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Full text of "Beiträge zur Geschichte der epischen Poesie der Griechen"

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University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/beitrgezurgescOOnitz 


LGr.H 
N733b 


BEITRÄGE  ZUR  GESCHICHTE 


DER 


EPISCHEN    POESIE 


DER  GRIECHEN. 


G.^  W;    N  I  T  Z  S  C  H. 


LEIPZIG, 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 

1862. 


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VORWORT. 


Das  nachfolgende  Werk  hat  den  Verfasser  bis  in  die  letzten 
Tage  seines  Lebens  beschäftigt.  Die  erste  Anregung  dazu  ward 
ihm  durch  die  Aufforderung,  für  eine  Ausgabe  des  Homer  eine 
kurze,  populäre  Uebersicht  der  homerischen  Frage  zu  geben. 
Diese  Aufgabe,  gern  und  schnell  von  ihm  angegriffen,  erweiterte 
sich  aber  sehr  ])ald  unter  seinen  Händen  zu  einer  eingehenden 
Revision  dieser  wissenschaftlichen  Debatte,  die  ja  schon  lange 
der  Mittelpunkt  seiner  Studien  geworden  war.  Jeder  neue  Bei- 
trag, den  die  letzten  Jahre  brachten,  sollte  hier  kritisch  geprüft 
und  nach  seiner  Bedeutung  gewürdigt  werden.  Wer  die  Mannig- 
faltigkeit und  den  Werth  dieser  neueren  homerischen  Litteratur 
kennt,  wird  leicht  begreifen,  wie  sich  eine  solche  Arbeit  immer 
weiter  nach  den  verschiedenen  Seiten  ausdehnte  und  der  Abschluss 
derselben,  der  oft  dicht  bevorzustehen  schien,  sich  immer  von 
neuem  verschob.  Als  ein  unerwarteter  Tod  den  Verfasser  mitten 
aus  seinen  Studien  abrief,  war  es  für  die  Hinterbliebenen  eine 
traurigfreudige  Ueberraschung,  das  Manuscript  so  vollständig  und 
zum  Drucke  fertig  vorzufinden,  wie  es  jetzt  hier  vorliegt.  Aus 
einer  Reihe  verschiedener  Redactionen  machte  sich  die  letzte 
durch  die  abschUessende  Ordnung,  durch  die  äussere  Sauberkeit 
und  Uebersichtlichkeit  entschieden  als  die  zum  Druck  bestinnnte 
kennbar.  Die  Gegner  wie  die  Meinungsgenossen  des  Verstorbenen 
werden  ihre  Publication  mit  jener  Theilnahme  begrüssen,  deren 
er  sich  in  einer  langen  und  rastlosen  litterarischen  Thätigkeit  bei 
Freund  und  Feind  erfreute.  Es  war  allerdings  nicht  leicht,  für 
die  Arbeit  einen  einfachen  und  bezeichnenden  Titel  zu  finden. 
Im   Ganzen   wird  man   den   gewählten   gelten   lassen.     Das  Buch 


ist  eben  ein  ganzes  Stück  eines  lebendig  bewegten ,  wissenschaft- 
lichen Lebens,  von  Tag  zu  Tag,  von  Stunde  zu  Stunde  weiter- 
gefördert, die  Aufgabe  und  die  Lust  eines  Alters  voll  stiller, 
innerlicher  Heiterkeit,  Frische  und  Arbeitslust.  Gott  nahm  ihn 
schnell  und  sanft  mitten  aus  diesen  lieben  Mühen  heraus. 

Für  Alle,  die  dem  Verstorbenen  nahe  standen,  wird  diese 
seine  letzte  Arbeit  ein  Gegenstand  jener  herzlichen  Pietät  sein, 
ohne  die  man  ihm  nicht  nahen  konnte.  Sein  jüngerer  College, 
Prof.  Overbeck  in  Leipzig,  hat  durch  die  Sorgfalt,  mit  der  er 
die  schliessliche  Publication  und  den  Druck  geleitet  hat,  dieselbe 
von  neuem  bezeugt.  Sei  es  mir  ierlaubt,  ihm  hier  meinen  tief- 
gefühlten Dank  dafür  auszusprechen. 

Der  Verstorbene  sprach  allerdings  in  den  letzten  Jahren  wie- 
derholt die  Absicht  aus,  nach  Vollendung  der  hier  vorliegenden 
Arbeit,  die  Anmerkungen  zur  Odyssee  endlich  zum  Abschluss  zu 
bringen.  Leider  ist  jedoch  in  seinem  Nachlass  von  geordneten 
Materialien  zu  einer  solchen  Publication  kaum  Etwas  aufzufinden 
gewesen.  Auch  der  Plan,  für  eine  beabsichtigte  Uebersetzung 
ins  Englische  die  erschienenen  Bände,  namenthch  den  ersten, 
einer  Revision  zu  unterwerfen,  ist  nur  Plan  geblieben.  Die  reichste 
Ausbeute  möchten  namentlich  seine  Hefte  noch  für  eine  Geschichte 
des  griechischen  Cultus  und  der  griechischen  Religion  bieten, 
wie  sie  in  früheren  Jahren  ihm  oft  als  eine  Lieblingsaufgabe  vor- 
schwebte. Es  braucht  hier  kaum  hinzugefügt  zu  werden,  dass 
es  den  Hinterbliebenen  nur  erwünscht  sein  könnte,  die  dazu 
geeigneten  Materialien  dieser  Art  durch  eine  rücksichtsvolle  und 
befähigte  Hand  auch  für  grössere  Kreise  verwerthet  zu  sehen. 

Königsberg,  im  October  1862. 

K.  W.  Nitzsch. 


INHALTSVERZEICHNISS. 


Seile 


Einleitung. 
Der  Geist  des  griechischen  Volkes  ein  Jüngh'ngsgeist        .     .      . '    .         1 

Buch  I. 

Sage  und  D  i  c  li  t  u  n  g. 

Abschnitt  I. 

Zur  Geschichte  der  griechischen  Sage. 

1.  Das  eigenste  Erzeugniss  des  jngendersten  Volksgeistes,  die  Sage         7 

2.  Das  Wesen  und  die  Geltung  der  Sage 8 

3.  Unterschied  der  sagendichlenden  Geister U 

4.  Sagendichtung  des  Volksgeistes 12 

a)  Natursagen 13 

b)  Cultussagen 16 

c)  Wandel  der  griechischen  Sage  durch  den  Volksgeist        .       19 

5.  Bestimmte  Beispiele  zur  Untersclieidung  des  gestaltende»  Sänger- 

geistes und  des  die  Natur  heseelenden  Volksgeistes       ...       20 

6.  Fortsetzung.     Ein  Lied  vom  Kampf  und  Sieg  der  Götter  gegen 

eine  Gigantenschaar   23 

7.  Ein  zweites  Beispiel  einzelner  Gebilde  des  Volksgeistes,  welche 

der  Sängergeist    zusammenlasst.     Die    sogenannten  Arbeiten 

des  Herakles 26 

8.  Die  Sängergabe,  eine  von  der  Gottheit  verliehene,  nicht  Gemeingut 

irgend  eines  Zeitalters  und  Volksstammes  und  ihre  Charakteristik       27 

9.  Die  ältesten  Thalsachen  der  Geschichte  des  griechischen  Nalio- 

nalepos.    Pierien  und  der  Götterherg  und  die  pierische  Poesie       35 

10.  Die    sagenhaften  pierischen  und   thrakischen  Sänger,  Orpheus 

und  Thamyris 39 

11.  Die  Ergehnisse  der  Forschung  über  die  pierische  Poesie       .     .       43 

12.  Das  nationale  Epos  entwickelt  sich  in  zwei  Perioden        ...       48 

Abschnitt  II. 

Zur  Kritik  der  vorhomerischen  Lieder  im  Homer. 

13.  Methodische  Bechtfertigung  der  Anerkennung  jener  zwei  Zeit- 

alter des  nationalen  Epos 51 

14.  Die  homerische  Epopöe,  die  zweite  Kunslstufe  und  die  Rlüthe 

des  wahren  Epos 56 

15.  Die  drei  Stufen  des  Nationalcpos  und  ihr  Verhältniss  zu  einander. 

Die  richtige  Ansicht  von  der  Neugestaltung  der  Einzellieder    .       62 

16.  Die  lachmann'sclien  Versuche,  kleine  Lieder  herzustellen,  miss- 

lungen.    Seine  Geschmacksurtiieile  nicht  giltig 65 

17-  Die  vielstimmigen  Ansichten  über  das  11.  bis  15.  Bui  h  der  Ilias       82 


VI 

Seite 

18.  Laclimanns  gewaltsame  Gestallung  seines  10.  Liedes,  von  dessen 

Jüngern  modificiit,  jedoch  oline  die  beabsichtigte  Wirkung     .  92 

19.  Fortsetzung.    Helms  Versuche 95 

20.  Die  Prinziplosigkcit  des  Verfahrens  der  Trennenden   ....  101 

21.  Der  gebotene  Standpunkt  der  Forschung 107 

22.  Die  Odyssee,  eine  Epopöe  so  planvoll  bei  ihrem  Anfange,  in  ihrer 

Anlage  und  Gliederung ,  dass  sie  den  Gesammtvortrag  durch 

sich  ablösende  Rhapsoden  noch  unabweisbarer  voraussetzt      .     113 

Buch  n. 
Homers  Verhältniss  zu  seinen  Vorgängern  und  Nachfolgern. 

Abschnitt  I. 
Die  vorhomeiischea  Lieder. 

1.  Zwei  Geschlechter,  ein  älteres  und  ein  jüngeres  —  jenes  in 

Abenteuern,  dieses  in  Heerfahrten 130 

2.  Fortsetzung.  Allgemeine  Cliarakteristik«fles  älteren  Heldenthums  133 

3.  Abschluss  der  Charakteristik  des  älteren  Hcldengeschlechts  .      .  142 

4.  Verzeichniss  kundbarer  Lieder  von  den  Thaten  des  älteren  Hel- 

dengeschlechls,  wie  sie  tiioils  aus  der  eclilen  llias  und  Odyssee, 
Iheils  aus  Interpolationen  derselben,   theils  aus  Hesiod   und 

späteren  Zeugen  erkannt  werden 147 

1)  Jasons  Ärgonautenfahrt 147 

2)  Herakles'  Arbeiten 148 

3)  Bellerophons  Abenteuer 149 

4)  Kalydonische  Jagd 150 

5)  Abenteuer  des  Sehers  Melampus 151 

6)  Kampf  der  Lapithen 152 

7)  Herakles  gegen  Laomedon 153 

8)  Nestorlieder 155 

5  a.  Fortsetzung.    Aus    älteren  Liedern    in  die  llias  und  Ody.ssee 

eingeschobene  Stellen.    Herakles-  und  Nesiorlieder        .    •.     .     156 
5h.  Uebersicht  der  älteren  Lieder  vom  älteren  Heldengeschlecht, 
welche  bisher  nachgewiesen  siiul.  Dann  Erinnerung  an  Sagen  und 
Lieder  von  den  Dioskurcn,  Theseus,  Perseus,  aus  anderen  Gebieten     163 

6.  Fortsetzung.    Theseus -Sagen  und  Lieder 166 

a)  Kretafahrt 108 

b)  Auszug  gegen  den  marathonischen  Stier     .      .     .     .     .  169 

c)  Theseus  und  Peirilhoos 170 

d)  Theseus  als  anderer  Herakles 171 

7.  Fortsetzung.    Lied  von  Perseus  und  dem  Gorgohaupt      .     .     .  175 

8.  Uebergang  zu  den  vorhomerischen  Liedern  vom  jüngeren  Hel- 

dengeschlecht,   und    damit    zu    den    Vorläufern    der    Epopöe 
homerischen  Geistes 178 

9.  Die  einzelnen  voriiomeriscben  Lieder  von  den  Heerfahrten  des 

jüngeren  Heldengeschleclits.    Thebanische  Sage        ....      180 

10.  Forlsetzuui!.     Die    voriiomeriscben    Lieder    aus    der    troischen 


VII 

Seite 

Sage.  Charakteristik  der  Sage  nach  ihrem  Umfange.  Die  6 
Liedcrstofie  der  troischen  Sage.  Die  Heimath  der  Kunstpoesie. 
Homer  und  seine  Wahl 183 

a)  Die  Sage  von  dem  troisclien  Kriege,  als  erstem  Nalionalkrieg'c      183 

b)  Homer;  sein  Vaterland,  sein  Zeitalter  und  seine  Persön- 

lichkeit überhaupt 186 

c)  Der  troische  Krieg ,  ein  besonders  populärer  Liederstoft" 

und  seine  Epochen.    Sechs  LiederstolFe 188 

11.  Die  einzelnen  vorhomerisciien  Lieder  des  troischen  Sagenkreises, 

das  von  der  Heimkehr  des  gesammtcn  Heeres ,  und  das  vom 
Rächer  Orestes 192 

12.  Fortsetzung.    Die  Lieder  des  Demodokos  und  die  zwischenliegen- 

den Liederstofle 107 

13.  Welches  waren  nun  die  zwei  oben  erwähnten  Lieder  d.  Demodokos  ?     199 

14.  Die  erste  Epoche  des  troischen  Kriegs  nach  d.  Andeutungen  Homers     202 

Abschnitt  II. 

Die  naclihomerischen  Epiker. 

15.  DiePartieenvon  des  Achilleus  Zorne  und  der  Heimkehr  des  Odysseus 

und  der  einige  Homer  als  Höhe-  und  Mittepunkt  zweier  Perio- 
den der  epischen  Dichtung 206 

16.  Vorläufige  Beschreibung  der  Epopöendichter  nach  Homer  und 

der  ihnen  mit  Homer  gemeinsamen  Rhapsodie 212 

17.  Das  Wahre  vom  epischen  Cyclus  und  den  sogenannten  Cyclikern     216 

18.  Die  Epopöen  der  Nachfolger  Homers  im  Vergleich  mit  der  Ilias 

und  Odyssee 220 

a)  Allgemeine  Uebersicht  und  das  Urtheil  des  Aristoteles     .     220 

19.  Das  Verfahren  der  alten  Kuustepiker.  Das  besondere  des  Stasinos 

in  den  Kyprien 225 

20.  Genauere  Charakteristik  der  zwei  Epopöen  des  Arktinos  und  der 

Kleinen  Ilias  des  Lesches 230 

21.  Die  Einheitlichkeit  der  beiden  Epopöen  von  Troias  Zerstörung  .     241 

22.  Die  Persis  des  Arklinos 248 

23.  Die  Kleine  Ilias  des  Lesches 257 

24.  Charakter  des  Vortrags.    Das  Dramatische 268 

25.  Fortsetzung.    Gleichnisse  und  Gemeinsprüche 274 

26.  Allgemeine  Stellujig  der  späteren  Epiker  zu  Homer    ....     279 

27.  Die  Kosten  des  Agias 280 

Buch  III. 

D  e  r  D  i  c  h  l  c  r  H  0  m  e  r. 

1.  Vorwort  zur  sj)eziellen  Charakteristik  des  individuellen  Dichter- 

geisles  . 299 

Abschnitt  I. 

Homers   Darstellung  und  Conipositionsverfaliren. 

2.  Der  "cmüthreiche  Dichtergenius  Homer  nacli  Odyssee  wie  Ilias     305 


Seile 

3.  Kdrlsolziiiig.    Die  hoinerischcii  Frauen 300 

4.  Die   in  hoiden  Epopöen  gleiclie  Darslcllung-  und  Rcdefonn  des 

Homer  in  der  einzelnen  Durchführung  seiner  Pläne                   .  318 

5.  Fortsetzung.    Homer,  der  immer  neue 324 

6.  Forlsetzung.    Die  homerischen  Gleichnisse 328 

7.  Die  homerische  Darstellung  in  Durchführung  und  Gliederung  der 

umfassenden  Anlage 344 

8.  BeschafTenheit  der  Theilc  der  Epopöe 347 

9.  Fortsetzung.    Die  llias  in  gewissem  Sinne  das  Heldenbuch  des 

griechischen  Volkes 351 

10.  Zur  genauei'en  Bestimmung  des  Geistes  der  llias 353 

11.  Der  grösste  Held  in  seiner  .Menschennatur  als'  Hauptperson  der 

einheitlichen  Epopöe 357 

12.  Fortsetzung.    Die  anderen  Helden  als  Nebenpersonen       .      .      .  360 

13.  Fortsetzung.    Erklärung  der  Arislie  des  Agamemnon  aus  seinem 

Charakter  und  seiner  Situation 369 

14.  Fortsetzung.    Die  Verwebung  der  Aristieen  und  die  Benennung 

der  Rhapsodieen 380 

a)  Die  Aristie  des  Agamemnon 381 

b)  Die  Aristie  des  Diomedes 384 

c)  Die  Aristie  des  Menelaos 391 

d)  Die  Namen  der  Partieen 392 

Abschnitt  IL 
Homers  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  Rhapsodie. 

15.  Weder  ist  dieRezeichnung  der  kleinen  Lieder  als  Rhapsodieen  ge- 

schichtlich, noch  können  die  vom  hihall  entnommenen  Namen 

der  Partieen  als  Kennzeichen  selbständiger  Lieder  gelten   ,  394 

16.  Die  Einzelvorträge  und  die  Sannnlung  des  Peisistratos     .      .      .  397 

a)  Die    kürzlich   bekannt   gewordenen   Zeugnisse    von    der 

Sammlung 400 

b)  Die  zwei  Zeitalter  der  homerischen  Poesie       ....  401 

17.  Das  Verfahren  der  Sammler  des  Peisistratos 404 

18.  Das  Richtige  der  Rhapsodie  vor  Solon  und  Peisistratos    .      .     .  406 

19.  Die  Partieen  der  Odyssee 410 

20   Regründung  und  genauere  Erörterung  des  Vortrags  der  wirk- 
lichen Epopöen 423 

21.  Das  Allgemeine  von  den  nächsthoraerischen  Epopöen,  als  rhaps- 

odirt  neben  den  homerischen 428 

22.  Fortsetzung.    Die  Einnahme  Uechalias  des  Kreophvios     .      .      .  434 

23.  Fortsetzung.    Die  Thebais 437 

24.  Fortsetzung.  Die  Hauptslätten  der  Rhapsodie  und  der  Rhapsoden- 

zünfte an  mehren  Orten  . 449 

25.  Homers  grosse  Compositionen  einProidem,  von  der  Geschichte  ge- 

stellt, durch  Anerkennung  des  Dichtergenius  zu  lösen        .  452 


EINLEITUNO. 
Der  Geist  des  griechischen  Volks  ein  Jünglingsgeist. 


Völker  eiihvickeln  sich  wie  einzelne  Menschen;  ihr  Kindes- 
alter bleibt  im  Verborgenen,  erst  ihre  Jünglingszeit  Ihut  sich  mit 
kundbarer  Kraft  hervor  und  gieht  bleibende  Lebenszeichen.  So 
hat  die  jugenderste  Zeit  eines  jeden  Volkes  Jttnglingsart.  Wie 
aber  beim  einzelnen  Menschen  Entwickelungsstufen  und  Charak- 
tere sich  ausser  dem  Verhältniss  von  Körper-  und  Seelenkraft 
und  der  verschiedenen  Begabung  am  wesentlichsten  nach  dem- 
jenigen geistigen  Vermögen  arten  und  unterscheiden,  welches 
unter  den  maunichfaltigen  Kräften  der  Seele  das  obherrschonde 
ist,  so  lässt  die  Jünglingsart  sich  darin  erkennen,  dass  auf  die- 
ser Stufe  in  aller  Geistesthätigkeit  die  Phantasie  oder  Einbildungs- 
kraft Avaltet  und  obherrscht.  Verstand  und  Vernunft  nur  in  ihrem 
Dienst  wirken.  AViederum  aber  giebl  es  hier  unter  den  Volks - 
geistern  dieselbe  Unterscheidung  zu  machen,  wie  bei  den  einzelnen 
Jünglingen.  Sowohl  die  Stärke  jener  diesem  Alter  charakteristi- 
schen Geisteskraft,  als  die  über  die  Altersstufe  hinaus  dauernde 
Fortwirkung  derselben  ist  wie  bei  einzelnen  Jünglingen  so  bei 
den  Volksgeistern  verschieden.  Die  einen  Jünglinge  sind  diess 
auch  geistig  eben  nur  auf  der  Altersstufe  des  Jünglings,  nach- 
mals im  Aller  der  durch  Uebung  erstarkten  Denktbätigkeit,  dem 
Mannesalter,  erscheinen  sie  ganz  auf  Erfahrung  und  Leljciiszwecke 
gerichtet;  ein  Ideenleben  ist  ihnen  fremd,  eine  Virtuosiläl  aber 
können  sie  ihrerseits  vielmelir  als  praktische  Charaktere  mit  IVsleni 
Willen  oder  Lebensklugheit  gewinnen.  Diese  Praktischen  sind 
prosaische  Naturen,  haben  nicht  Poesie  in  ihnen  selbst,  noch 
mögen   oder   vermögen  sie  Wahrnehmungen  und  Erfahrung  zum 

Nitzscli,  Gesell.  U.  griecli.  Kjios.  1 


Idealen  zu  steigern.  Anders  die  auf  der  Jünglingsstufe  reicher 
Begabten;  sie  behalten  in  der  Mannesreife  doch  auch  jene  Geistes- 
kraft thätig,  ihr  Denken  bleibt  auch  ferner  ein  dichtendes  und 
die  reichen  Gebilde  der  jugendersten  Zeit  werden  ihnen  Gefässe 
von  Ideen,  aber  eben  die  Ideen  werden  zu  Bildern  ausgeprägl. 
Es  ist  die  eigenste  Eigenschaft  solcher  phantasiereichen  Geister, 
wie  das,  was  sie  wahrnehmen  und  erfahren,  in  reger  Selbst- 
Ihätigkeit  bei  sich  zu  bewegen,  so  alles  Innerliche  in  die  Er- 
scheinung heraustreten  zu  lassen.  Sie  denken  wohl  wie  Göthe's 
Eugenie  auch,  „der  Schein,  was  ist  er,  dem  das  Wesen  fehlt V 
Doch  noch  mehr  „das  Wesen  war'  es,  wenn  es  nicht  erschiene?" 

Auf  diese  Weise  werden  sie  bildnerisch  erfindsanie  Künstler  und 
vermögen  seelisch  schöne  Werke  zu  schalTen.  „Weder  Gestalt  ohne 
Seele,  noch  Seele  ohne  Gestalt"  ist  ihr  Satz.  So  also  giebt  es  die 
Unterscheidung  von  einerseits  Verstandsmenschen,  andererseits 
Phantasie-  und  Gefühlsmenschen  bei  Einzelnen  und  bei  Völkern. 
Dass  dieser  Gegensatz  zwischen  den  beiden  alten  Culturvölkern 
Europas  gilt,  der  römische  Volksgeist  in  seiner  Eigenthümlich- 
keit  ein  prosaisch  praktischer  mit  jener  Charakternrluosität  und 
Lebensklugheit,  dt!r  griechische  ein  })oetischer  und  ideenreicher 
gewesen ,  ist  allgemein  anerkannt  und  hat  seine  Bestätigung  ge- 
rade an  den  römischen  Dichtern  uiul  Schriftstellern,  die  wie 
Cicero  und  Iloraz  durch  griechische  Bildung  ihre  Aehnlichkeit 
mit  den  griechischen  erlangt  haben. 

Ivonnnt  uns  nun  bei  den  poetischen,  bildnerisch  kräftigen 
Griechen  sogleich  iln-e  Mustergiltigkeit  in  der  eigentlich  plasti- 
schen Kunst  und  dazu  ihr  Wahlspruch  in  den  Sinn:  Lieb  ist 
uns,  was  schön,  und  was  nicht  schön',  es  ist  unlieb,  so  führt 
die  nähere  Betrachtung  sofort  auf  eine  andere  Eigenthümlichkeit 
des  griechischen  Volksgeistes,  wie  er  sich  in  Kunst-  und  Schrift- 
werken offenbart  hat.  Die  phantasiereichen  Volksgeister  wie 
Menschengeister  überhaupt  verhalten  sich  verschieden  zu  den 
beiden  Sphären  Natur  und  Menschenwelt.  Je  nachdem  in  ihnen 
das  3Ienschenbewusstsein  stark  ist  und  dieses  sich  die  Natur  in 
und  nach  seiner  Anschauung  unterwirft  und  verähnlichl,  oder 
der  Menschengeist  sich  unter  die  Natur  giebt  und  in  ihr  wir 
aufgeht,  prägt  sich  das  Eine  oder  das  Andere  wie  im  Leben,  so 
in  Schrift-  und  Bildwerken  vorwaltend   aus.      Während   nun  die 


3 

Orientalen  an  die  Natur  hingegeben  sind  ^) ,  hat  der  Griechengeisl 
das  lebhafteste  und  tiefste  Bewusstsein  seiner  3Ienschennatur  in 
jeder  Hinsicht  bethätigt.  Seine  Kunst  liat  eine  Seele  und  hat 
also  an  der  seelisch  schönen  Menschengestalt  ihr  Ideal,  und  sein 
Meuschenbe^vusstsein  war  es,  was  ihn,  als  er  bei  der  Erfahrung 
der  Naturwirkungen  zu  Heil  oder  Unheil  einen  wirkenden  Geist 
der  Erscheinung  über  die  Wirkung  stellte,  in  seinem  Phantasie- 
glauben an  höhere  Wesen,  die  ihm  ein  sich  Selbstbestinnnendes, 
eine  Person,  nur  wie  ein  Mensch  erschien,  Götter  in  Menschen- 
gestalt zu  schaffen  bewog,  also  einen  Gott  zum  Fluss,  eine  Nymphe 
zum  Baum  zu  denken  und  überhaupt  die  Natur  mit  Göttern  zu 
bevölkern.  In  dieser  Weise  besonders  beseelte  er  die  Natur. 
Aber  auch  all  seine  Litteratur  hat  aus  seinem  Leben  im  Verständ- 
niss  und  der  Darstellung  der  Menschennatur  ihren  eigensten, 
immerfort  unentbehrlich  wirksamen  Vorzug.  Wohl  besitzt  er 
Wahrnehmungsgabe  auch  für  das  Eigenthümliche  in  den  Natur- 
gebilden und  lebhafte  Farben  auch  zur  Naturschilderung,  aber 
diese  dient  dem  Menschenleben  zur  Scenerie.  Wie  Menschen  und 
Götter  die  Natur  beherrschen,  erscheint  sie  uns  als  ihre  Lebens- 
folie 2). 

Die  Litteratur  selbst  und  vorzüglich  die  Poesie  in  ihren 
Hauptarten  durchdringt  nicht  blos  das  Leben  und  die  Regung 
der  Menschenseele  als  ihr  wesentlicher  Inhalt,  sie  gewährt  ein 
Hauptinteresse  durch  Charaktere,  und  die  Darstellungsform,  welche 
diese  am  sprechendsten  hervortreten  lässt,  die  dramatische,  ist 
von  Homer  an  das  belobteste  und  selbst  von  Historikern  (bei  den 


1)  Zimmermanu  ul)er  den  Begriff  des  Epos ,  Dannstailt  1848.  S.  54, 
über  das  indische  Epos:  Die  Poesie  luul  Kunst  haben  sich  olionsuwcnig, 
als  die  Rcligiün  im  Allgemeinen  von  dem  Boden  der  Natiiranscliauung'  los- 
reissen  können,  von  der  freien  Idealität  der  homerischen  Götter  ist  daher 
durchaus  gar  keine  Rede.    S.  das.  weiter  u.  S.  57  unten  u.  f. 

2)  AI.  V.  Humboldt,  Kosmos  2.  S.  7.  „In  dem  liellenisclien  Aller- 
thuni,  in  dem  Blütlienaller  der  Menschheit,  linden  wir  allerdings  den  zar- 
testen Ausdruck  dieser  Naturcmpfiudung  den  dichterischen  Darstellungen 
menschlicher  Leidenschaft  heigemischt;  aber  das  eigentlich  Naturhesclirei- 
hende  zeigt  sich  dann  nur  als  ein  Beiwerk,  weil  in  der  griechischen 
Kunslhildung  sich  alles  gleichsam  im  Kreise  der  Menschheit  bewegt." 
Uebereinslimmend  Schnaasc,  Gesch.  d.  hild.  Künste  2.  S.  128  11".  Zimmer- 
mann .  Begr.  d.  Epos  S.  25. 

1* 


Reden  ihrer  Personen)  \'ielgebraucht6  Kunstmittel.  Wir  sehen, 
wie  das  Urtheil  über  den  Natursinn  und  die  Geschicklichkeit  der 
Griechen  für  Naturbeschreibung  nicht  ohne  Rücksicht  auf  jenes 
starke  und  so  viel  wirksame  Menschenbewusstsein  richtig  gefällt 
werden  kann.  Sie  selbst  haben  in  ihrem  Menschensinn  der  Natur 
nur  die  untergeordnete  Redeutung  gegeben  und  diese  nicht  für 
sich,  sondern  in  Reziehung  zur  Ihatlebendigen  oder  empfindenden 
Menschenwelt  gedacht  und  gezeichnet,  ja  sie  haben  in  seelischer 
Auffassung  theils  sie  vergöttert,  theils  vielfältig  das  Charakteristische 
in  den  Naturgeschöpfen  in  Natursagen  mittels  Verwandlung  aus 
Menschen  erklärt,  wie  die  Sagen  von  der  klagenden  Nachtigall, 
der  webenden  Spinne  und  andere  späterhin  hervorzuheben  sein 
werden.  >yir  nun  geben  diesem  Menschensinn  Ehre,  und  be- 
achten, ohne  ihnen  das  als  Unfähigkeit  zu  deuten,  was  sie  eher 
nicht  gewollt  haben ,  dieses  charaktervolle  Leben  als  den  human- 
sten Vorzug  ihrer  Litteratur  und  Kunst.  Denn  A\ie  ihre  Sagen 
ihrer  nationalen  Vorzeil  Menschen-  und  Götterleben  immer  in 
Wechselwirkung  darstellten,  finden  wir  auch  die  zwei  Arten  der 
Poesie,  welche  ihre  Stoffe  der  Sagenwelt  entnahmen,  die  Helden- 
gedichte und  die  Tragödien ,  so  weit  und  so  lange  sie  nationales 
Leben  hatten,  von  sittlich  religiösen  Motiven  beseelt,  und  eben 
von  demjenigen  Epos  soll  hier  die  Geschichte  gegeben  werden, 
welches  mittels  lebendigen  Vortrags  zur  nationalen  Poesie  zählt. 
Die  hiermit  gezeichneten  Charakterzüge  der  griechischen 
Litteratur  treten  sämmllich  gleich  in  den  ersten  zwei  Werken, 
welche  den  denkenden  Griechen  selbst  für  die  frühesten  unter 
allem  Erhaltenen  galten,  der  llias  und  Odyssee  Homers,  auf  das 
deutlichste  hervor.  Dieser  Dichtergenius,  der  älteste  unter  den 
grössten  aller  Zeiten,  namentlich  den  europäischen,  ist  dieses  ja 
durch  die  zwei  Eigenschaften,  welche  zum  grossen  Dichter  die  we- 
sentlichen sind,  durch  ein  lebendiges  und  tiefes  Verständniss  der 
Menschennatur  und  ein  Weltbewusslsein,  welches,  Natur  und  Men- 
schenleben umfassend,  mit  seiner  Phantasie  allgegenwärtig  ist,  und 
dem  so  die  Rilder  aus  allen  Sphären ,  die  der  befiügelte  Gedanke 
nur  bewalten  kann,  zu  Gebote  stehen.  Diese  zwei  Eigenschafleu 
also,  wirksam  mittels  einer  bereits  zugebildeten  Sprache  und  ihres 
ganzen  Reichthums  und  in  der  möglichsten  Herrschaft  über  die- 
selbe, uiul  bei  genialer  H;,ndhabung  der  der  Dichtungsarl  eignenden 


Rhythmen  für  einen  dem  Ohr  gefälligen  Vortrag,  gaben  die  all- 
bewunderten  Poesien.  Homers  speciflsch  eigenster  Vorzug  hiess 
schon  bei  seinem  Volk  das  Charaktervolle ,  nichts  Uncharakteristi- 
sches gebe  er.  In  den  HauiJtpersonen  seiner  Ilias  und  Odyssee 
hatte  er  ebenso  naturgemäss  wie  im  lebendigen  Rewusstsein  des 
Nationalcharakters  die  zwei  Geistesarten,  einen  Helden  der  gera- 
den Thatkraft  und  einen  der  schlauen  Klugheit,  hingestellt,  beide 
dabei  gar  sehr  als  wahre  Typen  der  hellenischen  Sinnesart.  Aber 
welche  reiche  Gallerie  der  mannigfaltigsten  Charaktere  in  der 
Ilias  und  Odyssee!  und  diese  immer  energisch,  so  dass  sie  sich 
selbst  aussprechen  oder  die  Handlung  sie  offenbart. 

Die  andere  Haupteigenschaft  des  grossen  Dichters,  das  alle 
Sphären  der  Natur  oder  des  Menschenlebens  zu  Zügen  seiner 
Darstellung  bewaltende  \Veltbewu3stsein,  sie  erweist  sich  haupt- 
sächlich in  den  Gleichnissen.  Unter  diesen  nun  geben  die  Nalur- 
bilder  den  Beleg  zu  dem  vorhin  vom  Natursinn  der  Griechen 
überhaupt  Gesagten.  Wie  Gestalten  und  Charaktere  der  Menschen 
kauQi  irgend  vom  Dichter  als  Erzähler  selbst  gegeben  werden, 
sondern  wie  sie  in  der  seelisch  bewegten- Handlung  zur  Erscheinung 
kommen,  so  malt  er  auch  die  Natur  nicht  in  der  Ruhe  der  Be- 
trachtung, sondern  es  dienen  die  Rilder  dem  Leben  der  Darstel- 
lung und  sind  energisch  eingewebt.  Hören  \^ir  einige,  und  zu- 
erst einige  kürzere:  Da  neigt  sich  das  Haupt  eines  Getroffenen 
mit  dem  Helm  wie  der  Mohn  im  Garten,  den  der  Frühlingsregen 
beströmt  (II.  8,  306);  da  hat  Menelaos  den  Muth  der  unabtreib  * 
liehen  Fliege  (II.  17,  570),  schwingt  sich  Athene  durch  die  Luft 
zur  Erde  wie  vom  Stern  die  Funken  [Sternschnuppen]  (IL  4,  77), 
stillt  der  Wundarzt  das  Rlut  durch  Umschläge,  wie  Milch  durch 
Feigenlab  zu  Käse  wird  (R.  5,  002).  Reispiele  vollerer  Rilder 
mit  Gegenbildern:  II.  6,  503  —  516  wird  Paris,  wie  er  nach 
längerem  Verweilen  im  Gemach  jetzt  kampflustig  dem  Hektor 
nacheilt,  mit  einem  Rosse  verglichen: 

Paris  auch,  nicht  mehr  säumt  er  daheim  im  hohen  Gemache, 

Nein,  wie  er  anhat  nur  sein  Riisl/oug,  schillernd  von  Erze, 

Stürmt  er  darauf  durch  die  (lassen  der  Stadt  ausgreifenden  Schrittes, 

Wie  ein  Staalsross  wohl,  das,  übersatt  an  der  Krippe, 

Los  vom  Halfter  sich  riss  und  mit  stampfendem  Hufe  das  Feld  schlägt, 

Rennt,  sich  zu  liaden  gewohnt  in  dem  voll  hinlliessenden  Strome, 

Ganz  nur  Zier  und  Lust,  hoch  trägt  es  das  Haupt,  es  umdatlern 


6 

üeppig  die  Mälincn  den  Bug,  und  seines  Geschmeides  l)C\vnssl  sich 
Risch  trabts  fori  zu  den  Weiden  und  Tumnielplälzen  der  Pferde : 
Also  des  Priamos  Sohn ,  von  Pergamos'  heiliger  Höh'  her, 
Glänzend  im  Zeug  wie  die  gokicne  Sonn',  er  seiher  im  Herzen 
Freudig,  die  Fasse  hehcnd  vorschrilt;  nur  einige  Zeit  noch 
Und  schon  halt'  er  den  Bruder  erreicht,  als  eben  sich  Ueklor 
Wandte  von  da,  wo  mit  seinem  Gemal  er  traulich  verkehrt  erst. 

Eine  volle  Gruppe  vom  verwundeten  Hirsch,  auf  den  die 
Schakale  eindringen,  bis  ein  Löwe  sie  verscheucht,  ist  Gleich- 
niss  zum  verwundeten  Odysseus,  den  die  Troer  verfolgen,  bis 
Aias  eintritt;  II.  11,  474.  Aus  den  vielen  andern  immer  ver- 
schiedenen Löwenbildern  ist  auf  dasjenige  in  II.  20,  165  — 173 
zu  verweisen. 

In  der  Odyssee  auf  das  Uild  von  den  kleinen  V'ögeln ,  wie  sie, 
wenn  die  Raubvögel  aus  dem  Gebirg  sich  gegen  sie  h^rschwingen, 
ängstlich  zu  Boden  eilen  und  so  in  die  Netze  fallen,  da  denn 
die  zuspringenden  Männer  sich  reichen  Fangs  erfreuen:  Od.  22, 
302  —  306. 

So  haben  wir  die  Geistesari  gezeichnet,  welche,  wie  sie 
alles  Denken  und  Empfinden  beherrscht,  so  auch  die  genetische 
für  die  sogenannte  Mythologie  ist,  das  heisst  die,  welche  die 
Göttergeslalten  und  die  Göttersagen  erzeugt.  Aber  eben  auch  das 
ganze  Bewusstsein  und  die  Ueberlieferung  von  der  eigenen  gott- 
vollen Vorzeit  und  von  den  Vorältern  des  Volks,  ihren  Thaten 
und  Schicksalen,  gestaltet  jener  bildnerische  Volksgeist  des  jugend- 
erslen  Zeitalters,  er  bildet  die  Sage. 


ERSTES  BUCH. 
Sage   und  Dichtung. 


Abschnitt  I. 

Zur  Geschichte  der  griechischen  Sage. 

1 .  Das  eigenste  E  r  z  e  ii  g  n  i  s  s  des  j  u  g  e  n  cl  e  r  s  t  e  n  von 
der  Phantasie  beherrschten  Vo Iksgeistes  ist  die 
Sage,  welche,  indem  sie  zuerst  als  Vo  1  k  s  s  a  g  e 
entsteht,  jedem  ächten  Epos  den   Stoff  giebt. 

Wie  der  rechte  Begriff  der  Sage  der  ist,  dass  damit  ein 
Thatsächliches  von  der  Einbikhnigskraft  erfassl  und  überliefert 
bezeichnet  vvird,  so  ergiebt  sicli  ans  diesem  von  selbst,  dass  eben 
die  Sage  das  eigenste  Erzengniss  des  jugendersten  Geistes  sei. 
Sie  gestaltet  Alles  und  Jedes,  uas  im  Bewusstsein  des  Volks  von 
seiner  Vorzeit  lebendig  wird,  und  gar  vielfältig  geschieht  diese 
bildnerische  Gestaltung  als  Rückdichtung.  Und  wenn  gern  jeder 
Stamm  die  Geschichte  der  Menschen  und  Götter  in  seinem  Ge- 
biet begann  und  eine  ganze  Reihe  von  Landschaften  Griechen- 
lands einen  ersten  Menschen  nannten*),  so  wäre  es  doch  eben 
nur  ein  Irrlhum,  Avenn  man  das  Alter  einer  Sage  und  Sagen- 
poesie nach  der  Folge  der  erzählten  Begebenheiten  berechnen 
wollte.  Gerade  von  der,  griechischen  Poesie  lässt  sich  mit  Sicher- 
heit behaupten,  dass  ihre  ersten  Werke  nicht  die  Uranfänge  der 
Götter  und  Menschenwelt  darstellten,  nicht  die  Poesie  die  früheste 
war,  welche  von   der  Entstehung  der  Götter   erzählte  (die  Iheo- 


1)  Einerseils  Götter  und  Menschen  haben  Eine  3Iutter,  die  Erde: 
Hes.  Tage  und  Werke,  108;  Pindar  Nem.  6,  2.  Die  verschiedenen  ersten 
Menschen :  s.  das  vcrmulhlicli  Pind.  Fragni.  in  der  Zeitsclirifl  f.  Alt.  1847, 
S.  1—6  und  Philol.  7,  S.  1  11".;  Bergks  Poelae  lyrici,  2.  Ausg.  S.  105'J  f. 


gonische),  sondern  dass  die  ältesten  Sagen  und  ältesten  Lieder  schon 
eine  Heldenwell  im  persönlichen  Verkehr  mit  den  Stammgöttern 
darstellten^).  Wie  nämlich  der  (kdtus  des  Zeus  älter  ist  als  der 
seines  Vaters,  des  Kronos,  und  des  Zeus  und  seiner  Olympier 
Sitz  auf  dem  Makedonisch -Thessalischen  Berge  Olympos  älter 
als  die  Sage  und  Dichtung  von  einem  Kampfe  gegen  die  Titanen 
und  Kronos  (lies.  Theog.  632  f.),  so  hat  die  Poesie  von  Kämpfen 
der  Helden  mit  C.ötterhilfe  oder  der  Götter  unter  sich  fridier 
gesungen  als  vom  Ursprung  der  Götter  oder  gar  der  Dinge  über- 
haupt, da  sie  kosmogonisch  vom  Chaos  begann.  Das  starke  Be- 
Avusstsein  der  Menschennatur,  welches  die  vermenschlichende  Vor- 
stellung von  dem  höheren  Wesen  erzeugte,  es  brachte  auch  die 
von  dem  Heldenleben  und  der  Theilnahme  der  Götter  an  ihren 
Abenteuern  und  Heerfahrten.  Das  religiöse  Bedürfniss  erkannte 
machtvolle  Götter  und  der  Phantasieglaube  bildete  sich  das  Leben 
und  ganze  Wesen  der  persönlichen  Mächte  als  ein  thätiges  aus. 
Also  war  ganz  unstreitig  die  früheste  Poesie  —  abgesehen 
von  gleichzeitigen  Anrufungen  der  Götter  in  Liedern  —  eine  er- 
zählende und  enthielt  Handlung.  Und  die  Sängergabe  selbst  war 
ja  zuerst  Kraft  des  Gedächtnisses  also  der  lebendigen  Erinnerung 
und  Darstellung  von  Thaten  und  Ereignissen. 

2.  Das  Wesen  und  die   Geltimg  der  Sagen. 

Sagen  und  Sagenpoesie  sind  nicht  dasselbe.  Die  beschrie- 
bene Geistesart  war  die  gemeinsame  aller  Stämme,  und  wie  jeder 
Stamm  ein  Bewusstsein  von  seiner  Vorzeit  und  seinen  Vorältern 
hatte,  so  bildete  er  Sagen  von  seinen  Göttern,  ihrer  Besitznahme 
des  Gebietes,  von  der  Stiftung  seiner  Heiligthnmer ,  überhaupt 
den  Gründungen,  aber  auch  von  den  Thaten  und  Llnlernehmungen 


2)  Schocmunn,  comparnlio  llieog.  llcrioil.  c.  Ilomcrica  p.  5,  sagt: 
,,  Die  thcogonisclie  Gallung  dor  Poesie,  von  der  uns  nur  das  Werk  des 
Hesiod  übrig  ist,  sie  selbst  niuss  doch  für  jünger  gellen,  als  die  Heldeu- 
gedichle,  wie  die  homerischen  sind.  Denn  der  Glaid)c  an  das  Dasein 
waltender  Götter  galt  olnic  Zweifel  viel  friiher  sciion,  als  man  über  ihren 
Ursprung  und  ihre  VerwandlSL-haft  lintorsucliungen  anslollle".  Die  enl- 
gegengeselzte  Meiiunig  G.  lloiiiiann's,  0|t.  VI.  89,  lalil  in  sich  selbst, 
Avenn  wir  llieils  das  Wesen  des  E])os  nns  genauer  belraclilen,  thcils  die 
Menge  der  episcjien  Lieder  erkennen,  Avelclie  seinen  Schöpi'ungen  vor- 
hergingen. 


seiner  Almen,  die  sie  mit  Hilfe  ihrer  Götter  bestanden.  Was 
von  jenem  Bewusstsein  ruchbar  ^vird,  es  zeigt  schon  von  Anbe- 
ginn neben  einander  vorhandene,  geglaubte  Götter  und  Menschen, 
und  diess  in  regem  Leben.  Aber  die  Sage  von  dem  Allen  wurde 
rückwärts  gedichtet  nach  dem,  was  kundbar  ist,  und  so  ist  ein 
Ineinander  von  Menschen  -  und  Göttergeschichle  eben  aller  Sage 
und  gerade  der  ältesten  Sagenzeit  eigen.  Ist  es  doch  eben  die 
heilige  Vorzeit,  von  der  sie  erzählt.  Diese  gottvolle  V^orzeit  heisst 
die  Heroenzeit ^)  und  wird  von  dem  menschlichen  Zeilalter  unter- 
schieden (Herod.  III,  122:  Minos  im  heroischen,  Polykrates  im 
menschlichen)..  Der  Zeit  nach  reicht  sie  bis  zur  dorischen  Wan- 
derung. Diess  gilt  aber  von  den  Personen  und  Ereignissen  nicht 
als  wäre  nicht  auch  später  die  Sagen -Dichtung  geschäftig  ge- 
wesen, wie  sie  denn  zum  Beispiel  in  den  Erzählungen  von  der 
Gründimg  Kyrencs  und  von  dem  ersten  und  zweiten  messeni- 
schen Kriege  gar  viel  erscheint*).  Der  INationalglaube  an  die 
wunderreiche  Heroenzeit  erhellt  eben  daraus  besonders,  dass  er 
auch  in  späterer  Zeit  nur  die  Bedingung  hat,  es  muss  ein  Wun- 
der aus  der  Ileroenzeit  erzählt  werden  und  müssen  Götter  dabei 
mitgewirkt  haben.  In  diesen  spricht  das  edle  Dichtergemüth  des 
Pindar  mitten  aus  seinem  Glauben  an  eine  wunderreiche  Heroen- 
zeit. Seiner  Schilderung  der  Kentauren  als  halb  Pferd  halb 
Mensch  (Pyth.  2,  44  —  48)  fügt  er  hinzu:  „Die  Gottheit  vollführt 
nach  ihren  Gedanken  Jegliches,"  und  bei  dem  Abenteuer  des 
Perseus  (Pyth.  10,  49):  „Wenn  die  Götter  es  vollbracht,  staun' 
ich  Nichts  als  unglaublich  an".  Und  derselbe  erkannte  ebenso 
wie  vor  ihm  Archilochos ,  Stesichoros  und  Mimnermos  in  einer 
Sonnenfinsterniss  die  Wirkung  des  erzürnten,  persönlichen  Sonnen- 
gottes   (Plin.  N.  G.  2,  12.     Plul.  Gesicht   des    Mondes  19).     Von 


3)  S.  meine  Abh.  die  Heldensage  der  Gr.  nach  ihrer  nationalen  Gel- 
tung in  Kieler  philol.  Studien  S.  378  od.  bes.  Abdr.  S.  4. 

4)  Wir  unterscheiden:  die  Gcistcsarl,  welche  Thatsächliches  nu't 
vorwaltender  Phantasie  fasst  und  überliefert  und  somit  Sagenhaftes  bil- 
det, wirkte  zu  allen  Zeiten;  sie  erzählte  von  der  Gründung  Kyrenes: 
rind.  Pyth.  4,  4—62  und  9,  51  (V.  vergl.  mit  Herod.  4,  150  if.  von  den 
messen.  Kriegen  bei  Paus.  4,  lu  —  IG;  sie  von  den  Tyrannenmördern  Har- 
modios und  Arislogeilon  (Thukyd.);  und  wieder  von  den  Dichtern  Ibykos, 
Arion  und  Simoiiides:  Lehrs  im  Rh.  .AIus.  Neue  F.  6,  58,  oder  in  dessen 
populären  Aufs.  S.  145  —  219. 


10 

Späteren   spiiclit  Paiisanias   den    allgemeinen  Glanbensgrund   aus 
(8,  2,  4  und  5). 

