ist,  gilt  als  die  einstimmige  Ansicht  all 
derer,  die  mit  üirem  Wissen  über  der  großen  Menge  10 
stehen  wollen.  Und  zwar  mit  vollem  Recht;  denn  da 
alle  sichere  und  feste  Kenntnis  eines  unbekannten 
Gegenstandes  nur  aus  etwas  zuvor  sicher  Erkanntem 
geschöpft  und  abgeleitet  werden  kann,  so  wird  dieses 
notwendig  vorher  von  unten  her  als  unerschütterliche 
Grundlage  zu  legen  sein,  damit  dann  das  ganze  Ge- 
bäude der  menschlichen  Erkenntnis  darauf  so  aufgebaut 
werde,  daß  es  nicht  von  selbst  zusammenbricht,  noch 
auch  durch  den  geringsten  Anstoß  zugrunde  geht. 
Daß  nun  das,  was  insgemein  die  Mathematiker  als  20 
Definitionen,  Postulate  und  Axiome  zu  bezeichnen 
pflegen,  derart  beschaffen  ist,  wird  niemandem  zweifel- 
haft erscheinen,  wenn  er  auch  die  edle  Wissenschaft 
der  Mathematik  nur  flüchtig  kennen  gelernt  hat.  Denn 
die  Definitionen  sind  nichts  anderes  als  die  möglichst 
deutlichen  Elrklärungen  der  Zeichen  und  Namen,  mit 
denen  die  betreffenden  Gegenstände  belegt  werden; 
die  Postulate  aber  und  die  Grundsätze,  oder  die  Allge- 
meinbegriffe des  Geistes  sind  derart  klare  und  deut- 
liche Aussagen,  daß  niemand,  der  nur  den  Sinn  der  SO 

SpiaosA,  Prinzipien  ron  BetoartM.  1 

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2  Voirede. 

Worte  richtig  versteht,  ihnen  seine  ZnBtimmnng  über- 
haupt verweigern  kann. 

Wenngleich  indessen  sich  dies  so  verhält,  so  findet 
man  doch,  mit  Ausnahme  der  Mathematik,  fast  keine 
andere  Wissenschaft  nach  dieser  Methode  behandelt, 
sondern  nach  einer  himmelweit  verschiedenen,  wenn 
man  sie  mit  derjenigen  vergleicht^  wobei  durch  De- 
finitionen und  Einteilungen,  die  unter  sich  stetig 
verknüpft  und  hie  und  da  mit  Aufgaben  und  Er- 

10  klärungen  untermischt  sind,  das  ganze  Geschäft  er- 
ledigt wird.  Denn  früher  waren  beinahe  alle,  und 
jetzt  sind  noch  viele  von  denen,  die  Wissenschaften 
aufzustellen  und  darzustellen  unternahmen,  der  An- 
sicht, jene  Methode  sei  eine  Eigentümlichkeit  der 
mathematischen  Wissenschaften,  derart,  daß  sie  bei 
allen  anderen  Wissenschaften  abzuweisen  und  zu 
verachten  sei.  Daher  kommt  es,  daß  sie  ihre  Be- 
hauptungen durch  keine  schlagenden  Gründe  beweisen, 
sondern  nur  versuchen,  sie  durch  wahrscheinliche  und 

ao  scheinbare  Gründe  zu  unterstützen.  So  bringen  sie 
einen  Haufen  dicker  Bücher  zustande,  in  denen  nichts 
Festgegründetes  und  Gewisses  zu  finden  ist,  die  viel- 
mehr von  Streit  und  Zwiespalt  voll  sind.  Was  von  dem 
einen  mit  schwachen  Gründen  halbwegs  befestigt  wor- 
den, wird  bald  darauf  von  dem  anderen  widerlegt 
und  mit  denselben  Waffen  umgestürzt  und  wegge- 
fegt So  sieht  der  nach  der  xmabänderlichen  Wahr- 
heit verlangende  Geiste  statt  für  sein  Streben  ein 
ruhiges  Fahrwasser  zu  finden,  wo  er  sicher  und  glück- 

80  lieh  überfahren  und  demnächst  in  den  erwünschten 
Hafen  der  Erkenntnis  gelangen  kann,  sich  schwan- 
kend und  ohne  Ende  in  dem  stürmischen  Meere 
der  Meinungen  umhergeechleudert,  umgeben  von  den 
Stürmen  der  Streitigkeiten  und  überspült  von  den 
Wellen  der  Ungewißheit^  ohne  Hoffnung,  ihnen  jemals 
entkommen  zu  können. 

Es  gab  wohl  Männer,  die  hierüber  anders  dachten 
und  aus  MiÜeid  über  dieses  elende  Schicksal  der 
Philosophie  jenen  gemeinen  und  von  allen  ausgetrete- 

40  nen  Weg  der  Behandlung  der  Wissenschaften  verließen 
und  einen  neuen,  allerdings  steilen  und  mit  vielen 
Schwierigkeiten  erfüllten  Weg  betraten,  um  neben  der 

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Vorrodtt.  8 

Mathematik  der  Nachwelt  auch  die  übrigen  Teile  der 
PhQofiophie  in  mathematischer  Weise  nnd  Sicherheit 
begründet  zu  hinterlassen.  Einige  von  diesen  behan- 
delten in  dieser  Weise  die  geltende  und  in  den  Schulen 
grelehrte  Philosophie,  andere  eine  neue,  durch  eigne 
Kraft  gefundene  Philosophie  und  übergaben  sie  der 
wissenschaftlichen  Welt  Lange  wurde  diese  Arbeit 
von  vielen  ohne  Erfolg  verhöhnt,  bis  endlich  jenes 
glänzendste  Licht  unseres  Jahrhunderts,  Ren6  Des- 
oartes,  sich  erhob,  der,  zunächst  in  der  Mathematik,  10 
das,  was  die  Alten  nie  hatten  erreichen  können,  und 
was  seine  Zeitgenossen  nur  verlangen  konnten,  durch 
eine  neue  Methode  jaus  dar  Finsternis  an  das  Licht 
sog  und  sodann  die  unerschütterlichen  Grundlagen  der 
Pli^osophie  ermittelte  und  durch  seine  eigne  Tat  zeigte, 
daß  eine  Beihe  von  Wahrheiten  mit  mathematischer 
Ordnung  und  Gewißheit  darauf  errichtet  werden  kann, 
was  allen  so  klar  wie  die  Sonne  einleuchtete^  die  sich 
Beinen  nie  genug  zu  rühmenden  Schriften  mit  Fleiß 
zuwandten.  *)  20 

Indes  befolgen  die  philosophischen  Schriften  dieses 
edlen  und  unvergleichlichen  Mannes  zwar  die  in  der 
Mathematik  übliche  Beweisart  und  Ordnung,  aber  sie 
sind  doch  nicht  in  jener,  in  den  Elementen  des  Euklid 
und  der  übrigen  Geometer  gebräuchlichen  Methode 
ausgearbeitet,  wobei  die  Qefinitionen,  Postulate  und 
Grundsätze  vorausgeschickt  werden,  und  dann  die  Lehr- 
sätze mit  ihren  Beweisen  folgen;  vielmehr  ist  seine 
Methode  davon  sehr  verschieden,  die  er  selbst  als  den 
wahren  und  besten  Weg  für  die  Mitteilung  bezeichnet  30 
and  die  er  die  analytische  nennt  Denn  am  Ende  seiner 
„Ebrwiderung  auf  die  zweite  Beihe  von  Einwürfen^' 
erkennt  er  an,  daß  es  zwei  Arten  des  überzeugenden 
Beweises  gebe;  eine  analytische,  „die  den  wahren  Weg 
zeigt,  auf  dem  der  Gegenstand  methodisch  und  gleich- 
sam a  priori  gefunden  worden  ist,^  die  andere  sei 
die  qrnthetische,  „die  sich  einer  langen  Beihe  von 
Definitionen,  Postulaten,  Axiomen,  Theoremen  und 
Problemen  bedient,  sodaJ}  sie,  wenn  man  ihr  irgend- 
welche Xonsequenzen  bestreitet,  sogleich  zu  zeigen  40 
vermag,  daß  ^ese  im  Vorhergehenden  enthalten  smd, 
wodurch   sie   von    dem   Leeer    trotz   seines  Wider- 


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4  Voirede. 

BtrebeoB  und  seiner  Hartnäckigkeit  die  Zustimmung 
erpreßt''») 

Indes  wenn  auch  in  diesen  beiden  Arten  der 
Begründung  die  über  allen  Zweifel  erhobene  Crewiß- 
heit  enthalten  ist,  so  sind  sie  doch  nicht  für  jedermtann 

Sleich  zweckmäßig  und  passend.  Den  meisten  sind 
ie  mathematischen  Wissenschaften  fremd,  und  sie 
kennen  daher  weder  die  synthetische  Methode,  in  der 
sie  dargestellt  werden,  noch  die  analytische,  durch  die 

10  sie  entdeckt  worden  sind;  deshalb  können  sie  die  in 
diesen  Büchern  behandelten  und  überzeugend  bewiese- 
nen Dinge  weder  selbst  verstehn,  noch  auch  anderen 
mitteilen.  Daher  kommt  es,  daß  viele,  von  blindem  Eifer 
getrieben  oder  durch  das  Ansehen  anderer  bestimmt^ 
sich  an  den  Namen  von  Descartes  gehalten  und  seine 
Ansichten  und  Lehren  nur  dem  Gedächtnis  eingeprägt 
haben,  aber,  wenn  darauf  die  Rede  kommt^  nur  reden 
und  mancherlei  schwatzen,  ohne  imstande  zu  sein, 
etwas  zu  beweisen;  gerade  so,  wie  das  ehedem  gescfalah, 

20  und  wie  es  noch  heute  bei  den  Anhängern  der  peri- 
patetischen  Philosophie  üblich  ist.  Um  diesen  Leuten 
etwas  zu  Hilfe  zu  kommen,  habe  ich  oft  gewünscht, 
ein  Mann,  der  in  der  analytischen  und  synthetischen 
Methode  erfahren  und  in  den  Schriften  des  Des- 
cartes bewandert  und  mit  seiner  Philosophio  vertraut 
wäre,  mochte  die  Hand  ans  Werk  legen  und  das,  was 
jener  in  analytischer  Weise  dargestellt,  in  die  synthe- 
tische umarbeiten  und  in  der  gebräuchlichen  geometri- 
schen Art  begründen.    Ich  selbst  habe,  obgleich  ich 

30  meine  Unfähigkeit  kannte  und  wußte,  daß  ich  einem 
solchen  Unternehmen  nicht  gewachsen  war,  doch  die 
Absicht  gehabt,  diese  Arbeit  zu  unternehmen  und 
sogar  damit  einen  Anfang  gemacht;  indessen  haben 
andere  zerstreuende  Geschäfte  mich  an  der  Port- 
setzung dieses  Unternehmens  gehindert. 

Es  war  mir  deshalb  erfreulich»  als  ich  hörte,  daß 
unser  Verfasser  einem  seiner  Schüler^),  als  er  ^esen 
in  der  Philosophie  des  Descartes  unterrichtete,  den 
ganzen  zweiten  und  einiges  von  dem  dritten  Teile  der 

40  Prinzipien  in  der  Form  geometrischer  Beweise  und 
ebenso  einige  der  wichtigsten  und  schwierigsten  Fragen 
der   Metaphysik,   die  Descartes  noch  nicht  erlemgt 


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Yonede.  6 

hatie^  diktiert  habo,  und  daß  er  auf  Bitten  und  Drän- 
gen seiner  Freunde  gestattet  habe,  diese  Diktate  mit 
seinen  Verbesserungen  und  Zusätzen  zu  veroffent- 
lichen.  Deshalb  stimmte  auch  ich  bei  und  bot  gern 
meine  Hilfe  an,  soweit  es  deren  bei  der  Herau»- 
gal>e  bedürfen  sollte.  Auch  redete  ich  dem  Verfasser 
sa  und  bat  ihn,  den  ersten  Teil  der  Prinzipien  ebenso 
zu.  behandeln  und  voranzustellen,  damit  das  Ganze 
von  Anfang  an,  so  geordnet,  besser  verstanden  werden 
und  mehr  Gefallen  finden  möchte.  Da  er  das  Triftige 
dieser  Grunde  einsah,  so  wollte  er  den  Bitten  der 
Freunde  wie  dem  Vorteil  der  Leser  nicht  entgegen- 
treten und  übergab  mir  die  Sorge  für  den  Druck  und 
die  Herausgabe,  da  er  selbst  fern  von  der  Stadt  auf 
dem  Lande  lebte  und  sich  so  damit  nicht  abgeben 
konnte. 

Dies  ist  es,  geneig^  Leser,  was  ich  dir  in  diesem 
Buche  übergebe;  nämlich  den  ersten  und  zweiten  Teil 
und  ein  Stück  des  dritten  von  Descartes'  Prinzipien  ^ 
der  Philosophie^  denen  ich  als  Anhang  die  ,Meta- 
physischen  Gedanken'  unseres  Verfassers  beigefügt 
habe.  Indes  mochte  ich  das,  was  ich  hier  und  ai3  dem 
Titel  verspreche,  in  Bezug  auf  den  ersten  Teil  der  Philo- 
sophie nicht  so  verstanden  haben,  als  wenn  alles 
darin  von  Deecartes  Gesagte  hier  in  geometrischen 
Beweisen  wiedergegeben  wurde;  vielmehr  ist  dieser 
Ausdruck  nur  von  dem  Wichtigeren  entlehnt,  und  es 
ist  ^ur  das  Bedeutendere,  was  die  Metaphysik  betrifft 
und  was  Descartes  in  seinen  Meditationen  behandelt 
hat»  daraus  auf genommei^  alles  andere  aber,  was  die  SO 
Logik  betrifft  (^er  nur  historisch  erzählt  und  erwähnt 
wird,  weggelassen  worden. 

Um  ^es  leichter  auszuführen,  hat  der  V^fasser 
hi^  fast  alles  das  wörtlich  aufgenommen,  was  Des- 
cartes gegen  Ende  meiner  „Antwort  auf  die  zweiten 
Einwürfe"  in  geometrischer  Form  sagt;  es  sind  also  alle 
seine  Definitionen  vorausgeschickt  und  die  Lehrsätze 
denen  des  Verfassers  eingefügt  worden.  Nur  die 
Grundsätze  sind  nicht  fortwährend  den  Definitionen 
angehängt  worden,  sondern  erst  nach  dem  vierten  80 
Lehrsatz  eingeschoben,  und  ihre  Ordnung  ist  der  bessern 
Begründung  halber  geändert,  auch  ist  einiges  Über- 

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6  Vorrede. 

flüssige  weggelassen  worden.  Obgleich  diese  Grund- 
sätze (wie  es  ;auch  bei  Descartes  selbst  in  seinem 
7.  Postulat  geschieht)  wie  Lehrsätze  hätten  bewiesen 
und  besser  unter  dem  Namen  von  Lehrsätzen  hätten 
aufgeführt  werden  können,  und  unserm  Verfasser  dies 
wohl  bekannt  war  und  ich  ihn  darum  gebeten  hatte, 
so  konnte  er  doch  bei  den  wichtigeren  Arbeiten,  mit 
denen  er  sich  beschäftigt,  nur  die  Muße  von  zwei 
Wochen  hierzu  verwenden,  in  welcher  Frist  er  das 

10  Werk  vollenden  mußte.  Deshalb  konnte  er  weder 
seinen  noch  meinen  Wünschen  nachkommen,  sondern 
er  fügte  nur  eine  kurze  Erläuterung  bei,  welche  die 
Stelle  des  Beweises  vertreten  kann,  und  verschob  die 
weitere  auf  das  Ganze  sich  erstreckende  Arbeit  auf 
eine  spätere  Zeit.  Sollte  nach  Absatz  dieser  Auflage 
eine  neue  nötig  werden,  so  will  ich  mich  darum  l^ 
mühen,  daß  er  sie  vermehrt,  und  daß  er  den  ganzen 
dritten  Teil  über  die  sichtbare  Welt  vollendet,  von 
dem  ich  hier  nur  ein  Stück  beigefü^  habe,  da  der 

20  Verfasser  hier  aufhören  mußte,  und  ich  dieees  doch, 
so  klein  es  auch  is^  den  Lesern  nicht  vorenthalten 
möchte.  Damit  dies  in  der  richtigen  Weise  geschehe, 
wird  im  zweiten  Teile  hie  und  da  einiges  über  die 
Natur  und  die  Eigenschaften  des  Flüssigen  einzufügen 
sein,  und  ich  werde  nach  Kräften  dafür  sorgen,  daß 
der  Verfasser  dies  dann  nachholt 

Indessen  weicht  unser  Verfasser  nicht  nur  in  der 
Aufstellung  und  Erläuterung  der  Grundsätze,  sondern 
auch  in  dem  Beweise  der  Lehrsätze  und  der  übrigen 

80  Folgesätze  recht  oft  von  Descartes  ab  und  bedient 
sich  einer  Beweisführung,  die  von  der  des  letzt^en 
sehr  verschieden  ist  Msm  fasse  dies  nicht  so  aui^  als 
hätte  er  jenen  berühmten  Mann  hierin  verbessern 
wollen;  vielmehr  ist  dies  nur  zu  dem  Zwecke  ge- 
schehen, um  die  einmal  angenommene  Ordnung  besser 
aufrechterhalten  zu  können,  ohne  die  Zahl  der  Grund- 
sätze zu  sehr  zu  vermehren.  Deshalb  mußte  er  auch 
vieles,  was  Descartes  ohne  allen  Beweis  hingestellt 
hat,   beweisen   und  anderes,   was  jener  ganz  fiber- 

40  gangen  hat,  hinzufügen. 

Jedoch  möchte  ich  vor  allem  darauf  aufmerksam 
machen,  daß  der  Verfasser  in  allen  folgenden  Aus- 

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YonedA.  7 

fSfanm^en,  nimlich  im  enten  und  zwehen  TeQe  der 
Prinapien  und  in  dem  Bmchstflck  des  dritten  Teilei» 
sowie  in  seinen  metaphvsiBchen  Gedanken,  die  reinen 
Ansichten  Descartes'  mit  ihren  Beweis»  yorgetraffen 
hat»  so  wie  sie  in  dessen  Schrift«!  sich  finden 
oder  wie  sie  ans  dm  von  ihm  gelegten  Grundlagen 
sich  durch  richtige  Folgemngen  notwendig  ablmen 
Keßen.  Denn  da  er  seinem  Schaler  Yersprochen  hatte^ 
die  Philosophie  Descartes'  za  lehren,  so  war  es  fflr  ihn 
Gewissenssache^  von  dessen  Ansichten  nicht  eine  Linie  10 
brat  absQweichen  oder  etwas  za  diktieren,  was  seiner 
Ldire  nicht  entspräche  oäfft  gar  widerspräche^  Man 
darf  deshalb  nicht  voranssetien,  er  spreche  hier  etwa 
seine  eignen  Ansichten  oder  die  des  Descartes  nnr,  so- 
weit er  sie  billigt»  ans.  Denn  wenngleich  er  manches 
iron  des  Descartes  Lehre  für  wahr  hält  nnd^  wie  er 
ohne  weiteres  zugibt»  manches  von  dem  Seinigen  hin- 
zngeffigt  hajt,  so  steht  darin  doch  auch  vieles,  was  er  als 
fabch  verwirft,  nnd  worin  er  einer  ganz  verschiedenen 
Ansicht  huldigt  Beispiele  davon  sind  nnter  anderem,  SO 
om  nur  ^es  nnter  vielen  anzuführen,  was  sich  über 
den  Willen  in  dem  Zusatz  zn  Lehrsatz  16,  T.  L  der  Pru^ 
zipien  und  Eap.  12,  T.  n.  des  Anhangs  findet;  obgleich 
hier  die  Beweise  mit  großer  Anstrengung  und  mit 
großem  Aufwände  geführt  sind.  Denn  nach  seiner 
denen  Ansicht  ist  der  WiUe  vom  Verstände  nicht  ver* 
schieden  und  noch  weniger  mit  einer  solchen  Freiheit 
bes^t  Bei  diesen  ^tzen  nimmt  nämlich  Des- 
cartes, wie  aus  seiner  Abhandlung  über  die  Methode 
(vierter  Teil)  und  aus  seiner  zweiten  Meditation  und  80 
anderen  Stellen  erhellt,  ohne  den  Beweis  dafür  zu 
bringen,  an,  die  menschliche  Seele  sei  eine  unbedingt 
denkende  Substanz»  während  unser  Verfasser  zwar  zu- 
gibt^ daß  es  in  der  Welt  eine  denkende  Substanz 
gibt»  allein  bestreite^  daß  sie  das  Wesen  der  mensch- 
fichen  Seele  bilde;  vielmehr  nimmt  er  an,  daß,  so  wie 
die  Ausdehnung  durch  keine  Grenzen  beschränkt  ist^ 
auch  das  Denken  durch  keine  Grenzen  beschränkt  sei; 
so  wie  daher  der  menschliche  Körper  keine  unbedingte 
Ausdehnung  ist»  sondern  eine  in  bestimmter  Weise,  40 
nach  den  Gesetzen  der  ausgedehnten  Natur  durch  Be- 
wegung und  Buhe  begrenzte»  so,  schließt  er,  ist  auch 


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8  Vorrede. 

der  Geist  oder  die  Seele  des  Menschen  nicht  ein  unbe- 
dingtes, sondern  ein  nach  den  Gesetzen  der  denken- 
den Natur  durch  Vorstellungen  (ideae)  in  bestimmter 
Weise  begrenztes  Denken,  das,  wie  er  schließt,  not- 
wendig gegeben  ist,  sobald  der  menschliche  Körper  zu 
existieren  beginnt  Aus  dieser  Definition  ist,  wie  er 
glaubt,  leicht  zu  beweisen,  daß  sich  der  Wille  von 
dem  Verstände  nicht  unterscheidet  und  daß  er  noch 
weniger  die  ihm  von  Descartes  zugeschriebene  Frei- 

10  heit  besitzt;  selbst  sein  Vermögen,  zu  bejahen  und  zu 
verneinen,  ist  nach  ihm  rein  eingebildet;  denn  das  Be- 
jahen und  Verneinen  ist  nichts  Besonderes  neben  den 
Vorstellungen,  und  die  übrigen  Vermögen,  wie  der  Ver- 
stand, die  Begierde  u.8.  w.,  sind  seiner  Ansicht  nach 
zu  den  Einbildungen  oder  zu  den  Begriffen  zu  zahlen, 
welche  die  Menschen  durch  Abstraktion  gebildet  haben, 
wie  z.  B.  der  Begriff  der  Menschheit,  der  Steinheit 
und  andere  derselben  Art 

Ich  kann  auch  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  der 

20  an  einigen  Stellen  vorkommende  Ausdruck  „dies  oder 
jenes  übersteigt  die  menschliche  Fassungskraft'*  eben- 
dahin gehört,  d.  h.  daß  er  nur  im  Sinn  des  Descartes 
gebraucht  wird,  und  man  darf  dies  nicht  so  verstehen, 
als  wenn  der  Verfasser  dies  als  seine  eigne  Ansicht 
ausspräche.  Nach  seiner  Meinung  kann  vielmehr  dies 
alles  und  noch  mehr  und  Höheres  und  Feineres  nicht 
bloß  deutlich  und  klar  von  uns  begriffen,  sondern 
auch  ohne  Schwierigkeit  erklärt  werden,  wenn  nur 
der  menschliche  Verstand  auf  einem  anderen  als  dem 

80  von  Descartes  eröffneten  und  gebahnten  Wege  zur 
Erforschung  der  Wahrheit  und  Erkenntnis  der  Din^e 
geführt  wird.  Deshalb  genügen  nach  seiner  Ansicht 
die  von  Descartes  gele^n  Grundlagen  der  Wissen- 
schaften und  das,  was  er  darauf  errichtet  hat,  nicht,  um 
alle  schwierigen,  in  der  Metaphysik  auf  tretenden  Fra- 
gen zu  entwirren  und  zu  lösen,  sondern  es  bedarf 
dazu  noch  anderer,  wenn  man  seinen  Verstand  auf  die 
Höhe  dieser  Erkenntnis  hinaufführen  will. 

Endlich  (um  mit  dieser  Vorrede  zu  Ende  zu  kom- 

40  men)  mögen  die  Leser  nicht  übersehen,  daß  alle  diese 
Untersuchungen  nur  zu  dem  Zwecke  veröffentlicht  wer- 
den, um  die  Wahrheit  zu  finden,  zu  verbreiten  und  die 


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Voirede.  9 

Henschen  zum  Studium  der  wahrra  und  echten  Philo- 
sophie anzuregen.  Ich  bitte  deshalb  alle,  bevor  sie  an 
das  Buch  gehen,  um  die  reichen  Früchte  daraus  za  ent- 
nehmen, die  ich  ihnen  von  Herzen  wünsche,  vorher 
einige  Auslassungen  nachzutragen  und  die  einge- 
schlichenen Druckfehler  sorg^tig  zu  berichtigen^),  da 
sie  zum  TeU  derart  sind,  daß  sie  einen  Riegel  gegen  das 
Verständnis  der  Beweise  und  der  Meinung  des  Ver- 
fassers bilden,  wie  man  sich  davon  aus  dem  Verzeich- 
nis leicht  überzeugen  kann.*) 


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Die 

Prinzipien  der  Philosophie 

auf 

geometriBche  WelM  begrtlndet. 


Erster  TeiLO 

Einleitung. 

Ehe  ich  mich  zu  den  Lehrsätzen  und  deren  Be- 
weisen wende,  scheint  es  mir  passend,  vorher  knrs 
darzolegen,  weshalb  Descartes  an  allem  gezweifelt 
hat»  atS  welchem  sichern  Wege  er  die  Grundlagen  10 
der  Wissenschaften  ermittelt,  und  mit  welchen  Mitteln 
er  sich  endlich  von  allen  Zweifeln  befreit  hat  Ich 
hatte  dies  alles  in  mathematische  Form  gebracht; 
allein  die  hierzu  nötige  Ausführlichkeit  wurde,  nach 
mriner  Ansicht,  vielmehr  die  richtige  Elrkenntnis  hier 
gehindert  haben,  wo  alles  mit  einem  Blicls^  wie  bei 
einem  Gemälde,  überschaut  werden  muß.  ^) 

Descartes  hat  also,  um  möglichst  vorsichtig 
bei  der  Erkenntnis  der  Dinge  vorzugehen,  versucht: 

1.  alle  Vorurteile  abzulegen;  90 

2.  die  Grundlagen  zu  findein,  auf  denen  alles  zu 
errichten  ist; 

3.  die  Ursache  des  Irrtums  zu  entdecken; 
4  alles  klar  und  deutlich  einzusehen. 

Um  nun  zu  dem  Ersten,  Zweiten  und  Dritten 
hiervon  zu  gelangen,  beginnt  er  alles  zu  bezweifeln; 
indes  nicht  wie  ein  Skeptiker,  der  sich  kein  anderes 
Sei,  als  zu  zw^eln,  vorsetzt»  sondern  um  seinen  Geist 


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IS  Prinsipien.    Enter  Teil 

auf  diese  Weise  von  allen  Vorurteilen  zu  befreien  und 
so  endlich  die  festen  und  unerschütterlichen  Grund- 
lagen der  Wissenschaften  aufzufinden,  die,  wenn  es 
deren  ^bt,  ihm  auf  diese  Weise  nicht  entgehen  können. 
Denn  die  wahren  Prin^pien  der  Wissenschaften  müssen 
so  klar  und  gewiß  sein,  daß  sie  keines  weiteren  Be- 
weises bedürfen,  daß  sie  der  Gefahr  des  Zweifels 
ganz  entrückt  sind,  und  daß  ohne  sie  nichts  bewiesen 
werden  kann.  Auch  fand  er  sie  nach  langem  Zweifeln, 

10  und  nachdem  dies  geschehen,  war  es  ihm  nicht  mehr 
schwer,  das  Falsche  vom  Wahren  zu  unterscheiden  und 
die  Ursachen  des  Irrtums  zu  entdecken.  So  schützte  er 
sich  davor,  daß  er  etwas  Falsches  oder  Zweifelhaftes 
für  wahr  und  gewiß  annähme. 

Um  nun  aber  das  Vi^te  und  Letzte  sich  zu  ver- 
schaffen, d.  h.  alles  klar  und  deutlich  einzusehen, 
galt  es  ihm  als  Hauptregel,  alle  einfachen  Ideen,  aus 
denen  sich  die  übrigen  zusammensetzen,  aufzuzählen 
und  jede  einzeln  zu  prüfen.  Denn  —  so  dachte  er  — 

20  wenn  er  erst  die  ein&chen  Ideen  klar  und  deutlich  ein- 
sehen könnte,  so  würde  er  unzweifelhaft  auch  alle 
übrigen,  die  sich  aus  diesen  ein&chen  zusammensetzen, 
ebenso  klar  und  deutlich  einsehen.  Nachdem  ich  dies 
vorausgeschickt,  will  ich  kurz  auseinandersetzen,  wie 
er  alles  in  Zweifel  ges&ogen,  wie  er  die  wahren  Prin- 
zipien der  Wissensc&f t  gefunden  und  wie  er  sich  aus 
allen  Verwickelungen  des  Zweifels  befreit  hat. 

Der  Zweifel  an  aUem.  Er  stellt  sich  zunächst  alles 
das  vor  Augen,  was  er  von  den  Sinnen  empfangen 

30  hatte;  also  den  Himmel,  die  Erde  und  ähnliches;  auch 
seinen  eignen  Körper,  was  alles  er  bisher  für  wirk- 
lich angenommen  hatte.  Er  zweifelt  nun  an  deren  Ge- 
wißheit, weil  er  entdeckt  hatte,  daß  die  Sinne  ihn 
mitunter  getauscht  hatten  und  er  in  seinen  Träumen 
oft  überzeugt  gewesen  war,  daß  vieles  außer  ihm 
wirklich  bestände,  das  sich  nachher  als  Täuschung 
erwies,  und  weil  er  schließlich  selbst  von  Wachenden 
gehört  hatte,  daß  sie  sich  über  Schmerzen  in  längst 
ihnen  fehlenden  Gliedern  beklagten.    Deshalb  konnte 

40  er  nicht  ohne  Grund  sogar  an  der  Exiatenz  seines 
Korpers  zweifln  und  aus  alledem  mit  Becht  folgern, 
daß  die  Sinne  nicht  jene  feste  Grundlage  sind,  auf 


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18 

der  sich  die  gaase  Wissenflchaf t  errichten  Uflt  (denn  eie 
können  bezweifelt  werden);  daß  vielmehr  die  Gewiß- 
heit yon  anderen  für  m»  gewisseren  Prinzipien  ab- 
hängt Um  nun  w^terhin  derartige  aofsospüren,  stellt 
er  sich  zweitens  alle  jene  Gemeinbegriffe  vor,  wie 
die  körperliche  Natur  im  allgemeineot  ihre  Aiuadeh- 
nung»  Gestalt,  Größe  o.  s.  w.;  ebenso  alle  mathe- 
matuchen  WaJirheiten.  Obgleich  ihm  diese  gewisser 
erschienen  als  alles,  was  er  den  Sinnen  entlehnt  hatte, 
so  fand  er  doch  aoch  hiw  einen  Grnnd,  an  ihnen  zu  10 
zweifeln,  weil  nämlich  auch  andere  sich  hierbei  ge- 
irrt haben  und  vorzüglich,  weil  seinem  Gmste  eme 
alte  Meinung  eingeprägt  war,  daß  es  einen  Gott  gebe, 
der  alles  vermöge,  von  dem  er,  so  wie  er  sei,  ge- 
schaffen worden,  und  der  deshalb  es  vielleicht  so  ein- 
gerichtet habe^  daß  er  auch  in  dem  sich  tausche, 
was  ihm  am  klarsten  erschiene.  Auf  diese  Weise  hat 
er  alles  in  Zweifel  gezogen.*) 

Die  Auffindung  der  Qnmälage  für  aUee  Wiiaen.  Um 
nun  die  wahren  Prinzipien  der  Wissenschaften  zu  20 
finden,  forschte  Descartes  weiter,  ob  alles,  was  er 
sich  vorstellen  könnei,  in  Zweifel  gezogen  w^den  könne, 
um  so  zu  entdecken,  ob  nicht  vielleicht  etwas  übrig 
bliebe,  an  dem  er  noch  niemals  gezweifelt  habe. 
Sollte  er  bei  diesen  Zweifeln  etwas  finden,  was  weder  ge- 
mäß dem  Vorhergehenden»  noch  sonst  auf  eine,  andere 
Weise  in  Zweifel  gezogen  werden  könnte,  so  urteilte 
er  mit  Recht,  daß  dies  ihm  als  die  Grundlage  selten 
müsse,  auf  der  er  all  seine  Erkenntnis  aufbauen 
könne.  Und  obglMch  er,  wie  es  schien,  schon  an  so 
allem  geeeweifelt  hatte,  da  er  sowohl  das  aus  den 
Stmen  Geschöpfte^  als  das  durch  den  Uoßen  Ver- 
stand Erkannte  bezweifelt  hatte^  so  blieb  doch  etwas 
SU  erforschen  übrig,  nämlich  das  Selbst  desjenigen, 
der  so  zwdfelte;  allerdings  nicht  soweit  ihm  ein  Kopf, 
Hände  und  andere  Glie^  zukommen,  da  er  dies  ja 
schon  bezweifelt  hatte,  sondern  nur  sofern  er  zweifelte, 
dachte  u.  s.  w.  Dabei  bemerkte  er  nun  nach  genauer 
Untersuchung,  daß  er  hieran  aus  keinem  der  JMheren 
Gründe  zweifeln  könne.  D^n  w^on  er  auch  träumend  40 
oder  wachend  denke,  so  denke  er  doch  und  sei;  und 
wemi  auch  andere  und  er  selbst  in  anderen  Dingen  sich 


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14  Prinnpien.    Bnter  Teil. 

geirrt  hätten,  so  waren  sie  doch,  weil  sie  irrten.  Auch 
vermochte  er  sich  keinen  Schöpfer  seiner  Nator  so 
listig  za  denken,  daß  er  ihn  hierin  lauschen  könnte; 
denn  man  mtisse  immer  einräumen,  daß  der  Denkende 
sei,  selbst  wenn  er  getäuscht  würde.  Endlich  könne 
kein  irgend  deiücbarer  Zweifelsgrund  angeführt  werden, 
der  ihm  nicht  zugleich  volle  Gewißheit  über  sein  Dasein 
gebe;  vielmehr  würden,  je  mehr  Zweifelsgründe  her- 
beigebracht würden,  damit  auch  ebenso  viele  Gründe 

10  beigebracht,  die  ihn  von  seinem  Dasein  überzeugten. 
So  sah  er  sich,  wohin  er  auch  mit  seinen  Zweifeln, 
sich  wandte,  dennoch  zuletzt  gezwungen,  in  die  Worte 
auszubrechen:  Ich  jmmfle,  ich  denk^  also  hin  icik.^^) 

Mit  Entdeckung  dieser  Wahrheit  fand  es  auch 
zugleich  die  Grundk^e  aller  Wissenschaften  und  das 
Maß  und  die  Regel  für  alle  übrigen  Wahrheiten,  näm- 
lich: AUes,  was  80  klar  und  deutlich  eingesehen  wird,  wie 
dieser   Satz,   ist   wahr.^^) 

Daß  es  keine  andere  Grundlage  für  die  Wissen- 

20  Schäften  als  nur  diese  geben  kann,  erhellt  zur  Genüge 
aus  dem  Vorhergeheiäen;  denn  alles  andere  kann 
mit  liCichtigkeit  von  una  bezweifelt  werden,  nur  dieses 
niemals.  Indes  ist  bei  dieser  Grundlage  vor  allen 
Dingen  anzumerken,  daß  der  Satz:  Ich  zweifle,  ich 
denke,  also  hin  ich,  kein  Schluß  ist^  zu  dem  der  Ober- 
satz fehlt  Denn  wäre  er  dies,  so  müßten  seine  Vorder- 
sätze klarer  und  bekannter  sein  als  der  Schluß  auf  das: 
Ich  hin,  und  deshalb  wäre  dieses  Ich  hin  nicht  die 
erste  Grundlage  aller  Erkenntnis.   Auch  wäre  es  kein 

80  gewisser  Schluß,  da  seine  Wahrheit  von  den  voraus- 
gehenden Allgemeinbegriffen  abhinge,  die  der  V^- 
fasser  bereits  in  Zweifel  gezogen  lätte.  Deshalb  ist 
dies:  Ich  denke,  also  hin  ich,  ein  einziger  Satz  (unica 
propositio),  der  mit  dem  anderen:  Ich  hin  denkend,  gleich- 
bedeutend ist 

Man  muß  f em^,  um  spätren  Verwirrungen  vor- 
zubeugen, wissen  (denn  die  Sache  muß  klar  und  deut- 
lich eingesehen  werden),  was  wir  sind.  Ist  dies  klar 
und  deutlich  erkannt,  so  werden  wir  unser  Dasein  nicht 

40  mehr  mit  anderem  vermengen.  Um  also  dies  aus  dem 
Vorgehenden  abzuleiten,  fUirt  unser  Verfasser  fol- 
gendermaßen fort: 


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Kinleitawg,  15 

Alles»  was  er  früher  über  sich  gedacht  ha^  raft 
er  sich  ins  Gedächtnis  zurück;  z.  B.,  daß  seine  Seele 
etwas  Feines  sei,  was  wie  ein  Wind  oder  Feuer  oder 
Äther  in  seinen  gröberen  Körperteilen  verbreitet  sei; 
nnd  daß  sein  Körper  ihm  bekannter  sei  als  seine 
Seele^  und  jener  deutlicher  und  klarer  aufgefaßt  werde. 
Er  braierkt  nun,  daß  dies  alles  offenbar  dem  wider- 
spricht, was  er  hier  erkannt  hatte;  denn  über  seinen 
Körper  konnte  er  Zweifel  haben,  aber  nicht  über  sein 
Wesen,  sofern  er  dachte.  Dazu  kam,  daß  er  jenes  10 
weder  klar  noch  deutlich  erfaßte  und  deshalb  nach  der 
Vorschrift  seiner  Methode  als  falsch  verwerfen  mußte. 
Da  mithin  dergleichen,  soweit  er  sich  selbst  bis  jetzt  er- 
kannt hatte^  nicht  zu  ihm  gehören  konnte,  so  fuhr 
er  fort,  zu  erforschen,  was  eigentlich  so  zu  seinem 
Wesen  gehöre,  daß  er  es  nicht  in  Zweifel  zu  ziehen  ver* 
möchte,  und  woraus  er  deshalb  sein  Dasein  zu  folgern 
genötigt  seL  Dazu  gehört  nun:  ,tda8$  er  «us%  ffegm 
TämBdmng  schütsen  gewoüt;  daß  er  gewümcht,  vides  xu 
ventdken;  daß  er  an  aüem^  was  er  nicht  ru  verstehen  ver-  SN) 
moeki,  getweifdt;  daß  er  bi$  hierher  nur  Eines  h^aht; 
daß  er  aüee  andere  gdengnet  und  ait  faitch  beiseite  ge- 
worfen; daß  er  sieh  vides,  auch  wider  seinen  Wiüen,  in 
der  EinbUÄmg  vorgesteOt,  und  daß  er  endtidi  vieles  so 
aufgefaßt  hat,  als  komme  es  von  den  Sinnen"  Da  er 
nun  aus  diesem  allen  sein  Dasein  ebenso  überzeugend 
folgern  und  nichts  davon  zu  dem  Bezweifelten  ^hlen 
könne,  und  da  endlich  dies  alles  unter  einem  und 
demselben  Attribut  befaßt  werden  könne,  so  folge, 
daß  dies  alles  wahr  sei  und  zu  seiner  Nator  gehöre.  80 
Indem  er  also  gesagt  hatte:  I<^  denke,  waren  damit 
alle  diese  Zustände,  nämlich  das  Zweifeln,  das  Ein- 
*  sehen,  das  Behaupten  und  Vemeinin,  das  WoUen,  das 
Nid^t-Woüen,  das  Einbilden  und  das  Wahrnehmen  als 
Arten  des  Denkens  begriffen.  ^) 

bisbesondere  ist  hier  etwas  zu  bemerken,  was 
für  das  Folgende^  wo  von  dem  Unterschied  zwischen 
Körper  und  Geist  gehandelt  werden  soll,  sich  als  sehr 
nütdich  erweisen  wird,  nämlich:  1.  daß  diese  Arten 
des  Denkens  ohne  das  übrige,  was  noch  bezweifelt  40 
wird,  klar  und  deutlich  erkannt  werden  können;  2.  daß 
der  klare  und  deutliche  Begriff,  den  wir  davon  haben, 


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16  PriDzipien.    Enter  Teil. 

dunkel  und  verworren  wird,  wenn  man  dieeen  Zu- 
standen etwas  von  dem,  was  noch  bezweifelt  wird» 
zusetzen  will. 

Die  Befreiung  van  allen  Zweifeln.  Um  nun  Über  das 
alles,  was  er  in  Zweifel  gezogen  hatte,  Gewißheit  zu 
erlangen  und  allen  Zweifel  zu  beseitigen,  fahrt  er 
fort,  die  Natur  des  vollkommensten  Wesens  zu  unter- 
suchen, und  zu  forschen,  ob  es  ein  solches  gibt  Denn 
sollte  es  gelingen,  festzustellen,  daß  dieses  voUkom- 

10  menste  Wesen  existiert,  durch  dessen  Kraft  alles  her- 
vorgebracht und  erhalten  wird,  und  daß  es  dessen  Natur 
widerspricht,  zu  betrügen,  dann  wird  jener  Zweifels- 
grund beseitigt,  der  daher  kam,  daß  der  Verfasser 
seine  eigene  Ursache  nicht  kannte.  Dann  wird  er 
nämlich  wissen,  daß  das  Vermögen,  Wahres  vom 
Falschen  zu  unterscheiden,  ihm  von  dem  allgütigen 
und  wahrhaften  Gotte  nicht,  um  ihn  zu  tauschen,  ge- 
geben worden,  und  so  können  dann  die  mathematischen 
Wahrheiten  und  alles,  waa  ihm  ganz  evident  erscheint» 

02  nicht  mehr  verdächtig  sein.  Er  geht  dann  weiter, 
um  auch  die  übrigen  Ursachen  des  Zweifels  zu  be- 
seitigen, und  untersucht^  woher  es  denn  kommt,  daß 
wir  bisweilen  irren.  Sobald  er  nun  fand,  daß  dies  daher 
kommt,  daß  wir  unsern  frmen  Willen  gebrauchen, 
um  auch  dem  beizustimmen,  was  wir  nur  verworren 
erfaßt  haben,  konnte  er  ohne  weiteres  schließen,  daß 
er  in  Zukunft  vor  dem  Irrtume  sich  schützen  könne, 
wenn  er  nur  dem  klar  und  deutlich  Erkannten  zu- 
stimme.  Jeder  kann  dies  leicht  erreichen,  weil  er  die 

80  Macht  hat,  seinen  Willen  zurückzuhalten  und  so  zu 
bewirken,  daß  er  innerhalb  der  dem  Verstände  ge- 
zogenen Grenzen  bleibi^^)  Allein  da  man  in  der 
Jugend  viele  Vorurteile  angenommen  hat,  von  denen 
man  sich  nicht  so  leicht  b^eit,  so  fährt  er  fort,  um 
sich  davon  zu  befreien  und  nur  dem,  was  er  klar 
ui^  deutlich  erfaßt,  beizustimmen,  die  einfachen  Be- 
griffe und  Ideen,  aus  denen  alle  unsere  Gedanken 
sich  zusammensetzen,  aufzuzählen  und  einzeln  zu 
prüfen,   um  zu  sehen,   was  in  ihnen  klar  und  was 

40  dunkel  ist.  Auf  diese  Weise  wird  er  leicht  das  Klare 
vom  Dunkeln  unterscheiden  und  klare  und  deutliche 
Gedanken  bilden  und  damit  leicht  den  wirklichou  Unter- 


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Einleitang.  17 

schied  zwischen  Seele  und  Körper  finden  können; 
ebenso  das,  was  in  dem  von  den  Sinnen  Empfangenen 
k]ar  nnd  was  dunkel  ist,  und  wie  endlich  sich  der 
Traum  vom  Wachen  unterscheidet  Nachdem  dies  ge- 
schehen, konnte  er  nicht  mehr  an  seinem  Wachen 
zweifeln  und  von  seinen  Sinnen  nicht  weiter  getauscht 
werden,  und  so  befreite  er  sich  von  allen  oben  an- 
geführten Zweifeln. 

Indes  muß,  ehe  ich  hiermit  schließe^  nioch  denen 
genügt  werden,  die  folgendermaßen  schließen:  Da  10 
das  Dasein  Grottes  uns  nicht  durch  sich  selbst  be- 
kamit  ist,  so  scheint  es,  daß  wir  über  keine  Sache 
]e  Gewißheit  erlangen  können;  daß  aber  Grott  existiert^ 
wird  sich  von  uns  niemals  nachweisen  lassen,  da  aus 
ungewissen  Vordersätzen  (da  wir  ja  alles  für  zweifel- 
haft erklärt,  solange  wir  unseren  eigenen  Ursprung 
nicht  kennen)  nichts  Gewisses  gefolgert  werden  kann. 

Um  diese  Schwierigkeit  zu  beseitigen,  antwortet 
Descartes  in  folgender  Weise:  Wir  können  deshalb, 
weil  uns  noch  unbekannt  ist,  ob  der  Urheber  unseres  20 
Daseins  uns  nicht  vielleicht  so  geschaffen  hat^  daß 
wir  getauscht  werden,  keineswegs  in  den  Dingen,  die 
nns  als  das  Gewisseste  erscheinen,  in  Bezug  auf 
das  zweifeln,  was  wir  klar  und  deutlich  an  sich  oder 
durch  Beweise,  solange  wir  auf  diese  achthaben,  er- 
kennen; vielmehr  können  wir  nur  an  dem  zweifeln, 
was  wir  früher  als  wahr  bewiesen  haben,  und  was 
wieder  in  das  Gedächtnis  eintreten  kann,  ohne  daß 
wir  nochmals  auf  die  Gründe  achten,  aus  denen  es 
abgeleitet  worden,  die  wir  also  vergessen  haben.  Ob-  80 
gleich  also  Gottes  Dasein  nicht  durch  sich,  sondern 
nur  durch  andres  bekannt  werden  kann,  so  kann 
man  doch  zu  der  sicheren  Oberzeugung  von  dem  Dar 
sein  Grottes  gelangen,  wenn  man  nur  auf  alle  Vorder- 
sätze, aus  denen  man  es  gefolgert  hat^  ganz  genau 
achthat.  Man  vgl.  T.  1  dar  Prinzipien  und  die  Ant- 
^oori  auf  die  gweiten  Einwürfe  Nr,  3  und  das  Ende  der 
fünften  Meditation. 

Da  indes  diese  Antwort  manchen  nicht  genügt^ 
so  will  ich  noch  eine  andere  geben.  ^)  Wir  haben  im  40 
Obigen  gesehen,  wo  von  der  Gewißheit  und  Bvidenz 
unseres  Daseins  gesprochen  worden,  daß  wir  diese 

Spinoift,  Trlnsipien  Ton  DMOArte«.  2 

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18  Prinzipien.    Enter  Teil. 

daraufi  gefolgert  haben,  daß,  wohin  wir  auch  die 
Schärfe  unseres  Verstandes  wandten,  wir  keinem 
Zweifelsgrund  begegneten,  der  nicht  gerade  da- 
durch uns  von  diesem  Dasein  überzeugte,  mochten 
wir  dabei  nur  auf  unsere  eigene  Natur  achthaben,  oder 
annehmen,  der  Urheber  unserer  Natur  sei  ein  listiger 
Betrüger,  oder  mochten  wir  schließlich  irgend  einen 
anderen  außer  uns  gelegenen  Zweifelsgrund  herbei- 
2dehen;  ein  Fall,  dem  wir  :noch  bei  keinem  anderen 

10  Gegenstand  bisher  begegnet  waren.  Denn  man  wird 
allerdings,  wenn  man  auf  die  Natur  des  Dreiecks 
achtet,  zu  dem  Schlusse  genötigt,  daß  seine  drei 
Winkel  gleich  zwei  rechten  sind,  allein  man  kann 
doch  diesen  Schluß  nicht  daraus  ableiten,  daß  man 
von  dem  Urheber  uns^er  Natur  vielleicht  getäuscht 
wird,  wenngleich  wir  daraus  unser  eigenes  Dasein 
mit  höchster  Gewißheit  gefolgert  haben.  Deshalb  wird 
man,  wohin  man  auch  die  Schärfe  seines  Verstandes 
wendet,  keineswegs  zu  dem  Schluß  genötigt^  daß  drei 

20  Winkel  des  Dreiecks  gleich  zwei  rechten  seien;  sondo-n 
man  findet  vielmehr  einen  Anlaß  zum  Zweifel,  weil 
man  keine  solche  Idee  von  Gott  hat,  die  einen  solchen 
Einfluß  hat,  daß  es  unmöglich  ist,  Gott  für  einen  Be- 
trüger zu  halten.  Denn  demjenigen,  welchem  die  wahre 
Idee  Gottes  mangelt»  wie  wir  das  von  uns  selbst 
vorausgesetzt  haben,  ist  es  ebenso  leicht^  zu  denken, 
daß  sein  Urheber  ein  Betrüger  sei,  als  daß  er  es 
nicht  sei;  genau  wie  der,  welcher  keine  Idee  von 
dem  Dreieck  hat,   ebenso  leicht  denken  kann,  daß 

80  dessen  drei  Winkel  zwei  rechten  gleich,  wie  nicht 
gleich  seien.  Ich  gebe  deshalb  zu,  daß  man  von 
keiner  Sache,  unser  Dasein  ausgenommen,  trotz  aller 
Aufmerksamkeit  auf  ihren  Beweis,  unbedingte  Gewiß- 
heit hab^i  könne,  solange  man  keinen  klaren  und 
deutlichen  Begriff  von  Gott  hat,  der  uns  behaupten 
läßt,  daß  Gott  im  höchsten  Grade  wahrhaftig  sei, 
so  wie  die  Idee,  die  wir  von  dem  Dreieck  haben, 
uns  zu  folgern  zwingt,  daß  dessen  drei  Winkel  gleich 
zwei  rechten  seien.  Allein  ich  bestreite,  daß  man  des- 

40  halb  zur  Erkenntnis  keines  einigen  Gegenstandes  ge- 
langen könne.  Denn  wie  sich  aus  all  dem  Gesagten 
ergibt^  liegt  der  Angelpunkt  der  ganzen  Sache  darin, 

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EinleitiiDg.  19 

dafi  wir  uns  einen  derartigen  Begriff  von  Gott  za  bil- 
den vermögen,  der  uns  so  bestimm^  daß  es  uns  nicht 
gleich  leicht  ist,  zu  denken,  er  sei  ein  Betrüger»  als  er 
sei  86  nicht;  sondern  der  uns  zwingt  zu  behaupten,  Gott 
sei  im  höchsten  Grade  wahrhaftig.  Sobald  wir  näm- 
Uch  eine  solche  Idee  gebildet  haben,  wird  jener  Grund 
zur  Bezweiflung  der  mathematischen  Wahrheiten  weg- 
fallen. Denn  mögen  wir  alsdann  die  Scharfe  unseres 
Verstandes  richten,  wohin  wir  wollen,  um  auf  einen 
Grand,  an  ihnen  zu  zweifeln,  zu  stoßen,  so  werden  10 
wir  dennoch  nichts  finden,  woraus  wir  nichts  ebenso 
wie  das  hei  unseren  Dasein  der  Fall  gewesen,  folgern 
mußten,  daß  ihre  Wahrheit  durchaus  gewiß  sei.  Wenn 
wir  z.  B.,  nachdem  die  Idee  Gottes  einmal  gefunden, 
auf  die  Natur  dea  Dreiecks  achten,  so  wird  uns  dessen 
Idee  zu  der  Behauptung  zwingen,  daß  seine  drei 
Winkel  gleich  zwei  rechten  seien;  und  wenn  wir  auf 
die  Idee  Gottes  achten,  so  wird  uns  diese  zu  der 
Behauptung  zwingen,  daß  er  höchst  wahrhaftig  und 
der  Urheber  unserer  Natur  und  ihr  immerwährender  20 
Erhalter  sei,  und  daß  er  deshalb  uns  m  Bezug  auf 
]ene  Idee  nicht  täusche.  Ebensowenig  werden  wir, 
wenn  wir  auf  die  Idee  Gottes  achthaben  (deren  ge- 
schehene Auffindung  hier  vorausgesetzt  ist),  denken 
können,  daß  er  ein  Betrüger  sei,  als  wir  bei  der 
Idee  des  Dreiecks  denken  können,  daß  dessen  drei 
Winkel  nicht  gleich  zwei  rechten  seien.  Und,  so 
wie  wir  eine  solche  Idee  des  Dreiecks  bilden  können, 
obgleich  wir  nicht  wissen,  ob  der  Urheber  unserer 
Natur  uns  täuscht,  so,  können  wir  auch  die  Idee  Gottes  dO 
uns  deutlich  machen  und  vor  Augen  steilen,  wenn 
wir  auch  noch  zweifeln,  ob  nicht  der  Urheber  unserer 
Natur  uns  in  allem  tauscht.  Und  wenn  wir  nur  diese 
Idee  haben,  gleichviel  auf  welche  Weise  wir  sie  et- 
langt  haben,  so  wird  sie,  wie  gezeigt,  genügen,  um 
alle  Zweifel  zu  beseitigen.  Nach  diesen  Vorbemer- 
kungen antworte  ich  auf  das  vorgebrachte  Bedenken: 
daß  wir  allerdings  über  nichts  gewiH  sein  können,  aber 
nicht,  solange  das  Dasein  Gottes  uns  unbekannt  ist 
(denn  davon  ist  jetzt  nicht  die  Rede),  sondern  solange  40 
wir  keiue  klare  und  deutliche  Idee  von  ihm  haben. 
Will  also  l^nand  mir  entgegentreten,  so  muß  sein 

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20  Prinzipien.    EreW  Teil. 

Beweis  folgender  sein:  Wir  können  über  nichts  Ge- 
wißheit haben,  ehe  wir  nicht  die  klare  und  deut- 
liche Idee  Gottes  besitzen;  allein  eine  solche  können 
wir  nicht  besitzen,  solange  wir  nicht  wissen,  ob  der 
Urheber  unserer  Natur  uns  nicht  täuscht;  folglich 
können  wir  über  nichts  Gewißheit  habeUi  solange  wir 
nicht  wissen,  ob  uns  der  Urheber  unserer  Natur  nicht 
täuscht  u.  8.  w.  Hierauf  antworte  ich  mit  Einräu- 
mung des  Obersatzes  und  mit  Bestreitung  des  Unter- 
10  Satzes;  denn  wir  haben  eine  klare  und  deutliche  Idee 
des  Dreiecks,  wenngleich  wir  nicht  wissen,  ob  der 
Urheber  unserer  Natur  uns  nicht  vielleicht  täuscht, 
und  wenn  wir  nun  eine  solche  Idee  auch  von  Gott 
haben,  wie  oben  ausführlich  gezeigt,  so  werden  wir 
weder  wegen  seines  Daseins  noch  wegen  irgend  einer 
mathematischen  Wahrheit  mehr  in  Zweifel  sein 
können. 

Dies  vorausgeschickt**),  gehe  ich  nun  an  die 
Sache  selbst 

^  Definitionen. 

I.  Hit  dem  Worte  Detiken  befasse  ich  alles 
das,  was  so  in  uns  ist,  daß  wir  uns  seiner  un- 
mittelbar bewußt  werden.  *<^) 

Deshalb  sind  alle  Tätigkeiten  des  Willens,  des 
Verstandes,  der  Einbildungskraft  und  der  Sinne  ein 
Denken.  Ich  habe  aber  zugesetzt:  unmittelbar,  um 
das  auszuschließen,  was  daraus  erst  folgt;  so  hat 
eine  freiwillige  Bewegung  zwar  im  Denken  ihren  Ur- 
sprung, ist  aber  trotzdem  nicht  selbst  ein  Denken. 
80  II.  Unter  einer  Idee  verstehe  ich  die  Form 
irgend  eines  Gedankens,  durch  4&r&n  unmit- 
telbares Erfassen  ich  desselben  Gedankensmir 
bewußt  bin. 

Ich  kann  deshalb  nichts  mit  Worten  ausdrücken, 
vorausgesetzt,  daß  ich  das,  was  ich  spreche,  verstehe, 
ohne  daß  dadurch  schon  gewiß  ist,  daß  in  mir  eine 
Idee  von  dem  vorhanden  ist,  was  durch  jene  Worte 
bezeichnet  wird.  Deshalb  nenne  ich  nicht  nur  die 
in  der  Einbildungskraft  abgemalten  Bildw  Ideen;  ja, 
40  ich  nenne  sie  selbst  Jceineswegs  Ideen,  sofern  sie  in 

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Definitioneiu  21 

der  körperlichen  Einbildung,  d.  h.  in  irgend  einem 
Teile  des  Gehin»  abgebildet  sind,  sondern  nur  in- 
soweit, als  sie  die  auf  diesen  Teil  des  Gehirns  ge- 
richtete Seele  unterrichten. 

ni.  Unter  objektiver  Bealiläi  einer  Idee  verstehe 
ich  das  Wesen  (entitas)  der  durch  die  Idee 
vorgestellten  Sache,  soweit  dies  Wesen  in 
der  Idee  ist.") 

Ebenso   kann   man  von  objektiver  Vollkommen- 
heit oder  von  einem  objektiven  Kunstwerk  u.  s.  w.  10 
sprechen.    Denn  alles,  was  man  als  in  den  Objekten 
der   Ideen   enthalten  auffaßt,   das  ist  in  den  Ideen 
selbst  objektiv. 

IV.  Von  eben  demselben  sagt  man,  daß  es 
formal  in  den  Gegenständen  der  Ideen  sich  be- 
findet, wenn  es  derart  darin  ist,  wie  man  es 
erfaßt;  und  man  sagt,  daß  es  in  eminenter  Weise 
in  den  Gegenständen  ist,  wenn  es  zwar  nicht 
derart  darin  ist,  aber  doch  in  einer  Größe, 
daß  es  die  Stelle  von  jenem  vertreten  kann.  20 

Wenn  ich  sage,  die  Ursache  enthalte  die  Voll- 
kommenheiten ihrer  Wirkung  in  eminenter  Weise,  so 
will  ich  damit  andeuten,  daß  die  Ursache  die  Voll- 
kommenheiten der  Wirkung  in  höherem  Grade  als  die 
Wirkung   selbst   enthält.    Vgl.  auch  Grundsatz  8.  *«) 

V.  Jedes  Ding,  dem  unmittelbar,  als  einem 
Subjekt,  etwas  innewohnt,  oder  durch  das 
etwas  existiert,  was  man  vorstellt,  d.  h.  eine 
Eigenschaft  oder  eine  Beschaffenheit  oder 
ein  Attribut,  dessen  wirkliche  Idee  in  uns  ist,  30 
heißt  8vhstanzA9) 

Denn  von  der  Substanz  haben  wir,  genau  ge- 
nommen, keine  andere  Idee,  als  .daß  sie  ein  Ding 
ist,  worin  formal  oder  eminent  jenes  Etwas  besteht, 
was  wir  auffassen,  oder  was  gegenständlich  in  einer 
unserer  Ideen  ist. 

VI.  Die  Substanz,  der  unmittelbar  das  Den- 
ken innewohnt,  heißt  Geist. 

Ich  sage  hier  lieber  Geist  (mens)  als  Seele  {an%fna\ 
weil  letzteres  V7ort  zweideutig  ist  und  oft  eine  körper-  40 
liehe  Sache  bezeichnet 


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23  Prinzipien.    Enter  TeiL 

VII.  Die  Substanz,  welche  das  unmittelbare 
Subjekt  der  Ausdehnung  und  der  Accidenzen 
ist,  welche  die  Ausdehnung  voraussetzen,  wie 
die  Gestalt,  die  Lage,  die  Ortsbewegung  u.  s.  w., 
nenne  ich  Körper. 

Ob  das  nun  ein  und  dieselbe  Substanz  ist,  die 
Geist  und  die  Körper  heißt,  oder  aber  zwei  ver- 
schiedene  Substanzen,   soll   später  ermittelt  werden. 

VIII.  Die  Substanz,  von  der  wir  einsehen, 
10  daD  sie  höchst  vollkommen  ist,  und  unter  der 

wir  nichts  vorstellen,  was  einen  Mangel  oder 
eine  Schranke  der  Vollkommenheit  enthält, 
heißt  Gott. 

IX.  Wenn  ich  sage,  daß  etwas  in  der  Natur 
oder  im  Begriffe  eines  Dinges  enthalten  sei, 
so  ist  das  dasselbe,  wie  wenn  ich  sage,  dies 
sei  von  dem  Dinge  wahr  oder  könne  wahrhaft 
von  ihm  ausgesagt  werden. 

X.  Zwei  Substanzen  werden  als  wirklich 
20  verschieden  bezeichnet,  wenn  jede  derselben 

ohne  die  andere  existieren  kann.^^) 

Die  Postulate'O  ^^^  Descartes  habe  ich  wegge- 
lassen, weil  daraus  im  Folgenden  nichts  abgeleitet 
wird,  doch  bitte  ich  den  Leser  ernstlich,  sie  durch- 
zulesen und  aufmerksam  zu  erwägen. 

Grundsätze. 

I.   Zur  Erkenntnis    und  Gewißheit    einer    unbe- 
kannten Sache  gelangt  man  nur  durch  die  Erkenntnis 
und  Gewißheit  einer  anderen,  die  an  Gewißheit  und 
80  Erkenntnis  jener  vorangeht 

IL  Es  gibt  Gründe,  die  uns  an  dem  Dasein 
unseres  Körpers  zweifeln  lassen. 

Es  ist  dies  in  der  Erläuterung  darfi^elegt;  deshalb 
wird   es   hier  als  Grundsatz  aufgestellt. 

III.  Wenn  sich  uns  etwas  anderes  als  der  Greist 
und  der  Körper  darbietet^  so  ist  dies  uns  jedenfalls 
weniger  bekamt  als  der  Geist  und  der  Körper. 

Diese  Grundsätze  behaupten  nichts  von  Dingen 

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Lehnats  I,  n,  III.  38 

außerhalb  onserer  selbet»  sondern  beziehen  sich  nur 
auf  das,  das  wir  in  uns,  sofern  wir  ein  denkendes 
Wesen  sind,  antreffen. 

Lehrsati  L 

Whr  können  Über  nichts  unbedingt  gewiß  sein,  solange 
wir  fUeht  wissen,  ob  wkr  existieren.  **) 

Beweis.  Dieser  Lehrsatz  ist  selbstverständlich; 
denn  wer  unbedingt  nicht  weiß,  ob  er  ist,  weiß  auch 
nicht,  ob  «r  ein  solcher  ist,  der  bejaht  oder  ver- 
neinl^  d.  h.  ob  er  mit  Gewißheit  bejaht  oder  verneint  10 

Allerdings  behauptet  and  beetreitet  man  vieles 
mit  großer  Gewißheit»  ohne  dabei  darauf,  ob  man 
existiert,  achtzuhaben;  allein  wenn  dies  dabei  nicht 
als  unzweifelhaft  vorausgesetzt  würde,  so  würde  alles 
in  Zweifel  gezogen  werden  können. 

Lehrsatz  II. 

Das  Ich  hin  muß  dureh  sieh  sdbst  bekannt  sein. 

Beweis.  Wenn  -man  dies  bestreitet»  so  konnte 
es  uns  nur  durch  ein  anderes  bekannt  werden,  dessen 
Erkenntnis  und  Gewißheit  (nach  Gr.  1)  dann  diesem  20 
Ausspruche:  Ich  bin,  in  uns  vorhergehen  müßte. 
Allein  das  ist  (nach  dem  Vorstehenden)  widersinnig; 
deshalb  muß  dieser  Ausspruch  durch  sich  selbst  be- 
kannt sein.    W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  III. 

Der  Satz:  fJLehf  als  ein  aus  einem  Körper  bestehendes 
Ding,  bin^,  ist  nicht  das  Erste  und  nicht  durch  sich  selbst 
bekannt.^ 

Beweis.  Manches  läßt  uns  an  dem  Dasein  unseres 
Korpers  zweifeln  (nach  Gr.  2);  deshalb  können  wir  80 
hierüber  nur  Gewißheit  erlangen  (nach  Gr.  1)  durch 
die  Erkenntnis  und  Gewißheit  eines  anderen  Dinges, 
die  jener  an  Erkenntnis  und  Gewißheit  vorhergeht. 
Folglich  ist  der  Ausspruch:  „Ich,  als  ein  aus  einem 
Körper  bestehendes  Ding,  bin'',  nicht  das  Erste  und 
nicht   durch  sich  selbst  bekannt.    W.  z.  b.  w. 


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S4  Prinzipiell.    Enter  Teil. 

Lehrsatz  IT. 

Der  Satz:  ff  Ich  bin**f  kann  nur  insofern  ein  zt^erst 
ErJcannteB  sein,  als  vnr  denken. 

Beweis.  Der  Aussprach:  Ich  bin  ein  körperliches 
Ding  oder  bestehe  aus  einem  Körper,  kann  nicht 
ein  zuerst  Erkanntes  sein  (nach  Liehrs.  3),  auch  bin 
ich  meines  Daseins,  soweit  ich  aus  etwas  anderem, 
als  aus  Geist  und  Körper  bestehe,  nicht  gewiß.  Denn 
sofern  wir  aus  etwaa^  anderem,  von  dem  Geist  und  dem 
10  Körper  Verschiedenen  bestehen,  ist  uns  dies  weniger 
als  der  Körper  bekannt  (nach  Gr.  8);  deshalb  ksmn 
der  Ausspruch:  Ich  bin,  nur  sofern  wir  denken,  ein 
zuerst  Erkanntes  sein.   W.  z.  b.  w. 

Zusatz.  Hieraus  erhellt,  daß  der  Geist  oder  das 
denkende  Wesen  bekannter  ist  als  der  Körper.*^) 

Indessen  lese  num  zur  weiteren  VerdeidUehung  §11 
und  12  von  T,  I  der  Prinzipien  noßh, 

ErlinteniBf. 

Jedermann  erfaßt  auf  das  gewisseste,  daß  er 
20  bejaht,  verneint,  zweifelt,  einsieht^  etwas  in  der 
Einbildung  hat  u.  s.  w.,  oder  daß  er  als  ein  Zwei- 
felnder, Einsehender,  Bejsüiender  u.  s.  w.  existiert, 
oder  mit  einem  Worte,  als  ein  Denkender,  und  er 
kann  dies  nicht  in  Zweifel  ziehen.  Deshalb  ist 
dieser  Ausspruch:  Ich  denke,  oder:  Ich  bin  ein  Den- 
kender, die  einzige  und  gewisseste  Grundlage  der 
Philosophie  (nach  Lehrs.  1).  Und  da  in  den  Wissen- 
schaften, um  über  die  Dinge  volle  Gewißheit  zu  er- 
langen, nichts  weiter  gesucht  und  verlangt  werden 
dO  kann,  als  daß  alles  aus  den  zuverlässigsten  Prin- 
zipien abgeleitet  und  ebenso  klar  und  deutlich  wie 
die  Prinzipien,  aus  denen  es  abgeleitet  worden,  er- 
kannt wird,  so  folgt  klar,  daß  alles,  was  für  uns 
ebenso  gewiß  (evidens)  ist,  und  was  wir  ebenso  klar 
und  deutlich  wie  unser  Prinzip  erfassen,  und  alles,  was 
mit  diesem  Prinzip  so  übereinstimmt  und  derart  davon 
abhängt,  daß,  wenn  man  daran  zweifeln  wollte,  man 
auch  das  Prinzip  selbst  bezweifeln  müßte,  für  das 
allerwahrste  gelten  muß.  Um  indes  bei  dieser  Auf- 
40  Zählung  mit  aller  Vorsicht  vorzugehen,  will  ich  an- 


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Eriäutening  ni  LehnaU  I— IV.  96 

f&ngß  nur  das  für  gleich  gewiß  und  für  ebenso  klar 
and  deutlich  von  uns  erfaßt  annehmen,  was  jedermann 
in  sich,  sofern  er  ^  Denkender  ist,  bcHnerkt;  wie  z.  B., 
daß  er  dies  oder  jenes  will,  daß  er  gewisse  Ideen 
solcherart  hat,  daß  die  eine  Idee  mehr  Realität 
und  Vollkommenheit  in  sieh  enthält  als  die  andere; 
daß  also  die  Idee,  welche  das  Sein  und  die  Voll- 
kommenheit der  Substanz  objektiv  enthält,  weit  voll- 
kommener ist  als  die,  welche  nur  die  objektive  Voll- 
kommenheit irgend  eines  Accidenz  enthält^  und  daß  10 
endlich  die  Idee  die  vollkommenste  von  allen  ist» 
welche  die  eines  höchst  vollkommenen  Wesens  ist 
Dies,  sage  ich,  erfassen  wir  nicht  allein  gleich  gewiß 
und  gleich  klar,  sondern  vielleicht  noch  deutlicher; 
denn  wir  behaupten  dann  nicht  bloß»  daß  wir  denken, 
sondern  auch  wie  wir  denken.  Ferner  sage  ich,  daß 
auch  dasjenige  mit  diesem  Prinzip  übereinstimmt^  was 
nicht  bezweifelt  werden  kann,  ohne  zugleich  diese 
unsere  unerschütterliche  Grundlage  mit  in  den  Zweifel 
hineinzuziehen.  So  könnte^  wenn  z,  B.  jemand  den  ao 
Satz  bezweifeln  wollte,  daß  aus  nichts  niemals  etwas 
werden  könne,  er  zugleich  bezweifeln,  ob  wir  sind, 
solange  wir  denken.  Dran  wenn  ich  von  dem  Nichts 
etwas  behaupten  kann,  nämlich  daß  es  die  Ursache 
eines  Dinges  sein  könne,  so  werde  ich  auch  mit  dem- 
selben Bechte  mir  eine  bestimmte  Vorstellung  (cogitatio) 
von  dem  Nichts  machen  und  sagen  können,  daß  ich 
nichts  bin,  solange  ich  denke.  Da  mir  dies  aber  un- 
möglich ist,  so  ^nn  ich  auch  nicht  denken,  daß  aus 
nichts  etwas  werde.  In  Anbetracht  dessen  habe  ich  be-  80 
schlössen,  das,  was  uns  gegenwärtig,  um  weiter  fort- 
fahren zu  können,  nötig  erscheint,  hier  der  Reihe 
nach  vor  Augen  zu  stellen  und  zu  den  bereits  ange- 
führten Grundsätzen  hinzuzufügen;  zumal  sie  von  Des- 
cartes  am  Ende  seiner  Antwort  auf  die  zweiten  Ein- 
würfe wie  Grundsätze  hingestellt  worden  sind  und 
ich  nicht  genauer  wie  er  selbst  sein  mag.  Um  indes 
von  der  begonnenen  Ordnung  nicht  abzuweichen,  will 
ich  versuchen^  sie  möglichst  klar  zu  machen  und  zu 
zeigen,  wie  eines  von  dem  anderen  und  wie  sie  alle  40 
von  dem  Prinzip:  ,j€h  bin  denkend**  abhängen  oder  mit 
diesem  in  Gewißheit  und  Begründung  übereinstimmen. 


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96  PrinzipiBii.    Enter  TeiL 

Die  Ton  Descartes  übernommenen  OrandBätze- 

Or .  4.  Es  gibt  verschiedene  Grade  der  Realität  oder 
des  Seins;  denn  die  Substanz  hat  mehr  Realität  als 
das  Accidenz  und  der  Zustand  (modus);  ebenso  die 
unendliche  Substanz  mehr  als  die  endliche.  Deshalb 
ist  auch  in  der  Idee  der  Substanz  mehr  objektive 
Realität  als  in  der  des  Accidenz,  und  in  der  Idee  einer 
unendlichen  Substanz  mehr  als  in  der  einer  endlichen 
Substanz.  ^6) 
10  Dieser  Grundsatz  ergibt  sich  aus  der  bloßen  Be- 
trachtung unserer  Ideen,  über  deren  Dasein  wir  Ge- 
wißheit haben,  weil  sie  nur  Zustände  des  Denkens  sind; 
denn  wir  wissen,  wie  viel  Realität  oder  Vollkommenheit 
die  Idee  der  Substanz  .von  der  Substanz  behauptet^ 
und  wie  viel  dagegen  die  Idee  des  Zustandes  von 
dem  Zustande.  Ist  dies  so,  dann  erkennen  wir  auch 
notwendig,  daß  die  Idee  der  Substanz  mehr  objektive 
Realität  enthält,  als  die  Idee  irgend  eines  Accidenz» 
u.  S.  W.  Vgl.  die  Erläuterung  zu  Lehre.  4. 
20  Or.  5.  Das  denkende  Ding  wird,  wenn  es  gewisse 
Vollkommenheiten  kennen  lernt,  die  ihm  fehlen,  sich 
diese  sofort  geben,  wenn  das  in  seiner  Macht  steht  ^<^) 

Dies  bemerkt  jedermann  in  sich,  soweit  er  ein 
denkendes  Ding  ist;  deshalb  sind  wir  dessen  (nach 
d.  Erl.  zu  Lehrs.  4)  völlig  gewiß,  und  aus  demsdben 
Grunde  sind  wir  auch  des  folgenden  Grundsatzes  nicht 
minder  gewiß,  nämlich: 

Or.  6.    In   der   Idee   oder  dem  Begriffe    jedes 
Dinges  ist  das  mögliche  oder  notwendige  Dasein  ent- 
30  halten  (vgl.  Grunds.   10 '0  hei  Descartes). 

Das  notwendige  Dasein  ist  in  dem  Begriffe  Gottes 
oder  des  vollkommensten  Wesens  enthalten;  denn  sonst 
würde  er  unvollkommen  vorgestellt,  was  gegen  die 
Voraussetzung  geht;  das  zufällige  oder  mögliche  Da^ 
sein  ist  dagegen  in  dem  Begriffe  eines  berchränkten 
Dinges  enthalten. 

Or.  7.   Kein  Ding  und  keine  wirklich  vorhandene 
Vollkommenheit  eines  Dinges  kann  das  Nichts  oder  ein 
nicht-seiendes    Ding    zur    Ursache    seiner    Existenz 
40  haben.  2«) 

In  der  Erl.  zu  Jjehrs.  4  habe  ich  gezeigt,  daß 


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Die  von  Deecaites  übernommonen  Gkiinds&tze.        27 

dieser  Grundsatz  ebenso  klar  ist»  als  der:  ,,lch  hm 
demkendr 

6r.  8.  Alles,  was  an  Realität  oder  Vollkommen- 
heit in  einem  Dinge  ist,  ist  formal  oder  eminent  in 
seiner  ersten  und  zureichenden  (adaequata)  Ursache.  ^) 

Unter  »eminenf  verstehe  ich  den  Fall,  wo  die 
Ursache  alle  Realität  der  Wirkung  vollkommener  in 
sich  enthält^  als  die  Wirkung;  unter  , formal'  den 
Fall»  wo  die  Ursache  die  Realität  gleich  vollkommen 
enthalt  10 

Dieser  Grundsatz  hängt  voq  dem  vorhergehenden 
ab;  denn  wenn  man  annehmen  wollte,  daB  nichts 
oder  weniger  in  der  Ursache  sei,  als  in  der  Wirkung, 
so  wäre  ein  Nichts  in  der  Ursache  die  Ursache  der 
Wirkung.  Das  ist  aber  widersinnig  (nach  dem  vor- 
stehenden Grundsatz),  deshalb  kann  nicht  ]edes  be- 
liebige Ding  die  Ursache  einer  bestimmten  Wirkung 
sein,  sondern  genau  nur  dasjenige,  in  dem  eminent 
oder  zum  mindesten  formal  alle  Vollkommenheit  vor- 
handen ist,  die  in  der  Wirkung  enthalten  ist  20 

Chr.  9.  Die  objektive  Realität  unserer  Ideen  er- 
fordert eine  Ursache,  in  der  ebendieselbe  Realität 
nicht  bloß  objektiv,  sondern  formal  oder  eminent  ent- 
halten ist^) 

Dieser  Grundsatz  wird,  obwohl  man  viel  Mil}- 
brauch  damit  getrieben  hat^  doch  von  allen  anerkannt 
Wenn  nämlich  jemand  etwas  Neues  vorstellt,  so  fragt 
jedermann  nach  der  Ursache  eines  solchen  Begriffs 
oder  einer  solchen  Idee,  und  man  beruhigt  sich  eirsi, 
wenn  man  ^e  angeben  kann,  die  formal  oder  eminent  30 
ebensoviel  Realität  enthält,  als  objektiv  in  jenem 
Begriffe  enthalten  ist  Dieser  Satz  wird  durch  das 
von  Descartes  in  §  17  T.  I  der  Prinzipien  beigebrachte 
Beispiel  einer  Maschine  genügend  erläutert  Auch 
wenn  jemand  fragte  woher  der  Mensch  die  Idee  seines 
Bewußtseins  (cogitatio)  und  seines  Körpers  hat,  so  sieht 
jedermann,  daß  er  sie  aus  sich  selbst  hat»  da  er  selbst 
formal  alles  enthält  was  die  Idee  objektiv  enthält 
Sollte  daher  der  Mensch  eine  Idee  haben,  die  mehr 
objektive  als  er  selbst  formale  Realität  enthält»  so  40 
würden  wir  notwendig,  durch  das  natürliche  Licht 
getrieben,  nach  einer  anderen  Ursache  außerhalb  des 


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28  Prinzipien.    Erster  TeiL 

Henflchen  selbst  snchen,  welche  alle  diese  Realil&t  for- 
mal oder  eminent  in  sich  enthielte.  Auch  hat  niemand 
je  eine  andere  Ursache  außer  dieser  angeben  können, 
die  er  ebenso  klar  und  deutlich  begriffen  hätte.  Was 
femer  die  Wahrheit  dieses  Grundsatzes  betriff^  so  er- 
gibt sie  sich  aus  dem  Vorgehenden.  Denn  es  gibt  (nach 
Gr.  4)  in  den  Ideen  verschiedene  Grade  der  Realität 
oder  des  Seins,  und  deshalb  erfordern  sie  nach  dem 
Grade  ihrer  Vollkommenheit  auch  eine  vollkommenere 

10  Ursache.  (Nach  Gr.  8).  Allein  da  die  Grade  der 
Realität  *),  die  man  in  den  Ideen  bemerkt^  nicht  darin 
sind,  sofern  sie  als  Zustände  des  Denkens  betrachtet 
werden,  sondern  sofern  die  eine  eine  Substanz,  die 
andere  aber  nur  einen  Zustand  der  Substanz  vorstellt^ 
oder  mit  einem  Worte,  sofern  sie  als  Bilder  der  Dinge 
betrachtet  werden,  so  ergibt  sich  klar,  daß  es  für  die 
Ideen  keine  andere  erste  Ursache  geben  kann,  als 
die,  welche  alle,  wie  oben  gezeigt,  durch  ihr  natür- 
liches Licht  klar  und  deutlich  einsehen,  nämlich  die, 

20  in  der  dieselbe  Realität,  welche  die  Ideen  objektiv 
enthalten,  formal  oder  eminent  enthalten  ist  Damit 
man  diese  Folgerung  deutlicher  einsehe,  will  ich  sie 
durch  einige  Beispiele  erläutern.  Wenn  z.  B.  jemand 
zwei  Bücher  (und  zwar  eines  von  einem  ausgezeich- 
neten Philosophen,  das  andere  von  irgend  einem 
SchmLtzer)  mit  derselben  Handschrift  geschrieben  vor 
sich  sieht  und  dabei  nicht  auf  den  Sinn  der  Worte  (d.  h. 
nicht,  soweit  diese  gleichsam  Bilder  sind),  sondern  bloß 
auf  die  Schriftzüge  und  Folge  der  Buchstaben  achtet^ 

30  so  wird  er  zwischen  beiden  keine  Ungleichheit  be- 
merken, die  ihn  nötigt,  nach  verschiedenen  Ursachen  zu 
suchen,  vielmehr  werden  ihm  beide  Bücher  als  aus  der- 
selben Ursache  in  gleicher  Weise  hervorgegangen  gel- 
ten. Gibt  er  aber  auf  den  Sinn  der  Worte  und  der  Rede 
acht,  so  wird  er  einen  großen  Unterschied  zwischen 
ihnen  finden  und  demnach  folgern,  daß  die  erste  Ur- 
sache des  einen  Buches  von  der  ersten  Ursache  des 
zweiten  recht  verschieden  und  die  eine  im  Verhältnis  zu 


*)  Auch  dessen  sind  wir  gewiß,  weil  wir  es  in  uns  ala 
Denkendon  bemerken.  Man  sehe  die  vorhergehende  Er- 
läuterung.   (A.  V.  Sp.) 


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Die  Ton  Descartei  übernommenen  Grunds&tze.        29 

der  anderen  in  Wahrheit  um  soviel  vollkommener  ge- 
wesen sein  mnß,  als  der  Sinn  der  Rede  in  beiden 
Bachern,  oder  als  die  Worte,  sofern  man  sie  gleichsam 
als  Bildeir  betrachtet^  sich  als  voneinander  verschieden 
ergeben.  Ich  spreche  indes  hier  von  der  ersten  Ur- 
sache der  Bücher,  die  es  nämlich  notwendig  geben  mnC^ 
obgleich  ich  zugebe,  ja  voraussetze,  daß  ein  Buch 
von  einem  anderen  abgeschrieben  werden  kann,  wie 
das  ]a  ohne  weiteres  klar  ist  Dasselbe  kann  man  auch 
an  dem  Beispiele  des  Bildnisses,  etwa  eines  Fürsten,  10 
klar  darlegen.  Gibt  man  nur  auf  den  Stoff  des  Bild- 
nisses acht,  so  wird  man  keine  Ungleichheit  mit 
anderen  Bildern  bemerken,  welche  einen  zu  der  Auf- 
suchung verschiedener  Ursachen  notigt,  ja,  man  kann 
sehr  wohl  denken,  daß  dieses  Bildnis  nach  einem  anderen 
gefertigt  ist  und  letzteres  wieder  nach  einem  anderen 
und  so  fort  ohne  Enda  Denn  man  erkennt  zur  Gronüge, 
daß  zu  seiner  Aufzeichnung  keine  andere  Ursache 
erforderlich  ist  Gibt  man  £igegen  auf  das  Bild  als 
Bild  acht,  so  ist  man  sofort  zur  Aufsuchung  der  20 
ersten  Ursache  genötigt,  die  formal  oder  eminent  das 
enthält,  was  jenes  BUd  in  vorstellender  Weise  (rc- 
praeaentative)  enthält  Ich  wüßte  nicht,  was  man  mehr 
zur  Bestätigung  und  Erläuterung  dieses  Grundsatzes 
verlangen  wollte. 

Gr.  10.  Es  bedarf  zur  Erhaltung  eines  Dinges 
keiner  geringeren  Ursache,  als  zur  ersten  Hervor- 
bringung desselben. '0 

Daraus,  daß  wir  jetzt  denken,  folgt  nicht  not- 
wendig, daß  wir  auch  nachher  denken  werden.  Denn  80 
der  B^riff,  den  wir  von  unserem  Denken  haben, 
schließt  nicht  ein  oder  enthält  nicht  das  notwendige 
Basein  des  Denkens;  denn  ich  kann  das  Denken*),  auch 
wenn  ich  annehme,  daß  es  nicht  existiert,  klar  und 
deutlich  vorstellen.  Da  nun  aber  die  Natur  jeder 
Ursache  in  sich  die  Vollkommenheit  ihrer  Wirkung 
enthalten  oder  einschließen  muß  (nach  Gr.  8),  so 
ergibt  sich  klar,  daß  es  etwas  in  uns  oder  außer  uns, 
was  wir  noch  nicht  kennen,  notwendig  geben  muß, 

*)  Dies  erfiLhrt  jeder  an  sich  selbst,  sofera  er  ein 
denkendes  Weeen  ist    (A.  r.  Sp.) 

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30  Prinzipien.    Erster  Teil. 

dessen  Begriff  oder  Natur  auch  das  Dasein  einschließt, 
und  das  die  Ursache  ist,  daß  unser  Denken  angefangen 
hat,  zu  existieren,  und  auch  daß  es  fortfährt»  zu 
existieren.  Denn  wenngleich  unser  Denken  zu 
existieren  angefangen  hat»  so  schließt  doch  seine  Natur 
und  sein  Wesen  sein  notwendiges  Dasein  jetzt  eben- 
sowenig ein,  als  zur  Zeit,  wo  es  noch  nicht  da  war, 
und  es  bedarf  daher  derselben  Kraft  zur  Fortdauer 
seines  Daseins,  deren  es  zu  dem  Beginn  seines  Da- 
10  seins  bedarf.  Was  ich  hier  von  dem  Denken  gesagt 
habe,  gilt  auch  von  jedem  anderen  Gegenstand,  dessen 
Wesen  nicht  sein  notwendiges  Dasein  einschließt. 

Gr.  11.  Kein  Ding  existiert,  von  dem  man  nicht 
fragen  kann,  welches  die  Ursache  (oder  der  Grund) 
seines  Daseins  ist    Man  aehe  Gr.  1  hei  Descartes. 

Da  das  Dasein  etwas  Positives  ist»  so  kann  man 
nicht  sagen,  es  habe  das  Nichts  zur  Ursache  (nach 
Gr.  7),  deshalb  muß  man  irgend  eine  positive  Ursache 
oder  einen  positiven  Grund  für  sein  Dasein  angeben; 
20  sei  das  nun  ein  äußerlicher,  d.  h.  ein  solcher,  der 
außerhalb  des  Dinges  selbst,  oder  ein  innerliche, 
d.  h.  ein  solcher,  der  in  der  Natur  und  der  Definition 
des  daseienden  Dinges  selbst  enthalten  ist 

Die  nun  folgenden  vier  Lehrsätze  sind  aus  Des- 
cartes entlehnt: 

Lehrsati  T. 

Das  Dasein  Ghttes  wird  aus  der  bloßen  Betrachtung 
seiner  Natur  erkannt. 

Beweis.  Es  ist  dasselbe,  wenn  man  sagt,  es  sei 
30  etwas  in  der  Natur  oder  in  dem  Begriffe  eines  Gegen- 
standes enthalten,  wie  wenn  man  sagt»  es  sei  von 
dem  Gegenstande  wahr  (nach  Def.  9).  Nun  ist  aber 
das  notwendige  Dasein  in  dem  Begriffe  Gottes  ent- 
halten (nach  Gr.  6);  deshalb  ist  es  wahr,  wenn  man 
von  Gott  sagt,  es  sei  das  notwendige  Dasein  in 
ihm  enthalten,  oder  er  existiere.**) 

Erliatenmir. 

Aus  diesem  Lehrsatz  ergeben  sich  viele  be- 
deutende Folgerungen;  ja,  davon  allein,  daß  zu  Gottes 

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Lehnatz  V  lud  VL  81 

Natur  das  Dasein  gehört»  oder  daß  der  Begriff  Gottes 
sein  notwendiges  Dasein  ebenso  entiiält,  wie  der  Be- 
griff des  Dreiecks  den  Satz,  daß  seine  drei  Winkel 
zwM  rechten  gleich  sind;  oder  daß  sein  Dasein  ebenso, 
wie  sein  Wesen  eine  ewige  Wahrheit  ist»  hangt  bei- 
nahe die  ganze  Ek'kenntnis  seiner  Attribute  ab,  durch 
die  wir  zur  Liebe  Gottes  oder  zur  höchsten  Seligkeit 
gelltet  werden.  Es  ist  deshalb  sehr  zu  wünschen, 
daß  das  Menschengeschlecht  dies  endlich  mit  uns 
erfasse.  Allerdings  gibt  es  gewisse  Vorurteile*),  die  10 
es  verhindern,  daß  dieser  Satz  ohne  Schwierigkeit  er- 
kannt wird;  wenn  aber  jemand  mit  gutem  Willen 
und  nur  aus  Liebe  zur  Wahrheit  und  seinem  wahren 
Nutzen  die  Sache  prüft  und  das  bei  sich  erwägt, 
was  in  der  fünften  Meditation  und  am  Ende  aer 
Antworten  auf  die  ersten  Einwürfe  gesagt  ist  und 
zugleich  das,  was  ich  in  Kap.  1  T.  II  des  Anhanges 
in  betreff  der  Ewigkeit  darlege,  so  wird  er  unzweifel- 
haft die  Sache  ganz  deutlich  einsehen,  und  niemand 
wird  noch  daran  zweifeln  können,  ob  ep  die  Idee  20 
Gottes  hat  (was  allerdings  die  erste  Grundlage  der 
menschlichen  Seligkeit  ist).  Denn  er  wird  zugleich 
sehen,  daß  die  Idee  Gottes  ganzlich  von  den  Ideen 
der  übrigen  Dinge  verschieden  ist;  sofern  er  nämlich 
erkennt,  daß  Gott  seinem  Wesen  und  seinem  Dasein 
nach  von  den  übrigen  Dingen  schlechthin  (toto  genere) 
verschieden  ist  Es  ist  deshalb  nicht  nötig,  den  Leser 
hiermit  länger  aufzuhalten. 

Lelinatz  Tl. 

Das  Dasein  Gottes  wird  schon  aüein  daraus,  daß  die  80 
Idee  Gottes  in  uns  ist^  a  posteriori  bewiesen. 

Beweis.  Die  objektive  Realität  jeder  unserer 
Ideen  erfordert  eine  Ursache,  in  der  dieselbe  Realität 
nicht  bloß  objektiv,  sondern  formal  oder  eminent 
enthalten  ist  (nach  Gr.  8).  Nun  haben  wir  die  Idee 
Gottes  (nach  Del  2  und  8),  und  die  objektive  Realität 
dieser  Idee  ist  weder  formal  noch  eminent  in  uns 


*)  Vgl.  Art  16  des  I.  Teilt  der  Prinsipien  (A.  v.  8p.) 

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89  Prinzipien.    Erster  Teil. 

enthalten  (nach  Gr.  4)  und  kann  auch  in  keinem 
anderen,  sondern  nur  in  Gott  enthalten  sein  (nach 
Del  8).  Demnach  verlangt  die  Idee  Gottes  in  uns 
Gott  selbst  zu  ihrer  Ursache,  und  deshalb  existiert 
Gott  (nach  Gr.  7). «) 


Erlinterungr. 

Manche  bestreiten,  daß  sie  eine  Idee  von  Gott 
haben,  obgleich  sie  ihn,  wie  sie  selbst  sagen,  ver- 
ehren  und   lieben.    Wenn   man  diesen  Leuten  auch 

10  die  Definition  und  die  Attribute  Gottes  vor  Augen 
halt,  so  wird  man  doch  damit  ebensowenig  etwas 
erreichen,  als  wenn  man  einen  blindgeborenen  Men- 
schen über  die  Unterschiede  der  Farben,  wie  wir  sie 
sehen,  belehren  wollte.  Indes  kann  man  auf  die  Worte 
solcher  Leute  wenig  geben,  sondern  man  möchte  sie 
für  eine  neue  Art  von  Tieren  halten,  die  zwischen 
den  Menschen  und  den  unvernünftigen  Tieren  in  der 
Mitte  stehen.  Denn  ich  frage,  wie  anders  soll  man 
die  Idee  einer  Sache  aufzeigen,  als  durch  Mitteilung 

20  ihrer  Definition  und  Erklärung  ihrer  Attribute?  Da 
dies  hier  in  Bezug  auf  die  Idee  Gottes  geleistet 
wird,  so  brauchen  uns  die  Worte  derer  nicht  bedenklich 
zu  machen,  welche  die  Idee  Gottes  nur  bestreiten, 
weil  sie  sich  in  ihrem  Gehirn  kein  Bild  von  ihm 
machen  können. 

Es  ist  femer  zu  erwähnen,  daß  Descartes  bei 
Heranziehung  des  Grundsatzes  4  zur  Darlegung,  daß  die 
objektive  Realität  der  Idee  Gottes  weder  formal  noch 
eminent  in  uns  enthalten  sei,  voraussetzt,  jeder 
30  wisse,  daß  er  keine  unendliche  Substanz,  d.  h.  weder 
allwissend  noch  allmächtig  u.  s.  w.  sei.  Das  kann  er 
voraussetzen,  da  jeder,  welcher  weiß,  daß  er  denkt, 
auch  weiß,  daß  er  an  vielem  zweifelt  und  daß  er 
nicht  alles  klar  und  deutlich  einsieht 

Femer  ist  zu  bemerken,  daß  aus  Def.  8  auch 
klar  folgt,  daß  es  nicht  mehrere  Götter  geben 
kann,  sondem  nur  einen,  wie  ich  in  Lehrsatz  11 
hier  und  im  Kap.  2  T.  II  meines  Anhanges  klar 
beweise. 


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Lehrsais  Ytl.  83 

Lehrsatz  TIL 

Das  Dasein  Gattes  ergibt  sich  atuh  daraus,  daß  lotr 
ndbst,  die  wir  seine  Idee  haben,  existieren,  ^) 

Erlitttenuiir* 

Zum  Beweis  dieses  Lehrsatzes  benutzt  Descartes 
zwei  Grundsätze;  nämlich:  „i.  Was  das  Größere  oder 
Sehtcerere  bewirken  kann,  kann  auch  das  Geringere  bewirken.^) 
2.  Es  ist  mehr,  eine  Substanz,  als  Attribute  oder  Eigen- 
sdtaften  der  Substanz  zu  schaffen  bezw.  (s.  Chr,  10) 
zu  erhalten",^)  Ich  weiß  nicht,  was  er  damit  sagen  will.  10 
Denn  was  nennt  er  l^cht  und  schwer?  Nichts  ist  un- 
bedingt*) leicht  oder  schwer,  sondern  nur  in  Bezag 
auf  seine  Ursache.  Ein  mid  dieselbe  Sache  kann 
daher  zu  gleicher  Zeit,  je  nach  dem  Unterschied  der 
Ursachen,  leicht  imd  schwer  genannt  werden.  Wenn 
aber  Descartes  das  schww  nennt,  was  mit  vieler 
Mühe^  und  das  leicht,  was  mit  geringer  Mühe  von  der- 
selben Ursache  vollbracht  werden  kann,  z.  B.  daß, 
wer  50  Pfund  heben  könne,  nur  mit  halb  so  viel 
Mühe  25  Pfund  heben  könne,  so  ist  dieser  Grund-  20 
satz  nicht  unbedingt  wahr;  auch  kann  er  daraus  nicht 
das,  was  er  will,  beweisen.  Denn  wenn  er  sagt: 
,Mtte  ich  die  Kraft,  mich  selbst  zu  erhalten,  so  hätte  ich 
awh  die  Kraft,  mir  aüe  die  VoUkommenheiten  zu  geben, 
die  mir  fehlen*'^'')  (weil  sie  nämlich  keine  so  große 
Macht  erfordern),  so  kann  ich  ihm  wohl  zugeben, 
daß  die  Kraft,  die  ich  auf  meine  Erhaltung  verwende, 
auch  vieles  andere  leichter  vollbringen  konnte,  wenn 
ich  ihrer  nicht  zu  meiner  Erhaltung  bedurft  hätte; 
allein  solange  ich  sie  zu  meiner  Erhaltung  verwende,  80 
bestreite  ich,  daß  ich  sie  auf  anderes  verwenden 
kann,  wenn  das  Betreffende  auch  leichter  ist,  wie 
aus  meinem  Beispiele  deutlich  zu  s^en  ist  Auch  hebt 


*)  Um  nicht  nach  weiteren  Beispielen  za  snchen,  nehme 
man  das  Beispiel  einer  Spinne,  die  ihr  Netz  mit  Leichtig- 
keit ^innt,  wfthrend  die  Menschen  es  nur  mit  der  größten 
Schwierigkeit  TermOchten;  da^^egen  vollbringen  die  Men- 
schen mit  Leichtigkeit  vieles,  was  Tielleicht  den  Engeln  nn- 
sKVgUoh  ist    (A.  v.  Sp.) 

8plnOBft,PrinsipI«i  TonDctoAitM.  8 

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84  Prinzipiexi.    Enter  Teil. 

es  die  Schwierigkeit  nicht  auf,  wenn  man  sagt^  daß,  da 
ich  ein  denkendes  Wesen  sei,  ich  auch  notwendig 
wissen  müsse,  ob  ich  alle  meine  Kräfte  zu  meiner 
Erhaltung  verwende,  und  ob  das  die  Ursache  sei, 
weshalb  ich  mir  keine  weiteren  Vollkommenheiten 
verschaffe.  Denn  (abgesehen  davon,  daß  hier  nicht 
über  die  Sache  selbst  gestritten  werden  soll,  sondern 
nur  darüber,  wie  aus  diesem  Grundsatze  die  Not- 
wendigkeit des  Lehrsatzes  folgt)  wenn  ich  dies  wüßte, 

10  so  wäre  ich  mehr  und  brauchte  vielleicht  mehr  Eraft^ 
als  ich  habe,  um  mich  in  jener  höheren  Vollkommen- 
heit zu  erhalten.  Ferner  weiß  ich  nichts  ob  es  mehr 
Mühe  erfordert,  eine  Substanz,  als  ein  Attribut  zu 
schaffen  (oder  zu  erhalten),  d.  h.  um  deutlicher  und 
mehr  philosophisch  zu  sprechen,  ich  weiß  nicht,  ob 
die  Substanz  nicht  all  ihrer  Kraft  und  ihres  Wesens, 
womit  sie  sich  erhält,  zur  Erhaltung  ihrer  Attribute 
bedarf.  Doch  ich  lasse  dies  für  jetzt  beiseite  und  er- 
mittle weiter,  was  unser  verehrter  Verfasser  hier  will, 

20  d.  h.  was  er  unter  leicht  und  schwer  versteht  Ich 
glaube  nicht  und  kann  nicht  annehmen,  daß  er  unter 
„schwer"  das  Unmögliche  (von  dem  deshalb  in  keiner 
Weise  vorgestellt  werden  kann,  wie  es  geschehen 
könne)  und  unter  „leicht''  nur  das  versteht»  was 
keinen  Widerspruch  enthält  (und  von  dem  deshalb 
leicht  vorgestellt  werden  kann,  wie  es  geschieht). 
Allerdings  scheint  er  in  der  dritten  Meditation 
auf  den  ersten  Blick  das  zu  wollen,  wenn  er  sagt: 
„Äiich  darf  ich  nu^t  glauben,  das  mir  Mangelnde  möchte 

30  etwa  schwieriger  zu  erwerben  sein,  als  das,  was  ich  jetzt 
besitze;  vielmehr  muss  es  offenbar  viel  schwerer  gewesen 
sein,  daß  ich,  d.  h.  ein  Ding  oder  eine  Substanz,  die 
denkt,  aus  nichts  auf  taufte,  als  u.  s,  w"^)  Denn  dies 
würde  weder  mit  den  Worten  des  Verfassers  noch 
mit  seiner  ganzen  Denkart  übereinstimmen.  Denn, 
um  von  dem  Ersteren  abzusehen,  so  gibt  es  zwischen 
Möglichem  und  Unmöglichem  oder  zwischen  Denk' 
barem  und  Undenkbarem  kein  Verhältnis,  so  wenig 
wie  zwischen  Etwas  und  Nichts.    Deshalb  paßt  die 

40  Macht  so  wenig  zu  dem  Unmöglichen^  wie  die  Er- 
schaffung und  Erzeugung  zu  dem  Nich^Seienden,  und 
beide   können   deshalb  nicht  miteinander  verglichen 


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Eriintoniiig  ni  Lehmti  VIL  85 

werden.  Daza  kommt»  daß  ich  nur  das  mit  einander 
vergleichen  und  nnr  deeeen  Verhältnis  ^kennen  kann, 
woYcm  ich  einen  klaren  und  deutlichen  Begriff  habe. 
Ich  bestreite  daher  die  Richtigkeit  des  Schlosses,  daß, 
wer  das  Unmögliche  bewirken  kann,  anch  das  Mögliche 
bewirken  kann.  Denn  was  wäre  das  ffir  ein  Schluß: 
Wenn  jemand  ein^i  viereckigen  Kreis  machon  kann, 
so  wird  er  auch  einen  Kreis  machen  können,  dessen 
sämtliche  Halbmesser  gleich  sind,  oder:  Wer  machen 
kann,  daß  das  Nichts  etwas  erleidet»  oder  wer  sich  10 
des  Nichts  wie  eines  Stoffes  bedienen  kann,  aus  dem 
er  etwas  fertig^  d^  wird  auch  die  Macht  haben, 
ans  einer  Sache  etwas  su  machen.  Denn  unter  der« 
gleichen  best^t»  wie  gesagt»  keine  Obereinstimmung, 
keine  Ähnlichkeit,  keine  Vergleichung,  noch  sonst 
irgend  ein  Verhaltnk.  Jedermann  kann  dies  einsehen, 
wenn  er  nur  ein  wenig  darauf  achtet  Deshalb  halte 
ich  dies  der  Denkweise  Descartes'  für  ganz  entgegen. 
Betrachte  ich  indessen  den  zweiten  der  beiden  er- 
wähnten Grundsätze,  so  scheint  es,  daß  Descartes  90 
unter  dem  Größeren  und  Schwereren  das  Vollkom- 
menere verstanden  haben  will  und  unter  dem  Ge- 
ringer«! und  Leichteren  das  Unvollkommen^e.  Aber 
auch  dann  bleibt  die  Sache  sehr  dunkel  Denn  es 
bleibt  auch  hier  die  obige  Schwierigkeit  bestehen, 
da  ich,  wie  vorh«>,  bestreite,  daß  der,  welcher  das 
Große  kann,  auch  zugleich  und  mit  dersriben  Muhe, 
wie  in  dem  Lehrsatz  angenommen  werden  muß,  das 
Geringere  machen  könnte. 

Wenn  er  fem^  sagt:  „Dm  Ergdiaffen  oder  ErhaUen  80 
der  Substanz  ist  mehr  als  das  der  Attribute"*,  80  kann  er 
sicherlich  unter  den  Attributen  nicht  das  verstehen, 
was  in  der  Substanz  formal  enthalten  ist  und  von 
der  Substanz  selbst  nur  im  Denken  unterschieden 
wird,  da  alsdann  das  Erschaffen  d^  Substanz  und 
der  Attribute  dasselbe  ist  Aus  demselben  Grunde 
kann  er  auch  nicht  diejenigen  Eigenschaften  der  Sub- 
stanz meinen,  welche  aus  dem  Wesen  und  der  De- 
finition der  Substanz  notwendig  folgen.  Noch  viel 
weniger  können  aber  darunter,  obgleich  dies  seine  40 
Meinung  zu  son  scheint,  die  Eigenschaften  und  At- 
tribute einer  andren  Substanz  verstanden  werdon; 

8* 

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86  PiiDzipien.    Enter  Teil. 

denn  wenn  ich  z,  B.  sage,  daß  ich  die  Macht  habe, 
mich  selbst,  d  h.  eine  endliche  denkende  Substanz 
zu  erhalten,  so  kann  ich  deshalb  nicht  auch  sagen, 
daß  ich  die  Macht  habe^  mir  auch  die  Vollkommen- 
heiten einer  unendlichen  Substanz  zu  verleihen,  die 
]a  ihrem  ganzen  Wesen  nach  von  mir  verschieden  ist 
Denn  die  Kraft*)  oder  das  Wesen,  wodurch  ich  mich 
in  meinem  Sein  erhalte,  ist  schlechthin  (toto  genere) 
von  der  Kraft  oder  dem  Wesen  verschieden,  wodurch 

10  eine  unbedingt  unendliche  Substanz  sich  erhält^  von 
welcher  deren  Kräfte  und  Eigenschaften  nur  im  Den- 
ken unterschieden  werden.  Wollte  ich  daher  an- 
nehmen (selbst  vorausgesetzt,  daß  ich  mich  selbst 
erhielte),  daß  ich  mir  die  Vollkommenheiten  einer 
unbedingt  unendlichen  Substanz  verleihen  könnte^  eo 
wäre  dies  ebenso,  als  wenn  ich  annähme,  ich  könnte 
mein  ganzes  Wesen  vernichten  und  von  neuem  eine 
unendliche  Substanz  erschaffen.  Dies  wäre  offenbar 
weit  mehr,  als  bloß  anzunehmen,  ich  könnte  mich  als 

20  eine  endliche  Substanz  erhalten.  Wenn  sonach  nichts 
hiervon  unter  den  Attributen  oder  Eigenschaften  ver- 
standen werden  kann,  so  bleiben  nur  die  Beschaffen- 
heiten (qualitates)  Übrig,  welche  die  eigene  Substanz 
enthält  (wie  z.  B.  diese  oder  jene  Gedanken  im  Geiste, 
von  denen  ich  klar  bemerke,  daß  sie  mir  fehlen),  nicht 
aber  die^  welche  eine  andere  Substanz  eminent  ent- 
hält (wie  z.  B.  diese  oder  jene  räumliche  Bewegung; 
denn  dergleichen  Vollkommenheiten  sind  für  mich,  als 
denkendes  Wesen,  keine  Vollkommenheiten,  und  ihr 

80  Fehlen  bedeutet  für  mich  keinen  Mangel).  Aber  dann 
kann  das,  was  Deecartes  beweisen  will,  auf  keine 
Weise  aus  diesem  Grundsatz  abgeleitet  werden;  näm- 
lich daß,  wenn  ich  mich  erhalte,  ich  auch  die  Macht 
habe,  mir  alle  die  Vollkommenheiten  zu  geben,  die 
ich«  ab  zu  dem  vollkommensten  Wesen  gehörend,  klar 
erkenne,   wie  aus   dem   eben  Gesagten  zur  Genüge 


*)  Man  bemerke,  daß  die  Kraft,  wodurch  die  Substanz 
rieh  erhftlt,  niohts  andres  ist,  als  ihr  Wesen  und  nur  dem 
Worte  nach  von  jener  sich  unterscheidet.  Dies  wird  vor- 
zflglioh  da  Anwendung  finden,  wo  ich  im  Anhange  von 
GK>ttes  Macht  handeln  werde.    (A.  ▼.  Sp.) 


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Lefasnti  L  87 

erhellt  Um  indes  die  Sache  nicht  unbewiesen  zu 
lassen,  nnd  um  jede  Verwirrung  zu  vermeiden,  schien 
es  mir  gut,  zunächst  einmal  die  Meenden  liehnsätze 
zu  beweisen  und  dann  darauf  den  beweis  des  oben- 
stehenden siebenten  liehrsatzes  zu  errichten. 

Lehnsatz  !• 

«Tis  voOkommener  eine  Sache  ihrer  Natur  nach  w^,  ein 
um  90  größeres  und  natwendigeree  Dasein  sehließt  sie  ein; 
und  umgekehrt  f  ein  um  so  notwendigeres  Dasein  eine  Sache 
ihrer  Natur  nach  einsehUeßt,  desto  voükommener  ist  sie,         10 

Beweis.  In  der  Idee  oder  dem  Begriffe  jeder 
Sache  ist  das  Dasein  enthalten.  (Nach  Gr.  6).  Man 
nehme  also  an,  daß  A  eine  Sache  ist^  welche  10  Grade 
der  Vollkommenheit  hat  Ich  sage  nun,  daß  ihr  Be- 
griff mehr  Dasdn  einschließt^  als  wenn  man  ange- 
nommen hätten  »e  enthielte  nur  5  Grade  der  Voll- 
kommenheit Denn  da  man  von  dem  Nichts  kein 
Dasein  behaupten  kann  (vgl  ErL  zu  Lehrs.  4),  so 
verneint  man  an  ihr  ebensoviel  von  ihrer  Möglichkeit  zu 
seii^  als  man  ihrw  Vollkommenheit  im  Gedanken  90 
abnimmt  und  als  man  sie  daher  mehr  und  mehr  an 
dem  Nichts  teilnehmen  laßt  Wenn  man  sich  des- 
halb denkt,  daß  ihre  Grade  der  Vollkommenheit  sich 
ohne  Ende  bis  zu  0  oder  zur  Null  vermindern»  so 
wird  sie  alsdann  kein  Dasein  oder  ein  unbedingt  un- 
mögliches Dasein  enthalten.  Wenn  man  dagegen  ihre 
Grade  ohne  Ende  vermehrt  so  wird  man  sie  als  das 
höchste  und  folglich  als  das  notwendigste  Dasein 
enthaltend  denken.  Dies  war  das  erste.  —  Da  ferner 
diese  beiden  Bestimmungen  auf  keine  Welse  getrennt  80 
werden  können  (wie  aus  Gr.  6  und  dem  ganzen  ersten 
Teil  hier  erhellt),  so  ergibt  sich  auch  das  klar,  was 
an  zweiterstelle  als  zu  beweisen  aufgestellt  worden  ist 

Anm.  1.  Von  vielem  wird  behauptet  daß  es  not- 
wendig existiere,  bloß  deshalb,  weil  es  eine  bestimmte 
Ursache  zu  seiner  Hervorbringung  gibt;  allein  davon 
spreche  ich  nicht;  sondern  nur  von  derjenigen  Not- 
wendigkeit und  Möglichkeit  die  aus  der  bloßen  Be- 
trachtung d^  Natur  oder  des  W*eeens  der  Sache  ohne 
Rückricht  auf  die  Ursache  folgt  40 

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88  Prinripien.    Bntor  Teil. 

Anm.  2.  Ich  spreche  hier  nicht  von  der  Schön- 
heit und  den  anderen  Vollkommenheiten,  welche  die 
Menschen  ans  Aberglauben  oder  Unwissenheit  als  Voll- 
kommenheiten aufgestellt  haben;  sondern  ich  verstehe 
unter  Vollkommenheit  nur  die  Realität  oder  das  Sein. 
So  bemerke  ich  z.  B.,  daß  in  der  Substanz  mehr 
Realität  als  in  ihren  Zuständen  oder  Accidenzien  ent- 
halten ist»  und  erkenne  daher  klar,  daß  sie  auch 
ein  notwendigeres  und  vollkommeneres  Dasein  als  die 
10  Accidenzien  enthalt»  wie  aus  Gr.  4  und  6  zur  Genüge 
erhellt 

Zusatz.  Hieraus  folgt»  daß,  was  ein  notwendiges 
Dasein  einschließt»  das  vollkommenste  Wesen  oder 
Gott  ist. 

Lehnsatz  IL 

Wer  die  Macht  hat,  9ich  gu  erhalten,  dessen  Natur  ent- 
häÜ  das  notfoendige  Dasein. 

Beweis.  Wer  die  Kraft  hat,  sich  zu  erhalten, 
hat  auch  die,  sich  zu  erschaffen  (nach  Gr.  10),  d.  h. 

20  (wie  man  leicht  einräumen  wird)  er  bedarf  keiner 
äußeren  Ursache  zu  seinem  Dasein,  vielmehr  wird 
seine  eigene  Natur  die  hinreichende  Ursache  sein, 
daß  er  entweder  möglicherweise  oder  notwendiger- 
weise existiert  Allein  »möglicherweise'  ist  nicht  stott- 
haft;  denn  (nach  dem,  was  ich  bei  Gr.  10  dargelegt) 
dann  würde  daraus,  daß  er  schon  existiert,  nicht 
folgen,  daß  er  auch  später  existieren  wird  (was 
gegen  die  Annahme  geht).  Deshalb  muß  er  notwendig 
existieren,  d.  h.  seine  Natur  enthält  das  notwendige 

80  Dasein.    W.  z.  b.  w. 

Der   Beweis  für   den  siebenten  Lehrsatz. 

Wenn  ich  die  Kraft  hatte,  mich  selbst  zu  erhalten, 
so  wäre  meine  Natur  derart,  daß  ich  ein  notwendiges 
Dasein  enthielte  (nach  Lehns.  2),  und  deshalb  wüjnie 
dann  (nach  d.  Zus.  zu  Lehns.  1)  meine  Natur  alle  Voll- 
kommenheiten enthalten.  Nun  finde  ich  aber  in  mir, 
als  denkendem  Wesen,  viele  Unvollkommenheiten,  z.  B. 
daß  ich  zweifle,  daß  ich  begehre  u.  s.  w.,  und  zwar 
solche,  deren  ich  (nach  Erl.  zu  Lehrs.4)  gewiß  bin; 


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Lehnmti  IL  » 

also  habe  ich  keine  Kraft»  mich  va  erhalten.  Aach 
darf  ich  nicht  sagen,  daß  ich  deshalb  jene  Voll- 
kommemheiten  entt^hre,  weil  ich  sie  mir  |etst  vw- 
weigern  will;  denn  dies  würde  offenbar  d^n  ersten 
Liel^satz  und  dem,  was  ich  in  mir  deutlich  erkenne 
(nach   Gr.  5),   widersprechen. 

Femer  kann  ich,  solange  ich  existiere^  nicht 
existieren,  ohne  daO  ich  erhalten  werde,  sei  es  von 
mir  selbsi  wenn  ich  die  Kraft  dazu  habe,  sei  es  von 
«nem  anderen,  der  diese  Kraft  hat  (nach  Gr.  10  10 
mid  11).  Nun  existiere  ich  (nach  Erl.  za  Lehrs.  4), 
nnd  doch  habe  ich  nicht  die  Kraft,  mich  selbst  zu 
erhalten,  wie  schon  bewiesen  worden.  Deshalb  werde 
ich  von  einem  anderen  erhalten;  aber  nicht  von  einem 
solchen,  der  nicht  die  Kraft,  sich  zu  erhalten,  hat 
(aus  demselben  Grunde^  aus  dem  ich  selbst»  wie  ich 
gezdgt,  mich  nicht  erhalten  kann),  also  von  jemand, 
der  £e  Kraft  hat»  sich  zu  erhalten,  d.  h.  (nach  Lfohn- 
satz  2),  dessen  Natur  das  notwendige  Dasein  ein- 
schließt d.  h.  (nach  Zusatz  zu  Lohns.  1)  der  alle  20 
die  Vollkommenheiten  enthalt»  die,  wie  ich  klar  er- 
kenne^ zu  dem  vollkommensten  Wesen  gehören.  Des- 
halb existiert  ein  vollkommenstes  Wesen,  d.  h.  Gott 
W.  z.  b.  w. 

Zusatz.    Gott  kann  aües  das  hewirkm^  toas  wir  klar 
und  deutUeh  vorstdlm,  und  zwar  so,  wie  wir  es  vorstdUn. 

Beweis.  Dies  alles  ergibt  sich  klar  aus  dem 
vorgehenden  Lehrsatz.  Da  ist  bewiesen,  daß  Gott  des- 
halb existiert,  weil  jemand  existieren  muß,  in  dem 
alle  die  Vollkommenheiten  enthalten  sind,  von  denen  BO 
die  Idee  in  uns  ist  Wir  haben  aber  in  uns  die  Idee 
einer  so  großen  Macht  jemandes,  daß  von  ihm  allein, 
der  diese  Macht  besitzt,  der  Himmel,  die  Erde  und 
auch  alles  andere,  was  ich  als  möglich  einsehe,  ge- 
macht werden  kann.  Deshalb  ist  mit  dem  Dasein 
Gottes  auch  dies  alles  von  ihm  bewiesen. 

Lehrsatz  TUI. 

Geiit  und  Körper  sind  wirkUch  verschieden. 
Beweis.  Was  wir  klar  vorstellen,  kann  von  Gott 
so  bewirkt  werden,  wie  wir  es  vorstellen  (nach  dem  40 


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40  Prinzipien.    Enter  Teil. 

vorgehenden  Zus.).  Nim  stellen  wir  uns  klar  den 
Geist  vor,  d.  h.  (nach  Def.  6)  eine  ohne  Körper, 
d.  h.  (nach  Def.  7)  eine  ohne  ausgedehnte  Substanz 
denkende  Substanz  (nach  Lehrs.  3  und  4),  und  ebenso 
umgekehrt  den  Körper  ohne  den  Geist  (wie  jeder- 
mann leicht  einräumt).  Deshalb  kann  zum  wenigsten 
durch  göttlichen  Machtspruch  der  Geist  ohne  Körper 
und  der  Körper  ohne  Geist  sein.  ^^) 

Nun  sind  Substanzen,  von  denen  eine  ohne  die 
10  andere  sein  kann,  wirklich  verschieden  (nach  Def.  10); 
der  Geist  und  der  Körp^  aber  sind  Substanzen  (nach 
den  Deff.  5,  6,  7),  von  denen  die  eine  ohne  die  andere 
sein  kann,  also  sind  der  Geist  und  der  Körper 
wirklich  verschieden. 

Man  sehe  Lehrs.  4  bei  Descartes  am  Ende  seiner 
Antwort  auf  die  zweiten  Einwürfe  und  das  §  22 — 29, 
T.  I  der  Prinzipien  Gesagte,  da  ich  es  hier  anza- 
führen  nicht  für  nötig  halte. 


Lehrsatz  IX. 

20  Ghtt  ist  aUiüissend  (attmme  inteüigensj,  ^) 

Beweis.  Wenn  man  dies  bestreite^  so  weiß 
Gott  entweder  nichts  oder  nicht  alles,  sondern  nur 
einiges.  Allein  das  Wissen  von  einigem  und  das  Nicht- 
wissen des  übrigen  setzt  einen  begrenzten  und  un- 
vollkommenen Verstand  voraus,  den  Gott  zuzuschreiben 
widersinnig  ist  (nach  Def.  8).  Sollte  aber  Gott  nichts 
wissen,  so  zeigt  dies  entweder  bei  Gott  einen  Mangel 
des  Wissens  an,  wie  bei  den  Menschen,  wenn  sie 
nichts  wissen,  und  enthalt  alsdann  eine  UnvoQkommen- 
80  heit,  welche  in  Gott  nicht  sein  kann  (nach  Del  8), 
oder  es  zeigt  an,  daß  es  Gottes  Vollkommenheit  wider- 
spricht, daß  er  etwas  wisse.  Allein  wenn  so  das  Wissen 
bei  ihm  völlig  verneint  wird,  so  wird  ec  auch  kein 
Wissen  schaffen  können  (nach  Gr.  8).  Da  wir  aber 
das  Wissen  klar  und  deutlich  vorstellen,  so  kann 
Gott  dessen  Ursache  sein  (nach  Zus.  zu  Lehrs.  17). 
Daher  ist  es  durchaus  nicht  der  Fall,  daß  es  der 
Vollkommenheit  Gottes  widersprich^  etwas  zu  wissen» 
und  deshalb  wird  er  allwissend  s^n.  W.  z.  b.  w. 


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.    Lehnati  IX,  X/  XI.  41 

Erlintenmr« 

Wenn  man  gleich  einräumen  muß,  daß  Gott 
onkörperlich  ist,  wie  in  Lehrs.  16  bewiesen  wird,  so 
ist  dies  doch  nicht  so  zu  verstehen,  als  wenn  alle 
Vollkommenheiten  der  Ausdehnung  von  ihm  fernge- 
halten werden  müßten;  vielmehr  ist  dies  nur  so  weit 
nötig,  als  die  Natur  und  die  Eigenschaften  der  Aus- 
dehnung eine  Unvollkommenheit  enthalten.  Dies  rilt 
auch  von  dem  Wissen  Gottes,  wie  alle,  die  sich  über 
die  g^neine  Menge  der  Philosophen  erheben  wollen,  10 
zugestehen  und  wie  in  meinem  Anhange  T.  2,  Kap.  7 
ausführlich  dargelegt  werden  wird. 

Lehrsati  X* 

Aüe  VollkommenkeU,  die  in  Gott  angetroffen  wird,  stammt 
90»  Gott. 

Beweis.  Will  man  dies  nicht  zugeben,  so  würde 
damit  in  Gott  eine  Vollkommenheit  sein,  die  nicht  von 
ihm  stammt;  sie  wird  dann  in  ihm  sein,  entweder 
von  sich  selbst  oder  von  etwas,  was  von  Gott  ver- 
schieden ist  Ist  sie  von  sich  selbst,  so  hat  sie  ein  20 
notwendiges  oder  ein  anim  mindesten  mögliches  Dasein 
(nach  Lohns.  2  su  Lehrs.  7),  und  sie  wird  daher  (nach 
Zus.  zu  Lohns.  1  dess.  Liehrs.)  etwas  höchst  Voll- 
komlmenes  sein,  also  (nach  Def.  8)  Gott  selbst.  Sagt 
man  also,  daß  etwas  in  Gott  sei,  was  von  sich  selbst 
ist,  so  sagt  man  damit  zugleich,  daß  es  von  Gott  ist; 
w.  z.  b.  w.  Stammt  es  dagegen  von  etwas  von  Gott  Ver- 
schiedenem, so  kann  dann  Gott  gegen  DeL  8  nicht 
durch  sich  allein  als  das  Vollkommenste  vorgestellt 
werden.  Deshalb  ist  alles,  was  an  Vollkommenheit  80 
in  Gott  angetroffen  wird,  von  Gott  W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XI. 

E9  gibt  nicht  mehrere  Qütter. 

Beweis.  Wenn  man  dies  bestreitet,  so  stelle 
man  sich,  wenn  es  möglich  ist,  mehrere  Götter,  z.  B. 
A  und  B,  vor.  Dann  werden  notwendig  (nach  Lehrs.  9) 
sowohl  A  wie  B  allwissend  sein,  d.  h.  A  weiß  alles, 
also  sich  selbst  und  B,  und  umgekehrt  weiß  B  sich 


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49  Primdpien.    Enter  Teil 

und  A.  Allein  da  A  und  B  notwendig  existieren 
(nach  Lehrs.  5),  so  ist  B  selbst  die  Ursache  der  Wahr- 
heit und  Notwendigkeit  seiner  Idee  in  A;  und  umg^e- 
kehrt  ist  A  selbst  die  Ursache  der  Wahrheit  und 
Notwendigkeit  seiner  Idee  in  B.  Somit  wird  in  A 
eine  Vollkommenheit  sein,  die  nicht  von  ihm  selbst 
ist,  und  eine  in  B,  die  nicht  von  B  ist,  und 
deshalb  werden  beide  (nach  dem  vorigen  liehrs.)  nicht 
Gott  sein.  Somit  gibt  es  nicht  mehrere  Götter. 
10  W.  z.  b.  w. ") 

Man  merke,  wie  daraas  aüein,  daß  ein  Ding  in  sich 
selbst  sein  notwendiges  Dasein  einschließt ,  wie  dies  hei  Gott 
der  Faü  ist^  notwendig  folgt,  daß  dieses  Ding  einzig  ist. 
Jeder  wird  dies  5et  aufmerksamem  Nachdenken  von  selbst 
bemerken,  and  ick  häite  es  hier  aach  beweisen  können,  aber 
freilich  nicht  auf  eine  so-  allgemein  verständliche  Weise,  wie 
es  in  diesem  Lehrsatz  geschehen  ist 


Lehrsatz  XII« 

ARe»  Existierende  wird  nar  durch  die  Kraft  Gattes 
20  erhalten. 

Beweis.  Man  nehme,  wenn  man  dies  bestreitet, 
an,  daß  etwas  sich  selbst  erhalt;  dann  enthält  (nach 
Lehns.  2  zu  Lehrs.  7)  seine  Natur  ein  notwendiges  Da> 
sein,  und  es  muX3  deshalb  (nach  Zus.  zu  Lehns.  1  zu 
Lehrs.  7)  Gott  sein,  und  es  gäbe  dann,  mehrere  Gotter, 
was  widersinnig  ist  (nach  Lehrs.  11).  Also  wird  alles 
nur  durch  Gottes  Kraft  erhalten.    W.  z.  b.  w. ") 

2^atz  1,   Ghtt  ist  der  Schopfer  aüer  Dinge. 

Beweis.  Gott  erhält  (nach  Lehrs.  12)  alles,  d.  h. 
80  (nach  Gr.  10)  er  hat  alles,  was  existi^t,  geschaffen 
und  schafft  es  n9ch  unaufhörlich  von  neuem. 

Zusatz  2,  Die  Dinge  haben  aas  sich  heraas  kein  Wesen, 
das  die  Ursache  von  Gottes  Erkenntnis  sein  konnte;  vidmekr 
ist  Gott  aach  mit  Bezug  auf  ihr  Wesen  die  Ursache  der  Dinge. 

Beweis.  Da  in  Gott  keine  Vollkommenheit  ange- 
troffen wird,  die  nicht  von  ihm  stammt  (nach  Lehrs.  10), 
so  können  die  Dinge  aus  sich  heraus  kein  Wesen  haben, 
das  die  Ursache  von  Gottes  Erkenntnis  wäre.  Viel- 
mehr folgt,  da  Gott  alles  nicht  aus  einem  anderen  er- 


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Lehiwte  Xn,  XHI.  48 

zeugt»  sondern  gänzlich  geschaffen  hat  (nach  Lehn.  12 
mit  ZoB.),  und  da  die  Tätigkeit  des  Schaffens  keine 
andere  Ursache  als  die  wirkende  gestattet^)  (denn  so 
definiere  ich  das  Schaffen),  die  Gott  ist>  daß  die  Dinge 
vor  ihrer  Erschaffung  durchaus  nichts  gewesen  sind, 
und  daß  mithin  Gott  auch  die  Ursache  ihres  Wesens 
ist    W.  z.  b.  w. 

Dieser  Zusatz  ergibt  sich  daraus,  daß  Gott  aller 
Dinge  Ursache  oder  Schöpfer  ist  (nach  Zus.  1),  und 
daß  die  Ursache  alle  Vollkommenheiten  der  Wirkung  10 
in  sich  enthalten  muß  (nach  Gr.  8),  wie  jedermann 
leicht  bemerken  kann.^) 

ZuBotz  3,  Hieraus  folgt  klar,  daß  Qott  nicht  empfindet 
ynd  nicht  eigentUch  wahrnimmt  (percipere);  denn  »ein  Ver- 
stand  wird  vfm  keinem  äußeren  Qegemtand  benimmt,  sondern 
aües  geht  aus  ihm  selbst  hervor, 

Zusatz  l.  Chtt  ist,  der  ürsaehliehkeit  nach,  vor  dem 
Wesen  und  dem  Dasein  der  Dinge,  wie  sich  klar  aus  Zus,  1 
und  2  dieses  Lehrsatzes  ergibt. 

Lelinatz  XIU.  20 

Qott  ist  höchst  wahrhaft  und  kann  WMnöglich  ein  Be- 
trüger sein. 

Beweis.  Man  kann  Gott  (nach  Def.  8)  nichts 
beilegen,  was  eine  UnvoUkommenheit  enthält^  und  da 
jeder  Betrug  (wie  selbstverständlich  ist)*)  oder  jede 
Absicht  zu  tauschen  nur  aus  Bosheit  oder  Furcht  her* 
vorgeht,  die  Furcht  aber  eine  verminderte  Mach^  und 
die  Bosheit  einen  Mangel  an  Güte  voraussetzt,  so 
kann  man  Gott»  als  dem  mächtigsten  und  besten  Wesen, 
einen  Betrug  oder  eine  Absicht  zu  tauschen  nicht  zu-  80 


*)  Ich  habe  diesen  Satz  nicht  unter  die  Gmnds&tce 
aufgenommen,  weü  das  nicht  nötig  war.  Denn  ich  bedurfte 
seiner  nur  zum  Beweis  dieses  Lehrsatzes,  and  aach  weil  ich, 
solange  ich  Gottes  Dasein  noch  nicht  kannte,  nur  das  als 
wahr  behaupten  wollte,  was  ich  aus  der  ersten  Erkenntnis: 
Ich  bin,  ableiten  konnte,  wie  ich  in  der  Erläatemng  zu 
Lehrsatz  4  erinnert  habe.  Femer  habe  ich  die  Definitionen 
der  Furcht  und  der  Bosheit  ebenfalls  nicht  oben  unter  die 
Definitionen  gestellt,  weil  jedermann  de  kennt,  nnd  ich  ihrer 
nur  zu  diesem  Lehrsätze  bedari    (A.  v.  Sp.) 


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44  PriDsipien.    Erster  TeiL 

schreiben;  vielmehr  muß  er  ab  höchst  wahrhaft  und 
als  kein  Betrüger  gelten,  w.  z.  b.  w.  Man  sehe  die  Ant^ 
wort  von  Descartes  auf  die  zweiten  Einwürfe  Nr.  4.  **) 

Lehrsatz  XIY. 

ÄUes,  was  man  klar  und  deidlidi  auffaßt  ist  wahr,  *^ 
Die  Fähigkeit,  das  Wahre  vom  Falschen  zu  unter- 
scheiden, die  (wie  jeder  in  sich  selbst  findet  und  aus 
allem  bisher  Bewiesenen  ersichtlich  ist)  in  uns  besteht^ 
ist  von  Gott  geschaffen  und  wird  stetig  von  ihm 

10  erhalten  (nach  Lehrs.  12  mit  Zus.),  d.  h,  (nach  Lehr- 
satz 18)  von  einem  höchst  wahrhaften  und  keines- 
wegs betrügerischen  Wesen,  und  er  hat  uns  kein 
Vermögen  gegeben  (wie  jeder  in  sich  bemerkt),  ans 
dessen  zu  enthalten  und  demjenigen  nicht  zuzustim- 
men, was  wir  klar  und  deutlich  auffassen;  wenn  wir 
also  hierbei  getäuscht  würden,  so  würden  wir  unter 
allen  Umstanden  von  Gott  getäuscht,  und  Gott  wäre 
ein  Betrüger,  was  (nach  Lehrs.  13)  widersinnig  ist. 
Daher  ist  das,  was  wir  klar  und  deutlich  auffassen, 

go  wahr.    W,  z.  b.  w. 

Erliaterung. 

Da  dasjenige,  dem  wir  notwendig  zustimmen 
müssen,  wenn  es  von  uns  klar  und  deutlich  aufgefafit 
worden  ist^  notwendig  wahr  sein  muß,  und  da  wir 
das  Vermögen  haben,  dem  Dunklen  oder  Zweifel- 
haften oder  dem,  was  nicht  aus  den  sichersten  Prin- 
zipien abgeleitet  ist,  nicht  beizustimmen,  wie  jeder 
in  sich  bemerkt,  so  können  wir  uns  offenbar  stets 
hüten,  daß  wir  nicht  in  Irrtum  geraten,  und  daß  wir 
30  niemals  getäuscht  werden  (was  auch  aus  dem  Folgen- 
den sich  noch  klarer  ergeben  wird),  sobald  wir  nur 
uns  fest  vornehmen,  nichts  als  walir  zu  behaupten, 
was  wir  nicht  klar  und  deutlich  auffassen,  oder  was 
nicht  aus  an  sich  klaren  und  deutlichen  Prinzipien 
abgeleitet  ist.  *') 

Lehrsatz  XY. 

Der  Irrtum  ist  nichts  Positives. 

Beweis.    Wäre  der  Irrtum  etwas  Positives,  so 
hätte  er  Gott  allein  zur  Ursache  und  müßte  fort- 


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Lehrsatz  XIV  und  XV  mit  Erlftaterungon.  45 

wahrend  von  ihm  erschaffen  werden  (nach  Lehrs.  12). 
Allein  dies  ist  widersinnig  (nach  Lelurs.  13);  also  ist 
der  Irrtum  nichts  Positives.    W.  z.  b.  w. 

ErlinteniBf« 

Wemi  der  Irrtum  nichts  Positives  im  Henschra 
ist,  so  kann  er  nur  eine  Beraubung  des  rechten 
Gebrauchs  der  Freiheit  sein  (nach  der  ErL  za 
Lehrs.  4),  also  nur  in  dem  Sinne,  wie  wir  die 
Abwesenheit  der  Sonne  als  die  Ursache  der  Rnster- 
nis  bezeichnen,  oder  wie  Gott»  weil  er  ein  £ind  mit  10 
Ausnahme  des  Sehens  den  anderen  £indem  gleich 
gemacht  hat,  als  die  Ursache  von  dessen  Blindheit 
gut  So  heiät  auch  Gott  die  Ursache  des  Irrtums, 
weil  er  uns  nur  einen  auf  weniges  sich  erstreckenden 
Verstand  gegeben  hat  Um  nun  dies  deutlich  ein- 
zusehen, und  zugleich  auch,  wie  der  Irrtum  von  dem 
bloßen  Mißbrauch  unseres  Willens  abhängt  und  schließ- 
lich, wie  wir  uns  von  dem  Irrtum  schätzen  können, 
will  ich  die  verschiedenen  Arten  des  Denkens  (modi 
eogitandi)  ins  Gedächtnis  zurückrufen,  d.  h.  alle  Arten  20 
des  Vorstellens  (modi  percipiendi)  (wie  die  Wahrneh- 
mung, die  Einbildungskraft  und  das  reine  Erkennen) 
und  des  Wollens  (wie  das  Begehren,  das  Abweisen,  das 
Bejahen,  das  Verneinen  und  das  Zweifeln);  denn  sie 
alle  lassen  sich  auf  diese  beiden  Arten  zurückföhren. 

Dabei  habe  ich  nur  zu  bemerken:  1.  daß  der  Geist 
sowdt  er  etwas  klar  und  deutlich  einsieht  und  dem 
beistimmt,  sich  nicht  täuschen  kann  (nach  Lehrs.  14); 
ebensowenig  kann  er  dies  da,  wo  er  etwas  nur  vor- 
stellt ohne  dem  Betreffenden  beizustimmen.  Denn  80 
wenn  ich  mir  jetzt  auch  ein  geflügeltes  Pferd  vor- 
stelle, so  enthält  doch  diese  Vorstellung  (perceptio) 
nichts  Falsches,  solange  ich  nicht  als  wahr  annehme, 
daß  es  ein  geflügeltes  Pferd  gibt,  und  solange  ich 
auch  noch  nicht  im  Zweifel  darüber  bin,  ob  es  ein 
solches  gebe.  Da  nun  das  Zustimmen  nichts  als  eine 
Bestimmung  des  Willens  ist  so  erhellt^  daß  der  Irr- 
tum bloß  von  d^n  Gebrauch  des  Willens  abhängt 

Damit  dies  noch  klarer  werde,  ist  2.  anzumerken, 
daß  wir  die  Macht  hab^   nicht  bloß  dem   beizu-  40 


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46  PrinsipieD.    Enter  Teil. 

stimmeii,  was  wir  klar  und  deatlich  auffassen,  sondern 
auch  dem,  was  wir  auf  irgend  eine  andere  Weise  vor- 
stellen; denn  unser  Wille  ist  durch  k^erlei  Schranken 
eingeengt.  Jedermann  kann  dies  klar  einsah^  wenn 
er  nur  bedenkt,  daß,  wenn  Gott  uns  eine  unbeschränkte 
Kraft  der  Einsicht  hatte  geben  wollen,  er  nicht  nötig 
gehabt  hätte,  uns  eine  größere  Kraft  der  Zustimmung 
zu  verleihen,  als  wir  sie  schon  haben,  um  allem  Ein- 
gesehenen zustinmien  su  können;  vielmehr  würde  die 

10  Kraft^  wie  wir  sie  jetzt  haben,  genügen,  um  unendlich 
vielem  beizustimmeiL  Auch  erfahren  wir  tatsächlich, 
daß  wir  vielem  zustimmen,  was  wir  nicht  aus  ge- 
wissen Grundsätzen  abgeleitet  haben.  Hieraus  ^hellt 
nun,  daß,  wenn  der  Verstand  sich  ebensoweit  wie 
die  Willenskraft  erstreckte,  oder  wenn  die  letztere 
sich  nicht  weiter  als  der  Verstand  zu  erstrecken  ver- 
möchte, oder  schließlich,  wenn  wir  die  Willenskraft 
innerhalb  der  Grenzen  des  Verstandes  einhalten  könn- 
ten, wir  nie  in  Irrtum  verfallen  würden  (nach  Lehr- 

20  satz  14). 

Nun  fehlt  uns  aber  die  Macht  zur  Erfüllung 
der  beiden  ersten  Erfordernisse;  denn  dazu  würde 
gehören,  daß  der  Wille  nicht  unbeschränkt  sei,  oder 
daß  der  erschaffene  Verstand  unbeschränkt  seL  Ea  bleibt 
also  nur  das  Dritte  zu  erwägen,  d.  h.  ob  wir  die  Macht 
haben,  unser  Willensvermögen  innerhalb  der  Schran- 
ken unseres  Verstandes  zu  halten.  Nun  ist  aber  uns» 
Wille  in  der  Bestimmung  seiner  selbst  frei,  also  haben 
wir  die  Macht,  das  Vermögen  der  Zustimmung  inner- 

80  halb  der  Schranken  unseres  Verstandes  zu  halten  und 
so  uns  vor  dem  Irrtum  zu  schützen.  Daraus  erhellt 
aufs  klarste,  daß  es  bloß  auf  den  Gebrauch  unseres 
Willens  ankommt,  um  jederzeit  gegen  den  Irrtum  ge- 
schützt zu  sein.  Die  Freiheit  unseres  Willens  ist  aber 
§  89  T.  I  der  Prinzipien  und  in  der  vierten  Meditation 
und  von  mir  selbst  im  letzten  Kapitel  des  Anhanges 
ausführlich  dargelegt  Und  wenn  wir  auch,  im  Fall 
wir  etwas  klar  und  deutlich  erfassen,  dem  beistinunen 
müssen,  so  hängt  doch  diese  notwendige  Zustimmung 

40  nicht  von  der  Schwäche  unseres  WoUens,  sondern  bloß 
von  seiner  Freiheit  und  Vollkommenheit  ab.  Denn  das 
Zustimmen  ist  in  Wahrheit  eine  Vollkommenheit  in 


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Erlftnterang  so  Lehrmti  XY.  47 

uns  (wie  «elbstverstandlich),  und  der  Wille  ist  nie- 
maJfl  YoUkommener  und  freier,  als  wenn  er  ginslich 
sich  aelbfit  beetimmt  Da  dies  nur  eintreten  kann, 
wenn  der  Geist  etwas  klar  und  dentUch  einsieht»  so 
wird  er  sich  notwendig  sofort  diese  Vollkommenheit 
geben  (nach  Gr.  6).  Deshalb  dürf^  wir  durchaus 
ans  nicht  für  weniger  frei  halten,  weil  wir  bei  der 
Erfassung  des  Wa&en  uns  keineswegs  gleichgültig 
verhalten,  vielmehr  darf  als  eewiß  gelten,  daii  wir 
um  so  weniger  fr^  sind,  je  mehr  wir  uns  gleichgültig  10 
verhalten. 

Es  bleibt  also  hier  nur  noch  zu  erklären,  wie  der 
Irrtum  in  Bezug  auf  den  Menschen  nur  eine  Be- 
raubung, in  Bezug  auf  Gott  aber  eine  reine  Ver- 
neinung ist  Man  wird  dies  leicht  einsehen,  wenn 
man  zuvor  erwägt,  daß  wir  deshaU),  weil  wir  neben 
dem  klar  Elrkannten  noch  vieles  andere  erfassen,  voll- 
kommener sind,  als  wenn  letzteres  nicht  stattfände. 
Dies  ergibt  sich  deutlich  daraus,  daß,  wenn  wir  gar 
nichts  Uar  und  deutlich,  sondern  alles  nur  verworren  20 
erfassen  könnten,  wir  nichts  Vollkommeneres  besitzen 
würden,  als  diese  verworrene  Auffassung,  und  daß 
für  unsere  Natur  dann  nichts  weiter  verlangt  werden 
konnte.  Femer  ist  das  Zustimmen  zu  etwas  wenn 
auch  Verworrenem,  insofern  es  seine  Tätigkeit  ist,  ^e 
Vollkommenheit  Das  wurde  jedermann  klar  werden, 
w&OR  er,  wie  oben  geschehen,  annähme,  daß  das  klare 
und  deutliche  Auffassen  der  menschlichen  Natur  wider- 
spräche; dann  ergäbe  sich  klar,  daß  es  für  den 
Menschen  weit  besser  wäre,  dem  wenn  auch  Ver-  so 
worrenen  bmustimmen,  um  dabei  seine  Freiheit  zu 
üben,  als  immer  gleichgültig,  d.  h.  (wie  gezeigt  worden) 
in  dem  niedrigsten  Grade  der  Freiheit  zu  verharren. 
Auch  wird  sich  dies  als  durchaus  notwendig  ergeben, 
wenn  man  auf  das  Zweckmäßige  imd  Nützliche  im 
menschlichen  Leben  achtet,  wie  die  tägliche  Erfahrung 
jeden  zur  Genüge  lehrt 

Wenn  sonach  alle   unsere   einzelnen   Arten  des 
Denkens,   an  sich  betrachtet,   vollkommen  sind,    so 
k^hinen  sie  insofern  nicht  das  enthalten,  was  die  Form  40 
des  Irrtums  ^^)  ausmacht   Gibt  man  aber  auf  die  ver- 
Bchiedenen  Arten  zu  wollen  acht»  so  zeigt  sich  die 

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48  PrinnpicD.    Erster  Teil. 

eine  vbllkommener  als  die  andere;  je  nachdem  die 
eine  mehr  als  die  andere  den  Willen  weniger  gleich- 
galtig»  d.  h.  freier  macht  Femer  sieht  man,  daß, 
solai^e  man  dem  verworren  Vorgestellten  zostimmty 
man  bewirkt,  daß  unser  Geist  weniger  geschickt  ist» 
das  Wahre  vom  Falschen  zu  unterscheiden,  und  man 
deshalb  des  höchsten  Grades  der  Freiheit  noch  ent- 
behrt Deshalb  enthält  die  Zustimmung  zu  verworrenen 
Vorstellungen,   sofern  sie  etwas  Positives  ist,  noch 

10  keine  Unvollkommenheit  und  keine  Form  des  Irrtums, 
sondern  nur  sofern  man  sich  dadurch  der  besten  Frei- 
heit, die  zu  unserer  Natur  gehört  und  in  unserer 
Macht  steht,  beraubt  Die  ganze  Unvollkommenheit 
des  Irrtums  wird  also  in  der  bloßen  Beraubung  des 
höchsten  Grades  der  Freiheit  bestehen,  und  diese  nennt 
man  Irrtum.  Beraubung  aber  heiOt  sie,  weil  wir  da- 
durch einer  Vollkommenheit,  die  unserer  Natur  zu- 
kommt beraubt  werden,  und  Irrtum,  weil  wir  durch 
unsere  Schuld  diese  Vollkommenheit  entbehren,  in- 

30  sofern  wir,  obgleich  wir  es  könnten,  den  Willen  nicht 
innerhalb  der  Schranken  des  Verstandes  halten.  Wenn 
sonach  der  Irrtum  rücksichtlich  des  Menschen  nur 
eine  Beraubung  des  vollkommenen  oder  rechten  Ge- 
brauchs seiner  Freiheit  ist  so  folgt,  daß  diese  in 
keinem  Vermögen,  das  der  Mensch  von  Gott  hat, 
und  in  keiner  Wirksamkeit  von  Vermögen,  soweit 
eine  solche  von  Gott  abhängt,  enthalten  ist  Auch 
darf  man  nicht  sagen,  daß  Gott  uns  des  größeren 
Verstandes,  den  er  uns  hätte  geben  können,  beraubt 

30  und  deshalb  gemacht  habe,  daß  wir  in  den  Irr- 
tum geraten  können.  Denn  die  Natur  keines  Dinges 
kann  außer  dem,  was  Gottes  Wille  ihm  hat  verleihen 
wollen,  noch  etwas  von  Gott  verlangen;  noch  gehört 
etwas  weiteres  zu  dem  Dinge,  da  vor  Gottes  Willen 
nichts  vorher  existiert  hat  ^och  überhaupt  vorffe- 
stellt  werden  kann  (wie  ausführlich  im  untenstehenden 
Anhange  Kap.  7  und  8  dargelegt  wird).  Deshalb  hat  uns 
Gott  ebensowenig  eines  größeren  Verstandes  oder  eines 
vollkommeneren  Vermögens  der  Einsicht  beraubt»  wie 

40  er  den  Kreis  der  Eigenschaften  einer  Kugel  oder  die 
Peripherie  der  Eigenschaften  einer  Hohlkugel  be- 
raubt hat 


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LebnaU  XVI,  XVIL  49 

Da  sonach  keines  unserer  Vermögen,  wie  man 
sie  auch  betrachtet^  eine  UnvoUkommenheit  in  Gott 
anzeigen  kann,  so  folgt  klar,  daß  die  UnvoUkommen- 
heit, in  der  die  Form  des  Irrtums  besteht^  nur  in 
Bezug  auf  den  Menschen  eine  Beraubung  ist,  daß 
sie  dagegen  auf  Gott  als  Ursache  bezogen  nicht  eine 
Beraubung,  sondern  nur  eine  Verneinung  genannt 
werden  kann. 

Lehrsatz  XTL 

Goit  ist  unkörperUch,  10 

Beweis.  Der  Körp^  ist  das  unmittelbare  Sub- 
jekt der  Ortsbewegung  (nach  Def.  7);  wäre  also  Gott 
körperlich,  so  könnte  er  in  Teile  geteilt  werden.  Da 
das  nun  eine  UnvoUkommenheit  enthält,  wäre  es 
widersinnig,  es  von  Gott  anzunehmen  (nach  Def.  3). 
Ein  anderer  Beweis«  Wäre  Gott  körperlich, 
80  könnte  er  inTeUe  geteilt  werden  (nach  Def.  7)*  Nun 
könnte  ein  jeder  dieser  TeUe  entweder  für  sich  be- 
stehen oder  nicht;  im  letzteren  Falle  gliche  er  dem 
übrigen,  was  von  Gott  geschaffen  ist,  und  würde  des-  20 
halb,  wie  jedes  geschaffene  Ding,  durch  dieselbe  Macht 
Gottes  forterschaffen  werden  (nach  Lehrs.  10  und 
Gr.  11),  und  er  würde  deshalb  nicht  mehr,  wie  die 
übrigen  erschaffenen  Dinge,  zu  Gottes  Natur  gehören, 
was  widersinnig  ist  (nach  Lehrs.  6).  Existiert  aber 
jeder  Teil  für  sich,  so  muß  auch  jeder  sein  not- 
wendiges Dasein  einschließen  (nach  Lehns.  2  zu 
Lehrs.  7),  und  jeder  Teil  wäre  deshalb  ein  höchst  voll- 
kommenes Ding  (nach  Zusatz  zu  Lehns.  2  zu  Lehrs.  7). 
Das  ist  aber  auch  widersinnig  (nach  Lehrs.  11),  also  30 
ist  Gott  unkörperlich.    W.  z.  b.  w.  w) 

Lehrsatz  XTII. 

OoU  ist  das  einfachtte  Wesen. 

Beweis.  Wenn  Gott  aus  TeUen  besl^nde,  so 
müßten  diese  Teile  (wie  jedermann  leicht  zugestehen 
wird)  wenigstens  der  Natur  Gottes  vorhergehen,  was 
widersinnig  ist  (nach  Zus.  4  zu  Lehrs.  12);  Gott  ist 
also  das  einfachste  Wesen.  W.  z,  b.  w. 

SpinoBft»  Prinzipien  Ton  Deieartos.  4 

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60  Priniipien.    Enter  TeiL 

Zusatz.  Hieraus  folgt,  daß  sich  Gottes  Einsicht 
und  Wille,  oder  sein  Beschluß  und  'seine  Macht  nur 
dem  Gesichtspunkt  der  Betrachtung  nach  (ratione)  von 
seinem  Wesen  unterscheiden. 


Lehrsatz  XYIII. 

Gott  ist  ufweränderUch. 

Beweis.  Wäre  Gott  veränderlich,  so  könnte  er 
nicht  bloß  teilweise,  sondern  müßte  seinem  ganzen 
Wesen  nach  sich  verändern  (nach  Lehrs.  7).  Allein 
10  das  Wesen  Gottes  existiert  mit  Notwendigkeit  (nach 
Lfohrs.  5,  6  und  7),  also  ist  Gott  unveränderlich. 
W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XIX. 

Gott  igt  ewig. 

Beweis.  Gott  ist  das  höchst  vollkommene  Wesen 
(nach  der  8.  Def.),  und  daraus  folgt  (nach  Lehrs.  5), 
daß  er  notwendig  existiert.  Schreibt  man  ihm  aber 
ein  beschränktes  Dasein  zu,  so  müssen  notwendig  die 
Schranken  seines  Daseins,  wenn  auch  nicht  von  uns, 
20  so  doch  von  Gott  erkannt  werden  (nach  Lehrs.  9),  weil 
er  allweise  ist  Somit  würde  Gott  erkennen,  daß  er, 
der  doch  (nach  Def.  8)  ein  höchst  vollkommenes 
Wesen  ist,  über  diese  Sctoranken  hinaus  nicht  existiert, 
was  widersinnig  ist  (nach  Lehrs.  5);  deshalb  hat  Gott 
kein  beschränktes,  sondern  ein  unbeschränktes  (in- 
finitam)  Dasein,  das  man  als  Ewigkeit  bezeichnet  (Vgl. 
Kap.  1,  T.  II  meines  Anhangs.)  Gott  ist  demnach 
ewig.    W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XX. 

80  Gott  hat  von  Ewigkeit  her  alles  im  voraus  geordnet,^^) 

Beweis.  Da  Gott  ewig  ist  (nach  Lehrs.  19),  so 
wird  auch  seine  Einsicht  ewig  sein;  denn  sie  gehört 
zu  seinem  ewigen  Wesen.  (Nach  Zus.  zu  Lehrs.  17.) 
Nun  ist  seine  Einsicht  von  seinem  Willen  oder  Beschluß 
der  Sache  nach  nicht  verschieden  (nach  Zus.  zu  Lehr- 
satz 17);  wenn  man  also  sagt,  Gott  habe  von  Ewig- 
keit her  alle  Dinge  erkannt,  so  sagt  man  zugleichi 


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L^imti  xvni-xxr.  tu 

daß  er  von  Ewigkeit  her  alle  Dinge  gewollt  oder  be- 
ficUoflsen  habe.   W.  z,  b.  w. 

Zusatz.  HieraoB  folgte  daß  Gott  in  seinen  Wer- 
ken höchst  beständig  ist 

Lehrsats  XXI. 

E8  eanttiert  in  WahrheU  eine  Substang,  die  in  die  Länge^ 
Brrite  und  Tiefe  awgedehit  ist,  und  wir  eind  mit  einem  TeU 
derselben  vereint.^ 

Das  ausgedehnte  Ding  gehört^  wie  wir  klar  und 
deutlich  einsehen,  nicht  zur  Natur  Gottes  (nach  Lehr-  10 
aatz  10);  aber  es  kann  von  Gott  geschaffen  werden 
(nach  Zusatz  zu  Lehrs.  7  und  nach  Lehrs.  S).  Femer 
sehen  wir  khir  und  deutlich  ein  (wie  jeder  in  sich« 
insofern  er  denkt»  bemerken  wird),  daß  die  ausge- 
dehnte Substanz  die  zureichende  Ursache  ist,  um 
in  uns  den  Kitzel,  den  Schmerz  und  ähnliche  Ideen 
od«  Empfindungen  h^vorzubringen,  die  fortwährend 
in  uns,  auch  ohne  unser  Zutun,  hervorgetoacht 
werden.  Wollten  wir  uns  außer  dieser  ausgedehnten 
Substanz  eine  andere  Ursache  unserer  Empfindungen,  ao 
etwa  Gott  oder  einen  Engel  denken,  so  würden  wir 
sofort  den  klaren  und  deutlichen  Begriff,  den  wir 
haben,  zerstören.  Wenn*)  wir  daher  auf  unsere  Vor- 
stellungen recht  lushthaben  und  nichts  gelten  lassen, 
als  was  wir  klar  imd  deutlich  vorgestellt  haben,  so 
werden  wir  völlig  geneigt  oder  nicht  im  geringsten 
gleichgültig  dagegen  sein,  zuzugeben,  daß  die  aus- 
gedehnte Substanz  die  alleinige  Ursache  unserer  Emp- 
findungen sei  und  demnach  zu  behaupten,  daß  ein 
ausgedehntes,  von  Gott  geschaffenes  Ding  existiert  80 
Und  hierin  können  wir  allerdings  nicht  irren  (nach 
Lehrs.  14  mit  Zus.);  deshalb  l^auptet  man  wahr- 
heitsgemäß, daß  es  eine  in  die  Länge,  Breite  und 
Tiefe  ausgedehnte  Substanz  gibt.  Dies  war  das  Erste. 

Wir  bemerken  femer  unter  unseren  Empfin- 
dungen, die  in  uns  (wie  oben  gezeigt)  von  der  aus- 
gedehnten Substanz  hervorgebracht  werden  müssen. 


*)  Man  sehe  den  Beweis  von  Lehrs.  14  und  den  Zusntz 
la  Lehre.  15.    (A.  v.  Sp.) 

4« 


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62  Prinnpien«    Enter  Teil. 

einen  großen  Unterschied;  bo,  wenn  ich  sage,  ich 
sehe  oder  nehme  einen  Baum  wahr,  oder  wenn  ich 
sage,  ich  habe  Durst  oder  Schmerzen,  u«  s.  w.  Die 
Ursache  des  Unterschieds  kann  ich,  wie  ich  klar  sehe, 
nicht  eher  verstehen,  als  bis  ich  erkenne^  daß  ich 
mit  einem  Teile  des  Stoffes  innig  vereint  bin  und  mit 
anderen  Teilen  desselben  nicht  ebenso.  Da  ich  dies 
nun  klar  und  deutlich  einsehe,  und  es  mir  in  keiner 
anderen  Weise  vorstellen  kann,  so  ist  es  F^hr 
10  (nach  Lehrs.  14  mit  Zus.),  daß  ich  mit  ein^n  Teile 
des  Stoffes  vereint  bin.  Das  war  das  Zweite;  damit 
ist  bewiesen,  w.  z.  b.  w. 

Anmerkung.  Wenn  der  Leser  sich  hier  nicht  als  ein 
bloß  denkendes  Ding  betrachtet,  das  keinen  Körper  hat,  und 
wenn  er  nicht  aüe  seine  früheren  Qründe  für  die  Annahme, 
daß  ein  Körper  existiert,  als  Vorurteile  von  sich  abweist,  wird 
er  sieh  vergeblich  bemühen,  diesen  Beweis  zu  verstehen. 


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Die 

Prinzipien  der  Philosophie 

auf 

geometrlsclie  Weise  begrUndet 


Zweiter  Teil/*) 
Postulat'') 

Eb  wild  hier  nur  gefordert,  daß  jeder  auf  seine 
Vorstelinngen  möglichst  genau  achtgebe,  um  das  Klare 
von  dem  Dunkeln  unterscheiden  zu  können. 

Definitionen.'*)  lo 

I.  Ättsdehnung  ist  das,  was  aus  drei  Richtungen 
besteht;  aber  ich  verstehe  darunter  weder  den  Akt 
des  Sich-Ausdehnens,  noch  etwas  von  der  Größe  (quan- 
Utas)  Verschiedenes. 

IL  Unter  Substanz  verstehe  ich  das,  was  zu 
seinem  Dasein  nur  der  Beihilfe  Gottes  bedarf. 

IIL  Atom  ist  ein  seiner  Natur  nach  unteilbarer 
Tea  des  Stoffes. 

IV.  ünbegrenMt  (indefinitum)  ist  das,  dessen  Gren- 
zen (wenn  es  deren  hat),   vom   menschlichen   Ver-  20 
Stande  nicht  erforscht  w^den  können« 

V.  Das  Leere  ist  die  Ausdehnung  ohne  körper- 
liche Substanz. 

VL  Der  Baum  wird  nur  im  Denken  (ratUme)  von 
der  Ausdehnung  unterschieden,  ohne  der  Sache  nach 
etwas  Verschiedenes  zu  sein.  (Man  sehe  §  10  T.  II 
der  Prinzipien.) 

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54  Prinzipien*    Zweiter  Teil. 

VIL  Was  im  Denken  geteilt  werden  kann^  das 
ist,  wenigstens  der  Möglichkeit  nach  (poteniia),  teübar. 

VIII.  Die  Ortsbewegung  ist  die  Überführung  eines 
Teils  der  Materie  oder  eines  Korpers  ans  der  Nachbar- 
schaft der  Körper,  die  ihn  unmittelbar  berühren^  nnd 
die  als  ruhend  angenommen  werden,  in  die  Nachbar- 
schaft anderer. 

Deseartes  bedient  sich  dieser  Definition,  «m  die  Ortsbewe- 

gung  zu  erldären»    Um  sie  recht  zu  verstehen,  ist  tu  beachten: 

10  i.  d(iß  er  unter  Teil  der  Materie  (pars  materiae)  aües 

versteht,  was  auf  einmal  fortbewegt  wird,  wenn  es  aud^ 

selbst  wiederum  aus  vielen  Teilen  bestehen  hann; 

2,  daß  er  zur  Vermeidung  von  TenoffTuti^  in  dieser 
Definition  nur  von  dem  spricht,  was  beständig  in  der  bewege 
liehen  Sache  ist,  d.  h.  in  der  Überführung,  damit  es  niekt^ 
wit  öfters  von  manchen  geschehen  ist,  mit  der  Kraft  oder 
Handlung  verwechselt  wird^  wekhe  die  Übertragung  bewirkt. 
Man  meint  gemeinhin  ^  daß  diese  Kraft  oder  Handlung  nur 
zur  Bewegung  notig  sei,  aber  nicht  zur  Buhe;  indes  ist  man 

20  hier  im  Irrtum.  Denn  seUbstverständUeh  ist  die  gleiche  Kraft 
nötig,  um  einem  ruhenden  Korper  gewisse  Qrade  der  Be- 
wegung beizubringen,  als  um  ihm  diese  Qrade  wieder  zu  nehmen 
und  somit  ihn  zur  Ruhe  zu  bringen.  Auch  die  Erfahrung 
lehrt  das;  denn  es  ist  beinahe  die  gleiche  Kraft  nötig,  um 
ein  in  einem  stillen  Wasser  liegendes  Fahrzeug  zur  Bewegung 
zu  bringen  j  als  um  das  beiregte  sofort  zum  Stillstand  zu 
bringen;  beide  Kräfte  wären  sicherlich  einander  gleich,  wenn 
die  eine  Kraft  nicht  von  der  Schwere  und  Trägheit  des  von 
dem  Fahrzeug  gehobenen  Wassers  in  dem  Aufhalten  dessdben 

30  unterstützt  würde; 

3.  daß  er  sagt,  die  Überführung  geschehe  aus  der  Nach- 
barschaft anstoßender  Körper  in  die  NachJbarsthaft  anderer, 
nicht  aber  von  einem  Orte  zu  einem  anderen.  DiBnn  der 
Ort  (wie  er  selbst  §  13,  T.  II  erläutert)  ist  nichts  Gegen- 
ständluhes,  sondern  besteht  nur  in  unserem  Denken,  weshalb 
man  von  demselben  Körper  sagen  kann^  daß  er  zugleich  den 
Ort  verändert  und  nicht  verändert.  Aber  man  kann  nidU 
ebenso  sagen,  daß  er  zugleich  aus  der  Nachbarschaft  eines 
anstoßenden  Körpers  übergeführt  und  nicht  übergeführt  wird, 

40  da  in  demselben  Zeitpunkte  nur  ein  und  dersdbe  Körper  den* 
sdben  beweglichen  Körper  berühren  kann; 

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Definitionen.  66 

4.  daß  er  nicht  schledUerdings  sagt,  die  Überführung 
gaduke  am  der  NaMair9chaft  angrenzender  Körper,  mmdem 
imr  eololer,  die  als  ruhend  gelten.    Denn  damit  der  Körper 
Ä  von  dem  reihenden  Körper  B  übergeführt  wird,  igt  dii9dhe 
Kraft  foon  der  einen  wie  von  der  anderen  Seite  nötig,  was 
deuäich  aus  dem  Faü  erheOt,  wo  ein  Kahn  in  dem  Sehlamm 
oder  Sand  auf  dem  Gründe  des  Wassers  hängen  bleibt,  da,  um 
diesen  Kahn  fortzubewegen,  die  gleiche  Kraß  sowohl  gegen 
den  Boden,  wie  gegen  den  Kahn  anzuwendien  ist.    Deshalb 
wird  die  Kraft,   mit  der  der  Körper  bewegt  werden  soü,  10 
d>enso  auf  den  bewegten  wie  auf  den  ruhenden  verwendet. 
Die  Fortfährung  aber  ist  wechsdseitig ;  denn  wenn  der  Kahn 
von  dem  Sande  getrennt  wird^  wird  auch  der  Sand  von  dem 
KahngetremU.  Wenn  wir  ako  den  Körpern,  die  von  dnander, 
der  eine  in  dieser  Biehtung,  der  andere  in  jener  Biehtung, 
getrennt  werden,  gleiche  Bewegungen  zuteilen  und  den  einen 
nidU  als  rtthend  auffassen  woüen,  und  zwar  bloß  deswegen, 
weU  dieselbe  Tätigk^  in  dem  einen,  wie  in  dem  anderen  vor- 
handen ist,  so  muß  man  auch  den  Körpern,  die  von  jeder- 
mann für  ruhend  angesehen  werden,  z,  B.  dem  Sande,  von  20 
dem  der  Kahn  getrennt  worden,  ebensovid  Bewegung  zu- 
schreiben wie  den  bewegten  Körpern,  da,  wie  ich  gezeigt  habe, 
dieselbe  Eandkmg  von  der  einen  wie  von  der  anderen  Seite 
erfordertteh  und  die  Fortschaffung  wechselseitig  ist.  Indes 
würde  dies  von  der  gewöhnlichen  Ausdrudesweise  zu  sehr 
abweichen.    Wenn  indes  auch  die  Körper,  von  denen  andere 
getrennt  werden,  als  ruhend  angesehen  und  so  bezeidinä 
werden,  so  müssen  wir  doch  immer  eingedenk  sdnf  daß 
alles,  was  in  dem  bewegten  Körper  ist,  und  weshalb  man 
ihn  als  ,bewegf  bezeichnet,  auch  in  dem  ruhenden  Körper  80 
enthäuten  ist. 

5.  Endiich  erhdU  auch  klar  aus  der  Definition,  daß  jeder 
Körper  nur  eine  ihm  eigentumliche  Bewegung  hat,  da  er 
nur  von  ein  und  densdben  anstoßenden  und  ruhenden  Körpern 
sich  entfernen  kann.  Ist  indes  der  bewegte  Körper  dn  Be- 
standteil anderer  Körper,  die  dne  andere  Bewegung  haben, 
so  sieht  man  Idar  dn,  daß  auch  er  an  unzähligen  anderen 
Bewegungen  teilndimen  kann.  Da  es  indes  schwer  ist,  so 
vide  Bewegungen  zugleidi  zu  erkennen,  und  auch  nicht  alle 
erkannt  werden  können,  so  wird  es  genügen,  nur  die  eine,  4/0 
uddte  jedem  Körper  dgentümUdt  ist,  an  ihm  zu  bär achten, 
(Man  sehe  §  31,  T.  II  der  PinzipienJ. 


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56  Prinzipien,    Zweiter  Teil. 

IX.  Unter  dem  Kreis  der  bewegten  Körper  wird  bloß 
verstanden,  daß  der  letzte  Körper,  welcher  auf  den 
Anstoß  eines  anderen  sich  bewegt^  den  zuerst  be- 
wegten unmittelbar  berührt,  wenn  auch  die  Linie, 
welche  von  allen  Körpern  durch  den  Anstoß  dieser 
einen  Bewegung  beschrieben  wird,  sehr  krumm  ist 
(S.  unten  die  Figur  zu  Grundsatz  XXI.)  ^) 

[Grundsätze/') 

I.  Das  Nichts  hat  keine  Eigenschaften« 
10         IL  Was  ohne  Verletzung  der  Sache  von  ihr  weg- 
genommen werden  kann,  bildet  nicht  ihr  Wesen;  was 
dagegen  durch  seine  Wegnahme  die  Sache  aufhebt, 
bildet  ihr  Wesen. 

IIL  Von  der  Härte  gibt  uns  die  Empfindung  keine 
andere  Kunde,  und  wir  haben  keine  andere  klare 
und  deutliche  Vorstellung  davon,  als  daß  die  Teile 
des  harten  Körpers  der  Bewegung  unserer  Hände 
Widerstand  leisten. 

IV.  Nähern  sich  zwei  Körp^  einander,  oder  ent> 
20  fernen  sie  sich  voneinander,  so  werden  sie  darum 

keinen  größten  oder  geringeren  Baum  einnehmen. 

V.  Ein  Stoffteil  verliert  weder  durch  sein  Nach- 
geben, noch  durch  seinen  Widerstand  die  Natur  eines 
Körpers. 

VI.  Bewegung,  Buhe,  Gestalt  und  dergleichen 
kann  ohne  Ausdehnung  nicht  vorgestellt  werden. 

VII.  Über  die  wahrnehmbaren  Eigenschaften 
hinaus  bleibt  im  Körper  nur  die  Ausdehnung;  mit  ihren 
Beschaffenheiten  (affectiones),  wie  eie  T.  I  der  Prin- 

80  zipien  aufgeführt  sind. 

VIII.  Derselbe  Baum  oder  dieselbe  Ausdehnung 
kann  nicht  das  eine  Mal  größer  als  das  andere 
Mal  sein. 

IX.  Alle  Au^ehnung  ist  teilbar,  wenigstens  in 
Gedanken. 

Über  die  Wahrheit  dieses  Qmndsatzes  wird  memandj 

der  nur  die  Elemente  der  Mathematik  gelemt  hai^  in  Ztceifei 

sein.    So  kann  der  Baum  zunschen  dem  Kreis  und  seiner 

Tangente  durch  unendlich  vieU^  immer  größere  Kreise  geteüt 

40  werden.  Dasselbe  erhellt  auch  aus  den  Asymptoten  der  Myperbel, 


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Gronds&tEe.  57 

X.  Niemand  kann  sich  die  Grenzen  einer  Atuh 
delmnng  oder  mnes  Raumes  vorstellen,  ohne  sich  Zu- 
gloch darüber  hinaus  einen  anderen  Baum,  der  un- 
mittelbar daran  stoflt,  vorzostellen. 

XI.  Ist  der  Stoff  mannigfaltig  und  berührt  ein 
Stoffteilchen  nicht  unmittelbar  das  andere»  so  ist  jedes 
notwendig  in  Grenzen  eingeschlossen,  jenseits  deren 
kein  Sto&  vorhanden  ist^) 

XIL  Die  kleinsten  Körper  weichen  leicht  der  Be- 
rührung unserer  Hände.  10 

XIIL  Ein  Raum  durchdringt  nicht  den  anderen 
und  ist  nicht  das  eine  Mal  größer  als  das  andere  Mal 

XIV.  Ist  ein  Kanal  A  so  lang  wie  der  Kanal  C, 
und  C  doppelt  so  breit  als  A,  und  geht  ein  flüssiger 
Stoff  doppelt  so  schnell  durch  Kanal  A  als  ein 
gleicher  Stoff  durch  den  Kanal  G,  so  geht  in  gleicher 
Zeit  eine  gleiche  Menge  Stoff  durch  den  Kanal  A  wie 
durch  den  Kanal  C;  und  wenn  durch  A  dieselbe  Menge 
wie  durch  G  hindurchgeht^  so  muß  sie  in  A  sich 
noch  einmal  so  schnell  bewegen  wie  in  G.  ^*)  20 

XV.  Dinge,  die  mit  einem  dritten  Dinge  über- 
einstimmen, stimmen  auch  unter  einander  überein,  und 
wenn  sie  das  Doppelte  des  dritten  Dinges  sind,  so 
smd  sie  einander  gleich.  ^^) 

XVL  Wenn  ein  Stoff  sich  auf  verschiedene  Weise 
(diverrimode)  bewegt,  SO  hat  er  wenigstens  so  viel 
tatsächlich  (actu)  getrennte  Teile,  als  verschiedene 
Grade  der  Geschwindigkeit  zugleich  in  ihm  vor- 
lianden  sind. 

XVII.   Die  Gerade  ist  die  kürzeste  Verbindung  30 
zweier  Punkte. 

XVm.  Der  von  G     ^^^^  ^i 

nach  B  bewegte  Körper     ^)r 

A  wird,  wenn  er  durch     ^"^ 

einen  Gegenstoß  zurückgeworfen  wird,  auf  derselben 

Linie  sich  nach  G  bewegen. 

XIX.  Wenn  Körper  mit  entgegengesetzten  Be- 
wegungen sich  begegnen,  so  müssen  entweder  beide, 
oder  wenigstens  einer  eine  gewisse  Veränderung  er- 
leiden. 40 


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58  PriDxipidii.    Zweiter  Teil 

XX.  Die  Veränderung  ih  einem  Dinge  geht  von 
der  stärkeren  Kraft  aus. 

XXL  Wenn  der  Körper  1 
sich  gegen  Körper  2  bewegt 
und  ihn  stößt,  und  der  Körper  8 
durch  diesen  Stoß  sich  nach  1 
bewegt,  so  können  die  Körper 
1,  2,  3  u.  8.  w.  sich  in  keiner 

geraden  Linie  befinden,  sondern 

10  müssen     mit    8     einschließlich 

einen  vollständigen  Kreis  bilden.   Man  sehe  Det  IX. 

Lehnsatz  L«) 

Wo  es  eine  AiMdehnung  oder  einen  Baum  gibt,  da  gibt 
eB  auch  notwendig  eine  Substanz, 

Beweis.  Die  Ausdehnung  oder  der  Raum  kann 
nicht  ein  reines  Nichts  sein  (nach  Gr.  1),  folglich 
ist  er  ein  Attribut^  das  notwendig  einer  Sache  zuge- 
teilt werden  muß,  die  indessen  nicht  Gott  sein  kann 
(nach  Lehrs.  16  T.  I).  Also  kann  sie  nur  einer  Sache 
20  zugeteilt  werden,  die  der  Beihilfe  Gottes  zu  ihrem 
Dasein  bedarf  (nach  Lehrs.  12  T.  I),  d.  h.  (nach  Def.  II 
ebda.)  einer  Substanz.   W.  z.  b.  w. 

Lehnsatz  U. 

Verdiinnung  und  Verdichtung  werden  klar  und  deutUch 
von  uns  vorgestellt^  obgleich  wir  nicht  einräumen,  daß  die 
Körper  im  Zustande  der  Verdünnung  einen  größeren  Saum 
einnehmen  ais  hei  ihrer  Verdichtung, 

Beweis.  Sie  können  nämlich  schon  dadurch  klar 
und  deutlich  vorgestellt  werden,  daß  die  Teile  eines 
30  Körpers  von  einander  zurückweichen  oder  sich  ein- 
ander nähern.  Sie  werden  also  deshalb  (nach  Gr^  4) 
keinen  größeren  oder  ^kleineren  Raum  einnehmen. 
Denn  wenn  die  Teile  eines  Körpers,  z.  B.  eines 
Schwammes,  dadurch,  daß  sie  sich  einander  nähern, 
die  ihre  Zwischenräume  ausfüllenden  Körper  aus- 
treiben,  so  wird  schon  dadurch  der  Körper  dichter, 
und  seine  Teile  werden  darum  keinen  kleineren  Raum 
als  vorher  einnehmen  (nach  Gr.  4).  Und  wenn  sie 
dann   sich  wieder   von  einander  entfernen  und   die 


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Lehnsats  I,  n  und  Lehnatz  I,  IL  59 

Zwischengange  von  anderen  Körpern  aüBgefülIt  wer- 
den, jBO  wird  eine  Vendünnong  entstehe,  ohne  daß 
die  teile  einen  größeren  Raum  einnehmen  werden. 
Was  man  hier  fei  dem  Schwämme  mit  den  Sinnen 
dentUch  wahniimmt^  kann  man  sich  bei  allen  Körpern 
mit  dem  bloßen  Verstände  vorstellen,  wenngleich  deren 
Zwischenräume  für  die  menschlichen  Sinne  nicht  wahr- 
nehmbar sind.  Somit  wird  die  Verdünnung  and  Ver- 
dichtung von  uns  klar  nnd  deutlich  vorgestellt  u.  s.  w. 
W.  z.  h.  w.  10 

Dies  vorcntszwchieken,  »chien  ndHg,  damit  der  VenUmd 
9%ch  der  fäkehen  VorsteOwngen  über  Bäumt  VerdümMng  «.  e.w, 
entiMage  und  so  mr  EvneuM  des  Folgenden  geschickt  ge- 
maM  werde, 

Lehrsats  L 

Wenn  auch  die  Härte  ^  das  Chwicht  und  die  übrigen 
sinnlichen  Eigenschaften  von  einem  Korper  abgetrennt  werden 
so  wird  doch  die  Natur  des  Körpers  trotzdem  unversehrt  bleiben. 

Beweis.  Von  der  Härte,  z.  B.  dieses  Steines, 
zeigt  uns  die  EmpjBndung  nichts  weiter  an,  und  wir  20 
sehen  nichts  weiter  davon  klar  und  deutlich  ein,  als 
daß  die  Teile  des  harten  Körpers  der  Bewegung 
unserer  Hände  Widerstand  leisten  (nach  Gr.  3);  des- 
halb wird  auch  die  Härte  (nach  Lehrs.  14  T.  I)  nichts 
weiter  sein.  Wird  sJber  solch  ein  Körper  in  seine 
kleinsten  Teilchen  zerstoßen,  so  werden  seine  Teile 
leicht  nachgeben  (nach  Gr.  12)  und  doch  die  Natur 
eines  Korpus  nicht  verlieren.  (Nach  Gr.  6.)  W.  z.  b.  w. 

Eb^iso  geschieiit  der  Beweis  für  das  Gewicht  und 
die   übrigen  sinnlichen   Bigenschaften.  80 

Lehrsatz  U. 

Die  Natur  des  Körpers  oder  des  Stoffes  (maieria)  be- 
steht  Uoß  in  der  Ausdehnung. 

Beweis.  Die  Natur  eines  Körpers  wird  durch 
die  Aufhebung  seiner  sinnlichen  Eigenschaften  nicht 
aufgehoben  (nach  Lehrs.  1  oben),  folglich  bilden  sie 
auch  nicht  sein  Wesen  (nach  Gr.  2).  ^  bleibt  nur  die 
Ausdehnung  und  deren  Beschaffenheiten  (affectiones) 
(nach  Gr.  7).    Wenn  man  also  auch  sie  beseitigt,  so 

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00  PrinEipien.    Zweiter  Teil. 

wird  nichts  bleiben,  was  zur  Natur  dee  Körpers  ge- 
hört, sondern  er  wird  damit  gänzlich  beseitigt^  es  be- 
steht also  (nach  Gr.  2)  die  Natur  eines  Korpers 
bloß  in  seiner  Ausdehnung.    W.  z.  b.  w. 

Zusatz.  Raum  und  Körper  sind  der  Sache 
nach  nicht  verschieden. 

Beweis.  Der  Körper  und  die  Ausdehnung  sind 
der  Sache  nach  nicht  verschieden  (nach  dem  vor- 
stehenden Lehrs.);  ebenso  sind  der  Raum  und  die  Aus- 
10  dehnung  der  Sache  nach  nicht  verschieden  (nach 
Def.  VI),  also  Bind  auch  (nach  Gr.;  15)  Raum  mnd  Körper 
der  Sache  nach  nicht  verschieden.   W.  z.  b.  w. 

Erläatemng. 

Wenn  ich  auch  sage*),  daß  Gott  überall  ist, 
so  gebe  ich  doch  damit  nicht  zu,  daß  Gott  aus- 
gedehnt ist,  d.  h.  (nach  Lehrsatz  2)  körperlich; 
denn  das  Überall-Sein  bezieht  sich  bloß  auf  die 
Macht  Gottes  und  seine  Beihilfe,  durch  die  er  alle 
Dinge  erhält.   Deshalb  bezieht  sich  die  Allgegenwart 

20  Gottes  ebensowenig  auf  die  Ausdehnung  <xler  einen 
Körper,  wie  auf  die  Engel  und  auf  die  menschlichen 
Seelen.  Wenn  ich  jedoch  sage,  daß  seine  Macht  überall 
ist,  so  soll  damit  sein  Wesen  nicht  ausgeschlossen 
werden,  denn  da»  wo  seine  Macht,  ist  auch  sein  Wesen 
(Zus.  zu  Lehrs.  17,  T.  I),  vielmehr  soll  nur  die  Körper- 
lichkeit ausgeschlossen  werden,  d.  h.  Gott  ist  nicht 
durch  eine  körperliche  Macht  überall,  sondern  nur 
durch  eine  göttliche  Macht  und  Wesenheit,  welche  ge- 
meinsam die  Ausdehnung  und  die  denkenden  Dinge  er- 

80  halten  (Lehrs.  17  T.  I),  und  die  er  in  Wahrheit  nicht 
würde  erhalten  können,  wenn  seine  Macht,  d.  h.  sein 
Wesen,   körperlich  wäre. 

Lehrsatz  IIL 

Das  Leere  ist  ein  in  sich  widersprucJavoUer  Begriff, 
Beweis.    Unter  dem  Leeren  versteht  man  eine 
Ausdehnung  ohne  körperliche  Substanz  (nach  Del  V), 


*)  Man  sehe  das  Geoanere  hierüber  im  Anhang,  T.  2, 
K.  8  und  9.    (A.  v.  Sp.) 


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Lehrsatz  m,  IV.  61 

d.  L  (nach  Lehrs.  2  oben)  einen  Körper  ohne  Korper, 
was  widersinnig  ist 

Zwr  voUständigm  Erklärung  und  zwr  BeseUigwng  der 
fäbchm  VorsteOungm  Über  das  Leere  lese  man  §  17  und  18, 
T.  II  der  Prinzipien,  wo  besonders  JieroorgeKöben  wird,  daß 
ESrper,  ewiscken  denen  sich  nichts  befindet,  sieh  notwendig 
gegenseitig  berühren,  und  femer,  daß  dem  Nichts  keine  Eigen- 
schaften zukommen. 


Lehrsatz  IT. 

Ein  Körperteil  nimmt  das  eine  Mal  nicht  mehr  Raum  10 
^  als  da»  andere  Mal,  und  umgekehrt  enthält  derselbe  Baum 
das  eine  Mal  nicht  mehr  an  Körpern  als  das  andere  Mal. 

Beweis.  Raum  und  Körper  sind  der  Sache 
nach  nicht  verschieden  (Zusatz  zu  Lehrs.  2).  Wenn 
ich  also  sage,  daß  das  eine  Mal  ein  Raum  nicht  größer 
ist  als  das  andere  Mal  (nach  Gr.  13),  so  sage  ich 
damit  zugleich,  daß  der  Körper  das  eine  Mal  nicht 
größer  sein,  d.  h.  nicht  einen  größeren  Raum  ein- 
nehmen kann  als  das  andere  Mal;  dies  war  das  Erste. 
Femer  folgt  aus  unserem  Satze,  daß  Körper  und  20 
Raum  der  Sache  nach  nicht  verschieden  sind,  daß, 
wenn  wir  sagen,  derselbe  Körper  könne  das  eine 
Mal  nicht  meb*  Raum  einnehmen  als  das  andere  Mal, 
wir  zugleich  sagen,  daß  derselbe  Raum  das  eine  Mal 
nicht  mehr  an  Körpern  enthalten  kann  als  das  andere 
Mal   W.  z.  b.  w. 

Zusatz.  Körper,  die  einen  gleichen  Raum 
einnehmen,  z.  B.  Gold  oder  Luft,  enthalten 
auch  gleich  viel  Stoff  oder  körperliche  Sub- 
stanz. 30 

Beweis.  Die  körperliche  Substanz  besteht  nicht 
in  der  Harte,  &  B.  des  Goldes,  noch  in  der  Weichheit, 
z>  B.  der  Luft,  noch  in  anderen  sinnlichen  Eigen- 
schaften (nach  Lehrs.  1,  T.  II),  sondern  allein  in  der 
Ausdehnung  (nach  Lehrs.  2,  T.  II).  Da  nun  (nach  der 
Amiahme)  in  dem  einen  so  viel  Raum  oder  (nach 
Del  VI)  so  viel  Ausdehnung  wie  in  dem  anderen  ist, 
80  ist  auch  in  jedem  gleichviel  körperliche  Substanz, 
w.  z.  b.  w. 


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62  Prinzipien.    Zweiter  TeiL 

Lehrsatz  Y. 

Es  gibt  keine  Atome. 

Beweis.  Die  Atome  sind  Stoffteile,  die  ihrer 
Natur  nach  unteilbar  sind  (nach  Del  III),  allein  da  die 
Natur  des  Stoffes  in  der  Ausdehnung  besteht  (nach 
Lehrs.  2,  T.  II),  die  ihrer  Natur  nach,  auch  wenn  sie 
noch  so  klein  ist,  teilbar  ist  (nach  Gr.  9  und  Del  VII), 
so  ist  also  jeder  noch  so  kleine  Teil  des  Stoffes  seiner 
Natur  nach  teilbar,  d.  h.  es  gibt  keine  Atome  oder 
10  keine  von  Natur  unteilbaren  Teile  des  Stoffes,  w.  z.  b.  w. 

Erliutenuig.*') 

Die  Fragen  ob  es  Atome  gibt,  ist  immer  von 
großer  Bedeutung  und  Schwierigkeit  geweeen.  Manche 
behaupten,  daß  es  Atome  gebe,  weil  ein  Unendliches 
nicht  gröJ3er  als  das  andere  sein  könne^  und  wenn 
zwei  Größen,  z.  B.  A  und  2A,  ohne  Ende  teilbar 
wären,  so  könnten  sie  auch  durch  die  Macht  (lOttes» 
der  ihre  unendlichen  Teile  mit  einem  Blick  durch- 
schaut, tatsachlich  (actu)  in  unendlich  viele  Teile  ge- 

20  teilt  werden.  Wenn  nun,  wie  gesagt^  das  eine  Un- 
endliche nicht  größer  sein  kann  ala  das  andere,  so 
mre  die  Größe  A  gleich  2A,  was  doch  widersinnig 
ist  Ferner  wirft  man  die  Frage  auf,  ob  die  Hälfte 
einer  unendlichen  Zahl  auch  unendlich  sei,  und  ob 
sie  gerade  oder  ungerade  sei  und  mehr  derart  Des- 
cartes  antwortet  aiS  alles  das,  daß  man  das  unserem 
Verstand  Erfaßbare  und  deshalb  klar  und  deutlich 
Vorgestellte  nicht  wegen  anderem  verwerfen  solle, 
was  unseren  Verstand  und  unsere  Fassungskraft  über- 

80  schreitet  und  deshalb  von  uns  gar  nicht  oder  nur 
sehr  ungenügend  erfaßt  wird.  Das  Unendliche  tmd 
seine  Eigenschaften  überschreiten  aber  den  seiner 
Natur  nach  endlichen  menschlichen  Verstand,  und  es 
wäre  deshalb  töricht,  das,  was  wir  klar  und  deut- 
lich in  Betreff  des  Baumes  vorstellen,  als  falsch  zu 
verwerfen  oder  es  zu  bezweifehi,  bloß  weil  wir  das 
Unendliche  nicht  begreifen  können.  Deshalb  bezeich- 
net Descartes  das,  woran  wir  keine  Grenze  bemerken, 
wie  die  Ausdehnung  der  Welt,  die  Teilbarkeit  der 

40  Teile  des  Stoffes  u.  s.  w.,  als  indefinit  Man  sehe 
darüber  Prinzipien  §  26,  T.  I. 


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LefanatE  VI. 


LeliTsatz  Tl. 


Der  Stoff  ut  ohne  Ende  (indefinite)  amgedehni,  und 
der  Stoff  de»  Bimmels  und  der  Erde  ist  ein  und  deredbe.^^ 

Beweis  des  ersten  Teiles.  Man  kann  sich 
von  der  Ausdehnung,  d.h.  (nach  hebxs,  2,  T. II)  von 
dem  Stoffe  keine  Grenzen  vorstellen,  ohne  zugleich 
über  sie  hinaus  andere  unmittelbar  anstoßende  ^ume 
(nach  Gr.  10)  d.  L  (nach  Def.  VI)  ^e  Ausdehnung 
oder  einen  Stoff  sich  vorzustellen,  und  zwar  ohne 
Ende.    Dies  war  das  Erste.  10 

Beweis  des  zweiten  Teils.  Das  Wesen  des 
Stoffes  besteht  in  der  Ausdehnung  (nach  Lehrs.  2,  T.  II), 
und  zwar  einer  endlosen  (nach  dem  ersten  Teil),  d.  h. 
(nach  Del  IV)  einer  solchen,  die  vom  menschlichen 
Verstand  nicht  begrenzt  vorgestellt  werden  kann;  des- 
halb ist  er  nicht  mannigfach  verschieden  (nach  Gr.  11), 
sondern  überall  ein  und  derselbe.  Dies  war  das  Zweite. 

Erlftatemng* 

Bis  hierher  habe  ich  über  die  Natur  oder 
das  Wesen  der  Ausdehnung  gehandelt  Daß  nun  20 
aber  eine  solche,  so  wie  wir  sie  vorstellen,  von 
Grott  geschaffen  ist  und  existiert,  ist  durch  den 
letzten  Lehrsatz  in  Teil  I  dargetan  worden,  und  aus 
Lehrs.  12,  T.  I  foljg^  daß  diese  Ausdehnung  durch  die- 
selbe Macht,  die  sie  geschaffen  hat,  auch  erhalten  wird. 
Ferner  habe  ich  durch  den  letzten  Lehrsatz  in  Teil  I 
bewiesen,  daß  wir  als  denkende  Dinge  mit  einem  Teile 
dieses  Stoffes  vereint  sind  und  mit  dessen  Hilfe  wahr- 
nehjnen,  und  daß  wirklich  alle  ]ene  mancherlei  Unter- 
schiede bestehen,  deren  der  Stoff,  wie  wir  aus  seiner  80 
Betrachtung  wissen,  fähig  ist,  wie  die  Teilbarkeit^ 
die  Ortsbewegung  oder  die  Wanderung  eines  Teiles 
des  Stoffes  von  einem  Ort  an  einen  anderen,  die  man 
deutlich  und  klar  erkennt,  sobald  man  nur  einsieht» 
daß  andere  Stoffteile  an  Stelle  der  wandernden  nach- 
folgen. Diese  Teilung  und  Bewegung  wird  von  uns 
auf  anendlich  viele  Weisen  vorgestellt,  und  deshalb 
kann  man  sich  auch  unendlich  viele  Verschiedenheiten 
des  Stoffes  vorstellen.    Ich  sage,  daß  dies  klar  und 


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64  Prinzipien.    Zweiter  Teil. 

deutlich  geechieht,  solange  man  sie  selbst  als  Arten  der 
Ausdehnung  und  nicht  ab  Dinge  vorstellt»  die  von  der 
Ausdehnung  sachlich  (realiter)  verschieden  sind,  wie 
in  Teil  I  der  Prinäpien  ausführlich  dargelegt  ist  Aller- 
dings haben  die  Philosophen  sich  noch  viele  andere 
Arten  der  Bewegung  ausgedacht»  allein  ich  kann  nur 
das  klar  und  deutlich  Vorgestellte  asulassen,  weil  man 
klar  und  deutlich  einsieht»  daß  nur  diese  ortliche  Be- 
wegung der  Ausdehnung  fähig  ist    Auch  kann,  da 

10  keine  andere  Bewegnmg  unter  unsere  Einbildung  fallt» 
nur  die  örtliche  zugelassen  werden. 

Allerdings  sagt  man  von  Zeno,  daß  er  die  Orts- 
bewegung aus  verschiedenen  Gründen  geleugnet  habe. 
Der  Cyniker  Diogenes  widerlegte  sie  in  seiner  Weise, 
indem  er  in  der  Schule^  wo  Zeno  dies  lehrte^  aof- 
und  abging  und  die  Zuhörer  desselben  dadurch  störte. 
Als  er  aber  merkte,  daß  ein  Zuhörer  ihn  festhielt^ 
um  ihn  an  dem  Auf-  und  Abgehen  zu  hindern,  da 
schalt  er  ihn,  indem  er  sagte: ,,  Wie  kannst  du  es  wagen, 

20  so  die  Gründe  deines  Lehrers  zu  widerlegen^'?  Indes 
möge  sich  niemand  durch  die  Gründe  des  Zeno  tau- 
schen lassen  und  glauben,  die  Sinne  zeigten  uns  etwas, 
nämlich  die  Bewegung,  was  dem  Verstände  wider^ 
spricht,  sodaß  also  der  Geist  selbst  bei  dem,  was 
er  mit  Hilfe  des  Verstandes  klar  und  deutlich  erfaßt, 
getauscht  werde.  Ich  will  zu  dem  Ende  Zenos 
Hauptargumente  hier  anführen  und  zeigen,  daß  sie 
nur  auf  falschen  Vorurteilen  beruhen,  weil  ihm  näm- 
lich der  richtige  Begriff  des  Stoffes  gefehlt  hat 

80  Erstens  soll  er  gesagt  haben,  daß^  wenn  es  eine 
Ortsbewegung  gäbe,  so  würde  die  möglichst  schnelle 
Kreisbewegung  eines  Körpers  sich  von  der  Buhe  nicht 
unterscheiden.^)  Allein  dies  ist  widersinnig;,  folglich 
auch  jenes,  wie  sich  folgendermaßen  zeigen  läßt  Der- 
jenige Körper  ruht  nämlich,  dessen  sämtliche  Punkte 
beständig  an  derselben  Stelle  bleiben;  nun  bleiben  aber 
alle  Punkte  eines  Körpers,  der  mit  der  höchsten  Ge- 
schwindigkeit sich  im  Kreise  dreht»  an  derselben  St^le; 
also  u.  6.  w.    Zeno  soll  dies  selbst  an  dem  Beiroiel 

40  eines  Rades  erlaut^  haben.  Dieses  Rad  sei  ABG. 
Wird  dasselbe  mit  einer  gewissen  Geschwindigkeit 
um  seinen  Mittelpunkt  gedreht,  so  wird  der  Punkt  A 


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Iirlftatening  sn  Lehnali  VI.  65 

seinen  Umlauf  durch  B  und  G  schneller  vollenden, 
als  wenn  es  langsamer  gedreht  würde.    Uan  nehme 
also  z.  B.  an,  daß  der  Funkt  A  bei  einer  langsamen  Be- 
wegüDg    nach    Ablauf    einer 
Stimde  wieder  da  sei,  von  wo 
er  ausgegangen    ist     Nimmt 
man  aber  an,  die  Bewegung 
sei  doppelt  so  schnell,  so  wird 
er    in    einer    halben    Stunde 

seine  erste  Stelle  wieder  er-  ^  \  /^^^^  /  J  10 
reicht  haben;  und  ist  die 
Bewegung  viermal  so  schnell, 
in  einer  Viertelstunde.  Nimmt 
man  aber  eine  unendlich  ver- 
mehrte Geschwindigkeit  an,  so  vermindert  sich  diese 
Zeit  bis  auf  einen  Augenblick.  Der  Punkt  A  wird  dann 
bei  dieser  höchsten  Geschwindigkeit  zu  allen  Zeit- 
punkten, also  immer,  an  derselben  Stelle  sein,  und  was 
man  hier  von  dem  Punkt  A  einsieht,  sieht  man  auch 
von  aUen  anderen  Punkten  dieses  Rades  ein;  mithin  20 
bleiben  alle  Punkte  desselben  bei  dieser  höchsten  Ge- 
schwindigkeit an  derselben  Stelle. 

Indes  gilt,  um  darauf  zu  antworten,  dieeer  Grund 
mehr  gegen  die  höchste  Geechwindigkeit  der  Bewegung 
als  gegen  die  Bewegung  selbst;  doch  will  ich  nicht 
prüfen,  ob  Zeno  seinen  Beweis  richtig  geführt  hat, 
sondern  ich  will  vielmehr  dieee  Vorurteile,  auf  denen 
die  ganze  Begründung  beruht,  soweit  er  damit  die 
Bewegung  angreifen  will,  aufdecken.  Zunächst  nimmt 
Zeno  an,  man  könne  sich  eine  so  schnelle  Bewegung  80 
des  Körpers  vorstellen,  daß  eine  noch  schnellere 
nicht  möglich  sei.  Sodann  nimmt  er  an,  die  Zeit  setze 
sich  aus  Zeitpunkten  zusammen,  so  wie  andere  von  der 
GröJBe  angenommen  haben,  sie  eetze  sich  aus  un- 
teilbaren Punkten  zusammen.  Aber  beides  ist  falsch. 
Man  kann  sich  nie  eine  Bewegung  so  schnell  vorstellen, 
daß  man  nicht  eine  noch  schnellere  annehmen  könnte; 
ee  widerstrebt  unserem  Verstände,  eine  Bewegung, 
wenn  sie  auch  nur  eine  kleine  Linie  beschreibt,  so 
schnell  vorzoatellen,  daß  es  keine  schnellere  geben  40 
könne.  Dasselbe  gilt  auch  für  die  Langsamkeit;  man 
kaxm  nicht  eine  so  langsame  Bewegung  sich  vorstellen, 

SpinoBft,  Prinzipien  ron  Dsioarte«.  5 

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66  PrinsipieD.    Zweiter  TeiL 

daß  66  keine  noch  langsamere  geben  konnte.  Daa- 
selbe  behaupte  ich  von  der  ZeiC  die  das  Maß  dar 
Bewegung  iBt;  auch  hier  widerstrebt  es  unserem  Ver- 
stände» sich  eine  allerkürzeste  Zeit  vorzostell^L  Um 
dies  alles  zu  beweisen,  folge  ich  den  Schritten  des 
Zena  Man  nehme  also  mit  ihm  an,  daß  ein  Bad  ABC 
sich  so  schnell  um  seinen  Mittelpunkt  dreht,  daß  der 
Punkt  A  in  allen  Zeitmomenten  sich  an  der  Stelle  A 
befindet,  von  der  er  ausgeht  Ich  sage  nun,  daß  ich 
10  mir  deutlich  eine  Geschwindigkeit  vorstelle^  die  noch 
grenzenlos  (indefinite)  großer  als  jene  isi  und  wo 
also  auch  die  Zeitpunkte  noch  unendlich  viel  kleiner 
sind.  Denn  man  nehme  an,  daß^  während  das  Rad  ABC 
sich  um  seinen  Mittelpunkt  bewegt^  es  mit  Hilfe  eines 


Seiles  H  bewirkt,  daß  auch  ein  anderes  Rad  DEP 
(das  ich  nur  halb  so  groß  annehme)  sich  um  seinen 
Mittelpunkt  dreht.  Da  nun  das  Rad  DEF  nur  halb 
so  groß  als  das  Rad  ABC  angenommen  ist,  so  dreht 
es  sich  offenbar  noch  einmal  so  schnell  als  jenes, 

ao  und  der  Punkt  D  ist  desllalb  in  den  einzelnen 
halben  Zeitpunkten  wieder  an  derselben  Stelle,  von 
wo  er  ausgegangen,  und  gibt  man  dem  Rade  ABC 
die  Bewegung  von  DEF,  so  wird  sich  dieses  vier- 
mal so  schnell  bewegen  wie  zuvor,  und  läßt  man 
wieder  das  Rad  ABC  sich  mit  dieser  Geschwindigkeit 
bewegen,  so  wird  sich  das  Rad  DEF  achtmal  so  schnell 
bewegen  und  so  fort  ohne  Ende.  Dies  erhellt  nun 
auf  das  klarste  aus  dem  bloßen  Begriffe  des  Stoffes, 
da  das  Wesen  des  Stoffes,  wie  ich  gezeigt  habe,  in  der 

30  Ausdehnung  oder  in  dem  immerfort  teilbaren  Räume 
besteht,  und  es  keine  Bewegung  ohne  Raum  gibt.  Auch 
habe  ich  bewiesen,  daß  ein  bestimmter  Stoffteil  nicht 


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Erl&aterang  zu  Lehrmts  VI.  «7 

zugleich  zwei  Orte  einnehmen  kann;  d^in  dies  wäre 
ebeoBo,  wie  wenn  ich  sagte,  daß  ein  Stoffteil  dem 
doppelt  80  großen  gleich  eei,  wie  aus  dem  früher 
Dargelegten  erhellt  Bewegt  sich  also  ein  Stoffteil, 
80  bewegt  er  sich  durch  einen  Banm,  und  weam  auch 
dieser  Baum  und  folglich  auch  die  Zeit,  durch  welche 
die  Bewegung  gemessen  wird,  noch  so  klein  ange- 
nommen weiden,  so  ist  doch  dieser  Baum  teilbar, 
und  also  ist  auch  die  Dauer  dieser  Bewegung,  d.  h. 
die  Zeit^  teilbar,  und  2war  ohne  Ende.  W.  z.  b.  w.  ^)  10 

Ich  gehe  jetzt  über  zu  einem  anderen  sophistischen 
Grund,  den  Zeno  benutzt  haben  soll,  nämlich  wenn 
ein  Körper  sich  bewegt,  so  bewegt  er  sich  entweder 
an  der  Stelle,  wo  er  ist,  od^  wo  er  nicht  ist;  ersteres 
kann  nicht  sein,  denn  wenn  er  irgendwo  ist,  so  ruht 
er  notwendig.  Aber  ebensowenig  kann  er  sich  an 
einem  Orte  bewegen,  wo  er  nicht  ist^  und  mithin 
bewegt  sich  der  Körper  überhaupt  nicht.  Diese  Be- 
kundung ist  der  vorigen  ganz  ähnlich;  auch  hier  wird 
eine  allerkürzeste  Zeit  angenommen.  Denn  wenn  man  90 
antwortet,  daß  der  Körper  sich  nicht  an  einer  Stelle 
bewege,  sondern  von  der  Stelle,  wo  ^  ist,  zu  einer, 
wo  er  nicht  ist,  so  wird  Zeno  fragen,  ob  er  nicht  in  den 
Zwischenstellen  gewesen  sei.  Antwortet  man  so,  daß 
man  unter  diesem  ^gewesen  sei''  das  ,,geruht  haben^ 
versteht,  so  bestreite  ich,  daß  d^  Körper  irgendwo 
gewesen  ist,  solange  er  sich  bewegt  hat;  versteht 
man  aber  unter  dem  ,,gew6sen  sei%  daß  er  existiert 
hat^  so  sage  ich,  daß  dW  Körper  notwendig,  solange 
er  sieh  bewegte,  auch  existiert  hat  Zeno  wird  nun  80 
wieder  frag^,  wo  er  denn  während  seiner  Bewegung 
gewesen  sei.  Will  er  nun  -mit  diesem  „wo  er  ge- 
wesen sei''  fragen,  welchen  Ort  er  eingenommen  habe, 
solange  er  sich  bewegte,  so  sage  ich,  daß  er  keinen 
Ort  eingenommen  hat;  soll  es  aber  heißen:  welchen 
Ort  er  gewechselt  hat,  so  sage  ich,  alle  Orte,  die  man 
nur  in  diesem  von  dem  Körper  durchlaufenen  Baume 
angeben  kann,  f^hrt  Zeno  dann  fort  zu  fragen,  ob  der 
Körper  zu  demselben  Zeitpunkte  habe  einen  Ort  ein-  ''. 
nehmen  und  wechseln  können,  so  unterscheide  ich  auch  40 
hi«  und  antworte;,  dsß^  wenn  er  unter  Zeilpunkt 
eine  solche  Zeit  verstehe^  über  die  hinaus  es  keine 

6* 

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68  Prinsipien.    Zweiter  Teil. 

kleinere  gebe>  er  nach  einer  unfaßbaren  Sache  frage^ 
wie  ich  l^reits  dargelegt  habe,  man  also  darauf  nicht 
zn  antworten  brauche;  verstehe  er  aber  die  Zeit  in 
dem  oben  erläuterten,  d.  h.  in  ihrem  wahren  Sinne, 
so  antworte  ich,  daß  man  niemals  eine  so  kleine 
Zeit  angeben  könne,  in  der,  wenn  sie  auch  noch  so 
klein  angenommen  werde^  der  Körper  nicht  einen  Ort 
annehmen  und  verändern  konnte,  wie  jedem  Aufmerk- 
samen einleuchtet   Hieraus  erhellt»  wie  ich  oben  an- 

10  gegeben,  daß  Zeno  die  Annahme  einer  allerkleinsten 
Zeit  macht  und  daß  er  deshalb  auch  hier  nichts  su 
beweisen  vermag. 

Außer  diesen  beiden  Gründen  ist  bisweilen  noch 
von  einem  anderen  die  Rede,  den  man  samt  seiner 
Widerlegung  im  vorletzten  Briefe  Descartes'  in 
Band  I  nachlesen  kann. 

Ich  möchte  hier  aber  meine  Leser  daran  erinnern, 
daß  ich  den  Gründen  des  Zeno  meine  eigenen  Gründe 
entgegengestellt,  also  ihn  mittels  Vernunftgründe  widei^ 

20  legt  habe  und  nicht  durch  den  Augenschein,  wie  Dio- 
genes es  getan  hat  Denn  die  Sinne  können  d^n  nach 
Wahrheit  Forschenden  nur  Erscheinungen  der  Natur 
bieten,  welche  ihn  bestimmen,  ihre  Ursachen  aufzu- 
suchen; aber  sie  können  niemals  das,  was  der  V^- 
stand  klar  und  deutlich  als  wahr  erkannt  hat»  als 
falsch  darlegen.  Dies  ist  meine  Ansicht  und  mein 
Verfahren;  ich  will  die  Dinge,  die  ich  behandle»  durch 
Gründe,  die  der  Verstand  klar  und  deutlich  eingesehen 
hat»  beweisen,  ohne  auf  das,  was  die  Sinne  ^tgegen 

80  angeben,  zu  achten;  denn  die  Sinne  können,  wie  ge- 
sa^  den  Verstand  nur  bestimmen,  eher  dies  als  jenes 
zu  untersuchen,  aber  sie  können  das  klar  und  deut- 
lich Erkannte  nicht  als  falsch  darlegen. 

Iiehrsatz  YII. 

Kein  Körper  tritt  an  die  Stelle  eines  anderen,  wenn  mdU 
gugleieh  dieser  an  die  Stelle  wieder  eines  anderen  KSrpers  tritt. 

Beweis.  (Man  sehe  die  Figur  zu  Lehrs.  8.)  Be- 
streitet man  dies,  so  setze  man,  wenn  es  möglich  ist» 
der  Körper  A  nehme  die  Stelle  des  Körpers  B  ein, 
40  welchen  B  ich  als  mit  A  gleich  annehme,  und  der  von 


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1  B'l 


Lehnais  \U,  YHL  69 

seinem  Orte  niclit  weicht  Mithin  wird  der  Baum, 
der  Im  äaidn  nur  B  enthielt»  jetzt  (nach  der  An- 
nahme) A  und  B,  also  das  Doppelte  an  körperlicher 
Substanz  gegen  vorher  enthalten,  was  (nach  liohr- 
satz  4,  II)  widersinnig  ist  Deshalb  tritt  kein  Körper 
an  die  Stelle  eines  anderen  ohne  tl  s.  w.  W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  YIIL 

Wenn  an  Körper  an  die  Stelle  anee  anderen  tritt,  so 
wird  gldchzeUig  »eine  van  ihm  verlassene  Stelle  von  dnem 
anderen  Körper  eingenommen,  der  ihn  unmittelbar  berührt.  10 

Beweis.  Wenn  der  Körper  B  sich  nach  D  be- 
wegt, so  werden  gleichzeitig  die 
Körper  A  und  C  sich  dnander 
nahem  und  ^tweder  einander  be- 
rühren oder  nicht  Geschieht  erste- 
res,  so  wird  das  damit  Gesagte  an-  .„    , 

erkannt  Nähern  sie  sich  einander  L..!Ü1.  J 

nicht,   und  liegt  der  ganze  vonB  — g— 

verlassene  Raum  zwischen  A  und 

G,  so  liegt  ein  dem  B  gleicher  Körper  (nach  Zus.  zu  20 
Lehrs.  2,  11  und  Zus.  zu  Lehrs.  4,  II)  dazwischen. 
Aber  (nach  der  Annahme)  nicht  derselbe  B;  also  ein 
anderer  Körper,  der  in  demselben  Augenblick  seine 
Stelle  einnimmt  und  da  dieses  Einnehmen  in  dem- 
selben Augenblick  erfolgt,  so  kann  dies  nur  ein  den 
B  berührender  Körper  sein;  nach  ErL  zu  Lehrs.  6,  11, 
wo  ich  gezeigt  habe,  daß  es  keine  Bewegung  von 
einem  Orte  nach  einem  anderen  gibt,  die  nicht  eine 
Zeit  erfordert  welche  niemals  die  allerkürzeste  ist 
Daraus  folgte  daß  der  Kaum  des  Körpers  B  nur  von  80 
einem  solchen  gleichzeitig  eingenonmien  werden  kann, 
der  sich  zu  dem  Behuf  durch  keinen  Baum  zu  bewegen 
braucht  ehe  er  diese  Stelle  einnehmen  kann.  Also 
kann  nur  ein  den  B  unmittelbar  berührender  Körper 
gleichzeitig  dessen  Stelle  einnehmen.   W.  z.  b.  w. 

ErlEutenmg. 

Da  die  Stoffteile  sich  wirklich  von  einander  unter- 
scheiden (nach  §  61,  T.  I  der  Prinzipien),  so  kann 


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70  PrinsipieD.    Zweiter  Teil. 

der  eine  ohne  den  anderen  existieren  (nach  Zns.  sa 
Lehrs.?,  I),  und  sie  hängen  nicht  von  einander  ab. 
Deshalb  sind  alle  jene  Erdichtungen  über  Sjanpathi^i 
und  Antipathien  als  falsch  zu  verwerfen.  Femer  muj] 
die  Ursache  einer  Wirkung  immer  etwas  Positives 
sein  (nach  6r.  8,  T.  I),  und  man  kann  deshalb  nie- 
mals sagen,  daß  ^in  Körper  sich  bloß  deshalb  be- 
wegt,  damit  kein  Leeres  entsteht;  vielmehr  bedarf 
es  dazu  des  Stoßes  durch  einen  anderen.®^) 
10         Zusatz.    Bei  jeder  Bewegung  bewegt  sich 
gleichzeitig   ein   ganzer  Kreis  von  Körpern. 
Beweis.  Zu  der  Zeit^  wo  der  Körper  1  die  Stelle 
von  Körper  2    einnimmt^    muß 
dieser  an  die  Stelle  eines  an- 
deren, etwa  S,  eintreten  und  so 
fort  (nach  Lehrs.  7,  II).  Femer 
^i^      ^^**^*^^   °^^  ^  demselben  Zei^unkt,  wo 
der  Körper  I  die  Stelle  des  Kör- 
pers 2  einnimmt,  die  vom  Kör- 
20  ^**— i--*-^         per  1  verlassene  Stelle  von  einem 

anderen  eingenommen  werden 
(nach  Lehrs.  8,  II),  etwa  von  Körper  8  oder  einem 
anderen,  der  den  Körper  1  unmittelbar  berührt.  Da 
dies  nun  nur  durch  den  Stoß  eines  andere  Körpers 
geschehen  kann  (nach  der  vorstehenden  Ek*lauterung), 
als  welcher  hier  Körper  1  angenommen  wird,  so  könn^i 
diese  sämtlich  bewegten  Körper  sich  nicht  in  ein^ 
geraden  Linie  befinden  (nach  Gr.  21),  sondern  be- 
schreiben (nach  Def.  9)  eine  vollständige  in  sich  zu- 
80  rückkehrende  Linie. 

LekrsatB  IX. 

Wenn  der  Kanal  ABC  mit  Waaaer  angefüttt  ist  und 
er  bei  A  viermal  breiter  aU  hei  B  iit^  so  wird  m  der- 
selben Zeit,  ioo  jenes  Wasser  (oder  eine  andere  Flüssigkeit), 
was  bei  A  ist,  sieh  nach  B  gu  bewegen  beginnt^  das  bei  B 
befindliche  Wasser  sieh  viermal  schneller  bewegen. 

Beweis.    Wenn  sich  das  ganze  Wasser  bei  A 

nach  B  bewegt,  so  muß  gleichzeitig  ebensoviel  Wasser 

von  G  aus,  das  A  unmittelbar  b^ührt,  seine  Stelle 

40  einnehmen  (nach  Lehrs.  8,  II),  und  aus  B  muß  ebeur 


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LehnatB  IX,  X. 


71 


soviel  Wasser  die  Stelle  G  einnehmen  (nach  dein- 
Belbeo  Lehrsatz),  folglich  maß  es  sich  bei  B  vi^- 
mal  so  schnell  bew^en 
(nach  Gr.  14).  W.  %. 
b.  w. 

Was  hier  von  einem 
kreifinmden  Kanal  ge- 
sagt ist^  gilt  auch  von 
allen  ungleichen  Räu- 
mai,  durch  welche  die 
sich  gleichzeitig  be- 
wegenden Körper  hin- 
dnrcl^ehen  sollen;  der 
Beweis  hierfür  bleibt  im 
übrigen  derselbe.^) 

LehMats. 

Wenn  zwei  Halbkreise  um  denselben  Mittelpunkt 
beschrieben  werden,  wie  A  und  B,  so  bleibt  der  Kaum 
zwischen  beiden  Peripherien  sich  überall  gleich;  werden 


äe  aber  um  verschiedene  Mittelpunkte  beschrieben,  20 
wie  C  und  D,  so  ist  dieser  Raum  zwischen  beiden 
Peripherien  überall  ungleicL 

Der  Beweis  ergibt  sich  aus  d^  bloßen  Definition 
des  Kreises. 

Lehrsatz  X. 

Min/t  Flüssigkeit,  die  eich  durch  den  Kanal  ABC  (in 
der  Figur  tu  Lehn,  9)  bewegt,  nimmt  unendlich  viele  ver- 
Mchiedene  Geednicindigkeitegrade  an. 

Beweis.  Der  Baum  zwischen  A  und  B  ist  überall 
ungleich  (nach  dem  vorstehenden  Lehnsatz);  deshalb  80 
wird   (nach   Lehrs.  9,   II)    die  Geschwindigkeit^   mit 


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72  Prinzipien.    Zweiter  TeiL 

der  sich  die  Flüssigkeit  durch  den  Eanal  ABC 
bewegt,  überall  ungleich  seuL  Da  man  ferner  zwischen 
A  uä  B  sich  unendlich  viele  kleinere  und  größte 
Baume  vorstellen  kann  (nach  Lehrs.  6,  II),  so  stellt 
man  sich  auch  die  räumlichen  Ungleichheiten  überall  in 
unendlicher  AnsÄl  vor,  und  deshalb  werden  der  Grade 
der  Geschwindigkeit  (nach  Lehrs.  9,  II)  unendlich  viele 
sein.   W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XL 

10  In  dem  durdi  den  Kanal  ABC  (Figur  zu  Lehrs.  9) 

fließenden  Stoffe  gibt  es  eine  Teüung  in  unendlich  vide  Teüe, 
Beweis.  Der  durch  den  Kanal  ABC  fließende 
Stoff  erlangt  gleichzeitig  unendlich  viele  Grade  dear 
Geschwindigkeit  (nach  Lehrs.  10,  II),  also  hat  er  (nach 
Gr.  16)  unendlich  viele  wirklich  verschiedene  Teile. 
W.  z.  b.  w.  Man  sehe  §  34  und  35,  T.  II  der  Prin- 
zipien. •«) 

Erlftutemng. 

20  Bis  hierher  habe  ich  von  der  Natur  der  Be- 
wegung gehandelt  Ich  muß  nun  deren  Ursache  unter- 
suchen, die  zwiefach  ist;  nämlich  eine  erste  oder 
allgemeine,  welche  die  Ursache  aller  in  der  Welt  vor- 
handenen Bewefinmgen  ist  und  eine  besondere,  durch 
welche  die  einzem^i  Stoffteile  Bewegungen  empfangen, 
die  sie  früher  nicht  gehabt  haben.  Da  man  (nach 
Lehrs.  14,  I  und  Erl.  zu  Lehrs.  17,  I)  nur  das  klar 
und  deutUch  Erfaßte  zulassen  kann,  so  kann  man 
offenbar  als  allgemeine  Ursache  nur  Gott  annehmen, 

30  da  keine  andere  Ursache  außer  ihm  (als  dem  Schöpfer 
des  Stoffes)  klar  und  deutlich  eingesehen  werden 
kann,  und  was  ich  hier  von  der  Sewegung  sage^ 
gilt  auch  für  die  Ruha 

Lehrsatz  XJl. 

Ghtt  ist  die  Qrundursadie  (causa  prineipaUs)  der  Be- 
wegung, 

Beweis.     Man    sehe    die    vorstehende    Erläu- 
terung. 


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Lehnati  XHI,  XIV.  78 

L«linati  Xm. 

Dieselbe  Menge  (quaiMas)  v<m  Bewegung  und  Buhe,  die 
€Mt  dem  Stoffe  einmal  verliehen  hat,  erhäU  OM  auch  durch 
seinen  Beistand, 

Beweis.  Da  Gott  die  Ursache  der  Bewegmg  und 
Buhe  ist  (nach  Lehrs.  12,  II),  so  erhalt  er  sie  auch 
durch  dieselbe  ICacht,  durch  die  er  sie  erschaffen  hat 
(nach  Gr.  10,  I),  und  zwar  in  derselben  Menge,  in 
der  er  sie  anfinglich  erschaffen  hat  (nach  Zus.  zu 
Liehrs.  20,  I).    W.  z.  b.  w.  10 

Erllntenuiir  1. 

Obgleich  es  in  der  Theologie  heißt^  daß  Gott 
vieles  nach  seinem  Belieben  tue,  um  seine  Macht  den 
Menschen  zu  zeigen,  so  kann  doch  das,  was  nur  von 
seinem  Belieben  abhangt,  allein  durch  die  göttliche 
Offenbarung  bekannt  werden,  und  deshalb  &rf  dies 
in  der  Phik«K>phie^  wo  nur  das,  was  die  Vernunft  lehrt, 
erforscht  wird,  nicht  zugelassen  werden,  damit  nicht 
die  Philosophie  mit  der  Theologie  vermengt  wird. 

Erlftuternng  2.  20 

Obgleich  die  Bewegung  an  dem  bewegten  Stoffe 
nur  ein  Zustand  ist,  so  hat  sie  doch  eine  feste  und 
bestimmte  Menge,  und  es  wird  sich  im  folgenden 
zeigen,  wie  dies  zu  verstehen  ist  Man  sehe  §  36, 
T.  n  der  Prinzipien. 

Lehrsatz  XIT* 

Jedes  Ding,  sofern  es  einfach  und  ungeteilt  ist  und  an 
sich  alldn  betrachtet  wird,  verharrt,  sofern  an  ihm  Uegt, 
immer  in  demselben  Zustande.  ^) 

Dieser  Satz  gilt  bei  vielen  als  ein  Grundsatz;  ich  80 
will  ihn  aber  beweisen. 

Beweis.  Da  alles  in  einem  bestimmten  Zustande 
nur  durch  Gottes  Beihilfe  sein  kum  (nach  Lehrs.  12, 
I),  und  Gott  in  seinen  Werken  höchst  beständig  ist 
(nach  Zus.  zu  Lehrs.  20,  I),  so  muß  man  zugeben, 
wenn  man  auf  keine  äußeren,  d.  h.  besonderen  Ur- 
sachen achtet,  sondern  das  Ding  nur  an  sich  selbst 


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74  Prinripion.    Zweiter  Teil. 

betrachtet,  daß  ee  an  Bich  selbst  in  deinem  gegen- 
wärtigen Zustand  immer  verharren  wird.   W.  z.  b.  w. 

Zusatz.  Ein  Körper,  der  einmal  in  Be- 
wegung ist,  wird  in  seiner  Bewegung  immer 
fortfahren,  wenn  nicht  äußere  Ursachen  ihn 
aufhalten. 

Beweis.  Dies  erhellt  aus  dem  vorstehenden  Lehr- 
satz. Um  indes  falsche  Vorstellungen  über  die  Be- 
wegung zu  berichtigen,  lese  man  §  37,  88,  T.  II  der 
10  Prinzipien  nach. 

Lehrsatz  XY. 

Jeder  bewegte  Körper  hat  an  sich  das  Bestrehen,  sich 
in  gerader  Linie  und  nicht  in  einer  Kurve  zu  bewegen,  ^*) 

Man  könnte  diesen  Satz  zu  den  Grundsätzen  rechnen, 
indes  will  ich  ihn  aus  dem  Vorhergehenden  beweisen: 

Beweis.  Da  die  Bewegung  (nach  Lehrs.  12,  H) 
nur  Gott  zur  Ursache  hat,  so  hat  sie  aus  sich  selbst 
keine  Kraft,  zu  existieren  (nach  Gr.  10,  I),  sondern 
wird  in  jedem  Augenblick  von  Gott  gleichsam  neu 
20  geschaffen  (nach  dem  bei  dem  erwähnten  Grundsatz 
Bewiesenen).  Solange  man  daher  auf  die  bloße  Natur 
der  Bewegung  achüiaty  wird  man  ihr  nie  eine  solche 
Dauer,  ab  ihr  von  Natur  zukommend,  zuschreiben 
können,  die  größer  als  eine  andere  vorgestellt  wer- 
den kann.  Sagt  man  aber,  es  gehöre  zur  Natur  eines 
bewegten  Körpers,  daß  er  eine  Kurve  in  seiner  Be» 
wegung  beschreibt,  so  würde  man  der  Natur  seiner 
Bewegung  eine  längere  Dauer  zuteilen,  als  wenn  man 
annimmt,  es  gehöre  zur  Natur  eines  bewegten  Kör- 
80  pers»  daß  er  sich  in  gerader  Linie  zu  bewegen  strebt 
(nach  Gr.  17).  Da  man  nun  (wie  bewiesen)  eine  solche 
Dauer  der  Natur  der  Bewegung  nicht  zuschreiben 
kann,  so  kann  man  es  auch  nicht  als  zur  Natur  der 
Bewegung  gehörig  ansehen,  daß  er  in  irgend  einer 
Kurve  sich  bewegt  sondern  er  kann  sich  demnach  nur 
in  gerader  Linie  bewegen.  W.  z.  b.  w. 

Erlftutenuig« 

Dies«  Beweis  scheint  für  manche  vielleicht  eben- 
sowenig zu  beweisen«  daß  zur  Natur  der  Bewegung 


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Lefanatc  XV,  XVI.  75 

die  kromme  wie  die  geradlinig  Richtung  gehöre, 
und  zwBF  deshalb,  weil  man  keine  gerade  Linie  an- 
geben kann,  über  die  hinaua  ea  kmne  kleinere  gerade 
oder  kromme  geben  kann,  nnd  ebenso  keine  Kurve, 
ober  die  hinaus  es  nicht  eine  kleinere  Kurve  geben 
kann.  Allein  selbst  in  Anbetracht  dessen  halte  ich 
doch  den  Beweis  für  richtig  geführt»  da  er  bloß  ans 
dem  allgemeinen  Wesen  (esutuiat  oder  ans  dem  wesent- 
lichen unterschied  der  Linien  das  za  Beweisende 
fo^ert  nnd  nidit  ans  der  Größe  oder  dem  sofilligen  10 
Unterschied  derselben.  Um  indes  die  an  sich  hinli^- 
üch  klare  Sache  dnrch  den  Beweis  nicht  dunkler  sa 
machen,  verweise  ich  den  Leser  bloß  auf  die  De^ 
finition  der  Bewegung,  die  von  derselben  nur  aus- 
sagt, daß  ein  Stoff  teil  aus  der  Nachbarschaft  u.  s.  w. 
in  die  Nachbarschaft  anderer  u.  s.  w.  übergeführt 
werde.  Fassen  wir  nun  diese  Überführung  nicht  in  der 
ein&chsten  Weise  auf,  d.  h.  so,  daß  sie  geradlinig 
geschieht,  so  setzt  man  der  Bewegung  etwas  hinzu, 
was  in  ihrer  Definition  oder  ihrem  Wesen  nicht  eair  20 
halten  ist  und  daher  auch  nicht  zu  ihrer  Natur 
gehört 

Zusatz.  Aus  diesem  Lehrsatz  folgt»  daß  jeder 
in  einer  Kurve  sich  bewegende  Körper  fortwährend 
von  der  Linie»  in  der  er  sich  an  und  für  sich  weiter- 
bewegen würde,  abweicht^  und  zwar  durch  die  Kraft 
irgend  einer  äußeren  Ursache.   (Nach  Lehrs.  14,  IL) 

LehnatB  XTI. 

Jedar  KSrper,  der  m^  im  Krem  bewegt,  wU  z,  B,  der 
8Um  t»  der  Sehimder,  wird  fortwahrend  hettmmt,  ftdk  in  30 
der  BkMvmg  der  Tangente  forieubewegen. 

Beweis.  Ein  im  Kreise  bewegter  Körper  wird 
immer  durch  eine  äußere  Kraft  gehindert^  mch  in 
gerader  Linie  weiterzubewegen  (nach  dem  vor- 
gehenden Zusats),  und  hört  diese  Kraft  auf,  so  be- 
ginnt der  Körp^  von  selbst  sich  geradeaus  fortzu- 
bewegen (nach  Lehrs.  16).  Ich  sage  femer,  daß  ein 
im  &e]se  bewegter  Körper  durch  eine  äuß^e  Ur- 
sache bestimmt  wird,  sich  in  der  Bichtung  der  Tangente 
weiterznbewegen.  Wenn  man  dies  bestreitet^  so  setze  40 


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76 


Prinsipien.    Zweiter  TeiL 


man,  daß  z.  B.  der  Stein  in  B  von  der  Schleuder  nicht  in 
der  Richtung  der  Tangente  BD  bestimmt  werde,  sondern 
nach  einer  anderen  Richtung,  welche  von  diesem 
Punkte  aus  innerhalb  oder  außerhalb  des  Kreises  vor- 
gestellt wird,  z.  B.  nach  BF,  wenn  die  Schleuder 
aus  dem  Teile  L  nach  B  gehend  vorgestellt  wird, 
oder  nach  B6  (von  der  ich  annehme,  daß  sie  mit 
der  Linie  BH,  die  von  dem  Mittelpunkt  durch  den 
Halbkreis  gesogen  wird  und  diesen  in  B  schneidet, 
10  einen  Winkel  bildet,  der  dem  Winkel  FBH  gleich 
ist),    wenn   umgekehrt  langenommen   wird,    daß   die 


Schleuder  von  dem  Teil  G  nach  B  gelangt  Wird 
nun  angenommen,  daß  der  Stein  im  Punkte  B  an 
der  Schleuder,  die  von  L  nach  B  sich  im  Kreise  be- 
wegt, bestimmt  wird,  sich  nach  F  fortzubewegen, 
so  muß  notwendig  (nach  Gr.  18),  wenn  die  Schleuder 
in  umgekehrter  Richtung  von  G  nach  B  sich  bewegt^ 
der  Stein  in  einer  der  Linie  B  F  entgegengesetzt^! 
Richtung  sich  zu  bewegen  fortfahren  und  wird  des- 
20  halb  nach  K  und  nicht  nach  G  hintreiben,  was  gegen 
die  Annahme  geht  Da  nun*)  keine  Linie  mit  Aus- 
nahme der  Tangente  durch  den  Punkt  B  geführt  werden 
kann,   welche  mit  der  Linie  BH  auf  beiden  Seiten 


*)  Dies  erhellt  aus  Lehnate  18  und  19,  Baoh  III  der  Ele- 
mente Yon  Euklid.    (A.  v.  Sp.) 


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Lehnats  XVI.  77 

gleiche  Winkel,  wie  DBH  und  ABH  bildet»  so  ist 
die  Tangente  allein  imstande^  dn  und  deraelben  An- 
nahme nicht  sawiderzohandeln,  mag  nun  die  Schleudw 
sich  von  L  nach  B  oder  von  G  nach  d  bewegen,  und  man 
kann  deshalb  nur  die  Tangente  als  die  Linie  sa- 
bssen,  in  welcher  der  Stein  sich  f ortsabewegen.  strebt 
W.  s.  b.  w. 

Ein  anderer  Beweis.  ^0  IC&i^  nehme  statt  eines 
Kreises  ein  Sechseck,  das  in  den  Kreis  ABH  einge- 


zeichnet ist,  und  der  Körper  G  soll  auf  der  einen  10 
Seite  AB  in  Buhe  sich  befinden;  sodann  stelle  man 
sich  ein  Lineal  D  B  £  vor  (dessen  eines  Ende  im 
Mittelpunkt  D  fest  ist^  und  dessen  anderes  beweg- 
lich ist),  das  sich  um  den  Mittelpunkt  D  bewegt  und 
dabei  die  Linie  AB  fortwahrend  durchschneidet  Hier 
erhellt^  daß,  wenn  das  Lineal  D  B  E  ach  so  fortbewegt, 
es  den  Körper  G  su  dem  Zeitpunkte  treffen  wird,  wo 
es  die  Linie  AB  unter  den  rechten  Winkeln  durch- 


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78  FrinzipieD.    Zweiter  Teil. 

schneidet,  und  daß  es  den  Körper  G  durch  seinen 
Stoß  bestimmen  wird,  in  der  geraden  Linie  FBAG 
sich  nach  G  zu  bewegen,  d.  h.  nach  der  ins  Un- 
endliche verlängerten  Seite  AB.  Wir  haben  aber  hier  das 
Sechseck  nur  ganz  beliebig  angenommen,  und  dasselbe 
wird  auch  von  jed»  anderen  Figur  gelt^  die  man 
sich  als  in  diesen  Kreis  eingezeicbiet  vorstellen  kann; 
nämlich  daß,  wenn  der  Körper  C,  der  auf  einer  Seite 
der  Figur  in  Buhe  ist,  von  dem  Uneal  DHE  zu  der 

10  Zeit  gestoßen  wird,  wo  es  diese  Seite  im  rechten 
Winkel  schneidet,  der  Körper  von  dem  Lineal  bestimmt 
werden  wird,  sich  nach  der  Richtung  dieser  ins  un- 
endliche verlängerten  Seite  weiterzubewegen.  Man 
stelle  sich  daher  statt  eines  Sechsecks  eine  gerad- 
linige Figur  von  unendlich  vielen  Seiten  vor  (i  h. 
einen  Kreis  nach  der  Definition  des  Archimedes),  so 
erhellt,  daß  das  Lineal  DHE  den  Körper  C,  wo  es 
ihn  auch  treffe  wird,  immer  zu  der  Zeit  treffen 
wird,   wo  es  eine  Seite  einer  solchen  Figur  recht- 

20  winkelig  durchschneidet  Somit  wird  es  den  Körper  C 
nie  treffen,  ohne  ihn  nicht  zugleich  zu  bestimmen, 
daß  er  fortfahre,  sich  in  der  Richtung  der  ins  Un- 
endliche verlängerten  Linie  fortzubewegen.  Da  nun 
jede  nach  beiden  Richtungen  verlängerte  Seite  immer 
außerhalb  der  Figur  fallen  muß,  so  wird  eine  solche 
unbestimmt  verlängerte  Seite  die  Tangente  einer  Figiir 
von  unendlich  vielen  Seiten,  d.  h.  eines  Kreises  sein. 
Stellt  man  sich  nun  statt  eines  Lineals  eine  im  Kreise 
sich  bewegende  Schleuder  vor,  so  wird  sie  den  Stein 

30  fortwährend  bestimmen,  sich  in  der  Richtung  d^ 
Tangente  fortzubewegen.   W.  z.  b.  w. 

Man  bemerke,  daß  beide  Beweise  sich  jeder  beliebigen 
krummlinigen  Figur  anpassen  lassen. 


Lehrsate  XTII. 

Jeder  im  Kreise  bewegte  Körper  strebt  da/nach,  sich  v<m 
dem  MUtdpunkt  des  Kreises,  den  er  beschreibt,  zu  entfernen. 

Beweis.  Solange  ein  Körper  sich  im  Kreise  be- 
wegt, wird  er  von  einer  äußeren  Ursache  getrieben, 
mit  deren  Aufhören  er  sich  in  der  Richtung  der  TaiH 


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LehreaU  XVII,  XVin. 


79 


geate  zu  bewegen  fortßhrt  (nach  dem  vorhergehendeD 
Lehrsatz),  von  der  alle  Pimkte  big  auf  den,  wo  sie 
dffli  Kreis  berührt,  außerhalb  des  Ereisee  fallen 
(nach  Lehrs.  16,  Buch  8  der 
Eaemente  von  Euklid),  und 
deshalb  von  dem  Kreise 
weiter  abstehen«  Deshalb 
strebt  der  in  der  Schleuder 
£A  befindliche  im  Kreise 
bewegte  Stein,  wenn  er  im 
Punkt  A  ist,  sich  in 
der  Geraden  fortzube- 
wegen, deren  Punkte  sämt- 
lich von  dem  Mittelpunkte 
E  weiter  abstehezi,  als 
alle  Punkte  iear  Peripherie 
LAB,  d.  L  er  strebt  da- 
nach, sich  von  dem  Mittel- 
punkte des  Kreises,  den 
er  beschreibt,  zu  entfernen. 
W.  z.  b.  w. 


Lehrsatz  XYIII. 

Wenn  sich  ein  Körper,  etwa  A,  gegen  einen  ruhenden 
Körper  B  bewegt,  wnd  B  trotz  des  Stoßes  dwrch  A  nichts 
von  seiner  Buht  verliertj  so  wird  auch  A  nichts  von  seiner 
Bewegung  verlieren,  sondern  dieselbe  Bewegwngsquantität 
(qi»amtitas  nwtus),  die  er  früher  hatte,  ganz  behalten.  ''>) 

Beweis.  Wenn  man  dies  bestreitet»  so  nehme 
man  an,  der  Körper  A  verliere  etwas  von  seiner 
Bewegung,  ohne  die  verlorene  Bewegung  auf  einen  80 
anderen  Körper,  etwa  B,  zu  übertragen;  dwm  wird 
es  in  der  rfatur,  wenn  dies  geschieht,  eine  ge- 
ringere Bewegungsquantität  als  vorher  geben,  was 
widersinnig  ist  (nach  Lehrs.  13,  II).  Ebenso  geschieht 
der  Beweis  mit  Bezug  auf  die  Buhe  in  dem 
Körper  B;  deshalb  wird,  wenn  keiner  von  beiden 
etwas  von  sich  auf  den  anderen  überträgt,  B  seine 
ganze  Ruhe  und  A  seine  ganze  Bewegung  behalten. 
W.  z.  b.  w. 


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80  Prinzipien.    Zweiter  Teil. 

Lehrsatz  XIX« 

Die  Bewegung  igt,  an  vnd  für  sich  hdraehUt,  vcn  ihrer 
JRiMung  tuu^  einem  hestinwUen  Ort  hin  verschieden ,  und 
es  ist  nicht  nötig,  daß  ein  Korper  deshalb,  weil  er  in  der 
entgegengesetzten  BicMung  sich  bewegen  oder  zwriUkgestofien 
werden  sollt  eine  Zeitlang  rtM. 

Beweis.  Man  setze,  wie  vorstehend,  daß  der 
Körper  A  sich  in  gerader  Linie  gegen  den  Körper 
B  bewegt  und  von  B  an  der  weiteren  Bewegung  ge- 
10  hindert  wird;  dabei  wird  er  (nach  dem  Vorstehenden) 
seine  ganze  Bewegung  behalten  nnd  keinen  Augen- 
blick ruhen;  allem  bei  seiner  fortgesetzten  Be- 
wegung kflorn  er  nicht  die  frühere  Richtung  einlialten, 
da  angenommen  wurde,  daß  er  hierin  von  B  gehemmt 
werde;  also  wird  er,  olme  daß  seine  Bewegung  an  sich 
abnimmt,  nur  mit  Verlust  der  früheren  Richtung  sich  in 
der  entgegengesetzten  Richtung  bewegen  (nach  dem 
in  Kap.  2  der  Dioptrik  Gesagten);  deshalb  gehört 
(nach  Gr.  2)  die  Richtung  nicht  zu  dem  Wesen  der 
20  Bewegung,  sondern  ist  davon  verschieden,  und  der  be- 
wegte Körper  ruht,  wenn  er  in  dieser  Weise  zurück- 
gestoßen wird,  keinen  Augenblick.   W.  z.  b.  w. 

Zusatz.  Hieraus  folgt,  daß  keine  Bewegung  einer 
anderen  Bewegung  widerspricht. 

Lehrsatz  XX. 

Wenn  der  ESrper  Ä  dem  Körper  B  begegnet  und  ihn 
miit  sich  fährt,  so  toird  Ä  so  viel  von  seiner  Bewegung  ver- 
lieren, ais  B  bei  dieser  Begegnung  mU  A  von  düesem  erhäU. 
Beweis.  Wenn  man  dies  bestreitet^  so  nimmt 
80  man  damit  an,  daß  B  mehr  oder  weniger  erhalt,  als 
A  verliert;  dann  muß  dieser  ganze  Unterschied  der 
Bewegungsquantität  der  gesamten  Natur  zuwachsen 
oder  abgehen,  was  (nach  Lehrs.  13,  II)  widersinnig  ist 
Kann  also  der  Körper  B  weder  mehr  noch  weniger  er- 
halten, so  kann  er  nur  so  viel  erhalten,  als  A  .ver- 
liert   W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XXI. 

Ist  A  dqppdt  so  groß  als  B,  und  bewegt  es  sich  ebenso 
schnell,  so  wird  A  auch  noch  einmal  so  viel  Bewegung  als 


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Ldhnati  XXI,  XXII.  81 

B  haben  oder  Aoeft  einmal  $o  vid  Kraft,  um  die  gUieke 
Qt9ckwindigkeU  mit  B  emtsiihaUen, 

Beweis.  Man  setze  z.B.  statt A  zweimal B,  d. L 
(nach  der  Annahine)  ein  in  zwei  Teile  geteiltes  A, 
80  wird  jedes  dieser  beiden  B  die  Kraft  haben,  in 
demselben  Zustande  za  verharren,  in  dem  es  sich  be- 
findet (nach  Lehrs.  14,  II),  und  diese  Kraft  ist  in 
beiden  B  gleich  (nach  der  Annahme).  Werd«i  nun 
diese  beiden  B  verbunden,  während  sie  ihre  Greechwin- 
digkeit  behalten,  so  entsteht  damit  ein  A,  dessen  Kraft  tO 
mä  Menge  den  beiden  B  s^leich  oder  das  Doppelte 
eines  B  sein  wird«    W.  z.  b.  w. 

Übrigens  folgt  dies  auch  aus  der  bloßen  Definition  der 
Bewegung.  Je  größer  nämlich  der  bewegte  Körper  ist,  desto 
mehr  Stoff  kann  sich  von  dem  anderen  abtrennen,  aiso  gibt 
es  mehr  Trennung,  d,  h.  (nach  Def,  VIII)  mehr  Bewegung. 
Man  sehe,  was  ich  unter  Nr.  4  über  die  Definition  der  Bc" 
wegung  gesagt  habe. 

Lehrsati  XXU. 

Ist  der  Körper  A  dem  Körper  B  gkich,  und  bewegt  20 
sieh  A  noch  einmal  so  schneü  als  B,  so  ist  die  Kraft  oder 
Bewegung  in  A  noch  einmal  so  groß  ab  die  in  B. 

Beweis.  Man  setze,  daß  der  Körper  B,  als  er 
sich  zuerst  in  Bewegung  setzte,  vier  Greschwii^igkeits- 
grade  erhalten  hat  Kommt  nun  nichts  hinzu,  so 
wird  er  fortfahren,  sich  zu  bewegen  (nach  Lebr- 
satz  14,  II)  und  in  seinem  Zustand  zu  verharren. 
Nun  nehme  man  an,  daß  er  durch  einen  fkeuen, 
dem  ersten  gleichen  Stoß  eine  neue  Kraft  hinzu 
erlangt,  so  wird  er  zu  den  vier  ersten  Graden  neue  do 
vier  Grade  Geschwindigkeit  erlangen,  die  er  auch 
(nach  demselben  Lehrsatz)  beibehalten  wird;  d.  h. 
er  wird  sich  noch  einmal  so  schnell,  d.  h.  gleich 
schnell  wie  A  bewegen  und  zugleich  die  doppelte 
Kraft  gegen  seine  frühere,  d.  h.  eine  dem  A  gleiche 
Kraft,  habeu.  Also  ist  die  Bewegung  in  A  die  dop- 
pelte von  der  in  B.   W.  z.  b.  w. 

Man  bemerke^  daß  ich  hier  unter  Kraft  in  den  be- 
wegten Körpern  die  Menge  der  Bewegung  verstehe,  welche 
Menge  in  gleich  großen  Körpern  mit  der  Geschwindigkeit  der  40 

Spinosa,  Prlnslpieii  Ton  Besoartea.  6 

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62  Prinzipien.    Zweiter  Teil. 

Bewegung  wachsen  muß,  insofern,  ai$  durch  diese  GeschtoMUg- 
keit  gleich  große  Körper  »ich  von  den  sie  uwmitUlbar  he- 
rührenden  Körpern  in  gleicher  Zeit  mehr  trennen,  ak4fienn 
sie  sich  langsamer  bewegten^  und  deshalb  (naef^  Def.  VIII) 
haben  sie  auch  mehr  Bewegung,  Dagegen  verstehe  ich  hei 
ruhenden  Körpern  unter  der  Kraft  des  Widerstandes  die 
Menge  der  Buhe.    Hieraus  ergibt  sich: 

Zueatz  1.  Je  langsamer  die  Körper  sich 
bewegen,  desto  mehr  haben  sie  teil  an  der 
10  Buhe;  denn  sie  widersteh^i  den  sich  schneller  be- 
wegenden und  ihnen  begegnende  Körpern,  die  eine 
geringere  Kraft  als  sie  säbst  haben,  mehr  und  trennen 
sich  auch  weniger  von  den  sie  unmittelbar  berührenden 
Körpern. 

Zusatz  2.  Bewegt  sich  A  doppelt  so.  schnell 
als  B,  und  ist  B  doppelt  so  groß  als  A,  so  ist 
ebensoviel  Bewegung  in  dem  großen  B  als  in 
dem  kleinen  A,  also  die  Kraft  in  beiden 
gleich.'») 
20  Beweis.  Wenn  B  doppelt  so  groß  als  A  ist,  und 
A  sich  doppelt  so  schnell  als  B  bewegt,  und  wenn 
femer  G  nur  halb  so  groß  ist  als  B  und  nur  halb 
so  schnell  als  A  sich  bewegt,  so  wird  B  (nach  Lehr- 
satz 21,  II)  eine  noch  einmal  so  große  Bewegung  und 
A  (nach  Lahrs.  22,  II)  desgleichen  eine  noch  einmal 
so  große  Bewegung  als  C  haben,  also  werden  A 
und  B  (nach  Gr.  16)  eine  gleiche  Bewegung  haben, 
da  beider  Bewegung  die  doppelte  von  G  ist  W.  z.  b.  w. 

Zusatz  8.  Hieraus  ergibt  sich,  daß  die  Be- 
80  wegung  von  der  Geschwindigkeit  verschieden 
ist;  denn  man  sieht  ein,  daß  von  Körpern,  die  gleiche 
Geschwindigkeit  haben,  der  eine  mehr  Bewegung  als 
der  andere  haben  kann  (nach  Lehrs.  21,  II),  und  daß 
umgekehrt  Körper  mit  ungleicher  Geschwindigkeit  eine 
gleiche  Bewegung  haben  können  (nach  Zus.  2).  Dies 
ergibt  sich  übrigens  auch  aus  der  bloßen  Definition 
der  Bewegung,  da  sie  nur  eine  Überführung  einee 
Körpers  aus  der  Nachbarschaft  u.  s.  w.  ist 

Es  ist  indes  hier  zu  bemerken,  daß  dieser  Zusatz  3  dem 

40  Zusatz  1  nicht  widerspricht;  denn  man  kann  die  Oesdwnndig- 

keit  auf  zweierlei  Art  auffassen,  entweder  danach,  wie  ein 

Körper  sich  mehr  oder  weniger  in  gleicher  Zeit  von  dem  ihn 


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LehnaU  XXU,  XXUI,  XXIV.  88 

unmitteB>ar  berührenden  Körper  trennt  und  demnach  mehr 
oder  weniger  an  der  Beweffttng  oder  Buhe  teilnimmt,  oder 
d^ui^,  wie  der  Körper  in  gleicher  Zeit  eine  größere  oder 
Ueinere  Linie  heechreibt  %tnd  insofern  eich  vo»  der  Bewegung 
unterscheidet. 

Ich  hätte  hier  noch  andere  Lehnsätze  kineufügen  können, 
um  den  Lehrs.  14,  II  weiter  zu  erklären  und  die  Kräfte  der 
Dinge  in  jedem  Zustande,  so  wie  es  hier  in  Bezug  auf  die 
Bewegung  geschehen,  zu  erläutern;  äüein  es  wird  genügen, 
wenn  man  hier  §  43,  T,  II  der  Prvnzipen  durchJliest,  und  10 
wenn  ich  hier  nur  noch  einen  Lehrsatz  anfüge^  der  zum  Ver- 
stänänis  des  Folgenden  erforderlich  ist, 

Lehnatz  XXUI. 

Wenn  die  Zustände  (modi)  eines  Körpers  eine  Ver- 
änderung  zu  erleiden  genötigt  werden,  so  wird  diese  Ver- 
änderung immer  die  kUinstmögUehe  sein."^*) 

Beweis.  Dieser  Lehrsatz  ergibt  sich  hinläng- 
lich klar  ans  L^s.  14,  11. 

Lehrsati  XXIT. 

Erste  Begeh    Wenn  zwei  Körper,  z.  B,  A  und  B,  an-  20 
ander  vollständig  gleich  sind  und  sich  gegen  einander  genau 
gleich  schneä  bewegen,  so  wird  bei  ihrer  Begegnung  jeder  ohne 
Verlust  an  seiner  Geschwindigkeit  nach  der  entgegengesetzten 
Bichtung  zurüdtpraüen. 

Bei  dieser  Annahme  ist  klar,  daß  zur  Aufhebung 
des  Gregensatzes  dieser  beiden  Körper  entweder  beide 
in  entgegengesetzter  Bichtung  zurückweichen  müssen» 
oder  daß  einer  den  anderen  mit  sich  fortreißen  muß» 
da  sie  einander  nicht  in  Bezu^  auf  die  Bewegung, 
sondern  nur  in  Bezug  auf  deren  Kichtung  (determinatio)  $0 
entgegengesetzt  sind. 

Beweis.  Wenn  A  und  B  auf  einander  treffen,  so 
müssen  sie  eine  Veränderung  erleiden  (nach  Gr.  19); 
nun  ist  aber  die  Bewegung  nicht  der  Bewegung 
entge^oigesetzt  (nach  Zus.  zu  Lehrs.  19,  II),  und  des- 
halb brauchen  sie  von  ihrer  Bewegung  nichts  ein- 
zubüßen (nach  Gr.  19).  Also  wird  die  Veränderung 
nur   die   Bichtung   betreffen;   aber  man   kann    sich 

6* 


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84  PrinzipieD.    Zweiter  Teil. 

nicht  vorstellen,  daß  die  Bichtimg  bloß  eines 
dieser  Körper,  etwa  die  von  B,  sich  ändert,  wenn 
nicht  A,  von  dem  sie  die  Verandernng'  erleiden  müßt^ 
als  starker  angenommen  wird  (nach  Gr.  20).  Dies 
ginge  aber  gegen  die  Voraussetzung;  wenn  sonach 
die  Änderung  der  Bichtung  bei  einem  allein  nicht 
erfolgen  kann,  so  wird  Sie  bei  beiden  geschehen,  in- 
dem A  und  B  in  entgegengesetzter  Bichtung  zurück- 
weichen (nach  dem  in  der  Dioptrik  Eap.  2  Gresagten), 
10  aber  dabei  ihre  Bewegung  unvermindert  beibehalten. 
W.  z.  b.  w.  '*) 

Lehrsatz  XXY. 

Zweite  BegeL  Wenn  die  beiden  Körper  in  ihrer  Masse 
ungleich  sind,  nämUeh  B  größer  ah  A^  im  <Ü)rigen  aÜes 
andere  so  vne  frOher  angenommen  wird,  so  wird  A  aUein 
gwrUekpraüen,  und  beide  Körper  werden  mit  derselben  Ge^ 
seihwindigheit  sieh  zu  bewegen  fortfahren,  ^*) 

Beweis.  Da  A  kleiner  als  B  angenommen  wird, 
so  hat  es  auch  (nach  Lehrs.  21,  II)  eine  geringere 
20  Kraft  als  B;  da  nun  bei  dieser  Annahme  ebenso  wie 
bei  der  vorhergehenden  d^  Gregensatz  bloß  in  den 
Sichtungen  liegt  und  daher,  wie  im  vorhergehenden 
LfChrsatz  gezeigt  worden,  die  Veränderung  nur  die 
Bichtung  treffen  kann,  so  wird  eine  solche  nur  in  A 
und  nicht  in  B  erfolgen  (nach  Gr.  20),  also  wird 
bloß  A  von  dem  stärkeren  B  in  die  entgegengesetzte 
Bichtung  zurückgestoßen  werden,  ohne  j^och  dabei 
an  seiner  Gleschwindigkeit  etwas  einzubüßen.  W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XXYI. 

80  Sind  die  Körper  sowohl  ihrer  Masse  wie  ihrer  Otsehwin-- 

digkeit  nach  verschieden,  nänUieh  B  nod^  einmal  so  groß 
als  Af  die  Bewegung  von  A  noch  einmal  so  sehneü  als  die 
von  B,  im  übrigen  aber  aües  wie  vorher,  so  werden  beide 
Körper  in  entgegengesetzter  Richtung  zwriJ^kpraJUen  und  jeder 
die  Q^sehwindigkeit,  die  er  hatte,  behalten, "") 

Beweis.  Da  A  und  B  nach  der  Annahme  sich 
gegen  einander  bewegen,  so  ist  in  dem  einen  so  viel 
Bewegung  als  in  dem  anderen  (nach  Zus.  2  zu  Lehrs. 
22,  IT).  Deshalb  steht  die  Bewegung  des  einen  zu  der 


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Lehwate  XXV,  XXVI,  XXVII.  85 

des  anderen  nicht  im  Gregensats  (nach  Zus.  sa  Lehrs. 
19,  II),  und  die  Kräfte  beider  sind  gleich  (nach  Zus. 
2,  Lehrs.  22,  II).  Daher  ist  diese  Annahme  der  An- 
nahme in  Lehrs.  24  ganz  ähnlich,  und  deshalb  werden 
gemäß  dem  obigen  Beweis  A  und  B  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  zurückprallen,  und  es  wird  dabei 
jeder  seine  gajize  Geschwindigkeit  behalten.  W.  z.  b.  w. 
Zusatz.  Aus  diesen  drei  vorhergehenden  Lehr- 
sätzen erhellt,  daß  die  Richtung  eines  Körpers  zu 
ihrer  Veränderung  ebensoviel  Kraft  erfordert  als  10 
die  Veränderung  seiner  Bewegung.  Hieraus  folgte  daß 
ein  Körper,  der  mehr  als  die  Hälfte  seinw  Richtung 
und  mehr  als  die  Hälfte  seiner  Bewegung  verlier^ 
eine  größere  Veränderung  erleidet  als  der,  welcher 
seine  ganze  Richtung  verliert 

Lehrsatz  XXTIL 

Dritte  Regel,  Sind  beide  Körper  der  Masse  ruu^  ein- 
ander gleich,  aber  bewegt  sieh  B  ein  wenig  schneller  als  Ä, 
so  unrd  nicM  aüHn  A  in  der  entgegengesetzten  Bichtting 
zurückweichen,  sondern  B  wird  auch  die  Hälfte  seines  Mehr  20 
an  G^esehwindigkeit  auf  A  übertragen,  und  beide  werden  dann 
mit  gleicher  Geschwindigkeit  sich  in  der  gleichen  Biehtung 
fortbewegen. 

Beweis.  A  ist  (nach  der  Annahme)  dem  B  nicht 
bloß  in  der  Richtung,  sondern  auch  in  der  Langsamkeit 
entgegengesetzt,  insoweit  diese  an  der  Ruhe  teilhat 
(nach  Zus.  zu  Lehrs.  22,  II).  Deshalb  wird  durch 
das  bloße  Zurückweichen  des  A  in  der  entgegenge- 
setzten Richtung  A  nur  in  der  Richtung  verändert 
und  daher  dadurch  nicht  aller  Gegensatz  oeider  Kör-  80 
per  aufgehoben.  Deshalb  muß  (nach  Gr.  19)  die  Ver- 
änderung sowohl  in  der  Richtung  als  in  der  Be- 
wegung eintreten,  und  da  B  nach  der  Annahme  sich 
sclmeller  als  A  bewegt,  so  ist  B  (nach  Lehrs.  22,  II) 
stärker  als  A,  und  deshalb  wird  (nach  Gr.  20)  die 
Veränderung  in  A  durch  B  geschehen  und  A  durch 
B  in  die  entgegengesetzte  Richtung  zurückgetrieben 
werden.   Dies  ist  das  Erste. 

Femer  ist  A,  solange  es  sich  langsamer  als  B 
bewegt,  diesem  entgegengesetzt  (nach  Zus.  1  zu  Lehr-  40 

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86  PrinzipieD.    Zweiter  Teil. 

satz  22,  II),  es  moO  also  solange  eine  Verandwung 
eintreten  (nach  Gr.  19),  bis  A  sich  nicht  mehr  lang- 
samer als  B  bewegt  Daß  nun  A  sich  schnelle  als 
B  bewegte^  dazu  wird  A  bei  dieser  Annahme  von  kräer 
hinreichend  starken  Ursache  genötigt;  wenn  also  A 
nicht  langsamer  als  B  sich  bewegen  kann,  weil  6b 
von  B  angestoßen  wird,  noch  auch  schneller  als  B, 
so  muß  A  sich  ebenso  schnell  wie  B  bewegen.  Wenn 
nun  B  weniger  als  die  Hälfte  seines  Mehr  an  Ge- 

10  sohwindigkeit  auf  A  übertrüge^  so  würde  A  sich  lang- 
samer als  B  zu  bewegen  fortfahren;  und  wenn  B 
mehr  als  die  Hälfte  seines  Mehr  an  Geschwindigkeit 
auf  A  übertrüge,  so  würde  A  sich  schneller  als  B  be- 
wegen; beides  ist  aber,  wie  bereits  gezeigt»  wider- 
sinnig; deshalb  wird  die  Veränderung  nur  so  lange 
eintreten,  bis  B  die  Hälfte  seiner  größeren  Geschwin- 
digkeit auf  A  übertragen  hat,  die  B  verlieren  muß 
(nach  Lehrs.  20,  II),  und  folglich  werden  beide  mit 
gleicher  Geschwindigkeit  in  derselben  Bichtung  ohne 

20  jeden  Gegensatz  sich  zu  bewegen  fortfahren.  W.  z.  b.  w. 
Zusatz.  Hieraus  folgt»  daß  ein  Körper,  je  schnel- 
ler er  sich  bewegt,  um  so  mehr  geneigt  (detenninatum) 
ist,  in  der  Bichtung,  in  der  er  sich  bewegt,  sich  weiter- 
zubewegen, und  daß  umgekehrt,  je  langsamer  er  sich 
bewegt,  er  um  so  weniger  dazu  geneigt  ist. 

ErUnternngr« 

Damit  die  Leeer  hier  nicht  die  Kraft  der  Richtung 
mit  der  Kraft  der  Bewegung  vermengen,  will  ich 
einiges  beifügen,  wodurch  der  Unterschied  beider  deut- 

80  lieber  wird.  Nimmt  man  also  an,  daß  die  Körper  A 
und  C  gleich  groß  sind  und  sich  mit  gleicher  Ge- 
schwindigkeit geradeaus  gegen  einander  bewegen,  so 
werden  beide  (nach  Lehrs.  24,  II)  in  der  entgegen- 
gesetzten Richtung,  mit  Beibehaltung  ihrer  ganzen 
Bewegung,  zurückweichen.  Ist  aber  der  Körper  C  in 
B,  und  bewegt  er  sich  schief  gegen  A,  so  erhellt» 
daß  er  schon  weniger  geneigt  ist»  sich  in  der  Rich- 
tung BD  oder  CA  zu  bewegen;  er  hat  deshalb  zwar 
gleiche  Bewegung  mit  A,  aber  die  Kraft  der  Richtung 

40  von  0,  wenn  es  sich  geradeaus  gegen  B  bewegt,  und 

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Erl&Qtenmg  xa  Lehnati  XXVII. 


87 


die  dann  gleich  ist  mit  der  Kraft  der  Bichtong  von  Ä, 
ist  groOer  als  die  Kraft  der  Richtung  des  G,  wenn 
es  sich  von  B  gegeai  A  bewegt,  und  swar  um  so  viel 
gröüety  als  die  I^nie  BA  größer  ist»  als  CA«  Denn 
je  großer  die  Linie  CA  ist,  desto  mehr  Zeit  (wenn 
namUch  B  und  A  sich,  wie  hier  angenommen  worden, 
gleich  schnell  bewegen)  verlangt  B»  um  sich  in  der 
Richtung  BD  oder  CA  zu  bewegen,  durch  die  es  der 
Richtung  des  Korpers  A  geradezu  entgegen  ist  Kommt 
also  C  dem  A  von  B  aus  schief  entgegen,  so  wird  es  10 
80  bestimmt  werden,  als  wenn  es  in  der  Richtung  A  B 
nach  B  sich  zu  bewegen  fortführe,  was  ich  annehme. 


wenn  C  in  dem  Punkte  ist,  wo  die  Linie  A  B  die  ver- 
längerte Linie  BC  schneide^  und  welcher  Punkt  ebenso- 
weit von  G  absteht,  wie  G  von  B.  Dagegen  behalt  A 
seine  ganze  Bewegung  und  Richtung  und  wird  fort- 
fahren, sich  nach  G  zu  bewegen  und  den  Körper  B 
mit  sich  nehmen,  da  B,  weil  es  in  seiner  Bewegung 
die  Richtung  in  der  Diagonale  AB  hat,  mehr  Zeit 
braucht  als  A,  um  einen  Teil  der  Linie  AG  mit  20 
seiner  Bewegung  zu  durchlaufen  und  nur  so  weit 
der  Richtung  des  Körpers  A,  die  starker  ist,  ent- 
gegentritt Aber  da  die  Kraft  der  Richtung  von  G, 
das  sich  von  B  aus  gegen  A  bewegt,  soweit  es  an 
der  Linie  GA  teilhat,  gleich  ist  mit  der  Kraft  der 
Richtung  von  G,  wenn  es  sich  geradeaus  gegen  A 
bewegt  (oder  nach  der  Annahme  mit  der  i&aft  von 


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88  Friozipien.    Zweiter  Teil. 

A  selbst),  so  maß  notwendig  B  so  viel  Grade  der  Be- 
wegung mehr  als  A  haben,  als  die  Linie  BA  größer 
ist  als  die  Linie  CA,  tmd  deshalb  wird,  wenn  C 
dem  A  schief  begegnet,  A  in  die  entgegengesetzte 
Riohtimg  nach  A'  und  B  nach  B'  zurückprallen,  wo- 
bei jeder  Körper  seine  gesamte  Bewegung  behält 
Ist  aber  das  Mehr  von  B  über  A  größer  als  das  Mehr 
der  Linie  BA  über  die  CA,  so  wird  B  den  Körper  A 
nach  A'  zurückstoßen  und  ihm  so  viel  von  seiner  Be- 
10  wegung  mitteilen,  bis  die  Bewegung  von  B  sich  zur 
Bewegung  von  A  verhält,  wie  <Ue  Linie  BA  zu  CA, 
und  B  wird  so  viel  Bewegung,  als  es  auf  A  übertragen 
hat,  verlieren  und  mit  dem  Best  sich  in  der  früher 
eingenommenen  Richtung  zu  bewegen  fortfahr^L  Ver- 
hält sich  z.  B.  die  Linie  A  G  zu  A  B  wie  1  zu  2  und 
die  Bewegung  des  Körpers  A  zur  Bewegung  des  Kör- 
pers B  wie  1  zu  6,  so  wird  B  einen  Grad  seiner  Be- 
wegung auf  A  übertragen  und  ihn  in  der  entgegen- 
Sesetzten  Richtung  zurückstoßen,  und  B  wird  mit 
en  übrigen  vier  Graden  fortfahren,  sich  in  derselben 
Richtung  wie  vorher  zu  bewegen. 

Lehrsatz  XXYIIL 

Vierte  BegeL  Wenn  der  Körper  Ä  ganz  ruht  und  etwas 
größer  iat  ah  B^  so  wird  B,  mag  seine  Gesdimndigkeit  so 
groß  sein,  als  sie  wiüy  doch  den  Körper  A  nie  in  Bewegung 
setzen,  sondern  B  wird  von  ihm  in  der  entgegengesetzten 
Sichtung  zurückgetrieben  werden  und  dabei  seine  Bewegung 
unverändert  beibehalten. '«) 

Man  bemerke,  daß  der  Gegensatz  zwischen  diesen  Kör- 

80  pem  auf  drei  Arten  gehoben  werden  kann;  entweder  so,  daß 
ein  Körper  den  anderen  mit  fortreißt  und  beide  dann  mit 
gleicher  Geschwindigkeit  nach  einer  Richtung  sich  bewegen; 
oder  so,  daß  der  eine  Körper  in  der  entgegengesetzten  Rich- 
tung zuriickpraUt  und  der  andere  seine  ganze  Ruhe  behält; 
oder  so,  daß  der  eine  in  der  entgegengesetzten  Richtung 
zurückweicht,  aber  etwas  von  seiner  Bewegung  auf  den 
anderen  überträgt.  Einen  vierten  Faü  gibt  es  nicht  (nach 
Lehrs,  13,  II);  ich  habe  oho  (nach  Lehrs,  23,  II)  zu  be- 
weisen, daß  diese  Körper  bei  meiner  Annahme  die  geringste 

40  Veränderung  erleiden. 


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Lehmts  XXYUI,  XXIX.  89 

Beweis.  Wenn  B  den  Eotper  A  bewegte^  bis  sie 
beide  mit  gleicher  GeBohwindigkeit  sich  bewegten,  so 
müßte  B  (nach  LiehrB.  20,  II)  eo  vid  von  seiner  Be- 
wegung auf  A  übertragen»  als  A  erwirbt  und  (nach 
Lehrs.  21,  II)  demnach  mehr  als  die  Hälfte  von  seiner 
Bewegung  verlieren,  folglich  auch  (nach  Zus.  m  Lehrs. 
27,  IQ  mehr  als  die  Hälfte  seiner  Richtung  verlieren. 
Somit  wurde  er  (nach  Zus.  zu  Lehrs.  26,  U)  mehr  Ver- 
änderung erleiden,  als  wenn  er  nur  seine  Richtung 
einbüßte;  und  wenn  A  etwas  von  seiner  Richtung  10 
verlöre,  aber  nicht  so  viel,  daß  es  zuletast  sich  in 
gleicher  Geschwindigkeit  mit  B  su  bewegen  fortführe, 
so  würde  der  Gegensatz  zwischen  beiden  Körpern 
nicht  beseitigt  werden,  da  A  durch  seine  Langsam- 
keit, soweit  sie  an  der  Ruhe  teilhat  (nach  Zus.  1  zu 
Lehrs.  22,  II),  der  Geschwindigkeit  des  B  entgegen- 
stehen würde^  also  B  auch  in  der  entgegengesehen 
Richtung  zurückstoßen  müßte,  mithin  B  seine  ganze 
Richtung  und  den  auf  A  übertragenen  Teil  seiner  Be- 
wegung verlieren  würde;  welche  Veränderung  eben-  20 
falte  großer  ist,  als  wenn  es  bloß  seine  Richtung  ver- 
löre. Deshalb  wird  die  nach  meiner  Voraussetzung 
angenommene  Veränderung,  da.  sie  bloß  die  Richtung 
betrifft,  die  kleinste  bei  diesem  Körper  mögliche  sein, 
und  demnach  kann  keine  andere  (nach  Lehrs.  23,  II) 
geschehen.    W.  z.  b.  w. 

Man  bemerke  an  dem  Beweise  dieses  Lehrsatzes,  daß 
dasselbe  auch  bei  anderen  stattfindet;  ich  habe  nämlich  nicht 
den  Lehrsatz  19,  II  angefahrt^  in  dem  bewiesen  toird,  „daß 
die  ganze  Richtung  sieh  ändern  hann^  ohne  daß  die  Be^  80 
itegung  selbst  etwas  verliert".  Man  muß  indes  hierauf  acht 
haben,  um  die  Kraft  des  Beweises  richtig  zu  erfassen.  Denn 
ich  habe  in  Lehrs,  23,  II  nicht  gesagt,  „daß  die  Veränderung 
immer  unbedingt  die  Ideinste  sein  werde,  sondern  nur  die 
Ueinstmägliche*'.  Daß  es  aber  eine  Veränderung  in  der  Rich- 
tung aBein  geben  kann,  wie  in  diesem  Beweise  vorausgesetzt 
worden,  ergibt  sich  aus  Lehrs,  18  und  19,  II  mit  Zusatz. 

Lehnatz  XXIX. 

Fünfte  Regel.     Wenn  der  ruhende  Körper  A  kleiner 
als  B  ist,  so  wird  B,  mag  es  sich  auch  noch  so  langsam  40 

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90  Prinzipien.    Zweiter  Teil. 

gegen  A  bewegen,  A  mit  sich  n^men,  indem  es  einen  Teil 
seiner  Bewegung  OMf  A  überträgt^  und  zwar  so  viel,  daß 
beide  nachher  sich  gleich  schnell  bewegen.  (Man  sehe  §  50, 
T.  II  der  Prinzipien.) 

Bei  dieser  Begd  können^  wie  im  vorhergehenden  Falle, 
auch  f¥ur  drei  Fälle  vorgestellt  werden,  in  denen  der  vor- 
liegende Gegensatz  sich  aufhebt;  ich  werde  aber  zeigen^  daß 
6ei  meiner  Annahme  die  geringste  Veränderung  in  den  Kör- 
pern vorgeht,  und  daß  sie  deshalb  (nach  Lehrs.  23,  II)  sich 

10  auch  auf  diese  Weise  verändern  müssen. 

Beweis.  Nach  meiner  Annahme  überträgt  B  auf 
A  (nach  Lehrs.  21,  II)  wenige  als  die  Hälfte  seiner 
Bewegung  und  (nach  Zus.  zu  Lehrs.  17,  II)  weniger 
als  die  Hälfte  seiner  Richtung.  Wenn  B  nun  A  nicht 
mit  sich  fortnähme^  sondern  nach  der  entgegenge- 
setzten Richtung  zurückprallte,  so  würde  es  seine 
ganze  Richtung  einbüßen,  und  die  Veränderung  würde 
großer  sein  (nach  Zus.  zu  Lehrs.  26,  II),  und  zwar  bei 
weitem  größer,  wenn  B  seine  ganze  Richtung  verlöre 

20  und  dazu  noch  einen  Teil  seiner  Bewegung,  wie  im 
dritten  Falle  angenommen  wird.  Deshalb  ist  die  von 
mir  angenommene  Veränderung  die  kleinste.  W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XXX. 

Sechste  Begeh  Ist  der  ruhende  Körper  A  dem  sich 
gegen  ihn  bewegenden  Körper  B  genau  gleich,  so  wird  er 
teils  von  ihm  fortgeeto  en  werden,  teils  wird  B  von  A  in 
der  entgegengesetzten  Bichtwng  zurückgestoßen  werden. 

Auch  hier  kann  man,  wie  im  vorhergehenden 
Falle,  sich  nur  drei  Möglichkeiten  ausdenken,  und  ich 
80  habe  daher  zu  beweisen,  daß  hier  bei  meiner  An- 
nahme die  möglichst  kleine  Veränderung  gesetzt  ist 

Beweis.  Wenn  der  Körper  B  den  Körper  A  mit 
sich  reißt,  bis  beide  sich  gleich  schnell  bewegen,  so 
wird  dann  in  dem  einen  so  viel  Bewegung  wie  in  dem 
anderen  sein  (nach  Lehrs.  22,  II),  und  (nach  Zus.  zu 
Lehrs.  27,  II)  B  würde  deshalb  in  diesem  Fklle  die 
Hälfte  seiner  Richtung  und  auch  (nach  Lehrs.  20,  II) 
die  Hälfte  seiner  Bewegung  einbüßen  müssen.  Wird 
dagegen  B  von  A  in  der  entgegengesetzten  Rioh- 
40  tung  zurückgestoßen,  so  wird  es  seine  ganze  Rich- 


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Lehrsats  XXX,  XXXI.  91 

taug  einbüßen,  aber  seine  ganze  Bewegung  beibehalten 
(nach  Liehrs.  18,  II);  diese  Veränderung  aber  ist  der 
vorigen  gleich  (nach  Zus.  2U  Lehrs.  26,  II).  Allein 
keines  von  beidem  kann  eintreten;  denn  wenn  A  seinen 
Zufitand  behielte  und  die  Richtung  von  B  verändern 
könnte^  so  müßte  A  (nach  Gr.  20)  stärker  als  B  sein, 
was  gegen  die  Annahme  wäre.  Und  wenn  B  den 
Körper  A  mit  sich  fortnähme,  bis  beide  sich  gleich 
schnell  bewegten,  so  wäre  B  stärker  als  A,  was  eben- 
falls gegen  die  Annahme  ist  Da  sonach  keines  von  10 
beidem  statthaben  kann,  so  bleibt  nur  das  dritte  übrig, 
nämlich,  daß  B  den  Körper  A  ein  wenig  weiterstößt 
and  ein  wenig  von  A  zurückgestoßen  wird.  W.  z.  b.  w. 
Man  sehe  §  51  T.  II  der  Prinzipien. 

Lehrsatz  XXXI. 

Siehente  Regel.  Wenn  sich  B  und  Ä  nach  einer  Rich- 
tung beioegen,  A  langsamer  und  B  ihm  nachfolgend  und 
tchneUer,  sodaß  der  Körper  B  A  zuletzt  einholt^  und  wenn  dabei 
A  großer  ah  Bist^  aber  der  Überschuß  an  Oeschunndigkeii  in 
B  großer  ist  als  der  Überschuß  der  Größe  in  A,  so  wird  dann  20 
B  so  vid  von  seiner  Bewegung  auf  A  Übertragen,  daß  beide 
darauf  gleich  schnell  und  in  dersdben  Richtung  sich  bewegen. 
Wäre  aber  das  Mehr  an  Große  in  A  größer  als  das  Mehr 
an  Geschwindigkeit  in  B^  so  würde  B  nach  der  entgegen- 
gesetzten  Richtung  von  A  zurückgestoßen  werden^  aber  B 
dabei  seine  Bewegung  ganz  behalten. 

Man  lese  §  52  T.  II  der  Prinzipien.  Auch  hier 
kann  man,  wie  bei  dem  Vorgehenden,  nur  drei  Fälle 
annehmen. 

Beweis  des  ersten  Teiles.  B  kann  von  A  30 
nicht  in  entgegenfi^esetzter  Richtung  zurückgestoßen 
werden,  da  B  stärker  als  A  angenommen  wird  (nach 
Lehrs.  21  und  22,  II  und  Gr.  20),  also  wird  B,  da 
es  stärker  ist,  A  mit  sich  fortführen,  und  zwar 
so,  daß  beide  sich  in  gleicher  Geschwindigkeit  fort- 
bewegen. Denn  dann  wird  die  kleinstmögliche  Ver- 
änderung eintreten,  wie  sich  aus  dem  Obigen  ohne 
weiteres  ergibt 

Beweis  des  zweiten  Teiles.  B  kann  hier  A 
nicht  fortstoßen,  weil  es  (nach  Lehrs.  21  und  22,  II)  40 

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92  Prinzipien.    Zweiter  Teil. 

als  schwächer  angenommen  wird  (nach  Gr.  20);  und  es 
kann  ihm  auch  von  seiner  Bewegung  nichts  mitteilen; 
deshalb  wird  B  (nach  Zus.  zu  hohrs.  14,  II)  s^ne 
ganze  Bewegung  behalten,  aber  nicht  in  derselben 
Richtung,  da  angenommen  wird,  daß  es  daran  von  A 
gehindert  wird«  Also  wird  B  (nach  dem  im  zweiten 
Kapitel  der  Dioptrik  Gesagten)  in  der  entgegenge- 
setzten Richtung  zurückprallen,  aber  dabei  seine  ganze 
Bewegung  behalten  (nach  Lehrs.  18,  IQ.  W.  z.  b.  w. 
10  Man  bemerke,  daß  ich  hier  und  bei  den  vorhergehenden 

Lehrsätzen  als  ertoiesen  angenommen  habe,  daß  jeder  Körper, 
der  in  gerader  Linie  auf  einen  anderen  trifft,  der  ihn  un- 
bedingt hindert,  in  dersdben  Bichtwig  weiter  fortzugehen,  in 
der  entgegengesetzten  und  in  keiner  anderen  Sichtung  sich 
zurückbewegen  muß.  Um  das  einzusehen,  lese  man  Kap.  2 
der  Dioptrik  na/ch. 

Erläuterung.  '^^) 

Bisher  habe  ich  zur  Erklärung  der  Verände- 
rungen, die  Körper  durch  gegenseitigen  Stoß  erleiden, 
20  nur  zwei  Körper  in  Betracht  gezogen,  als  ob  sie  von 
allen  anderen  getrennt  wären,  und  ich  habe  auf  die 
sie  umgebenden  Körper  keine  Rücksicht  genommen. 
Nunmehr  will  ich  ihren  Zustand  und  ihre  Verände- 
rung untersuchen  unter  Berücksichtigung  der  Körper, 
die  sie  rings  umgeben. 

Lehrsatz  XXXH. 

