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Full text of "Beiträge zur Analyse der Empfindungen"

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Beiträge 



zur 



Analyse der Empfindungen 



Ton 



Dr. S. Macli, 

Professor der Physik an der deutsehen Universität zu Pit*^^.- 



Mit 36 Abblldniigeii. 



8 1 ^' -V* 



Jena, 

Verlag von Gustav Fischer 

1886. 




0)lftH 



Inhalt. 



Seite 

Antimotaphysische Vorbemerkungen 1 

Die Hauptgesichtspunkte für die Untersuchung der Sinne .... 25 

Die Eaumempfindungen des Auges . . , 40 

Weitere Untersuchung der Raumempfindungen 55 

Beziehung der Gesichtsempfindungen zu einander und zu andern 

psychischen Elementen 79 

Die Zeitempfindung 103 

Die Tonempfindung 113 

Einfiuss der vorausgehenden Untersuchungen auf die Auffassung der 

Physik 141 



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i^^ 



"7^ Sg :7^[<Ji SS ^'f^J ^ß ^^ ^ß ^@ ^f^^ ^^ '^ ^ ^f^ 



VorAvort. 



Durch die tiefe Ueberzeugung, dass die Gesammtwissen- 
schaft überhaupt, und die Physik insbesondere, die nächsten 
grossen Aufklärungen über ihre Grundlagen von der Bio- 
logie und zwar von der Analyse der Sinnesempfindungen zu 
erwarten hat, bin ich wiederholt auf dieses Gebiet geführt 
worden. 

Freilich habe ich nur wenig zur Erreichung dieses 
Zieles beitragen können. Schon dadurch, dass ich meine 
Untersuchungen nur gelegentlich, nicht als eigentlichen Beruf, 
betreiben, und oft nur nach langen ünterbrechimgen wieder 
aufnehmen konnte, mussten meine zerstreuten Publicationen 
an Gewicht verlieren, vielleicht mir sogar den stillen Vor- 
wurf der Zersplitterung eintragen. Umsomehr bin ich jenen 
Forschem, welche wie E. Hering, V. Hensen, W. Preyer 
u. A., theils auf den sachlichen Inhalt, theils auf die me- 
thodologischen Ausführungen meiner Arbeiten Rücksicht ge- 
nommen haben, zu besonderem Dank verpflichtet. 



— VI — 

Vielleicht erscheint nun die vorliegende zusammenfas- 
sende und ergänzende Darstellung in einem etwas günstigem 
Licht, indem sie deutlich macht, dass es überall dasselbe 
Problem war, welches mir aus den vielen einzelnen unter- 
suchten Thatsachen entgegengeblickt hat. Obwohl ich durch- 
aus nicht auf den Namen eines Physiologen, noch weniger 
auf jenen eines Philosophen Anspruch machen kann, hoffe 
ich doch, dass die lediglich mit dem lebhaften Wunsche 
nach Selbstbelehrung unternommene Arbeit eines über die 
Conventionellen Fachgrenzen ausblickenden Physikers auch 
für Andere nicht ganz ohne Nutzen sein wird, selbst wenn 
ich nicht überall das Richtige getroffen haben sollte. 

Die stärkste Anregung erhielt vor 25 Jahren meine 
natürliche Neigung für die hier behandelten Fragen durch 
Fechner's „Elemente der Psychophysik" (Leipzig 1860), 
und am meisten gefördert wurde ich durch Hering's 
Lösung zweier in den folgenden Blättern (S. 33 Anm. 20 
und S. 77) näher bezeichneter Probleme. 

Lesern, welche aus irgend welchen Gründen allgemeine- 
ren Erörterungen gern aus dem Wege gehen, empfehle ich, 
das erste und letzte Kapitel zu überschlagen. Für mich 
hängt allerdings die Ansicht des Ganzen und die Ansicht 
des Einzelnen so zusammen, dass ich beide nur schwer zu 
trennen vermöchte. 

Prag im November 1885. 

D. V. 







Antlnifttflphysfsfthft Vorbemerkungen. 

1. 

Die grossen Erfolge, welche die physikalische Forschung 
in den verflossenen Jahrhunderten nicht nur auf eigenem 
Gebiet, sondern auch durch Hilfeleistung in dem Bereiche 
anderer Wissenschaften errungen hat, bringen es mit sich, 
dass p hysikalische A nschauungen und Methoden überall 

in den Vordergrund tret^p, und dass an die Anwendung 

« 

derselben die höchsten E^wantungen geknüpft werden. Dem 
entsprechend hat auch die Physiologie der Sinne, die von 
Männern wieGöthe, Schopenhauer U.A., mit grösstem 
Erfolge aber von Johannes Müller eingeschlagenen Bah- 
nen allmälig verlassend, fast ausschliesslich eineu^physika- 
liSfih^nJIlhaEacterj'DgGnommen. Diese Wendung muss uns ails 
eine nicht ganz zweckentsprechende erscheinen, wenn wir be- 
denken, dass die Physik trotz ihrer bedeutenden Entwicklung 
doch nur ein Th^il .eii|ie3 /grösseren Gesammtwissens ist, 
und mit ihren für efiiSeitige Zwecke geschaffenen einsei- 
tigen intellectuellen Mitteln diesen Stoff nicht zu erschöpfen 
vermag. Ohne auf die ünterstüjzung der Physik zu ver- 
zichten, kann die Physiologie der Sinne nicht nur ihre eigen- 
thümliche Entwicklung fortsetzen, sondern auch der Physik 
selbst noch kräftige Hilfe leisten. Folgende einfache 
Betrachtung mag dazu dienen, dies Verhältniss klar zu legen. 



ov 



— 2 — 



2. 

/ Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten u. s. w 

sind in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft, und an 
dieselben sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. 
Aus diesem Gewebe tritt das relativ Festere und Beständigere 
hervor, es prägt sich dem Gedächtnisse ein, und drückt sich 
in der Sprache aus. Als relativ beständiger zeigen sich 
\^_ zunächst räumlich u nd zeitlich v erknüpfte Complexe von 
Farben , Tönen , Drücken u. s. w. , die desshalb besondere 
Namen erhalten, und als Körper bezeichnet werden. Ab- 
solut b estän dig sind solche Co mplexe keineswegs. 

Mein Tisch ist bald heller bald dunkler beleuchtet, kann 
wärmer und kälter sein. Er kann einen Tintenfleck erhalten. 
Ein Fuss kann brechen. Er kann reparirt, polirt, Theil 
für Theil ersetzt werden. Er bleibt für mich doch der Tisch 
an dem ich täglich schreibe. 

Mein Freund kann einen andern Rock anziehen. Sein 
Gesicht kann ernst und heiter werden. Seine Gesichtsfarbe 
kann durch Beleuchtung oder Affecte sich ändern. Seine 
Gestalt kann durch Bewegung oder dauernd alterirt werden. 
Die Summe des Beständigen bleibt aber den allmäligen Ver- 
änderungen gegenüber doch immer so gross, dass diese zu- 
rücktreten. Es ist derselbe Freund mit dem ich täglich 
meinen Spaziergang mache. 

Mein Rock kann einen Fleck, ein Loch, erhalten. Schon 
der Ausdruck zeigt, dass es auf eine Summe von Beständi- 
gem ankommt, welchem das Neue hinzugefügt, von welchem 
das Fehlende nachträglich in Abzug gebracht wird. 

_ Die grössere Geläufigkeit, das Uebergewicht des Be- 
ständigen gegenüber dem Veränderlichen drängt zu der theils 
mstinctiven theils willkürlichen und bewussten Oeconomie 
des Vorstellens und der Bezeichnung, welche sich in dem 



— 3 — 

gewöhnlichen Denken und Sprechen äussert. ]^'as auf ein- 
mal vorgestellt wird, erhält eine Bezeichnung, einen 
Namen. 

Als rela tiv beständig zeigt sich ferner der an einen 
besondem Körper ^aeu Leib) gebundene Complex von Er- 
inugrungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeich- 
net wird. Ich kann mit diesem oder jenem Ding beschäftigt, 
ruhig und heiter oder aufgebracht und verstimmt sein. Doch 
bleibt (pathologische Fälle abgerechnet) genug Beständiges 
übrig, um das Ich als dasselbe anzuerkennen. Allerdings 
ist au ch das Ich nur von relativer Beständigkeit ^). 

1) Die Rfihftj]ihQrA 'R^^t^^^jJill^Ljl'^" ^^^ besteht vorzüglich nur in 
^er C ontinuität, in der langsamen Aenderung. Die vielen Gedanken 
nnd Pläne von gestern, welche heute fortgesetzt werden, an welche die 
Umgebung im Wachen fortwährend erinnert (daher das Ich im' Traume 
sehr verschwommen, verdoppelt sein, oder ganz fehlen kann), die kleinen 
Gewohnheiten, die sich unbewusst und unwillkührlich längere Zeit erhalten, 
machen den Grundstock des Ich aus. Grössere Verschiedenheiten im 
Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem 
Menschen eintreten, kann es kaum geben. Wenn ich mich heute i 
meiner frühen Jugend erinnere, so müsste ich den Knaben (einzelne i 
wenige Punkte abgerechnet) für einen Andern halten, wenn nicht die 
Kette der Erinnerungen vorläge. Schon manche Schrift, die ich 
selbst vor 20 Jahren verfasst, macht mir einen höchst fremden Eindruck. 
Die sehr allmäligo Aenderung des Leibes trägt wohl auch zur Be- 
ständigkeit des Ich bei, aber viel weniger als man glaubt. Diese Dinge 
werden noch viel weniger analysirt und beachtet als das intellectuelle 
und das moralische Ich. Man kennt sich persönlich sehr schlecht. — 
Als junger Mensch erblickte ich einmal auf der Strasse ein mir höchst . 
unangenehmes widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrak nicht 
wenig, als ich erkannte, dass es mein eigenes sei, welches ich an einer 
Spiegelniederlage vorbeigehend durch zwei gegen einander geneigte 
Spiegel wahrgenommen hatte. — Vor nicht langer Zeit stieg ich nach 
einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen 
Omnibus, eben als von der andern Seite auch ein Mann hereinkam. „Was 
steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein", dachte ich. 
Ich war es selbst, denn mir gegenüber hing ein grosser Spiegel. Der 
Classenhabitus war mir also viel geläufiger, als mein Specialhabitus. 
— Das Ich ist [so wenig absolut beständig als die Körper. Was wir 

1* 



\y 



— 4 — 

^Ist^digL. P.rstft Qri en tirmig^durch Bildung der Substanz- 
begriffe „Körper", „Ich" (Materie, Seele) erfolgt, so drängt 
der Wille zur genauem Beachtung der VerJLnde^rungen 
an die sem relativ Beständigen. D as Veränderliche an den 
Kö rpern u nd am Ich ist es eben, was den Willen bewegt* 
E rst jetzt treten die Bestandtheile des Complexes als Eigen- 
schaften desselben hervor. Eine Frucht ist süss; sie kann 
aber auch bitter sein. Auch andere Früchte können süss 
sein. Die gesuchte rothe Farbe kommt an vielen Körpern 
vor. Die Nähe mancher Körper ist angenehm, jene anderer 
unangenehm. S o erscheinen nach und nach verschie dene 
Complexe aus gemeinsamen Bes tandtheilen zu s ammenge setzt. 
Von den Körpern trennt sich das Sichtbare, Hörbare, Tast- 
j bare ab. Das Sichtbare löst sich in Farbe und Gestalt. 
In der Mannigfaltigkeit der Farben treten wieder einige Be- 
standtheile in geringerer Zahl hervor, die Grundfarben u. s. w. 

^' . , ■" ■ : c '.^ v-^ ■ ■' 

Die zweckmässige Gewohnheit das Beständige mit einem 
Namen zu bezeichnen und ohne jedesmalige Analyse der 
Bestandtheile. in einen Gedanken zusammenzufassen, kann 
mit dem Bestreben 4ie Bestandtheile zu sondern in einen 
eigen thümüchen Widerstreit gerathen. . Das dunkle Bild des 
Beständige n, welches sich nicht merklich ändert, wenn ein 
oder der andere Bestandtheil ausfällt, scheint etwas für. 



am Tode so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit, das tritt 
im Leben schon in reichlichem Masse ein. Was uns das WerthvoUsto 
ist, bleibt in unzähligen Exemplaren erhalten, oder erhält sich bei hervor- 
ragender Besonderheit in der Eegel von selbst. Im besten Menschen 
liegen aber individuelle Züge, um die er und andere nicht zu trauern 
brauchen. Ja zeitweilig kann der Tod, als Befreiung von der Individua- 
lität, sogar ein angenehmer Gedanke sein. 



/^ M^- ^ 



-^ sich zu sein. Weil man ie den Besta^idtheil einzeln weg- 
Jiehmen kann^ ohne dass dies Bild4frfffior:k <Üe Gesammtheit ßr^:-ct. 
zu repräsentiren und wieder erkannt zu werden, meint 



man, Haan könnte_ ^le wegnehmeB;^^nd.^s.MLQbg^och etwas 
übrig. Sq ^tsfehr iier ungeheuerlic he Gedanke eines (von — H 
seiner „ferec^einung" verschifeä'ehen im^rKennbaren) Dinges 
an si ch. 

J)as Ding, der Körper, die Materie ist nichts aiifispr dpin 
Komplex der Farben, Töne u. s. w. ausser den sogenannten 
Merkmalen. Das (vielgestaltige veAhfemtlichq philosophische . 
Problem von dem einen Ding,n^t seinen vielen Merk- 
malen^ entsteht durch das verfeemiiÄ des Umstandes, dass 
übersichtliches ZusämÄerffassen und slorgfeltiges ^Trennen, 
obwohl beide temporär beVecMigt und zu verschiedenen 
Zwecken er spriesslich , nicht auf einmal geübt werden 
können. Der Körper ist ein er u nd unver änderli ch, so lang e 
wir nicht nöthig haben, auf Einzelnheiten zu achten. So 
ist auch die- Erde oder ein Billardballen eine Kugel, so 
bald wir von allen Abweichungen von der Kugelgestalt absehen 
wollen, und grössere Genauigkeit unnöthig ist. Werden wir 
aber dazu gedrängt, Urographie oder Mikroskopie zu treiben, 
so hören beide Körper auf Kugeln zu sein. 

4. 

per Mensch hat vorzugsweise die_JFähigkeit sich seinen 
Standpunkt wilfkürlich und bewugst zu bestimmen. Er kann 
jetzt von den imposantesten ßinz^lnheiten absehen, und 
sofort wieder die geringste Kfeinigkeit beachten, jetzt die 
stationäre Strömung ohne Rücksicht auf den Inhalt betrachten, 
und dann die Breite einer Fraunhofer'schen Linie im 
Spectrum schätzen, er kann nach Gutdünken zu den allge- 



v/t. 



( « \ . » 



•-i^ 



Ich, gibt Äiilass zum Auftreten anologer Scheinprobleme^ 
deren Kern im Folgenden kurz angegeben werden soll. Die 



LW ^ 



— 6 — 

p ^ ■ • f 

meinsten Abstractionen sich erheben, oder ins Einzelne sich 
Vertiefen. Das Thier besitzt diese Fähigkeit in viel gerin- 
gerem Grade. Es stellt sich nicht auf einen Standpunkt, (es 
wird meist durch die Eindrücke auf denselben gestellt.) Der 
Säugling, welcher den Vater mit dem Hut nicht erkennt^ 
der Hund, der durch den neuen Kock des Herrn irre wird,- 
unterliegen im Wmeretreit der Standpunkte. Wer wäre nie 
in einem ähnlichen Falle unterlegen? Auch der philosophi- 
rende Mensch kg-nn gelegentlich unterliegen, wie das ange-^^ - 
führte wunSeruc&e Problem lehfll Besondere . Umstände 
. scheinen noch für die BCTec1iti|g^ig des (^rwahnteir Probleme» 
zu sprechen. Farben, Töne, Düfte der Körper sind flüchtig. 
Es bleibt als beharrlicher nicht leicht verschwindender Kern 
das Tastbare zurück, welches als Träger der daran gebunde- 
nen flüchtigeren Eigenschaften erscheint. Die Gewohnheit 
h ält nun den Gedanke n an einen s olchen Kern fest> 
auch wenn sich schon die Erkenntniss Bahn gebrochen 
hat, dass Sehen, Hören, Riechen und Tasten durch- 
^ aus ^verwandt' sind. Hiezu kommt noch, dass dem R äum- 

lio. hen nT }(\ 7pitlir.hftTi_^ i n Folge der eig ftnthiimlio.|ip.n 
grossen Entwic klung 4 ^r mfto.hani?^(>.]ip.n Physik eine Art 
höherer Realität gegenüber den Farben. Tönen^ Düft en 

'?. zugescEfieben mroTy^ entsprechend erscheint das zeit- 
liche und räumliche Band von Farben, Tönen, Düften re- 

/ a 1 e r als diese selbst. Die Physiologie der Sinne legt aber 
klar, dass Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen 
genannt werden können als Farben und Töne. Hievon 
später. 

Auch das. Ich, so wie das Verhältniss der Körper zum 



» • (. 



— 7 — 

Complexe von Farben, Tönen u. s. w., welche m^n gewöhn- 
lieh Körper nennt, bezeichnen wir der Deutlichkeit wegen 
mit A, B, C . . . . , den Complex, der unser Leib heisst, 
und der ein Theil der ersteren ist, nennen wir K, L, M . . . , 
den Complex von Willen, Erinnerungsbildern u. s, w. stellen 
wir durch a, /?, y . . . . dar. Gewöhnlich wird nun der 
Complex a/^y...KLM...aJs Ich dem Complex ABC 
. . . als Körperwelt gegenübergestellt, züweücn wird auch 
«/? y .... als Ich. K L M .... A B C .... als Kör- 
perwßlt^ ziKammengefasst. Zunächst erscheint ABC.... 
als unälSißfi&fgig vom Ich und diesem(selb'st9tändig gegenüber 
stehend^ Diese Unab^jiängigkeit ist nur relativ, und hält vor 
gfereigerter ÄÖfffi'^fesamkeit nicht Stand. In dem Complex 
a ß y , , . kann sich allerdings manches ähderio, ohne dass 
an A B C . . . . viel bMierlclich wird, ebenso umgekehrt.^- 
Viele Aenderungen in a ß y , . . gehen aber durch Aeude- . 
rungen in K L M . . . . nach ABG.... über und um- 
gekehrt. (Wenn z. B. lebhafte Vorstellungen in Handlungen " 
ausbrechen, oder die Umgebung in unserm Leib merkliche 
Aenderungen velf^iifesst.) Hiebei scheint K L M . . . . 
mit a ß y . . . . und mit ABG.... stärker zusammen- 
zuhängen, als diese untereinander. Diese VefTiältnisse finden 
eben in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen ihren Aus- 
druck. 

Genau genommen zeigt sich aber, dass A B G . . . . i m - 
m e r durch K L M . . . . mitbestimmt ist. Ein Würfel wird, 
wenn er nahe, gross, wenn er fern, klein, mit dem rechten 
Auge anders als mit dem linken, gelegentlich doppelt, bei 
geschlossenen Augen gar nicht gesehen. Die Eigenschaften 
eines und desselben Körpers erscheinen also durch den Leib 
modificirt, sie erscheinen durch denselben bedingt. Wo ist 
denn aber derselbe Körper, der so verschieden er- 



H i 



— 8 — 

scheint? Alles was man sagen kann ist, dass verschiedene 
A B C . . . . an verschiedene K L M gebunden sind^). 

Wir sehen einen Körper mit einer Spitze S. Wenn wir 
S. berühren, zu unserm Leib in Beziehung bringen, erhalten 
wir einen Stich. Wir können S. sehen, ohne den Stich zu 
fühlen. Sobald wir aber den Stich fühlen, werden wir S 
finden. Es ist also die sichtbare Spitze ein bleibender 
Kern, an den sich der Stich nach Umständen wie etwas 
Zufälliges anschliesst. Bei der Häufigkeit analoger Vor- 



kommnisse gewöhnt man sich endlich, alle EigenscE äften 
der Körper als von bleibenden Kernen ausgehende durch V er- 
mittlung des Leibes dem Ich beigebrachte ^ Wi rkungen ^ , die 
wir E mpfindun gen nennen, anzusehen. Hiermit verlieren 
aber diese Kerne den ganzen sinnlichen Inhalt, werden zu 
blossen Gedankensymbolen. Es ist dann richtig, dass die 
'/ Welt nur ang nngftrn "F.Tpp findungen besteht . Wir wissen 
aber dann eben nur von den Empfindungen, und die An- 
nahme jener Kerne, so wie einer Wechselwirkung derselben, 
aus welcher erst die Empfindungen hervorgehen würden, er- 



2) Ich habe diesem Gedanken vor langer Zeit (Vicrteljahrsschrift für 
Psychiatrie. Leipzig und Neuwied 1868 „über die Abhängigkeit der Netz- 
hautstellen von einander") in folgender Weise Ausdruck gegeben: Der 
Ausdruck „Sinnestäuschung" beweist, dass man sich noch nicht recht zum 
BeTVTisstsein gebracht, oder wenigstens noch nicht nöthig gefunden hat 
dies Bewusstsein auch in der Terminologie zu bekunden, dass die 
Sinne weder falsch noch richtig zeigen. Das einzig Eichtige, 
was man von den Sinnesorganen sagen kann, ist, dass sie unter ver- 
schiedenen Umständen verschiedene Empfindungen und 
W^ahrnehmungen auslösen. Weil diese „Umstände" so äusserst 
mannigfaltiger Art, theils äussere (in den Objecten gelegene), theils innere 
(in den Sinnesorganen sitzende), theils innerste (in den Centralorganen 
thätige) sind, kann es allerdings den Anschein haben, wenn man nur auf 
die äussern Umstände Acht hat, dass das Organ ungleich unter gleichen 
Umständen wirkt. Die ungewöhnlichen Wirkungen pflegt man nun Täu- 
schungen zu nennen. 



— 9 — 

weist sich als gänzlich müssig und überflüssig. Nur dem 
lalben Kealismus oder dem halben Kriticismus kann 
dne solche Ansicht zusagen. 

6. 

Gewöhnlich wird der Complex a/^y...KLM... 
als Ich dem Complex ABC.... gegenübergestellt. Nur 
jene Elemente von ABC...., welche a ß y , , , . stär- 
ker alteriren, wie einen Stich, einen Schmerz pflegt man 
bald mit dem Ich zusammenzufassen. Später zeigt sich aber 
durch Bemerkungen der oben angeführten Art, dass das Recht, 
ABC ._._^ . zum Ich_ zu zählen,_ nirgfends auf hört. Dem 
entsprechend kann das^ Ich so erweite rt werden^j d ass es 
s chliesslich die ganze Welt umfasst^V Das Ich i st nicht 

scharf abgPffrftnzt.^ dift ^^'^r^'7^ iQ^ »ziOTnUpTi nTihpQtiypTnf_ nnH 

will kührlich verschiebba r. Nur indem man dies verkennt, 
die Grenze unbewusst enger und zugleich auch weiter zieht, 
entstehen im Widerstreit der Standpunkte die metaphysischen 
Schwierigkeiten. 

So bald wir erkannt haben, dass die vermeintlichen Ein- 
heiten „Körper", „Ich" nur Nothbehelfe zur vorläufigen 
Orientirung und für bestimmte praktische Zwecke sind (um die 
Körper zu ergreifen, um s i c h vor Schmerz zu wahren u. s. w.), 
müssen wir sie bei vielen weitergehenden wissenschaftlichen 



3) Wenn ich sage, der Tisch, der Baum u. s. w. sind meine Empfin- 
dungen, so liegt darin, der Vorstellung des gemeinen Mannes gegenüher, 
<jine wirkliche Erweiterung des Ich. Aber auch nach der Gefiihlsseite 
ergibt sich eine solche Erweiterung für den Virtuosen, der sein Instru- 
ment fast so gut beherrscht als seinen Leib, für den gewandten Eedner, 
in dem alle Augenaxen convergiren, und der die Gedanken seiner Zuhörer 
leitet, für den kräftigen Politiker, der seine Partei mit Leichtigkeit führt 
u. s. w. — In Depressionszuständen hingegen, wie sie nervöse Menschen 
zeitweilig zu ertragen haben, schrumpft das Ich zusammen. Eine Wand 
scheint es von der Welt zu trennen. 



lO — 



Untersuchungen als unzureichend und unzutreffend auf- 
geben. Der Ge^satz zwischen Ich und Welt, Empfindung 
o der Ersch einung und Ding fällt dann weg, und es hanSelt 
sich l ediglich u m den Zusammenhang der Elemente 
et ß y . . ^ . A B C . . . ._KL_M . . . ., für welchen eben 
dieser Gegensatz nur ein theilweise zutreffender unvollstän- 
diger Ausdruck war. Dieser Zusammenhang ist nichts wei- 
ter als die Verknüpfung jener Elemente mit andern gleich- 
artigen Elementen (Zeit und Kaum). Die Wissenschaft hat 
ihn einfach anzuerkennen, und sich in demselben zu ori- 
entiren, anstatt die Existenz desselben erklären zu wollen. 
Bei obei*flächlicher Betrachtung scheint der Complex 
a ß y , , . aus viel flüchtigeren Elementen zu bestehen, 
als A B C . . . . und K L M . . . . , in welchen letzteren 
die Elemente stabiler und in mehr beständiger Weise 
(an feste Kerne) geknüpft zu sein scheinen. Obgleich bei 
weiterem Zusehen die Elem^nta aller Comp lexe sich al& 
C 1j:i Pi h n r t j c erweisen, so schleicht_sich doch auch nach 
dieser Erkenntniss die äl tere Vorstellung ei ges Gegensatzes 
von Körpfif und Geist leicht wieder ein. Der Spiritualist 
fühlt wohl gelegentlich die Schwierigkeit, seiner vom Geist 
geschaffenen Körperwelt die nöthige Festigkeit zu geben, dem 
Materialisten wird es sonderbar zu Muth, wenn er die Kör- 
perwelt mit Empfindung beleben soll. Der durch Ueber- 
legung erworbene monistische Standpunkt wird durch 
die älteren stärkeren instinctiveu Vorstellungen leicht wieder 
getrübt. 

7. 

Die bezeichnete Schwierigkeit wird besonders bei folgen- 
der Ueberlegung empfunden. In dem Complex ABC..., 
den wir als Körperwelt bezeichnet haben, finden wir als 



— II — 



Theil nicht nur unsern Leib K L M . . . . , sondern auch 
die Leiber anderer Menschen (oder Thiere) K' L' M' . . . . , 
K" L" M" . . . . , an welche wir nach der Analogie dem 
Gomplex a /? y . . . . ähnliche a' /?' y' . . . . , a" /?" 7" . . . . 
gebunden denken. So lange wir uns mit K' L' M' . . . . 
beschäftigen, befinden wir uns in einem uns vollständig ge- 
läufigen, uns überall sinnlich zugänglichem Gebiet. Sobald 
wi r abe r nach den Empfindung en oder Gefühlen fragen, die 
dem Leib K' L' M' .... zugehören, fi nden wir diese lben 
i n dem sinnlichen Gebiet ni cht mehr vor , wir^ denken sie 
hinzu . Nicht nur das Gebiet, auf welches wir uns da bege- 
ben, ist uns viel weniger geläufig, sondern auch der Ueber- 
gang auf dasselbe ist verhältnissmässig unsicher. Wir haben 
das Gefühl, als sollten wir uns in einen Abgrund stürzen *). 
Wer immer nur diesen Gedanken weg einschlägt, wird das 
Gefühl der Unsicherheit, das als Quelle von Scheinproblemen 
sehr ergiebig ist, nie vollständig los werden. 

Wir sind aber auf diesen W^eg nicht beschränkt. Wir 
betrachten zunächst den gegenseitigen Zusammenhang der 



4) Als ich in einem Alter von 4— 5 Jahren zum erstenmal vom Lande 
nach Wien kam, und von meinem Vater auf die Bastei (die ehemalige 
Stadtmauer) geführt wurde, war ich sehr überrascht, im Stadtgraben 
unten Menschen zu sehen, und konnte nicht begreifen, wie dieselben von 
meinem Standpunkt aus hatten hinunter gelangen können, denn der Ge- 
danke eines andern möglichen Weges kam mir gar nicht in den Sinn. 
Dieselbe Ueberraschung beobachtete ich nochmals an meinem etwa 3jäh- 
rigen Knaben bei Gelegenheit eines Spazierganges auf der Prager Stadt- 
mauer. Dieses Gefühls erinnerte ich mich jedesmal bei der im Text 
bezeichneten Ueberlegung, und gern gestehe ich, dass mein zufälliges Er- 
lebniss bei Befestigung meiner vor langer Zeit gefassten Ansicht über 
diesen Punkt wesentlich mitgewirkt hat. Die Gewohnheit, materiell und 
psychisch stets dieselben Wege zu gehen, wirkt sehr desorientireud. Ein 
Kind kann beim Durchbrechen einer Wand im längst bewohnten Hause 
eine wahre Erweiterung der Weltanschauung empfinden, und eine kleine 
wissenschaftliche Wendung kann sehr aufklärend wirken. 



— 13 — 



Elemente des Complexes ABC.... ohne auf KL M . . . . 
(unsern Leib) zu achten. Jede physikalische Untersuchung 
ist von dieser Art. Eine weisse Kugel fällt auf eine Glocke ; 
es klingt. Die Kugel wird gelb vor der Natrium-, roth vor 

der Lithiumlampe. Hier scheinen die Elempintp .^A. JUC ) 

niif im tftreinand ftr 7usamTTf^p.n7nhängPnj von unserm Leib 
(K L M . . . .) unabhängig zu sein. Nehmen wir aber San- 
tonin ein, so wird die Kugel auch gelb. Drücken wir ein 
Auge seitwärts, so sehen wir zwei Kugeln. Schliessen wir 
die Augen ganz, so ist gar keine Kugel da. Durchschneiden 
/ wir den Gehörnerv, so klingt es nicht. Die Elemente 
I ABG.... hängen also nicht nur untereinande r sondern 
\auch mit K L M . . . . zusammen. Insofeni, und nur in- 
sofern, n^ngiL^wir A R C . . . . E mpf indu nge n, und 
betrachten wir A B C .... als zum Ich gehörig. Auf die- 
sem Wege finden wir also nicht die vorher bezeichnete Kluft 
zwischen Körpern und Empfindungen, zwischen aussen und 
innen, zwischen der materiellen und geistigen Welt^). Alle 
Elemente ABG....KLM.... bilden nur Ce i n> zu- 
s ammenhängende Masse , welche an jedem Element angefasst 
ganz in Bewegung geräth, nur dass eine Störung bei 

K L M . . . . viel weiter und tiefer greift, als bei A B C 

Ein Magnet in unserer Umgebung stört die benachbarten 
Eisenmassen, ein stürzendes Felsstück erschüttert den Boden, 
das Durchschneiden eines Nerven aber bringt das ganze 
System von Elementen in Bewegung^). 



5) VergL meine Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfin- 
dungen. Leipzig. Engelmann 1875. S. 54. 

6) Ganz unwillkürlich führt dies Verhältniss zu dem Bilde einer 
zähen Masse, welche an mancher Stelle (dem Ich) fester zusammenhängt. 
Oft habe ich mich dieses Bildes im Vortrage bedient. 



— 13 — 

8. 

So besteht also die grosse Kluft zwischen physikalischer 
und psychologischer Forschung nur für die gewohnte stereo- 
type Betrachtungsweise, y^jnpi Farhft ist ein physikalisches^ ^ 
Object, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der be- 
leuchtenden Lichtquelle (andern Farben, Wärmen, Bäumen 
u. s. w.) achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit 
von der Netzhaut (den Elementen K L M . . . .) so ist sie 
ein psychologisches Object, eine Empfindung. Nicht der 
Stoff sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Ge- j 
bieten verschieden. 

Sowohl wenn wir von der Beobachtung fremder Men- 
schen- oder Thierleiber auf deren Empfindungen schliessen, 
als auch, wenn wir den Einfluss des eigenen Leibes auf 
unsere Empfindungen untersuchen, müssen wir eine beob- 
achtete Thatsache durch Analogie ergänzen. Diese Ergän- 
zung fällt aber viel sicherer und leichter aus, wenn sie etwa 
nur den Nervenvorgang betrifft, den man am eignen Leib 
nicht vollständig beobachten kann, wenn sie also in dem ge- 
läufigem physikalischen Gebiet spielt, als wenn sich die Er- 
gänzung auf Psychisches erstreckt. Sonst besteht kein 
wesentlicher Unterschied. 

9. 

Die dargelegten Gedanken erhalten eine grössere Fes- 
tigkeit und Anschaulichkeit, wenn man dieselben nicht bloss 
in abstracter Form ausspricht, sondern direkt die Thatsachen 
in's Auge fasst, welchen sie entspringen. Liege ich z. B. 
auf einem Ruhebett, und schliesse das rechte Auge, so bietet 
sich meinem linken Auge das Bild der umstehenden Figur 1. 
In einem durch den Augenbrauenbogen , die Nase und den 
Schnurrbart gebildeten Rahmen erscheint ein Theil meines 



(' 



Körpers, so weit er sichtbar ist, und dessen Umgebung t). 
Mein Leib untei-scheidet sich von den andern menschlichen 




Figur 1. 

Leibern nebst dem ürastaude, dass jede lebhaftere Bewegungs- 
vorstellung sofort in dessen Bewegung ausbricht, dass dessen 
Berührung auffallendere Veränderungen bedingt als jene 
anderer Körper, dadurch dass er nur theilweise und insbe- 
sondere ohne Kopf gesehen wird. Beobachte ich ein Element 

7) Von dem binocularea Gesichtsfeld, das mit seiner eigen thümlichen 
Stereoacopie jedermann geläufig ist, das aber achwieriger zu besolireiben 
und dorch eine ebene Zeichnung nicht darstellbar ist, wollen wir hier 
absehen. 



— 15 — 

A im Gesichtsfelde, und untersuche dessen Zusammenhang 
mit einem andern Element B desselben Feldes, so komme 
ich aus dem Gebiet der Physik in jenes der Physiologie oder 
Psychologie, wenn B, um den treffenden Ausdruck anzu- 
wenden, den ein Freund beim Anblick dieser Zeichnung ge- 
legentlich gebraucht hat®), die Haut passirt. Aehnliche 
Ueberlegungen wie für das Gesichtsfeld lassen sich für das 
Tastfeld und die Wahmehmungsfelder der übrigen Sinne 
anstellen ^). 

10. 
Es ist schon auf die Verschiedenheit der Elementen- 
gruppen, die wir mit ABG.... und a /? y .... be- 
zeichnet haben, hingewiesen worden. In der That, wenn wii^ 
einen grünen Baum vor uns sehen, oder uns an den grü- 
nenBaum erinnern, uns denselben vorstellen, so wissen 
wir diese beiden Fälle ganz wohl zu unterscheiden. Der 
vorgestellte Baum hat eine viel weniger bestimmte viel mehr 
veränderliche Gestalt, sein Grün ist viel matter und flüch- 
tiger, und er erscheint vor allem deutlich in einem ande- 
ren Feld. Eine Bewegung, die wir ausführen wollen, ist 
immer nur eine vorgestellte Bewegung, und erscheint in 
einem andern Feld als die ausgeführte Bewegung, welche 
übrigens immer erfolgt, wenn die Vorstellung lebhaft genug 



8) Herr Ingenieur J. Popper in Wien. 

9) Zur Entwerfung dieser Zeichnung bin ich vor etwa 17 Jahren 
durch einen drolligen Zufall veranlasst worden. Ein nunmehr verstorbe- 
ner Herr v. L., dessen wahrhaft liebenswürdiger Character über manche 
Excentricität hinweg half, nöthigte mich eine Schrift von Krause zu 
lesen. In derselben findet sich folgende Stelle: 

„Aufgabe: Die Selbstschauung „Ich" auszuführen. 

Auflösung: Man führt sie ohne weiters aus." 
Um nun dieses philosophische „Viel Lärm um Nichts" scherzhaft zu illu- 
striren, und zugleich zu zeigen, wie man wirklich die Selbstschauung „Ich" 
.ausführt, entwarf ich die obige Zeichnung. 



— i6 — 

wird. Die Elemente A oder a erscheinen in einem verschie- 
denen Feld, heisst nun, wenn man auf den Grund geht,, 
nichts anderes, als dass sie mit verschiedenen andern Ele- 
menten verknüpft sind. So weit wären also die Grund- 
bestandtheile in A B C . . . . a ß y dieselben (Farben, 
Töne, Räume, Zeiten, Bewegungsempfindungen, Innervatio- 
nen . . . O^ uJid nur die Art ihrer Verbindung verschieden. 
Schmerz und Lust pflegt man als von den Sinnesempfin- 
dungen verschieden zu betrachten. Allein nicht nur die 
Tastempfindungen sondern auch alle übrigen Sinnesempfin- 
dungen können allmälig in Schmerz und Lust übergehen. 
Auch Schmerz und Lust können mit Recht Empfindungen 
genannt werden. Sie sind nur nicht so gut analysirt und 
so geläufig als die Sinnesempfindungen. Schmerz- und Lust- 
empfindungen, mögen sie noch so schattenhaft auftreten, bil- 
den auch den wesentlichen Inhalt aller sogenannten Gefühle. 
So mit setzen sich die Wahrnehmungen so wie die Vorstel- 
lungen . der Wil le ^ di^ (Ipfühle, kurz die ganze innere und 
nn^Rfirg W- ftif.j aup p^"^^ gftnngftTi Zahl. jTXHi .gMchartigen_ Ele- 
menten in bald Süchtigerer bjald. festerer. Verbindung^ zu- 
sammen. Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfindungen. 
Da aber in diesem Namen schon eine einseitige Theorie 
liegt, so ziehn wir vor, kurzweg von Elementen zu spre- 
chen, wie wir schon gethan haben. Alle Forschung geht auf 

die Ermittlung der Verknüpfung dieser Elemente aus ^®). 

« 

11. 

Dass aus diesem Elementencomplex, welcher im Grunde 
nur einer ist, die Körper und das Ich sich nicht in be- 



10) VergL die allgemeine Anmerkung am Schluss meiner Schrift: 
Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arheit 
Prag. Calve 1872. 



— 17 — 

stimmter für alle Fälle zureichender Weise abgrenzen lassen, 
wurde schon gesagt. Die Zusammenfassung der mit Schmerz 
und Lust am nächsten zusammenhängenden Elemente zu 
einer ideellen denkökonomischen Einheit, dem Ich, hat die 
höchste Bedeutung für den im Dienste des schmerzmeidenden 
und lustsuchenden Willens stehenden Intellect. Die Ab- 
grenzung des Ich stellt sich daher instinctiv her, wird ge- 
läufig und befestigt sich vielleicht sogar durch Vererbung. 
Durch ihre hohe praktische Bedeutung nicht nur für das 
Individuum sondern für die ganze Art machen sich die Zu- 
sammenfassungen „Ich" und „Körper" instinctiv geltend, und 
treten mit elementarer Gewalt auf. In besondern Fällen \ 

fl 

aber, in welchen es sich nicht um praktische Zwecke handelt, 
sondern die Erkenntniss Selbstzweck wird, kann sich diese 
Abgrenzung als, ungenügend, hinderlich, unhaltbar erweisen^'). 
Nicht das Ich ist das P ^^^'^ älT , ^on^^rn ^^> TriATYiAi^fo 
(Empfindungen). ,Die Elemente bilden das JLdL Ich 
empfinde Grün, will sagen, dass das Element Grün in einem 
gewissen Complex von andern Elementen (Empfindungen, Er- 
innerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfin- 
den, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr 



11) So kann auch das Standesbewusstsein und das Standesvorurtheil, 
das Gefühl für Nationalität, der bornirteste Localpatriotismus für gewisse 
Zwecke sehr wichtig sein. Solche Anschauungen werden aber gewiss 
nicht den weitblickenden Forscher auszeichnen, wenigstens nicht im Mo- 
mente des Forschens. Alle diese egoistischen Anschauungen reichen nur 
für praktische Zwecke aus. Natürlich kann der Gewohnheit auch der 
Forscher unterliegen. Die kleinen gelehrten Lumpereien, das schlaue 
Benützen und das perfide Verschweigen, die Schlingbeschwerden bei dem 
unvermeidlichen Worte der Anerkennung und die schiefe Beleuchtung 
der fremden Leistung bei dieser Gelegenheit zeigen hinlänglich, dass 
auch der Forscher den Kampf ums Dasein kämpft , dass auch die Wege 
dor Wissenschaft noch zum Munde fülireu, und dass der reine Erkennt- 
nisstrieb bei unsern heutigen socialen Verhältnissen noch ein Ideal ist. 



— i8 — 

in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist 
alles gesagt. Nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle 
Einheit hat aufgehört zu bestehen * ^ ). 

Genügt uns die Kenntniss des Zusammenhanges der 
Elemente (Empfindungen) nicht, und fragen wir, „wer hat 
diesen Zusammenhang der Empfindungen, wer empfindet"?, 
so unterliegen wir der alten Gewohnheit, jedes Element (jede 
Empfindung) einem unanalysirten Complex einzuordnen, 
wir sinken hiermit unvermerkt auf einen älteren tiefern 
und beschränkteren Standpunkt zurück ^3). 



12) Das Ich ist keine unveränderliche bestimmte scharf begrenzte 
Einheit. Nicht auf die Unveränderlichkeit, nicht auf die be- 
stimmte Unterscheidbarkeit von andern und nicht auf die scharfe 
Begrenzung kommt es an , denn alle diese Momente variireu schon 
im individuellen Leben von selbst, und deren Veränderung wird vom In- 
dividuum sogar angestrebt. "Wichtig ist nur die Continuität. 
Diese Ansicht stinunt vortreflFlich mit derjenigen, zu welcher kürzlich 
Weismann durch biologische Untersuchungen (zur Frage der Unsterb- 
lichkeit der Einzelligen. Biolog. Centralblatt, IV Bd. Nr. 21, 22) gelangt 
ist. (Vergl. besonders S, 654 und 655, wo von der Theilung des Indivi- 
duums in zwei gleiche Hälften die Eede ist.) Die Continuität ist 
aber nur ein Mittel den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. 
Dieser Inhalt und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber 
nicht auf das Individuum beschränkt. Bis auf geringfügige- werthloso 
persönliche Erinnerungen bleibt er auch nach dem Tode des IndiWduums 
in andern erhalten. Das Ich ist unrettbar. Theils diese Einsicht, theils 
die Furcht vor derselben, führen zu den absonderlichsten pessimistischen 
und optimistischen, religiösen und philosophischen Verkehrtheiten. Der 
einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, 
wird man sich auf die Dauer nicht verschliessen können. Man wird dann 
auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach 
variirt, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in- einen 
Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, theilweise oder ganz 
fehlen kann, nicht mehr den hohen Werth legen. Man >vird dann auf 
individuelle Unsterblichkeit gern verzichten, und nicht auf das Neben- 
sächliche mehr Werth legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch 
zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche 
^klissachtung des fremden Ich und Ueberschätzung des eigenen ausschliesst. 

13) Die Gewohnheit, den unanalysirten Ich-Complex als eine untheil- 



— 19 — 

Man komme uns nicht mit der sogenannten Einheit des 
Bewusstseins. Da der_ scheinbare. G egensatz der w i r k 1 i ■ 

r.hftTi und der em pfunden en Welt nur in dftr^Rfitmrli. 

t ungsweise liegt, eine eigentliche Kluft aber nicht existirt, 
so ist ein mannigfaltiger zusammenhängender Inhalt des Be- 
wusstseins um nichts schwerer zu verstehen als der mannig- 
faltige Zusammenhang in der Welt. 