In  Wirkung  und  Nachwirkung  jener  Heroenzeit  und  des 
INationalglanbcns  an  sie  haben  eine  Menge  Orte,  soweit  Griechen 
wohnen,  ihre  INanien,  und  werden  langhin  die  äussersten  Granzen 
der  Welt  eben  aus  den  besungenen  Abenteuern  der  Ileldenzeit 
benannt:  Vom  Phasis  heisst  es  bei  Plalo,  Aristophanes,  Aristote- 
les imd  folgenden,  bis  zu  den  Säulen  des  Hercules^).  Es  hatten, 
das  iiessen  auch  die  Nüchternen  gelten,  manche  Heiden  schon 
des  altern  Geschlechts,  wie  nachmals  Odysseus  und  Menelaos  und 
Aeneas  auf  weiten  Wegen  über  die  lichte  Heimath  hinaus  in  wun- 
derreichen Gebieten  Abenteuer  bestanden:  Dionysos  der  Wein- 
gott, die  Helden  Herakles,  Perseus,  lason  und  Bellerophon®). 
Dann  lernte  man  fernerhin  auch  Phantasiegebilde  von  glaubhaften 
Thatsachen  unterscheiden  und  erkannte  man  die  Irrungen  der 
Volkssage,  so  nahm  man  doch  auch  von  Wundererzählungen  einen 
Ihatsächlichen  Anlass  an,  den  nur  Ausdichtung  oder  phantasti- 
sches Gerücht  übertrieben,  und  jedenfalls  blieben  die  Personen 
stehn,  auch  alle  jene  abenteuernden  Helden  wurden  gleichwie 
alle  Personen  der  Heroenzeit  als  wirkliche  Individuen  geglaubt, 
die  ihren  Lehenslauf  gehal)t.  Mögen  wir  also  in  gar  vielen  der- 
selben Pcrsonificationcn  erkennen,  mögen  sogar  unsre  Mylhologen 
Grund  finden,  gerade  einen  Herakles,  Perseus,  ßellerophon  alle- 
gorisch als  Naturwesen  zu  deuten,  das  von  Anfang  nationale  Epos 
geht  solche  Deutung  nicht  an,  und  noch  verfehlter  ist  es,  dem 
Homer  auch  nur  irgend  ein  Bewusstsein  von  solcher  Deutung 
seiner 'Haupthelden,  des  Achill  und  des  Odysseus,  beizumessen. 
Es  ist  ein  ganz  Anderes,  den  Ursprung  eines  Gottes  oder  Heros 
nach  seinem  Namen,  also  die  Fassung  der  uranfänglichen  Per- 
sonification  zu  erklären,  und  andererseits  die  geglaubten  Götter 
und  Heroen  der  Griechen  nach  der  Darstellung  des  Nationalepos 
zu  Itetrachten  und  zu  charakterisiren.  Das  richtige  Verfahren 
der  Auslegung  und  richtige  Verständniss  der  epischen  Handlungen 
hat    nicht   einmal   mit   dem   anderen   auch   nationalen  Verhältniss 


5)  PI.  Phädoii  109,  18.    Ar.  Wespen  100:  Vom  Pontes  bis  Sardinien. 
Arist.  Rhet.  2,  10,  2. 

6)  Slrabo  1 ,  48.    IMul.  Kimou  3.    Pliu.  N.  G.  5,  ]. 


11 

zahlieiclier  Heroen  zu  thiin,  da  sie  vorher  als  Götter  gegolten 
hatten  und  an  manchen  Oiten  fortwährend  als  solche  verehrt 
wurden.  Dem  Versländniss  der  epischen  Dichtungen  dient  also 
auch  solche  gesündere  Fassung  der  Personificationen  nicht,  wie 
sie  jüngst  Ileinr.  Dietr.  Müller  gegehen  hat^);  denn  was  die 
Sänger  ihrem  Volke  sangen,  zumal  auf  der  Stufe  des  Homer, 
war  ehen  ein  Lied  von  seinen  Ahnen,  welche  entweder  durch 
den  „Kampf  mit  Ungeheuern  und  Drachen"  ihnen  die  Erde  be- 
friedet oder  auf  Heerfahrten  den  Ruhm  ihres  Stammes  verherr- 
licht halten.  Das  V'olk  mit  seiner  seelischen  Naturanschauung 
und  seiner  Pygmalionsnatur  hatte  längst  vor  der  Zeit,  aus  der 
uns  Etwas  von  seinem  Epos  erkennbar  wird,  die  eigenen  Per- 
sonificationen in  raschem  Fortschritt  ethisch  beseelt  und  in  Hand- 
lung und  Leben  gesetzt.  Von  einem  mit  ßewusstsein  allegorisi- 
renden  epischen  Dichter  wissen  wir  Nichts,  ja,  es  widerstrebt 
der  Geist  dieser  Dichtung  selbst.  Und  wer  möchte  lieber  den 
Herakles  der  allegorischen  Urdeutungen  als  den ,  der  als  der 
gottgefälligste  Mensch  den  Pi'ometheus  vom  fressenden  Geier  er- 
löst und  dessen  Mitwirkung  den  Göltern  selbst  zur  Ueberwälli- 
gung  der  Giganten  unentbehrlich  ist? 

3.  Unter  Scheidung    dev    Sagen    dichtenden    Geister; 
d  e  s  V  o  1  k  s  g  e  i  s  t  e  s  und  epischen  D  i  c  h  t  e  r  g  e  i  s  t  e  s ;  der 
Gründungssagen    oder   Natursagen    und    epischen 
Lieder. 
Auch   bei   dem   Jünglingsvolk    der   Griechen    und    schon    im 
frühesten   Zeitalter   sind    ungeachtet   der   gemeinsamen   Geislesart 
obherrschender    Einbildungskraft    doch    im    Einzelnen    dieselben 
Unterschiede  anzuerkennen,  welche  überall  und  jederzeit  zwischen 
selbslkräftigeren,    schöpferischen  und  andererseits  nur  auffassen- 
den   und    empfänglichen    Geistern   stattfinden,    und   wiederum   ist 
auch  unter  den  schöpferischen  nicht  jedwedem  die  Sinnigkeit  und 
Tiefe   beizumessen,    die   sich    in  einzelnen  Sagen  kundgiebt,  wie 
in  der  Prometheussage. 

Nun  schreiben  wir  zwar  eine  Fülle  von  Sagen  der  Stämme 
dem  Volksgeiste  zu,  weil  eben  nirgends  ein  Einzelner  als  deren 
Bildner  nachweislich  ist;   aber  uolhwendig  und  nach  l)estinnnten 


7)  Mythologie  der  griechischen  Slämnic.   1.  ThI.   Göll.  1857. 


12 

Kennzeichen  nnterscheiden  \>ir  von  der  Sagenbildung  «les  Volks- 
geistes die  der  Sänger  und  Dichter  mit  ihrer  besonderen  Bega- 
bung''). 

4.   Sagendichtung  des  Volksgeistes. 

Alle  jene  Unterscheidung  kann  erst  eintreten,  wo  es  bereits 
an  Sagengestalten  und  Erzählungen  die  Fülle  giebt.  Doch  wenn 
gerade  die  ältesten  Sagen  schon  das  Nebeneinander  von  Stannn- 
helden  und  Göttern  zeigen  und  Personificationen  längst  in  Menge 
vollzogen  sind,  \vir  müssen  doch  urtheilen:  der  Volksgeist  dichtet 
nur  einzelne  Gestalten  und  giebt  in  seinen  Helden  und  von  deren 
Tliatcn  nur  den  endiryonischen  Stofl',  den  die  Singer  und  Sager 
ausdichten  und  zum  Vergnügen  der  Hörer  durchführen.  Doch 
hierneben  hat  derselbe  Volksgeist  seine  eigenen  Sphären;  er  dich- 
tet Natursagen,  indem  er  alles  Charakterisirtere  aus  einem  be- 
stimmten früheren  Act  herleitet,  und  dichtet  Gründungs-,  beson- 
ders Cultussagen,  weil  der  Griechengeist  alles  Bestehende  einem 
benannten  Stifter  zuschreiben  möchte.  Gern  mag  er  alle  Grün- 
dungen und  Weihungen  ans  der  altheiligen  Heroenzeit  herleiten 
und  vornehmlich  von  Helden,  welche  im  Nationalepos  gefeiert 
sind.  In  der  heiligen  Vorzeit  (eben  daher  der  Offenbarungszeit) 
haben  die  längst  geglaubten  Götter  ihre  Macht  auch  durch  Ver- 
wandlungen aus  Menschen  in  Steine,  Bäume,  Thiere  ofTenbart, 
und  daher  haben  diese  ihre  sprechenden  Gestalten  oder  ihren 
Instinkt.  Die  Volksgötter  also  sind  die  Feen  und  Zauberer  der 
griechischen  Märchen. 

Wir  lassen  aus  jeder  Sphäre  einige  Belege  folgen.  Bezeugen 
sie  vielfältig  die  seelische  Naturanschauung,  so  auch  die  An- 
knüpfung an  die  Heldensage,  in  deren  Erzählung  die  Volkssage 
jener  ungewohnte  Wunder  mischte. 


8)  S.  die  vortreflfhciie  Schilderung  dieser  Begabung  in  Wacker- 
nagels: Die  episclie  Poesie.  Schweiz.  Mus.  1,  360.  „Indess  niclil  Jeder 
kann  singen  und  spielen ;  auf  Manchem  ruht  vorzugsweise  die  Lust  und 
die  Gabe  des  Gesanges;  und  so  bildet  sich  ans  dem  ganzen  dichtenden 
und  singenden  Volke  heraus  ein  eigener  Siingersland.  —  Ilorl  singen  sie, 
was  zwar  Jeder  kennt,  weil  es  all  idjcriicrert  ist,  aber  von  ihnen  doch 
lieber  vernommen  wird  als  von  Andern,  weil  sie  es  schöner  zu  singen 
wissen." 


13 


a.  Natursagen. 

Als  Volksanschauung  und  Bildnerei  finden  wir  erstlich  die 
in  den  „Göttern  Griechenlands"  aufgeführten  Sagenhilder:  ,,Der 
Lorheer,  der  sich  einst  um  Hilfe  wand,"  war  die  von  ApoUon 
geliehte  Nymphe  Daphne,  die  von  ihm  verfolgt,  die  Erde  oder 
Zeus  um  Rettung  anrief  und  da  verschwand,  worauf  dem  Gott 
zum  Trost  der  Lorheer  emporspross,  den  er  nun  liel)l^).  „Tan- 
tals Tochter"  Mohe,  die  einst  so  stolze,  dann  schmerzensreiche 
Mutter,  die  nach  dem  erfahrenen  Strafgericht  in  Fels  verwandelt 
wurde,  wie  Homer  II.  24,  602  —  617  ihr  Geschick  erzählt,  und 
deren  Gestalt  man  am  Sipylos  in  Lydien  (Soph.  Antig.  825)  hei 
Fernsicht  noch  in  später  Zeit  erkannte'").  Die  „Syrinx",  wie  Daphne 
einst  eine  Nymphe  in  Arkadien,  am  Flusse  Ladon  vom  Hirtengott 
Pan  verfolgt,  von  den  Schwestern  auf  ihre  Bitte  in  Rohr  ver- 
wandelt"). Charakteristischer  noch  sind  die  Fälle,  da  die  un- 
gewöhnliche Eigenschaft  eines  Naturwesens  entweder  aus  dem 
Götterglauben  oder  aus  den  Heldensagen  gedeutet  ward.  Ein  bei 
der  Burgmauer  in  Megara  liegender  Felshlock  gab  angeschlagen 
einen  Klang  wie  eine  angeschlagene  Laute.  Dies  kam  daher, 
weil  der  Stadtgott  Apollon,  als  er  die  Biu'g  persönlich  bauen 
half,  seine  Leyer  auf  den  Stein  gelegt  gehabt*^).  Auf  der  Insel 
Seriphos  hörte  man  nirgends  die  Frösche  quaken,  was  der  natur- 
kundige Theophrast  aus  der  Kälte  der  dortigen  Wasser  erklärte. 
Die  Seriphier  wussten  das  anders.  Den  Helden  Perseus,  der  von 
hier  aus  zum  Abenteuer  gegen  die  Gorgo  ausgezogen  und  mit 
deren  Haupt  hierher  zuiiickgekelu't  war  (Strabo  487),  hatten,  als 
er  am  See  ruhen  wollte,  die  Frösche  mit  ihrem  Gequak  gestöil. 
Da  hatte  er  seinen  Vater  Zeus  angerufen,  und  dieser  den  Ruhe- 
störern ewiges  Schweigen    auferlegt'^).     Ein  ähnliches  Gebet  des 


9)  Phylarcli  bei  Plut.  Agis  9  Tzetzes  zu  Lykophr.  6.    Ovid.  Metani. 
1 ,  452. 

10)  Paus.  1,  21,  5.  Vgl.  0.  Müller.  Haiulh.  d.  Aichäol.  §.  64.  Anm.  2. 

11)  Ov.  Äletam.  1,  704.    Voss  zu  Ekl.  S.  55. 

12)  Theogn.  773.    Paus.  1,  42,   1   und  2.     Virgds  Ciris  105  —  108. 
Ov.  Metani.  8,  14  — 16. 

13)  Aeliaii  Tiiiergesch.  3,  37.     Beckujann  zu  Arislul.  wuiulorhare 
Berichte  Kap.  71.  S.  143  f. 


1^4 ^ 

Herakles  war  nach  der  Sage  bei  Diodor  4,  22  g.  E.  Ursache, 
dass  man  in  der  Itahschen  Lokris  allein  keine  Baunigrillen  (Ci- 
caden)  schwirren  hörte"). 

In  den  Tönen  mehrer  Vögel  hörte  der  Volksgeist  ein  ur- 
sprünglich menschliches  Gefühl,  und  die  Instinkte  mehrer 
Thiere  wurden  ebenso  wie  jene  als  aus  Menschenart  stammeml 
angesehn,  mittels  einer  von  den  Göttern,  den  Herren  der  INatur. 
vollzogenen  Verwandlung,  sei  es  in  Mitleid,  in  Güte  und  Wohl- 
tliun,  sei  es  im  Zorn  zur  Strafe.  Von  Vögeln  sind  die  Nachti- 
gall, nebst  der  Schwalbe  und  dem  Eisvogel,  die  sprechendsten 
Beispiele  hiervon,  wie  die  Alten  der  Schwalbe  gleich  der  Nach- 
tigall einen  trauervollen  Ton  beilegen  (Paus.  1,41  a.  E.)  und 
vom  Eisvogel  schon  Homer  (II.  9,  562)  dasselbe  ausdrücklich 
bezeugt.  Die  Nachtigall,  bei  den  Griechen  die  Sängerin  vor 
Allen ,  bei  den  Lateinern  die  Säugerin  in  der  Dämmerung  ge- 
heissen,  hat  im  Gegensatz  des  europäischen  Nordens  im  Süden 
vollends  die  tiefer  ziehenden  Seelentöne.  Darin  hörte  der  Grieche 
bekanntlich  3Iutterschmerz ,  die  Klage  um  den  in  Leidenschaft 
oder  durch  Irrlhum  selbstgetödteten  Sohn  (Itys,  Itylos)'^).  In 
dreifacher  Gestalt  der  Sage  ist  doch  die  Nachtigall  immer  die 
verwandelte  unglückliche  Mutter'®),  Die  Eisvögel  (Alkyonen) 
waren  ein  treues  Ehepaar  gewesen ;  dessen  Charakterbild  erkannte 
man  in  den  Paaren  der  Alkyonen.  Als  der  Mann  auf  einer  See- 
reise war,  blickte  Alkyone  immer  sehnsuchtsvoll  nach  ihm  aus, 
und  als  nach  SchiObruch  sein  Leib  ans  Ufer  trieb,  stürzte  jene 
sich  ins  Meer,  Da  verwandeile  Zeus  oder  Thetis  sie  in  die  See- 
vögel. Immer  noch  klagt  ihr  Ton  um  den  Gatten,  wie  Euripides 
und  Ovid  es  schildern.     Und  auch  als  Vögel  üben  die  Weibchen 


14)  Das  Altorthum  kannte  die  stumme  Art  der  Cicadon  nicht,  wie  die 
slunune  Art  der  Frosche. 

15)  Odyss.  19,  518  —  523.  mit  Schol.  Aesclivl.  Schutzfl.  55  — 58. 
Agam.  1101   oder  1113  If.    Soph.  Elektra  144. 

10)  Die  liomcrische  spielt  in  Milet  oder  auf  Kreta,  die  Iilosse  Va- 
riation derselben  bei  Anlonin.  lib.  11,  in  Epliesos,  die  dritte  ruchbarste, 
die  auch  Thukyd.  2,  29.  2  anerkennt,  in  Phokis  oder  Aulis  und  Altika: 
Sapphü  fr.  87.  Paus.  1 .  41 ,  8  und  9.  10,  4,  8  und  9.  Tragisch  ist  sie 
behandelt  in  einer  Trilogie  von  Philokles,  dem  Neffen  des  Aescliylos 
(Seh.  zu  Aristoph.  Vögel  282),  und  in  Sophokles  Einzeltragödie  Tereus. 


15 

sonst   beispiellose   Treue,    den   alternden    nehmen    sie    auf  ihren 
Rücken  und  tragen  ihn  so  im  Fluge"). 

Aehnliche  Natursagen  mischte  der  wundergläuhige  Volksgeist 
auch  mehrfach  in  die  Legenden,  Avelche  aus  dem  Cultus  im  Epos 
gefeierter  Helden  hervorgingen.  Vom  letzten  Geschick  des  iiloli- 
schen  Helden  Meleagros  gab  es  mehrfache  Sagen,  doch  in  zwei 
Gestalten  hatte  seiner  Mutter  Hass  ihm  d^n  Tod  gebracht.  Nun 
sähe  man  auf  dem  Hügel,  den  die  Kalydonier  als  Meleagros 
Grabhügel  ehrten,  häufig  eben  nur  in  Aetolien  vorkommende, 
eigentlich  in  .\frika  heimische  Perlhühner,  welche  Meleagrides 
heissen.  Da  erzählte  die  Sage,  das  wären  die  durch  ^litleid  der 
Götter  verwandelten  Schwestern  des  Helden,  die  bei  seinem  Tode 
unstillbare  Klage  erhoben'*).  Hie  Bewohner  der  Insel  Salamis 
erzählten  von  ihrem  Helden,  dem  Aias,  dem  Sohne  des  Telamon 
(II.  2,  557),  bei  seinem  Tode  vor  Troia,  da  er,  der  grösste 
Held  nach  Achill,  um  erfahrner  Kränkung  sich  selbst  getödtet, 
sei  in  ihrem  Lande  zuerst  die  Blume  hervorgesprosst,  auf  deren 
Blättern  man  die  ersten  Buchstaben  seines  Namens  lese  (Paus. 
l,  35,  3).  Wiederum  aus  einer  Verwandlung  deutete  man  den 
menschenfreundlichen  Charakter  bei  Ueihern,  die  von  einer  der 
Inseln,  welche  von  dem  in  vielen  Städten  Italiens  als  Gründer 
verehrten  Diomedes  che  diomedischen  hiessen,  zahm  und  freimd- 
lich  zu  den  SchilTern  heranflogen.  Auf  der  Insel  ^\ar  der  ver- 
götterte Heros  verschwunden,  seine  Gefährten  aber  in  jene  ver- 
wandelt worden"). 


17)  Eur.  Iph.  in  Tauris  1080—1093.  Ov.  Metani.  11,  734.  Den  Lie- 
besdienst im  Alter  feierte  schon  Alkmau  Fr.  21,  S.  (339  und  lu'schriobeu 
Andere:  Plut.  de  solert.  anim.  c.  35.  V.  485.  Tauclin. 

18)  Mcl.  Tod.  Paus.  10,  31,  3.  Die  Hühner  in  Aetohen :  Allien.  655  A. 
auf  dem  (irahe.  PHn.  N.  (i.  10,  38.    Meleagri   tumulus  nohilis  eas  fecit. 

19)  Slraho,  VI.  284,  sagt  von  der  hisel,  auf  welcher  die  Sage  den 
Diomedes  verschwinden  und  seine  Gefährten  in  Vögel  verwandelt  werden 
lässt:  und  noch  jetzt  blieben  sie  zahm  unil  führten  ein  wie  menschliches 
Leben,  gegen  siltige  Menschen  freundlich,  schlechte  und  schuldbeladene 
aber  lliehend.  Nach  Plin.  ^^  (i.  10,  44,  Gl  unterscheiden  sie  l^iriechen  und 
Barbaren.  Aehnlich  Stephan,  v.  Hyzanz  unter  Diomedeia.  Heyne  im  ersten 
Excurs  zum  11.  Buch  der  Aeneide  Genaueres,  wo  auch  von  den  Perl- 
hühnern. 


16 


b.  Cultnssagen. 

Eben  der  nach  Homer  entstandene  Heroencult  erzeugte  eine 
grosse  Menge  Volkssagen  auch  von  solchen  Heroen,  welche  schon 
vorher  im  Epos  gross  waren.  In  den  von  Griechenland  ausge- 
gangenen Colonien  entstanden  dergleichen  besonders.  Wie  die 
milesischen  am  schwarzen  3Ieer  den  Achill  ehrten^"),  die  itali- 
schen vor  Allen  den  Diomedes  und  Philoktet,  aber  auch  verirrte 
Leute  des  Nestor,  zurückgebliebene  Gefährten  des  Odysseus,  wie 
auf  Rypros  Teukros  der  Bruder  des  Aias,  auf  Rhodos  der  Sohn 
des  Herakles  Tlepolemos  als  Führer  und  Gründer  Heroenehren 
hatten:  so  gab  es  von  allen  diesen  und  noch  anderen  rückge- 
dichtete Cultussagen.  Sie  beriefen  sich  auf  die  Gräber'"),  die 
aber  weil  die  Verehrung  der  hehren  Todlen  eben  eines  Grabes 
bedurfte,  im  neuen  Wohnsitz  erst  gestiftet  waren.  Da  nämlich 
die  Colonien  ihrem  wirklichen  Führer  und  Gründer  nach  seinem 
Tode  ein  Grab  mit  Heroenehren  widmeten ^^),  so  folgte  wie  von 
selbst,  dass  der  Cultus  eines  altheiligen  im  älteren  Epos  schon 
gefeierten  Heros,  den  man  aus  dem  Mutterlande  mitgebracht 
hatte,  auf  Grund  des  Grabes  die  Legende  erzeugte,  dieser  sei 
der  Führer  gewesen.  So  hatte  jeder  solche  Cultus  seine  Legende, 
wie  der  Heros  selbst  dahin  gekommen  und  dort  sein  Grab  ge- 
funden. Solche  Legende  braucht  nur  die  Interessenten  des  Cul- 
tus zu  befriedigen;  immerhin  also  mochte  es  in  dieser  Weise 
wie  von  dem  Seher  Ralchas,  von  Oedipus,  von  Agamemnon  und 
Anderen  an  mehreren  Orten  Gräber  mit  Legenden  geben  (die 
Heldensagen  der  Grieclien  28  ff.).  Um  Zeitrechnung  künnuerle 
sich  dabei  der  Phantasieglaube  wenig,  doch  war  es  in  den  Colo- 
nien meistens  einer  vom  jüngeren  Heldengeschlecht,  einer  des 
älteren  mehr  in  den  Multerstädten^^).  Es  kam  dazu,  dass  in 
mehreren  Fällen  die  Ansiedler  mit  der  älteren  Bevölkerung  Kampf 


20)  S.  Herocl.  4,  55,  mit  Bahr  und  bes.  den  von  ihm  angeführten 
Kühler,  der  den  ganzen  Cultus  des  Achill  imd  vieler  andern  troischen 
Helden  erörtert. 

21)  Strabo  VI.  2(54,  15;  vergl.  222. 

22)  Dem  altern  Miltiades:  Herod.  6,  38  „wie  es  Brauch  ist  beim 
Gründer".  Dem  Phalanthos,  dem  Gründer  von  Tarenl:  Str.  278  f.  Justin 
3.4  a.  E. 

23)  Pindar,  Islhm.  4  (5),  30  11". 


17 

zu  besteben  gebabl  batten;  so  taugte  ein  reisiger  Held  von  altem 
Klang  um  so  besser  dazu.  Acbill  war  scbon  reisiger  Heros  der 
Muttersladt  Milet;  er  hatte  nadi  einer  dortigen  Volkssage  den 
Ansiedlern,  welche  den  Boden  den  Lelegern  abzukämpfen  hatten, 
eben  diesen  erobert,  indem  er  den  Trambelos,  den  König  der 
Leleger  erlegte ^^).  So  ward  er  Helfer  und  Hort  der  milesiscben 
Colonien  im  Barbarenland  am  Pontiis,  heisst  in  Inschriften  Pon- 
tarch  und  wird  von  Alkäos  mit  dem  Wort  angerufen:  der  Du  in 
Scythien  (rsordland)  waltest  (Fr.  40).  Auch  Diomedes  hatte  als 
streitbarer  Held  im  nördlichen  Appulien  (Daunien)  Platz  gewonnen 
und  seine  Herrschaft  bis  zu  den  Henetern  im  Winkel  des  Adria- 
tischen  Meeres  ausgedehnt,  d.  h.  er  wurde  in  einer  ganzen  Heihe 
von  Orten  als  Gründer  verehrt.  Sein  Cultus  ward  gleich  dem 
des  Achill  am  Pontos  der  eines  Gottes,  wahrscheinlich  indem 
Beide  in  die  Stelle  eines  älteren  Landesgottes  eintraten.  Obwohl 
dasselbe  auch  von  Philoktet  in  Makalla  berichtet  wird").  Auch 
von  diesem  wird  Etwas  von  Kampf  erzählt. 

Wir  haben  hier  kein  Interesse  die  Cultussagen  auch  nur 
der  oben  genannten  anderen  Gründer  genauer  zu  besprechen, 
oder  die  Formen  zu  berichten ,  in  welchen  die  Sage  ihren  Weg- 
gang aus  der  Heimath  motinrte;  hervorzuheben  aber  ist  zur  Un- 
terscheidung von  den  episch  ausgeführten  Dichtungen  der  Um- 
stand, dass  Alles  und  Jedes,  was  wir  angeführt  finden,  und  auch 
die  Fahrten,  Ankunften  und  Kämpfe,  durchaus  nur  auf  kurze  An- 
gabe des  Thatsächlichen  beschränkt  bleiben ^^). 


24)  Athen.  11,  431».    Eustnth.  z.  II.  343.    Tzetz.  zu  Lyk.  467. 

25)  Schwiegersohn  des  daunischen  Königs.  Justin  12,  2.  Piin.  N. 
G.  3,  16,  §.  103.  Slädto  Benevent,  Caniisium,  Arges  Hippion- Agyrippa 
oder  Arpi,  Metaponlion  und  Thurii :  Stralio  215,  248.  Steph.  v.  IJyz.  un- 
ter Argyrippa,  I}onei)c>nlüs.  (iott  auf  der  hiointules  -  Insel ,  in  Argyrippa, 
Metaponlion,  Tliurii,  nach  Scliol.  zu  Find.  N.  10,  12.  —  Philoktet.  Tz.  zu 
Lyk.  927.  Klausens  Acncas  1,  402.  Danehen  Gründer  v.  Krimissa  u.  Petelia. 

26)  Artig  ist  die  Anknüpfung  an  die  homerische  Erzählung  hei 
Diomedes.  Die  von  diesem  in  der  IHas  5,  330  IT.,  349  S.  verwundete  und 
geschmiihete  Liehesgöttin  hatte  zur  Rache  dessen  Gattin  (II.  5,  412)  zur 
Buhlerei  mit  einem  Andern  verführt,  so  dass  sie  nach  seiner  Heimkehr 
sein  Lehen  he(h'ohlen  und  er  sich  zur  Auswanderung  gelrichen  fand. 
Diese  Verknüpfung  sdieint  zuerst  von  .Alimnermos  gesclieiicn  zu  sein: 
Fr.  22  aus  Tz.  z.  Lykophr.  GIO;  vergl.  Philo).  1,  151.  Dieser  Thcil  der 
Sage  hat  seine  Varietäten  und  so  auch  seine  weitern  Wege,  aJKT  ehen 

Nitzsch  ,   Gesell,  d.  griech.  Epos-  2 


18 

Dies  waren  Beispiele  von  Volkssagen,  welche  aus  dem  He- 
roencull  der  Colonien  hervorgegangen,  nehen  der  epischen  Feier 
der  Helden  stehen,  nur  dass  sie  jni  Einzelnen  an  sie  anknüpfen. 
Ein  lichtes  Beispiel  giebt  es,  da  ein  im  Epos  vielgenannter  Held 
in  einer  Cultussage  ganz  und  gar  unabhängig  von  seinem  epischen 
Charakter  zum  Führer  einer  Colonie  und  verehrten  Stifter  wird. 
Es  ist  lolaos,  der  in  der  epischen  Heraklessage  viel  genannte 
Knappe  und  Wagenlenker  des  Herakles.  Er  war  in  Theben  auch 
reisiger  Heros  mit  Jenem,  und  nach  seinem  treuen  Dienst  das 
Ideal  der  berühmten  heiligen  Schaar  von  Freundespaaren.  Aber 
der  Cultussage  nach  liatte  er  eine  Schaar  Thespier  und  Athenäer 
nach  Sardinien  geführt,  wo  Pausanias  seinen  Cultus  blühend 
fand"). 

Es  wäre  anmuthig  hier  die  Weise  der  Cultussagen  noch 
ausführlicher  zu  schildern ,  namentlich  wo  sie  so  handgreiflich 
den  W'andel  der  Elemente,  im  Bereich  der  Meeresfluth  und  an- 
dererseits des  wärmenden  Sonnenstrahles  als  einen  Streit  oder 
Tausch  zweier  Gölter  darstellen,  oder  wo  der  Sonnengott  eine  erst 
aus  dem  Meer  auftauchende  Insel  als  sein  Gebiet  gewinnt.  Von 
solchem  Tausche  erzählten  Viele^**);    es   mö"e  aber  hier  nur  die 


nur  in  der  Volkssage.  Dass  diese  von  der  epischen  zu  unterscheiden  sei, 
Leachtcle  der  Verfasser  des  Aufsatzes  im  Phüol.  8,  54  nicht,  und  l'asste 
daher  Vieles  irrig.  Das  Epos  erzählte  von  Dioniedes  nur  die  glückliche 
Heimkunft  aus  Troju. 

27)  Epos:  lies.  Schild,  d.  Ilciakl.  77,  103,  323.  Heros  mit  Herakles: 
Pind.  Isthm.  4,  32.  Flut.  V.  d.  Bruderl.  a.  E.  „An  vielen  Orten  sein  Altar- 
genoss."  Ideal:  Flut.  Felop.  18  nach  Aristoteles.  —  Colonie:  Faus.  7, 
2,  2.  Cultus:  ders.  10,  17,  5.  Vergl.  Slrabo  5,  225  und  Diod.  4,  29,  wo 
die  Form  der  Rückdichtung  besonders  ersichlhch. 

28)  Es  ist  hier  zu  beachten,  dass  in  diesen  Sagen  Helios,  der  Son- 
nengott, mit  Apollon  als  derselbe  gilt.  Abzusondern  ist  die  Legende  von 
Trözen,  Faus.  2,  30,  5.  Sie  ist  ganz  nur  politisch;  zwei  Geschlechter 
ionischen  Stannncs  haben  sich  über  ihre  Culte  vereinbart.  Anders  in  fol- 
genden: Nach  der  Korinthischen  Sage  stritten  der  Meergott  Poseidon  und 
Helios  um  die  Stadt  auf  der  Landenge  und  der  gewallige  Briareus  (II.  1, 
402)  schlichtete:  Paus.  2,  1,  (i;  4,  7.  Das  Vorgebirge  Lakonicns  'fänaron 
(das  oft  Erderschüttcrungen  erlitt)  gewann  der  Meergolt  als  Erderschüt- 
terer vom  Sonnengott,  der  dort  seine  Ileerden  gehabt.  (Hymn.  a.  d.  Pyth. 
Ap.233 — 410.)  Poseidon  üherliess  dafür  Deljihi.  Statt  Tänaron  nennt  eine 
andere  Sage  die  Insel  Kalauria  bei  Trözen  (Faus  2,  33,  2).  Das  alte  Ora- 
kel bei  Paus,  und  Strabo  8,  378  besagt,  Apollon  habe  gegen  Kalauria 
Delos,  gegen  Täiiarun  Delphi  eingetauscht.     Besonders  deutlich  spricht 


19 

besonders  schöne  der  Rhodier  hervorgehoben  werden,  wie  der 
Sonnengott  die  Insel  in  Einem  Hergange  durch  eigne  Wahl  und 
auch  durch  Vertheilung  des  Zeus  zu  seinem  Eigenlhum  erworben. 
Es  erzählt  Pindar  Ol.  7,  54  oder  100  IT.  nach  „den  alten  Reden 
der  Menschen":  „Rhodos,  heisst  es,  lag  noch  in  den  Meeres- 
tiefen verborgen,  als  die  Vertheilung  der  Erde  durch  Zeus  ge- 
schah. Für  den  (auf  seiner  Tagfahrt)  abwesenden  Helios  hatte 
Niemand  ein  Loos  aufgewiesen.  Als  der  Gott  daran  mahnte, 
wollte  Zeus  die  Loosung  von  Neuem  geschehen  lassen.  Der  Gott 
aber  wehrete,  er  sähe,  sagte  er,  drinnen  im  Meer  vom  Grund 
her  ein  Land  emporkommen,  gedeihlich  für  Menschen  und  Heer- 
den.  Und  alsbald  forderte  er  die  Parce  auf,  ihm  mit  heiligstem 
Eid  und  Zeus  Zustimmung  das  zu  Tag  emporgestiegene  Land  als 
Eigenthum  zuzusprechen".  Der  Schlüssel  zu  dieser  von  Pindar 
in  der  anmuthigsten  Einfachheit  erzähUen  Legende  ist  ganz  un- 
zweifelhaft in  dem  Zeugniss  des  PHnius  gegeben.  Denn  einmal 
zählt  dieser  Rhodos  unter  den  Inseln  auf,  welche  nach  dem 
Glauben  der  Alten  erst  aus  den  Wellen  aufgetaucht  sein  sollten 
(2,  89;  vgl.  Paus.  8,  33.  4).  Sodann  aber  —  was  mehr  ist  und 
Rhodos  ganz  sprechend  als  ein  Lieblingsland  des  Sonnengottes 
erkennen  lässt  —  bezeugt  er  2,  62,  dass  die  Atmosphäre  dieser 
Insel  nie  so  ganz  von  Wolken  überzogen  werde,  dass  nicht  we- 
nigstens stundenweis  die  Sonne  hervorgetreten  wäre.  Also  weil 
Rhodos  ein  sonniges  Land  war,  und  nicht  erst  durch  die  dori- 
sche Ansiedelung,  ward  Helios  der  Ilauptgott  der  Insel,  wie  er 
denn  auch  als  Stammvater  d.  h.  als  Vater  der  drei  Stifter  und 
Namengeber  der  drei  bedeutendsten  Städte  galt.  Und  der  rho- 
dische   Koloss   stellte   eben  jenen  Gott  dar  (Plin.  34,  18  §.41). 

c.  Wandel  der  epischen  Sage  durch  den  Volksgeist. 

Solche  Cultussagen,  wie  ein  jeder  Cultus  die  seinen  hatle, 
gingen  für  sich,  und  nur  zwischen  dem  Ilcroencultus  und  dem 
Epos  fand  eine  Wechselwirkung  im  Fortgange  staU.  Nachdem 
z.  B.    die   älteren    Lieder   den    Perseus    und    den    Herakles   mehr 


die  Sage  vom  Streit  der  L.indcsgötliii  llcr.i  und  dos  Poseidon  um  Argos: 
Paus.  2,  15,  5  und  2,  22,  5.  Um  Alliou  slritton  Poseidon  und  AIIkmio 
(Herod.  8,  55)  jeder  mit  seiner  Gabe,  und  Alhencns  Sieg  fcicrlo  mau 
alljähi-liLli.    IMut.  V.  d.  IJruderl.  18. 

2* 


20 

nach  Phantasie  in  den  Westen  geführt  hatten  als  nach  Kunde, 
so  dass  noch  Ilesiod  ganz  nur  mit  Phantasiehildern  von  jener 
imerkundeten  Ferne  verfuhr,  trat  später  erst  seit  der  Gründung 
von  Kyrene  (631)  eine  geographische  Fixirung  der  Phantasie- 
hilder  der  Herakles-  und  Perseussagen  ein.  In  Folge  dieser 
rückte  die  dortige  Volkssagc  die  Gorgonen,  welche  Perseus 
hekänipft,  und  die  Gärten  der  Hesperiden,  von  denen  Hera- 
kles die  Aepfel  holte,  in  die  iNähe  benannter  Orte^').  Anderer- 
seits konnten  die  nachhomerischen  Dichter,  und  namentlich  der 
der  Heimkehr  der  Sieger  Troia's  nicht  umhin,  die  Helden,  statt 
wie  bei  Homer  in  die  alte  Heimalh ,  in  die  ruchbarsten  Stätten 
ihres  Cultus  gelangen  zu  lassen,  oder  die  Apotheose  derselben 
an  die  Stelle  des  von  Homer  erzählten  Todes  zu  setzen^"). 


5.  Bestimmte  Beispiele  zur  Untersc. lieidung  des  ge- 
staltenden Sänger geistes  und  des  die  Natur  be- 
seelenden   V  olksg  eiste  s. 

Der  Volksgeist  hat  sich  uns  in  seiner  Sinnigkeit  und  na- 
mentlich in  seiner  seelischen  Naturanschauung  schon  vielfach 
oflfenbart,  und  wir  könnten  die  Belege  davon  noch  um  viele  ver- 
mehren. Audi  von  sehier  durchherrschenden  Gleichartigkeit 
giebt  es  sprechende  Beispiele.  Das  eigene  Nalurgefühl,  da  der 
Wechsel  des  Naturlehens  im  Laufe  der  Jahreszeiten  von  den 
Menschen  mit  empfunden  wird,  es  wurde  in  den  verschiedenen 
Gegenden  nicht  bloss  in  elegischen  Herbst-  und  Ernteliedern 
laut,  sondern  der  bildnerische  Volksgeist  gestaltete  das  im  Wech- 
sel erst  blühende  dann  absterbende  Naturleben  zu  einem  früh 
abscheidenden  Jüngling  Linos,  oder  in  anderen  Gegenden  Hylas, 
in  anderen  Bormos  oder  Lityerses  genannt,  welcher  hier  von 
Hunden    zerrissen  (vom  Hundsstern),    dort  von   den  Wellen  ver- 


29)  0.  Müller,  Orclioin.  S.  34(3,  zeigt  die  Riickdiclilung. 

30)  Achill,  ileii  Homer  im  Hades  zeigt  (Od.  11,  467],  und  dessen 
Tod  und  Todesl'eier  er  besclireilit  (Od.  5,  310  und  24,  36—94),  lallt  in 
der  Acthiopis  des  milesischen  Epikers,  wird  aber  nach  Lenke  im  Pontes 
entrückt.  Der  Dichter  der  Heimkehr  führt  den  Kalchas  nach  Klares  bei 
Kolophon  (Slrabo  042  und  043),  wo  sein  Grab  (Lykoplir.  425  m.  Seh.), 
den  Neoplolemos  statt  nach  Phthia  (Od.  3,  188)  nach  Molossien  in  Epirus 
(Plut.  Pvrrhns  1). 


21 

schlungeii,  u.  s.  n.  iiinkommt  und  beklagt  und  gesucht  wird"). 
Durch  absonderliche  Wendung  ward  Liuos,  der  Gegenstand  des 
Herbslliedes,  selbst  zu  einem  der  frühesten  Sänger  und  so  zum 
Lehrer  des  Herakles, 

Die  gemeinsame  Anschauung  bewährt  sich  weiter  in  den 
volksthümlichen  Sagen  von  den  vvükanischen  Bergen  oder  Inseln 
und  Küstenstrichen,  Ein  Volksgeist  der  wie  die  obigen  Beispiele 
zeigten,  alle  cigenthündichen  Erscheinungen  an  Felsen,  Wässern 
oder  thierischen  Wesen  so  lebensvoll  deutete,  er  wird  freilich 
die  gewaltigsten  Naturregungen  nicht  stumpf  angeschaut  haben. 
Und  vulkanischer  Gegenden  gab  es  viele  im  Bereich  der  Griechi- 
schen Bevölkerung.  Ausser  auf  Lenuios  gab  es  dergleichen  auf 
den  hinteren  Küsten  Vorderasiens,  also  in  Cilicien  und  bis  nach 
Syrien  gegen  Aegypten  hin;  dann  auf  der  thrakischen  Halbinsel 
Pallene;  und  als  griechische  Ansiedler  Unteritalien  und  Sicilien 
besetzt  hatten,  kamen  die  Küsten  von  Kumä  mit  dem  Vesuv,  kam 
der  Aetna  und  überhaupt  die  gesammten  dortigen  Meeresufer  nebst 
mehren  Inseln  hinzu.  iN'un  ist  es  ein  und  dasselbe  Phantasie- 
bild, welches  sich  bei  allen  diesen  Erdbränden  wiederholt.  Der 
durchherrschende  Volksglaube  von  der  Urzeit  imd  den  auf  einan- 
der gefolgten  Zuständen  der  Erde  und  Erdbewohner  wusste  näm- 
lich Nichts  von  einem  goldenen  Zeitalter  und  allmählicher  Ver- 
schlimmerung, sondern  zeigt  in  den  Sagen  die  umgekehrte  Welt- 
ansicht. Die  Erde  und  die  ganze  Natur  hat  in  der  Urzeit  enorme 
Ungethüme  die  Fülle  erzeugt,  bald  sterblichen  bald  unsterb- 
lichen Wesens.  Sie  waren  einzeln  über  die  verschiedenen  Ge- 
biete verbreitet,  und  beunruhigten  die  daneben  vorhandenen 
schlichten  Menschen.  So  hatten  Zeus  und  die  übrigen  Volks- 
götter in  der  ersten  Zeit  des  erlangten  Regiments  diese  Unge- 
thüme mit  ihren  Gewaltmitteln  getilgt.  Eines  derselben  also,  und 
offenbar  eines  von  unsterblichem  Wesen,  dachte  der  Phanlasieglaube 
unter  jedem  Vulkan  oder  jeder  vulkanischen  Landstrecke  liegend, 
Rauch,  Feuer,  Lava  schnob  und  spie  eben  das  Ungeheuer  aus, 
und  dieses  regte  und  bewegte  seine  gewaltigen  Glieder  so  oft 
der  Boden  erschüttert  ward.     Die  Berge  sind  am  häufigsten  von 


31)  0.  Müller  Der.  1,  346  f.    Welcker  Kl.  Sehr.  1,  8—55.    Büchson- 
schülz  im  Philol.  8,  577  —  589. 


22 

Zeus  in  Geuitlern  oder  dem  Gott  der  ErscluUterungen  Poseidon 
oder  der  Göttin  Athene  auf  sie  geworfen.  Beuainit  aber  wird 
der  niedergeschmetterte  Wütherig  am  liäufigsten  Typhon  oder 
Typhoeus,  das  Bikl  der  äussersten  Empörung  der  Elemente  (IM. 
Phädr.  230  A).  Dieses  phantastische  Ungeheuer  hat  seine  Ge- 
hurtsstätte  bei  Homer  11,  2,  782  in  Arima,  was  nach  Pindar  und 
Aeschylus  auf  Cilicien  weist ^-).  Aber  es  erscheint  dasselbe  als 
stehender  Typus  der  Volksansicht  von  vulkanischem  Boden,  und 
zwar  recht  als  Beispiel  des  Hergangs,  wenn  einmal  eine  Gestalt 
in  den  Sagen  ruchbar  geworden  ist.  Wie  Strabo  XH.  578,  17 
und  579,  18  zeigt,  gab  es  dort  weiter  auf  der  Küste  eine  ganze 
Folge  ebenfalls  vulkanischer  Stellen  bis  nach  Syrien  hhi,  und 
überall  sollte  Typhon  da  liegen^^).  Nachdem  der  zweite  Aus- 
bruch des  Aetna  (479/478  v,  Chr.)  erfolgt  war,  sang  Pindar  im 
ersten  pythischen  Siegesliede  die  so  sinnvolle  Stelle  13  —  29  oder 
25  —  55  vom  Typhoeus  unter  dem  Aetna  und  dem  vulkanischen 
Boden  bis  Kumä,  und  Hess  Aeschylus  den  Prometheus  von  dem- 
selben prophezeihen,  Beide  unstreitig  nach  der  Sage,  nach  wel- 
cher Typhon  verfolgt  nach  Italien  geflohen  war^).  Doch  nach 
dieser  Sage  ward  da  die  vulkanische  Insel  Pithekusa  mit  Prochyte 
auf  ihn  geworfen.  Diess  gemahnt  schon  an  den  mehr  bemerkten 
Umstand ,  dass  theils  ein  und  derselbe  Wütherig  und  Gigant  bald 
unter  dem,  bald  unter  jenem  vulkanischen  Boden  liegend  ange- 
geben wird,  theils  von  einem  und  demselben  Vulkan  von  ver- 
schiedenen Dichtern  Verschiedene  als  die  Belasteten  genannt  wer- 
den ^^).     Dass  in  solchen   Stellen   bestimmte  Gigantennamen  ver- 


32)  Ae.  Prom.  353,  Find.  Pylh.  8,  16  und  ausdrücklicher  Pylh.  1,  17 
oder  32. 

33)  Strabo  XIII,  nach  allgemeinerer  Angajic  des  vielstiniuiigon  My- 
thus 626,  von  Mysieu,  wo  die  Gegend  Katakekaumene,  das  vorlnannle 
Land.  638.  11  und  bes.  579,  18  und  19  und  wieder  XVI.  750,  7. 

34)  Vom  Kaukasus  her:  Pherekydes  und  llerodoros  im  Schol.  zu 
Apoll.  Rhod.  2,  1210  und  1211,  und  Apollonius  selbst. 

35)  Unter  dem  Aetna  liegt  nacli  Pindar  und  Aeschylos  Typlion,  naoli 
Kallim.  H.  a.  Delos  141  Briareus.  nach  Virgil.  Aen.  3,  579  Enkeladüs. 
Unter  Prochyte  und  Pithekusa  Lei  Pherekydes  und  Strabo  V,  247,  9  und 
248  Typhon,  nach  Sihus  Italiens  12,  147  Mimas.  —  In  einigen  Vulkanen 
hauste  der  Gott  des  Feuers  Hephästos.  Auf  Lenuios,  wo  vordem  der 
Mosychlos  gebnmut  hatte,  nacli  Buttmanns  Darlegung  in  Wolfs  Mus.  I. 
295  ir.  und  die  Insel  Hiera  ist  des  Hephästos  Werkstatt,  Thucyd.  3,  88,  2. 


23 

lauten,  haben  wir  unstreitig  aus  Liedern  herzuleiten,  durch  die 
sie  rnciibar  geworden;  jene  verschiedenen  Angaben  von  demsel- 
ben Giganten  oder  demselben  Vulkan  aber  erklären  sich  wohl  da- 
her: im  Volksglauben  und  Munde  hatte  es  eben  nur  „das  Un- 
gethüm"  geheissen,  die  Dichter  aber  oder  spätere  Sagenschreiber 
nannten  nach  Belieben  einen  bestimmten,  nur  immer  einen  der 
Ruchbaren. 

6.  Foi-tsetzung.  Ein  Lied  von  dem  Kampf  und  Sieg 
der  Götter  gegen  eine  Gigantenscliaar  (Giganto- 
machie). 

Schon  jener  Gebrauch  der  bestimmten  Namen  führt  auf  die 
Annahme  eines  alten  Liedes,  wodurch  sie  in  Ruf  gekommen,  fast 
mit  Nothwendigkeit.  Denn  allgemein  im  iN'ationalbewusstsein  le- 
bendig wurden  Sagen  und  Sagengestalten  nur  durch  die  Poesie. 
Und  hier  gilt  dies  von  einer  bestimmten  Zahl  der  genanntesten 
Giganten:  Alkyoneus,  Poryphyrion,  Enkelados,  Mimas, 
Polybotes,  ausser  jenem  Typhoeus,  der  als  eine  wildeste  Un- 
natur nicht  zu  den  Giganten  zählt.  Die  Giganten  wurden  anders 
als  er  gedacht.  Mit  dem  Namen  bezeichnet  man  riesengrosse, 
berghohe  Gestalten  eines  Maasses,  das  nicht  blos  gewöhnliches 
Menschen-,  sondern  auch  Heldenmaass  überragt  (Od.  10,  113, 
120),  aber  sich  frei  bewegende.  Nun  waren  nach  dem  Obigen 
einzelne  solche  Enorme  in  einzelnen  (vulkanischen)  Stätten  nach 
dem  Glauben  von  Zeus  niedergeschmettert  —  aber  es  lebt  da- 
neben die  Sage  von  einem  Kampfe  der  Götter  gegen  geschaarte 
Giganten.  Da  erkennen  wir  das  Werk  zusammenfassender  Poesie 
und  erkennen  den  Sängergeist  in  den  Motiven,  welche  die  Sage 
in  die  Hergänge  legt.  Doch  zum  deutlichen  Zeichen  dichterischer 
Darstellung  werden  von  folgenden  Dichtern  und  Künstlern  und 
nicht  blos  von  Apollodor  (der  selbst  älteren  gefolgt  sein  muss) 
zahlreiche  einzelne  Thaten  und  Scenen  solchen  Kampfes  aufge- 
führt. Endlich  enthält  Hesiods  Theogonie  50  eine  zwar  dunkle, 
aber  doch  bei  rechter  Erklärung  das  Ihre  besagende  Andeutung. 
Der  Vers  muss  an  seiner  Stelle  auf  einen  Lobpreis  des  Zeus 
gehen,  und  da  das  Wort  Giganten  niemals  für  Heroen  gebraucht 
ist,  so  sangen  die  Musen,  wie  Zeus  „Sterblicher  Menschen  Ge- 
schlecht und  starker  Giganten "  seiner  Macht  unterworfen.    Hesiod 


24 

seUt  imnicr  das  Bedeutendsk'  zuletzt,  und  Beides  zusanunen  giebt 
den  Zeus  als  den  Befriedcr  und  Ordner  der  Erde,  nachdem  vor- 
her die  Götterwelt  als  ihm  unlerthau  genannt  ist.  Einfach  deut- 
lich bezeugt  Xenophanes  alten  Gesang  vom  Giganten-  und  vom 
Titanenkanipf  1,  21.  Älehrfach  ist  er  in  der  Batrachomyomachie 
berührt  ^^). 