Wenn  der  Körper  B  ringsum  von  kleinen  sich  bewegen- 
den Körpern  umgeben  ist,  die  ihn  nach  aüen  Eichtungen  mit 
gleicher  Kraft  stoßen,  so  wird  er  solange  unbewegt  an  ein 
30  und  derseiben  SteUe  bleiben,  als  nicht  noch  eine  andere  Ur- 
sache hinzuikommt,^^) 

Beweis.  Dieser  Liehrsatz  ist  ohne  weiteres  ein- 
leuchtend; denn  würde  B  durch  den  Stoß  der  von 
einer  Seite  kommenden  Körperchen  in  der  einen  Rich- 
tung bewegt,  so  müßten  die  hier  antreibenden  Kör- 
perchen mit  stärkerer  Kraft  stoßen  als  die,  welche 
ihn  gleichzeitig  in  der  anderen  Richtung  stoßen,  und 
die  in  ihrer  Wirkung  nicht  nachlassen  können  (nach 
Gr.  20);  was  gegen  die  Annahme  wäre. 


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Lehrsatz  XXXII,  XXXlIf,  XXXIV.  98 

Lehrsatz  XXXUI. 

Der  Körper  B  kann  unter  solchen  Umstanden  dwrch 
die  geringe  hinzukommende  Kraft  in  jeder  beliebigen  Eich- 
tung  bewegt  werden. 

Beweis.  Alle  B  unmittelbar  berührenden  Körper 
werden,  weil  sie  (nach  der  Annahme)  bewe^  sind, 
aber  B  (nach  Lehrs.  32)  unbewegt  bleibt,  so- 
fort bei  der  Berührung  des  B  ohne  Verlust  ihrer  Be- 
wegung nach  der  anderen  Seite  zurückprallen  (nach 
Lehrs.  28,  II);  somit  wird  B  fortwährend  von  den  10 
Körpern,  die  ihn  unmittelbar  berühren,  von  selbst 
verlassen,  und  es  ist,  so  groD  man  auch  B  annimmt, 
keine  Kraft  nötig,  um  ihn  von  den  ihn  unmittelbar 
berührenden  Körpern  zu  trennen  (nach  dem  zu  Nr.  4  bei 
Del  VIII  Bemerkten).  Deshalb  wird  selbst  die  kleinste 
äußere  Kraft,  die  ihn  trifft,  stets  größer  sein  als 
die,  mit  der  B  an  seiner  Stelle  zu  bleiben  strebt  (denn 
ich  habe  bereits  gezeigt,  daß  ihm  sMbst  keine  Kraft 
innewohnt,  vermöge  deren  er  sich  etwa  an  die  ihn  un- 
mittelbar berührenden  Körper  anhangen  könnte),  und  20 
mithin  auch  unter  Hinzunahme  der  ihn  in  derselben 
Richtung  stoßenden  Körperchen  größer  als  die 
Kraft  der  anderen  Körperchen,  die  B  nach  der  ent- 
gegengesetzten Richtung  stoßen  (da  die  Elraft  jener 
als  diesen  gleich  angenommen  wird,  wenn  keine  äußere 
Kraft  hinzukommt);  also  wird  (nach  Gr.  20)  der  Körper 
B  von  dieser  äußeren  Kraft,  wenn  sie  auch  noch 
80  klein  ist^  nach  jeder  beliebigen  Richtung  bewegt 
werden.    W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  XXXIY.  30 

Der  Körper  B  kann  sich  unter  diesen  Umständen  nicht 
schneller  bewegen,  als  er  von  der  äußeren  Kraft  getrieben 
^rel^  u}enn  auch  die  ihn  umgebenden  KÖrperteUchen  sich  viel 
9ehndler  bewegen.^^) 

Beweis.  Die  Körperchen,  welche  zugleich  mit 
der  äußeren  Kraft  den  Körper  B  nach  derselben  Rich- 
timg stoßen,  werden,  wenn  sie  sich  auch  viel  schneller 
bewegen,  als  die  äußere  Kraft  B  zu  bewegen  vermag, 
doch  (nach  der  Annahme)  keine  größere  Kraft  haben 
als  die  Körperchen,   welche  B  nach  der  entgegen-  40 

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94  Prinzipien.    Zweiter  TeiL 

gesetzten  Richtung  stoDen,  und  ihre  ganze  Kraft  wird 
deshalb  zum  Widerstände  gegen  diese  verbraucht,  ohne 
daü  sie  auf  B  (nach  Lehrs.  32,  II)  von  ihrer  Ge- 
schwindigkeit etwas  übertragen  könnten.  Da  nun  andere 
Umstände  oder  Ursachen  nicht  vorausgesetzt  worden 
sind,  so  wird  B  nur  von  jener  äußeren  Ursache  seine 
Geschwindigkeit  erhalten,  und  es  wird  sich  d^nnach 
(nach  Gr.  o,  I)  nicht  schneller  bewegen,  als  es  von 
der  äußeren  Kraft  gestoßen  worden  ist.   W.  z.  b.  w. 

10  Lehrsatz  XXXY. 

Wenn  der  Körper  B  in  dieser  angegebenen  Weise  von 
einem  äußeren  Anstoß  bewegt  wird,  so  erhalt  er  den  größten 
Teil  seiner  Bewegimg  von  den  ihn  stets  umgebenden  Körper- 
chen  und  nicht  von  der  äußeren  Kraft,  •*) 

Beweis.  Selbst  wenn  B  noch  so  groß  angenom- 
men wird,  so  wird  es  doch  von  dem  kleinsten  Anstoß 
in  Bewegung  gesetzt  werden  (nach  Lehrs.  33,  II). 
Nun  setze  man,  daß  B  viermal  so  groß  ist  ala  der 
äußere  Körper,  durch  dessen  Kraft  es  gestoßen  wird, 

20  dann  werden  (nach  dem  Vorhergehenden)  beide  sich 
gleich  schnell  bewegen,  und  in  B  wird  viermal  mehr 
Bewegung  als  in  dem  äußeren  Körper  sein,  von  dem 
es  gestoßen  wird  (nach  Lehrs.  21,  II);  also  erhält 
es  den  hauptsächlichen  Teil  seiner  Kraft  (nach  Gr.  8, 1) 
nicht  von  der  äußeren  Kraft  Da  nun  außer  dieser 
keine  anderen  Ursachen  als  die  ihn  umgebenden  Kör- 
per angenommen  werden  (da  B  selbst  als  unbewegt 
angenommen  worden  ist),  so  erhält  es  also  (nach 
Gr.  7,  I)  allein  von  den  es  umgebenden  Körperchen  den 

30  hauptsächlichen  Teil  seiner  Bewegung  und  nicht  von 
der  äußeren  Kraft   W.  z.  b.  w. 

Ich  hemerkef  daß  ich  hier  nicht,  wie  oben,  sagen  kann, 
daß  die  Bewegung  der  von  einer  Richtung  kommenden  Teil- 
chen zu  dem  Widerstände  gegen  die  von  der  anderen  Bich- 
twng  kommenden  nötig  ist;  denn  die  (wie  hier  atigenommen 
wird)  mit  gleicher  Bewegung  gegen  einander  gehenden  Korper 
sind  einander   der  Richtung*),    aber   nicht   der  Bewegung 

^  Man  sehe  Lehrs.  24,  II,  wo  gezeigt  worden,  daß  zwei 
Körper,  die  einander  Widerstand  leisten,  ihre  Richtung,  aber 
nicht  ihre  Bewegung  darauf  verwenden.  (A.  v.  Sp.) 


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Lehrsatz  XXXV,  XXXVI.  95 

nach  entgegengesetzt.  (Nach  Zus.  zu  Lehrs.  9,  IL)  Des- 
halb  verwenden  sie  nur  ihre  Richtung  auf  ihren  gegen- 
seitigen  Widerstand^  nicht  aber  ihre  Bewegung,  und  demnach 
kann  der  Körper  B  nichts  von  seiner  BiMwng  und  folglich 
(nach  Zus.  zu  lA^rs.  27,  II)  auch  nichts  von  seiner  Ge- 
9eihiunndigieit,  sofern  sie  von  der  Bewegung  tmtersehieden  wird, 
von  den  ihn  umgebenden  Körpern  erhalten,  wohl  aber  seine 
Bewegung;  ja,  er  muß,  wenn  eine  fremde  Ursache  hinzukommt, 
notwendig  von  ihnen  bewegt  werden,  wie  ich  hier  gezeigt  habe, 
und  wie  aus  der  Art,  wie  ich  den  Lehrsatz  33  bewiesen  habe,  10 
kUvr  zu  entnehmen  ist. 

Lehrsatz  XXXTI. 

Wenn  ein  Körper,  z.  B.  unsere  Hand,  sich  nach  jeder 
Richtung  mit  gleicher  Bewegung  bewegen  hönnte,  ohne  anderen 
Kjörpem  irgendwie  zu  widerstehen,  und  ohne  daß  andere  Kör- 
per ihr  widerstehen,  so  werden  notwendig  in  dem  Baume,  durch 
den  sie  sich  bewegt,  ebensovieie  Körper  sich  nach  der  einen 
Biehtung  wie  nach  jeder  beliebigen  anderen  mit  gleicher  Kraft 
der  Geschwindigkeit  unter  sich  wie  mit  der  Sand  bewegen. 

Beweis.  Ein  Körper  kann  sich  durch  keinen  20 
Raum  bewegen,  der  nicht  voll  von  Körpern  ist  (Nach 
Lehrs.  3,  IL)  Ich  sage  deshalb,  daß  der  Raum,  durch 
den  unsere  Hand  sich  so  bewegen  kann,  von  Körpern 
angefüllt  ist,  die  sich  nach  den  angegebenen  Be- 
dingungen bewegen  werden.  Bestreitet  man  dies,  so 
wollen  wir  annehmen,  daß  si3  ruhen  oder  in  anderer 
Art  sich  bewegen.  Ruhen  sie,  so  werden  sie  not- 
wendig der  Bewegung  der  Hand  so  lange  Widerstand 
leisten  (nach  Lehrs.  14,  II),  bis  deren  Bewegung  sich 
ihnen  mitteilt  und  sie  mit  ihr  nach  derselben  Rieh-  80 
tung  mit  gl^cher  Geschwindigkeit  sich  bew^en.  (Nach 
Lehrs.  20,  II.)  Allein  wir  hatten  angenommen,,  daß  sie 
keinen  Widerstand  leisten,  also  bewegen  sich  diese 
Körper.  Dies  war  das  Erste. 

Femer  müssen  sie  sich  nach  allen  Richtungen 
bew^en.  Bestreitet  man  dies,  so  wollen  wir  annehmen, 
daß  sie  nach  einer  Richtung,  etwa  von  A  nach  B, 
sich  nicht  bewegen.  Wenn  sich  also  die  Hand  von 
A  nach  B  bewegt,  so  wird  sie  notwendig  bewegten 
Körpern  (nach  Teil  I  dieses  Beweises),  und  zwar,  wie  40 


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0 


96  Prinzipien.     Zweiter  Teil. 

wir  angenommen,  in  anderer  Richtung  bewegten  Kor- 
pern, als  die  Hand  sich  bewegt,  begegnen;  deshalb 
werden  sie  ihr  (nach  Lehrs.  14,  II)  so  lange  Wider- 
stand leisten,  bis  sie  in  gleicher  Richtung  mit  der 
Hand  sich  bew^en  (nach  Lehrs.  24  und  nach  ErL 
zu  Lehrs.  27,  II).  Nun  leisten  sie  aber  (der  Annahme 
nach)  der  Hand  keinen  Widerstand,  also  werd^i  de 
sich  nach  allen  Richtungen  bewegen.  Das  war  das 
Zweite. 

10  Femer  werden  diese  Eörper  mit  gleicher  Ge- 
schwindigkeit unter  einander  sich  nach  jeder  Rich- 
tung hin  bewegen;  dann  nehme  man 
an,  dies  geschehe  nicht  mit  gleicher 
Geschwindigkeit,  so  setzt  man  damit^ 
daß  die  von  A  nach  B  sich  nicht  mit 
solcher  Kraft  der  Geschwindigkeit 

B      bewegen,   wie  die  von  A  nach  G. 

Wenn  sich  daher  die  Hand  mit  der- 
selben Geschwindigkeit  (denn  es  wird  angenommen,  daß 

20  sie  mit  gleicher  Bewegung  sich  ohne  Widerstand  nach 
allen  Richtungen  bewegen  kann),  wie  die  Körper  sich 
von  A  nach  G  bewegen,  von  A  nach  B  bewegte,  so 
würden  die  von  A  nach  B  bewegten  Körper  so  lange 
der  Hand  Widerstand  leisten  (nach  Lehrs.  14,  IQ, 
bis  sie  sich  in  gleicher  Greschwindigkeit  mit  der  Hand 
bewegen  (nach  Lehrs.  31,  II).  Allein  dies  läuft  wider 
die  Annahme;  deshalb  werden  die  Körper  sich  mit 
gleicher  Kraft  und  Geschwindigkeit  in  allen  Richtungen 
bewegen;  dies  war  das  Dritte. 

30  Wenn  sich  endlich  die  Körper  nicht  in  gleicher 
Kraft  der  Geschwindigkeit  mit  der  Hand  bewegten, 
so  müßte  die  Hand  sich  entweder  langsamer,  d.  h. 
mit  geringerer  Kraft  der  GeschwincUgkeit,  oder 
schneller,  d.  h.  mit  größerer  Kraft  der  Geschwindig- 
keit, bewegen  als  die  Körper.  Ist  ersteres  der  FaU, 
so  wird  die  Hand  den  Körpern  Widerstand  leisten, 
die  ihr  in  derselben  Richtung  folgen  (nach  Lehrs.  31, 
II).  Ist  letzteres  der  Fall,  so  werden  die  Körper, 
denen  die  Hand  folgt,  und  mit  denen  sie  in  gleicher 

40  Richtung  sich  bewegt^  ihr  widerstehen  (na<ä  dem- 
selben Lehrs.);  welch  beides  gegen  die  Voraussetzung 
verstößt    Wenn  sonach  die  Hand  sich  weder  lang- 


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Lehnatz  XXXYI,  XXXVIL  97 

noch  schneller  bewegen  kann,  so  mnß  sie  sich 
in  gleicher  Kraft  der  Geschwindigkeit  mit  den  Kör- 
pern bewegen.   W.  z.  b.  w. 

Wmm  man  fragt,  weshalb  mA  ,mU  gleicher  Er  oft  der 
G^e»dMndigkeW  tage  und  nicht  einfach  ,mü  gleicher  Ge- 
sekuMUgkeit,  »o  kee  man  die  Erläiäerung  zum  Zusatz  zu 
Lehrs.  27,  IL  Und  wenn  man  fragt,  weshalb  die  Hand, 
wenn  sie  sich  z.  B,  von  A  nach  B  bewegt,  nicht  den  Körpern 
widersteht,  die  sich  gleichzeitig  von  B  nach  A  mit  gleicher 
Kraft  bewegen^  so  lese  man  Lehrs.  33,  II,  woraus  man  er-  10 
sehen  wird,  daß  die  Kraft  dieser  Körper  sich  ausgleicht  mit 
der  Kraft  der  Körper  (denn  diese  Kraft  ist  nach  T.  3  dieses 
Lehrsatzes  jener  gleich),  die  sich  gleichzeitig  mit  der  Hand 
vim  A  nach  B  bewegen. 

Lehrsata  XXXYIL 

Wenn  ein  Körper,  etwa  A,  von  jeder  noch  so  kleinen 
Kraft  in  jeder  Richtung  bewegt  werden  kann,  so  muß  er  not- 
wendig von  Körpern  umgeben  sein,  die  sich  mit  gleicher  ge- 
genseitiger Geschwindigkeit  bewegen. 

Beweis.  Der  Körper  A  muß  von  allen  Seiten  90 
von  Körpern  umgeben  sein  (nach  Lehrs.  6,  II),  die 
sich  nach  allen  Richtungen  gleichmaßig  bewegen. 
Denn  wenn  sie  ruhten,  so  könnte  A  nicht  von  jeder 
noch  so  kleinen  Kraft  nach  jeder  Richtung  (wie  an- 
g^iommen  ist)  bewegt  werden,  vielmehr  müßte  dann 
die  Kraft  wenigstens  so  groß  sein,  daß  sie  die  den 
Körper  A  unmittelbar  berührenden  Körper  mit  sich 
bewegen  könnte  (nach  Gr.  20,  II).  Wenn  femer  die 
den  A  umgebenden  Körper  in  d^  einen  Richtung 
sbh  mit  ^ßerer  Kraft  80 

als  nach  der  anderen  be-  /OJD B 

wegten,  etwa  von  B  nach  v^^ 
C  mit  stärkerer  als  von  G 

nach  B»  da  er  von  allen  Seiten  mit  Körpern  umgeben 
ist  (wie  bereits  bewiesen),  so  werden  notwendig  (nach 
dem  zu  Lehrs.  33  BewieeaiOT)  die  von  B  nach  C 
bewegten  Körper  den  Körper  A  in  derselben  Rich- 
timg mit  sich  nehmen,  und  es  wird  idso  nicht  jede 
noch  so  kleine  Kraft  genügen,  um  A  gegen  B  zu  be- 
wegen, vielmehr  nur  eine  solche,  die  genau  so  groß  40 

Splaosft,  Prinslplm  tob  DaieMtM.  7 

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98  Primdpien.    Zweiter  TeiL 

ist,  däB  Bio  den  ÜberschüJD  der  ron  6  nach  C  be- 
wegten Körper  ergänzt  (nach  Gr.  20).  Deshalb  müssen 
sich  die  Körper  nach  allen  Richtungen  mit  gleicher 
Eiaft  bewegen,  w.  z.  b.  w. 

Erlftatemng. 

Da  dies  bei  sogenannten  flüssigen  Körpern  vor 
sich  geht,  so  folgt,  daß  flüssige  Körper  solche  sind, 
welche  in  viele  Ideine  T^e  geteilt  sind,  die  sich  mit 
gleicher  Kraft  nach  allen  Richtungen  bewegen.  Oh- 
io gleich  diese  Teile  selbst  von  dem  schärfsten  Auge 
nicht  erkannt  werden  können,  so  kann  man  dies  doch 
nicht  bestreiten,  da  ich  es  oben  klar  bewiesen  habe. 
Denn  aus  den  Lehrsätzen  10  und  11  ergibt  sich  eine 
solche  Feinheit  (subtüitas)  der  Natur,  daß  sie  (ge- 
schweige durch  die  Sinne)  durch  keine  Vorstellung 
bestimmt  oder  erfaßt  werden  kann«  Da  ferner  aus 
drai  Vorstehenden  zur  Grenüge  erhellt»  daß  die  Körper 
durch  ihre  bloße  Ruhe  anderen  Körpern  Widerstand 
leisten,  und  da  man  bei  der  von  den  Sinnen  aage- 
80  zeigten  Härte  nur  wahrnimmt,  daß  die  Teile  solcher 
harten  Körper  der  Bewegung  der  Hände  Widerstand 
leisten,  so  kann  man  offenbar  schließen,  daß  diejenigen 
Körper^  deren  Teilchen  alle  neben  einander  in  Ruhe 
sind,  die  harten  sind.  Man  sehe  §§  54,  55,  56,  T.  2 
der  Prinzipien.®*) 


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Die 

Prinzipien  der  Philosophie 

auf 

geometrische  Weise  hegrfindet. 


Dritter  Teil. 

Nachdem  ich  so  die  allgemeinsten  Grundsätze  über 
die  natürlichen  Dinge  auseinandergesetzt  habe,  gehe 
ich  nun  zur  Erläuterung  dessen  über,  was  sich  daraus 
er^^t  Allein  da  die  Folgen  dieser  Grundsätze  zahl- 
reicher sind,  als  unser  Verstand  je  im  Denken  durch-  10 
zugehen  vermag,  und  man  hierbei  nicht  zur  Betrach- 
tung gewisser  bestimmter  Folgen  mehr  als  zur 
Betrachtung  anderer  veranlaßt  wird,  so  ist  zunächst 
eine  kurze  anschauliche  Schilderung  der  Erscheinungen 
zu  geben,  deren  Ursachen  ich  hier  verfolgen  will  ^) 
Diese  findet  sich  indes  von  §  5  bis  §  16,  T-  3  der 
Prinzipien,  und  von  §  20  bis  §  34  daselbst  wird  eine 
Annahme  vorgetragen,  die  nach  Descartee  sich  am 
besten  eignet,  um  die  Himmelserscheinungen  nicht 
bloß  zu  verstehen,  sondern  auch  deren  natürliche  Ur-  20 
Sachen  zu  erforschen. 

Da  ferner  der  beste  Weg  zur  Erkenntnis  der 
Natur  der  Pflanzen  oder  des  Menschen  der  ist»  daß 
man  beobachtet»  wie  sie  allmählich  aus  dem  Samen 
^tstehen  und  erzeugt  werden,  so  hat  man  solche 
Grundsätze  sich  auszudenken,  die  möglichst  einfach 
und  leicht  verständlich  sind,  und  aus  den^  man, 
wie  aus  den  Samen,  die  Entstehung  der  Sterne,  der 
Erde  und  überhaupt  von  allem,  was  man  in  der  sieht- 

372864A 


100  ,     Frindpien.    Dritter  TeU. 

tMuren  Welt  antrifft,  ableiten  kann,  wenn  man  auch 
niemalB  erweisbar  maohen  kann,  daß  sie  so  entstanden 
sind.  Denn  auf  diese  Weise  wird  man  deren  Natur 
weit  besser  erklär^  als  wenn  man  sie  bloß  nach 
ihrem  jetzigen  Zustande  beschriebe.^) 

Ich  sage^  daß  ich  die  einfachsten  und  am  leich- 
testen erkennbaren  Grundsätze  suche;  nur  solcher  be- 
darf ich;  denn  ich  schrdbe  den  Dingen  nur  deshalb 
einen  Samen  zu,  damit  ihre  Natur  leicht»  wkairnt 
10  wird,  und  damit  ich  nach  der  Weise  der  Mathe- 
matiker von  dem  Bekanntesten  zu  dem  Unbekannten 
und  von  dem  Einfachsten  zu  dem  Verwickelt^en  vor- 
wärtsschreite. 

Femer  bemerke  ich,  daß  ich  solche  Grundsätze 
suche,  aus  denen  man  den  Ursprung  der  Gestirne,  der 
Erde  u.  s.  w.  ableiten  kann.  Solche  Ursachen,  die 
nur  hinreichen,  um  die  Himmelserscheinungen  sn  er- 
klären, wie  sie  die  Astronomen  hie  und  da  ge- 
brauchen, suche  ich  nicht,  sondern  solche,  die  auch 
20  zur  Erkenntnis  der  Dinge  auf  der  Erde  führen  (da  alle 
Ereignisse,  die  wir  auf  der  Erde  beobachten,  mräier 
Ansicht  nach  zu  den  Naturerscheinungen  zu  rechnen 
sind).  ^)  Um  solche  zu  finden,  ist  für  eine  gute  Hypo- 
these das  Folgende  im  Auge  zu  behalten: 

I.  Sie  darf  (an  sich  betrachtet)  k^nen  Wider- 
spruch enthalten. 

n.  Sie  muß  so  einfach  als  nur  möglich  sein. 

III.  Aus  dem  letzten  Satze  folgt,  diSi  sie  möglichst 
leicht  erfaßbar  sein  muß. 
80         IV.  Alles,  was  in  der  ganzen  Natur  beobachtet 
wird,  muß  aus  ihr  abgelötet  werden  können. 

Ich  habe  endlich  gesagt,  daß  es  gestattet  sein 
müsse,  eine  Hypothese  aufzustellen,  aus  der  man  die 
Naturerscheinungen  wie  aus  ihrer  Ursache  (Um^mm 
OD  causa)  ableiten  könne,  wenn  man  auch  bestümnt 
wisse^  daß  die  Natur  nicht  so  entstanden  ist  Um  dies 
zu  verstehen,  nehme  ich  folgendes  Beispiel:  Wenn 
jemand  auf  raiem  Bogen  Papier  eine  krumme^  Parabel 
fifenannte,  Ldnie  verzeichnet  findet  und  ihre  Nator  er- 
40  forschen  will,  so  ist  es  gleich,  ob  er  annimmt^  daß 
diese  Linie  zunächst  aus  einem  Kegel  ausgeschnitten 
und  dann  auf  das  Papier  abgedrüdct  wordoi,  oder 


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Pottulat  101 

dafl  sie  aoB  der  Bewegung  asweier  geraden  Ldnien 
oder  Bonstwie  entstanden  sei,  wenn  er  nur  ans  der 
von  ihm  angenommenen  Eintotehnngsart  alle  Eigen- 
flohaften  der  Parabel  beweisen  kann.  Ja,  selbst  wenn  er 
welQy  daß  diese  Linie  durch  den  Abdruck  eines  Kegel- 
schnitts entstanden  ist^  kann  er  doch,  um  alle  Eigen- 
schaften der  Parabel  zu  erklären,  beliebig  eine  andere 
Ursache  annehmen,  wie  sie  ihm  gerade  am  bequemsten 
scheint  i3>en80  kann  ich  auch  sur  Erklärung  der  Ge- 
stalten der  Natur  nach  Belieben  irgend  eine  Hypo-  lo 
these  aubtellen,  wenn  ich  nur  alle  Naturerscheinungen 
daraus  in  mathematischer  Beweisform  abzuleiten  ver- 
mag. Ja,  was  noch  merkwSrdiger  ist^  ich  werde  kaum 
irgend  eine  Hypothese  aufstellen  können,  aus  der 
nicht  dieselben  Wirkungen  vermittels  der  oben  er- 
klarten Naturgesetze,  wenn  auch  vielleicht  umständ- 
licher, abgeleitet  werden,  können.  Denn  da  der  Stoff 
mit  Hilfe  jener  Gesetze  alle  Formen,  deren  er  fähis; 
ist,  nach  und  nach  annimmt,  so  werde  ich,  wenn  ich 
diese  Formen  der  Beihe  nach  betrachte^  endlich  auch  20 
zu  der  Form,  welche  die  Form  dieser  Welt  ist,  ge- 
langen. Deshalb  ist  kein  Irrtum  infolge  einer  falschen 
Hypothese  zu  befürchten.*^) 

Postulat 

Man  verlangt  das  Zugeständnis,  erstens,  dafl  aller 
Stof(  aus  dem  die  achtbare  Welt  besteht,  im  An- 
fange von  Gott  in  Teilchen  getrennt  worden,  die  ein- 
ander möglichst  gleich  waren,  ohne  kugelartig  zu 
sein,  da  mehrere  solcher  Eügelchen  verbunden  nicht 
allen  Baum  ausfflllen;  vielmehr  sind  diese  Teile  anders  80 
gestaltet  und  von  mittlerer  Größe  gewesen  oder  haben 
die  Mitte  gehalten  zwischen  allen  denen,  aus  denen 
]etzt  die  Himmel  und  die  Gestirne  bestehen;  und  zwei- 
tens, dafl  sie  nur  so  viel  Bewegung  besessen  haben,  wie 
jetzt  in  der  Welt  angetroffen  wird,  und  drittens^  dafl  sie 
gleiche  Bewegung  gehabt  haben,  nämlich  einmal  die 
einzelnen  eine  Bewegung  um  ihren  Hittelpunkt  und 
gegenseitig  von  einander  getrennt,  sodafl  sie  einen 
flüssigen  Körper  bildeten,  wie  man  den  Hinmiel  fär 
einen  solchen  hält;  und  sodann  eine  gemeinsame  Be-  40 


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102  Prinzipien.    Dritter  Teü. 

wegung  mehrerer  tun  gewisse  aaidere  Punkte,  äie 
so  von  ilrnen  entfernt  und  so  verteilt  waren»  wie  ee 
jetzt  die  Mittelpunkte  der  Fixsterne  sind;  und  ferner 
eine  Bewegung  auch  um  andere,  etwas  zahlreichere 
Punkte,  die  der  Zahl  der  Planeten  gleich  kommen. 
Somit  bildeten  diese  Teilchen  so  viele  verschiedene 
Wirbel,  als  es  jetzt  Geetinie  in  der  Welt  gibt  Man 
sehe  die  Figur  zu  §  47,  T.  3  der  Prinzipien.  ^) 

Diese  Hypothese  enthalt,  an  und  für  sich  be- 
10  trachtet,  keinen  Widerspruch;  denn  sie  spricht  dem 
Stoffe  nur  die  Teilbarkeit  und  die  Bewegung  zu.  Diese 
Zustände  sind,  wie  oben  bewiesen,  an  dem  Stoffe 
wirklich  vorhanden;  und  da  ich  den  Stoff  als  un- 
endlich und  als  denselben  für  den  Himmel  und  die 
Erde  nachgewiesen  habe,  so  kann  man  ohne  Bedenken 
vor  irgend  einem  Widerspruch  annehmen,  daß  diese 
Zustände  für  den  ganzen  Stoff  bestanden  haben. 

Femer  ist  diese  Hypothese  die  einfachst^  weil 
sie  weder  eine  Ungleichheit  noch  eine  Unähnlichkeit 
20  b^  den  Teilchen  annimmt,  in  die  im  Anfange  der 
Stoff  geteilt  war,  und  ebensowenig  dies  für  ihre  Be- 
wegung geschieht.  Deshalb  ist  diese  Hypothese  auch 
die  am  leichtesten  verständliche.  Dies  erhellt  auch 
daraus,  daß  diese  Hypothese  nur  das  am  Stoffe  voraus- 
setzt, wae  jedermann  aus  dem  Begriffe  dee  Stoffes 
von  selbst  einleuchtet,  nämlich  die  Teilbarkeit  und  die 
örtliche  Bewegung. 

Daß  aber  alle  Naturerscheinungen  daraus  abge- 
leitet werden  können,  will  ich  soweit,  als  möghch 
30  durch  die  Tat  zu  zeigen  suchen,  und  zwar  in  fol- 
gender Ordnung.  Zuerst  werde  ich  die  flüssige  Natur 
der  Himmel  aus  ihr  ableiten  und  erklären,  wieso  diese 
die  Ursache  des  Lichtes  ist  Sodann  will  ich  zur  Natur 
der  Sonne  übergehen  und  zugleich  zu  dem,  was  man 
an  den  Fixsternen  beobachtet.  Alsdann  werde  ich  über 
die  Kometen  und  zuletzt  über  die  Planeten  und  deren 
Erscheinungen  sprechen. 

Deflnitfonen. 

I.   Unter   der   EUiptik    verstehe    ich    den  Teil 
40  des  Wirbels,  der,  während  er  sich  um  die  Achse  dreht, 
einen  größten  Kreis  beschreibt 


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IL  Unter  im  Pol^  yerstohe  iqh  di»  Teile  dee 
Wirbeb,  die  von  der  Ekliptik  am  weiteeten  entfenit 
sind,  oder  di€^  welche  die  UeiiisteB  Kreide  beachreibeii. 

m.  Uater  dem  Streben  MW  BewegUing  (conatu9  ad 
meium)  verstehe  ich  keine  Art  des  Denkens,  sondern 
nnr,  daiß  ein  Stoffteil  so  gelegen  und  mr  Bewegwu;: 
geneigt  (inoiißta)  ist,  daß  er  wirklich  sich  wohin  be- 
wegen wfirde,  wenn  ihn  nicht  eine  andere  Ursache 
daran  verhinderte. 

IV.  Unter  einer  Ecke  verstehe  ich  jede  Server-  10 
ra^^g  eines  Körpers  über  die  Kugelgestalt  hinaus. 


I.  Mehrere  mit  einander  verbundene  Kügelchen 
können  einen  Baum  nicht  stetig  ausfüllen. 

IL  Ein  Stück  einer  in  eckige  Teile  verteilten 
Uaterie  braucht  mehr  Raum,  wenn  seine  Teile  sich 
um  ihre  eigenen  Mittelpunkte  drehen,  als  wenn  alle 
seine  Teile  ruhen  und  alle  Seiten  derselben  sich  un- 
mittelbar berühren. 

IIL  Je  kleiner  ein  Stück  Materie  ist,  desto  leichter  20 
wird  es  von  ein  und  derselben  Kraft  getrennt 

rV.  Materielle  Teile,  die  sich  nach  em  und  der- 
selben Richtung  bewegen  imd  hierbei  sich  von  ein- 
ander nicht  entfernen,  sind  nicht  wirkUch  (aetu)  geteilt 

Lehrsatz  L 

Die  Teile  der  Materie,  in  die  $ie  xuerut  geteilt  war,  uHuren 
nickt  rund,  iondem  eckig. 

Beweis.    Die  ganze  Materie  war  im  Beginne  in 
gleiche  und  ähnliche  Teile  getrennt  (nach  dem  Postu- 
lat), deshalb  waren  diese  Teile  (nach  Gr.  I  und  Lehr-  80 
satz  2,  n)  nicht  rund,  mithin  (nach  Del  IV)  eckig. 
W.  z.  b.  w. 

Lehrsatz  ü. 

Diejenige  Kraft,  wdche  bewirkte,  daß  die  materieUm 
TeUd^en  iick  um  ihre  eigenen  Mittelpunkte  drekten,  bewirkte 
auek,  daß  die  Edcen  der  einzelnen  Teilchen  bei  ihrer  gegen- 
•eiHgen  Begegnung  sich  abrid>en. 


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104  Frinnpien.    Dritter  Teil 

Beweis.  Die  ganze  Materie  war  im  BegmoB  in 
gleiche  (nach  dem  Festolat)  und  eckige  (nacn  Lehr- 
satz 1,  ni)  Teile  geeondert  Hätten  sich  also,  als 
sie  sich  am  ihre  Mittelpunkte  zu  drehen  begannen, 
ihre  Ecken  nicht  abgerieben,  so  hatte  notwendig 
(nach  Gr.  II)  der  ganze  Stoff  einen  größten  Ranm 
einnehmen  müssen  als  bei  seiner  Rahe;  dies  ist  aber 
widersinnig  (nach  Lehrs.  4,  U);  also  haben  ihre 
Ecken  sich  abgerieben,  sobald  sie  sich  za  drehen  be- 
10  gannen.  W.  z.  d.  w. 


Das  Ueibrige  fehlt 


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Anhang, 

enthaltoDd 

metaphysische  Gredanken«*') 

Sie  erörtern  in  Kurze  die  schwierigeren  Fragen, 
die  in  den  metaphysischen  Schriften ,  sowohl  im 
allgemeinen  wie  im  speziellen  Teile,  in  Betreff  des 
Seins  und  seiner  Bestimmungen,  Gottes  und  seiner 
Attribute,  sowie  des  Menschengeistes,  sich  finden. 

VerfaOt 
von 

Benedict  von  SpiHoia 

AUS 

Amsterdam. 


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Des 

Anhanges  metaphysischer  Gedanken 

Erster  Teil, 

in  dem  die  wichtigsten  Punkte  des  allgemeinen  Teils 

der  Metaphysik  in  Betreff  des  Seienden  nnd  seiner 

Bestimmcmgen  (affectiones)  kurz  erläutert  werden. 


Erstes  KapiteL 

Ol^r  die  wlriOlAhen^  die  eingel^Udetev  und  die 
GedankeB^Onge. 

Ich  sage  nichts  über  die  Definition  dieser  Wissen-  lo 
Schaft  oder  über  ihre  Gegenstände,  sondern  ich  will 
hier  nur  die  dunkleren  l^mkte,  die  hin  und  wieder 
von  denen  behandelt  werden,   die  über  Metaphysik 
schreiben,  kurz  erläutern. 

^^^^  Ich  beginne  daher  mit  dem  Dinge 

^^       (Wesen,  eni),  worunter  ich  äOes  das  ver- 
stehe,  von  dem,   indem  man  es.  Jdar  und 
deutlidt   vorstellt,  man  findet,   daß  es  notwendig  eoBigÜert 
oder   wenigstens   existieren   kann,^) 
Die  cktmäy.  ^^  dieser  Definition  oder,  wenn  man  ao 

da»  i^diMtu    lieber  will,  aus  dieser  Beschreibung  folg^ 
Ding  und  diu     daß  die  Chimäre,  das  erdichtete  Ding  imd 
^'•^jj'^'^jv     das  Gedankending  in  keiner  Weise  zu  dem 
'^'^^J^'jJTjl^  Seienden  gerechnet  werden  können.  Denn 
die  Chimäre ''0   kann  ihrer  Natur  nach 


*)  Man  halte  ÜMt,  daß  nnter  der  „Ofaimftre^  hier  nnd 
im  Folgettden  das  Tentanden  wird,  deaten  Natur  einen 
offenbaren  Widerspruch  einschließt,  wie  in  Kapitel  8  aos- 
ftbrlicher  dargelegt  werden  wird.    (A.  y.  Sp.) 


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106  Anhang.    TeU  I.    Kmp.  1. 

nicht  existieren;  dagecen  lißt  das  erdUkUU  Dk^g  keine 
klare  und  deatSche  YorBteDnng  so,  weil  der  Ibnaeh 
hier  aus  bloßer  Willkfir  md  nicht  nnwiaaend  wie 
bm  dem  IrrtBmUchen,  sondwn  absichtlich  nnd  wissend 
das  verbindet»  was  er  verbinden  will,  und  trennt» 
was  er  trennen  will  Das  OedankeihDing  ist  nur  ein 
Zustand  des  Denkens,  der  dem  besseren  Bdbatten,  Br- 
läutern  nnd  Var$ieUen  der  eingesehenen  Dinge  dieet 
Unter  einem  ».Zustand  des  Denkens"*  (modut  cogtUmdi) 
10  verstehe  ich  das,  was  ich  sdion  in  &lftat  sa  Lehrs.  4, 1 
erklirt  habe^  d.  h.  alle  Bewnßtseinsarten  (eogüaiumU 
affeeHonei)^  also  den  Verstand,  die  Rrende^  die  Ein- 
bUdnng  n.  s.  w. 

Daß  es  aber  gewisse  Zustande  dea 
Dmnhwdtk§     Denkens  gibt,  welche  dam  dienen,  die 


Dinge  fester  nnd  leichter  mu  Uhdlim  und 

DfafviMor*  81^  wenn  man  will,  wieder  in  das  Ge- 
dMdnü  MUBc  dächtnis  norfieksomfen  oder  dem  Geiste 
wiedw  gegenwartig  sa  machen,  ist  allen 
SO  bekannt,  wdche  die  so  bekannte  Gedächtnisregel  be- 
natien,  wonach  sa  dem  Behalten  and  Einprägen  eines 
neuen  Ge^nstandes  man  einen  anderen  bduumten 
zu  Hilfe  mmmt,  der  entweder  im  Namen  oder  in  der 
Sache  mit  jenem  übereinstimmt  Auf  diese  Weise  haben 
die  Philosophen  alle  naturlichen  Dinge  auf  gewisse 
Klassen  surfickgeführt^  die  sie  Oüthmgem  und  Artm 
u.  s.  w.  nennen,  und  auf  die  sie  surfickgehen,  wenn 
ihnen  etwas  Neues  entgegentritt 

Ebenso  haben  wir  auch  Zustände  des 

SO    ^^„y^     D^ikens  sur  Erldänmg  der  Dinge^  indem 

iTwfrwi  «o»  SU  ^^^^^^Boi  sie  durch  Vergleichung  mit  anderen 

Dm99trtdärt,     bestimmt    Die  Zustände  des  Denkens, 

durch  die  man  dies  bewirk^  beißen  die 

Zeit,  die  ^oM,  das  Maß,  wosu  vielleicht  noch  einige 

andere  kommen.  Davon  dient  die  Zeit  »ir  Erklärung 

der  Dauer,   die  Zahl  sur  Erklärung  der  diskreten 

Menge  und  das  Maß  sur  Erklärung  der  stetigen  Größe. 

Durch  wtidf  Endlich  ist  man  gewohnt,  allem,  was 

skuuM»im     man  einsieht,   entsprechende  Bilder  in 

4D  DmiumMmm^ti^  ungerer  Binbildungskraft  su  geben,  und 

sKnMMMipvor.    dahcT  kommt  es,   daß  man  auch  das 

tum,         Nicht-Seiende  sich  positiv,  wie    etwas 

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WüUidM  and  mngMiMi$  Gcdukmdiiigtt.        IM 

Srieadei^  t»  der  EiMUkmg  vorHM.  Dfinn  da  der 
Verstand,  für  sich  allein  betrachtet»  als  dodcendes 
Ding  m  dem  Bejahen  keine  grfißere  Kraft  hat 
als  n  dem  Verneinen,  und  da  das  büdliche  Vorstellen 
nnr  in  raiem  Empfinden  der  Spuren  besteht^  die  in 
dem  Gehirn  durch  die  Bewefi^ung  der  Lebensgeister, 
die  in  den  Sinnen  von  den  Gegenständen  angeregt 
werdoi»  sich  bilden,  so  kann  eine  solche  Empfmdung 
nnr  eine  verworrene  bejahende  VorsteUtmg  sein.  Da- 
her konunt  es,  daß  alle  Weisen,  deren  der  Verstand  10 
sich  zum  Verndnen  bedient»  wie  z.  B.  Blindheit, 
lußeretee  oAer  Ende,  Grenze,  Finetemie  o.  S.  W.,  als 
seiende  Dinge  vorgestellt  werden. 

^  ^  Daraus  ergibt  sich  klar,  daß  diese 

7Sig9  Zustände  des  Denkens  keine  Ideen  wirk- 
mwirk-  lieber  Dinge  sind  und  in  keiner  Weise 
^^^IaLIS^  dasu  gOTechnet  werden  dürfen;  deshalb 
JlMtaT^M^  gibt  es  auch  bei  ihnen  kein  Vor|^estelltes 
(ideatum)^  das  notwendig  existiert  oder 
ezistiereo  kann.  Die  Ursache  aber,  weshalb  diese  Zu-  90 
sfinde  des  Doikens  für  Ideen  von  Dingen  cpehalten 
werden,  ist»  daß  sie  aus  Ideen  wirklich  Dinge  so 
unmittelbar  hervorgehen  und  entstehen,  daß  sfe  der 
Unaufmerksame  leicht  mit  solchen  verwechselt  Des- 
halb haben  sie  auch  Namen  erhalten,  als  sollten 
damit  Dinge  beseichnet  werden,  die  außerhalb 
des  Verstandes  existieren,  und  man  hat  deshalb 
diese  Dinge  oder  vielmehr  diese  Nicht-Dinge  Ge- 
danken-Dinge genannt 

Hieraus  erhellt»  wie  verkehrt  die  aa 
^*l^^^^^^  Einteilung  derselben  in  wirkliche  und 
eJSÜlMm'iHmgB  Gedankou-Dinge  ist;  denn  man  teilt  da- 
M  mw«cm.  bei  die  Dinge  in  Dinge  und  Nicht-Dinge 
ein  odw  in  Dmge  und  in  Zusttnde  des 
Denkens.  Indes  wundere  ich  mich  nicht,  daß  Philo- 
sophen, die  bloß  an  die  Worte  und  Sprachformen 
sich  halteu,  in  solche  Irrtümer  geraten  sind,  weil  sie 
die  Dinge  nach  ihren  Namen  uid  nicht  die  Namen 
nach  den  Dingen  beurteilen. 

^^  Ebenso     verkehrt     sprechen     die-  40 

MmtaTiMii^    lenigen,    welche    behaupten,    das   Ge- 
9t»  nituB  iikkt9  danken-Ding    sei    kein    reines    Nichts. 


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110  Anhang.    TeÜ  L    Kap.  1. 

*??_*"^C!?  ••  Denn  wenn  sie  das,  was  mit  diesem 
Namen  bezeichnet  wird,  außerhalb  de« 
Verstandes  suchen,  so  werden  sie  fin- 
den, daß  es  ein  reines  Nichts  ist;  ver- 
stehen sie  aber  darunter  nur  Zustande  des  Denkens, 
so  sind  sie  wirkliche  Dinge.  Denn  wenn  ich 
frage,  was  eine  iiH  ist,  so  frage  ich  damit  nur 
nach  der  Natur  dieses  Zustandes  des  Denkens,  der 
in  Wahrheit  ein  Seiendes  ist  und  sich  von  anderen 

10  Zuständen  des  Denkens  unterscheidet.  Indessen  können 
diese  Zustände  des  Denkens  nicht  als  Ideen  bezeichnet, 
noch  auch  für  wahr  oder  falsch  erklärt  werden,  eben- 
sowenig wie  dies  bei  der  Liebe  zulässig  ist,  die  nur 
entweder  gut  oder  schlecht  ist  So  hat  Plato,  als  er 
den  Menschen  für  ein  zweifüßiges  Tier  ohne  Federn 
erklarte,  sich  nicht  mehr  geirrt  als  die,  welche  den 
Menschen  für  ein  vernünftiges  Tier  erklärten,  da 
Plato,  ebenso  wie  die  anderen,  wußte,  daß  der  Mensch 
ein  vernünftiges  Tier  ist;  er  brachte  nur  auf  sdne 

20  Weise  den  Menschen  unter  eine  g^ewisse  Klasse,  um, 
wenn  er  über  den  Menschen  nachdenken  wollte,  durch 
Zurückgehen  auf  diese  Klasse,  welcher  er  sich  leicht 
erinnern  konnte,  sogleich  auf  die  Vorstellung  des 
Menschen  zu  kommen.  Vielmehr  war  Aristoteles  in 
dem  größte  Irrtume^  wenn  er  glaubte,  durch  seine 
Definition  das  Wesen  des  Menschen  zureichend  er- 
klärt zu  haben.  Ob  aber  Plato  mit  seiner  Erklärung 
gut  getan  hat,  das  konnte  man  wohl  fragen;  doch  ge- 
hört dies  nicht  hierher. 

80       Bddm-  ^^9  allem  vorstehend  Gesagten  er- 

Xrfondmng  d«r  hellt,  daß  zwischeu  den  wirklichen 
^^l^^f!!  Dingen  und  den  Gedanken-Dingen  keine 
**tlS?iiSd«r  tJbereinstimmung  besteht.  Daraus  ist 
Qtdankm^  lolcht  abzunehmen,  wie  sehr  man  sich  in- 
DingtH  V9rm«ngt  acht  ZU  nehmen  hat,  daß  man  bei  der  E5r- 
•**'**^  f  orschung  der  Dinge  nicht  die  wirklichen 
Dinge  mit  den  Gedanken-Dingen  vermengt  Denn  das 
Erforschen  der  Natur  der  Dmge  ist  verschieden  von 
dem  Erforschen  der  Zustände,  durch  welche  die  Dinge 

40  von  uns  vorgestellt  werden.  Vermengt  man  beides» 
so  kann  man  weder  diese  Zustände  des  Vorstellens, 
noch  die  wirkliche  Natur  erkennen,  vielmehr  gerät 

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WirUiclie  «nd  eiDgalrildeto  Gedaokeadiiige.        111 

man,  was  £e  Hauptsache  ist,  dadnrcli  in  grofle  Irr- 
tSmer,  wie*^  ▼ielen.  bisher  ergangen  ist 

Viele  vermengen  anch  dieGedanken- 
JWejfa» da«  Dinge  mit  den  erdichteten  Dkgen;  sie 
^T" 'Sü!  «^  halten  letztere  ebenfalls  für  G^anken- 
SaaJe!^ Di^  ^hig^»  weil  sie  außerhalb  des  Verstandes 
»»«»rMMdee.  keine  Existenz  haben.  Allein  wenn  man 
anf  die  oben  gegebenin  Definitionen  des 
Gedanken-Dinges  nnd  des  erdichteten  Dinges  genan 
achfhaty  80  wird  man  einen  großen  Unterschied  zwischen  10 
beiden  Klassen  sowohl  bezüglich  ihrer  Ursache,  als 
ihrer  Natnr  selbst»  abgesehen  von  der  Ursache,  be- 
merken. Das  erdichtete  Ding  habe  ich  nämlich  nnr 
für  die  rein  willkürliche  Verbindung  zweier  Ausdrüdce 
(iennini)  erklärt,  WOZU  die  Vernunft  keine  Anleitung 
gibt;  deshalb  kann  das  erdichtete  Ding  durch  ZufaU 
auch  einmal  wahr  sein.  Dagegen  hängt  das  Gedanken- 
Ding  nicht  von  dem  bloßen  Belieben  ab  und  besteht 
nicht  aus  der  Verbindung  irgend  welcher  Ausdrücke, 
wie  sich  aus  seiner  De&iition  ergibt  Wenn  daher  20 
jemand  fragt,  ob  das  erdichtete  Ding  entweder  ein 
wirkliches  INng  oder  ein  Gedanken-Dins  sei,  so  braucht 
man  nur  das  von  mir  Gesagte  zu  wiederholen  und  zu  er- 
widern, nämlich  daß  die  Einteilung  der  Dinge  in  wirk- 
liche und  Gedanken-Dinge  schlecht  ist,  und  deshaB>  mit 
sohlechtem  Grunde  gefragt  wird,  ob  das  erdichtete 
Ding  entweder  ein  wirkUches  oder  ein  Gedanken- 
Ding  sei;  denn  man  setzt  dabei  fälschlich  voraus, 
daß  alle  Dinge  sich  in  wirkliche  und  Gedanken-Dinge 
einteilen  lassen.  80 

DU  Mnftflit  ^^^  kehre  indes  zu  meiner  Aufgabe 

ut  j>img^  zurück,  von  der  ich  schon  etwas  ab- 
gekommen bin.  Ans  der  Definition,  oder, 
wenn  man  lieber  will,  aus  der  Beschreibung,  die  ich 
oben  von  dem  Dinge  gegeben  habe,  kann  man  leicht 
ersehen,  daß  die  Dinge  einzuteilen  sind  in  Dinee^ 
die  vermöge  ihrer  Natnr  notwendig  existieren,  oder 
deren  Wesenheit  das  Dasein  einschließt,  und  in  Dinge, 
deren  Wesenheit  das  Dasein  nur  als  möglich  ein- 
schließt Letztere  tdlen  sich  in  Substanzen  und  in  40 
Zustände,  deren  Definitionen  T.  I  §  61,  62  und  66  der 
Printipien  der  Philosophie  gegeben  sind,  weshalb  ich 

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112  Anhang.    Teil  L    K^»«  1-  2- 

sie  hier  nicht  za  wiederholen  brauche,  loh  will  über 
diese  EinteOung  nur  so  viel  bemerken,  daß  ich  aus- 
drücklich sage,  die  Dinge  teilen  sich  in  Substanxen 
und  Zustande,  nicht  aber  in  Substanaen  und  Ajc- 
cidenzien;  denn  das  Accidenz  ist  nur  ein  Zustand  des 
Denkens,  da  es  nichts  als  eine  Beziehung  ausdruckt 
Wenn  ich  z.  B.  sage,  daß  ein  Dreieck  sich  bewegt,  so  ist 
die  Bewegung  nicM  ein  Zustand  des  Dreiecks,  sondern 
des  bewegten  Körpers;  deshalb  heißt  die  Bewegung 

10  rücksichtlich  des  Dreiecks  zufällig  (aeddens),  allein 
mit  Bezug  auf  den  Körper  ist  sie  ein  wirkliches  Ding 
oder  ein  Zustand;  denn  eine  Bewegung  kann  ohne 
Körper  nicht  vorgestellt  werden,  wem  aber  ohne 
Dreieck,  »i) 

Femer  will  ich,  damit  man  das  Bisherige  und 
das  Folgende  besser  verstehe,  zu  erklären  versuchen, 
was  unter  ,ßein  des  Wesens"  (esse  essentiae),  ,J3ein  des 
Daseins**  (esse  existentiae),  ,ßein  der  Idee^  (esse  ideae) 
und  endlich  unter  »ßein  der  Möglichkeit"  (esse  potentiae) 

20  zu  verstehen  ist  Dazu  veranlaßt  mich  auch  die  Un- 
wissenheit manche,  die  zwischen  Wesen  und  Dasein 
keinen  Unterschied  anerkennen,  oder  wenn  sie  es  tun, 
das  Sein  des  Wesens  mit  dem  Sein  der  Idee  oder  dem 
Sein  der  MögUMceit  vermengen.  Um  diesen  und  der 
Sache  möglichst  zu  genügen^  will  ich  d^i  Gegen- 
stand im  folgenden  so  t^ostimmt»  als  ich  vermag, 
erkl&ren. 


Zweites  Kapitel») 

Was  unter  den  Sein  des  Wesens,  den  Sein  des  Daseins, 
80  4en  Sein  der  Idee  und  dem  Sein  der  MOgliehkeit  zu 
verstehen  Ist. 

Um  klar  zu  verstehen,  was  mit  diesen  vier  Aus- 
drücken gemeint  ist,  braucht  man  sich  nur  das  vor 
Augen  zu  halten,  was  ich  über  die  unerschaf fene  Sub- 
stanz oder  über  Gott  gesagt  habe,  nämlich: 

iMe  «tacMüft  ^*  ^^  ^^**  '^  eminentoT  Weise  das 

HmäimTmimmdm'   enthält,    was   formal   in   den   eeschaf- 

W€iM  im  o<tu,     fenen   Dingen  angetroffen  wird,  d.  h. 


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Sein  def  WaMoi,  DaMioi,  6m  Idee  il  4tr  MOglicbkeit    118 

dafi  Gott  eolcke  Attribute  ktA,  in  denea  alle  my 
sobaffeneH  Duge  in  eminenter  Weise  entfa&iteoi 
mä.  Daiiber  sehe  man  T.  I,  Gr.  8,  und  Zus.  1  zu 
I^hirs.  12.  £!o  stellt  man  sich  z.  R  die  Ausdehnung 
deutKoh  c^hne  alles  Dasein  vor,  und  da  sie  somit 
dnreh  sich  seS>st  keine  Kraft  nun  Dasein  hat,  so  ist 
sie^  wie  ieh  geseigt  habe^  von  Gott  erschaffen  worden. 
(Letzter  Lehrsnts,  T.  L)  Da  nun  in  der  Ursache  min- 
destens ebensoyi^  an  Vollkommenfaeit  enthalten  sein 
mnfi,  wie  in  der  Wiricung  ist^  so  folgt,  daß  alle  Voll-  10 
kommenheiten  der  Ausdehnung  in  Gett  enthalten  sind. 
Indes  haben  wir  q)äter  gesehen,  daß  eine  ausgedehnte 
Sache  ihrer  Natur  nach  teilbar  ist,  d.  h.  eine  Un- 
veHkommenheit  enthält,  deshalb  haben  wir  Gott  diese 
Unvc^ommenheit  nicht  zuteilen  können  (Lehrs.  16,  I) 
und  waren  somit  zu  -dem  Anerkenntnis  genügt»  daß 
in  Gott  ein  Attribat  enthalten  ist,  das  alle  VoHkommen- 
heiten  des  Stoffes  in  eaunentem  Ibße  enthalt  (ErL 
zn  Lehrs.  9,  I),  und  das  die  Stelle  des  Stoffes  ver- 
treten  kann.  90 

2.  daß  Gott  sich  selbst  und  alles  andere  kennt, 
d.  h.  daß  er  alles  gegenständlich  in  sich  hat  (Lehr- 
satz 9,  X.) 

3.  daß  Gott  die  Ursache  aUer  Dinge  ist;  und 
daß  er  aus  unbedingter  WiUenafreibeit  handelt. 
WMMiifcrtoi  Hieraus  ist  klar  zu  ersehen,  was 
Am  dm  TTwuii^  uuter  diesou  Tier  Bestimmungen  zu  ver- 
im  iktseimß,  Ut  Stehen  ist    Zunächst  ist  das  Sein  des 

f^^T^J*^     Wesens    nur    der    Zustand,    vermöge 
^Hl^üü^^    dessen  die  geschaffenen  Dinge  in  Gottes  80 

Attributen  befaßt  werden;  dius  Sein  der 
Idee  heißt,  daß  alles  gegenständlich  in  der  Idee 
Gölte  enthalten  ist»  und  das  Sein  der  Meglichkeit 
bedeutet  nur  die  Hadit  Gottes,  vermöge  deren  er  alles 
noch  nicht  Vorhandene  aus  seiner  unbedingten  Wil- 
lensfreiheit erschaffen  konnte;  endlich  ist  das  Sein 
des  Daseins  das  Wesen  der  Dinge  außerhalb  Gottes 
und  an  sich  betrachtet;  es  wird  den  Dingra  zage- 
sdirieben,  nachdem  sie  von  Gott  geschaffen  sind. 

Hieraus  ergibt  dch  klar,  daß  diese  40 
r«iTi«jiiiwjiii     ^^  Bestimmungen  sich  nur  in  den  ge- 
munOiMm     sohaffensn  Dingen,  aber  keineewegt  in 

SplAOB»,  ftiMlpl«A  TM  INMMtM.  8 

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114  AiUmDg.    TedL    Kqp.8. 

«fafcMM^«»  am    Gott,  imtecsclieidaL  Denn  von  Gott  kann 

rfaii!fTm      '^''^^  "^  ^'^^^  vorstdien,  daO  er  der 

düZim-.       Möglidikeit  nach  in  einem  anderen  g^ 

Wesen  sei,  imd  ran  Dasein  und  sein 

Denken  ist  von  seinem  Wesen  nidit  veraehieden. 

Hieniach  kann  ieh  leicht  auf  FVagen, 

;j^^T^"^     die  hin  und  wieder  über  das  Wesen  auf- 

ü^BMrJ^Z     geworfen  werden,  antworten.    Es  sind 

We9eiu.         die   folgoiden:   Ob   das  Wesm  ndk  von 

10  dem  Dasein  wUeretheidet,   und^   wetm  dies 

der  Fall,  ob  es  etwas  wm  der  Idee  Versckiedtmes  ist,  «nut» 
foenn  dies  der  Faü,  ob  es  alsdann  ein  ßein  außerhalb 
des  Verstandes  hat;  welches  letztere  man  allerdings  zu- 
gestehen maß.  Auf  die  erste  Fräse  antworte  ich 
mit  einer  Unt^scheidong;  nämlich  bei  Gott  ist  das 
Wesen  vom  Dasein  nicht  verschieden,  da  sein  Wesen 
ohne  Dasein  nicht  gedacht  werden  kann;  di^egen 
miterscheidet  sich  in  den  Rurigen  Dingen  das  Wesen 
vom  Dasein;  denn  es  kann  <^e  letsteres  vorgestellt 

20  werden.  Axd  die  zweite  Frage  antworte  ich,  uß  die 
Dinge,  welche  außerhalb  des  Verstandes  klar  nnd 
denttich  oder  wahrhaft  vorgestellt  werden,  etwas  von 
der  Idee  Verschiedenes  sind.  Indes  fragt  man  hier 
von  nenem,  ob  dieses  Sein  außerhalb  des  Verstandes  durdi 
sich  selbst  oder  von  Oott  geschaffen  ist  Hierauf  antworte 
ich,  daß  das  formale  Wesen  nicht  durch  sich 
ist  und  auch  nicht  geschaffen  ist;  denn  beides  würde 
das  wirkliche  Dasein  des  Dinges  voraussetzen;  viel- 
mehr hangt  es  bloß  von  dem  göttlichen  Wesen  ab,  in 

80  dem  alles  enthalten  ist;  in  diesem  Sinne  stimme  ich 
denen  bei,  die  sagen,  das  Wesen  der  Dinge  sei  ewig. 
Man  könnte  ferner  fragen,  wie  unr  vor  der  Erkenntnis 
der  Natur  Gottes  das  Wesen  der  Dinge  erkennen  kSwnen, 
da  sie  doch,  wie  ich  eben  gesagt^  nur  von  Gottes 
Natur  abhängen.  Hierauf  antworte  ich,  daß  dies  dar 
her  kommty  daß  die  Dinge  schon  geschaffen  sind; 
wären  sie  noch  nicht  geschaffen,  so  gebe  ich  voU- 
ständi^  zu,  daß  ihre  Erkenntnis  erst  nach  der 
zureichenden  Erkenntnis  Gottes  möglich  wäre,  ebenso 

40  wie  es  unmöglich  ist»  ja  noch  unmöglicher,  aus  der 
noch  nicht  erkannten  Natur  der  Parabel  die  Natur 
ihrer  Abscissen  und  Ordinaten  zu  erkennen. 


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Was  notwendig,  unmöglich,  möglich  vu  zuftllig  ist.     115 

W9ähmib  itr  Ich  bemerke  ferner,  daß  allerdings 

J^^^^JJ^^     das  Wesen  der  noch  nicht  existierenden 
«iat  wmm»  auf    Zustande  in  ihren  Substanzen  begriffen 
disAUHkvu      ist,  und  daß  das  Sein  des  Wesens  dieser 
^'^'^«VT**"     Zustände  in  ihren  Substanzen  enthalten 
^^'  ist;  indes  habe  ich  doch  auf  Gott  zu- 

rückgehen wollen,  um  das  Wesen  der  Zusfönde  und 
der  Substanzen  überhaupt  zu  erklären,  und  weil  das 
Wesen  der  Zustände  erst  nach  der  Erschaffung  ihrer 
Substanzen   in  diesen   enthalten  ist^    ich  aber  nach  lO 
dem   ewigen  8&in  des  Wesens  geforscht  habe. 
wtoudb  dm-  Hiemach  halte  ich  es  nicht  für  der 

F«r/a«Mr<u«     Müho  wort^   die  Schriftsteller,    welche 
T>9fimtion  wm    anderer  Ansicht  sind,  zu  widerlegen  und 
MdiT^f^rt.    *^'®  Definitionen  und  Beschreibungen  des 
auffwtn.    ^Qg^ng  ,jjj^  ^iQg  Daseins  zu  prüfen.  Ich 

würde  damit  eine  klare  Sache  nur  verdunkeln;  denn 
was  kann  man  deufUcher  einsehen  als  das,  was  Wesen 
und  Dasein  ist;  kann  man  doch  keine  Definition  einer 
Sache  geben,  ohne  zugleich  ihr  Wesen  zu  erklären.  20 
wst  dm-  uMm-'  SoUte  ein  Philosoph  noch  zweifeln, 

•oded  jwiMAm    ob  bei  den  geschaffenen  Dingen    das 
iTcMM  un4  Da-   Woseu  vom  Dasdu  verschieden  ist,  so 
Min  leichjMu     braucht    er    sich    zur    Hebung    seines 
^*^'*  Zweifels  nicht  viel  mit  Definitionen  von 

beiden  zu  bemühen;  er  braucht  nur  zu  irgend  einem 
Bildhauer  oder  Holzschneider  zu  gehen;  diese  werden 
ihm  zeigen,  wie  sie  eine  noch  nicht  existierende  Bild- 
^ule  in  bestimmter  Ordnung  sich  vorstellen,  und  nach- 
her werden  sie  ihm  die  daseiende  vorhalten.  30 


Drittes  Kapitel.*») 

Über  das,  was  notwendig,  nnmöglieh,  möglieh  und 
znflOligist. 

WMunurdiete»  Nachdem  ich  somit  die  Natur  des 

***?T*^     Dinges  als  solchen  erklärt  habe,  wende 
'    ich  mich  zu  der  Erklärung  emiger  seiner 
Beetimmungen.     Ich  verstehe  ibrigens  unter  Bestim- 
mungen  (affectiones)   das,   was   Descartes    anderwärts 

8* 

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116  Anhang.    Teil  L    Kap.  8. 

in  §  62  T.  I  seiner  Prin^ien  mit  Ättrünäen  be- 
zeicnnet  hat  Denn  das  Ding  als  solches  und  für  sich 
allein,  als  Subetanzy  affiziert  uns  nicht;  deshalb  mnß  es 
durch  ein  Attribut  erklärt  werden,  von  dem  es  selbst 
indessen  nur  d^n  Gesichtspunkt  des  Denkens  nach  ver- 
schieden ist.  Ich  kann  mich  deshalb  nicht  genug  über 
den  übertriebenen  Scharfsinn  derer  wundem,  die^  nicht 
ohne  grollen  Nachteil  für  die  Wahrheit,  nach  einem 
Mittleren  zwischen  Din^  und  Nichts  gesucht  luiben« 

10  Indes  will  ich  mich  mit  der  Widerlegung  ihrer  Irrtümer 

nicht  aufhalten,  da  sie  selbst  bei  il^en  Versuchen, 

eine  Definition  solcher  Zustande  zu  geben,  in  ihre 

eigenen   öden  Spitzfindigkeiten  sich   ganz  verlieren. 

DeAnUion  dm-  ^^^  "^'^^^  daher  uur  meine  Ansicht 

B^Smmungm.     ^^^  ^^^  Sage,  daß  uutor  ^Bestimmungen, 

des  Dinges*  gewisse  Attribute  zu  verstehen 

sind,  unter  denen  man  das  Wesen  oder  Dasein  eines  Dinges 

auffaßt,  die  aber  doch  nur  dem  Oesiehtspuhkt  des  Denkens  neu^ 

von  ihm  unterschieden  werden.   Ich  will  versuchen,  einige 

20  davon  (denn  ich  unternehme  nicht,  sie  alle  zu  ^- 
örtem)  hier  zu  erklaren  und  von  Benennungen,  die 
keine  Zustande  des  Dinges  bezeichnen,  zu  sondern« 
Zunächst  will  ich  über  das  Notwendige  und  Unmögliche 
handeln. 

Auf  «oM  viäu  'f  ^  ^^^^  Weisen  heißt  eine  Sache  not- 

TPaifftnCTfigfgffn-  woudig  uud  uumSgUch:  entweder  in  Be- 
tutnd  notwmtdig  zug  auf  ihr  Wesen  oder  in  Bezug  auf  ihre 
und  ^nts^h  Ursache.  In  Bezug  auf  das  Wesen  wissen 
^anw  «oanton    ^j^,^  j^  q^^^  notwendig  existiert;  denn 

80  sein  Wesen  kann  ohne  sein  Dasein  nicht 

begriffen  werden;  dagegen  ist  eine  Chimäre  we^en  des 
Widerspruchs  in  ihrem  Wesen  nicht  fähig  zu  existieren. 
In  Bezug  auf  ihre  Ursache  heißen  Dinge^  z.  B.  kör- 
perliche, unmöglich  oder  notwendig;  denn  achtet  man 
nur  auf  ihr  Wesen,  so  kann  man  dieses  klar  und  deut- 
lich ohne  ihr  Dasein  begreifen;  deshalb  können  sie  nie- 
mals durch  die  Kraft  oder  Notwendigkeit  ihres  Wesens 
bestehen,  sondern  nur  durch  die  Kraft  ihrer  Ursache, 
d.  h.  Gottes,  als  des  Schöpfers  aller  Dinge.  liegt  es 

40  also  in  dem  göttlichen  Beschluß,  daß  ein  Sisiche 
existiert,  so  existiert  sie  notwendig;  wo  nicht,  so  ist  es 
unmöglich,  daß  sie  existiert  Denn  es  ist  selbstverständ- 

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Wm  notwendig,  «naiOglioli,  möglich  ti.  mflülig  ist     ll7 


]icht  daß  da8p  was  weder  eine  innere  noch  Mne  inßere 
ürsaohe  für  nein  Daaein  hat^  unmöglich  existieren 
kann;  nun  wird  aber  die  Sache  in  diesem  sweiten  Falle 
80  angenommen,  daß  sie  weder  kraft  ihres  Wesens, 
nnter  dem  ich  ihre  innere  Ursache  verstehe^  noch 
vermöge  gottlichen  Beschlusses,  als  der  einzigen  äuße- 
ren Ursache  aller  Dinge,  existieren  kann,  woraus 
folgt,  daß  die  in  diesem  zweiten  Falle  von  mir  ange- 
nommenen Dinge  unmöglich  existieren  können. 

Deshalb  kann  man   1.   sehr    wohl  10 
2J'Jj2iri«>«    ^^  Chimäre,  da  sie  weder  dem  Ver- 
vM-iHmf      Stande  noch  der  Einbildungskraft  ange- 
hört, ein  Wort-Ding  nennen,  da  sie  nur 
durch  Worte  ausg^ückt  werden  kann. 
So  spricht  man  z.  B.  wohl  in  Worten  von  einem  vier- 
eckigen Er^e^  aber  man  kann  ihn  sich  nicht  vor- 
stellen, noch  weniger  ihn  erkennen.    Deshalb  ist  die 
Chimäre  nur  ein  Wort,  und  so  kann  die  Unmöglich- 
keit nicht  zu  den  Bestimmungen  eines  Dinges  gerech- 
net werden,  da  sie  eine  reine  Vemräiung  ist  20 
i>M«rMk«f«»en           ^  ***  *^  bemerken,  daß  nicht  bloß 
2>J^Mfvl!r    ^^  Dasein    der    geschaffene    Dinge, 
otm»  wm^  wu   sondern,  wie  ich  später  im  zweiten  Teile 
ikrtm  Damin     j^ar  boweiseu  werde,  auch  ihr  Wesen 
"^  ;2r        '^d  ihre  Natur  bloß  von  Gottes  Beschluß 
abhängt    Eieraus  erhellt,  daß  die  ge- 
schaffenen Dinge  an  sich  selbst  keine  Notwendigkeit 
haben;   denn  sie  haben  von   sich   selbst  weder  ihr 
Wesen  noch  ihr  Dasein. 

j}u  3.  bemerke  ich,  daß  die,  vermöge  80 

Natwmdigkiit,  der  Urssche^  in  den  Dingen  enthaltene 
j2Lr**  ^^mJT  Notwendigkeit  sich  entweder  auf  ihr 
Mr^^i7^*Jdül  Wesen  oder  auf  ihr  Dasein  bezieht,  da 
iwMwi,  umäkt  dies  beides  in  den  geschaffenen  Dingen 
riA€ntw$derauf  verschieden  ist;  denn  jenes  hängt  von 
^  o^Td^'  ^^  ewigen  Gesetzen  der  Natur  ab,  dieses 
Aer  uiQßttiät  aber  von  der  Reihe  und  Ordnung  der 
nicht  Ursachen.  Dagegen  ist  in  Gott  Wesen 
und  Dasein  nicht  verschieden  und  des- 
halb auch  die  Notwen<ügkeit  seines  Wesens  nicht  von  iO 
der  seines  Daseins  verschieden.  Könnten  wir  daher  die 
ganze  Ordnung  der  Natur  erfassen,  so  würden  wir 


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118  AnhaDg.    Teil  L    Kh>.  3. 

fmden,  daß  vieles,  dessen  Natur  wir  klar  und  deuflich 
auffassen,  d.  h.  dessen  Wesen  notwendig  derart  ist» 
in  keiner  Weise  Dasein  haben  kann;  denn  wir  würd^i 
finden,  daß  das  Dasein  solcher  Dinge  in  dBt  Natur 
ebenso  unmöglich  ist,  als  wir  es  für  unmöglich 
halten,  daß  ein  groß^  Elefant  durch  ein  Nadelohr 
gehen  kann,  obgleich  wir  die  Natur  beider  deutlich 
erkennen.  Also  würde  das  Dasein  solcher  Dinge 
nur  eine  Chimäre  sein,  die  wir  weder  uns  ausdenken, 
10  noch  erkennen  könnten. 

Dm  MögUdu  ^^  ^®^  ^^^  Notwendigkeit  und  Un- 

und  zufätu^     möglichkeit    Ich  füge  einiges  über  das 

iind  Mm       Zufällige  und  Mögliche  hinzu,  da  manche 

^^*'T**Jf*     sie  für  Bestimmungen  der  Dinge  halten, 

^^*^       während     sie    in    Wahrheit    nur    ein 

Mangel  unseres  Verstandes  sind.    Ich  will  das  klar 

darlegen,  nachdem  ich  erklärt  habe,  was  unter  beidem 

zu  verstehen  ist 

WatuiUerdem  EJn   jQ^^   h^ißt  möglidk,   wmn  man 

^    ^^v^htTd^m^     ^"'^'*  '****  twrÄfemfo  Vrsackt  lunnt,  aber  nkht 
Zufoaiffm  Mu      toeiß,  ob  diese  ürsadhe  vollständig  bestimmt 
venuK§n  M.      (determinota)  ist  Deshalb  kani\  man  auch 
es  selbst  nur  als  möglich,  aber  nicht  als  notwendig 
oder  unmöglich  ansehen.   Sieht  man  aber  einfach  nur 
auf  das  Wesen  eines  Dinges  und  ni^ht  auf  seine  Ursache,  so 
wird  man  es  zufäüig  nennen,  d.h.  man  wird  es  sozu- 
sagen als  ein  Mittelding  zwischein  Gott  und  der  Chimäre 
ansehen,  weil  man  von  selten  seines  Wee^ut  keine  Not- 
wendigkeit des  Daseins  in  ihm  antrifft,  wie  bei  dem 
30  göttlichen  Wesen,  noch  auch  einen  Widerspruch  oder 
eine  Unmöglichkeit,  wie  bei  der  Chimäre.   Will  man 
das,  was  ich  möglich  n^me,  zufällig,  und  das,  was  ich 
zufäüig  nenne,  möglich  nennen,  so  will  ich  dem  nicht 
entgegentreten,  da  ich  nicht  gern  um  Worte  streite. 
Es  genügt  mir,  wenn  man  zugesteht,  daß  beides  nur 
ein  Mangel  unserer  Einsicht,  ab^  nichts  Wirkliches  ist 
j^  Wer  dies  bestreiten  will,  dem  kann 

Mögiiciu  %ma     sein  Irrtum  leicht  nachgewiesen  werden. 
zufsoig*  Ui  Mir   Gibt  er  nämlich  auf  die  Natur,  und  wie 
fW  ^J^^^^^    sie  von  Gott  abhängt,  acht,  so  wird  er 
nichts  Zufälliges  an  den  Dingen  finden, 
d.  h.  nichts,  was  der  Sache  nach  existieren  oder  nicht 

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Wm  notwendig,  immOglioh,  mOgliob  n.  tnfUlig  üt.     119 

ezisiieren  kam,  oder  was  nach  dem  gewöhnlichm 
Anadrnek  ein  wtrJdidM  Zufdüige^  (ctmtm^m  rmSU)  M. 
Bb  tfgibt  sich  diee  leicht  au  Gr.  10,  T.  I,  wo  ich 
l^eieigt^  daß  ebensoviel  Kraft  zur  Erschaffung  eines 
Dinses  wie  so  dessen  Eitaltang  nötig  ist  Deshalb 
voUBringt  kräi  erschaffenes  Ding  etwas  durch  eigene 
Kraft,  so  wenig,  wie  ein  ers^Aaffeues  Ding  durch 
sräie  dgene  ZjniX  m  existieren  binnen  hat  Daraus 
folgt,  daß  alles  nur  durch  die  Kn^  der  alles  er- 
zeugenden Ursache,  d.  h.  Gottes,  geschieht»  der  durch  10 
seine  Mitwirkung  in  den  einielnen  Zeitpunkten  alles 
fortgesetzt  erzeugt  Wenn  also  alles  nur  Termöge 
der  göttlichen  ICacht  geschieh^  so  ist  lacht  einzu- 
wkü&kj  daß  aUes»  was  geschieht»  nur  kraft  des 
Beschlusses  und  Willens  Gottes  geschieht  Da  nun 
in  Gott  keine  Unbeständigkeit  und  kein  Wechsel  vor- 
handen ist,  so  muß  er  nach  Lehrs.  18  und  Zus.  zu 
Lehrs.  20,  I  alles,  was  er  hervorbringt»  von  Ewig- 
keit her  beschlossen  haben  hervorzubringen,  und  da 
für  kein  Ding  ein  in  höherem  Grade  notwendiger  SK) 
Grund  für  seine  Existenz  gilt,  als  daß  Gott  seine 
kommende  Existenz  beschlossen  hat,  so  folgt,  daß  in 
allen  erschaffenen  Dingen  die  Notwendigkeit  ihres 
Daseins  von  Ewi|^keit  vorhanden  gewesen  ist  Auch 
kann  man  sie  mcht  zufällig  nranen,  weil  Gott  es 
anders  habe  beschließen  können;  denn  in  der  Ewig- 
keit gibt  es  kein  Wann  und  kein  Vor  und  Nach,  noch 
irgend  eine  Bestimmung  der  Zeit»  und  daraus  folgt, 
diu}  Gott  vor  diesen  Beschlüssen  nicht  existiert  hat, 
sodaß  er  es  anders  hatte  beschließen  können.  80 

Was  aber  d^  mensohliohen  Willen 

^mvmn^^    anlangt»  den  ich  frei  genannt  habe,  so 

ymmTwA      ^'d  auch  dieser  nach  Zus.  zu  Lehrs.  16, 

im  Yorhmu-     T.  I  duTch  Gottes  Mitwirkung  erhalten, 

*'*"**"'222r    ™*  ^'^  Mensch  will  oder  wirkt  etwas, 

i^^Z!^SSa^  ^®^  *®"^  ^^^  Gott  von  Ewigkeit  her  be- 

v«rte«id.        schlössen  hat»  daß  er  es  so  wolle  und 

tue.  Wie  dies  i^r  ohne  Aufhebung  der 

menschlichen  Freiheit  möglich  ist,  überschreitet  unser 

Fassungsvermögen;  doch  darf  man  deshalb  das»  was  40 

man  klar  einsieht»  nicht  wegen  dessen,  was  man  nicht 

weißt,   verwerfen;  denn  wenn  man  auf  seine  Natnr 


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lao  Anhang*    TcU  L    Km^S.4. 

aabOfti  wo  erkemt  bmu  klar  mid  deiiilieii^  dafl  mn 
kl  seiBen  HMidhmgeii  frei  Ist^  «ad  daß  maoi  tides 
ttierlagt;  bk)ß  weil  maa  ea  iriD,  und  wenn  man  nuf 
Goties  N&tor  acktha^  ao  erkennt  man  auok,  wia  kk 
eben  gezeigt»  Uar  uid  damflich,  daß  alles  von  ihm 
ahhangt^  od  daß  aUea  mir  verhanden  ist^  weil  es 
so  von  Ewigkeit  her  vou  Gott  beaohloBsen  wosden 
ist  Aber  wie  der  mensehfiohe  Wille  toh  Gott  in  den 
wagehiflfn  ZeitpiodLien  so  weitererschaffen  wird,  daß 
10  er  frei  bleUit»  das  weiß  man  nicht;  denn  es  gibt 
▼iedea»  was  unsere  nummgakraft  ftberateigt,  nnd  ¥oa 
dem  man  dock  weiß^  daß  Gott  es  getan  bat^  wie 
a  B.  iene  wirkliche  TeilEBg  des  Stoifes  in  unendlich 
viele  Teilchen  völlig  nbeneagead  von  mir,  Lahrs.  11^  U, 
bewiesen  wcvden  lat^  obgleich  man  nicht  weifl^  wie 
sie  möglich  ist  Wenn  man  daker  an  Strile  der  be- 
kannten Sache  zwei  Be^ff e,  das  MöglUhe  und  das  3Sm- 
f4üig9,  aonimmty  so  beaMchnen  dieae  nur  dnen  liaagel 
unserea  Wiasens  rncksichtUch  der  Existenz  der  Sacae. 


20  Viertes  EapiteL 

Über  die  Ewigkeit,  ite  Hauer  und  die  2Sett.*«) 

Indem  ich  oben  die  Dinge  in  aolohe  eingeteilt 
habe,  deren  Wesen  daa  Dasein  eineckließt»  und  in 
Bolehe^  deren  Wesen  nur  ihr  mögliches  Dasein  ein* 
schließ^  entateht  daraus  der  Unterschied  Ewischen 
Ewigkeit  und  Dauer.  Über  die  Ewigkeit  werde  ich 
spater  ausMkrlioher  sprechen. 

w^m0  Hiar   sage  loh   nur,   daß  aie  das 

aiti^tid;  «MM  Si«    AiMbut  ist^  unter  dem  idi  dae  unmdHeke 

80    J^»mrum€Me     Dasein  €hUe8  begreif  e,  dagegen  ist  die  Dauer 

^«*  ^'  ^ae  Attribut,  untler  dem  iek  daa  Dasein  der 
enehaffenm  Dinge,  $o  wie  sie  in  ihrer  WirklidUeeit  he- 
hMTreUf  begreife.  Daraus  folgt  klar,  daß  die  Dauer  von 
dem  ganzen  Dasein  eines  Dinges  nur  dem  Gesicbts- 
pvnkt  des  Denkens  nach  antoroehiedeii  wird^  da  man 
das,  was  man  der  Dauer  eines  Diivges  absieht,  auch 
seinem  Dasein  abziehen  muß.  Um  dies  an  bestimmen» 


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Von  dem  6<egeimts,  der  Ordnnikg  n.  s.  w.         Ifll 

vergleicht  maa  eB  mit  der  Dauer  der  Dinge,  die 
eine  feste  und  bestimmte  Bewegung  habein,  und  nennt 
diese  Vergleidkumg  die  Zeit.  Da£»r  Iflt  die  Zeit  keine 
Bestimmung  der  Dinge,  sondern  nur  eine  Art,  sie 
jBt  denkM,  d.  h.  wie  ich  gesagt^  mk  Gedanken* 
Ding;  sie  ist  eine  Art  zu  denken»  die  mr  firkfimn^ 
der  Daner  dient  Ich  b^nerke  hier,  was  spftter  bei 
der  Beqpreohimg  der  Ewigkeit  von  Nataen  sein  Wird, 
dafi  die  Dauer  gröBer  und  kleiner  und  gletchaam  aus 
Trikn  bestdiend  vorgestellt  wird^  und  «ß  die  Dauer  10 
nur  ein  Attribut  des  Dasdns,  aber  nicht  des  Wesens  ist 


Fünftes  Kapitel. 
Ton  den  Ctogeiiaats,  der  Ordmuig  u.  i.  w."*) 

Aus  der  Vergleichung  der  Dinge  entstehen  einige 
Begriffe,  die  jedoch  außerhalb  der  Dinge  selbst  nichts 
sind  als  Zustände  des  Denkens.  Dies  ergibt  sich 
daraus,  dafl^  wenn  man  sie  als  außerhalb  des  Denkens 
bestehende  Dinge  betrachten  wollte,  man  den  klaren 
Begriff,  den  man  von  ihnen  hat,  sofort  zu  einem  ver-^ 
worrenea  machen  würde.  20 

wagdärovn^'  Dergleichen    Begriffe   sind:   Gegen- 

aaU,äUOr»mng,    gaU,  Ordnung,  Übereinstimmung,  üniereekied, 
*•  '^•^•**'      Subjekt,  Prädikat,  und  etwaige  ähnBche 


MndZd,dM    mehr.    Diese  Begriffe  werden  von  uns 
subjM,  da»     deutlich  vorgestellt,  solange  wir  sie  nicht 
jvMfta««.«.«r.    als  otwas  auffewsen,  was  von  dem  Wesen 
*^  der  entgegengesetzten  oder  geordneten 

Dinge  u.  s.  w.  verschieden  ist,  sondern  wenn  wir  sie  nur 
als  Zustände  des  Denkens  nehmen,  mittels  deren  wir 
die  Dinge  leichter  behaJten  oder  vorstellen.  Ich  halte  so 
es  deshalb  nicht  für  nötig,  hierüber  noch  weiter  zu 
st>rechen,  sondern  Ich  gehe  zu  den  sogenannten  trans- 
scenden^en  Ausdrücken  über. 


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122  Anhang.    Teil  I.    Kap.  6. 

Sechstes  Kapitel  •<) 
filber  4m  Elme,  Walire  ud  Gate. 

Dieae  Aasdrficke  werden  beinahe  von  allen  Meta- 
physikem  für  die  allgemeinsten  Beschaffenheiten  des 
Seienden  gehalten:  sie  sagen»  daß  jedes  Ding  eines» 
wahr  und  gut  sei,  auch  wenn  niemand  es  denkt  Indes 
werden  wir  sehen,  was  man  daranter  za  YerBtehen 
hat,  wenil  ich  jeden  dieser  Ausdrücke  ffir  sich  unter- 
snoht  haben  werda 

^^    DU  jMüMi  ^^  beginne  mit  dem  erstra,  d.  h. 

mit  dem  Einen.  Man  sagt,  dieser  Aus- 
druck bezeichne  etwas  Wirkliches  aoQ^halb  des  Den- 
kens; allein  man  kann  nicht  angeben,  was  er  za  dem 
Dinge  hinzufügt  Dies  zeigt  deuüich,  daß  man  hier  ein 
Gedanken-Ding  mit  einem  wirklichen  Dinge  vermenget, 
und  dadurch  wird  das,  was  man  klar  einsieht,  ver- 
worren gemacht  Ich  behaupte  dagegen,  daß  die  Ein- 
heit in  keiner  Weise  von  dem  Dinge  selbst  verschieden 
ist^  oder  daß  sie  dem  Dinge  nichts  hinzufügt,  sondern 

20  daß  sie  nur  eine  Art  des  Denkens  ist,  wodurch  man 
die  Dinge  von  einander  sondert,  die  einander  ähn- 
lich sind,  oder  die  mit  einander  in  gewisser  Weise 
übereinstimmen. 

Der  Einheit  ist  die.  Vielheit  entgegen- 

iMM^m^ött    gösetzjj,  die  ebenfalls  den  Dingen  nichts 

äu^aitrcunua)   hinzufügt  Und  nur  eine  Art  des  Denkens 

und  imufUfem     ist,  wlo  man  klar  und  deutlich  erkennt. 

rZt^ihü!^    Auch  sehe  ich  nicht,  was  über  einen 

nHwri^kMii.   ^^  klaren   Gegenstand  noch  zu  sagen 

30  '    wäre;  nur  bemerke  ich  noch,  daß  Oott, 

sofern  man  ihn  von  anderen  Dingen  sonder^  einer 
genannt  werden  kann;  daß  er  sher,  sofern  man  er- 
kennt»  daß  nicht  mehrere  gleichen  Wesens  bestehen 
können,  eimig  genannt  werden  kann.  WoUte  man 
aber  die  Sache  genauer  prüfen,  so  könnte  ich  vielleicht 
zeigen,  daß  Grott  nur  uneigentlich  Einer  und  'Ein- 
ziger genannt  wkd;  indes  ist  diese  Frage  für  die, 
welche  nur  um  die  Sache  und  nicht  um  Worte  sich 
kümmern,  nicht  von  großer,  ja,  von  gar  keiner  Er- 

40  heblichkeit  Ich  übergehe  dies  daher  und  wende  mich 


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Das  Eioe,  Wthre  nnd  Ghite.  183 

zu  dem  zweiten  Ausdrack,  von  dem  ich  mit  ffleioher 
Sorgfalt  das»  was  daran  falsch  ist»  angeben  wÜL 

Um  die  beiden  Ausdrücke»  da»  Wahre 
^5J22Sä«    ^^  ^^  Falsche,  richtig  za  Verstehen» 

„looJbr-  und  will  ich  mit  der  Wortbedeutung  beginnen» 
JaUA'*  hei  der  woraus  sich  ergeben  wird»  daß  sie  nur 
^•~^~^^    äußerliche  Bezeichnungen    der    Gegen- 

^,^^1^^  Blande  sind  und  d^  Dingen  nur  in  red- 
nerischer Weise  beigelegt  werden.  Allein 
da  die  Hen^e  zuerst  die  Worte  eilundenhat»  die  nach-  10 
her  der  Philosoph  geraucht,  so  ist  es  für  den»  der 
nach  der  ersten  Bedeutung  eines  Wortes  sucht»  von 
Interesse»  zu  ermitteln»  was  das  Wort  zunächst  bei 
der  Menge  bezeichnet;  besonders  wenn  andere  Gründe 
fehlen»  die  zur  Ermittelung  dieses  Sinnes  aus  der 
Natur  der  Sprache  entnommen  werden  konnten.  Die 
erste  Bedeutung  von  wahr  und  falsch  scheint  bei  Ge- 
legenheit der  Erzählungen  entstanden  zu  sein;  die- 
jenige Erzählung  wurde  wahr  genannt»  welche  eine 
Tatsache  betraf»  die  sich  wirklich  ereignet  hatte»  und  ao 
diejenige  war  falsch»  die  eine  Tatsache  betraf  die 
sich  nirgends  zugetragen  hatte.  Allein  die  Philosophen 
b^iutzten  diese  Bedeutung  nachher  zur  Bezeichnung 
dw  Übereinstimmung  der  Idee  mit  ihrem  Gegenstände 
und  umgekehrt;  deshalb  heißt  diejenige  Idee  wahr» 
welche  uns  die  Sache  so  zeigt»  wie  sie  an  sich  ist» 
und  falsch  die,  welche  uns  die  Sache  anders  darstellt» 
als  sie  wirklich  ist;  denn  die  Ideen  sind  eben  nur 
geistige  Erzählungen  oder  Geschichten  der  Natur.  Von 
hier  sind  dann  £e  Worte  bildlich  auf  die  stummen  ao 
Gregenstände  übertragen  worden;  so  nennt  man  das 
Grold  wahr  (echt)  oder  falsch»  gleich  als  ob  das 
von  uns  vorgestellte  Geld  etwas  von  sich  selbst  er- 
zählte» was  an  sich  ist  oder  was  nicht  ist. 

Deshalb  sind  die  im  Irrtum»  die  den 

^"iJ  taA^*"      Ausdruck  „wahr'*  für  transscendental  oder 

tranBeemdentaUr  ^^  ^^^^  Bestimmung  dss  Gegenstandes 

AtudrudB.       ansehen;    vielmehr    kann  er  von    den 

Dingen  selbst  nur  uneigentlich»    oder» 

wenn  man  lieber  will»  nur  rhetorisch  gebraucht  werden.  iO 

über  dm  Wenn  man  ferner  fragt»  was  die 

Unhr$eMed  der   Wahrheit  abgesehen  von  der  wahren  Idee 

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Id4  Anhing.    Teil  I.    Kap.  6. 

wäkrMiwmämr  sei,  SO  frage  man  auch,  was  daa  Weiße 
wihtrm  läM.     Qjjjjg  j^jj  weißen  Körper  sei;  denn  beide 
verhalten  sich  hier  zu  eisiander  in  gleicher  Art  und 
Weise. 

Ober  die  Ursache  des  Wahren  und  Falschen  habe 
ich  schon  oben  gehandelt,  ich  habe  deahalb  nichts 
weiter  darüber  su  bemerken,  und  selbst  das  hier  Ge- 
sagte wäre  nicht  nötig  gewesen,  wenn  nicht  die  Schrift- 
steller in  dergleichen  Spielereien  sich  so  verwickelt 

10  hätten,  daß  sie  sich  nicht  wieder  herauswinden  konnten 
und  nutsdos  Schwierigkäten  suchten. 

^^^  Die   Eigenschaften    der    Wahrheit 

»igm^pmA^r   ^^  ^^  Wahren  Vorstellung  sind,  1.  daß 

wahrhäL       sio  klar  und  deutlich  ist;  2.  daß  sie 

DU  QewfMBhäi    allen  Zweifel  beseitigt  oder,  mit  einem 

XÄSa^   Worte,  daß  sie  gewiß  ist    Wenn  man 

die    Gewißheit   in    den   Dingen   suchte 

täuscht  man  sich  ebenso,  als  wenn  man  die  Wahrheit 

in  ihnen  sucht  Man  sagt  allerdings:  die  Sache  Ut  nodk 

^ungewiß;  allein  man  nimmt  dann  rednerisch  das  Vor- 
gestellte für  die  Idee,  wie  man  auch  eine  Sache  für 
zweifelhaft  erklärt;  ausgenommen,  daß  man  hier  unter 
Ungewißheit  auch  die  Zufälligkeit  versteht  oder  eine 
Saäe,  die  in  uns  den  Zweifel  oder  die  Ungewißheit 
erweckt  Ich  brauche  mich  nicht  länger  hierbei  auf- 
zuhalten, sondern  gehe  zu  dem  dritten  Ausdruck 
über,  wo  ich  auch  erklaren  will,  was  unter  seinem 
Gegenteil  2u  verstehen  ist 

Ein  Ding  für  sich  betrachtet,  heißt 

dO>^^^^^  weder  gut  noch  böse,  sondern  nur  in 
ntatiw^Begriffe,  Bücksicht  auf  ein  anderes,  dem  es  Idlft, 
das,  was  es  liebt,  zu  erlangen  oder  um- 
gekehrt; deshalb  kann  ein  und  dieselbe  Sache  ]e 
nach  verschiedenen  Rücksichten  gut  und  böse  ge- 
nannt werden.  Wenn  z.  B.  der  dem  Absalon  von 
Ahitophel  gegebene  Bat  in  der  Bibel  gut  genannt 
wird,  so  war  er  doch  für  David  der  schlechteste^ 
da  er  seinen  Untergang  beabsichtigte.  Auch  gibt  es 
viele  Güter,  die  nicht  für  jedermann  Güter  sind;  so  ist 

40  das  Heil  für  die  Menschen  gpit,  aber  für  die  unver- 
nünftigen Tiere  und  Pflanzen  weder  gut  noch  schlecht, 
da  es  sich  auf  diese  gar  nicht  bezieht  Gott  h^ßt  der 


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Dm  Bine,  Wahrt  und  Ghite.  196 

höchste  CMe,  weil  er  allra  hilft,  mdem  er  durch  seine 
Mitwirkimg  einem  jeden  sein  Dasein  erhält,  was  jedon 
das  Liebste  ist  Dagegen  gibt  es  kein  unbedingtes 
Böse^   wie  selbstverständlich  ist. 

Verlan^^    man    aber    nach    einem 

^y^^ff*    metaphysischen  Guten,  das  frei  tob 
tmehmoSTver'   jeder  Benehung  ist,  so  steckt  man  in 

Im««  habm,  einer  falschen  Voranssetssong,  indem 
man  den  Unterschied  im  Denken  mit  dem 
wirklichen  und  zoständlichen  Unterschiede  verwech-  10 
seit  Man  nnterschddet  zwip.chen  der  Sache  selbst 
imd  dem  in  jeder  Sache  enthaltenen  Bestreben,  ihr 
Dasem  za  erhalten,  obgleich  man  nicht  weiß,  was 
man  unter  „Bestreben''  versteht.  Beide  Begriffe  sind 
swar  im  Denken  oder  vielmehr  den  Worten  nach 
verschieden,  was  hauptsächlich  irre  geführt  hat,  aber 
keineswegs  in  der  Ssushe. 

Um  dies  klar  zu  machen,  will  ich 

D^^  dM    ^^  Beispiel  einor  höchst  einfachen  Sache 

^Tltir^^  hier  vorführen.  Die  Bewegxmg  hat  die  20 
dermibm^  m*  in  Kraft,  iu  ihrem  Zustande  zu  beharren; 
ormZiMtofMii  aber  diese  Kraft  ist  in  Wahrheit  nur 
7f,.T!jif^n»f!r  *ö  Bewegung  seU)st,  d.  h.  die  Be- 
ffftridan  wegung  ist  von  Natur  so  beschaffen. 
Wenn  ich  nämlich  sage,  daß  in  diesem 
Korper  A  nur  eine  gewisse  Menge  von  Bewegung 
enthalten  ist,  so  folgt  klar,  daß^  so  lange  ich  auf 
diesen  Körper  achtgebe,  ich  immer  sagen  muß^  daß 
er  sich  bewegt  Denn  wenn  ich  sage,  er  verli^e 
seine  Kraft,  sich  zu  bewegen,  aus  sich  sdbst,  so  er-  dO 
teile  ich  ihm  notwendig  etwas  Weiteres  zu  dem  in 
der  Voraussetzung  Angenommenen,  und  dadurch  ver- 
liert er  seine  Natur.  Sollte  dieser  Grund  noch  nicht 
klar  genug  sein,  so  setze  man,  daß  sein  Bestreben, 
sich  zu  bewegen,  etwas  Besonderes  neben  den  Ge- 
setzen und  der  Natur  der  Bewegung  seL  Wenn  man 
nun  dieses  Streben  für  ein  metaphysisches  Gutes  hält, 
80  wird  auch  entsprechend  dieses  Bestreben  ein  Be- 
streben haben,  in  seinem  Sein  zu  beharren,  und  dieses 
Bestreben  wird  wieder  ein  anderes  haben,  und  so  fort  40 
ohne  Ende,  was  zu  dem  Widersinnigsten  führt,  was 
man  sich  nur  denken  kann.   Der  Grimd,  weshalb  man 


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126  Anhang.    Teil  L    Kap.  6. 

dies  Bestreben  des  Dinges  von  ihm  selbst  unterschieden 
hat,  ist^  daß  man  in  sich  selbst  das  Verlangen  findet» 
sich  za  erhalten,  und  ein  solches  Verlangen  in  jeder 
Sache  voraussetzt 

Nun  stellt  man  die  Frage,  ob  Gott 

oh€hfU  w>r  dmr  vor  ErschaKung  der  Dinge  gut  genannt 

^^xSCJT^f^    werden   kann.    Aus   meiner   Definition 

uawH2twwden    schoint  ZU  folgen,  daß  Gott  ein  solches 

iMtm,  Attribut  nicht  gehabt  hat,  da  ich  se- 

10  sagt  habe^  daß  ein  Ding,  an  sich  be- 

trachtet» weder  gut  noch  schlecht  genannt  werden 
kann.  Dies  schrät  vielen  widersinnig,  obgleich  ich 
nicht  weiß,  warum.  Denn  man  gibt  Gott  viele  At- 
tribute solcher  Art,  die  ihm  vor  Erschaffung  der  Welt 
nur  der  Möglichkeit  nach  zukamen;  so  z.  B.  nennt 
man  Gott  den  Schöpfer,  den  Richter,  mitlddig  u.  s.  w. 
Deshalb  brauchen  derartige  Einwendungen  uns  keine 
Sorge  zu  machen. 
In  wdchvm  Ebenso  wie  das  Gute  und  Schlechte 

^  5«ii«»6  dot  Foir-    1^^    beziehungsweise    ausgesagt    wird, 
homm/nM  rabrfjv   Steht  OS  auch  uut  der  VoUkommenheit, 
uNd  w  wuhtm  außer  wenn  sie  für  das   Wesen    der 
^J^TU!T    Sache  selbst  genommen  wird,  in  welchem 
Sinne  ich  oben  gesagt  habe,  daß  Gott 
eine  unendliche  Wes^iheit  oder  daß  er  unendlich  ist 
Mehr  will  ich  hier  nicht  hinzufägen,  da  ich  das, 
was  sonst  noch  zu  dem  allgemeinen  Teil  der  Meta- 
physik gehört,  für  hinlänglich  bekannt  halte  und  es 
deshalb  nicht  der  Mühe  verlohnt  dies  noch  weiter  zu 

30  erörtern. 


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Des 

Anbanges  metaphysischer  Gedanken 

Zweiter  Teil, 

in  dem  hauptsachlich  das  kurz  erläutert  wird,  was 
in  dem  besonderen  Teile  der  Metaphysik  über  Gott, 
seine  Attribute  und  den  menschlichen  Geist  gewöhn- 
lich gelehrt  wird  «0 


Erstes  Kapitel 
Ülber  die  Ewigkeit  Gottes. 

Bimushmg  der  Ich  habe  schon  oben  gezeigt»  daß  10 

***'*'*'*^  es  in  der  Natur  der  Dinge  nur  SuIh 
stanzen  und  Zustande  derselben  g^bt;  man  darf 
dedialb  hier  nicht  erwarten,  daß  ich  etwas  über 
die  substantiellen  Formen  und  die  wirklichen  Ac- 
cidenzien  sagen  werde;  denn  dies  und  anderes  dies^ 
Art  sind  törichte  Vorstellungen.  Femer  habe  ich 
die  Substanzen  in  zwm  Hauptgattungen  eingeteilt, 
nämlich  in  die  Ausdeihnung  (eoetemio)  und  in  das  Denken 
(cogitaiio)^  und  das  letztere  in  das  erschaffene  Denken 
oder  m  den  menschlichen  Geist  und  in  das  uner-  90 
schaffene  Denken  oder  Gott  Das  Dasein  dieses  habe 
ich  mehr  als  zur  Genüge  dargelegt;  teils  a  posteriori, 
d.  h.  aus  der  Idee,  die  wir  von  ihm  haben^  teils  a  priori, 
d.  h.  von  seinem  Wesen  her,  als  der  Ursache  vom 
Dasein  Gottes.  Indes  habe  ich  manche  seiner  At- 
tribute kürzer  behandelt,  als  es  die  Wichtigkeit  des 
G^enstandes  erfordert,  und  deshalb  will  ich  dies  hier 

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1S8  JLnhang.    Teil  11.    E*p.  1. 

nachholen  nnd  ansführlicher  ^klären  und  dabei  einige 
andere  Fragen  zur  Lösung  bringen. 

GiM  itommt  ^^  vomehmste  Attribut,  das  vor 

Mim  Dauer  «u.  Mem  ZU  betrachte  ist,  ist  die  Ewigkeit 
Gottes,  womit  wir  dessen  Dauer  aus- 
drücken; oder  wir  nennen  vielmehr  Gott  ewig,  um 
ihm  keine  Dauer  zuzuteilen.  Denn  die  Dauer  ist^  wie 
ich  im  ersten  Teil  bemerkt  habe,  ein  dem  Dasein, 
aber  nicht  dem  Wesen  der  Dinge  zukommender  Zu- 

10  stamd;  man  kann  deshalb  Gott,  dessen  Dasdn  von 
seinem  Wesen  kommt,  keine  Dauer  zusprechen.  Wer 
dies  tut,  trennt  sein  Dasein  vou  seinem  Wesen.  Den- 
noch stellt  man  die  Frages  ob  Gott  jetzt  nicht  eine 
größere  Zeit  lang  existiert  als  damals,  wo  er 
Adam  erschaffen  hat;  man  halt  dies  für  ge- 
nügend klar  und  meint  deshalb,  es  dürfe  Gott 
auf  keine  Weise  die  Dauer  abgesprochen  w^en. 
Allein  das  ist  eine  unbegründete  Voraussetzung,  in- 
dem man  dabei  annimmt,  daß  Gottes  Wesen  von  seinem 

20  Dasein  verschieden  ist  Denn  man  fragt,  ob  Gott» 
der  bis  zu  Adam  existiert  hat,  nicht  von  da  ab 
bis  zu  unserer  Zeit  noch  langer  existiert  hat  So- 
mit gibt  man  Gott  mit  den  einzelnen  Tagen  eine 
längere  Dauer  und  nimmt  an,  er  werde  gleichsam 
von  sich  selbst  fortwahrend  geschaffen.  Sonderte 
man  aber  das  Dasein  Gottes  nicht  von  seinen  Wesen, 
so  würde  man  Gott  keine  Dauer  beilegen,  da 
dem  Wesen  der  Dinge  in  keiner  Weise  Dauer  zu- 
kommen kann;  denn  niemand  wird  je  behaupten,  daß 

80  das  Wesen  des  Kreises  oder  Dreiecks,  insofern  es 
eiae  ewige  Wahrheit  is^  jetzt  länger  als  zu  Adams 
Zeit  existiert  hat.  Femer  ist  die  Dauer  langer  oder 
kürz^,  oder  man  stellt  sie  sich  gleichsam  aus  Teilen 
bestehend  vor;  hieraus  folgt  klar,  daß  man  sie  Gott 
nicht  beilegen  kann;  denn  sein  Wesen  ist  ewig,  d.  h. 
es  gibt  darin  kein  Früher  oder  Später,  und  deshalb 
kann  man  ihm  niemals  eine  Dauer  beilegen,  ohne 
gleichzeitig  den  wahren  Begri^  den  man  von 
Gott    hat,    zu    zerstören,    d.iL    ohne    das    seiner 

40  Natur  nach  Unendliche  und  nur  als  un^kdUch  Voi> 
stellbare  in  Teile  zu  sondern,  d.  L  ifam  eine  Dauer 
beizulegen. 


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Die  Ewigkeit  Gottes.  129 

iKc  Gründe,  Der  Gruiid  zu  dieeem  Irrtume  der 

^'^^H'^l^''  SchriftsteUer  ist:  1.  daß  sie,  ohne  auf 
mgeadirubeniud,  ^^^^  ^^  achten,  die  Ewigkeit  zu  er- 
klären versucht  haben;  als  wenn  die 
Ewigkeit  ohne  die  Betrachtung  des  göttlichen  Wesens 
erkannt  werden  konnte,  oder  als  wenn  sie  etwas 
Besonderes  neben  dem  göttlichen  Wesen  wäre.  Und 
das  ist  wieder  daher  gekommen,  daß  man  aus 
Mangel  an  Worten  sich  daran  gewöhnt  hat,  die 
Ewigkeit  auch  solchen  Dingen,  deren  Wesen  von  ihrem  10 
Dasein  verschieden  ist>  zuzusprechen  (so  wenn  man 
sagty  es  sei  kein  Widerspruch,  daß  die  Welt  von 
Ewigkeit  existiert  hat)  und  folglich  auch  dem  Wesen 
solcher  Dingei^  wenngleich  man  sie  noch  nicht  als 
seiend  vorstellt;  denn  man  nennt  sie  auch  dann  ewig. 
2.  weil  man  die  Dauer  nur  insofern  den  Dingen  zu- 
spricht, als  man  annimmt,  daß  sie  einem  beständigen 
Wechsel  unterliegen,  und  nicht  insofern,  wie  es  von 
mir  geschieht,  i£r  Wesen  von  ihrem  Dasein  unter- 
schieden wird.  3.  weil  man  Gottes  Wesen  ebenso  wie  20 
das  der  erschaffenen  Dinge  von  seinem  Dasein  ge- 
trennt hat  Diese  Irrtümer  waren  der  Anlaß  zu  jenem. 
Denn  der  erste  Irrtum,  der  die  weiteren  veranlaßte, 
war,  daß  man  nicht  erkannte,  was  die  Ewigkeit  ist, 
sondern  diese  selbst  als  eine  Art  von  Dauer  betrach- 
tete. Der  zweite  Irrtum  war,  daß  man  nur  schwer 
einen  Unterschied  zwischen  der  Dauer  der  erschaf- 
fenen Dinge  und  der  Eiwigkeit  Gottes  auffinden  konnte. 
Der  letzte  Irrtum  endlich  war,  daß  man,  obgleich 
die  Dauer  nur  ein  Zustand  des  Daseins  ist,  Gottes  80 
Dasein  von  seinem  Wesen  trennte  und  Gott,  wie 
gesagt»  eine  Dauer  zuteilte. 
D9r  Begriff  ^^  voA^  boGser   einzusohen,   was 

aw  ^^Mi,  ^^  Ewigkeit  ist»  und  wie  sie  ohne  das 
göttliche  Wesen  nicht  begriffen  werden 
kann,  muß  man  bedenken,  wie  ich  schon  oben  ge- 
sagt, daß  die  erschaffenen  Dinge,  d.  h.  alles  außer 
Gott,  inuner  nur  durch  die  bloße  Kraft  oder  durch 
das  Wesen  Gottes  bestehen  und  nicht  aus  eigener 
Kraft  Daraus  folgt»  daß  das  gegenwärtige  Sein  dieser  40 
Dins^e  nicht  die  Ursache  ihres  künftigen  Seins  ist, 
sondern  daß  die  Ursache  nur  in  der  Unveränderlich- 

Spinoift,  Pziiuipien  Ton  Deioartei.  9 

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180  Anhang.    Teil  II.    Kap.  1.  2. 

keit  Gottes  Hegt  Deshalb  müssen  wir  sagen,  daß 
Gott,  nachdem  er  zuerst  ein  Ding  erscha&en  hat^ 
es  auch  nachher  stetig  erhalten  wird,  oder  daß  er 
diese  Tat  des  Erschaffens  ohne  Unterlaß  fortsetzen 
wird.  Daraus  folgere  ich,  1.  daß  man  von  dem  ge- 
schaffenen Dinge  sagen  kann,  es  erfreue  sich  (frui) 
des  Daseins;  weil  näi^ich  sein  Dasein  nicht  aus  seinem 
Wesen  stammt  Dagegen  kann  man  von  Gott  nicht 
sagen,   er  erfreue  sich  des  Daseins»  denn  das  Da- 

10  sein  Gottes  ist  Gott  selbst,  ebenso  wie  sein  Wesen; 
demnach  erfreuen  sich  zwar  die  geschaffenen  Dinge, 
aber  niemals  Gott  des  Daseins.  2.  daß  alle  ersch^- 
fenen  Dinge,  während  sie  an  der  gegenwartigen 
Dauer  und  dem  Dasein  teilnehmen,  diese  Dauer  für 
die  kommende  S^eit  entbehren,  weil  diese  ihnen  un- 
unterbrochen zugeteilt  werden  muß  Von  ihrem  Wesen 
aber  kann  man  nicht  das  Gleiche  sagen.  Dagegen 
kann  man  Gott,  weil  sein  Dasein  von  seinem  Wesen 
kommt,  kein  zukünftiges  Dasein  zuteilen;  denn  dieses 

20  Dasein,  das  er  dann  haben  würde,  ist  ihm  auch  wirklich 
zuzuerteilen,  oder,  um  mich  richtiger  auszudrücken, 
das  wirkliche  unendliche  Dasein  gebührt  Gott  in 
gleicher  Weise,  wie  ihm  wirklich  ein  unendlicher 
Verstand  zukommt  Dieses  unendliche  Dasein  nenne 
ich  Etoigkeit;  diese  kann  nur  Grott  zugeteilt  werden, 
aber  keinem  erschaffenen  Dinge^,  seltet  dann  nicht» 
wenn  dessen  Dauer  nach  beiden  Seit^i  kein  Ende 
hat  —  So  viel  über  die  Ewigkdt  Von  der  Not- 
wendigkeit Gottes  sage  ich  nichts,  weil,  nachdem  ich 

90  dessen  Dasein  aus  seinem  Wesen  bewiesen  habe,  dies 
nicht  nötig  ist.    Ich  gehe  deshalb  zur  Einheit  üb^. 


Zweites  Kapitel.  9») 
Über  die  Einheit  Gottes. 

Ich  habe  mich  oft  über  die  hohlen  Gründe  ge- 
wundert, durch  welche  die  Schriftsteller  die  Einheit 
Gottes  zu  begründen  suchen;  z.  B:  ,,Wmn  Einer  die 
Weit  «rtckaffen  konnte^  so  ioaren  die  Übrigen  nicht  nöti^* ; 

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Die  ünermemichkeik  Gottes.  131 

oder  „Wenn  aües  noeft  demsdben  Zide  Hrebif  wo  iti  e$ 
van  einem  Begründer  ausgegangen'*;  und  dergleichen,  das 
man  ans  änfl^lichen  B^ehungen  oder  Worten  ab- 
geleitet hat  Ich  will  deshalb  dies  alles  beiseite 
lassMi  und  meinen  Bew^  hier  so  klar  nnd  kors  ab 
möglich  in  folgend«  Weise  an&tellen: 
00«  M  eUufa  ^^  ^^  Attributen  Gottes  habe  ich 

^'^'  die  höchste  Einsicht  gwechnet  und  hin- 
sagefügt»  daQ  Gott  all  seine  Vollkommenheit  von 
si(UL  nnd  nicht  von  etwas  anderen  hat  Soll  es  nnn  10 
mehrere  Götter  oder  höchst  yollkommene  Wesen 
gfben^  so  müssen  sie  alle  höchst  einsichtig  sein, 
und  daza  genügt  nichts  daß  jedes  nur  sich  s^bst 
erkennt,  viehnehr  muß  es  alles  erkennen,  also  so- 
wohl sich  als  auch  die  übrigen  Götter;  daraus  würde 
aber  folgen,  daß  die  VolBcommenheit  eines  jeden 
teils  Yon  ihm  selbst  teils  von  einem  anderen  ablunge. 
Es  könnte  also  dann  nicht  jedes  ein  höchst  vollkommenes 
Wesen  sein,  d.  L,  wie  ich  eben  bemerkt  ein  Wesen, 
das  all  seine  Vollkommenheit  von  sich  nnd  nicht  20 
von  einem  anderen  hat;  während  ich  doch  eben  be- 
wiesen habe,  daß  Gott  das  vollkommenste  Wesen  ist» 
and  daß  er  existiert  Daraus  kann  man  also  schließen, 
daß  nur  ein  Gott  existiert;  denn  wären  deren  mehrere, 
so  müßte  das  vollkommenste  Wesen  eine  ünvollkom- 
menheit  an  sich  haben,  was  widersinnig  ist  So  viel 
über  die  Einheit  Gottes. 


Drittes  Kapitel**) 
Über  die  UnermeAliehkeit  Gottes. 

inwUf^m  Gou  Ich   habe  oben  gezeigt   daß  ^n  80 

au  ummuuich,  oudliches  Und  unvoukommenes  Ding^ 
^lü^llaidk  ft^  d.  h,  ein  solches,  das  an  dem  Nichts  teü- 
"^ll^M  wir±  ^^  ^^^^^  vorgestellt  werden  kann,  wenn 
man  nicht  vorher  auf  das  vollkommene 
und  unendliche  Wesen  achtet^  d.  h.  auf  Gott  Des- 
halb kann  nur  Gott  allein  unendlich  genannt  werden, 
insofern  man    nämlich    findet,    daß    er    in    Wahr- 

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182  Anhang.    Teil  IL    Kap.  8. 

heit  in  unendlicher  Vollkommenheit  existiert.  Indes 
kann  Gott  unermeßlich  oder  unbegrenzbar  auch  in- 
sofern genannt  werden,  als  man  bedenkt»  daß  es  kein 
Wesen  gibt,  durch  das  die  Vollkommenheit  Gottes 
beschränkt  werden  konnte.  Hieraus  folgt,  daß  die 
ünencUidikeH  (inftnitas)  Gottes,  trotz  des  negativen  Aus- 
drucks, etwas  höchst  Positives  ist.  Denn  man  nennt 
ihn  nur  insofern  unendlich,  als  man  auf  sein  Wesen 
oder  auf  seine  höchste  Vollkommenheit  achtet.    Da- 

10  gegen  wird  die  ünermeßlichJceit  (immensitas)  Gott  nur 
beziehungsweise  zuerkannt»  denn  sie  gehört  zu  Gott 
nicht,  insofern  er  an  sich  als  das  vollkommenste 
Wesen  betrachtet  wird,  sondern  sofern  er  als  erste 
Ursache  gilt,  die,  wenn  sie  auch  nur  in  Bezug  auf 
die  untergeordneten  Dinge  die  vollkommenste  wäre, 
dennoch  unermeßlich  sein  würde,  da  es  kein  Ding 
gäbe,  folglich  auch  keines  als  vollkommener  wie  jene 
Ursache  vorgestellt  werden  könnte,  durch  das  sie 
begrenzt  oder  gemessen  werden  könnte.    (Man  sehe 

20  das  Nähere  hierüber  Gr.  9,  T.  I.) 

Indes  scheinen  die  Schriftsteller, 
^^^o^'tfM  wenn  sie  von  der  Unermeßlickkeit  Gottes 
unermeßiiehkeu  Sprechen,  mitunter  Gott  eine  Größe 
verdehi.  (quantitas)  beizulegen;  denn  sie  wollen 
aus  diesem  Attribut  folgern,  daß  Gott 
überall  gegenwärtig  sein  müsse,  wie  wenn  sie  sagen 
wollten,  wenn  Gott  in  einem  Orte  nicht  wäre,  so  würde 
seine  Größe  beschränkt  sein.  Dies  erhellt  noch  mehr  aus 
einem  anderen,  von  ihnen  beigebrachten  Grunde,  durch 

80  den  sie  zeigen,  daß  Gott  unendlich  oder  unermeßlich 
ist  (denn  dieses  beides  verwechseln  sie  mit  einander), 
sodaß  er  also  auch  überall  ist.  Wenn  Gott,  sagen 
sie,  reine  Tätigkeit  ist,  wie  es  der  Fall  ist,  so  ist  er 
notwendig  überall  und  unendlich;  denn  wäre  er  nicht 
überall,  so  könnte  er  nicht  überall,  wo  ^r  will,  sein, 
oder  er  müßte  notwendig  (NB.)  sich  bewegen  — 
hieraus  ergibt  sich  klar,  &ß  sie  Gott  die  Unermeßlich' 
keii  beilegen,  insofern  sie  ihn  als  eine  Qröße  (quantum) 
ansehen;  denn  sie  entnehmen  aus  den  Eigenschaften 

40  der  Ausdehnung  diese  ihre  Gründe  für  die  Besfötigung 
der  ÜnermeßlichJceit  Gottes,  was  durchaus  wider- 
sinnig ist 


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Die  ünermemiohkeit  Gottet.  188 

Dtr  Bewu,  daß  Fragt   man   mich,   woher   ich   be- 

Gcu  üb0raü  mc.  weisen  will,  daß  Gott  überaU  sei,  80  ant- 
worte ich,  daß  ich  dies  schon  genügend 
und  hinreichend  dargetan  habe,  als  ich  gezeigt»  daß 
kein  Ding  auch  nur  einen  Augenblick  existieren  kann, 
ohne  nicht  in  den  einzelnen  Augenblicken  von  Gott 
weitererschaffen  zu  werden. 

Die  AUffegmufoH  Um    indos    die   ÄUgegenwart    Gottes 

QciUa  icann  mtM  oder  Seine  Gegenwart  in  den  einzelnen 
eruari  uferdtm,  j)ingen  richtig  ZU  erkennen,  müßte  die  10 
innerste  Natur  des  göttlichen  Willens  durchschaut 
werden,  mittels  deren  er  die  Dinge  erschaffen  hat 
und  stetig  forterschafft  Dies  ütorsteigt  aber  die 
menschliche  Fassungskraft,  und  deshalb  kann  nicht 
erklart  werden,  wieso  Gott  überall  ist 

Manche   nehmen   eine   dreifache    Un- 

iGf  Unredu      ermeßlichkeit  Gottes  an,  die  des  Wesens, 

dl^iSJJSr     *®^  *^^*  ™*  schließlich  der  Gegen- 

T^frmtiniehfrfit    Wart;  allein  sie  treiben  ein  leeres  Spiel, 

fikrfie»  ange-      da  sio  Offenbar  zwischen  dem  Wesen  20 

nommen,        xmi  der  Macht  Gottes  einen  Unterschied 

annehmen. 

Dasselbe  haben  andere  offener  aus- 
i^*t^  jS^  gesprochen,  indem  sie  sagen,  Grott  sei 
W9»^Jduw^  überall,  vermöge  seiner  Macht,  nicht 
aehiedmk.  vormögo  seluos  Wesous;  aJs  wenn  die 
Macht  Gottes  von  aU  seinen  Attributen 
oder  von  seinem  unendlichen  Wesen  verschieden  wäre, 
da  sie  doch  nur  ein  und  dasselbe  ist  Wäre  dies  nicht 
so,  so  wäre  die  Macht  entweder  etwas  Erschaffenes,  30 
oder  ein  dem  göttlichen  Wesen  nebenbei  Zukommendes, 
ohne  welches  das  Wesen  begriffen  werden  könnte; 
was  beides  widersinnig  ist  Denn  wäre  sie  etwas 
Erschaffenes,  so  müßte  die  Macht  Gottes  von  etwas 
anderem  erhalten  werden,  und  dies  würde  zu  einer 
Reihe  ohne  Ende  führen;  wäre  sie  nur  ein  Nebenbei- 
Seiendes,  so  wäre  Gott,  gegen  das  oben  Erwiesene, 
kein  im  höchsten  Grade  einfaches  Wesen. 
Diu  gm  auch  EudUch   wollen  sie  auch   mit  der 

tfo»  Mkur       Vnermeßlickkeit    der    Gegenwart     etwas  40 
AQ^tftiMooH.     laideres  als  das  Wesen  Gottes  bezeich- 
nen,   durch    das    die    Dinge    geschaffen    sind    und 


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184  Anhug.    Teü  IL    Kap.  4. 

stetig  erhalten  werden.  Dies  ist  indes  ein  groBer 
Widersinn,  in  den  sie  dadurch  geraten  sind,  daß 
sie  den  Verstand  Gottes  mit  dem  menschUchen 
verwechselten  und  seine  Macht  oft  mit  der  Macht  von 
Königen  verglichen. 


Viertes  Kapitel,  i^o) 
Über  die  Unveribiderlielikeit  Gottes. 

jhb  Begrifft  Unter  Veränderung  verstehe  ich  hier 

ätr  vtTäfiAenuig   jeden  Wechsol,  der  in  einem  Dinge  vor- 

^^  J!l!!4i^ rZTii»-   ^0°"*^®"^  isam,  während  seine  Snbstans 

forwSiL)!^^    unvermindert  bleibt  Gewohnlich  ist  die 

Bedeutung  weiter  und  umfaDt  auch  das 

Verderben   eines  Dinges,   das  nicht  vollständig  ist, 

sondern  zugleich  eine  dem  Verderben  nachfolgende 

Erzeugung  enthält;  z.  B.  wenn  man  sagt,  daß  der 

Torf  sich  in  Asche  verändwt  und  die  Menschen  in 

wilde  Tiere.   Die  Philosophen  benutzen  indessen  zur 

Bezeichnung   dieses  Vorganges   das  Wort:   üfnyHmd- 

lung;    hier   spreche   ich   jedoch    nur   von  der  Ver- 

20  änderung,    bei   der   keine  Umwandlung   des   Dinges 

statthat,   wie  man  z.  B.   sagt:  Peter  hat  die  Farbe 

oder  seine  Gemütsart  verändert 

Es  fragt  sich  nun,  ob  in  Gott  solche 

'*lJSIicS?*     Veränderungen    statthaben.     Über    die 

wandiwngmniehi   Umwandlung  brauche  ich  nämlich  nichts 

atau.  ZU  sagen,    nachdem  ich  gezeigt^    daß 

Gott  notwendig  existiert,  d.  h.  cbß  Gott 

nicht  aufhören  kann,  zu  sein,  oder  sich  nicht  in  einen 

anderen  Gott  umwandeln  kann,  da  er  dann  sowohl 

80  aufhören    würde   zu   existieren,    als    auch   es   dann 

mehrere  Götter  zugleich  geben  würde,  was  beides, 

wie  gezeigt,  widersinnig  ist 

Um  das,  was  hier  noch  zu  sagen 
t^r^X^f^der     ^^  bestimmter  einzugehen,  erwäge  man, 
vartfMi«nHi9«n.    daß   jodo  Veränderufig    entweder  von 
äußeren  Ursachen  ausgeht,  ohne  Rück- 
sicht darauf,  ob  das  betroffene  Ding  will  oder  nicht, 


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Die  UnTerftnderliohkeit  Gottes.  185 

oder  von  einer  inneren  Ursache  und  von  einer  Wahl  des 
Dinges.  So  kommt  das  Schwarzwerdein»  das  Erkranken, 
das  Wachsen  des  Menschen  u.  s.  w.  von  äußeren 
Ursachen,  dort  gegesi  den  Willen,  hier  nach  dem 
Wunsche  des  Menschen;  dagegen  kommt  der  Wille, 
KU  ^ehen,  sich  zornig  zu  zeigen  u.  s.  w.,  von  inneren 
Ursachen. 

Die  erste  Art  von  Veränderungen,  die 
^^^Mere      ^^^  äußeren  Ursachen  ausgehen,  finden 
varündJ^.     hei   Gott  nicht  statt;  denn   er  ist  die  10 
alleinige  Ursache  aller  Dinge  und  leidet 
von  nichts.  Dazu  kommt,  daß  kein  erschaffenes  Ding 
in  sich  gelbst  die  Kraft  zu  existieren  hat,  also  noch 
viel  weniger  die  Kraft,  etwas  außerhalb  seiner  selbst 
oder  gegen  seine  Ursache  zu  bewirken.    Allerdings 
findet  man  in  der  Bibel  oft  erwähnt,  daß  Gott  über  die 
Sünden  der  Menschen  erzürnt  und  betrübt  gewesen, 
und  dergleichen;  allein  hier  wird  die  Wirkung  für  die 
Ursache  genommen,  so  wie  man  auch  sagl^  die  Sonne 
sei   im  Sommer  stärker  und  höher  als  im  Winter,  20 
obgleich  sie  weder  ihren  Ort  yerändert,  noch  ihre 
Kräfte  wieder  erlangt  hat.   Daß  d^gleichen  auch  in 
der    heiligen   Schrift   oft  gelehrt  wird,   ergibt  sich 
aus  Jesaias,  der  in  v.  2,  Kap.  69  dem  Volke  vor- 
hält: „Eure  Schlechtigkeit  trennt  euch  von  eurem  Ootte.** 
xbmuowmig  Ich   gehe  also  weiter  und  unter- 

^sne  innere  sucho;,  ob  in  Gott  durch  Gott  selbst 
(a  M  ^p»o;.  irgend  eine  Veränderung  statthat  Dies 
kann  ich  nun  nicht  zugestehen,  sondern  bestreite  es 
durchaus;  denn  jede  von  dem  Willen  abhängende  Ver-  30 
änderung  geschieh^  damit  das  Wesen  seinen  Zustand 
bessert,  was  bei  einem  höchst  vollkommenen  Wesen 
nicht  möglich  ist.  Femer  geschieht  eine  solche  Ver- 
änderung nur,  wenn  ein  Übel  vermieden  oder  ein 
fehlendes  Gut  erlangt  werden  soll,  was  beides  bei 
Gott  nicht  stattfinden  kann.  Hieraus  folgere  ich,  daß 
Gott  ein  unveränderliches  Wesen  ist. 

Ich    bemerke;,    daß    ich  die  gewöhnlichen  Ein- 
teilungen der  Veränderung  hier  al^ächtlich  nicht  er- 
wähnt habe^   obgleich  ich  sie  in  gewisser  Hinsicht  40 
mit  einbegriffen  habe,  da  es  nicht  nötig  war,   sie 
einzeln  zurückzuweisen,    weil    ich  Lehrs.   16,   I    be- 


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186  Anhang.    Teil  II.    Kap.  5. 

wiesen  habe,  daß  Gott  unkorperlich  ist;  während  jene 
gewöhnlichen  Einteilungen  der  Veränderung  nur  dia 
Veränderungen  des  Stoffes  betreffen. 


Fünftes  Kapitel. 

Über  die  Einfaehheit  Gottes. 

B»  gm  einen  ^^^  ^^^®    ^^^  ESufachheit    Gottes 

dreifaehenunier-  ül>^r.  Um  dioses  Attribut  Gottes  recht 
»chied  unter  den  ZU  Verstehen,  hat  man  sich  an  das  zu 
jMngen,  nändich   erinnern,  was  Deecartes  §  48,  49,  T.  I 

^^  deJ^^^'  sö"^^r  Prinzipien  der  Philosophie  sagt, 
und  dem  bloßen  nämllch  daß  es  in  der  Welt  nur  Sub- 
Denken nach,  stanzen  und  deren  Zustände  gibt;  er 
leitet  daraus  in  §  60,  61  und  62  räien 
dreifachen  Unterschied  ab,  nämlich  einen  wirklichen, 
einen  den  Zustand  betreffenden  und  einen  im  Denken, 
Wirklich  heißt  der  Unteürschied,  durch  den  zwei  Sub- 
stanzen unterschieden  sind,  mögen  sie  nun  ver- 
schiedene oder  dieselben  Attribute  haben;  z.  B.  das 
Denken  und  die  Ausdehnung,  oder  die  Teile  des  Stoffes. 

20  Dies  ergibt  sich  auch  daraus,  daß  jedes  ohne 
des  anderen  Hilfe  vorgestellt  werden  und  also 
existieren  kann.  Der  auf  den  Zustand  bezügliche  Unter- 
schied ist  ein  zwiefacher:  einmal  der  zwiscben  der 
Substanz  selbst  und  ihrem  Zustande  und  dann  der 
zwischen  zwei  Zuständen  derselben  Substanz.  Letj&- 
teren  Unterschied  erkennt  man  daraus,  daß  zwar 
jeder  Zustand  ohne  den  anderen  vorgestellt  werden 
kann,  aber  keiner  ohne  die  Hilfe  der  Substanz^  d^en 
Zustände  sie  sind.    Jenen  Unterschied   erkennt  man 

80  dagegen  daraus,  daß  zwar  die  Substanz  ohne  ihren 
Zustand  vorgestellt  werden  kann,  aber  nicht  der  Zu- 
stand ebne  die  Substanz.  Der  Unterschied  im  Denken  ist 
der,  welcher  zwischen  der  Substanz  und  ihrem  At- 
tribute entsteht,  z.  B.  wenn  die  Dauer  von  der  Aus- 
dehnung unterschieden  wird.  Man  erkennt  ihn  auch 
daraus,  daß  eine  solche  Substanz  nicht  ohne  dieses 
Attribut  erkannt  werden  kann. 


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*    Die  Einfkohhoit  Qottes.  187 

worau»  Aus  diesen  drei  Unterschieden  ent- 

"'^LiSw*'!^    steht  alle  Verbindung  (compositio).    Die 
^mevieifadiHeiai.    ^Fste  Verbindung  ist  die,  welche  sich  aus 

aswei  oder  mehreren  Substanzen  mit  dem- 
selben Attribut  bildet^  z.  B.  jede  Verbindung  von 
zwei  oder  mehr  Körpern;  oder  aus  Substanzen 
mit  verschiedenen  Attributen,  wie  bei  den  Menschen. 
Die  zweite  Verbindung  erfolgt  durch  die  Vereinigung 
verschiedener  Zustande.  Die  (kitte  wird  nicht,  sondern 
man  stellt  sich  deren  Werden  nur  vor,  um  die  Sache  lo 
besser  einzusehen.  Was  nicht  nach  einer  der  beiden 
ersten  Arten  zusammengesetzt  ist^  ist  einfach  zu 
nennen. 

Ich  habe  also  zu  zeigen,  daß  Gott 

•o^M^adMa     ^^^  Zusammengesetztes  ist,  woraus  man 

^^.         dann  den  Schlui]  ziehen  kann,  daß  er 

das  einfachste  Wesen  ist  Dies  wird 
leicht  geschehen  können,  denn  es  ist  an  sich  klar, 
daß  die  Teile  einer  Zusammensetzung  ihrer  Natur 
nach  mindestens  früher  sind  als  die  zusammen-  20 
gesetzte  Sache;  mithin  müßten  die  Substanzen,  aus 
deren  Verbindung  und  Vereinigung  Gott  entsteht,  von 
Natur  vor  Gott  selbst  .sein,  und  jede  könnte  für 
sich  vorgestellt  werden,  ohne  daß  man  sie  Gott  zu- 
zuteilen brauchte.  Da  nun  jene  Substanzen  notwendig 
unter  sich  verschieden  sind,  so  muß  auch  jede  für 
sich  ohne  Hilfe  der  anderen  existieren  können.  Somit 
könnte  es,  wie  ich  eben  gesagt,  so  viel  Götter  geben 
als  Substanzen,  aus  denen  Gott  zusammengesetzt  vor- 
gestellt wird.  Denn  da  jede  durch  sich  existieren  so 
könnte,  so  müßte  sie  auch  durch  sich  existieren, 
und  sie  würde  deshalb  aucli  die  Kraft  haben,  sich 
alle  jene  Vollkommenheiten  zu  geben,  welche,  wie 
gezeigt,  Gott  einwohnen,  u.  s.  w.;  wie  ich  schon  bei 
Gelegenheit  des  Beweises  von  dem  Dasein  Gottes 
in  I^hrs.  7,  Teil  I  ausführlich  dargelegt  habe.  Da 
man  nun  nichts  Widersinnigeres  ailCstellen  kann,  so 
folgt,  daß  Gott  nicht  aus  einer  Verbindung  und  Ver- 
einigung von  Substanzen  zusammengesetzt  sein  kann. 
Ebenso  kann  es  in  Gott  keine  Zusammensetzung  ver-  40 
sohiedener  Zustande  geben,  wie  sich  daraus  zur  Ge- 
nüge ergibt,   daß  es  in  Gott  überhaupt  keine  Zu- 


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188  Anhang.    Teil  IL    Kap.  6.  % 

sVknie  gibt;  denn  diese  entstehen  ans  einer  Ver- 
änderung der  Subetanz.  Man  sehe  §  66,  Teil  I  der 
Prinzipien«  Will  endlich  jemand  noch  eine  andere 
Verbindung  zwischen  dem  Wesen  und  dem  Dasein 
der  Dinge  sich  ausdenken,  so  trete  ich  dem  nicht 
entgegen;  allein  er  möge  bedenk^i,  daß  ich  schon 
zur  C^nüge  bewiesen  habe,  daß  in  Gott  beides  nicht 
verschieden  ist 

Hieraus  kann  ich  nun  klar  folgern, 

10  oottM  AUrihuf    daß  alle  Unterschiede,  die  man  zwischen 

o^ridJ^iMdu  ^^^  Attributen  Gottes  macht,  nur  Unter- 

DmSmufMeh     schiodo  im   Denken   sind,   denen    kein 

versoMedm.'      wirkücher   Unterschied  entspricht;   ich 

meine  solche  Unterschiede  im  Denken, 

wie  ich  sie  eben  erörtert  habe;  nämlich  die  daraus 

erkannt  werden,  daß  eine  solche  Substanz  nicht  ohne 

ein  solches  Attribut  bestehen  kann.    Sonüt  schließe 

ich,  daß  Gott  das  einfachste  Wesen  ist   Im  übrigeB 

kann  ich  mich  um  den  Mischmasch  der  Unterschiede^ 

20  welche  von  den  Peripatetikern  aufgestellt  werden,  nicht 
kümmern  und  wende  mich  zu  dem  Leben  Gottes.  ^^^) 


Sechstes  Kapitel 
Ton  dem  Leben  Gottes. 

Um    dieses  Attribut,    nämlich    das 
i    J^voN    ^^^  Gottes  recht  zu  verstehen,  muß 
dJÜ^PhOot^^  ich  im  allgemeinen    erklären,    was    in 
unitr  »£«»Mi''    jodom  Dinge  überhaupt  mit  dessen  Leben 
«er«ton<i«n  «cird.  bezeichnet  wird.    Ich  will   1.   die  An- 
sicht i&t  Peripatetiker  prüfen,  welche 
unter  Leben  das  Einwohnen  der  ernährenden  8eeU  nUt 
der  Wärme  verstehen.   Man  sehe  Aristoteles,  Buch  I, 
Kap.  8:  „Ober  das  Atemjiolen'^   Da  diese  Leute  drei 
Seelen  annehmen,  die  ernährende,  die  wahrnehmende 
und  die  denkende,  welche  sie  so  den  Pflanzen,  den 
Tieren    und    den    Menschen    zuspreche    so    sind, 
nach  ihrer  eigenen  Angabe,  die  übrigen  Dinge  ohne 
Leben.    Indes  wagten  sie  nicht  zu  sagen,   daß  die 
Seelen  und  Gott  des  Lebens  entbehren;  wahrscheinlich 


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Von  dem  Leben  Gottei.  189 

fürchteten  ne,  damit  in  das  Gegenteil  za  geraten, 
nämlich  daß  dieee;,  wenn  sie  kein  Leben  hatten,  dem 
Tode  verfallen  seien.  Deshalb  sibt  Aristoteles  in 
seiner  Metaphysik  Buch  11,  Kap.  Y  noch  eine  andere 
Definition  vom  Leben,  wie  es  nor  der  Seele  eigen- 
tümlich ist;  danach  ist  da$  Leben  die  TäUgkHt  des 
Verstandes  (inteüeetus  operatio  vUa  est),  und  in  diesem 
Siime  spricht  er  Gott  das  Leben  so,  da  Gott  einsieht 
und  reine  Tätigkeit  ist  Ich  will  mich  nut  Wider- 
legong  dieser  Behauptungen  nicht  aufhalten;  denn  10 
in  B^g  auf  jene  drei  den  Pflanzen,  Tieren  und 
Menschen  zugeschriebenen  Seelen  habe  ich  schon 
genügend  dargetan,  daß  dies  nur  Geschöpfe  der 
l^bildungskraft  sind;  denn  ich  habe  gezeigt»  daß 
es  in  dem  Stoffe  nichts  als  mechanische  Ge- 
webe und  Tätigkeiten  gibt.  Was  aber  das  Leben 
Gottes  anlangt,  so  sehe  ich  nicht  ein,  weshalb  die 
Verstaadestätigkeit  bei  ihm  mehr  aJs  die  des  Willens 
und  ähnlicher  Kräfte  Tätigkeit  sein  soll.  Da  ich 
indes  hierauf  keine  Antwort  erwarte,  so  wende  ich  20 
mich,  wie  versprochen,  zur  Erklärung  dessen,  was 
Lieben  ist 

Allerdings  wird  dieses  Wort  mittels 
^SäTxSS**  bildlicher  Übsrtragung  oft  zur  Bezeich- 
s%Jd&lihmikann.  i^uug  dos  Verhaltens  eines  Menschen  be- 
nutzt; indes  will  ich  nur  das  kurz  er- 
klären, was  man  in  der  Philosophie  darunter  versteht 
Wenn  das  Leben  auch  den  körperlichen  Dingen  zu- 
gesprochen wird,  so  ist  nichts  ohne  Leben;  wird 
es  aber  nur  bei  denen  angenommen,  mit  deren  Körper  so 
eine  Seele  verbunden  ist,  so  kann  das  Leben  nur 
den  Menschen  und  vielleicht  auch  den  Tieren  zu- 
gesprochen werden;  dber  nicht  der  Seele  allein,  oder 
Gott  Allein  gewöhnlich  hat  das  Wort  „Leben''  einen 
weiteren  Sinn,  und  deshalb  muß  es  unzweifelhaft  auch 
den  körperlichen  Dingen,  die  mit  keiner  Seele  ver- 
bunden sind,  und  den  vom  Körper  getrennten  Seelen 
zugesprochen   werden. 

Deshalb  verstehe  ich  unter  Leben 
^VLa^L^S^    die  Kraft,  durch  welche  die  Dinge  in  ihrem  40 
JinMv^  fi«n  beharren.    Da  diese  Kraft  von  den 
hanäem  UL      Dingen  selbst  verschieden  ist   so  sagt 


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140  Anhang.    Teil  IE.    Kap.  6.  7. 

man  passend,  dal}  die  Dinge  selbst  Leben  haben. 
Dagegen  ist  die  Kraft,  mit  der  Gott  in  seinem 
Sein  beharrt,  nur  sein  eigenes  Wesen,  und  des- 
halb drücken  sich  die  am  besten  aus,  welche 
Gott  das  Leben  nennen.  Deshalb  haben  nach  An- 
sicht mancher  Theologen  die  Juden  bei  ihrem  Schworen 
gesagt  Chaj  Jehovah,  d.  h.  beim  lebendigen  Jehovah, 
weil  Gott  das  Leben  ist  und  von  dem  Leben  nicht 
verschieden  ist;  und  sie  haben  dabei  nicht  gesagt 
10  Che  Jehovah,  d.  h.  beim  Leben  Jehovahs.  Auch  Joseph 
sagte^  als  er  bei  dem  Leben  Pharaos  schwur.  Che 
Pharao,  d.  h.   beim  Leben  Pharaos. 


Siebentes  Kapitel.  ^<'') 
Über  den  Terstand  (intellectns)  Gottes. 

ocit  Zu  den  Attributen  Gottes  habe  ich 

i»i  Mwu$end,    obou  die  Allwisseaiheit  gerechnet,  die  be- 
kanntlich Gott  zukommt,  weil  das  Wissen 
an  sich  eine  VoUkommenhdit  enthält   und  Gott  als 
das  vollkommenste  Wesen  keine  Yollkommenheit  ent- 
20  bohren    darf;    demnach    mui3    Gott   das   Wissen   im 
höchsten  MaX)e  zugeteilt  werden,  d.  h.  ein  solches, 
welches   keine  Unwissenheit   oder  keine   Beraubung 
des  Wissens  im  voraus  setzt  oder  annimmt;  denn  dann 
gäbe   es  eine  UnvoUkommenheit  in  dem   Attribute, 
und  damit  in  Gott.   Daraus  erhellt,  daß  Gott  niemals 
nur  dem  Vermögen  nach  (poteniia)  Einsicht  gehabt 
hat,  und  daß  er  auch  nichts  durch  Schlüsse  folgert. 
Es  folgt  femer  aus  der  VoUkommen- 
Der  Gegenstand   heit  Gottes  ÄUch,  daß  seluo  Hoen  nicht, 
^  ^tind^i^dL***  ^^®  ^®  unsrigen,  durch  die  Gegenstände 
nk!ge*au߀rhaib  außerhalb  Gottes  begrenzt  weisen,  viel- 
GifUea,         mehr   werden  die  von  Gott  außerhalb 
seiner  erschaffenen  Dinge  durch  seinen 
Verstand  bestimmt*);  denn  sonst  würden  die  Gegen- 


*)  HiorauB  ergibt  sich  klar,  dafi  der  Verstand  Goites, 
mit  dem  er  die  geschaffenen  Dinpe  erkennt  und  sein  Wüle 
and  seine  Macht,  wodurch  er  sie  bestimmt  hat,  ein  und 
dasselbe  sind.    (A.  v.  Sp.) 


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über  den  Verjtond  Gottes.  141 

Stande  durch  sich  selbst  ihre  Natur  und  ihr  Wesen 
besitzen  und  damit  der  göttlichen  Einsicht,  wenigstens 
der  Natur  nach,  vorhergehen^  was  widersinnig  ist 
Da  dies  manche  nicht  gehörig  beachtet  haben,  so 
sind  sie  in  große  Irrtümer  geraten.  Denn  manche 
nehmen  an,  es  gebe  neben  Gott  den  Stoff,  der  gleich 
ewig  sei,  wie  Gott,  der  von  sich  selbst  existier^  und 
den  Gott  nach  Einigen  nur  vermöge  seines  Verstandes 
in  Ordnung  gebracht  hat,  während  er  ihm  nach  anderen 
noch  außerdem  die  Form  aufgedrückt  hat  Andere  10 
haben  dann  angenommen,  daß  die  Dinge  ihrer  Natur 
nach  entweder  notwendig  oder  unmöglich  oder  zu- 
föllig  sind,  und  daß  deshalb  Gott  die  zufalligen 
auch  nur  als  solche  wisse,  mithin  durchaus  nicht 
wissen  ob  sie  existieren  oder  nicht  Endlich  haben 
andere  gesa^  daß  Gott  das  Zufallige  aus  den 
Umstanden  wisse^  vielleicht  vermöge  seiner  langen  Er- 
fahrung. Ich  könnte  außer  diesen  noch  mehr  Irr- 
tümer der  Art  anführen,  wenn  es  nicht  überflüssig 
wäre,  da  aus  dem  oben  Gesagten  sich  deren  Falsch-  20 
heit  ganz  von  selbst  ergibt 

Ich  kehre  deshalb  zu  meinem  Vor- 
J^J^J^^^  haben   zurück  und  stelle  fest,   daß  es 

deMmn»^  außer  Gott  keinen  Gegenstand  seines 
Wissens  gibt,  sondern  daß  er  selbst  der 
Gregenstand  seines  Wissens,  ]a  sein  Wissen  selbst  ist. 
Die,  welche  die  Welt  auch  für  einen  Gegenstand  des 
Wissens  Gottes  halten,  sind  weniger  verständig  als 
die,  welche  ein  von  einem  ausgezeichneten  Bau- 
meister hingestelltes  Gebäude  zum  Gegenstand  seines,  80 
d.  h.  des  Baumeisters,  Wissen  machen  wollen;  denn 
der  Erbauer  muß  wenigstens  außerhalb  seiner  selbst 
den  passenden  Stoff  suchen,  während  Grott  keinen  Stoff 
außerhalb  seiner  selbst  gesucht^  sondern  die  Dinge 
nach  ihrem  Wesen  und  ihrem  Dasein  durch  seinen 
Verstand  oder  seinen  Willen  hergestellt  hat 

wieao  Gcu  ein  ^^  fragt  such,  ob  Gott  das  Böse 

wi$9en  VOM  der  oAbt  die  Sündou  und  die  Gedanken-Dinge 
aiinde,dmhiofin  und  dergleichen  wisse.  Ich  antworte, 
^'^^M^hot'^  daß  Gott  das,  dessen  Ursache  er  ist,  not-  40 

^^'     *      wendig  kennen  muß,  zumal  es  nicht  einen 
Augenblick   ohne  Beihilfe  der  göttlichen   Erhaltung 

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142  Anhang.     Teil  11.    Kap.  7. 

bestehen  könnte.  Nun  sind  aber  das  B5se  und 
die  Sünden  nichts  in  den  Dingen,  sondern  sie  be- 
stehen nur  innerhalb  der  menschlichen  Seele,  welche  die 
Dinge  mit  einander  vergleicht,  und  deshalb  kann  Gott 
sie  außerhalb  der  menschlichen  Seelen  nicht  kennen. 
Die  Gedanken-Dinge  habe  ich  als  bloße  Zustande  des 
Denkens  aufgezeigt  und  in  diesem  Sinne  muß  Gott 
sie  kennen,  d.  h.  insofern  wir  wissen,  daß  er  die 
menschliche  Seele,  wie  sie  ^uch  beschaffen  ist,  er- 

10  hält  und  fortgesetzt  erzeugt;  aber  nicht  in  dem  Sinne, 
daß  Gott  solche  Zustände  des  Denkens  in  sich  selbst 
hat,  um  das,  was  er  einsieh^  leichter  zu  behalten. 
Gegen  dieses  Wenige,  was  ich  hier  gesag^  wird 
man,  wenn  man  recht  darauf  achthat,  hinsichtlich 
der  Einsicht  Gottes  nichts  vorbringen  können,  was 
nicht  sehr  leicht  gelöst  werden  könnte. 

Doch  darf  ich  deshalb  den  Irrtum 
i^^f^^f^  mancher  nicht  übergehen,  welche  an- 
und  die  AKflre-    i^^hmeu,    Gott    kenne   nur   die    ewigen 

20  meindinffe  Jcmni.  Dinge,  also  z.  B.  die  Engel  und  die 
Himmel,  von  welchen  sie  sich  eingebildet; 
daß  sie  ihrer  Natur  nach  unerzeugbar  und  unvergäng- 
lich seien;  dagegen  wisse  Gott  nichts  von  dieser 
Welt,  mit  Ausnahme  der  Arten,  die  auch  als  uner- 
zeugbar und  unvergänglich  anzusehen  seien.  Es 
scheint  fürwahr,  daß  diese  Männer  gleichsam  ab- 
sichtlich haben  irren  und  sich  das  Widersinnigste 
ausdenken  wollen.  Denn  was  ist  widersinniger,  als 
das  Wissen  Gottes  von  dem   Einzelnen,    was    ohne 

30  Gottes  Beihilfe  auch  nicht  einen  Augenblick  bestehen 
kann,  fem  zu  halten  I  Ferner  nehmen  sie  an,  daß 
Gott  die  wirklichen  Dinge  nicht  kennt,  dagegen  legen 
sie  ihm  die  Kenntnis  der  Allgemeinbegriffe  bei,  cUe 
kein  Sein  und  außerhalb  der  einzelnen  Dinge  kein 
Wesen  haben.  Ich  dagegen  schreibe  Gott  die  Kenntnis 
des  Einzelnen  zu  und  bestreite  sie  bei  dra  Allge- 
meinbegriffen, außer  sofern  er  Einsicht  in  den  mensch- 
lichen Geist  hat. 

Ehe  ich  diesen  Gegenstand  verlasse, 

^  Il^f^!!  ^^  ich  noch  die  Frage  zu  beantworten, 
(una)  und  twar  OD  m  Gott  mehrere  Ideen  oder  nur  eme 
«me€inf«uheide€.  Und  die  einfachste  vorhanden  sind.  Hier- 


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über  den  Yentand  Gottes.  148 

auf  antworte  ich,  daß  Gottes  Idee,  vermöge  d^en 
er  allwissend  heißt,  einzig  und  die  einfachste  ist; 
denn  Gott  wird  in  WtSirheit  nur  deshalb  all- 
wissend genannt,  weil  er  die  Idee  seiner  selbst 
bat,  wdche  Idee  oder  Erkenntnis  immer  zugleich 
mit  Gott  bestanden  hat;  denn  es  gibt  nichts  außer 
seinem  Wesen,  und  dieses  hat  nicht  in  anderer  Weise 
sein  können. 

Dagegen  kann  die  Kenntnis  Gottes 
wh^to!!lien  ^^^  ^^^  erschaffenen  Dingen  nicht  so  10 
^!^!au^!^  eigentlich  auf  das  Wissen  Gottes  bezogen 
Dingm,  werdou;  denn  wenn  Gott  gewollt  hatte, 
so  würden  die  erschaffenen  Dinge  ein 
anderes  Wesen  gehabt  haben,  welches  keine  Stelle 
in  der  Kenntnis  einnimmt^  die  Grott  von  sich  selbst 
hat  Indes  wird  man  fragen,  ob  jene  eigentlich  oder 
aneigentlich  sogenannte  Kenntnis  der  erschaffenen 
Dinge  vidfach  oder  einfach  sei  Da  kann  ich  nun 
hier  nur  antworten,  daß  diese  Frage  dieselbe  ist  wie 
die,  ob  die  Entschlüsse  und  das  Wollen  Gottes  mehr*  20 
fach  oder  nicht  sind,  und  ob  die  Allgegenwart  Gottes 
oder  die  Mitwirkung,  durch  die  Gott  die  einzelnen 
Dinge  erhalt,  nur  eine  und  dieselbe  in  allen  ist, 
worüber,  wie  schon  gesagt,  wir  keine  bestimmte  Er- 
kenntnis haben  können.  Aber  trotzdem  wissen  wir 
genau,  daß  in  derselben  Weise,  wie  Gottes  Mitwirkung 
in  Bezug  auf  die  Allmacht  Gottes  einzig  sein  muJ^ 
obgleich  sie  sich  in  dem  Bewirkten  verschiedenartig 
kundgibt,  so  auch  das  Wollen  und  die  Beschlüsse 
Gottes  (denn  so  möchte  ich  seine  Kenntnis  der  ein-  80 
zelnen  Dinge  nennen),  in  Gott  betrachtet,  nicht  ein 
Mehrfaches  sind,  obgleich  sie  durch  die  erschaffenen 
Dinjge  oder  besser  in  den  erschaffenen  Dingen  ver- 
schiedenartig ausgedrückt  sind.  Betrachtet  man  end- 
lich die  Ähnlichkeit  der  ganzen  Natur,  so  kann  man 
sie  wie  ein  Ding  ansehen,  und  folglich  wird  auch 
die  Vorstellung  oder  der  B^chluß  Gottes  über  die  er- 
zeugte Natur  nur  einer  sein. 


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144  Anhang.    Teil  II.    Kap.  8. 

Achtes  Kapitel. 

Über  den  Willen  Gottes. 

wh-wiuennichi  ^®^  Wille  Gottes,  mit  d^n  er  sich 

wu€Mte»weMM  lieben  will,  folgt  notwendig  aus  seinem 
und  «Mf»       unendlichen  Verstand,  womit  er  sich  er- 
Verstand,  womü  kennt    Aber   die   Kenntnis,   wie    dieee 
Z^d\Jnm&,    drei,  nämlich  sein  Wesen  und  sein  Ver- 
wmUeraiek     Stand,  womit  BT  sich  erkennt,  und  sein 
liebt,  «i(^  untere  Wille,   woHÜt  er  sich  lieben  will,   sich 
10       *<*«<^'       unterscheiden,  gehört  zu  den  unerreich- 
baren Wünschen.  Mir  ist  das  Wort  (näm- 
lich die  Persönlichkeit)  nicht  unbekannt,  das  die  Theo- 
logen mitunter  zur  Erklärung  hiervon  benutzen;  allein 
wenn  ich  auch  das  Wort  kenne,  so  kenne  ich  doch 
seine  Bedeutung  nicht  und  kann  mir  keinen  klaren 
und  deutlichen  Begriff  davon  machen,  obgleich  ich 
fest  glaube^  daß  in  dem  seligen  Anschauen  Gottee, 
das  den  Ftommen  verheißen  isC  Gott  dies  den  Seinigen 
offenbaren  wird. 
20    j^  ^^  ^^  Der  WiUe  und  die  Macht  Gottes  unter- 

du  Madu  ouua   scheldeu  sich  in  Bezug  auf  das  Äußere 
unteradteid«»     uicht  vou  Gottos  Verstand,  wie  schon 
BichinBeMugauf  aus  dom  Vorhergehenden  sich  zur  Ge- 
^  wiÜm  F^   nüge  ergibt;  denn  ich  habe  gezeigt,  daß 
$tande,         Gott  uicht  bloß  das  Dasein  der  Dinge 
beschlossen  hat,  sondern  auch  ihr  Dasein 
mit  einer  solchen  Natur.  Das  heißt  ihr  Wesen  und  ihr 
Dasein  hat  von  dem  Willen  und  der  Macht  Gottes 
abhängen  sollen,  und  daraus  erk^men  wir  klar  und 
80  deutlich,  daß  der  Verstand  und  die  Macht  und  der 
Wille  Gottes,  wodurch  er  die  erschaffenen  Dinge  er- 
schaffen und  eingesehen  hat  und  erhält  oder  liebt, 
sich  in  keiner  Weise  unter  sich,  sondern  nur  in  Be- 
zug auf  unser  Denken  unterscheiden. 

y    ^.. .  Wenn    man   aber    sairt.    daß   Gott 

kann  man  »agen,  mauches  haßt    uud    manchcB   hebt,    so 

daß  Gou  Einigt»  wird  dics  in  demselben  Sinne  gesi^  in 

^^'uJbt^^     dem  die  Bibel  si^  die  Erde  werde  die 

Menschen  ausspeien  und  ähnliches.   Daß 

40  aber  Gott  auf  niemand  erzürnt  ist  und  die  Dinge 


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über  den  Willen  Gottes.  145 

nicht  so  liebt,  wie  die  Menge  sich  einredet,  kann  man 
zur  Genüge  aus  der  Schrift  entnehmen;  denn  es  sagen 
Jeaaias  nnd  noch  deutlicher  der  Apostel  Kap.  9, 
Brief  an  die  Römer:  „Obgleich  sie  (nändich  die  Söhne 
Isaaks)  noch  nickt  gdforen  waren  wid  weder  Gutes  noch 
BSges  9chan  getan  hatten,  ist  ihm  doch,  damit  der  Beschluß 
Oüites  noi^  seiner  Wahl  bleibe,  nicht  aus  den  Werken,  son- 
dem  aus  Gottes  Berufung  gesagt  worden,  daß  der  Ältere  dem 
Jüngeren  dienen  werde"'  u.b.w.  Und  weiterhin:  „Deshalb 
erbarmt  er  sixk  Dieses  und  verhärtet  den  Anderen,  iHe  er  10 
leiff.  *Du  wirfst  mir  daher  sagen:  Was  bMagt  man  sich 
nodi,  denn  wer  kaHn  Gottes  Wiüen  widerstehen?  Aber  du, 
0  liensdi,  wer  bist  du,  daß  du  mit  Gott  rechtest?  Spricht 
wM  das  Werk  zu  seinem  Meister:  Weshalb  hast  du  mich  so 
gemacht?  Hat  nicht  ein  Töpfer  Macht  Ober  den  Ton,  daß  er 
au»  derselben  Masse,  aus  dem  einen  ein  Geßß  tu  Ehren  und 
mu  dem  anderen  zu  Unehren  mache?"  u,  s.  w. 

Fragt  man  aber,  weshalb  Gott  die 
''jS^Ä^tr^  Menschen  ermahnt,  so  ist  darauf  leicht 
mahnt,  vforum  er  ssu  antworten.  Gott  hat  nämlich  von  20 
aUniduoktuSr-  Ewigkeit  beschlossen,  zu  dieser  Zeit  die- 
ZSr*^  *^**S  i^^^S®^  Menschen  zu  ermahnen,  daß  sie 
jjJ^JJ^  sich  ihm  zuwendeten,  welche  er  erretten 
h€$traflu>er䀻.  wollto.  Fragt  man  aber,  ob  Gott  nicht 
auch  ohne  jene  Ermahnung  sie  habe  er- 
retten können,  so  antworte  ich:  Ja.  Aber  warum  er- 
rettet er  sie  denn  nicht?  fragt  man  vielleicht  weiter. 
Darauf  will  ich  antworten,  wenn  man  mir  erst  ge- 
sagt haben  wird,  weshalb  Gott  das  rote  Meer  nicht 
ohne  den  Morgenwind  durchschreitbar  gemacht  habe,  80 
nnd  weshalb  er  alle  einzelnen  Bewegungen  nicht  ohne 
andere  vollzieht,  und  anderes  Zähllose,  was  Gott  durch 
Mittel-Ursachen  bewirkt.  Man  kann  von  neuem  fragen, 
weshalb  dann  die  Gottlosen  bestraft  werden,  da  sie 
doch  nach  ihrer  Natur  und  nach  dem  göttlichen  Rat- 
schlaß handeln.  Darauf  antworte  ich,  daß  auch  ihre 
Strafe  infolge  göttlichen  Ratschlusses  erfolgt  Wenn 
nur  die,  von  denen  wir  uns  einbilden,  daß  sie  aus 
Freiheit  sündigen,  gestraft  werden  sollten,  weshalb 
bestreben  «eh  da  die  Menschen,  die  giftigen  Schlangen  40 
m  vertilgen?  Denn  diese  sündigen  auch  nur  nach 
ihrer  Natur  und  können  nicht  anders. 

SpinosA,  Prinstpiea  toa  DotcarU«.  10 

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146  Anhang.    Teil  U.    Kap.  8.  9. 

DUBMgeSckHß  Wenn  endlich  in  der  Heiligen  Schrift 
^flffiWrtffftlT  ^^^  manches  andere  Bedenkliche  vor- 
F«rmM/i  wider-  kommt,  SO  ist  hier  nicht  der  Ort,  es  sa 
vridd,  erklären;  denn  die  Untersnchnng  geht 
hier  nur  aof  das,  was  mit  der  nator- 
lichen  Vemonft  in  voller  Gewißheit  erreicht  werden 
kann,  und  es  genügt^  dies  klar  za  erweisen,  da* 
mit  wir  wissen,  &fl  aach  die  Heilige  Schrift 
dasselbe  lehren  muß;  denn  die  Wahrheit  steht  nicht 
10  mit  der  Wahrheit  in  Widerspruch,  und  die  Schrift 
kann  keine  Torheiten,  wie  das  die  Menge  sich  ein- 
bildet^ lehren.  Sollten  wir  in  ihr  etwas  finden,  was 
dem  natürlichen  Licht  widerspräche^  so  würden  wir 
es  mit  derselben  Freiheit  widerlegen,  mit  der  man 
den  Alkoran  und  den  Talmud  widerlegt  Indes  sei 
es  ferne  von  mir,  zu  meinen,  daß  in  der  Heilirai 
Schrift  sich  etwas  findet^  was  mit  dem  natürlichen 
Licht  in  Widerspruch  stände. 


Neuntes  EapiteL 

30  Ober  die  Macht  Gottes« 

wu  die  ^^^  ^^^  allmächtig  ist,  habe  ich 

Äümaehi  Gotut  bereits  zur  Genüge  bewiesen.  Hier  will 
«u««rfto^iiM.  ich  nur  kurz  erklären,  wie  dieses  At- 
tribut zu  verstehen  isi  da  viele  nicht 
fromm  genu^;  und  nicht  nach  der  Wahrheit  darüber 
sprechen.  Sie  sagen  nämlich,  manche  Dinge  seien 
durch  ihre  Natur  und  nicht  durch  den  Beschluß  Gottes 
möglich  und  andere  unmöglich  und  andere  endlich 
notwendig;  deshaJb  habe  die  Allmacht  Gottes  nur  bei 
80  den  möglichen  Dingen  Platz.  ^^'O  Ich  habe  indes  bereits 
gezeigt,  daß  alles  unbedingt  von  Gott  abhängt^  und 
sage  deshalb,  daß  Gott  allmächtig  ist  Nachdem  man 
aber  erkannt  hat,  daß  Gott  manches  aus  der  reinen 
Freiheit  seines  Willens  beschlossen  hat,  und  daß  ei 
unveränderlich  ist,  so  sagt  man,  daß  Gott  gegen 
seine  Beschlüsse  nichts  vornehmen  könne;  ösb  sei 
unmöglich,  bloß  deshalb,  weil  es  mit  der  VollkommeQr 
heit  Gottes  sich  nicht  vertrage. 

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über  die  Macht  Gottei.  147 

Att€»  iM  not-  Allein  es  dürfte  sich  nicht  beweisen 

JT^*2^2J2  lassen,  daß  man  das  Notwendige  nur 
oattm, mimm'!Z  findet,  wcnn  man  auf  Gottes  Beschlol} 
mdgttmmtuh^  achtot  Und  das  Entgegengesetste  nur, 
•••**^  "J*^  wenn  man  darauf  nicht  achtet;  t.  B.  dafl 
'"^^JJJjJT^  Josia  die  Gebeine  der  Götzendiener  auf 
dem  Altar  Jerobeams  verbrannte.  Gibt 
man  nur  auf  den  Willen  Josias  hierbei  acht^  so 
erscheint  die  Sache  als  eine  mögliche,  und  man 
wird  sie  in  keiner  Weise  als  eine  notwendig  ein-  10 
tretende  erklären,  ausgenommen,  daß  der  Prophet 
diee  nach  Gottes  Beschluß  vorausgesagt  hatte;  da- 
gegen daß  die  drei  Winkel  eines  Dreiecks  zwei  rechten 
gleich  sind,  ergibt  die  Sache  selbst  Indes  bildet 
man  sich  nur  durch  eigene  Unwissenheit  Unterschiede 
in  den  Dingen  ein.  Wenn  die  Menschen  die  ganze 
Ordnung  der  Natur  klar  erkennen  könnten,  so  würden 
sie  alles  ebenso  notwendig  finden  wie  das,  was  in  der 
Mathematik  gelehrt  wird;  allein  da  dies  die  mensch- 
liche Einsicht  überschreitet»  so  hält  man  einiges  20 
für  möglich,  anderes  für  notwendig.  Deshalb  muß  . 
man  entweder  sagen,  daß  Gott  nichts  vermag,  weil 
in  Wahrheit  alles  notwendig  ist,  oder  daß  Gott  alles 
vermag,  und  daß  die  Notwendigkeit^  die  man  in  den 
Dingen  trifft^  nur  aus  Gottes  Ratschluß  hervorge- 
gangen ist 

Wenn   man  nun  fragt,    ob,    wwm 
M^M^rdL-  ^^  ^  anders  beschlossen  gehabt  und 
Dingt  ^MNoew,    das,  was  jotzt  Wahr  ist,  zu  dem  Falschen 
M  MMfo  tr  tu»    gemacht  hätte,  wir  nicht  dennoch  jenes  80 
«uZ^yürwLnd  ^^  ^*®  allein  Wahre  anerkennen  würden, 

gthon  wfltiiiii.  80  antworte  ich:  Gewiß»  wenn  Gott  uns 
die  jetzt  gegebene  Natur  belassen  hätte; 
aber  auch  dann  hätte  er,  wenn  er  gewollt,  uns  eine 
solche  Natur  geben  können,  wie  er  jetzt  getan  hat» 
wodurch  wir  die  Natur  und  die  Gesetze  der  Dinge^ 
wie  sie  von  Gott  bestimmt  worden,  erkennen;  ja,  wenn 
man  Gottes  Wahrhaftigkeit  bedenkt,  so  mußte  er 
dies  tun.  Dies  erhellt  auch  aus  dem,  was  ich  oben 
gesagt»  nämlich  daß  die  ganze  erschaffene  Natur  40 
nur  ein  einziges  Ding  ist  Deshalb  muß  der  Mensch 
ein  Teil  dieser  Natur  sein,  der  mit  den  übrigen  zu- 

10* 

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148  Anhang.    Teil  IL     Kap.  9. 

sammenhängt;  deshalb  würde  aus  der  Einfachheit  des 
göttlichen  Beschlusses  auch  folgen»  daß^  wenn  Grott 
die  Dinge  anders  geschaffen  hätte,  er  zugleich  unsere 
Natur  so  eingerichtet  haben  würde,  &ß  wir  die 
Dinge  so  erkennten^  wie  sie  Gott  geschaffen  hätte. 
Deshalb  will  ich  die  UnterscheiduDg  in  der  Macht 
Gottes,  welche  die  Philosophen  gewöhnlich  aufstellen, 
gern  beibehalten,  aber  ich  muß  sie  anders  auslegen. 

wuviafaeh  Ich  teile  daher  die  Macht  Gottes  in 

10  Gcttu  Maehi  id,  ^ine  geordnete  und  in  eine  unbedingte  ein. 

Wo»  unter  dem  Unbedingt    nenne     ich    die    Macht 

unbedingim  und  Gottos,  wenu  mau  seiue  Allmacht  ohne 

wäer  dem      Rücksicht  auf  Seine  Beschlüsse  betrach- 

Otordnelen,  was    .    .  ,     .  •  i.       • 

unier  der  ^^f  geordnet  nenne  ich  sie,  wenn  man 
ordeniHehen  und  auf  diose  Beschlüsse  Rücksicht  nimmt 
unter  der  außer-  Femor  gibt  es  eine  ordentliche  und 

M^ÜfZ--     ^^^^  außerordentliche  Macht  Gottes.    Die 
aieKen  ieL      ordentlich  erhält  die  Welt  in  einer  ge- 
wissen Orcbiung;  die  außerordenÜi<Ae  ist 

20  die,    wobei   Gott   etwas   außerhalb  der 

Ordnung  der  Natur  tut,  z.  B.  alle  Wunder,  wie  das 
Sprechen  der  Eselin,  die  Erscheinung  der  Engel  und 
dergleichen,  obgleich  man  über  diese  Erscheinung  billig 
in  Zweifel  sein  könnte,  da  es  ein  größeres  Wunder 
sein  dürftet,  wenn  Gott  die  Welt  immer  nach  einer 
und  derselben  festen  und  unveränderlichen  Ordnung 
Gottes  regiert,  als  wenn  er  die  Gesetze,  die  er  für 
die  Natur  als  die  besten  und  aus  reiner  jEVeiheit  ge- 
geben hat  (was  nur  von  einem  ganz  Verblendeten 

80  geleugnet  werden  kann),  wegen  der  Torheit  der 
Menschen  aufhöbe.  Doch  hierüber  überlasse  ich  den 
Theologen   die  Entscheidung.  ^^^) 

Die  sonstigen  Fragen,  die.  man  in  Bezug  auf 
die  Macht  Gottes  zu  stellen  pflegt,  wie:  oh  diese  Madit 
eich  auch  auf  Vergangenes  erstrecke;  ob  Ch)tt  das,  was  er 
getan,  besser  machen  könne;  ob  er  noch  mehr  tun  könne,  als 
er  getan  habe,  lasse  ich  beiseite,  ^^^)  da  sie  nach  dem 
Obigen  leicht  beantwortet  werden  können. 


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Ober  die  SchOpfong.  149 

Zehntes  Kapitel. 
Über  die  SchSpAmgr.  >««) 

Schon  oben  ist  Gott  als  der  Schöpfer  aller  Dinge 
erklärt  worden;  hier  will  ich  versuchen,  su  erklären, 
was  unter  Schöpfung  su  verstehen  ist  Dann  werde 
ich  nach  Kräften  untersuchen,  was  über  die  Schöpfung 
gewöhnlich  gelehrt  wird.  Ich  beginne  mit  ersterem. 
Waa  du  ^^^  ®**^  ^^^'  ^**  Sfköpfung  ist  eine 

sdapfung  iff.      Tätigkeit,     wobei    keine    anderen    Vrsachen 

neben    der   wirkenden    mit    eintreten     (oon-  10 
currere),  oder:  eine  erschaffene  Stiche  ist  die,  welche  außer 
Gott  nichts  zu  ihrem  DcLsein  voraussetzt. 

Ich  bemerke  hier:  erstens  dai3  ich  die 
Äiijjj^,^  Worte  vermeide,  welche  die  Philosophen 
sdißppmg  wird  gewöhnlich  gebrauchen,  nämlich:  aus 
«MrfldkyncPMMi».    nichts,   als  weuu   das  Nichts  der  Stoff 

gewesen  wäre,  aus  dem  die  Dinge  her- 
vorgebracht worden.  Man  spricht  so,  weil  man,  wo 
Dinge  erzeugt  werden,  gewohnt  ist,  etwas  vor  ihnen 
anzunehmen,  aus  dem  sie  entstehen,  und  deshalb  konnte  flo 
man  auch  bei  der  Schöpfung  dieses  Wörtchen  „aus'' 
nicht  weglassen.  Dasselbe  begegnete  ihnen  bei  der 
Materie;  sie  sahen,  dafl  alle  Körper  an  einem  Orte  sind 
und  wieder  von  anderen  Körpern  umgeben  sind,  und 
deshalb  fragten  sie  sich,  wo  der  ganze  Stoff  sich 
befinde,  und  antworteten:  in  einem  imaginären  Räume. 
Deshalb  ist  es  klar,  daß  jene  das  Nichts  nicht  als  eine 
Verneinung  aller  Realität  angesehen,  sondern  es  selbst 
sich  als  etwas  Wirkliches  gedacht  oder  eingebildet 
haben.  80 

wAehM  Zweitens    sage   ich,    daß    bei    der 

du  rieMigt  iti.     Schöpfuug  neben  der  wirkenden  Ursache 

keine  anderen  mit  eintreten.  Ich  hätte 
zwar  sagen  können,  daß  die  Schöpfung  alle  anderen 
Ursachen,  neben  der  wirkenden,  verneine  oder  aus- 
schließe. Ich  habe  aber  das  Wort:  mit  eintreten  vor* 
gezogen,  damit  ich  denen  nicht  zu  antworten 
brauche,  welche  fragen,  ob  Gott  sich  bei  der 
Schöpfung  nicht  ein  Ziel  vorgesetzt  habe,  weshalb  er 
die  Dinge  geschaffen  habe.   Ich  habe  femer,  um  die  40 


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160  Anhftng.    Teil  II.    Kap.  10. 

Sache  besser  zu  erläutern,  die  zweite  Defmition  bei- 
gefügt,  nämlich,  daß  das  erschaffene  Ding  nichts 
anßer  Gott  voraussetzt  Denn  hat  Gott  sich  ein  Ziel 
vorgesetzt,  so  ist  dasselbe  keinesfalls  außerhalb  Gottes 
gewesen;  denn  es  gibt  nichts  außerhalb  Gottes,  von 
dem  er  zum  Handdn  bestimmt  werden  könnte. 

Drittens  folgt  aus  dieser  Definition 
z^^ä!^u^t^)    ^^^  Genüge,  daß  es  keine  Schöpfung  der 
uwdm  wicht      Accidentien   und   Zustände  pbt    Denn 
10      ffuehaffen.       sio  haben  neben  Gott  noch  eme  erschaf- 
fene Substanz  zur  Voraussetzung. 

Viertens  können  wir  uns  vor  der 
« rZr  ^^  Schöpfung  keine  Zeit  und  keine  Dauer 
^^S!ut^  vorstellen;  vielmehr  hat  diese  erst  mit 
Dauer  gegebm,  dou  Diugeu  begonnen.  Denn  die  Zeit  ist 
das  Maß  der  Dauer,  oder  sie  ist  vielmehr 
nur  ein  Zustand  des  Denkens.  Sie  setzt  deshalb  nicht 
nur  irgend  eine  erschaffene  Sachei,  sondern  auch 
denkende  Menschen  voraus.  Die  Dauer  hört  aber  auf, 
20  wenn  die  geschaffenen  Dinge  aufhören  zu  sein,  und 
sie  beginnt,  wenn  die  erschaffenen  Dinge  zu  existiereai 
an&ngen;  ich  sage:  dU  ersduiffenen  Dinge;  denn  Gott 
kommt  keine  Dauer  zu,  sondern  nur  die  Ewigkeit, 
wie  ich  bereits  zur  Genüge  dargelegt  habe.  Deshalb 
müssen  erschaffene  Dinge  der  Dauer  vorausgehen  oder 
wenigstens  zugleich  mit  ihr  angenommen  werden.  Wer 
dagegen  sich  einbildet»  es  sei  die  Dauer  und  die  Zeit 
den  erschaffenen  Dingen  vorgegangen,  der  leidet  an 
demselben  Vorurteil  wie  die,  welche  einen  Raum 
30  außerhalb  der  Materie  sich  einbilden,  wie  sich  klar 
von  selbst  ergibt  So  viel  über  die  Definition  der 
Schöpfung. 

Ich   brauche   femer  nicht  das  zu 

^^^*;^  Gr.    10,  I  Bewiesene    zu    wiederholen, 

be»  d«r  jy.      nämlich,    daß    zur    Erschaffung    eines 

•ehaffungwuui  Diuges  ebcusoviel  Eraft  wie  zu  dessen 

der  ^Mtung    Erhaltung    erforderlich   ist,    d.  h.    daß 

tÜT'    die6eU)e   Wirksamkeit   Gottes   die   Welt 

erschafft  und  erhalt  "0 

40         Nach  diesen  Bemerkungen  gehe  ich  zum  zweiten 

Punkt  über.    1.  habe  ich  also  zu  untersuchen,  was 

geschaffen   und   was   ungeschaffen   ist;   2.    ob  das, 


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Ober  die  SchOpftiDg.  151 

was  ffesch&ffen  ist,  von  Ewigkeit  her  hätte  geachaffen 
sein  KonneiL 

üh4r  äu  M.  ^^  ^^  ersten  Punkt  antworte  ich 

mikafm^jHngt.  ^^"^  ^^  ^^^  ^^  geschaffen  Ist,  deaseQ 

Wesen  klar  ohne  irgend  ein  Dasein  vor- 

geetellt  wird,  und  das  doch  durch  sich  selbst  vor- 

Jestellt  wird,  z.  B.   die  Materie,   deren  klaren  und 
entliehen  B^rriff  wir  haben,  da  man  ihn  unter  dem 
Attribute  der  Ausdehnung  auffaßt  und  ihn  also  klar 
und  deutlich  vorstellen  kann,  mag  ihm  nun  Existenz  10 
zukommen  oder  nicht 
iMwitfmjt  <MfM         Vielleicht  sagt  jemand,  daß  man  ja 

Art  tm  dmtkm  das  Denken  klar  und  deutlich  ohne  Da- 
(eogiuMo)  von  sein  vorstcUt  und  es  dennoch  Gott  zu- 
*^  *^JJ2Sr  "*"  *®^^  Indes  ist  hierauf  zu  antworten, 
daß  man  Gott  nicht  ein  solches  Denken 
wie  das  unsrige  zuteil^  d.  h.  ein  leidendes,  das  von 
dex  Natur  der  Gegenstände  begrenzt  wird,  sondern 
ein  solches,  das  eine  Tätigkeit  ist,  und  das  des- 
halb das  Dasein  enthält  wie  ich  oben  ausführlich  dar-  20 
gelegt  habe.  Denn  ich  habe  gezeigt,  daß  Gottes  Ver- 
stand und  Wille  von  seiner  Macht  und  seinem  Wesen, 
welches  das  Dasein  einschließt  sich  nicht  unter- 
scheiden. 
Außtrhäib  Qotua         Wann  sonach  alles,  dessen  Wesen 

tibi  «  mddäs,    sein  Dasein  nicht  einschließt  zu  seinem 

dM  in  gtäOim-  Bestehen  notwendig  von  Gott  hat  er- 
^•'••JJ^*^*^  schaffen  weidon  müssen  und  von  dem 
^'  Schöpfer,  wie  ich  vielfach  erklärt  stetig 
erhalten  w^den  muß,  so  brauche  ich  mich  bei  der  80 
Widerlegung  der  Ansicht  nicht  aufzuhalten,  welche 
die  Welt  oder  das  Chaos  oder  den  von  aller  Form 
losgelösten  Stoff  als  mit  Gott  gleich  ewig  und  gleich 
unabhängig  annimmt  Ich  gehe  deshalb  zu  dem  zweiten 
Punkt  und  zu  d^  Frage  über,  ob  das,  was  erschaffen 
ist  von  Ewigkeit  her  hätte  erschaffen  werden  können.^^) 
Um  diese  Frage  richtig  zu  verstehen, 

^A^^kZik^  ist  auf  den  Ausdruck:  van  Ewigkeit  zu 
,«0»  Emigk^  tu  schton.  Man  will  damit  hier  etwas  ganz 
'  ««nMbM  M.     anderes  bezeichnen  als  das  oben  Erklärte,  40 

wo   ich   von   der   Ewigkeit  gesprochen 
habe.    Hier  wird  darunter  nur  eine  Dauer  ohne  An- 


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152  Anhang.    Teil  U.    Kap.  10. 

fang  verstanden,  aber  eine  eolche  Dauer,  die  man, 
wenn  man  sie  auch  um  viele  Jahre  oder  tausende 
von  Jaliren  vervielfachen  wollte,  und  wenn  man  dieses 
Produkt  wieder  mit  tausenden  vervielfachte,  doch 
durch  keine  Zahl,  sei  sie  auch  noch  so  groß^  aus- 
drücken könnte. 

Daß  es  eine  solche  Dauer  nicht 
^^*E^ak^  geben  kann,  erhellt  deutlich;  denn  wenn 
gw(Ziff!^toerd0n  die  Welt  vou  diesem  Punkte  wiederum 

10  kann,  zuTÜckschritte^  80  könnte  sie  niemals 
solche  Dauer  haben«  und  daher  hätte 
auch  die  Welt  von  einem  solchen  An&nge  aus  nie 
bis  zu  diesem  Punkte  gelangen  können.  Man  sagt 
vielleicht,  daß  Gott  nichts  unmöglich  sei;  da  er  all- 
mächtig sei,  werde  er  auch  eine  Dauer  bewirken 
können,  über  die  hinaus  es  keine  größere  gebe.  Ich 
antworte,  daß  Gott,  gerade  weil  er  allmächtig  ist, 
niemals  eine  Dauer  schaffen  kann,  über  die  hinaus 
er  nicht  eine  größere  erschaffen  könnte.    Denn  die 

20  Natur  der  Dauer  ist  derart,  daß  immer  eine  größere 
oder  kleinere,  als  die  gegebene,  gedacht  werden  kann, 
wie  bei  der  Zahl.  Man  kann  vielleicht  geltend  machen, 
daß  Gott  von  Ewigkeit  existiert,  mithin  bis  zur 
Gegenwart  gedauert  habe,  und  daß  es  daher  bei  ihm 
eine  Dauer  gebe,  über  die  keine  längere  gedacht 
werden  könne.  Allein  auf  diese  Weise  erteilt  man 
Gott  eine  aus  Teilen  bestehende  Dauer,  die  schon 
übergenug  von  mir  widerlegt  worden  is^  indem  ich 
gezeigt»  daß  Gott  nicht  die  Dauer,  sondern  nur  die 

30  Ewigkeit  zukommt.  Hätte  man  das  nur  immer  ge- 
hörig betrachtet,  so  hätte  man  sich  aus  vielen  Be- 
weisführungen und  Verkehrtheiten  leicht  herausziehen 
können,  und  man  würde  mit  dem  größten  Genuß 
in  der  seligsten  Betrachtung  dieses  Wesens  verweilt 
haben. 

Indes  gehe  ich  weiter  zur  Widerlegung  der 
Gründe,  die  von  manchem  vorgebracht  werden,  und 
mit  denen  man  die  Möglichkeit  einer  solchen  unend- 
lichen Dauer  direkt  beweisen,  will. 

40  j^^^^^  dafiQoU  ^^^    ^^    zuerst^    „daß    die   hervor- 

^g'iH/foi^  gebrachte  Sache  der  Zeit  nach  zugleich  mit 
nicht,  daß  auch    Uhrer  Ursache  sein  könne.   Da  nun  Chtt  wm 


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über  die  SchOpfang.  158 

MNM  WMoHigen  Ewigkeit  gewesen  sei,   so  hätten  auch  seine 

VOM  XwigUü  A«r  Wirkungen  wm  Ewigkeit  herwrgebracht  sein 

Mim  kfhmm.     ]cönnen:*  Und  das  beetatigt  man  überdem 

durch  das  Beispiel  von  dem  Sohne  Chttes, 
der  von  Ewigkeit  von  dem  Vater  hervorgebracht  sei.  Indes 
kann  man  nach  dem  früher  Gesagten  leicht  sehen, 
daß  dabei  die  Ewigkeit  mit  der  Dauer  verwechselt  nnd 
Gott  nnr  eine  Dauer  von  Ewigkeit  her  zugeteilt  wird» 
wie  auch  aus  dem  angeführten  Beispiel  klar  erhellt, 
da  die  Gegner  annehmein,  daß  dieselbe  Ewigkeit,  die  10 
sie  dem  Sohne  zuteil^  auch  für  die  Geschöpfe  mög- 
lich sei.  Sodann  bUden  sie  sich  ein,  daß  die  Zeit 
und  die  Dauer  vor  der  Welt  vorhanden  gewesen  sei, 
und  sie  nehmen  eine  Dauer  ohne  geschaffene  Dinge 
an,  wie  andere  eine  Ewigkeit  außerhalb  Gottes,  was 
beides  von  der  Wahrheit  weit  abliegt.  Ich  antworte 
also,  daß  es  durchaus  falsch  ist,  anzunehmen,  Gott 
könne  seine  Ewigkeit  den  Geschöpfen  mitteilen,  und 
daß  der  Sohn  Gottes  nicht  geschaffen,  sondern  ewig 
wie  der  Vater  ist  Sagt  man  also,  der  Vater  habe  20 
den  Sohn  von  Eiwigkeit  her  erzeugt,  so  will  man 
damit  nur  sagen,  daß  der  Vater  dem  Sohne  seine 
E}wigkeit  immer  mitgeteilt  hat. 
Wenn  octt  au$  ^^®   behaupten   zweitens,   daß  Gott, 

Noi^BtHdigiteU     ^^^  ^  f^^  handle,  nicht  geringer  an  Macht 
iwuUUs,  »o  u^  sei,   als  wenn   er   notwendig  handle.    Wenn 
$äße  er  ab^r  Gott  aus  Notwendigkeit  handle,  so  hätte 

***%ij^****   ^'    ^    ^    t*«end/wÄe    Tugend    besitze,    die 

Welt  von  Ewigkeit  her  ersdiaffen  müssen. 
Indes  kann  auf  diese  Ausführung  leicht  geantwortet  80 
werden,  wenn  man  auf  ihre  Grundlage  achtet  Diese 
guten  Leute  nehmen  an,  daß  sie  verschiedene  Ideen 
von  einem  Wesen  von  unendlicher  Tugend  haben 
können;  denn  sie  fassen  Gott  sowohl,  wenn  er  aus  der 
Notwendigkeit  seiner  Natur  handelt,  wie  wenn  er  frei 
handelt,  als  mit  xmendlicher  Tugend  begabt  aul  Ich 
bestreite  aber,  daß  Gott,  wenn  er  aus  der  Notwendig- 
keit seiner  Natur  handelt,  eine  unendliche  Tugend  be- 
sitzt, was  ich  nicht  bloß  bestreiten  darf,  sondern 
was  auch  jene  Männer  mir  zugeben  müssen,  wenn  ich  40 
bewiesen  habe,  daß  das  vollkom;menste  Wesen  frei 
handelt  und  nur  als  ein  einziges  aufgefaßt  werden 


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154  Anhang.    Teil  11.    Kap.  10. 

kaim.  Wenn  jene  erwidern,  daß  man  doch,  wenn  es 
auch  munSglich  sei,  annehmen  könne,  daß  Gott»  wenn 
er  aus  der  Notwendigkeit  seiner  Natur  handle^  un- 
endliche Tugenden  haSen  könne,  so  antworte  ich,  daß 
dies  ebensowenig  zulässig  ist  als  die  Annahme  eines 
viereckigen  Kreises,  um  daraus  zu  folgern,  daß  nicht 
aUe  von  dem  Mittelpunkt  nach  dem  Unuring  gezogenen 
Ldnien  einander  gleich  sind.  Und  dies  steht  nach  dem 
oben  Gesagten  hinlänglich  fest;  ich  brauche  also  das 

10  früher  Gesagte  nicht  noch  einmal  zu  vriederholen. 
Ich  habe  eben  gezei^  daß  es  keine  Dauer  gibt, 
über  die  man  nicht  eine  noch  einmal  so  lange  oder 
eine  sonst  längere  oder  kürzere  sich  vorstellen  kann, 
und  deshalb  lutnn  sie  von  Gott,  der  in  seiner  unrad- 
liehen  Tugend  frei  handelt,  immer  größ^  oder  kleiner 
als  die  gegebenen  vorgestellt  werden.  Handelte  aber 
Gott  der  Notwendigkeit  seiner  Natur  gemäß,  so  würde 
dies  keineswegs  folgen;  denn  dann  konnte  er  nur  die 
Dauer,  welche  aus  seiner  Natur  sich  ergabt  hervor- 

20  bringen,  aber  nicht  zahllose  andere  größere.  Um 
dies  also  kurz  zusammenzufassen:  wenn  Gott  die  größte 
Dauer  erschüfe,  über  die  hinaus  er  eine  noch  größere 
nicht  erschaffen  könnte,  so  verminderte  er  damit  not- 
wendig seine  Natur.  Von  diesem  Satze  ist  aber  der 
letzte  Teil  falsch,  da  Gottes  Macht  nicht  von  seinem 
Wesen  verschieden  ist  Also  u.  s.  w.  —  Wenn  femer 
Gott  aus  der  Notwendigkeit  seiner  Natur  handelte, 
so  müßte  er  eine  Dauer  erschaffen,  über  die  hinaus  er 
selbst  eine  größere  nicht  ^schaffen  könnte;  aber  wenn 

'80  Gott  eine  solche  Dauer  erschüfe^  wäre  er  nicht  von 
unendlicher  Machtvollkommenheit»  da  wir  immer  eine 
noch  größere  als  die  gegebene  Dauer  vorstellen 
können.  Handelte  also  Gott  aus  der  Notwendigkeit 
seiner  Natur,  so  wäre  er  nicht  von  unendlicher  Macht- 
vollkommenheit 

wohsrufirdtn  Weon   jemand   hier  das   Bedenken 

BegHf  «tnm-     hätte,  wohor  wir,  da  die  Welt  vor  6000 

gröfimrm  Dauer,  und  einigen  Jahren  geschaffen  word^i 

*ir^iSr^*^    ist   (wenn  die  Rechnung  der  Zettkun- 

40         '  digen   richtig   ist),   dennoch    uns    eine 

größere  Dauer  vorstellen  können,  da  ich  doch  be- 
hauptet habe,  daß  die  Dauer  nicht  ohne  erschaffene 


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Ober  die  Mitwirkang  Gottes.  1^ 

Dinge  vorgestellt  werden  könne,  so  läßt  sich  dieses 
Bedenken  leicht  heben,  wenn  man  festhält,  daß  ich 
diese  Dauer  nicht  bloß  aus  den  Betrachtungen  der  er- 
schaffenen Dinge,  sondern  aus  der  Betrachtung  von 
Gottes  unendlicher  Macht  zu  schaffen  erkenne.  Denn 
Greschöpfe  können  nicht  als  für  sich,  sondern  nur  als 
durch  die  unendliche  Macht  Gottes  existierend  oder 
fortdauernd  vorgestellt  werden,  von  der  allein  sie 
ihre  Dauer  haben.   Man  sehe  Lehrs.  12, 1  mit  Zusatz. 

Damit  ich  schließlich  mit  der  Beantwortung  ver-  10 
kehrter  Gründe  nicht  unnütz  Zeit  verschwende,  möge 
man  nur  folgendes  festhalten,  nämlich  den  Unter- 
schied zwischen  E/wigkeit  und  Dauer,  und  daß  die 
Dauer  ohne  erschaffene  Dinge  und  die  Ewigkeit  ohne 
Gott  auf  keine  Weise  erkennbar  sind.  Hat  man  das 
richtig  erfaßt,  so  kann  man  leicht  auf  alle  diese 
Einwände  antworten,  und  ich  brauche  mich  nicht 
weiter  damit  aufzuhalten. 


Elftes  Eapitel. 
Über  die  Mitwirkung  Gottes.  20 

Über  dieses  Attribut  bleibt  wenig  oder  nichts 
zu  sagen  übrig,  nachdem  ich  gezeigt  habe,  daß  Gott 
in  den  einzelnen  Zeitpunkten  ohne  Unterlaß  die  Dinge 
gleichsam  von  neuem  erschafft  Ich  habe  daraus 
abgeleitet,  daß  die  Dinge  durch  sich  selbst  keine 
Msusht  haben,  etwas  zu  wirken  oder  sich  zu  einer 
Handlimg  zu  bestimmen,  und  daß  dies  nicht  bloß  bei 
den  Dingen  außerhalb  des  Menschen,  sondern  auch 
bei  dem  menschlichen  Willen  stattfindet  Ich  ant- 
worte femer  auf  einige  hierauf  bezügliche  Eänwen-  do 
dungenj  denn  wenngleich  man  noch  viele  andere 
beizubringen  pflegt,  so  will  ich  doch  diese  mir  er- 
sparen, da  sie  hauptsächlich  zur  Theologie  gehören. 

Indessen  lassen  viele  zwar  eine  Mitwirkung  Gottes 
zu,  aber  in  einem  ganz  anderen  als  dem  von  mir 
angenommenen  Sinne;  man  beachte  deshalb,  um  deren 
Irrtum  am  leichtesten  aufzudecken,  das,  was  ich  vor- 


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156  Anhang.    Teil  IL    Kap.  11. 

her  dargelegt,  nämlich,  daß  die  gegenwärtige  Zeit 
mit  der  kommenden  keine  Verbindung  hat  (Gr.  10, 
Teil  I),  und  daß  man  dies  klar  und  deutlich  erkennt 
Wenn  man  hieran  nur  gehörig  festhält,  wird  man  ohne 
Schwierigkeit  alle  Gründe,  welche  jene  nur  aus  der 
Philosophie  entnehmen  mögen,  zurückweisen  können. 
wieeMmUder  ^^  ^^^   ^^®^   Frage   uicht   vep- 

srhauung  durch  g^bens  berührt  zu  haben,  will  ich  neben- 
ooUtuht,umäie  bei  auf  die  Frage  antworten,  „ob  gu  der 

IQ  Dingt  Mur  f^Q^  Qqh  ausgehenden  Erhaltung  etwas  hin- 
^^**tHmmen  ^*  zutritt,  wenn  er  das  Ding  zum  Handeln 
hestimmV*,  Da,  WO  ich  von  der  Bewegung 
gesprochen,  habe  ich  die  Antwort  hierauf  schon  be* 
rührt  Ich  habe  dort  gesagt,  daß  Gott  die  gleiche 
Menge  Bewegung  in  der  Natur  erhält  Beachtet  man 
daher  die  ganze  Natur  der  Materie,  so  tritt  zu  ihr 
nichts  Neues  hinzu;  dagegen  kann  in  Beziehung  auf 
die  einzelnen  Dinge  gewissermaßen  gesagt  werden, 
daß  zu  ihnen  etwas  Neues  hinzutritt   Daß  dies  auch 

20  bei  den  spirituellen  Dingen  statthat,  scheint  nicht 
der  Fall  zu  sein,  da  sie  nicht  derart  von  einander  ab- 
hängig zu  sein  scheinen.  Da  endlich  die  Teile  der  Dauer 
unter  sich  keine  Verbindung  haJ[>en,  kann  ich  sagen, 
daß  Gott  die  Dinge  nicht  sowohl  erhält»  als  fort- 
erzeugt; ist  daher  die  Freiheit  des  Mensche  schon 
zu  einer  Handlung  bestimmt,  so  muß  man  sagen, 
daß  Gott  ihn  zu  dieser  Zeit  so  geschaffen  habe.  Dem 
steht  nicht  entgegen,  daß  der  menschliche  Wille  erst 
von  äußeren  Dingen  bestimmt  wird,  und  daß  alles 

80  in  der  Natur  wechselseitig  zur  Wirkung  auf  einander 
bestimmt  wird;  denn  auch  'das  ist  so  von  Gott  be- 
stimmt; denn  kein  Ding  kann  den  Willen  bestimmen 
und  ebenso  kein  Wille  bestimmt  werden,  als  nur 
durch  die  Macht  Gottes.  Wie  dies  aber  sich  mit  der 
menschlichen  Freiheit  verträgt,  oder  wie  Gott  dies 
mit  Bewahrung  der  menschlichen  Freiheit  bewirken 
kann,  das  gestehe  ich  nicht  zu  wissen,  wie  ich  schon 
mehrfach  gesagt  habe. 

Dies  ist  es,  was  ich  über  die  At- 

^^  ^EiJ^^^^  tribute  Gottes  sagen  wollte,  von  denen 

ÄUrQn^&cü^    ^^h   bishor   noch   keine   Einteilung  ge- 

M  nuhr  eint     geben  habe.    Jena  von  den  Schriftstel- 


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Ober  den  monscblichcn  Geist  167 

Wort-  au  «MM  lern  hin  und  wieder  geschehene  Ein- 
sach^Einuäung.  teüung  in  Attribute  Gottes,  welche 
nicht  mi'tteilbar  sind,  und  in  mitteilbare,  scheint 
mir,  wie  ich  gestehen  muß,  mehr  eine  Wort-  als 
Sach- Einteilung  zu  sein.  Denn  die  Wissenschaft 
Gottes  stimmt  ebensowenig  mit  der  Wissenschaft  des 
Ifenschen  überein,  wie  das  Sternbild  des  Hundes  mit 
dem  Hunde  als  bellendem  Tier,  ja  vielleicht  ist  der 
Unterschied  noch  größer. 

DU  EinteUu  ^^^  mache  folgende  Einteilung:  Ein-  10 

deaverfasm,  11^  ^^  ^tt  Attribute^  die  sein  tatiges 
Wesen  ausdrücken,  und  dann  hat  er 
solche,  welche  nichts  von  Tätigkeit,  sondern  seinen 
Zustand  des  Daseins  ausdrücken;  dazu  gehört  die  Ein- 
heit, die  Ewigkeit^  die  Notwendigkeit  u.  s.  w.;  zu 
jenen  gehören  die  Einsicht^  der  Wille,  das  Leben, 
die  Allmacht  u.  s.  w.  Diese  Einteilung  ist  klar  und 
VOTsländlich  und  umfaßt  alle  Attribute  Gottes. 


Zwölftes  Kapitel. 
Ober  den  menschllelien  Geist. 


20 


Ich  gehe  nun  zu  der  erschaffenen  Substanz  über, 
die  ich  in  die  ausgedehnte  und  in  die  denkende  ein- 
geteilt habe.  Unter  der  ausgedehnt^i  verstehe  ich 
die  Materie  oder  die  körperliche  Substanz,  unter  der 
denkenden  nur  den  menschlichen  Geist 

Die  Engd  Allerdings  gehören  auch  die  Engel 

gtkär*»  nidu  int  ZU  den  erschaffenen  Wesen;  allein  sie 
GtkiH  dm-  Meto-  gind  durch  das  natürliche  Licht  nicht  zu 
'^^%^^^!ll^   erkennen  und  gehören  deshalb  nicht  in 

^***^'  die  Metaphysik;  ihr  Wesen  und  ihr  Da-  so 
sein  ist  nur  durch  Offenbarung  bekannt;  sie  gehören 
deshalb  nur  zur  Theologie,  deren  Erkenntnisart  eine 
ganz  andere  ist,  die  ihrer  ganzen  Art  nach  von  der 
natürlichen  Erkenntnis  verschieden  ist  und  deshalb 
mit  letzterer  nicht  vermengt  w^en  darl  Deshalb 
erwarte  niemand»  daß  ich  etwas  über  die  Engel  sagen 
werde. 

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158  Anhang.    Teü  11.    Kap.  12. 

DermmitaixMu  Ich  kehre  daher  zum  menschlichen 

n<Sf*du!Sf*A6-  ^®^®*  zurück,  über  den  ich  noch  einiges 
Mv>eigung,90Hdern  2u  Sagen  habe;  doch  erinnere  ich,  SblH 
i^vonooug^-   ich  Über  die  Zeit  der  Erschaffung  dea 
!**^^J  "2i     menschlichen  Geistes  nichts  gesagthabe» 
"**I^n»  IT      ^®*^  ^^^^^  genügend  feststeht,  zu  welcher 
gfcHaffwk  «Fjrd.   Zeit  Gott  ihn  erschafft,  da  er  ohne  Kör- 
per existieren  kann.   So  viel  steht  fest, 
daß  er  nicht  durch  Abzweigung   entsteht,  da  diese 

10  nur  bei  Dingen  statthat,  welche  erzeugt  werden,  also 
bei  den  Zustanden  einer  Substanss,  während  die  Sub- 
stanz selbst  nicht  erzeugt  werden  kann,  wie  ich  oben 
zur  Genüge  bewiesen  habe.  ^®») 

Um   über   die   Unsterblichkeit    der 

^lir^l^^!!!Md!!  ^®®'®  etwas  beizufügen,  so  ist  ee  sicher, 

8*Ai  (anima)    ^^  ^au  vou  kduom  Dinge  sagen  kann, 

tim-hueh  M.     seine  Natur  enthalte,  daß  ee  von  der 

Macht  Gottes  zerstört  werde;  denn  w^ 

die  Macht  gehabt  hat,  ein  Ding  zu  erschaffen,  hat 

20  auch  die  Msicht,  es  zu  zerstören.  Auch  habe  ich 
bereits  hinlänglich  dargelegt,  daß  lein  erschaffenes 
Ding  seiner  Natur  nach  auch  nur  einen  Augenblick 
existieren  kann,  sondern  daß  ee  ohne  Unterlaß  von 
Gott  forterschaffen  wird. 

intoAch^siMu         Wenn  indes  auch  die  Sache  sich  so 
"uiMfarftjwfcr**  verhält,  so  sieht  man  doch  klar  und  deut- 
lich, daß  man  keine  Idee  von  dem  Unter- 
gange einer  Substanz  in  der  Weise  hat,  wie  man  die 
Ideen  von  dem  Verderben  und  dem  Erzeugen  der  Zu- 

80  stände  hat  Denn  wenn  man  den  Bau  des  menschlichen 
Körpers  betrachtet,  so  hat  man  die  klare  Vorstellung, 
daß  ein  solcher  Bau  zerstört  werden  kann;  aber  dies 
ist  nicht  dtonso  bei  der  körperlichen  Substanz  der 
Fall,  wo  man  nicht  in  gleicher  Weise  sich  deren  Ver- 
nichtung vorstellen  ksmn.  Endlich  fragt  der  Philo- 
soph nicht  nach  dem,  was  Gott  in  seiner  Allmacht 
tun  kann,  sondern  er  urteilt  über  die  Natur  der  Dingp 
nach  den  Gesetzen,  die  Gott  ihncm  gegeben  hat  Des- 
halb hält  er  das  für  fest  und  richtig,  was  er  als 

40  fest  und  richtig  aus  diesen  Gesetzen  folgern  kann; 
aber  dabei  bestreitet  er  nicht,  daß  Gott  diese  Ge- 
setze und  alles  Übrige  verändern  kann.  Deshalb  frage 

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über  den  mensohlicben  Geist  150 

ich  auch  bei  Besprechung  der  Seele  nicht  danach,  was 
Gott  machen  kann,  sondern  nur,  was  aus  den  Ge- 
setzen der  Natur  folgt 

Da  nun  aus  diesem  sich  klar  ergibt» 
Vn^iSSLkktu  ^^  ^^^®  Substanz  weder  durch  sich, 
wwd  fttiritiün.  i^o<^b  durch  eine  andere  erschaffene  zer- 
stört werden  kann,  wie  ich  schon  frühef, 
wenn  ich  nicht  irre,  genügend  dargelegt  habe^  so 
muß  man  annehmen,  daß  nach  den  Naturgesetzen  die 
menschliche  Seele  unsterblich  ist  Will  man  die  Sache  10 
noch  genauer  betrachten,  so  wird  man  auf  das  über- 
zeugendste beweisen  können,  daß  sie  unsterblich  ist; 
denn  dies  folgt,  wie  ich  eben  gezeigt  habe,  klar  aus 
den  Naturgesetzen.  Diese  Naturgesetze  sind  aber  die 
durch  das  natürliche  Licht  onenbarten  Beschlüsse 
Gottes,  wie  auch  aus  dem  Obigen  sich  klar  ergibt. 
Nun  sind  die  Beschlüsse  Gottes  unabänderlich,  vrie 
ich  schon  gezeigt  habe,  und  daraus  ergibt  mch  klar, 
dbBiß  Grott  seinen  unabänderlichen  WiUen  in  Bezug 
auf  die  Dauer  der  Menschenseelen  nicht  bloß  durch  20 
Offenbarung,  sondern  auch  durch  das  natürliche  licht 
kundgetan  hat 

Man  kann  auch  nicht  einwenden,  daß 

^**'**jj^^  Gott  diese  Naturgesetze  mitunter  behufs 

^!S!^Lm  M  <a»m'  Bewirkung  von  Wundem  vernichte;  denn 

9U  ^rhahmi  was  die  meisten  der  einsichtigen  Theologen 

doirmAmr  nach    erkennen  an,  daß  Gott  nichts  gegen  die 

fü^T^J^"    Natur  tut,  i^ondern  nur  über  die  Natur, 

«MtoM  if«.  '    d.  h.,  daß  Gott,  wie  ich  es  erkläre,  auch 

viele  Gesetze  des  Wirkens  hat,  welche  so 
er  dem  menschlichen  Verstände  nicht  mitgeteilt  hat 
\^u:e  dies  geschehen,  so  würden  sie  uns  ebenso  natür- 
lich vorkommen,  wie  die  übrigen. 

Daher  steht  es  auf  das  ül^rzeugendste  fest,  daß 
die  Seelen  unsterblich  sind,  und  ich  sehe  nichts  was 
über  die  menschliche  Seele  im  allgemeinen  hier  noch 
zu  sagen  wäre.  Auch  über  ihre  besonderen  Verrich- 
tungen wäre  hier  nichts  Besonderes  zu  sagen  üt»4^, 
wenn  nicht  die  Gründe  gewisser  Scbriftstell^,  mit 
denen  sie  bevrirken  wollen,  daß  sie  das,  was  sie  sehen  40 
und  fühlen,  nicht  sehen  und  nicht  fühlen,  mich  darauf 
zu  antworten  nötigten. 

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160  Anhang.    Teil  IL    Esp.  12. 

Warum  manehe  Einige   meinen,   zeigen  zu  können, 

J^'J^'^    daß  4er  Wille  nicht  frei  ist,   sondern 
ttreuen,        immer  .von   etwas  bestimmt  wird.    Sie 
behaupte  dies  deshalb,  weil  sie  unt^ 
Willen    etwas    von    der    Seele    Verschiedenes    ver- 
stehen, was  sie  als  eine  Substanz  betrachten,  deren 
Natur    nur    darin    besteht,    daß    sie    sich    gleich- 
gültig  verhält    Um   indes   alle   Verwirrung  zu  be- 
seitigen, will  ich  die  Sache  vorher  ^läutern;  dann 
10  wird   das   Irreführende   ihrer   Gründe    sich    leichter 
zeigen  lassen. 

woMderwmeui,         ^^^   ^^^  ^®^    monschlichen  Geist 
^  ein  d^vkendes  Ding   genannt     Daraus 

folgt,  daß  er  vermöge  seiner  Natur  allein,  an  sich 
bedachtet,  ^twas  zu  tun  vermag,  nämlich  zu  denken, 
d.  h.  zu  bejahen  und  zu  verneinen.  Diese  Gedanken 
werden  entweder  von  den  Dingen  außerhalb  des 
Geistes  oder  von  ihm  allein  bestimmt,  da  er  selbst 
eine  Substanz  ist,  aus  deren  denkendem  Wesen  viele 
20  denkende  Tätigkeiten  folgen  können  und  müssen.  Die- 
jenigen von  diesen  denkenden  Tätigkeiten,  welche  nur 
den  menschlichen  Geist  als  ihre  Ursache  anerkennen, 
heißen  das  Wollen,  und  der  menschliche  Geist,  in- 
sofern er  als  die  zureichende  Ursache  zur  Hervor- 
bringung solcher  Tätigkeiten  aufge&ßt  wird,  heißt 
Wille. 

Bä  giH  ein^n  ^*^  ^^^  ^®  ^^^®  ®"^®  SOlcheMscht 

wmm.  ^}f  ohno  daß  sie  von  äußren  Gegen- 
ständen bestimmt  wird,  kann  am  besten 

80  an  dem  Beispiel  des  Buridanschen  Esels  erklärt 
werden.  Setzt  man  statt  des  Esels  einen  Menschen 
in  ein  solches  Gleichgewicht,  so  wäre  der  Mensch  kein 
denkendes  Wesen,  sondern  der  schlechteste  Esel,  wenn 
er  vor  Hunger  oder  Durst  umkäme.  Auch  ergibt 
sich  dies  daraus,  daß  wir,  wie  früher  bemerkt  worden, 
an  allen  Dingen  zweifeln  können  und  nicht  Uoß  das 
Zweifelhafte  als  solches  betrachten,  sondern  auch  als 
solches  verwerfen  könn^.  Man  sehe  §  39  des  L  Teiles 
der  Prinzipien  von  Deecartes. 

40  p^ipm^  i^  fy.^  Femer  bemerke  ich,  daß^  wenn  auch 

'  die  Seele  von  äußeren  Dingen  zu  einem 

Bejahen    oder  Verneinen   bestimmt  wird,    dies  doch 

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über  den  menBohliohen  Geitt  161 

nicht  80  geschieht,  ab  ob  sie  von  den  änOeren 
Dingen  geswon^en  würde;  vielmehr  bleibt  sie  immer 
frei,  da  kein  Ding  die  Macht  hat;  ihr  Wesen  sa  ser- 
8tor«[L  Was  sie  wier  bejaht  oder  vramein^  geschieht 
immer  freiwillig  von  ihr,  wie  in  der  vierten  Me- 
ditation graügend  dargelegt  ist  Fragt  also  jemand, 
weshalb  die  Seele  dies  oder  jenes  woUe^  nnd  dies  oder 
jenes  nicht  wollen  so  antworte  ich,  weil  äe  ein  den- 
kendes Wesen  ist,  d.  h.  ein  Wesen,  das  nach  seiner 
Natur  die  Macht  hat,  za  wollen  und  nicht  zu  wollen,  10 
Ml  bejahen  nnd  za  verneinen;  denn  dies  heißt  es»  m 
denkendes  Wesen  zu  sein. 

i>m  wnuiM  ^^h  diesen  Voraosbemerkungen  will 

mtUMmädtmBt^  ich  die  Gründe  der  Gegner  betrachten. 

^*~Jir^    ^^   ^^^  Grund   ist:   „Wmm  der  Wük 
"  gegm  da»  hUie  Chbot  du  VtrskmdßB  wolUn 

tätmitt,  wmm  «r  da»  dmm  ChUem  Enig»gmge»»tfU  hejahm 
iSmmti^  wo»  mm  dmm  UiMitm  Chbote  ds»  VersUmde»  verwarf  m 
wird,  «0  kihmh  er  da»  Sekieekte  hegtkrem^  tmd  »war  ai» 
SchUdUe»;  die»  i»i  aber  widertimUg;  folgUek  auok  da»  20 
Sreier  Aus  diesem  Einwand  ist  klar  zu  ersehen,  daßi 
die  Gegner  selbst  nicht  wissen,  was  der  WiUe  ist 
Sie  verweehsehi  ihn  mit  dem  Begehren,  das  die  Seele 
hat,  wen  sie  etwas  bejaht  oder  venimit  hat;  rie 
haben  dies  von  ihren  Lehrern  gelernt»  die  den  Willen 
als  All  Begehren  um  de»  Outen  wiüen  definiert  haben, 
loh  aber  sage,  daß  der  Wille  da»  Bejahen  ist,  daß  »twa» 
gut  oder  nühi  gut  »ei;  ich  habe  dies  schon  frfiher  voll- 
ständig in  Bezug  auf  die  Ursache  des  Irrtums  aus- 
einandergesetzt; von  dem  ich  geimgt  habe,  daß  er  so 
daraus  entsteht»  daß  der  Wille  sich  weiter  als  der 
Verstand  erstreckt  Hätte  aber  der  Geist  vermöge 
seiner  Freiheit  etwas  nicht  für  gut  behauptet,  so 
wfirde  er  auch  nichts  begehren.  In  Antwort  auf  diesen 
j^wand  räume  ich  also  ein,  daß  der  Geist  gegen  das 
letzte  Gdbot  des  Verstandes  nichts  vwmag,  d.  h.  daß 
er  nichts  wollen  kann,  soweit  er  als  nicht  wollend 
vorausgesetzt  wird,  wie  hier  geschieht,  wo  man  sagt, 
daß  er  eine  Sache  für  schlecht  erklart  hat,  d.  h. 
etwas  nicht  gewollt  hat  Dagegen  bestreite  ich,  daß  40 
der  Geist  untediut  nicht  imstande  gewesen  wäre^  das 
zu  wollen,  was  schlecht  ist;  d.  h.  es  für  gut  halten; 

Sptaoaa,  VsfaslfliB  tob  I>«Mutot.  11 

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162  Anbang.     Teil  IL    Kap.  12. 

denn  dies  stritte  selbst  gegen  die  Erfahrung,  da 
man  vieles,  was  schlecht  ist,  für  gut,  und  umgekehrti 
was  gut  ist,  für  schlecht  halt 

BriHniou»  ^^^  35weite,   oder,  wenn  man  will, 

änderet,  als  der   der  erste  Gruud  (da  ja  der  vorige  keiner 

VeretoMd  eObti     war)  istl  „Wenn  der  WiUe  von  dem  letzten 

imms  ipaa).       praktischen  ürteü  des  Verstandes  zum  WoUen 

nicht  bestimmt  tüird,  so  muß  er  also  «cÄ  selbst  bestimmen; 

aber  dies  geschieht  nicht,  weil  er  an  sich  und  vermöge  seiner 

10  Natur  sich  gleichgültig  verhält:*  Von  hier  aus  fahren 
sie  in  ihrem  Beweise  so  fort:  „Wenn  der  Wille  an  sich 
und  seiner  Natur  nach  unbestimmt  ist  in  Bezug  auf  Wollen 
oder  Nicht-Wollen,  so  kann  er  sich  nicht  selbst  zum  WoUen 
bestimmen;  denn  das  Bestimmende  muß  d}enso  bestimmt 
sein,  une  das  Sich^Bestimmenlassende  unbestimmt  ist.  Allein 
der  Wille,  wenn  er  als  sich  selbst  bestimmend  betrachtet 
wird,  ist  so  unbestimmt,  wie  wenn  er  als  bestimmt  be- 
trachtet wird.  Denn  die  Gegner  setzten  in  den  bestimmenden 
Willen   nur  dasselbe,    was   in   dem  zu  bestimmenden   oder 

20  bestimmtefi  Wülen  ist,  und  es  kann  hier  nichts  anderes 
gesetzt  werden.  Deshalb  kann  sich  der  WUle  nicht  selbst 
zum  Wollen  bestimmen,  und  wenn  dies  so  ist,  so  muß  er 
von  anderwärts  her  dazu  bestimmt  werden.**  Dies  sind  die 
eigenen  Worte  des  Professors  Heerebord"®)  zu  Leyden, 
womit  er  zeigt,  daß  er  unter  dem  Willen  nicht 
den  Verstand  selbst  versteht,  sondern  etwas  außer- 
halb oder  innerhalb  des  Verstandes,  was  wie  eine  abge- 
wischte Tafel  alles  Denkens  entbehrt  und  fähig  ist, 
jedes  Bild  aufzunehmen;  oder  was  vielmehr,  gleich 

80  einer  im  Gleichgewicht  befindlichen  Last,  von  jedem 
hinzukommenden  Gewicht  auf  eine  Seite  getrieben 
wird,  je  nachdem  dies  hinzukommende  Gewicht  gerich- 
tet ist;  oder  daß  er  unter  Willen  etwas  versteht,  was 
weder  der  Herr  Professor  selbst,  noch  ein  anderer 
Sterblicher  durch  irgend  ein  Denken  erfassen  kann. 
Ich  habe  dagegen  gesagt  und  klar  erwiesen,  daß  der 
Wille  nur  der  denkende,  d.  h.  der  bejahende  oder  ver- 
neinende Verstand  selbst  ist;  hieraus  folgere  ich  klar, 
daß  er  die  Macht  zu  bejahen  und  zu  verneinen  hat; 

40  wozu  braucht  man  da  noch  nach  Ursachen  von  außer- 
halb zur  Bewirkung  dessen  zu  suchen,  was  schon  aus 
der  Natur  der  Sache  folgt?  Allein  man  sagt  vielleicht, 

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Ober  den  me&schliofaen  Gkist.  16S 

daß  der  Verstand  selbst  nicht  mehr  za  dem  Bejahen 
wie  za  dem  Verneinen  bestimmt  sei,  und  man  folgert 
dann,  daß  man  notwendig  nach  ein^  Ursache,  suchen 
müsse,  wodurch  er  bestinmit  wird.    Ich  sage  aber, 
daß,  wenn  der  Verstand  nach  sich  und  nach  seiner 
Natur   nur   zur   Bejahung   bestimmt   wäre   (obgleich 
man   sich  dies  nicht  vorstellen   kann,   solange  man 
ihn  sich  als  ein  denkendes  Wesen  denkt),  er  dann  nach 
seiner  Natur  auch  nur  bejahen  würde  und  niemals 
verneinen  könnte,  wenn  auch  noch  so  viele  Ursachen  10 
dafür  einträte;  und  wäre  er  weder  zu  dem  Bejahen 
noch  zu  dem  Verneinen  bestimmt^  so  würde  er  auch 
keines  von  beiden  tun  können.    Wenn  er  aber,  wie 
eben  gezeigt,  die  Biacht  zu  beidem  hat,  so  wird  es 
auch  beides  durch  seine  Natur  allein  bewirken  können, 
ohne  daß  eine  andere  Ursache  mithilft    Dies  wird 
allen  denen  klar  sein,  die  ein  denkendes  Wesen  als 
Denkendes  ansehen^  d.  h.  die  das  Attribut  des  Denkens 
von  dem  denkenden  Wesen,  von  dem  es  nur  im  Ver- 
stände unterschieden  wird,   durchaus  nicht  trennen,  20 
wie  die  Gegner  tun,  welche  das  denkende  Wesen  alles 
Denkens   entkleiden   und   es   in    ihren   Erdichtungen 
zu  jenem  ersten  Stoff  der  Peripatetiker  machen.   Ich 
antworte  deshalb  auf  jenen  Beweisgrund,   und  zwar 
auf  den  bedeutenderen,  so:  Wenn  man  unter  Willen 
ein  von  allem  Denken  losgelöstes  Etwas  versteht,  so 
gestehe  ich,  daß  der  Wille  seiner  Natur  nach  un- 
bestimmt ist  Allein  ich  bestreite,  daß  der  Wille  etwas 
von  allem  Denken  Losgelöstes  ist,  behaupte  vielmehr, 
daß    er   das   Denken   ist,     d.   h.    die   Fähigkeit    zu  80 
beidem,  zum  Bejahen  und  zum  Verneinen,  worunter 
sicherlich  nichts  anderes   verstanden   werden   kann, 
als    eine  zu   beidem   hinreichende  Ursache.    Femer 
bestreite    ich    auch,    daß,    wenn    der    Wille    unbe- 
stimmt, d.  h.  wenn  er  alles  Denkens  beraubt  wäre, 
eine  andere  hinzukommende  Ursache,   ausgenonmien 
Gott  und  seine  unendliche  Macht  zu  erschaffen,  ihn 
bestimmen  könnte.    Denn  ein  denkendes  Wesen  ohne 
Denken  vorstellen,  ist  ebenso,  wie  wenn  man  ein  aus- 
gedehntes Ding  ohne  Ausdehnung  vorstellen  wollte.  40 

Warum  Me  Um  mir  endlich  hier  die  Auf^Kihlung 

i%iu»opheH  den  anderer  Einwendungen  zu  ersparen,  er- 

11* 

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164  Anhang.    Teil  IL    Kap.  12. 

MiImIi  dm  innere  ich  nur  daran,  daß  die  Gegner  den 
^**^P*J^J[J?^  Geist  mit  den  körperliehen  Dingen  ver- 

'^^'^m!!!!!!^'^  mengt  haben,  weil  sie  den  Willen  nicht 

erkannt  und  keinen  klaren  und  deutlichen 

Begriff  von  dem  Geiste  gehabt  habeiL  Dies  ist  daher 

gekommen,  daß  sie  Worte,  welche  für  körperliche 

Dinge  gebraucht  zu  werd^i  pflege  zur  Bezeichnung 

feistiger   Dinge,   die   sie   nicht  kannten,   benutzten, 
ie  waren  gewohnt;  Körper,  die  von  gleich  starken, 

10  äußeren  und  einander  ganz  entgegengesetzten  Ur- 
sachen nach  entgegengesetzten  Richtungen  gestoßen 
werden,  und  die  deshalb  im  Gleichgewicht  sind,  un- 
bestimmt zu  nennen.  Indem  sie  nun  den  Willen  als 
unbestimmt  annahmen,  schienen  sie  ihn  auch  wie  einen 
im  Gleichgewicht  befindlichen  Körper  au&ufassen,  und 
da  jene  Körper  nur  das  in  sich  haben,  was  sie  von 
den  äußeren  Ursachen  «npfangen  haben  (woraus  folgt, 
daß  sie  inuner  von  einer  äuueren  Ursache  bestimmt 
werden  müssen),  so  meinten  sie,  daß  dasselbe  auch 

20  bei  dem  Willen  stattfinde.  Wie  sich  indes  die  Sache 
verhälly  habe  ich  schon  zur  Genüge  erklärt,  wes- 
halb ich  hier  schließe. 

Was  aber  die  ausgedehnte  Substanz  betrifft,  so 
habe  ich  schon  oben  zur  Genüge  über  sie  gehandelt, 
und  außer  diesen  beiden  erkenne  ich  keine  andere 
Substanzen  an.  Was  die  realen  Accidenaen  und 
andere  Qualitäten  aneeht»  so  sind  sie  schon  zur  Ge- 
nüge beseitigt,  und  icn  brauche  meine  Zeit  daher  nicht 
auf  ihre  Widerlegung  zu  verwenden  und  hebe  deshalb 

80  meine  Hand  von  der  Tafel  hinweg.  ^^) 


Ende. 


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Anmerkungen. 


I.  Zm  den  „Frlnzlplen  der  PUlosopMe  toh  Deseartes^. 

1)  Lodewijk  (Ludwig)  Meyer  ynr  ein  gelehrter  und 
vielseitig  ioteresnerter  Amsterdamer  Ant  Er  war  etwas 
ftlter  als  Spinoza  und  war  von  diesem  in  seinem  Charakter 
recht  verschieden,  trotEdem  ffthlte  er  sich  zn  Spinoza  hin« 
gezogen  nnd  blieb  ihm  in  treuer  Freundschaft,  ergeben.  Auf 
sein  nnd  seiner  Freunde  Zareden  hat  sich  Spinoza  ent- 
schlossen, die  Schrift  über  die  Prinzipien  Descartes*  herans- 
zngeben.  Spinoza  schreibt  darfiber  in  dem  dreizehnten 
(firüher  neunten)  an  Oldenburg  gerichteten  Briefe  vom  17./27. 
Juli  1668:  «Dort  (d.  h.  in  Amsterdam)  baten  mich  einige 
Freunde,  ihnen  die  Abschrift  eines  Traktats  anzufertigen. 
Er  enthält  den  zweiten  Teil  der  Cartesisohen  Prinzipien, 
nach  der  Beweisart  der  Geometer,  und  zudem  eine  kurze 
Darstellung  der  Grundlinien  der  Metaphysik,  die  ich  kurze 
Zeit  vorher  einem  jungen  Manne  diktiert  hatte,  den  ich 
meine  eigenen  Ansichten  nicht  offen  lehren  wollte.  So* 
dann  baten  mich  meine  Freunde,  ich  möchte  doch  sobald 
als  möglich  auch  den  ersten  Teil  nach  derselben  Methode 
bearbeiten,  um  mich  meinen  Freunden  gefiülig  zu  erweisen, 
s(^uritt  ich  sofort  damit  zur  Ausftihrung,  war  in  zwei  Wochen 
damit  fertig  und  übergab  es  den  Freunden,  die  mich  schließ- 
lich noch  baten,  dies  alles  veröffentlichen  zu  dürfen.  Das 
gestattete  ich  gerne,  unter  der  Bedingung  jedoch,  daß  einer 
von  ihnen  in  meiner  Gegenwart  den  otü  eleganter  feile 
nnd  ein  Vorwort  hinzufüge.  In  diesem  sollte  er  die  Leser 
darauf  aufinerkssm  machen,  daß  ich  nicht  alles,  was  der 
Traktat  enthftlt,  als  meine  Ansicht  gelten  lasse,  da  ich 
mancherlei  darin  geechrieben,  dessen  völliges  Gegenteil  ich 
selbst  für  richtig  halte.  Das  sollte  der  Betreffende  dann  an 
dem  einen  oder  anderen  Beispiel  aufzeigen.  Dies  alles  sagte 
mir  ein  Freund  zu,  der  die  Herausgabe  des  Schriftchens 
übernahm."  Dieser  Freund  ist  Ludwig  Meyer,  der  hierbei 
vielleicht  von  Jelles,  einem  anderen  Freunde  von  Spinoza 
(s.  Freudenthal  a.  a.  O.  S.  90  f.),  unterstützt  wurde. 

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166  Anmerkniigeii. 

2)  Meyer  denkt  wohl  zanftchst  an  die  Geometrie  Ton 
Descartes,  in  der  suerst  die  den  Alten  nnbekanute  analytisohe 
Methode  in  der  höheren  Geometrie  begrtlndet  wurde. 

8)  Ludwig  Meyer  vergißt  hier  ausdrücklich  zu  er- 
wähnen, daß  Descartes  sich  von  der  synthetischen  Methode 
in  der  Philosophie  nicht  viel  versprach;  „denn",  so  bemerkt 
Descartes  in  den  von  Meyer  angefiihrton  Erwiderangen  auf 
die  zweiten  Einw&nde  im  Anhang:  „die  Synthesis  iSßt  sich 
auf  diese  metaphysischen  Gegenstände  nicht  so  recht  an- 
wenden^ und  weiter:  „Der  Unterschied  ist  der,  daß  bei 
der  Mathematik  jeder  die  Grundbegriffe  und  -sätze  zugibt, 
während  bei  metaphysischen  Gegenständen  nichts  so  srofie 
Mühe  macht,  als  die  ersten  Begriffe  klar  und  distinkt  au 
erfassen.  **  Descartes  würde  also  mit  der  Darstellung  seiner 
„Prinzipien**  in  geometrischer  Form  durch  Spinoza  nur 
wenig  zufrieden  gewesen  sein,  und  in  der  Tat  ist  der  rein 
philosophische  Gehalt  der  Schrift  recht  gering,  wenngleich 
zuzugeben  ist,  daß  sie  nicht  ohne  historisches  Interesse  ist, 
da  sie  zeigt,  wie  Spinoza  sich  in  der  Naturphilosophie  ganz 
an  Descartes  anschließt,  während  er  in  der  Metaphysik  schon 
frühe  eigene  Bahnen  geht,  insbesondere  unter  dem  Einflüsse 
der  jüngeren  Scholastik  (s.  oben  die  Einleitung  und  unten 
die  Anmerkungen  zu  den  „Metaphysischen  Gedanken**). 

4)  Dieser  Schüler  war  ein  junger  Theologe  namens 
Johannes  Casearius.  Dieser,  wohl  um  1642  geboren,  ist  ini 
Mai  1661  in  das  Album  der  Leidener  Universität  als  Student 
eingetragen  worden.  Freudenthal  schreibt  über  ihn  (S.  116  f.) : 
„Nicht  zu  flüchtigem  Besuche,  sondern  zu  längerem  Aufent- 
halte kam  Casearius  von  Leiden  nach  Rijnsburg,  wo  er  Spi- 
nozas Hausgenosse  und  Schüler  wurde.  Nur  äußere,  uns 
Ifänzlich  unbekannte  Gründe  können  Spinoza  veranlaßt  haben, 
ihn  in  seiner  unmittelbaren  Nähe  zu  dulden;  denn  er  war 
ihm  in  Wirklichkeit  unleidlich  .  .  Als  er  (d.  h.  Casearius) 
in  Bijnsbnrg  war,  wünschte  er  oder  die  Seinigen,  daß  Spi- 
noza ihn  mit  den  Lehren  der  neuen  Philosophie  bekannt 
mache,  und  Spinoza  willfahrte  diesem  Wunsdie.  Seine  eigene 
Lehre  aber  durfte  er  dem  unreifen  Jünglinge  nicht  mit- 
teilen.** So  blieb  denn  nur  die  jüngere  Scholastik  und  die 
Philosophie  Descartes'  übrig,  und  da^inoza  beide  Lehren  gut 
kannte,  bot  er  ihre  Grundzüge  seinem  Schüler  dar.  „Er  (Sp.) 
lehrte  ihn  (C.)  die  grundlegenden  Teile  der  Philosophie 
kennen,  d.  h.  Metaphysik  und  Naturphilosophie.  Hierbei 
lehrte  er  .  .  .  Metaphysik  im  Anschluß  an  die  Formen  der 
Scholastik,  Physik  dagegen  völlig  nach  Anleitung  Descartes'*'. 
Dabei  ist  Spinoza  von  der  Nichtigkeit  der  scholastischen 
Aufstellunffen  fest  überzeugt,  aber  er  entnimmt  ihnen  „das 
Fachwerk''   und  erfüllt  es  mit  dem  Geiste  der  Philosophie 

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ADmerkiugeiL  167 

Deseartea'.  Indewen  auch  an  diesen  schließt  er  sich  keines- 
wegs skUnsch  »n,  sondern  er  deatet,  bald  nnr  leise,  bald 
denüiiiher  yerst&ndlich,  seine  eigenen  Abweichangen  an.  So 
entsteht  eine  Verbindonff  von  scholastlBchen  Formen  und 
moderner  Philosophie,  die  (darauf  macht  Freudentbal  mit 
Recht  aufmerksam)  damals  nichts  Ungewöhnliches  war,  and 
die  für  Oasearios  sicherlich  von  pftdagogischem  Werte  ge- 
wesen ist 

5)  Diese  Druckfehler  sind  selbstrerst&ndlioh  bei  den 
späteren  Ausgaben  berichtigt  worden. 

6)  Es  folgt  hier  im  lateinischen  Text  ein  etwas  schwül- 
stiges Gedicht,  das  nach  der  Antrabe  von  ▼.  Yloten  und  Land 
J.  Bresser  Dr.  med.  mm  Verfasser  hat.  Ich  gebe  es  in  wort- 
getreuer Obertragung  wieder:  „An  das  Buch.  —  Soll  ich 
nun  sagen.  Du  seiest  aus  einem  besseren  Geiste  entsprungen, 
oder  sollst  Du  dahingehen,  wiedergeboren  aus  der  Quelle 
Descartes,  so  ist  doch,  kleines  Buch,  was  Du  verbreitest, 
Dein  Verdienst  allein;  kein  Vorbild  hat  Dir  Dein  Lob 
^ebnet.  Mag  ich  nun  den  Geist,  der  Dich  erfüllt,  oder  die 
in  Dir  enthaltenen  Lehrs&tse  betrachten,  so  muß  ich  Deinen 
Verfasser  lobend  zu  den  Sternen  erheben.  Bisher  hat  es  an 
einem  Beispiel  gefehlt,  was  er  zu  leisten  yermöchte,  möge 
es  Dir,  kleines  Buch,  an  einem  Beispiele  nicht  fehlen ;  damit 
soviel  als  Descartes  dem  einen  Spinoza  verdankt,  so  viel 
Spinosa  sich  selbst  verdanken  möge.** 

J.  B(re8ser),  M(edicinae).  D(octor). 

7)  Dieeer  erste  Teil  der  „Prinzipien*'  ist  nach  dem 
zweiten  geschrieben;  denn  als  Spinozas  Freunde  erfahren 
hatten,  &ß  er  fflr  Casearius  (s.  o.)  den  zweiten  Teil  von 
Descartes'  Prinzipien  nach  geometrischer  Art  dargestellt 
habe,  baten  sie  ihu,  auch  den  ersten  Teil  in  ähnlicher  Weise 
zu  bearbeiten.  Diesem  Wunsche  gab  Spinoza  nach,  und  als 
er  im  April  1668  nach  Amsterdam  kam,  machte  er  sich  daran, 
diesen  Abschnitt  der  Schrift  auszuarbeiten.  Daböi  benutzte 
er  außer  den  Prinzipien  (s.  Phil.  Bibl.  Bd.  28)  Descartes^ 
Meditationen  und  die  dazugehörigen  „Einw&nde  und  Er- 
widerungen** (s.  das  N&here  in  betreff  dieser  S.  80  f.  meiner 
deutschen  Ausgabe.  Phil.  Bibl.  Bd.  27).  Um  diesen  ersten 
Abschnitt  der  „Prinzipien**  zu  vollenden,  gebrauchte  er  nicht 
mehr  als  vierzehn  Tage. 

8)  Dies  ist  ein  bedenkliches  Zumt&ndnis  gegen  die 
Vortre£Flichkeit  der  mathematischen  Methode  bei  philo- 
sophischen Geff enständen ;  Spinoza  ftlhlte  also  doch  selbst, 
daifl  hier  für  den  Anfang  und  insbesondere  bei  den  ersten 
methodischen  Erörterungen  die  mathematische  Methode  nicht 
anwendbar  sei. 


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168  AnmerkimgeiL 


0)  Vgl.  bei  Detcartes  die  ente  Meditation  und  §  1—7 
dee  ersten  Teilet  der  ^Prinzipiell  der  Philosophie^. 

10)  Diesen  Amrfflhmpgen  entspricht  bei  Desoertes  die 
jEweite  Meditation. 

11)  Vgl.  die  dritte  Meditation. 

12)  Vgl.  die  sweite  Meditation  §  14  und  die  dritte 
Meditation  §  2. 

18)  Vgl.  die  vierte  Meditatson  und  die  „Prinaipien  der 
Pfaflosophia«'  Teü  I  §  31--44. 

14)  Spinoxa  ist  hier  mit  dem  aUerdings  fehlertiaften 
Beweise  Desoartes^  nioht  einverstanden  and  sacht  ihn  daher 
za  verbessern.  Dabei  fließen  schon  deaUich  die  eigenen 
Prinzipien  Spinozas  ans  der  nEthik**  ein. 

15)  Diese  Vorbemerkon^en  Spinozas  vermögen  keines» 
wegs  einen  Ersatz  fftr  das  Stadium  der  Quellen  selbst  za 
bieten.  Es  dflrfte  sich  f&r  den  Leser  dieser  Schrift  empfehlen, 
die  entsprechenden  Ausfübrongen  Descartes'  in  den  „Medi- 
tationen'' niid  den  „Prinzipien"  genau  nachzulesen. 

16)  Diese  Definition  ist  aus  dem  Anhange  zu  den 
Meditationen  entnommen.  VgL  auch  Descartes'  Prinzipien 
Teü  I  §  9. 

17)  Auch  diese  Defittition  ist  dem  erwähnten  Anhang 
wörtlich  entnommen.  Die  Aosdracksweise  Descartes'  ist 
hier  ganz  scholastiBch.  Vgl.  die  Ausführungen  darflber  bei 
P.  Natorp.  Descartes*  Erkenntnistheorie  S.  56  £.  Bemerkens- 
wert ist,  daß  diese  Ausdrücke  bei  Spinoza  zwar  in  der 
„Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Verstandes'',  aber 
nicht  mehr  in  der  j^Ethik"  vorkommen. 

18)  Diese  vierte  Definition  stammt  aus  derselben  QueUe; 
nur  die  Erl&uterung  ist  von  Sp.  zugesetzt,  und  man  kann 
nicht  sagen,  daß  sie  besonders  glfickhch  ist,  da  rie  den  Be- 
griff der  realitas  eminens  ebenso  dunkel  läßt,  wie  es  die 
Definition  selbst  tut,  mit  der  sie  nicht  einmal  genau  über- 
einstimmt 

19)  Auch  diese  Definition  mit  Erl&uterung  ist  wörtlich 
aus  der  fünften  Definition  des  Anhanges  von  Descartes  über- 
nommen. —  Vergleicht  man  damit  Spinozas  eigeno  Definition 
(Ethik  Teil  I,  dritte  Definition),  so  sieht  man,  daß  zwar  der 
Ausdruck,  nicht  aber  der  Sinn  ge&ndert  ist  VgL  auch 
Descartes^  Prinzipien  Teil  I,  §  51. 

20)  Auch  diese  Definitionen  sind  wörtlich  aus  dem 
Anhang  entnommen. 

21)  Diese  Postulats  befinden  sich  im  Anhange  von 
Descartes  hinter  den  Definitionen. 

22)  Dieser  Lehrsatz  findet  sich  in  dieser  Form  nicht 
bei  Descartes;  er  h&tte,  da  er  sich  nicht  eigentlich  beweisen 
läßt,  von  Sp.  auch  zu  den  Qrnnds&tzen  gez&hlt  werden  können. 


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AnmerkoDgeD»  169 

28)  YgL  Teil  II,  §  1  der  .Prinripien«'. 
34)  Vf^L  auch  hier  die  „Prinsipieo''  §  8. 

25)  Dieter  Ghnndaats  ist  wörtlich  ans  Grundsatz  6  dee 
Anhanges  von  Deicartee  übernommen.  Die  Nr.  4  ist  die 
Fortaetcnng  der  8.  22  von  Spinoza  angestellten  Gmndsfttze. 

26)  Dieser  Satz  ist  wörtlich  ans  Grandsatz  7  des  An- 
hanges übernommen»  doch  hat  Spinoza  den  Vordersatz  weg- 
ffelassen.  Dieser  lautet:  „Der  Wille  des  denkenden  Wesens 
bestimmt  sich  zwar  freiwillig,  aber  dennoch  nntrfiglicb  zu 
dem  von  ihm  als  gut  Erkannton.*'  Es  iet  aui&Uend,  dafi 
Spinosa  gerade  dies  weggelassen  hat,  da  sich  Descartes  bei 
dem  zweiten  Teile  des  Satzes  darauf  stützt. 

27)  Diesem  ist  der  yorstehende  Grundsatz  ziemlich 
wörtlich  entlehnt 

28)  Dieser  Grundsatz  7  ist  aus  Grundsatz  8  des  An- 
hanges Yon  Descartes  entnommen. 

29)  Dieser  Grundsatz  ist  ans  Grundsatz  4  des  Anhanges 
entnommen.  Es  ist  dies  ein  wichtiger  Satz  in  der  Philo- 
sophie Descartes',  der  auf  diesen  Gegenstand  in  der  dritten 
Meditation  (§  19)  zurückkommt. 

80)  Dieser  Grundsatz  ist  aus  Grundsatz  5  des  Anhanges 
entlehnt.  Er  bildet  die  Grundlage  für  Descartes'  Beweis 
Ton  dem  Dasein  Gk>tte8.  Auch  hier  ist  Descartes*  dritte 
Meditation  zu  vergleichen.  Auch  Spinoza  fühlt  die  Wichtig- 
keit des  Satzes  und  fBgt  zwei  neue  Beispiele  hinzu,  die  aller- 
dings wenip^  glücklich  sind. 

31)  Dieser  Satz  ist  entnommen  aus  Grundsatz  2  und  9 
des  Aühacges  von  Descartes  und  aus  §  21  des  ersten  Teils 
der  Prinzipieo.  Descartes  selbst  hat  den  Satz  nicht  bei- 
behalten; so  stellt  er  §  86  f.  des  zweiten  Teils  der  Prinzipien 
die  stete  Fortdauer  einer  einmal  vorhandenen  Bewegung  als 
Grundgesetz  der  Mechanik  auf.  Hier  heÜlt  es:  „Das  erste 
Gesetz  der  Natur  ist,  daß  jedes  Ding  in  dem  Zustand  ver- 
bleibt^ in  dem  es  ist,  solange  keine  YerÜndemng  eintritt . . 
So,  wenn  ein  Körper  in  Ruhe  ist,  ßLngt  er  von  sich  aus 
nicht  an,  sich  zu  bewegen,  aber  wenn  er  einmal  angefangen 
hat,  eich  zu  bewegen,  so  haben  wir  auch  gar  keinen  Gk-und, 
anzunehmen,  daß  er  mit  seiner  Bewegung  aufhört,  solange 
er  nicht  auf  einen  anderen  Körper  trifit,  der  seine  Bewegung 
verzögert  oder  aufhält  Hat  also  ein  Körper  einmal  ange- 
&ngen,  sich  zu  bewegen,  so  müssen  wir  schließen,  daß  er 
alsdann  fortfiUirt  sich  zu  bewegen,  und  daß  er  von  sich  aus 
niemals  stillsteht*^  (§  87). 

82)  Dieser  Lehrsatz  und  Beweis  ist  wörtlich  aus  dem 
Anhange  von  Descartes,  Lehrsatz  1  entiehnt.  Es  liegt  hier 
im  wesentlichen  der  bekannte  ontologische  Beweis  Anselms 
vor,  auf  den  sich  die  anderen  Gottesbeweise  sftmtlich  zori^- 


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170  .ADmerkaDgen. 

föhren  lassen  and  dessen  Nichtigkeit  erst  endgültig  von  Kant 
in  seiner  „Kritik  der  reinen  Vernunft*'  bewiesen  worden  ist. 

83)  Dieser  Lehrsatz  mit  Beweis  ist  wörtlich  ans  Lehr- 
satz 2  des  Anhanges  von  Descartes  entnommen.  Vgl.  die 
dritte  Meditation. 

84)  Vgl.  die  dritte  Meditation,  besonders  §  42  und  den 
Lehrsatz  3  des  Anhanges  von  Descartes. 

86)  Bei  Descartes  Grundsatz  8. 

86)  Vgl.  die  Grunds&tze  9  und  10  bei  Descartes. 

87)  Diese  Worte  stehen  in  dem  Beweise  zu  Lehrsatz  8 
des  Anhanges. 

88)  8.  dritte  Meditation  §  85. 

89)  Dieser  Lehrsatz  mit  seinem  Beweise  ist  wOrtUch 
aus  Lehrsatz  4  des  Anhanges  von  Descartes  entnommen. 
Spinoza  geht  hier  ganz  andere  Wege,  da  er  überhaupt  nur 
eine  Substanz  anerkennt»  deren  At&ibute  Denken  und  Aus- 
dehnung sind.  Trotz  dieser  grundsätzlichen  Abweichungen 
folgt  hier  Sp.  genau  Descartes  und  verzichtet  auf  jede  Kritik, 
da  er  es  noch  nicht  filr  angebracht  hielt,  mit  seinen  eigenen 
Ansichten  über  diese  wichtige  Frage  offen  hervorzutreten. 

40)  Dieser  Lehrsatz  findet  sich  so  nirgendwo  bei  Des- 
cartes; Spinoza  hat  ihn  als  eine  Folgerung  des  ontologischen 
Beweises  hinzugesetzt.  Dasselbe  gilt  von  dem  zehnten 
Lehrsatz. 

41)  Auch  dieser  Lehrsatz  mit  seinem  Beweis  kommt 
bei  Descartes  nicht  vor.  Vgl.  dagegen  Spinoza,  Ethik,  Teil  I, 
Lehrsatz  18  und  14  und  den  Folgesatz  1  zu  dem  letzteren 
Lehrsatz. 

42)  Vgl.  Descartes'  Prinzipien,  Teil  1,  .§  21  und  §  24. 
48)  Nach  dem  Vorgang  des  Aristoteles  unterschieden 

die  Scholastiker  vier  Arten  von  Ursachen,  nämlich  1.  den 
Stoff  {vXfj;  causa  materialis),  2.  die  Form  {eid<K;  causa  for- 
malis),  3.  die  wirkende  Ursache  (6^ev  17  xiyrjoic]  causa  e£Fi- 
ciens)  und  4.  den  Zweck  (06  hexa;  causa  finalis).  Die  obige 
Stelle  bezieht  sich  auf  diese  Unterscheidung. 

44)  Dieser  Zusatz  2  kommt  bei  Descartes  nicht  vor; 
überhaupt  benutzt  Descartes  den  Begriff  des  Wesens  (essentia) 
nur  höchst  selten,  während  er  bei  Spinoza,  wie  in  der 
jüngeren  Scholastik,  eine  bedeutende  B.olle  spielt.  Der  Sache 
nach  enthält  §  28,  Teil  I.  von  Descartes'  Prinzipien  unge&hr 
das,  was  Spinoza  hier  in  Zusatz  2  ausführt,  indes  nicht  so 
bestimmt  und  ausführlich.  Dieser  Zusatz  hatte  deshalb  für 
Spinoza  größere  Bedeutung  als  für  Descartes,  weil  dieser 
sich  überhaupt  mit  der  Entwicklung  der  einzelnen  Eigen- 
schaften Gottes  in  seiner  Philosophie  mcht  weiter  beschäftigte; 
er  begnüflrte  sich  mit  der  Darlegung  und  Vervollständigung 
des  ontologischen  Beweises  vom  Dasein  Gtottes;  im  übrigen 


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.Anmerkungen.  171 

würde  er  hier  wohl  auf  die  Theologie  verwiesen  haben,  der, 
nach  Deacartes*  Ansicht,  solche  Dinge  eher  als  der  Philo- 
sophie angehörten.  Spinoza  mnßte  hier  eine  ganz  tfndere 
SteÜnng  einnehmen;  denn  der  Begriff  Gottes  hatte  sich  in 
seiner  Lehre  ganz  von  dem  religiösen  Begriffe  entfernt. 
Vgl.  das  L,  II.  and  Y.  Bach  von  Spinozas  Ethik. 

45)  Vgl.  Desoartee'  Prinzipien,  Teil  I  §  29  and  die 
dritte  Meditation. 

46)  Vgl.  die  dritte  Meditation  §  4  and  meine  Er- 
l&atemngen  dazu  S.  150  f.  S.  aach  Ernst  Cassirer,  Das 
Erkenntnisproblem  S.  484  ff. 

47)  S.  die  vierte  Meditation  and  die  Prinzipien,  Teil  I, 
§  32  and  38. 

48)  Vgl.  hierza  die  ganze  vierte  Meditation  and  meine 
Erl&aterangen  daza;  ferner  Prinzipien,  Teil  I,  §§  85ff. 

49)  Unter  der  „Form  des  Irrtums"  ist  das  Wesen  oder 
der  Begriff  des  Irrtums  zu  verstehen.  Diese  Ausdrucks  weise 
ist  Ariatotolisch  und  wird  von  Descartes  für  gewöhnlich 
Vermieden. 

50)  Dieser  Lehrsatz  mit  seinem  Beweis  findet  sich  bei 
Descartes  nicht;  ebensowenig  die  folp;enden  (L.  18  und  19). 
Die  eigene  Ansicht  Spinozas  ist  hier  von  Descartes  ab- 
weicbend.     Vgl.  Ethik  Teil  I,  Lehrsatz  13. 

51)  Bei  Descartes  findet  sich  dieser  Satz  §  41  des 
ersten  Teils  der  Prinzipien;  allein  es  fehlt  dort  der  strenge 
Beweis,  den  Spinoza  hier  anfügt.  Dieser  Beweis  (einschließ- 
lich des  Zusatzes)  geht  über  Descartes  hinaus  und  darauf 
aus,  den  fireien  Willen  Gottes  in  die  Notwendigkeit  seines 
Wesens  umzuwandeln,  wie  dies  in  Lehrsatz  17  und  21  des 
L  Teüs  der  Ethik  weiter  ausgeführt  wird. 

52)  Dieser  Lehrsatz  findet  sich  bei  Descartes  im  Anhang 
als  Lehrsatz  4  und  ausftihrlicher  in  der  sechsten  Meditation 
§  7,  17,  44. 

53)  Dieser  zweite  Teil  entspricht  dem  zweiten  Teile  der 
„Prinzipien**  Descartes^  und  handelt  also  von  den  Prinzipien 
der  körperlichen  Dinge. 

54)  Dasselbe  Postulat  findet  sich  bei  Descartes,  Prinzi- 
pien I.  Teil  §  43. 

55)  V^.  zu  den  Definitionen  die  von  Descartes;  femer 
Prinzipien  Teü  II,  §  16;  20;  25;  26f.;  28—31. 

56)  Dieser  Satz  ist  aus  §  23,  Teil  U  der  Prinzipien  ent- 
nommen. Spinoza  behandelt  diesen  Satz  als  eine  Definition; 
Descartes  dagegen  gibt  ihn  als  Lehrsatz  und  fügt  deshalb 
einen  Beweis  hinzu.  Dies  letztere  ist  offenbar  richtiger; 
denn  es  handelt  sich  hier  ja  nicht  nur  um  eine  bloße  be- 
griffliche Bestimmung,  sondern  um  die  Feststellung  des  Ge- 
setzes, das  jede  Bewegung  eines  bestimmten  Körpers  regelt. 

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172  Anmerkungen. 

67)  Man  vgl.  Deioartea'  Prinzipien  Teü  H,  §§  4,  le, 
201,  281 

58)  Die  Grnndfiftlze  11—18  hat  Deeoartes  nicht. 

59)  y^l.  Frincipien  Teil  II,  §  83. 

60)  Diesen  Satz  hat  Spinoxa  aus  Euklids  Elementen 
übernommen,  bei  Descartes  findet  er  sich  nicht  aasdrficklich 
ausgesprochen,  wenn  er  von  ihm  auch  vorausgesetct  wird. 

61)  Dieser  Satz  mit  Beweis  ist  yon  Spinoza  zugesetzt, 
Descartes  hat  ihn  nicht 

62)  Man  vgl.  §  85  des   zweiten  Teils   der  Prinzipien. 

68)  Vgl.  ebenda  die  §§  21  und  22. 

64)  Vgl.  die  Physik  des  Aristoteles  Buch  VI,  Kap.  2. 
Einen  solchen  Beweis,  wie  Spinoza  hier  annimmt,  hat  Zeno 
gar  nicht  aufgestellt.  Vielleicht  h&It  sidi  Spinoza  hier  an 
Ausföhrungen  von  Scholastikem,  die  selbst  nicht  unmittelbar 
aus  den  Quellen  geschöpft  haben. 

65)  Über  dieZenonischen  Beweise  gegen  die  Realitftt 
der  Bewegung  vgl.  AristotelesPhys.  VI  2p.  288  a,  21  und  9; 
p.  289  b,  5  ff.  und  die  Kommentatoren  des  Aristoteles  (Ber- 
liner Akademie-Ausgabe).  Diese  Beweise  sind  sowohl  in 
älterer,  wie  in  neuerer  Zeit  von  nicht  unbeträchtlichem  Ein- 
fluß auf  die  Entwicklung  der  Metaphysik  gewesen.  Sie  be- 
ruhen sämtlich  auf  der  Unmöglichkeit,  sich  das  Unendliche 
als  in  sich  abgeschlossen  Existierendes  vorzustellen,  oder 
sich  die  Teilung  einer  endlichen  GrOfie  in  unendhch  viele 
kleinste  Teile  als  tatsächlich  vollzogen  zu  denken.  Ob  die 
Aristotelischen  Antworten  auf  die  Zenonischen  Arpfumente 
genügen,  ist  recht  zweifelhaft;  zu  widerlegen  war  Zeno  im 
Grunde  nur  vermittels  des  modernen  Beweguuffsbegrifib , 
,bei  dem  die  Bewegung  im  bewußten  Gegensatz  zur  Extension 
als  inextensive,  infinitesimale  Realität  aufgefaßt  wird. 

66)  Dieser  Zusatz  richtet  sich  gegen  die  Lehre  der 
Scholastiker,  wonach  den  Körpern  gewisse  Sympathien 
sageschrieben  wurden,  die  sie  innerlich  antreiben,  sich  mit 
anderen  zu  verbinden,  und  ebenso  Antipathien,  die  von  innen 
heraus  sie  zur  Trennung  antreiben.  Auch  dem  Leeren  gab 
man  eine  Art  anziehender  Kraft,  vermöge  deren  es  sich  selbst 
stets  mit  Körpern  erftOlte.  Solche  Annahmen  mit  ihrer  Will- 
kür und  Grundlosigkeit  widersprechen  indessen  den  Ghrund- 
gesetzen  der  Mechanik  und  sind  deshalb  schon  von  Des- 
cartes beseitigt  worden. 

67)  Vgl.  Descartes'  Prinzipien  Teil  II,  §  88. 

68)  Vgl.  ebenda  die  §§  88—86. 

69)  Vgl.  ebenda  §  87. 

70)  Vgl.  ebenda  §  89. 

71)  Dieser  Beweis  ist  eine  Zutat  von  Spinoza. 

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Anmerkuifiren.  178 

72)  Hier  beginnen  die  Sioflregeln,  die  bei  Deeoartee  von 
§40,  Teil  n  der  Prinzipieniib  behiuidelt  werden.  Bemerkens- 
wert iet,  dȟ  Spinosa  yon  dem  Begriff  der  absolnten  Hftrte 
g^üizfich  abiehen  zu  dfirfen  glaubt,  obgleich  dieser  doch  eine 
nneri&Oliche  Voranssetzung  ffir  Descartes'  Stoßregeln  bildet 

78)  Das  heißt  allgemein,  daß  die  BewegnngsgrOße  gleich 
dem  Produkt  aus  Masse  und  Geschwindigkeit  des  be- 
wegten Körpers  ist 

74)  Man  ygl.  §  48.  des  zweiten  Teiles  der  Prinzipien. 

75)  An  diesem  und  den  folgenden  Beweisen  zeigt  sich 
recht  deutlich  die  ünzul&nfirlichkeit  des  von  Spinoza  se- 
wiblten  Beweisyerfahrens.  Er  bleibt  g&nzlich  in  bloßen  fie- 
griffen  stecken ,  anstatt  diese  auf  die  reine,  r&umliche  An- 
sehanung  zu  beziehen. 

76)  Man  sehe  §  47  des  zweiten  Teils  der  Priniipien. 
Vgl.  Leibnizens  Kritik  in  den  „Bemerkungen  zu  den  Oarte- 
■ischen  Prinzipien*'  (Leibniz,  Hauptsohriften  zur  Grund- 
legung der  Philosophie  Bd.  I.  S.  8201),  die  so  recht  deut- 
liä  zeigt,  welch  gewaltiger  unterschied  zwischen  dem  Carte- 
sianismus  eines  Spinoza  und  eines  Leibniz  yorhanden  ist. 
Dieser  stützt  sich  bei  seinen  kritischen  Bemerkungen  vor 
allem  auf  das  fruchtbare  Prinzip  der  Kontinuit&t,  dM  er  an 
einer  SteUe  (a.  a.  0.  S.  84)  folgendermaßen  ausspricht:  „Wenn 
in  der  Reihe  der  gegebenen  Größen  zwei  F&Ue  sich  stetig 
einander  n&hem,  sodaß  schließlich  der  eine  in  den  anderen 
abereeht,  so  muß  notwendig  in  der  entsprechenden  Reihe 
der  abgeleiteten  oder  abhängigen  Größen,  die  gesucht  werden, 
dasselbe  eintreten."  Denkt  man  sich  demgemäß  die  Un- 
gleichheit oder  den  Überschuß  yon  B  über  A  stetig  verringert, 
bis  völlige  Gleichheit  eintritt,  so  wird  auch  das  Resultat  sich 
dem  Resultate,  das  bei  der  Gleichheit  beider  Körper  vor- 
banden ist,  stetiff  n&hem  müssen.  „Nimmt  man  also  an,  der 
Überschuß  des  B  über  A  sei  zunächst  so  groß,  daß  B  trotz 
des  Gegenstoßes  seine  Bewegung  fortsetzt,  so  muß  doch 
notwendig,  wenn  B  allmählich  abnimmt  auch  sein  Fort- 
schreiten sioh  stetig  verringern,  bis .  .  B  vollkommen  zum 
Stillstand  kommt  Bei  weiterer  Abnahme  wird  B  endlich 
rar  entgegengesetzt  gerichteten,  allmählich  wachsenden  Be- 
wegung übergehen,  bis  man,  nachdem  die  Ungleichheit 
swischen  B  und  A  ganz  geschwunden  ist  ^^  die  Regel  fftr 
die  Gleichheit  kommt  ...  Es  kann  daher  diese  zweite 
Gartesische  Re^  nicht  in  Rechte  bestehen.  Denn  nach 
ihr  bleiben,  wie  sehr  man  auch  B  vermindern  mag,  um  es 
der  Größe  von  A  anzunähern,  .  .  die  Ergebnisse  für  das 
Verhältnis  der  Gleichheit  und  der  Ungleichheit  dennoch 
stets  im  höchsten  Grade  verschieden  und  nähern  sidi  ein- 


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174  AnmerkuDgeii. 

ander  Dicht  aUmfthlich,  da  B  stets  in  derselben  Richtung 
mit  derselben  Geschwindigkeit  «eine  Bewegung  fortsetst, 
solange  es  auch  nur  ganz  wenig  grOOer  ist  als  A." 

77)  YgL  die  Prinzipien  Teil  II,  §  52,  aus  denen  dieser 
Lehrsatz  wenigstens  mittelbar  folgt. 

78)  Vgl.  ebenda  §  49. 

79)  Vgl.  §  45  und  §  58  des  zweiten  Teils  der  Prinzipien. 

80)  Vgl.  ebenda  §  56. 

81)  Dieser  Lehrsatz  stimmt  mit  §  58,  Teil  II  der  Prin- 
zipien, allein  nicht  sein  Beweis;  vielmehr  widerstreitet 
dieser  nicht  bloO  Descartes*  Auffassung,  sondern  auch  dem 
folgenden  Lehrsatz  85,  wonach  B  den  größten  Teil  seiner 
Bewegung  von  den  ihn  umgebenden  EOrperchen  eihalten  soll. 

82)  Vgl.  ebenda  §  59. 

88)  Vgl.  zu  dem  ganzen  „Zweiten  Teil"  Ernst  Gassirer, 
Descartes'  Kritik  der  mathematischen  und  naturwissenschaft- 
lichen Erkenntnis.    Diss.  BerUn  1899.    Kapitel  11. 

84)  Dieser  Anfang  des  dritten  Teiles  ist  aus  Teil  m, 
§  4  der  Prinzipien  entlehnt. 

85)  Vgl.  ebenda  §  45. 

86)  Vgl.  ebenda  §  42. 

87)  Diese  Bechtfertigung  der  Hypothesen  ist  ein  Zusatz 
von  Spinoza,  dessen  Bemerkungen  hier  ein  feines  mathe- 
matisches Verst&ndnis  bekunden. 

88)  Dieser  Abschnitt  ist  ziemlich  wörtlioh  aus  §  46 
(oicht  47)t  m  der  Prinzipien  entlehnt;  vgl.  ffir  das  Folgende 
ebenda  Teil  11,  §  20—23. 


IL  Zu  dem  ^Anhang,  enthalteiid  metaphyaiselie 
aedanken^* 

89)  Spinoza  ist  in  diesem  „Anhang**,  wie  von  Freuden- 
thal („Spinoza  und  die  Scholastik**  in  den  „Philosophischen 
Au&&tzen,  Eduard  Zeller  zu  seinem  50j&hngen  Doktoijubi- 
Iftum  gewidmet*',  Berlin  1887,  S.  8d£)  flberzeugend  nach- 
gewiesen worden  ist,  abgesehen  von  Deecartes,  besonders 
von  der  jüngeren  Scholastik  abhftngig.  Die  filtere  Ansicht 
Kuno  Fischers,  daß  diese  Schrift  dazu  dienen  solle,  die 
Differenzen  zwisdien  dem  eigenen  und  dem  Standpunkte 
Descartes*  zu  verdeutlichen,  ist  nicht  haltbar,  wie  sich  aus 
den  Worten  Ludwig  Meyers  in  der  Vorrede  ergibt.  M.  Jodl 
in  seiner  Schrift  „Zor  Genesis  der  Lehre  Spinozas"  hat  hier* 
über  folgende  Auffassung  vertreten:  „Die  metaphysischen 
Gedanken**  —  so  heifit  es  hier  (S.  47)  —  „haben  überiiaupt 


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AnmerkuDgen.  175 

einen  eigentOmlicheD  Charakter,  den  ich  dahin  beeünimen  sn 
mfiBBen  glaube,  daß  er  in  ihnen  die  Lesefrfich te  ans  jQdischen 
PhiloBophCD,  natfirlich  mit  selbständigem  Geiste,  dasn  ver- 
wendet,   am  innerhalb  des  Gartesianisohen  Systems  solche 
Fraf^en  za  lösen ,  die  bei  Gartesins  entweder  gar  nicht  oder 
doch    nur  kurz  berflhrt  sind**.     Auch  dieser  Versuch,  die 
jüdische   Religionsphilosophie   als   Hauptqaelle   der  Schrift 
nachsnweiseu,  zeigt  sich  als  undurchföhrbar.   Die  gaoze  An- 
lage und  die  Terminologie  der  Schrift  verbieten  eine  solche 
Annahme.    Die  Quelle  rar  sie  ist  also  die  christliche  Scho- 
lastik, insbesondere  die  jüngere  Entwicklung  derselben,  doch 
zeigt  sich  auch  ihr  gegenüber  Spinoza  recht  selbständig,  indem 
er  alle  bloßen  Spitzfindigkeiten  und  Wortklaubereien  sorg- 
ftlüg  vermeidet  und  mit  seiner  Untersuchung  nur  da  einsetzt, 
wo  wirklich  metaphysische  Probleme  verboten  liegen.    Br 
bemüht  sich  ferner  mit  G^chick,  die  alten  Formen  mit  dem 
neuen  Geiste  und  mit  Gartesianischer  Denkweise  zu  erfftUen. 
90)  Spinoza  eröffnet   die    „Gkdankeo''   mit   einer   Er- 
klärung des  Wortes  „ens^S  wobei  er  den  namhaftesten  Scho- 
lastikern  folgt,   denen,  ebenso  wie  dem  Aristoteles,  Meta- 
physik  mit  Ontologie  gleichbedeutend  war.    Vgl.  Thomas 
zu   Arist   Metaph.  I,   lY    Anf.;    Suarez,   Disp.   I   p.   8; 
Üartini,  Ezerc.  I  p.  49 ;  Burgersdijck,  Inst,  metic.  l[ 
Ol)  Ähnliche   Untersuchungen    pflegen    hier    in    der 
jüngeren  Scholastik  des  sechszehnten  und  siebzehnten  Jahr- 
hunderts zu  erfolgen.    „Sie  waren  von  großer  Wichtigkeit 
für  die  Philosophie,  welche  das  Problem,  das  die  Erkenntnis 
der  üniversalien  bildet,  vom  Mittelalter  geerbt  hatte  und  noch 
immer  als  eins  der  wichtigsten  anzusehen    gewohnt  war.'* 
(S.  107).     Auch   bei  Suarez  fehlt  eine  Abhandlung  über 
diesen  Gegenstand  nicht. 

99)  Vgl.  Freudenthal a.  a.  O.  S.  108.  AhnUche  Unter- 
suchungen wie  hier  bei  Spinoza  finden  sich  bei  Suarez, 
Disp.  XXXI  p.  156f.;  Scheibler,  Met  Ic.  ISund  14p.  818f. 
Heereboord,  Melet  p.  1343. 

08)  Den  Erörterungen  des  Begriffes  „ens'^  gleich  „Ding*' 
oder  „  Wesen'*  folgen  bei  den  Metaphydkem  Erörterungen 
Aber  die  verschiedenen  Bestimmungen  des  Seienden,  über 
Notwendigkeit  und  Möglichkeit,  Ewigkeit,  Zeit  und  Dsoer, 
Gfegensatz  und  Ordnung,  Verschiedenheit  und  Oberein- 
stämmung,  Ganzes  und  Teil  und  anderes.  Vgl.  Suarez, 
Disp.  lU;  Scheibier  a.  a.  O.  I.  c.  8fil;  Burgersdijck, 
Inst  met.  I  c.  lOff.  Spinoza  begnügt  sich  mit  der  Erörterung 
der  wichtigsten  dieser  Bestimmungen. 

94)  „Ober  die  Ewigkeit''  fehlt  in  dem  lateinischeo 
Texte  von  v.  Vloten  und  Land. 


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176  lAnmerkongeii. 

95)  Hier  n&hert  noh  Spinoza  am  entieliiedeiisten 
Bnrgersdijok,  von  dem  die  hier  anfgeztUiIten  Bestim- 
mungen in  den  Inst.  log.  c.  19—28  beaprochen  worden  sind. 

96)  Aach  hier,  bei  der  Erörterung  der  sogenannten 
transHcendentalen  Bestimmungen  des  „ens"  seigt  sich  Spinosa 
▼on  Thomas  und  Ton  Suarez  abh&Dgig. 

97)  Auch  hier  folgt  Spioosa  der  jüngeren  Thomisti- 
sohen  Richtang,  besonders  bei  der  Behandlung  der  Attribute 
Gottes. 

98)  8.  Frendenthal  a.  a.  0.  S.  111. 

99)  Spinoza  wiederholt  hier  zum  Teil  wOrÜioh  die  Ans- 
nihrungen  Borgersdijcks  (a.  a.  0.  8.  111). 

100)yer&nderlichkeit  wird  Gott  von  Spinoza  abgesprochen, 
weil  Gott  weder  durch  &ußeie  Ursachen,  noch  durch  eine 
innere  Ursache  yer&odert  werden  könne.  Dieselbe  Unter- 
scheidung zur  Abwehr  des  Begriffes  der  Ver&oderliohkeit 
findet  sich  schon  bei  Piato  Bep.  II  380  D,  femer  bei  Thomas 
8.  th.  qu.  9  art  2,  und  noch  n&her  kommt  Heereboord 
Melet  p.  lB4f: 

101)  Vgl.  Freudenthal  a.  a.  0.  S.  113. 

102)  In  diesem  Kapitel  behandelt  Spinoza  Themata, 
die  von  Philosophen  der  verschiedenen  Religionsparteien 
des  Öfteren  erörtert  worden  sind.  Fragen  wie  die  |  2  und 
4  erwfthnten  weisen  auf  die  christliche  Scholastik  hin,  die 
derartiges  bis  sum  Obermaß  erwogen  hat  Vgl.  Lombardus 
Id.  88  und  89  und  seine  Kommentatoren;  Thomas  S.  th.  I 
qu.  14.    Suarez,  Disp.  XXX  s.  15  u.  a. 

108)  Hierzu  yg}.  Thomas,  de  potent  qu.  1  art  3.  7.; 
Summa  theol.  I  qa.  25  art.  3f;  Suarez,  Disp.  XXX  S.  17; 
Heereboord,  Melet.  p.  847  f. 

104)  Vgl.  Freudenthal  a.  a.  0.  S.  114. 

105)  Den  Wortlaut  dieser  Fragen  entnimmt  Spinoza 
seinem  Liandsmanne  Heereboord  (Melet.  p.  854 — 857).  Er 
weiß  indessen  aus  den  Schriften  anderer,  daß  diese  Fragen 
selbst  viel  älteren  Ursprungs  sind.  In  der  Tat  begegnen  sie 
bei  fast  allen  Metaphysikern«  seit  sie  Petrus  Lombardus  und 
Thomas  behandelt  hatten,  ja,  sie  finden  sich  schon  im  Neu- 
platonismus  und  in  der  Patristik. 

106)  Spinoza  behandelt  den  SobOpfungsbegriff  und  die 
Begriffe  der  Erschaffung  und  der  Brh^tang  nach  dem  Muster 
der  jüngeren  Scholastiker  (Freuden thal  a.  a.  0.  8.  115). 

107)  Der  Bogriff  der  Erhaltung  ist»  wie  Freudenthal 
im  Ghegensatz  zu  Sigwart  (Kurzer  !h*ktat  8.  168,  zweite 
Auflage)  feststellt,  nicht  Giordano  Bftino  entlehnt,  sondern 
weit  verbreitete  Lehre  der  Scholastiker.  So  heißt  es,  um 
nur  ein  Beispiel  anzuffthron,  bei  Tkomas  (&  th.  1  qu.  104 
art  1  und  9):  .Dwrett  dteeelbe  Tätigkeit  wie  er  S<diOpfer, 


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AnmerknDgen.  177 

iat  Gott  auch  der  Erbalter  der  Dinge. "  Joäl  hebt  in  seiner 
Schrift  „Zar  Genesis  der  Lehre  Spinozai*'  (S.  48)  hervor, 
daß  dieser  Gedanke  der  Identität  von  Schöpfung  und  Er- 
haltung sich  auch  bei  jüdischen  Religionsphüosophen  findet. 

108)  Vgl.  die  von  Freudenthal  (a.  a.  0.  S.  115)  an- 
gefahrten Stellen,  welche  die  Obereinstimmnng  Spinoaas 
mit  Pereira  und  Hcereboord  zeifren. 

109)  Vgl.  Freudenthal  a.  a.  0.  S.  116. 

110)  Die  Quelle  fflr  diese  Ausführungen  ist,  wie  von 
Trendelenburg  (Beitr.  III  S.  817 £.)  nachgewiesen  worden, 
Heereboord,  Melet.  p.  713. 

111)  „Aufidllig  ist,  dafi  Spinoza  seine  Gogitata  mit  einer 
Bemerkung  über  accidentia  realia,  die  in  keinem  Zusammen- 
hang mit  dem  vorau%eschickten  Gegenstand  steht,  abschliefit 
Es  erkl&rt  sich  aus  dem  Umstände,  daß  die  meisten  Meta- 
physiker,  dem  Aristotelischen  Schema  der  Kategorien  folgend, 
eine  Erörterung  der  Accidenzien  der  Untersuchung  über  die 
Substanz  foleen  ließen.  Der  Frage  nach  den  accidentia 
realia  aber  legte  die  christliche  Scholastik  eine  große  Be- 
deutung wegen  der  Lehre  von  der  Transsubstantiation  bei** 
(Freuden thal  ebenda  S.  117). 


Spin  Ol»,  Prliuipleii  ron  DeMartes.  12 

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Inhalteübersicht 

der  in  den  ^Prinzipien  der  Philosophie  Descartes*'  und  in 

den  „MetaphysiBchen  Gedanken**   enthaltenen    Definitionen, 

GIrundflfttse,  Lehrs&tze  und  Lehnsfttze. 