W^oUte man das Ich als eine reale Einheit ansehen, 
so käme man nicht aus dem Dilemma heraus, entweder eine 
Welt von unerkennbaren Wesen demselben gegenüberzustellen 
(was ganz müssig und ziellos wäre), oder die ganze Welt, 
die Ich anderer Menschen eingeschlossen, nur als in unserm 
Ich enthalten anzusehen (wozu man sich ernstlich schwer 
entschliessen wird). 



bare Einheit zu behandeln, äussert sich wissenschaftlich oft in ei<?enthttni- 
licher Weise. Aus dem Leibe wird zunächst das Nervens3'steni als Sitz 
der Empfindungen ausgesondert. In dem Nervensystem wählt man wie- 
der das Hirn als hipzu geeignet aus, und sucht schliesslich, die vermeint- 
liche psychische Einheit zu retten, im Hirn noch nach einem Punkt 
als Sitz der Seele. So rohe Anschauungen werden aber schwerlich ge- 
eignet sein , auch nur ui den gröbsten Zügen die Wege der künftigen 
Untersuchung über den Zusammenhang des Physischen und Psychischen 
vorzuzeichnen. Dass die verschiedenen Organe der Empfindung und der 
Erinnerung mit einander physisch zusammenhängen und durch ein- 
ander leicht erregt werden können, ist w^ahrscheinlich die Grundlage 
der „psychischen Einheit". Ich hörte einmal ernstlich die Frage discu- 
tiren: „Wieso die Wahrnehmung eines grossen Baumes in dem kleinen 
Kopfe des Menschen Platz ßinde"? Besteht auch dieses Problem 
nicht, so wird doch durch die Frage die Verkehrtheit fühlbar, die man 
leicht begeht, indem man sich die Empfindungen räumlich in das 
Hirn hineindenkt. Ist von den Empfindungen eines andern Menschen 
die Rede, so haben diese in meinem optischen oder überhaupt physischen 
Raum natürlich gar nichts zu schaffen; sie sind hinzugedacht, und ich 
denke sie causal, aber nicht räumlich an das beobachtete oder vor- 
gestellte Menschenhirn gebunden. Spreche ich von m e i n e n Empfindun- 
gen, so sind dieselben nicht räumlich in meinem Kopfi?, sondern m(un 
„Kopf t heilt vielmehr mit ihnen dasselbe räumliche Feld, wie es oben 
dargestellt wurde. (Vergl. das über Fig. 1 Gesagte.) 

2* 



— 20 — 



Fasst man aber ein Ich nur als eine praktische 
Einheit für eine vorläufige orientirende Betrachtung, als eine 
stärker zusammenhängende Gruppe von Elementen., welche 
mit andern Gruppen dieser Art schwächer zusammenhängt, 
so treten Fragen dieser Art gar nicht auf, und die Forschung 
hat freie Bahn. 

In seinen philosophischen Bemerkungen sagt Lichten- 
berg: „Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewusst, die 
nicht von uns abhängen; andere^ glauben wir wenigstens, 
hingen von uns ab;. wo ist die Grenze? Wir ken nen nur 
allein die Existenz uns e rer Empfi ndungen. Vorstellungen und 
Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: 
es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald 
man es durchleb denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, 
zu postuliren, ist praktisches Bedürfniss". Mag auch der 
Weg, auf dem Lichtenberg zu diesem Resultate gelangt, 
von dem unsrigen etwas verschieden sein, dem Resultate 
selbst müssen wir zustimmen. 

12. 

Ni cht die Körper erzeuge n Empfindungen , sondern 
Empfindungscomplex fi (Flpmfintp.nmmpIpYft) bilden die Kör-, 
per. Erscheinen dem Physiker die Körper als das Bleibende, 
Wirkliche , die Empfindungen hingegen als ihr flüchtiger 
vorübergehender Schein, so vergisst er, d ass alle ^Körp^ nur 
^e dankensymbole > f ür Empfi ndungsconi p)exft (Elementencom- 
plexe) sind. Die eigentliche nächste und letzte Grundlage, 
welche durch physiologische Untersuchungen noch weiter zu 
erforschen ist, bilden auch hier die bezeichneten Elemente. 
Durch diese Einsicht gestaltet sich in der Psychologie und 
in der Physik manches viel durchsichtiger und öconomischer, 



— 2l — 

und durch dieselbe werden manche vermeintlichen Probleme 
beseitigt. 

Die Welt besteht also für uns nicht aus räthselhaften 
Wesen, welche durch Wechselwirkung mit einem andern 
ebenso räthselhaften Wesen, dem Ich, die allein zugäng- 
lichen Empfindungen erzeugen. Die Farbe ^^ , "^^^^i, pq^mo^ 
Zeiten . . . sind für uns die letzten F iftynep^^j ^^^^^i pppphon^n 
Zusammenhang wir zu erforschen haben ^^\ Bei dieser 



14) Ich habe es stets als besonderes Glück empfunden, dass mir sehr 
früh (in einem Alter von 15 Jahren etwa) in der Bibliothek meines Va- 
ters Kant 's „Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik" in die Hand 
fielen. Diese Schrift hat damals einen gewaltigen unauslöschlichen Ein- 
druck auf mich gemacht, den ich in gleicher Weise bei späterer philo- 
sophischer Leetüre nie mehr fühlte. Etwa zwei oder drei Jahre später 
empfand ich plötzlich die müssige Kolle, welche das „Ping an sich" spielt. 
An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt 
sammt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, 
nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion 
sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze 
Anschauung bestimmend geworden. . Uebrigens habe ich noch einen lan- 
gen und harten Kampf gekämpft, bevor ich im Stande war, die gewon- 
nene Ansicht auch in meinem Specialgebiete festzuhalten. Man nimmt 
mit dem WerthvöUen der physikalischen Lehren nothwendig eine bedeu- 
tende Dosis falscher Metaphysik auf, welche von dem, was beibehalten 
werden muss, recht schwer los geht, gerade dann, wenn diese Lehren 
geläufig .geworden. Auch die überkommenen instinctiven Auffassungen 
traten zeitweilig mit grosser Gewalt hervor, und stellten sich hemmend 
in den Weg. Erst durch abwechselnde Beschäftigung mit Physik und 
Physiologie der Sinne, sowie durch historisch-physikalische Studien habe 
ich (etwa seit 1863), nachdem ich den Widerstreit noch durch eine phy- 
sikalisch-psychologische Monadologie vergeblich zu lösen versucht hatte, 
in meinen Ansichten eine grössere Festigkeit erlangt. Ich mache keinen 
Anspruch auf den Namen eines Philosophen. Ich wünsche nur in der 
Physik einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort zu wechseln, 
braucht, wenn man in das Gebiet einer andern Wissenschaft hinüberblickt, 
da schliesslich doch alle ein Ganzes bilden sollen. Die heutige Molekular- 
physik entspricht dieser Forderung entschieden nicht. Was ich sage, habe 
ich vielleicht nicht zuerst gesagt. Ich will meine Darlegung auch nicht 
als eine besondere Leistung liinstellen. Vielmehr glaube ich, dass jeder 
l[beiläufig denselben Weg einschlagen wird, der in besonnener Weise auf 



22 



Forschung können wir uns durch die für besondere prakti- 
sche temporäre und beschränkte Zwecke gebildeten Zusam- 
menfassungen und Abgrenzungen (Körper, Ich, Materie, 
Geist . . . .) nicht hindern lassen. Vielmehr müssen sich bei 
der Forschung selbst, wie dies in jeder Special Wissenschaft 
geschieht, die zweckmässigsten Denkformen erst ergeben. 
Es muss durchaus an die Stelle der überkommenen instinc- 
tiven eine freiere, naivere, der entwickelten Erfahrung sich 
anpassende Auffassung treten. 

13. 

Die Wissenschaft entsteht immer durch einen Anpas- 
sungsprocess der Gedanken an ein bestimmtes Erfahrungs- 
gebiet. Das Resultat des Processes sind die Gedankenele- 
mente, welche das ganze Gebiet darzustellen vermögen. Das 
Resultat fällt natürlich verschieden aus, je nach der Art 
und der Grösse des Gebietes. Erweitert sich das Erfahrungs- 
gebiet, oder vereinigen sich mehrere bisher getrennte Ge- 
biete, so reichen die überkommenen geläufigen Gedankeu- 
elcmente für das erweiterte Gebiet nicht mehr aus. Im 
Kampfe der erworbenen Gewohnheit mit dem Streben nach 
Anpassung entstehen die Probleme, welche mit der voU- 



eineni nicht zu beschränkten Wissensgebiet Umschau hält. Meinem Stand- 
punkt nahe liegt jener von Avenarius, den ich kürzlich kennen gelernt 
habe (Philosophie als Denken der Welt nach dem Princip des kleinsten 
Kraftmasses 1876). Auch Hering in seiner Rede über das Gedächt- 
niss (Ahnanach der Wiener Akademie 1870, S. 258) und J. Popper in dem 
schönen Buche „das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben" Leipzig 
1878 S. 62 bewegen sich in ähnlichen Gedanken. Vergl. auch meine Rede 
„über die öconomische Natur der physikalischen Forschung" (Almanach 
der Wiener Akademie 1882, S. 179 Anmerkung). Endlich muss ich hier 
noch auf die Einleitung zu W. Preyer's, „reine Empfindungslehre" 
sowie auf Riehl's Freiburger Antrittsrede S. 40 hinweisen. Und wahr- 
scheinlich müsste ich noch viel mehr oder weniger Verwandtes anführen, 
wenn ich eine ausgebreitetero Literaturkenntniss hätte. 



- 23 - 

endeten Anpassung verschwinden, um andern, die einstweilen 
auftauchten, Platz zu machen. 

Dem blossen Physiker erleichtert der Gedanke eines Kör- 
pers die Orientirung, ohne störend zu werden. Wer rein prakti- 
sche Zwecke verfolgt, wird durch den Gedanken des Ich wesent- 
lich unterstützt. Denn ohne Zweifel behält jede Denkform, 
welche unwillkürlich oder willkürlich für einen besondern 
Zweck gebildet wurde, für eben diesen Zweck einen bleiben- 
den Werth. Sobald aber Physik und Psychologie sich berühren, 
zeigen sich die Gedanken des einen Gebietes als unhaltbar 
in dem andern. Dem Bestreben der gegenseitigen Anpassung 
entspringen die mannigfaltigen Atom- und Monadentheorieen, 
ohne doch ihrem Zweck genügen zu können. Die Probleme 
erscheinen im Wesentlichen beseitigt, die erste und wichtigste 
Anpassung demnach ausgeführt, we nn wir die Empfindunge n 
(in dem oben bezeichneten Sinne) al s W^Uftl fimfintp Rnsp.hPTi^ 
Diese Grundanschauung kann (ohne sich als eine Philosophie 
für die Ewigkeit auszugeben) gegenwwtig allen Erfahrungs- 
gebieten gegenüber festgehalten w^erden, sie ist also diejenige, 
welche mit dem geringsten Aufwand, öconomischer als eine 
andere, dem temporären Gesammt wissen gerecht 
wird. Diese Grundanschauung tritt auch im Bewusstsein 
ihrer lediglich öconomischen Function mit der höchsten To- 
leranz auf. Sie drängt sich nicht auf in Gebieten, in w^elchen 
die gangbaren Anschauungen noch ausreichen. Sie ist auch 
stets bereit, bei neuerlicher Erweiterung des Erfahrungsge- 
bietes einer besseren zu weichen. 

Der philosophische Standpunkt des gemeinen Mannes, 
wenn man dessen naivem Realismus diesen Namen zuerken- 
nen will , hat Anspruch auf die höchste Werthschätzung. 
Derselbe hat sich ohne das absichtliche Zuthun des Menschen 
in unmessbar langer Zeit ergeben; er ist ein Naturproduct 



— 24 — 

und wird durch die Natur erhalten. Alles was die Philo- 
sophie geleistet hat, — die 1?iologische Berechtigung 

■ 

jeder Stufe, ja jeder Verirrung zugestanden — ist dagegen 
nur ein unbedeutendes ephemeres Kunstprodukt. Und wirk- 
lich sehen wir jeden Denker, jeden Philosophen, sobald er 
durch praktische Bedrängniss aus seiner einseitigen intel- 
lectuellen Beschäftigung vertrieben wird, sofort den allge- 
meinen Standpunkt einnehmen. 

Die „Vorbemerkungen" suchen auch keineswegs diesen 
Standpunkt zu discreditiren. Dieselben stellen sich nur die 
Aufgabe zu zeigen, warum und zu welchem Zweck wir 
den grössten Theil des Lebens diesen Standpunkt einnehmen, 
und warum, zu welchem Zweck und in welcher Kich- 
tung wir ' denselben vorübergehend verlassen müssen. 
Kein Standpunkt hat eine absolute bleibende Geltung; 
jeder ist nur wichtig für einen bestimmten Zweck. 



^^i^ 




Die Htiuptgeslchtspunkte für die Untersuchung der 

Sinne. 



1. 

Wir versuchen nun von dem gewonnenen Standpunkte 
einen orientirenden Ausblick für unsern besonderen Zweck. 

Hat der forschende Intellect durch Anpassung die Ge- 
wohnheit erworben, zwei Dinge A und B in Gedanken zu 
verbinden, so sucht derselbe diese Gewohnheit auch unter 
etwas veränderten Umständen nach Möglichkeit festzuhalten?^ 
Ueberall -wo A auftritt, wird B hinzugedacht. Man kann das 
sich hierin aussprechende Princip , welches in dem Streben 
nach Oeconomie seine Wurzel hat, welches bei den grossen For- 
schern besonders klar hervortritt, das Princip der Stetig- 
keit oder Continuität nennen. 

Jede thatsäcblich beobachtete Variation in der Verbin- 
dung von A und B, welche gross genug ist, um bemerkt zu 
werden, macht sich aber als Störung der bezeichneten Ge- 
wohnheit geltend, so lange, bis die letztere genügend modi- 
ficirt ist, um diese Störung nicht mehr zu empfinden. Man 
hätte z. B. sich gewöhnt, das auf die Grenze von Luft und 
Glas einfallende Licht abgelenkt zu sehen. Die Ablenkungen 
variiren aber von Fall zu Fall in merklicher Weise, und 
man kann die an einigen Fällen gewonnene Gewohnheit so 
lange nicht ungestört auf neu vorkommende Fälle übertragen. 



— 26 — 

l)is man im Stande ist, jedem besondern Einfallswinkel A 
einen besondern Brechungswinkel B zuzuordnen, was durch 
Auffindung des sogenannten Brechungsgesetzes , beziehungs- 
weise durch Geläufigwerden der in demselben enthaltenen 
Regel, erreicht ist. Es tritt also dem Princip der Stetigkeit 
ein anderes Princip modificirend entgegen ;' wir wollen es 
das Princip der zureichenden Bestimmtheit oder der 
zureichenden Differenzirung nennen. 

Das Zusammenwirken beider Principien lässt sich nun 
durch weitere Ausführung des berührten Beispieles recht 
gut erläutern. Um den Thatsachen gerecht zu werden, 
welche bei Aenderung der Farbe des Lichtes auftreten, hält 
man den Gedanken des Brechungsgesetzes fest, muss aber 
jeder besondern Farbe einen besonderen Brechungsexponenten 
zuordnen. Bald merkt man dann, dass man auch jeder be- 
sondern Temperatur einen besondern Brechungsexponenten 
zuordnen muss u. s. w. 

Dieser Process führt schliesslich zur zeitweiligen Be- 
ruhigung und Befriedigung, indem die beiden Dinge A und B 
so verbunden gedacht werden, dass jeder der augenblick- 
lichen Erfahrung zugänglichen Aenderung des einen eine 
zugehörige Aenderung des andern entspricht. Es kann 
der Fall eintreten , dass sowohl A als B sich als Com- 
plexe von Bestandtheilen darstellen, und dass jeder Be- 
standtheil von A einem Bestandtheil von B zugeordnet 
ist. Dies findet z. B. statt, wenn B ein Spectrum "und 
A die zugehörige Probe eines Gemenges ist, wobei je 
einem Bestandtheil des Spectrums je ein Bestandtheil der 
vor dem Spectralapparat verflüchtigten Probe unabhängig 
von den übrigen zugeordnet ist. Erst durch die vollständige 
Geläufigkeit dieses Verhältnisses kann dem Princip der zu- 
reichenden Bestimmtheit entsprochen werden. 



— 27 — 

2. 

Stellen wir uns nun vor, wir betrachten eine Farben- 
Empfindung B nicht in ihrer Abhängigkeit von der glühenden 
Probe A, sondern in ihrer Abhängigkeit von den Elementen 
des Netzhautprocesses N. Hierdurch ist nicht die Art, 
sondern nur die Richtung der Orientirung geändert, alles 
eben Besprochene verliert dadurch nicht seine Geltung, und 
die zu befolgenden Grundsätze bleiben dieselben. Und dies 
gilt natürlich für alle Empfindungen. 

Die Empfindung kann nun an sich, unmittelbar, psycho- 
logisch analysirt werden (wie dies Joh. Müller gethan hat), 
oder es können die ihr zugeordneten physikalischen (physio- 
logischen) Processe nach den Methoden der Physik unter- 
sucht werden (wie dies vorzugsweise die moderne Physiolo- 
genschule thut), oder endlich (was am weitesten führen wird, 
weil hierbei die Beobachtung an allen Punkten angreift, und 
eine Untersuchung die andere stützt) kann der Zusammen- 
hang des psychologisch Beobachtbaren mit dem zugehörigen 
physikalischen (physiologischen) Process verfolgt werden. 
Dieses letztere Ziel streben wir überall an, wo es erreichbar 
scheint. 

Mit diesem Ziel im Auge werden wir (Jem Princip der 
Continuität und jenem der zureichenden Bestimmtheit nur 
genügen können, wenn wir denj gleichen B (irgend einer 
Empfindung) immer und überall nur das gleiche N (denselben 
Nervenprocess) zuschreiben, zu jeder beobachtbaren Aende- 
rung von B aber eine entsprechende Aenderung von N auf- 
finden. Können wir B psychologisch in mehrere von 
einander unabhängige Bestandtheile zerlegen, so können wir 
nur in der Auffindung ebensolcher den ersteren entspre- 
chender Bestandtheile in N Beruhigung finden. Mit einem 
Worte , zu allen psychisch beobachtbaren Einzelheiten von 



— 28 — 

B haben wir die zugeordneten physikalischen Einzelheiten 

» 

von N aufzusuchen. 

Wir können also 'einen leitenden Grundsatz für die 
Untersuchung aufstellen, der als Princip des vollstän- 
digen Parallelismus des Psychischen und Phy- 
sischen bezeichnet werden mag. Nach unserer Grundan- 
schauung, welche eine Kluft zwischen den beiden Gebiete» 
(des Psychischen und Physischen) gar nicht anerkennt, ist 
dieses Princip beinahe selbstverständlich, kann aber auch 
ohne Hilfe dieser Grundanschauung als heuristisches 
Princip aufgestellt werden, wie ich dies vor Jahren gethaii 
habe '^). 

3. 

Zur Erläuterung des vielleicht etwas zu abstract aus- 
gesprochenen Grundsatzes mögen sofort einige Beispiele 
dienen. Ueberall wo ich Raum empfinde, ob durch das 
Gesicht, den Tastsinn oder auf andere Weise, werde ich 
einen in allen Fällen gleichartigen Nervenprocess als vor- 
handen anzunehmen haben. Für alle Zeitempfindung suppo- 
nire ich gleiche Nervenprocesse. 

Seile ich gleiche verschiedenfarbige Gestalten, so suche 
ich neben den verschiedenen Farbenempfindungen besondere 
gleiche Raumempfindungen und zugehörige gleiche Nerven- 
processe. Sind zwei Gestalten ähnlich (liefern sie theil weise 
gleiche Raumempfindungen), so enthalten auch die zugehörigen 



15) Vergl. meine Abhandlung „über die Wirkung der räumlichen 
Vertheilung des Lichtreizes auf die Netzhaut" (Sitzungsbericht der Wie- 
ner Akademie Bd. 52 Jahrg. 1865). Ferner: Eeichert's und Dubois' Ar- 
chiv 1865, S.- 634 und Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfin- 
dungeu. Leipzig. Eugelmann 1875. S. 63. — Auch in meiner Ausführung 
in Fichte's Zeitschrift für Philosophie, Bd. 46, Jahrg. 1865, S. 5 ist 
der Grundsatz implicite schon enthalten. 



— 29 — 

Nervenprocesse theilweise gleiche Bestandtheile. Haben zwei 
verschiedene Melodien gleichen Rhythmus, so besteht neben 
den verschiedenen Tonempflndungen in beiden Fällen eine 
gleiche Zeitempfindung mit gleichen zugehörigen Processen. 
Sind zwei Melodien in verschiedener Tonlage gleich, so ha- 
ben die Tonempfindungen und ihre physikalischen Bedingun- 
gen trotz der ungleichen Tonhöhe gleiche Bestandtheile. 
Kann die scheinbar unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Farben- 
empfindungen durch psychologische Analyse (Selbstbeobach- 
tung) auf 6 Elemente (Grundempfindungen) reducirt werden, 
so dürfen wir die gleiche Vereinfachung für das System der 
Nervenprocesse erwarten. Zeigt sich das System der Raum- 
Empfindungen als eine dreifache Mannigfaltigkeit, so wird 
sich auch das System der zugeordneten Nervenprocesse als 
eine solche darstellen. 

Dieses Princip ist übrigens mehr oder weniger be\yusst, 
mehr oder weniger consequent stets befolgt worden. Wenn 
z. B. Helmholtz^^) für jede Tonempfindung eine beson- 
dere Nervenfaser (mit dem zugehörigen Process) statuirt, 
wenn er den Klang in Tonempfindungen auflöst, die Ver- 
wandtschaft der Klänge auf den Gehalt an gleichen Ton- 
empfindungen (und Nervenprocessen) zurückführt, so liegt 
hierin eine Bethätigung des ausgesprochenen Principes. Die 
Anwendung ist nur keine vollständige, wie später gezeigt 
werden soll. Brewster^^) liess sich durch eine, wenn 



16) Helm hol tz, die Lehre von den Tonempfindungen. Braun- 
schweig. Vieweg. 1863. 

17)Brewster, a treatise on optics. London 1831. Brewster 
denkt sich das rothe , das gelbe und das blaue Licht über das ganze 
Sonnenspectrum reichend, jedoch in verschiedener Intensität vertheilt, so 



- 30 - 

auch mangelhafte, psychologische Analyse der Farbenempfin- 
dungen und unvollkommene physikalische Versuche ^^) ge- 
leitet, zu der Ansicht führen, dass den drei Empfindungen 
Roth, Gelb, Blau entsprechend auch physikalisch nur drei 
Lichtsorten existiren, und dass demnach die Newton'sche 
Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Lichtsorten mit 
continuirlich abgestuften. Brechungsexponenten falsch sei. 
Leicht konnte Brewster in den Irrthum verfallen, Grün 
für eine Mischempfindung zu halten. Hätte er aber über- 
legt, dass Farbenempfindungen ganz ohne physikalisches 
Licht auftreten können, so hätte er seine Folgerungen auf 
den Nervenprocess beschränkt, und New ton 's physikalische 
Aufstellungen, die ebenso wohl begründet sind, unangetastet 
gelassen. Th. Young hat diesen Fehler verbessert. Er 
hat erkannt, dass eine unbegrenzte Anzahl physikalischer 
Lichtsorten von continuirlich abgestuften Brechungsexponen- 
ten (und Wellenlängen) mit einer geringen Zahl von Farben- 
empfindungen und Nervenprocessen vereinbar ist, dass dem 
Continuum der Ablenkungen im Prisma (dem Continum der 
Raumempfindungen) eine discrete Zahl von Farbenempfindun- 
gen entspricht. Aber auch Young hat das ausgesprochene 
Princip nicht mit vollem Bewusstsein und nicht mit strenger . 
Consequenz angewandt, abgesehen davon, dass er sich bei 
der psychologischen Analyse noch durch physikalische Vor- 
urtheile beirren liess. Auch Young nahm zuerst Roth, 
Gelb, Blau als Grundempfindungen an, die er später durch 



dass für das Auge das Eoth an beiden Enden (am rothen und violetten), 
das Gelb in der Mitte, das Blau am brechbareren Ende hervortritt. 

18) Brewster meinte nämlich die Nuance von Newton für ein- 
fach gehaltener Spectralfarben durch Absorption ändern zu können, was, 
wenn es richtig wäre, die N e w t o n'sche Anschauung wirklich erschüttern 
würde. Er experimentirte jedoch, wie Helmholtz (Physiologische Optik) 
gezeigt hat, mit einem unreinen Spectrum. 



— 31 — 

einen physikalischen Irrthum Wollaston's verleitet, wie 
Alfred Mayer (in Hoboken) in einer trefflichen Arbeit 
gezeigt hat^^), durch Roth, Grün und Violett ersetzt hat. 
In welcher Richtung die Theorie der Farbenempfindung zu 
modificiren ist, welche seither durch Hering einen hohen 
Grad der Vollendung erreicht hat, habe ich vor Jahren an 
einem andern Ort angedeutet 2®). 



19) Philosophical Magazine. February 1876. p. 111. Wollaston 
beobachtete (1802) zuerst die später nach Fraunhofer benannten 
dunklen Linien des Sonnenspectrums, und glaubte sein schmales Spectrum 
durch die stärksten Linien in einen rothen , grünen und violetten Theil 
getrennt zu sehen. Er hielt diese Linien für Grenzen der physikalischen 
Farben. Young nahm diese Ansicht an, und setzte an die Stelle seiner 
Grundempfinduugen Koth, Gelb, Blau die Farben Koth, Grün, Violett. 
Bei der ersteren Aufstellung hielt also Young das Grün für eine Misch- 
empfindung, bei der zweiten aber dieses und Violett für einfach. — Die 
zweifelhaften Resultate, welche die psychologische Analyse hiernach liefern 
kann, könnten leicht den Glauben an ihre Brauchbarkeit überhaupt er- 
schüttern. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass man bei Anwendung 
eines jeden Principes in Irrthum verfallen kann. Die U e b u n g wird 
auch hier entscheidend sein. Der Umstand, dass die physikalischen Be- 
dingungen der Empfindung fast immer Mischempfindungen auslösen, und 
die Empfindungsbestandtheile nicht leicht gesondert auftreten, er- 
schwert die psychologische Analyse sehr bedeutend. So ist z. B. Grün 
eine einfache Empfindung. Ein vorgelegtes Pigment- oder Spectralgrün 
wird aber in der Regel eine Gelb- oder Blauempfindung miterregen 
und dadurch die irrthümhche (auf Mischungsergebnissen von Pigmenten 
beruhende) Ansicht begünstigen, dass die Grüuempfindung aus Gelb- und 
Blauempfindung zusammengesetzt sei. Das sorgfältige physikalische Stu- 
dium ist also auch bei der psychologischen Analyse nicht zu entbehren. 
Andrerseits darf man auch die physikalische Erfalirung nicht über- 
schätzen. Die blosse Erfahrung, dass ein gelbes und blaues Pigment 
gemischt ein grünes Pigment liefert, kann uns allein nicht bestinmien, 
im Grün Gelb und Blau zu sehen, wenn nicht das eine oder das andere 
wirklich darin enthalten ist. Sieht doch im Weiss niemand Gelb und 
Blau, obgleich Spectralgblb und Spectralblau gemischt wirklich Weiss 
geben. 

20) Ich will hier in eine Anmerkung zusammenfassen, was ich heute 
über die Behandlung der Theorie der Farbenempfindung zu sagen habe. 
Man findet in neueren Schriften häufig die Angabe, dass die von He- 



— 32 — 



Die angeführten Beispiele >Yerden genügen, den Sinn 
des aufgestellten Forschungsgrundsatzes zu erläutern, und 



ring acceptirten sechs Grundfarbenempfindungen, Weiss, Schwarz, Roth 
Grün, Gelb, Blau zuerst von Leonardo daViuci, nachher von Mach 
und A u b e r t aufgestellt worden seien. Dass die Angabe in Be^ug auf 
Leonardo da Vinci auf einem Irrthum beruhe, war mir von vornher- 
ein, in Anbetracht der Anschauungen seiner Zeit, höchst wahrscheinlich. 
Hören wir, was er selbst in seinem „Buche von der Malerei" sagt (Nr. 
254 und 255 nach der Uebersetzung von Heinrich Ludwig, Quellen- 
schriften zur Kunstgeschichte. Wien, Braumüller 1882. Bd. XVHI). „254. 
Der einfachen Farben sind sechs. Die erste davon ist das Weiss, ob- 
wohl die Philosophen weder Weiss noch Schwarz unter die Zahl der Farben 
aufnehmen, da das eine die Ursache der Farben ist, das andere deren 
Entziehung. Da indess der Maler nicht ohne diese beiden 
fertig werden kann, so werden wir sie zu der Zahl der übrigen 
hierhersetzen und sagen, das Weiss sei in dieser Ordnung unter den ein- 
fachen die erste. Gelb die zweite, Grün die dritte, Blau die vierte, Roth 
die fünfte, Schwarz die sechste. Und das Weiss werden wir für Licht setzen, 
ohne das man keine Farbe sehen kann, das Gelb für die Erde, das Grün 
fürs AVasser, Blau für die Luft, Roth für Feuer und das Schwarz für die Fin- 
steruiss, die sich über dem Feuerelement befindet, weil dort keine Materie 
oder dichter Stoff ist , auf den die Sonnenstrahlen ihren Stoss ausüben 
und den sie in Folge dessen beleuchten könnten". — „255. Das Blau 
und das Grün sind nicht einfache für sich. Denn das Blau setzt sich 
aus Licht und Finsterniss zusammen, wie das Blau der Luft, aus äusserst 
vollkommenem Schwarz und vollkommen reinem Weiss nämlich". „Das 
Grün setzt sich aus einer einfachen und einer zusammengesetzten zusam- 
men, nämlich aus Gelb und aus Blau." Dies wird genügen zu zeigen, 
dass es sich bei Leonardo da Vinci theils um Beobachtungen über 
Pigmente, theils um naturphilosophischo Betrachtungen, nicht aber 
um die Grün dfarbenempfin dun gen handelt. Die vielen wunder- 
baren und feinen naturwissenschaftlichen Beobachtungen aller Art, welche 
in Leonardo's Buch enthalten sind, führen zu der Ueberzeugung, dass 
die Künstler und insbesondere Er, wahre Vorläufer der grossen bald folgen- 
den Naturforscher waren. Sie mussten die Natur kennen, um sie angenehm 
vorzutäuschen; sie beobachteten sich und anderen zum Vergnügen. 
Doch hat Leonardo bei weitem nicht alle Entdeckungen und Erfin- 
dungen gemacht, welche ihm z. B. Groth (Leonardo da Vinci als Inge- 
nieur und Philosoph. Berlin 1874) zuschreibt. — Meine nur gelegentlichen 
• Aeusserungen über die Theorie der Farbenempfindung waren vollkommen 
deutlich. Ich nahm die Grundempfindungen: Weiss, Schwarz, Roth, Gelb, 
Grün, Blau und diesen entsprechend in der Netzhaut sechs verschiedene 



— 33 — 

zugleich zu zeigen, dass dieser Grundsatz nicht durchaus 
neu ist. Als ich mir vor Jahren den Satz formulirte, hatte 
ich auch keine andere Absicht,' als etwas instinctiv längst 
Oefuhltes mir selbst zur vollen Klarheit zu bringen. 

5. 

Da wir eine eigentliche Kluft zwischen Physischem und 
Psychischem überhaupt nicht anerkennen, so versteht es 
sich, dass beim Studium der Sinnesorgane sowohl die 
allgemein physikalischen als auch die speciell biologischen 
Erfahrungen Verwendung finden können. Manches, was uns 
schwer verständlich bleibt, wenn wir das Sinnesorgan mit 
einem physikalischen Apparat parallelisiren, wird durchsich- 
tig im Lichte der Entwicklungslehre, wenn wir annehmen, 
dass wir mit einem lebenden Organismus mit besonderem 



(chemische) Processe (nicht Nervenfasern) an. (Vergl. Reichert* s und Du- 
hois' Archiv 1865, S. 633 lu f; f) Das Verhältniss der Complementär- 
farben war natürlich, wie jedem Physiker, auch mir bekannt und geläufig. 
Ich steUte mir aber vor, dass die beiden Complementärprocesse zusammen 
einen neuen, den Weissprocess anregen (a. a. 0. S. 634). Die grossen 
Vorzüge der Herin g'schen Theorie erkenne ich freudig an. Sie bestehen 
für mich in Folgendem. Zunächst wird der Schwarzprocess als eine Re- 
a c t i n gegen den Weissprocess aufgefasst. Ich weiss die Erleichterung, 
welche darin liegt, umsomehr zu würdigen, als mir das Verhältniss von 
Schwarz und Weiss gerade die grösste Schwierigkeit einzuschliessen schi.ea 
Ausserdem werden Roth und Grün, ebenso Gelb und Blau, als antago- 
nistische Processe aufgefasst, die nicht einen neuen Process erzeugen, 
sondern die sich gegenseitig vernichten. Das Weiss wird hiernach nicht 
erst erzeugt, sondern es ist schon vorher vorhanden, und bleibt bei der 
Vernichtung einer Farbe durch die Complementärfarbe übrig. Was mich 
an der Her in g'schen Theorie allein noch stört, ist, dass man nicht 
sieht, warum die beiden Gegenprocesse Schwarz und Weiss zugleich 
auftreten und zugleich empfunden werden können, während dies bei Roth- 
Grün und Blau-Gelb nicht möglich ist. Vergl. auch meine oben citirto 
Abhandlung, Sitzungsberichte der Wiener Akademie Bd. 52. Jahrg. 1865. 
October. 



— 34 — 

Gedächtniss , besonderen Gewohnheiten und Manieren, die 
einer langen und schicksalsreichen Stammesgeschichte ihren 
Ursprung verdanken, zu thun haben. Was ich hierüber zu 
sagen habe; will ich in eine längere Anmerkung zusammen- 
fassen*^). Auch teleologische Betrachtungen haben wir als 



21) Der Gedanke, die Entwicklungslehre auf die Physiologie der 
Sinne insbesondere, und auf die Psychologie überhaupt, anzuwenden, tritt 
schon vor Darwin bei Spencer (1855) auf. Derselbe hat eine mäch- 
tige Förderung durch Darwin' s Buch „über den Ausdruck der Ge- 
müthsbewegungen" erfahren. Später hat Schulze die Frage, ob es 
„ererbte Vorstellungen" gebe, in Darwin'schem Sinne erörtert. Auch ich 
habe mich (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, October 1866) für die 
Anwendung der Entwicklungslehre auf die Theorie der Sinnesorgane aus- 
gesprochen. Eine der schönsten und aufklärendsten Ausführungen im 
Sinne einer psychologisch-physiologischen Anwendung der Entwicklungs- 
lehre enthält die akademische Festrede von Hering (über das Gedächt- 
niss als eine allgemeine Funktion der organisirten Materie 1870). Ge- 
dächtniss und Vererbung fallen in der That fast in einen Begriff zusammen, 
wenn wir bedenken, dass Organismen, welche Theile des Elternleibes 
waren, auswandern, und die Grundlage der neuen Individuen werden. 
Die Vererbung wird uns durch diesen Gedanken fast ebenso verständlich 
als z. B. der Umstand, dass die Amerikaner englisch sprechen, dass ihre 
Staatseinrichtungen in vieler Beziehung den englischen gleichen u. s. w. 
Das Problem, welches darin liegt, dass Organismen ein Gedächtniss haben, 
welches der unorganischen Materie zu fehlen scheint, wird hierdurch 
selbstverständlich nicht berührt, und besteht fort. — In neuester Zeit hat 
Weismann (lieber die Dauer des Lebens) auch den Tod als eine Ver- 
erbungserscheinung aufgefasst Auch diese schöne Schrift wirkt sehr 
aufklärend. Die Schwierigkeit, die man darin sehen könnte, dass sich 
eine Eigenschaft vererben soll, die im Eltemorganismus erst sich geltend 
machen kann, nachdem der Process der Vererbung schon abgeschlossen 
ist, liegt wohl nur im Ausdruck. Sie fallt weg, wenn man darauf achtet, 
dass die Vemiehrungsfahigkeit der Körperzellen auf Kosten der Vermeh- 
rung der Keimzellen (wie Weismann andeutet) wachsen kann. Somit 
kann man sagen, dass die längere Lebensdauer der Zellenge- 
seUschaft und die verminderte Fortpflanzung zwei sich gegen- 
seitig bedingende Anpassungserscheinungen seien. — Noch als Gymnasiast 
hörte ich einmal, dass Pflanzen der südlichen Hemisphäre bei uns blühen, 
wenn in ihrer Heimath Frühling ist. Ich erinnere mich lebhaft der 
geistigen Erschütterung, die mir diese Mittheilung verursacht hat. Ist 
dies richtig, so kann man hierbei in der That an ein Gedächtniss der Pflanze 
denken. — Die sogenannten Eeflexbewegungen der Thiere lassen sich 



- 35 - 

Hilfsmittel der Forschung keineswegs zu scheuen. Gewiss 
wird uns das Thatsächliche nicht verständlicher durch Zu- 



in natürlicher Weise als Gedächtnisserscheinungen ausserhalb des Bewusst- 
seinsorganes auffassen. Eine der merkwürdigsten dieser Erscheinungen 
sah ich (ich glaube 1865) bei K olle tt an enthimten Tauben. Diese 
Thiere trinken jedesmal, wenn sie mit den Füssen in eine kalte Flüssig- 
keit gesetzt werden, ob dieselbe nun Wasser, Quecksilber oder Schwefel- 
säure ist Da nun ein Vogel gewöhnlich in die Lage kommen wird, seine 
Füsse zu benetzen, wenn er seinen Durst zu stillen sucht, so ergibt sich 
die Anschauung ganz ungezwungen, dass hier eine durch die Lebensweise 
bedingte zweckmässige, durch Vererbung befestigte Gewohnheit vorliegt, 
welche (auch bei Ausschaltung des Bewusstseins) auf den entsprechenden 
auslösenden Beiz mit der Präcision eines Uhrwerks abläuft. Goltz hat 
in seinem wunderbaren Buch („die Nervencentren des Frosches") und in 
späteren Schriften viele derartige Erscheinungen beschrieben. — Ich will 
nun bei dieser Gelegenheit noch einige Beobachtungen erwähnen, deren 
ich mich mit grossem Vergnügen erinnere. Li den Herbstferien 1873 
brachte mir mein kleiner Junge einen wenige Tage alten Sperling, wel- 
cher aus dem Nest gefallen war, und wünschte ihn aufzuziehen. Die 
Sache war jedoch nicht einfach. Das Thierchen war nicht zum Schlingen 
zu bewegen, und wäre den unvermeidlichen Lisulten beim gewaltsamen 
Füttern sicherlich bald erlegen. Da stellte ich folgende Ueberlegung 
an: „Das neugebome Kind wäre (ob die Darwin' sehe Theorie richtig 
ist oder nicht) unfehlbar verloren, wenn es nicht die vorgebildeten Organe 
und den ererbten Trieb zum Sangen hätte, welche durch den passenden 
Beiz ganz automatisch und mechanisch in Thätigkeit gerathen. Etwas 
Aehnliches muss in anderer Form auch beim Vogel existiren". Ich be- 
mühte mich nun den passenden Keiz zu finden. Ein kleines Insect 
wurde an ein spitzes Stäbchen gesteckt, und an diesem um den Kopf des 
Vogels rasch herumbewegt. Sofort sperrte das Thier den Schnabel auf, 
scldug mit den Flügeln, und schlang gierig die dargebotene Nahrung 
hinab. Ich hatte also den richtigen Keiz für die Auslösung des Triebes, 
und der automatischen Bewegung gefunden. Das Thier wurde zusehends 
stärker und gieriger, es fing an nach der Nahrung zu schnappen, erfasste 
einmal auch ein zufällig vom Stäbchen auf den Tisch gefallenes Insect, 
und &ass von da an ohne Anstand selbstständig. In dem Masse als sich 
der Intellect entwickelte, war ein immer kleinerer Theil des auslösenden 
Reizes nothwendig. — Das selbstständig gewordene Thier nahm nach 
und nach alle characteristischen Sperlingsmanieren an, die es doch nicht 
eigens gelernt hatte. Bei Tage (bei wachem Intellect) war es sehr zu- 
traulich und liebenswürdig. Des Abends traten regelmässig andere 
Erscheinungen auf. Das Thier wurde furchtsam. Es suchte immer die 

3* 



- 36 - 

rückführuDg desselben auf einen selbst problematischen un- 
bekannten „Weltzweck". Allein die Frage, welchen Werth diese 



höchsten Orte der Stube au^ und beruhigte sich erst, wenn es durch 
die Zimmerdecke verhindert wurde, noch höher zu steigen. Wieder eine 
andere zweckmässige ererbte Gewohnheit! Bei einbrechender Dunkelheit 
war das Thier vollends verändert. Näherte man sich dann, so sträubte 
es die Federn, fing an zu fauchen und zeigte den Ausdruck des Ent- 
setzens und der leibhaftigen Gespensterfurcht. Auch diese ist ganz 
wohlbegründet und zweckmässig bei einem Wesen, das unter nor- 
malen Verhältnissen jeden Augenblick von irgend einem üngethüm ver- 
schlungen werden kann. — Diese letztere Beobachtung bekräftigte mir 
die schon vorher gefasste Ansicht, dass die Gespensterfurcht meiner Kin- 
der nicht von den (sorgfältig femgehaltenen) Ammenmärchen herrührte, 
sondern angeboren war. Eines meiner Kinder fing gelegentlich an, 
den im Dunkeln stehenden Lehnstuhl zu beanständen, ein anderes wich 
Abends sorgfaltig einem Kohlenbehälter beim Ofen aus, besonders wenn 
derselbe mit geöffnetem Deckel dastand, und einem aufgesperrten Bachen 
glich. Die Gespensterfurcht ist die wirkliche Mutter der Eeligidnen. 
Weder die naturwissenschaftliche Analyse, noch die sorgfaltige historische 
Kritik eines D. Strauss Mjrthen gegenüber, welche für den kräftigen 
Intellect schon widerlegt sind, bevor sie noch erfunden wurden, werden 
diese Dinge plötzlich beseitigen und hinwogdecretiren. Was so lange 
einem wirklichen öconomischen Bedürfoiss entsprach, und theilweise noch 
entspricht (Furcht eines Schlimmem, Hoflöiung eines Bessern), wird in 
den dunkleren uncontrollirbaren instinctiven Gedankenreihen noch 
lange fortleben. Wie die Vögel auf unbewohnten Inseln (nach Darwin) 
die Menschenforcht erst im Laufe mehrerer Generationen erlernen 
müssen, so werden wir erst nach vielen Generationen das unnöthig ge- 
wordene „Gruseln" verlernen. Jede Faustaufführung kann uns beleh- 
ren, wie sympathisch uns insgeheim die Anschauungen der Hexenzeit noch 
sind. — Noch eine eigenthümliche Beobachtung will ich hier mittheilen, 
deren Kenntniss ich meinem Vater (zuletzt Gutsbesitzer in Krain), einem 
begeisterten Darwinianer, verdanke. Mein Vater beschäftigte sich viel mit 
Seidenzucht, zog Yama Mai frei im Eichenwalde u. s. w. Die gewöhn- 
liche Morus-Seidenraupe ist seit vielen Jahrhunderten ein Hausthier, und 
dadurch höchst unbehilflich und unselbstständig geworden. Kommt die 
Zeit des Einspinnens heran, so pflegt man den Thieren Strohbündel dar- 
zubieten , auf welchen sie sich verpuppen. Mein Vater kam nun eines 
Tages auf den Einfall, einer Gesellschaft von Moms-Kaupen die üblichen 
Strohbündel nicht bereit zu legen. Die Folge war, dass der grösste 
Thoil der Kaupen zu Grunde ging, und nur ein geringer Bmchtheü, die 
Genie's (mit grösserer Anpassungsfähigkeit), sich einspann. Ob, wie meine 



37 — 



oder jene Function für das thatsächliche Bestehen des Orga- 
nismus hat, oder was sie zu dem Bestehen desselben bei- 
trägt, kann das Verständniss dieser Function selbst för- 
dern* 2). Desshalb dürfen wir natürlich noch nicht glauben, 



Schwester beobachtet zu haben glaubt, die Erfahrungen einer Generation 
schon in der nächsten merklich benützt werden, muss wohl noch weiter 
untersucht werden. — Aus allen diesen merkwürdigen Erscheinungen 
brauchen wir keine Mystik des ünbewussten zu schöpfen. Ein über das 
Individuum hinausreichendes Gedächtniss macht sie verständlich. Eine 
Psychologie in Spencer-Darwin'schem Sinne auf Entwicklungslehre 
gegründet, aber auf positiver Detailforschung fussend, würde reichere 
Resultate liefern als alle bisherigen Speculationen. — Diese Beobachtungen 
und Betrachtungen waren längst angestellt und niedergeschrieben, als 
Schneider*s werthvolle Schrift („Der thierische Wille", Leipzig 1880) 
erschien, die viele ähnliche enthält. Den Detailausführungen Schnei- 
der*s muss ich fast durchaus zustimmen, wenngleich seine naturwissen- 
schaftlichen Grundanschauungen (das Verhältniss von Empfindung und 
physikalischem Process, die Bedeutung der Artorhaltung u. s. w. betreffend) 
von den meinigen wesentlich vorschieden sind, und obgleich ich z. B. auch 
die Unterscheidung von Empfindungs- und Wahrnehmungs- 
trieben für ganz überflüssig halte. — Eine wichtige Umgestaltung unserer 
Anschauungen über die Vererbung dürfte durch Weismann's Schrift 
(üeber die Vererbung, Jena 1883) eingeleitet sein. W e i s m a n n hält 
die Vererbung durch üebung erworbener Eigenschaften für höchst un- 
wahrscheinlich, und sieht das wichtigste Moment in der Keimes anläge 
und der Auslese der Keimesanlagen. Den Argumenten Weismann's 
wird man kaum die Zustimmung, und der fast mathematischen Schärfe und 
Tiefe seiner Problemstellung gewiss nicht die Anerkennung versagen können. 
Dass die Keimesanlagen selbst sich durch äussere Einflüsse ändern können, 
scheint aber doch durch die Bildung neuer Racen, welche sich als sol- 
che erhalten, ihre Eaceneigenschaften vererben, und die selbst wieder 
unter andern Umständen einer Umbildung fähig sind, deutlich hervorzu- 
gehen. Auf das Keimplasma muss also doch auch der dasselbe um- 
schliessende Leib Einfluss nehmen (wie Weismann selbst zugibt). Somit 
ist ein Einfluss des individuellen Lebens auf die Nachkommen doch nicht 
ganz auszuschliessen, wenn auch eine directo Uebertragung der Eesul- 
tate der Uebung des Lidividuums auf die Descendenten (nach Weis- 
mann's Darlegung) nicht mehr erwartet werden kann. 