Nirgends  ist  uns  der  IName  eines  Dichters  oder  eines  Ge- 
dichts Gigantoinachie  glaubhaft  üi)erliefert^')  und  wir  haben  über 
die  Zeil,  in  welcher  ein  solches  Lied  gedichtet  sein  möge,  nur 
soviel  zu  bestimmen,  dass  dieser  SlofT  nicht  zu  den  frühesten  zu 
zählen  sei.  Dagegen  mag  der  Gedanke,  die  Götter  in  ihrer 
Machtvvirkung  und  in  der  Bewältigung  der  übergewältigeu  Erd- 
bewohner zu  feiern,  bei  der  volksthümlichcn  Bedeutung  solchen 
Liedes  immer  früher  gekommen  sein,  als  der,  dieser  Götter  Ur- 
sprung zu  besingen.  Ein  sinniger  Dichtergeist  nun  verräth  sich 
in  den  auf  diesen  Kampf  lautenden  Angaben  und  vorzüglich  und 
unleugbar  in  dem  Zuge,  dass  Herakles  von  Athene  zum  Mit- 
kämpfer herbeigeholt  \\ird,  denn  der  Sieg  ist  den  Göttern  nur 
unter  der  Bedingung  verheissen,  wenn  ein  Sterblicher  auf  ihrer 
Seite  kämpfte  oder  Halbgötter*-).  Der  Sinn  ist  namentlich  bei 
Herakles:  es  soll  die  gesittigte  Menschenkraft  und  Art  über 
die  ungeschlachte  Gewalt  den  Sieg  erlangen,  dafür  kämpfen  die 
3Iächte  der  Ordnung  ^^)  und  indem  zu  ihrem  Siege  Herakles  mit- 
wirkt, ist  er  eben  der  Repräsentant  der  frommen  und  gottbe- 
günstigten Menschenkraft  und  Tüchtigkeit,  hier  ebenso  wie  in 
der  Prometheussage,  wo  er  es  ist,  der  den  gebändigten  bestraf- 
ten Träger,  die  Personification  des  ohne  Gott  selbststarken  lita- 
Jiischen  Menschengeistes,  von  der  fressenden  Qual  befreit*'). 
In  der  vollständigem  Uebersicht  des  Gigantenkampfes  bei  Apollodor 


36)  V.  6,  170,  299. 

37)  Der  Schol.  des  Apolloii  1,  554  liat  in  dem  Citat  „der  niehlor  der 
Gigantomachie"  ofienbar  ,,Titaiioniachie"  schreiben  wollen. 

38)  Find.  J.  5  (6),  33—49.  Eur.  Ras.  Ilerak.  1192  — J 194.  Apollo- 
dor 1,  6,  1:  ,,ein  Sterblicher",  Schol.  /ii.  Find.  N.  1,  07  nnil  100:  „zwei 
llalbgöllcr,  Herakles  und  Dionysos". 

39)  Find.  Pyth.  8,  12  IT.  '  Hör.  Od.  3.  4.  53  ff. 

40)  Hes.  Theüg.  523  —  531.  Aesch.  Gofess.  Froni.  773  oder  2  uiid 
Fragni.  des  Gelösten  p.  368.  Fr.  212  und  213.  Ileiin.  oder  Tragic.  Fr. 
rcc.  Nauck.  p.  52.    Fr.  195A.  96. 


25 

trißl  recht  in  jenem  Sinn  Herakles  den  Porpliyrion  mit  seinem 
IM'eil,  indem  Zeus  auf  denselben  seinen  Blitz  schleudert,  und 
schiesst  Herakles  einen  andern  in's  rechte  Auge,  während  ApoUon 
in's  linke.  Im  verwandten  Sinne  ist  es  eben  Athene,  die  den 
Herakles  herbeiiührt,  und  that  sie  sich  besonders  hervor  und 
heisst  die  Gigantentödterin,  sowie  ihre  Heiligthümer  die  Scenen 
dieses  Kampfes  besonders  aufwiesen.  Sowie  aber  die  bildende 
Kunst,  die  fast  immer  Dichtergebilden  folgte,  auch  Tempel  an- 
derer -Tlötter  mit  dergleichen  (Jesammtdarstellungen  verzierte, 
geben  Schilderungen  von  Kunstwerken  oder  diese  selbst  (V'asen) 
neben  der  dichterischen  Ueberlieferung  überhaupt  nicht  wenige 
einzelne  Scenen  der  Gigantomachie "). 

Das  hiermit  in  seinen  Abbildern  bezeugte  Lied  eines  iUtern 
Sängers  hatte  nicht  minder  als  difr  obigen  Einzelsagen  örtlich 
volksmässige  Grundlage.  Der  sich  überall  wiederholende  ^ame 
des  Schlachtfeldes  heisst  Phlegrä,  das  phlegräische  Feld,  von 
cpkEyEiv^  brennen,  das  brandige  Land,  also  ebenfalls  ein  vul- 
kanischer Boden.  Vorherrschend  und  unzweifelhaft  zuerst  wird 
es  auf  die  thrakische  Halbinsel  um  Pallene  verlegt,  das  selbst 
früher  Phlegra  hiess*^).  Der  in  älterer  Zeit  besungene  Kampf 
wurde  nun  von  der  Volkssage  erfasst.  Als  in  Italien  Kumä  grie- 
chische Ansiedler  erhielt,  sahen  diese  die  sowohl  vulkanische  als 
höchst  fruchtbare  dortige  Gegend  bis  Puzzuoli  für  das  Feld  des 
Götterkampfes  an.     Die  Verstandesmenschen  Polybius  und  Strabo 

41)  Das  Gewand  an  den  Panathenäen:  Schol.  zu  Arist.Rilt.  563;  Plato 
Euthyphro  6  c.  und  die  wieder  aufgefundenen  Metopen  des  der  Athene  ge- 
weihten Parthenon:  Leake's  Topogr.  Attika's  Anh.  16,  S.  400.  Andere 
Kimstwerke:  Preller  Gr.  Myth.  I.  56.  Scenen  am  delphischen  Tempel: 
Eur.  Ion.  205  —  218,  z.  B.  Athene  verfolgt  den  Enkelados  und  Iieisst  da- 
her Hippia  (vergl.  Paus  8,  47,  1).  Nach  derselben  Tragödie  988  —  095 
erzeugte  die  Erde  damals  die  Gorgo  und  erwarb  damals  Atiienc  den  Ruh- 
mestitel Gorgütödterin  (1478)  und  als  Panzer  die  Aegis  mit  dem  Gorgo- 
haupt.  Dichterstelleu:  Pind.  Pytli.  8,  16  f.  oder  25:  Porphyrion,  ders. 
Nem.  4,  27  oder  44:  Alkyoueus,  beide  Vorkämpfer  der  Giganten;  Apoll. 
Rhod.  2,  232  f.:  Helios  nimmt  den  ermiidcten  Hephästos  auf  seinen  Wagen. 

42)  Hcrod.  7,  123.  Steph.  v.  Ryzanz  unter  Pallenc  nnd  Pidegra. 
Apollod.  l.  6,  1.  Pind.  N.  1,  67  oder' 100.  I.  5  (6),  33  oder  47  Acsch. 
Eum.  285  und  292.  Eur.  Ion.  988.  Auch  Strabo  zeugt  für  diese  Gegend 
7,  330,  25,  mag  er  auch  dabei  die  .Meinung  von  einem  wilden  Volke,  wel- 
ches Herakles  bewälligl,  die  der  Versläudigern  nennen;  es  war  die  des 
pragmatisirenden  Ephorus.    (Fr.  70  aus  Theons  Progymn.  6,  95  Teubn.). 


26 

waren  aber  der  Ansicht,  eben  wegen  üirer  Fruelilbarkeit  sei  die 
(hegend  Gegenstand  des  Streits  der  Götter  genannt  worden.  Eine 
Tliat  des  Herakles  wusste  man  dabei  auch  hier  zu  erzählen"^). 
Eine  zweite  Volkssage  im  Anschluss  an  den  Gigantenkampf  gab 
CS  auf  der  Insel  Kos  über  die  von  ihr  wie  ein  Stück  losgelöste 
Insel  Nisyros.  Da  hatte  der  Meergott  den  Giganten  Polybotes 
durchs  Meer  verfolgt,  das  Stück  von  Kos  losgerissen  und  auf 
jenen  geworfen''*). 

7.  Ein  zweites  Beispiel  einzelner  Gebilde  des  Volks- 
geistes, welche  der  Sängergeist  zusammenfasst 
und  unter  ein  Motiv  stellt,  die  sogenannten  Ar- 
beiten   des   Herakles    vojn   Eurystheus    auferlegt. 

Dem  allgemeinen  Volksglauben  gemäss,  der  die  Erde  und 
ihre  Bewohner  nicht  aus  Unschuld  und  Frieden  zu  frevelhaftem 
Wesen  und  schweren  Erfahrungen,  sondern  umgekehrt  erst  all- 
niälig  aus  Heimsuchung  durch  wilde  Ungethüme  zur  Ruhe  und 
Ordnung  fortgeführt  dachte,  hatten  also  nach  den  geschilderten 
Sagen  die  olympischen  Götter  die  ungeschlachten  Giganten  nieder- 
gekämpft. Aber  es  war  die  Erde  ausser  von  jenen  eigentlichen 
Giganten  in  den  Zeiten  des  älteren  Heldengeschlechts,  dessen 
Ilauptvcrtreter  Herakles  ist,  von  vielen  anderen  menschlichen  oder 
thierischen  Unholden  und  Miss-  oder  auch  Mischgestalten  beun- 
ruhigt. Und  freilich  haben  namentlich  diese  vier  älteren  Helden, 
Herakles,  Perseus,  lason  und  Bellerophon,  dergleichen  vorzüglich 
in  der  unerkundeten  Ferne,  in  Phantasiegebieten  des  Westens 
oder  äussersten  Ostens,  getroffen  und  bestanden.  Aber  auch  in 
der  Nähe  der  Heimath,  im  Peloponnes  selbst  hatte  Herakles  in 
der  über  ihn  verhängten  Unterwürfigkeit  unter  den  schlechteren 
Mann,  den  Eurystheus  (Odyss.  11,  621  ff.)  Unthiere  zu  bekämpfen, 
im  argivischen  Nemea  den  Löv.en,  in  Lerna  daselbst  die  Schlange, 
im  arkadischen  Stymphalos  die  Vögel,  die  Hirschkuh,  den  Eber 
ebenfalls  im  Peloponnes.  Bei  diesen  also  namentlich  ist  die  Frage, 
welchem  Geiste  wir  die  Erfindung  oder  plastische  Gestaltung  dieser 


43)  Polyb.  Lei  Sir.  5,  242  und  wörtlich  ebenso  Str.  selbst  243,  4. 
Herakl.  dcrs.  245,  G  und  281. 

44)  Wie  Ai)ollo(l.  1,  6,  2,  so  Paus.  1,  2,  4  u.  Str.  10,  489  „und  so 
sei  die  Insel  Nisvros  culslandcn  und  unter  ihr  liege  der  Gigant". 


27 

Wumlciwescii  beizumessen  haben,  ob  auch  von  ihnen  das  sonst 
anerkannte  Verhältniss  gelte,  dass  der  phantasiestarke  Volksgeist 
in  den  einzelnen  Orten  die  Wundei'gebilde  geschaflen  und  die 
Sänger  von  des  Eurysllieus  Aufträgen  und  Herakles  sieghaften 
Kämpfen  dieselben  nur  plastischer  ausgeprägt.  Diess  im  Einzel- 
nen genauer  zu  unterscheiden  macht  das  Wesen  der  Sage  selbst 
unthunlich,  die  immer  webt  und  verwebt  und  vielfältig  im  Wech- 
sel vom  Volksgeist  und  Sängergeist  fortgesponnen  wird.  Indessen 
wenn  die  Sagensprache  als  eine  Bildersprache  anzuerkennen  ist, 
welche  unbcwusst  in  gewisser  Nothwendigkeit  eine  Quelle,  die 
vieler  Orts  gedämmt  immer  wieder  hervorbricht  zur  lernäischen 
Schlange  mit  immer  wieder  wachsenden  Köpfen,  ein  umstürmtes 
und  vulkanisclies  Vorgebirge  zur  Chimära  gestaltet  hat:  dann  hat 
der  Sänger  eben  das  fertige  Unthier  erfasst  und  bestimmter  aus- 
geprägt, und  so  seinen  Helden  mit  diesem  im  Kampfe  dargestellt"^). 
Mag  es  aber  unbestimmbar  sein,  wieweit  eine  Sagengestalt  schon 
ausgeprägt  gewesen,  ehe  sie  in  ein  Heldenlied  verflochten  worden, 
jedenfalls  ist  eine  zusammenfassende  Dichtung,  welche  einen  Hel- 
den darstellt,  wie  er  auf  Geheiss  eines  böswilligen ,  eifersüchtigen 
Machthabers  schwere  Kämpfe  mit  Ungethümen  bestanden,  nur 
einem  Sängergeiste  beizumessen,  und  so  also  auch  die  Dichtung 
von  Herakles'  Kämpfen  unter  Eurystheus  und  die  andern  von 
denen  des  Theseus,  seines  ionischen  Ebenbildes, 

8.  Die  Sängergabe,  eine  von  eigener  Gottheit  ver- 
liehene, nicht  Gemeingut  irgend  ein  es  Zeitalters 
oder   Volks  Stammes    und   ihre    Charakteristik. 

Wäre  unser  Gegenstand  nicht  so  vielseitig  und  reichhaltig, 
dann  würde  gleich  hier  sich  ein  Verzeichniss  der  zahlreiclien 
Stoffe  epischer  Lieder  anschliessen,  welche  die  ältesten  Zeugen 
unserer  Kunde,  Homer  und  Hesiod,  als  Thatsachen  des  früheren 


45)  0.  Müller,  Dor.  1,  442  f.  K.  Fr.  Hermann,  Cullurgcsch.  S.  79. 
Bcmerkcnsworth  ist  Ilesiods  lehrhaft  genealogische  Hehandlnng  einiger 
Arbeiten  des  Herakles.  Er,  der  im  Vorhällniss  zur  Schöplungszeil  der 
Mythen  ein  Junger  Spätling  war,  und  ileni  Herakles  längst  als  der  viel- 
bcwährtc  Ruhmerwerher  galt,  er  ist  nur  bemüht,  die  Wunderwesen  sei- 
ner genealogischen  Folge  einzureihen  und  ihm  sind  diese  seihst  auch 
eben  vorzeitliche  Un£;elicuer. 


28 

vorliomerischen  Epos  erkeiineii  lassen.  Doch  bevor  wir  uns 
hierzu  wenden,  isl  es,  besonders  um  das  grichische  Epos  dem  an- 
derer Völker  gegenüber  nach  Aehnlichkeit  oder  Vorzug  in  das 
rechte  Licht  zu  setzen,  erforderlich,  im  \veiteren  Zusammenhange 
dem  im  Nächstvorhergehenden  gezeichneten  Volksgeisle  und  sei- 
ner Sagendichtung  den  Sängergeist  in  einem  Gesamnitbilde  gegen- 
über zu  stellen. 

^Vir  sahen  schon  früher  in  charakteristischen  Beispielen,  der 
poelische  Volksgeist  hatte  seine  Vorzeit  vornehmlich  mittels  Per- 
sonification  mit  Göttern  und  Helden  erfüllt,  und  umfasste  in  seiner 
phantasiereichen  Anschauungsweise  alle  seine  Zustände,  hatte  auch 
seine  eigenen  Gebiete  (Natursage,  Stiftungs-  und  Cultussage),  wo 
er  vornehmlich  thätig  war;  allein  er  schuf  mehr  einzelne  Ge- 
bilde, oft  seine  Wahrnehmungen  durch  Rückdichtung  ausdeutend. 
Ausgeführtere  Hergänge  bildete  er  nur  in  Anknüpfung  an  die  ihm 
durch  früheres  Epos  im  Sinn  liegenden  Personen  und  Ereignisse. 
Anders  eben  das  Epos,  welches  nach  den  obigen  Beispielen  die 
einzelnen  Gebilde  des  Volksgeistes  zusammenfassend  oder  das  nur 
Embryonische  ausfülu'end  Handlungen  schuf  und  seine  Erzählung 
mit  3Iotiven  beseelte.  Der  sich  so  unterscheidende  Sängergeist 
soll  uns  nun  deutlicher  hervortreten. 

Es  thun  sich  also  in  der  Umgebung  der  gleich  Eingangs 
geschilderten  Geistesart,  welche  als  allen  Stämmen  gemeinsam 
erkannt  wird,  eben  auch  bei  allen  Stämmen  begabtere  Sänger 
hervor^").  Wir  erkennen  sie  ohne  ausdrückliche  Kunde  von  ihren 
Personen  aus  ihren  Werken.  Sie  haljen  die  Bilder  der  überlie- 
ferten Vorväter  des  Stammes  in  Liedern  ausgeführt,  welche  das 
Ohr  der  Hörer  durch  gefällige  Rhythmen  anregten  und  ergötzten. 
Also  gehören  ihnen  die  Sagen,  welche  episches  Leben  haben, 
und  deren  finden  wir  wie  gesagt  in  Homers  und  Hesiods  An- 
deutungen so  aus  allen  Gebieten  und  Stämmen,  dass  wii"  in  die- 
ser ersten  Periode  des  Epos  keinen  Stamm  ausschliessen  können. 
Jene  ältesten  Zeugen  nennen  uns  auch  ausdrücklich  als  das,  was 
die  Sänger  vermöge  ihrer  besonderen  Gabe  vortragen  „Kunden 
von    den  früheren  Menschen"    oder   ,, Kunden    der   Männer"*^), 


46)  S.  oben  Nr.  3  zu  Anfang. 

47)  lies.  Thcog.  99:  nX^ia  Tc^orfycov  uv&qcojkov.    üil.  8,  73:   /.Xia 
avöijäv  und  Plalo  PhiUlr.  245 E.  ebenso:  „Die  Dichter  unterweisen  die 


29 

Und  wenn  wir  namentlich  durcli  Tacitus'  Nachricht  von  den  aUen 
Deutschen:  „Ihre  alten  Lieder,  die  einzige  Art  ihrer  Geschichte 
und  Jahrhücher",  und  durch  W.  Grimm's  Nachweisungen  wissen, 
auch  bei  diesen  sei  die  Runde  ihrer  Vorzeit  die  Sorge  und  der 
Besitz  der  Sänger  gewesen'^),  so  wird  uns  auch  von  anderen 
nicht  stumpfen  A^ölkern  dasselbe  bezeugt,  und  gewinnen  wir  vom 
ächten  Epos  überhaupt  die  richtige  Vorstellung,  dass  es  die  vom 
Volksgeist  zuerst  gefassten,  und  von  den  begabteren  Erzählern 
in  irgend  welcher  rhythmischen  Form  ausgeprägten  Sagen  von 
der  eigenen  Vorzeit  enthiell.  Diese  Vorzeit  war  immer  eine  hehre 
für  das  Volkshewusstsein,  und  eine  nach  der  jugendersten  Geistes- 
art poetische,  aber  die  eigentlichen  Träger  der  Kunde,  (\\n  i>e- 
rufenen  Bewahrer  derselben  waren  Sänger  einer  Begabung,  die 
nicht  als  die  Jedes  aus  dem  Volke  oder  dem  einzelnen  Stamme 
gelten  darf*^].  Diess  gilt  nun  von  keines  Volkes  Epos  mehr  als 
von  dem  griechischen.  Wie  hier  jede  Fertigkeit  ihren  göttlichen 
Vorstand  hat  und  von  seiner  Liebe  oder  Lehre  wie  es  heisst 
hergeleitet  wird,  so  kommt  namentlich  die  Geschicklichkeit,  die 
alten  Kunden  inne  zu  haben  und  annehmlich  vorzutragen,  von 
der  Gunst  und  dem  stäikenden  Beistande  einer  besondern  Gott- 
heit. Sie  heisst  bekanntlich  die  Muse,  deren  Hesiod  neun  mit 
Namen  aufzählt,  ^velche  Namen  aber  bei  ihm  und  langhin  nur 
irgend  eine  Phase  oder  Wirkung  jedweden  dichlerischen  Vortrags 


Nachlebenden  in  Liedern  und  übriger  Poesie,  indem  sie  unzäblige  Werke 
der  Altvorilern  schön  darstellen". 

48)  Tac.  Germ.  2.  W^.  Grimm  Heldens.  357.  S.  ;iucb  vom  indischen 
Epos  Lassen  hid.  Allerthumsk.  1,  482  und  483. 

49)  Diese  Natur  des  Epos  ist,  wie  sie  aus  dem  wahren  BcgrilF  der 
Sage  fliesst,  zur  Anerkennung  besonders  (kirch  unsere  Grimms  gefördert 
und  bat  bereits  auch  in  der  Theorie  Platz  und  ibre  licgrilllicbe  Fassung 
gewonnen.  Nur  werden  wir  den  vielbervorgebobenen  Gegensalz  von 
Volksdiclrtung  und  Kunsldicbtung  mehrfach  zu  liericbtigen  haben;  denn 
der  Volksgeist  bildet  nur  die  Sage  und  namentlich  die  Bilder  der  Slamm- 
belden  em])ryoniscb,  die  Heldenlieder  al)er  sind  immer  Erzeugnisse  aus- 
gezeichneter Begabung,  wenn  sie  auch  neben  den  überall  zünftigen  Sän- 
gern manchen  einzelnen  Kampfesbelden  beiwohnt.  Das  Volk  verhält  sich 
zu  ihnen  als  das  Empfangende  und  nicht  Volksdichtung  ist  die  richtige 
Bezeichnung,  sondern  Volkslied  in  dem  Sinne,  dass  es  von  der  gemein- 
samen eigenen  (nicht  fremden)  Vorzeit  erziiblend  eben  Ursprung  und 
Gegenstand  auf  dem  Boden  des  Volksbewusstseins  hat.  Der  Begriff  Kunst- 
dicbtung  ist  auch  ein  mebnb'utiger. 


30 

anzeigen;  erst  sehr  spät  werden  sie  anf  einzelne  üichtungsarten 
und  andere  geislige  Strelnnigen  verllieilt^").  Sie,  die  Musen, 
lieben  und  ljegal)en  die  Zunft,  das  Geschlecht  der  Sänger,  kein 
anderer  Colt,  sondern  sie  sind  auch  zu  verstehen,  wo  es  statt 
die  Muse  der  Gott  lieisst,  auch  Zeus  nicht,  ob  er  gleich  sonst 
über  allen  mächtig  ist^').  Nur  ist,  weil  die  Sänger  ihren  Ge- 
sang intonirend  mit  Laulenspiel  begleiten,  ApoIIon  ihr  Gott  neben 
der  Muse^^).  Als  ein  besonderer  Vorzug  erscheint  die  Sänger- 
gabe nun  auch  durch  die  Gunst  und  Ehre,  in  welcher  die  Lieb- 
linge der  Muse  bei  allem  Volk  stehen,  was  ausser  dem  häufigen 
Schmuckvvort ,, allwillkommen"  auch  ausdrücklich  bezeugt  wird  (Od. 
8,  479  —  481).  Sie  zählen  zu  denen,  welche  wegen  der  ihnen 
eben  eigenen  Fertigkeit,  wie  Zimmerer,  Aerzte,  Seher,  zu  den 
betreffenden  Leistungen,  so  sie  zu  den  Orten  und  Anlässen  er- 
götzlicher Müsse,  zu  Gastmahlen  und  Festen  der  Götter  in  alle 
Häuser  geholt  und  geladen  und  da  mitgastirl  werden ^^). 


50)  Die  von  Paus.  IX,  29,  2  als  die  altern  genannten  (U'ei  Musen, 
Melete,  Mnenie,  Aöde,  Geist  des  Sinnens,  des  Gedäclilnisscs,  des  Vor- 
trags bezeichnen,  meine  ich,  die  drei  Stufen  der  Sängerthätigkeit  und 
sind  nach  der  Gescliiclite  des  Worts  ^itlizi]  und  seinem  Begriff  wohl 
spätere  Personilicationen.    Anders  Wackernagel,  die  ep.  Poesie,  S.  343. 

51)  Wenn  Welcker,  Episch.  Gycl.  1,  S.  346,  Gervinus,  Gesch.  der 
deutsch.  Dicht.  1,  30  u.  34,  und  Carriere,  Wesen  der  Poesie  34,  sagen, 
von  Zeus  käme  der  begeisternde  Funke  in  die  Seele,  so  ist  das  Nichts  als 
ein  Missverständniss  des  Salzes  Odyss.  1,  348:  „Nicht  die  Sänger  sind 
schuld,  sondern  Zeuss,  welcher  allen  Menschen  zutheilt,  Jedem  nach 
seinem  mäclUigen  Belieben".  Es  ist  das  gesagt  zur  Pcnelopc,  der  der 
Inhalt  sclnnerzlich  war,  nämlich  die  Thatsache  unheilvoller  Heimkehr  der 
Griechen,  welche  Zeus  verhängt  hatte.  Von  der  Galie  zu  singen  ist  also 
hier  gar  nicht  die  Rede.  Der  zur  Stelle  angeführte  Fr.  Jacobs  gab  der 
dortigen  Erklärung  brieflich  selbst  Beifall.  Und  gewährt  doch  Zeus  nach 
Hesiod  nicht  einmal  zu  der  Würde,  die  jedenfalls  von  ihm  kommt,  den 
Königen  auch  die  Gabe  der  gewinnenden  Rede ,  sondern  diese  konunl  da- 
neben von  den  Musen :  Theog.  91  —  97.  Es  ist  dasselbe  Verhältniss ,  wie 
wenn  Here  die  Mittel  des  Liebreizes  von  Aphrodite  erbitten  muss,  II.  14, 
198.  Die  Muse,  die  Gottheit:  Odyss.  8,  44,  73,  481,  498;  22,  347.  — 
Die  Namen  der  neun  Musen:  Hes.  Theog.  76 — 80.  Die  Vertheilung  erst 
Plat.  Phädr.  259 C.  In  der  Zeit  vor  Piaton  ruft  Alkman  die  Kalliope  (Fr. 
36)  zum  Liebeslied  an,  und  dem  Pindar  ist  (Ol.  11,  14  oder  18)  dieselbe 
diejenige  Muse,  welche  die  itahschen  Lokrer  zu  der  sie  auszeichnenden 
lyrischen  Poesie  begeisterte. 

52)  Od.  8,  488  mit  Anm.  Hes.  Theog.  94  f.  Welcker  Ep.  Gycl.  1,  356. 

53)  Od.  17,  382—386;  8,  43;  22,  346:  „dessen  Gesang  Un.sterblichen 


31 

Alle  genauere  Angabe  vom  Wesen  und  Wirken  der  Gottheit 
der  Sänger  lautet  auf  erzählende  Poesie.  Die  Musen  sind  Töch- 
ter des  Zeus  und  der  Mnemosyne,  d.  h.  der  Geist  des  Gedäclit- 
nisses  und  der  Erinnerungskraft  in  Person,  und  wie  alle  Götter 
die  Künste  und  Vermögen,  welche  sie  Sterblichen  verleihen,  selbst 
in  höchster  Vollkommenheit  besitzen,  wohnt  den  Musen  das  Wissen 
von  Allem  bei,  was  irgend  wann  und  wo  geschah: 

„Ihr  seid  Göttiimeu,  wäret  dabei  und  wisset  ja  Alles; 
Wir  vernehmen  allein  das  Gerücht." 

11.  2,  483  —  455.  Sie  mit  ihrer  Kunde  von  Allem,  was  irgend 
geschah    (die   auch  die  verlockenden  Sirenen  sich  beilegen,    Od. 

12,  189  f.),  haben  die  Geister  ihrer  Lieblinge  viele  Liedergänge 
gelehrt.  Diese  bringen  die  Sänger  fertig  im  Gedächtniss  niit,  und 
die  günstige  Müsse  erregt  und  stärkt  ihren  Geist,  wo  und  wann 
sie  aus  dem  Bewussten,  sei  es  nach  eigener  Wahl  oder  nach  dem 
Wunsche  der  Hörer,  ein  Ganzes  oder  eine  Partie  vortragen  wollen, 
wie  diess  ausdrücklich  in  den  Worten  liegt  Od.  8,  43  —  45: 

„  Auch  ruft  mir  den  göttlichen  Sänger, 

Ihn  Demodokos,  dem  Gesang  Gott  weidlicli  verliehn  Iial, 

Um  zu  erfreun,  wie  immer  sein  Herz  zu  singen  ihn  antreibt." 

Weit  entfernt  also ,  dass  die  Gotteskraft  dem  Sänger  willenlos 
überkäme,  oder  ihn  aus  dem  Stegreif  zu  singen  befähigte,  wirkt 
die  Muse,  wie  andere  Gölter  bei  andern  Begabten,  z.  B.  Alliene 
beim  Künstler  (11.5,  60  —  68]  im  Einzelnen  nach  Gedanken  und 
Willen  ihrer  Günstlinge.  In  diesem  Gewähren  der  Stärkung,  so 
oft  der  Liebling  sie  wünscht,  besteht  eben  die  Liebe  und  Gunst 
der  Gottheit. 

Dass  aber  die  Sänger  ihre  Lieder  schon  lange  fertig  im 
Sinne    tragen,    dafür   zeugt    theils    der   schon   verbreitete   Ruhm 


tönet  und  Menschen".  Den  Unsterbiiclien  gewiss  doch  bei  ihren  Festen. 
Den  Menschen  aber  ausser  bei  ihren  Gastmahlen  unstreitig  schon  in  ho- 
merischer und  vorhomerischer  Zeil  auch  in  andern  Mussezcilen,  und  da 
in  den  Lesclien,  den  Sitz-  und  Ges])rächshallen ,  den  gewöhnliciien  Orten 
freier  Zusammenkünfte,  den  Gemeingebäuden,  deren  Griechenland  wold 
in  jeder  Sladl  halte:  Od.  18,  329  ni.  Schol.  lies.  W.  und  T.  493  oder  491 
mit  Götlling.  So  lässl  die  Avenn  auch  sagenhafte  Lebensbeschreibung 
Homers  vom  s.  g.  llerodol  c.  5  und  (5  Homer  seine  Gedichte  nach  Hrancli 
in  Leschen  vortragen.  Die  voilslänihge  Beschreibung  dieser  Leschen  giebt 
Zell  in  Ferienschr.  1.  S.  11  —  14. 


32 

einzelner,  die  sie  also  öfter  gesungen  haben  (Od.  8,  74),  theils 
Phemios  ausdrücklich  22,  347: 

,,Aus  mir  hab'  ich  gelernt  und  ein  Gott  hat  mancherlei  Weisen 
31  ir  in  die  Seele  gepflanzt." 

Diese  Stelle  lässl  besonders  deutlich  erkennen,  dass  die  Natur- 
anlage  und  die  Gunst  der  Gottheit  ganz  in  eins  zusammenfallen. 
Aber  es  bezeugt  dieselbe  Stelle  noch  etwas  Anderes.  Der  Aus- 
druck :  Ich  bin  ein  Autodidakt  —  betont  unleugbar  einen  Vorzug 
und  eine  Uulerscheidung  vor  Andern  seiner  Zunft.  INach  der 
beigesetzten  Erklärung:  Die  Muse  habe  ihm  viele  Liedergänge 
in  den  sinnenden  Geist  gepflanzt,  besteht  dieser  Vorzug  in  der 
eigenen  höhern  Begabung  und  grössern  Gunst  der  Muse.  Ihm 
dem  Selbstgelehrtcn  stehen  nach  der  Auslegung  des  Aristoteles 
und  anderer  Alten  andere  Sänger  entgegen,  die  ihre  Vorträge 
nicht  selbst  gestaltet,  sondern  von  Andern  gelernt  haben ^*). 

Die  Odyssee  charakterisirt  mm  die  Allen  gefallende  V^ortrags- 
weise  der  Sänger  auch  noch  feiner.  Es  uird  uns  durch  die  von 
ihr  angegebenen  Eigenschaften  auch  klar,  wie  die  Sängergabe 
wesentlich  als  starke  und  gestärkte  Gedächtnisskraft  erscheinen 
konnte.  Der  einfache  Begriff  dessen,  was  beim  Erzähler  das 
Unerlasslichste  ist,  das  genaue  Behalten,  begegnet  uns  in  den 
Stellen ,  wo  die  Musen  im  Verlauf  der  Erzählung  noch  besonders 
angerufen  werden.  Es  geschieht  dies,  avo  eine  umfassende  Viel- 
heit die  Stärke  oder  fein  Bestimmtes  die  Treue  des  Gedächtnisses 


54)  Arist.  Rhetor.  1 ,  7,  33  bei  Unterscheidung  des  mehr  oder  min- 
der Preiswürdigen:  „Und  das  Angeborne  oder  Seli)sterzeugte  mehr,  als 
das  andersher  Erworbene,  wie  der  Dichter  sagt:  Selbstgelehrt  bin  ich". 
Es  ändert  an  diesen  Unterschieden  nichts ,  dass  auch  der  Hochbegabte 
sein  Lied  nicht  rein  erfindet,  sondern  dem  überkonnnonen  Sagonstofl' nur 
Formen  giebt.  Der  Andere  leistete  elien  dies  nicht,  sondern  überkam, 
lernte  das  bereits  ausgedichtete  Lied  von  Andern  und  trug  es  weiter  vor. 
Andere  ähnliche  Erklärungen  der  Alten  s.  in  ra.  Prolegom.  zu  Plato's  Jon. 
S.  21  f.  Nicht  richtig  deutet  C.  Fr.  Hermann,  Cultiirg.  d.  Gr.  u.  R. 
S.  85:  „Ph.  nennt  sich  avToö.  insofern  es  noch  nicht  Kunst,  sondern 
Anlage  und  Talent  ist".  Diese  Anlage  und  die  Gottesgabe  ist  überall  die 
Sache.  Auch  örjfjiiovQYoi  sind  nicht  die,  welche  das  Volk  m  Folge  seiner 
Freiheit  als  seine  Diener  betrachtet,  sondern  die,  welche  öirenllich  wir- 
ken, die  wegen  ihrer  Kunst,  die  sie  vor  Andern  voraushaben,  von  Andern 
allgemein  geschätzt  und  verlangt  werden. 


33 

besonders  zum  Bedürfniss  macht *^).  Aber  dieselbe  Kraft  leistet 
mehr  als  das  Behalten  von  Namen  und  Personen,  sie  erneut 
Bilder,  wirkt  als  Erinnerungskraft  mit  der  Phantasie  zusammen 
auf  lebendige  Vergegenwärtigung.  Und  venu  die  begeisternden 
Musen  bei  Allem  waren,  was  geschah,  so  wirken  sie  auch  im 
erzählenden  Sänger  das,  was  den  Hauptreiz  seiner  Erzählung 
ausmacht,  die  lebendigste  Vergegenwärtigung.  Er  erzählt  Alles, 
als  wäre  er  seihst  dabei  gewesen.  So  bezeichnet  Odysseus  den 
Vortrag  des  Demodokos  Od.  8,  491.  Solche  Leistung  nun  wird 
die  geschickte  Gestalt  der  Geschichten  genannt  {aoQcprj  inEav) 
und  wenn  ein  nicht  zünftiger  Anderer  in  solch  lebendiger  An- 
muth  zu  erzählen  oder  zu  sprechen  weiss,  gleicht  er  einem 
Sänger^*). 

Ist  dies  das  Bild  der  zünftigen  Sänger  nach  Homer,  so  zei- 
gen dessen  Gedichte  uns  im  Achill,  dem  Heldenideal,  auch  das 
einzige  Beispiel  eines  Tapfern,  der  daneben  auch  Heldenlieder 
(Runden  der  Männer)  zur  Laute  zu  singen  versteht  (11.  9,  186 
bis  189).  Es  ist  dies  bei  ihm  eine  Nebenfertigkeit,  wie  die  Heil- 
kunst, welche  er  von  Cheiron  erlernt  und  seinem  Patroklos  mit- 
getheilt  hat  (II,  11,  831  f.)  und  wie  bei  Odysseus  die  Geschicklichkeit 
des  Zimmermanns,  mit  der  er  sich  in  Od.  5,  234  —  261  ein  Floss 
baut  und  nach  23,  189  ff.  das  so  künstliche  Bett  gefertigt  hat.  So 
ist  also  auch  Achills  Gesang  zur  Laute  eine  bei  den  Kriegshelden 
keineswegs  häufige  Fertigkeit;  nur  haben  wir  keinen  Grund,  ihm 
mehr  beizulegen,  als  dass  er  von  einem  Sänger  Heldenlieder  und 
Lautenspiel  dazu  gelernt  gehabt.  Eigene  Sängergabe  wird  zwei 
einzelnen,  sehr  streitbaren  Helden  im  deutschen  Epos  nachge- 
rühmt, in  den  Nibelungen  dem  kühnen  Spielmanne  Volker,  in 
der  Gudrun  dem  Degen  Horand.  und  namentlich  dem  Spiel  und 
Gesang  des  letztern  eine  ähnliche  Macht  ])eigemessen,  wie  in 
der  griechischen  Sage   und  Sagendichtting  dem  Orpheus").     Der 


55)  II.  11.  218;  14,  5Ö8;  2,  488—492;  Tfil.  In  jenen  Stellen:  wer 
zuers  t  u.  s.  w. 

56)  Od.  8,  170—173,  11,  367  f.    17,  518—521. 

57)  Nibel.  30.  Ahcnt.  Str.  10  —  18.  Gudrun  G.  Abent.  Wie  lies. 
Theog.  97  sagt:  „Wie  strömet  ihm  süss  vom  Munde  der 'Wohllaut  I  Itenn 
wenn  einer  mit  Gram  im  frischverwundeten  Herzen  Sich  abzehrt  m  quä- 
lendem Leid,  dann  aber  ein  Sänger  Treu  im  Dienste  der  Musen  die  Jöh- 

Nitzsch,  Gesch.  d.  griech.  Epos.  3 


34 

Inhalt  ihrer  Lieder  wird  dabei  nicht  angegeben,  nur  ihre  eige- 
nen Thaten  oder  Erfahrungen  sangen  sie  offenbar  nicht.  Dies 
verlautet  dagegen  aus  älterer  Zeit  von  dem  Vandalen  Gelimer, 
sofern  er  von  Belisars  Unterfeldherrn  Pharas  in  Gebirgsschluchten 
gedrängt  und  da  belagert  ein  Rlaggedicht  liber  seinen  Nothstand 
gedichtet  hatte,  und  in  der  Antwort  auf  eine  Aulforderung  von 
Jenem  schliesslich  unter  Anderejn  eine  Laute  sich  erbat,  um  als 
guter  Lautenschläger  sein  Lied  zu  singen  (Procop.  de  hello  Van- 
dal.  11,  6  a.  E.).  So  war  dieser  König  und  Kriegsheld  allerdings 
des  Gesanges  mit  Lautenspiel  mächtig,  sein  Lied  aber  kein  Hel- 
denlied, sondern  Ausdruck  seines  Gemüths  in  der  bedrängten 
Lage.  Und  die  Fähigkeit  zu  dergleichen,  zu  lyrischen  Ergüssen 
in  Glimpf  und  Ernst,  Lobpreis  und  Spott,  mögen  wir  zu  allen 
Zeiten  nicht  blos  zimftigen  Sängern,  sondern  Mehren  in  jedem 
Stamm  beimessen,  wie  auch  die  Triumphlieder  der  römischen 
Krieger  dazu  zählen.  Heldenlieder  aber  sind  ein  Anderes.  Wie- 
derum aber  ist  sowohl,  was  Tacitus  Germ.  3  von  den  Deutschen 
berichtet,  dass  sie  mit  Gesang  auf  ihre  Helden  zur  Schlacht  ge- 
zogen, als  was  die  Quedlinburger  Clironik  besagt,  dass  die  Sage 
von  Thideric  de  Berne  als  Lied  im  Munde  der  Bauern  gewesen, 
es  ist  dergleichen  nicht  ohne  Unterscheidung  der  dichtenden 
Geister  und  des  Lebens  der  Lieder  im  Volksnumde  zu  verstehn. 
Die  Lieder  waren  volksthündich,  lauteten  auf  die  eigenen  Stam- 
meshelden und  waren  gelernt  und  wurden  gesungen  vom  Volk, 
gedichtet  aber  nicht  von  Jedwedem ,  sondern  von  den  eben  Be- 
gabten  im    Sinne    des   Volks  ^*).     In    V^ergleichung   des  deutschen 


liehen  Thaten  der  Vorwell  Proist  im  Gesang :  Flugs  entschwindet 

ihm  dann  die  Bekiimnierniss"  u.  s.  w. ,  so  Gudr.  Str.  6:  ,,Icli  sing  auch 
alle  Tage  solchen  guten  Sang,  dass  Jedem,  der  es  höret,  davon  sein  Leid 
verschwindet,  Und  alle  Sorg  ihn  lliehet,  der  meiner  Weisen  Süssigkeit 
befindet".  Was  aher  alsiiahl  dort  weiter  folgt,  das  gleicht  sogar  zum 
Theil  wörtlich  den  Schilderungen  der  Wunder,  welche  der  Gesang  des 
Orpheus  gewirkt  haben  soll.  Ich  weiss  daher  die  Urlheile  bei  Gervinus 
G.  d.  deutschen  Dichtkunst  1,  31  nicht  gut  zu  heissen,  als  wäre  die  Ur- 
sache des  Wohlgefallens  und  der  Wirkung  hei  Hellenen  und  bei  den 
nordischen  Hörern  eine  verschiedene. 

58)  W.  Grimm,  Deutsche  Heldensage  S.  32:  El  iste  fuit  Tliidcric  de 
Berne,  de  quo  canlahanl  rustici  oliui.  Durch  die  ohige  Unterscheidung 
scheint  Gervinus  Darstellung  d.  Dicht.  1,  33  und  vorhcir  herichtigl  werden 
zu  müssen.    Sein  Wort:  „der  oii^onfliche  Träüi-r  und  Bewahrer  der  Ge- 


35 

und  griechischen  Epos  mögen  wir  wohl  mit  den  neuesten  Ge- 
schichtschreibern des  deutschen  die  Form  der  Griechen  künst- 
lerisclier  nennen,  und  hei  aller  Vorstellung  von  der  häufigeren 
oder  selteneren  Fähigkeit  zu  dichten  die  leichte  Form  der  blossen 
Alliteration  (der  althochd.  und  Eddalieder)  in  Anschlag  bringen. 
Und  auch  die  Nibelungenslrophe  war  leichter  zu  bilden  als  die 
Hexameter  des  griechischen  Epos.  In  der  Entwickelung  der 
epischen  Formen  der  Griechen  sind,  wie  von  selbst  einleuchtet, 
bis  zur  Vollkommenheit  des  homerischen  Hexameters  viele  Vor- 
stufen vorauszusetzen.  Aber  eben  nur  diese  allmälige  Vervoll- 
kommnung des  epischen  Verses  bis  zur  mustergiltigen  Form  des 
homerischen  Gebrauchs  ist  beim  Rückblick  auf  das  vorhomerische 
Epos  zu  behaupten.  Dass,  wie  jüngst  angenommen  worden,  die 
kleineren  Lieder  jener  Periode,  bei  ilu'em  mehr  lobpreisenden 
und  lyrisch  -  epischen  Inhalt,  auch  in  einem  andern  Versmass, 
dem  Parömiakos,  gesungen  worden  seien,  lässt  sich  nicht  be- 
weisen. 

9.  Die  ä  1 1 e  s t  e n  T h a t s a c h e u  d e r  G e s  c h i eil t  e  d e s  grie- 
chischen Nation  alepos.  Pierien  und  der  Götter- 
berg und  die  pierische  Poesie. 

Alles  was  an  Vorstellungen  von  den  Göttern  und  an  Sagen 
über  die  Vorzeit  nationale  Geltung  hat,  ist  zu  dieser  durch  die 
Poesie  gelangt.  Dass  nun  die  Götter  die  Olympier  heissen,  und 
die  Musen,  die  Gottheiten  der  Sänger,  theils  ebenso  „olympische 
Musen",  theils  Pieriden  von  Homer  und  Hesiod  an  gemeinhin 
von  den  Griechen  genannt  werden,  es  ist  unleugbar  sprechendes 
Zeugniss  für  zwei  eng  verknüpfte  Thatsachen  der  Geschichte  der 
Nationalpoesic,  einmal  von  dem  Bezirke,  auf  dessen  Nachbarberge 
die  ruchbar  älteste  Poesie  die  Volksgötter  unter  dem  patriarcha- 
lischen Familienhaupte  Zeus  vereint  wohnend  dachte,  sodann  dass 
daselbst  die  Heimath  dieser  ruchbar  ältesten  Nationalpoesie  anzu- 
erkennen ist.  Die  Pierer  waren  Thraker  im  älteren  Verstände, 
d,  h.  diejenigen  Thraker,  welche  früher  von  dem  Berge  Olympos 
im  Süden  Macedoniens   auf  der  Nordgränze  Thessaliens,   bis  in 


sänge  war  das  Volk"  ist  nur  von  der  Geltung  richtig;  und  auch  Viimar, 
G.  d.  deutschen  Nalionallitt.  1,  33,  spricht  bei  der  Anerkennung  des  Sän- 
gerberufs nicht  ganz  Ircüeud. 

3* 


36 

Böotien,  und  am  Parnass  und  Helikon,  ja  noch  südwestlicher 
herein  wohnten,  nachmals  nordwärts  gezogen-'^).  In  dieses  Pie- 
rien  kommen  die  Götter  jederzeit  hei  Homer,  wenn  sie  aus  der 
Höhe,  eben  vom  Götterberge  Olymp,  herabsteigen*").  In  Pierien 
am  Olymp  nun  wurden  nach  Hesiod  Theog.  53.  d  h.  in  dem 
jenem  Gedicht  jetzt  voranstehenden  Hymnus  auf  die  Musen,  diese 
geboren,  und  sie  haben  daher  ihre  örtlichen  Beinamen*').  Wenn 
wir  aus  diesen  Namen  die  Heimath  der  Poesie,  welche  am  frühe- 
sten weithin  wirkte,  erkennen,  also  Pierien  jedenfalls  ein  lieder- 
reiches Land  und  Volk  gewesen  ist:  so  steht  uns  als  jener  Aöden 
sprechendstes  Lebenszeichen  eben  der  auf  jenem  Olymp  vereinte 
Götterstaat  fest,  der  ohne  eine  machtvolle  Poesie  nicht  so  wie  es 
vor  Augen  liegt,  dauernd  in  das  Bewusstsein  des  gesammten  Helle- 
nenvolkes gepflanzt  werden  konnte.  Es  war  dies  eine  That  des 
zusammenfassenden  Hichtergeistes,  wie  wir  ihn  schon  in  mehren 
Erweisungen  erkannt  haben.  Die  von  den  verschiedenen  Stämmen 
verehrten  Götter  wurden  auf  jener  benachbarten  Höhe  in  einem 
Vereine  angesiedelt.  Auf  Höhen  weihete  man  gern  heilige  Stätten, 
aber  hätte  es  hier  nur  der  Volkscultus  und  mittels  einer  wirk- 
lichen Weibung  gethan.  so  würde  dies  eben  wohl  nur  dem  Haupt- 
gott des  Stammes  oder  dem  höchsten  Zeus  geschehen  sein.  Dar- 
über nur  kann  Memand  entscheiden,  ob  die  Pierischen  Sänger 
zuerst  etwa  wenigere  Götter  in  dem  Verein  auf  ihrem  Olymp 
vergesellschaftet  und  erst  im  Fortgang  durch  Andere  demselben 
noch  anderer  Stämme  Götter  eingefügt  worden  seien.  Diess  ge- 
schah dann  lediglich  durch  die  fortwebende  Sage.  Sehen  wir 
aber  nach  irgend  welchen  deutlichen  Spuren  von  einzelnen  be- 
stimmten Werken  der  pierischen  Sänger,  so  findet  sich  allerdings 
ein    epischer  Stoff,    der,    sofern  er  eben  dort  seinen  Boden  hat, 


59)  Hes.  Kat.  Fr.  36.  Göltl ,  6.  Marckscli.  oi  Ttfgl  TlifQiriv  y.a\ 
"Okvfntov  öcofiar'  h'vaiov.  Slraho  471,  vergl.  mit  410.  Herotl.  7,  131. 
Thiic.  2,  99.  0.  Müller  Orchoni.  381  und  Proleg.  zu  einer  w^'ss.  Myth. 
219  f.  Nicht  soll  hicrflurcli  Müllers  Meinung,  als  sei  der  Götterstaat  da- 
mit und  dort  überhaupt  zuerst  gedacht,  zugleich  gebilligt  sein. 