Seite 
Vorrede  von  Ludwig  Meyer 1 

Bie  Prinzipiell  der  Philosophie  auf  greometrlsehe 
Weise  Degründet.   Erster  Teil 11 

Einleitung     ...    * 11 

Definitionen 20 

G^mnds&tKe 22 

Lehr 8.  I.  Wir  können  über  nichts  unbedingt  gewifi 
sein,  solange  wir  nicht  wissen,  ob  wir  existieren  .    28 

Lehrs.  II.  Das  Ich  bin  muß  durch  sich  selbst  be- 
kannt sein 28 

Lehrs.  III.  Der  Satz:  ,,Ich,  als  ein  aus  einem  Körper 
bestehendes  Ding,  bin**,  ist  nicht  das  Erste  und 
nicht  durch  sich  selbst  bekannt 28 

Lehrs.  IV.    Der  Satz:  n^^^  bin**,  kann  nur  insoiem 

ein  zuerst  Erkanntes  sein,  als  wir  denken     ...    24 

Die  von  Descartes  übernommenen  Ghrunds&tze  ....    26 

Lehrs.  V.  Das  Dasein  Gottes  wird  aus  der  bloßen  Be- 
trachtung seiner  Natur  erkannt 80 

Lepirs.  VL  Das  Dasein  Gottes  wird  schon  allein  dar- 
aus, daß  die  Idee  Gottes  in  uns  ist,  a  posteriori 
bewiesen * 31 

Lehre.  VII.  Das  Dasein  Gottes  embt  sich  auch  daraus, 
daß  wir  selbst,  die  wir  seine  Hee  haben,  existieren    88 

Lehne.  L  Je  vollkommener  eine  Sache  ihrer 
Natur  nach  ist,  ein  um  so  größeres  und  notwendigeres 
Dasein  schließt  sie  ein;  und  umgekehrt,  ein  um  so 
notwendigeres  Dasein  eine  Sache  ihrer  Natur  nach 

einschlief  desto  vollkommener  ist  sie 87 

Lohns.  IL  Wer  die  Macht  hat,  sich  zu  er- 
halten, dessen  Natur  enthftlt  das  notwendige  Dasein    88 

Der  Beweis  fObr  den  siebenten  Lehrsatz 88 

12* 


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180  Inhaltsübersicht 

Seite 
Lehrs.  VIII.     Geist  and  Körper   sind   wirklich   ver- 
schieden       39 

Lehrs.  IK.    Gott  ist  allwissend 40 

Lehrs.  X.  Alle  Vollkommenheit,  die  in  Gott  ange- 
troffen wird,  stammt  von  Gott 41 

Lehrs.  XL    Es  gfibt  nicht  mehrere  Götter     ....    41 
Lehrs.  XII.     Alles  Existierende  wird  nnr  durch  die 

Kraft  Gottes  erhalten 42 

Lehrs.  XIII.  Gott  ist  höchst  wahrhaft  and  kann  un- 
möglich ein  Betrfiger  sein 43 

Lehrs.  XIV.  Alles,  was  man  klar  und  deatlioh  auf- 
faßt, ist  wahr 44 

Lehrs.  XV.    Der  Irrtum  ist  nichts  Positives       ...    44 

Lehrs.  XVL    Gott  ist  unkörperlich 49 

Lehrs.  XVII.     Gott  ist  das  einfachste  Wesen     ...    49 

Lehrs.  XVm.     Gott  ist  unveränderlich 60 

Lehrs.  XIX.    Gott  ist  ewig 50 

Lehrs.  XX.  Gott  hat  von  Ewigkeit  her  alles  im  vor- 
aus geordnet 50 

Lehrs.  XXL  Es  existiert  in  Wahrheit  eine  Substanz, 
die  in  die  Länge,  Breite  und  Tiefe  ausgedehnt  ist, 
und  wir  sind  mit  einem  Teil  derselben  vereint  .    .    51 

Die  Prinzipien  der  Philosophie  auf  geometrische 
Weise  begrttndet.    Zweiter  Teil 53 

Postulat 53 

Definitionen 58 

Grundsatze 56 

Lehns.  I.  Wo  es  eine  Ausdehnung  oder  einen 
Raum  gibt,  da  gibt  es  auch  notwendig  eine  Substanz    58 

L  6  h  n  s.  IL.  Verdünnung  und  Verdichtung  werden 
klar  und  deutlich  von  uns  vorgestellt,  obgleich  wir 
nicht  einräumen,  daß  die  Körper  im  Zustande  der 
Verdünnung  einen  größeren  Raum  einnehmen  als 
bei  ihrer  Vedichtung 58 

Lehrs.  L  Wenn  auch  die  Härte,  das  Gewicht  und  die 
tüi)rigen  sinnlichen  Eigenschaften  von  einem  Eöiper 
abgetrennt  werden,  so  wird  doch  die  Natur  des 
Körpers  trotzdem  unversehrt  bleiben 59 

Lehrs.  ll.  Die  Natur  des  Körpers  oder  der  Materie 
besteht  blofi  in  der  Ausdehnung 59 

Lehrs.  III.  Das  Leere  ist  ein  in  sich  widerspruchs- 
voller Begriff 60 

Lehrs.  IV.  Ein  Körperteil  nimmt  das  eine  Mal  nicht 
mehr  Raum  ein  als  das  andere  Mal,  und  umgekehrt 
enihtit  derselbe  Raum  das  eine  Mal  nicht  mehr  an 
Körpern  als  das  aodere  Mal 61 


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InhaltBfibersicht.  161 

S«lt« 

Lehr 8.  V.    Es  gibt  keine  Atome 62 

Lehre.  VL  Der  Stoff  ist  ohne  Ende  (indefinite)  aus- 
gedehnt, und  der  Stoff  des  Himmels  und  der  Erde 
ist  ein  nnd  derselbe 68 

Lehre.  VIL  Kein  KOrper  tritt  an  die  Stelle  eines 
anderen,  wenn  nicht  zugleich  dieser  an  die  Stelle 
wieder  eines  anderen  Körpers  tritt 68 

Lehre.  VUI.  Wenn  ein  Körper  an  die  Stelle  eines 
anderen  tritt,  so  wird  gleichzeitig  seine  von  ihm 
Terlassene  Stelle  von  einem  anderen  Körper  ein- 
genommen, der  ihn  unmittelbar  berflhrt    ....    69 

Lehre.  IX.  Wenn  der  Kanal  ABC  mit  Wasser  an- 
geföUt  ist  und  er  bei  A  viermal  breiter  als  bei  B 
ist,  so  wird  zu  derselben  Zeit,  wo  jenes  Wasser 
(oder  eine  andere  Flüssigkeit),  was  bei  A  ist,  sich 
nach  B  zu  bewegen  beginnt,  das  bei  B  befindliche 
Wasser  sich  viermal  schneller  bewegen      ....    70 

Lehne.  Wenn  zwei  Halbkreise  um  denselben 
Mittelpunkt  beschrieben  werden,  wie  A  und  B,  so 
bleibt  der  Raum  zwischen  beiden  Peripherien  sich 
flberall  gleich;  werden  sie  aber  um  verschiedene 
Mittelpunkte  beschrieben,  wie  C  und  D,  so  ist  dieser 
JEtanm  zwischen  beiden  Peripherien  überall  ungleich    71 

Lehre.  X.  Eine  Flüssigkeit,  die  sich  durch  den  Kanal 
ABC  bewegt,  nimmt  unendlich  viele  verschiedene 
Geechwindigkeitsgrade  an 71 

Lehre.  XI.  In  dem  durch  den  Kanal  ABC  fließenden 
Stoffe  gibt  es  eine  Teilung  in  unendlich  viele 
Teile 72 

Lehre.  Xu.  Gott  ist  die  Grundursache  (causa  princi- 
paus)  der  Bewe^npr 72 

Lehrs.  XIII.  Dieselbe  Menge  (quantitas)  von  Bewegung 
und  Ruhe,  die  Gott  dem  Stoffe  einmal  verliehen 
hat,  erhält  Gott  auch  durch  seinen  Beistand      .    .    78 

Lehrs.  XEV.  Jedes  Ding,  sofern  es  einfach  und  unge- 
teilt ist  und  an  sich  allein  betrachtet  wird,  verharrt, 
sofern  an  ihm  liegt»  immer  in  demselben  Znstande     78 

Lehrs.  XY.  Jeder  bewegte  Körper  hat  an  sich  das 
Bestreben,  sich  in  gerader  Linie  und  nicht  in  einer 
Kurve  zu  bewegen 74 

Lehrs.  XYI.  Jeder  Körper,  der  sich  im  Kreise  be- 
wegt, wie  z.  B.  der  Stein  in  der  Schleuder,  wird 
fortwährend  bestimmt,  sich  in  der  Richtung  der 
Tangente  fortzubewegen 75 

Lehrs.  XYU.  Jeder  im  Kreise  bewegte  Körper  strebt 
danach,  sich  von  dem  Mittelpunkt  des  Kreises,  den 
er  beschreibt,  zu  entfernen 78 


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182  InhaltsCLbenicht. 

Seit« 

Lehjs.  XVm.  Wenn  sich  ein  Körper,  etwa  A,  gegen 
einen  rahenden  Körper  B  bewegt,  und  B  trots 
des  Stoßes  durch  A  nichts  von  seiner  Buhe  verliert, 
so  wird  aach  A  nichts  von  seiner  Bewegung  ver- 
lieren, sondern  dieselbe  Bewegongsqnantit&t  (qaan- 
titas  motas),  die  er  früher  hatte »  ganz  behalten    •    79 

Lehrs.  XIX.  Die  Bewegung  ist,  an  and  fflr  sich  be- 
trachtet, von  ihrer  Bichtung  nach  einem  bestimmten 
Ort  hin  vorschieden,  und  es  ist  nicht  nötig,  daß 
ein  Körper  deshalb,  weil  er  in  der  entgegengesetzten 
Bichtang  sich  bewegen  oder  surfickgeetoßen  werden 
soll,  eine  Zeitlang  ruht 80 

Lehrs.  XX.  Wenn  der  Körper  A  dem  Körper  B  be- 
gegnet und  ihn  mit  sich  fährt,  so  wird  A  so  viel 
von  seiner  Bewegung  verlieren,  als  B  bei  dieser 
Begegnung  mit  A  von  diesem  erhftlt 80 

Lehrs.  XXI.  Ist  A  doppelt  so  groß  als  B  und  be- 
wegt es  sich  ebenso  schnell,  so  wird  A  auch  noch 
einmal  so  viel  Bewegung  als  B  haben  oder  noch 
einmal  so  viel  Kraft,  um  die  gleiche  Geschwindig- 
keit mit  B  einzuhalten 81 

Lehrs.  XXIL  Ist  der  Körper  A  dem  Körper  B  gleich 
und  bewegt  sich  A  noch  einmal  so  schnell  als  B, 
so  ist  die  Kraft  oder  Bewegung  in  A  noch  einmal 
so  groß  als  die  in  B 81 

Lehrs.  XXIIL  Wenn  die  Zustftnde  (modi)  eines  Körpers 
eine  Veränderung  zu  erleiden  genötigt  werden,  so  wird 
diese  Veränderung  immer  die  kleinstmögliche  sein    88 

Lehrs.  XXIV.  Erste  Regel.  Wenn  zwei  Körper,  z.  B. 
A  und  B  einander  vollständig  gleich  sind  und 
sich  gegen  einander  genau  gleich  schnell  bewegen, 
so  wird  bei  ihrer  Begegnung  jeder  ohne  Verlust  an 
seiner  Geschwindigkeit  nach  der  entgegengesetzten 
Richtung  zurückprallen 83 

Lehrs.  XXV.  Zweite  Regel.  Wenn  die  beiden  Körper 
in  ihrer  Masse  ungleich  sind,  nämlich  B  größer  als 
A,  im  übrigen  alles  andere  so  wie  früher  ange- 
nommen wird,  so  wird  A  allein  zar&ckprallen,  und 
beide  Körper  werden  mit  derselben  Geschwindigkeit 
sich  zu  bewegen  fortfahren 84 

Lehrs.  XX VL  Sind  die  Körper  sowohl  ihrer  Masse 
wie  ihrer  Geschindigkeit  nach  verschieden,  nämlich 
B  noch  einmal  so  groß  als  A,  die  Bewegung  von 
A  noch  einmal  so  schnell  als  die  von  B,  im  übrigen 
aber  alles  wie  vorher,  so  werden  beide  Körper  in 
entgegengesetzter  Richtung  zurückprallen  und  jeder 
die  Geschwindigkeit,  die  er  hatte,  beibehalten    .     .    84 

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Inhalttfibenioht.  183 


Lehre.  XXYIL  Dritte  BegeL  Sind  beide  Körper  der 
Masse  nach  einander  gleich^  aber  bewegt  noh  B 
ein  wenig  schneller  als  A,  so  wird  nicht  allein  A 
in  der  entgeg^ngeseteten  Richtong  rarfickweichen, 
sondern  B  wird  auch  die  Hftlfte  seines  Mehr  an 
Geschwindigkeit  auf  A  übertra^n,  und  beide  wer- 
den dann  mit  gleicher  Geschwindigkeit  sich  in  der 
gleichen  Bichtong  fortbewegen 85 

Lehrs.  XXVIII.  Vierte  Begel.  Wenn  der  Körper  A 
gans  ruht  and  etwas  größer  ist  als  B,  so  wird  B, 
mag  seine  Geschwind^keit  so  groß  sein,  als  sie 
will,  doch  den  Körper  A  nie  in  Bewegung  setien« 
sondern  B  wird  von  ihm  in  der  entgegensesetsten 
Bichtong  surfickgetrieben  weiden  nnd  dabei  seine 
Bewegung  nnyer&ndert  beibehalten 88 

Lehrs.  XXIX.  Fünfte  Be^eL  Wenn  der  rahende 
Körper  A  kleiner  als  B  ist,  so  wird  B,  mag  es  sich 
aach  noch  so  langsam  gegen  A  bewegen,  A  mit 
sieh  nehmen,  indem  es  einen  Teil  seiner  Bewegung 
auf  A  flbertr&gt,  und  zwar  so  viel,  daß  beide  nach- 
her sich  gleich  schnell  bewegen.  (Man  sehe  §  50, 
T.  n  der  Prinzipien) 90 

Lehrs.  XXX.  Sechste  Begel.  Ist  der  rahende  Körper 
A  dem  sich  gegen  ihn  bewegenden  Körper  B  genaa 
gleich,  so  wird  er  teils  von  ihm  fortgestoßen  werden, 
teils  wird  B  von  A  in  der  entgegengesetzten  Bichtong 
snrflckgestoßen  werden 90 

Lehrs.  XXXL  Siebente  BegeL  Wenn  sich  B  und  A 
nach  einer  Bichtong  bewegen,  A  langsamer  und  B 
ihm  nachfolgend  und-  schneller,  aodSi  der  Körper 
B  A  zuletzt  einholt,  und  wenn  dabei  A  größer  als 
B  ist,  aber  der  Oberschuß  an  Geschwindigkeit  in 
B  größer  ist  als  der  Überschuß  der  Größe  in  A,  so 
wi^  dann  B  so  viel  von  seiner  Bewegung  aof  A 
flbertragen,  daß  beide  darauf  gleich  sclmell  und  in 
derselben  Bichtung  sich  bewegen.  W&re  aber  das 
Mehr  an  Größe  in  A  größer  als  das  Mehr  an  Ge* 
schwindigkeit  in  B,  so  würde  B  nach  der  entgegen- 
gesetzten Bichtong  von  A  zurückgestoßen  werden, 
aber  B  dabei  seine  Bewegung  ganz  behalten  .  .  91 
Lehrs.  XXXQ.  Wenn  der  Körper  B  ringsum  von 
kleinen  sich  bewegenden  Körpern  umgeben  ist, 
die  ihn  nach  allen  Bichtungen  mit  gleicher  Kraft 
stoßen,  so  wird  er  solange  unbewegt  an  ein  und 
derselben  Stelle  bleiben,  als  nicht  noch  eine  an- 
dere Ursache  hinzukommt 92 

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184  Inhaltaubenicht 

Belto 

Lehrs.  XXKIII.  Der  KOrper  B  kann  unter  solohen 
Umst&nden  durch  die  geringite  binrakommende 
Slraft  in  jeder  beliebigen  Riohtang  bewegt  werden      93 

Lehr 8.  XXXIV.  Der  Körper  B  kann  sich  unter  diesen 
ümstftnden  nicht  schneller  bewegen,  als  er  von  der 
äußeren  Kraft  getrieben  wird,  wenn  auch  die  ihn  um- 
gebenden Körperteilchen  sich  viel  schneller  bewegen      93 

Lehr 8.  XXXV.  Wenn  der  Körper  B  in  dieser  ange- 
gebenen Weise  von  einem  äußeren  Anstoß  bewegt 
wird,  so  erhält  er  den  größten  Teil  seiner  Be- 
wegung von  den  ihn  stets  umgebenden  Körperchen 
und  nicht  von  der  äußeren  Straft 94 

Lehrs.  XXXVL  Wenn  ein  Körper,  z.  B.  unsere  Hand, 
sich  nach  jeder  Richtung  mit  gleicher  Bewegung 
bewegen  könnte,  ohne  anderen  Körpern  irgendwie 
zu  widerstehen,  und  ohne  daß  andere  Körper  ihr 
widerstehen,  so  werden  notwendig  in  dem  Kaume, 
durch  den  sie  sich  bewegt,  ebensoviele  Körper  sich 
nach  der  einen  Richtung  wie  nach  jeder  belie- 
bigen anderen  mit  gleicher  Kraft  der  Geschwin- 
digkeit unter  sich  wie  mit  der  Hand  bewegen     .      95 

Lehrs.  XXXVTI.  Wenn  ein  Körper,  etwa  A,  von 
jeder  noch  so  kleinen  Kraft  in  jeder  Richtung  be- 
wegt werden  kann,  so  muß  er  notwendig  von 
Körpern  umgeben  sein,  die  sich  mit  gleicher  ge- 
genseitiger Geschwindigkeit  bewegen 97 

Die  Prinzipien  der  Philosophie  auf  geometrisehe 

Weise  begründet.    Dritter  Teil 99 

Postulat 101 

Definitionen 102 

Grundsätze 108 

Lehrs.  I.  Die  Teile  der  Materie,  in  die  sie  zuerst  ge- 
teilt war,  waren  nicht  rund,  sondern  eckig  .  .  lOS 
Lehrs.  11.  Diejenige  Kraft,  welche  bewirkte,  daß  die 
materiellen  Teilchen  sich  um  ihre  eigenen  Mittel- 
ponkte  drehten,  bewirkte  auch,  daß  Sie  Ecken  der 
einzelnen  Teilchen  bei  ihrer  gegenseitigen  Be- 
gegnung sich  abrieben 108 

Anhang,  enthaltend  metaphysische  Gedanken.  Sie  er- 
örtern in  Kürze  die  schwierigeren  Fragen,  die  in 
den  metaphysischen  Schriften,  sowohl  im  ali^re- 
meinen  wie  im  speziellen  Teile,  in  Betreff  des  Seins 
und  seiner  Bestimmungen,  Gottes  und  seiner  Attri- 
bute, sowie  des  Menschengeistes,  sich  finden.  Ver- 
faßt von  Benedict  von  Spinoza  ans  Amsterdam    105 

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Inhaltsübersicht.  185 

Seit« 
DesAnhaiiges  metaphysiflcherGedanken  erster 
Teil,  in  dem  die  wichtigsten  Punkte  des  allge- 
meinen  Teils  der  Metaphysik  in  Betreff  des  Seienden 
nnd  seiner  Bestimmungen  (affectiones)  knrc  er- 
läutert werden 107 

Erstes  Kapitel.  Ober  die  wirklichen,  die  einge- 
bildeten und  die  Qedankendinge 107 

Die  Definition  des  Dii:^es 107 

Die  Chimäre,  das  erdichtete  Ding  und  das  Ge- 
dankending sind  keine  seienden  Dinge      .    .     107 

Durch   welche   Zustände   des   Denkens   man    die 

Dinge  im  Gedächtnis  behält 108 

Durch   welche   Zustände   des   Denkens    man   die 

Dinge  erklärt       108 

Durch  welche  Zustände  des  Denkens  man  sich  die 

Dinge  in  der  Einbildung  vorstellt     ....     108 

Weshalb  die  Gedanken-Dinge  keine  Ideen  wirk* 
lieber  Dinge  sind  und  doch  dafiär  gehalten 
werden 109 

Die  Einteilung  in  wirkliche  und  Gedanken-Dinge 

ist  schlecht 109 

Inwiefern  das  Gedanken-Ding  ein  reines  Nichts 
und  inwiefern  es  ein  wirkliches  Ding  genannt 
werden  kann 109 

Bei  der  Erforschung  der  Dinge  dürfen  die  wirk- 
lichen Dinge  nicht  mit  den  Gedanken-Dingen 
vermengt  werden 110 

Wie  sich  das  Gedanken-Ding  von  dem  erdichteten 

Dinge  unterscheidet 111 

Die  Einteilung  der  Dinge 111 

Zweites  Kapitel.  Was  unter  dem  Sein  des  Wesens, 
dem  Sein  des  Daseins,  dem  Sein  der  Idee  und  dem 

Sein  der  Möglichkeit  zu  verstehen  ist 112 

Die  Geschöpfe  sind  in  eminenter  Weise  in  Gott    112 
Was  unter  dem  Sein  des  Wesens,  des  Daseins,  der 

Idee  und  der  Möglichkeit  zu  verstehen  ist    .    118 
Diese  vier  Bestimmungen  unterscheiden  sich  nur 

in  den  geschaffenen  Dingen  von  einander  118 

Antwort  auf  einige  Fragen  in  Betreff  des  Wesens    114 
Weshalb    der   Verfasser    bei   der    Definition    des 

Wesens  auf  die  Attribute  Gottes  zurückgeht    115 
Weshalb  der  Verfasser  die  Definition  von  anderen 

hier  nicht  auffthrt 116 

Wie  der  Unterschied  zwischen  Wesen  und  Dasein 

leicht  zu  fassen  ist 115 

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186  Inhaltsübersicht 

Seite 

Drittes  Kapitel.     Ober   das,   was   notwendig,   on- 
mOgliob,  möglich  and  zafUlig  ist 115 

Was  unter  diesen  Bestimmangen  zu  verstehen  ist    115 

Definition  der  Bestimmungen 116 

Auf  wie  viele  Weisen  ein   Gegenstand  notwendig 

und  unmöglich  genannt  werden  kann    .     .    .     116 

Ohim&ren  können  sehr  wohl  Wort-Dinge  genannt 

werden 117 

Die  erschaffenen  Dinge  hängen  ihrem  Wesen  wie 

ihrem  Dasein  nach  von  Gott  ab 117 

Die  Notwendigkeit,  die  bei  den  geschaffenen  Dingen 
von  der  Ursadie  kommt,  bezieht  sich  entweder 
auf  ihr  Wesen  oder  auf  ihr  Dasein;  aber  bei 
Gott  ist  dies  beides  nicht  verschieden  •    .    .     117 

Das  Mögliche  und  Zof&llige  sind  keine  Bestim- 
mungen der  Dinge 118 

Was  das  Mögliche  und  das  ZufiÜlige  ist       ...     118 

Das  Mögliche  und  das  ZaftLllige  ist  nur  ein  Mangel 

unserer  Einsicht 118 

Die  Vereinigung  unseres  freien  Willens  mit  der 
Yorherbestimmung   Gottes   überschreitet  den 

menschlichen  Verstand 119 

Viertes  Kapitel.    Ober  die  Ewigkeit,  die  Dauer  und 
die  Zeit 120 

Was  die  Ewigkeit,  was  die  Dauer  und  die  Zeit  ist     120 
Fünftes  Kapitel.    Von  dem  Gegensatz,  der  Ordnung 
U.8.  w •     ^21 

Was  der  Gegensatz,  die  Ordnung,  die  Oberein- 
stimmung,  der  Unterschied,  das  Subjekt,  das 

Prädikat  u.  s.  w.  ist 121 

Sechstes  Kapitel.    Ober  das  Eine,  Wahre  und  Gute    122 

Die  Einheit 122 

Die  Vielheit.  Inwiefern  Gott  als  einer  (unus)  und 
inwiefern  er  als  einzig  (unicus)  bezeichnet 
werden  kann 122 

Die  Bedeutung  der  Ausdrücke  «wahr*  und  ,falsch* 
bei  der  gemeinen  Menge  und  bei  den  Philo- 
sophen     128 

Das  ,Wahre'  ist  kein  transscendentaler  Ausdruck    123 

Ober    den    Unterschied    der  Wahrheit   von    der 

wahren  Idee 124 

Ober  die  Eigenschaften  der  Ws^rheit  Die  Ge- 
wißheit Uegt  nicht  in  den  Gegenständen   .    •    124 

,Gut'  und  ,bOse'  sind  relative  Begriffe     ....    124 

Weshalb  einige   ein  metaphysisches  Gute  verliutgt 

haben 125 


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Inhaltflübenicht  187 

Balte 
Wie  flieh  die  Diage  und  das  Bestreben  derselben, 
sich    in   ihrem    Zustande   zu   erhalten,   von 

einander  unterscheiden 125 

Ob  Gott  yor  der  Schöpfung  der  Dinge  gut  ge- 
nannt werden  kann 126 

In  welchem  Sinne  das  Vollkommene  relaÜT  und 

in  welchem  es  absolut  ausgesagt  wird  .  .  .  126 
Des  Anhanges  metaphysischer  Gedankenswei- 
ter Teil,  in  dem  hauptsächlich  das  knrs  erl&utert 
wird,  was  in  dem  besonderen  Teile  der  Meta- 
physik über  Gott,  seine  Attribute  und  den 
menschlichen  Geist  gewöhnlich  gelehrt  wird  .  .  127 
Erstes  Kapitel.    Ober  die  Ewigkeit  Gottes    ...    127 

Einteilung  der  Substanzen 127 

Gott  kommt  keine  Dauer  zu 128 

Die   Gründe,  aus   denen  man  Gott  Dauer  zuge- 
schrieben hat 129 

Der  Begriff  der  Ewigkeit 129 

Zweites  Kapitel    Über  die  Einheit  Gottes    ...    130 

Gott  ist  einzig 181 

Drittes  Kapitel.    Ober  die  UnermeOlichkeit  Gh>ttes    131 
Inwiefern  Gott  als  unendlich,  inwiefern  er  als  un- 
ermeßlich bezeichnet  wird 181 

Was  man  insgemein  unter  Gottes  ünermefilichkeit 

versteht 132 

Der  Beweis,  daß  Gott  überall  ist 133 

Die  AUgegenwart  Gottes  kann  nicht  orklftrt  werden  133 
Mit  Unrecht  wird  bisweilen  eine  dreifache  Dner- 

meOUcULeit  Gottes  angenommen 138 

Gbttes   Macht  ist  von  seinem  Wesen   nicht  ver- 
schieden       133 

Dies  gilt  auch  von  seiner  Allgegenwart  ....    133 
Viertes   Kapitel.       Ober    die    ünveränderlichkeit 

Gottes 134 

Die    Begriffe    der   Verftnderung    und    der   Um- 
wandlung (transformatio) 134 

In  Gott  finden  solche  Umwandlungen  nicht  statt  134 
Ober  die  Ursachen  der  Veränderungen  ....  134 
Gott  erf&hrt  keine  äußere  Veränderung   ....    135 

Ebensowenig  eine  innere  (a  se  ipso) 185 

Fünftes  Kapitel.    Ober  die  Ein&chheit  Gottes  .    .    136 
Es  gibt  einen  drei&chcn  Unterschied  unter  den 
Dingen,  nämlich  der  Wirklichkeit,   dem  Zn- 
stande und  dem  bloßen  Denken  nach    .    .    .    136 
Woraus  alle  Verbindung  entsteht  und  wievielfaoh 

sie  ist 137 


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188  Inhaltsübersicht. 

8«ito 

Qott  ist  das  allereinfachste  Wesen 137 

Gkittes  Attribute  sind  nur  dem  GFesichtspnnkt  des 

Denkens  nach  yersohieden 188 

Sechstes  Kapitel.    Von  dem  Leben  Gottes   .    .    .     188 

Was  insgemein  von  den  Philosophen  nnter  „Leben*' 

verstanden  wird 138 

Welchen  Dingen  man  Leben  snschreiben  kann  139 

Was  das  Leben  ist  und  inwiefern  es  in  Gott  vor- 
handen ist 139 

Siebentes  Kapitel.    Über  den  Verstand  (intellectus) 
Gottes 140 

Gh>tt  ist  allwissend 140 

Der  Gegenstand  von   Gottes  Wissen   sind   nicht 

die  Dinge  aufierbalb  Gottes 140 

Gott  ist  sich  selbst  Gegenstand  des  Wissens    .     .     141 

Wieso  Gott  ein  Wissen  von  der  Sünde,  den  bloßen 

Vernunft-Dingen  u.  dgl.  hat 141 

Inwiefern  Gott  (0e  Einzeldinge  und  die  Allge- 
meindinge kennt 149 

In  Gott  gibt  es  nur  eine  einzige  (una)  und  zwar 

eine  einfache  Idee 149 

Über  Gottes  Wissen  von  den  geschaffenen  Dingen     143 
Achtes  Kapitel.    Über  den  Willen  Gottes  ....     144 

Wir  wissen  nicht,  wie  Gottes  Wesen  und  sein 
Verstand,  womit  er  sich  erkennt  und  sein 
Wille,  womit  er  sich  liebt,  sich  unter- 
scheiden       144 

Der  Wille  und  die  Macht  Gottes  unterscheiden 
sich  in  Bezug  auf  das  Äußere  nicht  von  seinem 
Verstände 144 

Nur  uneigentlich  kann  man  sagen,  daß  Gott  Siniges 

haßt,  anderes  liebt 144 

Warum  Gott  die  Menschen  ermahnt,  warum  er  sie 
nicht  ohne  Ermahnung  rettet,  und  warum  die 
Bnchlosen  bestraft  werden 146 

Die  Heilige  Schrift  lehrt  nichts,  was  der  natürlichen 

Vernunft  widerspricht 146 

Neuntes  Kapitel.    Über  die  Macht  Gottes      ...    146 

Wie  die  Allmacht  Gottes  zu  verstehen  ist  .    .    .    146 

Alles  ist  notwendig  mit  Bezug  auf  den  Beschluß 
Gottes,  nicht  aber  einiges  an  sich,  anderes 
mit  Bezug  auf  seinen  Beschluß     .    .    .    .1 1.    147 

H&tte  Gott  eine  andere  Natur  der  Dinge  gemacht, 
so  hätte  er  uns  auch  einen  anderen  Verstand 
geben  müssen 147 

Wievielfach  Gottes  Macht  ist 148 


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Inhaltsfibenicht.  189 

Seit« 

Wm  anier  dem  Unbedingten  and  nnter  dem  G«'* 
ordneten,  was  nnter  der  ordentlichen  nnd 
nnter  der  außerordentlichen  Macht  sn  ver- 
stehen ist 148 

lehnte»  Kapitel.     Ober  die  SchOpfdng 149 

Was  die  Schöpfung  ist 149 

Die   gewöhnliche  Definition    der  Schöpfung  wird 

zurückgewiesen 149 

Welches  die  richtige  ist 149 

Accidenzien   nnd   Zustände   (modi)  werden  nicht 

geschaffen IbO 

Vor  der  Schöpfung  hat  es  weder  Zeit  noch  Daner 

gegeben 150 

Dieselbe  Wirksamkeit  Gottes  ist  bei  der  Erschaffung 

wie  bei  der  Erhaltung  der  Welt  vorhanden    150 

Über  die  geschaffenen  Dinge 151 

Inwiefern  Gottes  Art   zu  denken   (cogitatio)  von 

der  unseren  abweicht 151 

Außerhalb  Gottes  gibt  es  nichts,    das  in  gleicher 

Weise  wie  er  ewig  wftre 151 

Was  unter  dem  Ausdruck:  ,von  Ewigkeit'  zu  ver- 
stehen ist 151 

Beweis,  daß  nichts  von  Ewigkeit  geschaffen  werden 

kann 152 

Daraus,  daß  Gott  ewig  ist,  folgt  nicht,  daß  auch 

seine  Wirkungen  von  Ewigkeit  her  sein  können     153 

Wenn  Gott  aus  Notwendigkeit  handelte,  so  be- 
säße er  keine  unendliche  Tugend 158 

Woher  wir  den  Begriff  einer  größeren  Dauer,  als 

die  unserer  Welt,  haben 154 

Elftes  Kapitel.    Über  die  Mitwirkung  Gottes     .    .    155 

Wie  es  mit  der  Erhaltung  durch  Gott  steht,  um 

die  Dinge  zur  Tätigkeit  zu  bestimmen  ...    156 

Die  gewöhnliche  Einteüung  der  Attribute  Gottes 

ist  mehr  eine  Wort-  als  eine  Sach-Einteilung    156 

Die  Einteilung  des  Verfassers 157 

Zwölftes  Kapitel.     Über  den   menschlichen   Geist    157 

Die  Engel  gehören  nicht  ins  Gebiet  der  Meta- 
physik, sondern  in  das  der  Theologie   .    .     .    157 

Der  menschliche  Geist  entsteht  nicht  durch  Ab- 
zweigung, sondern  ist  von  Gott  geschaffen, 
nnd  niemand  weiß,  wann  er  geschaffen  wird    158 

In  welchem  Sinne  die  menschliche  Seele  (anima) 

sterblich  ist 158 

In  welchem  Sinne  unsterblich 158 

Ihre  Unsterblichkeit  wird  bewiesen 159 


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190  Inhaltsfibenicht. 


Gott  handelt  nicht  gegen  die  Nator,  sondern  ist 
Aber  sie  erhaben;  was  darunter  nach  unserem 

Verfasser  za  verstehen  ist 159 

Warom  manche  die  Freiheit  des  Willens  bestreiten     160 

Was  der  Wille  ist 160 

Es  gibt  einen  Willen 160 

Der  Wille  ist  frei 160 

Der  Wille   ist  nicht  mit  dem  Begebren  zu  rer- 

wechseln 161 

Es    ist  nichts  anderes,   als   der  Verstand   selbst 

(mens  ipsa) 16S 

Warum  die  Philosophen  den  (ieist  mit  den  kör- 
perlichen Dingen  vermengt  haben     •    •    .    •     164 
Anmerkungen 166 


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Philosophische  Bibliothek 

Band  95. 

Baruch  de  Spinoza. 

^  Abhandlung  Ober  die  Verbesserung  des 
Verstandes. 

Abhandlung  vom  Staate. 


Dritte  Auflage. 


übertragen  und  eingeleitet 
nebst  Anmerkungen  und  Begister 

▼on 

Carl  Gebtaardt 


Leipzig. 

Verlag  der  Dttrr'schen  Baobhandlang. 
1907. 

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Orack  Ton  0.  Gmmbaoh  ia  Laipaig. 


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Inhalt 

Saite 

Einicitang V 

Abhandlung  über  die  VerbeBsernng  des  Ver- 
standes       1 

Einleitung:   Das  Ziel  der  Philosophie      ....  8 

Die  Lehre  von  den  Erkenntnisarten 9 

Die  Lehre  von  der  intellectio 13 

Die  Lehre  von  der  imaginatio 28 

Die  Lehre  von  der  Definition 48 

Abhandlung  Tom  Staate 53 

1.  Kapitel.   Einleitung 65 

a.  Kapitel.   Vom  Naturrecht 59 

a  Kapitel.   Vom  Recht  des  Staates 71 

4.  Kapitel.   Vom  Recht  der  Obrigkeit   ....  82 

5.  Kapitel.   Vom  Zweck  des  Staates  .....  87 

6.  Kapitel.   Von  der  Monarchie.    AUgemeines    .  91 

7.  ELapiteL   Von  der  Monarchie.    Besonderes .    .  107 

8.  KapiteL   Von  der  Aristokratie  mit  einer  Haupt- 

stadt       ISO 

9.  KapiteL   Von  der  Aristokratie  mit  mehreren 

gleichberechtigten  Städten 160 

10.  Kapitel.   Garantien  der  Aristokratie  ....  170 

11.  KapiteL   Von  der  Demokratie 178 

Anmerinmgen 182 

Zur  Abhandlung  Aber  die  Verbesserung  des  Ver^ 

Standes 182 

Zur  Abhandlung  Tom  Staate 189 

Kamen-  und  Sachregister 201 


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Einleitung. 


Der  vorliegende  Band  der  Philosophisohen  BiMio- 
thek  umfaßt  in  nener  Übertragang  die  beiden  unvoll- 
endeten Abhandlungen  Spinoasas»  die  Abhandlang 
über  die  Verbesaerang  des  Verstandes  (trac- 
tatus  de  intellectofi  emen£itione)  nnd  die  Abhand- 
lang vom  Staate  (tractatos  politicos),  die  erste 
Schrift,  in  welcher  der  Philosoph  die  Gedanken 
seiner  Lehre  der  Welt  mitteilen  wollte  and  zu- 
gleich das  letzte  Werk,  das  ihm  zu  schreiben  ver- 
gönnt war.  Zwischen  ihnen  liegt  die  Abfassung  der 
beiden  großen  Hauptwerke  seines  Lebens,  der  Ethik 
imd  des  Theologisch-politischen  Traktats.  Unsere 
Abhandlungen  stehen  zu  ihnen  nicht  im  Verhältnis 
von  philosophischen  Nebenwerken;  vielmehr  treten 
sie  ihnen  als  gleichberechtigte  Teile  eines  Gresamt- 
werks  ergänzend  zur  Seite.  Es  ist  ein  Gedanke,  der 
die  beiden  zeitlich  auseinanderliegenden  Schriften  zu- 
sammenschließt» ind^Qi  er  sie  einer  höheren  Einheit 
unterordnet,  der  Gedanke,  den  seine  Philosophie  ge- 
lehrt, sein  Leben  verkörpert  hat  Es  ist  der  Gedauce 
vom  wahren  Glück  des  Menschen,  vom  Glück  der 
freien  Persönliclikeit 


Über  die  Entstehung  der  Abhandlung  über 
die  Verbesserung  des  Verstandes  haben  wir 
zwei  Zeugnisse  der  Frexmde  Spinozas.  In  der  Vorrede 
der  Opera  posfhuma  (1677),  in  denen  die  beiden  Ab- 
handlungen zuerst  erschienen  sind,  heißt  es:  „Die 
Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Verstandes 
gehört  zu  den  früheren  Werken  unseres  Philosophen, 
wie  ihr  Stil  und  ihr  Inhalt  bezeugen.  Die  Bedeutung 


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VI  Einleitung. 

des  behandelten  Gegenstandes  and  der  große  Nutsen, 
den  er  sich  darin  zum  Ziele  setzte,  nämlich  dem 
Verstände  den  leichtesten  nnd  ebensten  Weg  zur 
wahren  Eärkenntnis  der  Dinge  zu  bahnen,  haben  ihn 
inmier  angespornt»  die  Abhandlung  zu  vollenden. 
Allein  die  schwierige  Arbeit»  das  tiefe  Nachdenken 
und  die  umfassende  Sachkenntnis,  die  zu  ihrer  Voll- 
endung erforderlich  waren,  ließen  sie  nur  langsam 
vorrücken,  wie  sie  denn  auch  mit  der  Grund  waren, 
weshalb  sie  nicht  beendigt  wurde  und  weshalb  hie 
und  da  etwas  fehlt  Denn  in  den  Anmerkungen,  die 
er  selbst  hinzufügte,  weist  der  Autor  öfters  darauf 
hin,  daß  etwas»  das  er  gerade  behandelt,  genauer 
darzulegen  oder  ausführlicher  auseinanderzusetzen  sei, 
entweder  in  seiner  Philosophie  oder  an  anderem  Orte.'' 
Der  Abhandlung  selbst  ist  dann  noch  eine  admonitio 
ad  lectorem  vorausgeschickt,  die  folgendermaßen 
lautet:  „Die  Abhandlung  über  die  Verbesserung  dee 
Verstandes  u.  s.  w.,  die  wir  dem  geneigten  Leeer 
hiermit  unvollendet  übergeben,  war  bereits  vor  vielen 
Jahren  vom  Verfasser  feschrieben.  Er  hatte  stets 
die  Absicht,  sie  zu  vollenden;  aber  durch  andere 
Arbeiten  abgehalten  und  schließlich  vom  Tode  weg- 
gerafft, konnte  er  sie  nicht  zum  erwünschten  Ende 
führen.  Da  sie  aber  viele  herrliche  und  nützliche 
Gedanken  enthält,  die  jedem,  der  aufrichtig  die  Wahr- 
heit sucht,  ohne  Zweifel  von  nicht  geringem  Nutzen 
sein  werden,  so  wollten  wir  sie  dem  Leser  mcht 
vorenthalten.  Wir  wollten  aber  auf  jene  Umstände 
hinweisen,  damit  man  die  dunklen,  unausgearbeitetem 
und  ungefeilten  Stellen  der  Schrift,  die  sich  aus 
den  angegebenen  Gründen  darin  find^  entschuldige.^' 
Wir  können  jedoch  die  Entstehung  unserer  Ab- 
handlung noch  genauer  zeitlich  fixieren,  seit  wir 
den  erst  in  neuerer  Zeit  au^ef undenen  Schluß  eines 
Briefes  Spinozas  an  den  deutschen  in  Englan4  lebenden 
Akademiker  Oldenburg  kennen.  Dort  heißt  es:  „Was 
Ihre  neue  Frage  anlangt,  wie  nämlich  die  Dinge  zu 
sein  angefangen  haben  und  durch  welches  Band  sie 
von  der  ersten  Ursache  abhangen,  so  habe  ich  über 
diesen  Gegenstand  und  auch  über  die  Verbesse- 
rung des  Verstandes  ein  ganzes  Werkchen  ver- 


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Eioleitung.  YII 

fallt,  mit  dessen  Aofzeichniing  nnd  Verbeeserung  ich 
beechaftiji  bin.  Aber  ich  stehe  bisweilen  von  dem 
Werke  ab,  weil  ich  noch  keinen  bestinunten  Plan 
über  seine  Herausffabe  habe.  Ich  fürchte  natürlich, 
daß  sich  die  Theologen  unserer  Zeit  verletzt  fühlen 
und  mich,  der  ich  die  Zankereien  aufs  äoOerste  scheue, 
mit  ihrem  gewohnten  Hasse  verfolgen.  Ich  erwarte 
hierüber  D^en  Rat,  und  damit  Sie  wissen,  was  in 
diesem  meinen  Werke  enthalten  ist»  das  den  Kaniel- 
rednem  ein  Anstoß  sein  könnte,  so  sage  ich,  daß  ich 
viele  Attribute,  die  von  ihnen  und  von  allen,  wenigstens 
von  d^en,  die  ich  kenne,  Gott  zugeschrieben  werden» 
bloß  als  Schöpfungen  betrachte^  während  ich  dagegen 
von  anderen  Dingen,  die  sie  infolge  ihrer  Vorurteile 
als  Schöpfungen  ansehen,  behaupte  daß  es  Attribute 
Gottes  seien,  und  daß  sie  diese  mißverstanden  hatten; 
femw  daß  ich  Gott  von  der  Natur  nicht  so  trenne, 
wie  es  alle,  von  denen  ich  Kenntnis  habe,  getan.*^ 
Der  Brief,  in  dem*  diese  Stelle  sich  findet,  ist  in 
der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1662  geschrieben,  und 
es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  sich  Spinoza  zu  dieser 
Zeit  mit  der  Ab&ssung  der  Abhandlung  über  die  Ver- 
besserung des  Verstandes  beschäftigt  hat 

Wichtiger  ist  aber  noch  eine  andere  Erkenntnis» 
die  wir  dieew  Briefstelle  verdanken.  Die  Abhandlung 
ist  nicht  als  eine  selbständige  Schrift  gedacht  ge- 
wesen, sondern  als  Teil  eines  umfassenderen  Werkes. 
Das  bezeug  sie  auch  schon  selbst,  indem  sie  es 
vermeidet»  ihren  Ausführungen  die  tiefste  Begründung 
zu  geben  oder  sie  bis  zur  letzten  Konsequenz  durch- 
zufSiren;  anstatt  dessen  verweist  sie  immer  auf  den 
nachfolgenden,  offenbar  größeren  und  bedeutenderen 
Teil  des  Werkes.  Dieser  Teil  oder,  genauer  gesagt, 
das  Material,  aus  dem  er  gebildet  werden  soUte^  ist 
eben&Us  auf  uns  gekommen:  es  ist  eiae  Jugend- 
schrift Spinozas»  die  erst  um  die  Hitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  aldigefundene  und  nur  in  holländischer 
Übersetzung  erhaltene  kurze  Abhandlung  von  Gott, 
dem  Menschen  und  dessen  Glückseligkeit  (tractatus 
brevis).  Die  Hinweise  der  angeführten  Briebtelle 
lassen  sich,  wie  ich  an  anderer  Stelle  bewiesen  zu 
haben  glaube,  in  ihrer  Bestimmtheit  auf  keine  andere 

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Vm  Einleitung. 

Schrift  Spinozas  beeiehen,  and  zudem  zeigt  die  kurze 
Abhandlung,  die  in  den  beiden  überkommenen  Hand- 
schriften eine  zwie&ohe  Redaktion  des  Textes  er- 
kennen laßt,  in  der  jüngeren  Redaktion  deutlich  die 
Spuren  einer  Überarbeitung,  deren  Hinzuffigunffen 
ganz  in  der  Gedankenrichtung  der  Abhandlung  üoer 
die  VerbessOTung  des  Verstandes  liegen  und  nur  in 
derselben  Zeit  wie  diese  entstanden  sein  können.  In 
der  Tat  schließt  sich  unsere  Schrift  sehr  eng  an 
die  ältere  an,  indem  sie  gewisse  Partien  aus  ihr  mit 
leichter  Umarbeitung  übernimmt,  und  wir  dürfen  wohl 
glauben,  daß  Spinoza  in  gleiche  Weise  auch  die 
übrigen  Teile  der  Kurzen  Abhandlung  aus  der  Un- 
fertigkeit  des  Entwurfs  zu  einer  systematisch^i  Dar- 
stellung seiner  Lehre  umzuarbeiten  die  Absicht  hatte. 

Vergleichen  wir  jedoch  die  Grundbegriffe  der 
Kurzen  Abhandlung  und  der  Abhandlung  über  die 
Verbesserung  des  Verstandes  miteinander,  so  werden 
wir  in  einem  entscheidenden  Punkte  einem  wesent- 
lichen Unterschied  begegnen.  In  der  Kurzen  Ab- 
handlung ist  das  Erkennen  ein  Leiden:  die  Objekte 
machen,  daß  wir  sie  wahrnehmen;  wir  bejahen  oder 
verneinen  niemals  etwas  von  einer  Sache,  sondern  die 
Sache  bejaht  oder  verneint  etwas  von  sich  in  uns. 
In  der  Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Ver- 
standes hingegen  ist  das  Erkennen  ein  Tun:  vermSge 
seiner  angeborenen  Kraft  bringt  der  Verstand  die 
Ideen  als  seine  Greisteswerke  hervor;  diese  erkennen 
nicht  mehr  ein  Objekt  als  ihre  Ursache  an,  sondern 
hängen  allein  von  dem  Vermögen  und  der  Natur  des 
Verstandes  ab;  die  Seele  ist,  wie  Spinozas  charakte- 
ristischer Ausdruck  lautet,  rein  als  ein  geistiger  Auto- 
mat gefaßt.  Mit  der  Lehre  vom  Erkennen  hat  sich 
notwendig  auch  die  Lehre  vom  Irrtum  gewandelt 
In  der  Kurzen  Abhandlung  liegt  die  Ursache  des 
Irrtums  in  den  Objekten,  die  uns  nur  partiell  af- 
ficieren,  während  wir  die  Affektion  aufs  Ganze  be- 
ziehen. In  der  späteren  Abhandlung  liegt  der  Grund 
in  uns,  in  der  Begrenztheit  unserer  Vernunft»  die 
nur  ein  Teil  ist  von  jener  Universalvemunft,  mit  der 
das  All  sich  selbst  begreift. 

Diese  Wandlung  in  der  Lehre  vom  Erkennen  er- 


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Sinleitung.  IX 

hielt  für  die  WeiterbildiuLg  der  c^inonAtiBchen  Philo- 
sophie eine  geradesa  entscheidende  Bedentung.  Die 
senanaliBtische  Konsequenz  einer  in  ihrem  Hotiv  durch-' 
ans  idealistisch  gerichteten  Brkenntnislheorie  bedrohte 
in  der  Folge  die  Möglichkeit  einer  von  der  ErEahmng 
unabhänjgigen  Erkenntnis  überhaupt,  und  Spinoia 
maßte  in  der  Kurzen  Abhandlung  selbst  bekennen: 
das  Verstehen  ist  ein  Gewahrweraen  der  Wesenheit 
und  Efadstenz  der  Dinge  in  der  Seele.  In  einem  der 
wichtigsten  ZuKltze  zu  dieser  Schrift  aus  der  Zeit  der 
Abhai^uzig  über  die  Verbesserung  des  Verstandes 
zeigt  es  sich,  wie  er  sich  dieser  Gefahr  bewußt  wird. 
Den  Ideen,  wie  sie  die  Objekte  durch  eine  Affektion 
der  Sinne  in  uns  bewirken,  wird  hier  der  Erkenntni»- 
wert  ausdrücklich  abgesprochen.  Die  Seele,  die  als 
die  Idee  ihres  Körpers  gefaßt  ist,  kann  noch  nicht 
einmal  von  ihrem  Körper  einen  kburen  Begriff  haben, 
weil  sie  nur  einen  begrenzten  Modus  des  universalen 
Denkens  bildet;  nur  in  diesem,  in  der  denkenden 
Sache,  welche  allein  die  ganze  Natur  ist,  sind  alle 
adäquaten  Ideen  enthalten.  Damit  ist  aber  die  Auf- 
gabe gegeben,  die  d^  Verstand  erfüllen  muß,  um 
wirkliche  Erkenntnis  zu  erlangen:  er  Inuß  das,  was 
in  der  denkenden  Sache  enthalten  ist,  in  sein  eigenes 
Denken  aufnehmen,  oder  er  muß,  um  völlig  ein  Ab- 
bild der  Natur  zu  sein,  alle  seine  Ideen  aus  der  Idee 
herleiten,  die  den  Ursprung  und  die  Quelle  der  ge- 
samten Natur  darstellt,  so  daß  diese  auch  die  Quelle  der 
übrigen  Ideen  ist  Der  ursprünglich  mystische  Gedanke 
der  Kurzen  Abhandlung  von  dem  Versenken  der  Seele 
in  Gott  wird  in  jenen  rationalistischen  umgesetzt, 
daß  die  Seele  Gott  als  Denkinhalt  in  sich  aufzu- 
nehmen habe.  Die  metaphysische  Lehre  von  der 
Identität  der  Körperwelt  und  der  Geisterwelt  wird, 
in  die  ESbene  der  Erkenaitnistheorie  projiciert,  zu  jenem 
anderen  Identitatsgedanken:  die  Ordnu2ig  und  Ver- 
knüpfung der  Ideen  ist  dieselbe  wie  die  Ordnung  und 
Verknüpfung  der  Dinge. 

Diese  innere  Entwicklung,  die  von  der  Kurzen 
Abhandlung  zur  Abhandlung  über  die  Verbesserung 
des  Verstandes  führt,  ward  aber  auch  für  die  Dar- 
stellung der  Lehre  entscheidend.    Das  Hervorgehen 

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X  Einleitung. 

der  Dinge  ans  Gott,  das  in  d^oi  Hervorgehen  der 
Ideen  ans  der  Idee  Gottes  sein  SptegeÜHld  finden  soll, 
kann  nicht  als  eine  zeitliche  F<dge  gedacht  werden, 
denn  sonst  würde  es  ja  den  Verstand  wiederum  tos 
der  Eärfahrung  abhangig  machen;  es  kann  nnr  eine 
zeitlose  Folge  sein.  Es  steht  nicht  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Dauer  (sub  duratione),  sondern  in 
gewissem  Sinne  unter  dem  Gesicht^unkt  der  Ewig- 
keit (sub  quadam  c^ecie  aetemitatis).  Wie  in  der 
Natur  des  Raumes  die  Gesetze  liegen,  von  d^ien  alle 
geometrischen  flguren  /abhängig  sind,  so  liegen  in 
Gott  die  Gesetze  aller  existierenden  Dinge.  Zwar 
sind  die  JEiinzeldinge  in  ihrer  Individuation  aus  der 
Idee  Gottes  ^  wenig  zu  begreifen,  wie  die  Zufillig- 
keit  dieses  oder  jenes  Dreiecks  aus  der  Idee  des 
Baumes;  die  Gesetze  aber,  die  jedes  Ding  konstituieren, 
folgen  gerade  so  aus  der  Natur  Gottes,  wie  das  Ge- 
setz über  die  Winkelsumme  im  Dreieck  aus  der  Natur 
des  Raumes  folgt  Soll  also  die  Au:^be,  welche  die 
Abhandlung  stell^  erfüllt  werden,  soQen  wirklich  die 
Dinge,  soweit  sie  Gegenstand  philosophischer  Er- 
kenntnis sein  können,  aus  der  Idee  Gottes  hwgeleitet 
werden,  so  kann  es  nur  geschehen  in  dem  bewußten 
Fortschreiten  von  Grund  zu  Folge^  d.  h.  in  der  Form 
der  Mathematik.  Sobald  Spinoza  sich  in  seiner  Ab- 
handlung über  die  Tragweite  seines  Erkenntnigge- 
dankens  klar  geworden  war,  konnte  er  sich  nicht 
mehr  mit  der  fortlaufenden  systematischen  Dar- 
stellung der  Kurzen  Abhandlung  begnügen;  er  mußte 
sein  Vorhaben  au^eben,  sie  mit  jener  zu  einem  Werke 
zu  verbinden,  und  anstatt  dessen  jenen  großartigen 
Versuch  unternehmen,  die  Erkenntnis  der  Dinge  in 
geometrischer  Ordnung  aus  der  Idee  Gottes  zu  ent- 
wickeln. Anfang  1663,  also  kein  volles  Jahr,  nach- 
dem er  noch  den  Gedanken  jenes  zusammengesetzten 
Werkes  gehegt  hatte,  haben  seine  Amsterdamer 
Freunde  bereits  das  erste  Buch  seiner  Ethik  in  Händen. 
Die  Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Vwstandes 
ist  die  Quelle  für  die  Entstehung  der  Ethik  geworden. 
Spinoza  hat,  wie  uns  schon  seine  freunde  be- 
zeugen, die  Vollendung  der  Abhandlung  nie  au' 
geben,   und  die  Meinung,   daß  sie  durch  die 

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Einleitung.  XI 

überflüssig  geworden  sei,  ist  nicht  richtig.  1666  hat 
er  in  einem  Briefe,  durch  eine  Anfrage  veranlaßt» 
kurz  den  Grundgedanken  seiner  Mefhodenlehre  in 
völliger  Übereinstimmung  mit  seiner  Schrift  dargelegt, 
und  noch  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  hat  er 
mit  dem  deutschen  Philosophen  Tschimhaus  von  ihr 
gesprochen,  zwar  mit  einer  gewissen  Zurückhaltung, 
aber  doch  in  einer  Weise,  die  uns  über  die  Absicht 
einer  späteren  Herausgabe  nicht  im  Zweifel  laßt 
Die  Umarbeitung,  die  zu  diesem  Zwecke  nötig  gewesen 
wäre,  hat  er  nicht  vorgenommen;  er  hat  bloß  eine 
Stelle  gestrichen,  die  nicht  mehr  am  Platze  war,  so- 
bald er  die  Abhandlung  als  selbständige  Schrift  heraus- 
zugeben gedachte.  Vielleicht  trägt  der  Zwiespalt 
zwischen  der  Absicht,  gemeinverständlich  zu  reden, 
und  der  Notwendigkeit,  auf  die  letzten  Begriffe  seiner 
Philosophie  sich  zu  beziehen,  ein  Zwiespalt,  der  die 
Schwierigkeit  und  zugleich  den  Hangel  der  Schrift 
bildet,  die  Schuld  daran,  daß  er  sie  nicht  vollendet 
hat  In  der  Ethik  selbst  aber  hat  er  an  einer  Stelle 
auf  sie  Bezug  genommen,  indem  er  ihr  die  Eärorterung 
gewisser  metiiMlologischer  Fragen  zuwies.  Aber  noch 
mehr  —  die  Ethik  setzt  geradezu  die  Abhandlung 
über  die  Verbesserung  des  Verstandes  als  ihre  Ein- 
leitung voraus.  Wenn  Spinoza  in  seinem  Hauptwerk 
die  Grundbegriffe  seiner  Lehre  scheinbar  so  unver- 
mittelt und  unbewiesen  vor  uns  hinstellt»  so  durfte 
er  es  tun,  weil  er  sich  den  Leser  schon  durch  die 
einleitende  Abhandlung  genügend  vorbereitet  dachte. 
Die  Einleitung  der  Schrift,  die  alles  Wahrheits- 
forscl^n  dem  einen  Zwecke,  dem  Zwecke  des  wahren 
Glücks  dienstbar  macht  und  die  uns  in  die  Tiefen 
seines  Denkens  führt,  ist  nicht  als  die  Einleitung 
seiner  Hethodenlehre,  sondern  als  die  Einführung 
in  sein  System  gedacht  Die  Aufgabe,  welche  die  At^ 
handlung  stellt,  hat  die  Ethik  gelost  Wie  es  die  Ab- 
handlung fordert,  unternimmt  es  die  Ethik,  die  Welt 
zu  erkennen  und  zu  erklären  in  der  höchsten  Er- 
kenntnisart, im  intuitiven  Wissra;  wie  es  die  Ab- 
handlung begründet,  schreitet  die  Ethik  fort  von 
Folgerung  zu  Folgerung  in  der  Selbstgewißheit  der 
Wahrheit,  die  sich  erleuchtet  und  den  Irrtum.    Die 

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XU  EiDleltaDg. 

Abhandlung  will,  daß  die  Erkenntnis  alles  Seienden 
ans  der  Idee  des  Wesens  hergeleitet  werde,  das  die 
Ursache  alles  Seienden  bildet,  nnd  die  Ethik  stdlt 
den  BegriJEf  der  göttlichen  Substanz  an  ihre  Spitse; 
die  Abhandlung  fordert  von  der  Definition  dieses 
unerschaffenen  Dinges^  daß  sie  jede  Ursache  aus- 
schließe, keinen  Zweifel  an  seiner  Existenz  möglich 
mache  und  alle  Eigenschaften  aus  sich  erschließen 
lasse,  und  die  Ethik  beginnt  mit  dem  Satze:  per 
causam  sui  inteUigo  id,  cuius  essentia  involvit  ezisten- 
tiam.  In  der  Ab&ndluns^  über  die  Verbesserung  des 
Verstandes  liegt  der  Schlüssel  zum  Verständnis  der 
Ethik. 

Auf  eines  der  Motive,  die  bei  der  Abfassung 
der  Abhandlung  wirksam  gewesen  sind,  darf  noch 
besonders  hingewiesen  werden.  Spinoza  hat  von  sich 
selbst  gesagt:  „Es  ist  nicht  meine  Art,  die  Irrtümer 
der  anderen  atifzudecken'^  und  in  der  Tat  finden  wir 
in  seinen  Werken  äußerst  wenig  Stellen,  an  deoea 
er  direkt  gegen  andere  Philosophen  polemisiert  Trotz- 
dem konnte  er  es  nicht  vermeiden,  schon  um  selbst 
zur  vollen  Klarheit  zu  gelangen,  sich  mit  den  LfOhren 
seiner  Zeit  auseinanderzusetzen.  Die  Spuren  davon 
finden  wir,  auch  wenn  sie  nicht  immer  zu  Tage  lieg^ 
noch  jetzt  in  seinen  Schriften.  In  diesem  Sinne  ent- 
hält unsere  Abhandlung  Spinozas  Auseinandersetzung 
mit  Bacon. 

Die  Bedeutung,  welche  die  Philosophie  seit  Kant 
der  Erkenntnistheorie  für  die  Begründung  jeder 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  gab,  hat  die  dogmatische 
Philosophie  des  17.  Jahrhunderts  der  Methodenlehre 
beigelegt  Descartes  sowohl  wie  Bacon  haben  ihr 
philosophisches  Werk  mit  einer  Methodenlehre  be- 
gonnen, und  Spinoza  folgt  darin  ihrem  Beispiel.  Es 
liegt  auf  der  Hand,  daß  er  sich  dabei  an  ihren 
Schriften  orientiert  hat  Der  Einfluß  Descartes*  frei- 
lich, der  in  der  Kurzen  Abhandluiur  noch  so  stark  war, 
daß  er  die  völlig  unorganische  Übernahme  cartesia- 
nischer  Lehren  veranlassen  konnte,  ist  nunmehr  sehr 
zurückgetreten  und  macht  sich  vielleicht  nur  noch 
in  der  Lehre  vom  Erkenntnisvermögen  und  vom  Vor- 


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Einleitang.  XIII 

stellungsvermdgen  erneut  geltend.  Demgemäß  finden 
wir  eine  polemische  Bezognahme  auf  Descartee  eigent- 
lich nur  an  zwei  Stellen,  an  denen  vom  Trs^um  und 
vom  deuB  deceptor  die  Rede  ist  Anders  ist  es  mit 
Bacon.  In  der  Kurzen  Abhandlung  findet  sich  noch 
keine  Spi^  davon,  daß  Spinoza  ihn  gekannt  hat. 
Als  Oldenburg  den  Philosophen  an  An£mg  1661  in 
Rhilnsburg  besuchte,  sprachen  sie  über  die  Prin- 
cipien  der  Philosophie  Bacons  miteinander,  und  in 
einem  Briefe  an  Oldenburg  aus  demselben  Jahre  prä- 
oiaiert  Spinoaa  njoch  einmal  die  Kritik,  die  er  an 
ihnen  geübt  Offenbar  hat  er  nicht  lange  vorher  erst 
Bacons  Schrift^  kennen  gelernt  Die  Abhandlung 
über  die  Verbesserung  des  Verstandes,  die  selbst 
ihren  Titel  der  baconischen  Terminologie  entlehnt, 
beweist  es  in  zahlreichen,  unverkennbar  an  Bacon 
anklingenden  Wendungen,  daß  sie  unter  dem  frischen 
und  unmittelbaren  Sindruck  des  Neuen  Orsfanon  ent- 
standen ist,  und  noch  später  scheint  sich  ^inoza, 
wie  er  in  seinem  Briefwechsel  auf  die  Hethodenlehre 
zu  sprechen  ]commt  jenes  Einflusses  erinnert  zu  haben. 
Die  zweite  Brkenntnisart  der  Abhandlung  trägt  die 
Züge  der  baconischen  Methode,  und  in  einer  Rand- 
bemerkung nimmt  Spinoza  sich  ausdrücklich  vor,  an 
ihr  eingehender  .Kritik  zu  üben.  In  dem  großen 
Kampfe  Bacons  gegen  den  aristotelisch-scholastischen 
Syllogismus  hat  sich  Spinoza  mit  Bewußtsein  auf  die 
Seite  der  .alten  Philosophen  gestellt,  während  er  sich 
freilich  in  )den  empirischen  Wissenschaften  als  An- 
hanger der  induktiven  Methode  bekennt  Da  nun  die 
Kurze  Abhandlung  das  Problem  der  deduktiven  Me- 
thode bei  weitem  noch  nicht  mit  dieser  Klarheit  er- 
faßt hat,  darf  man  wohl  annehmen,  daß  gerade  die 
baconische  Methodenlehre  Spinoza  vor  die  Ftage:  In- 
duktion oder  Deduktion?  fi^estellt  und  ihn  bestimmt 
hat^  in  der  Abhandlung  über  die  Verbesserung  des 
Verstandes  die  Forderxm^  der  deduktiven  Methode 
mit  solcher  Schärfe  zu  formulieren.  So  betrachtet 
eDTscheint  Bacona  Neues  Organen  als  ein  wichtiges 
Ferment  in  fiec  Gedankenbildung  Spinozas. 


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XIV  Binleitaog. 

Über  die  Entstehung  der  Abhandlung  vom 
Staate  haben  4ie  Heranflgeber  der  Opera  posthnma 
in  der  Vorrede  berichtet:  ,,Die  Abhandlung  vom.  Staate 
hat  nnser  Autor  kurz  vor  sdoiem  Hingang  verfaßt 
Ihre  Gedanken  Bind  aosgereifl^  ihr  Stil  ist  klar.  Seine 
Meinung  setzt  er  darin  wohlbegründet  aufeinander, 
ohne  auf  die  Ansichten  der  vielen  Politiker  einzugehen, 
und  folgerichtig  laßt  ex  sie  überall  aus  den  Voraus- 
setzungen hervorgehen.  In  den  fünf  ersten  Kapiteln 
handelt  er  von  aer  Staatslehre  im  allgemein^  im 
sechsten  und  siebenten  von  der  Monarchie,  im  achten, 
neunten  und  zehnten  von  der  Aristokratie,  das  elfte 
endlich  enthält  den  Anfang  der  demokratischen  Be- 
gierung.  Sein  vorzeitiger  Tod  aber  war  schuld  daran, 
daß  er  die  Abhandlung  nicht  vollendete  und  daß  er 
weder  von  den  Gesetzen  noch  von  vwschiedenen 
die  Staatslehre  betreffenden  Fragen  gehandelt  hat, 
wie  es  aus  einem  der  Abhandlung  vom  Staate  voran- 
gestellten Briefe  des  Autors  an  einen  Freund  su  er- 
sehen ist^  Dieser  Brie^  der  vielleicht  an  den  ein^i 
Herausgeber  der  Opera  posthuma,  Jarig  Jelles,  ge- 
richtet ist,  welcher  sich  schon  früher  einmal  mit  einer 
Anfrage  über  die  Staatslehre  an  ihn  gewendet  hatte, 
lautet  so:  „Lieber  fVeundl  Ihren  lieben  Brief  habe 
ich  gest^n  erhalten.  Herzlichen  Dank  für  die  un- 
ermüdliche Sorge,  die  Sie  um  mich  tragen.  Ich  hätte 
diese  Gelegenheit  u.  s.  w.  nicht  vorübergehen  lassen, 
wenn  ich  nicht  mit  einer  Sache  beschäftigt  wäre,  die 
ich  für  nützlicher  halte  und  die  Ihnen,  wie  ich  glaube, 
noch  mehr  Freude  machen  wird,  nämlich  mit  der  Ab- 
fassung einer  Abhandlung  über  den  Staat,  die  ich  vor 
einiger  Zeit  auf  Ihre  Ajuregune  hin  begonnen  habe. 
Von  dieser  Abhandlung  sind  bereits  sechs  Kapitel 
fertig.  Das  erste  enthält  gewissermaßen  die  Einleitung 
zu  dem  Werke  selbst^  das  zweite  handelt  vom  Natur- 
recht,  das  dritte  vom  Recht  der  höchsten  Gewalten, 
das  vierte  von  den  Staatsgeschäften,  die  zum  Ver- 
waltungskreis  der  höchsten  Gewalten  gehören,  das 
fünfte  davon,  was  das  Letzte  und  Höchste  ist, 
das  die  Gesellschaft  ins  Auffe  fassen  muß,  und 
das  sechste,  wie  eine  monarchische  Regierung  ein- 
gerichtet werden  muß,  damit  sie  nicht  in  Tyrannei 


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Einleitung.  XV 

verfallt  Gegenwärtig  behandle  ich  das  siebente 
Kapitel,  in  dem  ich  alle  Teile  des  vorhergehenden 
sechsten  E^apitels,  die  sich  auf  die  Ordnung  einer 
wohleingerichteten  Monarchie  beziehen,  methodisch 
darlege.  Sodann  werde  ich  zur  aristokratischen  und 
zur  Volksregierung,  schließlich  zu  den  Gesetzen  und 
anderen  -{qpeciellen  Fragen  der  Staatslehre  übergehen. 
Und  nun  leben  Sie  wohl  u.  s.  w.^  Die  Herausgeber 
fügen  diesem  Brief  noch  die  Bemerkung  bei:  ,,Darau8 
geht  das  Ziel  des  Verfassers  hervor;  aber  durch 
Krankheit  verhindert  und  vom  Tode  weggerafft,  ver- 
mochte er  das  Werk  nicht  weiter  als  bis  zum  Ehide 
der  Aristokratie  zu  führen,  wie  der  Leser  selbst 
sehen  wird.^  Wir  dürfen  die  Entstehung  der  Ab- 
handlung vom  Staate  wohl  in  die  beiden  letzton  Lebens- 
]ahre  Spinozas,  1675 — 1677,  verlegen.  Sie  setzt  die 
1675  abgeschlossene  Ethik  voraus,  und  andrerseits 
weist  die  Ethik  an  der  Stelle,  wo  sie  von  der  Bildung 
der  Gesellschaft  spricht,  schon  auf  sie  hin.  Ist  der 
angeführte  Brief  wirklich  an  Jarig  Jelles  gerichtet, 
so  dürfto  dieser  ein  gewisses  Verdienst  um  die  Ehit- 
stehung  der  Abhandlung  beanspruchen. 


Die  Staatslehre  Spinozas  wurzelt  in  seiner  philo- 
sophischen Überzeugung;  die  neue  Weltauffassung  hat 
einen  neuen  Staatsgedanken  geboren.  Nicht  mehr  in 
dem  Traum  eines  Jenseits,  sondern  in  der  Wirklichkeit 
des  Diesseits  liegen  die  Werte  des  Lebens.  „Der 
freie  Mensch  denkt  an  nichts  weniger  denn  an  den 
Tod,  und  seine  Weisheit  ist  nicht  ein  Nachsinnen 
über  den  Tod,  sondern  ein  Nachsinnen  über  das 
Leben.''  Nicht  in  den  Gütern  der  Welt,  nur  in  uns 
selbst  liegt  das  Glück,  hatte  schon  die  Abhandlung 
über  die  Verbesserung  des  Verstandes  gelehrt.  Alles, 
was  ist^  will  im  Dasein  beharren,  ist  die  Lehre  der 
Ethik,  die  freie  Entfaltung  seines  Wesens  ist  seine 
Tugend.  Die  Aufgabe  des  Staates  kann  deshalb  nur 
dann  bestehen,  dem  Einzelnen  die  Möglichkeit  zu  ge- 
wahrleisten, seine  Individualität  in  voUer  Freihat  zu 


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XYI  Einleitung. 

eoitwickeliL  Daa  hat  Spinoza  mit  ienen  ewig  gültigen 
Worten  des  Theologiflch-politischen  Traktats  ange- 
sprochen: ,,Der  letzte  Zweck  des  Staates  ist  nichts 
zu  herrschen,  noch  die  Menschen  in  Furcht  zu  halten 
oder  sie  fremder  Gewalt  zu  unterwerfen,  sondern 
vielmehr  den  Einzelnen  von  der  Furcht  zu  befreien, 
damit  er  so  sicher  als  möglich  leben  und  sein  natür- 
liches Recht,  zu  sein  und  zu  wirken,  ohne  Schaden 
für  sich  und  andere  vollkommen  behaupten  kann. 
Es  ist  nicht  der  Zweck  des  Staates,  die  Menschen 
aus  vernünftigen  Wesen  zu  Tieren  oder  Automaten 
zu  machen,  sondern  vielmehr,  zu  bewirken,  daß  ihr 
Geist  und  ihr  Körper  ungefährdet  seine  Kräfte  ent- 
fidten  kann,  daß  sie  selbst  frei  ihre  Vernunft  ge- 
brauchen und  daß  sie  nicht  mit  Zorn,  Haß  und  Hinter- 
list sich  bekämpfen,  noch  feindselig  gegeneinander 
gesinnt  sind.  Der  Zweck  des  Staates  ist  in  Wahr- 
heit die  Freiheit.''  Diesen  Zweck  kann  iex  Staat  nur 
erfüllen,  indem  er  die  Bedingungen  schafft»  unter 
denen  sich  der  Einzelne  frei  zu  entwickeh  vermag, 
und  indem  er  ihn  gegen  jede  Störung  sichert.  Die 
Freiheit  der  Persönlichkeit,  gewährleistet  vom  Staat 
—  das  drückt  die  Abhandlung  vom  Staate  mit  den 
Worten  aus:  „Geistesfreiheit  oder  Geisteskraft  sind 
die  Tugenden  des  Einzelnen,  die  Tugend  des  Staates 
ist  die  Sicherheit  Es  ist  schwer  zu  verstehen,  wie 
man  zwischen  diesem  Ausspruch  und  jenen  Sätzen 
des  Theologisch-politischen  Traktates  einen  Wider- 
spruch hat  finden  können  und  wie  man  hat  meinen 
können,  in  der  späteren  Schrift  habe  das  Interesse 
der  Sicherheit  die  Idee  der  fVeiheit  zurückgedrängt 
Auch  in  der  Abhandlung  vom  Staate  verstellt  Spinoza 
„unter  menschlichem  Leben  nicht  bloß  den  Kreislauf 
des  Blutes  und  die  übrigen  allen  Lebewesen  gemein- 
samen Funktionen,  sondern  in  erster  Linie  Vernunft 
wahre  Tüchtigkeit  und  wahres  Leben  des  Geistes^. 
Wenn  der  Theologisch-politische  Traktat  dem  Staate 
die  Freiheit  als  letztes  Ziel  setzt  und  wenn  die  Ab- 
lumdlung  vom  Staate  Frieden  und  Sicherheit  als  seine 
Zwecke  bestimmt,  so  sind  diese  Urteile  nicht  ein- 
ander entgegengesetzt,  sondern  richtig  verstanden 
identisch,  weil  sie  den  notwendigen  Ausdruck  dneft  und 


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Binldtmig.  XVII 

deflseüben  ethiBchen  Ideals  bildea.  Als  dieses  Ideal, 
seines  rationalistischeii  Charakters  entkleidet  und  be- 
reichert um  die  Bfldnng  eines  inhaltvollen  Jahrhunderts, 
zmn  Eultorideal  einer  ganzen  Zeit  erhoben  war,  wurde 
auch  der  Staatsgedanke  Spinozas  wieder  gedacht,  und 
ganz  in  seinem  Sinne  hat  es  Wilhelm  vom  Humboldt 
unternommen,  die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats 
zu  bestimmen. 


Schon  früh  ist  man  darauf  aufmerksam  geworden, 
daß  die  Staatslehre  Spinozas  in  genauen  Beziehungen 
SU  der  Staatslehre  von  Hobbes  steht  Die  Theorie 
des  ESnglanders  ist  auch  in  den  Niederlanden  bald  zur 
HerrschjEtft  gelangt,  und  es  ist  natürlich,  daß  sich 
Spinozas  Gedanken  vom  Staate  unter  ihrem  Einfluß 
oder  vielleicht  mehr  noch  im  Gegensatz  zu  ihr  ge- 
staltet haben.  Man  kann  es  geradezu  als  eine  Ten- 
denz der  Abhandlung  vom  Staate  bezeichnen,  sich 
mit  den  Lehren  von  Hobbes  auseinanderzusetzen.  Sein 
Name  wird  freilich  nie  genannt,  aber  den  Zeitgenossen 
war  auch  eine  solche  verdeckte  Polemik  verständlich. 

In  seinem  Ausgangspunkt  stimmt  Spinoza  mit 
Hobbes  völlig  überein.  Auch  bei  jenem  wird  unter- 
schieden zwischen  einer  Regierung,  die  durch  Ge- 
walt erworben  wird,  und  einer  solchen,  die  ein  Volk 
b^^ründet;  nur  um  die  letztere  handelt  es  sich.  Der 
vorstaatlicbe  Zustand  der  Menschen  ist  der  Natur- 
zustand. Sein  Maß  ist  der  Nutzen,  sein  Recht  ist  die 
Macht  Aber  schon  auf  dieser  Stufe  besteht  ein  Gegen- 
satz zwischen  Spinoza  und  Hobbes.  Dieser  hatte,  ent- 
sprechend seinem  transscendenten  Gottesbegriff,  die 
Geltung  der  Moralgesetze  schon  für  den  Natur- 
zustand postuliert;  er  nennt  sie  Naturgesetze  und 
identificiert  sie  mit  den  Geboten  der  Vernunft.  Für 
den  immanenten  Gottesbegriff  Spinozas  können  Natur- 
gesetze nur  die  unverbrüchlichen  Gesetze  alles  Welt- 
geschehens sein;  der  Mensch  steht  nicht  in  der  Natur 
wie  ein  Staat  im  Staate. 

Der  Naturzustand,  lehrt  Hobbes  weiter,  und 
Spinoza  folgt  ihm  hierin,  ist  höchst  elend  Weil  jeder 

S  p i  n  o  ■  ft ,  Abhaadlg.  IIb.  d.  T«rb«M«rg.  d.  V«r«taadM.       B 

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XVIII  Einleitung. 

ein  Recht  auf  alles  hat,  so  hat  in  Wahrheit  keiner 
ein  Recht  Daher  rät  die  Vernunft»  den  Kampf  aller 
gegen  alle  zu  beendigen;  die  Furoht  wird  der  Ur- 
sprung der  Greeellschaft  Da  die  Einzelnen  doch  nicht 
im  Naturzustande  für  sich  bestehen  könnten,  so 
schließen  sie  sich  zusammen  und  übertragen  in  einem 
Vertrage  all  ihre  Rechte  auf  den  Staat»  um  sie  dann 
von  diesem,  gehörig  verteilt  und  in  ihrem  Bestände 
gewährleistet,  wieder  zu  Lehen  zu  empfangen.  Erst 
von  da  an  gibt  es  Mein  und  Dein,  Gerecht  und  Un- 
gerecht, Gut  und  Böse.  Die  Nachteile  des  Staats- 
lebens kommen  nicht  in  Betracht  gegenüber  dem  Elend 
des  Naturzustandes.  Für  die  Unterwerfung  hat  jeder 
die  Sicherheit  eingetauscht  Auf  dieser  Stufe  ist  der 
Gegensatz  zwischen  Hobbes  und  Spinoza  ein  grund- 
sätzlicher. Während  bei  Hobbes  Naturzustand  und 
Staatsleben  principiell  verschieden  sind,  bei  Spinoza 
sind  sie  es  nicht  Bei  Hobbes  ist  der  Naturzustand 
im  Staatsleben  aufgehoben,  bei  Spinoza  ist  er  darin 
nur  reguliert  Das  Staatsleben  ist  bei  ihm  eigent- 
lich nichts  anderes  als  ein  vernünftig  geordneter 
Naturzustand.  Dem  entspricht  es  nun  auch,  daß  in 
seiner  I/ehre  der  Vertrag  durchaus  nicht  die  centrale 
Stelle  einnimmt  wie  bei  Hobbes.  Wohl  erscheint  er 
noch  als  die  Form,  unter  welcher  der  eine  Zu- 
stand in  den  anderen  übergeht,  aber  er  ist  weit 
davon  entfernt,  das  Staatsleben  zu  konstituieren. 
Schon  im  Theologisch-politischen  Traktat  in  den 
Hintergrund  gedrängt,  ist  er  der  Abhandlung  vom 
Staate  womöglich  noch  gleichgülti^r  geworden. 
Spinoza  hat  sich  selbst  über  <Sesen  Gegensatz  in 
einem  Briefe  vom  Jahre  1674  g^ußert:  „Was  die 
Staatslehre  betrifft,  so  besteH  der  Unterschied  zwischen 
mir  und  Hobbes,  nach  dem  Sie  mich  fragen,  darin, 
daß  ich  das  Naturrecht  unangetastet  lasse  und  daß 
ich  der  höchsten  Obrigkeit  in  einer  jeden  Stadt  nur 
so  viel  Recht  den  Untertanen  gegenüber  zuerkenne,  als 
dem  Maße  von  Macht  entspricht»  um  das  sie  den 
Untertan  überrag  als  welches  immer  im  Natur- 
zustande der  Fall  ist'' 

Auch   in  der  Lehre  vom   Staate   selbst  stimmt 
Späioza  in   vielem   noch   mit  Hobbes  überein.    Der 


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Einleitung.  YIY 

Wille  der  Gesamtheit  hat  für  den  erklärten  Willen 
einee  jeden  asa  gelten.  Der  Staat  steht  nicht  unter 
dem  bürgerlichen  Recht;  er  allein  darf  die  Ge- 
setze auslegen.  Nur  dem  Inhaber  iet  Begierungs- 
gewalt steht  das  Recht  der  Beamtenwahl  und  der  Be- 
gnadigung zu.  Die  Staaten  verhalten  sich  zueinander 
wie  die  Snzelnen  im  Naturzustand.  Allein  auf  dieser 
Stufe  übarwi^  der  Gegensatz  die  Übereinatimmung^ 
und  dieser  Gegensatz  ist  der  tiefiste,  weil  er  ein  per- 
sönlichor  ist  Bei  Hobbee  gründen  die  Menschen  den 
Staat,  um  ihr  Leben  zu  smern,  bei  Spinoza  gründen 
sie  ihn,  um  „ihr  Leben  zu  sichern  xmd  ihren  Geist 
auszubilden''.  .Dieses  Mehr  ist  entscheidend.  Hobbes 
kennt  nur  einen  Zweck  des  socialen  Lebens,  die  Sicher- 
heit, und  nur  ein  Mittel  dazu,  die  Omnipotenz  des 
Staates,  die  jede  Willkür,  aber  auch  jede  Freiheit 
des  Einzelnen  vernichtet  Ihm  gegenüber  statuiert 
Spinoza  das  Recht  der  Persönlichkeit  Darum  ist  ihm 
die  höchste,  die  ideale  Staatsform  die,  in  der  das 
Recht  der  Persönlichkeit  am  vollkommensten  gewahrt 
bleibt,  die  Demokratie;  die  übrigen  Staatsformen  sind 
nur  durch  Entartung  aus  ihr  hervorgegangen.  Für 
Hobbes  ist  die  höchste  und  ursjprünglichste  Staatsform 
die  absolute  Monarchie,  weil  in  ihr  die  Staatsgewalt 
alles  Recht,  der  Untertan  keines  hat  Die  Snheit 
des  Staates  liegt  für  Hobbes  in  der  Einheit  des 
Herrschers,  für  Spinoza  in  der  Einheit  der  Gesinnung 
und  der  Gesittung.  Für  ihn  ist  die  unumschränkte  Re- 
gierung die  Volksherrschaft,  in  der  Herrscher  und 
Beherrschte  eines  sind;  für  jenen  ist  es  die  absolute 
Monarchie,  in  der  der  Wille  des  Königs  das  Gesetz 
der  Untertanen  ist  Der  Staat  Spinozas  hütet  sich, 
in  die  Sphäre  des  EinzelnoU  einzugreifen,  er  gewährt 
Lehrfreiheit,  Redefreiheit  und  Gewissensfreiheit;  der 
Staat  des  Hobbes  hat  die  Censur  der  Meinungen,  und  die 
Universitäten  sind  seine  Organe.  Zwei  Staatsgedanken 
stehen  sich  hier  gegenüber,  an  die  man  nicht  mit 
formal-logischem  .Maßstab  herantreten  darf,  wenn  man 
ihnen  gerecht  werden  will.  Die  Weltgeschichte  hat 
über  sie  entschieden. 


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XX  Einleitimg. 

Die  großen  Staatstheorien  sind  aus  der  Zeit  her- 
vorgegangen. Im  Bewnütsein  ihrer  Würde  unter- 
nimmt es  die  Philosophie,  in  die  Geschicke  der 
Volker  einzugreifen  und  die  bewegenden  Fragen  der 
Zeit  vor  ihrem  Richterstuhle  zur  Entscheidung  zu 
bringen.    Der  Denker  wird  zum  tpilöoofpos  ßaadevg. 

Als  Spinoza  seine  Abhandlung  vom  Staate  schrieb, 
standen  die  Geschicke  der  Niederlande  vor  ihrer 
Ehitscheidung.  Das  niederländische  Volk  hatte  zwar 
den  Zwang  einer  ausländischen  Herrschaft  und  eines 
iiettAen  Glaubens  von  sich  geworfen,  aber  einen 
Staat  zu  gründen  hatte  es  nicht  vermocht  Die  Union 
von  Utrecht,  die  gerade  genügt  hatte,  um  die  Pro- 
vinzen zum  Kampfe  gegen  Spanien  zusammenzu- 
schließen, war  unzulänglich  als  Grundlage  eines 
Staatswesens.  So  sind  die  Niederlande  ein  loses  Ge- 
füge von  sieben  Provinzen  oder  richtiger  von  56 
Stadtrepubliken  geblieben.  Die  Souveränität  war  bei 
den  aristokratischen  Regenten  dieser  Städte^  den 
Vroedschappen;  summum  imp^ium  penes  cuiusque 
nationis  primores,  erklärt  Grotius.  Die  Organe  der 
Provinzen  wie  der  Generalität  setzten  sich  aus  ihren 
Delegierten  zusammen.  Allein  der  Macht  dieser  2000 
Souveräne  stand  eine  andere  gegenüber,  die  Macht 
des  Statthalters.  Seitdem  Wilhelm  I.  jenen  Kampf 
begonnen  hatte,  der  den  Niederlanden  die  Freiheit 
bringen  sollte,  waren  die  Oranier  die  geborenen  Feld- 
herren der  Republik.  Durch  die  partiku&ristische  Eifer- 
sucht Hollands  gehemmt,  vermochten  sie  aber  nicht» 
an  die  Stelle  der  alten  Grafen  zu  treten,  und  mußten 
sich  begnügen,  die  ersten  Beamten  der  Greneralität  zu 
bleiben,  und  ßo  zieht  sich  durch  das  ganze  17.  Jahr- 
hundert der  Gregensatz  von  zwei  Parteien,  der  Re- 
gentenpartei und  der  Statthalterpartei,  oder  der  Staats- 
gezinden  und  der  Stadhoudersgezinden.  Den  Regenten 
stand  der  .unerschöpfliche  Reichtum  der  Handels-  und 
Kolonialmacht  zur  Verfügung,  während  die  Oranier 
sich  auf  .das  Heer  und  auf  di&s  niedere  Volk  stützen 
konnten.  Das  Jahr  1650  hatte  eine  vorläufige  Ent- 
scheidung gebracht  Wilhelm  II.  hatte  den  Kampf 
gegen  die  Regenten  offen  aufgenommen,  aber  ehe 
dieser  noch  entschieden  war,  beraubte  sein  vorzeitiger 


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Einleitung.  XXI 

Tod  (er  liinterliei}  nur  einen  nachgeborenen  Sohn) 
seine  Partei  4^8  Führers.  Die  Herrschaft  fiel  nun  un- 
bestritten den  Regenten  zu,  und  Jan  de  Witt,  der  große 
Ratspensionär  von  JSoUand,  trat  für  naheeu  zwanzig 
Jahre  an  die  Spitze  der  Republik.  So  glänzend  die 
Politik  dieses  bewunderungswürdigen  Staatsmanns  auch 
äußerlich  war,  so  krankte  sie  doch  an  dem  Fehler 
eines  jeden  aristokratischen  Regimes:  es  fehlte  ihr 
die  Fiihlung  mit  dem  Volke,  und  zudem  mußte  sie, 
um  ihre  Position  zu  stärken,  das  den  Oraniern  er- 
gebene Heer  schwächen.  Dies  wurde  ihr  Verhängnis. 
Der  Angriff  Ludwigs  XIV.  fand  1672  das  Land 
waffenlos,  und  der  Ruf  „Holland  in  Not''  wurde  bald 
von  dem  anderen  übertönt:  „Oranie  bovenl^'  Der 
junge  Wilhelm  IIL,  der  Sohn  Wilhelms  IL,  den  Jan 
de  Witt  von  der  Regierung  ferngehalten  hatte,  wurde 
zufa  Statthalter  und  zum  Generalkapitän  ernannt;  der 
Ratspensionär  fiel,  durch  die  Feigheit  seiner  Partei 
im  Stiche  gelassen,  der  Volkswut  zum  Opfer.  Da- 
mals zweifelte  niemand  mehr,  daß  der  Prinz  von 
Oranien  nach  der  Souveränität  trachten  werde,  und 
diese  Meinung  war  dadurch  noch  nicht  aus  der  Welt 
geschafft,  daß  die  Staaten  ihre  Verbreitung  bei  Todes- 
strafe verboten.  Sie  selbst  hatten  dem  Prinaan,  indem 
sie  ihm  die  Ernennung  der  Behörden  bei  einem  sehr 
beschränkten  Präsentationsrecht  der  Städte  über- 
ließen, eine  Macht  in  die  Hand  gegeben,  die  der  eines 
Souveräns  fast  gleichkam,  und  er  hatte  schon  durch 
das  sogenannte  Regierungsreglement  von  1674  die 
drei  Provinzen  Utrecht,  Geldern  und  Overijssel  in  seine 
Gewalt  gebracht  und  600  seiner  Anhänger  in  die 
Stadträte  eingeführt  Noch  waren  die  Dinge  in  der 
Schwebe;  erst  nach  der  Beendigung  des  Krieges  mit 
Frankreich  mußte  es  sich  entscheiden,  wer  künftig 
die  Leitung  der  Republik  in  Händen  haben  werde.  In 
jenen  Jahren  ist  die  Abhandlung  vom  Staate  ent- 
standen. 

Welche  Stellung  hat  Spinoza  gegenüber  den 
Fragen  seiner  Zeit  eingenommen?  Die  allgemein 
herrschende  Ansicht  darüber  ist:  Spinoza  war  ur- 
sprünglich ein  Anhänger  der  Demokratie  und  hat 
diese  im  Theologisch-politischen  Traktat  für  die  beste 


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XXII  Einleitung. 

Staatsform  erklärt;  allein  die  Ereigniflse  des  Jahres 
1672  haben  ihm  die  Angen  über  die  Grefahren  der 
Volksherrschaft  geöffnet,  so  daß  er  in  der  Abhandlung 
vom  Staate  die  Aristokratie  als  die  vorzüglichste 
Staatsform  empfiehlt  Diese  Anffassnng  wird  aber, 
so  verbreitet  sie  auch  ist,  weder  den  politischen  Er- 
eignissen der  Niederlande,  noch  den  Überzeugungen 
Spinozas  gerecht 

Es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  der  Theologisch- 
politische  Traktat  die  Demokratie  sowohl  ihrer  Ent- 
stehung als  ihrem  Werte  nach  für  die  erste  Staats- 
form erklärt  Spinoza  will,  wie  er  es  selbst  ausspricht, 
von  den  anderen  Staatsformen  absehen,  weif  ihm  die 
Demokratie  als  das  Urphänomen  des  Staates  erscheint 
Sie  steht  dem  Naturzustand  am  nächsten,  weil  jeder 
die  Macht,  die  er  dem  Staate  überträgt,  als  Inhaber 
der  Staatsgewalt  wieder  selbst  ausübt  Sie  ist  der 
Freiheit  am  günstigsten,  weil  es  bei  der  Identitöt 
von  Herrscher  und  Beherrschten  nicht  zur  Unter- 
drückung des  einen  Teiles  durch  den  anderen  kommen 
kann.  Dem  Theologisch-politischen  Traktate,  der  ja 
das  Recht  der  Persönlichkeit  gegenüber  dem  Staate 
zu  wahren  unternimmt,  mußte  sie  —  und  dies  betont 
Spinoza  ausdrücklich  —  als  die  natürlich  gegebene 
Verfassung  erscheinen.  Ganz  anders  ist  die  Aufgabe 
der  Abhandlung  vom  Staate.  Die  theoretische  Frage 
nach  der  an  sich  besten  Staatsform  liegt  ihr  fern,  sie 
will  nur  die  tauglichste  Form  der  empirisch  gegebnen 
Verfassungen  aufweisen.  Daher  kann  es  uns  nicht 
wundern,  wenn  hier  die  Demokratie  in  gleicher  Linie 
mit  der  Monarchie  und  der  Aristokratie  zum  Gegen- 
stand der  Untersuchung  gemacht  wird«  Gerade  wie 
in  der  älteren  Schrift  läßt  er  sie  wieder  in  einer 
gelegentlichen  geschichtsphilosophischen  Betrachtung 
den  beiden  anderen  Staatsformen  zeitlich  voraufgehen. 
Nu:n  hat  man  aber  gemeint,  in  dem  Urteil,  'das 
Spinoza  in  der  späteren  Schrift  über  die  richtig  be- 
gründete Aristokratie  föllt,  liege  eine  Desavouierung 
seiner  früheren  Ansichten.  Er  sagt  nämlich  von  ihr: 
„Wenn  irgend  ein  Staat,  so  muß  dieser  von  ewiger 
Dauer  sein,  und  nicht  durch  eigene  Schuld,  nur 
durch  ein  unabwendbares  Greschick  kann  er  zu  Grunde 


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Einleitung.  XXIII 

gehen''.  Die  Meinung,  daß  er  damit  der  AriBtokratie 
den  Vorzug  vor  der  Demokratie  habe  geben  wollen, 
wäre  in  der  Tat  unwiderleglich,  wenn  es  erlaubt  wäre, 
im  Sinne  Spinozas  ohne  weiteres  die  Dauer  einer  Ver- 
fassung als  Maßstab  für  ihren  Wert  zu  nehmen.  Dem 
hat  er  aber  selbst  widersprochen:  „Kein  Reich  hat 
so  lange  ohne  alle  merkliche  Veränderung  bestanden 
wie  das  türkische,  und  im  Gegenteil  war  keines  ver- 
gänglicher als  Volksstaaten  und  Demokratien  und 
nirgends  so  viel  Empörungen  wie  in  ihnen.  Wenn 
ab^*  Sklavere^  Barbarei  und  Einöde  Frieden  heißen 
sollen,  dann  gibt  es  für  die  Menschen  nichts  Erbärm- 
licheres als  den  Frieden^.  Es  ist  Spinoza  nie  in  den 
Sinn  gekommen,  die  Türkei  über  Athen  zu  stellen. 
Sein  Urteil  über  die  lange  Dauer  der  Aristokratie 
ist  in  der  Greschichte  des  Staates,  den  er  vor  Augen 
hatte,  sehr  wohl  begründet»  aber  es  hat  nichts  zu 
tun  mit  seinem  UrteU  über  den  Wert  dieser  Staats- 
form unter  einem  höheren  Gesichtspunkt  Im  An- 
fang des  letzten  Kapitels  der  Abhandlung  vom  Staate, 
in  welchem  er  die  Demokratie  behandeln  wollte,  be- 
streitet er  sogar  ausdrücklich  den  Vorzug  der  Aristo- 
kratie. Wenn  die  Menschen  so  beschaffen  wären, 
daß  sie  mit  dem  Eintritt  ins  Staatsleben  ihre  Leiden- 
schaften ablegten,  so  wäre  nichts  dagegen  zu  sagen, 
wenn  man  die  Regjierung  den  Besten  von  ihnen  über- 
trüge. Allein  an  £e  Möglichkeit  einer  solchen  Aristo- 
kratie des  Creistes  hat  er  nicht  geglaubt  Weil  die 
Menschen  bleiben  wie  sie  sind,  weil  infolgedessen, 
wie  die  Erfahrung  lehrt»  jede  Aristokratie  zu  einer 
Eastenherrschaft  entartei  der  Staat  aber  nicht  das 
Objekt  begrifflicher  Spekulation,  sondern  ein  Gegen- 
stand der  Erfahrung  ist,  darum  kann  man  unmöglich 
der  Aristokratie  den  Vorzug  vor  der  Demokratie 
geben.  Dieser  Stellungnahme  gegenüber  noch  an  eine 
Wandlung  in  der  Staatslehre  Spinozas  zu  glauben, 
erscheint  mir  unmöglich.  Als  Philosoph  ist  Spinoza 
immer  Anhänger  der  Demokratie  geblieben. 

Diese  Tatsache  ist  indes  noch  nicht  gleich- 
bedeutend damit,  daß  er  nun  auch  in  seinem  Vater- 
lande die  demokratische  Staatsform  hätte  zur  Herr- 
schaft bringen  wollen.   Dem  widerstreitet  ein  anderes 

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XXIV  Einleifcimg. 

Motiv  seines  Denkens.  Schon  im  Theologisch-poli- 
tischen Traktat  erklärt  er,  daß  jeder  Staat  seine 
Kegierongsform  hotwendig  beibehalten  müsse,  da  sie 
nnr  unter  Grefahr  des  ganzlichen  Unterganges  ge- 
ändert werden  könne.  Daher  vernrteUt  er  selbst  die 
englische  Revolution,  die,  wie  er  meint,  nur  einen 
Tyrannen  an  die  Stelle  eines  anderen  gesetzt  habe, 
als  sei  es  ein  bloßer  Streit  um  den  Titel  gewesen. 
Dieses  Urteil,  dessen  feine  Ironie  man  bewundert 
hat^  ist  falBch,  denn  1649  ist  ein  Princip  dekapitiert 
worden;  aber  es  ist  lehrreich  für  das  Denken  Spi- 
nozas. Hätte  er  unter  einer  Monarchie  gelebt^  so  vrare 
er  antirepublikanisch  gewesen.  Da  er  unter  einer 
Republik  lebte,  ;ist  er  antimonarchisch.  „Wer  die 
Schäden  im  Staat  beseitigen  will^,  erklärt  er  in  der 
Abhandlung  vom  Staate,  „der  muß  Gegenmittel  an- 
wenden, die  mit  der  Natur  des  Staates  im  Einklang 
stehen  und  aus  seinen  Grundlagen  hergeleitet  werden 
können,  sonst  fällt  er  in  die  Scylla,  indem  er  die 
Charybdis  vermeiden  will."  Spinoza  ist  kein  Re- 
volutionär. Als  Holländer  ist  er  in  diesem  Sinne  nie 
Demokrat  gewesen. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  wird  es  nun  auch 
klar,  wie  er  sich  zu  den  politischen  Bewegungen  seines 
Vaterlandes  verhalten  mußte.  Der  Weise,  den  seine 
Ethik  lehrt,  besitzt  ein  Vaterland,  darin  ungleich 
seinem  Vorbild  im  Altertum,  dem  kosmopolitischen 
Weisen  der  Stoa.  „Der  von  der  Vernunft  geleitete 
Mensch  ist  freier  im  Staate,  wo  er  nach  gemeinsamem 
Beschlüsse  lebt»  als  in  der  Einsamkeit,  wo  er  nur  sich 
selbst  gehorcht.''  Spinoza  war  Holländer.  Das  Wort 
hat  freilich  einen  anderen  Klang,  als  wenn  wir  sagen: 
Piaton  war  Grieche.  Aber  man  darf  es  nicht  vergessen: 
Es  liegt  etwas  Großes  in  der  Geschichte  einer  Nation, 
deren  Schiffe  mit  dem  Besen  am  Mastbaum  durch 
die  Meeresstraßen  fahren,  und  deren  Flotte  einem 
abreisenden  Philologen  salutiert  gleich  ein^n  Fürsten. 
Es  ist  dasselbe  Volk,  das  Rembrandt  hervorgebracht 
und  Spinoza  möglich  gemacht  hat. 

Er  war  antimonarchisch,  also  war  er  antioranisch, 
also  stand  er  auf  der  Seite  der  Regentenpartei  Seine 
jüdischen   Stanmiesgenoesen  sind   durchweg  auf  d^ 


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Emleiiang.  XXV 

Seite  der  oranischen  Partei  gestanden  —  auch  darin 
ist  er  Holländer.  Eb  ist  eine  bedeutsame  Tatsache, 
daß  den  größten  Philosophen  der  Zeit,  der  in  Holland 
lebte,  und  den  größten  Staatsmann,  den  Holland  be- 
sessen, nicht  nur  die  Gemeinsamkeit  politischer  Ober- 
seogung,  sondern  auch  das  engere  Band  persönlicher 
Freundschaft  verbunden  hat  Die  Politik,  die  Jan 
de  Witt  in  seiner  Ordre  |egens  de  vermenginge  van 
de  ^Theologie  met  de  Philosophie  vertrat»  hat  Spi- 
noza in  seinem  Theologisch-politischen  Traktat  ver- 
teidigt, und  die  Schnähschriften  haben  sicherlich 
Grund  gehabt,  dem  Staatsmann  vorssuwerfen,  daß  der 
Traktat,  durch  den  abtrünnigen  Juden  zusammen  mit 
dem  Teufel  in  der  Hölle  geschmiedet»  mit  seinen 
Wissen  herausgegeben  worden  sei  Ich  glaube,  daß 
in  der  Abhandlung  vom  Staate  sich  kein  Gedanke 
findet,  der  dem  Denken  de  Witts  fremd  war.  Beide 
sind  antimonarchisch:  de  Witts  Abendgebet  war:  de 
furore  monarcharum  libera  nos.  Domine.  Beide  sind 
antiklerikal:  die  Kirche  hat  sich  nicht  einzumischen 
in  die  Angelegenheiten  des  Staates,  aber  der  Staat 
beaufsichtigt  die  Kirche.  Beide  sind  an tir evolutionär: 
auch  Jan  de  Witt  hat  die  englische  Revolution  ver- 
dammt» ja  er  hat  das  Princip  seines  eigenen  Staates 
negiert»  indem  er  erklärte,  daß  er  den  Kampf  gegen 
Spanien  nicht  begonnen  hätte. 

Noch  in  einer  anderen  Beziehung  äußert  sich 
das  enge  Verhältnis,  in  dem  Spinoza  zu  de  Witt  stand. 
Im  achten  Kapitel  der  Abhandlung  beruft  er  sich 
mit  überraschend  warmer  Anerkennung  auf  die  Ar- 
gumente, die  V.  H.  gegen  das  Königtum  vorgebracht 
habe.  Wenn  man  schon  früher  diesem  Hinweis  des 
flelten  Citierenden  nachgegangen  wäre,  hätte  man 
sicher  die  Bedeutung  der  Scl^rEt  besser  verstanden. 
Dieser  V.  H.  ist  Pieter  van  Hove  (Pierre  de  la  Court), 
der  Freund  de  Witts  und  der  publicistische  Vertreter 
seiner  Politik.  Ich  habe  in  den  Anmerkungen  meiner 
Übersetzung  darauf  hingewiesen,  daß  Spinoza  nicht 
nur  die  Argumentation  gegen  die  Monarchie  aus 
van  Hoves  Polityke  Weegpschaal  entnommen  hat, 
sondern  daß  er  auch  die  Darstellung  der  Republik 
Venedig,   die  |ener   nach  Blaaw,   Gianotti  und  Gas- 

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XXVI  Einleitiing. 

paro  Contarini  gibt,  seiner  eigenen  Schilderung  der 
besten  aristokratischen  VerfaBSimg  za  Grunde  gelegt 
hat  Wenn  die  Abhandlang  vom  Staate  als  philo- 
sophische Staatslehre  neben  Hobbes'  Liemthan  steht» 
so  steht  sie  gleichzeitig  auch  als  holländische  Staats- 
schrift neben  van  Hoves  Polityke  WeegschaaL  Der 
Schneidepunkt  dieser  beiden  Koordinaten  ist  ihr 
intelligibler  Ort.  Aus  jenem  interessanten  Buche,  das 
die  Varzüge  und  Nachteile  der  verschiedenen  Re- 
gierungsformen g^eneinander  abwägen  wül,  lernen 
wir  auch  das  politische  Programm  de  Witts  kennen, 
das  er  zu  seinem  Unheil  freilich  nicht  in  die 
Praxis  umgesetzt  hat:  es  ist»  kurz  gesagt,  die 
Demokratisierung  der  Aristokratie.  Dies  ist  auch 
das  Programm  Spinozas.  Van  Hove  hat  die  erste 
Ausgabe  seines  Buches  mit  einer  allgemeinen  Be- 
trachtung geschlossen,  in  der  er  dartat»  daß  die  Volks- 
regierung die  beste  Staatsform  sei.  In  der  dritten 
Auflage  hat  er  dem  Buche  noch  einige  Kapitel  hin- 
zugefügt, in  welchen  er  die  Xonsequenzen  seiner  An- 
schauung in  bezug  auf  die  Begierungsform  seines 
Landes  zieht  Jan  de  Witt  hat  es  wohl  gewußt,  daß 
sein  persönliches  Regiment  sich  nur  auf  eine  nu- 
merisch schwache  und  keineswegs  zuverlässige  Oli- 
garchie stütze.  Aber  mit  demselben  Mute,  mit  dem 
er  sich  im  Kriege  gegen  die  Engländer  an  das  Steuer- 
ruder des  Admiralschiffes  stellte,  hat  er  auch  das 
Ruder  seines  Staates  geführt  Van  Hove  erklärt  nun 
eine  Aristokratie,  die  der  Volksregierung  am  nächsten 
komme,  für  die  beste  Regierungsform,  und  er  fordert 
für  die  Niederlande,  daß  ihre  Aristokratie  auf  eine 
volkstümliche  Grundlage  gestellt  werde.  Die  Zahl 
der  Regenten  soll  auf  5000  erhöht  werden,  und  der 
Zutritt  zu  den  Vroedschappen  soll  nicht  länger  das 
Privileg  einiger  Patrizierfamilien  bleiben.  Die  gleichen 
Forderungen  erhebt  Spinoza.  Wie  er  mit  tiefer  po- 
litischer Einsicht  erkannt  hat,  daß  das  Lebensprincip 
seines  Staates  die  avaritia,  die  Erwerbegier  ist  so  h^t 
er  auch  dessen  Schwäche  begriffen  und  ist  sich  klar 
darüber  gewesen,  welches  Mittel  ihn  allein  retten 
könne.  Am  Ende  des  zehnten  Kapitels  seiner  Ab- 
handlung hat  er  das  richtigste  Urteil  über  die  Ver- 

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Einleitang.  XXYII 

iasBnng  Hollands  gefallt»  das  überhaupt  gedacht 
werden  kann.  Seit  der  Vertreibung  der  Grafen  von 
Holland,  d.  h.  seit  der  Absetzung  PUlipps  H.,  hat  dem 
Staate  die  aoureriuie  Gentralgewalt  gefehlt,  fäne 
solche  will  Spinoza  in  der  Staaten-Versanunlung 
schaffen,  deren  Macht  nicht  mehr  durch  das  liberum 
Veto  der  vertretenen  Städte  lahmgelegt  werden  kann 
und  deren  Hitglieder  nicht  mehr  durch  dae  imperative 
Mandat  ihrer  Auftraggeber  die  Hände  gebunden  haben 
sollen.  Das  Heer  soll  aufhören,  ein  Instrument  in 
der  Hand  der  Oranier  zu  sein,  und  in  die  Gewalt  seiner 
Betaalsheeren,  der  Regenten,  übersehen;  nur  mit 
diesen  sind  die  oberen  Kommandostellen  zu  besetzen. 
Ebenso  soll  die  Landeskirche  den  Regenten,  denen 
Vorurteilslosigkeit  zur  Pflicht  gemacht  wird,  ausge- 
liefert werden,  damit  nicht  mehr  von  den  Kanzeln 
herab  der  Aufruhr  gepredigt  werden  kann.  Vor  allem 
aber,  und  dies  ist  die  entscheidende  Forderung,  muß 
das  Patriziat  selbst  erneut  und  der  Zugang  zu  ihm 
geöffnet  werden,  damit  jene  unheilvolle  Kluft  zwischen 
Volk  und  Regierung  verschwindet  Das  neunte  Kapitel 
der  Abhandlung  vom  Staate,  ergänzt  durch  die  ent- 
sprechenden Bestimmungen  des  achten,  enthält  das 
Reformprogramm  der  holländischen  Regentenpartei 
Nunmehr  ist  es  auch  Idar,  warum  die  Ereig- 
nisse des  Jahres  1672  unmöglich  die  vermeintliche 
Wandlung  in  den  politischen  Ansichten  Spinozas  haben 
hervorbringen  können.  Wenn  er  nicht  vorher  schon 
ein  Anhänger  der  de  Wittschen  Politik  gewesen  wäre, 
durch  ihre  Katastrophe  wäre  er  es  sicher  nicht  ge- 
worden. Das  aber  hat  man  behauptet  Zudem  war 
die  Bewegung,  der  sein  Freund  zum  Opfer  fiel,  gar 
keine  demokratische,  sondern  eine  monarchistische; 
me  konnte  ihn  nicht  gegen  die  Demokratie,  sondern 
nur  gegen  eine  Monarchie  einnefamen,  die  mit 
solchen  Mitteln  arbeitete.  Mächtige  Gegner  haben 
der  zu  schwachen  Regierungspartei  entgegenge- 
arbeitet, erklärt  er  in  seiner  Abhandlung,  sie  haben 
sie  gestürzt  und  den  Untergang  der  Republik  herbei- 
geführt So  tief  ihn  die  Untat  an  der  Gevangenenpoort 
erregt  hat,  er  wußte  sehr  wohl,  daß  die  Schuld 
daran  nicht  das  Volk,  sondern  die  oranischen  Agenten 

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XXVIII  fiinleitang. 

tragen.  Vergleicht  man  das  Urteil,  das  er  in  seiner 
leiten  Schrift  über  den  Pöbel  gefällt  hat,  mit  seinen 
früheren  im  Theologisch-politischen  Traktat  und  in 
der  Ethik,  so  wird  man  finden,  daß  es  bei  weitem  das 
mfldeste  und  gerechteste  ist  Die  Emponmg  des  ersten 
Tages  über  die  nltimi  barbarorum  ist  der  besonnenen 
Eii^cht  in  die  Ursachen  der  Vorgänge  gewichen. 

Die  Erkenntnis  von  der  politischen  Bedeutung 
des  einen  Verfassungsentwurfes  wird  uns  nun  auch 
den  anderen  verstehen  lehren.  Spinoza  hat  in  seiner 
Darstellung  der  Monarchie  nicht  etwa  ein  Muster 
aufstellen  wollen,  nach  dem  die  schon  monarchisch 
regierten  Völker  ihre  Verfassung  hätten  umgestalten 
können.  ,',Ein  Volk,  das  schon  an  eine  andere  Re- 
gierungsform gewöhnt  ist,  wird  nicht  ohne  große 
Gefahr  eines  Umsturzes  des  gesamten  Staates  die  be- 
stehenden Grundlagen  aufreißen  und  das  ganze  Staats- 
gebäude  umändern  können.''  Wenn  er  die  Grund- 
lagen der  besten  Monarchie  darlegt,  so  hat  er,  wie 
er  selbst  erklärt,  „eine  monarchische  Regierung  im 
Sinne,  die  ein  freies  Volk  begründet»  denn  nur  einem 
solchen  können  sie  von  Nutzen  sein''.  Ein  solches  freies 
Volk,  das  eine  Monarchie  zu  begründen  die  Absicht 
hatte,  hat  es  damals  und  für  absehbare  Zeit  nur 
ein  einziges  in  der  Welt  gegeben  —  das  nieder- 
ländische. Wenn  die  genauen  Verfassungsbestim- 
mungen  der  Monarchie,  die  Spinoza  gibt»  überhaupt 
etwas  anderes  sein  sollen,  als  müßige  Spekulationen, 
so  kann  ihr  Sinn  nur  der  sein,  daß  sie  dem  nieder- 
ländischen Volke  zeigen  sollen,  wie  es  seine  Mon- 
archie einzurichten  habe.  Darum  werden  wir  uns 
auch  nicht  wundern,  wenn  sein  Parlament  bis  in  die 
Einzelheiten  die  Züge  der  Staaten  von  Holland  trägt 
Es  wird  verständlich,  warum  er,  der  die  Monarchie 
ganz  mit  demokratischem  Geiste  erfüllen  wollte  und 
der  die  eine  Grundforderung  des  Liberalismus,  die- 
jenige des  Volks  in  Waffen,  zum  ersten  Male  auf- 
gestellt hat,  nicht  auch  jene  andere  von  der  Wahl 
des  Parlamentes  durchs  Volk  vertreten  hat  Sie  wäre 
in  den  Niederlanden  aussichtslos  gewesen,  während 
die  Ernennung  der  vorgeschlagenen  Vertreter  durch 
das  Staatsoberhaupt  dem  alten  Brauche  entsprach.  Spi- 


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Sinleitiing.  XXIX 

nooa  hat  mit  seinar  lateinisch  geechriebenen  Abhand- 
limg  natorlich  nicht  direkt  auf  das  Volk  zu  wirken  be- 
abrichtigt.  Daß  er  aber  den  g^ebildeten  und  denkenden 
Teil  seiner  Nation  zum  Nachdenken  hat  anregen 
wollen,  ehe  dieser  sich  bedingungslos  dem  Qranier 
auslieferte,  glaube  ich  allerdings.  Das  sechste  und 
siebente  Kapitel  der  Abhandlung  enthalten  eine  Kon- 
stitution der  niederländischen  Monarchie. 

In  einer  Lehre  vom  Staate  —  denn  das  ist  die 
Abhandlung  bei  all  ihrer  politischen  Tendenz  —  durfte 
auch  eine  Betrachtung  des  demokratischen  Staates 
nicht  fehlen.  Wir  können  vermuten,  daß  sich  Spinoza 
dabei,  da  er  der  Erfahrung  folgen  wollte,  gerade 
so  an  die  Schilderung  des  athenischen  Staates  in  der 
Polityken  Weegschaal  .gehalten  hatte,  wie  er  sich  bei 
der  Behandlung  .der  Aristokratie  an  die  dort  gegebene 
Darstellung  der  venezianischen  Republik  hielt.  Wenn 
der  Titel  seiner  Schrift  wirklich  von  ihm  selbst  her- 
rührt, so  scheint  es,  daß  er  die  demokratische  Staats- 
form auch  äußerlich  etwas  nebensächlich  hat  be- 
handeln wollen. 

Als  Piaton  den  Gedanken  des  lakedaimonischen 
Staates  mit  den  Ideen  Utopiens  verband,  wollte  er 
seinem  todgeweihten  Lande  das  Mittel  geben,  durch 
das  es  gesunden  könne.  Der  gleiche  Wille  hat  Spi- 
noza beseelt»  als  er  seine  Abhandlung  vom  Staate 
schrieb.  Ob  es  der  aristokratischen  Partei,  die  zwar 
gestürzt,  aber  keineswegs  vernichtet  war  und  die  in 
Amsterdam  von  neuem  ihr  Haupt  erhob,  noch  einmal 
wie  zu  Reiten  Wilhelms  IL  gelingen  werde,  ihre 
Herrschaft  aufzurichten  und  die  Oranier  zurückzu- 
drängen, ob  Wilhelm  III.,  glücklicher  als  sein  Vater, 
die  Macht  der  Regenten  vollends  brechen  und,  auf 
das  Volk  sich  stützend,  seine  Monarchie  errichten 
könne,  war  eine  Frage  der  Macht»  keine  Frage  der 
Vemimf t  Wie  aber  die  Verfassung  des  neugestalteten 
Staates»  mochte  sie  nun  monarchisch  oder  aristo- 
kratisch sein,  „einzurichten  sei,  damit  er  nicht  der 
Tyrannei  verfalle  und  damit  Friede  und  Freiheit  der 
Bürger  unangetastet  blieben^,  dies  zu  zeigen  ist  die 
bewußte  Aufgabe  der  Abhandlung  vom  Staate. 

Die  Entscheidung,  die  Spinoza  nicht  mehr  erlebt 


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XXJt  Einleitimg. 

hat^  ist  eine  klägliche  gewesen.  Der  Oranier  hat  es 
nicht  vermocht,  eine  demokratische  Monarchie  zu 
gründen,  und  die  Regenten  ha^n  es  versäumt, 
ihrem  überlebten  Regime  frisches  Blut  zuzuführen: 
eine  kleinliche  Rivalität  wurde  in  Permanenz  erklärt 
Anstatt  nach  der  Krone  der  Niederlande  griff 
Wilhelm  IIL  nach  der  Krone  Englands.  Als  dann 
der  Tod  des  kinderlosen  Königs  f&  lange  Zeit  eine 
neue  statthalterlose  Periode  eröffnete,  lebte  eine 
Oligarchie,  die  von  nichts  mehr  wußte  als  von  dem 
nackten  Interesse  ihrer  Kaste.  In  einem  anderen  Sinne, 
als  es  gemeint  war,  ist  Spinozas  Wort  vom  Unter- 
gang des  Staates  wahr  gewesen.  Am  Grab  der  Re- 
publik ist  ^r  gestanden. 


Übersetzungen.  .  Die  erste  Übersetzung  der 
Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Verstandes 
ist  gleichzeitig  mit  der  ersten  Übersetzung  der  Ab- 
hanifiung  vom  Staate  erschienen:  Benedict  von  Spi- 
noza, Zwei  Abhandlungen  über  die  Kultur  des  mensch- 
lichen Verstandes  und  über  die  Aristokratie  und  Demo- 
kratie. Herausgegeben  und  mit  einer  Vorrede  begleitet 
von  S(chack)  H(eirmann)  Ewald,  HerzogL  Sachsen- 
gothaischen  Sekretärs,  Lieipzig  1785.  Die  Übersetzung 
ist  im  allgemeinen  gut,  wenn  sie  auch  natürlich  noch 
jeder  Textkritik  entbehrt  Die  Übersetzungen  der 
beiden  Abhandlungen  in  Berthoid  Auerbachs  B.  v.  Spi- 
nozas samtliche  ^Werke,  Stuttgart  1841  (2.  AufL  eb. 
1871)  lehnen  sich  möglichst  eng  an  das  lateinische 
Original  an  und  sind  dadurch  schwerfallig  und  nicht 
immer  leicht  verstandlich.  Die  Kirchmannsche  Über- 
setzung, die  wieder  die  beiden  Abhandlungen  zu  einem 
Bande  zusammenschließt  (in  der  Philosophischen 
Bibliothek,  Berlin  J.871),  ist  mehr  willkürlich  als  frei. 
Die  neuesten  Übertragungen  von  J.  Stern,  Abhandlung 
über  die  Vervollkommnung  des  Verstandes,  Leipzig 
Reclam  1887  und  Der  politische  Traktat»  ebend.  1906, 
sind  zwar  sprachgewandt,  aber  reich  an  Fehlem  und 
Auslassungen. 


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Einleitang.  XXXI 

Unter  den  ausländischen  Übersetzungen  sind  vor 
allem  hervorzuheben  4i6  sehr  sorgfältigen  und  sach- 
kundigen holländischen  von  Willem  Meijer:  Vertoog 
over  het  zuivere  Denken,  Amsterdam  1897  und  Staat- 
kundig  Vertoog,  ebend.  1901.  Ins  Französische  sind 
die  beiden  Abhandlungen  übertragen  in  Emile  Saissets 
Oeuvres  de  Spinoza,  Paris  1861  (r6forme  de  l'enten- 
dement  zuerst  abend.  1842).  Die  Abhandlung  vom 
Staate  ist  besonders  übersetzt  von  J.  G.  Prat  ins 
Französische  (Traitö  politique,  Paris  1860)  und  von 
William  Maccall  ins  Englische  (A  treatise  on  poU- 
tics,  London  1854).  Beide  Abhandlungen  sind  auf* 
genommen  in  jdie  englische  Übersetzung  der  Chief 
Works  of  Spinoza  von  E.  H.  M.  Elwes  (1883—1884). 
Zuletzt  hat  der  Übersetzer  der  Ethik,  W.  Haie  White, 
auch  die  Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Ver- 
standes ins  Englische  übertragen  (1895). 


Litteratur.  Zur  Abhandlung  über  die  Ver- 
besserung des  Verstandes:  Sigwart,  Spinozas  neu- 
entdeckter Traktat  von  Gott,  dem  Menschen  und  dessen 
Glückseligkeit,  Gotha  ^866,  S.  153—158;  Trendelen- 
burg, Historische  Beiträge  zur  Philosophie,  Berlin 
1867,  in,  S.  360  ff.;  Avenarius,  Über  die  beiden  ersten 
Phasen  des  Spinozischen  Pantheismus;  Anhang:  Über 
Reihenfolge  und  Abfassungszeit  der  älteren  Schriften 
Spinozas,  Leipzig  1868,  S.  85 — 105;  Böhmer,  Spi- 
nozana  IV,  in  der  Zeitschr.  f.  Ph.  Bd.  57,  1870, 
S.  252 — 256;  Baltzer,  Spinozas  Entwicklungsgang, 
Kiel  1888,  S.  80—100;  Busse,  Beiträge  zur  Entwick- 
lungsgeschichte Spinozas,  in  der  Zeitschr.  f.  Ph.  Bd.  90, 
1887,  S.  75—81;  Elbogen,  Der  Tractatus  de  intellectus 
emendatione  und  seine  Stellung  in  der  Philosophie  Spi- 
nozas, Breslau  1898;  Eühnemann,  Über  die  Grund- 
lagen der  Lehre  des  Spinoza,  in  Philosophische  Ab- 
handlungen dem  Andenken  Rudolf  Hayms  gewidmet, 
Halle  1902,  S.  203—272;  Gebhardt,  Spinozas  Ab- 
handlung über  die  Verbesserung  des  Verstandes, 
Heidelberg- 1905. 


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XXXn  Einleitung. 

Zur  Abhandlung  vom  Staate:  H.  C.  W.  von 
Sigwart,  Vergleichung  der  Rechts-  und  Staats- 
Theorien  des  B.  Spinoza  und  des  Th.  Hobbes,  Tübingen 
1842;  Kyin,  de  iuris  notione  Spinozae^  Berlin  1846; 
Hörn,  Spinozas  Staatslehre,  Dessau  1851  (2.  Aufl. 
Dresden  1863);  Hartenstein,  de  notionum  iuris  et 
civitatis,  quas  Ben.  Spinoza  et  Thomas  Hobbesius  pro- 
ponunt,  similitudine  et  dissimilitudine,  Leipzig  1856 
und  57  (wiederabgedruckt  in  Historisch-philosophische 
Abhandlungen,  Leipzig  1870,  S.  216 — 240);Laspeyre8, 
Geschichte  der  volkswirtschaftlichen  Anschauungen 
der  Niederländer  und  ihrer  Litteratur  zur  Zeit  der 
Republik,  Leip^g  1863;  Assarson,  Om  Spinoza's  stats- 
lära  och  dess  förhillande  teil  Hobbee  och  Rousseau, 
Lund  1864;  Dessauer,  Spinoza  und  Hobbes,  Breslau 
1868;  Gaspary,  Spinoza  und  Hobbes,  Berlin  1873; 
Eriegsmann,  Die  Rechts-  und  Staatstheorie  des  B. 
von  Spinoza,  Wandsbek  1878;  Salinger,  Spinozas 
Lehre  von  der  Selbsterhaltung,  Berlin  1881;  Hoff, 
Die  Staatslehre  Spinozas,  Berlin  1895;  Otto,  Zur  Be- 
urteilung und  Würdigung  der  Staatslehre  Spinozas, 
Darmstadt  1897;  Menzel,  Wandlungen  in  der  Staats- 
lehre Spinozas,  in  Festschrift  zum  70.  Geburtstage 
Ungers,  Stuttgart  1898;  Meijer,  Wie  sich  Spinoza  zu 
den  Collegianten  verhielt,  in  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil., 
Bd.  XV,  1902,  S.  1—31;  Menzel,  Spinoza  und  die 
Collegianten,  in  Arch.  1  Gesch.  d.  Phil.  Bd.  XV,  1902, 
S.  277 — 298;  Meijer,  Spinozas  demokratische  Ge- 
sin;nung  und  sein  Verhältnis  zum  Christentum,  in 
Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.,  B.  XVI,  1903,  S.  455—485; 
Duff,  Spinoza's  political  a,nd  ethical  philosophy, 
Glasgow  1903;  Worm,  Spinozas  Naturrecht,  in  Axch. 
f.  Gesch.  d.  PhiL,  Bd.  XVH,  1904,  S.  500—515. 


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Abhandlung 

über  die 

Verbesserung  des  Verstandes 

und  über  den  Weg, 

auf  dem  er  am  besten  zur  wahren  Erkenntnis 

der  Dinge  geleitet  wird. 


Splaoift,  Abh*iid]g.ftb.d.y«rbM««rg.d.V«ntoBdM.        1 

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JNachdem  die  EMahning  mich  gelehrt  hat,  daß 
alles,  was  im  gewöhnlichen  Leben  sich  häufig  uns 
bietet,  eitel  um  wertlos  ist,  da  ich  sah,  daß  alles, 
was  und  vor  welchem  ich  mich  fürchtete^  nur  insofern 
Gutes  oder  Schlimmes  in  sich  enthielt,  als  die  Seele 
davon  bewegt  wurde,  so  beschloß  ich  endlich  nach- 
zuforschen, ob  es  irgend  etwas  gebe^  das  ein  wahres 
Gut  sei,  dessen  man  teilhaft  werden  könne,  und  von 
dem  allein,  mit  Ausschluß  alles  Übrigen,  die  Seele 
ergriffen  werde^  ja  ob  es  etwas  gebe^  durch  das  ich,  10 
wenn  ich  es  gefunden  und  erlangt,  eine  bestandige 
und  vollkommene  Freude  auf  immerdar  genießen 
könne.  (2)  Ich  sage:  ich  beschloß  endlich;  denn  auf 
den  ersten  Blick  schien  es  nicht  ratsam,  für  etwas 
noch  Ungewisses  das  Gewisse  aufsugeben.  Ich  sah 
nämlich  die  Vort^Ie^  die  man  durch  Ehre  und  Reich- 
tum erlangt,  und  ich  sah,  daß  ich  es  anheben  müsse, 
nach  ihnen  zu  trachttti,  wenn  ich  mich  ernstlich 
um  ein  Anderes,  Neues  bemühen  wollte.  Und  wenn 
doch  vielleicht  das  höchste  Glück  in  ihnen  läge,  so  20 
sah  ich  wohl,  daß  ich  seiner  verlustig  gehen  müßte; 
wenn  es  aber  nicht  darin  läge,  und  ich  mich  doch 
nur  um  diese  Dinge  bemühte,  so  müßte  ich  eben- 
falls das  höchste  Glück  entbehren.  (S)  Ich  überlegte 
also,  ob  es  wohl  möglich  wäre,  su  einer  neuen  Lebens- 
einrichtung oder  wenigstens  zu  einer  Gewißheit  hier- 
über zu  gelangen,  ohne  die  Ordnung  und  Gewohnheit 
meines  Lebens  zu  ändern,  was  ich  oft  vergebens  ver- 
sucht habe.  Dasjenige  nämlich,  worum  es  sich  im 
Leben  am  meisten  handelt  und  was  die  Menschen,  80 
wie  ihre  Taten  zeigen,   als  höchstes  Gut  ansehen, 

[Opp.  poctb.  867.    Vloten  3.    Bruder  §§  1^8.] 

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4       Abhandlang  Aber  die  Verbesserang  det  Yentandet. 

läflt  sich  auf  diese  dreie  zurückführen:  nämlich  aaf 
Reichtum,  Ehre  und  Sinnenlust  Durch  diese  drei 
wird  der  Geist  so  sehr  in  Anspruch  genommen,  daI3 
er  an  ein  andres  Gut  nicht  denken  kann.  (4)  Denn 
was  die  Sinnenlust  angeht,  so  wird  die  Seele 
so  von  ihr  umstrickt,  ab  sei  es  ein  wirkliches 
Gut,  in  dem  sie  ruhe^  und  dadurch  wird  sie  voll- 
kommen verhindert,  an  etwas  anderes  zu  denken. 
Aber  auf  ihren  Grenuß  folg^  die  größte  Unlust^  die 

10  den  Geist  wenn  nicht  vernichtet  so  doch  verwirrt 
und  abstumpft  Durch  das  Streben  nach  Ehre  und 
Reichtum  wird  der  Geist  nicht  weniger  eingraommen, 
zumal  wenn  sie  um  ihrer  selbst  willen  gesucht 
werden^),  denn  dann  gelten  sie  als  das  höchste  Gut. 
(5)  Durch  die  Ehrsucht  wird  der  Geist  nocb  viel  mdir 
eingenommen,  denn  die  Ehre  gilt  inuner  als  Gut  an 
sich  und  als  letzter  Zweck,  nach  dem  sich  alles  richtet 
Sodann  haben  diese  nicht  wie  die  Sinnenlust  die  Reue 
im  Gefolge;  vielmehr  steigert  sich  die  Freude  daran« 

20  je  mehr  man  davon  besitz^  und  so  werden  wir  immer 
mehr  und  mehr  verlockt^  beides  Besitz  und  Freude 
zu  vermehren.  Wenn  wir  uns  aber  einmal  in  unsren 
Hoffnimgeu  getäuscht  sehen,  dann  entsteht  daraus 
die  größte  Unlust  Schließlich  ist  die  Ehrsucht  darum 
ein  großes  Hemmnis,  weil  wir,  um  sie  zu  befriedigen, 
unser  Leben  notwendig  nach  den  B^;riffen  der  Men- 
schen richten  müssen,  meiden,  was  sie  in  der  Regel 
meiden,  und  suchen,  was  sie  suchen* 

(6)  Da  ich  also  sah,  daß  dieses  alles  dem  Streben 

SO  nach  einer  neuen  Lebenseinrichtung  im  Wege  stehe. 
Ja  daß  es  ihm  so  sehr  entgegengesetzt  sei,  daß  man 
notwendig  auf  das  eine  oder  auf  das  andere  ver- 

1)  Dies  hfttte  weitläufiger  und  anafahrlicher  eriftntert 
werden  können  durch  Untenoheidong  des  Reichtoms,  je 
nachdem  er  um  seiner  selbst  willen  oder  ans  Ehrsucht  oder 
um  der  Sinnenlust  willen  oder  wegen  der  Gesundheit  und 
zur  Forderung  der  KUnste  und  WisscDSchsüen  erstrebt  wird. 
Doch  mOge  es  auf  die  passende  Stelle  aufgespart  bleiben, 
weil  hier  der  Ort  nicht  ist^  all  das  so  eingehend  sn  unter- 
suchen. 

[Opp.  posth.  857—858.    Vloten  8—4.    Bmder  §§  8—6.] 

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EinleitaDg:  das  2Sel  der  Philosophie.  5 

ziehten  müsse,  so  war  ich  gezwungen,  zu  nntersnchen, 
was  für  mich  das  Nützlichere  wäre;  denn  ich  schien 
ja»  wie  gesagt,  ein  gewisses  Gut  für  ein  Ungewisses 
aufgeben  zu  wollen.  Nachdem  ich  aber  ein  wenig 
über  diese  Sache  nachgedacht^  fand  ich  zunächst: 
wenn  ich  auf  jene  Dinge  verzichten  und  zu  einer 
neuen  Lebenseinrichtung  greifen  wollte,  so  würde  ich 
ein  seiner  Natur  nach  ungewisses  Gut  —  wie  wir  aus 
dem  Gesagten  klar  entnelmien  können  —  aufgeben  für 
ein  ebenfalls  ungewisses  Guty  aber  ungewU}  nicht  10 
sriner  Natur  nach  —  denn  ich  suchte  ja  ein  dauerndes 
Gut  — ,  uneewiß  nur,  ob  es  zu  erlangen  wäre. 
(7)  Durch  anhaltendes  Nachdenken  kam  ich  aber  zu  der 
Einsicht^  daß  ich  dann  —  sofern  ich  es  nur  gründlich 
zu  erwägen  vermöchte  —  gewisse  Übel  für  ein  ge- 
wisses Gut  aufgeben  würde.  Ich  sah  nämlich,  daß 
ich  mich  in  der  größten  Gefahr  befand  und  deshalb 
gezwungen  war,  ein  wenn  auch  ungewisses  Heilmittel 
mit  aller  Kraft  zu  suchen;  wie  ein  Todkranker,  der 
seinen  gewissen  Tod  voraussieht,  wenn  nicht  ein  Heil-  20 
mittel  angewandt  wird,  nach  diesem  wenn  auch  Un- 
gewissen Mittel  mit  aller  Kraft  suchen  muß,  denn 
auf  ihm  beruht  seine  ganze  Hoffnung.  Alle  jene  Dinge 
aber,  denen  die  Menge  nachgeht^  bieten  nicht  nur 
kdn  Mittel  zur  Erhaltung  unseres  Seins,  sondern  hin- 
dern äe  sogar.  Und  häufig  sind  sie  die  Ursache  des 
Untergangs  derer,  die  sie  besitzen^),  —  wenn  man 
es  so  nennen  darf  —  immer  aber  die  Ursache  des 
Untergangs  derer,  die  von  ihnen  besessen  w^den. 

(8)  &  gibt  ja  viele  Beispiele  von  Menschen,  die  80 
um  ihres  Reichtums  willen  Verfolgung  bis  zum  Tod 
erlitten  haben,  und  auch  von  solchen,  die,  um  Schätze 
zu  erwerben,  sich  so  vielen  Gefahren  ausgesetzt  haben, 
daß  sie  schließlich  ihre  Torheit  mit  dem  Leben  büßen 
mußten.  Nicht  minder  häufig  sind  die  Beispiele  von 
solchen,  die,  um  Ehre  zu  erringen  oder  zu  behaupten, 
das  Schlimmste  erduldet  haben.  Zahllos  sind  endlich 
die  Beispiele  derer,  die  durch  allzu  große  Sinnenlüst 

1)  Dies  ist  eingehender  darzatan. 

[Opp.  posth.  858—859.    Yloten  4—5.    Brader  §§  6—8.] 


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6       Abhandlang  Aber  die  YerbeMerong  des  Ventandes. 

sich  einen  vorzeitigen  Tod  bereitet  haben.  (9)  DieBe 
Übel  schienen  mir  femer  daraus  entstanden  zu  sein, 
daß  alles  Glück  oder  Unglück  allein  in  dw  Beschaffen- 
heit des  Gegenstandes  liegt,  dem  wir  in  liebe  an- 
hangen. Denn  Über  das,  was  man  nicht  liebt»  wird 
niemals  ein  Streit  entstehen;  keine  Traner  wird  sein, 
wenn  es  zagrunde  geht,  kein  Neid,  wenn  es  ein  anderer 
besitzt,  keine  Furcht^  kein  Hal3,  mit  einem  Wort 
keinerlei  Erregungen  der  Seele;  denn  all  das  findet 

10  sich  nur  bei  der  Liebe  zu  solchen  Dingen,  die  za- 
grunde gehen  können,  wie  es  die  alle  sind,  von  denen 
wir  eben  gesprochen  haben.  (10)  Aber  die  Liebe  za 
einem  ewigen  und  unendlichen  Ding  nährt  die  Seele 
mit  reiner  Freude  und  ist  frei  von  aller  Unlust,  was 
sehr  zu  erwünschen  und  mit  aller  Kraft  zu  erstreben 
ist  Aber  ich  habe  nicht  ohne  Grund  die  Worte  ge- 
braucht: sofern  ich  es  nur  gründlich  zu  erwäeen  ver- 
möchte. Denn  obwohl  ich  es  im  Geiste  so  klar  er- 
kannte, konnte  ich  doch  nicht  von  mir  abthun  alle 

20  Habgier,  Sinnenl'ust  und  Ehrsucht. 

(11)  Das  eine  erfuhr  ich,  daß  der  Geist,  solange 
er  mit  diesem  Gedanken  sich  beschäftigte,  von  jenen 
Dingen  ^ich  abwandte  und  ernstlich  (wer  eine  neue 
Lebenseinrichtung  nachdachte.  Das  gereichte  mir  zu 
großem  Tröste,  denn  ich  sah,  daß  jene  Übel  nicht 
derart  wären,  daß  sie  keinen  Gegenmitteln  weichen 
wollten.  Wohl  waren  anfangs  diese  Pausen  selten 
und  von  sehr  kurzer  Dauer;  nachdem  mir  aber  das 
wahre  Gut  mehr  und  mehr  bekannt  wurde,  waren 

80  sie  häufiger  und  länger.  Namentlich  geschah  dies, 
nachdem  ich  eingesehen  hatte,  daß  der  Erwerb  des 
Geldes  oder  Sinnenlust  und  Ehre  so  lange  schädlich 
seien,  als  sie  ihrer  selbst  wegen,  nicht  sds  Mittel  zu 
anderen  ^wecken  erstrebt  würden.  Denn  sobald  sie 
bloß  als  Mittel  erstrebt  werden,  werden  sie  ein  Maß 
innehalten  und  durchaus  nicht  schaden;  im  Gegenteil 
werden  sie  den  Zweck,  um  dessentwillen  sie  erstrebt 
werden,  beträchtlich  fördern,  wie  ich  an  gehöriger 
Stelle  zeigen  werde. 

40         (12)  Hier  will  ich  nur  kurz  sagen,  was  ich  unter 

[Opp.  poBth.  869—800.    Vloten  6.    Brader  §§  8— IS.] 

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Binleüang:  das  Ziel  der  Philoeophie.  7 

dem  wahren  Gut  versMie^  und  zugleich,  was  das 
höchste  Gut  (sommum  bonum)  ist  Zorn  richtigen 
Verständnis  ist  zu  bemerken,  daß  die  Begriffe  gut 
und  schlecht  nur  eine  beziehunnweise  Bedeutung 
haben,  so  daß  ein  und  dasselbe  Ding  je  nach  den 
verschiedenen  Bücksichten  gut  und  schlecht  heißen 
kann,  gerade  wie  es  mit  den  Begriffen  vollkommen 
und  unvollkommen  geht  Denn  nichts  kann,  seiner 
Natur  nach  betrachtet,  vollkommen  oder  unvollkommen 
heißen,  namentlich  wenn  wir  wissen,  daß  alles,  was  10 
geschieht,  nach  ewiger  Ordnung  und  nach  bestimmten 
Naturgesetzen  geschieht  (13)  Allein  der  Mensch  in 
seiner  Schwäche  kann  jene  Ordnung  mit  seinem  Denken 
nicht  erfassen,  und  inzwischen  erdenkt  er  sich  eine 
menschliche  Natur  viel  stärker  als  die  seinige;  er  sieht 
kein  Hindernis,  eine  solche  Natur  zu  erlangen,  und 
wird  dadurch  angetrieben,  die  Mittel  zu  suchen,  die 
ihn  zu  einer  solchen  Vollkommenheit  führ^i  können. 
Alles  was  zum  Mittel  dienen  kann,  um  zu  diesem  Ziele 
zu  gelangen,  heißt  ein  wahres  Gut  Das  höchste  Gut  20 
aber  ist  es,  dahin  zu  gelangen,  daß  man  womöglich 
mit  anderen  Individuen  einer  solchen  Natur  teilhaft 
werde.  Welcher  Art  aber  diese  Natur  sei,  werden 
wir  an  gehöriger  Stelle  zeigen,  nämlich  daß  es  die 
Erkenntnis  der  Einheit  sei,  die  den  Geist  mit 
der  gesamten  Natur  verbindet^).  (14)  Dies  ist 
also  das  Ziel,  nach  dem  ich  strebe:  eine  solche  Natur 
zu  erlangen  und  zu  suchen,  daß. viele  sie  mit  mir  er- 
langen; d.  h.  es  gehört  auch  zu  meinem  eigenen 
Glücke,  mir  Mühe  zu  geben,  daß  viele  andere  dieselbe  SO 
fSrkenntnis  haben  wie  ich  und  daß  ihr  Erkennen  und 
Wollen  mit  meinem  E«rkennen  und  Wollen  völlig  über- 
einstimmt Zu  diesem  Zwecke*)  muß  man  so  viel  von 
der  Natur  verstehen,  als  nötig  isty  um  eine  solche 
Natur  zu  erlangen.  Sodann  muß  man  eine  solche  Ge- 


>)  Dies  wird  an  gehöriger  Stelle  anefthrlioher  erklärt 
>)  £■  ift  lu  bemerken,  daO  ee  mir  hier  nur  darauf  an- 
kommt,  die  SU  unterem  Zwecke   nötigen  WiMenechaften 
mnfiMnihlen,  ohne  mich  um  ihre  Beiheofolge  in  bekümmern. 


[Opp.  poeth.  aeo— sei.    Vloten  5—6.    Bruder  §§  12—14.] 

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8       Abhandlung  Aber  die  Verbeosemng  des  Yentandeti 

Seilschaft  bilden,  wie  sie  erforderlich  ist»  damit  mög- 
lichst viele  Menschen  so  leicht  und  sicher  als  möglich 
dahin  gelangen.  (16)  Femer  hat  man  sich  der  Moral- 
philosophie und  der  Erziehungslehre  zu  be- 
fleißigen. Da  die  Gesundheit  kein  geringes  Mittel  ist^ 
jenes  Ziel  zu  erreichen,  so  ist  eine  volls&ndige  Heil- 
kunde auszubilden.  Da  man  durch  die  Kunst  vieles 
Schwierige  leicht  machen  und  viel  Zeit  und  Mühe  im 
Leben  sparen  kann,  so  darf  die  Mechanik  in  keiner 

10  Weise  vernachlässigt  werden.  (16)  Vor  allem  aber 
muß  ein  Mittel  erdacht  werden,  den  Verstand  zn 
heilen,  und  ihn,  so  viel  es  im  Anfange  möglich  ist» 
zu  reinigen,  damit  er  die  Dinge  glücklich,  ohne  Irr- 
tum und  möglichst  vollkommen  erkenne.  Hieraus  kann 
schon  jeder  sehen,  daß  ich  alle  Wissenschaften  auf 
einen  Zweck  und  auf  ein  Ziel  hinleiten  will^),  nämlich 
darauf,  jene  höchste  menschliche  Vollkommenheit»  von 
der  wir  gesprochen  haben,  zu  erreichen.  Und  so  werden 
wir   all   daisjenige  in  den  Wissenschaften,   das  uns 

90  unserem  Ziele  nicht  näher  bringt»  als  unnütz  verwerfen 
müssen;  d.  L  um  es  mit  einem  Wort  zu  sagen:  wir 
müssen  all  unsere  Handlungen  und  Gedanken  auf 
jenes  Ziel  richten.  (17)  Da  wir  aber,  während  wir 
jenem  Ziele  zustreben  und  uns  bemühen,  den  Verstand 
auf  den  richtigen  Weg  zu  leiten,  doch  leben  müssen» 
so  müssen  wir  vor  allem  gewisse  Lebensregeln  als 
gut  im  voraus  feststellen.   Es  sind  die  folgenden: 

1.  Man  rede  nach  der  Fassungskraft  der  Menge 
und  tue  alles,  was  nicht  an  der  Erreichung  des  Zides 

80  hindert  Denn  wir  können  nicht  wenig  Vorteil  von 
der  Menge  erlangen,  wenn  wir  so  weit  als  möglich 
ihrer  Fassungskraft  Rechnung  tragen.  Dazu  kommt» 
daß  man  die  Menschen  dadurch  geneigt  macht»  der 
Wahrheit  ein  williges  Ohr  zu  leihen. 

2.  Vergnügen  genieße  man  in  dem  Maße»  als  es 
zur  Erhaltung  der  Gesundheit  ausreicht. 


^)  Alle  WisBenschaften  haben   nur  einen  Zweck,  auf 
den  sie  hinznleiten  sind. 

[Opp.  postii.  861.    Vloten  6—7.    Bruder  §§  14—17.] 

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Die  Lehre  tod  den  ErkenntniMurten.  9 

S.  Man  suche  endlich  nur  so  viel  Geld  oder,  andere 
Dinge  zu  erwerben,  als  erforderlich  isty  am  Leben  nnd 
Gesundheit  zu  erhalten  nnd  die  Landeesitten,  sofern 
sie  onserem  Ziele  nicht  widerstreiten,  zu  beobachte. 


(18)  Nach  diesen  Sätzen  will  ich  zum  ersten,  was 
vor  allem  geschehen  moQ,  schreiten,  nämlich  dazu,  den 
Verstand  zu  verbessern  und  ihn  geschickt  zu  machen, 
die  Dinge  so  zu  erkennen,  wie  es  zur  Eirreichung 
unseres  Zieles  nötig  ist  Damit  dies  geschehe,  ver- 
langt die  natürliche  Ordnung,  daß  ich  hier  alle  Arten  10 
des  Erkennens  (modi  percipiendi)  aufführe,  die  ich 
bislang  gehabt  habe,  um  etwas  zweifellos  zu  bejahen 
oder  zu  verneinen,  um  dann  die  beste  von  allen  aus- 
zuwählen und  damit  zugleich  meine  Kräfte  und  die 
Natur,  die  ich  zu  vervollkommnen  strebe,  kennen 
zu  lernen. 

(19)  Wenn  ich  genau  aufmerke,  können  sie  alle 
in  der  Hauptsache  auf  vier  zurückgeführt  werden. 

1.  Es  gibt  ein  Wissen  (perceptio),  das  wir  durch 
Hörensagen   (ex  au^tu),    oder   durch  irgend   ein  20 
sogenanntes  beliebiges  Zeichen  erhalten  haben. 

2.  Es  gibt  ein  Wissen,  das  wir  durch  eine  un- 
bestimmte Erfahrung  (experientia  vaga)  erhalten 
haben,  d.  h.  durch  eine  Erfahrung,  die  nicht  vom 
Verstände  bestimmt  wird.  Man  nennt  sie  aber  doch 
Erfahrung,  weil  sie  von  Ungefähr  so  sich  bietet^  und 
weil  wir  kein  anderes  Erfahrungsmoment  haben,  das 
ihr  widerstreitet;  deshalb  gilt  sie  uns  gleichsam  als 
unerschütterlich. 

3.  Bb  gibt  ein  Wissen,  bei  dem  das  Wesen  einer  80 
Sache  aus  einer  anderen  Sache  erschlossen  wird, 
aber  nicht  auf  adäquate  Weise.    Das   ist   der   1^11, 
wenn   man   entweder  von  einer  Wirkung  (effectus) 
auf   die  Ursache  schließt^),   oder  wenn  man  einen 

')  Wenn  dies  geechieht,  erkeonen  vir  aufier  dem, 
WM  wir  in  der  Wirkung  beobschten,  uooh  niohtf  von  der 

[Opp.  poeth.  861—862.    Vloten  7—8.    Bruder  §§  17—19.] 

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10     Abhandlung  Aber  die  YerbeMerong  det  Ventandet. 

Schluß  zieht  aud  etwas  Allgemeinem,  das  stets  von 
einer  Eigenschaft  begleitet  erscheint 

4.  Endlich  gibt  ee  ein  Wissen,  bei  dem  die  Sache 
blofl  aus  ihrem  Wesen,  oder  durch  die  Erkennt- 
nis ihrer  nächsten  Ursache  begriffen  wird. 

(20)  Das  alles  will  ich  durch  Beispiele  erlautem. 
Nur  durch  Hörensagen  weifl  ich  meinen  Geburts- 
tag und  dal3  ich  die  und  die  Eltern  hatte  und  ähn- 
liches, woran  ich  nie  gezweifelt  habe.  —  Durch  un- 

10  bestimmte  Erfahrung  weiß  ich,  daß  ich  sterben 
werde.  Das  behaupte  ich  deshalb,  weil  ich  andere 
mir  ähnliche  Wesen  sterben  sah,  obwohl  nicht  alle 
gleich  lange  Zeit  lebten,  noch  auch  an  der  gleichen 
Krankheit  starben.  Dann  weiß  ich  durch  unbestimmte 
Erfahrung,  daß  Ol  ein  geeignetes  Mittel  ist»  die  Flamme 
zu  nähren,  und  daß  das  Wasser  sie  löscht  Ich  weiß 
auch,  daß  der  Hund  ein  bellendes  und  der  Mensch 
ein  vernunftbegabtes  Geschöpf  ist.  Und  so  kenne  ich 
fast  alles,   was  zum  Gebrauche  des  Lebens  gehört 

20  —  (21)  Aus  einer  anderen  Sache  aber  schließen 
wir  so:  Nachdem  wir  klar  begriffen  haben,  daß  wir 
einen  solchen  und  keinen  anderen  Körper  empfinden, 
dann,  sage  ich,  schließen  wir  daraus,  daß  die  Seele 
mit  dem  Körper  vereinigt  ist^),  eine  Vereinigung,  die 
die  Ursache  unserer  Empfindung  bildet  Aber  welcher 


Ursache.  Das  geht  offenbar  daraus  schon  hervor,  daO  man 
dann  die  Ursache  nur  mit  sehr  allgemeinen  Aosdrftoken 
erklärt,  wie:  „also  gibt  es  etwas*,  „also  gibt  es  eine 
Kraft*  usw.  Oder  auch  daraas,  daO  man  die  Ursache  negativ 
ausdruckt:  „also  gibt  es  das  oder  jenes  nicht*  usw.  Gunsten- 
falls  wird  der  Ursache  etwas  sageschrieben  wegen  der  Wir- 
kung, was  klar  zu  erkennen  ist,  wie  ich  an  einem  Beispiele 
zeigen  werde;  aber  es  betrifft  nur  Eigenschaften,  nicht  das 
eigentAmliohe  Wesen  einer  Sache, 

^)  Aus  diesem  Beispiel  ist  klar  zu  ersehen,  was  loh  eben 
bemerkt  habe.  Denn  unter  jener  Vereinigunff  verstehen  wir 
nichts  als  die  Empfindung  selbst,  n&mlich  die  Empfindung 
einer  Wirkung,  aus  der  wir  auf  die  Ursache,  von  der  wir 
nichts  erkennen,  schlössen. 

[Opp.  posth.  862—868.    Vloten  8.    Bruder  §§  19— Sl.] 

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Die  Lehre  yon  den  Erkenntnuarten.  11 

Art  diese  Empfmdang  und  Vereinigung  ist^),  können 
wir  schlechterdings  daraus  nicht  erkennen.  Oder  nach- 
dem ich  das  Wesen  des  Sehens  erkannt  habe  und 
seine  Eigenschaft  kenne,  dal3  eine  und  dieselbe  Sache 
auf  grofle  Entfernung  hin  kleiner  erscheint  als  in 
der  Nähe,  so  schliefe  ich  daraus,  daß  die  Sonne 
gröiter  ist  als  sie  erscheint  und  dergleichen  mehr. 
—  (22)  Endlich  wird  eine  Sache  bloA  aus  ihrem 
Wesen  heraus  begriffen,  wenn  ich  daraus,  daß 
ich  irgend  etwas  kenne,  weiß,  was  es  heißt:  etwas  10 
kennen;  oder  wenn  ich  daraas,  daß  ich  das  Wesen 
der  Seele  kenne,  weiß,  daß  sie  mit  dem  Körper  ver- 
einigt ist.  Durch  dieselbe  Erkenntnis  wissen  wir, 
daß  zwei  und  drei  fünf  sind,  oder  daß  zwei  Linien, 
die  einer  dritten  parallel  sind,  auch  untereinander 
parallel  sind,  u.  s.  w.  Doch  war  das,  was  ich  bisher 
durch  diese  E^rkenntnisart  verstehen  konnte,  sehr 
wenig. 

(23)  Um  das  alles  verständlicher  zu  machen,  will 
ich  nur  ein  einziges  Beispiel  nehmen.  Es  sind  drei  20 
Zahlen  gegeben,  und  es  wird  nun  die  vierte  gesucht^ 
die  sich  zur  dritten  verhalten  soll,  wie  die  zweite 
zur  ersten.  Kaufleute  pflegen  in  diesem  Falle  zu  sagen, 
sie  wußten,  was  zu  tun  sei,  um  die  vierte  ZaU  zu 
finden;  denn  sie  haben  das  Verfahren  noch  im  Ge- 
dächtnis, das  sie  nur  als  solches  ohne  Beweis  von 
ihren  Lehrern  gehört  haben.  —  Andere  aber  bilden 
aus   der   Erfahrung,    die   sie   mit    einfachen  Zahlen 

1)  Ein  solcher  Schlaß  ist  sswar  gewiß,  aber  doch  nicht 
genflgend  suverl&Btig,  wenn  man  nicht  änitont  vorsichtig 
ist;  sonst  wird  man  sogleich  in  Irrtflmer  v^idlen.  Denn 
sobald  man  die  Dinge  so  abstrakt,  nicht  ihrem  wahren 
Wesen  nach  begreift,  werden  sie  sofort  von  der  Einbilduoffs- 
kraft  yerwirrt  Denn  was  an  sich  eines  ist,  stellen  sich  die 
Menschen  als  vielfach  vor.  Denn  was  sie  abstrakt,  gesondert 
nnd  yerwirrt  aoffiissen,  dem  legen  sie  Namen  bei,  die  sie 
sonst  zur  Beseichnung  anderer  £nen  gelftufigerer  Dinge  ge- 
brauchen. Daher  kommt  es  dann,  dafi  sie  jene  Dinge  ebenso 
▼orstellen  wie  die,  denen  sie  zuerst  diese  Namen  beigelegt 
haben. 

[Opp.  posth.  868->864.    VIoten  8—9.    Brader  §§  21^28.] 

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12     AbhandluDg  Aber  die  VerbeBsenug  des  Yentandes. 

machen,  einen  allgemeinen  Sats,  voransgeaetst  daO 
sich  die  vierte  Zahl  von  selbst  ergibt^  wie  bei  den 
Zahlen  2,  4,  3,  6.  Dabei  finden  sie^  daß  die  zweite 
mit  der  dritten  multipliziert  und  das  Produkt  durch 
die  erste  dividiert  als  Quotienten  6  ergibt  Da  sie 
also  sehen,  daß  dieselbe  Zahl  herauskommt^  die  sie 
ohne  dieses  Verfahren  als  die  Proportionalzahl  kannten, 
so  schließen  sie  daraus,  daß  das  Verfahren  gut  sei, 
um  immer  die  vierte  Proportionalzahl  zu  finden.  — 

10  (24)  Die  Mathematiker  aber  wissen  gemäß  dem  Be- 
weise von  Lehrsatz  19  Buch  7  des  Euklid,  welche  Zah- 
len untereinander  proportional  sind,  nämlich  aus  dem 
Wesen  der  Proportion  und  aus  ihrer  Eigenschalt,  daß 
das  Produkt  der  ersten  und  vierten  dem  der  zweiten 
und  dritten  Zsibl  gleich  ist.  Aber  dennoch  sehen  sie 
nicht  die  Proportionalität  der  gegrtenen  Zahlen  ad- 
äquaty  und  wenn  sie  sie  sähen,  so  sehen  sie  sie  doch 
nicht  vermöge  jenes  Lehrsatzes,  sondern  intuitiv,  ohne 
ein  Verfahren  anzuwenden.    (25)  Um  nun  aus  diesen 

SO  Arten  des  Erkennens  die  beste  auszuwählen,  ist  es 
erforderlich,  die  zur  Erreichung  unseres  Zweckes  not- 
wendigen Mittel  kurz  aufzuzählen.  Es  sind  die  fol- 
genden: 

1.  Wir  müssen  unsere  Natur,  die  wir  zu  vervoll- 
kommnen streben,  genau  kennen,  und  zugleich  auch 
so  viel  von  der  Natur  der  Dinge,  als  notwendig  ist. 

2.  Daraus  haben  wir  die  Üntwschiede,  Überein- 
stimmungen und  Gegensätze  der  Dinge  richtig  hersu- 
leiten. 

80  3.  Daraus  müssen  wir  richtig  erkenn^  was  die 
Dinge  erleiden  können  und  was  nicht 

4  Dies  muß  mit  der  Natur  und  dem  V^mogen 
des  Menschen  verglichen  werden.  Daraus  wird  sich 
leicht  ergeben,  bis  zu  welcher  Stufe  der  Vollkommen- 
heit der  Mensch  gelangen  kann. 

(26)  Nach  diesen  Betrachtungen  wollen  wir  sehen, 
welche  Art  des  Erkennens  wir  zu  wählen  haben. 

Was  die  erste  Art  anbelangt^  so  ist  an  sich 

klar,   daß   wir   vom   Hörensagen,   abgesehen  davon, 

40  daß  die  Sache  sehr  ungewiß  bleibt^  nie  ihr  Wesen 

[Opp.  poeüi.  864.    Vloten  9—10.    Brader  §§  28—26.] 

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Die  Lehre  tob  den  Erkenntnisarten.  13 

erkenneiiy  wie  das  ja  ans  unserem  Beispiel  hervorgeht 
Da  man  das  eigentümliche  Dasein  (existentia)  einer 
Sache  nicht  erkennt»  wie  spater  geseigt  wird^  wenn 
man  ihr  Wesen  (essentia)  nicht  erkennt»  so  ziehen 
wir  daraus  den  bihidigen  Schloß»  daß  jede  Gewißheit» 
die  wir  nur  vom  Hörensagen  haben,  von  der  Wissen- 
schaft anszoschließen  ist  Denn  das  bloße  Hören- 
sagen» ohne  daß  ihm  ein  eigenes  Verstehen  voraus- 
ging» wird  auf  niemanden  £ändrnck  machen. 

(27)  Was  die  zweite  Art  anbelangt^)»  so  kann  10 
man  auch  von  ihr  nicht  sagen»  daß  sie  dne  Idee  von 
jener  gesuchten  Proportion  gebe.  Abgesehen  davon» 
daß  sie  eine  sehr  ungewisse  Sache  ist  und  keinen 
Abschluß  hat»  wird  niemand  auf  diese  Art  in  Dingen 
der  Natur  etwas  anderes  als  Accidenzen  begreifen. 
Klar  erkannt  werden  sie  nur»  wenn  man  ihr  Wesen 
zuvor  erkannt  hat  Daher  ist  auch  diese  Art  aus- 
zuschließen. 

(28)  Von  der  dritten  Art  kann  man  in  gewisser 
Weise  sagen»  daß  sie  die  Idee  einer  Sache  gebe»  und  20 
daß  man  ohne  Gefahr  eines  Irrtums  Schlüsse  ziehen 
könne.    Dennoch  wird  sie  an  sich  kein  Mittel  sein» 
unsere  Vollkommenheit  zu  erlangen. 

(29)  Bloß  die  vierte  Art  erfaßt  das  adäquate 
Wesen  (essentia  adaequata)  einer  Sache  ohne  die  Ge- 
fahr eines  Irrtums.  Deshalb  müssen  wir  sie  vorzugs- 
weise gebrauchen.  Wie  man  sie  anzuwenden  hat»  um 
durch  diese  E«rkenntnisart  unbekannte  Dinge  zu  er- 
kennen» und  zugleich  wie  es  möglichst  bündig  ge- 
schieht» will  ich  mich  bemühen  auseinanderzusetzen,  so 


(30)  Nachdem  wir  gesehen,  welche  Erkenntnisart 
(cognitio)  uns  nötig  ist»  muß  der  Weg  und  die  Me- 
thode  angegeben   werden»    um  die  zu    erkennenden 

^)  Hier  werde  ich  etwas  ausf^lhrlicher  von  der  Erfahrung 
handeln  und  die  Methode  der  Empiriker  nnd  der  nenereo 
Philotophen  prüfen. 

[Opp.  posth.  864—865.    Vloten  10.    Bruder  §§  26—80.] 

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14     Abhandliiiig  Aber  die  Verbf  einug  des  Yentandes. 

Dinge  yermdge  dieser  KkenntniBart  n  erkennen.  Zu 
diesem  Zwecke  ist  zaerst  in  Betracht  sa  sehen,  daß 
es  sich  nicht  tun  eine  Untersnchnng  ins  Unendliche 
handeln  wird.  Denn  nm  die  beste  Methode  sor  &* 
forschnng  der  Wahrhdt  za  finden,  ist  keine  andere 
Methode  nötig,  um  die  Methode  zur  Erforschung  der 
Wahrheit  selbst  zu  erforschen;  nnd  zur  Ekforschmig 
der  zweiten  ist  keine  dritte  nötig  o.  s.  1  ins  Unend- 
liche.  Denn  auf  diese  Weise  würde  man  niemals  zur 

10  Erkenntnis  der  Wahrheit  geh&ngen,  vielmehr  würde 
man  überhaupt  zu  keiner  Erkenntnis  gelangen.  Da- 
mit verhält  es  sich  gerade  so  wie  mit  den  konkreten 
Werkzeugen,  bei  denen  man  in  gleicher  Weise  ar- 
gumentieren könnte.  Denn  um  Eksen  zu  schmieden, 
ist  ein  Hammer  vonnöten,  und  um  dnen  Hammer  zu 
erhalten,  muß  man  ihn  vorher  verfertigen.  Dazu 
braucht  man  einen  anderen  Hammer  und  andere  Werk- 
zeuge, und  auch  um  diese  zu  bekommen,  sind  wieder 
andere  Werkzeuge  nötig,  und  so  fort  ins  Unendliche. 

90  Und  so  könnte  jemand  —  freilich  ohne  Erfolg  — 
zu  beweisen  versuchen,  daß  die  Menschen  nicht  die 
Macht  hätten,  ESsen  zu  schmieden.  (Sl)  Die  Menschen 
haben  vielmehr  im  Anfang  mit  ihren  angeborenen 
Werkzeugen  gewisse  sdir  leichte  Dinge,  wenn  auch 
mit  Mühe  und  unvollkommen,  zustande  gebracht 
Hatten  sie  diese  verfertigt,  dann  machten  sie  schon 
schwierigere  mit  geringerer  Mühe  und  vollkommener, 
und  so  ging  es  stufenweise  von  den  einfachsten  Ar- 
beiten zu  Werkzeugen,  und  von  den  Werkzeugen  wieder 

80  zu  anderen  Arbeiten  und  Werkzeugen,  bis  sie  es 
schließlich  dazu  brachten,  daß  sie  so  viele  schwi^ige 
Dinge  mit  geringer  Mühe  fertig  bringen.  In  der 
gleichen  Weise  bildet  sich  auch  der  Verstand  ver- 
möge seiner  angeborenen  Kraft  ^)  Verstandeswerk« 
zeuge,  durch  die  er  wieder  andere  Kräfte  zu  neuen 


>)  Unter  aoffeborener  Kraft  verstehe  ich  dsa,  waa  nicht 
in  uns  durch  ftoSere  Umchen  bewirkt  wird;  ieh  werde  et 
spftter  in  meiner  Philosophie  erklftren. 

[Opp.  potih.  866—806.    Vloten  10—11.   Bruder  §§  80—81. 

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Die  Lehre  Ton  der  intelleeiio.  15 

Verstaodeswerken  ^)  erlangti  und  aus  diesen  Werken 
wiederum  andere  Werkzeuge  oder  daa  Vermögen, 
weiter  zu  forschen,  und  so  schreitet  er  von  Stufe 
zu  Stufe  weiter,  bis  er  auf  dem  Gipfel  der  Weisheit 
steht  (32)  Daß  es  sich  wirklich  mit  dem  Verstände 
se  YOThält,  ist  leicht  einzusehen,  wenn  man  weiß, 
worin  die  Methode  der  Erforschung  der  Wahrheit 
besteht,  und  welcher  Art  jene  angeborenen  Wwk- 
zeuge  sind,  die  man  allein  braucht,  um  andere  Werk- 
zeuge zum  weiteren  Fortschreiten  mit  ihnen  zu  ver-  10 
fertigen.  Um  dies  darzutun,  fahre  ich  so  fort: 

(38)  Die  wahre  Idee*)  —  denn  wir  haben  eine 
wahre  Idee  —  ist  verschieden  von  ihrem  Gegenstande 
(ideatum).  Denn  ein  andres  ist  der  Kreis,  ein  anderes 
die  Idee  des  Kreises.  Denn  die  Idee  des  Kreises  ist 
nicht  etwas,  das  eine  Peripherie  und  einen  Mittel- 
punkt hat  wie  der  Kr^  selbst.  Da  die  Idee  also 
etwas  von  ihrem  Gegenstände  Verschiedenes  ist,  so 
wird  sie  auch  etwas  an  sich  Erkennbares  sein;  d.  h. 
die  Idee  hinsichtlich  ihres  formalen  Seins  kann  den  20 
Gegenstand  eines  anderen  objektiven  Seins  bilden, 
und  dieses  andere  objektive  Sein  wiederum  ist  an 
sich  betrachtet  ebenfalls  etwas  WirkUchee  und  Er- 
kennbares und  so  ins  Unendliche.  (34)  Peter  z.  B. 
ist  etwas  Wirkliches.  Die  wahre  Idee  von  Peter 
ist  aber  das  objektive  Sein  (essentia  obiectiva)  des 
Peter  und  an  sich  etwas  Wirkliches  und  von  Peter 
selbst  völlig  verschieden.  Da  also  die  Idee  des 
Peter  etwas  Wirkliches  ist^  das  sein  eigent&mliches 
Sein  hat,  so  wird  sie  auch  etwas  Brkranbares  sein,  so 
also  der  Gegenstand  einer  anderen  Idee  und  zwar 
einer  Idee,  die  objektiv  all  das  in  sich  schließt,  was 
die  Idee  des  Peter  formal  hat    Und  wiederum  hat 


')  Hier  nenne  ich  rie  Werke;  in  meiner  Philoiophie 
werde  ieh  erklftreo,  wm  sie  sind. 

^  Es  i«t  sn  bemerken,  dafi  ich  nicht  nur  das  eben 
Geesgle  dartnn  will,  sondern  aneh  zeigen  will,  daO  wir  bis 
hierher  fichtig  voigogangen  find,  ond  lugleich  noch  manches 
andere,  das  sa  wiMen  sehr  notwendig  ist 

[Opp.  postb.  866.    Vloten  11—12.    Bnider  6§  81—84.] 

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16     Abhandliing  Aber  die  YerbesseruDg  des  Yentandet. 

diese  Idee  von  der  Idee  dee  Peter  ihr  Sein  (essentia), 
das  ebenfalls  Gegenstand  einer  anderen  Idee  sein  kann, 
und  so  ins  Unendliche.  Das  kann  jeder  an  sich  selbst 
erfahren,  indem  er  bemerkt,  daß  er  weiß,  was  Peter 
ist,  und  daß  er  weiß  es  zu  wissen,  und  wiederum 
weiß,  daß  er  weiß  es  zu  wissen  u.  s.  w.  Eb  ergibt 
sich  darans,  daß  es,  um  das  Wesen  des  Peter  zu  er- 
kennen, nicht  nötig  ist»  die  Idee  des  Peter  selbst 
zu  erkennen  und  noch  viel  weniger  die  Idee  von  der 

10  Idee  des  Peter.  Das  ist  dasselbe^  als  w^m  ich  sagte, 
es  sei  nicht  nötig,  daß  ich  weiß,  ich  wisse,  und  noch 
viel  weniger,  daß  ich  weiß,  ich  wisse,  daß  ich  weiß. 
Das  ist  gerade  so  wenig  nötig,  als  man,  um  das  Wesen 
des  Dreiecks  zuerkennen,  das  Wesen  deeEreises  kennen 
muß.0  Aber  bei  jenen  Ideen  ist  das  Gegenteil  der 
Fall.  Denn  um  zu  wissen,  daß  ich  weiß,  muß  ich 
notwendig  vorher  wissen.  (36)  Daraus  geht  klar  her- 
vor, daß  die  Gewißheit  nichts  anderes  ist»  als  das 
objektive  Sein  selbst;  d.  h.  die  Art,  wie  wir  das 

SO  formale  Sein  (essentia  formalis)  empfinden,  ist 
die  Gewißheit  selbst  Daraus  geht  wiederum  her- 
vor, daß  es  zur  Gewißheit  über  die  Wahrheit  keines 
anderen  Kennzeichens  bedarf,  als  daß  man  die  wahre 
Idee  hat  Denn  wie  ich  gezeigt  habe,  ist  es  nicht 
nötig,  daß  ich  weiß,  ich  wisse,  daß  ich  weiß.  Daraus 
geht  wiederum  hervor,  daß  niemand  wissen  kann, 
was  die  völlige  Gewißheit  ist,  es  sei  denn,  daß  er 
die  adäquate  Idee  oder  das  objektive  Sein  einer  Sache 
besitzt;  denn  Gewißheit  und  objektives  Sein  sind  ja 

80  dasselbe.  (36)  Wenn  also  die  Wahrheit  keines  Kenn- 
zeichens bedarf,  sondern  wenn  es  genügt^  das  ob- 
jektive Sein  der  Dinge  oder,  was  düsselbe  ist,  ihre 
Ideen  zu  haben,  um  jeden  Zweifel  zu  heben;  so  folgt 


^)  Eb  ist  zu  bemerken,  daß  wir  hier  nicht  ontemchen, 
in  weloher  Weiae  uns  du  erste  objektive  Sein  angeboren 
ist  Denn  das  gehört  aur  ErfQrschuo^  der  Nator,  woselbst 
es  aoflf&hrlioher  erkl&rt  und  wo  Englevsh  gezeigt  wird,  daß 
ee  außer  der  Idee  weder,  eine  Bejahong  noch  eine  Ver- 
neinung und  anch  keinen  Willen  gibt 

[Opp.  posth.  866—867.    Yloten  12.    Bruder  §§  84—86.] 

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Die  Lehre  tod  der  intelleotio.  17 

daraus,  daß  die  wahre  Methode  nicht  darin  bestehen 
kann,  nachdem  man  die  Ideen  erlangt  hat»  noch  nach 
einem  Kennzeichen  der  Wahrheit  zu  suchen,  sondern 
daß  die  wahre  Methode  vielmehr  der  Weg  ist»  die 
Wahrheit  selbst  oder  das  objektive  Sein  der  Dinge 
oder  ihre  Ideen  (denn  all  das  bezeichnet  ja  ein 
und  dasselbe)  in  gehöriger  Ordnung  au&nsuchen  ^). 
(37)  Wiederum  muß  die  Methode  notwendig  von  dem 
Folgerungsverfahren  (ratiocinatio)  und  demBrkeimtni^ 
vermögen  (intellectio)  reden;  d.  h.  die  Methode  ist  nicht  10 
das  Folgern  selbst,  um  die  Ursachen  der  Dinge  zu 
erkennen,  geschweige  denn  das  Erkennen  i&c  Ur- 
sachen der  Dinge.  Sie  ist  vielmehr  nur  das  Erkennen 
dessen,  was  die  wahre  Idee  ist»  indem  sie  diese  von 
den  übrigen  Vorstellungen  (perceptiones)  unterscheidet 
und  ihre  Natur  erforscht»  damit  wir  dann  unser  Er- 
kenntnisvermögen kennen  und  den  Geist  dazu  anhalten, 
daß  er  nach  jener  Norm  alles  erkennt»  was  zu  er- 
kennen ist,  indem  sie  als  HüUsmittel  gewisse  Regeln 
gibt  und  auch  dafür  sorgt»  daß  der  Greist  nicht  durch  ao 
unnütze  Dinge  ermüdet  wird.  (38)  Daraus  ergibt  sich» 
daß  die  Methode  nichts  anderes  ist  als  die  reflektierte 
(ins  Bewußtsein  erhobene)  Erkenntnis  oder  die  Idee 
von  der  Idee.  Und  da  es  keine  Idee  von  der  Idee 
geben  kann,  wenn  es  nicht  vorher  räie  Idee  gibt» 
so  wird  es  keine  Methode  geben,  ohne  daß  vorher 
eine  Idee  gegeben  ist  Daher  wird  das  die  richtige 
Methode  sein,  welche  zeigt»  wie  der  Geist  nach  der 
Norm  der  gegebenen  wallen  Idee  zu  leiten  ist 

Da  fem^  das  Verhältnis,  das  zwischen  zwei  Ideen  80 
besteht  dasselbe  ist  wie  das  Verhältnis  zwischen 
dem  formalen  Sdn  jener  Ideen,  so  folgt  daraus»  daß 
die  reflektierte  &kenntnis  von  der  Idee  des  voll- 
kommensten Wesens  vorzüglicher  sein  wird  als  die 
reflektierte  Erkenntnis  der  übrigen  Ideen.  Das  heißt: 
die  vollkommenste  Methode  wird  die  sein,  die  zeigt, 
wie  der  Geist  nach  der  Norm  der  gegebenen  Idee  des 

^)  Was  68  heifit  ^in  der  Seele  raohen^,  wird  in  meiner 
Philosophie  erklärt. 

[Opp.  poeth.  867—868.  Vloten  12*18.   Bnider  §§  86—88.] 

B  p  i  n  o  B  ft ,  Abliaadlg.  IIb.  d.  VerbMMrg.  d.  Ventand««.       2 

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18     Abhandlung  fiber  die  Verbesserung  des  Verstandes, 

vollkommenfiten  Wesens  zu  leiten  ist  (39)  Daraus  ist 
leicht  zu  ersehen,  wie  der  Geist»  indem  er  mehr  er- 
kennt» zugleich  weitere  Werkzeuge  erlangt,  mit  daran 
Hülfe  er  in  der  Folge  leichter  erkennen  kann.  Denn 
wie  man  aus  dem  Gresagten  entnehmen  kann,  muß 
vor  allem  in  uns  die  wa^e  Idee  vorhanden  sein  wie 
ein  angeborenes  Werkzeug;  hat  man  sie  erkannt,  dann 
erkennt  man  zugleich  den  Unterschied,  der  zwischen 
einer  solchen  Vorstellung  (perceptio)  und  allen  übrigen 
10  besteht  Darin  besteht  der  eine  Teil  der  Meth^e. 
Und  da  es  sich  von  selbst  versteht^  daß  der  Geist 
sich  um  so  besser  erkennt,  je  mehr  er  von  der  Natur 
erkennt,  so  erhellt  daraus,  daß  dieser  Teil  der  Methode 
um  so  vollkommener  sein  wird,  je  mehr  der  Geist  er- 
kennt, und  daß  er  dann  am  vollkommensten  sein  wird, 
wenn  der  Geist  auf  die  Eirkenntnis  des  vollkommensten 
Wesens   sich  richtet  oder  dazu  sich  zurückwendet. 

(40)  Je  mehr  femer  der  Geist  weiß,  desto  besser  er- 
kennt er  auch  seine  Kräfte  und  die  Ordnung  der  Natur. 

20  Je  besser  er  aber  seine  Kräfte  erkennt,  desto  leichter 
kann  er  sich  selbst  leiten  und  sich  Regeln  setzen. 
Und  je  besser  er  die  Ordnung  der  Natur  erkennt, 
desto  leichter  kann  er  sich  vor  unnützen  Dingen 
hüten.   Darin  besteht^  wie  gesagt»  die  ganze  Methode. 

(41)  Dazu  kommt  n9ch,  d^  die  Idee  sich  gerade  so 
objektiv  verhält  wie  ihr  Gegenstand  realiter.  Wenn 
es  also  in  der  Natur  irgend  etwas  gäbe,  das  gar  keine 
Gemeinschaft  mit  andern  Dingen  hätte,  und  wenn  sein 
objektives  Sein  gegeben  wäre,  das  ja  durchaus  mit  dem 

80  formalen  Sein  übereinstimmen  müßte,  dann  hätte  auch 
dieses  keine  Gemeinschaft  mit  den  anderen  Ideen  ^), 
d.  h.^  wir  könnten  nichts  daraus  schließen.  Andrer- 
seits werden  die  Dinge,  die  mit  anderen  Dingen  Ge- 
meinschaft haben,  wie  alles,  was  in  i&r  Natur  existiert^ 
erkannt  werden,  und  auch  ihr  objektives  Sein  wird 
dieselbe  Gemeinschaft  haben,  d.  h.  andere  Ideen 
werden  aus  ihnen  hergeleitet  werden,  die  ihrerseits 

')  Gemeinschafl  mit  anderen  Dingen  haben  heifit:  von 
andern  hervorgebracht  werden  oder  andere  hervorbringen« 

[Opp.  posth.  868.    Vloten  18—14,    Bruder  §§  88~41J 

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Die  Lehre  von  der  intellectio.  19 

wieder  Gemeinschaft  mit  anderen  haben,  xmd  80  werden . 
die  Werkzeuge  zum  weiteren  Fortschreiten  wachsen. 
Das  war  es,  was  ich  zu  beweisen  versuchte.  (42)  Aus 
dem  zuletzt  Gesagten,  daß  nämlich  eine  Idee  durch- 
aus mit  ihrem  formalen  Sein  übereinstimmen  müsse, 
ergibt  sich  femer  wiederum,  daß  unser  Geist,  um 
völlig  ein  Abbild  der  Natur  zu  sein,  alle  seine  Ideen 
aus  der  Idee  herleiten  muß,  die  den  Ursprung  xmd 
die  Quelle  der  gesamten  Natur  darstellt^  so  daß  diese 
auch  die  Quelle  der  übrigen  Ideen  ist  10 

(43)  Hier  wird  man  sich  vielleicht  wundern,  daß 
wir  unsere  Behauptung,  die  gute  Methode  sei  die, 
welche  zeigt,  wie  der  Geist  nach  der  Norm  der  ge- 
gebenen wahren  Idee  zu  leiten  sei,  durch  Folge- 
rungen beweisen  wollen.  Denn  das  scheint  doch  zu 
zeigen,  daß  es  niöht  schon  von  selbst  bekannt  ist 
und  man  könnte  sogar  fragen,  ob  wir  richtig  ge- 
schlossen haben.  Denn  wenn  wir  richtig  schließen, 
müssen  wir  mit  der  gegebenen  Idee  beginnen,  xmd 
da,  um  mit  der  gegebenen  Idee  zu  beginnen,  es  eines  20 
Beweises  bedarf,  müßten  wir  unseren  Schluß  wiederxmi 
beweisen  und  dann  wieder  jenen  anderen  und  so  bis 
ins  Unendliche.  (44)  Was  ich  darauf  zu  erwidern  habe, 
ist  dieses.  Wenn  jemand  zufällig  so  vorgegangen  wäre, 
die  Natur  zu  erforschen,  daß  er  nach  der  Norm  der 
gegebenen  wahren  Idee  in  gehöriger  Ordnung  andere 
Ideen  erlangt  hatte,  dann  würde  er  niemals  an  der 
Wahrheit  des  Gefundenen  zweifeln  ^),  weil  ja  die  Wahr- 
heit, wie  wir  gezeigt  haben,  sich  selbst  offenbart; 
es  würde  ihm  auch  von  selbst  alles  zugeflossen  sein,  do 
Weil  dies  aber  nie  oder  doch  nur  selten  der  Fall  ist, 
war  ich  genötigt,  jenes  so  ins  Licht  zu  stellen,  damit 
wir  das,  was  wir  durch  Zufall  nicht  zu  erlangen  ver- 
mögen, doch  nach  vorbedachtem  Plane  erlangen.  Da- 
mit sollte  zugleich  gezeigt  werden,  daß  wir  zum  Be- 
weise der  Wahrheit  und  zu  einer  richtigen  Folgerung 
kein  weiteres  Werkzeug  brauchen  als  eben  die  Wahr- 
heit und  die  richtige  Folgerung.  Denn  die  Bichtigkeit 

^)  So  wenig  wie  wir  hier  an  unserer  Wahrheit  zweifein. 

[Opp.  porth.  869.    Vloten  14.    Bnider  §§  41—44.] 

2* 

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20     Abhandlung  über  die  Verbesserang  des  Verstandes. 

der  Folgerung  habe  ich  durch  richtiges  Folgern  be- 
wiesen und  suche  sie  noch  zu  beweisen.  (45)  Dasu 
kommt  noch,  daß  auf  diese  Weise  die  Menschen  an 
inneres  Nachdenken  gewöhnt  werden.  Der  Grund  aber, 
weshalb  es  sich  bei  der  Erforschung  der  Natur  so 
selten  trifft>  daß  nach  gehöriger  Ordnung  verfahren 
wird,  liegt  in  den  Vorurteilen,  deren  Ursachen  ich 
nachher  in  meiner  Philosophie  erklären  werde.  Bin 
weiterer  Grund  liegt  darin,  daß  es  einer  weitg^enden 

10  und  genauen  Unterscheidung  bedarf,  wie  ich  später 
zeigen  werde,  was  sehr  mühsam  ist  Ehdlich  liegt 
es  an  der  Beschaffenheit  der  menschlichen  Natur, 
die,  wie  schon  gezeigt,  durchaus  veränderlich  ist. 
Eß  gibt  noch  weitere  Gründe,  auf  die  ich  aber  nicht 
eingehen  will. 

(46)  Nun  fragt  vielleicht  jemand:  warum  ich  nicht 
selbst  sogleich  und  vor  allem  anderen  die  Wahrheiten 
der  Natur  nach  jener  Ordnung  dargetan  habe,  da  doch 
die  Wahrheit  sich  selSst  offenbart?  Ihm  antworte  ich: 

20 


und  zugleich  warne  ich  ihn,  daß  er  nicht  wegen  hie 
und  da  vorkommender  paradoxer  Sätze  alles  als  &lsch 
verwerfen  wolle:  er  möge  vorher  die  Ordnung,  in  der 
wir  alles  beweisen,  einer  Betrachtung  unt^zieben, 
dann  wird  er  die  Gewißheit  erlangen,  daß  wir  die 
Wahrheit  getroffen  haben.  Das  war  also  die  Ursache, 
warum  ich  jenes  vorausschickte. 

30  (47)  Wenn  nachher  vielleicht  ein  Skeptiker  üb^ 
die  erste  Wahrheit  selbst  und  über  alles,  was  wir 
nach  ihrer  Norm  ableiten,  noch  Zweifel  hegt,  dann 
würde  er  sicherlich  gegen  sein  besswes  Wissen  reden, 
oder  wir  müßten  gestehen,  daß  es  Menschen  gibt^ 
die  auch  innerlich,  im  Geiste  mit  Blindheit  geschissen 
sind,  sei  es  von  der  Geburt  an  oder  durch  Vorurteile, 
also  durch  irgend  einen  äußeren  Zufall.  Derart  Leute 
wissen  von  sich  selbst  nichts.  Wenn  sie  etwas  be- 
haupten oder  bezweifeln,  wissen  sie  nich^  daß  sie 

40  behaupten  oder  bezweifeln.    Sie  sagen,   sie  wüßt^i 

[Opp.  potih.  869—870.   Vloten  14—16.   Bruder  §§  44— 47.] 

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Die  Lehre  tod  der  intellectio.  21 

nichtB,  und  selbst  dafi  sie  nichts  wissen,  sa^en  sie, 
wußten  sie  nicht  Und  selbst  das  sagen  sie  nicht  mit 
Bestimmtheit,  denn  sie  fürchten  zuzugeben,  dafi  sie 
existieren,  solange  sie  nichts  wIbsml  Daher  müssen 
sie  endlich  schweige  um  nicht  doch  vielleicht  ei^as 
vorauszusetzen,  was  nach  einer  Wahrheit  riecht 
(48)  Mit  diesen  Menschen  kann  man  überhaupt  nicht 
über  Wissenschaft  reden.  Im  Leben  xmd  im  gesell- 
schaftlichen Verkehr  zwingt  sie  freilich  die  Not  dazu, 
vorauszusetzen,  dafi  sie  existieren,  und  ihren  Vorteil  10 
zu  suchen  und  mit  Eädschwur  vieles  zu  bejahen  und 
zu  verneinen.  Wenn  man  ihnen  aber  etwas  beweisen 
will,  dann  wissen  sie  nicht,  ob  die  Beweisführung 
richtig  oder  mangelhaft  ist  Wenn  sie  verneinen, 
zugeben  oder  bestreiten,  wissen  sie  nichts  daß  sie 
verneinen,  zugeben  oder  bestreiten.  Daher  mufi  man 
sie  als  Automaten  ansehen,  denen  der  Geist  ganz  und 
gar  abgeht 

(49)  Fassen  wir  nun  unsere  Aufgabe  zusammen. 
Wir  haben  biaher  20 

L  das  Ziel  gefunden,  auf  das  wir  alle  unsere 
Gedanken  richten  wollen, 

n.  haben  wir  die  beste  Erkenntnisart  (perceptio) 
kennen  gelernt,  mit  deren  Hilfe  wir  zu  unserer  Voll- 
kommenheit gelangen  können, 

m  haben  wir  den  ersten  Weg  gefunden,  auf  dem 
der  Geist  verharren  mufi,  um  richtig  anzufangen;  er 
besteht  darin,  dafi  er  nach  der  Norm  irgend  einer 
gegebenen  wahren  Idee  fortfährt,  sicheren  Gesetzen 
gemäfi  zu  forschen.  Damit  dies  richtig  geschieht,  mufi  30 
die  Methode  folgendes  leisten: 

1.  mufi  sie  die  wahre  Idee  von  den  übrigen  Vor- 
stellungen (perceptiones)  unterscheiden  und  den 
Geist  vor  diesen  bewahren, 

2.  mufi  sie  die  Regeln  an  die  Hand  geben,  die  un- 
bekannten Dinge  nach  dieser  Norm  zu  begreifen, 

3.  mufi  sie  eine  Ordnung  festsetzen,  damit  wir  uns 
nicht  durch  unnütze  Dinge  ermüden. 

[Opp.  porth.  870—871.   Vloten  15—16.   Bruder  §§  47—49.] 

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22      Abhandlung  über  die  Yerbessening  des  Verstandes. 

Haben  wir  diese  Methode  kennen  gelernt,  dann 
haben  wir 

IV.  gesehen,  daß  sie  die  vollkommenste  sein  wird, 
wenn  wir  die  Idee  des  vollkommensten  Wesens  haben 
werden.  Daher  wird  in  erster  Linie  darauf  haupt- 
sächlich zu  achten  sein,  daß  wir  sobald  als  möglich 
zur  Erkenntnis  eines  solchen  Wesens  gelangen. 


(50)  Beginnen  wir  also  mit  dem  ersten  Teil  der 
Methode,  der  wie  gesagt  darin  besteht,  die  wahre 

10  Idee  von  den  übrigen  Vorstellungen  (perceptio- 
nes)  zu  unterscheiden  und  zu  trennen,  und  den 
Geist  davor  zu  bewahren,  falsche,  fingierte  und  zweifel- 
hafte Ideen  mit  wahren  zu  vermengen.  Ich  will  es  hier 
so  ausführlich  wie  möglich  auseinandersetzen,  um  die 
Leeer  bei  der  Betrachtung  einer  so  wichtigen  Sache 
festzuhalten,  und  auch  deshalb,  weil  es  viele  g^bty 
die  selbst  an  dem  Wahren  zweifeln,  weil  sie  nicht 
den  Unterschied  beachten,  der  zwischen  der  wahren 
Vorstellung  und  allen  anderen  besteht   Sie  gleichen 

20  daher  den  Menschen,  die  während  ihres  Wachens  nicht 
zweifelten,  daß  sie  wachten;  nachdem  sie  aber  einmal 
im  Traume,  wie  es  oft  geschieht,  geglaubt  haben 
wirklich  zu  wachen  und  das  nachher  als  falsch  er- 
fanden, zweifeln  sie  nun  sogar  an  ihrem  wachen  Zu- 
stand, was  daher  kommt,  daß  sie  den  Unterschied 
zwischen  Schlaf  und  Wachen  nicht  kennen.  (51)  In- 
dessen erinnere  ich  daran,  daß  ich  hier  das  Wesen 
einer  jeden  Vorstellung  und  zwar  durch  ihre  nächste 
Ursache  nicht  erklären  werde>  weil  das  zur  Philosophie 

80  gehört  Vielmehr  will  ich  bloß  auseinandersetzen,  was 
die  Methode  erfordert,  tiämlich  das,  worum  es  sich 
bei  fingierten,  falschen  und  zweifelhaften  Vorstel- 
lungen handelt,  und  wie  wir  von  aUen  diesen  frei 
werden.  Die  erste  Untersuchung  richtet  sich  daher 
auf  die  fingierte  Idee. 

(52)  Da  alles  Vorstellen  (perceptio)  entweder  eine 
Sache  betrifft   die  als  existierend  betrachtet  wird, 

[Opp.  poBth.  871.    Vloten  16.    Brnder  §§  49—62.] 

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Die  Lehre  ron  der  imaginatio.  2B 

oder  bloß  ihr  Weeen  (esBentia),  und  da  Aktionen  häu- 
figer Yorkommen  bei  Dingen,  die  als  existierend  be- 
trachtet werden,  so  werde  ich  zuerst  von  den  Aktionen 
sprechen,  bei  denen  bloß  die  Existenz  fingiert  wird, 
wahrend  die  Sache  selbst,  der  ein  solcher  Zustand 
angedichtet  wird,  erkannt  ist  oder  als  erkannt  vor- 
ausgesetzt wird.  Ich  fingiere  z.  B.,  Peter,  den  ich 
kenne^  gehe  nach  Hause,  besuche  mich  und  ähn- 
liches. ^)  Ich  frage  |iun:  worauf  bezieht  sich  diese 
Idee?  Ich  sehe,  daß  sie  sich  nur  auf  mögliche  Dinge  10 
bezieht,  aber  nicht  auf  notwendige  und  auch  nicht 
auf  unmögliche.  (53)  Unmöglich  nenne  ich  eine  Sache, 
deren  Natur  einen  Widerspruch  gegen  ihr  Dasein 
enthält;  notwendig,  deren  Natur  einen  Widerspruch 
gegen  ihr  Nicht-Dasein  enthält;  möglich,  deren 
Existenz  ihrer  Natur  nach  weder  einen  Widerspruch 
gegen  ihr  Dasein  noch  ihr  Nicht-Dasein  enthält,  bei 
der  vielmehr  die  Notwendigkeit  oder  Unmöglichkeit 
ihrer  Ebdstenz  von  uns  unbekannten  Ursachen  ab- 
hangt, indes  wir  ihre  Existenz  nur  fingieren;  wenn  ^ 
uns  eben  ihre  Notwendigkeit  oder  Unmöglichkeit  zu 
existieren,  die  von  äußeren  Ursachen  abhäng^  be- 
kannt wäre,  könnten  wir  nichts  über  sie  fingieren. 
(54)  Daraus  folgt,  wenn  es  irgend  einen  Gott  oder 
irgend  ein  allwissendes  Wesen  gibt,  daß  dieses  un- 
möglich etwas  fingieren  könne.  Denn,  was  uns  be- 
tritt, wenn  ich  weiß,  daß  ich  existiere^),  kann  ich 
nicht  fingieren,  daß  ich  existiere  oder  nicht  existiere. 
Ich  kann  auch  nicht  fingieren,  daß  ein  Eüefant  durch 
ein  Nadelöhr  geht  Wenn  ich  die  Natur  Gottes  kenne,  80 


^)  Siehe  weiter  unten,  was  ich  fiber  Hypothesen  be- 
merken werde,  die  von  dds  klar  erkannt  werden.  Aber 
darin  liegt  die  Fiktion,  daß  wir  sagen,  sie  existierten  als 
solche  auf  den  Himmelskörpern, 

^  Weil  die  Sache,  wenn  man  sie  nur  begriffen  hat, 
sich  selbst  offenbart,  so  braachen  wir  bloß  ein  Beispiel,  aber 
keinen  weiteren  Beweis.  Das  gleiche  wird  der  Fall  sein 
bei  ihrem  Gegensate,  den  man  nur  ra  uitersnohen  brancht, 
un  ihn  als  falsch  an  erweisen,  wie  es  sich  sogleich  zeigen 
wird,  wenn  wir  von  der  Fiktion  in  betreff  des  Seins  reden. 

[Opp.  poeth.  371—872.   Vloten  lö— 17.   Bruder  §§  62—64.] 

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24     Abhandlung  über  die  Verbeflserang  des  Verstandes. 

kann  ich  nicht  seine  Existenz  oder  NichtrExistenz 
fingieren.  ^)  Dasselbe  versteht  sich  von  der  Chimäre, 
deren  Nator  einen  Widerspruch  gegen  die  Einstens 
enthalt 

Hieraus  geht  hervor,  was  ich  sagte,  daß  die 
Fiktion,  von  der  wir  hier  reden,  ewige  Wahrheiten 
nicht  betreffen  kann.  >)  (66)  Bevor  ich  jedoch  weiter 
gehe,  will  ich  hier  nur  gelegentlich  bemerken,  daß  der- 
selbe Unterschied,  der  zwischen  dem  Wesen  der  ein^i 

10  und  dem  Wesen  der  anderen  Sache  besteht»  auch 
zwischen  der  Wirklichkeit  (actualitas)  oder  Existenz  der 
einen  und  der  Wirklichkeit  oder  Existenz  der  anderen 
Sache  besteht  Wenn  wir  beispielsweise  die  Existenz 
des  Adam  bloß  durch  die  allgemeine  Existenz  begreifen 
wollten,  so  wäre  es  dasselbe,  als  wollten  wir,  um 
Adams  Wesen  zu  erfassen,  die.  Natur  des  Seienden  über- 
haupt ins  Auge  fassen,  um  endlich  zu  definieren:  Adam 
sei  ein  Seiendes.  Je  allgemeiner  also  die  EIxistenz  vor- 
gestellt wird,  desto  verworrener  wird  sie  auch  vor- 

20  gestellt  und  kann  um  so  leichter  einer  jeden  Sache 
zugeschrieben  werden;  und  umgekehrt,  je  besonderer 
sie  vorgestellt  wird,  desto  schwer»  wird  es  sein, 
indem  wir  die  Ordnung  der  Natur  nicht  beachten,  sie 
einem  anderen  als  der  Sache  selbst  zuzuschreiben.  Dies 
ist  wohl  zu  beachten. 

(66)  Wir  müssen  nun  jene  Dinge  betrachten,  von 
denen  man  gewöhnlich  sagt  daß  sie  fingiert  werden. 


>)  Es  ist  sn  bemerken,  daß  zwar  viele  sagen,  sie  sweifel- 
tOD,  ob  GK>tt  existiere,  dafi  sie  aber  nur  einen  Namen  haben 
oder  etwas  fingieren,  das  sie  Gott  nennen,  das  aber  mit  der 
Natur  Qottes  nicht  übereinstimmt  wie  ich  weiter  unten  am 
geeigneten  Orte  zeigen  werde. 

')  Ich  werde  auch  sogleich  zeigen,  daß  es  Aber  ewige 
Wahrheiten  keine  Fiktion  geben  kann.  Unter  ewiger  Wal^ 
heit  verstehe  ich  eine  solche,  die,  wenn  sie  blähend  ist, 
niemals  verneint  werden  kann.  So  ist  es  die  erste  ewige 
Wahrheit,  daß  Qott  ist,  aber  es  ist  keine  ewiffe  Wahrheit, 
daß  Adam  denkt.  Daß  es  keine  Ohimftre  gibt,  ist  eine 
ewige  Wahrheit,  aber  daß  Adam  nicht  denkt,  ist  keine. 

[Opp.  posth.  872—878.    Vloten  17—18.   Bruder  §§  5i— 66.] 

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Die  Lehre  von  der  imaginatio.  25 

obschon  wir  wohl  wissen,  dafi  die  Sache  sich  nichl 
so  verhält,  wie  wir  sie  fingieren.  Obwohl  ich  z,  B. 
weil},  daß  die  Erde  rund  \at,  steht  nichts  im  Wege, 
daß  ich  zu  jemandem  sage,  die  Erde  sei  eine  Halb- 
kugel und  wie  eine  halbe  Orange  auf  einem  TeUw; 
oder  die  Sonne  bewege  sich  um  die  Erde  und  ähn- 
liches. Wenn  wir  unsere  Aufmerksamkeit  darauf  rich- 
ten, werden  wir  nichts  sehen,  was  nicht  mit  dem  schon 
Gesagten  zusammenhinge.  Nur  müssen  wir  zuvor  be- 
merken, daß  wir  einmal  haben  irren  können  und  jetzt  10 
uns  dieser  Irrtümer  bewußt  sind;  und  femer,  daß  wir 
fingieren  oder  wenigst^is  glauben  können,  daß  andere 
Menschen  in  demselben  Irrtum  sein  oder  in  ihn  ver- 
fallen könnten  wie  wir  früher.  Das,  sage  ich,  können 
wir  so  lange  fingieren,  als  wir  keine  Unmöglichkeit 
und  keine  Notwendigkeit  sehen.  Wenn  ich  also 
jemandem  sage,  die  Erde  sei  nicht  rund  und  der- 
gleichen, so  tue  ich  damit  nichts  anderes,  als  daß 
ich  einen  Irrtum  ins  Gredächtnis  zurückrufe,  den  ich 
vielleicht  einmal  gehabt  habe  oder  in  den  ich  doch  20 
hätte  verfallen  können,  und  nachher  fingiere  oder 
glaube  ich,  der,  dem  ich  es  sage,  sei  noch  in  diesem 
Irrtum  oder  könne  In  ihn  verfsdlen«  Das  fingiere  ich 
wie  gesagt,  solange  ich  keine  Unmöglichkeit  und  keine 
Notwendigkeit  sehe.  Hätte  ich  sie  aber  gesehen, 
dann  hätte  ich  nichts  fingieren  können,  und  dann 
hatte  man  nur  sagen  können,  daß  ich  etwas  getan 
habe. 

(57)  Es  erübrigt  nun  noch,  auch  die  Annahmen 
zu  erwähnen,  die  man  bei  der  Erörterung  von  Streit-  dxy 
fragen  aufstellt  und  die  bisweilen  auch  Unmögliches 
zum  Gegenstand  haben.  So  beispielsweise»  wenn  wir 
sagen:  angenommen,  diese  brennende  Kerie  brenne 
jetzt  nicht,  oder  angenommen,  sie  brenne  in  irgend 
einem  eingebildeten  Räume,  oder  da,  wo  es  keine 
Körper  gibt  Derartige  Annahmen  werden  wohl  ge- 
macht, obwohl  das  letztere  offenbar  unmöglich  ist 
Aber  wenn  es  geschieht,  wird  doch  damit  nichts 
fingiert  Denn  im  ersten  Falle  habe  ich  nichts  anderes 
getan,  als  daß  ich  eine  nicht  brennende  Kerze  ins  Ge-  40 

[Opp.  posth.  873—874.    Vloten  18.    Bruder  §§  56—67.] 

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26      Abhandlmig  fiber  die  Verbeflserang  des  Verstandes. 

dächtnis  zurückrief  ^)  (oder  mir  eben  jene  Kerze  ohne 
Flamme  vorstellte),  und  was  ich  von  dieser  Kerze  denke» 
das  denke  ich  auch  von  jener,  solange  ich  nicht  auf 
die  Flamme  achte.  Im  zweiten  Falle  geschieht  weiter 
nichts,  als  dal3  man  die  Gedanken  von  den  umgebenden 
Körpern  fernhält  damit  der  Geist  ausschließlich  der 
Kerze  für  sich  betrachtet  seine  Aufmerksamkeit 
widmen  kann;  dann  schließt  er,  die  Kerze  enthalte 
keine  Ursache  zu  ihrer  eigenen  Zerstörung  in  sich,  so 
10  daß  diese  Kerze  und  auch  die  Flamme  imveränd^^t 
blieben,  wenn  die  umgebenden  Körper  nicht  wären, 
oder  ähnliches  mehr.  Das  sind  also  keine  Fiktionon, 
sondern  wahre  und  klare  Behauptungen.  >) 

(58)  Gehen  wir  nun  zu  den  Fiktionen  über,  die 
das  Wesen  allein  betreffen,  oder  das  Wesen  zugleich 
mit  einer  Wirklichkeit  oder  Eizistenz.  Bei  ihnen  kommt 
hauptsachlich  in  Betracht^  daß  der  Geist  eine  um  so 
größere  Möglichkeit  zu  Fiktionen  hat^  je  weniger  er 
erkennt  und  je  mehr  er  doch  wahrnimmt,  und  daß 


^)  Später,  wenn  wir  von  den  Fiktionen  in  betreff  dos 
Seins  sprechen,  wird  sich  klar  ergeben,  dafi  eine  Fiktion 
niemals  etwas  Neues  soha£F)b  oder  dem  Geiste  darbietet, 
sondern  daß  sie  nur  das  im  Gehirn  oder  in  dem  Vor- 
stellungsvei  mögen  schon  VorhandeDe  wieder  ins  Gedftchtnis 
ruft  nnd  daß  dabei  der  Geist  auf  alles  zugleich,  aber  ver- 
worren seine  Aufinerksamkeit  lenkt  Man  ruft  sich  s.  B.  das 
Reden  und  einen  Baum  ins  Gedächtnis;  und  wenn  sich  non 
der  Geist,  ohne  zwischen  beiden  zu  nnterscheiden,  aof  beide« 
richtet,  dann  meint  man,  der  Baum  rede.  Dasselbe  gilt 
Überhaupt  von  der  Existenz,  zumal  wenn  sie  wie  gesagt 
ganz  allgemein  als  Sein  erfaßt  wird;  denn  dann  kann  aie 
leicht  allen  Dingen  beigelegt  werden,  die  zn  gleicher  Zeit 
im  Gedächtnis  auftauchen.    Dies  ist  sehr  wohl  zn  beachten. 

^)  Dasselbe  f^ilt  auch  von  den  Hypothesen,  die  m»ii 
auÜBtellt,  nm  gewisse  Bewegungen  zu  erklären,  die  mit  den 
Erscheinungen  der  Himmelskörper  übereiiiptimmen.  Nur 
darf  man  nicht  aus  ihnen,  wenn  man  sie  auf  die  Bewegungen 
der  Himmelskörper  anwendet,  auch  auf  die  Natur  derselben 
schließen.  Denn  diese  kann  doch  eine  andere  sein,  zumal 
da  zur  Erklärung  dieser  Bewegungen  yiele  andere  Ursachen 
angenommen  werden  können. 

[Opp.  posth.  874.    Vlot«n  18—19.    Bruder  §§  67—68.] 

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Die  Lehre  ron  der  ixnagiDatio.  27 

jene  Möglichkeit  immer  geringer  wird,  je  mehr  er 
erkennt  Ebenso  wie  wir  beispielsweise  oben  sahen, 
daß  wir,  solange  wir  denken,  nicht  fingieren  können, 
wir  dachten  oder  wir  dachten  nicht;  ebenso  können 
wir,  nachdem  wir  die  Natnr  des  Körpers  erkannt  haben, 
nicht  mehr  fingieren,  daß  eine  Fliege  unendlich  ist; 
oder  nachdem  wir  die  Natur  der  Seele  ^)  erkannt  haben, 
können  wir  nicht  mehr  fingieren,  sie  sei  viereckig, 
obwohl  wir  ja  mit  Worten  alles  sagen  können.  Aber 
wie  gessLgt,  je  weniger  die  Menschen  die  Natur  kennen,  10 
deBto  leichter  können  sie  vieles  fingieren;  2.  B.  dafi 
Menschen  im  Nu  in  Steine  oder  in  Quellen  verwandelt 
werden,  daß  Greister  in  Spiegeln  erscheinen,  daß  aus 
nichts  etwas  wird,  auch  daß  sich  Götter  in  Tiere  und 
Menschen  verwandeln  und  unzahlige  andere  Dinge  von 
dieser  Art 

(59)  Vielleicht  wird  jemand  meinen,  daß  die  Fiktion 
von  der  Fiktion  und  nicht  vom  Erkennen  (intellectio) 
eingeschränkt  wird;  d.  h.  nachdem  ich  etwas  fingiert 
und  damit  durch  eine  Art  von  freiem  Entschluß  an-  20 
erkannt  habe,  daß  es  so  in  der  Wirklichkeit  existiere, 
so  werde  dadurch  bewirkt,  daß  wir  es  nachher  nicht 
mehr  anders  denken  können.  Nachdem  ich  beispiels- 
weise „fingiert"'  habe,  um  mit  diesen  Leuten  zu  reden, 
daß  ein  Körper  die  und  die  Natur  habe,  und  nach- 
dem ich  aus  freiem  Entschluß  der  Überzeugung  ge- 
worden bin,  daß  die  Natur  des  Körpers  wirklich  so 
existiert,  dann  steht  es  mir  nicht  länger  frei,  z.  B. 
eine  Mücke  als  unendlich  zu  fingieren;  und  nachdem 
ich  das  Wesen  der  Seele  fingiert  habe,  kann  ich  sie  so 

^)  Eb  kommt  h&afig  ▼er,  daß  sich  jemand  dieses  Wort 
„Seele*'  ins  Oedftchtnis  raft  nnd  sich  dabei  ein  körperliches 
Bild  macht.  Wenn  er  aber  diese  beiden  Vorstellungen 
gleichseitig  hat,  dann  'wird  er  leicht  za  dem  Glauben  ver- 
leitet, daß  er  sich  eine  körperliche  Seele  vorstelle  und 
fingiere.  Denn  er  macht  zwischen  dem  Namen  und  der 
Sache  selbst  keinen  Unterschied.  Hier  verlange  ich,  daß 
die  Leser  dies  nicht  voreilig  verwerfen  mögen,  was  sie,  wie 
ich  hoffe,  nicht  tan  werden,  wenn  sie  auf  die  Beispiele  nnd 
zugleich  aaf  das,  was  folgt,  recht  genau  achten. 

[Opp.  posth.  374—876.   Vloten  18—20.   Bmder  §§  68—59.1 

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28     Abhandlung  fiber  die  Verbesserung  des  Verstandes. 

nicht  mehr  viereckig  vorstellen  u.  s.  w.  (60)  Das 
müssen  wir  indes  prüfen.  ElrsteDB  verneinen  entweder 
jene»  daß  eine  Erkenntnis  möglich  sei,  oder  sie  geben 
es  zu.  Geben  sie  es  zu,  dann  muß  notwendig  das, 
was  sie  von  der  Fiktion  sagen,  auch  vom  Ehrkenntnis- 
vermögen gelten.  Lfougnen  sie  es  aber,  dann  wollen 
wir,  die  wir  wissen  etwas  zu  wissen,  einmal  zoseihen, 
was  sie  eigentlich  sagen.  Sie  sagen  nämlich,  die  Seele 
könne  empfinden   (sentire)   und  auf  vielerlei  Weise 

10  wahrnehmen  (percipere)  nicht  sich  selbst  noch  die 
existierenden  Dinge,  sondern  einzig  das,  was  weder 
an  sich  noch  irgendwo  vorhanden  ist  Das  hußt, 
die  Seele  könne  allein  durch  ihre  eigene  Kraft  Empfin- 
dungen (sensationee)  oder  Ideen  schaffen,  die  aber 
nicht  die  Empfindungen  oder  Ideen  der  Dinge  sind. 
Sie  betrachten  die  Seele  also  teilweise  wie  Gott  Weiter- 
hin sagen  sie,  wir  oder  unsere  Seele  habe  eine  der- 
artige Freiheit  daß  sie  uns  oder  sich  oder  sogar 
ihre  eigene  Freiheit  zwingen  könne.    Denn  nachdem 

20  sie  einmal  etwas  fingiert  und  ihre  Zustimmung  zu 
ihrer  Fiktion  gegeben  habe,  könne  sie  es  auf  keine 
andere  Weise  denken  oder  fingieren  und  werde  ge- 
radezu durch  ihre  Fiktion  gezwungen,  nur  auf  diese 
Weise  zu  denken,  jim  mit  der  ersten  f^tion  nicht 
in  Widerspruch  zu  geraten;  wie  sie  auch  hier  genötigt 
sind,  das  Absurde,  das  ich  eben  zu  beurteilen  im  Be- 
griffe bin,  ihrer  Fiktion  zuliebe  zuzulassen.  Wir  wollen 
uns  aber  mit  keinen  Beweisen  weiter  bemühen,  um  es 
zu  widerlegen. 

30  (61)  Wir  wollen  sie  ihrem  Unsinn  überlassen  xmd 
wollen  nur  dafür  sorgen,  daß  wir  aus  den  Worten, 
die  wir  mit  ihnen  gewechselt  haben,  etwas  Wahres 
für  unserem  Gegenstand  schöpfen.  Es  ist  dies^):  Wenn 


^)  Weil  ich  das  aas  der  Erfahnmg  su  sohliefien  scheine 
und  jemand  sagen  könnte,  das  sei  nichts,  weil  der  Beweis 
fehlt,  so  stehe  er  fflr  den,  der  ihn  verlangt,  hier:  Es  Jcann 
in  der  Natur  nichts  geben,  das  ihren  Gesetzen  widerstreitet, 
alles  geschieht  nach  ihren  bestimmten  Oesetaen,  derart,  dafi 
alles  nach  bestimmten  Gesetzen  seine  bestimmten  Wirkungen 

[Opp.  postfa.  875.    Vloten  20.    Bruder  §§  59—61.] 

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Die  Lehre  yod  der  imaginatio.  29 

sich  der  Geifii  einer  fingierten  und  ihrer  Natnr  nach 
üüflchen  Sache  zuwende^  um  über  sie  nachasadenken^ 
sie  za  erkennen  und  in  richtiger  Ordnung  ans  ihr 
die  nötigen  Schlüsse  asa  ziehen,  dann  wird  er  leicht 
das  Falsche  an  ihr  entdecken.  Wenn  aber  die  fingierte 
Sache  ihrer  Natur  nach  wahr  ist,  dann  wird  der  Geist, 
wenn  er  sich  ihr  zuwendet»  um  sie  zu  erkennen,  nnd 
anfangt»  in  richtiger  Ordnung  aus  ihr  abzuleiten»  was 
aus  il^  folgt»  dann  wird  er  glücklich  und  ohne  Unter- 
brechung fortfahren;  so  wie  wir  gesehen  haben»  daß  10 
bei  der  eben  angeführten  falschen  Fiktion  der  Ver- 
stand sofort  bereit  war,  ihre  Absurdität  und  alle  daraus 
sich  ergebende  aufzuweisen. 

(62)  Wir  brauchen  daher  keineswees  zu  befürch- 
ten» daß  wir  etwas  nur  fingieren»  sobald  wir  eine 
Sache  klar  und  deutlich  benreifen.  Denn  wenn  wir 
vielleicht  sagen,  daß  Menschen  im  Nu  in  Tiere  ver- 
wandelt werden»  so  wird  das  in  sehr  allgemeiner  Weise 
gesagt  Dabei  haben  wir  aber  im  Geiste  keinen  Be- 
griff, d.  h.  keine  Idee  oder  V^bindung  von  Subjekt  20 
und  Prädikat  Denn  wäre  ein  solche  Begriff  vor- 
handen» so  würde  der  Geist  zugleich  auch  das  Mittel 
und  die  Ursachen  sehen,  wodurch  und  warum  etwas 
derartiges  geschehen  ist  Sodann  wird  dabei  weder 
die  Natur  des  Subjekts  noch  des  Prädikats  beachtet 
(63)  Femer  wird,  sobald  einmal  die  wste  Idee  nicht 
fmgiert  ist,  und  alle  übrigen  Ideen  aus  ihr  hergeleitet 
werden,  allmalig  das  voreilige  Fingiwen  verschwin- 
den. Da  weiter  eine  erdichtete  Idee  nicht  klar  und 
deutlich  sein  kann,  sondern  nur  verworren»  und  80 
da  alle  Verwirrung  nur  daher  kommt  daß  der  Geist 
die  gesamte  oder  aus  vielem  zusammengesetzte  Sache 
nur  in  einem  Teile  kennt  und  das  Bekiumte  vom  Un- 
bekannten nicht  unterscheidet»  und  außerdem  auch 
daher»  daß  er  auf  das  Viele,  das  in  jeder  Sache  ent- 


in unserreißbarer  Verkettung  heryorbrini^;  daraus  folgt,  daß 
die  Seele,  wenn  sie  ein  Ding  wahrhaft  begreift,  foräUirt 
objektiv  dieselben  Wirkanffen  m  bilden.  Siehe  weiter  unten, 
wo  ich  von  der  falschen  Liee  spreche. 

[Opp.  potth.  875—876.   Vloten  20—21.    Brader  §§  61—68.] 

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80     Abhandlung  über  die  YerbesBerang  des  Verstandes. 

halten  ist»  zugleich  und  ohne  jede  Unterscheidung  sein 
Augenmerk  richtet,  so  folgt  daraus:  1.  daß  die  Idee 
einer  einfachen  Sache  nicht  anders  als  klau  und  deut- 
lich wird  sein  können;  denn  jene  Sache  wird  nicht 
in  einem  Teile,  sondern  nur  ganz  oder  gar  nicht  er- 
kannt werden  können.  (64)  2.  folgt  daraus,  daß  man 
eine  Sache,  die  sich  aus  Vielem  zusammensetzt,  nur 
in  alle  ihre  einfachsten  Teile  im  Denken  zu  zerl^en 
und  jeden  Teil  für  sich  zu  betrachten  braucht,  um 

10  alle  Verwirrung  zu  beseitigen.  3.  folgt  daraus,  daß 
eine  Fiktion  nicht  einfacher  Art  sein  kaoui,  sondern 
daß  sie  aus  der  Zusammensetzung  verschiedener  ver- 
worrener Ideen  entsteht,  die  verschiedene  in  der 
Natur  existierende  Dinge  und  Handlungen  betreffen, 
oder  besser  gesagt  daraus,  daß  man  derartige  ver- 
schiedene Ideen  zugleich  betrachtet^),  ohne  jedoch 
beizustimmen.  Denn  wäre  die  Fiktion  einfacher  Art, 
dann  wäre  sie  auch  klar  und  deutlich  und  infolge- 
dessen auch  wahr.  Wäre  sie  aus  der  Zusammensetzung 

20  von  deutlichen  Ideen  hervorgegangen,  dann  wäre  auch 
ihre  Zusammensetzung  klar  und  deutlich  und  somit 
wahr.  Habe  ich  z.  B.  die  Natur  des  Kreises  und  auch 
die  Natur  des  Vierecks  erkannt,  dann  kann  ich  die 
beiden  nicht  länger  verbinden  und  den  Kreis  zum 
Viereck  machen  oder  die  Seele  zu  einem  Viereck 
u.  ähnl.  (65)  Wir  können  also  wiederum  kurzerhand 
den  Schluß  ziehen  und  sehen,  daß  wir  nicht  zu  fürchten 
brauchen,  eine  Fiktion  mit  wahren  Ideen  zu  vermengen. 
Denn  was  die  erste  Art  von  Fiktionen  anbetrifft, 

80  von  der  wir  zuerst  gesprochen  haben,  bei  der  näm- 
lich die  Sache  klar  erfaßt  wird,  so  haben  wir  ge- 
sehen,  daß  wir  über  eine  solche  Sache  gar  nichts 

^)  NB.  nnterscheidet  sich  die  Fiktion  an  sich  betrachtet 
nicht  sehr  vom  Tranme,  aaßer  daß  im  Traume  die  Ursachen 
sich  nicht  zeigen,  die  sich  den  Wachenden  mit  Hilfe  der 
Sinne  darbieten,  und  woraus  sie  schließen,  daß  diese  Er- 
scheinuDfifen  in  diesem  Augenblick  nicht  von  äußeren  Dingen 
herrühron.  Der  Irrtum  aber  ist,  wie  sich  sogleich  seilen 
wird,  ein  waches  Tr&umen;  wenn  er  stark  hervortritt,  heifit 
er  Irrsinn. 

[Opp.  posth.  876—377.  Vloten  21—22.    Bruder  §§  68—65.] 

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Die  Lehre  ▼on  der  imaginatio.  81 

werden  fingieren  können,  wenn  diese  klar  erfaßte 
Sache  and  anch  ihre  Existenz  an  sich  eine  ewige 
Wahrheit  ist  Ist  aber  die  Existenz  der  gedachten 
Sache  keine  ewige  Wahrheit,  dann  braucht  man  bloJD 
die  Existenz  der  Sache  mit  ihrem  Wesen  zu  vergleichen, 
und  zugleich  auf  die  Ordnung  der  Natur  zu  achten. 
Was  die  zweite  Art  von  Fiktionen  betrifft,  die  wie 
gesagt  die  Betrachtung  verschiedener  verworrener 
Ideen  von  in  der  Natur  wirklich  existierenden  Dingen 
und  Handlungen  ist,  ohne  daß  man  sie  jedoch  aner-  10 
kennt,  so  haben  wir  gleichfalls  gesehen,  daß  eine  ganz 
einfache  Sache  nicht  fingiert,  sondern  nur  erkannt 
werden  kann,  und  ebenso  eine  zusammengesetzte  Sache, 
sobald  wir  auf  ihre  einfachsten  Bestandteile  achten, 
ia  daß  wir  sogar  aus  ihnen  selbst  keine  Handlungen, 
£e  nicht  wahr  sind,  fingieren  können;  denn  wir  müßten 
uns  zugleich  darüber  klar  werden,  wie  und  warum  dies 
geschieht 

(66)  Nachdem  wir  dies  eingesehen,  wollen  wir 
jetzt  zur  Untersuchung  der  falschen  Idee  übergehen,  20 
um  zu  sehen,  wobei  sie  vorkommt  und  wie  wir  uns 
hüten  können,  in  falsche  Vorstellungen  (perceptiones) 
zu  geraten.  Beides  wird  uns,  nachdem  wir  die  fingierte 
Idee  untersucht  haben,  nicht  mehr  schwer  fallen, 
denn  es  gibt  keinen  anderen  Unterschied  zwischen 
ihnen,  als  daß  die  falsche  Idee  noch  die  Anerkennung 
voraussetzt,  d.  h.  wie  bereits  bemerkt,  daß  während 
sich  einem  die  Vorstellungen  (repraesentamina)  dar- 
bieten, keine  Ursachen  sich  zeigen,  aus  denen  man  wie 
bei  der  Fiktion  entnehmen  könnte,  daß  sie  nicht  von  30 
äußeren  Dingen  sich  herleiten;  daß  jene  also  kaum 
etwas  anderes  ist  als  nüt  offenen  Augen  oder  im 
Wachen  zu  träumen.  Die  falsche  Idee  kommt  also 
vor  oder,  um  mich  besser  auszudrücken,  bezieht  sich 
entweder  auf  die  Existenz  einer  Sache,  deren  Wesen 
man  erkannt,  oder  aber  auf  das  Wesen  einer  Sache, 
gerade  so  wie  die  fingierte  Idee.  (67)  Bezieht  ^ie  sich 
auf  die  Existens^  dann  wird  sie  gerade  so  berich- 
tigt wie  die  fiktion.  Denn  wenn  die  Natur  einer  be- 
kannten Sache  ihre  Existenz  als  notwendig  voraus-  40 

[Opp.  posth.  877.    Vloten  22.    Bruder  §§  66—67.] 

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82     Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Verstandes. 

setzte,  so  ist  es  unmöglich,  daß  wir  uns  über  ihre 
Exüaienz  ^täuschen.  Ist  aber  die  Existenz  keine  ewige 
Wahrheit^  wie  es  ihr  Wesen  ist,  hängt  vielmehr  die 
Notwendigkeit  oder  Unmöglichkeit  ihrer  Existenz  von 
äußeren  .Ursachen  ab,  dann  nehme  man  alles  in  der- 
selben Weise,  wie  angegeben  wurde,  als  von  der 
Fiktion  die  Rede  war:  denn  ebenso  wird  auch  die  falsche 
Idee  berichtigt  (68)  Was  die  andere  Art  d^  fal- 
schen Idee  betrifft,  die  sich  auf  das  Wesen  oder  auf 

10  Handlungen  bezieht,  so  sind  derartige  Vorstellungen 
notwendig  immer  verworren,  zusammengesetzt  aus  ver- 
schiedenen verworrenen  Vorstellungen  von  Dingen, 
die  in  der  Natur  existieren,  so  wenn  sich  die  Men- 
schen überreden  lassen,  in  Wäldern,  in  Bildern,  in 
Tieren  und  dergleichen  wohnten  Gottheiten;  es  gebe 
Körper,  aus  deren  bloßer  Zusammensetzung  schon 
der  Verstand  entstehe;  Gestorbene  könnten  denken, 
umgehen,  reden;  Gott  könne  getäuscht  werden  und 
ähnliches.    Aber  Ideen,   die  klar  und  deutlich  sind, 

20  können  niemals  falsch  sein«  Denn  die  Ideen  der  Din^e, 
die  klar  und  deutlich  begriffen  werden,  sind  ^it- 
weder  ganz  einfach,  oder  aas  einfachen  Ideen  zu- 
sammengesetzt, ,d.  h.  von  ganz  einfachen  Ideen  her- 
geleitet. Daß  aber  eine  ganz  einfache  Idee  nicht 
]^lsch  sein  kann,  wird  jeder  einsehen  können,  wenn 
er  nur  weiß,  was  wahr  und  was  Erkenntnis  und  zu- 
gleich was  falsch  heißt 

(69)  Denn  was  das  betrifft,  was  die  Form  des 
Wahren  ausmacht,  so  unterscheidet  sich  sicherlich  das 

80  wahre  Denken  vom  fsJschen  nicht  bloß  durch  die 
äußere  Bezeichnung,  sondern  hauptsächlich  durch  die 
innere.  Denn  wenn  ein  Baumeister  sich  ein  Gebäude 
richtig  ausdenkt,  so  ist  doch  sein  Gedanke,  auch 
wenn  ein  solches  Gebäude  nie  existiert  hat  und  nie 
existieren  wird,  nichtsdestoweniger  richtig,  und  der 
Gedanke  bleibt  derselbe,  ob  nun  das  Gebäude  existiert 
oder  nicht.  Wenn  ds^egen  einer  behauptet^  daß  z.  B. 
Peter  existiere,  ohne  jedoch  zu  wissen,  daß  er  existiert, 
so  ist  der  Gedanke  in  Ansehung  dessen,  der  es  sagt, 

40  falsch,  oder  wenn  man  lieber  will,  er  ist  nicht  wahr, 

[Opp.  posth.  377—378.    Vloten  22—23.   Bruder  §§  67—69.] 

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Die  Lehre  yon  der  imagiiuttio.  3S 

selbst  wenn  Peter  in  der  Tat  existiert   Wahr  ist  die 
Aussage:   Peter   existiert   nur  in   Ansehung  dessen» 
der   gewiß  weiJB,  daß  Peter  existiert.    (70)  Daraus 
folgt,  ,daß  es  etwas  Reales  in  den  Ideen  gibt,  wo* 
durch  sich  die  wahren  von  den  falschen  unterscheiden. 
Das  eben  müssen  wir  jetzt  untersuchen,  um  die  beste 
Norm    der   Wahrheit  zu  finden  —  denn  es  wurde 
ja  festgestellt,  daß  wir  unsere  Gedanken  nach  der 
gegebenen   Norm  der  wahren  Idee  richten  müssen 
und  daß  die  Methode  eine  reflexive  Erkenntnis  sei  10 
—  und  ferner,  um  die  Eigenschaften  des  Verstandes 
kennen  zu  lernen.   Man  darf  aber  nicht  sagen,  jener 
Unterschied  entstehe  daraus,  daß  der  wahre  Gedanke 
in  der  Erkenntnis  der  Dinge  aus  ihren  ersten  Ur- 
sachen bestehe,  worin  er  sich  gewiß  von  den  falschen 
sehr  unterscheiden  würde,  wie  ich  oben  erklärt  habe. 
Denn  ein  wahrer  Gedanke  heißt  auch  der,  der  das 
Wesen  eines  Princips  objektiv  einschließt,  das  keine 
Ursache  hat  und  durch  und  in  sich  erkannt  wird. 
(71)  Daher  muß  die  Form  des  wahren  Gedankens  in  20 
diesem   Gedanken  selbst  liegen  ohne  Beziehung  auf 
andere;  sie  erkennt  kein  Objekt  als  ihre  Ursache  an, 
sondern  ^uß  von  dem  Vermögen  und  der  Natur  des 
Verstandes  selbst  iJ>hangen.    Denn  n^imen  wir  an, 
der  Verstand  habe  irgend  ein  neues  Wesen  begriffen, 
das  noch  nicht  existiert  hat,  wie  sich  manche  den 
Verstand  Grottes  vor  der  Schöpfung  vorstellen  (ein  Be- 
greifen,   das   sicher    von    keinem   Objekt  herrühren 
konnte)  und  leite  aus  diesem  Begriffe  andere  folge- 
richtig  ab,   dann  wären  alle  diese  Gedanken  wahr  80 
und  von  keinem  äußeren  Objekt  bestimmt^  sondern 
hingen  bloß  von  dem  Vermögen  und  der  Natur  des 
Verstandes  ab.   Darum  muß  man  das,  was  die  Form 
des  wahren  Gedankens  ausmacht,  in  diesem  Gedanken 
selbst  suchen  und  aus  der  Natur  des  Verstandes  her- 
leit^L    (J2)  Um  nun  dies  zu  erforschen,  müssen  wir 
irgend  eine  wahre  Idee  ins  Auge  fassen,  deren  Ob- 
jekt, wie  wir  vollkommen  sicher  wissen,  von  unserem 
Denkvermögen  abhangt  und  die  kein  Objekt  in  der 
Natur  hat    Denn  bei  einer  derartigen  Idee  werden  40 

[Opp.  posth.  378—879.    Vloten  28—24.    Bruder  §§  69—72.] 
8  p  i  n  0  ■  R ,  Abhmndlg.  ab.  d.  Verbesserg.  d.  Verstandes.        8 

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34     Abhandlung  Aber  die  Yerbesserang  des  Yentandes. 

wir,  wie  schon  ans  dem  Geeagten  hervorgeht^  leichter 
das,  was  wir  wollen,  erforschen  können.  Um  mir  s.  B. 
einen  Begriff  von  einer  Kugel  zu  machen,  fingiere 
ich  eine  beliebige  Ursache,  nämlich  daß  ein  Halb- 
kreis um  seinen  Mittelpunkt  roti^e  und  daß  aus  seiner 
Drehung  gleichsam  eine  Eugel  entstehe.  Diese  Idee 
ist  sicher  wahr,  und  obwohl  wir  wissen,  daß  in  der 
Natur  niemals  eine  Eugel  auf  diesem  Wege  entstanden 
ist,  ist  es  doch  eine  wahre  Vorstellung  und  die  leich- 

10  teste  Art,  um  sich  den  Begriff  einer  Eugel  zu  bilden. 
Dabei  ist  nur  zu  beachten,  daß  diese  Vorstellung 
die  Rotation  des  Halbkreises  bejaht^  eine  Bejahung, 
die  falsch  wärcs  wenn  sie  nicht  mit  dem  Begriff  der 
Eugel,  also  mit  der  Ursache^  die  eine  solche  Be- 
wegung bestimmt,  verbunden  wäre,  oder  allgemein 
ge«igt,  wenn  diese  Bejahung  nackt  für  sich  dastünde. 
Denn  dann  würde  der  Geist  bloß  darauf  ausgehen, 
einzig  die  Bewegung  des  Halbkreises  zu  bejahen,  was 
weder  in  dem  Begriff  des  Halbkreises  entiialten  ist» 

ao  noch  aus  dem  Begriff  einer  die  Bewegung  bestim- 
menden Ursache  hervorgeht  Daher  besteht  das 
Falsche  einzig  darin,  daß  etwas  von  einer  Sache  be- 
jaht wird,  das  in  dem  Begriff,  den  wir  uns  von  eben 
dieser  Sache  gebildet  haben,  nicht  enthalten  ist,  wie 
Bewegung  oder  Ruhe  beim  Halbkreis.  Daraus  folgt, 
daß  ein&che  Gedanken  nicht  anders  als  wahr  sein 
können,  wie  die  einfache  Idee  des  Halbkr^es,  der  Be- 
wegung, der  Quantität  u.  s.  f.  Was  diese  Ideen  an 
Bejahung   enthalten,   entspricht  ihrem  Begriffe  und 

80  geht  nicht  darüber  hinaus;  daher  dürfen  wir  nach 
Belieben  und  ohne  Besorgnis,  uns  zu  irren,  einfache 
Ideen  bilden.  (73)  Bb  bleibt  also  nur  noch  zu  unter- 
suchen übrig,  mit  welchem  Vermögen  unser  Greist  sie 
bilden  kann  und  wie  weit  dieses  Vermögen  geht  Denn 
haben  wir  das  gefunden,  dann  werden  wir  leicht  die 
höchste  Erkenntnis  sehen,  bis  zu  der  wir  gelang^i 
können.  Denn  sicher  ist  es,  daß  dieses  Vermögen 
nicht  ins  Unendliche  geht  Denn  wenn  wir  etwas 
von  einer  Sache  bejahen,  das  in  dem  Begriff,  den  wir 

40  uns  von  ihr  bilden,  nicht  enthalten  ist,  so  zeigt  das 

[Opp.  posth.  879—880.    Vloten  24.    Brader  §§  72—78.] 

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Die  Lehre  von  der  imaginfttio.  86 

einen  Mangel  unseres  Wahmehmens  an  odw,  daß  wir 
flozosagen  yerstommelte  oder  zerstückelte  Gedanken 
oder  Ideen  haben.  Denn  wir  haben  ]a  gesehen,  daß 
die  Bewegimg  des  Halbkreises  falsch  ist^  wenn  sie 
allein  für  sich  im  Geiste  ist^  daß  sie  aber  wahr  ist, 
wenn  sie  mit  dem  Begriff  einer  Engel  verbnnd^i 
wird,  oder  mit  dem  Begriff  irgend  einer  anderen  eine 
derartige  Bewegung  bestimmeuden  Ursache.  Wenn 
es  also  in  der  Natur  eines  denkenden  Wesens  li^gt» 
wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheint,  wahre  oder  Si-  10 
aquate  Gedanken  zu  bilden,  so  ist  es  sicher,  daß  in- 
adäquate Ideen  nur  darum  in  uns  entstehen  können, 
weil  wir  ein  Teil  sind  eines  denkenden  Wesens,  von 
dessen  Gedanken  manche  vollständig,  manche  nur  zum 
Teil  unseren  Geist  ausmachen. 

(74)  Dazu  ist  aber  noch  eines  zu  beachten,  was 
bei  der  Fiktion  zu  bemerken  nicht  der  Mühe  wert 
war  und  wobei  die  größte  Täuschung  statt  hat:  das 
ist  der  Fall,  wenn  etwas,  das  im  Vorstellungsvermögen 
sich  darbietet,  auch  im  Verstände  ist»  d.  h.  daß  es  20 
klar  und  deutlich  begriffen  wird;  dann  wird,  solange 
das  Deutliche  nicht  vom  Verworrenen  unt^schieden 
wird,  die  Gewißheit,  d.  h.  die  wahre  Idee  mit  un- 
deutlichen vermengt  So  hatten  beispielsweise  einige 
Stoiker  beiläufig  den  Namen  der  Seele  gehört  und 
auch,  daß  sie  unsterblich  sei,  was  sie  sich  aber  nur 
verworren  vorstellten;  sie  hatten  auch  eine  Vorstellung 
davon  und  zugleich  die  ESrkeantnis,  daß  die  feinsten 
Körper  alle  anderen  durchdringen,  aber  von  keinen 
durchdrungen  werden.  Indem  sie  nun  dies  alles  zu-  80 
gleich  vorstellten,  verbunden  mit  der  Gewißheit  dieses 
Axioms,  waren  sie  sogleich  vollkommen  überzeugt, 
der  Geist  bestehe  aus  ]enen  feinsten  Körpern,  jene 
feinsten  Körper  könnten  nicht  geteilt  werden  u.  s.  w. 
(75)  Aber  auch  davon  befreien  wir  uns,  wenn  wir 
danach  streben,  alle  unsere  Vorstellungen  nach  der 
Norm  der  gegebenen  wahren  Idee  zu  prüfen  und  uns 
dabei,  wie  anfangs  bemerkt^  vor  jenen  hüten,  die  wir 
nur  vom  Hörensagen  oder  aus  unbestimmter  Erfah- 
rung haben.   Fernerhin  entsteht  eine  derartige  Tau-  40 

[Opp.  posth.  880.    Vloten  24—25.    Bruder  §§  78—75.] 

3* 

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36      Abhandlang  über  die  Verbesserang  des  Verstandes. 

schung  daraus,  daß  man  die  Dinge  zu  abstrakt  auffaßt. 
Denn  es  ist  ja  an  sich  klar  genug,  daß  ich  das,  was 
ich  an  seinen  wahren  Objekt  wahrnehme,  nicht  auf 
ein  anderes  anwenden  kann.  Endlich  entsteht  die 
Täuschung  auch  daraus,  daß  man  die  ersten  Elemente 
der  ganzen  Natur  nicht  versteht,  weshalb  man  dann 
ohne  Ordnung  vorgeht,  die  Natur  mit  abstrakten,  wenn 
auch  wahren  Axiomen  vermengt,  und  so  sich  selbst 
in  Verwirrung  bringt  und  die  Ordnung  der  Natur 

10  verkehrt  Wir  aber  brauchen  auf  keine  Weise  der- 
artige Täuschungen  zu  fürchten,  wenn  wir  so  wenig 
als  möglich  abstrakt  ver&hren,  uimI  mit  den  ersten 
Elementen,  d.  h.  am  Quell  und  Ursprung  der  Natur, 
so  früh  als  möglich  beginnen.  (76)  Was  aber  die 
Kenntnis  vom  Ursprung  der  Natur  betrifft,  so  brauchen 
wir  durchaus  nicht  zu  befürchten,  daß  wir  sie  mit 
Abstraktem  vermengen.  Denn  wenn  man  etwas  ab- 
strakt bereift,  wie  es  bei  allen  Allgemeinbegriffen 
der  Fall  ist,  so  faßt  man  sie  immer  im  Verstände 

20  in  einem  weiteren  Sinne,  als  die  zugehörigen  Einzel- 
dinge tatsächlich  in  der  Natur  vorhanden  sein  können. 
Da  es  femer  in  der  Natur  viele  Dinge  gibt,  deren 
Unterschied  so  gering  ist,  daß  er  fast  dem  Verstand 
entgeht,  so  kann  es  bei  abstraktem  Auffassen  leicht 
vorkommen,  daß  sie  miteinander  verwechselt  werden« 
Da  aber  der  Ursprung  der  Natur,  wie  wir  nachher 
sehen  werden,  weder  abstrakt  noch  allgemein  begriffen 
werden  kann,  und  auch  nicht  weiter  im  Verstände  aus- 
gedehnt werden  kann,  als  er  in  Wirklichkeit  ist,  und 

30  da  er  auch  gar  keine  Ähnlichkeit  mit  veränderlichen 
Dingen  hat,  so  ist  bei  seiner  Idee  keine  Verwirrung 
zu  jbefürchten,  wenn  wir  nur  die  Norm  der  Wahrheit, 
die  wir  bereits  angegeben  haben,  besitzen.  Eß  ist  näm- 
lich dieses  Wesen  einzig,  unendlich^),  d.  h.  es  ist 
alles  Sein^)  und  aul3er  ihm  gibt  es  kein  Sein. 


^)  Das  sind  keine  Attribate  Gottes,  die  sein  Wesen 
anseifiren,  wie  ich  in  der  Philosophie  zeigen  werde. 

')  Das  ist  schon  oben  bewiesen  worden.  Denn  wenn 
ein  solches  Wesen  nicht  existierte,  könnte  ee  niemals  vor- 

[Opp.  posth.  880—881.    Vloten  25—26.    Bruder  §§  76—76.] 

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Die  Lehre  von  der  imagiiiatio.  87 

(77)  Soweit  von  der  falschen  Idea  Nun  bleibt 
noch  die  zweifelhafte  Idee  zu  untersuchen,  d.  h. 
ee  bleibt  zu  untersuchen,  was  es  eigentlich  ist,  das 
uns  in  Zweifel  zu  setzen  vermag,  und  zugleich  auch, 
wie  dieser  Zweifel  zu  heben  ist  Ich  rede  vom  wirk- 
lichen Zweifeln  im  Geiste  und  nicht  von  jenem,  das 
wir  hier  und  da  finden  und  bei  dem  ^einer  bloß  mit 
Worten  sagt,  er  zweifle^  obwohl  er  im  Geiste  gar  nicht 
zweifelt  Es  ist  la  nicht  Aufgabe  der  Methode,  das 
zu  berichtigen,  vielmehr  gehört  das  zur  Untersuchung  10 
über  den  Sgensinn  und  seine  Berichtigung.  (78)  1^ 
gibt  also  keinen  Zweifel  im  Geiste  durch  die  Sache 
selbst,  an  der  man  zweifelt;  d.  h.  wenn  bloß  eine 
einzige  Idee  im  Geiste  ist,  mag  sie  nun  wahr  oder 
falsch  sein,  dann  gibt  es  keinen  Zweifel,  aber  auch 
keine  Gewißheit,  sondern  nur  eine  derartige  Empfin^ 
dang.  Denn  an  sich  ist  die  Idee  nichts  anderes  als 
eine  derartige  Eknpfindung.  Der  Zweifel  wird  aber 
durch  eine  andere  Idee  entstehen,  die  nicht  so  klar 
und  deutlich  ist,  daß  wir  aus  ihr  etwas  Gewisses  be-  20 
treffs  der  Sache,  an  der  wir  zweifeln,  schließen 
konnten;  d.  h.  eine  Idee,  die  uns  in  Zweifel  setzt,  ist 
nicht  klar  und  deutlich.  Wenn  z.  B.  jemand  niemals 
über  die  Täuschung  der  Sinne  nachgedacht  hat,  sei 
es  mit  Hülfe  der  Erfahrung,  sei  es  auf  welche  Art  auch 
immer,  dann  wird  er  niemals  darüber  Zweifel  empfinden, 
ob  die  Sonne  größer  oder  kleiner  ist,  als  sie  erscheint 
Daher  wundern  sich  die  Bauern  manchmal,  wenn  sie 
hören,  daß  die  Sonne  viel  größ^  ist  als  die  Erdkugel 
Aber  durch  das  Nachdenken  über  die  Täuschung  der  80 
Sinne  entsteht  der  Zweifel^);  und  wenn  einer  nach 
dem  Zweifel  zu  einer  wahren  Erkenntnis  der  Sinne 
gelangt  ist  und  weiß,   wie  durch  ihre  Organe  sich 


gestellt  werden;  so  konnte  dann  der  Oeist  mehr  erkennen, 
als  die  Natur  leisten  kann,  was,  wie  oben  dargetan, 
fftlsch  ist. 

')  D.  h.  er  weifi,  dafi  die  Sinne  ihn  manchmal  getftnsoht 
haben,  aber  er  weiß  es  doch  nur  verworren;  denn  er  weiß 
niohty  auf  welche  Weise  die  Sinne  täuschen. 

[Opp.  posth.  881-882.    Vloten  26—27.    Bruder  §§  77—78.] 

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88     Abhandlung  Aber  di6  Yerbesserang  des  Veratandet. 

die  Dinge  in  der  E/ntfernnng  darstellen,  dann  wird 
der  Zweifel  wiederum  geboten.  (79)  Daraus  folgt, 
daß  wir  wahre  Ideen  nicht  deshalb  in  Zweifel  ziehen 
können,  weil  vielleicht  irgend  ein  betrügwischer  Gott 
existiert^  der  nns  sogar  über  die  allergewissesten 
Dinge  tiLnscht,  auDer  solange  wir  noch  k^e  klare 
nnd  deutliche  Idee  von  Gott  haben;  d.  h.  wenn  wir 
auf  die  Erkenntnis  achten,  die  wir  vom  Ursprung  aller 
Dinge  haben,  und  nichts  finden,  was  uns  lehrte  daß 

10  er  kein  Betrüger  sei  vermöge  ebenderselben  Elrkamt- 
nis,  mit  der  wir,  die  Natur  des  Dreiecks  ins  Auge 
fassend,  finden,  daß  seine  drei  Winkel  gleich  sw^ 
Rechten  sind.  Aber  wenn  wir  eine  solche  Elrkenntma 
von  Gott  haben,  wie  wir  sie  vom  Dreieck  haben,  dann 
wird  jeder  Zweifel  behoben.  Und  auf  dieselbe  Weise^ 
wie  wir  zu  einer  solchen  &kenntnis  vom  Drdeck 
gelangen  können,  obechon  wir  nicht  sicher  wissen, 
ob  es  nicht  ein  höchstes  Wesen  gibt,  das  uns  tauscht; 
auf  eben  diese  Weise  können  wir  auch  zu  einer  solchen 

20  Erkenntnis  von  Gott  gelangen,  obschon  wir  nicht  sicher 
wissen,  ob  es  nicht  ein  höchstes  Wesen  gibt»  das 
uns  tauscht  Und  wenn  wir  die  Erkenntnis  haben,  so 
wird  sie  hinreichen,  um  wie  gesagt  jeden  Zweifel  sa 
beheben,  den  wir  über  klare  und  deutliche  Ideen  haben 
können.  (80)  Wenn  man  ferner  richtig  verfahrt  bei 
der  Erforschung  dessen,  was  zuvor  erforscht  werden 
muß,  ohne  die  Verkettung  der  Dinge  zu  unterbrechen, 
und  wenn  man  weiß,  wie  die  Fragen  zu  bestimmen  sind, 
ehe  man  zu  ihrer  Lösung  schreitet,  so  wird  man  nie 

80  etwas  anderes  als  die  gewissesten,  d.  h.  klare  und 
deutliche  Ideen  erhalten.  Denn  der  Zweifel  ist  nichts 
anderes  als  die  Zurückhaltung  des  Geistes  in  Bel^eiff 
einer  Bejahung  oder  Verneinung;  er  würde  bejahen 
oder  verneinen,  wenn  nicht  etwas  im  Wege  stunde^ 
das  er  nicht  kennt  und  ohne  das  seine  ErkamtniB 
jener  Sache  unvollkommen  sein  muß.  Daraus  ergibt 
sich,  daß  der  Zweifel  immer  daraus  entsteht,  daß  man 
die  Dinee  nicht  der  Ordnung  nach  erforscht 

(81)  Das  ist  es,  was  ich  im  ersten  Teil  der  Me- 

40  thode  zu  behandeln  versprach.   Um  aber  nichts,  was 

rOpp.  poith.  882.    Vloten  27.    Brader  §§  78—81.] 

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Die  Lehre  von  der  imaginatio.  39 

ZOT  Erkenntnis  des  Verstandes  tind  seiner  Kräfte 
führen  kann,  aoJQw  acht  zu  lassen,  will  ich  auch  einiges 
nber  Gedächtnis  und  Vergessen  sagen.  Bsim 
ist  vor  allem  za  beachten,  daß  das  Gedächtnis  sowohl 
mit  Hülfe  des  Verstandes  als  auch  ohne  diese  erstarkt 
Was  das  erstere  betrifft^  so  wird  eine  Sache  um  so 
leichter  behalten,  je  leichter  sie  za  verstehen  ist,  und 
umgekehrt  um  so  leichter  vergessen,  je  schwerer  sie 
XU  verstehen  ist  Wenn  ich  z.  B.  iemandem  eine  Beihe 
unzusammenhängender  Wort»  aufgebe,  so  wird  er  10 
sie  viel  schwerer  behalten,  als  wenn  ich  ihm  dieselben 
Worter  in  Form  einer  Er^hlung  geba  (82)  Das  Ge- 
dächtnis erstarkt  aber  auch  ohne  Hülfe  des  Verstandes» 
und  zwar  durch  die  Stärke^  mit  der  das  Vorstellungs- 
vermogen  oder  der  sogenannte  allgemeine  Sinn  von 
irgend  einer  einzehien  körperlichen  Sache  afficiert  wird. 
Ich  sage  von  einer  einzelnen,  denn  das  Vorstellungs- 
vermögen  wird  immer  nur  von  einzehien  Dingen  af- 
ficiert Wenn  jemand  z.  B.  nur  ein  Liebesschauspiel  ge- 
lesen hat,  so  wird  er  es  vorzüglich  behalten,  solange  <w  20 
kein  anderes  von  derselben  Art  liest^  weil  es  dann 
ganz  allein  in  seiner  Einbildung  lebendig  ist  Kennt 
er  aber  mehrere  von  derselben  Art»  dann  werden  sie 
alle  zugleich  vorgestellt  und  leicht  miteinander  ver- 
mischt Ich  sage  femer:  von  einer  körperlichen 
Sache^  denn  bloß  von  körperlichen  Dingen  wird  das 
Vorstellungsvermögen  afiiciert  Da  also  £s  Gedächtnis 
durch  den  Verstand  und  auch  ohne  den  Verstand  er- 
starkt ao  folgt  daraus,  daß  es  etwas  vom  Verstand 
Verschiedenes  sein  muß  und  daß  es  für  den  Verstand,  80 
rein  an  sich  betrachtet^  weder  Gedächtnis  noch  Ver- 
gessen gibt  (83)  Was  wird  also  das  Gedächtnis  sein? 
Nichts  anderes  als  die  Empfindung  der  Eindrücke  des 
Gehirns  verbunden  mit  dem  Gedanken  an  eine  be- 
stimmte Dauert)  dieser  Empfindung,  was  auch  die 


^)  Ist  jedoch  die  Dauer  unbestimmt  so  ist  die  Erinne- 
mng  an  die  Sache  rnivoUkommen,  was  jeder  aus  der  Er- 
fahrung wohl  gelernt  haben  wird.  Denn  oft  firagen  wir,  um 
jemandem  das,  was  er  uns  sagt,  eher  zu  glauben,  wann  nnd 

[Opp.  posth  388.    Vloten  27—28.    Bruder  §§  81—83.] 

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40     Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Verstandes. 

Erinnerung  zeigt  Denn  hierbei  denkt  der  Geist  an 
jene  Empfindung,  aber  ohne  ihre  ununtertMrochene 
Dauer.  Dah»  ist  die  Idee  jener  Eknpfindung  nicht 
die  Dauer  der  Empfindung  selbst,  d.  h.  nicht  das  Gre- 
dächtnis  selbst.  Ob  aber  die  Ideen  selbst  eine  Fäl- 
schung erleiden  können,  werden  wir  in  der  Philosophie 
sehen.  Sollte  dies  jemandem  sehr  absurd  erschien, 
so  genügt  es  für  unseren  Zweck  zu  bedenken, 
daß   eine  Sache  um   so   leichter   behalten  wird,    je 

10  einzigartiger  sie  ist,  wie  sich  aus  dem  oben  beige- 
brachten Beispiel  von  der  Komödie  ergibt  Ferner, 
daß  eine  Sache  um  so  leichter  behalten  wird,  je  besser 
sie  verstanden  wird.  Daher  wird  uns  eine  im  höchsten 
Grade  einzigartige  Sache,  vorausgesetzt^  daß  sie 
zu  verstehen  ist  unmöglich  aus  dem  Gedächtnis 
schwinden. 

(84)  So  haben  wir  also  den  Unterschied  zwischen 
der  wahren  Idee  und  den  übrigen  Vorstellungen  fest- 
gestellt und  dsurgetan,^  daß  die  fingierten,  die  falschen 

20  Ideen  u.  s.  w.  ihren  Ursprung  im  Vorstellungsver- 
mögen haben,  d.  h.  in  gewissen  zufälligen  —  um 
mich  dieses  Ausdrucks  zu  bedienen  —  und  losen 
Empfindungen,  die  nicht  aus  dem  Vermögen  des  Geistes 
seilest  hervorgegangen  sind,  sondern  aus  äußeren  Ur- 
sachen, je  nach  den  verschiedenen  Anregung^  die 
der  Körper  im  Träumen  oder  im  Wachen  empfängt. 
Oder  meinethalben  verstehe  man  unter  Vorstellungs- 
vermögen  irgend  etwas  Beliebiges,  wenn  es  nur  vom 
Verstimde  verschieden  ist  und  den  Geist  in  ein  leidendes 

80  Verhältnis  bringt  Denn  es  ist  gleich,  was  man  dar- 
unter versteht,  wenn  wir  nur  wissen,  daß  es  etwas 
Unbestimmtes  ist,  durch  das  der  Geist  leiden  muß, 
und   wenn  wir   zugleich  wissen,   auf  welche  Weise 


wo  es  sich  zugetragen  habe.  Obsohon  auch  die  Vorstellungen 
selbst  ihre  Dauer  im  Geiste  haben,  so  sind  wir  doch  gewollt, 
die  Dauer  nach  dem  Maße  einer  Bewegung  su  bestimmen, 
was  auch  mit  Hülfe  des  VorstellungsvermOgens  geschieht, 
ipid  darum  beobachten  wir  bisher  noch  kein  Gedftchinia, 
das  dem  reinen  Geiste  angehörte. 

[Opp.  posth.  888—884.    Vloten  28.    Bruder  §§  88—84.] 

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Die  Lehre  tod  der  imaginatio.  41 

wir  uns  mit  Hülfe  des  Verstandes  von  ihr  befreien. 
Daher  darf  sich  auch  niemand  wundern,  daß  ich  hier 
noch  nicht  beweise,  daß  es  einen  Körper  gibt  und 
andere  notwendige  Dinge,  und  dabei  dennoch  vom  Vor- 
stellungsvermögen, vom  Körper  und  seiner  Beschaffen- 
heit r^e.  Denn  wie  gesagt,  es  ist  gleich,  was  ich 
darunter  verstehe,  wenn  ich  nur  weiß,  daß  sie  etwas 
Unbestimmtes  ist  u.  s.  w. 

(85)  Wir  haben  aber  gezeigt,  daß  die  wahre  Idee 
einfach  oder  aus  einfachen  zusammengesetist  ist^  daß  10 
sie  zeigt,  wie  und  warum  etwas  ist  oder  geschehen 
ist,  und  daß  ihre  objektiven  Wirkungen  in  der  Seele 
vor  sich  gehen  nach  dem  Verhältnis  der  Formalität 
des  Objektes  selbst  Das  ist  dasselbe,  was  die  Alten 
sagten,  daß  die  wahre  Wissenschaft  von  der  Ursache 
zu  den  Wirkungen  fortschreite;  nur  haben  sie  nie, 
soviel  ich  weiß,  wie  wir  hier  angenommen,  daß  die 
Seele  nach  bestimmten  Gresetzen  handele  und  sozusage^i 
ein  geistiger  Automat  sei.  (86)  Daraus  haben  wir, 
soweit  es  im  Anfang  möglich  war,  die  Kenntnis  von  20 
unserem  Verstand  erlangt  und  zugleich  eine  solche 
Norm  der  wahren  Idee,  daß  wir  nicht  mehr  zu  fürchten 
brauchen,  das  Walure  mit  Falschem  oder  Elrdichtetem 
zu  vermengen.  Wir  w^den  uns  auch  nicht  darüber 
vTundem,  warum  wir  manches  verstehen,  das  in  keiner 
Weise  unter  das  Vorstellungsvermögen  fällt^  und  daß 
wiederum  anderes  in  ihm  sich  findet,  das  dem  Ver- 
stand geradezu  widerstreitet,  während  endlich  anderes 
mit  ihm  übereinstimmt.  Denn  wir  wissen  ja,  daß  jene 
Op^tionen,  durch  welche  die  Vorstellungsbilder  (imagi-  80 
nationes)  hervorgebracht  werden,  nach  anderen  Ge- 
setzen sich  vollziehen,  die  gänzlich  verschieden  sind 
von  den  Gesetzen  des  Verstandes,  und  daß  der 
Geist,  wo  es  sich  um  das  VorsteUungsvermögen  handelt, 
sich  bloß  leidend  verhält  (87)  Daraus  geht  hervor, 
wie  leicht  diejenigen  in  große  Irrtümer  verfallen 
können,  die  keinen  genauen  Unterschied  zwischen  Vor- 
stellungs-  und  Ehrkenntnisvermögen  (inteUectio)  machen. 
Dahin  gehört  z.  B.,  daß  die  Ausdehnung  an  einem 
Orte  sein,  daß  sie  begrenzt  sein  müsse,  daß  ihre  Teile  40 

[Opp.  potth.  384--d85.    Vloten  28—29.    Bruder  §§  84—87.] 

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42     Abhandlnng  ftber  di6  YerbesseruDj;  des  Verstandes. 

sich  gegezifieitig  realitor  unterschieden,  daß  sie  das 
erste  und  einzige  Fondament  aller  Dinge  sei  nnd  sa 
einer  Zeit  einen  größeren  Baum  einnehme  als  zu 
einer  anderen,  nnd  vieles  andere  von  derselben  Art^ 
was  alles  der  Wahrheit  vollkommen  widerstreitet»  wie 
wir  am  gehörigen  Orte  zeigen  werden. 

(88)  Da  femer  die  Worte  einen  Teil  des  Vor- 
atellungsvermögens  ausmachen,  d.h.  da  wir  viele 
Begriffe  fingieren,  je  nachdem  wir  die  Worte  unbe- 

10  stimmt  nach  irgend  einem  Zustande  des  Körpers  im  Ge- 
dächtnis verbinden,  so  ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  daß 
auch  Wort^  gerade  so  wie  das  VorsteUungsvermogeo, 
die  Ursache  vieler  und  großer  Irrtümer  werden  können, 
wenn  wir  uns  nicht  sehr  vor  ihnen  in  acht  nehmen. 
(89)  Dazu  konmit  noch,  daß  sie  willkürlich  nach  der 
Fassungskraft  des  Volkes  gebildet  sind,  so  daß  sie 
nichts  sind  als  Zeichen  für  die  Dinge,  wie  sie  im  Vor- 
stellungsvermögen, aber  nicht  wie  sie  im  Verstände 
sind.  Das  geht  schon  offenbar  daraus  hervor,  daß  man 

SO  alles,  was  nur  im  Verstände  und  nicht  im  Vorstellungs- 
vermögen ist,  mit  häufig  negativen  Namen  bezeichnet, 
wie:  unkörperlich,  unendlich  u.  s.  w.,  und  daß  man 
ebenso  vieles,  was  in  der  Tat  affirmativ  ist,  negativ  auch 
drückt  und  umgekehrt  wie:  unerschaffen,  unabhängig, 
unendlich,  unsterblich  u.  s.  w.;  denn  wir  könn«i  uns 
deren  Grundsätze  weit  leichter  vorstellen,  weshalb 
sie  auch  den  ersten  Menschen  sich  eher  darboten 
und  die  positiven  Benennungen  annahmen.  Wir  be- 
jahen und  vemein^i  vieles,  weil  die  Natur  der  Worte 

30  eine  solche  Bejahung  und  Verneinung  zuläßt,  aber 
nicht  die  Natur  der  Dinge.  Wenn  wir  dies  nicht 
wüßten,  könnten  wir  leicht  etwas  Falsches  für  wahr 
annehmen. 

(90)  Wir  haben  außerdem  noch  eine  andere  große 
Ursache  der  Verwirrung  zu  vermeiden,  die  schuld 
daran  ist,  daß  der  Verstand  nicht  auf  sich  selbst  re- 
flektiert Wenn  wir  nämlich  nicht  zwischen  Vorst^- 
lungs-  und  Erkenntnisvermögen  unterscheiden,  dann 
glauben  wir,  das,  was  wir  uns  leichter  vorstellen,  sei 

40  uns  auch  klarer,  und  glauben  das  zu  erkennen,  was 

[Opp.  posth.  885.     Vloten  29—80.    Bruder  §§  87—89.] 

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Die  Lehre  von  der  Definition.  48 

Wir  uns  nur  vorstellen.  Damm  setasen  wir  das  voran, 
was  nachgesetst  werden  muß,  und  verkehren  so  die 
richtige  Ordnung  des  Vwfahrens;  infolgedessen  kommt 
keine  richtige  Folgenmg  znstandeu 


(91)^)  Um  endlich  auf  den  zweiten  Teil  dieser 
Methode  sa  kommen,  will  ich  ssaerst  unseren  Zweck 
bei  dieser  Methode  aoüstellen,  und  dann  die  Mittel 
zeigen,  durch  die  er  zu  erreichen  ist  Der  Zweck  ist 
also,  klare  und  deutliche  Ideen  zu  haben,  nämlich 
solche,  die  rein  aus  dem  Geiste  und  nicht  aus  zu-  10 
fälligen  Erregungen  des  Korpers  entstanden  sind.  Um 
sodann  alle  Ideen  auf  eine  zurückzuführen,  werden 
wir  Tersuchen,  sie  auf  solche  Weise  zu  verketten  und 
zu  ordnen,  damit  unser  Geist  soweit  als  möglich  ob- 
jektiv die  Formalität  der  Natur  sowohl  im  Ganzen 
als  in  ihren  Teilen  wied^gibt 

(92)  Was  das  erste  anbetrifft,  so  ist,  wie  bereits 
bemerk^  für  unseren  letzten  Zweck  erforderlich,  daß 
eine  Sache  entweder  bloß  aus  ihrem  Wesen  oder  durch 
ihre  nächste  Ursache  begriffen  wird.  Wenn  nämlich  90 
eine  Sache  an  und  für  sich  besteht  oder,  wie  man 
gemeinhin  sagt,  wenn  sie  Ursache  ihrer  selbst  ist, 
dann  muß  sie  bloß  aus  ihrem  Wesen  erkannt  werden. 
Wenn  aber  eine  Sache  nicht  an  und  für  sich  besteht, 
sondern  eine  Ursache  erfordert,  um  zu  existieren, 
dxan  muß  sie  durch  ihre  nächste  Ursache  erkannt 
werden.  Denn  in  der  Tat  ist  die  Erkenntnis  einer 
Wirkung  nichts  anderes,  als  daß  man  eine  voUkom- 


^)  Die  Hauptregel  dieses  Teils  ist,  wie  sich  ans  dem 
ersten  Teil  ergibt,  alle  Ideen  zu  prüfen,  die  wir  als 
aus  dem  reinen  Verstände  hervorgehend  in  uns 
finden,  nm  sie  von  denen,  die  wir  uns  Torstellen,  zu  unter- 
scheiden; was  ans  den  ESgensohaften  der  beiden,  des  Vor- 
stellnngs-  und  des  Erkenntnisvermögens  ra  ermitteln  ist. 

[Opp.  posth.  386—886.    Vloten  SO— 31.   Bmder  §§  90—92.1 

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44     Abhandlang  Aber  die  Yerbesserang  des  Yentandee. 

menere  KenntniB  der  Ursache  erwirbt^)  (93)  Des- 
halb dürfen  wir  niemals»  solange  wir  uns  mit  der  Er- 
forschnng  der  Dinee  beschäftigen,  aus  abstrakten  Be- 
griffen einen  Schluß  ziehen;  wir  müssen  uns  sehr 
hüten,  das,  was  bloß  in  unserem  Verstände  ist^  mit 
dem,  was  in  der  Wirklichkeit  ist,  zu  vermeng^i. 
Den  besten  Schluß  wird  man  aber  von  irgend  einer 
bescheren  affirvnativen  Wesenheit  oder  von  einer 
wahren  und  richtigen  Definition  herleiten.   Denn  von 

10  bloßen,  allgemeinen  Axiomen  kann  der  Verstand  nicht 
zum  Besonderen  herabsteigen,  weil  sich  die  Axiome 
über  Unendliches  verbraten  und  den  Verstand  nicht 
mehi  zur  Betrachtung  des  einen  Besonderen  als  sor 
Betrachtung  des  anderen  bestimmen.  (94)  Daher  ist 
der  richtige  Weg  zum  Forschen  der,  daß  wir  aus 
einer  gegebenen  Definition  Gedankt  bilden.  Das  wird 
um  so  glücklicher  und  leichter  geschehen,  ]e  besser 
wir  eine  Sache  definieren.  Der  Angelpunkt  dieses 
ganzen  zweiten  Teiles  der  Methode  besteht  in 

20  diesem  einen,  nämlich  in  der  Erkenntnis  der  Be- 
dingungen für  eine  gute  Definition  und  dann 
in  der  Art  und  Weise,  solche  zu  finden.  Deshalb 
werde  ich  zuerst  die  Bedingungen  für  eine  Definition 
behandeln. 

(95)  Damit  eine  Definition  vollkommen  genannt 
werden  kann,  muß  sie  das  innerste  Wesen  einer  Sache 
ausdrücken  und  verhüten,  daß  wir  nicht  gewisse  Eigen- 
schaften für  die  Sache  selbst  nehmen.  Zur  Erklärung 
will  ich,  um  andere  Beispiele  zu  übergehen,   durch 

30  die  ich  den  Anschein  erwecken  könnte,  als  wolle 
ich  die  Irrtümer  anderer  aufdecken,  bloß  das  Beispiel 
einer  abstrakten  Sache  nehmen,  bei  der  es  gleich  ist» 
wie  sie  definiert  wird,  nämlich  das  Beispiel  des  Kreises. 
Wenn  man  ihn  so  definiert:  er  sei  eine  Figur,  bei  der 
die  Linien  vom  Ccmtrum  nach  der  Peripherie  gleich 
sind,   dann  sieht  jeder,   daß  eine   solche  Definition 


^)  Es  ist  zu  bemerken,  daß  hieraus  hervorgeht^  daß  wir 
nichts  von  der  Natur  erkennen  können,  ohne  zugleich  unsere 
Kenntnis  von  der  ersten  Ursache  oder  von  Gott  sa  erweitern. 

[Opp,  posth.  386—387.    Vioten  31.    Bruder  §§  92—96.) 

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Die  Lehre  Ton  der  Definition.  46 

das  Wesen  des  Kreises  keineswegs  aasdrückt,  sondern 
bloß  eine  seiner  Eigenschaften.  Und  obwohl  dies, 
wie  gesagt,  bei  den  Figuren  and  den  anderen  Go* 
daakenwesen  wenig  aasmacht,  so  macht  es  doch  sehr 
viel  aus  bei  den  physischen  und  realen  Wesen,  weil 
man  nämlich  die  Eigenschaften  der  Dinge  nicht  er- 
kennen kann,  solange  man  ihr  Wesen  nicht  kennt 
Wenn  wir  aber  das  Wesen  übergehen,  so  kehren  wir 
notwendig  die  Verkettung  des  Verstandes,  die  der 
Verkettung  der  Natur  entsprechen  mufl^  um  und  irren  10 
von  unserem  Zwecke  vollkommen  ab.  (96)  Um  sich 
also  von  diesem  Fehler  frei  zu  halten,  hat  man  bei 
der  Definition  folgendes  zu  beachten. 

I.  Handelt  es  sich  um  ein  erschaffenes  Ding, 
dann  muD  die  Definition  wie  gesagt  die  nächste  Ur- 
sache in  sich  begreifen.  So  wäre  z.  B.  nach  diesem 
Gesetz  der  Kreis  so  zu  definieren:  er  ist  eine  Figur, 
^e  von  einer  beliebigen  Linie  beschrieben  wird,  bei 
der  das  eine  Ende  fest,  das  andere  beweglich  ist 
Diese  Definition  begreift  klar  die  nächste  Ursache  20 
in  sich. 

n.  Es  wird  ein  solcher  Begriff  oder  eine  solche 
Definition  des  Dinges  verlangt,  daß  alle  seine  Eigen- 
schaften, wenn  man  es  allein  und  nicht  in  Verbindung 
mit  anderen  betrachtet,  aus  ihr  erschlossen  werden 
können,  wie  man  es  an  dieser  Definition  des  Kreises 
sehen  kann.  Denn  aus  ihr  geht  klar  h^vor,  daß 
alle  Linien  vom  Gentrum  nach  der  Peripherie  gleich 
sind.  Daß  dies  ein  notwendiges  Elrfordemis  einer 
Definition  is^  ist  für  jeden  Denkenden  an  sich  so  dO 
klar,  daß  es  nicht  der  Mühe  wert  scheint^  sich  bei 
dem  Beweise  dafür  aufzuhalten,  und  ebensowenig 
an  diesem  zweiten  Eärfordernis  zu  zeigen,  daß  jede 
Definition  affirmativ  sein  muß.  Ich  rede  von  der  Be- 
jahung im  Verstände  und  kümmere  mich  wenig  um 
den  sprachlichen  Ausdruck,  der  wegen  Wortmangels 
manchmal  negativ  sein  kann,  auch  wenn  der  Sinn 
affirmativ  ist 

(97)  Die  Erfordernisse  einer  Definition  bei  einem 
nicht  erschaffenen  Dinge  sind  folgende.  40 

[Opp.  poith.  887.    Vloten  31—32.    Bruder  §§  96—97.] 

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46     Abhandlung  Aber  die  Verbeesening  des  Yeratandee. 

L  Sie  muß  jede  Ursache  ausschließen,  d.  L  das 
Objekt  bedarf  sa  seiner  Erklärung  nichts  anderes  als 
das  eigene  Sein. 

n.  Ist  dnmal  die  Definition  dieses  Dinges  ge- 
geben, so  darf  kein  Raum  mehr  sein  ffir  die  Frage^ 
ob  das  Ding  seL 

nL  Sie  darf  in  bezag  auf  den  G^t  keine  Sub- 
stantiva  enthalten,  die  zu  Adjektiven  gemacht  werden 
können,  d.  h.  sie  darf  nicht  durch  irgendwelche  ab- 
10  strakten  Begriffe  erklart  werden. 

IV.  Schließlich  ist  erforderlich  —  obwohl  es  nicht 
sehr  nötig  ist,  das  zu  bemerken  — ^  daß.  aus  der  De- 
finition sich  alle  ISgenschaften  erschließen  lassen. 
Alles  dieses  wird  dem  Aufmerksamen  völlig  einleuch- 
tend sein. 

(98)  Ich  habe  auch  gesag^  daß  der  beste  Schluß 
aus  einem  besonderen  affirmativen  Wesen  herzuleiten 
ist:  denn  je  spedeller  eine  Idee  ist,  desto  deutlicher 
und  folglich  desto  klarer  ist  sie.    Dahw  müssen  wir 

20  soviel  sIs  möglich  nach  der  Erkenntnis  der  Besonder- 
heiten streben. 

(99)  In  Hinsicht  auf  die  Ordnung  aber  und  tun 
alle  unsere  Vorstellungen  (perceptiones)  zu  ordnen  und 
zu  vereinigen,  ist  es  erforderlich,  daß  wir,  sobald  es 
geschehen  kann  und  die  Vernunft  es  erheischt»  danach 
forschen,  ob  es  ein  Wesen  gibt  und  von  welcher  Art 
es  ist,  das  die  Ursache  aUer  Dinge  bildet,  so  daß 
sein  objektives  Sein  auch  die  Ursache  aller  unserer 
Ideen  ist    Dann  wird   unser  Geist  wie  gesagt  die 

80  Natur  80  vollkommen  als  möglich  wiedergeben.  Denn 
dann  wird  er  sowohl  ihr  Wesen  als  auch  ihre  Ord- 
nung als  auch  ihre  Einheit  objektiv  enthalten.  Hier- 
aus können  wir  sehen,  daß  es  vor  allem  nur  not- 
wendig ist,  alle  unsere  Ideen  immer  von  physischen 
Dingen  oder  von  realen  Wesen  abzuleiten,  indem  wir 
dabei  soviel  als  möglich  nach  der  Reihenfolge  der 
Ursachen  von  einem  realen  Wesen  zu  einem  andern 
fortschreiten,  so  zwar,  daß  wir  nicht  auf  abstrakte 
und  allgemeine  Dinge  übergehen,  daß  wir  also  weder 

[Opp.  posth.  887— 388.    Vloten  82— 33.    Broder  §§  97— 100.] 

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Die  Lehre  von  der  Definition.  47 

aus  solchen  etwas  Reales  folgern  noch  sie  selber 
ans  einem  Realen  ableiten;  denn  beides  onterbricht 
den  richtigen  Fortschritt  des  Verstandes.  (100)  Es 
ist  aber  zu  beachten,  daß  ich  anter  der  Reihenfolge 
der  Ursachen  and  der  realen  Wesen  nicht  die  Reihen- 
folge der  veränderlichen  Eänzeldinge  verstehe,  son- 
dern nar  die  Reihenfolge  der  festen  and  ewigen 
Dinge.  Denn  die  Reihenfolge  der  veränderlichen 
Einzeldinge  vollständig  zn  verfolgen,  dürfte  für  die 
menschliche  Schwachheit  anmöglich  sein,  sowohl  wegen  10 
ihrer  jede  Zahl  übersteigenden  Menge^  als  wegen  der 
anendlichen  Umstände  bei  einer  and  derselben  Sache, 
von  denen  ein  jeder  die  Ursache  des  Daseins  oder 
Nichtseins  dieser  Sache  sein  kann.  Denn  ihre  Existenz 
steht  in  keinem  Zosammenhang  mit  ihrem  Wesen, 
oder,  wie  schon  gesagt,  sie  ist  keine  ewige  Wahrheit. 
(101)  Es  ist  ]a  aber  aach  gar  nicht  notig,  daß  wir 
ihre  Reihenfolge  kennezi,  denn  das  Wesen  der  ver- 
änderlichen Binzeldinge  ist  doch  nicht  herzuleiten  aus 
der  Reihenfolge  oder  Ordnung,  in  der  sie  existieren;  2a 
denn  diese  bietet  uns  ja  nichts  anderes  als  äußerliche 
Bezeichnungen,  Beziehungen  oder  höchstens  Neben- 
umstände,  was  alles  weit  entfernt  ist  vom  inneren 
Wesen  der  Sache.  Das  ist  vielmehr  nur  aus  den  festen 
and  ewigen  Dingen  herzuleiten  und  zugleich  aus  den 
Gesetzen,  die  in  jenen  Dingen  als  in  ihren  wahren 
Gesetzbüchern  eingeschrieben  sind,  und  nach  welchen 
alles  Einzelne  sowohl  geschieht  als  geordnet  wird. 
Ja,  diese  veränderlichen  Einzeldinge  hangen  so  innig 
und  wesentlich  (um  mich  so  auszudrücken)  von  jenen  80 
festen  ab,  daß  sie  ohne  dieselben  weder  sein  noch 
begriffen  werden  können.  Daher  werden  diese  festen 
und  ewigen  Dinge,  obwohl  sie  einzelne  sind,  dennoch 
wegen  ihrer  Allgegenwart  und  ihrer  weitgehendsten 
Macht  für  uns  wie  Allgemeinheiten  oder  wie  Gat- 
tungen der  Definitionen  der  veränderlichen  Einzeldinge 
und  die  nächsten  Ursachen  aller  Dinge  sein. 

(102)  Da  es  sich  damit  so  verMlt,  so  scheint  es 
mit  nicht  geringer  Schwierigkeit  verbunden,  zur  Er- 
kenntnis dieser  Binzeldinge  zu  gelangen;  denn  40 

[Opp.  posth.  888—889.    Vloten  38.    Bruder  §§  99—102.] 

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48     Abhandlaog  über  die  VerbeBseniDg  des  Ventandes. 

alle  auf  einmal  zu  begreifen  ist  etwas,  das  die  Kräfte 
des  menschlichen  Verstandes  bei  weiten  übersteigt 
Die  Ordnung  aber,  daß  eines  vor  dem  and^m  er- 
kannt wird,  ist  wie  gesagt  nicht  aus  der  Reihen- 
folge ihrer  Existenz  noch  aus  den  ewigen  Dingen 
herzuleiten.  Denn  da  sind  alle  diese  Dinge  von  Natur 
zugleich.  Daher  müssen  wir  notwendig  noch  and^^e 
Hil&mittel  suchen  außer  jenen,  dwen  wir  uns  be- 
dienen, um  die  ewigen  Dinge  und  ihre  Gesetze  zu 
10  erkennen.  Jedoch  ist  hier  nicht  der  richtige  Ort  sie 
anzugeben,  und  es  ist  auch  nicht  eher  nötig,  als 
bis  wir  eine  ausreichende  Kenntnis  der  ewigen  Dinge 
und  ihrer  unfehlbaren  Gesetze  erlangt  haben,  und 
die  Natur  unserer  Sinne  uns  bekannt  geworden  ist. 

(103)  Bevor  wir  uns  zur  Erkenntnis  der  Einzel- 
dinge anschicken,  wird  es  Zeit  sein,  jene  Hülfsmittel 
zu  besprechen,  die  alle  den  Zweck  haben,  daß  wir 
wissen,  unsere  Sinne  zu  gebrauchen  und  nach  be- 
stimmten   Gesetzen   und   in   richtiger   Ordnung   EIx- 

30  perimente  zu  machen,  die  hinreichend  sind,  um  die 
untersuchte  Sache  zu  bestimmen;  damit  wir  endlich 
aus  ihnen  den  Schluß  ziehen  können,  nach  welchen  Ge- 
setzen der  ewigen  Dinge  jene  Sache  geworden  ist 
und  damit  ihre  innerste  Natur  uns  bekannt  werde, 
wie  ich  am  gehörigen  Ort  zeigen  werde.  Hier  will 
ich  nur,  um  zu  unserer  Aufgabe  zurückzukehren,  das- 
jenige anzugeben  versuchen,  was  erforderlich  schwnt; 
um  zur  Erkenntnis  der  ewigen  Dinge  zu  gelangen  und 
ihre  Definitionen   nach  den   oben  angegebenen  Be- 

30  dingungen  zu  bilden. 

(104)  Zu  diesem  Zwecke  müssen  wir  uns  das 
oben  Gesagte  ins  Gedächtnis  zurückrufen,  daß  näm- 
lich der  Geist,  wenn  er  sich  auf  einen  Gedanken  rich- 
tet, um  ihn  zu  erwägen  und  in  richtiger  Ordnung 
aus  ihm  zu  folgern,  was  daraus  zu  folgern  ist,  das 
Falsche  dieses  Gedankens,  wenn  er  falsch  ist^  ent- 
deckt; daß  er  aber,  wenn  er  wahr  ist,  glücklich 
fortfährt,  ohne  irgend  eine  Unterbrechung  Wahres 
daraus  abzuleiten.    Das,   sage   ich,   ist  zu  unserem 

40  Gegenstand   erforderlich.     Denn    ohne    daß  es  eine 

[Opp.  poBtb,  889— 890.  Vloten  83— 84.  Bruder  §§  108— 104.] 

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Die  Lehre  Ton  der  Definition«  49 

Grundlage  ribt^  können  nngere  Gedanken  nicht  be- 
stimmt werden.  (105)  Wenn  wir  alao  das  wste  von 
allen  Dingen  erforschen  wollen,  so  muß  es  irgend 
eine  Grundlage  geben,  welche  unsere  Gedank«i  imAxt 
hinleitet  Weil  femer  die  Methode  die  reflektierte  Er- 
kenntnis selbst  ist^  so  kann  diese  Grundlage^  die  unsere 
Gedanken  leiten  soll,  keine  andere  sein,  als  die  Er- 
kenntnis dessen,  was  die  Form  der  Wahrheit  ausmacht, 
und  die  Erkenntnis  des  Verstandes  und  seiner  Eigen- 
schaften und  Kräfte.  Denn  haben  wir  diese  erlimgt^  10 
dann  haben  wir  eine  Grundlage,  von  der  wir  unsere 
Gredanken  und  von  der  wir  den  Weg  ableiten  können, 
auf  dem  der  Verstand,  soweit  seine  Fassungskraft  es 
erlaubt,  zur  Erkenntnis  der  ewigen  Dinee  gelangen 
kann,  nämlich  nach  Haßgabe  seiner  Kräfte. 