22) Solche teleologische Betrachtungen sind mir oft nützlich und auf- 
klärend gewesen. Die Bemerkung z. B., dass ein sichtbares Object 
bei wechselnder Beleuchtungsintensität nur dann als dasselbe wiederer- 



- 38 - 

dass wir, wie maDche DarwiniaDer sich ausdrücken, eine 
Function „mechanisch erklärt" haben, wenn wir erkennen, 
dass sie für das Bestehen der Art nothwendig ist. Darwin 
selbst ist von dieser kurzsichtigen Auffassung wohl vollkom- 
men frei. Durch welche physikalische Mittel die Function 
sich entwickelt, bleibt noch immer ein physikalisches, 
und wie und warum sich der Organismus anpassen will, 
ein psychologisches Problem. Die Erhaltung der Art ist 
überhaupt nur ein thatsächlicher werthvoUer Anhaltspunkt 
für die Forschung, keineswegs aber das Letzte und Höchste. 



kannt werden kann, wenn die ausgelöste Empfindung von dem Ver- 
hältniss der Beleuchtungsintensitäten des Objectes und der Umgebung 
abhängt, macht eine ganze Keihe organischer Eigenschaften des Auges 
verständlich. Man versteht durch dieselbe auch, wie der Organismus sich 
im Interesse seines Bestehens der bezeichneten Forderung anpassen, und 
sich darauf einrichten musste, Lichtintensitäts Verhältnisse zu empfinden- 
Das sogenannte We herrsche Gesetz, oder die Fechner'sche psychophy- 
sische Fudamentalformel, erscheint demnach nicht als etwas Fundamentales, 
sondern als erklärbares Ergebniss organischer Einrichtungen. Natür- 
lich ist damit der Glaube an die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes auf- 
gegeben. Ich habe die betreffenden Ausführungen in verschiedenen Ab- 
handlungen gegeben (Sitzungsberichte der VTiener Akademie Bd. 52 Jahrg. 
1865, Vierteljahrsschrift für Psychiatrie. Neuwied und Leipzig 1868, 
Sitzungsbericht der Wiener Akademie Bd. 57. Jahrgang 1868). In der 
letzterwähnten Abhandlung habe ich von der Annahme des Parallelismus 
zwischen Psychischem und Physischem, oder, wie ich damals mich aus- 
drückte , von der Proportionalität zwischen Reiz und Empfindung 
ausgehend, die Fechner'sche Massformel (das Logarithmusgesetz) 
fallen gelassen, und eine andere Auffassung der Fundamental- 
formel angenommen, deren Giltigkeit für die Lichtempfindung ich 
nicht bestritten habe. Dies geht aus der daselbst befindlichen mathe- 
matischen Entwicklung unzweifelhaft hervor. Man kann also nicht sagen» 
wie es Hering gethan hat, dass ich überall auf dem psychophysischen 
Gesetz fasse, sofern man unter diesem die Massformel versteht. Wie 
sollte ich auch die Proportionalität von Reiz und Empfindung zu- 
gleich mit der logarithmischen Abhängigkeit festhalten ? Mir war 
es genügend , meine Meinung deutlich zu machen, die F e c h n e rasche 
eingehend zu kritisiren und zu bekämpfen, hatte ich aus vielen nahelie- 
genden Gründen kein Bedürfhiss. 



— 39 — 

Arten sind ja wirklich zu Grunde gegangen, und neue wohl 
ebenso zweifellos entstanden. Der lustsuchende und schmerz- 
iliehende Wille muss also wohl weiter reichen als an die Er- 
haltung der Art. Er erhält die Art, wenn es sich lohnt, 
er bildet sie um, wenn es sich lohnt, er vernichtet sie, wenn 
ihr Bestand sich nicht mehr lohnt. Wäre er nur auf die 
Erhaltung der Art gerichtet, so bewegte er sich, alle In- 
dividuen und sich selbst betrügend, ziellos in einem fehler- 
haften Cirkel. Dies wäre das biologische Seitenstück des 
berüchtigten physikalischen „perpetuum mobile". 



>^xkH^ 




Die ßaumempflndiingen des Auges. 

1. 

Der Baum mit seinem grauen harten rauhen Stamm, 
den zahllosen im Winde bewegten Aesten, mit den glatten 
glänzenden weichen Blättern erscheint uns zunächst als ein 
untrennbares Ganze. Ebenso halten wir die süsse runde 
gelbe Frucht, das helle warme Feuer mit seinen mannig- 
faltig bewegten Zungen für ein Ding. Ein Name bezeichnet 
das Ganze, ein Wort zieht wie an einem Faden alle zu- 
sammengehörigen Erinnerungen aul einmal aus der Tiefe der 
Vergessenheit hervor. 

Das Spiegelbild des Baumes, der Frucht, des Feuers ist 
sichtbar, aber nicht greifbar. Bei abgewendetem Blick oder 
geschlossenen Augen können wir den Baum tasten, die Frucht 
schmecken, das Feuer fühlen, aber nicht sehen. So trennt 
sich das scheinbar einheitliche Ding in Theile, welche nicht 
nur aneinander, sondern auch an andern Bedingungen haften. 
Das Sichtbare trennt sich von dem Tastbaren, Schmeckba- 
ren u. s. w. 



— 41 -- 

Auch das bloss Sichtbare erscheint uns zunächst ate 
ein Ding. Wir können aber eine gelbe runde Frucht neben 
einer gelben sternförmigen Blüthe sehen. Eine zweite Frucht 
kann ebenso rund sein als die erste, sie ist aber grün oder 
roth. Zwei Dinge können von gleicher Farbe aber ungleicher 
Gestalt sein, sie können von verschiedener Farbe und glei- 
cher Gestalt sein. Hierdurch theilen sich die Gesichts- 
empfindungen in Farbenempfindungen undEaum- 
empfindungen. 

2. 

Die Farbenempfindung, auf welche wir hier nicht näher 
eingehen, ist im Wesentlichen eine Empfindung der günstigen 
oder ungünstigen chemischen Lebensbedingungen. In der 
Anpassung an diese möchte sich die Farbenempfindung ent- 
wickeln imd modificiren'^^). Das Licht leitet das organische 



23) VergL Grant Allen, „der Farbensinn" Leipzig 1880. Der 
Versuch von H. Magnus, eine bedeutende Entwicklung des Far» 
bensinns in historischen Zeiten nachzuweisen, muss wohl als ein nicht 
glücklicher bezeichnet werden. Gleich nach dem Erscheinen der Schriften 
Ton Magnus correspondirto ich mit einem Philologen , Herrn Prof. F. 
P 1 1 e in Dresden über dieses Thema, und wir kamen beide alsbald zur 
Ueberzeugung, dass die Ansichten von Magnus weder vor einer natur- 
wissenschaftlichen noch vor einer philologischen Kritik Stand halten. Da 
Jeder dem Andern die Publication der Eesultate zuschob, so kam es zu 
einer Publication nicht Die Sache ist übrigens einstweilen von E. Kr a u s e 
und eingehend von A. M a r t y erledigt worden. Ich erlaube mir hier 
nur kurz folgende Bemerkungen. Aus dem Mangel der Bezeichnung darf 
man nicht auf das Fehlen der betreffenden Empfindungsqualität schliessen- 
Die Bezeichnungen sind auch heute noch unscharf, verschwommen, man- 
gelhaft und gering an der Zahl, wo eben das Bedürfiiiss einer scharfen 
Sonderung nicht vorhanden ist Die Farbenbezeichnung des heutigen 
Landmannes und seine Bezeichnung der Empfindungen überhaupt ist nicht 
entwickelter als jene der griechischen Dichter. Die Bauern im March- 
felde sagen z. B., wie ich selbst oft gehört habe, dass das Kochsalz 
„sauer" sei, weil ihnen der Ausdruck „salzig" nicht geläufig ist Die 
Farbenbezeichnung muss man nicht bei Dichtern sondern in techni- 



- 42 — 

Leben ein. Das grüne Chlorophyll und das (comple- 
mentär) rothe Haemoglobin spielen ;in dem chemischen 
Process des Pflanzenleibes und dem chemischen Gegenprocess 
des Thierleibes eine hervorragende EoUe. Beide Stoffe tre- 
ten uns modificirt in dem mannigfaltigsten Farbenkleide ent- 
gegen. Die Entdeckung des Sehpurpurs, die Erfahrungen 
der Photographie und Photochemie lassen auch die Sehvor- 
gänge als chemische Vorgänge auffassen. Die Rolle, welche 
die Farbe in der analytischen Chemie, bei der Spectralana- 
lyse, in der Krystallphysik spielt, ist bekannt. Sie legt den 
Gedanken nahe, die sogenannten Lichtschwingungen nicht 
als mechanische, sondern als chemische Schwingungen 
aufzufassen, als eine wechselnde Verbindung und Trennung, 
als einen oscillatorischen Process von der Art, wie er bei 
photochemischen Vorgängen nur in einer Richtung einge- 
leitet wird. — Diese Anschauung, welche durch die neueren 



sehen Schriften suchen. Dann darf man aber nicht, wie es Herr Mag- 
nus thut, und wie mein College Benndorff bemerkt hat, etwa die 
Aufzählung der Vasenpigmente für eine Aufzählung sämmtlicher 
Farben halten. Betrachten wir noch die Polychromie der alten Aegyp- 
ter und Pompejaner, ziehn wir in Erwägung, dass diese Malereien doch 
kaum von Farbenblinden herrühren können, jbemerken wir, dass etwa 70 
Jahre nach Vergil's Tode Pompeji verschüttet wurde, während Ver- 
gil noch beinahe farbenblind gewesen sein soll, so ergibt sich hieraus 
wohl genügend die ünhaltbarkeit der ganzen Anschauung. Noch in einer 
andern Richtung muss man mit Anwendungen der Darwin'schen Theo- 
rie vorsichtig sein. Wir lieben es, uns einen Zustand ohne Farbensinn 
oder mit geringem Farbensinn einem andern mit hoch entwickeltem Far- 
bensinn vorausgehend zu denken. Es ist eben dem Lernenden 
natürlich, vom Einfachem zum Zusammengesetzten fortzuschreiten. Die 
Natur braucht nicht denselben Weg zu gehn. Der Farbensinn ist da, 
und er ist wohl variabel. Ob er reicher oder ärmer wird ? Wer 
kann das wissen? Ist es nicht möglich, dass mit dem Erwachen der 
Intelligenz und der Anwendung künstlicher Mittel die ganze Entwicklung 
sich auf den Verstand wirft, der ja von da an hauptsächlich in Anspruch 
genommen wird, und dass die Entwicklung der niederen Organe des Men- 
schen in den Hintergrund tritt? 



— 43 — 

Untersuchungen über anomale Dispersion wesentlich unter- 
stützt wird, kommt der electromagnetischen Lichttheorie 
«ntg^en. Auch von dem electrischen Strom gibt ja die 
Chemie die fassbarste Vorstellung im Falle der Electrolyse, 
wenn sie beide Bestandtheile des Electrolyten als im ent- 
gegengesetzten Sinne durcheinander hindurchwandemd an- 
sieht. So dürften also in einer künftigen Farbenlehre viele 
Wologisch-psychologische und chemisch-physikalische Fäden 
zusammenlaufen. 

3. 

Die Anpassung an die chemischen Lebensbedingungen, 
welche sich durch die Farbe kundgeben, erfordert Loco- 
m 1 i n in viel ausgiebigerem Masse, als die Anpassung an 
jene, die durch Geschmack und Geruch sich äussern. We- 
nigstens beim Menschen, über den allein wir ein directes 
und sicheres ürtheil haben, und um den es sich hier handelt, 
ist es so. Die enge Verknüpfung (eines mechanischen Mo- 
mentes) der Baumempfindung mit (einem chemischen 
Moment) der Farbenempfindung wird hierdurch verständlich. 
Auf die Analyse der optischen Raumempfindungen wollen 
wir nun zunächst eingehen. 

4. 

Wenn wir zwei gleiche verschiedenfarbige Gestalten, z. B. 
zwei gleiche verschiedenfarbige Buchstaben, be- 
trachten, so erkennen wir die gleiche Form 
trotz der Verschiedenheit der Farbenem- 
pfindung auf den ersten Blick. Die Gesichts- p. « 
Wahrnehmungen müssen also gleiche Empfin- 
dungsbestandtheile enthalten. Diese sind eben die (in beiden 
Fällen gleichen) Raumempfindungen. 




— 44 



5. 



Wir wollen nun untersuchen, welcher Art die Raum* 
empfindungen sind, welche physiologisch das Wiedererkennen 
einer Gestalt bedingen. Zunächst ist klar, dass dieses Wieder- 
erkennen nicht durch geometrische üeberlegungen herbei- 
geführt wird, welche nicht Empfindungs-, sondern Verstandes- 
sache sind. Vielmehr dienen die betreffenden Raumempfind- 
ungen aller Geometrie zum Ausgangspunkt und zur Grundlage^ 
Zwei Gestalten können geometrisch congruent, phy- 




Figur 3. 

siologisch aber ganz verschieden sein, wie dies die 
beiden obenstehenden Quadrate veranschaulichen, welche ohne 
mechanische und intellectuelle Operationen niemals als 
gleich erkannt werden können 2*). Um uns die hierher ge- 
hörigen Verhältnisse geläufig zu machen, stellen wir einige 
recht einfache Versuche an. Wir betrachten einen ganz be- 
liebigen Fleck (Fig. 4). Stellen wir denselben Fleck 
W zweimal oder mehrmal in gleicher Orientirung in 
4^ eine Reihe, so bedingt dies einen eigenthümlichen 
Figur 4. angenehmen Eindruck , und wir erkennen ohne 



24) VergL meine kleine Abhandlung „über das Sehen von Lagen 
nnd Winkeln". Sitzungsberichte der Wiener Akademie. Bd. 43. Jahrg. 
1861, S. 215. 




iV 



— 45 - 

iiiiii 

Figur 5. 

Schwierigkeit auf den ersten Blick die Gleichheit aller Ge- 
stalten (Fig. 5). Die Formgleichheit wird aber ohne intel- 
lectuelle Mittel nicht mehr erkannt, wenn wir den einen Fleck 
gegen den andern genügend verdrehen (Fig. 6). 
Eine auffallende Verwandtschaft beider For- 
men wird dafür bemerklich, wenn man dem 
Fleck einen zweiten in Bezug auf die Median- Figur 6. 

ebene des Beobachters symmetrischen hinzu- 
fugt (Fig. 7). Nur durch Drehung der Figur 
oder durch intellectuelle Operationen 
erkennt man aber die Formverwandtschaft, 
wenn die Symmetrieebene bedeutend, z. B. ^^^ ' 

wie in Fig. 8 von der Medianebene des Beobachters abweicht. 
Dagegen wird die Formverwandtschaft wieder merklich, wenn 
man dem Fleck denselben Fleck, um 180*^ in der 
eigenen Ebene gedreht, hinzufügt (Fig. 9). Es 
entsteht auf diese Weise die sogenannte centrische 
Symmetrie. 

Verkleinem wir nun alle Dimensionen des 
Fleckes in demselben Verhältniss, so erhalten wir Figur. 8. 
einen geometrisch ähnlichen Fleck. Allein 
so wenig das geometrisch Congruente auch schon 
physiologisch (optisch) congruent, das geometrisch 
Symmetrische optisch symmetrisch ist, so wenig 
ist das geometrisch Ähnliche auch schon optisch 
ähnlich. Wenn der geometrisch ähnliche Fleck 
neben den andern in gleicher Orientirung gesetzt ^^^ • 









- 46 - 

wird, so erscheinen beide auch optisch ähnlich (Fig. 10). 
Eine Verdrehung des einen Fleckes hebt diese Aehnlichkeit 

wieder auf (Fig. 11). Setzt man 
statt des einen Fleckes den in 
Bezug auf die Medianebene des 
Beobachters symmetrischen , sa 
Figur 11. entsteht eine symmetrische Aehn- 
lichkeit, welche auch einen opti- 
schen Werth hat (Fig. 12). Auch 
die Drehung der einen Figur um 
180^ in ihrer Ebene, wobei die 
centrisch-symmetrische Aehnlich- 
keit entsteht, hat noch einen physiologisch-optischen Werth 
(Fig 13). 

6. 

Worin besteht nun das Wesen der optischen Aehn- 
lichkeit gegenüber der geometrischen Aehnlichkeit? In geo- 
metrisch ähnlichen Gebilden sind alle homologen Entfer- 
nungen proportionirt. Das ist aber Ver stand es sache und 
nicht Sache der Empfindung. Wenn wir einem Dreiecke 
mit den Seiten a, b, c ein anderes mit den Seiten 2a, 2b^ 
2c gegenüberstellen, so erkennen wir diese einfache Bezie- 
hung nicht unmittelbar, sondern intellectuell durch Abmes- 
sung. Soll die Aehnlichkeit auch optisch hervortreten, so 
muss noch die richtige Orientirung hinzukommen. Dass eine 
einfache Beziehung zweier Objecte für den Verstand nicht 
nothwendig auch eine Aehnlichkeit der Empfindung bedingt, 
sehen wir, wenn wir die Dreiecke mit den Seiten a, b, e 
und a-Hm, b + m, c4-m vergleichen. Beide Dreiecke 
sehen einander keineswegs ähnlich. Ebenso sehen nicht alle 
Kegelschnitte einander ähnlich, obgleich alle in einer ein- 




— 47 — 

fachen geometrischen Verwandtschaft stehen; noch we- 
niger zeigen die Curven dritter Ordnung unter einander eine 
optische Ähnlichkeit u. s. w. 

7. 

Die geometrische Ähnlichkeit zweier Gebilde ist bestimmt 
dadurch, dass alle homologen Entfernungen proportionirt, 
oder dadurch, dass alle homologen Winkel gleich sind. 
Optisch ähnlich werden die Gebilde erst, wenn sie auch ähn- 
lich liegen, wenn also alle homologen Richtungen 
parallel, oder, wie wir vorziehen wollen zu sagen, gleich 

sind (Fig. 14). Die Wichtigkeit 
der Richtung für die Em- 
pfindung geht schon aus der 
aufmerksamen Betrachtung der 
^^ 1^- Figur 3 hervor. Die Gleich- 

heit der Richtungen ist es also, wodurch die gleichen 
Raumempfindungen bedingt sind, welche die physiologisch- 
optische Ähnlichkeit der Gestalten characterisiren ^^). 

Die physiologische Bedeutung der Richtung einer be- 
trachteten Geraden oder eines Curvenelementes können wir 
uns noch durch folgende Betrachtung vermitteln. Es sei 
y = f{x) die Gleichung einer ebenen Curve. Durch den 

25) Vor etwa 20 Jahren brachte ich in einer Gesellschaft von Phy- 
sikern und Physiologen die Frage zur Sprache, woran es liege, dass 
geometrisch ähnliche Gebilde auch optisch ähnlich seiea Ich 
weiss mich ganz wohl zu erinnern, dass man diese Frage nicht nur für 
überflüssig, sondern sogar für komisch hielt. Nichtsdestoweniger bin ich 
heute noch so wie damals überzeugt, dass diese Frage das ganze Problem 
des Gestaltensehens einschliosst. Dass ein Problem nicht gelöst werden 
kann, welches gar nicht als solches anerkannt wird, ist klar. In dieser 
Nichtanerkennung spricht sich aber meines Erachtens jene einseitig mathe- 
matisch-physikalische Gedankenrichtung aus, durch die es allein erklärlich 
wird, dass man z. B. den Her Inguschen Ausführungen so vielfach Op- 
position statt freudiger Zustimmung entgegengebracht hat. 



- 48 - 

Wossen Anblick können wir den Verlauf der Werthe von -=^ 

ax 

an der Curve absehen, denn dieselben sind durch deren 
Steigung bestimmt, und auch über die Werthe von -7-| 

gibt das Auge qualitativen Aufschluss, denn sie sind durch 

die Krümmung der Curve characterisirt. Es liegt die Frage 

d^ti d^ ij 

nahe, warum man über die Werthe von ^-| ^ u. s. w. 

nicht ebenso unmittelbar etwas aussagen kann ? Die Antwort 
ist einfach. Man sieht natürlich nicht die Diflferentialquo- 
tienten, welche Verstandessache sind, sondern man sieht die 
Kichtung der Curvenelemente und die Abweichung der 
Kichtung eines Elementes von jener eines andern. 

Da man nun die Ähnlichkeit ähnlich liegender Gebilde 
unmittelbar erkennt, und auch den Specialfall der Congruenz 
von einem andern ohne weiters zu unterscheiden vermag, 
so geben uns also unsere Raumempfindungen Aufschluss über 
Gleichheit oder Ungleichheit der Richtungen 
und über Gleichheit oder üngleicheit der Ab- 
messungen. 

8. 

Dass die Raumempfindungen durch den motori- 
schen Apparat der Augen vermittelt werden, hat von vornher- 
ein eine hohe Wahrscheinlichkeit. Ohne noch auf die Einzel- 
heiten näher einzugehen, bemerken wir zunächst, dass der 
ganze Augenapparat, und insbesondere der motorische Apparat, 
in Bezug auf die Medianebene des Kopfes symmetrisch 
ist. Dementsprechend werden auch die symmetrischen Blick- 
bewegungen gleiche, oder doch fast gleiche Raumempfin- 
dungen bedingen. Kinder verwechseln fortwährend die Buch- 
staben h und d, ebenso p und q. Auch Erwachsene merken 



— 49 — 

eine Umkehrung von rechts nach links nicht leicht, wenn 
nicht besondere sinnliche oder intellectuelle Anhaltspunkte 
dieselbe verhindern. Der motorische Apparat der Augen ist 
von sehr vollkommener Symmetrie. Für sich allein würde 
die gleiche Erregung seiner symmetrischen Organe die 
Unterscheidung von rechts und links kaum ermöglichen. 
Allein der ganze Menschenleib, und insbesondere das Hini, 
ist mit einer geringen Asymmetrie behaftet, welche z. B. dazu 
führt, die eine (gewöhnlich die rechte) Hand bei motorischen 
Functionen zu bevorzugen. Dies führt wieder zu einer wei- 
tern und bessern Entwicklung der rechtsseitigen motorischen 
Functionen und zu einer Modification der zugehörigen Em- 
pfindungen. Haben sich einmal beim Schreiben die Raum- 
empfindungen des Auges mit den motorischen Empfindungen 
der rechten Hand verknüpft, so tritt eine Verwechslung jener 
vertical-symmetrischen Gestalten, auf welche sich die Schreibe- 
fertigkeit und Schreibegewohnheit erstreckt, nicht mehr ein. 
Diese Verknüpfung kann sogar so stark werden, dass die 
Erinnerungen nur in den gewohnten Bahnen ablaufen, und 
dass man z. B. Spiegelschrift nur mit der grössten Schwierigkeit 
liest. Die Verwechslung von rechts und links kommt aber 
immer noch vor in Bezug auf Gestalten, die ein rein optisches 
(z. B. omamentales), kein motorisches Interesse haben. Eine 
merkliche Differenz zwischen rechts und links müssen übri- 
gens auch die Thiere empfinden, da sie in vielen wichtigen 
Fällen sich nur hierdurch orientiren können. Wie ähnlich 
übrigens die Empfindungen sind, welche an symmetrische 
motorische Functionen geknüpft sind, darüber kann sich der 
aufmerksame Beobachter leicht belehren. Wenn ich z. B., 
weil meine rechte Hand zufällig beschäftigt ist, mit der lin- 
ken Hand eine Mikrometerschraube oder einen Schlüssel an- 
fasse, so drehe ich (ohne vorausgegangene Überlegung) sicher- 

4 



- 50 - 

lieh verkehrt, d. h. ich führe die symmetrische Bewegung 
zu der gewohnten aus, indem ich beide wegen der Ähnlich- 
keit der Empfindung verwechsle. Die Beobachtungen von 
Heidenhain über die Spiegelschrift halbseitig Hypno- 
tisirter gehören auch hierher. 

Mit dem Blick nach oben imd dem Blick nach unten 
sind grundverschiedene Raumempfindungen verbunden, wie 
dies die gewöhnlichste Erfahrung lehrt. Das ist auch ver- 
ständlich, weil der motorische Augenapparat in Bezug auf 
eine horizontale Ebene unsymmetrisch ist. Die Richtung 
der Schwere ist auch für den übrigen motorischen Apparat 
viel zu massgebend und wichtig, so dass dieser umstand auch 
in dem Apparat des Auges, welcher dem übrigen dient, wohl 
seinen Ausdruck finden muss. Dass die Symmetrie einer 
Landschaft und ihrer Spiegelbilder im Wasser gar nicht 
empfunden wird, ist bekannt. Das von oben nach unten 
umgekehrte Portrait einer bekannten Persönlichkeit ist fremd 
imd räthselhaft für jeden, der nicht durch intellectuelle An- 
haltspunkte sie erkennt. Wenn man sich hinter den Kopf 
einer auf einem Ruhebette liegenden Person stellt, und ohne 
Speculation sich dem Eindrucke des Gesichtes ganz hingibt 
(namentlich wenn die Person spricht), so ist derselbe ein 
durchaus fremdartiger. Die Buchstaben b und p^ femer d 
und q werden auch von Kindern nicht verwechselt. 

Unsere bisherigen Bemerkungen über Symmetrie, Ähn- 
lichkeit u. s. w. gelten natürlich nicht nur für ebene sondern 
auch für räumliche Gebilde. Dementsprechend haben wir 
noch über die Raumempfindung der Tiefe eine Bemerkung 
hinzuzufügen. Der Blick in die Ferne und der Blick in 
die Nähe bedingt verschiedene Empfindungen. Sie dürfen 
auch nicht verwechselt werden, weil der Unterschied von 
nah und fem für Mensch und Thier zu wichtig ist. Sie 



— 51 — 

können nicht verwechselt werden, weil der motorische 
Apparat der Augen unsymmetrisch ist in Bezug auf eine 
Ebene, welche auf der Kichtung vom-hinten senkrecht steht. 
Die Erfahrung, dass die Büste einer bekannten Persönlichkeit 
nicht durch die Matrize dieser Büste ersetzt werden kann, 
ist ganz analog den Beobachtungen bei Umkehrungen von 
oben nach unten. 

9. 

Wenn gleiche Abmessungen und gleiche Kichtungen 
gleiche Kaumempfindungen, zur Medianebene des Kopfes 
symmetrische Kichtungen ähnliche Kaumempfindungen 
auslösen, so werden hierdurch die oben berührten Thatsachen 
sehr verständlich. Die Ger ade hat in allen Elementen die- 
selbe Kichtung, und löst überall einerlei Kaumempfindungen aus. 
Darin liegt ihr aesthetischer Vorzug. Ausserdem treten noch 
Gerade, welche in der Medianebene liegen oder zu derselben 
senkrecht stehen, in eigenthümücher Weise hervor, indem sie 
sich bei dieser Symmetrielage zu beiden Hälften des Seh- 
apparates gleich verhalten. Jede andere Stellung der Ge- 
raden wird als eine „Schiefstellung" empfunden, als eine 
Abweichung von der Symmetriestellung. 

Die Wiederholung desselben Kaumgebildes in gleicher 
Orientirung bedingt Wiederholung derselben Kaumempfin- 
dungen. Alle Verbindungslinien homologer ausgezeichneter 
(auffallender) Punkte haben die gleiche Kichtung, und lösen 
dieselbe Empfindung aus. Auch bei Nebeneinanderstellung 
bloss geometrisch ähnlicher Gebilde in gleicher Orientirung 
bleibt dies Verhältniss bestehen. Nur die Gleichheit der 
Abmessungen geht verloren. Bei Störung der Orientirung 
ist aber auch dies Verhältniss und hiermit der einheitliche 
(aesthetische) Eindruck gestört. 

4* 



- 52 - 

Bei einem in Bezug auf die Medianebene symmetrischen 
Gebilde treten an die Stelle der gleichen Raumempfindun- 
gen die ähnlichen, welche den symmetrischen Richtungen 
entsprechen. Die rechte Hälfte des Gebildes steht zur rechten 
Hälfte des Sehapparates in demselben Verhältniss, wie die 
linke Hälfte des Gebildes zur linken Hälfte des Sehapparates. 
Lässt man die Gleichheit der Abmessungen fallen, so wird 
noch die symmetrische Ähnlichkeit empfunden. Schiefstellung 
der Symmetrieebene stört das ganze Verhältniss. 

Stellt man neben ein Gebilde dasselbe Gebilde, aber um 
180^ gedreht, so entsteht die centrische Symmetrie. 
Verbindet man nämlich zwei Paare homologer Punkte, so 
schneiden sich die Verbindungslinien in einem Punkte O, 
durch welchen als Halbirungspunkt alle Verbindungslinien 
homologer Punkte hindurchgehen. Auch im Falle der cen- 
trischen Symmetrie sind alle homologen Verbindungslinien 
gleich gerichtet, was angenehm empfunden wird. Geht 
die Gleichheit der Abmessungen verloren, so bleibt noch die 
centrisch symmetrische Ähnlichkeit für die Empfindung übrig. 

Die Regelmässigkeit scheint der Symmetrie ge- 
genüber keinen eigenthümlichen physiologischen Werth zu 
haben. Der Werth der Regelmässigkeit dürfte vielmehr nur 
in der vielfachen Symmetrie liegen, welche nicht bloss 
bei einer Stellung merklich wird. 

10. 

Die Richtigkeit der gegebenen Ausführungen wird sehr 
fühlbar, wenn man das Werk von Owen Jones (Grammar 
of Ornament, London 1865) durchblättert. Fast auf jeder 
Tafel wird man die verschiedenen Arten der Symmetrie als 
Belege für die gewonnenen Anschauungen wiederfinden. Die 
Ornamentik, welche, wie die reine Instrumentalmusik, keinen 



- 53 — 

Nebenzweck verfolgt, sondern nur dem Vergnügen an der Form 
(und Farbe) dient, liefert am besten die Thatsachen für die 
vorliegenden Studien. Die Schrift wird durch andere Rück- 
sichten als jene der Schönheit beherrscht. Gleichwohl findet 
man z. B. imter den 24 grossen lateinischen Buchstaben 10 
vertical symmetrische (A, H, I, M, O, T, V, W, X, Y), fünf 
horizontal symmetrische (B, C, D, E, K), drei centrisch sym- 
metrische (N, S. Z) und nur sechs unsymmetrische (F, G, L, 

P, Q, ß). 

11. 

Es sei hier nochmals hervorgehoben, dass geometrische 
und physiologische Eigenschaften eines Raumgebildes scharf 
zu scheiden sind. Die physiologischen Eigenschaften sind 
durch geometrische mitbestimmt, aber nicht allein durch 
diese bestimmt. Dagegen haben physiologische Eigenschaf- 
ten höchst wahrscheinlich die erste Anregung zu geometrischen 
Untersuchungen gegeben. Die Gerade ist wohl nicht durch 
ihre Eigenschaft die Kürzeste zwischen zwei Punkten zu sein, 
sondern durch ihre physiologische Einfachheit aufge- 
fallen. Auch die Ebene hat, neben ihren geometrischen 
Eigenschaften, einen besondem physiologisch-optischen (aesthe- 
tischen) Werth, durch welchen sie auffällt, wie dies noch aus- 
geführt werden soll. Die Theilung der Ebene und des Rau- 
mes nach rechten Winkeln hat nicht nur den Vorzug der 
gleichen Theile, welche hierbei entstehen, sondern auch 
noch einen besondem Symmetriewert h. Der Umstand, 
dass congruente und ähnliche geometrische Gebilde in eine 
Orientirung gebracht werden können, in welcher ihre Ver- 
wandtschaft physiologisch auffallt, hat ohne Zweifel be- 
wirkt, dass diese Arten der geometrischen Verwandtschaft 
früher untersucht worden sind, als minder auffällige, wie Affi- 



- 54 — 

nität, Collineation und andere. Ohne Zusammenwirken der 
sinnlichen Anschauung und des Verstandes ist eine wissen- 
schaftliche Geometrie nicht denkbar. H. H a n k e 1 hat aber in 
seiner Geschichte der Mathematik (Leipzig 1874) sehr schön 
ausgeführt, dass in der griechischen Geometrie das Verstän- 
de smoment, in der indischen hingegen das sinnliche Mo- 
ment bedeutend überwiegt. Die Inder verwenden das Princip 
der Symmetrie und der Ähnlichkeit (a. a, 0. S, 206) in einer 
Allgemeinheit, welche den Griechen vollkommen fremd ist. Der 
Vorschlag Hank eis, die Schärfe der griechischen Methode 
mit der Anschaulichkeit der indischen zu einer neuen Darstel- 
lungsweise zu verbinden, ist sehr beherzigenswerth. Man 
brauchte übrigens hierin nur den Anregungen von Newton 
und Joh. Bernoulli zu folgen, welche das Princip der 
Ähnlichkeit selbst in der Mechanik in noch allgemeinerer 
Weise verwendet haben. Welche Vortheile auf dem letzteren 
Gebiete das Princip der Symmetrie bietet, habe ich an 
einem andern Orte vielfach ausgeführt ^ 6). 



26) Weniger vollständige Ausführungen der Hauptgedanken dieses 
Kapitels habe ich gegeben in der citirten Abhandlung „über das Sehen 
von Lagen und Winkeln" (1861), femer in Fichte's Zeitschrift für Phi- 
losophie Bd. 46, Jahrg. 1865 S. 5 und „Gestalten der Flüssigkeit". Prag 
1872. — In Bezug auf die Verwerthung des Principes der Synunetrie in 
der Mechanik vergl. meine Schrift: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 
Leipzig. Brockkaus 1882. 



^^Ä^ 







Weitere Untersuchung der Baumempflndungen^^). 

1. 

Dass die Raumempfindung mit motorischen Processen 
zusammenhängt, wird seit langer Zeit nicht mehr bestritten. 
Die Meinungen gehen nur darüber auseinander, wie dieser 
Zusammenhang aufzufassen sei. 



2. 

Fallen zwei verschiedenfarbige congruente Bilder nach 
einander auf dieselben Netzhautstellen, so werden sie ohne 
weiteres als gleiche Gestalten erkannt. Wir können uns also 



27) Der im V r i g e n Kapitel behandelte Stoff ist meines Wissens (drei 
Meine Arbeiten von mir selbst abgerechnet) noch gar nicht besprochen 
worden. Die Erörterungen in diesem Kapitel aber gründen sich für mich 
auf jene des vorigen. Ich lege hier die Wege dar, auf welchen ich selbst 
zu Aufklärungen über die Kaumempfindung gelangt bin, ohne etwas 
von dem in Anspruch zu nehmen, was von anderer Seite in 
dieser Kichtung geleistet wurde, und was namentlich in der Hering- 
fichen Theorie enthalten ist. Die grosse hieher gehörige Literatur ist mir 
auch zu unvollständig bekannt, um nach jeder Richtung hin genaue Nach- 
weise zu geben. Denjenigen Punkt der He ring 'sehen Theorie, der 
mir der wichtigste scheint, werde ich übrigens besonders hervorheben. 




_ 56 - 

zunächst verschiedene Raumempfindungen an verschiedene 
Netzhautstellen gebimden denken. Dass aber diese Kaumem- 
pfindungen nicht unveränderlich an bestimmte Netzhaut- 
stellen geknüpft sind, erkennen wir, indem wir frei und will- 
kürlich die Augen bewegen, wobei die Objecte, obgleich 
ihre Bilder auf der Netzhaut sich verschieben, ihren Ort und 
ihre Gestalt nicht ändern. 

Wenn ich geradeaus vor mich blickey 
ein Object fixirend, so erscheint mir 
ein Object J., das sich auf der Netz- 
haut in >, in einer bestimmten Tiefe 
Figur 15. unter der Stelle des deutlichsten Sehens o 

abbildet, in einer gewissen Höhe zu liegen. Erhebe ich nun 
den Blick, B fixirend, so behält Ä hierbei seine frühere 
Höhe bei. Es müsste tiefer erscheinen, wenn der Ort des 
Bildes auf der Netzhaut beziehungsweise der Bogen o a allein 
die Raumempfindung bestimmen würde. Ich kann den Blick 
bis zu Ä und darüber hinaus erheben, ohne dass an diesem 
Verhältniss etwas geändert wird. Der physiologische Process 
also, der die willkürliche Erhebung des Auges bedingt, 
vermag die Höhenempfindung ganz oder theil weise zu 
ersetzen, ist mit ihr gleichartig, kurz gesagt algebraisch mit 
derselben summirbar. Drehe ich den Augapfel durch einen 
leichten Ruck mit dem Finger aufwärts, so scheint sich hier- 
bei das Object Ä, der Verkleinerung des Bogens oa ent- 
sprechend, in der That zu senken. Dasselbe geschieht, wenn 
durch irgend einen andern unbewussten oder unwillkürlichen 
Process, z. B. durch einen Krampf der Augenmuskel, der 
Augapfel sich aufwärts dreht. Nach einer seit mehreren 
Decennien bekannten Erfahrung der Augenärzte greifen 
Patienten mit einer Lähmung des rectus extemus zu weit 
nach rechts, wenn sie ein rechts liegendes Object ergreifen 



- 57 - 

wollen. Da dieselben eines stärkeren Willensimpulses be- 
dürfen als Gesunde, um ein rechts liegendes Object zu fixiren, 
so liegt der Gedanke nahe, dass der Wille, rechts zu blicken, 
die optische Kaumempfindung „rechts" bedingt. Ich habe 
vor Jahren*®) diese Erfahrung in die Form eines Versuches 
gebracht, den jeder sofort anstellen kann. Man drehe die 
Augen möglichst nach links, und drücke nun an die rechten 
Seiten der Augäpfel zwei grosse Klumpen von ziemlich festem 
Glaserkitt gut an. Versucht man alsdann rasch nach rechts 
zu blicken, so gelingt dies wegen der ungenauen Kugelform 
der Augen nur sehr unvollkommen, und die Objecte verschie- 
ben sich hierbei ausgiebig nach rechts. Der blosse Wille, 
rechts zu blicken, gibt also den Netzhautbildern an bestimm- 
ten Netzhautstellen einen grösseren Kechtswerth, wie wir 
kurz sagen wollen. Der Versuch wirkt anfangs überraschend. 
Wie man aber bald merkt, lehren die beiden einfachen Er- 
fahrungen , dass durch willkürliche Rechtswendung der 
Augen die Objecte nicht verschoben, und dass durch ge- 
waltsame unwillkürliche Rechtswendung die Objecte nach 
links verschoben werden, zusammen genau dasselbe. Mein 
Auge, welches ich rechts wenden will und nicht kann, 
lässt sich als ein willkürlich rechts gewendetes und durch 
eine äussere Kraft gewaltsam zurückgedrehtes Auge 
ansehen. 

3. 

Der Wille, Blickbewegungen auszuführen, oder die 
Innervation, ist die Raumempfindung selbst. Dies ergibt sich 
ungezwungen aus der angeführten Betrachtung 2^). Wenn 



28) Kurz nach Abschluss meiner „Grundlinien der Lehre von den 
Bewegungsempfindungen". 

29) Ich halte hier den Ausdruck fest, welcher sich mir unmittelbar 
ergeben hat, ohne der weitern Untersuchung zu präjudiciren. 



- 58 - 

wir an einer Hautstelle ein Jucken oder einen Stich empfin- 
den, wodurch unsere Aufmerksamkeit genügend gefesselt wird, 
so greifen wir sofort mit dem richtigen Ausmass der Be- 
wegung hin. Ebenso drehen wir die Augen mit dem rich- 
tigen Ausmass nach einem Netzhautbild, sobald dasselbe uns 
genügend reizt, und wir es demnach beachten. Vermöge 
organischer Einrichtungen und langer Uebung treffen wir 
sofort die zur Fixirung eines auf bestimmter Netzhautstelle 
sich abbildenden Objectes eben zureichende Innervation. Sind 
die Augen schon rechts gewendet, und fangen wir an ein 
neues mehr rechts oder links gelegenes Object zu beachten, 
so fügt sich eine neue gleichartige Innervation der schon 
vorhandenen algebraisch hinzu. Eine Störung entsteht erst, 
wenn zu den willkürlich abgemessenen Innervationen fremd- 
artige unwillkürliche, oder äussere bewegende Kräfte hin- 
zutreten. 

4. 

Als ich mich vor Jahren mit den hierher gehörigen 
Fragen beschäftigte, bemerkte ich eine eigenthümliche Er- 
scheinung, die meines Wissens noch nicht beschrieben worden 
ist. Wir betrachten in einem recht dunklen Zimmer ein 

Licht A und führen dann 
eine rasche Blickbewegung 
nach dem tieferen Licht B 
aus. Das Licht A scheint 
hierbei einen (rasch ver- 
schwindenden) Schweif AA' 
nach oben zu ziehen. Das- 
selbe thut natürlich auch 
das Licht B, was zur Vermeidung von Complicationen in 
der Figur nicht angedeutet ist. Der Schweif ist selbstver- 




Figur 16. 



~ 59 — 

ständlich ein Nachbild, welches erst bei Beendigung oder 
kurz vor Beendigung der Blickbewegung zum Bewusstsein 
kommt, jedoch, was eben merkwürdig ist, mit Ortswerthen, 
welche nicht der neuen Augenstellung und Innervation, sondern 
noch der frühern Augenstellung und Innervation entsprechen. 
Aehnliche Erscheinungen bemerkt man oft beim Experimen- 
tiren mit der Holtz'schen Electrisirmaschine. Wird man 
während einer Blickbewegung abwärts von einem Funken 
überrascht, so erscheint derselbe oft hoch über den Elec- 
troden. Liefert er ein dauerndes Nachbild, so zeigt sich 
dieses natürlich unter den Electroden. Diese Vorgänge 
entsprechen der sogenannten persönlichen Differenz des Astro- 
nomen, nur dass sie auf das Gebiet des Gesichtssinnes be- 
schränkt sind. Durch welche organischen Einrichtungen 
dies Verhältniss bedingt ist, muss dahingestellt bleiben, 
wahrscheinlich hat es aber einen gewissen Werth zur Ver- 
hinderung der Desorientirung bei Augenbewegungen. 

5. 