60)  II.  14,  225  u.  226.    Od.  5,  50  mit  Anm.  H.  a.  Pytii.  Ap.  38  (216). 

61)  Olympiades  II.  2,  491,  vergl.  11,  218  u.  a.  lies.  Tlieog.  25  und 
52  ,  Pierides  Hes.  W.  1.  Solen  13.  2.  Piiidar  P.  1 ,  14  oder  27.  Ol.  10 
96  oder  116  u.  öfter.  Soph  Fr.  Ach.  Syll.  146,  p.  129.  Nauck.,  Helikonia- 
des  Hes.  W.  658.    Theog.  l.   Pjud.  J.  2,  34  od.  50.   Eur.  Ras.  Herakl.  791. 


37 

auch  von  jenen  zuerst  gestaltet  scheint.  Es  hliebe  dabei  das  Ur- 
theil  in  seiner  Geltung,  dass  die  theogonische  Poesie  erst  später 
eingetreten,  in  der  frühesten  und  früheren  Zeit  es  nur  eigentlich 
epische  Lieder  gegeben,  Lieder,  welche  das  Leben  handelnder 
Personen  dargestellt. 

Einen  Kampf  der  bereits  auf  dem  Olymp  wohnenden  Götter 
gegen  die  Titanen  hat  Hesiod  der  auf  die  Verherrlichung  des 
Zeus  vorzugsweise  angelegten  Theogonie  eingewebt.  Es  war  der 
Kampf,  durch  welchen  die  Olympier  als  Götter  der  Ordnung  die 
wilden  Naturmächte  bewältigten,  und  so  entschieden,  welcher  Art 
göttliche  Mächte  das  Regiment  haben  sollten,  da  denn  nament- 
lich der  höchste  Zeus  als  Sieger  ül)er  Kronos  hervorging.  He- 
siod hat,  das  ist  deutlich  erkannt,  die  Theogonie  aus  .41tem  und 
Neuem,  aus  älteren  Gedichten  und  eigenen  Zuthaten  mit  später 
Reflexion  componirt.  Jenen  Kampf  mm  hat  er  nach  der  Bedeu- 
tung des  Erfolges  für  sein  Thema  mit  gewisser  epischer  Ausfüh- 
rung gegeben,  aber  bei  der  eigenthümlichen  Weise,  in  welcher 
er  namentlich  die  ältere  Erzählung  von  diesem  Kampfe,  vom  Aus- 
gang rückwärts  auf  den  Hergang  kommend,  und  zwar  iheils  das 
Bedeutende  aushebend  theils  epilomirend,  seiner  Mosaik  einwebt, 
lässt  sich  besonders  in  hier  dienlicher  Kürze  über  Umfang  und 
Fassung  des  von  ihm  benutzten  Epos  nicht  klar  urtheilen. 
Hervorzuheben  aber  ist,  in  wie  fern  die  ganze  Idee  nicht  bloss, 
wie  sie  allein  konnte,  als  eine  rückwärts  gedichtete,  sondern  als 
eine  erst  später  gefasste  und  ausgeprägte  erscheinen  muss.  Die 
Angabe  selbst  Hes.  Theog.  632  f.  mit  ihrer  Oertlichkeit,  da  die 
Titanen  von  dem  die  obere  Hälfte  Thessaliens  begränzenden  mitt- 
leren Gebirgszuge  Othrys,  die  olympischen  Götter  aber  von  dem 
an  der  iNordgränze  gelegenen  Olymp  her  zum  Kampfe  gekommen, 
sie  zeigt  uns  die  Letzteren  bereits  im  Besitze  ihrer  nur  von  den 
Titanen  ihnen  streitig  gemachten  Gölterhoheit.  Zeus  beruft,  als 
der  Kampf  bevorsteht,  als  es  gilt,  wer  die  Herrschaft  haben  solle, 
Kronos  oder  Zeus,  nach  390  —  396  die  Unsterblichen  alle  zum 
Olymp  und  erklärt,  wer  mit  ihm  gegen  die  Titanen  streiten  werde, 
dem  werde  er  Nichts  von  seinem  bisherigen  Ehrentheile  entziehen, 
und  wer  von  Kronos  keins  erhalten,  dem  werde  er  eins  zullieileu. 
So  die  Anlage  im  allen  Epos.  Aber  dass  Zeus  und  die  Olympier 
erst    für   die   Geltung  ihrer   Macht  kämpfen  müssen   als  Mächte 


38 

der  Ordnung  und  Geber  des  Guten,  ist  schon  eine,  von  der  älte- 
sten Periode  des  Epos  gerechnet,  spätere  Idee.  Der  einfache 
erste  Goltesbegriff  ist  der  des  machtvollen,  des  Obmacht  übenden 
{xQeioi'teg)  Wesens,  welchen  als  den  eigensten  die  Dichtersprache 
aller  Zeiten  im  Worte  Fürst  {ava^)  braucht,  und  wir  etymolo- 
gisch in  den  griechischen  und  lateinischen  Wörtern  für  Golt 
finden,  Herr.  Eben  die  Erfahrung  dieser  Krafterscheinungen 
und  Obmacht  hatte  den  Glauben  von  höheren  Wesen  erweckt, 
hatte  weiter  das  Bedürfniss  der  Vorsehung,  in  Folge  dessen  Ge- 
bet und  Opfer,  und  somit  die  Religion  hervorgerufen.  Dieser 
erste  Begriff  war  jetzt  mit  feinerer  ethischer  Unterscheidung  zu 
dem  der  Maass  bringenden,  ordnenden  Macht  veredelt,  wie  er 
in  der  Litteratur  von  Homer  an  den  Göttern  anhaftet.  Und  die  wil- 
den Naturgewalten  traten  Jenen  als  persönlich  vorgestellt,  also  als 
mit  Willen  in  der  Kraft  begabt,  auch  in  gcAvissem  Grade  plastisch 
ausgeprägt  entgegen.  Diese  Ausprägung  vervollkommnete  ein 
nachhomerischer  Dichter,  vielleicht  Eumelos  von  Korinth,  in 
einer  neu  gestalteten  Titanomachie®^).  Dass  nun  vor  Homer  die 
Genealogie  des  Kronos  und  der  Kronossöbne  welche  sich  in  das 
Weltregiment  theilten,  schon  ausgebildet  war,  und  auch  die  Dich- 
tung von  des  Zeus  Siege  bereits  Geltung  hatte,  lehren  mehrere 
Stellen  der  Ilias^^).  Aber  die  homerische  Darstellung  hat  ja  auch 
schon  die  Götter  zu  ethischen  Wesen  gestaltet  und  alle  Spur  von 
ihrem  Charakter  als  Naturgewalten  abgethan  oder  der  ethischen  Be- 
deutung untergeordnet.  Die  Titanen  in  Thessalien  sind  nicht  Gebilde 
des  Volksgeistes;  die  Natur  dieses  Landes  hätte  dahin  geführt,,  dem 
Erderschülterer  Poseidon  eine  Hauptrolle  zu  geben ^^);  sie  sind  viel- 
mehr in  einer  dichtenden  Glaubensphantasie  ohne  Oertlichkeit 
eben  nur  als  die  Feinde  der  Götter  gedacht.  Genug,  der  Stoff 
solcher  Titanomachie  kann  uns  nicht  als  zu  dem  frühesten  des 
Epos  gehörig  gelten.  Zumal  nicht,  wenn  die  Prometheussage  da- 
mit verbunden  gewesen  sein  sollte,  die  einen  besonders  lein  re- 
flectirenden  Geist  verräth*^). 


62)  S.-igenpoesie.  S.  27  f.  ' 

63)  II.  15,  187 — 193  die  Theilung,  in  mehren  Stellen  Kronos  und 
die  Titanen  im  T;irlaros:  8,479—481;  14,  202—204,  274 — 279;  15,  224. 

64)  Herod.  7,  129. 

65)  Sagenpoesie.  S.  27 — 31. 


39 


10.    Die     sagenhaften     pierischen     und     thrakischen 
Sänger,    vornehmlich    Orpheus    und    Thamyris. 

Suchen  wir  weiter  nach  bestimmten  Werken  oder  Stoffen,  an 
denen  sich  der  Character  der  pierischen  Poesie  erkennen  Hesse: 
so  verlauten  in  der  Ueherlieferung  mehre  Namen  pierischer 
oder  thrakischer  Sänger.  Der  nüchterne  Strabo  nennt  in  der 
Zeichnung  des  älteren  Thrakien  471  C.  D.  Orpheus  und  Mu- 
säos  und  Thamyris,  und  auch  Eumolpos  werde  als  dorther 
gekommen  bezeichnet  (er  der  sagenhafte  Dichter  der  eleusinischen 
Weisen  und  geglaubte  Stammvater  der  vornehmsten  Priester  jenes 
Gottesdienstes):  „so  auch  die  Stifter  der  Religion  des  Bacchus." 
Andere  gesellen  ihnen  zum  Theil  mit  Auszeichnung  den  Amphion, 
auch  den  Linos  hinzu.  Wie  nun  schon  früher  erwähnt  ist,  dass 
dieser  aus  einer  Personification  des  absterbenden  Jahres  und  ei- 
nem Gegenstand  vielgesungenen  Herbstliedes  von  der  Sage  selbst 
zum  Sänger  gemacht  wurde,  so  sind  alle  jene  Vertreter  der  pie- 
rischen Poesie  ganz  besonders  Gegenstände  erst  der  phantastischen 
Feier  und  Sagenbildung,  dann  pragmatisirender  Vielthuerei  und 
Willkür  gewesen"^).  Die  gesammte  weitere  Ueherlieferung  von 
ihnen  ist  bei  ihrer  Mannigfaltigkeit  so  schwebend,  dass  einen  be- 
stimmten Inhalt  ihrer  Gesänge  anzugeben  unmöglich  fällt.  Von 
Einem,  dem  Thamyris,  finden  wir  zwar  im  homerischen  Schiffs- 
katalog II.  2,  594  —  599  erwähnt,  er  der  Lautner  habe,  als  er 
vom  Fürsten  Eurytos  (wie  die  Sänger  in  der  Odysee)  gekommen, 
die  Musen  selbst  herausgefordert  und  die  Strafe  für  diese  Ver- 
wegenheit gebüsst,  aber  von  seines  Gesanges  Inhalt  auch  hier  keine 
Andeutung.  Eben  so  ist  aus  den  diesen  Sängern  zugetheilten 
Müttern  aus  der  Musenzahl,  weil  die  Namen  keine  bestimmte  Lieder- 
art vertreten,  kein  Scbluss  auf  die  Werke  der  Söhne  möglich").  In- 
dem nun  die  Forschung  erkannt  hat,  dass  die  Namen  der  thra- 
kischen Sänger  zwar  im  allgemeinen  Volksbewusstsein  den  Klang 

66)  Heraklid.  bei  Plut.  v.  d.  Musik  c.  3,  wo  ualer  Anderem  Thamy- 
ris eine  Tilunoinachie  gedichtet  hal)en  soll. 

67)  Kaiiiope  des  Orpheus,  Eralo  des  Thamyris,  Urania  des  Linos 
Mutter.  Diese  nach  dem  Fragm.  des  ilesiod  im  Seh.  zu  II.  18,  569  oder 
Nro.  133  Göltl.,  214  Marckseh.  Diese  Verse  zeigen  in  eigener  Weise  den 
Uebergang  vom  Gegenstand  eines  Liedes  in  einen  Sänger. 


40^ 

gehabt.,  dass  sie  die  Musengabe  zuerst  bethätigt,  aber  alle  An- 
gabe von  entweder  zur  Bildung  gehörigen  Erfindungen,  wie  des 
Hexameters,  der  Zalil,  der  Schrift,  der  Magie,  der  Sühngebräuche, 
oder  von  Gedichten,  vollends  der  Götterlehre  auf  später  Usurpation 
dieser  Namen  beruht***):  so  tritt  als  wahrhaft  volkslhinnliche  Ueber- 
lieferung  von  der  pierischen  Sängerzeit,  deren  Hauptvertreter 
Orpheus  und  Tbamyris  sind,  luu'  Eins  hervor.  Es  ist  eine  un- 
endliche Süssigkeit  und  Wundermacht  des  Gesanges,  welche  in 
jener  Gehurts-  und  ersten  Blüthenzeit  der  Musen  eben  in  deren 
Geburtslande  von  ihren  Söhnen,  und  vor  Allen  von  Orpheus  und 
Thamyris  geübt  sein  sollte.  Sie  erscheinen  wie  die  personificirte 
Gesangesmacbt,  obschon  wir  von  einem  Heroencultus  derselben 
nur  einzelne  Spuren  finden  (nur  vom  Linos  mehr:  Philol.  8,  579); 
die  von  Terpandros  beginnende  Zeit  der  vollkommneren  Lyrik 
knüpft  an  Orpheus  als  Sänger  zur  Laute  an  (Plut.  v.  d.  Musik, 
K,  5  und  6,  mit  Volkmann  S.  74),  und  zahlreiche  Stellen  erst 
der  Lyriker,  dann  der  Tragiker  feiern  den  Ruhm  des  Sohnes 
des  Oeagros  oder  Apollon  und  der  Kalliope  und  schildern  die 
Wunderwirkungen  seines  Gesanges  auf  die  ganze  Natur;  ihnen 
schliessen  sich  dann  Spätere  in  grosser  Zahl  an.  Bei  der  im 
Vergleich  mit  dem  ursprünglich  Vorhandenen  uns  so  verkümmer- 
ten Lilteratur  namentlich  der  Lyriker  und  Tragiker  sind  unter 
den  zufällig  uns  vorliegenden  älteren  Zeugnissen  die  des  Simoni- 
des und  Euripides  die  beredtesten.  Jener  sagt:  „Bei  dessen 
schönem  Sauge  fliegen  unzählbare  Vögel  über  seinem  Haupt  und 
und  schwangen  sich  Fische  empor  aus  dem  bläulichen  Meer"; 
„Auch  nicht  ja  erregte  sich  das  im  Laube  rauschende  Wichen 
und  behinderte  nicht  die  horchenden  Sterblichen,  die  entzücken- 
den Laute  zu  vernelnnen ".  Euripides:  ,,  In  den  haumreichen 
Thalschluchten  des  Olympos,  wo  einst  Orpheus  Citlier  spielend 
heranzog  die  Bäume,  heranzog  die  Thiere  des  Feldes".  Derselbe 
bezeugt  auf  Anlass  der  Alkestis,  wie  Orpheus  durch  seinen  Ge- 
sang die  Herrscherin  im  Unterreich  Persephone  und  ihren  Ge- 
mahl erweicht,  als  er  seine  Eurydike  wiederzuerlangen  hinabge- 
gangen war,  das  grösste  und  gefeiertste  Wunderwerk,  das 
Orpheus  nach  weiterer  Erzählung'  durch  unzeitiges  Umsehen  ver- 


68)  Vor  Allen  Lobecks  Aglaophamos  S.  213—243. 


41^ 

eitelte®').  Das  Bild  der  die  ganze  Natur  überwaltenden  Gesangs- 
niaclit,  schon  von  Simonides  auch  auf  die  Lüfte  ausgedehnt, 
umfasst  in  weitern  Schilderungen  mit  der  leblosen  Natur  in 
Baum  und  Fels  auch,  wie  alle  Wetterwolken  des  Himmels,  so 
die  reissenden  Ströme  (Hör.  Od.  1,  12,  7 — 12).  Diese  VVunder- 
macht  hatte  Orpheus  nun  auch  als  Begleiter  der  Argonauten  be- 
währt, da  er  durch  seinen  Gesang  nicht  blos  allen  Hader  der 
Helden  stillte,  sondern  auch  die  verlockenden  Sirenen  über- 
stimmte und  die  zusammenschlagenden  Felsen  zum  Stillstehen 
brachte^").  Endlich  wirkte  der  melodische  Geist  nach  Volkssagen 
noch  im  Grabe.  Wir  hören  deren  zwei.  Nach  der  einen  bei 
den  Thrakern  am  Olymp  nisteten  auf  dem  Grabe  Nachtigallen 
und  die  dort  erzogenen  Jungen  sangen  süsser  und  durchklingen- 
der als  andere;  nach  der  andern  war  ein  Hirt  an  dem  Grabhügel 
lehnend  eingeschlafen;  da  kamen  ihm  im  Schlaf  Verse  des  Or- 
pheus in  den  Sinn  und  er  sang  sie  träumend,  aber  so  süss, 
dass  alle  in  der  Nähe  Befindlichen  herbeieilten^'). 


69)  Simon.  Fr.  50  und  51,  S.  763  f.  Bergks  1.  A.  Fr.  40  und  4], 
S.  885.  2.:  Eur.  ßakchen  562.  Alkest.  357  vgl.  mit  Piatons  Gastm.  179 D. 
Isokr.  ßusir.  3.  Wir  haben  diese  Wirkung  auf  die  Gölter  der  Unterwelt 
iu  der  Sage  für  gleich  alt  zu  achten,  aber  dass  eben  bei  der  Klage  um 
die  Gattin  alle  jene  Macht  auf  die  Natur  geäussert  sei,  ist  eine  schöne, 
aber  nicht  haltbare  Combination  Prellers  Gr.  3Iyth.  2,  S.  339  f.  Wahr- 
scheinlich hatte  die  Sekte  der  Orpliiker  über  den  Niedergang  des  Orpheus 
nach  Eurydike  auch  ein  Gedicht  gegeben,  s.  Lobek  Aglaoph.  376.  —  An- 
dere Zeugnisse  (das  älteste  vom  Ruhme  Ibykos  Fr.  9):  Aesch.  Agam.  1612 
oder  1598:  „Denn  der  zog  Alles  an  durcli  seiner  Töne  Lust  oder  Reiz", 
Eur.  Iph.  in  A.  1211  f.:  ,,Besäss  ich  Orpheus  Liedermund,  Vater,  nur.  Um 
Felsen  mir  durch  seine  Zauber  nachzuziehn"  u.  s.  w.  Medea  543:  „noch 
schönern  Sang  als  Orpheus  anzustinunen  jetzt".  Pindar  Fragm.  116,  9. 
Spätere:  ApoJlon.  Argon.  1,  23  —  31.  Jacobs  üelect.  S.  79.  Virgil  Land- 
hau 4,  454—510.  Horaz.  Od.  1,  12,  7—12.  Ov.  Metam.  10,  8  ff.,  bes. 
40 — 47.  Bei  diesen  Neuem  erscheint  Orpheus  schon  mehrfach  in  der  at- 
tisirlen  Gestalt  als  priesterlicher  Lebrdichter,  wie  Apollon.  1,  496  ihn 
gar,  um  die  hadernden  Gemüther  zu  besänftigen,  ein  Iheogonisches  Ge- 
dicht vom  Chaos  vortragen  lässt. 

70)  Pindar  Pyth.  4,  177  oder  315  mit  Schol.  Die  Sirenen  Herodoros 
im  Schol.  zu  Apoll.  1  ,  23  und  31.  Andere  Wunderhilfen  erst  in  späteren 
Darstellungen;  denn  bei  Ilunier  Od.  12,  70 — 73  ist  es  Here,  bei  Apollon. 
2,  598  Athene,  4.  858  u.  930  II".  die  Ncrcic'cn,  welche  durch  die  Irrfelscn 
oder  die  zusammenschlagenden  hindurch  führen;  der  ganz  späte  Verf.  d. 
s.  g.  orphischen  Argonautenfahrt  mehrt  die  Wunder  mit  Ueberlreibung. 

71)  Paus.  9,  30,  6  und  10. 


42 

Wenn  auch  nicht  so  wunderrcich,  ist  doch  des  Thamyris 
Eigenheit,  wie  sie  den  Griechen  im  Sinne  liegt,  dieselbe  wie  bei 
Orpheus,  und  wird  er  mit  diesem  öfter  in  gleichem  Sinne  ge- 
nannt, z.  B.  hei  Plato,  Gesetze  8,  829  E.  „und  wenn  sein  Gesang 
süsser  klänge,    als  die  Hymnen   des  Thamyris  oder  Orpheus""), 

Als  wundermächtiger  Lautenspieler  und  Sänger  wird  ander- 
wärts Araphion  mit  Orpheus  zusammengestellt.  Als  er  mit  dem 
ungleichen  Bruder  Zethos  die  Stadt  Theben  unnnauerte,  zog  er 
die  Bausteine  durch  sein  Laulenspiel  mit  Gesang  herbei,  während 
der  musenfeindliche  Bruder  die  seinen  mühsam  herbeischleppen 
musste"). —  Es  sei  eilaubl,  hier  eine  kurze  Betrachtung  einzufügen: 

Wohl  mag  man  den  Volksgeist,  der  die  Empfindung  der 
Macht  des  Gesanges  in  solchen  Sagen  ausprägt  —  und  es  kom- 
men noch  gar  schöne  andere  hinzu  von  den  Sirenen  der  Odyssee 
(12),  den  ihnen  ähnlichen  Keledonen  (Pind.  Fr.  30  od.  25),  den 
Cikaden,  ehemals  Menschen,  die  beim  ersten  Musengesang  aller 
Nahrung  vergessend  hinstarben  (Fiat.  Phädr.  259  B.  C.)  —  mau 
mag  diesen  Volksgeist  wohl  als  einen  feinen  und  edeln  preisen. 
Aber  bei  der  doch  weitgreifenden  Vergleichung  des  deutschen 
Sinnes  mit  dem  griechischen,  welche  Gervinus  1  ,  31  anstellt, 
war  dem  trefflichen  Verfasser  die  Schilderung  Horands  offenbar 
zu  wenig  gegenwärtig^"). 


72)  Vgl.  dens.  Staat  10,  620  A.,  wo  zum  zweiten  Leben  sich  Orpliens 
das  Logs  eines  Schwans,  Thamyris  das  einer  Nachtigall  wählt,  und  Ion. 
533  C.  Und  wie  schon  das  priesterliche  Epos  Minyas  hei  Paus.  4,  33,  7,  so 
Strabo  7,  331,  35.  Vgl.  üijcrh.  Plut.  Musik  3  u.  Volkmanns  Anm.  dazu  S.  (33. 

73)  Epos  Europia  u.  A.  Paus.  9,  5,  7  u.  8.  vgl.  mit  6,  20,  18.  Ho- 
raz  Br.  an  d  Pis.  392 — 396.  Die  Minyas  stellte  ihn  wie  den  Thamyris  als 
blässend  in  der  Unterwelt  dar.  Paus.  9,  5,9.  Die  Brüder  Amphion  und 
Zethüs  wurden  besonders  durcii  des  Euripides  Tragödie  Antiope  zu  den  Ty- 
pen des  Gegensatzes  zwischen  dem  Bddungs-,  dem  Musenleben  und  an- 
dererseits dem  praktischen  und  tücliliger  Arbeit.  Plal.  Gorg.  485  E.  Hör. 
Br.  1,  18,  41  ir.    Eurip.  Ant.  Fr.  184  —  205.    Nauck.  S.  329  —  331. 

74)  Gudrun  nicht  blos  Ahenl.  6,  was  Gervinus  später  selbst  rüh- 
mend anführt:  ,,Horand  hub  an  zu  singen,  dass  ringsum  in  den  Hagen 
Alle  Vögel  schwiegen  vor  seinem  süssen  Sänge"  u.  s.  w. ,  sondern  einige 
Strophen  weiter:  „Die  Siechen  und  Gesunden  Konnten  nicht  vom  Platze, 
wo  sie  wie  angewurzelt  stunden.  Die  Tliier'  im  Walde  liessen  ihre  Weide 
stehn;  Die  Würmer,  die  da  sollten  in  dem  Grase  gehn.  Die  Fische,  die 
da  sollten  in  dem  Wasser  fliessen,  Verliessen  ihre  Fährte:  wohl  dürft' 
ihn  seiner  Künste  nicht  verdriesscn"  u.  s.  w. 


43 

11.  Die  Ergebnisse  der  Forscliung  über  die  pierische 

Poesie. 
Der  oben  beschriebene  eigenste  Charakter  wie  all  jener 
pierischen  Sänger,  so  vor  Allen  des  Orpheus,  den  Pindar  den 
Vater  des  Liedes ,  den  ersten  Sänger  zur  Kitbar  nennt  —  er  darf 
und  soll  uns  als  der  allein  rein  volkstbiunlicbe  eben  deshalb 
gelten,  weil  die  Musik  und  Lyrik  tler  historischen  Zeit  an  diese 
Bedeutung  seines  Namens  die  des  Säugers  und  Lautners  anknüpft. 
All  die  übrige  Ueberlieferung  von  ihm  als  Stifter  der  Weihen  des 
Bacchus  oder  der  Sühngebräucbe,  als  Lehrer  vom  Wesen  der 
Gölter  überhaupt  und  einer  prieslerlichen  Lebensregel,  endlich 
als  Verfasser  vieler  Gedicbte,  Alles  dieses  gebort  weiteren  Ent- 
wickelnngen  und  wesentlichen  Wandlungen  des  religiösen  Lebens 
und  der  Bräuche  an,  wobei  die  alten  Sängernamen  mehr  oder 
minder  willkürlich  angepasst  wurden").  Einfacher  war  der  An- 
schluss  an  die  alte  Sage,  wenn  attische  Priester  einige  der  alt- 
her  zu  den  verschiedenen  Akten  des  Gottesdienstes  gebrauchten 
Lieder,  wie  andere  einem  Olen  oder  Pamphos,  so  dem  Orpheus 
oder  dem  Musäos  zuschrieben'®).  Altheilig  sollten  diese  Hymnen 
sein  und  waren  es  gewiss  und  älter  als  Homer,  dessen  Gedichte 

75)  Aus  Thrakien  kam  der  Gultus  des  Bacchus  nach  Altika,  aber  die 
bacchischen  Mysterien  und  Sühngehniuche,  deren  Stifter  Orpheus  heisst, 
sind  als  weit  später  erwiesen,  und  die  Prophelie,  welche  Musäos  nach 
vielen  Zeugnissen  bei  Herodot  und  Andern  repräsentirt ,  ist  ebenfalls  der 
vorhonierischen  wie  noch  der  homerischen  Zeit  unbekannt.  Die  jüngere 
attische  Gestalt  dieser  Beiden  erkennen  wir  hei  Aristoph.  Frösche  1032 
bis  1036  und  Plalo  Protag.  316  II.  Und  wie  da  diese  priesterliclien  Man- 
ner  von  Homer  und  Hesiod  unterschieden  werden,  so  die  sie  hegeisternde 
Golteskraft  in  Plat.  b>n.  536  B.  Gerade  von  den  dem  Orpheus,  Musäos 
und  Linos  heigelegten  theogonisclien  oder  sonst  religiösen  Gedichten  ist 
es  am  entschiedensten  dargethan ,  dass  sie  von  einer  Secte  s.  g.  Orphikcr 
oder  prieslerlicher  Männer  herrührten,  welche  in  dem  mystischen  Zeit- 
alter von  Epimenides  bis  zu  Oiiomakritos  unter  den  Pisistratiden,  620  bis 
520  v.  Chr.  lebten ,  jene  Gedichte  für  eine  bereits  damals  vorhandene 
Lescwelt  verfassten  und  dieselben  Regeln  (blutlose  Opfer  und  Enthaltung 
von  Fleischspeisen)  befolgten,  wie  die  Pythagoreer  (diese  und  Orphikcr 
dieselben,  Ilerod.  2,  81),  was  Plalo  oiphisches  Leben  nennt,  Ges.  782  0. 
Alles  dieses  dargethan  von  Lobeck  im  Aglaophamos;  über  die  Schriften 
S.  347  If.  und  noch  genauer  Gisecke  im  Rhein.  M.  Neue  Folge  8,  70 — 121, 
bes.  S.  76—83.    Allgemeine  Encyclop.  f.  Allerth.  5,  999  11". 

76)  Olen  dichtete  die  ältesten  Hymnen  überhaupt  nach  Paus.  9,  27,  2, 
Her.  4,  35;  Pamphos  nach  ihm  die  ältesten  für  die  Athenäer  Paus.  7,  21,9; 


^4 

mir  als  die  ältesten  vorhandenen  zu  gelten  halten,  in  welchen 
das  Wesen  der  vermenschlichten  Götter  vollständig  ausgeprägt 
war.  Die  Lieder,  welche  nach  den  orphischen  Weisen  gesungen 
waren,  hatten  nothwendig  einen  Wortinhalt.  Und  derselbe  Ter- 
pandros,  der  epische  Verse  des  Homer  nach  Orpheus  Weisen 
setzte  und  sang  (Plut.  Musik  c.  5),  er  hatte  seihst  alte  Hymnen 
des  zu  den  Aeltesten  zählenden  Philammon  neu  gestaltet  (ders. 
das.  a.  E.).  Diese  Gattung  der  gottesdienstlichen  Lieder  hat  ihre 
eigene  Geschichte,  nach  der  sie  neben  den  so  handgreiflich  er- 
kennbaren, schon  frühern  epischen  Liedern  ebenso  in  die  vor- 
homerische Zeit  hinaufreicht.  Auf  unserem  Wege  der  Forschung 
nach  dem  ältesten  Epos  ist  als  Ergebniss  genauerer  Prüfung  der 
Ueberlieferung  über  die  vorhomerischen  und  namentlich  pieri- 
schen Sänger  so  viel  festgestellt,  dass  es  in  dem  Zeiträume  meh- 
rer Jahrhunderte  wahrscheinlich  zuletzt  auch  schon  Gedichte  von 
dem  Ursprung  und  den  Zeugungen  der  Götter,  sonach  von  meh- 
ren Geschlechtern  derselben,  gegeben  habe,  indem  auch  die 
homerischen  Gedichte  eine  Theogonie  erkennen  lassen,  und  dass 
die  uns  unter  Hesiods  Namen  erhaltene  vollends  frühere  Gedichte 
des  Inhalts  voraussetzen  lasse"),  dass  es  aber  unmöglich  sei, 
über  deren  Gehalt  und  Weise  eine  bestimmte  Vorstellung  zu  fas- 
sen. Dass  jene  sagenhaften  pierischen  Sänger,  Orpheus,  Musäos, 
Linos,  theogonische  und  andere  Lehrgedichte  verfasst  haben  sol- 
len, das  beruht  lediglich  auf  Citalen,  welche  vielmehr  den  Wer- 
ken der  in  Anm.  75  bezeichneten  Orphiker  angehören,  wie  die 
Neuerungen  gegenüber  der  homerischen  und  hesiodischen  Theo- 
logie lehren.  Wir  können  aus  den  zahlreichen  Ueberreslen  einige 
besonders  sprechende  Belege  hervorheben,  wie  die  den  Pytha- 
goreern  mit  den  Orphikern  gemeinsame  Lehre  von  der  Seelen- 
wanderung ^*)  und  die  von  der  Nachtseite  der  Religion  des  Bacchus, 
der   Idee   des   Zagreus,    der   von    den    Titanen   zerrissen  wird''^). 


die  des  Orpheus  Paus.  9,  30  a.  E.  vgl.  mit  27,  2;  einer  des  Musäos  ders. 
1,  27,  7.  Die  des  Orpiieus  erkannte  Pausanias  in  der  ersten  Stelle  als  in 
roh  steifer  Form,  aber  zu  allheiligem  Ton  mehr  als  die  homerischen  ge- 
dichtet. 

77)  Eine    vergleichende  Darlegung  giebt  Schoemann ,  Comparatio 
theogoniae  Hesiodiae  cum  Ilomerica     Grypiiisw.  1847. 

78)  Die  Fragm.  hei  Preller  im  Rh.  M.  N.  Folge  4,  390  f. 
79)  Paus.  8,  37.  5.    Preller  Gr.  Myth.  1.  436. 


45 

Aber   den   Alles   umfassenden   Beweis   hat  Lobecks   Aglaophamos 
für  jeden  Achtsamen  gegeben. 

So  ist  die  pierische  Lehrpoesie  also  jeder  geschichtlichen 
Darlegung  des  vorhomerischen  Epos  entnommen.  Andererseits 
haben  wir  die  beiden  episch  lebendigen  Stoffe,  den  Giganten- 
und  den  Titanenkampf  doch  nur  zweifelhaft  als  vor  Homer  aus  ge- 
sungen, aufführen  können.  Die  nationalen  Anzeichen  eines  alten 
Dichterwerkes  zeigten  sich  in  den  vielen  einzelnen  Scenen  der 
weiteren  Dichter  und  Kiuistler  aus  dem  (liganlenkampf.  Einige 
finden  sich  auch  von  dem  anderen  gegen  die  Titanen.  Und  frei- 
lich lebt  im  späteren  Zeitalter  ein  bestimmter  Begriff  des  Titani- 
schen ,  derselbe  nach  welchem  Uranos  seine  Kinder  die  Titanen  bei 
Hesiod  bezeichnet  (Th.  209):  „sie  die  Strebenden,  die  in  frevelera 
Sinne  Gewaltges  übten,  wofür  dereinst  sie  erreichen  werde  die  Ahn- 
dung." Eine  titanische  Natur  ist  die  gewaltthätige  ohne  Eidestreu 
und  Glauben,  ja  ohne  alle  Gottesfurcht  (Plat.  Gesetze  3.  701  C.), 
überhaupt  aber  die  urvvilde  vor  aller  Bildung,  wie  sie  auch  ohne 
Vorwurf  nur  eben  als  noch  gänzliche  Rohheit  gedacht,  in  ge- 
wissen Sagen  erscheint,  da  die  Göttin  des  Ackerbaues  Demeter 
die  Titanen  unterweist-").  Gemeinhin  jedoch  hatte  der  ge- 
bilde  Grieche  wie  wir  den  tadelnden  Begriff  des  Plato,  und 
konnte  ihn  von  Hesiods  Theogonie  her  haben.  Bei  diesem  er- 
kennen wir  ein  älteres  Gedicht  in  eigener  Weise  theils  epitomirt 
theils  ausgezogen.  Der  Sagenstoff  hatte  in  dem  Zusammenhang, 
den  Hesiod  befolgt,  zwei  Hauptakte,  zuerst  den  Kampf  mit  den  Tita- 
nen und  die  siegreiche  Bewältigung  derselben.  Dieser  Akt  schloss 
mit  der  gleich  nach  dem  Siege  berufenen  Versammlung  der  Olympier, 
in  welcher  die  drei  Kroniden  Zeus.  Poseidon  und  Hades  (Jupiter 
Neptun  und  Pluto)  sich  in  das  Weltregiment  theilten  (11.  15, 
187—192)  und  Zeus  den  übrigen  die  besonderen  Ehren  und 
Aemter  vertheilte,  d.  h.  ihren  persönlichen  Eigenschaften  das  fortan 
gültige  Götterrecht  feierlich  zusprach*').    Mit  diesem  Akte  müsste 


80)  Schol.  zu  Ap.  Rhod.  4,  982  und  Ap.  selbst  989  f. 

81)  Zeus  ist  immer,  wie  der  eigenlhclio  Sieger  über  Kronos  und 
die  Titanen,  so  der  Vornehmste  und  Höchste,  bei  Homer  in  einfacher 
Weise  als  der  Erstgeborne,  hei  Hesiod,  indem  die  Geburten  immer  volt- 
kommner  werden,  der  Letzlgeborne,  wie  unter  Zeus  (iemahiinon  Here, 
unter  den  Musen  Kalliopc.     Die  Vorsamndung  nach  dem  Siege  (Hesiod 


46 

das  Lied  geschlossen  haben ,  wenn  es  vorhomerisch  gewesen  wäre. 
Es  folgt  aber  und  zwar  in  Ilesiods  Weise,  die  Endergebnisse 
immer  voranziislellen,  ein  zweiter  Akt,  da  die  Götter  das  Ver- 
hältniss  zur  MenschenMelt  stiften.  Die  Menschenwell,  welcher 
die  Götter  ihre  Segnungen  unter  der  Bedingung  frommer  Aner- 
kennung gewähren  wollen,  wird  von  Prometheus  vertreten.  Es 
ist  die  Prometheussage,  welche  dieser  zweite  Akt  der  Titanoma- 
chie  darstellt.  Wir  finden  dessen  doppelten  Frevel,  seine  Be- 
strafung und  die  Erlösung  durch  den  gottgeliebten  Helden  Hera- 
kles tlieils  kurz  zusammengefasst  theils  in  epischer  Lebendigkeit 
dargestellt  bei  Hesiod**).  Diese  Sage  ist  eine  so  feine  und  tief- 
sinnige Erfindung  wie  kaum  eine  andere.  Sie  kann  aber  wegen 
der  Entwickelungsstufe  der  Civilisation ,  die  sie  abbildet,  einem 
sehr  frühen  Zeitalter  auf  keinen  Fall  angehören.  So  ist  an  eine 
vorhomerische  Dichtung  dieses  zweiten  Aktes  nicht  zu  denken. 
Er  ist  dabei  künstlerisch  weit  mehr  ausgeprägt  als  der  erste.  In 
diesem  ersten  ist  der  Kampf  sehr  einfach  erzählt;  es  sind  beider- 
seits eben  nur  Gewaltmittel,  mit  denen  man  kämpft,  und  erscheint 
Zeus  so  gut  wie  allein  thätig,  der  episch  lebendiger  dargestellte 
spätere  Theil  des  ersten  Aktes,  wie  Zeus  die  drei  Hundertarmigen 
Briareus,  Kottos  und  Gyes  auf  Gäas  Bath  aus  den  Fesseln  in  der 
Erdliefe  befreit,  mit  ihnen  verhandelt,  und  sie  ihm,  dem  weisen 
Gotte  ihre  zum  Siege  erforderliche  Hilfe  widmen  —  er  beschliesst 
jenes  Gemälde  ganz  in  gleichem  Sinne.  Der  Stoff,  ein  Kampf 
der  Gewalt  gegen  Gewalt  und  zwar  gegen  plastisch  unfassbare 
Titanen,  er  war  für  dichterische  Darstellung  ungünstig,  und  eben 
daher  zeigt  die  Schilderung  Hesiods  sich  vollends  nur  auf  die 
Verherrlichung  des  Zeus  gerichtet*^).  Ganz  fremd  ist  hier  die  in 
Aeschylus'  Prometheus  gegebene  Sagengestalt,  da  der  Sieg  durch 
eine  vom  Prometheus  angerathene  List  gewonnen  worden  (211  — 223). 
Hieran  schliesst  sich  die  Vermuthung,  dass  die  erste  dichterische 


881  —  885)  wie  vor  dem  Kampfe  (390 — 396).  Der  Kampf  war  darum  ge- 
führt, welche  Eigenschaften  die  göttliche  Machtvollkomnicnhoit  besitzen 
und  illjen  sollte ,  die  Geber  des  Guten  und  Gölter  der  Ordnung  oder  die 
wilden  Naturgewalten. 

82)  Strafe  und  Erlösung  Th.  521— .534.    Die  Frevel  535—616. 

83)  Eine  nnchhomerische  Titanomacliie  wusste  die  Kämpfer  l)eider 
Parteien  sinniger  zu  unterscheiden  und  mehre  Olympier  mit  Waffen  ver- 
sehen in  Thätigkeit  zu  .setzen.    Sagenp.  27. 


47 

Gestalt  des  Titanenkampfes  die  Prometheussage  nicht  anfügte, 
sondern  nacli  dem  Siege  als  eigentlichen  Schlussakt  nur  so  zu 
sagen  die  Besitznahme  der  erkämpften  Herrschaft  und  die  Ver- 
theilung  der  Aemler  unter  die  Mitkämpfer  folgen  liess.  Ehen 
nach  Ilesiod  trat  unmittelhar ,  nachdem  lie  Titanen  niedergekämpft 
waren,  die  Versammlung  ein,  in  welcher  die  anderen  Gölter  feier- 
lich den  Zeus  als  ihren  Oberherrn  anerkennen  (auf  Gäas  Rath), 
er  aber  seiner  vor  dem  Kampf  gegebenen  Zusage  gemäss  den 
durch  ihre  persönlichen  Eigenschaften  zur  Theilnahme  an  der 
Weltordnung  befähigten  Andern  das  Götterrecht  ertheilt  (881 — 885 
vgl.  mit  73  f.  und  112).  Es  ist  diess  nach  dem  ganzen  Sinne 
der  Erzählung  nicht  Vertheilung  der  Erde,  ihrer  Stämme  und 
Städte  an  die  Götter.  Doch  ist  auch  jene  Vertheilung  der  per- 
sönlichen Ehrenämter  nur  Dichteigedanke,  nicht  Volkssage.  An 
sich  besass  jeder  Gott  seine  persönliche  Eigenheit  und  Würde 
schon  durch  und  bei  seiner  Entstehung  aus  dem  der  Vorsorge 
bedürftigen  Menschengemüth.  Und  ebenso  ging  alle  V^ervielfälti- 
gung  oder  Wandel  dieser  Eigi^nschaften  im  Glauben  der  Stämme 
vor  —  die  Darstellung  eines  solchen  Aktes  der  Verleihung  oder 
Bestätigung  durch  Zeus  konnte  also  gar  nicht  Bedürfniss  und  Ge- 
danke des  Volkes  sein ,  sie  war  nur  Dichterw  erk.  Die  Nalio- 
naldichter  stehen  hinsichtlich  jener  verschiedenen  Charaktere 
der  Götter,  so  wie  sie  uns  theils  einzeln  theils  in  Aufzählungen 
vielfältig  begegnen**),  im  allgemeinen  Bewusstsein,  und  so  natür- 
lich schon  Homer,  der  nur  der  ältest  erhaltene  und  sprechendste 
Zeuge  für  diese  Charaktere  geworden  war.  Dasselbe  allgemeine 
Bewusstsein  gab  dem  Zeus,  dem  patriarchalisch  so  genannten  Vater 
der  Menschen  und  Götter,  die  Obmacht  über  Alles  und  Alle  und 
bei  jedem  Werk  die  Vollendung  {relog).  So  folgte  von  selbst, 
dass  er  auch  jene  Aemter  überwachte,  und  wo  ein  Gott  sich  in 
das  Gebiet  des  anderen  mischte,  ihn  zurecht  wies  (II.  5,  428 — 430 
wie  auch  Here  die  Artemis  daselbst  20,  4851. 


84)  Aphrodite  und  die  ilir  unbezwinglichen  Götliimeii:  Ilyuni.  a. 
Aphrod.  7  —  33.  Die  verschiedenen  Begabungen  der  Mensclien:  Solon, 
grösste  EI.  B.  oder  4,  49—58.  Plat.  Gaslm.  197,  A— B.  Ges.  11,  920  D.E. 
Arislot.  Polit.  8,  6  a.  E. :  „Der  Athene  legen  wir  die  Wisscnschafl  und 
die  Kunstfertigkeit  bei".  Plut.  von  d.  Geniülhsruhe  12:  „Und  docli  hat 
aucli  von  den  Göttern  der  diese,  jener  jene  Eigenschaft  und  wird  darnach 
benannt". 


48   

Wie  das  persönliche  Wesen  im  Volksglauben  seinen  Ursprung 
und  sein  Fortleben  hatte,  so  auch  das  Verhältniss  der  Schutz- 
götter der  verschiedenen  Stänune  und  Bezirke.  Die  Volkssage, 
hier  Cullussage,  nahm  nun  einerseits  auch  von  Seiten  der  Schutz- 
götter eine  besondere  Voi  -  und  Gegenliebe  für  ihre  Schützlinge 
an ,  der  Golt  hatte  den  Sitz  sich  selbst  gewählt.  So  stellte  man 
gern  in  besondei'er  Erzählung  dar,  wie  der  Gott  bei  ihnen  Platz 
genommen.  Aber  aus  dem  Verlangen ,  den  Besitz  schon  in  mög- 
lichst uraller  Zeit  aufzuweisen,  entstanden  nun  weiter  auch  viele 
Sagen  von  irdischen  Geburtsslättcn ,  ja  Geburtstagen  der  Götter. 
Dies  Letzlere  erst  später**).  Jedenfalls  erkennen  wir,  dass  es 
ebenfalls  nur  ein  ideales  Dichterbild  war,  wenn  es  hin  und  v^ie- 
der  auch  heisst,  Zeus  habe  auch  die  Erde  und  ihre  Gebiete  unter 
die  Götter  verlheilt.  So  in  jener  Ursage  von  der  Besitznahme 
der  Insel  Rhodos  durch  den  Sonnengott  bei  Pindar  (Ol.  7,  55 
oder  100.)  und  so  bei  Plato  in  dem  Phantasiegebilde  der  Insel 
Atlantis,  jenseits  der  Säulen  des  Herakles,  welche  Poseidon  als 
sein  Gebiet  erloosle,  während  andere  Götter  andere^*). 

12.  Das  nationale  E p  o .s  entwickelt  sich  in  zwei  Pe- 
rioden. In  der  ersten  werden  kleinere  Lieder 
gedichtet  über  e  i  n  z  e  1  n  e  E  r  e  i  g  n  i  s  s  e  ii  n  d  A  k  t  e  d  e  r 
Sage  von  der  Heroen  zeit.  In  der  zweiten  ent- 
stehen grössere  C  o  m  p  o  s  i  t  i  o  n  e  n  und  damit  erst 
die  Kunstform  der  Gattung.  Dies  bei  den  Grie- 
chen durch  Homer,  den  grossen  Dichtergenius, 
dessen  1 1  i  a  s  und  Odyssee  das  zweite  Zeitalter 
beginnen,  zugleich  aber  als  älteste  Denkmale 
nebst  Hesiods  Helden genealogien,  wüe  vom  gan- 
zen älteren  Helden  alt  er  zeugen,  so  von  Liedern 
der  ersten  Periode  die  zahlreichsten  Beispiele 
erkennen  lassen. 

Die  Erkenntniss  des  in  vorstehenden  Worten  angegebenen 
Entwicklungsganges   des  Epos,  und  zwar  als  desselben  bei  allen 

85)  Zeus  auf  Kreta  in  unächter  Stelle  des  Hesiod  Theog.  477 — 484. 
Doch  viele  Orte  wollten  Zeus  Gcburtsstätten  sein  nach  Paus.  4,  33,  1. 
Ebenso  Apollons  sogar  neben  Delos. 

86)  Plat.  Kritias  109 B,  113 B,  C.  vgl.  mit  Tim.  24E.  — 25D.  Solons 
Gedicht  Atlantis:  Nie.  Bach  Solon.  Fragm.  S.  35  11'.  bes.  S.  55. 