(106)  Wenn  es  aber  zur  Natur  des  Denkens  ge- 
hört, wahre  Ideen  zu  bilden,  wie  es  im  ersten  Teil 
gezeigt  wurde,  so  ist  nun  zu  untersuchen,  was  wir 
unter  Kräfte  und  Vermögen  des  Verstandes  zu  ver- 
stehen haben.  Weil  es  aber  der  Hauptteil  unserer  90 
Methode  ist^  die  Kräfte  des  Verstuides  und  seine 
Natnr  gründlich  kennen  zu  lernen,  so  sehen  wir  uns, 
gemäß  dem,  was  ich  in  diesem  zweiten  Teil  der  Me- 
äode  dargetan  habe,  notwendig  gezwungen,  es  aus  der 
Definition  des  Denkens  und  des  Verstandes 
selbst  herzuleiten.  (107)  Aber  bisher  haben  wir  noch 
keine  Regeln  gehabt^  um  Definitionen  zu  finden,  und 
da  wir  solche  nicht  aufstellen  können,  ohne  daß  wir 
zuvor  die  Natur  oder  Definition  des  Verstandes  und 
sein  Vermögen  kennen  gelernt^  so  folgt  daraus,  daß  80 
entweder  die  Definition  des  Verstandes  an  sich  klar 
sein  muß  oder  daß  wir  gar  nichts  davon  erkennen 
können.  Jene  ist  aber  an  sich  nicht  absolut  klar. 
Weil  wir  jedoch  seine  Eigenschaften  wie  alles,  was 
wir  aus  dem  Verstände  haben,  nicht  klar  und  deut- 
lich begreifen  können,  ohne  deren  Natur  erkannt  zu 
haben,  so  wird  die  Definition  des  Verstandes  von  selbst 
dnleuchten,  wenn  wir  seine  Eigenschaften,  die  wir 
klar  und  deutlich  erkennen,  ins  Auge  fassen.  Daher 
wollen  wir  hier  die  Eigenschaften  des  Verstandes  auf-  40 

[Opp.  posth.  890.    Vloten  84—85.    Brader  §§  104—107.] 

S  p  i  n  o  a  ft ,  AbhAiidlg.  ttb.  d.  VarbeMerg.  d .  VentandM.        4 

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50     Abhandlung  über  die  Verbesserang  des  Verstandes. 

^hlen  und  sie  erwägen  nnd  beginnen,  von  unseren 
angeborenen  Werkzeugen^)  zu  handeln. 

(108)  Die  Eigenschaften  des  Verstandes,  die  ich 
hauptsachlich  bemerkt  habe  und  klar  erkenne^  sind 
folgende: 

L  Der  Verstand  schlieDt  die  Gewißheit  in  sich, 
d.  h.  er  weiß,  daß  die  Sachen  sich  formal  so  ver- 
halten, wie  sie  objektiv  in  ihm  enthalten  sind. 

IL  E2r  begreift  manches  oder  bildet  manche  Ideen 
10  absolut,  manche  Ideen  bildet  er  aus  anderen.  So 
bildet  er  die  Idee  der  Quantität  absolut,  ohne  dabei 
auf  andere  Gedanken  zu  sehen;  hingegen  die  Ideen 
der  Bewegung  bildet  er  nur,  indem  er  dabd  die  Idee 
der  Quantität  in  Betracht  mehi 

ni.  Die  Ideen,  die  er  absolut  bildet,  drücken  Un- 
endlichkeit aus;  die  begrenzten  Ideen  bildet  er  aus 
anderen.  So  die  Idee  der  Quantität;  wenn  er  sie  durch 
die  Ursache  begreift,  denkt  er  die  Quantität  begrenzt; 
so  z.  B.  wenn  er  aus  der  Bewegung  einer  Fläche 
ao  einen  Körper,  aus  der  Bewegung  einer  Linie  eine 
Fläche  und  schließlich  aus  der  Bewegung  eines  Punktee 
eine  Linie  sich  hervorgehen  denkt  Diese  Begriffe 
dienen  jedoch  nicht  zum  Verständnis,  sondern  nur 
zur  Bestimmung  der  Quantität  Das  geht  daraus 
hervor,  daß  wir  sie  gewissermaßen  als  aus  der 
Bewegung  entstehend  denken,  während  doch  die  Be- 
wegung nur  zu  begreifen  ist,  wenn  schon  die  Quan- 
tität begriffen  ist  Ebenso  können  wir  auch  die  Be- 
wegung zur  Bildung  einer  Linie  uns  ins  Unendliche 
80  fortgesetzt  denken,  was  unmöglich  wäre,  wenn  wir 
nicht  die  Idee   einer   unendlichen   Quantität  hätten. 

rv.  Der  Verstand  bildet  positive  Ideen  früher 
als  negative. 

V.  Der  Verstand  nimmt  die  Dinge  wahr  nicht  so 
sehr  unter  dem  Gesichtspunkte  einer  Dauer,  als  ge- 
wissermaßen unter  dem  Gesichtspunkte  der  ESwigkeit 


1)  Siebe  oben  S.  18,  Uff. 
[Opp.  posth.  390—391.  Vloten  86—86.  Bruder  §§  107—108.] 

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Die  Lehre  von  der  Definition.  61 

und  der  unbegrenzten  Zahl.  Oder  vielmehr  er  achtet^ 
um  die  Dinge  zu  begreifen,  weder  auf  die  Zahl  noch 
auf  die  Dauer.  Wenn  er  aber  die  Dinge  sich  vorstellty 
dann  begreift  er  sie  nnter  einer  gewissen  Zahl,  einer 
bestimmten  Dauer  und  Quantität 

VL  Die  Ideen,  die  wir  klar  und  deutlich  bilden, 
scheinen  so  sehr  aus  der  bloßen  Notwendigkeit  unserer 
Natur  zu  folgen,  daß  sie  absolut  bloß  von  xmserem 
Vermögen  abzuhängen  scheinen.  Von  den  verworrenen 
Ideen  gilt  das  Gegenteil;  sie  bilden  sich  oft  gegen  la 
unseren  Willen. 

Vn.  Die  Ideen  von  Dingen,  die  der  Verstand 
aus  anderen  bilde^  kann  der  Geist  auf  mancherlei  Weise 
bestimmen.  So  fingiert  er  z.  B.,  um  eine  elliptische 
Fläche  zu  bestimmen,  daß  sich  ein  Stifte  der  an  einer 
Schnur  hangt,  um  zwei  Mittelpunkte  bewege,  oder  er 
denkt  sich  unendlich  viele  Punkte^  die  immer  das- 
selbe bestimmte  Verhältnis  zu  einer  gegebenen  ge- 
raden Linie  haben,  oder  einen  Kegel,  der  von  einer 
schrägen  Ebene  so  durchschnitten  ist^  daß  der  Nei-  20 
gxmgswinkel  größer  ist  als  der  Winkel  der  Kegel- 
spitze,  oder  auf  unendlich  viele  andere  Weisen. 

Vm  Ideen  sind  um  so  vollkommener,  je  mehr 
Vollkommenheit  eines  Objekts  sie  ausdrücken.  Denn 
einen  Baumeister,  der  ein  gewöhnliches  Haus  ent- 
worfen hat,  bewundem  wir  nicht  so  sehr  als  den,  der 
einen  herrlichen  Tempel  entwarf. 

(109)  Bei  dem  übrigen,  was  sich  noch  auf  das 
Denken  bezieht,  wie  Liebe,  Freude  u.  s.  w.,  will  ich 
mich  nicht  aufhalten,  denn  sie  haben  mit  unserem  80 
Vorhaben  nichts  zu  schaffen  und  können  auch  nicht 
begriffen  werden,  ohne  daß  der  Verstand  begriffen 
ist,  Denn  wenn  die  Vorstellung  (perceptio)  gänzlich 
aufgehoben  ist,  werden  sie  auch  aufgehoben. 

(110)  Falsche  und  fingierte  Ideen  haben,  wie  zur 
Genüge  gezeigt  wurde,  nichts  Positives,  wegen  dessen 
sie  aJs  falsch  oder  fingiert  bezeichnet  werden;  bloß 
wegen  ihres  mangelnden  Erkenntniswertes  werden  sie 
als  solche  betrachtet.  Daher  können  uns  falsche  und 

fOpp.  posth.  391—302.    Vloten  36.    Bruder  §§  108—110.] 

4* 

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59     Abhuidliing  von  der  Verbessenuig  des  Ventandes. 

fingierte  Ideen  als  solche  nichts  über  das  Wesen  dea 
Denkens  lehren.  Dieses  maß  vielmehr  ans  den  eben 
dargelegten  positiven  Eigenschaften  abgeleitet  werden, 
d.  L  es  mujQ  etwas  Gemeinschaftliches  gefanden 
werden,  aas  dem  diese  ESgenschaften  notwendig  folgen, 
oder  mit  dessen  Gegebensein  sie  auch  notwendig  ge- 
geben sind  and  mit  dessen  Aafhebang  sie  alle  aofge- 
hoben  werden. 

Das  Übrige  fehlt 


[Opp.  poflth.  9&2.    Vloten  86.    Bruder  §  110.] 

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Abhandlung  vom  Staate, 

in  der  gezeigt  wird^  wie  eine  Gesellschaft 
mit  monarchischer  Begierung  und  wie  eine 
solche  mit  aristokratischer  Begierung  ein- 
zurichten ist,  damit  sie  nicht  der  Tyrannei 
verfällt  und  damit  Friede  und  Freiheit  der 
Bürger  unangetastet  bleiben. 


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Erstes  Kapitel. 
§1. 

Die  Affekte^  mit  denen  wir  zu  kämpfen  haben, 
werden  von  den  Philosophen  als  Fehler  angesehen, 
in  welche  die  Menschen  durch  eigene  Schuld  verfallen. 
Dalier  pflegen  sie  sie  zu  belachen,  zu  beweinen,  zu 
tadeln  oder,  mit  noch  größerer  Scheinheiligkeit^  zu 
verabscheuen.  Damit  glauben  sie  nämlich  etwas  Er- 
habenes getan  und  den  Gipfel  der  Weisheit  erreicht 
zu  haben,  wenn  sie  die  menschliche  Natur,  wie  sie  10 
nirgends  existiert,  auf  alle  Weise  zu  loben,  da- 
gegen wie  sie  wirklich  ist,  herunterzureden  ver- 
stehen. Sie  nehmen  ja  die  Menschen  nicht,  wie  sie 
sind,  sondern  wie  sie  sie  haben  möchten,  und  so  ist 
es  gekommen,  daß  sie  meistens  statt  einer  ESthik  eine 
Satire  geschrieben  und  niemals  eine  brauchbare  Staats- 
lehre entworfen  haben;  immer  nur  eine^  die  als  Chi- 
märe gelten  muß  oder  die  man  nur  in  Utopien  oder 
im  goldenen  Zeitalter  der  Dichter,  wo  sie  am  wenigsten 
notig  wäre,  in  die  Wirklichkeit  hätte  umsetzen  können.  20 
Da  man  nun  bei  allen  angewandten  Wissenschaften, 
am  meisten  aber  bei  der  Staatslehre^  Theorie  und 
Praxis  im  Widerspruch  glaubt,  so  hält  man  auch  die 
Theoretiker  oder  Philosophen  für  die  allerungeeig- 
netsten,  um  einen  Staat  zu  regieren. 

§2. 

Die  Staatsmänner  dagegen  sollen,  wie  man  meint, 
die  Menschen  mehr  hintergehen,  als  daß  sie  für  sie 
sorgten;  sie  gelten  eher  für  schlau  als  für  weise. 
Die  Erfahrung  hat  sie  ja  gelehrt,   daß  es  Fehler  80 

Sibt,  so  lange  es  Menschen  gibt.    Daher  suchen  sie 
er  menschlichen  Schlechtigkeit  entgegenzuwirken  und 


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56  Abhandlang  vom  Staate. 

zwar  mit  den  Mitteln,  die  sie  in  langbewahrtM*  Eir- 
fahrnng  kennen  und  die  die  Menschen  mehr  ans  Forcht 
als  der  Vernunft  gemäD  zu  beobachten  pflegen«  Schein- 
bar setzen  sie  sich  aber  damit  in  Widerspruch  mit  der 
Religion  und  namentlich  mit  den  Theologen«  die  der 
Meinung  sind,  die  höchsten  Gewalten  seien  in  der 
Führung  der  StaatsReechäfte  an  dieselben  Begehi  der 
Frömmigkeit  gebunden,  denen  der  Privatmann  xmter- 
worfen  ist  Zweifellos  haben  aber  gerade  die  Staats- 
10  männer  viel  treffender  über  Staatslehre  geschrieben 
als  die  Philosophen,  denn  weil  sie  die  Elrfahrung  zur 
Lehrmeisterin  hatten,  haben  sie  nichts  gelehrt,  was 
mit  der  Praxis  nicht  im  Einklang  gestanden  wäre. 

§3. 

Ich  bin  auch  völlig  überzeugt,  daß  die  Elrfahrung 
bereits  alle  denkbaren,  das  einträchtige  Leben  der 
Menschen  bezweckenden  Arten  von  Staate  aufgezeigt 
haty  zugleich  auch  alle  Mittel,  durch  welche  die  Masse 
gelenkt  oder  in  gewissen  Grenzen  gehalten  werden 

20  muß.  Ich  halte  es  daher  für  ausgeschlossen,  daß 
wir  etwas  mit  Erfahrung  und  Praxis  Zusammen- 
gehendes ausdenken  könnten,  das  nicht  schon  erfahroi 
und  erprobt  wäre.  Denn  die  Menschen  sind  so  be- 
schaffen, daß  sie  außerhalb  einer  Rechtsgemeinschaft 
nicht  leben  können;  die  gemeinsamen  Rechte  und 
öffentlichen  Geschäfte  sind  aber  von  äußerst  scharf- 
sinnigen, schlauen  oder  verschlagenen  Männern  ein- 
gerichtet und  gehandhabt  worden.  Daher  ist  es  kaum 
anzunehmen,    daß  wir   etwas   die  Gesellschaft  F5r- 

80  demdes  ausdenken  könnten,  was  uns  Gelegenheit  oder 
Zufall  nicht  schon  dargeboten  oder  was  die  Menschen, 
mit  den  gemeinsamen  Angelegenheiten  beschäftigt  und 
auf  ihre  Wohlfahrt  bedacht,  nicht  schon  bemerkt  haben 
sollten. 

§4. 

Als  ich  mich  daher  mit  der  Staatslehre  zu  be- 
schäftigen anfing,  war  es  nicht  meine  Absicht^  etwas 
Neues  und  Unerhörtes  zu  geben;  ich  wollte  nur  das 
mit   der   Praxis   am   meisten   Obereinstimmende  auf 
40  sichere  und  unanfechtbare  Weise  darstellen  oder  es 


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1.  Kapitel.    Einleitang.  57 

aus  der  Beschaffenheit  der  menschlichen  Natur  selbst 
herleiten.  Um  das  Gebiet  dieser  Wissenschaft  mit 
ebensolcher  Unbefangenheit  za  durchforschen  wie  das 
der  Mathematik,  habe  ich  mich  sorglich  bemüht^  die 
menschlichen  Etandlungen  nicht  zu  verlachen,  nicht 
zvL  beklagen,  auch  nicht  zu  verabscheuen,  senden 
zu  verstehen.  Ich  habe  deshalb  die  menschlichen 
Affekte,  als  da  sind  liebe,  Haß,  Zorn,  Neid,  Ruhm- 
sucht, ICtldd  und  die  übrigen  Gemütsbewegungen 
nicht  als  Fehler  der  menschlichen  Natur  betrachtet,  10 
sondern  als  ihre  Eigenschaften,  die  ihr  gwade  so 
gut  zu  eigen  sind,  wie  der  Natur  der  Luft  die 
Hitze,  die  Kälte,  der  Sturm,  der  Donner  und  der- 
gleichen; mögen  sie  auch  unbequem  sein,  notwendig 
sind  sie  doch  und  sie  haben  ihre  bestimmten  Ursachen, 
aus  denen  wir  ihre  Natur,  zu  erkennen  suchen,  und  der 
Geist  ergötzt  sich  an  ihrer  wahren  Betrachtung  ge- 
rade so  wie  an  der*  Erkenntnis  dessen,  was  den  Sinnen 
angenehm  ist 

§  5.  20 

Das  ist  aber  gewiß  und  in  meiner  Ethik  habe  ich 
es  als  wahr  bewiesen,  daß  die  Menschen  notwendig 
den  Affekten  unterworfen  sind  und  von  solcher  Geistes- 
art, daß  sie  die  Unglücklichen  bemitleiden  und  die 
Glücklichen  beneiden,  daß  sie  zur  Rache  mehr  als  zum 
Mitleid  neigen,  und  daß  außerdem  jeder  danach  trach- 
tet, daß  die  anderen  nach  seinem  Sinne  leben,  billigen, 
was  er  billigt,  und  verwerfen,  was  er  verwirft  So 
kommt  es,  daß  alle  in  dem  Bestreben,  die  ersten  zu  sein, 
miteinander  in  Streit  geraten  und  sich  nach  Kräften  SO 
gegenseitig  zu  unterdrücken  suchen.  Wer  als  Sieger 
daraus  hervorgeht,  rühmt  sich  mehr  des  fremden 
Schadens  als  des  eigenen  Nutzens.  Obwohl  alle  über- 
zeugt sind,  daß  die  Religion  das  Gegenteil  lehrt>  daß 
jeder  seinen  Nächsten  lieben  solle  wie  sich  selbst, 
das  heißt,  daß  er  das  Recht  des  anderen  wie  sein 
eigenes  wahrnehme,  so  hat  doch,  wie  ich  gezeigt  habe, 
diese  Überzeugung  über  die  Affekte  keine  Gewalt  Sie 
macht  sich  iSlei^ings  auf  dem  Sterbebett  geltend, 
wenn  schon  die  Knmkheit  über  die  Lieidenschaftein  Herr  40 
geworden  ist  und  der  Mensch  kraftlos  darniederliegt. 


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58  Abhandlung  vom  Staate. 

oder  in  den  Kirchen,  wo  die  Menschen  ohne  Be- 
ziehungen zu  einander  sind»  aber  nicht  im  mindesten 
vor  Gericht  oder  am  Hofe^  wo  es  am  nötigsten  wäre. 
Ich  habe  femer  gezeigt,  daD  die  Vernunft  in  der  ESn- 
schränknng  und  Mäßigung  der  Affekte  zwar  viel 
vermag,  aber  zugleich  haben  wir  gesehen,  daß 
die  Straße,  die  die  Vernunft  weist^  überaus  steil 
ist  Wer  mein^  die  Masse  oder  die  durch  Staats^ 
geschäfte  in  Anspruch  Genommenen  könnten  dahin 
10  gebracht  werden,  allein  nach  der  Vorschrift  der  Ver- 
nunft zu  leben,  der  träumt  vom  goldenen  Zeitalter 
der  Poeten  oder  von  einem  Märchen. 

§6. 
Ein  Staatswesen,  dessen  Heil  von  der  Gewissen- 
haftigkeit eines  Menschen  abhängt  und  dessen  Gre- 
schäfte  nur  dann  gehörig  besorgt  werden  können, 
wenn  die,  denen  sie  obliegen,  gewissenhaft  handeln, 
ein  solches  Staatswesen  ksmn  nicht  von  Bestand  sein. 
Seine  öffentlichen  Angelegenheiten  müssen  vielmehr, 

20  damit  es  bestehen  kann,  so  geordnet  sein,  daß  die 
mit  ihrer  Verwaltung  Betrauten  überhaupt  nicht  in 
die  Lage  kommen  können,  gewissenlos  zu  sein  oder 
schlecht  zu  handeln«  ganz  einerlei,  ob  sie  der  Ver- 
nunft oder  dem  Affekte  folgen.  Die  Sicherheit 
des  Staates  wird  nicht  davon  berührt,  welche  €re- 
sinnung  die  Menschen  zur  richtigen  Verwaltung  an- 
hält, sofern  nur  die  Verwaltung' richtig  ist  Denn 
Geistesfreiheit  oder  Geisteskraft  sind  Privat- 
tugenden,   Sicherheit    ist    die    Tugend    des 

80  Staates. 

§7. 

Weil  endlich  alle  Menschen,  die  civilisierten  so 
gut  wie  die  uncivilisierten,  in  Verbindung  mit  einander 
treten  und  irgend  einen  staatlichen  Zustand  herstellen, 
so  darf  man  die  Ursachen  und  natürlichen  Grund- 
lagen des  Staatswesens  nicht  aus  den  Ltehrsätzen  der 
Vernunft  ableiten  wollen,  sondern  muß  sie  aus  der 
allgemeinen  Natur  und  Beschaffenheit  der  Menschen 
entnehmen,  wie  ich  es  im  folgenden  Kapitel  tun  will. 


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Zweites  Kapitel. 

In  meinem  theologisch-politischen  Traktat 
habe  ich  vom  Natorrecht  und  vom  bürgerlichen  Rechte 
gehandelt,  und  in  meiner  Ethik  habe  ich  erklärt^  was 
Sünde,  Verdienst^  Gerechtigkeit^  Ungwechtigkeit  und 
endlich  was  die  menschliche  Freiheit  ist  Damit  aber 
die  Leser  dieser  Abhandlung  das  hauptsächlich  hier- 
her Gehörige  nicht  anderswo  zu  suchen  brauchen, 
will  ich  es  auch  an  dieser  Stelle  erklären  und  un-  10 
widerleglich  beweisen. 

§2. 

Jedes  natürliche  Ding  kann  adäquat  begriffen 
werden,  mag  es  nun  existieren  oder  nicht  Daher  kann 
der  Beginn  der  Existenz  natürlicher  Dinge  und  ebenso 
ihr  Fortbestehen  aus  ihrer  Definition  nicht  erschlossen 
werden.  Denn  ihr  gedankliches  Wesen  bleibt  das- 
selbe, nach  dem  Beginn  ihrer  Existenz  so  gut  wie 
vorher.  Wie  also  der  Beginn  ihrer  Existenz  aus  ihrem 
Wesen  nicht  hergeleitet  werden  kann,  so  auch  ihr  20 
Fortbestehen  nicht;  dieselbe  Macht,  die  sie  zum 
Eintritt  ins  Dasein  nötig  haben,  brauchen  sie  auch, 
um  darin  zu  verharren.  Daraus  folgt,  daD  die 
Macht,  durch  welche  die  natürlichen  Dinge  existieren 
und  durch  die  sie  folglich  auch  wirken,  keine 
andere  sein  kann  als  die  ewige  Macht  Gottes  selbst 
Denn  wenn  es  eine  andere  nur  geschaffene  Macht 
wäre,  so  vermöchte  sie  ja  nicht  sich  selbst  und  folg- 
lich auch  nicht  die  natürlichen  Dinge  zu  erhalten; 
sie  würde  vielmehr  dieselbe  Macht,  der  sie  ihre  30 
Schöpfung  verdankte,  auch  zu  ihrem  Fortbestehen 
brauchen. 


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60  Abhandlung  yom  Staate. 

§3. 

Von  diesen  Punkte  ans,  daD  nämlich  die  Uacht 
in  den  natürlichen  Dingen,  durch  die  sie  sind  nnd 
wirken,  Gottes  Macht  selbst  ist»  von  hier  ans  ist  es 
leicht  zu  verstehen,  was  Naturrecht  ist  Denn  da 
Gott  ein  Recht  zu  allem  hat  und  da  das  Recht  Gottes 
nichts  anderes  ist  als  die  Uacht  Gottes  selbst^  so- 
fern sie  als  vollkonunen  frei  betrachtet  wird,  so 
folgt  daraus,  daß  jedes  natürliche  Ding  von  Na- 
10  tur  so  viel  Recht  hat,  als  es  zum  Sein  und 
Wirken  Macht  hat  Die  Macht  in  ein^n  }ed^i 
natürlichen  Ding,  durch  die  es  ist  und  wirkt»  ist  ]a 
nichts  anderes  als  die  absolut  freie  Macht  Gottes 
selbst 

§4. 

Unter  Naturrecht  verstehe  ich  somit  die 
Naturgesetze  selbst  oder  die  Regeln,  nach  denen 
alles  geschieht,  d.  h.  eben  die  Macht  der  Natur.  Da- 
nach erstreckt  sich  also  das  natürliche  Recht 
20  der  gesamten  Natur  und  folglick  auch  jedes 
einzelnen  Individuums  so  weit  wie  seine  Macht 
Was  demnach  der  einzelne  den  Gesetzen  seiner  Natur 
zufolge  tut,  das  tut  er  mit  dem  vollsten  Naturrecht; 
seine  Rechtssphäre  in  der  Natur  ist  so  groD  wie  seine 
Machtsphäre. 

§5. 

Wäre  es  also  mit  der  menschlichen  Natur  so 
bestellt,  daß  die  Menschen  bloß  dem  Gebot  der  Ver- 
nunft gehorchten,  ohne  nach  anderem  zu  trachten, 

80  dann  würde  das  Naturrecht,  soweit  es  als  dem  Men- 
schengeschlecht eigen  zu  betrachten  ist,  nur  durch 
die  Macht  der  Vernunft  bestimmt  In  Wahrheit  stehen 
die  Menschen  aber  vielmehr  als  unter  der  Herrschaft 
der  Vernunft  unter  der  der  blinden  Begierde;  daber 
muß  die  Naturmacht  der  Menschen  oder  ihr  Natur- 
recht nicht  durch  die  Vernunft,  sondern  durch  jeden 
Trieb  bestimmt  werden,  der  sie  zum  Handeln  tr^bt 
und  durch  den  sie  sich  zu  erhalten  suchen.  Ich  ge- 
stehe zwar,  daß  jene  Begierden,  die  nicht  aus  der 

40  Vernunft  entspringen,  nicht  menschliche  Handlungen, 
sondern  menschliche  Leidenschaften  sind.    Weil  wir 


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2.  Kapitel.    Vom  Natarrecht.  61 

aber  hier  von  der  Macht  oder  dem  Recht  der  Natur 
im  allgraieinen  handeln,  konnm  wir  an  dieser  Stelle 
keinen  Unterschied  anerkennen  zwischen  Begierden, 
die  ans  der  Vernunft  und  solchen,  die  aus  anderen 
Qaellen  in  uns  entspringen:  diese  wie  jene  sind  eine 
Wirkung  der  Natur  und  ein  Ausdruck  der  natur- 
lichen Kraft,  mit  d^  der  Mensch  in  'seinen  Sein  su 
verharren  strebt  Denn  der  Mensch,  ob  Weiser  oder 
Tor,  ist  ein  T^  der  Natur;  und  alles,  was  den  einzelnen 
zum  Handeln  treibt,  muß  zur  Macht  der  Natur  ge-  10 
rechnet  werden,  insofern  diese  nämlich  als  die  Natur 
dieses  oder  jenes  Menschen  bestimmt  werden  kann. 
Denn  der  Mensch,  mag  er  unter  der  Herrschaft  der 
Vernunft  oder  der  bloßen  Begierde  stehen,  handelt 
stets  nach  den  Gesetzen  und  Begeln  der  Natur,  d.  h. 
(nach  §  4  d.  Kap.)  dem  Naturrechte  gemäß. 

§6. 

Meist  glaubt  man,  daß  die  Toren  die  Ordnung 
der  Natur  eher  verwirren  als  befolgen,  und  man 
meinte  der  Mensch  sei  in  der  Natur  wie  ein  Staat  im  90 
Staate.  Denn  man  behauptet^  der  menschliche  G^t 
verdanke  seine  Entstehung  nicht  irgendwelchen  natür- 
lichen Ursachen,  sondern  einer  unmittelbaren  Schöpfung 
GotteSy  durch  die  er  von  den  übrigen  Dingen  so  un- 
abhängig sei,  daß  er  eine  unbedingte  Macht  zur  Selbst- 
bestimmung und  zum  richtigen  Gebrauch  der  Ver- 
nunft besitze.  Aber  die  Erfahrung  lehrt  zur  Genüge, 
daß  es  ebenso  wenig  in  unserer  Ge?ralt  steht»  einen 
gesunden  Geist  wie  einen  gesunden  Körper  zu  haben. 
Da  femer  ein  jedes  Ding,  so  viel  an  ihm  ist^  sein  80 
Sein  zu  erhalten  strebt^  so  würden  wir  zweifellos  der 
Leitung  der  Vernunft  folgen  und  unser  Leben  ver- 
ständig einrichten,  wenn  es  in  gleichem  Maße  in 
unserer  Hand  läge,  nach  den  Vorschriften  der  Ver- 
nunft zu  leben,  wie  der  blinden  Begierde  zu  folgen. 
Es  geschieht  aber  nicht  Jeglichen  reißt  seine  Lust  fort 

Die  Theologen  schaffen  diese  Schwierigkeit  auch 
nicht  aus  der  Welt,  wenn  sie  behaupten,  die  Ursache 
dieser  Schwäche  sei  ein  Fehler  oder  eine  Sünde  in 
der  menschlichen  Natur,  die  sich  vom  Sündenfall  des  40 


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62  Abhandlung  yom  Staate. 

Urahnen  herschreibe.  Denn  wenn  es  auch  in  d»  Ge- 
walt des  ersten  Menschen  lag,  zu  stehen  und  zu  fallen, 
und  wenn  er  seines  Geistes  machtig  war  und  von 
unverdorbener  Natur,  wie  konnte  es  geschehen,  daJ3 
er,  wissend  und  weise,  dennoch  fiel?  Aber,  entgegnen 
sie,  er  wurde  ja  vom  Teufel  betrogen.  Ja,  wer  war  es 
aber,  der  den  Teufel  selbst  betrog?  Wer,  frage  ich, 
konnte  ihn,  das  erste  aller  vernünftigen  Geschöpfe, 
so  wahnsinnig  machen,  daO  er  mehr  sein  wollte  als 

10  Gott?  Sicher  nicht  er  selbst,  da  er  bei  gesundem 
Verstand  war  und  sein  Sein,  so  viel  bei  ihm  stand, 
zu  erhalten  strebte.  Wie  konnte  es  femer  geschehen, 
daO  eben  der  erste  Mensch,  der  seines  Geistes  mach- 
tig und  Herr  seines  Willens  war,  sich  verfuhren  und 
seinen  Geist  verwirren  liej}?  Denn  wenn  er  die  Macht 
hatte^  richtigen  Gebrauch  von  seiner  Vernunft  zu 
machen,  konnte  er  nicht  betrogen  werden:  er  hätte, 
30  viel  an  ihm  Is^,  bestrebt  sein  müssen,  sein  Sein 
und  seinen  gesunden  Verstand  sich  zu  erhalten.  Nun 

20  wird  vorausgesetzt,  es  habe  in  seiner  Macht  gelegen: 
so  hat  er  sich  also  seinen  Geist  unversehrt  erhalten 
und  konnte  nicht  der  Täuschung  erliegen.  Das  ist 
aber,  wie  seine  Geschichte  zeigt,  falsch.  Man  muß 
deshalb  einräumen,  daß  es  nicht  in  der  Gewalt  des 
ersten  Menschen  stand,  richtigen  Gebrauch  von  sein^ 
Vernunft  zu  machen;  er  war  vielmehr  gerade  so  wie 
wir  den  Leidenschaften  unterworfen. 

§7. 
Es  kann  aber  niemand  leugnen,  daß  der  Mensch 

80  gerade  so  wie  die  übrigen  Wesen,  so  viel  an  ihm  liegt^ 
sein  Sein  zu  erhalten  strebt.  Denn  wenn  sich  in  diesem 
Punkte  ein  Unterschied  denken  ließe»  so  könnte  er 
nur  daher  kommen,  daß  der  Mensch  einen  fireien 
Willen  hätte.  Je  freier  wir  uns  aber  den  Menschen 
denken,  um  so  mehr  müssen  wir  annehmen,  daß  er 
notwendig  sich  selbst  erhalten  und  seines  Geistes 
mächtig  sein  müsse.  Jeder,  der  Freiheit  und  ZuGLllig- 
keit  nicht  miteinander  verwechselt,  wird  mir  das 
zugeben.    Denn  Freiheit  ist  Tüchtigkeit  oder  Voll- 

40  kommenheit:  was  daher  den  Menschen  eines  Unver- 
mögens zeiht,  kann  nicht  Ausfluß  seiner  Freiheit  sein. 


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3.  Kapitel    Vom  Natnrrecht  68 

Daher  kann  der  Mensch  durchaus  nicht  insofern  frei 
genannt  werden,  als  er  nicht  sein  oder  die  Vernunft 
nicht  gebrauchen  kann,  sondern  nur  soweit»  als  er  die 
liacht  hat  zu  existieren  und  zu  wirken  gemäß  den 
Gesetzen  der  menschlichen  Natur.  Je  me&  wir  also 
den  Menschen  als  frei  betrachten,  desto  w^iiger  J^önnen 
wir  Yon  ihm  sagen,  daß  er  von  der  Vernunft  keinen 
Gebrauch  machen  imd  dem  Schlechten  den  Vorzug  vor 
dem  Guten  geben  könne.  Und  Gott,  der  als  absolut 
frei  existier^  denkt  und  handelt,  muß  ebenfalls  not-  10 
wendig,  d.  h.  aus  der  Notwendigkeit  seiner  Natur  her- 
aus existieren,  denken  und  handeln.  Denn  ohne  Zweifel 
handelt  Gott  mit  derselben  Freiheit,  mit  der  er 
existiert:  wie  er  nun  aus  der  Notwendigkeit  seiner 
Natur  heraus  existiert,  so  handelt  er  auch  nach  der 
Notwendigkeit  seiner  Natur,  d.  h.  er  handelt  schlecht- 
hin frei. 

§8. 

Wir  ziehen  daraus  den  Schluß,  daß  es  nicht  in 
der  Gewalt  eines  jeden  Menschen  steht,  immer  von  ao 
seiner  Vernunft  Gebrauch  zu  machen  und  auf  dem 
höchsten  Gipfel  menschlicher  Freiheit  zu  stehen.  Und 
dennoch  strebt  jeder,  so  viel  an  ihm  liegt,  sein  Sein 
zu  erhalten,  und  weil  jeder  so  viel  Recht  hat»  wie  er 
Macht  besitzt,  so  wird  jeder,  ob  Weiser  oder  Tor, 
was  er  auch  versucht  und  tut,  mit  vollem  Rechte  der 
Natur  versuchen  und  tun.  Daraus  folgt,  daß  Recht 
und  Gesetz  der  Natur,  unter  dem  alle  Menschen  ge- 
boren werden  und  in  der  Hauptsache  leben,  nichts 
verbietet  als  das,  was  niemand  will  und  niemand  kann,  80 
daß  es  aber  nicht  den  Streit»  nicht  den  Haß,  nicht 
den  Zorn,  nicht  den  Schmerz,  überhaupt  nichts,  zu 
dem  ein  Trieb  uns  rät,  verwirft  Das  ist  kein  Wunder. 
Denn  die  Natur  ist  nicht  unter  die  Gesetze  der  mensch- 
lichen Vernunft  gebannt,  die  nur  den  wahren  Nutzen 
und  die  Erhaltung  der  Menschen  bezwecken;  vielmehr 
unter  unendliche  andere,  die  die  ewige  Ordnung  der 
gesamten  Natur  betreffen,  von  der  der  Mensch  nur 
ein  Teilchen  ist  und  deren  Notwendigkeit  allein  allen 
Wesen  ihr  Sein  und  Handeln  bestimmt  Wenn  uns  40 
daher  irgend  etwas  in  der  Natur  als  lächerlich,  wider- 


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64  Abhandlang  vom  Staate. 

smnig  oder  schlecht  erscheint»  so  ist  es  nur,  weil 
unsere  Kenntnis  von  den  Dingen  Stückwerk  ist,  weil 
uns  die  Ordnung  und  der  Zusammenhang  der  ganzen 
Natur  zum  größten  Teil  unbekannt  bleibt  und  weil 
wir  alles  nach  der  Vorschrift  unserer  Vernunft  ge- 
leitet sehen  wollen.  ^  Wahrheit  ist  aber,  was  die 
Vernunft  für  schlecht  erklärt»  nicht  schlecht  im  Hinr 
blick  auf  die  Ordnung  und  die  Gesetze  der  gesamten 
Natur,  sondern  nur  im  Hinblick  allein  auf  die  Ge- 
10  setze  unserer  Natur. 

§9. 

Außerdem  ergibt  sich  daraus,  daß  jeder  so  lange 
unter  dem  Recht  eines  anderen  st^t,  so  lange  er 
unter  der  Macht  des  anderen  steht,  und  daß  er  in- 
soweit unter  eigenem  Recht  ist,  als  er  jede  Gewalt 
zurückweiaen,  einen  ihm  zugefügten  Schaden  nach 
Gutdünken  vergelten  und  überhaupt»  soweit  er  nach 
eigenem  Sinne  leben  kann. 

§10. 

20  Einen  anderen  in  seiner  Gewalt  hat  derjenige, 
der  ihn  gefesselt  hält  oder  ihm  die  Waffen  und  die 
Mittel  zur  Verteidigung  oder  zur  Flucht  genommen 
hat  oder  ihm  Furcht  eingeflößt  oder  ihn  durch  Be- 
lohnung so  verpflichtet  hat,  daß  er  lieber  ihm  ab 
sich  willfahren  und  lieber  nach  jenes  als  nach  seinem 
Gutdünken  leben  will.  Wer  auf  die  erste  oder  zweite 
Art  jemanden  in  der  Gewalt  hat»  besitzt  nur  seinen 
Körper,  nicht  seinen  Geist  Bei  der  dritten  und  vierten 
Art  aber  hat  er  den  Geist  sowohl  als  den  Körper 

30  seinem  Rechte  unterworfen,  aber  nur,  solange  Furcht 
oder  Hoffnung  währt;  ist  es  damit  zu  Ende,  so  bleibt 
jener  unter  eigenem  Rechte. 

§11. 

Auch  die  Urteilsfähigkeit  kann  so  weit  unter 
fremdes  Recht  geraten,  als  der  Geist  von  Wkem 
anderen  getäuscht  werden  kann.  I^straus  folgt»  d&D 
der  Geist  überhaupt  nur  so  weit  unter  eigenem  Rechte 
ist,  als  er  richtigen  Gebrauch  von  der  Vernunft  machen 


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2.  Kapitel.    Vom  Natnrreohi.  65 

kann.  Ja,  weil  die  Macht  des  Menschen  weniger  nach 
seiner  Eörperstarke,  als  nach  seiner  Geisteskraft  sich 
bemißty  so  sind  diejenigen  am  meisten  unter  eigenem 
Recht,  die  am  meisten  Vernunft  beeitBen  und  am 
meisten  ihr  folgen.  Insofern  nenne  ich  den  Menschen 
überhaupt  frei,  als  er  der  Vernunft  folgte  weil  er 
nur  dann  yon  Ursachen,  die  sich  bloß  aus  seiner 
Natur  heraus  adäquat  begreifen  lassen,  zum  Handeln 
bestimmt  wird,  wenn  er  auch  von  ihnen  mit  Not- 
wendigkeit zum  Handeln  bestimmt  wird.  Denn  Frei-  10 
heit  hebt  (nach  §  7  d.  Kap.)  die  Notwendigkeit 
nicht  auf;  sondern  setzt  sie  voraus. 

§12. 

Das  einem  anderen  nur  mündlich  gegebene  Ver- 
sprechen, dies  und  jenes  zu  tun,  was  man  nach  eigenem 
Recht  hätte  unterlassen  können,  oder  umgekehrt»  bleibt 
nur  so  lange  in  Kraft,  als  sich  dw  Wüle  des  Ver- 
sprechenden nicht  ändert  Denn  wer  die  Macht  hat, 
Bein  Versprechen  aufzuheben,  hat  sich  in  Wahrheit 
seines  Rechtes  nicht  begeben,  sondern  hat  bloß  Worte  30 
hergegeben.  Sobald  er,  sein  eigener  Richter  nach 
dem  Rechte  der  Natur,  urteilt^  ob  mit  Recht  oder 
Unrecht  —  denn  irren  ist  menschlich  — ^  daß  ihm 
aus  dem  Versprechen  mehr  Schaden  als  Nutzen  er- 
wachse, dann  entscheidet  er  nach  eigenem  Ermessen, 
daß  das  Versprechen  aufzuheben  sei,  und  &c  hebt  es 
auf  nach  dem  Rechte  der  Natur  (nach  §  9  d.  Kap.). 

§13. 

Wenn  zweie  übereinkommen  und  ihre  Kräfte  ver- 
einigen,  so  vermögen  sie  mehr  und  haben  folglich  80 
mehr  Recht  auf  die  Natur,  als  jeder  von  ihnen  für 
sich,  und  je  m^ir  sich  so  zu  einer  Verbindung  zu- 
sammenschließen, desto  mehr  Recht  werden  alle  luiben. 

§14 

So  sehr  die  Menschen  von  Zorn,  Neid  oder  einem 
Affekt  des  Hasses  heimgesucht  werden,  so  sehr  werden 
sie  auch  nach  verschiedotien  Richtongen  hin  gerissen 
und  treten  sich  feindlich  entgegen  und  um  so  mehr  sind 

8  p  i  n  o  B  »,  Abhandlg.  flb.  d.  Verb«8Mrg.  d.  VentaadM.  5 

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•6  Abhandlung  vom  Staate. 

sie  zu  fürchten,  weil  sie  mehr  vermögen  und  schlauer 
und  verchlagener  sind  als  die  übrigen  Wesen.  W^l 
die  Menschen  in  der  Begel  (nach  §  5  vor.  Eap.)  diesen 
Affekten  von  Natur  unterworf m  sind,  so  sind  die 
Menschen  von  Natur  Feindei  Denn  der  ist  mesn 
ärgster  Feind,  den  ich  am  meisten  fürchten  und  vor 
dem  ich  am  meisten  auf  der  Hut  sein  muß. 

§15. 

Da  aber  im  Naturzustand  (nach  §  9  d.  Eap.)  jeder 
10  so  lange  unter  eigenem  Recht  ist^  als  er  sich  vor 
der  Unterdrückung  durch  einen  anderen  bewahren 
kann,  und  da  einer  allein  sich  vergebens  vor  allen 
zu  wahren  strebte,  so  ist  das  natürliche  Recht  des 
Einzelnen,  solange  es  nur  das  des  Einzelnen  ist  und 
durch  seine  Macht  bestimmt  wird,  gleich  Null.  Weil 
es  keine  Sicherheit  seiner  Ek-haltung  gibt^  führt  es 
seine  Existenz  mehr  in  der  Einbildung  als  in  der 
Wirklichkeit  Und  sicherlich  hat  einer  um  so  weniger 
Macht  und  damit  um  so  weniger  Rechte  je  mehr  er 
20  Grund  zur  Furcht  hat  Dazu  kommt^  daß  die  Menschen 
kaum  ohne  gegenseitige  Hülfe  ihr  Leben  fristen  und 
ihren  Geist  ausbilden  können. 

Wir  schließen  daraus,  daß  von  Naturrecht  als 
dem  Menschengeschlecht  eigen  doch  eig^itUch  nur 
da  die  Rede  sein  kann,  wo  (Ue  Menschen  gemeinsame 
Rechte  haben,  wo  sie  zugleich  das  Land,  das  sie  be- 
wohnen und  bebauen  können,  für  sich  sichern,  wo 
sie  sich  schützen  und  alle  Grewalt  zurückweisen  und 
nach  dem  gemeinsamen  Willen  der  Gesamtheit  leben 
ao  können.  Denn  (nach  §  13  d.  Eap.)  je  mehr  sich  so 
vereinigen,  desto  mehr  Recht  haben  sie  insgesamt. 
Wenn  die  Scholastiker  aus  diesem  Grund,  weil  die 
Menschen  im  Naturzustand  kaum  eigenes  Recht  haben 
können,  den  Menschen  ein  geselliges  Tier  nennen 
wollen,  so  habe  ich  nichts  dagegen. 

§16. 

Wo  die  Menschen  gemeinsame  Rechte  haben  und 
alle  sozusagen  einem  Geiste  folgen,  da  hat  sicher 
(nach  §  18  d.  Eap.)  der  einzelne  um  so  weniger  Recht, 


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2.  Kapitel.    Vom  Natorrecht  67 

als  die  ührigem  iDsgeeamt  ihm  an  Macht  überlegen 
sind,  d.  k  er  hat  in  Wahrheit  nur  so  viel  Recht  auf 
die  Natur,  ab  das  gemeinaame  Hecht  ihm  Kageeteht 
Im  übrigen  ist  er  gehalten,  das  auszuführen,  was  ihm 
der  überdnstimmende  Wille  der  Gesamtheit  gebietet, 
oder  er  kann  (nach  §  4  d.  Kap.)  durch  das  Recht 
dazu  gezwungen  werden. 

§17. 

Dieses  Recht,  das  durch  die  Macht  der  Menge  be- 
stimmt wird,  nennt  man  gewöhnlich  Regierung.  Der-  10 
jenige  hat  sie  vollkommen  in  Händen,  der  nach  dem 
übereinstimmenden  Willen  der  Gesamtheit  die  Sorge 
um  das  Gemeinwesen  hat,  nämlich  das  Recht,  Gesetze 
zu  geben,  auszulegen  und  abzuschaffen,  Städte  zu 
befestigen,  über  Krieg  und  Frieden  zu  entscheiden 
u.  8.  w.  liegt  diese  Sorge  einer  Versammlung  ob, 
die  aus  dem  gesamten  Volke  zusammengesetzt  wird, 
80  nennt  man  die  Regierung  Demokratie;  besteht 
sie  bloß  aus  ^nigen  Auserwählten,  so  nennt  man  sie 
Aristokratie,  mMi  wenn  die  Sorge  für  das  Gemein-  20 
wesen  und  demnach  die  Regierung  einem  anvertraut 
ist,  Monarchie. 

§18. 

Aus  dem  in  diesem  Kapitel  Dargelegten  wird  es 
uns  klar,  daß  es  im  Naturzustande  keine  Sünde  geben 
kann,  oder  wenn  einer  sündigt,  so  tut  er  es  gegen 
sich,  nicht  gegen  einen  anderen.  Bs  ist  ja  nach  dem 
Naturrechte  niemand  gehalten,  wenn  er  nicht  will, 
einem  anderen  zu  wiU&hren  und  etwas  für  gut  oder 
schlecht  zu  halten,  als  was  er  nach  seinem  eigenen  30 
Sinne  für  gut  oder  schlecht  erkennt.  Das  Naturrecht 
verbietet  absolut  nichts  als  das,  was  man  nicht  kann 
(b.  §§  5  und  8  d.  Kap.).  Sünde  ist  aber  eine  Hand- 
lung, die  nicht  mit  Recht  geschehen  kann.  Wären 
die  Menschen  durch  Naturgesetz  gehalten,  der  Ver- 
nunft zu  folgen,  so  würden  eben  alle  notwendig  der 
Vernunft  folgen.  Denn  Naturgesetze  sind  Gesetze 
Gottes  (nach  §§  2  und  3  d.  Kap.),  die  Gott  mit  der- 
selben Freiheit  gesetzt  hat,  mit  der  ^  existiert,  die 


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68  AbhaDdliinir  Tom  StMte. 

also  aus  der  Notwendigkeit  der  götUichen  Natur 
folgen  (s.  §  7  d.  Kap.)  und  demnach  ewig  sind  und 
nicnt  vierletzt  werden  können.  Die  Menschen  folgen 
aber  meistens  der  Begierde  und  nicht  der  Vemanft, 
ohne  jedoch  die  Ordnung  der  Natur  za  stören,  sondern 
sie  mit  Notwendigkeit  erfüllend.  Bin  dummer  tmd 
geistesschwacher  Mensch  ist  daher  durch  das  Nator- 
recht  so  wenig  verpflichtet^  sein  Leben  weise  einza- 
richten,  wie  ein  Kranker  verpflichtet  isty  einen  ge- 
10  sunden  Körper  zu  haben. 


§19. 

Sünde  ist  deshalb  nur  im  Staate  denkbar,  wo 
das  gemeinsame  Recht  des  ganzen  Staates  über  gut 
und  Döse  entscheidet,  und  wo  niemand  (nach  §  16 
d.  Kap.)  etwas  mit  Recht  tut,  außer  was  er  auf  Be- 
schluß oder  mit  Zustimmung  der  Gesamtheit  tut  Denn 
das  ist  (nach  dem  vor.  §)  Sünde,  was  nicht  mit  Recht 
geschehen  kann  oder  was  das  Recht  verbietet  Gro- 
borsam  aber  ist  der  bestandige  Wille,  das  auszuführen, 
20  was  dem  Rechte  nach  gut  ist  und  was  auf  Beschluß 
der  Gesamtheit  geschehen  muß. 


§20. 

Wir  pflege  aber  auch  das  Sünde  zu  n^meo,  was 
gegen  das  Gebot  der  gesunden  Vernunft  geschieht, 
und  Gehorsam  den  beständigen  Willen,  die  Bmerden 
nach  der  Vorschrift  der  Vernunft  zu  zügeln.  Ich  hätte 
schon  nichts  dagegen,  w^n  die  m^ischliche  Freikeit 
in  der  Zügelloaigkeit  der  Begierden  und  Unfreiheit  in 
der  Herrschaft  der  Vernunft  bestünde.  WeU  aber  die 
80  m^Mchliohe  Freiheit  um  so  größer  ist»  je  mehr  der 
Mensch  von  der  Vernunft  sidi  leiten  iäßt  und  seine 
Begierden  zügebi  kann,  so  können  wir  nur  sehr  un- 
eigenäich  daa  vernunftgemäße  Leben  Gehfirsam  neimen 
mä  Sünde  das,  was  in  Wahrheit  eine  SchwSdie  des 
Geistes  ist,  aber  keine  Zügellosigkeit^  und  m  An- 
sehung dessen  der  Mensch  eher  unfrei  aJa  frei  ge- 
nannt werden  kann  (s.  §§  7  und  11  d.  Kap.). 


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2.  K^iitel.    Vom  Nstarrecht  69 

§21. 

Da  aber  die  Vernunft  uns  lehrt,  Frömmigkeit  z\x 
üben  und  ruhigen  und  guten  Sinnes  zu  sein,  was  eben 
nur  im  Staate  möglich  isty  und  da  außerdem  nur 
dann  die  Menge  gleichsam  einem  Greiste  folgt,  wie  es 
der  Staat  erfordert^  wenn  sie  Gesetae  hat^  die  nach 
der  Vorschrift  der  Vernunft  verordnet  sind,  so  haben 
die  Menschen,  gewohnt  im  Staate  zu  leben,  gar  nicht 
so  nneig^tlich  das  Sünde  genannt,  was  gegen 
das  Grebot  der  Venunft  geschieht^  denn  die  Gesetze  10 
des  besten  Staates  müssen  |a  (s.  §  18  d.  Kap.)  nach 
iem  Gebote  der  Vernunft  verordnet  sein.  Den  Grund 
aber,  warum  ich  sagen  konnte  (§  18  d.  Kap.),  der 
Mensch  sündige  Im  Naturzustand  gegen  sich,  wenn  er 
sündige,  darüber  vgl.  Kap.  4  §§  4  und  5,  wo  gezeigt 
wird,  in  welchem  Sinne  wir  sagen  könn^  derjenige, 
der  die  Regierungsgewalt  innehat  und  das  Natur- 
recht auf  seiner  Seite,  werde  durch  Gesetze  gebunden 
und  könne  sündigen. 

§  22.  90 

Was  die  Religion  betrifft,  so  ist  es  ebenfalls 
gewiß,  daß  der  Mensch  um  so  frei^  und  am  meisten 
mit  sich  einig  ist,  je  mehr  er  Gott  liebt  und  ihn  lauteren 
Sinnes  verehrt  Achten  wir  aber  nicht  auf  die  uns 
unbekannte  Ordnung  der  Natur,  sondern  bloß  auf 
die  Gebote  der  Vernunft,  die  die  Religion  betreffen, 
und  bedenken  wir  dabei,  daß  Gott  sie  offenbart  gleich- 
sam in  uns  selbst  redend  oder  daß  er  sie  den  Pro- 
pheten wie  Gesetze  offenbart  hat,  dann  werden  wir, 
um  nach  menschlicher  Weise  zu  reden,  sagen:  der  30 
Mensch  sei  Gott  gehorsam,  wenn  er  ihn  mit  ganzer 
Seele  liebt,  er  süiäige  aber,  wenn  er  der  blinden  Be- 
gierde folgt  Wir  dürfen  aber  dabei  nie  vergessen, 
daß  wir  in  Gottes  Macht  stehen,  wie  der  Ton  in  der 
Macht  des  Töpfers,  der  aus  derselben  Masse  Gefäße 
zu  Ehre  und  Unehre  bildet,  und  daß  der  Mensch  dem- 
nach wohl  den  Ratschlüssen  Gottes  entgegenhandeln 
kann,  wie  sie  in  unserem  oder  der  Propheten  Geiste 
gleich    Gesetzen   eingeschrieben   sind,    aber   niemals 


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70  AbhaDdluDg  Tom  Staate. 

dem  ewigen  Ratschluß  Gottes»  der  der  gesamten  Natur 
eingeschrieben  ist  und  für  die  Ordnxmg  der  ganzen 
Natur  gilt 

§23. 

Wie  also  streng  genommen  von  Sünde  and  Ge- 
horsam»  so  kann  auch  von  Gerechtigkeit  und  Unge- 
rechtigkeit nnr  im  Staate  die  Rede  sein.  Denn  in 
der  Natur  gibt  es  nichts,  von  dem  man  mit  Recht 
sagen  konnte,  es  g^öre  diesem  und  nicht  dnem 
10  anderen;  vielmehr  gehört  alles  allen,  wenn  sie  näm- 
lich die  Macht  haben,  es  für  sich  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Im  Staate  aber,  wo  es  sich  nach  dem  ge- 
meinsamen Recht  entscheidet,  was  diesem  und  was 
jenem  eigen  wird,  da  heißt  gerecht»  wer  den  be- 
standigen Willen  hat,  jedem  das  Seine  zukommen  zu 
lassen,  ungerecht  dagegen,  wer  das  einem  anderen 
Gehörende  sich  zu  eigen  zu  machen  sucht 

§24 

Übrigens  habe  ich  in  meiner  Bthik  auseinander- 
20  gesetzt,  daß  Lob  und  Tadel  Affekte  der  Lust  und 
Unlust  sind,  begleitet  von  der  Idee  der  menschlichen 
Tüchtigkeit  oder  Schwäche  als  ihrer  Ursache. 


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Drittes  Kapitel. 

Die  Form  eines  jeden  politischen  Verbandes  (im- 
perium)  bezeichnet  man  als  Staatsverfassung  (Sta- 
tus civilis),  den  Gesamtkörper  des  Verbandes  als  Staat 
(civitas);  die  gemeinsamen  Regiernngs^eschäfte»  die 
von  der  Leitung  des  Inhabers  der  Regierungsgewalt 
abhangen,  heilten  Gemeinwesen.  Die  Menschen  so- 
dann heißen,  soweit  sie  nach  dem  bürgerlichen  Recht 
alle  Vorteile  des  Staates  genießen,  Bürger;  Unter-  10 
tanen  heißen  sie,  soweit  sie  gehalten  sind,  den  ESn- 
richtongen  und  Gesetzen  des  Staates  zu  gehorchen. 
Staatsverfassungen  schließlich  gibt  es  nacn  §  17  d. 
vor.  Kap.  dreie:  die  demokratische,,  die  aristokratische 
und  die  monarchische.  Ehe  ich  nun  über  jede  ins- 
besondere lEU  handeln  beginne,  will  ich  erst  das  aus- 
einandersetzen, was  zur  Staatsverfassung  im  allge- 
meinen gehört  Vor  allem  kommt  hier  das  höchste 
Recht  des  Staates  oder  der  höchsten  Gewal- 
ten in  Betracht  20 

§2. 

Nach  §  15  d.  vor.  Kap.  ist  das  Recht  der  Regie- 
rung oder  der  höchsten  Gewalten  nichts  anderes  als 
das  Naturrecht  selbst  das  durch  die  Macht  nicht 
eines  einzelnen,  sondern  der  wie  von  einem  Greiste 
geleiteten  Menge  bestimmt  wird,  d.  h.  wie  der 
einzelne  im  Naturzustande,  so  besitzt  auch  der  Körper 
und  der  Geist  einer  ganzen  Regierung  so  viel  Recht 
wie  er  Macht  hat  Der  einzelne  Bürger  oder  Unter- 
tan hat  um  so  viel  weniger  Recht,  als  der  Staat  ihm  an.  ao 
Macht  überlegen  ist  (s.  §  16  d.  vor.  Kap.);  folglich 

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72  Abhandlosg  vom  Staate. 

tut  und  besitzt  jeder  Bürger  nur  das  mit  Recht,  was 
er  auf  Grund  gemeinsamen  Staatsbesclüusses  verant- 
worten kann. 

§3. 

Wenn  der  Staat  einem  das  Recht  und  folglich 
auch  die  Macht  einräumt  —  denn  sonst  hat  er  ihm 
nach  §  12  d.  vor.  Kap.  bloß  Worte  gegeben  —  nach 
seinem  Sinne  zu  leben,  so  be^bt  er  sich  damit  seinoB 
Rechtes  und  überträgt  es  auf  jenen,  dem  er  eine  solche 

10  Macht  gab.  Hat  er  aber  zweien  oder  mehreren  diese 
Macht  gegeben,  daß  jeder  von  ihnen  nach  seinem 
Sinne  lebe,  dann  hat  er  damit  die  Regierung  geteilt 
Wenn  er  endlich  jedem  Bürger  diese  Macht  gab,  so 
hat  er  damit  sich  selbst  zerstört  und  bleibt  kein  Staat 
mehr.  Vielmehr  kdirt  dann  alles  in  den  Natur- 
zustand zurück,  wie  ganz  offenbar  aus  dem  Obigen 
hervorgeht 

D^alb  ist  es  auf  keine  Weise  denkbar,  daß  es 
nach  dem  Staatsgrundgeeetz  einem  jeden  Bürger  er- 

20  laubt  wär^  nach  seinem  eigenen  Sinn  zu  leben,  and 
folglich  hört  das  Naturrecht^  nach  dem  jeder  sein 
eigener  Richter  ist,  im  Staatsleben  notwendig  auf.  Ich 
sage  ausdrücklich  „nach  dem  Staatsgrundgeset«*',  denn 
das  Naturrecht  des  einzelnen  hört  richtig  bedacht  im 
Staatsleben  nicht  auf.  Der  Mensch  handelt  im  natür- 
lichen wie  im  staatlichen  Zustand  nach  den  Gesetesen 
seiner  Natur  und  ist  auf  seinen  Vorteil  bedacht  Im 
einen  wie  im  anderen  Zustande  wird  der  Mensch  von 
Hoffnung  oder  Furcht  geleitet,  dies  zu  tun  oder  jenes 

80  zu  unterlassen.  Der  Hauptunterschied  zwischen  den 
beiden  Zuständen  besteht  aber  darin,  daß  im  Staats- 
leben alle  denselben  Gegenstand  der  Furcht  haben 
und  alle  ein  und  denselben  Grund  der  Sicherheit  und 
eine  und  dieselbe  Liebensweise^  was  gewiß  nicht  die 
Urteilsfähigkeit  des  einzelnen  aufhebt  Denn  wer  sich 
vorgenommen  hat,  allen  Geboten  des  Staates  zu  ge- 
horchen, sei  es  aus  Furcht  vor  seiner  Macht  oder  aus 
Liebe  zur  Ruhe,  der  ist  doch  wahrhaftig  auf  seine 
Sicherheit  und  seinen  Vorteil  nach  seinem  Sinne  be- 

40  dacht 


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3.  Kapitel.     Vom  Recht  des  Staaten.  78 

§4. 

Undenkbar  ist  es  ferner,  daß  es  jedem  Bürger 
frei  stünde,  die  Beschlüsse  und  Gesetze  des  Staates 
zu  interpretieren.  Denn  wenn  das  einem  jeden  er- 
laubt wäre,  so  wäre  er  ja  damit  sein  eigene  Richter. 
Dann  könnte  jeder  mühelos  seine  H»idlnngen  mit 
einem  Schein  des  Rechtes  entschuldigen  oder  be- 
schönigen und  könnte  dadurch  swi  Leben  nach  seinem 
Sinne  einrichten,  was  (nach  d.  vor.  §)  widersinnig  ist. 

§5.  10 

Wir  ersehen  daraus:  Jeder  Bürger  steht  nicht 
unter  seinem  eigenen,  sondern  unter  dem  Rechte  des 
Staates,  dessen  Gebote  er  gehalten  ist  zu  befolgen. 
Eh*  hat  kein  Recht,  darüber  zu  entscheiden,  was  billig 
und  unbillig,  was  recht  und  unrecht  ist  Weil  viel- 
mehr der  Staatskörper  wie  von  einem  Geiste  geleitet 
werden  muß  und  weil  deshalb  der  Wille  des  Staates 
für  den  Willen  aller  zu  gelten  hat,  so  muß  das,  was 
der  Staat  als  gerecht  und  gut  befindet,  anges^en 
werden,  als  habe  jeder  einzelne  es  so  befunden.  Da-  20 
her  ist  der  Untertan  gehalten,  wenn  er  auch  die  Be- 
schlüsse des  Staates  unbillig  findet,  sie  nichtsdesto- 
weniger auszuführen. 

§6. 

Man  kann  dagegen  einwenden:  ist  es  nicht  gegen 
das  Gebot  der  Vernunft,  sich  vollständig  dem  Urteil 
eines  anderen  zu  unterwerfen,  und  widwstreitet  des- 
halb nicht  das  Staatsleben  der  Vernunft?  Daraus 
wäre  zu  folgern,  daß  das  Staatsleben  unvernünftig 
sei  und  daß  nur  Menschen,  die  der  Vernunft  bar  seien,  80 
es  schaffen  könnten,  keinesfalls  solche,  die  der  Ver- 
nunft folgten.  Weil  aber  die  Vernunft  nichts  Wider- 
natürliches lehrt,  so  kann  die  gesunde  Vernunft  nicht 
vorschreiben,  daß  jeder  sein  eigenes  Recht  behaupten 
solle,  solange  die  Menschen  den  Leidenschaften  unter- 
worfen sind  (nach  §  15  d.  vor.  Kap.),  d.  h.  (nach 
Kap.  1  §  5)  die  Vernunft  erklärt  es  für  unmöglich. 


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74  Abhandlang  vom  Staate. 

Zudem  lehrt  überhaupt  die  Vernunft»  den  Frieden  zu 
suchen,  der  sich  freilich  nur  aufrecht  halten  laßt, 
wenn  die  gemeinsamen  Rechte  des  Staates  unverletzt 
bleiben.  Je  mehr  daher  ein  Mensch  i&c  Vernunft  fol^ 
d.  h.  (nach  §  11  d.  vor.  Kap.)  je  fraer  er  ist,  desto 
fester  wird  er  die  Rechte  des  Staates  beobachten  und 
die  Gebote  der  höchsten  Gewalt,  deren  Untertan  er 
ist,  befolgen.  Dazu  kommt  noch,  daß  das  Staats- 
leben  seiner  Natur  nach  begründet  wird,  um  die  ge- 

10  meinsame  Furcht  zu  beseitigen  und  das  gemeinsame 
Übel  abzuwehren.  Dah^  ist  sein  Hauptzweck  nichts 
anderes,  als  was  auch  der  einzelne  von  der  Vernunft 
geleitet  im  Naturzustände^  freilich  vergebens,  ver- 
suchen würde  (nach  §  16  d.  vor.  Kap.).  Wenn  daher 
einmal  ein  von  der  Vernunft  geleiteter  Mensch  auf 
das  Gebot  des  Staates  hin  etwas  tun  muß,  was  er  ids 
widervemünftig  erkennt,  so  wird  dieser  Schaden  bei 
weitem  durch  das  Gnte  aufgewogen,  das  gerade  aus 
dem  Staatsleben  hervorgeht.   Es  ist  ]a  doch  auch  ein 

20  Gesetz  der  Vernunft»  daß  man  von  zwei  Übeln  das 
kleinere  wählen  solle.  Daher  dürfen  wir  schon  den 
Schluß  ziehen,  daß  man  nichts  gegen  die  Vorschrift 
der  Vernunft  tut,  wenn  man  das  tat,  was  man  nach 
dem  Recht  des  Staates  tun  muß.  Das  wird  mir  jeder 
zugeben,  wenn  ich  erklärt  habe^  wie  weit  die  Macht 
und  damit  das  Recht  des  Staates  geht 

§7. 

Denn  in  erster  Linie  kommt  in  Betracht,  daß  ge- 
rade so  wie  im  Naturzustande  (nach  §  11  d.  vor. 

30  Kap.)  derjenige  Mensch  am  meisten  vermag  und  am 
meisten  sein  Recht  behauptet,  der  sich  von  der  Ver- 
nunft leiten  läßt,  daß  ebenso  der  Staat  am  meisten 
Macht  haben  und  am  meisten  sein  Recht  behaupten 
wird^  der  mit  Vernunft  begründet  und  mit  Vernunft 
geleitet  wird.  Denn  das  Recht  des  Staates  bestimmt 
sich  nach  der  Macht  der  Menge,  die  wie  von  einem 
Geiste  geleitet  wird.  Diese  geistige  Eiinhdt  ist  aber 
nur  denkbar,  wenn  der  Staat  das  am  meisten  bezweckt» 
was  die  gesunde  Vernunft  allen  Menschen  als  nütz- 

40  lieh  empfiehlt 


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3.  Kapitel.    Vom  Beoht  des  Sfawtes.  75 

§8. 

Weiter  kommt  in  Betracht,  daß  die  Untertanen 
80  weit  nicht  unter  eigenem,  sondern  unter  dem  Rechte 
des  Staates  stehen,  als  sie  seine  Macht  oder  seine 
Drohungen  fürchten  oder  als  sie  das  Staatsleben 
lieben  (nach  §  10  d.  vor.  Kap.).  Infolgedessen  gehört 
alles,  wozu  man  weder  durch  Belohnungen  noch  durch 
Drohungen  gebracht  werden  kann,  nicht  in  die  Rechts- 
sphare  des  Staates.  So  kann  z.  B.  sich  niemand  seines 
Urteilsvermögens  begeben.  Denn  welche  Belohnungen  10 
oder  Drohungen  können  einen  Menschen  zum  Glauben 
bringen,  daß  das  Ganze  nicht  größer  sei  als  sein  Teil, 
oder  daß  Gott  nicht  existiere,  odw  daß  ein  Körper, 
den  er  begrenzt  sieht,  ein  unendliches  Wesen  sei, 
mit  einem  Wort,  daß  er  etwas  seinem  Eimpfinden  oder 
Denken  Widerstreitendes  annimmt?  ESbenso  durch 
welche  Belohnungen  oder  Drohungen  kann  ein  Mensch 
dahin  gebracht  werden,  zu  licmn,  wen  er  haßt, 
und  zu  hassen,  wen  er  liebt?  Hierher  gehört  auch, 
was  die  menschliche  Natur  so  verabscheut,  daß  es  20 
ihr  schlimmer  gilt  als  jedes  Übel,  nämlich  daß  ein 
Mensch  Zeugnis  wider  sich  ablegt,  daß  er  sich  martert, 
seine  Eltern  ermordet,  dem  Tod  nicht  za  entgehen 
sucht  und  ähnliches,  wozu  sich  nie  ein  Mensch  durch 
Belohnungen  oder  Drohungen  bewegen  läßt  Wollten 
wir  trotzdem  sagen,  der  Staat  habe  das  Recht  oder  die 
MacJit,  derartiges  zu  befehlen,  so  wäre  es  nur  in  dem 
Sinne  denkbar,  in  dem  man  sagen  könnte,  der  Mensch 
habe  das  Recht,  verrückt  zu  sein  und  zu  rasen.  Denn 
was  wäre  ein  Recht»  an  das  niemand  gebunden  sein  30 
kann,  anders  als  WaJmsinn? 

Ich  rede  hier  ausdrücklich  von  dem,  was  nicht 
in  die  Rechtssphäre  des  Staates  fallen  kann  und  was 
die  menschliche  Natur  zumeist  verabscheut.  Denn 
weil  ein  Tor  oder  ein  Narr  durch  keine  Belohnungen 
und  Drohungen  dazu  gebracht  werden  kann,  die  Ge- 
setze zu  befolgen,  und  weil  der  eine  oder  andere  als 
Anhänger  dieser  oder  jener  Sekte  die  Rechte  des 
Staates  für  schlimmer  als  jedes  Übel  hält»  so  sind 
diese  Rechte  des  Staates  deshalb  doch  nicht  ungültig;  40 
denn  die  meisten  Bürger  halten  sich  ja  durch  sie  ge- 

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76  Abhandlung  vom  Staate. 

blinden.  Weil  demnach  jene,  die  nichts  fürchten  und 
nichts  hoffen,  darin  ihr  eigenes  Recht  behaupten  (nach 
§  10  d.  vor.  Kap.)»  deahalb  sind  sie  (nach  §  14  d.  vor. 
Kap.)  Feinde  des  Staates  und  dürfen  mit  Recht  im 
Zaum  gehalten  werden. 

§9. 

Schließlich  kommt  in  Betracht^  daß  zum  Recht 
des  Staates  das  am  wenigsten  gehören  kann,  was 
die  Mehrzahl  mit  Unwillen  erfüllt    Denn  sicherlich 

10  liegt  es  in  der  Natur  der  Menschen,  sich  zu  ver- 
schwören, entweder  aus  gemeinsamer  Furcht  oder  in 
dem  Wunsche,  eine  gemeinsam  erlittene  Unbill  zu 
rächen.  Weil  sich  das  Recht  des  Staates  nach  der 
gcfflieinsamen  Macht  der  Menge  bestimmt^  so  ver- 
mindert sich  sicher  die  Macht  und  das  Recht  des 
Staates  in  dem  Maße,  in  dem  er  Veranlassung  gibt, 
daß  sich  viele  verschworen.  Der  Staat  hat  gewiß 
manches  für  sich  zu  fürchten,  und  gerade  wie  der 
einzelne  Bürger  oder  der  Mensch  im  Naturzustande, 

20  so  ist  auch  der  Staat  um  so  weniger  im  Besitze  seines 
eigenen  Rechtes,  als  er  Grund  zur  Furcht  hat 

Soviel  vom  Recht  der  höchsten  Gewalten  gegen 
die  Untertanen.  Ehe  ich  von  ihrem  Rechte  gegen 
andere  spreche,  muß  wohl  noch  die  lYage  beantwortet 
werden,  die  sich  über  die  Religion  zu  erheben  pflegt 

§  10. 

Man  könnte  mir  nämlich  einwerfen,  ob  nicht  das 
Staatsleben  und  der,  wie  ich  zeigte,  im  Staatsleben 
von  den  Untertanen  verlangte  Gehorsam  die  Religion 
80  aufhebe,  die  von  uns  die  Verehrung  Gottes  fordert 
Erwägen  wir  aber  die  Sache  an  sich,  so  werden  wir 
nichts  finden,  das  uns  Bedenken  einflöß^i  könnte. 
Denn  der  Geist,  sofern  er  die  Vernunft  gebraucht^ 
ist  nicht  unter  dem  Recht  der  höchsten  Gewalten, 
sondern  unter  eigenem  Recht  (nach  §  11  d.  vor.  Kap.). 
Somit  kann  die  wahre  Bekenntnis  Gottes  und  die  Liebe 
zu  ihm  niemandes  Herrschaft  unterworfen  werden 
und  ebensowenig  die  Nächstenliebe  (nach  §  8  d.  Kap.). 


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8.  Kapitel.     Vom  Reohl  des  Staates.  77 

Ziehen  wir  noch  in  Betracht,  daß  die  höchste  Übung 
der  Liebe  in  dem  besteht,  was  man  zum  Schutze  des 
Friedens  und  zur  Herstellung  der  Eintracht  tut,  dann 
werden  wir  nicht  daran  zweifeln,  daß  der  wahrhaft 
seine  Pflicht  erfüllt,  der  jedem  so  viel  Beistand  leistet, 
als  die  Rechte  des  Staates,  d.  h.  fSntracht  und  Ruhe 
es  gestatten. 

Was  den  äußeren  Kult  angeht,  so  kann  er  sicher 
für  die  wahre  EIrkenntnis  Gottes  und  die  daraus  fol- 
gende Liebe  weder  von  Nutzen  noch  von  Schaden  sein,  10 
und  er  kann  nicht  von  solcher  Bedeutung  sein,  daß 
seinetwegen  es  sich  verlohnte,  Frieden  und  Ruhe  des 
Staates  zu  stören.  Übrigens  Ist  es  gewiß,  daß  ich  nach 
dem  Rechte  der  Natur,  d.  h.  (nach  §  3  d.  vor.  Kap.) 
nach  göttlichem  Ratschluß  kein  Verfechter  der  Re- 
ligion bin,  denn  mir  ward  nicht  wie  einst  den  Jüngern 
Christi  die  Macht,  unreine  Geister  auszutreiben  und 
Wunder  zu  tun,  und  dieser  Macht  bedarf  es  doch  für- 
wahr, um  die  Religion  dort  zu  verbreiten,  wo  sie  ver- 
boten ist,  soll  nichts  wie  man  sagt,  Hopfen  und  Malz  20 
verloren  sein,  ja  soll  nicht  obendrein  noch  gar  viel 
Unheil  daraus  erwachsen,  wovon  alle  Jahrhunderte 
die  traurigsten  Beispiele  sahen.  Jeder  kann,  wo  er 
auch  sei,  Gott  in  wahrer  Religion  verehren  und  für 
sich  sorgen,  wie  es  eines  Privatmannes  Pflicht  ist. 
Im  übrigen  soll  man  die  Sorge  für  die  Ausbreitung 
der  Religion  Gott  überlassen  oder  den  höchsten  Ge- 
walten, denen  allein  die  Sorge  für  daa  Gemeinwesen 
obliegt  Doch  nun  kehre  ich  zu  meiner  Aufgabe 
zurück.  80 

§11. 

Nach  der  Auseinandersetzung  über  das  Recht  der 
höchsten  Gewalten  gegenüber  den  Bürgern  und  über 
die  Pflicht  der  Untertanen  bleibt  noch  das  Recht 
jener  in  den  übrigen  Beziehungen  zu  betrachten,  das 
sich  aus  dem  Gesagten  leicht  erkennen  läßt.  Denn 
weil  (nach  §  2  d.  &tp.)  das  Recht  der  höchsten  Ge- 
walt eben  das  Naturrecht  ist,  so  haben  folglich  zwei 
Begiemngen  eine  analoge  Stellung  gegeneinander  wie 
zwei  Menschen  im  Naturzustand.  Der  einzige  Unter-  40 
schied  besteht  darin,  daß  der  Staat  sich  vor  der  Unter- 


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78  AbbftDdluDg  vom  Staate. 

drückung  durch  einen  andern  hüten  kann,  was  dem 
Menschen  im  Naturzustände  nicht  möglich  ist;  denn 
ihn  beschwert  ]a  taglich  der  Schlaf,  oft  Krankheit  und 
Kmnmemis,  am  Ende  das  Alter,  und  noch  andwesi 
Beschwerden  ist  er  unterworfen,  vor  denen  der  Staat 
sich  sichern  kann. 

§12. 

Der  Staat  ist  also  so  weit  unter  eigenem  Recht, 
als  er  für  sich  sorgen  und  sich  vor  der  Unterdrückung 

10  durch  einen  anderen  Staat  hüten  kann  (nach  §§  9 
und  15  d.  vor.  Kap.).  Er  ist  (nach  §§  10  und  16  d. 
vor.  Kap.)  so  weit  dem  Rechte  eines  anderen  unter- 
worfen, als  er  die  Macht  eines  anderen  Staates  zn 
fürchten  hat  oder  als  er  von  diesem  an  der  Aus- 
führung seines  Willens  gehindert  wird,  oder  endlich, 
soweit  er  dessen  Hülfe  zu  seiner  Erhaltung  oder  Meh- 
rung bedarl  Denn  ganz  zweifellos  werden  zwei 
Staaten,  die  sich  wechselseitig  ihren  Beistand  leihen 
wollen,  zusanmien  mehr  vermögen  und  folglich  mehr 

20  Recht  haben,  als  der  eine  oder  der  andwe  für  sich 
allein  (s.  §  18  d.  vor.  Kap.). 

§13. 

Das  wird  noch  klarer,  wenn  man  bedenkt;  daß 
zwei  Staaten  von  Natur  Feinde  sind.  Denn  die  Men- 
schen sind  (nach  §  14  d.  vor.  Kap.)  im  Naturzustand 
Feinde.  Diejenigen  also,  die  außerhalb  des  Staates 
das  Naturrecht  beibehalten,  bleiben  Feinde.  Wenn 
daher  der  eine  Staat  gegen  den  anderen  Krieg  führen 
und  die  äußersten  Mittel  anwenden  will,  um  ihn 
80  seinem  Rechte  zu  unterwerfen,  so  hat  er  das  Recht 
dazu,  es  zu  versuchen,  denn  zum  Kriegführen  genügt 
es,  wenn  er  den  Willen  dazu  hat  Über  den  Mieden 
hingegen  kann  er  nichts  bestimmen,  wenn  nicht  der 
WiUe  des  anderen  Staates  darin  einstinmit  Das  Recht 
zum  Kriege  liegt  folglich  in  d^  Hand  jedes  einzelnen 
Staates,  das  Recht  über  den  Frieden  aber  steht  nicht 
bei  einem,  sondern  mindest^is  bei  zwei  Staaten,,  die 
deshalb  verbündet  heißen. 


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3.  Kapitel.     Vom  Recht  des  Staates.  79 

§14. 

Di€66B  Bündnis  bleibt  80  lange  feBt,  als  der  Ver- 
bindungsgrund,  die  Furcht  vor  Schaden  oder  die  Hoff- 
nong  ani  Gewinn  besteht  Kommt  aber  die  eine  oder 
die  andere  für  einen  der  beiden  Staaten  in  Wegfall, 
dajm  bleibt  er  .unter  eigenem  Becht  (nach  §  10  d.  vor. 
I^p.)    und  das  Band»   das  die  Staaten  miteinander 
verknüpfte»  lost  sich  von  selbst.    Danach  hat  jeder 
Staat  das  volle  Jtecht,  ein  Bündnis  nach  Belieben  zu 
lösen,  und  man  kann  ihm  nicht  Hinterlist  oder  Treu-  lO 
lofiigkeit  vorwerfen,  wenn  er  seine  Verpflichtung  auf- 
hebt» sobald  der  Grund  zu  Furcht  oder  Hoffnung  weg- 
gefallen ist  Denn  4i6se  Bedingung  galt  ja  in  gleicher 
Weise  für  die  beiden  Vertragschließenden»  daß  der- 
jenige» der  zuerst  außer  Furcht  sein  könne»  wieder 
dem  eigenen  Recht  unterstellt  sein  solle  und  davon 
nach  Gutdünken  Gebrauch  machen  dürfe.    Außerdem 
geht   man  eine  Verpflichtung  für  die  Zukunft  nur 
unter  der  Voraussetzung  ein»  daß  die  vorangehenden 
Umstände  bestehen  bleiben.    Ändern  sie  sich»  dann  20 
ändert   sich  das  ganze  Verhältnis.    Deshalb  behält 
sich  jeder  der  verbündeten  Staaten  das  Recht  vor, 
seinen  Vorteil  wahrzunehmen,  und  jeder  sucht  nach 
Kräften  frei  von  Furcht  und  dadurch  unter  eigenem 
Recht  zu  bleiben  .und  zu  verhindern»  daß  der  andere 
mächtiger  wird.    Beklagt  sich  also  ein  Staat,  er  sei 
betrogen  worden»  dann  Saxt  er  wirklich  nicht  der  Treu- 
losigkeit des  Verbündeten»  (Sondem  nur  der  eigenen 
Dummheit  die  Schuld  geben»  daß  er  sein  Heil  einem 
anderen  anvertraut  haty   der   unter  eigenem  Recht  30 
steht  und  dem  das  Heil  seiner  Regierung  höchstes 
Gesetz  sein  muß. 

§15. 

Staaten»  die  Frieden  .miteinander  geschlossen 
haben»  steht  das  Recht  zu»  Streitfragen  zu  schlichten» 
die  aus  den  fViedensbedingungen  oder  aus  Gesetzen, 
zu  denen  sie  ^ich  gegenseitig  verpflichtet  haben»  er- 
wachsen können.  Denn  das  Recht  über  den  Frieden 
steht  nicht  bei  einem  Staate»  sondern  bei  den  Ver- 


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80  AbfaADdliing  vom  Staate. 

tragschließenden  in  gleicher  Weise  (nach  §  13  d. 
£ap.)*  Können  sie  sich  über  diese  Fragen  nicht  einigen, 
dann  kehren  sie  eben  in  den  Kriegszostand  zorück. 

§16. 

Je  mehr  Staaten  .zugleich  Frieden  vweinbaren, 
um  so  weniger  haben  sie  v<hi  dem  einzelnen  Staat  zu 
fürchten  oder  um  so  weniger  hat  der  einzelne  die  Ifacht, 
Ejrieg  za  beginnen;  im  &dgenteil  mnß  er  um  so  mehr 
die  Bedingungen  aufrecht  halten,  d.  L  (nach  §  13  d. 
10  Kap.)  er  ist  um  so  weniger  untw  eigenem  Recht  und 
muJQ  sich  um  so  mehr  dem  gemeinsamen  Willen 
der  Verbündeten  anpassen. 

§17. 

Übrigens  wird  die  Treue,  die  die  gesunde  Ver- 
nunft und  die  Religion  zu  wahren  lehrt»  hindurch  in 
keiner  Weise  aufgehoben.  Weder  die  Vernunft,  noch 
die  Schrift  lehrt,  daß  man  jedes  gegebene  Versprechen 
nalten  müsse.  Denn  habe  ich  z.  B.  jemandem  ver- 
sprochen, Geld,  das  er  mir  heimlich  zum  Aufheben 

20  gab,  zu  bewahren,  so  bin  ich  nicht  an  mein  Versprechen 
gebunden,  sobald  ich  erfahren  habe  oder  zu  wissen 
glaube,  daß  er  mir  gestohlenes  Gut  zum  Aufbewahren 
gab;  dann  werde  ich  richtiger  handeln,  wenn  ich  mir 
Mühe  gebe,  es  den  Eigentümern  zurückzuerstatten. 
Eibenso  wenn  die  höchste  Gewalt  einem  anderen  etwas 
versprochen  hat,  wovon  später  Zeit  oder  Überlegung 
lehrte  oder  zu  lehren  schien,  daß  es  dem  gemein- 
samen Wohl  der  Untertanen  zuwider  sei,  dann  ist  sie 
gewiß  verpflichtet,  ihr  Versprechen  aufzuhebeiL  Da 

dO  nun  die  Schrift  nur  im  allgemeinen  lehrt,  Treue 
zu  wahren  und  die  besonderen  Ausnahmefälle  dem 
Urteil  des  einzelnen  überläßt,  so  widerstreitet  das 
eben  Dargelegte  nicht  ihrer  Lehre. 

§18. 

Damit  ich  aber  den  Faden  der  Ausführung  moht 
so  oft  unterbrechen  muß^  um  in  der  Folge  ähnliche 


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3.  KapiteL    Vom  Reeht  des  Staates.  81 

Emwürfe  ans  dem  Wege  sa  iBumen,  so  will  ich  dann 
erinnem,  daß  ich  hier  alles  ans  der  Notwendigkeit 
der  menschlichen  Natur,  wie  man  sie  auch  betrachte, 
nachgewiesen  habe,  nämlich  ans  dem  allgemeinen 
Selbsterhaltangstrieb  der  Menschen,  der  ihnen  allen, 
Weisen  wie  Toren,  innewohnt  Daher  bleibt  es 
das  gleiche,  wie  wir  die  Menschen  betrachten,  ob  als 
von  der  Leidenschaft  oder  als  von  der  Vernunft  ge- 
Idtet,  denn  der  Beweis  ist  wie  gesagt  allgemein 
gültig,  10 


9  p  1  n  o  s  a,  Abluwdlg.  ab.  d.  YwbeMerg.  d.  YentiuMtM.        ^ 

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Viertes  Kapitel. 

§1. 

Im  vorigen  Kapitel  haben  wir  das  Recht  der 
höchsten  Gewalten,  das  sich  nach  ihrer  Macht  be- 
stimmt, dafgetan  und  dabei  gesehen,  wie  es  haupt- 
sächlich darin  besteht,  daß  es  gleichsam  einen  Geist 
der  Regierung  gibt,  dem  alle  folgen  müssen,  daß  dem- 
nach aUein  jene  Gewalten  das  Recht  der  ESatBcheidimg 
haben,  was  gut  und  böse,  was  gerecht  und  ungerecht 
10  ist,  d.  h.  was  die  einzelnen,  oder  alle  insgesamt  zu 
tun  oder  zu  lassen  haben.  Wir  haben  also  gesehen, 
daß  ihnen  allein  das  Recht  zusteht,  Gesetze  zu  geben 
und  sie»  falls  ein  Streit  darüber  entsteht,  im  Einzel- 
fall auszulegen  und  zu  entscheiden,  ob  ein  gegebener 
Fall  den  Gesetzen  gemäß  oder  zuwider  ist  (s.  §§  8,  4, 
5  d.  vor.  Kap.);  ferner  das  Recht,  Krieg  zu  beginnen, 
Friedensbedingungen  zu  bestimmen,  anzubietra  oder 
angebotene  anzunehmen  (s.  §§  12  und  13  d.  vor.  Kap.). 

§2. 

20  Da  dies  alles  mit  den  zur  Ausführung  erforder- 
lichen Mitteln  Geschäfte  sind,  die  den  gesamt»  Re- 
gierungskörper, d.  h.  die  das  Gem^wesen  ang^en, 
so  wird  folglich  das  Gemeinwesen  von  der  Leitung 
dessen  abhängen,  der  der  Inhaber  der  höchsten  Re- 
gierungsgewalt ist  Daraus  folgt  weiter,  daß  allein 
der  höchsten  Gewalt  das  Recht  zusteht,  über  die  Hand- 
lungen des  einzelnen  zu  richten,  über  die  Handlungen 
eines  jeden  Rechenschaft  zu  fordern,  die  Fehlenden 
zur  Strafe  zu  ziehen,  Rechtsstreitigkeiten  der  Bürger 

30  zu  schlichten  oder  Gesetzeskundige  zu  bestellen,  die 


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4.  Kapitel    Vom  Recht  der  Obrigkeit.  83 

es  an  ihrer  Stelle  beeorgen.  Ferner  hat  sie  das  Recht, 
alle  Mittel  für  Krieg  und  Frieden  za  handhaben  und 
in  Anafühnmg  zu  bringen,  nämlich  Städte  za  gründen 
imd  za  befestigen,  Söldner  anzuwerben,  die  mili- 
tärischen Ämter  zu  vergeben,  was  sie  getan  wissen 
will,  zu  befehlen,  Friedepegeeandte  abzuschicken  und 
anzuhören  und  endlich,  die  Kosten  für  das  alles  zu  er- 
heben. 

§3. 

Da  also  allein  der  höchsten  Gewalt  das  Recht  zu-  10 
steht»  die  Staatsgeschäfte  zu  betreiben  oder  Beamte 
didür  auszuwählen,  so  ist  es  folglich  eine  Anmaßung 
der  Regierungsgewalt»  wenn  ein  Untertan  bloß  nach 
seinem  Ermessen,  ohne  Wissen  des  höchsten  Rates 
an  irgend  ein  Staatsgeschäft  herantritt»  mag  &c  immer- 
hin geglaubt  haben,  daß»  was  er  zu  tun  beabsichtigte, 
dem  Staat  von  höchstem  Nutzen  sein  werde. 

§4. 

Man  wirft  gewöhnlich  die  Frage  auf,  ob  die 
höchste  Gewalt  an  Gesetze  gebunden  sei  und  ob  sie  20 
demnach  sich  vergehen  könne.  Da  aber  die  Worte 
Gesetz  und  Vergehen  nicht  bloß  auf  die  Rechte  des 
Staates,  sondern  auf  die  gemeingültigen  Regeln  aller 
natürlichen  Dinse^  in  erster  Linie  auf  die  der  Ver- 
nunft gewöhnlich  bezogen  werden,  so  darf  man  nicht 
schlechthin  sagen,  der  Staat  sei  an  keine  Gesetze  ge- 
bunden und  könne  sich  nicht  vergeh«[L  Denn  wran 
der  Staat  nicht  an  Gesetze  oder  Regeln  gebunden  ' 
wäre,  ohne  die  er  eben  nicht  Staat  wäre,  dami  müßte 
man  ihn  nicht  für  ein  natürliches  Ding,  sondern  für  30 
eine  Chimäre  halten.  Der  Staat  vergeht  sich  abo, 
wenn  er  tut  oder  geschehen  läßt»  was  die  Ursache 
seines  Untergangs  sein  kann.  Das  nennen  wir  dann 
in  demselben  Sinne  vergehen,  in  dem  die  Philosophen 
oder  Mediziner  von  der  Natur  sagen,  sie  fehle.  In 
diesem  Sinne  können  wir  vom  Staat  sagen,  daß  er 
sich  vergeht,  wenn  er  etwas  gegen  das  Gebot  der 
Vernunft  tut  Denn  der  Staat  ist  dann  am  meisten 
Herr  seines  Rechtes,  wenn  ex  nach  dem  Gebot  der 
Vernunft  handelt  (nach  §  7  d.  vor.  Kap.).   Sofern  er  40 

6* 

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64  Abhandlung  vom  Staute. 

also  gegen  die  Vernunft  handelt,  wird  er  sich  selbst 
aniren  und  vergeht  sich. 

Das  wird  noch  klarer,  wenn  wir  folgendes  in  Be- 
tracht ziehen:  sagen  wir,  es  könne  ein^  über  eine 
Sache,  die  in  seiner  Gewalt  ist»  verfügen,  wie  er 
wolle^  so  wird  diese  Macht  nicht  nur  durch  das  Ver- 
mögen des  handelnden,  sondern  auch  durch  die  Fähig- 
keit des  leidenden  Teils  bestimmt.  Sage  ich  z.  B.,  ich 
habe  das  Becht^  mit  diesem  Tisch  zu  machen»  was  ich 

10  will,  so  meine  ich  doch  weiß  Gott  nicht»  daß  ich  das 
Becht  habe,  zu  machen,  daß  der  Tisch  Gras  frißt 
Ebenso  ist  es,  wenn  wir  sagen,  die  Menschen  stünden 
nicht  unter  eigenem  Bech^  sondern  unt^  dem  des 
Staates.  Damit  meinen  wir  nicht,  daß  die  Menschen 
ihre  Menschennatur  verlieren  und  eine  andere  an- 
nehmen, und  daß  daher  der  Staat  machen  dürfe» 
daß  die  Menschen  fliegen  oder,  was  gerade  so  un- 
möglich ist,  daß  sie  das  mit  E2hrfurcnt  betrachten, 
was  Lachen  oder  Ekel  erregt   Wir  meinen  vielmehr, 

20  daß  es  gewisse  Umstände  gibt,  deren  Vorhandensein 
Achtung  und  Furcht  der  Untertanen  gegen  den  Staat 
begründet  und  deren  Fehlen  Furcht  und  Achtung 
und  mit  ihnen  den  Staat  selbst  unmöglich. macht 

Der  Staat  ist  also,  um  sein  Becht  zu  behaupten» 
genötigt,  die  Ursachen  der  Furcht  und  d^  Achtung 
aufrecht  zu  erhalten,  sonst  hört  er  auf,  Staat  zu  sein. 
Denn  die  oder  der  Inhaber  der  Begierunrag^ewalt  kann 
unmöglich  betrunken  oder  nackt  mit  Dirnen  durch 
die  Straßen  ziehen,  den  Schauspieler  machen,  die  von 

30  ihm  selbst  gegebenen  Gesetze  öffentlich  verletsen  und 
verachten  und  doch  dabei  die  Würde  bewahren.  Das 
ist  gerade  so  unmöglich,  wie  es  wäre^  zugleich  zu 
sein  und  nicht  zu  sein.  Sodann,  Untertans  morden, 
ausplündern,  Jungfrauen  entführen  und  ähnliches,  wan- 
delt Furcht  in  lUmpörung  und  macht  in  d^  Folge 
den  staatlichen  Zustand  zu  einem  Zustand  der  Feind- 
schaft 

§5. 

Wir   sehen   also,   in  welchem  Sinne  wir  sagen 

40  dürfen,  daß  der  Staat  an  Gesetze  gebundm  sei  und 

daß   er   sich   vergehen  könne.    Verstehen  wir  aber 


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4.  Kapitel    Vom  Recht  der  Obrigkeit.  85 

unter  Gesetz  das  bürgerliche  Becht,  das  eben  durch 
das  bfirgerliche  Becht  aufrecht  erhalten  werden  kann, 
and  unter  Vergehen,  was  das  bürgerliche  Recht  ver- 
bietet, nehmen  wir  also  diese  Worte  im  ursprüng- 
lichen Sinn,  dann  können  wir  in  keiner  Weise  sagen, 
daß  der  Staat  an  Gesetze  gebunden  sei  oder  sich  ver- 
gehen könne.  D^n  die  Regeln  und  Gründe  für  Furcht 
und  Achtung,  die  der  Staat  um  seiner  selbst  willen 
za  erhalten  genötigt  ist,  g^ören  nicht  ins  Gebiet 
desT  bürgerlichen  Rechtes,  sondern  ins  Gebiet  des  lo 
Naturrecnts,  weil  sie  (nach  d.  vor.  §)  nicht  durch 
das  bürgerliche  Rechte  sondern  nur  durch  das  Recht 
des  Krieges  aufrecht  erhalten  werden  können  und 
weil  der  Staat  aus  keinem  anderen  Grunde  an  sie  ge- 
bunden ist,  als  wie  der  Mensch  im  Naturzustand,  um 
Herr  seines  Rechtes  und  nicht  sein  eigener  Feind  zu 
sein,  sich  nicht  selbst  den  Tod  breiten  darf.  Diese 
Vorsicht  ist  aber  kein  Gehorsam,  sondern  die  Frei- 
heit der  menschlichen  Natur.  Die  bürgerlichen  Ge- 
setze hingegen  hangen  bloß  von  dem  Entschluß  des  20 
Staates  ab  und  dieser  braucht,  um  frei  zu  bleiben, 
sich  in  seinem  Verhalten  nach  niemandem  zu  rich- 
ten als  nach  sich  selbst  und  nichts  für  gut  und 
schlecht  zu  halten,  als  was  er  bei  sich  für  gut  und 
schlecht  erkennt  Er  hat  also  nicht  bloß  das  Recht, 
sich  zu  schützen,  Gesetze  zu  geben  und  zu  inter- 
pretieren, sondern  auch  sie  abzuschaffen  und  jeden 
Schuldigen  aus  seiner  Machtvollkommenheit  zu  be- 
gnadigen. 

§  6.  30 

Es  kann  kein  Zweifel  darüber  obwalten,  daß  die 
Verträge  oder  Gesetze,  durch  die  die  Menge  ihr  Recht 
auf  eine  Ratsversammlung  oder  auf  einen  einzigen 
Menschen  überträgt,  gebrochen  werden  müssen,  so- 
bald es  das  Gemeinwohl  erheischt  Das  Urteil  dar- 
über aber,  ob  das  Gemeinwohl  es  verlangt  oder  nicht, 
steht  von  Rechts  wegen  keinem  Privatmanne  zu,  son- 
dern nur  dem  InhaSer  der  Regierungsgewalt  (nach 
§  8  d.  Kap.).  Daher  bleibt  nach  bürgerlichem  Recht 
der  Inhaber  der  Regierungsgewalt  allein  der  Aus-  40 
leger  jener  Gesetze.    Dazu  kommt,  daß  kein  Privat- 


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86  AbhAndlnng  vom  Staate. 

mann  das  Kecht  hat,  sie  zu  wahren,  daß  sie  folglich 
den  Inhaber  der  ReRierungsgewalt  faktisch  nicht  ver- 
pflichten. Sind  sie  u>er  ihrem,  Wesen  nach  derart^  dafi 
ihre  Verletzung  notwendig  zagleich  eine  Schwächung 
der  Kraft  des  Staates  bedeutet,  d.  h.  daß  sie  die  ge- 
meinsame Furcht  der  meisten  Borger  in  Eknpörong 
wandelt,  dann  löst  sich  eben  damit  der  Staat  aui. 
der  Vertrag  fällt,  der  ja  nicht  nach  bfirgwlicbem 
Recht,  sondern  nach  dem  Recht  des  Krieges  galt. 
10  Daher  ist  der  Inhaber  dw  Regierungsgewät  durch 
keinen  anderen  Grund  verpflichtet,  die  Bedingungen 
des  Vertrages  zu  halten,  als  wie  der  Mensch  im  Natur^ 
zustand^  um  nicht  sein  eigener  Feind  zu  sein,  sich 
nicht  selbst  den  Tod  bereiten  darf  (vgl.  d.  vor.  §). 


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Fünftes  Kapitel. 

§1- 

In  Kap.  2,  §  11  haben  wir  gezeigt,  daß  der  Mensch 
dann  am  meisten  unter  eigenem  Rechte  steht,  wenn 
er  am  meisten  der  Leitimg  seiner  Vemnnft  folgt 
nnd  daß  demnach  (nach  Eap.  8,  §  7)  der  Staat  am 
machtigsten  ist  nnd  am  meisten  unter  eigenrai  Rechte, 
der  mit  Vernunft  begründet  und  geleitet  wird.  Da 
aber  die  beste  Lebensweise,  um  sich  nach  Möglich- 
keit zu  erhalten,  die  ist,  die  der  Vorschrift  der  Ver-  10 
nunft  ^tsprichl^  so  ist  folglich  das  Beste,  was  der 
Mensch  oder  der  Staat  tut,  sQles,  wobei  er  am  meisten 
sein  eigenes  Recht  bewahrt  Denn  ich  behaupte  nicht, 
daß  alles,  von  dem  sich  sagen  laßt,  daß  es  recht- 
maßig  geschehe,  so  auch  am  besten  geschieht:  ein 
anderes  ist  es,  einen  Acker  rechtmäßig  anbauen,  ein 
anderes,  ihn  auf  die  beste  Weise  bebauen;  ein  anderes, 
sage  ich,  sich  rechtmäßig  verteidigen,  erhalten,  ein 
Urteil  fällen,  und  ein  anderes,  eich  auf  die  beste  Weise 
verteidigen,  erhalten  und  das  beste  Urteil  su  fillen;  20 
ein  anderes  ist  folglich  von  Rechts  wegen  zu  befehlen 
und  für  das  Gemeinwesen  zu  sorgen,  ein  anderes  auf 
die  beste  Weise  zu  befehlen  und  das  Gremeinweeen  auf 
die  beste  Weise  zu  verwalten. 

Nachdem  wir  so  über  das  Recht  eines  jeden  Staates 
im  allgemeinen  gehandelt  haben,  ist  es  nun  Zeit^  von 
der  b^ten  Form  einer  jeden  Regierung  zu  handeln. 

§2. 

Von  welcher  Beschaffenheit  aber  die  beste  Form 
emer  jeden  Regierung  sein  soll,  ist  leicht  aus  dem  so 
Zweck  des  Staatslebens  zu  ersehen:  er  ist  kein 


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88  Abhandlang  vom  Staate. 

anderer  als  Frieden  und  Sicherheit  des  Lebens. 
Die  Regierung  ist  also  die  beste»  unter  der  die 
Menschen  in  Sntracht  leben  und  deren  Gesetze  an- 
verletzt gehalten  werden.  Denn  sicherlich  sind  Bm- 
porungra,  Eri^e»  Gesetzesverachtung  oder  -Ver- 
letzung weniger  der  Schlechtigkeit  der  Untertanen 
als  dem  schlechten  Zustand  der  Regierung  zuzuschrei- 
ben. Denn  die  Menschen  werden  nicht  als  Staats- 
bürger geboren,  sie  werden  erst  dazu  gemacht   Die 

10  natürlichen  Affekte  der  Menschen  sind  zudem  überall 
dieselben.  Wenn  daher  in  einem  Staate  die  Schlechtig- 
keit mehr  herrscht  und  mehr  Verbrechen  begangen 
wcurden  als  in  einem  anderen,  so  kommt  das  sich» 
daher,  daß  dieser  Staat  nicht  genügend  für  die  Eän- 
^acht  gesorgt  hat,  daß  er  seine  Rechte  nicht  weise 
genug  angeordnet  hat,  daß  er  folglich  kein  voll- 
kommenes Staatsrecht  erhalten  hat  Denn  ein  Staats- 
leben, aus  dem  die  Ursachen  von  Empörungen  nicht 
verbannt  sind,  in  dem  beständig  Krieg  zu  befürchten 

20  ist  und  in  dem  endlich  die  Gesetoe  oft  verletzt 
werden,  ist  nicht  viel  vom  eigentliche  Naturzustande 
verschieden,  wo  jeder  Einzelne  nach  seinem  Sinne 
lebt  und  unter  großer  Gefahr  für  sein  Leben. 

§8. 

Wie  aber  die  Fehler  d^  Untwtanen,  ihre  allzu 
große  Freiheit  und  ihre  Widerspenstigkrit  dem  Staate 
zur  Last  fall^  so  muß  im  Gregenteil  auch  ihre  Tüch- 
tigkeit und  ihre  beharrliche  Gesetzestreue  in  erster 
Linie  der  Tüchtigkeit  des  Staates  und  seinem  voll- 
30  kommenen  Rechte  zugerechnet  werden  (gemäß  Eap.  2, 
§  16).  Demgemäß  schreibt  man  es  verdientermaßen 
der  unvergleichlichen  Tüchtigkeit  des  Hannibal  zu, 
daß  in  seinem  Heere  nie  eine  Eimpörung  ausbrach. 

§4. 

Von  einem  Staate,  dessen  Untertanen  aus  Furcht 
nicht  zu  den  Waffen  greifen,  kann  man  eher  sagen, 
daß  er  ohne  Krieg  als  daß  er  im  Friedenszustand  sei. 
Denn  Friede  ist  nicht  Freisein  von  Krieg,  sondern 


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5.  Kapitel.    Vom  Zweck  des  SUatca.  89 

eine  Tüchtigkeit,  die  auB  der  Seelenstarke  hervor- 
geiht;  Gehorsam  ist  nämlich  (nach  Kap.  2,  §  19)  der 
beständige  Wille,  auszuführen,  was  nach  dem  für 
alle  geltenden  Staatsbeschlosse  za  geschehen  hat 
Übrigens  kann  man  einen  Staat»  dessen  Friedens- 
zoatand  von  der  Feigheit  der  Untertanen  abhängt, 
die  sich  wie  Vi^  leiten  lassen,  um  bloß  dienen  zu 
lernen,  mit  größerem  Recht  Einöde  als  Staat  nennen. 

§5. 
Wenn  ich  also  sage,  die  Regierung  sei  die  beste,  10 
unter  der  cUe  Menschen  in  Eintracht  leben,  so  ver- 
stdie  ich  unter  menschlichen  Leben  nicht  bloß  den 
Kreislauf  des  Blutes  und  die  übrigen  allen  Lebe- 
wesen gemeinsamen  Funktionen,  sondern  in  erster 
Lbue^  was  man  Vernunft,  wahre  Tüchtigkeit  und 
wahres  Leben  des  Geistee  nennt 

§6. 

Es  muß  aber  noch  bemerkt  werden,  daß  ich 
unter  einer  Regierung,  die  wie  gesagt  zu  diesem 
Zwecke  eingesetzt  ist^  nur  eine  solche  verstehe,  die  20 
ein  freies  Volk  eingesetzt  hat^  aber  nicht  eine  solche, 
die  man  durch  Eriegsrecht  über  ein  Volk  erwirbt 
Denn  ein  freies  Volk  wird  mehr  durch  Hoffnung  als 
durch  Furcht,  ein  unterworfenes  mehr  durch  Furcht 
als  dTQPoih  Hoffnung  geleitet;  jenes  will  das  Leben  ge- 
nießen, dieses  sucht  nur  dem  Tode  zu  entgehen;  jenes, 
sage  ich,  will  für  sich  leben,  dieses  muß  dem  Si^er 
angehören,  weshalb  wir  dieses  dienstbar,  jenes  frei 
nennen.  Der  Zweck  einer  Regierung  also,  deren 
sich  jemand  durch  Eriegsrecht  bemächtigt,  ist»  zu  30 
herrschen  und  lieber  Sklaven  als  Untertanen  zu  haben. 
Und  obwohl  zwischen  der  Regierung,  die  von  einem 
freien  Volke  geschaffen  wird,  und  jener,  die  durch 
Eriegsrecht  erworben  wird,  wenn  man  ihr  Recht  im 
allgemeinen  in  Betracht  zieht,  kein  wesentlicher  Unter- 
scmed  besteht,  so  zeigen  sie  wie  gesagt  doch  in 
ihrem  Endzweck  und  daneben  in  den  Mitteln,  die  sie 
SQ  ihr^  Eirhaltung  bedürfen,  eine  große  Ver- 
schiedenheit 


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90  Abhandlmig  Tom  Staate. 

§7. 

Welche  Mittel  aber  ein  Fürst,  der  bloß  von 
Herrschbegierde  getrieben  wird,  anwenden  muß,  nm 
seine  Regierung  zu  befestigen  und  za  erhalten,  hat 
der  höchst  scimrfsinnige  Macchiavelli  ausführlich 
gezeigt,  zn  welchem  Zweck,  scheint  nicht  ganz  fest- 
ziiBtehen.  Hatte  er  jedoch  einen  guten,  wie  man  es 
von  einem  weisen  Manne  annehmen  muß,  so  wollte 
er    allem  Anschein   nach    zeigen,    wie   unklug  viele 

10  handeln,  indem  sie  einen  Tyrannen  aus  dem  Wege  su 
räumen  versuchen,  ohne  daß  sie  doch  die  Ursachen, 
die  einen  Fürsten  zum  Tyrannen  machen,  beseitige 
könnten;  im  Gegenteil,  sie  bestehen  um  so  mehr,  je 
mehr  der  Fürst  Grund  erhält,  sich  2u  fürchten,  und 
das  geschieht,  wenn  das  Volk  an  einem  Fürsten  ein 
Exempel  statuiert  hat  und  sich  des  Fürstenmordes 
als  einer  guten  Tat  berühmt.  Vielleicht  wollte  er 
außerdem  zeigen,  wie  sehr  sich  ein  freies  Volk  davor 
hüten  müsse,  seine  Wohlfahrt  rückhaltlos  einem  ESn- 

20  zigen  anzuvertrauen^  der,  falls  er  nicht  eitel  ist  und 
allen  gefallen  zu  können  glaubt,  taglich  vor  Nach- 
stellungen sich  fürchten  muß  und  sich  deshalb  ge- 
nötigt sieht,  mehr  für  sich  auf  der  Hut  zu  sein  und 
seinerseits  der  Menge  nachzustellen,  als  für  sie  zu 
sorgen.  Ich  fühle  mich  um  so  eher  bewogen,  dies  von 
jenem  sehr  einsichtsvollen  Manne  anzun^imen,  als  er 
bekanntlich  für  die  Freiheit  war,  zu  deren  Schutz 
er  auch  die  heilsamsten  Ratschläge  gegeben  hat. 


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Sechstes  Kapitel. 

§1. 

Weil  die  MeuBchen,  wie  gesagt,  sich  mehr  vom 
Affekt  als  von  der  Vernunft  leiten  lassen,  so  se- 
schieht  es  natorgemäß  nicht  durch  die  Leitung  der 
Vernunft,  sondern  durch  irgend  einen  allgemeinen 
Affekt,  wenn  die  Menge  übereinkommt  und  gleichsam 
von  einem  Geiste  geleitet  sein  will;  nämlich  (ffen&äß 
Kap.  3,  §  9)  entweder  durch  gemeinsame  Honnung 
od^  Furcht  oder  den  Wunsch,  eine  gemeinsam  er-  10 
littene  Unbill  zu  rächen.  Da  aber  die  Furcht  vor  der 
Vereinzelung  allen  Menschen  innewohnt  und  da 
niemand  in  der  Vereinzelung  die  Kräfte  besitet,  sich 
zn  verteidigen  und  sich  die  Lebensbedürfnisse  zu  ver- 
schaffen, so  streben  die  Menschen  nach  dem  Staats- 
leben und  unmöglich  können  sie  es  jemals  vollständig 
aufheben. 

§2. 

Alle  Zwietracht  und  Empörung,  die  sich  oft  im 
Staate  erhebt,  bewirkt  doch  nie,  daß  die  Bürger  den  20 
Staat  auflösen,  wie  es  bei  anderen  gesellschaftlichen 
Verbindungen  häufig  geschieht;  vieUnehr  ändern  sie 
dann  nur  seine  Form,  wenn  sich  nämlich  die  Streitig- 
keiten nicht  unter  Erhaltung  der  äußeren  Gestalt  des 
Staates  beilegen  lassen.  Daher  verstehe  ich  unter 
den  Mitteln,  die  ich  zur  Erhaltung  der  Regierung  er- 
forderlich nannte^  jene,  die  notwendig  sind,  die  Be- 
gierungsform ohne  merkliche  Veränderung  zu  erhalten. 

§3. 

Wäre    es   mit   der   menschlichen  Natur   so   be-  80 
schaffen,  daß  die  Menschen  das  Nützlichste  auch  am 


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92  AbhandlaDg  yom  Stmate. 

meisten  begehrten,  dann  bedurfte  es  keiner  Kunst; 
Eintracht  und  Treue  zu  erhalten.  Weil  es  aber  be- 
kanntlich ganz  anders  mit  der  menschlichen  Natur 
bestellt  ist,  deshalb  muß  die  Regierung  notwendig  bo 
eingerichtet  werden,  daß  alle,  Regierende  wie  Re- 
gierte, mögen  sie  wollen  oder  nicht»  dasjenige  tun, 
was  das  Gemeinwohl  fordert,  d.  h.  daß  alle  aus  freien 
Stücken  oder  durch  Gewalt  oder  Notwendigkeit  ge- 
zwungen nach  der  Vorschrift  der  Vernunft  Idben.  'Das 

10  ist  der  Fall,  wenn  die  Regierungsangelegenheiten  so 
geordnet  sind,  daß  nichts,  was  das  Gemeinwohl  be- 
rührty  der  Treue  irgend  eines  Menschen  rückhaltlos 
anvertraut  wird.  Denn  niemand  ist  so  wachsam,  daß 
er  nicht  bisweilen  schliefe^  und  niemand  ist  von  so 
starkem  und  unantastbarem  Charakter,  daß  er  nicht 
einmal  und  gerade  dann,  wenn  er  am  meisten  der 
Charakterstärke  bedürfte,  wankend  würde  und  sich 
besiegen  ließe.  Uiul  Torheit  wäre  es  wahrlich,  von 
einem  anderen  zu  verlangen,  was  niemand  von  sich 

2Q  erreichen  kann,  nämlich  für  einen  anderen  wachsamer 
zu  sein  als  für  sicl^  nicht  habgierig  zu  sein,  nicht 
neidisch^  nicht  ehrgeizig  u.  s.  w.,  zumal  wenn  er  täg- 
lich den  Versuchungen  zu  diesen  Leidenschaft«!  aus- 
gesetzt ist. 

§4. 

'  Dagegen  scheint  die  Erfahrung  zu  lehren,  daß 
es  im  Interesse  des  Friedens  und  der  ESntracht  ge- 
legen sei,  alle  Gewalt  einem  Einzigen  zu  übertragen. 
Denn  kein  Reich  hat  so  lange  ohne  alle  merkliche 

SO  Veränderung  bestanden  als  £s  türkische,  und  im 
Gegenteil  war  keines  vergänglicher,  als  Volksstaaten 
und  Demokratien,  und  nirgends  so  viel  Ekiporungen 
wie  in  ihnen.  Wenn  aber  Sklaverei,  Barbarei  und  Eon- 
öde  Frieden  heißen  sollen,  dann  gibt  es  für  die 
Menschen  nichts  Erbärmlicheres  als  den  FMeden.  In 
der  Tat  gibt  es  gewöhnlich  mehr  und  heftigere  Streitig- 
keiten zwischen  Eltern  und  Kindern  als  zwischen 
Herren  und  Knechten,  und  doch  liegt  es  nicht  im 
Interesse  des  Haushalts,  das  väterliche  Recht  in  Herr- 

40  Schaft  umzuwandeln  und  damit  die  Kinder  als  Sklaven 
zu  behandeln.  Die  Sklaverei,  nicht  der  Friede  fordert 


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6.  KapiteL    Von  der  Monmrohie«  98 

also,  alle  Gewalt  einem  sa  übertragen:  denn  der  Friede 
beBteht  wie  gesagt  nicht  in  mem  Verschontsein  yon 
Krieg,  sondern  in  der  ESnignng  und  Eintracht  der 
Geeinnnng. 

§5. 

Und  wahrlich,  wer  da  glaubt^  daß  einer  allein 
das  höchste  Recht  des  Staates  besitasen  könne,  ist 
sehr  im  Irrtum.  Denn  das  Recht  bestimmt  sich  bloß 
nach  der  Macht,  wie  ich  im  2.  Kap.  gezeigt.  Die  Macht 
eines  einzigen  Maischen  aber  ist  einer  solchen  Last  10 
nicht  im  entferntesten  gewachsen.  Die  Folge  davon 
ist,  daß  der  yom  Volk  sam  König  Gewählte  sich  Be- 
fehlshaber sucht  oder  Rate  oder  Vertraute,  denen 
er  das  eigene  und  das  Wohl  der  Gesamtheit  über- 
tragt, so  daß  das  Reich,  das  als  absolute  Monarchie 
gilC  in  der  Praxis  tatsächlich  eine  Aristokratie  ist, 
allerdings  keine  offene^  sondern  nur  eine  versteckte 
und  darum  die  allerschlechteste.  Dasu  kommt,  daß 
der  König,  wenn  er  ein  Kind  oder  wenn  er  krank 
oder  vom  Alter  beschwert  ist^  nur  zum  Schein  König  20 
ist;  in  Wahrheit  haben  diejenigen  die  höchste  Gewalt 
inne^  die  die  höchsten  Regierungsämter  verwalten  oder 
die  dem  König  am  nächsten  stehen.  Gans  asu  ge- 
scbweigen  davon,  wenn  der  König,  den  Lüsten  unter- 
worfen, alles  nach  den  Gelüsten  dieser  und  jener 
Maitresse  oder  dieses  und  jenes  Günstlings  regiert 
„Ich  habe  gehört,''  sagt  Orsines,  „daß  in  Asien  einst 
Frauen  regiert  haben;  das  aber  ist  neu,  daß  ein  Kastrat 
regiert''  (Curtius,  Buch  X,  Kap.  1). 

§  6.  30 

Zudem  ist  sicher,  daß  ein  Staat  immer  mehr  wegen 
seiner  Bürger  als  wegen  seiner  Feinde  in  Gefahr  ist: 
deüik  die  guten  Bürger  sind  selten.  Folglich  wird  d^, 
dem  das  ganze  Recht  des  Staates  übertragen  isl, 
immer  me&  die  Bürger  als  die  Feinde  fürchten  und 
infolgedessen  suchen,  sich  zu  wahren  und  den  Unter- 
tanen nachzustellen,  anstatt  für  sie  zu  sorgen,  vor 
allem  denen,  die  durch  Weisheit  angesehen  oder  durch 
Reichtum  zu  mächtig  sind. 

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04  AbhandlHDg  Yom  Staate. 

§7. 

Dazu  kommt  noch,  daß  die  Könige  ihre  Söhne 
mehr  fürchten  als  lieben,  um  so  mehr,  je  mehr  diese 
von  den  Wissenschaften  des  Friedens  und  des  Krieges 
verstehen  und  wegen  ihrer  Vorzüge  bei  den  Unter- 
tanen beliebt  sind.  Deshalb  suchen  sie  ihre  Söhne 
so  zu  erziehen,  daß  der  Grund  d^  Befürchtung  weg- 
fällt Hierin  gehorchen  die  Hofbeamten  dem  König 
aufs  pünktlicliite  und  werden  sich  die  größte  Mühe 
10  geben,  einen  ungebildeten  Thronfolger  zu  haben,  den 
sie  geschickt  zu  lenken  vermögen. 

§8. 

Aus  alledem  folgt,  daß  der  König  um  so  weniger 
seines  Rechtes  machtig  ist  und  daß  die  Lage  der 
Untertanen  um  so  unglücklicher  ist,  ]e  unbeschränkter 
das  Recht  des  Staates  auf  einen  übertragen  wird. 
Daher  ist  es  zur  gehörigen  Befestigung  einer  mon- 
archischen Regierung  notwendig,  feste  Grundlagen  zu 
legen,  auf  denen  der  Bau  errichtet  werden  kann,  da- 
20  mit  Sicherheit  für  den  Monarchen  und  Friede  für  das 
Volk  daraus  folgt,  und  damit  demnach  der  Monarch 
dann  am  meisten  sein  Recht  behauptet»  wenn  er  am 
meisten  für  das  Wohl  des  Volkes  sorgt  Welches 
aber  diese  Grundlagen  der  monarchischen  Re- 
gierung sind^  will  ich  zuerst  kurz  aufweisen  und 
dann  in  gehöriger  Folge  darlegen. 

§9. 

Man  muß  eine  oder  mehrte  Städte  erbauen 
und  befestigen,  deren  Bürger  insgesamt,  mögen  sie 
30  iimerhalb  der  Mauern  oder  des  Ackerbaues  wegen 
außerhalb  wohnen,  gleiches  Bürgerrecht  genießen, 
unter  der  Bedingung  jedoch,  daß  jede  Stadt  eine  be- 
stimmte Anzahl  Bürger  zu  ihrer  eigenen  und  zur  ge- 
meinsamen Verteidigung  hat  Eine  Stadt  aber,  die 
das  nicht  leisten  kann,  steht  unter  andren  Be- 
dingungen und  hat  als  abhängig  zu  gelten. 


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6.  EApitel.    Von  der  Monarchie.  95 

§  10. 

Die  Miliz  ist  bloß  aus  den  Bürgern  und  niemandem 
sonBt  zu  bilden  und  keiner  ist  ausgenommen.  Sonach 
sollen  alle  gehalten  sein,  die  Waffen  zu  führen,  und 
niemand  darf  in  die  Zahl  der  Bürger  aufgenommen 
w^den,  bevor  er  den  Mililardienst  erlernt  und  ver- 
sprochen hat,  ihn  zu  bestimmten  Zeiten  des  Jahres 
atiszuüben.  Dann,  wenn  die  Eriegsmannschaff  aus 
allen  Familien  in  Kompagnien  und  Begimenter  einge- 
teilt ist,  soll  als  Führer  einer  Kompagnie  nur  ein  10 
Mann  gewählt  werden,  der  die  Kriegsbaukunst  ver- 
steht Sodann  sind  die  Anführer  der  Kompagnien  und 
R^imenter  auf  Lebenszeit  zu  wählen.  Der  Befehls- 
haber eines  gesamten  Familienverbandes  aber  ist  nur 
im  Kriege  zu  wählen  und  dann  soll  er  den  Oberbefehl 
nur  auf  ein  Jahr  haben,  sein  Kommando  soll  nicht 
verlängert  und  er  soll  danach  nicht  wiedergewählt 
werden  können.  Diese  Befehlshaber  müssen  aus  den 
Raten  des  Königs  (über  die  §§  16  ff.  zu  sprechen  ist) 
oder  aus  ehemaligen  Räten  gewählt  werden.  20 

§11. 

Alle  Stadt-  und  Landbewohner,  d.  h.  alle  Bürger 
sind  in  Familienverbände  zu  teilen,  die  sich  durch 
Namen  und  Abzeichen  unterscheiden,  und  alle,  die 
in  einem  solchen  Familienverbande  geboren  werden, 
sollen  in  die  Zahl  der  Bürger  aufgenommen  und  ihre 
Namen  in  die  Liste  ihres  Verbandes  eingetragen  werden, 
bis  sie  das  Alter  erreichen,  um  Waffen  zu  tragen  und 
ihren  Dienst  zu  verstehen.  Ausgenommen  sind  nur 
solche  Personen,  die  wegen  eines  Verbrechens  ehrlos,  30 
oder  die  stumm  oder  geisteskrank  sind  oder  in 
dienender  Stellung  durch  knechtische  Verrichtung 
ihren  Unterhalt  erwwben. 

§12. 

Die  Äcker  und  aller  Grund  und  Boden  und  wo- 
möglich auch  die  Häuser  müssen  öffentliches  Eigen- 
tum sein,  d.  h.  sie  müssen  dem  gehören,  der  das  Recht 
des  Staates  hat  und  werden  von  ihm  gegen  eine  ]ähr- 


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96  AbhandloDg  Tom  Staate. 

liehe  Abgabe  an  die  Bärger,  die  S^ter  und  Land- 
bewohner verpachtet  Davon  abgesehen  sollen  in 
Friedenszeiten  alle  jeder  Abgabe  enthoben  oder  steuer- 
frei sein.  Von  dieser  Pacht  ist  ein  Teil  für  die  Be- 
festigungswerke des  Staates,  der  andere  fdr  den 
königlichen  Haushalt  sa  verwenden.  Denn  in  lYiedeiifi- 
zeiten  muB  man  die  Slädte  als  zum  Kriege  befestigen 
und  auBerdem  Schiffe  und  die  übrigen  Eriegswerk- 
zeuge  bereit  halten. 

10  §  13. 

Ist  ein  £onig  aus  einem  Familienverband  gewählt, 
so  haben  nur  die  Descendenten  eines  Königs  ab  adli^ 
zu  gelten;  sie  unterscheiden  sich  deshalb  durch  die 
königlichen  Abzeichen  von  ihrem  und  von  den  übrigen 
Familienverbanden. 

§14. 

Die  adligen  männlichen  Blutsverwandten  eines 
Königs,  die  mit  dem  Regenten  im  dritten  oder  vierten 
Grade  verwandt  sind,  sollen  nicht  heiraten  dürfen. 
20  Erzeugen  sie  Kinder,  so  sollen  diese  für  illegitim  gelten 
und  unfähig,  eine  staatiiche  Würde  zu  bekleiden  und 
sie  sollen  nicht  als  Erben  ihrer  Eltern  anerkannt 
werden;  deren  Güter  sollen  vielmehr  an  den  König 
zurückfallen. 

§15. 

Die  Bäte  des  Königs,  die  ilnn  am  nächsten, 
ako  in  der  Würde  an  zweiter  Stelle  stehen,  müssen 
zahlreich  sein.  Sie  dürfen  nur  aus  den  Bürgern  ge- 
wählt werden,  nämlich  aus  jedem  Familienverband  zu- 
30  nächst  drei  oder  vier  oder  fünf,  wenn  es  nicht  mehr 
als  sechshundert  Familien  sind.  Diese  bilden  zusammen 
ein  Glied  jenes  Rates,  aber  nicht  auf  Lebenszeit,  son- 
dern nur  auf  drei,  vier  oder  fünf  Jahre  derart,  daß 
in  jedem  Jahre  der  dritte,  vierte  oder  fünfte  Teil 
von  ihnen  neu  gewählt  wird.  Bei  dieser  Wahl  ist  aber 
in  erster  Linie  darauf  zu  achten,  daß  aus  jedem  Fa- 
milienverband mindestens  ein  ;recht8kundiger  Rat  ge- 
wählt wird. 


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6.  KapiteL    Von  der  Monarchie.  97 

§16. 

Diese  Wahl  hat  dnrch  den  König  selbst  zu  ge- 
schehen.   Zu  einer  bestimmten  Zeit  des  Jahres,  näm- 
lich wenn  die  neuen  Käte  gewählt  werden  sollen,  hat 
ihm  jeder  Familienverband  die  Namen  aller  seiner 
Mitglieder  vorzulegen,  die  das  fünfzigste  Lebensjahr 
erreicht   haben   und  i>rdnungsgemäß  zu  Kandidaten 
dieses  Amtes  befördert  wurden.    Aus  diesen  soll  der 
Konig  wählen,  welchen  er  wilL    In  dem  Jahre  aber, 
in  dem  ein  Bechtskundiger  irgend  eines  FamilienYer-  10 
bandes   einem  anderen  folgen  soll,  sollen  bloß  die 
Namen   der   Rechtskundigen   dem   Könige  vorgelegt 
werden.    Wer  die  festgesetzte  Zeit  dieses  Amt  eines 
Kates  bekleidet  hat,  dem  kann  es  nicht  verlängert 
werden  und  er  kann  auch  während  fünf  Jahren  oder 
länger  nicht  auf  die  Liste  der  zu  Wählenden  gesetzt 
werden.    Der  Grund  aber,  warum  jedes  Jahr  einer 
aus  jedem  Familienverband  gewählt  werden,  mufi,  liegt 
darin,  daß  die  Batsversanmihmg  nicht  bald  nur  aus 
unerfahrenen  Neulingen,  bald  nur  aus  Alterfahrenen  20 
und  Sachkundigen  sich  zucfammensetzen  soll,  was  not- 
wendig der  Fall  wäre,  wenn  alle  zugleich  zurücktreten 
Tmd  neue  an  ihre  Stelle  treten  würden.    Wenn  aber 
in  jedem  Jahr  ^us  jedem  Familienverband  einer  ge- 
wählt wird,  dann  wird  nur  der  fünfte^  vierte  oder 
höchstens   dritte   Teil  aus   Neulingen   bestehen.    Ist 
übrigens  der  König  durch  anderweitige  Geschäfte  in 
Anspruch  genommen  oder  aus  einem  anderen  Grunde 
eine  Zeitlang   nicht  imstande,    sich  mit  der  Wahl  zu 
be&ssen,  dann  sollen  die  Räte  selber  zeitweilig  andere  80 
wählen,  bis  der  König  entweder  selbst  andere  wählt 
oder  die  von  der  Körperschaft  Grewählten  bestätigt 

§17. 

Die  Hauptaufgabe  dieses  Rates  soll  sein,  die 
Staatsgrundgesetze  zu  verteidigen,  über  die  laufenden 
Geschäfte  Rat  zu  erteilen,  damit  der  König  weiß, 
welcher  Entscheid  im  öffentlichen  Interesse  zu  treffen 
is^  80  zwar,  daß  der  König  in  keiner  Sache  etwas 
beschließen  darf,  ohne  vorher  die  Meinung  des  Rates 

S  p  i  n  o  s  • ,  Abhaadlg.  üb.  d.  Verbenarg.  d.  Ventendei.        7 

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98  AbhandlaDg  vom  Staate. 

vernommen  zu  haben.  Wenn  aber  der  Eat»  wie  es 
meistens  der  Fall  sein  wird,  nicht  eines  Sinnes  ist, 
sondern  wenn  auch  nach  zwei-  bis  dreimaliger  Er- 
wägung derselben  Sache  verschiedene  Meinungen  be- 
stehen, dann  ist  die  Sache  nicht  langer  hinzuziehen, 
sondern  die  entgegenstehenden  Meinungen  sind  dem 
Könige  vorzulegen,  wie  wir  §  25  d.  Kap.  zeigen  werd^i. 

§18. 

Die  Aufgabe  des  Rates  soll  auJBerdem  sein,  die 
10  Anordnungen  oder  Verfügungen  des  Königs  ^  ver- 
öffentlichen, alles,  was  über  das  Gemeinwesen  be- 
schlossen wurde,  durchzuführen  und  für  die  ganze 
Staatsverwaltung  als  Stellvertreter  des  Königs  Sorge 
zu  tragen. 

§19. 

Den  Bürgern  soll  kein  Zugang  zum  König  offen 
stehen  als  durch  den  Rat;  ihm  sind  *alle  Petitionen 
oder  Bittschriften  zu  übergeben,  damit  sie  dem  König 
vorgelegt  werden.  Auch  die  Gesandten  fremder 
20  Staaten  sollen  nur  durch  Vermittlung  dieses  Ratee 
die  Erlaubnis  erhalten,  den  König  zu  sprechen.  Außer- 
dem müssen  die  Briefe,  die  von  auswärts  an  den  König 
eingehen,  ihm  vom  Rate  übergeben  werden.  Über- 
haupt ist  der  König  als  der  Geist  des  Staates,  der  Rat 
aber  als  die  äußeren  Sinne  dieses  Gastes  oder  als 
der  Körper  des  Staates  zu  betrachten,  durch  den  der 
Geist  den  Zustand  des  Staates  erfährt  und  durch  den 
er  ausführt,  was  er  für  das  Beste  erkennt. 

§20. 

80  Auch  die  Sorge  für  die  Erziehung  der  Prinzen 
liegt  dem  Rate  ob,  ferner  die  VormuiKlschaft^  wenn 
der  König  gestorben  ist  und  ein  Kind  oder  einen 
Knaben  als  Nachfolger  hinterlassen  hat  Damit  aber 
der  Rat  in  der  Zwischenzeit  nicht  ohne  König  ist, 
soll  aus  dem  Adel  des  Staates  ein  Ältester  gewählt 
werden,  der  die  Stelle  des  Königs  vertritt,  bis  der 
gesetzliche  Nachfolger  das  Alter  erreicht  hat,  in  dem 
er  imstande  ist,  die  Last  der  Regierung  zu  tragen. 


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6.  KapiteL    Von  der  Monarchie.  99 

§21. 

Kandidaten  dee  Batee  aoUen  diejenigen  ßein,  die 
die  Begierungsform,  die  Grandlagen  und  den  Zustand 
oder  die  Verfassung  des  Staates,  dessen  Untertanen 
sie  sind,  kennen.  Wer  aber  die  Stelle  eines  Bechts- 
kimdigen  einnehmen  will,  der  muß  außer  seines 
eigenen  Staates  auch  die  Begierungsform  und  Ver- 
fassung derjenigen  kennen,  mit  denen  jener  in  Be- 
ziehungen steht  Aber  nur  die,  welche  ohne  eines 
Verbrechens  überführt  zu  sein  das  fünfzigste  Lebens-  10 
jähr  erreicht  haben,  dürfen  auf  die  Liste  der  Wähl- 
baren gesetzt  werden. 

§22. 

In  diesem  Bäte  darf  nur  bei  Anwesenheit  aller 
seiner  Mitglieder  über  Begierungsangelegenheiten  ein 
Beschluß  gefaßt  werden.  Ist  einer  durch  Krankheit 
oder  eine  andere  Ursache  verhindert,  anwesend  zu 
sein,  so  muß  er  an  seiner  Statt  einen  anderen  schicken, 
der  schon  dasselbe  Amt  bekleidet  hat  oder  der  auf 
der  Liste  der  Wählbaren  steht.  Hat  er  es  nicht  getan  20 
und  war  der  Bat  wegen  seiner  Abwesenheit  genötigt, 
die  Beratung  einer  &u^he  zu  vertagen,  so  soll  er  um 
eine  empfindliche  Geldsumme  gestriSt  werden.  Es  ver- 
steht sich  das  aber  nur  in  dem  Falle,  wenn  es  sich 
um  eine  deti  ganzen  Staat  betreffende  Frage  handelt, 
nämlich  über  Krieg  und  Frieden,  über  Schi^ung  oder 
Abschaffung  eines  Bechts,  über  den  Handel  u.  s.  w. 
Handelt  es  sich  aber  nur  um  eine  Sache,  die  die  eine 
oder  andere  Stadt  betrifft^  um  Bittschriften  u.  dergl., 
so  wird  die  Anwesenheit  des  größeren  Teiles  des  80 
Rates  genügen. 

§23. 

Damit  unter  den  einzebien  Familienverbänden  eine 
durchgängige  Gleichheit  und  Ordnung  im  Sitzen,  sowie 
in  den  Anträgen  und  Beden  statthat,  muß  ein  bestimmter 
Wechsel  gewahrt  werden,  derart,  daß  die  einzelnen  Ver- 
bände bei  den  einzelnen  Sitzungen  den  Vorsitz  führen, 
und  daß  der  Verband,  der  in  dieser  Sitzung  an  erster 

7* 

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100  Abhandlung  vom  Staate. 

Stelle  war,  in  der  folgenden  an  der  letzten  ist  Unter 
den  Angehörigen  deeselben  Familienverbandes  soll  der 
Erstgewählte  an  erster  Stelle  sein. 

§24. 

Dieser  Rat  soll  mindestens  viermal  im  Jahre  ein- 
berufen werden,  um  von  den  Staatsdienem  über  die 
Staatsverwaltung  Rechenschaft  zu  fordern,  den  Stand 
der  Angelegenheiten  kennen  zu  lernen  und  zu  sehea, 
ob  außerdem  eine  Ehitscheidung  zu  treffen  ist.  Denn 

10  es  ist  nicht  wohl  möglich,  daß  sich  eine  so  große  An- 
zahl Bürger  bestandig  den  Staatsgeschäften  widmet 
Weil  aber  die  Staatsgeschäfte  mittlerweile  nichts- 
destoweniger besorgt  werden  müssen,  sind  aus  diesem 
Rate  fünMg  oder  mehr  zu  erwählen,  die,  wenn  er 
auseinandergegangen  ist,  an  seine  Stelle  treten  sollen 
und  die  sich  taghch  an  einem  der  königlichen  Woh- 
nung nahe  gelegenen  Orte  zu  versammem  haben  und 
so  täglich  das  I^nzwesen,  die  städtische  Angelegen- 
heiten, das  Festungswesen,  die  Ersaehung  des  Thron- 

20  folgers,  überhaupt  all  die  erwähnten  Aufgaben  des 
großen  Rates  besorgen  sollen,  allein  abgesehen  davon, 
daß  sie  über  Neues,  worüber  noch  nichts  beschlossen 
ist,  nicht  beraten  können. 

§25. 

Ist  der  Rat  zusammengetreten,  dann  sollen,  ehe 
ihm  eine  Vorlage  unterbreitet  wird,  fünf,  sechs  oder 
mehr  Rechtskundige  aus  den  Familienverbänden,  die 
in  der  betreffenden  Sitzung  die  erste  Stelle  haben, 
sich  zum  Eömg  begeben,  um  ihm  die  Bittschriften 
80  oder  Briefe,  die  sie  gerade  haben,  zu  übergeben,  ihm 
den  Stand  der  Dinge  anzuzeigen  und  endlich,  von 
ihm  Befehle  über  ^,  was  seinem  Rate  vorgelegt 
werden  soll,  entgegenzunehmen.  Nach  empfangenem 
Bescheid  sollen  sie  wieder  die  Versammlung  aufsuchen 
und  derjenige,  an  dem  die  Reihe  ist^  den  Vorsitz  za 
führen,  soll  die  Verhandlung  eröffnen.  Über  eineSache^ 
die  einigen  von  Bedeutung  scheint»  soll  nicht  sogleich 
die  Abstimmung  vorgenommen  werden,   sondern  sie 


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6.  Kapitel.    Ton  der  Monarchie.  101 

ist  so  lange  aofssoschieben,  als  es  die  Dringlichkeit 
der  Sache  erlaubt 

Wenn  sich  nun  die  Versammlung  bis  zu  dieser 
bestimmten  Zeit  vertagt  hat»  werden  mittlerweile  die 
Batsmitglieder  der  einzelnen  Familienverbände  unter 
sich  darüber  beraten  können  und  auch,  wenn  ihnen  die 
Sache  sehr  wichtig  erscheint^  andere,  die  dasselbe 
Amt  bekleidet  hab^n  oder  die  Kandidaten  für  den- 
selben Eat  sind,  hinzuziehen.  Wenn  sie  innerhalb  der 
festgesetzten  Zeit  nicht  miteinander  übereinkommen  10 
können,  so  wird  der  betreffende  EEunilienverband  keine 
Stimme  haben,  denn  jeder  Verband  kann  bloß  eine 
Stimme  abgeben.  Im  anderen  Falle  wird  der  Rechts- 
kundige des  FamilienYerbandes  angewiesen,  die  An- 
sicht, die  man  als  die  beste  erkannt^  im  Rate  selbst 
vorzutragen,  und  in  der  gleichen  Weise  auch  die 
übrigen. 

Wenn  aber  nach  Anhörung  der  Gründe  für  alle 
Ansichten  die  Majorität  es  für  gut  halt,  die  Sache 
nochmals  zu  überlegen,  so  soll  der  Rat  abermals  für  20 
eine  bestimmte  Zeit  vertagt  werden,  nach  welcher 
jeder  Familienverband  seine  endgültige  Ansicht  kund- 
geben wird,  und  dann  erst  soll  in  Anwesenheit  des  ge- 
samten Rates  die  Abstimmung  vorgenommen  werden. 
Die  Ansicht  soll  als  nichtig  gelten,  die  nicht  wenigstens 
hundert  Stimmen  auf  sich  vereinigt;  die  übrigen  aber 
sollen  von  allen  Rechtskundigen,  die  im  Rate  waren, 
dem  König  vorgelegt  werden,  damit  er  nach  Kenntnis- 
nahme der  Gründe  jeder  Partei  sich  nach  Gutdünken 
für  eine  Ansicht  entscheide.  Von  da  kehren  sie  wieder  80 
in  die  Versammlung  zurück,  woselbst  alle  den  König 
zu  einer  von  ihm  festgesetzten  Zeit  erwarten,  damit 
sie  alle  hören,  für  welche  von  den  vorgetragenen  An- 
sichten er  sich  entschieden  hat  und  was  nach  seiner 
Entscheidung  zu  tun  ist. 

§26. 

Für  die  Justizverwaltung  ist  ein  anderer  Rat 
bloß  aus  Rechtskundigen  zu  bilden,  deren  Aufgabe  es 
sein  soll,  Rechtsstreit  zu  schlichten  und  Gesetzesüber- 
treter zu  strafen.   Jedoch  müssen  alle  von  ihnen  ge-  40 


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102  Abhandlung  vom  Staate. 

fiUlten  Urteile  von  den  Stellvertretern  des  großen 
Rats  gebilligt  werden,  ob  sie  auch  anter  gehöriger  Be- 
obachtung der  Gerichtsordnung  und  ohne  Parteilichkeit 
abgegeben  sind.  Kann  die  im  Prozeß  unterlegene 
Partei  den  Nachweis  erbringen,  daß  ein  Richter  vom 
Gegner  durch  ein  Geschenk  bestochen  ist  oder  einen 
anderen  gewöhnlichen  Grund  zur  Freundschaft  gegen 
jenen  oder  zum  Haß  gegen  ihn  selbst  hat  oder  endlich, 
daß  die  allgemeine  Gerichtsordnung  nicht  beobachtet 
10  worden  ist,  so  muß  das  Urteil  kapert  werden.  Das 
kann  aber  wohl  nicht  von  denen  beobachtet  werden, 
die  bei  der  Untersuchung  über  ein  Verbrechen  den 
Angeklagten  nicht  durch  Beweise^  sondern  durch  die 
Folter  zu  überfuhren  pflegen.  Ich  nehme  aber  hier 
keine  andere  Gerichtsordnung  an,  als  die  mit  der 
besten  Regierungsart  eines  Staates  in  ESnklang  steht 

§27. 

Die  Zahl  dieser  Richter  muß  auch  eine  große 
und  ungerade  sein,  nämlich  einundsechzig  oder  min- 
20  destens  einundfünfzig.  Aus  Jedem  Familienverband  ist 
nur  einer  zu  wählen,  aber  nicht  auf  Lebenszeit,  son- 
dern so,  daß  auch  hier  jährlich  ein  bestimmter  Teil 
ausscheidet  und  ebensoviel  andere  gewählt  werden, 
die  anderen  Familienverbänden  angehören  und  das 
vierzigste  Lebensjahr  erreicht  haben. 

§28. 

In  dieser  Körperschaft  soll  nur  in  Gegenwart  aller 
Richter  ein  Erkenntnis  gefällt  werden.  Kann  einer 
wegen  Krankheit  oder  aus  einem  anderen  Grunde  lange 
30  dem  Rate  nicht  beiwohnen,  so  muß  für  diese  Zeit  ein 
anderer  als  sein  Stellvertreter  erwählt  werden.  Bei 
der  Abstimmung  soll  der  einzelne  seine  Stimme  nicht 
öffentlich  abgeben,  sondern  mittels  Stimmsteinen. 

§29. 

Ihre  Einkünfte  sollen  die  Mitglieder  dieser  und  der 
vorigen  Körperschaft  zunächst  aus  dem  Besitz  derer  er- 


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6.  Kapitel    Von  der  Monarchie.  103 

halten,  die  yoii  ihnen  zn  Tod  verurteilt  wurden,  sowie 
von  denen,  die  mit  einer  Geldbuße  bestraft  werden. 
Dann  sollen  sie  bei  jedem  Urteil  in  Civilsachen  von 
der  unterlegenen  Partei  einen  bestimmten  Prozentsatz 
der  Streitsomme  erhalten,  der  den  beiden  Kollegien 
zognte  kommt 

§30. 

Diesen  Raten  sollen  in  jeder  Stadt  andere  unter- 
geordnet sein,  deren  Hitglieder  ebenfalls  nicht  auf 
Lebenszeit  gewählt  werden  dürfen,  sondern  von  denen  10 
jährlich  ein  Teil  bloß  aus  den  in  der  Stadt  ansässigen 
Familienverbänden  zu  wählen  ist  Es  ist  jedoch  nicht 
nötig,  weitläufiger  darauf  einzugehen. 

§31. 

Die  Miliz  soll  in  Friedenszeiten  keinen  Sold  er- 
halten, in  Kriegszeiten  aber  soll  man  bloß  denen 
einen  täglichen  Sold  geben,  die  von  ihrer  täglichen 
Arbeit  leben.  Die  Anführer  und  die  übrigen  Offiziere 
der  Truppen  sollen  keine  anderen  Vorteile  aus  dem 
Kriege  zu  erwarten  haben  als  die  dem  Feinde  ge-  20 
nommene  Beute. 

§32. 

Hat  ein  Ausländer  die  Tochter  eines  Bürgers 
geheiratet  so  sollen  seine  Kinder  als  Bürger  gelten 
und  in  die  Loste  des  mütterlichen  Familienverbands 
eingetragen  werden.  Denjenigen  aber,  die  von  aus- 
ländischen Eltern  im  Staate  selbst  geboren  und  er- 
zogen sind,  soll  es  gestattet  sein,  für  einen  festge- 
setzten Preis  von  den  Vorstehern  jedes  Familienver- 
bandee  sich  das  Bürgerrecht  zu  kaufen,  und  dann  sollen  30 
sie  in  die  Liste  dieses  Verbandes  eingetragen  werden. 
Wenn  auch  die  Vorsteher  des  Gewinnes  wegen  einen 
Ausländer  unter  dem  festgesetzten  Preise  in  die  Zahl 
ihrer  Bürger  aufnehmen  sollten,  so  kann  dem  Staate 
daraus  ja  kein  Schaden  entstehen.  Im  Gegenteil  sollte 
man  auf  Mittel  bedacht  sein,  wodurch  die  Zahl  der 
Bürger  leichter  vermehrt  werden  kann  und  es  einen 


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104  Abhandlang  vom  Staate. 

großen  Zusammenstrom  von  Menschen  gibt  Eb  ist  je- 
doch billig,  daß  die  in  die  Bürgerliste  nicht  EHnge- 
tragenen  in  Kriegszeiten  wenigstens  ihre  Buhe  durch 
Arbeit  oder  irgend  eine  Steuer  bezahlen. 

§33. 

Die  Gesandten,  die  in  Friedenszeiten  an  andere 
Staaten  geschickt  werden  müssen,  um  Frieden  zu  ver- 
einbaren oder  zu  erhalten,  sind  bloß  aus  den  Adligen 
zu  wählen.  Die  Kosten  sind  ihnen  aus  der  Staatsks^e 
10  zu  ersetzen,  nicht  aus  der  Privatschatulle  des  Königs. 
Es  sind  aber  auch  Spione  zu  wählen,  wie  sie  der 
König  für  erfahren  erachten  wird. 

§34 

Die  Hofleute  und  Diener  des  Königs  und  die  er 
aus  seiner  Privatschatulle  besoldet,  sind  von  Staats- 
dienst und  Staatsamt  gänzlich  auszuschließen.  Ich 
sage  ausdrücklich,  die  der  König  aus  seiner  Privat- 
schatulle besoldet,  um  die  Leibwache  davon  auszu- 
nehmen. Denn  die  Leibwache  dürfen  nur  die  Bürger 
20  der  Residenzstadt  bilden,  die  wechselsweise  vor  den 
Türen  des  Königs  Wache  halten  sollen. 

§35. 

Krieg  soll  nur  um  des  Friedens  willen  begonnen 
werden  in  dem  Sinne,  daß  nach  seinem  Einde  alle 
Waffengewalt  aufhört  Sind  daher  durch  das  Recht 
des  Krieges  Städte  eingenommen  und  ist  derTeind 
unterworfen  worden,  dann  sind  die  Friedensbe- 
dingungen so  zu  stellen,  daß  die  genommenen  Städte 
nicht  durch  Besatzungen  gehalten  werden  müssen, 
80  sondern  daß  dem  Feinde,  wenn  er  den  Friedensvertrag 
annimmt,  die  Möglichkeit  zugestanden  wird,  sie  um 
irgend  einen  Preis  wieder  einzulösen;  oder  aber,  wenn 
aiä  diese  Weise  wegen  der  bedrohlichen  Lage  des  Ortes 
immer  eine  Furcht  im  Rücken  bliebe,  dann  sind  eben 
Jene  Städte  gänzlich  zu  zerstören  und  die  Eänwohner 
anderswohin  zu  führen. 


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6.  KmpiteL    Von  der  Mooftrohie.  105 

§36. 

Der  König  darf  keine  Ausländerin  zu  seiner  Gattin 
machen,  er  difff  nur  eine  aus  dem  Kreise  seiner  Bluts- 
verwandten oder  der  Bürger  heiraten.  Heiratet  er  eine 
Bürgerliche,  dann  aber  nur  unter  der  Bedingung,  daß 
die  nächsten  Blutsverwandte  seiner  Gattin  kein  Staats- 
amt bekleiden  können. 

§37. 

Die  Regierung  muß  unteilbar  sein.  Wenn  also 
der  König  mehrere  Kinder  zeugt,  so  ist  der  Älteste  10 
von  Rechts  wegen  sein  Nachfolger.  Es  darf  aber  durch- 
aus nicht  gestattet  werden,  daß  die  Regierung  unter 
sie  geteilt  wird  oder  daß  sie  ungeteilt  allen  oder 
einigen  von  ihnen  übertn^en  wii^  und  noch  viel 
weniger,  daß  ein  Teil  des  Reiches  einer  Tochter  zur 
Mitgift  gegeben  wird.  Denn  daß  Töchter  durch  Erb- 
schaft zur  Regierung  gelangen,  darf  in  keiner  Weise 
zugegeben  werden. 

§38. 

Ist  der  König  ohne  männliche  Nachkommen  ge-  20 
sterben,  so  hat  sein  nächster  Blutsverwandter  als  Erbe 
der  Regierung  zu  gelten,  wenn  er  nicht  gerade  eine 
Ausländerin   zur   fVau   hat,    von  der   er  sich   nicht 
scheiden  will. 

§39. 

Was  die  Bürger  betrifft,  so  geht  aus  Kap.  3, 
§  6  hervor,  daß  jeder  von  ihnen  allen  Geboten  des 
Königs  oder  den  vom  großen  Rat  bekanntgegebenen 
Verordnungen  (über  diese  Bedingung  vgl  §§  18  und 
19  d.  Kap.)  gehorchen  muß,  auch  wenn  er  sie  für  80 
höchst  widersinnig  hält^  oder  er  muß  von  Rechts 
wegen  dazu  gezwungen  werden. 

Dies  sind  die  Grundlagen  einer  monarchischen  Re- 
gierung, auf  denen  sie  erbaut  werden  muß,  um  von 
Bestand  zu  sein,  wie  wir  im  folgenden  Kapitel  zeigen 
werden. 


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106  Abhandlung  vom  Staate. 


40. 


Was  die  Beligion  betrifft»  so  sollen  durchaus 
keine  Kirchen  auf  Kosten  der  Städte  erbaut  w^den» 
noch  sollen  Gesetze  über  Meinungen  gegeben  werden, 
falls  diese  nicht  aufrührerisch  sind  und  die  Grundlagen 
des  Staates  umstürzen.  Diejenigen  also,  denen  die 
öffentliche  Ausübung  der  Beligion  gestattet  wird, 
mögen  sich,  wenn  sie  wollen,  eine  Kirche  auf  eigene 
10  Kosten  bauen.  Der  Könie  aber  soll  zur  Ausübung 
der  Religion,  zu  der  er  sich  bekennt»  eine  eigene  Hof- 
kirche haben. 


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Siebentes  Kapitel. 

§1. 

Nachdem  ich  die  Grundlagen  einer  monarchischen 
Regierung  anseinandergesetst»  habe  ich  nun  vor,  sie 
hier  ordnungsgemäß  zu  begründen.  Dabei  ist  vor  allem 
zu  bemerken,  daß  es  keineswegs  mit  der  Praxis  im 
Widerspruch  stehl^  die  Rechte  so  festzulegen^  daß 
sie  selbst  vom  König  nicht  aufgehoben  werden  können. 
Denn  die  Perser  pflegten  ihre  Könige  gleich  den 
Göttern  zu  verehren  und  doch  hatten  eben  diese  10 
Könige  nicht  die  Macht,  einmal  eingesetzte  Rechte 
zu  widerrufen,  wie  aus  Daniel,  Elap.  6,  hervorgeht 
Nirgends  wird,  soviel  ich  weiß,  ein  Monarch  unum- 
schränkt und  ohne  ausdrückliche  Bedingungen  erwählt 
Das  widerstreitet  ]a  gar  nicht  weder  der  Vernunft 
noch  dem  unbeschränkten  Gehorsam,  den  man  dem 
Könige  schuldet  Denn  die  Grundlagen  der  Regierung 
sind  als  die  unabänderlichen  Beschlüsse  des  Königs 
anzusehen,  und  seine  Minister  sind  ihm  durchaus  ge- 
horsam, wenn  sie  sich  weigern,  sdne  Befehle  aus-  20 
zuführen,  sobald  er  etwas  befiehlt,  was  sich  mit  den 
Grundlagen  des  Staates  nicht  verträgt 

Das  können  wir  an  dem  Beispiel  des  Odysseus 
deutlich  zeigen.  Denn  die  Gefährten  des  Odysseus 
fahrten  seinen  Befehl  aus,  als  sie  sich  weigerten,  ihn 
loszubinden,  da  er  am  Schiffsmaste  angebunden  und 
durch  den  Sirenengesang  bezaubert  war,  obwohl  er  es 
ihnen  unter  vielfachen  Drohungen  befahl,  und  es  wird 
ihm  als  Weisheit  angerechnet,  daß  er  später  seinen 
Gefährten  Dank  dafür  wußte,  daß  sie  ihm  nach  seiner  30 
ersten    Willensmeinung    gehorsam    gewesen.     Nach 

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108  Abhandlnng  Tom  Staate. 

dieeem  Beispiele  des  Odyssens  pflegen  auch  die  Könige 
die  Richter  anzuweisen,  daß  sie  Gerechtigkeit  üben 
sollen,  ohne  auf  jemsmden  Rücksicht  sa  nehmen  und 
wäre  es  selbst  der  König,  wenn  er  in  einem  besondren 
Falle  etwas  gebieten  sollte,   was  sie  als  d^n  ein- 

fesetzten  Recht  widerstreitend  erkennten.  Denn  die 
Könige  sind  keine  Götter,  sondern  Menschen,  die  oft 
vom  Sirenengesang  bezaubert  werden.  Wenn  daher 
alles  von  dem  unbeständigen  Willen  eines  einzelnen 
10  abhinge,  dann  gäbe  es  nichts  Feststehendes.  Daher 
muß  die  monarchische  Regierung,  um  Bestand  zu 
haben,  so  eingerichtet  werden,  daß  zwar  alles  dem 
Beschlüsse  des  Königs  gemäß  geschieht^  d.  h.  daß 
alles  Recht  der  erkl^te  Wille  des  Königs  ist,  sber 
nicht  daß  jeder  Wille  des  Königs  auch  Recht  ist; 
s.  hierüber  §§  3,  6  und  6  d.  vor.  Kap. 

§2. 

Zu  bemerken  ist  femer,  daß  man  bei  d^  Fest- 
setzung der  Grundlagen  hauptsächlich  die  menschlichen 

20  Affekte  im  Auge  haben  miiß.  Es  genügt  nichts  wenn 
man  gezeigt  hat,  was  geschehen  muß;  vor  allem 
soll  gezeigt  werden,  wie  es  möglich  ist^  daß  die 
Menschen,  mögen  sie  nun  dem  Aifekt  oder  der 
Vernunft  folgen,  dennoch  gültige  und  feststdiende 
Rechte  haben.  Denn  wenn  sich  die  Rechte  des  Staates 
oder  die  öffentliche  Freiheit  nur  auf  die  ohnmächtige 
Hülfe  der  Gesetze  stützen,  dann  fehlt  den  Bürgern 
nicht  nur  die  Sicherheit,  sie  aufrecht  zu  erhalteoi, 
wie  wir  im  vor.  Kap.   §  3  zeigten;  vielmehr  droht 

80  ihnen  daraus  das  Verderben.  Denn  sicherlich  ist  keine 
Verfassung  schlechter  als  die  selbst  des  besten  Staates, 
sobald  sie  ins  Wanken  gerät;  es  sei  denn,  daß  sie 
mit  einem  Male  und  einem  Schlage  zusammenstürzt 
und  in  Sklaverei  verfällt,  was  freilich  unmöglich 
scheint  Die  Untertanen  hätten  deshalb  mehr  davon, 
wenn  sie  ihr  Recht  unumschränkt  auf  einen  übw- 
trügen,  als  wenn  sie  ungewisse,  nichtige  oder  un- 
gültige Freiheitsbedingungen  festsetzen  und  damit  den 
Nachkommen  den  Weg  zur  grausamsten  Sklaverei  be- 

40  reiten. 


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7.  Kapitel.    Von  der  Monarchie.  109 

Habe  ich  aber  gezeigt,  daß  die  im  vorigen  Ka- 
pitel aufgestellten  GninSagen  einer  monarchiachen 
Regierung  fest  sind  und  daß  ein  Versuch,  sie  zu  zer- 
stören, die  Entrüstung  des  größten  Teiles  des  be- 
waffneten Volkes  hervorrufen  würde  und  daß  aus 
ihnen  für  König  und  Volk  Friede  und  Sicherheit  folgte 
habe  ich  das  aus  ihrem  allgemeinen  Wesen  nachge- 
wiesen, dann  wird  niemand  mehr;  daran  zweifeln  können, 
daß  sie  die  besten  und  die  wahren  sind,  wie  aus  Kap.  3, 
§  9  und  aus  §§  3  und  8  d.  vor.  Kap.  hervorgeht  Daß  10 
sie  aber  diesen  Charakter  haben,  will  ich  so  kurz  als 
möglich  zeigen. 

§3. 

Jeder  muß  zugestehen,  daß  der  Inhaber  der  Re- 
gierangsgewalt die  Pflicht  hat,  stets  über  den  Zu- 
stand und  die  Verfassung  der  Regierung  unterrichtet 
zu  sein,  über  das  Gemeinwohl  zu  wachen  und  alles 
ins  Werk  zu  setzen,  was  für  die  Mehrheit  der  Unter- 
tanen von  Nutzen  ist.  Nun  aber  kann  einer  allein 
nicht  alles  überblicken,  nicht  immer  seinen  Geist  in  20 
IStigkeit  und  aufs  Nachdenken  g^chtet  halten;  häufig 
hindern  ihn  Krankheit  oder  Alter  oder  andere  Gründe, 
sich  mit  den  öffentlichen  Angelegenheiten  zu  beschäf- 
tigen. Da  ist  es  also  notwendig,  daß  der  Monarch 
Rate  hat,  denen  der  Stand  der  Dinge  bekannt  ist^  die 
den  König  mit  Rat  unterstützen  und  häufig  seine 
Stelle  vertreten.  Dann  mag  es  geschehen,  daß  die 
Regierung  oder  der  Staat  immer  von  ein  und  dem- 
selben Geiste  beseelt  ist. 

§  4  30 

Weil  es  aber  mit  der  menschlichen  Natur  so  be- 
stellt ist,  daß  jeder  seinen  Privatvorteil  mit  allw 
Leidenschaft  sucht  und  diejenigen  Rechte  für  die  bil- 
ligsten häll^  die  ihm  bei  der  Erhaltung  und  Ver- 
mehrung seines  Besitzes  notwendig  scheinen,  und  weil 
ein  jeder  die  Sache  eines  anderen  nur  so  weit  ver- 
teidigt, als  er  damit  seine  eigene  zu  sichern  glaubt^  so 
müssen  folglich  solche  Räte  gewählt  werden,  deren 
Privatbesitz  und  -vorteil  von  der  allgemeinen  Wohl- 

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110  Abhandluiig  vom  Staate. 

fahrt  und  dem  Frieden  der  Geeamtheit  abhangt  Da- 
nach wird  es  offenbar  für  die  Mehrheit  der  Untertanen 
von  Nutzen  sein,  wenn  aus  jeder  Gattung  oder  Elaase 
von  Bürgern  einige  gewählt  werden,  weil  sie  dann 
die  meisten  Stimmen  in  diesem  Kate  hat  Und  ob- 
wohl diese  Körperschaft^  aus  einer  sehr  großen  Zahl 
von  Bürgern  zusammengesetzt,  notwendig  auch  viele 
ziemlich  ungebildete  in  sich  schließen  muß,  so  ist  es 
doch  sicher,  daß  jeder  in  Geschäften,  die  er  lan^^e 

10  mit  großem  Eifer  betrieben,  hinreichend  erfahren  und 
gewitzigt  ist.  Wenn  daher  nur  solche  gewählt  werden, 
die  bis  zu  ihrem  fünfzigsten  Jahre  ihr  Geschäft  in 
Ehren  betrieben  haben,  so  werden  sie  ausreichend  be- 
fähigt sein,  Ratschläge,  die  ihre  eigenen  Angelegen- 
heiten betreffen,  zu  geben,  zumal  wran  ihn^i  bei 
Sachen  von  größerem  Gewicht  eine  Bedenkzeit  ein- 
geräumt wird.  Dazu  konmit  noch,  daß  ein  aus  nnr 
wenigen  bestehender  Rat  deshalb  durchaus  noch  nicht 
aus  anderen  Elementen  sich  zusammensetzt.  Im  Gegen- 

20  teil  wird  der  größte  Teil  davon  aus.  gerade  solchen 
Leuten  bestehen,,  denn  jeder  wird  dahin  streben,  ein- 
fältige Menschen  zu  Kollegen  zu  haben,  die  an  seinen 
Lippen  hängen,  was  in  großen  Versammlungen  nicht 
statthaben  kann. 

§5. 

Außerdem  ist  es  sicher,  daß  jeder  lieber  regieren 
als  regiert  werden  will  Denn  niemand  üb^läßt  frei- 
willig einem  andern  die  Herrschaft,  wie  Sallust  in 
der  ersten  Rede  an  Cäsar  sagt.   Danach  ist  es  klar, 

80  daß  ein  ganzes  Volk  niemals  sein  Recht  auf  w^ge 
oder  auf  einen  übertragen  würde,  wenn  es  unter  sich 
eins  werden  könnte,  oSrq  von  Streitigkeiten,  wie  sie 
meist  in  den  großen  Versammlungen  entstehen,  in 
Aufruhr  überzugehen.  Daher  überträgt  das  Volk  aus 
freiem  Entschlüsse  nur  das  auf  den  König,  was  es 
ohne  diese  Beschränkung  nicht  in  seiner  Grewalt  haben 
kann,  nämlich  die  Schlichtung  von  Streitfällen  und 
die  Ausführung  der  Eintscheidungen. 

Freilich  kommt  es  auch  häufig  vor,  daß  ein  König 

40  des  Kriegs  wegen  gewählt  wird,  weil  nämlich  Kri^^ 
mit  größerem  infolge  von  Königen  geführt  werdoL 


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7.  Kapitel    Von  der  Monarchie.  111 

Unverstand  ist  es  aber,  Sklaverei  im  Frieden  zu  woUeiiy 
nm  mehr  Erfolg  im  Kriege  za  haben.  Wenn  überhaupt 
bei  einem  Staate  an  Frieden  zu  denken  ist,  dessen 
höchste  Gewalt  bloß  um  des  Krieges  willen  einem  über- 
tragen ist!  Denn  der  kann  ja  seine  Tüchtigkeit  tmd 
das,  was  alle  an  ihm  allein  besitzen,  hauptsächlich  nur 
im  Kriege  an  den  Tag  legen,  während  im  Gegenteil 
der  .Vorzug  der  demola^atischen  Regierung  eben  darin 
besteht,  daß  ihr  Wert  viel  mehr  im  Frieden,  als  im 
Kriege  zur  Greltung  kommt  10 

Aber  aus  welchem  Grunde  auch  der  König  gewählt 
wird,  er  allein  kann  wie  gesagt  nicht  wissen,  was 
dem  Staate  nützlich  ist;  dazu  ist  es,  wie  wir  im  vor.  § 
zagten,  notwendig,  daß  er  eine  Anzahl  Bürger  zu 
Räten  hat  Weil  es  undenkbar  ist,  daß  sich  bei  einer 
zur  Beratung  stehenden  Sache  etwas  ersinnen  ließe, 
was  einer  so  großen  Zahl  von  Menschen  entgangen 
sein  könnte,  so  läßt  sich,  folglich  außer  den  sämtlichen 
Ansichten  dieses  Rates,  die  dem  König  vorgelegt 
werden,  keine  dem  Volkswohl  dienende  weiter  denken.  20 
Weil  nun  des  Volkes  Wohl  höchstes  Gresetz  oder  des 
Königs  höchstes  Recht  iat,  folglich  hat  der  König  das 
Recht,  aus  den  vorgelegten  Ansichten  des  Rates  eine 
auszuwählen,  aber  nich^  gegen  den  Süm  des  ganzen 
Rates  einen  Ehitscheid  zu  J^Uen  oder  seine  Stimme 
abzugeben  (s.  §  25  d.  vor.  Kap.).  Wenn  jedoch  alle 
im  Rate  abgegebenen  Ansichten  dem  Könige  vorzulegen 
wären,  dann  könnte  es  geschehen,  daß  dieser  regel- 
mäßig die  kleineren  Städte,  die:  die  wenigsten  Stinmien 
haben,  begünstigte.  Denn  wenn  auch  die  Geschäfte-  30 
Ordnung  des  Rates  bestimmt,  daß  die  Ansichten  ohne 
Angabe  ihrer  Urheber  vorzulegen  sind,  so  wird  es 
sich  doch  nicht  ganz  verhüten  lassen,  daß  es  nicht 
auf  irgend  eine  Weise  an  die  Öffentlichkeit  kommt 
Deshalb  ist  die  Bestimmung  nötig,  daß  eine  Ansicht, 
die  nicht  mindestens  hundert  Stimmen  auf  sich  ver- 
einigt, für  ungültig  anzusehen  ist,  ein  Recht,  das  die 
größeren  Städte  mit  aller  Entschiedenheit  werden  ver- 
teidigen müssen. 

§  6.  40 

Hier  würde  ich  nun,  wenn  ich  nicht  nach  Kürze 
strebte,  die  anderweitigen  großen  Vorteile  dieses  Rates 

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112  AbhandloBg  Tom  Staate. 

darlegeiL  Einen  jedoch^  der  mir  yom  größte  Ge- 
wicht zu  sein  scheint,  will  ich  anführeuL  Eis  ist  der, 
daß  es  keinen  größeren  Anreiz  sor  Tüchtigkeit  geben 
kann,  als  die  allgemeine  Aussicht^  diese  höchste  Qireii- 
stelle  zu  erreichen.  Denn  durch  den  ElhrgMZ  werden 
wir  alle  am  meisten  geleitet^  wie  ich  in  meiner  Ethik 
ausführlich  gezeigt  haba 

§7. 

Daß  die  Majorilat  dieses  Rates  niemals  Lust  zum 
10  Eriegführen,  sondern  große  Neigung  und  liebe  zum 
Frieden  haben  wird,  ist  zweifellos.  Denn  vom  Kriege 
müssen  sie  fürchten,  Gut  und  Freiheit  zu  verlieren; 
dazu  erfordert  der  Krieg  neue  Ausgaben,  für  die  sie 
aufkommen  müssen,  und  auch  ihre  Kinder  und  An- 
verwandten, die  sonst  die  Sorge  für  das  Hauswesen 
tragen,  sind  gezwungen,  ihren  Eäfer  dem  Kriegshand- 
werk zu  widmen  und  ius  Feld  zu  äehen,  „von  wo  sie 
weiter  nichts  als  unbelohnte  Narben  nach  Hause 
bringen  könnend  Denn,  wie  wir  in  §  31  d.  vor.  Kap. 
20  sagten,  wird  der  Miliz  kein  Sold  gezahlt  und  nach 
§  11  dess.  Kap.  ist  sie  bloß  aus  Bürgern  und  aus 
niemandem  sonst  zu  formieren. 

§8. 

Noch  ein  anderes,  ebenfalls  von  großer  Bedeu- 
tung, kommt  hinzu,  um  Frieden  und  Eintracht  zu  er- 
halten: daß  nämlich  kein  Bürger  unbewegliches  Eigen- 
tum besitzen  soll  (s.  §  12  d.  vor.  Kap.).  Daher  ist  die 
aus  einem  Kriege  drohende  Gefahr  für  alle  fast  gldch; 
denn  alle  werden  genöthigt  sein,  um  Greld  zu  ver- 
80  dienen,  Handel  zu  treiben  oder  untereinander  Geld 
auszuleihen,  wenn  es,  wie  einst  bei  den  Athenern,  ein 
Gesetz  gibt,  das  verbietet^  anderen  als  den  Eänhei- 
mischen  sein  Geld  auf  Zinsen  zu  geben.  So  werden 
sie  also  Geschäfte  betreiben  müssen,  die  entweder 
untereinander  zusammenhängen  oder  die  zu  ihrem  Fort- 
gange dieselben  Mittel  erfordern.  Deshalb  wird  der 
größte  Teil  dieses  Rates  in  bezug  auf  die  gemeinsamen 
Angelegenheiten  und  die  Künste  des  Friedens  meist 
eines  Sinnes  sein,  denn,  wie  wir  §  4  d.  £[ap.  gesagt^ 


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7.  Kapitel.    Von  der  Monarchie.  113 

jeder  verteidigt  die  Sache  einee  anderen  so  weit^  ak 
efT  damit  die  eigene  za  sichern  glaubt 

§9. 

Zweifellos  wird  es  nie  jemandem  in  den  Sinn 
kommen,  diesen  Rat  durch  Geschenke  zu  bestechen. 
Denn  wenn  jemand  auch  einen  od^r  dmi  anderen  ans 
einer  so  großen  Zahl  von  Menschen  für  sich  gewinnen 
ktente»  so  wird  er  damit  doch  nichts  erreichen,  ietat 
wie  gesagt  ist  die  Ansicht,  die  nicht  zum  mindesten 
hnndert  Stimmen  auf  sich  vereinigt,  ungültig.  10 

§10. 

Daß  zudem  die  Mil^Iiederzahl  dieses  einmal  ein- 
gesetzten Bates  sich  nicht  wird  herabsetzen  lasseOt 
ist  leicht  einzusehen,  wenn  man  die  allen  Menschen 
gemeinsamen  Affekte  ins  Auge  faßt  Denn  alle  lassen 
sich  in  erster  Linie  vom  El^geiz  leiten,  und  es  gibt 
keinen  gesunden  Menschen,  der  sein  Leben  nicht  auf 
ein  hohes  Alter  zu  bringen  hoffte.  Berechnen  wir  nun 
die  Zahl  derer,  die  wirklich  das  fünfzigste  oder  sech- 
zigste Jahr  erreichen,  und  snehen  wir  außerdem  die  20 
große  Zahl  der  jährlich  zu  mhlenden  Ratsmitglieder 
in  Betracht»  dann  werden  wir  bald  sehen,  daß  es 
unter  den  Waffenfähigen  kaum  einen  geben  kann,  der 
sich  nicht  große  Ho&iung  machte,  zu  dieser  Würde 
emporzusteigen.  Daher  wwden  alle  das  Recht  des 
Rates  nach  Kräften  verteidigen.  Denn  es  ist  zu  be- 
achten, daß  man  einer  Verschlechterung,  auXier  wenn 
sie  sich  aiknählich  einschleicht,  leicht  vorbeugen  kann. 
Weil  es  aber  das  Vwständlichere  ist  und  weniger 
Mißgunst  erregt,  wenn  aus  allen  Familienverbänden,  80 
als  wenn  aus  nur  wenigen  eine  geringere  Zahl  ge- 
wählt oder  der  eine  oder  andere  Verband  ganz  ausge- 
schlossen wird,  deshalb  kann  (nach  §  16  o.  vor.  Kap.) 
die  Zahl  der  Ratsmitglieder  nur  vermindert  werden, 
wenn  man  gleich  ein  Drittel,  Viertel  oder  Fünftel 
wegnimmt,  und  eine  derartige  Veränderung  ist  doch 
wahrhaftig  sehr  einschneidend  und  empfiehlt  sich  des- 
halb ganz  und  gar  nicht  zum  allgemeinen  Gebrauch. 
Auch  ein  Verzug  oder  eine  Nachlässigkdt  bei  der 

Spin  o  B  ft,  Abhftndlg.  ftb.  d.  Verbeuerg.  d.  Verftandes.        8 

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114  Abhandlimg  vom  Staate. 

Wahl  ist  nicht  zu  befürchten,  weil  in  diesem  Falle 
der  Rat  selbst  ergänzend  eintritt  (s.  §  16  d.  vor.  Kap.). 

§11. 
Der  König  wird  also  entweder  ans  Forcht  vor 
dem  Volke  oder  um  die  Majorität  des  bewaffneten 
Volkes  an  sich  zu  fesseln  oder  wohlgesinnt  in  der 
Sorge  für  das  allgemeine  Beste  immer  diejenige  An- 
sicht bestätigen,  die  die  meisten  Stimmen  auf  sich 
vereinigt,  d.  L  (nach  §  5  d.  Kap.)  die  für  die  Mdir- 
10  heit  des  Staates  die  nützlichere  ist^  und  er  wird  trach- 
ten, die  ihm  vorgelegten  widerstreitenden  Ansichten 
wo  möglich  zu  versöhnen,  um  unter  Aufbietung  seiner 
ganzen  Kraft  alle  an  sich  zu  ziehen,  und  damit  aQe 
im  frieden  wie  im  Krieg  einsehen,  was  sie  an  ihm, 
dem  Einen,  haben.  Dann  wird  er  also  am  meisten  im 
Besitz  seines  eignen  Rechtes  sein  und  die  Herrschaft 
am  meisten  in  Händen  haben,  wenn  er  am  meisten  für 
das  allgemeine  Wohl  des  Volkes  Sorge  trägt 

§12. 

20  Denn  der  König  allein  vermag  es  nicht,  alle  durch 
Furcht  im  Zaume  zu  halten,  sondern  seine  Macht  stützt 
sich  wie  gesagt  nur  auf  die  Zahl  der  Soldaten  nnd 
in  erster  Linie  auf  ihre  Tüchtigkeit  und  Treue,  die 
unter  den  Menschen  stets  nur  so  lange  von  Bestand 
sein  wird,  als  ein  Bedürfnis»  sei  es  ehrenhafte  oder 
schimpflicher  Art,  sie  zusammenhält  Daher  kommt 
es,  daß  Könige  die  Soldaten  häufiger  aufzureizen  als 
im  Zaume  zu  halten  und  ihre  schlechten  noch  mehr 
als  ihre  g^ten  Seiten  zu  übersehen  pflegen,  und  daß 

ao  sie  meistens  die  besten  unterdrücken,  die  untüchtigen 
und  durch  Schwelgerei  verderbten  au&uchen,  sie  an- 
erkennen, sie  mit  Geld  und  Gunst  unterstütze!^  „ihnen 
die  Hände  drücken,  Küsse  zuwerfen  und  für  die  Herr- 
schaft idles  Sklavenwürdige  thun''. 

Damit  also  die  Bürger  vor  allen  vom  König  ge^ 
würdigt  werden  und  damit  sie,  soweit  es  Staatsleben 
oder  Billigkeit  gestattet,  ihr  eigenes  Recht  bewahren, 
dazu  ist  es  nötig,  daß  sich  die  Miliz  bloß  aus  Bürgern 
zusammensetzt   und   daß   eben   diese  auch  den  Rat 


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7.  Kapitel.    Von  der  Monarchie.  115 

bilden.  Im  anderen  Falle  aber  sind  sie  völlig  nnter- 
jocht  und  legen  die  Grundlage  zu  einem  beständigen 
Krieg,  sobald  sie  dulden,  daß  Hülfstruppen  in  ^Id 
genommen  werden,  deren  Gewerbe  der  Krieg  ist  und 
die  bei  Zwietracht  und  £<mpörungen  die  Übermacht 
haben. 

§13. 

Daß  die  Rate  des  Königs  nicht  auf  Lebenszeit  zu 
wählen  sind,  sondern  nur  aui  drei,  vier,  höchstens  fünf 
Jahre,  geht  sowohl  aus  §10  d.Kap.  wie  aus  dem  in  10 

L9  d.  E^ap.  Gesagten  hervor.    Denn  wurden  sie  auf 
^benszeit  gewählt,   dann  könnte  sich  zunächst  der 
größte  Teil  der  Bürger  kaum  Hoffnung  darauf  machen, 
zu  dieser  Ehre  zu  gelangen.  Daraus  würde  dann  unter 
den  Bürgern  eine  große  Ungleichheit  entstehen  und 
mit   ihr   Mißgunst,    beständige   Unzufriedenheit    und 
schließlich  offene  Empörung,  die  sicherlich  herrsch- 
süchtigen Königen  nicht  unwillkommen  wäre.   Aoß^- 
dem  wäre  bei  den  Ratsmitgliedem  selbst^  wenn  die 
Furcht  vor  den  Nachfolgern  in  Wegfall  käme,  die  20 
Folge  eine  große  WillkürUchkeit  in  allen  Beziehungen, 
welcher  der  König  nicht  im  geringsten  entgegentreten 
würde.   Denn  ]e  verhaßter  sie  bei  den  Bürgern  sind, 
desto  mehr  werden  sie  sich  an  den  König  anschließen 
und  geneigt  sein,  ihm  zu  schmeicheln.    Ja,  ein  Zeit- 
raum von  fünf  Jahren  ist  vielleicht  noch  zu  groß,  weil 
ee  doch  in  dieser  Zeit  nicht  ganz  unmöglich  scheint, 
einen  sehr  großen  Teil  des  Rates,  wie  groß  er  auch 
sein  mag,  durch  Geschenke  oder  Gunstb^igungen  zu 
beetechen.    Deshalb  wird  es  weit  sicherer  sein,  wenn  80 
jährlich  zwei  aus  jedem  Familienverband  ausscheiden 
und  ebensoviel  an  ihre  Stelle  treten,  unter  der  Vor- 
aussetzung,  daß  fünf  Ratsmitglieder  aus  jedem  Fa- 
milienverband vorhanden  sein  müssen,  außw  in  dem 
Jahre^  in  dem  der  Rechtskundige  eines  Familienver- 
bfmdes  ausscheidet  und  ein  neuer  an  seine  Stelle  ge- 
wählt wird. 

§14 

Kein  König    kann   sich    überdies   eine   größere 
Sicherheit  versprechen  als  derjenige,   der  in  einem  40 

8* 

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116  Abhandlung  ▼om  Staate. 

solchen  Staate  regiert  Denn  davon  abgesehen,  daß 
derjemge  Bchnell  zugrunde  geht»  dem  seine  Soldaten 
nicht  wohlgesinnt  sind,  so  droht  sicher  den  Eönigea 
die  größte  Gefahr  von  selten  derer,  die  ihnen  am 
nächsten  stehen.  Je  geringer  an  Zahl  and  je  nich- 
tiger infolgedessen  die  Rate  sind,  um  so  mehr  droht 
dem  König  von  ihnen  die  Gefahr,  daß  sie  die  Herr- 
schaft auf  einen  anderen  übertragen.  Nichts  hat  Da- 
vid wahrlich  mdir  erschreckt,  als  daß  sein  eigener 

10  Rat  Achitophel  die  Partei  Absalons  ergriffen  hatte. 
Dazu  kommt  noch,  daß  die  Gewalt»  wenn  sie  ganz 
und  unbeschrankt  einem  übertragen  ist»  viel  leichter 
auch  von  dem  einen  auf  einen  anderen  übergehen  kann. 
„Zwei  gemeine  Soldaten  unternahmen  es,  die  Herr- 
schaft von  Rom  zu  übertragen  und  sie  volIlNrachten  es'' 
(Tacitus,  Hist,  Buch  I). 

Ich  übergehe  die  Kunstgriffe  und  die  listigen 
Ränke  der  Rate,  mit  denen  sie  sieh  schützen  müssen, 
um  nicht  der  Mißgunst  zum  Opfer  zu  fallen,  denn  sie 

20  sind  nur  zu  wohl  bekannt,  und  vr&c  die  Geschichte 
kennt,  muß  wissen,  daß  Treue  für  Rate  meist  der 
Untergang  ist  Um  sich  zu  schützen,  müssen  sie  ver- 
schlagen, nicht  treu  sein.  Ist  hingegen  die  Zahl  der 
Rate  zu  groß,  als  daß  sie  sich  zu  demselben  Ver- 
brechen vereinigen  könnten,  und  sind  sie  alle  unter- 
einander gleich  und  beträgt  ihre  Amtsdauer  nicht 
mehr  als  vier  Jahre,  dann  können  sie  dem  König  nie 
furchtbar  werden,  wenn  er  ihnen  nicht  die  Fr^heit 
zu  nehmen  trachtet,   wodurch  er  aber  alle  Bürger 

80  in  gleiche  Weise  gegen  eich  aufbrächte.  Denn,  wie 
Antonio  Perez  sehr  gut  bemerkt,  eine  unumschränkte 
Herrschaft  haben  ist  für  den  Fürsten  sehr  gefährlich, 
den  Untertanen  sehr  verhaßt»  den  göttlichen  wie 
menschlichen  Einrichtungen  zuwider,  wie  unzahlige  Bei- 
spiele beweisen. 

§15. 

Außer  diesem  habe  ich  im  vorigen  Kapitel  noch 

andere  Grundlagen  gegeben,  aus  denen  für  den  König 

eine  große  Sicherheit  in  der  Herrschaft  und  für  die 

40  Bürger    in    der    Behauptung    der    Freiheit   und   des 

Friedens  entspringt»  wie  ich  am  gehörigen  Orte  zeigen 


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7.  KapiteL    Von  der  Monarchie.  117 

werde.  Denn  vor  aUem  wollte  ich  nachweisen,  wae 
sieh  auf  den  höchstoi  Rat  beäeht  nnd  was  von  größter 
Wichtigkeit  ist;  nun  will  ich  das  übrige  in  der  Reihen- 
folge, in  der  ich  es  vorgebracht  hab^,  weiter  ver- 
folgea. 

§16. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  die  Bürf^er  um 
so  mächtiger  sind  und  folglich  um  so  mehr  im  Be- 
sitze ihres  eignen  Rechtes,  je  großer  und  ]e  besser 
befestigt  ihre  Städte  sind.  Denn  je  sicherer  der  Ort  10 
is^  wo  sie  wohnen,  desto  besser  können  sie  ihre  Frei- 
heit behaupten  oder  desto  weniger  brauchen  sie  einen 
äußeren  oder  inneren  Feina  zu  fürchten,  und  gewiß 
sind  die  Menschen  von  Natur  um  so  mehr  auf  ihre 
Sicherheit  bedacht,  ]e  mehr  Reichtümer  sie  ihr  eigen 
nennen.  Städte  aber,  die  zu  ihrer  Erhaltung  der  Mi^t 
eines  anderen  bedürfen,  haben  nicht  gleiches  Recht 
wie  dieser,  sondern  stehen  so  weit  unter  seinem  Rechte^ 
als  sie  seine  Macht  nötig  haben.  Denn  das  Recht 
wird  bloß  durch  die  Macht  bestimmt,  wie  wir  im  ao 
zweiten  Kapitel  zeigten. 

§17. 

Eben  dieser  Grund,  daß  die  Bürger  im  Besitze 
ihres  eigenen  Rechtes  bleiben  und  ihre  Freiheit  be- 
wahren, eb^i  dieser  macht  es  notwendig,  daß  die  Miliz 
bloß  aus  Bürgern  ohne  eine  Ausnahme  besteht  Denn 
der  bewaffnete  Mensch  ist  völliger  im  Besitze  seines 
Reehtes  als  der  waffenlose  (s.  §  12  d.  £ap.),  und  die- 
ienigen  Bürger  übertragen  ihr  Recht  unumschränkt 
auf  einen  andern,  die  ihm  Waffen  geben  und  ihm  die  80 
Festungswerke  ihrer  Städte  anvertrauen.  Dazukommt 
die  menschliche  Habsucht,  die  mehr  als  alles  die 
meisten  in  ihrem  Bann  hält:  unmöglich  können  Miets- 
fioldaten  ohne  großen  Aufwand  gehalten  werden,  und 
die  Bürger  können  kaum  die  Auflagen  ertragen,  die 
der  Unterhalt  einer  müßigen  Miliz  erfordert 

Daß  aber  der  Oberbefehlshaber  des  fi^anzen  Kriegs- 
heeres oder  eines  großen  Teils  desselben  nur  unter 
d^Bd  Drange  der  Not  auf  höchstens  ein  Jahr  gewählt 

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118  Abhandlang  vom  Staate. 

werden  dürfe,  das  wissen  alle,  die  mit  der  heiligen 
oder  der  Profangeschichte  bekannt  sind.  Die  Vemimft 
lehrt  ]a  nichts  mit  größerer  Deutlichkeit.  Denn  die 
Kraft  des  Reiches  wird  doch  demjenigen  ganz  und  gar 
anvertraut,  dem  man  genug  Zeit  ^flt^  Kriegsruhm 
zu  gewinnen  und  seinen  Namen  über  den  des  Königs 
zu  stellen  oder  sich  das  Heer  durch  Willfährigkeit, 
Freigiebigkeit  und  die  übrigen  Künste  ergeben  zu 
machen,  die  man  bei  Feldherren  gewohnt  ist  und  durch 
10  die  sie  für  andere  Knechtschaft  und  sich  selbst  die 
Herrschaft  erstreben.  Zur  größeren  Sicherheit  des 
ganzen  Staates  habe  ich  beigefügt^  daß  diese  Com- 
mandeure  der  Miliz  aus  den  Räten  des  Königs  oder 
aus  früheren  Räten  zu  wählen  sind,  d.  h.  aus  Mannen, 
die  schon  ein  Alter  erreicht  haben,  in  dem  man  zu- 
meist das  sichere  Alte  dem  gefährlichen  Neuen 
vorzieht 

§18. 

Ich  habe  gesagt,  daß  man  die  Bürger  unter  sich 
20  in  Familienverbände  teilen  und  aus  jedem  die  gleiche 
Zahl  von  Räten  wählen  müsse,  damit  die  größeren 
Städte  im  Verhältnis  ihrer  Bürgerzahl  mehr  Räte  haben 
und,  wie  billig,  mehr  Stimmen  abgeben  können.  Denn 
die  Macht  und  folglich  das  Recht  zur  Regierung  hat 
sich  nach  der  An^hl  der  Bürger  zu  richten,  und  ich 
glaube  nichts  daß  sich  zur  Aufrechterhaltung  dieser 
Gleichheit  unter  den  Bürgern  ein  geeigneteres  Mittel 
denken  läßt,  da  es  doch  bei  allen  natürlich  ist,  daß 
sie  ihrem  Geschlechte  zugerechnet  und  der  Abstam- 
30  mung  nach  von  den  anderen  unterschieden  sein  wollen. 

§19. 

Außerdem  kann  im  Naturzustand  der  Einz^e 
nichts  so  wenig  für  sich  in  Anspruch  nehmen  und  sich 
zu  eigen  machen  als  den  Boden  und  was  in  der  Weise 
mit  dem  Boden  verbunden  ist,  daß  man  es  nirgends 
verbergen  und  es  nicht,  wohin  man  will,  wegtragen 
kann.  Der  Boden  also  und  was  in  der  besagten  Weise 
mit  ihm  verbunden  ist,  gehört  in  erster  Linie  als  Ge- 
meineigentum dem  Staat,  d.  h.  der  Gesamtheit  derer, 

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7.  Kapitel.    Von  der  Monarchie.  119 

die  ihn  mit  vereinten  Kräften  in  Anspruch  nehmen, 
oder  demjenigen,  dem  die  Gesamtheit  die  Macht  über- 
tragen hat,  ihn  für  sich  zu  beanspruchen.  Folglich 
muß  der  Boden  und  was  mit  ilun  yerbnndein  ist,  soviel 
Wert  bei  den  Bürgern  haben,  als  sie  ihn  benotigen, 
um  einen  festen  Wohnsitz  haben  und  das  gemeinsame 
Eecht  oder  die  Freiheit  schützen  zu  können.  Übrigens 
habe  ich  die  Vorteile,  die  der  Staat  daraus  riehen 
mufl,  in  §  8  d.  Kap.  gezeigt 

§  20.  10 

Damit  die  Bürger  möglichst  gleich  sind,  was  im 
Staate  in  erster  Linie  nötig  ist,  dürfen  nur  Abkömm- 
linge eines  Königs  als  Adlige  gdten.  Wäre  es  aber 
allen  Abkömmlingen  eines  Königs  erlaubt^  zu  heiraten 
oder  Kinder  zu  zeugen,  dann  würden  sie  im  Laufe 
der  Zeit  zu  einer  sehr  grollen  Zahl  anwachsen  und  für 
den  König  und  die  Gesamtheit  nicht  nur  eine  Last» 
sondern  eine  furchtbare  Gefahr  werden.  Denn  Men- 
schen, die  einen  Überfluß  an*  freier  Zeit  haben,  denken 
zumeist  auf  Böses.  So  kommt  es,  daß  Könige  vor  allem  90 
des  Adels  wegen  sich  verleiten  lassen,  Krieg  zu  führen, 
denn  vom  Adel  umlagert  haben  sie  mehr  Sicherheit 
und  Buhe  durch  den  Krieg  als  durch  den  Frieden. 
Aber  da  dies  ja  hinreichend  bekannt  ist,  lasse  ich 
es  fallen,  ebenso  wie  das  §§  16 — 2fT  d.  vor.  Kap.  Ge- 
sagte; denn  die  Hauptsache  ist  in  diesem  E^apitel  be- 
wiesen und  das  übrige  ist  von  selbst  klar. 

§21. 

Allgemein  bekannt  ist  auch,  daß  die  Zahl  der 
Richter  so  groß  sein  muß,  daß  eine  Bestechung  ihrer  80 
Mehrheit  durch  einen  Privatmann  unmöglich  ist, 
sowie  auch  daß  die  Abstimmung  geheim,  nicht  öffent- 
lich sein  muß  und  daß  die  Bichter  für  ihre  Mühe 
eine  Vergütung  erhalten.  Grewöhnlich  haben  sie  über- 
all ein  jährliches  Gehalt,  weshalb  sie  sich  nicht  sehr 
beeilen,  die  Prozesse  zu  schlichten  und  weshalb  oft 
die  Untersuchungen  gar  kein  Ende  nehmen.  Wo  femer 
die  Gütereinziehung  zum  Vorteil  der  Könige  erfolgt. 


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120  Abhaadlasg  Tom  Stoate, 

da  „wird  bei  den  Ekkenntnissen  nicht  auf  Recht  und 
Wahrheit»  sondern  auf  die  Größe  dee  Vermögens  ge- 
aehen;  Angeberaen  allenthalben  und  gerade  die 
Beichsten  &Uen  ihn^  zur  Beute,  und  diese  Härten 
und  Unerträglichkeiten,  entschuldigt  noch  durch  die 
Notwend^keit  dee  Krieges,  dauern  anch  im  Frieden 
forf  Singegen  wird  die  Habgier  von  Richtern»  die 
nur  auf  zwei,  höchstens  drei  Js£re  eingesetzt  werden, 
durch  die  Furcht  vor  den  Nachfolgern  in  Schranken 
10  gehalten;  um  davon  ganz  zu  schweigen,  daß  die  Richter 
keine  unbeweglichen  Güter  haben  können,  sondern 
ihr  Geld,  um  Nutzen  daraus  zu  aehen,  ihren  Mit- 
bürgern ausleihen  müßten.  Dadurch  nnd  sie  genötigt, 
mehr  auf  deren  Vorteil  ala  auf  deren  Nachteil  bedacht 
zu  sein,  zumal  wenn  die  Zahl  der  Rieht«  selbst  wie 
gesagt  groß  ist 

§22. 

Für  die  Miliz  ist  wie  gesagt  k^  Sold  zu  be- 
stimmen,  denn  der   höchste  Lohn  für   den  Eriegs- 

20  dienst  ist  die  Freiheit.   Im  Naturzustande  trachtet  ja 

(  leder,  bloß  um  der  Freiheit  willen  sich  nach  Möglich- 
keit zu  verteidigen,  und  für  seine  kriegerische  Tüchtig- 
keit erwartet  er  keinen  anderen  Lohn,  ab  daß  er  eein 
eigener  Herr  seL  Im  Staatsleben  aber  sind  alle  Bürger 
gleich  dem  Menschen  im  Naturzustand  anzusehen: 
während  sie  also  für  das  Staatsleben  Kriegsdienst 
leisten,  schützen  sie  sich  und  sind  für  sich  tütig. 
Rate  dagegen,  Richter,  Staatsbeamte  u.  s.  f.  sind  mehr 
für  andere  als  für  eich  tätig,  weshalb  ihnen  billig 

80  ein  Lohn  für  ihre  Tätigkeit  bestimmt  wird.  Es  kommt 
hinzu,  daß  es  im  Kriege  keinen  ehrenhafteren  und 
stärkeren  Ansporn  zum  Siege  geben  kann,  als  das 
Bild  der  Freiheit 

Wird  dagegen  ein  Teil  der  Bürger  zum  Kriegs- 
dienst bestimmt,  weshalb  man  ihnen  notwendigerweise 
auch  einen  gewissen  Sold  wird  festsetzen  müssen, 
dann  wird  sie  der  König  natürlich  höher  als  die 
übrigen  schätzen,  wie  ich  §  12  d.  Kap.  zeigtet.  Das 
gibt  dann  Menschen,  die  bloß  die  Künste  des  Krieges 

40  verstehen,  die  im  Frieden  wegen  zu  vieler  müßiger 
Zeit  durch  Schwelgerei  verderbt  werden,  und  die  end- 


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7.  Kapitel.    Von  der  Monarchie.  121 

lichy  vermögensIoB  wie  sie  sind,  immer  nur  an  Raub, 
Eürgerzwist  und  Krieg  denken.  Denmach  können  wir 
getrost  behaupten,  daß  ein  monarchisches  Reich  von 
dieser  Art  in  Wahrheit  ein  Zustand  des  Krieges  sei, 
bei  dem  allein  das  Kriegsheer  die  Freiheit  genießt, 
während  alle  andren  SUavon  sind. 

§23. 

Was  ich  §  32  d.  vor.  Kap.  über  die  Aufnahme 
von  Fremden  in  die  ZaJil  der  Bürger  gesagt  habe, 
spricht,  wie  ich  glaube,  für  sich  selbst  Auch  wird  10 
meines  Erachtens  niemand  zweifeln,  daß  die  nächsten 
Blutsverwandten  des  Königs  ferne  von  ihm  sein  und 
sich  nicht  mit  den  Geschäften  des  Krieges,  sondern 
des  Friedens  befassen  müssen,  die  ihnen  selbst  Ehre 
und  dem  Staate  Ruhe  bringen.  Dies  schien  jedoch  den 
türkischen  Herrschern  nicht  sicher  genug,  weshalb  sie 
die  unverbrüchliche  Sitte  haben,  alle  ihre  Brüder  um- 
zubringen. Kein  Wunder,  denn  je  unumschränkter 
das  Recht  der  Herrschaft  einem  übertragen  ist,  um 
60  leichter  kann  es  auch,  wie  ich  §  14  d.  Kap.  zeigte,  20 
von  dem  einen  auf  einen  anderen  übergehen.  Der 
monarchische  Staat  aber,  wie  wir  ihn  hier  fassen,  in 
dem  es  nämlich  keinen  Mietssoldaten  gibt,  kann  in 
der  angegebenen  Weise  hinlänglich  die  Sicherh^t  des 
Königs  garantieren. 

§24 

Auch  über  das  §§  34  und  35  d.  vor.  Kap.  Ge- 
sagte kann  niemand  im  Ungewissen  sein.  Daß  aber 
der  König  keine  Ausländerin  zur  Frau  nehmen  darf, 
läßt  sich  leicht  begründen.  Denn  abgesehen  davon,  ao 
daß  zwei  Staaten,  auch  wenn  sie  durch  ein  Bündnis 
miteinander  vereinigt  sind,  doch  im  Zustand  der  Feind- 
schaft stehen  (nach  Kap.  3  §  14),  so  muß  es  in  erster 
Linie  verhütet  werden,  daß  nicht  aus  Familien- 
angelegenheiten des  Königs  ein  Krieg  entsteht 
Weil  nun  Streitigkeiten  und  Meinungsverschieden- 
hräten  vor  allem  aus  einer  solchen  durch  Ehebündnis 
zustande  gekommenen  Verbindung  erwachsen  und  weil 
die  Streitfragen  zwischen  zwei  Staaten  gewöhnlich 
durch  das  ]&egsrecht  entschieden  werden,  folglich  40 


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122  Abhandlung  vom  Staate. 

ist  es  verderblich  für  einen  Staat,  in  eine  enge  Ver- 
bindung mit  einem  anderen   einzutreten. 

Ein  unseligee  Beispiel  dafür  lesen  wir  in  der 
Schrift:  nach  dem  Tode  Salomos,  der  eine  Tochter 
des  Königs  von  Ägypten  geheiratet  hatte,  führte  Beia 
Sohn  Rehabeam  einen  höchst  anglücklichen  Krieg 
mit  Snsak,  dem  König  von  Ägypten,  von  dem  er  voll- 
ständig unterworfen  wurde.  Auch  die  Ehe  Lud- 
wigs XrV.,  des  Königs  von  Frankreich,  mit  der  Tochter 
10  Philipps  IV.  wurde  die  Ursache  zu  einem  Kriege  in 
unserer  Zeit,  und  auß^  diesen  finden  sich  noch  sehr 
viele  Beispiele  in  der  Geschichte. 

§25. 

Die  äußere  Gestalt  des  Reiches  muß  eine  und  die- 
selbe bleiben  und  infolgedessen  muß  der  König  einer 
sein  und  aus  immer  dem  gleichen  Geschlechte  und 
die  Herrschaft  unteilbar.  Wenn  ich  aber  sagte,  der 
älteste  Sohn  des  Königs  sei  der  rechtmäßige  Nach- 
folger des  Vaters  oder,  wenn  keine  Kindw  da  sind, 

20  der  nächste  Blutsverwandte  des  Königs,  so  geht  das 
schon  aus  §  13  d.  vor.  Kap.  hervor,  ebenso  auch 
daraus,  daß  die  Wahl  des  Königs,  wenn  sie  einmal 
durch  das  Volk  erfolgt,  wo  möglich  eine  immer  dauernde 
sein  muß.  Andernfalls  wäre  die  notwendige  Folge, 
daß  die  höchste  Regierungsgewalt  oft  auf  das  Volk 
überginge,  was  die  größte  und  darum  gefährlichste 
Veränderung  bedeutet 

Wer  aber  behauptet,  der  König  könne  deshalb, 
weil  er  der  Herr  des  Reiches  ist  und  es  mit  unum- 

80  schränkten  Rechte  besitzt,  wenn  er  wolle,  das  Reich 
übertragen  und  wen  er  wolle,  zum  Nachfolger  wählen 
und  demnach  sei  der  Sohn  des  Königs  der  gesetzliche 
Erbe  der  Regierung,  der  ist  sicherlich  im  Irrtum. 
Denn  der  Wille  des  Königs  hat  nur  so  lange  Rechts- 
kraft^ als  er  das  Schwert  des  Staates  in  Händen  hält; 
denn  das  Recht  der  Regierung  bestimmt  sich  bloß 
nach  ihrer  Macht  Der  König  kann  also  zwar  dw  Re- 
gierung entsagen,  aber  einem  anderen  kann  er  die 
Herrschaft  nur  übertragen,  wenn  das  Volk  oder  der 

40  stärkere  Teil  desselben  seine  Zustimmung  gibt. 


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7.  Kapitel.    Von  der  Moosrchic.  123 

Damit  das  verständliclier  werde,  ist  zu  bemerken, 
daß  die  Kinder  nicht  nach  natürlichem,  sondern  nach 
bürgerlichem  Rechte  die  Erben  ihrer  Eltern  sind. 
Denn  bloß  vermöge  der  Macht  des  Staates  ist  der 
Einzelne  Herr  gewisse  Güter.  Vermöge  derselben 
Macht  oder  desselben  Rechtee,  nach  dem  der  Wille 
eines  Menschen,  mit  dem  er  über  seine  Güter  verfügt, 
Gültigkeit  hat,  vermöge  derselben  Macht  oder  des- 
selben Rechtes  bleibt  auch  eben  dieser  Wille  selbst 
nach  seinem  Tode  in  Gültigkeit,  so  lange  wie  der  10 
Staat  besteht  Aof  diese  Weise  behält  im  Staatsleben 
jeder  das  Recht,  das  er  währ^id  seines  Lebens  hatte, 
anch  nach  seinen  Tode,  weil  wie  gesagt  nicht  seine 
eigene,  sondern  des  Staates  Macht,  die  ewig  ist,  es 
ihm  ermöglicht,  über  seine  Güter  eine  Verfügung  zu 
treffen.  Ganz  anders  ist  aber  das  Verhältnis  beim 
König.  Denn  der  Wille  des  Königs  ist  das  bürger- 
liche Recht  selbst^  und  der  König  ist  selber  der 
Staat  Ist  also  der  König  gestorben,  dann  hat  so- 
zusagen auch  der  Staat  geendet,  das  Staatsleben  kehrt  20 
zum  Naturzustand  und  folglich  auch  die  höchste  Gewalt 
ganz  natürlich  zum  Volke  zurück,  das  deshalb  das 
Recht  hat,  neue  Gesetze  zu  geben  und  alte  abzu- 
schaffen. 

Daraus  wird  es  klar,  daß  nur  derjenige  recht- 
maßiger  Nachfolger  des  Königs  ist,  den  das  Volk 
zum  Nachfolger  will,  oder,  bei  einer  Theokratie,  wie 
es  einst  der  Staat  der  Juden  war,  wen  Gott  durch 
den  Propheten  auserwählt  hat  Außerdem  können  wir 
daraus  entnehmen,  daß  das  Schwert  des  Königs  oder  89 
sein  Recht  in  Wahrheit  der  Wille  eben  des  Volkes 
oder  seines  stärkeren  Teiles  ist,  oder  wir  können 
das  auch  daraus  entnehmen,  daß  vernunftbegabte 
Menschen  sich  niemals  so  ihres  Rechtes  entäußern, 
daß  sie  aufhören  sollten,  Menschen  zu  sein  und  sich 
wie  Vieh  behandeln  ließen.  Aber  es  ist  nicht  nötig, 
das  weiter  zu  verfolgen. 

§26. 
Übrigens  kann  niemand  das  Recht  über  Religion 
oder  Gottesverehrung  auf  einen  andern  übertragen.  40 
Indes  habe  ich  mich  über  diesen  Gegenstand  in  den 


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124  Abbandlnng  vom  Staate. 

beiden  letzten  Kapiteln  meines  theologisch-poli- 
tischen Traktates  anfiführlich  ausgesprochen,  so 
daß  es  überflüssig  wäre^  es  hier  sä  wiederhoIeiL 

Hiermit  meine  ich  die  Grundlagen  der  mon- 
archischen Regiernng  zwar  kurz^  ab^  hinlänglich  klar 
dargelegt  zu  haben.  Ihren  Zusammenhang  aber  und 
die  Gleichartigkeit  der  Re^^erung  wird  man  leicht  be- 
merken, wenn  man  sie  mit  einiger  Aufmerksamkeit 
betrachten  will.  Ich  habe  nur  noch  daran  zu  erinnern, 
10  daO  ich  hier  eine  monarchische  Regierung  im  Sinne 
habe^  die  ein  freies  Volk  begründet^  denn  nur  ^em 
solchen  können  sie  von  Nutzen  sein.  Denn  ein  Volk, 
das  schon  an  eine  andere  Regierungsform  gewohnt 
ist,  wird  nicht  ohne  große  Gefahr  eines  Umsturzes 
des  gesamten  Staates  die  bestehendeui  Grundlagen  auf- 
reißen und  das  ganze  Staatsgebaude  umändern  können. 

§27. 

Was  ich  geschrieben  habe,  werden  vielleicht  jene 
mit  Lächeln  aufnehmen,  welche  die  Fehler,  die  idlen 

20  Sterblichen  inne  wohnen,  bloß  auf  das  niedere  Volk 
beschränken:  „beim  Pöbel  gebe  es  keine  Mäßigung^, 
„schrecklich  sei  er,  wenn  er  nicht  fürchte^';  „die  Plebs 
diene  sklavisch  oder  herrsche  übermütig'',  „Wahrheit 
und  Urteil  seien  ihr  fremd'*  u.  s.  w.  Abcar  die  Natur 
ist  nur  eine  und  allen  gemeinsam.  Uns  betrügen  nur 
Macht  und  Bildung,  weshalb  wir  oft  sagen,  wenn  zwei 
das  gleiche  tun:  der  darf  das  ungestraft  tun,  jener 
darf  es  nicht;  nicht  weil  die  Sache  verschieden  wäre, 
sondern  der  sie  tut 

30  Den  Herrschenden  ist  der  Hochmut  eigen.  Hoch- 
mütig sind  die  Menschen  durch  eine  Ernennung  auf 
ein  Jahr  —  wie  nun  gar  die  Adligen,  die  für  immer 
ihre  Ehren  besitzen  I  Ihre  Anmaßung  wird  aber  durch 
Stolz»  Luxus,  Verschwendung,  durch  dnen  gewissen 
Stil  in  ihren  Fehlern  und  durch  eine  sozusagen  raf- 
finierte Albernheit  una  Eleganz  der  Verderbtheit  so 
drapiert,  daß  ihre  Fehler,  die,  an  sich  betrachtet  und 
dadurch  so  recht  hervorstechend,  gemein  und  schlecht 
sind«  in  den  Augen  der  Unerfahrenen  und  Unwissenden 

40  einen  Schein  des  Nobleu  und  Feinen  hab^i. 


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7.  EftpiteL    Von  der  Monwchie.  125 

DaD  femer  der  Pöbel  keine  Mäßigung  kennt  nnd 
schrecklich  yst,  wenn  er  nicht  fürchtet  —  allwdings, 
Freiheit  nnd  EnechtBchaft  sind  nicht  leicht  sa  ver- 
einigen. DaO  schließlich  nicht  Wahrheit  noch  Urteil 
bei  dem  gemeinen  Volke  sa  finden  ist»  dajrüber  darf 
man  sich  nicht  wnndem,  wenn  die  wichtigsten  Staats- 
geschafte  im  geheimen  vor  ihm  abgmiacht  werden 
and  es  nur  ans  dem  wenigen,  was  sich  nicht  verheim- 
lichen läßt»  seine  Schlüsse  ziehen  darl  Denn  Zorück- 
haltong  des  Urteils  ist  eine  seltene  Tugend.  Zu  wollen,  10 
daß  man  alles  geheim  vor  den  Bürgern  verhandle 
nnd  daß  sie  doch  keine  verkehrten  Urteile  darüber 
fällen  nnd  nicht  alles  ungünstig  auslege  ist  die 
größte  Torheit  Denn  wenn  das  gemeine  Volk  sich 
mäßigen,  über  das  sa  wenig  Bekannte  sein  Urteil 
znrückhalten  oder  sich  aus  dem  wenigen,  was  es  daraus 
erfahren,  ein  richtiges  Urteil  bilden  könnte,  daim  ver- 
diente es  wahrhaftig  eher  za  regieren  als  regiert  su 
werden. 

Aber  wie  gesagt,  die  Natur  ist  bei  allen  die  ao 
gleiche.  Alle  sind  übermütig,  wran  sie  herrschen, 
sind  schrecklich,  wenn  sie  nicht  fürchten,  und  überall 
„wird  die  Wahrheit  am  meisten  verfälscht  von  den 
Erbitterten  oder  den  Sklavenseelen'^  vor  allem  da, 
wo  einer  oder  wenige  herrschen,  die  in  ihren  Ent- 
scheidungen nicht  auf  Recht  und  Wahrheit  sehen, 
sondern  auf  die  Größe  des  Vermögens. 

§28. 
Die  HietBsoldaten  femer,  die  an  Eriegssucht  ge- 
wöhnt sind  und  Eälte  und  Hunger  ertragen  können,  80 
verachten  gewöhnlich  den  Bürgertroß,  weil  er  beim 
Erstürmen  oder  beim  Eampf  in  offener  Feldschlacht 
weit  hinter  ihnen  zurücksteht    Daß  aber  darum  ein 
Staat  minder  glücklich  oder  von  geringerer  Dauer  sein 
sollte,   wird  kein  Mensch  von  gesundem  Verstände 
behaupten.    Im  Gegenteil,  kein  billiger  Beurteiler  der 
Dinge  wird  leugnen,  daß  der  Staat  dauerhafter  als 
alle  ist,  der  bloß  das  Erworbene  schützen,  aber  nicht 
Fr^ndes  begehren  kann,  und  der  deshalb  den  Krieg 
in  jeder  Weise  abzuwenden,  den  Frieden  mit  allem  40 
Eifer  zu  erhalten  strebt 


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126  Abhandlung  vom  Staate. 

§29. 

ÜbrigenA  gestehe  ich,  daß  es  kaum  möglich  ist, 
die  Absichten  eines  solchen  Staates  gejieim  ssa  halten. 
Es  wird  mir  aber  jeder  darin  recht  geben,  daß  es 
viel  besser  ist,  wenn  die  guten  Absichten  des  Staates 
den  Feinden  bekannt  sind,  als  wenn  die  schlechten 
Greheimnisse  der  Tyrannen  vor  den  Bürgern  verborgen 
bleiben.  Diejenigen,  die  die  Geschäfte  des  Staates 
im  geheimen  betreiben  können,  haben  ihn  unbeschränkt 

10  in  ihrer  Grewalt  und  sie  stellen  den  Bürgern  im  Fried^i 
nach  wie  dem  Feind  im  Erlege.  Daß  Schweigen  für 
den  Staat  oft  von  Nutzen  ist,  ksinn  niemand  bestreiten; 
daß  aber  eben  dieser  Staat  ohne  Schweigen  nicht  be- 
stehen könnte,  wird  nie  jemand  glaubhaft  machen 
können.  Jemandem  hingegen  den  Staat  unbedingt  an- 
zuvertrauen und  dabei  zugleich  die  Freiheit  zu  be- 
wahren, ist  ganz  unmöglich  und  Torheit  ist  es,  wenn 
man  einem  geringen  Schaden  durch  das  größte  Obel 
entgehen  will.   Das  ist  aber  immer  dieselbe  Leier  bei 

20  denen,  die  nach  unbeschränkter  Herrschaft  streben: 
das  Interesse  des  Staates  fordere  es  durchaus,  daß 
seine  Geschäfte  geheim  betrieben  würden  und  anderes 
derart,  das,  je  mehr  es  mit  dem  Schein  der  Nützlich- 
keit bemäntelt  wird,  um  so  mehr  mit  der  drückendsten 
Sklaverei  endigt 

§30. 

Obgleich  nun  meines  Wissens  nie  ein  Staat  nach 
den  angegebenen  Bedingungen  eingerichtet  worden  ist^ 
so  wären  wir  doch  imstande^   durch  die  Erfahrung 

80  selbst  zu  zeigen,  daß  diese  Form  der  monarchischen 
Regierung  die  beste  ist,  wenn  wir  nur  die  Ursachen 
der  Erhaltung  und  Vernichtung  jedes  civilisierten 
Staates  betrachten  wollten.  Ich  könnte  es  jedoch  nicht, 
ohne  großen  Überdruß  beim  Lesen  zu  erwecken,  hi^ 
ausfübren. 

Ein  merkwürdiges  Beispiel  will  ich  aber  doch 
nicht  mit  Stillschweigen  übergehen.  Es  ist  das  Reich 
der  Arragonesen,  die  mit  einw  ganz  besonderen 
Treue  gegen  ihre  Könige    erfüllt    waren,    mit   der 

40  gleichen  Standhaftigkeit  aber  auch  die  Einrichtungen 


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7.  Kapitel.    Von  der  Monarchie.  127 

ihreB  Kelches  unverletzt  bewahrt  haben.    Sobald  sie 
das    manriflche   Sklavenjoch   vom   Nacken   geworfen 
hatten^  beschlossen  sie,  sich  einen  König  sa  wählen. 
Übeor  die  Bedingungen  dafür  konnten  sie  eich  aber 
nicht  recht  einigen  und  so  beschlossen  sie,  den  Papst 
darüber  um  Bat  zu  fragen.    Dieser,  der  sich  dabei 
vollkommen   als   der   Stellvertreter   Christi   benahm, 
schalt  sie,  daß  sie  sich  nicht  durch  das  Beispiel  der 
Juden  warnen  ließen  und  so  hartnäckig  einen  König 
haben  wollten.    Er  riet  ihnen  jedoch,  wenn  sie  ihren  10 
Sinn  nicht  ändern  wollten^  sollten  sie  erst  dann  zur 
Wahl  eines  Königs  schreiten,  wenn  sie  vollkommen 
gerechte  und  mit  dem  Geist  ihres  Volkes  überein- 
stimmende  Satzungen  festgestellt  hatten;  vor  allem 
sollten   sie  einen   höchsten   Bat  schaffen,    der  den 
Königen  wie  in  Sparta  die  Ephoran  gegenüber  stünde 
und  der  das  unumschränkte  Becht  habe,  die  zwischen 
dem  König  und  den  Bürgern  entstehenden  Streitig- 
keiten zu  schlichten.    Diesem  Bäte  folgten  sie  und 
setzten  die  Bechte  fest,  wie  sie  ihnen  am  billigsten  20 
schienen;    ihr  höchster  Interpret    und    folglich    der 
höchste  Bichter  sollte  nicht  der  König  sein,  sondern 
der  Bat,  den  man  „die  Siebzehn''  nennt  und  dessen 
Vorsitzender  „Justicia''  heißt.    Dieser  „Justicia''  und 
diese  „Siebzehn'',  die  nicht  durch  Abstimmung,  sondern 
durch  das  Los  auf  Lebenszeit  gewählt  werden,  haben 
ein  unumschränktes  Becht,  alle  Urteile,,  die  von  anderen 
Körperschaften,  staatlichen  oder  kirchlichen,  oder  vom 
König  selbst  gegen  einen  Bürger  gefällt  wurden,  zu 
wideiTufen  und  zu  verwerfen,  so  daß  jeder  Bürger  80 
das  Becht  hat,  sogar  den  König  selbst  vor  diesem 
Gericht  zu  belangen.    Außerdem  hatten  sie  auch  in 
früherer  Zeit  das  Becht,  den  König  zu  wählen  und 
ihn  seiner  Gewalt  zu  entsetzen. 

Nach  Verlauf  vieler  Jahre  brachte  es  aber  der 
König  Don  Pedro,  genanut  der  Dolch,  auf  dem  Wege 
der  Erschleichung,  der  Bestechungen  und  Ver- 
sprechungen und  durch  Gefälligkeiten  allerart  dahin, 
daß  dieses  Becht  aufgehoben  wurde  —  sobald  er  es 
erreicht  hatte,  schnitt  er  sich  vor  aller  Augen  die  40 
Hand  mit  dem  Dolche  ab  oder,  wie  ich  eher  glauben 
möchte,  er  brachte  sich  eine  Wunde  daran  bei,  indem 

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128  Abhandlung  Yom  Staate. 

er  hinzufügte:  nur  um  den  Preis  von  Eonigsblut  solle  es 
den  Untertanen  erlaubt  sein,  einen  König  zu  wählen — ; 
unter  einer  Bedingung  aber  geschah  es:  daß  sie  jetzt 
und  fortan  zu  den  Waffen  greifen  könnten  gegen  jeg- 
liche Gewalt,  womit  einer  zu  ihrein  Schaden  sich  der 
Herrschaft  bemächtigen  wolle,  sogar  gegen  den  König 
selbst  und  gegen  den  künftig^i  Thronerben,  wenn  sie 
auf  diese  Weise  sich  ihrer  bemächtigen  sollten.  Durch 
diese  Bedingung  wurde  eigentlich  jenes  frühere  Recht 

10  weniger  aufgehoben  als  b^ichtigt.  Denn  wie  ich.  Kap.  4 
§§  6  und  6  gezeigt,  kann  der  König  nicht  nach  bürger- 
lichem Rechte,  sondern  nur  nach  dem  Rechte  des 
Krieges  seiner  Herrschgewalt  entsetzt  werden,  oder 
seine  Gewalt  können  die  Untertanen  auch,  nur  mit 
Gewalt  zurückweisen.  Außer  dieser  einen  wurden  nocli 
andere  Bedingung^  vereinbart,  die  ab^  mit  unserem 
Zweck  nichts  zu  tun  hab^L 

Mit  diesen  unter  allg^neiner   Zustimmung  ver- 
einbarten Satzungen  blieben  sie  nun  eine  ungemein 

20  lange  Zeit  hindurch  unangefochten,  immw  l^i  der 
gleichen  Treue  des  Königs  gegen  die  Untertanen  und 
der  Untertanen  gegen  den  König.  Nachdem  abn:  das 
Königreich  Castilien  durch  Erl^haft  an  Ferdinand 
fiel,  der  zuerst  den  Namen  des  Katholische  erhielt, 
da  begannen  die  Castilianer,  auf  die  Freihmt  der  Ar- 
ragonesen  eifersüchtig  zu  werden  und  deshalb  unauf* 
hörlich  dem  Ferdinand  zu  raten,  jene  Rechte  aufzu- 
heben. Jener  aber,  an  die  unumschränkte  Herrschaft 
noch  nicht  gewöhnt,  wagte  keinen  Versuch  und  gab 

80  den  Ratgebern  folgende  Antwort:  „Abgesehen  davon, 
daß  er  das  Königreich  Arragon  unter  den  ihnen  be- 
kannten Bedingungen  überkommen  habe  und  daß  er 
aufs  feierlichste  geschworen  habe,  sie  aufrecht  zu  ^- 
halten,  und  abgesehen  davon,  daß  es  eines  Menschen 
unwürdig  sei,  das  gegebene  Wort  zu  brechen,  abge- 
sehen davon  hege  er  die  Überzeugung,  daß  sein  König- 
reich so  lange  von  Bestand  sein  werde,  als  die  Rück- 
sicht auf  die  Sicherheit  für  den  König  ebenso  groß 
sei  wie  für  die  Untertanen,  so  daß  weder  der  König 

40  über  die  Untertanen  noch  die  Untertanen  übw  den 
König  ein  Übergewicht  hätten;  denn  wenn  der  eine 
oder  der  andere  Teil  mächtiger  werde,  dann  werde 

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7.  Kapitel.    Von  der  Monurohie.  129 

der  schwächere  Teil  nicht  nur  die  frühere  Gleichheit 
wiedersagewiimen,  sondern  ans  Schmerz  üb«  den  er- 
littenen Schaden  ihn  dem  anderen  heinmusahlen  suchen, 
wovon  der  Unter^^ang  des  einen  oder  beider  Teile  die 
Folge  wäre'^  Diese  weisen  Worte  könnte  ich  gar 
nicht  genug  bewundern,  wenn  sie  ein  König  gesprochen 
hätte,  der  über  Sklaven,  nicht  über  freie  Menschen 
zu  herrschen  gewohnt  war. 

Die  Arragonesen  behielten  also  auch  nach  Fer- 
dinand ihre  Freiheit,  aber  dann  nicht  mehr  nach  dem  10 
Rechte,  sondern  durch  die  Gnade  übermächtiger  Könige, 
bis  auf  Philipp  11.,  der  sie  zwar  mit  größerem  Erfolg, 
aber  mit  nicht  geringerer  Grausamkeit  als  die  Pro- 
vinzen der  vereinigten  Niederlande  unterdrückte. 
Allerdings  scheint  Philipp  III.  alles  wieder  in  den 
früheren  Stand  zurückversetzt  zu  haben;  die  Arrago- 
neeen  aber,  von  denen  die  meisten  nur  den  Wunsch 
haben,  mit  den  Mächtigeren  in  Übereinstinunung  zu 
sein  —  es  ist  ja  Torheit,  wider  den  Stachel  zu  locken  — , 
während  die  übrigen  sich  durch  die  Furcht  einschüch-  ao 
tem  lassen,  die  Arragonesen  haben  nichts  weiter  von 
der  Freiheit  behalten  als  schöne  Worte  und  leere 
Satzungen. 

§31. 

Wir  schließen  also,  daß  sich  das  Volk  aus- 
reichende Freiheit  unter  einem  König  bewahren  kann,- 
wenn  es  nur  bewirkt,  daß  die  Iblcht  des  Königs 
einzig  durch  ^e  Macht  des  Volkes  selbst  bestimmt 
und  durch  den  Schutz  des  Volkes  selbst  aufrecht 
erhalten  wird.  Dies  war  die  einzige  Regel,  der  ich  so 
bei  der  Festsetzung  der  Grundlagen  fifr  die  mon- 
archische Regierung  gefolgt  bin. 


8 p  1  n  o  a  a ,  Abhandlg.  ab.  d.  VerbMserg.  d.  Verstände!.        9 

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Achtes  Kapitel 

Daß  die  aristokratische  Regierung  aus 
einer  großen  Zahl  von  Patrisiern  bestehen 
muß;  von  ihren  Vorzügen  und  daß  sie  eich 
mehr  der  unumschränkten  als  der  monarchi- 
schen Regierung  nähert  und  deshalb  taug- 
licher zur  Erhaltung  der  Freiheit  ist 

§1- 

Soweit  von  der  monarchischen  Regierung.  Nun 
10  will  ich  angebei^  auf  welche  Weise  die  aristo- 
kratische räüzarichten  ist^  um  Dauer  za  verqkrecheiL 
Eine  aristokratische  Biegierung  nannten  wir  die, 
welche  nicht  einer,  sondern  einige  aus  dem  Volke 
Gewählte  in  Händen  haben,  die  wir  fortan  Patrizier 
nennen  wollen.  Ich  sage  ansdrflddich  „die  einige 
Gewählte  in  Händen  hat^^.  Denn  darin  best^t  der 
Haaptonterschied  zwischen  der  aristokratiBchen  und 
der  demokratischen  Regierung,  daß  bei  der  ersteren 
das  Recht  za  regieren  bloß  von  «ner  Wahl  abhängt, 
ao  bei  der  letzteren  dagegen  von  einem  sososagen  ange- 
borenen oder  durch  Glück  erworbenen  Rechte^  wie 
wir  am  geeigneten  Orte  erklären  werden.  Wenn  auch 
in  einem  Staate  das  gesamte  Volk  in  die  Zahl  der 
Patrizier  aufgenommen  wird,  so  wird  doch,  soteini 
nur  jenes  Recht  kein  erbliches  ist  und  nicht  durch 
ein  allgemeines  Gesetz  auf  andere  übergeht^  der  Staat 
durchaus  ein  aristokratischer  bleiben;  denn  es  werden 
]a  nur  ausdrücklich  Gewählte  in  die  Zahl  d^  Patrizier 
aufgenommen.  Wären  diese  Patrizier  aber  bloß  zweie, 
80  dann  wird  der  eine  mächtiger  zu  werden  suchen  ab 


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8.  Kapitel.    Von  der  AriBtokratie.  181 

der  andere,  und  der  Staat  wird  leicht  wegen  der  za 
^oßen  Ifacht  des  einen  in  zwei  Parteien  mch  flpalten 
oder  in  drei,  vier  oder  fünf,  wenn  drei,  vier  oder  fünf 
ihn  beherrschten.  Die  Parteien  werden  aber  um  so 
schwächer  sein,  je  größer  die  Zahl  derer,  denen  die 
Regierung  übertragen  ist  Folglich  muA  man  bei  einer 
aristokratischen  Regierung,  damit  sie  von  Dauer  ist^ 
das  Minimum  der  Patrisier  notwendig  unter  Berück- 
sichtigung der  Größe  des  Staates  Seümt  festsetsen. 

§2.  10 

Gesetzt  also,  bei  einem  Staate  von  mäßiger  Größe 

fenügen  hundert  auserlesene  Männer,  denen  die 
ochste  Regierunssgewalt  übertragen  ist  und  denen 
folglich  das  Recht  sosteht,  Patrizier  ssu  EoDegen 
zu  wählen,  wenn  einer  ton  ihn^  mit  dem  Tode  ab- 
geht Sicherlich  wird  ihr  ganzes  Streben  darauf  ge- 
richtet sein,  daß  ihre  Kinder  oder  ihre  nächsten  Bluts- 
verwandten ihnen  nachfolgen.  Die  Folge  davon  wird 
sein,  daß  die  höchste  Regierungsgewalt  immer  in  den 
Iffinden  derer  liegen  wir(C  die  das  Glück  haben.  Söhne  ao 
oder  Blutsverwandte  von  Patriziern  zu  sein. 

Weil  man  nun  unter  hundert  Menschen,  die  ihre 
Bhrenstellen  einem  Zufall  verdanken,  kaum*  dreie  findet, 
die  durch  Bildung  und  Klugheit  tauglich  und  tüchtig 
smd,  so  wird  wiederum  die  Folge  sein,  daß  die  Re- 
gierungsgewalt  nioht  in  den  Händen  der  hundert, 
sondern  nur  in  den  Händen  von  sweien  oder  dreien 
liegt,  die  ihre  geistigen  Vorzüge  dasu  be&higen  und 
die  leicht  alles  an  sich  ziehen  werden,  und  jeder  wird, 
wie  es  die  menschliche  Begierde  mit  sich  bringt»  nach  80 
der  Monarchie  streben  und  sich  den  Weg  zu  ihr  bahnen 
können.  Wollen  wir  also  eine  richtige  Rechnung  er- 
halten, dann  muß  die  höchste  Reffierungsgewalt»  die 
nach  dem  Größenverhältnis  hundert  Patriser  min- 
destens forderte,  auf  mindestens  fünftausend  über- 
tragen werden.  Bei  diesem  Verhältnis  kann  es  gar 
nicht  fehlen,  daß  sich  hundert  geistig  hervorragende 
Ißnner  finden,  unter  der  Voraussetzung  eben,  daß 
sich  unter  fünfzig,  die  sich  um  Ehrenstellen  be- 
werben und  sie  erhalten,  immer  einer  findet^  d^  dm  40 

9* 

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18S  Abhandlung  Tom  Staate. 

Besten  ebenbürtig  iflt^  abgesehen  von  jenen,  die  den 
Vorzügen  der  Besten  nacheifern  und  die  deshalb  eben- 
falls würdig  sind,  zu  r^eren. 

§8. 
Der  hanfigere  Fall  ist  der,  daß  die  Patrizier 
Bürger  einer  Stadt  sind»  die  die  Hauptstadt  eines 
ganzen  Reiches  bildet,  in  der  Art,  daß  der  Staat 
oder  die  Republik  ihren  Namen  trägt,  wie  frühw  der 
römische  Staat»  heute  der  venezianische,  genue- 

10  sische  u.  s.  w.  Die  Republik  Holland  dagegen  hat 
ihren  Namen  von  der  ganzen  Provinz,  woher  es  kommt, 
daß  die  Untertanen  dieses  Staates  eine  größere  Frei- 
heit genießen. 

Bevor  wir  nun  die  Grundlagen  bestimmen  können, 
auf  die  sich  die  aristokratische  Regierung  stützen 
muß,  ist  der  Unterschied  anzugeben  zwischen  der  Re- 
gierung, die  auf  Einen,  und  derjenigen,  die  auf  ein^i 
genügend  großen  Rat  übertragen  wird.  Dieser  Unter- 
schied ist  allerdings  sehr  groß.    Denn  zunächst  ist 

20  die  Kraft  eines  Menschen  der  Übernahme  einer  ganzen 
Regierung  nicht  gewachsen,  wie  wir  Kap.  ^  §  5  aus- 
führten, was  ohne  offenbaren  Widersinn  niemand 
von  einem  genügend  großen  Rate  behaupten  kann; 
denn  wer  von  einem  genügend  großen  Rate  spricht^ 
der  erklärt  ihn  eben  der  Ubernume  der  Herrschaft 
für  gewachsen.  Der  König  braucht  also  durchaus 
Räte,  ein  derartiger  Rat  Inraucht  sie  keineswegs.  Fernw 
sind  Könige  sterblich,  Ratsversammlungen  dau^n.  Da- 
her kehrt  die  Regiwungsgewalt,  wenn  sie  einmal  einem 

do  genügend  großen  Rate  übertragen  worden  ist»  niemals 
zum  Volke  zurück,  was  bei  der  monarchischen  Re- 
gierung, wie  wir  §  25  d.  vor.  Kap.  zeigten,  nicht  der 
Fall  ist  Drittens  ist  die  Regierung  eines  Königs 
wegen  seiner  Jugend,  seiner  Krankheit^  seines  Alters 
oder  aus  anderen  Gründen  oft  zweifelhaft;  die  Ifacht 
eines  derartigen  Rates  hingegen  bleibt  immer  eine 
und  dieselbe.  Viertens  ist  der  Wille  eines  Menschen 
sehr  wechselnd  und  unbeständig,  und  deshalb  ist  bei 
der  monarchischen  Regierung  alles  Recht  zwar  der  er- 

40  klärte  Wille  des  Königs,  wie  ich  §  1  d.  vor.  Kap. 
sagte,  aber  nicht  aller  Wille  des  Königs  darf  Recht 

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a  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  188 

sein  —  vom  Willen  einee  genügend  großen  Rates  kann 
man  das  nicht  sagen.  Denn  da  ja  gerade  die  Rats- 
versabimlungy  wie  ich  eben  zeigte,  keine  Räte  braucht» 
so  maß  notwendig  all  ihr  erklärter  Wille  Recht  sein. 
Daraus  dürfen  wir  schließen,  daß  die  einem  ge- 
nügend großen  Rate  übertragene  Regierung  eine 
nnumschrlnkte  ist  oder  sich  am  meisten  der  unum- 
Bchränkten  nähert  Denn  wenn  es  eine  unum- 
schränkte Regierung  gibt,  so  ist  es  in  Wahr- 
heit die,  welche  ein  ganzes  Volk  in  Händen  hat  10 

§4. 

Insofern  jedoch  diese  aristokratische  Regiwung, 
wie  eben  gezeigt  niemals  zum  Volke  zurückkehrt  und 
niemals  eine  Befragung  des  Volkes  dabei  statthat 
sondern  unbedingt  jeglicher  Wille  dieses  Rates  Recht 
ist  80  ^^  8ie  durchaus  als  unumschränkt  betrachtet 
werden.  Folglich  müssen  sich  ihre  Grundlagen  bloß 
auf  den  Willen  und  das  Urteil  dieses  Rates  stützen, 
nicht  aber  auf  die  Wachsamkeit  des  Volkes,  das  ja 
von  der  Beratung  wie  von  der  Abstimmung  ausge-  ao 
schlössen  ist  Die  Ursache  also,  warum  in  der  Praxis 
die  Regierung  keine  unumschränkte  ist  kann  nur  darin 
Hegen,  daß  das  Volk  den  Herrschenden  Furcht  ein- 
flößt und  dadurch  eine  gewisse  Freiheit  für  sich  be- 
hält, die  es  zwar  nicht  nach  ausdrücklichem  Gesetz» 
aber  doch  stillschweigend  in  Anspruch  nimmt  und  be- 
hauptet 

§5. 

Es  ergibt  sich  also,  daß  der  Zustand  dieser  Re- 
gierung dann  der  beste  sein  wird,  wenn  sie  so  einge-  80 
richtet  ist,  daß  sie  d^  unumschränkten  am  nächsten 
kommt  d.  L  daß  das  Volk  möglichst  wenig  zu  fürchten 
ist  und  bloß  die  Freiheit  behält,  die  ihm  nach  der 
Verfassung  dieses  Staates  notwendig  zugestanden 
werden  muß.  Diese  Freiheit  ist  dum  nicht  so  sehr 
ein  Recht  des  Volkes,  sondern  des  gesamten  Staates, 
den  eben  nur  die  Patrizier  für  sich  beanspruchen  und 
behaupten.  Auf  diese  Weise  wird  nämlich  die  Praxis 
am  besten  mit  der  Theorie  übereinstimmen,  wie  ans 

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184  Abhaadlnng  Tom  Staate. 

dem  vor.  §  hervorsteht  nnd  auch  an  sich  klar  ist  Un- 
zweifelhaft liegt  die  Regierung  um  so  weniger  in  den 
Händen  der  Patrizier»  je  me&  Bechte  das  Volk  für 
sich  in  Anspruch  nimmt,  wie  sie  in  Niederdeutsch- 
land gewohnlich  die  Handwerksinnungen,  gemeinhin 
»yGilden""  genannt^  besitzen. 

§6. 

Daraus»  daß  die  Regierung  unumschränkt  d^n 
Rate  übertragen  ist^  ist  für  das  Volk  noch  nicht  die 
10  Gefahr  einer  verhaßten  KnechtBchaft  zu  fürchten. 
Denn  der  Wille  eines  so  großen  Rates  kann  nicht  so 
sehr  durch  Laune  als  durch  Vernunft  bestimmt  werdeiL 
Durch  schlechte  Leidenschaften  werden  ja  die  Men- 
schen nach  verschiedenen  Seiten  hin  gezogen,  durch 
einen  Geist  sozusagen  können  sie  nur  geleitet  werden, 
wenn  das  Ziel  ihres  Strebens  ein  ehrenhaftes  ist  oder 
wenigstens  den  Schein  des  Ehrenhaften  hat 

Bei  der  Bestimmung  der  Grundlagen  für  eine 
20  aristokratische  Re^erung  ist  in  erster  Linie  darauf 
zu  achten,  daß  sie  sich  einzig  auf  den  Willen  und 
die  Macht  eben  dieses  höchsten  Rates  stützen  derart» 
daß  der  Rat  nach  Möglichkeit  im  Besitz  seines  eifi;enen 
Rechtes  ist  und  ihm  keine  Gefahr  vom  Volke  droht. 
Um  dieee  bloß  auf  dem  Willen  und  der  Macht 
des  höchsten  Rates  beruhenden  Grundlage  zu  be- 
stimmen, wollen  wir  sehen,  welche  Friedensgrund- 
lagen bloß  der  Monarchie  eig^  dem  aristokratischen 
Staate  aber  fremd  sind.  Denn  wenn  wir  diese  durch 
80  andere  gleichwertige  ersetzen,  die  sich  für  den  aristo- 
kratischen Staat  eignen,  und  die  übrigen  Grundlagen, 
wie  sie  schon  festgelegt  sind,  belassen,  dann  werden 
zweifellos  alle  Ursachen  zu  Unruh^i  aufgehoben  oder 
es  wird  diese  Regierung  doch  nicht  weniger  sicher  sein 
als  die  monarchuche.  Im  Gegent^  um  so  viel  wird 
sie  sicherer  und  ihre  Verfassung  besser  sein,  als 
sie  sieh  in  höherem  Maße  als  die  monarchische  ohne 
Beeinträchtigung  von  Frieden  und  Freiheit  (s.  §§  3 


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8.  Kapital    Von  der  Anttokntie.  186 

und  6  d.  Kap.)  der  muunschrankteii  Begienmgi  nähert 
Denn  je  eroßer  das  Recht  der  höchsten  Gewalt  ist, 
nm  80  mehr  etimmt  die  Staatsform  mit  dem  Vemimft- 
gebot  fiberdn  (nach  Ki^.  3  |  6)  und  ist  daher  ge- 
eigneter sor  Erhaltung  von  Frieden  and  Freiheit.  Wir 
woIIot  also  das  Kap.  6  §  9  Gesagte  dnrchg^ent  nm 
das  dieser  Staatsform  Frmnde  sa  entfemoi  ond  das 
ihr  Angemessene  aa  erkenneiL 

§8. 

Zuerst  ist  es  nötig,  eine  oder  mehrere  Städte  10 
zu  gründen  und  zu  befestigen;  darüb«  kann  kein 
Zweifel  sein.  Diejenige  ist  aber  in  erster  Linie  zu 
befestigen,  die  Hauptetädt  des  ganzen  Reichs  wird, 
sodann  auch  die  Grenzstädte.  IHe  Reichshanptstadt, 
die  das  höchste  Recht  hat^  muß  machtiger  sein  als 
alle  anderen.  Übrigens  ist  es  in  diesem  Staate  völlig 
überflüssig,  alle  Einwohner  in  Familienverbande  ein- 
zuteilen. 

§9. 

Die  Miliz  betreffend  —  da  in  diesem  Staate  20 
die  Gleichheit  nicht  unter  allen,  sondern  nur  unter 
den  Patriziern  zu  erstreben  ist  und  vor  allem,  da 
die  Macht  der  Patrizier  größer  ist  als  die  des  Volkes, 
80  gehört  es  sicher  nicht  zu  den  Gesetsen  oder  Grund- 
rechten dieses  Staates,  daß  die  Miliz  nur  aus  Unter- 
tanen gebildet  wird.  Eines  ist  aber  vor  aUem  nötig, 
daß  keiner  unter  die  Patrizier  aufgenommen  wird, 
der  nicht  das  Kriegswesen  gehörig  versteht.  Daß  aber 
die  Untertanen  vom  Kriegsdienst  befreit  sein  sollen, 
wie  einige  wollen,  ist  der  reine  Unverstand.  Denn  der  80 
Sold,  der  den  Untertanen  gezahlt  wird,  bleibt  doch 
im  Lande,  wahrend  alles,  was  dem  fremden  Soldaten 
gezahlt  wird,  ganz  und  gar  verloren  geht  Dazu  kommt 
außerdem  noch,  daß  die  beste  Kraft  des  Staates  da- 
durch geschwächt  wird.  Denn  sicherlich  kämpfen  di» 
vorzfigUch  mit  tapferem  Sinne,  die  für  Haus  und  Herd 
kämpfen.  Damm  sind  off^ibar  diejenigen  nicht 
weniger  im  Irrtum,  die  Generale,  Obersten,  Haupt- 

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136  Abhandlang  vom  Staate. 

leute  0.  s.  w.  nur  aus  den  Patriziern  wählen  lassen. 
Denn  wie  sollten  wohl  die  Soldaten  tapfer  kämpfen, 
denen  num  jede  Hoffnung  auf  Ruhm  und  Ehren  nimmt 
Wollte  man  hingegen  durch  Gresetzesbegtimmiing 
den  Patriziern  verbietan,  nötigenfalls  ausländische 
Soldaten  anzuwerben,  sei  es  zu  ihrer  Verteidigung,  zur 
Unterdrückung  von  Unruhen  oder  auB  irgendwelchen 
anderen  Gründen,  so  würde  ein  solches  Verbot^  abge- 
sehen davon,  daß  es  unklug  wäre^  auch  dem  höchsten 

10  Rechte  der  Patriäer  widwstreiten  (s.  hierüber  §§  3, 
4  und  6  d.  Kap.). 

Übrigens  dEurf  der  Kommandant  eines  ArmeecorxiB 
oder  der  gesamten  Kriegsmacht  nur  im  Kriege  und 
zwar  bloß  aus  den  Patriziern  gewählt  werden;  er 
soll  nur  ein  Jahr  lang  den  Oberbefehl  führen,  eine 
Verlängerung  seiner  Befugnis  und  eine  Wiederwahl 
soll  ausgeecUossen  sein.  Dieses  Recht  ist  in  der  Mon- 
archie, besonders  aber  im  aristokratischen  Staate  notig. 
Denn  wenn  auch  wie  gesagt  viel  leichter  die  R&- 

90  gierungsgewalt  von  einem  Manne  auf  einen  anderen 
als  von  einem  freien  Rate  auf  einen  Mann  übertragen 
werden  kann,  so  geschieht  es  doch  oft,  daß  die  Pa- 
trizier von  ihren  Heerführern  unterdrückt  werden  — 
zu  weit  größerem  Schaden  für  den  Staat.  Denn  wird 
der  Monarch  aus  dem  Wege  geräumt»  so  wechselt  nicht 
die  Regierungsform,  sondern  nur  der  Herrscher.  Im 
aristokratischen  Staate  kimn  es  nicht  ohne  den  Um- 
sturz der  Regierung  und  den  Untergang  der  hervor- 
ragendsten Männer  geschehen.    Die  traurigsten  Bd- 

80  spiele  dafür  hat  uns  Rom  geliefert 

Übrigens  hat  der  Grund,  warum  in  der  Monarchie 
das  Heer  wie  gesagt  ohne  Sold  dienen  soll,  in  diesem 
Staat  nicht  statt  Denn  da  die  Untertanen  von  Be- 
ratungen und  Abstimmungen  ausgeschlossen  sind,  so 
haben  sie  als  Fremde  zu  gelten  und  dürfen  deshalb 
nicht  unter  ungünstigeren  Bedingungen  als  die  Frem- 
den zum  Kriegi^enst  geworben  werden.  Dabei  ist  auch 
nicht  zu  befürchten,  daß  der  Rat  sie  in  seiner  An- 
erkennung bevorzugt  Es  ist  sogar  rätlicher,  daß  die 

40  Patrizier  den  Soldaten  für  ihre  Dienste  eine  bestimmte 
Belohnung  aussetzen,  damit  nicht  jeder  wie  gewöhn- 
lich seine  Leistungen  über  Grebühr  hoch  einschätzt. 


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8.  Kapitel.    Von  der  AriBtokratie.  187 

§10. 

AuB  diesem  Grunde^  daß  aoOer  den  Patriziern 
alle  Fremde  sind,  ist  es  ohne  Grefährdong  des  Ge- 
samtstaates nicht  möglich,  daß  Äcker,  Häuser  und 
aller  Grund  und  Boden  Gromeingut  bleiben  und  den 
fiinwohnem  nur  gegen  jährlichen  Zins  in  Pacht  ge- 
geben werden.  Denn  die  Untertanen,  die  keinen  Teil 
an  der  Regierung  haben,  würden  im  Unglück  leicht 
alle  die  Städte  verlassen,  wenn  sie  ihre  Besitztümer 
hinbringen  konnten,  wohin  sie  wollten.  Deshalb  sind  10 
die  Äcker  und  Grundstücke  dieses  Staates  nicht  an 
die  Untertanen  zu  verpachten,  sondern  zu  verkaufen, 
tmter  der  Bedingimg  jedoch,  daß  sie  vom  Jahresertrag 
in  jedem  Jahre  eine  bestimmte  Quote  abzugeben  haben 
n.  8.  w.,  wie  es  in  Holland  geschieht. 

§11. 

Nach  diesen  Betrachtungen  gehe  ich  weiter  zu 
den  Grundlagen,  auf  die  sich  der  Höchste  Bat 
stützen  und  in  denen  er  Halt  finden  muß.  Ich  habe 
gezeigt,  daß  die  lütgliederzahl  dieses  Bates  in  einem  20 
maßig  großen  Staate  gegen  fünftausend  betragen  muß 
(§  2  d.  Kap.).  Nun  ist  ein  Verfahren  zu  ermitteln, 
welches  Gewähr  bietet,  daß  nicht  allmählich  die  Ke* 
gierung  auf  wenigere  übergeht,  sondern  daß  sich  die 
Zahl  proportional  dem  Wachstum  des  Staates  selbst 
vermehrt;  femer,  daß  soweit  als  möglich  die  Gleich- 
heit unter  den  Patriaern  gewahrt  bleibt;  sodann,  daß 
in  den  Batsversammlungen  ein  schneller  Greschäfts- 
gang  herrscht;  daß  für  das  Gemeinwohl  gesorgt  wird, 
und  schließlich,  daß  die  Macht  der  Patrizier  oder  des  80 
Rates  größer  ist  als  die  des  Volkes,  doch  so,  daß  das 
Volk  ^Mlurch  keinen  Schaden  leidet 

§12. 

Die  größte  Schwierigkeit,  das  erste  zu  erreichen, 
entspringt  aus  dem  Neid.  Die  Menschen  sind  näm- 
Uch  wie  gesagt  von  Natur  Feinde,  und  diese  Natur 
behalte  sie  auch,  wenn  sie  gleich  durch  die  Gesetze 

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188  Abhaadlang  vom  Staate. 

verbunden  und  zasammengeeehloBsen  werden.  Daher 
kommt  es  nach  meiner  Meinung,  daß  demokratische 
Staaten  sich  in  aristokratiBche  und  diese  schließlich 
in  Monarchien  verwandeln. 

Denn  ich  bin  fest  übersseugt^  daß  die  meisten 
aristokratischen  Staaten  früher  demokratisch  gewes^ 
sind.  Denn  ein  Volk,  das  neue  Wohnsitze  suchte,  hat 
immer,  wenn  es  sie  gefunden  und  angebaut  hatten 
die  Gleichberechtigung  zur  Regierung  unberührt  be- 

10  wahrt  —  niemand  gSbt  freiwillig  einem  andern  die 
Herrschgewali  Obschon  es  nun  jeder  für  billig  halt^ 
daß  ihm  das  gleiche  Recht)  gegen  den  anderen  zusteht^ 
wie  auch  dem  anderen  gegen  ihn,  so  hält  er  es  doch 
für  unbillig,  daß  die  zuziehenden  Fremden  das  gleiche 
Recht  wie  sie  selbst  besitzen  sollen  in  einem  Staate, 
den  sie  mit  Mühe  gesucht  und  unter  Einsatz  ihres 
Blutes  in  Besitz  genommen  haben.  Damit  geben  sich 
auch  die  Fremden  selbst  zufrieden,  die  ja  nicht  um 
zu   herrschen,   sondern   in   Verfolgung  ihrer  Privat- 

20  geschifte  eingewandert  sind,  und  die  es  für  eine 
genügende  Vergünstigung  halten,  wenn  man  ihnen 
die  Freiheit  zugesteht  i^en  Geschäften  ungefährdet 
nachzugehen.  Mittlerweile  wächst  aber  das  Volk  durch 
die  Zuwanderung  der  Fremden,  die  nach  und  nach 
die  Sitten  der  Einheimischen  annehmen,  bis  sie  sich 
schließlich  nur  dadurch  noch  von  diesen  unterscheiden, 
daß  ihnen  das  Recht  auf  Ehrenstellen  fehlt  Während 
ihre  Zahl  von  Tag  zu  Tag  steigt»  sinkt  aus  vielen 
Gründen  die  der  Bürger.  Oft  sterben  ja  Familien  aus, 

30  andere  werden  wegen  verbrecherischer  Handlungen 
ausgeschlossen,  und  die  meisten  kümmern  sich  wegen 
ihrer  knappen  Vermögensverhältnisse  nicht  um  das 
Staatswesen.  Unterdessen  denken  die  Mächtigeren  nur 
darauf,  allein  zu  herrschen.  So  kommt  nach  und  nach 
die  Regierung  in  die  Hände  weniger  und  schließlich 
durch  Parteiungen  in  die  eines  J^nzigen. 

Noch  andere  Ursachen,  die  solche  Staaten  zer- 
stören, könnte  ich  diesen  hinzufügen;  da  sie  aber 
genugsam  bekannt  sind,  will  ich  sie  übergehen  und 

40  nunmehr  der  Ordnung  nach  die  Gesetze  darlegen, 
durch  die  sich  der  Staat,  von  dem  wir  handein,  er- 
halten muß. 


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8.  KftpiieL    Von  der  Aristokratie.  189 

§13. 

Das  oberste  Geeetz  dieeeB  Staates  muß  das  sein» 
welches  das  Verhältnis  der  Zahl  der  Patrizier 
SU m  Volke  bestünmi  Das  Vwhältnis  zwischen  beiden 
moO  (nach  §  1  d.  Eap.)  so  gehalten  werden»  daß  die 
Zahl  der  Patriaer  proportional  der  Vermehrnng  des 
Volkes  zanimmi  Und  dieses  Verhältnis  muß  (nach 
dem  §  2  d.  Kap.  Gesagten)  ungefiihr  1 :  60  s«n»  d.  h. 
die  Ungleichheit  im  V^rh^^tnis  der  Zahl  der  Patrizier 
som  Volke  darf  nie  größer  sein«  Denn  die  Zahl  der  10 
Patrizier  kann  (nach  §  1  d.  Eap.)  unter  Beibehaltung 
der  Staatsform  viel  größer  sein  im  Verhältnis  zur 
Volkszahl.  Bloß  in  ihrer  zu  geringen  Zahl  liegt  die 
Gefahr.  Wie  man  aber  dafür  sorgen  muß^  daß  dieses 
Gesetz  unverletzt  bleibt^  will  ich  bald  an  geeignete 
Stelle  zeigen» 

§14. 

Die  Patrizier  wwden  nur  aus  gewissen  Familien 
an  bestimmten  Orten  gewählt  Dies  aber  ausdrück- 
lich durch  Gesetz  festeulegen,  ist  unheilvoll  Denn  20 
Familien  sterben  häufig  aus,  auch  bedeutet  die  Aus- 
schließung für  die  übrigen  stets  einen  Sehimpi  Dasu 
kommt  außerdem  noch,  daß  die  Ek'blichkeit  der  Pa- 
trizierwürde dieser  Staatsform  widerstreitet  (nach  §  1 
d.  Kap.).  Auf  diese  Weise  scheint  die  Regierung 
eher  eine  demokratische  zu  sein,  wie  wir  sie  §  12 
d.  Kap.  beschrieben  haben,  weil  sie  in  den  Händen 
von  äußerst  wenigen  Bürgern  liegt  Eine  Uaßregel 
aber  dagegen,  daß  die  Patrizier  ihre  Söhne  und  Bluts- 
verwandten wählen  und  daß  folglich  das  Recht  zu  80 
regieren  in  bestimmten  Familien  bleibt»  ist  unmög- 
lich, )a  sie  wäre  unsinnig,  wie  ich  §  39  d.  Kap.  zeigen 
werde.  Sobald  sie  indes  dieses  Recht  nicht  aus- 
drücklich durch  Gesetz  ehalten  und  die  übrigen  da^ 
von  ausgeschlossen  werden  —  solche  nämlich,  die 
im  Staate  geboren  sind,  die  Landessprache  reden, 
keine  Ausländerin  zur  Frau  haben,  nicht  der  Ehren- 
redite  beraubt  sind,  nicht  in  dienender  Stellung  sind 
noch  durch  knechtische  Verrichtung  ihren  Lebens- 
unterhalt verdienen,  zu  welch  letzteren  auch  die  Wein-  40 

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140 1  Abhandlosg  Tom  Staate. 

und  Bierwirte  ssa  rechnen  sind  — ,  dann  wird  die 
Staatsform  nichtedeetoweniger  gewahrt  und  das  Yw- 
haltnis  zwischen  Patriziern  and  Volk  kann  aufrecht  er- 
halten bleiben. 

§15. 

Wenn  auJ}erdem  das  Gesetz  bestimmt^  daß  keine 
jüngeren  Leute  wählbar  sind,  dann  wird  der  FVilI 
nie  eintreten,  daß  das  Recht  zu  regieren  in  den  Händen 
einiger  weniger  Familien  bleibt  Daher  soll  das  Ge- 
lo'setz  bestimmen,  daß  niemand  vor  seinem  dr^igsten 
Jahre  in  die  Liste  der  Wählbaren  aufgenommen 
werden  kann. 

§16. 

Drittens  ist  dann  zu  bestimmen,  daß  alle  Patrizier 
zu  gewissen  festgesetzten  Zeiten  sich  an  einem  Orte 
der  Stadt  zu  versammeln  haben.  Wer  dieser  Ver- 
sammlung nicht  beiwohnt,  es  sei  denn,  daß  er  durch 
Krankheit  oder  ein  Staatsgeschäft  daran  verhindert 
ist,  der  wird  mit  einer  empfindlichen  Geldstrafe  be- 
20  legt  Denn  wenn  dies  nicht  geschähe,  würden  die 
meisten  über  der  Sorge  um  ihr  Hauswesen  die  Sorge 
für  das  Gemeinwesen  vernachlässigen. 

§17. 

Die  Aufgabe  dieses  Kates  soll  es  sein,  Gesetze 
zu  geben  und  abzuschaffen,  sowie  ihre  patrizischen 
Amtsgenossen  und  alle  Staatsbeamten  zu  wählen.  Denn 
wer  das  höchste  Recht  besitzt»  wie  es  nach  unserer 
Voraussetzung  dieser  Rat  hat,  der  kann  die  Macht; 
Gresetze  zu  geben  und  abzuschaffen,  unmöglich  auf 
80  einen  anderen  übertragen,  ohne  sich  damit  smes 
Rechtes  zu  begeben  und  es  jenem  zu  übertragen,  dem 
er  diese  Macht  verlieL  Denn  wer  auch  nur  einen 
Tag  lang  die  Macht  hat,  Gesetze  zu  geben  und  ab- 
zuschaffen, der  kann  die  ganze  Staatsform  umwandeln. 
Die  täglichen  Regierungsgeschäfte  dagegen  kann  der 
Rat  unter  Wahrung  seines  höchsten  Rechts  anderen 
zeitweise  nach  festgestellten  Rechtssätzen  zur  Be- 
sorgung übertragen.   Zudem,  wenn  die  Staatsbeamten 


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8.  EapiteL    Von  der  Aristokratie.  141 

von  einem  anderen  ab  von  diesem  Rate  gewählt 
würden,  könnten  die  Mitglieder  deeaelben  eher  Un- 
mündige als  Patrizier  hei&^n. 

§18. 
Manche  pflegen  für  diesen  Rat  einen  Leiter  oder 
ein  Oberhanpt  za  wählen,  entweder  lebenslänglich 
wie  die  Venezianer  oder  auf  Zeit  wie  die  Genuesen, 
aber  mit  so  viel  Vorsichtsmaßregeln,  daß  man  zur 
Genüge  sieht,  es  sei  große  Gefahr  für  den  Staat  dabei. 
Ohne  Zweifel  nähert  sich  der  Staat  auf  diese  Weise  10 
der  Monarchie.  Soviel  wir  aus  der  Geschichte  dieser 
Staaten  schließen  können,  lag  der  Grand  darin,  daß 
sie  vor  der  Einsetzung  dieser  l^tsversammlungen  unter 
Leitern  oder  Dogen  wie  unter  Königen  gestanden 
waren.  So  ist  die  Wahl  eines  Leiters  zwar  ein  not- 
wendiges Erfordernis  dieses  Volkes,  aber  nicht  des 
aristokratischen  Staates  an  sich. 

§19. 
Weil  aber  die  höchste  Gewalt  dieses  Staates  bei 
der  Gesamtheit  dieses  Rates  ist,  nicht  aber  bei  jedem  20 
einzelnen  seiner  Mitglieder  —  sonst  wäre  es  ja  nur 
ein  wirrer  Volkshaufe  — ^  deshalb  müssen  notwendig 
die  Patri^er  alle  so  an  die  Gesetze  gebunden  sein, 
daß  sie  gleichsam  einen  Körper  bilden,  der  von 
einem  Geiste  geleitet  wird.  Die  Gesetze  sind  aber 
für  sich  allein  ohnmächtig  und  werden  leicht  leebrochen, 
wenn  ihre  Vollstrecker  eben  diejenigen  sind,  die  sich 
auch  vergehen  können  und  die  si^  gerade  an  der 
Strafe  ein  Beispiel  nehmen  und  ihre  Amtsgenossen 
deshalb  beetirafen  müssen,  um  die  eigene  Begierde  80 
durch  die  Furcht  vor  dieser  Strafe  zu  zügeln,  was  ein 
vollkommener  Unsinn  wäre.  Daher  ist  ein  Mittel  zu 
suchen,  durch  welches  die  Ordnung  dieses  Höchsten 
Rates  und  die  Rechte  des  Staates  unverletzt  gewahrt 
werden«  so  jedoch,  daß  unter  den  Patriziern  die  größt- 
mögliche Gleichheit  herrscht 

§20. 
Da  aber  durch  einen  Leiter  oder  ein  Oberhaupt^ 
der  auch  Stimmrecht  im  Rate  hat^  notwendig  große 


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142  Abhandlung  rom  Staate. 

Ungleichheit  entetehen  maß,  namenüich  omi  äw  Macht 
willen,  die  ihm  notwendig  zageetanden  werd^i  muß, 
damit  er  sein  Amt  mit  größerer  Sicherheit  aosüben 
kann,  so  kann  richtig  erwogen  keine  dem  Gemeinwohl 
nützlichere  Einrichtung  getroffen  w^den,  als  wenn 
man  diesem  höchsten  Ra^  einen  anderen  ans  einigen 
Patriziem  gebildeten  unterordnet,  deren  Aufgabe  nur 
darin  bestent,  darüber  2u  wachen,  daß  die  Staatsge- 
setze, soweit  sie  die  Ratsversammlungen  und  die 
10  Staatsbeamten  betreffen,  unverletzt  bleiben.  Daher 
müssen  sie  die  Macht  haben,  jeden  Staatsbeamten,  der 
sich  vergangen,  d.  h.  der  gegen  die  seinen  AmtB- 
kreis  betreffenden  Gesetze  verstoßen  hat^  vor  ihr  €re- 
richt  zu  laden  und  nach  den  best^enden  Rechten  zu 
verurteilen.  Diese  werden  wir  im  folgenden  Syn- 
dici  nennen. 

§21. 

Diese  sind  auf  Lebenszeit  zu  wählen.  Denn  würden 
sie  nur  auf  Zeit  gewählt,  so  daß  sie  später  zu  anderen 
20  Staatsämtem  berufen  werden  könnten,  dann  würden 
wir  ja  in  den  eben  in  §  19  d«  Eap.  gezeigten  Unsinn 
verfallen.  Damit  sie  aber  nicht  bei  sehr  langer  Amta- 
dauer  sich  zu  sehr  überheben,  sollen  nur  solche  zu 
diesem  Amte  gewählt  werden,  die  das  sechzigste  Jahr 
oder  darüb^  erreicht  und  schon  das  Amt  eines  Se- 
nators (wovon  weiter  unten)  bekleidet  haben. 

§22. 

Ihre  Anzahl  werden  wir  ferner  leicht  bestimmen 
können,  wenn  wir  erwägen,  daß  diese  Syndici  sieh 
80  zu  den  Patriaern  verhalten,  wie  die  Gesamtheit  der 
Patrizier  zum  Volk,  welches  diese  auch  nicht  regieren 
können,  w^m  ihre  Zahl  zu  gering  ist  Daher  miS^  sich 
die  Zahl  der  Syndici  zu  der  Zahl  der  Patrizier  verhalien, 
wie  deren  Zahl  zur  Yolkszahl,  d.  h.  (nach  §  13  d.  Kap.) 
wie  1  zu  50. 

§23. 

Damit  femer  diese  Behörde  ungefihrdet  ihr  Amt 
ausüben  kann,  ist  ihr  ein  Teil  der  Kriegsmacht  zur 
Verfügung  zu  stellen,  dem  sie  beliebig  Befehle  er- 
40  teilen  kann. 


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8.  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  148 

§24. 

Den  Syndici  wie  auch  den  anderen  Staatsbeamten 
sollen  keine  Gehalter  ausgesetzt  werden,  sondern  bloß 
solche  Gefalle»  daß  sie  nur  mit  großem  Schaden  für 
sich  das  Gemeinwesen  schlecht  verwalten,  können.  Denn 
asweif  elloB  ist  es  billig,  den  Beamten  dieses  Staates 
einen  Lohn  für  ihre  Tätigkeit  auszusetzen;  die 
Mehrheit  in  diesem  Staate  bildet  ]a  doch  die  Volks- 
maase,  über  deren  Sicherheit  die  Patrizier  wachen, 
während  sie  selbst  sich  nur  um  ihre  Privatangelegen-  lo 
heiten  und  nicht  um  das  Gemeinwohl  kümmert,  weil 
aber  kein  Mensch  (nach  Eap.  7  §  4)  sich  der  Inter- 
essen eines  anderen  annimmt,  wenn  er  damit  nicht 
sein  eigenes  Interesse  zu  sichern  glaubt,  so  müssen 
die  Dinge  notwendig  so  geordnet  werden,  daß  die  Be- 
amten, denen  die  Sorge  für  das  Gemeinwesen  obliegt, 
dann  am  besten  für  ihre  eigenen  Interessen  sorgen, 
wenn  sie  am  sorgfältigsten  üoer  das  allgemeine  Beete 
wachen. 

§25.  20 

Den  Sjndici  also,  deren  Aufgabe  es  wie  gesagt 
ist,  darüber  zu  wachen,  daß  die  Staatsgesetze  unver- 
letast  gehalten  werden,  sind  folgende  Gefälle  auszu- 
setzen: Jeder  im  Staate  wohnende  Familienvater  hat 
lährlich  eine  Münze  von  unbedeutendem  Werte,  näm- 
lich eine  Viertelunze  Silber,  den  Syndici  zu  entrichten, 
damit  diese  daraus  die  Einwohnerzahl  abnehmen  können 
und  zugleich  berechnen,  welchen  Procentsats  die  Pa- 
trizier davon  bilden.  Sodann  soll  jed^  neue  Patrizier, 
sobald  er  gewählt  ist,  den  Syndici  eine  große  Summe  80 
zahlen,  z.  B.  zwanzig  oder  fünfundzwanzig  Pfund  Silber. 
Außerdem  ist  das  Strafgeld  der  zu  einer  einberufenen 
Versammlung  nicht  erschienenen  Patrizier  für  die  Syn- 
dici bestimmt  Zud^n  soll  ein  Teil  von  dem  Vermögen 
schuldiger  Beamter,  die  sich  ihrem  Gerichte  stellen 
müssen  und  zu  einer  bestimmten  Geldstrale  verur- 
teilt werden,  oder  deren  Vermögen  eingezogen  wird, 
ihnen  zuerkannt  werden  —  nicht  allen  zwar,  sondern 
nur  denen,  die  H^lich  Sitzung  hab^  und  deren  Auf- 
gabe es  ist^  den  Rat  der  Syndici  zu  berufen  (s.  hiw-  40 
über  §  28  d.  Kap.). 

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144  Abhandlung  Tom  Staate. 

Damit  aber  der  Rat  der  Syiidici  immer  ans  der 
nötigeB  Mitgliederzahl  bestehe,  so  ist  darüber  vor  BÜem 
andern  im  Höchsten  Rat^  wenn  er  zur  gewohnten  Zeit 
einberufen  ist,  eine  Untersuchung  anzustellen.  Wenn 
die  Syndici  das  versäumen,  so  liegt  es  dem  Vorsitzenden 
des  Senats  (über  den  bald  zu  reden  Gelegenheit  sein 
wird)  ob,  den  Höchsten  Rat  daran  zu  mahnen,  von 
dem  Vorsitzenden  der  Syndici  Auskunft  über  sein  Still- 
schweigen zu  fordern  und  den  Höchsten  Rat  nach 

10  seiner  Meinung  darüber  zu  fragen.  Wenn  dieser  eben- 
falls schweigt,  so  soll  der  Fall  von  dem  Vorsitzenden 
des  obersten  Gerichtshofes  oder,  wenn  auch  dieser 
schweigt^  von  irgend  einem  anderen  Patrizier  auf- 
genommen werden,  der  sowohl  von  den  Syndici,  als 
vom  Senats-  und  Gerichtspräsidenten  Rechenschaft  über 
ihr  Schweigen  fordern  soll. 

Damit  schließlich  auch  jenes  Gesetz^  das  die 
Jüngeren  ausschließt,  streng  beobachtet  werde^  ist 
die  Bestimmung  zu  treffen,  d£üQ  alle,  die  ihr  dreißigstes 

20  Lebensjahr  erreicht  haben  und  die  nicht  ausdrücklich 
durch  das  Recht  von  der  Regierung  ausgeschlossen 
sind,  dafür  sorgen  müssen,  daß  ihr  Name  im  Beisein 
der  Syndici  in  eine  Loste  eingetragen  werde  und  daß 
sie  irgend  ein  Zeichen  der  erlangten  Würde  für  einen 
bestimmten  Preis  von  ihnen  erhalten,  etwa  daß  sie 
einen  b^timmten  nur  ihnen  erlaubten  Ornat  anlegen, 
der  sie  vor  den  andern  untwscheidet  und  ihnen  Re- 
spekt verschafft  Inzwischen  soll  eine  Gesetzesbestim- 
mung verbieten,  daß  bei  den  Wahlen  ein  Patrizier 

80  jemanden  vorschlägt,  wenn  sein  Name  nicht  in  der 
allgemeinen  Liste  eingetragen  ist^  und  zwar  bei 
schwerer  Strafe.  Außerdem  soll  niemand  einen  Dienst 
oder  ein  Amt,  zu  dem  er  gewählt  wird,  ablehnen  dürfen. 
Endlich  soll  bestimmt  werden,  damit  alle  reinen 
Staatsgrundgesetze  von  ewiger  Dauer  seien:  wenn  einer 
im  Höchsten  Rate  irgend  ein  Staatsgrundgesetz  in 
Frage  stellt,  z,  B.  durch  Verlängerung  der  Amtsge- 
walt eines  Heerführers  oder  durch  Verringerung  der 
Patrizierzahl   u.  ähnl,   so   soll   er  als  Majestatsver- 

40  brecher  in  den  Anklagestand  vwsetzt  und  zum  Tode 
verurteilt  und  sein  Vermögen  soll  eingezogen  werden; 
außerdem  soll  ein  öffentliches  Denkiiuil  dieser  Strafe 


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8.  Elspitel.    VoD  der  Aristokratie.  145 

zum  ewigen  Gedächtnis  errichtet  werden.  Zur  Fest- 
legung der  übrigen  allgemeinen  Staatsrechte  genügt 
die  ^timmnng,  daß  ein  Gresetz  nicht  abgeschaSt 
IHK}  ein  nenee  nicht  gegeben  werden  darf,  ohne  daß 
vorher  der  Rat  der  Syndici  und  dann  drei  Viertel 
oder  vier  Fünftel  des  Höchsten  Rates  sich  darauf  ge- 
einigt haben. 

§26. 

Die  Einberufung  des  Höchsten  Rates  und  die 
Unterbreitung  der  zu  entscheidenden  Fragen  ist  Sache  10 
der  Syndici,  denen  auch  die  erste  Stelle  im  Rate, 
aber  ohne  Stimmrecht^  einzuräumen  ist.  Ehe  sie  aber 
ihre  Sitze  einnehmen,  sollen  sie  beim  Wohl  jenes 
Höchsten  Rates  und  bei  der  öffentlichen  Freiheit 
schwören,  mit  allem  Eifer  darnach  zu  trachten,  daß 
die  Gesetze  des  Vaterlands  unverletzt  gewahrt  und 
daß  für  das  Gemeinwohl  gesorgt  werde.  Darauf  sollen 
sie  durch  ihren  Sekretär  die  Vorlagen  der  Reihe  nach 
eröffnen  lassen. 

§27.  20 

Damit  aber  bei  den  Verhandlungen  und  den  Wahlen 
dBT  Staatsbeamten  alle  Patrizier  die  gleiche  Uacht 
haben  und  eine  schnelle  Erledigung  gewährleistet  wird, 
empfiehlt  sich  die  bei  den  Venezianern  eingeführte 
Geschäftsordnung.  Sie  losen  nämlich  bei  der  Er- 
nennung von  Staatsbeamten  einige  vom  Rate  aus  und 
diese  schlagen  der  Reihe  nach  die  zu  wählenden  Be- 
amten vor.  Jeder  Fatriziw  gibt  dann  durch  Stimm- 
steine seine  Meinung  kund,  ob  er  die  Wahl  des  vor- 
geschlagenen Beamten  gut  heißt  oder  verwirft^  so  80 
daß  es  unbekannt  bleibt,  wer  diese  oder  jene. Stimme 
^^bgegeben  hat  Der  Erfolg  is^  daß  alle  Patrizier  bei 
den  Abstimmungen  die  gleiche  Autorität  haben  und 
daß  eia  rascher  Geech^tsgang  gewährleistet  wird; 
^um  aber  hat  jeder  die  volle  Freih^t^  und  darauf 
kenunt  es  bei  solchen  Vensammlungen  vor  allem  an, 
seine  Meinung  ohne  Furcht  vor  Anfeindung  zam  Aue- 
dmck  zu  bringen. 

S  p  1  n  o  B  a ,  Abhandig.  üb.  d.  Verb«Merg.  d.  VerttandM.     10 

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146  AbhandhiDg  vom  Staate. 

§28. 

Auch  bei  den  Versammlungen  der  Syndici  und  bei 
den  übrigen  ist  dieselbe  Greschäftsordnung  einzuhalten, 
nämlich  die  Abstimmung  durch  Steine.  Das  Recht 
der  Syndici  aber,  den  Rat  einzuberufen  und  ihm  die 
Fragen  zur  Entscheidung  zu  unterbreiten,  muß  ihrem 
Vorsitzenden  zustehen,  der  täglich  mit  zehn  oder 
mehr  Syndici  Sitzung  halten  soll,  um  die  Beschwerden 
des  VoUces  gegen  die  Beamten  und  die  geheimen  An- 

10  klagen  zu  vernehmen,  die  Ankläger  nötigenfalls  in 
Grewahrsam  zu  halten  und  den  Rat  auch  vor  der 
zu  den  Versanmilungen  festgesetzten  Zeit  einzube- 
rufen, wenn  nach  der  Meinung  von  einem  unter  ihnen 
Gefahr  im  Verzug  ist  Dieser  Vorsitzende  und  die, 
welche  sich  täglich  mit  ihm  versammeln,  sind  vom 
Höchsten  Rat  und  zwar  aus  der  Zahl  der  Syndici  zu 
wählen,  nicht  auf  Lebenszeit,  sondern  nur  auf  sechs 
Monate,  und  sie  dürfen  erst  nach  drei  oder  vier  Jahren 
wiedergewählt  werden.    Diesen  sollen  wie  gesagt  die 

20  eingezogenen  Güter,  die  Strafgelder  oder  ein  Teil 
davon  zugewiesen  werden.  Was  sonst  noch  die  Syn- 
dici betrifft,  werde  ich  an  geeigneter  Stelle  sagen. 

§29. 

Eine  zweite  dem  Höchsten  Rat  unterzuordnende 
Körperschaft  wollen  wir  Senat  nennen.  Seine  Auf- 
^be  ist  die  Ausführung  der  Staatsgeschäfte,  z.  B. 
die  Publikation  der  staatlichen  Gesetze,  die  gesetze»- 
gemaße  Ordnung  der  städtischen  Befestigungsweirke, 
die  Ausfertigung  der  militärischen  Diplome,  die  Auf- 

90  läge  und  Verwendung  der  Steuern,  die  Bescheidung 
der  auswärtigen  Gesandten  und  der  Entscheid  dar- 
über, wohin  Gesandte  zu  schicken  sind.  Die  Wahl 
der  Gesandten  dagegen  ist  Aufgabe  des  Höchsten 
Rates.  Denn  darauf  ist  vor  allem  zu  sehen,  daß 
ein  Patrizier  zu  einem  Staatsamt  nur  vom  Höchsten 
Rate  selbst  berufen  werden  kann,  damit  die  Patrizier 
nicht  die  Gunst  des  Senats  zu  erhaschen  trachten.  So- 
dann ist  alles  das  vor  den  Höchsten  Rat  zu  bringen, 
was  irgendwie  die  bestehenden  Verhältnisse  ändert» 

40  wie  Entscheidungen  über  Krieg  und  fYieden.    Daher 


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8.  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  147 

bedmfen  die  EntBcheidongen  des  SenatB  über  Krieg 
und  Frieden,  am  gültig  za  sein,  der  Bestätigung  durch 
die  Antoritat  des  Höchsten  Rates.  Aus  diesem  Grande 
halte  ich  es  für  richtig,  daß  die  Aailage  neuer  Steuern 
nicht  zur  Befugnis  des  Senats,  sondern  allein  sa  der 
dee  Höchsten  Rates  gehört 

§30. 

Bei  der  Bestimmung  der  Zahl  der  Senatoren  kommt 
folgendes  in  Betracht  Zunächst  müssen  alle  Patrizier 
gleich  große  Auseicht  haben,  die  Senatorenwürde  zu  10 
erlangen.  Sodann  sollen  gleichwohl  dieselben  Sena- 
toren, deren  Amtszeit  abgelaufen  ist^  nach  nicht  zu 
langem  Zwischenräume  wiedergewählt  werden  können, 
damit  auf  diese  Weise  der  Staat  immer  von  kundigen 
und  erfahrenen  Männern  geleitet  wird.  Schließuch 
sollen  unter  den  Senatoren  sich  viele  finden,  die  sich 
durch  Weisheit  und  Tüchtigkeit  auszeichnen. 