Wir dachten uns bisher der Einfachheit wegen nur die 
fixirenden Augen bewegt, hingegen den Kopf (und überhaupt 
den Körper) ruhig. Drehen wir nun den Kopf ganz be- 
liebig, ohne ein optisches Object absichtlich ins Auge zu 
fassen, so bleiben die Objecte hierbei ruhig. Zugleich kann 
aber ein anderer Beobachter bemerken, dass die Augen wie 
reibungslose träge Massen an den Drehbewegungen keinen 
Antheil nehmen. Noch auffallender wird der Vorgang, wenn 
man sich continuirlich längere Zeit um die Verticalaxe, von 
oben gesehen etwa im Sinne des Uhrzeigers, herumdreht. 
Die offenen oder geschlossenen Augen drehen sich dann, wie 
Breuer beobachtet hat, etwa zehnmal auf eine volle Um- 
drehung des Körpers gleichmässig verkehrt wie der 



— 6o — 

Uhrzeiger , und ebenso oft ruckweise im Sinne des Uhr- 

^,^^^ Zeigers zurück. Die Figur veranschau- 

^^^^^^^-'"^^ ^ licht diesen Vorgang. Nach OT sind 
(f^ ^--^J^-'^'^'^^T die Zeiten als Abscissen, aufwärts al& 
^ ^ Ordinaten die Drehungswinkel im Sinne 

^^^ * des Uhrzeigers, abwärts im entgegen- 

gesetzten Sinne aufgetragen. Die Curve OA entspricht der 
Drehung des Körpers, OBB der relativen und OCC der ab- 
soluten Drehung der Augen. Niemand wird sich bei Wieder- 
holung der Beobachtung der Ueberzeugung verschliessen 
können, dass man es mit einer durch die Körperdrehung 
reflectorisch ausgelösten automatischen (unbewussten) Augen- 
bewegung zu thun hat. Wie diese Bewegung zu Stande 
kommt, bleibt natürüch zu untersuchen. Eine einfache Vor- 
stellung wäre die, dass von zwei antagonistischen Innerva- 
tionsorganen der ihnen bei der Körperdrehung gleichmässig 
zufliessende Reiz, von dem einen wieder mit einem gleich- 
massigen Innervationsstrom beantwortet wird, während das 
andere immer erst nach einer gewissen Zeit wie ein gefüllter 
und plötzlich umkippender Regenmesser einen Innervations- 
stoss abgibt. Für uns genügt es vorläufig zu wissen, dass 
diese automatische compensirende unbewusste Augenbewe- 
gung thatsächlich vorhanden ist. 

Die langsamere unbewusste compensirende Augenbewe- 
gung (die ruckweise hinterlässt keinen optischen Eindruck) 
ist also die Ursache, dass die Objecte bei Kopfdrehungen 
ihren Ort beizubehalten scheinen, was für die Orientirung 
sehr wichtig ist. Drehen wir nun mit dem Kopf in dem- 
selben Sinn, das fixirte Object wechselnd, auch willkürlich 
die Augen, so müssen wir durch die willkürliche Innervation 
die automatische unwillkürliche übercompensiren. Wir 
bedürfen derselben Innervation, als ob der ganze Drehungs- 



— 6i — 

"Winkel vom Auge allein zurückgelegt worden wäre. Hier- 
durch klärt es sich auf, warum, wenn wir uns umdrehen, 
der ganze optische Raum uns als ein Continuum und nicht 
als ein Aggregat von Gesichtsfeldern erscheint, und warum 
hierbei die optischen Objecte festliegend bleiben. Was 
vnr beim Umdrehen von unserm eigenen Körper sehen, sehen 
wir aus klarliegenden Gründen optisch bewegt. 

So gelangen wir also zu der praktisch werthvollen Vor- 
stellung unseres bewegten Körpers in einem festliegen- 
denKaume. Es wird uns verständlich, dass wir bei mehr- 
fachen Drehungen und Wendungen in Strassen, in Gebäuden, 
und bei passiven Drehungen im Wagen, oder in der Cajüte 
eingeschlossen (ja selbst in der Dunkelheit) die Orientirung 
nicht verlieren. Allerdings schlafen die Urcoordinaten, von 
welchen wir ausgingen, allmälig und imvermerkt ein , und 
hald zählen wir wieder von den Objecten aus, welche vor 
uns liegen. Der eigenthümlichen Desorientirung, in welcher 
man sich zuweilen Nachts beim plötzlichen Erwachen be- 
findet, rathlos das Fenster, den Tisch u. s. w. suchend, 
mögen wohl dem Erwachen unmittelbar vorausgehende moto- 
rische Träume zu Grunde liegen. 

Aehnliche Verhältnisse wie bei Körperdrehungen zeigen 
sich bei Körperbewegungen überhaupt. Bewege ich den 
Kopf oder den ganzen Körper seitwärts, so verliere ich ein 
optisch fixirtes Object nicht. Dasselbe scheint fest zu stehen, 
während die fernem Objecte eine der Körperbewegung gleich- 
sinnige, die nähern eine entgegengesetzte parallactische Ver- 
schiebung erfahren. Die gewohnten parallactischen Ver- 
schiebungen werden gesehen, stören aber nicht, und werden 
richtig interpretirt. Bei monocularer Inversion eines Pla- 
leau'schen Drathnetzes aber fallen die dem Sinne und dem 



— 62 — 

Ausmass nach ungewohnten parallactischen Bewegungen 
sofort auf, und spiegeln uns ein gedrehtes Object vor^®)* 

6. 

Wenn ich meinen Kopf drehe, so sehe ich nicht nur 
jenen Theil desselben, den ich überhaupt sehen kann, ge- 
dreht, was nach dem Vorausgeschickten sofort verständlich 
ist, sondern ich fühle ihn auch gedreht. Dies beruht da- 
rauf, dass im Gebiete des Tastsinnes ganz analoge Verhält- 
nisse bestehen, wie im Gebiete des Gesichtssinnes* 0. Greife 
ich nach einem Object, so complicirt sich eine Tastempfindung 
mit einer Innervationsempfindung. Blicke ich nach dem 
Object, so tritt an die Stelle der Tastempfindung eine Licht- 
empfindung. Da Hautempfindungen auch ohne Tasten von 
Objecten immer vorgefunden werden, sobald man ihnen die 
Aufmerksamkeit zuwendet, so geben diese, mit wechselnden 
Innervationen complicirt, ebenfalls die Vorstellimg unseres 



30) VergL meine „Beobachtungen über monoculare Stereoscopie.**^ 
SitzTingsberichte d. Wiener Akademie (1868) Bd. 58. 

31) Die Ansicht, dass Gesichtssinn und Tastsinn sozusagen denselben 
Baumsinn als gemeinsamen Bestandtheü enthalten, ist von Locke aufge- 
stellt, von Berkeley wieder bestritten worden. Auch Diderot ist 
(Lettres sur les aveugles) der Ansicht, dass der Kaumsinn des Blinden 
von jenem des Sehenden gänzlich verschieden sei Man vergl. hierüber 
die scharfsinnigen Ausführungen von Dr. Th. Loewy (Common senibles. 
Die Gemein-Ideen des Gesichts- und Tastsinnes nach Locke u. Berkeley. 
Leipzig 1884), deren Kesultat ich übrigens nicht beistimmen kann. Der Um- 
stand*, dass ein Blindgebomer nach der Operation den ihm durch das 
Getast wohlbekannten Würfel, und die .ebenso bekannte Kugel, durch das 
Gesicht nicht unterscheidet, beweist für mich gar nichts gegen Locke 
und nichts für Berkeley und Diderot. Auch der Sehende erkennt die 
einfach umgekehrte Figur erst nach mehrfacher Übung. Wie hätte auch 
der blinde Saunderson, wenn Locke Unrecht hätte, eine für Sehende 
verständliche Geometrie schreiben können. Möge der Blinde versuchen^ 
eine Farbenlehre zu schreiben! 



- 63 - 

bewegten Körpers, welche mit der auf optischem Wege 
gewonnenen in voller Uebereinstimmung steht. 

Bei activen Bewegungen werden also die Hautempfin- 
dungen dislocirt, wie man kurz sagen kann. Bei passiven 
Bewegungen unseres Körpers treten reflectorisch ausgelöste 
unbewusste compensirende Innervationen und Bewegungen 
auf. Drehe ich mich z. B. rechts herum, so compliciren 
sich meine Hautempfindungen mit denselben Innervationen, 
die mit Berührung von Objecten bei Rechtsdrehung verbun- 
den wären. Ich fühle mich rechts gedreht. Werde ich 
passiv rechts gedreht, so entsteht reflectorisch das Bestreben, 
die Drehung zu compensiren. Ich bleibe entweder wirklich 
stehen, und empfinde mich dann auch ruhig, oder ich 
unterdrücke die Linksdrehung. Dazu bedarf ich aber der- 
selben willkürlichen Innervation, wie zu einer activen Rechts- 
drehung, welche auch die gleiche Empfindung zur Folge hat. 

7. 

Das hier dargelegte einfache Verhältniss übersah ich 
noch nicht vollständig bei Abfassung meiner Schrift über 
Bewegungsempfindungen. In Folge dessen blieben mir einige 
theils von Breuer, theils von mir beobachtete Erscheinun- 
gen schwer verständüch, die sich nun ohne Schwierigkeit 
erklären, und die ich kurz berühren will. Bei passiver Dre- 
hung eines in einem Kasten eingeschlossenen Beobachters 
nach rechts erscheint demselben der Kasten gedreht, obgleich 
jeder Anhaltspunkt zur Beurtheilung einer Relativdrehung 
fehlt. Führen seine Augen unwillkürliche compensirende 
Bewegungen nach links aus, so verschieben sich die Netz- 
hautbilder so, dass er eine Bewegung nach rechts empfindet. 
Fixirt er aber den Kasten, so muss er die unwillkührlichen 
Bewegungen willkürlich compensiren, und sieht nun wieder 



- 64 - 

eine Bewegung nach rechts. Es wird hierdurch deutlich, dass 
die Breuer'sche Erklärung der Scheinbewegung des Augen- 
schwindels richtig ist, und dass gleichwohl durch will- 
kürliches Fixiren diese Bewegung nicht zum Verschwinden 
gebracht werden kann. Auch die übrigen in meiner Schrift 
erwähnten Fälle des Augenschwindels finden auf analoge 
Weise ihre Erledigung 3*). 

Wenn wir uns bewegen z. B., vorwärts schreiten oder 
uns drehen, so haben wir nicht nur eine Empfindung der 
jedesmaligen Lage unserer Körpertheile , sondern auch noch 
die viel einfachere Empfindung einer Vorwärtsbewegung 
oder Drehung. In der That setzen wir die Vorstellung der 
Vorwärtsbewegung nicht aus den Vorstellungen der einzelnen 
Beinschwingungen zusammen, oder haben wenigstens nicht 
nöthig dies zu thun. Ja es gibt sogar Fälle, in welchen die 
Empfindung der Vorwärtsbewegung entschieden vorhanden 
ist, jene der Beinbewegungen aber ebenso entschieden fehlt. 
Dies trifft z. B. bei einer Eisenbahnfahrt zu, auch schon bei 
dem Gedanken einer Reise, andeutungsweise bei der Erin- 
nerung an einen fernem Ort u. s. w. Dies kann nur daran 
liegen, dass der Wille, sich vorwärts zu bewegen oder zu 
drehen, aus welchem die Extremitäten ihre motorischen 
Anregungen schöpfen, die ja durch besondere Innervationen 
noch modificirt werden können, verhältnissmässig einfacher 
Natur ist. Es bestehen hier wohl ähnliche, wenn auch com- 
plicirtere Verhältnisse, wie jene bei den Augenbewegungen, 
welche Hering so glücklich durchschaut hat, worauf wir 
alsbald zurückkommen. 



32) Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig 
Engelmann 1875. S. 83. 



— 6c 



8. 



Die folgenden Versuche und Ueberlegungen , welche an 
eine ältere Mittheilung anknüpfen, werden vielleicht die 
richtige Auffassung dieser Erscheinungen fördern. Wir stel- 
len uns auf eine Brücke und betrachten das unter derselben 
durchfliessende Wasser. Dann empfinden wir gewöhnlich uns 
in Ruhe, das Wasser aber in Bewegung. Längeres Hin- 
blicken auf das Wasser hat aber bekanntlich fast regelmässig 
zur Folge, dass plötzlich die Brücke mit dem Beobachter 
und der ganzen Umgebung dem Wasser entgegen in Bewe- 
gung zu gerathen scheint, während umgekehrt das Wasser 
den Anschein der Ruhe gewinnt^*). Die relative Be- 
wegung der Objecte ist in beiden Fällen dieselbe, und es 
muss demnach einen triftigen physiologischen Grund 
haben, warum bald der eine, bald der andere Theil der Ob- 
jecte bewegt empfunden wird. Um dies bequem untersuchen 
zu können, habe ich mir einen 
einfachen Apparat construirt, 
der in Figur 18 dargestellt 
ist. Ein einfach gemusterter 
Ledertuchlaufteppich wird hori- 
zontal über zwei 2 m lange, 
3 m von einander in Lagern pig. 18. 

befestigte Walzen gezogen, und 
mit Hülfe einer Kurbel in gleichmässige Bewegung gesetzt. 





33) Derartige Eindrücke erhält man bekanntlich in der mannigfaltig- 
sten Form, wenn man sich zwischen mehreren theils' bewegten, theils 
ruhenden Eisenbahnzügen befindet. — Als ich kürzlich auf der Elbe mit- 
telst Dampfschiff einen Ausflug unternahm, hatte ich unmittelbar vor der 
Landung den überraschenden Eindruck, als ob das Schiff stünde, und die 
ganze Landschaft sich demselben entgegenbewegte, was nach den folgen- 
den Auseinandersetzungen unschwer verständlich ist. 

5 



— 66 — 

Quer über den Teppich, etwa 30 cm über demselben, ist ein 
Faden ff mit einem Knoten K gespannt, der dem bei A 
aufgestellten Beobachter als Ruhepunkt für das Auge dient. 
Folgt der Beobachter mit den Augen den Zeichnungen 
des im Sinne des Pfeiles bewegten Teppichs, so sieht er diesen 
in Bewegung, sich und die Umgebung aber ruhig. Fixirt 
er hingegen den Knoten, so glaubt er alsbald mit dem gan- 
zen Zimmer dem Pfeile entgegen in Bewegung zu gerathen, 
w^ährend er den Teppich für stillstehend hält. Dieser Wech- 
sel des Anblicks vollzieht sich je nach der Stimmung in 
längerer oder kürzerer Zeit, gewöhnlich nach einigen Secun- 
den. Weiss man einmal, worauf es ankommt, so kann man 
ziemlich rasch und willkürlich mit den beiden Eindrücken 
w^echseln. Jedes Verfolgen des Teppichs bringt den Beob- 
achter zum Stehen, jedes Fixiren von K oder Nichtbeachten 
des Teppichs, wobei dessen Zeichnungen verschwimmen, setzt 
den Beobachter in Bewegung. Die Erscheinung ist selbst- 
redend gänzlich verschieden von der bekannten Plateau- 
Op per sehen, die eine locale Netzhauterscheinung ist. 
Bei dem obigen Experiment bewegt sich die deutlich ge- 
sehene ganze Umgebung, bei dem letztem Phänomen zieht 
ein bewegter Schleier über das ruhige Object hin. Auch 
die nebenbei auftretenden stereoscopischen Erscheinungen, bei 
welchen z. B. der Faden mit dem Knoten unter dem sich 
als durchsichtig darstellenden Teppich erscheint, sind hier 
ganz gleichgültig^^). 



34) In meiner Schrift über „Bewegungsempfindungen" S. G3 habe ich 
constatirt, dass den Plateau-Oppel'schen Erscheinungen ein be- 
sonderer Process zu Grunde liegt, der mit den übrigen Bewegungsempfindun- 
gen nichts zu schaffen hat. Es heisst daselbst : 

„Dementsprechend werden wir daran denken müssen, dass mit der 
Bewegung eines Netzhautbildes ein besonderer Process erregt wird. 



'- ,^ 



T 



- 67 - 

Bevor wir an die Erklärung des Versuches gehn, wollen 
wir denselben noch variiren. Ein Beobachter, der sich bei 
B aufetellt, meint unter den angegebenen Umständen mit 
seiner ganzen Umgebung nach links zu fliegen. Wir bringen 
femer ober dem Teppich TT, Figur 19, einen gegen den Ho- 
rizont um 45*^ geneigten Spiegel SS an. 
Durch SS betrachten wir das Spiegel- 
bild T'T', nachdem wir auf die Nase 
noch einen Schirm nn gesetzt haben, 
welcher dem Auge den directen An- 
blick von TT entzieht. Bewegt sich ~t 
TT im Sinne des Pfeiles, während wir Fig. 19. 

das Spiegelbild K' von K fixiren, so 
glauben wir alsbald mit dem ganzen Zimmer zu versinken, 
bei umgekehrter Bewegung glauben wir hingegen wie in 
einem Luftballon zu steigen 3^). Endlich gehören hierher 
noch die Versuche mit der Papiertrommel, welche ich be- 
reits beschrieben habe, und auf die auch die nachfolgende 
Erklärung anzuwenden ist. Alle diese Erscheinungen 
sind keine rein optischen, sondern sie sind von 
einer unverkennbaren Bewegungsempfindung des 
ganzen Körpers begleitet. 



der bei der Kühe nicht vorhanden ist, und dass bei entgegengesetzten 
Bewegungen ganz ähnliche Processe in älinlichen Organen erregt werden, 
welche sich aber gegenseitig in der Art ausschliessen, dass mit dem Ein- 
treten des einen der andere erlöschen muss, und mit der Erschöpfung 
des einen der andere eintritt." — Dies scheinen S. E x n e r und Vierordt 
übersehen zu haben, welche später ähnliche Ansicliten über denselben 
Gegenstand ausgesprochen haben. 

35) Derartige Erscheinungen treten oft ganz ungesucht auf. Als ein- 
mal im Winter bei Windstille und starkem Schneefall meine kleine Toch- 
ter am Fenster stand, rief sie plötzlich, sie steige mit dem ganzen Hause 
in die Höhe. 

5* 



— 68 — 



9. 



Wie haben wir nun unsere Gedanken einzurichten, um 
in denselben die besprochenen Thatsachen in einfachster 
Weise darzustellen? Bewegte Objecte üben bekanntlich einen 
besondern Bewegungsreiz auf das Auge aus, ziehn die Auf- 
merksamkeit und den Blick auf sich. Folgt ihnen der Blick 
wirklich, so müssen wir nach allem bisher Besprochenen an- 
nehmen, dass die Objecte bewegt erscheinen. Soll das Auge 
trotz der bewegten Objecte auf die Dauer ruhig bleiben, so 
muss der von denselben ausgehende constante Bewegungs- 
reiz durch einen constanten, dem motorischen Apparat des 
Auges zufliessenden Innervationsstrom compensirt werden, 
ganz so, als wäre der ruhige fixirte Punkt gleichmässig ent- 
gegengesetzt bewegt, und als wollte man demselben mit den 
Augen folgen. Tritt dies aber ein, so muss alles fixirte 
Unbewegte bewegt erscheinen. Dass dieser Innervations- 
strom immer mit bewusster Absicht eingeleitet werde, wird 
kaum nothwendig sein, wenn er nur von demselben Centrum 
aus und auf denselben Wegen verläuft, von welchen das 
willkürliche Fixiren ausgeht. 

Um die zuvor besprochenen Erscheinungen zu beobachten, 
bedarf es gar keiner besondern Vorkehrungen. Wir sind 
vielmehr immer von denselben umgeben. Ich schreite durch 
einen einfachen Willensact vorwärts. Meine Beine vollführen 
ihre Schwingungen, ohne dass ich mich besonders darum 
kümmere, und meine Augen sind fest auf das Ziel gerichtet, 
ohne sich von den durch das Ausschreiten bewegten Netz- 
hautbildern ablenken zu lassen. Mit einem Willensact ist 
alles dies eingeleitet, und dieser Willensact selbst ist die 
Empfindung der Vorwärtsbewegung. Derselbe Process, oder 
doch ein Theil desselben, wird auch auftreten müssen, sollen 



- 69 ~ 

die Augen dem Reize einer Masse von bewegten Objecten 
dauernd widerstehen. Daher die Bewegungsempfindung bei 
den obigen Versuchen. 

Beobachten wir ein Kind auf einem Eisenbahnzuge, so 
folgen dessen Augen fast unausgesetzt in zuckender Be- 
wegung den äussern Objecten, welche ihm zu laufen scheinen. 
Auch der Erwachsene hat die gleiche Empfindung, wenn er 
sich den Eindrücken zwanglos hingibt. Fahre ich vorwärts, 
so dreht sich , aus naheliegenden Gründen, der ganze Raum 
zu meiner Linken um eine sehr ferne verticale Axe im Sinne 
des Uhrzeigers, der ganze Raum zu meiner Rechten ebenso 
umgekehrt. Erst wenn ich dem Verfolgen der Objecto 
widerstehe, tritt für mich die Empfindung der Vorwärts- 
bewegung auf. 

10. 

Ohne den Thatsachen Gewalt anzuthun, welche in 
meiner Schrift über Bewegungsempfindungen beschrieben sind, 
legen die eben besprochenen Beobachtungen die Möglichkeit 
nahe, die Auffassung dieser Thatsachen zu modificiren, wie 
wir dies im Folgenden andeuten wollen »^). Es bleibt höchst 



36) Meine Ansichten über Bewegungsempfindungen sind bekanntlich 
mehrfach angefochten worden, wobei allerdings die Polendk inmier nur 
gegen die Hypothese gerichtet war, auf welche ich selbst keinen be- 
sondem Werth gelegt habe. Dass ich sehr gern bereit bin, meine Ansichten 
nach Maassgabe der bekannt gewordenen Thatsachen zu modificiren, dafür 
mag eben die vorliegende Schrift den Beweis liefern. Ich will die Ent- 
scheidung darüber, wieweit ich das Richtige getroffen habe, mit Beruhigung 
der Zukunft überlassen. Andererseits möchte ich nicht unbemerkt lassen, 
dass sich auch f ü r die von mir, Breuer und Brown aufgestellte An- 
sicht günstige Beobachtungen ergeben haben. Hierher gehören zunächst dio 
von Dr. G u y e (in Amsterdam) gesammelten Erfahrungen (Du Vertige de M^- 
nidre. Rapport lu dans la section d'otologie du congr^s periodique interna- 
tional de Sciences mddicales ä Amsterdam. 1879). Guye beobachtete bei Er- 



— 70 — 



wahrscheinlich, dass ein Organ im Kopfe existirt, wir wollen es 
das Endorgan (£0) nennen, welches auf Beschleunigungen 



krankungen des Mittelohres reflectorische Kopfdrehungen beim Einblasen 
von Luft in die Trommelhöhle, und fand einen Patienten der genau den Sinn 
und die Anzahl der Drehungen angeben konnte, welche er beim Einspritzen 
von Flüssigkeiten empfunden hatte. — Professor Crum Brown (on a case 
of dyspeptic vertigo. Proceedings of the Royal Society of Edinburgh 1881 
— 82) beschreibt einen an sich beobachteten interessanten Fall von patho- 
logischem Schwindel, welcher sich in seiner Gesammtheit durch eine gestei- 
gerte Intensität und verlängerte Dauer der jeder Drehung folgenden Em- 
pfindung erklären Hess. — Am merkwürdigsten sind aber die Beobachtungen 
von William James (the sense of dizzines in deaf-mutes. American 
Journal of Otology. Volume IV October 1882). James fand eine rela- 
tive vorwiegende auffallende Unempfindlichkeit der Taubstummen gegen 
den Drehschwindel, häufig eine grosse Unsicherheit des Ganges derselben 
bei geschlossenen Augen, und in manchen Fällen eine überraschende 
Desorientirung beim Untertauchen unter Wasser, wobei Beängsti- 
gung und gänzliche Unsicherheit über das Oben und Unten eintrat Diese 
Beobachtungen sprechen sehr dafür, dass bei den Taubstummen, wie es 
nach meiner Auffassung zu erwarten war, der eigentliche Gloichgewichts- 
sinn sehr zurücktritt, und dass dieselben die beiden andern orientirenden 
Sinne, den Gesichtssinn und den Muskelsinn (welcher letztere beim Ver- 
sinken im Wasser mit der Aufhebung des K()ri)ergewichtes alle Anhalts- 
punkte verliert), desto nöthiger haben. 

Die Ansicht ist nicht haltbar, dass wir zur Kenntniss des Gleichge- 
wichtes und der Bewegungen nur durch die Halbcirkelkanäle gelangen. 
Höchst wahrscheinlich haben vielmehr auch niedere Thiere, denen das 
entsprechende Organ ganz fehlt, Bewegungsempfindungen. Es war mir 
bisher nicht möglich, in dieser Richtung Versuche anzustellen. Die Ver- 
suche aber, welche Lubbock in seiner Schrift über „Ameisen, Bienen 
und Wespen" (Leipzig. Brockhaus 1883) S. 220 beschrieben hat, werden 
mir durch die Annahme von Bewegungsempfindungeu viel verständlicher. 
Da möglicherweise Anderen derartige Versuche näher liegen, ist es viel- 
leicht nicht unnütz, wenn ich einen Apparat bespreche, den ich (Anzeiger 
der Wiener Akademie, 30. December 1875) schon kurz beschrieben habe. 

Der Apparat dient dazu, das Verhalten von Thieren bei rascher Ro- 
tation derselben zn beobachten. Da nun das Bild durch die Rotation 
verwischt wird, so muss die passive Rotation optisch aufgehoben und 
ausgeschaltet werden, so dass die activen Bewegungen des Thieres allein 
übrig bleiben und beobachtbar werden. Man erreicht die optische Auf- 
hebung der Rotation einfach dadurch, dass man über der Scheibe der 
Centrifugalraaschine genau um dieselbe Axe mit Hilfe einer Zahnradüber- 



reagirt, und durch dessen Vermittlung wir zur Kenntniss von 
Bewegungen gelangen. Statt uns aber vorzustellen, dass es 



tragung ein Eoflexionsprisma mit der halben Winkelgeschwindigkeit der 
Sclieibe nnd in demselben Sinne rotircn läsat. 

Die Figur 30 gibt eine Ansicht des Apparates. Auf der Scheibe der 
Centrifngalniaschine befindet sich ein Glasbehältor g, in welchem die zu 




beoba htenl n Ihiere 
tragung w rl la uli 




verd n Durch ene Zahnradubor 
halbe W nkcl" sc! wu digk t u d in 
lemeelb o ^mne w e » 
ft dr lit Die folgende 
Figur KL Igt die Verzah- 
nung in einer bosondem 
DarBtellung, Das Ocu- 
kr und der Behälter 
gg drehen sich um die 
Axe A A , während ein 
Paar von Zahnrädern, 
die fest mit einander ver- 
bunden sind, eich uin BB 
drehen. Der Eadine des 
Zahnrades aa sei™ r; 



72 — 



besondere Bewegungsempfindungen gibt, welche von die- 
sem Apparat wie von einem Sinnesorgan ausgehen, können 



dann ist r jener von hh, 



1r_ 
3 



jener von c c, jener von dd aber = 



4r 



womit das verlangte Geschwindigkeitsverhältniss von oo und gg erzielt ist. 
Um den Apparat zu centriren, legt man auf die Bodenscheibe des 
Behälters einen mit Stellschrauben versehenen Spiegel -S' und justirt den- 
selben so, dass beim Kotiren die Bilder in demselben ruhig bleiben. 
Dann steht er senkrecht auf der Kotationsaxe des Apparates. Einen 
zweiten kleinen Spiegel ^, dessen Belegung ein kleines Loch L enthält, 
bringt man an dem leeren Ocularrohr mit der spiegelnden Fläche nach 
unten so an, dass bei der Rotation die Bilder unbewegt bleiben, die man 
durch das Loch hindurch in dem Spiegelbilde von S' va. S sieht. Dann 
steht S* senkrecht auf der Ocularaxe. Nun bringt man, was nach einigen 
Versuchen leicht gelingt, mit Hilfe eines Pinsels auf dem Spiegel S einen 
Punkt P an, welcher beim Rotiren seine Lage nicht ändert, und stellt 
das Loch im Spiegel 8' so, dass es bei der Rotation ebenfalls an Ort und 
Stelle bleibt. Hierdurch sind Punkte der beiden Rotationsaxen gewonnen. 
Stellt man nun das Ocular (mit Hilfe von Schrauben) so, dass man, durch 
das Loch in -S' hindurchsehend, den Punkt P auf S und das Spiegelbild 
von i^ in -8' (oder eigentlich die vielen Spiegelbilder von F und l) in 
Deckung sieht, so sind die beiden Axen nicht nur parallel, sondern sie 
fallen auch zusanunen. 

Als Ocular könnte man in der einfachsten Weise einen Spiegel, dessen 
Ebene die Axe enthält, anwenden, und ich habe dies bei dem ersten Ru- 
diment meines Apparates auch gethan. 
Allein man verliert hierdurch die Hälfte 
des Gesichtsfeldes. Ein total reflectiren- 
des Prisma ist doshalb viel vortheilhaf- 
ter. In der Figur 22 stelle AB Q einen 
ebenen Schnitt senkrecht zu der Hypo- 
thenuseufläche und den Kathetenflächen 
des total reflectirenden Ocularprismas 
vor. Dieser Schnitt enthalte zugleich die 
Rotationsaxe O N PQ, welche parallel zu 
AD ist. Der Strahl, welcher nach der 
Axe Q P fortgeht , muss nach der Bre- 
chung und Retiexiou im Prisma wieder 
nach der Axe N O fortgehen und das 
(in der Axe befindliche) Auge O treffen. 
Wenn dies erfüllt ist, können die Punkte 
^'^ ja der x\xe bei der Rotation keine Ver- 

,,.^^ ,y.y Schiebung erfahren, und der Apparat ist 




— 73 — 

wir auch annehmen, dass dasselbe lediglich reflectorisch 
Innervationen auslöst. Innervationen können willkürlich und 
bewusst oder unwillkürlich und unbewusst sein. Die beiden 
verschiedenen Organe, von welchen sie ausgehen, bezeichnen 
wir mit WI und JJL Beide können auf den oculomotori- 
sehen (OJf) und den locomotorischen Apparat (LM) über- 
gehen. 

Betrachten wir nun das nebenstehende Schema. Wir 
leiten im Sinne des glatten Pfeiles willkürlich also von WI 
aus eine active Bewegung 
ein, welche sich im Sinne 
der glatten Pfeile auf OM 
und LM überträgt. Die zu- 
gehörige Innervation em- 
pfinden wir unmittelbar. 
Eine besondere hiervon ver- 
schiedene Bewegungsem- 
pfindung ist also in diesem 

Fall unnöthig. Ist nun die Bewegung im Sinne des glatten 
Pfeiles eine (uns überraschende) passive, so gehen erfah- 




centrirt. Der betreffende Strahl muss also den Mittelpunkt M von AB 
treffen und schneidet demnach, weil er unter dem Incidenzwinkel von 45<^ 
auf Crownglas fällt A B unter etwa 16° 40'. Hiernach muss O P um etwa 
0.115. A B von der Axe abstehen, welches Verhältniss am besten empirisch 
hergestellt wird, indem man das Prisma im Ocular so verschiebt, dass 
Schwankungen der Objecto m g g bei der Rotation wegfallen. 

Die Figur 22 macht zugleich das Gesichtsfeld für das Auge in O er- 
sichtlich. Der Strahl O A (welcher eben senkrecht auf ^ C fällt) wird 
2iTi AB nach A C reflectirt und geht nach 8. Der Strahl O R hingegen 
wird bei B reflectirt und tritt gebrochen nach T aus. 

Der Apparat erwies sich bei meinen bisherigen Versuchen in jeder 
Beziehung als ausreichend. Bringt man ein gedrucktes Blatt nach g g^ 
und rotirt so rasch, dass dessen Bild ganz verwischt wird, so kann man 
die Schrift durch das Ocular bequem lesen. Die Umkehrung wegen der 
Spiegelung könnte beseitigt werden, wenn man ober dem rotirenden 



— 74 — 

rungsmässig Yon EO über OT Reflexe aus, welche compen- 
s i r e n d e Bewegungen hervorbringen, was wir durch die ge- 
fiederten Pfeile andeuten. Betheiligt sich WI nicht, und 
gelingt die Compensation , so fällt hiermit auch die Be- 
wegung und die Forderung einer Bewegungsempfindung weg. 
Wird aber die compensirende Bewegung von WI aus (ab- 
sichtlich) unterdrückt, so ist hierzu wieder dieselbe Inner- 
vation wie bei der activen Bewegung nöthig, und sie liefert 
auch wieder die gleiche Bewegungsempfindung. 

Das Organ EO ist also zu WI und UI so gestimmt, 
dass in den beiden letzteren mit demselben Bewegungsreiz 
des ersteren entgegengesetzte Innervationen zusammentreffen. 
Ausserdem haben wir aber noch folgende Verschiedenheit in 
der Beziehung von EO zu WI und UI zu bemerken. Für 
EO ist der Bewegungsreiz natürlich derselbe, ob die ein- 
geleitete Bewegung eine passive oder active ist. Auch bei 
einer activen Bewegung würden die von WI ausgehenden 
Innervationen in ihrem Eifolg durch EO und UI aufgehoben, 
wenn nicht zugleich von WI mit der willkürlichen Inner- 
vation eine Hemmung nach EO oder UI ausginge. Den 
Einfluss von EO auf WI haben wir uns viel schwächer vor- 
zustellen als jenen auf UL Denken wir uns etwa drei Thiere 
WI, UI und EO^ welche die Arbeit so getheilt hätten, dass 
das erste nur Angriffs-, das zweite nur Abwehr- oder 



Ocularjirisma ein zweites festes Keflexionsprisma anbringen würde, welche 
Complication nur aber unnöthig schien. 

Bisher habe ich, ausser einigen physikalischen Versuchen, nur Rota- 
tionsversuche niit verschiedenen kleinen Wirbelthieren (Vögeln, Fischen) 
angestellt, und meine (in der Schrift über „Bewegungsempfindungon" an- 
gegebenen) Daten durchaus bestätigt gefunden. Es wäre aber wohl auch 
förderlich, wenn man mit Insecten und andern, namentlich niederen 
Thieren (Seetliieren) ähnliche Versuche durchführen würde. 



— 75 — 

riuchtbewegungen ausführte, während das dritte als Wächter 
aufgestellt wäre, mit einander zu einem neuen Wesen ver- 
bunden, wobei WI eine dominirende Stellung einnähme, so 
würde dies beiläufig dem dargestellten Verhältniss ent- 
sprechen. Es wird sich auch manches zu Gunsten einer 
derartigen Auffassung der höheren Thiere anführen lassen ^^)« 
Ich will das eben Ausgesprochene nicht für ein voll- 
ständiges und nach allen Seiten zutreffendes Bild der That- 
sachen ausgeben, bin mir vielmehr der Mängel meiner Aus- 
führung bewusst. Das dem entwickelten Hauptgrundsatz 
(S. 28) entsprechende Streben aber, alle Raum- und Be- 
wegungsempfindungen, welche im Gebiete des 
Gesichts- und Tastsinnes, bei der Ortsbewegung, 
als Schatten selbst bei der Erinnerung an die 
Locomotion, beim Gedanken an einen fernen Ort 
u. s. W. auftreten, auf eine Empfindungsqualität 
zurückzuführen, wird man gerechtfertigt finden. Die 
Annahme, dass diese Empfindungsqualität der Wille sei, so- 
weit er sich auf Raumlage und räumliche Bewegung bezieht, 
oder die Innervationsempfindung, präjudicirt der weitern 
Forschung nicht, und stellt nur die Thatsachen dar, soweit 
sie bis jetzt bekannt sind^^). 



37) Wenn ich einen kleinen Vogel mit der Hand anfassen will, so be- 
nimmt er sich dieser Hand gegenüber gerade so, wie sich etwa ein Mensch 
gegen einen riesigen Tintenfisch verhalten würde. — Bei Betrachtung 
einer Gesellschaft kleiner Kinder, deren Bewegungen noch wenig überlegt 
Tind geübt sind, machen namentlich die Hände und die Augen sehr stark 
den Eindruck polypenartiger Wesen. Selbstverständlich können solche 
Eindrücke keine wissenschaftliche Frage entscheiden, es kann aber sehr 
anregend sein, sich denselben zeitweilig hinzugeben. 

38) Vergl. die Ansicht von Hering in Hermann's Handbuch der 
Physiologie Bd. IH. 1. Tli. S. 547. 



— 70 



11. 

Aus den Erörterungen des vorigen Kapitels über Sym- 
metrie und Aehnlichkeit können wir ohne weiteres den 
Schluss ziehen, dass gleichen Richtungen gesehener Linien 
gleichartige Innervationsempfindungen, zur Medianebene sym- 
metrischen Linien sehr ähnliche Innervationsempfindungen, 
dem Blick nach oben und unten, in die Ferne und in die 
Nähe aber sehr verschiedene Innervationsempfindungen 
entsprechen, was nach den Symmetrieverhältnissen des moto- 
rischen Apparates der Augen grösstentheils auch von vorn- 
herein zu erwarten ist. Hiermit allein ist schon eine ganze 
Reihe eigenthümlicher physiologisch optischer Phänomene er- 
ledigt, die bisher kaum beachtet worden sind. Ich komme 
nun aber zu dem, nach physikalischer Schätzung wenigstens, 
wichtigsten Punkt, 

Der Raum des Geometers ist ein Vorstellungsgebilde 
von dreifacher Mannigfaltigkeit, welches sich auf Grund- 
lage von manuellen und intellectuellen Operationen entwickelt 
hat. Der optische Raum (H e r i n g ' s Sehraum) steht in einer 
ziemlich complicirten geometrischen Verwandtschaft zu dem 
vorigen. Man kann mit Hülfe bekannter Ausdrücke die 
Sache noch am besten darstellen, wenn man sagt, dass der 
optische Raum den geometrischen (Euklides'schen) in 
einer Art Reliefperspective abbilde, was sich teleologisch 
auch erklären lässt. Jedenfalls ist aber auch der optische 
Raum eine dreifache Mannigfaltigkeit. Der Raum des 
Geometers zeigt in jedem Punkte und nach allen Rich- 
tungen dieselben Eigenschaften, was vom physiologischen 
Raum durchaus nicht gilt. Der Einfluss des physiologischen 
Raumes ist aber in der Geometrie noch vielfach zu be- 



— /7 — 

merken. Wenn wir z. B. convexe und concave Krüm- 
mung unterscheiden, so ist dies ein solcher Fall. Der Geo- 
meter sollte eigentlich nur die Abweichung vom Mittel der 
Ordinaten kennen. 

12. 

So lange man sich vorstellt, dass die (12) Augen- 
muskel einzeln innervirt werden, ist man nicht im Stande, 
diese fundamentale Thatsache zu erklären. Ich habe diese 
Schwierigkeit Jahre lang gefühlt, und auch die Richtung 
erkannt, in welcher nach dem Princip des Parallelismus 
des Physischen und Psychischen die Aufklärung zu suchen 
ist; die Auflösung selbst blieb mir wegen mangelhafter Er- 
fahrung auf diesem Gebiet verborgen. Desto besser weiss 
ich He ring 's Verdienst zu schätzen, der dieselbe ge- 
funden hat. Den drei optischen Raumcoordinaten, Höhen-, 
Breiten- und Tiefenempfindung (Hering, Beiträge zur Phy- 
siologie. Leipzig, Engelmann 1861 — 65) entspricht nämlich 
nach den Ausführungen desselben Forschers (Die Lehre vom 
iinocularen Sehen. Leipzig, Engelmann 1868) auch nur eine 
dreifache Innervation, welche beziehungsweise Rechts- 
oder Linkswendung, Erhebung oder Senkung und Conver- 
genz der Augen hervorruft. Darin liegt für mich die wich- 
tigste und wesentlichste Aufklärung ^^^^ Ob man nun die 
Innervation selbst für die Raumempfindung hält, oder sich 
hinter derselben erst die Raumempfindung vorstellt, was so- 
fort zu entscheiden weder leicht noch nothwendig sein dürfte, 
jedenfalls wirft die Hering' sehe Darlegung ein ausgiebiges 



39) Dies ist der Punkt, auf welchen oben (S. 55, Anmerkung 27 und 
S. 64) hingewiesen wurde. 



~ r8 - 



Licht in die psychische Tiefe des Sehprocesses. Auch die 
in Bezug auf Symmetrie und Aehnlichkeit von mir ange- 
führten Erscheinungen fügen sich dieser Auffassung vor- 
trefflich, was weiter auszuführen wohl unnöthig ist*^). 



40) Hiermit verschwindet auch die Schwierigkeit, die ich noch 1871 
empfand, und in meinem Vortrag über „die Symmetrie" Prag, CaJve (1872) 
mit den Worten aussprach : „Wenn nun auch von Geburt Einäugige ein ge- 
wisses Gefühl für Synmietrie haben, so ist dies freilich ein Räthsel. Frei- 
lich kann das S}'nmietriegefülil, wenn auch zunächst durch die Augen 
erworben , nicht auf diese beschränkt bleiben. Es muss sich wohl auch 
noch in andern Theilen des Organisnms durch mehrtausendjährige Übung 
des Menschengeschlechtes festsetzen, und kann dann nicht mit dem Ver- 
lust des einen Auges sofort wieder verschwinden". — In der That bleibt 
der symmetrische Innervationsapparat, auch wenn das eine 
Auge verloren geht. 






>C eI ^ ^ ^ ^ ^ _ ^_ ^ .!^. ^ *:^! <c^^). (^ ( ^ ^ ^ ^ ^ ^ J^^ 




XLa""^ ^"^ 



Beziehungen der Gresiehtsempfindnngen zu einander 
und zu anderen psyehisehen Elementen. 

1. 

Die Gesichtsempfindungen treten im normalen psychi- 
schen Leben nicht isolirt auf, sondern mit den Empfindungen 
anderer Sinne verknüpft. Wir sehen nicht optische Bilder 
in einem optischen Raum, sondern wir nehmen die uns um- 
gebenden Körper mit ihren mannigfaltigen sinnlichen Eigen- 
jchaften wahr. Erst die absichtliche Analyse löst aus diesen 
Domplexen die Gesichtsempfindungen heraus. Allein auch 
üe Wahrnehmungen insgesammt kommen fast nur mit Ge- 
ianken, Wünschen, Trieben verknüpft vor. Durch die Sinnes- 
jmpfindungen werden die den Lebensbedingungen entsprechen- 
ien Anpassungsbewegungen der Thiere ausgelöst. Sind diese 
Lebensbedingungen einfach, wenig und langsam veränderlich^ 
jo wird die unmittelbare Auslösung durch die Sinne zu- 
reichen * ^). Höhere intellectuelle Entwicklung wird unnöthig 



41) Beachtung dieses Umstände s wird vor ITberschätzung der Intelli- 
renz niederer Thiere bewahren. 



— 8o — 

sein. Anders ist dies bei sehr mannigfaltigen und veränder- 
lichen Lebensbedingungen. Ein so einfacher Anpassungs- 
mechanismus kann sich da weder entwickeln, noch würde 
er zum Ziele führen. 

Niedere Thiere verschlingen alles, was in ihre Nähe 
kommt, und den entsprechenden Reiz ausübt. Ein höher 
entwickeltes Thier muss seine Nahrung mit Gefahren suchen, 
die gefundene geschickt fassen, oder listig fangen, und vor- 
sichtig prüfen. Ganze Reihen von verschiedenen Erinnerun- 
gen müssen vorbeiziehen, bevor eine den widerstreitenden 
gegenüber stark genug wird, die entsprechende Bewegung 
auszulösen. Hier muss also eine die Anpassungsbewegungen 
mitbestimmende Summe von Erinnerungen (oder Er- 
fahrungen) den Sinnesempfindungen gegenüberstehen. Darin 
besteht der Intellect. 

Bei höheren Thieren mit complicirten Lebensbedingungen 
sind in der Jugend die Complexe von Sinnesempfindungen, 
welche die Anpassungsbewegungen auslösen, oft sehr zusam- 
mengesetzt ^^^ ^il (jer Entwicklung der Intelligenz werden 
immer kleinere Theile dieser Complexe zur Auslösung hin- 
reichend, und die Sinnesempfindungen werden immer mehr 
und mehr durch den Intellect ergänzt und ersetzt, wie 
sich dies an Kindern und heranwachsenden Thieren täglich 
constatiren lässt. 

2. 

Die Vorstellungen haben also die Sinnesempfindungen, 
soweit sie unvollständig sind, zu ersetzen, und die durch 
letztere anfänglich allein bedingten Processe weiter zu spin- 



42) Das Saugen der jungen Säugethiere, das S. 35 Anmerkung 21 be- 
schriebene Verhalten des jungen Sperlings sind passende Beispiele hiefur. 