49 

Völkern,  sie  ist  das  Ergebniss  der  gescliichtlichen  Forschungen  und 
Sprachstudien,  welche  im  Laufe  der  letzten  50  —  60  Jahre  die 
verschiedensten  Sprachen  und  Litteraturen  umfasst  und  ins  Licht 
gesetzt  haben.  So  lautet  es  jetzt  einstimmig  bei  mehren  histo- 
rischen wie  philosophischen  Forschern  wie  angegeben"^):  Die 
Geschichte  des  Epos  aller  Völker  zeigt  als  allgemeine  Thatsache 
anfänglich  einzelne  kleinere  Lieder  über  einzelne  Ereignisse 
und  Heldenthaten  oder  aus  reicheren  Liederstoffen  kleinere  Par- 
tien, dann  grössere  Compositionen  von  mehr  oder  minder  ein- 
heitücher  Beschaffenheit,  je  nachdem  die  Stoffe  der  einheitlichen 
Gestaltung  günstig  oder  die  Dichtergeister  zur  harmonischen  Durch- 
führung ideenreich  und  bildnerisch  geschickt  waren.  Sofern  jeder 
solcher  Nationaldichter  einen  in  den  kleineren  Liedern  überkom- 


87)  Fr.  Zimmermann,  Begr.  d.  Epos,  Darmst.  1848,  S.  13  f., 
Anm.  ***:  ,,Dass  die  auf  volkslliümlicher  Grundlage  ruhende  Epik  von 
Dichtungen  beschränkten  Umfangs  ihren  Ausgangspunkt  genommen  hat, 
und  dass  eine  Reihe  von  Entwickelungsmomenten  durchlaufen  werden 
musste,  bis  durch  Umgestaltung,  Erweiterung,  Zusammenordnung  und 
Verschmelzung  aus  den  Elementen  kurzer  Lieder  der  Organismus  eines 
epischeu  Körpers  erwuchs  —  das  lässt  sich  in  der  Geschichte  des  Epos 
wohl  als  allgemeine  Thatsache  statuiren.  Als  wichtige  Belege  erscheinen 
die  Forschungen  über  die  germanische  Heldensage ,  über  die  bretonischen 
und  karolingischen  Sagenkreise."  Besonders  bat  Fauriel  in  der  Revue 
des  deux  mondes,  1832,  Sept.  u.  f.,  deutsch  in  Förstemanns  Neuen  Mit- 
theil. B  5,2,  S.  81  f. ,  auf  den  Vorgang  kleiner  Lieder  aufmerksam  ge- 
macht. In  Deutschland  und  in  Bezug  auf  die  homerische  Frage  zeigte 
Welcker  im  episch.  Cycl.  I.  v.  .1.  1835,  S.  123,  die  Folge  der  zwei 
Zeitalter  im  Anscbluss  an  Fauriel.  Die  Untersuchungen  der  Gebrüder 
Grimm,  bes.  W.  Grimms,  in  der  deutschen  Heldensage,  weisen  die  klei- 
nen Lieder  qach,  welche  dem  Kihelungenlied  und  der  Gudrun  vorher- 
gingen. So  kam  dasselbe  von  dem  indischen  und  dem  iranischen  Epos 
zur  Anerkennung.  Daher  sprechen  zahlreiche  Stimmen  dasselbe  Verhält 
iiiss  als  das  allgemein  gütige  aus  und  besonders  auch  in  Bezug  auf  das 
griechische  Epos  und  Homer.  Viseber,  Aesthetik ,  Tii  3,  Alischn.  2. 
S.  1287:  „Solche  Lieder  sind  bekanntlich  die  Elemente,  aus  denen  überall 
das  ursprüngliche,  allein  ächte  Epos  erwachsen  ist".  Carriere,  das 
Wesen  und  die  Formen  der  Poesie,  Lcipz.  1854,  S.  12G  f.,  in  Bezug  auf 
die  griechischen  und  deutschen  Epopöen.  —  Philologische  Forscher : 
L  e  h  r  s  in  d.  Berliner  Jahrb.  f.  wiss.  Kritik  1834 ,  B.  2 ,  S.  627.  C.  Fr.  Her- 
mann. Culturgesch.  d  Gr.  u.  Rom.  Gott.  1857.  S.  92  f.  Theod.  Bergk, 
Ueber  das  älteste  Versmass  der  Griechen.  Fred»,  im  Breisg.  1854.  gleich 
nach  dem  Anfang,  Fr.  Ritscbl  in  den  Beilagen  zu  Löbells  Weltgesch. 
1.  600  bis  602,  und  schon  Alex.  Biblioth.  S.  70. 

iNitzsch,  Gesell    il.  griech.  Epos.  4 


50 

menen  Stoff  verwendet,  nicht  von  Grund  aus  neu  dichtet,  sodann 
was  bereits  im  Bewusstsein  des  Volkes  lebt,  zu  l)eachten  hat  — 
bleibt  leicht  in  der  neuen  Gestaltung  hier  und  da  etwas  Nichlaus- 
geglichenes.  Dergleichen  aber  konnte  den  Zuhörern  des  leben- 
digen Vortrags  nicht  als  störend  zum  Bewusstsein  konunen. 

Wenn  wir  die  epischen  Einzellieder  mit  den  Epopöen  verglei- 
chen, so  ist  der  nationale  Charakter  den  Erzeugnissen  beider  Zeitalter 
gemeinsam;  in  dem  jüngeren  wie  in  dem  alleren  sind  es  Gesänge  von 
Thaten  der  Helden  und  Ereignissen  der  eigenen  Vorwelt,  d,  h. 
von  der  im  Gediichtniss  des  gesammten  Volks  oder  der  Stämme 
fortlebenden,  vom  Volksgeist  früher  allmälig  gestalteten  Sagen- 
bildern der  Vorzeit,  da  die  damaligen  Menschen,  soviel  ihrer  sich 
hervorlhaten,  die  erste  Tugend  des  freien  Selbstbewusstseins,  die 
muthvolle  Tapferkeit  in  Bewältigung  urwilder  Geschöpfe,  über- 
haupt im  Bestehn  persönlicher  Abenteuer,  in  Fehden  gegen  Bur- 
gen der  Nachbarslämme,  oder  in  Heerfahrten  zur  Rache  bewährt, 
und  eben  damit  ihr  Heldenthum  vollzogen  haben ,  und  alles  die- 
ses unter  dem  WaUen  der  noch  näheren  Götter*^). 

Diesen  Stoff  trug  der  Sänger  beider  Zeilalter  vor,  allerdings 
als  der  eigens  begable  sowohl  au  Wissen  der  alten  Kunden  als 
an  Geschick  der  Darstellung;  aber  indem  er  so  wenig  wie  seine  Zu- 
hörer das,  was  er  gielU,  unlerschcidet,  ob  er's  weiss,  oder  eben 
sich  so  vorstellt,  gehl  ilun  seine  Persönlichkeit  in  dem  so  mitge- 
theilten  Gegenstande  auf.  Dieses  Verhältniss  des  Dichters  zu  sei- 
nem Stoffe  und  dasjenige  dieses  Stoffes  selbst  in  seiner,  obschon 
vom  Dichtergeist  ausgeprägten,  doch  gleichsam  nur  wiedergegebenen 
Beschaffenheit  bezeichnet  die  Theorie  mit  dem  Worte  naiv,  Nai- 
ve tat,  wie  Vis  eher,  Aesthetik  III,  2,   1287  und  Ajidere®®). 

88)  S.  die  ausführliche  Chaiakto.ristik  des  Heroenthuras  bei  Zim- 
mer mann,  Begr.  d.  Epos,  S.  27  —  -35,  bes.  31 :  ,,Üies  ist  die  Tugend 
des  Heros.  Die  freie  That,  einzig  begründet  in  dem  begeisterten  Jugend- 
drange nacli  preiswürdigen  Thaten,  wobei  es  als  individuelle  Gesinnung 
erscheint,  wenn  die  Heroen  das  ausführen,  was  das  Rechte  und  Sittliche 
ist,  vollzieht  sich  als  die  früheste  leuchtende  l'rkunde  des  Grossen  und 
Göttlichen  im  Menschen." 

89)  Fr.  Zimmermann,  Begr.  d.  Epos,  S.  17  u.  20,  und  erklärend 
Carriere,  d.  Wesen  d.  P.,  S.  147  f.:  „Der  echte  Epiker  ist  Eins  mit  sei- 
ner Zeit,  ihn  trennt  keine  Kluft  von  der  Bildung  seines  Volkes,  er  ist  nur 
der  liederrciclie  Mund  desselben  und  ebenso  ist  er  eins  mit  seinem  Stoff." 
—  „Die  Objectivilät  des  Epos  ist  also  keine  kalte  Aeusserlichkeil,  son- 


51 


Abschnitt  II. 

Zur  Kritik  der  vorhomerischeu  Lieder  im  Homer. 

13.  Metliodiscb  e  Eeclitfertiguug  der  Anerkennung 
jener  zwei  Zeitalter  des  nationalen  Epos,  eines 
ersten  kleiner  Lieder  von  einzelnen  Ereignis- 
sen und  eines  folgenden  grosser  von  EinemMo- 
t  i  V  durchdrungener  und  bemessener  Handlun- 
gen, also  der  jetzt  erst  entstehenden  Epopöen. 
Die  nothwendigen  Stufen  der  Entwickelung 
epischer  Poesie,  also:  Volkssage  von  der  eige- 
nen Vorzeit,  kleinere  Lieder,  grössere  epische 
Gebilde    und    damit    erst    die    wahre    Epopöe. 

Jene  Auffassung  des  nationalen  Epos  als  beiden  Zeitaltern 
gemeinsam  hebt  die  Gemeinsamkeit  des  Stoffes  hervor,  der  immer 
im  Volksbewusstsein  lebendig  ist.  Indem  nun  dabei  die  obige 
Darlegung  der  Sängergabe  als  einer  keineswegs  je  allem  Volk  bei- 
wohnenden, sondern  eben  von  begabteren  Sängern  geübten  befolgt 
wird,  gestaltet  sich  auch  die  Unterscheidung  der  Zeitalter  mehr- 
fach anders,  als  sie  bisher  meistens  bezeichnet  wurde.  Zuerst  sind 
die  Namen  Volksdichtung  und  Runstdichlung  als  unbrauchbar  oder 
minder  angemessen  abzulehnen.  Volkslhümliche  Lieder  sind  dar- 
um keine  erfindende  Volksdichtung,  und  das  Bild ,  welches  im 
ersten  Enthusiasmus  für  den  aufgefundenen  wahren  Geist  des  äch- 
ten Epos  von  den  Entdeckern  (den  Gebrüdern  Grimm)  selbst  ent- 
worfen wurde,  und  mehrfach  in  den  Geschichten  der  deutschen 
Dichtung  fortlebt,  es  kann  nicht  als  das  wahre  gelten.  Nicht 
bat  es  eine  Zeit  gegeben,  weder  bei  den  Deutschen  oder  Skan- 
dinaven  mit  ihren  Scalden,  noch  bei  den  Indern,  noch  bei  den 
Griechen,  wo  nach  Gelegenheil  neben  ihren  Aöden  Jeder  sang, 
der  sich  angeregt  fühlte.  Von  Gefühlsergüssen  abgesehn  war 
Lieder-  und  zumal  Heldenlieder  -  Dichten  immer  Sache  einzelner 
besonders  Begabter.  Sodann  kann  das  Urtheil  noch  weniger  be- 
stehn,  wonach  die  Poesie  des  ersten  Alters,  die  sobenannte  Volks- 

(lern  bestellt  darin,  dass  das  suhjective  Gcfülil  des  Diciüors  sich  vöHig  in 
den  Gegenstand  ergossen  hat  und  dieser  dadurch  von  einem  (uMnülhs- 
U'hoii  durohihungen,  bewegt  und  beseelt  erscheint." 

4* 


52 

poesie ,  einen  der  Kunstpoesie  unerreichbaren  Vorzug ,  eine  unwie- 
derbringliche Herrlichkeit  gehabt  haben  soll.  Es  war  aber  diese 
Ueberschätzung  die  \Yirkung  einer  Reaction  des  poetischen  Sinnes 
gegen  den  prosaischen  Zeitgeist,  der  in  Allem,  was  er  anerken- 
nen sollte,  regelrecht  kinislliche  Formen  heischte.  Zuerst  trat 
Herder  mit  seinen  Volksliedern  (1778  und  1779)  und  seine  Ver- 
herrlichung des  Volksgesangs  bei  uns  auf.  Von  da  an  wurde  es 
allmählich  unter  uns  Mode,  auf  die  grossen  Werke  bewusster 
Meister,  wenn  nur  irgend  ein  mehr  als  instinctives  Verfahren 
darin  wahrnehmbar  war,  vornehm  hinzublicken.  Von  dieser  Ver- 
stimmung ist  dieses  Lobpreisen  der  Einzellieder  ein  Ueberrest, 
der  indess  immer  mehr  verschwinden  wird.  Denn,  ,, welchen 
Grund  hat  man  wohl,  zu  behaupten,  dass  die  ächte  Kunst  der 
Poesie",  —  die,  wie  wir  eben  an  Homer  sehen,  mit  der  Nai- 
vetät  mit  nichten  unvereinbar  ist  —  ,,und  die  acht  homerische 
Einheit  ihren  Sitz  nur  im  einzelnen  Liede  haben":' "^'*) 

Gar  ein  wundersames  Urtheil  der  Ueberschätzung  der  kleinen 
Lieder  verlautete  jiuigst  in  einer  Monographie  ( die  Erzählung  des 
Phönix  11.9,  529  —  600  von  La  Hocbe  S.  1):  „Vielmehr  weist 
eine  Menge  der  verschiedenartigsten  Momente  darauf  hin,  dass 
neue  und  bestimmt  ausgesprochene  Tendenzen  es  sind ,  die  dem 
homerischen  Epos  seinen  eigenthümlichen  (Iharakter  verliehen 
haben.  Als  nämlich  die  Ilias  (Eitstand,  war  der  Geist 
der  Zeit  innerlich  schon  ü  b  e  r  d  a  s  u  n  g  e  s  t  ö  r  l  e  e  p  i  s  c  h  e 
Bewusstsein  hinausgegangen,  man  begann  zu  klug  zu 
werden  für  die  Naive  tat  des  Epos,  und  verlangte  noch 
mehr  rationeller,  historisirender  Behandlung  des  Stofles." 

So  hätte  also  mit  nichten  ein  einiger  Dichtergeist,  neu«,  ein 
Zeitgeist  die  Ilias  hervorgebracht.  Diese  Vorstellung  irgend 
concretisirt ,  führt  auf  eine  Meliilieil  dtT  Dichtenden,  und  zwar 
solcher,  die  insgesamml  erstlicli  Ix'i  der  so  zahlreichen  imd  nian- 
nichfachen  Reihe  bereits  einzeln  besungener  Sagen  und  Lieder- 
sloffe  einen  aus  der  troischen  Sage  auswählten  - —  der  hier  gül- 
tige Vorzug  dieser  Sage,  der  der  grössten  l'opularität,  galt  frei- 
lich  auch   bei    dem    einigen  Homer.  —  Aber  warum  wählten  sie 


90)  Hieckes  Worte  in:  Der  gegenwärtige  Stand  der  lionieiisciien 
Frage.  Gralulalionssclir.  zur  vierten  Siunlarfeier  der  dasigen  Universi- 
tät.   1856.    S.  9. 


53 

insgesarunil  auch  aus  den  elwa  sechs  Partieen  dieser  Sage  ge- 
rade die  vom  Zorn  und  seinen  Folgen?  Das  Ge\vicht  dieser  Frage 
verstärkt  jener  Verf.  selbst  S.  7,  Anm.  *) ,  indem  er  es  für  un- 
möglich erklärt,  durch  Ausscheidung  von  Einschiebseln  eine  Ur- 
llias  herzustellen,  weil  eben  die  Ilias  selbst  aus  der  nämlichen 
Richtung  hervorgegangen  sei,  wie  das  einzelne  Auszuscheidende. 
Er  hat  nämlich  dem  oben  Angegebenen  hinzugefügt:  „Man  begnügte 
sich  auch  nicht  mehr  mit  einzelnen  Heldenliedern,  ein  grösseres 
Ganze  sollte  geschafl'en  werden,  wie  etwa  eine  Geschichte  des 
ganzen  troianischen  Krieges  (?)  wäre  es  auch  nur  mit  Hilfe  vor- 
und  rückwärts  greifender  Episoden  und  ofl  wunderlicher  Ana- 
chronismen (?)  (man  denke  an  Schiffskalalog,  Teichoskopie  und 
Lagerbefestigung  im  neunten  Jahre  des  Krieges?)" 

Weiter  wird  das  mitten  in  die  epischen  Traditionen  Einge- 
drungene ein  Pragmatismus  und  Rationalismus  genannt, 
und  gesagt,  es  walte  in  der  llias  ein  unvermittelter  Dualismus 
zwischen  den  Ueberkommnissen  der  vorausgegangenen  Epoche 
und  den  Forderungen  und  Anschauungen  einer  sich  ankündigen- 
den Neuzeit. 

Eine  unbefangene  Ansicht  darf  sich  für  berechtigt  halten, 
zuerst  in  den  Wahl  der  beiden  Partieen  mit  ihren  Hauptpersonen 
Achill  und  Odysseus  einen  maassgebenden  einigen  Geist  zu  er- 
kennen, der  das  innewohnende  Motiv  zu  dem  grösseren  Ganzen 
ausprägte,  in  welches  als  schon  vorhanden  und  beim  hörenden 
Volke  beliebt  hier  und  da  die  Einschiebsel  geschahen,  ja  auch 
nianche  für  den  Einzel  Vortrag  geeignete  Lieder,  wie  der  SchilVs- 
calalog  und  das  nächtliche  Abenteuer  die  Dolonnia  (11.  10)  nur 
lose  sich  an  dieses  Ganze  anknüpften.  Eine  dazu  nicht  geeig- 
nete Partie  ist  nirgends  nachzuweisen. 

Der  inneren  Charakterislik  der  lionicrischen  Epopöen  als 
einer  bereits  entarteten  Poesie"')  tritt  ohne  alles  Bedenken  das 
Irtheil  entgegen,  welches  sie  eben  als  den  Höhepunkt  und  die 
eigenste  Blüthe  dieser  Dichtungsgattung  zu  betrachten,  von  allen 
Seilen  bewogen  wird.    In  diesem  Urtheil  kann  am  wenigsten  eine 


91)  Nur  scheinbar  hat  La  Roche  an  dem  vielhcwährlen  Wacker- 
nagel: Die  ep.  Poesie,  Schweiz.  Mus.  2,  S.  HO  f.  einen  einstimmenden  Vor- 
gänger. Die  Berichtigung  auch  seiner  Darstellung  des  Verhältnisses  der 
ersten  zur  zweiten  Periode  wird  später  ihren  Platz  finden. 


54 

so  wunderliche  in  sich  unklare  Ansicht  stören,  da  es  Pragmatis- 
mus und  Rationalismus  heisst,  wenn  ein  Dichtergeisl  in  den  meh- 
ren von  einem  und  demselben  Agens  bewegten  oder  bedingten 
Einzelakten  eben  dies  ihnen  allen  Innenwohnende  erfasst  und  als 
das  Beseelende  nach  dem  Glauben,  den  er  mit  seinem  Volke 
theilt,  darstellt.  Das  lautet  ja,  als  wäre  es  nicht  eben  das  Wesen 
und  die  Bestimmung  des  Epos,  immer  ein  Unternehmen  oder  Be- 
fahren der  thatlebendigen  Menschheit  zu  besingen,  und  würde 
nicht  ein  jedes  wie  selbst  durch  einen  menschlichen  oder  gött- 
lichen Willen  hevorgerufen  so  in  seinem  Verlaufe  und  mannig- 
fachen Phasen  eigenthümlich  beseelt.  Das  Folgende  wird  diese 
Mängel  berichtigen,  und  wird  jenes  „man  begnügte  sich  nicht  u. 
s.  w. "  hinlänglich  in  das  rechte  Licht  setzen.  Geschichte  und 
Philosophie  sprechen  von  einem  ganzen  Weltgebilde,  das 
die  epische  Poesie  in  ihrer  Fülle  darstelle.  Wie  sie  dies  thun, 
hat  der  Erklärer  zu  zeigen. 

Es  ist  in  jenes  Verfassers  Auffassung  nur  das  richtig  und 
sie  dadurch  treffender  als  die  vieler  anderen  Trennenden,  dass  er  die 
Entstehung  der  Ilias  als  eine  nach  vorherigen  Einzelliedern  neue 
Erscheinung  und  Folge  eines  umfassenderen  Strebens  anerkennt. 
Hiermit  ist  einmal  die  unglaubliche  Vorstellung  abgewiesen,  als 
wären  die  beiden  Epopöen  erst  durch  die  von  Pisistralus  Beauf- 
tragten  als  Ganze    entstandene^);    sodann  aber   ist  die  Neugestal- 


92)  Susemihl,  Reo.  von  Benihaidys  Gr.  Lit.  in  ^'.  Jahrb.  f.  Phil.  B.  73, 
H.  9,  599:  „Als  ob  nicht  diese  Tradition  (von  der  11.  u.  Od.  als  Ganzen)  viel- 
mehr bereits  voraussetzt,  dass  sie  (die  Einzelgesänge)  alle  zu  zwei  solchen 
grossen  Epen  gehörten.  Oder  soll  uns  w'irklich  die  'fJiorheit  aufgebürdet 
werden,  dass  Onomakritos  und  seine  Genossen  sie  ganz  nach  eignem  Gut- 
dünken erst  in  diese  beiden  grossen  Werke  zusammenfügten  und  also  den 
Begriff  einer  Ilias  und  Odyssee  erst  schufen  ?  "  G  r  o  t  e ,  Gesch.  Gr.  ühertr.  von 
Meissner  1,  510 — 512.  Friedländer,  von  Wolf  l)is  Grole,  S.  11  — lö. 
B  ä  u  ra  1  e  i  n ,  Z.  f.  A.  50  Nr.  19 :  „sind  erst  unter  Pisistratos  Lieder,  die  bis  da- 
hin gesondert  existirten ,  in  unsere  11.  und  Od.  vereinigt  worden,  so  ist  jene 
Gleichmässigkeit  in  Sprache  und  Versbau  das  Werk  der  von  P.  beauftrag- 
ten Gelehrten  etc."  S  c  h  ö  m  a  n  n ,  Rec.  der  Sagenpoesie ,  N.  Jahrb.  B.  69, 
H.  1,  S.  30,  nach  der  Erklärung,  dass  es  dem  Humor  in  der  Ilias  nicht  ge- 
lungen sei,  die  überkommenen  Lieder  seinem  Plane  ganz  anzueignen 
und  wirklich  organisch  einzufügen,  wenn  auch  deutlich  oikennliare  Zu- 
sätze ausgeschieden  würden:  ,,  Endlich  dass  jene  Coinposition  vor  Pi- 
sistratus  gar  nicht  vorhanden  gewesen  sei,  wie  Lachmann  und  Andere 
fortwährend  behaupten,  ist  nicht  nur  von  N.  sondern  von  Andern  und  na- 


55 

tung  selbst  in  eine  verhältnissmässig  späte  Zeit  gesetzt.  Und  wie 
unabweislicb  der  stoMicbe  Inhalt,  die  Sprache,  die  metrische 
Vollkommenheit  der  homerischen  Gedichte  die  Anerkennung  einer 
langen  Vorzeit  gebieten,  dies  ist  jetzt  sattsam  erkannt  und  mehr- 
fach ausgesprochen^^).  Diese  Versetzung  der  als  die  ältesten 
gellenden  Gedichte  —  was  sie  nämlich  erst  späterhin  durch  ihre 
Vorzüge  geworden  waren  —  in  eine  jüngere  Entstehungszeit,  sie 
setzt  das  darin  gegebene  Weltbild,  und  setzt  den  Dichter  in  ein 
verhältnissmässig  spätes  Zeitalter;  das  Weltbild  hat  die  rohe  Cul- 
turstufe,  der  Schöpfer  der  Ilias  eine  vorherige  Periode  mit  vielen 
Stufen  der  Sprache  und  Versbildung  und  einem  reichen  Ertrage 
von  Liedern  hinler  sich.  Dass  der  Dichter  dabei  die  Cultur  der 
Heroenzeit  sowohl  der  Griechen  als  der  Asiaten  auf  einer  hohen 
Stufe  geschildert  habe,  einer  höheren,  als  der  wirklichen,  und 
solcher  Anachronismus  im  Wesen  w  ahrer  Poesie  gegeben  sei ,  ist 
Goelhe's  ausdrücklicher  Ausspruch'*).  Und  wenn  das  Studium  der 
homerischen  Gedichte  durch  die  Schilderung  der  Heroenzeil  nach 


menllich  zuletzt  von  Grote  mit  so  schlagenden  Argumenten  widerlegt, 
(lass  unseres  Erachtens  diese  Meinung  für  immer  abgethan  ist.  Alles 
stimmt  vielmehr  dafür,  dass  eine  Ilias  als  Ganzes  sclion  vor  den  älte- 
sten KykJikern ,  also  vor  dem  Anfang  der  Olympiaden  vorhanden  ge- 
wesen, und  es  ist  kein  Grund  anzunehmen,  dass  diese  wesentlich  von  der 
unserigen  verschieden  gewesen  sei." 

93)  Ernst  Cur  li  US,  Gr.  Gesch.  S.  112:  „Im  liomer.  Epos  tritt  uns  die 
griechische  Welt  zum  ersten  Male  entgegen.  Aber  es  ist  darum  keine  Welt 
der  Anfänge;  es  ist  keine  in  unsicherer  Entwickclung  begriffene,  sondern 
eine  durchaus  fertige,  eine  reife  und  in  sich  abgeschlossene  mit  festge- 
regelten Lebensordnungen.  Mau  fühlt  es  ihnen  an,  dass  sich  seil  undenk- 
licher Zeit  die  )Iensclien  darin  eingelebt  haben."  Ausführl.  Schilderung 
S  c  h  ö  m  a  n  n  ,  Gr.  Allerth.  1 ,  19 — 84.  II  i  e  c  k  e ,  Greifsw.  Progr.  v.  185B. 
Der  gegen w.  Stand  d.  hom.  Frage  S.  23:  „Homer  selbst  kann 
immerhin  in  Smyrna  und  lange  nach  der  Auswanderung  geboren  sein, 
ja  er  muss  weit  später  geboren,  und  die  beiden  Epopöen  müssen  weil 
später  entstanden  sein,  wenn  nicht  alle  grosse  historische  Analogien  trü- 
gen: Welcker,  Ep.  Cycl.  11,  54."  Krüger,  Gr.  Sprachl.  11,  ,^.  50 
S.  279:  Die  Syndetik  ist  schon  hei  Homer  so  reich  und  kunstvoll,  dass 
sie  eine  Vorbildung  von  Jahrtausenden  verräth. 

94)  Ausg.  1.  Hand  Stuttg.  1830,  8.  li.,  26,  145,  u.  B.  38  S.  297:  „Alle 
Vergangenheit,  die  ,wir  Dichter  liervorrufen,  muss  eine  höhere  Bildung, 
als  es  halle,  dem  Allertliümlichcn  zugestehn.  Die  Ilias  und  Odyssee,  die 
sämmtlichen  Tragiker  und,  was  von  wahrer  Poesie  übrig  geblieben  ist, 
lebl  und  athmel  nur  in  Anachronismen." 


-  56 

ihrer  bereits  fortgeschrittenen  Cultur,  wie  auch  Goethe  bemerkt, 
die  Ansicht  berichtige,  als  müsse  man,  um  die  homerischen  ISa- 
turen  zu  verstehen ,  sich  mit  den  wilden  Völkern  und  ihren  Sitten 
bekannt  machen,  so  wies  dasselbe  auch  das  Urtheil  zurechl,  als 
sei  Homer  ein  sogenannter  Naturdichter.  Daher  lesen  wir  bei 
C.  Fr.  Hermann"'"):  „Man  ist  namentlich  dadurch  so  vielfach 
zu  falschen  Urtheilen  über  Homer  verleitet  worden,  dass  man 
ihn  mit  den  —  Aöden  seiner  Heroenzeit  verglich  \\m\  als  Natur- 
dichter betrachtete.  Daraus  leitete  man  die  Unmöglichkeit  der 
Entstehung  jenes  grossen  Ganzen  von  einem  einzigen  Menschen 
ab.  —  Jene  schwanken  noch  zwischen  Epos  und  Lyrik;  den  ho- 
merischen Gedichten  ist  aber  die  reine  Objectivität  aufgeprägt, 
und  abgesehen  von  den  Interpolationen  liegt  sowohl  der  Ver- 
knüpfung im  Ganzen,  als  den  Gleichnissen  so  ächter  Dich- 
f ergeist  zu  Grunde,  dass  auch  die  zahlreichen  Unebenheilen  im 
Einzelnen  uns  nicht  an  dem  dichterischen  Berufe,  und  der  grossen 
Persönlichkeit  des  Mannes  irre  machen  dürfen,  der  in  der  Ilias 
zugleich  die  hervorragendsten  Erinnerungen  seines  Stammes  zur 
Einheit  eines  lebensvollen  Gemäldes  verschmolz,  und  den  Anstoss 
zur  ähnlichen  Behandlung  aller  übrigen  Sagen  des  griechischen 
Volks  mit  der  vollen  Freiheit  dichterischer  Phantasie  gab." 

14.   Die    homerische  Epopöe,    die    zweite   Kunststixfe 
und    die   Blüthe    des    wahren    Epos. 

In  ähnlichem  Sinne  weiter  Lehrs''*):  ,,Man  legte  zu  hohen 
Werth  auf  das  Argument,  dass  jene  alten  Sänger  zu  kurzer  Er- 
gölzung  bei  Schmausen  und  Festen  herbeigerufen,  der  äusseren 
Gelegenheit  ermangelt  zu  so  nuifangreichcn  Gedichten.  Sonst 
würde  man  anders  geschlossen  haben,  dass  der  Genius  im  Zeit- 
alter des  epischen  Gesanges  aus  einzelnen  Gesängen  sich  zum  voll- 
kommen organisirten  Ganzen  durch  eignen  Drang  emporschwingen 
muss  },  und  dass  man  fürwahi-  nach  anderen  Erschei- 
nungen nicht  berechtigt  sei,  den  Griechen  die  höchste 
Ausbildung  des  epischen  Gesanges  in  stetiger  Folge 
abzusprechen.    Man  würde  es  mehr  erkannt  haben,  dass  zwar 

95)  Cullurgesch.  d.  Gr.  u.  Rom.,  Gott.  1857,  Th.  1  S.  92. 

96)  Berl.  Jahrb.  f.  wiss.  Kritik,  1834,  B.  2  S.  627  und  dess.  Populäre 
Aufs.,  Leipz.  1856,  S,  H— lü. 


57 

poetische  Elemente,  d.  h.  die  Fülle  der  Einzellieder  und  Lieder- 
stoffe in  jener  Zeit  überschwänglich  vorhanden  waren,  dass  aber 
diese  Planmässigkeit  eines  grossen  Gedichts,  diese 
religiöse  und  moralische  Grösse  —  diese  vAohlthätige 
Beruhigung,  in  welche  alle  Disharmonieen  sich  auf- 
lösen, nie  einer  Masse,  nur  einzelnen,  den  b  egabtesteu 
und  edelsten  unseres  Geschleciits   gegönnt  gewesen." 

Hiernach  Homers  Stellung  in  der  epischen  Poesie  nach 
Bergk'^):  „Ilias  und  Odyssee  sind  nicht  die  ersten  unvoll- 
kommenen Versuche  des  hellenischen  Dichtergeistes,  sondern 
die  Blut  he,  die  vollständige  Entfaltung  des  poetischen 
Vermögens.  Wie  die  Quellen  und  Bäche  des  Gebirges  den 
breiten,  mächtigen  Strom,  der  die  Ebene  durchzieht,  erzeugen, 
so  gestaltet  sich  das  Epos  aus  Liedern.  Auch  der  ho- 
merischen Dichtung  sind  Lieder  kiu'zeren  Umfangs,  einfacheren 
Inhalts,  die  stets  nur  ein  Ereigniss  aus  der  reichen  Fülle  der 
Heldensage  (der  yiXia  avÖQäv)  behandelten,   voraus  gegangen." 

Dass  eben  dieses  als  der  Fortschritt  in  der  epischen  Poesie  nach 
Nothw endigkeit  anzuerkenen  sei,  ja  das  eigentliche  Wesen  dieser 
Gattung  erst  in  den  umfänglichen  Gebilden  sich  entwickelt  habe, 
ist  in  der  Kürze  von  Bäum  lein  ausgesprochen,  weiter  von  C.  Fr. 
Hermann,  von  dem  bald  zu  nennenden  Hiecke  und  von  anderen  Ver- 
tretern der  Ansicht  von  der  Einheitlichkeit  der  Epopöen'*^):  „Wäh- 
rend es  Niemand  wird  läugnen  wollen,  dass  die  Sagenbildung  den 
Liedern  vorangeht,  dass  sie  in  diesen  dann  eine  bestimmtere  Gestall 
gewinnt,  aber  auch  mit  den  Liedern  sich  weiter  fortbildet,  kann  man 
andererseits  der  Ansicht  sein,  dass  die  Zeit  der  kleineren  einzelnen 
Lieder  eine  der  homerischen  Poesie  vorausgehende  Periode  der 
epischen  Poesie  war,  und  dass  schon  in  der  Ilias,  mehr  noch  in 
der  Odyssee  eine  höhere  Kimststufe  vorliegt,  welche  die  früheren 
Lieder  aufnehmend  unidichtete,  und  nicht  durch  äusserliche  un- 
organische Zusanunensetzung  und  Diaskeuase,  sondern  durch  or- 
ganische Neugestaltung  in  ein  grosses  Epos  vereinigte." 

Der  immer  zuerst  vorsichli^e  Urtheiler  drückt  hier  das,  was 


97)  Progr.  Freib.  im  Br.   1854:     Ueher  das  älteste  Versmaass  der 
Griechen. 

98)  Rec.  der  Betracht,  üb.  Homers  Ilias  von  Karl   La c hm a im  in 
Z.  f.  A.  1850,  Nr.  19  S.  145. 


58 

unabweisliche  Voraussetzung  und  duroh  die  vorliegenden  Epopöen 
selbst  gegeben  ist,  daher  von  obigen  Stimmen  bereits  anerkannt 
ward,  als  blosse  Zulässigkeit  aus.  Sein  Urtbeil  über  die  Ansicht, 
nach  der  die  kleinen  Lieder  als  die  allein  originale  und  schöne  Poesie 
betrachtet  und  ihre  Herstellung  versucht  wird,  gab  er  an  einer 
andern  Stelle  in  Bezug  auf  das  geschichtliche  Verhältniss  des 
vor-  und  nacbhomerischen  Epos  schlagend  ab.  Er  hatte  ja  erkannt 
und  bekannt,  dass  Homers  Leistung  eben  in  der  Neubildung  und 
ergänzenden  Wiedergeburt  des  in  kleineren  Liedern  vorgebildeten 
Stolles  bestehe*'). 

„Nicht  genug  wundern  kann  man  sich,  dass  diese  von  Wolf 
einst  eingenommene,  von  Lach  mann  vertheidigte  Position  noch 
so  blanche  behaupten  wollen;  denn  wir  erhalten  damit  die  höchst 
singulare  Erscheinung,  dass  wir  in  den  kleineren  Liedern  die 
Vorstufe,  in  den  (nächsthomerischen  s.  g.)  kyklischen  Dich- 
tungen den  Verfall  des  Epos  (?)  vor  uns  haben,  und  die  in 
einheitlichen  Handlungen  grösserer  Epen  sich  darstellende  ßlülhe 
völlig  fehlt,  oder  —  das  All erunbe greiflichste  —  dass  die 
vorliegende  nicht  abzuläugnende  künstlerische  Einheit  das  spä- 
tere Werk  Mehrerer  war." 

Die  hier  gemeinten  Vertreter  der  trennenden  Meinung  geben 
auf  die  Frage,  wer  denn  eigentlich  die  einheitliche  Gestaltung 
bewirkt,  keine  oder  eine  unglaubliche  Antwort,  wie  Bernhard y 
aussprach:  „Die  Hand,  welche  Wunden  schlug,  heilt  sie  nicht".  — 
„Denn  der  Einfall ,  dass  wir  jenes  Wunder  dem  Pisistratus  und 
seiner  Bedaction  verdanken,  war  kaum  ernstlich  gemeint."*"") 

Es  wird,  um  der  Ilias  und  Odyssee  in  der  Geschichte  des 
Epos  die  gehörige  Stellung  zu  geben.  Beides  erfordert  und  wei- 


99)  N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Pädag.  B.  75  u.  7«  H.  1  S.  37:  Der  Schiffskata- 
Jog  der  Ilias. 

100)  Gruudr.  d.  Gr.  Liier.  2.  Aull.  11.  1,  122  f.,  wo  er  sich  selbst  daluu 
ausspricht:  „Wohin  immer  die  Kritik  streben  mag,  den  Begrilf  'Ourjgog 
muss  sie  voraus.setzen  und  daran  unbedingt  festhalten.  Abgesehen  von 
der  Etymologie  —  dürfen  wir  unbedenklicli  mit  Welcker  und  Nilzsch 
Homer,  den  Stammvater  der  ersten  grossen  Epen,  als  den  ideellen  (?)  Ty- 
pus und  Genius  jener  Kunstfertigkeit  betrachten,  welcher  statt  vereinzelter 
Lieder  ein  zusammenhängendes  Ganze  mit  Absicht  unternahm."  Wolfs 
Worte  von  den  im  Wort  selbst  irrigen  Diaskeuasten  und  Pisistratus  s. 
Proleg.  GLI  u.  CLIl,  sie  erscheinen  ernsthch  genug  gemeint. 


59 

firhin  von  uns  ausgeführt  werden,  die  Charakteristik  der  ersten 
[»eriode  in  den  erkennbaren  kleinen  Liedern  und  die  der  nächst- 
homerischen in  eingehender  Beschreibung  der  s.  g.  Kykliker. 
Jetzt  vernehmen  wir  das  richtige  Ergebniss  der  bisherigen  For- 
schung aus  Kit  sc  bis  Feder.  Er  giebt  eine  wohlerwogene 
üebersicht  s.  z.  s.  der  Lebensgeschichte  der  beiden  Epopöen  Ho* 
mers,  wie  sie  ihr  Leben  im  lebendigen  Vortrag  hatten.  Da  geht 
ihrer  Schöpfung  eine  erste  Periode  voraus,  in  der  unmittelbar  nach 
dem  troischen  Kriege  die  Sänger  der  verschiedenen  Stämme 
Einzellieder  von  ihren  einzelnen  Heldenthaten  gesungen,  die  dann 
durch  die  Wanderung  nach  den  asiatischen  Küsten  auf  ihrem 
alten  Boden  neues  Leben  bekamen.  Dann  lautet  es  von  der 
zweiten  Epoche:  „Hinlänglich  vorbereitet  durch  die  siegreiche 
Kraft  rastloser  Anstrengungen  deutscher  Wissenschaft  darf  jetzt 
die  Ausgleichung  der  Gegensätze  scheinen,  wonach  aus  einer 
reichen  Fülle  mündlich  überlieferter  epischer  Einzellieder  der 
ionische  Homeros  diejenigen,  die  mit  Eigenem  verschmol- 
zen den  Umkreis  der  ächten  Ilias  und  Odyssee  ausfüllten,  kunst- 
gemäss  verknüpfte,  —  zu  einem  Ganzen,  in  Avelchem  sich  .Alles 
auf  einen  Mittelpunkt,  der  eine  sittliche  Idee  enthält,  be- 
zieht, —  eine  Entstehungsart,  die  schon  ihrer  Natur  nach 
die  Forderung  eines  das  Kleinste  durchdringenden 
Zusammenstimmens   aussc bloss."*"') 

Ein  Anstoss,  den  man  an  dem  von  mehren  der  Angeführten  ge- 
brauchten Begriff  der  Kunst  genommen  haben  könnte,  wird  erstlich 
eben  in  Bezug  auf  Homers  Kunstfertigkeit  von  Dissen  beseitigt  (Kl. 
Sehr.  321).  ,,Ein  bewustloses  Dichten  —  lässt  sich  schlechter- 
dings auch  im  Homer  nicht  durchführen,  sondern  klärlich  ist  in 
ihm  bereits  auch  besonnene  Kunstfertigkeit,  nur  freilich  keine 
gelehrte  Kunst." 

„  Die  Kunst  hat  einen  verschiedenen  Charakter  in  den  ver- 
schiedenen Perioden  der  Literatur,  aber  kunstlos  ist  gar 
kein  classisches  Werk." 

Cnd    wem   der  Begrifl"  der  Kunst  mit  dem,    was    vorhin  als 


101)  Vullsläiuliger  hei  Loebell ,  Wellgesch.  1 ,  <J01   iiiil  Amii.  84   zu 
Ahschn.  12,  kürzer  in  Rilsclils  Alcxandr.  Hililiolhek  70  f. 


J?0^ 

Naivetät   bezeichnet    wurde,    unvereinbar    erscheinen   sollte,    den 
wird  Vi  Sehers  Aesthetik  zufrieden  stellen'"''): 

„Während  das  einzig  ursprüngliche  Gedicht  im  idealen 
-  Stile,  welches  der  Orient  hinterlassen  hat,  das  indische  —  in 
das  Formlose  ausläuft,  steht  das  griechische  Epos  in  so 
einziger  Vollendung  da,  dass  es  als  historische  Erscheinung 
doch  ganz  mit  dem  Begriffe  der  Sache  zusammenfällt; 
denn  das  Vollkommenste  in  dieser  Dichtungsart  wird  da  ge- 
leistet, wo  nicht  nur  die  Phantasie  des  Volksgeistes  an  sich 
plastisch  ist,  sondern  auch  das  dichtende  Bewusstsein  sich  zur 
Kunstpoesie  erhoben  hat,  ohne  den  Boden  der  Naivetät  zu  ver- 
lassen u.  s.  w."  und 
a.  a.  0.:  „Keinem  andern  Volke  ist  das  Glück  geworden,  wie  den 
Griechen,  ihr  National -Epos  zu  vollenden  in  dem  Momente, 
da  eben  die  naive  Poesie  die  Vortheile  der  Kunst  in  sich  auf- 
nimmt, und  die  Kunstpoesie  den  ganzen  Vortheil  der  Naivetät 
geniesst," 

Es  ist  unschwer  einzusehen,  wie  das  naive  Verhältniss  des 
Dichters  zum  überlieferten  Sagenstoffe,  und  die  Einmüthigkeit 
darin  mit  seinen  Hörern  auf  jener,  in  der  in  unserer  Einleitung 
beschriebenen  Geistesperiode  obherrschenden  Phantasie  beruht. 
Diese  selbe  Stimmung  steht  aber  in  keiner  Weise  einer  Neuge- 
staltung jenes  beiderseits  bewussten  Sagenstoffes  entgegen,  son- 
dern verlangte  nur  eine  gewisse  Rücksicht  und  Befolgung  des 
Volksbewusstseins,  uie  es  die  früheren  Lieder  begründet  halten. 
Es  ist  vielmehr  bei  dieser  Ansicht  von  der  Entstehung  auch  der  grösse- 
ren Ganzen  aus  den  überkommenen  Sagenstoffen  und  der  bereits  vor- 
hergegangenen bestimmteren  plastischen  Gestaltung  der  Charaktere 
und  Hergänge  in  Liedern,  andererseits  wiederum  die  Vorstellung 
zu  meiden,  als  habe  der  individuelle  Dichlergenius  nur  wenig 
zu  leisten  gehabt,  er,  dessen  beide  Epopöen  durch  ihre  Erschei- 
nung eben  den  Begriff  der  Gattung  aufgestellt  haben,  und  die 
wie  von  seinem  Volke  hochgefeiert,  von  den  bekannten  nachfol- 
genden Epikern  in  ihrer  Wahl  beachtet,  in  ihrer  Kunstübung  als 
Muster  befolgt ,  von  aller  Theorie  von  Aristoteles  an  in  dieser 
Geltung  erhalten  worden  sind'"^. 

102)  III.  2.  1285  unten,  und  12«7. 

103)  Schon  hier  mag  mit  einem  Wurl  bemerkt  werden,  wie  Viel 


61 

Ho  ff  mann  in  Lüneburg,  einer  der  verdientesten  Forscher 
in  der  liomerisclien  Frage,  liat  liierüber  Urtheile  al)gegei)en, 
welche,  vom  Unläugbaren  ausgehend,  die  Eigenheit  des  Dichter- 
geistes und  seine  individuellen  Wirkungen  in  Verknüpfung,  Aus- 
prägung, besonders  Beseelung  des  zunächst  in  Liedern  über- 
kommenen Sagenstoffes  zu  wenig  würdigen'"^). 

Uniäugbar  ist  ja  freilich,  und  es  behauptet  Niemand  mehr. 
Homer  habe  auch  nur  selbst  die  überkommenen  Sagen  und  Lieder- 
stotTe  so  zu  gestalten  vermeint,  dass  die  Grundzüge  des 
durch  die  Ilias  gehenden  Plans  als  sein  alleiniges 
Eigenthum  anzusehen  seien  Hoffm,  278).  Diese  Grund- 
züge und  auch  manche  einzelne  Acte  waren  gewiss,  von  früheren 
, .dichterischen  Talenten"  bereits  geschickt  ausgeprägt,  dem  Schöp- 
fer der  Ilias  zugekonunen.  Auch  grössere  ältere  Gedichte  (S.  280) 
wie  die  der  in  der  Odyssee  aufgeführten  Sänger  Phemios  und 
Demodokos  von  der  Heimkehr  der  Griechen  und  von  der  Ein- 
nahme Troia's,  wohl  auch  eine  Patrokleia  vor  der  Ilias,  aus  der 
Odyssee  aber  die  in  der  dritten  Person  erzählten  Irren  und  den 
Freiermord  hat  Homer,  aber  freilich  nicht  ohne  Veränderungen 
im  Einzelnen  in  seine  neuen  Hildungen  aufgenommen,  oder  viel- 
mehr dabei  benutzt.  Deutlich  genug  erkennen  wir,  wie  später 
nachgewiesen  werden  w  ird ,  wie  der  Inhalt  des  Liedes  von  der 
^eimkehr  und  eines  andein  von  der  Kachethal  des  Orestes  vom 
Schöpfer  der  Odyssee  in  seiner  lebensvollen  dramatischen  Dar- 
stellung ausgebeutet  worden  ist.  Und  die  Neubildung  der  Irren 
zur  Vorgeschichte  des  Haupthelden  und  zu  seiner  Erzählung  vor 
Alkinoos,  ist  ja  eine  Hauptthat  des  eründsamen  Dichtergeistes 
bei  der  Bildung  der  Odyssee"'^).    Ist  dem  luui  erweislich  so,  dann 

fehlt,  (lass  die  Stellung,  welche  Waclvoriuigol  dem  Homer  B.  2,81 
giebt,  für  die  richtige  gellen  könne.  Gerade  das  Beseelen,  das  Erfassen 
und  Durchfüliren  des  seelischen  Motivs  w^ar  das  >'eue  des  Homer. 

104)  Allgem.  Monatssclir.  f.  Wissonscli.  n.  Lilcral.  Halle  1852,  April, 
S.  278  und  279  f. 

105)  Wackernaf^cl,  2,  S.  83,  weil  er  bei  allem  Loljpreis  der 
Odyssee  den  Dichtergenius  nicht  genugsam  erkannt  hat,  bezeicimel  den 
Gewinn  und  das  durch  jene  Fassung  der  früheren  Irrfahrten  Erreichte 
ungenügend:  indem  so  was  eigentlich  dci'  Anfang  der  dargeslclllen  Sa- 
genweise ist,  in  die  3Iitle  eingefügt  wird,  gewinnt  das  Ganze  den  An- 
schein grösserer  Gedrungenheit  untl  Ahrundung.  sieht  concenlrirler, 
einfacher,  einheitlicher  aus. 


___62__ 

ist  „die  Thäligkeit  des  Homer"  doch  wohl  nicht  blos  eine  aus- 
bauende (S.  379),  sondern  eine  umbauende  nicht  mit  Un- 
recht zu  nennen. 

Ein  Hauptpunkt  für  die  besonnene  Beurtheilung  des  Diciiter- 
genius  sind  die  oben  von  Ritsch  1  genannten  eignen  Zuthaten, 
durch  welche  er  die  in  den  äUeren  Liedern  gegebenen  Einzel- 
acte  zur  organischen  Einheit  verband.  Es  werden  sich  in  beiden 
Epopöen  mehre  solche  Partieen  selbst  kund  geben,  welche  eben 
nur  für  Durchführung  des  Plans  gedichtet  sind,  und  keineswegs 
schon  von  der  allgemeinen  Sagengestalt  geboten  waren. 

15.  Fortsetzung.  Die  drei  Stufen  des  National-Epos 
und  ihr  VerhSltniss  zu  einander.  Die  richtige 
Ansicht  von  der  Neugestaltung  der  Einzellieder. 