Damit  all  diese  AnfoKlerungen  erfüllt  werden, 
kann  nichts  Besseres  erdacht  werden  als  die  Gesetzes- 
bestimmung, daß  nur  wer  das  fünfzigste  Lebensjahr  20 
erreicht  hat,  in  den  Senatorenrang  aufgenommen 
werden  kann  und  daß  vierhundert,  sSbo  ungefähr  ein 
Zwölftel  der  Patrizier,  auf  ein  Jahr  gewählt  werden, 
die  zwei  Jahre  nach  seinem  Ablauf  das  Amt  wieder 
bekleiden  können.  Auf  diese  Weise  wird  inmier 
ungefähr  der  zwölfte  Teil  der  Patrizier  mit  nur 
kurser  Unterbrechung  das  Senatorenamt  innehaben. 
Dieee  Zahl  wird  zusammen  mit  jener,  die  die 
Syndici  ausmachen,  nicht  viel  hint^  der  Zahl  der 
Patrizier  zurückbleiben,  die  das  fünfzigste  Lebens-  30 
jähr  erreicht  haben.  So  werden  alle  Patrizier  stets 
groDe  Aussicht  haben,  die  Würde  von  Senatoren  oder 
Syndici  zu  erlangen,  und  gleichwohl  werden  dieselben 
Patrizier,  mit  nur  kurzen  Unterbrechungen  wie  gesagt^ 
den  Senatorenrang  immw  innehaben  und  im  Senate 
wird  es  (nach  dem  §  2  d.  Kap.  Gesagten)  nie  an 
vorzüglichen,  durch  Klugheit  und  Geschick  aiu^gezeioh- 
neten  Männern  fehlen. 

Da  dieses  Gesetz  nur  gegen  den  Unwillen  vieler 
Patrizier  gebrochen  werden  kann,  bedarf  es  zu  seiner  40 

10* 

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14S  Abhandlang  vom  Staate. 

Sickerang  keiner  anderen  Garantie,  als  daß  jeder 
Pakizie(r,  der  das  bezeichnete  Alter  erreicht  hat^  den 
Syndki  ein  Zeugnis  darüber  vorweist,  worauf  dieae 
seinen  Namen  in  die  Liste  der  f&r  das  Seiiatoreiiamt 
Vorgemerkten  eintragen  und  im  Höchsten  Rate  ver- 
lesen, damit  er  den  Platz,  der  im  Höchsten  RaA  sdnee- 
gleichen  eingeräumt  ist  und  dem  der  Senatoren  sa- 
nächst  liegen  soll,  mit  den  übrigen  vom  gleichen 
Range  einnimmt 

10  §  31. 

Die  Einkünfte  der  Senatoren  müssen  4^art  sein» 
daß  sie  mehr  Vorteil  vom  Frieden  als  vom  Kriege 
haben.  Deshalb  soll  ihnen  von  den  exportierten  OBd 
importierteai  Waren  em  oder  zwei  Procant  bestämmt 
werden.  Denn  so  werden  sie  sweifelloe  über  den 
Frieden  nach  Kräften  wachen  und  nie  den  Krieg  in 
die  Länge  su  dehen  suchen.  Von  diesem  Zoll  dürfen 
selbst  unteren,  wenn  sie  Kaufleute  sind,  nicht  be- 
freit werden;  denn  es  wird  wohl  niemand  verkennen, 

20  daS  eine  solche  Befreiung  die  größte  Schädigung  für 
den  Handel  im  Gefolge  iStte. 

Dagegen  ist  fernw  gesetslich  festKulegen,  daü 
ein  Sektor,  oder  wer  die  Senatorenwürde  beUeidet 
hat,  kein  militärisches  Amt  bekleiden  darf  und  daß 
außerdem  kein  Feldherr  od^  Oberst,  die  naeh  §  9 
d.  Kap.  das  Heer  nur  in  Kriegszeiten  erhalten  soll, 
aus  der  Reibe  d^er  ernannt  weäen  darf,  deren  Vater 
oder  iSroßvater  Senator  ist  oder  die  S^tor^wirde 
im   Verlauf  von  zwei  Jahr^  innehatte.     Zweifellos 

30  werden  die  nicht  dem  Senate  angehörigen  Patt^izLer  diese 
Rechte  energisch  verteidigen  imd  so  wird  der  Friede 
immer  einträglicher  für  die  Senatoren  sein  als  der 
Krieg  und  sie  werden  nur,  wenn  das  Staatsinteresse 
unbedingt  dazu  zwingt,  zum  Kriege  raten. 

Man  kann  aber  den  Einwand  gegen  ui»  erheben, 
daß  auf  diese  Weise,  wenn  nämlich  den  Syndiei  und 
Senatoren  so  große  fibrü^ünf  te  zugewiesen  werden,  die 
aüistokratische  Regi^ung  für  die  üntertasMn  nicht 
minder  lastend  sein  wird  wie  irgend  eme  menapchische^ 

40  Ab^  abgesehen  davon,  daß  l^sagliche  Hethaltai^fen 
gWifieren  Aufwvnd  erfordern,  deor  doch  der  Siohemng 

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8.  KapitdL    Von  der  Aristokratie.  149 

des   Friedeos  nicht  zugute  kommt^  imd  daß  für  den 
Frieden  kwi  Prrä  xu  hoch  isl^  kommt  erstens  hinzu, 
daO  alles,  was  bei  der  monarchischen  Begier ung  einem 
odear  wenigen»  bei  dieser  sehr  viel^i  zuteil  wir£  Dann 
traeren  die  Könige  und  ihre  Minister  die  Staatslasten 
nieht  gemeinsam  mit  den  Untertanen  —  das  Gegol- 
ten  ist  bei  der  aristokratischen  Begierung  der  Fall, 
denn  die  Patrizier,  die  immer  aus  den  Beicheren  ge- 
wählt werden,  steuern  das  meiste  zur  Staatsverwaltmig 
beL  Schließlich  kommen  die  Lasten  der  monarchischen  10 
Reigierung  weniger  vom  Aufwand  'des  Königs  her, 
als  von  seinen  geheimen  AusgaboL  Die  Staatalasten, 
die  die  Bürger  im  Interesse  des  Friedens  und  der 
Freiheit  tragen  müssmi»  werden,  auch  wenn  sie  groß 
sind,   ertragen  und   inan   laßt  sie  sich  gefallen  im 
Hisblick  auf  den  Nutzen  des  Friedens.  Welches  Volk 
hat  je  so  viele  und  so  schwere  Steu^n  zahlen  müssen 
wie  da«  holländische?  Aber  sie  haben  es  nicht  er- 
schöpft^  vielmehr  ist  es   so  wohlhabend  geworden, 
daß  alle  es  um  seinen  Beichtum  beneiden.   Würden  20 
ak»  die  Lasten  einer  Monarchie  nur  um  des  Friedens 
willen  auferlegt,  so  würden  sich  die  Bürger  durch 
sie  nicht  bedrückt  fühlen.   Aber  jene  geheimen  Aus- 
gaben  einer   solchen  Begierung  sind  schuld  daran, 
daß  die  Untertanen  unter  der  Last  erliegen.    Denn 
die  Tüchtigkeit   der   Könige   tritt   mehr   im  Kriege 
alB  im   Frieden   hervor   und  diejenigen,   die  Allein- 
herrscher sein  wollen,  müssen  sehr  darauf  sehen,  daß 
ihre  Untertanoi  arm  sind.    Von  anderem  will    ich 
schweigen,  was  kürzlich  ein  sehr  verstimdiger  Nieder-  80 
läader  V.   H.   ausgeführt  hat»   weil  es  mit  meiner 
Aufgabe,  bloß  die  beste  Form  jeder  Begierung  an- 
zugeben, nicht  im  Zusammenhang  st^i 

§32. 

Im  Senat  müssen  ^nige  vom  Höchsten  Bat  ge- 
wählte Syndici  Sitz  haben,  aber  ohne  Stimmrecht 
Ihre  Aufgabe  ist  es»  zu  wachen,  daß  die  jenen  Bat 
betreffenden  Gesetze  richtig  beobachtet  werden,  und 
den  Höchsten  Bat  einzuberufen,  wenn  vom  Senat  etwas 
vor  ihn  gebracht  werden  soll.    Denn  das  Becht»  den  40 

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16Q  Abhandlung  vom  Staate. 

Höchsten  Rat  einzuberufen  und  ihm  Vorlagen  sa  unter- 
breiten, haben,  wie  erwähnt,  die  SyndicL  Bevor  aber 
über  dergleichen  abgestimmt  wird,  soll  der  Senate- 
Präsident  den  Sachverhalt  and  die  Ansicht  des  Se- 
nats über  die  Vorlage  nebst  ihrer  Begründung  dar- 
legen. Hierauf  ist  die  Abstimmung  in  der  gewohnten 
Ordnung  vorzunehmen. 


Der  gesamte  Senat  braucht  eich  nicht  täglich, 
10  sondern  wie  alle  großen  Körperschaften  nur  su  be- 
stimmten Zeiten  zu  versammeln.  Weil  aber  in  der 
Zwischenzeit  die  Regierungageschäfte  besorgt  werdra 
müssen,  muß  ein  Senatoren-Ausschuß  gewählt 
werden,  der  während  der  Vertagung  des  Senats  seine 
Stelle  vertritt  Seine  Aufgabe  ist  es,  den  Senat  nö- 
tigenfalls einzuberufen,  seine  Entscheidungen  über  das 
Gemeinwesen  auszufüluren,  die  an  dext  Senat  und  den 
Höchsten  Rat  gerichteten  Zuschriften  zu  lesen  und  über 
die  dem  Senat  zu  unterbreitenden  Vorlagen  zu  beraten. 
20  Damit  aber  dies  alles  und  ^e  Ordnung  des  ganzen 
Rates  leichter  begreiflich  wird,  will  ich  die  ganze 
Sache  genauer  darstellen. 

§34 

Die  Senatoren  sind  wie  gesagt  auf  ein  Jahr  zu 
wählen  und  in  vier  oder  sechs  Abteilungen  zu  tmlen. 
Von  diesen  führt  die  erste  in  den  ersten  drei  oder 
zwei  Monaten  im  Senat  den  Vorsitz,  nach  deren  Ver- 
lauf die  zweite  an  ihre  Stelle  tritt,  und  so  wird  weiter 
in  regelmäßigem  Wechsel  jede  Abteilung  gleich  lang 
80  die  erste  Stelle  im  Senat  haben  in  der  Weise,  daß  die, 
die  in  den  ersten  paar  Monaten  die  erste  war,  in  den 
zweiten  die  letzte  ist  Sodann  sollen  ebenso  viel  Präsi- 
denten, als  es  Abteilungen  gibt^  und  um  sie  nötig^i- 
falls  zu  vertreten,  Vicepräsidenten  gewählt  werden, 
d.  h.  aus  jeder  Abteilung  zwde,  ein  Präsident  und  ein 
Vicepräsident  Der  Präsident  der  ersten  Abteilung 
soll  in  den  ersten  Monaten  auch  den  Vorsitz  im  Se- 
nat führen,   bezw.   in  seiner  Abwesenheit  der  Vice- 


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8.  Kapitel.    Von  der  Ariatokratie.  151 

Präsident,  und  so  fort  auch  die  übrigen  nach  der  an- 
gegebenen Ordnung. 

Dann  sind  durch  Los  oder  AbBtimmung  aus  der 
ersten  Abteilung  einige  zu  wählen,  die  zusammen  mit 
deren   Präsidenten    und   Vieepräsidenten    die  Stelle 
des  Senates   nach    seiner  Vertagung   vertrete    und 
zwar  so  lange,  wie  ihrer  Abteilung  <Ue  erste  Stelle  im 
Senat  zusteht.    Darnach  sind   aus  der  zweiten  Ab- 
teilung wieder  ebenso  viele  durch  Los  oder  Abstim- 
mimg  zu  wählen,  die  mit  ihrem  Präsidenten  und  Vice-  10 
Präsidenten  die  erste  in  der  Stellvertretung  des  Senats 
ablösen   und  so   fort    Nicht  nötig  ist  es,   daß  die 
Wahl  dieser  Männer,  die,  wie  ich  sagte,  durch  das 
LjOb  oder  Abstimmung  auf  drei  oder  zwei  Monate  zu 
wählen   sind  und  die  ich  hinfort  Konsuln  nennen 
werde,  durch  den  Höchsten  Rat  erfolga    Denn  der 
§  29  d.  Eap.  angegebene  Grund  hat  hier  nicht  statt, 
noch  viel  weniger  der  von  §  17.  Es  genügt  also,  wenn 
die  Wahl  vom  Senat  und  den  Syndici,  in  deren  An- 
wesenheit, vorgenommen  wird.  20 

§36. 

Ihre  Zahl  aber  kann  ich  nicht  so  genau  bestimmen. 
Sicher  ist  aber  das  eine:  ihre  Zahl  muß  so  groß  «ein, 
daß  sie  nicht  leicht  bestochen  werden  können.  Frei- 
lich können  sie  allein  nichts  über  das  Gemeinwesen  be- 
stimmen, aber  sie  können  den  Senat  hinhalten,  oder, 
was  das  Schlimmste  wäre,  ihn  zum  besten  haben, 
indem  sie  ihm  Unwichtiges  vorlegen  und  das  Wich- 
tige zurückhalten;  ganz  abgesehen  davon,  daß  bei 
zu  geringer  Zahl  die  bloße  Abwesenheit  des  einen  30 
oder  anderen  eine  Verzögerung  der  Staatsgeschäfte 
mit  sich  brächte.  Da  aber  diese  Konsuln  eben  des- 
halb gewählt  werden,  weil  sich  große  Körperschaften 
nicht  täglich  mit  den  Staatsgeechäftea  befassen  können, 
so  muß  hier  ein  Mittelweg  gesucht  werden  und  die 
Garantie,  die  die  Zahl  nicht  bietet,  muß  die  Kürze 
der  Amtszeit  ersetzen.  Wenn  also  bloß  dreißig  ohn- 
gefähr  auf  zwei  oder  drei  Monate  gewählt  werden, 
so  wird  ihre  Zahl  genügend  groß  sein,  um  für  einen 
so  kurzen  Zeitraum  eine  Bestechung  unmöglich  zu  40 


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162  Abhandlung  rom  Staate. 

machen.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  auch  darauf 
hingewiesen,  daß  ihre  Nachfolger  keinesfalls  vor  der 
Zeit  gewählt  werden  dürfen,  sn  der  sie  abtreten  und 
jene  ihnen  folgen. 

§36. 

Ihre  Aufgabe  ist  es  auch,  wie  erwähnt,  den  S^iat 
einzuberufen,  sobald  einige  von  ihnen,  wetm  es  auch 
nur  wenige  sind,  es  für  nötig  erachten;  fem^  ihm 
die  Beratungsgegenstande  zu  unterlnreiten,  den  Senat 

10  zu  vertagen  und  seine  Beschlüsse  in  Staatsangelegen- 
heiten auszuführen.  In  welcher  Ordnung  das  zu  ge- 
schehen hat,  damit  die  Dinge  nicht  durch  unnötige  Dls- 
cussionen  in  die  Länge  gezogen  werden,  will  ich  jetzt 
noch  kurz  angeben. 

Die  Konsuln  sollen  über  die  dem  Senat  zu  nat&r- 
breitenden  Materien  und  über  das,  was  notwendig  ge- 
schehen muü,  sich  beraten  und  nach  erlangter  Ein- 
stimmigkeit den  Senat  einberufen,  ihm  die  Frage  vor- 
legen und  ihm  ihre  Ansicht  vortragen;  dann  sollen 

20  sie^  ohne  auf  die  Äußerung  der  Ansicht  eines  anderen 
zu  warten,  die  Abstimmung  ordnungsgemäß  vor- 
nehmen. Waren  aber  die  Ansichten  der  Konsuln  ge- 
teilt, '  so  wird  die  Ansicht  der  Majorilät  über  die  vor- 
liegende Frage  zuerst  vorgetragen  werden.  Findet 
sie  nicht  die  Zustimmung  der  Majorität  des  Senates 
und  der  Konsuln,  sind  vielmehr  die  Unentschiedenen 
und  Ablehnenden  in  der  Mehrzahl,  was  ja  die  Stimm- 
steine wie  erwähnt  zeigen  müssen,  dann  ist  die  An- 
sicht^ die  die  nächst  geringere  Stimmenzahl  der  Kon- 

80  suln  auf  sich  vereinigte,  vorzutragen  und  so  fort  die 
übrigen«  Wird  keine  von  iet  absoluten  Majorität 
des  Senats  angenommen,  dann  ist  der  Senat  bis 
zum  folgenden  Tag  oder  auf  kurze  Zeit  zu  ver- 
tagen, damit  die  Konsuln  inzwischen  zus^en,  ob 
sich  andere  Mittel  finden  lassen,  die  meto  Beifall 
erhalten  können.  Vermögen  sie  es  nicht  oder  werden 
die  gefundenen  Mittel  von  der  Majorität  des  Senats 
abfi^cSehnt^  dann  soll  die  Ansicht  eines  jeden  Senators 
gehört  werden.    Tritt  aber  die  Majorität  des  Senats 

40  keiner  bei,  dann  soll  über  jede  Ansicht  wieder  eine 


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8.  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  15S 

AbBtimmung  vorgenommen  werden  nnd  stwar  sollen 
dleemal  nicht  nur  die  Stimmen  der  Zustimmenden  wie 
bislier,  sondern  auch  det  Unentschiedenen  und  Ab- 
lefanei^en  geeählt  werden.  Stellt  sich  heraus»  daß  die 
2^1d  der  Zustimmenden  größer  ist  als  die  der  Un- 
entsohiedenen  oder  Ablebienden,  dann  gilt  die  An- 
sicht als  angenommen;  als  v^worfen  hingegen,  wenn 
die  Zahl  der  Ablehnenden  die  der  Unentschiedenen 
oder  Zustinmienden  übersteigl  Ist  aber  bei  allen  An- 
sichten die  Zahl  der  Unentschiedenen  größer  als  die  10 
der  Ablehnenden  oder  Zustimmenden^  dann  soll  der 
Rat  der  S3mdici  mit  dem  Senat  zu  einer  Sitzung  zu- 
sammentreten und  es  soll  eine  gemeinsame  Abstim- 
mung vorgenommen  werden,  bei  der  bloß  die  zustim- 
mefnden  oder  ablehnenden  Stimmen  gezählt  werden  und 
die  unentschiedenen  unberücksichtigt  bleiben.  Dieselbe 
Ordnung  gilt  für  die  Dinge,  die  vom  Senat  an  den 
Höchsten  Rat  zu  bringen  sind.  Soviel  über  den  Senat. 

§37. 

Was  den  Gerichtshof  betrifft  oder  das  Tri-  20 
bunal,  so  kann  dieses  nicht  auf  den  gleichen  Grund- 
lagen beruhen  wie  das  in  einer  Monarchie,  wie 
ich  es  Kap.  6  §§  26  ff.  beschrieben  habe.  Denn,  nach 
§  14  d.  Kap.,  steht  es  mit  den  Grundlagen  dieser 
Regierung  in  Widerspruch,  daß  auf  Abstammung  oder 
Familie  Rücksicht  genommen  wird.  Weil  ferner  bloß 
Patrizier  zu  Richtern  gewählt  werden,  kann  es  leicht 
geschehen,  daß  sie  sich  durch  die  Furcht  vor  ihren 
patrizischen  Nachfolgern  bestimmen  lassen,  zwar  nicht 
gegen  einen  derselboi  ein  ungerechtes  Urteil  zu  fällen,  30 
daß  sie  aber  vielleicht  auch  nicht  wagen,  sie  nach  Ge- 
bühr zu  bestrafen,  während  sie  sich  dem  Volk  gegen- 
über alles  erlauben  und  sich  die  Begüterten  täglich 
zur  Beute  aussuchen. 

Ich  weiß,  daß  viele  deshalb  den  Beschluß  der 
Genuesen  loben,  die  ihre  Richter  nicht  aus  den  Pa- 
triziem,  sondern  ans  den  Fremden  wähl^i.  Mir  scheint 
das  aber,  wenn  ich  die  Sache  an  sich  betrachte,  eine 
wideisinnige  Einrichtung,  daß  Fremde  und  nicht  Pa- 
trizier zur  Auslegung  der  Gesetze  berufen  werden.  40 


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154  Abhandlung  vom  Staate. 

Was  sind  denn  Richter  anders  als  Ausleger  der  Ge- 
setze? Ich  bin  daher  überseag^  daß  die  Genuesen 
auch  hierin  mehr  dw  Sinnesweise  ihres  Volkes  als 
dem  Charakter  dieser  Begierungsform  Rechnung  |^e- 
tragen  haben.  Wir  nun,  die  wir  die  Sache  an  sich 
betrachten,  müssen  auf  Mittel  und  Wege  denken,  die 
dieser  Regierongafonn  am  meisten  angemessen  sind. 

§38. 
Was  die  Zahl  der.  Richter  angeht»  so  erfordert  der 

10  Charakter  dieser  Verfassung  nichts  Besonderes.  Ge- 
rade wie  in  der  Monarchie  ist  auch  hier  in  erster 
Linie  darauf  zu  sehen,  daß  ihre  Zahl  genügend  groß 
ist,  um  eine  Bestechung  durch  einen  I^vatmann  aus- 
zuschließen. Denn  ihre  Pflicht  ist  nur,  zu  verhüten, 
daß  ein  Privatmann  einem  anderen  Unrecht  .tut,  also 
die  Streitigkeiten  zwischen  Privaten,  Patriziern  wie 
Plebejern  zu  schlichten,  und  die  sich  m  Vergehen 
zu  schulden  kommen  lassen,  zu  bestrafen,  auch  Pa- 
trizier, Syndici  und  Senatoren,  wenn  sie  sich  gegen 

20  das  für  alle  geltende  Recht  vergangen  l^^n. 
Streitigkeiten  übrigens,  die  zwischen  Städten,  die  zum 
Staat  gehören,  möglicherweise  entstehen,  müssen  im 
Höchsten  Rat  ihren  Austrag  finden. 

§39. 
Hinsichtlich  ihrer  Amtsdauer  ist  d^  maßgebende 
Gesichtspunkt  bei  jeder  Regierungsform  der  gleiche, 
auch  daß  jährlich  ein  Teil  von  ihnen  ausscheidet,  und 
schließlich,  wenn  sie  auch  nicht  alle  aus  verschiedenen 
Familien  sein  müssen,  daß  doch  nicht  zwei  Blutsver- 

80  wandte  zu  gleicher  Zeit  die  Richterbank  einnehmen 
dürfen. 

Das  Gleiche  ist  auch  bei  den  übrigen  Körper- 
schaften zu  beobachten,  ausgenommen  den  Höchsten 
Rat  Bei  diesem  genügt  es,  wenn  bloß  hei  den  Wahlen 
durch  ein  Gesetz  dafür  gesorgt  ist»  daß  niemand  ein^ 
Verwandten  vorschlagen  oder,  wenn  er  von  einem 
anderen  vorgeschlagen  ist,  für  ihn  stimmen  darf, 
femer  daß  bei  der  Ekrnennung  eines  Staatsbeamten 
nicht  zwei  Verwandte  das  Los  aus  der  Urne  ziehen. 

40  Das   genügt    bei    einer   Körperschaft,   die   sich   aus 


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8.  S^apitel.    Von  der  Aristokratie.  155 

einer  so  großen  Zahl  von  Menschen  zosanunen- 
setzt  und  der  keine  besonderen  Einkünfte  angewiesen 
werden.  Der  Staat  könnte  ja  keinen  Schaden  davon 
haben,  und  darum  wäre  es  widersinnig,  durch  ein 
Gesetz  die  Verwandten  aller  Patrizier  vom  Höchsten 
Rate  auszuschließen  (gemäß  §  14  d.  Kap.). 

Daß  es  widersinnig  wäre,  ist  keine  Frage.  Denn 
jenes  Recht  könnte  nicht  von  den  Patriziern  einge- 
führt werden,  ohne  daß  sie  sich  alle  in  diesem  Punkte 
ihres  Rechtes  überhaupt  begäben;  daher  wären  die  10 
Wächter  dieses  Rechtes  nicht  die  Patrizier  selbst^ 
sondern  das  Volk,  was  in  direktem  Widerspruch  zu 
dem  in  §§  5  und  6  d.  Eap.  Gesagten  steht  Jenes 
Staatsgeeetz  hingegen,  welches  bestimmt,  daß  immer 
ein  xaA  dasselbe  Verhältnis  in  der  Zahl  der  Patrizier 
und  des  Volkes  bestehe,  bezweckt  in  erster  Linie  die 
Wahrung  des  Rechtes  und  d^  Macht  der  Patrizier, 
damit  nämlich  ihre  Zahl  immer  groß  genug  ist,  um 
das  Volk  zu  beherrschen. 

§40.  20 

Im  übrigen  sind  die  Richter  vom  Höchsten  Rat 
aus  den  Patriziern,  d.  h.  (nach  §  17  d.  Kap.)  aus 
den  Gesetzgebern  selbst  zu  wählen.  Die  Entscheid 
düngen,  die  sie  in  Civil-  wie  in  Strabachen  fallen, 
werden  rechtskräftig  sein,  wenn  sie  ordnungsgemäß 
und  unparteiisch  gegeben  worden  sind.  Die  Syndici 
werden  die  gesetzliche  Befugnis  haben,  hierüber  zu  er^ 
kennen,  zu  urteilen  und  zu  verfügen. 

§41. 

Die  Bezüge  der  Richter  müssen  dieselben  sein,  80 
wie  ich  Eap.  6  §  29  angab.  Sie  sollen  nämlich  bei 
}eder  Entscheidung  in  Civilsachen  von  der  unterlegenen 
Partei  einen  bestimmten  Prooentsatz  der  Streitsumme 
erhalten.  Bei  Entscheidungen  in  Strafsachen  soll  ein 
Unterschied  insofern  bestehen,  als  die  von  ihnen  ein- 
gezogenen Güter  und  die  Strafgelder  bei  geringeren 
Vergehen  ihnen  allein  angewiesen  werden,  jedoch  mit 
der  Bedingung,  daß  sie  niemals  jemanden  durch  die 
Folter  zu  einem  Geständnis  zwingen  dürfen. 


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166  Abbaadlung  Toa  StaaU. 

Dadurch  ist  genügend  dafür  geeorgt,  daß  sie 
den  Leuten  aus  dem  Volk  gegenüber  nicht  ungerecht 
sind  und  daß  sie  nicht  aus  Furcht  die  Patrizier  be- 
günstigen* Denn  einmal  wirkt  dieser  Furcht  schon  die 
Habsucht  entgegen,  die  sich  dabei  unter  d^n  schönen 
Namen  Gerechtigkeit  birgt  Dazu  kommt  neoh,  daß 
sie  in  größerer  2Sahl  sind  und  ihre  Stimmen  nicht 
öffentlich,  sondern  mittels  Stimmst^nen  abgeb^i. 
Wollte  jemand  wegen  eines  verlorenen  Prozesses  un- 

10  willig  werden,  so  hat  er  ja  k^nen  Anhalt,  ein^n  ein- 
zelnen die  Schuld  zu  geben.  Außerdem  wird  auch  die 
Scheu  vor  den  Syndici  sie  abhalten,  daß  sie  ein»  un- 
gerechte oder  wenigstens  widerspruchavolle  Entschei- 
dung filUen  oder  daß  einer  von  ihnen  unehrlich  handdt» 
abgesehen  davon,  daß  sich  bei  einer  so  großen  SSahl 
von  Richtern  immer  der  eine  oder  der  andere  findet» 
den  die  Ungerechten  fürchten. 

Für  die  Leute  aus  dem  Volke  wird  es  ein  ge- 
nügender Schutz  sein,  wenn  sie  das  Recht  haben,  an 

20  die  Syndici  zu  appellieren,  die  wie  gesagt  die  gesetz- 
liche Befugnis  h£j[>en,  in  allem,  was  die  Richter  an- 
geht, zu  erkennen,  zu  urteilen  und  zu  verfügen.  Die 
Syndici  werden  sicher  den  Haß  vieler  Patrizier  nicht 
vermeiden  können,  aber  dafür  werd^i  sie  beim  Volke 
sehr  beliebt  sein  und  werden  sich  Mühe  geben,  seinen 
Beifall,  soviel  an  ihnen  liegl^  zu  sfewinnen.  Zu  diesem 
Zwecke  werden  sie  gegebenenfalls  es  sich  nicht  ent- 
gehen lassen,  gesetzwi<kige  Urteile  zu  kassieren,  jeden 
Richter  zu  überwachen  und  die  ungerechten  zu  strafen. 

30  Denn  nichts  macht  auf  den  Geist  des  Volkes  einen 
tieferen  Eindruck.  Dag^en  spricht  auch  nicht,  daß 
solche  Fälle  sich  doch  hur  selten  ereignen  können; 
im  Gegenteil  spricht  dies  dafür.  Um  den  Staat  wäre 
es  ja  schlecht  best^lt»  in  dem  täglich  Bestrafungen 
von  Verbrechern  vorkämen  (wie  ich  Kap  6  §  2  gezagt 
habe);  das  aber  muß  aicherlich  sehr  selten  s^  was  von 
der  öffentlichen  Meinung  am  höchsten  gepriesen  wird. 

§42. 

Diejenigen,  die  als  Regierungsvertreter  in  die 

40  Städte  oder  Provinzen  geschickt  werden,  müssen  der 

Klasse  der  Senatoren  entnommen  werden,  weil  es  deren 


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8.  Eoipitel.    Von  der  Aristokratie.  157 

Aufgabe  ist»  ftir  die  Bef estigtmgswerke/ die  Finanzen, 
das  Heerweeen  o.  fi.  w.  asu  sorgen.  Weil  aber  die- 
jenigen, die  in  einigermaßen  ^itfemte  Gegenden  ent- 
sandt werden,  den  Senat  nicht  besnchen  konnten,  so 
sind  bloß  solche  ans  dem  Senat  salbst  zu  berufen,  die 
för  ^ne  im  Land  gelegene  Stadt  bestimmt  werden. 
Die  nach  entfernteren  Orten  geschickt  werden  sollen, 
sind  ans  denen  zu  entnehmen,  die  das  senatsfähige 
Alter  haben. 

Ich  glaube  aber,  daß  der  Friede  des  ganzen  Staates  10 
nicht  hinreichend  sicher  gestellt  ist»  wenn  die  um- 
liegenden Nachbarstadte  völlig  vom  Stimmrecht  aus- 
geschlossen sind;  sie  müßten  denn  so  ohnmächtig  sein, 
daß  man  ihnen  unverhohlene  Mißachtung  bieten  dürfte, 
was  doch  undenkbar  ist  Darum  muß  man  den  um- 
liegenden Nachbarstödten  das  Bürgerrecht  verleihen 
tmd  aus  jeder  zwanzig,  dreißig  oder  vierzig  gewählte 
Bürger  —  die  Zahl  mußi  sich  nach  der  Größe  der 
Stadt  richten  —  unter  die  Patrizier  aufnehmen.  Aus 
diesen  müssen  drei,  vier  oder  fünf  jährlich  für  den  20 
Senat  gemhlt  werden  und  einer  zum  Syndicus  auf 
Lebenszeit  Und  diese  nun,  die  dem  Senat  angehören, 
sollen  zusammen  mit  dem  Syndicus  als  Regierungsver- 
treter  in  die  Stadt  geschickt  werden,  aus  dw  sie  ge- 
wählt sind. 

§48. 

Übrigens  sind  die  Richter,  die  in  jeder  Stadt 
eingesetzt  worden  müssen,  aus  den  Patriziern  dieser 
Stadt  zu  wählen.  Ich  halte  es  aber  nicht  für  nötig, 
ausführlicher  darauf  einzugehen,  weil  es  nicht  zu  den 
besonderen  Grundlagen  dieser  Regierungslorm  gehört  30 

§44. 

Die  Sekretäre  einer  jeden  Körperschaft  und 
afidere  derartige  Beamte  sind,  weil  sie  kein  Stimm- 
recht haben,  aus  dem  Volke  zu  wählen.  Weil  diese 
aber  durch  die  ständige  Geschäftsführung  die  größte 
Sachkenntnis  beritzetu,  so  kommt  es  häufig  v(Nr,  daß 
man  ihrer  ESnsicäit  mehr  übertilßt,  als  sich  gebührt, 
und  idi  der  Zustand  des  ganzen  Staates  in  der  Haupt- 

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158  Abhandlang  vom  Staate. 

Sache  von  ihrer  Leitung  abhängt  Dies  wurde  den 
Holländern  verhängnisvoll.  Denn  es  kann  ]a  niclit 
ohne  den  Unwillen  vieler  Edlen  geschehen.  Zweifel- 
los wird  ein  Sena^  der  seine  Elogheit  nicht  der  Ein- 
sicht der  Senatoren»  sondern  der  Angestellten  ver- 
dankt, sich  hauptsächlich  aus  Uniähigen  susammen- 
setzen,  und  ein  solcher  Staat  wird  in  nicht  viel  besswer 
Lage  sein  als  eine  Monarchie,  die  von  w^gen  Bat- 
gebem  des  Königs  regiert  wird  (vgl.  hierüber  Kap.  6 

10  §§  5,  6  und  7).  Indessen  wird  ein  Staat,  je  nachdem 
er  gut  oder  schlecht  eingerichtet  ist,  mehr  oder  minder 
unter  diesem  Übel  leiden.  Denn  die  Freiheit  eines 
Staates,  die  nicht  fest  genug  begründet  ist»  läßt  sich 
nie  ohne  Gefahr  verteidigen.  Die  Patrizier,  die  sich 
dieser  nicht  aussetzen  wollen,  wählen  ehrgeizige  Be- 
amte aus  dem  Volke,  die  sie  dann,  wenn  ein  Um- 
sturz erfolgt,  als  Opfer  hinschlachten  lassen,  um 
den  Zorn  derer  zu  sänftigen,  die  der  Freiheit  nach- 
stellen.   Wo  aber   die  Freiheit  genügend   fest    ge- 

20  gründet  ist,  da  werden  die  Patrizier  schon  selbst  den 
Ruhm«  sie  zu  schützen,  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
und  darnach  trachten,  daß  man  die  kluge  Staats^ 
leitung  bloß  ihrer  Einsicht  zuschreibt. 

Diese  beiden  Gesichtspunkte  habe  ich  bei  den 
Grundlagen  dieser  Regierungsform  in  erster  Linie  im 
Auge  gehabt,  daß  immlich  das  Volk  sowohl  von  den 
Beratungen  als  auch  von  den  Abstimmungen  ausge- 
schlossen ist  (vgl.  §§  3  und  4  d.  Kap.),  und  (kß 
demnach  die  höcbite  Staatsgewalt  bei  allen  Patriziern 

80  liegt,  die  Autorität  aber  bei  den  Syndici  und  beim 
Senat  und  das  Recht,  den  Senat  'einzuberufen  und 
ihm  Vorschläge  über  das  Gemeinwohl  zu  machen,  bei 
den  Konsuln,  die  aus  dem  Senat  selbst  gewählt  werden. 
Wird  außerdem  bestimmt,  daß  ein  Sekretär  des  Senats 
oder  einer  anderen  Körperschaft  bloß  auf  vier  oder 
höchstens  fünf  Jahre  zu  wählen  und  daß  ihm  ein 
zweiter  Sekretär  mit  gleicher  Amtsdauer  zur  Seite  za 
stellen  ist,  der  inzwischen  einen  Teil  seiner  Arbeit 
leistet,  oder  wenn  es  im  Senat  nicht  einen,  sondern 

40  mehrere  Sekretäre  gibt,  die  sich  in  die  Geschäfte 
teilen,  dann  wird  es  nie  vorkommen,  daß  die  Macht 
der  Angestellten  irgendwelche  Bedeutung  gewinnt 


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8.  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  159 

§45. 

Die  Finanzbeamten  sind  ebenfalls  aus  dem 
Volke  zu  nehmen.  Sie  sind  nicht  nur  dem  Senat, 
sondern  auch  den  Syndici  Rechenschaft  schuldig. 

§46. 

Die  Fragen  über  die  Religion  habe  ich  aus- 
führlich genug  im  theologisch-politischen  Trak- 
tat behielt  Einiges  jedoch  ist  dort  übergangen, 
weil  dort  nicht  der  gedgnete  Platz  war,  es  zu  be- 
handeln. Die  Patrizier  müssen  nämlich  alle  em  und  10 
derselben  Religion  angehören  und  zwar  der  einfachsten 
und  allgemeinsten,  wie  ich  sie  in  jenem  Traktat  dar- 
gestellt habe.  Denn  vor  allem  muß  es  verhütet  werden, 
daß  sich  die  Patrizier  in  Sekten  teilen  und  die  einen 
diese^  die  anderen  jene  begünstigen  und  daß  sie  in 
ihrem  Aberglauben  befangen  den  Untertanen  die  Frei- 
heit zu  nehmen  suchen,  zu  sagen,  was  sie  denken. 

Zwar  muß  jedem  die  Freiheit  gewährt  werden, 
zn  sagen,  was  er  denkt;  doch  sind  große  Versamm- 
lungen untersagt  So  muß  es  den  Anhängern  einer  20 
anderen  Religion  zwar  gestattet  sein,  so  viel  Kirchen, 
als  sie  wollen,  zu  bauen,  9ber  sie  müssen  klein,  von 
einem  bestimmten  Umfang  sein  und  an  einigermaßen 
voneinander  entfernten  Orten.  Dagegen  sollen  die 
Kirchen,  die  der  Landesreligion  geweiht  sind,  —  und 
das  ist  von  Bedeutung  —  groß  und  prächtig  sein 
und  beim  Gottesdienst  sollen  bloß  Patrizier  und  Se- 
natoren fungieren  dürfen.  Es  sollen  also  bloß  Psr 
trizier  taufen,  Ehen  einsegnen,  die  Hände  auflegen 
dürfen,  überhaupt  sollen  sie  als  die  Priester  der  80 
Kirchen  und  als  Wächter  und  Ausleger  der  Landes- 
religion gelten.  Zum  Predigen  aber  und  zur  Ver- 
waltung des  Kirchengutes  sowie  zur  Besorgung  der 
laufenden  Groschäfte  soll  der  Senat  einige  Männer 
aus  dem  Volke  wählen,  die  als  seine  Stellvertreter 
fungieren  und  ihm  daher  Rechenschaft  schuldig  sind. 

§47. 

Das  ist  es  nun,  was  die  Grundlagen  dieser  Re- 
gierungsform betrifft    Ich  will  noch  einiges  wenige 

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160  Abhandhiiig  vom  Staate. 

hinzufügen,  das  2swar  nicht  bo  principiell,  aber  doch 
sehr  b^eutongsvoll  ist  Die  Patrizier  sollen  in  einer 
eigenen,  sie  unterscheidenden  Grewandung  oder  Tracht 
einhersehen;  sie  sollen  mit  einem  besonderen  Titel 
gegrüfft  werden;  jedermann  aus  dem  Volke  soll  vor 
ihnen  zurücktreten.  Hat  ein  Patrizier  nachweislich 
durch  unverschuldetes  Unglück  sein  Vermögen  ver- 
loren, so  wird  es  ihm  aus  Staatsmittehi  ersetzt  Hat 
er  es  aber  offenbar  durch  Verschwendung,  durch  Luzns^ 
10  im  Spiel  oder  mit  Dirnen  vergeudet,  oder  hat  er 
mehr  Schulden,  als  er  bezahlen  kann,  dann  soll  er 
sdne  Würde  verlieren  und  unwürdig  aeia  jeder  Eüire 
und  jed^  Amtes.  Denn  wer  sich  selbst  und  seine 
Privatangelegenheiten  nicht  regieren  kann,  der  kann 
noch  viel  weniger  für  die  Staatsangelegenheiten 
sorgen. 

§48. 

Wer  vom  Gesetz  zum  Eide  gezwungen  wird,  wird 
wdt  mehr  einen  Meineid  scheuen,  wenn  er  beim  Wohl 
20  und  der  Freiheit  des  Vaterlandes  und  hwa  Höchsten 
Rate,  als  wenn  er  bei  Gott  schworen  soll  Denn  wer 
bei  Gott  schwört^  setzt,  ein  Privatgut  ein,  dessen 
Schätzung  von  ihm  abhängt;  wer  aber  beim  Schwur  die 
Freiheit  und  das  Wohl  des  Vaterlandes  einsetzt^  der 
schwört  bei  dem  gemeinsamen  Gute  der  Gesamtheit» 
dessen  Schätzung  von  ihm  nicht  abhängt  Schwört 
er  falsch,  so  emärt  er  sich  selbst  zum  Fieind  des 
Vaterlandes. 

§49. 

80  Die  auf  Staatekosten  gegründeten  Universitäten 
werden  weniger  zur  Ausbildung  als  zur  Emschränkung 
der  Geister  errichtet  In  einem  freien  Staate  hingegen 
werden  Künste  und  Wissenschaften  am  besten  ge- 
deihen, wenn  jedem,  der  darum  nachsucht,  die  Er- 
laubnis ert^lt  wird,  öffentlich  zu  lehren  und  swar 
auf  eigene  Kosten  und  mit  Gefahr  seines  Rufes.  Dies 
und  ähnliches  will  ich  aber  für  einen  and»^i  Ort 
aufsparen.  Denn  hier  ist  meine  Absicht  nur,  das  zu 
behandeln,  was  bloß  auf  diearistokratisclia  Regierungs- 

40  form  sich  bezieht 


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Neuntes  Kapitel. 

§1. 

BiB  hierher  haben  wir  einen  solchen  Staat  be- 
trachtet, soweit  er  nach  einer  einzigen  Stadt  als  der 
Hauptstadt  des  ganzen  Staates  genannt  wird.  Nun 
ist  es  Zeit,  von  dem  Staat  zu  reden,  dessen  Re- 
gierung mehrere  Städte  innehaben  und  der  nach 
meiner  Meinung  den  Vorzug  vor  dem  vorhergehenden 
verdient  Um  aber  die  Verschiedenheit  und  ^e  Vor- 
züge beider  kennen  zu  lernen,  müssen  wir  erst  die  10 
Grundlagen  des  ersteren  einzeln  durchgehen  imd 
was  für  den  anderen  nicht  paßt  beiseite  lassen  und 
anderes,  worauf  er  sich  stützen  muß,  dafür  einsetzen. 

§2. 

Die  Städte,  die  daa  Bürgerrecht  genießen,  müssen 
80  gebaut  und  befestigt  sein,  daß  zwar  keine  ohne 
die  übrigen  existieren  kann,  daß  aber  auch  keine  von 
den  übrigen  abfallen  kann  ohne  großen  Schaden  für 
den  ganzen  Staat  Auf  diese  Weise  werden  sie  nämlich 
immer  vereinigt  bleiben.  Dieienigen  Städte  aber,  die  20 
weder  in  der  Lage  sind,  sich  zu  erhalten  noch  den 
übrigen  Furcht  einzuflößen,  sind  nicht  unter  ihrem 
eigenen,  sondern  vollkommen  unter  dem  Rechte  der 
übrigen. 

§8. 

Alles,  was  ich  in  §§  9  und  10  des  vor.  Eap.  ge- 
zeigt habe,  leitet  sich  ner  aus  der  allgemeinen  Natur 
der    aristokratischen    Regierungsform,    so    das  Ver- 
hältnis   der    Zahl   der   Patrizier   zur   Volkszahl,    ihr   , 
Alter  und  die  sonstigen  Bedingungen  ihrer  Wählbar-  30 

Spinoa»,  Abhandlg.  üb.  d.  Verbou«rg.  d.  VenUndM.        11 

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162  Abhandlung  vom  Staate. 

keii  Darin  kann  also  kein  Unterschied  entsteh^i, 
ob  nun  eine  Stadt  oder  mehrere  die  Regierung  inne- 
haben. 

Anders  liegt  die  Sache  beim  Höchsten  Rat. 
Denn  würde  eine  Stsidt  im  Reiche  zam  Versammlungs- 
ort dieses  Rates  bestimmt»  so  wäre  sie  faküsch  die 
Hauptstadt  Daher  müßte  entweder  ein  Wechsel  statt- 
finden oder  dem  Rate  müßte  ein  Ort  angewiesen 
werden,  der  das  Bürgerrecht  nicht  besitzt  und  allen 
10  in  gleichem  Maße  gebort  Doch  ist  das  eine  wie  das 
andere  freilich  leicht  gesagt  &^i^  schww  getan,  näm- 
lich daß  sich  so  viel  tausend  Menschen  häufig  außer- 
halb der  Städte  begeben  oder  daß  sie  bald  hier,  bald 
dort  zusammenkommen  sollen. 

§4. 

Um  aber,  was  hierin  geschehen  muß  und  wie 
die  Körperschaften  bei  dieser  Regierungsform  ein- 
zurichten sind,  aus  ihrer  Natur  und  Beschaffenheit 
richtig  herleiten  zu  können,  ist  folgendes  in  Erwägung 

20  zu  ziehen.  Jede  Stadt  hat  so  viel  mehr  Recht  als  ein 
Privatmann,  als  sie  ihm  an  Macht  überlegen  ist  (nach 
Kap.  2  §  4).  Folglich  hat  jede  Stadt  in  diesem  Staate 
(s.  §  2  d.  Kap.)  80  viel  Recht  innerhalb  ihrer  Mauern 
oder  innerhalb  der  Grenzen  ihres  Grerichtsbanns,  als 
sie  Macht  ausübt  Femer  sind  alle  Städte  nicht 
als  Bundesgenossen,  sondern  als  Bestandteile  eines 
Staates  untereinander  verbunden  una  vereinigt  so 
jedoch,  daß  jede  Stadt  um  so  viel  mehr  Recht 
im  Staate  hat  als  die  übrigen,  als  sie  die  übrigen 

80  an  Macht  überragt  Es  wäre  ja  eine  unsinnige 
Forderung,  Gleichheit  unter  Ungleichen  zu  ver- 
langen. Die  Bürger  werden  freilich  mit  Recht  als 
gleich  geschätzt,  weil  die  Macht  des  einzelnen  gegen- 
über der  Macht  des  ganzen  Staates  nicht  in  Betracht 
kommt  Die  Macht  einer  Stadt  aber  bildet  einen  großen 
Teil  der  Macht  des  ganzen  Staates,  und  zwar  einen 
um  80  größeren,  je  größer  die  Stadt  ist  Darum 
können  die  Städte  nicht  alle  für  gleich  gelten;  viel- 
mehr muß  wie  ihre  Macht  so  auch  ihr  Recht  nach 

40  ihrer  Größe  geschätzt  werden.    Die  Bande  aber,  die 


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9.  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  163 

sie  80  aneinanderschließeii  müssen,  daß  sie  einen 
Staat  bilden,  sind  in  erster  Linie  (nach  Kap.  4  §  1) 
der  Senat  und  der  Gerichtshof.  Wie  sie  aber  alle 
durch  diese  Bande  so  zu  vereinigen  sind,  daß  dabei 
doch  jede  Stadt  nach  Möglichkeit  ihr  eigenes  Recht 
bewahrt,  das  will  ich  hier  in  der  Kürze  zeigen. 

§5. 

Ich  denke  mir  nämlich,  daß  die  Patrizier  einer 
jeden  Stadt,  deren  je  nach  ihrer  Größe  (nach  §  3 
d.  Elap.)  mehr  oder  weniger  sein  müssen,  das  höchste  10 
Recht  über  ihre  Stadt  haben  und  daß  sie  im  obersten 
Rat  derselben  die  höchste  Gewalt  haben,  Befestigungs- 
werke anzulegen,  die  Mauern  zu  erweitem,  Steuern 
aufzuerlegen,  Gesetze  zu  geben  und  abzuschaffen,  über- 
haupt alles  zu  tun,  was  sie  für  die  Erhaltung  und 
das  Wachstum  der  Stadt  für  notwendig  erachten. 

Zur  Führung  der  allgemeinen  Staatsgeschäfte  ist 
aber  ein  Senat  zu  wählen,  und  zwar  genau  unter  den 
im  vorigen  Kapitel  angegebenen  Bedingungen.  Dieser 
Senat  wird  sich  also  von  jenem  anderen  nur  darin  20 
tmterscheiden,  daß  jener  noch  die  BefugniB  liat, 
Streitigkeiten  zu  schlichten,  die  möglicherweise 
zwischen  den  Städten  sich  erheben.  Denn  dies  kann 
in  einem  Staate  ohne  Hauptstadt  nicht  wie  in  jenem 
durch  den  Höchsten  Bat  geschehen  (&  §  38  d. 
vor.  Kap.). 

§6. 

Übrigens  soll  in  diesem  Staate  der  Höchste  Bat 
nur  einberufen  werden,  wenn  eine  Beform  des  Staates 
nötig  ist,  oder  in  einer  schwierigen  Angelegenheit,  80 
deren  Durchführung  sich  die  Senatoren  nicht  gewach- 
sen glauben.  Es  wird  also  sehr  selten  vorkommen, 
daß  alle  Patrizier  zum  Bäte  einberufen  werden.  Denn 
es  ist  wie  gesagt  die  Hauptaufgabe  des  Höchsten 
Rates  (§  17  d.  vor.  Kap.),  Gesetze  zu  geben  und  ab- 
zuschaffen und  sodann  die  Staatsbeamten  zu  wählen. 
Aber  die  Gresetze  oder  allgemeinen  Bechte  des  Ge- 
samtstaates dürfen,  einmal  festgesetzt^  nicht  abge- 
ändert werden. 

11* 


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164  Abhandlung  vom  Staate. 

Wenn  aber  dennoch  Zeit  und  Umstände  die  Ein- 
fühmng  einer  neuen  Gesetzesbestimmung  oder  die  Ab- 
änderung einer  bereits  bestehenden  fordern,  so  kann 
zuvor  eine  Beratung  darüber  im  Senat  stattfinden. 
Ist  der  Senat  darül^r  einig  geworden,  dann  soll  er 
Gesandte  an  die  Städte  scUcken,  um  den  Patrmem 
einer  jeden  die  Ansicht  des  Senats  vorzulegen. 
Schlieflt  sich  die  Majorität  der  Städte  dieser  An- 
sicht an,   so  ist  sie  angenommen,   andernfalls    ver- 

10  werfen.  Dasselbe  Verfahren  kann  man  bei  der  Wahl 
der  Heerführer  und  der  auswärtigen  Gesandten,  ebenso 
bei  der  Entscheidung  über  Kriegserklärung  und  der 
Annahme  von  Friedensbedingungen   anwenden. 

Bei  der  Wahl  der  übrigen  Staatsbeamten  hin- 
gegen muß,  weil  jede  Stadt  möglichst  ihr  eigenes 
Recht  bewahren  und  im  Staate  um  so  mehr  Recht 
haben  muß,  als  sie  den  übrigen  an  Macht  überlege 
ist»  folgende  Ordnung  beobachtet  werden.  Die  Se- 
natoren sind  von  den  Patriziern  jeder  Stadt  zu  wählen, 

20  indem  die  Patrizier  jeder  Stadt  in  ihrer  Versamm- 
lung eine  bestimmte  Zahl  Senatoren  aus  ihren  Kol- 
legen und  Mitbürgern  wählen,  die  zu  der  Zahl  der 
Patrizier  sich  (s.  §  30  d.  vor.  Kap.)  wie  1  zu  12  v»- 
hält  Diese  werden  sie  dann  der  ersten,  zweiten,  dritten 
u.  s.  w.  Abteilung  zuweisen.  Ebenso  wählen  die  Par 
trizier  der  übrigen  Städte  je  nach  ihrer  Zahl  mehr 
oder  weniger  Senatoren  und  teilen  sie  in  so  viel  Ab- 
teilungen ein,  wie  der  Senat  nach  meiner  Angabe 
(s.  §  34  d.  vor.  Kap.)  haben  soll.    Auf  diese  Weise 

80  werden  in  jeder  Senatsabteilung  die  einzelnen  Städte 
je  nach  ihrer  Größe  durch  mehr  oder  weniger  Se- 
natoren vertreten  sein.  Die  Präsidenten  und  Vice- 
präsidenten  der  Abteilungen  aber,  deren  Zahl  geringer 
ist  als  die  Zahl  der  Städte,  werden  vom  Senat  aus 
den  erwählten  Konsuln  durch  das  Los  bestimmt 

Bei  der  Wahl  der  höchsten  Richter  im  Staate 
ist  dasselbe  Verfahren  beizubehalten:  die  Patrizier 
jeder  Stadt  wählen  aus  ihren  Kollegen  ihrer  Zahl 
entsprechend  mehr  oder  weniger  Richter. 

40  Auf  diese  Weise  wird  jede  Stadt  bei  der  Wahl 
der  Beamten  nach  Möglichkeit  ihr  eigenes  Recht  be- 
wahren und  jede  um  so  mehr  Recht  im  Senat  wie 


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9.  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  165 

im  Gerichtshof  haben,  je  mächtiger  sie  ist^  voraus- 
geeetzt,  daß  die  Grefichaftsordnang  des  Senats  und 
des  Gerichtshofs  bei  den  Beschlüssen  über  Staats- 
angelegenheiten und  bei  der  Entscheidung  von  Streit- 
fragen ganz  so  ist,  wie  ich  sie  §§  33  und  34  d.  vor. 
Kap.  dargestellt  habe. 

§7. 

Die  Hauptleute  und  Obersten  müssen  ebenfalls  aus 
den  Patriziern  gewählt  werden.  Denn  da  es  billig 
ist,  daß  jede  Stsät  im  Verhältnis  zu  ihrer  Größe  eine  10 
bestimmte  Zahl  Soldaten  zur  gemeinsamen  Sicherung 
des  Gesamtstaates  stellen  muß,  ist  es  auch  billig, 
daß  sie  entsprechend  der  Zahl  der  Regimenter,  die 
sie  unterhalten  muß,  auch  so  viel  Obersten,  Haupt- 
leute und  Fähnriche  aus  ihren  Patriziem  wählen  darf, 
als  die  Leitung  des  Truppenteils»  den  sie  dem  Staate 
stellt,   erfordert 

§8. 

Steuern  darf  der  Senat  den  Untertanen  nicht  auf- 
erlegen. Zur  Bestreitung  der  Kosten,  die  der  Staats-  20 
hatuäalt  nach  Senatsbeschluß  erfordert,  sollen  nicht 
die  Untertanen,  sondern  die  Städte  vom  Senat  heran- 
gezogen werden.  Jede  Stadt  soll  im  Verhältnis  zu 
ihrer  Größe  einen  größeren  oder  geringeren  Teil  der 
Kosten  tragen.  Diesen  mögen  dann  die  Patrizier  der 
Stadt  von  ihren  Einwohnern  auf  beliebigem  Wege 
erheben,  entweder  indem  sie  sie  zur  Einschätzung  her- 
anziehen, oder,  was  weitaus  angemessener  ist,  durch 
indirekte  Al[)gaben. 

§9.  80 

Wenn  auch  nicht  alle  Städte  dieses  Staates  See- 
städte sind  und  die  Senatoren  nicht  bloß  aus  den 
Seestädten  berufen  werden,  so  kann  man  ihnen  doch 
dieselben  Einkünfte  anweisen,  von  denen  ich  §  31 
d.  vor.  Kap.  sprach.  Zu  diesem  Zwecke  kann  man  je 
nach  der  Staatsverfassung  Mittel  ausfindig  machen, 
um  die  Städte  noch  enger  aneinander  zu  fessehi. 

Im  übrigen  findet  alles,  was  ich  im  vor.  Kap. 
vom  Senat,  vom  Gerichtshof,  überhaupt  von  der  ganzen 

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166  Abhandlaog  yom  Staate. 

StaatBverwaltung  gesagt  habe,  auch  bei  dieser  Re- 
gienmgaform  seine  Anwendung.  Wir  sehen  also,  dafl 
in  einem  Staate^  dessen  Regierung  mehrere  Städte 
innehaben,  der  Höchste  Bat  nicht  zu  einer  bestinimt^i 
Zeit  und  an  einem  bestimmten  Orte  einberufen  sa 
werden  braucht  Dem  Senat  und  dem  Gerichtshof 
dagegen  ist  ein  Dorf  oder  eine  Stadt  ohne  Stimmrecht 
anzuweisen.  Nun  wende  ich  mich  zu  dem  zurück, 
was  die  einzelnen  Städte  betrifft 

10  §  10. 

Das  Verfahren  des  obersten  Rates  einer  Stadt 
bei  der  Wahl  der  s^tischen  und  staatlichen  Be- 
amten und  bei  Verhandlungen  muß  dasselbe  sräa, 
wie  ich  es  §§  27  und  36  d.  vor.  Eap.  angegeben  habe» 
denn  hier  wie  dort  sind  die  Verhaltnisse  die  gleichen. 
Die  Korperschaft  der  Syndici  muß  diesem  städti- 
schen Rat  untergeordnet  sein,  denn  sie  verhalt  sich  za 
ihm,  wie  die  Syndici  im  vorigen  Kapitel  zum  Rat  dee 
Gesamtstaates.  Ihre  Aufgabe  soll  innerhalb  der  Grenzen 

20  des  Gerichtsbannes  der  Stadt  die  gleiche  sein  und 
sie  sollen  dieselben  Einkünfte  bezidien.  Sollte  eine 
Stadt  und  damit  auch  die  Zahl  der  Patrizier  so  klein 
sein,  daß  sie  nur  einen  oder  zwei  Syndici  wählen  kann, 
welche  zweie  doch  keine  Korperschaft  bilden  können, 
so  müssen  den  Syndici  für  ihre  Entscheidungen,  je 
nachdem  der  FbII  liegt,  vom  obersten  etadtischen  Rat 
Richter  beigegeben  werden  oder  die  Streitfrage  ist 
dem  obersten  Rat  der  Syndici  vorzulegen.  Denn  ans 
jeder  Stadt  sind  einige  von  den  Syndici  zu  dem  Ort 

80  zu  entsenden,  wo  der  Senat  seinen  Sitz  hat^  die  dar- 
über zu  wachen  haben,  daß  die  Rechte  des  Gesamt- 
staates  unverletzt  bleiben,  und  die  Sitz  im  Senat  ohne 
Stimmrecht  haben  sollen. 

§11. 

Die  städtischen  Konsuln  werden  ebenfeiUs 
von  den  Patriziern  ihrer  Stadt  gewählt,  um  gleichsam 
deren  Senat  zu  bilden.  Ihre  Anzahl  kann  ich  nicht 
bestimmt  angeben,  aber  ich  halte  ee  auch  nicht  für 

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9«  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  167 

notig,  weil  ja  doch  die  wichtigeren  Geschäfte  der 
StaMit  von  ihrem  obersten  Rat  und,  soweit  sie  den 
Gesamtstaat  angehen,  vom  großen  Senat  erledig 
werden.  Ist  übrigens  ihre  Zahl  klein,  so  wird  es  nötig 
sein,  daß  sie  t^i  ihren  Versammlungen  offen  ab- 
stimmen und  nicht  mittele  Stimmsteinen,  wie  in  den 
großen  Körperschaften.  Denn  in  kleinen  Körper- 
schaften kann  bei  geheimer  Abstimmung  jemand,  der 
ein  wenig  schlauer  ist,  leicht  herausbekommen,  wer 
jede  Stinmie  abgegeben  hat,  und  die  weniger  Acht-  10 
samen  auf  vielerlei  Art  zum  Narren  halten. 

§12. 

In  jeder  Stadt  müssen  femer  die  Richter  vom 
obersten  Rate  eingesetzt  werden.  Von  ihrer  Ent- 
scheidung kann  jedoch  an  den  obersten  Staatsgerichts- 
hof appelliert  werden,  außer  wenn  der  Angeklagte 
offen  überführt  oder  der  Schuldner  geständig  ist. 
Doch  bedarf  dies  keiner  weiteren  Auseinandersetzung. 

§13. 

£s  bleibt  uns  nun  noch  übrig,  von  den  Städten  20 
zu  reden,  die  nicht  ihr  eigenes  Recht  haben. 
Diese  müssen,  wenn  sie  in  einer  Provinz  des  Staates 
oder  in  einer  zu  ihm  gehörigen  Gegend  gelegen  sind 
und  wenn  ihre  Einwohner  gleiche  Nationalist  und 
gleiche  Sprache  haben,  ebenso  wie  die  Dörfer  als 
Teile  der  benachbarten  Städte  angesehen  werden,  und 
jede  muß  unter  der  Regierung  dieser  oder  jener  selb- 
ständigen Stadt  stehen.  Der  Grund  dafür  liegt  darin, 
daß  die  Patrizier  nicht  vom  Höchsten  Rate  des  Staates, 
sondern  vom  obersten  Rate  jeder  Stadt  gewählt  werden  30 
und  daß  ihre  Zahl  in  einer  Stadt  sich  richtet  nach 
der  Bevölkerungszahl  derselben  in  den  Grenzen  ihres 
Gerichtsbannes  (nach  §  5  d.  Kap.).  Dah^  muß  die 
Bevölkerung  einer  unselbs&idigen  Stadt  in  den  Steuer- 
verband  einer  anderen  selbs1»n£gen  einbezogen  werden 
und  ihrer  Verwaltung  unterstellt  sein.  Die  durch 
£[riegsrecht  eroberten  Städte  und  solche^  die  sich 
dem  Staate  angeschlossen  haben,  müssen  als  Bundee- 

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168  AbhandloDg  vom  Staate. 

genossen  des  Staates  betrachtet  und  durch  Wohltaten 
gewonnen  und  verpflichtet  werden,  odw  es  müssen 
Kolonien  mit  Bürgerrecht  dorthin  geschickt»  das  Volk 
aber  anderswohin  verpflanzt  odw  ganz  vertilgt  werden. 

§14. 

Das  wäre  es  also,  was  die  Grundlagen  eines 
solchen  Staates  betrifft  Daß  aber  seine  Verfassung 
besser  ist  als  die  eines  Staates,  der  nach  einer  Stadt 
allein  benannt  ist,  schließe  ich  daraus,  daß  die  Pa- 

10  trizier  einer  jeden  Stadt^  wie  nun  die  menschlichen 
Begierden  sind,  danach  streben  werden,  ihr  Becht 
in  der  Stadt  wie  im  Senate  zu  behaupten  und  wo- 
möglich zu  erweitem.  Darum  werden  sie  sich  b^ 
mühen,  das  Volk  möglichst  auf  ihre  Seite  zu  bringen 
und  werden  folglich  ihre  Regierung  mehr  mit  Wohl- 
taten als  mit  &$hr6cken  zu  führen  und  ihre  Anzahl 
zu  vermehren  suchen.  Denn  je  größer  ihre  Zahl  ist, 
desto  mehr  Senatoren  werden  sie  (nach  §  6  d.  Kap.) 
aus  ihrer  Mitte  wählen  und  desto  größer  wird  also 

20  (nach  demselben  §)  ihr  Recht  innerhalb  der  Re- 
gierung sein. 

Dem  steht  nicht  entgegen,  daß  die  einzelnen 
Städte,  indem  jede  nur  für  sich  sorgt  und  auf  die 
übrigen  neidisch  ist,  häufig  in  Zwist  miteinander  ge- 
raten und  die  Zeit  mit  Streitigkeiten  vergeuden.  Denn 
mag  auch,  „während  die  Römer  beratschlagen,  Sagunt 
zu  Grunde  gehen"  —  wenn  wenige  bloß  nach  ihrer 
Leidenschaft  alles  entscheiden,  geht  die  Freiheit  zu 
Grunde  und  das  Gemeinwohl.    Der  menschliche  Ver- 

80  stand  ist  zu  stumpf,  um  alles  auf  einmal  durchdringen 
zu  können;  durch  Fragen,  Hören  und  Besprechen  wird 
er  aber  geschärft,  und  indem  er  alle  Mittel  versucht^ 
findet  er  endlich,  was  er  will,  was  dann  alle  gut- 
heißen und  an  das  doch  vorher  niemand  gedacht 
hätte.  Wir  haben  viele  Beispiele  dafür  in  Holland. 
Wollte  jemand  dem  entgeffenhaiten,  daß  der  hol- 
ländische Staat  nicht  lange  ohne  einen  Grafen  odw 
einen  Statthalter  an  Stelle  des  Grafen  bestanden  hat, 
so  diene  ihm  diee  zur  Antwort  Die  Holländer  haben 

40  es  für  die  Erhaltung  ihrer  Freiheit  für  genügend  er- 

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9.  Kapitel.    Von  der  Aristokratie.  169 

achtet,  sich  des  Grafen  zu  entledigen  und  dem  Staat»- 
körper  den  Eopf  abssuschneiden,  ohne  weiter  an  seine 
Nengestaltnng  zu  denken.  Sie  ließen  vielmehr  alle 
Güeder,  wie  sie  vorher  bestanden,  nna  so  blieb  die 
Gra&chaft  Holland  ohne  Grafen  wie  ein  Körper  ohne 
Hanpt  und  die  Regierung  selbst  ohne  Namen.  Darum 
war  es  nicht  zu  verwundem,  daß  die  Mehrzahl  der 
Untertanen  gar  nicht  wußte,  in  wessen  Händen  denn 
die  höchste  Begierungsgewalt  gelegen  sei.  Und  selbst 
wenn  das  nicht  der  Fall  gewesen  wäre,  so  waren  doch  10 
die  Inhaber  der  Regierungsgewalt  viel  zu  gering  an 
Zahl,  um  das  Volk  regieren  und  mächtige  Gegnar 
niederhalten  zu  könnw.  So  kam  es»  daß  £ese  ihnen 
ungestraft  entgegenarbeiten  und  sie  schließlich  stürzen 
konnten.  Der  plötzliche  Untergang  der  Republik  kam 
nicht  davon,  daß  man  die  Zeit  mit  unnützen  Beratungen 
verschwendet  hatte,  sondern  daß  die  Staatsverfassung 
zerrüttet  und  die  Zahl  der  Regierenden  zu  klein  war. 

§15. 

Ein  weiterer  Vorzug  dieser  aus  mehreren  Städten  20 
gebildeten  aristokratischen  Begierung  gegenüber  der 
anderen   besteht  darin,   daß  bei  ihr  nicht  wie  bei 
jener  Vorsichtsmaßregeln  nötig  sind,  damit  nicht  der 

Enze  Höchste  Bat  durch  einen  Handstreich  anhe- 
ben wird,  da  ja  (nach  §  9  d.  Kap.)  Zeit  und  Ort 
für  seine  Einberufung  nicht  festgesetzt  sind«  Überdies 
sind  in  diesem  Staate  mächtige  Bürger  weniger  zu 
fürchten.  Denn  wo  mehrere  Städte  im  Genuß  der 
Freiheit  sind,  genügt  es  für  einen,  der  sich  den  Weg 
zur  Herrschaft  batmen  will,  nicht,  von  einer  Stadt  30 
Besitz  zu  ergreifen,  um  die  Herrschaft  auch  über 
die  anderen  zu  gewinnen.  Schließlich  haben  in  diesem 
Staat  mehr  an  der  Freiheit  teil.  Denn  wo  nur  eine 
einzige  Stadt  herrscht^  dort  wird  für  das  Wohl  der 
übrigen  nur  so  weit  gesorgt,  als  es  der  herrschenden 
Stadt  gerade  paßt. 


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Zehntes  Kapitel. 
§1. 

Nachdem  wir  die  Grundlagen  der  beiden  aristo- 
kratischen Regierangsformen  dargelegt  und  erklart 
haben,  bleibt  uns  noch  übrig  zu  untersuchen,  ob  sie 
durch  eigene  Schuld  sich  auflösen  oder  in  eine  andere 
Form  verwandeln  können. 

Die  Hauptursache,  weshalb  solche  Staaten  sich 
auflösen,  ist  eben  jene,  die  der  scharfsinnige  Floren- 

10  tiner  in  seinen  Discorsi  über  Titus  livius,  3.  Buch, 
1.  Kap.,  angibt:  „in  einem  Staate  sammelt  sich  ge- 
rade wie  in  einem  menschlichen  Körper  laglich  etwas 
an,  was  von  Zeit  zu  Zeit  eine  Eur  erfordert  Daher 
muß  bisweilen,  sagt  er,  ein  Ereignis  eintreten,  das 
'  den  Staat  wieder  zu  dem  Grundprincip  zurückführt, 
worauf  er  im  Anfang  begründet  wurde.  Tritt  dieses 
nicht  zur  rechten  Zeit  ein,  so  werden  die  Übel  bis  zu 
einer  solchen  Höhe  anwachsen,  daß  sie  nur  mit  dem 
Staate  selbst  beseitigt  werden  können.    Ein  solches 

20  Ereignis,  fahrt  er  fort,  kann  zuBllig  eintreten,  oder 
es  wird  absichtlich  herbeigeführt  und  zwar  durch  die 
Klugheit  der  Gesetze  oder  eines  Mannes  von  hervor- 
ragender Tüchtigkeit  Zweifellos  ist  dies  von  gröOt» 
Wichtigkeit,  und  wo  gegen  jenen  Übelstand  keine 
Vorsorge  getroffen  ist,  kann  ein  Staat  nicht  durch 
eigene  Tüchtigkeit^  sondern  bloß  durch  günstige  Um- 
stände Bestand  haben.  Wird  aber  jenes  Übel  durch 
ein  geeignetes  Gegenmittel  bekämpft,  dann  kann  der 
Staat  nicht  durch  sein  Gebrechen,  sondern  nur  durch 

30  unabwendbares  Geschick  fallen,  wie  ich  bald  klarer 
zeigen  werde. 

Das  erste  Gegenmittel  gegen  dieses  Übel  bestaxid 
darin,  alle  fünf  Jahre  einen  obersten  Dictator  auf 

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10.  Kapitel.     Ghurantien  der  Aristokratie.  171 

einen  oder  zwei  Monate  zu  wählen  mit  dem  Rechte, 
über  die  Handinngen  der  Senatoren  und  samtlicher 
Staatsbeamten  za  erkennen,  zu  nrteilen  und  zu  ver- 
fügen und  damit  den  Staat  anl  sein  Grundprincip 
zurückzuführen.  Wer  aber  Schaden  im  Staat  beseitigen 
innlly  der  muß  Gegenmittel  anwenden,  die  mit  der  Natur 
dee  Staates  im  Einklang  stehen  und  aus  seinen  Grund- 
lagen hergeleitet  werden  können,  sonst  fallt  er  in 
die   Scylla,   indem  er  die  Gharybdis  vermeiden  wilL 

Es  ist  allerdings  wahr,  daß  alle,  Regierende  wie  10 
fiegierte,  durch  die  Furcht  vor  Strafe  oder  Schaden 
abgehalten  werden  müssen,  ungestraft  od^  gar  zu 
ihrem  Vorteil  die  Gesetze  zu  übertreten;  aber  auch 
das  ist  gewiß:  standen  die  Guten  gerade  so  unter  dieser 
Furcht  wie  die  Bösen,  dann  wäre  notwendig  der  Staat 
in  der  «roßten  Gefahr.  Da  ja  die  dictatorische  Gewalt 
mramschrankt  ist,  so  muß  sie  allen  furchtbar  sein, 
besonders  wenn,  wie  verlangt  wird,  der  Dictator  zu 
einer  festgesetzten  Zeit  gewählt  würde;  denn  dann 
strebt  jeder  Ehrgeizige  mit  aller  Macht  nach  dieser  20 
Ehre.  Und  sicherlich  gilt  in  Friedenezeiten  Reich- 
tum mehr  als  Tüchtigkeit^  so  daß  gerade  die  An- 
maßendsten am  leichtesten  zu  Ehren  kommen. 

Vielleicht  war  das  der  Grund,  daß  die  Römer 
nicht  zu  bestimmter  Zeit^  sondern  immer  erst,  wenn 
die  Not  sie  zufällig  dazu  zwang,  einen  Dictator  auf- 
zustellen pflegten.  Gleichwohl  war  der  Ruf  nach  einem 
Dictator,  um  mit  Cicero  zu  reden,  den  guten  Bürgern 
ein  Ärgernis.  Und  in  der  Tat^  diese  dictatorische 
Gewalt,  die  ja  eine  unumschränkte  Königsgewalt  ist,  80 
kann  nur  mit  großer  Gefahr  für  die  Republik  den 
Staat  bisweilen  in  eine  Monarchie  umwandeln,  wenn 
es  auch  für  noch  so  kurze  Zeit  geschieht  Ferner, 
wenn  für  die  Wahl  eines  Dictaters  keine  bestinmite 
Zeit  fesi^esetzt  wäre,  so  wäre  auch  keine  Regel  ge- 
geben für  die  Zeit,  die  zwischen  zwei  Dictaturen  liegen 
soll  und  auf  deren  Einhaltung  ich  viel  "Wert  gelegt 
habe;  damit  wäre  die  ganze  Einrichtung  so  schwan- 
kemL  daß  sie  leicht  gänzlich  vernachlässigt  würde. 
Wenn  also  diese  dictatorische  Gewalt  keine  dauernde  40 
und  feste  Institution  ist  und  unter  Wahrung  der  Staats- 
fonn  einem  einzelnen  nicht  übertragen  werden  kann, 

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172  AbhaDcUang  vom  Staate. 

dann  wird  sie  selbst  und  mit  ihr  das  Wohl,  und  die 
Erhaltung  der  Republik  sehr  unsicher  sein. 

§2. 

Eann  dagegen  unter  Wahrung  der  Staatsform  das 
Schwert  des  Dictators  zu  allen  Zeiten  und  nur  den 
Bösen  ein  Schrecken  sein,  dann  können  zweifellos 
fnach  Eap.  6  §  8)  die  Schäden  nie  so  überhand  nehmen, 
daß  ihre  Beseitigung  oder  Besserung  unmöglich  wurde. 
Um  alle  diese  Bedingungen  zu  erfüHen,  muß  wie  ge- 

10  sagt  dem  Höchsten  Rat  ein  Rat  der  Syndici  unter- 
stellt werden,  damit  das  Schwwt  des  Dictators  zu 
allen  Zeiten  nicht  in  den  Händen  einer  natürlichen, 
sondern  einer  juristischen  Person  lieee,  die  zu  viel 
Mitglieder  hat,  als  daß  sie  die  Herrschaft  untar  sich 
teilen  (nach  Eap.  8  §§  1  und  2)  oder  daß  sie  sich 
zu  einem  verbrecherischen  Anschlag  verständigen 
könnten.  Dazu  kommt  noch,  daß  sie»  von  der  Übernahme 
der  übrigen  Staatsämter  ausgeschlossen  sind,  daß  sie 
der  Miliz  keinen  Sold  zahlen  und  daß  sie  schließlich 

20  in  einem  Alter  stehen,  in  dem  man  die  sichere  Gegenr 
wart  der  gefahrvollen  Neuerung  vorzieht  Darum,  droht 
dem  Staat  von  ihnen  keine  Gefahr  und  sie  können 
infolgedessen  auch  nicht  den  Guten,  sondern  nur  den 
Bösen  ein  Schrecken  sein,  und  das  werden  sie  auch 
tatsächlich  sein.  Denn  wie  sie  zu  schwach  sind, 
selbst  Verbrechen  zu  begehei^  um  so  mächtiger  sind 
sie  zur  Bändigung  der  Bosheit  Denn  abgesdi^i  da- 
von, daß  sie  „den  Anfängen  entgegentreten''  können, 
weil  ihre  Eörperschaft  ja  ständig  ist^  sind  sie  zudem 

80  zahlreich  genug,  daß  sie,  ohne  den  Haß  fürchten  zu 
müssen,  es  wagen  dürfen,  einen  Mächtigen  anzu- 
klagen und  zu  verurteilen;  zumal  da  sie  mittels  Stimm- 
steinen abstimmen  und  ihr  Urteil  im  Namen  der 
ganzen  Körperschaft  verkündet  wird. 

§3. 

In  Rom  war  das  Amt  der  Volkstribunen  zwar 
auch  ein  dauerndes,  aber  sie  waren  der  Aufgabe  nicht 
gewachsen,  die  Macht  eines  Scipio  niederzulälten.  Zu- 
dem mußten  sie  noch,  was  sie  für  heilsam  hielten, 

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10.  Kapitel.     Garantien  der  Aristokratie.  178 

dem  Senat  selbet  vorlegen  und  dieser  hielt  sie  oft 
zum  besten,  indem  er  es  dahin  zu  bringen  wuDte^ 
daß  das  Volk  demjenigen  am  meisten  seine  Gunst 
zuwandte,  den  die  Senatoren  am  wenigsten  zu  fürchten 
hatten.  Dazu  kommt  noch,  daß  die  Autorität  der 
IMbunen  den  Patriziern  gegenüber  sich  auf  die  Gunst 
des  Volkes  stützte  und  daß  sie  jedesmal,  wenn  sie  das 
Volk  zusammenriefen,  eher  einen  Aufruhr  zu  stiften 
als  eine  Batsversammlung  zu  berufen  schienen.  Diese 
Mißstände  haben  natürlich  bei  der  in  den  beiden  10 
vorigen  Kapiteln  dargestellten  Begierungsform  nicht 
atatt 

§4. 

Die  Autoritöt  der  Syndici  kann  aber  bloß  eine 
Bürgschaft  dafür  bieten,  daß  die  Begierungsform  er- 
halten bleibt;  sie  kann  verhüten,  daß  die  Gesetze  ge- 
brochen werden  und  daß  jemand  zu  seinem  Vorteil  sich 
gegen  sie  vergeht  Das  kann  sie  aber  nicht  ver- 
hüten, daß  sich  Laster  einschleichen,  die  das  Gesetz 
nicht  verbieten  kann,  wie  diejenigen,  zu  denen  der  20 
Müßiggang  die  Menschen  verleitet  und  die  nicht  selten 
das  Verderben  des  Staates  zur  Folge  haben.  Denn  die 
Menschen  werden,  so  wie  sie  einmal  im  Frieden  von 
der  Furcht  befreit  sind,  allmählich  aus  Wilden  und 
Barbaren  zu  civiUsierten  und  humanen  Wesen,  daraus 
aber  verweichlicht  und  schlaff  und  suchen  sich  nicht 
mehr  durch  Tüchtigkeit  zu  überbieten,  sondern  durch 
Prunk  und  Luxus.  So  beginnen  sie,  auf  die  heimischen 
Sitten  herabzusehen  und  fremde  sich  anzueignen,  das 
heißt  sich  Fremden  zu  eigen  zu  geben.  30 

§5. 

Man  hat  oft  versucht^  diesem  Übel  durch  Ge- 
setze gegen  den  Luxus  zu  steuern,  aber  vergebens. 
Denn  alle  Gesetze,  die  ohne  Schaden  für  einen  anderen 
verletzt  werden  können,  werden  nicht  ernst  genonmien; 
sie  legen  den  Begierden  und  Lüsten  der  Menschen 
keinen  Zügel  an,  sondern  reizen  sie  im  Gegenteil  noch, 
denn  „nach  dem  Verbotenen  trachten  wir  nur  und 
begehren  Versagtes'^  Müßigen  Menschen  fehlt  es  nie 
an  Einfällen,  die  Gesetze  zu  umgehen,  welche  Dinge  40 


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174  Abhandlang  vom  Staate. 

betreffen,  die  man  nicht  absolut  verbieten  kann,  als 
da  sind  Gelage,  Spiel,  Schmuck  und  dergleichen,  bei 
denen  nur  das  Übermaß  verwerflich  ist,  das  sich 
aber  nach  den  Vermögensverhaltnissen  eines  jeden 
bemißt  und  deshalb  nicht  durch  ein  allgemeines  Ge- 
setz zu  bestimmen  ist. 

§6. 

Ich  schließe  daher,  daß  jene  hier  besprochenen 
allgemeinen    Laster    des    Friedens    niemals    direkt, 

10  sondern  nur  indirekt  zu  verhüten  sind,  indem  näm- 
lich der  Staat  auf  solche  Grundlagen  gestellt  wird, 
daß  danach  die  meisten  zwar  nicht  weise  zu  leben 
suchen  —  denn  das  ist  unmöglich  — ,  aber  daß  sie 
sich  von  solchen  Affekten  leiten  lassen,  aus  welchen 
dem  Gemeinwesen  ein  größerer  Nutzen  erwächst  So 
ist  dahin  zu  streben,  daß  die  Reichen  zwar  nicht  geizig, 
aber  erwerbsgierig  seien.  Denn  ohne  Zweifel,  wenn 
dieser  Affekt  der  Erwerbsgier,  allgemein  und  be- 
ständig wie  er  ist,  sich  noch  mit  dem  Ehrgeiz  ver- 

20  bindet,  dann  werden  die  meisten  alle  Erait  daran 
wenden,  ihr  Vermögen  auf  anständige  Weise  zu  ver- 
größern, um  dadurch  zu  Ehren  zu  kommen  und  der 
größten  Schande  zu  entgehen. 

§7. 

Betrachten  wir  daraufhin  die  Grundlagen  der 
beiden  in  den  zwei  vorigen  Kapiteln  dargelegt^i 
aristokratischen  Staatsformen,  so  werden  wir  sehen, 
wie  dies  eben  aus  ihnen  folgt  Denn  die  Zahl  der 
Regierenden  ist  in  beiden  so  groß,  daß  dem  größten 
80  Teil  der  Reichen  der  Weg  zur  Regierung  und  zu  dem 
staatlichen  Würden  oflem  steht  Wird  überdies  noch, 
wie  ich  Kap.  8  §  47  gesagt  habe^  die  Bestimmung 
getroffen,  daß  die  Patrizier,  die  mehr  Schulden  haben, 
als  sie  zahlen  können,  aus  der  Ellasse  der  Patrizier 
ausgestoßen  werden  und  daß  diejenigen,  die  durch 
Unglück  ihr  Vermögen  verloren  haben,  Ersatz  er- 
halten, dann  werden  zweifellos  alle  nach  Kräften  be- 
strebt sein,  ihr  Vermögen  zu  bewahren.  Sie  werden 
überdies  nie  nach  fremder  Sitte  Lust  bekonunen  und 


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10.  Kapitel.    Ghurantien  der  Aristokratie.  175 

auf  die  heimische  herabsehen,  wenn  ein  Gesetz  be- 
stimmty  daß  die  Patrizier  und  die  Bewerber  um  Ämter 
durch  besondere  Tracht  kenntlich  sein  müssen  (vgl. 
hierüber  Eap.  8  §§  25  nnd  47).  So  kann  man  anch 
außerdem  in  jedem  Staate  noch  andere  Mittel  ao»- 
sinnen,  die  mit  der  Natur  des  Landes  nnd  dem  Volks- 
charakter in  Übereinstimmung  sind;  dabei  muß  vor 
allem  darauf  gesehen  werden,  daß  die  Untertanen 
mehr  aus  freiem  Willen  als  unter  dem  Zwang  der  Ge- 
setze ihre  Pflicht  erfüllen.  10 

§8. 

Denn  ein  Staat,  der  nur  daran  denkt^  die  Menschen 
durch  Furcht  zu  leiten,  wird  eher  frei  von  Fehlem 
sein,  als  daß  er  wirkliche  Vorzüge  hat  Die  Menschen 
müssen  so  geleitet  werden,  daß  es  ihnen  scheint^  sie 
würden  gar  nicht  geleitet,  sondern  lebten  nach  eigenem 
Sinne  und  eigener  freier  Entschließung;  bloß  die  Liebe 
zur  Freiheit,  der  Wunsch,  ihr  Vermögen  zu  vermehren, 
und  die  Hoffnung  auf  die  staatlichen  Ehrenstellen 
soll  sie  in  Schranken  halten.  20 

Im  übrigen  sind  Bildsäulen,  Triumphe  und  andere 
Anreizungsmittel  zur  Tugend  eher  Zeichen  der  Knecht- 
schaft als  Zeichen  der  Freiheit  Denn  nur  dem  Knechte, 
nicht  dem  Freien  werden  Belohnungen  für  seine 
Tüchtigkeit  zuerkannt.  Ich  gebe  zwar  zu,  daß  die 
Menschen  durch  solche  Reizmittel  sehr  angespornt 
werden.  Aber  wenn  man  sie  anch  im  Anfang  nur 
großen  Männern  zuspricht,  später  erhalten  sie  bei 
wachsendem  Neide  auch  Untüchtige  und  durch  großen 
Reichtum  Aufgeblasene,  zum  großen  Unwillen  aller  80 
guten  Bürger.  Femer  werden  alle^  die  mit  den 
Triumphen  und  Bildsäulen  ihrer  Vorfahren  Staat 
machen,  sich  für  gekränkt  halten,  wenn  man  sie  nicht 
allen  übrigen  vorzieht  Schließlich  ist  es  gewiß,  um 
von  anderem  zu  schweigen,  daß  die  Gleichheit,  mit 
deren  Verlust  auch  die  allgemeine  Freiheit  notwendig 
zu  Grunde  geht,  sich  in  keiner  Weise  aufrecht  er- 
halten läßt,  sobald  einem  durch  Tüchtigkeit  hervor- 
ragenden Mium  durch  ein  Staatsgesetz  besondere  Ehren 
zuerkannt  werden.  40 


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176  Abhandlang  vom  Staate. 

§9. 

Nachdem  wir  dies  vorausgeschickt  haben,  wollen 
wir  sehen,  ob  solche  Staaten  durch  eigene  Schuld 
ihren  Untergang  finden  können«  Wenn  aber  irgend 
ein  Staat  ewige  Dauer  versprechen  kann,  so  mufi 
es  der  sein,  dessen  Rechte^  einmal  richtig  festgeseta^ 
unverletzt  bleiben.  Denn  das  Recht  ist  die  Seele  des 
Staates.  Bleibt  es  erhalten,  so  bleibt  auch  der  Staat 
erhalten.   Aber  das  Recht  ist  nur  dann  unzerstörbar, 

10  wenn  es  in  der  Vernunft  und  in  dem  allgemeinen 
Affekt  der  Menschen  seine  Stütze  hat  Ist  es  anders, 
stütet  66  sich  bloß  auf  die  Hülfe  der  Vernunft,  dann 
ist  es  kraftlos  und  leicht  zu  verletzen.  Wir  haben  aber 
gezeigt,  daß  die  Grundrechte  der  beiden  aristokra- 
tischen Regierungsformen  mit  der  Vernunft  und  dem 
allgemeinen  Affekt  der  Menschen  im  Einklmg  stehen; 
darum  dürfen  wir  auch  behaupten:  wenn  irgend  ein 
Staat,  so  muß  dieser  von  ewiger  Dauer  sein,  und 
nicht  durch  eigene  Schuld,  nur  durch  ein  unabwend- 

20  bares  Geschick  kann  er  zugrunde  gehen. 

§10. 

Nun  könnte  man  uns  noch  einwerfen,  daß  doch 
die  im  Vorstehenden  dargelegten  Rechte  des  Staates, 
wenn  sie  auch  in  der  Vernunft  und  in  dem  allgemeinen 
Affekt  der  Menschen  ihre  Stütze  haben,  nichtsdesto- 
weniger bisweilen  verletzt  werden  können.  Es  gibt 
ja  keinen  Affekt,  der  nicht  zuweilen  von  einem  ent- 
gegengesetzten stärkeren  Affekte  überwunden  würde. 
So  sehen  wir  oft  die  Todesfurcht  von  d^  Begierde 

30  nach  fremdem  Besitz  besiegt  Wer  aus  Furcht  vor 
dem  Feinde  flieht,  läßt  sich  nicht  durch  die  Furcht 
vor  anderem  zurückhalten,  sondern  stürzt  sich  in  einen 
Fluß,  rennt  ins  Feuer,  bloß  um  dem  feindlichen 
Schwerte  zu  entgehen.  Ein  Staatswesen  mag  noch 
so  gut  geordnet,  sein  Recht  noch  so  vortrefflich 
festgesetzt  sein,  in  der  höchsten  Not  des  Staates, 
wenn  alle,  wie  es  geschieht,  von  panischem  Schrecken 
ergriffen  werden,  dann  woUen  alle  nur  das,  wozu 
die  Furcht  des  Augenblicks  ihnen  rät,  ohne  an  die 

40  Zukunft,  ohne  an  die  Gesetze  zu  denken.  Aller  Augen 


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10.  Kapitel.    Garantien  der  Aristokratie.  177 

richten  sich  auf  den  durch  fieine  Siege  berühmten 
Mann,  sie  entbinden  ihn  von  den  Gesetzen,  sie  ver- 
längern —  und  das  ist  das  allerschlimmste  —  seine 
BefeUsgewalt  und  vertrauen  ihm  die  ganze  Republik 
an.  Hierdurch  ist  das  römische  Reich  zu  Grunde  ge- 
gangen. 

Auf  diesen  Einwand  antworte  ich  erstens,  daß 
in  einer  wohlbegründeten  RepuUik  ein  solcher 
Schrecken  überhaupt  nicht  ausbricht,  es  sei  denn  aus 
einer  triftigen  Ursache.  Darum  kann  dieser  Schrecken  10 
und  die  daraus  entstehende  Verwirrung  keiner  ür^ 
Sache  zugeschrieben  werden,  die  sich  durch  mensch- 
liche Klugheit  hätte  vermeiden  lassen.  Sodann  ist 
zu  bemerken,  daß  es  in  einer  Republik,  wie  wir  sie 
im  Vorstehenden  geschildert  haben,  gar  nicht  mög- 
lich ist  (nach  Kap.  8  §§  9  und  25),  daß  ein  einzehier 
durch  den  Ruf  seiner  Tüchtigkeit  so  hervorragt^  daß 
sich  aller  Augen  auf  ihn  richten.  Er  muß  unaus- 
bleiblich Nebenbuhler  haben,  denen  wieder  andere  ihre 
Gunst  zuwenden.  Mag  auch  in  einer  Republik  durch  20 
einen  Schrecken  eine  gewisse  Verwirrung  entstehen, 
so  wird  doch  niemand  die  Gesetze  umgehen  und  rechts- 
widrig jemanden  zur  Militarherrscnaft  vorschlagen 
können,  ohne  daß  sofort  ein  Streit  mit  den^i  ent- 
stünde, die  andere  dafür  in  Vorschlag  bringen.  Dieser 
Streit  wird  nicht  anders  sich  entscheiden  lassen,  als 
indem  man  auf  die  einmal  festgesetzten  und  von  allen 
anerkannten  Rechte  zurückgreift  und  die  Angelegen- 
heit in  Obereinstimmung  mit  den  bestehenden  Staats- 
geeetzen  ordnet  SO 

Darum  darf  ich  ohne  Einschränkung  behaupten, 
daß  eine  Regierung,  die  eine  Stadt^  ganz  besonders 
aber  eine  solche,  die  mehrere  Städte  in  Händen  haben, 
von  ewiger  Dauer  ist  und  aus  keiner  inneren  Ursache 
aufgelöst  oder  in  eine  andere  Form  umgewandelt 
werden  kann. 


S  p  i n  o  B  a ,  Abbaadlg.  üb.  d.  VerbMterg.  d.  Veritandei.        12 

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Elftes  Kapitel. 

§1- 

Ich  gehe  nun  endlich  zur  dritten,  der  vollständig 
onumschränkten  Rederungsform  über,  die  wir  Demo- 
kratie  nennen.  Ihr  Unterschied  von  der  Aristo- 
kratie  besteht^  wie  wir  sagten,  in  erster  Linie  darin, 
daß  es  bei  der  letzteren  allein  vom  Willen  und  von 
der  fr^en  Wahl  des  Rates  abhängt,  ob  dieser  oder 
jener  zom  Patrizier  gewählt  wird;  niemand  hat  also 

10  ein  erbliches  Stimmrecht  oder  ein  erbliches  Recht  auf 
Zulassung  zu  den  Staatsämtern  und  niemand  kann 
auf  ein  solches  Recht  einen  rechtlichen  Anspruch  er- 
heben. Dies  ist  aber  der  Fall  bei  der  Regierungsk 
form,  von  der  wir  jetzt  handeln.  Denn  hier  ha^n 
alle,  deren  Eltern  Bürger  waren  oder  die  im  Lande 
geboren  sind,  die  sich  Verdienste  um  den  Staat  er- 
worben haben  oder  die  aus  einem  anderen  Grunde 
nach  dem  Gesetz  das  Bürgerrecht  erhalten  mußten, 
alle  diese  haben  einen  rechtlichen  Anspruch  auf  das 

20  Stimmrecht  im  Höchsten  Rate  und  auf  die  Zulassung 
zu  den  Staatsämtern,  und  dieses  Recht  darf  ihnen 
nicht  verweigert  werden  außer  wegen  eines  Ver- 
brechens oder  wegen  Ehrlosigkeit 

§2. 

Wenn  daher  auch  das  Recht  bestimmt,  daß  bloß 
die  Älteren,  von  einer  gewissen  Altersgrenze  an,  oder 
daß  bloß  die  Ers^eborenen,  sobald  es  ihr  Alter  er- 
laubt, oder  nur  diejenigen,  die  dem  Staate  eine  be- 
stimmte Geldsumme  entrichten,  das  Stimmrecht  im 
80  Höchsten  Rat  und  das  Recht  auf  die  Leitung  der 
Staatsgeschafte  haben  sollen,  so  wird  doch  eine  solche 


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11.  Kapital.    Von  der  Demokratie.  179 

Bmerungsform  Demokratie  heißen  müsaen  und  daran 
ändert  es  auch  nichts,  daß  möglichenfalls  der  Höchste 
Rat  auf  diese  Weise  weniger  Bürger  zählt  als  der 
Bat  der  Aristokratie»  von  dem  ich  oben  gehandelt; 
denn  hier  werden  alle  zur  Leitung  des  Staates  b€>- 
stimmten  Bürger  nicht  vom  Höctwten  Rate  als  die 
Besten  erwählt,  sondern  durch  das  Gesetz  dazu  be« 
stimmt 

Obwohl  so  derartige  Staaten,  in  denen  nicht  die 
Beeten,  sondern  die  gerade  durch  einen  Glücksbll  lo 
Reichgewordenen  oder  die  Erstgeborenen  zur  Re- 
gierung bestimmt  sind,  hinter  einem  aristokratischen 
Staat  zurückzustehen  scheinen,  so  kommt  es  doch, 
sobald  man  die  Praxis  und  das  allgemdne  Verhalten 
der  Menschen  ins  Auge  faßt,  auf  eines  hinaus.  Denn 
den  Patriziern  erscheinen  immer  diejenigen  als  die 
Besten,  die  reich  oder  die  ihnen  verwandt  oder  be- 
freundet sind.  Wenn  es  freilich  so  mit  den  Patriziern 
bestellt  wäre,  daß  sie  frei  von  jeder  Leidenschaft  und 
allein  von  der  Rücksicht  auf  das  Gemeinwohl  geleitet  20 
ihre  patrizischen  Kollegen  wählten,  dann  könnte  keine 
Begierungsform  sich  mit  der  aristokratischen  vw- 
gleichen.  Daß  aber  die  Sache  sich  ganz  anders  verhält, 
hat  die  Erfahrung  übergenug  bewiesen,  namentlich 
in  Oligarchien,  in  denen  der  Wille  der  Patrizier  aus 
Mangd  an  Nebenbuhlern  sich  meist  an  das  Gesetz 
nicht  bindet  Denn  dort  haltw  die  Patrizier  absicht- 
lich 'die  Besten  vom  Rate  fem  und  suchen  sich  nur 
solche  Kollegen  im  Rate  aus,  die  ihnen  auf  den  Wink 
folgen.  In  ein^n  solchen  Staate  st^en  die  Dinge  30 
wmt  schlechter,  weil  die  Wahl  der  Patrizier  nur  von 
dem  unbeschränkt  freien,  an  kein  Gresetz  gebundenen 
Willen  Einzelner  abhängt  Aber  ich  kehre  zum  An- 
gefangenen zurück. 

§3. 

Aus  dem  im  vorigen  §  Gesagten  geht  hervor,  daß 
wir  uns  verschiedene  Arten  des  demotettischen  Staates 
denken  können.  Ich  habe  aber  nicht  die  Absicht, 
jede  Art  zu  behandeln,  sondern  bloß  die,  in  der  ohne 
Ausnahme  alle,  die  den  LandesgesetzMi  allein  unter-  40 
stehen  und  dabei  unter  eigenem  Rechte  sind  und  ehr- 

12* 

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180  Abhandlang  vom  Staate. 

bar  leben,  das  Stunmrecht  im  Höchsten  Rate  und  das 
Recht  ani  Znlaflsimg  zu  den  Staatsamtern  haben. 

Ich  sage  aosdrücklich:  ,,die  den  Landesgesetoen 
allein  unterstehen^,  um  die  Fremden  auszuschließen» 
die  als  anderer  Herrschaft  angehörig  betrachtet 
werden.  Ich  habe  ferner  hinzugesetzt:  ,,außerdrai, 
daO  sie  den  Landesgesetzen  unterstehen,  mußten  sie 
auch  im  übrigen  unter  eigenem  Rechte  stehen^  um 
Frauen  und  Knechte  auszuschließen,  die  der  Gewalt 
10  der  Männer  und  Harren  unterstellt  sind,  und  ebenso 
Kinder  und  Unmündige^  solange  sie  unter  der  Ge- 
walt der  Eltern  und  Vormünder  steheiL  Ich  habe 
schließlich  gesagt:  „die  ehrbar  leben%  um  vor  allem 
diejenigen  auszuschließen,  die  wegen  eines  Ver- 
brechens oder  wegen  schimpflich«  Lebensweise  ehr- 
los sind. 

§4. 

Man  wird  vi^eicht  fragen,  ob  die  Frauen  von 
Natur  oder  nur  durch  Gesetzesbestimmung  unter  der 

20  Gewalt  der  Manner  stehen.  In  letzterem  Falle  gäbe 
es  keinen  Grund,  der  uns  nötigen  könnte,  die  Frauen 
von  der  Regiwuns^  auszuschließen. 

Fragen  wir  aEer  die  Erfahrung  selbst  um  Bat^ 
so  werden  wir  sehen,  daß  dw  Grund  in  ihrer  Schwäche 
liegt  Denn  nirgends  finden  wir,  daß  Männer  und 
Frauen  zugleich  regierten,  sondern  wo  es  auf  der  ESrde 
Männer  und  Frauen  ^t,  da  sehen  wir,  daß  die 
Männer  regieren  und  £e  Frauen  regiert  werden  und 
daß  bei  diesem  Verhältnis  die  beiden  Geschlechter 

80  einträchtig  zusammen  leben.  Die  Amazonen  dagegen, 
die  einer  sagenhaften  Überlieferung  zufolge  einst 
geherrscht  hwen,  duldeten  keine  Männer  in  ihrem 
Lande,  sondern  zogen  bloß  die  Madch^  groß  und 
töteten  die  Knaben  nach  der  Greburi  Wenn  nun  von 
Natur  die  Frauen  den  Männern  ebenbürtig  wären  und 
wenn  sie  an  Seelenstärke  und  an  Geist,  ab  in  welchen 
hauptsächlich  die  Macht  und  demnach  auch  das  Recht 
des  Menschen  besteht,  ihnen  gleichwertig  wären»  so 
müßte  es  doch  unter  so  vielen  und  so  verschiedenen 

40  Völkern  wenigstens  einige  geben,  bei  denen  die  b^den 
Geschlechter  gleichberechtigt  nebeneinander  regierten, 

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11.  Kapitel    Von  der  Demokratie.  181 

und  andere,  wo  die  Uanner  von  den  Frauen  regiert 
und  so  erzogen  würden,  daß  sie  geistig  hinter  ihnen 
zurückstünden.  Da  das  aber  nirgends  der  Fall  ist^ 
darf  man  getrost  behaupten,  daß  die  Flauen  von  Natur 
nicht  gleiches  Recht  haben  wie  die  Manner,  sondern 
notweiäig  hinter  ihnen  zurückstehen  und  daß  des- 
halb unmöglich  beide  Geschlechter  gleichberechtigt 
nebeneinander  regieren  können,  geschweige  gar,  daß 
Männer  von  Frauen  regiert  würden. 

Ziehen  wir  zudem  noch  die  menschlichen  Affekte  10 
in  Betracht^  nämlich  daß  die  Liebe  der  Männer  zu  den 
Frauen  meist  nur  sinnliche  Leidenschaft  ist  und  daß 
sie  ihren  Geist  und  ihre  Klugheit  nur  soweit  schätzen, 
als  sie  mit  Schönheit  vereint  sind,  fem^  daß  die 
Männer  es  sehr  schwer  ertragen,  daß  Frauen,  die 
sie  lieben,  anderen  irgendwie  ihre  Gunst  erweisen, 
und  anderes  derart,  dann  werden  wir  leicht  einsehen, 
daß  es  ohne  großen  Nachteil  für  den  Frieden  nicht 
möglich  ist,  daß  Männer  und  Frauen  gleichberechtigt 
uebeneinander  regieren.    Doch  genug  davon.  20 


Das  Übrige  fehlt 


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Anmerkungen- 


Zur  Abhuidlmig  ttber  Akt  Yerbeflseriuir  ^^s  Yentondes. 

Seite  8,  Zeile  1  ff.    Zum  ersten  Teile  der  Abhandlung 
tractatns  brevis  U.  5.      (Ich   zitiere   den  tract  br.  im   fo](_ 
den   nach   der  ParagrapheneinteiloDff  der  Sigwarischen  über- 
setBung.)     Ähnlicher  Gedankengang  oei  Marc  Aorel  VIII.  1. 

4,87.  Der  Ansdrack  propter  angmentnm  scientiarum  et 
artinm  ist  baconisch;  vgL  de  dignitate  et  angmentis  scientiarum 
und  NoY.  Org.  I.  81 :  nt  scientiarom  et  artinm  massa  augmentum 
obtineat 

5, 27.  Auf  Grund  der  alten  niederlftndischen  Obersetsung 
der  nachgelassenen  Werke,  die  von  Glazemaker  nach  den  Manu- 
skripten Spinozas  gefertigt  ist,  und  die  uns  daher  eine  schätzens- 
werte Hülfe  zur  Herstellung  eines  korrekten  Textes  bietet,  fögt 
Leopold  (Ad  Spinozas  Opera  posthuma,  Hagae  1902,  S.  47) 
an  dieser  Stelle  ein:  „(si  &8  est  ita  loqui)." 

6, 1—12.    Vgl.  tract  br.  U.  14,  4. 

6,40 — 7,26.  Diese  Stelle  ist  eine  zusammenfassende  Be- 
arbeitung Yon  tract.  br.  L  10  und  11.  4. 

7,20—28.  Die  Begründung  dieses  Satzes  findet  sich 
tract.  br.  11.  6, 7;  vgl.  auch  IL  26,  8  und  Eth.  IV.  37. 

7,28—26.  Der  hier  bloß  angedeutete  GFedanke,  dafi  das 
höchste  Gut  die  Vereinigung  der  ^ele  mit  der  Gottheit  durch 
die  Erkenntnis  sei,  findet  sich  auageffthrt  traot  br.  II.  22. 

8, 10 — 14.  modus  medendi  inteUeotus  ipsumque  expurgandi. 
Bacon  bezeichnet  sein  Neues  Organen  als  Doctrina  de  ezpnr- 
gatione  Intellectns  (Nov.  Org.,  distributio  operis),  und  hiemach 
hat  sicher  Spinoza  den  Titel  seiner  Schrift  gebUdet.  Der  Aus- 
druck expurgare  intellectum  ist  dem  Neuen  Organon  gel&ufig 
(z.  B.  L  115;  n.  82);  auch  corrigere  intellectum  findet  sich 
dort  (n.  82). 

8,28 — 9,4.  Man  darf  hiermit  die  provisorischen  Lebens- 
regeln Descartes'  im  Discours  de  la  M^ode  III  vergleichen« 

8, 28—84.    Vgl.  tract  br.  II.  12, 8. 

8, 87.  Indem  Spinoza  an  dieser  SteUe  mit  ficht  baconisoher 
Wendung  sagt:     finis  in  scientüs  est  unicus  (vgl.  z.  B.  Nov. 


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Anmerknngen.  188 

3rg.  I.  82),  will  er  offenbar  ansdräcklioh  den  GegenBats  gegen 
Bacon  hervorheben. 

9,  5  fil  Zur  Lehre  von  den  Erkenntnunurten  vgl.  tract  br. 
I.  1  und  2;  femer  Eth.  IL  40,  Anm.  2. 

9, 22 — 29.  Auch  wenn  Spinoza  nicht  ausdrücklich  bemerkt 
b&tte,  daß  er  bei  Gelegenheit  der  sweiten  Brkenntnisart  von 
der  empirischen  Methode  handeln  wolle  (18, 84-^86),  würde 
man  in  ihr  die  Methode  Bacons  wiedererkennen.  W&hrend 
im  tractatns  brevis  die  beiden  ersten  Erkenntnisarten  als  Wahn 
(opinio  oder  ima^natio)  noch  in  einer  vereinigt  sind,  wie  sie 
anch  später  in  der  Ethik  (11.  40,  Anm.  2)  als  cognitio  primi 
generis  wieder  vereinigt  werden,  treten  sie  hier  auseinander, 
um  der  Kritik  Bacons  Banm  zn  geben.  Der  Ausdruck  ezperi- 
entia  vaga  ist  dem  Neuen  Organen  entlehnt  (I.  100)  und  auf 
die  Methode  überiiaupt  übertagen*  das  ezperimentum  quod 
oppugnat  ist  nichts  anderes  als  die  instantia  contradictoria. 

9, 85.  Eirchmann  und  Stern  verbessern  das  propter  id  der 
editio  nrinceps  und  der  Ausgaben  in  praeter  id,  und  Leopold 
(a.  a.  O.  S.  89  und  49)  bestfttigt  diese  Verbesserung  auf  Grund 
der  alten  niederländischen  ÜbersetEung. 

10, 80-— 81.  Auerbach  und  Kirchmann  haben:  „im  sweiten 
Fall*',  Stern:  „im  anderen  Fall'*.  Das  ist  fislsch,  denn  es  handelt 
sich  in  dieser  Stelle  der  Anm.  nicht  um  den  Eweiten  Fall  des 
Textes,  den  SchluO  vom  Allgemeinen  auf  das  Besondere,  sondern 
immer  noch  um  den  ersten  Fall,  den  Schlufi  von  der  Wirkung 
auf  die  Ursache.  Auch  kann  hier  secundus  casus  gar  nicht 
„der  zweite  Fall"  heifien,  denn  wo  wäre  der  dritte?  Das 
Richtige  hat  Saisset  (Oeuvres  de  Spinoza  n,  S.  281). 

10,87 — 88.  Kirchmann  und  Stern  verheuern  ohne  Not 
effectus  in  effectum. 

14, 11—15, 6.  Der  Verffleioh  ist  von  Bacon  entlehnt.  Vgl. 
Nov.  Oiganon,  prae&tio:  „Fürwahr,  hätten  die  Menschen  cUe 
mechanischen  Werke  mit  den  bloßen  Händen,  ohne  die  Kraft 
und  Hülfe  von  Werkzeugen  in  Angriff  genommen,  wie  sie  kein 
Bedenken  getragen  haben,  die  Verstandeswerke  (opera  Litelleo- 
toalia)  mit  den  blofien  Elrtften  des  Geistes  zu  unternehmen,  so 
hüte  man  nur  Gknringes  in  Bewegung  setzen  und  bewältigen 
koxmen*';  femer  Nov.  Org.  I.  2:  „weder  die  blofle  Hand  noch 
der  sieh  selbst  überlassene  Verstand  vermae  viel;  durch  Werk- 
zeuge und  Hülftmittel  wird  die  Sache  voUbracht;  man  bedarf 
deren  nicht  weniger  für  den  Verstand  als  für  die  Hand.  Und 
vi«  die  Werkzeuge  die  Bewegung  der  Hand  veranlassen  und 
leiten,  so  leihen  auch  die  G^eistoswerkzeuge  dem  Ventande 
Unterstützung  oder  Beistand."  Baconisch  ist  anch  der  Ausdruck 
▼is  nativa  (vri.  de  disnitate  et  augmentis  scientiarum  V.  5). 

14, 86.    Afit  Recht  verbessern  Paulus  und  Bruder:  quod  in 
nobis  a  causis  extemis  non  causatur,  und  ihnen  folgen  hierin 

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184  Anmerkiingen. 

die  Übenetsongen.  In  der  Yloten-LandscheD  Ausgabe  irt  4iM 
übenehen;  dort  heißt  ea  nach  den  Opp.  posth«:  quod  iniu^K« 
•  oausis  extemii  oaiuatur.    VgL  aaoh  Leopold  (a.  a.  0. 8. 42  . 

15, 13 — 24.  Die  Ghnuidlage  der  UnterBcheidang  von  eaec- 
tia  formaÜB  und  essentia  obiectiva  bildet  der  2.  Anhang  des 
tractatos  breviB.  Spinosa  gebraucht  diese  eoholastisclian  A^ 
drfloke  in  Übereinetimmnng  mit  Deecartes  (Meditationet  IH): 
unter  dem  formalen  Sein  verBteht  er  das  Sein  der  Dinge  in  d«r 
realen  Wirklichkeit  oder  in  der  ,^ormalitftt  der  Natur",  anter 
dem  ohjektiyen  Sein  ihr  Sein  als  Gegenstand,  d.  h.  ihr  Sein 
in  der  Welt  der  Gtedanken. 

16,21—24.    YgU  tract  br.  IL  15,8. 

18, 26—32.  Der  SatE :  Si  ergo  daretor  aliquid  usw.  ist  in 
der  alten  niederlftndisohen  ÜbersetEong  ansgolasoon  (Leopoki 
a.  a.  O.  S.  56);  aber  ich  vermag  Leopold  nicht  beianstimmfii, 
der  ihn  lüs  flberflüssiges  oder  Iftstiges  Einschiebsel  den  Heraos- 
gebem  zoschreiben  und  streichen  möchte. 

19, 6.  Die  Vloten-Landsche  Ausgabe  und  mit  ihr  Leopold 
(a.  a.  O.  S.  56)  streichen  das  überflüssige  ex  eo,  daa  aach  die 
alte  niederlftnduohe  Obersetaning  nicht  wiedergibt. 

20,4—11.  Hier  mag  Bacons  Polemik  gegen  die  Idole, 
die  dUeser  auch  praeindida  nennt  (s.  B.  Kot.  Org,  I.  115),  von 
länfioO  gewesen  sein.  Die  versprochene  Darlegung  findet  sieh 
im  Anhimg  zum  ersten  Teil  der  Ethik. 

20, 20—22.  An  dieser  Stelle  aeigt  der  Text,  wie  ich  glanbe, 
eine  Lücke.  Leopold  (a.  a.  O.  8.  42)  möchte  die  Schwierig- 
keit durch  Einfügung  einer  Negation  heben:  ei  non  reapondeo, 
simulque  moneo;  doch  scheint  mir  diese  Koigektnr,  die  sieb 
nicht  auf  die  Autoritftt  der  alten  niederländischen  CbeFsetsong 
stützt,  logisch  wie  sprachlich  gleich  unhaltbar.  Offenbar  hst 
Spinoza  ursprünglich  den  Grund  angegeben,  warom  er  erst  seine 
Methodenlehre  geben  woUte,  ehe  er  sie  in  ihrer  Anwendong 
zeigte.  Als  er  dann  aber  wirklich  erst  an  die  Ausarbeitang 
seines  Systems  ging  und  die  Methodenlehre  zurückstelltCi  wird 
er  jene  Stelle  gestrichen  haben. 

28, 25.  Mit  Recht  schligt  Sigwart  (Spinozas  neuentdeckter 
Tractat  S.  156  Anm.)  vor,  in  nihil  prorsus  nos  poase  fingere 
anstatt  noa  zu  lesen  id  oder  eonu  Die  Vloten-Limdsche  Aus- 
gabe folgt  ihm,  indem  sie  hoc  einsetzt.  Die  Übersetzungen 
folgen  dem  alten  Texte. 

24, 8—4.  Es  wird  mit  den  Opp.  posth.  zu  lesen  sein:  ooini 
natura  exiatere  implicat,  wie  auch  die  Vloten-Landsche  Ausgabe 
hat,  entsprechend  der  Anm.  zu  Gog.  Metaph.  Li, 2:  nomine 
Ghimaera  intelliflatur  id,  cuius  natura  apertam  involvit  contra- 
dictionem.  Impucare  heißt  in  Spinozas  Sprachgebrauch  immer 
j,einen  Widersprach  enthalten";  so  Gog.  Metaph.  I.  8«  8:  noo 
implicat,  mundum  ab  aeterno  fuiase:  es  enth&lt  keinen  Wider- 


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Anmerkangen.  185 

sprach,  zu  sagen,  die  Welt  sei  von  Ewigkeit  her  gewesen; 
ebend.  11.  12,4:  satis  constat,  nos  de  nulla  re  oreata  posse  di- 
cere,  qnod  eios  natura  impiicet,  at  a  potentia  Dei  destmator: 
es  steht  fest,  daß  wir  yon  keinem  geschaffenen  Düge  sagen 
können,  seine  Katar  enthalte  einen  Widersprach  dagegen,  daß 
es  durch  6k>ttes  Macht  zerstört  werden  könne.  Dementsprechend 
heißt  aach  implicantia  bei  Spinoza  immer  „Widersprach", 
s.  z.  B.  Gog.  Metaph.  I.  3,8  and  8;  ep.  XII,  Abs.  2  (früher 
ep.  XXIX,  ed.  Yloten  II.  41).  Vgl  daza  auch  Böhmer,  Spinozana 
n  8.  97  (in  der  Zeitschrift  fttr  Philosophie  Bd.  42,  1863),  wo- 
selbst die  Ansicht  Erdmanns  angegeben  ist.  Lands  Anmerkung 
(ed.  Vloten  I.  17)  yerwiirt  nar  die  sehr  einfache  Sachliu^e. 
Auerbach  hat  richtig:  „deren  Katar  dem  Daseyn  zuwiderlftoft"; 
Eirchmann  verbessert:  „deren  Katar  das  Kicht-Dasein  ein- 
schließt"; Stern  übersetzt  falsch:  „deren  Katar  die  Existenz  in 
sich  begreifen  soll*'.  Leopold  (a.  a.  O.  S.  65  t)  hat  das 
Bichtige  erkannt. 

27, 17—28, 29.    Vgl.  traot  br.  L  1, 7. 

28, 28—24.  Die  Stelle  ist  sprachlich  nachlässig  aber  dem 
Sinne  nach  klar;  die  Ergänzung  der  Vloten-Landschen  Aus- 
gabe: ut  etiam  alia  tali  modo  scheint  mir  nicht  unbedingt  nötig. 

28,  Anm.  1.  Die  Opp.  posth.  setzen  diese  Anmerkong 
schon  nach  „um  es  zu  widerlegen*^  (28,  29).  Leopold  (a.  a.  0. 
8.  66)  gibt  ihr  auf  Grand  der  alten  niederländischen  Über- 
setzung die  richtige  Stelle. 

88, 29 — 80.  Die  Yloten-Landsche  Ausgabe  verbessert  mit 
Becht  deduceret  in  deducere. 

38, 89 — 40.  Hier  ist  zum  mindesten  der  sprachliche  Aus- 
drack  im  Lateinischen  inkorrekt.  Subjekt  des  zweiten  von  scimus 
abhängigen  acousativi  cum  infinitivo  ist  nicht  cuius  obiectum 
im  ersten,  sondern  dem  Sinne  nach  ein  zu  ergänzendes  quam, 
das  sich  auf  ideam  aliquam  veram  im  regierenden  Satz  bezieht. 
Vielleicht  da^f  man  aber  verbessern:  nee  obiectam  aliquod  in 
natura  habentem.  Auch  Me\jer  (Vertoog  over  het  zuivere 
Denken  S.  89)  verbessert  sinngemäß:  „welks  vorwerp,  naar  wij 
zeker  weten,  alleen  van  ons  denkvermogen  afhangt,  en  in  de 
nataor  niet  aanwezig  is.'* 

36,  Anm.  1.  Eine  derartige  Darlegung  findet  sich  in  der 
Ethik  nicht,  wohl  aber  tract.  br.  I.  7  (,,Von  den  Eigenschaften, 
die  <^ott  nicht  zugehören**). 

36,  Anm.  2.  Spinoza  bezieht  sich  hier  aof  den  cartesia- 
nischen  Gottesbeweis  in  Übereinstimmung  mit  tract.  br.  1. 1, 3 
and  Anm*  3,  aber  im  Gegensatz  zur  Ethik,  in  der  Gott  nicht 
mehr  bewiesen  zu  werden  braucht. 

87,  Anm.  1.  Die  idte  niederländische  Übersetzung  nimmt 
diese  Bandbemerkung  in  den  Text  auf,  und  Leopold  (a.  a.  0. 
S.  52)  schlägt  vor,  är  za  folgen.    Ich  vermag  es  nicht,  denn 

• 

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186  AnmerkungeD. 

das  Subjekt  darin  ist  doch  das  qnis  im  folgenden  Sals  da( 
Textes,  dem  wir  die  Anmerkung  auf  keinen  Fiül  im  Text  'vov 
anstellen  dürfen. 

36,2 — 25.  An  dieser  Stelle  wendet  sieh  Spinös»  g«^^ 
den  deus  deoeptor  oder  deoeptor  summe  potens  Descartw'. 

38,7.  olaram  et  distinctam  ideam  Dei  ergänzt  Leopoib 
(a.  a.  O.  S.  49  £)  auf  Grand  der  alten  niederiändisehen  Ül>er 
Setzung. 

39, 8 — 32.  Die  Unterscheidung  der  UnterstfitEung  de«  G« 
d&chtnisses  durch  den  Verstand  und  durch  das  VorsteUnng^ 
vermögen  entspricht  bei  Bacon  der  ähnlichen  Unterm^eidnni 
einer  unterstfltaung  per  intellectuale  und  per  sensibile  (de  digrs 
et  augm.  scient  V.  5).    Vgl.  den  Hinweis  in  ep.  87  (firOher  42} 

^,  15.  sensus  quem  rocant  commnnem.  Der  scholastiacxu 
Ausdruck,  der  sich  bei  Spinoaa  nur  an  dieser  Stelle  findet,  im 
schon  durch  den  Zusats  quem  Yooant  als  Entlehnung  gekenn' 
zeichnet  Descartes,  an  den  sich  Spinoza  hier  anlehnt,  nennj 
tatsächlich  die  potentia  imaginatrix  als  das  über  den  Sinnei 
stehende  und  von  ihnen  ihr  lutenal  empfimsende  Vermögen  des 
sensus  communis  (discours  de  la  möthode  Y;  meditaüonea  U). 

40, 17->41, 8.  Die  Lehre  vom  VorstellungsvermOgen,  dei 
imaginatio,  findet  sich  im  tractatus  brevis  noch  nicht  und  kann 
sich  dort  nicht  finden,  wo  das  Brkennen  noch  als  Leiden,  nicfal 
als  Tun  aufgefafit  wird  (vgL  tract.  br.  IL  15, 4;  16, 5;  19,  Anm.  4). 
Sie  ist  wohl  unmittelbar  von  Descartes  enüehnt,  worauf  auch 
der  als  Citat  übernommene  Ausdrack  sensus  communis  hinweist 
Bei  jenem  findet  sich  die  gleiche  Scheidung  zwischen  inteUectio 
und  imaginatio:  „das  Vorstellui|^vermögen  (imaginatio)  unter- 
scheidet sich  von  dem  reinen  ^kenntnisvermögen  (inteUectio) 
eben  darin,  daß  der  GMst,  wenn  er  erkennt  (intelligit),  sich 
gewissermaßen  auf  sich  selbst  richtet  und  eine  seiner  ihm  an- 
geborenen Ideen  ins  Auge  £aßt;  wenn  er  aber  vorstellt  (imagi- 
natur),  daß  er  sich  dann  auf  den  Körper  richtet  und  etwas  im 
Körper  anschaut,  das  entweder  einer  reinen  oder  einer  ainnlich 
waluffenommenen  Idee  konform  ist.*'  (Meditationes  VL)  VgL 
Eth.  IL  49,  Anm. 

41, 14 — Itt.  Wir  dürfen  wohl  annehmen»  daß  Spinoza  die 
ständige  Polemik  Baoons  gegen  die  deduktive  Methode  der 
veteres  vor  Augen  hatte  und  mit  dieser  Stelle  in  gewissem  Sinn 
ausdrücklich  die  Partei  des  Aristoteles  gegen  Bacon  ergreifen 
woUte. 

^7—33.  Das  Vorbild  dieser  Bekämpfung  der  Worte 
war  offenbar  Bacons  Kampf  gegen  die  idola  fori  im  Neuen 
Organen.  Auch  dort  heißt  es:  verba  ex  captu  vnlgi  impo- 
nuntur  (Nov.  Org.  L  43)  oder  ex  captu  vnlgi  induntnr  (a.  a. 
O.  L  59). 

46, 1—15.     Dieser  Forderung  soll  in  allen  Punkten  die 


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Anmerkungen.  187 

rste  Definition  der  Ethik  entsprechen;  vgl.  zum  vierten  Funkt 
p.  63  (froher  78). 

46, 7—10.     Vgl.  traot.  br.  I.  1,  Anm.  4;  8,  Anm.  1. 

46,24—25.  Leopold  (a.  a.  0.  S.  67)  eohl&gt  eine  Um* 
»llung  vor:  requiritor  et  ratio  poetolat,  nt,  qaam  primam  fieri 
oteet  .... 

47,8—87.  Diete  Stelle  gibt  den  Anlaß  zu  einer  der 
ehwierigsten  Fragen  der  Abhandlung,  eine  Sohwierigkeit,  die 
DB  dem  Streben  Spinoiaa  enteprinfft»  in  dieser  blofi  vorberei* 
mden  Schrift  die  Gedanken  seiner  Lehre  noch  nicht  unverhflUt 
arznlegen,  sondnm  sie  hinter  unbestimmten,  allgemeinen  Aus- 
rucken SU  verbergen.  Was  sind  diese  res  fixae  et  aetemae? 
!rendelenbnrg  (Historische  Beitri^e  zur  Fhilosophie  HI,  S.  888  f.) 
ißt  die  Frage  ofien,  Böhmer  (Spinozana  V,  Zeitschr.  f.  Fhil. 
(d.  66,  1870,  S.  278  f.)  vermutet  darin  die  Attribute  and  ihre 
lodi  infiniti;  Sigwart  (Spinozas  neuentdeckter  Traotat  von  Gott, 
em  Menschen  und  dessen  Glückseligkeit,  S.  157  f.)  erblickt 
arin  ,^cht8  anderes  als  die  Baconis<men  Formen,  deren  Aui- 
Qchun^  seine  Methode  lehren  will";  Follock  (Spinoza,  his  life 
nd  philosophy,  S.  141 — 144)  weist  Sigwarts  ErUftrung  zurfick 
tnd  denkt  an  die  modi  infiniti,  freilich  ohne  einen  Beweis  zu 
ersuchen  und  der  eigenen  Meinung  mißtrauend.  Im  Ausdruck 
rinnem  freilich  die  res  fixae  et  aetemae  an  Bacons  formae 
niae  sunt  aetemae  et  immobiles,  aber  daß  Spinoza  in  einer 
nage,  die  doch  den  innersten  Kern  seiner  Lehre  berflhrt,  zeit- 
reise anem  fremden  Einflüsse  unterlegen  sein  soUte,  ist  völlig 
nsgeaehlossen.  Der  tractatns  brevis  gibt  uns  die  Antwort  auf 
lie  Frage  nach  den  res  fixae  et  aetemae:  es  sind  jene  hypo- 
itasierten  Abstraktionen,  die  Spinoza  später  modi  infiniti  ge- 
kannt bat,  die  aber  schon  einen  Grandbegriff  jenes  Traktates 
bilden  (vgL  tract.  br.  L  8,2;  L  8;  IE.  5,2).  Traot  br.  l.  9, 1 
leißt  ea:  „Was  nun  die  allgemeine  natura  naturata  angeht,  oder 
Üe  Weisen  oder  Geschöpfe,  die  unmittelbar  von  Gott  abhängen 
Hier  geschaffen  sind«  so  kennen  vdr  von  diesen  nicht  mehr  als 
Ewei,  nämlich  die  Bewegung  in  der  Materie  und  den  Verstand 
in  der  denkenden  Sache.  Von  welchen  wir  sap^en,  daß  sie  von 
üler  Ewigkeit  gewesen  sind  und  in  alle  Ewigkeit  unveränder- 
lich bleiben  werden."  Hier  haben  wir  die  ewigen  und  nnver^ 
inderlichen  Dinge.  VgL  Ethik  I.  28  und  28  Anm.;  ebend.  II.  18, 
Uhnsatz  7,  Anm.;  ünmer  ep.  64  (froher  66,  an  Schuller). 

47,24—28.  Kfihnemann  (Ober  die  Grundlagen  der  Lehre 
des  Spinoza,  in  Philosophische  Abhandlungen  dem  Andenken 
Kadolf  Hayms  gewidmet,  Halle  1902,  S.  288),  der  auf  den  In- 
bslt  der  res  fixae  et  aeternae  nicht  eingeht,  hat  den  Vergleich 
Dsch  meiner  Ansicht  völlig  mißverstanden ;  denn  nicht  die  ver- 
änderlichen Einzeldinge,  sondern  eben  die  ewigen  Dinge  sind 
^6  wahren  Gesetzbficher,  nach  deren  Bestimmung  alles  Natur- 


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188  AnflMrkuigeiu 

gewdieban  nch  yoUziehi.  Im  nneodliebeii  VenUnd  all 
modni  infimtiu  der  intellektuellen  Welt  nnd  in  der  GorreU 
Ton  Bewegung  nnd  Rahe  als  dem  modns  infinitna  der  Kör] 
weit  liegen  die  Geeetse,  die  in  jedem  psyduechen  wie  matarie 
Oeechehen  nett  wirksam  erweisen  nnd  die  allein  den  Gt^ 
■tand  der  philoBophiachen  d.  h.  apriorischen  Ericenntnis 
können.  Die  Qesetse  der  Geüterwelt  hat  Spinosa  in 
Psydiologie  und  Affektenlehie  gegeben;  die  der  Kfl 
von  denen  wir  einige  in  den  Lehnsitaen  des  2.  Bocfas  <_ 
Bthik  haben,  wollte  er  in  seinem  letcten  projektierten  We^ 
den  Generalia  in  PhjnoiB  (vgL  ep.  59,  früher  68),  darsteUea. 

47, 88.  „obwohl  sie  eiiUEelne  sind".  Spinosa  betont  setad 
Nominalismns,  indem  er  die  modi  infiniti  Ar  singnlaria  eriüiq 
Vg^  traot  br.  IL  20, 4:  „die  denkende  Sadie  ist  nv  eidi 
einzige  in  der  Natnr^'. 

47,85.  Böhmers  Vorschlag  (Zeitschzift  flr  fhllosoph^ 
Bd.  57, 1870,  S.  274),  statt  potentiam  sn  lesen  patentiam,  schal 
mir  nicht  annehmbar,  weil  dann  patentia  nur  eine  abgesehwäclrti 
Tautologie  für  abiqne  praesentia  wire. 

47, 85->86.  Vgl.  tract.  br.  L  7, 10:  ^e  Einseldin^ besteh^ 
«ydnrch  die  Eigenschaften  (d.  h.  Attribate),  deren  Weisen  9| 
sind  und  durch  welche,  als  ihre  Gattongsbegriffd,  sie  begriSE^ 
werden  müssen'*. 

48, 15—80.  Diese  Stelle  ist  offenbar  eine  andere  Redaktioi 
des  47, 88--48, 14  Geeagten.  Sie  ist  von  großer  Wichtigkaiti 
weil  sie  die  einnge  ist,  die  nns  über  Spinosas  Verhalten  a 
den  empirischen  Wissenschaften  Aofklftrons  gibt  nnd  die  ühz 
nns  dorchans  auf  dem  Boden  der  baconischen  indoktiven  fiSe- 
thode  in  der  Erforschung  der  Einzeldinge  stehend  zeigt. 

48,  87.  ^cherlich  ist  anstatt  des  Drackfehlers  der  Opp. 
posth.  „feciliter''  nicht  ein  unmögliches  „fitciliter''  zu  lesen,  wie 
die  Vloten-Landsche  Ausgabe  im  Text  hat^  sondern  »^eliciter'v 
denn  die  Worte  „feliciter  perget  sine  nlla  intermptione"  finden 
sich  genau  so  auch  29, 9.  Auch  die  alte  niederländische  Über- 
setzung hat  „gelnkkiglijk**  (Leopold,  a.  a.  O.  S.  88). 

48, 40—^,  2.  Die  Opp.  posth.  hieben:  „nam  ez  nnllo 
fundamento  cogitationes  nostrae  terminari  queunt"  Die  Stalle 
ist  offenbar  so  nicht  richtig  flberliefert.  Die  alte  niederULndiBcfa? 
Übersetzung  hat:  „want  onze  denkingen  können  uit  geen  andere 
grondvest  bepaalt  worden"  (Leopold,  a.  a.  0.  S.  68  L).  Leo- 
pold möchte  ihr  folgen.  Ich  vermag  es  nicht|  denn  die  einzig- 
mögliche  Grundlage  ist  doch  nicht  bereits  angegeben,  wie  die 
Verbesserang  „ez  nullo  alio  fundamento"  Toraossetsen  w4rde, 
sondern  soll  erst  im  folgenden  gegeben  werden.  Offianbar  lag 
dem  niederl&ndisohen  Übersetzer  derselbe  fehlerhafte  Text  im 
Manuskmt  vor,  den  die  Opp.  posth.  bieten,  und  er  achloj^  den- 
selben  Weg  der   Verbesserung  ein,   zu  dem  unabhlugig  vod 


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Anmerlnuigeiu  189 

bm  aach  Auerbach  gekommen  ut.  Das  Richtige  hat  nach 
aeiner  Ansicht  Eirchmann  getroffen:  »,denn  wo  keine  Gnmd- 
nge  ist,  da  können  unsere  Gedanken  nicht  bestimmt  werden/' 
3r  Tsrbessert  also  Mqueant'*'in  „neqnennt*'. 

50,87.  In  der  alten  niederländischen  Obersetning  fehlt 
liese  Note  (ygl.  Leopold,  a.  a.  O.  8.  56).  Sie  ist  viäleicht 
inr  eine  HinzufiBgong  der  Heraasgeber. 


Zur  Abhandlmig  Tom  SiMte. 

67,22—28.    Vgl  Ethik  UI.  1  und  IV.  4. 

57,28—25.    Vi^  Ethik  HL  82  Anm. 

57,25—26.    Vgl.  Ethik  lY.  Anhang  18. 

57, 26—28.    Vgl  Ethik  m.  81  Fo^esats. 

57,81—88.    Vgl.  Ethik  IV«  58  Anm. 

57,87.    Vgl.  Ethik  IV.  15. 

58,4.    Vgl  Ethik  V.  4  Anm. 

58,6.    Vgl.  Ethik  V.  42  Anm. 

59,8.  Th6ol.-poL  Tr.  Kap.  16:  Ober  die  Grondli^en  des 
Staates,  über  das  natOrliche  nnd  bflrfferliche  Recht  des  Emselnen 
und  über  das  Recht  der  höchsten  Gewalten. 

59, 6.    Vgl  Ethik  IV.  87  Anm.  2. 

59, 14—17.  Mener  (Staatkondig  Vertoog  S.  7)  mOchte 
diese  Worte  als  überflüssig  ansschalten. 

61,86.  Trahit  sna  quemqne  voloptas:  Oitat  aas  Veigils 
Edogae  IL  66. 

68,19—64,10.  Spinoza  bekimpft  an  dieser  Stelle  and 
ebenso  67, 84 — 68, 10  den  Begriff  der  le^  naturales  bei  Hobbes, 
die  dieaer  definiert  hatte  als  die  diotamina  reotae  rationis  droa 
ea,  quMB  agenda  Tel  omittenda  sunt  ad  vitae  membrommqne 
consenrationen,  quantum  fieri  potest,  diutumam  (de  dre  IL  1, 
ed.  Molesworth  VoL  II,  S.  1701.).  Nur  wer  sein  Urteils- 
TennOgen  wahrt,  kann  die  Natumsetae  nach  Hobbes  befolgen 
(de  dve  HL  26,  8.  198),  Zorn,  Turoht,  Begierde,  kun  alle 
Leidenschaften  laufen  ilmen  zuwider  und  hindern  ihre  Erfüllung 
(de  dre  m.  26,  S.  194;  LeTiathan  XVII,  ed.  Molesworth 
Vol.  m,  8.  127). 

68, 27—64, 10.  Fast  wörtlich  übernommen  ans  TheoL-pol. 
Tr.  Kap.  XVI  (ed.  pr.  8.  176  £). 

66, 82.  Animd  sodale  -»  (i^  xoXitut^i  Aristotdes.  Po- 
litik 1258  a  und  1278  b*  Spinoza  besaß  eine  lateinische  Über- 
setzung des  Aristotdes  (vgl.  Freudenthd,  Leben^geschichte 
Spinoza^s  8. 276)  und  hat  ihn  ncher  auch  gelesen.  Aus  diesem 
in  Spinozas  gewöhnlicher  Art  ziemlich  unbestimmten  CÜtat 
KhlieAen  zu  wollen,   er  habe  die  aristotelische  Politik  nicht 

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190  Anmerkungen. 

gek&nnt,  w&re  gewagt.  Vgl.  Ethik  IV.  35  Anm.  (Übrig«ni 
wird  es  bei  Hobbes  öfters  [de  cive  V.  5,  Leviathau  XVII]  all 
ein  Wort  des  Aristoteles  dtiert) 

69,84 — 36.  Jeremiaa  18,6:  Siehe,  wie  der  Ton  ist  in  da 
Töpfers  Mand,  also  seid  auch  ihr  vom  Hanse  Israel  in  meiaei 
Hand.  (Stern,  politischer  Tractat  S.  28.)  Dort  findet  anci 
ad  deciiB  nnd  ad  dedecns  seine  Erklärung:  Ich  ging  hinab  i£ 
des  Töpfers  Haas;  und  siehe,  er  arbeitete  eben  ai;3der  Scheibe! 
Und  der  Topf,  den  er  aus  dem  Ton  machte,  mißriet  ihm  untd 
den  Händen.  Da  machte  er  wiederum  einen  anderen  Topf  dari 
aus,  wie  es  ihm  gefiel. 

70, 14—16.  Vgl.  Leviathan  XV,  S.  112,  woselbst  auch  dij 
Definition:  iustitia  est  yoluntas  constans  suum  cuique  tribuen<£ 
als  in  den  Schulen  üblich  angefhhrt  wird. 

70, 19.     Vffl.  Ethik  III.  29  Anm. 

78,16.  Van  Hotc  (Polityke  Weegschaal,  1662,  S.  ^| 
citiert  eine  Stelle  aus  Tacitns :  unum  reipublicae  corpus,  uninsqn^ 
animo  regendum,  an  die  Spinoxa  wohl  gedacht  hat. 

75,14.  Vielleicht  Anspielung  auf  den  Gultus  der  Hosti^ 
(Meijer,  a.  a.  0.  S.  28). 

75, 25—81.  Ein  solches  durch  Strafen  erswingbares  Rechi 
der  Obrigkeit,  Dinge  zu  fordern,  „die  schlimmer  sind  als  del 
Tod*^,  wie  sich  selbst  su  töten,  seine  Eltern  zu  ermorden  usw^ 
konstruiert  Hobbes  (de  ci^e  VI.  13,  S.  226),  gegen  den  siel 
Spinoza  hier  ausdrftcklich  wendet.  (Vgl.  femer  de  cive  IL  Id 
S.  177—178  und  Leriathan  XIV,  S.  109.) 

76, 48.    Gemeint  sind  in  erster  Linie  die  Mennoniten. 

86,  4.  Hartenstein  meint  (de  notione  iuris  et  ciyitatis,  quai 
Bened.  Spinoza  et  Thom.  Hobbes  proponunt^  sirnüitadüie  d 
dissimilitudine  in  Historisch-philosophische  Abfatandlungen  S.229{ 
Anm.  1),  der  Zusammenhang  erfordere,  in:  Quodii  tarnen  eia^ 
naturae  sint,  ut  violari  nequeant,  nisl  simul  ciritatis  robvr  de^ 
bilitetnr  das  „violari**  in  „observari**  zu  yerbessem.  Ich  glaube 
mit  Unrecht.  Der  erste  Teil  des  §,  bis  86,3,  will  festsetze!^ 
unter  welchen  Umständen  der  Inhaber  der  RegiemngsgewaK 
die  Verträge  brechen  mufi,  der  letzte  Teil  dagegen,  unter  welchen 
er  sie  nicht  brechen  darf. 

87,29.  Leopold  (a.  a.  O.  S.  81)  ergänzt  auf  Grund  dei 
alten  niederländischen  Übersetzung:  Qualis  autem  optimns 
ouiuscunque  imperii  sit  status. 

88, 32.  Me^er  verweist  auf  Justinus  (epitoma  historiamzn 
Philippicarum  Pompei  Trogi  XXXII.  4, 12),  woselbst  es  als 
Verdienst  der  Mäßigung  Hiuinibals  erklärt  wird,  dafi  &r  nie 
weder  mit  Empörungen  noch  mit  Verrat  seiner  Truppen  zu 
tun  hatte.  Die  Stelle,  die  Spinoza  im  Auge  hatte,  hat  Leopold 
nachgewiesen  (angefahrt  bei  Stern,  a.  a.  0.  S.  48):  es  ist  Li- 
▼ius  XXVm.  12, 2—4. 


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Anmerkangen.  191 

88,88.  Hobbes  definiert  den  Frieden  als  terapas  belio 
Tacnnm  (LeTiathan  XTTT,  S.  100). 

92, 26» 98, 4.  Der  §  richtet  sioh  gegen  die  Staatsaafhssang 
des  Hobbes,  dessen  Definition  yom  frieden  wieder  zurflck- 
gewiesen  wird.  Daß  das  Verhältnis  swisohen  Herrscher  und 
B^errsohten  dasselbe  sei  wie  das  swischen  Herrn  und  Sklaven, 
daß  aber  auch  das  Verhältnis  zwischen  Eltern  and  Kindern 
kein  anderes  sei,  wird  de  cive  X.  5,  S.  268  gelehrt 

93, 26.  VgL  van  Hove,  Polityke  Weegschaal  S.  121.  Die 
mignons  Heinrichs  Hl.  von  Frankreich  und  die  Günstlinge 
Jakobs  I.  von  England  waren  damals  noch  in  frischer  Erinnerung« 

98, 29.    Gurtins  Bnfas,  historia  Alexandri  magni  X.  1, 37. 

94,2 — 11.  Die  gleichen  Ausfflhmngen  bei  van  Hove, 
a.  a   0.  S.  48,  68  und  60. 

94t  34— 36.  Iq  einem  derartigen  Abhängigkeitsverhältnis 
zur  Union  standen  im  17.  Jahrhundert  Staats-Brabant,  Staats- 
Flandem  und  Limburg. 

95, 10—12.  Der  Krieg  des  17.  Jahrhunderts  war  Festnngskrieg. 

95. 23.  Es  dftrfte  sich  kaum  entscheiden  lassen,  in  welchem 
Umfang  Spinoza  hier  den  Begriff  der  familia  genommen  hat 
An  die  Provinzen  der  Niederlande,  die  auch  wohl  gentes  genannt 
werden,  darf  man  nicht  wohl,  wie  Meijer  (a.  a.  O.  S.  52)  meint, 
denken,  denn  das  entscheidende  Merkmal  ist  doch  (nach  118, 
29^80)  die  Gemeinsamkeit  der  Abstammung.  Vielleicht  darf 
man  darauf  hinweisen,  daß  auch  in  der  Utopia  dee  Morus  die 
Familie  im  weiteren  Sinne  die  staatliche  Einheit  bildet 

95.24.  Nach  Meiner  (a.  a.  O.  S.  53)  hatten  in  den  hol- 
ländischen Städten  die  einzelnen  Stadtteile  rote,  weiße,  blaue 
and  orange  Fähnlein. 

96,  36—88.  Jede  der  18  Städte,  die  in  den  Staaten  von 
Holluid  vertreten  waren,  stellte  ihren  Deputierten  einen  Rechts- 
kundi^n,  den  Pensionaris,  zur  Seite.  (De  la  Bassecour  Oaan, 
Sohets  van  den  regeeringsvorm  der  Nederlandsche  Republiek 
S.  144.) 

97,2—9.  Zum  Vorbild  dieser  repräsentativen  Körper- 
schaft haben,  wie  einzelne  ZUtge  beweisen,  die  Staaten  von 
Holland  gedient  Die  Präsentation  der  Volksvertreter  durch 
die  Verbände  und  die  Wahl  durch  den  König  hat  auch  eine 
gewisse  Analogie  in  der  Verfiassnng  der  Niederlande;  dort 
werden  die  Btirgermeiater,  Schöffen  nnd  höheren  Beamten  von 
den  Stadträten  dem  Statthalter  zur  Auswahl  vorgeschlagen  und 
▼on  diesem  ernannt    (De  la  Bassecour  Caan,  a.  a.  O.  S.  113.) 

98,36—31.  Auf  Betreiben  von  Jan  de  Witt  wurde  die 
Ürzielrang  dee  jungen  Wilhelm  m.  aus  den  Händen  seiner 
Kattor  genommen  und  strengen  Bepublikanern  anvertraut,  in- 
dem er  zum  „Kind  van  Staat**  erklärt  wurde.  (Vgl.  L^vre 
Pontalis,  Jean  de  Witt  I.  S.  496—502.) 

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192  AmnerknDgen. 

100, 5—23.  So  versammelten  sieh  die  Stulen  toh  HoUss^ 
▼iermsl  im  Jahre  und  waren  in  der  Zwischenseit  dnrdi  des 
Aosschnß  der  Oecommitteerden  Badmi  TcrtreleiL.  (De  Is  Bmmt- 
cour  Gaan,  a.  a.  O.  S.  143  nnd  16a) 

100,86—101,17.  Diese  Bestimmmigen  entaprediai  den 
fifar  die  Staaten  von  Holland  geltenden.  £i  ihnen  haben  eheo- 
falls  die  einseinen  Stftdte  zwar  mdnere  Vertreter,  aber  Uof 
eine  Stimme;  die  eigentliche  Beratong  had  bei  wichtigen  Sadis 
nicht  in  der  Staaten- Versammlnnfc  sondem  schon  Torber  bä 
den  Abgeordneten  der  Stftdte  nnd  der  Bitfeeesohaft  unter  siek 
statt;  das  Wort  för  die  Abgeordneten  der  St&dte  fUrte  da 
Rechtskundige  (Pensionaris).  (De  la  Basseconr  Gaan,  ai.  a.  0. 
S.  143  f.) 

102,86.  Laod  erganst  nach  der  alten  niederlftndischec 
Obersetanng  bona. 

104,11—12.  Den  Sats  „Sed  tales  specnlatores  eligendi 
sunt»  qni  regi  periti  videbuntor**,  der  in  den  Opera  PoethniM 
nnd  in  den  Ausgaben  und  Übersetzungen  fehlt,  er^knzt  Iioopold 
(a.  a.  O.  S.  47)  auf  Grund  der  alten  niederlftncuschen  Über- 
setzung. 

105, 2—3.  Die  Heirat  Wilhelms  IL,  des  Sohnes  dee  Statt- 
halters Friedrich  Heinrich,  mit  der  Tochter  Ksrls  L  von  Eng- 
land hatte  die  Politik  des  Hauses  Oranien  in  Verbindung  mit 
dem  Schicksal  der  Stuarts  gebracht  und  dadurch  in  Gegensatz 
zur  Volksmeinung,  die  der  englischen  Parlamentspartei  giflnsti^ 
war.  Gerade  als  Spinoza  an  der  AbhandluDg  vom  Staate  ar- 
beitete (1676),  bewarb  sich  der  junge  SUttbalter  Wilhelm  10. 
wieder  um  die  Hand  einer  englischen  Prinzessin,  nnd  viele 
fttrchteten  den  Einfluß  der  reaktionären  und  dem  KaÜiolizismss 
zuneigenden  Stuarts  auf  die  inneren  Angel^nheiten  der  Nieder 
lande.  (Vgl.  van  Kempen,  Geschichte  der  Niederlande  II,  S.  272.) 
Eine  derutige  Ehebeschränkuog  bestand  ftr  den  Dogen  von 
Venedig  (van  Hove,  a.  a.  O.  S.  882). 

107, 12.  Daniel  6  (nicht  5,  wie  die  Opera  Posthmas 
haben),  16:  Aber  die  M&nner  kamen  h&nfig  zu  dem  Könige  und 

?>rachen  zu  ihm:  Du  weißt,  o  König,  daß  der  Meder  und 
erser  Beoht  ist,  daß  alle  Gebote  und  Befehle,  so  der  König 
beschlossen  hat,  sollen  unverändert  bleiben. 

107, 24  £    Homer,  Odyssee  Xu.  156  ff. 

108,26—27.  Invalido  legnm  auxilio:  Citat  aus  SalluBts 
Catiiina  (angefElhrt  bei  Peres,  Ins  Publicum  S.  57). 

110, 5—24.  Hobbes  (de  cive  X.  10,  S.  278,  Leviatiian 
XXV,  S.  194)  hatte  den  großen  Versammlungen  den  Vorwurf 
mangelnder  Sachkenntnis  gemacht  und  ihnen  einen  ans  nnr 
wenigen  bestehenden  Rat  Torgezogen.  Spinoza  verteidig  sie 
dagegen.  Vielleicht  hat  er  schon  im  Hinblick  auf  eine  an  jenen 
Stellen  von  Hobbes  erhobene  Forderung  die  Kenntnis  von  der 


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AnmerkiingeD.  193 

Reg^erungsform  und  Beschaffenheit  der  übrigen  Länder  fOr  die 
Rechtskundigen  zur  VorauBsetKung  gemacht  (99, 5 — 9). 

110, 28--29.  Das  Gitat  entstammt  dem  ersten  der  zwei 
psendosallustischen  Suasorieni  Übnngsstficken  aus  der  frontouia- 
nisohen  RhetorensohulCi  dem  Briefe  de  ordinanda  r^ublica. 

110, 84.  Meijer  (a.  a.  O.  S.  72)  bezweifelt  die  Kichtiekeit 
des  aberlieferten  ire  und  schlftgt  iret  oder  irent  vor.  Man 
konnte  aber  höchstens  eat  lesen.  Ich  halte  ire  fOr  riditig,  das 
von  possit  abh&ngig  ist 

112,  6.    Vgl.  Ethik  m.  29. 

112,9.  Ad  summum  ist,  wie  Leopold  (a.  a.  0.  S.  82)  auf 
Grand  der  alten  niederländischen  Übersetzung  richtig  bemerkt, 
shLa  sinnlos  zu  streichen. 

112, 17—19.  Oitat  aus  Ourtius  Eufhs  VIIL  7, 11.  (Die 
Nachweise  der  klassischen  Oitaie  hat  meist  Leopold  a.  a.  0. 
gegeben.) 

114,12—18.  Anklang  an  Terentios,  Eunnohus  ▼.  812: 
Sic  adeo  digna  res  est,  ubi  tu  nervös  intendere  tuos. 

114,82 — 84.     Prehensare  manus,  jacere   oscula  et   omnia 
servilia  pro  dominatione  agere:    Oitat  aus  Tacitns,  Hist.  L  86. 
115,21.     Leopold   (a.  a.  O.  S.  2)   verbessert  mit  Recht 
sument  in  snmerent. 

116,  8—10.    Samuelis  IL  16, 31—84. 
116, 14—15.      Nicht  ganz   wörtliches   Oitat   aus   Tacitus, 
Historiae  I.  25 :  suscepere  dno  manipnlares  impenum  populi  Ro- 
mani  transferendum  et  transtulerunt;  dort  wird  die  Geschichte 
des  Übergangs  der  Herrschalt  von  Galba  auf  Otho  erzfthlt 

116,28—80.  Bei  seinem  Staatsstreich  von  1660  ließ 
Wilhelm  11.  sechs  Mitglieder  der  Staaten  von  Holland  ver- 
haften. 

116, 81.  Antonio  Perez  (1689—1611),  der  ehemalige  Staats- 
sekretär Philipps  n.,  später  sein  Gegner:  Xus  Publicum,  quo 
Arcana  et  Iura  Principis  ezponuntur,  Amsterdam  1657.  (?  nach 
Land.) 

120, 1—7.    Oitat  aus  Tacitus,  Hist  II.  84. 
122, 8—8.    1.  Könige  14, 26—26;  2.  Ohronica  12,  2—9. 
122,8-11.     Der  sog.  Devolntionskrieg  (1667—1668)  um 
den  Besitz  der  spanischen  Niederlande. 

122, 28—128, 88.  Diese  hier  angegriffene  Behauptung  hat 
Hobbes  aufgestellt;  der  unumschränkte  KOnig  kann,  wen  er 
will,  zum  Nachfolger  wählen  (de  cive  VIL  16,  8.  244,  IX.  12, 
8.  261,  Leviathan  XIX,  S.  148),  er  kaun  die  Regierung  bei 
Lebzeiten  verkaufen  oder  verschenken  (de  cive  IX.  18,  S.  261), 
die  Bürger  sind  das  Erbe  der  Herrscher  (de  cive  X.  18,  S.  277). 
Namentlich  die  letzte  Stelle  hat  Spinoza  im  Auge  gehsbt, 
wenn  er  gegen  die  ungeheuerliche  Lehre,  daß  „nicht  Geld  und 
Gut,  sondern  Leib  und  Seele  der  Untertanen  das  Eigentum  der 

8 pl  n  o  X  a ,  Abluuidlg.  ab.  d.  YerbMa^rg.  d.  YentondM.        18 

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194  Anmerkungen. 

Könige  **  seien»  erwidert,  daO  Menschen  nie  aufhörten,  Menadken 
KU  sein  und  sich  nicht  wie  Vieh  behandein  ließen. 

128, 18—19.    Das  „l'ötat  c'est  moi«  Ludwigs  XIV. 

124,21—22.  Citat  aus  Tacitus,  Annales  L  29:  nüiil  iu 
vulgo  modicum,  terrere  ni  paveant. 

124,  22—28.  Citat  aus  Livius  XXIV.  25, 8:  ea  natura  muJr 
titudinis  est:  aut  servit  hnmilitec  aut  süperbe  dominatur. 

124, 28—24.  Citat  aus  Tacitus,  Historiae  I.  82:  neqne  iflis 
iudioium  aut  veritas. 

124,26—29.    Citat  aus  Terentins,  Adelph.  v.  828: 

Duo  qnom  idem  fadunt,  saepe  ut  possis  dicere 
,Hoc  licet  inpune  facere  huic,  illi  non  licet^ 
Non  quo  dissimilis  res,  sed  quo  is  qui  ^it 

126,28 — 24.  Anspielung  auf  Tacitus,  Historiae  I.  1:  aimiii 
veritas  pluribus  modis  infracta  primum  inscitia  rei  publieae  ec 
aHenae,  mox  libidine  adsuetandi  aut  rursus  odio  adirersoa  domi- 
nantes: ita  neutris  cura  posteritatis  inter  infensos  Tel  obnozios« 

126,  2 — 26.  Auch  an  dieser  Stelle  yertoidigt  Spinoza  die 
großen  Versammlungen  gegen  einen  Vorwurf  den  fiobbea  (de 
cive  X.  14,  S.  275)  gegen  sie  erhoben  hatte. 

126,  28 — 25.  Anlehnung  an  Tacitus,  Annales  L  81:  spe- 
dosa  verbis,  re  inania  aut  subdola,  quantoque  maiore  lib«r- 
tatis  imagine  tegebaiitur,  tanto  eruptura  ad  infecsius  serritiiim. 

127,  1—19.  Die  Darstellung  von  der  fiegrOndung-  der 
arragonesischen  Ver&ssung  ist  nicht  historisch,  sondern  geht  aof 
eine  Legende  surflck,  die  sich  zuerst  bei  dem  Prinzen  Carlos 
▼on  Nayarra,  einem  Schriftsteller  des  16.  Jahrhunderts,  findet: 
ein  fictives  Königreich  Sobrarbe,  Vorg&nger  des  Königreichs 
Arragon,  soll  sich  seine  Ver£Eusung  bei  Papst  Gregor  VII.  ge- 
holt haben«  (Schäfer,  Geschichte  von  Spanien  lÖ,  S.  298  f.) 
Spinozas  Quelle  ist  vielleicht  —  das  Werk  war  mir  nicht  zu- 
gänglich —  Diego  de  Saavedra  Fazardo  gewesen,  dessen  Co- 
rona gothica,  castellana  y  austriaca  politicamente  illustrada 
(Madrid  1658 — 1678)  er,  soweit  schon  erschienen,  besessen  hat» 

127, 85—128, 17.  König  Pedro  IV.  von  Arragon  (el  Oere- 
monioso)  (1886 — 1887),  vom  Volke  el  rey  del  pu&d  oder  pöre 
de  punigalet  genannt,  vernichtetete  nach  Besiegung  einer  ^gen 
ihn  gerichteten  Union  auf  der  Reichsversammlung  von  Zara- 
goza (1848)  den  größten  Teil  der  alten  Privilegien.  Er  aoll 
sich  bei  dieser  Gelegenheit,  indem  er  eigenhänd^r  mit  seinem 
kleinen  Dolch  die  Privilegien  zerschnitt,  an  der  Hand  verwundet 
und  ausgerufen  haben:  ein  Freiheitsbrief,  der  so  viel  Blut  ge- 
kostet hat,  könne  nur  durch  sein  Blut  vernichtet  werden  (diio, 
que  privilegio,  que  tanto  avia  costado,  no  se  devia  romper  sino 
derramado  su  sangre).  (Schirrmacher,  Geschichte  von  Spanien  VI, 

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AnmerknDgen.  195 

S.  158.)  Spinoza  scheint  einer  anderen  als  der  üblichen  Tra- 
diÜOQ  gefolgt  zu  sein. 

128, 8—8.  Das  arragoneeische  Staatsrecht,  das  von  Pedro  IV. 
neu  formoliert  wurde,  bestimmte,  daß  der  neue  König  einen 
Sid  zu  leisten  habe,  die  Rechte,  Freiheiten  nnd  Qebrftuche 
Arragons  den  Untertanen  unversehrt  zu  erhalten,  worauf  ihm 
das  Volk  Treue  schwur;  erst  dann  erfolgte  die  Krönung. 
(Sch&fer,  a.  a.  0.  III,  S.  256.) 

128, 18—19.  Ich  lese  mit  Meijer  (a.  a.  O.  S.  96)  instructis 
anstatt  instructi. 

129,19.    Gitat  aus  Terentius,  Fhormio  v.  77: 

Venere  in  mentem  mi  istaec:  *nam  quae  inscitiast, 
Advorsum  stimnlum  calces!' 

130, 15—29.  Die  Worte  von  „Ich  sage  ausdrücklich**  bis 
„in  die  Zahl  der  Patrizier  aufgenommen**  fehlen  in  der  alten 
niederl&ndisohen  Übersetzung.  Sie  sind  wahrscheinlich  eine 
sp&tere  HinzufOgung  Spinozas  aus  derselben  Zeit,  in  der  er  das 
11.  Kapitel  zu  schreiben  begann  und  in  der  ihn  die  begriffliche 
Scheidung  der  aristokratischen  von  der  demokratischen  Be- 
gierungsform  beschäftigte.     (Vgl.  Leopold  a.  a.  O.  S.  55  f.) 

181,85.  Auch  van  Hove  wünscht  5000  Patricier,  indem 
er  sich  auf  die  athenische  Regierung  beruft  (a.  a.  O.  S.  664). 

188, 8 — 10.  Damit  stellt  sich  Spinoza  in  bewuitten  Gegen- 
satz zu  der  Definition  von  Hobbes  (de  oive  VL  18,  S.  224): 
Imperium  quo  maius  ab  bominibus  in  hominem  transferri  non 
potest,  vocamus  absolutum. 

185,25.  Ich  lese  hier,  wie  der  Sinn  unbedingt  erfordert, 
anstatt  des  ex  ulhs  aliis  der  Ausgaben:  ex  nullis  aliis.  Auch 
Meijer  (a.  a.  0.  S.  106)  verbessert  so. 

186,4 — 11.  Dieses  sehr  aufllkllige  Recht  der  Patrizier,  zu 
ihrer  Verteidigung  öder  zur  Unterdrückung  von  Unruhen  nö- 
tigenfalls selbst  anslftndisohe  Truppen  anzuwerben,  findet  seine 
Erklärung  in  den  tatsächlichen  Verhältnissen  der  Niederlande, 
dnrch  die  Institution  der  Waardgelders.  Die  Regenten  der 
Städte,  die  in  der  antipatrizisch  gesinnten  Volksmiliz,  den 
Schutterijen,  keine  Stfltze  hatten  nnd  die  über  das  staatische 
Heer,  das  unter  dem  Oberbefehl  des  Statthalters  stand,  nicht 
verffigen  konnten,  nahmen  in  Zeiten  der  Gefahr  eine  besondere 
nur  Uinen  vereidete  Macht,  die  sog.  Waardgelders,  zu  ihrem 
Schutze  in  Sold.  So  geschah  es  1586  gegen  die  Umtriebe 
Leicesters  und  1617,  vor  dem  Sturze  Oldenbarneveldts,  gegen 
die  Partei  der  Oontraremonstranten  und  des  Statthalters.  (Vgl. 
Wenzelburger,  Geschichte  der  Niederlande  II,  S.  605  und  828  ff.) 

187, 17—82.  Dieser  Rat  entspricht  dem  Maggior  Con- 
siglio    von   Venedig,    abgesehen  von   der  Einschränkung  der 

18* 

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196  AnmerkungeD. 

Wählbarkeit  durch   den   libro  d^oro,   die    139, 19—20   znr&c^- 
gewiesen  wird. 

187,28 — 26.  Die  gleiche  Fordemng  bei  van  Hot«. 
a.  a.  0.  S.  860. 

138,36.  Leopold  (a.  a.  O.  8.  82)  verbessert  auf  Grund 
der  alten  niederländischen  Übersetzung  factionem  in  fsctionea. 

189, 12.  Mit  Hülfe  der  alten  niederlftndisoben  ÜberBetzong 
stellt  Leopold  (a.  a.  O.  S.  82)  die  richtige  Lesart  pro  numero 
anstatt  munero  wieder  her. 

189,85—40.  Ähnliche  Ansschlnßbestiinmangen  hat  Fan 
Hove  in  seinen  Beformvorschlftgen  (a.  a.  O.  S.  662 f.);  nur  will 
Spinoza,  wie  es  scheint,  nicht  wie  dieser  die  Handwerker  an 
sich  ausschliefien,  sondern  blofi  sofern  sie  eine  niedrige  Be- 
schäftigung haben. 

139, 38.  Das  Wort  senrire  bezeichnet  hier  wohl  nicht  ein 
HOrigkeits-,  sondern  ein  Abhängigkeitsverhältnis,  also  nicht 
Sklaven,  sonder  Knechte.  In  einem  interessanten  Verfasaungs- 
entwurf  des  17.  Jahrhunderts,  dem  der  Ormidre  fCir  eine  par- 
lamentarische Republik  Bordeaux  (1650),  wird  auch  das  all- 
gemeine Wahlrecht  gefordert,  ausgenommen  derjenigen,  die  sich 
in  dienender  Stellung  befinden.  Bei  van  Hove  (a.  a.  0.  S.  663) : 
„die  binnen  seekeren  t^d  van  jaaren  om  een  dagloon  gewrogt 
in  iemaads  dienst." 

141,5—11.      Ebenso  urteilt  van  Hove,  a.  a.  O.  S.  d88£. 

142,4 — 16.  Die  Idee  dieser  Syndici  war  in  Venedig  im 
Bäte  der  Zehn  verwirklicht;  auf  sie  weist  namentlich  auch  die 
Bestimmung  146,8—11  hin.  Vgl.  van  Hove,  a.  a.  0.  3.  402 
—405,  der  auch  von  ihrer  diotatoria  potestas  spricht.  Sindici 
war  der  Name  von  untergeordneten  AuMchtsbehörden  in  Ve- 
nedig (eb.  S.  406.) 

142,  23.  Leopold  (a.  a.  O.  S.  50)  verbessert  entsprechend 
der  alten  niederländischen  ObersetKuug  nimirum  in  nimiam. 

148,  7.  Anstatt  vocationis  ist  vacationis  zu  lesen,  wie  es 
auch  120,  80  richtig  heißt.     (Vgl.  Leopold  a.  a.  O.  S.  88.) 

143,31.  Nach  Meijer  (a.  a.  O.  S.  119)  war  ein  Pfond 
Silber  »■  einem  Ghilden. 

145,  21—88.     Nach  van  Hove,  a.  a.  0.  S.  872—876. 

146,25—82.  Das  Vorbild  dieser  Körperschaft  bot  der 
Senat  von  Venedig,  der  sich  zum  Gran  Oonsiglio  gerade  so 
verhielt,  wie  hier  der  Senat  zum  Höchsten  Bat.  (Vgl.  van 
Hove,  a.  a.  0.  S.  889—394.)  Analog  diesem  Verhältnis  stand 
auch  in  den  Niederlanden  den  General- Staaten  der  Staatsrat 
als  Bzecutivbehörde  zur  Seite.  Er  hatte  die  Befestigungswerke, 
die  Anstellong  von  Offizieren,  die  Werbung  und  Besoldung 
der  Truppen  und  die  militärische  Disziplinar -Gesetzgebung 
unter  sich;  dabei  war  er  ratgebende  Körperschaft  in  auswärtigen 


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AnmerkuDgen.  197 

Angelegenheiten  (die  Wahl  der  Gesandten  war  Sache  der 
Greneralstaaten);  auch  die  Yerwaltang.der  Finanzen  der  Gene- 
rsdit&t  gehörte  zu  seiner  Kompetenz.  (De  la  Basseconr  Caan. 
a.  a.  0.  S.  169—172.) 

146,34—147,6.  Diese  Befugnisse  schließt  Spinoza  hier 
ausdräcklich  ans,  weil  sie  nach  van  Hove,  a.  a.  O.  S.  890  f.  der 
venezianische  Senat  besaß. 

147,28—25.  Auch  die  Amtszeit  der  venezianischen  Sena- 
toren betrog  ein  Jahr,  doch  waren  sie  sofort  wieder  wählbar 
(van  Hove,  a.  a.  O.  S.  898.) 

149, 27—29.  Anders  Hobbes,  Leviathan  XIX,  S.  148  und 
Perez,  a.  a.  O.  S.  86  und  108. 

149, 81.  Pieter  van  Hove  (1618—1685):  Consideratien  van 
Staat  ofto  Polityke  Weeg-Sohaal,  Waar  in  met  veele  Reeden  en, 
Omstandigheden,  Exompelen  en  Fabulen  werd  ooverwoogen; 
Welke  forme  der  Regeeringe,  in  speoulatie  gebond  op  de  prao* 
tijck,  onder  de  menschen  de  beste  zy.  Beschreven  door  V.  H. 
Amsterdam  1661,  1.  T.  Kap.  X— XXXV. 

150, 11 — 19.  Dieser  Senatoren- Ausschuß  der  Konsuln  findet 
sein  Analogon  in  den  Gecommitteerden  Raden  der  Staaten  von 
Holland  (auch  die  flbrigen  Provinzialstaaten  waren  durch  solche 
permanente  Ausschfissei  die  gewöhnlich  Gedeputeerde  Staten 
hießen,  vertreten).  Sie  hatten  die  Staaten-Versammlungen  ein- 
zubemfen,  gerade  so  wie  hier  die  Konsuln  den  Senat;  sie  haben 
ihm  die  schon  vorberatenen  Vorlagen  zu  unterbreiten  und  seine 
Beschlüsse  auszuführen.    (De  la  Bassecour  Caan,  a.  a.  0.  S.  158.) 

150, 26—32.  Diese  Ordnung  entspricht  der  bei  den  Sitzungen 
der  General-Staaten  üblichen.  (De  la  Bassecour  Caan,  a.  a.  O. 
S.  124.) 

150, 27.  Meijer  (a.  a.  0.  S.  128)  verbessert  sedeat  in  prae- 
sideat. 

152, 15 — 158, 18.  Dieser  Abstimmungsmodus  war  im  vene- 
zianischen Senat  eingefiELhrt.  Van  Hove  (a.  a.  O.  S.  889  £)  stellt 
ihn  ausführlich  dar  und  illustriert  ihn  durch  Zeichnungen.  Spi- 
noza will  das  in  den  Niederlanden  geltende  liberum  veto  damit 
ausschließen. 

158, 85—87.  Vgl.  van  Hove,  a.  a.  O.  S.  448  und  Perez, 
a.  a.  0.  S.  180. 

154,38-89.  Diese  Bestimmung  ist  dem  venezianischen 
Wahlver£üiren  entnommen  (nach  van  Hove,  a.  a.  0.  S.  873 f.). 

157,8.  Me^er  fügt,  wie  mir  scheint  zu  Unrecht,  bei  non 
abest  ein  mnltnm  ein. 

158,2.    Der  Umsturz  von  1672. 

158, 14 — 19.  Die  Vroedschappen,  die  suprema  concilia  der 
einzelnen  Stftdte,  cooptierten  sich  selbst  aus  den  reichsten  und 
angesehensten  Familien  derselben.    Was  ihnen  an  Sachkenntnis 

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108  AnmerkongeD. 

abging,  Bachten  sie  durch  Anstellung  eines  tftchtigen  Juristen 
SU  ersetcen;  diese  hatten  swar  kein  Stimmrecht  in  ihnen  (inso' 
fem  gehören  sie  formell  sum  Volk,  nicht  zu  den  RegenteoX 
ihr  Gutachten  a^er  war  von  maßgebendem  Einfluß.  Aus  diesen 
Adrokaten  oder  Ratspensionftren  sind  eumeist  die  leitenden 
Staatsmänner  der  Niederlande  herrorgegangen.  (VgL  Wenzel- 
bnrger,  a.  a.  0.  S.  581.)  Spinoza  hat  das  Gfeschick  Oldenbame- 
veldts  und  Jan  de  Witts  ror  Augen,  die  der  oranisohen  Partei 
geopfert  wurden. 

159,10^17.  Die  Orundzüge  dieser  religio  sumpliciBsixDa 
et  mazime  catholica,  die  auch  das  Ziel  der  Collegianten  war,  hat 
Spinoza  im  14.  Gapitel  des  theologisch-politischen  Tractats  dar- 
gelegt und  in  sieben  Glaubenssätzen  zusammenge£ELßt  Übrigens 
entfernt  sich  diese  Forderung  nicht  allzusehr  von  der  Wirk- 
lichkeit Die  Regenten  gehorten  meistens  zu  den  sogen.  Lib«*- 
tinen  oder  Neutralisten,  die  das  allgemeine  Gmndprinoip  des 
Christentums  gegenüber  allen  dogmatischen  Untersoheidon^eE 
betonten.    (Vgl.  Wenzelburger,  a.  a.  O.  S.  813.) 

169,20— 24.  Ein  solches  Gesetz  bestand  in  den  Nieder- 
landen.   (Meijer,  a.  a  0.  S.  141.) 

169,27 — 82.  In  der  Forderung,  daß  Laien  die  priester- 
lichen Funktionen  erfUlen  sollen,  stimmt  Spinoza  mit  den 
OoUegianten  überein.    (Vgl.  Frendenthal,  Spinoza  I,  S.  66.) 

161, 6  fil  Die  VerÜBSBung  dieser  Republik  gleicht  im  all- 
gemeinen der  des  Stftdtebundes  Holland:  Patrizier,  Senat  und 
Konsuln  entsprechen  den  Regenten  (Vroedschappen),  Staaten 
und  Gecommitteerden  Raden.  Doch  sind  auch  Zügß  aua  dem 
Staatenbund  der  Niederlande,  dem  gewisse  Sourerftnitätsrechte 
der  Bundesglieder  übertragen  waren,  hinsugenommen. 

162,4—10.  Bis  1698  kamen  die  General -Staaten  ab- 
wechselnd  an  verschiedenen  Orten,  pnnten  van  reces  genannt, 
zusammen,  ebenso  auch  die  Staaten  von  Holland.  Danach 
wurde  der  Sitz  beider  Körperschaften  'sG^venhage,  das  der 
Stadtrechte  entbehrte.  (De  la  Bassecour  Caan,  a.  a.  O.  S.  122, 144.) 

162, 37--40.  In  den  Staaten  von  Holland  hatten  alle  18 
St&dte,  das  große  Amsterdam  wie  das  kleine  Edam,  nur  je  eine 
Stimme.    (De  la  Bassecour  Gaan,  a.  a.  O.  S.  148.) 

168,  8.  Der  oberste  Staatsgerichtahoi  (vgl.  167, 16)  war  in 
den  Niederlanden  eine  Forderung,  keine  Tatsache. 

168, 19 — 26.  Auch  der  Staatsrat  der  vereinigten  Nieder- 
lande hatte  das  Recht,  vorkommende  Streitigkeiten  zwischen  den 
Gliedern  des  Staatenbundes  zu  schlichten.  Dazu  war  er  als  der 
eigentliche  Vertreter  der  Generalität  berufen,  weil  die  General- 
Staaten  gerade  wie  hier  der  Höchste  Rat  die  particularen  Inter- 
essen vertraten.    (De  la  Bassecour  Gaan,  a.  a.  O.  S.  172.) 

164, 6—7.  Ahnlich  die  „notable  bezending**  in  den  Niedei^ 
landen. 

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Anmerkimgen.  199 

164, 11.  Leopold  (a.  a.  0.  S.  88)  f&gt  nach  der  alten  nieder- 
ländischen Übersetzung  bei  at  circa  deoreta  ein  et  hinter  nt  ein. 

165, 8.  Die  alte  niederländische  Übersetsnng  gibt  militiae 
tribnni  durch  „Eolonellen  en  Eitmeeeters"  wieder. 

165, 19 — 29.  Die  Finansen  der  Union  berohten  in  der 
Hauptsache  anf  Matricnlarbeitrfigen,  die  der  Provinzen  auf 
indirekten  Steuern.    (De  la  Bassecour  Caan,  a.  a.  0.  S.  198  L) 

168,25 — 26.  Dum  Romani  deliberant,  perit  Sagunthus. 
Dieses  Sprichwort,  das  vieUeioht  nach  Livius  XXI.  7,  1  (dum 
ea  Romani  parant  consultantque,  iam  Saguntum  summa  vi  op- 
pngnabatnr)  gebildet  ist,  scheint  im  17.  Jahrhundert  in  den 
l^^iederlanden  hftufig  im  Sinne  der  centralistischen  Tendenz  an- 
l^ewandt  worden  zu  sein.  Oldenbarneveldt  citiert  es  in  einer 
Denkpohrift  (bei  Wenzelburger,  a.  a.  O.  S.  721)  in  der  Form: 
dum  Romae  deliberatnr,  Saguntum  perit 

168,  84.  Leopold  (a.  a.  O.  S.  48)  ftigt  nach  der  alten  hol- 
l&ndiBdien  Übersetzung  die  in  den  Opera  posthuma  weggelassenen 
Worte  „cuins  rei  in  Sollandia  multa  vidimus  ezempS*'  ein. 

169,1.  Der  letzte  Graf  von  Holland  war  Philipp  II. 
von  Spanien. 

169, 9—18.  Im  Kreise  Jan  de  Witts  erblickte  man  in 
der  zu  geringen  Zahl  der  Regenten  den  Untertanen  gegenüber 
die  Schw&che  der  holländischen  Regierung  und  sah  die  Kata- 
strophe von  1672  schon  zehn  Jahre  vorher  kommen:  siehe 
die  merkwürd%e  Stelle  bei  van  Hove,  a.  a.  0.  S.  850. 

169. 23.  Man  kann  daran  denken,  daß  der  Statthalter 
Wilhelm  IL  1650  sechs  Mitglieder  der  Staaten  von  Holland 
verhaften  ließ,  und  einen  freilich  mißglückten  Handstreich  gegen 
Amsterdam  unternahm. 

170, 10.  Macchiavelli,  discorsi  sopra  la  prima  deca  di  Tito 
Livio,  lib.  HI.  cap.  1:  E  oosa  piü  chiara  che  la  luce,  che  non 
si  rinnovando  questi  corpi,  non  durano.  II  modo  del  rinno- 
vargli  6  ridurgli  versi  i  principi  suoi.  .  .  .  E  questi  dottori  di 
medicina  dicono  parlandi  de*  corpi  degli  uomini :  quod  quotidie 
aggregatur  aliquid,  quod  quandoque  indiget  curatione.  Questa 
riduzione  verso  il  prinoipio,  parlando  delle  repubbliche,  si  fa 
o  per  acddente  estnnseco  o  per  prudenza  intrinseca. 

171,28.  Cicero,  epistolae  ad  Q.  fratrum  HL.  8,4:  rumor 
dictatoris  iniuoundus  bonis,  mihi  etiam  magis  etc.  Danach  ist 
das  tumor  der  Opp.  posth.  in  rumor  zu  verbessern. 

172, 28.    Ovid,  remedia  amoris  v.  91 :  principiis  obsta. 

172, 86—88.     Vgl.  van  Hove  a.  a.  O.  S.  468. 

178.24.  Auf  Ghrund  der  alten  niederländischen  Übersetzung 
ftgt  Leopold  (a.^a.  O.  S.  88)  zwischen  ferocibns  und  barbaris 
ein  et  ein. 

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200  AnmerkongeD. 

178,82^89.  Die  gleiche  Erwftgang  bei  Perez,  a.  a.  0. 
S.  88  ff. 

178, 88—89.     Ovid,  amores  m.  7, 1 : 

Nitimor  in  yetitam  semper  cnpimnsque  negata. 

176, 84—177, 5.  Die  Panik  von  1672  hatte  die  Vemiohtiiiig 
des  sog.  ewigen  Edikts  ron  1667,  wonach  nie  wieder  die 
Würde  dei  Statthalters  und  des  GFeneralkapit&ns  vereinigt  sein 
sollte,  aar  Folge. 


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ITamen-  und  Sachregister. 


A. 

»gaben^  exactiones,  in  Monar- 
chien 96,  2—4;  indirekte  A., 
vectLgaiiia,  den  Stenem  vorzn- 
riehen  166,  27—29. 
Isalon,  EmpOrong  des  116,  8 
bis  10. 

bstrakt;  abstrakt  anffassen,  ab- 
stracte  conoipere ;  Gefahren 
davon  86,  1 — ^14;  ans  abstnüc- 
ten  Begriffen  da^  nichts  er- 
Bchlosaen  werden  44,  1 — 6. 
eldtophel,  Bat  Davids  116,  10. 
.dmm,  als  Beispiel  der  Existenz 
24,  18—18;  Sfindenfall  6,  87 
bis  7,  27. 

idely   nobiles,   in  Monarchien 
96,  11—24;  steUt  einen  SteU- 
vertreter  bei  Unmündigkeit  des 
Königs  98,  38—88;   Heirats- 
verbot för  den  A.  96,  17—24, 
119,  18—18;   seine  Gefahren 
119,  11—27. 
Effekte  9  affectns,  nicht  Fehler, 
sondern     Eigenschaften     der 
menschlichen  Natur  67, 7—19; 
stärker  als  die  Vernunft  67,  21 
bis  68,  12;  machen  die  Men- 
schen zu  Feinden  66, 36—66, 7 ; 
müssen  für  die  Ghrundlagen  der 
Regierung    mal^ebend    sein 
106,18—26;   das  Recht  muß 
auf  Vernunft  und  dem  allge- 


meinen Affekt  begründet  sein 
176,  9—11. 

Ägypten;  Susak,  König  von  A. 
122,  7. 

Allgemeinbegriife,  universalia, 
werden  weiter  gefaßt  als  ihre 
zugehörigen  Einzeldinge  86, 17 
bis  21. 

AUwfssendy  omniscius;  ein  all- 
wissendes Wesen  könnte  nichts 
fingieren  28,  24—26. 

Amazonen  180,  80. 

Aristokratie,  ihr  Wesen  180,  12 
bis  29,  ihr  Vorzug  vor  der 
Monarchie  182,  14—188,  4, 
184,  25—186,  8,  148,  85—149, 
83;  steht  der  unumschränkten 
Regierung  nahe  188,  6 — 27; 
A.  und  Volksfreiheit  138,  29 
bis  184,  17;  verdient  nicht  den 
Vorzug  vor  der  Demokratie 
179,  9—88;  darf  sich  nur  auf 
die  Macht  ihres  Rates  stützen 
184,  19—24;  Lasten  der  A. 
149, 10—26 ;  ihr  Entstehen  und 
Vergehen  188,  1—42;  ihre 
Dauer  176,  2—20, 177, 81—86; 
A.  mit  mehreren  gleichberech- 
tigten St&dten  ist  der  A.  mit 
einer  regierenden  Stadt  vor- 
zuziehen 168,  6—86,  168,  20 
bis  86. 

(Aristoteles)^  zitiert  unter  Scho- 
lastiker 66,  82. 


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202 


Kamon-  und  Sachregister. 


Irragon,  Königreich  128,  31. 

Arragonesen,  Geschichte  ihrer 
Verfassung  126,  86^129,  23. 

Asien  98,  27. 

Athener;  ihre  Geldgesetze  1 1 2, 81 
his  38. 

Attribut;  Attribute  Gottes,  attri- 
buta  Dei  36,  86—37. 

Attsllnder,  peregrini;  Stellung 
ihrer  Kinder  in  Monarchien 
103, 23—104,  1 ;  Kriegssteuern 
der  A.  104,  1—4. 

Automat,  aatomaton ;  Skeptiker 
mit  Automaten  verglichen 
21, 16 — 18;  Seele  ein  geistiger 
Automat  41,  18-19. 

Axiom,  axioma;  von  ihnen  kann 
nicht  auf  Besonderes  geschlos- 
sen werden  44,  9 — 14. 

B. 

(Baeon),  ist  unter  Empirikern 
gemeint  18,  85—36. 

Beamte,  ministri,  in  den  Städten 
166,  11—15;  im  Staat  siehe 
Staatsbeamte. 

Begierde,  capiditas  60,  84. 

Bewegung,  motus,  aus  der  Quan- 
tität zu  begreifen  50,  10—81. 

Bildsftulen,  zu  verwerfen  175, 20 
bis  46. 

Bündnis,  foedus,  zwischen  zwei 
Staaten  nur  bedingt  gfiltig 
79,  2-32. 

Bttrger,  civis,  ist  der  Mensch, 
soweit  er  die  Vorteile  des 
Staates  genießt  71,  8—10;  darf 
nicht  Gesetze  auslegen  78,  2 
bis  9;  ist  nicht  eignen  Rechtes 
78,  11—23;  seine  Macht  be- 
stimmt durch  die  Macht  seiner 
Stadt  117, 7—16 ;  Bttrger  haben 
untereinander  als  gleich  zu 
gelten  162,  82—86. 

B&gerliebes  Beeht,  iua  civile, 
bindet  nicht  den  Staat  85,  1 
bis  17. 


C. 

Cisar;  Sallusts  Rede  mn  CS^ 

citiert  110,  28. 
Castilianer  128,  25. 
Castiiien,  Königreich    128.  i 
Christus;  Jflnger  Christi   77. 

bis  17;    Stellvertreter    C%ziJ 

127,  7. 
Cieero  über  die  Dictatur  1 71.  i 

bis  29. 
Curtius,  Geschichte  Alezanii 

d  Gr.  citiert  93,  29,    112,  l 

bis  19. 

D. 

Daniel,  citiert  107,  12. 

David  116,  8—10. 

Definition,  definitio,  G^egenstu 
der  Methodenlehre  44, 14 — 2i 
muß  das  Wesen  der  Sache  aa 
drttcken  44,  24—27;  ihre  Ao] 
gäbe  bestimmt  44,  25 — 46,  15 
D.  eines  erschafieneD  Dingt 
46,  14 — 88:  D.  eines  nicht  « 
schaffeneu  Dinges  45,  39 — U 
15. 

Demokratie,  ihre  knne  Dane] 
92,  30—93,  4;  ihr  Vorzng  voi 
der  Monarchie  111,  5 — 10;  ilu 
Wesen  130,  20—22 ;  ihre  Cm 
Wandlung  in  Aristokratie  138, 1 
bis  23;  Unterschied  von  der 
Aristokratie  178,  3—179,  8; 
steht  dieser  nicht  nach  179,  9 
bis  38;  Stimmrecht  zum  Höch- 
sten Rat  in  der  D.  179,  86 
bis  180,  16. 

Denkendes  Wesen,  ens  oogitans; 
wir  sind  Teile  eines  solchen 
86,  8—15. 

Dietator,  soll  den  Staat  auf  sein 
Grundprincip  zeitweilig  au- 
rückfthren  170,82—171, 9 ;  Ge- 
fahren 171,  10—172,  2;  bei 
den  ROmem  171,  24—29;  an 
seine  Stelle  sollen  die  Syndid 
treten  172,  4—17. 


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Namen-  und  Sachregister. 


203 


Dliis>9  i^b;  feste  and  ewige  Dinge; 
res  fixae  et  aeternae,  Gegenstand 
der  Erkenntnis  47,  3—37;  Ein- 
zeldinge, res  singulares,  ihre 
Erkenntnis  47,  3—16,  47,  88 
bis  48,  30. 

Dlseorsi  Maochiaveilis  ange- 
föhrt  170,  8-23. 

Doge,  duz,  bei  den  Venezianern 
und  Grennesen  früher  mit  könig- 
licher Gewalt  bekleidet  141, 11 
bis  17. 

E. 

Ehre  9  honor,  gilt  als  höchstes 
Gnt  3,  29—4,  2,  4,  11—13. 
4,  16 — 17;  nimmt  den  Geist 
Töllig  ein  4,  15 — 24;  macht 
abhängig  4,  24—28;  nicht 
sch&dlich  als  Mittel  zum  Zweck 
6,  30—39. 

Bkrgelz^  cnpido  gloriae,  sein 
Nutzen  im  Staatdcben  112,  1 
bia  7,  136,  37—136,  3,  174, 17 
bis  23. 

Eid,  iusinranaum  160,  18—28. 

Etganen  Bechtes,  sai  iuris,  ist, 
wer  nach  seinem  Sinne  leben 
kann  64,  12 — 18 ;  wer  nicht  e. 
R.  ist  64,  20—32;  e.  R.  ist 
nur,  wer  der  Vernunft  folgt 
65,  1—5;  der  Staat  e.  R.  78,  8 
bis  21;  Städte,  die  nicht  e. 
R.  sind  167,  20—168,  4. 

Empiriker  9  empirioi;  Spinoza 
will  von  ihrer  Methode  han- 
deln 13,  85-36. 

Ephoren  in  Sparta  127,  16. 

Erbeiiyhaeredes ;  Erbrecht  123, 1 
bis  16;  in  Monarchien  122, 
28—123,  24. 

Erfahnmg.  ezperientia;  unbe- 
stimmte E. ,  e.  Tac^a,  die  zweite 
Erkenntnisart  9,  22—29;  Bei- 
spiele 10, 9— 19,  11,  27—12,9; 
ungewiß  und  ohne  Abschluß 
13, 10 — 18;  Spinoza  verspricht. 


anläßlich  der  zweiten  Erkennt- 
nisart von  der  E.  zu  handeln 
13,  85—37;  hat  schon  alle 
Arten  von  Staaten  an%ezeigt 
56,  15—84. 
Erkenntnlsarten,  modi  perci- 

Siendi,  sind  vier:  Wissen  aus 
[Oren  sagen,  aus  unbestimmter 
Erfahning,  Wissen,  bei  dem 
das  Wesen  einer  Sache  aus 
einer  anderen  erschlossen  wird, 
und  Wissen,  bei  dem  es  an 
sich  oder  aus  der  nächsten 
Ursache  erkannt  wird  9,  17 
bis  10,  5;  Beispiele  dafür  10,  6 
bis  12.  19;  ihr  Wert  unter- 
sucht 12,  36—13,  30. 

ErkenntnlsTermdgen,  intellec- 
tio,  Gegenstand  der  Methoden^ 
lehre  17,  8 — 13;  kann  mit  dem 
VorstellungsvermOgen  den  glei- 
chen Gegenstand  haben  41,  24 
bis  35,  ist  aber  von  ihm  zu 
unterscheiden  41,  85 — 38. 

Erwerbsgier,  avaritia,  soll  als 
dem  Staate  nützlich  gepflegt 
werden  174,  8—23. 

Erziehniigslehre,  doctrina  de 
pnerorum  educatione,  ist  aus- 
zubilden 8,  4 — 5. 

Ethik)  Ethica,  das  Hauptwerk 
Spinozas,  citiert  57,  21,  59,  6, 
70,  19,  112,  6. 

Euklid,  citiert  12,  11. 

Ewigkeit,  aetemitas;  der  Ver- 
stand begreift  die  Dinge  ge- 
wissermaßen unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Ewigkeit,  sub 
specie  aeternitatis  50,  34 — 36. 

F, 
FamilieiiTerband,  &milia,  die 
staatliche  Einheit  in  Monar- 
chien 95,  22—33;  jeder  F.  hat 
im  Rate  des  Königs  eine  Stimme 
96,  28—38,  100,  8—17;  wählt 
einen  Richter  102,  20—25. 


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204 


Namen-  und  Sachregister. 


FerdiBand  der  Eaiholisohe  von 
Oaftilien  128,  22—129,  S. 

FIktloii«  fictio,  dehe  fingierieldee. 

Finaasbeamte^  aerarii,  in  der 
Aristokratie  159,  2—4. 

Finaazweseiiy  aerariam,  in 
Monarchien  100,  18. 

Florentiiier  siehe  Macchiavelli. 

FolgeniBflrsTerfalireii,  ratioci- 
natio,  Gegenstand  der  Methode 
17,  8—12. 

Folter,  tormenta,  soll  verboten 
sein,  in  Monarchien  102,  10 
bis  16;  in  Aristokratien  165, 37 
bis  89. 

Frankreleh;  LudwigXIV.,KOnig 
von  Fr.  122,  9. 

Fimaeiiy  foeminae,  politisch  den 
Männern  nicht  gleichberech- 
tigt 180,  18—181,  20. 

Frei  9  über,  wer  der  Vemanft 
folgt  65,  5—16. 

Freier  Wille,  voluntas  libera 
62,  88—84. 

Freiheit,  libertas,  ist  nicht  Za- 
fldligkeit  62,  87—88,  sondern 
Tüchtigkeit  62,  89—41;  setzt 
Notwendigkeit  vorans  65,  10 
bis  12;  nicht  Zügellosigkeit 
68,  26—29;  ist  großer,  wenn 
die  Vernunft  herrscht  68,  29 
bis  82;  darf  sich  nicht  anf  die 
Gesetze  stützen  108,  25—40; 
F.  des  Volks  in  Aristokratien 
188,  29—184,  17. 

Friede,  pax,  der  Zweck  des 
StaatBlebens  87,  81—88,  1; 
nicht  Freisein  von  Krieg,  son- 
dern Ttlchtigkeit88, 88—89, 8; 
ist  Eintracht  der  Gesinnung 
98,  1^4;  Friedensverträge 
104,  26—86;  seine  Garantien 
in  Monarchien  112,  9—118,  2. 

Gediehtnis,  memoria,  stützt  sich 
auf  den    Verstand  89,  8—12; 


stützt  sich  auf  das  VorstellungB- 
verm0gen89, 12 — 27;  vom  Ver- 
stand verschieden  89,  27—32; 
definiert  89,  88—40,  5. 

Ctodanke,  cogitatio,  siebe  Idee. 

Gedankenwesen,  ens  rationii 
45,  8—4. 

Gegenstand  einer  Idee,  ideatam, 
von  der  Idee  verschieden  15, 19 
bis  18;  wie  er  sich  realiter. 
verh&It  sich  die  Idee  objeklzT 
18,  25—26. 

Ctoist,  mens,  kann  sioh  besser 
erkennen  und  leiten,  je  mehr 
er  von  der  Natur  weiß  18, 11 
bis  18,  18,  18—24;  mufl,  nm 
die  Natur  wiederzugeben,  alle 
Ideen  aus  der  Idee  herleiten, 
die  den  Ursprung  der  Natur 
darstellt  19,  8—10;  muß  die 
Formalität  der  Natur  wieder- 
geben 48, 14—16,  46,  29—32; 
nur  soweit  eigenen  Rechtes, 
als  er  der  Vernunft  folgt  64, 34 
bis  38. 

C^heimiüsfle ,  arcana,  in  der 
Politik  126,  2—25;  geheime 
Ausgaben  in Monarchienl49, 10 
bis  25. 

Geld,  argentum,  darf  nur  im  In- 
land auf  Zinsen  gegeben  werden 
112,  80—38. 

GemeiBseliaft,  commercium,  der 
Dinge  «s  Gemeinschaft  der 
Ideen  18,  26—19,  2;  definiert 
18,  88—39. 

Gemeinwesen,  res  publica  70, 6 
bis  8;  hängt  ab  vom  Inhaber 
der  Regierungsgewalt  82,  20 
bis  25. 

Genaesen,  Staat  der  G.  182,  9; 
Dogen  der  G.  141,  7;  Richter 
bei  den  G.  158,  85—154,  5. 

Gerechtigkeit,  iustiüa,  nur  im 
Staate  möglich  70,  5—12;  de- 
finiert 70,  12—16. 


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Namen-  und  Sachregister. 


205 


il-erlelitsliof,  forum,  in  der  Ariito- 
kratde  153,  20—84;  in  Aristo- 
kratien mit  gleichberechtigten 
Städten  168,  8;  sein  Sitz  166, 
6—8. 
sresandte,  legati,  in  Monarchien 
104,  6 — 10;   in  Aristokratien 
146.  30—84. 
Qesellsehafty  societas,    ist   za 
bilden,  um  die  Vollkommen- 
heit mit  anderen  zu  erreichen 
7,  85—8,  8. 
Gesetze,  leges;  sie  zu  interpre- 
pretieren,  ist  der  Bürger  nicht 
befiigt  78,  2 — 9;   werden  von 
den    höchsten    Gewalten    ge- 
geben und  ausgelegt  82, 11—14 
und   abgeschafiib  85,   25-~29; 
können  nicht  die  Freiheit  ga- 
rantieren 108,  25—40. 
CkwAlteiy  höchste,  summae  po- 
teetates,  soviel  wie  Eegierung 
71,  22—28,  77,  82  Ö;;    ihre 
Rechte  82,  8—88,  8;   ob  tde 
an  Gesetze  gebunden  88, 19  ff. 
C^wlßhelt,  oerütudo,  ist  nichts 
anderes  als  daa  objektive  Sein 
16,   17-21,   29—80;    bedarf 
keines   ftußeren  Kennzeichens 
16,  21—88. 
GUden     in     Niederdeutschland 

184.  6. 
Gleichheit,  aequalitas,  ist  im 
Staate  zu  wahren  118,  25—80, 
119,  11-18,  162,  82—35,  175, 
84-40. 
Gotty  deuB,  als  allwissend  konnte 
nichts  filteren  28,  24—26; 
seine  Existenz  kann,  wenn  man 
seine  Natur  kennt,  nicht  be- 
zweifelt werden  28,  80—24,  4, 
24,  28—82;  täuschender 
Gott,  deus  deceptor  (bei  Des- 
cartes)  88,  2—25;  durch  die 
Macht  Gottes  existieren  und 
wirken  die  Dinge  59,  21—32; 


er  handelt  absolut  frei  und 
notwendig  68,  9—17. 

Grafen  9  comites,  von  Holland 
168,  86-169,  6. 

Grond  und  Boden,  solum,  in 
Monarchien  Staatseigentum 
95,  85—96,  9,  118,  82—119,  9; 
in  der  Aristokratie  Privateigen- 
tum 187,  2—15. 

Gnty  bonum;  g.  und  schlecht,  b. 
et  malum,  sind  relative  Begriffe 
3,  8—6,  7,  2—7;  gelten  nur 
in  Hinblick  auf  die  Gesetze 
unserer  Natur,  nicht  des  Natuiv 
ganzen  68,  40—64,  10;  höch- 
stes G.,  summum  b.,  im  Sinne 
der  Menschen  8,  29—4,  2;  h. 
G.  ist  es,  mit  anderen  zu  einer 
idealen  Vollkommenheit  zu  ge- 
langen 7,  20—28;  wahres  G., 
verum  b.,  seine  Eigenschaften 
8,  7—18,  6,  21—80;  w.  G.  ist, 
was  zu  einer  idealen  Vollkom- 
menheit fahrt  7,  17—20. 


Hannlbal  88,  82. 

Heer,  Heerwesen,  siehe  Miliz. 

Heilkniidey  medidna,  ist  auszu- 
bilden 8,  5—7. 

HOrensairen)  ex  auditu,  Wissen 
vom  H.  die  erste  Erkenntnis- 
art  9,  19—21 ;  Beispiele  10,  7 
bis  9, 11,  23—27;  ungewiß  und 
von  der  Wissenschiäl  auszu- 
schließen 12,  88—18,  9. 

Hof  leute,  quiaulam  frequentant, 
von  Staatsftmtem  ausgeschlos- 
sen 104,  14—16. 

Holland  132,  10—14;  Grund- 
steuern in  U.  137,  15;  Steuern 
und  Reichtum  in  H.  149,  16 
bis  20;  die  Sekret&re  der  Kör- 
perschaften in  H.  158,  1 — 19; 
als  Beispiel  der  Aristokratie 
mit  gleichberechtigten  Städten 


y  Google 


206 


Namen-  und  Sachregister. 


168,  35;  Beorteilong  seiner 
Verfassung  168,  86—169,  16. 
Hypothese,  hypothesis,  Art  der 
Fiktion  28,  81—84;  H.  in  der 
Astronomie  26,  84—41. 


(Idealismus,  absoluter),  charak- 
terisiert und    zurückgewiesen 

27,  17—28,  29. 

Idee,  idea ;  w  a  h  r  e  L,  i.  vera,  vom 
Gegenstand  verschieden  15,  12 
bis  18 ;  an  sich  erkennbar  15, 19 ; 
kann  Gegenstand  wieder  einer 
Idee  sein  15,  20—16,  6;  gibt 
die  Gewißheit  über  die  Wahr- 
heit 16,  21-80;  lehrt  als  an- 
geborenes Werkzeug  die  üb- 
rigen Yorstellangen  erkennen 
18,  1—10,  22,  2—6;  hat  kein 
Objektais  Ursache  88,18 ;  hängt 
bloß  vom  Vermögen  desVerstan- 
desab  88,  14—86;  verhält  sich 
objektiv,  wie  ihr  Gegenstand 
realiter  18,  25—26;  Verhältnis 
zwischen  den  Ideen  wie  das 
Verhältnis  zwischen  ihrem  for- 
malen Sinn  17,  80—82,  41,  9 
bis  14;  die  Ideen  müssen  aus 
der  Idee  hergeleitet  werden, 
die  den  Ursprung  der  Natur 
darstellt  19,  8—10;  einfache 
Idee,  immer  wa^r  84, 25 — 27 ; 
fingierte  I.,  i.  ficta,  betrifft 
Existenz  oder  Wesen  einer 
Sache  22,  86—28,  1;  bezieht 
sich  nor  auf  mögliche  Dinge 

28,  7—28;  kann  nicht  Bekann- 
tes betreffen  28,  24—24,  4, 
24,  26—25,  28;  auch  nicht 
ewige  Wahrheiten  24,  5—7, 
80,  29—81, 8;  hat  um  so  mehr 
Spielraum,  je  geringer  die 
Kenntnis  der  Natur  26, 14—27, 
16,  81,  8—6;  Annahmen  sind 
uneigentliche  Fiktionen  25,  29 
bis  26, 18;  die  f.  I.  schafft  nichts 


Neues  26, 20—22,  sondern  ope- 
riert mit  bekannten  Elementen 
26,  28—88;  seigt  sich  durch 
ihre  Eonseqnenzen  als  wahr 
oder  falsch  28,  33—29,  13; 
zusammengesetzt  aus  verschie- 
denen verworrenen  Ideen  80, 6 
bis  22,  31,  7—18;  entspringt 
aus  dem  VorstellungavermOgen 
40, 19—26;  falsche  L,  i.  £a1^ 
unterscheidet  sich  von  der  fin- 
gierten nur  durch  die  hinra- 
kommende  Anerkennung  81, 19 
bis  82,  27;  entspringt  aus  dem 
VorstellungsvermOgen  40,  19 
bis  26;  zweifelhafte  L,  l 
dubia,  entsteht  durch  ein  an- 
klares Moment  in  einer  nicht 
ein£BLchen  Idee  87,  1—38,  2; 
ist  Zurückhaltung  in  Bejahung 
und  Verneinung  88,  31—36; 
entspringt  aus  dem  Vorstel- 
lungsvermOgen 40,  19—26. 

J. 

(Jeremias,  Prophet),  dtiert  69, 34 
bis  36. 

Juden,  Königtum  bei  den  J. 
128,  28,  127,  9. 

Jnstielft)  der  Vorsitzende  des 
Rates  der  Siebzehn  bei  den 
Arragonesen  127,  21 — 84. 

JuBtizTerwftltaiig,  iuatitia  ad- 
ministranda,  in  Monarchien 
101,  87—108,  18;  in  Aristo- 
kratien s.  Gerichtshof. 


Klar  und  deutlieh,  dare  et  dis- 
tincte;  wenn  wir  k.  u.  d.  be- 
greifen, fingieren  wir  nicht 
29, 14—25;  Idee  einer  einfachen 
Sache  immer  k.  u.  d.  29,  ^ 
bis  80,  6. 

KOnig,  res,  hat  nie  allein  die 
Begierungsgewalt  inne  93,  5 
bis  29  und  ist  nirgends  unam- 


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Namen-  und  Sachregiater. 


207 


schränkt  107,  12—22;  fürchtet 
die  Bfirger  mehr  als  die  Feinde 
93,  81—39;  Fnrcht  vor  dem 
Thronfolger  94, 2—11 ;  vor  den 
Blatsverwandten  191,  10—25 
muß  Räte  haben  109,  14-29 
wählt  seine  B&te  97,  2—82. 
ist  an  deren  Meinung  gebun- 
den 97,  84—98,  1, 111, 11—26 
and  wird  dnrch  sie  vertreten 
*  98,  9—14  nnd  gedeckt  98,  16 
bis  28;  wird  mit  der  Mehrheit 
gehen  114,  4—18;  Verhältnis 
zum  Heere  114,  20—115,  6; 
Verhältnis  zu  denRäten  115,89 
bis  116,  85;  ist  selbst  der  Staat 
128,  18—19;  aUes  Recht  der 
erklärte  Wille  des  Königs 
108,  10—16;  er  darf  keine  Aus- 
länderin  heiraten   105,  2 — 7, 

121,  27--122,  12.  Entstehung 
des  Königtums  110, 26— 1 11, 10. 
Thronfo^ordnung  105, 9—24, 

122,  14—128,  87. 
Konsolii,  consules,  in  der  Aristo- 
kratie ein  ständiger  Ausschuß 
des  Senats  150,  9—22,  151,  2 
bis  SO;  ihre  Zahl  151,  22—152, 
4;  Verhältnis  zum  Senat  152,  6 
bis  89;  in  Aristokratien  mit 
gleichberechtigten  Städten 
166,  85—167,  11. 

Kraft y  angeborene,  vis  nativa, 
des  Verstandes  14,  84;  das, 
was  in  uns  nicht  durch  äußere 
Ursachen  bewirkt  wird  14,  86 
bis  88. 

Krieg,  bellum ;  sein  Zweck  104, 28 
bis  25. 

Kult,  äußerer,  cultus  extemus 
77,  8—18. 

LebenBregeln,  vivendi  regulae, 
provisorische  8,  23 — 9,  4. 

(Lehrfreiheit),  gefordert  160, 
80  bis  86. 


LeibwM]ie,corporis  cuitodes,  des 
Königs  104,  18—21. 

Leidensehafli  passio  60,  41. 

Liebe,  amor,  zu  vergänglichen 
Dingen  bringt  Schmerz  6,  1 
bis  12;  zu  einem  ewigen  und 
unendlichen  Ding  dagegen 
Freude  6.  12—16;  L.  der 
Männer  meist  nur  sinnliche 
Leidenschaft  181,  10—14. 

(Livias),  citiert  88,  81-38, 124, 
22—28. 

Ludwig  XiV«,  König  von  Frank- 
reich 122,  8—9;  citiert  128,  18 
bis  19. 

Luxusgesetze.  legis  sumpta- 
ariae,  ihre  Nutzlosigkeit  178. 
82—174,  6. 


MaeeldaTelli,  die  Absicht  seines 
Principe  90,  2 — ^28;  seine  Dis- 
corsi  angefahrt  170,  8—28. 

(Materialismus)  als  Beispiel  der 
falschen  Idee  82,  15—17. 

Mauren,  127,  2. 

Mechanik,  mechanica,  ist  aus- 
zubilden 8,  7—10. 

Mensch,  homo,  kann  außerhalb 
einer  kechtsgemeinschaft  nicht 
leben  56,  28-25;  bildet  stets 
einen  staatlichen  Zustand  58, 81 
bis  88;  ist  ein  geselliges  Tier 
66, 82—85;  den  Affekten  unter- 
worfen 57,  21—58, 12;  ist  frei, 
wenn  er  nur  nach  den  (besetzen 
seiner  Natur  handelt  68,  1 — 9; 
ist  ein  Teil  der  Natur  61,  8 
bis  16,  68,  88—89;  in  ihr  nicht 
wie  ein  Staat  im  Staate  61,  17 
bis  20.  Menschen  von  Natur 
Feinde  66,  2—7 ;  können  nicht 
ohne  gegenseitige  Hülfe  be- 
stehen 66,  20—22;  ihre  Ent- 
artung die  Ursache  des  Ver- 
falls der  Staaten  178,  18—80; 


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208 


Namen-  und  Sachregister. 


sollen  niobt  dorch  Forcht  ge- 
leitet werden  175,  12—20. 

Methode,  methodoa,  die  beste 
M.  EQ  finden,  bedarf  ee  nicht 
selbst  wieder  einer  Methode 
14, 1—15,  11;  sacht  nicht  nach 
äußeren  Kennzeichen  derWahr- 
heit  17, 1 — 8;  ist  der  Weg,  die 
wahren  Ideen  in  richtiger  Ord- 
nung zu  suchen  17, 4 — 7,  21, 87 
bis  & ;  handelt  vom  Folgerungs- 
ver&hren  und  dem  Erkenntnis- 
vermögen 17,  8—18;  unter- 
scheidet die  wahre  Idee  Ton 
den  übrigen  Vorstellungen 
17,  18—21,  21,  82—84,  22,  8 
bis  84;  gibt  dem  Geist  die 
Norm  des  Erkennens  17,  17 
bis  21,  21,  85—86;  ist  die  Idee 
der  Idee  17,  21 — 29  oder  eine 
reflexive  Erkenntnis  88,  10; 
leitet  den  Geist  nach  der  Norm 
der  Idee  des  vollkommensten 
Wesens  17,80—18, 18;  braucht 
nicht  bewiesen  19, 11—88,  nur 
au%ezeigt  SU  werden  19,88—20, 
15;  erkennt  die  Bedingungen 
der  Definition  44,  14—24. 

Mietssoldaten,  milites  stipen- 
diarii,  125,  29—41. 

Milliy  militia,  in  Monarchien  95, 2 
bis  20;  ihre  Anführer  95,  8 
bis  20,  117,  87—118,  17;  nur 
ans  Bürgern  zu  bilden  117,  28 
bis  86 ;  erhält  keine  Besoldung 
108,  15—21,  120,  18—121,  6; 
in  der  Aristokratie,  Zusammen- 
setzung 185,  20—186,  8;  aus- 
ländische Soldaten  186,  4—11; 
Kommando  186,  12—80;  Be- 
soldung 186,  81—42;  Kontin- 
gentierung in  Aristokratien 
mit  gleicm>erechtigten  Städten 
165,  8—17. 

Minister^  ministri  107,  19. 

MOglieh,  possibilis,  definiert 
23,  15-20. 


MoüArehte,  der  Aristokratie 
nachstehend  184,  29—135,  1, 
148,  85—149,  88;  Entstehung 
aus  der  Aristokratie  188,  ^ 
bis  86;  Lasten  der  M.  149,  10 
bis  25;  s.  auch  unter  König. 

Moralpliilosopliie.  philosophia 
moralis,  ist  zu  pflegen  8,  8-— 5. 

M. 

NMhbantftdte.  urbes  circom- 
vidnae,  der  Hauptstadt  in  Ari- 
stokratien ;  ihre  Verfassung  und 
ihr  Verhältnis  zum  Staat  157, 10 
bis  24. 

Natur,  natura;  eine  gewisse 
Kenntnis  von  ihr  ist  uöüg  7,  33 
bis  85,  12,  25—26;  ihr  Ur- 
sprung nicht  abstrakt  und  all- 
gemein zu  begreifen  86,  14 
bis  85;  steht  nicht  unter  den 
Gesetzen  menschlidier  Ver- 
nunft 68,  84—64,  10;  wir 
mfissen  unsere  N.  kennen  12, 24 
bis  25  und  mit  der  N.  der 
Dinge  vergleichen  12,  27—35; 
menschliche  N.,  sehr  veränder- 
lich 20,  11—18. 

Natargeaetse,  naturae  leges,  alles 
geschieht  nach  ihnen  in  ewiger 
Ordnung  7,  10—12;  sind  Ge- 
setze Gottes  67,  87—68,  3. 

Xatarreehtylus  naturae  —»Natur- 
gesetze 60,  16—17;  N.  jedes 
Dinges  ist  gleich  dessen  Macht 
60,  5—25;  nicht  durch  die  Ver- 
nunft, sondern  durch  jeden 
Trieb  bestimmt  60,  27—61, 16; 
verbietet  nur,  was  niemand 
will  oder  kann  68,  27—88;  N. 
des  einzelnen  im  Natonnstand 
nichtig  66,  9 — 20;  nur  in  der 
Verainigung  möglich  66,  28 
bis  81 ;  hOrt  nach  Staatsgrund- 
gesetz  im  Staatsleben  auf  72, 18 
bis  40. 


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Namen-  und  Sachregister. 


209 


tfatnrziiBtaiid,  statui  naturalis; 
der  einzelne  im  N.  machtlos 
66,  9^22;  im  N.  gibt  es  keine 
Sflnde  67,  23—68,  10;  sein 
Gegensatz  das  Siaatsleben,  sta- 
tns  civilis  72,  26 — 40. 

Hlederdeatseliluid,  Oermania 
inferior  134,  4 — 5. 

lotwendigy  necessarios,  definiert 
28,  14—16. 

O. 

Mysseofl.  als  Beispiel  des  weisen 
Monarchen  107,  23—108,  1. 

Offiziere,  officiarii,  in  der  Monar- 
chie, ihre  Wahl  96,  8—20; 
Einkünfte  103,  18—21;  O.  in 
der  Aristokratie  136,37—136, 3; 
in  der  Aristokratie  mit  gleich- 
berechtigten St&dten  166,  8 
bis  17. 

mgareUe  179,  26. 

hnines,  98,  27. 

;OTld),  dtiert  172,  28,  173,  38 
bis  39. 

F- 

Pacht  fGLr  Grund  und  Boden  96, 1. 

Panischer  Sehreeken,  terror 
panicns,  als  Ursache  des  Unter- 
gangs von  Staaten  176,  22 
bis  177,  80. 

Papst  nnd  Arragonesen  127,  6 
bis  19. 

Patrizier,  die  Regenten  in  der 
Aristokratie  180,  12—29;  ihre 
ZaU  180, 29— 132,3;  P.-wärde 
nicht  erblich  139,  18—140,  4; 
Gleichheit  unter  den  P.  zn 
wahren  141,  36—86;  müssen 
derselben  allgemeinen  Religion 
angehören  159,  10-17;  P.  als 
Priester  der  Landesreligion 
159,  27 — 32 ;  haben  besondere 
Tracht  160,  2—4  nnd  beson- 
dem  Titel  160,  4—6;  Ver- 
mögensersatz bei   unverschul- 


detemyerlu8tl60,6— 16, 174,31 

bis  38;   sollen  vor  Entartung 

bewahrt  werden  174, 31—176, 4. 
Don  Pedro   (IV.),    König  von 

Arragon  127,  36-128,  17. 
Perez^  Antonio,  citiert  116,  31. 
Ferser  $  ihr  Königtum  107,0—12. 
Philipp  n.  von  Spanien  129,  12 

bis  14. 
PMlipp  nL  von  Spanien  129, 16. 
Philipp  IT.  von  Spanien  122, 10. 
Philosophen,  neuere  13, 85—36; 

in  der  Staatslehre  66,  3—26. 
PObel,  vulgns,  Urteil  über  den 

P.  124,  18—126,  28. 


Bäte  des  Königs,  regis  consi- 
liarii,  Znsammensetzung  96,  26 
bis  38,  109,  33—110,  24;  Wahl 
97,  2—32;  haben  beratende 
Stimme  97, 84—98,7;  sind  exe- 
kutive 98,  9—14  und  vermit- 
telnde Behörde  98,  16—28; 
erziehen  den  Thronfolger  98, 
30 — 81  und  haben  die  Vormund- 
schaft bei  Unmündigkeit  des 
Königs  98,  81—33;  Wählbar- 
keit zu  R.  99, 2—12;  Geschäfts- 
ordnung 99,  13—100,  3;  100, 
26—101,  36;  Vorsitz  99, 33  bis 
100,  3;  Tagung  100,  5—11; 
st&ndiger  Ausschuß  100,  6  bis 
23;  Einkünfte  102,  35—103, 
6;  Wahlperiode  115,  8-37; 
ihre  Notwendigkeit  109,  14  bis 
29;  werden  den  Frieden  be- 
günstigen 112, 9 — 22 ;  sind  nicht 
zu  bestechen  113,  4—10,  nicht 
zu  vermindern  113,  12—114,  2. 
Räte  in  den  St&dten,  in  Mo- 
narchien 108,  7—13. 

Bat,  höchster,  concilium  supre- 
mum,  in  Aristokratien;  Mit- 
gliederzahl 137,  17—26;  deren 
Verhältnis  zur  Volkszahl  139,  2 
bis  16;  untere  Altersgrenze 
S  p  1  n  o  X  a ,  Abhandlg.  Ob.  d.  Verbeuerg.  d.  Yeratandes.  14 

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aio 


Kamen-  und  Sachregister. 


der  Wählbarkeit  140,  6-~12; 
Zwang,  den  Sitzungen  beizu- 
wohnen 140,  14—22;  hat  die 
gesetsgebende  Gewalt  und  die 
Wahl  der  Beamten  140,  24 
bis  141,  3;  ohne  Oberhanpt 
141,  5—17;  Liste  der  Wähl- 
baren 144,  17— dd;  wählt  die 
Gesandten  146,  82—87 ;  ist  die 
Instanz  för  Streitigkeiten  zwi- 
schen Städten  154,  21—28; 
Verwandte  im  H.  E.  154,  88 
bis  155,  18.  H.  R.  in  Aristo- 
kratien mit  gleichberechtigten 
Städten,  sein  Sitz  162,  4—14; 
Einbemfdng  168,  28—89. 
Oberster  R.  in  den  einzelnen 
Städten  168,  8—16.  H.  R.  in 
der  Demokratie,  Stimmrecht 
179,  36—180,  16. 

Reeht,  ins,  die  Seele  des  Staates 
176,7—8;  ist  auf  die  Vernnnft 
und  den  Affekt  der  Menschen 
zu  gründen  176,  9—13. 

Rechtskundiger  9  iuris  peritus, 
unter  den  Räten  des  Köni^ 
96,  85—88;  Wahl  97,  9—18; 
Wählbarkeit  zum  R.  99,  4—12; 
in  der  Justizverwaltung  101, 87 
bis  40. 

Regierung,  imperium,  das  Recht, 
das  durch  die  Macht  der  Menge 
bestimmt  wird  67,  9 — 10;  wer 
sie  innehat  67,  10 — 16;  ihre 
Formen  67,  16—22;  ihr  Recht 
71,  22—72,  8;  Stellung  der  R. 
wie  die  der  Menschen  im  Natur- 
zustand 77,  82—78,  6;  R.  bei 
einem  freien  und  einem  unter- 
worfenen Volke  89,  18—89; 
ist  so  einzurichten,  daß  sie 
nicht  von  der  Treue  der  Re- 
gierenden abhängt  91,  80—92, 
24;  ist  unteilbar  105,  9—16; 
weibliche  Erbfolge  ausgeschlos- 
sen 105, 1 6 — 18 ;  unumschränkte 
R.  ist  diejenige,  die  ein  ganzes 


Volk  in  Händen  hat  133,  8 
bis  10. 

RegiernngsTertreter,  procon- 
sules,  in  den  Städten  und  Pro- 
vinzen 156,  89—157,  24. 

Rehabeam  122,  6. 

Relebtum,  divitiae,  nimmt  den 
Geist  völlig  ein  4,  11—14;  gilt 
als  höchstes  Gut  4,  18—14; 
seine  Gefahren  4, 22—24,  5, 30 
bis  35;  nicht  schädlich  als 
Mittel  zum  Zweck  6,  30—39, 
9,  1—4. 

Religion,  religio ;  das  Recht  über 
R.  ist  nicht  übertnurbar  123, 39 
bis  124,  8;  in  Monarchien 
106,  2—12;  IiandeBreligion  in 
Aristokratien  privilegiert  159,18 
bis  26;  Patrizier  als  ihre  Priester 
159, 27—82 ;  ihre  übrigen  Funk- 
tionäre 159,  82—86. 

Riehter,  iudices,  in  MonarchieD 

101,  87—102,   16;   ihre   Zahl 

102,  18-20  und  Wahl  102,  20 
bis  25;  Vollzähligkeit  erfordeit 
102 ,  27—81 ;  Abstimmaofr 
102, 31—33;  fiinkfinfle  102,  85 
bis  103,  6, 119,  29—120, 16;  in 
der  Aristokratie,  ihre  Zahl  154, 
9— 20;  Amtsdauer  154,  25-27; 
Blutsverwandte  als  R.  154, 2S 
bis  31;  Wahlfähigkeit  155,  21 
bis  23;  Kontrolle  durch  die 
Syndici  155, 23—28;  Einkflofte 
155,  30—39;  Garantien  ihrer 
Rechtiichkeit  156,  1—37;  in 
den  einzelnen  Städten  157,  26 
bis  30;  ihre  Wahl  in  Aristo- 
kratien mit  gleichberechtigten 
Städten  164,  86—39;  in  den 
einzelnen  Städten  167,  13—18. 

Rttmisehes  Reich,  imperiom 
Romanum,  die  Ursache  seioef 
Untergangs  176,  34—177,  6. 

Rom  132,  9;  136,  30;  168,  26; 
Volkstribunen  in  Rom  172,  86 
bis  178,  12. 

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Namen-  und  Sachregister. 


211 


8. 

Bagunt  168,  26. 

Ballast,  citiert  106,  26—27, 
110,  26. 

BaloBO  122,  4. 

BeUeelity  maliu,  a.  gnt 

Beholaatlker,  aoholaatioi  66,  82. 

Belpio  172,  8a 

Beele,  anima,  oft  fiüachlich  mit 
der  Vorstellnog  von  etwas  Kör- 
perlichem yerbunden  27,  81 
bis  40;  im  absoluten  Idealis- 
mus als  schöpferisch  angesehen 
27,  16;  indem  sie  begreift,  bil- 
det sie  dieselbe  Verkettung  von 
Ursache  und  Wirkung  wie  in 
der  Natur  28,  84—89,  29,  86 
bis  89;  handelt  nach  bestimm- 
ten Gesetzen  41 ,  18 ;  ein  geistiger 
Automat  41,  16—19;  Seelen- 
lehre der  Stoiker  85,  24—84. 

BelBy  formalesy  essentia  formap 
lifl,  der  Gegenstand  des  objek- 
tiren  Seins  15,  20—21 ;  die  Art, 
wie  wir  das  f.  8.  empfinden,  ist 
die  Gewißheit  16,  19—21. 

Sein,  obJektlTea,  obJekttTCs 
WeseS)  essentia  obiectiva,  ist 
die  Idee  15,  26—26;  etwas  an 
sich  Wirkliches  15,  26;  kann 
Gegenstand  eines  anderen  ob- 
jektiven Seins  bilden  15,  20 
bis  24;  ist  die  Gewißheit  selbst 
16,  17—21. 

Sekretäre,  qni  a  secretis  sunt, 
der  Körperschaften  in  der  Ari- 
stokratie; Ge&hren  ihres  Ein- 
flasses  157,  82—158,  10;  Ver- 
hältnis zu  den  Patrisiem  156, 10 
bis  28;  Beschr&nkung  ihrer 
Amtsdaner  und  ihres  Amts- 
kreises  158,  84—42. 

Belbsteriuiitaogstrleb,  oonatus 
sese  conservandi  68,  28,  61,  5. 

Benaty  senatus,  die  exekutive  Be- 
hörde in  der  Aristokratie  146, 24 


bis  147,  6;  Verhältnis  sum 
Höchsten  Rat  150,  2—7;  stän- 
diger Senatorenausschuß  (Eon- 
Bubi)  150,  9—22;  Abteilungen 
mid  Prisidenten  150,  24—151, 
2;  Geschäftsordnung  und  Ab- 
stimmungen 152,  16—158,  18; 
in  den  einselnen  Städten  168, 17 
bis  26;  in  Aristokratien  mit 
gleichberechtigten  Städten, 
seine  Geschältsfährung  164,  1 
bis  18;  sein  Sita  166,  6—6. 
Senatoren,  senatores,  Zahl  147, 6 
bis  88;   loste   der  Wählbaren 

147,  49-148,    9;    Einkünfte 

148,  11—21;  sind  von  den 
Kommandostellen  im  Heere  aus- 
zuschließen 146,  22—84;  ihre 
Wahl  in  Aristokratien  mit 
gleichberechtigten  Städten  164, 
16—85;  Einkünfte  165, 81—87. 

Sleherheity  securitas,  die  Tugend 
des  Staates  56,  29—80. 

Siebzehn,  die,  Rat  der  Arrago- 
oesen  127,  21—84. 

Sinne,  sensos,  ihre  Täuschung 
87,  28—38,  2;  alli^emeiner 
Sinn,  s.  communis  39,  15. 

Slnnenlnst.  libido,  nimmt  den 
Geist  völlig  ein  4,  2—6;  ihre 
Ge&hren  4,  9—11,  5,  87—6,  1; 
nicht  schädlich  als  Mittel  zum 
Zweck  6,  80—89. 

Sirenen  107,  27;  106,  6. 

Skeptiker,  sceptici,  charakteri- 
siert und  zurückgewiesen  20, 80 
bis  21,  16;  37,  5—11. 

SparU  127,  16. 

Spione  (speculatores)  104, 1 1—12. 

Staat,  civitas  70,  6;  am  mäch- 
tigsten, wenn  er  der  Vernunft 
folgt  74,  26—40;  hat  nur  Ge- 
walt über  das,  was  erswingbar 
ist  75,  2—5;  Grenze  seiner 
Macht  76,  7—25;  widerstreitet 
nicht  der  Religion  76,  27—77, 
80;  ist  eigenen  Rechtes,  soweit 

14* 

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212 


Namon-  und  Sachregister. 


er  (fir  sich  bestehen  kann  78,  8 
bis  21 ;  sein  Recht  Aber  Krieg 
and  Frieden  78,  23—88;  sein 
Recht  in  Verträgen  79,  2—80, 
3;  vergeht  sich,  wenn  er  gegen 
die  Vernunft  handelt  83,  19 
bis  84,  87,  ist  aber  nicht  an 
die  b ärgerlichen  Gesetze  ge- 
bunden 84,  89 --85,  29;  Be- 
schaffe oheit  seiner  Bftrger  rich- 
tet sich  nach  der  fieschaffen- 
heit  seiner  Gesetze  88,  2 
bis  33;  muß  von  Zeit  zu  Zeit 
auf  sein  Grundprincip  zurfilck- 
gefuhrt  werden  170,  8—31. 
Staaten  serfallea  durch  die 
Entartung  der  Menschen  173, 18 
bis  30;  St  im  Staate,  impe- 
rium  in  imperio  61,  20 — ^21. 

Staatsbeamte!  imperii  ministri, 
Wahl  140,  38-141,  8,  145,  25 
bis  38;  EinkflnOe  143,  2—19. 

Staatsgmndgesetzey  fundamen- 
talia  imperii  iura,  ihre  Wahrung 
in  Aristokratien  144, 34 — 145, 1. 

Staatsleben,  status  civilis,  sein 
Gegensatz  der  Naturzustand, 
St.  naturalis  72,  25—40;  Natur- 
recht im  St.  72,  18—40;  nicht 
der  Vernunft  widerstreitend 
73,  25—74,  26;  sein  Zweck  ist 
Friede  und  Sicherheit  des 
Lebens  87,  31—88,  1. 

Staatsmftmier,  politici,  in  der 
Staatslehre  55,  27—56,  13. 

Staatsverfassung,  status  civilis 
71,  3—5. 

Stldte,  urbes;  fiflrprerrecht  in 
Monarchien  94,  28—34;  ab- 
hftn^ige  St.  in  Monarchien  94, 34 
bis  36,  117,  16—21;  sind  zu 
befestigen  117,  9—13;  ihre 
Macht  bestimmt  durch  die  Zahl 
der  fifirffer  118,  19—80.  St. 
in  den  Aristokratien  135,  10 
bis  18.  St.  in  den  Aristokra- 
tien    mit     gleichberechtigten 


St&dten  161, 15—20;  abhftn^ 
St.  161,  20—24;  ihr  Reell 
richtet  sich  nach  ihrer  Mach 

162,  20—40;  164,  40—165,  6 
Patrizier   163,    8—16;     Sena 

163,  17—26;  Syndici  166.  li 
bis  33;  Konsuln  166,  85 — 167 
11;  Richter  167,  13—18;  ab 
hftngige  St  in  Aristokratien  nu 
gleichberechtigton  St.  167,  2( 
bis  168,  4. 

Statthalter,  vicarii,  der  G»feii 
von  Holland  168,  36 — 49. 

Stenem,  vectigalia,  werden  in 
Aristokratien  vom  Senat  146,29 
bis  30  bezw.  vom  Höchste 
Rat  bestimmt  147,  8--6;  St 
in  Holland  149,  16—20;  in 
Aristokratien  mit  gleichberech- 
tigten Städten  165,  19—29. 

Stlnunreelit,  ins  saffragii,  in 
Demokratien  178,  13—179,  8. 

Stoiker,  ihre  Seelenlehre  35,  24 
bis  84. 

Sünde,  peccatum,  nach  Natur- 
recht  67,  24—68,  18;  gibt  et 
nur  im  Staate  68, 12—21 ;  nach 
gewöbütiliohem  Sprachgebranch 
68,  23—69,  19;  im  Sinne  der 
Religion  69,21—70,3.  Sünden- 
fiOl  6,  37—7,  27. 

Snsak,  König  vonÄgypten  122, 7. 

Syndi«^  in  der  Aristokratie  eine 
dem  Höchsten  Rat  untergeord- 
nete Au&ichtsbehOrde  141,  38 
bis  142, 16;  Wahlmodas  142,  18 
bis  26;  Zahl  142, 28-35:  haben 
Verfflgnngsrecht  über  Trappen 
142,  37—40;  Einkünfte  143,  2 
bis  40;   Eontrolle  ihrer  Zahl 
144,    1—16;    VerbftltoiB  sam 
Höchsten  Rat  145,  9-19;  Ge- 
schäftsordnung 146, 2—5;  Vor- 
sitzender und  AusjchaO  der  S. 
146,   5—22;   Veriiftltnifl   sam 
Senat  149,  35—40;  Eoatroils 
über  die  Richter  155,  23-28, 


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Kamen-  und  Saohregister. 


213 


166,  18—87;  in  Aristokratien 
xnit  gleichberechtigten  St&dten 
166,  16—88;  die  Bedeatong 
ihrer  dictatorisohen  Gewalt 
172,  4—34. 

T.      - 

<*Iaeita8),  citiort  73,  16,  114,  32 

bis  84,  116,  14—16,  120, 1—7, 

124,  21—22,  23—24,  125,  23 

bis  24,  126,  23—26. 

CToi^entias).  citiert  114,  12—18, 

124,  26—29,  129,  19. 
TeiLfel,  diabolas  62,  5—12. 
Tüheologlseh-politiseher  Trak- 
tat Spinozas,    citiert  59,   3, 
63,27—64,10,  124,1—2,159,7. 

Thronfolge]:,  successor,  von 
den  Königen  gefürchtet  94,  2 
bis  11;  Thronfolgeordnung 
105,  9-24,  122,  14—123,  37. 

Traum,  somnium,  der  Fiktion 
verwandt  30,  33—40. 

Trieb,  appetitus  60,  87. 

Triumphe,  triumphi,  za  ver- 
werfen 175.  20—40. 

Ttürken,  türkisches  Reich  92, 30; 
türkische  Herrscher  121,  16. 

U. 

Ungereehtlgkeit,  iniustitia,  nur 
im  Staate  70,  5—12;  definiert 
70,  12-16. 

üiilTenitftteii,  academiae  160,30 
bis  36. 

Unmöglleh^impossibilis,  definiert 
23,  12—14. 

Untertan,  subditus,  ist  der 
Mensch,  soweit  er  unter  den 
Gesetzen  des  Staates  steht  71, 10 
bis  12;  muß  alle  Beschlüsse 
des  Staates  als  seine  ansehen 
76,  15—28;  hat  nicht  ohne 
Autorisation  ein  Staatsgesohftft 
za  unternehmen  88,  10—17; 
Untertanen  sind  in  der  Aristo- 
kratie  Fremde   186,   33—35; 


müssen  aus  freiem  Willen  ihre 
Pflicht  tun  175,  7—20. 
Ursaehe,  causa;  was  eine  U.  hat, 
muß  durch  diese  erkannt  wer- 
den 43,  24—27«  U.  seiner 
selbst,  causa  sui ;  was  U.  s.  s. 
ist,  muß  durch  sich  erkannt 
werden  43,  20—23.  U.  aller 
Dinge  46,  22—29. 

V. 

Tenezianer;  Doge  bei  den  Y. 
141, 7 ;  Wahl  der  Staatsbeamten 
bei  den  V.  145,  25-38;  der 
venezianische  Staat  132,  9. 

Tereinigte  Niederlande,  Pro- 
vinzen der  129,  18 — 14. 

Tereinzelnng,  solitado,  Furcht 
vor  V.  schafft  das  Staatsleben 
91,  11-17. 

VTergil),  citiert  61,  36. 
ergnttgen,  delicia,  nicht  zu  ver- 
werfen 8,  35—86. 

Temonft,  ratio,  meist  schwächer 
als  die  Begierde  60,  32—34, 
61,  18—36. 

Terspreehen,  fides  65,  14—27; 
80,  14-83. 

Verstand,  intellectus,  ist  zu  heilen 
und  zu  reinigen  8,  10 — 14$ 
bildet  sich  aus  aogeborener 
Kraft  Verstandeswerkzeuge  zu 
Verstandesworken  14,  82 — 15, 
5;  seine  Verkettung;  muß  der 
Verkettung  der  Natur  ent- 
sprechen 45,  9 — 10;  soll  defi- 
niert werden  49,  16—50,  2; 
seine  Eigenschafben  werden 
aufgezählt  50,  8—62,  8. 

Verstandeswerke,  opera  intel- 
leotualia  15,  1. 

Verstandeswerkzenge,  instru- 
menta intellectualia  14,  84 — 85. 

Vertrltge,  contractus,  zur  Ober- 
tragung  der  Begierungsgewalt 
85,  81—86,  14. 


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214 


Namen-  und  Sachregister. 


T.  H.  (Van  Hove),  Polityke 
WeegBohaal  citiert  149,  31. 

ToIksMbimeii,  tribani  plebis, 
in  Rom  172,  36—173,  12. 

Tollkomiiien  nnd  unyollkom- 
men,  perfectam  et  imperfec- 
tam,  relative  Begriffe  7,  7—12. 

Vollkommenheit,  perfedio;  der 
Mensch  erdenkt  Kioh  eine  voll- 
kommone  menschliche  Katar 
als  Vorbild  7, 12—18 ;  V.  besteht 
in  der  Erkenntnis  der  Einheit 
des  Geistes  mit  der  gesamten 
Natur  7,  23—26;  das  Ziel,  auf 
das  alle  Wissenschaften  hinzu- 
leiten  sind  8,  14—23,  8,  37 
bis  38;  Freiheit  ist  V.  62,  39 
bis  40. 

Vorstellen,  imaginari,  vom  Er- 
kennen zu  unterscheiden  42,  34 
bis  43,  4. 

Vorstellnng,  perceptio;  ihr 
Wesen  soll  in  der  Philosophie 
erklärt  werden  22,  26—30;  V. 
wird  meist  im  Sinne  von  Idee 
gebraucht  z.  B.  40,  18,  46,  23. 

Vontelliingsbllder,  imagina- 
tiones,  haben  andere  Gesetze 
als  der  Verstand  41 ,  29—35. 

VorstellungSTermögen,  imagi- 
natio;  was  im  V.  ist,  kann 
auch  im  Verstände  sein  3&,  18 
bis  21,  41,  24—29;  wird  von 
einzelnen,  körperlichen  Dingen 
afficiert  39,  14—27;  aus  ihm 
entspringen  die  fingierten,  fal- 
schen und  zweifelhaften  Ideen 
40,  17—26;  in  ihm  ist  der 
Geist  leidend  40, 23—30,  41,33 
bis  85;  vom  Erkenntnisyer- 
mögen  zu  unterscheiden  41,  85 
bis  38;  Worte  ein  Teil  von 
ihm  42,  7—19. 

Vomrtelley  praeiudicia,  stehen 
der  richtigen  Methode  im  Weg 
20,  4—8. 


W. 

Wahriieity  veritas,  bedarf  keines 
fiußeren  Kennzeichens  16,  30 
bis  31;  das  objektive  Sein 
macht  die  W.  aus  16.  31  —  33; 
offenbart  sich  selbst  19»  *M 
bis  29 ;  durch  innere  Bezeich- 
nung von  der  Falschheit  unter- 
schieden 82, 28—38,  3;  ewige 
W.  definiert  24,  34—39;  kaon 
nicht  Gegenstand  einer  Fik- 
tionsein  24,6—7, 30, 29—31,3. 

Wesen,  essentia;  gedanklich« 
Wesen,  e.  idealis,  der  Ding^. 
unabh&ngig  von  ihrer  Existenz 
59,  13—21. 

WlBsen,  perceptio,  vom  Hören- 
sagen, die  erste  Erkenntnisart, 
8.  d.;    aus   unbestimmter  Er- 
fahrung, die  zweite  Erkenntnis- 
art,  s.  d.;    W.,  bei  dem  das 
Wesen  einer  Sache  aus  einer 
andern  erschlossen  wird,   die 
dritte  Erkenntnisart  9,  30—10, 
2;    Beispiele    10,   20—11.   7, 
12,10— 17  ;gibtIdeeeinerSacbe 
13,  19—22,  aber  kein  Mii^l 
zur   Vollkommenheit   13,    22 
bis  23;  W.,  bei  dem  die  Sache 
aus  ihrem  Wesen  oder  durch 
ihre  nächste  Ursache  begriffen 
wird,  die  vierte  Erkenntuisart 
10,  3—5;  Beispiele  11,  8—18, 
12,  17—19;    erfaßt  allein  das 
ad&quate  Wesen  und  ist  die 
beste  13,  23—27. 

Worte,  verba,  Teil  des  Vor- 
stell ungsvermOgens  42,  7— 14, 
19 — 29;  nach  der  Fassungs- 
kraft des  Volkes  gebildet  42, 15 
bis  19. 

Z. 

ZolU  vectigal;  Export-  und  Im- 
portzölle 148,  13—21. 

Znf&lligkMt.  contingentia,  nicht 
gleich  Freiheit  62,  37—38. 


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Philosophische  Bibliothek. 

Band  96. 


Die 

Briefe  mehrerer  Gelehrten 

an 

Benedict  von  Spinoza 

und  dessen 

Antworten, 

soweit 

beide  zum  besseren  Verstftndniss  seiner  Schriften 
dienen. 


Uebersetzt  und  erläutert 
von 

J.  H.  V.  Kirchmann. 


mM 


^tl^ 


LEIPZIG.  ^       I 

VERLAG  DER  DÜRR'SCHEN  BrCHHANDLÜNG.       _ 
lft97.  k 


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Vorwort  dos  üobersetiors. 


vlbgleich  Spinoza  bei  seinem  Leben  nur  im  Jabre 
1663  seine  Bearbeitung  der  Prinzipien  des  Descartes 
nnd  im  Jahre  1670  seine  theologisch-politische  Ab- 
handlung durch  den  Druck  veröffentlicht  und  bei 
letzterer  nicht  einmal  sich  als  den  Verfasser  genannt 
hatte,  ward  sein  Name,  seine  Gelehrsamkeit  und  sein 
Genie  doch  unter  seinen  Zeitgenossen  bald  bekannt, 
und  er  galt  allgemein  als  einer  der  bedeutendsten 
Philosophen  und  Naturforscher.  Es  erklärt  sich  dies 
zum  Theil  daraus,  dass  Sp.  frühzeitig  und  schon  vor 
seinem  dreissigsten  Jahre  mit  den  Grundgedanken 
seines  eigenen  Systems  ziemlich  ins  Reine  gekommen 
war,  und  dass  er,  obgleich  sein  Hauptwerk,  die  Ethik, 
erst  1677,  nach  seinem  Tode,  im  Druck  erschien,  er 
dieses  Werk,  das  schon  vor  1660  vollendet  gewesen 
sein  mag,  einzelnen  Schülern  und  Freunden  ganz  oder 
theilweise  in  Abschrift  mitgetheilt  hatte,  durch  welche 
die  Grundgedanken  desselben  schon  vor  dem  Druck 
unter  den  Gelehrten  ziemlich  allgemein  bekannt  ge- 
worden waren. 

Diese  grosse  Bedeutung  Spinoza^s,  welche  sowohl 
von  seinen  Freunden  wie  von  seinen  Gegnern  aner- 
kannt wurde,  verwickelte  ihn  bald  in  einen  ausge- 
breiteten Briefwechsel  mit  seinen  Anhängern  und  mit 
berühmten  Männern  des  Auslandes.  Sp.  verfuhr  da- 
bei sehr  gewissenhaft;  er  schrieb  alle  seine  Briefe 
vorher  im  Koncept  nieder,  korrigirie  sie  dann  vielfach 
und  verwahrte  nach  Absendung  der  Reinschriften  die 
Koncepte  nebst  den  eingehenden  Antworten  sorgfältig 
auf.  Sein  Freund  L.  Meyer  fand  deshalb  bei  Sp.^s 
Tode    einen    grossen    Vorrath    dieser   Korrespondenz 

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VI  Vorwort  des  üebersetzers. 

vor  und  war  dadurch  in  den  Stand  gesetzt,  den  nach- 
gelassenen Werken  Sp.'s  auch  eine  Auswahl  dieser  Briefe 
beizufügen.  Meyer  verfuhr  dabei  allerdings  nicht  mit 
der  peinlichen  Sorgfalt,  wie  man  sie  heutzutage  bei  be- 
rühmten Männern  beobachtet.  Er  traf  nach  seinem 
Ermessen  die  Auswahl,  ohne  über  die  dabei  befolgten 
Grundsätze  sich  auszusprechen;  viele  Briefe  thellt  er 
ohne  Datum  oder  nur  in  Auszügen  mit;  bei  andern 
fehlt  der  Name  des  Adressaten  oder  des  Absenders; 
bei  andern  ist  er  nur  mit  den  Anfangsbuchstaben  ange- 
deutet. Dies  letztere  mag  mit  Kücksicht  auf  die  da- 
mals noch  lebenden  Persönlichkeiten  geschehen  sein, 
welche  nicht  blossgestellt  werden  sollten;  da  schon  ein 
solcher  Verkehr  mit  Sp.  bei  einem  grossen  Theile  seiner 
Zeitgenossen  genügte,  um  in  den  gefährlichen  Verdacht 
des  Atheismus  zu  gerathen.  Ein  Theil  der  Briefe  war 
in  holländischer  Sprache  geschrieben;  Meyer  hat  diese 
in  das  Lateinische  übersetzt  und  nur  in  dieser  Ueber- 
setzung  veröffentlicht;  die  Originale  sind  bis  auf  einzelne 
Ausnahmen  verloren  gegangen.  In  dieser  Form  hat 
Meyer  74  Briefe  aus  der  Zeit  von  1661 — 1676  ver- 
öffentlicht, welche  sich  in  allen  Oesammtausgaben  von 
Sp.'s  Werken  vorfinden.  Dazu  ist  der  Brief  No.  75 
durch  Bruder  in  seiner  Gesammtausgabe,  Leipzig  1844, 
gekommen.  Dieser  Brief  war  kurz  vorher  in  Holland  bei 
einer  Versteigerung  aufgefunden  und  zuerst  von  dem 
Professor  Kistius  inLeyden  veröffentlicht  worden.  End- 
lich hat  vanVloten  bei  der  Herausgabe  der  um  1860 
aufgefundenen  Handschrift  von  Sp.^s  „Abhandlung  über 
Gott,  den  Menschen  und  sein  V^Tonl"  ebenfalls  mehrere 
nachträglich  aufgefundene  Briefe  mit  abdrucken  lassen, 
von  denen  aber  nur  einer  von  Sp.  geschrieben  und  vier 
andere  an  ihn  gerichtet  sind.  Von  diesen  Briefen  ist, 
mit  Ausnahme  eines  der  letztem  und  ganz  unbedeuten- 
den, ebenfalls  eine  Uebersetzung  hier  gegeben  worden, 
so  dass  die  Zahl  der  Briefe  in  der  hier  gebotenen 
Ausgabe  auf  79  gestiegen  ist,  während  die  1844  her- 
ausgekommene deutsche  Uebersetzung  von  Auerbach 
nur  74  Briefe  enthält,  da  damals  nicht  mehr  bekannt 
waren.  Zu  einigen  Briefen  der  alten  Sammlung  hat 
van  Vloten  aus  den  Originalen  noch  kleine  Zusätze 
veröffentlicht,   welche  Meyer   weggelassen  hatte  und 

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Vorwort  des  Uebersetsen.  VII 

welche  bier  bei  den  Erläuterungen  berücksichtigt 
werden  sollen.  Im  Ganzen  ergeben  diese  nachträglich 
aufgefundenen  Briefe,  dass  Meyer  wohl  alles  irgend 
Erhebliche  aus  dem  Briefwechsel  aufgenommen  haben 
mag;  denn  das  nachträglich  Gefundene  tritt  an  Be- 
deutung sehr  gegen  die  von  Meyer  veröffentlichten 
Briefe  zurück.  Es  ist  deshalb  der  Verlust  der  übrigen 
Briefe  wohl  nicht  so  tief  zu  beklagen,  als  es  von  eifrigen 
Gelehrten  und  Verehrern  Sp/s  jetzt  zu  geschehen  pflegt. 

Bei  der  Uebcrsetzung  der  Briefe  1 — 75  ist  der 
lateinische  Text  nach  der  Ausgabe  von  Bruder, 
lieipzig  1843  und  1844  zu  Grunde  gelegt  worden.  Die 
frühern  Ausgaben,  namentlich  auch  die  von  Paulus, 
Jena  1802,  enthalten  in  Bezug  auf  die  Daten  noch 
grobe  Fehler.  Das  Datum,  unter  dem  die  Briefe  ge- 
schrieben worden,  ist  hier  auch  da  zugesetzt  worden, 
wo  es  bei  Meyer  fehlt,  so  weit  als  diese  Zeit  sich  aus 
dem  Inhalte  und  andern  Hülfsmitteln  entnehmen  liess. 
In  der  Ordnung  ist  fiir  die  Briefe  1 — 74  die  alte  der 
frühem  Ausgaben  des  bequemern  Auffindens  wegen 
beibehalten  worden;  die  später  aufgefundenen  Briefe 
sind  deshalb  erst  hinter  jene  gestellt  worden,  obgleich 
sie  der  Zeit  nach  vielen  von  jenen  vorgehen.  — 

Diese  Briefsammlnng  bildet  einen  höchst  interessan- 
ten Theil  von  Sp.'s.  Werken,  und  man  kann  sie  mit  vol- 
lem Rechte  zu  seinen  philosophischen  Schriften  rechnen, 
da  der  grössere  Theil  sich  mit  philosophischen  und  die 
übrigen  mit  naturwissenschaftlichen  und  religiösen  Fragen 
beschäftigen,  die  mit  jenen  eng  verknüpft  sind  und  in 
jener  Zeit  weniger  streng  wie  jetzt  gesondert  gehalten 
wurden.  Die  meisten  Briefe  beschäftigen  sich  mit  den 
wichtigern  Begriffen  aus  Sp.'s  Ethik,  welches  Werk, 
wie  erwähnt,  vielen  seiner  Freunde  durch  Abschriften 
zugänglich  geworden  war.  Beinah  alle  Korrespondenten 
können  sich  in  die  kurze,  streng  geometrisch  gehaltene 
Darstellung  dieser  Begriffe  um  so  wenigerfinden,  als  deren 
Inhalt  und  Form  sich  von  dem  bisher  Gewohnten  gänz- 
lich entfernte.  So  kommen  denn  von  allen  Seiten  An- 
fragen und  Bitten  um  Aufklärung,  denen  Sp.  in  seinen 
Antworten  nach  Möglichkeit  zu  entsprechen  sucht.  Schon 
diese  Anfragen  haben  ihr  philosophisches  Interesse,  weil 
sie  zeigen,  wie  wenig  selbst  die  Gebildetsten  jener  Zeit 

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VIII  Vorwort  des  Uebersetzers. 

im  Stande  waren,  in  Sp.'s  Philosophie  sich  zurecht  zu 
finden  und  sie  zu  fassen.  Es  war  das  Verhältniss  hier- 
bei schon  damals  genau  dasselbe  wie  noch  jetzt;  Freunde 
und  Feinde  hatten  einen  grossen  Hespekt  vor  der  tiefen 
Weisheit,  die  sie  hinter  Sp.'s  dunklen  Aussprüchen  ver- 
mutheten;  die  Anhänger  hofften  in  ihnen  den  Stein  der 
Weisen  zu  finden ;  man  sprach  einzelne  seiner  Sätze  bald 
mit  Ehrfurcht,  bald  mit  Abscheu  nach;  allein  die  Zahl 
Derer,  welche  seine  Lehre  wirklich  und  wahrhaft  ver- 
standen, blieb  überaus  klein.  Der  Hauptgrund  daftir  lag 
theils  in  den  neuen  von  Sp.  aufgestellten  Begriffen  selbst, 
theils  in  der  mathematischen  Methode,  in  welcher  er  sie 
dargestellt  hatte,  theils  in  der  Bezeichnung  seiner  Begriffe 
mit  Worten,  welche  in  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch 
eine  durchaus  verschiedene  Bedeutung  hatten.  Um  diese 
Schwierigkeiten  zu  mindern,  versucht  deshalb  Sp.  zwar 
in  seinen  Antworten  seinen  erhabenen  und  isolirten 
Standpunkt  zu  verlassen  und  auf  die  aus  dem  gesunden 
Menschenverstände  entnommenen  Bedenken  seiner 
Freunde  in  ungefähr  gleicher  Form  zu  antworten;  allein 
trotzdem  werden  die  Empfänger  dieser  Antworten  in  ihren 
Erwartungen  sich  ebenso  getäuscht  geftihlt  haben,  wie  es 
den  heutigen  Lesern  damit  gehen  wird.  Denn  trotz  allen 
guten  Willens  Sp.'s  enthalten  die  meisten  seiner  Ant- 
worten in  den  Hauptpunkten  bloss  eine  beinah  wörtliche 
Wiederholung  der  Definitionen  und  Lehrsätze  aus  der 
Ethik;  nur  hie  und  da  tritt  Sp.  der  Sache  durch  Bei- 
spiele und  eingehende  Erläuteningen  näher.  Deshalb 
kann  auch  gegenwärtig  der  Anfönger  aus  diesen  Briefen 
wenig  Belehrung  schöpfen,  und  es  würde  verkehrt  sein, 
wenn  man  das  Studium  von  Sp.'s  Philosophie  mit  diesen 
Briefen  beginnen  wollte.  Nur  ftlr  Den,  welcher  bereits 
das  System  Sp/s  sich  durch  Lesen  seiner  Hauptwerke 
zu  eigen  gemacht  hat,  wird  das  Nachlesen  der  betreffen- 
den Ausführungen  in  diesen  Briefen  dann  von  Nutzen 
und  Interesse  sein.  In  den  Anfragen  der  Freunde  er- 
kennt man  dann  die  Schwierigkeiten,  mit  denen  man 
selbst  zu  kämpfen  gehabt  hat,  und  die  Antworten  Sp.'s 
werden  dann,  aber  auch  nur  dann,  ein  erhebliches  Hiilfe- 
mittel,  sowohl  ftlr  das  volle  Verständniss  seiner  Lehre 
wie  für  die  Erkeuntniss  ihrer  Vorzüge  und  ihrer  Mängel. 
In   diesem   Sinne   sind   daher  auch  die  Erläuterungen 

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Vorwort  des  Uebersetzers.  IX 

zu  diesen  Briefen  gehalten  worden;  insbesondere  sind 
darin  die  Parallelstellen  aus  der  Etbik  und  den  übrigen 
Schriften  Sp/s  angeftihrt  und  theilweise  ausführlich  ver- 
glichen  worden. 

Ein  anderer  Theil  der  Briefe  behandelt  natur- 
wissenschaftliche Fragen.  Diese  sind  ftir  die  Gegen- 
wart sachlich  von  geringerem  Interesse,  da  Sp.  hier 
sich  beinah  gänzlich  dem  Descartes  angeschlossen 
hatte  und  die  moderne  Naturwissenschaft  l&ngst  darüber 
hinausgeschritten  ist.  Allein  davon  abgesehen,  gewiihren 
sie  einen  lebendigen  Einblick  in  die  Schwierigkeiten, 
welche  die  Naturwissenschaft  gerade  zu  Sp.*s  Zeit  zu 
überwinden  hatte,  um  zu  den  fundamentalen  Begriffen 
und  Gesetzen  zu  gelangen,  auf  denen  sie  heute  ruht; 
Schwierigkeiten  nicht  blos  gegenüber  den  Verfolgungen 
der  Kirche,  sondern  auch  Schwierigkeiten  in  der  Sache 
selbst;  denn  auch  das  induktive  Verfahren,  was  sich 
damals  erst  Bahn  brechen  musste,  findet  die  wahren 
Begriffe  und  Gesetze  nicht  fix  und  fertig  in  den  Ver- 
suchen und  Beobachtungen  dargelegt,  sondern  bedarf 
der  genialen  Konception  daftir  nicht  minder,  wie  der 
Künstler,  um  das  Chaos  des  Einzelnen  zu  ordnen  und 
die  es  durchziehenden  einfachen  Gesetze  aus  ihren  Ver- 
wickelungen zu  lösen.  Dieser  TheU  des  Briefwechsels 
hat  noch  ein  besonderes  Interesse,  indem  er  zeigt,  wie 
Sp.  trotz  seines  deduktiven  Prinzips  ebenso  wie  seine 
Gegner  genöthigt  ist,  mit  Versuchen  und  Beobachtungen 
des  Einzelnen  zu  beginnen;  Sp.  ist  auch  bereitwilligst 
darauf  eingegangen  und  hat  dabei  denselben  Scharfsinn, 
dieselbe  Ausdauer  und  Sorgfalt  bewährt,  die  in  seinen 
philosophischen  Arbeiten  herrscht.  Nichts  ist  in  dieser 
Beziehung  belehrender,  als  seine  Antworten  und  wieder- 
holten Erwiderungen  auf  Robert  Boyle's  Aussprüche 
über  den  Salpeter,  welche  in  dem  Briefwechsel  mit  Olden- 
burg sich  finden.  Sie  zeigen,  dass  Sp.  auch  in  der  be- 
obachtenden und  induktiven  Methode  seinen  Gegnern 
ebenbürtig  war,  und  dass  er  in  diesem  Gebiete  diese 
Methode,  wie  sie  selbst,  innehielt  und  sich  von  ihnen  nur 
dadurch  unterschied,  dass  er  ähnlich  wie  Aristoteles  zu 
vorschnell  aus  einzelnen  Daten  sofort  Folgerungen  auf 
die  höchsten  Prinzipien  und  Elemente  sich  erlaubte  und 
dabei  den  scholastischen  Begriffen  und  Axiomen  derVor- 

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X  Vorwort  des  üebersetzera. 

zeit  noch  einen  gefläfarlichen  Einfluss  gestattete.  Man 
wird  indess  dies  Sp.  um  so  eher  nachsehen  können,  als 
es  selbst  Baco,  seinem  erklärtesten  Gegner,  nicht  besser 
gegangen  ist.  (Man  sehe  das  Vorwort  zu  Baco's  Organoii, 
B.  42  der  Phil.  BibL).  Ein  letzterTheil  des  Briefwechsels 
beschäftigt  sich  mit  religiösen  Fragen ;  insbesondere  mit 
der  Frage,  ob  die  Philosophie  Sp.'s  sich  mit  der  christ- 
lichen Religion  vertrage,  und  inwiefern  durch  Sp.'s  Leug- 
nung  der  menschlichen  Willensfreiheit  der  Sittlichkeit 
und  den  Kechtszuständen  der  Menschheit  Gefahr  drohe. 
Hier  findet  man  in  den  Briefen  Oldenburg 's,  Alhert 
Burgk's  und  Anderer  schon  ganz  dieselben  Gründe  fiir 
die  Vei-theidigung  der  orthodoxen  Lehre  ausgeführt,  wie 
sie  noch  heutzutage  in  den  Erlassen  des  Papstes  und 
orthodoxer  Konsistorien  alljährlich  wiederkehren.  Eben- 
so ist  Sp.  bei  seinem  Kampfe  gegen  diese  Ausführung^cn 
in  derselben  Täuschung  befangen,  wie  sie  noch  heute  bei 
den  freisinnigen  Gegnern  jener  besteht;  Sp.  sowohl  wie 
die  heutigen  Freigesinuten  glauben  die  Religion  in  ihren 
veralteten  Lehren  mit  den  Waffen  der  Wissenschaft  über- 
winden zu  können,  während  doch  Religion  und  Wissen- 
schaft auf  so  durchaus  verschiedenen  und  dabei  in  der 
Seele  des  Menschen  unvcrtilgbaren  Gefühlen  und  Ver- 
mögen beruhen,  dass  noch  bis  heute  es  keinem  von  bei- 
den Theilen  trotz  des  Aufgebotes  aller  Mittel  der  Gewalt 
und  des  Scharfsinnes  gelungen  ist,  den  Gegner  zu  ver- 
tilgen oder  ihn  sich  zu  unterwerfen.  In  den  Erläuterun- 
gen zu  Sp.'s  theologisch-politischer  Abhandlung  (B.  35. 
der  Phil.  Bibl.)  ist  dies  weiter  ausgeführt  worden  und 
daselbst  wie  in  den  Erläuterungen  zu  Kaufs  natürlicher 
Religion  (B.  21.  der  Phil.  Bibl.)  gezeigt  worden,  dass  der 
allein  richtige  Standpunkt  dcrPhilosophie  hierbei  nur  der 
ist,  die  Religion  und  Kirche  nicht  als  Gegnerin  inner- 
halb des  Wissens,  sondern  als  Objekt  für  das  Wissen 
zu  behandeln.  Sp.  bleibt  indess  von  diesem  Standpunkt 
noch  weit  entfernt  und  deshalb  wird  er  nicht  müde,  sich 
gegen  die  Angriffe  der  Frommen  mit  seinen  Waffen  zu 
wehren,  obgleich  er  selbst  bemerken  muss,  dass  diese 
Waffen  die  Gegner  nicht  verwunden.  Hält  indess  der 
Leser  diesen  richtigeren  Stundpunkt  fest,  so  werden  auch 
diese  Briefe  ihren  Werth  ftir  ihn  haben.  Da  sie  von 
beiden  Seiten  rein  im  Interesse  der  Sache  geschrieben 

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Vorwort  des  CTebersetzers.  XI 

sind,  90  dienen  sie  mehr  wie  irgend  eine  andere  Aus- 
führnng  dazu,  die  Vergeblichkeit  und  Nutzlosigkeit 
solcher  Kämpfe  einzusehen  und  die  Richtigkeit  der  eben 
ausgesprochenen  Ansicht  zu  bestätigen. 

Im  Allgemeinen  hat  dieser  Briefwechsel  eine  innere 
Aehnlichkeit  mit  den  Dialogen  Plato's.  In  dem  ernsten 
Eifer  für  die  Wahrheit,  in  der  strengen  Ordnung  der 
Gedanken,  in  der  Hoheit  der  behandelten  Fragen  stehen 
beide  sich  gleich  und  was  den  Briefen  gegen  jene  Dialoge 
an  künstlerischer  Vollen  dun  gabgeht,  wird  reichlich  durch 
die  I^ebendigkeit  und  Energie  der  Begründung  ersetzt, 
da  hier  die  Gegner  nicht  fingirt,  sondern  in  voller  Wirk- 
lichkeit und  Lebendigkeit  gegen  einander  auftreten. 

Auch  wird  j eder  Verehrer  Sp/s  mit  Befriedigung  aus 
diesem  Briefwechsel  neue  Belege  für  die  hohe  Reinheit 
nnd  Einfalt  seines  Charakters  entnehmen.  Selbst  den 
heftigsten  Angriffen  gegenüber  behält  Sp.  eine  Milde  und 
eine  Ruhe,  wie  sie  mit  so  ausgebreiteten  Kenntnissen  und 
tiefem  Scharfsinn  sich  selten  verbunden  findet.  Freilich 
ist  damit  auch  eine  Acngstlichkeit  und  Scheu  verknüpft, 
die  bei  grossen  Geistern  am  wenigsten  sich  zeigen  sollte. 
Es  fehlt  Sp.  der  kühne  Muth,  der  im  Bewusstsein  seiner 
Wahrheit  dreist  den  Gegnern  und  der  allgemeinen 
Stimmung  entgegentritt ;  jener  Muth,  wie  man  ihn  bei 
Socrates,  Plato  und  vielen  der  gelehrtesten  Kirchen- 
väter bewundert.  Sp.^s  Geist  war  genial  im  Gebiete  des 
Wissens,  aber  ohne  Energie  in  dem  Gebiete  des  Seins. 
Endlich  zeigt  sich  auch  in  der  Form  der  Briefe  eine 
Feinheit  und  Urbanität  des  Ausdrucks,  die  sie  den  besten 
Mustern  aller  Zeiten  gleichstellt.  Noch  heute  können  sie 
zum  Vorbilde  ftlr  den  Briefwechsel  und  den  Streit 
zwischen  Gelehrten  dienen. 

Mit  diesen  Briefen  ist  die  Uebersetzung  der  sämmt- 
lichen  philosophischen  Werke  Sp.'s  geschlossen.  Die  Er- 
läuterungen zu  den  Briefen  werden  in  einem  besonderen 
Band  nachfolgen.  Me7er  hat  in  seiner  Ausgabe  zwar 
noch  eine  von  Sp.  begonnene  hebräische  Grammatik  und 
V.  VI  o  te  n  in  seiner  Ausgabe  vom  Jahre  1862  auch  eine 
Abhandlung  Sp.'s  über  den  Regenbogen  veröffentlicht; 
allein  beide  gehören  nicht  zu  den  philosophischen  Schrif- 
ten und  sind  deshalb  hier  nicht  mit  aufgenommen 
worden. 

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Xn  Vorwort  des  üebersetzers. 

Für  diejenigen  Verebrer  Sp.'s,  welche  die  hier 
gelieferte  Uebersetzung  sammt  den  Erläuterungen  dazu 
als  eine  besondere  Ausgabe  seiner  sämmtlichen  philo- 
sophischen Werke  zu  besitzen  wünschen,  ist  die  Ein- 
richtung getroffen  worden,  dass  statt  der  die  Philoso- 
phische Bibliothek  bezeichnenden  Titelseite  auf  Wunsch 
eine  andere  dahin  lautend  geliefert  wird: 


Benedict  von  Spinoza's 

sämmtliche  philosophische  Werke 

übersetzt  und  erl&utert 
von 

J.  H.  T.  Kirclmianii 

und 

C.  Sehaarscliiiildt. 


Der  Text  wird  in  dieser  Form  zwei  Bände  und  die 
Erläuterungen  einen  Band  umfassen  und  jedes  kann 
besonders  bezogen  werden. 

Berlin  im  Oktober  1871. 

V.  Kirohmann. 


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xm 


Erklärung  der  Abkürzungen. 


Sp.  bedeutet  Spinoza. 

Desc.  „         Descartes. 

£rl.  oder  £.  „         Erl&aterung. 

B.  I.  oder  XL  97.  „         Band  I.  oder  Band  XL  der 

Phü.  Bibl.  Seite  97. 

B.  XXV.  B.  103.  „  Band  XXV.  Zweite  Abthei- 

lung Seite  103.  der  phil.  Bibl. 

Ph.  d.  W.  107.  „         Die  Philosophie  desWissens 

von  J.  H.  y.  Kirchmann. 
Berlin  1864  bei  J.  Springer. 
Seite  107. 

L.  „         Lehrsatz. 

Def.  „         Definition. 

Ln.  „         Lehnsatz. 

Z.  „         Zusatz. 

A,  y.  Sp.  „         Anmerkung  yon  Spinoza. 

A.  y.  M.  „         Anmerkung   yom   Heraus- 

geber L.  Meyer. 

Die  Lihalteyerzeichnisse  folgen  am  Schluss  des  Bandes. 


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Amang 

aus 

der  Torrede  Ludwig  Heyer^s,  des  Herausgebers 
der  naehgelassenen  Werke  Hplnoza^s. 


Di 


he  Briefe  sind  weder  nach  dem  Inhalte,  noch  nach 
dem  Ansehn  der  Personen,  von  denen  oder  an  die  sie 
geschrieben  worden,  sondern  nur  nach  der  Zeit  ihrer 
Abfassung  geordnet,  doch  in  der  Weise,  dass  alle  Briefe 
desselben  Mannes  mit  den  Antworten  darauf  sich  wech- 
selweise folgen.  Da  es  nicht  auf  Denjenigen,  welcher 
schreibt,  sondern  auf  das,  was  er  schreibt,  ankommt, 
so  sind  die  Namen  zum  Theil  vollständig,  zum  Theil 
mit  Anfangsbuchstaben,  zum  Theil  auch  garnicht  an- 
gegeben worden.  Auch  möge  der  geneigte  Leser  sich 
nicht  wundem,  dass  in  diesen  Briefen  der  Ethik,  so- 
wohl von  Denen,  die  an  Spinoza  schreiben,  wie  in 
dessen  Antworten  erwähnt  wird,  obgleich  sie  damals 
noch  nicht  herausgegeben  war;  denn  es  sind  schon  vor 
vielen  Jahren  von  Mehreren  Abschriften  davon  genom- 
men und  Andern  mitgetheilt  worden.  Ich  erwähne 
dies  hier,  damit  man  nicht  glaube,  die  Ethik  sei  schon 
früher  herausgekommen.  Auch  bemerke  ich,  dass  alle 
Briefe,  mit  wenigen  Ausnahmen,  lateinisch  verfasst  sind.^) 


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I.  Brief.     Oldenburg  an  Sp. 


Erster  Brief  (Vom  10.  August  1661). 
Von  Heinrich  Oldeniiyrg  an  SpiMza.') 

Geehrter  Herr  und  werther  Freund! 

Die  Trennung  von  Ihrer  Seite  wurde  mir,  als  ich 
kürzlich  in  Ihrer  stillen  Zurückgezogenheit  inithynsburg 
bei  Ihnen  war,  so  schwer,  dass  ich  sofort  bei  meiner 
Rückkunft  nach  England  eile,  wenigstens  durch  brief- 
lichen Verkehr  wieder  so  schnell  als  möglich  mich  mit 
Ihnen  zu  vereinen.  Die  Wissenschaft  von  den  wich- 
tigsten Dingen  in  Verbindung  mit  Bildung  und  feiner 
Sitte  (womit  die  Natur  und  Ihr  Fleiss  Sie  so  reichlich  aus- 
gestattet haben)  enthalten  in  sich  selbst  so  viel  Anziehen- 
des, dass  sie  jedweden  freien  Mann  von  guter  Erziehung 
mit  Liebe  für  sie  erfüllen.  Lassen  Sie  uns  also,  vortreff- 
licher Mann,  die  Hände  zu  einer  ungeschminkten  Freund- 
schaft reichen,  und  lassen  Sie  uns  diese  Freundschaft  in 
aller  Weise  durch  Studien  und  Dienstleistungen  eifrig 
pflegen.  Was  mit  meinen  schwachen  Kräften  von  meiner 
Seite  geschehen  kann,  betrachten  Sie  als  das  Ihrige, 
und  was  Sie  an  Geistesgaben  besitzen,  davon  nehme  ich 
einen  Theil  ftir  mich  in  Anspruch,  da  es  ja  ohne  Naeh- 
theil  für  Sie  geschehen  kann. 

Wir  unterhielten  uns  in  Ehynsburg  über  Gott,  die 
unendliche  Ausdehnung  unddas  unendliche  Denken ;  über 
den  Unterschied  und  die  Uebereinstimmung  dieser  Attri- 
bute; über  den  Grund  der  Verbindung  von  Seele  und 
Körper;  auch  Über  die  Prinzipien  der  Philosophie  des 
Descartes  und  Baco.     Wir  konnten  indess  über  so 

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Ausdehnung  und  Denken.  3 

wichtige  Fragen  damals  gleichsam  nur  durch  das  Gitter 
und  im  Vorbeigehen  sprechen,  und  nun  lasten  sie 
schmerzlich  auf  meiner  Seele ;  deshalb  wende  ich  mich 
jetzt  mit  dem  Rechte  der  unter  uns  geschlossenen 
Freundschaft  an  Sie  und  bitte  freundlichst,  mir  Ihre 
Ansicht  über  die  erwähnten  Gegenstände  etwas  ausftihr- 
licher  zu  entwickeln,  insbesondere  auch,  wenn  es  Ihnen 
nicht  zu  lästig  wird,  mich  über  die  zwei  Punkte  zu  be- 
lehren: 1)  worin  Sie  den  Unterschied  der  Ausdehnung 
von  dem  Denken  setzen;  und  2)  welche  Mängel  Sie  in 
der  Philosophie  von  Descartes  und  Baco  finden,  und 
wie  Sie  sie  zu  beseitigen  und  festere  Grundlagen  an 
deren  Stelle  zu  setzen  gedenken. 

Je  bereitwilliger  Sie  hierüber  und  über  Verwandtes 
mir  schreiben  werden,  desto  mehr  werden  Sie  mich 
verbinden  und  zu  gleichen  Leistungen,  so  weit  es  mir 
möglich  ist,  ernstlich  verpflichten.  Jetzt  befinden  sich 
hier  einige  physiologische  Versuche  unter  der  Presse, 
welche  ein  vornehmer  Engländer,  ein  Mann  von  aus- 
gezeichneter Gelehrsamkeit,  verfasst  hat.  Sie  behan- 
deln die  Natur  und  elastischen  Eigenschaften  der  Luft 
und  deren  Bestätigung  durch  43  Versuche,  femer  das 
Flüssige,  Feste  und  Aehnliches.  Sobald  der  Druck  be- 
endet ist,  werde  ich  sorgen,  dass  das  Buch  durch  einen 
Bekannten,  der  hinübergeht,  Ihnen  zugestellt  werde.') 

Einstweilen  gehaben  Sie  sich  wohl  und  bleiben  Sie 
Ihres  Freundes  eingedenk,  welcher  ist 

mit  wahrer  Zuneigung  und  Eifer 
Ihr 
Heinrich  Oldenburg. 

London,  16/26.  August  1661.  *) 


Zweiter  Brief  (Vom  Ausgang  September  1661). 
Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Hochgeehrter  Herr! 
Wie  werth  Ihre  Freundschaft  mir  ist,  würden  Sie 
selbst  beurtheilen  können,  wenn  Ihre  Bescheidenheit  Ihnen 

SpiBOSa,  Brief«.  Dig^zedby^OOgie 


4  II.  Brief.  Spinoza  an  Oldenburg. 

gestattete,  auf  die  Tugenden  zu  achten,  die  Sie  in  so 
reichem  Maasse  besitzen.  Wenn  ich  dieselben  betrachte, 
so  möchte  ich  mir  nicht  wenig  darauf  einbilden,  dass  ich 
es  wage,  mit  Ihnen  Freundschaft  zu  schliessen;  nament- 
lich, wenn  ich  bedenke,  dass  unter  Freunden  Alles,  ins- 
besondere das  Geistige,  gemeinsam  sein  soll.  Indess 
weiss  ich,  dass  ich  dies  mehr  Ihrem  Wohlwollen  und 
Ihrer  Güte  als  mir  zu  verdanken  habe;  Sie  wollen  sich 
von  der  Höhe  derselben  herablassen  und  mich  durch 
Mittheilung  derselben  so  bereichern,  dass  ich  mich  nicht 
scheue,  die  enge  Freundschaft  einzugehen,  welche  Sie 
mir  so  fest  versprechen  und  als  Gegenleistung  auch 
gütigst  von  mir  verlangen ;  ich  werde  ernstlich  bemüht 
sein,  sie  fleissig  zu  pflegen.  Was  meine  Geistesgaben, 
wenn  ich  deren  habe,  anlangt,  so  würde  ich  Ihnen  gern 
damit  zu  Gebote  stehen,  selbst  wenn  es  nicht  ohne 
grossen  Schaden  für  mich  geschehen  könnte;  damit  es 
aber  nicht  so  scheine,  als  wollte  ich  deshalb  Ihnen  das 
verweigern,  was  Sie  mitKecht  als  Freund  von  mir  fordern, 
so  will  ich  versuchen,  meine  Ansichten  über  die  von 
uns  besprochenen  Gegenstände  Urnen  zu  erläutern,  ob- 
gleich ich  nicht  glaube,  dass  unsere  Beziehungen  da- 
durch enger  werden  dilrften,  sofern  nicht  Ihre  Güte 
dabei  mich  unterstützt.  ^) 

Ich  beginne  mit  G  o  tt;  ich  definire  ihn  als  das  Wesen, 
was  aus  unendlich  vielen  Attributen  besteht,  von  denen 
jedes  in  seiner  Art  unendlich  und  höchst  vollkommen  ist 
Ich  bemerke,  dass  ich  unter  „Attribut^  Alles  das  verstehe, 
was  durch  sich  und  in  sich  aufgefasst  wird;  so  dass  der 
Begriff  desselben  nicht  den  Begriff  eines  andern  Dinges 
einschliesst.  •)  So  wird  z.  B.  die  Ausdehnung  durch  sich 
und  in  sich  vorgestellt,  aber  die  Bewegung  nicht  ebenso; 
denn  diese  wird  in  einem  Anderen  vorgestellt,  und  ihr 
Begriff  schliesst  den  Begriff  der  Ausdehnung  ein.  Dass 
diese  Definition  von  Gott  die  wahre  ist,  erhellt  daraus, 
dass  man  unter  Gott  ein  höchst  vollkommenes  und  un- 
bedingt unendliches  Wesen  versteht.  Dass  ein  solches 
Wesen  besteht,  kann  aus  dieser  Definition  leicht  bewie- 
sen werden ;  ich  lasse  es  aber  hier,  als  nicht  hierher  ge- 
hörig, bei  Seite;  dagegen  habe  ich,  um  Ihre  erste  Frage 
zu  erledigen,  folgende  Punkte  zu  beweisen:  1)  dass  in 
der  Natur  jede  einzelne  Substanz  von  der  andern  ihrem 

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Gott.    Substanz.    Baco's  Mängel.  5 

ganzen  Wesen  nach  verschieden  sein  muss ;  2)  dass  keine 
Suhstanz  hervorgebracht  werden  kann,  sondern  dass  das 
Dasein  zu  ihrem  Wesen  gehört;  3)  dass  jede  Substanz 
unendlich  oder  in  ihrer  Art  höchst  vollkommen  ist.  Wenn 
ich  dies  bewiesen  habe,  so  werden  Sie  leicht  einsehen, 
wohin  ich  ziele,  sofern  Sie  nur  auf  die  Definition  Gottes 
dabei  Acht  haben;  ich  brauche  deshalb  nicht  ausfllhrlicher 
hierüber  zu  sprechen.  Um  diese  Punkte  klar  und  bündig 
za  beweisen,  schien  es  mir  am  besten,  eine  in  geome- 
trischer Weise  geschehene  Begründung  derselben  Ihrer 
geistvollen  Prüfung  zu  unterbreiten ;  ich  sende  sie*)  Ihnen 
in  der  Anlage  und  werde  Ihr  Urteil  erwarten.  ^) 

Sie  wünschen  zweitens  von  mir,  die  Angabe  der 
Irrthümer,  welche  ich  in  der  Philosophie  des  Descartes 
undBaco  gefunden  habe.  Obgleich  ich  es  nicht  liebe, 
die  Irrthümer  Anderer  aufzudecken,  so  füge  ich  mich 
doch  Ihrem  Verlangen.  Der  erste  und  vornehmste  Irr- 
thum  ist,  dass  Beide  weit  von  der  Erkenntniss  der  ersten 
Ursache  und  des  Ursprunges  aller  Dinge  abgeirrt  sind;'*) 
zweitens  haben  sie  die  wahre  Natur  der  menschlichen 
Seele  nicht  erkannt;  •)  drittens  haben  sie  die  wahre 
Ursache  des  Irrthums  nirgends  erfasst.  *•)  Wie  sehi-  aber 
die  wahre  Erkenntniss  bei  diesen  drei  Punkten  noth  wen- 
dig ist,  kann  nur  Der  nicht  bemerken,  dem  alles  Nach- 
denken und  aller  Unterricht  abgeht.  Dass  Beide  die 
wahre  Erkenntniss  der  ersten  Ursache  und  der  mensch- 
lichen Seele  verfehlt  haben,  ergiebt  sich  leicht  aus  der 
Wahrheit  jener  obigen  drei  Lehrsätze;  ich  wende  mich 
daher  nur  zur  Aufdeckung  deren  Irrthums  in  Bezug  aut 
den  dritten  Punkt.  Ich  sage  hierbei  wenig  über  Baco, 
da  er  hierüber  nur  sehr  verworren  sich  äussert  und  nicht 
beweist,  sondern  nur  erzählt.  Zunächst  nimmt  er  an, 
dass  der  menschliche  Verstand  nicht  blos  durch  die  Sinne, 
sondern  auch  durch  seine  eigene  Natur  getäuscht  werde, 
weil  er  Alles  nach  dem  Maasstabe  seiner  Natur  und  nicht 
nach  dem  Maasstabe  des  Weltalls  sich  bildlich  vor- 
stelle, gleich  einem  unebenen  Spiegel,  welcher  bei  der 
Zurückwerfung  der  Strahlen  seine  eigene  Natur  der  Natur 
der  Dinge  mit  einmenge  u.  s.  w.     Zweitens  soll  der 


♦)    Man  sehe  Theil   I.    der  Ethik  von  Anfang  bis  zu 
Lehre.  4.    (A.  vom  Herausgeber  Meyer.) 