— 8i — 

nen. Die Vorstellungen dürfen aber im normalen Leben die 
Sinnesempfindungen, soweit letztere vorhanden sind, durch- 
aus nicht verdrängen, wenn hieraus nicht die höchste 
Oefahr für den Organismus entspringen soll. In der That 
besteht im normalen psychischen Leben ein sehr scharfer 
Unterschied zwischen beiden Arten psychischer Elemente. 
Ich sehe eine schwarze Tafel vor mir. Ich kann mir mit 
der grössten Lebhaftigkeit auf dieser Tafel ein mit scharfen 
weissen Strichen gezogenes Sechseck oder eine farbige Figur 
vorstellen. Ich weiss aber, pathologische Fälle abgerech- 
net, immer was ich sehe, was ich mir vorstelle. Ich 
fühle, wie ich bei dem üebergang zur Vorstellung die Auf- 
merksamkeit von dem Auge abwende, und anderswohin richte. 
Der auf der Tafel gesehene und der an derselben Stelle vor- 
gestellte Fleck unterscheiden sich durch diese Aufmerksam- 
keit wie durch eine vierte Coordinate. Die Thatsachen 
würden nicht vollständig gedeckt, wenn man sagen würde, 
das Eingebildete lege sich über das Gesehene wie das Spie- 
gelbild in einer unbelegten Glasplatte über die hindurchge- 
sehenen Körper. Das ist vorläufig eine psychologische That- 
sache, deren physiologische Erklärung sich gewiss auch 
finden wird. 

Bei der starkem Entwicklung der Intelligenz, welche 
durch die complicirten Lebensverhältnisse des Menschen be- 
dingt ist, können die Vorstellungen zeitweilig die ganze 
Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so dass Vorgänge in der 
Umgebung des Sinnenden nicht gesehen , an ihn gerichtete 
Eragen nicht gehört werden, was solcher Beschäftigung un- 
gewohnte Menschen „Zerstreuung" nennen, während es viel 
passender „Sammlung" heissen würde. Wird nun der Betref- 
fende in einem solchen Fall gestört, so empfindet er sehr 
deutlich die Arbeit beim Wechsel der Aufmerksamkeit. 

6 



— 82 — 

3. 

Die Beachtung dieser scharfen Grenze zwischen den 
Vorstellungen und Sinnesempfindungen ist sehr geeignet, vor 
Unvorsichtigkeit bei psychologischen Erklärungen der Sinnes- 
phänomene zu schützen. Die bekannte Theorie der „unbe- 
wussten Schlüsse" wäre nie zu so breiter Entwicklung gelangt, 
wenn man mehr auf diesen Umstand geachtet hätte. 

Das Organ der Vorstellungen können wir uns vorläufig als 
ein solches denken, welches (in einem geringeren Grade) aller 
specifischen Energieen der Sinnesorgane und der motorischen 
Organe fähig ist, so dass je nach seiner Aufmerksamkeits- 
stimmung bald diese, bald jene Energie eines Organs in 
dasselbe hineinspielen kann. Ein solches Organ wird vorzüg- 
lich geeignet sein, die physiologische Beziehung zwischen den 
verschiedenen Energieen zu vermitteln. Wie die Erfah- 
rungen an Thieren mit entferntem Grosshirn lehren, gibt es 
ausser dem Vorstellungsorgan wahrscheinlich noch mehrere 
andere analoge Vermittlungsorgane, deren Vorgänge daher 
nicht in's Bewusstsein fallen. 

Der Reichthum des Vorstellungslebens, wie wir denselben 
aus der Selbstbeobachtung kennen, tritt gewiss erst beim 
Menschen auf. Die Anfänge dieser Lebensäusserung, in 
welcher sich durchaus nur die Beziehung aller Theile des 
Organismus zu einander ausspricht, reichen ebenso gewiss 
tief in der Entwicklungsreihe der Thiere herab. Aber auch 
die Theile eines Organes müssen durch gegenseitige An- 
passung zu einander in eine Beziehung treten, welche jener 
der Theile des Gesammtorganismus analog ist. Die beiden 
Netzhäute mit ihrem von den Lichtempfindungen abhängigen 
motorischen Accommodations- und Blendungsapparat geben 
ein sehr klares und bekanntes Beispiel eines solchen Ver- 
hältnisses. Das physiologische Experiment und die einfache 



_ 83 - 

Selbstbeobachtung belehren uns darüber, dass ein solches 
Organ seine eigenen zweckmässigen Lebensgewohnheiten, sein 
besonderes Gedächtniss, fast möchte man sagen seine eigene 
Intelligenz hat. 

Die lehrreichsten hierher gehörigen Beobachtungen sind 
wohl von Johannes Müller in seiner schönen Schrift 
„über die phantastischen Gesichtserscheinungen" (Coblenz 
1826) zusammengestellt worden. Die von Müller u. A 
im wachen Zustande beobachteten Gesichtsphantasmen ent- 
ziehen sich durchaus dem Einfluss des Willens und der 
Ueberlegung. Es sind selbstständige, nicht an das Vorstel- 
lungsorgan, sondern an das Sinnesorgan gebundene Erschei- 
nungen, welche durchaus den Character des objectiv Gese- 
henen an sich tragen. Es sind wahre Phantasie- und 
Gedächtnisserscheinungen des Sinnes. 

Jene Processe, welche in der „Sehsinnsubstanz" (nach 
Müller) normaler Weise als Folgen der Netzhauterregung 
sich abspielen, und welche das Sehen bedingen, können aus- 
nahmsweise auch ohne Netzhauterregung spontan in der Seh- 
sinnsubstanz auftreten, und die Quelle von Phantasmen oder 
Hallucinationen werden. Wir sprechen von Sinnengedächt- 
nis s, wenn sich die Phantasmen in ihrem Character stark 
an zuvor Gesehenes anschliessen, von Hallucinationen, 
wenn die Phantasmen freier und unvermittelter eintreten 
Eine scharfe Grenze zwischen beiden Fällen wird aber kaum 
festzuhalten sein* 3). 



43) Ich kenne alle Arten von Gesichtsphantasmen aus eigener An- 
schauung. Das Hineinspielen von Phantasmen in undeutlich Gesehenes, 
wobei letzteres theilweise verdrängt wird, kommt wohl am häufigsten vor. 
— Als ich mich vor Jahren eingehender mit Pulscurven und Sphygmo- 
graphie beschäftigte, traten mir die zarten weissen Curven auf schwarzem 
Grunde des Abends und auch bei Tage im Halbdunkel oft mit voller 
Lebhaftigkeit und Objectivität vor Augen. Auch später sah ich bei ver- 
schiedenen physikalischen Beschäftigungen analoge Erscheinungen des 

6* 



- 84 - 

Spuren von Phantasmen, wenn man die Netzhaut dem 
Einfluss der äusseren Reize entzieht und die Aufmerksam- 
keit dem Sehfelde allein zuwendet, sind fast immer vorhanden. 
Ja sie zeigen sich schon dann, wenn die äusseren Beize 
schwach und unbestimmt sind, im Halbdunkel, oder wenn 
man etwa eine Fläche mit matten verschwommenen Flecken, 
eine Wolke, eine graue Wand, beobachtet. Die Gestalten, 
die man dann zu sehen meint, soweit sie nicht auf einem 
blossen Herausheben und Zusammenfassen deutlich gesehener 
Flecke durch die Aufmerksamkeit beruhen, sind jedenfalls 
keine vorgestellten, sondern wenigstens theilweise spontane 
Phantasmen, welchen zeitweilig und stellenweise der Netz- 
hautreiz weichen muss^*). 



„Sinnengedächtnisses." — Seltener traten mir bei Tage Bilder vor Augen, 
die ich zuvor nicht gesehen hatte. So leuchtete mir vor Jahren an meh- 
reren aufeinanderfolgenden Tagen auf dem Buch in welchem ich las, 
oder auf dem Schreibpapier ein hellrothes Capillarnetz (ähnlich einem soge- 
nanntes Wundemetz) aufi ohne dass ich mich mit derartigen Formen beschäf- 
tigt hatte. — Das Sehen von lebhaft gefärbten veränderlichen Tapeten- 
mustem vor dem Einschlafen war mir in meiner Jugend sehr geläufig ; es tritt 
auch jetzt noch ein, wenn ich die Aufmerksamkeit darauf richte. Auch 
eines meiner Kinder erzählt mir oft vom „Blumensehen" vor dem Ein- 
schlafen. Seltener sehe ich Abends vor dem Einschlafen mannigfaltige 
menschliche Gestalten, die sich ohne meinen Willen ändern. Ein ein- 
ziges Mal versuchte ich mit Erfolg ein menschliches Gesicht in einen 
skolettirten Schädel umzuwandeln ; dieser vereinzelte Fall kann aber auch 
ein Zufall sein. — Dass beim Erwachen im dunklen Zimmer die letzten 
Traumbilder in lebhaften Farben mit einer Fülle von Licht noch vorhan- 
den waren, ist mir oft vorgekommen. — Eine eigenthümhche Erscheinung, 
die mir seit einigen Jahren häufiger vorkommt, ist folgende. Ich erwache 
und liege mit geschlossenen Augen ruhig da. Vor mir sehe ich die 
Bettdecke mit allen ihren Fältchen, und auf derselben meine Hände mit 
allen Einzelheiten ruhig und unveränderlich. Öffne ich die Augen, so ist 
es entweder ganz finster, oder zwar hell, aber die Decke und die Hände 
liegen ganz anders als sie mir erschienen waren. Es ist dies ein beson- 
ders starres und dauerndes Phantasma, wie ich es unter andern Ver- 
hältnissen nicht beobachtet habe. 

44) Leonardo da Vinci a. a. 0. S. »oG bespricht das Hineinspie- 
len der Phantasmen in das Gesehene in folgenden Worten: 



- 85 - 

Das stärkere selbstständige Auftreten der Phantasmen, 
ohne Anregung durch die Netzhaut, den Traum und den 
halbwachen Zustand abgerechnet, muss seiner biologischen 
ünzweckmässigkeit wegen als pathologisch angesehen 
werden. Ebenso müsste man jede abnorme Abhängigkeit der 
Phantasmen vom Willen als pathologisch bezeichnen. Solche 
Zustände mögen wohl bei jenen Irren vorkommen, welche 
sich für sehr mächtig, für Gott u. s. w., halten. 



„Ich werde nicht ermangeln, unter diese Vorschriften eine neuerfan- 
dene Art des Schauens herzusetzen, die sich zwar klein und fast lächer- 
lich ausnehmen mag, nichtsdestoweniger aber doch sehr brauchbar ist, 
den Geist zu verschiedenerlei Erfindungen zu wecken. Sie besteht darin, 
dass du auf manche Mauern hinsiehst , die mit allerlei Flecken bedeckt 
sind, oder auf Gestein von verschiedenem Gemisch. Hast du irgend eine 
Situation zn erfinden, so kannst du da Dinge erblicken, die verschiedenen 
Landschaften gleichsehen, geschmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, 
Bäumen, grossen Ebenen, Thal und Hügeln von mancherlei Art. Auch 
kannst du da allerlei Schlachten sehen, lebhafte Stellungen sonderbarer 
fremdartiger Figuren, Gesichtsmienen, Trachten und unzählige Dinge, die 
du in vollkommene und gute Form bringen magst. Es tritt bei derlei 
Mauern und Gemisch das Ahnliche ein, wie beim Klang der Glocken, da 
wirst du in den Schlägen jeden Namen und jedes Wort wiederfinden 
können, die du dir einbildest" 

„Achte diese meine Meinung nicht gering, in der ich dir rathe, es 
möge dir nicht lästig erscheinen, manchmal stehen zu bleiben, und auf 
die Mauerflecken hinzusehen, oder in die Asche im Feuer, in die Wolken, 
oder in Schlamm und auf andere solche Stellen; du wirst, wenn du sie 
recht betrachtest, sehr wunderbare Erfindungen in ihnen entdecken. Denn 
des Malers Geist wird zu (solchen) neuen Erfindungen (durch sie) aufge- 
regt, sei es in Compositionen von Schlachten, von Thier und Menschen, 
oder auch zu verschiedenerlei Compositionen von Landschaften und von 
ungeheuerlichen Dingen, wie Teufeln u. dgl., die angethan sind, dir Ehre 
zu bringen. Durch verworrene und unbestimmte Dinge wird nämlich der 
Geist zu neuen Erfindungen wach. Sorge aber vorher, dass du alle die 
Gliedmassen der Dinge, die du vorstellen willst, gut zu machen ver- 
stehst, so die Glieder der lebenden Wesen, wie auch die Gliedmassen der 
Landschaft, nämlich die Steine, Bäume u. dgl." 



— 86 — 



4. 



Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir einige physio- 
logisch optische Erscheinungen betrachten, deren voll- 
ständige Erklärung zwar noch fem liegt, die aber als 
Aeusserungen eines selbstständigen Lebens der Sin- 
nesorgane relativ noch am verständlichsten sind. 

Man sieht gewöhnlich mit beiden Augen, und zu einem 
bestimmten Zweck im Dienste des Lebens, nicht Farben und 
Formen, sondern die Körper im Räume. Nicht die Ele- 
mente des Complexes, sondern der ganze physiologisch op- 
tische Complex ist von Wichtigkeit. Diesen Complex sucht 
das Auge nach den unter seinen Lebensbedingungen erwor- 
benen (oder ererbten) Gewohnheiten zu ergänzen, wenn 
er einmal in Folge besonderer Umstände unvollständig auf- 
tritt. Das geschieht zunächst leicht beim Sehen mit einem 
Auge, oder auch beim Sehen sehr femer Objecte mit beiden 
Augen, wenn die stereoscopischen Differenzen in Bezug auf 
den Augenabstand verschwinden. 

Man nimmt gewöhnlich nicht Licht und Schatten, son- 
dern räumliche Objecte wahr. Der Selbstschatten der Körper 
wird kaum bemerkt. Die Helligkeitsdififerenzen lösen Tiefen- 
empfindungsdififerenzen aus, und helfen den Körper model- 
liren, wo die stereoscopischen Diflerenzen hierzu nicht mehr 
ausreichen, wie dies bei Betrachtung ferner Gebirge sehr 
auffallend wird. 

Sehr belehrend ist in dieser Hinsicht das Bild auf der 
matten Tafel der photographischen Kammer. Man erstaunt 
hier oft über die Helligkeit der Lichter und die Tiefe der 
Schatten, die man an den Körpern gar nicht bemerkte, so- 
lange man nicht genöthigt war, alles in einer Ebene zu 
sehen. Ich erinnere mich aus meinen Kinderjahren sehr 



- 87 - 




wohl, dass mir jede Schattirung einer Zeichnung als eine 
ungerechtfertigte und entstellende Manier erschien, und dass 
mich eine Contourzeichnung viel mehr befriedigte. Es ist 
ebenso bekannt, dass ganze Völker, wie die Chinesen, trotz 
entwickelter artistischer Technik gar nicht oder nur man- 
gelhaft schattiren. 

Folgendes Experiment, das ich vor vielen Jahren ange- 
stellt habe, illustrirt sehr deutlich die berührte Beziehung 
zwischen Lichtempfindung und Tiefenempfindung. Wir stel- 
len eine geknickte Visitenkarte vor uns auf den Schreibtisch, 
so dass sie die erhabene Kante be uns zukehrt. Von links 
falle das Licht ein. Die Hälfte ah de ist dann 
viel heller, bcef viel dunkler, was aber bei un- 
befangener Betrachtung kaum bemerkt wird, 
^un schliessen wir ein Auge. Hiermit ver- 
schwindet ein Theil der Raumempfindungen. 
Noch immer sehen wir das geknickte Blatt 
räumlich und an der Beleuchtung nichts Auf- 
fallendes. Sobald es uns aber gelingt, statt der erhabenen 
Kante 6 e eine hohle zu sehen , erscheinen Licht und 
Schatten wie mit Deckfarben darauf gemalt. Eine solche 
„Inversion" ist möglich, weil durch ein monoculares Bild die 
Tiefe nicht bestimmt ist. Stellt in Fig. 25, 1 das Auge, 
abc den Durchschnitt eines ge- 
knickten Blattes, der Pfeil die 
Lichtrichtung vor, so erscheint 
a b heller als b c. In 2 ist ebenso 
a b heller als b c. Das Auge muss, 
wie man sieht, die Gewohnheit an- 
nehmen, mit der Helligkeit der ge- 
sehenen Flächenelemente auch das 
Gefälle der Tiefenempfindung Fig. 25. 




Fig. 24. 





— 88 — 

ZU wechseln. Das Gefälle und die Tiefe nimmt mit ab- 
nehmender Helligkeit nach rechts ab, wenn das Licht von 
links einfällt (1), umgekehrt wenn es von rechts einfällt. 
Da die Hüllen des Bulbus, in welchen die Netzhaut einge- 
bettet ist, durchscheinend sind, so ist es auch für dieLicht- 
vertheilung auf den Netzhäuten nicht gleichgültig, ob das 
Licht von rechts oder von links einfällt. Die Umstände sind 
also ganz darnach angethan, dass sich ohne alles Zuthun des 
ürtheils eine feste Gewohnheit des Auges herausbilden kann, 
vermöge welcher Helligkeit und Tiefe in bestimmter Weise 
verbunden werden. Gelingt es nun, einen Theil der Netz- 
haut, wie in dem obigen Versuch, vermöge einer andern 
Gewohnheit mit der ersteren in Widerstreit zu bringen, so 
äussert sich dies durch auffallende Empfindungen. 

Es soll mit dem Gesagten nur der Character der Er- 
scheinung bezeichnet, und die Richtung angedeutet werden, 
nach welcher eine physiologische Erklärung (mit Ausschluss 
psychologischer Speculationen) zu suchen ist. Bemerken 
wollen wir noch, dass in Bezug auf Empfindungsqualitäten, 
welche mit einander in Wechselbeziehung stehen, ein dem 
Gesetz der Erhaltung der Energie ähnliches Princip 
zu herrschen scheint. Die Helligkeitsdififerenzen verwandeln 
sich theilweise in Tiefendiiferenzen, und werden selbst dabei 
schwächer. Auf Kosten von Tiefendiiferenzen können um- 
gekehrt die Helligkeitsdiiferenzen vergrössert werden. Eine 
analoge Bemerkung wird sich noch bei einer andern Ge- 
legenheit ergeben. 

5. 

Die Gewohnheit Körper zu beobachten, d. h. einer 
grössern räumlich zusammenhängenden Masse von Licht- 
empfindungen die Aufmerksamkeit zuzuwenden, bringt eigen- 



thümliche, zumTheil äberraschende Erscheinungen mit sich. 
Eine zweifarbige Malerei oder Zeichnung z. B. sieht im all- 
gemeinen ganz verschieden aus, je nachdem man die eine 
oder die andere Farbe als Grund 
auffasst Die Vexirbilder, in 
welchen etwa ein Gespenst zwi- 
schen Baumstämmen erscheint, 
sobald man den hellen Himmel 
als Object, die dunklen Bäume 
aber als Grund auffasst, sind 
bekannt. Nur ausnahmsweise 
bieten Grund und Object die- 
selbe Form dar, worin ein häufig 
verwendetes omamentales Motiv 
besteht, wie dies z. B. die Fig. 26 
von S. 15 der erwähnten Gram- 
mar of omament, femer die Fi- 
guren 20, 22 der Tafel 35, Figur 13 der Tafel 43 jenes 
Werkes veranschaulichen. 




Die Erscheinungen des Raumsehens, welche bei mono- 
cularer Betrachtung eines perspectivischen Bildes, oder, was 
auf dasselbe hinauskommt, bei monocularer Betrachtung eines 
Objectes auftreten, werden gewöhnlich als fast selbstverständ- 
liche sehr leichthin behandelt. Ich bin aber der Meinung, 
dass an denselben noch mancherlei zu erforschen ist. Durch 
dasselbe perspectivische Bild, welches unendlich vielen ver- 
schiedenen Objeeten angehören kann, ist die Raumempfindung 
nur theilweise bestimmt. Wenn also gleichwohl von den 
vielen dem Bilde zugehörigen denkbaren Körpern nur sehr we- 
nige wirklich gesehen werden, und zwar mit dem Character 



- 90 - 

der vollen Objectivität , so muss dies einen triftigen Grund 
haben. Es kann nicht auf dem Hinzudenken von Neben- 
bestimmungen beruhen, nicht auf bewussten Erinnerungen, 
welche uns auftauchen, sondern auf bestimmten Lebens- 
gewohnheiten des Gesichtssinnes. 

Verfährt der Gesichtssinn nach den Gewohnheiten, wel- 
che er unter den Lebensbedingungen der Art und des In- 
dividuums erworben hat, so kann man zunächst annehmen, 
dass er nach dem Princip der Wahrscheinlichkeit 
vorgeht, d. h. diejenigen Functionen, welche am häufigsten 
zusammen ausgelöst wurden, werden auch zusammen auf- 
treten, wenn nur eine allein angeregt wird. Diejenigen Tie- 
fenempfindungen z. B., welche am häufigsten mit einem 
bestimmten perspectivischen Bild verbunden sind, werden 
auch leicht reproducirt, wenn jenes Bild auftritt, ohne dass 
diese Empfindungen mitbestimmt sind. Ausserdem 
scheint sich beim Sehen perspectivischer Bilder ein Princip 
der Sparsamkeit auszusprechen, d. h. der Gesichtssinn 
ladet sich von selbst keine grössere Anstrengung aul als 
diejenige, welche durch den Reiz bestimmt ist Beide Prin- 
cipien fallen, wie wir sehen werden, in ihren Wirkungen zu- 
sammen. 



7. 

Wir wollen uns das eben Ausgesprochene in den Einzel- 
heiten erläutern. Betrachten wir eine Gerade in einem 
perspectivischen Bilde, so sehen wir diese immer als eine 
Gerade im Räume, obgleich die Gerade als perspectivi- 
sches Bild unendlich vielen verschiedenen ebenen Curven als 
Objecten entsprechen kann. Allein nur in dem besondem 
Fall, dass die Ebene einer Curve durch den Kreuzungspunkt 



— 91 — 

des einen Auges hindurchgeht, wird sie sich auf der betref- 
fenden Netzhaut als Gerade (beziehungsweise als grösster 
Kreis) abbilden, und nur in dem noch specielleren Fall, dass 
<iie Curvenebene durch die Kreuzungspunkte beider Augen 
hindurchgeht, bildet sie sich für beide Augen als Gerade ab. 
Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass eine ebene Curve als 
Gerade erscheint, während dagegen eine Gerade im Räume 
sich i m m e r als Gerade auf beiden Netzhäuten abbildet. Das 
wahrscheinlichste Object also, welches einer perspectiv 
vischen Geraden entspricht, ist eine Gerade im Räume. 

Die Gerade hat mannigfaltige geometrische Eigen- 
schaften. Diese geometrischen Eigenschaften, z. B. die be- 
kannte Eigenschaft, die Kürzeste zwischen zwei Punkten dar- 
zustellen, sind aber physiologisch nicht von Belang. 
Wichtiger ist schon, dass in der Medianebene liegende oder 
zur Medianebene senkrechte Gerade physiologisch zu sich 
selbst symmetrisch sind. Die in der Medianebene liegende 
Verticale zeichnet sich ausserdem noch durch die grösste 
Gleichmässigkeit der Tiefenempfindung und durch ihre Coi'n- 
cidenz mit der Richtung der Schwere physiologisch aus. 
Alle verticalen Geraden können leicht und rasch mit der 
Mediaaebene zur Coincidenz gebracht werden, und nehmen 
daher an diesem physiologischen Vorzug theil. Allein die 
Gerade im Räume überhaupt muss sich noch durch etwas 
anderes physiologisch auszeichnen. Die Gleichheit der 
Richtung in allen Elementen wurde schon früher hervor- 
gehoben. Jedem Punkt der Geraden im Räume entspricht 
aber auch das Mittel der Tiefenempfindungen der Nachbar- 
punkte. Die Gerade im Räume bietet also ein Minimum 
der Abweichun gen vomMittel der Tiefenempfin- 
dungen dar. Es liegt hiemach die Annahme nahe, dass die 
Gerade mit der geringsten Anstrengung gesehen wird. 



— 92 — 

Der Gesichtssinn geht also nach dem Princip der Spar- 
samkeit vor, wenn er uns mit Vorliebe Gerade vorspiegelt, 

und zugleich nach dem Princip der Wahrscheinlich- 
keit*5). 

8. 

Die Abweichung einer Empfindung vom Mittel der Nach- 
barempfindungen fällt überhaupt immer auf, und fordert von 
dem Sinnesorgan eine besondere Anstrengung. Jede Krüm- 
mung einer Curve, jede Hervorragung oder Vertiefung einer 
Fläche bedeutet immer die Abweichung einer Raumempfin- 
dung von dem Mittel der Umgebung, auf welche die Auf- 
merksamkeit gerichtet ist. Die Ebene zeichnet sich phy- 
siologisch dadurch aus, dass jene Abweichung vom Mittel einr 
Minimum, oder speciell für jeden Punkt = ist. Be- 
trachtet man im Stereoscop irgend eine fleckige Fläche^ 
deren Theilbilder sich noch nicht zu einem binocularen Bilde 
vereinigt haben, so macht es einen besonders wohlthuenden 
Eindruck, wenn sich dieselbe plötzlich zu einer Ebene aus- 
streckt. Der ästhetische Eindruck des Kreises und der 
Kugel scheint wesentlich darauf zu beruhen, dass die bezeich- 
nete Abweichung vom Mittel für alle Punkte gleich ist. 



45) Noch 1866 schrieb ich in den Sitzungsberichten der Wiener Aka- 
demie Bd. 54 : „Da die gerade Linie den civilisirten Menschen immer und. 
überall umgiebt, so kann man wohl annehmen, dass jede auf der Netzhaut 
mögliche Gerade unzähligemal auf jede mögliche Art als Gerade im 
Kaume gesehen worden sei. Die Fähigkeit des Auges im Auslegen der 
Geraden darf uns daher nicht befremden." — Ich schrieb schon damals 
diese Stelle (entgegen der Darwinistischen Anschauung, die ich in der- 
selben Abhandlung geltend machte) mit halbem Herzen. Heute bin ich 
mehr als je überzeugt, dass die erwähnte Fähigkeit keine Folge der indi- 
viduellen Übung, ja nicht einmal der menschlichen Übung ist, sondern 
dass sie auch den Thieren zukommt, und theilweise wenigstens ein Erb- 
stück ist. 



Dass die Abweichung vom Mittel der Umgöbung in Be- 
zug auf die Lichtempfindung eine Rolle spielt, habe 
ich in einer ältereu Arbeit nachgewiesen*"). Malt man eine 




Reihe von schwarzen und weissen Sectoreu , wie dies in 
Figur 27 angedeutet ist, auf einen Papirrstreifen ÄA BB, 
und wickelt diesen nachher als Mantel auf einen Cjiinder, 
dessen Axe parallel AB ist , so entsteht durch die rasche 
Botatiou des letzteren ein graues Feld mit von B gegen A 
zu wachsender Helligkeit, in welchem aber ein hellerer 
Streifen « « und ein dunklerer ß ß hervortritt. Die Stellen, 
welche den Knickungen « entsprechen, sind nicht physikalisch 
heller als die Unigcbung, ihre Lichtint«nsität übertrifft 
aber das Intensitäts- Mittel der nächsten Umgebung, wäh- 
rend umgekehrt die Intensität bei (9 unter der mittleren 
Intensität der Umgebung bleibt*'). Diese Abweichung vom 
Mittel wird also deutlich empfunden, nnd ladet demnach dem 



) Über die Wirkung der rfimoüchen Vertheilnng des Lichtreizea 
B Netzhaut SitaungeberielitB der Wiener Akademie (1865) Bd. 32. 
Igen dieser tTnterBuchimg; Sitzbor, (1866) Bd. G4, Silzber. 
(fteS) Bd. RT, VierteljahTBSfihrift für FsjcWatrie, Neuwied-Leipzig 1868 
(Aber die Abhängigkeit der Netzhau teteUen TOn einander). 

47) Eine Bemerkung Aber Änalögieen awiBchen dtr Lichtempfindung 
und diM Potentialfnuction flndct eich in meiner Note „über Herrn Gn^b- 
hard'a Darstellung der Aequipotentialcnrven". Wiedcmami'a Annale n 
41882) Bd. XVn. S. 864. 



— 94 — 

Sehorgan eine besondere Arbeit auf. Welche Bedeutung 
dieser Umstand für das Hervorheben und die Begrenzung 
der Objecte hat, darauf habe ich vor langer Zeit schon hin- 
gewiesen. 

9. 

In Bezug auf die durch ein monoculares Bild ausge- 
löste Tiefenempfindung sind die folgenden Versuche lehrreich. 
Die Zeichnung Figur 28 ist ein ebenes Viereck mit den 

beiden Diagonalen. Betrachten wir sie mono- 
^ cular, so erscheint sie auch, dem Wahr- 

scheinlichkeits- und Sparsamkeitsgesetz ent- 
sprechend, am leichtesten eben. Nicht 
ebene Objecte zwingen in der überwiegen- 
den Mehrzahl der Fälle das Auge zum Tie- 
fensehen. Wo dieser Zwang fehlt, ist das 
ebene Object das wahrscheinlichste und zu- 
gleich für das Sehorgan das bequemste. 
Dieselbe Zeichnung kann monocular noch als ein Te- 
traeder gesehen werden, dessen Kante bd vor ac liegt, oder 
als ein Tetraeder, dessen Kante hd hinter ac liegt. Der Ein- 
fluss der Vorstellung und des Willens auf den Sehprocess 
ist ein höchst beschränkter, er reducirt sich auf die Leitung 
der Aufmerksamkeit, und auf die Auswahl der Stimmung 
des Sehorgans für einen von mehreren in seiner Gewohnheit 
liegenden Fällen, von welchen aber jeder einzelne gewählte 
sich dann mit maschinenmässiger Sicherheit und Präcision 
einstellt. Auf den Punkt e achtend, kann man in der That 
willkürlich zwischen den beiden optisch möglichen Te- 
traedern wechseln, je nachdem man sich hd näher oder fer- 
ner als ac vorstellt. Für diese beiden Fälle ist das Seh- 




- 95 - 

Organ eingeübt, weil häufig ein Körper durch den andern 
theilweise gedeckt wird. 

Dieselbe Zeichnung kann endlich als eine vierseitige 
Pyramide gesehen werden, wenn man sich den ausgezeich- 
neten Durchschnittspunkt e vor oder hinter der Ebene 
ah cd vorstellt. Dies gelingt schwer, wenn 'beä und aec 
zwei vollkommene Gerade sind, weil es der Gewohnheit des 
Sehorgans widerstreitet, eine Gerade ohne Zwang geknickt zu 
sehen ; es gelingt überhaupt nur, weil der Punkt e eine Son- 
derstellung hat. Findet sich aber bei e eine kleine Knickung, 
so hat der Versuch keine Schwierigkeit. 

Die Wirkung einer linearen perspectivischen Zeichnung 
auf den der Perspective Unkundigen, sobald er überhaupt 
von der Zeichnungsebene abzusehen vermag, was bei mono- 
cularer Betrachtung leicht gelingt, tritt ebenso sicher ein, 
wie bei vollständiger Kenntniss der Perspectivlehre. Die 
Ueberlegung und auch die Erinnerung an gesehene 
Objecte hat nach meiner Ueberzeugung mit dieser Wirkung 
wenig oder nichts zu schaffen. Warum die Geraden der 
Zeichnung als Gerade in Räume gesehen werden, wurde schon 
erörtert. Wo Gerade in einem Punkt der Zeichnungsebene 
zu convergiren scheinen, werden die con- 
vergirenden oder sich annähernden Enden 
nach dem Wahrscheinlichkeitsprincip und 
dem Sparsamkeitsprincip in gleiche oder 
nahe gleiche Tiefe verlegt. Hierdurch 
ist die Wirkung der Fluchtpunkte gegeben. y\%. 29. 

Parallel können solche Linien gesehen wer- 
den, die Nothwendigkeit eines solchen Eindrucks besteht aber 
nicht. Halten wir die Zeichnung Figur 29 in gleicher Höhe 
mit dem Auge, so kann sie uns den Blick in die Tiefe eines 
Ganges vorspiegeln. Die Enden ^Äe/* werden in gleiche 




- 96 - 

Perne verlegt. Ist die Entfernung gross, so scheinen hierbei 
die Linien «6, hf^ cg, dh horizontal. Erhebt man die 
Zeichnung, so heben sich die Enden efgh, und der Boden 
ab ef scheint bergan zu steigen. Bei Senkung der Zeich- 
nung tritt die umgekehrte Erscheinung ein. Analoge Ver- 
änderungen beobachten wir, wenn wir die Zeichnung rechts 
oder links zur Seite schieben. Hierbei kommen nun die 
Elemente der perspectivischen Wirkung zum einfachen 
und klaren Ausdruck. 

Ebene Zeichnungen, wenn sie durchweg aus geraden 
Linien bestehen, die sich überall rechtwinklig durchschneiden, 
erscheinen fast nur eben. Kommen schiefe Durchschnitte 

und krumme Linien vor, so treten die Linien 
leicht aus der Ebene heraus, wie z. B. die 
Figur 30 zeigt, welche man ohne Mühe als 
ein gekrümmtes Blatt auffasst. Wenn eine 
solche Contour wie Figur 30 eine bestimmte 
Form im Räume angenommen hat, und man 
Fig. 30. sieht dieselbe als Grenze einer Fläche, so er- 
scheint letztere, um es kurz zu sagen, mög- 
lichst flach, also wieder mit einem Minimum der Ab- 
weichung vom Mittel der Tiefenempfindung ^s). 

10. 

Die eigenthümliche Wechselwirkung, sich schief in der 
Zeichnungsebene (beziehungsweise auf der Netzhaut) durch- 



48) Die Tiefenempfindimg verhält sich hier wieder ähnlich der Poten- 
tialfanction in einem Eairni, an dessen Grenzen sie bestimmt ist. Diese 
möglichst flache Fläche fällt nicht zusammen mit der Fläche minimae 
areae, welche man erhalten würde, wenn die gesehene rämnliche Contour, 
aus Draht dargestellt, und in Seifenlösung getaucht, sich mit einer P 1 a - 
te au 'sehen Flüssigkeitshaut erfüllen würde. 



— 97 — 



a 





Fig. 31. 



schneidender Linien, vermöge welcher sich dieselben gegen- 
seitig aus der Zeichnungsebene (beziehungsweise aus der zur 
Visirlinie senkrechten Ebene) heraustreiben, habe 
ich zuerst bei Gelegenheit des vorher (S. 87) er- 
wähnten Experimentes mit der monocularen 
Inversion des Kartenblattes beobachtet. Das Blatt 
Figur 31, dessen gegen mich convexe Kante he 
vertical steht, legt sich, wenn es mir gelingt, 
J e concav zu sehen, wie ein aufgeschlagenes Buch 
auf den Tisch, so dass 6 ferner erscheint als e. Kennt man 
die Erscheinung einmal, so gelingt die Inversion fast bei 
jedem Object, und man kann dann immer mit der Form- 
änderung (ümstülpung) zugleich jene merkwürdige Aende- 
rung der Orientirung (Stellung) des Objectes beobachten. 
Besonders überraschend gestaltet sich der Vorgang bei durch- 
sichtigen Objecten. Es sei a & c d 
der Durchschnitt eines Glas- 
würfels auf einem Tisch 1 1^ und 
das Auge. Bei der monocu- 
laren Inversion rückt die Kante 
a nach a\ h aber näher heran 
nach &', c nach c' und d nach d\ 
Der Würfel scheint nun auf der 

Kante & schief auf dem Tisch t' if zu stehn. Um die 2ieich- 
nung übersichtlicher zu gestalten, wurden die beiden Bilder 
nicht ineinander, sondern hintereinander dargestellt. Ein 
theilweise mit gefärbter Flüssigkeit gefülltes Trinkglas, 
an die Stelle des Würfels gesetzt, stellt sich natürlich 
sammt seiner Flüssigkeitsoberfläche ebenfalls schief. 

Dieselben Erscheinungen kann man bei genügender Auf- 
merksamkeit auch an jeder Linearzeichnung beobachten. 
Wenn man das Blatt mit der Figur 31 vertical vor sich 

7 




Fig. 32. 



- 98 - 

hinstellt, und monocular betrachtet, so sieht man, wenn be 
convex ist, b vortreten, wenn b e concav ist, e vortreten, sich 
dem Beobachter nähern, und b zurückweichen. Man kann 
kurz sagen, die Schenkel eines spitzen Winkels treiben 
sich nach verschiedenen Seiten, die Schenkel eines stum- 
pfen Winkels nach derselben Seite aus der Zeichnungs- 
ebene oder aus der zur Visirlinie senkrechten Ebene heraus. 
Man kann auch sagen, alle Winkel streben dem rechten zu. 
Ich habe bald erkannt, dass die Erscheinung von der bei 
der ZöUner'schen Pseudoscopie auftretenden nicht wesent- 
lich verschieden sei. Obgeich diese Phänomene vielfach studirt 
worden sind, existirt zur Zeit doch keine befriedigende Er- 
klärung derselben. Mit so leichtfertigen Erklärungen, wie 
etwa jener, dass wir gewohnt seien, vorzugsweise rechte 
Winkel zu sehen, darf man natürlich nicht kommen, wenn 
die ganze Untersuchung nicht verfahren, oder vorzeitig ab- 
gebrochen werden soll. Wir sehen oft genug schiefwinklige 
Objecte, dagegen ohne künstliche Veranstaltung niemals, wie 
in dem obigen Experiment, einen ruhigen schiefen Flüssig- 
keitsspiegel. Dennoch zieht das Auge, wie es scheint, den 
schiefen Flüssigkeitsspiegel einem schiefwinkligen Körper von 

11. 

Die elementare Macht, die sich in diesen Vorgängen 
ausspricht, hat nach meiner üeberzeugung ihre Wurzel in 
viel einfacheren Gewohnheiten des Sehorgans, welche kaum 
erst im Culturleben des Menschen entstanden sind. Ich habe 
versucht, die Erscheinungen durch einen dem Farbencontrast 
analogen Bichtungscontrast zu erklären, ohne zu einem be- 
friedigenden Resultat zu gelangen. Das Princip der Spar- 
samkeit gibt mir ebenfalls keine Auskunft. 



— 99 — 

Etwas mehr Aussicht auf Erfolg scheint das Princip der 
Wahrscheinlichkeit zu bieten. Wir denken uns die Netzhaut 
als Vollkugel und den Scheitel eines Winkels a im Räume 
fixirt. Die Ebenen , welche durch den Kreuzungspunkt des 
Auges und die Winkelschenkel hindurchgehend die letzteren 
auf die Netzhaut projiciren , schneiden auf dieser ein sphä- 
risches Zweieck mit dem Winkel A aus, welcher den Winkel 
des monocularen Bildes vorstellt. Demselben beliebigen A 
können nun unzählige Werthe von a zwischen 0<^ und 180® 
entsprechen, wie man erkennt, wenn man bedenkt, dass die 
Schenkel des objectiven Winkels jede beliebige 
Lage in den erwähnten projicirenden Ebenen an- 
nehmen können. Einem gesehenen Winkel A 
können also alle Werthe des objectiven Win- 
kels a entsprechen, welche sich ergeben, wenn 
man jede der Dreiecksseiten 6 und c. zwischen 0® 
und 180® variiren lässt. Hierbei ergibt sich nun 
wirklich, wenn man die Rechnung in einer be- 
stimmten Weise anlegt, dass gesehenen spitzen 
Winkeln als wahrscheinlichstes Object ein grösserer Winkel, 
gesehenen stumpfen Winkeln ein kleinerer Winkel ent- 
spricht. Ich war jedoch nicht in der Lage zu entscheiden, 
ob jene Fälle, welche man als geometrisch gleich mög- 
liche anzusehen geneigt ist, auch als physiologisch 
gleich mögliche betrachtet werden dürfen, was wesentlich 
und wichtig wäre. Auch ist mir die ganze Betrachtung 
noch etwas zu künstlich. 

12. 

Eine ebene Linearzeichnung , monocular betrachtet, 
erscheint oft eben. Macht man aber die Winkel veränderlich 
und leitet die Bewegung ein, so streckt sich jede derartige 




— lOO — 



Zeichnung sofort in die Tiefe. Man sieht dann gewöhnlich 
einen starren Körper in einer Drehung begriffen, wie ich 
dies bei einer früheren Gelegenheit*^) beschrieben habe. 
Die bekannten Li ssajous'schen Schwingungsfiguren, welche 
bei Wechsel des Phasenunterschiedes auf einem gedrehten 
Cylinder zu liegen scheinen, bieten ein schönes Beispiel des 
betreffenden Vorganges. 

Man könnte nun hier wieder auf die Gewohnheit hin- 
weisen, mit starren Körpern umzugehn, Starre Körper, in 
Drehungen und Wendungen begriffen, umgeben uns in der 
That fortwährend. Ja die ganze materielle Welt, in welcher 
wir uns bewegen, ist gewissermassen ein starrer Körper, und 
ohne die Hilfe starrer Körper gelangen wir überhaupt nicht 
zur Vorstellung des geometrischen Raumes. Wir achten 
auch gewöhnlich nicht auf die Lage der einzelnen Punkte 
eines Körpers im Raum, sondern fassen ohne Weiteres dessen 
Dimensionen auf. Darin liegt hauptsächlich für den Unge- 
übten die Schwierigkeit, ein perspectivisches Bild zu ent- 
werfen. Kinder, welche gewohnt sind, die Körper in ihren 
wahren Dimensionen zu sehen, können sich mit perspecti- 
vischen Verkürzungen nicht abfinden, und sind von einem 
einfachen Aufriss, von einer Profilzeichnung weit mehr 
befriedigt. Ich weiss mich dieses Zustandes sehr wohl zu 
erinnern, und begreife durch diese Erinnerung die Zeichnun- 
gen der alten Aegypter, welche alle Körpertheile der Figuren 
soweit als möglich in ihren wahren Dimensionen darstellen, 
und dieselben desshalb in die Zeichnungsebene gleichsam 
hineinpressen, wie die Pflanzen in ein Herbar. Auch in 
den Pompejanischen Wandgemälden begegnen wir, obgleich 
hier der Sinn für Perspective schon deutlich ist, noch einer 

49) Beobachtungen über monocularo Stereoscopie. Sitzungsberichte <L 
Wiener Akademie (1868) B(L 58. 



— lOl — 



merklichen Scheu vor Verkürzungen. Die alten Italiener 
hingegen, im Gefühle ihrer Sachkenntniss, gefallen sich oft 
in übermässigen, zuweilen sogar unschönen Verkürzungen, 
welche dem Auge mitunter eine bedeutende Anstrengung 
zumuthen. 



13. 

Es ist also keine Frage, dass uns das Sehen starrer 
Körper mit den festen Abständen ihrer ausgezeichneten 
Punkte viel geläufiger ist als das Aussondern der Tiefe, 
welches sich immer erst durch eine absichtliche Analyse 
ergibt. Demnach können wir erwarten, dass überallj wo eine 
zusammenhängende Masse, die vermöge des gemeinsamen 
Farbencharakters als Einheit auftritt, eine räumliche Ver- 
änderung zeigt, diese mit Vorliebe als Bewegung eines starren 
Körpers gesehen wird. Ich muss aber gestehen, dass mich 
diese Auffassung wenig befriedigt. Vielmehr glaube ich, dass 
auch hier eine elementare Gewohnheit des Sehorgans zu 
Grunde liegt, welche nicht erst durch die bewusste indivi- 
duelle Erfahrung entstanden ist, sondern welche im Gegen- 
theil schon das Auffassen der Bewegungen starrer Körper 
erleichtert hat. Würden wir z. B. annehmen, dass jede 
Verkleinerung der Querdimension einer optischen Empfin- 
dungsmasse, welcher die Aufmerksamkeit zugewendet wird, 
eine entsprechende Vergrösserung der Tiefendimension 
herbeizuführen strebt, und umgekehrt, so wäre dieser Pro- 
cess ganz analog demjenigen, dessen schon oben gedacht, 
und der mit der Erhaltung der Energie verglichen wurde* 
Die berührte Ansicht ist entschieden viel einfacher und zur 
Erklärung ebenfalls ausreichend. Man kann sich auch leich- 
ter vorstellen, wie eine so elementare Gewohnheit erworben, 



— I02 — 



wie sie in der Organisation ihren Ausdruck finden, und wie 
die Stimmung für dieselbe vererbt werden kann. 