So  naturgemäss  und  leichtbegreiflich  auch  die  Entwickelung 
des  National-Epos  ist,  es  waltet  bei  den  Theilnehmern  an  der 
Forschung  über  dieselbe,  besonders  den  jüngeren,  noch  mancher- 
lei Unklarheit,  und  dalier  Verwechselung.  Die  Entwickelung  der 
Dichtungsart,  welche  jedes  Volkes  eigne  Vorzeit  feierte,  und  eben 
dadurch  zuerst  national  wurde  und  hiess,  sie  hat  wie  natürlich 
ihren  Ursprung  aus  dem  Volksbewusstsein  von  den  bedeutenden 
Ereignissen  und  Personen  dieser  Vorzeit.  Sonach  ergeben  sich 
die  Drei  Stufen,  Volkssage,  kleinere  Einzellieder  und  auf 
Grund  dieser  dann  erst  grössere  Gebilde,  bemessen  nach  dem 
innewohnenden  Motiv  der  Bewegung,  beseelt  nach  dem  Phantasie- 
glaubeu  des  Volksgeistes ,  den  der  ausführende  Dichter  theilt,  und 
den  er  erst  in  Charakteren  der  Helden  und  Götter,  und  bei  den  Wech- 
selwirkungen zwischen  Menschen  -  und  Götterw elt  die  Handlung 
zur  recht  lebensvollen  .4nschaulichkeit  ausprägt.  Die  Volkssage 
als  die  erste  Stufe,  und  die  Bildung  kleiner  Lieder  über  einzelne 
Thaten  oder  Ereignisse  aus  derselben  als  die  zweite,  durften 
doch  mit  vollem  Rechte  behauptet  werden.  Das  Volk,  der  Stamm, 
hat  jedenfalls  in  seinem  Bewusstsein  von  seiner  Vorzeit  eine  An- 
zahl von  benannten  Personen,  und  in  gewisser  Bestimmtheit  über- 
lieferten Ereignissen.  Unklar  scheint  Hieckc  hierüber  zu  denken. 
(Der  gegenwärtige  Stand  der  homer.  Frage  S.  4.  f.) 

Die  nothwendige  Vorstufe  in  den  kürzeren  Einzelgesängen  trat 
zuerst  durch  Wolfs  geniale  Anregung  hervor,   dem  aber  seiner 


63 

Zeit  das  Wesen  der  Sage,  und  so  auch  die  erste  bildnerische 
Gestaltung  ihrer  Personen  und  Thatsachen,  d.  h.  die  kleinen  Lie- 
der, eben  nur  dunkel  bewusst  war.  Sein  Satz,  mit  dem  er  die 
bis  dahin  geltende  Meinung  von  Homer  und  dessen  beiden  Epo- 
pöen am  entschiedensten  als  irrig,  ja  unmöglich  angrifi,  war 
der  (Proleg.  112):  dass  wenn  auch  das  Genie  des  Homer  die 
unglaubliche  Kraft  besessen  hätte,  zwei  Gedichte  von  solchem 
Umfange  ohne  Hilfe  der  Schrift  auszuführen  und  mitzutheilen, 
es  doch  zum  Gebrauch  seiner  Erzeugnisse  an  den  örtlichen  und 
zeillichen  Gelegenheiten  gefehlt  haben  würde,  wie  wenn  ein  Be- 
wohner des  Binnenlandes  in  der  Zeit  der  noch  unfertigen  See- 
fahrt ein  Schiff  hätte  bauen  wollen,  zu  dessen  Gebrauch  ihm  das 
Meer  gefehlt.  Wolf  selbst  schwankte  zwischen  zwei  Möglichkeiten, 
diese  in  dem  Umfang  liegende  Unglaublichkeit  auf  ein  zulässiges 
Pensum  zu  ermässigen.  In  den  Prolegoraena,  wo  er  108  es  all- 
gemein anerkannt  nennt,  dass  beide  Werke  des  Homer  nur  theil- 
weise  und  in  verschiedener  Reihenfolge  öffentlich  vorgetragen  wor- 
den seien  —  die  doppelte  Rhapsodie  wurde  nicht  beachtet  —  ur- 
tlieilt  er  auch  über  die  Odyssee,  ungeachtet  der  lebhaftesten  An- 
erkennung ihrer  künstlerischen  Einheit,  doch  ebenso,  dass  auch 
ihre  Rhapsodien,  eben  wfe  die  inhaltlichen  Namen  besagten,  nui" 
als  einzelne,  wie  vorgetragen  so  gedichtet  seien:  120  —  123.  Da- 
gegen in  den  Vorreden  zu  den  Ausgaben  der  Ilias  hatte  er  es 
mehr  mit  der  Annahme  zu  thun,  dass  Homer  nur  zwei  Gedichte 
kleineren  Umfangs  gegeben  habe,  die  dann  von  dichlungsfähigen 
Rhapsoden  zum  vorliegenden  Umfang  ausgeführt  seien  (bes.  XXVI. 
a.  E.).  Beide  Möglichkeiten  bespricht  er  in  den  Briefen  an 
Heyne  S.  71. 

Von  diesen  zwei  Vorstellungen  erfasste  Lach  mann,  sowie 
vor  ihm  schon  G.  Hermann  ( 1806)  die  der  kleinen  Lieder,  welche 
jetzt  auch  öfters  halbhistorisch  mit  dem  IS'amen  Rhapsodien  be- 
zeichnet werden  ""^) ,  und  unternahm  es  zuerst  1816,  das  was  ihm 
von  Wolf  von   der  ursprünglichen  Gestalt  der  homerischen  Ge- 


106)  Goethe,  ßriefw.  zw.  Schill,  u.  G.  4,  184:  „die  unzähligen  Rhap- 
sodien, aus  denen  nachher  die  beiden  Gedichle  so  glijcklich  zusammen- 
gestellt wurden".  Fr.  Zini  nicrn)  ann.  Begr.  d.  Epos,  13:  „zuerst  pMo- 
gen  eine  Reihe  vulkstliümhchor  Rliapsodien  aus  dem  Sagenkreise  voran- 
zugehn."    Ebenso  Vischer,  Aeslhell.  III.  2, 1287. 


64 

sänge  als  eiwiest'ii  galt,  auf  die  deutsche  Ilias,  das  IVihelungen- 
lied ,  anzuwenden'^').  Nachdem  er  hier  die  Nihelungen  niiUels 
kritischer  Scheidung  in  20  Einzellieder  zerlegt,  und  dieses  sein 
Verfahren  niehrfach  Zustinimung  gewonnen  hatte,  ging  er  mit 
grosser  Zuversicht  zu  dem  eignen  Gesclnmicksurtheil  an  die  Aus- 
schälung von   15  oder  16  Liedern  aus  dem  Texte  der  Ilias'"-). 

Es  gaben  diese  Betrachtungen  Lachmanns  einer  sehr  gössen 
Zahl  nacheifernder  Schüler  Mutli ,  dem  gleichen  Prinzip  zu  folgen. 
Ein  dem  Prinzip  im  Ganzen  günstiger,  sehr  umsichtiger  und  ge- 
wiegter Recensent  machte,  indem  er  Lachmanns  nach  einander 
aufgestellte  kleine  Lieder  aus  den  Nihelungen  wie  der  Ilias  be- 
achtete, zuerst  darauf  aufmerksam,  dass,  wenn  der  Beweis  für 
die  Entwickelungsstufen  des  Epos  seine  volle  Giltigkeit  erlangen 
sollte,  dieselbe  sichtende  Herstellung  allein  ächter  kleiner  Lieder, 
auch  an  der  Gudrun  und  an  der  Odyssee  mit  Erfolg  vollzogen 
werden  müsste'"").  Sodann  sprach  er  die  hedeudente  Folgerung 
aus  (515,  a.),  dass  gewiss  Nichts  entgegenstehe,  einen  Cyclus 
geisl-  und  sinnverwandter  Lieder,  wie  eben  die  (die  Hauptacte 
enthaltenden)  vom  Zorn  des  .\chill  oder  von  Ciiriemhildens  Rache, 
wenn  sie  sich  auch  nicht  vollständig  zu  einem  künstlerischen 
Ganzen  zusanmienfügen  wollen ,  doch  e'inem  und  demselben  Dich- 
ter zuzuschreiben.  Dies  zumal ,  da  bei  Annahme  einer  Anzahl 
begabter  Einzeldichter  es  doch  auffällig  erscheinen  müsse,  dass 
diese  Talente  sämmtlich  sich  auf  einen  so  beschränkten  Stoff  ge- 
richtet, und  damit  jeder  einzelne  nur  ein  oder  zwei  Lieder  ge- 
schaffen hätten  (513  b.). 


107)  S.  Lachinaun,  über  die  ursprüngliche  rieslalt  des  Gedichts  von 
der  Nibelungen  Noth.  Berl.  1816,  Eing.  u.  S.  25  u.  87  f. 

108)  Betrachtungen  über  die  ersten  10  Bücher  der  Ilias,  1837,  Brl.  38, 
und  fernere  Betr.  1841  zus.  niil  Zusätzen  von  Moritz  Haupt,  Berl.  1847. 
Schon  1838  Wackernagels  Abhandlung. 

109)  (Prof.  Weisse  in  Leipz.)  in  Blätter  für  liter.  Unterhaltung,  1844, 
Mai,  Nr.  126— 129  S.515,  6:  „Der  Verf.  hat  sein  Geschäft  noch  nicht  voll- 
endet; an  der  „Odyssee",  an  der  „Gudrun"  bat  er  sich  noch  in  ähnliche) 
Weise,  wie  an  den  Nu),  und  an  der  Ilias  zu  versuchen.  —  Erst,  wenn 
wir  auch  in  Bezug  auf  diese  beiden  Gedichte,  und  noch  einige  ver- 
wandte, von  ihm  belehrt  worden  sind,  ob  sie  ähnlich  in  kleine  Lieder 
—  und  auch  gleicher  Weise  in  eine  ächte  und  eine  unächte  3Iasse  aus 
einander  fallen,  werden  die  Akten  des  von  ihm  eröffneten  Prozesses  über 
das  hellenische  und  das  germanische  Epos  geschlossen  sein." 


65 

Die  Jünger  des  so  anregenden  Meisters  haben  in  dem  jüngst- 
vergangenen Jalirzehnt  in  seinem  Geiste,  wie  gesagt,  fortgestrebt, 
und  haben  gar  eifrig  sich  bemüht,  auch  in  der  Odyssee  Uneben- 
heiten, Widersprüche,  oder  unechte  Einschiebsel  nachzuweissen. 
Aber  das  wahre  Verhältniss  der  früheren  kleinen  Lieder  hatten  sie 
dabei  öfters  gar  nicht  erkannt,  sonst  würden  sie  mit  der  Aeusser- 
ung,  auch  die  Odyssee  sei  aus  kleinen  Liedern  entstanden,  nicht 
ihren  Sieg  zu  verkünden  gemeint  haben. 

16.  Die  Lachmauu'schen  Versuche,  kleine  Lieder 
herzustellen,  misslungen.  Seine  Geschmacks- 
urtheile    nicht   giltig. 

Sehen  wir  auf  das  ganze  Bestreben  der  Beweisführung  und 
mustern  die  jetzt  gewonnenen  Erfolge  auf  beiden  von  Lachmann 
angeregten  Bahnen,  so  will  uns  nirgends  etwas  Erwiesenes 
begegnen. 

Auf  Grund  des  von  Wolf  überkommenen  Einwaudes  hat 
Lachmann  für  die  Weise  der  einzelnen  Rhapsoden  kürzere  Lieder 
gesucht,  die  er  selbst  gleich  in  der  ersten  Schrift  romanzenartig 
nennt.  Und  es  ist  das  die  mit  Recht  geltende  Vorstellung  von 
dem  Wesen  der  Einzellieder,  dass  sie  mit  unsern  Romanzen  oder 
Balladen  vergleichbar  gewesen,  und  ihnen,  wie  schon  oben  ein 
lyrisch  epischer  Ton  beizulegen  sei"").  Von  diesem  abgesehen, 
mussten  sie  aber  zum  Einzelvortrag  jedenfalls  ein  kleines  Ganze 
enthalten  und  geben,  wie  jede  Romanze  ein  Thema,  eine  kleine 
Geschichte  durchführt.  Diess  hatte  Lachmann  durch  seine  Be- 
zeichnung selbst  anerkannt,  aber  was  er  als  vermeintlich  ächte 
und  poetisch  schöne  Einzellieder  aufstellte,  war  zum  Theil  so  kurz, 
dass  es  zum  rhapsodischen  Vortrag  sich  nur  in  Zeiten  verbrei- 
teter Kunde  des  Zusammenhangs  eignen  konnte,  wie  Plalo  in  sei- 
nem Ion  den  enthusiastischen  Homeriden  rührende  Partieen 
auswählen  lässt.  Aber  mehrfach  war  das,  was  er  kürzer  oder 
länger  ein  Lied  nannte,  eben  nur  ein  Stück  geradeausgehender 
Erzählung,  welche,  wenn  sie  einen  denkbaren  Anfang  nimmt, 
doch  die  Handlung  zu  keinem  Ende  führt.  Diess  ist,  auch  wo 
er  in  der  Patroklie  nicht  ein  Kleinlied,  sondern  ein  umfängliches. 


110)  C.  Fr.  Hermann,  Culturgesch.  93;     „Jene  schwanken  noch 
zwischen  Epos  und  Lyrik." 

Nitzseh,  Gesch.  d.  griech.  Epos.  5 


60 

ein  Grosslied  annimmt,  in  der  Recension  von  Bäum  lein  unläugbar 
mehrfach  dargethan  "'). 

Aber  Lachmann  ^vill  ja  durch  seine  Ausscheidung  der  klei- 
nen Lieder  das  Echte,  Ursprüngliche  vom  Unechten  unterscheiden. 
Was  hat  er  denn  da  für  einen  Massstab?  Keinen  andern,  als  sein 
eignes  ganz  subjectives  Geschmacksurtheil.  Die  Zuversicht  zu 
diesem  spricht  er  besonders  zweimal  so  scharf  aus,  dass  darüber 
von  Mehren  Verwunderung  geäussert  ward*'^). 

Und  seine  einzelnen  verwerfenden  Geschmacksurtheile  über 
die  Ronde  des  Agamemnon  im  4.  Gesänge  der  llias,  über  das  9.  Buch, 
vollends  über  die  fünf  Bücher  vom  IS.  bis  22.  haben  von  Männern 
aller  Parteien,  sowohl  von  denen  einer  sehr  verwandten  Grund- 
ansicht,  als  von  dem  eingehensten  Bestreiter  seiner  Betrachtungen, 
endlich  auch  von  den  eine  Mittelstellung  Einehmenden  Wider- 
spruch und  entschiedenste  Widerlegung  erfahren.  Wenn  er  bei 
der  umfänglichen  Patroklie  die  so  unnnttelbaren  und  innerlichen 
Beziehungen,  welche  nicht  die  natürlichen  der  Sage,  sondern  die 
von  dem  motivirenden  Dichter  gegebenen  sind,  verabsäumt  hat"'), 
so  hat  er,  nachdem  er  die  enge  Verwebung  von  18  mit  17  ver- 
kennt, an  jenen  fünf  Büchern  Austellungen  ausgesprochen,  welche 
bei  dem  unbefangenen  Lesen  derselben  und  einer  präsenten 
Erinnerung   vom  Früheren  sich  von  selbst  widerlegen'"). 


111)  Zeilschr.  1".  All.  1850  S.  166,  wo  er  hinzufügt:  „wie  viel  anders 
in  den  Eddaliedern ,  die  doch  jedenfalls  auf  einer  niederen  Kunstslufe 
stehen."  Und  Lachmanns  Patroklie  giebt  ja  das  richtige  Ende  nicht,  da 
der  Kampf  um  die  Leiche  erst  im  18.  Gesänge  durch  Achills  Erscheinen 
endet,  und  damit  das  Sinnvolle  erfolgt,  da  der  so  lange  Zürnende  erst  zur 
Rettung  der  Leiche  des  Freundes  hervortritt. 

112)  Lach  mann  XXIII  zu  Anfang  und  XXX  zu  Anf. ,  damit  vgl. 
Hiecke.  Ueber  Lachmanns  zehnies  Lied,  Greifsw.  1859  S.  10.  Baum- 
le in,  iu  der  in  voriger  Anm.  gen.  Recension  Nr.  19  S.  145  und  22  S.  171. 
Grole,  Gesch.  Griechenl.,  übersetzt  von  3Ieissner,  1,  518.  Schümann, 
Rec.  der  Sagenp.,  N.  Jahrb.  f.Pliilol.  u.  Pädag.  B.  69  S.  24:  „durch  Macht- 
sprüche ,  wie  die  S.  86  oder  durch  Abfertigungen ,  wie  S.  56  —  mögen 
wohl  Unmündige  sich  schrecken  lassen." 

113)  Bäumlein,  Z.  f.  A.  a.  a.  0.  Nr.  11  S.  261  f. 

114)  Ausser  Bäuml.  das.  Nr.  22  S.  169.  Hoffmann,  Progr.  von 
Lüneburg,  Ostern  1850:  „Prüfung  des  von  Lachmann  über  die  letz- 
ten Gesänge  der  llias  gefällten  Urtheils",  d.  i.  über  Lachm.  Betracht. 
S.  80  Hpl.  oder  59,  wo  Lachm.  sagt:  „Wenn  nur  nicht  alle  folgenden 
Bücher,  gegen  die  Patroklie  gehalten,  geschweige  gegen  die  noch  edleren 


Die  vier  Titel  des  Tadels  wie  sie  in  der  untergeselzlen  An- 
merkung zu  lesen  sind,  das  Verschwinden  der  andern  Helden, 
die  Masse  der  GöUerwii'kungen,  die  vielen  Myllien,  die  vermeinl- 
liclie  Diniligkeit  der  Gleichnisse,  sie  sind  ganz  besonders  der 
Art,  um  Lachmanns  prinzipielle  Unlust,  den  Organismus  des 
Gedichtes  vom  Zorn  des  Achilles  zu  beachten,  und  in  seinem 
Fortschritt  zu  verfolgen,  recht  an  ihren  Früchten  zu  erkennen. 
Denn,  was  unter  den  ersten  drei  Nummern  getadelt  wird,  liegt 
im  Plane  selbst,  oder  geht  aus  der  dem  Epos  eignen  und  we- 
sentlichen Weise  der  Darstellung  hervor,  und  der  vierte  Punkt, 
die  bildnerische  Erfindung  von  Gleichnissen,  sie  ist  eben  nur 
nicht  richtig  wahrgenommen. 

Das  von  Homer  gewählte  Thema  und  in  dem  Sagentheil  lie- 
gende Grundmotiv  giebt  zwei  Haupttheile,  einen,  in  welchem 
der  Hauplheld,  der  in  der  ganzen  troianischen  Sage  dieses  ist, 
durch  seine  zürnende  Unthätigkeit  den  andern  Helden  Raum 
giebt,  sich  hervorzuthun ,  und  einen  zweiten,  wo  die  Folgen  seiner 
Unversöhnlichkeit  sich  gegen  ihn  selber  wenden.  Die  epische 
Darstellung  und  der  mündliche  Vortrag  bringt  mit  sich,  dass 
auch  den  einzelneu  Theilen  eine  gewisse  Selbständigkeit  bei- 
wohnen, sie  immer  Cur  sich  fasslich  und  anziehend  sein  müssen. 
So  traten  in  der  früheren  Hälfte  immer  von  beiden  Seiten,  aber  be- 
sonders von  der  der  Griechen  einzelne  Vorkämpfer  hervor,  deren 
Eintritt  auch  vom  Dichter  durch  Beschreibung  ihrer  Bewaffnung 
gehoben  wird.  So  auch  noch,  als  der  Hauptheld,  statt  endlich 
nun  doch  selbst  Hülfe  zu  bringen,  den  Freund  gehen  lässt,  bei 
der  Rüstung  dieses.    Aber  es  wird  dann  der  Kampf  gegen  die  vom 


Theile  der  Ilias,  sich  so  {irmlich  uiitl  kühl  ausnähmen,  dass  icli  das  Ur- 
lheil von  Wolf  (Proleg.  CXXXVII)  nicht  rocht  hegreife,  der  nur  hei  den 
letzten  sechs  Büchern,  also  nicht  auch,  scheint  es,  hei  dem  achtzehnten 
sich  anders  gestimmt  fühlte.  Mir  scheinen  die  fünf  Bücher  von  S  his  X 
so  aus  einem  Stück  zu  sein,  so  ühereinstimmend  in  den  Begeheniicilen 
nicht  nur,  sondern  auch  in  allen  Manieren,  a)  in  dem  gänzlichen  Ver- 
schwinden aller  griech.  Heroen  ausser  Acliilles,  b)  in  dcrMasse  von  Erschei- 
nungen und  Wirkungen  der  Götter,  c)  in  den  vielen  Mythen,  d)  in  der 
Dürftigkeit  der  Bilder  und  Gleichnisse,  dass  sie  ebenso  sehr  einen  ein- 
zigen Dichter  verrathen ,  als  sie  für  fast  alle  der  früheren ,  die  desswegcn 
nicht  um  Jahrhunderte  älter  zu  sein  hrauchen,  dass  ich  es  nur  gerade 
Jieraussage ,  zu  seidecht  sind." 

5* 


68 

höchsten  Schaffner  des  Krieges  begünstigten  Feinde  mit  ihrem 
Hektor  zugleich  Kampf  um  die  Leiche,  und  nachdem  für  diese 
zuerst  Achill  Avieder  hervorgeti'eten,  da,  als  nun  der  Verlust  des 
Freundes  den  grössten  Helden  zur  Rache  aufgestachelt  hat,  wie 
sollte  da  nicht  er  vor  Allen  den  Vordergrund  bilden,  wie  nicht 
er  durchaus  der  ijittelpunkt  sein  ?  Im  18.  Gesänge  nach  der  Meldung 
vom  Falle  des  Freundes  und  dem  Verluste  der  Waffen,  die  den 
Haupthelden  auch  damit  über  alle  andern  auszeichnende  Schil- 
derung der  durch  Hephästos  bereiteten  Rüstung,  im  19.  die  feier- 
liche Versöhnung  des  nun  all  seinen  Zorn  verwünschenden 
Helden  mit  dem  Oberfeldherrn  und  die  theilnehmende  Remühung 
der  Andern,  und  selbst  der  Götter  um  ihn;  im  20.  Zeus'  neue 
Anordnung  eben  wegen  Achills  Eintritt  und  was  weiter  von  den 
folgenden  Theilen  nachgewiesen  werden  wird.  Ob  dann  ein  un- 
befangener Leser,  —  wenn  er  auch  die  beiden  Akte  des  Kampfes 
gegen  einander  selbst  (20,  54  —  74  und  21,  385  —  514),  der  so 
ganz  wirkungslos  bleibt,  und  des  Aeneas  von  ihm  selbst  für  un- 
gehörig erklärte  Genealogie  (20,  213  —  241)  entschieden  als  un- 
echt*'^) erkennt  und  wenn  ül)erhaupt  immerhin  diese  letzten  Rü- 
cher nicht  anders  als  die  früheren  der  Entstellung  durch  Ein- 
schiebsel unterworfen  erscheinen  —  ob,  fragen  wir,  der  Unbefangene 
dann  lebensvolle  Poesie  vermissen  wird  in  Stellen,  wie  das  Zu- 
sammentreffen des  Achill  mit  dem  Priamiden  Lykaon  21 ,  34  — 135, 
der  Kampf  mit  dem  Skamandros,  dann  vollends  der  Anfangstheil 
des  22.  Gesanges  mit  den  Ritten  des  Priamos  und  derHekabe  und  dem 
fein  psychologischen  Selbstgespräch  des  Hektor:  99 — 130, 
und  endlich  die  Schilderung  der  Leichenspiele,  wie  diese 
in  ihrem  dramatischen  Leben  bei  Achills  grossartiger  Stimmung 
in  immer  neuen  Scenen  die  Eigenheiten  der  Charaktere  und  zu- 
gleich der  Lebensalter  darstellt?  Dass  die  Drei  vorher  Ver- 
wundeten, Diomedes,  Odysseus  und  Agamemnon,  die  am  nächst- 
folgenden Tage  Zinn  Versöhnungsakt  (19,  47  —  51)  noch  an 
Stöcken  gekommen  waren ,  (s,  Fäsi  dort)  am  dritten  ihrer  Ver- 
wundung an  den  Wettkämpfen  sich  betheiligen,  ist  von  Räumlein 

115)  lieber  B.  21  s.  Nägelsbachs  Nachhoraerische  Theol.  128 
Anm.*)  und  meine  Sagenp.  127  u.  28.  Ein  wenig  unterscheidendes  Ur- 
theil  A.  Jacob,  Entst.  d.  11.328.  Uebor  des  Acneias  iiberfüllle  Rede  Fried- 
länder, Anal,  homer,  Jahrb.  f.  class.  Phil.  Suppl.  B.  3,  IL  4  S.  474  f. 


69 

hinlänglich  erklärt"*),  Modurch  jedenfalls  die  übereilten  Decrete 
A.  Jacobs  S.  245  als  ganz  unzulässich  erscheinen.  Dass  die  Wett- 
spiele unerlässlig^  ztir  Bestattung  gehörten,  spricht  dabei  auch 
Jacob  S.  345  aus.  Haben  wir  hieran  also  schlechte  Poesie? 
Oder  kann  etwa  Lachmanns  Wort  vom  Jammern  um  seinen 
lieben  Homer  nach  Weiberart  unsern  Sinn  abstumpfen,  und 
uns  hindern,  in  der  Andromache  Verhalten  und  Klage  um  ihren 
Hektor  22,  436  —  515  die  ergreifendste  Darstellung  der  ehelichen 
Treue  und  des  damaligen  Elendes  im  Witwenstande  zu  empfinden? 
Und  ist  die  Scene  Priamos  vor  Achill,  und  dessen  endliche  An- 
erkennung des  Menschenlooses  in  der  Milde  gegen  den  greisen 
Vater  des  Todfeindes  24,  486  —  512  nicht  nach  der  vollsten 
Wahrheit  von  Welcker,  und  schon  im  Jahre  1824,  für  den 
wahren  hochherrlichen  Schluss  des  Gedichts  vom  Zorn  erklärt?"') 


116)  Z.  f.  A.  50  S.  171  und  Philol.  XI.  427.  Da  die  Wunden  alle  drei 
leicht  waren,  so  dass  die  Helden  schon  an  demselben  Tage  bei  der  stei- 
genden Noth,  wenn  nicht  am  Kampfe  Theil  nahmen,  doch  durch  Anord- 
nung sich  nützlich  machen  konnten:  so  war  der  Phantasie  nicht  zuviel 
zugemuthet,  wenn  die  Zuhörer  sich  ihre  Theilnahme  an  den  Weltspielen 
mittels  eines  Naturprozesses  so  weniger  Tage  möglich  geworden  denken 
mussten.  Die  Angabe  des  Patroclus  16,  24  von  den  Verwundeten  iv 
vijvaiv  'Äsarcii  sie  liegen,  ist  in  seinem  Munde  nicht  weiter  eine  fac- 
tische,  als  er  von  Nestor  11,  189  gehört  hat,  und  Beide  bezeichnen  mit 
dem  Liegen  durch  Wurf  oder  Stich  verwundet  nur  eben,  dass  sie  kampf- 
unfähig sind.  Kayser,  de  inlerpolatore  p.  9  presst  das  rJatat,  zu  der  Er- 
klärung: Haec  SIC  efferuntur,  ut  hucusque  eos  decubuisse  et  aegre 
nunc  in  publicum  prodiisse  intelligas.  Nun  ähnlich  presste  Lachmann  die 
Wörter  oQKitt  xi^ivuv  und  ös^icd  und  Andere  andere. 

117)  Man  lese  die  beredte  Darlegung  in  Die  äschylische  Trilogie 
Prometlieus  S.  420 :  „  Diese  Scene  ist  der  Gipfel  der  gesammten  Helden- 
poesie", und  0.  Müllers  Gesch.  d.  gr.  Liter.  1,  84.  ,,Am  grössten  er- 
scheint Achill  in  den  Leicheuspielen,  und  bei  der  Zus;unmenkunft  mit 
Priamus  —  einer  Scene,  die  mit  keiner  andern  in  der  ganzen  alten 
Poesie  verglichen  werden  kann"  u.  s.  w.  Auch  der  so  viele  Anslösse 
lindende,  weil  suchende  A.  Jacob,  über  die  Entstehung  der  II.  und  Odyss. 
352".  „Ueberhaupt  gehört  auch  diese  ganze  Schilderung  nicht  nur  zu  den 
schönsten  der  Ilias,  sondern  sie  lässl  sich  überhaupt  in  ihrer  ganzen 
Anlage  u  n  d  A  u  s  f  ü  h  r  u  n  g  n  i  c  h  t  s  c  h  ö  n  e  r  d  e  n  k  e  n  ".  VortrelHich 
schliesst  sich  an  diese  Stimmen  die,  Gepperts  Annahmen  abweisende  Aus- 
legung, Düntzers  rliein.  Mus.  N.  F.  5,  378  IV.  „Wo  ist  hier  ein  Absciduss, 
wo  eine  Vollendung  der  Rache  V  Diese  thiden  wir  nur  in  der  bcrHichen 
Darstellung,  wie  Achilleus,  der  erkannt  iiat,  dass  auch  die  Raclie  sein  Herz 
nicht  herstellen  kann,  sondern  er  des  Schicksals  Schlag  gefasst  ertragen 


70 

Der  vierte  Vermiss  L  a  c  h  ni  a  n  n  s  verräth ,  w  ie  wenig  er  die 
verschiedenen  Millel  belebender  Darstellung  in  weiteren  Ueber- 
blick  genommen.  Hoff  mann  mnsste  ihn  erst  belehren,  wie 
zunächst  der  Gebrauch  oder  Nichtgebrauch  der  Gleichnisse  sich 
nach  den  verschiedenen  Gegenständen  und  Phasen  der  Erzählung 
richte*'^),  und  dass  die  geaneinten  lUicher  darin  mit  nichlen  sich 
von  früheren  unterschieden.  Der  wahre  Befund  zeigt  gerade  in 
diesen  Büchern  im  Verhältniss  zu  den  dafür  geeigneten  Partieen 
überhaupt  eine  nicht  geringe  Zahl  von  Gleichnissen,  und  unter 
ihnen  mehre  der  schönsten:  20,  164—173"«').  21,  575  —  580. 
22,  139  — 144,  sie  heben  den  Kampf  des  wieder  erstandenen 
Achill  hervor,  sowie  auch  dessen  leuchtende  Erscheinung  und 
schreckender  Ruf  die  höhere  Färbung  erhielt,  18,  207  —  213. 
217 — -220,  Dies  durch  zwei  Bilder,  die  uns  die  Eigenheiten 
des  homerischen  Gebrauchs  offenbaren,  wie  sie  immer  aus  all- 
bekannten Wahrnehmungen  in  Natur  oder  Menschenwelt  ent- 
nommen sind "®) ,  wie  sie  bei  concretem  Leben  eben  daher  auch 
gern  ein  menschliches  Gefühl  ansprechen,  endlich ,  wie  sie  ge- 
häuft werden  bei  bedeutenden  Punkten  oder  Wendungen  der  Er- 
zählung'^"). Da  die  Erfindung  und  Erfassung  von  Gleichnissen 
als  Erweisung  des  Dichtergenius  so  wesentlich  sind,  wird  ein 
späterer  Abschnitt  sie  umfassend  behandeln. 

Das  geringschätzige  Urtheil  Lachmanns  über  das  9.  Buch 
hat  schon  der  Recens.  der  Bltt.  f.  litt.  ünt.  1 844  Nr.  1 27  S.  506  als 


iiiuss,  die  Nichtigkeit  alles  menscldichen  Glücks  bejammert  und  friedlich 
unter  demselben  Dache  mit  dem  Vater  des  Mörders  ruht,  dessen  Leich- 
nam er  diesem  zuröckgiebt".    Vgl.  nocli  S.  411  gegen  Ende. 

118)  Hüffmann,  Lüneburg  Progr.  S.  5  und  6. 

118  a)  Hegel.  Aesthet.  1.  S.  534.  Hoff  mann  S.  9.  Vielleicht  das 
vollendetste  aller  homerischen  Gleichnisse  ist  aber  die  Löwenjagd  im 
20.  Ges.  Vers  164  iT.,  welches  trotz  seiner  reichen  Detailausführung  nicht 
einen  einzigen  störenden  Zug  bietet. 

119)  Aristot.  Topik.  VIIL  1.  a.  E.  zur  Verdeutlichung  anzuwenden, 
aber  den  Dingen  Eigenes  und  aus  Bekanntem ,  „wie  Ilomer  und  nicht  wie 
Chörilos"  (Dichter  des  Perserkriegs),  Aristarch  zu  II.  10,  364.  Euslath. 
zu  IL  2,  87. 

120)  Iloffmann,  6.  —  „Dass,  wo  einmal  eine  auffallende  Menge 
von  Gleichnissen  erscheint  („wie  in  2,  455 — 483"  m.  Nägclsbacli  und  Fäsi 
4,  422  ff.  11^546 — 560,  725  ff.)  regelmässig  ein  bedeutender  Abschnitt  in 
der  Erzählung  gemacht  wird,  und  dabei  ein  glühenderes  poetisches  Co- 
lorit  ganz  gerechtfertigt  ist'S 


71 

lediglich  durch  den  Eingang  desselben  9  —  88  verschuldet  be- 
zeichnet; und  auf  diesen  beschränkt  er  es  selbst.  In  den  sehr 
zahlreichen  Verhandlungen  über  diese  Gesandtschaft  an  Achill, 
ob  sie  ursprünglich  oder  erst  später  hinzugedichtet  sei,  wovon 
weiterhin  das  Genauere,  hat  die  darin  liegende  Poesie  viel  lobende 
Anerkennung  gefunden.  Konnte  doch  auch  den  Kritikern  die  Ge- 
wandtheit im  Vortrag  und  Versbau  nicht  entgehn,  welche  zu- 
mal die  Reden  des  Odysseus  und  Achill  bewähren'^').  Eben  diese 
Heden,  die  er  selbst  aus  allen  Praedicamenten  preist  und  S.  3. 
sollertiae  ingenii  et  subtilitatis,  quae  in  hoc  poeta  fuerunt,  exi- 
mium  specimen  nennt,  nimmt  Moritz  zum  Maassstab,  um  in  der 
Rede  des  Phönix  434 — 605  nur  die  jenen  an  Vortrelflichkeit 
gleiche  Partie  als  echt  zu  erweisen.  Diese  habe  nur  aus  60 
Versen  statt  aus  272  bestanden,  und  nur  die  drei  Tbeile  enthal- 
ten 434  —  448.  479  —  495.  496  —  523  (S.  23.).  Wenn  nun  in 
dem  als  unecht  ausgeschiedenen  Theile  über  die  Unebenheit  der 
Verse  557  —  572  kein  Zweifel  sein  kann  (Sagenp,  148)'^^),  ist 
damit  die  von  Phönix  zur  Mahnung  gebrauchte  Sage  vom  Melea- 
gros  nicht  sofort  ganz  beseitigt '^^),  und  vollends  nicht  durch  so 
hastige  Urtheile ,  wie  der  schon  oben  erwähnte  La  Roche  kund- 
gegeben  hat.     So    wenig   also   werden  die  zuversichtlichen  Ver- 


121)  Bernhardy,  gr.  Liter.  11.  1.  133  nach  Miüe.  Köchly  Diss. 
III.  p.  8.  lin.  2.  Et  sane  nona  illa  rhapsodia  tanta  arte  curaque  elaborata 
est,  ut,  si  unus  poeta  totain  Uiadem  composuit,  profecto,  quam  gravis 
ea  pars  sit,  in  ea  scribenda  sensisse  videatur.  Hoff  mann,  Philol.  III. 
218.  ,,  Dagegen  erscheint  unsere  Partie  metrisch  sehr  vollkommen ,  und 
ist  deshalb  mit  6,  119 — 236,  313  bis  7,  312  zunächst  zusammen  zu  stellen. 
Wir  linden  in  allen  diesen  Stücken  eine  (doch  wohl  planinässige)  Vor- 
lic])e  für  längere  Reden,  welche  mit  vieler  Kunst  ausgeführt  sind."  Gep- 
perts  grosse  Lobsprüche  über  die  Rede  des  Odysseus  an  Arhill:  Ursprung 
der  hom.  Gesänge  191.  Aach  diesen  Vorgängern  urlheilte  der  Lachmannia- 
ner  Moritz  de  libro  IX.  suspiciones.  Posen  59.8.  1.  rhapsodiam  nonani 
elegi,  quod  a  Lachmanno  negelectura  videbam  librum  lectu  raaximam  par- 
tem  jucundissimum. 

122)  Im  Vorhergehenden  habe  ich  die  Verse  von  den  L  i  t  a  i  den  Bitten 
als  Töchtern  des  Gottes  der  höchsten  Vollmacht ,  wie  ich  jetzt  zugehe, 
Sagenp.  129,  ohne  zureichenden  Grund  sämmtlicii  verdächtigt  502  —  511, 
wenn  sie  auch  nicht  für  unenlhelu'licli  gellen  können. 

123)  In  der  Zeilschr.  f.  Gymu.  v.  Mützell,  Jahrg.  14.  März  S.  260  ff. 
ist  geltend  gemacht,  dass  Phönix  9,  529  IT.,  wie  oft  anderwärls  geschelie, 
den  Kampf  vorausnennl,  bei  dem  sich,  was  er  nachher  anwenden  will, 
besehen  hat, 


72 

werfungen  Lachmanns  selbst  von  Gleichgesinnten  ohne  Weiteres 
anerkannt. 

Als  besonders  sprechender  Beleg  kommt  seine  Beurtheilung 
des  ersten  Gesanges  der  Ilias  hinzu,  den  er  in  ein  Lied  mit 
zwei  Fortsetzungen  zertheilt  (IL  und  III.) ,  und  in  der  Folge  dieser 
drei  Partieen  angeblich  unlösbare  Unebenheiten  findet.  Sie  sind 
lösbar,  wenn  man  das  ix  roto  493  richtig  auf  die  Entstehung  des 
•Zorns  bezieht,  den  die  Pest  mit  seinen  Bogen  erwirkenden  ApoUon 
mit  poetischem  Sinne  auffasst,  und  die  Einwirkungen  der  Here 
und  Athene  ebenso  deutet,  welche  man  besonders  dann  begreift, 
wenn  man  die  Ungenauigkeit ,  welche  übrig  bleibt,  beim  nicht 
schreibenden  Dichter  um  so  mehr  entschuldigt,  als  auch  Sopho- 
kles um  seines  Kunslzwecks  willen  entschiedene  Unwahrschein- 
lichkeiten  sich  erlaubt  hat,  und  selbst  unser  Göthe  und  Schiller 
entschiedene  Unachtsamkeiten  und  Widersprüche  begangen  haben. 

Jene  Anstösse  hatte  nun  schon  Bergk"*)  eingehend  und  um- 
sichtig besprochen  und  so  beseitigt,  dass  von  der  Sagenp.  178 
f.  unabhängig  davon  versuchten  Erledigung  nur  die  Rücksicht  auf 
die  Beziehungen  des  Apoll  zur  Pest,  und  der  Here  und  Athene 
zu  Agamemnon  und  Achill,  gewisse  Geltung  behielt.  Sodann  war 
das  ix  Toto  493  ebenso  von  Nägelsbach  zu  diesem  Verse  nach 
grammatischer  Satzfolge  gerechtfertigt,  wie  es  sich  auf  V.  488 
bezieht.  Zur  Seite  hatte  schon  Bergk  die  Abhandlung  von  Gross ; 
aber  recht  eigentlich  vom  Frischen  nach  ebenso  achtsamer  als 
lebendiger  und  poetischer  Auffassung  legte  Hiecke  in  Greifswald 
den  Zusammenhang  jener  drei  Partieen  und  die  Einheit  des 
ersten  Gesanges  dar'^^). 

Ausser  dass  über  Lachmann  bemerkt  wird,  wie  er  S.  7. 
seine  Meinung,  die  erste  Fortsetzung  schliesse  sich  gut  an  sein 
Lied  an,  aus  unhaltbarem  Grunde  wieder  zweifelhaft  mache,  wird 


124)  Z.  f.  A.  1846.  Nr.  61  —64,  481—506.  —  Gross  Vindiciarum 
Homericarum  Particula  I.   Marburg  1845.    S.  18— .30. 

125).  Gymn.  Progr.  Ost.  Greifswakl  1857.  Ueber  die  Einbeit  des 
ersten  Gesaoges  der  Ilias.  Als  Tbeina:  Lachoiann  erkennt  drei  Tbeile, 
1  —  347  erstes  Lied  und  zwei  Fortsetzungen.  Die  erste,  die  Zurückbringung 
der  Chryseis  durch  Odysseus  431 — 402,  sie  lässt  sich  unmittelbar  an  das 
Lied  ansetzen.  Die  andere  umfasst  eine  Doppelscene  der  Thetis,  bei  Acbill 
und  auf  dem  Olymp  .348 — 420  und  403 — 611.  In  diese  Doppelscene  soll 
die  erste  Forlsetzung  eingeschaltet  sein. 


73 

gezeigt,  dass  Lachmann  irriger  Weise  durclu  die  Einschallung 
der  Fahrt  des  Odysseiis  die  Uebereinstimmung  ungestört  finde, 
weil  so  ein  neuer  Tag  dazu  komme,  so  dass  nur  die  Berechnung 
des  zwölften  493  nicht  mehr  richtig  sei.  Gerade  Lachmanns 
eigene  Forderung  einer  bcstinunten  Anschaiuuig ,  wird  durch  jene 
Folge  erfüllt.  Die  Bezeichnung  in  den  Versen  488  —  492,  da 
ein  Verlauf  von  mehren  Tagen  angegeben  ist,  während  welcher 
Achill  nach  dem  Geheiss  der  Thetis  421  f.  eben  fortzürnend  sich 
aller  Theilnahme  an  That  und  Rath  des  Heeres  enthält,  sie  giebt 
natürliche  Weisung,  dass  man  hier  eben  nach  der  Dauer  des 
Zornes  zu  rechnen  hat.  Fehlten  jene  Verse,  dann  würde  mau 
anders  rechnen.  Aber  nachdem  gesagt  ist,  Achill  zürnte  tage- 
lang, so  Avürde  ganz  unmöglich  sein,  fest  zu  bestimmen,  welches 
denn  der  zwölfte  Tag  sein  solle,  wenn  man  nicht  ganz  unwill- 
kürlich —  an  den  der  Phantasie  so  mächtig  eingeprägten  Tag 
des  Ausbruchs  dieses  dauernden  Zornes  als  an  eine  gegebene, 
feste  Zeitbestimmung  die  Berechnung  anknüpfte.  —  „Die  Bezeich- 
nung ergiebt  sich  trotz  des  unbestimmten  Pronomens  für  Jeden, 
der  nicht  auf  den  Gebrauch  der  Phantasie  verzichten  will,  aus 
der  Sachlage.  Wie  oft  muss  man  bei  Homer  aus  dem  Zusanunen- 
hange  ein  Demonstrativ  auf  ein  anderes  Subject  beziehen,  als 
das,  an  welches  man  nach  streng  grammatischer  Regel  zu  denken 
hätte  "*^^b.). 

Man  vergleicht  am  nächsten  das  bk  xolo  II.  24,  31.,  das  auf 
den  Tod  Hektors  hinweist,  von  welchem  an  die  Misshandlung  des 
Leichnams  und  das  Aergerniss,  sowie  der  Streit  der  olympischen 
Parteien  bis  zu  des  Zeus  Entscheidung  gedauert  hat.  An  diesem 
zwölften  geschieht  alles  Folgende  bis  zur  Uebergabe  des  Leich- 
nams an  Priamus.  So  ist  dieser  Anstoss  an  der  Zeitrechnung 
gehoben. 

Der  andere  betraf  den  Apollon,  der  nach  dem  Liede  die 
Pest  schickt,  indem  er  persönlich  herniedersteigt,  und  vom  irdi- 
schen Sitz  seine  Pfeile  sendet  44.    48.,  die  9  Tage  ihr  Verderben 


125  1).)  Von  dem  Tage,  <la  der  Zorn  cntslaiid,  zälill  aiuli  Kärlicr  ji. 
23  der  besonders  gegen  G.  Hermann  gerichteten  dispulaliü  lloniorica. 
Brandenburg,  1841.  Ebenso  und  mit  besonderer  Anwendung  (iöhel: 
Ueber  den  innigen  Zusammenhang  des  1.  und  2.  B.  der  IL,  Zeitschr.  f. 
Gymnas,  v.  Mützell .  Jahrg.  8.  S.  729  ff. 


74 

bringen.  Er  aber  ist  ja  nacb  der  2.  Fortsetzung  423,  am  Tage 
vor  der  Versammlung,  wo  der  Streit  entstand,  mit  Zeus  zu  den 
Aethiopen  gegangen. 

Also  wieder  ein  Anstoss  in  der  verstandesmässigen  Zeitrech- 
nung und  Vorstellung  vom  Verkehre  der  Götter  mit  der  Menschen- 
welt. Hierüber  ist  zu  vergleichen  Iliecke  in  dems.  Progr.  S.  2  und 
3,  und  schon  in  einem  früheren:  „Der  gegenwärtige  Stand  der  ho- 
merischen Frage  von  1856,  S.  24."  Er  bemerkt:  Auf  dieses  Be- 
denken erwiderten  Andere  schon  einstimmig:  Muss  man  sich  denn 
ApoUon  während  der  Pestzeit  fortdauernd  an  dem  einen  Flecke 
denken?  Nach  so  starrer  Consequenz?  —  Nägelsbach.  „Es bedarf 
überhaupt  keines  Beweises,  dass  die  religiösen  Vorstellungen  kei- 
neswegs bei  Homer  consequent  durchgebildet  sind."  —  Bäumlein: 
„Wenn  auch  die  von  Apollon  gesandte  Pest  als  unmittelbare  Gegen- 
wart des  Gottes  ausgemalt  wird,  so  erscheint  es  doch  sehr  zweifelhaft, 
ob  der  Dichter  den  Apollon  die  ganze  Zeit  über  persönlich  an- 
wesend gedacht  habe."  Hiecke  hierzu:  „Versuche  man  es 
nur  einmal,  sich  den  Apollon  wirklich  9  Tage  lang,  oder  noch 
genauer  bis  zum  Aufhören  der  Pest  schiessend  vorzustellen. 
Schlägt  dann  nicht  sofort  das  Erhabene  in  das  Komische  um? 
Müssen  wir  nicht  sofort  ausrufen:  Der  arme  geplagte  Gott?" 
Und  in  dem  2.  Progr.:  „Ich  habe  schon  im  1.  Progr.  kurz  dar- 
gelegt, dass  bei  diesem  Einwand  das  Wesen  der  dichterischen 
Phantasie  verkannt  wird".  Darauf  nach  Angabe  der  von  Apoll 
und  der  Pest  zu  lesenden  Data:  „Fragen  wir  nun  einmal,  wann 
hat  denn  Apollo  zu  schiessen  aufgehört,  so  geratben  wir  offen- 
bar in  Verlegenheit,  nicht  etwa,  weil  der  Dichter  unterlassen  hat, 
dies  zu  sagen,  sondern  weil  unsere  Pbantasie  sich  vergebens  be- 
müht, eine  Antwort  heraus  zu  bringen."  Und  weiter:  „Wenn  man 
sich  zu  denken  habe,  dass  die  Pest  während  der  Versammlung  noch 
fortgedauert  habe,  ja  bis  zum  Moment  der  Versöhnung,  so  weigere 
sich  die  Phantasie  zu  folgen  —  bei  aller  logischen  Consequenz, 
die  der  Phantasie  zumuthe,  den  Gott  sich  so  lange  gegenwärtig 
vorzustellen"  u.  s.  w.  Allmählich  trete  die  Anschauung  des  leib- 
haftigen Gottes  in  den  Hintergrund,  in  der  Bede  des  Kalchas 
liöre  die  sinnliche  Bezeichnung  ganz  auf." 

„Den  Apoll  also  könnten  wir  uns  immerhin  am  neunten 
Tage  schon  mit  auf  der  Fahrt  zu  den  Aethiopen  begrülen  denken." 


75 

Schlimmer  steht  es  mit  der  Thäligkeit  der  Athene  und 
Here"^*).  —  Unmöglich  kann  Athene  ovQavod'Sv  von  der  Uere 
herabgesendet  AVerden  (195),  sowenig,  als  dahin  zurückzukehren 
(221  und  222),  wenn  zu  dieser  Zeit  beide  bei  den  Aethiopen 
sind.  So  müsse  man  sich  wohl  auf  Lachmanns  Seite  schlagen? 
Aber  vollkommen  Recht  habe  Iloffmann,  wenn  er  sich  Piniol.  III. 
197  sträube  anzuerkennen,  dass  ein  Fortsetzer  von  so  grossem 
Talente,  wie  dieses  Stück  es  zeigt,  eine  so  ungeschickte  Ab- 
weichung  von  der  Erzählung  des  ersten  Stückes  sich  habe  er- 
lauben können.  Wiederum  aber  (S.  4)  müsse  bei  Hoffmanns 
Annahme,  dass  mehrere  Darstellungen  des  Zankes  vorhanden  ge- 
wesen, wenn  dies  auch  an  sich  delikbar  sei,  es  doch  sehr  be- 
fremden, wenn,  wer  die  jetzige  Folge  gab,  da  ihm  bei  solcher 
Voraussetzung  die  sachliche  Disharmonie  ja  gerade  nicht  hätte 
unbemerkt  bleiben  können,  doch  von  der  eilten  Gestalt  die  erste, 
von  der  andern  die  zweite  Hälfte  genommen  haben  sollte.  Und 
nicht  minder  befremdend  sei  es,  dass  im  Ton  und  der  Be- 
handlung, ja  nicht  einmal  in  metrischen  Dingen  sich  ein  Unter- 
schied finde.  Auch  die  mehren  Versuche,  durch  Annahme  einer 
Interpolation  die  Schwierigkeit  zu  heben,  können  nicht  befriedi- 
gen, weder  die  von  Gross,  der  mit  den  Versen  188 — 222  die 
beiden  Göttinnen  beseitige,  noch  die  Ribbecks,  der  die  Reise 
der  Götter  für  eine  schlechte  Erfindung  eines  Diaskeuasten  er- 
klärt, —  noch  andere'"). 