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g  III.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza. 

menschliche  Verstand  in  Folge  seiner  eigenen  Natnr  zu 
den  abstrakten  Begriffen  getrieben  werden  und  das 
Fliessende  ftir  fest  nehmen  u.  s.  w.  Drittens  soll  der 
menschliche  Verstand  ausglitschen  und  nicht  fest  stehen 
und  ruhen  können.  Dies  und  Alles,  was  Baco  sonst 
noch  beibringt,  läuft  auf  den  einen  Grund  von  Des- 
cartes  hinaus,  dass  der  Wille  des  Menschen  frei  sei 
und  weiter  gehe  als  sein  Verstand,  oder  dass,  wie  Herr 
vonVerulam  (Aph.  49)  ")  sich  verworrener  ausdrückt, 
dass  das  Licht  des  Verstandes  nicht  trocken  ist,  sondern 
einen  Zuguss  von  dem  Willen  bekommt.  (Ich  bemerke 
hier,  dass  Baco  oft  den  Verstand,  im  Unterschied  von 
Descartes,  ftlrdie  Seele  nimmt.)  Ich  werde  also  nur 
das  Falsche  dieses  Grundes  darlegen  und  die  übrigen 
Gründe,  welche  ohne  Bedeutung  sind,  übergehen.  Beide 
würden  selbst  es  leicht  bemerkt  haben,  wenn  sie  nur 
bedacht  hätten,  dass  der  Wille  sich  von  diesem  oder 
jenem  einzelnen  Wollen  ebenso  unterscheidet  wie  das 
Weisse  von  diesem  oder  jenem  weissen  Gegenstande  und 
wie  die  Menschheit  von  diesem  oder  jenem  Menschen. 
Es  ist  deshalb  ebenso  unmöglich,  den  Willen  sich  als  die 
Ursache  dieses  oder  jenes  WoUens  vorzustellen  wie  die 
Menschheit  als  die  Ursache  von  Peter  und  Paul.  Der 
Wille  ist  also  nur  ein  Gedankending  und  kann  nicht  die 
Ursache  von  diesem  oder  jenem  Wollen  genannt  werden. 
Deshalb  bedarf  das  einzelne  Wollen  zu  seinem  Dasein 
einer  Ursache  und  kann  daher  nicht  frei  genannt  werden; 
vielmehr  ist  es  nothwendig  der  Art,  wie  seine  Ursachen 
es  bestimmen.  Ist  nun  nach  Descartes  der  Irrthum 
nichts  als  ein  einzelnes  Wollen,  so  folgt  nothwendig,  dass 
der  Irrthum,  d.  h.  das  einzelne  Wollen,  nicht  frei  sein 
kann,  sondern  dass  es  von  äussern  Ursachen  abhängt  und 
nicht  von  dem  Willen.  ")  Hiermit  haben  Sie,  was  ich  zu 
beweisen  versprochen  habe;  u.  s.  w. 


Dritter  Brief  (Vom  27.  September  1661). 

Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Verehrter  Herr  und  Freund! 
Ihren  tiefgelehrten  Brief  habe  ich  erhalten  und  mit 
grossem  Vergnügen  durchlesen.    Ihr  geometrisches  Be- 

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Gottes  Dasein.  Körper.  Gedanken.  7 

weisverfahren  hat  ganz  meine  Billigung;  allein  jeden- 
falls ist  die  Stumpfheit  meines  Verstandes  schnld,  dass 
ich  das,  was  Sie  so  genau  vortragen,  nicht  ebenso 
schnell  fasse.  Gestatten  Sie  mir  daher,  Ihnen  die  Unter 
lagen  für  diese  meine  Schwerfälligkeit  vorzuführen  und 
die  folgenden  Fragen  zu  stellen,  deren  Beantwortung 
ich  mir  von  Ihnen  erbitte. 

Die  erste  ist,  ob  Sie  klar  und  zweifellos  einsehen, 
dass  aus  der  von  Ihnen  aufgestellten  Definition  Gottes 
schon  folgt,  dass  ein  solches  Wesen  bestehe?  Wenn  ich 
erwäge,  dass  die  Definitionen  nur  Vorstellungen  unserer 
Seele  erhalten,  und  dass  unsere  Seele  Vieles  vorstellt, 
was  nicht  besteht,  und  dass  sie  höchst  fruchtbar  in  der 
Vervielfältigung  und  Vermehrung  einmal  vorgestellter 
Dinge  sich  erweist,  so  gestehe  ich,  dass  ich  nicht  ver- 
stehe, wie  ich  aus  dem  Begriffe,  den  ich  von  Gott  habe, 
einen  Schluss  auf  Gottes  Dasein  machen  kann.  Ich  kann 
allerdings  in  meiner  Seele  alle  Vollkommenheiten,  welche 
ich  bei  den  Menschen,  den  Thieren,  Pflanzen,  Mineralien 
u.  s.  w.  antreffe,  zusammenfassen  und  daraus  den  Begriff 
einer  Substanz  bilden,  welche  alle  jene  Vorzüge  wahr- 
haft besitzt;  ja,  meine  Seele  kann  sie  noch  in  das  End- 
lose vermehren  und  vervielfachen  und  so  ein  allervoll- 
kommenstes  und  ausgezeichnetes  Wesen  in  sich  ausbilden ; 
allein  trotzdem  kann  man  davon  keinen  Schluss  auf  das 
Dasein  eines  solchen  Wesens  machen.  ") 

Die  zweite  Frage  ist,  ob  Sie  es  für  so  gewiss  an- 
sehen, dass  ein  Körper  durch  einen  Gedanken  und  ein 
Gedanke  durch  einen  Körper  nicht  begrenzt  werden  kann, 
indem  der  Streit  noch  unentschieden  ist,  was  die  Gedan- 
ken sind,  und  ob  sie  eine  körperliche  Bewegung  oder  ein 
geistiger  Vorgang  sind,  welcher  dem  körperlichen  ge- 
radezu entgegengesetzt  ist?  ") 

Die  dritte  Frage  betrifft  die  mir  von  Ihnen  mitge- 
theilten  Grundsätze,  '^)  nämlich  ob  Sie  dieselben  für  un- 
beweisbar halten,  so  dass  sie  durch  das  Licht  der  Natur 
erkannt  werden  und  keines  Beweises  bedürfen?  Der  erste 
Grundsatz  mag  vielleicht  der  Art  sein,  allein  bei  den  drei 
anderen  sehe  ich  nicht  ein,  wie  man  sie  dazu  rechnen 
kann.  Der  zweite  nimmt  nämlich  an,  dass  m  der  Natur 
nur  Substanzen  und  Accidenzen  bestehen,  während  doch 
Viele  annehmen,  dass  die  Zeit  und  der  Raum  an  keinen 

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g  III.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza. 

von  beiden  Theil  Haben.  Ihren  dritten  Grundsatz,  nSmlich 
^dass  Dinge  mit  verschiedenen  Attributen  nichts  mit  ein- 
ander gemein  haben^,  kann  ich  so  wenig  klar  fassen,  dass 
mir  vielmehr  die  ganze  Welt  das  Gegentheil  zu  ergeben 
scheint.  Denn  alle  ims  bekannten  Dinge  sind  theils  in 
Einigem  verschieden,  theils  in  Anderem  übereinstimmend. 
Endlich  ist  der  vierte  Grundsatz,  ^dass  von  Dingen,  die 
nichts  mit  einander  gemein  haben,  keines  die  Ursache 
des  anderen  sein  kann'',  meinem  verfinsterten  Verstand 
nicht  so  klar,  dass  er  nicht  etwas  Licht  dabei  brauchen 
könnte.  Denn  Gott  hat  formal  mit  den  erschaffenen 
Dingen  nichts  gemein,  und  dennoch  halten  wir  Alle  ihn 
für  deren  Ursache. 

Wenn    so    diese  Grundsätze  mir  nicht  über  allen 
Zweifel  erhaben  scheinen,  so  können  Sie  schon  annehmen, 
dass  Ihre  daraufgestützten  Lehrsätze  ebenfalls  schwanken 
müssen.     Auch  gerathe  ich  in  Betreff  derselben  immer 
tiefer  in  Zweifel,  je  länger  ich  sie  betrachte.  Rücksicht- 
lich des  ersten  erwäge  ich,  dass  zwei  Menschen  zwei 
Substanzen,  und  zwar  von  demselben  Atti*ibute  sind,  da 
einer  wie  der  andere  mit  Vei-nunft  begabt  ist,  und  daraus 
folgere  ich,  dass  es  zwei  Substanzen  eines  Attributes 
giebt.    Bei  dem  zweiten  Lehrsatz  bedenke  ich,  dass,  da 
Etwas  nicht  die  Ursache  seiner  selbst  sein  kann,  es  kaum 
begreiflich    ist,    wie    es    richtig    sein    soll,    „dass    die 
Substanzen  nicht  hervorgebracht  werden  können,  selbst 
nicht  von  irgend  einer  anderen  Substanz.^   Durch  diesen 
Lehrsatz  werden  die  Substanzen  sämmtlich  zu  Ursachen 
ihrer  selbst  und  von  einander  unabhängig;  damit  werden 
sie  zu  ebenso  viel  Göttern,  und  auf  diese  Weise  wird  die 
erste  Ursache  aller  Dinge  beseitigt.     Ich  gestehe  gern, 
dass  ich  dies  nicht  begreife,  und  vielleicht  haben  Sie  die 
Güte,  Ihren  Ausspruch  über  diesen  erhabenen  Punkt  etwas 
zu  erläutern,  vollständiger  zu  entwickeln  und  den  eigent- 
lichen Ursprung  und  die  Hervorbringung  der  Substanzen 
so  wie  die  gegenseitige  Abhängigkeit  und  Unterordnang 
der  Dinge  darzulegen. 

Ich  beschwöre  Sie  bei  unserer  geschlossenen  Freund- 
schaft und  bitte  Sie  dringend,  sich  in  diesen  Fragen  offen 
mir  gegenüber  auszusprechen;  auch  können  sie  sich  ver- 
««ichert  halten,  dass  ich  Ihre  Mittheilungen  ganz  und  un- 

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Mittheilungön  aus  England.  9 

verletzt  bewahren  und  nichts  davon  zu  Ihrem  Schaden 
und  Nachtheil  bekannt  werden  lassen  werde. 

In  unserer  philosophischen  Gesellschaft  beschäftigen 
wir  uns  ernstlich  und  nach  Kräften  mit  Versuchen  und 
Beobachtungen  und  bemühen  uns,  eine  Geschichte  der 
mechanischen  Künste  zu  Stande  zu  bringen;  indem  wir 
davon  ausgehen,  dass  aus  den  mechanischen  Grundsätzen 
die  Formen  und  Eigenschaften  der  Dinge  am  besten  er- 
klärt werden,  und  dass  mittelst  der  Bewegung,  der  Ge- 
stalt und  des  Gewebes  sowie  deren  mannichfachen  Ver- 
bindungen alle  Wirkungen  in  der  Natur  hervorgebracht 
werden  können,  ohne  dass  man  auf  unerklärbare  Formen 
und  geheime  Eigenschaften,  die  Schlupfwinkel  der  Un- 
wissenheit, zurückzugehen  braucht.  '^) 

Ich  werde  Ihnen  aas  versprochene  Buch  übersenden, 
sobald  Ihre  jetzt  hier  weilenden  belgischen  Gesandten 
einen  Courier  (wie  oft  geschieht)  nach  dem  Haag  absen- 
den, oder  sobald  sonst  ein  Bekannter,  dem  ich  das  Buch 
sicher  anvertrauen  kann,  einen  Ausflug  in  Ihr  Land  macht. 

Ich  bitte,  mein  ausführliches  und  freies  Schreiben  zu 
entschuldigen.  Nehmen  Sie  Alles,  was  ich  ohne  Um- 
schweife und  Schmuck  Ihnen  anvertraut  habe,  im  besten 
Sinne,  wie  Freunde  es  zu  thun  pflegen,  auf  und  seien 
Sie  versichert,  dass  ich  ohne  Schmuck  und  Künstelei 
bleibe  Ihr 

ergebener 

Heinrich    Oldenburg. 
London,  den  27.  Sept.  1661. 


Vierter  Brief  (Vom  Oktober  1661). 
Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Geehrter  Herr! 

Im  Begriffe,  nach  Amsterdam  zu  reisen,  um  dort 

einige  Wochen  zu  bleiben,  erhalte  ich  Ihren  werthen  Brief 

mit  Ihren  Einwürfen  gegen  die  drei  Ihnen  übersandten 

Lehrsätze.  Wegen  Kürze  der  Zeit  werde  ich,  mit  Ueber- 

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10  IV.  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 

fehung  des  Uebrigen,  nur  diese  zu  erledigen  suchen.  Aui 
en  ersten  Einwurf  envidere  ich,  dass  allercüngs  nicht 
aus  der  Definition  jedweden  Gegenstandes  das  Dasein 
des  definirteu  Gegenstandes  folgt;  vielmehr  gilt  dies  nur 
(wie  ich  in  der  Erläuterung,  die  den  drei  Lehrsätzen  an- 
gefügt ist,  gezeigt  habe)  ftlr  die  Definition  oder  Vorstel- 
lung eines  Attributs,  d.  h.  (wie  ich  deutlich  bei  der  De- 
finition von  Gott  erklärt  habe)  eines  Gegenstandes,  wel- 
cher durch  sich  und  in  sich  vorgestellt  wird.  Ich  habe 
auch,  wenn  ich  nicht  irre,  in  dieser  Erläuterung  den 
Grund  dieses  Unterschieds  klar  dargelegt,  namentlich  fär 
einen  Philosophen :  indem  ich  angenommen,  dass  ein  sol- 
cher den  Unterschied  zwischen  einer  Erdichtung  und 
einer  klaren  und  deutlichen  Vorstellung  so  wie  die  Wahr- 
heit jenes  Grundsatzes  kenne,  wonach  jede  Definition  oder 
jede  klare  und  deutliche  Vorstellung  auch  wahr  ist.  Nach 
diesen  Vorausschickungen  wüsste  ich  nicht,  was  zur  Beant- 
wortung Ihrer  ersten  Frage  noch  nöthig  wäre ;  ich  gehe 
deshalb  zur  zweiten  über.  ^'')  Sie  scheinen  hier  einzu- 
räumen, dass,  wenn  das  Denken  nicht  zur  Natur  der  Aus- 
dehnung gehört,  die  Ausdehnung  auch  nicht  von  dem 
Gedanken  begrenzt  werden  könne,  und  Ihr  Zweifel  scheint 
sich  nur  auf  das  Beispiel  zu  beziehen.  Aber  bemerken 
Sie  gefälligst,  ob,  wenn  Jemand  sagt,  eine  Ausdeh- 
nung werde  nicht  durch  eine  Ausdehnung,  sondern  durch 
einen  Gedanken  begrenzt,  derbelbe  auch  nicht  damit  sagt, 
dass  die  Ausdehnung  nicht  unbedingt  unendlich  sei,  son- 
dern nur  unendlich  der  Ausdehnung  nach?  d.  h.  er  giebt 
die  Unendlichkeit  der  Ausdehnung  nicht  unbedingt  zu, 
sondern  nur  in  Bezug  auf  die  Ausdehnung,  d.  h.  sie  soll 
nur  in  ihrer  Art  unendlich  sein.  Indess  sagen  Sie  viel- 
leicht: Das  Denken  ist  ein  körperlicher  Vorgang ;  gut, 
obgleich  ich  es  nicht  zugebe ;  aber  dann  werden  Sie  we- 
nigstens das  Eine  anerkennen,  dass  die  Ausdehnung  als 
solche  kein  Denken  ist,  und  dies  genügt  flir  die  Erklä- 
rung meiner  Definition  und  fiir  den  Beweis  meines  dritten 
Lehrsatzes.  ") 

Sie  wenden  sich  endlich  drittens  zu  den  Einwürfen 
gegen  meinen  Satz,  dass  die  Grundsätze  nicht  zu  den 
Gemeinbegriffen  zu  rechnen  seien.  Indess  will  ich  hier- 
über nicht  streiten ;  aber  Ihr  Zweifel  geht  auch  gegen 
die  Wahrheit  der  Sätze  selbst,  und  Sie  versuchen  an- 

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Substanz.     Accidenz.     Ursache.     Gott.  H 

scheinend  sogar  zu  zeigen,  dass  das  Gegentheil  davon 
der  Wahrheit  näher  stehe.  Ich  bitte  Sie  jedoch,  auf  die 
von  der  Stubstanz  und  den  Accidenz en  gegebenen 
Definitionen  zu  achten,  aus  welchen  jene  Sätze  sich 
sämmtlich  ableiten.  Denn  da  ich  unter  Substanz  das 
verstehe,  was  durch  sich  und  in  sich  vorgestellt  wird, 
d.  h.  dessen  Vorstellung  nicht  die  Vorstellung  eines 
anderen  Gegenstandes  einschliesst,  unter  Modification 
oder  Accidenz  aber  das,  was  in  einem  Anderen  ist, 
und  was  durch  das,  worin  es  ist,  vorgestellt  wird,  so 
erhellt  1)  dass  die  Substanz  von  Natur  vor  ihren 
Accidenzen  ist;  denn  letztere  können  ohne  jene  nicht 
hestehen,  noch  vorgestellt  werden;  2)  dass  es  ausser 
Suhstanzen  und  Accidenzen  in  der  Wirklichkeit  oder 
aosserhalb  des  Denkens  nichts  giebt;  vielmehr  wird 
Alles,  was  es  giebt,  entweder  durch  sich  oder  durch 
ein  Anderes  vorgestellt,  und  sein  Begri£P  schliesst  ent- 
weder den  Begriff  eines  anderen  Dinges  ein  oder  nicht. 
3)  haben  Dinge  mit  verschiedenen  Attributen  nichts 
mit  einander  gemein.  Denn  für  ein  Attribut  habe  ich 
das  erklärt,  dessen  Begri£P  nicht  den  Begriff  eines 
andern  Dinges  einschliesst  4)  endlich  folgt,  dass  von 
Dingen,  die  mit  einander  nichts  gemein  haben,  das  eine 
nicht  die  Ursache  des  andern  sein  kann;  denn  hätte 
die  Wirkung  mit  der  Ui*sache  nichts  gemein,  so  würde 
sie  Alles,  was  sie  hat,  von  Nichts  haben.  *®)  Wenn  Sie 
hier  bemerken,  dass  Gott  formal  nichts  mit  den  er- 
schaffenen Dingen  gemein  habe  u.  s.  w.,  so  habe  ich 
gerade  das  Gegentheil  davon  in  meiner  Definition  an- 
genommen. Denn  ich  habe  gesagt,  dass  Gott  ein  Wesen 
von  unendlich  vielen  Attributen  sei,  von  denen  jedes 
in  seiner  Art  unendlich  oder  höchst  vollkommen  sei.  ^) 
Bei  dem,  was  Sie  endlich  gegen  meinen  ersten 
Lehrsatz  anfUhren,  bitte  ich  Sie,  verehrter  Freund,  zu 
bedenken,  dass  die  Menschen  nicht  erschaffen,  sondern 
nur  erzeugt  werden,  und  dass  ihre  Körper  schon  vorher 
bestanden  haben,  wenn  auch  in  andern  Gestalten.  '*) 
Dagegen  folgt,  was  ich  gern  zugestehe,  dass,  wenn  ein 
Theil  des  Stoffes  vernichtet  würde,  zugleich  die  ganze 
Ausdehnung  verschwinden  würde.  '*)  Der  zweite  Lehr- 
satz führt  nicht  zu  vielen  Göttern,  sondern  nur  zu  e  i  n  e  m , 
der  aber  aus  unendlich  vielen  Attributen  besteht  u.  s.  w.  '^) 

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12    V.  Brief.  Oldenburg  an  Sp.  VI,  Brief.  Antwort  Sp.'s. 

Fünfter  Brief  (vom  11.  Oktober  1661). 
Von  H.  Oldenkurg  an  Spinoza. 

Verehrter  Freund! 

Sie  erhalten  anbei  das  versprochene  Buch,  und  ich 
bitte,  mir  raitzutheilen,  was  Sie  davon  halten,  ins- 
besondere von  den  beigebrachten  Versuchen  über  den 
Salpeter  und  über  das  Flüssige  und  Feste.  Ich  danke 
Ihnen  sehr  für  ihren  gelehrten  zweiten  Brief,  den  ich 
gestern  erhalten  habe.  £s  thut  mir  leid,  dass  Ihre  Heise 
nach  Amsterdam  Sie  gehindert  hat,  auf  alle  mehie 
Zweifel  zu  antworten,  und  ich  bitte,  das  damals  Ver- 
schobene, sobald  es  Ihre  Zeit  gestattet,  nachzuholen. 
Sie  haben  in  Ihrem  letzten  Briefe  mich  allerdings  über 
Vieles  aufgekläil,  indess  doch  noch  nicht  alle  Dunkel- 
heit vertrieben,  und  ich  hoffe,  dies  wird  Ihnen  gelingen, 
wenn  Sie  mich  klar  und  deutlich  über  den  wahren  und 
ersten  Ursprung  der  Dinge  unterrichtet  haben  werden. 
So  lange  ich  noch  nicht  einsehe,  aus  welcher  Ursache 
und  in  welcher  Art  die  Dinge  zu  sein  begonnen  haben, 
und  durch  welches  Band  sie  von  der  ersten  Ursache, 
wenn  eine  solche  besteht,  abhängen,  scheint  mir  Alles, 
was  ich  lese  und  höre,  kein  festes  Ziel  zu  haben.  Ich 
bitte  Sie  also  dringend,  gelehrter  Herr,  dass  Sie  hier 
mit  Ihrer  Fackel  mir  vorangehen  und  an  mehiem  Ver- 
trauen und  meiner  Dankbarkeit  nicht  zweifeln.  Ich 
bleibe 

Ihr  ergebener 

H.  Oldenburg. 

London,  11/21.  Okt.  1661. 


SechsterBrief  (VonEnde  1661  oder  Anfangl662), 
welcher  die  Bemerkungen  zu  dem  Werke  Robert 
B  0  y  l  e  's  über  den  Salpeter,  das  Flüssige  und  Feste  enthält. 

Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 
Geehrter  Herr! 
Ich  habe  das  Buch  des  scharfsinnigen  Boyle  er- 
halten und,  soweit  meine  Zeit  es  gestattete,  durchgesehen. 

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Ueber  den  Salpeter.  13 

Ich  sage  Ihnen  ftir  dieses  Geschenk  meinen  grossen 
Dank.  Ich  habe  damals,  als  Sie  mir  dieses  Buch  zuerst 
versprachen,  mit  Recht  vermuthet,  dass  Sie  sich  nur 
ftir  ein  Werk  von  grosser  Bedeutung  so  interessiren 
würden.  Sie  wünschen,  gelehrter  Herr,  mein  unvor- 
greifliches  Ürtheil  über  das  Werk;  ich  gebe  es,  so  weit 
mein  schwacher  Geist  es  vermag,  und  erwähne  zunächst 
das,  was  mir  dunkel  oder  nicht  genügend  bewiesen 
erschienen  ist,  da  ich  wegen  anderer  Arbeiten  noch 
nicht  Alles  habe  durchgehen  und  noch  weniger  prüfen 
können.  Sie  erhalten  daher  nachstehend  das,  was  ich 
über  den  Salpeter  u.  s.  w.  zu  bemerken  gefunden  habe. 

Ueber  den  Salpeter.")  Der  Verfasser  folgert 
aus  seinem  Versuche  über  die  Wiederherstellung  des 
Salpeters,  dass  derselbe  aus  verschiedenen  Stoffen  zu- 
sammengesetzt sei,  die  theils  fest,  theils  flüchtig  seien ; 
dabei  soll  die  Natur  des  Salpeters  (wenigstens  den 
Erscheinungen  nach)  sehr  von  der  Natur  seiner  Bestand- 
theile  abweichen,  obgleich  er  nur  aus  einer  Mischung 
derselben  bestehe.  Um  diese  Folgerung  zuzulassen, 
scheint  mir  noch  ein  weiterer  Versuch  nöthig,  aus  dem 
erhellt,  dass  der  Salpeter-Geist  nicht  wirklicher  Salpeter 
ist,  und  dass  er  ohne  Hülfe  des  Laugensalzes  weder 
in  einen  festen  Körper  umgewandelt,  noch  zur  Krystalli- 
sation  gebracht  werden  kann.  Wenigstens  müsste 
ermittelt  werden,  ob  die  Menge  des  in  der  Retorte  zurück- 
bleibenden festen  Salzes  bei  gleicher  Menge  Salpeter 
immer  sich  gleich  bleibt  und  mit  deren  Vermehrung 
verhältnissmässig  zunimmt.  Das  anlangend,  was  der 
berühmte  Verfasser  nach  Abschnitt  9  mit  Hülfe  der 
Wasserwage  gefunden  haben  will,  sowie  der  Umstand, 
dass  die  wahrnehmbaren  Eigenschaften  des  Salpeter- 
geistes von  dem  Salpeter  selbst  so  verschieden,  ja  ent- 
gegengesetzter Art  seien,  unterstützt  nach  meiner  Ansicht 
seine  Folgerung  nicht.  Um  dies  darzulegen,  will  ich 
kurz  die  einfache  Auffassung  geben,  wie  die  Wiederher- 
stellung des  Salpeters  sich  erklärt,  und  zwei  oder  drei 
leichte  Versuche  beifügen,  welche  diese  Auffassung  be- 
stätigen. 

Um  diese  Vorgänge  am  einfachsten  zu  erklären, 
nehme  ich  keinen  anderen  Unterschied  zwischen  Salpeter- 
geist und  Salpeter  an,  als  den  sehr  offenbaren,  dass  die 

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14  VI.  Brief.     Spinoza  an  Oldenburg. 

Theilchen  des  letztem  ruhen,  während  sie  bei  jenem  heftig 
erregt  sind  und  sich  unter  einander  bewegen.  Das  feste 
Salz  trägt  nach  meiner  Meinung  nichts  zur  Bildung  des 
Wesens  vom  Salpeter  bei;  ich  möchte  es  nur  als  die 
Schlacken  des  Salpeters  ansehen,  von  denen  der  Salpeter- 
geist (wie  ich  finde)  sich  nicht  befi'eit  hat,  sondern  die  in  ihm 
wenn  auch  gepresst,  in  reich  er  Menge  schwimmten.  Dieses 
Salz  oder  diese  Schlacken  habenPoren  oder  Gänge,  welche 
nach  dem  Maasse  der  Salpetertheilchen  ausgehöhlt  sind. 
Durch  die  Kraft  des  Feuers,  welches  die  Salpetertheilchen 
daraus  vertreibt,  werden  einzelne  Gänge  enger;   andere 
müssen  sich  deshalb  ausdehnen,  und  so  werden  der  Körper 
oder  vielmehr  die  Wände  dieser  Gänge  hart  und  spröde. 
Sobald  nun  der  Salpetergeist  einfliesst,  dringen  einzelne 
Theilchen  desselben  mit  Gewalt  in  die  engem  Gänge,  und 
da  deren  Dicke  ungleich  ist  (wie  Descartes  gut  gezeigt 
hat),  so  biegen  sie  deren  starre  Wände,  gleich  einem 
Bogen,  ehe  sie  sie  zerbrechen;  ist  aber  dies  geschehen, 
so  zwingen  sie  deren  Stücke,  zurückzuweichen,  und  sie 
selbst  behalten  ihre  frühere  Bewegung  bei  und  sind  wie 
vorher  unflihig,  sich  zu  verhärten  oder  zu  krystallisiren. 
Dagegen  werden  die  Salpetertheilchen,  welche  in  die 
weiteren  Gänge  eindringen  und  daher  deren  Wände  nicht 
berühren,  nothwendig  von  einem  sehr  feinen  Stoffe  um- 
geben und  von  demselben,  ebenso  wie  die  Holztheile  von 
der  Flamme  oder  Hitze,  in  die  Höhe  ausgetrieben,  wo 
sie   im   Hauche  davonfliegen.     War  ihre  Menge  gross, 
oder  waren  sie  mit  Bruchstücken  der  Wände  und  mit 
den  in  die  engern  Gänge  eingedrungenen  Theilchen  ver- 
mengt, so  bildeten  sie  kleine  Tropfen,  welche  m  die  Höhe 
stiegen.    Wird  dagegen  das  feste  Salz  durch  das  Wasser 
oder  die  Luft  erweicht  oder  schlaff  gemacht,  *)  so  ist  es 
dann  fähig,  den  Stoss  der  Salpetertheilchen  zu  hemmen, 
sie    zu    dem   Verlust    ihrer    bisherigen    Bewegung    zu 
zwingen  und  fest  zu  werden,  ähnlich  wie  eine  Kanonen- 
kugel, die  auf  Sand  oderKoth  trifft.  Die  Wiederherstellung 
des  Salpeters  besteht  nur  in  diesem  Festwerden  der 
Theilchen  des  Salpetergeistes ;  das  feste  Salz  dient  dabei 


*)  Wenn  man  fragt,  weshalb  durch  das  Tröpfeln  Ton 
Salpetergeist  auf  gelösten  Salpeter  ein  Aufwallen  erfolgt, 
80  lese  man  das  später  Folgende.    (A.  v.  Sp.) 

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Salpeter  und  Salpetergeist.  15 

nur  als  Werkzeug,  wie  diese  Erklärung  ergiebt.  So 
viel  über  die  Wiederherstellung, 

Wir  wollen  nun  sehen,  erstens,  weshalb  der  Sal- 
petergeist von  dem  Salpeter  im  Geschmack  so  verschie- 
den ist,  und  zweitens,  weshalb  der  Salpeter  entzündbar 
ist  und  der  Salpetergeist  nicht.  Zum  Verstftndniss  des 
Ersten  halte  man  fest,  dass  bewegte  Körper  andern  Kör- 
pern nicht  mit  ihren  breitesten  Oberflächen  begegnen,  und 
dass  ruhende  Körper  auf  andern  mit  ihren  breitesten 
Oberflächen  aufliegen  Legt  man  also  Salpeter  auf  die 
Zunge,  so  werden  dessen  Theilchen,  da  sie  ruhen,  mit 
den  breitesten  Seiten  aufliegen  und  so  die  Poren  der 
Zunge  verstopfen,  wovon  die  KiQte  die  Folge  ist;  auch 
kann  der  Speichel  den  Salpeter  nicht  in  so  kleine  Theil- 
chen auflösen.  Sind  dagegen  diese  Theilchen  erregt  und 
bewegt,  und  werden  sie  in  diesem  Zustand  auf  die 
Zunge  gebracht,  so  treffen  sie  sie  mit  ihren  spitzigen 
Oberflächen  und  werden  in  ihre  Poren  eindringen,  und 
je  schneller  sie  sich  bewegen,  desto  stärker  die  Zunge 
stechen,  ähnlich  wie  eine  Nadel  verschiedene  Erapfln- 
dungen  veranlasst,  je  nachdem  sie  mit  der  Spitze  oder 
mit  ihrer  langen  Seite  die  Zunge  berührt. '*) 

Wenn  aber  der  Salpeter  entzündlich  und  der  Sal- 
petergeist es  nicht  ist,  so  kommt  dies  davon,  dass  ruhende 
Salpetertheilchen  von  dem  Feuer  schwerer  in  die  Höhe 
geführt  werden  können  als  solche,  die  eine  eigene  Be- 
wegung nach  allen  Kichtungen  haben.  Deshalb  wider- 
stehen die  ruhenden  so  lange  dem  Feuer,  bis  dieses  sie 
getrennt  hat  und  rings  umgiebt;  dann  reisst  das  Feuer 
sie  mit  sich  hier-  und  dorthin,  bis  sie  eine  eigene  Be- 
wegung erhalten  und  in  Kauch  nach  oben  abgehen.  Da- 
gegen sind  die  Theilchen  des  Salpetergeistes  schon  in 
Bewegung  und  von  einander  getrennt,  und  deshalb  ge- 
nügt eine  geringe  Hitze  des  Feuers,  sie  kugelartig  nach 
allen  Richtungen  zu  verbreiten;  damit  gehen  einige  im 
Bauche  auf,  andere  dringen  in  den  Stoff,  welcher  das 
Feuer  ernährt,  ehe  sie  von  der  Flamme  rings  umgeben 
werden,  und  deshalb  löschen  sie  das  Feuer  eher  aus,  als 
dass  sie  es  ernähren. ^0 

Ich  wende  mich  nun  zu  den  Versuchen,  die  diese 
Erklärung  unterstützen  dürften.  Der  erste  ist,  dass  ich 
die  mit  Detonation  im  Ranch  fortgehenden  Salpetertheil- 

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16  VI.  Brief.   Spinoza  an  Oldenburg. 

chen  als  reinen  Salpeter  erkannt  habe.  Ich  machte  mehr- 
mals den  Salpeter  so  weit  flüssig,  bis  die  Retorte  hin- 
länglich zum  Grlühen  gebracht  war;  dann  entzündete  ich 
den  Salpeter  mit  einer  glühenden  Kohle  and  fing  den 
Rauch  in  einer  kalten  Flasche  auf,  bis  sie  Ton  demselben 
bethaut  war.  Dann  befeuchtete  ich  diese  Flasche  noch 
mehr  durch  Hauchen  und  setzte  sie  dann  der  kalten  Luft 
aus,  um  den  Salpeter  zu  trocknen.«)  Hierauf  zeigten 
sich  dann  in  der  Flasche  die  verhärteten  Tröpfchen  des 
Salpeters.  Um  den  Verdacht  abzuschneiden,  dass  diese 
blos  von  den  flüchtigen  Th eilchen  kommen,  und  dass 
vielleicht  die  Flamme  ganze  Stückchen  des  Salpeters  mit 
sich  fortgerissen  (um  in  dem  Sinne  des  Vertassers  zu 
sprechen),  und  dass  sie  die  festen  mit  den  flüchtigen,  vor 
deren  Auflösung,  aus  sich  ausgetrieben  habe, 
liess  ich  den  lUuch  durch  eine  über  einen 
Fuss  lange  Röhre  A  wie  durch  eine  Esse 
in  die  Höhe  steigen,  damit  die  schwereren 
-D  A  Theile  an  der  Röhre  sich  anlegten  und  ich 

nur  die  flüchtigen  bei  ihrem  Durchgange 
durch  das  engere  Röhrchen  erhielte,  was 
mir,  wie  gesagt,  gelungen  ist.  Indess  wollte 
ich  mich  dabei  noch  nicht  beruhigen,  son- 
dern nahm  zur  weitern  Untersuchung  eine 
grössere  Menge  Salpeter,  befeuchtete  und 
entzündete  ihn  mit  glühender  Kohle,  setzte 
dann,  wie  vorher,  auf  die  Retorte  die  Röhre 
A  und  hielt  an  die  Oeffnung  B,  so  lange 
die  Flamme  dauerte,  einen  kleinen  Spiegel, 
der  mit  einem  Stoff  überzogen  war,  welcher,  der  Luft  aus- 
gesetzt, zerfloss.  Obgleich  ich  nun  einige  Tage  wartete, 
konnte  ich  doch  keine  Wirkung  von  dem  Salpeter  bemer- 
ken ;  aber  als  ich  Salpetergeist  hinzugoss,  verwandelte  er 
sich  in  Salpeter.  Daraus  kann  ich  wohlfolgem,  1)  dass  die 
festen  Theile  bei  dem  Flüssigwerden  sich  von  den  flüch- 
tigen sondern,  und  dass  die  Flamme  sie  nach  ihrer  Tren- 
nung in  die  Höhe  treibt ;  2)  dass,  wenn  die  festen  Theile 
unter  Detonation  sich  von  den  flüchtigen  gesondert  haben, 


*)  Die  Luft  war  während   dieses  Versuches  ganz  heU. 
(A.  V.  Sp.) 

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Salpetergeist.  17 

sie  sich  nicht  wieder  verbinden  können,  und  3)  dass  des- 
halb die  Theilchen,  welche  sich  an  der  Flasche  angelegt 
und  in  feste  Kügelchen  geformt  haben,  keine  festen, 
sondern  flüchtige  Theilchen  gewesen  sind.*^ 

Der  zweite  Versuch,  welcher  zeigt,  dass  die  festen 
Theile  nur  die  Schlacken  des  Salpeters  darstellen,  besteht 
darin,  dass  ich  gefunden  habe,  wie  der  Salpeter,  je  mehr 
er  von  den  Schlacken  gereinigt  wird,  desto  flüchtiger  und 
zur  Kristallisation  geneigter  wird.  Denn  als  ich  die  Kry- 
stalle  des  gereinigten  oder  flltrirten  Salpeters  in  einen 
Glasbecher  that  und  mit  ein  wenig  kaltem  Wasser  be- 
goss,  so  verdunsteten  sie  zum  Theil  sammt  dem  kalten 
Wasser  und  legten  sich  jene  flüchtigen  Theilchen  nach 
oben  an  dem  Rand  des  Glases  an  und  bildeten  feste 
Kügelchen. 

Ein  dritter  Versuch,  welcher  anzudeuten  scheint, 
dass  die  Theilchen  des  Salpetergeistes,  wenn  sie  ihre  Be- 
wegung verloren,  entzündlich  werden,  ist  folgender.  Ich 
tröpfelte  etwas  Salpetergeist  auf  feuchtes  Papier  und 
schüttete  dann  Sana  darauf;  als  der  Sand  den  Salpeter- 
geist ganz,  oder  beinah  ganz,  eingesogen  hatte,  trocknete 
ich  ihn  in  diesem  Papier  vollständig  über  Feuer.  Dann 
schüttete  ich  den  Sand  ab  und  brachte  ihn  an  eine  glü- 
hende Kohle,  wo  er  sofort,  als  er  dem  Feuer  sich  näherte, 
in  derselben  Weise  Funken  sprühte,  wie  es  geschieht, 
wenn  der  Sand  mit  Salpeter  gemischt  ist.'^)  Hätte  ich 
mehr  Gelegenheit  gehabt,  so  hätte  ich  vielleicht  noch  an- 
dere Versuche  damit  verknüpft,  welche  die  Frage  genü- 
gend gelöst  hätten;  indess  bin  ich  jetzt  durch  Anderes 
so  abgehalten,  dass  ich  es  mit  Ihrer  £rlaubniss  auf 
eine  andere  Gelegenheit  verspare  und  zu  andern  Be- 
merkungen übergehe. 

In  §  5,  wo  der  berühmte  Verfasser  die  Gestalt  der 
Salpetertheilchen  berührt,  wirft  er  den  neuern  Schrift- 
stellern vor,  dass  sie  sie  falsch  dargestellt  haben.  Ich 
weiss  nicht,  ob  er  damit  auch  Descartes  meint;  aber 
wenn  es  der  Fall  ist,  so  folgt  er  hierbei  nur  den  Aeusse- 
rungen  Anderer,  da  Descartes  nicht  von  solchen  Theilchen 
handelt,  welche  ftir  das  Auge  sichtbar  sind.  Auch  glaube 
ich  nicht,  dass  der  geehrte  Verfasser  meint,  dass,  wenn 
die  festen  Stückchen  des  Salpeters  sich  so  abrieben,  dass 
sie  die  Gestalt  von  einem  Farallelopipedum  oder  eine 

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lg  VI.  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 

andere  Gestalt  annähmen,  sie  kein  Salpeter  mehr  seien; 
sondern  er  meint  damit  wohl  nur  gewisse  Chemiker, 
die  nur  das  zulassen,  was  sie  mit  ihren  Augen  sehen 
oder  mit  ihren  Händen  greifen  können. 

Wenn  der  Versuch  in  §  9  hätte  genau  angestellt 
werden  können,  so  würde  er  ganz  das  bestätigt  haben, 
was  ich  aus  meinem  ersten  oben  erwähnten  Versuche 
abgeleitet  habe. 

In  §§  13  bis  18  sucht  der  berühmte  Verfasser  darzu- 
legen, dass  alle  wahrnehmbaren  Eigenschaftennur  von  der 
Bewegung,  Gestalt  und  den  übrigen  mechanischen  Zu- 
ständen abhängen ;  indess  giebt  der  Verfasser  diese  Be- 
weise nicht  als  mathematische  und  ich  brauche  deshalb 
ihre  volle  Beweiskraft  nicht  zu  untersuchen.  Doch  weiss 
ich  nicht,  weshalb  der  Verfasser  so  eifrig  dies  aus  seinem 
Versuche  abzuleiten  sucht,  da  sowohl  Baco  als  später 
D  es  carte  s  dies  genügend  bewiesen  haben.  Auch  sehe 
ich  nicht,  dass  dieser  Versuch  hierfür  eine  grössere  Be- 
stätigung giebt  als  andere  genügend  bekannte  Versuche. 
Denn  erhellt  dies  in  Bezug  auf  die  Wärme  nicht  ebenso 
deutlich  daraus,  dass,  wenn  zwei  selbst  kalte  Holzstncke 
an  einander  gerieben  werden,  sie  sich  zuletzt  blos  durch 
diese  Bewegung  entzünden?,  ebenso  daraus,  dass  der 
mit  Wasser  besprengte  Kalk  sich  erhitzt?**)  In  Betreff 
des  Tones  sehe  ich  an  diesem  Versuche  nichts  Merk- 
würdigeres als  wie  bei  dem  Sieden  des  Wassers  und  bei 
vielen  anderen  Vorgängen.  In  Bezug  auf  die  Farbe  er- 
wähne ich,  uro  bei  dem  Wahrscheinlichen  zu  bleiben,  nur, 
dass  alle  grünen  Blätter  sich  bekanntlich  in  viele  und  sehr 
verschiedene  Farben  verändern.  Femer  verbreiten  übel- 
riechende Körper  bei  ihrer  Bewegung  einen  noch  stärkeren 
üblen  Geruch,  namentlich  wenn  sie  ein  wenig  erwärmt 
werden.  Endlich  verwandelt  sich  süsser  Wein  in  Essig 
und  ebenso  vieles  Andere.  Deshalb  möchte  ich  dies  Alles 
(wenn  ich  mich  der  Freiheit  des  Philosophen  bedienen 
darf)*)  für  überflüssig  halten.  „Ich  sage  dies,  weil  ich 
„fürchte.  Andere,  welche  dem  berühmten  Verfasser  nicht 
„so  zugeneigt  sind,  wie  er  es  verdient,  möchten  sich  ein 
„falsches  Urtheil  über  ihn  bilden.^ 


*)  In  dorn  von  mir  abgeschickten  Briefe  habe  ich  diene 
Worte  absichtlioh  weggelassen    (A.  v.  Sp.) 

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Eigenschaften  des  Salpeters.  19 

Ueberdie  Ursache  der  Erscheinung  in  §.24  habe  ich 
schon  mich  geäussert;  ich  füge  hier  nur  hinzu,  wie  ich 
auch  aus  Erfahrung  weiss,  dass  in  jenen  Salztröpfchen 
feste  Salztheilchen  schwimmen.  Als  sie  aufwärts  stiegen, 
trafen  sie  anfeine  Glasscheibe,  die  ich  dazu  bereit  hielt, 
und  diese  erhitzte  ich,  damit  die  dem  Glase  anhängenden 
flüchtigen  Theile  davonflögen,  demnächst  fand  ich  einen 
festen  weisslichen  Stoff,  welcher  an  dem  Glase  haftete. 

In  §.  25  scheint  der  geehrte  Verfasser  beweisen 
zu  wollen,  dass  die  alkalischen  Theilchen  durch  denStoss 
der  Salztheilchen  nach  verschiedenen  Richtungen  getrie- 
ben werden,  während  die  Salztheilchen  durch  ihre  eigene 
Bewegung  sich  in  die  Luft  erheben.  Auch  ich  habe 
bei  Erklärung  dieses  Vorganges  gesagt,  dass  die  Theil- 
chen des  Salpetergeiste»  dadurch  eine  lebhaftere  Bewe- 
gung erlangen,  dass  sie  in  die  weiteren  Höhlungen  ein- 
dringen, wo  sie  von  einem  sehr  feinen  Stoff  umgeben 
werden  und  von  ihm  so  nach  oben  getrieben  werdcin,  wie 
die  Holztheilchen  von  dem  Feuer.  Dagegen  haben  die 
alkalischen  Theilchen  ihre  Bewegung  von  dem  Stosse 
derj  enigen Theilchen  des  Salpetergeistes  erhalten,  welche 
in  die  engeren  Gänge  eingedrungen  sind.  Auch  kann 
reines  Wasser  die  festen  Theilchen  nicht  so  leicht  er- 
weichen und  lösen;  deshalb  kann  es  nicht  auffallen,  wenn 
solches  in  Wasser  aufgelöstes  Salz  beim  Zugiessen  von 
Salpetergeist  in  dae  Wallen  geräth,  wie  es  der  Verfasser 
in  §.  24  beschreibt;  ja,  diese  Aufwallung  wird  heftiger 
sein,  als  wenn  man  Salpetergeist  auf  festes,  noch  un- 
geweichtes  Salz  aufgiesst;  denn  im  Wasser  löst  es  sich 
in  die  kleinsten  Theilchen  auf,  die  sich  leichter  trennen 
und  bewegen  lassen,  als  wenn  alle  Theile  des  Salzes 
auf  einander  liegen  und  sich  fest  anhängen. 

Zu  §.  26  habe  ich  über  den  Geschmack  des  Salpeter- 
geistes schon  gesprochen;  ich  beschränke  mich  daher  auf 
den  Geschmack  des  alkalischen  Theiles.  Nahm  ich  diesen 
auf  die  Zunge,  so  empfand  ich  eine  bald  stechende 
Wärme,  was  mir  anzeigte,  dass  es  eine  Art  Kalk  sein 
muss;  denn  dieses  Salz  erhitzt  sich  durch  den  Speichel, 
Seh  weiss,  den  Salpetergeist  und  vielleicht  auch  durch  die 
feuchte  Luft  ebenso   wie  der  Kalk  durch  das  Wasser. 

Zu  §.  27  folgt  daraus,  dass  ein  Theilchen  mit  einem 
anderen  sich  verbindet,  noch  nicht,  dass  es  eine  neue 
Spinoza,  Briefe.  oigtiädbyV^OOgie 


20  VI.  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 

Gestalt  annimmt;  es  wird  dadurch  nur  grösser  und 
dies  genügt  zn  dem,  was  der  Verfasser  in  diesem 
Paragraphen  verlangt. 

Zu  §.  33  werde  ich  mich  über  die  Art,  wie  der 
Verfasser  philosophirt,  aussprechen,  wenn  ich  die  Ab- 
handlung gesehen  haben  werde,  die  er  hier  und  in  der 
Einleitung  Seite  23  erwähnt. 

Bei  dem  Flüssigen  heisst  es  in  §.  1:  Es  ist 
bekannt,  dass  dieser  Zustand  zu  den  allgemeinsten 
gehört  u.  s.  w.  Die  aus  aus  dem  täglichen  Leben  hervor- 
gegangenen Begriffe,  welche  die  Natur  nicht  so,  wie  sie 
an  sich  ist,  erklären,  sondern  so,  wie  sie  auf  die  mensch- 
lichen Sinne  bezogen  wird,  möchte  ich  keineswegs  zu 
den  höheren  Gattungsbegriffen  zählen  und  nicht  mit  den 
reinen  Begriffen,  welche  die  Natur  so,  wie  sie  an  sich 
ist,  darlegen,  vermischen  (um nicht  zu  sagen:  vermengen); 
zu  letzteren  gehören  die  Bewegung  und  die  Kühe  mit 
ihren  Gesetzen;  zu  ersteren  das  Sichtbare,  das  Unsicht- 
bare, das  Warme,  das  Kalte,  und  um  es  sogleich  zu 
sagen,  auch  das  Flüssige  und  Feste  u.  s.  w.^) 

In  §.  5  heisst  es:  ^das  Erste  ist  die  Kleinheit  der 
den  Körper  bildenden  Theilchen;  nämlich  in  den 
grössten"  u.  s.  w.  Obgleich  die  Körper  klein  sind,  so 
sind  sie  doch  von  ungleichen  Oberflächen  und  Uneben- 
heiten (oder  können  so  beschaffen  sein);  wenn  daher 
grosse  Körper  sich  in  demselben  Verhältnisse  bewegten, 
und  ihre  Bewegung  zu  ihrer  Masse  sich  ebenso  ver- 
hielte wie  die  Bewegung  der  kleinen  zu  ihrer  Masse, 
so  könnte  man  sie  ebenfalls  flüssig  nennen,  wenn  das 
Wort  ^flüssig"  nicht  etwas  Aeusserliches  bezeichnete  und 
nach  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  nur  auf  jene 
bewegten  Körper  bezogen  würde,  deren  Kleinheit  nnd 
deren  Zwischenraum  von  den  menschlichen  Sinnen  nicht 
bemerkt  werden.  Wenn  man  daher  die  Körper  in 
flüssige  und  feste  theilt,  so  ist  dies  dasselbe,  als  ob 
man  sie  in  sichtbare  und  unsichtbare  eintheilt. 

Femer  heisst  es  daselbst:  „Wenn  man  dies  nicht 
durch  chemische  Versuche  bestätigen  kann**.  Indess 
wird  dies  Niemand  durch  chemische  und  andere  Ver- 
suche ohne  Beweis  und  Rechnung  darlegen  können. 
Denn  in  Gedanken  und  beim  Rechnen  theilen  wir  die 
Körper  ohne  Ende   und   folglich  auch  die  Kräfte,  die 

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Das  Flößsige.  21 

zu  ihrer  Bewegung  erfonlerlich  sind:  aber  durch  Ver- 
suche wird  man  dies  zu  beweisen  nie  vermögen. 

In  8.  6  heisst  es:  „Grosse  Körper  seien  weniger  ge- 
eignet, das  Flüssige  zu  bilden^,  n.  s.  w.  Indess  mag  man 
unter  Flüssigem  das  von  mir  eben  bemerkte  verstehen 
oder  nicht,  so  ist  doch  die  Sache  an  sich  selbst  klar  und 
ich  sehe  nicht  ein,  wie  der  geehrte  Verfasser  dies  durch  die 
in  diesem  Paragraphen  beschriebenen  Versuche  beweisen 
will.  Denn  Knochen  (wenn  man  über  eine  ungewisse 
Sache  zweifeln  will)  sind  allerdings  zur  Bildung  von 
Speisesaft  und  ähnlichen  Flüssigkeiten  nicht  geeignet,wohl 
aber  vielleicht  zur  Bildung  einer  neuen  Art  von  Flüssigkeit. 

In  §.  10  heisst  es :  „da  dies  sie  weniger  biegsam  als 
früher  macht^  u.  s.  w. ;  allein  die  Theilchen  konnten  ohne 
Veränderung,lediglich  dadurch,  dass  sie  in  den  Recipienten 
getrieben  wurden,  sich  von  den  anderen  trennen  und  so 
zu  einem  festeren  Körper  als  Oel  sich  vereinigen.  Denn 
die  Körper  sind  leicht  und  schwer  nach  Verhältniss  der 
Flüssigkeiten,  in  welche  sie  getaucht  werden.  So  bilden 
die  Buttertheilchen,  so  lange  sie  in  der  Milch  schwimmen, 
einen  Theil  der  Flüssigkeit;  erhält  aber  die  Milch  durch 
Schütteln  eine  neue  Bewegung,  der  sich  ihre  sämmtlichen 
Theilchen  nicht  in  gleicher  Weise  anpassen  können,  so 
genügt  dies,  dass  die  schwereren  sich  sondern  und  die 
leichteren  in  die  Höhe  treiben.  Allein  da  letztere  wieder 
schwerer  als  die  Luft  sind,  so  werden  sie  von  dieser 
niedergedrückt;  auch  sind  sie  zur  Bewegung  nicht  geeig- 
net und  können  deshalb  ftir  sich  keine  Flüssigkeit  bilden; 
deshalb  legen  sie  sich  über  einander  und  hängen  an  ein- 
ander. £benso  verwandeln  sich  die  Dünste,  wenn  sie 
sich  aus  der  Luft  aussondern,  in  Wasser,  welches  man 
im  Vergleich  zur  Luft  fest  nennen  kann.^*) 

In  §.  13  heisst  es:  „Als  Beispiel  dient  mir  die  von 
dem  Verfasser  ausgedehnte  Blase,  welche  von  einer  mit 
Luft  gefüllten  Blase^  u.  s.  w.;  allein  die  Wassert  heilchen 
bewegen  sich  unaufhörlich  nach  allen  Richtungen  und  sie 
würden  daher,  wenn  sie  nicht  von  dem  sie  umgebenden 
Körper  zurückgehalten  würden,sich  nach  allen  Richtungen 
zertheilen;  ich  kann  daher  nicht  einsehen,  was  die  Aus- 
dehnung einer  mit  Wasser  gefüllten  Blase  für  die  Be- 
seitigung der  kleinen  Räume  helfen  soll.  Denn  wenn 
die  Wassertheilchen  an  den  von  dem  Finger  gedrückten 

Digitiz^VV^OOgie 


22  VI.  Brief.     Spinoza  an  Oldenburg. 

Stellen  der  Blase  nicht  nachgeben,  was  sie,  wenn  sie 
frei  wären,  thun  würden,  so  kommt  dies  davon,  dass 
hier  kein  Gleichgewicht  und  keine  Bewegung  wie  in 
dem  Falle  giebt,  wenn  ein  Körper,  etwa  unser  Finger, 
von  der  Flüssigkeit  oder  dem  Wasser  umgeben  ist 
Denn  wenn  auch  das  Wasser  in  der  Blase  noch  so  sehr 
gedrückt  wird,  so  werden  doch  seine  Theilchen  einem 
in  der  Blase  eingeschlossenen  Steine  ebenso  Platz 
machen,  wie  sie  es  ausserhalb  der  Blase  thun. 

Im  demselben  Paragraphen  heisst  es:  ^Giebt  es 
einen  Theil  des  Stoffes?"  Sfan  muss  diese  Frage  be- 
jahen, wenn  man  nicht  den  Fortgang  ohne  £nde  vor- 
zieht oder  (was  noch  verkehrter  ist)  einen  leeren  Raum 
anerkennen  will. 

In  §.  19  heisst  es:  „damit  die  Flüssigkeitstheilchen 
den  Eintritt  in  jene  Poren  finden  und  darin  festgehalten 
werden  (auf  welche  Weise"  u.  s.  w.).     Allein  dies  kann 
^o.  2.  ^^^    nicht    unbedingt    von    allen 

Flüssigkeiten  behaupten,  welche  in 
die  Poren  anderer  eindringen.  Denn 
wenn  die  Theilchen  des  Salpeter- 
geistes in  die  Poren  von  weissem 
Papier  dringen,  so  machen  sie  es 
steif  und  spröde.  Man  kann  diesen 
Versuch  anstellen,  wenn  man  auf 
eine  weiss-glühende  eiserne  Kap- 
sel, wie  A  (Fig.  2),  einige  Tropfen 
fallen  lässt,  und  der  Ranch  sieh 
durch  einen  Papierumschlag  wie  B 
hindurchziehen  muss.  Auch  macht 
der  Salpetergeist  das  Leder  feucht, 
aber  benetzt  [es  nicht,  sondern  zieht  es,  gleich  dem 
Feuer,  zusammen. 

In  diesem  Paragraphen  heisst  es  weiter:  „Was 
mit  der  Natur  und  dem  Fliegen  und  Schwimmen**  u.  s.  w. 
Hier  wird  die  Ursache  von  dem  Zweck  entlehnt. 

In  §.  23  heisst  es :  „Obgleich  derenBewegungen  selten 
von  uns  erfasst  werden,  so  nehme  man  doch  an**  u.  s.  w. 
Allein  die  Sache  erhellt  ohne  diesen  Versuch  und  ohne 
allen  Aufwand  genügend  daraus,  dass  man  den  Hauch 
aus  dem  Munde  zur  Winterszeit  deutlich  sich  bewegen 
sieht,  während  man  dies  im  Sommer  oder   in  wannen 

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Das  Feste.  •  23 

Räumen  nicht  bemerken  kann.  Wenn  femer  im  Sommer 
die  Luft  sich  schnell  abkühlt,  so  sammeln  sich  die  ans 
dem  Wasser  aufsteigenden  Dünste,  welche  sich  nun  wegen 
der  veränderten  Dichtigkeit  der  Luft  nicht  so  wie  vor  der 
Abkühlung  in  ihr  verbreiten  können,  über  der  Wasser- 
fläche in  solcher  Menge,  dass  sie  deutlich  sichtbar  wer- 
den.**) Auch  ist  eine  Bewegung  oft  so  langsam,  dass 
man  sie  deshalb  nicht  wahrnimmt,  wie  z.  B.  den  Schatten 
des  Weisers  an  der  Sonnenuhr;  umgekehrt  ist  die  Be- 
wegung oft  zu  schnell,  um  gesehen  zu  werden,  wie  bei 
einem  schnell  bewegten  Feuerbrande,  wo  man  meint,  der 
Brand  ruhe  in  dem  ganzen  Umkreise,  in  dem  er  sich  be- 
wegt, wovon  ich  die  Ursache  hier  wohl  nicht  anzugeben 
brauche.  Endlich,  um  dies  noch  zu  berühren,  genügt  es 
zur  allgemeinen  Erkenntniss  der  Natur  des  Flüssigen,  zu 
wissen,  dass  man  seine  Hand,  der  bewegten  Flüssigkeit 
entsprechend,  nach  allen  Richtungen  dainn  ohne  Wider- 
stand bewegen  kann,  wie  Jedem  klai*  ist,  welcher  auf  die 
Begriffe  achtet,  welche  die  Natur  an  sich  erklären,  und 
nicht  auf  die,  welche  für  das  Gefühl  der  Menschen  ge- 
bildet worden.  •*)  Indess  will  ich  deshalb  diesen  Versuch 
nicht  als  nutzlos  bei  Seite  schieben;  er  würde  vielmehr, 
wenn  er  mit  jeder  Flüssigkeit  höchst  genau  und  zuver- 
lässig angestellt  würde,  sehr  geeignet  sein,  deren  be- 
sondere Eigenschaften  darzulegen;  ein  Punkt,  der  höchst 
nothwendig  ist  und  allen  Philosophen  am  Herzen  liegt. 

Ueber  das  Feste.  In  §  7  heisst  es:  „Nach  den 
allgemeinen  Gesetzen  der  Natur."  Dieser  Beweis  gehört 
dem  Descartes  an  und  ich  kann  nicht  finden,  dass  der 
geehrte  Verfasser  einen  besonderen  Beweis  aus  seinen 
Versuchen  und  Beobachtungen  hier  beigebracht  hätte. 

Ich  hatte  hier  und  bei  dem  Folgenden  vielerlei  mir 
bemerkt ;  indess  ergab  sich,  dass  der  geehrte  Verfasser 
sich  später  selbst  verbessert. 

In  §  16  heisst  es:  „Und  einmal  Vierhundert  und 
zweiunddreissig."  Wenn  dies  sich  auf  das  Gewicht 
des  ineiner Röhre  eingeschlossenen  Quecksilbers  bezieht, 
so  trifft  es  ziemlich  genau  das  wahre  Gewicht.  Indess 
scheint  mir  die  Prüfung  dieses  Punktes  der  Mühe  werth, 
um  zugleich,  so  weit  als  möglich,  das  Verhältniss  des 
Druckes  der  Luft  nach  der  Seite  oder  in  horizontaler 
Richtung    zu    dem    Drucke    derselben    in   senkrechter 

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24 


VL  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 


Richtung   kennen  zu  lernen.     Vielleicht  l&sst  sich  dies 
auf  folgende  Weise  erreichen.**) 

In  der  Figur  3  soll  CD  einen  ebenen  ganz  glatten 
Spiegel  vorstellen.    A  und  B  sind  zwei  Marmorstücke, 
die   sich  berühren;  A  ist  an  den  Zahn  £  befestigt;  B 
No.  3. 


an  das  Seil  N;  T  ist  ein  Rad,  G  das  Gewicht,  welches 
die  Kraft  anzeigt,  die  zur  Trennung  des  Marmorstüekes 
B  von  A  in  horizontaler  Richtung  nöthig  ist. 

No.  4.  In    Fig.  4    ist   F    ein    starker 

Seidenfaden,  mittelst  welchem  das 
Marmorstück  B  an  den  Boden  an- 
gebunden ist.  D  ist  das  Rad,  G 
das  Gewicht,  welches  die  Kraf\ 
anzeigt,  welche  zur  Trennung  des 
Marmorstückes  A  von  B.  in  senk- 
rechter Richtung  nöthig  ist.**) 

Das  Uebrige  fehlt. 


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Mitth  ei  hingen  aus  London.  25 

Siebenter  Brief  (Aus  dem  Jahre  1662). 
Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Geehrter  Herr! 

Vor  vielen  Wochen  habe  ich  Ihren  höchst  will- 
kommenen Brief,  welcher  sich  über  das  Buch  von  Boy le 
so  gelehrt  auslässt,  erhalten.  Der  Autor  selbst  dankt 
Ihnen  mit  mir  für  die  mitgetheilten  Anmerkungen;  es 
wäre  früher  geschehen,  wenn  er  nicht  gehofft  hätte,  in 
kurzer  Zeit  von  der  Geschäftslast,  die  ihn  drückt,  be- 
freit zu  werden  und  so  mit  dem  Danke  zugleich  die 
Antwort  in  Einem  Ihnen  senden  zu  können.  In  dieser 
Hoffnung  ist  er  indess  bis  jetzt  getäuscht  worden; 
öffentliche  und  eigene  Geschäfte  nehmen  ihn  so  in 
Anspruch,  dass  er  diesmal  Ihnen  nur  seinen  Dank 
aussprechen  kann  und  seine  Erwiderung  auf  Ihre  Be- 
merkungen auf  eine  spätere  Zeit  verschieben  muss. 
Dazu  kommt,  dass  zwei  Gegner  ihn  in  gedruckten 
Schriften  angegriffen  haben,  denen  er  vor  Allem  ant- 
lYorten  zu  müssen  glaubt.  Diese  Gegenschriften  richten 
sich  jedoch  lucht  gegen  die  Abhandlung  über  den 
Salpeter,  sondern  gegen  eine  andere  Schrift  desselben, 
welche  die  Versuche  über  die  Luft  enthält,  womit 
deren  Elastizität  bewiesen  werden  soll.  Sobald  er 
damit  fertig  ist,  wird  er  Ihnen  seine  Ansicht  über  Ihre 
Einwürfe  mittheilen  und  einstweilen  bittet  er,  sein 
Schweigen  nicht  übel  auszulegen. 

Das  Kollegium  von  Philosophen,  dessen  ich,  als 
ich  bei  Ihnen  war,  flüchtig  erwähnte,  ist  durch  die 
Gnade  unseres  Königs  jetzt  in  eine  Königliche  Societät 
umgewandelt  und  mit  Privilegien  ausgestattet  worden, 
dnrch  welche  ihr  grosse  Vorrechte  eingeräumt  sind 
und  die  schöne  Hoffnung  eröffnet  wird,  dass  sie  mit 
den  nöthigen  Einkünften  ausgestattet  werden  soll. 

Femer  möchte  ich  Sie  bitten,  den  Gelehrten  nicht 
länger  das  vorzuenthalten,  was  sie  mit  Ihrem  scharfen 
Geiste  sowohl  innerhalb  der  Philosophie  wie  der 
Theologie  ausgearbeitet  haben;  lassen  Sie  es  vielmehr 
in  die  Oeffentlichkeit  gelangen,  trotz  allem  Belfern  der 

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26     VII.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza.    VIII.  Brief. 

After-Theologen.  Ihr  l^and  ist  das  freieste  und  man 
kann  in  ihm  am  freiesten  philosophiren.  Ilire  eigene 
Klugheit  wird  Ihnen  schon  rathen,  Ihre  Ansichten  und 
Aussprüche  möglichst  vorsichtig  zu  äussern;  dann 
können  Sie  das  Uebrige  ruhig  dem  Schicksal  überlassen. 

So  lassen  Sie  also,  bester  Mann,  von  aller  Furcht  ab 
und  scheuen  Sie  sich  nicht,  die  Schwächlinge  unserer  Zeit 
zu  reizen.  Man  hat  lange  genug  mit  der  Dummheit  und 
den  Possen  gekämpft,  jetzt  wollen  wir  die  Segel  der 
Wissenschaft  ausspannen  und  in  die  Zugänge  zur  Natur- 
erkenntniss  weiter  als  bisher  eindringen.  Ich  möchte 
glauben,  dass  der  Druck  Ihrer  Schriften  ohne  Nachtheil 
bei  Ihnen  geschehen  kann  und  dass  kein  Anstoss  deshalb 
bei  allen  Einsichtigen  zu  beftirchten  ist.  Wenn  Sie 
diese  zu  ihren  Beschützern  und  Unterstützern  erhalten 
(wie  ich  Ihnen  sicher  versprechen  möchte),  so  brauchen 
Sie  die  thörichte  Menge  nicht  zu  fürchten.  Ich  lasse  Sie, 
verehrter  Freund,  nicht  eher  los,  bis  Sie  meinen  Bitten 
nachgeben  und  ich  werde,  so  viel  von  mir  abhängt, 
niemals  zulassen,  dass  Ihre  grossen  und  bedeutenden  Ge- 
danken in  ewiges  Schweigen  verhüllt  bleiben.  Ich  bitte 
Sie  dringend,  mir  Ihren  hierüber  gefassten  Entschluss 
mitzutheilen  und  zwar  sobald,  als  Ihnen  möglich  ist.  ^ 

Vielleicht  ereignet  sich  hier  Manches,  was  Ihrer 
Beachtung  werth  sein  dürfte.  Die  erwähnte  Soeietät 
wird  jetzt  ihre  Pläne  ernster  verfolgen  und  wenn  der 
Friede  an  diesen  Küsten  nicht  gestört  werden  sollte,  wird 
sie  die  gelehrte  Republik  mit  neuen  Zierden  schmücken. 
Leben  Sie  wohl,  ausgezeichneter  Mann,  und  seien  Sie  ver- 
sichert, dass  ich  in  Diensteifer  und  Freundschaft  verharre 

Ihr 

H.  Oldenburg. 


Achter  Brief  (Vom  3.  April  1663.) 
Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

(Die  zweite  Antwort  aiif  den  Brief  6.) 

Geehrter  Herr  und  geschätzter  Freund! 
Ich  könnte  Vieles  zur  Entschuldigung  meines  langen 
Schweigens  anführen,  indess  läuft  Alles  darauf  hinaus,  dass 

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Boyle's  Ansichten  über  den  Salpeter.  27 

der  Herr  B  oy  l  e  krank  war  und  ich  durch  eine  Menge  Ge- 
schäfte gestört  gewesen  bin.  Deshalb  hat  Herr  Boyle 
nicht  früher  auf  Ihre  Bemerkungen  über  den  Salpeter  ant- 
worten können  und  deshalb  bin  ich  mehrere  Monate  lang 
durch  die  Geschäfte  so  zerstreut  worden,  dass  ich  kaum 
noch  mein  eigener  Herr  gewesen  und  den  Verpflichtungen 
nicht  habe  nachkommen  können,  dieichlhnen  gegenüber 
zu  haben  bekenne.  Ich  freue  mich  sehr,  dass  beide 
Hemmnisse  (wenigstens  auf  einige  Zeit)  beseitigt  sind,  so 
dass  ich  mit  einem  so  bedeutenden  Freunde  meinen  Ver- 
kehr wieder  beginnen  kann.  Ich  thue  dies  jetzt  von 
Herzen  gern  und  meine  Absicht  ist,  Alles  (so  Gott  will) 
zu  vermeiden,  was  unseren  wissenschaftlichen  Verkehr 
auf  so  lange  wieder  unterbrechen  könnte. 

Ehe  ich  auf  das  eingehe,  was  wir  besonders  zu  ver- 
handeln haben,  will  ich  das  erledigen,  was  ich  Ihnen 
Namens  HeiTn  Boy  le  sagen  soll.  Er  hat  Ihre  Bemerkun- 
gen zu  seiner  physikalisch-chemischen  Abhandlung  mit 
seiner  gewohnten  Artigkeit  aufgenommen  und  danktihnen 
verbindlichst  für  Ihre  Kritik.  Einstweilen  lässt  er  Ihnen 
sagen,  dass  er  mit  seiner  Analyse  des  Salpeters  nicht 
sowohl  ein  wahrhaft  philosophisches  und  vollkommenes 
Werk  habe  liefern,  als  nur  habe  zeigen  wollen,  wie  die 
gewöhnliche  und  in  den  Schulen  festgehaltene  Lehre  über 
die  substantiellen  Formen  und  Qualitäten  sich  auf  eine 
schwankende  Unterlage  stützt  und  wie  die  sogenannten 
spezifischen  Unterschiode  der  Körper  sich  auf  die  Grösse, 
Bewegung,  Ruhe  und  Lage  ihrer  Theile  zurückführen 
lassen.  Dies  vorausgeschickt,  meint  Herr  Boyle,  dass 
sein  Versuch  mit  dem  Salpeter  genügend  erweise,  wie  der 
Salpeter,  als  solcher,  durch  die  chemische  Analyse  sich  in 
Theile  auflöse,  die  unter  sich  und  von  dem  Ganzen  völlig 
verschieden  sind  und  wie  später  der  ganze  Körper  durch 
die  Verbindung  der  Theile  so  wieder  hergestellt  werden 
kann,  dass  nur  wenig  an  seinem  früheren  Gewicht  fehlt. 
Er  will  nur  gezeigt  haben,  dass  die  Sache  sich  wirklich 
so  verhalte;  während  er  Über  den  von  Ihnen  dafür  ange- 
nommenen Vorgang  nicht  habe  handeln,  und  darüber,  als 
ausserhalb  seines  Zweckes  liegend,  nichts  habe  bestimmen 
wollen.  Was  Sie  einstweilen  über  diesen  Vorgang  an- 
nehmen, wonach  Sie  das  feste  Salpetersalz  als  die  Schlacke 
betrachten  und  Aehnliches  der  Ai-t,  das  sei,  nach  seiner 

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28  Vin.  Brief.    Oldenbarg  an  Spinoza. 

Ansicht,  von  Ihnen  zwar  behauptet,  aber  nicht  bewiesen; 
und  wenn  Sie  bemerken,  dass  die  Schlacke  oder  dieses 
feste  Salz  Gfinge  enthalte,  die  nach  dem  Maasse  der  Sal- 
petertheilchen  ausgehöhlt  seien,  so  bemerkt  Herr  Boyle, 
dass  die  Potasche  in  Verbindung  mit  Salpetergeist  ebenso 
Salpeter  erzeuge  wie  der  Salpetergeist  in  Verbindung  mit 
seinem  eigenen  festen  Salze;  *^)  daraus  erhellt  nach  seiner 
Ansicht,  dass  auch  in  solchen  Körpern  Gänge  bestehen, 
aus  denen  der  Salpetergeist  nicht  ausgestossen  wird. 
Auch  kann  Herr  Boyle  nicht  einsehen,  wie  aus  ii^nd 
welchen  Erscheinungen  die  Nothwendigkeit  fiir  einen  so 
feinen  Stoff,  wie  Sie  dabei  hinzunehmen,  hervorgehen  soll ; 
vielmehr  stütze  sich  dieselbe  lediglich  auf  die  Hypothese, 
dass  es  keinen  leeren  Raum  geben  könne.  ^) 

Die  von  Ihnen  angegebenen  Ursachen  ftir  aen  unter- 
schiedenen Geschmack  des  Salpetergeistes  und  Salpeters 
selbst  treffen,  wie  Herr  Boyle  sagt,  ihn  nicht;  und  das, 
was  Sie  über  die  Entzündbarkeit  des  Salpeters  und  über 
die  entgegengesetzte  Natur  des  Salpetergeistes  bemerken, 
beruht  nach  seiner  Meinung  nur  auf  des  Descartes  I^ehre 
vom  Feuer,  die  ihm  aber  noch  keineswegs  genügt  habe. 

Auf  Ihre  Versuche,  womit  Sie  Ihre  Erklärung  der 
Erscheinungen  beweisen  wollen,  erwidert  Herr  Boyle, 
1)  dass  der  Salpetergeist  stofflich  Salpeter  sei,  aber  nicht 
der  Form  nach,  weil  sie  in  ihren  Eigenschaileu  und 
Kräften  sehr  sich  unterscheiden,  wie  im  Geschmack,  Ge- 
ruch, in  der  Flüssigkeit,  in  der  Kraft,  Metalle  aufzulösen. 
Pflanzenfarben  zu  verändern  u.  s,  w.  Wenn  Sie  2)  gewisse 
in  die  Höhe  getriebene  Th eilchen  zu  Salpeterkiy stallen 
sich  verschwinden  lassen,  so  kommt  dies  nachHerm  Boyle 
davon,  dass  die  Salpetertheilchen  zugleich  mit  dem  Sal- 
petergeist durch  das  Feuer  ebenso  fortgestossen  werden, 
wie  es  bei  dem  Russe  geschieht.  Auf  das,  was  Sie  3)  über 
die  Wirkung  der  Entschlackung  anführen,  erwidert  Herr 
Boyle,  dass  durch  diese  Entschlackung  der  Salpeter,  wie 
meistentheils  der  Fall,  von  einem  das  gemeine  Salz  vor- 
stellenden Salze  befreit  werde,  während  das  Aufsteigen 
und  Erstarren  zu  festen  Tropfen  der  Salpeter  mit  anderen 
Salzen  gemein  habe  und  dies  von  dem  Druck  der  LuA 
und  anderen  Ursachen  komme,  die  mit  der  vorliegenden 
Frage  nichts  zu  thun  haben  und  deshalb  anderwärts  zn 
besprechen  seien.  Was  Sie  4)  über  Ihren  dritten  Versuch 

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Boyle's  Erwideningen  gegen  Spinoza.  29 

sagen,  das  soll  nach  Herrn  Bojle  auch  bei  einigen 
anderen  Salzen  Statt  haben,  indem  er  meint,  dass  das 
wirklich  entzündete  Papier  die  starren  und  festen  Theil- 
chen  des  Salzes  erzittern  und  so  mache,  dass  das  Funkeln 
sieh  vermehre. 

Wenn  Sie  zu  Abschn.  5  meinen,  Herr  Bojle  klage 
den  Descartes  an,  so  soll  dies  vielmehr  Sie  selbst 
treffen;  Herr  B  07  le  willkeinesweges  auf  Descartes  ge- 
deutet haben,  sondern  auf  Gassendi  und  Andere,  welche 
den  Salpeteitheilchen  eine  Cjlindergestalt  zuschreiben, 
w&hrend  sie  doch  eine  prismatische  sei;  auch  spreche  er 
nur  von  den  sichtbaren  Gestalten. 

Auf  Ihre  Bemerkungen  zu  Abschn.  13 — 18  erwidert 
Herr  Bojle,  dass  er  dies  nur  geschrieben,  um  den 
Nutzen  der  Chemie  für  die  Bestätigung  dermechanischen 
Prinzipien  der  Philosophie  darzulegen  und  zu  begründen, 
da  kein  Anderer  dies  bis  jetzt  so  klar  dargelegt  und  be- 
handelt habe.  Herr  Bojle  gehört  zu  Denen,  die  auf  ihr 
eigenes  Denken  nicht  so  fest  sich  verlassen,  dass  sie  die 
Uebereinstimmung  desselben  mit  den  Erscheinungen  nicht 
zu  beachten  brauchten.  **)  Es  besteht  nach  seiner  Meinung 
ein  grosser  Unterschied  zwischen  Versuchen,  bei  denen 
man  nicht  weiss,  was  die  Natur  dabei  thut  und  welche 
Stoffe  mitwirken  und  zwischen  denen,  wo  man  die 
wirkenden  Kräfte  genau  kennt.  So  ist  das  Holz  ein  viel 
mehr  zusammengesetzter  Körper  als  der  Stoff,  von  dem 
der  Verfasser  handelt.  Bei  dem  Aufwallen  des  gewöhn- 
lichen Wassers  tritt  Feuer  von  aussen  hinzu,  was  bei 
der  Erzeugung  des  Tones  bei  seinem  Versuche  nicht  Statt 
hat.  Ferner  sei  die  Ursache,  weshalb  das  Pflanzougrün 
sich  in  so  mannichfache  Farben  umwandelt,  wohl  noch 
ungewiss;  aber  sie  liege  jedenfalls  in  einer  Veränderung 
der  Theilchen,  wie  aus  dem  Versuche  erhelle,  wo  die 
Farbe  durch  Zuguss  von  Salpetergeist  verändert  werde. 
Endlich  meint  er,  dass  der  Salpeter  weder  einen  wider- 
lichen noch  einen  angenehmen  Geruch  habe;  nur  wenn  er 
aufgelöst  werde,  zei^e  sich  der  schlechte  Geruch,  der  bei 
der  Erstarrung  wieder  verschwinde. 

Auf  Ihre  Bemerkungen  zu  Abschn.  25  (da  das 
Uebrige  ihn  nicht  angehe)  erwidert  er,  dass  er  den 
Epikureischen  Grundsätzen  gefolgt  sei,  wonach  die  Be- 
wegung den  Theilchen  ursprünglich  einwohne ;  da  man 

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30  VM.  Brief.    Oldenburg  an  Spinoza. 

zur  Erklärung  der  Erscheinungen  mit  irgend  einer 
Hypothese  beginnen  müsse.  Indess  will  er  sie  damit 
nicht  zu  der  seinigen  machen ;  vielmehr  habe  er  sie  nur 
benutzt,  um  seine  Ansicht  gegen  die  Chemiker  und  die 
Schulen  aufrecht  zu  erhalten;  er  habe  nur  damit  zeigen 
wollen,  dass  aus  dieser  Hypothese  der  Vorgang  sieb  gut 
erklären  lasse.  Auf  Ihre  Anmerkung,  dass  das  reine 
AVasser  feste  Theile  nicht  auflösen  könne,  erwidert  Herr 
Boyle,  dass  die  Chemiker  hin  und  wieder  bemerkt  haben 
und  behaupten,  wie  reines  Wasser  die  alkalischen 
Salze  schneller  als  andere  Salze  auflöse. 

Zur  Prüfung  Ihrer  Bemerkungen  über  das  Flüssige 
und  Feste  hat  Herr  Boy  le  noch  nicht  die  nöthige  Müsse 
gehabt;  das  Obige  theile  ich  Ihnen  aber  schon  jetzt  mit, 
um  nicht  länger  des  Verkehrs  und  der  wissenschaftlichen 
Unterhaltung  mit  Ihnen  zu  entbehren.  Dabei  bitte  ich 
dringend,  dass,  wenn  ich  Ihnen  hier  Etwas  nur  zerstückt 
und  verstümmelt  anvertraue,  Sie  es  doch  freundlichst  auf- 
nehmen und  es  mehr  auf  Rechnung  meiner  Eilfertigkeit 
als  des  Scharfsinnes  des  berühmten  Herrn  Boy  le  setzen. 
Ich  habe  es  mehr  aus  der  geselligen  Unterhaltung  mit  ihm 
entnommen  und  nicht  aus  streng  formulirten  und  ge- 
ordneten Antworten.  Unzweifelhaft  wird  mir  deshalb 
manches  von  seinen  Aeusserungen  entgangen  sein,  was 
bedeutender  und  treffender  ist  als  das,  was  ich  davon 
Ihnen  hier  mitgetheilt  habe;  alle  etwaige  Schuld  trifil 
deshalb  mich  allein  und  nicht  den  Verfasser,  der  davon 
frei  ist. 

Ich  wende  mich  jetzt  zu  unseren  eigenen  Angelegen- 
heiten. Ich  erlaube  mir  hier  zunächst  die  Bitte,  dass  Sie 
Ihre  so  bedeutende  Schrift  vollenden  möchten,  worin  Sie 
von  dem  Uranfange  der  Dinge,  deren  Abhängigkeit  von  ei- 
ner ersten  Ursache  und  von  der  Verbesserune  unseres  Ver- 
standes handeln.  Ich  bin  überzeugt,  verehrter  Freund, 
dass  keine  andere  Veröffentlichung  den  wahren  Gelehrten 
und  Forschern  willkommener  und  angenehmer  sein  wird 
als  die  Ihrer  Abhandlung.  Ein  Mann  von  Ihrem  Geist 
und  Anlagen  hat  hierauf  mehr  Werth  zu  legen  als  auf 
das,  was  den  Theologen  unserer  Zeit  und  Sitten  gefüllt; 
denn  diese  kümmern  sich  weniger  um  die  Wahrheit  als 
um  ihreBehaglicheit.  Ich  beschwöre  Sie  also  beiunserem 
Freundschaftsbunde  und  bei  allem  Recht  auf  Vermehrung 

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Boyle.    SchluBs.  31 

mid  Verbreitung  der  Wahrheit,  uns  Ihre  Schriften  dieses 
Inhaltes  nicht  vorzuenthalten  und  zu  missgönnen.  ^^ 

Sollten  indess  überwiegende,  mir  unbekannte 
Gründe  Sie  an  der  Veröffentlichung  Ihrer  Schrift  ver- 
hindern, so  bitte  ich  sehr,  mir  wenigstens  brieflich 
einen  Auszug  davon  gefalligst  mitzutheilen ;  ich  werde 
Ihnen  für  diese  Gefälligkeit  in  Freundschaft  sehr  ver- 
bunden sein.  Der  gelehrte  Herr  Boyle  wird  bald 
Weiteres  veröffentlichen,  was  ich  Ihnen  statt  Gegen- 
leistung übersenden  werde;  dabei  sollen  Sie  auch  eine 
Schilderung  unserer  neu  eingerichteten  Königlichen 
Societät  erhalten;  zu  deren  Mitgliedern,  ungefähr 
zwanzig,  auch  ich  gehöre  und  dabei  mit  dem  einem 
und  andern  den  Sekretär  abgebe.  Die  Kürze  der 
Zeit  verhindert  mich,  diesmal  noch  Anderes  mit  Ihnen 
zu  besprechen.  Rechnen  Sie  auf  meine  IVeue,  wie 
sie  einem  ehrlichen  Menschen  möglich  ist,  und  auf 
meine  Bei'eitwilligkeit  zu  allen  Diensten,  soweit  meine 
schwachen  Kräfte  hinreichen.  Ich  bleibe  von  ganzem 
Herzen,  bester  Herr, 

Ihr 

ergebener 

H.  Oldenburg. 

London,  den  3.  April  1663. 


Neunter  Brief  (Vom  17.  Juli  1663). 
(Antwort  auf  Brief  8.) 

Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

Geehrter  Herr! 
Ihren  Iftngst  erwarteten  Brief  habe  ich  erhalten. 
Erst  jetzt  ist  es  mir  möglich,  ihn  zu  beantworten;  ehe  ich 
jedoch  dazu  schreite,  erwähne  ich  kurz,  was  mich  bis- 
her davon  abgehalten  hat.  Als  ich  im  April  mit  meinem 
Hausrath  hierher  übergesiedelt  war,  reiste  ich  nach 
Amsterdam.^')  Dort  baten  mich  mehrere  Freunde,. 
Ihnen  die  Abhandlung  mitzutheilen,  worin  ich  den 
zweiten  Theil  der  Prinzipien  von  Descartes  in 
geometrischer  Weise  begründet  und  die  Hauptsätze  der 
Metaphysik  kurz   dargelegt  hatte.     Ich    hatte   Beides 

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32  IX-  Brief.     Spinoza  an  Oldenburg. 

einem  jungen  Manne  diktirt,  dem  ich  meine  eigenen 
Ansichten  nicht  offen  mittheilen  wollte.  Die  Freunde 
baten  mich  da,  auch  den  ersten  Theil  der  Prinzipien 
möglichst  bald  in  derselben  Weise  zu  behandeln,  und 
um  denselben  zu  Willen  zu  sein,  machte  ich  mich 
gleich  darüber  und  brachte  die  Arbeit  in  vierzehn 
Tagen  fertig.  Ich  übergab  sie  den  Freunden,  welche 
mich  zuletzt  baten,  die  Veröffentlichung  zu  gestatten. 
Ich  bewilligte  es  gern,  unter  dem  Beding,  dass  Einer 
derselben  in  meiner  Gegenwart  die  Schreibart  fliessender 
mache  und  ein  Vorwort  beifüge,  um  den  Leser  zu  be- 
nachri  htigen,  dass  nicht  Alles,  was  die  Abhandlung 
enthalte,  als  meine  Ansicht  angesehen  werde  dürfe.  Denn 
ich  habd  Vieles  darin  aufgenommen,  was  meinen  An- 
sichten geradezu  widerspricht;  dies  sollte  an  einigen  Bei- 
spielen erläutert  werden.  Dieses  Alles  versprach  mir  der 
Freund,^')  welcher  die  Herausgabe  übernommen  hatte, 
und  deshalb  habe  ich  mich  etwas  länger  in  Amsterdam 
aufgehalten.  Als  ich  dann  in  meinem  jetzigen  Wohnort 
zurückkehrte,  haben  die  vielen  Besuche,  mit  denen 
Freundemich  beehrten,  michkaum  zur  Besinnung  kommen 
lassen.  Jetzt  endlich,  verehrter  Freund,  habe  ich  so  viel 
Zeit,  um  Ihnen  dies  mitzutheilen  und  zugleich  den  Grund 
für  die  Herausgabe  dieser  Abhandlung  Ihnen  anzugeben. 
Vielleicht  giebt  dies  nämlich  den  einflussreichem  Männern 
meines  Landes  einen  Anlass,  die  Arbeiten,  die  wirklich 
meine  Ansichten  enthalten,  zur  Ansicht  zu  verlangen, 
und  sie  werden  dann  dafür  Soi^e  tragen,  dass  ich  sie 
ohne  Besoreniss  vor  Nachtheilen  veröffentlichen  kann. 

Sollte  diese  Erwartung  eintreffen,  so  werde  ich  so- 
gleich Einiges  bekannt  machen ;  wo  nicht,  so  werde  ich 
lieber  schweigen,  als  den  Leuten  meine  Ansichten  gegen 
den  Willen  meines  Landes  aufzudrängen  und  mich  bei 
denselben  verhasst  zu  machen.  Deshalb,  verehrter 
Freund,  bitte  ich  Sie,  sich  bis  dahin  zu  gedulden;  Sie 
sollen  dann  entweder  die  gedi'uckte  Abhandlung  oder  den 
gewünschten  Auszug  erhalten.  Sollten  Sie  schon  während 
des  Druckes  einige  Exemplare  zu  haben  wünschen,  so 
werde  ich  Ihren  Wunsch  erfüllen,  sobald  ich  ihn  er- 
fahre, und  eine  Gelegenheit  zur  Absendung  ermitteln.  *^ 

Ich  komme  jetzt  auf  Ihren  Brief  zurück.  Ich  bin 
Ihnen  und  dem  geehrten  Herrn  Boyle  för  Ihre  aus- 

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Entgegnungen  des  Spinoza  gegen  Boyle.  33 

gezeichnete  Güte  und  Gefälligkeit  grossen  Dank  schuldig, 
weil  die  vielen  und  wichtigen  Innen  ohliegenden  Geschäfte 
Sie  Ihres  Freundes  nicht  vergessen  Hessen,  und  Sie  sogar 
versichern,  dass,  so  viel  Ihnen  möglich,  unser  brieflicher 
Verkehr  nicht  wieder  so  lange  unterbrochen  werden  solle. 
Auch  dem  gelehrten  Herrn  Boyle  danke  ich  ftir  seine 
Antworten  auf  meine  Bemerkungen,  wenn  sie  auch  nur 
obenhin  und  nebenbei  von  ihm  ertheilt  worden  sind.  Denn 
ich  gestehe,  dass  meine  Bemerkungen  nicht  so  gewichtig 
sind,  dass  der  gelehrte  Herr  auf  ihre  Beantwortung  die 
Zeit  verwende,   welche  er   tiefern  Betrachtungen    zu- 
wenden kann.    Ich  glaubte  und  war  tiberzeugt,  dass  der 
gelehrte  Herr  bei  seiner  Abhandlung  über  den  Salpeter 
sich  mehr  vorgesetzt  gehabt,  als  nur  die  Unsicherheit 
der  Grundlage  darzulegen,  auf  der  jene  kindische  und 
possenhafte  Lehre  von  den  substantiellen  Formen,  Qua- 
litäten u.  8.  w.  beruht.     Ich  glaubte  vielmehr,  der  be- 
rühmte Mann  wolle  die  Natur  des  Salpeters  darlegen  und 
zeigen,  dass  er  ein  aus  verschiedenen  festen  und  flüch- 
tigen Stoffen  zusammengesetzter  Körper  sei,  und  deshalb 
w^oUte  ich  durch  meine  Darlegung  zeigen  (und  meine, 
dies  sei  auch  vollkommen  geschehen),  dass  man  alle  Er- 
scheinungen,   die  der  Salpeter  bietet,   soweit  ich  sie 
kenne,  leicht  erklären  könne,  selbst  wenn  der  Salpeter 
kein  solcher  zusammengesetzter  Körper  sei,  sondern  zu 
den  einfachsten  gehöre.    Deshalb  lag  es  nicht  in  meiner 
Aufgabe,  zu  zeigen,  dass  das  feste  Salz  die  Schlacke  des 
Salpeters  sei;  vielmehr  war  dies  nur  eine  Annahme,  um 
zu  sehen,  wie  der  berühmte  Manu  mir  zeigen  könnte, 
dass   dies  nicht  der  Fall   sei,   sondern  dass  das  feste 
Salz  zum  Wesen  des  Salpeters  gehöre,   ohne   das   er 
nicht  begriffen  werden  könne.     Dies,  glaubte  ich,  wie 
gesagt,  sei  die  Absicht  des  berühmten  Mannes  gewesen. 
Wenn  ich  daher  gesagt  habe,  dass  das  Salz  Gänge 
enthalte,  deren  Höhlungen  demMaasse  derSalpetertheil- 
chen  entspreche,  so  geschah  dies  nicht,  um  die  Wieder- 
herstellung des  Salpeters  zu  erklären,   denn  aus  dem, 
was  ich  gesagt,  nämlich  dass  die  Wiederherstellung  in 
der  blossen  Verdichtung  des  Salpetergeistes  bestehe,  er- 
sieht sich,  dass  jeder  Kalk,  dessen  Gänge  so  enge  sind, 
class  die  Salpetertheilchen  nicht  eindringen  können,  und 
deren  Wände  nicht  fest  sind,  die  Bewegung  der  Salpeter- 

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34  I^'  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 

theilchen  hemmen  und  somit  nach  meiner  Hypothese  den 
Salpeter  wieder  herstellen  kann.  Es  kann  deshalb  nicht 
auffallen»  wenn  andere  Salze,  wie  die  des  Weinsteins  nnd 
der  Potasche,  ebenfalls  zu  dieser  Wiederherstellung  des 
Salpeters  benutzt  werden  können.  Wenn  ich  mir  von 
dem  festen  Salpeter  gesagt  habe,  dass  er  Gänge  enthalte, 
welche  der  Grösse  der  Salpetertheilchen  entsprechen,  so 
habe  ich  damit  nur  die  Ursache  angeben  wollen,  wes- 
halb das  Salpetersalz  sich  so  gut  zur  Wiederherstellung 
des  Salpeters  eignet,  dass  dabei  an  seinem  frtihem  Ge- 
wicht nur  wenig  fehlt.  Ich  glaube  sogar  daraus,  dass 
auch  andere  Salze  diese  Wiederhei-stellung  herbeiftihren, 
zeigen  zu  können,  dass  das  Salpetersalz  keinen  wesent- 
lichen Bestandtheil  des  Salpeters  bildet,  wenn  nicht  der 
berühmte  Mann  gesagt  hätte,  dass  das  Salpetersalz  das 
am  allgemeinsten  verbreitete  sei  und  deshalb  in  dem 
Weinstein  und  in  der  Potasche  enthalten  sein  könne. 

Wenn  ich  femer  gesagt,  dass  die  Salpetertheilchen 
in  den  grossem  Gängen  von  einem  feinern  Stoff  um- 
geben seien,  so  habe  ich  dies  allerdings,  wie  der  geehrte 
Mann  bemerkt,  aus  der  Unmöglichkeit  eines  leeren 
Raumes  abgeleitet;  aber  ich  verstehe  nicht,  wie  er  die 
Unmöglichkeit  des  leeren  Raumes  eine  Hypothese 
nennen  kann,  da  dieser  Satz  klar  daraus  folgt,  dass  das 
Nichts  keine  Eigenschaften  haben  kann.  Ich  wundere 
mich  über  diesen  Zweifel  des  berühmten  Mannes  um 
so  mehr,  da  er  keine  realen  Accidenzen  zuzidassen 
scheint;  nun  frage  ich  aber,  ob  es  nicht  ein  reales  Accidenz 
wäre,  wenn  es  eine  Grösse  ohne  Substanz  gäbe?**) 

Die  Ursachen  für  den  Unterschied  im  Geschmack 
des  Salpetergeistes  und  des  Salpeters  habe  ich  deshalb 
angeführt,  weil  ich  damit  zeigen  konnte,  dass  aus  diesem 
Unterschied,  den  ich  allein  zwischen  Salpetergeist  und 
Salpeter  zulasse,  alle  Erscheinungen  desselben  sich, 
ohne  des  festen  Salzes  zu  bedürfen,  leicht  erklären  lassen. 

Das,  was  ich  über  die  Entztindlichkeit  des  Salpeters 
und  die  Unentzündlichkeit  des  Salpetergeistes  gesagt 
habe,  verlangt  nichts  weiter  zur  Erregung  der  Flamme  in 
irgend  einem  Körper,  als  einen  Stoff,  welcher  dessen 
Theile  trennt  und  in  Bewegung  setzt ;  Beides  lehrt,  meine 
ich,  sowohl  die  tägliche  Erfahrung  wie  die  Vernunft.**) 

Ich  wende  mich  zu  den  Versuchen,  die,  wie  ich  aus- 

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ISntgegnung  des  Spinoza  gegen  Boyle.  35 

drücklich  bemerkt  habe,  äch  nicht  als  unbedingt  gültige 
beigebracht  habe,  sondern  nur  um  meine  Erklärung  in 
einiger  Weise  zu  bestätigen.  Bei  dem  ersten  Versuche, 
den  ich  anführe,  hat  der  berühmte  Mann  nur  das  be- 
merkt, was  ich  selbst  ausdrücklich  gesagt  habe ;  dagegen 
sagt  er  nichts  von  den  andern,  obgleich  ich  sie  auch  nur 
angestellt  habe,  um  das,  worin  der  gelehrte  Herr  mit  mir 
übereinstimmt,  unzweifelhafter  zu  machen.  Wenn  er 
ferner  bei  dem  zweiten  Versuche  sagt,  dass  durch  die 
Entschlackung  der  Salpeter  meist  von  einem  Salze,  was 
dem  gewöhnlichen  gleiche,  gereinigt  werde,  so  fehlt  dafür 
der  Beweis;  den  ich  habe,  wie  gesagt,  diese  Versuche 
nicht  angeführt,  um  damit  das  von  mir  Gesagte  vollstän- 
dig zu  beweisen,  sondern  weil  sie  das,  was  ich  gesagt 
und  als  vernünftig  dargelegt  habe,  gewissermassen  be- 
stätigen. Wenn  er  bemerkt,  dass  das  Aufsteigen  zu 
festen  Kügelchen  allen  Salzen  gemein  sei,  so  thut  dies 
nichts  zur  Sache;  denn  ich  gebe  zu,  dass  auch  andere 
Salze  Unreinigkeiten  enthalten,  durch  deren  Beseitigung 
sie  flüchtiger  werden.  Bei  dem  dritten  Versuche  be- 
merkt er  nichts,  was  mich  treffen  könnte.  Im  fünften 
Abschnitt  habe  ich  geglaubt,  dass  er  den  edlen  Des- 
cartes  tadele,  weil  er  dies  an  andern  Stellen,  nach  der 
Jedem  gestatteten  Freiheit  der  Untersuchung,  gethan  hat, 
ohne  dass  der  Charakter  Beider  dadurch  verdächtigt  wor- 
den; auch  Andere,  welche  die  Schriften  des  berühmten 
Herrn  und  des  Descartes  gelesen  haben,  werden  ebenso 
wie  ich  urtheilen,  wenn  sie  nicht  ausdrücklich  des  Ge 
gentheils  belehrt  werden.  Trotzdem  hat  der  geehrte  Herr 
sich  immer  noch  nicht  klar  ausgesprochen,  da  er  nicht 
sagt,  ob  Salpeter  aufhört,  es  zu  sein,  wenn  die  sichtbare 
Gestalt  seiner  Theilchen,  von  der  er  allein  sprechen  will, 
so  lange  abgerieben  wird,  bis  sie  die  Form  von  Paral- 
lelopipeden  oder  andern  Figuren  angenommen  hat. 

Ich  lasse  dies  indess  dahingestellt  und  wende  mich 
zu  dem  in  Abschnitt  13—18  Gesagten.  Ich  gestehe  hier 
gern,  dass  diese  Wiederherstellung  des  Salpeters  einen 
schönen  Fall  für  die  Erkenntniss  der  Natur  des  Salpe- 
ters darbietet;  vorausgesetzt,  dass  man  vorher  die  Grund- 
sätze der  höhern  Mechanik  gelernt  habe  und  wisse,  dass 
alle  Veränderungen  der  Körper  sich  nach  mechanischen 
Gesetzen  vollziehen.  Indess  spricht  dafür  der  behandelte 
Spinoza,  Briete.  Digii4edbyV^OOgie 


36  ^^-  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 

Fall  nicht  deutlicher  und  Überzeugender  als  Tiele 
andere  augenföllige  Versuche,  obgleich  man  dies  aus 
ihnen  nicht  ableitet.  Wenn  daher  der  geehrte  Herr 
sagt,  dass  seine  I^ehre  bei  Andern  nicht  so  klar  vorge- 
tragen und  behandelt  worden,  so  hat  er  vielleicht  etwas 
gegen  die  Gründe  von  Baco  und  Descartesim  Sinne, 
womit  er  sie  widerlegen  seu  können  glaubt  und  was  ich 
nicht  verstehe;  indess  führe  ich  diese  Gründe  hier  nicht 
an,  da  sie  dem  geehrten  Herrn  bekannt  sein  werden. 
Doch  bemerke  ich,  dass  auch  diese  Männer  verlangt 
haben,  die  Erscheinungen  müssten  mit  ihren  Be- 
gründungen übereinstimmen;  haben  sie  dabei  im  £in- 
zelnen  geirrt,  so  waren  sie  Menschen,  und  Menschliches 
kann  jedem  Menschen  begegnen. 

Der  Herr  sagt  weiter,  dass  ein  grosser  Unterschied 
zwischen  den  Fällen  bestehe  (den  augenfälligen  und  zwei- 
felhaften Versuchen  nämlich,  die  ich  augeführt  habe),  wo 
man  nicht  wisse,  was  die  Natur  dabei  noch  thue  und 
was  mit  einwirke,  und  denen,  wo  die  wii-kenden  Sto£Pe 
genau  gekannt  seien.  Indess  kann  ich  nicht  finden,  dass 
der  berühmte  Manu  die  Natur  der  in  diesem  Falle  wir- 
kenden Stoffe  erklärt  habe,  nämlich  des  Salpetersalzes 
und  des  Salpeter^eistes ;  obgleich  sie  nicht  weniger  dun- 
kel scheinen  als  die  von  mir  angeführten  Stoffe  des  ge- 
wöhnlichen Kalkes  und  Wassers.  Bei  dem  Holze  räume 
ich  geim  ein,  dass  es  ein  Körper  ist,  der  mehr  zusam- 
mengesetzt ist  als  der  Salpeter;  allein  was  thut  dies  zur 
Sache,  so  lauge  wir  deren  Natur  nicht  kennen  und  nicht 
wissen,  in  welcher  Weise  in  beiden  die  Hitze  entsteht? 
Auch  wundere  ich  mich,  dass  der  berühmte  Mann  zu 
sagen  wagt,  dass  er  wisse,  was  in  dem  betreffenden  Falle 
die  Natur  thue.  Wie  will  er  zeigen  können,  dass  die 
Hitze  hier  nicht  durch  einen  ganz  feinen  Stoff  erzeugt 
worden  ist?  Etwa  daraus,  dass  das  alte  Gewicht  nur  um 
ein  Weniges  verändert  sei?  allein  wenn  auch  hier  gar 
nichts  fehlte,  würde  dies  doch  nach  meiner  Ansicht 
daraus  nicht  folgen,  da  es  bekannt  ist,  wie  ein  Körper 
durch  eine  sehr  geringe  Menge  ein^s  Stoffes  zu  einer 
gewissen  Wärme  gebracht  werden  kann,  ohne  damit 
irgend  merklich  schwerer  oder  leichter  zu  werden.  Des- 
halb kann  man  mit  Recht  zweifeln,  ob  nicht  Stoffe  mit- 
gewirkt haben,  welche  den  Sinnen  sich  entziehen,  zumal 
so  lange  man  nicht  weiss,  wie  alle  jene  Veränderungen, 

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Das  Wasser  und  die  Luft.  37 

welche  der  berühmte  Mann  während  des  Versuches  be 
merkte,  aus  den  genannten  Körpern  entstehen  konnten; 
ja  ich  bin  überzeugt,  dass  die  Hitze  und  jenes  Auflodern, 
was  der  berühmte  Mann  erwähnt,  von  einem  fremden 
Stoffe  ausgegangen  sind.  Ferner  glaube  ich  mich  mehr 
berechtigt,  aus  dem  Aufwallen  des  Wassers  (ohne  dessen 
Bewegung  zu  erwähnen)  die  Erschütterung  der  Luft  als 
die  Ursache  anzunehmen,  welche  den  Ton  hervorbringt, 
als  ans  diesem  Versuche,  bei  welchem  die  Natur  der 
mitwirkenden  Stoffe  ganz  unbekannt  ist,  und  bei  dem 
man  eine  Hitze  'bemerkt,  deren  Ursache  und  Entsteh- 
ungsart ganz  unbekannt  ist.  Endlich  giebt  es  Vielerlei, 
was  ohne  Geruch  ist,  aber  dessen  Theile  sofort  gerochen 
werden,  so  wie  sie  bewegt  und  erwärmt  werden,  und 
wo  dieser  Geruch,  wenigstens  für  unsere  Sinne,  mit 
der  Abkühlung  wieder  verschwindet;  ich  nenne  als 
Beispiel  den  Bernstein  und  Anderes,  deren  Zusammen- 
setzung vielleicht  grösser  ist  als  die  des  Salpeters. 

Meine  Bemerkungen  zu  dem  24sten  Abschnitt 
zeigen,  dass  der  Salpetergeist  kein  reiner  Geist  ist, 
sondern  dass  er  mit  Salpeterkalk  und  Anderem  ver- 
mischt ist;  ich  zweifle  daher,  ob  der  berühmte  Mann  hat 
genau,  durch  Wiegen,  wie  er  sagt,  beobachten  können, 
dass  das  Gewicht  des  eingetropften  Spiritusgeistes  mit 
dem  Gewicht  des  bei  der  Detonation  verschwundenen 
so  ziemlich  übereinstimme. 

Wenn  endlich  das  reine  Wasser  nach  dem  Augen- 
schein die  Kalisalze  schneller  löst,  so  ist  es  doch  ein  ein- 
facherer Körper  als  die  Luft  und  kann  deshalb  nicht  so 
viel  Arten  von  Körperchen  enthalten,  die  durch  die  Poren 
aller  Kalkarten  leicht  eindringen  könnten ;  vielmehr  be- 
steht das  Wasser  überwiegend  aus  Theilchen  derselben 
Art,  die  den  Kalk  zwar  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
mehr  wie  die  Luft  auflösen  können ;  allein  daraus  folgt 
nicht,  dass  das  Wasser  dies  bis  zu  diesem  Grade  viel 
schneller  bewirken  müsse  als  die  Luft;  denn  die  Luft 
enthält  auch  gröbere  und  auch  viel  feinere  und  über- 
haupt Theilchen  aller  Art,  welche  durch  Poren  eindrin- 
gen können,  die  für  die  Wasserth eilchen  zu  eng  sind. 
Daher  kann  die  Luft  zwar  nicht  so  schnell  als  das  Was- 
ser, da  sie  nicht  aus  so  gleichartigen  Theilen  besteht, 
aber  doch  viel  besser  und  vollständiger  den  Salpeterkalk 

*•         1 

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38        IX.  Brief.     Spinoza  an  Oldonbur».    X.  Briof. 

auflösen  und  ihn  damit  biegsamer  und  also  auch  geeig- 
neter machen,  um  die  Bewegungen  der  Theilchen  des 
Salpetergeistes  zu  hemmen.  Denn  nach  den  Versuchen 
kann  ich  noch  jetzt  keinen  andern  Unterschied  zwischen 
Salpetergeist  und  dem  Salpeter  anerkennen,  als  dass  die 
Theilchen  des  letztem  sich  in  Ruhe  befinden,  während 
die  jenes  sehr  schnell  sich  untereinander  bewegen. 
Deshalb  ist  der  Unterschied  zwischen  beiden  ungefähr 
derselbe  wie  zwischen  Eis  und  Wasser. 

Indess  wage  ich  nicht,  Sie  länger  hiei*mit  zu  unter- 
halten; ich  furchte,  schon  zu  weitläufig  gewesen  zu  sein, 
obgleich  ich  mich  der  möglichsten  Kürze  befleissif^  habe. 
Wenn  ich  Sie  dennoch  belästigt  habe,  so  vergeben  Sie 
es  mir  und  nehmen  Sie  die  offenen  und  freien  Aensse- 
rungen  Ihres  Freundes  in  dem  besten  Sinne  auf.  Ich 
hielt  es  nicht  für  rathsam,  über  diese  Dinge  ganz  zu 
schweigen;  dagegen  würde  es  blosse  Schmeichelei  sein, 
wenn  ich  das  gegen  Sie  loben  wollte,  was  mir  nicht  ganz 
geföllt ;  denn  nichts  ist  verderblicher  und  gefährlicher  fiir 
die  Freundschaft.  Ich  habe  mich  deshalb  zur  offensten 
Aussprache  meiner  Ansicht  entschlossen,  da  dies  philo- 
sophischen Männern  das  Liebste  sein  muss.  Indess  steht 
es  in  ihrer  Gewalt,  diese  Gedanken  dem  Feuer,  statt  dem 
gelehrten  Herrn  Boyle  zu  übergeben,  wenn  Sie  es  für 
besser  halten.  Handeln  Sie ,  wie  es  Ihnen  gutdünkt, 
aber  seien  Sie  versichert,  dass  ich  Ihnen  und  dem  geehr- 
ten Herrn  Boyle  in  aller  Liebe  zugethan  bin.  Ich  be- 
dauere nur,  dass  meine  schwachen  Kräfte  mich  hindern, 
dies  durch  die  That  zu  zeigen;   indess  u.  s.  w.  ^) 


Zehnter  Brief  (Vom  3L  Juli  1663). 

Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Geehrter  Herr  und  werther  Freund! 

Der  Wiederbeginn  unseres  Briefwechsels  hat  mir  viel 

Freude  gemacht.  Ich  habe  Ihren  Brief  vom  17/27.  Juli  zu 

meiner  grossen  Freude   richtig  erhalten  und  zwar  aus 

doppeltem  Grunde ;  einmal  saJi  ich,  dass  Sie  wohl  sind, 

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Nachrichten  aus  London.  39 

und  dann,  dass  Sie  mir  Ihre  Freundschaft  noch  hewahrt 
hahen.  Dazu  kam  noch  die  frohe  Nachricht,  dass  Sie 
den  ersten  und  zweiten  Theil  der  Prinzipien  von  Des- 
cartes  in  geometrischerBeweisführung  dem  Druck  über- 
geben haben  und  mir  einige  Exemplare  davon  gefalligst 
zusichern.  Ich  nehme  dieses  Anerbieten  freudig  an  und 
bitte,  diese  schon  unter  der  Presse  befindliche  Abhand- 
lung dem  Herrn  Peter  Serrarius  zu  Amsterdam  geiiil- 
ligst  für  mich  zu  tibersenden.  Dieser  wird  nach  meinem 
Auftrage  das  Packet  in  Empfang  nehmen  und  mir  durch 
einen  herüberkommenden  Freund  übersenden. 

Dabei  gestatten  Sie  mir,  Ihnen  zu  sagen,  wie  ich  es 
nicht  billigen  kann,  dass  Sic  auch  jetzt  noch,  namentlich 
in  Ihrem  so  freien  Laude,  die  von  Ihnen  als  ihre  eigenen 
anerkannten  Schriften  zurückhalten  wollen;  denn  bei 
Ihnen  kann  man  ja  frei  sagen,  was  man  denkt  und  will. 
Brechen  Sie  also  diese  Riegel;  Sie  können  ja  Ihren  Namen 
verschweigen  und  sich  so  ausser  aller  Gefahr  bringen. 

Der  geehrte  Herr  B  oy  le  ist  auf  das  Land  gezogen ; 
sobald  er  in  die  Stadt  zurückkehrt,  M^erde  ich  ihm  den 
ihn  betreffenden  Theil  Ihres  gelehrten  Briefes  mittheilen 
und  Urnen  seine  Ansicht  über  Ihre  Erwiderungen,  sobald 
ich  sie  erfahre,  mittheilen.  Sie  haben  wahrscheinlich 
schon  seinen  ^Chemischen  Skeptiker"  gesehen,  der  schon 
vor  längerer  Zeit  lateinisch  herausgekommen  und  im  Aus- 
lande viel  besprochen  worden  ist.  Das  Buch  führt  viele 
chemische  und  physische  Paradoxen  und  hypostatische 
(wie  man  sie  uennt)  Grundsätze  der  Anhänger  des  Sta- 
giriten  auf  und  unterwirft  sie  einer  strengen  Prüfung.  *'') 

Kürzlich  hat  er  eine  andere  Schrift  veröffentlicht,  die 
vielleicht  noch  nicht  zu  Ihren  Buchhändlern  gelangt  ist; 
ich  lege  sie  daher  Ihnen  hier  bei  und  bitte,  diese  kleine 
Gabe  freundlichst  aufzunehmen.  DasBüchelchen'enthält, 
wie  Sie  finden  werden,  eine  Vertheidigung  der  elastischen 
Kraft  der  Luft  gegen  die  Angriffe  eines  gewissen  P^ranz 
Linus,  welcher  sich  in  einer  unverständlichen  und  un- 
sinnigen Weise  abmüht,  die  Erscheinungen,  welche  Herr 
Boyle  in  seinen  neuen  physikalisch-mechanischen  Ver- 
suchen beschreibt,  durch  eine  Art  Seil  zu  erklären.  Lesen 
Sie  doch  die  Schrift  und  lassen  Sie  mich  Ihre  Ansicht 
wissen.  **) 

Unsere  Königliche  Sozietät  verfolgt  ihre  Aufgabe 

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40 


X.  Brief.    Oldenburg  an  Spinoza. 


nach  KrÄften  und  mit  Geschick;  sie  hÄlt  sich  innerhalb 
der  Schranken  der  Versuche  und  Beobachtungen  und 
vermeidet  die  Abgründe  des  Disputirens. 

Man  hat  neuerlich  einen  schönen  Versuch  dargestellt, 
welcher  die  Vertheidiger  des  leeren  Raumes  sehr  in  die 
Enge  treibt,  aber  deren  Gegnern  sehr  gefällt.  Die  Glas- 
flasche A  ist  bis  oben  mit 
Wasser  gefüllt  und  mit  ihrer 
Oeffnung  in  das  Glasgefass  B 
gestellt,  was  Wasser  enthält. 
Sie  wird  nun  dem  Recipienten 
der  neuen  Luftpumpmaschine 
des  Herrn  Boyle  aufgesetzt, 
und  aus  dem  Recipienten  wird 
die  Luft  ausgepumpt  Man 
sieht  dann  eine  Menge  Blasen 
aus  dem  Wasser  in  die  Flasche 
A  aufsteigen,  was  das  Wasser 
von  dort  in  das  Gefass  B  unter 
die  Oberfläche  des  in  ihr  be- 
findlichen Wassers  treibt.  Mau 
lä'^st  dann  beide  Gefässe  in 
diesem  Zustande  ein  oder  zwei 
Tage  stehen  und  wiederholt 
nur  fleissig  die  Auspumpnngen 
der  Luft.  Dann  nimmt  man 
beide  aus  der  Glocke  hen-or 
und  füllt  die  Flasche  A  mit 
dem  von  Luft  befreiten  Was- 
ser, stellt  sie  wieder  verkehrt 
in  das  Gefäss  B  und  brinprt 
wieder  beide  Gefässe  unter  die 
Glocke  der  Luftpumpe.  Ist  die 
Luft  da  wieder  gehörig  ausge- 
pumpt, so  sieht  man  wohl  ein- 
zelne kleine  Bläschen  in  dem 
Halse  der  Flasche  A  aufstei- 
gen, welche,  oben  angelangt,  mit  der  fortgehenden 
Auspumpung  sich  selbst  ausdehnen  und  das  ganze 
Wasser  wie  früher  aus  der  Flasche  herabtreiben. 
Dann  wird  die  Flasche  wieder  aus  der  Glocke 
genommen  und  mit  luftfreiem  Wasser  bis  zum  Rande 


No.  5. 


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Ueber  den  leeren  Baum.  41 

gefüllt,  dann  abermals  nmgedreht  und  wieder  unter  die 
Glocke  gebracht.  Wird  nun  die  Luft  aus  der  Glocke 
Toll ständig  und  genau  ausgepumpt,  so  bleibt  das  Wasser 
in  der  Flascbe  in  der  Höhe,  ohne  herabzusinken.  Bei 
diesem  Versuche  ist  also  die  Ursache,  welche  nach  Boyle 
das  Wasser  bei  dem  Torricelli'schen  Versuche  in  der  Höhe 
erhalten  soll  (nftmlich  die  Luft,  welche  auf  das  Wasser 
im  GefKsse  B  drückt),  ganz  beseitigt,  und  das  Wasser 
in  der  Flasche  sinkt  doch  nicht  herab.  Ich  ftigte  gf^m 
noch  mehr  hinzu,  allein  Freunde  und  Geschäfte  rufen 
mich  ab.**) 

Ich  kann  meinen  Brief  nicht  schliessen,  ohne  Ihnen 
nochmals  an  das  Herz  zu  legen,  dass  Sie  Ihre  Unter- 
snchangen  bald  veröffentlichen  möchten.  Ich  werde  mit 
diesen  Bitten  nicht  eher  ablassen,  als  bis  Sie  ihnen  Folge 
geleistet.  Wollten  Sie  mir  bis  dahin  Einiges  von  dem 
Inhalte  mittheilen,  so  würden  Sie  mich  entzücken  und 
anfsAeusserste  Ihnen  verpflichten.  Bleiben  Sie  im  besten 
Wohlsein  und  boM^ahren  Sie  mir  Ihre  Liebe. 

Ihr 
Freund  und  Verehrer 
H.  Oldenburg. 

I^ndon,  den  31.  Juli  166H. 


Elfter  Brief  (Vom  4.  August  1663). 
Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Verehrter  Herr  und  werther  Freund! 

Es  sind  kaum  3  oder  4  Tage  verflossen,  dass  ich 
mit  dem  gewöhnlichen  Kourier  einen  Brief  Ihnen  gesandt 
habe,  worin  ich  eines  von  Herrn  Boyle  verfassten 
Büchelchens  erwähnte,  das  ich  Ihnen  senden  wollte.  Ich 
hatte  damals  noch  keine  Aussicht,  so  schnell  einen  Be- 
kannten zu  iinden,  der  es  Ihnen  überbringen  könnte; 
allein  schneller,  als  ich  erwartete,  hat  sich  jetzt  einer  ge- 
funden. Somit  erhalten  Sie  jetzt,  was  ich  Ihnen  früher 
nicht  senden  konnte  und  in  Anschluss  daran  herzliche 
Grüsse  von  Herrn  Boyle,  der  vom  Lande  nach  der  Stadt 

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42  XI.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza. 

zurückgekehrt  ist.  Er  bittet  Sie,  seine  Vorrede  zu  den 
Versuchen  über  den  Salpeter  einzusehen;  Sie  würden 
daraus  den  Zweck,  den  er  sich  bei  diesem  Werke  vor- 
gesetzt, am  besten  entnehmen.  Er  habe  nämlich  zeigen 
wollen,  dass  die  Ansichten  der  sich  wieder  erhebenden 
gesundem  Philosophie  durch  klareVersuche  erläutert  und 
auf  das  Beste  dargelegt  werden  können,  ohne  jene  Schul- 
formeln mit  ihren  possenhaften  Qualitäten  und  Elementen 
zu  Hülfe  nehmen  zu  müssen.  Dagegen  habe  er  keines- 
wegs die  Natur  des  Salpeters  darlegen,  noch  das  miss- 
billigen wollen,  was  von  irgend  Jemand  über  die  Gleich- 
förmigkeit des  Stoffes  und  über  die  nur  auf  der  Bewe- 
gung, Gestalt  U.S.W,  der  Körper  beruhenden  Unterschiede 
derselben  gelehrt  werden  könne.  Er  habe  nur  zeigen 
wollen,  dass  die  verschiedene  Mischung  der  Körper  noch 
mancherlei  Unterschiede  und  sehr  verschiedene  Wirkun- 
gen zur  Folge  habe,  und  dass  daraus  die  Philosophen 
und  Jedermann  eine  gewisse  Stoffverschiedenheit  folgern 
dürfen,  so  lange  die  Erkonntniss  des  Urstoffes  noch  nicht 
erreicht  sei. 

Ich  glaube  daher  nicht,  dass  im  Grunde  und  sach- 
lich Sie  von  Herrn  Boyle  abweichen.  Wenn  Sie  bemer- 
ken, dass  jede  Kalkart,  deren  Gänge  so  eng  sind,  dass 
die  Salpetertheilchen  nicht  eindringen  können,  und  deren 
Wände  schwach  sind,  die  Bewegung  der  Salpetertheilchen 
aufhalten  können  und  dadurch  die  Wiederherstellung  des 
Salpeters  bewirken,  so  ei-widert  Herr  Boyle,  dass  dies 
nur  geschehe,  wenn  der  Salpetergeist  mit  andern  Kalk- 
ai*ten,  aber  nicht  mit  seinem  eigenen  Kalk  vermengt 
werde. 

Ihren  Grund  gegen  den  leeren  Raum  will  Herr 
Boyle  kennen  und  ihn  erwartet  haben;  allein  er  kann 
sich  dabei  nicht  beruhigen  und  wird  sich  darüber  an 
einem  anderen  Orte  aussprechen. 

Ich  soll  Sie  ferner  in  seinem  Auftrage  bitten,  ihm 
einen  Fall  mitzutheilen,  wo  zwei  riechende  Körper,  zu 
einem  verbunden,  den  Körper  (wie  den  Salpeter)  ganz 
geruchlos  machen.  Er  meint,  die  Theilc  des  Salpeters 
seien  der  Art,  dass  der  Salpetergeist  einen  sehr  ein- 
dringenden Geruch  verbreite,  der  feste  Salpeter  aber 
auch  einen  Geruch  von  sich  gebe. 

Er  bittet  Sie  ferner,  zu  erwägen,  ob  das  Eis  und 

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ßoyle's  Ansichten.  43 

Wasser  sich  hier  mit  dem  S«alpeter  und  seinem  Geiste 
vergleichen  lassen:  da  das  ganze  Eis  sich  lediglich  in 
Wasser  umwandle  und  das  geruchlose  Eis  auch,  wenn 
es  zu  Wasser  geworden,  geruchlos  hleibe ;  dagegen  be- 
ständen grosse  Unterschiede  zwischen  der  Beschaffen- 
heit des  Salpetergeistes  und  dem  festen  Salpetersalze, 
wie  die  gedruckte  Abhandlung  genügend  darlege. 

Dies  und  Aehnliches  hörte  ich  hierüber  von  dem 
berühmten  Verfasser;  ich  gebe  es  hier  wieder,  so  weit 
mein  schwaches  Gedächtniss  reicht;  indess  kann  ich 
mich  leicht  dabei  geirrt  haben.  Da  Sie  Beide  in  der 
Hauptsache  übereinstimmen,  so  will  ich  die  Punkte,  wo 
Sie  verschiedenerAnsicht  sind,  nicht  übertreiben,  sondern 
möchte  lieber,  dass  Sie  sich  Beide  verbänden,  um  durch 
Ihren  Geist  die  ächte  und  gesunde  Philosophie  um  die 
Wette  fortzubilden.  Sie  vor  Allem  möchte  ich  erinnern, 
die  Grundlage  weiter  fortzubilden,  wie  es  der  mathema- 
tischen Schärfe  Ihres  Geistes  entspricht;  ebenso  dringe 
ich  umgekehrt  meinen  edlen  Freund  B  oy  1  e ,  fortwährend 
durch  Versuche  und  Beobachtungen,  die  wiederholt  und 
sorgsam  angestellt  werden,  diese  Philosophie  zu  befesti- 
gen und  zu  erläutern.  Sie  sehen,  verehrter  Freund,  was 
ich  will  und  erstrebe.  Ich  weiss,  dass  in  diesem  Lande 
die  Philosophen  unserer  Zeit  für  diese  experimentironden 
Aufgaben  niemals  fehlen  werden;  ebenso  bin  ich  über- 
zeugt, dass  auch  Sie  Ihre  Aufgabe  mit  Geschick  erledigen 
werden,  wenn  auch  der  gemeine  Haufen  der  Philosoplien 
und  Theologen  noch  so  sehr  daiüber  sich  ereifert  oder 
Sie  verleumdet.  Schon  in  meinem  letzten  Briefe  habe  ich 
in  dieser  Hinsicht  Sie  ermahnt;  ich  will  Ihnen  daher  jetzt 
damit  nicht  abermals  zur  Last  fallen.  Ich  habe  nur  die 
Bitte,  dass  Sie  von  Allem,  was  Sie  zur  Erläutenmg  von 
I)  esc  arte  s  oder  aus  dem  Vorrath  Ihrer  eigenen  Unter- 
suchungen zum  Druck  befördern,  mir  recht  schnell  ein 
Exemplar  durch  Herrn  Serrarius  zusenden  mögen. 
Sie  werden  mich  dadurch  Ihnen  noch  mehr  verpflichten 
und  bei  jeder  Gelegenheit  ersehen,  dass  ich  bin 

Ihr 

ergebener 

H.  Oldenburg. 
London,  den  4.  August  1663. 

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44  ^n.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza. 

Zwölfter  Brief  (Vom  28.  April  1665). 

Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Geehrter  Herr  und  theurer  Freund! 
Ich  war  sehr  erfreut,  als  ich  aus  den  letzten  Briefen 
des  Herrn  Serrarius  ersah,  dass  Sie  leben,  gesund  nnd 
Ihres  Freundes  Oldenburg  noch  eingedenk  sind.  Dabei 
beklagte  ich  zugleich  bitter  mein  Schicksal  (wenn  ich 
einen  solchen  Ausdruck  brauchen  darf),  das  mich  so  viele 
Monate  hindurch  meines  früheren  angenehmen  Verkehrs 
mit  Ihnen  beraubt  hat.  Die  Menge  der  Geschäfte  nnd 
harte  häusliche  Unfälle  tragen  die  Schuld  davon;  denn 
meine  unbedingte  Ergebenheit  und  treue  Freundschaft  zu 
Ihnen  werden  immer  unerschüttert  auf  festem  Grunde 
sich  erhalten.  Wir,  Herr  B  o  y  1  e  und  ich,  unterhalten  uns 
oft  von  Ihnen,  Ihrer  Gelehrsamkeit  und  Ihren  tiefsinnigen 
Untersuchungen.  Wir  möchten  die  Früchte  Ihres  Geistes 
herausholen  und  den  Händen  der  Gelehrten  überliefern; 
denn  wir  sind  sicher,  dass  Sie  unseren  Erwartungen  völlig 
Genüge  leisten  werden.  Die  Abhandlung  des  Herrn  B  ojl  e 
über  den  Salpeter  und  über  das  Flüssige  und  Feste 
braucht  bei  Ihnen  nicht  aufgelegt  zu  werden,  da  sie  hier 
in  lateinischer  Uebersetzung  herausgekommen  ist;  sobald 
die  Gelegenheit  sich  bietet,  sollen  Sie  einige  Exemplare 
erhalten.  Lassen  Sie  daher  keinen  dortigen  Buchhändler 
etwas  der  Art  unternehmen.  Herr  Boyle  hat  auch  eine 
ausgezeichnete  Abhandlung  Über  die  Farben  in  englischer 
und  lateinischer  Sprache  veröffentlicht  und  ausserdem 
eine  Geschichte  der  Versuche  über  die  Kälte,  die  Ther- 
mometer und  Anderes,  die  viel  Merkwürdiges  und  Neues 
enthält.  Nur  der  unglückliche  jetzige  Krieg*')  verhindert 
mich,  Ihnen  diese  Bücher  mitzutheilen.  Auch  eine  gute 
Abhandlung  über  60  mikroskopische  Beobachtungen  ist 
erschienen,  welche  viele  kühne  Ansichten,  aber  in  philo- 
sophischer Begründung  (d.  h.  nach  mechanischen  Prin- 
zipien) enthält.  Ich  hoffe,  dass  unsere  Buchhändler  einen 
Weg  iinden  werden,  auf  dem  Ihnen  von  alledem  Exem- 
plare zugehen  können.  Das,  womit  Sie  neuerlich  sich 
beschäftigt,  oder  was  Sie  in  Arbeit  haben,  möchte  ich 

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Boyle.    Hnygens.    Descartes.  45 

gern  von   Ihrer  eigenen  Hand  in  Empfang  nehmen. 
Ich  bleibe 

Ihr 

Verehrer  und  Freund 
H,  Oldenburg. 
London,  den  28.  April  1665. 


Dreizehnter  Brief  (Aus  dem  Mai  1665). 

Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

Geehrter  Freund! 
Vor  wenig  Tagen  tiberbrachte  mir  ein  Freund  Ihren 
Brief  vom  28.  April,  den  er  von  einem  Buchhändler  in 
Amsterdam  erhalten  hatte,  an  den  ihn  Herr  Serrarius 
wahrscheinlich  abgegeben  hat.  Ich  habe  mich  sehr  ge- 
freut, endlich  von  Ihnen  selbst  zu  hören,  dass  Sie  wohl 
sind  und  mir  noch  Ihre  frühere  Zuneigung  bewahren. 
Ich  selbst  habe,  so  oft  ich  die  Gelegenheit  gehabt,  mich 
bei  Herrn  Serrarius  und  dem  Herrn  Doctor  Christian 
Huygens,*^  der  mir  gesagt,  dass  er  Sie  kenne,  nach 
Ihrem  Befinden  erkundigt.  Von  Herrn  Huygens  hörte 
ich  auch,  dass  der  gelehrte  Herr  Boyle  noch  lebt  und 
j  ene  ausgezeichnete  Abb  andlung  über  die  Farben  englisch 
veröffentlicht  hat,  welche  er  mir  geliehen  haben  würde, 
wenn  ich  englisch  verstände.  Ich  freue  mich  deshalb,  von 
Ihnen  zu  hören,  dass  die  Abhandlung,  so  wie  die  andere 
über  die  Kälte  und  die  Thermometer,  von  der  ich  noch 
nichts  gehört  habe,  bald  in  das  Lateinische  übersetzt  und 
der  Gelehrtenwelt  zugänglich  gemacht  werden  sollen. 
Auch  das  Buch  über  die  mikroskopischen  Untersuchungen 
hatHe  rr  Huygens,  aber  wenn  ich  nicht  irre,  auch  nur  in 
englischer  Sprache.  £r  hat  mir  wunderbare  Dinge  über 
diese  Mikroskope  sowie  über  einige  in  Italien  gefertigte 
Teleskope  erzählt.  Man  hat  damit  die  Verfinsterungen 
des  Jupiter  durch  seine  Monde  beobachten  können  und 
ebenso  einen  gewissen  Schatten  auf  dem  Saturn,  als  wenn 
er  von  einem  Ring  herkäme.  Ich  wundere  mich  bei  dieser 
Gelegenheit  über  die  Eilfertigkeit  von  Descartes, 
welcher  als  Grund  dafür,  dass  die  Planeten  bei  Saturn 

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46     XIII.  Brief.     Spinoza  an  Oldenburg.    XIV.  Brief. 

(denn  er  hielt  dessen  Henkel  fUr  Planeten,  vielleiclit  weil 
er  niemals  beobachtet  hat,  dass  sie  den  Saturn  berühren) 
sich  nicht  bewegten,  angab,  dass  Satarn  sich  nicht  um 
seine  Axe  drehe,  obgleich  dies  doch  mit  seinen  Prinzipien 
wenig  übereinstimmte,  lleberdem  hätte  ev  aus  seinen 
Prinzipien  leicht  dieUrsache  der  Henkel  erklären  können, 
wenn  er  nicht  dieses  Vorurtheil  gehabt  hätte,  u.  s.  w. 


Vierzehnter  Brief  (Vom  12.  Oktober  1665). 
Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Bester  Herr,  verehrter  Freund! 

Sie  lieben,  wie  es  einem  Philosophen  von  Hera 
geziemt,  die  guten  Menschen  und  Sie  brauchen  nicht 
an  deren  Gegenliebe  zu  zweifeln,  so  wie  an  deren 
Achtung,  die  sie  Ihren  Verdiensten  zollen.  Herr  Doyle 
grüsst  Sie  mit  mir  bestens  und  bittet,  dass  Sie  streng 
und  scharf  zn  philosophiren  fortfahren;  namentlich  wenn 
Sie  zu  einer  Einsicht  über  jene  grosse  Aufgabe  gelangen, 
wo  es  sich  um  die  Erkenntniss  der  Ueberein Stimmung 
jedes  Theiles  der  Natur  mit  dem  Ganzen  handelt,  sowüe 
um  die  Art  des  Zusammenhanges  der  Theile  unter  ein- 
ander, dann  bitten  wir,  freundlichst  es  uns  mitzuthcilen. 
Die  von  Ihnen  erwähnten  Gründe,  welche  Sie  zur  Ab- 
fassung einer  Abhandlung  über  die  heilige  Schrift  be- 
stimmen, billige  ich  durchaus;  ich  habe  nur  den  Wunsch, 
dass  ich  schon  das  vor  Augen  hätte,  was  Sie  über 
diesen  Gegenstand  sagen  wollen.  Herr  Serrarius 
wird  wohl  binnen  Kurzem  ein  Packet  mir  senden  und 
da  können  Sie,  wenn  Sie  wollen,  sicher  das  beilegen, 
was  Sie  hierüber  schon  fertig  haben  und  sich  jeder 
Gegenleistung  von  meiner  Seite  für  gewiss  halten. 

Die  „Unterirdische  Welt"  von  Kirch  er  habe  ich 
durchblättert.*')  Seine  Lehren  und  Gründe  verrathen 
keinen  grossen  Geist,  aber  seine  mitgetheilten  Beobach- 
tungen und  Versuche  sprechen  für  den  Fleiss  des  Ver- 
fassersund seinen  guten  Willen,  sich  um  die  philosophische 
Republik  verdient  zu  machen.  Sie  sehen,  dass  ich  ihm 
ein  wenig  mehr  als  blosse  Frömmigkeit  zuspreche  und  Sie 

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Hiiygena.    Descartos.    Hovel.  47 

werden  leicht  die  Absicht  Derer  erkennen,  welche  ihn 
nur  mit  diesem  Weihwasser  besprengen. 

Bei  Ihrer  Erwähnung  von  Huygens'  Abhandlung 
über  die  Bewegung  deuten  Sie  an,  dass  des  Des  carte  s 
Regeln  der  Bewegung  beinah  sämmtlich  falsch  seien.  Ich 
liabe  Ilir  vordem  herausgegebenes  Werk  über  die  geome- 
trische Begründung  der  Prinzipien  des  Descartes  nicht 
zur  Hand  und  ich  kann  micli  nicht  entsinnen,  ob  Sie  da 
diese  Unrichtigkeit  derselben  dargelegt  haben,  oder 
nur  seinen  Fusstapfen,  Anderen  zur  Liebe,  gefolgt 
sind.  ")  Wollten  Sie  nur  endlich  die  Frucht  Ihres  eigenen 
Geistes  von  sich  geben  und  der  philosophischen  AVeit  zu 
Mege  und  Erziehung  übergeben.  Ich  entsinne  mich,  wie 
Sie  irgendwo  angedeutet  haben,  dassVieles  von  dem,  was 
nach  Descartes  dem  menschlichen  Geiste  unerreichbar 
sein  soll,  ja  noch  Höheres  und  Feineres,  von  dem  Men- 
schen erkannt  und  aucli  das  Kleinste  dai'gelegt  werden 
könne.**)  Weshalb  zaudern  Sie  also,  mein  Freund?  was 
turchten  Sie?  Versuchen  Sie  es  doch;  beginnen  Sie,  voll- 
füliren  Sie  eine  so  bedeutende  Aufgabe  und  Sie  werden 
den  ganzen  Chor  der  wahren  Philosophen  zu  Ihrem  Be- 
schützer haben.  Ich  gebe  Ihnen  datilr  mein  Wort,  was 
ich  nicht  würde,  wenn  ich  zweifelhaft  wäre,  ob  ich  es 
halten  hönnte.  Ich  kann  nicht  glauben,  dass  Sie  die  Ab- 
sicht haben,  etwas  gegen  das  Dasein  inid  die  Vorsehung 
Gottes  zu  schreiben  und  wenn  diese  Grundsäulen  unver- 
sehrt bleiben,  so  ruht  die  Religion  auf  einer  festen  Grund- 
lage und  jedwede  philosophische  Betrachtung  wird  dann 
leicht  vertheidigt  und  entschuldigt  werden  können.  Hören 
Sie  also  mit  Ihrem  Zögern  auf,  damit  wir  mit  unserem 
Bitten  Ihnen  nicht  noch  den  Rockschoss  abreissen. 

Ich  denke  bald  zu  erfahren,  was  von  dem  neuen 
Kometen  zu  halten  ist.  Hevel  in  Danzig^^)  und  der 
Franzose  Auzou  t*«)streiten  sich  über  die  gemachten  Be- 
obachtungen: Beide  sind  gelehrte  Männer,  welche  mit  der 
Mathematik  vertraut  sind.  Der  Streit  wird  jetzt  unter- 
sucht, und  sobald  die  Entscheidung  erfolgt  sein  wird, 
werde  ich  Mittheilung  davon  erhalten  und  es  Ihnen  wissen 
lassen.  So  viel  kann  ich  schon  sagen,  dass  alle  mir  be- 
kannten Astronomen  die  Erscheinung  nicht  für  einen, 
sondern  filr  zwei  Kometen  halten  und  ich  habe  bis  jetzt 

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48      XIV.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza.     XV.  Brief. 

Niemand  angetroffen,  welcher  die  Beobachtungen  nach 
der  Hypothese  vonDescartes  hätte  erklSren  wollen.  ^^) 
Sollten  Sie  etwas  von    den  Untersuchungen   nnd 
Arbeiten  Iluy  gens*  erhalten,  und  über  seine  Erfolge  mit 
dem  Pendel  und  über  seine  Uebersiedelung  nach  Frank- 
reich hören,  so  theilen  Sie  mir  es  gefälligst  recht  bald 
mit  und  lassen  Sie  mich  bei  dieser  Gelegenheit  hören, 
was  man  bei  Thnen  Über  die  Friedensverhandlungen,  über 
die  Absichten  der  in  Deutschland  eingerückten  schwe- 
dischen Armee  und  über  die  Schritte  des  Bischofs  von 
Münster  denkt.  ^)  Ich  fürchte,  ganz  Europa  wird  im  näch- 
sten Sommer  in  Krieg  verwickelt  sein  und  Alles  scheint 
auf  grosse  Veränderungen  hinzudeuten.^^)  Wir  wollen  mit 
keuschem  Sinne  uns  dem  Herrn  empfehlen  und  die  wahre, 
gesunde  und  nützliche  Philosophie  pflegen.  Einige  unserer 
Philosophen  haben  den  König  nach  Oxford  begleitet,  wo 
sie  fleissige  Zusammenkünfte  halten  und  über  die  Beförde- 
rung der  Naturwissenschaften  berathen.  Sie  haben  unter 
Anderem  neuerlich  das  Wesen  des  Tones  zu  erforschen 
angefangen  und  werden,  glaube  ich,  Versuche  anstellen, 
um  zu  ermitteln,  in  welchem  Verhältnisse  die  Gewichte 
steigen  müssen,  um  die  Saite  so  anzuspannen,  dass  sieden 
höheren  Ton  angiebt,  welcher  die  verlangte  Konsonanz 
mit  dem  früheren  ergiebt.    Ein  andermal  mehr  davon. 
Leben  Sie  wohl,  mein  Bester  und  bleiben  Sie  eingedenk 

Ihres 

Verehrers 
H.  Oldenburg. 
London,  den  12.  Oktober  1665. 


Fünfzehnter  Brief  (Aus  dem  November  I66ö>. 
Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Die  Antwort  auf  den  voratehenden  Brief.) 

Geehrter  Herr! 
Ich  bin  Ihnen  und  dem  geehrten  Herrn  Bojle  sehr 
verbunden,  dass  Sie  mich  zum  Philosophiren  ermahnen. 
Nach  meinen  schwachen  Kräften  thue  ich  darin,  was  ich 

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lieber  die  Begriffe  des  Ganzen  und  der  Theile.      49 

vermag  und  zweifle  nicht  an  Ihrem  beiderseitigen  Wohl- 
wollen und  Ihrer  Hülfe.  Wenn  Sie  meine  Ansicht  über 
die  Frage  verlangen,  „wie  jeder  Theil  der  Natur  mit  dem 
„Ganzen  zusammenstimmt  und  wie  er  mit  den  übrigen 
„Theilen  zusammenhängt'^,  so  nehme  ich  an,  dass  Sie 
nach  den  Gründen  verlangen,  welche  uns  überzeugen,  dass 
diese  Verbindung  und  (Jebereinstimmung  wirklich  Statt 
habe.  Aber  die  nähere  Weise,  wie  die  Dinge  zusammen- 
hängen und  das  Einzelne  mit  dem  Ganzen  übereinstimmt, 
kann  ich  nicht  angeben,  wie  ich  schon  in  meinem  letzten 
Briefe  ^)  bemerkt  habe;  denn  dazu  würde  die  Kenntniss 
der  ganzen  Natur  und  aller  ihrer  Theile  gehören.  Ich 
beschränke  mich  also  auf  Darlegung  des  Grundes,  welcher 
mich  die  Frage  zu  bejahen  genöthigt;  doch  möchte  ich 
vorher  erinnern,  dass  ich  der  Natur  weder  Schönheit 
noch  Uässlichkeit,  weder  Ordnung  noch  Verwirrung  zu- 
theile,  da  die  Dinge  nur  in  Beziehung  auf  unsere  Ein- 
bildungen schön  oder  hässlich,  geordnet  oder  verworren 
genannt  werden  können.^') 

Unter  dem  Zusammenhang  der  Theile  verstehe  ich 
also  nur  eine  solche  Anpassung  der  Gesetze  oder  der  Na- 
tur des  einen  Theiles  mit  denen  des  anderen,  dass  sie  sich 
möglichst  wenig  entgegen  sind.  Die  Begriffe  des  Ganzen 
und  der  Theile  fasse  ich  so  auf,  dass,  soweit  die  Theile 
eines  Ganzen  ihrer  Natur  nach  sich  einander  anpassen, 
um  möglichst  übereinzustimmen,  sie  als  Theile  gelten ; 
soweit  sie  aber  von  einander  abweichen,  bildet  jeder 
Theil  in  unserer  Seele  eine  von  dem  anderen  unter- 
schiedene Vorstellung  und  wird  demgemäss  nicht  als 
Theil,  sondern  als  Ganzes  aufgefasst.  Wenn  z.  B.  die 
Theilchen  der  Lymphe  oder  des  Speisesaftes  in  ihren  Be- 
wegungen sich  nach  Verhätniss  ihrer  Grösse  und  Gestalt 
so  einander  anpassen,  dass  sie  ganz  mit  einander  überein- 
stimmen und  alle  nur  eine  Flüssigkeit  bilden,  so  werden 
insoweit  der  Speisesaft,  die  Lymphe  u.  s.  w.  als  Theile 
des  Blutes  angesehen;  soweit  man  aber  die  Theilchen  der 
Lymphe  in  Gestalt  und  Bewegung  abweichend  von  den 
Theilchen  des  Speisesailes  annimmt,  insoweit  betrachtet 
man  sie  als  ein  Ganzes  und  nicht  als  einen  Theil. 

Man  nehme  z.  B.  an,  dass  in  dem  Blute  ein  kleiner 
Wurm  lebe,  welcher  die  Theilchen  des  Blutes,  der  Lymphe 
u.  s.  w.  zu  sehen  vermöchte  und  die  nöthige  Vernunft 

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50  ^^-  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 

bosässc,  um  zu  beobachten,  wie  jedes  Theilchen  bei  der 
Bewegung  eines  anderen  zurückweicht  oder  seine  Be- 
wegung dem  anderen  mittheilt  u.  s.  w. ;  ein  solcher  Wurm 
würde  in  diesem  Blute,  wie  wir  in  einem  Theile  des  Welt- 
raumes leben  und  jedes  Bluttheilchen  als  ein  Ganzes  und 
niclit  als  einen  Tlicil  behandeln;  er  könnte  auch  nicht 
wissen,  wie  alle  Theilchen  von  der  ganzen  Natur  des 
Blutes  bestimmt  und  der  allgemeinen  Natur  des  Blutes 
entsprechend,  zu  einer  solchen  Anpassung  genöthigt  wer- 
den, dass  sie  auf  eine  gewisse  Art  mit  einander  überein- 
stimmen. Denn  wenn  man  annimmt,  dass  ausserhalb  de> 
Blutes  keine  Ursachen  bestehen,  welche  dem  Blute  neue 
Bewegungen  mittheilen  und  dass  es  ausser  dem  Blute 
keinen  Raum  und  keine  andere  Körper  giebt,  auf  die  die 
Bluttheilchen  ihre  Bewegungen  übertragen  könnten,  so 
würde  offenbar  das  Blut  immer  in  seinem  Zustande  ver- 
harren und  seine  Theilchen  würden  nur  die  Veränderun- 
gen erleiden,  die  sich  aus  dem  Verhältniss  der  Blutbe- 
wegung  zur  Lymphe,  zu  dem  Speisesaft  u.  s.  w.  ergehen 
und  man  müsste  somit  das  Blut  immer  als  ein  Ganzes 
und  nicht  als  einen  Theil  betrachten.  Aber  da  es  noch 
viele  andere  Ursachen  giebt,  welche  die  Naturgesetze  des 
Blutes  in  fester  Weise  beeinflussen,  so  ^de  umgekehrt 
diese  jene,  so  ergeben  sich  daraus  andere  Bewegungen 
und  Veränderungen  im  Blute,  die  nicht  blos  aus  dem 
Verhältniss  derEigenbewcgung  seinerTheile  zu  einander 
entspringen,  sondern  auch  aus  dem  Verhältniss  der  Be- 
wegung des  Blutes  zu  der  Bewegung  der  äusseren  Ur- 
sachen zu  einander,  und  dann  hat  das  Blut  nur  das  Ver- 
hältniss eines  Theiles,  aber  nicht  eines  Ganzen.  So  viel 
über  das  Ganze  und  seine  Theile.  ") 

Nun  können  und  müssen  aber  alle  Naturkörper  so 
aufgefasst  werden,  wie  es  hier  mit  dem  Blute  geschehen 
ist;  denn  jeder  wird  von  anderen  umgeben  und  alle  be- 
stimmen sich  gegenseitig  zum  Dasein  und  Wirkennach 
festen  und  bestimmten  Verhältnissen,  wobei  in  allen  zu- 
sammen, d.  h.  in  dem  Weltall,  das  Verhältniss  der  Be- 
wegung zur  Ruhe  immer  dasselbe  bleibt.  Deshalb  muss 
jeder  Körper,  soweit  er  in  fester  Weise  von  anderen  etwas 
erleidet,  alsTheil  des  Weltalls  angesehen  werden,  der  mit 
dem  Ganzen  übereinstimmt  und  mit  den  anderen  zu- 
sammenhängt.   Da  nun  die  Natur  des  Weltalls  nicht,  wie 

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Die  menschliche  Seele.    Huygens.  51 

die  Natur  des  Blutes,  beschränkt^  sondern  unbedingt 
schrankenlos  ist,  so  werden  von  der  Natur  dieser  un- 
endlichen Kraft  deren  Theile  auf  unendliche  Weise 
beeinflusst  und  zum  Erleiden  von  unendlich  vielen  Ver- 
änderungen genöthigt.  Indess  nehme  ich  an,  dass  in 
Bezug  auf  die  Substanz  jeder  Theil  eine,  engere  Ver- 
bindung mit  seinem  Ganzen  hat.  Denn  da  die  Un- 
endlichkeit zur  Natur  der  Substanz  gehört,  wie  ich  Ihnen 
früher  in  meinem  ersten,  von  Rhjnsburg  geschriebenen 
Briefe  darzulegen  versucht  habe,  so  folgt,  dass  jeder 
Theil  zur  Natur  der  körperlichen  Substanz  gehört  und 
ohne  diese  nicht  sein,  noch  vorgestellt  werden  kann.*'). 

Hieraus  ersehen  Sie,  in  welcher  Weise  und  weshalb 
ich  den  menschlichen  Körper  fUr  einen  Theil  der  Natur 
ansehe.  Auch  die  menschliche  Seele  halte  ich  für  einen 
Theil  der  Natur,  weil  es  nach  meiner  Ansicht  in  der 
Natur  auch  eine  unendliche  denkende  Kraft  giebt,  die 
vermöge  ihrer  Unendlichkeit  die  ganze  Natur  alsgewusste 
in  sich  enthält  und  deren  Gedanken  in  derselben  Weise 
sich  folgen  wie  die  Natur,  nämlich  als  Vorstellungen. 

Femer  gebe  ich  der  menschlichen  Seele  dieselbe 
Kraft,  aber  nicht  als  eine  unendliche,  welche  die  ganze 
Natur  umfasst,  sondern  als  eine  beschränkte,  die  nur 
den  menschlichen  Körper  vorstellt  und  in  diesem  Sinne 
sehe  ich  die  menschliche  Seele  als  einen  Theil  des 
unendlichen  Verstandes  an.**) 

Indess  ist  es  eine  weitläufige  Sache,  Alles  dies 
nebst  dem  dazu  Gehörenden  hier  genau  darzulegen 
und  zu  beweisen  und  ich  glaube  nicht,  dass  Sie  dies 
jetzt  von  mir  erwarten ;  ja  ich  zweifle,  ob  ich  Ihre  Meinung 
recht  verstanden  habe  und  ob  ich  nicht  auf  etwas 
Anderes  geantwortet  habe,  als  was  Sie  mich  gefragt 
haben.     Sie  werden  mich  hierüber  belehren. 

Wenn  Sie  weiter  erwähnen,  ich  hätte  die  von  D  e  s  - 
cartes  aufgestellten  Gesetze  der  Bewegung  beinah  alle 
fUr  falsch  erklärt,  so  habe  ich,  soviel  ich  mich  entsinne, 
es  nur  als  eine  Ansicht  von  Huvgens  mitgetheilt;  ich 
selbst  halte  nur  das  sechste  Gesetz  des  Des  cartes 
für  falsch,  wobei  auch  Huygens,  wie  ich  bemerkt 
habe,  im  Irrthume  ist.  Deshalb  bat  ich  Sie,  mir  über 
den  Versuch  zu  schreiben,  der  in  Betreff  dieser  Hypo- 
these in  Ihrer  Königlichen  Sozietät  angestellt  worden 
Splnoz«,  Briefe.  5 

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_< 


52     XV.  Brief.     Spinoza  an  Oldenburg.     XVI.  Brief. 

ist.    Da  Sie  mir  nichts  hierüber  mittheilen,  so  möchte 
ich  annehmen,  dass  es  Ihnen  nicht  gestattet  ist.^) 

Besagter  Herr  Huygens  war  und  ist  noch  ganz  von 
der  Politur  dioptrischer  Gläser  in  Anspruch  genommen; 
er  hat  dazu  eine  niedliche  Werkstatt  eingerichtet,  worin 
auch  Formen  gedreht  werden  können.  Ich  weiss  noch 
nicht,  was  er  damit  erreicht  hat  und  bin,  offen  gestanden, 
auch  nicht  sehr  danach  begierig,  da  ich  aus  Erfahrung 
weiss,  dass  man  mittelst  Kugelformen  aus  freier  Hand 
sicherer  und  besserer  als  mit  jeder  Maschine  poliren 
kann.  Ueber  die  Resultate  der  Pendeluntersuchangen 
und  über  Huygens'  Uebersiedelung  nach  Frankreich 
kann  ich  Ihnen  noch  nichts  Gewisses  mittheilen;  u.  s.  w. 


Sechzehnter  Brief  (Vom  8.  Dezember  1665) 
Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Vortrefflicher  Herr  und  theurer  Freund! 

Ihre  Erörterungen  über  die  Uebereinstimmung  und 
Verknüpfung  der  Theile  der  Natur  mit  dem  Ganzen 
haben  mir  sehr  gefallen,  obgleich  ich  nicht  recht  fassen 
kann,  wie  man  die  Ordnung  imd  die  Uebereinstimmung, 
wie  Sie  zu  wollen  scheinen,  aus  der  Natur  ganz  entfernen 
kann,  zumal  Sie  selbst  anerkennen,  dass  jeder  Körper 
von  anderen  umgeben  ist  und  dass  diese  sich  gegenseitig 
in  fester  und  beständiger  Weise  zum  Dasein  und  Wirken 
bestimmen  und  dabei  in  allen  zusammen  das  Verhältniss 
der  Bewegung  zur  Ruhe  unverändert  bleibt,  was  mir 
gerade  das  wirkliche  Verhältniss  einer  wahren  Ordnung 
zu  sein  scheint.*^)  Indess  verstehe  ich  Sie  vielleicht  bei 
diesem  Punkte  ebenso  wenig  ganz,  wie  in  dem,  was  Sie 
früher  über  die  Gesetze  von  Descartes  bemerkt  haben ; 
ich  bitte  Sie  deshalb,  mich  zu  belehren,  wo  sowohl  D  e  s  - 
cartesalsHuygensin  den  Gesetzen  der  Bewegung  ge- 
irrt haben.  Sie  würden  mir  einen  grossen  Dienst  leisten, 
den  zu  verdienen  ich  nach  Kräften  mich  bemühen  werde. 

Als  Herr  Huygens  hier  in  London  die  Versuche, 
welche  seine  Hypothesen  bestätigen  sollen,  anstellte, 
war  ich  nicht  anwesend.    Ich  höre  jedoch,  dass  er  unter 

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Naturwiflsenschaftiiche  Beobachtungen.  53 

Anderem  eine  Kugel  von  einem  Pfunde  an  einen  Faden 
gleich  einem  Pendel  aufgehangen  habe;  bei  deren  Fall 
habe  sie  eine  andere  ebenso  aufgehangene,   aber  nur 
halb  so  schwere  Kugel  in  einem  Winkel  von  40  Grad 
getroffen.     Huygens  habe  nutteist  einer  kurzen  alge- 
braischen Berechnung  die  Wirkung  vorausgesagt  und 
diese  habe  auf  das  Genaueste  der  Voraussagung  ent- 
sprochen.   Ein  bedeutender  Mann,  der  viele  solche  Ver- 
suche vorgeschlagen  hatte,  die  Huygens  gelöst  haben 
soll,    ist  jetzt  nicht  hier;   sobald  ich  ihn  treffen  kann, 
werde  ich  Ihnen  genauer  und  vollständiger  darüber  be- 
richten.   Einstweilen  bitte  ich,  dass  Sie  mir  mein  obiges 
Anliegen  nicht  abschlagen;  auch  theilenSie  mir  gefälligst 
mit,  wenn  Sie  etwas  Weiteres  über  Huygens*  Erfolge 
in  JPolirung  teleskopischer  Gläser  erfahren.    Ich  hoffe 
unsere  Königliche  Gesellschaft  wird  bald  nach  London 
zurückkommen,    da    die  Pest,    Gott  sei  Dank,    schon 
nachlässt.     Sie  wird  dann  wieder  ihre  wöchentlichen 
Sitzungen  halten  und  was  da  an  erheblichen  Verhand- 
lungen vorkommt,  werde  ich  Ihnen  sicherlich  mittheilen. 
Ich  habe  früher  anatomischer  Beobachtungen  er- 
wähnt.   Vor  einiger  Zeit  schrieb  mir  Herr  Boyle  (der 
Sie  herzÜeh  grüsst),  dass  ausgezeichnete  Anatomiker 
in   Oxford    ihn    versichert    hätten,    die    Luftröhre    bei 
einigen  Schafen  und   Ochsen  mit  Gras  angefüllt  ge- 
funden zu    haben;    auch  wären  Sie  vor  einiger   Zeit 
zur   Besichtigung   eines    Ochsen    eingeladen    worden, 
welcher  zwei  oder  drei  Tage  den  Kopf  fortwährend  steif 
und  aufgerichtet  gehalten  habe  und  an  einer  den  Besitzern 
völlig  unbekannten  Krankheit  gestorben  sei.  Als  sie  nun 
bei  der  Sektion  den  Hals  und  die  Kehle  untersuchten, 
hätten  sie  mit  Erstaunen  die  Luftröhre  an  ihrem  Stamme 
ganz  mit  Gras  angefüllt  gefunden,  so,  als  wenn  es  Jemand 
mit  Gewalt  hineingestopft  hätte.  Dicsgiebt  einen  triftigen 
Anlass  zur  Untersuchung,  wie  eine  so  grosse  Menge  Gras 
dahin  hat  gelangen  können  und  wie,  nachdem  dies  ge- 
schehen, das  Thier  noch  so  lange  hat  leben  können.*^ 
Derselbe  Bekannte  zeigte  mir  noch  einen  inter- 
essanten Arzt  in  Oxford,  welcher  Milch  in  demMenschen- 
blute  gefunden  hat.     Nach  dessen  Erzählung  hat  ein 
Mädchen  nach  einem  etwas  reichlieh  um  7  Uhr  Morgens 
eingenommenen   Frühstück  gegen   11  Uhr  Vormittags 

5* 

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54  XVI,  Brief.    Oldenbarg  an  Spinoza. 

am  Fuss  sich  zur  Ader  gelassen ;  das  erste  Blut  ist  in 
eine  Schüssel  gelassen  worden  und  hat  bald  nachher 
eine  weisse  Farbe  angenommen;  das  letzte  Blut  ist  in 
ein  kleineres  Geffiss,  was  sie  in  England,  wenn  ich 
nicht  irre,  ^Sawyer^  nennen,  geflossen  und  hat  gleich 
die  Gestalt  eines  Milchkuchens  angenommen.  Nach 
5 — 6  Stunden  ist  der  Arzt  zurückgekommen,  hat  das 
Blut  in  beiden  Gefassen  besichtigt  und  das  in  der  Schüssel 
ist  halb  Blut  gewesen  und  halb  speisesaftartig,  welcher 
Speisesaft,  wie  die  wässrige  Flüssigkeit  bei  der  Milch, 
im  Blute  geschwommen  habe.  In  dem  kleineren  Ge- 
fässe  sei  Alles  nur  Speisesaft  gewesen  ohne  alles  Blut; 
als  er  beide  Flüssigkeiten  auf  dem  Feuer  erwärmt  habe, 
seien  beide  verhärtet.  Das  Mädchen  sei  gesund  ge- 
wesen und  habe  nur  wegen  der  fehlenden  monatlichen 
Reinigung  zur  Ader  gelassen ;  sonst  sei  es  von  blühender 
Gesichtsfarbe  gewesen.'*) 

Ich  wende  mich  zur  Politik.  Alle  Welt  spricht 
von  dem  Gerücht,  dass  die  Juden,  die  seit  mehr  als 
2000  Jahren  zerstreut  sind,  in  ihr  Vaterland  zurück- 
kehren wollen.  Hier  glauben  es  nur  Wenige,  aber  Viele 
wünschen  es.  Sie  werden  mir  mittheilen,  was  Sie  von 
der  Sache  hören  und  halten.  Ich  kann  so  lange  nicht 
daran  glauben,  als  die  Nachricht  nicht  von  glaubwürdigen 
Männern  aus  Konstantinopel  berichtet  wird,  wo  man  am 
meisten  dabei  interessirt  ist.**^)  Ich  möchte  wissen,  was 
den  Juden  in  Amsterdam  darüber  bekannt  ist  und  welche 
Wirkung  eine  solche  Nachricht  auf  sie  macht,  die,  wenn 
sie  wahr  ist,  die  ganzen  Verhältnisse  der  Welt  ver- 
ändern dürfte.  Auch  th eilen  Sie  mir  doch  mit,  was  die 
Schweden  und  Brandenburger  jetzt  vorhaben.'®) 

Ich  bleibe,  dess  seien  Sie  versichert, 

Ihr 

ergebener 
H.  Oldenburg. 
London,  den  8.  Dezember  1665. 

P.  8,  Was  unsere  Philosophen  über  den  neu- 
lichen Kometen  denken,  werde  ich  Ihnen,  so  Gott  will, 
bald  mittheilen. '^) 


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Ueber  die  theologisch-politische  Abhandlung.        55 

Siebzehnter  Brief  (Vom  8.  Juni  1675). 
Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Geehrter  Freund! 
Ich  will  die  gute  Gelegenheit  benutzen,  die  mir  der 
gelehrte  Herr  Bourgeois  bietet.  Er  ist  Doktor  der 
Medizin  in  Caen  und  dem  reformirten  Glauben  zugethan 
und  will  jetzt  nach  Belgien  reisen.  Ich  theile  Ihnen  daher 
mit,  dass  ich  Ihnen  schon  vor  einigen  Wochen  meinen 
X>ank  flir  Uebersendung  der  Abhandlung  abgestattet  habe ; 
indess  habe  ich  sie  bis  jetzt  noch  nicht  erhalten«  Ich  bin 
zweifelhaft,  ob  Sie  meinen  Brief  erhalten  haben.  Ich 
hatte  darin  meine  Ansicht  über  die  Abhandlung 
ausgesprochen;  jetzt  nach  weiterer  und  reif- 
licher Ueberlegung  möchte  ich  siefür  eine  vor- 
eilige erklären.  Damals  schien  mir  manches  darin  be- 
denklich für  die  Religion,  indem  ich  sie  nach  dem  Maass- 
stabe beurtheilte,  den  der  grosse  Haufe  der  Theologen 
und  die  angenommenen  Formeln  der  Konfessionen  (welche 
nämlich  die  Spaltung  der  Parteien  nur  vergrössem  dürf- 
ten) darbietet.  Wenn  ich  aber  die  ganze  Sache  tiefer 
überlege;  so  überzeugt  mich  Vieles,  dass  Sie  weit  entfernt 
sind,  etwas  zum  Schaden  der  wahren  Philosophie  zu 
unternehmen ;  vielmehr  ist  Ihr  Ziel,  den  ächten  Zweck 
der  christlichen  Religion  und  die  göttliche  Hoheit  und 
Vortrefflichkeit  einer  fruchtbringenden  Philosophie  zu 
empfehlen  und  zu  befestigen.  Da  ich  dies  als  Ihre  Ab- 
sicht annehme,  so  bitte  ich  Sie  inständig.  Alles,  was  Sie 
für  diesen  Zweck  jetzt  vorbereiten  und  bedenken,  Ihrem 
alten  und  offenherzigen  Freunde,  welcher  einem  solchen 
Vorhaben  den  glücklichsten  Erfolg  wünscht,  recht  oft 
brieflich  auseinanderzusetzen.  Ich  verspreche  Ihnen 
heilig,  von  Ihren  Mittheilungen,  wenn  Sie  es  verlangen, 
keinem  Sterblichen  etwas  zu  sagen;  ich  werde  mich  nur 
bemühen,  den  Sinn  der  braven  und  verständigen  Männer 
allmählich  fUr  die  Aufnahme  der  von  Ihnen  in  helleres 
Licht  gestellten  Wahrheiten  vorzubereiten  und  die  be- 
stehenden Vorurtheile  gegen  Ihre  Untersuchungen  zu 
beseitigen.  Täusche  ich  mich  nicht,  so  scheinen  Sie  mir 
die  Natur  und  Kraft  der  menschlichen  Seele  und  deren 

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56  XVn.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza.     XVIIL  Brief. 

Verbindung  mit  dem  Körper  tiefer  zn  dorchschanen. 
Theilen  Sie  mir  Ibre  Gedanken  hierüber  mit;  ich  bitte  da- 
rum. Leben  Sie  wohl,  vortrefflicher  Mann,  und  bewahren 
Sie  Ihre  Gunst  dem  Verehrer  Ihrer  Lehre  und  Tugend  ^2) 

H.  Oldenburg. 
London,  den  8.  Juni  1675.73) 


Achzehnter  Brief  (Vom  22.  Juli  1675). 

Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Nachdem  unser  brieflicher  Verkehr  glücklich  wieder 
hergestellt  ist,  möchte  ich  Ihnen,  geehrter  Herr  und 
Freund,  nicht  durch  die  Unterbrechimg  unseres  Brief- 
wechsels mit  meinen  guten  Diensten  fehlen.  Aus  Ihrer 
Antwort,  die  ich  am  5.  Juli  erhalten  habe,  ersehe  ich, 
dass  Sie  Ihre  aus  5  Theilen  bestehende  Abhandlung"^) 
veröffentlichen  wollen;  gestatten  Sie  mir  daher  eine 
Bitte,  welche  ans  aufrichtiger  Freundschaft  kommt, 
nämlich  nichts  darin  aufzunehmen,  was  irgend  die 
Uebung  religiöser  Tugend  zu  schwächen  scheinen 
könnte;  zumal  da  unser  ausgeartetes  und  lasterhaftes 
Zeitalter  nach  nichts  gieriger  verlangt  als  nach  solchen 
Lehren,  deren  Folgerungen  die  herrschenden  Laster 
anscheinend  in  Schutz  nehmen. 

Uebrigens  bin  ich  bereit,  einige  Exemplare  der  be- 
sagten Abhandlung  anzunehmen;  ich  bitte  Sie  nur,  sie  zu 
ihrer  Zeit  an  einen  gewissen  belgischen  in  London 
wohnenden  Kaufmann  zu  adressiren,  welcher  sie  mir 
dann  überliefern  wird.  Ich  brauchte  kein  Wort  in  Be- 
zug auf  die  Art  der  Uebersendung  zu  verlieren,  wenn  es 
mir  nicht  daran  läge,  dass  die  Bücher  sicher  in  meine 
Hände  gelangen.  Niemand  wird  zweifeln,  dass  ich  mit 
Vergnügen  sie  meinen  Freunden  hie  und  da  mittheilen 
und  den  richtigen  Preis  dafür  einziehen  werde.  Leben  Sie 
wohl  und  schreiben  Sie  mir,  wenn  Sie  Müsse  dazu  haben. 

Ihr 

ergebener 
H.  Oldenburg. 
London,  den  12.  Juli  1675. 

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Die  yerhinderte  Herausgabe  von  Spinoza's  Ethik.     57 

Neunzehnter  Brief  (Vom  Sept.  oder  Okt.  1675). 
Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Geehrter  und  werther  Freund! 
Als  ich  Ihren  Brief  vom  22.  Juli  erhielt,  war  ich  in 
Amsterdam,  um  das  Buch,  wovon  ich  Ihnen  geschrieben 
hatte,  drucken  zu  lassen.  Während  ich  dies  dort  be- 
trieb, wurde  das  Gerücht  verbreitet,  dass  ein  Buch  von  mir 
über  Gott  unter  der  Presse  sei,  in  dem  ich  zeige,  dass 
es  keinen  Gott  gebe.  Die  Meisten  glaubten  an  das  Ge- 
rücht und  einige  Theologen  (die  Urheber  dieses  Gerüchts) 
nahmen  davon  Veranlassung,  sich  bei  dem  Fürsten  und 
dem  Stadtrat!!  über  mich  zu  beklagen.  Dabei  nnterliessen 
die  thörichten  Anhänger  des  Descartes  nicht,  fort- 
während meine  Ansichten  und  Schriften  zu  verwünschen, 
um  den  Verdacht  abzuwenden,  als  wären  sie  mirzugethan. 
Selbst  jetzt  fahren  sie  damit  fort  und  als  ich  dies  durch 
glaubwürdige  Männer  erfuhr  und  mir  versichert  wurde, 
dass  die  Theologen  mir  überall  nachstellten,  so  beschloss 
ich,  die  Herausgabe  zu  verschieben,  bis  ich  sähe,  wo  die 
Sache  hinaus  wolle,  und  weil  ich  Ihren  mir  gegebenen 
Rath  befolgen  wollte,  wie  ich  Ihnen  mitgetheilt  hatte. 
Indess  wird  die  Angelegenheit  täglich  schlimmer  und 
dabei  bin  ich  ungewiss,  was  ich  thun  soll.  Doch  habe 
ich  deshalb  meine  Antwort  auf  Ihren  Brief  nicht  länger 
aufschieben  wollen  und  so  danke  ich  Ihnen  zunächst  sehr 
für  die  freundschaftlichen  Ermahnungen,  bitte  aber,  sie 
mir  näher  auseinanderzusetzen,  damit  ich  die  Sätze 
kennen  lerne,  welche  der  Ausübung  der  religiösen  Tugend 
Schaden  bringen  könnten.  Denn  mir  scheint  das,  was  mit 
der  Vernunft  stimmt,  auch  der  Tugend  am  meisten  zu 
nützen.  Ferner  bitte  ich,  wenn  es  Sie  nicht  belästigt,  mir 
die  Stellen  in  der  theologisch-politischen  Abhandlung 
zu  bezeichnen,  welche  den  Gelehrten  bedenklich 
scheinen.  Ich  möchte  nämlich  diese  Abhandlung  in 
Anmerkungen  erläutern  und  diese  Vorurtheile,  wo  mög- 
lich, beseitigen.    Leben  Sie  wohl. 

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58     ^X.  Brief.    Oldenburg  an  Spinoza.    XXI.  Brief. 

Zwanzigster  Brief.  (Vom  15.  November  1675) 
Von  H.  Oldenburg  ^  Spinoza. 

Wie  ich  aus  Ihrem  letzten  Briefe  ersehe,  schwebt 
die  Herausgabe  Ihres  für  das  Publikum  bestimmten 
Buches  in  Gefahr.  Ich  kann  Ihren  Plan  nur  billigen, 
wonach  Sie  die  Stellen  Ihrer  theolo^sch-politischen  Ab- 
handlung, welche  bei  den  Lesern  Anstoss  erregt  haben, 
erläutern  und  mildem  wollen.  Es  sind  vorstiglicb  die 
Stellen,  wo  in  zweideutiger  Weise  von  Gott  und  der 
Natur  gesprochen  wird;  die  Meisten  meinen,  dass  Sie 
beide  fUr  identisch  hinstellen.  Auch  scheinen  Sie  Vielen 
die  Glaubwürdigkeit  und  den  Werth  der  Wunder  aufzu- 
heben, obgleich  es  bei  allen  Christen  feststeht,  dass  nur 
auf  ihnen  die  Gewissheit  der  göttlichen  Offenbanmg  be- 
ruht. Auch  sagt  man,  dass  Sie  Ihre  wahre  Meinung  über 
Jesus  Christus,  den  Erlöser  der  Welt  und  den  alleinigen 
Mittler  der  Menschen,  sowie  über  dessen  Fleischwerdnng 
und  Genugthuimg  verhüllen.  Man  verlangt,  dass  Sie  über 
diese  drei  Punkte  sich  deutlich  und  offen  aussprechen. 
Wenn  Sie  dies  th&ten  und  damit  die  aufrichtigen  und 
einsichtigen  Christen  beruhigten,  so  würden  Sie  nach 
meiner  Ansicht  in  Ihren  Angelegenheiten  unbehelligt 
bleiben.  '^^)  Dies  habe  ich  Ihnen  kurz  mittheilen  wollen, 
und  verbleibe  Ihnen  ergeben.  Leben  Sie  wohl. 
Geschrieben  am  16.  November  1675. 

(Lassen  Sie  mich  bald  mit  einem  Worte  wissen, 
ob  Sie  diese  Zeilen  richtig  erhalten  haben.) 


Einundzwanzigster  Brief  (Vom  Novemb.  1675). 
Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Geehrter  Herr. 
Ihren  kurzen  Brief  vom  15.  November  habe  ich  ver- 
gangenen Sonnabend  erhalten.   Sie  deuten  darin  nor  die 

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Gott  und  die  Natur.    Die  Wunder.  59 

Stellen  dertheologisch-poUtischen  Abhandlung  an,  welche 
die  Leser  verletzt  haben,  während  ich  doch  auch  die  An- 
sichten zu  erfahren  hofiPte,  die,  wie  Sie  vorher  bemerkt 
haben,  anscheinend  die  Ausübung  der  religiösen  Tugend 
schwächen  könnten.    Um  Ihnen  indess  meine  Meinung 
über  jene  drei  Punkte  nicht  vorzuenthalten,  so  gestehe 
ich,  dass  ich  über  Gott  und  die  Natur  eine  Ansicht  habe, 
welche  von  der  der  neueren  Christen  sehr  abweicht.  Ich 
erkenne  nämlich  Gott  als  die  einwohnende  Ursache  aller 
Dinge  und  nicht  als  eine  ihnen  äusserliche  Ursache  an. 
Alles,  sage  ich,  ist  in  Gott,  und  bewegt  sich  in  Gott ;  ich 
behaupte  es  mit  Paulus  und  vielleicht  mit  allen  alten 
Philosophen,  wenn  auch  in  einem  anderen  Sinne;  ja  ich 
möchte  selbst  sagen :  mit  allen  alten  Juden,  soweit  sich 
nach  den  alten,  freilich  sehr  verflilschten  Ueberlieferungen 
urtheilen  lässt.    Wenn  indess  Einzelne  meinen,  dass  die 
theologisch-politische  Abhandlung  auf  der  Identität  von 
Gott  und  Natur  beruhe  (wobei  sie  unter  Natur  eine  Art 
Masse  oder  körperlichen  Stoff  verstehen),    so  sind  sie 
gänzlich  im  Irrthume.  '**)    In  Bezug  auf  die  Wunder  bin 
ich  dagegen  überzeugt,  dass  die  Gewissheit  der  göttlichen 
Offenbarung  lediglich  aus  der  Weisheit  der  Lehre,  aber 
nicht  aus  Wundem,  d.  h.  aus  der  Unwissenheit  abgeleitet 
werden  kann,  wie  ich  ausführlich  im  6.  Kapitel  über  die 
Wunder  dargelegt  habe.     Ich  füge  hier  nur  bei,  dass 
Religion  und  Aberglaube  nach  meiner  Ansicht  sich  vor- 
züglich dadurch  unterscheiden,  dass  dieser  sich  auf  die 
Unwissenheit  und  jene  auf  die  Weisheit  als  Grundlage 
stützt  Dies  ist  auch  der  Grund,  weshalb  die  Christen 
sich  nicht  durch  Treue,  Nächstenliebe  und  andere  Früchte 
des  heiligen  Geistes,  sondern  nur  durch  Meinungen  von 
Anderen  unterscheiden;  denn  sie  stützen  sich,  wie  alle 
Anderen,  nur  auf  die  Wunder,  d.  h.  auf  die  Unwissenheit, 
welche  die  Quelle  alles  Bösen  ist  und  sie  verwandeln 
damit  den  wahren  Glauben  in  Aberglauben.  Doch  zweifle 
ich  sehr,  ob  die  Könige  je  es  gestatten  werden,  Mittel 
gegen  diesen  Aberglauben  anzuwenden.  Um  Ihnen  end- 
lich auch  über  den  dritten  Punkt  meine  Ansicht  mitzu- 
theilen,  so  ist  nach  meiner  Ansicht  zum  Heile  der  Men- 
schen nicht  nöthig,  dass  sie  Christus  nach  dem  Fleische 
kennen;   vielmehr  muss  man  von  dem  ewigen  Sohne 
Gottes,  d.  h.  von  der  ewigen  Weisheit  Gottes,  die  sich  in 

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60  X^-  Brief.  Sp.  aa  Oldenb.  XXII.  Brief.  Oldenb.  an  Sp. 

allen  Dingen,  hauptsfichlich  aber  in  der  mensehlichen 
Vernunft  und  vor  allem  am  meisten  in  Jesu  Christo 
offenbart  hat,  ganz  anders  denken.  Niemand  kann  ohne 
diese  Weisheit  znm  Stand  der  Seligkeit  gelangen;  denn 
nur  sie  lehrt,  was  wahr  und  was  falsch,  was  gut  und 
was  böse  ist.  Weil  diese  Weisheit,  wie  gesagt,  durch 
Jesus  Christus  am  meisten  offenbart  worden  ist,  des- 
halb haben  seine  Jünger,  soweit  sie  ihnen  von  ihm 
offenbart  worden,  gepredigt  und  gezeigt,  dass  sie  sich 
dieses  Geistes  Christi  vor  den  Anderen  rühmen  können. 
Wenn  dann  einzelne  Kirchen  noch  hinzufögen,  dass 
Gott  die  Menschennatur  angenommen  habe,  so  habe  ich 
ausdrücklich  gesagt,  dass  ich  nicht  verstehe,  was  sie 
sagen;  vielmehr  scheinen  sie  mir,  offen  gestanden, 
ebenso  verkehrt  zu  sprechen,  als  wenn  Jemand  mir 
sagte,  dass  der  Kreis  die  Natur  des  Vierecks  angenom- 
men habe.  Dies  wird  zur  Erläuterung  meiner  Meinung 
über  diese  drei  Punkte  gentigen;  ob  es  aber  den  Ihnen 
bekannten  Christen  gefallen  wird,  werden  Sie  am  besten 
beurtheilen  können.     Leben  Sie  wohl.") 


Zweiundzwanzigster  Brief  (Vom  16.  Dec.  1675). 
Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Wenn  Sie  mich  der  zu  grossen  Kürze  angeklagt  haben, 
so  will  ich  es  diesmal  durch  übertriebene  Ausführlichkeit 
wieder  gut  machen.  Sie  erwarteten,  wie  ich  sehe,  eine 
Aufzählung  der  Ansichten  in  Ihren  Schriften,  welche  deren 
Lesern  die  Uebnng  der  religiösen  Tugend  erschüttern 
dürften ;  ich  werde  daher  sagen,  was  dieselben  am  meisten 
bedrückt.  Sie  scheinen  eine  fatalistische  Nothwendigkeit 
aller  Dinge  und  Handlungen  anzunehmen  und  Ihre  Leser 
glauben,  dass,  wenn  man  dies  gestattet  und  behauptet,  da- 
mit der  Nerv  aller  Gesetze  sowie  aller  Tugend  und 
Religion  durchschnitten  sei  und  aller  Lohn  und  Strafe 
nutzlos  werde.  Dieser  Zwang  und  diese  Nothwendigkeit 
gilt,  wie  Jene  meinen,  auch  als  Entschuldigung;  deshalb 
wird  vor  Gottes  Angesicht  Keiner  unentschuldbar  sein. 

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Wunder  und  Unwiesenheit.  61 

Wenn  das  Schicksal  uns  führt,  und  wenn  Alles  mit  har- 
ter und  geschlossener  Hand  auf  festen  und  unausweich- 
lichen Wegen  geführt  wird,  so  können  Ihre  Leser  nicht 
begreifen,  wo  da  noch  Kaum  für  Schuld  und  Strafe  blei- 
ben könne.  Welcher  Keil  für  diesen  Knoten  anwendbar, 
ist  fürwahr  schwer  zu  sagen.  Wenn  Sie  eine  Hülfe  in 
dieser  Frage  bieten  können,  so  bitte  ich,  sie  mich  wissen 
und  kennen  lernen  zu  lassen. 

In  Bezug  auf  Ihre  Ansicht,  die  Sie  mir  über  die  drei 
von  mir  bezeichneten  Punkte  eröffnet  haben,  erheben  sich 
mancherlei  Fragen.  Zunächst,  in  welchem  Sinne  Sie  die 
Wunder  und  die  Unwissenheit  für  gleichbedeutend 
und  für  ein  und  dasselbe  halten,  was  nach  Ihrem  letzten 
Briefe  der  Fall  zu  sein  scheint.  Denn  die  Erweckung  des 
Lazarus  von  den  Todten  und  die  Wiederauferstehung 
Jesu  Christi  von  den  Todten  scheinen  alle  Kräfte  der  er- 
schaffenen Natur  zu  übersteigen  und  nur  der  göttlichen 
Macht  möglich,  und  dasjenige  zeigt  von  keiner  schuldba- 
ren Unwissenheit,  was  nothwendig  die  Grenzen  eines  end- 
lichen Verstandes,  der  in  feste  Schranken  eingeschlossen 
ist,  übersteigt.   Meinen  Sie  nicht,  dass  es  dem  erschaffe- 
nen Verstände  und  der  Wissenschaft  ansteht,  eine  solche 
Wissenschaft  und  Macht  des  unerschaffenen  Vei-standes 
und  höchsten  Wesens  anzuerkennen,  die  selbst  das  durch- 
dringen und  vollftihren  kann,  wovon  weder  die  Ursache 
noch  die  Art  und  Weise  von  uns  schwachen  Menschen 
angegeben  uud  erklärt  werden  kann?  Wir  sind  Menschen 
und  deshalb  ist  alles  Menschliche  von  uns  nicht  abzuwei- 
sen.   Wenn  Sie  ferner  gestehen,  dass  Sie  nicht  fassen 
können,  wie  Gott  wirklich  die  menschliche  Natur  hat  an- 
nehmen können,  so  kann  man  mit  Recht  Sie  fragen,  wie 
Sie  die  Stellen  unseres  Evangeliums  und  des  Bnefes  an 
die  Hebräer  verstehen,  von  welchen  die  ersteren  sagen : 
„dass  das  Wort  Fleisch  geworden,"  und  die  letztere :  „der 
„Sohn  Gottes  habe  nicht  die  Engelsnatur,  sondern  den 
„Samen  Abraham's  angenommen."  Der  ganze  Zusammen- 
hang des  Evangeliums  führt,  meine  ich,  dahin,  dass  der 
eingeborene  Sohn  Gottes,  der  Xoyo;  (welcher  Gott  und  bei 
Gott  war),  sich  in  menschlicher  Natur  gezeigt  hat  und  als 
Lösegeld  (a»mXuTpov)  für  unsere  Sünden   in  das  Leiden 
und  den  Tod  gegangen  ist.    Ich  bitte  Sie,  uns  zu  beleh- 
ren, was  über  diese  und  andere  Punkte  zu  sagen  ist,  ohne 

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62  XXII.  Brief.  Oldenb.  an  Spinoza.  XXin.Br.  Sp.anOldenb. 

die  Wahrheit  des  Evangeliums  und  der  christlichen 
Religion,  der  Sie  wohl  zugethan  sind,  zu  erschüttern. 

Ich  wollte  Ihnen  noch  mehr  schreiben,  allein  uner- 
wartete Freunde  unterbrechen  mich,  und  ich  kann  sie 
nicht  abweisen.  Indess  wird  schon  das,  was  ich  hier 
angeführt  habe,  geniigen  und  möglicherweise  Ihnen 
als  Philosophen  nicht  behagen.  —  Leben  Sie  also  wohl 
und  glauben  Sie,  dass  ich  ein  beständiger  Verehrer 
Ihrer  Gelehrsamkeit  und  Wissenschaft  bleibe. 

London,  den  16.  Dezember  1675. 


Dreiundzwaiizigster  Brief  (Vom  Anfang  des 
Januar  1676). 

Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Geehrter  Herr! 

Endlich  weiss  ich,  was  ich  nach  Ihrem  Verlangen 
nicht  öffentlich  bekannt  machen  sollte;  allein  es  bildet 
die  vornehmste  Grundlage  von  Allem,  was  die  zu  ver- 
öffentlichende Abhandlung ^^)  enthält;  ich  möchte  daher 
kurz  erklären,  in  welcher  Weise  ich  die  Schicksals- 
Nothwendigkeit  aller  Dinge  und  Handlungen  annehme. 
Ich  unterwerfe  nämlich  Gott  in  keiner  Weise  diesem 
Schicksal,  sondern  ich  nehme  nur  an,  dass  Alles  mit 
unvermeidlicher  Nothwendigkeit  aus  Gottes  Natur  so 
folgt,  wie  Alle  annehmen,  dass  aus  dieser  Natur  Gottes 
folgt,  dass  Gott  sich  selbst  kennt.  Niemand  leugnet, 
dass  dies  aus  Gottes  Natur  nothwendig  folgt,  und 
doch  nimmt  Niemand  an,  Gott  sei  durch  das  Schicksal 
hierbei  gezwungen;  viehnehr  erkenne  er,  trotz  der 
Nothwendigkeit,  durchaus  frei  sich  selbst.'*) 

Auch  hebt  diese  unvermeidliche  Nothwendigkeit  der 
Dinge  weder  das  göttliche  noch  menschliche  Recht  auf. 
Denn  mögen  die  moralischen  Vorschriften  die  Gestalt  des 
Gesetzes  oder  der  Pflicht  von  Gott  selbst  empfangen  oder 
nicht,  so  bleiben  sie  doch  göttlich  und  heilsam,  und  mag 
das  Gute,  was  aus  der  Tugend  und  Liebe  zu  Gott  folgt, 

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Die  Nothwendigkoit.  Die  Wunder.  Die  Auferatehang.  63 

von  Gott  als  einem  Richter  kommen,  oder  aus  der  Noth- 
wendigkeit  der  göttlichen  Natur  sich  ergeben,  so  bleibt 
es  deshalb  gleich  wünschenswerth,  wie  umgekehrt  die 
Uebel,  welche  aus  schlechten  Handlungen  und  Leiden- 
schaften folgen,  deshalb,  weil  dies  mit  Nothwendigkeit 
geschieht,  nicht  weniger  zu  fürchten  sind.  Mögen  wir 
das,  was  wir  thun,  nothwendig  oder  zuföllig  thun,  so 
werden  wir  doch  durch  Hoffnung  und  Furcht  getrieben. 

Femer  sind  die  Menschen  vor  Gott  aus  keinem  an- 
deren Grunde  entschuldbar,  als  weil  sie  in  seiner  Macht 
sind,  wie  derThon  in  der  Macht  des  Töpfers,  der  aus 
derselben  Masse  Gefässe  macht,  die  einen  zu  Ehren,  die 
andern  zu  Unehren.  *'^)  Wenn  Sie  dem  nur  ein  wenig 
Aufmerksamkeit  schenken,  so  werden  Sie  sicherlich 
leicht  auf  alle  die  Gegengründe  antworten  können, 
welche  man  dieser  Ansicht  entgegenstellt,  wie  schon 
Viele  es  bei  mir  erfahren  haben.  ^*>) 

Die  Wunder  und  die  Unwissenheit  habe  ich  für 
gleichbedeutend  angenommen,  weil  Die,  welche  Gottes 
Dasein  und  die  Religion  auf  die  Wunder  stützen,  eine 
dunkle  Sache  durch  eine  noch  dunklere,  die  sie  gar  nicht 
kennen,  darlegen  wollen  und  so  eine  neue  Art  zu  be- 
weisen einführen^  wobei  Sie  die  Sache  nicht  auf  die  Un- 
möglichkeit, sondern  auf  die  Unkenntniss  zurückföhren."^) 
Uebrigens  habe  ich  meine  Meinung  über  die  Wunder  ge- 
nügend, wenn  ich  nicht  irre,  in  der  theologisch-politischen 
Abhandlung  ausgesprochen.  Dem  füge  ich  nur  hinzu, 
dass,  wenn  Sie  darauf  Acht  haben,  wie  Christus  nicht 
der  Kathsversammlung,  nicht  dem  Pilatus  und  keinem 
Ungläubigen,  sondern  nur  den  Heiligen  erschienen  ist« 
wieGott  weder  eine  Rechte  noch  eine  Linke  hat,  wie  er 
nicht  an  einem  Orte,  sondern  überall  seinem  Wesen  nach 
ist,  wie  der  Stoff  überall  derselbe  ist,  und  wie  Gott  ausser- 
halb der  Welt  in  einem  eingebildeten  Räume,  den  sie  an- 
nehmen, sich  nicht  offenbart ,  und  wie  endlich  die  Ver- 
bindung des  menschlichen  Körpers  blos  durch  das  Ge- 
wicht der  Luft  in  feste  Schranken  gehalten  wird,  so 
werden  sie  leicht  erkennen,  dass  £ese  Erscheinung 
Christi  ganz  der  gleicht,  wo  Gott  dem  Abraham  er- 
schien, als  dieser  Menschen  sah,  die  er  zu  sich  zur 
Mahlzeit  einlud.  Sie  werden  mir  aber  sagen,  dass  alle 
Apostel  geglaubt  haben,  dass  Christus  von  dem  Tode 

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64  XXIII.  Brief.     Spinoza  an  Oldenburg. 

auferstanden  und  wahrhaft  gen  Himmel  gefahren  sei. 
Dies  leugne  ich  nicht;  auch  Abraham  hat  geglaubt,  dass 
Gott  bei  ihm  gespeist  habe,  und  alle  Juden  haben  ge- 
glaubt)  dass  Gott  im  Feuer  vom  Himmel  auf  den  Berg 
Sinai  herabgekommen  und  unmittelbar  mit  ihnen  ge- 
sprochen habe,  obgleich  doch  dies  und  viele  andere  Er- 
dichtungen oder  Offenbarungen  nur  der  Fassungskraft 
und  den  Meinungen  Derer  anbequemt  worden  sind,  wel- 
chen Gott  seinen  Willen  dadurch  offenbaren  wollte.  Dar- 
aus schliesse  ich,  dass  die  Auferstehung  Christi  von  den 
Todten  in  Wahrheit  eine  geistige  gewesen  und  nur  den 
Gläubigen  nach  ihrer  Fassungskraft  offenbart  worden  ist, 
nämlich,  dass  Christus  mit  der  Ewigkeit  begabt  gewesen 
und  von  den  Todten  (die  Todten  nehme  ich  hier  in  dem 
Sinne,  wie  Cliristus  sagte:  „Lasst  die  Todten  ihre  Todten 
begraben")  8«  b)  auferstanden  ist,  und  zugleich  im  Leben 
wie  im  Tode  das  Beispiel  vorzüglicher  Heiligkeit  gegeben 
hat.  *•)  So  weit  erweckt  er  seine  Schüler  von  den  Tod- 
ten, als  diese  selbst  diesem  Beispiel  im  Leben  und  Tode 
nachfolgen.  Es  wäre  nieht  sekwec,  die  gaose  Lehre  des 
Evangeliums  nach  dieser  Annahme  zu  erklären.  Das 
15.  Kapitel  vom  ersten  Briefe  an  die  Korinther  kann 
nur  bei  dieser  Annahme  erklärt  so  wie  Pauli  Gründe  ver- 
standen werden,  während  sie  nach  der  gewöhnlichen  An- 
nahme sehr  schwach  erscheinen  und  leicht  sich  wider- 
legen lassen;  wobei  ich  noch  unerwähnt  lasse,  dass  über- 
haupt die  Christen  das,  was  die  Juden  fleischlich  auf- 
fassen, in  geistigem  Sinne  verstehen.  Die  Schwäche  des 
Menschen  erkenne  ich  übrigens  mit  Ihnen  an.  Allein 
ich  frage  Sie,  ob  wir  schwachen  Menschen  eine  so  grosse 
Kenntniss  der  Natur  besitzen,  um  bestimmen  zu  können, 
wie  weit  ihre  Kraft  und  Macht  sich  erstreckt,  und  was 
ihre  Kraft  übersteigt?  Da  Niemand  ohne  Ueberhebung 
solche  Kenntniss  beanspruchen  kann,  so  darf  man  ohne 
Eitelkeit  die  Wunder  möglichst  aus  natürlichen  Ursachen 
erklären ;  und  wenn  man  Einzelnes  nicht  erklären  und 
auch  nicht  beweisen  kann,  weil  es  widersinnig  ist,  so 
ist  es  rathsamer,  sein  Urtheil  darüber  zurückzuhalten 
und  die  Religion,  wie  ich  gesagt,  nur  auf  die  Weisheit 
Gottes  zu  gründen.  ^^  Sie  meinen  endlich,  dass  die 
Steilen  aus  dem  Evangelium  Johannis  und  aus  dem  Briefe 
an  die  Hebräer  meinen  Ansichten  entgegenstehen;  allein 

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Nothwendigkeit  oder  Freiheit.  65 

dies  kommt  nur  davon,  dass  Sie  die  Wendungen  orien- 
talischer Sprachen  mit  dem  Maasse  der  europäischen 
Sprachweise  messen;  und  wenn  auch  Johannes  sein  Evan- 
gelium griechisch  geschrieben  hat,  so  ist  es  doch  in  he- 
bräischem Stile  abgefasst.  Sei  dem  also,  wie  ihm  wolle, 
so  frage  ich,  ob  Sie  glauben,  dass,  wenn  die  Schrift  sagt, 
Gott  habe  in  einer  Wolke  sich  offenbaret  oder  habe  in 
dem  Zelte  oder  im  Tempel  gewohnt,  Gott  da  selbst  die 
Natur  einer  Wolke  oder  eines  Zeltes  oder  Tempels  an- 
genommen habe?  Da  ist  vielmehr  die  Hauptsache,  was 
Christus  von  sich  gesagt,  nämlich  dass  er  der  Tempel 
Gottes  sei,  **^ )  weil,  wie  ich  oben  bemerkt,  Gott  sich 
vorzüglich  in  Christus  offenbaii;  hat,  was  Johannes  in 
seiner  kräftigem  Sprachweise  so  ausdrückt:  Das  Wort 
ist  Fleisch  geworden.     Doch  genug  davon.  ^) 


Vierundzwanzigster  Brief  (Vom  14.  Jan.  1676). 

Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

„Recht  handeln.^ 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief) 

Sie  haben  es  getroffen,  wenn  Sie  annehmen^  cFass  ich 
deshalb  jene  Schicksals-Noth wendigkeit  aUer Dinge  nicht 
verbreitet  haben  möchte,  weil  Sie  die  Uebung  derTugend 
schädigen  und  den  Werth  von  Ijoitn  und  Strafe  vernich- 
ten würde.  Was  Sie  in  ihr«m  letzten  Briefe  darüber 
anfuhren,  scheint  mir  die  Frage  noch  nicht  zu  erledigen 
und  kann  die  Gemüther  der  Menschen  nicht  beruhigen. 
Sind  wir  Menschen  bei  allen  unseren  Handlungen,  und 
zwar  bei  den  moralischen  ebenso  wie  bei  den  natür- 
lichen, so  in  Gottes  Gewalt  wie  der  Thon  in  der  Hand 
des  Töpfers,  so  frage  ich,  mit  welcher  Stirn  kann  man 
noch  Jemand  von  uns  anklagen,  dass  er  so  oder  anders 
gehandelt  habe,  da  es  ihm  überhaupt  unmöglich  war,  an- 
ders, als  wie  geschehen,  zu  handeln?  Können  wir  dann 
nicht  Alle  in  gleicherweise  Gott  entgegnen:  „Dein  un- 
beugsames Schicksal  und  Deine  unwiderstehliche  Macht 

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66  XXIV.  Brief.     Oldenburg  an  Spinoza. 

hat  uns  so  zn  handeln  genöthigt,  und  wir  haben  nicht 
anders  gekonnt;  weshalb  legst  Du  uns  also  so  harte 
Strafen  auf,  da  wir  sie  doch  nicht  vermeiden  konnten, 
wenn  Du  Alles  aus  höchster  Nothwendigkeit  nach  Dei- 
nem Belieben  und  Gefallen  wirkst  und  leitest?^  Wenn 
Sie  sagen,  die  Menschen  seien  vor  Gott  nur  deshalb 
unentschuldbar,  weil  Sie  in  Gottes  Macht  sind,  so 
möchte  ich  diesen  Grund  umkehren  und  mit  mehr  Recht, 
wie  ich  glaube,  erwidern,  dass  gerade  deshalb  die 
Menschen  entschuldbar  sind,  weil  sie  in  Gottes  Gewalt 
sind;  denn  der  Einwand  liegt  auf  der  Hand:  „Deine 
Macht,  0  Gott,  ist  unwiderstehlich;  deshalb  bin  ich 
mit  Recht  zu  entschuldigen,  da  ich  nicht  anders  han- 
deln konnte!'*  ■») 

Wenn  Sie  endlich  auch  jetzt  noch  die  Wunder 
und  die  Unwissenheit  für  gleichbedeutend  ansehen,  so 
scheinen  Sie  die  Macht  Gottes  und  der  Menschen,  selbst 
der  klügsten,  in  dieselben  Grenzen  einzuschliessen; 
als  wenn  Gott  nichts  thun  und  hervorbringen  könnte, 
wofür  die  Menschen  nicht  den  Grund  angeben  könnten, 
wenn  sie  ihre  geistigen  Kräfte  nur  anstrengen  wollten.  ^) 
Ueberdem  ist  die  Geschichte  von  Christi  Leiden,  Tod^ 
Begräbniss  und  Auferstehung  mit  so  lebhaften  und 
wahren  Farben  geschildert,  dass  ich  Sie  wohl  auf  Ihr 
Gewissen  fragen  darf,  ob  Sie  dies  allegorisch  oder 
nicht  vielmehr  wörtlich  verstehen,  sobald  Sie  nur  von 
der  Wahrheit  der  Geschichte  überzeugt  sind?  Die 
Nebenumstände,  welche  von  den  Evangelisten  hierbei 
so  deutlich  erzählt  worden  sind,  scheinen  durchaus 
dahin  zu  drängen,  dass  man  die  Erzählung  wörtlich 
zu  nehmen  hat.  Dies  Wenige  habe  ich  bei  diesem 
Punkt  bemerken  wollen  und  ich  bitte,  dass  Sie  es  mir 
vergeben  und  mir  mit  Ihrer  Offenheit  freundlichst  ant- 
worten. 

Ueber  die  jetzigen  Arbeiten  der  Königl.  Sozietät 
ein  ander  Mal.  Leben  Sie  wohl  und  behalten  Sie 
mich  lieb. 

London,  den  14.  Januar  1676. 


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lieber  Nothwendigkeit  und  Schuld.  g7 


Fun fundz wanzigster  Brief  (Kurze  Zeit  nach 
dem  Januar  1676  geschrieben). 

Von  Spinoza  an  H.  Oldenburg. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Geehrter  Herr! 

Wenn  ich  in  meinem  vorigen  Briefe  gesagt  habe, 
dass  wir  deshalb  unentschuldbar  seien,  weil  wir  in  Gottes 
Macht  so  wären,  wie  der  Thon  in  der  Hand  des  Töpfers, 
so  habe  ich  es  in  dem  Sinne  gemeint,  dass  Niemand  Gott 
es  vorwerfen  kann,  er  habe  uns  eine  schwache  Natur  und 
eine  ohnmächtige  Seele  gegeben.^)  So  widersinnig  als 
die  Klage  eines  Kreises  sein  würde,  dass  ihm  Gott  nicht 
die  Eigenschaften  einer  Kugel  zugetheilt,  oder  die  Klage 
eines  Kindes,  das  am  Steine  leidet,  dass  Gott  ihm  nicht 
einen  gesunden  Körper  gegeben  habe,  so  widersinnig 
würde  es  sein,  wenn  der  geistig  schwache  Mensch  sich 
beklagen  wollte,  dass  Gott  ihm  die  Geistesstärke  und  die 
wahre  Erkenntniss  und  Liebe  Gottes  selbst  versagt  habe, 
und  ihm  eine  so  schwache  Natur  gegeben  habe,  dass  er 
seine  Begierden  weder  hemmen  noch  massigen  könne. 
Denn  der  Natur  jedes  Dinges  kommt  nur  das  zu,  was 
ans  seiner  Ursache  nothwendig  folgt.  Dass  es  nun  aber 
nicht  zu  jedes  Menschen  Natur  gehört,  starken  Geistes 
zu  sein,  und  dass  ein  gesunder  Körper  nicht  mehr  in 
unserer  Macht  steht,  wie  eine  gesunde  Seele,  kann  Nie- 
mand bestreiten,  wenn  er  nicht  die  Erfahrung  und  Ver- 
nunft verleugnen  will. 

Sie  sagen  jedoch:  Wenn  die  Menschen  aus  der  Noth- 
wendigkeit ihrer  Natur  sündigen,  so  sind  sie  zu  entschul- 
digen; aber  Sie  erklären  sich  nicht,  was  Sie  daraus  fol- 
gern wollen,  nämlich  ob  Gott  nicht  auf  sie  zürnen  kann, 
oder  ob  sie  der  Seligkeit,  d.  h.  der  Erkenntniss  und  Liebe 
Gottes  würdig  sind.  Meinen  Sie  Ersteres,  so  gebe  ich 
durchaus  zu,  dass  Gott  nicht  zürnt,  da  Alles  nur  nach 
seinem  Willen  geschieht;  aber  ich  bestreite,  dass  deshalb 
Alle  selig  weraen  müssen;  denn  die  Menschen  können 
entschuldbar  sein  und  doch  der  Seligkeit  entbehren  und 

Spinoza,  Briefe.  oigtiSdbyV^OOgie 


gg  XXV.  Brief.    Spinoza  an  Oldenburg. 

vielerlei  Schmerzen  leiden.  Denn  das  Pferd  bat  keine 
Schuld,  dass  es  ein  Pferd  und  kein  Mensch  ist;  trotzdem 
muss  es  aber  ein  Pferd  und  kein  Mensch  sein,  und  wer 
durch  den  Hundebiss  toll  wird,  ist  zwar  ohne  Schuld, 
aber  wird  doch  mit  Recht  getödtet,  und  wer  seine  Be 
gierden  nicht  regeln  und  durch  die  Furcht  vor  dem  Ge- 
setz nicht  zügeln  kann,  ist  zwar  wegen  seiner  Schw^fiche 
zu  entschuldigen,  aber  er  kann  sich  nicht  der  Gemüths- 
ruhe  und  der  Erkenntniss  und  Liebe  Gottes  erfreuen, 
sondern  geht  nothwendig  zu  Grunde.^)  Auch  brauche 
ich  wohl  dabei  nicht  zu  erinnern,  dass  wenn  die  Schrift 
sagt,  Gott  zürne  über  die  Sünder  und  sei  ein  Richter,  der 
über  die  Handlungen  der  Menschen  erkenne,  entscheide 
und  urtheile,  dies  nach  menschlicher  Weise  und  nach 
der  gewohnten  Weise  der  Menge  geschieht;  denn  die 
Schrift  will  keine  Philosophie  lehren,  und  die  Menschen 
nicht  gelehrt,  sondern  gehorsam  machen. 

Weshalb  ich  übrigens  deshalb,  weil  ich  die  Wunder 
und  die  Unwissenheit  für  gleichbedeutend  ansehe,  die 
Macht  Gottes  und  die  Keuntntss  der  Menschen  in  die- 
selben Grenzen  einschliessen  soll,  sehe  ich  nicht  ein. 

Uebrigens  nehme  ich  mit  Ihnen  das  Leiden,  den  Tod 
und  das  Begräbniss  Christi  im  wörtlichen  Sinne;  aber 
seine  Wiederauferstehung  nur  im  allegorischen  Sinne; 
Allerdings  erzählen  die  Evangelisten  sie  mit  solchen 
Nebenumständen,  dass  man  nicht  bestreiten  kann,  wie 
sie  selbst  geglaubt  haben,  Christus  sei  körperlich  wieder 
auferstanden,  ^en  Himmel  gefahren  und  sitze  zur  Rech- 
ten Gottes,  und  wie  diese  Vorgänge  von  den  Ungläubigen 
ebenfalls  hätten  gesehen  werden  können,  wenn  sie  da 
mit  dabei  gewesen  wären,  wo  Christus  seinen  Jüngern 
erschienen  ist.  Indess  konnten  diese  unbeschadet  der 
christlichen  Lehre  hierin  sich  täuschen,  wie  dies  auch 
andern  Propheten  so  gegangen  ist,  w^ovon  ich  in  dem 
Vorgehenden  Beispiele  gegeben  habe.  Dagegen  rühmt 
sich  Paulus,  welchem  Christus  nachher  auch  erschienen 
ist,  dass  er  Christus  nicht  seinem  Fleische,  sondern  sei- 
nem Geiste  nach  erkannt  habe.  ^^^  Leben  Sie  wohl, 
verehrter  Herr,  und  seien  Sie  meines  Eifers  und  meiner 
Liebe  zu  Ihnen  in  allen  Dingen  versichert.®) 


y  Google 


Begriff  der  Definitionen.  69 

S  e  chaundz  wanzigsterBrief  (Vom  24.Feb.  1663). 
Von  Simon  V.  Vrles^)  an  Spinoza. 

Liebster  Freund! 

Schon  längst  wollte  ich  bei  Ihnen  sein;  nur  die 
Jahreszeit  und  der  harte  Winter  waren  mir  nicht  gün- 
stig. öOa)  Wenn  ich  indess  auch  körperlich  fem  von 
Ihnen  bin,  so  sind  Sie  doch  im  Geiste  um-  oft  gegen- 
wärtig, namentlich  wenn  ich  Ihre  Schriften  in  die  Hand 
nehme  und  darin  verweile.  Da  jedoch  mir  bei  den  De- 
finitionen nicht  Alles  klar  ist,  so  habe  ich  mich,  Ihrer 
eingedenk,  zu  diesem  Briefe  entschlossen.  Ich  habe  frü- 
her Herrn  Borell,***»)  einen  Mathematiker  von  scharfem 
Geist,  hierüber  befragt,  und  dieser  schreibt  mir  Folgen- 
des: ^Die  Definitionen  dienen  bei  den  Beweisen  als  Prfi- 
^missen.  Man  muss  sie  deshalb  als  selbstverstlindlich 
„anerkennen;  sonst  kann  eine  wissenschaftliche  oder  ge- 
„ wisse Erkenntniss  durch  sie  nicht  gewonnen  werden.^  ^i) 
Und  an  einer  andern  Stelle  sagt  er:  „Man  darf  nicht 
„leichthin,  sondern  mit  der  höchsten  Vorsicht  die  Art 
„des  Aufbaues  auswählen,  d.  h.  den  wesentlichen  und 
„bekanntesten  ersten  Zustand  eines  Gegenstandes.  Denn 
„wenn  die  Konstruktion  und  der  angeführte  Zustand  un- 
„möglich  ist,  so  giebt  e^  keine  wissenschaftliche  Defini- 
„tion.  Wenn  z.  B.  Jemand  sagte :  Zwei  gerade  Linien, 
„welche  einen  Kaum  einschliessen,  heissen  figurenhafte, 
„so  wäre  dies  eine  Definition  von  einem  Nicht-Dinge,  und 
„es  wäre  unmöglich;  man  würde  deshalb  vielmehr  Unr 
„kenntniss  als  £rkenntniss  daraus  ableiten.  Ist  ferne - 
„der  Aufbau  oder  der  genannte  Zustand  zwar  möglich 
„und  wahr,  aber  von  uns  nicht  erkannt  oder  uns  zwei- 
„felhaft,  so  ^ebt  es  auch  keine  gute  Definition,  da  die 
„Folgerungen  aus  Unbekanntem  und  Zweifelhaftem  eben- 
„falls  ungewiss  und  zweifelhaft  sein  werden,  und  daher 
„nurVermuthnngen  und  Meinungen,  aber  keine  sichere 
„Wissenschaft  ergeben.*' 

Indess  scheint  Tacquet^)  damit  nicht  übereinzu- 
stimmen, welcher  meint,  dass  man  auch  von  einem  fal- 
schen Satze  zu  einer  wahren  Konklusion  gelangen  könne, 

6* 

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70  XXVl.  Brief.    V.  Vriös  an  Spmosia. 

wie  Ihnen  bekannt  ist.  Dagegen  sagt  Clav  ins  ^),  des- 
sen Ansicht  er  ebenfalls  erwähnt:  „Definitionen  sind 
„Kunstworte,  und  man  braucht  keinen  Grund  dafür  au- 
szugeben, weshalb  ein  Gegenstand  so  oder  anders  de- 
„finirt  werde ;  es  genügt,  wenn  die  definirte  Bestimmung 
„einem  Gegenstande  nur  erst  beigelegt  wird,  -wenn 
„bewiesen  worden,  dass  sie  ihm  beiwohne."  W) 

Das,  was  Borellus  sagt,  wonach  die  Definition 
eines  Gegenstandes  aus  einem  ersten  und  wesentlichen 
Zustand  oder  Aufbau  bestehen  müsse,  scheint  mir  am 
klarsten  und  richtigsten.  Dagegen  meint  Clavius,  es 
sei  gleichgültig,  ob  der  Zustand  der  erste  oder  be- 
kannteste oder  der  wahre  sei  oder  nicht,  wenn  nur  die 
bezeichnete  Definition  keinem  Gegenstande  eher  bei- 
gelegt werde,  bevor  es  bewiesen  worden. 

Ich  würde  die  Ansicht  des  Borellus  der  des  Clavias 
vorziehen;  aber  ich  weiss  nicht,  welcher  Sie  beistimmen, 
oder  ob  Sie  keiner  von  Beiden  zustimmen.     Da  ich  in 
solche  Schwierigkeiten  über  die  Natur  der  Definitionen, 
welche  zu  den  Grundlagen  der  Beweise  gehören,  gerathen 
bin,  und  ich  mich  nicht  herauswinden  kann,  so  wünsche 
und  bitte  ich  gar  sehr,  dass  Sie  mir,  wenn  Ihre  Geschäfte 
und  Ihre  Müsse  es  gestatten,  Ihre  Ansicht  hierüber  geflKl- 
ligst  mittheilen  und  zugleich  angeben,  wie  sich  die  Axiome 
von  den  Definitionen  unterscheiden.  Borellus  nimmt  hier 
nur  einen  Unterschied  in  Worten  an;  allein  ich  glaube, 
Sie  sind  anderer  Ansicht.   Femer  verstehe  ich  die  dritte 
Definition  nicht.  ^)     Ich  entsinne  mich,  dass  Sie  mir  im 
Haag  sagten,  jede  Sache  könne  auf  zwiefache  Weise  be- 
trachtet werden;  entweder  so,  wie  sie  an  sich  ist,  oder 
so,  wie  sie  auf  Anderes  sich  bezieht.    So  kann  z.  B.  der 
Verstand  unter  dem  Denken  aufgefasst  werden,  oder  als 
aus  Vorstellungen  bestehend.    Aber  ich  kann  hier  den 
Unterschied  nicht  finden;  denn  wenn  ich  das  Denken      ; 
richtig  aufiksse,  so  muss  ich  es  unter  die  Vorstellungen      i 
befassen,    weil  das  Denken  nothwendig  zerstört  wird,      j 
wenn  ich  alle  Vorstellungen  aus  ihm  entferne;  da  ich       ' 
kein  deutliches  Beispiel  zu  dieser  Frage  habe,  bleibt  mir 
die  Sache  etwas  dunkel  und  bedarf  einer  weitem  Erklfi-      | 
rung.  ö6)    Endlich  sagen  Sie  in  der  Erläutemng  zu  Lehr- 
satz 10,  Th.  I.  im  Anfange :  ^Hieraus  erhellt,  dass,  wenn- 
„gleich  zwei  Attribute   als  wirklich  verschieden,  d.  h. 

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Substanz;  Attribute.  71 

„eines  ohne  die  Hülfe  des  andern  vorgestellt  werden, 
^uian  deshalb  doch  nicht  schliessen  kann,  dass  sie  zwei 
^Dinge  oder  zwei  verschiedene  Substanzen  seien.  Denn 
^die  Substanz  hat  die  Natur,  dass  jedes  ihrer  Attri- 
„bute  für  sich  vorgestellt  wird,  da  alle  Attribute,  welche 
^sie  hat,  zugleich  in  ihr  gewesen  sind.^  Sie  scheinen 
hier  anzunehmen,  die  Natur  der  Substanz  sei  so 
beschaffen,  dass  sie  mehrere  Attribute  haben  könne. 
Dies  ist  aber  noch  nicht  bewiesen,  wenn  man  nicht 
die  Definition  6  der  unbedingt  unendlichen  Substanz 
oder  Gottes  so  ansieht.  Nimmt  man  dagegen  an,  dass  jede 
Substanz  nur  ein  Attribut  habe,  so  könnte  ich,  wenn  ich 
zwei  Vorstellungen  von  zwei  Attributen  hätte,  mit  Recht 
schliessen,  dass,  wo  zwei  verschiedene  Attribute  sind, 
auch  zwei  verschiedene  Substanzen  seien.  Auch  hier- 
über bitte  ich  Sie  um  eine  deutlichere  Erklärung. 

Ich  schliesse,  geehrter  Herr,  und  erwarte  Ihre  Ant- 
wort mit  erster  Gelegenheit.*^) 

Ihr 

ergebener 
S.  J.  von  Vries. 
Amsterdam,  den  24.  Febr.  1663. 


Siebenundzwanzigster  Brief  (Bald  nach  dem 
24    Februar  1663  geschrieben). 

Von  Spinoza  an  Simon  von  Vries. 

(Die  Antwort  auf  den  vorBtehenden  Brief.) 

Verehrter  Freund!  •'*») 
Was  die  von  Ihnen  gestellten  Fragen  anlang^.,  so 
kommen  Ihre  Bedenken  davon,  dass  Sie  die  Arten  der 
Definitionen  nicht  unterscheiden;  die  eine  dient  zur 
Erklärung  des  Gegenstandes,  dessen  Wesen  allein  man 
sucht,  und  worüber  allein  man  zweifelt ;  die  andere  wird 
nur  aufgestellt,  damit  man  sie  prüfe;  denn  die,  welche 
einen  besimmten  Gegenstand  betrifft,  muss  wahr  sein, 
während  dies  bei  der  andern  nicht  erforderlich  ist.  Wenn 
z.  B.  Jemand  von  mir  eine  Beschreibung  von  Salomon's 
Tempel  verlangt,  so  muss  ich  ihm  die  wahre  geben,  wenn 

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72  XXVn.  Brief.    Spinoza  an  v.  Vrios. 

ich  nicht  mit  ihm  scherzen  will.  Habe  ich  mir  dagegen 
einen  Tempel  in  meinem  Kopfe  ausgedacht,  den  ich  bauen 
will,  und  aus  dessen  Beschreibung  ich  schliesse,  dass  ich 
dazu  mir  ein  Grundstück  von  solcher  Grösse,  so  viel  tau- 
send Ziegel  und  andere  Materialien  kaufen  mttsse,  wird 
da  ein  vernünftiger  Mensch  mir  sagen,  ich  hätte  schlecht 
geschlossen,  weil  ich  vielleicht'  eine  falsche  Definition 
benutzt  habe?  Oder  wird  da  Jemand  verlangen,  ich  solle 
meine  Definition  beweisen?  Das  hiesse  nichts  anderes, 
als  dass  ich  das,  was  ich  gedacht,  nicht  gedacht  hätte, 
oder  ich  solle  von  dem,  was  ich  gedacht,  beweisen,  dass 
ich  es  gedacht  hätte;  was  nur  Possen  wären.  Deshalb 
erklärt  entweder  die  Definition  einen  Gegenstand,  wie  er 
ausserhalb  des  Denkens  besteht;  dann  muss  sie  wahr 
sein,  und  sie  unterscheidet  sich  dann  von  den  Tjehrsätzen 
oder  Axiomen  nur  darin,  dass  die  Definition  blos  das 
Wesen  der  Dinge  oder  ihrer  Zustände  betriflft,  während 
die  Lehrsätze  und  Axiome  sich  weiter  und  auch  auf  die 
ewigen  Wahrheiten  erstrecken. •■)  Die  andere  Art  der 
Definition  erklärt  eine  Sache,  wie  man  sie  vorstellt,  oder 
vorstellen  kann,  und  dann  unterscheidet  sie  sich  von  den 
Axiomen  und  Lehrsätzen  darin,  dass  sie  überhaupt  nur 
vollständig  gefasst  werde,  aber  nicht  in  Rücksicht  auf 
ihre  Wahrheit,  wie  das  Axiom.**)  Deshalb  ist  die  De- 
finition schlecht,  die  nicht  verstanden  wird.  Um  dies 
deutlich  zu  machen,  nehme  ich  das  Beispiel  von  Bo- 
rellus.  Wenn  Jemand  sagte:  Zwei  gerade  Linien,  die 
einen  Raum  einschliessen,  sollen  figurale  heissen,  so 
wäre  die  Definition  gut,  wenn  er  dabei  unter  gerader 
Linie  das  verstände,  was  Alle  unter  der  knimroen  ver- 
steheü  (denn  dann  würde  man  unter  jener  Definition 
eine  Gestalt  wie  ( )  oder  eine  ähnliche  verstehen);  nur 
darf  er  dann  die  Vierecke  und  Anderes  nicht  zu  den 
Figuren  rechnen.  Versteht  er  aber  unter  Linien  das,  was 
man  gewöhnlich  darunter  versteht,  so  ist  die  Sache  un- 
verständlich und  die  Definition  daher  keine.  Bei  Borel- 
1  u  s ,  zu  dem  Sie  neigen,  wird  dies  Alles  vermengt.  Ich 
gebe  noch  ein  anderes  Beispiel,  nämlich  das  von  Ihnen 
zuletzt  erwähnte.  Wenn  ich  sage,  jede  Substanz  habe 
nur  ein  Attribut,  so  ist  dies  nur  ein  blosser  Ijehrsatz 
ohne  Beweis;  wenn  ich  aber  sage:  Unter  Substanz  ver- 
stehe ich  das,  was  blos  aus  einem  Attribute  besteht,  so 

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SubataDz;  Attribute.  73 

ist  diese  Definition  gut,  sobald  ich  nur  nachher  die  aus 
mehreren  Attributen  bestehenden  Dinge  mit  einem  an- 
dern Namen  als  Substanz  benenne.*"®)  Wenn  Sie  aber 
sagen,  ich  beweise  nicht,  dass  die  Substanz  (oder  ein 
Ding)  mehrere  Attribute  haben  könne,  so  haben  Sie  viel- 
leicht auf  die  Beweise  nicht  Acht  geben  wollen.  Ich 
liabe  deren  zwei  angegeben;**')  den  ersten,  wonach 
nichts  klarer  ist,  als  dass  jedes  Ding  von  uns  unter 
einem  Attribut  aufgefasst  werden  muss,  und  dass,  je 
mehr  ein  Ding  an  Kealität  oder  Sein  enthält,  um  so  mehr 
Attribute  ihm  zukommen.  Deshalb  ist  ein  unbedingt  un- 
endliches Wesen  dahin  zu  definiren,  dass  u.  s.  w.  Der 
zweite  und  nach  meiner  Meinung  vornehmste  Beweis  ist, 
dass,  je  mehr  Attribute  ich  einem  Dinge  beilege,  um  so 
mehr  ich  genöthigt  bin,  ihm  das  Dasein  beizulegen,  d.  h. 
um  so  mehr  fasse  ich  es  als  ein  wahres  auf,  also  gerade 
das  Gegentheil  von  dem  Falle,  wenn  ich  eine  Chimäre 
oder  etwas  Aehnliches  erdacht  hätte.****)  Wenn  Sie  weiter 
sagen,  dass  Sie  ein  Denken  ohne  Vorstellungen  nicht 
begreifen  können,  weil  man  mit  den  Vorstellungen  auch 
das  Denken  aufhebe,  so  wird  Ihnen  dies  begegnen,  weil, 
wenn  Sie,  als  denkendes  Wesen,  das  tliun,  Sie  alle 
Ihre  Gedanken  und  Begriffe  beseitigen.  Deshalb  ist  es 
nicht  wunderbar,  dass  nach  Abtrennung  aller  Ihrer  Ge- 
danken, Ihnen  Nichts  zum  Denken  bleibt.  Zur  Sache 
selbst  möchte  ich  indess  wohl  klar  und  deutlich  gezeigt 
haben,  dass  der  Verstand,  selbst  als  unendlicher,  zur 
gewirkten  Natur,  aber  nicht  zur  wirkenden  gehört.*®*) 
Was  das  Verständnlss  der  dritten  Definition  anlangt, 
so  wüsste  ich  nicht,  was  Sie  da  aufhalten  könnte.  Diese 
Definition  lautet,  wie  ich,  wenn  ich  nicht  irre,  sie  Ihnen 
mitgetheilt  habe:  „Unter  Substanz  verstehe  ich  das,  was 
^in  sich  ist  und  durch  sich  vorgestellt  wird,  d.  h.  Etwas, 
„dessen  Vorstellung  nicht  die  Vorstellung  von  etwas  An- 
„derem  einschliesst.  Unter  Attribut  verstehe  ich  dasselbe, 
„ausser  dass  das  Attribut  in  Beziehung  auf  das  Denken 
„ausgesagt  wird,  welches  der  Substanz  eine  solche  be- 
istimmte Natur  zutheilt.^*®*)  Diese  Definition  erläutert, 
sollte  ich  meinen,  klar  genug,  was  ich  unter  Substanz 
und  Attribut  verstanden  wissen  will.  Sie  wünschen  je- 
doch, ich  solle  Ihnen  durch  ein  Beispiel,  obwohl  es 
keineswegs  nöthig  ist,  erläutern,  wie  man  dieselbe  Sache 

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74      XXVn,  Br.    Spinoza  an  v.  Vriee.  XXVm.  Br. 

mit  zwei  verschiedenen  Namen  bezeichnen  könne.  Indess 
will  ich  Ihnen,  damit  ich  nicht  geizig  scheine,  zweie  geben. 
Erstens  wird  unter  Israel  der  dritte  Erzvater  verstand en^ 
und  denselben  bezeichne  ich  auch  mit  Jakob,  welchen 
Namen  er  erhielt,  weil  er  die  Ferse  seines  Bruders 
ergriffen  hatte.  Zweitens  verstehe  ich  unter  Ebene  das, 
was  alle  Lichtstrahlen  ohne  Veränderung  zuriickwirft.; 
dasselbe  verstehe  ich  unter  Weiss ,  nur  dass  Weiss  in 
Beziehung  auf  den  die  Ebene  anschauenden  Menschen 
ausgesagt  wird;  u.  s.  w.***) 


Achtundzwanzigster     Brief     (Wahrscheinlich 
bald  nach  vorstehendem  Briefe  geschrieben). 

Von  Spinoza  an  Simon  von  Vries. 

Werther  Freund! 

Sie  fragen  mich,  ob  man  der  Erfahrung  bedarf, 
um  zu  wissen,  ob  die  Definition  eines  Attributes  richtig 
sei?  Hierauf  antworte  ich,  dass  wir  der  Erfahrung  nur 
für  das  bedürfen,  was  aus  der  Definition  einer  Sache 
nicht  abgeleitet  werden  kann,  wie  z.  B.  das  Dasein 
der  Zustände ;  denn  dieses  kann  man  aus  der  Definition 
nicht  folgern.  Dies  gilt  aber  nicht  von  dem,  wo  das  Dasein 
von  dem  Wesen  des  Dinges  nicht  zu  unterscheiden  ist, 
und  deshalb  aus  dessen  Definition  geschlossen  werden 
kann.  Dies  könnte  vielmehr  keine  Erfahrung  uns  lehren, 
da  diese  das  Wesen  der  Dinge  nicht  ergiebt;  vielmehr 
kann  sie  höchstens  unsere  Seele  veranlassen,  dass  sie 
über  das  bestimmte  Wesen  gewisser  Dinge  nachdenke. 
Da  nun  das  Dasein  der  Attribute  von  ihrem  Wesen 
nicht  verschieden  ist,  so  können  wir  sie  auch  durch 
keine  Erfahrung  kennen  lernen.'®*) 

Wenn  Sie  mich  femer  fragen,  ob  die  Dinge  oder  die 
Zustände  derselben  ewige  Wahrheiten  sind?  so  sage  ich: 
allerdings,*®')  und  wenn  Sie  fragen,  weshalb  ich  die 
Dinge  nicht  so  nenne,  so  geschieht  es,  um  sie,  wie  Alle 
thun,  von  den  ewigen  Wahrheiten  zu  unterscheiden,  welche 
keineDinge und  keine  Zuständederselbenbezeichnen,  wie 

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Ueber  das  Unendliche.  75 

z.  B.  der  Satz:  Ans  Nichts  wird  Nichts.  Diese  und 
ähnliche  Sätze  nennt  man  schlechthin  ewige  Wahrheiten, 
womit  nnr  gesagt  sein  soll,  dass  dergleichen  nur  in 
der  Seele  ihren  Sitz  haben;  u.  s,  w.  ****) 


Neunundzwanzigster  Brief  (Vom20.Aprill663). 

Von  Spinoza  an  den  gelehrten  und  erfahrenen 
Herrn  L  M.  P.  M.  Q.  D.  "^•) 

Liebster  Freund! 

Ihre  beiden  Briefe  habe  ich  erhalten;  den  vom 
11.  Januar  überbrachte  mir  Freund  NN.;  den  vom 
26.  März  hat  ein  anderer  Freund,  ich  weiss  nicht  wel- 
cher, von  Leyden  geschickt. "®)  Beide  waren  mir  höchst 
erfreulich,  zumal  ich  daraus  sah,  dass  bei  Ihnen  Alles 
gut  geht  und  Sie  meiner  noch  gedenken.  Für  die  mir 
von  Ihnen  immer  erwiesene  Liebe  und  Ehre  sage  ich 
Ihnen  meinen  vollsten  Dank,  und  seien  Sie  von  meiner 
Anhänglichkeit  überzeugt,  wie  ich  Ihnen  bei  jeder  Ge- 
legenheit nach  meinen  schwachen  Kräften  durch  die 
That  beweisen  werde.  Um  gleich  damit  anzufangen, 
will  ich  auf  die  Fragen  in  Ihren  Briefen  antworten.  Sie 
wünschen,  dass  ich  Ihnen  meine  Gedanken  über  das 
Unendliche  mittheile,  und  es  soll  gern  geschehen. 

Die  Frage  über  das  Unendliche  haben  Alle  immer 
für  höchst  schwer,  ja  unauflöslich  gehalten,  weil  sie 
nicht  zwischen  dem  unterschieden  haben,  was  seiner 
Natur  oder  der  Kraft  seiner  Definition  zufolge  unendlich 
ist,  und  dem,  was  keine  Grenze  hat  und  zwar  nicht  ver- 
möge seines  Wesens,  sondern  vermöge  seiner  Ursache. 
Ferner,  weil  sie  nicht  unterschieden  haben  zwischen  dem, 
was  unendlich  heisst,  weil  es  keine  Grenze  hat,  und 
zwischen  dem,  dessen  Theile,  obgleich  wir  von  ihm  ein 
Grösstes  und  Kleinstes  haben,  wir  doch  durch  keine  Zahl 
erreichen  und  ausdrücken  können ;  endlich  weil  sie  nicht 
zwischen  dem  unterschieden  haben,  was  man  blos  den- 
ken, aber  sich  nicht  bildlich  vorstellen  kann,  und  dem, 
was  man  sich  auch  bildlich  vorstellen  kann.     Hätte  man, 

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76  XXIX.  Brief.    Spinoza  an  L.  Meyer. 

wie  gesagt,  hierauf  geachtet,  so  würde  man  nicht  darch 
eine  so  grosse  Menge  von  Schwierigkeiten  überwältigt 
worden  sein  und  hätte  dann  klar  erkannt,  welches  Un- 
endliche nicht  inTheile  getheilt  werden  oder  keine  Theile 
haben  kann  und  bei  welchem  dagegen  dies  ohne  Wider- 
spruch angeht.  Auch  hätte  man  dann  erkannt,  welches 
Unendliche  ohne  Widerspruch  grösser  als  ein  anderes  vor- 
gestellt werden  kann,  und  welches  dies  nicht  zulässt. 
Dies  wird  sich  aus  dem  Folgenden  klar  ergeben.  "*) 

Vorher  will  ich  indess  Einiges  über  die  vier  Begriffe, 
nämlich  über  die  Substanz,  den  Zustand,  die  Ewig- 
keit und  die  Dauer  sagen.  Beider  Substanz  bemerke 
ich  zunächst,  dass  zu  ihrem  Wesen  das  Dasein  gehört, 
d.  h.  aus  ihrem  blossen  Wesen  und  ihrer  Definition  folgt, 
dass  sie  besteht.  Dies  habe  ich  Ihnen,  wenn  mein  Ge- 
dächtniss  mich  nicht  trügt,  früher  mündlich  ohne  Hülfe 
anderer  Lehrsätze  bewiesen. "')  Das  Zweite,  was  daraus 
folgt,  ist,  dass  von  jeder  Substanz  in  ihrer  Art  nicht 
viele,  sondern  nur  eine  besteht.**')  Drittens  kann  jede 
Substanz  nur  als  unendlich  aufgefasst  werden.  ^**)  Die 
Erregungen  der  Substanz  nenne  ich  Zustände;*'^)  ihre 
Definition  kann,  da  sie  nicht  die  Definition  einer  Substanz 
ist,  ihr  Dasein  nicht  einschliessen.  Deshalb  kann  man 
sie,  trotz  ihres  Daseins,  als  nicht  daseiend  sich  vorstellen. 
Daraus  folgt  weiter,  dass,  wenn  man  nur  das  We.<;en  der 
Zustände  und  nicht  die  Ordnung  der  ganzen  Natur  be- 
achtet, man  aus  ihrem  Dasein  nicht  folgern  kann,  dass 
sie  später  bestehen  oder  nicht  bestehen  werden  und  dass 
sie  früher  bestanden  oder  nicht  bestanden  haben.  Hieraus 
ergiebt  sich  klar,  dass  man  das  Dasein  der  Substanz  ihrer 
ganzen  Art  nach  von  dem  Dasein  der  Zustände  ver- 
schieden vorstellt.  Daraus  ergiebt  sich  der  Unterschied 
zwischen  der  E  wigk eit  und  der  D a uer.  Mit  der  Dauer 
kann  man  nur  das  Dasein  der  Zustände  erklären;  aber 
das  der  Substanz  nur  durch  die  Ewigkeit,  d.  h.  durch 
einen  unendlichen  Genuss  des  Daseins  oder  des  Seins, 
was  im  Lateinischen  sich  nur  ausdrücken  lässt,  wenn 
man  der  Sprache  Gewalt  anthut.  "•) 

Aus  alledem  ergiebt  sich  klar,  dass  man  das  Dasein 
und  die  Dauer  der  Zustände,  wenn  man  blos,  wie  meisten- 
theils,  nur  auf  ihr  Wesen  und  nicht  auf  die  Ordnung  der 
Natur  achtet,  nach  Belieben  und  daher  ohne  den  Begriff 

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Das  bildliche  Vorstellen  und  das  Denken  der  Substanz.  77 

von  ihnen  zu  zerstören,  bestimmen,  grösser  und  kleiner 
vorstellen  und  in  Theile  theilen  kann,  während  die  Ewig- 
keit und  die  Substanz,  die  man  nur  als  unendlich  auf- 
fassen kann,  dies  nicht  gestattet,  ohne  ihren  Begriff  zu 
zerstören.     Deshalb  sprechen  diejenigen  nur  leeres  Ge- 
schwätz, wo  nicht  zu  sagen,  Unsinn,  welche  meinen,  dass 
die  Substanz  ausgedehnt  und  ans  Theilen  oder  von  ein- 
ander verschiedenen  Körpern  zusammengesetzt  sei.    Es 
ist  gerade  so,  als  wenn  Jemand  durch  blosses  Zusetzen 
\iTid  Anhäufen  vieler  Kreise  ein  Viereck  oder  Dreieck  oder 
etwas  Anderes,  in  seinem  Wesen  ganz  Verschiedenes  zu 
Stande  bringen  wollte.  Deshalb  fällt  alles  jenes  Gerumpel 
von  Gründen,  mit  denen  die  Philosophen  die  ausgedehnte 
Substanz  als  endlich  darlegen  wollen,   von    selbst  zu- 
sammen; denn  sie  setzen  alle  eine  körperliche,  aus  Theilen 
zusammengesetzte  Substanz  voraus.  Ebenso  konnten  An- 
dere, die  nachher  glaubten,  dass  die  Linie  sich  aus  Punk- 
ten zusammensetze,  viele  Beweisgründe  auffinden,  um 
zu  zeigen,  dass  die  Linie  nicht  ohne  Ende  theilbar  sei. 
Wenn  Sie  aber  fragen,  weshalb  wir  von  Natur  so 
geneigt  seien,  die  ausgedehnte  Substanz  zu  theilen,  so 
antworte  ich,  weil  wir  die  Grösse  auf  zweierlei  Weise 
vorstellen;  einmal  abstrakt  und  oberflächlich,  wie  man  sie 
sich  mit  Hülfe   der  Sinne  bildlich  vorstellt  und  dann 
als  Substanz,  was  nur  durch  reines  Denken  geschieht. 
Giebt  man  also  nur  auf  die  Grösse,  wie  man  sie  im  bild- 
lichen Vorstellen  hat,  Acht,  was  meistentheils  und  am 
leichtesten  geschieht,  so  zeigt  sie  sich  theilbar,  begrenzt, 
aus  Theilen  zusammengesetzt  und  vielfach.     Giebt  man 
aber  auf  sie  Acht,  wie  sie  im  Verstände  ist  und  fasst 
man  sie  so  auf,  wie  sie  in  sich  ist,  was  sehr  schwer  ist, 
so  zeigt  sie  sich,  wie  ich  Ihnen  früher  schon  genügend 
bewiesen  habe,  als  unendlich,  untheilbar  und  einzig.  **^) 
Femer  entsteht  daraus,  dass  man  die  Dauer  und  die 
Grösse  beliebig  bestimmen  kann,  sofern  man  letztere  ab- 
getrennt von  der  Substanz  und  erstere  abgetrennt  von 
dem  Zustande,  wodurch  sie  von  den  ewigen  Dingen  ab- 
fliesst,  sich  vorstellt,  die  Zeit  und  das  Maass;  die  Zeit 
dient  der  Bestimmung  der  Dauer  und  das  Maass  der  Be- 
stimmung der  Grösse  in  der  Weise,  dass  man  sie,  soweit 
als  möglich,  sich  leicht  bildlich  vorstellen  kann.    Femer 
entsteht  aus  der  Trennung  der  Zustände  der  Substanz 

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78  XXIX.  Brief.    Spinoza  an  L.  Meyer. 

von  dieser  selbst,  welche  wir  auf  Klassen  zurückführen, 
um  sie  möglichst  leicht  bildlich  auffassen  zu  können,  die 
Zahl,  wodurch  wir  sie  bestimmen.  Hieraus  erhellt  klar, 
dass  das  Maass,  die  Zeit  und  die  Zahl  nur  Zustände 
des  Denkens  oder  vielmehr  des  bildlichen  Vorstellens 
sind. ''^)  Man  kann  sich  daher  nicht  wundern,  wenn 
Alle,  welche  mit  dergleichen  Begriffen,  die  sie  überdem 
falsch  aufgefasst  haben,  den  Fortschritt  in  der  Natur 
haben  erkennen  wollen,  sich  so  merkwürdig  verwickelt 
haben,  dass  sie  zuletzt  nicht  anders  herauskommen 
konnten,  als  indem  sie  alle  Schranken  durchbrachen  und 
das  Verkehrte  und  Verkehrteste  zuliessen:  denn  Vieles 
kann  nicht  durch  bildliches  Vorstellen,  sondern  nur  durch 
blosses  Denken  erfasst  werden,  wie  die  Substanz,  die 
Ewigkeit  und  dergleichen  mehr.  Wenn  Jemand  diese 
mit  Begriffen,  die  nur  der  Einbildungskraft  dienen, 
erklären  will,  so  ist  es  ebenso,  als  wenn  er  absichtlich 
in  seinem  bildlichen  Vorstellen  ansinnig  sein  will.  Selbst 
die  Zustände  der  Substanz  können  nicht  richtig  begriffen 
werden,  wenn  man  sie  mit  solchen  Gedankendingen  oder 
eingebildeten  Dingen  verwechselt.  Denn  wenn  man  dies 
thut,  so  trennt  man  sie  von  der  Substanz  und  dem  Zn- 
stande, von  welchen  sie  von  Ewigkeit  abfliessen  und 
ohne  die  sie  niemals  richtig  erkannt  werden    können. 

Um  dies  deutlicher  einzusehen,  nehmen  Sie  folgen- 
des Beispiel:  Fasst  nämlich  Jemand  die  Dauer  abstrakt 
auf  und  beginnt  er,  sie  in  seiner  Verwechselung  mit  der 
Zeit  in  Theile  zu  theilen,  so  kann  er  nie  einsehen, 
wie  z.  B.  eine  Stunde  vorübergehen  kann.  Denn  dazu 
ist  nöthig,  dass  erst  ihre  Hälfte  vorbeigehe  und  dann 
wieder  die  Hälfte  des  Restes  und  dann  wieder  die 
Hälfte  dieses  Restes  und  so  fort;  zieht  man  so  ohne 
Ende  die  Hälfte  ab,  so  kann  man  niemals  zu  Ende 
kommen."®)  Deshalb  wagten  Viele,  welche  die  Ge- 
dankendinge von  den  wirklichen  zu  unterscheiden  nicht 
gewöhnt  waren,  die  Dauer  aus  Zeitpunkten  zu  bilden; 
aber  sie  fielen  damit  in  die  Scylla,  während  sie  die 
Charybdis  vermeiden  wollten.  Denn  die  Dauer  aus 
Zeitpunkten  zu  bilden,  ist  dasselbe,  als  die  Zahl  aus 
der  Addition  von  blossen  Nullen  bilden  zu  wollen. 

Aus  dem  Gesagten  erhellt  weiter,  dass  weder  die 

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Die  Arten  der  Unendlichkeit.  79 

Zahl,  noch  das  Maass,  noch  die  Zeit  unendlich  sein  können, 
da  sie  nur  Hülfsmittel  des  bildlichen  Vorstellens  sind; 
oLnedem  wäre  die  Zahl  nicht  Zahl  und  das  Maass  nicht 
Biaass  und  die  Zeit  nicht  Zeit.  Daraus  erhellt,  dass 
Viele,  welche  diese  Vorstellungen  mit  wirklichen  Dingen 
verwechselten  und  die  wahre  Natur  dieser  nicht  kannten, 
die  Wirklichkeit  des  Unendlichen  geleugnet  haben. i^Oj 
Wie  jämmerlich  indess  ihre  Beweise  sind,  wissen  die 
Mathematiker,  welchen  Gründe  solcher  Art  in  Dingen 
kein  Bedenken  machen  konnten,  die  sie  klar  einsahen. 
Sie  fanden  Vieles,  was  durch  keine  Zahl  dargelegt  werden 
kann,  und  dies  zeigt,  dass  die  Zahlen  nicht  zur  Bestim- 
mung von  Jedwedem  sich  eignen.  Auch  haben  die 
Mathematiker  Vieles,  was  durch  keine  Zahl  erreicht  wer- 
den kann,  sondern  jede  angebliche  übersteigt.  Aber  sie 
folgern  daraus  nicht,  dass  dergleichen  wegen  der  Menge 
der  Theile  alle  Zahl  übersteige,  sondern  weil  die  Natur 
des  Gegenstandes  sich  ohne  offenbaren  Widerspruch  mit 
keiner  Zahl  verträgt.  So  übersteigen  z.  B.  die  Ungleich- 
heiten des  Raumes  zwischen  den  beiden  Kreisen  AB  und 
CD  und  die  Veränderungen,  welche 
y^^^^'T^^  ^^^  darin  sich  bewegender  Stoff  er- 
,  J^-.^  \  leiden  muss,  jede  angebliche  Zahl, 
und  doch  wird  dies  nicht  aus  der 
übermässigen  Grösse  des  Zwischen- 
raumes gefolgert,  da  die  Ungleich- 
heiten eines  solchen  Raumes,  wenn 
man  ihn  auch  noch  so  klein  annimmt, 
No.  6.  doch  jede  Zahl  Übersteigen.    Auch 

folgert  man  dies  nicht,  wie  in  anderen  Fällen,  daraus, 
dass  hier  keinGrösstes  und  kein  Kleinstes  vorhanden  sei; 
denn  Beides  ist  in  diesem  Beispiele  vorhanden;  das 
Grösste  bei  AB,  das  Kleinste  CD ;  vielmehr  folgert  man 
es  nur  daraus,  weil  die  Natur  des  Raumes  zwischen  zwei 
Kreisen  mit  verschiedenen  Mittelpunkten  dies  nicht  ge- 
stattet. Wollte  daher  Jemand  alle  diese  Ungleichheiten 
durch  eine  bestimmte  Zahl  ausdrücken,  so  müsste  er  zu- 
gleich bewirken,  dass  der  Kreis  kein  Kreis  bliebe.  121) 
Ebenso  würde,  um  auf  unseren  Gegenstand  zurück- 
zukommen. Jemand,  wenn  er  alle  bis  jetzt  stattgehabten 
Bewegungen  des  Stoffes  bestimmen  wollte,  indem  er  ihre 
Dauer  auf  eine  bestimmte  Zahl  und  Zeit  zurückführte, 

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80  XXIX.  Brief.    Sp.  an  L.  Meyer. 

damit  die  körperliche  Substanz ,  die  man  sich  nur  als 
daseiend  vorstellen  kann,  ihrer  Zustände  berauben  und 
bewirken,  dass  sie  die  Natur,  welche  sie  hat,  nicht 
hätte.  Ich  könnte  dies  und  vieles  Andere,  was  ich  in 
diesem  Briefe  berührt,  klar  beweisen,  wenn  ich  es  nicht 
für  überflüssig  hielte. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  ist  klar  zu  ersehen,  dass 
Manches  seiner  Natur  nach  unendlich  ist  und  in  keiner 
Weise  endlich  vorgestellt  werden  kann;  ^^-)  Anderes  ist 
es  vermöge  der  Ursache,  der  es  anhängt,  obgleich  es  für 
sich  betrachtet,  in  Theile  gesondert  und  als  endlich  auf- 
gefasst  werden  kann;  l^)  Anderes  wieder  ist  unendlich, 
oder  wenn  man  lieber  will,  endlos,  weil  man  es  durch 
keine  Zahl  ausdrücken  kann,  obgleich  es  grösser  oder 
kleiner  vorgestellt  werden  kann;  l^)  da  dergleichen, 
was  durch  keine  Zahl  ausgedi-ückt  werden  kann,  des- 
halb nicht  nothwendig  sich  gleich  sein  muss,  wie  das 
obige  Beispiel  und  viele  andere  ergeben. 

Somit  habe  ich  die  Ursachen  der  Irrthümer  und 
Verwirrungen,  welche  in  Betreff  der  Frage  über  das 
Unendliche  entstanden  sind,  kurz  dargelegt  und  ich 
glaube,  so  erklärt,  dass  keine  Frage  über  das  Unend- 
liche unberührt  geblieben  ist  oder  nicht  aus  dem  Ge- 
sagten leicht  gelöst  werden  kann.  Es  wird  also  nicht 
lohnen,  Sie  länger  hierbei  aufzuhalten. 

Indess  will  ich  hier  beiläufig  noch  erwähnen,  dass 
die  neueren  Peripatetiker  den  Beweis  der  älteren  für  das 
Dasein  Gottes  wothl  nicht  richtig  verstanden  haben.  Dieser 
lautet,  wie  ich  ihn  bei  dem  Juden  Rah  Chasdaj  i^)  finde, 
dahin:  ^Gelit  die  Reihe  der  Ursachen  ohne  Ende  fort, 
^so  ist  alles  Daseiende  auch  bewirkt:  aber  kein  Bewirktes 
„besteht  nothwendig  vermöge  seiner  Natur  und  deshalb 
„ist  dann  Nichts  in  der  Natur,  mit  dessen  Wesen  das 
„Dasein  nothwendig  verknüpft  ist.  Dies  ist  aber  wider- 
„sinnig,  folglich  auch  Jenes."  —  Die  Kraft  dieses  Be- 
weises liegt  also  nicht  darin,  dass  es  unmöglich  sei,  dass 
ein  Unendliches  wirklich  bestehe,  oder  dass  die  Reihe 
der  Ursachen  ohne  Ende  fortgehe;  sondern  nur  darin, 
dass  von  den  Gegnern  angenommen  wird,  Dinge,  die 
ihrer  Natur  nach  nicht  nothwendig  bestehen,  würden 
nicht  zuletzt  von  einem  Dinge  zum  Dasein  bestimmt, 
das  seiner  Natur  nach  nothwendig  besteht. 

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Vorbedeutungen.  gl 

Ich  würde  jetzt,  da  die  Zeit  mich  drängt,  zu  Ihrem 
zweiten  Briefe  tibergehen;  indess  werde  ich  auf  dessen 
Inhalt  dann,  wenn  Sie  mich  mit  Ihrem  Besuch  beehren, 
l>eqaemer  antworten  können.  Kommen  Sie  daher,  sobald 
Sie  können;  denn  die  Zeit  zu  meinem  Umzüge  rückt 
schnell  heran.  So  viel  für  heute.  Leben  Sie  wohl 
und  gedenken  Sie  meiner,  der  ich  bleibe  u.  s.  w. 


Dreissigster  Brief  (Vom  20.  Juli  1664). 
Von  Spinoza  an  Peter  Balling.  ^^) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  Uebersetzung,  wahrscheinlich 
aus  dem  Holländischen..)  127) 

Lieber  Freund! 
Ihr  letzter  Brief,  ich  glaube  vom  26.  vorigen  Monats, 
ist  richtig  in  meine  H&nde  gelangt.  £r  hat  mich  sehr 
betrübt  und  besorgt  gemacht,  obgleich  ich  mich  beruhige, 
wenn  ich  die  Klugheit  und  Geistestärke  erwäge,  mit  der 
Sie  die  Unannehmlichkeiten  des  Schicksals  oder  vielmehr 
der  öffentlichen  Meinung  gerade  da  zu  verachten  ver- 
stehen, wo  Sie  von  ihnen  mit  den  stärksten  Waffen  an- 
gegriffen werden.  Indess  wächst  doch  meine  Sorge  mit 
jedem  Tage  und  ich  bitte  und  beschwöre  Sie  deshalb  bei 
unserer  Freundschaft,  dass  Sie  mir  recht  Ausführliches 
mittheilen.  —  Was  die  von  Ihnen  erwähnten  Vorbe- 
deutungen anlangt,  wonach  Sie  von  Ihrem  Kinde,  als  es 
gesund  und  kräftig  war,  solche  Seufzer  gehört,  wie  es  bei 
seiner  Krankheit  und  spätem  Tode  von  sich  gegeben,  so 
möchte  ich  glauben,  dass  es  nur  Einbildungen  und  keine 
wahren  Seufzer  gewesen  sind ;  denn  Sie  sagen,  dass,  als 
Sie  sich  aufrichteten  und  genauer  hinhörten,  sie  dieselben 
nicht  so  deutlich  gehört  haben,  als  vorher  und  nachher, 
wo  Sie  wieder  in  Schlaf  verfallen  sind.  Dies  zeigt  wirk- 
lich, dass  diese  Seufzer  nur  Einbildungen  gewesen  sind, 
die  unbeschränkt  und  ungehemmt  gewisse  Seufzer  Ihnen 
wirksamer  und  lebhafter  vorspiegeln  konnten,  als  da,  wo 
Sie  sich  aufrichteten  und  nach  dem  bestimmten  Orte  hin- 
hörten.    Ich  kann  das,  was  ich  sage,  durch  einen  Fall 

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82  XXX.  Brief.  .  Spinoza  an  P.  Balling. 

bestätigen  und  zugleich  erklären,  der  mir  selbst  ver- 
flossenen Winter  in  Rhjnsborg  begegnete.  Als  ich  da 
früh  bei  Tagesgranen  aus  einem  sehr  schweren  Traume 
erwachte,  schwebten  mir  die  in  dem  Traume  vorge- 
kommenen Bilder  so  lebhaft  vor  den  Augen,  als  ivären 
es  wirkliche  Dinge;  namentlich  galt  dies  von  einem 
schwarzen  und  aussätzigen  Brasilianer,  den  ich  vorher  nie 
gesehen  hatte.  Dieses  Bild  verschwand  grösstentheOs, 
als  ich,  um  mich  zu  zerstreuen,  die  Augen  auf  ein  Buch 
oder  etwas  Anderes  richtete ;  sowie  ich  aber  die  Angen 
wieder  abwendete  und  nichts  aufmerksam  betrachtete,  so 
erschien  mir  das  Bild  jenes  Aethiopiers  i^)  wieder  ebenso 
lebhaft  und  wiederholt,  bis  es  nach  und  nach  ganz  ver- 
schwand. Hiemach  ist  mir  in  meinem  innem  Gesichts- 
sinne dasselbe,  wie  Ihnen  in  dem  Gehörsinne,  begegnet;  da 
aber  die  Ursachen  ganz  verschieden  waren,  so  wurde  Ihr 
Fall,  aber  nicht  der  meinige,  zu  einer  Vorbedeutung. 
Aus  dem  Folgenden  wird  sich  dies  deutlicher  ergeben. 
Die  Wirkungen  der  Einbildungskraft  entspringen  aus 
dem  Zustande  des  Körpers  oder  der  Seele ;  um  nicht  zu 
ausfuhrlich  zu  werden,  beweise  ich  dies  jetzt  nur  aus 
der  Erfahrung.  Wir  wissen  aus  Erfahrung,  dass  Fieber 
und  andere  Erschütterungen  des  Körpers  die  (Jrsache  des 
Irreredens  sind,  und  dass  Leute  mit  dickem  Blute  nur 
Streit,  Widerwärtigkeiten,  Mord  und  Aehnliches  sich  ein- 
bilden. Wir  sehen  auch,  dass  die  Einbildungskraft  durch 
Seelenzustände  allein  beeinflusst  wird,  da  sie,  wie  wir 
wissen,  in  Allem  den  Spuren  des  Verstandes  folgt  und  sie 
ihre  Bilder  und  Worte  in  derselben  Ordnung  verbindet 
und  verknüpft,  wie  der  Verstand  seine  Beweise.  Wir 
können  deshalb  beinah  nichts  denken,  aus  dessen  Spuren 
die  Einbildungskraft  nicht  irgend  ein  Bild  hervorbringt. 
Wenn  dies  sich  so  verhält,  so  meine  ich,  dass  alle  Er- 
zeugnisse der  Einbildungskraft,  die  aus  körperlichen  Ur- 
sachen hervorgehen,  niemals  die  Anzeichen  von  kom- 
menden Dingen  sein  können ;  denn  ihre  Ursachen  schlies- 
sen  solche  kommende  Sachen  nicht  ein.  Dagegen  können 
die  Erzeugnisse  oder  Bilder  der  Einbildungskraft,  die  aus 
Zuständen  der  Seele  herkommen,  allerdings  Vorzeichen 
einer  kommenden  Sache  sein,  weil  die  Seele  etwas  Za- 
ktinftiges  sich  verworren  vorstellen  kann.  Deshalb  kann 
sie  sich  dergleichen  so  stark  und  lebhaft  vorstellen,  als 

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Vorbedeatange^;  bei  der  Seele  möglich.  83 

ip^enn  die  Sache  gegenwärtig  wäre;  denn  der  Vater 
(um  ein  Beispiel  anzuführen,  was  dem  Ihrigen  ähnelt) 
liebt  seinen  Sohn  derart,  dass  er  und  der  geliebte  Sohn 
gleichsam  nur  Einer  sind;  und  (nach  dem,  was  ich 
bei  anderer  Gelegenheit  dargelegt  habe)  von  den  Er- 
regungen des  Wesens  des  Sohnes  und  des  daraus 
Folgenden  muss  es  innerhalb  des  Denkens  noth wendig 
eine  Vorstellung  geben  und  der  Vater  ist  wegen  seiner 
mit  dem  Sohne  bestehenden  Vereinung  ein  Theil  des 
Sohnes  und  es  muss  noth  wendig  die  Seele  des  Vaters 
an  dem  idealen  Wesen  des  Sohnes  und  seinen  Er- 
regungen und  den  Folgen  derselben  theilnehmen,  wie 
ich  anderwärts  ausfühnicher  dargelegt  habe.  Wenn 
daher  die  Seele  des  Vaters  ideal  an  dem,  was  aus 
dem  Wesen  des  Sohnes  folgt,  Theil  hat,  so  kann,  wie 
gesagt,  der  Vater  mitunter  etwas,  was  aus  dem  Wesen 
des  Sohnes  folgt,  sich  so  lebhaft  vorstellen,  als  wenn 
es  ihm  gegenwärtig  wäre,^**)  sofern  nur  die  nach- 
stehenden Bedingungen  zugleich  vorhanden  sind:  1)  dass 
das  Ereigniss,  welches  den  Sohn  trifft,  ein  erhebliches 
in  seinem  Leben  ist;  2)  dass  es  ein  solches  ist,  was 
leicht  bildlich  vorgestellt  werden  kann;  3)  dass  die 
Zeit  des  Eintreffens  dieses  Ereignisses  nicht  zu  ent- 
fernt ist,  4)  und  dass  der  Körper  sich  wohl  befindet, 
nicht  blos  in  Bezug  auf  Gesundheit,  sondern  auch 
rücksichtlich  der  Freiheit  von  allen  Sorgen  und  Ge- 
schäften, welche  die  Sinne  von  aussen  stören.  Die 
Sache  wird  femer  noch  dadurch  unterstützt,  wenn  man 
an  das  denkt,  was  die  am  meisten  verwandten  Vor- 
stellungen erweckt;  wenn  man  z.  B.,  während  man 
mit  diesem  oder  Jenem  spricht,  Seufzer  hört,  dann 
werden,  wenn  man  wieder  an  diesen  Menschen  denkt, 
meistentheils  die  Seufzer,  welche  man  während  jenes 
Gesprächs  damals  mit  seinen  Ohren  hörte,  wieder  in 
das  Gedächtniss  kommen. 

Dies,  verehrter  Freund,  ist  meine  Ansicht  über 
Ihre  Frage.  Ich  bin  aller^ngs  sehr  kurz  gewesen, 
aber  absichtlich,  damit  Sie  Gelegenheit  erhalten,  über 
die  Frage  bei  nächster  Gelegenheit  an  mich  zu  schrei- 
ben; u.  s.  w. 

Voorburg,  den  26.  Juli  1664. 


Splaoi«,  Brief«. 


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84  XXXI.  Brief.    Blyenbergli  an  Spinoza. 

EinunddreisBigBter  Brief  (Voml2.  Dec.  1664). 
Von  Wilhelm  V.  Blyenbergh  au  Spliioza.^"0 

(Der  lateinische  Text   ist  eine  Uebersetsung   des    hollän- 
dischen Onginals.) 

Mein  Herr  und  unbekannter  Freund! 
Schon  öfters  habe  ich  in  Ihrer  kürzlich  erschienenen 
Abhandlung  und  in  deren  Anhang"')  aufmerksam  ge- 
lesen. Ich  sollte  allerdings  mehr  Anderen  als  Ihnen  er- 
zählen, welche  Gründlichkeit  ich  darin  angetroffen  und 
welche  Freude  sie  mir  gemacht  hat;  doch  kann  ich  Ihnen 
nicht  verschweigen,  dass  je  öfter  ich  sie  lese,  sie  um  so 
mehr  mir  gefällt;  immer  finde  ich  dann  Etwas,  was  ich 
bisher  noch  nicht  bemerkt  hatte.  Indess  halte  ich  (am 
nicht  als  Schmeichler  in  diesem  Briefe  zu  erscheinen)  mit 
meiner  Bewunderung  des  Verfassers  ein;  ich  weiss,  dass 
die  Götter  Alles  der  Arbeit  gewähren.  Damit  ich  Sie  in- 
dess nicht  zu  lange  in  der  Spannung  lasse ,  wer  es  ist  und 
wie  es  kommt,  dass  em  Unbekannter  so  frei  ist,  an  Sie  in 
dieser  Weise  zu  schreiben,  so  sage  ich  Ihnen,  dass  es  ein 
Solcher  ist,  der  nur  von  dem  Verlangen  nach  der  reinen 
und  lauteren  Wahrheit  getrieben,  sich  bemüht,  während 
dieses  kurzen  und  vergänglichen  Lebens  festen  Fass  in 
der  Wissenschaft  zu  fassen,  soweit  es  dem  menschlichen 
Geiste  möglich  ist  und  der  zur  Erlangung  der  Wahrheit 
sich  kein  anderes  Ziel  als  nur  die  Wahrheit  vorgesetzt 
hat  und  der  durch  die  Wissenschaft  weder  Ehre  noch 
Reichthum,  sondern  nur  die  reine  Wahrheit  und  die 
Seelenruhe,  welche  aus  dieser  Wahrheit  folgt,  zu  ge- 
winnen strebt.  Er  erfreut  sich  unter  allen  Wahrheiten 
und  Wissenschaften  am  meisten  an  den  metaphysischen, 
wenigstens  an  einem  Theile  derselben,  wenn  auch  nicht 
an  allen  und  er  setzt  allen  Genuss  seines  Lebens  darein, 
die  Stunden  der  Müsse  und  der  Freiheit  von  Geschäften 
ihnen  zu  weihen.  Allein  nicht  Jeder  ist  so  glücklich  und 
nicht  Jeder  wendet  so  viel  Arbeit,  wie  ich  von  Ihnen  an- 
nehme, dem  zu  und  deshalb  gelangt  nicht  Jeder  zu  der 
Vollkommenheit,  zu  der,  wie  ich  aus  Ihrem  Werke  ersehe, 
Sie  gelangt  sind.  Kurz,  dass  ich  zu  Ende  komme,  es  ist 

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Schaffen  und  Erhalten  sind  Eines.  g5 

ein  Mann,  den  Sie  näher  kennen  lernen  werden,  wenn 
Sie  ihn  dadurch  sich  verpflichten  wollen,  dass  Sie  seine 
Gedanken  frei  machen  und  da,  wo  sie  stocken,  ihnen 
gleichsam  den  Weg  bahnen. 

Ich  komme  auf  Ihre  Abhandlung  zurück.  So  wie 
ich  Vieles  darin  gefunden,  was  meinem  Geschmacke 
ganz  zusagte,  so  habe  ich  auch  Manches  getroffen, 
was  schwerer  zu  verdauen  war  und  was  Ihnen  vorzu- 
halten um  so  weniger  sich  schicken  würde,  als  ich 
nicht  weiss,  ob  Ihnen  dies  angenehm  sein  dürfte.  Ich 
schicke  deshalb  dies  voraus  und  frage,  ob  Sie  erlauben, 
Ihnen  einige  meiner  Bedenken,  die  mir  bei  Ihrer  Schrift 
noch  geblieben  sind,  mitzutheilen ,  damit  Sie  in  den 
jetzigen  Winterabenden,  falls  es  Ihnen  gefällig  ist, 
darauf  antworten;  alles  jedoch  nur  unter  der  Voraus- 
setzung und  Bitte,  dass  ich  Sie  nicht  von  dringenderen 
Geschäften  abhalte  ;  denn  ich  ersehne  nichts  dringender, 
als,  wie  Sie  in  Ihrem  Briefe  versprechen,  eine  aus- 
führlichere Erläuterung  und  Aussprache  Ihrer  An- 
sichten zu  erhalten.  Ich  hätte  das,  was  ich  hier  dem 
Papier  anvertraue,  gern  persönlich,  wenn  ich  gesund  ge- 
wesen, vorgetragen;  allein  zunächst  war  mir  Ihre  Wohnung 
unbekannt  und  später  hinderte  mich  eine  ansteckende 
Krankheit  und  mein  Amt;  deshalb  habe  ich  den  Besuch 
selbst  immer  von  einer  Zeit  zur  anderen  verschoben 

Damit  indess  dieser  Brief  nicht  ganz  leer  bleibe,  so 
erwähne  ich  in  der  Hoffnung,  dass  es  Ihnen  nicht  unan- 
genehm sein  wird,  nur  eines  Punktes,  nämlich  dass  Sie 
sowohl  in  den  Prinzipien  wie  in  den  metaphysischen  Ge- 
danken mehrmals  sagen  und  als  Ihre  oder  desD  es  carte  s 
Meinung,  dessen  Philosophie  Sie  darstellen,  aussprechen. 
Schaffen  und  Erhalten  sei  ein  und  dasselbe  (was  an  sich 
Denen,  welche  hierüber  nachgedacht,  so  klar  sei,  dass  es 
der  erste  Begriff  sei),  und  dass  Gott  nicht  blos  die  Sub- 
stanzen, sondern  auch  die  Bewegung  in  diesen  erschaffen 
habe,  d.  h.  Gott  erhalte  durch  seine  fortgehende  Schöpfung 
nicht  blos  die  Substanzen  in  ihrem  Zustande,  sondern 
auch  deren  Bewegung  und  Streben.  So  bewirke  Gott 
z.  B.  nicht  blos,  dass  die  Seele  durch  seinen  unmittel- 
baren Willen  und  seine  Wirksamkeit  (es  ist  gleich,  wie 
man  es  nennt)  länger  fortbestehe  und  in  ihrem  Zustand 
fortdauere,  sondern  Gott  sei  auch  die  Ursache,  dass  es 

7* 

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gg  XXXI.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinoza. 

sich  in  gleicher  Weise  mit  der  Bewegung  der  Seele 
verhalte ;  d.  h.  so,  wie  die  fortdauernde  Schöpfung  Gottes 
diel&ngere  Dauer  der  Dinge  bewirke,  so  entstehe  durch 
dieselbe  Ursache  auch  das  Streben  oder  die  Bewegung 
der  Dinge  in  ihnen;  da  es  ausser  Gott  keine  andere  Ur- 
sache der  Bewegung  gebe.  Hieraus  folgt,  dass,  wie  Sie  an 
mehreren  Stellen  sagen,  Gott  nicht  blos  die  Ursache  für 
die  Substanz  der  Seele,  sondern  auch  für  jenes  Streben 
oder  Bewegen  der  Seele  ist,  das  man  Willen  nennt.  Aus 
diesen  Sfitzen  folgt,  wie  mir  scheint,  noth wendig  auch, 
dass  in  der  Bewegung  oder  dem  Willen  der  Seele  ent- 
weder nichts  Böses  ist,  oder  dass  Gott  selbst  dieses  Böse 
unmittelbar  bewirkt;  da  auch  das,  was  man  bös  nennt, 
durch  die  Seele  und  folglich  durch  den  unmittelbaren 
Einfluss  oder  die  Mitwirkung  Gottes  geschieht.  Adam*s 
Seele  z.  B.  will  von  der  verbotenen  Frucht  essen;  hier 
wird  nach  dem  Vorstehenden  nicht  blos  bewirkt,  dass 
dieser  Wille  Adam*s  durch  Gottes  Einfluss  wolle,  sondern 
dass  er  auch,  wie  ich  gleich  zeigen  werde,  auf  diese 
Weise  wolle,  folglich  kann  diese  verbotene  Handlung 
Adam*s,  da  Gott  nicht  blos  seinen  Willen,  sondern  auch 
die  Art  und  Weise  desselben  bestimmte,  entweder  an 
sich  nicht  schlecht  sein,  oder  Gott  selbst  bewirkt  das,  was 
wir  böse  nennen.  Weder  Sie,  noch  Descartes  scheinen 
mir  diesen  Knoten  damit  zu  lösen,  dass  Sie  das  Böse 
ein  Nicht-Seiendes  nennen,  an  dem  Gott  nicht  mitwirke. 
Denn  woher  kam  denn  der  Wille  zu  essen,  oder  weshalb 
schritt  der  Wille  des  Teufels  zur  Hoffart  vor  ?  Sie  sagen 
richtig,  der  Wille  sei  nichts  von  der  Seele  Verschiedenes 
und  diese  oder  jene  Bewegung  oder  solches  Streben  der 
Seele  zu  dieser  oder  jener  Bewegung  bedürfe  der  Mit- 
wirkung Gottes  und  diese  Mitwirkung  Gottes  ist,  wie  Ihre 
Schriften  ergeben,  nur  die  Bestimmung  eines  Gegenstan- 
des durch  seinen  Willen;  hieraus  folgt,  dass  Gott  also 
ebenso  bei  dem  bösen  Willen  mitwirkt,  wenn  die  Hand- 
lung böse  ist,  wie  bei  dem  guten  Willen,  wenn  sie  gut  ist; 
d.  h.  Gott  bestimmt  die  Handlung.  Denn  Gottes  Wille, 
als  die  unbeschränkte  Ursache  von  Allem,  was  in  der  Sub- 
stanz wie  in  deren  Streben  besteht,  scheint  auch  die  erste 
Ursache  des  bösen  Willens,  soweit  er  böse  ist,  zu  sein. 
Femer  erfolgt  keine  Bestimmung  des  Willens  in  uns, 
die  Gott  nicht  von  Ewigkeit  gewusst  hat;  denn  hätte  er 

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Grottes  Yorsehimg  und  das  Böse.  87 

sie  nicht  gewusst,  so  würde  man  eine  Unvollkommen- 
heit  in  Gott  annehmen.  Wie  will  aber  Gott  sie  anders 
gewnsst  haben,  denn  als  einen  seiner  Beschlüsse?  Diese 
Beschlüsse  sind  also  die  Ursache  unserer  Entschlüsse 
und  daraus  folgt  wieder,  dass  der  böse  Wille  nicht 
böse  ist,  oder  dass  Gott  die  unmittelbare  Ursache 
dieses  Bösen  ist  und  es  bewirkt.  Auch  die  Unter- 
scheidung der  Theologen  zwischen  der  Handlung  und 
dem  der  Handlung  nur  anhängenden  Bösen  kann  hier 
nicht  Platz  greifen;  denn  Gott  hat  mit  der  Handlung 
auch  die  Art  der  Handlung  beschlossen,  d.  h.  Gott 
hat  nicht  blos  beschlossen,  dass  Adam  esse,  sondern 
auch,  dass  er  ffegen  das  Verbot  esse.  So  folgt  also 
wieder,  entweder  dass  dies  Essen  Adam's  gegen  das 
Verbot  nicht  böse  war,  oder  dass  Gott  selbst  es  be- 
wirkt hat. 

Dies,  hochgeehrter  Herr,  ist  es  jetzt,  was  ich  in 
Ihrer  Abhandlung  nicht  verstehen  kann.  Denn  es  füllt 
mir  schwer,  diese  änssersten  Folgen  nach  beiden  Seiten 
anzunehmen;  von  Ihrem  scharfen  Urtheile  und  Ihrer 
Einsicht  erwarte  und  hoffe  ich  aber,  eine  zufrieden- 
stellende Antwort  und  ich  werde  später  beweisen,  wie 
sehr  ich  Ihnen  dafür  verbunden  sein  werde.  Seien 
Sie,  berühmter  Mann,  überzeugt,  dass  ich  nur  im  Eifer 
diese  Fragen  stelle;  ich  bin  frei,  bin  an  kein  Amt  ge- 
bundeu,  ernähre  mich  durch  einen  anständigen  Handel 
und  verwende  meine  übrige  Zeit  auf  solche  Studien. 
Ich  bitte  ergebenst,  dass  Sie  meine  Bedenken  nicht 
übel  deuten.  Wollen  Sie  mir  antworten,  was  ich  sehn- 
lichst wünsche,  so  schreiben  Sie  u.  s.  w.  *•*) 

Wilhelm  v.  Blyenbergh. 

Dortrecht,  den  12.  Dezember  t664. 


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88  XXXn.  Brief.    Spinoza  an  Blyenbergh. 

Zweiunddreissigster  Brief  (Vom  5.  Jan.  1665 
aus  Voorburg). 

Von  Spinoza  an  Wilhelm  v.  Biyenbergh. 

(Die  Antwort  auf  den  Yorstehenden  Brief.) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  Uebersetzung  des  holländischen 
Originals.) 

Unbekannter  Freund! 

Ihren  vom  12.  Dezember  datirten  und  in  einem 
anderen  vom  24.  desselben  Monats  eingeschlossenen 
Brief  habe  ich  erst  am  26.  in  Scbiedam  erhalten.  Ich 
habe  daraus  Ihre  eifrige  Liebe  znr  Wahrheit,  die  das 
alleinige  Ziel  aller  Ihrer  Studien  i.st,  ersehen.  Da  ich 
nun  auch  meine  Kräfte  nur  diesem  Ziele  zuwende,  so 
fühle  ich  mich  genöthigt,  nicht  blos  Ihre  Bitte  voll- 
ständig zu  erfüllen  und  anf  Ihre  jetzt  und  später  ge- 
stellten Fragen  nach  meinen  Kräften  zu  antworten, 
sondern  auch  von  meiner  Seite  zu  Allem  beizutragen, 
was  unserer  weiteren  Bekanntschaft  und  aufrichtigen 
Freundschaft  nützen  kann.  Was  mich  anlangt,  so 
schätze  ich  von  Allem,  was  in  meiner  Macht  steht, 
nichts  höher,  als  mit  Männern,  welche  der  Wahrheit 
aufrichtig  zugetlian  sind,  Freundschaft  zu  schliessen. 
Ich  glaube,  dass  man  überhaupt  in  der  Welt,  die  nicht 
in  unserer  Gewalt  ist,  nichts  getroster  lieben  kann,  als 
solche  Männer;  es  ist  ebenso  unmöglich,  dass  die  Liebe 
solcher  Männer  zu  einander  sich  auflöst,  da  sie  auf 
der  Liebe  jedes  zur  Wahrheit  gegründet  ist,  als  dass 
man  eine  einmal  erkannte  Wahrheit  nicht  annehmen 
sollte.  Es  ist  überdem  das  Höchste  und  Angenehmste 
unter  den  Dingen,  die  nicht  von  uns  abhängen,  da  mir 
die  Wahrheit  die  verschiedenen  Sinne  und  Geister  völlig 
zu  einen  vermag.  Ich  erwähne  den  grossen,  daraus 
fliessenden  Nutzen  nicht,  um  Sie  nicht  mit  Dingen 
aufzuhalten,  die  Ihnen  sicher  bekannt  sind.  Ich  habe 
hier  nur  davon  gesprochen,  um  deutlicher  zu  beweisen, 
wie  angenehm  mir  es  auch  in  der  Folge  sein  wird, 
jede  Gelegenheit,  Ihnen  gefällig  zu  sein,  zu  be- 
nutzen. "') 

Um  dies  nun  gleich  mit  der  jetzigen  zu  thun,  so 
trete  ich  näher  und  will  auf  Ihre  Frage  antworten,  die 

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Das  ßöse  ist  nichts  Positives.  89 

sich  wesentlich  um  den  Punkt  dreht,  dass  aus  Gottes 
Vorsehung,  die  von  seinem  Willen  nicht  verschieden 
ist,  ebenso  wie  aus  seiner  Mitwirkung  und  fortdauern- 
den  Erschaffung  der  Dinge  folgt,  entweder  dass  es 
keine  Sünden  und  kein  Böses  giebt,  oder  dass  Gott 
diese  Sünden  und  dieses  Böse  bewirke. 

Allein  Sie  erklären  nicht,  was  Sie  unter  Böse  ver-  - 
stehen;  nach  dem  Beispiele  von  Adam's  Willenbestim- 
mung  scheinen  Sie  unter  bös  den  Willen  selbst  zu  ver- 
stehen, soweit  er  so  bestimmt  aufgefasstwird,  oder  soweit 
er  Gottes  Gebot  widerstreitet.  Deshalb  sagen  Sie  (und 
auch  ich,  wenn  die  Sache  sich  so  verhielte),  es  sei  ein  grosser 
Widersinn,  Eines  von  Beiden  anzunehmen,  nämlich  dass 
Gott  das,  was  gegen  seinen  Willen  läuft,  selbst  bewirke, 
oder  dass  das,  was  gegen  seinen  Willen  geschieht,  gut 
sei.  Ich  kann  indess  nicht  zugeben,  dass  die  Sünden  und 
das  Böse  etwas  Positives  seien  und  noch  weniger,  dass 
sie  überhaupt  Etwas  seien,  oder  gegen  Gottes  Willen  ge- 
schehen. Vielmehr  sage  ich,  dass  nicht  blos  die  Sünden 
kein  Positives  sind,  sondern  behaupte  auch,  dass  wir  nur 
uneigentlich  und  nur  in  menschlicher  Redeweise  sagen 
können,  wir  sündigten  gegen  Gott,  ebenso  wie  man 
nicht  sagen  kann,  dass  die  Menschen  Gott  beleidigen. 