Als Gegenstück zu der Drehung starrer Körper, welche 
uns das Sehorgan vorspiegelt, will ich hier noch eine andere 
Beobachtung anführen. Wenn man ein Ei oder ein EUipsoid 
mit matter gleichmässiger Oberfläche über den Tisch rollt, 
jedoch so, dass es sich nicht um die Axe des Rotations- 
körpers dreht, sondern hüpfende Bewegungen ausführt, so 
glaubt man bei binocularer Betrachtung einen flüssigen 
Körper, einen grossen schwingenden Tropfen, vor sich zu 
haben. Noch auffallender ist die Erscheinung, wenn ein Ei, 
dessen Längsaxe horizontal liegt, um eine verticale Axe in 
massig rasche Rotation versetzt wird. Dieser Eindruck ver- 
schwindet sofort, wenn auf der Oberfläche des Eies Flecken 
angebracht werden, deren Bewegung man verfolgen kann. 
Man sieht dann den gedrehten starren Körper. 

Die in diesem Kapitel gegebenen Erklärungen sind von 
Vollständigkeit gewiss noch weit entfernt, doch glaube ich, 
dass meine Ausführungen ein exacteres und eingehenderes 
Studium der besprochenen Erscheinungen anregen und an- 
bahnen können. 



^^xki0 




Die Zeitempflndung^o). 



1. 

Viel schwieriger als die RaumempfinduDg ist die Zeit- 
Empfindung zu untersuchen. Manche Empfindungen treten 
mit, andere ohne Raumempfindung auf. Die Zeitempfindung 
begleitet aber jede andere Empfindung, und kann von keiner 
gänzlich losgelöst werden. Wir sind also bei der Unter- 
suchung darauf angewiesen, auf die Variationen der Zeit- 
empfindung zu achten. Zu dieser psychologischen Schwierig- 
keit gesellt sich noch die andere, dass die physiologischen 
Processe, an welche die Zeitempfindung geknüpft ist, noch 
weniger bekannt sind, tiefer und verborgener liegen als die 
andern Empfindungen entsprechenden Processe. Die Analyse 
muss sich also vorzugsweise auf die psychologische Seite 
beschränken, ohne von der physischen, wie dies in andern 
Sinnesgebieten wenigstens theilweise möglich ist, entgegenzu- 
kommen. 



50) Der Standpunkt, den ich hier einnehme, ist nur wenig verschieden 
von jenem meiner „Untersuchungen üher den Zeitsinn des Ohres" (Sitzber. 
d. Wiener Akademie Bd. 51, 1865). Auf die Einzelheiten dieser 
altem Versuche, die ich schon 1860 begonnen habe, will ich hier nicht 
wieder zurückkommen. 



I04 — 



2. 

DasseseinebesonderespecifischeZeitempfindung 
gibt, scheint mir nicht zweifelhaft. Der gleiche Khyth- 
mus der beiden nebenstehenden Tacte von gänzlich ver- 



i 



t=^ -f—i-^—^ 



T^^ ' ' C/n- 



schiedener Tonfolge wird unmittelbar erkannt. Dies 
ist nicht Sache des Verstandes oder der üeberlegung, 
sondern der Empfindung. So wie sich uns verschieden 
gefärbte Körper von gleicher ßaumgestalt darstellen 
können, so finden wir hier zwei akustisch verschieden gefärbte 
Tongebilde von gleicher Zeitgestalt. So wie wir in dem 
einen Fall die gleichen Baumempfindungsbestandtheile unmit- 
telbar herausfühlen, so bemerken wir hier die gleichen Zeit- 
empfindungsbestandtheile oder die Gleichheit des Rhythmus» 

3. 

Wenn ich eine Anzahl akustisch vollkommen gleicher 
Glockenschläge höre, unterscheide ich den ersten, zweiten, 
dritten u. s. w. Sind es vielleicht die begleitenden Gedanken 
oder andere zufällige Empfindungen, mit welchen die Glocken- 
schläge sich verknüpfen, die diese Unterscheidungsmerkmale 
abgeben? Ich glaube nicht, dass jemand ernstlich diese 
Ansicht wird aufrecht halten wollen. Wie zweifelhaft und 
unzuverlässig müsste da unser Zeitmass ausfallen. Wohin 
müsste es gerathen, wenn jener zufällige Gedanken- und 
Empfindungshintergrund aus dem Gedächtniss verschwinden 
würde? 

Während ich über irgend etwas nachdenke, schlägt die 
Uhr, die ich nicht beachte. Nachdem sie ausgeschlagen hat, 
kann es mich interessiren, die Glockenschläge zu zählen. 



— I05 - 

Und in der That tauchen in meiner Erinnerung deutlich 
ein, zwei, drei, vier Glockenschläge auf, während ich ganz 
dieser Erinnerung meine Aufmerksamkeit zuwende, und mir 
gerade dadurch für den Augenblick gänzlich entschwindet, 
worüber ich während des Schiagens der ühr nachgedacht 
habe. Der vermeintliche Hintergrund, auf dem ich die 
Glockenschläge fixiren könnte, fehlt mir nun. Wodurch un- 
terscheide ich also den zweiten Schlag vom ersten? 
Warum halte ich nicht alle die gleichen Schläge für einen? 
Weil jeder mit einer besonderen Zeitempfindung verknüpft 
ist, die mit ihm zugleich auftaucht. Ein Erinnerungsbild 
unterscheide ich von einer Ausgeburt meiner Phantasie eben- 
falls durch eine specifische Zeitempfindung, welche nicht jene 
des gegenwärtigen Augenblickes ist. 

4. 

Da die Zeitempfindung immer vorhanden ist, solange 
wir bei Bewusstsein sind, so ist es wahrscheinlich, dass sie 
mit der nothwendig an das Bewusstsein geknüpften organi- 
schen Consumtion zusammenhängt, dass wir die Arbeit 
der Aufmerksamkeit als Zeit empfinden. Bei ange- 
strengter Aufmerksamkeit wird uns die Zeit lang, bei leichter 
Beschäftigung kurz. In stumpfem Zustand, wenn wir unsere 
Umgebung kaum beachten, fliegen die Stunden rasch dahin. 
Wenn unsere Aufmerksamkeit gänzlich erschöpft ist, 
schlafen wir. Im traumlosen Schlaf fehlt auch die 
Empfindung der Zeit. Der Tag von gestern ist mit dem 
von heute, wenn zwischen beiden ein tiefer Schlaf liegt, nur 
durch ein intellectuelles Band verknüpft. 

Die Ermüdung des Bewusstseinsorgans schreitet, solange 
wir wachen, continuirlich fort, und die Arbeit der Aufmerk- 
samkeit wächst ebenso stetig. Die Empfindungen, welche an 



— io6 — 

eine grössere Arbeit der Aufmerksamkeit geknüpft sind, 
erscheinen uns als die späteren. 

Normale wie anomale psychische Vorkommnisse scheinen 
sich dieser Auffassung wohl zu fügen. Da die Aufmerksam- 
keit sich nicht zugleich auf zwei verschiedene Sinnesorgane 
erstrecken kann, so können deren Empfindungen nicht mit 
einer absolut gleichen Aufmerksarakeitsarbeit zusammentreffen. 
Die eine erscheint also später als die andere. Ein solches 
Analogon dieser sogenannten persönlichen Differenz der Astro- 
nomen ergibt sich aber aus dem analogen Grunde auch in 
einem und demselben Sinuesgebiet. Es ist bekannt, dass 
ein optischer Eindruck, der physisch später entsteht, unter 
Umständen dennoch früher erscheinen kann. Es kommt 
z. B. vor, dass der Chirurg beim Aderlassen zuerst das 
Blut austreten, und dann den Schnepper einschlagen 
siebtel). D vor 4k ^2) hat in einer Versuchsreihe, die er 
vor Jahren auf meinen Wunsch ausgeführt hat, gezeigt, dass 
sich dies Verhältniss willkürlich herstellen lässt, indem das 
mit Aufmerksamkeit fixirte Object (selbst bei einer wirklichen 
Verspätung von Vs — Ve Secunde) früher erscheint als das 
indirect gesehene. Es ist wohl möglich, dass sich die 
bekannte Erfahrung der Chirurgen durch diesen Umstand 
aufklären lässt. Die Zeit aber, welche die Aufmerksamkeit 
benöthigt, um von einem Orte, an dem sie beschäftigt wird, 
nach einem andern zu übersiedeln , zeigt sich in folgendem 
von mir angestellten Versuch ^ *). Zwei schön rothe Qua- 



51) Vergl. Fechner, Psychophysik Leipzig 1860. Bd. IL S. 433. 

52) Dvorak, über Analoga der persönlichen Differenz zwischen 
beiden Augen und den Netzhautstellen desselben Auges. Sitzungsber. d. 
königl. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften. (Math. -naturw. Classe) 
vom 8. März 1872. 

53) Von Dvorak a. a. 0. mitgetheilt. 



— I07 — - 



grün 



roth 



roth 




1 
roth 



indir. ges. fixirt 

Figur 34. 



drate von 2 cm Seite und 8 cm Ab- 
stand auf schwarzem Grunde werden 
in völliger Dunkelheit durch einen für 
das Auge gedeckten electrischen Funken 
beleuchtet. Das direct gesehene Quadrat 
erscheint roth, des indirect gesehene 
grün, und zwar oft sehr intensiv. Die 
verspätete Aufmerksamkeit findet also das indirect gesehene 
Quadrat schon in dem Stadium des Purkinje'schen posi- 
tiven Nachbildes vor. Auch eine Geis sie r'sche Röhre 
mit zwei etwas von einander entfernten roth leuchtenden 
Theilen zeigt beim Hindurchgehen einer einzelnen Ent- 
ladung dieselbe Erscheinung. 



5. 

Wiederholt habe ich ein interessantes hierher gehöriges 
Phänomen beobachtet. Ich sass in die Arbeit vertieft in 
meinem Zimmer, während in einem Nebenzimmer Versuche 
über Explosionen angestellt wurden. Regelmässig geschah 
es nun, dass ich zuerst erschreckt zusammenzuckte, und 
nachher erst den Knall hörte. 

Da im Traum die Aufmerksamkeit besonders träge ist, 
so kommen in diesem Fall die sonderbarsten Anachronis- 
men vor, und jeder hat wohl solche Träume erlebt. Wir 
träumen z. B. von einem Mann, der auf uns losstürzt und 
schiesst, erwachen plötzlich, und bemerken den Gegenstand, 
der durch seinen Fall den ganzen Traum erzeugt hat. Es 
hat nun nichts Widersinniges anzunehmen, dass der akusti- 
sche Reiz verschiedene Nervenbahnen zugleich einschlägt, 
und hier in beliebiger verkehrter Ordnung von der Aufmerk- 
samkeit angetroffen wird, so wie ich bei der obigen Beob- 
achtung zuerst die allgemeine Erregung, und dann den 



— io8 — 

Explosionsknall bemerkte. Freilich wird es in mancheD 
Fällen zur Erklärung auch ausreichen, ein Verweben einer 
Sinnesempfindung in ein vorher schon vorhandenes Traumbild 
anzunehmen. 

6. 

Wenn die Zeitempfindung an die wachsende organische 
Consumtion ^*) oder an die ebenfalls stetig wachsende Arbeit 
der Aufmerksamkeit gebunden ist, so wird es verständlich, 
warum die physiologische Zeit nicht umkehrbar ist, son- 
dern nur in einem Sinne abläuft. Die Consumtion und 
Aufmerksamkeitsarbeit kann , solange wir wachen , nur 
^ — ^ . — . wachsen und nicht abnehmen. 

3 3 

P p ß ß p p • ß P Die beiden nebenstehenden Takte, 

welche für das Auge und den Ver- 
stand eine Symmetrie darbieten, zeigen nichts Derartiges 
in Bezug auf die Zeitempfindung. Im Gebiete des Rhythmus 
und der Zeit überhaupt gibt es keine Symmetrie. 



54) Würde die Consumtion oder etwa die Anhäufung eines Ermü- 
dungsstoffes unmittelbar empfunden, so müsste man ein Rückwärts- 
gehen der Zeit im Traum erwarten. — Die Sonderbarkeiten des Traumes 
lassen sich alle darauf zurückführen, dass manche Empfindungen und 
Vorstellungen gar nicht, andere zu schwer und zu spät in's Be- 
wusstsein treten. — Der Intellect schläft oft nur theilweise. Man spricht 
im Traume sehr vernünftig mit längst verstorbenen Personen, erinnert 
sich aber nicht ihres Todes. Man reflectirt im Traume über den Traum, 
erkennt ihn als Traum an den Sonderbarkeiten, ist aber gleich wieder 
über dieselben beruhigt. — Mir träumte sehr lebhaft von einer Mühle. 
Das Wasser floss in einem geneigten Canal von der Mühle herab und 
hart darneben in einem eben solchen Canal zur Mühle hinauf. Ich war 
dadurch gar nicht beunruhigt. — Als ich viel mit Raumfragen be- 
schäftigt war, träumte mir von einem Spaziergang im Walde. Plötzlich 
bemerkte ich die mangelhafte perspectivische Verschiebung der Bäume, 
und erkannte daran den Traum Sofort traten aber auch die vermiss- 



— 109 — 



7. 



Es möchte wohl eine naheliegende und natürliche, wenn 
auch noch unvollkommene Vorstellung sein, sich das Be- 
wusstseinsorgan in geringem Grade aller speeifischen Ener- 
gieen fähig zu denken, von welchen jedes Sinnesorgan nur 
einige aufzuweisen vermag. Daher das Schattenhafte und 
Vergängliche der Vorstellung gegenüber der Sinnesempfindung, 
durch welche letztere die erstere stets genährt und aufge- 
frischt werden muss. Daher die Fähigkeit des Bewusstseins- 
organs als Verbindungsbrücke zwischen allen Empfin- 
dungen und Erinnerungen zu dienen. Mit j eder speeifischen 
Energie des Bewusstseinsorgans hätten wir uns noch eine 
besondere Energie, die Zeitempfindung, verbunden zu 
denken, so dass keine der ersteren ohne die letztere erregt 
werden kann. Sollte es scheinen, dass diese letztere physio- 
logisch müssig und nur ad hoc erdacht sei, so könnte man 
ihr sofort eine wichtige physiologische Function zuweisen. 
Wie wäre es, wenn diese Energie den die arbeitenden Him- 
theile nährenden Blutstrom unterhalten, an seinen Be- 
stimmungsort leiten und reguliren würde? Unsere Vorstellung 
von der Aufmerksamkeit und der Zeitempfindung würde 
dadurch eine sehr materielle Basis erhalten. Es würde ver- 
ständlich, dass es nur eine zusammenhängende Zeit gibt, 
da die Theilaufmerksamkeit auf einen Sinn immer nur aus 
der Gesammtaufmerksamkeit fliesst, und durch diese be- 
dingt ist. 



ten Verschiebungen ein. — Im Traum sah ich in meinem Laboratorium 
ein mit Wasser gefülltes Becherglas, in dem ruhig ein Kerzenlicht brannte. 
„Woher bezieht das den Sauerstoff?" dachte ich. „Der ist im Wasser 
absorbirt." „Wo kommen die Verbrennungsgase hin ?" Nun stiegen Blasen 
von der Flamme im Wasser auf, und ich war beruhigt 



HO — 



8. 

Wenn wir eine Anzahl gleicher Glockenschläge be- 
obachten, so können wir, solange sie in geringer Anzahl 
gegeben sind, jeden einzelnen von den andern in der Er- 
innerung unterscheiden, und können in der Erinnerung nach- 
zählen. Bei einer grossem Zahl von Glockenschlägen aber 
unterscheiden wir zwar die letzten von einander, doch nicht 
mehr die ersten. Wollen wir in diesem Fall keinem Irr- 
thum unterliegen, so müssen wir gleich beim Erklingen der- 
selben zählen, d. h. jeden Schlag willkürlich mit einem 
Ordnungszeichen verknüpfen. Die Erscheinung ist ganz 
analog derjenigen, welche wir im Gebiet des Raumsinns be- 
obachten, und wird auch nach demselben Princip zu er- 
klären sein. Wenn wir vorwärts schreiten, haben wir zwar 
die Empfindung, dass wir uns von einem Ausgangspunkt 
entfernen, allein das physiologische Mass dieser Ent- 
fernung geht nicht proportional dem geometrischen. So 
schrumpft auch die abgelaufene physiologische Zeit per- 
spectivisch zusammen, und ihre einzelnen Elemente werdea 
weniger unterscheidbar ^^). 



Q 



Wenn eine besondere Zeitempfindung existirt, so ist es 
selbstverständlich, dass die Identität zweier Rhythmen un- 
mittelbar erkannt wird. Wir dürfen aber nicht unbemerkt 
lassen, dass derselbe physikalische Rhythmus physio- 
logisch sehr verschieden erscheinen kann, ebenso wie der- 



55) Vergl. S. 61. 



III — 



selben physikalischen Raumgestalt je nach deren Lage ver- 
schiedene physiologische Raumformen entsprechen können. 
Der durch nebenstehende Noten veranschaulichte Rhythmus 

ic; nncr nriü' nri 



erscheint z. B. ganz verschieden, je nachdem man die kurzen 
dicken, oder die langen dünnen, oder die punktirten Ver- 
ticalstriche als Taktstriche ansieht. Es hängt dies augen- 
scheinlich damit zusammen, dass die Aufmerksamkeit (durch 
die Betonung geleitet) bei 1, 2 oder 3 einsetzt, d. h. 
dass die den aufeinanderfolgenden Schlägen entsprechenden 
Zeitempfindungen mit verschiedenen Anfangsempfindungen 
verglichen werden. 

Der im Folgenden dargestellte Rhythmus erscheint dem 
vorigen physiologisch ähnlich, aber nur dann, wenn in 

\u\m\^\m\u\m\ 

1 2 3 

beiden die gleichbezeichneten Taktstriche anerkannt werden, 
wenn also die Aufmerksamkeit in homologen Zeitpunkten 
einsetzt. Zwei physikalische Zeitgebilde können als 
ähnlich bezeichnet werden, wenn alle Theile des einen in 
demselben Verhältniss zu einander stehen, wie die homo- 
logen Theile des andern. Die physiologische Aehn- 
lichkeit tritt aber erst hervor, wenn auch die obige Be- 
dingung erfüllt ist. So viel ich übrigens zu beurtheilen 
vermag, erkennt man die Zeit Verhältnisse zweier Rhyth- 
men nur dann als gleich, wenn dieselben durch sehr kleine 
ganze Zahlen darstellbar sind. Eigentlich bemerkt man also 
unmittelbar nur die Gleichheit oder Ungleichheit zweier 



112 



Zeiten, und erkennt das Verhältniss im letzteren Fall 
nur dadurch, dass ein Theil in dem andern einfach aufgeht. 
Hierdurch erklärt es sich, warum man beina Taktgeben die 
Zeit in lauter durchaus gleiche Theile theilt^*). 



56) Die Aehnlichkeit der Eaumgestalten würde hiernach viel unmittel- 
barer empfunden als die Aehnlichkeit der Rhythmen. — Der Zusammenhang 
zynischen rhythmischen Bewegungen und dem Zeitmass, der wahrscheinlich 
eine wichtige teleologische Bedeutung hat, mag hier unerörtert bleiben. 



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y 




\ 



Die Tonempfindungen ^^). 

1. 

Auch in Bezug auf die Tonempfindungen müssen wir 
uns vorzugsweise auf die psychologische Analyse be- 
schränken. Es kann hier ebenfalls nur der Anfang einer 
Untersuchung geboten werden. 

Zu den für uns wichtigsten Tonempfindungen gehören 
diejenigen, welche durch das menschliche Stimmorgan 
als Aeusserungen von Lust und Schmerz, zur sprachlichen 
Mittheilung von Gedanken, als Ausdruck des Willens u. s. w. 
erregt werden. Das Stimmorgan und das Gehörorgan be- 
finden sich auch zweifellos in enger Beziehung. In ein- 
fachster und deutlichster Weise enthüllen die Tonempfin- 



57) Den hier dargelegten Standpunkt habe ich (von der Detailaus- 
fiihning abgesehen) schon vor 20 Jahren eingenonunen. Stumpf (Ton- 
psychologie. Leipzig 1883. Bd. L), dem ich für die vielfache Berücksich- 
tigung meiner Arbeiten hier danken muss, bringt manche mir sehr sym- 
pathische Einzelheiten. Seine S. 119 ausgesprochene Ansicht aber ist mit 
meinem Forschungsprincip des Parallelismus unvereinbar. — VergL 
meine Note: „Zur Analyse der Tonempfindungen", Sitzungsber. d. Wiener 
Akademie Bd. 92, II Abth., S. 1283 (1885). 

8 



— 114 — 

düngen ihre merkwürdigen Eigenschaften in der Musik. 
Wille, Gefühl Lautäusaerung und Lautempfindung 
stehen gewiss in einem starken physiologischen Zusammen- 
haaig. Es wird auch ein guter Theil Wahrheit darin stecken^ 
wenn Schopenhauer^®) sagt, dass die Musik den Willen 
darstelle, wenn die Musik als eine Sprache des Gefühls be- 
zeichnet wird u. s. w., doch kaum die ganze Wahrheit. 

2. 

H. Berg^^) hat, um es kurz zu sagen, nach dem Vor- 
gange Darwin 's versucht, die Musik aus dem Brunstgeheul 
der Affen herzuleiten. Man müsste verblendet sein, wenn 
man das Verdienstliche und Aufklärende der Ausführungen 
D a r w i n 's und B e r g 's verkennen wollte. Auch heute noch 
kann die Musik sexuelle Saiten berühren, auch heute noch 
wird sie zur Liebeswerbung thatsächlich benützt. Auf die 
Frage aber, worin das Angenehme der Musik liegt, gibt 
Berg keine befriedigende Antwort, und da er musikalisch 
auf dem Helmhol tz 'sehen Standpunkt der Vermeidung 
der Schwebungen steht, und annimmt, dass die am wenig- 
sten unangenehm heulenden Männchen den Vorzug er- 
hielten, so darf man sich vielleicht wundern, warum die 
klügsten dieser Thiere nicht lieber ganz schwiegen. 

Wenn die Beziehung irgend einer biologischen Erschei- 
nung zur Arterhaltung aufgedeckt, und dieselbe phylogene- 
tisch hergeleitet wird, so ist damit viel gethan. Keineswegs 
darf man aber glauben, dass auch schon alle diese Erschei- 
nung betreffenden Probleme gelöst seien. Niemand wird 
wohl das Angenehme der specifischen Wollusteinpfindung 



58) Schopenhauer, die Welt als Wille und VorstelluiKg. 

59) H. Berg, die Lust an der Musik. Berlin 1879. 



— 115 — 

dadurch erklären wollen, dass er deren Zusammenhang mit 
der Arterhaltung nachweist. Viel eher wird man zugeben, 
dass die Art erhalten wird, weil die Wollustempfindung an- 
genehm ist. Mag die Musik immerhin unsern Organismus 
an die Liebeswerbungen der Urahnen erinnern, wenn sie 
zur Werbung benützt wurde, musste sie schon positiv 
Angenehmes enthalten, welches gegenwärtig allerdings durch 
jene Erinnerung verstärkt werden kann. Wenn der Ge- 
ruch einer verlöschenden Oellampe mich fast jedesmal in an- 
genehmer Weise an die Laterna magica erinnert, die ich als 
Kind bewunderte, so ist dies ein ähnlicher Fall aus dem 
individuellen Leben. Doch riecht darum die Lampe an sich 
nicht weniger abscheulich. Und wer durch Rosenduft an 
ein angenehmes Erlebniss erinnert wird, glaubt darum nicht, 
dass der Rosenduft nicht schon vorher angenehm gewesen 
sei. Derselbe hat durch die Association nur gewonnen^®). 
Kann nun die erwähnte Auffassung schon das Angenehme 
der Musik überhaupt nicht genügend erklären, so vermag 
sie zur Beantwortung von Specialfragen, wie z. B., warum 
in einem gegebenen Fall eine Quai^te einer Quinte vorgezogeii 
wird, wohl noch weniger beizutragen. 

3. 

Man würde überhaupt die Tonempfindungen etwas ein- 
seitig beurtheilen, wenn man nur das Gebiet der Sprache und 
Musik berücksichtigen wollte. Die Tonempfindungen ver- 
mitteln nicht allein die Mittheilung, die Äusserung von Lust 
und Schmerz, die Unterscheidung der Stimmen von Männerli; 
Frauen, Kindern. Sie bieten nicht allein Merkzeichen der 



60) Auf die Bedeutung der Association für die Aesthetik hat nament- 
lich F e c h n e r hingewiesen. 

8* 



- ii6 — 

Anstrengung, der Leidenschaft des Sprechenden oder Rufen- 
den. Wir unterscheiden durch dieselben auch grosse und 
kleine schallende Körper, die Tritte grosser und kleiner 
Thiere. Gerade die höchsten Töne, welche das Stimmorgan 
des Menschen nicht selbst erzeugt, sind für die Beurtheilung 
der Richtung, aus welcher der Schall kommt, muthmasslich 
sehr wichtig ßi). Ja diese letzteren Functionen der Tonem- 
pfindungen sind wahrscheinlich in der Thierwelt älter als 
diejenigen, welche erst im geselligen Leben der Thiere eine 
Rolle spielen. 

4. 

Den wesentlichen Fortschritt in Bezug auf die Analyse 
der Gehörsempfindungen, welcher durch die H e Im holt zi- 
schen ß^) Arbeiten herbeigeführt worden ist, wird jedermann 
freudig anerkennen. Wir erkennen mit Helmholtz das 
Geräusch als eine Combination von Tönen, deren Zahl, 
Höhe und Intensität mit der Zeit variirt. In dem Klange 
hören wir mit dem Grundton w, im Allgemeinen noch die 
Obertöne oder Partialtöne 2 n, 3 n, 4 n u. s. w., deren jeder 
einfachen pendeiförmigen Schwingungen entspricht. Werden 
zwei Klänge, deren Grundtönen die Schwingungszahlen n und 
m entsprechen, melodisch oder harmonisch verbunden, 
so kann bei bestimmten Verhältnissen ^ ^) von n und m theil- 



61) Mach, Bemerkungen über die Function der Ohrmuschel (Tröltsch's 
Archiv für Ohrenheükunde N. F. Bd. HL S. 72). — Vgl auch: Mach u. 
Fischer, die Eefloxion und Brechung des Schalles. Pogg. Ann. Bd. 149 
S. 421. 

62) Helmholtz, die Lehre von den Tonempfindungen. 1. Aufl. 
Braunschweig 1863. 

63) Der p^^ Partialton von n fällt mit dem gte von m zusanmien, 

P . 
wenn pn ^= qm, also m = — n ist. Hierbei sind ^, q ganze Zahlen. 



— 117 -- 

weise Co'icidenz der Partialtöne eintreten, wodurch im erste- 
ren Falle die Verwandtschaft der Klänge bemerklich, im 
zweiten Falle eine Verminderung der Schwebungen her- 
beigeführt wird. Alles dies wird nicht zu bestreiten sein, 
wenn es auch nicht als erschöpfend anerkannt wird. 

Ebenso zustimmend kann man sich gegenüber Helm- 
holtz's physiologischer Theorie des Gehörorgans ver- 
halten. Durch die Beobachtungen, welche sich beim Zusam- 
menklang einfacher Töne ergeben, wird es äusserst wahr- 
scheinlich, dass der Reihe der Schwingungszahlen eine Reihe 
von Nervenendorganen entspricht, so dass für die verschie- 
denen Schwingungszahlen verschiedene Endorgane vorhanden 
sind, von welchen jedes nur auf einige wenige einander nahe- 
liegende Schwingungszahlen anspricht. Es ist eine Frage 
von geringerer Bedeutung, ob gerade dem Co rti 'sehen Organ 
diese Function zufällt? 

5. 

Nach einem besondern Gehörorgan für Geräusche zu 
suchen, scheint für jeden, der mit Helmhol tz annimmt, 
dass alle Geräusche sich in länger oder kürzer anhaltende 
Tonempfindungen auflösen lassen, vorläufig überflüssig. Mit 
der Frage nach der Beziehung des Geräusches (insbesondere 
des Knalles) zum Ton habe ich mich vor langer Zeit (Winter 
187|) beschäftigt und gefunden , dass sich alle Übergänge 
zwischen beiden aufweisen lassen. Ein Ton von 128 ganzen 
Schwingungen, den man durch den kleinen Ausschnitt einer 
grossen langsam rotirenden Scheibe hört, schrumpft zu einem 
kurzen trockenen Schlag (oder schwachen Knall) von sehr 
undeutlicher Tonhöhe zusammen, wenn seine Dauer auf 
2 — 3 Schwingungen reducirt wird, während bei 4 — 5 Schwin- 
gungen die Höhe noch ganz deutlich ist. Anderseits be- 



— ii8 — 

merkt man an einem Knall, selbst wenn derselbe von einer 
««periodischen Luftbewegung herrührt (Funken welle, explo- 
dirende Knallgasblase), bei genügender Aufmerksamkeit eine 
Tonhöhe, wenngleich keine sehr bestimmte. Man überzeugt 
sich auch leicht, dass an einem von der Dämpfung befreiten 
Ciavier durch gross-e explodirende Knallgasblasen vorzugs- 
weise die tiefen, durch kleine die hohen Saiten zum Mit- 
schwingen erregt werden. Hierdurch scheint es mir nachge- 
wiesen, dass dasselbe Organ die Ton- und die Geräusch- 
empfindung vermitteln kann. Man wird sich vorzustellwi 
haben, dass eine schwächere, kurz dauernde aperiodische 
Luftbewegung alle, aber vorzugsweise die kleinen leichter 
beweglichen, eine stärkere länger anhaltende auch die grös- 
seren massigeren Endorgane erregt, welche dann bei ihrar 
geringeren Dämpfung länger ausschwingend sich bemerklich 
machen, und dass selbst bei verhältnissmässig schwachen 
periodischen Luftbewegungen durch Häufung der Effecte 
an einem bestimmten Gliede der Reihe der Endorgane 
die Reizung hervortritt^*). Qualitativ ist die Empfin- 
dung, welche ein tiefer oder hoher Knall erregt, dieselbe, nur 
intensiver und von kürzerer Dauer als diejenige, welche das 
Niederdrücken einer grossen Anzahl benachbarter Ciavier- 
tasten in tiefer oder hoher Lage erregt. Auch fallen bei 
der einmaligen Reizung durch Knall die an die perio- 
dische intermittirende Reizung gebundenen Schwebungen weg. 



64) über einen Theil meiner Versuche, die an Dvorak' s Experi- 
mente über Nachbilder von Keizänderungen (1870) anknüpften, habe icli 
berichtet in: „Lotos", Augustnummer 1873. Die Versuche betreffend 
die Erregung der Ciaviertöne durch Explosionen habe ich überhaupt noch 
nirgends erwähnt. Es wird vielleicht nicht unnütz sein, wenn es hier 
geschieht. — Dieselben Fragen haben später Pfaundler, S. Exner, 
Auerbach, Brücke u. A ausführlich behandelt 



— 119 — 



6. 



Bei aller Anerkennung, die der Helmholtz'sch^ 
Theorie entgegengebracht wurde, hat es doch auch nicht an 
Stimmen gefehlt, welche die ünvoUständigkeit derselben her- 
vorgehoben haben. Ziemlich allgemein hat man das posi- 
tive Moment bei Erklärung der Harmonie vermisst, indem 
man sich mit dem blossen Mangel an Schwebungen 
als zureichendem Merkmal der Harmonie nicht zufrieden 
geben wollte. Auch A. v. O ettingen^^) vermisst die Angabe 
des für jedes Intervall characteristischen positiven Ele- 
mentes (S. 30), und will den Werth eines Intervalles nicht 
von der physikalischen Zufälligkeit des Gehaltes der Klänge 
an Obertönen abhängig machen. Er glaubt das positive 
Element in der Erinnerung (S. 40, 47) an den gemein- 
samen Grundton (die Tonica) zu finden, als dessen Par- 
tialtöne die Klänge des Intervalles oft aufgetreten sind, oder 
in der Erinnerung an den gemeinsamen Oberton (die 
Phonica), welcher beiden zukommt. In Bezug auf den nega- 
tiven Theil der Kritik muss ich v. Oettingen vollkommen 
beistimmen. Die „Erinnerung" deckt aber das Bedürf- 
niss der Theorie nicht, denn Consonanz und Dissonanz sind 
nicht Sache der Vorstellung, sondern der Empfindung. 
Physiologisch halte ich also v. Oettingen's Auffassung 
für nicht zutreffend. In v. Oettingen's Aufstellung des Prin- 
cipes der Dualität aber (der tonischen und phonischen 
Verwandtschaft der Klänge), sowie in seiner Auffassung der 
Dissonanz als eines mehrdeutigen Klanges (S. 224) 
scheinen mir werth volle positive Leistungen zu liegen ß^). 



65) A. V. e 1 1 i n g e n , Hannoniesystem in dualer Entwicklung. Dor- 
pat 1866. 

66) Eine populäre Darstellung des Principes der Dualität, welches 



Ich selbst habe scbon in einer 1863 ^') erschienenen 
Abhandlung und auch später«^) einige kritische Bemerkun- 
gen über die Helmholtz'sche Theorie gemacht, und 1866 
in einer kurz vor der Oett in gen 'sehen erschienenen kleinen 
Schrift*^) sehr bestimmt einige Forderungen bezeichnet, 
welchen eine vollständigere Theorie zu genügen hätte. Da 
meine Ausführungen , soviel ich weiss , bisher keine ernste 
Beachtung gefunden haben, so komme ich hier in etwas ein- 
dringlicherer Darstellung auf dieselben zurück. 




Gehen wir von der Vor- 
stellung aus, dass eine Reih e 
von abgestimmten Endorga- 
nen existirt, deren Glieder 
bei steigender Schwingungs- 
zah] nacheinander im 
Maximum ansprechen , und 
schreiben wir jedem End- 
organ seine besondere (spe- 
cifische) Energie zu. Dann 



schon Euler (Tentannen novae theoriae musicae p. 103), D'Alembert 
(Eltoens de musique. Lyon 1766) und Hauptmann (Die Natur der 
Harmonik und Metrik Leipzig' 1853) geahnt haben, findet eich in meiner 
kleinen Schrift: Die Gestalten der Flüssigkeit Die Symmetrie. Prag 
1872. — An eine Yollwerthige Symmetrie wie un Gebiete des Ge- 
sichtssmnes darf natürlich im Gebiete der Musik, da die Tonempflndungett 
selbst kein symmetrisches Sj'stem bilden, nicht gedacht werden, 

67) Mach, zur Theorie des Gehörorgans. Sitzungsberichte der 
Wiener Akademie. 1863. 

68) VergL meine: Bemerkungen zur Lehre vom räumlichen Sehen. 
Fichtes Zeitschrift für Philosophie. 1865. 

69) Einleitung in die Helmholtz'sthe Musiktheorie. Graz 1866. S. 
d. Vorwort und SS. 23 a ff, 46, 88. 



— 121 — 



gibt es so viele specifische Energieen als Endorgane und 
ebenso viele für uns durch das Gehör unterscheidbare Schwin- 
gungszahlen. 

Wir unterscheiden nicht bloss die Töne, wir ord« 
nen sie auch in eine Reihe. Wir erkennen von drei Tönen 
verschiedener Höhe den mittleren ohne weiteres als solchen. 
Wir empfinden unmittelbar, welche Schwingungszahlen ein- 
ander näher, welche ferner liegen. Das liesse sich für 
nahe liegende Töne noch leidlich erklären. Denn wenn 
wir uns die Schwingungsweiten, die einem bestimmten Ton 
zukommen, symbolisch durch die Ordinaten der Curve abc 
Fig. 35 darstellen, und diese Curve uns allmählich im Sinne 
des Pfeiles verschoben denken, so werden naheliegenden 
Tönen, weil stets mehrere Organe zugleich ansprechen, auch 
immer schwache gemeinsame Reizungen zukommen. Allein 
auch ferner liegende Töne haben eine gewisse Aehnlichkeit^ 
und auch an dem höchsten und tiefsten Ton erkennen 
wir noch eine solche. Nach dem uns leitenden Forschungs- 
grundsatze müssen wir also in allen Tonempfindungen ge- 
meinsame Bestandtheile annehmen. Es kann also nicht 
so viele specifische Energieen geben, als es unterscheidbare 
Töne gibt. Für das Verständniss der Thatsachen, die wir 
hier zunächst im Auge haben, genügt die Annahme von 
nur zwei Energieen, die durch verschiedene Schwingungs- 
zahlen in verschiedenem Verhältniss ausgelöst werden. Eine 
weitere Zusammensetzung der Tonempfindungen ist aber 
durch diese Thatsachen nicht ausgeschlossen, und wird 
durch die später zu besprechenden Erscheinungen sehr wahr- 
scheinlich. 

Die aufmerksame psychologische Analyse der Ton- 
reihe führt unmittelbar zu dieser Ansicht. Aber auch wenn 
man für jeden Cr oti 'sehen Bogen zunächst eine besondere 



— 122 — 



Energie annimmt, und bedenkt, dass diese Energieen einan* 
der ähnlich sind, also gemeinsame Bestandtheile enthalten 
müssen, gelangt man auf denselben Standpunkt. Nehmen 
wir also, nur um ein bestimmtes Bild vor uns zu 
haben, an, dass bei dem Übergang von den klein- 
sten zu den grössten Schwingungszahlen die 
Tonempfindung ähnlich variirt wie die Farben- 
empfindung, wenn man vom reinen Roth, etwa 
durch allmälige Zumischung von Gelb, zum 
reinen Gelb übergeht. Hierbei können wir die Vor- 
stellung, dass für jede unterscheidbare Schwingungszahl 
ein besonderes Endorgan vorhanden ist, vollkommen aufrecht 
erhalten, nur werden durch verschiedene Organe nicht ganz 
verschiedene Energieen, sondern immer dieselben zwei in 
verschiedenem Verhältniss ausgelöst ^V- 

9. 

Wie kommt es nun, dass so viele gleichzeitig erklin- 
gende Töne unterschieden werden, und nicht zu einer 
Empfindung verschmelzen, dass zwei ungleich hohe Töne 
nicht zu einem Misch ton von mittlerer Höhe zusammen- 
fliessen? Dadurch, dass dies thatsächlich nicht geschieht, 
ist die Ansicht, die wir uns zu bilden haben, weiter be- 
stimmt. Wahrscheinlich verhält es sich ganz ähnlich, wie 
bei einer Reihe von Mischfarben von Roth und Gelb, welche 
an verschiedenen Stellen des Raumes auftreten, die ebenfalls 
unterschieden werden , und nicht zu einem Eindruck 



70) Die Ansicht, dass auf verschiedene Schwingungszahlen verschie- 
dene Endorgane ansprechen, ist durch die Schwebungen naheliegender 
Töne und andere von Helmholtz hervorgehobene Thatsachen zu wohl 
begründet und für das Verständniss der Erscheinungen zu werthvoU, als 
dass sie wieder aufgegeben werden könnte. — Die hier dargelegte An- 
sicht benützt die (namentlich von Hering) bei Analyse der Farben- 
empfindungen gewonnenen Erfahrungen. 



— 123 — 

zusammenfliessen. In der That stellt sich eine ähn- 
liche Empfindung ein, wenn man von der Beachtung eines 
Tones übergeht zur Beachtung eines andern , wie beim 
Wandern des fixirten Punktes im Sehfeld. Die Ton- 
reihe befindet sich in einem Analogon des Raumes, in 
einem beiderseits begrenzten Raum von einer Dimension, 
der auch keine Symmetrie darbietet, wie etwa eine 
Gerade, die von rechts nach links senkrecht zur Medianebene 
verläuft. Vielmehr ist derselbe analog einer verticalen Geraden, 
ödes einer Geraden, welche in der Medianebene von vorn nach 
hinten verläuft. Während ausserdem die Farben nicht an die 
ßaumpunkte gebunden sind, sondern sich im Raum bewegen 
können, weshalb wir die Raumempfindungen so leicht von 
den Farbenempfindungen trennen, verhält es sich in Bezug 
auf die Tonempfindung anders. Eine bestimmte Tonempfin- 
dung kann nur an einer bestimmten Stelle des besagten ein- 
dimensionalen Raumes vorkommen, die jedesmal fixirt werden 
muss, wenn die betreffende Tonempfindung klar hervortreten 
soll. Man kann sich nun vorstellen, dass verschiedene Ton- 
empfindungen in verschiedenen Theilen der Tonsinnsubstanz 
auftreten, oder dass neben den beiden Energieen, deren Ver- 
hältniss die Färbung der hohen und tiefen Töne bedingt, 
noch eine dritte, einer Innervationsempfindung ähnliche 
besteht, welche beim Fixiren der Töne auftritt. Auch beides 
zugleich könnte stattfinden. Zur Zeit dürfte es weder mög- 
lich noch schon nothwendig sein, hierüber zu entscheiden. 

Dass das Gebiet der Tonempfindungen eine Analogie 
zum Raum darbietet, und zwar zu einem Raum, der keine 
Symmetrie aufweist, drückt sich schon unbewusst in der 
Sprache aus. Man spricht von hohen und tiefen Tönen, 
nicht von rechten und linken, wiewohl unsere Musikinstru- 
mente letztere Bezeichnung sehr nahe legen. 



— 124 — 

In einer meiner ersten Arbeiten 'i) habe ich die An- 
sicht vertreten, dass das Fixiren der Töne mit der verän- 
derlichen Spannung des tensor tympani zusammenhänge. 
Diese Ansicht kann ich meinen eigenen Beobachtungen und 
Experimenten gegenüber nicht aufrecht halten. Die Baum- 
analogie fällt hiermit jedoch nicht, sondern es ist nur das 
betreflfende physiologische Element erst aufzufinden'*). 



71) Zur Theorie des Gehörorgans. 1863. 

72) Die Annahme, dass die Vorgänge im Kehlkopf beim Singen zur 
Bildung der Tonreihe beitragen, habe ich in der Arbeit von 1863 
ebenfalls berührt, aber nicht haltbar geftmden. Das Singen ist zu äusserlich 
und zufällig mit dem Hören verbunden. Ich kann Töne weit über die Grenzen 
meiner Stimme hinaus hören und mir vorstellen. Wenn ich eine Orchester- 
aufführung mit allen Stimmen höre, oder wenn mir dieselbe als Hallu- 
cination entgegentritt, so kann ich mir unmöglich denken, dass mir das 
Verständniss des ganzen Stinmiengewebes durch meinen einen Kehlkopt 
der noch dazu gar kein geübter Sänger ist, vermittelt wird. Ich halte 
die Empfindungen, die man beim Hören von Musik gelegentlich zweifellos 
im Kehlkopf bemerkt, für nebensächlich, so wie ich mir in meiner musi- 
kalisch geübteren Zeit rasch zu jedem gehörten Ciavier- oder Orgelstück 
nebenbei die gegriffenen Tasten vorstellte. Wenn ich mir Musik vorstelle, 
höre ich immer deutlich die Töne. Aus den die Musikausführungen 
begleitenden motorischen Empfindungen allein wird keine Musik, so 
wenig der Taube, der die Bewegungen der Spieler im Orchester sieht, 
Musik hört. Ich kann also in diesem Punkte Stricker's Ansicht 
nicht zustimmen. (Yergl. Stricker, du langage et de la musique 
Paris 1885.) 

Anders muss ich mich zu St ricker 's Ansicht über die Sprache 
stellen (Vergl. Stricker, die Sprachvorstellungen. Wien 1880). Zwar 
tönt mir eine Kode, an die ich denke, voll ins Ohr, ich zweifle auch 
nicht, dass durch das Erklingen der Hausglocke, durch einen Locomo- 
tivenpfiff u. s. w. direct Gedanken erregt werden können, dass kleine Kin- 
der und selbst Hunde Worte verstehen, die sie nicht nachsprechen können; 
doch bin ich durch Stricker überzeugt worden, dass zwar nicht der 
einzig mögliche, aber der gewöhnliche uns geläufige Weg des Sprach- 
verständnisses der motorische ist, und dass wir sehr übel daran sind, 
wenn uns dieser abhanden konmit. Ich kann selbst aus meiner Er- 
fahrung Bestätigungen dieser Ansicht anführen. Fremde, die meiner Eede 
folgen wollen, sehe ich häufig leise die Lippen bewegen. Gibt mir je- 
mand seine Wohnung an, und versäume ich, den Strassennamen und die 



— 125 — 



10. 