Die  demnach  allein  übrigbleibende  Lösung,  die  als  die  um- 
sichtigste und  sinnigste  unsern  Beifall  verdient,  lautet  nun,  gegen 
Gross  S.  4  und  5:  „Sollten  Here  und  Athene,  die  unversöhn- 
lichen Gegnerinnen  der  Troer,  in  der  mächtigen  Scene  des  Ein- 
ganges gefehlt  haben?  Auch  fällt  hiermit  der  innere  Kampf 
weg,  ob  niederstossen  den  Atriden  oder  den  Zorn  bezwingen  — 
und  die  Bezwingung  des  Zornes  fällt  weg  sammt  dem  bedeutungs- 


126)  Lach  mann  S.  6  und  betonter  noch  von  Ribbeck  in  Pliilol. 
VIII,  474  f. 

127)  Gross,  Vindiciae  S.  27,  nachdem  er  sich  selbst  für  die  eiu- 
hoitliche  Grundgcstalt  der  11.  erklärt  und  juulore  gegnerische  Meinungen 
über  den  ersten  Gesang  kritisch  bcliandoll  lial.  Ribbeck,  Piniol.  VIII, 
3,  S.  475,  wo  er  erst  mit  430 — 4'.)2  die  Iloimfülirung  der  Cbrysois ,  dann 
mit  423 — 7  und  493 — 6  die  Reise  der  Göller  streicht,  so  dass  sich  an 
422  zunächst  428  und  29,  dann  497  i^eQirj  angescidossen  haben  soll. 


76 

schweren,   man   möchte  sagen,   die   ganze   Ilias  einschliessenden 

Motiv  der  Bezwingung  216  f.: 

3!uss  (loch  Euer  Gebot,  o  Oöllin,  wohl  man  bewahren, 
Wie  mir  der  Zorn  auch  loh'  in  der  Brust,  so  ist  es  ja  besser. 

und  es  folgen  auf  die  herausfordernde  Rede  des  Agamemnon,  die 
in  diesem  Zusammenhange  (wenn  188—22  ausfallen  soUten)  un- 
geschickten und  malten  Verse  223  f.:  nrilsidirig  d'  i^avtcg  — 
xal  ovTico  Xrjys  %6Xolo.  Wieder  erhob  sich  indess  mit  be- 
schimpfenden Worten  Achilleus  gegen  des  Atreus  Sohn,  und 
noch  nicht  liess  er  vom  Grimme.  Man  vergleiche  die  Schil- 
derung des  Agamemnon  nach  der  Erklärung  des  Kalchas  103 — 105, 
und  frage  sich  dann,  ob  nach  der  Drohung  des  Agamemnon 
184 — 188  etwas  Andres  folgen  könne,  als  jenes  Wogen  inner- 
licher Erbitterung,  wobei  Achill  unwillkürlich  schon  das  Schwert 
lialb  aus  der  Scheitle  zieht,  und  ob  dem  Unheilvollsten  auf  an- 
dere Weise  vorgebeugt  werden  könne,  als  durch  die  Sendung  der 
Athene."  —  D.  h.  die  Besonnenheit,  welche  Athene  giebt  und 
darstellt,  musste  nach  dem  Glauben  in  Person  einschreiten,  da 
Achill  aus  sich  selbst  sie  nicht  gefunden  hätte.  —  „Aber  möchte 
der  poetische  Schade  noch  so  gross  sein,  —  wenn  das  Mittel 
nur  etwas  hülfe.  Here  kommt  ja  schon  früher  vor  in  55  und 
56,  die  sich  ofl'enbar  durchaus  nicht  etwa  ausscheiden  lassen, 
und  zwar  nicht  hlos  bekümmert  im  Herzen  um  die  Danaer,  son- 
dern bekümmert,  weil  sie  ihre  Schützlinge  hinsterben  sah."  Eben 
mit  ihren,  der  vermenschlichten  Göttin,  Augen  und  das  vom 
Olymp,  nicht  von  den  Aethiopen  her. 

Eben  an  dieser  frühern  Erwähnung  besonders  erkennen  wir, 
wie  der  Dichter  die  Göttinnen,  welche  den  ganzen  Krieg  betrie- 
ben hatten  und  betrieben,  ohne  achtsame  Theilnahme  an  allern 
Bedeutenden  gar  nicht  denken  konnte,  also  ohne  die  Theilnahme 
am  Unglücke  der  Pest,  welche  in  Folge  der  Abweisung  des  Chry- 
ses  von  Apoll,  dem  ebenfalls  präsenten  Gölte,  erregt  wurde,  und 
an  de'm  auf  Anlass  dieser  entstandenen  Zwist  zwischen  dem  Ober- 
anführer und  dem  ersten  und  verdientesten  Helden.  Wie  keine 
Pest  ohne  Apoll,  so  kein  wichtiger  Vorfall  beim  Griechenheer 
ohne  Antheil  der  eifrigsten  Griechengölter:  Sagenp.  180. 

So  nun  und  darnach  giebt  Hieckc  sein  allgemeines  Uh'lheil 
in  Uebereinstimmung  mit  INägelsbach,   der   den  Fehler   nicht 


77 

in  Abrede  stelll,  noch  rechtfertigt,  aber  entschukligt,  dahin  ab, 
Seite  6  der  Abb.  von  1857:  ,, Lassen  Avir  also  nur  immerhin  den 
Dichter  lieber  einen  Fehler  begehen»,  zumal  da  er  ein  der  Poesie 
nothwendiger  ist.  Wenn  die  Götter  erst  nach  der  Aufhebung 
der  Versammlung,  also  nach  305,  zu  den  Aetbiopen  gingen,  so 
würde  die  Aufmerksamkeit  weit  mehr  auf  diese  Reise  hingelenkt 
und  man  könnte  sich  wundern,  dass  die  leidenscbaftUcben  Freun- 
dinnen der  Acbäer,  Here  und  Athene,  gerade  jetzt  auf  eine  lange  Zeit 
sich  wegbegeben,  wo  ihren  geliebten  Griechen  so  viel  Unglück 
begegnen  kann.  Und,  wie  komisch  wii'd  dann  die  Situation  der 
Thetis,  die  dann  zu  sagen  hätte:  Schade,  dass  ich  das  nicht  ein 
paar  Stunden  früher  gewusst  habe." 

,, Warum  sollte  der  Dichter,  wenn  er  anders  den  kleinen  chro- 
nologischen Verstoss  wahrgenommen  hat'^^),  nicht  auf  seine  Ge- 
walt über  Herz  und  Phantasie  des  Hörers  rechnen,  die  diesen 
nicht  zur  ^^hrnebmung  des  Widerspruchs  werden  gelangen  las- 
sen. Hat  doch  erst  Lach  mann  den  Widerspruch  wahrgenom- 
men, ja  —  denselben  nicht  wahrgenommen,  wo  er  wieder- 
kehrt, —  „da  er  nämlich  die  summarische  Wiederholung  {ava- 
iCB(pakaC(x)6Ls)  hoch  belobe  p.  6  und  7.  Lachm'ann  hätte  noth- 
w endig  einen  Schritt  weiter  geben  und  die  27  Verse  366  —  392 
mit  Scb.  A.  zu  365  für  Einschiebsel  erklären  sollen."  INach 
Weiterem  die  Erinnerung:  „Wenn  doch  unsere  Homeriker  zu 
Zeiten  einmal  auch  die  neuern  (schreibenden)  Dichter  in  Ver- 
gleich nähmen."  Hoffmeister  habe  aufgewiesen,  wie  Schüler  den 
Don  Carlos  sich  selbst  widersprechen  lässt,  da  er  Act.  2  Scene  4 
sagt,  er  kenne  der  Königin  Handschrift  nicht  S.  203.  ,,Noch 
hab'  ich  nichts  von  ihrer  Hand  gelesen,  aber  in  Act  4  Scene  5  zu 
Posa  S.  330  f.  „Gieb  mir  die  Briefe  doch  noch  einmal.  Einer 
von  ihr  ist  auch  darunter,  den  sie  damals  -r—  nach  Alcala  mir 
geschrieben."  Wir  fügen  hier  die  äiuilichen  Versehen  Göthe's 
an,   welche  in  jener  Rec.  Blatt,  f.  litt.  Unterb.  42  iNr.  129  S.  514 


128)  So  auchDüntzer  in  Allgcni.  Moiialsschr.  1850,  Nov.  Ueber 
Lachin.  Kritik  d.  hom.  Gesänge,  1.  Artik.  S.  280.  „Ein  solcher  Wider- 
spruch gehört  zu  den  unmerklichen,  die,  da  sie  in  unbedeutenden  Dingen 
liegen  und  sich  dem  Geiste  des  an  der  Ilaupthandlung  hängenden  Zuhö- 
rers ganz  entziehen,  der  Wirkung  dos  Gedichis  nicht  den  mindesten  Ein- 
trag Ihun." 


zu  lesen  sind,  wie  sie  Schiller  dem  grossen  Freunde  in  Wilhelm 
Meisler  nachgewiesen,  und  welche  im  Faust  sich  finden  so  gross  und 
wiederholt,  dass  die  Unebenlieiten  der  Ilias  dagegen  weit  geringer 
erschienen.  Mehr  dergleichen  von  Shakespeare  hat  Düntzer 
in  der  Rec.  der  Lachni.  Betracht,  in  Allg.  Monatsschr.  1850  Nov.  276 
beigebracht,  von  Dante  V'olkmann  in  Pädag.  Revue B.  49.  1858  S. 
1 05  ft.  Gewiss  aber  gilt  solche  Entschuldigung  von  dem  Dichter, 
der  nicht  ein  Geschriebenes  conti'oliren  kann ,  noch  vielmehr  als 
von  den  Schreibenden ,  die  Schreibenden  aber  wiederum  können 
öfters,  sofern  sie  für  Hörer  nicht  für  Leser  dichteten,  unbeküm- 
mert um  Controle  verfahren  sein. 

In  der  hiermit  vollzogenen  Erledigung  der  Einwürfe  Lach- 
ni anns  gegen  die  Einheit  des  ersten  Buches  sind  auch  die  von 
A.  Jacob  erhobenen  beigelegt,  insoweit  er  eben  jene  nur  wieder- 
holt. Einzelnes,  was  er  neu  aufführt,  fällt  durch  die  richtigere 
Vorstellung  weg,  welche  von  des  Zeus  allgemeineiti  Verhältniss 
zu  den  andern  Olympiern,  und  von  seinem  Verfahren  bei  der 
Zusage  an  Thetis  gegen  der  Here  Streben  Homer  uns  zu  erkennen 
giebt.  Die  besonderen  Befähigungen,  die  persönlichen  Eigen- 
sclraften  hat  Zeus  den  andern  Göttern  nicht  verliehen,  sie  woh- 
nen ihnen ,  wie  den  Menschen  ihre  natürlichen  Talente  bei.  Göt- 
terrecht aber  ist  diesen  ihren  verschiedenen  Gaben  schon  längst 
eigen,  wurde  ihnen  schon  nach  dem  Siege  über  Kronos  und 
die  Titanen  zugetheilt,  wenn  wir  den  besondern  Akt  der  Sage 
aus  Hesiod  hinzu  denken.  Verletzung  desselben  selbst  zu  strafen, 
hier  in  seinem  Priester  Chryses,  stand  dem  Apollon,  als  Obwalter 
der  Pest,  selbst  ohne  Weiteres  zu.  Zeus  tritt  nur  bei  Conflicten  ein. 
Und  wenn  Jacob  eine  Berathung  der  Götter  wenigstens  in  sofern 
vermisst,  weil  nicht  Agamemnon  allein,  sondern  das  ganze  Heer 
durch  die  Pest  leidet,  so  ist  darauf  jenes  Quidcjuid  delirant  reges 
plectuntur  Achivi  die  Antwort '^^). 

Ferner  durfte  es  eben  so  wenig  Anstoss  geben,  dass  der 
Dichter   im   Eingange   den  Apollon  als  Urheber  des  Zwistes  zwi- 


129)  S.  die  iihnliclio  Widerlegung  Hi  ecke 's  von  1857  über  das 
erste  B.  S.  8,  sowie  wir  seinen  Berichtigungen  auch  weiter  folgen.  Diese 
gilt  denn  auch  gegen  Seh  öm  ann,  Rec.  S.  28.  Der  Zeus  und  der  Poseidon 
der  Odyssee  strafen  das  ganze  Volk  der  Phäaken  wegen  der  von  Alkinoos 
und  den  andern  Fürsteh  geleisteten  Heiiuführung  des  Odysseus. 


79    • 

sehen  Aganiemnoii  und  Achill  angiebt.  Dass  heisst,  die  naiven  Worte 
des  Dichters  pressen  —  Avie  mehr  dagewesen.  „Der  Gott  ist  es 
unmittelbar,"  entgegnet  Hiecke  mit  Recht,  und  weist  anderes 
von  Jacob  Vorgebrachte  gleichfalls  mit  natürlichem  Sinne  ab. 

Hierauf  folgt  desselben  Kritikers  Ilauptausstellung.  Das  w  elt- 
berühmte Neigen  des  Hauptes  und  Schütteln  der  ambrosischen 
Locken,  dass  den  Olymp  erschüttert,  war  das  Bild,  welches 
nach  vielstünmigem  Zeugniss  dem  Phidias  bei  Entwm'f  und  Aus- 
führung der  allbewunderten  Statue  in  Olympia  vorschwebte""). 
Es  soll  nicht  aus  Homers  Seele  sein,  die  an  sich  prachtvollen 
Verse  524  —  530  müssen,  als  in  die  Verhältnisse  nicht  passend, 
unecht  sein,  S.  170  — 174.  „Das  begeisterte  Auge  des  Phidias 
hätte  sehr  begreiflich  die  Bedenken  nicht  gesehen,  noch  beach- 
tet." Dass  dieses  Bedenken  gar  nicht  statt  habe,  zeigt  Hiecke 
durch  das  präsenteste  Eingehen  in  die  beseelten  Sinne  und  Ge- 
müther der  Personen. 

Seine  Erwiderungen  auf  die  von  Jacob  aufgestellten  Gründe 
lauten : 

Jac.  1:  ,,Thelis  luusslc  natürlich  wünschen,  mit  ihrer  Bitte  um 
Unglück  für  die  Acliäer  von  Here  nicht  bemerkt  zu  werden,  und  eben 
dies  wünscht  auch  Zeus  auf  das  Lebhafteste,  518 — 23.  Wie  kann  dann 
aber  Zeus  seinem  eignen  Wunsche  so  entgegenhandeln,  dass  er  Ge- 
währung verheisst  mit  einer  Geberde ,  von  der  die  Höhen  des  Olymps 
erbeben?  Davon  soll  Here  nichts  merken?  Müssen  wir  da  nicht  bei- 
nahe nolhwendig  auf  die  Vermulhung  kommen,  auch  hier  sei  in  die 
einfachere  Erzählung  später  —  diese  Einschaltung  gekommen?"    170. 

Hiecke:  „Vielleicht  müssen  wir  es  doch  nicht,  so  lockend  aucii 
der  Verf.  seine  Vermuthuiig  zu  machen  weiss." 

Jac:  „Thetis  konnte  eine  solche  Bekräftigung  der  Zusage  von 
Zeus  nicht  gewünscht  noch  erwartet  haben",  171,  und  ,,cs  bedurfte  am 
wenigsten  Tiielis,  selbst  eine  der  Urgöttiunen,  der  Erklärung  des  Zeus, 
was  ein  solcher  Wink  von  ihm  zu  bedeuten  habe."  172.  Welch  Ver- 
kennen der  Plastik ! 

Hiecke:  ,,Mit  gleichem  Beeilte  köiuUe  man  dem  Achill  Vorwürfe 
machen,  dass  er  der  Mutter  erzäidl,  was.  wie  er  365  selbst  sagt,  sie 
schon  wisse.  —  Woher  weiss  aber  J. ,  dass  Th.  eine  so  feierliche  Be- 
kräftigung unerwünscht  sein  müsse?  Sehen  hat  sie  sich  freilich  von 
Here  nicht  lassen  wollen,  weil  diese  sonst  hätte  interveniren  können, 
aber    die   Versicherung    muss,    je   feierlicher,    um   so    erwünschter 


130)  Die  Ilauptstellen  Dio.  Chrysosl.  XII  412  B.  248  Emp.  und  Slrabo 
VIII  354.  S.  weiter  Bealencykl.  V  1456.  üverbeck,  Gesch.  d.  Gr.  Plastik  1, 
200  f. 


'    so 

dem  Herzen  der  Mutter  sein,  die  nur  Rache  für  die  Ehrenkränkung 
des  Sohnes  wünscht.  Auch  fordert  sie  ausdrücklich  514,  er  solle  ihr 
ganz  entschieden  sich  erklären."  II.  fügt  hier  üher  J.  sprachliche  Be- 
merkung hinzu:  wo  dem  xaTavsvsLv,  dem  Winken  der  Gewährung, 
eiuvjioßiso  vorhergehe,  hleibe  natürlich  dem  zweiten  Zeitwort  die  sinn- 
liche Frische.    Vergl.  15,  75. 

Hierauf  giebt  H.  zu,  dass  Zeus  durch  seine  den  Olymp  er- 
schütternde Geberde  mit  seinem  Wunsche,  dass  Here  nichts  merke, 
in  Widerspruch  trete,  aber  die  Bezeichnung  des  Falles,  dass  Zeus 
nach  Jac.  mit  Thetis  eine  Verhandlung  gehabt,  sei  nicht  die 
richtige.  „Zeus,  sagt  er,  will  nicht  mit  Th.  etwas  verhandeln, 
die  Unterredung  hat  nicht  den  Charakter  einer  thatsächlichen 
Geschäftsmässigkeit,  sondern  persönlicher  Erregtheit." 

,,Zeus   ist   in  dringlicher  Weise    an  den  von  Thetis  geleisteten 
Dienst  erinnert  worden,  den  wir  aus  Achills  Worten  kennen,  396 — 406, 
und  kann  sich  doch  nicht  entschliessen  zuzusagen ,  was  ihn  in  eine 
schlimme  Scene  mit  Ilere  bringen  niuss ;   aber  er  schämt  sich  doch 
auch  abzuschlagen,  daher  erwidert  er  erst  nichts,  sondern  in  stum- 
men Gedanken  sass  er  langhin  vor  ihr,  512.    Jedoch  Thetis 
lässt  niclit  ab,  und  sie  versteht  es,  ihm  die  Versagung  unmöglich  zu 
machen,  die, Gewährung  abzunölhigen." 
„Truglos,  Vater,  gelobe  mir  jetzt,  und  winke  tiewährung, 
Oder  verweigere  mir's,  Furcht  kennst  Du  nicht,  dass  ich  erkenne. 
Wie  von  den  Göttinnen  ich  die  verachteste  bin  unter  allen." 
Hierdurch  verschmolz  sie  ihre  Angelegenheit  auf  das  Liuigste  mit  des 
Zeus  Herrscherehre  und  eigenstem  Interesse. 

H.  ruft  aus:  Wahrlich  Shakespeare  und  Göthe  haben  keine 
grössere  Meisterschaft  in  der  Schilderung  des  Weibes  an  den  Tag 
gelegt!  Zeus  ist  im  Gedränge,  kann  er  da  Anderes,  als  Wider- 
sprechendes thun?  Thetis  hier,  Here  dort,  aber  Thetis  hat  ihn  bei 
seiner  Ehre,  seiner  Herrscherehre  gefasst  —  braucht  er  sich  doch 
nicht  zu  fürchten?  —  Also:  eine  Klage  freilich  über  die  Unan- 
nehmlichkeit, in  welche  ihn  Thetis  versetzt,  kann  er  nicht  zu- 
rückhalten und  besser  freilich,  Thetis  bleibt  unbemerkt,  aber  — 
komme  es,  wie  es  wolle,  sie  erhält  die  Gewährung,  und  er  er- 
theilt  sie  mit  dem  ganzen  Hochgefühl  ihrer  Bedeutung  (Zuver- 
sicht seiner  Macht). 

So  also  Hiecke's  Erledigung  der  Hauptsache;  was  noch 
über  Here  folgt,  mag  man  selbst  nachsehn. 

üeber  die  alsbald  folgende  Begegnung  des  Zeus  mit  Here 
in  der  Götterversanmilung,  die  dem  eintretenden  Oberkönig  durch 


81 

ihre  Ehrenbezeigung  ihre  Unterordnung  l)ekennt,  bedarf  es,  meine 
ich,  nur  der  Hinweisung  auf  Zeus  Worte  545:  „Here,  hoffe 
doch  nicht,  all'  meine  Gedank  en  zu  wissen"  und,  wie  er 
weiter  ihr  die  Stellung  zu  seiner  Machtfülle  umsclireibt,  sich  er- 
gänzend durch  die  Drohw  orte  562  —  567,  Auf  Gund  dieser  Wei- 
sung finden  wir  ihn  dann  in  den  nächsten  Büchern,  nachdem 
er  den  Plan,  wie  er  seine  der  Thetis  gegebene  Zusage  verwirk- 
lichen wolle,  gefasst  hat,  eben  zunächst  nur  bedacht,  den  vollen 
Krieg  zu  erregen,  so  dass  er  insoweit  mit  Here  übereinstimmt. 
Die  aus  dem  Kriegsbrauch  hervorgehenden  Hergänge  veranlassen 
ihn  dann  zu  der  Schlauheit  des  vierten  Gesanges. 

Hiecke  schliesst  seine  Abhandlung  mit  einem  besonderen 
Lobe  des  ersten  Buches  und  einem  allgemeinen  des  Dichters. 
„Ja,  wahrlich  Homer  hat  den  Griechen  ihre  Götter  gemacht  — 
und  er  hat  sie  gemacht  mit  genialer  Ironie"  u.  s.  w.  Die  fol- 
gende Charakteristik  der  olympischen  Scene  schliesst  er  mit  den 
Worten:  „und  zuletzt  sucht  jeder  das  Bett  —  und  Zeus  und  Here 
suchen  es  auch."  Ihm  galt  also  das  Bedeoken  nicht,  welches 
Gross  bewog,  den  letzten  Vers  als  unecht  zu  streichen.  Er 
verknüpft  nur  die  folgende  Rhapsodie  mit  dieser  durch  die  letz- 
ten Worte:  „Aber  wird  wohl  Zeus  ruhig  schlafen  können?  Achill 
soll  gerächt  werden  durch  blutige  Niederlage  der  Achäer,  werden 
diese,  wird  Agamemnon  Lust  und  Mutli  haben,  auszuziehen  zum 
Kampfe?  Das  kostet  auch  dem  Herrscher  Zeus  Sorge  und  Ueber- 
legung,  Sorge  und  Ueberlegung  sind  Feindinnen  eines  ruhigen 
ungestörten  Schlafes." 

Wir  sehen,  Hiecke  fand,  wie  viele  Andere  das  ovx  axs 
vi]öv}iog  VTivos  zu  Anfang  des  zweiten  Gesanges  nicht  anders,  als 
im  Gegensatz  des  vorhergehenden  jiavfvxi'Oi,  zu  verstehn,  der 
Schlaf  hielt  ihn  nicht  fest'''). 


131)  Ausführlich  hierüber  A.  .In coli,  S.  176  und  77,  wo  er  auch 
auf  jenes  von  Gross  über  den  Srlihissvers  des  ersten  Gesanges  erregle 
Bedenken  das  Befriedigende  hcihringl.  Ueber  das  e'x?  führt  er  schon 
ausser  der  ganz  gleiclien  Stelle  II.  10,  2  —  4  die  idinliclie  Od.  15,  4 — 8  an. 
wo  man  das  , .durch  die  and)rosische  Nacht"  willkürlich  deuten  niüssle, 
wenn  man  hier  s'/^i  anders  versleiien  wollte  als  hielt  fest.  Erst  der 
Aorist  als  die  Zeitform  des  Faklischcn  würde  mit  der  Verneinung  die 
Deutung  auf  völlige  Schlaflosigkeit  reclilferligen.  Das  überkam  oder  er- 
fassle  ist  seihst  II.  24,  679  hei  h'iAocjTCTS  zweifclhaTl. 

Nilzscli,  Gösch,  d.  g^rioch.  Epos.  0 


.     S2 

Mit  der  Ueberlegung  des  Zeus  wird  er  dann  auch  die  Sen- 
dung des  Traumes  und  den  dadurch  erregten  Krieg  erkannt  haben, 
genug   die   Zusammengehörigkeit  des  ersten  und  zweiten  Buches. 

So  hat  sich  an  den  letzten  Gesängen  der  IHas,  an  ihrem 
9.,  und  an  dem  ersten,  Lachmanns  und  der  Beistimmenden  Ur- 
theil  und  Bemühn  um  Herstellung  einzelner  Lieder  als  verfehlt 
erwiesen.  Wir  luiden  in  anderer  Weise  aber  in  dem  verneinen- 
den Ergebniss  das  Gleiche  in  den  mannigfachen  Behandlungen 
der  Mittelpartie  vom  11.  Buche  bis  zum  15.  aus  der  Lachmann 
sein  10.  Lied  bildet. 

17.  Die  vielstimmigen  Ansichten  über  das  11.  bis 
15.  Buch  der  Ilias. 
Die  Partie  der  Ilias,  die  mit  der  s.  g.  Aristie,  dem  Vor- 
kämpfergang des  Agamemnon,  oder  nach  der  Alexandrini- 
schen  Abtheilung  in  die  24  Bücher  mit  dem  11.  Buche  beginnt, 
und  bis  zum  Schluss  des  15.  reicht,  erinnert  vor  allem  Andern 
an  die  organische  Anlage  des  Ganzen,  sie  bildet  den  Kernpunkt 
derselben,  wie  der  üeberblick  lehrt.  INachdem  nämlich  gleich 
durch  die  Entfremdung  des  Achill  vom  Oberfeldherrn,  und  den 
Weggang  des  Gekränkten  zu  seinen  Zelten  in  die  Unthätigkeit 
die  ganze  Handlung  in  zwei  .Ausgangspunkte  geschieden  ist,  folgt 
zunächst  die  Erregung  des  vollen  Krieges  mittels  des  täuschen- 
den Traumes  und  ein  wechselvoller  Tag;  da  Zeus  die  Verwirk- 
lichung seines  Plans  noch  verschiebt  bis  zum  Ende  des  7.  Buches, 
poetisch  ein  Expositionstheil.  Im  8.  verkündet  Zeus  den  beiden  Par- 
teien der  Götter  das  Verbot  der  persönlichen  Theilnahme,  und  der 
ungehorsamen  Here  den  Bereich  seines  Beschlusses,  jetzt  dem 
Hektor  Sieg   zu  verleihen   zum  Verderben   der  Griechen:   473.  f. 

Denn  nicht  rastet  er  eher  vom  Streit  der  gewaltige  Hektor, 
Eh'  er  erregt  an  den  Schiffen  den  flüchtigen  Renner  Achilleus. 

Und   noch   hi   diesem    Gesänge    erreicht   der   Sieghafte   das  erste 

Stadium  seines  Erfolgs  und  des  Leids  der  Griechen: 

Nahe  den  Schiffen ,  der  Maner  gerückt  sind  Lager  und  Nachtwacht 

„wie  Odysseus  dem  Achill  9,    232  (f.  vorhält,  ,,und  es  halte  sie 

Nichts   mehr,   sagen   sie,    nun    sich  bald    in    die  dunkeln  Schiffe 

zu   stürzen."     Was   er    hinzufügt,    die    Troer   stehen  im  grössten 

Uebermuth,    und    Hektor    drohe,   die   Schiffe  zu  verhremien,  das 


83 

war  nach  8,  498  f.  wirklich  von  Anfang  Rektors  Absicht.  So 
schliesst  sich  im  9.,  bei  der  durch  den  grellen  Gegensatz  zum 
vorherigen  Verhalten  der  Troer  entstandenen  Furcht,  die  Gesandt- 
schaft an  Achill  an.  Am  Ende  dieses  Buches  spricht  der  immer 
kampfmuthige  Diomedes  aus,  was  nun  nach  Achills  unerbittlicher 
Antwort  zu  thun  sei,  und  mit  allgemeiner  Zustimmung.  Das  10. 
Buch  wird  von  beiden  heutigen  kritischen  Parteien  meistens  für 
Einschiebsel  erklärt,  ob  es  gleich  den  Umständen  eingefügt  ist '^^). 

Hier  also  tritt  unsere  Partie  ein.  Sie  bildet  den  Kernpunkt 
der  von  Anfang  auf  zwei  Ausgangspunkte  gestellten  Handlung: 
während  im  Verlauf  des  11.  Buches  das  Leid  des  Heeres  in  der 
Verwundung  der  drei  bedeutenden  Helden,  des  Agamemnon, 
Diomedes  und  Odysseus  ,  zum  zweiten  Stadium  gesteigert  v.ird, 
wird  Achill,  der  die  Versöhnung  abgewiesen  hat,  zunächst  doch 
achtsam  er  sieht  von  einer  Warte  den  Nestor  auf  seinem  Wagen 
einen  Andern  zu  den  Zelten  fahren  und  sendet  seinen  Patroklos 
an  diesen,  zu  erkunden,  wer  doch  der  Verwundete  sei.  Diese 
Sendung  hat  im  Verlauf  der  Handlung  die  weitreichendsten  Folgen. 

Schon  der  Zusammenhang  des  Eingangs,  der  Arislie  des 
Agamemnon  mit  dem  Vorhergehenden  hat  allerdings  seine  Schwie- 
rigkeit. Jedoch  die  Sendung  des  Patroklus  und  seine  späte 
Bückkehr  sammt  dem  Verhältniss  seiner  Meldung  zum  Auftrage 
haben  mehr  als  irgend  ein  Anderes  die  entgegengesetztesten  Auf- 
fassungen erfahren.  Die  Erörterung  über  das  Ursprüngliche  in 
der  Dichtung  vom  Zorn  des  Achill,  ob  Einzellieder  oder  eine 
umfängliche  Epopöe,  hat  sich  niigends  so  wie  hier  zum  leb- 
haften Streit,  als  gälte  es  die  Feste  selbst,  gesteigert.  Einmüthig 
sind  beide  Parteien  nur  in  der  allgemeinen  Ueberzeugung  von 
geschehener  Interpolation,  sei  es  durch  die  Vortragenden  oder 
auch  die  (schriftlich)  Zusammenfügenden.  Aber  wenn  auch  INie- 
mand  die  Gedichte  wie  aus  Einer  Hand  unverändert  überliefert 
glaubt,  also  Niemand  zum  vorwolfischen  Standpunkt  zurückgeht, 
so    werden    doch    über   die   Kennzeichen   der    erkennbaren   Ver- 


132)  Vor  Allem  s.  Düntzer  Pliilolop.,  XII,  41  —  59.  Auch  wer  wie 
Gruppe  Ariadne,  S.  278  —  80,  für  diese  Rhapsodie  durch  das  dramatische 
Leben  darin  besonders  eingenommen  ist,  kann  sie  nur  für  eine  lose  ein- 
gehängte Episode  erkennen  So  auch  Bau  ml  ein  in  Grunde  trotz  seiner 
Vertheidigung ,  Ztschr.  f.  Allerth.  1848,  S.  341  f. 

6* 


84 

änderungen  und  die  Geltung  der  einzelnen  wiederum  Verschieden- 
heilen obwalten. 

Ein  Standpunkt  des  llrtheils  über  beide  Parteien  kann  nur 
dadurch  gewonnen  werden,  wenn  beider  Methode  in  unläugbares 
Licht  gestellt  wird,  wonach  dann  der  Vorzug  denen  zugesprochen 
werden  darf,  deren  Verfahren  als  das  von  der  Geschichte  vor- 
geschriebene nachgewiesen  wird. 

An  dieser  Stelle  ist  nur  das  nachzuweisen,  dass  die  bis- 
herigen Ergebnisse  der  Anhänger  Wolfs  weder  sie  seihst  unter- 
einander zur  Einigung  geführt,  noch  irgend  einen  vor  den  Ein- 
würfen Ajulerer  sicher  gestellt  haben.  Das  aber  ist  schon  hier 
hervorzuheben,  dass  den  gleich  unten  zu  nennenden  Hauptlrägern 
der  Auflösung  in  Einzellieder  ausser  den  gewöhnlichen  Gegnern 
noch  andern  entgegentreten.  Es  sind  das  die,  welche  ihre  leb- 
hafte Anerkennung  eines  so  hoch  begabten  Dichtergenius  Homer, 
der  zur  wahren  Epopöe  das  Muster  gegeben ,  zwar  entschieden 
aussprechen,  aber  diese  Ueberzeugung  und  die  Annahme  einer 
planvollen  Ilias  nicht  anders  für  erweislich  halten,  als  durch 
Ausscheidung  grosser  Partieen.  Also  beide  Parteien  weisen  Ein- 
schiebsel nach  und  öfters  dieselben.  So  geschieht  es  gerade  bei 
der  genannten  l'arlie,  wo  Achill,  der  bis  dahin  grollend  in  seinem 
Zelte  seinen  Sinn  durch  Singen  früherer  Sagen  gelal)t  hatte, 
jetzt  zuerst  auf  den  Gang  des  wohl  sich  nähernden  Kriegslärmes 
aufmerksam  wird,  und  den  Dienstmann  mit  jener  Frage  an  Nestor 
sendet. 

Es  sind  hier  vornehmlich  zwei  Bedenken  und  streitige  Punkte, 
welche  die  Untersuchung  beschäftigen.  Zuerst  ist  das  wahre 
Verhältniss  mit  dem  Arzt  Machaon,  den  nach  dem  jetzigen  Texte 
Nestor  als  verwundet  durch  den  Pfeil  des  Paris  (505 — 7)  zu 
seinem  eigenen  Zelt  fährt,  schon  Manchem  zum  nicht  lösbaren 
Problem  geworden.  Noch  mehr  aber  hat  die  Sendung  des  Pa- 
troklos,  seine  späte  Rückkehr  zu  Achill  und  seine  von  dem  Auf- 
trage auffällig  abweichende  Rückmeldung  Anstoss  gegeben.  Er 
erhält  durch  Nestor  Nachricht  von  der  Ver\^undung  nicht  blos 
des  Machaon,  sondern  der  drei  so  Bedeutenden  und  hört  sie  in 
aufgeregtester  und  ihn  selbst  bewegendster  Aeusserung.  Dazu 
einen  Rath,  wie  er  den  Achill  angehen  möge.  Daher  ist  er,  l»a- 
troklos   offenbar    schon   jetzt   wie    innerlich   selbst  zur  Befolgung 


85 

des  Rathes  betrieben,  sei  in  Belracbt  des  zornniütliigen  Achill 
zur  Eile  gestimmt  (804  1'.).  Aber  in  der  vorliegenden  Parallel- 
erzählung verweilt  er  sich  gar  lange  hei  Eurypylos,  der  ihm  auf 
seinem  Rücklaufe  als  der  fünfte  Verwundete  begegnet  (809)  und 
ihn  bewegt,  ihm  zur  Hülfeleistung  in  sein  Zelt  zu  folgen. 

Es  ist  hier  zu  unterscheiden:  dass  der  in  sich  und  durch 
den  Gedanken  an  Achill  Eilige  dem  Eurypylos  doch  willfahrt, 
ist  doppelt  motivirt.  Die  Wunde  wird  als  eine  schwere  be- 
schrieben li,  811  —  13  und  Eurypylos  vervollständigt,  wie  er 
unmittelbar  aus  dem  Kampfe  konnnt,  dem  schon  Trauervollen, 
auf  dessen  fast  verzweifelnde  Frage  815  —  21,  das  Jammerbild 
durch  eine  Antwort  völliger  Muthlosigkeit,  wonach  die  Griechen 
bei  der  Kampfunfähigkeit  jener  Drei  es  wohl  nicht  vermögen 
werden,  das  Unheil  abzuwenden.  So  erfährt  Patroklos,  dass  die 
Sache  soeben  auf  einem  Punkte  der  Entscheidung  und  gespann- 
testen Erwartung  steht.  Insoweit  also  ist  die  Einkehr  des  Eiligen 
bei  Eurypylos  genugsam  gerechtfertigt.  Dass  Patroklos  dem  schwer 
Verwundeten  beizustehen,  sich  in  seinem  milden  Herzen  bewegen 
lässt,  ist  vollends  natürlich,  da  er,  wie  Eurypylos  bei  seiner 
Bitte  geltend  macht  830  —  36,  die  Heilung  wie  ein  Arzt  ver- 
steht, Machaon  aber  selbst  des  Arztes  bedarf.  Aber  neben  die- 
sem Beweggrunde  wirkt  nach  dem,  was  aus  der  ausdrücklichen 
Angabe  des  Patroklos  Gemüthsstimmung  natürlich  ergänzt  werden 
kann,  jener  das  bewegte  Herz  spannende  Stand  des  Kampfes. 
So  lange,  als  dieser  Stand  noch  obschwebt,  d.  h.,  der  Kampf 
noch  vor  und  bei  der  Mauer  fern  von  dem  SchilTslager  geführt 
wurde,  mochte  der  Heilkundige  dem  Verwundeten  Heilmittel  und 
Ansprache  widmen.  So  lautet  es  nun  bei  dem  Dichter  selbst 
—  aber  freilich  erst  weiterhin,  nach  12,  1  erst  15,  390  —  404, 
wo  die  Verse  390  H'.  eben  den  noch  bei  der  Mauer  wogenden 
Kampf  als  die  Dauer  seines  Verweilens  bezeichnen,  dann  395 
seinen  Aufbruch.  Aber  sobald  er  zur  Mauer  die  stürmenden 
Troer  heranziehen  sah,  und  Angst  und  Geschrei  sich  erhob  im 
achäischen  Volke,  jammerte  laut  er  sodann und  rief  weh- 
klagend die  Worte:  Jetzt  Eurypylos  kann  ich  —  hier  nicht  län- 
ger verziehen  u.  s.  w. 

Da  muss  man  freilich  fragen,  wie  sich  diese  Angabe  von 
des  Patroklos  Verweilen  während  alles  dessen,  was  die  Parallel- 


86 

erzählung  vom  Anfang  des  zwölften  Gesanges  bis  zu  der  ange- 
führten Stelle  des  fünfzehnten  umfasst,  in  statthafter  Weise  deu- 
ten lasse.  Von  allem  Andern  jetzt  abgesehen,  die  Troer  — 
deren  Bewegungen  Patroklos  aus  seiner  Ferne  allerdings  nur  im 
Ganzen  erschauen  konnte  —  sind  zweimal  gegen  die  Mauer  nicht 
blos  gestürmt,  sondern  sie  haben  sie  zweimal  durchbrochen  und 
überschritten.  Während  der  ersten  Zeit,  da  Patroklos  den  Eu- 
rypylos  behandelte,  wie  in  11,  844  —  48  und  12,  1  angegeben 
ist,  hat  Hektor,  wie  er  nahe  vor  Graben  und  Mauer  mit  seinem 
Heere  stand,  mit  Zurücklassung  der  Wagen  auf  Pulydamas  Rath, 
zwar  eine  Weile  tapferen  Widerstand  erfahren,  aber  nachdem  Aias 
und  Teukros  von  der  Stelle  weg  dem  Menestheus  zu  Hilfe  ge- 
gangen, durch  Zeus  Beistand  die  Mauer,  deren  Thor  er  sprengte 
(12,  457- — 62}  durchschritten,  und  sind  seine  Troer  theils  da 
eingedrungen,  theils  als  Fussgänger  sonst  übergesprungen.  So 
am  Ende  des  zwölften  Buches.  Aber  im  dreizehnten  und  vier- 
zehnten werden  die  Troer  wieder  zurückgetrieben  und  Hektor 
kampfunfähig  weggetragen.  Das  geschieht  in  Folge  erst  der  zu 
grossen  Zuversicht  des  Zeus  zur  Wirkung  seiner  Bedrohung  der 
Griechengöttinnen,  sodann  der  List  der  Here,  besonders  durch 
Einschreiten  des  Poseidon.  Darauf  stellt  im  fünfzehnten  Apollon 
in  Zeus  Auftrage  und  Zeus  selbst  den  vorigen  Stand  wieder  her, 
führt  mit  der  Aegis  den  Hektoi*  und  die  Troer  wieder  vorwärts, 
und  wirft  die  Mauer  weithin  nieder  15,  355  ff.,  so  dass  die 
Achäer  in  Bedrängniss  und  Mühsal  zurückfliehen  (365  f.),  die 
Troer  aber  bei  einem  zweideutigen  Wetterzeichen  des  Zeus,  es 
für  sich  deutend,  gewaltig  vordringen  (379),  jetzt  mitsammt 
ihren  Wagen  und  bis  nah  zu  den  Schiffen  gelangen,  sodass  die 
Achäer  nur  von  den  Schiffen  herab  sich  vertheidigen. 

Was  also  hat  Patroklos  hiervon  erst  noch  abgewartet, 
und  ebenso,  was  sah  er,  das  ihn  endlich  forttrieb?  Der 
Vers  15,  395:  Aber  sobald  er  zur  Mauer  die  stürmenden  Troer 
u.  s.  w.,  er  wird  grammatisch  besser  auf  das  letztere  Vordringen 
gedeutet ,  dabei  bleibt  aber  das  Vorhergehende  unklar ,  wir 
müssen  denken,  Patroklos  hat  jenes  Frühere,  mit  Eurypylos  be- 
schäftigt nicht  beobachtet  noch  gesehen.     So  ist  Schümann '^^), 

133)  Reo.  der  Sageiip.  N.  Jahrb.  B.  69.  S.  18  f.  Der  Austoss,  als  sei 
es  zweimal  Älittag,  ist  freilich  Nichts  als  ein  Versehen,  denn  allein  16, 


87 

der  dabei  zumeist  an  den  Angaben  von  dem  Mittag  dieses  Tages 
anstösst  und  die  Menge  des  gleichzeitig  oder  in  Kürze  Gescbehnen 
auch  seinerseits  für  midenkbar  erklärt,  bewogen  worden  zu  dem 
Urtheil:  „Die  ursprüngliche  Erzählung  hat  später  Erweiterungen 
erfahren,  die  schwerlich  von  demselben  Dichter  herrühren  können, 
der  im  11.  Buch  die  Schlacht  begann  und  sie  im  12.  bis  zur 
Erstürmung  der  3Iauer  führte".  —  ,,Dazu  denke  man,  dass,  wenn 
Alles,  was  vom  Schlüsse  des  12.  bis  zu  15,  390  steht,  ausge- 
lassen wird,  sich  nicht  nur  die  ganze  Erzählung  ohne  irgend 
welche  Lücke  schicklich  zusammenfügt,  sondern  auch  noch  ein 
anderer  nicht  geringer  Anstoss  verschwindet,  das  unglaublich 
lange  und  müssige  Verweilen  des  Patroklos  im  Zelte  des  Eury- 
pylos".  Schümann  lässt  damit  die  Sendung  an  Nestor  und 
die  Umstände  des  3Iachaon  gelten,  aber  das  im  13.  und  14,  Er- 
zählte, die  Unachtsamkeit  und  Einschläferung  des  Zeus,  des  Po- 
seidon Einschreiten,  die  ganze  Schlacht  an  den  Schiffen  und  das 
zweite  Vorgehen  des  Rektor  durch  Apollon  fallen  Aveg. 

Anders,  gerade  durch  die  umgekehrte  Entscheidung  über 
jene  Sendung  und  Machaon,  und  andererseits  über  die  Schlacht 
bei  den  Schiffen,  bemüht  sich  ein  Anderer  der  vermittelnden 
Ansicht  mittels  Ausscheidung  verschiedener  Einschiebsel  eine 
umfänglichere  Dichtung  herzustellen.  Es  ist  Färb  er  im 
Brandenb.  Programm  *^^),     Er  stimmt  erst   G.  Hermann  de  inter- 


777  wird  der  Mittag  bezeichnet ,  von  dem  on  die  Sonne  niederzugehen 
beginnt,  das.  779.  Dagegen  11,  86  wird  mit  der  öfters  wiederkehrenden 
Formel  vom  aufsteigenden  Tage  der  spätere  Morgen  genannt,  wie  8,  66 
und  68  sie  ja  aufeinander  folgen.  Man  vergl.  nur  Od.  4.  400  und  9,  56 
und  58,  wo  der  ganze  Vormittag  und  der  gaiize  Nachmittag  durch  die 
beiden  Formeln  angedeutet  werden.  In  II.  11,  86  wird  nach  der  Angabe 
des  aufsteigenden  Tages  83  der  folgende  Zeitpunkt  in  der  beseelten 
Weise,  wie  Od.  12,  439  der  Abend  durch  das  Abendessen  des  Richters, 
so  hier  durch  die  Hauptmahlzeit  des  Holzliauers  augezeigt,  der  von  früh 
an  gearbeitet  hat,  „und  schon  vor  dem  eigentlichen  Mittag  hungrig  ge- 
worden, ein  grosses  Frühstück  einnimmt".  So  entgegnete  schon  I)  ün  t  z  e  r 
derselben  Ausstellung  Lachmanns  in  Rec.  der  Betrachtungen  N.  Jahrb. 
B.  61,  341,  mit  Ilinweisung  auf  die  einstimmige  Erklärung  aller  Scho- 
ben*'. Die  mittlere  Morgenzeit  um  9  oder  10  Uhr.  Derselbe  bemerkt  an- 
dere Unrichtigkeiten. 

134)  Von  1840  auf  41.  Disputatio  Homerica;  auch  Düntzcr  in 
jener  Rec.  S,  340  und  43.  —  Färber  erkennt  S.  12  und  13  als  unecht 
jn  jenen  Büchern  folgende  Stellen:  11,  502—520  und  596—848,  12,  1  -34, 


88 

polationibus  zwar  in  Beseitigung  des  Machaon,  und  auch  der 
Sendung  des  Patroklos  bei,  ja  gehl  noch  etwas  weiter,  hält  aber 
mit  entschiedenstem  Widerspruch  den  ganzen  Zusammenhang 
des  13.  und  14.  Buches  mit  dem  Schluss  des  12.  aufrecht''^). 
Das  Endergebniss  über  die  l'ragliche  Partie  stellt  er  in  Folgen- 
dem S.  13  auf:  Nach  Beseitigung  der  unechten  Stellen  hat  man 
einen  so  wohlgeordneten  Gang,  dass  Alles,  was  vom  Anfang  des 
II.  Buches  an  bis  zur  Erlegung  des  Hektor  (bis  zu  22,  366?) 
erfolgt  ist,  nicht  nur  ein  einiges  Ganze  bildet,  sondern  sich  auch 
eine  solche  Vertheilung  und  Verbindung  der  Glieder  ergiebt,  wo 
Alles  dem  einheitlichen  Plane  entspricht,  wie  er  aus  dem  tief- 
sten Sinne  des  Dichters  hervorgegangen  ist,  und  wir  sehen  nun 
nicht  einen  entstellten,  verdrehten,  von  ihm  selbst  zerstückten 
Homer,  sondern  einen  derartigen,  wie  wir  ihn  der  höchsten 
Bewunderung  aller  Zeitalter  für  vollkommen  würdig  erkennen 
und  selbst  schätzen.  Auch  besorge  ich  nicht,  man  werde  in 
diesem  Eindruck  sich  durch  das  Gespräch  des  Patroklos  und 
Achill  im  Anfang  des  16.  Buchs  stören,  und  ein  Bedenken  gegen  die 
Verwerfung  der  Sendung  des  Patroklos,  wo  er  die  Niederlage  mit 
eigenen  Augen  gesehen,  aufkommen  lassen.  Es  habe,  meint  hier 
Färber,  der,  welcher  die  Sendung  eingeschoben,  nicht  be- 
achtet, wie  auch  Dinge,  die  dem  Hörer  (hier  Achill)  recht  wohl 
bekannt,  oft  in  gemüthlicher  Aufregung  hervorgehoben  würden. 
Patroklos  wie  Achill  haben  nach  seiner  Meinung  aus  ihren  Zel- 
ten Alles  wahrnehmen  können '^^).     Sein  gut  fortlaufendes  Gedicht 


13,  43  —  82,  126  —  329,  643  —  659,  685  —  700,  als  wenigstens  ver- 
dächtig, 721  —  14,  152,  oder  auch  13,  643  —  14,  152,  362  —  388,  15, 
390- — 405.  Das  Echte  demnach:  IJ  ,  1  —  501,  die  Aristie  des  Agamem- 
non und  die  Verwundung  der  drei  Bedeutenden ,  521  —  595.  Hektor  von 
der  Linken  wieder  Iiervorgelreten,  Aias  von  Zeus  geschreckt;  12,  35  bis 
zu  Ende,  der  Kampf  und  Uektors  Ucberw-ältigung  der  Mauer;  13,  1 — 42, 
83  —  125,  330  —  684,  685  —  700,  vielleicht  795  bis  Ende  auch  nicht 
ganz  sicher,  14,  153  alles  Folgende  mit  Ausnahme  von  362  —  388.  Also 
ist  behalten,  was  nach  Schöniann  wegfiel,  der  Kampf  an  den  Schiflen, 
und  ebenso  das  15.  Buch,  von  dem  nur  die  Verse  vom  Anfliruch  des  Pa- 
troklos 390  —  405  wegfallen. 