Denn  was  das  Erstere  anlangt,  so  wissen  wir,  dass 
alles  Bestehende,  an  sich  und  ohne  Beziehung  auf  Anderes 
betrachtet,  die  Vollkommenheit  einschliesst,  die  in  jedem 
Dinge  sich  so  weit  wie  sein  Wesen  erstreckt;  denn  auch 
das  Wesen  ist  nichts  Anderes.  Ich  nehme  z.  B.  den  Ent- 
schluss  oder  die  Willensbestimmung  Adam's,  von  der  ver- 
botenen Frucht  zu  essen;  dieser  Entschluss  oder  diese 
Willensbestimmung  schliesst,  an  sich  betrachtet,  so  viel 
Vollkommenheit  ein,  als  er  Realität  ausdrückt,  wie  man 
daraus  ersehen  kann,  dass  man  bei  jedem  Dinge  eine  Un- 
vollkommenheit  nur  vorstellen  kann,  wenn  man  dabei  auf 
andere  Din^e  achtet,  welche  mehr  Realität  enthalten. 
Sieht  man  deshalb  auf  Adam's  Beschluss  an  sich,  ohne 
ihn  mit  Anderem  von  voUkommnerem  Zustande  zu  ver- 
gleichen, so  kann  man  keine  Un  Vollkommenheit  daran  be- 
merken, ja  man  kann  ihn  mit  unendlich  vielem  Anderen 
vergleichen,  wie  mit  Steinen,  Stämmen,  gegen  die  er  viel 
vollkommener  erscheint.  Dies  erkennt  auch  in  Wahrheit 
Jedermann  an;  denn  Alles,  was  man  an  den  Menschen 

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90  XXXII.  Brief.    Spinoza  an  Blyenbeii^h. 

verabscheut  und  mit  Widerwillen  betrachtet,  beschaut 
man  an  den  Thieren  mit  Bewunderung,  wie  die  Kriege 
der  Bienen  und  die  Eifersucht  der  Tauben.  Bei  dem 
Menschen  wird  dergleichen  verachtet  und  trotsdem  h£lt 
man  die  Thiere  deshalb  für  voUkommner.  Verhält  sich 
dies  so,  so  erhellt  klar,  dass  die  Sünden,  soweit  sie 
nur  eine  UnvoUkommenheit  anzeigen,  nichts  Wirk- 
liches darstellen,  wie  dies  z.  B.  bei  Adams  Entscfalass 
und  Ausführung  der  Fall  ist« 

Femer  kann  man  nicht  sagen,  dass  Adams  Wille 
mit  Gottes  Gesetz  streite  und  dass  er  deshalb  bdse  ge- 
wesen, weil  er  Gott  missfallen;  denn  es  würde  eine 
grosse  UnvoUkommenheit  in  Gott  einführen,  wenn  £twas 
geeen  seinen  Willen  geschl&he  und  wenn  er  etwas 
wollte,  dessen  er  nicht  Herr  wäre,  und  wenn  seine  Na- 
tur so  beschaffen  wäre,  wie  bei  den  Geschöpfen,  and 
er  Sympathie  mit  dem  Einen  und  Antipathie  gegen  den 
Anderen  hätte.  Es  würde  aber  auch  dem  Willen  der 
göttlichen  Natur  widerstreiten,  denn  derselbe  unter- 
scheidet sich  nicht  von  seiner  Einsicht  und  deshalb  ist 
es  gleich  unmöglich,  dass  etwas  gegen  seinen  WiUen, 
wie  dass  etwas  gegen  sein  Wissen  geschähe;  d.  h.  was 
gegen  seinen  Willen  geschähe,  müsste  derart  sein,  dass  es 
auch  seiner  Einsicht  widerapräche,  wie  z.  B.  ein  rundes 
Viereck.  Wenn  also  der  Wille  und  Entschlnss  Adam's 
an  sich  weder  böse,  noch  im  eigentlichen  Sinne  gegen 
Gottes  Willen  geschah,  so  folgt,  dass  Gott  seine  Ursache 
sein  k  a  n  n ,  j  a,  nach  dem  angegebenen  Grunde,  sein  m  u  s  s, 
nur  nicht  soweit  er  schlecht  war,  denn  dies  Schlechte  in 
ihm  war  nur  der  Zustand  der  Beraubung,  den  Adam  wegen 
dieser  That  verlieren  sollte  und  die  Beraubung  ist  sicher- 
lich kein  Positives  und  heisst  nur  in  Bezug  auf  unseren, 
aber  nicht  auf  Gottes  Verstand  so. 

Dies  kommt  aber  daher,  dass  man  alles  Einzelne 
einer  Gattung,  z.  B.  alle  Die,  welche  die  äussere  Gestalt 
der  Menschen  haben,  mit  derselben  Definition  bezeichnet ; 
man  urtheilt  deshalb,  dass  jeder  Einzelne  davon  zur 
höchsten  Vollkommenheit  gleich  geeignet  sei,  die  sich  aus 
dieser  Definition  ableiten  lässt.  Findet  man  nun  einen 
Einzelnen,  dessen  Werke  dieser  Vollkommenheit  wider- 
sprechen, so  urtheilt  man,  dass  er  dieser  Vollkommenheit 
beraubt  sei  und  von  seiner  Natur  abweiche;  man  hätte 

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Die  Lehre  der  Bibel  über  das  Böse.  91 

dies  nicht  gethan,  wenn  man  ihn  nicht  mit  dieser  Be- 
griffsbestimmung verglichen  und  nicht  eine  solche  Natur 
ihm  beigelegt  h&tte.  Gott  kennt  nun  aber  die  Dinge 
nicht  in  solcher  abgezogenen  Weise;  er  bildet  keine 
solche  allgemeinen  Definitionen  und  den  Dingen  kommt 
nicht  mehr  Wirklichkeit  zu,  als  Gottes  Einsicht  und 
Macht  ihnen  eingegeben  und  wirklich  zugetheilt  hat; 
deshalb  erhellt,  dass  hier  von  einer  Beraubung  nur  in 
Bezug  auf  unsere  Einsicht,  aber  nicht  in  Bezug  auf 
Gottes  Einsicht  gesprochen  werden  kann. 

Damit  ist,  wie  mir  scheint,  die  Frage  vollständig 
gelöst.  Um  indess  den  Weg  mehr  zu  ebnen  und  allen 
Zweifel  zu  beseitigen,  habe  ich  auf  die  folgenden  zwei 
Fragen  zu  antworten,  nftmlich  1)  weshalb  die  Schrift 
sage,  Gott  zttchtige  die  Gottlosen,  damit  sie  sich  be- 
kehren, und  weshalb  er  Adam  ^verboten  habe,  von  dem 
Baume  zu  essen,  da  er  doch  das  Gegentheil  beschlossen 
mhabt;  2)  scheint  aus  meinen  Worten  zu  folgen,  dass 
die  Gottlosen,  in  ihrer  Hoffart,  Geiz,  Verzweiflung 
u.  s.  w.  Gott  ebenso  ehren,  wie  die  Frommen  durch 
ihren  Edelmuth,  ihre  Geduld,  Liebe  u.  s.  w.,  da  Beide 
Gottes  Willen  vollführen. 

Li  Antwort  auf  die  erste  Frage  sage  ich,  dass  die 
Schrift  immer  in  menschlicher  Welse  redet,  da  sie  sich 
nach  dem  Volke  richtet  und  für  dieses  bestimmt  ist. 
Das  Volk  ist  unfähig,  erhabene  Dinge  zu  fassen  und 
aus  diesem  Grunde  ist  nach  meiner  Ueberzeugung 
AUes,  was  nach  Gottes  an  die  Propheten  geschehener 
Offenbarung  zum  Heile  nothwendig  ist,  in  der  Weise 
von  Gesetzen  abgefasst.  Auf  diese  Weise  haben  die 
Propheten  Gleichnisse  gebildet;  erstens  haben  sie  Gott 
wegen  seiner  Offenbarung  der  Mittel  des  Heiles  und 
des  Verderbens,  deren  Ursache  er  war,  wie  einen 
König  und  Gesetzgeber  ausgeschmückt;  die  Mittel, 
welche  nur  die  Ursachen  sind,  haben  sie  Gesetze  ge- 
nannt und  in  Form  von  solchen  abgefasst  und  Heil 
und  Verderben,  die  nur  Wirkungen  sind,  welche  aus 
jenen  Mitteln  folgen,  haben  sie  als  Belohnungen  und 
Strafen  dargestellt  Nach  dieser  Weise  von  Gleich- 
nissen haben  sie  mehr  wie  nach  der  der  Wahrheit  ihre 
Worte  eingerichtet  und  Gott  nach  dem  Muster  eines 
Menschen  hin  und  wieder  dargestellt;  bald  als  zornig, 

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92  XXXn.  Brief.    Spinoza  an  Blyenbergh. 

bald  als  mitleidig;  jetzt  nach  dem  Kommenden  ver- 
langend und  jetzt  wieder  von  Eifersucht  und  Verdacht 
erfasst,  ja  sogar  als  vom  Teufel  getäuscht;  so  dass 
Philosophen  imd  Alle,  welche  über  dem  Gesetze  stehen, 
d.  h.  welche  der  Tugend,  nicht  weil  sie  geboten  ist, 
sondern  aus  Liebe,  weil  sie  das  Beste  ist,  folgen,  von 
solchen  Ausdrücken  verletzt  werden. 

Das  an  Adam  erlassene  Gebot  bestand  daher  nur 
darin,  dass  Gott  Adam  offenbart  hat,  das  Essen  von 
diesem  Baume  werde  den  Tod  herbeiführen;  gerade 
wie  Gott  uns  durch  den  natürlichen  Verstand  offen- 
bart, dass  das  Gift  tödtlich  ist.  Fragen  Sie  mich  aber, 
wozu  er  es  ihm  offenbart  habe,  so  antworte  ich,  um 
Adam's  Wissen  vollkommner  zu  machen.  Wollte  man 
also  Gott  fragen,  weshalb  er  Adam  keinen  voUkomm- 
neren  Willen  gegeben  habe,  so  wäre  dies  ebenso  ver- 
kehrt, als  ihn  zu  fragen,  weshalb  er  dem  Kreise  nicht 
alle  Vollkommenheiten  der  Kugel  gegeben  habe?  Dies 
erhellt  deutlich  aus  dem  Vorbemerkten  und  ich  habe 
es  in  der  Erläut.  zu  Lehrs.  15  Th.  I.  der  auf  geo- 
metrische Weise  begründeten  Prinzipien  von  Deseartes 
dargelegt. 

Was  die  zweite  Schwierigkeit  anlangt,  so  ist  es 
richtig,  dass  die  Gottlosen  Gottes  Willen  in  ihrer  Weise 
darlegen ;  allein  deshalb  sind  sie  den  Frommen  keines- 
wegs gleich  zu  stellen;  denn  je  mehr  eine  Sache  an 
Vollkommenheit  besitzt,  desto  mehr  hat  sie  an  der 
Göttlichkeit  Theil  und  desto  mehr  drückt  sie  die  Voll- 
kommenheit Gottes  aus.  Da  nun  die  Frommen  unver- 
gleichlich mehr  Vollkommenheit  als  die  Gottlosen 
haben,  so  kann  ihre  Tugend  mit  der  der  Gottlosen 
nicht  verglichen  werden;  denn  die  Gottlosen  entbehren 
der  Liebe  zu  Gott,  die  aus  der  Erkenntniss  Gottes 
abfliesst  und  durch  die  allein  wir  nach  unserer  mensch- 
lichen Einsicht  die  Diener  Gottes  genannt  werden 
können;  vielmehr  sind  sie,  weil  sie  Gott  nicht  erken- 
nen, nur  das  Werkzeug  in  der  Hand  des  Künstlers, 
das  unbewusst  dient  und  in  seinem  Dienst  verbraucht 
wird.  Dagegen  dienen  die  Frommen  mit  Bewusstsein 
und  werden  durch  den  Dienst  vollkommner."*) 


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Regeln  des  Philosophirens.  93 

Dreiunddreissigster  Brief  (Vom  16.  Jan.  1665). 
Von  Wilhelm  v.  Blyenbergh  an  Spinoza. 

(Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  Uebersetzung  des  hoUändischen 
Originals.) 

Mein  Herr  und  liebster  Freund! 
Als  ich  Ihren  Brief  erhielt  und  flüchtig  durchlesen 
hatte,  wollte  ich  zuerst  ihn  nicht  blos  sofort  beant- 
worten, sondern  auch  in  Vielem  widerlegen.  Je  länger 
ich  ihn  aber  überdachte,  desto  weniger  fand  ich  Stoff 
za  Entgegnungen  und  je  melir  nun  mein  Wunsch  und 
die  Begierde,  ihn  zu  lesen,  mich  erfasste,  desto  mehr 
wuchs  mein  Genuss  bei  dessen  Durchlesung.  Ehe  ich 
jedoch  mit  der  Bitte  komme,  mir  gewisse  Schwierig- 
keiten zu  lösen,  bemerke  ich,  dass  ich  immer  an  zwei 
allgemeinen  Regeln  bei  meinem  Philosophiren  festzu- 
halten suche.  Die  erste  Regel  ist,  dass  die  Begriffe 
für  meinen  Verstand  klar  und  deutlich  seien ;  die  zweite 
Regel  ist  für  mich  das  offenbarte  Wort  oder  der  Wille 
Gottes.  Ich  strebe  nach  der  ersten,  ein  Freund  der 
Wahrheit,  nach  beiden  aber  ein  christlicher  Philosoph 
zu  sein.  Sollte  es  hierbei  nach  langem  Prüfen  sich 
treffen,  dass  meine  natürliche  Erkenntniss  dem  Worte 
Gottes  zu  widersprechen  scheint,  oder  weniger  gut  mit 
ihm  übereinstimmt,  so  hat  dieses  Wort  Gottes  so  viel 
Ansehen  bei  mir,  dass  die  Vorstellungen,  die  ich  für 
kl#r  halte,  mir  vielmehr  verdächtig  werden,  anstatt  dass 
ich  sie  über  und  gegen  die  Wahrheiten  stellte,  die  in 
jenem  Buche  mir  vorgeschrieben  worden  sind.  Und  was 
ist  dabei  Auffallendes?  Ich  will  beharrlich  glauben, 
jenes  Wort  sei  das  Wort  Gottes,  d.  h.  es  sei  von  dem 
höchsten  und  vollkommensten  Gott  ausgegangen,  der 
mehr  Vollkommenheit  enthält,  als  ich  fassen  kann  und 
der  vielleicht  über  sich  und  seine  Werke  mehr  Voll- 
kommenheit bekannt  machen  wollte,  als  ich  mit  meinem 
beschränkten  Verstände  heute,  ich  sage  heute,  fassen 
kann.  Denn  es  ist  möglich,  dass  ich  durch  meine 
Werke  mich  grösserer  Vollkommenheiten  beraube.  Wäre 
ich  deshalb  zufällig  von  der  Vollkommenheit,  deren  ich 

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94  XXXIII.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinoza. 

mich  durch  meine  Handlungen  beraubt  habe,  so  würde  ich 
yielleicht  einsehen,  dass  Alles,  was  durch  jenes  Wort  uns 
gesagt  und  gelehrt  wird,  mit  den  gesundesten  Begriffen 
meines  Verstandes  übereinkomme.  Da  ich  indess  mir 
selbst  nicht  traue,  ob  ich  nicht  durch  einen  fortdauernden 
Irrthum  mich  selbst  eines  besseren  Zustandes  beraube, 
und  ob  nicht,  wie  Sie  Lehrs.  15,  TL  I.  der  Prinzipien  an- 
nehmen, unsere  Erkenntniss  bei  aller  Klarheit  noch  eine 
UnvoUkommenheit  elnschliesst,  so  neige  ich,  wenn  auch 
ohne  Grund,  mehr  zu  jenem  Worte  und  stütze  mich  auf 
diese  Grundlage,  die  von  dem  Vollkommensten  ausge- 

fangen  ist  (dies  setze  ich  n&mlieh  hier  voraus,  da 
essen  Beweis  nicht  hierher  gehört  oder  zu  lang  werden 
würde)  und  deshalb  von  mir  geglaubt  werden  muss. 
Wenn  ich  blos  nach  der  ersten  meiner  Regeln,  mit 
Ausschluss  der  zweiten,  als  bestände  sie  nicht  oder 
besIKsse  ich  sie  nicht,  über  Ihren  Brief  urtheilen  sollte, 
so  müsste  ich  Vieles  zugestehen,  wie  ich  auch  thue 
und  Ihre  feinen  Begriffe  müssten  mich  misstrauisch 
machen;  aber  meine  zweite  Regel  nöthigt  mich  zu  einer 
viel  weiteren  Entfernung  von  Ihnen.  Indess  will  ich 
sie,  so  weit  wie  die  Briefform  es  erlaubt,  an  der  Hand 
dieser  und  jener  Regel  etwas  ausführlicher  untersuchen. 
Meine  erste  Frage  war,  jener  ersten  Regel  ent- 
sprechend, ob,  wenn  nach  Ihrer  Aufstellung  das  Schaffen 
und  Erhalten  ein  und  dasselbe  ist  und  wenn  Gott  nicht 
blos  die  Dinge,  sondern  auch  die  Bewegungen  und  Zu- 
stände der  Dinge  in  ihrer  Weise  fortdauern  macht,  d.  h. 
wenn  er  ihnen  seine  Mitwirkung  gab,  nicht  daraus  folgt, 
dass  es  kein  Böses  gebe,  oder  dass  Gott  selbst  das 
Böse  bewirke.  Ich  stütze  mich  dabei  auf  die  Regel, 
dass  nichts  gegen  Gottes  Willen  geschehen  kann;  denn 
sonst  enthielte  Gott  eine  UnvoUkommenheit,  oder  die  von 
Gott  bewirkten  Dinge  (unter  denen  auch  die  enthalten 
sind,  welche  man  böse  nennt)  müssten  böse  sein.  Da 
dies  indess  einen  Widerspruch  enthält  und  da  ich,  wie 
ich  mich  auch  wendete,  aus  diesem  Widerspruch  nicht 
herauskommen  konnte,  so  habe  ich  mich  deshalb  an  Sie 
gewendet,  als  den  besten  Ausleger  Ihrer  Sätze.  Sie  sagen 
nun  in  Ihrer  Antwort,  dass  Sie  bei  Ihrem  ersten  Aus- 
spruch beharren,  nämlich  dass  nichts  gegen  Gottes  Willen 
geschehe  und  geschehen  könne.    Allein  in  Antwort  auf 

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Der  Begriff  des  Bösen.  95 

die  Schwierigkeit,  ob  daher  Gott  nicht  auch  das  Böse 
thne,  „leugnen  Sie,  dass  das  Böse  etwas  Positives  sei  und 
„bemerken,  dass  man  nur  sehr  uneigentlich  sagen  könne, 
„wir  sündigten  gegen  Gott.^  Ebenso  sagen  Sie  in  Ihrem 
~'     '^.  Ka  ~       


Anhange  Th.  I.  Kap.  6:  „Es  giebt  kein  unbedingtes 
„Schlechte,  wie  an  sich  klar  ist;  denn  Alles,  was  besteht, 
„enthldt,  an  sich  und  ohne  Beziehung  auf  Anderes  be- 
„trachtet,  eine  Vollkommenheit,  die  sich  in  jedem  Gegen- 
„  Stande  immer  so  weit  erstreckt,  als  sich  das  Wesen  des- 
„selben  erstreckt.  Deshalb  können  offenbar  die  Sünden, 
„weil  sie  nur  eine  UnvoUkommenheit  bezeichnen,  nicht 
„in  Etwils,  was  das  Wesen  ausdrückt,  bestehen.***") 
—  Wenn  die  Sünde,  das  Böse,  der  Irrthum,  oder  wie 
Sie  es  nennen  wollen,  nur  den  Verlust  oder  die  Be- 
raubung eines  vollkommeneren  Zustandes  bezeichnet,  so 
folgt  allerdings,  dass  das  Dasein  kein  Böses  und  keine 
UnvoUkommenheit  sein  kann;  vielmehr  muss  das  Böse 
an  einem  bestehenden  Gegenstande  entstehen.  Denn  das 
Vollkommne  kann  durch  eine  gleich  vollkommne  Hand- 
lung seinen  vollkommnen  Zustand  nicht  verlieren;  aber 
wohl  dadurch,  dass  wir  zu  etwas  UnvoUkommnen  hin- 
neigen, indem  wir  die  uns  gegebenen  Kräfte  missbrauchen. 
Dies  scheinen  Sie  „nicht  bös,  sondern  weniger  gut  zu 
„nennen,  weil  die  Dinge,  an  sich  betrachtet,  die  VoU- 
„kommenheit  enthalten  und  weil  den  Dingen,  wie  Sie 
„sagen,  nicht  mehr  Wesenheit  zukommt,  als  die  gött- 
„  liehe  Einsicht  und  Macht  ihnen  zutheilt  und  wirklich 
„giebt  und  weil  sie  deshalb  nicht  mehr  an  Sein  in 
„ihren  Handlungen  darlegen  können,  als  sie  an  Wesen- 
„heit  empfangen  haben. ^  Denn  wenn  ich  weder  mehr, 
noch  weniger  an  Wirksamkeit  von  mir  geben  kann,  als 
ich  Wesenheit  empfangen  habe,  so  kann  man  keine 
Beraubung  eines  voUkommneren  Zustandes  annehmen. 
Wenn  nämlich  nichts  gegen  Gottes  Willen  geschieht 
und  wenn  nur  soviel  geschieht,  als  Wesenheit  miteetheilt 
ist,  auf  welche  Weise  kann  man  das  Böse  sich  denken, 
was  Sie  die  Beraubung  eines  besseren  Zustandes  nennen  ? 
Wie  vermag  Jemand  durch  das  so  bestimmte  und  ab- 
hängige Werk  einen  voUkommneren  Zustand  zu  ver- 
lieren? Ich  sollte  daher  meinen,  Sie,  geehrter  Herr, 
müssen  entweder  annehmen,  dass  es  ein  Böses  giebt,  oder 
wo  nicht,  dass  es  auch  keine  Beraubung  eines  besseren 


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%  XXXni.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinoza. 

Zastandes  giebt.  Denn  dass  es  kein  Böses  und  doch 
eine  Beraubung  eines  bessern  Zastandes  geben  sollte, 
scheint  mir  ein  Widerspruch  zu  sein. 

Sie  sagen  vielleicht,  dass  wir  durch  die  Beraubung 
eines  yollkommnem  Zustandes  zwar  in  ein  weniger 
Gutes,  aber  nicht  in  das  unbedingt  Schlechte  zoräck- 
fallen;  allein  Sie  haben  (Anhang,  Th.  I.  Kap.  3)  mich  ge- 
lehrt, nicht  über  Worte  zu  streiten;  deshalb  streite  ich 
nicht  darüber,  ob  dies  unbedingt  oder  nicht  genannt 
werden  soll,  sondern  frage  nur,  ob  das  Fallen  aus  einem 
bessern  Zustand  in  einen  schlechtem  bei  uns  nicht  mit 
Recht  ein  schlechter  oder  ein  böser  Zustand  genannt 
werde  und  werden  soll.  Sie  erwidern  zwar,  dass  dieser 
schlechte  Zustand  noch  viel  Gutes  enthalte,  allein  ich 
frage,  ob  nicht  Der,  welcher  durch  seine  Unklug-heit 
dahin  gekommen,  dass  er  eines  vollkommnem  Zustandes 
beraubt  ist  und  folglich  sich  jetzt  in  einem  geringeren  als 
früher  befindet,  böse  genannt  werden  kann?^) 

Um  indess  diesem  Beweise  auszuweichen,  da  bei  ihm 
noch  einige  Schwierigkeiten  Mr  Sie  bleiben,  behaupten 
Sie:  „es  sei  zwar  das  Böse  in  Adam  gewesen;  allein 
„dasselbe  sei  kein  Positives,  sondern  hiesse  nur  so  in 
„Beziehung  auf  unsere,  aber  nicht  auf  Gottes  Einsicht; 
„in  Bezug  auf  uns  sei  es  eine  Beraubung  (allein  nur 
„so  weit,  als  wir  selbst  dadurch  uns  der  besten,  auf  unsere 
„Natur  bezüglichen  und  in  unserer  Macht  befindlichen 
„Freiheit  berauben),  in  Bezug  auf  Gott  nur  eine  Ver- 
„neinung.^  Ich  werde  also  prüfen,  ob  das,  was  Sie 
das  Böse  nennen,  kein  Böses  ist,  wenn  es  nur  in  Be- 
zug auf  uns  das  Böse  ist ;  und  dann,  ob  das  Böse,  in 
Ihrem  Sinne  aufgefasst,  in  Bezug  auf  Gott  nur  eine 
Verneinung  genannt  werden  kann. 

Auf  die  erste  Frage  glaube  ich  schon  oben  einiger- 
massen  geantwortet  zu  haben.  Wenn  ich  auch  zugebe, 
dass  meine  blosse  geringere  Vollkommenheit  inVer^eich 
zu  einem  andern  Wesen  noch  nicht  das  Böse  in  mir  aas- 
machen kann,  weil  ich  keinen  bessern  Zustand  von  dem 
Schöpfer  verlangen  und  nur  bewirken  kann,  dass  mein 
Zustand  im  Grade  verschieden  ist,  so  kann  ich  deshalb 
doch  noch  nicht  einräumen  und  zugestehen,  dass,  wenn 
ich  jetzt  unvollkommener  als  früher  bin  und  mir  diese 
Unvollkommenheit  durch  meine  Schuld  bereitet  habe,  ich 

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Ob  das  Böse  eine  Verneinung  ist.  97 

deshalb  nicht  um  so  viel  schlechter  sei.  Wenn  icb^  sage 
ich,  ehe  ich  in  eineUnvollkommenbeit  gerathen  bin,  mich 
betrachte  und  mit  Andern,  die  mit  einer  grossem  Voll- 
kommenheit begabt  sind,  vergleiche,  so  ist  meine  gerin- 
gere Vollkommenheit  noch  nichts  Böses,   sondern  nur 
ein  dem  Grade  nach  geringeres  Gute.    Vergleiche  ich 
dagegen  mich,  nachdem  ich  aas   dem  vollkommneren 
Zustand  herabgefallen  imd  durch  meine  eigene  Unklug- 
beit  desselben  mich  beraubt  habe,   mit  meiner  ersten 
Verfassung,  nach  der  ich  aus  der  Hand  eines  Schöpfers 
hervorgegangen  bin  und  vollkommener  war,  so  muss  ich 
sagen,  dass  ich  jetzt  schlechter  als  vorher  bin;  denn  nicht 
der  Schöpfer,   sondern  ich  habe  mich  dahin  gebracht 
und  es  standen  mir,  wie  auch  Sie  anerkennen,  Kräfte 
zur  Vermeidung  des  Irrthums  zu  Gebote."') 

Die  zweite  Frage  ist,  ob  das  Böse,  was  nach  Ihnen 
in  der  Beraubung  eines  bessern  Zustandes  besteht, 
den  nicht  blos  Adam,  sondern  wir  Alle  durch  eine 
übereilte  und  unüberlegte  That  verloren  haben,  in  Be- 
zug auf  Gott  eine  blosse  Verneinung  ist. 

Um  dies  mit  gesundem  Verstände  zu  prüfen,  haben 
wir  zu  fragen,  wie  Sie  den  Menschen  auffassen,  und  wie 
er  nach  Ihnen  von  Gott  abhängt,  ehe  er  noch  irgend  geirrt 
hat,  und  wie  Sie  denselben  Menschen,  nachdem  er  geirrt, 
auffassen.  Vor  seinem  Irrthum  hat  er,  nach  Ihrer  Dar- 
stellung, nicht  mehr  Wesenheit,  als  die  göttliche  Einsicht 
und  Macht  ihm  zutheilt  und  wirklich  gewährt,  d.  h.  (wenn 
ich  Sie  recht  verstehe)  der  Mensch  kann  nicht  mehr  noch 
weniger  VoUkommenneit  besitzen,  als  Gott  an  Wesen- 
heit in  ihn  gelegt  hat.  Dies  hiesse  indess  einen  Menschen 
so  von  Gott  abhängig  machen,  wie  die  Elemente,  die 
Steine,  die  Pflanzen  u.  s.  w.  Ist  dies  Ihre  Ansicht,  so 
weiss  ich  nicht,  was  die  Worte  in  Lehrsatz  15,  Th.  I.  der 
Prinzipien  sagen  wollen,  wo  Sie  aussprechen:  „Da  indess 
„der  Wille  die  Freiheit  hat,  sich  zu  bestimmen,  so  folgt, 
„dass  wir  vermögen,  unsere  Fähigkeit  der  Zustimmung 
„innerhalb  der  Grenzen  dieser  Einsicht  zu  halten  und 
„damit  zu  bewirken,  dass  wir  nicht  in  den  Irrthum  ge- 
„rathen.**  Ist  es  nicht  ein  Widerspruch,  den  Willen  so 
frei  zu  erklären,  dass  er  sich  vor  Irrthum  schützen  kann 
und  gleichzeitig  ihn  von  Gott  so  abhängig  zu  machen, 
dass  er  nicht  mehr  noch  weniger  Vollkommenheit  äussern 
kann,  als  Gott  an  Wesenheit  ihm  v^rlieh^n  ha^*^^^.^^ 

igi  ize     y  ^ 


98         XXXIII.  Brief.    Bljenbergh  an  Spinoza. 

In  Bezug  auf  den  zweiten  Punkt,  nämlich  wie  Sie 
den  Menschen  nach  dem  Irrthume  annehmen,  sagen  Sie, 
dass  der  Mensch  durch  eine  zu  heftige  Handlung,  indem 
er  nämlich  den  Willen  nicht  in  den  Schranken  der  Ein- 
sicht hält,  sich  selbst  des  vollkommneren  Zustandes  be- 
raube; allein  mir  däucht,  Sie  hätten  hier  und  in  den 
Prinzipien  die  beiden  Gegensätze  dieser  Beraubungnäher 
erläutern  sollen,  nämlich  was  der  Mensch  vor  der  Berau- 
bung gehabt  und  was  er  nach  Verlust  jenes  vollkommne- 
ren Zustandes  (wie  Sie  es  nennen)  noch  behalten  hat.  Es 
wird  wohl  im  Lehrs.  15,  Th.  I.  der  Prinzipien  gesagt,  was 
wir  verloren  haben,  aber  nicht,  was  wir  behalten  nahen, 
indem  es  dort  heisst:  „Die  ganze  Unvollkommenheit  des 
„Irrthnms  besteht  also  nur  in  der  Beraubung  der  besten 
„Freiheit,  und  sie  wird  Irrthum  genannt.^  Lassen  Sie  uns 
es  jedoch  in  der  von  Ihnen  angenommenen  Weise  prttfen. 
Es  giebt  nach  Ihnen  nicht  blos  verschiedene  Zustände 
des  Denkens,  die  wir  d^n  einen  das  Wollen,  den  andern 
das  Denken  nennen ;  sondern  es  besteht  auch  zwischen 
diesen  eine  solche  Ordnung,  dass  man  eine  Sache  nicht 
eher  wollen  soll,  als  bis  man  sie  klar  einsieht;  denn 
wenn  wir  den  Willen  in  den  Schranken  der  Einsicht 
halten,  gerathen  wir,  nach  Ihnen,  nie  in  den  Irrthum, 
und  es  soll  femer  in  unserer  Macht  stehen,  den  Willen 
so  in  den  Schranken  der  Einsicht  zu  halten.  Wenn 
ich  dies  ernstlich  erwäge,  so  muss  eines  von  Beiden 
wahr  sein;  entweder  ist  alles  Angenommene  nur  Ein- 
bildung, oder  Gott  hat  diese  Ordnung  uns  eingesehen. 
Hat  Gott  es  gethan,  wäre  es  da  nicht  widersinnig,  zu 
sagen,  dass  dies  ohne  Zweck  geschehen  sei  und  dass  Gott 
nicht  verlange,  wir  sollten  eine  Ordnung  beobachten 
und  befolgen?  dies  würde  einen  Widerspruch  in  Gott 
setzen.  Sollen  wir  dagegen  die  in  uns  gelegte  Ordnong 
befolgen,  wie  können  wir  da  so  von  Gott  abhängig  sein 
und  bleiben?  Hat  nämlich  Jemand  weder  melu*,  noch 
weniger  an  Vollkommenheit,  als  er  an  Wesenheit  empfan- 
gen hat,  und  muss  dies  nach  den  Wirkungen,  wie  Sie 
wollen,  beurtheilt  werden  und  so  hat  Der,  welcher  seinen 
Willen  über  die  Grenzen  seiner  Einsicht  ausdehnt,  nicht 
so  viel  an  Kräften  von  Gott  empfangen;  denn  sonst 
würde  er  sie  wirken  lassen,  und  daher  hat  Der,  welcher 
irrt,  von  Gott  die  Vollkommenheit,  nicht  zu  irren,  nicht 

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Die  Abhängigkeit  von  Gott.  99 

empfangen;  denn  sonst  würde  er  niemals  irren,  da, 
nach  Ihnen,  so  viel  an  Wesenheit  gegeben  ist,  als  an 
Vollkonunenheit  ge&ussert  wird. 

Wenn  femer  Gott  nns  so  viel  an  Wesenheit  sutheilt, 
dass  wir  diese  Ordnung  beobachten  können,  wie  Sie 
ja  selbst  annehmen,  dass  wir  es  können,  und  wenn  wir  so 
viel  Vollkommenheit  äussern,  als  wir  Wesenheit  empfan- 
gen haben,  wie  kommt  es  da,  dass  wir  sie  überschreiten? 
wie,  dass  wir  diese  Ordnung  überschreiten  können,  und 
dass  wir  den  Willen  nicht  immer  innerhalb  der  Grenzen 
der  Einsicht  halten? 

Wenn  ich  drittens  von  Gott  so  abhänge,  wie  ich  ge- 
zeigt, dass  Sie  annehmen,  und  ich  also  meinen  Willen 
weder  innerhalb,  noch  ausserhalb  der  Grenzen  der  Ein- 
sicht kalten  kann,  sofern  mir  Gott  nicht  im  Voraus  die 
dazu  nöthige  Wesenheit  gegeben  und  in  seinem  Willen 
dies  vorher  bestimmt  hat,  wie  kann  ich  da,  dies  recht 
betrachtet,  durck  den  Gebrauch  die  Freiheit  des  Willens 
erlangen?  Wäre  es  nicht  ein  Widerspruch  in  Gott,  wenn 
er  uns  die  Ordnung  vorschriebe,  unsem  Willen  innerhalb 
der  Schranken  der  Einsicht  zu  halten,  und  er  doch  uns 
nicht  so  viel  Wesenheit  oder  Vollkommenheit  gäbe,  dass 
wir  dies  erfüllen  könnten,  und  wenn  Gott  nach  Ihrem  Aus- 
spruche uns  so  viel  Vollkommenheit  gewährt  hat,  so  könn- 
ten wir  f&rwahr  niemals  irren,  da  wir  so  viel  an  Voll- 
kommenheit äussern  müssen,  als  wir  an  Wesenheit  be- 
sitzen, und  da  wir  die  empfangenen  Kräfte  in  unsem 
Werken  immer  äussern  müssen.  Unsere  Irrthümer  sind 
dann  ein  Beweis,  dass  wir  eine  solche  von  Gott  abhän- 
gende Macht  (wie  Sie  annehmen)  nicht  haben,  und  Eines 
von  Beiden  muss  dann  wahr  sein:  entweder  hängen  wir 
nicht  so  von  Gott  ab,  oder  wir  haben  in  uns  nicht  die 
Macht,  nicht  zu  irren.  Nun  haben  wir  aber,  wie  Sie  an- 
nehmen, die  Macht  zu  irren;  also  hängen  wir  von  Gott 
nicht  so  ab.  ^ 

Aus  Vorstehendem  dürfte  schon  klar  erhellen,  dass 
das  Böse  oder  die  Beraubung  eines  bessern  Zustandes  in 
Beziehung  auf  Gott  keine  blosse  Vemeinung  sein  kann. 
Denn  was  heisst:  Etwas  beraubt  werden  oder  einen  voll- 
kommneren  Zustand  verlieren?  Ist  es  nicht  ein  Ueber- 
gehen  aus  einer  fi^rösseren  in  eine  geringere  Vollkommen- 
heit, und  folglich  auch  aus  einer  grösseren  Wesenheit  in 

SplBOBA,  Bli«f«.  DigitiÄbyV^OOgie 


100  XXXtll  Brief.    Blyenbergh  an  l^pinozä. 

eine  geringere?  Und  sind  wir  damit  nicht  durch  Gott  in 
ein  gewisses  Maas  von  Vollkommenheit  und  Wesenheit 
gestellt?  Ist  damit  nicht  gesagt,  dass  Gott  wolle,  ¥rir  sollen 
keinen  andern  Zustand,  neben  der  vollkommenen  Kennt- 
niss  seiner,  erlangen,  weil  er  es  einmal  so  beschlossen 
und  gewollt  habe?  Ist  es  wohl  möglich,  dass  dieses  von 
dem  allwissenden  und  höchst  vollkommenen  Wesen  her- 
vorgebrachte Geschöpf,  von  dem  Gott  gewollt,  dass  es 
einen  solchen  Zustand  von  Wesenheit  immer  behalte,  ja 
bei  dem  Gott  immer  mitwirkt,  um  es  in  diesem  Zustand 
zu  erhalten,  ich  sage,  kann  dieses  Geschöpf  an  Wesenheit 
abnehmen,  und  soll  es  an  Vollkommenheit,  ohne  dass  Gott 
davon  Kenntniss  nimmt,  geringer  werden?  Dergleichen 
ist  widersinnig.  Denn  wäre  es  nicht  eine  widersinnige  Be- 
hauptung, dass  Adam  den  vollkommneren  Zustand  ver- 
loren habe  und  deshalb  zu  der  Ordnung  ungeeignet  ge- 
worden, welche  Gott  m  seine  Seele  gelegt  hatte,  und  Gott 
habe  keine  Kenntniss  gehabt,  welcher  Art  und  Grösse  der 
Verlust  an  Vollkommenheit  bei  Adam  gewesen?  Kann 
man  sich  vorstellen,  Gott  habe  ein  Wesen  so  abhängig  ge- 
macht, dass  es  nur  so  handeln  k<mnte  und  doch  wegen 
dieses  Handelns  seinen  vollkommneren  Zustand  verlieren 
solle,  abgesehen  davon,  dass  Gott  doch  die  schlecht- 
hinnige  Ursache  davon  gewesen,  und  dass  Gott  doch 
davon  keine  Kenntniss  gehabt? 

Ich  gebe  zu,  dass  es  zwischen  derHandlung  und  dem 
ihr  anhängenden  Bösen  einen  Unterschied  giebt;  dass 
aber  das  Böse  in  Bezug  auf  Gott  nur  eine  Verneinung  sei, 
übersteigt  meine  Fassungskraft.  Gott  soll  die  Handlung 
kennen,  sie  bestimmen,  bei  ihr  mitwirken  und  doch  das  in 
dieser  Handlung  enthaltene  Böse  und  deren  Ausgang 
nicht  kennen;  dies  scheint  mir  bei  Gott  unmöglich. i^) 
Bedenken  Sie,  dass  Gott  bei  meinem  Zeugungsakte 
mit  meiner  Frau  mitwirkt;  er  ist  etwas  Positives,  und 
folglich  hat  Gott  ein  klares  Wissen  von  ihm;  miss- 
brauche ich  aber  diesen  Akt,  und  lasse  ich  mich  gegen 
die  versprochene  Treue  und  den  geleisteten  Schwur  mit 
einer  anaern  Frau  ein,  so  wirkt  er  auch  bei  diesem  Akte 
mit.  Was  soll  da  hier  rücksichtlich  Gottes  die  Verneinung 
sein  ?  Der  Zeugungsakt  kann  es  nicht  sein ;  denn  soweit 
er  ein  Positives  ist,  wirkt  Gott  dabei  mit.  Das  Böse,  was 
diesen  Akt  begleitet,  kann  ebenso  nur  sein,  dass  ich  gegen 

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Verhättnke  Gottes  2am  Bösen«  101 

mein  eigenes  Versprechen  oder  Gottes  Geheiss  einer  An' 
dem  beiwohne,  wo  es  nicht  erlaubt  ist.  Kann  man  es 
aber  verstehen,  dass  Gott  unsere  Handlangen  kennt  und 
dabei  mitwirkt  und  doch  nicht  weiss,  mit  welcher  Person 
wir  den  Akt  vollziehen,  zumal  ja  Gott  auch  bei  dem  Akt 
jener  Frau  mitwirkt,  mit  der  ich  zu  thun  gehabt?  Es 
fifcllt  schwer,  dies  von  Gott  anzunehmen,  i**) 

Nehmen  Sie  weiter  eine  Mordthat;  soweit  sie  eine 
positive  Handlung  ist,  wirkt  Gott  mit;  sollte  er  nun  die 
Wirkung  dieser  Handlung,  d.  h.  die  Vernichtung  eines 
Wesens  und  die  Zerstörung  eines  Geschöpfes  Gottes  nicht 
wissen?  Sollte  somit  Gott  sein  eigenes  Werk  unbekannt 
sein?  (Ich  fürchte  beinah,  dass  ich  Ihre  Meinung  nicht 
richtig  auffasse,  da  Ihre  Gedanken  an  sich  zu  klar  sind, 
um  einen  so  groben  Irrthum  zu  begehen.)  Vielleicht  be- 
haupten Sie,  dass  diese  von  mir  erwähnten  Handlungen 
rein  gute  seien  und  dass  kein  Böses  sie  begleite;  aber 
dann  kann  ich  nicht  fassen,  was  Sie  böse  nennen,  und 
was  der  Beraubung  eines  voUkommneren  Zustandes  folgt. 
Die  Welt  beende  sich  dann  in  einer  ewigen  und  un- 
unterbrochenen Verwirrung,  und  wir  ständen  den  wilden 
Thieren  gleich.  Bedenken  Sie,  ob  diese  Ansicht  der 
Welt  einen  Nutzen  bringen  kann.  ^^) 

Sie  verwerfen  den  gewöhnlichen  Begriff  des  Men- 
schen und  geben  jedem  Menschen  so  viel  Vollkommen- 
heit, als  Gott  ihm  zu  seinem  Wirken  verliehen  hat.  Dann 
scheinen  Sie  mir  aber  anzunehmen,  dass  die  Gottlosen 
dnrch  ihre  Thaten  Gott  ebenso  dienen,  wie  die  Frommen 
durch  ihre.i^)  Warum?  Weil  Beide  keine  voUkommne- 
ren Werke  vollbringen  können,  als  Jedem  Wesenheit  ge- 
geben worden,  untl  er  durch  seine  Thaten  darlegt.  Auch 
in  Ihrer  zweiten  Antwort  scheinen  Sie  mir  die  Frage 
nicht  zu  erledigen,  wenn  Sie  sagen :  ^  Je  mehr  ein  Ding 
„vollkommen  ist,  desto  mehr  hat  es  an  der  Göttlichkeit 
„Theil  und  drückt  Gottes  Göttlichkeit  mehr  aus.  Wenn 
„also  die  Frommen  unvergleichlich  mehr  Vollkommenheit 
„als  die  Gottlosen  haben,  so  kann  deren  Tugend  mit  der 
„der  Gottlosen  nicht  verglichen  werden.  Die  Gottlosen 
„sind,  weil  sie  Gott  nicht  kennen,  nur  Werkzeuge  in  der 
„Hand  des  Künstlers,  die  unbewusst  dienen  und  im  Die- 
„nen  verbraucht  werden;  aber  die  Frommen  dienen  wis- 
„send  und  werden  durch  das  Dienen  vollkommener.^ 

Dgi#zed  by  V^OOQ  IC 


102         XXXin.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinoza. 

Für  Beide  gilt  doch,  dass  sie  nicht  mehr  thun  können; 
denn  wenn  der  Eine  VoUkommneres  als  der  Andere  ver- 
richtet, so  hat  er  nm  so  viel  mehr  Wesenheit  als  der 
Andere  erhalten.  Dienen  daher  die  Gottlosen  mit  ihrer 
geringen  Vollkommenheit  Gott  nicht  ebenso  wie  die 
Frommen?  ^^)  Denn  nach  Ihrer  Ansicht  verlangt  Gott 
von  den  Gottlosen  nicht  mehr;  sonst  hätte  er  mehr  We- 
senheit in  sie  gelegt;  dies  hat  er  nicht  gethan,  wie 
man  aus  ihrem  Wirken  erkennt;  und  deshalb  verlangt 
er  auch  nicht  mehr  von  ihnen.  Wenn  daher  Jedweder 
nicht  mehr  oder  weniger  thut,  als  Gott  will,  weshalb  soll 
daher  Der,  welcher  nur  wenig  thut,  aber  immer  doch 
so  viel,  als  Gott  von  ihm  verlangt,  Gott  nicht  ebenso 
genehm  sein  als  der  Fromme? 

Wenn  weiter  wir  nach  Ihrer  Ansicht  durch  das  Böse, 
das  die  Handlung  begleitet,  den  vollkommneren  Zustand 
in  Folge  unserer  Unklugheit  verlieren,  so  scheinen  Sie 
mir  auch  hier  anzunehmen,  dass  wir,  wenn  wir  unsem 
Willen  innerhalb  der  Grenzen  der  Einsicht  halten,  nicht 
blos  so  vollkommen  bleiben,  als  wir  sind,  sondern  dass 
wir  durch  solches  Dienen  auch  voUkommener  werden. 
Dies  scheint  mir  aber  ein  Widerspruch  zu  sein;  einmal 
sollen  wir  so  von  Gott  abhängen,  dass  wir  nur  so  viel  an 
Vollkommenheit  verrichten  können,  als  wir  an  Wesenheit 
empfangen  haben,  d.  h.  als  Gott  gewollt  hat ;  und  dann 
sollen  wir  durch  Unklugheit  schlechter  und  durch  Klug- 
heit besser  werden.  Dennoch  scheinen  Sie  anzunehmen, 
dass,  wenn  die  Menschen  so  sind»  wie  Sie  sie  beschrei- 
ben, die  Gottlosen  durch  ihre  Werke  Gott  ebenso  dienen 
wie  die  Frommen  durch  die  ihrigen;  die  Menschen  sind 
dann  ebenso  abhängig  von  Gott  wie  die  Elemente,  Steine, 
Pflanzen  u.  s.  w.  Wozu  dient  dann  noch  unser  Verstand 
und  die  Fähigkeit,  den  Willen  innerhalb  der  Einsicht  zu 
halten?  Weshalb  ist  diese  Kegel  uns  vollschrieben? 

Bedenken  Sie  andererseits,  wessen  wir  uns  dadurch 
berauben;  nämlich  jener  sorgfl&ltigen  und  ernsten  Erwä- 
gung, um  uns  nach  der  Kegel  von  Gottes  Vollkommen- 
heit und  der  uns  eingegebenen  Ordnung  vollkommen  zu 
machen.  Wir  berauben  uns  dann  des  Gebetes  und  der 
Seufzer  zu  Gott,  aus  denen  wir  so  oft  ausserordentlichen 
Trost  geschöpft  haben;  wir  berauben  uns  der  ganzen  Ke- 
ligion  und  aU  jener  Uofinungen  und  Tröstungen,  die  wir 

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Sünde  gegen  Gott.  103 

von  den  Gebeten  und  der  Religion  erwarten.  Denn  wenn 
Gott  keine  Kenntnis  vom  Bösen  hat,  so  ist  es  noch  weni- 
ger glaublich,  dass  er  den  Bösen  bestrafen  werde.  Was 
hindert  mich  dann,  dass  ich  jedwede  Missethat  begierig 
verübe  (wenn  ich  nur  dem  Richter  entgehe)?  Weshalb 
sammle  ich  mir  dann  nicht  mit  verabscheuenswerthen 
Mitteln  Reichthümer?  Weshalb  thne  ich  dann  nicht,  ohne 
Unterschied,  wohin  die  Begierde  mich  treibt,  das,  was  mir 
beliebt?  Sie  werden  sagen,  dieTugend  ist  um  ihrer  selbst 
willen  zu  lieben.  Aber  wie  kann  ich  die  Tugend  lieben? 
ich  habe  nicht  so  viel  Wesenheit  und  Vollkommenheit 
erhalten,  und  wenn  ich  gleich  viele  Seelenruhe  so  oder 
so  haben  kann,  weshalb  soll  ich  mir  Gewalt  anthun  und 
meinen  Willen  innerhalb  der  Grenze  meiner  Einsicht  hal- 
ten? Weshalb  soll  ich  dann  nicht  das  thun,  wozu  die 
Jjeidenschaft  treibt?  Weshalb  tödte  ich  dann  nicht  heim- 
lich denMenschen,  der  mir  irgendwo  hinderlich  ist?  u.s.w. 
Sie  sehen,  welche  Thüren  wir  allen  Bösen  und  der  Gott- 
losigkeit öfihen.  Wir  machen  damit  uns  selbst  dem 
Holzscheit  und  alle  unsere  Handlungen  den  Schlägen 
der  Uhr  gleich."») 

Unter  Ihren  Aussprüchen  bedrückt  mich  der  sehr, 
dass  man  nur  uneigentlich  sagen  könne,  wir  sündigten 
^egen  Gott.  Wozu  nützt  die  uns  verliehene  Macht,  den 
Willen  innerhalb  der  Schranken  der  Einsicht  zu  halten, 
wenn  wir  bei  Nichtbeachtung  dieser  Schranken  doch  nicht 
^egen  diese  Ordnung  sündigen?  Sie  erwidern  vielleicht, 
dies  sei  keine  Sünde  gegen  Gott,  sondern  gegen  uns 
selbst;"*)  denn  wenn  wir  wirklich  gegen  Gott  sündigen 
könnten,  so  könnte  man  auch  sagen,  dass  etwas  gegen 
Gottes  Willen  geschehen  könne ;  was  nach  Ihnen  unmög- 
lich ist,  folglich  auch  die  Sünde.  Indess  kann  nur  Eines 
oder  das  Andere  wahr  sein;  entweder  Gott  will  es,  oder 
will  es  nicht.  Will  er  es,  wie  kann  es  da  in  Bezug  auf  uns 
böse  sein?"')  will  er  es  nicht,  so  kann  es  nach  Ihrer 
Ansicht  nicht  geschehen.  Obgleich  dies,  wie  Ihr  Aus- 
spruch lautet,  einen  Widersinn  enthielte,  so  wäre  es 
doch  höchst  gefährlich,  dergleichen  Widersinn  zuzu- 
lassen. Wer  weiss  indess,  ob  ich  nicht,  bei  sorgfilltiger 
Nachforschung,  ein  Mittel  finden  könnte,  diesen  Wider- 
spruch zu  versöhnen? 

Damit  schliesse  ich  die  Prüfung  Ihres  Schreibens 

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104         XXXni.  Brief.    Blyenbefgh  an  Spinoza. 

nach  meiner  ersten  Hauptregel ;  ehe  ich  indeds  zu  dessen 
Prüfung  nach  der  zweiten  Hauptregel  übergehe,  berühre 
ich  noch  zwei  auf  Ihren  Brief  bezügliche  Punkte,  welche 
in  Lehrsatz  15,  Th.  I.  der  Prinzipien  enthalten  sind.  Der 
erste  ist,  dass  Sie  behaupten,  ^wir  könnten  die  Kraft  zu 
„wollen  und  zu  urtheilen  innerhalb  der  Grenzen  der  Ein- 
„sieht  halten.^  Ich  kann  dies  nicht  unbedingt  zugestehen. 
Wäre  dieser  Satz  wahr,  so  würde  sicherlich  unter  den 
unzählig  vielen  Menschen  Einer  sich  finden,  welcher 
zeigte,  dass  er  diese  Kraft  besitze,  wie  auch  Jeder- 
mann an  sich  selbst  erfahren  kann,  dass  er,  trotz  aller 
Anstrengung,  dieses  Ziel  nicht  zu  erreichen  vermag. 
Wenn  Jemand  hierbei  noch  zweifelt,  so  mag  er  sich 
selbst  fragen,  wie  oft  die  Leidenschaften  gegen  sein  bes- 
seres Wissen  seine  Vernunft  besiegen,  trotzdem  dass  er 
sich  mit  allen  Kräften  dagegen  stemmt.  Sie  werden 
sagen,  dass  wir  dies  nur  deshalb  nicht  vermögen,  nicht 
weil  es  unmöglich  ist,  sondern  weil  wir  nicht  den  nö- 
thtgen  Fleiss  anwenden;  allein  darauf  erwidere  ich,  dass, 
wenn  es  möglich  wäre,  doch  wenigstens  Einer  unter  so 
viel  Tausenden  gefunden  werden  würde;  aber  es  hat 
nicht  Einen  unter  allen  Menschen  gegeben,  und  es  giebt 
Keinen,  der  sich  rühmen  könnte,  in  keinen  Irrthum  ge- 
rathen  zu  sein.  Welche  sicherem  Beweise  kann  man 
aber  hierfür  beibringen,  als  die  Beispiele  selbst?  Wenn 
es  nur  Wenige  wären,  so  gäbe  es  doch  Einen ;  aber  da 
es  Keinen  giebt,  so  giebt  es  auch  keinen  Beweis.  Sie 
werden  dennoch  sagen :  Wenn  ich  einmal  vermag,  durch 
Zurückhaltung  des  IJrtheils  und  des  Willens  innerhalb 
der  Schranken  der  Einsicht  mich  gegen  den  Irrthum  zu 
schützen,  warum  sollte  ich  bei  Anwendung  desselben 
Fleisses  dies  nicht  immer  vermögen?  Ich  antworte,  wie 
ich  nicht  einsehe,  dass  wir  heute  solche  Kräfte  haben, 
die  immer  vorhalten  müssen;  ich  kann  wohl  einmal  bei 
Anspannung  aller  Nerven  in  einer  Stunde  einen  Weg  von 
zwei  Meilen  zurücklegen;  aber  um  dies  immer  auszufüh- 
ren, fehlen  mir  die  Kräfte.  So  kann  ich  wohl  mit  der 
höchsten  Anstrengung  mich  einmal  vor  dem  Irrthum 
schützen;  aber  um  dies  immer  zu  leisten,  fehlen  mir  die 
Kräfte.  Es  scheint  mir  klar,  dass  der  erste  aus  der 
Hand  jenes  vollkommenen  Künstlers  hervorgegangene 
Mensch  mit  diesen  Kräften  versehen  gewesen  ist;  aber 

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Ueber  L.  15.  I.  der  Prinzipien  von  Descartes      105 

(vrie  ich  hier  mit  Ihnen  {ibereinstimnie)  indem  er  diese 
l^jräfte  nicht  gebrauchte  oder  missbrauchte,  hat  er  seinen 
vollkommenen  Zustand  zur  Leistung  dessen,  was  früher 
von  ihm  abhing,  verloren.  Ich  könnte  dies  mit  vielen 
Gründen,  wenn  es  nicht  zu  lang  würde,  bestätigen. 
Hierin  scheint  mir  das  ^anze  Wesen  der  heiligen  Schrift 
zu  liegen,  die  man  deshalb  in  Ehren  halten  muss, 
'weil  sie  uns  das  lehrt,  was  unser  natürlicher  Verstand 
uns  so  klar  bestätigt,  dass  nämlich  der  Fall  ans 
unserer  anfanglichen  Vollkommenheit  durch  unsere 
TJnklngheit  veranlasst  worden.  Was  ist  deshalb  nöthi- 
ger,  als  diesen  Abfall  wieder  zu  verbessern?  Und  auch 
der  heiligen  Schrift  einziges  Ziel  ist  es,  den  gefallenen 
Menschen  zu  Gott  zurückzuführen. 

Zweitens  sagen  Sie  in  Lehrs.  15,  Th.  I.  der  Prin- 
zipien: ^es  widerstrebe  der  menschlichen  Natur,  die 
Dinge  klar  und  deutlich  einzusehen,^  und  daraus  schlies- 
sen  Sie  zuletzt:  „Es  sei  weit  besser,  den  Dingen,  auch 
„wenn  man  sie  nur  verworren  ei*fasst  habe,  beizustimmen 
„und  seine  Freiheit  zu  üben,  als  immer  in  Gleichgül- 
„tigkeit,  d.  h.  in  dem  niedrigsten  Grade  der  Freiheit 
„zu  verharren."  Die  Dunkelheit  dieses  Satzes  hindert 
mich,  ihm  beizustimmen;  denn  die  Zurückhaltung  des 
Urtheils  erhält  uns  in  dem  Zustande,  in  welchem  wir  von 
dem  Schöpfer  geschaffen  worden  sind;  aber  verworrenen 
Dingen  zustimmen,  heisst  Dingen  beistimmen,  die  man 
nicht  erkannt  hat,  und  so  kann  man  dann  ebenso  leicht 
dem  Wahren  wie  dem  Falschen  beistimmen.  Und  wenn 
(wie  Descartes  irgendwo  sagt)  wir  diese  Anordnung  in 
dem  Beistimmen  nicht  befolgen,  welche  Gott  zwischen 
unserer  Einsicht  und  unserem  Willen  getroffen  hat,  näm- 
lich dass  man  nur  dem  klar  Erkannten  beistimme,  so 
können  wir  vielleicht  zufällig  die  Wahrheit  treffen ;  allein 
da  wir  die  Wahrheit  doch  nicht  in  der  von  Gott  gewollten 
Ordnung  erfassen,  sündigen  wir  doch  und  folglich  er- 
hält uns  die  Zurückhaltung  der  Zustimmung  in  dem 
Zustand,  in  dem  Gott  uns  geschaffen  hat;  dagegen  macht 
die  Zustimmung  zu  Verworrenem  unsem  Zustand 
schlechter;  denn  sie  legt  den  Grund  zum  Irrthum,  durch 
den  wir  dann  den  vollkommenen  Zustand  verlieren. 

Ich  höre  indess  Sie  sprechen:  Ist  es  nicht  besser, 
dass  wir  uns  vollkommener  machen,  selbst  durch  Zustim- 

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106         XXXm.  Brief.    Blyenbergb  an  Spinoza. 

mting  zu  verworrenen  Dingen,  als  dass  wir  dnrch  Nicbt- 
zu8timmnng  immer  in  dem  untersten  Grade  der  Voll- 
kommenheit und  Freiheit  bleiben?  Allein  ich  leugne  dies 
und  habe  schon  gezeigt,  dass  wir  damit  uns  nicht  besser, 
sondern  schlechter  machen ;  allein  es  scheint  mir  auch 
unmöglich  und  widersprechend,  dass  Gott  die  Erkennt- 
niss  der  von  ihm  selbst  bestimmten  Dinge  weiter  aus- 
dehne wie  die,  welche  er  uns  verliehen  hat;  vielmehr 
würde  dann  Gott  die  schlechthinnige  Ursache  unserer 
Irrthümer  in  sich  enthalten.  Auch  widerspricht  dem 
nicht,  dass  man  Gott  nicht  anklagen  kann,  weil  er 
nicht  mehr,  als  geschehen,  uns  verliehen  habe,  indem 
er  dazu  nicht  verbunden  gewesen  sei.  Es  ist  aller- 
dings richtig,  dass  Gott  zu  Mehrerem,  als  er  gegeben, 
nicht  verbunden  gewesen,  allein  die  höchste  Vollkom- 
menheit Gottes  führt  auch  dazu,  dass  das  von  ihm  aus- 
gehende Geschöpf  keinen  Widerspruch  enthalte,  was 
dann  doch  der  Fall  sein  würde;  denn  nirgends  in  der 
erschaffenen  Natur  finden  wir  ausser  in  unserem  Ver- 
stände ein  Wissen.  Zu  welchem  Ende  ist  es  uns  also 
verliehen,  als  zur  Betrachtung  und  Erkenntniss  der 
Werke  Gottes?  Und  was  scheint  offenbarer  daraus  zu  fol- 
gen, als  dass  zwischen  den  zu  erkennenden  Dingen  und 
unserer  Erkenntniss  eine  Ueberein Stimmung  bestehe? 
Wollte  ich  nun  Ihren  Brief  nach  dem  eben  Gesagten 
meiner  zweiten  Hauptregel  entsprechend  prüfen,  so 
würden  wir  noch  weiter  als  bei  der  ersten  von  einander 
abweichen.  Mir  scheint  nämlich  (weisen  Sie  dem  Verirr- 
ten den  Weg),  dass  Sie  der  heiligen  Schrift  nicht  jene 
untrügliche  Wahrheit  und  Göttlichkeit  zuschreiben,  die 
ihr  nach  meiner  Ueberzeugung  innewohnt.  Es  ist  zwar 
richtig,  dass  Sie  sagen,  Sie  glaubten,  Gott  habe  den  In- 
halt der  heiligen  Schrift  den  Propheten  offenbaret;  aUein 
doch  nur  in  so  unvollkommener  Weise,  dass  es,  wenn  es 
wirklich  so,  wie  Sie  sagen,  geschehen  wäre,  es  einen 
Widerspruch  in  Gott  enthalten  würde.  Hat  nfimlich 
Gott  sein  Wort  und  seinen  Willen  den  Menschen  offen- 
baret, so  ist  dies  klar  und  zu  einem  bestimmten  Zweck 
geschehen.  Wenn  nun  die  Propheten  aus  diesem  Worte, 
das  sie  empfangen,  ein  Gleichniss  gemacht  hütten,  so 
hätte  Gott  dies  entweder  gewollt  oder  nicht.  Hätte  er 
gewollt,  dass  sie  ein  Gleichniss  daraus  machten,  d.  h. 

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Ueber  die  Auslegung  der  BibeL  107 

dass  sie  von  seinem  Sinne  abwichen,  so  wäre  Gott  die 
Ursache  dieses  Irrthams,  nnd  er  hätte  etwas,  was  sich 
widerspräche,  gewollt.  Wollte  er  es  aber  nicht,  so  war 
es  für  den  Propheten  unmöglich,  ein  Gleichniss  daraus 
zu  machen,  üeberdem  muss  man  annehmen,  dass,  wenn 
Gott  den  Propheten  sein  Wort  mitgetheilt  hat,  es  so  ge- 
schehen ist,  dass  sie  bei  dessen  Empfang  nicht  irrten ; 
ilenn  Gott  mnsste  bei  Offenbarung  seines  Wortes  ein 
bestimmtes  Ziel  haben,  und  die  Menschen  zum  Irrthum 
zu  verleiten,  konnte  er  sich  nicht  als  Ziel  vorsetzen,  da 
dies  ein  Widerspruch  in  Gott  sein  würde.  Auch  konnten 
die  Menschen  gegen  Gottes  Willen  nicht  irren ;  dies  ist 
auch  nach  Ihnen  unmöglich.  Üeberdem  kann  man  von 
dem  höchst  vollkommenen  Gotte  nicht  annehmen,  er 
werde  zulassen,  dass  seinem  den  Propheten  mitgetheil- 
ten  Worte  zur  Erläuterung  för  das  Volk  von  den  Pro- 
pheten ein  anderer  Sinn  beigelegt  werde,  als  Gott  ge- 
wollt habe.  Denn  nimmt  man  an,  Gott  habe  den  Pro- 
pheten sein  Wort  mitgetheilt,  so  erkennt  man  damit 
zngleich  an,  dass  Gott  den  Propheten  auf  eine  ausser- 
ordentliche Weise  erschienen  ist,  oder  mit  ihnen  ge- 
sprochen hat.  Wenn  nun  die  Propheten  aus  diesem 
empfangenen  Worte  ein  Gleichniss  machen,  d.  h.  ihm 
einen  anderen  Sinn  geben,  als  Gott  gewollt,  so  würde 
Gott  sie  darüber  belehrt  haben.  Denn  bezüglich  der 
Propheten  ist  es  unmöglich  und  bezüglich  Gottes  ein 
Widerspruch,  d^iss  die  Propheten  einen  anderen  Sinn 
hineingelegt,  als  Gott  gewollt  hat. 

Sie  beweisen  nicht,  dass  Gott  sein  Wort  so,  wie 
Sic  wollen,  offenbart  habe;  er  soll  nämlich  nur  das  Heil 
und  das  Verderben  offenbart  haben  und  bestimmte  Mittel 
flir  diesen  Zweck  beschlossen  haben,  und  das  Ziel  und 
das  Verderben  sollen  nur  die  Wirkung  dieser  beschlos- 
senen Mittel  sein.  Wenn  indess  die  Propheten  Gottes 
Wort  in  diesem  Sinne  empfangen  hätten,  aus  welchem 
Grunde  sollten  sie  ihm  da  einen  anderen  Sinn  beigelegt 
haben?  Sie  führen  keinen  Beweis,  um  uns  zu  überzeu- 
gen, dass  wir  Ihre  Ansicht  über  die  der  Propheten  stel- 
len. Wenn  Sie  meinen,  dieser  Beweis  liege  darin,  dass 
ohnedem  Gottes  Wort  viel  Unvollkommenes  und  Wider- 
sprechendes enthalten  würde,  so  behaupten  Sie  dies 
zwar,    aber  beweisen  es  nicht.     Und  wer  will  wissen, 

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108         XXXIII;  Brief.    Blyenbergh  an  Spinosa. 

'w^lcherSinn  von  denbeidenr  aufgestellten  weniger  Unvoll- 
kommenes enthält?  Endlich  konnte  das  vollkommenste 
Wesen  wohl  tibersehen,  was  dem  Volke  verständlich  ist, 
und  welche  Art,  das  Volk  zu  belehren,  die  beste  war?*^'') 

Was  den  zweiten  Theil  Ihrer  ersten  Frage  anlangt, 
so  stellen  Sie  sich  selbst  die  Frage:  Weshalb  Gott  dem 
Adam  das  Essen  vom  Baume  verboten  habe,  da  er  doch 
das  Gegentheil  beschlossen  gehabt?  und  Sie  antworten: 
das  an  Adam  ergangene  Verbot  habe  nur  darin  bestan- 
den, dass  Gott  dem  Adam  offenbart,  er  werde  sterben, 
wenn  er  von  dem  Baume  esse,  so  vne  er  uns  durch  den 
natürlichen  Verstand  offenbart  habe,  dass  das  Gift  tödtlich 
sei.  Nimmt  man  aber  einmal  an,  dass  Gott  dem  Adam  Et- 
was verboten  habe,  aus  welchem  Grunde  soll  ich  der  von 
Ihnen  angegebenen  Art  des  Verbots  mehr  als  der  von 
den  Propheten  angegebenen  glauben,  denen  Gott  die  Art 
des  Verbots  selbst  offenbart  hat?  **•)  Sie  werden  sagen, 
dass  Ihre  Art  des  Verbotes  natürlicher  sei  und  deshalb 
der  Wahrheit  und  Gott  mehr  entspreche.  Allein  ich  be- 
streite dies  und  verstehe  nicht,  wie  Gott  uns  durch  den 
natürlichen  Verstand  die  Tödtlichkeit  des  Giftes  offen- 
bart haben  soll ;  da  ich  keinen  Grund  sehe,  aus  dem  ich 
entnehmen  könnte.  Etwas  sei  giftig,  bevor  ich  die  schlim- 
men Wirkungen  des  Giftes  bei  Andern  gesehen  oder  ge- 
hört habe.  Die  tägliche  Erfahrung  lehrt  uns  ja,  dass 
Menschen  aus  Unkemitniss  des  Giftes  es  verzehren  und 
daran  sterben.  Sie  werden  sagen,  wenn  die  Menschen 
wüssten,  dass  es  Gift  sei,  so  würden  sie  auch  wissen, 
dass  es  etwas  Schlechtes  sei;  allein  nur  wer  gesehen 
oder  gehört  hat,  dass  Jemand  durch  den  Gebrauch  des 
Giftes  sich  beschädigt  hat,  kann  wissen,  was  Gift  ist, 
und  wenn  wir  bis  zum  heutigen  Tage  weder  gehört 
noch  gesehen  hätten,  dass  Jemand  durch  dessen  Ge- 
brauch Schaden  genommen,  so  würden  wir  das  Gift  noch 
heute  nicht  kennen,  sondern  ohne  Furcht  zu  unserem 
eigenen  Schaden  es  gebrauchen,  wie  wir  über  andere 
Wahrheiten  so  tagtäglich  belehrt  werden.  ****) 

Was  erfreut  ein  reines  und  aufrichtiges  Gemüth  in 
diesem  Leben  mehr  als  die  Betrachtung  jener  vollkom- 
menen Göttlichkeit?  So  wie  es  sich  hier  um  das  Voll- 
kommenste handelt,  so  muss  es  auch  das  Vollkommenste, 
was  in  unsere  endliche  Einsicht  eingehen  kann,  enthal- 

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Trost  der  Religion.  109 

ten.  Ich  kenne  keinen  Genuss  des  Lebens,  den  ich  damit 
vertauschen  möchte.  Von  diesem  göttlichen  Verlangen 
getrieben,  kann  ich  lange  Zeit  darin  zubringen,  aber  auch 
mit  Betrtibniss  erfüllt  werden,  dass  meinem  beschränkten 
Verstände  so  Vieles  mangelt.  Indess  beschwichtige  ich 
diese  Traurigkeit  mit  der  Hofinung,  die  ich  habe  und  die 
mir  theurer  als  mein  Leben  ist,  dass  ich  auch  später 
leben  und  sein  werde  und  diese  Göttlichkeit  mit  mehr 
Vollkommenheit  als  jetzt  schauen  werde.  '*')  Wenn  ich 
bedenke,  wie  kurz  und  vorübereilend  mein  Leben  ist, 
und  wie  ich  in  jedem  Augenblick  den  Tod  erwarten 
muss,  so  würde  ich  von  allen  Geschöpfen,  denen  die 
Kenntniss  ihres  Zweckes  mangelt,  das  unglücklichste 
sein,  wenn  ich  glauben  müsste,  dass  mein  Leben  ein 
£nde  nähme  und  jener  heiligen  und  vortrefflichsten  Be- 
trachtung ermangeln  würde.  Dann  würde  schon  die 
Todesfurcht  vor  dem  Ableben  mich  unglücklich  machen 
und  nach  demselben  wäre  ich  so  viel  wie  Nichts,  also 
elend,  weil  ichjenesBeschauens  des  Göttlichen  entbehrte. 
Ihre  Ansichten  führen  mich  dahin,  dass,  wenn  ich  hier 
aufhöre  zu  sein,  ich  es  auch  für  die  Ewigkeit  aufhöre, 
während  dagegen  jenes  Wort  und  jener  Wille  Gottes 
durch  ihr  inneres  Zeuguiss  in  meiner  Seele  '")  mich 
trösten,  dass  ich  nach  diesem  Leben  mich  einst  eines 
voUkommnereti  Zustandes  in  Betrachtung  der  höchst  voll- 
kommenen Gottheit  erfreuen  werde.  Sollte  auch  diese 
Hoffnung  einst  als  falsch  befunden  werden,  so  macht  sie 
mich  doch,  während  ich  hoffe,  glücklich."*)  In  meinen 
Gebeten,  Seufzern  und  ernsten  Bitten  zu  Gott  bitte  und 
wünsche  ich  nur  (wenn  es  doch  gestattet  wäre,  mehr 
dazu  beizutragen),  es  möge  ihm,  so  lange  mein  Geist 
diese  Glieder  bewegt,  gefallen,  mich  durch  seine  Güte 
so  glücklich  zu  machen,  dass  ich  bei  Auflösung  dieses 
Körpers  ein  geistiges  Wesen  bleibe,  das  diese  vollkom- 
menste Gottheit  betrachten  kann.  Wenn  ich  nur  dies 
erreiche,  so  ist  es  mir  gleich,  wie  man  hier  glaubt  und 
wie  man  sich  gegenseitig  überzeugt,  ob  hierüber  durch 
den  natürlichen  Verstand  Etwas  bewiesen  und  eigesehen 
werden  könne  oder  nicht.  Dies,  und  nur  dies  ist  mein 
Wunsch  und  mein  Verlangen.  *")  Ich  bitte  Gott  ohne 
Unterlass,  diese  Gewissheit  in  meiner  Seele  zu  befestigen, 
und  wenn  ich  sie  habe  (ach,  wie  elend  wäre  ich,  wenn 

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110         XXXIII.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinoza. 

sie  mir  abginge,  so  ruft  meine  Seele  mit  Verlangen :  ^Wie 
^der  Hirsch  nacb  den  Ufern  des  Wassers  dürstet,  so,  mein 
^lebendiger  Oott,  verlangt  meine  Seele  nacb  Dir;  Aeh! 
^wann  wird  der  Tag  kommen,  wo  icb  bei  Dir  sein  nnd 
„Dich  scbanen  werde  !*  "■)  —  Wenn  icb  nur  dies  erlange, 
so  babe  icb  Alles,  was  meine  Seele  erstrebt  nnd  ver- 
langt. Wenn  aber  unser  Werk  Gott  missfallt,  so  kann 
icb  diese  Hoffnung  ans  Ihrer  T^ebre  nicht  entnehmen, 
und  icb  verstehe  nicht,  weshalb  Gott,  wenn  er,  (falls  man 
von  ihm  in  menschlicher  Weise  reden  darf)  keine  Freude 
an  unseren  Werken  und  unserer  Liebe  hat,  uns  hervor- 
gebracht bat  und  erbftlt.  Sollte  ich  Ihre  Meinung  miss- 
verstanden haben,    so  bitte  ich  um  nähere  ErUürun^. 

Indess  bin  ich  vielleicht  ausführlicher  gewesen,  als 
Sie  es  gewöhnt  sind,  und  da  ich  sehe,  dass  das  Papier 
zu  Ende  geht,  so  schliesse  ich.  Ich  bin  gespannt  auf 
Ihre  Lösung  meiner  Zweifel.  Vielleicht  habe  ich  hier 
und  da  eine  Folgerung  aus  Ihrem  Briefe  abgeleitet, 
welche  nicht  Ihre  Meinung  ist;  doch  ich  erwarte  darüber 
Ihre  Erläuterungen. 

Kürzlich  habe  ich  mich  mit  Erwägungen  über 
einige  Attribute  Gottes  beschäftigt;  dabei  hat  mir  Ihr  An- 
hang gute  Diente  geleistet.  Ich  habe  Ihre  Meinang 
nur  weiter  ausgeführt,  da  sie  nur  die  Beweise  zu  bie- 
ten scheint,  und  ich  wundere  mich  deshalb,  dass  in  der 
Vorrede  behauptet  wird,  Sie  seien  anderer  Ansicht^ 
aber  Sie  hätten  Ihrem  Versprechen  gemäss  dem  Schüler 
die  Philosophier  von  Descartes  vortragen  müssen, 
während  Sie  selbst  sowohl  Über  Gott  als  über  die  Seele 
und  insbesondere  Über  den  Willen  der  Seele  eine  ganz 
andere  Meinung  hegten.  "•)  In  dieser  Vorrede  beisst 
es  auch,  Sie  würden  diese  metaphysischen  Gedanken 
binnen  Kurzem  ausführlicher  herausgeben;  Beides  er- 
sehne icb  sehr,  da  ich  mir  etwas  ganz  Besonderes  da- 
von verspreche.  Indess  ist  es  nicht  meine  Gewohnheit, 
Jemand  mit  Lob  zu  überhäufen. 

Icb  habe  das  Vorstehende  mit  aufrichtigem  Sinn  und 
ungeschminkter  Freundschaft  geschrieben,  damit  die 
Wahrheit  offenbar  werde,  wie  Sie  in  Ihrem  Briefe  verlangt 
haben.  Entschuldigen  Sie  die  zu  grosse  Ausführlichkeit, 
in  die  ich  wider  Willen  gerathen  bin.  Sollten  Sie  mir 
antworten,  so  würden  Sie  mich  dadurch  sehr  verpflich- 

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Spinoza's  Antwort  111 

ten.  Es  ist  mir  gleich,  ob  Sie  in  meiner  Mattersprache 
mir  schreiben  wollen,  oder  lateinisch  oder  französisch; 
doch  bitte  ich  die  diesmalige  Antwort  in  derselben 
Sprache  abzufassen;  da  ich  den  Sinn  dann  besser  fasse, 
als  wenn  Sie  lateinisch  schreiben.  Sie  werden  mich  damit 
sehr  verpflichten,  und  ich  bin  und  bleibe, 

mein  Herr, 
Ihr  ergebenster  und  gehorsamstei 
W.  V.  Blyenbergh. 
Dortrecht,  den  16.  Januar  1665. 

NB.  In  Ihrer  Antwort  bitte  ich  um  deutlichere  Belehrung, 
was  Sie  unter  Verneinung  bei  Gott  verstehen. ^^^) 


Vierunddreissigster  Brief  (Vom  28.  Jan.  1665). 
Von  Spinoza  an  Wilhelm  von  Blyenbergh. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

(Der  lateinische  Text  iüt  eine  Uebersetzung  aua  dem  hollän- 
dischen Original.) 

Mein  Herr  und  Freund! 

Nach  dem  Lesen  Ihres  ersten  Briefes  glaubte  ich, 
dass  wir  in  unsem  Meinungen  ziemlich  übereinstimmten ; 
aus  dem  zweiten,  den  ich  am  21.  d.  Mts.  empfangen,  sehe 
ich,  dass  es  sich  ganz  anders  verhält  und  dass  wir  nicht 
blos  in  den  aus  den  obersten  Grundsätzen  zu  ziehenden 
weitem  Folgerungen,  sondern  auch  über  diese  Grundsätze 
selbst  verschiedener  Ansicht  sind.  Ich  glaube  daher  kaum, 
dass  wir  durch  Briefe  uns  werden  verstfindigen  können. 
Ich  sehe,  dass  bei  Ihnen  kein  Beweis,  selbst  wenn  er 
sich  noch  so  streng  innerhalb  der  Regeln  des  Beweisen» 
h&lt,  gilt,  sofern  er  mit  der  Auslegung  nicht  überein- 
stimmt, welche  Sie  oder  andere  Ihnen  bekannte  Theo- 
logen der  heiligen  Schrift  gegeben  haben.  Wenn  Sie 
finden,  dass  Gott  durch  die  heilige  Schrift  deutlicher  und 
wirksamer  spreche  als  durch  das  Licht  des  natürlichen 
Verstandes,  das  wir  auch  von  ihm  haben  und  das  seine 

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112         XXXtV.  Brief.    Spinoza  an  Blyenbergli, 

göttliche  Weisheit  stets  fest  und  unverdorben  erhält,  so 
haben  Sie  allerdings  triftige  Gründe,  den  Verstand  jenen 
Aussprüchen  unterzuordnen,  die  Sie  der  heiligen  Shrift 
beilegen;  ich  selbst  würde  dann  nicht  anders  handeln 
können.  Indess  was  mich  anbetrifft,  so  gestehe  ich  offen 
und  unumwunden,  dass  ich  die  heilige  Schrift  nicht  ver- 
stehe,  obgleich  ich  manche  Jahre  darauf  verwendet  habe; 
und  da  es  mir  nicht  entgeht,  dass  ich  nach  Erlangung 
eines  gründlichen  Beweises  nicht  in  Gedanken  verfallen 
kann,  die  denselben  in  Zweifel  ziehen,  so  beruhige  ich 
mich  überhaupt  bei  dem,  was  der  Verstand  mir  darlegt 
und  fürchte  nicht,  hierin  mich  zu  täuschen,  noch  dass 
die  heilige  Schrift  dem  widerspreche,  obgleich  ich  sie 
nicht  ergründen  kann.  Denn  die  Wahrheit  steht  mit  der 
Wahrheit  nicht  in  Widerspruch,  wie  ich  schon  früher  in 
meinem  Anhange  (das  Kapitel  kann  ich  nicht  angeben, 
da  mir  hier  auf  dem  Lande  das  Buch  nicht  zur  Hand 
ist)  1^^)  klar  gezeigt  habe  l^),  und  sollte  ich  auch  die  aus 
dem  natürlichen  Verstand  genommene  Frucht  einmal  als 
falsch  anerkennen,  so  würde  mich  dies  nicht  unglücklich 
machen,  denn  ich  geniesse  mein  Leben  und  will  es  nicht 
in  Trauer  und  Seufzen,  sondern  ruhig,  fröhlich  und  hei- 
ter verbringen,  wenn  ich  damit  auch  nur  einen  Grad 
höher  steige.  Indess  erkenne  ich  an  (was  mir  die  höchste 
Genugthuung  und  Seelenruhe  gewährt),  dass  Alles  nach 
der  Macht  und  dem  unveränderlichen  Beschluss  eines 
höchst  vollkommenen  Wesens  geschieht. 

Um  nun  auf  Ihren  Brief  zurückzukommen,  so  sage 
ich  Ihnen  von  Herzen  grossen  Dank,  dass  Sie  mich  in 
Zeiten  Ihre  Weise  zu  phüosophiren  haben  kennen  lernen 
lassen;  wenn  Sie- aber  mir  das  zuschreiben,  was  Sie  aus 
meinem  Briefe  ableiten  wollen,  so  kann  ich  Ihnen  dafür 
nicht  danken.  Welchen  Anhalt  bot  Ihnen,  sage  ich,  mein 
.Brief,  mir  solche  Meinungen  aufzubürden;  nämlich  dass 
die  Menschen  den  wilden  Thieren  gleichen,  dass  sie,  wie 
diese,  sterben  und  untergehen,  dass  unsere  Werke  Gott 
missfallen?  u.s.  w.  (Obgleich  in  diesem  letzten  Punkte  wir 
sehr  verschiedener  Ansicht  sind^  wenn  ich  nämlich  Sie 
richtig  dahin  verstehe,  dass  Gott  sich  an  unseren  Werken 
erfreue,  gleichsam  deshalb,  weil  er  sein  Ziel  erreicht  hat 
und  ihm  die  Sache  nach  Wunsch  gegangen  ist.)  Was 
mich  anlangt,  so  habe  ich  klar  gesagt,  dass  die  Frommen 

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Öottea  Katar.    Vemeiming,  Beranbang.  113 

Gott  verehren  and  durch  fleissige  Verehrung  Yollkommner 
werden  und  Gott  lieben;  heisst  dies,  sie  den  wilden 
Thieren  gleichstellen?  oder  sie  wie  diese  untergehen 
lassen  oder  ihre  Werke  Gott  nicht  gefallen  lassen?  Hätten 
Sie  meinen  Brief  aufinerksamer  gelesen,  so  würden  Sie 
klar  erkannt  haben,  dass  unsere  Meinungsverschiedenheit 
nur  bei  der  Frage  besteht,  ob  Gott  als  solcher,  d.  h. 
schlechthin  und  ohne  dass  man  ihm  menschliche  Eigen- 
schaften zuschreibt,  die  Vollkommenheiten,  welche  die 
IlVommen  empfangen,  ihnen  mittheile?  wie  ich  annehme, 
oder  ob  er  es  wie  ein  Kichter  thut,  was  zuletzt  Sie  an- 
nehmen, da  Sie  die  Gottlosen  deshalb  vertheidigen,  weil 
sie  Alles,  was  sie  vermögen,  nur  nach  Gottes  Kathschlusse 
thun  und  deshalb  Gott  ebenso  wie  die  Frommen  dienen. 
Allein  dies  folgt  keineswegs  aus  meinen  Worten,  da  ich 
Gott  nicht  als  einen  Richter  einführe  und  daher  die  Werke 
nach  deren  Beschaffenheit,  aber  nicht  nach  der  Macht  des 
Wirkenden  schätze  und  weil  der  Lohn,  welcher  dem 
Werke  folgt,  so  uothwendig  folgt,  wie  aus  der  Natur  des 
Dreiecks  folgt,  dass  seine  drei  Winkel  zwei  rechten  gleich 
sein  müssen.  Dies  wird  jeder  einsehen,  wenn  er  bedenkt, 
dass  unsere  höchste  Seligkeit  in  der  Liebe  zu  Gott  be- 
steht und  dass  diese  nothwendig  aus  der  Erkenntniss 
Gottes,  die  uns  so  empfohlen  wird,  abfliesst.  Dies 
kann  im  Allgemeinen  sehr  leicht  bewiesen  werden,  wenn 
man  nur  auf  die  Natur  von  Gottes  Beschluss  Acht 
giebt,  wie  ich  ihn  in  meinem  Anhang  erläutert  habe. 
Doch  gestehe  ich,  dass  Alle,  welche  die  göttliche  Natur 
mit  der  menschlichen  vermengen,  zu  dieser  Einsicht 
wenig  geeignet  sind. 

Ich  wollte  hier  meinen  Brief  schliessen,  um  Sie  nicht 
mit  Dingen  zu  belästigen,  welche  nur  dem  Schmerz  und 
Gelächter  dienen  (wie  klar  aus  dem  sehr  höflichen  Zusatz 
erhellt,  welchen  Sie  dem  Schlüsse  Ihres  Briefes  angefügt 
haben),  ^^^)  aber  ohne  Nutzen  sind.  Um  indes»  Ihre  Bitte 
nicht  ganz  unerfüllt  zu  lassen,  gehe  ich  weiter  zur  Er- 
lättterungderWorte:  Verneinnn?undBeranbungund 
zur  kurzen  Auseinandersetzung  dessen  über,  was  zum 
besseren  Verständniss  meines  letzten  Briefes  nöthig  ist. 

Zunächst  sage  ich  also,  dass  die  Beraubung  nicht  die 
That  des  Beraubens  ist,  sondern  nur  der  einfache  und 
blosse  Mangel,  der  an  sich  selbst  Nichts  ist;  denn  er  ist 

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114         XXXIV.  Brief.    Spbosa  an  Blyenbörgh. 

nur  ein  Gedankending  oder  eine  Weise  sa  denken,  die 
man  bildet,  wenn  man  Dinge  mit  einander  vergleicht. 
So  nennt  man  z.  B.  einen  BUnden  des  Gesichts  beranbt, 
weil  man  ihn  sich  leicht  als  sehend  vorstellt,  mag  non 
dies  daher  kommen,  dass  man  ihn  mit  anderen,  sehenden 
Menschen,  oder  dass  man  seinen  gegenwärtigen  Zustand 
mit  dem  friüiem,  wo  er  sehen  konnte,  vei^leicht.  Wenn 
man  den  Menschen  so  auffasst,  d.  h.  seine  Natur  mit  der 
Natur  Anderer  oder  mit  seiner  früheren  vergleicht,  so 
meint  man,  dass  das  Sehen  zu  seiner  Natur  gehöre  und 
nennt  ihn  deshalb  des  Gesichtes  beraubt.  ^^^)  Betrachtet 
man  aber  Gottes  Beschluss  und  Natur,  so  kann  man  von 
diesem  Menschen  nicht  mehr  wie  von  diesem  Stein  be- 
haupten, dass  er  des  Gesichtes  beraubt  sei;  denn  zu 
dieser  Zeit  kommt  ihm  ohne  Widerspruch  das  Sehen  nicht 
mehr  zu  als  dem  Steine;  weil  zu  diesem  Menschen 
nichts  weiter  gehört  und  nichts  sein  ist,  als  was 
die  Einsicht  und  der  Wille  Gottes  ihm  zu- 
theilt.i<^)  Deshalb  ist  Gott  nicht  mehr  die  Ursache 
seines  Nicht-Sehens,  als  des  Nicht-Sehens  des  Steines; 
es  ist  eine  reine  Verneinung.  ^Achtet  man  in  gleicher 
„Weise  auf  die  Natar  eines  Menschen,  der  von  seiner 
„Begierde  getrieben  wird,  so  vergleicht  man  sein  gegen- 
„wärtiges  Begehren  mit  dem  der  Frommen  oder  mit 
„seinem  eigenen  früheren  Begehren  und  sagt  dann,  dass 
„dieser  Mensch  des  besseren  Begehrens  beraubt  sei,  weil 
„man  annimmt,  dass  ihm  dann  das  tugendhafte  Begehren 
„zukomme.  Dies  kann  mau  aber  nicht  behaupten,  wenn 
„man  auf  die  Natur  von  Gottes  Einsicht  und  Beschluss 
„achtet;  ia  Bezug  hierauf  gehört  jenes  bessere  Begehreu 
„nicht  mehr  zur  Natur  dieses  Menschen  zu  dieser  Zeit 
„wie  zur  Natur  des  Teufels  oder  des  Steines,^  und  deshalb 
ist  in  dieser  Hinsicht  das  bessere  Begehren  keine  Be- 
raubung, sondern  eine  Verneinung.  Sonach  ist  die  Be- 
raubung nur  die  Verneinung  von  Etwas,  was  man  als  zur 
Natur  des  Dinges  gehörig  ansieht  und  die  Verneinung 
nur  die  Verneinung  von  Etwas,  was  zu  seiner  Natur 
nicht  gehört.  Und  hieraus  wird  klar,  weshalb  des  Adam 
Begehren  nach  irdischen  Dingen  nur  in  Bezug  auf  unsere, 
aber  nicht  auf  Gottes  Einsicht  böse  genannt  werden  kann. 
„Wenn  auch  Gott  den  früheren  und  den  jetzigen  Zustand 
„  Adam*s  kannte,  so  fasste  er  doch  Adam  nicht  so  auf,  als 

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Descartes'  Ansicht  über  die  Freiheit.  1X5 

.„wenn  er  seines  früheren  Zustandes  beraubt  sei  und  als 
^wenn  sein  früherer  Znstand  zu  dem  jetzigen  gehöre.^ 
Denn  dann  hätte  Oott  etwas  gegen  seinen  Willen,  d.  h. 
^egen  seine  eigene  Einsicht  einsehen  müssen. "')  Hätten 
Sie  dies  richtig  äufgefasst  und  zugleich  bemerkt,  dass  ich 
dleFreiheit,  welche  D e scartes  derSeele zuspricht,  nicht 
anerkenne,  wie  auch  L.  Meyer  in  meinem  Namen  in  der 
Vorrede  bezeugt,  so  würden  Sie  in  meinen  Worten  nicht 
den  kleinsten  Widerspruch  gefunden  haben.  Allein  ich 
hätte  besser  gethan,  in  meinem  ersten  Briefe  mit  den 
Worten  von  Descarteszu  antworten  und  zu  sagen,  dass 
wir  nicht  wissen  können,  wie  unsere  Freiheit  sammt  dem, 
was  von  ihr  abhängt,  sich  mit  der  Vorsehung  und  Freiheit 
Gottes  vertrage  (wie  ich  im  Anhange  an  mehreren  Orten 
gethan  habe),  so  dass  wir  aus  Gottes  Schöpfung  keinen 
Widerspruch  gegen  unsere  Freiheit  ableiten  dürfen,  da 
wir  nicht  verstehen  können,  wie  Gott  die  Dinge  geschaffen 
hat  und  (was  dasselbe  ist)  wie  er  sie  erhält.  Ich  glaubte 
jedoch,  dass  Sie  die  Vorrede  gelesen  gehabt,  und  dass  ich, 
wenn  ich  nicht  nach  meiner  eigenen  Ueberzeugung 
antwortete,  gegen  die  Pflichten  der  Freundschaft  fehlen 
würde,  die  ich  Ihnen  auf  Ihren  Auftrag  entgegen- 
brachte.    Indess  hat  dies  weiter  nichts  auf  sich. 

Da  Sie  indess  die  Meinung  von  De  scartes,  wie  ich 
«ehe,  noch  nicht  richtig  gefasst  haben,  so  bitte  ich  dieses 
Zweifache  festzuhalten;  1)  haben  weder  Descartes  noch 
ich  je  gesagt,  es  gehöre  zu  unserer  Natur,  unseren  Willen 
innerhalb  der  Schranken  der  Einsicht  zu  halten;  wir 
haben  nur  gesagt,  dass  Gott  uns  einen  beschränkten 
Verstand  und  einen  unbeschränkten  Willen  gegeben  habe, 
ohne  dass  wir  aber  den  Zweck,  wofür  er  uns  geschaffen, 
kennen.  *^)  Femer,  dass  ein  solcher  unbestimmter  oder 
vollkommener  Wille  uns  nicht  blos  vollkommner  macht, 
sondern  dass  er  uns  auch  sehr  nothwendig  ist,  wie  ich 
Hinen  in  dem  Folgenden  zeigen  werde.  2)  Hegt  unsere 
Freiheit  nicht  in  einer  Art  Zufälligkeit  oder  Unbestimmt- 
heit, sondern  in  dem  Zustande  des  Bejahens  und  Ver- 
neinens;  deshalb  sind  wir  um  so  freier,  je  weniger  unbe- 
stimmt wir  Etwas  bejahen  oder  verneinen.  Ist  z.  B.  die 
Natur  Gottes  uns  bekannt,  so  folgt  ans  unserer  Natur 
«benso  nothwendig  die  Bejahung,  dass  Gott  besteht,  wie 
aus  der  Natur  des  Dreiecks  folgt,  dass  dessen  Winkel 
Spinoztt,  Briefe.  9    .    .^.^.^,.> 

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116  XXXIV.  Brief.    Spinoza  an  Blyenbergh. 

zweien  rechten  gleich  sind;  und  doch  sind  wir  niemals 
freier,  als  wenn  wir  etwas  in  dieser  Weise  bejahen.  '^> 
Da  nun  diese  Freiheit  nur  der  Beschluss  Gottes  ist,  wie 
ich  in  meinem  Anhange  klar  dargelegt  habe,  so  ISsst  sich 
daraus  ersehen,  wie  wir  bei  einer  Sache  frei  handeln  und 
ihre  Ursache  sind,  obgleich  wir  sie  noth wendig  und  nach 
dem  Beschluss  Gottes  vollbringen.  Ich  sage,  man  kann 
dies  in  gewisser  Weise  einsehen,  wenn  man  Etwas  bejaht, 
was  man  klar  und  deutlich  erkennt;  behauptet  man  da- 
gegen Etwas,  was  man  nicht  klar  und  deutlich  erfasst  hat, 
d.  h.  gestattet  man,  dass  der  Wille  über  die  Grenzen 
unseres  Verstandes  hinausgeht,  so  kann  man  dann  jene 
Nothwendigkeit  und  Beschlüsse  Gottes  nicht  so  einsehen, 
sondern  nur  die  eigene  Freiheit,  welche  der  Wille  immer 
einschliesst  (in  Bezug  aufweiche  allein  unsere  Handlun- 
gen gut  oder  böse  genannt  werden).  Wenn  wir  dann 
unsere  Freiheit  mit  Gottes  Beschluss  und  ununter- 
brochener Schöpfung  auszusöhnen  versuchen,  so  ver- 
mengen wir  das  klar  und  deutlich  erkannte  mit  dem, 
was  wir  nicht  erkannt  haben  und  deshalb  versuchen  wir 
dies  vergeblich.  Es  genügt  uns  also  die  Ueberseugong, 
dass  wir  frei  sind,  und  dass  wir  es  trotz  der  Beschlüsse 
Gottes  sein  können,  und  dass  wir  die  Ursache  des 
Bösen  seien,  weil  eine  Handlung  nur  in  Bezug  auf 
unsere  Freiheit  böse  genannt  werden  kann.  Dies  ist 
das,  was  Descartes  betrifft;  es  erhellt,  dass  seine  Lehre 
hier  keinen  Widerspruch  enthält."*) 

Ich  wende  mich  nun  zu  dem,  was  mich  betrifft  und 
erwähne  zuerst  den  Nutzen,  der  aus  meiner  Auffassung 
sich  ergiebt.  Er  liegt  vorzüglich  darin,  dass  unser  Ver- 
stand unsre  Seele  und  unseren  Körper  ohne  allen  Aber- 
flauben  Gott  anheim  giebt ;  auch  bestreite  ich  nicht,  dass 
as  Beten  uns  nicht  sehr  nützlich  sein  kann.  Denn  mein 
Verstand  ist  viel  zu  schwach,  um  alle  Mittel  zu  befassen^ 
die  Gott  besitzt,  um  die  Menschen  zur  Liebe  seiner,  d.  h. 
zu  dem  Heile  zu  ftihren.  Deshalb  ist  diese  Ansicht  nicht 
blos  unschädlich,  sondern  sie  ist  Fogar  für  Die,  welche 
keinen  Vorurtheilen  und  kindischem  Aberglauben  anhän- 
gen, das  einzige  Mittel,  zu  dem  höchsten  Grad  der 
Seligkeit  zu  gelangen. '")  Wenn  Sie  erwidern,  dass  ich 
die  Menschen,  indem  ich  sie  so  abhängig  von  Gott  mache^ 
den  Elementen,  Sternen  und  Pflanzen  gleichstelle,   so^ 

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Üeber  die  Beweggründe  zum  Handeln.  117 

erhellt  hieraus,  dass  Sie  meine  Meinung  ganz  missver- 
standen haben  und  dass  Sie  Dinge,  die  den  Verstand  be- 
treffHi,  mit  der  Einbildungskraft  verwechseln.  Hätten  Sie 
durch  rdnes  Denken  erfasst,  was  die  Abhängigkeit  von 
Gott  ist,  so  würden  Sie  sicherlich  nicht  meinen,  dass 
diese  Abhfingkeit  die  Dinge  zu  todten,  körperlichen  und 
unvollkommenen  madie  (wer  hat  je  gewagt,  von  dem 
vollkommensten  Wesen  so  niedrig  zu  sprechen!),  son- 
dern Sie  würden  einsehen,  dass  Sie  gerade  durch  diese 
Abhängigkeit  von  Gott  vollkommen  sind.  **^)  Man  ver- 
steht deshalb  diese  Abh&igigkeit  und  nothwendige 
Wirksamkeit  am  besten  als  den  Beschluss  Gottes,  wenn 
man  nicht  auf  Holz  und  Pflanzen,  sondern  auf  die  ver- 
ständigsten und  vollkommensten  Geschöpfe  achtet,  wie 
aus  dem  von  mir  oben  unter  2)  über  Descartes  Ge- 
sagten erhellt,  was  Sie  nicht  hätten  übersehen  sollen. 

Auch  kann  ich  nicht  mein  Erstaunen  darüber  ver- 
hehlen, dass  Sie  sagen:  Wenn  Gott  das  Unrecht  nicht  be- 
strafte, d.  h.  wie  der  Richter  mit  einer  Strafe  belegte, 
welche  das  Unrecht  nicht  selbst  mit  sich  flihrt,  (denn  darum 
streiten  wir  allein),  welcher  Grund  hinderte  mich  dann, 
jewedes  Verbrechen  eifrigst  zu  begehen?  Allein  wer  dies 
nur  aus  Furcht  vor  Strafe  unterlässt  (was  ich  von  Ihnen 
nicht  glaube),  der  handelt  in  keiner  Weise  aus  Liebe  und 
hat  die  Tugend  noch  nicht.  Ich  unterlasse  die  Ver- 
brechen oder  bestrebe  mich,  sie  zu  unterlassen,  weil 
sie  meiner  besonderen  Natur  widerstreben  und  mich 
von  der  liebe  und  Erkenntniss  Gottes  abführen.  '**) 

Hätten  Sie  femer  die  menschliche  Natur  ein  wenig 
betrachtet  und  das  Wesen  von  Gottes  Beschlüssen  so  auf- 
gefasst,  wie  ich  es  im  Anhange  erklärt  habe  und  hätten 
§ie  bedacht,  wie  die  Sache  abzuleiten  ist,  ehe  man  den 
Schluss  ziehen  darf,  so  würden  Sie  nicht  vorschnell 
gesagt  haben,  diese  Ansicht  stelle  uns  dem  Holzstücke 
n.  s.  w.  gleich;  Sie  hätten  mir  dann  nicht  so  viele  Ver- 
kehrtheiten zur  Last  gelegt,  wie  Sie  gethan  haben. 

Wenn  Sie  vor  Uebergang  zu  Ihrer  zweiten  Haupt- 
regel bemerken,  dass  Sie  Zweierlei  nicht  haben  verstehen 
können,  so  erwidere  ich,  dass  bei  dem  Ersten  Descartes 
genügt,  um  Ihren  Schluss  zu  ziehen,  nämlich  dass,  wenn 
Sie  blos  auf  Ihre  Natur  Acht  haben,  Sie  an  sich  erfahren, 
dass  Sie  Ihr  Urtheil  zurückhalten  können.     Wenn  Sie 

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118  XXXIV.  Briel     Spinoza  an  Blyenbergh. 

aber  sagen,  Sie  könnten  in  sich  selbst  keine  solche 
Stiürke  an  Ihrem  Verstände  wahrnehmen,  dass  Sie  dies 
auch  fernerhin  immer  vermöchten,  so  ist  dies  nach  D  e  s  - 
cartes  dasselbe,  als  wenn  wir  sagten,  dass  wir  heute 
nicht  einsehen,  dass  wir  immer  denkende  Wesen  bleiben 
oder  die  Natnr  eines  denkenden  Wesens  behalten 
würden.     Dies  enthielte  wahrhaft  einen  Widerspruch. 

Auf  den  zweiten  Punkt  erwidere  ich  mit  Des- 
cartes,  dass  wir,  wenn  wir  unseren  Willen  über  die 
sehr  engen  Grenzen  unseres  Verstandes  nicht  aus- 
dehnen könnten,  sehr  elende  Geschöpfe  sein  würden; 
wir  könnten  dann  keine  Brodkrume  essen,  keinen 
Schritt  ffehen  und  nicht  stehen  bleiben;  denn  Alles 
ist  unsicher  und  voller  Gefahren.  "•) 

Ich  komme  j  etzt  zu  Ihrer  zweiten  Hauptregel.  Ich 

febe  zu  und  glaube,  dass  ich  der  heiligen  Schrift  nicht 
iejenige  Wahrheit  zuschreibe,  die  Sie  in  ihr  finden,  und 
doch  glaube  ich,  ihr  mehr  Ansehen  als  Sie  beizulegen, 
und  zwar  deshalb,  weil  ich  mich  mehr  als  Andere  vor- 
sehe, ihr  einen  verkehrten  und  kindischen  Sinn  beizu> 
legen. ^^')  Dies  kann  nur  Der,  welcher  die  Philosophie 
kennt  oder  göttliche  Offenbarungen  empfangen  hat  und 
deshalb  rühren  mich  jene  Auslegungen  wenig,  welche  der 
Haufen  von  Theologen  bei  der  Schrift  vornimmt;  nament- 
lich wenn  sie  derart  sind,  dass  sie  die  Schrift  immer 
nur  wörtlich  und  ihrem  äusseren  Sinne  nach  auffassen. 
Ausser  den  Socinianern  giebt  auch  der  strengste 
Theolog  zu,  dass  die  heilige  Schrift  sehr  oft  in  mensch- 
licher Weise  rede  und  danach  ihre  Gleichnisse  aufstelle. 
Den  Widerspruch  anlangend,  den  Sie  hier  vergeblich  (nach 
meiner  Ansicht)  aufzeigen  wollen,  so  verstenen  Sie  wohl 
unter  Gleichniss  nicht  das,  was  man  gewöhnlich  darunter 
meint;  denn  von  wem  hat  man  je  gesagt,  dass  er,  wenn 
er  seine  Begriffe  in  Gleichnissen  ausspricht,  seinen  Sinn 
verfehle?  Als  Micha  dem  König  Achab  sagte,  er  habe  Gott 
auf  seinem  Thron  sitzen  sehen  und  die  himmlischen  Heer- 
schaaren  hätten  zur  Rechten  und  Linken  gestanden  und 
Gott  habedarausDen  gesucht,  der  den  Achab  hintergehen 
sollte,  so  war  dies  gewiss  ein  Gleichniss,  durch  welches 
der  Prophet  die  Hauptsache,  die  er  bei  dieser  Gelegenheit 
(die  nicht  die  war,  erhabene  theologische  Sätze  zu  lehren) 
im  Namen  Gottes  bekannt  machen  sollte,  genügend  aus- 

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Die  Gleichnisee  der  Propheten.  119 

drückte  und  deshalb  hat  er  damit  das,  was  er  gewollt, 
richtig  ausgedrückt.  Ebenso  haben  auch  die  anderen  Pro- 
pheten das  Wort  Gottes  auf  Geheiss  Gottes  dem  Volke  so 
bekannt  gemacht;  es  war  das  beste  wenn  auch  nicht  das 
von  Gott  ausdrücklich  geforderte  Mittel,  das  Volk  zu  dem 
zu  bringen,  was  der  heiligen  Schrift  das  Hauptziel  ist  und 
was  nach  Christi  Ausspruch  darin  besteht,  Gott  über  Alles 
und  seinenNächsten  wie  sich  selbst  zu  lieben.  Mit  tiefsinni- 
gen Untersuchungen  hat  die  heiige  Schrift,  wie  ich  glaube, 
nichts  zu  thun;  ich  wenigstens  habe  aus  ihr  keines  der 
ewigen  Attribute  Gottes  gelernt,  noch  lernen  können.*") 

Was  aber  den  fünften  Grund  anlangt  (nämlich  dass 
die  Propheten  das  Wort  Gottes  so  offenbart  haben,  weil 
die  Wahrheit  nicht  der  Wahrheit  entgegen  ist),  so 
brauche  ich  nur  zu  zeigen  (wie  Jeder,  der  das  Beweis- 
verfahren kennt,  anerkennen  wird),  dass  die  Schrift,  so 
wie  sie  beschaffen  ist,  die  wahre  Offenbarung  Gottes 
ist.  Den  mathematischen  Beweis  dafür  kann  ich  ohne 
göttliche  Mittheilung  nicht  besitzen  und  deshalb  habe 
ich  gesagt:  ^ich  glaube,  aber  ich  weiss  nicht  in  mathe- 
„matischcr  Weise,  das  Alles,  was  Gott  den  Propheten" 
n.  s.  w.;  ich  glaube  dies  fest,  aber  ich  weiss  es  nicht 
in  mathematischer  Weise,  dass  die  Propheten  die  ge- 
heimen Rätbe  und  treuen  Abgesandten  (jottes  gewesen 
seien;  deshalb  ist  in  meinen  Aufstellungen  kein  Wider- 
spruch enthalten,  während  auf  der  Gegner  Seite  deren 
nicht  wenige  anzutreffen  sein  möchten. 

Alles  Uebrige  in  Ihrem  Briefe,  nämlich  wo  Sie 
sagen:  „Endlich  wusste  das  vollkommenste  Wesen" 
n.  s.  w.  und  was  Sie  dann  gegen  das  Beispiel  mit  dem 
Gifte  anführen  und  endlich  das,  was  den  Anhang  und 
das  darauf  Folgende  betrifit,  dürfte  Alles  die  vorliegende 
Frage  nicht  berühren. 

Was  die  Vorrede  von  L.  M.  anlangt,  so  wird  in 
ihr  wenigstens  zugleich  gezeigt,  wasDescartes  noch 
zu  beweisen  gehabt  hätte,  um  einen  gründlichen  Be- 
weis für  die  Willensfreiheit  herzustellen ;  auch  heisst  es 
darin,  dass  ich  selbst  eine  andere  Ansicht  hege  und  in 
welcher  Weise.  Ich  werde  mich  vielleicht  später  hierüber 
aussprechen;  zur  Zeit  ist  es  indess  meine  Absicht  nicht. 

An  meine  Schrift  über  Descartes  habe  ich  übrigens 
nicht  mehr  gedacht  und  mich  nicht  mehr  darum  ge- 

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120  XXXV.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinoza. 

kümmert,  seitdem  sie  in  holländischer  Uebersetzung 
erschienen  ist,  und  zwar  aus  Gründen,  die  hier  darzu- 
legen zu  lang  sein  würde."')  So  habe  ich  also  nur 
noch  zu  sagen,  dass  ich  u.  s.  w."*) 


Fünfunddreissigster  Brief  (Voml9.Febr.  1665). 
Von  W.  V.  Biyenberg  an  Spinoza. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  Uebersetzung  aus  dem  hollän- 
dischen Original.) 

Mein  Herr  und  theurer  Freund. 

Ihren  Brief  vom  28.  Januar  habe  ich  richtig  er- 
halten; andere  als  wissenschaftliche  Geschäfte  haben 
mich  an  dessen  früherer  Beantwortung  gehindert;  aach 
enthält  er  hier  und  da  so  harte  Vorwürfe,  dass  ich  kaum 
wusste,  was  ich  davon  denken  sollte.  In  Ihrem  ersten 
Briefe  vom  5.  Januar  hatten  Sie  mir  Ihre  Freundschaft 
so  offen  entgegengebracht  und  versichert,  dass  Ihnen  die 
meinige  nicht  blos  damals,  sondern  auch  später  will- 
kommen sein  werde;  ja  Sie  hatten  so  ernstlich  gebeten, 
etwaige  weitere  Bedenken  Ihnen  offen  entgegenzustellen, 
dass  ich  in  meinem  Briefe  vom  16.  Januar  ausführlich 
danach  verfahren  bin.  Hierauf  erwartete  ich  nach  Ihrer 
Aufforderung  und  Versicherunff  eine  freundliche  und  be- 
lehrende Antwort;  allein  statt  deren  habe  ich  eine  erhal- 
ten, die  wenig  von  besonderer  Freundschaft  spüren  lässt. 
Sie  sagen,  „dass  kein  Beweis,  selbst  der  stärkste,  bei  mir 
„etwas  vermöge;  dass  ich  den  Sinn  von  Des  carte  s  nicht 
„gefasst  habe;  dass  ich  die  geistigen  Dinge  zu  sehr  mit 
„den  irdischen  vermenge  n.  s.  w. ;  so  dass  wir  mittelst 
„Briefen  uns  nicht  länger  würden  verständigen  können.^ 

Ich  antworte  hierauf  freundschaftlichst,  dass  ich  über- 
zeugt bin,  dass  Sie  das  Obengesagte  besser  als  ich 
verstehen  und  mehr  geübt  sind,  die  körperlichen  Dinge 
von  den  geistigen  zu  unterscheiden ;  da  Sie  in  der  Meta- 
physik, mit  der  ich  erst  einen  Anfang  mache,  schon  die 
höchste  Stufe  erstiegen  haben.    Ich  erbat  mir  also  von 

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Unterschied  des  Frommen  und  Lasterhaften.       121 

Ihnen  die  Gunst,  mich  zu  belehren  und  glaubte  niemals» 
dass  meine  offenen  Entgegnungen  Sie  verletzen  würden. 
Ich  sage  Ihnen  grossen  Dank,  dass  Sie  sich  die  Mühe  ge- 
geben, zwei  so  lange  Briefe,  namentlich  den  zweiten,  für 
mich  abzufassen;  aus  dem  letzten  habe  ich  deutlicher 
wie  aus  dem  ersten  Ihre  Meinung  entnommen;  allein 
trotzdem  kann  ich  Ihnen  noch  nicht  beitreten,  wenn  die 
Bedenken,  welche  ich  dabei  habe,  nicht  noch  gehoben 
werden.  Dies  darf  Sie  nicht  verletzen;  denn  es  würde 
von  einem  Fehler  im  Verstände  zeugen,  wenn  ich 
Ihnen  ohne  genügende  Grundlage  zustimmen  wollte. 
Wenn  auch  Ihre  Auffassung  die  wahre  ist,  so  kann 
ich  derselben  doch  so  lange  nicht  beitreten,  als  ich 
Gründe  des  Zweifels  oder  der  Dunkelheit  finde ;  obwohl 
die  Zweifel  nicht  von  der  Sache,  sondern  von  der  Mangel- 
haftigkeit meiner  Einsicht  herrühren  mögen.  Da  Ihnen 
dies  genügend  bekannt  ist,  so  dürfen  Sie  es  nicht  übel 
nehmen,  wenn  ich  wieder  mit  einigen  Einwürfen  komme. 
Ich  bin  dazu  genöthigt,  so  lange  ich  den  Gegenstand 
nicht  klar  verstehe;  es  geschieht  nur  zu  dem  Ende, 
um  die  Wahrheit  zu  gewinnen  und  nicht,  um  Ihre 
Worte  gegen  Ihre  Absicht  zu  verdrehen.  Ich  bitte 
deshalb  um  eine  freundschaftliche  Antwort. 

Sie  sagen:  „zu  dem  Wesen  eines  Dinges  gehört  nur, 
^was  die  göttliche  Macht  undBeschliessung  ihm  bewilligt 
^und  wirklich  zutheilt.  Wenn  wir  daher  auf  die  Natur 
^ eines  von  seiner  Leidenschaft  getriebenen  Menschen 
^Acht  haben  und  dieses  Begehren  mit  dem  Begehren 
^ eines  Frommen  oder  mit  seinem  eigenen  Begehren  aus 
^früherer  Zeit  vergleichen,  so  sagen  wir,  dass  er  eines 
^besseren  Begehrens  beraubt  sei,  weil  wir  meinen,  dass 
^dieses  bessere  Begehren  ihm  zukommen  müsse.  Allein 
^dies  können  wir  nicht,  wenn  wir  die  Natur  des  göttlichen 
^Rathschlusses  und  Verstandes  beachten;  denn  danach 
^gehört  jenes  bessere  Begehren  zu  der  Natur  dieses 
^Menschen  zu  dieser  Zeit  nicht  mehr  als  wie  zur  Natur 
^des  Teufels  oder  eines  Steines.  Wenn  auch  Gott  den 
^vergangenen  und  den  gegenwärtigen  Zustand  Adams 
^  kennt,  so  weiss  er  doch,  dass  Adam  deshalb  nicht  seines 
^früheren ZuStandes  beraubt  ist,  d.h.  dass  der  vergangene 
^Zustand  desselben  nicht  zu  seinem  gegenwärtigen  ge- 
^hört.*  Aus  diesen  Worten  ergiebt  sich,  dass  nach  Ihrer 

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122  XXXV.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinoza. 

Ansicht  nur  das  zu  dem  Wesen  eines  Dinges  gehört,  was 
es  zu  dem  Zeitpunkt  dei  Wahrnehmung  besitzt.  Wenn 
ich  also  jetzt  ein  wollüstiges  Begehren  habe,  so  gehört 
dasselbe  jetzt  zu  meinem  Wesen  und  wenn  ich  es  nicht 
habe,  so  gehört  dieses  Nicht-Begehren  dann,  wenn  ich 
nicht  begehre,  zu  meinem  Wesen.  Daraus  folgt  un- 
zweifelhaft, dass  ich  in  Bezug  auf  Gott  in  meinen  Werken 
ebenso  Vollkommheit  in  mir  habe  (nur  unterschieden  im 
Grade),  wenn  ich  ein  wollüstiges  Begehren  habe,  wie 
wenn  ich  es  nicht  habe;  und  wenn  ich  Verbrechen  aller 
Art  begehe,  ebenso  wie  wenn  ich  Tugend  und  Gerech t]g> 
keit  übe.  Denn  zu  meinem  Wesen  gehört  zu  dieser  Zeit 
nur  so  viel,  als  ich  wusste,  und  ich  kann  nach  Ilirem 
Ausspruch  nicht  mehr  oder  weniger  leisten,  als  ich  wirk- 
lich an  Vollkommenheit  empfangen  habe,  da  das  Be> 
eehren  nach  Wollust  und  Verbrechen  zur  Zeit,  wo  ich 
danach  handle,  zu  meinem  Wesen  gehört  und  ich  zu 
dieser  Zeit  nur  diese  und  keine  grössere  Vollkommenheit 
von  Gott  empfange,  weshalb  die  Macht  Gottes  auch  nur 
solche  Werke  verlangt.  So  scheint  aus  Ihrem  Aus- 
spruche sich  deutlich  zu  ergeben,  dass  Gott  in  derselben 
Weise  das  Verbrechen  will,  wie  er  nach  Ihnen  dieTugend 
will."'^)  Jjassen  Sie  uns  annehmen,  dass  Gott  als  Gott 
und  nicht  als  Kichter  den  Frommen  und  Gottlosen 
solches  und  so  grosses  Wesen  verleihe,  als  er  will,  dass 
sie  bethätigen  sollen;  aus  welchem  Grunde  sollte  er  das 
Eine  nicht  ebenso  wollen  wie  das  Andere?  Indem  er 
Jedem  das  Vermögen  zu  seinem  Handeln  verleiht,  folgt 
sicherlich,  dass  er  von  Denen,  welchen  er  weniger  ge- 
geben, in  Verhaltniss  dasselbe  fordert,  als  von  Denen, 
welchen  er  mehr  gegeben  hat,  und  daraus  folgt,  dass  Gott 
in  Bezug  auf  sich  nach  der  grösseren  oder  geringeren 
Vollkommenheit  unserer  Werke  auch  ebenso  das  Be- 
kehren nach  Wollust  und  nach  Tugend  fordert.  Wer 
daher  Verbrechen  begeht,  muss  sie  deshalb  noth- 
wendig  begehen,  weil  zu  dieser  Zeit  nur  so  viel  zu 
seinem  Wesen  gehöH,  wie  umgekehrt  der  Tugend- 
hafte die  Tugend  nur  deshalb  ausübt,  weil  Gottes 
Macht  gewollt  hat,  dass  dies  zu  dieser  Zeit  zu  seinem 
Wesen  gehöre.  Sonach  erscheint  mir  Gott  also  eben- 
so die  Verbrechen  wie  die  Tugend  zu  wollen  und 
insoweit  er  Beides  will,   ist  er  auch  die  Ursache  von 

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Unterschied  zwischen  den  FroxDmen  und  Bösen.   123 

IBeidem  und  Beides  muss  ihm  auch  angenehm  sein; 
obgleich  es  sehr  schwer  föUt,  so  etwas  von  Gott  anzu- 
nehmen. "•) 

Sie  sagen,  wie  ich  sehe,  dass  die  Frommen  Oolt 
dienen ;  allein  nach  Ihren  Schriften  ist  das  Gott-Dienen 
nur  die  Yollbringung  solcher  Werke,  deren  Vollhringung 
Gott  gewollt  hat.  Dies  schreiben  Sie  ebenso  auch  den 
Gottlosen  und  Lüsternen  zu.  Welcher  Unterschied  bleibt 
da  zwischen  dem  Gottdienen  der  Frommen  und  der  Gott- 
losen? Sie  sagen  femer,  dass  die  Frommen  Gott  dienen 
und  dadurch  immer  vollkommner  werden;  allein  ich  fasse 
nicht,  was  Sie  unter  diesem  „vollkommner  werden^  imd 
unter  dem  „immer  vollkommner  werden^  verstehen.  Denn 
sowohl  die  Gottlosen  wie  die  Frommen  empfangen  ihr 
Wesen  und  ihre  Erhaltung  oder  fortwährende  Erschaffung 
von  Gott  als  Gott,  und  nicht  als  Bichter  und  Beide  voll- 
ziehen in  gleicher  Weise  seinen  Willen  nach  dem  Be- 
Fchluss  G  Ott  es.  Welcher  Unterschied  kann  daher  zwischen 
ihnen  rücksichtlich  Gottes  bestehen?  *^^)  Denn  das  „immer 
vollkommner  werden^  fliesst  nicht  aus  dem  Werke,  sondern 
ans  Gottes  Willen;  wenn  also  die  Gottlosen  nnvoll- 
kommner  werden,  so  folgt  dies  nicht  aus  ihren  Werken, 
sondern  aus  Gottes  Willen.  Beide  vollziehen  nur  Gottes 
Willen  und  es  kann  deshalb  zwischen  ihnen  in  Bezug 
auf  Gott  kein  Unterschied  bestehen.  Aus  welchem 
Grunde  sollen  also  die  Einen  durch  ihre  Werke  voll- 
kommner und  die  Anderen  schlechter  werden?*'*) 

Indess  scheinen  Sie  den  Unterschied  in  den  Werken 
Beider  darin  zu  setzen,  dass  das  eine  Werk  mehr  Voll- 
kommenheit als  das  andere  enthalte.  Darin  wird  jeden- 
falls mein  oder  Ihr  Irrthum  liegen;  denn  ich  kann  in 
Ihren  Schriften  keine  Regel  finden,  dass  ein  Gegenstand 
anders  als  nur  nach  dem  Grade  seines  Wesens  mehr 
oder  weniger  vollkommen  genannt  wird.  Ist  dieses  also 
die  Regel,  so  sind  in  Bezug  auf  Gott  die  Verbrecher  ihm 
ebenso  angenehm  wie  die  Werke  der  Frommen;  denn 
Gott  will  sie  als  Gott,  d.  h.  rücksichtlich  seiner,  in  der- 
selben Weise,  da  beide  aus  dem  Rathschlusse  Gottes 
folgen.  Ist  dies  der  alleinige  Massstab  der  Vollkommen- 
heit, so  kann  der  Irrthum  nur  uneigentlich  so  heissen 
und  es  giebt  dann  in  Wahrheit  weder  Irrthtimer  noch 
Verbrechen ;  Alles,  was  besteht,  enthält  nur  so  viel  und 

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124  XXXV.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinös». 

solches  Wesen,  wie  Gott  ihm  gegeben  hat  und  dieses 
schliesst  immer,  wie  es  auch  beschaffen  sei,  die  Voll- 
kommenheit in  sich.  Ich  gestehe,  dass  ich  dies  nicht 
fassen  kann;  verzeihen  Sie,  wenn  ich  Sie  danach  frage 
ob  Gott  das  Tödten  ebenso  gefalle  wie  das  Almosen- 
geben? Ob  in  Bezug  auf  Gott  das  Stehlen  auch  gut  und 
gerecht  ist?  *'*)  Wenn  Sie  dies  bestreiten,  welche  Gründe 
haben  Sie  dafür?  Wenn  Sie  es  aber  bejahen,  welche 
Gründe  kann  ich  dann  haben,  dass  ich  das  Werk,  welches 
Sie  Tugend  nennen,  mehr  als  ein  anderes  verrichte? 
Welches  Gesetz  verbietet  das  Eine  mehr,  als  das  Andere? 
Wenn  Sie  als  solches  Gesetz  das  der  Tugend  bezeichnen, 
so  finde  ich,  offen  gestanden,  bei  Ihnen  kein  Gesetz,  nach 
dem  die  Tagend  zu  regeln  und  aus  dem  sie  zu  ent- 
nehmen ist;  denn  Alles,  was  besteht,  hängt  untrennbar 
von  Gottes  Willen  ab.  Deshalb  ist  Eins  wie  das  Andre 
gleich  tugendhaft.  Auch  verstehe  ich  nicht,  welche  Tugend 
und  welches  Gesetz  derselben  e^für  Sie  giebt?  deshalb 
verstehe  ich  es  auch  nicht,  wenn  Sie  sagen,  dass  man  aus 
Liebe  zur  Tugend  handeln  müsse.  Sie  versichern  zwar, 
dass  Sie  Laster  und  Unrecht  unterlassen,  weil  sie  Ihrer 
besonderen  Natur  widerstreiten  und  dergleichen  Sie  von 
derErkenntniss  und  Liebe  Gottes  abzieht;  allein  in  Ihren 
Schriften  finde  ich  dies  nicht;  weder  eine  Regel,  noch  einen 
Beweis;  ja  entschuldigen  Sie  mich,  wenn  ich  sage,  dass 
vielmehr  das  Gegentheil  daraus  sich  ergiebt.  Sie  unter- 
lassen das,  was  ich  Fehler  nenne,  weil  es  Ihrer  besonderen 
Natur  widerspricht,  aber  nicht,  weil  es  Fehler  enthält; 
Sie  unterlassen  es,  wie  man  von  einer  Speise  sich  weg- 
wendet, vor  der  unsere  Natur  sich  scheut.  Wer  aber  das 
Böse  nur  unterlässt,  weil  seine  Natur  davor  sich  scheut, 
darf  sich  der  Tugend  wahrhaftig  nicht  rühmen.***) 

Hier  entsteht  also  wiederum  die  Frage,  ob,  wenn  die 
Seele  so  beschaffen  wäre,  dass  es  ihrer  besonderen  Natur 
nicht  widerspräche,  sondern  entspräche,  der  Wollust  und 
dem  Verbrechen  sich  hinzugeben,  ob,  sage  ich,  die 
Tugend  dann  der  Grund  ist,  welcher  diesen  Menschen 
zur  Vollziehung  der  Tugend  und  Unterlassung  des 
Lasters  bestimmen  könnte?  Aber  wie  soll  Jemand  die 
Begierde  nach  Wollust  verlieren  können,  da  diese  Be- 
hörde zu  dieser  Zeit  zu  seinem  Wesen  gehört  und  er 
dieses  einmal  so  empfangen  hat  und  nicht  beseitigen  kann? 

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üeber  die  Freiheit.  125 

Auch  finde  ich  in  Ihren  Schriften  nichts,  woraus 
sich  ergiebt,  dass  die  Handlangen,  welche  ich  mit 
Laster  bezeichne,  Sie  von  der  Erkenntniss  und  Liebe 
Gottes  abzögen.  Sie  haben  ja  damit  nur  Gottes  Willen 
erfüllt  und  mehr  konnten  Sie  nicht  leisten,  da  nach 
dem  Willen  und  der  Macht  Gottes  nur  dies  damals 
Ihr  Wesen  ausmachte.  Wie  kann  ein  so  bestimmtes 
und  abhängiges  Werk  Sie  von  der  Liebe  Gottes  ab- 
weichen machen?  Abweichen  heisst  verwirrt  und  un- 
bestimmt sein  and  dies  ist  nach  Ihnen  unmöglich. 
Mögen  wir  dies  oder  jenes,  mehr  oder  weniger  an 
Vollkommenheit  äussern,  so  haben  wir  es  für  diese 
Zeit  zu  unserem  Wesen  unmittelbar  von  Gott  empfangen; 
wie  können  wir  also  abirren?  ich  müsste  denn  nicht 
verstehen,  was  Irrthum  ist.  Dennoch  muss,  ich  wieder- 
hole es,  in  diesen  Punkten  allein  der  Grund  meines 
oder  Ihres  Irrthums  verborgen  sein. 

Hier  möchte  ich  noch  vieles  Andere  sagen  und 
fragen;  1)  ob  die  geistigen  Substanzen  nur  als  leblose 
von  Gott  abhän^g  seien?  Denn  wenn  auch  verständige 
Wesen  mehr  Wesen  als  die  enthalten,  welchen  das 
Leben  mangelt,  brauchen  nicht  dennoch  beide  Gott 
und  Gottes  Beschluss,  um  ihre  Bewegung  überhaupt 
und  ihre  besondere  Bewegung  im  Einzelnen  zu  er- 
halten, und  sind  nicht  sonach  beide,  soweit  sie  ab- 
hängen, auf  gleiche  Weise  abhängig?  2)  wenn  Sie 
ihnen  die  Freiheit  der  Seele,  wie  Descartes  that, 
nicht  einräumen,  welcher  Unterschied  bleibt  da  zwischen 
der  Abhängigkeit  verständiger  Substanzen  und  solcher, 
welchen  der  Verstand  fehlt?  Und  wenn  sie  keinen 
freien  Willen  haben,  worin  besteht  da  nach  Ihnen  die 
Abhängigkeit?  wie  hängt  da  die  Seele  von  Gott  ab? 
3)  Wenn  die  Seele  keine  solche  Willensfreiheit  besitzt, 
ist  da  unser  Handeln  nicht  eigentlich  ein  Handeln 
Gottes  und  unser  Wille  nicht  der  Wille  Gottes? 

Ich  könnte  Sie  noch  mancherlei  fragen,  doch  wage 
ich  es  nicht;  ich  erwarte  nur  auf  das  Vorstehende  bald 
Ihre  Antwort;  vielleicht  kann  ich  dann  Ihre  Meinung 
durch  dieses  Mittel  besser  verstehen  und  hierüber  dann 
weiter  mit  Ihnen  verhandeln.  Sobald  ich  Ihre  Antwort 
erhalten  haben  werde,  reise  ich  nach  Leyden  und 
werde  unterwegs,  wenn  ich  Sie  nicht  belästige,  Ihnen 

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126         XXXVI.  ßrief.     Spinoza  an  Blyenbei^h. 

meinen  Besuch  abstatten.    In  Erwartung  dessen  grosse 
ich  Sie  und  versichere  Ihnen,  dass  ich  verharre 

Ihr 
ergebenster  und  zugethaner 
W.  V.  Bljenbergh. 
'  Dortrecht,  den  19.  Februar  1665. 

P.  8.  In  der  Eile  habe  ich  noch  die  Frage  ver- 
gessen, ob  wir  nicht  durch  unsere  Klugheit  das  ver- 
meiden können,  was  uns  sonst  begegnen  würde? 


Sechsunddreissigster  Brief. 
(Vom  13.  März  1665). 

Von  Spinoza  an  W.  V.  Blyenbergh. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Der   lateinische  Text  ist    eine    Uebersetzung   de»   hoUän- 

dischen  Originals. 

Mein  Herr  und  IVeund! 

Ich  habe  in  dieser  Woche  zwei  Briefe  von  Ihnen  er- 
halten ;  der  letzte  vom  9.  Mlirz  sollte  mich  nur  des  am 
19.  Februar  geschriebenen  und  von  Schiedam  abgesandten 
Briefes  vergewissem.  In  diesem  beklagen  Sie  sich,  dass 
ich  gesagt,  „bei  Ihnen  helfe  alles  Beweisen  nichts*  u.  s.w., 
als  hätte  ich  dies  mit  Bezug  auf  meine  Gründe  gesagt, 
weil  sie  Ihnen  nicht  sofort  genügt  hätten.  Allein  ich  war 
weit  davon  entfernt;  ich  hatte  nur  Ihre  eigenen  Worte 
im  Sinne,  die  so  lauteten:  „Und  wenn  es  nach  langer 
„Untersuchung  sich  träfe,  dass  meine  natürliche  £r- 
„kenntniss  dem  Worte  der  Schrift  widerstritte  oder  nicht 
„genugsam  mit  ihr  u.  s.  w.,  so  ist  das  Ansehen  dieses 
„Wortes  so  gross,  dass  vielmehr  die  Begriffe,  welche  ich 
„klar  einzusehen  meine,  mir  verdächtig  werden;*'  u.  s.  w. 
Wenn  ich  also  Ihre  eigenen  Worte  wiederholt  habe, 
so  glaube  ich  nicht,  Ihnen  Anlass  zur  Empfindlichkeit 
gegeben  zu  haben,  zumal  ich  sie  nur  alcs  Grund  be- 
nutzte, um  unseren  grossen  Zwiespalt  darzulegen. 

Sie  hatten  femer  am  Schluss  Ihres  zweiten  Briefes 

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Die  Ursächlichkeit  Gottes.  127 

^sagt,  dass  sie  nur  hofften  und  wünschten,  in  diesem 
Urlauben  und  dieser  Hoffnung  zu  beharren  und  dass  alles 
Andere,  von  dem  wir  gegenseitig  vermöge  unseres  nattir- 
lichen  Verstandes  überzeugt  sind,  Ihnen  gleichgültig  sei ; 
deshalb  überlegte  ich  und  überlege  auch  jetzt,  ob  meine 
Bemerkungen  etwas  helfen  werden  und  ob  es  deshalb  für 
mich  rathsam  sei,meine  wissenschaftlichen  Arbeiten  wegen 
Dingen  zu  unterbrechen  (wie  ich  anderen  Falles  auf  lange 
^enöthigt  sein  würde),  die  zu  Nichts  führen  können. 
Auch  steht  es  mit  meinem  ersten  Briefe  nicht  in  Wider- 
spruch, da  ich  Sie  als  einen  reinen  Philosophen  nahm, 
der  (wie  gar  Manche,  die  sich  Christen  nennen,  zugeben) 
keinen  anderen  Probirstein  der  Wahrheit  hat  als  den 
natürlichen  Verstand,  aber  nicht  die  Theologie.  Hiervon 
haben  Sie  mich  jedoch  eines  Anderen  belehrt  und  gezeigt, 
dass  die  Grundlage,  auf  der  ich  unsere  Freundschaft  auf- 
bauen wollte,   noch  nicht,  wie  ich  glaubte,  gelegt  ist. 

Was  das  Uebrige  anlangt,  so  kommt  dergleichen 
beim  Streiten  meist  nur  so  vor,  dass  die  Grenzen  der 
Sitte  eingehalten  werden;  deshalb  lasse  ich  das,  was 
davon  in  Ihrem  zweiten  und  auch  in  dem  dritten  Briefe 
vorkommt,  unerwfihnt.  Soviel  in  Bezug  auf  die  Ihnen 
angeblich  zugefügte  Beleidigung,  um  Ihnen  zu  zeigen, 
dass  ich  keinen  Anlas s  dazu  gegeben  habe  und,  was 
noch  viel  weniger  der  Fall,  dass  ich  keinen  Wider- 
spruch vertragen  könnte.  Ich  wende  mich  daher  noch- 
D>als  zur  Beantwortung  Ihrer  Einwürfe. 

Ich  nehme  also  1)  an,  dass  Gott  unbedingt  imd 
wahrhaft  die  Ursache  von  Allem  ist,  was  eine  Wesenheit 
besitzt,  sei  sie  welche  sie  wolle.  Wenn  Sie  beweisen 
könnten,  dass  das  Böse,  der  Irrthum,  die  Vergehen  Etwas 
seien,  was  eine  Wesenheit  ausdrückt,  so  gebe  ich  Ihnen 
vollständig  zu,  dass  Gott  die  Ursache  der  Vergehen,  des 
Bösen  und  des  Irrthums  sei.  Ich  glaube  indess  genügend 
dargelegt  zu  haben,  worin  die  Form  des  Bösen,  des  Irr- 
thums, aes  Vergehens  besteht;  es  ist  nicht  Etwas,  was 
eine  Wesenheit  ausdrückt  und  deshalb  kann  Gott  nicht 
als  die  Ursache  desselben  gelten.  So  war  z.B.  der  Mutter- 
mord Nero's,  soweit  er  etwas  Positives  enthielt,  kein  Ver- 
brechen; denn  Orest  beging  dieselbe  Äusserliche  Hand- 
lung und  hatte  auch  die  Absicht,  die  Mutter  zu  tödten 
und  doch  klagte  man  ihn  nicht  an,  wenigstens  nicht  so 

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128  XXXVI.  Brief.     Spinoza  an  Blyenbergh, 

wie  den  Nero.  Worin  bestand  also  das  Verbrechen 
Nero's?  Lediglich  darin,  dass  er  durch  diese  That 
seine  Undankbarkeit,  seine  Grausamkeit  und  seinen 
Ungehorsam  darlegte.  Allein  dies  Alles  drückte  keine 
Wesenheit  aus  und  deshalb  kann  auch  Gott  nicht  die 
Ursache  davon  sein,  obgleich  er  die  Ursache  von 
Nero*s  That  und  Absicht  war.iö^ 

Ich  möchte  hier  auch  erwähnen,  dass  man  in  philo- 
sophischen Besprechungen  sich  nicht  der  theologischen 
Sprechweise  bedienen  darf.  Denn  die  Theologie  stellt 
mitunter  und  nicht  ohne  Absicht  Gott  wie  einen  Toll- 
kommnen  Menschen  dar  und  deshalb  ist  es  för  die 
Theologie  zweckmässig,  von  Gott  so  zu  sprechen,  als 
wünschte  er  Etwas,  als  würde  er  durch  die  Werke  der 
Gottlosen  geärgert  und  durch  die  der  Frommen  erfreut. 
In  der  Philosophie  weiss  man  aber  deutlich,  dass  Gott 
diese  Attribute,  die  den  Menschen  vollkommen  machen, 
ebenso  wenig  zugetheilt  und  zugeschrieben  werden 
können,  als  man  das,  was  zur  Vollkommenheit  des 
Elephanten  und  Esels  gehört,  dem  Menschen  zu- 
schreiben kann ;  deshalb  finden  diese  und  andere  Aus- 
drücke hier  keine  Stelle  und  man  kann  sie  ohne  Ver- 
wirrung der  Begriffe  hier  nicht  anwenden.  Deshalb 
kann  man  philosophisch  nicht  sagen,  dass  Gott  Etwas 
von  Jemand  verlange,  oder  dass  ihm  Etwas  äi^rlich 
oder  angenehm  sei:  dies  sind  Alles  nur  menschliche 
Zustände,  die  bei  Gott  nicht  Platz  greifen. i^) 

Ich  möchte  endlich  meinen,  dass  zwar  die  Werke  der 
Frommen  (d.  h.  Derer,  die  eine  klare  Vorstellung  von 
Gott  haben,  nach  der  alle  ihre  Werke  und  Gedanken  sich 
bestimmen)  und  der  Gottlosen  (d.  h.  Derer,  welche  die 
Erkenntnis  Gottes  nicht  besitzen,  sondern  irdische  Dinge 
kennen  und  danach  ihre  Werke  und  ihre  Gedanken  be- 
stimmen) und  überhaupt  die  Werke  Aller,  die  bestehen, 
aus  den  ewigen  Gesetzen  und  Beschlüssen  Gottes  noth- 
wendig  abfiiessen  und  fortwährend  von  Gott  abhängen; 
allein  sie  unterscheiden  sich  von  einander  nicht  blos  in 
dem  Grade,  sondern  auch  in  dem  Wesen.  Denn  die 
Maus  und  der  Engel,  die  Traurigkeit  und  die  Fröhlichkeit 
hängen  zwar  in  gleicher  Weise  von  Gott  ab,  allein  die 
Maus  kann  doch  nicht  eine  Art  von  Engel  oder  die 
Traurigkeit  eine  Art  von  Fröhlichkeit  sein.^83; 

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Ob  Gott  etwas  gefalle.    Die  Vollkommenheit.     129 

Hiermit  glaube  ich  Ihre  Einwürfe  (wenn  ich  sie 
richtig  verstanden  habe,  denn  manchmal  bin  ich 
zweifelhaft,  ob  die  Folgerungen,  welche  Sie  daraus 
ableiten,  nicht  schon  von  dem  Satze,  den  Sie  beweisen 
wollen,  abweichen)  beantwortet  zu  haben. 

Dies  wird  noch  klarer  werden,  wenn  ich  auf  die 
Fragen,  welche  Sie  auf  diese  Grundlagen  gestützt  haben, 
antworte.  Die  erste  lautet:  ob  das  Tödten  Gott  ebenso 
gefalle,  als  das  Almosengeben?  die  zweite,  ob  das  Stehlen 
hinsichtlich  Gottes  ebenso  gut  sei  als  die  Gerechtigkeit? 
und  die  dritte,  ob,  wenn  mit  einer  Seele  es  ausnahms- 
w  eise  übereinstimmte  und  ihr  nicht  wider6tritte,den  Lüsten 
nachzugehen  und  Verbrechen  zu  verüben,  einer  solchen 
Seele  der  Grund  zur  Tugend  gegeben  sei,  welcher  sie  be- 
stimmte, das  Gute  zu  thun  und  das  Böse  zu  unterlassen? 

Auf  die  erste  Frage  antworte  ich,  dass  ich  (philo- 
sophisch gesprochen)  nicht  weiss,  was  Sie  mit  den 
Worten:  ob  ^Gott  etwas  gefalle^  sagen  wollen.  Wenn 
Sie  mich  fragen,  ob  Gott  nicht  den  Einen  hasse  und 
den  Anderen  liebe?  ob  Einer  Gott  beleidigt  habe  und 
ein  Anderer  ihm  seine  Gunst  bewiesen  habe,  so  ant- 
worte ich  mit  Nein.  Fragen  Sie  aber  damit,  ob  die 
Menschen,  welche  tödten  und  die,  welche  Almosen 
austheilen,  gleich  fromm  und  vollkommen  sind,  so 
antworte  ich  wieder  mit  Nein.lM) 

Auf  die  zweite  Frage  erwidere  ich,  wenn  das  ^Gnte 
hinsichtlich  Gottes^  sagen  will,  dass  der  Gerechte  Gott 
etwas  Gutes  und  der  Dieb  Gott  etwas  Böses  anthue,  dass 
weder  der  Gerechte  noch  der  Dieb  eine  Freude  noch 
einen  Aerger  in  Gott  bewirken  können;  geht  die  Frage 
aber  dahin,  ob  die  Werke  Beider,  soweit  sie  wirklich  und 
von  Gott  bewirkt  sind,  gleich  vollkommen  seien?  so  sage 
ich,  dass,  wenn  man  nur  auf  die  Werke  achtet  und  aut 
einen  solchen  Zustand,  es  möglich  ist,  dass  Beide  gleich 
vollkommen  seien,  i^)  Wenn  Sie  aber  fragen,  ob  der 
Dieb  und  der  Gerechte  gleich  vollkommen  und  glücklich 
sind?  so  antworte  ich  Nein.  Denn  ich  verstehe  unter  dem 
Gerechten  Den,  welcher  best&ndig  wünscht,  dass  Jeder 
behalte,  was  sein  ist.^^)  In  meiner  Ethik  (die  noch 
nicht  herausgegeben  ist)  zeige  ich,  dass  dieses  Begehren 
bei  dem  Frommen  aus  der  klaren  Erkenntniss,  die  er 
von  sich  und  von  Gott  hat,  nothwendig  hervorgeht.     D*i 

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130         XXXVI.  Brief.    Spinosa  an  Blyeahergh. 

nun  der  Dieb  ein  solches  Begehren  nicht  haben  kann, 
80  fehlt  ihm  die  Erkenntniss  seiner  und  Grottes,  d.  h. 
er  entbehrt  dessen,  was  ans  vor  Allem  glücklich  machu 
Wenn  Sie  jedoch  weiter  fragen,  was  Sie  bewegen 
könne,  mehr  das  Werk,  was  ich  Tngend  nenne,  zu  thnn, 
als  ein  anderes  ?  so  sage  ich,  dass  ich  nicht  weiss,  welche 
Mittel  Gott  aus  den  unzähligen  benntzt»  am  Sie  sa  diesem 
Werke  zu  bestimmen.  Es  könnte  sein,  dass  Grott  Ihnen 
eine  so  klare  Erkenntniss  gewährte,  dass  Sie  die  Welt 
über  der  liebe  zu  ihm  vergässen  und  die  übrigen 
Menschen  wie  sich  selbst  liebten  und  es  ist  klar,  das^s 
ein  solcher  Seelenzustand  allen  anderen  Zustünden,  die 
böse  heissen,  widerspricht  und  deshalb  beide  in  ein  und 
demselben  Menschen  nicht  bestehen  können.  '^^  Indess 
ist  hier  nicht  der  Ort,  die  Grundlagen  der  Ethik  darzulegen 
und  alle  meine  Aussprüche  zu  beweisen;  ich  habe  es 
hier  nur  mit  der  Antwort  auf  Ihre  Fragen  zu  thun 
und  habe  nur  diese  von  mir  abzuhalten  und  abzuwenden. 

Was  endlich  die  dritte  Frage  anlangt,  so  geht 
sie  von  einem  Widerspruch  aus  und  kommt  mir  ebenso 
vor,  als  wenn  Jemand  frage:  Ob  es  besser  mit  der 
Natur  Jemandes  stimme,  wenn  er  sich  selbst  aufhänge, 
oder  ob  Gründe  dagegen  beständen?  Indess  will  ich 
annehmen,  dass  eine  solche  Natur  möglich  sei.  Dann 
behaupte  ich  (mag  ich  dabei  die  Freiheit  des  Willens 
anerkennen  oder  nicht),  dass,  wenn  Jemand  weiss,  er 
werde  am  Kreuze  sich  behaglicher  befinden,  als  wenn 
er  an  seinem  Tische  sitze,  er  sehr  thöricht  handelt, 
wenn  er  sich  nicht  aufhängt;  und  ebenso  würde  auch 
Der,  welcher  klar  erkennt,  dass  er  durch  Verübnng 
von  Verbrechen  eines  wirklich  besseren  und  voUkomm- 
neren  Lebens  oder  Wesens  sich  erfreuen  werde  als 
durch  Uebung  der  Tugend,  ebenso  thöricht  sein,  wenn 
er  die  Verbrechen  nicht  verübte.  Denn  die  Verbrechen 
würden  ftir  eine  so  verkehrte  Natur  deren  Tugend  sein. 

Auf  die  am  Schluss  Ihres  Briefes  angehängte  Frage 
antworte  ich  nicht,  da  Sie  in  einer  Stunde  wohl  an 
hundert  solcher  Fragen  thun  könnten,  ohne  dass  wir 
zu  einem  Abschlass  kämen.  Auch  haben  Sie  selbst 
hier  die  Antwort  nicht  so  dringend  verlangt.  Ich  werde 
zur  Zeit  nur  sagen  u.  s.  w. 


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Fragen  in  Betreff  von  Descartes*  Prinzipien.      131 


Siebenunddreissigster  Brief 
(Vom  27.  März  1665). 

Von  W.  V.  Blyenbergh  an  Spinoza. 

(Die  Antwort  auf  den  Torstehenden  Brief.) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  Uebersetzong  aus  dem 
Holländischen.) 

Mein  Herr  und  Freund! 

Als  ich  die  Ehre  hatte,  bei  Ihnen  zu  sein,  gestattete 
es  cUe  Zeit  nicht,  Ifinger  bei  Ihnen  zu  verweilen;  noch 
^weniger  durfte  ich  dorn  Gedächtniss  das  überlassen, 
-was  wir  im  Gespriich  behandelt  hatten,  obgleich  ich 
sofort  nach  unserer  Trennung  alle  meine  Kräfte  an- 
strengte, um  das  Gehörte  in  dem  Gedächtniss  zu  be- 
halten. Am  nächsten  Ort  angelangt,  versuchte  ich  daher, 
Ihre  Ansichten  zu  Papier  zu  bringen;  allein  da  be- 
merkte ich,  dass  ich  nicht  den  vierten  Theil  von  dem 
behalten  hatte,  was  wir  verhandelt  hatten.  Entschuldigen 
Sie  daher,  wenn  ich  Sie  noch  einmal  mit  Fragen  über 
Punkte  belästige,  wo  ich  Ihre  Ansicht  nicht  recht  ver- 
standen oder  nicht  recht  behalten  habe.  Hoffentlich 
geben  Sie  mir  die  Gelegenheit,  diese  Mühe  bei  Ihnen 
durch  irgend  eine  Gefälligkeit  auszugleichen. 

Erstens  möchte  ich  wissen,  wie  ich  bei  dem  Lesen 
Ihrer  Prinzipien  und  metaphysischen  Gedanken  erkennen 
soll,   was  Ihre  und  was  des  Descartes  Ansicht  ist? 

Zweitens,  ob  es  eigentlich  einen  Irrthiim  giebt, 
und  worin  er  besteht? 

Drittens,  in  welcher  Weise  Sie  den  Willen  als 
nicht  frei  annehmen? 

Viertens,  was  Sie  mit  den  Worten  meinen,  wo 
L.  M.  in  der  Vorrede  in  Ihrem  Namen  sagt:  „Unser 
^Verfasser  erkennt  wohl  in  der  Welt  eine  denkende 
^Substanz  an,  allein  er  bestreitet,  dass  sie  das  Wesen 
^der  menschlichen  Seele  ausmache,  vielmehr  nimmt 
^er  an,  dass,  sowie  die  Ausdehnung  ohne  Schranken 
.„ist,  so  auch  das  Denken  unbegrenzt  sei.  Deshalb 
^ist  der  menschliche  Körper  nicht  eine  schlechthinnige, 
^sondern  nur  eine  in  gewisser  Weise,  nach  den  Ge- 
Spinosft,  Briefe.  10      ,^^^i^ 

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132         XXXVII.  Brief.    Blyenbergh  an  Spinou. 

„setzen  der  ausgedehnten  Natar  durch  Bewegung  und 
„Kühe  bestimmte  Ausdehnung,  und  ebenso  ist  die 
„menschliche  Seele  oder  der  Verstand  nicht  ein  schlecht- 
„hinniges,  sondern  nur  ein  nach  den  Gesetzen  der 
„denkenden  Natur  durch  Vorstellungen  auf  gewisse 
„Weise  beschränktes  Denken,  was  nothwendig  gegeben 
„ist,  wenn  der  menschliche  Körper  zu  bestehen  anfügt.'' 
Daraus  scheint  zu  folgen,  dass,  so  wie  der  mensch- 
liche Körper  aus  Tausenden  von  Körpern  zusammen- 
fesetzt  ist,  auch  die  Seele  aus  Tausenden  von  Ge- 
anken  besteht  und  dass,  so  wie  der  Körper  sich  wieder 
in  die  Tausende  von  Körpern  auflösen  kann,  aus  denen 
er  gebildet  worden,  so  auch  die  Seele,  wenn  sie  den 
Körper  verlässt,  sich  wieder  in  so  viel  Gedanken,  als 
sie  aus  solchen  bestand  auflöst;  auch  dass,  so  wie  die 
aufgelösten  Theile  des  menschlichen  Körpers  nicht 
mehr  geeint  bleiben,  sondern  andere  Körper  zwischen 
sie  eintreten,  auch  jene  unzähligen  Gedanken,  ans 
denen  unsere  Seele  bestand,  bei  ihrer  Auflösung  nicht 
mehr  verbunden,  sondern  getrennt  bleiben;  endlich 
dass,  so  wie  die  getrennten  Körper  zwei  Körper  bleiben, 
aber  keine  menschlichen,  so  durch  den  Tod  auch 
unsere  denkende  Substanz  in  der  Art  aufgelöst  werde, 
dass  zwar  die  Gedanken  oder  die  denkenden  Substanzen 
bleiben,  aber  nicht  mehr  so,  wie  deren  Wesen  war, 
als  sie  die  menschliche  Seele  bildeten.  Es  scheint 
mir,  als  nähmen  Sie  hiemach  an,  dass  die  denkende 
Substanz  des  Menschen  nach  Art  der  Körper  umge- 
wandelt und  aufgelöst  werde,  so  dass  manche  Seelen, 
wie  Sie  von  den  gottlosen  (wenn  mein  Gedüchtniss 
mich  nicht  trügt)  behaupten,  ganz  untergehen  und  keinen 
Gedanken  mehr  übrig  behalten.  Sowie  D  esc  arte  s, 
nach  dem,  was  L.  M.  sagt,  die  Seele  schlechthin  als 
denkende  Substanz  nur  voraussetzt,  so  scheinen  Sie 
und  L.  M.  dies  nur  für  den  grossem  Theil  derselben 
vorauszusetzen.  Deshalb  kann  ich  Ihre  Meinung  bei 
diesem  Punkte  nicht  deutlich  verstehen. 

Fünftens  entsteht  nach  dem,  was  Sie  im  GesprSeh 
und  in  Ihrem  letzten  Briefe  vom  13.  Mlirz  bemerkten, 
aus  der  klaren  Erkenntniss  Gottes  und  unserer  selbst^ 
das  beharrliche  Verlangen,  dass  Jeder  das  Seine  be- 
halte.    Indess   ist  hier   noch    zu  erklären,  in  welcher 

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Das  Positive  im  Unrecht.  133 

Weise  die  Erkenntniss  Gottes  und  unserer  in  uns  den 
beharrlichen  Willen  hervorbringt,  dass  Jeder  das,  was 
sein  ist,  behalte,  d.  h.  auf  welche  Weise  dies  aus  der 
Erkenntniss  Gottes  hervorgeht  oder  uns  nöthigt,  die 
Tugend  zu  lieben  und  die  fehlerhaften  Handlungen  zu 
vermeiden,  und  wie  es  kommt  (da  nach  Ihnen  Tödten 
und  Stehlen  ebenso  ein  Positives  enthalten,  wie  Al- 
mosen geben),  dass  die  Yerübung  eines  Mordes  nicht 
ebenso  viel  Vollkommenheit,  Seligkeit  und  Seelenruhe 
enthftlt  wie  Almosen  geben? 

Sie  werden  vielleicht  sagen,  wie  in  dem  letzten 
Briefe  vom  13.  Mftrz,  dass  diese  Frage  zur  Ethik  ge- 
höre und  dort  von  Ihnen  erörtert  werde;  allein  ohne 
Erlftuterung  dieser  und  der  vorgehenden  Fragen  kann 
ich  Ihre  Meinung  nicht  verstehen,  vielmehr  bleiben 
innere  schwere  Widersprüche  bestehen,  die  ich  nicht 
ausgleichen  kann;  deshalb  bitte  ich  Sie  freundlichst, 
mir  hierauf  ausführlich  zu  antworten  und  mir  die 
wichtigsten  Definitionen,  Forderungen  und  Grundsätze, 
auf  welchen  Ihre  Ethik  und  diese  Frage  ruht,  mitzu- 
th  eilen  und  zu  erlftutem.  Vielleicht  entschuldigen  Sie 
sich  mit  der  Grösse  dieser  Arbeit;  indess  bitte  ich, 
daas  Sie  wenigstens  dieses  Mal  mein  Anliegen  er- 
füllen, wmL  ich  ohne  die  Lösung  dieser  letzten  Frage 
Ihre  Meinung  niesnals  recht  fassen  werde.  Ich  möchte 
gern  Sie  ftir  diese  MHke  durch  irgend  eine  Gefölligkeit 
entschädigen;  auch  will  ich  Ihnen  eine  Frist  von  zwei 
oder  drei  Wochen  setzen;  nur  bitte  ich,  dass  Sie  vor 
Ihrer  Reise  nach  Amsterdam  mir  die  Antwort  senden. 
Sie  werden  mich  durch  Erfüllung  dieser  Bitte  höchlich 
verpflichten  und  ich  werde  zeigen,  dass  ich  bin  und 
bleibe, 

mein  Herr,  Ihr 

za  allen  Diensten  bereiter 
W.  V.  Blyenbergh. 

Dortrecht,  den  27.  März  1665. 


DiJtQedby  Google 


134        XXXVIII.    Brief.    Spinoza  an  Bljenbeigh. 


Achtunddreissigster  Brief  (Vom  April  1665). 
Von  Spinoza  an  W.  V.  Blyenbergh. 

(Die  Antwort  auf  den  Torstehenden  Brief.) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  Uebersetzung  des  holländischen 
Originals.) 

Mein  Herr  und  Freund! 
Als  ich  Ihren  Brief  vom  27.  März  erhielt,  war  ich 
im  Begriff,  nach  Amsterdam  abzureisen.  Ich  liess  ihn 
deshalb,  ids  ich  ihn  halb  gelesen,  zu  Hause,  um  ihn 
nach  meiner  Rückkehr  zu  beantworten,  da  ich  glaubte, 
dass  er  nur  Fragen  in  Bezug  auf  den  ersten  Streit- 

Sunkt  enthalten  werde.  Als  ich  ihn  indess  später  ganz 
urchlas,  sah  ich,  dass  sein  Inhalt  ein  ganz  anderer 
war  und  nicht  allein  einen  Beweis  für  das  verlangte, 
was  ich  in  der  Vorrede  zu  meiner  geometrischen  üe> 
arbeitung  der  Prinzipien  des  Descartes  blos  habe 
sagen  lassen,  damit  Jedermann  meine  eigene  Ansicht 
erfahren  sollte,  aber  nicht,  um  sie  zu  beweisen  und 
Jedermann  davon  zu  überzeugen,  sondern  dass  der 
Inhalt  Ihres  Briefes  auch  einen  grossen  Theil  meiner 
Ethik  betraf,  welcher,  wie  Jedermann  weiss,  auf  die 
Metaphysik  und  Physik  sich  stützen  muss.  Deshalb 
habe  ich  zur  Erfüllung  Ihrer  Bitte  mich  nicht  ent- 
schliessen  können,  sondern  habe  die  Gelegenheit  ab- 
warten wollen,  wo  ich  Sie  persönlich  von  Ihrem  Ver- 
langen abzustehen  bitten  könnte,  und  wo  ich  Ihnen 
die  Gründe  ftir  meine  Weigerung  angeben  imd  zeigen 
könnte,  dass  dies  auf  die  Lösune  unseres  ersten 
Streitpunktes  ohne  Einfluss  ist,  vielmehr  umgekehrt 
grossentheils  von  der  Lösung  unserer  Streitfrage  ab- 
hänge. Sie  irren  also,  wenn  Sie  glauben,  dass  Sie 
meine  Ansicht  in  Betreff  der  Nothwendigkeit  ohnedem 
nicht  verstehen  können,  da  vielmehr  jene  Fragen  nicht 
ohne  vorherige  Lösung  dieser  verstanden  werden 
können.  Ehe  indess  diese  Gelegenheit  sich  geboten 
hat,  habe  ich  in  dieser  Woche  einige  Zeilen  von 
Ihnen  erhalten,  worin  Sie  über  meine  lange  Zögerung 
etwas  empfindlich  zu  sein  scheinen.  Deshalb  sehe  ich 
mich  genöthigt,  diese  kurze  Antwort  Ihnen  zu  senden, 

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Die  Natur  der  DefinitioiL  135 

um  Ihnen  meine  Absicht  und  meinen  Entschluss  be- 
stimmter als  bisher  kund  zu  thun.  Ich  hoffe,  Sie  wer- 
den nach  Erwägung  der  Sache  freiwillig  von  Ihrer  Bitte 
abstehen  und  mir  dennoch  Ihre  Gewogenheit  erhalten; 
ich  werde  wenigstens  von  meiner  Seite  in  Allem  zeigen, 
dass  ich  bin  u.  s.  w.  "*) 


NeununddreiBsigster  Brief  (Vom  7.  Jan.  1666) 

Von  Spinoza  an  den *^^) 

(Der    lateinische  Text   ist   eine  Uebersetzung   des   hollän- 
dischen Originals). 

Geehrter  HerrI 

Den  Beweis  der  Einheit  Gottes,  in  dem  Sinne, 
dass  seine  Natur  das  Dasein  nothwendig  einschliesst, 
welchen  Sie  wünschen  und  welchen  ich  mit  mir  herum- 
trage, habe  ich  anderer  Geschäfte  wegen  nicht  früher 
Ihnen  Übersenden  können.  '^°^)  Um  denselben  zu 
fuhren,  setze  ich  voraus: 

1)  Dass  die  wahre  Definition  eines  Gegenstandes 
nur  die  einfache  Natur  des  zu  definirenden  Gegen- 
standes enthalte.     Daraus  folgt 

2)  dass  keine  Definition  eine  bestimmte  Menge  oder 
feste  Zahl  der  darunter  gehörenden  einzelnen  Gegen- 
stände einschliesst  oder  ausdrückt,  weil  sie  nämlich  nur 
die  Natur  des  Gegenstandes  an  sich  einschliesst  und  aus- 
drückt. So  enthält  z.  B.  die  Definition  des  Dreiecks  nur 
dessen  einfache  Natur,  aber  keine  bestimmte  Zahl  von 
Dreiecken,  und  ebenso  enthält  die  Definition  der  Seele, 
wonach  sie  eine  denkende  Substanz  ist,  oder  die  De- 
finition Gottes,  wonach  er  ein  vollkommenes  Wesen 
ist,  nur  die  Natur  der  Seele  oder  Gottes,  aber  giebt 
die  Zahl  der  Seelen  oder  Götter  nicht  an. 

3)  muss  die  Definition  von  jeder  Sache,  die  be- 
steht, die  positive  Ursache,  wodurch  sie  besteht,  an- 
geben und 

4)  dass  diese  Ursache  entweder  zur  Natur  und  Defini- 
tion der  Sache  selbst  gehört  (weil  das  Dasein  nämlich  zu 

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136  XXXIX.  Brief.    Sp.  an 

deren  Natur  gebort,  oder  diese  es  nothwendig  ein- 
schliesst)  oder  ausserhalb  derselben  gestellt  werden  mass. 

Aus  diesen  Voraussetzungen  folgt,  dass,  wenn  in  der 
Natur  eine  bestimmte  Zahl  der  einzelnen  Exemplare 
besteht,  es  eine  oder  mehrere  Ursachen  geben  muss,  wes- 
halb gerade  diese  Zahl  derselben  und  nicht  mehr  oder 
weniger  hervorgebracht  worden  sind.  Wenn  z.  B.  in  der 
Welt  nur  20  Menschen  bestünden  (von  denen  ich  zur 
Vermeidung  der  Verwirrung  annehme,  dass  sie  zu- 
gleich und  als  die  ersten  da  seien),  so  genügt  es  nicht, 
die  Ursache  der  menschlichen  Natur  überhaupt  aufzu- 
suchen um  den  Grund  für  das  Bestehen  der  20  Men- 
schen damit  zu  bieten,  sondern  es  muss  auch  der  Grund 
erforscht  werden,  weshalb  nicht  mehr  oder  weniger  be- 
stehen. Denn  es  muss  nach  der  dritten  Voraussetzung 
von  jedem  Menschen  der  Grund  und  die  Ursache  ange- 
geben werden,  weshalb  er  besteht.  Diese  Ursache  kann 
aber  nicht  in  seiner  Natur  als  Mensch  liegen  (nach  der 
zweiten  und  dritten  Voraussetzung),  weil  die  wahre  De- 
finition des  Menschen  nicht  die  Zahl  der  zwanzig  Men- 
schen enthält.  Deshalb  muss  die  Ursache  dieser  zwan- 
zig Menschen  (nach  der  vierten  Annahme)  und  folglich 
auch  die  Ursache  jedes  Einzelnen  ausserhalb  ihrer  be- 
stehen. Daraus  folgt  unbedingt,  dass  Alles,  was  in 
mehrfachen  Exemplaren  seines  Begrififes  da  ist,  noth- 
wendig eine  äussere  Ursache  haben  muss  und  nicht 
aus  der  Kraft  seiner  eigenen  Natur  hervorgehen  kann. 
Wenn  nun  aber  (nach  der  Annahme)  zu  Gottes  Natur 
nothwendig  das  Dasein  gehört,  so  muss  auch  dessen 
Definition  das  Dasein  nothwendig  enthalten,  und  man 
kann  deshalb  aus  seiner -wahren  Definition  auch  sein 
Dasein  mit  Nothwendigkeit  ableiten.  Dagegen  kann 
aus  dessen  wahrer  Definition  (wie  ich  schon  vorher 
aus  der  zweiten  und  dritten  Voraussetzung  gezeigt  habe) 
nicht  abgeleitet  werden,  dass  mehrere  Götter  bestehen 
müssen.  Hinaus  ergiebt  sich  das  Dasein  eines  einzigen 
Gottes;  was  zu  beweisen  war. 

Dies,  geehrter  Herr,  scheint  mir  gegenwärtig  die 
beste  Art,  den  Satz  zu  beweisen.  Ich  habe  ihn  früher 
anders  bewiesen,  indem  ich  zwischen  Wesen  und  Dasein 
unterschied;  um  indess  das,  was  Sie  mir  angedeutet 
haben,  zu  beachten,  sende  ich  Ihnen  mit  Vergnügen  die- 

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Die  Natnr  eines  nothwendigen  Wesens.  137 

sen  Beweis.    Ich  hoffe,  dass  er  Ihnen  genügt;  ich  werde 
Ihr  Urtheil  hierüber  erwarten  und  bleibe  inmittelst 

Ihr  u,  s.  w.  "*) 
Voorburg,  den  7.  Jan.  1666. 


Vierzigster  Brief  (Vom  10.  April  1666). 

Von  Spinoza  an ''') 

(^I>6r  lateinische  Text  ist   eine  Uebersetzung   des    hollän- 
dischen Originals). 

Geehrter  Herr! 
Was  in  Ihrem  Briefe,  den  ich  am  10.  Februar  em- 
pfangen habe,  mir  noch  etwas  dunkel  war,  haben  Sie 
in  dem  vom  30.  März  bestens  aufgeklärt.  Indem  ich 
somit  Ihre  eigentliche  Absicht  einsehe,  stelle  ich  die 
Frage  so,  wie  Sie  sie  auffassen,  ob  es  nämlich  nur 
ein  Wesen  giebt,  was  durch  sein  „Sich-selbst-Genilgen" 
oder  durch  seine  Kraft  besteht?  Ich  behaupte  dies 
nicht  blos,  sondern  bin  auch  bereit,  es  zu  beweisen, 
nämlich  dass  seine  Natur  nothwendig  das  Dasein  des- 
selben einschliesst ,  wenn  man  auch  dies  am  leichte- 
sten aus  dem  Wissen  Gottes  (wie  ich  es  in  Satz  11 
meiner  geometrischen  Beweise  der  Prinzipien  des  Des- 
cartes  gethan  habe)  oder  aus  andern  Attributen  Gottes 
beweisen  kann.  Um  also  hiermit  zu  beginnen,  werde 
ich  vorher  kurz  zeigen,  w^elche  Eigenschaften  ein 
Wesen,  das  sein  Dasein  nothwendig  in  sich  enthält, 
haben  muss.     Nämlich: 

1)  muss  es  ewig  sein.  Denn  wenn  man  ihm  nur 
eine  bestimmte  Dauer  zutheilte,  so  würde  dies  Wesen 
ausserhalb  jener  Dauer  als  nicht  daseiend  oder  als  ein 
solches  gefasst,  was  sein  Dasein  nicht  nothwendig  in 
sich  enthält,  was  seiner  Definition  widerspräche. 

2)  muss  es  einfach  und  nicht  aus  Theilen  zu- 
sammengesetzt sein.  Denn  diese  Theile  müssen  der 
Natur  und  der  Erkentniss  nach  ***)  früher  als  das  Zu- 
sammengesetzte sein,  was  bei  einem  Gegenstande,  der 
von  Natur  ewig  ist,  nicht  Platz  greifen  kann. 

3)  kann  es  nicht  begrenzt,  sondern  muss  als  un- 
endlich aufgefast  werden.     Denn  wenn  seine  Natur 

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138  ^L.  Brief.   Spinoza  an 


begrenzt  wfire  und  so  anfgefasst  würde,  so  wflrde 
seine  Natur  ausserhalb  dieser  Grenzen  als  nicht-sei- 
end    aufgefasst,    was    seiner   Definition   widersprfiche. 

4)  muss  esuntheilbar  sein.  Denn  wenn  es  theil- 
bar  wäre,  so  könnte  es  in  gleichartige  oder  ungleich- 
artige Theile  getrennt  werden,  und  wenn  dies,  so  könnte 
es  zerstört  werden,  also  nicht  bestehen,  was  gegen  seine 
Definition  wfire.  Auch  würde  in  diesem  Falle  jeder 
Theil  sein  Dasein  nothwendig  in  sich  enthalten,  und 
damit  könnte  jeder  Theil  ohne  den  andern  bestehen 
und  also  auch  vorgestellt  werden,  und  jenes  Wesen 
könnte  dann  als  begrenzt  vorgestellt  werden  was  ebenfalls 
gegen  seine  Definition  laufen  würde.  Hieraus  erhellt, 
dass  bei  jeder  Unvollkommenheit  die  man  einem  sol- 
chen Wesen  zutheilt,  man  sofort  in  den  Widerspruch 
geräth;  denn  mag  die  einem  solchen  Wesen  zuge- 
t heilte  Unvollkommenheit  in  einem  Mangel  oder  in 
einer  Grenze,  welche  es  hätte,  oder  in  einer  VerSn* 
derung,  welche  es  aus  Mangel  an  Kraft  von  iCussem 
Ursachen  erleiden  könnte,  bestehen,  so  kämen  wir 
immer  dahin,  dass  es,  dessen  Natur  nothwendig  das 
Dasein  einschliesst,  nicht  bestände  oder  nicht  nothwen- 
dig bestände.     Deshalb  folgere  ich: 

5)  dass  Alles,  was  sein  Dasein  nothwendig  in  sich  ent- 
hält, auch  keine  Unvollkommenheit  in  sich  enthalten 
kann,  sondern  reine  Vollkommenheit  ausdrücken  muss. 

6)  kann  es  nur  von  der  Vollkommenheit  kommen» 
wenn  ein  Wesen  durch  seine  Genügsamkeit  und  Kraft 
besteht;  nimmt  man  daher  an,  dass  ein  Wesen,  das 
nicht  alle  Vollkommenheiten  ausdrückt,  vermöge  seiner 
Natur  bestehe,  so  muss  man  auch  annehmen,  dass  ein 
Wesen,  das  alle  Vollkommenheiten  in  sich  enthält, 
ebenfalls  besteht.  Wenn  nämlich  ein  schon  mit  ge- 
ringerer Macht  begabtes  Wesen  durch  seine  Genüg- 
samkeit besteht,  um  wieviel  mehr  muss  ein  anderes  be- 
stehen, was  mit  grösserer  Macht  begabt  ist.  '*') 

Um  endlich  zur  Sache  selbst  zu  kommen,  so  sage 
ich,  dass  es  nur  ein  einziges  Wesen  geben  kann,  bei  dem 
das  Dasein  zu  seiner  Natur  gehört,  nämlich  dasjenige 
Wesen,  das  alle  Vollkommenheiten  enthält  und  das  ich 
Gott  nennen  werde.  Denn  nach  der  No.  6^  kann  ein 
solches  Wesen,  von  dem  angenommen  wird,  dass  das 

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j  A 


Erläatemngen  des  vorhergehenden  Briefes.       139 

Dasein  zu  seiner  Natnr- gehöre,  keine  Unvollkommen- 
heit  enthalten,  sondern  mnss  alle  Vollkommenheit  in 
sich  haben,  nnd  deshalb  mnss  die  Natur  eines  solchen 
Wesens  zu  Gott  (den  wir  nach  No.  6  ebenfalls  als 
daseiend  annehmen  müssen)  gehören,  da  Gott  alle 
Vollkommenheiten  und  keine  UnvoUkommenheit  in  sich 
enthält.  Auch  kann  ein  solches  Wesen  nicht  neben 
Gott  bestehen;  denn  wäre  dies  der  Fall,  so  würde  ein 
und  dieselbe  Natur,  die  auch  noch  ihr  Dasein  noth- 
wendig  enthält,  doppelt  bestehen,  was  nach  dem  Vor- 
herbewiesenen widersinnig  ist.  Deshalb  besteht  nichts 
ausser  Gott,  was  nothwendig  sein  Dasein  enthält ;  nur 
bei  Gott  ist  dies  der  Fall.  Was  zu  beweisen  war.***) 
Dies  ist  es,  geehrter  Herr,  was  ich  zur  Zeit  zum 
Beweise  dieses  Satzes  vorzubringen  vermag.  Ich 
wollte  wohl,  dass  ich  Ihnen  auch  beweisen  könnte,  wie 
sehr  ich  bin  u.  s.  w. 

Voorburg,  den  10.  April  1666. 


Einundvierzigstcr  Brief  (Vom  Mai  1666). 

Von  Spinoza  an  den ^^) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  Uebersetzung  des  holländischen 
Originals.) 

Geehrter  Herr! 

Auf  Ihren  Brief  vom  19.  Mai  konnte  ich  eines 
Hindernisses  wegen  nicht  eher  antworten.  Da  ich  in- 
dess  bemerkt  habe,  dass  Sie  Ihr  Urtheil  über  meinen 
Ihnen  gesandten  Beweis  für  den  grossem  Theil  noch 
zurückhalten  (und  zwar,  wie  ich  glaube,  weil  er 
Ihnen  dunkel  vorkommt),  so  will  ich  versuchen,  dessen 
Sinn  Ihnen  klarer  darzulegen. 

Zunächst  hatte  ich  vier  Eigenschaften  aufgezählt, 
welche  ein  Wesen  haben  muss,  was  durch  seine  Genüg- 
samkeit oder  Kraft  besteht.  Diese  vier  und  andere 
ihnen  ähnliche  hatte  ich  in  der  sechsten  Bemerkung 
in  eine  zusammengefasst.    Dann  hatte  ich,  um  alles 

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140  ^^^  Brief.    Spinoza  an 


za  dem  Beweise  Nöthi^e  aas  der  blossen  Annahme 
abauleiten,  in  der  sechsten  Bemerkung  versucht,  das 
Dasein  Gottes  auf  Grund  der  gegebenen  Annahme  zu 
beweisen,  und  habe  von  da  endlich,  ohne  etwas  Weiteres 
(wie  bekannt  ist)  als  den  einfachen  Wortsinn  anzu- 
nehmen, das  gefolgert,  was  Sie  verlangt  hatten. 

Dies  ist,  mit  wenig  Worten,  meine  Absicht  und 
mein  Ziel  gewesen.  Ich  will  nun  den  Sinn  jedes 
einzelnen  Theiles  besonders  erläutern  und  beginne 
daher  mit  den  vorausgeschickten  Eigenschaften. 

Die  erste  macht  Ihnen  keine  Schwierigkeit  nnd 
ist  auch,  wie  die  zweite,  nur  ein  selbstverstündlicher 
Grundsatz.  Ich  verstehe  nämlich  unter  einfach  nur 
das,  was  nicht  zusammengesetzt  ist,  mag  die  Zusammen- 
setzung aus  von  Natur  verschiedenen  Theilen  oder 
aus  gleichartigen  Theilen  bestehen.  Der  Beweis  gilt 
sicherlich  allgemein."®) 

Den  Sinn  meines  dritten  Satzes  (nämlich  dass, 
wenn  dies  Wesen  ein  Denken  ist,  es  hierin,  und  wenn  es 
eine  Ausdehnung  ist,  es  darin  nicht  als  begrenzt,  sondern 
nur  als  unbegrenzt  aufgefasst  werden  könne)  haben  Sie 
ganz  richtig  gefasst,  aber  derSchluss  ist  Ihnen  nicht  klar. 
Er  stützt  sich  jedoch  darauf,  dass  es  ein  Widersprach 
wäre,  Etwas,  dessen  Definition  das  Dasein  enthält,  oder 
welche,  was  dasselbe  ist,  sein  Dasein  bejaht,  unter  der 
Verneinung  des  Daseins  aufzufassen.  Femer  bezeichnet 
das  Begrenzte  nichts  Bejahendes,  sondern  nur  die  Be- 
raubung des  Daseins  bei  einem  solchen  Wesen,  welches 
begrenzt  aufgefasst  wird ;  also  kann  ein  Wesen,  dessen 
Definition  das  Dasein  bejaht,  nicht  begrenzt  aufgefasst 
werden.  Wenn  z .  B.  der  Ausdruck  „Ausdehnung^  das 
Dasein  nothwendig  enthält,  so  ist  es  ebenso  unmöglich, 
eine  Ausdehnung  ohne  Dasein  vorzustellen  wie  eine  Aus- 
dehnung ohne  Ausdehnung,  und  wenn  dies  anerkannt 
wird,  so  wird  es  auch  unmöglich  sein,  eine  begrenzte 
Ausdehnung  vorzustellen.  Denn  wenn  dies  geschähe,  so 
müsste  sie  sich  durch  ihre  eigene  Natur,  nämUch  die  Aus- 
dehnung begrenzen  und  es  müsste  dann  diese  Ausdeh- 
nung, durch  welche  sie  begrenzt  würde,  als  Verneinung 
der  Ausdehnung  aufgefasst  werden,  was  nach  der  An- 
nahme ein  offenbarer  Widerspruch  sein  würde.**') 

Im  vierten  Satze  habe  ich  nur  zeigen  wollen,  dass 

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Erläuterungen  des  vorhergehenden  Briefes.       141 

«in  solches  Wesen  weder  in  gleichartige,  noch  ungleich- 
artige Theile  getrennt  werden  könne,  mögen  letztere  das 
Dasein  nothwendig  enthalten  oder  nicht.  Denn,  sagte 
ich,  wenn  Letzteres  Statt  hfttte,  so  könnte  jenes  Wesen 
zerstört  werden,  weil  das  Zerstören  einer  Sache  eben 
eine  Trennung  derselben  in  solche  Theile  ist,  dass 
keiner  die  Natur  des  Ganzen  darstellt;  h&tte  aber  das 
£r8tere  Statt,  so  würde  es  mit  den  darin  vorher  be- 
gründeten Sätzen  in  Widerspruch  kommen. '^^^ 

Bei  dem  fünften  Satze  haben  Sie  die  VollKommen- 
heit  nur  in  dem  „Sein^  gesacht  und  die  Un Vollkommen- 
heit nur  in  der  Beraubung  des  Seins.  Ich  sage  ^in 
der  Beraubung^;  denn  wenn  auch  die  Ausdehnung  das 
Denken  an  sich  verneint,  so  ist  dies  doch  keine  Un- 
vollkommenheit  an  ihr.  Wenn  ihr  dagegen  an  der 
Ausdehnung  Etwas  abginge,  so  würde  dies  eine  Un- 
vollkommenheit  anzeigen,  und  dies  würde  der  Fall 
sein,  wenn  sie  begrenzt  wäre,  oder  wenn  ihr  die 
Dauer,  die  Lage  u.  s.  w.  fehlte.  ^^'^ 

Den  sechsten  Satz  haben  Sie  unbedingt  zugegeben, 
und  doch  sagen  Sie,  dass  Ihre  Bedenken  noch  nicht  ge- 
hoben seien  (nämlich  weshalb  nicht  mehrere  Wesen  be- 
stehen könnten,  die  an  sich,  aber  mit  verschiedener  Natur 
bestehen;  wie  z.  B.  das  Denken  und  die  Ausdehnung  ver- 
schieden sind  und  doch  vielleicht  durch  ihre  eigene  Ge- 
nügsamkeit bestehen  können).  Ich  kann  hier  nicht  an- 
ders glauben,  als  dass  Sie  den  Satz  in  einem  ganz 
andern  Sinne  als  ich  nehmen.  Ich  weiss  vielleicht,  wie 
Sie  ihn  verstehen;  doch  will  ich,  um  nicht  Zeit  zu  ver- 
lieren, nur  erklären,  wie  ich  ihn  verstehe.  Ich  sage 
nämlich  bei  diesem  sechsten  Satz,  dass,  wenn  man  an- 
nimmt, Etwas,  was  nur  in  seiner  Art  unbegrenzt  und 
vollkommen  ist,  bestehe  durch  seine  Genügsamkeit,  so 
müsse  man  auch  das  Dasein  eines  unbedingt  unbegrenz- 
ten und  vollkommenen  Wesens  einräumen,  welches  Wesen 
ich  Gott  nenne.  Wenn  man  z.  B.  annähme,  dass  die  Aus- 
dehnung oder  das  Denken  (von  denen  jedes  in  seiner  Art, 
d.  h.  in  einer  gewissen  Art  des  Seins,  vollkommen  sein 
kann)  durch  ihre  Genügsamkeit  bestehen,  so  muss  auch 
das  Dasein  Gottes,  welcher  schlechthin  vollkommen  ist, 
d.  h.  das  Dasein  eines  unbedingt  unbegrenzten  Wesens, 
zugestanden  werden.  Hier  möchte  ich  erläutern,  was  das 

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142  ^LI.  Brief.    Spinoza  an 

Wort  ^UnvoUkommenheit^  bezeichnet;  n&nlich  dass 
einem  Gegenstande  etwas  fehlt,  was  aber  zu  seiner 
Natur  gehört.  So  kann  z.  B.  die  Ausdehnung  nur  rück- 
sichtlich  der  Dauer,  der  Lage,  der  Grösse  unvollkommen 
genannt  werden,  nftmlich  weil  sie  nicht  iJüiger  dauert, 
weil  sie  ihre  Lage  nicht  beibeh&lt,  oder  weil  sie  nicht 
grösser  wird ;  aber  sie  kann  niemals  unvollkommen  ge- 
nannt werden,  weil  sie  nicht  denkt,  da  ihre  Natur  dies 
nicht  verlangt  und  diese  nur  in  der  Ausdehnung  besteht^ 
d.  h.  in  einer  gewissen  Art  des  Seins;  nur  in  Bezug  auf 
diese  Art  kann  sie  begrenzt  oder  unbegrenzt,  voll- 
kommen oder  unvollkommen  genannt  werden.  Gottes 
Natur  besteht  aber  nicht  in  einer  bestimmten  Art  des 
Seins,  sondern  sein  Sein  ist  schlechthin  unbegrenzt  und 
deshalb  verlangt  auch  seine  Natur  Alles,  was  das  Sein 
vollkommen  ausdrückt;  ohnedem  würde  sie  beschrinkt 
und  mangelhaft  sein.  Verhält  sich  dies  so,  so  folgt,  dass 
nur  ein  Wesen,  nfimlich  Gott,  bestehen  kann,  was  durch 
seine  eigene  Kraft  besteht.  Wenn  man  z.  B.  annimmt, 
dass  die  Ausdehnung  das  Dasein  enthält,  so  muss  sie 
ewig  und  unbegrenzt  sein  und  schlechthin  keine  Unvoll- 
kommenheit,  sondern  nur  Vollkommenheit  ausdrücken 
und  daher  wird  die  Ausdehnung  zu  Gott  gehören,  oder 
Etwas  sein,  was  in  gewisser  Art  Gott  ausdrückt,  weil 
Gott  ein  Wesen  ist,  das  nicht  blos  in  einer  einzelnen 
Beziehung,  sondern  unbedingt  unbegrenzt  und  all- 
mächtig in  seinem  Wesen  ist.  Dasselbe  muss  von  Allem 
gelten,  was  hier  (nach  Belieben)  von  der  Ausdehnung 
gilt,  sobald  man  eine  solche  Beschaffenheit  dabei  an- 
nimmt; deshalb  folgere  ich,  wie  in  meinem  letzten  Briefe, 
dass  nichts  ausserhalb  Gottes  besteht  und  Gott  allein 
durch  seine  Genügsamkeit  besteht.  Dies  wird  hoffentlich 
zur  Erläuterung  aes  Früheren  genügen  und  Sie  werden 
nun  eher  darüber  ein  Urtheil  fallen  können.*^ 

Ich  möchte  damit  schliessen ;  allein  ich  bin  jetzt 
Willens,  mir  neue  Formen  zum  Glasschleifen  machen  zu 
lassen  und  möchte  mir  dabei  Ihren  Rath  erbitten.  Ich 
sehe  nicht  ein,  was  man  mit  dem  Ausdrehen  von  convex- 
concaven  Gläsern  gewinnt.  Vielmehr  müssen  plan-con- 
vexe  Gläser  besser  sein,  wenn  ich  richtig  gerechnet  habe. 
Denn  nimmt  man  (der  Einfachheit  wegen)  an,  das 
Brechungsverhältniss  sei  wie  3  zu  2  und  setzt  man  die 

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Üeber  concaT-conV^xe  Gläser, 


143 


Buchstaben  in  nebenstehender  Figur  so,  wie  Sie  in  Ihrer 
Ueinen  Dioptrik  thun,  so  ergiebt  sich  nach  Beduktion 


<ler  Gleichung 


/9  X-  =^ 

I -j-zz  — XX  j  —  Y  (l  —  xx).     Daraus  folgt,  dass,  wenn 

X  =0  ist,  z  =  2  ist  und  dann  ist  z  am  längsten.     Ist 

3  .  43 

X  =  —  so  ist  z  =xg  oder  etwas  mehr;  sofern  man  näm- 
lich annimmt,  dass  der  Strahl  BJ  keine  zweite  Bre- 
cbung  erleidet,  wenn  er  aus  dem  Glase  nach  I  geht.  Wir 
wollen  aber  nun  annehmen,  dass  er  bei  dem  Austritt  aus 
dem  Glase  von  der  ebenenOberflftche  BF  zurückgewor- 
fen werde  und  dass  er  nicht  nach  I,  sondern  nach  K  gehe. 
Nun  verhalten  sich  die  Linien  RI  und  BR  wie  die 
Brechung,  d.  h.  (nach  unserer  Annahme)  wie  3  : 2  und 
wenn  man  dann  jener  Gleichung  folgt,  so  ergiebt  sich 
NR=y  (zz  — xx)  —Y  (1  — 3Lx).  Setzt  man  dann  wieder 
x=0,  so  ist  NR=1,  d.  h.  gleich  dem  halben  Durchmesser. 

o  90  1 

Wird  X  aber  =  -g- genommen,  so  ist  NR  =  -gg-  +  gg.  Dies 

zeigt,  dass  dieser  Brennpunkt  kleiner  als  jener  ist,  wenn 
das  optische  Rohr  um  einen  vollen  Halbmesser  kleiner 
ist.  Macht  man  daher  das  Fernrohr  so  lang  wie  DJ,  in- 
dem man  den  Halbmesser  =  l*/»  nimmt  und  BF  von  glei- 
cher Oeffnung,  so  wird  der  Brennpunkt  viel  kleiner  aus- 
fallen. Auch  gefallen  mir  concav-convexe  Gläser  deshalb 
weniger,  weU  sie  doppelte  Arbeit  und  Kosten  machen 
imd  weil  die  Strahlen,  wenn  sie  nicht  alle  auf  einen 
Punkt  zugehen,  niemals  auf  eine  concave  Oberfläche 
senkrecht  einfallen  können.  Indess  haben  Sie  sicherlich 

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144  ^LU.  Brief.    Spinoza  an  J.  B. 

dies  schon  früher  erwogen,  genauer  berechnet  und 
durch  die  Sache  bestimmt;  deshalb  erbitte  ich  mir 
hierin  Ihre  Ansicht  und  Ihren  Rath  u.  s.  w. 


Zwei  und  vierzigster  Brief  (Vom  10.  Juni  1666). 

Von  Spinoza  an  den  gelehrten  und  erfahrenen  Herrn  J.  B.  '^^> 

Gelehrter  Herr  und  werther  Freund! 
Auf  Ihren  schon  l&ngst  empfangenen  Brief  habe  ich 
nicht  früher  antworten  können,  weil  so  mancherlei  Arbei- 
ten und  Sorgen  mich  so  beschäftigten,  dass  ich  mich  kaum 
davon  freimachen  konnte.  Indess  möchte  ich  nicht, 
nachdem  ich  wieder  etwas  zur  Besinnung  gekommen  bin, 
meine  Pflicht  verabsäumen;  ich  sage  Ihnen  daher  herz- 
lichen Dank  für  Ihre  Liebe  und  Gefälligkeit,  die  Sie  mir 
schon  oft  durch  die  That  und  jetzt  durch  Ihre  Briefe 

feniigewA  »iHeawi.hahOTr  lekweaclamich  zu  Ihrer Frage^ 
ie  so  lautet;  „Ob  es  ein  Verfahren  giebt oifeg  gdbea. 
„kann,  wo  mau  ohne  Anstoss  in  der  besten  Erkennt- 
„niss  der  Dinge  ohne  Ueberdruss  vorschreiten  kann? 
„Oder  ob,  wie  unser  Körper,  so  auch  unser  Geist  den 
„Zufällen  ausgesetzt  ist  und  unsere  Gedanken  mehr 
„durch  Glück  als  durch  Kunst  geleitet  werden?^ 

Ich  glaube  Ihnen  zu  genügen,  wenn  ich  zeige,  dass 
es  nothwendig  ein  Verfahren  geben  muss,  wobei  wir 
unsere  klaren  und  deutlichen  Vorstellungen  leiten  und 
verknüpfen  können  und  dass  der  Verstand  nicht,  wie  der 
Körper,  den  Zufällen  unterworfen  ist.  Dies  ergiebt  sich 
schon  allein  daraus,  dass  eine  klare  und  deutliche  Vor- 
stellung, oder  mehrere  solche,  schlechthin  die  Ursache 
einer  anderen  klaren  und  deutlichen  Vorstellung  sein 
können;  ja  es  können  überhaupt  alle  klaren,  und  deut- 
lichen, von  uns  gebildeten  Vorstellungen  nur  von  andern 
klaren  und  deutlichen  Vorstellungen  in  uns  entstehen  und 
aus  keiner  Ursache  von  aussen  kommen.  Deshalb  hän- 
gen alle  von  uns  gebildeten  klaren  und  deutlichen  Vor- 
stellungen blos  von  unsrer  Natur  und  deren  festen  und 
bestimmten  Gesetzen  ab,  d.  h.  lediglich  von  unsrer  Macht 
und  nicht  vom  Zufall,  d.  h.  von  Ursachen,  die  zwar  auch 

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üeber  die  beste  Exkeimtniss.  145 

nach  festen  und  bestimmten  Gesetzen  wirken,  aber  uns 
unbekannt  und  unsrer  Natur  und  Maeht  fremd  sind.  Die 
übrigen  Vorstellungen  hängen  dagegen  meist  vom  Zufall 
ab.  Hieraus  erhellt,  wie  das  Verfahren  beschaffen  sein 
muss  und  worin  es  wesentlich  besteht;  nämlich  in  dem 
Erkennen  mittelst  des  reinen  Verstandes,  seiner  Natur 
und  Gesetze.  Um  dies  zu  erreichen,  muss  man  vor  Allem 
zwischen  Verstand  und  Einbildungskraft  unterscheiden, 
d.  h.  zwischen  den  wahren  Vorstellungen  und  zwischen 
den  eingebildeten,  falschen  und  zweifelhaften  und  über- 
haupt allen,  die  nur  von  dem  Gedächtniss  abhängen.  Um 
dies  einzusehen,  wenigstens  soweit  es  das  Verfahren  ver- 
langt, bedarf  es  nicht  der  Erkenntniss  der  Natur  unsrer 
Seele  aus  ihrer  ersten  Ursache,  sondern  es  genügt,  eine 
Beschreibung  der  Seele  oder  der  Vorstellungen  in  der 
Weise  zusammenzustellen,  wie  Baco  gethan  hat.***) 

Damit  glaube  ich  kurz  das  wahre  Verfahren  dar- 
gelegt und  bewiesen  sowie  den  Weg,  um  dahin  zu 
gelangen,  gezeigt  zu  haben.  Ich  habe  Sie  nur  noch 
zu  erinnern,  dass  zu  Alledem  ein  fleissiges  Nachdenken 
und  ein  beharrlicher  Geist  und  Wille  gehört.  Um 
diese  zu  erlangen,  ist  die  Einrichtung  einer  bestimmten 
Lebensweise  und  die  Vorsetzung  eines  festen  Zid«r 
nöthig;  doch  für  jetzt  genug  davon  u.  s.  w^*^ 


Dreiundvieraig'ster  Brief  (Vom  1.  Okt.  1666). 

Von  Spinoza  an  Herrn  J.  v.  M.*^) 

(Der  Tateinische  Text  ist  aus  dem  Holländischen  übersetzt). 

Wohlgebomer  Herr! 
W&hrend  meines  einsamen  Landlebens  hier  habe  ich 
die  mir  einst  von  Ihnen  ^stellte  Frage  überdacht  und 
sie  sehr  einfach  befunden.  Der  allgemeine  Beweis  beruht 
darauf,  dass  Derjenige  richtig  spielt,  welcher  seine  Aus- 
sicht oder  Erwartung  zu  gewmnen  und  zu  verlieren  der 
Aussicht  seines  Gegners  gleich  setzt.  Diese  Gleichheit 
liegt  in  der  Wahrscheinlichkeit  und  in  der  Geldsumme, 
welclie  die  Gegner  setzen  und  wagen ;  d.  h. :  Ist  die  Wahr- 

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146  XLm.  Brief.    Spinoza  an  J.  v.  M. 

scheinlichkeit  auf  beiden  Seiten  gleich,  so  moss  auch  Jeder 
die  gleiche  Summe  wagen  und  setzen;  ist  aber  die  Wahr- 
scheinlichkeit ungleich,  so  rouss  Der,  für  den  sie  besser 
ist,  um  so  viel  mehr  Geld  als  der  Andere  einsetzen;  dann 
ist  die  Aussicht  wieder  gleich  und  deshalb  das  Spiel  dann 
gerecht.  Wenn  also  z.  B.  A  bei  seinem  Spiel  mit  B  die 
doppelte  Aussicht  zu  eowinnen  und  nur  die  einfache  zu 
verlieren  hat  und  B  dagegen  nur  einmal  zu  gewinnen 

fegen  zweimal  zu  verlieren  die  Aussicht  hat,  so  erhellt^ 
ass  A  für  jeden  Fall  so  viel  wagen  muss,  als  B  ftlr  seinen 
einen  Fall,  d.  h.  A  muss  das  Doppelte  von  B  einsetzen. 
Um  dies  noch  deutlicher  zu  machen,  so  wollen  wir 
annehmen,  dass  A,  B  und  C  mit  gleichen  Erwartungen 
unter  einander  spielen  und  jeder  die  gleiche  Summe  setzt. 
Hier  wagt  offenbar  der  Einzelne,  weil  Jeder  die  gleiche 
Summe  setzt  nur  ein  Drittel  gegen  den  Gewinn  von  zwei 
Drittel  und  ebenso  hat  Jeder,  weil  er  gegen  Zwei  spielt, 
nur  eine  Erwartung,  zu  gewinnen,  gegen  zwei,  zu  ver- 
lieren. Nehmen  wir  an,  dass  der  Eine,  z.  B.  C,  vor  An- 
fang des  Spiels  vom  Spiel  zurücktreten  will,  so  ist  klar, 
dass  er  nur  seine  Einlage, d.h.  den  dritten  Theil  zurück- 
fordern kann  und  will  B  die  Aussicht  von  C  kaufen  und 
in  dessen  Stelle  eintreten,  so  muss  er  ebenso  viel  ein- 
setzen, als  Jener  zurückgezogen  hat.  Dann  kann  sich  A 
nicht  entgegenstellen,  denn  für  ihn  ist  es  gleich,  ob  er 
mit  seiner  einen  Aussicht  gegen  zwei  Aussichten  von 
verschiedenen  Spielern  oder  von  nur  einem  Spieler  das 
Spiel  eingeht.  Wenn  sich  dies  so  verhält,  so  folgt,  dass, 
wenn  Jemand  in  seiner  Hand  von  zwei  Nummern  eine 
hält,  die  ein  anderer  rathen  soll,  dieser,  wenn  er  sie 
trifft,  die  bestimmte  Summe  erhalten  muss  und  dass,  wenn 
er  falsch  räth,  er  eine  gleiche  Summe  verliert,  weil,  wie 
gesagt,  die  Aussicht  auf  Gewinn  auf  beiden  Seiten  gleich 
ist,  sowohl  bei  Dem,  der  die  Hand  hinhält,  wie  bei  Dem, 
welcher  räth.  Streckt  er  dagegen  die  Hand  aus,  so  dass 
der  Andere  von  drei  Zahlen  eine  rathen  soll  und,  wenn 
er  sie  räth,  er  eine  Summe  erhalten,  wenn  er  aber  sie 
nicht  räth,  die  halbe  Summe  bezahlen  soll,  so  ist  auch 
da  die  Wahrschein lickeit  und  Gewinnaussicht  auf  beiden 
Seiten  gleich.  Ebenso  bleibt  sie  gleich,  wenn  Der,  welcher 
die  Hand  ausstreckt,  dem  Andern  zweimal  zu  rathen  ge- 
stattet  und,  wenn  er  sie  räth,  eine  Summe  Geldes  erhalten, 

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Die  Wahrscheinlichkeit  im  Spiel.  147 

wenn  er  sie  aber  verfehlt,  das  Doppelte  zahlen  soll.  Auch 
bleibt  die  Wahrscheinlichkeit  una£rwartnng gleich,  wenn 
er  ihn  bei  vier  Nummern  dreimal  rathen  lässt  und  die 
Summe  des  Gewinnes  und  Verlustes  dabei  gleich  ist,  oder 
wenn  er  viermal  bei  ftinf  Nummern  rathen  lässt  und  der 
Gewinn  einfach  oder  der  Verlust  vierfach  bezahlt  wird 
u.  8.  w.  Hieraus  folgt,  dass  es  für  Den,  der  die  Hand 
hinhält,  gleich  ist,  ob  der  Andere  so  oft  rathe,  als  er  will, 
um  eine  von  vielen  Nummern  zu  treffen,  wenn  er  nur  ftir 
so  vielmal,  als  er  rathen  darf,  auch  ebenso  vielmal  setzt 
und  wagt,  als  die  Zahl  des  Rathens  durch  die  Zahl  der 
Nummern  dividirt  ausmacht.  Sind  es  z.  B.  5  Nummern 
und  darf  nur  einmal  gerathen  werden,  so  hat  der  Eine  V« 
der  andere  Vs  zu  setzen;  darf  zweimal  gerathen  werden, 
so  ist  das  Verhältniss  der  Einsätze  '/s  zu  '/&;  darf  drei 
mal  gerathen  werden,  Vs  zu  V»  und  so  fort  */»  gegen  V, 
und  Vs  gegen  7a*  Deshalb  ist  es  fUr  Den,  welcher  den 
Andern  rathen  lässt,  gleich,  wenn  er  z.  B.  nur  V«  setzt, 
um  V«  zu  gewinnen,  ob  Einer  allein  fünfmal  räth,  oder 
ob  fünf  Menschen  jeder  einmal  rathen,  wie  Ihre  Frage 
lautete.  *^ 

Am  1.  October  1666. 


Vierundvierzigster  Brief  (Vom  3.  März  1667). 
Von  Spinoza  an  Harm  J.  J.  ^^) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  üebersetzung  des  hollän- 
dischen Originals.) 

Lieber  Herr! 
Mancherlei  hat  mich  an  der  früheren  Beantwortung 
Ihres  Briefes  gehindert.  Ich  habe  das  gesehen  und  ge- 
lesen, was  Sie  über  die  Dioptrik  von  Descartes  bemerkt 
haben.  Er  nimmt  keine  andere  Ursache  für  die  Bildung 
grösserer  und  kleinerer  Bilder  im  Grunde  des  Aug^s  an, 
als  die  Kreuzung  der  Strahlen,  welche  von  den  ver- 
schiedenen Stellen  desGegenstandes  kommen ;  j  e  nachdem 
sie  nämlich  sich  näher  oder  entfernter  vom  Auge  zu 
kreuzen  anfangen;*^)  er  beachtet  daher  die  Grösse  des 

Spinoia,  Brief«.  ^^  t 

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148 


XUV.  Brief.    Spinoza  an  J.  J. 


Winkels  nicht,  welchen  diese  Strahlen  bilden,  wenn  sie 
sich  an  der  Oberflfiche  des  Auges  kreuzen.  Obgleich  nun 
diese  letztere  Ursache  die  hauptsächlichste  ist,  wie  bei 
den  Femröhren  zu  bemerken  ist,  so  scheint  Descartes 
doch  diese  mit  Stillschweigen  haben  übergehen  zu  wollen. 
Er  hatte  nämlich,  nach  meiner  Ansicht,  nocht  nicht  das 
Mittel  erkannt,  Strahlen,  die  parallel  von  verschiedenen 
Punkten  ausgehen,  in  ebenso  viele  andere  Punkte  wieder 
zu  sammeln  '^)  und  deshalb  konnte  er  jene  \^nkel  nicht 
mathematisch  bestimmen;  vielleicht  hat  er  es  auch  nicht 
erwähnt,  um  nicht  dem  Kreis  vor  den  andern  von  ihm 
eingeführten  Figuren  den  Vorzug  einzuräumen,  da  un- 
zweifelhaft der  Kreis  hier  alle  anderen  Ilguren,  die  man 
aufstellen  könnte,  übertrifft.  Der  Kreis  ist  überall  der- 
selbe und  hat  deshalb  überall  dieselben  Eigenschaften. 
Hat  z.  B.  der  Kreis  A  B  C  D  die  Eigenschaften,  alle  der 
Axe  AB  parallelen  und  von  A  kommenden  Strahlen  an 
seiner  Oberfläche  so  zubrechen,  dasssiesämmtlich  indem 
Punkt  B  sich  vereinigen,  so  werden  auch  alle  der  Axe  CD 


No.  8. 

parallelen  und  von  C  kommenden  Strahlen  an  dessen 
Oberfläche  so  sich  brechen,  dass  sie  sich  in  dem  Punkt  D 
vereinigen.  Dies  findet  bei  keiner  anderen  Figur  Statt, 
da  die  Hyperbel  und  die  Ellipse  unendlich  viele  ver- 
schiedene Durchmesser  haben.     Die  Sache  verhält  sich 


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Ueber  optische  Gl&ser.  X49 

also  so,  wie  Sie  schreiben.  Hätte  man  nur  die  Länge 
des  Anees  oder  des  Femrohres  zu  beachten,  so  wäre  man 
genöthigt,  die  Fernrohre  so  lang  als  möglich  zu  machen, 
wenn  man  die  Dinge  im  Monde  so  genau  wie  die  auf 
der  Erde  sehen  wollte.  Allein  die  Hauptsache  liegt,  wie 
erwähnt,  in  der  Grösse  des  Winkels,  welchen  die  von  ver- 
schiedenenPunkten  desGegenstandes  ausgehenden  Strah- 
len bei  ihrer  Kreuzung  an  der  Oberfläche  des  Auges 
machen  und  dieser  Winkel  wird  grösser  oder  kleiner,  je 
nachdem  die  Brennpunkte  der  in  dem  Femrohre  befind- 
lichen Gläser  mehr  oder  weniger  verschieden  sind.''^) 
Wenn  Sie  der  Beweis  hierfür  interessirt,  so  kann  ich 
Ihnen  denselben  jederzeit»  wenn  Sie  belieben,  über- 
senden. 

Voorburg,  den  3.  März  1667. 


Fünfundvierzigster   Brief    (Vom  25.  März  1667). 
Von  Spinoza  an  den  Herrn  J.  J. 

(Das  Origmal  ist  in  holländischer  Sprache  abgefasst.) 

Ihren  letzten  Brief  vom  14.  dieses  Monats  habe  ich 
richtig  erhalten ;  ich  konnte  ihn  indess  wegen  mehrerer 
Abhaltungen  nicht  früher  beantworten.  Ich  habe  mit 
Herrn  Vossius'^^)  die  Angelegenheit  von  Helvetius'^*) 
besprochen;  er  lachte  sehr  (um  nicht  Alles,  was  wir  ge- 
sprochen, in  diesem  Briefe  zu  erzählen)  und  wunderte 
sich,  dass  ich  über  solche  Possen  ihn  befrage.  Nichts 
desto  weniger  ging  ich  zu  dem  Goldschmied,  mit  Namen 
Brechtelt,  welcher  das  Gold  probirt  hatte.  Dieser  sprach 
^anz  anders  als  Herr  Vossius  und  behauptete,  das  Gold 
habe  bei  dem  Schmelzen  und  Absondern  an  Gewicht  an- 
genommen und  sei  so  viel  schwerer  geworden,  als  er  an 
Silber  der  Trennung  wegen  in  den  Schmelztiegel  gethan 
hätte.  Er  war  daher  überzeugt,  dass  das  Gold,  was 
sein  Silber  in  Gold  verwandelt  habe,  etwas  Besonderes  in 
sich  enthalte;  auch  nicht  er  allein,  sondern  mehrere  andere 
Herren,  die  damals  gegenwärtig  waren,  haben  dieselbe 
Wahrnehmung  gemacht.  Ich  ging  hierauf  zu  Hei  vetins 
selbst;  dieser  zeigte  mir  das  (>old  und  den  Tiegel,  dessen 

11* 

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150  XLV.  Brief.    Von  Spinoza  an  J.  J. 

Inneres  noch  mit  Gold  überzogen  war.  Er  sagte,  dass  er 
kaum  den  vierten  Theil  eines  Gerstenkornes  oder  Senf- 
kornes in  das  geschmolssene  Blei  gelegt  habe,  nnd  dass 
er  den  ganzen  Vorgang  bald  veröffentlichen  werde,  aneh 
dass  ein  Mann  in  Amsterdam  (den  er  f^  denselben  hielt, 
der  bei  ihm  gewesen  sei)  dieselbe  Operation  gemacht  habe^ 
wovon  Sie  jedenfalls  gehört  haben  werden.  So  viel  habe 
ich  hierüber  in  Erfahrung  bringen  können.***) 

Der  Verfasser  des  von  Ihnen  erwähnten  Schrificbens 
(in  welchem  er  sich  rühmt,  die  Gründe  von  Descartes, 
womit  er  in  der  dritten  und  vierten  Meditation  das  Dasein 
Gottes  beweist,  widerlegt  zu  haben)  wird  wahrscheinlich 
mit  seinem  eigenen  Schatten  fechten  und  sich  selbst  mehr 
schaden  als  Anderen.    Ich  gebe  zu,  dass  der  Satz  von 
Descartes  einigermassen  dunkel  ist,  wie  auch  Sie  be- 
merkt haben ;  deutlicher  und  wahrer  hätte  er  vielleicht 
ihn  so  gefasst,  ^dass  die  Kraft  des  Denkens  zum  Denken 
^nicht  grösser  ist  als  die  Kraft  der  Natur  zum  Sein  nnd 
„Wirken.^  "*)     Es  ist  dies  ein  klarer  und  wahrer  Satz, 
aus  dem  sich  das  Dasein  Gottes  auf  das  Klarste  und 
Wirksamste  aus  der  Vorstellung  desselben  ergiebt.  Der 
Grund  des  erwähnten  Schriftstellers,  den  Sie  erwähnen, 
zeigt  deutlich,  dass  er  die  Sache  noch  nicht  versteht. 
Freilich  kann  man  damit,  wenn  die  Frage  z.  B.  in  all 
ihre  Theile  aufgelöst  wird,   ohne  Ende  fortgehen;    im 
Uebrigen  ist  sie  aber  sehr  thöricht.  Wenn  z.  B.  Jemand 
fragt,  durch  welche  Ursache  ein  so  bestimmter  Körper 
sich  bewege?  so  kann  man  antworten,  er  sei  dazu  von 
einem  andern  Körper  und  dieser  wieder  von  einem  andern 
und  so  fort  ohne  Ende  bestimmt  werden;  so  kann  man, 
sage  ich,  antworten,  weil  es  sich  nur  um  die  Bewegung 
handelt  und  man,  wenn  man  stets  einen  neuen  Körper 
hinzunimmt,  eine  hinreichende  und  ewig  aushaltende  Ur- 
sache für  diese  Bewegung  angiebt  Wenn  ich  dagegen 
ein  Buch  voll  erhabener  Betrachtungen  und  zierliä  ge- 
schrieben in  der  Hand  eines  Unwissenden  erblicke  nnd 
ihn  frage,  woher  er  das  Buch  habe  und  er  mir  sagt,  er 
habe  es  von  dem  Buche  eines  andern  Unwissenden,  der 
auch  zierlich  schreiben  gekonnt,  abgeschrieben  und  wenn 
er  dies  ohne  Ende  fortsetzt,  so  genügt  mir  dies  nicht, 
denn  ich  frage  nicht  blos  nach  der  Gestalt  und  Ordnung 
der  Buchstaben,  worauf  er  allein  antwortet,  sondern  auch 

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Descartes^  Beweis  des  Daseins  Gottes.  Strahlenbrechung.  151 

nach  den  Gedanken  und  dem  Inhalt,  welcher  deren 
Zusammenstellung  enth&lt  und  hierauf  antwortet  er 
mit  solcher  Antwort  nicht,  selbst  wenn  sie  ohne  Ende 
fortgeht.  Wie  sich  dies  auf  die  Vorstellungen  an- 
wenden lässt,  kann  leicht  aus  dem  9.  Axiom  der  von 
mir  geometrisch  begründeten  Prinzipien  des  Descartes 
entnommen  werden/^i^) 

Ich  gehe  zur  Beantwortung  Ihres  zweiten  Briefes  vom 
9.  M&rz  über,  worin  Sie  eine  weitere  Erläuterung  über 
die  in  meinem  vorgehenden  Briefe  erwähnte  kreisrunde 
Gestalt  verlangen.  Sie  werden  dies  leicht  verstehen, 
wenn  Sie  nur  gefälligst  beachten,  dass  sämmtliche 
Strahlen,  welche  als  parallel  auf  das  vordere  Glas  des 
Femrohres  einfallend  angenommen  werden,  es  in  Wahr- 
heit nicht  sind  (weil  sie  nämlich  sämmtlich  von  einem 
Punkte  kommen).  Man  stellt  sie  sich  nur  so  vor,  weil 
der  Gegenstand  so  weit  absteht,  dass  die  Oeffnung  des 
Femrohrs  in  Verhältniss  zu  dieser  Entfernung  als  ein 
Punkt  betrachtet  werden  kann.  Femer  ist  es  richtig, 
dass  man,  um  den  ganzen  Gegenstand  zu  sehen,  nicht 
blos  der  Strahlen  aus  einem  Punkte  allein  bedarf, 
sondem  auch  der  Strahlenkegel  aus  allen  anderen 
Punkten  des  Gegenstandes  und  dass  sie  deshalb  in 
ebenso  viele  andere  Brennpunkte  nach  Durchgang  durch 
das  Glas  sich  vereinigen  müssen.  Auch  ist  das  Auge 
nicht  so  genau  eingerichtet,  dass  alle  Strahlen,  die  aus 
verschiedenen  Punkten  des  Gegenstandes  kommen, 
ganz  genau  in  ebenso  vielen  Punkten  im  Grunde  des 
Auges  sich  wieder  vereinigen;  allein  sicherlich  sind  die 
Gestalten,  welche  dies  leisten  können,  allen  anderen 
vorzuziehen.  Wenn  also  ein  bestimmter  Kreisabschnitt 
bewirken  kann,  dass  alle  von  einem  Punkte  ausgehenden 
Strahlen  in  einem  anderen  Punkte  seines  Durchmessers 
(mechanisch  ausgedrückt)  zusammentreffen,  so  wird 
dies  auch  bei  allen  Strahlen,  die  von  anderen  Punkten 
ausgehen,  in  eben  solchen  anderen  Punkten  geschehen. 
Denn  man  kann  von  jedem  Punkte  eines  Gegenstandes 
eine  Linie  ziehen,  welche  durch  den  Mittemunkt  des 
Ejreises  geht,  wenn  auch  deshalb  die  Oeffnung  des 
Femrohrs  viel  kleiner  gemacht  werden  muss,  als  es 
sonst  zu  geschehen  hätte,  wo  man  nur  eines  einzigen 
Brennpunktes  bedurfte,  wie  Sie  leicht  einsehen  werden. 

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152 


XLV.  Brief.    Spinoza  an  J.  J. 


-^ 


■/>.. 


Was  ich  hier  von  dem 
Kreise  sage,  gilt  nicht  von  der 
Ellipse,  nicht  von  der  Hyperbel 
und  noch  weniger  von  anderen 
verwickeiteren  Gestalten,  weil 
man  da  nur  eine  einzige  Linie 
aus  einem  einzigen  Punkte  des 
Gegenstandes  ziehen  kann^ 
welche  durch  den  Brennpunkt 
auf  beiden  Seiten  geht.  Dies 
wollte  ich  in  meinem  früheren 
Briefe  hier  gesagt  haben. 

Der  Winkel,  welchen  die 
aus  verschiedenen  Punkten  aus- 
gehenden Strahlen  auf  der  Ober- 
fläche des  Auges  machen,  wird 
grösser  und  kleiner,  je  nachdem 
die  Brennpunkte  mehr  oder 
weniger  abstehen;  den  Beweis 
dafür  können  Sie  aus  neben- 
stehender Figur  entnehmen.2'^) 
So  bleibt  mir  nach  meinem 
pflichtschuldigen  Gruss  nurtibrig> 
zu  sagen,   dass  ich  bin  u.  s.  w. 


No.  9. 
Voorburg,  den  25.  März  1667. 


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üeber  den  Druck  des  Wassers.  153 

Sechsundvierzigster  Brief  (Vom  5.  Sept.  1669). 
Von  Spinoza  an  Herrn  J.  J. 

(Das  Original  ist  in  holländischer  Sprache  geschrieben.) 

Liebster  Herr! 

Das,  was  ich  durch  Versuche  über  den  Punkt,  den 
Sie  erst  mündlich  und  dann  in  Ihrem  Briefe  erwähnten, 
ermittelt,  weil  ich  Ihnen  zunächst  mittheilen  und  dann 
meine  jetzige  Meinung  folgen  lassen. 

Ich  liess  mir  ein  hölzernes  Rohr  machen  von  10 
Fnss  Län^e  und  1'/«  Zoll  innerer  Breite.  Daran  be- 
festigte ich  senkrecht  drei  Rohre,  wie  die  beistehende 
Jlgur  zeigt.  Um  zuerst  zu  ermitteln,  ob  der  Druck 
des  Wassers  bei  dem  Rohr  B  ebenso  gross  als  bei  E 
sei,  habe  ich  das  Rohr  M  bei  A  durch  ein  zu  dem 
Ende  bereitetes  Stäbchen  verstopft.  Dann  verengte 
ich  die  Oeffhung  von  B.  so,  dass  sie  eine  Glasröhre, 
wie  C  festhielt.    Nachdem  ich  nun  das  Rohr  mit  Hülfe 


a 


No.  10. 

des  Gefösses  F  mit  Wasser  gefüllt  hatte,  notirte  ich 
mir,  bis  zu  welcher  Höhe  es  durch  das  Röhrchen  C 
heraussprang.  Dann  schloss  ich  das  Rohr  B,  nahm 
den  Propfen  A  weg  und  liess  das  Wasser  in  die  Röhre 
£  fliessen,  welche  ich  ebenso  wie  B  eingerichtet  hatte. 


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154 


XLVI.  Brief.    Von  Spinoza  an  J.  J. 


Nachdem  ich  nun  die  Röhre  wieder  vollgefüllt  hatte, 
fand  ich,  dass  das  Wasser  bei  D  ebenso  hoch  in  die 
Höhe  sprang  als  bei  C  und  dies  überzeugte  mich,  dass 
die  L&nge  des  Rohres  hierbei  kein  Hinderniss  oder  nur 
ein  sehr  geringes  ist.  Um  indess  dies  noch  genauer 
festzustellen,  versuchte  ich,  ob  die  Röhre  £  in  gleich 
schneller  Zeit  wie  B  ein  Gefkss  von  einem  Kubikfuss  In- 
halt anfüllen  könne.  Da  ich  keine  Pendeluhr  zur  Hand 
hatte,  benutzte  ich  zur  Messung  der  Zeit  eine  krumm  ge- 
bogene Glasröhre,  wie  H,  deren  kürzerer  TheU  in  das 
Wasser  getaucht  wurde  und  deren  längerer  Theil  frei  in 
der  Luft  schwebte.  Dann  ermittelte  ich  mittelst  einer  ge- 
nauen Wage,  wie  viel  Wasser  in- 
mittelst in  die  Schale  L  gelaufen  war 
und  fand,  dass  es  4  Unzen  waren. 
Dann  schloss  ich  die  Röhre  B  und 
liess  das  Wasser  mit  einem  gleichen 
Strahle  durch  die  Röhre  E  in  das 
Gefllss  von  einem  Kubikfuss  ein- 
laufen. Nachdem  dies  geschehen, 
wog  ich,  wie  vorher,  das  Wasser, 
was  inmittelst  in  die  Schale  gelaufen 
war,  und  fand,  dass  es  das  Gewicht 
von  jenem  nicht  um  eine  halbe  Unze 
überstieg.  Indess  waren  die  Wasser- 
strahlen aus  B  und  aus  E  nicht  stets 
mit  gleicher  Kraft  ausgeflossen  und 
deshalb  wiederholte  ich  den  Versuch 
l^und  holte  so  viel  Wasser  herbei,  wie 
'der  erste  Versuch  als  erforderlich 

gezeigt  hatte.  Wir  waren  unser  Drei 
amit  soweit  als  möglich  beschäftigt 
und  führten  den  Versuch  genauer  als 
vorher  aus,  obgleich  nicht  so  genau, 
als  ich  gewünscht  hätte.  Indess  er- 
hielt ich  damit  genügenden  Anhalt 
für  die  Auffassung  der  Frage,  da  der 
Unterschied  diesmal  zienuich  der- 
selbe wie  das  erste  Mal  war.  Nachdem  ich  die  Sache  nach 
diesen  Versuchen  erwogen,  muss  ich  annehmen,  dass  der 
von  der  Länge  des  Rohres  verursachte  Unterschied  nur 
im  Anfange  Statt  hat,  d.  h.  dann,  wenn  das  Wasser  eine 


No.  11. 


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Ueber  den  Wasserdruck.  155 

Bewe^ang  beginnt;  sowie  es  aber  eine  kurze  Zeit  ge- 
flossen ist,  wird  es  durch  eine  noch  so  lange  Röhre 
mit  derselben  Kraft  wie  durch  eine  kurze  iliessen.  Der 
Grund  dafür  ist,  dass  der  Druck  des  höhern  Wassers 
immer  derselbe  bleibt,  weil  es  alle  Bewegung,  die  es 
mittheilt,  stets  von  seiner  Schwere  empfängt;  es  theilt 
daher  diese  Bewegung  ohne  Unterlass  dem  Wasser  in 
der  Röhre  mit,  bis  es  durch  denStoss  diejenige  Schnellig- 
keit erlangt  hat,  welche  die  Schwerkraft  des  höhern 
TVassers  ihr  mittheilen  kann.  Es  ist  wenigstens  sicher, 
dass,  wenn  das  in  dem  Rohr  G  enthaltene  Wasser  im 
ersten  Augenblick  dem  Wasser  im  Rohre  M  einen  Grad 
Schnelligkeit  mittheilt,  so  wird  es  im  zweiten  Zeitpunkt, 
wenn  es  die  gleiche  Kraft  behält,  wie  angenommen  ist, 
demselben  Wasser  vier  Grade^^^  Schnelligkeit  mit- 
theilen und  so  fort,  bis  das  Wasser  in  dem  längeren 
Rohre  M  genau  so  viel  Kraft  empfangen  hat,  als  die 
Schwerkraft  des  in  dem  Rohre  G  eingeschlossenen  hohem 
Wassers  ihm  mitzutheilen  vermag.  Wenn  daher  auch 
das  Wasser  durch  eine  Röhre  von  40,000  Fuss  laufen 
müsste,  so  würde  es  doch  nach  Ablauf  einer  kurzen  Zeit 
lediglich  durch  den  Druck  des  höhern  Wassers  die 
Schnelligkeit  erhalten,  die  es  erhält,  wenn  die  Röhre  M 
nur  einen  Fuss  lang  ist.  Ich  hätte  die  Zeit,  welche  das 
Wasser  zur  Erlangung  einer  solchen  Schnelligkeit  bedarf, 
bestimmen  können,  wenn  ich  voUkommnere  Werkzeuge 
hätte  erlangen  können.  Doch  halte  ich  dies  fUr  weniger 
noth wendig,  als  dass  die  Hauptsache  entschieden  ist, 
ö.  s.  w.'**) 

Voorburg,  den  5.  September  1669. 


Siebenundvierzigster  Brief 
(Vom  17.  Febr.  1671). 

Von  Spinoza  an  Herrn  J.  J. 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  üebersetzang  aas  dem  hoUän- 
dischen  Original.) 

Verehrter  Herr! 
Als  mich  neulich  der  Professor  N.  N.  besuchte,  er- 
zählte er  mir  unter  Anderem,  er  habe  gehört,  meine 

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156  XL\'II.  Brief.    Von  Spinoza  an  J.  J. 

theolofi^isch-politische  Abhandlung  sei  in  das 
HoUftndische  übersetzt  und  Jemand,  dessen  Namen  er 
nicht  wnsste,  sei  dabei,  sie  drucken  zu  lassen.  Ich 
ersuche  Sie  deshalb  dringend,  sich  hierüber  nfiher  zu 
erkundigen  und  womöglich  den  Druck  zu  verhindern. 
Es  ist  dies  nicht  blos  meine  Bitte,  sondern  die  vieler 
meiner  Freunde  und  Bekannten,  welche  es  nicht  gern 
sehen  möchten,  dass  dieses  Buch  verboten  würde,  was 
unzweifelhaft  geschfthe,  wenn  es  in  hollfindischer 
Sprache  veröffentlicht  würde.  Ich  hoffe,  Sie  werden 
mir  und  der  Sache  diesen  Dienst  erweisen. 

Einer  meiner  Freunde  schickte  mir  vor  einiger 
Zeit  ein  kleines  Buch,  ^Der  politische  Mensch^  be> 
titelt,  von  dem  ich  viel  gehört  hatte.  Ich  habe  es  durch- 
gesehen und  gefunden,  dass  es  das  verderblichste  Buch 
ist,  was  man  sich  denken  und  vorstellen  kann.  Das 
höchste  Gut  ist  darin  dem  Verfasser  die  Ehre  und  der 
Reichthum;  danach  modelt  er  seine  Lehre  und  zeigt 
die  Weise,  um  dahin  zu  gelangen.  Mann  soll  deshalb 
innerlich  alle  Religion  beseitigen  und  äusserlich  zu 
einer  solchen  sich  bekennen,  die  dem  eigenen  Fort- 
kommen am  dienlichsten  ist;  man  soll  Niemand  sein 
Wort  halten,  ausser  nur  soweit  es  nützlich  ist  Im 
Uebrigen  überhftuft  er  die  Verstellung,  die  Wort- 
brüchigkeit, die  Lüge,  den  Meineid  und  vieles  Andere 
mit  Lobeserhebungen.*'®)  Nachdem  ich  es  gelesen,  kam 
mir  der  Gedanke,  eine  Schrift  gegen  diesen  Verfasser 
zu  veröffentlichen,  worin  ich  das  höchste  Gut  darleete, 
die  sorgenvolle  und  elende  Rolle  Derer,  die  nach  EÜire 
und  Reichthum  streben,  aufdeckte  und  endlich  durch 
die  überzeugendsten  Gründe  und  viele  Beispiele  be- 
wiese, dass  die  Staaten  durch  diesen  unersättlichen 
Durst  nach  Ehre  und  Reichthum  untergehen  müssen 
und  untergegangen  sind. 

Um  wie  viel  besser  und  vortrefflicher  die  Gedanken 
des  Thaies  von  Milet  gegen  diesen  Schriftsteller  ge- 
wesen, erhellt  auch  aus  der  Beweisführung,  wo  Thides 
sagt:  „Alles  ist  unter  Freunden  gemeinsam;  die  Weisen 
„sind  die  Freunde  der  Götter;  den  Göttern  gehört  Alles; 
„ebenso  gehört  den  Weisen  Alles^.  So  machte  sich  jener 
weise  Mann  zu  dem  reichsten,  indem  er  den  Reichthum 
in  edler  Weise  verachtete,  statt  ihn  in  schmutziger  Weise 

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Die  politische  Abhandlung.  Eine  Gegenschrift.     157 

zu  Buchen.  Bei  einer  anderen  Gelegenheit  zeiete  er, 
dass  die  Weisen  nicht  gezwungen,  sondern  freiwilug  des 
Reichthums  entbehren.  Als  ihm  nämlich  seine  Freunde 
seine  Armuth  vorhielten,  antwortete  er:  Wollt  Ihr,  dass 
ich  Euch  zeige,  wie  ich  das  erwerben  kann,  was  ich  der 
Arbeit  nicht  werth  halte,  Ihr  aber  mit  so  viel  Anstrengung 
sucht?  Als  Jene  zunickten,  miethete  er  alle  Pressen  in 
ganz  Griechenland,  indem  er,  als  ein  vorzüglicher  Stern- 
kundiger, eine  Reihe  guter  Olivenemten  nach  mehreren 
vorangegangenen  Missemten  vorausgesehen  hatte  und 
vermiethete  sie,  die  er  sehr  billig  gemiethet  hatte,  dann 
zu  den  höchsten  Preisen.  So  erwarb  er  sich  in  einem 
Jahr  grosse  Reichthümer,  die  er  demnächst  ebenso 
freigebig  wieder  austheilte,  wie  er  sie  durch  Geschick- 
lichleit  erworben  hatte.  **•)  u.  s.  w. 
Im  Haag  den  17.  Februar  1671. 


Achtundvierzigster  Brief 
(Vom  24.  Januar  alten  Stils  1671). 

Von   L  V.  V.  Med.  Dr.  in  Utrecht  an  J.  0."*) 

Gelehrter  Herr! 

Nachdem  mir  endlich  einige  Müsse  geworden,  habe 
ich  mich  gleich  daran  gemacht,  um  Ihren  Wunsch  und 
Anliegen  zu  erfüllen.  Sie  verlangen,  ich  soll  Ihnen 
meine  Ansicht  und  mein  Urtheil  mit  Gründen  tlber 
das  Buch  mittheilen,  das  den  Titel:  Theologisch- 
politische  Abhandlung  führt.  Dies  soll  geschehen, 
soweit  meine  Zeit  und  Kräfte  reichen.  Ich  gehe  nicht 
auf  das  Einzelne  ein,  sondern  fasse  die  Meinungen 
des  Verfassers  zusammen  und  setze  Ihnen  seine  An- 
sicht über  die  Religion  auseinander. 

Ich  weiss  nicht,  welcher  Nation  der  Verfasser  ange* 
hört  und  wess  Standes  er  ist;  auch  interessirt  mich  dies 
nicht.  Er  ist  nicht  von  schwachem  Verstände  und  hat 
die  religiösen  Streitfragen,  welche  in  Europa  zwischen 
den  Christen  bestehen,  nicht  oberflächlich  und  leichthin 
behandelt;  dies  erhellt  genügend  aus  dem  Inhalte  des 
Buches.  Der  Verfasser  meint,  es  werde  ihm  die  Prüfung 

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158  XLVin.  Brief.    Von  L.  v.  V.  an  J.  0. 

der  Meinungen  besser  gelingen,  wodurch  die  Menschen 
in  Faktionen  sich  spalten  und  in  Parteien  sich  trennen, 
wenn  er  allevorgefasste  Meinungen  ablege  und  ausziehe. 
Deshalb  hat  er  mehr  als  nöthig  sich  bemüht,  den  Geist 
von  allem  Aberglauben  zu  befreien  und  zu  dem  Ende  ist 
er  zu  sehrindasGegentheilgerathen  und  hat  alle  Religion 
abgethan,  um  dem  Vorwurfe  des  Aberglaubens  zu  ent- 
gehen. Wenigstens  erhebt  er  sich  nicht  Über  die  Religion 
der  Deisten,'**)  deren  es  überall  eine  grosse  Menge  giebt 
(da  die  Sitten  dieses  Jahrhunderts  grundschlecht  sind), 
namentlich  in  Frankreich.  Mersenne  hat  eine  Abhand- 
lung dagegen  geschrieben,  die  ich  früher  gelesen  habe. 
Aber  kaum  wird  Einer  aus  der  Zahl  der  Deisten  so  bös- 
willig und  so  klug  und  gewandt  für  diese  schlechte  Sache 
gesprochen  haben  als  der  Verfasser  dieser  Abhandlung. 
Uebrigens  hält  sich,  wenn  ich  recht  vermuthe,  dieser 
Mensch  nicht  in  den  Schranken  der  Deisten  und  Iftsst  den 
Menschen  nicht  einmal  so  viel  Gottesverehrung  wie  Jene. 
Gott  erkennt  er  an;  er  sieht  in  ihm  den  Werkmeister 
und  Erbauer  der  Welt;  dagegen  erkl&rt  er  die  Gestalt, 
die  Beschaffenheit,  die  Ordnung  der  Welt  für  durchaus 
nothwendig,  ebenso  die  Natur  Gottes  und  die  ewigen 
Wahrheiten,  welche  von  dem  Willen  Gottes  unabhftngig 
seien.  Deshalb  erklärt  er  auch  ausdrücklich,  dass  Alles 
nach  einer  unabwendbaren  Noth wendigkeit  und  einem 
unvermeidlichen  Schicksal  geschehe.  Für  den,  der  die 
Sache  recht  auffasst,  bleibt  nach  ihm  kein  Raum  für 
Lehren  und  Gebote;  nur  die  Unwissenheit  der  Menschen 
habe  diese  Namen  eingeführt;  ebenso  habe  die  Thorheit 
der  Menge  die  Ausdrucks  weise  gebildet,  wonach  man  Gott 
Leidenschaften  zuschreibe.  Gott  bequeme  sich  daher 
ebenfalls  der  Fassungskraft  der  Menschen  an,  wenn  er 
seine  ewigen  Wahrheiten  und  Andres,  was  nothwendig  ge- 
schehen muss,  in  der  Gestalt  von  Befehlen  den  Menschen 
verkünde.  Er  lehrt,  dass  das,  was  die  Gesetze  gebieten 
'und  was  angeblich  von  dem  Willen  der  Menschen  ab- 
hängen soll,  ebenso  nothwendig  geschehe,  wie  die  Natur 
des  Dreiecks  nothwendig  sei,  und  deshalb  hänge  das  An- 
befohlene so  wenig  von  dem  Willen  der  Menschen  ab  und 
das  Befolgen  oder  Vermeiden  desselben  gewähre  den 
Menschen  ebenso  wenig  etwas  Gutes  oder  Böses,  als  Gott 
auch  durch  Gebete  nicht  bestimmt  werden  könne  und 

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Spinoza'8  Ansicht  über  Lohn  und  Strafe.         159 

seine  ewigen  und  unbedingten  Beschlüsse  nicht  ver- 
ändert werden  könnten.  Der  Grund  dieser  Anweisungen 
und  Beschlüsse  sei  also  derselbe.  Beide  stimmen  darin 
überein,  dass  die  Unwissenheit  und  Thorheit  der  Men- 
schen Gott  dazu  veranlasst  hat,  weil  jene  Anweisungen 
Denen  helfen  sollen,  welche  keine  bessere  Vorstellungen 
von  Gott  sich  bilden  können  und  die  solcher  elenden 
Schutzmittel  bedürfen,  um  die  Liebe  zur  Tugend  und  den 
Hass  des  Lasters  in  sich  zu  erwecken.  Hieraus  erhellt, 
dass  der  Verfasser  von  dem  Nutzen  des  Gebets  in  seinem 
Buche  nichts  erwähnt,  so  wenig  wie  des  Lebens  und  des 
Todes  und  der  Belohnung  oder  Strafe,  mit  welchen  alle 
Menschen  von  dem  Richter  zu  belegen  sind. 

Es  geschieht  dies  in  Uebereinstimmung  mit  seinen 
Grundsätzen,  denn  wozu  soll  ein  jüngstes  Gericht  und 
die  Erwartung  von  Lohn  oder  Strafe  nützen,  wenn  Alles 
dem  Schicksid  zugeschrieben  wird  und  von  Gott  mit  un- 
vermeidlicher Notwendigkeit  ausgeht?  oder  wenn  man 
vielmehr  sagt,  das  ganze  Weltall  sei  Gott?  Ich  fürchte, 
der  Verfasser  steht  dieser  Ansicht  nicht  sehr  fem;  wenig- 
stens ist  die  Annahme,  dass  Alles  nothwendig  aus  Gottes 
Natur  erfolge,  nicht  sehr  verschieden  von  der,  dass  die 
Welt  selbst  Gott  sei. 

Er  setzt  indess  die  grösste  Lust  des  Menschen  in  die 
Ausübung  der  Tugend,  welche  nach  ihm  ihren  Lohn  in 
sich  selbst  hat  und  der  Schauplatz  des  Erhabensten  ist, 
und  deshalb  soll  der  Mensch,  welcher  die  Dinge  richtig 
kennt,  die  Tugend  üben,  nicht  weil  Gott  es  geboten  und 
verordnet  hat,  oder  in  Hofinung  eines  Lohnes  oder  in 
Furcht  einer  Strafe,  sondern  in  Folge  der  Schönheit  der 
Tugend  und  der  Seelenlust,  welche  der  Mensch  in 
Uebung  der  Tugend  empfindet. 

Er  nimmt  also  an,  dass  Gott  durch  die  Propheten 
und  die  Offenbarung  die  Menschen  mittelst  der  Hoffnung 
auf  Lohn  und  Furcht  vor  Strafe,  was  Beides  in  den  Ge- 
setzen immer  verbunden  ist,  nur  zum  Schein  zur  Tugend 
ermahne,  weil  die  Seele  der  gewöhnlichen  Menschen 
schlecht  unterrichtet  und  deshalb  so  beschaffen  ist,  dass 
sie  nur  durch  Gründe  die  der  Natur  der  Gesetze,  der  Furcht 
vor  der  Strafe  und  der  Ho£fnang  eines  Lohnes  entlehnt 
sind,  zur  Tugend  angeregt  werden  können;  daher  sähen 
die  Menschen,  welche  die  Sache  wahrhaft  beurtheilen,  ein, 

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160  XLVm.  Brief.  Von  L.  v.  V.  an  J.  0. 

dass  dergleichen  Gründe  keine  Wahrheit  und  keine 
Kraft  enthalten. 

Auch  hält  er  es  für  nnerhehlich,  ohgleich  er  durch 
diesen  Gmndsatz  wahrhaft  geschlagen  wird,  dass  die 
heiligen  Propheten  und  Lehrer,  folglich  Gott  selbst,  da 
er  durch  ihren  Mund  gesprochen  hat,  dann  an  sich  falsche 
Gründe,  wenn  man  auf  deren  Natur  sieht,  benutzt  haben ; 
vielmehr  gesteht  und  behauptet  der  Verfasser  offen  und 
wie  es  ihm  passt,  dass  die  heilige  Schrift  nicht  verfasst 
sei,  um  die  Wahrheit  und  die  Beschaffenheit  der  Dinge, 
deren  sie  erwähnt  und  die  sie  in  ihrer  Weise  benutzt, 
um  die  Menschen  zur  Tugend  anzuhalten,  zu  lehren;  auch 
bestreitet  er,  dass  die  Propheten  die  Dinge  so  gekannt 
haben,  um  frei  von  den  Irrthümem  der  Menge  die  Gründe 
aufzustellen  und  die  Rechtfertigung  zu  überlegen,  womit 
sie  die  Menschen  zur  Tugend  antreiben  wollten,  obgleich 
ihnen  die  Natur  der  moralischen  Tugenden  nna  der 
Laster  genau  bekannt  gewesen. 

Deshalb  lehrt  auch  der  Verfasser,  dass  die  Propheten 
selbst  dann,  wenn  sie  Die,  zu  denen  sie  gesandt  worden, 
pflichtgemäss  ermahnten,  von  Irrthümem  nicht  frei  ge- 
wesen seien,  ohne  dass  jedoch  ihre  Heiligkeit  und  Glaub- 
würdigkeit dadurch  vermindert  worden;  obgleich  sie  in 
ihrer  Rede  sich  falscher  Gründe  bedienten,  die  den  vor- 
gefassten  Meinungen  Derer,  zu  denen  sie  sprachen,  anbe- 
quemt waren  und  dadurch  die  Menschen  zu  den  Tugen- 
den ermahnten.  Über  die  Niemand  zweifelt  und  über  die 
keit  Streit  unter  den  Menschen  ist  Denn  die  Propheten 
seien  nicht  gesandt  worden,  um  die  Wahrheit  zu  lehren, 
sondern  um  die  Uebung  der  Tugend  unter  den  Menschen 
zu  fördern.  Deshalb  haben  nach  ihm  die  Irrthümer  und 
diese  Unwissenheit  der  Propheten  ,den  Zuhörern,  welche 
damit  zur  Tugend  angefeuert  wurden,  nicht  geschadet, 
denn  es  sei  gleichgültig,  aus  welchen  Gründen  man  zur 
Tugend  bestimmt  werde,  so  lange  diese  Gründe  nur  die 
moralische  Tugend,  die  sie  anfachen  sollen  und  weshalb 
der  Prophet  sie  vorbringt,  nicht  umstossen.  Die  Erkennt- 
niss  anderer  Dinge  ist  nach  ihm  für  die  Tugend  ohne 
Bedeutung,  da  die  Reinheit  der  Sitten  an  sich  in  dieser 
Wahrheit  nicht  enthalten  sei  und  nach  ihm  ist  die 
Kenntniss  der  Wahrheit  und  der  Mysterien  nur  soweit 
nothwendig,  als  sie  die  Frömmigkeit  fördert. 

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Spinoza's  Ansichten  über  die  Schrifterkläraog.      161 

Ich  glaube,  dem  Verfasser  schwebt  hier  jener  Satz 
der  Theologen  vor,  welche  einen  Unterschied  zwischen 
den  Keden  des  lehrenden  und  des  blos  einfach  erzählen- 
den Propheten  ziehen.  Diese  Unterscheidung  ist,  wenn 
ich  nicht  irre,  von  allen  Theologen  angenommen  und  da- 
mit,  scheint  der  Verfasser  irrthümlich  zu  glauben,  stimme 
seine  Ansicht  überein. 

Deshalb  meint  er,  Alle,  welche  bestreiten,  dass  die 
Vernunft  und  Philosophie  zur  Erklärung  der  Schrift  dienen 
könne,  würden  ihm  vollständig  beitreten.  Denn  Alle  diese 
erkennten  an,  dass  die  Schrift  Vieles  von  Gott  aussage, 
was  nicht  fUr  ihn  passe,  sondern  was  nur  der  mensch- 
lichen Fassungskraft  angepasst  sei,  um  die  Menschen  an- 
zuregen und  den  Eifer  für  die  Tugend  in  ihnen  zu  er- 
wecken und  deshalb  glaubt  er  annehmen  zu  dürfen,  dass 
der  heilige  Lehrer  entweder  mit  diesen  falschen  Gründen 
die  Menschen  zur  Tugend  habe  bekehren  wollen,  oder 
dass  jedem  Leser  der  heiligen  Schrift  erlaubt  sein  müsse, 
nach  den  Regeln  seiner  Vernunft  über  den  Sinn  und  die 
Absicht  des  heiligen  Lehrers  zu  urtheilen.  Diese  letztere 
Ansicht  verwirft  aber  der  Verfasser  gänzlich  und  will  von 
ihr  sowie  von  Denen  nichts  wissen,  die  mit  dem  paradoxen 
Theologen  annehmen,  die  Vernunft  sei  die  Auslegerinder 
Schrift.  Er  meint,  die  Schrift  müsse  in  ihrem  wörtlichen 
Sinne  verstanden  werden  und  es  sei  nicht  erlaubt,  nach 
eigenem  Belieben  und  nach  der  eigenen  Vernunft  auszu- 
legen, was  unter  den  Worten  der  Propheten  zu  verstehen 
sei;  und  man  dürfe  nicht  nach  seinem  Verstände  und 
nach  seiner  erlangten  Kenntniss  bestimmen,  wenn  die 
Propheten  im  eigentlichen  Sinne  und  wenn  sie  nur  im 
figürlichen  Sinne  gesprochen  hätten.  Hierüber  werde  ich 
im  Folgenden  zu    sp^t^chen   noch  Gelegenheit    haben. 

Um  aber  auf  das  zurückzukommen,  wovon  ich  etwas 
abgekommen  bin,  so  bestreitet  der  Verfasser  gemäss  seiner 
Grundsätze  über  die  unvermeidliche  Noth wendigkeit  die 
Verrichtung  von  Wundern  gegen  die  Gesetze  der  Natur, 
weil  er,  wie  gesagt,  annimmt,  dass  die  Natur  und  die 
Ordnung  der  Dinge  ein  ebenso  Nothwendiges  sei  als  die 
Natur  Gottes  und  die  ewigen  Wahrheiten ;  deshalb  kann 
nach  ihm  ein  Ding  so  wenig  von  den  Gesetzen  seiner 
Natur  abweichen,  als  es  geschehen  kann,  dass  in  einem 
Dreieck  die  drei  Winkel  nicht  zweien  rechten  gleich  seien. 

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162  XLVIIL  Brief.    Von  L.  v.  V.  an  J.  0. 

Gott  kann  nach  ihm  nicht  bewirken,  dassein  leichtes 
Gewicht  ein  schweres  hebt,  oder  dass  ein  Körper  einen 
andern  einholen  könne,  der  noch  einmal  so  scnnell  wie 
er  selbst  sich  bewegt.  Deshalb  unterliegen  nach  ihm  die 
Wunder  den  allgemeinen  Gesetzen  der  Natur,  die  ebenso 
unveränderlich  seien  wie  die  Natur  der  Dinge  selbst,  da 
letztere  in  den  Gesetzen  jener  enthalten  sei.  Auch  lILsst 
er  keine  andere  Macht  Gottes  zu  als  die  gewöhnliche,  die 
sich  in  den  Naturgesetzen  äussert  und  eine  andere  könne 
man  sich  nicht  vorstellen,  da  sie  die  Natur  der  Dinge 
zerstören  und  mit  sich  selbst  in  Widerstreit  gerathen 
würde 

Das  Wunder  ist  deshalb,  im  Sinn  des  Ver- 
fassers, ein  unerwartetes  Ereigniss,  dessen 
Ursache  die  Menge  nicht  kennt;  in  derselben 
Weise,  wie  die  Menge  es  der  Kraft  ihres  Gebetes  und 
der  besonderen  Leitung  Gottes  zuschreibt,  wenn  nach 
richtig  vollzogenen  Gebeten  ein  drohendes  Uebel  ab- 
gewendet oder  ein  gewünschtes  Gut  scheinbar  erlangt 
worden  ist,  da  Gott  doch  nach  dem  Verfasser  schon 
von  Ewigkeit  her  unbedingt  beschlossen  hat,  da.4s  das 
geschehen  soll,  was  die  Menge  durch  die  Vermittelnng 
und  Wirksamkeit  der  Gebete  bewirkt  zu  haben  meint;  die 
Gebete  sind  nach  ihm  nicht  die  Ursache  von  Gk>ttes  Be- 
schluss,  sondern  derBeschluss  ist  die  Ursache  des  Gebetes. 

Dies  Alles  über  das  Schicksal  und  die  unab wendliche 
Nothwendigkeit  der  Dinge,  sowohl  nach  ihrer  Natur  wie 
nach  den  täglichen  Ereignissen,  gründet  der  Verfasser  auf 
die  Natur  Gottes,  oder,  um  deutlicher  zu  sprechen,  auf 
die  Natur  von  Gottes  Einsicht  und  Willen,  die  zwar  dem 
Namen  nach  verschieden,  aber  bei  Gott  sachlich  dasselbe 
seien.  Er  nimmt  deshalb  an,  dass  Gott  ebenso  noth- 
wendig  diese  Welt  und  das,  was  in  ihr  geschieht,  gewollt 
habe,  als  er  nothwendig  diese  Welt  erkennt.  Kennt  aber 
Gott  nothwendig  diese  Welt  mit  ihren  Gesetzen  und  die 
in  diesen  Gesetzen  enthaltenen  ewigen  Wahrheiten,  so 
folgert  der  Verfasser,  dass  Gott  ebenso  wenig  eine  andere 
Welt  habe  erschaffen,  als  die  Natur  der  Dinge  verändern 
und  bewirken  können,  dass  zwei  mal  drei  sieben  sei. 
Wir  können  nichts  vorstellen,  was  von  dieser  Welt  und 
ihren  Gesetzen  abweicht,  nach  denen  dieDinee  entstehen 
und  vergehen ;  Alles,  was  man  sich  hier  ausdenke,  stosse 

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Die  Wunder.    Die  Quelle  des  Rechts.  163 

sich  selbst  wieder  um.  Ebenso  ist  auch  nach  ihm  die 
N^atur  des  göttlichen  Verstandes  und  der  ganzen  Welt 
mit  ihren  Gesetzen,  wonach  die  Natur  verßihrt,  so 
eingerichtet,  dass  Gott  ebenso  wenig  Etwas  von  den 
jetzigen  Dineen  Verschiedenes  einsehen  kann,  als  es 
möglich  ist,  dass  eine  Sache  von  sich  selbst  verschieden 
ist.  Er  folgert  also,  dass,  so  wie  Gott  das  nicht  be- 
iTvirken  kann,  was  sich  selbst  vernichtet,  er  auch  keine, 
von  den  jetzigen  verschiedene  Naturen  bilden  und  er- 
kennen könne,  weil  das  Begreifen  und  Einsehen  solcher 
Naturen  ebenso  unmöglich  sei,  indem  es  nach  dem  Ver- 
fasser einen  Widerspruch  enthalten  würde,  wie  es  jetzt 
unmöglich  ist,  Dinge  hervorzubringen,  die  von  den 
jetzigen  verschieden  sind.  Alle  jene  Naturen,  die  als 
verschieden  von  der  jetzigen  vorgestellt  werden,  würden 
mit  der  jetzt  vorhandenen  in  Widerstreit  stehen;  denn 
die  Naturen  der  in  dieser  Welt  enthaltenen  Dinge  sind 
(nach  dem  Verfasser)  nothwendig  und  können  diese  Noth- 
wendigkeit  nicht  von  sich  haben,  sondern  nur  von  der  Na- 
tur Gottes,  aus  der  sie  mit  Nothwendigkeit  hervorgehen. 
Denn  er  will  nicht,  wie  Descartes,  obgleich  er  sich 
den  Schein  giebt,  dessen  Lehre  angenommen  zu  haben, 
dass,  wie  die  Natur  aller  Dinge,  von  der  Natur  und 
dem  Wesen  Gottes  verschieden  ist  ebenso  auch  deren 
Vorstellungen  in  dem  göttlichen  Geiste  frei  seien. 

Mittelst  dem  hier  Besprochenen  bahnt  sich  der  Ver- 
fasser den  Weg  zu  dem,  was  er  am  Ende  des  Buches 
lehrt  und  womit  er  alles  in  den  vorgehenden  Kapiteln 
Gelehrte  noch  überbietet.  Er  will  nämlich  der  Seele 
der  Obriffkeit  und  aller  Menschen  den  Grundsatz  ein- 
prägen, dass  die  Obrigkeit  das  Recht  habe,  denjenigen 
Gottesdienst  zu  bestimmen,  welcher  in  dem  Staate 
öffentlich  gefeiert  werden  dürfe.  Auch  soll  die  Obrig- 
keit ihren  Unterthanen  gestatten  dürfen,  über  die  Religion 
zu  denken  und  zu  sprechen,  wie  es  ihnen  ihr  Verstand 
eingiebt  und  dieselbe  Freiheit  soll  auch  in  Bezug  auf 
den  äussern  Gottesdienst  den  Unterthanen  zustehen. 

In  Bezug  auf  die  Uebune  der  sittlichen  Tugenden 
oder  in  Bezug  auf  den  Schutz  der  Frömmigkeit  folgert  der 
Verfasser,  dass  es,  da  über  diese  Tugenden  kein  Streit 
sein  kann  und  die  Kenntniss  und  Geschicklichkeit  in 
andern  Dingen  keine  sittliche  Tugend  einschliesst,  Gott 
Spinoza.  Brief .  o'^M^y^OOgi€ 


164  XLVm.  Brief.     Von  L.  v.  V.  an  J.  0. 

es  nicht  unangenehm  sein  könn  e,  wenn  die  Menschen  irgend 
welchen  Gottesdienst  einrichten.  Der  Verfasser  meint 
hier  den  Gottesdienst,  welcher  nicht  die  sittliche  Tagend 
ausmacht,  sie  nicht  mittheilt  und  welcher  der  Tugend 
weder  förderlich  noch  entgegen  ist,  sondern  den  die 
Menschen  ühen  und  bekennen,  als  eine  Unterstützung  der 
wahren  Tugend;  damit  sie  auf  diese  Weise  durch  den 
Eifer  für  diese  Tugenden  Gott  wohlgefiKllig  und  angenehm 
werden  mögen,  da  Gott  durch  den  Eifer  und  die  Uebunc 
dessen,  was  s^leichgültig  ist,  nicht  verletzt  werde  und 
dieser  Gottesdienst  nichts  zur  Tugend  oder  dem  Laster 
beitrage,  aber  die  Menschen  ihn  doch  auf  die  Uebnng 
der  Frömmigkeit  beziehen  und  sich  dessen  als  eines 
Schutzes  bei  der  Pflege  der  Tugend  bedienen. 

Damit  indess  der  Verfasser  die  Gemttther  zur  An- 
nahme dieser  Sonderbarkeiten  vorbereite,  nimmt  er  zu- 
nächst an,  dass  der  ganze  Gottesdienst  von  Gott  einge- 
richtet und  den  Juden,  d.  h.  den  Bürgern  des  israeli- 
tischen Staats  mitgetheilt  worden  und  dass  er  nur  zu 
dem  Zweck  angeordnet  worden,  um  ihr  Leben  glück- 
lich in  ihrem  Staate  zu  vollbringen.  Im  Uebrigen 
sollen  die  Juden  Gott  nicht  vor  andern  Völkern  lieb 
und  angenehm  gewesen  sein;  dies  habe  Gott  den 
Juden  mehrmals  durch  den  Pi*opheten  eröfinet,  wenn 
er  ihnen  ihre  Unerfahrenheit  und  ihre  LrrthÜmer  vor- 
gehalten, weil  sie  in  diesem  eingeführten  und  von  Gott 
ihnen  anbefohlenen  Gottesdienst  die  Heiligkeit  und 
Frömmigkeit  suchten,  während  siedochnurinderUebung 
der  sittlichen  Tugenden,  d.  h.  in  der  Liebe  Gottes 
und  der  Mildthätigkeit  für  den  Nächsten  enthalten  seL 

Femer  schliesst  er,  dass,  da  Gott  die  Seelen  aller 
Völker  mit  den  Grundsätzen  und  gleichsam  mit  den 
Samen  der  Tugenden  bekannt  gemacht,  dass  sie  von 
selbst,  beinahe  ohne  allen  Unterricht,  das  Gute  von  dem 
Bösen  unterscheiden  können;  dass  Gott  die  übrigen 
Völker  nicht  in  Unkenntniss  darüber  gelassen  habe,  wie 
die  wahre  Seligkeit  gewonnen  werden  könne ;  vielmehr 
habe  er  sich  allen  Völkern  gleich  mildthätig  bewiesen. 

Er  stellt  sogar  in  Allem,  was  zur  Erreichung  der 
wahren  Glückseligkeit  in  irgend  einer  Weise  Hülfe  oder 
Nutzen  gewähren  kann,  die  andern  Völker  den  Juden 
gleich  und  nimmt  an,  dass  auch  die  Heiden  wahre  Pro- 

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Der  äussere  Gottesdienst.  155 

pheten  geliabt  haben  und  beginnt  dies  durch  Beispiele 
zu  beweisen.  Er  deutet  sogar  an,  dass  Gott  die  übrigen 
Völker  durch  gute  Engel,  welche  er,  nach  der  Gewohnheit 
des  Alten  Testamentes,  Götter  nennt,  regiert  habe.  Des- 
halb sollen  auch  die  Opfer  der  übrigen  Völker  Gott 
nicht  missfallen  haben,   so  lange  sie  durch  den  Aber- 

flauben  der  Menschen  noch  nicht  so  verdorben  waren, 
ass  sie  die  Menschen  der  wahren  Heiligkeit  abwendig 
machten  und  zur  Begehung  dessen  in  der  Reli^on  an- 
trieben, was  sich  mit  der  Tugend  nicht  verträgt.  Gott 
habe  aber  den  Juden  aus  besonderen,  nur  dieses  Volk 
betreffenden  Gründen,  verboten,  die  Götter  der  Heiden 
zu  verehren,  obgleich  sie  nach  Gottes  Einrichtung  und 
Fürsorge  von  den  Heiden  ebenso  mit  Hecht  verehrt 
wurden,  wie  die  dem  Reiche  der  Juden  zu  Wächtern  vor- 
gesetzten Engel  von  den  Juden  nach  ihrer  Weise  für 
Götter  gehalten  und  mit  göttlichen  Ehren  belegt  wurden. 
Da  der  Verfasser  es  auch  als  ausgemacht  ansieht, 
dass  der  äussere  Gottesdienst  für  sich  Gott  nicht  an- 
genehm sein  könne,  so  hält  er  es  für  gleichgültig,  in 
welchen  Formen  dieser  äussere  Dienst  geübt  werde, 
wenn  er  nur  der  Art  sei  und  Gott  so  entspreche,  dass 
er  in  der  Seele  die  Ehrfurcht  vor  Gott  erwecke  und 
sie  zur  Uebung  der  Tugend  antreibe. 

Da  er  endlich  das  Wesen  allerReligion  in  der  Uebung 
der  Tugend  findet  und  alle  Kenntniss  von  Mysterien  fUr 
überflüssig  hält,  weil  sie  an  steh  die  Tugend  nicht  be- 
fördert, und  da  vielmehr  jene  Religion  noth  wendiger  ist, 
welche  mehr  hilft,  die  Menschen  zur  Tugend  anzulernen 
und  zu  begeistern,  so  folgert  er,  dass  alle  jene  Ansichten 
über  Gott  und  seinen  Dienst  und  über  alles  zur  Religion 
Gehörige  zu  billigen  oder  wenigstens  nicht  verwerflich 
seien,  die  nach  dem  Sinne  Derer,  die  ihnen  anhängen^ 
wahr  und  geeignet  sind,  die  Rechtlichkeit  zu  stärken  und 
zur  Blüthe  zu  bringen.  Um  diesen  Satz  zu  bestätigen, 
bringt  er  die  Propheten  selbst  zu  Zeugen  und  Urhebern 
seiner  Ansicht  herbei,  die  gelehrt  haben  sollen,  dass  Gott 
keinen  Werth  auf  die  Meinungen  lege,  die  die  Menschen 
über  die  Religion  hegten;  dass  vielmehr  der  Dienst  und 
alle  die  Ansichten  Gott  genehm  seien,  welche  aus  der 
Uebung  derTugend  und  derEhrfurcht  vor  Gott  hervorge- 
gangen sind.  Die  Propheten  sollen  hier  so  weit  gegangen 

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166  XLVm.  Brief.    Von  L.  v.  V.  an  J.  0. 

sein,  dass  sie  selbst  solche  Gründe  zum  Antrieb  sur 
Tugend  vorgebracht,  die  zwar  an  sich  falsch  gewesen, 
aber  doch  in  der  Auffassung  Derer,  an  die  sie  gerichtet 
waren,  so  beschaffen  und  geeiniet  gewesen,  um  ihnen 
als  Sporn  zu  dienen,  damit  sie  sich  um  so  eifriger 
dem  I)ienst  der  Tugend  weihten.  Er  nimmt  also  an, 
Gott  habe  den  Propheten  die  Auswahl  unter  den  Gründen 
gelassen,  diunit  sie  die  anwendeten,  welche  den  Zeiten 
und  Verhältnissen  der  Personen  entsprlU^hen  und  die 
sie  nach  ihrer  Meinung  für  gut  und  wirksam  hielten. 

Daher  soll  es  nach  ihm  kommen,  dass  die  Beligions- 
lehrer  sich  verschieden  er  Beweisgründe  bedienen,  die  ein- 
ander selbst  widersprechen.  So  habe  Paulus  gelehrt,  dass 
der  Mensch  durch  die  Werke  nicht  gerechtfertigt  werde, 
während  Jakobus  das  Ge^entheil  eingeschüift  habe. 
Jakobus  sah  nfimlich,  nach  des  Verfassers  Meinung,  dass 
die  Christen  die  Lehre  der  Bechtfertigung  durch  den 
Glauben  verdrehten  und  beweiset  deshaU)  an  vielen 
Stellen,  dass  der  Mensch  durch  den  Glauben  und  ^e 
Werke  gerechtfertigt  werde.  Er  erkannte  n&mlich,  dass 
es  der  Sache  der  Christen  zu  jener  Zeit  nicht  nütze,  die 
Lehre  von  dem  Glauben  so  einzuschärfen,  da  dann  die 
Menschen  leicht  in  Ruhe  auf  Gottes  Erbarmen  vertrauten 
und  nicht  für  gute  Werke  sorgten.  Er  mochte  sie  deshalb 
nicht  so  vortragen,  wie  Paulus,  der  es  mit  den  Juden  zu 
thun  hatte,  die  aus  Irrthum  die  Kechtfertigung  in  die  Ge- 
setzes-Werke  setzten,  welche  Moses  ihnen  besonders  auf- 
getragen hatte  und  vermöge  deren  sie  sich  den  andern 
Völkern  vorgezogen  hielten  und  meinten,  ihnen  allein 
stehe  der  Zugang  zur  Seligkeit  offen.  Sie  verwarfen  des- 
halb die  Lehre  vom  Heil  durch  den  Glauben,  welche  sie 
den  andern  Völkern  gleichstellte  und  aller  Vorzüge  leer 
und  bar  erklärte.  So  trug  also  die  Lehre  Beider,  sowohl 
des  Paulus  wie  des  Jakobus,  nach  den  verschiedenen  Ver- 
hältnissen der  Zeiten  und  Personen  vortrefflich  dazu  bei, 
die  Gemüther  der  Menschen  der  Frömmigkeit  zuzuwenden 
und  deshalb  habe  es,  nach  dem  Verfasser,  zur  apostoli- 
schen Klugheit  gehört,  bald  diese,  bald  jene  anzuwenden. 

Dies  ist  einer  von  den  vielen  Gründen,  weshalb  es^ 
nach  dem  Verfasser  der  Wahrheit  nicht  entspricht,  die 
heilige  Schriftdurchdie  Vernunft  zu  erklären  und  letztere 
zu  dem  Dolmetscher  der  Schrift  zu  machen,  oder  einen 

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Waa  Ghrütus  gewollt.Gewalt  d.Obrigk.  üb.d.Gotte8dieQ8t.  167 

beiligen  Lehrer  durcli  den  andern  zu  erklären;  denn 
sie  seien  von  gleichem  Ansehen  nnd  die  Worte,  deren 
sie  sich  bedient,  sollen  ans  der  Sprach  weise  und  den 
eigenthümlichen  Redensarten  dieser  Lehrer  erklfirt 
werden,  ohne  dass  man  bei  Ermittelang  des  wahren 
Sinnes  der  Schrift  anf  die  Sache  selbst  achte;  vielmehr 
gelte  der  Wortsinn. 

Sonach  sind  nach  ihm  sowohl  Christas  selbst,  wie 
die  übrigen  Lehrer,  welche  Gott  gesandt,  durch  ihr 
Beispiel  vorangegangen  und  sie  haben  durch  ihren 
Unterricht  gezeigt,  dass  die  Menschen  nur  durch  die 
XJebung  der  Tugend  zurOlückseligkeit  gelangen  können, 
dass  das  Uebrige  unerheblich  sei  und  deshalb  soll  die 
Obrigkeit  nur  dafür  sorgen,  dass  Gerechtigkeit  und  Red- 
lichkeit im  Staate  blühe;  dagegen  sei  es  der  geringste 
Theil  ihres  Amtes,  zu  erwägen,  welcher  Gottesdienst 
und  welche  Lehren  der  Wahrheit  am  meisten  ent- 
sprächen. Vielmehr  habe  die  Obrigkeit  nur  zu  sorgen, 
dass  nichts  aufgenommen  werde,  was  der  Tugend  ein 
Hindemiss  selbst  nach  der  Ansicht  Derer  bereite,  die 
sich  zu  solchem  bekennen. 

Deshalb  könne  die  Obrigkeit  ohne  Beleidigung  Gottes 
wohl  einen  verschiedenen  Gottesdienst  in  ihrem  Staate  ge- 
statten. Zur  näheren  Begründung  dessen  schlägt  der  Ver- 
fasser noch  folgenden  Weg  ein.  Er  nimmt  ein  solches  Ver- 
hältniss  der  sittlichen  Tagenden  an,  soweit  sie  in  der 
Staatsgesellschaft  geübt  werden  und  in  äussern  Hand- 
lungen sich  äussern,  dass  Niemand  deren  Uebung  nach 
seiner  eigenen  Ansicht  und  Ueberzeugung  vornehmen 
darf;  vielmehr  soll  die  Pflege,  die  Uebung  und  die 
nähere  Bestimmung  dieser  Tugenden  von  dem  Ansehen 
nnd  dem  Gebote  der  Obrigkeit  abhängen;  theils  weil 
die  äussere  Ausübung  der  Tugend  ihre  Natur  nach  den 
äussern  Umständen  ändere,  theils  weil  die  Pflicht  des 
Menschen  zur  Vollziehung  dieser  äussern  Handlungen 
sich  nach  dem  Nutzen  und  Schaden  bestimme,  der  daraus 
hervorgehe;  so  dass  jene  äusseren  Handlungen,  bei  einer 
anzeitigen  Vornahme,  die  Natur  der  Tugend  verlieren  und 
zu  demGegentheil  derTugend  gerechnet  werden  müssen. 
Nur  das  innere  Verhältniss  der  Tagenden,  soweit  sie  in 
der  Seele  bestehen,  ist  nach  dem  Verfasser  ein  anderes; 


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( 


168  XLVIIL  Brief.    Von  L.  v.  V.  an  J.  0. 

j 


hier  behalten  sie  immer  ihre  Natur  und  mmi  vmt  ^en 
verftnderlichen  äusseren  UmBtinden  nnabhfingig. 

Es  soll  allerdings  niemals  erlaubt  sein,  Grausamkut 
und  Bohheit  zn  üben  und  seinen  Nfichsten  und  die  Wahr- 
heit nicht  zu  lieben;  indess  könnten  Zeiten  eintreten,  wo 
die  gute  Absicht  und  dieUebune  der  genannten  Tueenden 
zwar  nicht  aufgegeben  werden  darf,  aber  wo  man  aoch  in 
den  ftusserenHandlungen  sich  dabei  massigen  und  selbst 
das  thun  darf,  was  dem  äusseren  Scheine  nach  diesen 
Tugenden  widerspricht.  So  kann  es  kommen,  dass  ein 
recSicher  Mensch  nicht  mehr  verpflichtet  ist,  die  Wahr- 
heit offen  zu  sagen  und  durch  Mund  und  Schrift  die 
Bürger  von  dieser  Wahrheit  zu  unterrichten  und  sie 
ihnen  mitzutheilen,  insofern  er  glaubt,  dass  die  Btirger 
mehr  Schaden  als  Vortheil  von  dieser  Mittheilung  haben 
werden.  Der  Einzelne  soll  allerdings  alle  Menschen 
mit  Liebe  umfassen  und  er  darf  nie  den  Leidenschaften 
Raum  geben ;  aber  dennoch  kann  es  öfters  kommen,  dass 
Manche,  ohne  gefehlt  zu  haben,  hart  von  uns  behandelt 
werden  können,  wenn  aus  der  Milde,  mit  der  wir  sie  behan- 
deln wollen,  für  uns  ein  grosses  Uebel  entstehen  kann. 
Deshalb  glauben  Alle,  dass  man  nicht  jede  Wahrheit,  be- 
treffe sie  die  Religion  oder  das  bürgerliche  Leben,  zu  jeder 
Zeit  zweckmässig  offenbaren  könne,  und  wer  lehrt,  dass 
man  den  Schweinen  keine  Rosen  vorwerfen  solle,  wenn 
man  fürchten  muss,  sie  werden  gegen  die,  welche  sie  ihnen 
reichen,  wüthen,  der  hält  es  auch  nicht  für  die  Pflicht  eines 
guten  Mannes,  dies  Volk  über  manches  Kapitel  der 
Religion  zu  belehren,  wenn  man  fürchten  muss,  dass 
durch  solche  Veröffentlichung  und  Verbreitung  unter 
dem  gemeinen  Volke  Gefahr  für  den  Staat  oder  die 
Kirche  entstehe  und  dass  die  Bürger  und  die  Frommen 
mehr  Schaden  als  Nutzen  davon  haben. 

Weil  femer  neben  Anderem  auch  deshalb  die  Staats- 
verbindung, von  welcher  die  Gewalt  und  das  Recht,  Ge- 
setze zu  geben,  nicht  getrennt  werden  könne,  eingeführt 
worden,  weil  man  nicht  dem  Belieben  der  Einzelnen, 
sondern  nur  den  Staatsgewalten  die  Bestimmung  Über 
das  den  zum  Staat  vereinigten  Menschen  Nützliche  Über* 
lassen  konnte,  so  folgert  der  Verfasser,  die  Obrigkeit 
könne  bestimmen,  welche  Lehren  im  Staate  öffentlich  ver- 
kündet werden  dürfen  und  die  Unterthanen  seien  in  der 

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Das  Recht  der  Obrigkeit  in  Religiooflsachen.       IgQ 

nasseren  Uebung  verpflichtet,  sich  der  Lehre  und  des 
Bekenntnisses  von  Sätzen  zu  enthalten,  deren  Ver- 
breitung die  Obrigkeit  gesetzlich  verboten  habe.  Gott 
liabe  dies  ebenso  wenig  dem  Urtheile  der  Einzelnen 
anheimgestellt,  als  er  ihnen  gestattet  habe,  gegen  den 
lYillen  und  die  Beschlüsse  der  Obrigkeit  oder  gegen  den 
Spruch  der  Kichter  etwas  zu  thun,  was  die  Kraft  der  Ge- 
setze schwäche  und  die  Obrigkeit  ihr  Ziel  verfehlen  mache. 
Der  Verfasser  meint,  dass  über  solche,  den  äusseren 
Gottesdienst  und  dessen  Bekenntniss  betreffende  Punkte 
die  MenschenVerträge  schliessen  und  die  äusseren  Hand- 
lungen des  Gottesdienstes  ebenso  sicher  dem  Urtheil 
der  Obrigkeit  anheim  geben  können,  als  sie  ihr  das 
Recht  und  die  Macht  einräumen,  den  einem  Bürger  zu- 
gefügten Schaden  abzuschätzen  und  dessen  Ersatz  durch 
Gewalt  zu  erzwingen.  Der  Einzelne  braucht  sein  Urtheil 
auch  hier  bei  der  Beschädigung  dem  Ausspruche  der 
Obrigkeit  nicht  zu  unterwerfen;  er  kann  hier  seine  eigene 
Meinung  haben,  obgleich  er  (wenn  es  so  kommt)  schuldig 
ist,  selbst  der  Obrigkeit  in  Vollstreckung  ihres  Spruches 
beizustehen;  ebenso  können,  nach  dem  Verfasser,  die 
Einzelnen  im  Staate  zwar  über  die  Wahrheit  und  Un- 
wahrheit und  über  die  Nothwendigkeit  eines  Lehrsatzes 
ihr  Urtheil  haben  und  der  Einzelne  kann  durch  das 
Gesetz  nicht  genöthigt  werden,  dass  er  in  der  Religion 
dasselbe  glaube ;  allein  es  hänge  von  dem  Urtheile  der 
Obrigkeit  die  Bestimmung  ab,  welche  Sätze  öffentlich 
gelehrt  werden  dürfen  und  der  Einzelne  sei  schuldig, 
seine  von  der  Obrigkeit  in  der  Religion  abweichende 
Meinung  für  sich  zu  behalten  und  nichts  zu  thun,  was 
die  Kraft  der  von  der  Obrigkeit  über  den  Gottesdienst 
erlassenen  Gesetze  schwächen  könne. 

Allein  es  kann,  nach  dem  Verfasser,  kommen,  dass 
die  Obrigkeit  in  vielen  Religionspunkten  von  dem  Volke 
abweicht  und  die  Obrigkeit  es  doch  zur  Ehre  Gottes  für 
nöthig  hält,  dass  ihre  Ansicht  im  Staate  öffentlich  bekannt 
werde  und  es  kann  dadurch,  dass  die  Ansicht  der  Obrig- 
keit von  der  des  Volkes  abweicht,  den  Bürgern  grosser 
Schade  entstehen;  deshalb  fügt  der  Verfasser  zu  dem 
Früheren  noch  einen  anderen  Satz  hinzu,  der  sowohl 
die  Obrigkeit  wie  die  Unterthanen  beruhigen  und  die 
Freiheit    der  Religion    unverletzt    erhalten    soll.     Die 

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170  XLVm,  Brief.    Von  L.  f,  V.  an  J.  0. 

Obrigkeit  brauche  nämlich  GrottesZom  nicht  zu  förchten, 
wenn  sie  auch  noch  so  schlechte  Gottesverehru&gen  in 
ihrem  Staate  lulasse,  so  lange  sie  nur  nicht  mit  den  sitt- 
lichenTugenden  in  Widerstreit  gerathen  und  sie  beseitigen. 
Der  Grund  für  diese  Meinung  kann  ihnen  nicht  entgehen, 
da  ich  ihn  oben  ausführlich  dargelegt  habe.  Der  Verfasser 
nimmt  nftmlich  an,  dass  Gott  nicht  danach  frage  und  sich 
darum  nicht  kümmere,  welchen  Meinungen  die  Menschen 
in  der  Religion  anhängen,  welche  sie  billigen  und  schätzen, 
und  welche  öffentliche  Verehrung  sie  einrichten,  da  dies 
Alles  zu  dem  gehöre,  was  auf  Tugend  und  Laster  keine 
Beziehung  habe ;  es  sei  nur  Pflicht  eines  Jeden,  sich  so 
einzurichten,  dass  er  die  Lehren  und  den  Gottesdienst 
besitze,  durch  den  er  den  grössten  Fortschritt  in  der 
üebung  der  Tugend  machen  könne. 

Hiermit  haben  Sie,  hochgeehrter  Herr,  den  Haupt- 
inhalt der  theologisch-politischen  Abhandlung  zusam- 
mengefasst.  Sie  vemichtet  nach  meiner  Meinung  allen 
Gottesdienst  und  alle  Religion,  wirft  sie  über  den  Haufen, 
führt  insgeheim  den  Atheismus  ein  oder  einen  solchen 
Gott,  durch  dessen  Ehrfurcht  die  Menschen  nicht  berührt 
werden,  weil  er  selbst  dem  Schicksal  unterworfen  ist  und 
kein  Platz  für  die  göttliche  Regierung  und  Vorsehung 
übrig  ist  und  alle  Vertheilung  von  Strafen  und  Lehre 
wegfallt.  So  viel  kann  man  wenigstens  sofort  aus  des 
Veifassers  Schrift  ersehen,  dass  durch  deren  Gründe 
und  Geist  das  Ansehen  der  ganzen  Heiligen  Schrift  ver^ 
nichtet  wird  und  dass  er  derselben  nur  zum  Schein  er- 
wähnt. Auch  folgt  aus  seinen  Sätzen,  dass  auch  der  Koran 
dem  Worte  Gottes  gleich  stehet;  denn  bei  dem  Verfasser 
fehlt  jeder  Grund  dafür,  dass  Mahomet  kein  wahrer  Pro- 
phet gewesen,  da  die  Türken  auch  aus  den  Geboten  ihres 
Propheten  die  sittlichen  Tugenden  üben,  über  welche  unter 
den  Völkern  kein  Streit  ist  und  es  nach  der  Lehre  des 
Verfassers  bei  Gott  nichts  Seltenes  ist,  Völker,  denen 
nicht  die  Offenbarungen  wie  den  Christen  und  Juden  ge- 
schehen sind,  durch  andere  Offenbarungen  in  der  Linie 
der  Vernunft  und  des  Gehorsams  zu  erhalten. 

Ich  fürchte  deshalb  nicht,  mich  von  der  Wahrheit 
zu  entfernen,  noch  den  Verfasser  zu  beleidigen,  wenn 
ich  ihn  beschuldige,  dass  er  den  reinen  Atheismus 
durch  verhüllte  und  aufgeputzte  Gründe  lehre.*") 

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Vertheidigniig  des  Spinoza.  171 


Neunundvierzigster  Brief 
(Aas  dem  Jahre  1671). 

Von  Spinoza  an  den  Herrn  J.  0. 

Greehrter  Herr! 

Sie  werden  sicli  gewiss  wundem,  dass  ich  Sie  so 
lange  hahe  warten  lassen;  allein  ich  konnte  mich  kaum 
entschliessen,  auf  das  mir  von  Ihnen  mitgetheilte  Buch 
jenes  Mannes  zu  antworten  und  auch  jetzt  geschieht  es 
nur,  weil  ich  es  versprochen  hahe.  Um  indess  auch  meinem 
Wunsche  möglichst  nachzukommen,  werde  ich  es  mit 
Wenigem  thun  und  kurz  zeigen,  wie  unrichtig  er  meine 
Worte  aufgefasst  hat,  so  dass  ich  nicht  weiss,  oh  ich  ihm 
Bosheit  oder  Unwissenheit  dahei  Schuld  gehen  soll. 
Doch  zur  Sache. 