Die Analogie zwischen dem Fixiren von Raumpunkten 
und dem Fixiren von Tönen habe ich wiederholt durch Ex- 
perimente erläutert, die ich hier nochmals anführen will. 
Dieselbe Combination von zwei Tönen klingt verschieden, je 
nachdem man den einen oder den andern beachtet. Die 
Combinationen 1 und 2 haben einen merklich verschiedenen 

12 3 4 5 6 



i 



I ^1 ' 



Charakter, je nachdem man den obern oder untern Ton 
fixirt. Wer die Aufmerksamkeit nicht willkürlich zu leiten 
vermag, helfe sich dadurch, dass er den einen Ton später 



Hausnummer nachzusprechen, so vergesse ich dioAdresse gewiss, 
behalte sie aber bei Gebrauch dieser Vorsicht im Gedächtniss. Ein Freund 
sagte mir kürzlich, er wolle das indische Drama „Urvasi" nicht lesen, weil er 
die Namen nur mit Mühe zusammenbuchstabire , und folglich nicht be- 
halte. Der Traum des Taubstummen, von dem Stricker erzählt, ist 
überhaupt nur nach seiner Ansicht verständlich. — Bei ruhiger Über- 
legung ist dieses anscheinend paradoxe Verhältniss auch gar nicht so 
wunderbar. Wie sehr sich unsere Gedanken in gewohnten einmal 
eingeübten Bahnen bewegen, zeigt die überraschende Wirkung eines 
Witzes. Gute Witze wären nicht so selten, wenn wir uns nicht vor- 
zugsweise in ausgefahrenen Bahnen bewegen würden. Manchem 
fallt die naheliegende Nebenbedeutung eines Wortes gar nie ein. Und 
wer denkt, wenn er die Namen Sclmiied, Schuster, Schneider als N a m e n 
gebraucht, an die betreffenden Handwerke? — Um ein naheliegendes 
Beispiel aus einem andern Gebiete anzuführen, bringe ich in Erinnerung 
(YergL S. 49), dass ich Spiegelschrift neben dem Original sofort als mit 
diesem symmetrisch-congruent erkenne, ohne sie doch direct lesen 
zu können, da ich die Schrift motorisch mit der rechten Hand er- 
lernt habe. Daran kann ich auch am besten erläutern, warum ich Stri- 
cker nicht auch in Bezug auf Musik beistimme: Die Musik verhält sich 
zur Sprache, wie das Ornament zur Schrift. 



— 126 — 

eintreten lässt. Dieser zieht dann die Aufmerksamkeit auf 
sich. Bei einiger üebung gelingt es, eine Harmonie (wie 5) 
in ihre Bestandtheile aufzulösen, und diese (etwa wie bei 6) 
einzeln herauszuhören. Diese und die folgenden Experimente 
werden der anhaltenden Töne wegen besser und überzeugen- 
der mit der Physharmonica als mit dem Ciavier ausgeführt 
Besonders überraschend ist die Erscheinung, die eintritt, 
wenn man einen fixirten Ton in einer Harmonie erlöschen 
lässt. Die Aufmerksamkeit gleitet dann auf den nächstlie- 
genden über, welcher mit einer Deutlichkeit auftaucht, als 
wenn er eben angeschlagen worden wäre. Der Eindruck dies 
Experimentes ist ganz ähnlich demjenigen, den man erhält, 
wenn man, in die Arbeit vertieft, plötzlich den gleichmässi- 
gen Schlag der Pendeluhr auftauchen hört, der gänzlich aus 
dem Bewusstsein geschwunden war. Im letzteren Falle tritt 
das ganze Tongebiet über die Schwelle, während im er- 
steren ein Theil höher gehoben wird. Fixirt man z. B. 
in 7 die Oberstimme, während man von oben nach unten 

7 8 9 10 



i 



«r 



-^^ 



i^.^^^^^^^3^^. 






f=x^ 



fortschreitend einen Ton nach dem andern erlöschen lässt^ 
so erhält man beiläufig den Eindruck 8. Fixirt man in 9 
den tiefsten Ton, und verfährt umgekehrt, so erhält man 
den Eindruck 10. Dieselbe Harmoniefolge klingt sehr ver- 
schieden, je nach der fixirten Stimme. Fixire ich in 11 
oder 12 die Oberstimme, so scheint sich nur die Klangfarbe 
zu ändern. Beachtet man aber in 11 den Bass, so scheint 
die ganze Elangmasse in die Tiefe zu fallen , dagegen* za 
steigen, wenn man in 12 den Schritt e-f beachtet. Es wird 
hierbei recht deutlich, dass Accorde sich als Vertreter von 




verhalten. Lebhaft erinnern diese Beobachtungen 
an den wechselnden Eindruck, den man erhält, wenn man in 
einem Ornament bald diesen, bald jenen Punkt fixirt 

Es sei hier noch an das unwillkürliche Wandern der 
Aufmerksamkeit erinnert, welches beim (mehrere Minuten) 
anhaltenden gleiehmässigen Erklingen eines Harmoniumtones 
eintritt, wobei nach und nach alle Obertöne von selbst in 
Toller Klarheit auftauchen' ä). Der Vorgang scheint auf 
eine Ermüdung für einen länger beobachteten Ton zu deuten. 
Diese Ermüdung wird auch wahrscheinlich durch ein Experi- 
ment, welches ich an einem andern Orte ausführlicher be- 
schrieben habe '*). 

Die hier dargelegten Verhältnisse im Gebiete der Ton- 
empfindungen könnten etwa durch folgendes Bild veranschau- 
licht werden. Gesetzt unsere beiden Augen 
wären nur einer einzigen Bewegung fähig, 
sie vermöchten nur die Punkte einer hori- 
zontalen, in der Medianebene liegenden Ge- 
raden durch wechselnde symmetrische Con- 
vergenzstellung zu verfolgen , der nächste 
fixirtc Punkt sei rein roth , der fernste, 
welcher der Parallelstellung entspricht, rein 
Fig. 36. gelb, und dazwischen lägen alle Üebergänge; 




73) Vergl. meine „Einleitung in die Hohnliolta'scho MuBiktheorie" 
29. 

74) Vergl meine „Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfin- 
ttgen" S. 58. 



— 128 — 

so würde dieses System unserer Gesichtsempfindungen die 
Verhältnisse der Tonempfindungen sehr fühlbar nach- 
ahmen. 

11. 

Nach der bisher gewonnenen Ansicht bleibt eine in dem 
Folgenden zu betrachtende wichtige Thatsache unverständlich, 
deren Erklärung aber von einer vollständigeren Theorie un- 
bedingt gefordert werden muss. Wenn wir zwei Ton- 
folgen von zwei verschiedenen Tönen ausgehen, 
und nach denselben Schwingungszahlenverhält- 
nissen fortschreiten lassen, so erkennen wir in 
beiden dieselbe Melodie ebenso unmittelbar durch 
die Empfindung, als wir an zwei geometrisch 
ähnlichen, ähnlich liegenden Gebilden die gleiche 
Gestalt erkennen» Gleiche Melodien in verschiedener 
Lage können als Tongebilde von gleicher Ton g estalt 
oder als ähnliche Tongebilde bezeichnet werden. 

Schon bei einer Folge von nur zwei Tönen wird die 
Gleichheit des Schwingungszahlenverhältnisses unmittelbar 
erkannt, die Tonfolgen c— f, d— g, e— a u. s. w., welche alle 
dasselbe Schwingungszahlen v er hältniss (3:4) darbieten, 
werden alle unmittelbar als gleiche Intervalle, als 
Quarten erkannt. Dies ist die Thatsache in ihrer ein- 
fachsten Form. Des Merken und Wiedererkennen der Inter- 
valle ist das Erste, was sich der angehende Musiker aneig- 
nen muss, wenn er mit seinem Gebiet vertraut werden will. 

Herr E. K u 1 k e hat in einer kleinen sehr lesenswerthen 
Schrift 7 s) eine hierauf bezügliche Mittheilung über die ori- 



75) E. Kulke, über die Umbildung der Melodie. Ein Beitrag zur 
Entwicklungslehre. Prag. Calve. 1884. 



— 129 — 

gineile Unterrichtsmethode von P.Cornelius gemacht, die 
ich hier nach Kulke's mündlicher Mittheilung noch er- 
gänzen will. Um die Intervalle leicht zu erkennen, ist es 
nach Cornelius zweckmässig, sich einzelne Tonstücke, 
Völkslieder u. s. w. zu merken, welche mit diesen Intervallen 
beginnen. Die Tannhäuser-Ouvertüre beginnt z. B. mit 
einer Quart. Höre ich eine Quarte, so bemerke ich sofort, 
dass die Tonfolge der Beginn der Tannhäuserouvertüre sein 
könnte, und erkenne daran das Intervall. Ebenso kann die 
Fidelio-Ouvertüre No. 1 als Repräsentant der Terz verwendet 
werden u. s. w. DiiBses vortreflfliche Mittel, welches ich bei 
akustischen Demonstrationen erprobt, und sehr wirksam ge- 
funden habe, ist anscheinend eine Complication. Man könnte 
meinen, es müsste leichter sein, ein Intervall als eine Melodie 
zu merken. Doch bietet eine Melodie der Erinnerung mehr 
Hilfen, so wie man ein individuelles Gesicht leichter merkt, 
und mit einem Namen verknüpft, als einen bestimmten Win- 
kel oder eine Nase. Jeder Mensch merkt sich Gesichter 
und verknüpft sie mit Namen; Leonardo da Vinci hat 
aber die Nasen in ein System gebracht. 

So wie jedes Intervall in der Tonfolge in characteristi- 
flcher Weise sich bemerklich macht, ebenso verhält es sich 
in der harmonischen Verbindung. Jede Terz, jede Quart, 
jeder Molldreiklang oder Durdreiklang hat seine eigeuthüm- 
liche Färbung, an welcher er unabhängig von der Höhe 
des Grundtons und unabhängig von der Zahl der Schwe- 
bungen, welche ja mit dieser Höhe rasch zunimmt, er- 
kannt wird. 

Eine Stimmgabel, die man vor ein Ohr hält, hört man 
fast nur mit diesem Ohr. Bringt man zwei etwas gegen- 
einander verstimmte, stossende Stimmgabeln vor dasselbe 
Öhr, so sind die Stösse sehr deutlich. Stellt man aber die 

9 



— 130 — 

eine Gabel vor das eine, die andere vor das andere Ohr, 
so werden die Stösse sehr schwach. Zwei in einem har- 
monischen Intervall stehende Gabeln klingen stets etwas 
rauher vor einem Ohr. Der Character der Harmonie 
bleibt aber auch bewahrt, wenn man vor je ein Ohr eine 
Gabel stellt ^ß). Auch die Disharmonie bleibt bei diesem 
Experiment sehr deutlich. Harmonie und Disharmonie 
sind jedenfalls nicht durch die Schwebungen allein be- 
stimmt. 

Sowohl bei der melodischen als bei der harmonischen 
Verbindung zeichnen sich die Töne, welche in einfachen 
Schwingungszahlen Verhältnissen stehen, 1. durch Gefällig- 
keit und 2. durch eine für jenes Verhältniss charakte- 
ristische Emp findung aus. Was die Gefälligkeit 
betriflft, so kann nicht in Abrede gestellt werden, dass die- 
selbe theilweise durch das Zusammenfallen der Partial- 
töne und bei harmonischer Verbindung auch durch das hier- 
mit verbundene Zurücktreten der Schwebungen bei bestimmten 
Schwingungszahlenverhältnissen aufgeklärt ist. Der unbe- 
fangene Musikerfahrene ist aber nicht ganz befriedigt. Ihn 
stört die zu bedeutende EoUe, welche der zufälligen Klang- 
farbe eingeräumt wird, und er merkt, dass die Töne noch 
in einer positiven Contrastbeziehung stehen, wie 
die Farben, nur dass bei Farben keine so genauen ge- 
fälligen Verhältnisse angegeben werden können. 

Die Bemerkung, dass wirklich eine Art Contrast 
unter den Tönen besteht, drängt sich beinahe von selbst 
auf. Ein constanter glatter Ton ist etwas sehr ünerfreu- 
liches und Farbloses, wie eine gleichmässige Farbe, in wel- 



76) VergLFechnor, über einige Verhältnisse des binocularen Sehens. 
Leipzig 1860. S. 536. 



— 131 - 

che sich unsere ganze Umgebung hüllt. Erst ein zweiter 
Ton, eine zweite Farbe wirkt belebend. Lässt man einen 
Ton, wie bei dem Experimentiren mit der Sirene, langsam 
in die Höhe schleifen, so geht ebenfalls aller Contrast ver- 
loren. Derselbe besteht hingegen zwischen weiter abstehenden 



^^^^^^ 



Tönen, und nicht nur zwischen den sich unmittelbar folgen- 
den, wie das nebenstehende Beispiel erläutern mag. Der 
Gang 2 klingt ganz anders n^ch 1 als allein, 3 klingt 
anders als 2, und auch 5 anders als 4 unmittelbar nach 3. 



12. 

Wenden wir uns nun zu dem zweiten Punkt, der 
characteristischen Empfindung, welche jedem In- 
tervall entspricht, und fragen wir, ob dieselbe nach der 
bisherigen Theorie erklärt werden kann? Wenn ein Grund- 
ton n mit seiner Terz m melodisch oder harmonisch ver- 
bunden wird, so fällt der 5. Partialton des ersten Klanges 
(5 n) mit dem vierten des zweiten Klanges (4 m) zusammen. 
Dies ist das Gemeinsame, was nach der Helmholtz' 
sehen Theorie allen Terzverbindungen zukommt. Combinire 
ich die Klänge C und E, oder F und A, und stelle in dem 
folgenden Schema ihre Partialtöne dar 



t 



I 



Ccgcegbc 

n 2n Sn 4n 5n 6n In Sn 

__! = = = 

Pfcfacesf 

n 2n 3n in bn Qn In 8n 



E e h e gis h d e 

m 2m 3m 4m 5m 6m 7m 8m 



T 



A a e a eis e g a 

m 2m 3m 4m 5m 6m 7m 8m 

9* 



— 132 — 

so coincidiren in der That in dem einen Fall die mit |, in 
dem andern die mit T bezeichneten Partialtöne, in bei- 
den Fällen der fünfte Partialton des tieferen mit 
dem vierten Partialton des höheren Klanges. 
Dieses Gemeinsame besteht aber nur für den physikalisch 
analysirenden Verstand, und hat mit der Empfindung 
nichts zu schaffen. Für die Empfindung coi'ncidiren in dem 
ersten Fall die e, in dem zweiten die ä, also ganz ver- 
schiedene Töne. Gerade dann, wenn wir für jede unter- 
scheidbare Schwingungszahl eine zugehörige specifische Energie 
annehmen, müssen wir fragen, wo bleibt der jeder 
Terzverbindung gemeinsame Empfindungsbe- 
standtheil? 

Man halte diese meine Unterscheidung nicht für Pedan- 
terie und Haarspalterei. So wenig meine Frage, worin die 
physiologische Aehnlichkeit der Gestalten zum Unter- 
schied von der geometrischen bestehe, überflüssig war, 
so wenig ist diese gleichzeitig (vor etwa 20 Jahren) gestellte 
Frage unnöthig. Will man ein physikalisches oder 
mathematisches Kennzeichen der Terz als ein Merkmal 
der Terzempfindung gelten lassen, so begnüge man sich 
nach Euler 7*^) mit der Coincidenz von je vier und fünf 
Schwingungen, welche Auffassung gar nicht so übel war, so- 
lange man glauben konnte, dass der Schall auch im Nerv 
noch als periodische Bewegung fortgehe, was A. See- 
beck (Pogg. Ann. Bd. 68) noch für möglich gehalten hat. 
Die Helmholtz'sche Coincidenz von 5n und 4 m ist in 
Bezug auf diesen Punkt nicht weniger symbolisch und 
nicht aufklärender. 



77) Euler, tentamen novae theoriae musicao. Petropoli 1739. S. 36. 



— 133 — 



13. 



Bis hierher habe ich meine Ausführungen mit der Ueber- 
zeugung vorgebracht, dass ich nicht nöthig haben werde, 
einen wesentlichen Schritt zurück zu thun. Dieses Gefühl 
begleitet mich nicht in gleichem Masse bei der Entwicklung 
der folgenden Hypothese, die sich mir im Wesentlichen 
vor langer Zeit dargeboten hat. Sie mag aber wenigstens 
dazu dienen, die Forderung, die ich an eine vollständigere 
Theorie der Tonempfindungen glaube stellen zu müssen, 
auch von der positiven Seite zu beleuchten, und zu er-^ 
läutern. 

Für ein Thier von einfacher Organisation sei die Wahr- 
nehmung leiser periodischer Bewegungen des Mediums, in 
dem es sich befindet, eine wichtige Lebensbedingung. Wird 
der Wechsel der Aufmerksamkeit (wegen der zu grossen 
Organe, in welchen so rapide Aenderungen nicht mehr ein- 
treten können) zu träge und die Oscillationsperiode zu 
kurz, die Amplitude zu klein, als dass die einzelnen Pha- 
sen der Eeizung in's Bewusstsein fallen könnten, so wird es 
noch möglich sein, die gehäuften EmpfindungseflFecte des 
oscillatorischen Reizes wahrzunehmen. Das Gehörorgan wird 
dem Tastorgan den Rang ablaufen ^^). Ein schwingungs- 
fähiges Endorgan (ein Hörhaar) spricht nun vermöge seiner 
physikalischen Eigenschaften nicht auf jede Schwingungs- 
zahl an, aber auch nicht auf eine, sondern gewöhnlich auf 



78) Es ist desshalb fraglich, ob Thiero , welche ein so kleines Zeit- 
mass haben, dass ihre willkürlichen Bewegungen für uns tönen, in dem 
gewöhnlichen Sinne hören, oder ob nicht vielmehr das ein Tasten ist, 
was uns an ihnen den Eindruck des Hörens macht. Vergl. z. B. die 
schönen Versuche und Beobachtungen von V. G r a b e r (die chordotonalen 
Organe, Arch. f. mikrosk. Anat. XX, S. 506). — VergL „Bewegungsempfin- 
dungen" S. 123. 



- 134 — 

mehrere weit von einander abliegendem^). Sobald also 
das ganze Continuum der Schwingungszahlen zwischen ge- 
wissen Grenzen für das Thier von Wichtigkeit wird, genügen 
nicht mehr einige wenige Endorgane, sondern es stellt sich das 
Bedürfniss nach einer ganzen Reihe solcher Organe von abge- 
stufter Stimmung ein. Als ein solches System wird das 
Corti'sche Organ angesehen. 

Schwerlich wird nun ein Glied des Corti'schen Organs 
nur auf eine Schwingungszahl ansprechen. Wir müssen 
vielmehr erwarten, dass es viel schwächer in abgestufter 
Intensität (vielleicht durch Knoten abgetheilt) auch auf 

die Schwingungszahlen 2w, 3w, 4w u. s. w., und ebenso 

yh VI/ 'yif 
auch auf die Schwingungszahlen -^, -^, -j-, u. s. w. an- 
spricht. Da die Annahme einer besondern Energie für jede 
Schwingungszahl sich als unhaltbar gezeigt hat, so stellen 
wir uns dem Obigen gemäss vor, dass zunächst nur zwei 
Empfindungsenergieen , sagen wir Dumpf (D) und Hell (H) 
ausgelöst werden. Die betreffende Empfindung wollen wir 
(ähnlich wie dies bei Mischfarben geschieht) symbolisch 
durch pD + qH darstellen, oder wenn wir p -|- q = 1 
setzen, und q als eine Function f(n) der Schwingungszahl 
ansehen 8^), durch [1 — f(n)]D + f (n)H. Die auftretende 
Empfindung soll nun der Schwingungszahl des oscillatori- 
schen Reizes entsprechen, an welchem Glied der Corti 'sehen 
Reihe der Reiz auch angreifen mag. Hierdurch wird die 
frühere Darstellung nicht wesentlich gestört. Denn indem 
das Glied Rn am stärksten auf n und viel schwächer auf 

2n, 3n oder -^, -^ anspricht, indem R^ auch auf einen 



79) Wie z. B. V. H g n s e n beobachtet hat. 

80) Will man eine recht einfache Darstellung haben, so setzt man 

f (ii) = h . logn. 



— 135 — 

aperiodischen Anstoss mit n ausschwingt, wird doch die 
Empfindung [1 — - f (n)]D + f(n)H überwiegend an das 
Olied E„ gebunden bleiben. 

Gut constatirte Fälle von Doppelthören (Vgl. Stumpf 
a. a. 0. S. 266 u. ff.) könnten uns nöthigen , das Auslösungs- 
verhältniss von D und H als vom Endorgan und nicht 
von der Schwingungszahl abhängig zu betrachten, was 
aber unsere Auffassung ebenfalls nicht stören würde. 

Ein Glied R„ spricht also stark auf n, schwächer aber 

auch auf 2 n, 3 n . . . . und -^ , -^ , .... mit den d ie s en 

Schwingungszahlen zugehörigen Empfindungen an. Es ist 
aber doch sehr unwahrscheinlich, dass die Empfindung genau 
dieselbe bleibt, ob R^ auf n oder ob R,, auf n anspricht. 

2 

Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass jedesmal, wenn die 
Glieder der Corti'schen Reihe auf einen Partialton an- 
sprechen, die Empfindung eine schwache Zusatzfärbung 
erhält, die wir symbolisch für den Grundton durch Z^, 
für die Obertöne durch Z^, Zg .... für die Untertöne 
durch Z , Z . . . . darstellen wollen. Hiernach wäre also 

die Tonempfindung etwas reicher zusammengesetzt als dies 
der Formel [1 — f(n)]D + f(n)H entspricht. Die Empfin- 
dungen, welche die Corti'sche Reihe durch die Grundtöne 
gereizt gibt, bilden also ein Gebiet mit der Zusatzfärbung 
Zj , die Reizung derselben Reihe durch den ersten Oberton 
gibt ein besonderes Empfindungsgebiet mit der Zusatzfär- 
bung Zg u. s. w. Die Z können entweder unveränderliche 
Bestandtheile sein, oder selbst wieder aus zwei Bestand- 
theilen ü und V bestehen, und durch 

[1 - f(n)]U + f(n)V 
darstellbare Reihen bilden, worüber zu entscheiden jetzt 
nicht von Belang ist. 



- 136 -- 

Allerdings sind nun die physiologischen Elemente 
Zj, Zg . . . . erst zu finden. Allein schon die Einsicht, 
dass sie zu suchen sind, scheint mir wichtig. Sehen wir 
zu, wie sich das Gebiet der Tonempfindungen ausnimmt, wenn 
man die Z^, Z^ . . . . als gegeben ansieht. 

Betrachten wir als Beispiel eine melodische oder har- 
monische Terzverbindung. Die Schwingungszahlen seien also 
n = 4p und m == 5 p; der tiefste gemeinsame Ober ton 
ist 5n = 4m = 20p, der höchste gemeinsame ünterton 
ist p. Dann ergibt sich folgende üebersicht: 



© ® g 

«1-1 i« 

n H o 
ö p-e 

^H 

o 

® Ö 
tODO 

-— Ö 

p p 

<D p 



^ 



^ 



DieGlieder der 

Corti'schen 

Keihe: 


Bp 


^Ap 


^bp 


^20p 


sprechen an auf die 
Schwingungs- 
zahlen: 


Ap^6p 


AP 


5P 




mit den 
Zusatz- 
empfindungen: 


^4, ^6 


^1 


^1 


^f^i 


sprechen ausserdem 
an auf die Schwin- 
gungszahlen : 




20;? — 5(40 


20;? — 4(50 




mit den 
Zusatz- 
empfindungen : 




^5 


^4 





Bei der Terzverbindung treten also die für die Terz charac- 
teristischen Zusatzempfindungen Z^, Zg und Z , Z hervor, 

4 5 

auch wenn die Klänge gar keine Obertöne enthalten, und 
erstere (Z^, ZJ werden noch verstärkt, wenn in den Klän- 
gen entweder in der freien Luft oder doch im Ohr Obertöne 



— 137 — 

YorkommeD. Das Schema lässt sich leicht für jedes beliebige 
Intervall verallgemeinern ® *). 

Diese Zusatzfärbungen werden also, obgleich sie bei ein* 
zelnen Tönen und beim Schleifen der Töne fast gar nicht 
bemerkt werden, bei Gombination von Tönen mit bestimmten 
Schwingungszahlen Verhältnissen hervortreten, wie die 
C!ontraste schwach gefärbter fast weisser Lichter bei deren 
Gombination lebendig werden. Und zwar entsprechen den* 
selben Schwingungszahlenverhältnissen bei jeder beliebigen 
Tonhöhe immer dieselben Contrastfärbungen. 

So wird es verständlich, wie die Töne durch melodische 
und harmonische Verbindung mit anderen die mannig- 
faltigste Färbung erhalten können, die einzelnen Tönen 
fehlt. 

Die Elemente Z^, Zg . . . . darf man sich nicht in 
unveränderlicher bestimmter Anzahl gegeben denken. Viel- 
mehr muss man sich vorstellen, dass die Zahl der bemerk- 
baren Z von der Organisation, Uebung des Gehörs und 
von der Aufmerksamkeit abhängt. Nach dieser Auffassung 
werden auch nicht direct Schwingungszahlenverhältnisse 
durch das Gehör erkannt, sondern nur die durch dieselben 
bedingten Zusatzfärbungen. Die durch [1 — f(n)]D + f(n)H 
symbolisch dargestellte Tonreihe ist nicht unendlich, son- 
dern begrenzt. Da f (n) sich zwischen den Werthen 
und 1 bewegt, sind D und H die Empfindungen, die einem 
tiefsten und höchsten Ton entsprechen, die Endglieder. 



81) Man wird bemerken, dass die hier versuchte Analyse der Ton- 
empfindungen denselben Weg nimmt, wie die Analyse der Farbenempfin- 
dungen. Hier wie dort ist man von der Anschauung ausgegangen, dass 
der unendlichen physikalischen Mannigfaltigkeit eine unendliche physio- 
logische Mannigfaltigkeit entspricht. Nach dem Princip des Paral- 
lelismus hat sich hier wie dort die Zahl der Empfindungselemente ver- 
mindert. 



- 138 - 

Sinkt oder steigt die Schwingungszahl bedeutend unter oder 
über diejenige des Grundtones der längsten und kürzesten 
Co rti 'sehen Faser, so findet nur ein geringeres Ansprechen, 
aber keine Aenderung der Art der Empfindung mehr statt. 
Auch die Empfindung der Intervalle muss in der Nähe der 
beiden Hörgrenzen verschwinden. Zunächst weil der unterschied 
der Tonempfindung überhaupt aufhört, dann aber noch weil 
an der oberen Grenze die Glieder der Corti'schen Reihe 
fehlen, welche durch Untertöne gereizt werden könnten, 
an der untern Grenze aber diejenigen, welche auf Ober- 
töne reagiren. 

14 

Ueberblicken wir noch einmal die gewonnene Ansicht, so 
sehen wir, dass fast alles, was durch Helmholtz's Arbeiten 
statuirt worden ist, beibehalten werden kann. Die Geräu- 
sche und Klänge lassen sich in Töne zerlegen. Jeder unter- 
scheidbaren Schwingungszahl entspricht ein besonderes Ner- 
venendorgan. An die Stelle der vielen specifischen Energieen 
setzen wir aber bloss zwei, die uns die Verwandtschaft aller 
Tonempfindungen verständlich machen, und erhalten durch 
die Rolle, welche wir der Aufmerksamkeit zuweisen, gleich- 
wohl mehrere gleichzeitig angegebene Töne unterscheid- 
bar. Durch die Hypothese des mehrfachen Ansprechens der 
Glieder der Corti'schen Reihe und der „Zusatzfärbun- 
gen" tritt die Bedeutung der zufälligen Klangfarbe zurück, 
und wir sehen den Weg, auf welchem den positiven Merk- 
malen der Intervalle namentlich auf Grund musikalischer 
Thatsachen wei ter nachzuforschen ist. Endlich erhält durch 
die letztere Ansicht das v. Oettingen'sche Princip der Dua- 
lität eine Unterlage, die vielleicht diesem Forscher selbst 



— 139 — 

€twas besser zusagen dürfte als die „Erinnerung", während 
^ich zugleich zeigt, warum die Dualität keine yoUwerthige 
Symmetrie sein kann. 

15. 

Für denjenigen, welcher die Dinge vom Standpunkte 
der Entwicklungslehre zu betrachten pflegt, ist die moderne 
Musik in ihrer hohen Ausbildung, sowie die spontan und 
plötzlich auftretende musikalische Begabung, auf den ersten 
Blick eine höchst sonderbare räthselhafte Erscheinung. Was 
hat diese Gehörsentwicklung mit der Arterhaltung zu 
schaffen? Geht sie nicht weit über das Nothwendige oder 
überhaupt nur Nützliche hinaus? Was soll uns die feine 
Unterscheidung der Tonhöhen? Was nützt uns der Sinn für 
die Intervalle, für die Klangfärbungen des Orchesters? 

Eigentlich kann man in Bezug auf jede Kunst dieselbe 
Frage stellen, ob sie ihren Stoflf aus diesem oder jenem Sin- 
nesgebiet schöpft. Die Frage besteht auch bezüglich der 
scheinbar weit über das nothwendige Mass hinausgehenden 
Intelligenz eines Newton, Euler u. s. w. Die Frage liegt 
nur am nächsten bezüglich der Musik, welche gar kein 
praktisches Bedürfniss zu befriedigen, meist nichts darzustellen 
hat. Sehr verwandt mit der Musik ist aber die Orna- 
mentik. Wer sehen will, muss Richtungen der Linien 
unterscheiden können. Wer sie fein zu unterscheiden ver- 
mag, dem kann sich aber, gewissermassen als ein Neben- 
produkt seiner Ausbildung, das Gefühl für die Gefäl- 
ligkeit der Combinationen von Linien ergeben. So verhält 
€S sich auch mit dem Sinn für Farben ha rmonie nach 
Entwicklung des ünterscheidungsvermögens für Farben, so 
wird es auch mit der Musik sich verhalten. 

Wir müssen uns auch gegenwärtig halten, dass das, was 



— I40 — 

wir Talent und Genie nennen, so gross uns auch dessen Wir-^ 
kungen erscheinen, in der Begabung nur eine kleine 
Differenz gegen das Nornaale darstellt. Auf etwas grössere 
psychische Stärke in einem Gebiet reducirt sich das Talent. 
Zum Genie wird dasselbe durch die über die Jugendzeit 
hinaus erhaltene Fähigkeit der Anpassung, durch die Er- 
haltung der Freiheit sich ausserhalb der Schablone zu be- 
wegen. Die Naivität des Kindes entzückt uns, und macht 
uns fast immer den Eindruck des Genies. Gewöhnlich 
schwindet aber dieser Eindruck bald, und wir merken, dass 
dieselben Aeusserungen, welche wir gewohnt sind als Er- 
wachsene auf Rechnung der Freiheit zusetzen, beim Kinde 
noch auf Mangel an Festigkeit beruhten. 

Talent und Genie treten, wie Weis mann treffend 
hervorgehoben hat^^)^ Jq ^^^ Folge der Generationen nicht 
allmälig und langsam hervor, sie können auch nicht das 
Resultat einer gehäuften üebung der Vorfahren sein, sie 
zeigen sich spontan und plötzlich. Mit dem eben Besprochen 
nen zusammengehalten wird dies auch verständlich, wenn 
wir bedenken, dass die Descendenten nicht g e^n a u den Vor- 
fahren gleichen, sondern etwas variirend die Eigenschaften 
derselben bald etwas abgeschwächt, bald etwas gesteigert 
aufweisen. 



2) Weismann, über die Vererbung. Jena 1883. S. 43. 



^&Hfpä 



Einflnss der Toransgehenden Untersuchungen auf die 

Auffassung der Physik ^8). 

1. 

Welchen Gewinn zieht nun die Physik aus den voraus- 
gehenden Untersuchungen? Zunächst fällt ein sehr ver- 
breitetes Vorurtheil und mit diesem eine Schranke. 
Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, 
kein Drinnen undDraussen, keine Empfindung, der 
ein äusseres von ihr verschiedenes Ding entspräche. Es 
gibt nur einerlei Elemente, aus welchen sich das ver- 
meintliche Drinnen und Draussen zusammensetzt, die eben 
nur, je nach der temporären Betrachtung, drinnen oder draus- 
sen sind. 



83) Die in diesem Capitel erörterten Fragen habe ich theilweise 
schon früher („Erhaltung der Arbeit" und „Oconomische Natur d. physikai 
Forschung**) besprochen. Was die Auffassung der Begriffe als ocono- 
mische Mittel betrifft, hat mich Herr Professor W. James (von der 
Harvard-Universität zu Cambridge Mass.) mündlich auf Berührungspunkte 
meiner Schriften mit seiner Arbeit „The Sentiment of Eationality" (Mind, 
VoL rV. p. 317. Juli 1879) aufmerksam gemacht Jedermann wird diese 
mit freiem Blick, mit wohlthuender Frische und Unbefangenheit geschrie- 
bene Arbeit mit Vergnügen und Gewinn lesen. 



— 142 



2. 



Di e sinnliche Welt gehört dem physischen und psy- 
chischen Qft??^pt. z 11 g 1 ft i c h an. So wie wir beim Studium 
des Verhaltens der Gase durch Absehen von den Temperatur- 
änderungen zu dem Mariotte'schen, durch ausdrückliches- 
Beachten der Temperaturänderungen aber zum Gay-Lus- 
sac' sehen Gesetz gelangen, und unser Untersuchungsobject 
doch immer dasselbe hipiHf ,j!n ii-pihAn wir sinch P|iygilr 

i m weitesten Sinne, solange wir die Zusammenhänge in der 
sinnlichen Welt, von u nserm L eib ga nz absehen d, 
untersuchen, Psychol ogie de r Sinne aber, sobald wir 
hierbe^^e ben auf diesen, und speciell auf unser Nerven - 
s ystem, das Hauptaugenmerk richten . Unser Leib ist ein 
Theil der sinnlichen Welt wie jeder andere, die Grenze 
zwischen Physischem und Psychischem lediglich eine prak- 
tische und conventioneile. Betrachten wir sie für 
höhere wissenschaftliche Zwecke als nicht vorhanden, und 
sehen alle Zusammenhänge als gleichwerthig an, so kann. 
es an der Eröfltaung nouer Forschungswege nicht fehlen. 

3. 

Als einen weiteren Gewinn müssen wir ansehen, dass: 
der Physiker von den herkömmlichen intellectuellen Mitteln 
der Physik sich nicht mehr imponiren lässt. Kann schon 
die gewöhnliche „Materie" nur als ein sich unbewusst er- 
gebendes, sehr natürliches Gedankensymbol für einen Com^ 
plex sinnlicher Elemente betrachtet werden, so muss dies 
umsomehr von den künstlichen hypothetischen Atomen und 
Molekülen der Physik und Chemie gelten. Diesen Mitteln 
verbleibt ihre Werthschätzung für ihren besondem be- 
schränkten Zweck. Sie bleiben ökonomische Symbolisirungen 



— 143 — 

der Welt der Erfahrung. Man wird aber von ihnen wie 
von den Symbolen der Algebra nicht mehr erwarten, als 
man in dieselben hineingelegt hat, namentlich nicht mehr 
Aufklärung und Offenbarung als von der Erfahrung selbst. 
Schon im Gebiete der Physik selbst bleiben wir vor Ueber- 
schätzung unserer Symbole bewahrt. Noch weniger wird 
aber der ungeheuerliche Gedanke, die Atome zur Erklärung 
der psychischen Vorgänge verwenden zu wollen, sich unsrer 
bemächtigen können. Sind sie doch nur Symbole jener 
eigenartigen Complexe sinnlicher Elemente, die wir in dem 
engeren Gebiete der Physik antreffen. 

4. 

Die Wissenschaften können sich sowohl durch den Stoff 
unterscheiden als auch durch die Art der Behandlung dieses 
Stoffes. Allfi WiRRP.ngr.hfl.ft geht aber darauf aus, That- 
s achen in Gedanken darzustellen, entweder zu prak - 
t ischen Zwecken oder zur Beseitigung des intellectuel- 
1 e n TJnhehag ens. Knüpfen wir an die Bezeichnung der 
„Vorbemerkungen" an, so entsteht Wissenschaft, indem durch 
die aßy . . . , der Zusa mmenhang der übrig en Elenie nte 
nachgebildet wird. Beispielsweise entsteht Physik (in wei- 
tester Bedeutung) durch Nachbildung der ABC .... in ihrer 
Beziehung zu einander, Physiologie oder Psychologie der 
Sinne durch Nachbildung der Beziehung von ABG ... zu 
ELM, Physiologie durch Nachbildung der Beziehung der 
ELM .... zu einander und zu ABC .... Die Nachbildung 
der aßy . . . durch andere aßy führt zu den eigentlichen 
psychologischen Wissenschaften. 

Man könnte nun z. B. in Bezug auf Physik der Ansicht 
sein, dass es weniger auf Darstellung der sinnlichen That- 
sachen als auf die Atome, Kräfte und Gesetze ankommt, 



— 144 — 

welche gewissennassen den Kern jener sinnlichen That- 
sachen bilden. Unbefangene Ueberlegung lehrt aber, dass 
jedes praktische und intellectuelle Bedürfniss be- 
friedigt ist, sobald unsere Gedanken die sinnlichen That- 
eachen vollständig nachzubilden vermögen. Diese Nach- 
bildung ist also Ziel und Zweck der Physik, die Atome, 
Kräfte, Gesetze hingegen sind nur die Mittel, welche uns 
jene Nachbildung erleichtern. Der Werth der letztern reicht 
nur so weit als ihre Hülfe. 

5. 

Wir sind über irgend einen Naturvorgang, z. B. ein Erd- 
beben, so vollständig als möglich unterrichtet, wenn unsere 
Gedanken uns die Gesammtheit der zusammengehörigen sinn- 
lichen Thatsachen so vorführen, dass sie fast als ein Ersatz 
derselben angesehen werden können, dass uns die That- 
sachen selbst als Bekannte entgegentreten, dass wir durch 
dieselben nicht überrascht werden können. Wenn wir in 
Gedanken das unterirdische Dröhnen hören, die Schwankung 
fühlen, die Empfindung beim Heben und Senken des Bodens, 
das Krachen der Wände, das Abfallen des Anwurfs, die Be- 
wegung der Möbel und Bilder, das Stehenbleiben der Uhren, 
das Klirren und Springen der Fenster, das Verziehen der 
Thürstöcke und Festklemmen der Thüren uns vergegen- 
wärtigen-, wenn wir die Welle, die durch den Wald wie 
durch ein Kornfeld zieht, und die Aeste bricht, die in eine 
Staubwolke gehüllte Stadt im Geiste sehen, die Glocken 
ihrer Thürme anschlagen hören, wenn uns auch noch die 
unterirdischen Vorgänge, welche zur Zeit noch unbekannt 
sind, sinnlich so vor Augen stehen, dass wir das Erdbeben 
herankommen sehen wie einen fernen Wagen, bis wir endlich 
die Erschütterung unter den Füssen fühlen, so können wir 



- 145 — 

mehr Einsicht nicht verlangen. Können wir auch die Theil- 
thatsachen nicht in dem richtigen Ausmass combiniren ohne 
gewisse (mathematische) Hülfsvorstellungen, so ermöglichen 
letztere unsem Gedanken doch nur nach und nach zu 
leisten, was sie nicht auf einmal vermögen. Diese Hülfs- 
vorstellungen wären aber werthlos, wenn wir mit denselben 
nicht bis zur Darstellung der sinnlichen Thatsachen vor- 
dringen könnten. 

Wenn ich das auf ein Prisma fallende weisse Licht- 
bündel in Gedanken als Farbenfächer austreten sehe, mit 
bestimmten Winkeln, die ich voraus verzeichnen kann, wenn 
ich das reelle Spectralbild sehe, das beim Vorsetzen einer 
Linse auf einem Schirm entsteht, darin die Fraunhofer'- 
schen Linien an voraus bekannten Stellen, wenn ich im 
Geiste sehe, wie sich die letzteren verschieben, sobald das 
Prisna gedreht wird, sobald die Substanz des Prismas 
wechselt, sobald ein dasselbe berührendes Thermometer 
seinen Stand ändert, so weiss ich alles, was ich verlangen 
kann. Alle Hülfsvorstellungen, Gesetze, Formeln sind nur 
das quantitative Regulativ meiner sinnlichen Vorstellung. 



Diese ist das Ziel, jene sind die Mitt el. 

6. 
Die Anüassuner der Gedanken an die Thatsachen ist 



also das Ziel aller naturwissenschaftlichen Arbeit. Die Wis- 



senschaft setzt hier nur absichtlich und b e w u s s t fort, was 
sich im täglichen Leben unvermerkt von selbst vollzieht. 
Sobald wir der Selbstbeobachtung fähig werden, finden wir 
unsere Gedanken den Thatsachen schon vielfach angepasst 
vor. Die Gedanken führen uns die Elemente in ähnlichen 
Gruppen vor wie die sinnlichen Thatsachen. Der begrenzte 
Gedankenvorrath reicht aber nicht für die fortwährend wach- 

10 



— 146 — 

sende Erfahrung. Fast jede neue Thatsache bringt eine 
Fortsetzung der Anpassung mit sich, die sich im Process 
des Urt heilen s äussert. 

Man kann diesen Vorgang an Kindern sehr gut be- 
obachten. Ein Kind kommt zum erstenmal aus der Stadt 
aufs Land, etwa auf eine grosse Wiese, sieht sich da nach 
allen Seiten um, und spricht verwundert : „Wir sind in einer 
Kugel. Die Welt ist eine blaue Kugel®*)." Hier haben 
wir zwei ürtheile. Was geht vor, indem dieselben gebildet 
werden? Die fertige sinnliche Vorstellung „wir" (die be- 
gleitende Gesellschaft) wird durch die ebenfalls schon vor- 
handene Vorstellung einer Kugel zu einem Bilde ergänzt- 
Aehnlich wird in dem zweiten Urtheil das Bild der „Welt" 
(alle Gegenstände der Umgebung) durch die einschliessende 
blaue Kugel (deren Vorstellung auch schon vorhanden war, 
weil sonst der Name gefehlt hätte) ebenfalls ergänzt.« Ein 
Urtheil ist also immer eine Ergänzung einer sinnlichen 
Vorstellung zur vollständigeren Darstellung einer sinnlichen 
Thatsache. . Ist das Urtheil in Worten ausdrückbar, so be- 
steht es sogar immer in einer Zusammensetzung der neuen 
Vorstellung aus schon vorhandenen Erinnerungsbildern, welche 
auch beim Angesprochenen durch Worte hervorgelockt wer- 
den können. 

Der Process des Urtheilens besteht also hier in einer 
Bereicherung, Erweiterung, Ergänzung sinnlicher Vorstel- 
lungen durch andere sinnliche Vorstellungen unter Leitung 
der sinnlichen Thatsache. Ist der Process vorbei und 
das Bild geläufig geworden, tritt es als fertige Vorstellung 
in's Bewusstsein, so haben wir es mit keinem Urtheil, son- 
dern nur mehr mit einer einfachen Erinnerung zu thun. 



84) Der hier als Beispiel angeführte Fall ist nicht erdichtet sondern 
ich hahe den Vorgang an meinem 3jährigen Kinde beohachtet 



~ 147 — 

Das Wachsthum der NaturwisseDSchaft und der Mathematik 
beruht grösstentheils auf der Bildung solcher intuitiver 
Erkenntnisse (wie sie Locke nennt). Betrachten wir z. B. 
die Sätze: „1. Der Baum hat eine Wurzel. 2. Der Frosch 
hat keine Klauen. 3. Aus der Raupe wird ein Schmetter- 
ling. 4. Verdünnte Schwefelsäure löst Zink. 5. Reibung 
macht das Glas electrisch. 6. Der electrische Strom lenkt 
die Magnetnadel ab. 7. Der Würfel hat 6 Flächen, 8 Ecken, 
12 Kanten." Der 1. Satz enthält eine räumliche Erweite- 
rung der Baumvorstellung, der 2. die Correctur einer nach 
der Gewohnheit zu voreilig vervollständigten Vorstellung, der 
3., 4., 5. und 6. enthalten zeitlich erweiterte Vorstellungen. 
Der 7. Satz gibt ein Beispiel der geometrischen intuitiven 
Erkenntniss. 

7. 