Er  sagt  zunächst,  „es  komme  nicht  darauf  an,  zu 
^wissen,  von  welcher  Nation  ich  sei  und  was  ich  treibe.^ 
HXtte  er  jedoch  dies  gewusst,  so  würde  er  nicht  so  leicht 
geglaubt  haben,  dass  ich  den  Atheismus  lehre.  Denn  die 
Atheisten  pflegen  Ehre  undReichthum  übermässig  aufzu- 
suchen, während  ich  diese  immer  verachtet  habe,  wie 
Alle  wissen,  die  mich  kennen.  Um  sich  nun  den  Weg 
zu  dem  von  ihm  Gesagten  zu  bahnen,  sagt  er,  ich  sei 
kein  beschränkter  Kopf;  so  meint  er  leichter  darlegen  zu 
können,  dass  ich  listig  und  pfiffig  und  böswillig  für  die 
schlechte  Sache  der  Deisten  gesprochen  habe.  Dies 
zeigt  hinlänglich,  dass  er  meine  Ausführungen  nicht  ver- 
standen hat.  Denn  wessen  Geist  könnte  so  listig  und 
▼erschlagen  sein,  um  in  verstellter  Weise  so  viele  und  so 
kräf^ge  Gründe  für  eine  Sache  anführen  zu  können,  die 
er  für  falsch  hält?  Wie  soll  man  später  von  einem  solchen 
glauben,  dass  er  aufrichtig  geschrieben,  wenn  er  nach 
seiner  Ansicht  dies  Erdichtete  ebenso  gründlich  wie  das 
Wahre  beweisen  kann?  Doch  auch  dies  wunderte  mich 
nicht.  Auch  dem  Descartes  ist  es  von  Voetius  so  ge- 
schehen und  so  geschieht  es  meist  den  besten  Männern.  **') 

Dann  sagt  er:  „Um  dem  Vorwurf  des  Aberglaubens 
^zn  entgehen,  scheint  er  alle  Religion  abgethan  zuhaben.^ 
Allein  ich  weiss  nicht,  was  er  unter  Aberglauben  und 

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172  XLIX.  Brief.    Spinoza  an  J.  0. 

Religion  verstehen  mag.  Legt  wohl  Der  alle  Religion 
ab,  welcher  sagt,  dass  Gott  als  das  höchte  Gut  anzn- 
erkennen  nnd  mit  freiem  Gemüth  als  solcher  zn  lieben 
sei  und  dass  darin  allein  unser  höchstes  Olück  und 
grösste  Freiheit  bestehe?  Femer,  dass  die  Tagend 
mren  Lohn  in  sich  selbst  habe  und  dass  die  Thorheit 
die  eigene  Strafe  der  Thorheit  nnd  Ohnmacht  sei?  End- 
lich, dass  Jeder  seinen  Nächsten  lieben  und  den  Be- 
fehlen der  höchsten  Obrigkeit  gehorchen  solle?  Und 
dies  habe  ich  nicht  blos  ausdrücklich  gesagt,  sondern 
mit  den  stärksten  Gründen  bewiesen.  **•) 

Indess  sehe  ich,  in  welchem  Schmutz  dieser  Mann 
stecken  bleibt.  £r  findet  in  der  Tugend  und  in  der  Ein- 
sicht selbst  nichts,  was  ihn  erfreut  und  möchte  lieber 
nach  seinen  Begierden  leben,  w^enn  ihn  nur  das£ine  nicht 
hinderte,  nämlich  die  Furcht  vor  der  Strafe.  £r  entfalilt 
sich  deshalb  der  schlechten  Handlungen  undYoUaiefat  die 
göttlichen  Befehle,  wie  ein  Sklave,  nur ungern  und  mit 
schwankendem  Gemüthe  und  erwartet  für  diesen  schweren 
Dienst  durch  einen  Lohn,  der  ihm  süsser  ist  als  die  liebe 
zu  Gott,  von  Gott  geehrt  zu  werden  und  zwar  um  so 
mehr,  je  mehr  er  das  Gute,  was  er  thut,  verabscheut  und 
ungern  vollzieht.  Deshalb  glaubt  er,  dass  Alle,  welche 
solche  Furcht  nicht  zurückhält,  zügellos  leben  und  alle 
Religion  abthun  werden.  **0  Doch  ich  lasse  dies  nnd 
wende  mich  zu  dem,  wo  er  zeigen  will,  dass  ich  in  ver- 
hüllter und  geschminkter  Weise  den  Atheismus  lehre. 

Die  Grundlage  seiner  Beweisführung  ist,  dass  ich 
nach  seiner  Meinung  Gott  die  Freiheit  nehme  und  ihn  dem 
Schicksal  unterwerfe.  Allein  dies  ist  falsch.  Ich  habe 
gesagt,  dass  aus  Gottes  Natur  Alles  mit  unvermeidlicher 
Nothwendigkeit  ebenso  folge,  wie  aus  seiner  Natur  folgte 
dass  er  sich  selbst  kennt.  Niemand  leugnet  Letzteres  und 
doch  nimmt  Niemand  deshalb  an,  Gott  kenne  sieh  in 
Folge  eines  Schicksalszwanges,  sondern  durchaus  frei, 
wenn  auch  nothwendig.  Ich  finde  hier  nichts,  was  nicht 
Jedermann  fassen  könnte  und  wenn  er-dennoch  eine  böse 
Absicht  dahinter  vermuthet,  was  soll  er  da  von  seinem 
Descartes  denken,  nach  welchem  von  uns  nichts  ge- 
schieht, was  Gott  nicht  vorher  so  geordnet  hat  und  nach 
welchem  wir  sogar  von  den  einzelnen  Zeitpunkten  gleich- 
sam neuerschaffen  werden,  aber  dennoch  aus  Freiheit  des 

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Ueber  das  sittliche  Motiy.  173 

^Willens  handeln.  Fürwahr  dies  kann,  wie  Descartes 
selbst  gesteht,  von  Niemand  verstanden  werden.**^ 

Femer  hebt  diese  nnvermeidüche  Nothwendigkeit 
der  Dinge  weder  die  göttlichen  noch  die  menschlichen 
Gesetze  auf.  Denn  mag  der  sittliche  Inhalt  die  Gestalt 
eines  Gesetzes  von  Gott  erhalten  oder  nicht,  so  bleibt 
er  doch  göttlich  und  heilsam  nnd  mag  man  das  Gute, 
was  ans  der  Tugend  und  göttlichen  Liebe  folgt,  von 
Gott  als  Bichter  empfangen,  oder  als  nothwendigen 
Ans£fuss  der  göttlichen  Natur;  so  bleibt  es  deshalb 
gleich  wünschenswerth,  wie  ja  auch  die  Uebel  nicht 
-weniger  zu  fürchten  sind,  die  aus  schlechten  Werken 
folgen,  wenn  dies  auch  mit  Nothwendigkeit  geschieht; 
-wir  werden  immer  durch  Furcht  und  Hoffnung  bewegt, 
mögen  wir  das,  w|is  wir  thun,  nothwendig  oder  frei 
thun.  Er  behauptet  deshalb  fälschlich :  „dass  nach  meiner 
„Ansicht  für  me  Befehle  und  Vorschriften  kein  Platz 
„bleibe^  und  später:  „dass  die  Erwartung  eines  Lohnes 
„und  einer  Strafe  aufhört,  wenn  alles  dem  Schicksal 
„zugeschrieben  werde  und  Alles  mit  unvermeidlicher 
„Nothwendigkeit  aus  Gott  abfliessen  solle. ^ 

Ich  will  nicht  fragen,  weshalb  es  auf  Eins  hinauslaufen 
oder  nur  wenig  unterschieden  sein  soll,  wenn  man  an- 
nimmt, Alles  fliesse  mit  Nothwendigkeit  aus  Gottes  Natur 
oder  die  Welt  sei  Gott;  dabei  achten  Sie  auf  das,  was  er 
eben  so  gehässig  anfügt,  nämlich:  „Ich  wolle,  der  Mensch 
„solle  sich  derTugend  befleissigen,  nicht  weil  Gott  es  ge- 
„boten  und  verordnet,  und  nicht  in  Hoffnung  eines  Lohnes 
„und  Furcht  vor  Strafe,  sondern  u.  s.  w.''  Sie  finden  das 
fürwahr  nirgends  in  meiner  Abhandlung,  vielmehr  habe  ich 
in  Kap.  4  ausdrücklich  gesagt:  die  Summe  des  göttlichen 
Gesetzes  (das  unserer  Seele  von  Gott  eingeschrieben  ist, 
wie  ich  Kap.  2  gesagt  habe)  und  sein  höchstes  Gebot  sei, 
Gott  als  das  höchste  Gut  zu  lieben;  nicht  aus  Furcht  vor 
Strafe  (denn  aus  Strafe  kann  keine  liebe  entstehen)  und 
nicht  aus  Liebe  zu  etwas  Anderem,  was  man  gemessen 
möchte;  denn  dann  würde  man  nicht  sowohl  Gott  selbst, 
sondern  das  Erstrebte  lieben.  In  demselben  Kapitel  habe 
ich  gezeigt,  dassGott  dieses  Gesetz  selbst  den  Propheten 
offenbart  habe.  Mag  ich  nun  annehmen,  dass  dieses  Ge- 
setz Gottes  die  Form  eines  Kechtsgesetzes  von  Gott  selbst 
erhalten  habe,  oder  mag  ich  es,  wie  die  übrigen  Beschlüsse 

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174  XLIX.  Brief.    Von  Spinoza  an  J.  0. 

Gottes,  welche  eine  ewige  und  noth wendige  Wahrheit  etn- 
schliessen,  auffassen,  so  bleibt  es  in  beiden  Fällen  einBe- 
schlnss  Gottes  und  eine  heilsame  Auskunft  und  mag  ich 
Gott  aus  Freiheit  oder  aus  der  Nothwendigkeit  des  gött- 
lichen Beschlusses  lieben,  so  liebe  ich  doch  Gott  und 
werde  gerettet  sein.***)  Ich  könnte  daher  schon  hier  be- 
haupten, jener  Mensch  gehöre  zu  denen,  von  welchen  ich 
in  meiner  Vorrede  gesagt  habe,  es  wftre  mir  lieber,  wenn 
sie  mein  Buch  nicht  läsen  als  durch  verkehrtes  Auslegen, 
was  Ihnen  überall  begegnet,  beschwerlich  zu  werden 
und  Andern  zu  schaden,  ohne  sich  zu  nützen. 

Obgleich  dies  für  meinen  Zweck  hinreichen  dürfte, 
halte  ich  es  doch  noch  der  Mühe  werth,  zu  erwähnen, 
dass  er  sich  irrt,  wenn  er  meint,  ich  hätte  den  Grundsatz 
der  Theologen  im  Sinne,  welche  bei  der  Rede  eines  Pro- 
pheten unterscheiden,  ob  er  lehrt  oder  einfach  Etwas  er- 
zählt. Wenn  er  damit  jenen  Satz  meint,  welchen  ich  in 
Kap.  15  dem  Jehuda  Alpakhar  zugeschrieben  habe,  wie 
konnte  ich  da  meinen,  dass  mein  Satz  damitübereinstimme, 
da  ich  jenen  in  demselben  Kapitel  als  falsch  verwerfe? 
Meint  er  es  aber  anders,  so  verstehe  ich  es  nicht  und 
habe  daher  keineswegs  dies  im  Sinne  haben  können. 

Auch  verstehe  ich  nicht,  weshalb  er  sagt,  ich  glaube, 
dass  Alle  meiner  Ansicht  beitreten  würden,  welche 
leugnen,  dass  die  Philosophie  die  Auslegerin  der  Schrift 
sein  könne;  da  ich  doch  die  Ansicht  dieser  sowie  die 
des  Maimonides  widerlegt  habe. 

Es  wäre  zu  lang,  wenn  ich  Alles  anführen  wollte, 
woraus  erheilt,  dass  er  nicht  in  ruhiger  Stimmung  über 
mich  geurtheilt  hat.  Ich  gehe  deshalb  zu  seinem  Schuss* 
satz  über,  wo  er  sagt:  „ich  hätte  somit  kein  Mittel  mehr, 
^womit  ich  beweisen  könnte,  dass  Mahomet  ein  falscher 
„Prophet  gewesen  sei.^  Er  versucht  dies  aus  meinen 
Worten  darzulegen,  obgleich  aus  diesen  klar  folgt,  dass 
Mahomet  ein  Betrüger  gewesen  sei,  weil  er  die  Freiheit 
eänzlich  aufhebt,  welche  die  katholische  Religion,  die 
durch  das  natürliche  Licht  und  die  Propheten  offenbart 
irt,  zugesteht,  und  von  der  ich  gezeigt  habe,  dass  sie 
nicht  entzogen  werden  dürfe.  **")  Aber  wenn  dies  auch 
nicht  wäre,  bin  ich  denn  zu  dem  Beweis  verpflichtet,  dass 
irgend  ein  Prophet  ein  falscher  gewesen  sei?  Die  Pro- 
pheten waren  verpflichtet,  zu  zeigen,  dass  sie  wahre  seien. 

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Mahomet  und  die  Propheten  der  Heiden.        175 

Wenn  er  entgegnet,  dass  aach  Hahomet  das  göttliche 
Gesetz  gelehrt  und  solche  sichere  Zeichen  fUr  seine 
Sendung  gegeben  habe,  wie  von  den  übrigen  Propheten 
geschehen  seien,  so  hatte  er  fürwahr  kein  Kedit,  sa 
leugnen,  dass  er  ein  wahrer  Prophet  gewesen  ist 

Was  aber  die  Türken  und  andern  Heiden  anlangt, 
so  meine  ich,  dass  sie,  wenn  sie  Gott  durch  Uebung 
der  Gerechtigkeit  und  durch  Liebe  des  Nächsten  ver- 
ehren, den  Geist  Christi  haben  und  gerettet  seien, 
mSeen  sie  auch  in  ihrer  Unwissenheit  an  Mahomet 
und  sein  Wunder  glauben.  231) 

Sie  sehen,  verehrter  Freund,  dass  dieser  Mann  von 
der  Wahrheit  ganz  abkommt;  trotsdem  thut  er  nicht  mir, 
sondern  sich  selbst  den  grdssten  Schaden,  wenn  er 
sich  nicht  schftmt,  zu  behaupten,  dass  ich  mit  verhüllten 
und  geschminkten  Beweisen  den  Atheismus  verbreite. 

Ich  hoffe,  Sie  werden  nicht  finden,  dass  ich  gegen 
diesen  Mann  mich  zu  wenig  nachsichtig  ausgei&ückt 
habe.  Sollten  Sie  dennoch  Etwas  der  Art  bemerken, 
so  bitte  ich,  es  auszustreichen,  oder  nach  Ihrem  Sinne 
zu  verbessern.  Ich  will  den  Mann,  wer  er  auch  sei, 
nicht  verletzen  und  mag  mir  durch  meine  Arbeit  keine 
Feinde  machen.^  Gewöhnlich  geschieht  dies  durch 
dergleichen  Streitigkeiten  und  deshalb  habe  ick  mich 
kaum  zu  dieser  Antwort  entschliessen  können,  die  nur, 
weil  icS  sie  Ihnen  versprochen  habe,  erfolgt  ist. 
Leben  Sie  wohl;  ich  übergebe  diesen  Brief  Ihrer  Um- 
sicht und  empfehle  mich  selbst,  der  ich  bin  u.  s.  w. 


Fünfzigster  Brief  (Vom  2.  Juni  1674). 

Von  Spinoza  an  den  Herrn ^ 

(UebersetKung  aus  dem  Holländischen.) 

Geehrter  Herr! 

In  Bezug  auf  die  Politik  besteht  der  Unterschied 
zwischen  mir  und  Hobbes,  nach  dem  Sie  fragen,  darin, 
dass  ich  das  Xaturrecht  immer  unverletzt  erhalte  und  der 

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176  ^'  ^riet    Von  Sp.  an 


höchsten  Obrigkeit  in  jeder  Stadt  nur  so  viel  Rechte 
gegen  die  Unterthanen  zugestehe,  als  dem  Maasse  der 
Macht,  in  der  sie  den  Einzelnen  Übertrifft,  entspricht, 
wie  dies  im  Naturzustande  immer  Statt  hat  2^) 

Was  den  Beweis  anlangt,  welchen  ich  im  Anhange 
meiner  geometrischen  Begründung  der  Prinzipien  des 
Descartes  aufstelle,  nämlich,  dass  Gott  nur  sehr  un- 
eigentlich einer  oder  ein  einziger  genannt  werden 
könne,  ^235^  so  erwidere  ich,  dass  man  eine  Sache  nur 
in  Bezug  auf  ihr  Dasein  und  nicht  auch  ihr  Wesen 
eine  oder  die  einzige  nennt,  da  man  die  Dinge  nur 
erst,  wenn  sie  auf  eine  gemeinsame  Gattung  gebracht 
sind,  unter  Zahlen  befasst.  Wer  z.  B.  einen  Groschen 
und  einen  Thaler  in  der  Hand  hält,  denkt  lucht  an  die 
Zwei,  als  bis  er  beide  mit  einem  Namen,  etwa  Geld- 
stücke oder  Münzen,  nennen  kann;  dann  kann  er  erst 
behaupten,  dass  er  zwei  Geldstücke  oder  Münzen 
habe,  weil  mit  diesen  Worten  nicht  blos  die  Groschen, 
sondern  auch  die  Thaler  bezeichnet  werden.  Deshalb 
kann  offenbar  eine  Sache  erst  eine  oder  die  einzige 
genannt  werden,  wenn  man  sich  noch  eine  andere 
Sache  vorstellt,  die  (wie  gesagt)  mit  ihr  übereinstimmt. 
Aber  bei  Gott  ist  sein  Dasein  auch  sein  Wesen  und 
man  kann  über  sein  Wesen  keine  allgemeine  Vorstellung 
bilden;  deshalb  hat  offenbar  der,  welcher  Gott,  einen 
oder  den  einzigen  nennt,  keine  richtige  Vorstellung 
von  Gott  oder  spricht  nur  uneigentlich  so.236) 

In  Bezug  darauf,  dass  die  Gestalt  eine  Verneinung 
und  nichts  Bejahendes  ist,  erhellt,  dass  der  ganze 
Stoff,  an  sich  betrachtet,  keine  Gestalt  haben  kann 
und  dass  die  Gestalt  nur  bei  endlichen  und  begrenzten 
Körpern  Platz  greift.  Denn  wer  sich  eine  Gestalt 
vorstellt,  sagt  damit  nur,  dass  er  sich  einen  bestimmten 
Gegenstand  und  die  Art,  wie  er  bestimmt  ist,  vorstelle. 
Daher  gehört  diese  Bestimmung  nicht  zu  dem  Sein  des 
Gegenstandes,  sondern  sie  ist  vielmehr  sein  Nicht-Sein. 
Da  sonach  die  Gestalt  nur  eine  Begrenzung  und  die 
Begrenzung  nur  eine  Verneinung  ist,  so  kann  jene, 
wie  gesagt,  nur  eine  Verneinung  sein,  237) 

Die  Schrift,  welche  der  Utrechter  Professor  gegen  die 
meinige  verfasst  hat  und  welche  erst  nach  dessen  Tode 
erschienen  ist,  habe  ich  am  Fenster  des  Buchhändlers 

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Eine  Frage  aus  der  Optik.  177 

.ausgestellt  gesehen.  Nach  dem  Wenigen,  was  ich  da- 
mals darin  gelesen,  habe  ich  sie  nicht  des  Lesens  und 
noch  viel  weniger  der  Beantwortung  werth  gehalten. 
Ich  verliess  deshalb  das  Buch  und  seinen  Verfasser. 
Mit  Lficheln  überdachte  ich,  dass  die  Dümmsten  manch- 
mal  die  Dreistesten  und  Schreibfertigsten  sind.     Der 

scheint  mir  seine  Waare  wie  ein  Trödler  aus- 

zubieten,  der  immer  das  Schlechteste  zuerst  zeigt. 
Man  sagt,  der  Teufel  sei  der  Durchtriebenste;  aber 
dieser  Schlag  Leute  scheint  mir  den  Teufel  an  Durch- 
triebenheit weit  zu  übertreffen.  238)  Leben  Sie  wohl. 
Im  Haag  am  2.  Juni  1674. 


Einundfunfzigster  Brief  (Vom  5.  Oktob.  1671). 
Von  Leibniz  an  Spinoza. 

Berühmter  und  werther  Herr! 

Zu  dem  vielerlei  Lobenswerthen,  was  der  Ruf  von 
Ihnen  berichtet,  soll  auch  eine  besondere  Kenntniss 
der  Optik  gehören.  Ich  überreiche  deshalb  Ihnen  bei- 
folgenden Versuch,  da  ich  einen  besseren  Richter  in 
diesem  Fache  schwerlich  finden  kann.  Ich  habe  das 
Schriftchen  mit  dem  Titel:  „Eine  Nachricht  aus  der 
höheren  Optik^  veröffentlicht,  um  mit  Freunden  oder 
Männern,  aie  sich  dafür  interessiren,  bequemer  mich 
besprechen    zu    können.'^)     Ich  höre,   dass  auch  der 

geehrte  Herr ^  in   demselben  Fache  glänzt; 

er  wird  Ihnen  sicherlich  bekannt  sein ;  wenn  Sie  daher 
auch  dessen  Urtheil  erlangen  und  mir  mittheilen 
könnten,  würden  Sie  mich  doppelt  verbinden.  Die 
Schrift  selbst  giebt  deutlich  an,  um  was  es  sich  handelt. 

Hoffentlich  ist  Ihnen  der  italienisch  geschriebene : 
^Vorläufige  Unterricht  des  Jesuiten  Franz  Lana''24i) 
zu  Händen  gekommen,  worin  er  auch  einige  richtige 
Sätze  aus  der  Dioptrik  aufstellt;  aber  auch  der 
Schweizer  Johann  Oltius,  ein  hierin  sehr  kenntniss- 
reicher junger  Mann,  hat  neuerlich  „Mechanisch- 
Physische  Gedanken   über  das  Sehen^  veröffentlicht, 

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178    LI*  Brief.   Von  Leibniz  an  Spinoia.   HL  Brief. 

worin  er  eine  Maschine  verspricht ,  die  sehr  eio&ck 
und  allgemein  für  das  Schleifen  von  GlKsem  aller  Art 
benutzt  werden  könne  und  sagt,  er  habe  ein  Mittel 
entdeckt,  alle  von  den  einseinen  Punkten  eines  Gegen- 
standes ausgehenden  Strahlen  in  gleiche  entsprechende 
andere  Punkte  zu  vereinigen,  jedoch  nur  bei  einer 
gewissen  Entfernung  und  Gestalt  des  Gegenstandes. 

Uebrigens  ist  das,  was  ich  darüber  an%estellt  habe, 
nicht,  dass  die  Strahlen  aller  Punkte  wieder  vereinigt 
werden,  (denn  dies  ist  für  jede  Entfernung  und  Ge- 
stalt des  Gegenstandes,  soviel  jetzt  bekannt,  nnmdg- 
lieh)  sondern  nur,  dass  die  Strahlen  von  Punkten 
ausserhalb  der  optischen  Axe  ebenso  wieder  vereinigt 
werden,  wie  von  den  Punkten  in  der  optischen  Axe. 
Deshalb  können  die  Oeffhungen  der  Glfiser  so  gross 
werden,  als  man  will,  ohne  dem  genauen  Sehen  zu 
schaden.  Doch  mögen  Sie  selbst  mit  Ihrem  Scharf- 
sinn hierüber  urlheilen.  Leben  Sie  wohl  und  bewahren 
Sie  Ihre  Gewogenheit, 

geehrter  Herr, 

Ihrem  treuen  Verehrer 

Gottfried  Leibniz, 

Doktor  beider  Rechte  und  KurfOrsü. 

Mainzischer  Bath.***) 

Frankfurt,  den  5.  Okt  neuen  Stjls  1671. 


Zweiundfunfzigster  Brief  (Vom  9.  Nov.  1671). 
Von  Spineza  an  GottfHed  Leibniz. 

(Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Hochgeehrter  Herr! 
Die  Schrift,  mit  deren  Uebersendung  Sie  mich  beehrt, 
habe  ich  gelesen  und  danke  Ihnen  sehr  für  deren  Mit- 
theilung.    Es  thut  mir  leid,  dass  ich  Ihre  Meinung,  die 
Sie  sicherlich  ganz  deutlich  ausgedrückt  haben,  nicht 

genug  habe  fassen  können;  nämlich,  ob  Sie  glauben,  dass 
ie  Oeffnung  der  Glftser  nur  deshalb  nicht  zu  gross  sein 
dürfe,  weil  die  von  einem  Punkte  kommenden  Strahlen 
sich  nicht  genau  in  einem  andern  Punkte,  sondern  in 

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Ueber  optische  Glftser.  ]79 

einem  kleinen  Baume  sammeln,  welchen  man  den  meeha-« 
nischen  Pankt  zu  nennen  pflegt  und  welcher  Raum  nach 
Verhältnise  der  Oeflnung  grösser  oder  kleiner  ist.  Dann 
frage  ich,  ob  die  Linsen,  welche  Sie  Pandochas  (AUes  zu- 
sammenfassende) nennen,  diesen  Fehler  verbessern,  so 
dass  der  mechanische  Punkt  oder  der  kleine  Baum,  in 
dem  die  von  einem  Punkt  ausgehenden  Strahlen  nach 
der  Brechung  sich  sammeln,  in  seiner  Grösse  sich  gleich 
bleibt,  gleichviel  ob  die  Oeffiiung  gross  oder  klein  ist. 
Wenn  dies  Statt  hat,  so  kann  allerdings  die  Oeffnung  be« 
liebig  vergrössert  werden  und  sie  werden  deshalb  besser 
sein,  als  jede  andere  mir  bekannte  Gestalt  der  Glftser; 
ist  dies  aber  nicht  der  Fall,  so  wüsste  ich  nicht,  weshalb 
Sie  dieselben  den  gewöhnlichen  linsen  so  vorziehen^ 
Denn  die  kreisförmigen  Linsen  haben  überall  dieselbe 
Axe,  un  ddeshalb  sind  bei  ihrer  Anwendung  alle  Punkte 
des  Gegenstandes  als  in  der  optischen  Axe  befindlich 
anzusehen.'^")  Wenn  nun  auch  nicht  alle  Punkte  des 
Gegenstandes  die  gleiche  Entfernung  haben,  sokanndoch 
der  daraus  entstehende  Unterschied  nicht  merklich 
sein,  sobald  der  Gegenstand  sehr  entfernt  ist,  weil  dann 
die  aus  einem  Punkt  ausgehenden  Strahlen  wie  paral- 
lele angesehen  werden  müssten  und  als  solche  durch 
das  Glas  gingen.  Doch  glaube  ich,  dass  Ihre  Linsen 
nützlich  sind,  wenn  man  mehrere  Gegenstände  mit 
einem  Blicke  übersehen  will  (wie  der  Fall  ist,  wenn 
man  sehr  grosse  kreisrunde  konvexe  Linsen  anwendet), 
damit  Alles  deutlicher  sich  darstelle.  Indess  möchte  ich 
über  alles  dies  meinUrtheil  zurückhalten,  bis  Sie  mir  Ihre 
Meinung  deutlich  ausgesprochen  haben  werden,  worum 
ich  ergebenst  bitte.  Ich  habe  Ihrem  Auftrage  zufolge  das 

andere  Exemplar  Herrn gesandt  und  er  hat  mir 

ffeantwortet,  dass  er  für  den  Augenblick  keine  Zeit  zu 
dessen  Prüfung  habe,  aber  dass  er  in  ein  bis  zwei 
Wochen  werde  dazu  kommen  können. 

Den  ^vorlftufigen  Unterricht^  von  Franz  Lana 
habe  ich  noch  nicht  zu  Gesicht  bekommen,  so  wenig,  wie 
des  Joh.  Oltiu  s  Physisch-Mechanische  Gedanken;  indess 
schmerzt  es  mich  mehr,  dass  Ihre  „Physische Hypothese^ 
noch  nicht  in  meine  Hand  gelangt  ist  und  auch  hier 
im  Haag  nicht  zu  haben  ist.  Ich  nehme  deshalb  das 
mir  freundlichst  zugesagte  Geschenk  mit  Vergnügen 
Splnosa.  Briefe.  oigtle^by^OOgie 


IgQ      LH.  Brief.    Spinoza  an  Leibniz.     LIII.  Brief. 

an  und  werde,  wenn  ich  Ihnen  in  Etwas  nützen  kann, 
immer  sn  Diensten  stehen.  Ich  hoffe  deshalb  dass  Sie  auf 
diese  Zeilen  mit  einer  Antwort  mich  erfreuen  werden.*^) 
G&nzlich  Ihr 

B.  ▼.  Spinoia. 
Im  Haag,  den  9.  Nov.  1671. 

P.  8.  Herr  Diemerbruck  wohnt  hier  nicht;  ich 
muss  deshalb  die  Beilage  der  gewöhnlichen  Post  über* 

feben.  Unzweifelhaft  werden  Sie  hier,  im  Haag,  Jemand 
ennen,  der  unsre Briefe  besorgen  kann;  Sie  mögen  mich 
denselben  wissen  lassen,  damit  unsere  Briefe  sicherer 
und  bequemer  gehen.  Sollte  meine  theologisch-politische 
Abhandlung  noch  nicht  Ihnen  zu  H&nden  gekommen 
sein,  so  werde  ich  Ihnen,  wenn  es  Sie  nicht  belästigt, 
ein  Exemplar  senden.     Leben  Sie  wohl. 


Dreiundfunfzigster  Brief  (Vom  16.  Febr.  1673). 

Von  Fabriciue  an  Sphioza.*^*^ ) 

Berühmter  Herr! 
Der  durchlauchtigste  Kurfürst  von  der  Pfalz,  mein 
gnädigster  Herr,*^*)  hat  mich  beauftragt,  an  Sie,  der 
Sie  mir  bisher  zwar  unbekannt  gewesen,  aber  dem  durch- 
lauchtigsten Fürsten  sehr  empfohlen  sind,  zu  schreiben 
und  zu  fragen,  ob  Sie  bereit  seien,  an  seiner  berühmten 
Universität  die  ordentliche  Professur  der  Philosophie 
zu  übernehmen.  Es  wird  dasselbe  Oehalt  gezahlt  wer- 
den, wie  es  heutzutage  die  ordentlichen  Professoren 
erhalten.  Sie  werden  nirgendwo  anders  einen  Fürsten  fin- 
den, der  ausgezeichneten  Männern,  wozu  er  Sie  rechnet, 
so  gewogen  ist  Sie  werden  für  Ihre  Philosophie  die  grösste 
Freiheit  geniessen,  da  er  überzeugt  ist,  dass  Sie  dieselbe 
nicht  zur  Störung  der  öffentlich  geltenden  Relinon  miss- 
brauchen werden.  Ich  komme  diesem  Befehle  des  weisen 
Fürsten  hiermit  nach  und  ersuche' Sie  daher  instand^, 
mir  bald  zu  antworten  und  die  Antwort  entweder  dem 
Residenten  des  durchlauchtigsten  Fürsten,  Dr.  Grotiua 

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Spinoza  schl&gt  die  Professur  in  Heidelberg  aas.      181 

im  Haag,  oder  Herrn  Dr.  Gille  s  van  der  Hek  zu  über- 
geben, am  sie  mir  mit  den  für  den  Hof  bestimmten  Brief- 
schaften 2n  Übersenden,  oder  anch  sich  einer  andern 
passenden  Gelegenheit  dafür  su  bedienen.  Ich  füge 
nur  das  Eine  hinxu,  dass  Sie,  wenn  Sie  hierher  kommen, 
«in  eines  Philosophen  würdiges  Leben  mit  Freaden 
gemessen  werden,  wenn  nicht  sonst  Etwas  wider  unser 
Hoffen  und  Meinen  sich  ereignen  sollte,  ffiermit  leben 
Sie  wohl  und  bleiben  Sie  gesund.  Ich  bin, 
herühmter  Herr, 

Ihr  ergebener 
J.  Ludwig  Fabricius, 
Professor  an  der  Universil&t  zu  Heidelberg 
und  Kurfürstlicti-Pf&lzischer  Rath. 


Vierundfunfzigater  Brief  (vom  30.  März  1673). 
Von  Spinoza  an  Fabricia8. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Geehrter  Herr! 
Hfttte  ich  jemals  den  Wunsch  gehabt,  eine  Pro- 
fessur in  einer  Fakultät  zu  übernehmen,  so  würde  ich 
mir  nur  die  gewünscht  haben,  welche  mir  von  dem 
Durchlauchtigsten  Kurfürsten  von. der  Pfalz  durch  Sie 
angetragen  wird,  hauptsächlich  wegen  der  für  die  Philo- 
sophie durch  den  Kurfürsten  gnädigst  gestatteten  Frei- 
heit, ohne  zu  erwähnen,  dass  es  schon  läno^st  mein 
Wunsch  war,  unter  der  Herrschaft  eines  Fürsten  zu  leben, 
dessen  Weisheit  von  Allen  bewundert  wird.  Allein  ich  war 
nie  Willens,  öffentlich  als  Lehrer  aufzutreten  und  kann 
mich  daher  nicht  entschliessen,  diese  ehrenvolle  Gelegen- 
heit zu  benutzen,  obgleich  ich  mir  die  Sache  lange  über- 
legt habe.  Zunächst  sage  ich  mir,  dass  ich  in  der  Beförder- 
ung der  Philosophie  nichts  leisten  kann,  wenn  tchdemUn- 
terricht  der  Jugend  obliegen  soll;  ferner  weiss  ich  nicht, 
in  welchen  Schranken  diese  Freiheit,  zu  pbilosophiren, 
«ich  halten  soll,  ohne  die  öffentlich  angenommene  Beligion 
2U  stören.    Spaltungen  entstehen  hier  nicht  sowohl  aus 

13* 

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182     ^^-  Briet    Spinosa  an  Fabridos.   LV.  Brief. 

übertriebenem  Religionseifer,  als  aus  den  mancherlei 
menschlichen  Leidenschaften  und  dem  Geist  des  Wider- 
spruchs, mit  dem  man  Alles,  auch  wenn  es  richtig 
ausgedrückt  ist,  su  entstellen  und  zu  verdammen  pflegt 
Da  ich  dies  nun  schon  erfahren  habe,  obgleich  ich  ein 
einsames  Leben  für  mich  führe,  so  ist  dies  um  so  mehr 
zu  fürchten,  wenn  ich  zu  dieser  Würde  emporgestiegen 
sein  werde.  Sie  sehen,  geehrter  Herr,  dass  nicht  die 
Aussicht  auf  ein  grösseres  Glück  mich  schwankend 
macht,  sondern  die  Liebe  zur  Ruhe,  welche  ich  mir 
einigermassen  erhalten  zu  können  glaube,  wenn  ich 
mich  öffentlicher  Vortrftge  enthalte.  Ich  bitte  Sie  da- 
her inständig,  Sr.  Durchlaucht  den  Kurförsten  um  eine 
längere  Bedenkzeit  für  mich  zu  ersuchen  und  dass  Sie 
fortfahren,  die  Gunst  des  gnädigen  Fürsten  seinem 
unterthänigsten  Verehrer  zu  erhiuten.  Dadurch  wer- 
den Sie  nur  immer  mehr  verpflichten, 
geehrter  Herr, 

Ihren  Diener 
B.  V.  Spinoza« 
Im  Haag,  den  30.  März  1678. 


Fun fundfunfzigßter  Brief  (Vom  14.  Sept  1674X 

Von  . "•)  an  Spinoza. 

(üebersetzung  aus  dem  holländischen  OriginaL) 

Berühmter  Mann! 
Ich  schreibe  an  Sie,  um  Ihre  Ansicht  über  Erschei- 
nungen und  Gespenster  oder  Geister  zu  erfUiren 
und  im  Fall  es  deren  giebt,  was  Sie  davon  halten  und  wie 
lange  deren  Leben  währt;  denn  Manche  halten  sie  f^ 
unsterblich.  Manche  für  sterblich.  Bei  meinem  Zweifel, 
ob  Sie  annehmen,  dass  es  deren  ^be,  sage  ich  weiter 
nichts.  Uebrigens  ist  es  gewiss,  dass  die  Alten  an  sie 
geglaubt  haben.  Auch  die  heutigen  Theologen  und  Philo- 
sophenglauben,  dass  es  deren  gebe,  wenn  sie  auch  Über 
deren  Wesen  nicht  einig  sind«  Manche  sagen,  sie  bestXnr 

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üeber  Gespenster  und  Geister.  Ig3 

-den  aas  dem  dünnsten  und  feinsten  Stoffe,  nach  Anderen 
sollen  sie  nnr  geistig  sein.  Indes  s  weichen  wir  viel- 
leicht, (wie  gesagt)  sehr  von  einander  ab ,  weil  ich 
nicht  weiss,  ob  Sie  zugeben,  dass  sie  bestehen,  ob- 
gleich, wie  Sie  wissen,  es  davon  so  viele  Erzählungen 
und  Fälle  im  ganzen  Alterthume  giebt,  dass  es  wirk- 
lich schwer  sein  möchte,  die  Sache  zu  leugnen  oder 
zu  bezweifeln.  Sicher  ist,  was  Sie  indess,  wenn  sie 
-einräumen,  dass  sie  bestehen,  nicht  glauben  werden, 
dass  einige  die  Seelen  von  Verstorbenen  sind,  wie  die 
Vertheidiger  des  Komischen  Glaubens  wollen.  Ich 
schliesse  hier  und  erwarte  Ihre  Antwort.  Ich  erwähne 
nichts  vom  Kriege  und  von  den  Gerüchten;  leider  müssen 
•wir  solche  Zeiten  erleben;  u.  s.  w.  Leben  Sie  wohl. 
Den  14.  September  1674. 


Sechsuudfunfztgster  Brief  (Vom  Sept.  1674). 
Von  Spinoza  an  den  hochgeehrten  Herrn 

(Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 
(Das  Original  ist  holländisch«) 

Hochgeehrter  HerrI 

Ihr  Brief,  den  ich  gestern  erhielt,  war  mir  sehr 
willkommen,  da  ich  mich  nach  Nachricht  von  Ihnen 
sehnte  und  sah,  dass  Sie  mich  noch  nicht  ganz  ver- 
gessen haben.  Andere  würden  freilich  es  als  eine  böse 
Vorbedeutung  oder  <Ue  Geister  für  die  Ursache  nehmen, 
dass  Sie  mir  geschrieben;  allein  ich  finde  mich  leichter 
darein  und  bedenke,  dass  nicht  blos  wahre  Dinge, 
sondern  auch  Possen  und  Einbildungen  mir  Nutzen 
bringen  können. 

Indessen  wollen  wir  die  Frage  bei  Seite  lassen, 
ob  nämlich  die  Gespenster  nur  Erzeugnisse  der  Phan- 
tasie und  Einbildung  seien;  Sie  bestreiten  es  nicht  blos, 
sondern  halten  auch  Zweifel  darüber  für  so  selten,  wie 
Derjenige,  welcher  durch  so  viele  Geschichten,  welche 
die  Jjeute  jetzt  und  sonst  erzählt  haben,  überzeugt 
worden  ist.  Die  grosse  Achtung  und  Ehrerbietung, 
die  ich  stets  und  noch  jetzt  für  Sie  hege,  erlaubt  mir 
nieht,  zu  widersprechen  und  noch  weniger,  Ihnen  zu 

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184  LVI.  Brief    Von  Spinoza  an 


scbmeicheln.  Das  Mittel,  das  ich  anwenden  will,  ist^ 
dass  Sie  ans  den  vielen  Geschichten,  welche  Sie  Über 
Gespenster  gelesen  haben,  eine  oder  die  andere  ge- 
flilligst  auswählen  möchten,  die  völlig  fflaabwfirdi|^  ist 
nnd  das  Dasein  von  Gespenstern  klar  beweist  Denn 
ich  mnss  Ihnen  gestehen,  ich  habe  noch  keinen  glaub- 
würdigen Schriftsteller  gefunden,  welcher  klar  bewiese, 
dass  es  deren  giebt.  Anch  weiss  ich  bis  jetzt  nicht, 
was  sie  sind  nnd  Niemand  hat  mir  dies  je  sagen  können. 
Und  doch  ist  es  gewiss,  dass  man  von  einem  Gegen- 
stand, den  die  Erfahrung  so  klar  aufweisen  soll,  wissen 
muss,  was  er  ist,  sonst  kann  man  nnr  schwer  aus  einer 
Erzfihlung  das  Dasein  von  Gespenstern  folgern;  man 
folgert  zwar,  dass  sie  Etwas  seien,  aber  Niemand  weiss, 
was  sie  sind.  Wenn  Philosophen  sie  Gespenster  nennen, 
was  ich  nicht  weiss,  so  trete  ich  dem  nicht  entgegen, 
weil  es  unzählige  Dinge  giebt,  die  ich  nicht  kenne. 

Also  bitte  ich,  verehrter  Herr,  dass  Sie  mir,  ehe 
ich  mich  weiter  über  diesen  Gegenstand  erkläre,  sagen, 
was  diese  Gespenster  oder  Geister  sind?  Sind  es 
Kinder,  Thoren  oder  Verrückte?  Das,  was  ich  von 
ihnen  vernommen,  passt  mehr  zu  Thoren  als  zu  Wei- 
sen und  Ühnelt,  um  es  noch  im  besten  Sinne  auszu- 
legen, kindischen  Dingen  und  dem  Spiel  der  Thoren. 
Ehe  ich  schliesse,  sage  ich  Ihnen  nur  noch  das  Eine, 
nfimlich  dass  die  Neigung  der  meisten  Menschen,  die 
Dinge,  nicht  wie  sie  wirklich  sind,  sondern  wie  sie  sie 
wünschen,  zu  erzählen,  sich  am  leichtesten  aus  den 
Erzählungen  über  Geister  und  Gespenster  und  deiv 
gleichen  ergiebt.  Der  Hauptgrund  daflir  ist,  nach 
meiner  Ansicht,  dass  dergleichen  Geschichten  keine 
andere  Zeugen  haben  als  deren  Erzähler;  deshalb  kann 
dieser  nach  Gefallen  Nebenumstände,  wie  es  ihm 
passend  scheint,  zusetzen  oder  wegnehmen,  ohne  dass 
er  den  Widerspruch  von  Jemand  zu  fürchten  braucht. 
Man  macht  sicn  solche  Geschichten  vorzüglich  zurecht, 
um  die  Furcht,  die  man  durch  Träume  und  Phantasie- 
bilder bekommen  hat,  zu  rechtfertigen,  oder  auch  um 
seine  Kühnheit  oder  Glaubwürdigkeit  zu  zeigen,  oder 
seine  Meinune;  zu  bestätigen.  Daneben  habe  ich  noch 
andere  Gründe  ffeiunden,  die  mich  aber  nicht  an  den 
Geschichten    selbst,    doch    an    den    erzählten   Neben- 

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üeber  Gespenster  und  Geister.  Ig5 

umstünden  zweifeln  lassen  und  gerade  in  diesen  liegt 
das  Meiste  fiir  die  Folgerungen,  die  man  aas  diesen 
Gescbicliten  ableiten  will.  Hier  breche  ich  ab,  bis 
ich  erfahren  haben  werde,  welches  die  Geschichten 
sind,  die  Sie  so  überzeugt  haben,  da$s  daran  zu  zweifeln, 
Ihnen  widersinnig  scheint  u.  s.  w.'**^) 


Siebenundfunfzigster  Brief 
(Vom  21.  September  1674) 

Von an  Spinoza. 

(Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 
(Das  Onginal  ist  hollfindisch  geschrieben.) 

Mein  scharfsinniger  Herr! 

Ich  erwartete  keine  andre  Antwort,  als  ich  erhalten, 
von  einem  Mann,  der  mein  Freund  ist  und  eine  andre 
Ansicht  hat.  Dies  macht  mir  keine  Sorge,  denn 
Freunde  können  immer  in  unerheblichen  Dingen,  un- 
beschadet ihrer  Freundschaft,  verschiedener  Meinung  sein. 

Sie  verlangen,  dass  ich  Ihnen,  ehe  Sie  Ihre  An- 
sicht über  die  Gespenster  und  Geister  aussprechen, 
sage,  ob  sie  Kinder,  Thoren  oder  Verwirrte  sind  u.  s.  w. 
Sie  ftlgen  hinzu,  dass,  was  Sie  darüber  gehört,  eher 
von  verrückten  als  von  gescheuten  Leuten  ausgegangen 
sei.  Allein  es  giebt  ein  Sprichwort,  dass  das  Vor- 
nrtheil  die  Erkenntniss  der  Wahrheit  hindert 

Ich  meine,  dass  es  aus  folgenden  Gründen  Ge- 
spenster giebt.  Sie  gehören  erstens,  sowie  sie  sind, 
zur  Schönheit  und  Vollkommenheit  des  Weltalls. 
Zweitens  ist  es  wahrscheinlich,  dass  der  Schöpfer  sie 

feschafPen  hat,  weil  sie  ihm  ähnlicher  sind  als  die 
örperlichen  Dinge;  drittens  bestehen  Körper  ohne 
Seelen,  also  können  auch  Seelen  ohne  Körper  be- 
stehen. Viertens  endlich  glaube  ich,  dass  in  der  Luft, 
dem  Haume  oder  Orte  in  der  Höhe  es  keinen  dunklen 
Körper  giebt,  der  nicht  seine  Bewohner  hat;  deshalb 
wird  der  unermessliche  Kaum  zwischen  uns  und  den 
Gestirnen  nicht  leer,  sondern  mit  Geistern,  als  Be- 
wohnern, angeftillt  sein.  Vielleicht  sind  die  höchsten 
und  entferntesten  wahre  Geister  und  die  untersten  in 

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186         I"^^*  Brief.    Von aa  Spinoza. 

der  untersten  Luft  Geschöpfe  von  den  feinsten  und 
zartesten  Stoffe  und  überdem  unsichtbar.  Ich  fflaube 
daher,  dass  es  Geister  aller  Art  giebt,  nur  viculeicht 
keine  weiblichen. 

Diese  Gründe  werden  die,  welche  dreist  glauben, 
die  Welt  sei  durch  Zufall  entstanden,  nicht  über- 
zeugen. Allein  auch  die  tägliche  Erfahrung,  abgesehen 
von  diesen  Gründen,  zeigt,  dass  es  Gespenster  giebt 
und  es  giebt  eine  Menge  alte  und  neue  Geschichten 
über  sie.  Plutarch  hat  deren  in  seinem  Werke  über 
berühmte  Männer  und  in  andern  seiner  Werke;  ebenso 
Sueton  in  den  Lebensbeschreibungen  der  Kaiser; 
auch  in  den  Werken  von  W  i  e  r u  s  ***)  und  L  a v  at  e  r  **•) 
über  die  Gespenster;  beide  haben  ausführlich  über 
diesen  Gegenstand  gehandelt  und  diese  Geschichten 
aus  den  verschiedensten  Schriftstellern  gesammelt 
Auch  der  wegen  seiner  Gelehrsamkeit  berühmte  Gar- 
danus*^)  spricht  von  ihnen  in  seinen  Büchern  über 
die  Freiheit,  über  die  Mannichfaltigkeit  und  in  seiner 
Lebensbescbreibung,  wo  er  aus  Wahrnehmungen  zeigt, 
dass  dergleichen  ihm,  seinen  Verwandten  und  Freunden 
erschienen  seien.  Auch  Melanchthon,  ein  kluffer, 
wahrhaftiger  Mann  und  viele  Andere  bezeugen  dies 
aus  ihren  eigenen  Erfahrungen.  Ein  Bürgermeister, 
ein  gelehrter  und  weiser  Mann,  der  noch  lebt,  hat 
mir  einmal  erzählt,  dass  er  des  Nachts  in  der  Bier- 
brauerei seiner  Mutter  dasselbe  Geräusch  gehört  habe 
als  wie  am  Tage,  wenn  das  Bier  gebraut  worden  und  er 
versicherte,  dass  er  dies  öfters  gehört  habe.  Dasselbe 
ist  mir  selbst  wiederholt  begegnet,  was  ich  niemals  ver- 
gessen werde.  Deshalb  bin  ich  auf  Grund  dieser  Erfahr- 
ungen und  Beweise  überzeugt,  dass  es  Gespenster  giebt. 

Was  die  bösen  Geister,  welche  die  armen  Menschen 
in  diesem  und  jenem  Leben  quälen,  und  die  Magie  an- 
langt,' so  halte  ich  die  Geschichten  hierüber  für  Fabeln. 
Sie  werden  eine  Menge  Nebenumstände  in  den  Büchern, 
welche  über  die  Geister  handeln,  finden.  Auch  können 
Sie  ausser  den  angeftlhrten  Werken,  wenn  es  Ihnen  be- 
liebt, den  zweiten  Fl inius  Buch VII,  und  swar  den  Brief 
an  Sura,  nachsehen;  auch  den  Sueton,  im  32.  Ka^.  des 
Lebens  von  Julius  Gäsa)r;  den  Valerius  Maximas 
Kap.  8,  Buch  I,  Abschn.  7  und  8  und  den  Alexander 

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Belege  fär  das  Dasein  von  Geisiern.  Ig7 

von  Alexandra 8***)  in  seinem  Werke  über  die 
Geistertage,  da  ich  annehme,  dass  diese  Bücher  bei 
Ihnen  vorhanden  sind.  Ich  spreche  nicht  von  den 
Mönchen  und  Geistlichen,  die  so  viele  Geschichten 
von  Erscheinungen  und  Gesichtern  der  Seelen  und 
bösen  Geister  und  so  viele,  so  zu  sagen,  Fabeln  von 
Gespenstern  erzählen,  dass  dem  Leser  die  Masse  zum 
Ekel  wird.  Auch  der  Jesuit  Thyräus**')  behandelt 
•dergleichen  in  seinem  Buche  über  Geistererscheinungen. 
Indess  behandeln  diese  dergleichen  nur  des  Gewinnes 
wegen,  um  zu  beweisen,  dass  das  Fegefeuer  besser 
ist;  dergleichen  wird  ihnen  zu  einer  Grube,  aus  der 
sie  Massen  von  Gold  und  Silber  hervorholen.  Aber 
bei  den  oben  erwähnten  neuen  Schriftstellern  ist  dies 
nicht  der  Fall;  sie  sind  unparteiisch  und  verdienen  des- 
halb mehr  Glauben. 

Als  Antwort  auf  Ihren  Brief,  wo  Sie  der  Thoren 
und  Blödsinnigen  erwähnen,  setze  ich  den  Schluss 
her,  womit  der  gelehrte  Lavater  sein  erstes  Buch 
über  die  Gespenster  oder  Geister  schliesst:  9,Wer  es 
^wagt,  so  viele  einstimmige  Zeugen  aus  alter  und 
^neuer  Zeit  zu  verleugnen,  scheint  selbst  mir  keinen 
^Glauben  zu  verdienen.  Es  ist  sicher  ein  Zeichen 
^des  Leichtsinns,  wenn  man  allen  Denen  gleich  glaubt, 
^die  einmal  Gespenster  gesehen  haben  wollen;  allein 
^es  ist  ebenso  ein  Zeichen  vqn  grosser  Unverschämt* 
^heit,  wenn  man  umgekehrt  so  vielen  glaubwürdigen 
, Geschichtsschreibern,  Kirchenvätern  und  andern  au- 
sgesehenen Männern  leichthin  und  dreist  wieder  spricht.^ 

Den  21.  Sep.  1674. 


AchtundfunfzigsterBrief  (Vom  Oktober  1674). 
Von  Spinoza  an  Herrn 

.  (Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 
(Der  lateinische   Text   int   eine  üebersetzung    des   hollän- 
dischen Originals.) 

Hochgeehrter  Herr! 
Da  Sie  in  Ihrem  Briefe  vom  21.  vorigen  Monats 
sagen,  dass  Freunde   in  unerheblichen  Dingen,  unbe- 
schadet ihrer  Freundschaft,  verschiedener  Meinung  sein 

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Igg  LYIIl.  Brief.    Von  Spinoza  an 


können,  so  werde  ich  im  Vertrauen  hierauf  Ihnen  offen 
sagen,  was  ich  üher  die  Gründe  und  Geschichten  denke, 
ans  denen  Sie  folgern,  „dass  es  Geister  aller  Art,  nur 
yielleicht  „keine  weiblichen  Geschlechts  gebe.^  Ich 
habe  Ihnen  nicht  eher  geantwortet,  weil  ich  die  von 
Ihnen  angezogenen  Bücher  nicht  zur  Hand  habe  und 
keines,  ausser  dem  Plinius  und  Suetonius,  habe  finden 
können.  Doch  werden  diese  beiden  mich  wohl  der 
Mühe  überheben,  die  übrigen  zu  untersuchen,  da  ich 
überzeugt  bin,  dass  sie  alle  gleicher  Weise  Unsinn  be- 
richten und  die  Geschichten  von  ausserordentlichen 
Dingen  lieben,  welche  die  Menschen  staunen  machen 
und  in  Verwunderung  versetzen.  Ich  gestehe  dass 
nicht  sowohl  die  erzählten  Geschichten,  sondern  die, 
welche  sie  berichten  mich  in  Staunen  versetzt  haben. 
Ich  wundre  mich,  wie  Männer  von  Geist  und  Urtheil, 
ihr  Talent  so  verwenden  und  missbrauchen  können, 
um  uns  dergleichen  Possen  glauben  zu  machen. 

Doch  lassen  wir  die  Schriftsteller  und  wenden  wir 
uns  zur  Sache.  Zunächst  möchte  ich  den  Scbluss  Ihres 
Briefes  einer  kleinen  Prüfling  unterziehen.  Wir  wollen 
sehen,  ob  ich,  der  ich  leugne,  dass  es  Gespenster  und 
Geister  gebe,  die  Schriftsteller,  welche  darüber  berichten, 
deshalb  schlechter  verstehe  und  ob  Sie.  der  dergleichen 
annimmt,  diese  Schriftsteller  nicht  höher  stellen,  als  sie 
es  verdienen.  Wenn  Sie  einerseits  nicht  zweifeln,  dass 
es  Geister  männlichen  Geschlechts  gebe,  so  gleicht  dies 
mehr  einem  Spiel  der  Einbildungskraft  als  einem  ver- 
nünftigen Zweifeln;  wäre  dies  Ihre  Ansicht,  so  würde  sie 
mit  dem  Volksglauben  zusammentreffen,  wonach  Gott 
männlichen  und  nicht  weiblichen  Geschlechts  ist.  Ich 
wundre  mich,  dass  die,  welche  die  Gespenster  nackt  ge- 
sehen, nicht  nach  Ihren  Schamtheilen  geblickt;  vielleicht 
haben  sie  sich  gefürchtet  oder  haben  den  Unterschied 
nicht  gekannt.  Sie  nennen  dies  Spott  und  keine  Be- 
gründung und  ich  sehe  daraus,  dass  Sie  Ihre  Gründe  für 
so  stark  und  gut  halten,  dass  Niemand  denselben  wider- 
sprechen könne  (wenigstens  nach  Ihrem  Urtheile),  'er 
müsste  denn  verkehrter  Weise  annehmen,  die  Welt  sei 
aus  Zufall  entstanden.  Dies  veranlasst  mich,  ehe  ich  Ihre 
Gründe  prüfe,  Ihnen  meine  eigne  Meinung  über  diese  zu- 
fällige Schöpfung  der  Welt  mitzutheilen.  Ich  meine,  dass, 

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Widerlegung  der  Gründe  für  das  Dasein  von  Oeistem.  Ig9 

wenn  Zufall  und  Noth wendigkeit  Gegensätse  sind,  offen- 
bar der,  welcher  die  Welt  als  eine  nothwendige  Wir- 
kung der  göttlichen  Natur  annimmt,  auch  damit  leugnet, 
dass  sie  aus  Zufall  entstanden  sei;  dagegen  besagt  der, 
welcher  meint,  Gott  hfttte  auch  die  Welt  nicht  zu 
schaffen  brauchen,  wenn  auch  mit  andern  Worten,  dass 
sie  aus  Zufall  entstanden  sei,  weil  sie  von  einem  Willen, 
der  auch  nicht  sein  konnte,  ausgegangen  ist.  Da  nun 
diese  Meinung  und  Ansicht  ganz  widersinnig  ist,  so  giebt 
man  einstimmig  zu,  dass  Gottes  Wille  ewig  und  nie- 
mals unbestimmt  gewesen  sei;  aber  Sie  müssen  dann 
auch  anerkennen  (merken  Sie  wohl),  dass  die  Welt 
eine  nothwendige  Wirkung  der  göttlichen  Natur  ist. 
Sie  möffen  dies  Wille,  Einsicht  oder  sonst  wie  nennen, 
so  werden  Sie  doch  immer  nur  dahin  kommen,  dass 
Sie  dieselbe  Sache  nur  mit  verschiedenen  Namen  be- 
zeichnen. Fragt  man  Jene,  ob  Gottes  Wille  nicht  von  dem 
des  Menschen  verschieden  sei,  so  antworten  sie,  dass  jener 
nur  den  Namen  mit  diesen  gemein  habe;  auch  räumen  sie 
meistentheils  ein,  dass  Wille,  Verstand  oder  Natur  ein 
und  dasselbe  sei.  Auch  ich  theile,  um  die  göttliche  Natur 
nicht  mit  der  menschlichen  zu  vermengen,  Gott  keine 
menschlichen  Eigenschaften,  wie  Willen,  Verstand  und 
Aufmerksamkeit,  Gehör  zu  und  ich  wiederhole  des- 
halb, dass  die  W^elt  eine  nothwendige  Wirkung  der 
göttlichen  Natur  und  nicht  aus  Zufall  entstanden  ist. 

Dies  wird  Sie  hoffentlich  überzeugen,  dass  Die, 
welche  (wenn  es  deren  geben  sollte)  die  Welt  för  zu- 
fällig geschaffen  halten,  das  Gegentheil  von  mir  an- 
nehmen, und  hierauf  gestützt,  gehe  ich  zur  Prüfung 
der  Gründe  über,  aus  denen  Sie  das  Dasein  von  Ge- 
spenstern aller  Art  abnehmen.  Im  Allgemeinen  kann 
ich  hier  nur  sagen,  dass  diese  Gründe  mir  eher  Ver- 
muthungen  zu  sein  scheinen  und  dass  ich  kaum  glauben 
kann,  dass  Sie  sie  für  Beweisgründe  ansehen.  Doch  wollen 
wir  sehen,  ob  man,  mögen  sie  Gründe  oder  Vermuth* 
angen  sein,  sie  ftir  gerechtfertigt  ansehen  kann. 

Ihr  erster  Grund  ist,  dass  das  Dasein  derselben  zur 
Schönheit  und  Vollkommenheit  desWeltalls  gehöre.  Allein 
die  Seh  önheit,  hochgeehrter  Herr,  ist  nicht  sowohl  eine 
Eigenschaft  des  wahrgenommenen  Gegenstandes,  als  eine 
Wirkung  in  Dem,  der  wahrnimmt.    Siihen  unsere  Augen 

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190  LVm.  Brief.    Von  Spinoza  an 


weiter  oder  kttrser,  oder  wäre  unsere Gremilths Verfassung 
eine  andere,  so  würde  uns  das  jetzt  Schöne  hSsslich  und 
das  jetzt  Hftssliche  schön  vorkommen.  Die  schönste 
Hand  sieht,  durch  das  Mikroskop  hesehen,  erschreckend 
aus.  Manches  ist  aus  der  Ferne  gesehen  schön  und  in 
derNftheH&sslich;  sodass  die  Dinge  an  sich  oder  fElr 
Gott  weder  schön  noch  hftsslich  sind.  **^)  Wer  also  sagt, 
Gott  hahe  die  Welt  geschaffen,  damit  sie  schön  sei,  muss 
entweder  annehmen,  dass  Gott  die  Welt  nach  den  Wün- 
schen und  Augen  der  Menschen  oder  die  Wünsche  und 
Augen  der  Menschen  nach  der  Welt  eingerichtet  habe. 
Aber  in  beiden  FftUen  sehe  ich  noch  nicht  ein,  weshalb 
Gott  Gespenster  und  Geister  erschaffen  müsse,  damit  Eines 
von  beiden  Statt  habe.  Die  Vollkommenheit  und  Unvoll- 
kommenheit  sind  Namen ,  die  von  denen  der  Schönheit 
und  Hässlichkeit  wenig  sich  unterscheiden.  Ichfra^e  also, 
um  nicht  zu  weitlftuftig  zu  werden,  nur,  was  mehr  sur 
Schönheit  und  Vollkommenheit  der  Welt  beitrXgt,  die 
Gespenster  oder  die  mannigfachen  ungeheuer  der  Cen- 
tauren, Hydem,  Harpjen,  Satyrn,  Greifen,  Argusse  und 
andere  dergleichen  rossen?  Die  Welt  wäre  wahrhaftig 
schön  geschmückt  worden,  wenn  Gott  sie  nach  dem  Be- 
lieben unsrer  Einbildungskraft  mit  Wesen  geschmückt 
und  eingerichtet  hätte,  die  Jeder  leicht  sich  bildet 
oder  erträumt,  aber  Niemand  zu  verstehen  vermag. 
Ihr  zweiter  Grund  ist,  dass  die  Geister  mehr  als  die 
erschaffenen  körperlichen  Dinge  das  Bild  Gottes  dar- 
stellen und  Gott  sie  daher  auch  wahrscheinlich  erschaffen 
habe.  Indess  gestehe  ich,  dass  ich  bis  jetzt  noch  nicht 
weiss,  wodurch  die  Geister  mehr  als  andere  Geschöpfe 
Gott  ausdrücken.  Das  weiss  ich,  dass  es  zwischen  End- 
lichem und  Unendlichem  keine  Beziehung  giebt;  deshalb 
unterscheidet  sich  das  grösste  und  vorzüglichste  Geschöpf 
von  Gott  nicht  anders  als  das  geringste;  es  ist  daher  dieser 
Umstand  ohne  Einfluss.  Hätte  ich  von  den  Gespenstern 
eine  so  klare  Vorstellung,  wie  von  dem  Dreieck  od«r  dem 
Kreise,  so  würde  ich  nicht  zweifeln,  dass  Gt>tt  sie  ge- 
schaffen habe;  allein  da  die  Vorstellung,  die  ich  von  ihnen 
habe,  ganz  denen  gleicht,  die  ich  über  Haroyen,  Greife, 
Hydem  u.  s.  w.  in  meiner  Einbildungskraft  nnde,  so  kann 
ich  sie  nur  als  Träume  behandeln,  die  sich  von  Gott,  wie 
das  Nicht-Ding  von  dem  Dinge  unterscheiden. 

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Widerlegung  der  ßehauptung,  dass  es  Gespenster  gebe.  191 

Ihr  dritter  Gmnd  (nämlich,  dass,  weil  es  Kdiper 
ohne  Seele  gebe,  es  auch  Seelen  ohne  Körper  geben 
müsae)  scheint  mir  ebenso  verkehrt.  Ich  frage  Sie, 
ob  es  dann  nicht  ebenso  wahrscheinlich  wäre,  dass  es 
ein  Gedächtniss,  ein  Hören,  ein  Sehen  ohne  Körper 
gäbe,  weil  man  Körper  ohne  Gedächtniss,  Hören  und 
Sehen  antrifft?  Giebt  es  wohl  eine  Kugel  ohne  Kreis, 
weil  es  einen  Kreis  ohne  Kugel  giebt? 

Ihr  vierter  Grund  fällt  mit  dem  ersten  zusammen, 
weshalb  ich  mich  auf  meine  dortige  Antwort  beziehe. 
Hier  will  ich  nur  bemerken,  dass  ich  nicht  weiss,  was 
das  Obere  und  Untere  in  dem  unendlichen  Stoffe  sein 
soll,  so  lange  Sie  nicht  die  Erde  als  den  Mittelpunkt 
der  Welt  ansehen.  Ist  die  Sonne  oder  der  Saturn 
dieser  Mittelpunkt,  so  sind  die  Sonne  oder  Saturn, 
aber  nicht  die  Erde  das  Unterste.  Indem  ich  daher 
dies  und  das  Uebrige  übergehe,  schliesse  ich  damit, 
dass  diese  und  ähnliche  Gründe  nur  Die  von  dem 
Dasein  der  Gespenster  und  Geister  aller  Art  überzeugen 
werden,  welche  ihre  Ohren  und  ihren  Verstand  ver- 
schliessen  und  von  dem  Aberglauben. sich  leiten  lassen, 
welcher  der  wahren  Vernunft  so  feindlich  ist,  dass  er, 
um  die  Philosophen  herabzusetzen,  lieber  alten  Weibern 
glaubt« 

Was  die  Berichte  anlangt,  so  habe  ich  schon  in 
meinem  ersten  Briefe  gesagt,  dass  ich  nicht  diese, 
sondern  die  daraus  gezogenen  Folgerungen  bestreite. 
Dazu  kommt,  dass  ich  sie  nicht  für  so  glaubwürdig 
halte,  um  nicht  an  vielen  Nebenumständen  zu  zweifeln, 
die  oft  mehr  des  Schmuckes  wegen  beigeftigt  werden, 
aber  die  Wahrheit  der  Berichte  und  des  daraus  Ge- 
folgerten nicht  glaubwürdiger  machen.  Ich  hätte  ge- 
hofft, Sie  würden  aus  so  vielen  Geschichten  eine  oder 
die  andere  anfuhren,  die  nicht  bezweifelt  werden 
könnte  und  deutlich  zeigte,  dass  Gespenster  und  Geister 
bestehen.  Wenn  der  genannte  Bürgermeister  deshalb, 
weil  er  in  seiner  Mutter  Bierbrauerei  die  Gespenster 
des  Nachts  hat  so  arbeiten  hören,  wie  es  am  Tage  zu 
geschehen  pflegte,  daraus  schliesst,  dass  es  deren  giebt, 
so  scheint  mir  dies  nur  lächerlich  und  es  würde  zu 
lang  werden,  wenn  ich  hier  all  die  Geschichten,  welche 
diese  Thorheiten  berichten,  prüfen  wollte. 

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192  I'IX.  Brief.    Von an  Spinoza. 

Um  also  kturs  zu  sein,  beziehe  ich  mich  auf  Julius 
Cftsar,  welcher  nach  Sueton  dergleichen  verlachte  und 
doch  nach  dem,  was  Sueton  im  Kap.  59  dessen  Lebens 
über  diesen  Fürsten  berichtet,  glücklich  war.  Alle,  welche 
die  Einbildungen  der  Menschen  und  die  Wirkungen  der 
Leidenschaften  erwägen,  müssen  ebenso  darüber  lachen, 
trotzdem,  was  Lavater  und  Andere,  die  mit  ihm  in  diesen 
Dingen  geträumt  haben,    dagegen  vorbringen    mögen. 


Neunundfunfzigster    Brief. 
(Aus  dem  Jahre  1674). 

Ton an  Spinoza. 

(Die  Antwort  auf  den  vorBtehend^ii  Briel) 

(Der  lateinische  Text  ist  eine  üebersetzung  des 
holländischen  Originals.) 

Scharfsinniger  Herr! 

Auf  Ihre  Ansichten  antworte  ich  etwas  spät,  da 
ein  Unwohlsein  mich  der  Freude  des  Studiums  und 
des  Nachdenkens  beraubte  und  an  dem  Schreiben  ver- 
hinderte. Jetzt  bin  ich,  G-ott  sei  Dank,  wieder  her- 
gestellt. Ich  folge  in  meiner  Antwort  den  Fusstapfen 
in  Ihrem  Briefe  und  lasse  Ihre  erregten  Aeussemngen 
gegen  die  Schriftsteller  über  Gespenster  bei  Seite. 

Ich  glaube  also  deshalb  an  keine  Gespenster  weib- 
lichen Geschlechts,  weil  ich  keine  Erzeugung  bei  den  Ge- 
spenstern annehme.  Ich  übergehe  dies,  da  es  mich  nichts 
angeht,  welcher  Gestalt  und  Zusammensetzung  sie  sind. 
—  Man  nennt  Etwas  zufällig,  wenn  es  ohne  Absicht  des 
Urhebers  entsteht.  Wenn  man  die  Erde  aufgräbt,  um 
Weinstöcke  zu  pflanzen  oder  eine  Grube  zu  einem  Be- 
gräbniss  zu  machen  und  dabei  einen  Schatz  findet,  an  den 
man  niemals  gedacht  hat,  so  nennt  man  dies  ein  lufldliges 
Ereigniss.  Dagegen  sagt  man  von  dem,  der,  soweit  er 
kann,  nach  seinem  freien  Willen  wirkt  oder  nicht 
wirkt,  nicht,  dass  er  zufällig  wirke,  wenn  er  wirkt; 
sonst  würden  alle  menschlichen  Handlungen  zufiKllig 
geschehen,  was  widersinnig  wäre.    Nothwendigkeit  und 

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Gründe  für  das  Dasein  von  Geistern.  193 

Freiheit  sind  Gegensätze,  aber  nicht  Nothwendigkeit 
und  Zufall.  Wenn  auch  Gottes  Wille  ewig  ist,  so 
folgt  doch  noch  nicht,  dass  die  Welt  ewig  sei,  weil 
Gott  von  Ewigkeit  hat  bestimmen  können,  dass  er  zu 
«iner  bestimmten  Zeit  die  Welt  erschaffe. 

Sie  bestreiten,  dass  Gottes  Wille  irgendwenn  unbe- 
stimmt sei;  dem  kann  ich  nicht  beitreten;  auch  braucht 
man  auf  diesen  Punkt  nicht  so  scharf  zu  achten,  wie  Sie 
meinen.  Auch  wird  nicht  allgemein  angenommen,  dass 
Gottes  Wille  nothwendig  sei,  da  dies  die  Nothwendigkeit 
einschliesst  und  man,  wenn  man  Jemand  Willen  zu- 
schreibt, damit  meint,  dass  er  nach  seinem  Belieben 
handeln,  oder  nicht  handeln  könne.  Schreibt  man  ihm 
«ber  die  Nothwendigkeit  zu,    so  muss  er  so  handeln. 

Sie  sagen  endlich,  dass  Sie  in  Gott  keine  mensek- 
lichenEigenschaften  zulassen,  um  Gottes  Nat«r  »eilt  mit 
der  des  Menschen  zu  vermengen.  SawMt  trete  ich  bei, 
denn  wir  wissen  nicht,  wie  Gott  handelt,  noch  wie  er 
will,  einsieht,  erwägt,  sdurat,  hört  u.  s.  w.  Allein  wenn 
Sie  diese  ThätigkeiUm  und  unsere  höchsten  Begriffe  über 
Gott  ableugnen  and  sie  weder  im  überwiegendem  Maasse 
noeh  metaphysisch'^)  im  Gott  zulassen,  dann  kenne  ich 
Jlirett  Gott  nicht  und  was  Sie  mit  dem  Worte  Gott 
meinen.  Was  man  nicht  wahrnimmt,  ist  deshalb  noch 
nicht  zu  bestreiten.  Die  Seele,  welche  Geist  und  un- 
körperlich ist,  kann  nur  durch  die  feinsten  Körper,  d.  h. 
durch  Dünste  wirken.  Und  welches  Verhfiltniss  besteht 
denn  zwischen  Körper  und  Seele?  Wie  wirkt  die 
Seele  auf  die  Körper?  Ohne  diese  ruht  auch  jene  und 
werden  sie  gestört,  so  wirkt  auch  die  Seele  in  ver- 
kehrter Weise.  Zeigen  Sie  mir,  wie  dies  geschieht.  Sie 
können  es  nicht;  ich  anch  nicht;  dennoch  sehen  und 
fühlen  wir,  dass  die  Seele  wirkt  und  dies  bleibt  wahr, 
wenn  wir  auch  die  Art,  wie  es  geschieht,  nicht  wahr- 
nehmen. Wenn  wir  in  ähnlicher  Weise  nicht  wissen,  wie 
Gott  wirkt  und  ihm  das  menschliche  Wirken  nicht  zu- 
theilen  können,  so  dürfen  wir  doch  bei  ihm  nicht  be- 
streiten, dass  seine  Werke  überwiegend  und  in  unbe- 
greiflicher Weise  mit  unseren  Wirksamkeiten,  wie  Wollen, 
Einsehen,  mit  dem  Verstände,  aber  nicht  mit  den  Augen 
oder  Ohren  sehen  oder  hören,  in  der  Weise  übereinstimmen, 
wie  der  Wind  und  die  Luft,  die  ohne  H&nde  oder  andere 

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194  LUL  Briet    Von an  Spinosa. 

Hülfsmittel  Lftnder  und  Berge  zerstören  and  verwüsteii 
kann;  was  den  Menschen  ohne  Hände  und  Maschinen  un- 
möglich ist.  Wenn  Sie  Gott  die  Nothwendigkeit  n- 
schreiben  und  ihm  den  Willen  oder  die  Wahlfreiheit 
nehmen,  so  möchte  man  sweifeln,  ob  Sie  dieses  nnend* 
liehe  und  vollkommene  Wesen  nicht  wie  ein  Ungeheuer 
schildern  und  darstellen.  Damit  Sie  Ihr  Ziel  erreichen, 
wird  es  anderer  Gründe  zur  Unterlage  bedürfen,  denn  In 
den  von  ihnen  angeführten  finde  ich  keine  Festigkeit  und 
wenn  Sie  sie  billigen,  so  sind  doch  noch  andere  da,  welche 
den  Ihrigen  vielleicht  das  Gleichgewicht  halten.  Doch 
ich  lasse  dies  bei  Seite  und  gehe  weiter. 

Sie  verlangen  zum  Beweis,  dass  es  Geister  in  der 
Welt  gebe,  direkte  Beweise;  allein  deren  giebt  es  nnr 
wenige  in  der  Welt,  und  mit  Ausnahme  der  Mathematik 
keine  so  gewissen,  als  wir  wünschen;  deshalb  muss  man 
sich  mit  Wahrscheinlichkeiten  und  passenden  Vermuth- 
ungen  begnügen.  Wfiren  alle  Gründe,  auf  die  wir  die  Be- 
hauptungen stützen,  Beweise,  so  könnten  nurThoren  und 
Eigensinnige  widersprechen.  Aber  so  glücklich  sind  wir 
nicht,  mein  werther  Freund.  Im  Leben  ist  man  weniger 
genau;  wir  machen  Vermuthungen  und  im  Mangel  an 
Beweisen  nehmen  wir  das  Wahrscheinliche  an.  Dies  zeigt 
sich  in  allen  Wissenschaften  über  göttliche  und  mensch- 
liche Dinge,  die  voll  von  Zweifeln  und  Streit  sind ;  deren 
grosse  Anzahl  ist  der  Grund,  dass  so  verschiedene  Mei* 
nungen  angetrofPen  werden.  Deshalb  hat  es,  wie  Sie 
wissen,  schon  in  alten  Zeiten  Philosophen  gegeben,  die 
man  Skeptiker  nannte  und  die  Alles  bezweifelten.  Sie 
stritten  für  und  gegen,  um  im  Mangel  wahrer  Gründe  das 
Wahrscheinliche  zu  erreichen  undJeder  von  ihnen  glaubte, 
was  ihm  am  wahrscheinlichsten  erschien.  Der  Mond 
steht  gerade  unter  der  Sonne  und  deshalb  wbrd  die 
Sonne  für  eine  bestimmte  Stelle  der  Erde  verdunkelt; 
wenn  die  Sonne  nicht  verdunkelt  wird,  ist  es  Tag  und 
der  Mond  steht  dann  nicht  gerade  unter  ihr.  Dies 
ist  ein  strenger  Beweis  von  der  Ursache  zur  Wirkung  und 
von  der  Wirkung  auf  die  Urache.  Dergleichen  giebt 
es  aber  nur  wenige,  denen  Niemand,  wenn  er  sie  nur 
versteht,  widersprechen  kann. 

In  Bezug  auf  die  Schönheit  giebt  es  Dinee,  deren 
einzelne  Theile  gegen  andere  angemessener  undbesserals 

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Rechtferligang  des  Olaubens  an  Gespenster.      195 

bei  andern  zusammengestellt  sind  nnd  Gott  bat  dem 
menschlichen  Verstände  nnd  Urtheil  die  Uebereinstim- 
mung   nnd  Harmonie  mit  dem,   was   sich  angemessen 
verhält,  aber  nicht  mit  dem,  wo  alles  Verhältniss  fehlt, 
zugetheilt;'^)  so  bei  den  consonirenden  nnd  dissoniren- 
den  Tönen,  wo  das  Gehör  die  Znsammenstimmang  oder 
den  Missklang  gut  unterscheidet,  weil  jene  angenehm 
und  diese  unangenehm  sind.     Auch  die  VoUkommen- 
heit    einer   Sache    ist    schön,    soweit  ihr  nichts  fehlt. 
Daftir  eiebt   es  viele  Beispiele,   die   ich  um  nicht   zu 
weitläufig  zu  werden,  nicht  erwähne.    Die  Welt  sehen 
wir  nur  und  geben  ihr  den  Namen  des  Ganzen  oder 
des  Alls.     Ist  dies  richtig,  wie  es  der  Fall  ist,  so  wird 
sie    durch    nnköiperliche  Dinge    nicht   verschlechtert, 
noch  gemindert.    Was  Sie  von  den  Centauren,  Hydem, 
Harpyen  u.  s.w.  sagen,  passt  nicht  hierher,  da  wir  von  den 
allgemeinsten  Gattungen  derDingeund  über  ihre  obersten 
Stufen  sprechen,  welche  mannigfache  und  unzählige  Arten 
unter  sich  haben  können ;  also  über  das  Ewige  und  Zeit- 
liche, über  Ursache  und  Wirkung,  über  das  Endliche  und 
Unendlielie,  über  das  Beseelte  und  Unbeseelte,  über  die 
Substanz  und  die  Accidenzen  oder  Zustände,  über  Körper- 
liches und  Geistiges.  Ich  sage,  die  Geister  sind  Gott  ähn- 
lich, weil  auch  er  ein  Geist  ist.   Sie  verlangen  von  den 
Geistern  eine  so  klare  Vorstellung,  wie  rmt  dem  Dreieck; 
allein  dies  ist  unmöglich.  Sagen  Sie  mir  doch,  welche  Vor- 
stellung Sie  von  Gott  haben  und  ob  sie  in  Ihrem  Verstände 
80  klar  ist,  wie  die  Vorstellung  des  Dreiecks?  Ich  weiss, 
Sie  haben  sie  nicht  und  deshalb  habe  ich  gesagt,  wir  seien 
nicht  so  glücklich,  die  Dinge  nur  durch  -strenge  Beweise 
zu  erfassen ;  vielmehr  überwiege  in  dieser  Welt  meist  das 
Wahrscheinliche.  Ich  behaupte  nichtsdestoweniger,  dass 
es,  sowie  es  einen  Körper  ohne  Gedächtniss  giebt,  es 
auch  ein  Gedächtniss  ohne  Körper  giebt  und  dass,  sowie 
ein  Kreis  ohne  Kugel  so  auch  eine  Kugel  ohne  Kreis 
besteht.  Indess  ist  dies  einHerabsteigen  von  den  höchsten 
Gattungen  zu  den  einzelnen  Arten,  auf  die  diese  Ausfüh- 
rung sich  nicht  bezieht.    Ich  sage,  diese  Sonne  ist  der 
Mittelpunkt  der  Welt  und  die  flxsteme  sind  weiter  als 
Saturn  von  der  Sonne   entfernt  und  dieser  weiter  als 
Jupiter  und  dieser  weiter  als  Mars;  sonach  ist  in  dem 
Spinoia,  Briefe.  14 

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196     LI^-  Bnet  Von an  Spinoza.  LX.  Brief. 

grenzenlosen  Lufträume  Manches  ferner  und  Manches 
uns  näher  und  dies  nennen  wir  höher  oder  tiefer. 

Die  Vertheidiger  der  Geister  stellen  die  Philo- 
sophen nicht  ausserhalb  des  Glaubens,  sondern  nur  die, 
welche  die  Geister  leugnen,  da  alle  Philosophen  alter 
und  neuer  Zeit  überzeugt  sind,  dass  es  Geister  giebt. 
Dies  bezeugt  Plutarch  in  seinen  Abhandlungen  über 
die  Ansichten  der  Philosophen  und  über  den  Genius 
des  Sokrates;  ebenso  bezeugen  es  alle  Stoiker, 
PythagoreerjPlatoniker;  auchEmpedokles,  der 
Tarier  Maximus,  Apulejus  und  Andere.  Auch  von 
den  Neuem  leugnet  Niemand  die  Geister.  Verwerfen 
Sie  also  nur  so  viel  weise  Augen-  und  Ohrenzeugen, 
so  viele  Philosophen,  so  viele  Geschichtsschreiber,  die 
dies  berichten;  behaupten  Sie  nur,  dass  diese  Alle, 
wie  der  grosse  Haufen,  thöricht  und  wahnwitzig  seien; 
allein  Ihre  Antworten  überzeugen  nicht,  sondern  sind 
vielmehr  Avidersinnig  oder  treffen  unseren  Streitpunkt 
nicht  und  Sie  bringen  nicht  einen  Beweis  für  Ihre  An- 
sicht bei.  Cäsar  verlachte  mit  Cicero  und  Cato  nicht 
die  Gespenster,  sondern  die  Vorbedeutungen  und  Weis- 
sagungen und  doch  würden,  wenn  er  an  seinem  Todes- 
tage nicht  den  Spurina  verspottet  hätte,  seine  Feinde 
ihn  nicht  mit  so  viel  Wunden  durchbohrt  haben.  Dies 
möge  diesmal  genügen  u.  s.  w. 


Sechzigster  Brief  (Vom  Jahre  1674). 

Von  Spinoza  an  Herrn 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

(Der  lateinische  Text  ist  aus  dem  holländischen  Original 
übersetzt.) 

Geehrter  Herr! 
Ich  eile,  Ihren  gestern  empfangenen  Brief  zu  beant- 
worten, weil,  wenn  ich  länger  zögere,  ich  meine  Antwort 
länger,  als  ich  möchte,  verschieben  müsste.  Ihr  Unwohl- 
sein hat  mich  beunruhigt;  doch  habe  ich  ersehen,  dass 

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Das  Noth wendige  uad  Zufällige.  197 

es  Ihnen  besser    geht  und  hoffentlich  sind   Sie  jetzt 
^anz  wieder  hergestellt. 

Wie  schwer  sich  Zwei,  welche  von  verschiedenen 
Unterlagen  aasgehen,  über  einen,  von  vielen  Anderen  ab- 
hängenden Gegenstande  gegenseitig  verständigen  und 
▼ereinigen  können,  ergiebt  unsere  Verhandlung,  wenn 
auch  kein  Grund  es  bewiese.  Sagen  Sie  mir  doch,  ob  Sie 
von  Philosophen  gehört  oder  gelesen  haben,  welche  der 
Ansicht  gewesen  sind,  die  Welt  sei  aus  Zufall  gemacht 
worden;  nämlichin  dem  Sinne,  wie  Sie  dies  verstehen,  also, 
class  Gott  sich  bei  Erschaffung  der  Welt  ein  Ziel  vorge- 
setztund  dennoch  dasselbe,  wie  er  es  beschlossen,  verfehlt 
habe.  Ich  glaube  kaum,  dass  Jemand  bis  jetzt  auf  diesen 
Gedanken  gekommen  ist  Auch  sehe  ich  nicht  ein,  wes- 
halb ich  das  Zufällige  und  Nothwendige  nicht  als 
Gegensätze  annehmen  soll.  Sobald  ich  zuerst  bemerke, 
dass  die  drei  Winkel  eines  Dreiecks  zweien  rechten  noth- 
wendig  gleich  seien,  bestreite  ich  auch,  dass  dies  zufcülig 
•der  Fall  sei.  Ebenso  bestreite  ich,  sobald  ich  das  erste 
Mal  bemerke,  dass  die  Hitze  eine  nothwendige  Folge  des 
Feuers  ist,  dass  dies  aus  Zufall  geschehe.  Nicht  minder 
verkehrt  und  der  Vernunft  widerstreitend  scheint  es  mir, 
dass  die  Noth  wendigkeit  und  Freiheit  Gegensätze  sein 
sollen;  denn  Niemand  kann  bestreiten,  dass  Gott  sich 
selbst  und  alles  Andere  frei  erkenne  und  doch  geben 
Alle  einstimmig  zu,  dass  Gott  sich  nothwendig  erkenne.'^') 
Sie  scheinen  nämlich  keinen  Unterschied  zwischen  Zwang 
oder  Gewalt  und  Nothwendigkeit  anzunehmen.  Dass  der 
Mensch  begehrt  zu  leben,  zu  lieben  u.  s.  w.,  ist  kein  er- 
zwungenes Werk,  wohl  aber  ein  noth  wendiges  und  noch 
mehr,  dass  Gott  dasein,  erkennen  und  wirken  will.  '^^) 
Wenn  Sie  ausserdem  erwägen,  dass  die  Unentschiedenheit 
nur  Unwissenheit  oder  Zweifel  ist  und  dass  der  immer  feste 
und  in  Allem  bestimmte  Wille  eine  Tugend  und  die  noth- 
wendige Eigenschaft  der  Einsicht  ist,  so  werden  Sie 
sehen,  dass  meine  Worte  ganz  mit  der  Wahrheit  überein- 
stimmen. Wenn  man  behauptet,  Gott  habe  eine  Sache 
nicht  wollen  oder  nicht  einsehen  gekonnt,  so  giebt  man 
Gott  eine  verschiedene  Freiheit,  eine  nothwendige  und 
eine  unbestimmte  und  fasstdann  Gottes  Willen  und  Gottes 
Wesen  oder  Einsicht  als  verschieden  auf  und  damit 
geräth  man  aus  einem  Widersinn  in  den  andern.    > 

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198  LX.  Brief.    V<m  SpiDOza  an 


Die  Aufmerksamkeit,  welche  ich  in  meinem  yorig^n 
Brief  verlangt  hatte,  ist  Ihnen  nicht  nothwendig  er- 
schienen und  deshalb  haben  Sie  Ihre  Gedanken  nicht 
auf  die  Hauptsache  gerichtet  und  das  Wichtigste  bei 
der  Sache  vernachlässigt. 

Wenn  Sie  femer  sagen,  dass,  wenn  ich  leugne,  dass 
in  Gott  die  Thätigkeit  des  Lebens,  des  Hörens,  des  Auf- 
merkens,  desWollens  u.s.w.,  und  zwar  überwiegend,  ent- 
haltensei, Sie  dann  nicht  wüssten,  welchen  Gott  ich  h&tte, 
so  Termuthe  ich,  Sie  glauben,  dass  es  keine  grössereVoll- 
komm enheit  gebe,  als  die,  welche  in  den  genannten  Eigen- 
schaften ausgedrückt  werden  kann.  Ich  wundre  mich  da- 
rüber nicht,  weil  ich  glaube,  ein  Dreieck  würde,  wenn 
es  sprechen  könnte,  ebenso  sagen,  Gott  sei  überwie- 
gend ein  Dreieck  und  ein  Ejreis  würde  sagen,  Gott  sei 
überwiegend  eine  kreisförmige  Natur;  so  würde  Jedes 
seine  Eigenschaften  Gott  zuschreiben,  Gott  sich  fthnlich 
machen  und  das  Andere  würde  ihm  hässlich  scheinen. 

Der  enge  Raum  eines  Briefes  und  die  Kürze  der 
Zeit  gestatten  mir  nicht,  Ihnen  meine  Ansicht  über 
Gottes  Natur  und  die  von  Ihnen  gestellten  Fragen  zu  ent- 
wickeln, abgesehen  davon,  dass  Schwierigkeiten  entge- 
genstellen noch  nicht  ebenso  viel  ist,  wie  Gründe  vor- 
bringen. Es  ist  richtig,  dass  wir  in  der  Welt  Vieles  auf 
Vermuthungen  vornehmen  müssen,  aber  falsch  ist  es, 
dass  wir  unserNachdenken  nach  Vermuthungen  anstellen. 
Im  gewöhnlichen  Leben  müssen  wir  dem  WahrscheinDch- 
sten  folgen,  bei  Untersuchungen  innerhalb  des  Denkens 
aber  der  Wahrheit.  Der  Mensch  würde  verdursten  und 
verhuDgem,  wenn  er  nicht  eher  trinken  und  essen  wollte, 
als  er  nicht  einen  vollen  Beweis  erlangt  hätte,  dass  Trinken 
und  Essen  ihm  nützlich  sei;  ''^  aber  bei  der  Betrachtung 
hat  dies  keine  Stelle;  vielmehr  müssen  wir  hier  uns 
hüten.  Etwas  als  wahr  anzunehmen,  was  nur  wahr- 
scheinlich ist,  denn  aus  einer  zugelassenen  Unwahrheit 
folgen  unzählige  andere. 

Femer  kann  man  ^daraus,  dass  die  Wissenschaften 
vom  Göttlichen  und  Menschlichen  voll  Zweifel  und  Streit- 
fragen sind,  nicht  folgern,  dass  Alles,  was  sie  behandeln, 
ungewiss  sei ;  denn  es  hat  auch  viele  gegeben,  welche  so 
von  Widerspruchsgeist  erfüllt  waren,  dass  sie  selbst  der 
geometrischen  Beweise  spotteten.     So  sagten  Seztus 

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Das  Wahrscheinliche.  Die  bildl.  Vorstell.  von  Gott.   199 

£mpiritub  und  andere  Skeptiker,  die  Sie  ervfthnen, 
es  sei  falsch,  dass  das  Qanze  grösser  als  seine  Theile 
sei  und  ebenso  sprachen  sie  ron  andern  selbstver- 
stlüidlichen  Grundsätzen. 

Aber  selbst  wenn  ich  zugebe,  dass  wir  im  Mangel 
von  Beweisen  mit  dem  Wahrscheinlichen  zufrieden  sein 
mfissen,  sage  ich  doch,  dass  die  wahrscheinliche  Begrün- 
dung eine  solche  sein  müsse,  dass  man  ihr,  trotz  der 
Zweifel,  nicht  widersprechen  könne;  weil  das,  dem  man 
widersprechen  kann,  nicht  dem  Wahren,  sondern  dem 
Falschen  ähnelt.  Wenn  ich  z.  B.  sage :  Peter  lebe,  weil 
ich  ihn  gestern  gesund  gesehen  habe,  so  ist  dies  zwar 
wahrscheinlich,  insofern  mir  Niemand  widersprechen 
kann;  sagt  aber  ein  Anderer,  er  habe  ihn  gestern  in 
Ohnmacht  fallen  sehen  und  er  glaube,  Peter  habe  an 
diesem  Tage  seinen  Qeist  aufgegeben,  so  bewirkt  er, 
dass  meine  Angabe  falsch  erscheint.  Dass  nun  Ihre  An- 
nahmen über  Gespenster  und  Geister  falsch  und  unwahr- 
scheinlich erscheinen,  habe  ich  so  klar  gezeigt,  dass  ich 
in  Ihrem  Briefe  nichts  Bemerkens werthes  dagegen  finde. 

Auf  Ihre  Frage,  ob  ich  von  Gott  einen  so  klaren  Be- 
griff, wie  von  dem  Dreieck  habe,  antworte  ich  mit  Ja; 
fragen  Sie  mich  aber,  ob  ich  von  Gott  eine  so  klare 
bildliche  Vorstellung  habe,  wie  von  dem  Dreieck,  so 
antworte  ich  mit  Nein ;  denn  man  kann  Gott  nicht  bild- 
lich vorstellen,  sondern  nur  denkend  erfassen.'^)  Auch 
hier  halte  man  fest,  dass  ich  nicht  sage,  ich  erkenne  Gott 
durchaus;  ich  kenne  nur  einige  seiner  Attribute,  nicht 
alle  und  nicht  einmal  den  grössten  Theil;  aber  es  ist 
gewiss,  dass  die  Unkenntniss  der  meisten  die  Kenntuiss 
einiger  nicht  hindert.**^)  Als  ich  die  Elemente  von 
Euklid  lernte,  so  sah  ich  zuerst  ein,  dass  die  drei 
Winkel  des  Dreiecks  zwei  rechten  gleich  sind  und  ich 
erkannte  diese  Eigenschaft  des  Dreiecks  vollständig, 
ob  ich  gleich  viele  andere  noch  nicht  kannte. 

Ueber  die  Gespenster  und  Geister  habe  ich  bis  jetzt 
noch  keine  verständliche  Eigenschaft  vernehmen  können, 
wohl  aber  Phantasiegebilde,  die  Niemand  verstehen  kann. 
Wenn  Sie  sagen,  dass  hier  unten  die  Gespenster  und 
Geister  (ich  folge  Ihrer  Ausdrucksweise,  obgleich  mir 
unbekannt,  dass  der  Stoff  hier  unten  schlechter  ist  als 
der  höhere)  aus  der  feinsten,  dünnsten  und  zartesten 

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200    LX.  Brief.   Von  Spinoza  an LXI  Briel 

Substanz  bestehen,  so  scheinen  Sie  mir  von  Spinnen- 
geweben, von  der  Luft  nnd  den  Dünsten  sn  sprechen. 
Wenn  man  sie  unsichtbar  nennt,  so  gilt  mir  dies  so 
viel,  als  wenn  Sie  sagen,  was  sie  nicht  sind;  nicht 
aber,  was  sie  sind.  Sie  mttssten  denn  damit  andeuten 
wollen,  dass  sie  sich  nach  Belieben  sichtbar  und  un- 
sichtbar machen  können,  und  dass  es  schwer  ist,  sich 
dies  bildlich  vorzustellen,  wie  bei  allem  Unmöglichen. 

Das  Ansehen  von  Plato,  Aristoteles  und  So- 
k  rat  es  gilt  bei  mir  nicht  viel;  ich  würde  mich  eher 
gewundert  haben,  wenn  Sie  Epicur,  Demokrit, 
Lucrez  oder  einen  andern  Vertheidiger  der  Atome  vor- 
gebracht hätten,  denn  es  kann  nicht  auffallen,  dass  die» 
welche  geheime  Qualitlüten,  absichtsvolle  Arten,  substan- 
zielle  Formen  und  viele  andere  Possen  erdacht  haben, 
auch  Gespenster  und  Geister  ausgedacht  und  geglaubt 
haben.  Jene  haben  damit  nur  das  Ansehen  von  Demo- 
krit  vermehrt,  den  sie  um  seinen  Ruhm  so  beneideten, 
dass  sie  alle  seine  Bücher,  die  er  mit  so  viel  Beifall 
bekannt  gemacht  hatte,  verbrannten.**^)  Wollen  Sie 
diesen  Männern  glauben,  aus  welchen  Gründen  können 
Sie  dann  die  Wunder  der  göttlichen  Jungfrau  und  aller 
Heiligen  bestreiten,  die  von  so  vielen  berühmten  Philo- 
sophen, Theologen  und  Geschichtsschreibern  berichtet 
werden,    dass  auf  100  hier  kaum  einer  dort  kommt? 

Indess  bin  ich,  geehrter  Herr,  ausführlicher  ge- 
worden, als  ich  gewollt.  Ich  möchte  Sie  nicht  länger 
mit  Dingen,  die  (wie  ich  weiss)  Sie  nicht  zugestehen, 
belästigen;  denn  Sie  folgen  andern,  von  den  meinigen 
ganz  abweichenden  Grundsätzen  u.  s.  w.***) 


Einundsechzigster  Brief  (Vom  8.  Oktob.  1674). 

Von *^')  an  Splnoza. 

Geehrter  Herr! 
Ich  wundre  mich  immer,  dass  mit  demselben  Grunde, 
womit  die  Philosophen  die  Unwahrheit  von  Etwas  nach- 
weisen, sie  auch  dessen  Wahrheit  darlegen.  So  elaubt 
Descartes  im  Anfange  seiner  Methode,  dass  die  Ge- 
wissheit des  Verstandes  bei  allen  Menschen  gleich  sei; 

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üeber  die  Walirheit.     Der  freie  Wille.  201 

aber  in  seinen  Meditationen  beweist  er  es.  Dies  be- 
stätigen auch  Die,  welche  Etwas  sicher  dadurch  be- 
weisen zu  können  glauben,  dass  es  von  den  einzelnen 
Menschen  für  unzweifelhaft  angenommen  werde. 

Doch  abgesehen  davon,  berufe  ich  mich  auf  die 
Erfahrung  und  bitte  Sie,  genau  Acht  zu  geben.  Man 
wird  da  finden,  dass  wenn  von  Zweien  der  Eine  etwas 
bejaht  und  der  Andere  verneint  und  zwar  so,  dass 
Beide  sich  dessen  bewusst  sind,  was  sie  sprechen,  doch 
Beide,  trotz  ihres  Gegensatzes  in  den  Worten,  wenn 
man  ihre  Gedanken  erwfigt,  die  Wahrheit  (Jeder  nach 
seiner  Auffassung)  sprechen.  Ich  erwähne  dies,  da  es 
im  gewöhnlichen  Leben  von  ausserordentlichem  Nutzen 
ist  und  weil  unzählige  Streitigkeiten  mit  den  daraus 
folgenden  Kämpfen  durch  diese  einzige  Bemerkung  ver- 
hindert werden  können.  Allerdings  ist  solche  Wahrheit 
in  den  Gedanken  nicht  immer  unbedingt  wahr,  sondern 
nur  in  Beziehung  auf  das,  was  in  den  Gedanken  ftir  wahr 
angenommen  wird.  Diese  Kegel  ist  so  allgemeingültig, 
dass  sie  bei  allen  Menschen,  selbst  die  Wahnsinnigen 
und  Schlafenden  nicht  ausgenommen,  angetroffen  wird; 
denn  Alles,  was  diese  nach  ihrer  Angabe  sehen  oder  ge- 
sehen haben  (wenn  es  auch  uns  selbst  nicht  so  erscheint), 
verhält  sich  unzweifelhaft  auch  wirklich  so.'^)  Man  sieht 
dies  am  deutlichsten  an  dem  aufgestellten  Falle  mit  dem 
freien  Willen.  Sowohl  der,  welcher  dafür,  wie  der, 
welcher  dagegen  streitet,  scheint  mir  wahr  zu  sprechen, 
nämlich  nach  seiner  Auffassung  von  der  Freiheit.  So 
nennt  Descartes  das  frei,  was  von  keiner  Ursache  ge- 
zwungen wird,  Sie  dagegen,  was  von  keiner  Ursache  zu 
Etwas  bestimmt  wird.  Ich  gebe  deshalb  mit  Ihnen  zu, 
dass  wir  in  allen  Dingen  von  einer  bestimmten  Ur- 
sache zu  Etwas  bestimmt  werden  und  in  diesem  Sinn 
keinen  freien  Willen  haben;  allein  ich  nehme  auch 
wieder  mit  Descartes  an,  dass  wir  in  gewissen  Din- 
gen (die  ich  gleich  nennen  werde),  keineswegs  ge- 
zwungen werden  und  daher  einen  freien  Willen  haben. 
Ich  nehme  mein  Beispiel  von  dem  vorliegenden  Falle. 

Der  Stand  der  Frage  ist  nämlich  ein  dreifacher:  1)  ob 
wir  über  Dinge  ausserhalb  unser  unbedingt  eine  gewisse 
Macht  haben?  Dies  wird  verneint.  So  ist  z.  B.  das 
Schreiben  dieses  Briefes  nicht  unbedingt  in  meiner  Ge- 

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202  LXI.  Brief.   Von  ......  an  Spinoza. 

walt,  denn  ich  hätte  sicherlich  eher  geschrieben,  wenn 
ich  nicht  durch  Reisen  oder  den  Besuch  von  Freunden 
daran  gehindert  worden  w&re;  2)  ob  wir  über  die  Be- 
wegungen unsres  Körpers,  die  von  dem  Willen  abhängig 
sind,  eine  unbedingte  Gewalt  haben?  Ich  antworte  mit 
Einschränkung:  Ja,  nämlich  sofern  wir  gesund  sind; 
denn  wenn  ich  gesund  bin,  kann  ich  mich  immer  xu 
dem  Schreiben  wenden,  oder  nicht  wenden;  3)  ob,  wenn 
ich  meine  Vernunft  gebrauchen  kann,  ich  dies  durchaus 
frei,  d  h.  unbedingt  thun  kann?  Hierauf  antworte  ich 
mit  Ja.  Denn  wer  wollte  leugnen,  wenn  er  nicht  gegen 
sein  eignes  inneres  Wissen  spricht,  warum  ich  in  meinem 
Gedanken  nicht  denken  könnte,  dass  ich  schreiben  wollte 
oder  nicht  schreiben  wollte.  Auch  rücksichtlich  der 
äusseren  Ausführung  habe  ich  die  Macht  zu  schreiben 
oder  nicht  zu  schreiben,  weil  die  äusseren  Umstände  dies 
gestatten  (was  den  zweiten  Punkt  betrifft),  obgleich  ich 
mit  Ihnen  anerkenne,  dass  es  Ursachen  giebt,  die  mich 
zu  dem  Schreiben  jetzt  bestimmen,  nämlich  weil  Sie  mir 
zuerst  geschrieben  und  gebeten  haben,  dass  ich  Ihnen 
mit  erster  Gelegenheit  antworten  möchte  und  weil  jetzt 
eine  solche  Gelegenheit  da  ist  imd  ich  sie  nicht  gern  vor- 
beilassen mag.  Aber  ich  behaupte  auch,  auf  Grund  meines 
Selbstbewusstseins,  mit  Descartes,  als  gewiss,  dass 
diese  Dinee  mich  deshalb  nicht  zwingen  und  dass  ich 
trotzdem  aas  Schreiben  unterlassen  kann  (was  wohl  Nie- 
mand leugnen  kann).  Wenn  wir  von  äussern  Ursachen  ge- 
zwungen würden,  wer  könnte  da  ein  tugendhaftes  Ver- 
halten gewinnen  ?  j  a,  alle  Bosheit  wäre  mit  dieser  Annahme 
entschuldigt.  Wie  oft  kommt  es  nicht  vielmehr  vor,  dass 
äussere  Umstände  uns  zu  Etwas  bestimmen,  aber  wir  Ihnen 
doch  mit  festem  und  beharrlichem  Sinnd  widerstehen? 

Ich  gebe  daher  noch  eine  deutlichere  Erklärung  der 
obigen  Kegel.  Sie  Beide,  Descartes  und  Sie,  sprechen 
nach  Ihren  Begriffen  wahr;  aber  nach  der  Wahrheit 
schlechthin  aufgefasst,  ist  nur  die  Meinung  von  Des- 
cartes die  richtige;  denn  Sie  nehmen  bei  Ihrem  Begriffe 
an,  was  sehr  richtig  ist,  dass  das  Wesen  der  Freiheit 
darin  besteht,  dass  wir  von  keiner  Sache  bestimmt  worden 
sind.  Dieses  angenommen,  wird  Beides  richtig  sein,  denn 
das  Wesen  jeder  Sache  besteht  in  dem,  ohne  welches 
frie  nicht  einmal  vorgestellt  werden  kann,  und  dieFreiheit 

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Ueber  die  Freiheit  des  Willens.  203 

kann  klar  vorgestellt  werden,  mögen  wir  auch  von 
üassem  Ursachen  in  unserm  Handeln  zu  etwas  bestimmt 
werden,  d.  h.  mögen  immer  Ursachen  bestehen,  die 
uns  anreizen,  unsere  Handlungen  so  einzurichten, 
«her  ohne  dies  ganz  zu  bewirken;  denn  immer  ist 
damit  nicht  gesagt,  dass  wir  gezwungen  werden.  Man 
^ehe  ausserdem  Descartes*  Briefe,  Band  I,  Brief  8 
und  9,  und  Band  U,  Brief  2.  Dies  mag  genug  sein. 
Ich  bitte  um  Ihre  Antwort  auf  diese  Bedenken,  u.  s.  w.  ^^) 
8.  Oktober  1674. 


Zweiundsechzigster  Brief 
(Vom  Oktober  oder  November  1674). 

Von  Spinoza  an  Herrn 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehendeii  Brief.) 

Erfahrner  Herr! 

Unser  Freund  J.  B.^  schickte  mir  den  Brief, 
mit  dem  Sie  mich  beehrt  haben,  sammt  dem  Ausspruch 
Ihres  Freundes  über  meine  und  des  Descartes  An- 
sicht über  die  Freiheit  des  Willens.  Beides  war 
mir  höchst  angenehm.  Leider  ist  meine  Qesundheit 
Jetzt  etwas  schwankend  und  ich  habe  auch  andere 
Abhaltungen;  allein  Ihre  besondere  Freundlichkeit  und, 
was  für  mich  die  Hauptsache  ist,  der  Eifer  für  die 
Wahrheit,  der  Sie  erfüllt,  nöthigt  mich,  Ihrem  Wunsche 
nach  meinen  schwachen  Kräften  nachzukommen. 

Was  nun  Ihr  Freund  will,  ehe  er  sich  auf  die 
Erfahrung  beruft  und  eine  besondere  Aufmerksamkeit 
erbittet,  weiss  ich  nicht.  Wenn  er  dann  beifägt :  ^ Wenn 
^einmal  von  Zweien  der  Eine  etwas  über  einen 
^Gegenstand  bejaht,  der  Andere  aber  verneint  u.  s.  w.^ 
so  ist  dies  richtig,  wenn  er  meint,  dass  die  Beiden, 
obgleich  sie  dieselben  Worte  gebrauchen,  doch  über 
den  Gegenstand  verschieden  denken,  wofür  ich  früher 
unserm  Freunde  J.  R.  einige  Beispiele  mitgetheilt 
hiftbe,  die  er  Ihnen  auf  meine  schriftliche  Veranlassung 
ebenfalls  mittheilen  soll. 


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204  LXII.  Brief.    Von  Spinoza  an 


Ich  wende  mich  also  zu  der  Definition  der  Frei- 
heit, die  er  als  die  meinige  angiebt,  obgleich  ich  nicht 
weiss,  woher  er  sie  genommen  hat.  Ich  nenne  nSm- 
lich  die  Sache  frei,  die  ans  der  blossen  Nothwendig- 
keit  ihrer  Natur  besteht  und  handelt  und  gezwungen 
nenne  ich  die,  welche  von  etwas  Anderem  zum  Dasein 
und  Wirken  in  genauer  und  fester  Weise  bestimmt 
wird.  So  besteht  z.  6.  Gott,  obgleich  nothwendig, 
doch  frei,  weil  er  nur  aus  der  Nothwendigkeit  seiner 
Natur  allein  besteht.  Ebenso  erkennt  Gott  sich  selbst 
und  alles  Andere  frei,  weil  es  aus  der  Nothwendigkeit 
seiner  Natur  allein  folgt,  dass  er  Alles  erkennt.  Sie 
sehen  also,  dass  ich  die  Freiheit  nicht  in  ein  freies 
Beschliessen,  sondern  in  eine  freie  Nothwendigkeit  setze. 

Doch  wir  wollen  zu  den  erschaffenen  Dingen  herab- 
steigen, welche  sämmtlich  von  äussern  Ursachen  be- 
stimmt werden,  in  fester  und  genauer  Weise  zu  bestehen 
und  zu  wirken.  Um  dies  deutlicher  einzusehen,  wollen 
wir  uns  eine  ganz  einfache  Sache  vorstellen.  So  er- 
hält z.  B.  ein  Stein  von  einer  äusseren,  ihn  stossenden 
Ursache  eine  gewisse  Menge  von  Bewegung,  mit  der 
er  nachher,  wenn  der  Stoss  der  äussern  Ursache  auf- 
gehört hat,  nothwendig  fortfährt,  sich  zu  beweeen. 
Dieses  Beharren  des  Steines  in  seiner  Bewegung  ist  des- 
halb ein  erzwungenes  und  kein  nothwendiges,  •")  weil  es 
durch  den  Stoss  einer  äussern  Ursache  definirt  werden 
muss.  Was  hier  von  dem  Stein  gilt,  gilt  von  jeder  andern 
einzelnen  Sache,  *'")undmag  sie  noch  so  zusammengesetzt 
und  zu  Vielem  geeignet  sein,  nämlich,  dass  jede  Sache 
nothwendig  von  einer  äussern  Ursache  bestimmt  wird, 
in  fester  und  genauer  Weise  zu  bestehen  und  zu  wirken. 

Nehmen  Sie  nun,   ich  bitte,    an,    dass  der  Stein, 
während  er  sich  bewegt,  denkt  und  weiss,  er  bestrebe 
sich,  soviel  er  kann,  in  dem  Bewegen  fortzufahren.  Dieser 
Stein,  der  nur  seines   Strebens  sich  bewusst  ist  ond 
keineswegs  gleichgültig  sich  verhält,  wird  glauben,  dass      > 
er  ganz  frei  sei  und,  dass  er  aus  keinem  andern  Grunde      I 
in  seiner  Bewegung  fortfahre,  als  weil  er  es  wolle.    Dies      j 
ist  aber  jene  menschliche  Freiheit,  die  alle  zu  besitzen 
behaupten  und  die  nur  darin  besteht,  dass  die  Menschen 
ihres  Begehrens  sich  bewusst  sind,  aber  die  Ursachen, 
von  denen  sie  bestimmt  werden,  nicht  kennen.   So  glaubt 

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Ueber  Freiheit  und  Notfawendigkeit.  205 

das  Kind,  dass  es  die  Milch  frei  begehre  und  der  zornige 
Knabe,  dass  er  frei  die  Rache  verlange  und  der  Furcht- 
same die  Flucht.  Femer  glaubt  der  Betrunkene,  dass 
er  nach  freiem  Entschluss  dies  spreche,  was  er,  wenn 
er  nüchtern  geworden,  gern  nicht  gesprochen  hätte; 
Und  da  dieses  Vorurtheil  allen  Menschen  angeboren  ist, 
so  kann  man  sich  nicht  leicht  davon  befreien.  Denn 
wenn  auch  die  Erfahrung  genügend  lehrt,  dass  die 
Menschen  am  wenigsten  ihr  Begehren  massigen  können 
und  dass  sie  von  entgegengesetzten  Leiaenschalten 
bewegt,  das  Bessere  einsehen  und  das  Schlechtere  thun, 
so  hidten  sie  sich  doch  für  frei  und  zwar,  weil  sie 
Manches  weniger  stark  begehren  und  manches  Be- 
gehren leicht  durch  die  Erinnerung  an  Anderes,  dessen 
man  sich  oft  entsinnt,  gehemmt  werden  kann.'**) 

Damit  habe  ich,  glaube  ich,  meine  Ansicht  über 
die  freie  und  erzwungene  Nothwendigkeit  und  über  die 
eingebildete  Freiheit  genügend  dargelegt  und  daraus 
ergiebt  sich  leicht  die  Antwort  auf  Ihre  und  Ihres 
IVeundes  Einwürfe.  Wenn  er  mit  Descartes  Den- 
jenigen frei  nennt,  der  von  keiner  äusseren  Ursache 
gezwungen  wird  und  wenn  er  unter  dem  Gezwungenen 
Den  versteht,  der  wider  seinen  Willen  handelt,  so  gebe 
ich  zu,  dass  wir  in  manchen  Dingen  keineswegs  ge- 
zwungen werden  und  in  dieser  Hinsicht  freien  Willen 
haben.  Wenn  er  aber  unter  gezwimgen  Den  versteht, 
welcher,  wenn  auch  nicht  gegen  seinen  Willen,  doch 
nothwendig  handelt  (wie  ich  oben  ausgeführt),  so  be- 
streite ich,  dass  wir  in  irgend  einem  Falle  frei  seien. 

Ihr  Freund  behauptet  indessen,  ^wir  könnten  uns  der 
„Vernunft  durchaus  frei,  d.  h.  unbedingt  bedienen^  und 
bleibt  bei  dieser  Behauptung  fest,  um  nicht  zu  sagen,  zu 
fest.  „Denn^,  sagte  er,  „wer  sollte,  wenn  er  seinem 
„Selbstbewusstsein  folgt,  bestreiten,  dass  ich  in  meinem 
„Gedanken  denken  kann,  ich  könnte  schreiben  und  ich 
„könnte  auch  nicht  schreiben.''  Ich  möchte  hier  gern 
wissen,  welches  Bewusstsein  er  meint,  neben  dem,  was 
ich  durch  das  Beispiel  mit  dem  Steine  erlftutert  habe.  Ich 
wenigstens  bestreite,  wenn  ich  nicht  meinem  Bewusstsein, 
d.  h.  meiner  Vernunft  und  Erfahrung  widersprechen  und 
Vorurtheile  und  Unwissenheit  unterstützen  soll,  dass  ich 
aus  einer  unbedingten  Macht  des  Denkens  denken  kann, 

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206  LXn.  Brief.    Von  Spinoza  an 

dass  ich  schreiben  will  and  dass  ich  es  nicht  will. 
Ich  berufe  mich  auf  sein  eignes  Bewusstsein,  da  er 
gewiss  erfahi-en  hat,  wie  er  im  Traiune  keine  Macht 
hat  zu  denken,  er  wolle  schreiben  und  er  wolle  es 
nicht;  auch  hat  er,  wenn  er  trfiumt,  dass  er  schreiben 
will,  nicht  die  Macht,  nicht  zu  träumen,  dass  er  schreiben 
wolle.  Auch  hat  er  ebenso  gewiss  erfahren,  dass  die 
Seele  nicht  immer  gleich  ffihig  ist,  über  eine  Sache 
nachzudenken,  vielmehr  ist  die  Seele,  je  nachdem  der 
Körper  mehr  geeignet  ist,  dass  dies  oder  jenes  Bild 
eines  Gegenstandes  in  ihm  erweckt  werde,  auch  mehr 
geeignet,  diesen  oder  jenen  Gegenstand  zu  betrachten.*^^) 

Wenn  er  femer  hinzusetzt,  dass  die  Ursachen,  wes- 
halb er  sich  zum  Schreiben  entschlossen,  ihn  zwar  zum 
Schreiben  angetrieben,  aber  nicht  gezwungen  hätten,  so 
heisst  dies  nur  (wenn  Sie  die  Sache  ruhig  und  un- 
parteiisch überlegen),  dass  seine  Seele  damals  in  dem 
Zustande  war,  dass  Ursachen,  die  ihn  sonst,  wo  er  in 
einer  grossen  Leidenschaft  befangen  war,  nicht  hätten 
bewegen  können,  dies  jetzt  leicht  yermocht  hätten, 
d.  h.  dass  Ursachen,  die  ihn  in  andern  Fidlen  nicht 
hätten  zwingen  können,  jetzt  gezwungen  haben  und 
zwar  nicht  gegen  seinen  Willen  zu  schreiben,  sondern, 
dass  er  nothwendig  verlangte  zu  schreiben.'") 

Wenn  er  femer  sagt:  ^dass,  wenn  wir  von  äussern 
„Ursachen  gezwungen  werden.  Niemand  ein  tugend- 
„haftes  Verhalten  gewinnen  könne^,  so  weiss  ich  nicht, 
wer  ihm  gesagt  hat,  dass  er  durch  Schicksalsnoth- 
wendigkeit  nicht,  sondern  nur  durch  freien  Willens- 
entschluss  festen  und  beharrlichen  Sinnes  sein  könne. 

Wenn  er  endlich  bemerkt:  „dass  mit  dieser  Au- 
fnahme alle  Bosheit  entschuldbar  sei^,  was  folgt  daraus? 
Die  bösen  Menschen  sind  ja  nicht  weniger  zu  fürchten 
und  nicht  weniger  eefUhrlich,  wenn  sie  aus  Noth- 
wendigkeit  böse  sina.*^*)  Hierüber  können  Sie  ge- 
fälligst Theil  II,  Kap.  8  meines  Anhanges  zu  dem 
ersten  und  zweiten  Buch  der  geometrisch  begründeten 
Prinzipien  des  Descartes  nachsehen. 

Ich  möchte  endlich,  Ihr  Freund,  der  mir  dies  vorhält, 
antwortete  mir,  wie  er  die  menschliche  Tugend,  die  aus 
dem  freien  Willensentschluss  hervorgeht,  mit  Gattes  Vor- 
herbestimmung vereinige.  Wenn  er  mit  Descartes  ein- 

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Die  richtige  Leitung  der  Vernunft.  207 

räumt,  dass  er  dies  nicht  yermöge,  so  sucht  erjadea 
Spiess,  der  ihn  schon  durchbohrt  hat,  gegen  mich  zu 
schwingen;  Aber  vei^eblich,  denn  wenn  Sie  meine 
Absicht  aufmerksam  prüfen  wollten,  würden  Sie  sehen, 
dass  Alles  übereinstimmt  u.  s.  w. 


Dreiundsechzigster  Brief  (Vom  5.  Jan.  1675). 

Von  Herrn an  Spinoza. 

Vortrefflicher  Herr! 
Wann  werden  wir  Ihre  Schrift  erhalten,  worin 
Sie  Ihr  Verfahren  zur  richtigen  Leitung  der  Vernunft 
bei  Gewinnung  der  Erkenntniss  unbekannter  Wahr- 
heiten sammt  dem  allgemeinen  Theil  der  Physik  dar- 
stellen?*^') Ich  weiss,  dass  Sie  schon  weit  darin  ge- 
kommen sind;  schon  früher  war  mir  dies  bekannt  und 
später  habe  ich  es  aus  den  Lehrsätzen,  die  dem  Buch 
2  der  Ethik  beigefügt  sind,  ersehen.  Damit  lassen 
sich  viele  Schwierigkeiten  in  der  Physik  heben.  Wenn 
Sie  Zeit  und  Gelegenheit  haben,  so  bitte  ich  Sie  er- 
gebenst  um  die  wahre  Definition  der  Bewegung, '^^) 
wie  um  deren  Erläuterung  und  auf  welche  Weise  man, 
da  die  Ausdehnung,  an  sich  aufgefasst,  untheilbar, 
unveränderlich  u.  s.  w.  ist,  geradeaus  beweisen  kann, 
dass  so  viele  Unterschiede  haben  entstehen  können 
und  folgeweise  auch,  dass  die  Theilchen  eines  Körpers 
eine  Gestalt  haben,  welche  in  jedem  Körper  ver> 
schieden  und  anders  ist  als  die  Gestalten  der 
Theilchen  welche  die  Form  eines  andern  Körpers 
bilden?  Jetzt  haben  Sie  mir  das  Verfahren  angegeben, 
dessen  Sie  sich  bei  Aufsuchung  noch  unbekannter 
Wahrheiten  bedienen.  *")  Ich  finde,  dass  dieses  Ver- 
fahren vorzüglich  und  dabei  sehr  leicht  ausführbar 
ist,  soweit  ich  es  verstanden  habe,  und  ich  kann  ver- 
sichern, dass  ich  durch  diesen  einzigen  Umstand 
grosse  Fortschritte  in  der  Mathematik  gemacht  habe. 
Deshalb  möchte  ich,  dass  Sie  mir  die  wahre  Defini- 
tion der  zureichenden,  wahren,  falschen,  ein- 
gebildeten und  zweifelhaften  Vorstellungen  mit- 
theilten.  Ich  habe  nach  dem  Unterschied  zwischen 
der   zureichenden   und    wahren  Vorstellung    gesucht, 

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208  LXIIL  Brief:  Von an  Spinoza. 

aber  bis  jetzt  nichts  finden  können,  als  dass,  wenn  ick 
eine  Sache  untersachte  and  einen  festen  Begiiff  oder 
Vorstellung,  dass,  sage  ich  (um  weiter  zu  prüfen,  ob 
diese  wahre  Vorstellung  auch  die  zureichende  Vor- 
stellung einer  Sache  sei)  ich  mich  fragte,  was  die  Ur- 
sache dieser  Vorstellung  oder  dieses  Begriffes  sei; 
nachdem  ich  diese  erkannt,  fragte  ich  von  Neuem, 
was  die  Ursache  dieses  Begriffes  sei  und  so  habe  ich 
immer  fortgefahren,  die  Ursachen  von  den  Ursachen 
der  Vorstellungen  aufzusuchen,  bis  ich  eine  solche 
erreichte,  von  der  ich  keine  andere  Ursache  finden 
konnte,  als  dass  unter  allen  möglichen  Vorstellungen, 
die  ich  in  mir  habe,  diese  eine  auch  aus  ihnen 
besteht.  Wenn  man  z.  B.  fragt,  worin  der  wahre 
Ursprung  unsrer  Irrthümer  bestehe,  so  vrird  Des- 
carte s  antworten,  darin,  dass  man  Dingen  xu- 
stimmt,  die  noch  nicht  klar  erfasst  sind.  Allein  ge- 
setzt, ich  habe  die  wahre  Vorstellung  eines  Gegen- 
standes, so  werde  ich  doch  nicht  Alles  hier  zur  £r- 
kenntniss  desselben  Nothwendige  bestimmen  können, 
wenn  ich  auch  die  zureichende  Vorstellung  dieses  Ge- 
genstandes erlangt  habe.  Um  nun  diese  zu  erlangen, 
suche  ich  wieder  nach  der  Ursache  dieses  Begriffes, 
weshalb  es  nftmlich  kommt,  dass  man  noch  nicht  klar 
eingesehenen  Dingen  zustimmt  und  ich  antworte,  dass 
dies  aus  dem  Mangel  der  Kenntniss  komme.  BQer 
kann  ich  aber  nun  nicht  weiter  zurückgehen  und  die 
Ursache  suchen,  weshalb  wir  Etwas  nicht  wissen  und 
so  sehe  ich,  dass  ich  die  zureichende  Ursache  unsrer 
Irrthümer  gefunden  habe. 

Hier  bitte  ich  Sie  indess  um  Auskunft,  ob,  da  be- 
kanntlich viele,  auf  unendlich  viele  Weise  ausge- 
drückte Dinge  ihre  zureichende  Vorstellung  haben  und 
aus  jeder  zureichenden  Vorstellung,  was  man  von  der 
Sache  wissen  kann,  entwickelt  werden  kann,  obgleich 
aus  einer  leichter  als  aus  der  andern,  ob  es  ein  Mittel 
giebt,  um  zu  erkennen,  welche  zureichende  Vorstell- 
ung am  besten  dazu  geeignet  ist.  Wenn  z.  B.  die 
zureichende  Vorstellung  des  Kreises  in  der  Gleichheit 
der  Halbmesser  besteht,  so  besteht  sie  doch  auch  in 
der  Gleichzeit  der  unzähligen  rechtwinkligen  Vier- 
ecke,    die    ans    den    Abschnitten    zweier    sich    kreu- 

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Die  wahre  and  die  zureicheade  Vorstellung.      209 

ssenden  Linien  im  Kreise  entstehen;  und  so  hat 
der  Kreis  noch  unzählig  viele  Ausdrucks  weisen, 
von  welchen  jede  die  zureichende  Natur  des  Kreises 
darlegt.  Wenn  mfin  auch  aus  jeder  alles  Andere  ab- 
leiten kann,  was  über  den  Kreis  gewusst  werden  kann, 
so  geschieht  dies  doch  aus  der  einen  weit  leichter 
als  aus  der  andern. 

So  kann  man  auch,  wenn  man  auf  die  Appli- 
caten^^  ^)  der  krummen  Linien  achtet,  Vieles  in  Betreft 
deren  Ricntungen  ableiten,  aber  leichter  geschieht  dies, 
wenn  man  die  Tangenten  betrachtet.  Damit  habe  ich 
auch  zeigen  wollen,  wie  weit  ich  in  dieser  Untersuchung 
schon  gekommen  bin.  Ich  erwai-te  von  Ihnen  deren 
Abschluss,  oder  Berichtigung,  wo  ich  geirrt  und  auch 
die  erbetene  Definition.    Leben  Sie  wohl.  *^^) 

D.,  den  5.  Januar  1675. 


Vierundsechzigster  Brief  (Vom  Januar  1675). 
Von  Spinoza  an  Herrn 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief) 

Hochgeehrter  Herr! 
Unter  einer  wahren  und  einer  zureichenden  Vor- 
stellung erkenne  ich  nur  den  Untschied  an,  dass  das 
Wort:  wahr  sich  nur  auf  die  Uebereinstimmung  der 
Vorstellung  mit  ihrem  Gegenstände,  das  Wort:  zu- 
reichend sich  auf  die  Natur  der  Vorstellung  an  sich 
bezieht.  Deshalb  liegt  der  Unterschied  beider  nur  in 
der  äussern  Beziehung.  Um  aber  zu  wissen,  aus 
welcher  Vorstellung  von  den  vielen  Vorstellungen 
einer  Sache  alle  Eigenschaften  derselben  abgeleitet 
werden  können,  so  halte  ich  nur  das  Eine  fest,  dass 
diese  Vorstellung  oder  Definition  der  Sache  die  wir- 
kende Ursache  ausdrücken  muss.  So  frage  ich  z.  B. 
behufs  Erforschung  der  Eigenschaften  des  Kreises 
nur,  ob  ich  aus  der  Vorstellung  des  Kreises,  wonach 
er  unzählige  gleiche  Kechtecke  enthält,  alle  seine 
Eigenschaften  ableiten  kann;  ich  sage,  dass  ich  er- 
mittle, ob  diese  Vorstellung  die  zureichende  Ursache 
des  Kreises  enthält  und  wenn  dies  nicht  der  Fall  ist, 

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210      LXIV.  Brief.    Von  Spinoza  an  Herrn 


finche  ich  eine  andere;  nftmlich  die,  dass  der  Kreis 
ein  Ranm  ist,  beschrieben  von  einer  Linie,  deren 
eines  Ende  fest  und  das  andere  beweglich  ist.  Diese 
Definition  enthält  die  bewirkende  Ursache  und  des> 
halb  weiss  ich,  dass  ich  alle  Eigenschaften  des  Krei- 
ses daraus  ableiten  können.  Ebenso  werde  ich,  wenn 
ich  Gott  als  das  höchst  vollkommene  Wesen  definire, 
da  diese  Definition  nicht  die  wirkende  Ursache  aus- 
drückt (ich  verstehe  nämlich  unter  wirkender  Ursache 
sowohl  die  innere  wie  die  äussere),  auch  nicht  alle 
Eigenschaften  Gottes  daraus  entnehmen  können;  wohl 
aber,  wenn  ich  Gott  als  ein  Wesen  definire  u.  s.  w.; 
man  sehe  die  Def.  6,  Th.  1  der  Ethik.  "*) 

Das  Uebrige  in  Betreif  der  Bewegung  und  de» 
Verfahrens  behalte  ich  mir  zu  einer  andern  Gele- 
genheit vor,  da  ich  es  noch  nicht  in  die  nöthige  Ord- 
nung gebracht  habe. 

Wenn  Sie  über  die  krummen  Linien  sagen, 
dass  aus  den  Applicaten  derselben  Vieles  über  deren 
Richtung  abgeleitet  werden  könne,  dass  aber  dies 
leichter  durch  Betrachtung  ihrer  Tangenten  geschehe, 
so  bin  ich  vielmehr  der  Ansicht,  dass  bei  Betrachtung 
der  Tangenten  auch  vieles  sich  schwerer  wird  ableiten 
lassen  als  durch  Betrachtung  der  Applicaten,  und  ich 
meine,  dass  aus  bestimmten  Eigenschaften  einer  Sache 
(bei  jedweder  gegebenen  Vorstellung  derselben).  Man- 
ches leichter,  Anderes  schwerer  aufgefrinden  werden 
kann  (was  jedoch  Alles  zur  Natur  des  Gegenstandes 
gehört);  aber  das  ist  zu  beobachten,  dass  man  eine 
solche  Vorstellung  sucht,  aus  der  Alles  entwickelt 
werden  kann,  wie  ich  oben  gesagt  habe;  *'*)  denn 
wenn  man  alles  Mögliche  aus  einer  Sache  ableiten 
will,  so  folgt  nothwendig,  dass  die  letzten  Folgerungen 
schwieriger  sein  werden,  als  die  vorhergehenden;  u.  s.  w. 


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Attribate;  uaeadiiclie  Maassgaben.  211 

Pünfundaechzigster  Brief  (Vom  25.  Juli  1675). 
Von  Herrn an  Spinoza« '-^^  ^) 

Vortrefflicher  Herr! 

Ich  bitte  Sie  ernstlich,  die  hier  folgenden  Bedenken 
za  lösen  und  Ihre  Antwort  darauf  mir  gefälligst  zu8;ehen 
2u  lassen.  Ich  bitte  um  einen  direkten  Beweis,  nicht  um 
einen8olchen,derbloszuUnmöglichkeitenfUhrt,l)darttber, 
ob  wir  mehr  Attribute  von  Gott  als  die  Ausdehnung 
und  das  Denken  erkennen  können?  Ob  daraus  folgt,  dass 
Geschöpfe,  die  aus  andern  Attributen  bestehen,  die 
Ausdehnung  nicht  enthalten  können?  Es  würde  daraus 
sich  ergeben,  dass  es  so  viel  Welten  geben  muss,  als 
Attribute  Gottes.  Von  so  grosser  Ausdehnung  z.  B. 
unsre  Welt  bestände,  von  ebenso  grosser  Ausdehnung 
müssten  auch  die  mit  andern  Attributen  versehenen 
Welten  sein;  sowie  wir  aber  ausser  dem  Denken  nur 
an  der  Ausdehnung  Theil  haben,  so  würden  auch  die 
Geschöpfe  jener  Welten  nur  an  den  Attributen  ihrer 
Welt  und  an  dem  Denken  Theil  nehmen. 

2)  Kann,  da  Gottes  Verstand,  seinem  Wesen  und 
Dasein  nach,  von  dem  unsrigen  verschieden  ist,  er  mit 
dem  unsrigen  nichts  gemein  haben  und  deshalb  kann 
(nach  Lehrs.  3,  Th.  I.  der  Ethik)  Gottes  Verstand 
nicht  die  Ursache  des  unsrigen  sein. 

3)  Sagen  Sie  in  der  Erläuterung  zu  Lehrs.  10,  Th.  I. 
der  Ethik.  „Nichts  sei  klarer  in  der  Natur,  als  dass 
^edes  Ding  unter  einem  Attribute  aufgefasst  werden 
^miisse  (was  ich  durchaus  verstehe),  und  dass,  je  mehr 
^es  Realität  oder  Sein  habe,  um  so  mehr  Attribute 
„ihm  zukommen  müssen.^  Hieraus  scheint  zu  folgen, 
dass  es  Din^e  giebt,  die  drei,  vier  und  noch  mehr 
Attribute  haben,  wenn  man  aus  dem  Bewiesenen  nicht 
zu  folgern  hat,  dass  jedes  Ding  nur  aus  zwei  Attributen 
bestehe,  nämlich  aus  einem  bestimmten  Attribute  Gottes 
und  aus  der  Vorstellung  dieses  Attributs. 

4)  Möchte  ich  gern  eiuige  Beispiele  von  dem  haben, 
was  von  Gott  unmittelbar  hervorgebracht  worden  und 
von  dem,  was  vermittelst  einer  unendlichen  Kodi- 

Spin  OS ft,  Briefe.  15 

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212  LXVL  Brief.    Von  Spinoza  an 


n  c  a  t  i  0  n  berroreebracht  wird.  Zu  ersterein  gehört  wohl 
das  Denken  und  die  Ausdehnung,  zu  letaterem  der 
Verstand  bei  dem  Denken  und  die  Bewegung  bei  der 
Ausdehnung. 

Dies  ist  es,  was  ich  von  Ihnen,  wenn  Ihre  Zeit 
es  gestattet,  erbitte.    Leben  Sie  wohl  u.  s.  w.  ^ 

Den  25.  Juli  1675. 


SechBundsechzigster  Brief  (Vom  29.  Juli  1675). 
Von  Spinoza  an  Herrn 

(Die  Antwort  auf  den  Yorstehenden  Brief.) 

Erfahrener  Herr! 

Ich  freue  mich,  dass  Sie  endlich  die  Gelegenheit 
hatten,  mich  mit  einem  Brief  zu  stärken,  der  mir  immer 
höchst  angenehm  ist,  so  dass  ich  bitte,  recht  fleissig 
damit  fortzufahren. 

Ich  wende  mich  zu  Ihren  Zweifeln  und  sage  in  Be- 
treff des  ersten,  dass  die  menschliche  Seele  nur  jene 
Kenntniss  erlangen  kann,  welche  die  Vorstellung  ihres 
wirklich  bestehenden  Körpers  einschliesst,  oder  die  ans 
dieser  Vorstellung  abgeleitet  werden  kann.  Denn  jedes 
Dinges  Macht  wird  nur  durch  sein  Wesen  bestimmt 
^nach  Lehrs.  7,  Th.  HI  der  Ethik);  das  Wesen  der  Seele 
(nach  Lehrs.  ld,Th.  II.  der  Ethik)  besteht  aber  nur  darin, 
dass  sie  die  Vorstellung  ihres  wirklich  bestehenden  Körpers 
ist.  Deshalb  erstreckt  sich  der  Seele  Kraft,  einzusenen^ 
nur  auf  das,  was  diese  Vorstellung  ihres  Körpers  in  sieh 
enthält,  oder  was  aus  ihr  folgt.  Diese  Vorstellung  des 
Körpers  schliesst  aber  nur  Oottes  Attribute  der  Ausdeh- 
nung und  des  Denkens  ein.  Denn  ihr  Gegenstand,  der 
Körper  (nach  Lehrs.  6,  Th.  11.),  hat  Gott  zur  Ursache, 
insofern  er  unter  dem  Attribute  der  Ausdehnung  und 
nicht  unter  einem  andern  aufgefasst  wird  und  deshalb 
(nach  Gr.  6,Th.  I.)  schliesst  diese  Vorstellung  des  Körpers 
oie  Erkenntniss  Gottes  ein,  soweit  er  nur  unter  dem 
Attribute  der  Ausdehnung  aufgefasst  wird.  Femer  hat 
diese  Vorstellung,  soweit  sie  ein  Zustand  des  Denkens  ist^ 

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Attribute  Gottes;  Beine  Ursächlichkeit  213 

Oott  auch  (nach  demselben  Lefanats)  cur  Ursache,  soweit 
er  ein  denkendes  Wesen  ist  und  nicht,  soweit  er  unter 
einem  andemAttribut  auf  gef asst  wird  und  deshalb  sohliesst 
die  Vorstellung  dieser  Vorstellung  (nach  demselben  Gr.) 
die  Erkenntniss  Gottes  ein,  soweit  er  unter  dem  Attribut 
des  Denkens  und  nicht  eines  andern  aufgefasst  wird.  Es 
erhellt  also,  dass  die  menschliche  Seele  oder  die  Vor- 
stellung des  menschlichen  Körpers  keine  Attribute  weiter 
als  diese  zwei  einschliesst  una  ausdrückt.  Auch  kann 
aus  diesen  beiden  Attributen  und  deren  Bestimmungen 
kein  andres  Attribut  Gottes  (nach  Lehrs.  16,  Th.  L)  ge- 
folgert, noch  begriffen  werden.  Und  daraus  schliesse  ich, 
dass  die  menschliche  Seele  nur  diese  beiden  Attribute 
erkennen  kann,  wie  auch  der  Sats  aufgestellt  worden 
ist.  '^  Wenn  Sie  aber  noch  fragen,  ob  deshalb  so  viel 
Welten,  als  es  Attribute  giebt,  anzunehmen  sind,  so  sehen 
SieErl.  zu  Lehrs.  7,  Th.  &.  der  Ethik  nach."*)  üebrigens 
konnte  dieser  Satz  noch  leichter  durch  Führung  des 
Gegners  zu  dem  Widersinnigen  bewiesen  werden  und  ich 
ziehe  diese  Beweisart,  wenn  der  Lehrsatz  verneinend  ist, 
der  andern  vor,  weil  sie  mit  der  Natur  des  Aehnlichen 
mehr  übereinstimmt.  Allein  Sie  wünschen  nur  positive 
Beweise  und  so  gehe  ich  zu  dem  Andern  über,  wo  Sie 
fragen,  ob  Etwas  von  etwas  Anderm,  das  in  seinem  Wesen 
wie  in  seinem  Dasein  ganz  verschieden  von  ihm  ist,  her- 
vorgebracht werden  könne,  da,  was  so  verschieden  ist, 
nichts  Gemeinsames  zu  haben  scheine.  Allein  jedes 
Einzelne  ist,  abgesehen  von  dem,  was  durch  sein  Aehn- 
liches  hervorgebracht  wird,  sowohl  dem  Wesen  wie  dem 
Dasein  nach  von  seiner  Ursache  verschieden  und  ich  sehe 
deshalb  keinen  Grund  zu  Zweifeln.  *•*) 

In  welchem  Sinne  ich  aber  es  verstehe,  dass  Gott 
die  wirkende  Ursache  der  Dinge,  sowohl  nach  ihrem 
Wesen,  als  nach  ihrem  Dasein  ist,  dass  habe  ich  wohl 
genügend  in  der  Erläuterung  und  dem  Zusatz  zu 
Lehrs.  25,  Th.  I.  der  Ethik  dargelegt «") 

Den  Grundsatz  der  Erläuterung  zu  Lehrs.  10, 
Th.  L  bilden  wir,  wie  ich  am  Ende  der  Erläuterung 
Imgedeutet  habe,  aus  der  Vorstellung,  die  wir  von 
dem  unbedingt  unendlichen  Wesen  haben  und  nicht 
davon,  dass  es  Dinge  giebt  oder  geben  könnte,  welche 
drei,  vier  und  mehr  Attribute  haben. 

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214  LIVU.  Brief.    Von  ....     aa  Spinoza. 

Endlich  sind  die  von  Ihnen  erbetenen  Beispiele 
sEur  ersten  Art  bei  dem  Denken:  »Der  schlechthin  un- 
endliche Verstand^  und  bei  der  Ansdehnnng:  ,,Die 
Bewegung  und  die  Ruhe;^  von  der  s weiten  Art  ist 
ein  Beispiel:  ^Die  Gestalt  des  ganaten  Weltalls^,  was, 
obgleich  es  auf  unendliche  Weise  wechselt,  doch 
immer  dasselbe  bleibt.**^)  Man  sehe  Erl&utenmg  au 
Lohns.  7  vor  dem  Lehrs.  14,  Th.  IL  der  Ethik. 

Hiermit  glaube  ich,  geehrter  Herr,  auf  Ihre  und 
Ihres  Freundes  Einwürfe  geantwortet  zu  haben;  sollte 
aber  noch  ein  Bedenken  bei  Ihnen  bestehen  bleiben, 
so  bitte  ich  es  mir  gefölligst  mitsutheilen,  um  es  eben- 
falls, wenn  ich  es  vermag,  au  beseitigen.  Leben  Sie 
wohl  u.  s.  w. 

Im  Haag,  den  29.  Juli  1675. 


Siebenundsechzigster    Brief 
(Vom  12.  August  1675.) 

Von an  Spinoza. 

Berühmter  Mann! 
Ich  erbitte  mir  einen  Beweis  für  Ihren  Satz,  dass  die 
Seele  nur  die  Attribute  der  Ausdehnung  und  des  Denkens 
von  Oott  erfassen  kann.  Obgleich  ich  dies  deutlich  ein- 
sehe, so  scheint  mir  doch  das  Gregentheil  aus  Erlfiutemng 
zu  Lehns.  7,  Th.  II.  der  Ethik  zu  folgen;  indess  vielleicht 
nur  deshalb,  weil  ich  den  Sinn  dieser  Erlftuterung  nicht 
recht  erfasse.  Ich  habe  deshalb  mich  entschlossen,  die 
Art  und  Weise,  wie  ich  dies  ableite,  klar  darzulegen  und 
bitte  Sie,  berühmter  Mann,  inständig,  mich  mit  l£rer  ge- 
wohnten Freundlichkeit  zu  unterstützen,  wo  ich  Ihre 
Meinung  nicht  recht  gefasst  haben  sollte.  Es  verhült  sich 
nun  so:  Wenn  ich  auch  daraus  folgere,  dass  es  nur  eine 
Welt  ^ebt,  so  ergiebt  sich  doch  auch  dies  klar  daraus, 
dass  sie  auf  unendliche  Weise  ausgedrückt  ist  und  dass 
deshalb  auch  jede  einzelne  Sache  auf  unendliche  Webe 
ausgedrückt  ist.  Daraus  scheint  zu  folgen,  dass  jene 
Mo£fication,  welche  meinen  Körper  ausdrückt,  wenn  sie 
auch  nur  eine  Modification  ist,  doch  auf  unzählige  Weisen 

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unendliche  Modificationen.  Vielheit  der  Attribute.  215 

ausgedrückt  ist;  einmal  durch  das  Denken,  dann  durch 
die  Ausdehnung,  drittens  durch  ein  mir  unbekanntes 
Attribut  Gottes  und  so  fort  ohne  Ende,  weil  die 
Attribute  Oottes  unzählig  sind  und  die  Ordnung  und 
Verbindung  der  Modificationen  in  allen  dieselbe  sein  soll. 
Hier  entsteht  nun  schon  die  Frage,  weshalb  die  Seele, 
welche  eine  gewisse  Modification  darstellt  und  welche 
Modification  nicht  blos  durch  die  Ausdehnung,  sondern 
durch  unendlich  viele  andere  Weisen  ausgedrückt  ist, 
weshalb,  sage  ich,  die  Seele  nur  die  durch  die  Aus- 
dehnung ausgedrückte  Modification,  d.  h.  den  mensch- 
lichen Körper,  aber  keinen  Ausdruck  durch  andere 
Attribute  auffasst? 

Indess  erlaubt  mir  die  Zeit  nicht,  dies  weiter  bu 
verfolgen  und  vielleicht  können  alle  diese  Zweifel 
durch  häufiges  Nachdenken  gehoben  werden.***) 

London,  den  12.  August  1675. 


Achtundsechzigster  Brief 
(Vom  18.  August  1675.) 

Von  Spinoza  an 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Hochgeehrter  Herr ! 

Um  übrigens  auf  Ihren  Einwurf  zu  ant- 
worten, so  sage  ich,  dass  zwar  jede  Sache  in  dem  un- 
endlichen Verstände  Gottes  auf  unendlich  viele  Weisen 
ausgedrückt  ist;  aber  deshalb  können  iene  unzähligen 
Vorstellungen,  durch  die  sie  ausgedrückt  werden,  nicht 
ein  und  dieselbe  Seele  der  einzelnen  Sache  bilden, 
sondern  unzählig  viele  Seelen;  denn  jede  dieser  un- 
zlüiligen  Vorstellungen  hat  mit  den  andern  keine  Ver- 
bindung, wie  ich  in  derselben  Erläuterung  zu  Lohns. 
7,  Th.  IL  der  Ethik  dargelegt  habe  und  aus  Lehrs. 
10,  Th.  I.  erhellt.  Wenn  Sie  hierauf  ein  wenig  Acht 
haben,  werden  Sie  keine  Schwierigkeiten  mehr  an- 
treffen; u.  s.  w.»*«) 

Im  Haag,  den  18.  August  1675. 


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216     LXIX.  Brief.   Von aa  SjMnosa.  LXX.  Brief. 


Neunundseckzigster  Brief  (Vom  2.  Mai  1676.) 
Von an  Sj^noza. 

Berühmter  Mann! 

Zunüchst  kann  ich  nur  schwer  begreifen, 

was  Ton  dem  früheren  Dasein  der  Körper  bewiesen 
wird,  welche  Bewegung  und  Gestalt  haben;  denn  in 
der  Ausdehnung,  wenn  man  die  Sache  schlechthin  be- 
trachtet, kommt  der  Art  nichts  Tor.  *")  Sodann  mochte 
ich  Ton  Ihnen  darüber  belehrt  werden,  wie  man  die 
Stelle  über  das  Unendliche  in  Ihrem  Brief  rerstehen 
soll,  wo  Sie  saeen:  „Aber  sie  schliessen  nicht,  dass 
^dergleichen  alle  Zahl  durch  die  Menge  der  Theüe 
,iübersteigt.'''^)  Mir  scheinen  nftmlich  alle  Mathematiker 
Ton  dergleichen  Unendlichen  immer  zu  beweisen,  dass 
die  Zahl  der  Theile  so  gross  ist,  dass  sie  alle  angeb- 
bare Zahl  übersteigen  und  in  dem  daselbst  heige- 
brachten  Beispiel  von  den  atwei  Kreisen  scheinen  Sie 
selbst  dies  nicht  zu  behaupten,  was  Sie  doch  unter- 
nommen hatten.  Denn  Sie  zeigen  da  nur,  dass  die 
Kreise  dies  Unendliche  nicht  wegen  der  übermässigen 
Grösse  des  zwischen  ihnen  befindlichen  Raumes  ent- 
halten, oder  weil  wir  kein  Grösstes  und  Kleinstes  hier 
hXtten.  Allein  Sie  beweisen  nicht,  wie  Sie  wollten, 
dass  die  Kreise  das  Unendliche  nicht  von  der  Menge 
der  Theile  haben;  u.  s.  w.*~) 

Den  2.  Mai  1676. 


Siebzigster  Brief  (Vom  5.  Mai  1676). 

Von  Spiaoza  an 

(IMe  Antwort  auf  den  Torttehenden  Brief.) 

Hochgeehrter  Herr! 
Das,  was  ich  in  meinem  Briefe  von  dem  Unend- 
lichen gesagt  habe,  dass  die  Kreise  n&nlich  die  Unend- 

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Die  üneadlichkeit.    Wie  das  Endliche  wird.      217 

lichkeit  der  Theile  nicht  in  Folge  der  Menge  der  Theile 
enthalten,  erhellt  daraas,  dass,  wenn  die  Unendlichkeit 
ans  deren  Menge  abgeleitet  würde,  man  keine  grössere 
Menge  der  Theile  sich  vorstellen  könnte,  vielmehr 
müsste  deren  Menge  grösser  als  jede  gegebene  sein, 
was  aber  falsch  ist;  aenn  in  dem  ganzen  Zwischen- 
raam  sweier  Kreise  mit  verschiedenen  Mittelpunkten 
stellt  man  sich  noch  einmal  so  viel  Theile  als  in  dessen 
Hftlfte  vor,  and  dennoch  ist  die  Zahl  der  Theile  so- 
wohl bei  der  Hälfte  wie  bei  dem  ganzen  Zwischen- 
raum grösser,  als  jede  angebliche  Zahl.***^)  Femer  ist 
es,  wie  Sie  sagen,  nicht  blos  schwer,  sondern  unmög- 
lich, aus  der  Ausdehnung,  wie  Descartes  sie  auffasst, 
nftmlich  als  eine  ruhende  Masse,  das  Dasein  der  Körper 
zu  beweisen.  Denn  ein  ruhender  Stoff  wird,  soweit 
es  von  ihm  abh&ngt,  in  seiner  Ruhe  verharren;  er 
kann  nur  von  einer  Äussern  Ursache  zur  Bewegung 
gebracht  werden  und  deshalb  habe  ich  früher  nicht 
augestanden,  zu  behaupten,  dass  die  Prinzipien  des 
Descartes  über  die  natürlichen  Dinge  unnütz,  wenn 
nicht  widersinnig  seien. '^*) 

Im  Haag,  den  6.  Mai  1676. 


Einundsiebzigster  Brief  (Vom  23.  Juni  1676). 

Von an  Spinoza. 

Gelehrter  Herr! 
Ich  möchte,  dass  Sie  mir  gefälligst  angäben,  wie  aus 
dem  Begriffe  der  Ausdehnung  nach  Ihrer  Auffassung  die 
Mannichfaltigkeit  der  Dinge  geradeaus  bewiesen  werden 
kann.  Sie  werden  sich  des  Ausspruchs  von  Descartes 
entsinnen,  wo  er  sagt,  dass  er  sie  in  keiner  andern  Weise 
daraus  ableiten  könne,  als  durch  Annahme  einer  von  Oott 
gewirkten  Bewegung,  welche  dies  in  der  Ausdehnung  be- 
wirkt habe.  Danach  leitet  er  also,  nach  meiner  Auffass- 
uog,  das  Dasein  der  Körper  nicht  von  dem  ruhenden 
Stoffe  ab,  wenn  man  nicht  etwa  die  Annahme  eines  be- 
wegenden Oottes  fär  Nichts  gelten  lassen  will;  zumal  da 
von  Ihnen  nicht  gezeigt  worden,  wie  dies  aus  dem  Wesen 

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218         LXXI.  Brief.    Von an  Spinoza. 

Gottes  geradezu  nothwendig  folgt  und  da  Descartes 

flanbte,  dass  dieser  Beweis  die  menschliche  Fassnngs- 
raft  Übersteige.  Deshalb  erbitte  ich  mir  dies  von 
Ihnen,  da  ich  wohl  weiss,  dass  Sie  hierüber  anders 
denken  nud  da  hoffentlich  kein  anderer  gewichtiger 
Grand  Sie  von  der  Veröffentlichung  desselben  znrück- 
hftlt;  denn  wenn  dies  der  Fall  gewesen  w&re,  so  würden 
Sie  unzweifelhaft  dergleichen  nicht  dunkel  angedeutet 
haben.  Seien  Sie  jedoch  Überzeugt,  dass,  mögen  Sie  mir 
offen  Etwas  mittheilen  oder  verhehlen,  meine  Anhäng- 
lichkeit an  Sie  unverändert  bleiben  wird.***) 

Der  Grand,  weshalb  ich  dies  besonders  erbitte,  ist, 
weil  ich  in  der  Mathematik  immer  bemerkt,  dass  wir  aus 
jeder  Sache  an  sich  betrachtet,  d.  h.  aus  der  Definition 
derselben,  nur  eine  einzige  Eigenschaft  ableiten  können ; 
um  mehr  Eigenschaften  zu  erlangen,  müssen  wir  die 
Sache  auf  Anderes  beziehen,  dann  entstehen  aus  der  Ver- 
bindung der  Definitionen  dieser  Sachen  neue  Eigenschaf- 
ten. Vr  eun  ich  z.  B.  den  Umring  des  Kreises  allein  be- 
trachte, so  kann  ich  nichts  anderes  folgen,  als  dass  er  über- 
all gleichförmig  sich  ähnlich  ist  und  durch  diese  Eigen- 
schaft unterscheidet  er  sich  allerdings  wesentlich  von  an- 
dern krummen  Linien ;  aber  ich  kann  keine  weiteren  Eigen- 
schaften daraus  ableiten.  Wenn  ich  aber  diese  Eigen- 
schaft auf  Anderes  beziehe,  nSmlich  auf  die  aus  dem 
Mittelpunkt  gezogenen  Halbmesser,  oder  auf  zwei  sich 
innerhalb  des  Kreises  schneidende  Linien,  oder  auch  auf 
Anderes,  so  vermag  ich  noch  mehr  Eigenschaften  daraus 
abzuleiten.  Dies  scheint  allerdings  gewissermassen  dem 
Lehrs.  16  der  Ethik  zu  widersprechen,  welcher  der  wich- 
tigste  im  Th.  I.  Ihrer  Abhandlung  ist,  wo  als  bekannt  an- 
genommen wird,  dass  aus  der  gegebenen  Definition  jeder 
Sache  mehrere  Eigenschaften  abgeleitet  werden  können; 
allein  mir  scheint  dies  unmöglich,  wenn  die  definirte 
Sache  nicht  auf  etwas  Anderes  bezogen  wird.  Daher 
kommt  es  auch,  dass  ich  nicht  einsehen  kann,  wie  aus 
einem  Attribute,  an  sich  allein  betrachtet,  z.  B.  aus  der 
Ausdehnung,  die  unendliche  Manhichfaltigkeitder Körper 
hervorgehen  kann.  Sollten  Sie  Aber  meinen,  dass  oaes 
allerdings  nicht  aus  einem  allein  betrachteten,  sondern 
iaiis  allen  zugleich  aufgefassten  gesch eben könne,so möchte 


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Attribni     Definitioii.  219 

icli  darüber,  und  wie  dies  zu  verstehen  ist,  von  Ihnen 
belehrt  werden.     Leben  Sie  wohl  n.  s.  w. 
Paris,  den  23.  Juni  1676. 


Zweiundsiebzigster  Brief  (Vom  15.  Juli  1676.) 

Von  Spinoza  an  Herrn 

(Die  ADtwort  auf  den  Yorstehenden  Brief) 

Hochgebomer  Herr! 

Wenn  Sie  fragen,  ob  aus  dem  blossen  Begriffe 
der  Ausdehnung  die  Mannichfaltigkeit  der  Dinge  grade- 
Aus  bewiesen  werden  könne,  so  glaube  ich  schon  klar 
dargelegt  zu  haben,  dass  dies  unmöglich  ist.  Deshalb 
wird  der  Stoff  von  Descartes  unrichtig  durch  die 
Ausdehnung  definirt,  er  muss  vielmehr  nothwendir 
durch  ein  Attribut  erklärt  werden,  das  eine  ewi^e  und 
unendliche  Wesenheit  ausdrückt.  Indess  werae  ich 
vielleicht  hierüber  mit  Ihnen,  wenn  mein  Leben  aus- 
hfilt,  deutlicher  verhandeln,  da  ich  bis  jetzt  hierüber 
nichts  in  geordneter  Weise  habe  abfassen  können.'*^) 

Wenn  Sie  dann  bemerken,  dass  man  aus  der  De- 
finition irgend  einer  Sache,  an  sich  betrachtet,  nur 
eine  einzige  Eigenschaft  abzuleiten  vermöge,  so  gilt 
dies  vielleicht  für  die  einfachsten  Dinge  oder  ftlr  die 
Gedankendinge  (zu  denen  ich  auch  die  Figuren  rechne), 
aber  nicht  fHr  die  wirklichen.  Denn  daraus  allein, 
dass  ich  Gott  als  ein  Wesen  definire,  zu  dessen  Wesen 
das  Dasein  gehört,  folgere  ich  mehrere  seiner  £igen« 
Schäften,  z.  B.  dass  er  nothwendig  besteht,  dass  er 
ein  einziger  ist,  dass  er  unveränderlich  ist,  unendlich 
u.  8.  w.,  und  so  könnte  ich  noch  mehrere  Beispiele 
anführen,  was  ich  jedoch  jetzt  unterlasse.'**) 

Endlich  bitte  ich  Sie  zu  ermitteln,  ob  die  Abhand- 
lung von  Dr.  Huet'*^)  (nämlich  gegen  die  theologisch- 
politische Abhandlung),  von  der  Sie  früher  geschrieben 
haben,  ans  licht  gekommen  ist  und  ob  Sie  mir  ein 
Exemplar  tibersenden  können.  Femer,  ob  die  neuen 
Entdeckungen    über  die  .Zurückwerfang  der  Strahlen 

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220       TiXXTTT.  Brief.    Von  A.  Burgh  an  Spinosa. 

Ihnen  sehon  bekannt  geworden  sind?  Damit  leben 
Sie  wohl,  hoehgebomer  Herr,  und  bewahren  Sie  Ihre 
Zuneigung  u.  s.  w. 

Im  Haag,  den  15.  Juli  1676. 


Dreiundsiebzigater  Brief  (Vom  10.  Sept.  1675). 
Von  Albert  Burgh**^)  an  Spinoza. 

Meinen  Oruss  vorausgeschickt 

Ich  yersprach  Ihnen  bei  meiner  Abreise  aus 
meinem  Vaterlande  su  schreiben,  wenn  mir  etwas  Be* 
merkenswerUies  auf  meiner  Reise  begegnen  sollte. 
Da  dieser  Fall,  und  zwar  in  grossem  Gie wicht  bei  mir 
eingetreten  ist,  löse  ich  mein  Versprechen  und  melde 
Ihnen,  dass  ich  durch  Gt>ttes  unendliche  Barmhersig- 
keit  in  die  Katholische  Kirche  surttokgelührt  und  deren 
IGtglied  geworden  bin.  Wie  dies  gekommen  ist,  werden 
Sie  aus  der  Schrift,  die  ich  dem  berühmten  und  er- 
fahrnen Herrn  Dr.  Crfinenus,  Professor  in  Leyden,**') 
gesandt  habe,  näher  ersehen  können;  ich  füee  deshalb 
hier  nur  das  bei,  was  auf  Ihren  Vortheil  sich  beiieht 

Je  mehr  ich  Sie  früher  wegen  der  Feinheit  und 
des  Scharfsinnes  Ihres  Geistes  bewundert  habe,  desto 
mehr  beweine  und  beklage  ich  Sie  jetat;  denn  Sie 
sind  ein  geistreicher  Mann  und  haben  von  Gott  einen 
mit  ^lausenden  Oaben  gelierten  Verstand  empfangen; 
Sie  lieben  die  Wahrheit  selbst  mit  Heftigkeit;  aber 
Sie  lassen  sich  von  dem  elenden  und  stolsesten 
Herrn  der  bösen  Geister  irreleiten  und  betrügen.  Denn 
was  ist  Ihre  ganze  Philosophie  Anderes,  als  eine  reine 
Täuschung  und  Chimäre?  und  dennoch  bauen  Sie 
darauf  nicht  blos  die  Buhe  Ihrer  Seele  in  diesem 
Leben,  sondern  auch  das  ewige  Heil  derselben.  Sehen 
Sie  doch,  auf  welchen  elenden  Grund  alle  Ihre  Aus- 
sprüche sich  stützen.  Sie  belianpten,  endlich  die  wahre 
Philosophie  gefunden  au  haben;  aber  wie  wollen  Sie 
wissen,  dass  Ihre  Philosophie  die  beste  von  allen  jenen 
ist,  die  einmal  in  der  Welt  gelehrt  worden  sind  oder 
jetzt  gelehrt  werden  und  später  noch  gelehrt  werden 

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i 


ReligiöB«  Einwendungea  gegen  Sp.'s  Lehre.       221 

werden?  Hftben  Sie,  um  von  der  Berücksichtigung  der 
sakünftigen  atu  schweigen,  alle  jene  alten  und  neuen 
Philosophieen,  welche  hier  und  in  Indien  und  aller 
Orten  auf  der  ganaen  Erde  gelehrt  werden,  geprüft? 
Und  selbst  wenn  Sie  dies  gethan,  woher  wissen  Sie, 
dass  Sie  die  beste  erwfihlt  haben?  Sie  werden  sagen, 
meine  Philosophie  stimmt  mit  der  rechten  Vernunft, 
die  andern  widerstreiten  ihr;  allein  alle  andern  Philo- 
sophen, Ihre  Schüler  ausgenommen,  weichen  von 
Ihnen  ab  und  behaupten  von  ihrer  eignen  dasselbe, 
was  Sie  von  der  Ihrigen  und  besüchtigen  Sie  ebenso 
der  Unwahrheit  und  des  Irrthums,  wie  sie  es  mit  Jenen 
thun.  Offenbar  haben  Sie  also,  damit  die  Wahrheit 
Ihrer  Philosophie  einleuchte,  besondere  Gründe  beiau- 
bringen,  welche  den  übrigen  Philosophen  nicht  gemein- 
sam, sondern  blos  auf  die  Ihrige  anwendbar  sind;  oder 
Sie  müssen  zugestehen,  dass  Ihre  Philosophie  ebenso 
'ingewiss  und  trügerisch  als  die  der  Andern  ist. 

Ich  wende  mich  jedoch  gleich  zu  Ihrem  Buche,  dem 
Sie  jenen  göttlichen  Titel  vorgesetzt  haben,  **^)  und  werfe 
Ihre  Philosophie  mit  Ihrer  Theologie  zusammen,  da  Sie  in 
Wahrheit  dies  selbst  thun,  obgleich  Sie  mit  teuflischer 
List  vorgeben,  die  eine  sei  von  der  andern  verschieden 
und  habe  verschiedene  Grundsätze.  Ich  fahre  also  so  fort. 

Sie  werden  also  vielleicht  sagen:  Andere  haben  die 
heilige  Schrift  nicht  so  vielmal  als  ich  gelesen  und  aus 
dieser  heiligen  Schrift  selbst,  deren  anerkanntes  Ansehen 
den  Unterschied  zwischen  den  christlichen  und  andern 
Völkern  der  Erde  ausmacht,  beweise  ich  meine  Ans- 
spiüche.  Aber  wie?  Indem  ich  die  klaren  Stellen  an  die 
dunkeln  halte,  erkläre  ich  die  Schrift  und  aus  dieser 
meiner  Auslegung  bilde  ich  meine  Sätze  oder  Beläge,  oder 
bestätige  die  schon  vorher  in  meinem  Gehirn  gebildeten 
Sitze.  Ich  beschwöre  Sie  aber,  ernstlich  zu  bedenken, 
WAS  Sie  sagen:  Woher  wissen  Sie  denn,  dass  Sie  besagte 
Yergleichung  gut  ausführen  und  dass  diese  Vergleich  ung, 
8  albst  wenn  sie  recht  geschehen  ist,  zur  Auslegung  der 
heiligen  Schrift  ausreicht  und  dass  Sie  also  die  Auslegung 
der  heiligen  Schrift  recht  beginnen?  Zumal  da  die 
Katholiken  sagen  und  es  durchaus  wahr  ist,  dass  das 
Wort  Gottes  nicht  ganz  in  Schriften  überliefert  sei  und 
daher  die  heilige  Schrift  nicht  durch  die  heilige  Schrift 

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222        hXXm.  Brief.    Von  A.  Burgh  an  Sfünoea. 

allein  erklärt  werden  k^nne;  nnd  swar  nicht  blos  nicht 
von  einem  Menschen,  sondern  anch  nicht  von  der 
Kirche  selbst,  die  allein  die  Anslegerin  derselben  ist 
Auch  die  apostolischen  Ueberlieferangen  müssen  be- 
trachtet werden,  wie  ans  der  heiligen  Schrift  selbst 
nnd  ans  dem  Zeugniss  der  heiligen  V&ter  hervorgeht 
nnd  was  anch  mit  der  Vernunft  nnd  Erfahmng  fiber- 
einstimmt. Wenn  so  Ihre  Grundlage  durchaus  üedsch 
nnd  verderblich  ist,  wo  bleibt  da  Ihre  ganze,  auf  diese 
falsche  Grundlage  gesttttste  und  aufgebaute  Lehre? 

Deshalb  mögen  Sie,  wenn  Sie  an  den  gekreuzigten 
Christus  glauben,  Ihre  abscheuliche  Ketserei  erkennen; 
wenden  Sie  sich  ab  von  der  Verkehrtheit  Ihrer  Natur 
und  versöhnen  Sie  sich  wieder  mit  der  Kirche  I 

Beweisen  Sie  denn  Ihre  Sfttze  anders,  als  alle 
Ketzer  gethan  haben,  die  je  die  Kirche  verlassen 
haben  und  noch  jetzt  verlassen  und  in  Zukunft  ver- 
lassen werden,  und  wie  diese  thun  und  thun  werden? 
Denn  Alle  benutzen,  wie  Sie,  denselben  Grundsatz, 
indem  sie  nttmlich  die  heilige  Schrift  allein  znr 
Bildung  und  Bestätigung  ihrer  Lehren  verwenden. 

Auch  darf  es  Ihnen  nicht  schmeicheln,  dass  viel- 
leicht die  Calvinisten  und  Reformirten  und  auch  die 
Lutheraner  und  Mennoniten  und  Socinianer  u.  s.  w. 
Ihre  Lehre  nicht  widerlegen  können;  denn  alle  diese 
sind,  wie  eesagt,  gleich  elend  wie  Sie,  und  sitzen  mit 
Ihnen  in  dem  Schatten  des  Todes. 

Wenn  Sie  aber  an  Christus  nicht  glauben,  so  sind  Sie 
elender,  als  sich  sagen  lilsst.  Aber  es  giebt  ein  leichtes 
Mittel ;  wenden  Sie  sich  ab  von  Ihren  Sünden,  indem  Sie 
die  verderbliche  Anmassung  Ihrer  traurigen  und  un- 
sinnigen Ausführungen  erkennen.  Sie  glauben  nicht  an 
Christus  und  weshalb  nicht?  Sie  werden  saeen,  weil  die 
Lehre  und  das  Leben  Christi  meinen  Grundsfttzen,  und 
ebenso  die  Lehre  der  Christen  über  Christus  selbst  meiner 
Lehre  nicht  entsprechen.  Aber  ich  wiederhole:  Halten 
Sie  sich  denn  für  grösser  als  Alle,  die  je  im  Staat  und 
in  der  Kirche  Gottes  sich  erhoben  haben?  grösser  als  die 
Patriarchen,  Propheten,  Apostel,  Marter,  Lehrer,  Be- 
kenner,  Jun^auen  und  die  unzfihligen Heiligen,  ja  gottes- 
lästerlicher Weise  grösser,  als  selbst  unser  Herr  Jesus 
Christus?    Also  übertreffen  Sie  allein  Jene  an  Lehf 


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j. 


üeber  die  Gewissheit  der  katholischen  Religion.     223 

Xjebens weise  und  allem  Andern?  Sie  elendes  Menschen- 
kind, Sie  niedriger  Erden  wurm;  ja  Sie  Asche  und  Speise 
der  Würmer,  Sie  wollen  sich  der  unendlichen,  Fleisch  ge- 
ivordenen  Weisheit  des  ewigen  Vaters  in  unaussprech- 
licher Lästerung  voranstellen?  Sie  allein  wollen  sich  für 
Utiger  und  erösser  als  Alle  halten,  die  je  seit  Anfang 
der  Welt  in  der  Kirche  gewesen  sind  und  an  den  kom- 
menden Christus  oder  an  den  gekommenen  geglaubt 
baben  und  noch  glauben?  Auf  welche  Grundlage  stützt 
sich  Ihr  verwegener,  wahnsinniger,  beklagenswerther 
und  zu  verwünschender  Hochmuth? 

Sie  leugnen,  dass  Christus,  der  Sohn  des  lebendigen 
Gottes,  das  ewige  Wort  der  Weisheit  des  Vaters,  sich  im 
Fleische  offenbart  und  fiir  das  Menschengeschlecht  ge- 
litten habe  und  gekreuzigt  worden  sei.    Weshalb?  Weil 
dies  Alles  Ihren  Grundsätzen  nicht  entspricht.  Allein  ab- 
gesehen davon,  dass  schon  erwiesen  ist,  dass  Sie  keine 
wahre  Grundsätze  haben,  sondern  falsche,  unverschämte, 
unsinnige,  sage  ich  jetzt  sogar,  dass,  wenn  Sie  selbst  auf 
wahren  Prinzipien  sich  stützten  und  alles  Weitere  darauf 
errichteten,  Sie  doch  damit  Alles,  was  in  der  Welt  ist, 
geschehen  ist  und  geschehen  wird,  nicht  erklären  könnten 
und  dass  Sie  nicht  dreist  behaupten  dürften,  dass,  was 
mit  diesen  Grundsätzen  sich  nicht  vereinige,    deshalb 
wirklich  unmöglich  und  falsch  sei.    Wie  Vieles,  ja  Un- 
zähliges gtebt  es  nicht,  was,  wenn  in  natürlichen  Dingen 
es  eine  sichere  Erkenntniss  giebt,  Sie  doch  nicht  erklären 
können,  ja  wo  Sie  nicht  einmal  den  anscheinenden  Wider- 
spruch der  Erscheinungen  mit  Ihren  Erklärungen  der 
übrigen,  welche  Erklärungen  Sie  für  ganz  gewiss  halten, 
beseitigen  können?  Sie  werden  mit  Ihren  Grundsätzen 
Nichts  von  dem  erklären  können,  was  bei  Beschwörungen 
und  Zaubereien  durch  das  blosse  Aussprechen  gewisser 
Worte  oder  durch  alleiniges  Vorhalten  derselben  oder  von 
Zeichen,  die  in  anderm  Stoffe  dargestellt  sind,  bewirkt 
wird;  ebenso  wenig  die  wunderbaren  Vorgänge  bei  den 
von  dem  Teufel  Besessenen.     Ich  selbst  habe  von  alle- 
dem Beispiele  gesehen  und  die  sichersten  Zeugnisse  über 
unzählige  solche  Fälle  von  den  glaubwürdigsten  Personen 
einstimmig  vernommen.  Wie  können  Sie  über  das  Wesen 
aller  Dinge  urtheilen,  selbst  wenn  ich  zugebe,  dass  einige 
der  Vorstellungen,  die  Sie  in  Ihrem  Kopfe  haben,  dem 

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224        LXXni.  Brief.    Von  A.  Borgh  an  Spinoza. 

Wesen  dieser  Dinee,  deren  zureichende  VorsteHnng^n  sie 
sind,  entsprechen?  Sie  können  ja  nie  sicher  sein,  ob  toi 
Natur  die  Vorstellnngen  aller  geschaffenen  Dinge  in  d«* 
menschlichen  Seele  enthalten  sind,  ***)  oder  ob  nicht  viele, 
wo  nicht  alle,  von  finssem  Gegenständen  hervorgebracht 
werden  können  und  wirklich  hervorgebracht  werden;  so 
wie  auch  durch  Einflössnng  von  guten  oder  bösen  Geistern 
und  durch  die  klare  göttliche  Offenbarung.  Wenn  Sie 
also  die  Zeugnisse  Anderer  und  die  Erfahrung  von  den 
Dingen  nicht  beachten,  wie  wollen  Sie  da,  abgesehen 
davon,  dass  Sie  Ihr  Urtheil  der  göttlichen  Allmacht  zu 
unterwerfen  haben,  aus  Ihren  Grundsätzen  bestimmen 
und  feststellen  das  wirkliche  Sein  oder  Nicht-Sein,  die 
Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit  des  Seins  z.  B.  von  Dingen 
(nämlich  dass  sie  in  der  Welt  wirklich  bestehen  oder 
nicht  bestehen,  oder  dass  sie  bestehen  können  oder  nicht 
können),  wie  die  Wünschelruthe  für  die  Entdeckung  der 
Metalle  und  Gewässer  in  der  Erde;  den  Stein,  welchen 
die  Alchymisten  suchen;  die  Kraft  der  Worte  und  Zeichen; 
das  Erscheinen  guter  und  böser  Geister  und  ihre  Kraft, 
Wissenschaft  und  Beschäftigung;  die  Wiederherstellung 
der  Pflanzen  und  Blumen  in  der  Glasflasche,  nachdem  sie 
verbrannt  w«nlfltt;  die  StBonai;  die  Zwerge,  welche,  wie 
man  sagt,  oft  in  Bergwerken  sich  zeigen;  die  Autipetbieen 
und  Sympathieen  der  meisten  Dinge ;  die  Undurchdring- 
lichkeit des  menschlichen  Körpers  u.  s.  w.?  Von  alledem 
können  Sie,meinHerrPhilosoph,und  wenn  die  Feinheit  und 
Schärfe  Ihres  Geistes  tausendmal  feiner  noch  wäre,  als  sie 
ist,  nichts  entscheiden  und  wenn  Sie  sich  bei  Entscheidung 
über  diese  und  ähnliche  Dinge  nur  auf  Ihren  Verstand 
verlassen,  so  denken  Sie  über  das,  was  Sie  noch  nicht 
bemerkt  oder  erfahren  haben,  als  wäre  es  unmöglich;  ob- 
eleich  es  doch  nur  als  ungewiss  gelten  darf,  bis  Sie  durch 
das  Zeugniss  vieler  so  glaubwüräger  Personen  überzeugt 
sein  werden.  Auch  Julius  Cäsar  würde,  nach  meiner 
Meinung,  so  geurtheilt  haben,  wenn  ihm  Jemand  gesagt 
hätte,  dass  man  ein  Pulver  mischen  könne  und  in  den 
spätem  Jahrhunderten  dies  allgemein  geschehen  werde, 
dessen  Kraft  so  stark  sei,  dass  es  Festungen,  ganze  Städte 
{a  selbst  Beree  in  die  Luft  sprengen  könne  und  dass  es 
trotz  seines  Verschlusses  in  einem  Orte  doch  bei  seiner 
Entzündung  sich  plötzlich  wunderbar  auldehne  und  Alles, 

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Ennahmlngen  an  Spinoza.  225 

^as  seine  Wiiksamkeit  hemme,  sereprenge.  Auch  Julias 
Cäsar  würde  dies  durchaus  nicht  geglaabt  haben,  sondern 
lant  über  den  Menschen  gelacht  haben,  der  ihn  etwas 

flanben  machen  wolle,  was  seinen  Kenntnissen  and  seiner 
irfahmng  und  der  Kriegs- Wissenschaft  widerspreche. 
Lassen  Sie  uns  indess  auf  nnsem  Gegenstand  surttck- 
kommen.  Wenn  Sie  also  cUe  vorerwähnten  Dinge  nicht 
verstehen,  noch  erkennen,  wie  wollen  Sie  elender,  vom 
teuffischen  Stolze  erfttUter  Mann,  über  die  schrecklichen 
Geheimnisse  des  Lebens  und  Leidens  Christi  urtheilen, 
welche  selbst  die  katholischen  Lehrer  für  unbegreiflich 
erklären?  Wie  können  Sie  da  in  unsinniger,  possenhafter 
und  hohler  Weise  über  unzählige  Wunder  und  Zeichen 
schwätzen,  welche  nach  Christus  seine  Apostel  und  Jünger 
und  demnächst  viele  tausend  Heilige  zum  Zeugniss  und 
zur  Bestätigung  der  Wahrheit  des  katholischen  Glaubens 
durch  die  allmächtige  Kraft  Gottes  verrichtet  haben  und 
die  durch  dieselbe  allmächtige  Barmherzigkeit  und  Güte 
Gottes  auch  heutzutage  noch  zahllos  auf  demeanzenErd- 
kreise  geschehen  ?  Ond  wenn  Sie  dem  nicht  widersprechen 
können,  wie  Sie  das  sicherlich  nicht  können,  was  sti^äuben 
Sie  sich  da  noch  ?  Geben  Sie  die  Hand  und  lassen  Sie 
ab  von  Ihren  Jrrthümem  und  Sünden;  ziehen  Sie  die 
Demuth  an  und  werden  Sie  ein  neuer  Mensch! 

Lassen  Sie  mich  jetzt  zur  Wahrheit  der  Thatsachen 
übergehen,  welche  die  wahrhafte  Grundlage  der  christ- 
lichen Religion  sind.  Wie  wollen  Sie  bei  gehöriger  Auf- 
merksamkeit die  Beweiskraft  der  Uebereinstimmoaf  so 
vieler  Tausende  von  Menschen  bestreiten,  von^ikfien  viele 
Hunderte  Sie  an  Gelehrsamkeit,  Lehre  nd  wahrhaftem 
Scharfsinn  und  Vollkommenheit  de«  Lebens  weit  über- 
tröffen haben  und  übertreffen?  Die  Alle  einstimmig  mit 
einem  Munde  sagen,  Christas,  der  fleischgewordene  Sohn 
des  lebendigen  Gottes,  habe  gelitten,  sei  gekreuzigt,  für 
die  Sünden  der  Menschen  gestorben,  wieder  auferstanden, 
gen  Himmel  gefiihren  und  herrsche  im  Himmel  mit  seinem 
ewigen  Vater  in  Einheit  des  heilten  Geistes;  und  ebenso 
das  üebrige  hierher  Gehörige;  remor,  dass  von  diesem 
Herrn  Jesu  und  später  von  den  Aposteln  und  übrigen 
Heiligen  in  seinem  Namen  durch  die  göttliche,  allmächtige 
Kraft  unzählige  Wunder  in  der  Kirche  Gottes  vollbracht 
worden,  welche  der  Verstand  der  Menschen  nicht  fassen 

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226        LXXIII.  Brie!    Von  A.  Bargh  aa  Spinoza. 

kann,  ja  welche  selbst  dem  gewöhnlichen  Sinne  wider- 
streben (and  wovon  bis  auf  diesen  Tag  die  körperlichen 
Zeichen  ohne  Zahl  und  sichtbar  weit  und  breit  auf  dem 
ganzen  Erdenrund  zerstreut  vorhanden  sind),  und  dass 
solche  Wunder  noch  jetzt  geschehen? 

Könnte  ich  dann  nicht  ebenso  leugnen,  dass  die 
alten  Römer  jemals  gelebt  haben?  dass  der  Kaiser  Jalius 
Cäsar,  nach  Unterdrückung  der  Republik,  das  Regiment 
des  Staats  in  eine  Monarchie  umgewandelt  habe?  indem 
ich  mich  nicht  um  die  alten,  sichtbaren,  vielen  Monumente 
kümmerte,  welche  die  Zeit  uns  von  der  Macht  der  Römer 
übrig  gelassen  hat  und  nicht  um  das  Zeugniss  jener  ge- 
wichtigen Schriftsteller,  welche  die  Gescluchte  der  Ro- 
mischen Republik  und  Monarchie  geschrieben  und  dabei 
Vieles  über  Julius  Cftsar  berichtet  haben  und  nicht  um 
das  Urtheil  so  vieler  Tausend  Menschen,  welche  entweder 
die  erwähnten  Denkmäler  gesehen  haben,  oder  ihnen 
(da  deren  Dasein  von  unzähligen  Personen  bestätigt  wird) 
ebenso  wie  den  genannten  Berichten  geglaubt  haben  and 
noch  glauben  Könnte  ich  nicht  dies  Alles,  und  zwar  aus 
dem  Grunde,  weil  ich  in  der  vergangenen  Nacht  geträumt 
habe,  dass  die  Denkmäler  aus  der  Römerzeit  keine  wirk- 
lichen, sondern  nur  Täuschungen  seien  und  dass  die  Be- 
richte über  die  Römer  den  sogenannten  Romanen  and 
deren  kindischen  Erzählungen  über  die  Amadis-,  die 
Oallischen  und  ähnliche  Helden  gleichstehen,  und  dass 
Julius  Cäsar  niemals  gelebt,  oder  wenn  dies  der  Fall,  er 
ein  schwarzgalliger  Mensch  gewesen  sei,  der  nicht  wirk- 
lich die  Freiheit  der  Römer  niedergeschlagen  und  sich 
selbst  auf  den  Thron  der  kaiserlichen  Majestät  gesetzt, 
sondern  der  nur  durch  seine  thörichten  Einbildungen  oder 
durch  die  Schmeicheleien  seiner  Freunde  überredet,  ge- 
glaubt habe,  er  habe  so  Grosses  verrichtet? 

Könnte  ich  dann  nicht  ebenso  leusnen,  dass  die 
Tataren  das  Chinesische  Reich  erobert  haben;  dass  Con- 
stantinopel  der  Sitz  des  Türkischen  Reiches  ist  und  un- 
zähliges Andere?  Aber  würde  mich  dann  Jemand  wohl 
für  gesund  an  Sinnen  halten  und  nicht  vielmehr  als  einea 
Wahnsinnigen  beklagen  und  entschuldigen?  Und  zwar  ist 
dies  Alles  nicht  zulässig,  weil  es  sich  auf  die  überein- 
stimmende Ansicht  vieler  Tausende  von  Menschen  stützt 
und  deshalb  seine  Gewissheit  die  festeste  ist;  da  es  un- 

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Gründe  für  die  Wahrheit  der  katholischen  Lehre.    227 

möglich  ist,  dass  Alle,  die  dies  und  vieles  Andere 
behaupten,  sich  selbst  oder  Andere  im  Verlauf  so 
vieler  Jahrhunderte  und  zwar  in  der  längsten  Zeit, 
dass  die  Welt  steht,  der  Reihe  nach  bis  zu  dem  heu- 
tigen Tag  hätten  betriigen  wollen. 

Bedenken  Sie  weiter,  dass  die  Kirche  Oottes  von 
dem  Anfange  der  Welt  bis  zu  dem  heutigen  Tag,  in 
ununterbrochener  Folge  fortgepflanzt,  unerschüttert  und 
fest  bestanden  hat,  während  alle  heidnischen  und 
ketzerischen  Religionen  ihren  Anfang  erst  später  ge- 
nommen, wenn  nicht  auch  schon  wieder  untergangen 
sind,  und  dass  dasselbe  von  den  Reihen  der  Monarchen 
und  von  den  Meinungen  aller  Philosophen  gilt. 

Bedenken  Sie  femer  drittens,  dass  die  Kirche  Got- 
tes durch  Christi  Ankunft  in  dem  Fleische  von  dem  Dienst 
des  Alten  zu  dem  des  Neuen  Testaments  geführt  worden 
ist  und  dass  sie  von  Christus  selbst,  dem  Sohne  des 
lebendigen  Gottes,  gegründet  worden  und  dann  durch  die 
Apostel  und  deren  Schüler  und  Nachfolger,  also  nach 
weltlicher  Ansicht,  von  ungelehrten  Männern  erhalten  und 
ausgebreitet  worden.  Diese  Apostel  haben  trotzdem  alle 
Philosophen  beschämt,  obgleich  sie  die  christliche  Lehre, 
welche  dem  natürlichen  Verstände  widerstreitet  und  alle 
menschliche  Vernunft  überschreitet,  gelehrt  haben.  Es 
waren  der  Welt  nach  verachtete,  niedrige  und  gemeine 
Leute,  welche  die  Macht  der  Könige  und  ErdenfUrsten 
nicht  unterstützte,  sondern  die  vielmehr  von  diesen  durch 
vielerlei  Peinigungen  verfolgt  wurden  und  alle  Wider- 
wärtigkeiten der  W  elt  erlitten  haben.  Je  mehr  die  mäch- 
tigsten Römischen  Kaiser  deren  Werk  zu  hemmen  und  zu 
unterdrücken  versuchten  und  obgleich  sie  viele  Christen 
aller  Stände  in  Martern  zu  Tode  brachten,  so  nahm  das- 
selbe doch  an  Grösse  zu  und  so  war  in  kurzer  Zeit  die 
Kirche  Christi  über  den  ganzen  Erdkreis  verbreitet  und 
endlich  bekehrten  sich  der  römische  Kaiser  und  die 
Könige  und  Fürsten  Europas  selbst  zu  dem  christlichen 
Glauben  und  dabei  wuchs  die  kirchliche  Herrschaft  zu 
jener  ausgedehnten  Macht,  wie  wir  sie  heute  anstaunen. 
Und  dies  Alles  ist  erreicht  durch  Liebe,  Sanftmuth,  Ge- 
duld, Gottvertrauen  und  die  übrigen  christlichen  Tugenden 
(nicht  durch  das  Getöse  der  Waffen,  die  Gewalt  zahl- 
reicher Heere,  die  Verwüstung  von  Ländern,  in  welcher 
Bpinoia,  Brief«.  16  ..^nir^ 

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228        LXXIU.  Brief.    Von  A.  Borgh  an  Spinoza. 

Weise  die  weltlichen  Fürsten  ihre  Gewalt  ausdehnen), 
ohne  dass  die  Pforten  der  Hölle  etwas  gegen  die 
Kirche  vermocht  hahen,  wie  Christus  ihr  verheissen 
hatte.  Bedenken  Sie  hier  auch  das  schrecklich  und 
unsäglich  strenge  Strafgericht,  wodurch  die  Juden  auf 
die  unterste  Stufe  des  Elendes  und  Leidens  gebracht 
worden  sind,  weil  sie  die  Urheber  von  Christi  Kreosigung 
gewesen.  Ueberschauen  Sie,  lesen  Sie  und  lesen  Sie 
nochmals  die  Geschichten  aller  Zeiten  und  Sie  werden 
nichts  AehnHches  selbst  im  Traume  finden,  was  je  in 
einer  andern  Gesellschaft  sich  zugetragen  hat. 

Bemerken  Sie  viertens,  wie  in  dem  Wesen  der 
katholischen  Kirche  eingeschlossen  und  wahrhaft  von 
dieser  Kirche  untrennbar  die  Eigenschaften  sind,  nttmlich 
das  Alter,  vermöge  dessen  sie  an  Stelle  der  jüdischen 
Religion  getreten,  £e  zu  ihrer  Zeit  die  wahre  war,  und  wie 
sie  ihren  Anfang  von  Christus  vor  1650  Jahren  rechnet 
und  wodurch  die  Reihe  ihrer  Hirten,  niemals  unterbrochen, 
fortgegangen  ist  und  wodurch  es  kommt,  dass  sie  allein 
die  heiligen  und  göttlichen  Bücher  rein  und  unverdorben 
mit  der  nicht  geschriebenen  UeberUeferung  des  Wortes 
Gottes  ebenso  gewiss  und  unbefleckt  besitzt;  femer  die 
Un  Veränderlichkeit,  vermöge  deren  sie  ihre  Lehre  und 
Verwaltung  der  Gnadenmittel,  so  wie  sie  von  Christus 
eingesetzt  worden,  unverletzt  und,  so  wie  es  bestimmt 
worden,  in  ihrer  Ejraft  bewahrt;  femer  die  Untrüglieh- 
keit,  vermöge  deren  sie  alles  zum  Glauben  Gehörige  mit 
dem  höchsten  Ansehen  und  voller  Sicherheit  und  Wahr- 
heit bestimmt  und  entscheidet  nach  der  Macht,  die  ihr 
Christus  zu  dem  Ende  verliehen  und  nach  der  Leitung 
des  heiligen  Geistes,  dessen  Braut  die  Earche  ist.  Ferner 
die  Unverbesserlichkeit,  vermöge  deren  sie  nicht  ver- 
dorben und  betrogen  werden  und  nicht  betrügen  kann 
und  deshalb  niemals  der  Verbesserung  bedarf;  femer  die 
Einheit,  vermöge  deren  alle  ihre  Glieder  dasselbe  glau- 
ben, dasselbe  für  den  Glauben  lehren,  ein  und  denselben 
Altar  und  alle  Gnadenmittel  gemeinsam  haben  und  in 
wechselseitigem  Gehorsam  nach  einem  Ziele  streben; 
femer,  dass  keine  Seele  sich  unter  irgend  einem  Vorwand 
von  ihr  trennen  kann,  ohne  der  ewigen  Verdammniss  zu 
verfallen,  wenn  der  Mensch  nicht  vor  seinem  Tode  in  Rene 
i'ich  wieder  mit  ihr  vereint.  Hieraus  erhellt,  dass  alle  Ketser- 

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Gründe  fflr  die  Wahrheit  der  katholischen  Lehre.  229 

^us  ihr  geschieden  sind,  w&hrend  sie  sich  immer  gleich 
und  beständig  nnd  fest,  wie  auf  den  Felsen  Petri  er- 
jrichtet,  bleibt.  Femer  die  weiteste  Ausbreitung, 
^ermöfi'e  deren  sie  sich  sichtbar  über  die  ganze  Welt' 
•erstreckt.  Von  keiner  anderen  abe^efallenen,  oder 
ketzerischen,  oder  heidnischen  Gesellschaft  und  von 
keinem  staatlichen  Regiment  und  von  keiner  philo- 
sophischen Lehre  kann  das  Gleiche  behauptet  werden. 
^Endlich  ihre  ewige  Dauer  bis  zu  dem  Ende  der 
Welt,  dessen  sie  der  Weg  der  Wahrheit  selbst  und 
das  Leben  versichert  und  welches  auch  die  Erfahrung  ' 
von  allen  diesen  Eigenschaften,  die  ihr  von  demselben 
Christus  durch  den  heiligen  Geist  ähnlich  versprochen 
und  ertheilt  worden  sind,  offen  darlegt. 

Bedenken  Sie  fünftens  die  wunderbare  Ordnung, 
mit  der  die  Kirche,  ein  Körper  von  so  bedeutendem 
Umfang,  geleitet  und  regiert  \vird;  dies  zeigt,  dass  sie 

fanz  besonders  von  Gottes  Vorsehung  abhängt  und 
ass  der  heilige  Geist  ihre  Verwaltung  wunderbar 
bestimmt,  schützt  und  leitet;  wie  die  Harmonie,  welche 
aus  allen  Dingen  dieser  Welt  hervorleuchtet,  die  All- 
macht, Weisheit  und  unendliche  Vorsehung  anzeigt, 
die  Alles  s^eschaffen  hat  und  noch  jetzt  erhält.  In 
keiner  anderen  Gesellschaft  herrscht  solche  schöne 
und  strenge  Ordnung  ohne  Unterbrechung. 

Bedenken  Sie  sechstens,  dass  von  den  Katholiken 
unzählige  Personen  beiderlei  Geschlechts  (von  denen  noch 
heute  Viele  leben  und  ich  selbst  einzelne  gesehen  habe 
und  kenne)  höchst  wundervoll  und  heilig  gelebt  und  durch 
die  allmächtige  Kraft  Gottes  in  Anbetung  des  Namens  ' 
Jesu  Christi  viele  Wunder  verrichtet  haben;  dass  auch 
heute  nochplötzlich  sich  sehrViele  von  dem  schlechtesten 
zu  einem  besseren,  wahrhaft  christlichen  und  heiligen 
Leben  bekehren;  dass  überhaupt  Alle,  je  heiliger  und 
vollkommen  sie  sind,  um  so  demüthiger  sind,  sich  für 
unwürdiger  halten  und  andern  das  Lob  eines  heiligen 
Lebens  abtreten  und  dass  selbst  die  grössten  Sünder 
dennoch  immer  die  schuldige  Achtung  vor  den  Heilig- 
thümern  behalten,  ihre  eigene  Bösartigkeit  eingestehen, 
ihre  Fehler  und  Un Vollkommenheiten  anklagen,  von  den- 
selben befreit  sein  und  sich  bessern  wollen.  Deshalb' 
kann  man  sagen,  dass  der  vollkommenste  Ketzer  oder- 

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230  LXXm.  Briel    Von  A.  Bnrgh  an  Spinoza. 

Philosoph,  den  es  je  gegeben  hat,  kaum  unter  den 
unvollkommensten  Kathobken  der  Beachtung  verdient. 
Hieraus  ergiebt  sich  auch  und  erhellt  klar,  dass  die 
katholische  Lehre  von  wunderbarer  Weisheit  und 
Tiefe  ist;  mit  einem  Worte,  dass  sie  alle  andern 
Lehren  dieser  Welt  übertrifft;  denn  sie  macht  die 
Menschen  besser,  als  die  Mitglieder  einer  andern  Ge- 
sellschaft es  sind  und  sie  lehrt  und  zeigt  ihnen  den  sichern 
Weg  zur  Ruhe  der  Seele  in  diesem  Leben  und  zu  dem 
ewigen  Heile,  das  nach  diesem  Leben  zu  gewinnen  ist. 
Siebentes  bedenken  Sie  doch  ernstlich  die  d£Fent- 
liehen  Bekenntnisse  vieler,  durch  Eigensinn  verhfirteten 
Ketzer  und  ernster  Philosophen,  wonach  diese  erst  nach 
empfangenem  katholischen  Glauben  endlich  eingesehen 
und  erkannt  haben,  dass  sie  vorher  elend,  blmd,  un- 
wissend, ja  thöricht  und  wahnsinnig  gewesen,  weil  sie, 
voll  von  Stolz  und  von  dem  Winde  der  UnverschUmt- 
heit  aufgeblasen,  sich  flüschlich  über  die  Andern  in 
Kenntniss,  Gelehrsamkeit  und  Vollkommenheit  des 
Lebens  weit  erhoben  hielten.  Manche  von  ihnen  haben 
dann  ein  heiliges  Leben  geführt  und  das  Andenken 
zahlreicher  Wunder  hinterlassen;  Manche  sind  dem 
Mftrtjrertode  heiter  und  mit  Jubel  entgegengegangen  und 
einzelne,  wie  der  göttliche  Augustinus,  sind  die 
scharfsinnigsten,  gelehrtesten,  weisesten  und  deshalb 
nützlichsten  Lehrer  der  Kirche,  gleich  Säulen,  geworden. 
Schauen  Sie  endlich  auf  das  elende  und  un- 
ruhige Leben  der  UngUubigen,  wenn  sie  auch  eine 
grosse  Heiterkeit  der  Seele  annehmen  und  wollen, 
ass  es  scheine,  sie  fahrten  ein  angenehmes  Leben 
mit  innerem  Seelenfrieden.  Vor  AUem  schauen  Sie 
auf  deren  unglücksvollen  und  erschreckenden  Tod; 
ich  selbst  habe  dergleichen  Beispiele  mit  erlebt  und 
unzählige  andere  kenne  ich  ebenso  sicher  aus  den 
Berichten  Anderer  und  der  Geschichte.  Lernen  Sie 
deshalb  an  deren  Beispiele  in  Zeiten  weise  werden. 
Und  so  sehen  Sie  endlich  oder  ich  hoffe  wenigstens, 
dass  Sie  sehen,  wie  leichtsinnig  Sie  sich  den  EinftUen 
Ihres  Gehirns  überlassen  (denn  wenn  Christus  der  wahre 
Gott  ist  und  zugleich  ein  Mensch,  wie  ganz  gewiss  ist, 
so  bedenken  Sie,  wohin  Sie  gelangt  sind;  was  können 
Sie,  wenn  Sie  in  Ihren  abscheulichen  Irrthümem  und 

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Ermahnung,  an  Sp.,  von  sein.  Philosophie  abzulassen.  231 

schweren  Sünden  verharren,  anders  erwarten,  als  die 
«wige  Verdammniss  ?  Bedenken  Sie  selbst,  wie  schreck- 
lich diese  ist,  wie  wenig  Grand  Sie  haben,  die  ganze 
Welt,  mit  Ausnahme  Ihrer  wenigen  Schmeichler,  zu 
verlachen;  wie  thöricht  Sie  erscheinen,  wenn  Sie  stolz 
und  aufgeblasen  werden  über  die  Vortrefflichkeit  Ihres 
Geistes  und  die  Bewunderung  Ihrer  eitlen,  ja  gänzlich 
falschen  und  gottlosen  Lehre ;  wie  hässlich  Sie  sich  und 
elender  als  die  wilden  Thiere  machen,  indem  Sie  sich  den 
freien  Willen  nehmen;  obgleich  wenn  Sie  selbst  ihn 
nicht  in  sich  einführten  und  anerkennten,  Sie  sich 
selbst  nicht  täuschen  und  denken  könnten,  Ihre  Lehre 
sei  des  höchsten  Lobes  und  der  genauesten  Nach- 
ahmung würdig. 

Wenn  Sie  nicht  wollen  (was  ich  nicht  denken 
kann),  dass  Gott  oder  Ihr  Nächster  sich  Ihrer  er- 
barmen, so  erbarmen  Sie  selbst  wenigstens  sich  Ihres 
Elendes,  in  welchem  Sie  sich  noch  elender  zu  machen 
suchen,  als  Sie  jetzt  sind,  oder  weniger  elend,  als  Sie 
sein  werden,  wenn  Sie  so  fortfahren. 

Kehren  Sie  um,  philosophischer  Mann;  erkennen 
Sie  Ihre  weise  Thorheit  und  Ihre  thörichte  Weisheit; 
werden  Sie  aus  einem  Stolzen  ein  Demüthiger  und 
Sie  werden  geheilt  sein.  Beten  Sie  Christus  an  in 
seiner  heiligen  Dreieinigkeit,  dass  er  gnädig  sich  Ihres 
£lendes  erbarme  und  Sie  aufnehme.  Lesen  Sie  die 
heiligen  Väter  und  Lehrer  der  Kirche  und  lernen  Sie 
ans  Urnen,  was  Sie  thun  müssen,  um  nicht  zu  ver- 
derben, sondern  das  ewige  Leben  zu  erlangen.  Be- 
rathen  Sie  sich  mit  Katholiken,  die  von  gutem  Lebens- 
wandel, in  ihrem  Glauben  tief  bewährt  sind;  diese 
werden  Ihnen  Vieles  sagen,  was  Sie  nicht  gewusst 
haben  und  worüber  Sie  staunen  werden. 

Ich  habe  diesen  Brief  an  Sie  in  der  wahrhaft 
christlichen  Absicht  geschrieben,  erstens,  damit  Sie 
die  Liebe  erkennen,  die  ich  für  Sie  hege,  trotz  dem, 
dass  Sie  ein  Heide  sind,  und  zweitens,  um  Sie  zu 
bitten,  dass  Sie  nicht  fortfahren,  auch  Andere  zu 
verderben. 

Und  so  schliesse  ich  mit  den  Worten:  Gott  will 
Ihre  Seele  der  ewigen  Verdammniss  entreissen,  wenn 
nur  Sie  wollen.     Zögern  Sie  nicht,  Gott  zu  gehorchen^ 

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232     LXXIV.  Brief.     Von   Spinoza    an   A.    Borgh. 

der  Sie  eo  oft  durch  Andere  gemfen  hat.  Jetzt  mft 
er  Sie  nochmals  und  yielleicht  das  letzte  Mal  durch 
mich  und,  auch  ich,  in  dieser  Weise  von  dem  unaag- 
baren  Erbarmen  Gottes  begnadigt,  bitte  Sie  dämm. 
Weigern  Sie  sich  nicht.  Wenn  Sie  Gott  nicht  boren,, 
wenn  er  Sie  ruft,  so  werden  Sie  den  Zorn  Gottes 
gegen  sich  erwecken  und  es  ist  Gefahr,  dass  Sie  von 
seiner  unendlichen  Barmherzigkeit  verlassen,  das  elende 
Opfer  der  göttlichen,  Alles  in  Zorn  vollziehenden  Ge- 
rechtigkeit werden.  Möge  der  allmfichtige  Gott  dies 
zu  grösserem  Ruhm  seines  Namens,  zu  dem  Heile 
Ihrer  Seele  abwenden  zum  heilbringenden  und  nach- 
zuahmenden Beispiele  Ihrer  vielen  und  unglücklichen 
Verehrer  durch  unsem Herrn  undErlöser  Jesus  Christus, 
welcher  mit  dem  ewigen  Vater  lebt  und  herrscht  in 
Einheit  des  heiligen  Geistes  als  Gott  durch  alle  Jahr- 
hunderte in  Ewigkeit.     Amen.  '•^ 

Florenz,  den  10.  September  1675. 

Vierundsiebzigster   Brief 

(Aus  den  letzten  Monaten  des  Jahres  1675). 

Von  Spinoia  an  Albert  Bvrgh. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 
Was  schon  andere  mir  berichtet  hatten  und  ich 
kaum  glauben  konnte,  hat  endlich  Ihr  Brief  bestfitigt. 
Sie  sind  nicht  blos  ein  Mitglied  der  römischen  Kirche 
geworden,  sondern  auch  einer  ihrer  heftigsten  Vor- 
kämpfer und  haben  schon  gelernt,  Ihre  uegner  zu 
verwünschen  und  ungestüm  gegen  Sie  zu  wüthen.  Ich 
wollte  Ihnen  nicht  antworten,  in  der  Ueberzeugung, 
dass  Sie  mehr  der  Zeit  als  der  Gründe  bedürfen,  um 
wieder  zu  sich  selbst  und  den  Ihrigen  zu  kommen, 
ohne  andere  Gründe  zu  en^'ähnen,  welchen  Sie  früher 
zugestimmt  haben,  als  wir  über  Stenonius  (in  dessen 
Fusstapfen  Sie  jetzt  treten  "^')  mit  einander  sprachen. 
Einige  Freunde,  welche  mit  mir  von  Ihren  schönen 
Anlagen  Grosses  erwartet  hatten,  haben  mich  indess 
dringend  gebeten,  die  Freundespflicht  nicht  zu  ver- 
säumen ;  ich  sollte  mehr  denken,  wie  Sie  früher  ge- 
wesen, als  was  Sie  jetzt  sind  und  dergleichen  mehr. 
Dies  hat  mich  endlich  zu  diesen  Zeilen  bestimmt  und  ich 

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Vorhaltungen  an  A.  Burgh.  233 

bitte,  dass  Sie  gefälligst  mit  ruhigem  Gemüthe  sie  lesen. 

Ich  werde  auch  hier  nicht  von  den  Lastern  der 
Priester  nnd  Pttpste,  wie  die  Gegner  der  römischen  Kirche 
pflegen,  sprechen,  nm  Sie  davon  abzuwenden.  Der- 
gleichen pflegt  oft  aus  Böswilligkeit  verbreitet  und 
mehr  um  zu  reizen,  als  um  zu  helehren,  angeführt  zu 
werden;  ich  gestehe  vielmehr  zu,  dass  in  der  Rö- 
mischen Kirche  mehr  Männer  von  grosser  Gelehrsam- 
samkeit  und  erprobtem  Lebenswandel  gefunden  werden 
als  in  einer  andern  christlichen  Kirche ;  denn  die  Glieder 
jener  sind  zahlreicher  und  deshalb  werden  auch  mehr 
solcher  Männer  in  ihr  angetroffen.  Allein  dies 
werden  Sie  doch  nicht  leugnen  können,  wenn  Sie  mit 
dem  Verstände  nicht  auch  das  Gedächtniss  verloren 
haben  sollten,  dass  es  in  jeder  Kirche  viele  rechtliche 
Männer  giebt,  welche  Gott  in  Gerechtigkeit  und  Liebe 
verehren ;  ich  kenne  deren  Viele  unter  den  Lutheranern, 
Reformirten,  Mennoniten  und  Enthusiasten,  und,  um  von 
Andern  zu  schweigen,  so  wissen  Sie, dass  Ihre  Eltern  zur 
Zeit  des  Herzogs  Alba  mit  ebensoviel  Standhaftigkeit 
als  Freiheit  des  Geistes  alle  Arten  der  Tortur  der  Reli- 
gion wegen  erduldet  haben  und  werden  deshalb  zu- 
geben müssen,  dass  die  Heiligkeit  des  Lebens  nicht 
das  Vorrecht  der  Römischen  Kirche  ist,  sondern  allen 
Kirchen  gemeinsam  ist.  Und  weil  wir  wissen  (um  mit 
dem  Aposteljohannes  I.Brief  Kap.  4.  v.  13.  zu  sprechen), 
dass  wir  in  Gott  bleiben  und  Gott  in  uns,  so  folgt,  dass 
Alles,  was  die  Römische  Kirche  von  andern  Kirchen  unter- 
scheidet, tiberflttssig,  daher  nur  durch  Aberglauben  ein- 
gerichtet ist.  Denn,  um  mit  Johannes  zu  sprechen,  die 
Gerechtigkeit  und  Nächsten-Liebe  ist  das  einzige  sichere 
Zeichen  des  wahren  katholischen  Glaubens  unddieFrucht 
des  wahren  heiligen  Geistes ;  wo  diese  gefunden  werden, 
da  ist  Christus  in  Wahrheit,  und  wo  sie  fehlen,  da  fehlt 
auch  Christus.  Nur  durch  Christi  Geist  können  wir  in 
der  Liebe  der  Gerechtigkeit  und  Mildthätigkeit  erhalten 
werden.  ^^^)  Hätten  Sie  dies  wohl  überlegt,  so  hätten 
Sie  sich  nicht  selbst  verloren  und  Ihre  Eltern  nicht  iti 
bittere  Trauer  versetzt,  welche  Ihr  Schicksal  jetzt 
kläglich  beweinen. 

Ich  komme  nun  auf  Ihren  Brief  zurück,  in  welchem 
Sie  zunächst  beklagen ,  dass  ich  mich  von  dem  Fürsten 

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234        LXXIV.  Brief.     Von  Spinoza  an  A.  Bargh. 

der  bösen  Geister  irre  fähren  lasse.  Indess  seien  Sie,  ich 
bitte,  nnr  getrosten  Sinnes  und  kommenSie  zn  sich  selbst 
zurück.  Als  Sie  noch  ihrer  Sinne  mächtig  waren,  ver- 
ehrten Sie,  wenn  ich  nicht  irre,  den  unendlichen  Gott, 
durch  dessen  Kraft  Alles  unbedingt  geschieht  und  er- 
halten wird.  Jetzt  trfiumen  Sie  aber  von  einem  Gott  feind- 
lichen Fürsten,  welcher  ffeeen  Gottes  Willen  die  meisten 
Menschen  (allerdings  sind  diese  selten  die  guten)  irreführt 
und  betrügt  und  die  deshalb  Gott  diesem  Meister  im 
Verbrechen  zum  Ejreuzie^en  in  alle  Ewigkeit  übergebe. 
Also  gestattet  die  göttuche  Grerechtigkeit,  dass  der 
Teufel  die  Menschen  straflos  betrügt,  aber  keineswegs 
sollen  die  von  dem  Teufel  klfelich  betrogenen  und 
irregeführten  Menschen  straflos  bleiben?  ^') 

Dergleichen  Widersinn  wäre  noch  zu  ertragen, 
wenn  Sie  noch  den  unendlichen  und  ewigen  Gott  an- 
beteten und  nicht  den,  welchen  Ghatillonin  der  von 
den  Niederländern  Tienen  genannten  Stadt  den 
Pferden  straflos  als  Futter  gab.  "^^j  Und  mich  be- 
klaeen  Sie  als  einen  Elenden?  Und  Sie  nennen  meine 
Philosophie,  die  Sie  niemals  gekannt  haben,  eine 
Chimäre?  O  wahnsinniger  Jüngling,  wer  hat  Sie  be- 
zaubert, dass  Sie  jenes  Höchste  und  Ewige  verschlingen 
und    nun   in    den  Eingeweiden    zu    besitzen  wähnen? 

Indess  scheinen  Sie  doch  die  Vernunft  benutzen  zu 
wollen  und  Sie  fragen  mich:  „Woher  ich  wisse,  dass 
„meine  Philosophie  die  beste  von  allen  andern  sei,  die 
^in  der  Welt  früher  eelehrt  worden,  jetzt  gelehrt  werden 
„und  später  je  gelehrt  werden  werden?^  Dies  könnte 
ich  aber  mit  mehr  Recht  Sie  fragen.  Denn  ich  nehme 
mir  nicht  heraus,  die  beste  Philosophie  entdeckt  zu 
haben,  sondern  ich  weiss  nur,  dass  ich  die  wahre 
kenne.  Wenn  Sie  aber  fragen,  woher  ich  das  wisse, 
so  sage  ich,  aus  demselben  Grunde,  aus  dem  Sie 
wissen,  dass  die  drei  Winkel  eines  Dreiecks  gleich 
zwei  rechten  sind.  Niemand  wird  bestreiten,  dass  das 
genügt,  wenn  sein  Gehirn  gesund  ist  und  er  von  keinen 
unreinen  Geistern  träumt,  die  uns  falsche,  aber  den 
wahren  ähnliche  Begriffe  einflössen.  Denn  das  Wahre 
ist  der  Prüfstein  seiner    selbst    und    des  Falschen.  ^) 

Allein  Sie,  der  Sie  behaupten,  endlich  die  beste 
Keligion  oder  vielmehr  die  besten  Männer  gefunden  zu 

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Widerlegung  von  Burgh's  Granden.  236 

haben,  denen  Sie  vollen  Glauben  schenken,  „  wie  wissen 
^Sie,  dass  diese  Mfinner  die  besten  unter  denen  seien, 
^die  andere  Religionen  gelehrt  haben,  jetzt  noch  lehren 
^und  sp&ter  lehren  werden?  Haben  Sie  etwa  alle  jene 
^alten  und  neuen  Religionen,  welche  hier  und  in  Indien 
^und  überall  auf  dem  Erdenrund  gelehrt  werden,  ge- 
^prüft?  Und  selbst  wenn  Sie  das  richtig  gethan,  wie 
^wissen  Sie,  dass  Sie  die  beste  erwfihlt  haben ?**  •*•) 
«da  Sie  für  Ihren  Glauben  keinen  Grund  angeben 
können.  Sie  werden  sagen,  dass  Sie  bei  dem  einen 
Zeugniss  des  Geistes  Gottes  sich  beruhigen  und  dass  die 
Andern  von  dem  Fürsten  der  bösen  Geister  irregeführt 
und  betrogen  worden;  allein  Alle,  die  ausserhalb  der 
Römischen  Kirche  stehen,  sagen  mit  demselben  Recht 
•das  von  ihrer  Kirche,  was  Sie  von  der  Ihrigen  sagen.'"^) 
Wenn  Sie  aber  noch  die  gemeinsame  üeberzeugung 
^o  vieler  Tausende  von  Menschen,  die  ununterbrochene 
Fortdauer  der  Kirche  u.  s.  w.  anführen,  so  ist  dies 
gerade  das  eigenthümliche  Gerede  der  Pharisäer.  Diese 
bringen  in  gleichem  Vertrauen  wie  die  Anhänger  der 
Römischen  Kirche  Tausende  von  Zeugen  bei,  die  mit 
gleicher  Hartnäckigkeit  wie  die  Zeugen  der  Römischen 
Kirche  das  Gehörte  erzählen,  als  hätten  Sie  es  selbst 
erlebt.  Auch  führen  diese  den  Ursprung  der  Kirche 
bis  auf  Adam  zurück  und  rühmen  sich  mit  gleicher 
Unverschämtheit,  dass  ihre  Kirche  bis  zu  dem  heutigen 
Tage  sich  erhalten  und  dass  sie  unveränderlich  und 
fest,  trotz  des  feindseligen  Hasses  der  Heiden  und 
Christen,  verharre.  Durch  das  hohe  Alterthum  der- 
-selben  fibertreffe  sie  alle  andern.  Einstimmig  ver- 
künden sie,  dass  sie  die  Ueberlieferun^  von  Gott 
selbst  empfangen  haben  und  dass  sie  allein  Gottes 
geschriebenes  und  ungeschriebenes  Wort  bewahren. 
Niemand  kann  bestreiten,  dass  alle  Ketzer  aus  ihnen 
Ausgeschieden  sind,  während  sie  selbst  durch  mehrere 
Jahrtausende  ohne  zwingende  Herrschaft,  lediglich 
-durch  die  Kraft  des  Aberglaubens,  fest  geblieben  sind. 
Ihre  Wunder  zu  erzählen,  könnte  tausend  geschwätzige 
Zungen  ermüden.  Aber  was  sie  am  höchsten  halten, 
iit,  dass  sie  viel  mehr  Märtyrer  als  irgend  ein  andere» 
Volk  zählen,  dass  diese  Zahl  sich  täglich  durch  die 
vermehrt,  welche  für  den   Glauben,  welchen  sie  be- 

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236       Ll^XIV.  Brief.    Von  Spiso-za  an  A.  Borgh. 

kennen,  mit  grosser  Standhafdgkeit  die  Leiden  er> 
tragen  nnd  dass  dies  keine  Lüge  ist;  denn  ich  selbst 
kenne  nnter  andern  einen  Judas,  den  Sie  einen  Trenen 
nennen,  welcher  mitten  in  den  Flammen,  als  man  ihn 
schon  todt  glaubte,  das  Loblied,  welches  anfingt:  ^Dir, 
Gott,  befehle  ich  meine  Seele^,  za  singen  begann  nnd 
mitten  in  dem  Gesänge  seinen  Geist  aufgab.*^ 

Die  Einrichtung  der  Komischen  Kirche,  welche 
Sie  so  loben,  ist,  wie  ich  anerkenne,  klug  und  vor- 
theilhaft  für  Viele  eingerichtet;  auch  würde  ich  sie 
ftir  die  beste  halten,  um  die  Masse  zu  t&uschen  und 
die  Gemüther  der  Menschen  zu  beherrschen,  wenn 
nicht  die  mohamedanische  Kirche  mit  ihrer  Einriebtang 
sie  noch  weit  hierin  überträfe,  da,  so  lange  diese 
letztere-  mit  ihrem  Aberglauben  besteht,  keine  Spal- 
tungen in  ihr  sich  erhoben  haben.*'®) 

Wenn  Sie  daher  Ihre  Rechnung  richtig  anlegen, 
so  werden  Sie  sehen,  dass  nur  das  von  Ihnen  an 
dritter  Stelle  Berührte  fUr  einen  Christen  spricht, 
nämlich,  dass  ungelehrte  und  gemeine  Leute  beinah 
den  ganzen  Erdkreis  zu  dem  christlichen  Glauben 
haben  bekehren  können.  Allein  dieser  Grund  steht 
nicht  blos  der  Kömischen  Kirche,  sondern  Allen,  die 
Christi  Namen  bekennen,  zur  Seite. 

Indess  angenommen,  dass  alle  Gründe,  welche  Sie 
anführen,  blos  ftlr  die  katholische  Kirche  sprächen, 
glauben  Sie  denn,  dass  Sie  damit  das  Ansehen  dieser 
Kirche  mathematisch  bewiesen  hätten?  Da  daran 
Vieles  fehlt,  weshalb  soll  ich  denn  glauben,  dass  meine 
Beweise  von  dem  Fürsten  der  bösen  Geister,  die 
Ihrigen  aber  von  Gott  angegeben  sind?  zumal  Ihr 
Brief  klar  zeigt,  dass  Sie  sich  zum  Sclaven  dieser 
Kirche  gemacht  haben,  nicht  sowohl  aus  Liebe  zu  Gott, 
als  aus  Furcht  vor  der  Unterwelt,  die  die  einzige  Ur- 
sache Ihres  Aberg^laubens  ist.^io)  Ist  dies  Ihre  Demutb, 
dass  Sie  sich  selber  nicht  vertrauen,  sondern  Andern, 
die  von  den  Meisten  verdammt  werden?  Halten  Sie 
es  für  Anmassung  und  Stolz,  dass  ich  der  Vernunft 
mich  bediene  und  bei  diesem  wahren  Worte  Gk>ttes, 
was  in  der  Seele  besteht  und  weder  verschlechtert, 
noch  verdorben  werden  kann,  mich  beruhige? 

Werfen  Sie  diesen  verderblichen  Aberlauben  weg 
und   erkennen   Sie  die  Vernunft  an,    die  Gott  Ihnen 

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Die  theologisch-politische  Abhandl.  gerechtfertigt.  237 

gegeben  hat;  yerehren  Sie  diese,  wenn  sie  nicht  bu 
den  wilden  Thieren  zKhlen  wollen.  Hören  Sie  anf, 
ich  bitte,  verkehrte  Irrtbfimer  fihr  Mysterien  zu  er- 
klären und  vermischen  Sie  nicht  in  schmählicher  Weise 
das  uns  Unbekannte  und  noch  nicht  Entdeckte  mit 
dem  Widersinnigen,  wie  es  die  erschreckenden  Geheim- 
nisse dieser  Kirche  sind,  von  denen  Sie  glauben,  dass 
sie  um  so  erhabener  über  die  Erkenntniss  seien,  je- 
mehr  sie  der  gesunden  Vernunft  widersprechen. 

Uebrieens  wird  in  der  theologisch-politischen  Ab- 
handlung der  Grundgedanke,  dass  nämlich  die  Schrift 
nur  durch  die  Schrift  erklärt  werden  dürfe,  was  Sie  so 
dreist  und  ohne  Gründe  ftir  falsch  erklären,  nicht  blos 
aufgestellt,  sondern  seine  Wahrheit  und  Gewissheit 
vollständig  bewiesen;  namentlich  in  Kap.  7,  wo  auch 
die  Ansichten  der  Gegner  widerleg  werden;  womit 
Sie  das  am  Eüde  des  Kap.  15  Dargelegte  verbinden 
können.  Wenn  Sie  hierauf  achten  und  daneben  die 
Kirchengeschichte  (die  Ihnen  ganz  unbekannt  zu  sein 
scheint)  prüfen  wollen,  damit  Sie  sehen,  wie  fälschlich 
die  Päpste  das  Meiste  angeben  und  durch  welches 
Schicksal  und  durch  welche  Künste  der  Papst  endlich 
600  Jahre  nach  Christi  Geburt  die  Oberherrschaft  der 
Kirche  erlangt  hat,  so  zweifle  ich  nicht,  dass  Sie  wieder 
zu  sich  kommen  werden.  Ich  wünsche  Ihnen  von 
Herzen,  dass  dies  geschehe.    Leben  Sie  wohl  u.  s.  w.'") 


Fünfundsiebzigster  Brief 
(Aus  dem  Jahre  1674  oder  1675'*'). 

Von  Spinoza  an  Lambert  v.  Volthaysen/")  Doktor  der 
Medizin  in  Utrecht. 

Vortrefflicher  Herr! 
Ich  wundre  mich  Über  die  Aeusserung  N  e  u  - 
stadt's,^^^)  dass  ich  eine  Widerlegung  derjenigen 
Schriften  im  Sinne  habe,  die  seit  einiger  Zeit  gegen 
meine  Abhandlung  erschienen  sind  und  dass  er  mir 
unter  Anderem  Ihr  Manuscript  zur  Widerlegung  vor- 
geschlagen habe.  Ich  habe  niemals  den  Plan  gehabt, 
«inen  meiner  Gegner  zu  widerlegen,   da  sie   mir  alle 

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238       LXXV.  Brief.    Von  Spinosa  an  Velthajseii. 

dessen  niclit  werth  scheinen;  auch  entsinne  ich  mich 
nicht,  dass  ich  Herrn  Neustadt  mehr  gesagt,  als  dass 
ich  einige  dunklere  Stellen  dieser  Abhandlung  in  An- 
merkungen erläutern  und  dem  Hu*  Manuscript  mit 
meiner  Antwort  anfügen  wollte,  wenn  Sie  Ihre  £r- 
laubniss  dasu  geben  wollten.  Ich  ersuchte  ihn,  diese 
Erlaubniss  von  ihnen  au  erbitten  und  fügte  hinzu, 
dass,  wenn  Sie  vielleicht  Ihre  Einwilligung  deshalb 
verweigern  möchten,  weil  meine  Antwort  einige  harte 
Aeusserungen  enthielte,  Sie  voll  ermlichtigt  sein  sollten, 
diese  Aeusserunfi^en  eu  ftndem  oder  zu  streichen.  In- 
dess  bin  ich  desnalb  dem  Herrn  Neustadt  nicht  böse, 
möchte  Ihnen  aber  doch  die  Sache,  so  wie  sie  sich 
verhält,  mittheilen,  damit,  im  Fall  ich  die  erbetene  Er- 
laubniss von  Ihnen  nicht  erhalten  sollte,  ich  wenigstens 
zeieen  könnte,  dass  ich  Ihr  Manuscript  wider  Ihren 
Willen  nicht  habe  veröffentlichen  mögen.  Und  wenn 
ich  gleich  glaube,  dass  dies  ohne  alle  Gefahr  für 
Ihren  Ruf  geschehen  könnte,  wenn  ich  nur  Ihren 
Namen  nicht  nenne,  so  werde  ich  doch  nichts  thun, 
ehe  ich  Ihre  Erlaubniss  zur  Veröffentlichung  erhalten 
habe.  Offen  gestanden,  werden  Sie  mir  indess  einen 
grösseren  Gefallen  erweisen,  wenn  Sie  mir  die  Gründe, 
mit  denen  Sie  meine  Abhandlung  angreifen  wollen, 
mittheilen  und  Ihrem  Manuscripte  zusetzen  möchten. 
Ich  bitte  Sie  dringend,  dies  zu  thun;  denn  keines 
Andern  Gründe  würde  ich  lieber  erwägen,  da  ich 
weiss,  dass  nur  der  Eifer  für  die  Wahrheit  Sie  leitet 
und  ich  die  besondere  Offenheit  Ihres  Herzens  kenne. 
Deshalb  beschwöre  ich  Sie  wiederholt,  dass  Sie  diese 
Arbeit  zu  unternehmen  mir  nicht  abschlagen  und  über- 
zeugt seien,  dass  ich  bin 

Ihr 

ergebenster 
B.  V.  Spinoza.»") 


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Ueber  die  einznrichteiide  Correspondenz.  239 


Sechsundsiebzigster  Brief 
(Vom  Mai  oder  Juni  1665)« 

Von  Sfrinoza  an  J.  Bresser."*) 

Lieber  Freund! 

Ich  weiss  nicht,  ob  Sie  mich  ganz  vergessen  haben ; 
indess  trifft  Vieles  zusammen,  was  diesen  Verdacht  be- 
stätigt. Zunfichst  wollte  ich  Ihnen  vor  meiner  Reise 
Lebewohl  sagen  und  hoffte,  Sie  sicher  zu  Hause  zu 
treffen,  da  Sie  mich  eingeladen  hatten.  Da  hörte  ich, 
dass  Sie  nach  dem  Haag  gereist  seien.  Ich  komme 
uach  Voorburg  zurtlck  und  zweifelte  nicht,  dass  Sie 
mich  wenigstens  hier  auf  der  Durchreise  besuchen 
würden ;  allein  Sie  sind,  so  Gott  will,  ohne  den  Freund 
begrttsst  zu  haben,  nach  Hause  zurückgereist.  Dann 
habe  ich  drei  Wochen  gewartet,  ohne  einen  Brief  von 
Ihnen  zu  sehen.  Wenn  Sie  also  obigen  Verdacht  mir 
nehmen  wollen,  so  können  Sie  dies  leicht  durch  einen 
Brief,  in  dem  Sie  mir  auch  die  Art,  wie  wir  unsem 
Briefwechsel  einrichten  woUen,  vorschlagen  können, 
worüber  wir  einmal  bei  Ihnen  sprachen.  Unterdess 
möchte  ich  Sie  gebeten  haben,  ja,  ich  beschwöre  Sie 
bei  unserer  Freundschaft,  dass  Sie  ein  ernstes  Werk 
durch  vollen  Eifer  zu  Stande  bringen  und  der  Bildung 
des  Verstandes  und  Geistes  den  bessern  Theil  Ihres 
Lebens  weihen;  jetzt,  sage  ich,  da  es  noch  Zeit  ist  und 
ehe  Sie  sich  über  die  verlorne  Zeit  beklagen. 

Um  endlich  über  die  Einrichtung  unseres  Verkehrs 
etwas  zu  sagen  und  damit  Sie  offener  mir  schreiben 
können,  so  wissen  Sie,  dass  ich  früher  vermuthet  und 
beinah  als  gewiss  angenommen  habe,  dass  Sie  Ihrem 
Talent  etwas  zu  sehr  und  mehr,  als  Recht  ist,  miss- 
trauen und  dass  ich  fürchte,  Sie  möchten  etwas  verlangen 
oder  vorschlagen,  was  den  gelehrten  Mann  nicht  er- 
kennen Hesse.  Indess  schickt  es  sich  nicht,  Sie  in's  Gesicht 
zu  loben  und  von  Ihren  Gaben  zu  sprechen.  Wenn  Sie  in- 
dess fürchten,  ich  möchte  Ihre  Briefe  Andern  mittheilen, 
die  sie  verspotten  könnten,  so  verspreche  ich  Ihnen,  sie  ge- 
wissenhaft aufzubewahren  und  keinem  Sterblichen  ohne 
IhreErlaubniss  mitzutheilen.  Sie  können  also  bei  solchen 

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210         LXXVL  Brief.    Von  Spinoza  an  Breuer. 

Bedingungen  den  Briefwechsel  getrost  beginnen,  wenn 
Sie  meinen  Worten  nicht  misstraueu,  was  ich  indess 
nicht  fürchte.  Doch  erwarte  ich  Ihren  Aussprach  in 
Ihrem  n&chsten  Briefe  und  damit  sugieich  etwas  Ein- 
gemachtes von  rothen  Rosen,  was  Sie  mir  yersprochen, 
obgleich  ich  mich  jetzt  weit  besser  befinde.  Seitdem 
ich  von  dort  abgereist  bin,  habe  ich  einmal  zur  Ader 
gelassen;  das  Fieber  hat  indess  nicht  nachgelassen  (ob- 
gleich ich  schon  vor  dem  Aderlass  etwas  munterer  war, 
vermuthlich  in  Folge  des  Luftwechsels),  sondern  ich  habe 
alle  zwei  oder  drei  Tage  daran  gelitten.  Durch  gute  Dilt 
habe  ich  es  indess  vertrieben  und  weiss  nicht,  wo  es  indess 
hinbekommen  ist;  ich  hoffe,  dass  es  nicht  wiederkommen 
wird. 

Was  den  dritten  Theil  unserer  Philosophie  betrifft, 
so  werde  ich  Ihnen  ein  Theil  davon,  wenn  Sie  der 
Uebersetzer  sein  wollen,  bald  senden  oder  dem  Herr 
Vries  tlberschicken;  und  obgleich  ich  entschlossen  war, 
vor  dem  Abschluss  nichts  wegzusenden,  so  zieht  sich  doch 
dieser  länger  hin,  als  ich  dachte  und  ich  will  deshalb  Sie 
nicht  länger  warten  lassen  und  werde  Ihnen  den  Theil  bis 
ohngeführ  zu  dem  80.  Lehrsatz  senden.  '*^) 

lieber  die  Angelegenheiten  in  England  höre  ich  vieler- 
lei, aber  nichts  Gewisses.  Das  Volk  hört  nicht  auf,  das 
Schlimmste  zu  fürchten  und  Niemand  weiss,  weshalb  man 
der  Flotte  nicht  die  Zügel  schiessen  lässt;'")  indess 
scheinen  die  Dinge  noch  nicht  ausser  Gefahr  zu  sein.  Ich 
fürchte,  man  will  von  unsrer  Seite  zu  gelehrt  und  zu  vor- 
sichtig sein;  indess  wird  die  Sache  selbst  endlich  zeigen, 
was  sie  vorhaben  und  bereiten;  so  Gott  will,  zum  Guten. 
Ich  möchte  wohl  hören,  was  die  Unsrigen  meinen  und 
Sicheres  wissen;  indess  mehr  noch  und  vor  Allem, 
dass  Sie  meiner  u.  s.  w. 


Siebenundsiebzigster  Brief 

(Vom  11.  Febr.  1676).3W) 

Von  H.  Oldenburg  an  Spinoza. 

Meinen  Gruss  zuvor! 
In  Ilirem  letzten  Briefe  vom  7.  Februar  ist  Manchest 
was  der  weitem  Erörterung  bedarf.Sie  sagen,  der  Mensch 

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Ueber  die  menschliche  Freiheit.  ^   241 

iLÖnae  sich  nicht  beklagen,  dass  Gott  ihm  die  wahre  Er- 
l^enntniss  seiner  und  die  genügenden  Kräfte  zur  Vermeid- 
^log  der  Sünde  versagt  habe,  da  keinem  Dinge  von  Natur 
mehr  zukomme, als  aus  dessen  Ursache  noth wendig  folge. 
Ich  sage  dagegen,  dass,  wenn  Gott  der  Schöpfer  die  Men- 
schen nach  seinem  Bilde  gemacht  hat,  welches  dem  Be- 
friffe  nach  die  Weisheit,  die  Güte  und  die  Macht  zu  ent- 
alten scheint,  dann  folgen  dürfte,  dass  es  mehr  in  des 
Menschen  Macht  stehe,  eine  gesunde  Seele,  wie  einen  ge- 
sunden Körper  zu  haben:  da  die  physische  Gesundheit 
des  Körpers  von  mechanischen  Kräften,  die  Gesundheit 
der  Seele  aber  von  der  Wahl  oder  dem  Kntschluss  ab- 
hängt. Sie  sagen  dann,  die  Menschen  können  entschuld- 
bar sein  und  doch  in  vieler  Weise  gequält  werden    Dies 
erscheint  auf  den  ersten  Blick  hart  und  wenn  Sie  als  Be- 
weis bemerken,  auch  der  tolle  Hund  sei  wegen  seines 
Bisses  entschuldbar  und  werde  doch  mit  Recht  getödtet, 
so  scheint  dies  nicht  zu  passen.  Die  Tödtung  eines  sol- 
chen Hundes  würde  eine  Grausamkeit  sein,  wenn  sie  nicht 
nothwendig  wäre,  um  andere  Hunde  undThiere,  ja  selbst 
die  Menschen  vor  dem  tollen  Biss  zu  schützen.    Wenn 
aber  Gx>tt  den  Menschen  eine  gesunde  Seele  gegeben 
hätte,  wie  er  könnte,  so  wäre  aus  dem  Laster  keine  An- 
steckung zu  befürchten  und  es  scheint  deshalb  fürwahr 
sehr  grausam,  dass  Gott  die  Menschen  wegen  Sünden,  die 
sie  durchaus  nicht  vermeiden  konnten,  mit  ewigen,  oder 
wenigstens  harten  zeitlichen  Qualen  belegt  In  dieser  Be- 
ziehung scheint  der  Inhalt  der  ganzen  heiligen  Schrift  vor- 
auszusetzen und  zu  enthalten,  dass  der  Mensch  sich  der 
Sünde  enthalten  könne;   denn  sie  ist  voll  Verheissungen 
undDrohungen,  voll  Ankündigungen  von  Strafen  und  Be- 
lohnungen ;  was  Alles  gegen  die  Nothwendigkeit,  zu  sün- 
digen, spricht  und  die  Möglichkeit,  die  Strafen  zu  ver- 
meiden, ergiebt.    Wenn  man  dies  bestreitet,  so  müsste 
man  sagen,  dass  diemenschliche  Seele  ebenso  mechanisch 
handle  wie  der  menschliche  Körper. 

Wenn  Sie  weiter  die  Wunder  und  die  Unwissenheit 
für  gleich  nehmen,  so  scheint  dies  darauf  zu  beruhen,  dass 
das  Geschöpf  die  unendliche  Weisheit  und  Macht  des 
Schöpfers  erkennen  könne  und  solle,  obgleich  es  klar  ist, 
dass  sich  dies  nicht  so  verhält. 
•     Wenn  Sie  endlich  sagen,  dass  man  Christi  Leiden, 

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242     LXXVn.  Brief.    Von  Oldenburg  an  Spinoza. 

Tod  und  Begräbniss  wörtlich  verstehen  könne,  seine 
Auferstehung  aber  allegorisch,  so  wird  dies,  soviel  ich 
sehe,  durch  nichts  von  Ihnen  unterstützt.  In  den 
Evangelien  wird  die  Auferstehung  Christi  ebenso  wört- 
lieh,  wie  das  Uebrige,  berichtet  und  auf  diesem  Artikel 
der  Auferstehung  ruht  die  ganze  christliche  Religion 
und  ihre  Wahrheit;  beseitigt  man  diesen,  so  bricht  die 
Sendung  Christi  und  die  himmlische  Lehre  zusammen. 
Es  kann  Ihnen  nicht  verborgen  sein,  wieviel  Christus 
nach  seiner  Auferstehung  sich  bemüht  hat,  um  seine 
Jünger  von  der  Wahrheit  seiner  Auferstehung  in  dem. 
eigentlichen  Sinne  zu  überzeugen.  Will  man  dies 
Alles  nur  sinnbildlich  nehmen,  so  ist  dies  ebenso  viel, 
als  wenn  Jemand  sich  bemüht,  alle  Wahrheit  der  evan- 
gelischen Geschichte  nmzustossen. 

Dies  Wenige  habe  ich  in  meiner  Freiheit  des 
Philosophirens  vorbringen  wollen  und  ich  bitte,  dass 
Sie  es  als  gut  gemeint  ansehen. 

London,  den  11.  Februar  1676. 

P.  8.  Nächstens  werde  ich  mit  Ihnen  über  die 
Arbeiten  und  Versuche  der  Königlichen  Sozietät  ver- 
handeln,  wenn  Gott  mir  Leben  und  Gesundheit  lässt 


Achtundsiebzigster  Brief  (Vom  14.  Nov.  1675). 
Von  6.  H.  Schaller  an  Spinoza."^) 

Amsterdam,  den  14.  Noy.  1675 

Gelehrter  und  vortrefflicher  Herr ;  höchst  ver- 
ehrter Gönner! 
Ich  ho£Pe,  dass  Sie  meinen  letzen  Brief  zugleich  mit 
dem  Experiment  des  Anonymus  richtie  erhalten  haben"*^) 
und  sich  wohl  befinden,  was  bei  mir  der  Fall  ist.    Uebri- 

fens  habe  ich  von  unserem  Tschirn  haus  seit  3  Monat 
eine  Nachricht  und  war  deshalb  schon  in  Sorse,  es 
niöchte  ihm  auf  dem  Wege  von  England  nach  Frankreich 
einUnglück  zugestossen  sein.  Jetzt  nach  Empfang  seines 
Briefes  bin  ich  jedoch  voll  Freude  und  theile  Ihnen  (nach 

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Mittheüangen  auB  Paris.    Ueber  die  Ethik.         243 

seinem  Auftrage)  mit,  dass  er  Sie  grttssen  lässt  und  dass 
er  glücklieb  in  Paris  angekommen  ist  und  dort  Herrn 
Huygens,  den  wir  davon  benachrichtigt,  getroffen  hat.  Er 
hat  sich  seiner  Richtung  ganz  anbequemt  und  wird  deshalb 
von  demselben  hochgeschätzt.  £r  hat  erwähnt,  dass 
Sie  ihm  denVerkehr  mit  Herrn  H  uyge  n  s  empfohlen  haben 
und  letztem  hochschätzen ;  dies  hat  ihn  sehr  erfreut  und  er 
hat  das  Gleiche  über  Sie  geäussert.  Er  hat  die  theo- 
logisch-politische Abhandlung  von  Ihnen  erhalten,  welche 
von  Vielen  dort  geschätzt  wird.  Man  fragt  auch  oft,  ob 
nicht  mehr  Schriften  dieses  Verfassers  erschienen  seien, 
and  Herr  Tschirnhaus  hat  erwidert,  dass  ihm  nur  die 
Bearbeitung  des  I.  und  H.Theils  der  Prinzipien  vonD  es- 
cartes  bekannt  seien.  Weiter  hat  er  von  Ihnen  nichts 
berichtet  und  er  hofft,  dies  wird  Ihnen  angenehm  sein. 
Kürzlich  hat  Huyffens  unsem  Tschirnhaus  zu  sich 
rufen  lassen  und  ihm  gesagt,  Herr  Colbert  wünsche 
einen  Lehrer  in  der  Mathematik  ftir  seinen  Sohn;  wenn 
er  wollte,  könne  er  ihm  die  Stelle  verschaffen;  Herr 
Tschirnhaus  erbat  sich  einige  Bedenkzeit  und  hat  sich 
dann  bereit  erklärt.  Herr  Huygens  brachte  ihm  dann 
die  Antwort,  dass  Herr  Colbert  ganz  damit  zufrieden 
sei,  namentlich  weil  er  bei  seiner  Unkenntniss  des 
Französischen  mit  dem  Sohn  lateinisch  sprechen  müsse. 
Auf  den  neulich  gemachten  EinwuriP  antwortet  er, 
dass  die  wenigen  in  Ihrem  Auftrage  ihm  mitgetheilten 
Worte  ihm  den  Sinn  mehr  klar  gemacht  hätten,  und  dass 
er  schon  dieselben  Gedanken  gehegt  habe  (indem  sie 
hauptsächlich  diese  beiden  Auslegungen  zulassen.)  Wenn 
er  indess  die  neulich  besprochene  Ansicht  angenommen 
habe,  so  hätten  ihn  zwei  Gründe  dazu  bestimmt  und  zwar 
erstens,  weil  sonst  Lehrs.  5  und  7,  Th.  II.  sich  wider- 
sprechen würden.  In  dem  ersten  wird  nämlich  gesagt,  das 
Vorgestellte  sei  die  wirkende  Ursache  der  Vorstellung, 
was  doch  durch  den  Beweis  des  letztem  Lehrsatzes  wegen 
der  Herbeiziehung  von  Grunds.  4,  Th.  I.  erschüttert  zu 
werden  scheint.  "**)  Oder  (was  ich  eher  glaube^,  ich 
mache  keine  richtige  Anwendung  dieses  Grundsatzes  im 
Sinn  des  Verfassers,  was  ich  von  ihm  selbst,  wenn  seine 
Geschäfte  es  gestatten,  gern  vernehmen  möchte.  Der 
zweite  Grund,  weshalb  ich  die  erwähnte  Erklärung  an- 
nahm, war,  dass  dann  das  Attribut  des  Denkeiu3^|i^  j^^^ 
SpiBOBa,  Briofb.  17 


244       LXXVm.  Brief.    Von  Schauer  an  Spinoia. 

weiter,  als  die  übrigen  Attribute  ausdehnt.  Allein  jedes 
Attribut  bildet  das  Wesen  Gottes  und  deshalb  scheint  mir 
dies  sich  nicht  zu  vertragen.  Das  möchte  ich  wenigstens 
sagen,  wenn  ich  den  Verstand  Anderer  nach  dem  meinen 
beurtheilen  darf,  dass  die  Lehrs.  7  und  8  in  Th.  IL  sehr 
schwer  zu  verstehen  sind  und  zwar  blos,  weil  es  dem 
Verfasser  gefallen  hat  (da  sie  ihm  selbst  sicherlich  klar 
gewesen  sind),  die  ihnen  beigefügten  Beweise  nur  kurz 
und  nicht  ausführlicher  zu  geben. 

Herr  v.  Tschirnhaus  berichtet  femer,  dass  er  zu 
Paris  einen  ausgezeichnet  gelehrten,  in  den  verschieden- 
sten Wissenschaften  bewanderten  und  von  den  gewöhn- 
lichen Vorurtheilen  der  Theologen  freienMann,  mit  Namen 
Leibniz  angetroffen,  mit  dem  er  in  nähern  Umgang  ge- 
kommen, da  sich  ergeben  hat,  dass  er  ebenso  wie  Herr 
Leibniz  daran  arbeitet,  die  Vervollkommnung  des  Ver- 
standes weiter  zu  führen  und  Herr  Leibniz  nichts  für 
besser  und  werthvoller  hält.  In  Sachen  der  Moral  soll 
Herr  Leibniz  sehr  geübt  sein  und  ohne  alle  Leiden- 
schaft nur  nach  dem  Gebote  derVernunft  sprechen.  Auch 
in  der  Physik  und  Methaphysik  soll  er  in  Betreff  Gottes 
und  der  Seele  reiche  Kenntniss  haben.  Er  sei,  meint  er, 
deshalb  ganz  werth,  Ihre  Schriften  zu  empfangen,  wenn 
Sie  es  gestatten ;  er  glaubt,  dass  es  Ihnen  zum  grossen 
VortheU  gereichen  würde  und  will  dies,  wenn  Sie  es 
gestatten,  Ihnen  näher  auseinandersetzen;  sind  Sie  aber 
nicht  damit  einverstanden,  so  seien  Sie  unbesorgt;  er 
wird  seinem  gegebenen  Worte  gemäss  sie  gewiss  filr 
sich  behalten  und  Nichts  davon  erwähnen.  Derselbe 
Leibniz  schätzt  die  theologisch-politische  Abhandlung 
sehr  und  er  hat  an  Sie,  wenn  Sie  sich  dessen  er- 
innern, einen  Brief  darüber  geschrieben.  Ich  möchte 
Sie  also  bitten,  im  Fall  kein  ernster  Grund  dagegen 
vorhanden  ist,  nach  Ihrer  edlen  Gefälligkeit  es  zu  ge- 
statten und  womöglich  Ihre  Ansicht  mir  bald  wissen  zu 
lassen,  damit  ich  dann  gleich  unserem  Tschirnhaus 
antworten  kann,  was  ich  gern  am  Dienstag  gethan 
hätte,  wenn  nicht  die  wichtigeren  Geschäfte  mit  Ihnen 
mich  zum  Warten  veranlasst  hätten. 

Dr.  Bresser  ist  aus  Cleve  zurückgekehrt  und  hat 
einen  grossen  Vorrath  seines  vaterländischen  Bieres  hier- 
hergesendet ;  ich  habe  ihn  erinnert,  Ihnen  eine  halbe  Tonne 

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"1 


Ueber  eine  Stelle  in  der  Ethik.  245 

zuzutheilen,    was  er   mit   den   freundlichsten  Grttssen 
zu  thun  versprochen  hat. 

Entschuldigen    Sie   endlich   den    schlechten    Stil 
und  die  eilige  Schrift  und  bestimmen  Sie  nur,  wo  ich 
Xlmen  geföllig  sein  soll,  damit  ich  eine  wirkliche  Oe- 
legenheit  habe,  Ihnen  zu  zeigen,  dass  ich  bin, 
Hochgeehrter  Herr, 

Ihr 
bereitwilligster  Diener 
G.  H.  Schaller. 


Neunundsiebzigeter  Brief  (Vom  18. Nov.  1675.) 
Von  Spinoza  an  G.  H.  Schauer. 

(Die  Antwort  auf  den  vorstehenden  Brief.) 

Erfahrner  Herr  und  werther  Freund! 
Es  war  mir  höchst  angenehm,  aus  Ihrem  heute 
empfangenen  Briefe  zu  ersehen,  dass  Sie  wohl  sind 
und  dass  unser  Tschirnhaus  seine  Heise  nach  Frank- 
reich glücklich  vollendet  hat.  In  den  Gesprächen, 
welche  er  mit  Heim  Huygens  über  mich  gehabt  hat, 
bat  er  sich  nach  meiner  Ansicht,  klug  benommen,  und 
hauptsächlich  freue  ich  mich,  dass  er  eine  so  gute 
Gelegenheit  für  Erreichung  seines  Zweckes  gefunden 
hat.  Wenn  er  aber  meint,  dass  Grunds.  4,  Th.  I.  mit 
Lehrs.  5,  Th.  U.  in  Widerspruch  stehe,  so  kann  ich 
dies  nicht  einsehen;  in  diesem  Lehrsatz  heisst  es,  dass 
die  Vorstellung  jedes  Dinges  das  Wesen  Gottes,  soweit 
er  als  ein  deckendes  Ding  gefasst  wird,  zu  ihrer  Ur- 
sache habe ;  in  jenem  Grundsatz  aber,  dass  die  Kennt- 
niss  oder  Vorstellung  der  Wirkung  von  der  Kenntniss 
oder  Vorstellung  der  Ursache  abhänge.  Indess  muss 
ich  offen  gestehen,  dass  ich  hier  Ihren  Brief  nicht 
recht  verstehen  kann ;  entweder  enthält  Ihr  Brief  oder 
das  Exemplar  einen  Schreibfehler;  denn  Sie  schreiben, 
dass  Lehrs.  5  hiesse :  Das  Vorgestellte  sei  die  wirkende 
Ursache  der  Vorstellung,  obgleich  doch  in  diesem 
Lehrsatz  gißrade  das  Gegentheil  gesagt  wird.  Ich  elaube, 
dass    davon    alle  Verwirrung   herkommt   und   oeshalb 

Dji7z?dbyV^OOgie 


246         LXXIX.  Brief.    Von  Spinosa  an  Schaller. 

würde  es  unnütz  sein,  hierüber  jetzt  ansführlicher  n 
schreiben;  vielmehr  warte  ich  ab,  bis  Sie  mir  Ihre 
Meinung  deutlicher  erklärt  haben  werden  und  ich  weiss, 
dass  Sie  ein  richtiges  Exemplar  haben.  Leibniz, 
von  dem  er  schreibt,  kennt  mich,  glaube  ich,  ans 
Briefen;  allein  ich  weiss  nicht,  weshalb  er,  der  Raüi 
in  Frankfurt  war,  nach  Frankreich  gereist  ist  Soviel 
ich  aus  seinen  Briefen  habe  abnehmen  können,  ist  er 
mir  als  ein  Mann  von  freiem  Greist  vorgekonunen,  der 
in  allen  Wissenschaften  bewandert  ist.  Indess  halte 
ich  es  nicht  für  rathsam,  ihm  so  schnell  meine  Schrift 
anzuvertrauen.  Ich  möchte  erst  wissen,  was  er  in 
Frankreich  treibt  und  die  Meinung  von  unserem 
Tschirnhaus  hören,  wenn  er  länger  mit  ihm  verkehrt 
und  seinen  Charakter  näher  kennen  gelernt  haben 
wird.  Uebrigens  grüssen  Sie  diesen  unsem  Freund 
in  meinem  Namen;  wenn  ich  ihm  mit  Etwas  dienen 
kann,  soll  er  nur  befehlen;  er  wird  mich  zu  allen 
Gefälligkeiten  bereit  finden.  Ich  gratuliere  zu  der 
Ankunft  oder  vielmelir  Rückkehr  des  verehrten  FVenn- 
des,  Herrn  Bresser,  sage  meinen  Dank  ftir  das  ver- 
sprochene Bier  und  werde  seine  Güte  nach  Mög^lich- 
keit  zu  erwidern  suchen.  Den  Versuch  Ihres  Ver- 
wandten habe  ich  bisher  noch  nicht  angestellt  und  ich 
glaube  kaum,  dass  ich  mich  dazu  entschliessen  werde; 
je  mehr  ich  die  Sache  überdenke,  um  so  mehr  scheint 
es  mir,  dass  sie  kein  Gold  gemacht,  sondern  nur  das 
Wenige,  was  in  dem  Antimon  enthalten  war,  daraus 
abgeschieden  haben.  Doch  hierüber  ein  andermal 
mehr;  jetzt  drängt  mich  die  Kürze  der  Zeit,  zu  schliessen. 
Wenn  ich  Ihnen  zur  Zeit  in  Etwas  behülflich  sein 
kann,  so  bin  ich  der,  an  welchem  Sie  immer  finden  werden 
geehrter  Herr 

Ihren  freundschaftlichen  und  bereiten 
Diener 
B.  V.  Spinoza.'*') 
im  Haag  den  18.  November  1675. 


Schluss    des    Briefwechsels. 

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247 


Inhalts-Verzeichnisse.'') 

I.  Nach  der  Reihenfolge  der  Briefe. 

A. 

Seite 

1.  Oldenburg  an     Spinoza 2 

2.  Spinoza  an     Oldenburg 3 

3.  Oldenburg  an     Spinoza 6 

4.  Spinoza  an     Oldenburg 9 

5.  Oldenburg  an     Spinoza 12 

6.  Sninoza  an     Oldenburg 12 

7.  Oldenburg  an     Spinoza 25 

8.  Oldenburg  an     Spinoza 26 

9.  Spinoza  an     Oldenburg 31 

10.  Oldenburg  an     Spinoza 38 

11.  Oldenburg  an     Spinoza 41 

12.  Oldenburg  an     Spinoza 44 

13.  Spinoza  an     Oldenburg 45 

14.  Oldenburg  an     Spinoza 46 

15.  Spinoza  an     Oldenburg 48 

16.  Oldenburg  an     Spinoza 52 

17.  Oldenburg  an     Spinoza 55 

18.  Oldenburg  an     Spinoza 56 

19.  Spinoza  an     Oldenburg 57 

20.  Oldenburg  an     Spinoza 58 

21.  Spinoza  an     Oldenburg 58 

22.  Oldenburg  an     Spinoza 60 

23.  Spinoza  an     Oldenburg 62 


*)  Diese  drei  hier  folgenden  InhaltsverzeichnisBe  nind 
neu  ausgearbeitet  worden;  insbesondere  gilt  dies  von  dem 
Sach-  und  Namenregister  No.  111.,  an  dem  es  bis  jetzt  ganz 
gefehlt  hat,  obgleich  die  Briefe  bei  dem  Studium  clor  Schrif- 
ten Spinoza's  nur  mit  Hülfe  eines  solchen  liegistere  bequem 
benatzt  werden  können. 

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218  Inhalts-VerzeichniBs. 


24. 

Oldenburg 

an 

Spinoza    .     . 
Oldenburg   . 

65 

26. 

Spinoza 

an 

67 

B. 

26. 

Simon  v.  Vries 

an 

Spinoza    .     . 
Simon  ▼.  Vries 

69 

27. 

Spinoza 

an 

71 

28. 

Spinoza 

an 

Simon  Y.VrieB 

74 

c. 

29.  Spinoza  an  Herrn  L.  M.  (Ludwig  Meyer)       75 

D. 

30.  Spinoza  an    PeterBalling      81 

31.  Wilh.  V.  Blyenberj 

32.  Spinoza 

33.  Blyenbergb 

34.  Spinoza 
36.  Biyenbergh 

36.  Spinoza 

37.  Biyenbergh 

38.  Spinoza 

39.  Spinoza 

40.  Spinoza 

41.  Spinoza 

O. 

42.  Spinoza  an    J.  B.  (Bresser)     144 

H. 

43.  Spinoza  an    J.  y.  M.  .     .     .     146 

J. 

44.  Spinoza                          an  J.  J 147 

46.     Spinoza                          an  J.  J 149 

46.  Spinoza                           an  J.  J 153 

47.  Spinoza                          an  J.  J 165 

K. 

48.  L.V.V.  (Velthuysen)     an    J.  O.      ...     157 

49.  Spinoza  an     J.  O.      ...     171 

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an 

Spinoza    .     . 
Biyenbergh . 

84 

an 

88 

an 

Spinoza    .     . 
Biyenbergh . 

93 

an 

111 

an 

Spinoza    .     . 
Biyenbergh. 

120 

an 

126 

an 

Spinoza    .     . 
Biyenbergh. 

131 

an 

134 

an 

Herrn 

135 

an 

Herrn 

137 

an 

Herrn 

139 

50.     Spinoza 


ItthaLtB-Verzeichnün. 

Ia. 

an     


249 

Seit« 
176 


51. 
62. 


Leibniz 
Spinoza 


an     Spinoza, 
an    Leibniz 


177 

178 


53. 
54. 


Fabricius 
Spinoza 


55 

56.     Spinoza 

57 

58.     Spinoza 

59 

60.     Spinoza 

61 

62.     Spinoza 

63 

64.     Spinoza 

65 

66.     Spinoza 

67 

68.     Spinoza 

69 

70.     Spinoza 

71 

72.     Spinoza 


73. 
74. 


A.  Burgb 
Spinoza 


an  Spinoza, 

an  Fabricius 

O. 

an  Spinoza 

an  

an  Spinoza 

an  

an  Spinoza 

an  

P. 

an  Spinoza 

an  

an  Spinoza 

an  

an  Spinoza 

an  

an  Spinoza 

an  

an  Spinoza 

an  

an  Spinoza 

an  


an     Spinoza, 
an     A.  Burgh 


180 
181 


182 
183 
185 
187 
192 
196 


200 
203 
207 
209 
211 
212 
214 
215 
216 
216 
217 
219 


220 


75. 
76. 
77. 
78. 
79. 


Spinoza  an  Lambert  v«  VelthayBen 
Spinoza  an    J.  Bresser  .     .     .     . 

Oldenburg     an     Spinoza 

Scballer         an     Spinoza 

Spinoza         an    Schaller     .     .     .     . 


237 
239 
240 
242 
245 


y  Google 


260  Inhalts- YendohiuM. 

H.    Nach  der  Zeitfolge  der  Briefe.*) 

A.  WfthrendSpinoza's  Aufenthalt  in  Rhynsburg. 

Aus  dem  Jahre  1661.     Brief  1  von  Oldenburg 

-  2  voll  Sninossa 

-  3  von  Oldenburg 

-  4  von  Spinoza 

-  5  von  Oldenburg 

-  6  von  Spinoza. 
Aus  d^m  Jahre  1662.         -     7  von  Oldenburg 
Aus  dem  Jahre  1663.             26  von  Simon  v.  Vries 

-  27  von  Spinoza 

-  28  von  Spinoza 

-  8  von  Oldenburg 

-  29  von  Spinoza 

-  9  von  Spinoza 

-  10  von  Oldenburg 

-  11  von  Oldenburg 

B.  Während  Spinoza^s  Aufenthalt  in  Voorburg. 
Aus  dem  Jahre  1664.     Brief  30  von  Spinoza 

31  von  Blyenbergh 
Aus  dem  Jahre  1666.         -     32  von  Spinoza 

33  von  Blyenbergh 

34  von  Spinoza 

36  von  Blyenbergh 

36  von  Spinoza 

37  von  Blyenbergh 
-        -           -            -     38  von  Spinoza 

12  von  Oldenburg 
76  von  Spinoza 

13  von  Spinoza 

14  von  Oldenburg 

15  von  Spinoza 

16  voh  Oldenburg 


*)  Die  Namen  hinter  der  Ziffer  der  Briefe  bedeuten  deren 
Absender:  wo  N.  N.  steht,  ist  der  Absender  nicht  genannt.  Die 
Zeitfolge  hat  zum  Theil  nur  nach  wahrscheinlichen  Annahmen 
geregelt  werden  können,  da  bei  vielen  Briefen  das  Datum  fehlt. 


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InhaltB-VerzeichniBs.  261 

Aus  dem  Jahre  1666.  Brief  39  von  Spinoza 

40  von  Spinoza 

41  von  Spinoza 

42  von  Spinoza 

43  von  Spinoza 
Aus  dem  Jahre  1667.  Brief  44  von  Spinoza 

45  von  Spinoza 
Aus  dem  Jahre  1669.  Brief  46  von  Spinoza 

C.    Wtthrend    Spinoza's   Aufenthalt    im    Haag. 

Aus  dem  Jahre  1671.  Brief  48  von  Velthuysen. 

49  von  Spinoza 
47  von  Spinoza 

61  von  Leibniz 
52  von  Spinoza 

Aus  dem  Jahre  1673.  Brief  53  von  Fabricius 

54  von  Spinoza 
Aus  dem  Jahre  1674.  Brief  50  von  Spinoza 
56  von  N.  N. 

56  von  Spinoza 
57  von  N.  N. 

58  von  Spinoza 
69  von  N.  N. 

60  von  Spinoza 
61  von  N.  N. 

62  von  Spinoza 
Aus  dem  Jahre  1675.  Brief  63  von  N.  N. 

64  von  Spinoza 

17  von  Oldenburg 

18  von  Oldenburg 
65  von  N.  N. 

66  von  Spinoza 

67  von  N.  N. 

68  von  Spinoza 
73  von  A    Burgh 

19  von  Spinoza 

20  von  Oldenburg 

21  von  Spinoza 

78  von  Schaller 

79  von  Spinoza 

22  von  Oldenburg 

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252  InhaltB-yerzeicfaiiiBB. 

Aus  dem  Jahre  1676.  Brief  23  von  Spinoza 

-      74  von  Spinoza 
75  von  Spinoza 
Aus  dem  Jahre  1676.  Brief  24  von  Oldenburg 

77  von  Oldenburg 
25  von  Spinoza 

69  von  N.  N. 

70  von  Spinoza 
:  -  -      71  von  N.  N. 

72  von  Spinoza 


III.  Nach  alphabetischer  Ordnung  der 
Sachen  und  Personen.*) 

A. 

Aberglaube.     21,  59. 

Accidenz.     4,  11. 

Adam.    82,  89,    33,  100,  108. 

Alezandrus.     57,  186. 

Almosengeben.     36,  129. 

Anatomische  Curiosa.     16,  53. 

An-sich.    26,  70.    38,  95. 

Anzeichen.     80,  82. 

Applicaten.     68,  209.     64,  210. 

Apulejus.    59,  186. 

Aristoteles.     60,  200. 

Attribut.    2,  4.    3,  8.    4,  11.    26,  70.    27,  72,  78. 

28,  74.    33,  110.     63.  207.    66,  211.    66,  212. 

67,  214.    78,  234. 
Auge;  sehen.     44,  147. 
Ausdruck,  Arteii  des.     68,  215. 
Ausdehnung.     4,  10.    41,  140.    70,  217. 
Auzout.    14,  47. 

B. 
Baco.    2,  2,  5.    9,  36.    42,  145. 
Bearbeitung     der    Prinzipien    von    Descartes. 

9,  13.     10,  39.     33,  104,  105.     34,  119.     37, 

131.     38,  134.      40,  137.     46,  151.     50,  176. 

62,  206. 


♦)  Die  fetten  Ziffernezeichnen  die  Zahl  des  Briefes;  die 
dahinter  stehenden,  durch  Komma  getrennten,  die  Seitenzahl. 

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Inhalts-Veneicliiii«.  263 

Begrenzt.    41,  140. 

Bejahung.     41,  140. 

Beraubung«    32,  90.    38,  96.    34,  113. 

Beschlüsse  Gottes.    34,  117. 

Bewegung.     71,  217. 

Beweis,  des  Daseins  Gottes.    29,  80. 

Beziehungen.     29,  78. 

Bibel.    33,  106.    34,  119. 

Blut.    15,  49. 

Böses.    31,  86.    32,  89.    33,  94. 

Borellus.    26,  69. 

Bourgeois,  Dr.  17,  65. 

Boyle,   Richard.    2,  8.     6,  12.     7,  25.     8,  27,    30. 

9,  32.    iO,  39.    II,  41.     12,  44.    13,  45.    16,  53. 
Brechtelt,  Dr.  45,  149. 
Bresser,  Dr.  78,  244. 

C. 
Cäsar.    59,  196« 
Chatillon.    74,  234. 
Christus.     21,  59.     22,  61.     23,  65.     25,  68.    48, 

167.    73,  223. 
Clavius.    26,  70. 
Colbert.     78,  243. 
Cordanus.    57,  186. 

D. 
Dasein.    28,74.    Gottes.    39,136.  40,138. 
Dauer,  29,  76. 
Definition.    2,5.    4,10.    26,69.    27,71     28,74. 

39,  136.    84,  210.    71,  218. 
Deisten.    49,  171. 
Demokrit.    60,  200. 
Denken.    4,  10.    33,  89.    41,  140. 
Descartes.    2,  2,  6.     6,  17.   8,  29.  9,  35,  36.     13,  45. 

14,  48.    15,  61.    16,  52.     32,  92.     33,  105.  34, 

115,    117.    45,    160.    48,    163.     60,   201.    62, 

203,   205.    63,    208.     68,    215.     71,  217.     72, 

219.    75,  240.    78,  243. 
Die  m erbrock.     52,  180. 
Dioptrik.    44,  147. 

£. 
Ebene.    27,  74. 
Eigenschaften,    geheime.    3,  9.     6,  18.     64,  210. 

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254  Inhalta-VeneiohniM. 

Einbildungskraft.    30,  82.    42,  145. 

Einfach.     40,  137. 

Einheit  von  Vater  und  Sohn.  30,83.   Gottes.  38,195. 

Empedokles.    59,  196. 

Epikur.    60,  200. 

Erhaltung.     31,  85. 

Erkenntniss.    42,  144. 

Erschaffen.     4,  11. 

Erzeugen.    4,  11. 

Ethik,  Spinozas.    Vorrede.  1.    9,  32.   il,  43.    19,  51. 

20,  58.     26,  70.     36,  129.     37,  133.     63,  207. 

66,  213.    71,  218,    78,  243.    79,  245. 
Ewigkeit.    29,  76.    30,  137. 

F. 
Fernröhre.    44,  148.    45,  151. 
Festes.    6,  23. 
Flüssiges.    6,  20.     8,  30. 
Formen,  unerklärbare.     3,  9. 
Freiheit    des    Menschen.     23,  63.     24,  65.     25,  67. 

33,  98.    34,  115.    35,  122,  123.    49,  173.    61, 

202.    61^  204.    77,  241. 
Fromme.    32,  92.    35,  123.     36,  128. 

O. 

Gassendi.     8,  29. 

Gattung.    32,  90.    50,  176.    59,  195. 

Gebet.    33,  102. 

Gedächtniss.     30,  83. 

Gedanke.     3,  7. 

Gefallen,  Gottes.    36    129. 

Gemeinbegriffe.    4,  10. 

Gerechte.     36,  129. 

Gespenster.    55,  182.    56,  183.    57,  185.    58,  187. 

59,  192.    60,  199. 
Gestalt.    50,  176. 
Gesetze.    32,  91. 
Gilles  V.  d.  Hek.    53,  181. 

Gläser,  optische.    15,  52.    16,  53.    3i,  142.    51,  178. 
Gleichnisse.     33,  107.     38,  118. 
Gold  machen.     45,  149.     79,  246. 
Gott.    2,  4.    3,  7,  8.     4,  11.     21,  59.     25,  68.    26, 

71.    32,  89,  91.    33,  94,  106.  36, 124.    36,  127. 

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InhaltB-V^rzeichniss.  255 

49,  172.    50,  176.    58,  189.    59,  193.    60,  198. 

79,  245. 
Gottlose.    34,  113.     36,  128. 
Grotins.     53,  180. 

H. 
Hevel.     14,  47. 
Heidelberg.     53,  180. 
Helvetius.    45,  149. 
Hobbes.    50,  175. 
Hu  et.    72,  129. 
Huygens.     13,  45.     14,  47,  48.     15,  51,  52.     16,  52. 

78,  243.    79,  245. 

J. 
Jacob.     27,  74. 
Jehuda  Alpakhar.     49,  174. 
Jrrthum.     2,  5.     37,  131. 
Jsrael.     27,  74. 
Juden.    16,  54. 

K. 
Kälte.    13,  45. 

Kirche,  katholische,     73,  227.     74,  233,  236 
Kirch  er.     14,  46. 
Körper.     3,  7. 
Komet.     14,  47. 
Kurfürst  v.  d.  Pfalz.     53,  180. 

Lana,  Franz.     51,  177.     52,  179. 

Lavater.  57,  186,  187. 

Leerer  Raum.     10,  40. 

Lehrsätze.     27,  72. 

Leibniz.     78,  274. 

Leidenschaft.     35,  121. 

Licht  der  Natur.     3,  7. 

Liebe  zur  Wahrheit.     32,88.     zu  Gott.     49,173.    zu 

den  Menschen.     74,  233. 
Linus,  Franz.     10,  39. 
Lucrez.     60,  200. 
Lymphe.     15,  49. 

H. 
Maass.    29,  177. 
Maimonides.     49,  174. 
Melanchton.    57,  186. 

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256  Inhalts- Veizeichniss. 

Mensch,  der  politische.     47,  157. 

Mersenne.     48,  158. 

Mikroskope.     13,  45. 

Modificaiion,  unendliche.     65,  211.     66,  214 

Mysterien.     48,  195. 

Natur.     21,  59.     gewirkte.     27,  73, 
Nero.     36,  127. 
Neustadt,  Dr.     75,  237. 
Nicht-Seiendes.     31,  86.     33,  95. 
Nothwendigkeit,     des    Willens.     22,   60.     23,    62. 
24,  66.    38,  134.    60,  197. 
O. 
Obrigkeit.    48,  167. 
01t ins,  Johann.     51,  177.     52,  179. 
Optik.    51,  177. 
Orest.     36,  127. 

Pabst,  der.     74,  237. 

Paulus.    25,  68. 

Pendel.     14,  48. 

Plato.     60,  200. 

Plinius.     57,  186. 

Plutarch.     57,  186.     59,  196. 

Politik.    50,  175. 

Propheten.     32,  91.    33,  106.    34,  119. 

Rab-Ghasdaj.     29,  80. 

Keligion.     21,  50.     48,  165.     49,  172. 

Ruhe,  Liebe  zur.     54,  182. 

Salomo's  Tempel.     27,  71. 

Salpeter.     6,  13.     8,  27. 

Salpetergeist.    6,   13.    8,  28.    9,  33.    II,  42. 

Saturn,  Ring  des.     13,  45. 

Schaffen.    31,  85. 

Schönheit.     59,  194. 

Seele.    15,  51;  ruhe.    34,112.   35,125.    37,132,133. 

Serrarius.     10,  39.     12,  44.     13,  45. 

Sextus  Empiricus.     60,  199. 

Sich-selbst-genügen.     40,  137. 

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Inhalia-Virzeicfams«.  257 

Societät  zu  London.     7,  25.     8,  80.     10,  39. 

Socinianer     33,  118. 

Socrates.     60,  200. 

Spiel.    43,  145. 

Staat.     48,  169. 

Stenonius.     74,  232. 

Stoff,     72,  219. 

Substanz.     2,4.     3,8.    4,11.     26,71.     27,72,73. 

29,  76. 
Sünde.     32,  89.     gegen  Gott.     33,  103. 
Sueton.    67,  186.    68,  192. 

T. 

Tangente.    63,  209.    64,  210. 

Taquet.    26,  69. 

Teleskope.    13,  45. 

Teufel.    74,  234. 

Thal  es.     47,  156. 

Tbeile.     41,  141. 

Theologie.     36,  127,  128. 

Theologisch-politische  Abhandlung  Spinoza's. 
7,  25.  8,  30.  10,  41.  14,  46,  47.  15,  48.  17,  55. 
18,  56.  19,  57.  21,  59.  31,  85.  47,  156.  48, 
157.    73,  221.    74,  237.    75,  237. 

Thermometer.     13,  45. 

ThyrÄus.     67,  187. 

Tod.     37,  132. 

Trost  der  Religion.     33,  109. 

Tschirnhauss.     78,  242,  244.     79,  245. 

Türken.     49,  175. 

Tugend.    33,  103.    36,  130.    49,  172.    62,  206. 

Unbegrenzt.     41,  141. 

Unendlichkeit.   29,75,79.  40,137.  69,217.  70,217. 

Untheilbar.     40,  138. 

Unvollkommen.     40,  138.     41,  142. 

Unwissenheit.  22,61.  23,63.  24,66.25,68.77,241. 

Ursache.    3,  8.     4,  11.    5,  12,     36,  127.    39,  135. 

V. 

Verneinung.    31,  96,  97.     34,  118. 
Vernunft.    63,  207. 

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258  Inhaits-yeneichmss. 

Voetius.     49,  171. 

Vollkommenheit.    32,  89.    3S,  123.    41,  141. 

Vorbedeutung.     30,  81. 

Vorstellungen.     4,    10.     klare    42,    144.     bildliche 

60,    199.      falsche    63,    207.      zureichende    63 

208.    64,  209. 


Wahrheiten,     ewige.     28,    74.     61,    200.     64,    209. 

73,  225;    74,  234. 
Wahrscheinlichkeit  im  Spiel.     43,   145.     59,  194. 

60,  198. 
Wasser,  Kraft  des.    46,  153. 
Weiss.     27,  74. 
Welt.    67,  214. 
Wesen.    35,  121. 
Wierus.     57,  186. 
Wille.    2,   6.    31,   85.     33,  97,  104.  110,     36,  130. 

58,  189.    59,  193.    60,  197.    61,  201.  foi/^S-- 
Wunder.    22,  61.   23,  63.    24,  66.    25,  68.    48,  162. 


Zahl.    29,  78.    39,  136. 

Zeit.    29,  77. 

Zufall.    60,  197. 

Zusammenhang  der  Natur.     15,  149. 

Zusammensetzung.     41,  140. 

Zustände.     29,  76. 


-<a50f9- 


Draok  von  Max  Sohmenow  vorm.  ZaIub  &  Baendd,  gJroliii^iB  K.-L. 

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Verlair  der  Bftxr'söhdn  BnoUiandlniiir  in  Ltipslif. 

Schllleß  philosophische  Schritten  nnn  Gedichte 

jAnswahl. 

Zur  Einführung  in  seine  Weltanschauung. 

[Mit  ausführlicher  Einleitung  herausgegeben  von 

Professor  Eugen  Kühnemann 

in  Posen. 

Preis  2  M.,  gebunden  2,50  M. 

Dm  UtorarliObe  Eoho.  IV.  Jahrg.,  Ur,  12.  Der  Heraiugeber  h»t  lioh  mit 
dieser  Sohrifl  ein  grofles  Verdienst  erworben.  Wenn  es  Jetit  »n  der  Zelt  ist, 
•In  neues  nnd  tieferes  YerstAndnls  der  literarisohen  Leistung  und  Persönliohkeit 
Sohlllen  %n  gewinnen,  so  müssen  anoh  seine  Isthetisohen  Abhandinngen  nnd 
mehr  mit  aufmerksamerem  Yerst&ndnis  gelesen  werden  als  seither 

K ahnemann  erleiohtert  dem  Leser  das  Bindringen  nnd  die  TOnfnhmng 
in  Sohillers  Lebens-,  Welt-  und  Knnstansioht  duroh  eine  klare,  flbersiohtUohe 
«nd  ins  Tiefe  gehende  Sinleitnng.  Sie  erläutert  TerständnisToll  den  pftdagogi- 
■ohen  Wert  der  Philosophie  Schillers,  gibt  die  Grundlinien  der  Asthethik  und 
Sthik  Kants,  kennaeiohnet  SohiUers  Verhlltnls  daiu  und  beleuohtet  die  f&r  da«. 
Terstlndnis  der  Sohülersehriften  unentbehrlichen  Gesichtspunkte.  Die  Auswahl 
selbst  ist  sehr  glfloklioh  getroffen. 

JSBiis«iggBWJWMSwiaawn5gttis«n5gttis«nawi  gamsBauwugBBiuwuswuaiBMgmigB 

Goethes  Philosophie  aus  seinen  Oerken. 

Ein  Buch  für  jeden  gebildeten  Deutschen. 

Mit  ausführlicher  Einleitung  herausgegeben  von 

Professor  Dr.  Max  Heynacher, 

Prorinsialschulrat  in  Hannorer. 

Preis  8,60  M.,   in  Gesohenkeinband  6  M« 

.'iJ  '  Berltaer  TaiOhlatt»  Das  Hejnaohersche  Buch  ordnet  das  gewaltige  Werk 
nach  der  historis^en  Folge.  Bine  Xinftthrung  bringt  die  Oesohiohte  des  Lebene 
an  der  Hand  der  Bntwlokelung  seiner  philosophischen  Anschauungen.  Bs  folgen 
sodann  yoUstindig  oder  in  Aussogen,  was  man  als  philosophisehe  Schriften 
klassiflsieren  kann.  Das  Buch  ist  naeh  seiner  übersichtlichen  Fassung  und  seiner 
durchsichtigen,  alle  Dunkelheiten  Termeidenden  Sprache  fOr  Jeden  Gebildeten 
TeratAndllch;  es  eröiZnet  so  auch  dem  philosophisch  nicht  Yorgebfldeten  eine 
königliche  TOr  In  das  Geistesleben  unserer  leitenden  Geistesheroen.  So  ist  sein 
Erscheinen  dankbar  su  begrfifien. 

Herdeß  Philosophie. 

Ausgew&hlte  Denkmäler  aus  der  Werdezeit  der  neuen  deutschen 

Bildung. 

Herausgegeben  von 

Privatdozent  Lic.  Dr.  H.  Stephan  in  Leipzig. 

Geheftet  8,60  M.,  gebunden  4.20  M. 

Saul  unter  den  Propheten?  Herder  unter  den  Philosophen?  —  Wer  in 
eine  Geschichte  der  Philosophie  blickt,  findet  darin  wenig  genug  Aber  Herder. 
Trotsdem  war  es  ein  riöhtiger  Gedanke  des  Herrn  Verlegers,  ihm  einen  Band 
der  Philosophischen  Bibliothek  au  widmen.  Wenn  nicht  alle  Zeichen  trfigen, 
beginnt  der  phllosophisohe  Sinn  unserer  Gebildeten  sich  wieder  su  heben.  Daäu 
erwacht  allmfthlidh  die  Teilnahme  fOr  die  Geschichte  der  deutschen  Bildung  in 
der  sweiten  Hllfte  des  18.  Jahrhunderts.  Beide  Strömungen  müssen  auf 
Herders  Lebensarbeit  führen.  Dann  aber  bedarf  es  nicht  nur  der  rielen 
Bücher  über  Herder,  die  wir  haben,  sondern  ror  allem  auch  eines  kursen,  billigen 
Abdruckes  seiner  wichtigsten  philosophischen  Schriften.      (Aus  der  Vorrede.) 


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FE8  3*-    194a 


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