Derartige intuitive Erkenntnisse prägen sich dem Ge- 
dächtniss ein und treten als jede gegebene sinnliche That- 
sache spontan ergänzende Erinnerungen auf. Die verschie- 
d enen Thatsachen gleichen sich nicht vollständig. Die ver ^ 
schie denen Fällen g e meinsamen Bestandtheile der si nn- 
lic hen Vorstellung werden aber gekrä fti gt| und es kommt 
dadu rch ein Princip dffr rnftglifibfitfin Vftral lge m e i n e - 
r u n g^ oder Continuitä t_in_die Erinnerung. ''^ Andererseits 
muss die Erinnerung, soll sie der Mannigfaltigkeit der That- 
sachen gerecht werden, und überhaupt nützlich sein, dem 
Princip der zureichenden Dif f erenzirung entsprechen. 
Schon das Thier wird durch lebhaft roth und gelb gefärbte 
(ohne Anstrengung am Baum sichtbare) weiche Früchte an 
deren süssen, durch grüne (schwer sichtbare) harte Früchte 
an deren sauren Geschmack erinnert werden. Der Insekten 

jagende Affe hascht nach allem, was schwirrt und fliegt, 

10* 



— 148 — 

hütet sich aber vor der gelb UDd schwarz gefleckten Fliege, 
der Wespe. In diesen Beispielen spricht sich deutlich genug 
das Bestreben nach möglichster Verallgemeinerung 
und Continuität, so wie nach praktisch zureichen- 
der Differenzirung der Erinnerung aus. Und beide 
Tendenzen werden durch dasselbe Mittel, die Aussonde- 
rung und Hervorhebung jener Bestandtheile 
der sinnlichen Vorstellung, erreicht, welche für den 
zur Erfahrung passenden Gedankenlauf massgebend sind. 
Ganz analog verfährt der Physiker, wenn er verallge- 
meinernd sagt, „alle durchsichtigen festen Körper brechen 
das aus der Luft einfallende Licht zum Lothe", und wenn 
er differenzirend hinzufügt, „die tesseral krystallisirten 
und amorphen einfach, die übrigen doppelt". 

8. 

Ein guter Theil der Gedankenanpassung vollzieht sich 
unbewusst und unwillkürlich unter Leitung der sinnlichen 
Thatsachen. Ist diese Anpassung ausgiebig genug geworden, 
um der Mehrzahl der auftretenden Thatsachen zu entspre- 
chen, und stossen wir nun auf eine Thatsache, welche 
mit unserm gewohnten Gedankenlauf in starkem Widerstreit 
steht, ohne dass man sofort das massgebende Moment zu 
erschauen vermöchte, welches zu einer neuen Differenzirung 
führen würde, so entsteht ein Problem. Das Neue, das 
Ungewöhnliche, das Wunderbare wirkt als Heiz, welcher die 
Aufmerksamkeit auf sich zieht. Praktische Gründe, oder 
das intellectuelle Unbehagen allein können den Willen zur 
Beseitigung des Widerstreites, zur neuen Gedankenanpassung 
erzeugen. So entsteht d ie absichtliche Gedanken- 
anpassuns;, die Forschung. 



— 149 — 

Wir sehen z. B. einmal ganz gegen unsere Gewohnheit, 
dass an einem Hebel oder Wellrad eine grosse Last durch 
eine kleine gehoben wird. Wir suchen nach dem diflferen- 
zirenden Moment, welches uns die sinnliche Thatsache nicht 
unmittelbar zu bieten vermag. Erst wenn wir, verschiedene 
ähnliche Thatsachen vergleichend, den Einfluss der Gewichte 
und der Hebelarme bemerkt, und uns selbstthätig 
zu den abstracten Begriffen Moment oder Arbeit 
erhoben haben, ist das Problem gelöst. Das Moment oder 
die Arbeit ist das difierenzirende Element. Ist die Be- 
achtung des Momentes oder der Arbeit zur Denkge- 
wohnheit geworden, so existirt das Problem nicht mehr. 



9. 

Was thut man nun, indem man abstrahirt? Was is t 
ei ne Abstraction? Was ist ein Begriff ? Entspricht dem 
Be grifi ein sinnliches Vorstellungsbild? Einen allgemeinen 
Me nschen kann ich mir nicht vorstellen, höchstens einen b e- 
sondern, vielleicht einen, der zufällige Besonderheiten ver- 
schiedener Menschen, die sich nicht ausschliessen, vereinigt. 
Ein allgemeines Dreieck, welches etwa zugleich rechtwinklig 
und gleichseitig sein müsste, ist nicht vorstellbar. Allein^ 
ein _solches mit dem NanLßJL des Begri ffe auftauchen des, die 
be griflliche Operation begleitend e s Bi.ldj st_.auch nicht der 
Begriff. Ueberhaupt deckt ein Wort, welches aus Noth 
z ur Bezeichnung vieler Einzelvorstellungen verwendet werden 
muss, durchaus noch keinen Begriff. Ein Kind, das zuerst 
einen schwarzen Hund gesehen und nennen gehört hat, 
nennt z. B. alsbald einen grossen schwarzen, rasch dahin- 
laufenden Käfer ebenfalls „Hund", bald darauf ein Schwein 



4^ 



— ISO - 

oder Schaf ebenfalls Hund^*). Irgend eine an die früher 
benannte Vorstellung erinnernde Aehnlichkeit fahrt zum 
naheliegenden Gebrauch desselben Namens. Der Aehnlich- 
keitspunkt braucht in aufeinanderfolgenden Fällen gar nicht 
derselbe zu sein; er liegt z. B. einmal in der Farbe, dann 
in der Bewegung, dann in der Gestalt, der Bedeckung u. s. w. ; 
demnach ist auch von einem Begriff gar nicht die Rede. 
So nennt ein Kind gelegentlich die Federn des Vogels Haare, 
die Hörner der Kuh Fühlhörner, den Bartwisch, den Bart 
des Vaters und den Samen des Löwenzahns ohne Unterschied 
„Bartwisch" u. s. w. ^^). Die meisten Menschen verfahren 
mit den Worten ebenso, nur weniger aufiallend, weil sie 
einen grösseren Vorrath zur Verfügung haben. Der gemeine 
Mann nennt ein Rechteck „Viereck" und gelegentlich auch 
den Würfel (wegen der rechtwinkligen Begrenzung) ebenfalls 
„Viereck". Die Sprachwissenschaft und einzelne historisch 
beglaubigte Fälle lehren, dass ganze Völker sich nicht anders 
verhalten ^^), 

Ein Begriff ist überhaupt nicht eine fertige Vorste l- 
l ung. Ge brauche ich ein Wort zur Bezeichnung eines Be- 
griffs, so liegt in demselben ein einfacher Impuls zu einer 
geläufigen sinnlichen Thätigkeit, als deren Resultat 
ein sinnliches Element (das Merkmal des Begriffs) sich er- 
gibt. Denke ich z. B. an den Begriff Siebeneck, so 
zähle ich in der vorliegenden Figur oder in der auftauchen- 
den Vorstellung die Ecken durch; komme ich hierbei bis 
sieben, wobei der Laut, die Ziffer, die Finger das sinn- 



84) So nannten die Markomannen die von den Körnern über die 
Donau gesetzten Löwen; „Hunde", und die Jonier nannten (Herodot 11 69) 
die „Champsä" des Nils nach den Eidechsen ihrer Büsche „Krokodile". 

85) Sämmtliche Beispiele sind der Beobachtung entnommen. 

86) Withney, Leben und Wachsthum der Sprache. Leipzig 1876. 



— 151 — 

liehe Merkmal der Zahl abgeben können, so fällt die gege- 
bene Vorstellung unter den gegebenen Begriff. Spreche ich 
von einer Quadratzahl, so versuche ich die vorliegende 
Zahl durch die Operation 5X5? 6X6 u- s. w., deren sinn- 
liches Merkmal (die Gleichheit der beiden multiplicirten 
Zahlen) auf der Hand liegt, herzustellen. Das gilt von jedem 
Begriff. Die Thätigkeit, welche das Wort auslöst, kann aus 
mehreren Operationen bestehen; die eine kann eine andere 
enthalten. Immer ist das Resultat ein sinnliches Ele- 
ment, welches vorher nicht da war. 

Wenn ich ein Siebeneck sehe, oder mir vorstelle, braucht 
mir die Siebenzahl der Ecken noch nicht gegenwärtig zu 
sein. Sie tritt erst durch die Zählung hervor. Oft kann 
das neue sinnliche Element, wie z. B. beim Dreieck, so nahe 
liegen, dass die Zähloperation unnöthig scheint; das 
sind aber Specialfälle, welche eben zu Täuschungen über die 
Natur des Begriffs führen. An den Kegelschnitten (Ellipse, 
Hyperbel, Parabel) sehe ich nicht, dass sie unter denselben 
Begriff fallen; ich kann es aber durch die Operation des 
Kegelschneidens, und durch die Construction der Gleichung 
finden. 

Wenn wir also abstracte Begriffe auf eine Thatsache 
anwenden, so wirkt dieselbe auf uns als einfacher Impuls 
zu einer sinnlichen Thätigkeit, welche neue sinnliche Ele- 
mente herbeischafft, die unsern ferneren Gedankenlauf der 
Thatsache entsprechend bestimmen können. Wir berei- 
chern und erweitern durch unsere Thätigkeit die für 
uns zu arme Thatsache. Wir thun dasselbe, was der Che- 
miker mit einer farblosen Salzlösung thut, indem er ihr 
durch eine bestimmte Operation einen gelben oder braunen 
Niederschlag ablockt, der seinen Gedankenlauf zu differen- 
ziren vermag. Der Begriff des Physikers ist eine bestimmte 



- 152 — 

Reactionsthätigkeit, welche eine Thatsache mit neuen 
sinnlichen Elementen bereichert. 

10. 

Wenn wir, um an ein früheres Beispiel anzuknüpfeUy 
einen Hebel erblicken, so treibt uns dieser Anblick, die 
Arme abzumessen, die Gewichte zu wägen, die Masszahl 
des Armes mit der Masszahl des Gewichtes zu multipliciren. 
Entspricht den beiden Producten dasselbe sinnliche Zahl- 
zeichen, so erwarten wir Gleichgewicht. Wir haben so 
ein neues sinnliches Element gewonnen, welches zuvor in der 
blossen Thatsache noch nicht gegeben war, und das nun 
unsem Gedankenlauf diflferenzirt. Hält man sich recht ge- 
genwärtig, dass das begriffliche Denken eine Reactionsthätig- 
keit ist, die wohl geübt sein will, so versteht man die be- 
kannte Thatsache, dass niemand Mathematik oder Physik^ 
oder irgend eine Naturwissenschaft durch blosse Leetüre 
ohne praktische Uebung sich aneignen kann. Das Ver- 
stehen beruht hier gänzlich auf dem Thun. Ja es wird 
in keinem Gebiet möglich sein, sich zu den höhern Abstrac- 
tionen zu erheben, ohne sich mit den Einzelheiten beschäf- 
tigt zu haben. 

Die Thatsachen werden also durch die begriffliche Be- 
handlung erweitert und bereichert, und schliesslich wieder 
vereinfacht. Denn wenn das neue massgebende sinnliche 
Element (z. B. die Masszahl der Momente des Hebels) ge- 
funden ist, wird nur dieses mehr beachtet, und die mannig- 
faltigsten Thatsachen gleichen und unterscheiden 
sich nur durch dieses Element. Wie bei der intuitiven Er- 
kenntniss reducirt sich also auch hier alles auf die Auffin- 
dung, Hervorhebung und Aussonderung der mass- 
gebenden sinnlichen Elemente. Die Forschung erreicht hier 



- 153 — 

nur auf einem Umwege, was sich der intuitiven Erkennt- 
niss unmittelbar darbietet. 

Der Chemiker mit seinen Eeagenzien, der Physiker mit 
Masstab, Waage, Galvanometer, und der Mathematiker ver- 
halten sich den Thatsachen gegenüber eigentlich ganz gleich- 
artig; nur braucht der letztere bei Erweiterung der That- 
Sache am wenigsten über die Elemente aßy KL itf hinaus- 
zugehen. Seine Hülfsmittel hat er stets und sehr bequem 
zur Hand. Der Forscher mit seinem ganzen Denken ist ja 
auch nur ein Stück Natur wie jedes Andere. Eine eigent- 
liche Kluft zwischen diesem und anderen Stücken besteht 
nicht. Alle Elemente sind gleichwerthig. 

Nach dem Dargelegten ist das Wesen der Abstraction 
nicht erschöpft, wenn man sie (mit Kant) als negative 
Aufmerksamkeit bezeichnet. Zwar wendet sich beim Abstra- 
hiren von vielen sinnlichen Elementen die Aufmerksamkeit 
ab, dafür aber andern neuen sinnlichen Elementen zu, 
und das Letztere ist gerade wesentlich. Jede Abstraction 
gründet sich auf das Hervortreten bestimmter sinnlicher 
Elemente. 

11. 

Die sinnliche Thatsache ist also der Ausgangspunkt 
und auch das Ziel aller Gedankenanpassungen des Physikers. 
Die Gedanken, welche unmittelbar der sinnlichen Thatsache 
folgen, sind die geläufigsten, stärksten und anschaulich- 
sten. Wo man einer neuen Thatsache nicht sofort folgen 
kann, drängen sich die kräftigsten und geläufigsten Gedanken 
heran, um dieselbe reicher und bestimmter zu gestalten. 
Hierauf beruht jede naturwissenschaftliche Hypothese und 
Speculation, deren Berechtigung auf der Gedankenanpassung 
beruht, welche sie fördert und schliesslich herbeiführt. So 



— 154 — 

deüken wir uns den Planeten als einen geworfenen Körper, 
stellen uns den electrischen Körper mit einer femwirkenden 
Flüssigkeit bedeckt vor, denken uns die Wärme als einen 
Stoff, der aus einem Körper in den andern tiberfliesst, bis 
uns schliesslich die neuen Thatsachen ebenso, geläufig und 
iinschaulich werden als die altern, die wir als Gedanken- 
hülfe herangezogen hatten. Aber auch wo von unmittelbarer 
Anschaulichkeit nicht die Rede sein kann, bilden sich die 
•Gedanken des Physikers unter möglichster Einhaltung des 
Princips der Continuität und der zureichenden Dif- 
ferenzirung zu einem öconomisch geordneten System von 
Begriflfsreäctionen aus, welche wenigstens auf den kür- 
zesten Wegen zur Anschaulichkeit führen. 

12. 

Betrachten wir nun die Ergebnisse der Gedankenan- 
passung. Nur dem, was an den Thatsachen überhaupt be- 
ständig ist, können sich die Gedanken anpassen, und nur 
die Nachbildung des Beständigen kann einen öcono- 
mischen Vortheil gewähren. Hierin liegt also der letzte 
Grund des Strebens nach Continuität der Gedanken, 
d. h. nach Erhaltung der möglichsten Beständigkeit, und 
hierdurch werden auch die Anpassungsergebnisse ver- 
ständlich^^). 

13. 

Das bedingungslos Beständige nennen wir 
Substanz. Ich sehe einen Körper , wenn ich ihm den 
Blick zuwende. Ich kann ihn sehen , ohne ihn zu tasten. 



86) Vergl. : „die Mechanik in ihrer Entwicklung." S. 475. 



- 155 - 

Ich kann ihn tasten, ohne ihn zu sehen. Obgleich also das 
Hervortreten der Elemente des Complexes an Bedingungen 
geknüpft ist, habe ich dieselben doch zu sehr in der Hand, 
um sie besonders zu würdigen und zu beachten. Ich be- 
trachte den Körper, oder den Elementencomplex , oder den 
Kern dieses Complexes als stets vorhanden, ob er mir augen- 
blicklich in die Sinne fällt oder nicht. Indem ich den Ge- 
danken dieses Com plexes, oder als<^ym b Ql) desselben de n 
bedanken des Kems|nir Rtpfs parat ViqUa^ gAwinnp \oh Hau 

Vortheil der Voraussicht^ — und vermeide den Nachtheil der 
Ueberraschung. Ebenso halte ich's mit den chemischen 
Elementen, die mir als bedingungslos beständig erscheinen. 
Obgleich hier mein Wille nicht genügt, um die betreffenden 
Complexe zur sinnlichen Thatsache zu machen, obgleich hier 
auch äussere Mittel nöthig sind, sehe ich doch von diesen 
Mitteln ab, sobald sie mir geläufig geworden, und betrachte 
die chemischen Elemente einfach als beständig. Wer an 
Atome glaubt, hält es mit diesen analog. 

Aehnlich wie mit dem Elementencomplex, der einem 
Körper entspricht, können wir auf einer höheren Stufe der 
Gedankenanpassung auch mit ganzen Gebieten von That- 
sachen verfahren. Wenn wir von Electricität, Magnetismus, 
Licht, Wärme sprechen, auch ohne uns hierunter besondere 
Stoffe zu denken, so schreiben wir diesen Thatsachenge- 
bieten, wieder von den uns geläufigen Bedingungen ihres 
Hervortretens absehend, eine Beständigkeit zu, und halten 
die nachbildenden Gedanken stets parat, mit gleichem Vor- 
theil wie in den obigen Fällen. Wenn ich sage, ein Körper 
ist „electrisch" , so ruft mir dies viel mehr Erinnerungen 
wach, ich erwarte viel bestimmtere Gruppen von Thatsachen, 
als wenn ich etwa die in dem Einzelfall sich äussernde An- 
ziehung hervorheben würde. Doch kann diese Hyposta- 



- 156 - 

sirung auch ihre Nachtheile haben. Zunächst wandeln wir^ 
solange wir so verfahren, immer dieselben historischen 
Wege. Es kann aber wichtig sein zu erkennen, dass es eine 
specifisch electr ische Thatsache gar nicht gibt, dass jede 
solche Thatsache z. B. ebensogut als eine chemische oder 
thermische angesehen werden kann, oder vielmehr, dass 
alle physikalischen Thatsachen schliesslich aus denselben 
sinnlichen Elementen (Farben, Drucken, Räumen, Zeiten) sich 
zusammensetzen, dass wir durch die Bezeichnung „electrisch", 
bloss an eine Specialform erinnert werden, in welcher wir 
die Thatsache zuerst kennen gelernt haben. 

Haben wir uns gewöhnt, den Körper, welchem wir die 
tastende Hand und den Blick beliebig zu- und abwenden 
können, als beständig anzusehen, so thun wir dies auch 
leicht in Fällen, in welchen die Bedingungen der Sinnen - 
fälligkeit gar nicht in unserer Hand liegen, z. B. bei Sonne 
und Mond, die wir nicht tasten können, bei den Welttheilen, 
die wir vielleicht einmal und nicht wieder sehen können, 
oder die wir gar nur aus der Beschreibung kennen. Dies 
Verfahren kann für eine ruhige ökonomische Weltauflfassung 
seine Bedeutung haben , es ist aber gewiss nicht das einzig 
berechtigte. Es wäre nur ein consequenter Schritt weiter, 
die ganze Vergangenheit, welche ja in ihren Spuren noch 
vorhanden ist (da wir z. B. Sterne dort sehen, wo sie vor 
Jahrtausenden waren), und die ganze Zukunft, die im Keime 
schon da ist (da man z. B. unser Sonnensystem nach Jahr- 
tausenden noch sehen wird, wo es jetzt ist), als beständig 
anzusehen. Ist doch der ganze Zeitverlauf nur an Be- 
dingungen unserer Sinnlichkeit gebunden. Mit dem Bewusst- 
sein eines besondern Zweckes wird man auch diesen 
Schritt unternehmen dürfen. 



- 157 - 



14 



Eine wirkliche bedingungslose Beständigkeit 
gibt es nicht, wie dies aus dem Besprochenen deutlich her- 
vorgeht. Wir gelangen zu derselben nur, indem wir Be-' 
dingungen übersehen, unterschätzen, oder als immer gegeben 
betrachten, oder willkürlich von denselben absehen. Es 
bleibt nur eine A rt der^eständjgkeit, die alle vorkommen- 

— , II I 

den Fälle von Beständigkeit umfasst, die Beständigkeit 
/lor Vorhi nf^ i]ppr (n^t^r Beziehung). 

Die Mehrzahl der naturwissenschaftlichen Sätze drückt 
solche Beständigkeiten der Verbindung aus : „Aus der Kaul- 
quappe wird ein Frosch. Das Chlomatrium tritt in Würfel- 
form auf. Der Lichtstrahl ist geradlinig. Die Körper 

— -y'. Den begriff- 
lichen Ausdruck dieser Beständigkeiten nennen wir Gesetze. 
Die Kraft (im mechanischen Sinne) ist auch nur eine Be- 
ständigkeit der Verbindung. Wenn ich sage, ein Körper A 
übe auf B eine Kraft aus, so heisst dies, dass B sofort eine 
gewisse Beschleunigung gegen A zeigt, sobald es diesem 
gegenübertritt. 

Die eigenthümliche Illusion, als ob der Stoff A der 
absolut beständige Träger einer Kraft wäre, welche 
wirksam wird, sobald B dem A gegenübertritt, ist leicht zu 
beseitigen. Treten wir, oder genauer unsere Sinnesorgane, 
an die Stelle von B , so sehen wir von dieser jederzeit er- 
füllbaren Bedingung ab', und A erscheint uns als absolut 
beständig. So scheint uns das magnetische Eisen, das wir 
immer sehen, so oft wir hinblicken wollen, als der bestän- 
dige Träger der magnetischen Kraft, die erst wirksam wird, 
sobald ein Eisenstückchen hinzutritt, von welchem wir 



- 158 - 

nicht so unvermerkt absehen können, wie von uns selbst®*^). 
Die Phrasen: „Kein Stofif ohne Kraft, keine Kraft ohne 
Stoff", welche einen selbstverschuldeten Widerspruch vergeb- 
lich aufzuheben suchen, werden entbehrlich, wenn man nur 
Beständigkeiten der Verbindung anerkennt. 

15. 

Bei hinreichender Beständigkeit unserer Umgebung ent- 
wickelt sich eine entsprechende Beständigkeit der Gedanken. 
Vermöge dieser Beständigkeit streben sie die halbbeobach- 
tete Thatsache zu vervollständigen. Dieser Vervoll- 
ständigungstrieb entspringt nicht der eben beobachteten ein- 
zelnen Thatsache, er ist auch nicht mit Absicht erzeugt; wir 
finden ihn, ohne unser Zuthun, in uns vor. Er steht uns 
wie eine fremde Macht gegenüber, die uns doch stets be- 
gleitet und hilft, den wir eben brauchen, um die Thatsache 
zu ergänzen. Obgleich er durch die Erfahrung entwickelt 
ist, liegt in ihm mehr als in der einzelnen Erfahrung» 
Der Trieb bereichert gewissermassen die einzelne That- 
sache. Durch ihn ist sie uns mehr. Mit diesem Trieb 
haben wir stets ein grösseres Stück Natur im Gesichts- 
feld, als der Unerfahrene mit der Einzelthatsache allein. 
Denn der Mensch mit seinen Gedanken und seinen Trieben 
ist eben auch ein Stück Natur, das sich zur Einzelthatsache 
hinzufügt. Anspruch auf Unfehlbarkeit hat aber dieser 
Trieb keineswegs, und eine Nothwendigkeit für die 



87) Dem Kinde erscheint alles als substanziell, zu dessen Wahr- 
nehmung es nur seiner Sinne bedarf. Das Kind fragt, „wo der Schatten, 
wo das gelöschte Licht hinkömmt ?" Es will die Electrisirmaschine 
nicht weiterdrehen lassen, um den Funkenvorrath derselben nicht zu e r - 
schöpfen u. s. w. — Erst sobald wir Bedingungen einer Thatsache 
ausserhalb uns bemerken, verschwindet der Eindruck der Substanzialität 
Die Geschichte der Wärmelehre ist in dieser Beziehung sehr lehrreiclu 



— 159 — ' 

Thatsachen, ihm zu entsprechen, besteht durchaus nicht. 
Unser Vertrauen zu ihm liegt nur in der Voraussetzung 
der vielfach erprobten zureichenden Anpassung unserer Ge-^ 
danken, welche aber jeden Augenblick der Enttäuschung ge- 
wärtig sein muss. 

Nicht alle unsere Thatsachen nachbildenden Gedanken 
haben die gleiche Beständigkeit. Immer und tiberall, wa 
wir an der Nachbildung der Thatsachen ein besonderes In- 
teresse haben, werden wir bestrebt sein, die Gedanken voi> 
geringerer Beständigkeit durch solche von grösserer Bestän- 
digkeit zu stützen und zu stärken, oder sie durch solche za 
ersetzen. So denkt sich Newton den Planeten, obgleich 
die K e p p 1 e r'schen Gesetze schon bekannt sind, als einen 
geworfenen Körper, die Masse der Fluth welle, obgleich 
der Verlauf derselben längst ermittelt ist, als vom Monde 
gezogen. Das Saugen, das Fliessen des Hebers glaube» 
wir erst zu verstehen, wenn wir uns den Druck der Luft 
hinzudenken. Aehnlich versuchen wir die electrischen, opti- 
schen, thermischen Vorgänge als mechanische aufzufassen. 
Dies Bedtirfniss nach Stützung schwächerer Gedanken durch 
stärkere wird auch Causa litätsbedürfniss genannt,^ 
und ist die Haupttriebfeder aller naturwissenschaftlichen 
Erklärungen. Als Grundlagen ziehen wir natürlich die 
stärksten besterprobten Gedanken vor, die uns unsere 
viel geübten mechanischen Verrichtungen an die Hand geben^ 
und die wir jeden Augenblick ohne viele Mittel aufs Neue 
erproben können. Daher die Autorität der mechanischen Er- 
klärungen, namentlich jener durch Druck und Stoss. Eine 
noch höhere Autorität kommt dementsprechend den mathe- 
matischen Gedanken zu, zu deren Entwicklung wir der 
geringsten äusseren Mittel bedürfen, für welche wir vielmehr 
das Experimentirmaterial grossentheils stets mit uns her- 



— i6o — 

umtragen. Weiss man dies aber einmal, so schwächt sich 
€ben damit das Bedürfniss nach mechanischen Erklä- 
rungen ab®^). 

Es wurde zuvor gesagt, dass der Mensch selbst ein 
Stück Natur sei. Es sei erlaubt, dies durch ein Beispiel zu 
erläutern. Ein Stoff kann für den Chemiker lediglich durch 
die Sinnesempfindungen genügend characterisirt sein. Dann 
liefert der Chemiker selbst durch innere Mittel den ganzen 
zur Bestimmung des Gedankenlaufs nöthigen Reichthum der 
Thatsache. Es kann aber in andern Fällen die Vornahme von 
ßeactionen mit Hülfe äusserer Mittel nöthig werden. Wenn 
ein Strom eine in seiner Ebene befindliche Magnetnadel um- 
kreist, so weicht der Nordpol der Nadel zu meiner Linken 
aus, sobald ich mich in den Strom als Amp^re'scher 
Schwimmer denke. Ich bereichere die Thatsache (Strom 
und Nadel), die für sich meinen Gedankenlauf nicht genügend 
bestimmt, indem ich mich selbst zuziehe (durch eine innere 
Reaction). Ich kann auch auf die Ebene des Stromkreises 
eine Taschenuhr legen, so dass der Zeiger der Strombe- 
wegung folgt. Dann schlägt der Südpol vor, der Nordpol 



88) Aussermcchanische physikalische Erfahrungen können sich, in dem 
Masse als sie geläufiger werden, dem Werthe der mechanischen nähern. 
Stricker hat meines Erachtens einen richtigen und wichtigen 
Punkt getroffen, indem er (Studien über die Association der Vorstellungen 
Wien 1883) die Causalität mit dem Willen in Zusammenhang 
bringt. Ich selbst habe als junger Docent (bei Darlegung der Bedeutung 
der Mill'schen Differenzmethode) die von Stricker ausgesprochene 
Ansicht mit grosser Lebhaftigkeit und Einseitigkeit vertreten. Der Ge- 
danke hat mich auch nie ganz verlassen (Vergl. z. B. „Die Mechanik in 
ihrer Entwickelung" Leipzig 1883 S. 78, 282, 456). Gegenwärtig bin ich 
aber, wie die obigen Ausführungen zeigen, doch der Meinung, dass diese 
Frage nicht so einfach ist, und von mehreren Seiten betrachtet werden 
muss. 



— t6i — 

hinter das Zifferblatt. Oder ich mache den Stromkreis 
zur Sonnenuhr, nach welcher ja die Taschenuhr gebildet 
ist, so dass der Schatten dem Strom folgt. Dann wendet 
sich der Nordpol nach der beschatteten Seite der Stromebene. 
Die beiden letzteren Reactionen sind äussere. Beide zu- 
gleich können nur brauchbar sein, wenn zwischen mir und 
der Welt keine Kluft besteht. Die Natur ist ein Ganzes. 
Dass nicht in allen Fällen beiderlei Reactionen bekannt 
sind, und dass der Beobachter in manchen Fällen einflusslos 
scheint, beweist nichts gegen die vorgebrachte Ansicht. 

16. 

Wenn in einem Complex von Elementen einige durch 
andere ersetzt werden, so geht eine Beständigkeit der Ver- 
bindung in eine andere Beständigkeit über. Es ist nun 
wünschenswerth, eine Beständigkeit aufzufinden, welche diesen 
Wechsel tiberdauert. J. R. Mayer hat zuerst dies Be- 
dtirfniss gefühlt, und hat demselben durch Aufstellung seines 
Begriffes „Kraft" genügt, welcher dem Begriff Arbeit 
(Poncelet) der Mechaniker, oder genauer dem allgemeinern 
Begriff Energie (Th. Young) entspricht. Er stellt sich 
diese Kraft (oder Energie) als etwas absolut Beständiges 
(wie einen Vorrath oder Stoff) vor, und geht so bis auf die 
stärksten und anschaulichsten Gedanken zurück. Aus 
dem Ringen mit dem Ausdruck, mit allgemeinen philosophi- 
schen Phrasen (in der 1. und 2. Abhandlung May er 's) 
sehen wir, dass sich ihm zuerst unwillkürlich und in- 
stinctiv das starke Bedürfniss nach einem solchen 
Begriff aufgedrängt hat. Dadurch aber, dass er die vorhan- 
denen physikalischen Begriffe den Thatsachqu und seinem 

II 



— l62 — 

Bedürfoiss angepasst hat, ist erst die grosse Leistung zu 
Stande gekommen®^). 

17. 

Bei genügender Anpassung werden die Th atsachen von 
^eu Gedanken spontan abgebildet, und_tbfii1wfti«P gpprphpnp 



89) Wenn wir einen frei fallenden Körper beobachten, so finden wir 
hierbei die Beständigkeit v = V 2 g h, die wir nach Geschmack auch in 

der Form gh = — darstellen können. Setzen wir nun die ganze 

mögliche Fallhöhe H = h -\- h\ so ist auch gh' -\- -^ = const. 
Wir können uns nun ein Beständiges (bildlich einen Stoff) 
denken, welches aus der Form g h' in die Form -^, oder, wenn 

ph' 4- —^- = const gesetzt wird, aus der Form ph' in die Form — ^- 

überfliesst, dem Gesammtwerthe nach aber unveränderlich bleibt Dies 
kann unserm Bedürfniss sehr entsprechen und unsere Gedanken in 
die geläufigen Bahnen lenken. Nichts zwingt uns aber zimächst, g h 

und -ö~ als gleichwerthig zu betrachten. In der ersten Gleichung 




V = V 2 p Ä ist in der That keine Spur dieser Auffassung bemerklich. 
Lehrt nun die Thatsache, dass (etwa bei dem umkehrbaren Spiel einer 

elastischen Kugel) für ein — ö~ das p h' wieder zurückkommen kann, so 

erweist sich diese Auffassung auch als sehr praktisch. (VergL Mach, 
Erhaltung der Arbeit S. 45 und in Bezug auf viele lehrreiche Detailaus- 
fiihrungen die vortreffliche Schrift: J. Popper, die physikalischen Grund- 
sätze der electrischen Kraftübertragung). 

Wenn der Körper nicht frei fallt, sondern bei seinem langsamen 
Sinken einen andern erwärmt oder electrisch macht, so tritt eine ganz neue 
Beständigkeit an die Stelle der früheren. Nichts zwingt uns, die Wärme- 
menge, das electrische Potential als gleichwerthig zu betrachten 

dem fehlenden — ö""- -^^^^ ^^ festsetzen, die Wärme soll so viel gel- 
ten als das entsprechende i> Ä', ist willkürlich, wenn auch sehr be- 
quem. Es war zunächst Mayer's Bedürfniss, was ihn trieb, seine 



— i63 — 

Thats achep ergänz t. DiejPhysik Vann nu r al s quantit a - 
tives Regulativ wirken, und die spontan verlaufenden Ge- 
danken, dem praktischen oder wissenschaftlichen Bedürfniss 
entsprechend, bestimmter gestalten. Wenn ich einen 
Körper horizontal werfen sehe, kann mir das anschauliche 
Bild der Wurfbewegung auftauchen. Für den Artilleristen 
oder Physiker ist mehr nöthig. Er muss z. B. wissen, dass 



thatsächlich noch nicht ausgefüllte, ohne die passende Wahl der Ein- 
heiten im allgemeinen falsche Gleichung zu schroihen. 

Die Thatsachen können uns nur die Beständigkeit der Verbin- 
dung lehren. Bei umkehrbaren (von der Zeit unabhängigen) Vor- 
gängen finden wir periodische Änderungen von Elementen wieder nur 
mit periodischen Änderungen anderer Elemente verknüpft. Hierin 
liegt noch nichts von einer Aequivalenz. Für p A' kann Wärme und für 
diese wieder dasselbe p h' zurückkommen. Dies gibt der Auffassung 
praktischen Werth, In Bezug auf nicht umkehrbare (von der 
Zeit abhängige) Aenderungen ist die Auffassung der Aequivalenz müssig. 
Ob eine Wärme, die nicht mehr als Arbeit wiedererschei- 
nen kann, noch als einer Arbeit äquivalent angesehen wird, oder nicht, 
darauf kommt es gar nicht an. Man könnte durch die Proportionali- 
tät von ph und der Wärmemenge betroffen sein, imd meinen, dass 
dieselbe doch nicht auf einer willkürlichen Auffassung beruhen könne, 
sondern in der Natur gelegen sein müsse. Allein wenn man etwa ver- 
sucht hätte, ph und die Electricitätsmenge als äquivalent zu betrachten, 
so hätte sich dies als nicht brauchbar erwiesen, imd man hätte eben die 
Ansicht so lange modificirt, bis man an die Stelle der Electricitätsmenge 
das Potential gesetzt hätte. Dass die Wärmemenge sich so einfach 
darbot, war ein glücklicher historischer umstand. Durch denselben 
wird an der Kichtigkeit unserer Ausführung nichts geändert. Die unge- 
wöhnliche Stärke des intellectuellen Instinktes in Verbindung mit der begriff- 
lichen Kraft, der weite alle Thatsachen umfassende Blick, die Klarheit, mit 
welcher Mayer schliesslich das mechanische Aequivalent der Wärme ohne 
Zuhülfenahme eines neuen Experimentes bestimmte, characterisiren ihn 
als einen Naturforscher ersten Kanges. Daraus folgt für mich aber gar 
nicht, dass jene Naturforscher, welche später kamen, imehrlich sein muss- 
ten. Ich bin vielmehr nach allem mir Zugänglichem überzeugt, dass alle 
diese Forscher ihren eigenen Weg gegangen sind, was ich bei dieser 
Gelegenheit nicht weiter ausführen kann. 

u* 



— i64 — 

wenn er, an die horizontale Abscisse der Wurfbahn den Maass- 
stab M anlegend, bis 1, 2, 3, 4 ... . zählen kann, er 
an die verticalen Ordinaten, den Maassstab M' anlegend, zu- 
gleich bis 1, 4, 9, 16 .... zählen muss, um zu einem 
Punkte der Wurfbahn zu gelangen. Die Function der Phy- 
sik besteht also darin, zu lehren, dass eine Thatsache, welche 
auf eine bestimmte Reaction R ein Empfindungsmerkmal 
E liefert, zugleich noch auf eine andere Reaction R' ein 
anderes Merkmal E' zeigt. Hierdurch wird die bestimm- 
tere Ergänzung einer theilweise gegebenen Thatsache 
möglich. 

18. 

Der Raum des Geometers ist durchaus nicht das blosse 
System der Raumempfindungen (des Gesichts- und Tast- 
sinns), sondern derselbe besteht vielmehr aus einer Menge von 
physikalischen Erfahrungen, welche an die Raumempfin- 
dungen anknüpfen. Schon indem der Geometer seinen Raum 
als an allen Stellen und nach allen Richtungen gleich 
beschaffen betrachtet, geht er weit über den dem Tast- 
und Gesichtssinn gegebenen Raum hinaus, welcher diese ein- 
fache Eigenschaft durchaus nicht hat (S. 76). Ohne physi- 
kalische Erfahrung würde er nie dahin gelangen. Die 
grundlegenden Sätze der Geometrie werden auch thatsächlich 
nur durch physikalische Erfahrungen, durch Anlegen 
von Längen- und Winkelmaassstäben gewonnen, durch Anlegen 
starrer Körper aneinander. Ohne Congruenzsätze 
keine Geometrie. Abgesehen davon, dass Raumbilder uns 
ohne physikalische Erfahrung gar nicht auftauchen würden, 
wären wir auch nicht im Stande, dieselben aneinander anzu- 



- 165 - 

legen, um ihre Congruenz zu prüfen. Wenn wir einen 
Zwang fühlen, ein gleichschenkliges Dreieck auch mit gleichen 
Winkeln an der Grundlinie vorzustellen, so beruht derselbe 
auf der Erinnerung an starke Erfahrungen. Beruhte der 
Satz auf „reiner Anschauung", so brauchten wir ihn nicht 
zu lernen ^®). Dass man in der blossen geometrischen Phan- 
tasie Entdeckungen machen kann, wie es täglich geschieht, 
zeigt nur, dass auch die Erinnerung an die Erfahrung 
uns noch Momente zum Bewusstsein bringen kann, die früher 
unbeachtet blieben , so wie man an dem Nachbild einer 
hellen Lampe noch neue Einzelheiten zu bemerken vermag. 
Selbst die Zahlenlehre muss in ähnlicher Weise aufgefasst 
werden. Auch ihre grundlegenden Sätze werden von der 
physikalischen Erfahrung nicht ganz unabhängig sein. 

Das üeberzeugende der Geometrie (und der ganzen 
Mathematik) beruht nicht darauf, dass ihre Lehren durch 
eine ganz besondere Art der Erkenn tniss gewonnen 
werden, sondern nur darauf, dass ihr Erfahrungsmaterial uns 
besonders leicht und bequem zur Hand ist, besonders oft 
erprobt wurde, und jeden Augenblick wieder erprobt werden 
kann. Auch ist das Gebiet der Raumerfahruag ein viel be- 
schränkteres, als das der gesammten Erfahrung. Die 
üeberzeugung, das erstere im Wesentlichen erschöpft zu 
haben, wird alsbald Platz greifen, und das nöthige Selbst- 
vertrauen erzeugen. 



90) Die Methode des Euklides ist gewiss vortrefflich für den Un- 
terricht reifer Männer mit reicher geometrischer Erfahrung. Sie dient 
dazu sich vor den möglichen Irrthümem zu schützen, die man kennen ge- 
lernt hat. Dass nach dieser Methode beim Jugendunterricht nicht noch 
schlechtere Erfolge erzielt werden, liegt nur daran, dass eben niemand 
ganz ohne geometrische Erfahrung in die Hände des Pädagogen geräth. 



— i66 — 

Ein ähnliches Selbstvertrauen, wie der Geonieter, hat 
ohne Zweifel auch der Componist, der in dem Gebiet der 
Tonempfindungen, der Ornamentenmaler, der im Gebiet der 
Farbenempfindungen reiche Erfahrungen gewonnen hat. Dem 
einen wird kein Baumgebilde vorkommen, dessen Elemente 
ihm nicht wohlbekannt wären, die beiden andern werden 
auf keine neuen Ton- oder Farbencombinationen stossen. 
Ohne Erfahrung wird aber der Anfänger in der Geometrie 
durch die Ergebnisse seiner Thätigkeit nicht minder über- 
rascht oder enttäuscht, als der junge Musiker oder Orna- 
mentist. 

Der Mathematiker, der Componist, der Ornamentist und 
der Naturforscher, welcher sich der Speculation ergibt, 
verfahren trotz der Verschiedenheit des Stoffes und Zweckes 
ihrer Thätigkeit in ganz analoger Weise. Der erstere ist 
allerdings wegen der grössten Beschränktheit des Stoffes 
gegen alle in Bezug auf die Sicherheit seines Vorgehens im 
Vortheil, der letztere aus dem entgegengesetzten Grunde 
gegen alle im Nachtheil. 

• 

19. 
^ie Zeit, des Physiker s fällt nicht mit dem Syste m 

* 

^oy j/Qifompfjp^^^ngftTi i^naamnifin Wenn der Physi ker 
eine Zeit bestimmen will, so legt er identische oder als 
identisch vorausgesetzte Vorgänge, Pendelschwingun- 
gen, Erdrotationen u. s. w., als Maassstab an. Die mit der 
Z eitempfindung verknüpfte Thatsache wird also einer Be ac- 
ti on unterworfen, und das Ergebniss derselben, d ie Za hl, 
zu der man gelangt, diftnt. m^n statt der Zeitempfindung X 
zur nähern Bestimmung des Gedankenlaufs. Ganz ebenso 



— 16; — 

richten wir unsere Gedanken über Wärmevorgänge nicht 
nach der Wärme empf in düng, die uns die Körper liefern, 
sondern nach der viel bestimmteren, welche durch die The r- 
mometerreaction bei Ablesung des Standes des Queck- 
silberfadens sich ergibt. Gewöhnlich wird an die Stelle der 
Zeitempfindung eine Raumempfindung (ührziflferblatt), und 
für die letztere wieder eine Zahl gesetzt. Stellt man z. B, 
den Temperaturüberschuss eines abkühlenden Körpers über 

— kt 

die Umgebung durch ^ = e dar, so ist t jene Zahl. 

Die Beziehung, in welcher die Grössen einer Gleichung 
stehen, ist gewöhnlich (analytisch) eine allgemeinere 
als diejenige, welche man durch die Gleichung darstellen 

will. So haben in der Gleichung l — | + l^j =1 alle 

beliebigen Werthe von x einen analytischen Sinn, und 
liefern zugehörige Werthe von y. Verwenden wir aber diese 
Gleichung zur Darstellung einer Ellipse, so haben nur die 
Werthe vonIx\.^a und von[y(<C b einen (reellen) geo- 
metrischen Sinn. ^ 

Aehnlich müsste man, wenn dies nicht auf der Hand 

— kt 

läge, ausdrücklich hinzufügen, dass die Gleichung ^ = e 
nur für wachsende Werthe von t den Vorgang darstellt. 
. Denken wir uns den Verlauf verschiedener Thatsachen, 
z. B. die Abkühlung eines Körpers und den freien Fall eines 
andern, durch solche Gleichungen dargestellt, welche die 
Zeit enthalten, so kann aus denselben die Zeit eliminirt, und 
etwa der Fallraum durch den Temperaturüberschuss bestimmt 
werden. Die Elemente stellen sich dann einfach als abhän- 
gig von einander dar. Man müsste aber den Sinn einer 
solchen Gleichung durch die Hinzufügung näher bestimmen, 



dass nur wachsende Fallräume oder abnehmende Tem- 
peraturen nacheinander einzusetzen seien. 

Die Zeit ist nicht umkehrbar. Ein warmer Körper 
in kalter Umgebung kühlt nur ab, und erwärmt sich nicht. 
Mit grösseren Zeitempfindungen sind nur kleinere Tempe- 
raturüberschüsse verknüpft. Ein Haus in Flammen brennt 
nieder, und baut sich nicht auf. Die Pflanze kriecht nicht 
sich verkleinernd in die Erde, sondern wächst sich ver- 
grössernd heraus» Die Thatsache der Nichtumkehrbarkeit 
der Zeit reducirt sich darauf, dass die Werthänderungen der 
physikalischen Grössen in einem bestimmten Sinne statt- 
finden. Von den beiden analytischen Möglichkeiten ist nur 
die eine wirklich. Ein metaphysisches Problem brauchen 
wir hierin nicht zu sehen. 



^^i^ 



Frommannsche Bachdruckerei (Hermann Fohle) in Jena. — 234 



Berichtigungen. 

S. 21 Z. 7 V. u. ist am Ende der Zeile das Komma zu streichen. 

S. 49 Z. 3 V. 0. statt „verhindern" setze: „bemerklich machen". 

S. 121 Z. 1 V. u. statt ,Croti" setze: „Corti". 

S. 128 Z. 5 V. u. statt „Des" setze: „Das". 



3 blDS 00t HIB 1D1 



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^^l Z002 

MAY ^2002 
*-•