135)  Lachmann,  einauilhig  mit  Ilerniarm  S.  30.  Lachmanus  ver- 
meintlichen Beweisen  entgegnet  auch  Düntzcr  mit  guten  Gründen  a.  a.  0. 
S.  347  bis  349,  der  seinerseits  auch  viel  mit  Ausscheidungen  verfahrt. 

136)  Färber  nimmt  sehr  kühn  an,  Machaon  und  Nestor  hätten  in 


89 

hat  Färber  in  der  beschriebenen  Weise  freilich  nur  summarisch 
meinen  können,  da  er  in  den  für  echt  erkannten  Partieen  ein- 
zelne Interpolationen  nicht  ganz  ausschloss,  doch  nahm  er  sicht- 
lich einen  grösseren  Umfang  an.  Ohne  Weiteres  die  Stellen  zq- 
sammengezählt,  geben  sie  über  6600  Verse,  schon  eine  Länge 
des  Vortrags,  den  ein  einziger  Rhapsode  wohl  nicht  durchführte. 
So  hält  Färber  bei  eigenthümlicher  Scheidung  des  Echten 
vom  Unechten  in  seinem  Urtheil  über  jene  Mittelpartie  G.  Fler- 
mann  gegenüber  am  Plane  des  gefeierten  Dichters,  des  Homer, 
also  an  der  Annahme  einer  grösseren  Composition  fest.  Von 
Lach  mann  kannte  er  bei  Abfassung  seines  Programms  (Mich. 
41)  nur  die  Betrachtung  der  ersten  zehn  Bücher;  aber  wenn 
er  sich  S.  28  enthusiastisch  als  dessen  Jünger  und  Nacheiferer 
bekennt,  hat  er  einerseits  dessen  Ausstellungen  am  ersten,  zwei- 
ten, dritten,  gelegentlich  auch  am  fünften  Buche  trotz  jenes 
Enthusiasmus  mit  concreten  und  prinzipiellen  Einwendungen  be- 
stritten, andrerseits  ohne  sein  Wissen  in  seiner  geschickten  Ver- 
eitelung der  Hermann'schen  Gebilde,  sowie  durch  seine  eigene 
Gestaltung  des  umfänglichen  Gedichts  ein  gut  Theil  der  zweiten 
Abhandlung  Lachmanns  mit  Erfolg  angefochten.  Und  ist  er  es 
doch,  der  für  diese  Untersuchung  den  einzig  richtigen  Grundsatz  aus- 
gesprochen hat  S.  28.  ,,Nun  frage  ich",  heisst  es,  ,,ob  man  auch 
hier  Verse  tilgen  will,  die   als  Charakteristik   so  annehmlich  die 


der  ursprünglichen  Erzählung  das  Scldaclitfeld  gar  nicht  verlassen,  Pa- 
troklos  sei  weder  nach  dem  Text  von  Achill  gesandt,  noch,  wie  Hermann 
annimmt,  aus  eigenem  Antriebe  zu  Nestor  gegangen,  um  sich  zu  erkun- 
digen, wie  es  stehe.  Wenn  er  liei  dieser  Abweichung  von  Hermann  nun 
sich  doch  darauf  stützt,  es  sei  von  diesem  bewiesen,  dass  (he  Sendung  des 
Palroklos  undenkl)ar  sei,  so  hat  er  so  wenig,  wie  sein  Vorgänger  (he 
Rede  des  Nestor  gehörig  erwogen.  Hermann  urtheilt  Up.  V,  60  und  61 
ül)er  diese  Rede  11,  65.^  —  803  noch  ciienso  in  Bausch  und  Bogen,  wie 
ehedem  Praef.  ad  hymn.  p.  IX,  und  nur  S.  62  bemerkt  er,  sie  erfordere 
eine  längere  Betrachtung,  auf  die  er  nicht  eingehen  könne.  So  unter- 
scheidet er  nirgends,  dass  freilich  die  Verse  664  —  762  nicht  blos  in  ein- 
zelnen mythischen  und  sprachlichen  Ahweichung^en,  sondern  durch  die 
so  ganz  unzeitige  und  unnütze  Ruhmredigkeit,  zu  der  noch  andere  Gründe 
kommen,  sich  als  Einschichsol  erweisen  (Moritz  de  11.  lihro  IX,  p.  20),  dass 
aher,  wenn  diese  ausgescliieden  sind,  eine  sacligemässe  und  cliaraklervüilc 
Erwiderung  und  Anspraclie  übrig  bleibt.  S.  auch  Düntzcr.  N.  Jahrl). 
B.  61,  S.  346  in  der  Irefllichen  Widerlegung  der  Lachmanu'schen  Sätze. 


90 

Stelle  5,  347  —  430  (der  Aphrodite  Verwundiinj;;  und  Rückkunft 
in  den  Olymp)  anmuthig  schmücken,  statt  das?  man  einsieht, 
man  habe  sich  zu  hüten,  dass  man  nicht  bei  Beur- 
theilung  dieses  Gegenstandes  nur  dem  eignen  Ge- 
schmacksurth  eil  folge,  mag  es  auch  wie  dieses  Lach- 
mannsche  sich  durch  Scharfsinn  und  Eleganz  noch 
so  sehr  empfehlen.  Muss  doch  nollnv endig  allen 
solchen  Meinungsäusserungen  eine  genaue,  aus  Ho- 
mer selbst  geschöpfte  Einsicht  zum  Grunde  liegen 
von  dem,  was  in  der  epischen  Poesie  das  Gesetz- 
mässige  sei.  Denn  dass  Alles  und  Jedes  durch  der 
epischen  Poesie  Natur  und  Wesen,  und  einen  diesem 
e i g e n t h ü m  1  i c h e n  Gebrauch  b e s t i m m t  werde,  könne  ja 
Niemand  in  Abrede  stellen". 

Nach  diesem  Allen  mag  Färber  von  Lach  mann  zwar  die 
Anregung  erhalten  haben,  aber  sein  Verfahren  gehört  nicht 
unter  das  Prinzip  herzustellender  Einzellieder,  sondern  unter 
das,  wozu  Wolf  am  Schlüsse  seiner  Vorreden  zu  den  früheren 
Ausgaben  S.  XXVI  sich  bekennt,  dem  zweier  ursprünglich  klei- 
neren Epopöen. 

Nur  unter  dasselbe  kann  man  gewissermassen  die  Auf- 
stellungen des  bereits  erwähnten  Düntzer  fassen.  Ihm  gestal- 
ten sich  zum  deutlichen  Unterschiede  von  Lachmann  mehre 
Lieder  grösseren  Unifangs.  Aus  dem  Expositionstheile  der  Ilias 
scheidet  er  die  Partie  vom  3.  bis  7.  Buche  als  ein  eignes  Lied 
aus.  Die  ihm  so  verbleibende  Ilias  zerfällt  ihm  aber  wieder  in 
zwei  grosse  Gesänge  mit  zwei  Haupthandlungen.  Mit  preis- 
würdiger Achtsamkeit  auf  die  Gemüthsstimmung,  die  sie  beide 
beseelen,  unterscheidet  er  die  zweite  (zu  viel  thuend)  von  der 
ersten.  Die  erste  hat  den  Zorn  Achills  zum  Gegenstand,  der 
für  beide  Theile  der  Achäer  unglücklich  ausfällt,  indem  die 
Achäer  viel  Weh  erfahren,  und  Achill  selbst  den  Patroklos 
verliert  —  „ein  herrlicher  Gesang,  in  welchem  uns  die  hohe 
Wahrheit  so  nachdrücklich  vorgehalten  wird,  wie  blinde  Leiden- 
schaft die  iMenschen  verblende  und  ihnen  unsägliches  Weh  mache 
—  antik  Ate  (II.  7,  85  ff.).  Achill  selbst  bat  das  Unglück  der 
Leidenschaft  erfahren,  und  giebt  die  Hand  zum  Frieden,  nach- 
dem  er   den  Freund   verloren   hat ."   „Die  Bache  an   dem 


91 

Mörder  des  Patroklus  bildet  wieder  eine  grosse  epische  Einheit 
für  sich  (?),  in  weicher  der  Gedanke,  dass  es  noch  ein  schö- 
neres Gefühl  giebt,  als  die  Rache,  das  der  Entsagung,  hoch- 
gefeiert wird"'^^).  Diese'  so  wenig  eingehende  Charakteristik 
widerlegt  der  thatsächliche  Fortschritt  selbst. 

Jene  so  begrenzten  Lieder  eines  Mittelmasses  sind  nach 
Düntzer  von  vielen  kleinen  Einschiebseln  zu  säubern,  und  so 
auch  gerade  die  Partie,  wo  Achill  zuerst  wieder  mit  dem  Heere 
der  Griechen  in  Verkehr  tritt.  Aber  über  Machaon  und  die 
Sendung  des  Patroklus  hat  er  auf  Hermanns  u.  A.  Ausstellungen 
die  befriedigendste  Erwiderung '^'^).  Er  zeigt,  wie  es  dem  Dich- 
ter nur  darum  zu  thun  war,  den  3Iachaon  verwundet  aus  der 
Schlacht  kommen  zu  lassen,  um  hierdurch  einen  Uebergang 
zur  Peripetie  des  Gedichts  zu  gewinnen;  wir  haben  gerade  hier 
die  besonnenste  künstlerische  Absicht  des  Dichters  anzuerkennen. 

„In  der  Sendung  des  Patroklos  spricht  sich  Achills  wieder- 
erwachende (nicht  zur  Zeit  noch  fast  nur  schadenfrohe?  — )  Theil- 
nahme  an  dem  Schicksale  der  Griechen  aus.  Diese  Sendung 
aber  hat  einen  Erfolg,  wie  ihn  Achill  gar  nicht  erwartet  hatte, 
da  Patroklos  durch  das  Unglück  der  Griechen,  welches  Nestor 
und  der  ihm  begegnende  Eurypylos  so  lebhaft  schildern,  innigst 
ergriffen  wird,  so  dass  er  an  Nichts  denkt,  als  an  den  von  Nestor 
ihm  ans  Herz  gelegten  Wunsch ,  den  Achill  zum  Beistande  zu 
bewegen  und  darüber  den  Zweck  seiner  Sendung  vergessen 
hat  '^^).     Und  eine  solche  offen  vorliegende  künstlerische  Absicht 


137)  Düntzer  Homer  und  der  epische  Kyklos,  Köln,  1839.  Anhang. 
Die  Zusamniengehörigkeil  der  l)eiden  damals  iinlerschiedenen  Handhuigen 
hat  der  Verf.  in  der  Abh.  Rh.  M.  xN.  f.  1847  S.  578  offenbar  einge- 
sehen. 

138)  Rec.  der  L.  Betrachtungen  in  N.  .Ihrl».  B.  Ol,  S.  343  f.,  wo  vor- 
iiergeht:  „Die  Wunde  ist  unbedeutend  und  wir  müssen  annehmen,  dass 
Idomeneus  gleich  den  Pfeil  aus  der  Schulter  gezogen  hat,  w^e  Odys- 
seus  dem  Diomedes  397  f.,  ein  Umstand,  dessen  Verschweigung  man  dem 
Dichter,  wie  ähnliche  sonst,  nicht  hoch  anrechnen  darf."  S.  weiter  auch 
über  die  Stärkung,  welche  Nestor  dem  Ermüdeten  in  seinem  Zelte  reichen 
lässt  und  die  ganze  schöne  Erörterung. 

139)  Die  Auslegung  s.  Sagenp.  Kap.  42.  S.  235 — 39.  Die  FJedeiikon, 
welche  Schütz  de  Patrocliae  compos.,  Anklam  1854,  festhält,  müssen  ihm 
bei  wiederholter  Erwägung  selbst  schwinden. 


02 

konnten  Henuann  u.  A.  völlig  verkennen!  Die  Verwnndung 
des  M  a  c  h  a  o  n  und  des  E  u  r  y  p  y  I  o  s  sind  dem  Dichter 
n  u  I"  Mittel  der  M  o  t  i  v  i  r  u  n  g ,  d  a  s  s  P  a  t  r  o  k  1  o  s  auf  seine 
e i g e n e  B i 1 1 e  v o n  A c li i  1 1  in  den  K*a ni p f  g e s a n d l  werde; 
diese  Mittel  aber  hat  der  Dichter  so  leicht  als  nnöglich  behan- 
delt (Schneidewin),  woher  er  auch  jede  weitere  Erwähnung  des 
Machaon  und  des  Abschiedes  des  Patroklus  von  Eurypylos  ver- 
meidet, denn  14,  l — 8  und  15,  390  —  405  werden  wir  als 
Einschiebsel  ausscheiden  müssen  (?),  so  dass  wir  den  Patroklos 
erst  bei  Achill  wiederfinden". 

18.   Lachmauns  gewaltsame  Gestaltu  n  g  seines  zehn- 
ten Liedes,  von  dessen  Jüngern  mo  dificirt,   je- 
doch ohne  die  beabsichtigte  Wirkung. 

Die  Herstellung  einzelner  Lieder  haben  ausser  Hermann 
eben  Lach  m  a  n  n  und  zwei  eil'rige  .lünger  desselben ,  C  a  u  e  r : 
Lieber  die  Urform  einiger  Hhapsodieen  der  Uias, 
Berlin  1850,  und  Ribbeck  im  Philol.  VHI,  3,  480  ff.  versucht. 

Die  beiden  Letzteren  tragen  ebensowenig  wie  Lach  mann 
Bedenken,  da  es  eben  auf  alle  Weise  Einzellieder  zu  finden  gilt, 
das,  was  die  überlieferte  Folge  nicht  bietet,  aus  jedwedem  ande- 
ren Theile  des  vorliegenden  Ganzen  herbeizuziehen  und  über 
echt  und  unecht  nach  diesem  ihrem  Vorhaben  oder  nach  ihrem 
Geschmack  zu  entscheiden;  aber  auch  so  stimmte  ihr  Ergeb- 
niss  mit  dem  Lachmann'schen  nur  halb  überein,  und  erhielt 
nichts  Klares.  Hoffmann:  „Der  gegenwärtige  Stand  etc."")" 
zeigt,  nachdem  er  die  Stücke  der  Lachmann'schen  Mosaik  auf- 
gewiesen, Cauers  nur  sehr  theilweise  mit  Jenem  übereinstim- 
stimmende  Gebilde,  und  fügt  aus  sich  selbst  hinzu:  „Dass  das 
zwölfte  Buch,  die  Teichomachie,  nicht  blos  eine  sichtbare  Abrun- 
dung  und  Abgeschlossenheit  besitze,  sondern  eben  so  unzweifel- 
haft dieser  Gesang  gleich  von  Anfang  auf  seine  jetzige  Stelle 
berechnet  sei,  also  nur  eine  formelle  Selbstständigkeit  habe". 
Was  er  nach  seiner  eigenen  halb -Lachmann'schen  Ansicht  dort 
weiter  als  Folge  seines  metrischen  Prinzips  an  Einzelliedern 
aufstellt,  bildet  eine  dritte  Varietät. 


140)  Allg.Monatssi^hr.  r.Wisseiisch.  und  Litt.  Halle  1852,  April  S.287. 
bis  92. 


98 

Rihbecks  ansehnliche  Abweichungen  von  Lachmann,  liat 
in  sehr  spezieller  Prüfung  Hiecke  dargelegt"*'). 

Er  lässt  zuerst  an  Lachmanns  Bestrebungen  das  Irregehende 
erkennen,  wie  seine  Lieder  seinen  eigenen  Gedanken  gar  nicht 
entsprechen.  Dann  S.  10  geht  er  auf  Rib  becks  Abweichungen 
mit  Anerkennung  des  denkbaren  Falles  über.  „Vielleicht  bedarf 
das  zehnte  Lachniann'sclie  Lied  nui-  einiger  Modilicationen,  wie 
sie  ein  unstreitig  scharfsinniger  Schüler  (S.  12,  eins  der  bedeu- 
tendsten Glieder  der  Schule)  W.  Rib  heck  damit  vornahm". 
Er  verzeichnet  darauf  die  neuen  Annahmen  mit  ihren  Gründen 
bis  S.  12,  und  geht  eben  wegen  der  Bedeutung  des  begabten 
Jüngers  auf  eine  die  Aufstellungen  Schritt  für  Schritt  verfolgende 
Prüfung  ein ,  „  selbst  auf  die  Gefahr  hin ,  etwas  pedantisch  und 
langweilig  zu  erscheinen".  So  werden  bis  zum  Schluss  der  Ab- 
handlung S.  1 6  und  in  den  reichhaltigen  Anmerkungen  bis  S.  20 
die  unhaltbaren  Sätze  Ribbecks  beleuchtet.  Es  kann  die  Meinung 
mit  ihren  Gründen  nicht  bestehen,  da  Iheils  das  sprachliche  Ver- 
ständniss  zu  steif,  iheils  die  Vergleichung  der  verschiedenen 
Stellen  mangelhaft,  theils  in  den  sprechenden  Helden  die  erregte 
Gemüthsstimmung  unbeachtet  blieb.  Genug,  Ribbeck  gelangt, 
wenn  er  einerseits  Lachnianns  Urtheilc  über  so  manche  Stelleu 
durch  entscheidende  Nachweisung  aufhebt,  andrerseits  doch  selbst 
bei  dem  gleichen  Streben  und  gleicher  Gewaltsamkeit  in  seinen 
speziellen  Annahmen,  doch  zu  keinem   stichhaltigen  Reweise. 

Es  ist  von  Redeutung,  dass  Hiecke  nicht  anders  als 
Schömann  aus  der  Ansicht  spricht,  dass  nicht  wenige  Uneben- 
heiten den  einheitlichen  Fortgang  der  Ilias  stören,  und  dass  er 
selbst  auf  solche  aufmerksam  macht,  welche  verblieben.  Nicht 
aber  hat  er  auf  diesem  Standpunkte  verfehlt,  die  Gewaltthätigkeit 
des  Verfahrens  beim  Zusammensetzen  der  Lieder  aus  den  ver- 
schiedensten Parlieen  zu  rügen.  Der  nach  positivem  Prinzip 
suchende  Hoffmann  hatte  über  Lachmanns  und  Cauers 
Verfahren,  Monatsschr.  a.  a.  0.  S.  288,  geurtheilt:  „Es  wird  auf  den 
ersten  Blick  klar  sein,  dass  es  dem,  welcher  so  verfahren  will, 
nicht   schwer   fallen   kann,    aus    mehren    Büchern    der   Ilias    ein 


141)  GreifswaM,    Scliiilprograiiiiii    Von    1859.      lieber  Laclini.mns 
zehntes  Lied  der  Ilias. 


94 

Lied  zusammenzusetzen,  welches  einen  erträglichen  oder  seihst 
guten  Zusammenhang  hat:  aher  ehen  so  klar  ist,  dass  ein  sol- 
ches Verfahren  nahe  an  die  Grenze  der  Willkür  streift.  So 
weit  zu  gehen,  hat  selbst  der  kein  Recht,  welcher,  wie 
Lachniann  annimmt,  dass  die  schriftliche  Ueherlieferung  der  ho- 
merischen Gedichte  allein  auf  der  Arbeit  des  Pisistratus  und 
seiner  Gefährten  beruht  habe:  eine  Ansicht,  die  jetzt  wohl 
noch  von  Wenigen  getheilt  wird". 

Hiecke  nun  leitet  seine  Nachprüfung  des  Prozesses  mit 
Lachmanns  eigenem  Bekenntniss  ein  (XVII,  p.  27  oder  351),  da 
er  mit  dem  Bewusstsein,  dass  einer  kleinlichen  (d.  h.  nicht  so 
kühnen)  Betrachtung  sich  hier  Nichts  ergeben  könne,  sich  selbst 
möchte  man  sagen,  zum  kühnen  Sprunge  ermuthigt,  und  fügt 
hinzu:  „Man  sieht,  die  Liedertheorie  ist  bereits  über  jeden  Zwei- 
fel hinaus  erhaben;  widerspenstige  Gesänge  fordern  nicht  zu 
einer  grössern  Vorsicht,  sondern  zu  einer  grössern  Kühnheit  auf, 
aber  ein  köstlicher  Gewinn  wird  der  Lohn  der  Kühnheit  sein, 
und  auf  den  ängstlichen  Zweitier  mit  seiner  kleinlichen  Betrach- 
tung darf  schon  im  Voraus  ein  geringschätziger  Seitenblick  fallen." 
Hierauf  folgt  dann  die  obige  Nachweisung,  wie  unzulänglich  die 
Erfolge  sind. 

Im  Verlauf  der  Pi'üfung  werden  auch  einzelne  Missgriffe  der 
Methode  bemerklich  gemacht  und  werden  Lieder  jener  nur  for- 
mellen Selbstständigkeit  anerkannt,  welche  bei  der  Vortrags- 
weise der  epischen  Dichtungen  auch  im  einheitlichen  Ganzen 
ihre  Stelle  und  Verwendung  finden  konnten. 

Dies  führt  auf  andere  Nachfolger  Lachmanns,  welche  des 
Meisters  Vorhaben  und  einzelne  Belege  theils  durch  feslere  Ge- 
staltung derselben,  theils  durch  Hinweisung  auf  andere  kleinere 
Partieen  mit  einem  kenntlichen  Anfang  und  Schluss  zu  fördern 
und  zu  verstärken  bemüht  sind,  und  demnach  ganz  im  Dienste 
seines  Prinzips  stehen,  das  sie,  wie  er,  als  allein  gehörig  und 
geboten  betrachten. 

Vorzugsweise  gehört  zu  diesem  Helm^^*),  der  bei  dem  leb- 
haftesten   Bekenntniss   seiner   Jüngerschaft,    Lachmanns   Urtheile 


142)  Progr.  tles  Catliariiieunis  in  Lübeck  1853:  Ad  Garoli  Lach- 
manni  exeniplar  de  Aliquot  Hiatus  carininum  composilione  quaerilur. 
S,  24.  4. 


95 

und  Liederbildungen  vielfacher  Verbesserung  und  Umgestaltung 
bedürftig  fand.  In  den  ersten  drei  Abschnitten  werden  so  die 
Ergebnisse  Lachmanns  in  der  Behandlung  der  Rhapsodieen  3  —  7 
berichtigt,  im  vierten  die  Unechtbeit  des  auch  von  L.  als  Sonder 
lied  gefassten  10.  Buches  mit  seltenen  Wörtern  belegt,  im  5.. 
S  11  —  1 8,  die  von  L.  aus  II.  11  —  15  gebildeten  Lieder  um- 
gestaltet, im  6.,  S.  18  —  20,  das  Verhältniss  Lachmanns  zu  Her- 
mann besprochen,  im  7.  das  einheitliche  ürtheil  über  II.  18  —  22 
besonders  durch  Aufweisung  von  Mängeln  der  Rhapsodieen 
18  und  19  theils  modificirt,  theils  kritisirt,  im  8.,  S.  23  und  24, 
Lachmanns  subjective  Wahrnehmung  einer  in  diesen  letzten  Büchern 
sich  kundgebenden  Iliasgestalt,  verschieden  von  der  Pisistratischen 
Sammlung  berührt,  desselben  Angabe  einer  Aehnlichkeit  der 
Rhapsodie  21    mit  der  5.  weiter  begründet. 

In  Helms  Verfahren  offenbaren  sich  die  Eigenschaften  der 
in  der  Dienstbarkeit  des  Lachmannschen  Prinzips  fortstrebenden 
Forschung  in  beiderlei  Weise  als  gesteigerte,  sowohl  die  Unter- 
lassung und  Versäumniss  des  für  die  homerische  Frage  Erfor- 
derlichen, als  der  auf  Wahrnehmung  von  Unebenheiten  er- 
pichte Scharfsinn.  Das  Werk  der  Auflösung  des  Ganzen,  die 
Verneinung  und  Zerstörung  des  Glaubens  an  eine  einheitliche 
Uias  ist  hier  viel  weiter  vollzogen.  Der  herrenlosen,  verworfenen 
Stücke  und  Lieder verse  erscheint  eine  grössere  Menge,  als  bei 
Lachmann;  was  Jener,  als  Einem  Dichter  beizulegen,  zusammen- 
fasste,  zerfällt  ebenfalls,  die  vermehrten  Einzellieder  werden 
zwar  im  bedeutendsten  Falle  aus  gewaltsamer  Verknüpfung  ge- 
löst, nehmen  aber  in  ihrer  grösseren  Zahl  das  Mass  von  Epi- 
soden an,  welche  möglicherweise  dann  einem  nichtLachmann'schen 
Blicke   zum   einheitlichen  Gebrauch   dienlich    erscheinen  können. 

19.  Fortsetzung.     Helms    Versuche. 

Gleich  in  der  steigernden  Weiterbildung  der  L.s.  Sätze  vom 
dritten  Buche,  mit  dem  Zweikampf,  der  Mauerschau  und  dem 
Bundesopfer  ist  der  Lachmann'sche  Fehler,  die  Ausdrücke  zu 
pressen,  wiederholt.  Helm  weiss  des  Paris  73  und  des  Ilek- 
tor  Ausdruck  94,  dass  nach  der  Entscheidung  durch  den  Zwei- 
kampf die  beiden  V^ölker  friedlich  auseinander  gehen  sollten,  mit 
dem    von  Menelaos   geheischten  Vertrag   durch  Priamos,    105  f.. 


96 

nicht  zu  einigen;  er  findet  auch  Anstoss  an  271  f.,  wo  Agamem- 
non die  Opferthiere  lödtet,  als  unvereinhar  mit  105  f.,  da  der 
König  Priamos  selbst  zum  Vertragsschluss  erfordert  wird ,  un- 
geachtet der  zahlreichen  Erinnerungen  an  den  Sinn  des  Bundes- 
opferschneiden und  Vergleichung  des  foedus  icere,  und  an 
das  einfache  VerhäUniss,  da  eben,  wie  Agamemnon  im  Namen 
der  Griechen,  so  im  Namen  der  Troer  ihr  König  Priamos  den 
Vertrag  schÜessen  musste'^^).  Und  wie  Bäum  lein  gleich  335 
bei  dem  Handschlag  [ds^iat  4,  159  wie  2,  341)  dieselbe  Steif- 
heit und  peinliche  Forderung  der  Erwähnungen  zu  rügen  hatte, 
so  findet  Helm  in  der  Iris  Meldung  3,  134  irrig  einen  Wider- 
spruch mit  326,  wo  die  Reihen  der  beiden  Heere  sich  erst  als 
Zuschauer  des  Zweikampfes  niederlassen.  Es  ist  ja  in  den  dabei 
citirten  Versen  113 — 115  angegeben,  dass  die  Krieger  von 
ihrem  Wagen  gestiegen  und  die  Waffen  ab  und  auf  die  Erde 
gelegt  haben.  So  spricht  also  die  als  Laodike  erscheinende 
Iris  das  hereits  Faktische  aus  der  Ferne  nur  eben  nach  seiner 
jedenfalls  zu  erwartenden  Geslaltung  in  dem  satai.  ßtyt]',  „ruhn 
jetzt  schweigend  gelagert",  nach  ibrer  Phantasie  von  dem  Vor- 
gange aus.  Aber  eben  die  Phantasie  wird  in  dem  Verständniss 
der  Lachmann'schen  Ausleger  gar  oft  verabsäumt,  sowie  die  Ge- 
müthserregungen  der  Personen. 

Auch  die  Iris  ist  von  Helm  dreifach  falsch  aufgefasst;  erstens 
flösst  nicht  sie,  vermöge  ilir  beiwohnender  göttlicher  Eigenschaft, 
der  Helena  süsses  Verlangen  ein,  sondern  der  Dichter  bezeichnet 
139  f.  die  Wirkung  ihrer  Meklung  im  Gemüth  der  Helena,  was 
zur  Zeichnung  dieser  gehörte,  wie  sie  in  diesen  Büchern  über- 
haupt durchgeführt  ist,  wovon  weiterhin  ein  Mehres.  Sodann 
ist  Iris  bei  Homer  und  in  diesen  Büchern  keineswegs  nur  die 
speziell  beauftragte  Botin,  sondern  eine  dichterische  Person,  und 
so  zu  sagen  Maschine  für  allerlei  einer  Dienerin  eignende  Hül- 
fen und  Momente  der  Erzählung'*^). 


143)  DieRecensentcn  Lachnianns:  Bäunilein  344,  Düiitzerl,  Art.  288, 
Färber  28  f.,  Jacob  191  f.,  der  sowohl  die  Ursache  der  Gegenwart  des 
Priamos,  als  die  aucli  fernerhin  erwähnte  Thatsache  des  vollzogenen, 
nachmals  verletzten  Vertrags  durch  Citate  besonders  nachweist. 

144)  ünbeauftragt,  als  freie  Person  hilft  sie  5,  353  ff.  der  Aphrodite, 
unheauftragl  ruft  sie  als  göttliche  Zwischenperson ,  nach  Achills  Gehet 


97 

Da  nun,  wie  gesagt,  des  Priamos  Berufung  und  Gegenwart 
beim  Vertrag  vor  dem  Zweikampf  ganz  unläugbar  vom  Dichter 
erzälilt  ist'*^),  und  eine  Abholung  aus  seinem  Palaste  weder  ir- 
gend bezeugt  noch  an  sich  wahrscheinlich  ist,  so  folgte,  dass  er 
über  dem  Thor  bei  den  andern  Geronten  schon  befindlich  dar- 
gestellt werden  musste.  Die  Scene  der  Mauerschau  trat  also  als  die 
vom  Dichter  gew ählte  Form  ein ,  wie  und  wobei  die  Botschaft  den 
König  getroffen.  Zum  Zweck  der  Mauerschau  mit  der  berühm- 
ten Aeusserung  der  Greise  über  die  Helena  führte  also  der 
Dichter  diese  beim  Zweikampf  so  unmittelbar  interessirte  Helena 
herbei.  Lachmann  hatte  S.  15  geäussert:  Die  Unschicklichkeit 
der  Fragen  an  Helena  —  könnte  vielleicht  der  erste  Dichter 
dieses  Liedes  so  gut  verschuldet  haben,  wie  ein  Interpolator. 
Vergl.  Bäumleins  Rec.  in  d.  Z.  f.  A.,  S.  333.  Die  Frage,  ob  Priamos 
im  9.  Jahre  des  Kriegs  noch  so  unkundig  der  griechischen  Hel- 
den habe  dargestellt  werden  können,  gehört  zu  der  allgemei- 
neren, ob  die  Bücher  3  —  7  zum  ursprünglichen  Plan  der  Ilias 
oder  der  Epopöe  vom  Zorn  gehören,  welche  hier  nicht  begut- 
achtet werden  kann. 

Schon  bei  den  bis  hierher  besprochenen  Büchern  verfährt 
Holm  mit  einer  ganz  mechanischen  Vorstellung  von  den  Ver- 
fassern der  ihm  oder  seinem  Meister  als  unecht  geltenden  Verse. 
Sie  sollen  ihre  Einschiebsel  meistens  mittels  Wiederholung  ander- 
wärts sich  findender  Verse  gebildet  haben.  Das  gemahnt  denn 
sehr  an  einen  Vermiss,  der  bei  den  Ausstellungen  der  Jünger 
wie  des  Meisters  nicht  selten  empfunden  wird.  Dass  nämlich 
einem  jeden  Urtheil  über  die  mehrfache  Verwendung  derselben 
Verse  oder  Formeln  eine  Forschung  über  die  epische  Darstellung 
überhaupt  vorhergehen  müsse,  um  besonnen  zu  unterscheiden, 
ist    nicht    beachtet,    da    doch    sonst  Jeder   diese   Wiederholungen 


die  Winde,  II.  23,  198  ff.,  lierbei.  Und  wenn  sie  nach  ihrem  Namen  zu- 
nächst Meldungen  zu  bestellen  geeignet  ist,  war  II.  2,  786,  wo  sie  in  Ge- 
stalt des  Spähers ,  der  jedenfalls  damals  kam,  erscheint,  des  Dichters  Zu- 
satz „vom  Zeus"  eine  für  den  Hergang  entbehrliche  Zugabe,  eine 
Beauftragung  vorher  wiid  auch  nicht  angegeben,  Aehnlich  ,  wie  dort 
die  Rolle  des  Spähers,  scheint  hier  Iris  die  der  Laodike  zu  übernehmen, 
welche  der  Helena  das  durcli  das  Gerücht  Verlautende  mittlieill.  S. 
Nägelsbach  zu  3,  121  und  Welker  Gölterlehre  1,  691. 

145)  Auf  das  Genaueste  dargethan  von  Jacob,  S.  192  —  195. 

Nilzsch  .  Gesch.  d.  griech.  Epos.  i 


ganz  natürlich  als  dem  Epos  eigene  in  seine  Betrachtung  zieht, 
und  erst  darnach  sie  im  Einzelnen  prüft.  Dieses  mechanische  Wesen 
treibt  Holm  nun  weiterhin  noch  mehr.  Er  gehtS.  3  zumS.Liedeüber 
und  urtheilt  S.  4,  es  habe  nicht  so  viel  umfasst.  Das  Lied  sei  für  die 
einfache  Zeit  (?)  zu  lang.  Lachmann  beginne  sein  5.  Lied  mit  4, 422  und 
lasse  es  bis  zum  Anfang  von  B.  6  reichen,  das  gehe  1032  Verse. 
Diese  Partie  mit  so  vielen  und  mannichfachen  Episoden  sei  aber 
zu  ermässigen,  wie  schon  Haupt  dies  nöthig  erachtet  habe"*). 
In  dieser  .\bsicht  scheidet  Holm  auch  vom  5.  Buche 
mehre  lange  Stellen  aus,  damit  es  eben  nur  eine  stricte  Aristie 
des  Diomedes  enthalte.  Nach  Wegfall  von  l — 83  beginnt  diese 
niit  84  —  507.  Dann  folgen  nicht  die  V^erse  507  —  593,  sondern 
gleich  594  —  606,  und  hierauf  mit  Beseitigung  der  Stelle,  wo 
dem  Hektor,  der  viele  tödtet,  der  grosse  Aias,  610,  entgegen- 
tritt und  darauf  die  Episode  von  Sarpedon  und  Tlepolemos, 
(328  —  698,  einfällt,  noch  699  bis  zu  Ende,  aus  denen  Haupt 
noch  711  —  792,  d.  h.  die  olympische  Parallele  verwirft.  Es 
hätte  Holm  die  Episode  von  Tlepolemos  Kampf  und  Fall  betonen, 
und  als  der  einheitlichen  Ansicht  ebensowenig  genehm  auszeich- 
nen sollen,  wie  sie  sich  selbst  abhebt  und  ihre  Unechtheit  sich 
mit  der  so  unverkennbaren  des  Artikels  ühei'  Rhodus  2,  653  bis 
670  zusammen  verräth '*').  In  ähnlich  zerlegender  Weise  Avill  Holm 
das  sechste  Lied,  welches  aus  Rhaps.  6,  2  oder  5  —  7,  312  nach 
Lachmann  bestehet,"^)  in  drei  Lieder  theilen.  Sie  werden  ge- 
geslaltet  aus  1.)  Vers  73 — 118  verbunden  mit  237  (nicht  257)  bis 
zu  Ende  (529)  Hektors  Gang  nach  der  Stadt  und  Unterhaltung 
mit  seiner  Gattin;  2.)  6,  119 — 230,  Episode  von  Glaukos  und 
Diomedes;    3.)    aus    7,  etwa    von   45  —  312,    Hektors  und  Aias' 


146)  S.  109,  der  aber  das  Lied  wie  L.  hegiiint,  und  es  aus  4,  422 
bis  5,  417,  dann  432  —  507,  512  —  710,  793  —  906  bildet. 

147)  0.  Müller,  Aegin.  42  und  eigenthümliche  Unterscheidung 
beider  Stellen.  Dor.  1,  109,  J)ei  welcher  er  das  wahre  Verhaltniss  nicht 
genug  erwogen  hat.  Es  gilt  doch  die  Verbindung  des  Tlepolemos  mit 
Rhodus  und  der  von  Giesecke  u.  A.  gerügte  Anachronismus:  Rosleben. 
Progr.  Meiningen  1854  b.  Eye,  S.  5  und  6.     S.  aucii  Jacob  205  f. 

148)  Der  Seher  Helenos  zeugt  nicht  für  einen  gleicben  Dichter,  ob 
es  gleich  ebenderselbe  ist.  Helenos  verordnet  als  Seher  den  Bittgang 
zur  Athene  und  vernimmt  als  solcher  die  Rede  der  Gölter.  Dies  gegen 
Lacbmanns  Folgerunof  S.  22  f. 


99 

Zweikampf.  Die  Abfälle  oder  lleberbleibsel  dieser  Bildung  klei- 
nerer Lieder  werden  in  atomistischer  Weise  erklärt.  In  dieser 
Bildung  selbst  nun  erweist  sich  die  versäumte  Vorfrage,  welches 
denn  die  Weise,  die  Mittel  der  Coraposition  umfänglicher  Epo- 
pöen im  epischen,  für  die  Hörer  annehmlichen  Stil  gewesen,  in 
verschiedener  Beziehung.  Jenen  Gang  des  Hektor  in  die  Stadt 
wird,  wer  sich  bemüht,  die  AYeise  der  Composition  des  über- 
lieferten Ganzen  zu  verstehen ,  vor  andern  Theilen  als  geniale 
Zuthat  des  Schöpfers  der  Ilias  erkennen,  denn  einzeln  vorgetragen 
konnte  er  nur  denen  gefallen,  die  das  Ganze  kannten.  Des  He- 
lenes Anordnung  eines  Bittgangs  zur  Athene  und  also  jener 
Gang  des  Hektor  ist  durch  des  Diomedes  gewaltige,  von  der- 
selben Göttin  getragene  Tapferkeit  hervorgerufen:  6,  96 — 101. 
Die  Furcht  vor  ihm  brauchte  der  Dichter  als  Anstoss,  um  Hektor 
in  die  Stadt  zu  führen ,  wie  nachmals  die  Verwundung  des  Machaon 
und  Eurypylos  als  Anlass  zur  Sendung  des  Patroklos.  Wenn  nun, 
da  der  Zusammenhang  zwischen  jenem  ersten  Liede  des  6.  Buches 
und  des  Diomedes  Aristie  unläugbar  gegeben  ist,  es  reine  Will- 
kür wäre,  einen  andern  Anlass  für  Hektor  zu  ersinnen,  so  hätte 
die  Forschung  nur  darauf  sich  richten  sollen,  ob  die  ursprüng- 
liche Gestalt  der  Aristie  jene  Angst  erregende  Wirkung  nicht 
unmittelbarer  habe  eintreten  lassen ,  statt  dazwischen  den  Dio- 
medes zwar  auch  kurz  zu  nennen,  aber  in  einem  Gesammtbilde 
des  fortgehenden  Kamples  eine  ganze  Menge  Helden ,  welche 
Troer  erlegen,  und  eine  Scene  vom  weichherzigen  Menelaus  sowie 
den  Nestor  mit  einem  Aufruf  zum  Morden  statt  des  Plünderns 
einzuführen. 

Das  2.  der  kleineren  Lieder  Holms,  die  von  jeher  viel  ver- 
handelte Episode,  welche  Lachmann  für  sein  Lied  eines  milden  an- 
muthigen  Charakters  als  Vorspiel  zu  llektors  Besuch  der  Andromache 
(22)  passend  fand,  giebt  seinem  Verbesserer  zunächst  deshalb 
viel  Ansloss,  weil  er  jene  vorhergehende  Frage  über  die  Aristie 
des  Diomedes  nicht  eingehend  erwogen  hat.  War  der  gefürch- 
tete Diomedes  als  Ursache  vom  Weggang  des  Hektor  deutlich 
gezeigt,  dann  fand  seine  Begegnung  mit  Glaukos  statt,  indem  er 
vordrang,  sie  war  eben  eine  Scene  vom  Jjisherigen  Vorkämpfer^ 
da  der  Dichter  gerade  diesen  Gewalligen  und  immer  Schlagfer- 
tigen   einem    väterlichen    Gastfreund  begegnen,  und  seine  Aristie 

7* 


100 

in  diesen  Akt  der  Freundlichkeit  ausgehen  Hess,  wie  Herodot 
2,  116  eine  Stelle  des  Bittganges  zu  dieser  Aristie  rechiFet.  Da- 
bei ist  unläugbar,  dass  die  Episode  sich  ohne  Weiteres  ausschei- 
den lässt,  so  dass  die  Aristie  mit  Athenes  Rückkehr  zum  Olymp 
5  a.  E.  schliesst.  Aher  wie  man  ihre  Angemessenheit  vertreten, 
und  die  gerügten  Anstösse  oder  Anzeichen  eines  verschiedenen 
Dichters  ausgleichen  könne,  hat  Düntzer  erörtert "ä). 

Bei  dem  dritten  Liede  seiner  Theilung,  dem  Zweikampf  des 
Hektor  und  Aias,  7,  44  —  312  hat  Holm  seine  Geschäftigkeit  in 
Nachw  eisung  wiederholter  Verse  besonders  bethätigt.  Dass  bei  gleich- 
artigem Ereigniss,  hier  zwei  Zweikämpfen,  bei  deren  erstem  derselbe 
Hektor  als  Oberfeldherr  anordnend  auftritt  (3,  76  85  f.  314  —  316), 
welcher  im  zweiten  selbst  kämpft,  und  bei  dem  geltenden  Ge- 
brauch des  Loosens  und  des  Betens  zu  den  Göttern  mehrere  Verse 
wiederkehren,  mochte  er  anmerken.  Aber  wer  den  epischen  Stil 
erwogen  hat,  wird  dies  ganz  natürlich  finden,  und  wiederhol- 
ten Gebrauch  derselben  Verse  oder  einzelner  Formeln  bei  den- 
selben Gegenständen  überall  wahrnehmen.  Und  findet  man  auch 
im  Kampfe  selbst  dem  Speerwurf  dieselbe  Wirkung  zugeschrie- 
ben, 3,  356— 359  f.  7,  250  — 254  f.,  so  bleiben  bei  alledem 
die  beiden  Hergänge  nach  dem  verschiedenen  Stand  der  Dinge 
und  Fortgange  eigenthümlirh  verschieden.  Hiermit  tritt  aber  ge- 
rade der  auffallende  Unterschied  in  der  Bedeutung  der  Zweikämpfe 
für  die  Handlung  um  so  mehr  hervor,  dort  die  vereitelte  Ent- 
scheidung des  ganzen  Krieges,  hier  eine  milde  Vereinbarung  der 
beiderseitigen  Hauptgötter,  den  Kampf  dieses  Tages  wenigstens 
unblutig  zu  machen.  Dies  Verhältniss  und  vieles  Einzelne  giebt 
allerdings  Probleme  für  die  einheitliche  Betrachtung,  eine  Ab- 
sichtlicbkeit  der  Composition  ist  hier  unverkennbar  und  bedarf 
einer  besonderen  Rechtfertigung,  sie  ist  bei  beiden  Ansichten 
über  diese  Expositionsbücher  erforderlirli.  Bei  dem  Gespräch 
des  Hektor  und  der  Andromacbe  bandelt  es  sich  für  jede  Grund- 
ansicht nin-  um  Interpolation,  also  nicht  um  ein  entscheidendes 
Moment. 

Indem  hier  weiter  über  Holms  von  Lachmann  abweichende 


149)  N.  Jahrb.  f.    Phil.    Suppl.  B.   11 ,  H.  3.      I)a.s   3.  bis  7.  Buch, 
S.  405  f. 


'  101 

Sätze  übrigens  auf  die  in  den  IN,  Jahrb.  gegebene  üebersicbt 
verwiesen  werden  kami'^°),  werde  nur  sein  Verfahren  bei  Lach- 
manns  10.  bis  14.  Liede  (11.  11 — 15,  591),  als  Zeugniss  für  das,  wie 
von  Andern,  so  auch  von  ihm  verfolgte  Bestreben  hervorgehoben, 
Lieder  massigen  Umfangs  zu  ermitteln.  Die  Arislie  des  Aga- 
memnon fasst  er,  wie  Hermann'-^*),  bescliränkt  auf  11,  1  — 596 
oder  595,  über  die  übrigen  vier  Lieder,  welche  Lachmann 
gebildet  hatte,  stimmt  er  mit  diesem  nur  hinsichtlich  des  zwölf- 
ten überein,  die  andern  gestaltet  umgekehrt  er  zu  Einem  freilich 
mit  ähnlicher  Gewaltsamkeit,  wie  sein  Vorgänger. 

20.  Folgerung.      Die    Prinziplosigkeit    des    Verfah- 
rens der  Trennenden.     Das  richtige  Prinzip. 

Nach  der  vorstehenden  Musterung  dessen,  was  in  dem  Be- 
mühen um  Aufstellung  kleiner  Lieder  erreicht  worden  ist,  sieht 
man  das  gleiche  Prinzip  im  Ganzen  in  seiner  Anwendung  bei 
oft  ähnlicher  Willkür  zu  sehr  verschiedenen  Bildungen  als  Er- 
gebnissen auseinander  gehen.  Wer  hieraus  wählen  soll,  wird 
bei  seiner  Prüfung  der  einzelnen  Annahmen,  wenn  er  kein  sich- 
reres Verfahren  kennt,  als  das  Vereinzeln,  leicht  doch  auch  in 
Zweifel  gerathen,  ob  eine  Episode  sich  nicht  mit  einem  andern 
Liede  in  Eins  fassen  lasse.  Der  aber,  welcher  die  Möglichkeit 
eines  einheitlichen  Fortgangs  nicht  von  vorn  herein  läugnet,  wird 
bei  den  Episoden,  auch  ohne  tiefere  Forschung  über  das  eigent- 
liche Wesen  dieser  Benennung  im  Einzelnen  eben  nur  zu  fragen 
finden,  ob  eine  solche  vielleicht  als  hebende  Ausmalung  eines 
5Ioments  der  Handlung  gelten  könne,  oder  ob  sie  als  überschüssig 
auszuscheiden  sei. 

Der  häufigste,  ja  bleibende  Eindruck  aus  dem  IJeberblick  dieser 
Versuche  muss  aber  gewiss  das  Verlangen  nach  einem  sichreren 
Maassstab  sein,  um  die  persönlichen  Geschmacksurtheile  möglichst 
zu  beherrschen.  Beachten  wir  denn  die  Mahnungen  derer,  wel- 
chen   die    Berufung    auf    die    Einfachheit    der    Ursprung - 


150j  .lahrb.  1853,  B.  G8,  II.  4,  S.  438  —  440  von  Senge bu seh. 

151)  üp.  V  59.  Divinum  Carmen  est  illud,  quod  'Ayatx.  dgiatfia 
vocatur:  quod  libri  XI,  v.  590,  sie,  ut  parest,  finilur:  wj  ot  jnfv  fing- 
vavio  — , 


102 

liehen  alten  Dichtung  nichtig  erscheint,  bei  Hermann,  Op. 
V,  61,  1 1,  Bernhardy  11,  1,  S.  100  der  ersten,  141  der  zweiten  Be- 
arbeitung ,  Jacob,  Entstehung  der  llias  S.  162.  Die  Einen  be- 
merken :  „Was  wissen  Avir  denn  von  der  Einfachheit  der  ursprüng- 
lichen alten  Dichtung,  woher  kennen  wir  sie,  dass  sie  uns  als 
Maassstab  dienen  sollte?"  Oder:  „Wenn  die  gegenwärtige  Anlage 
der  Odyssee  für  den  Dichter  derselben  zu  kunstvoll  sein  soll, 
woher  haben  wir  denn  den  Maassstab  für  den  Dichter  ? '^^)" 
Zu  dieser  Verneinung  kommt  Färbers  Forderung,  S.  28,  statt 
des  persönlichen  Meinens  müsse  Alles  nach  dem  aus  Homer 
selbst  geschöpften  epischen  Gesetz  bemessen  und  das  Einzelne 
beurtheilt  werden. 

Es  ist  dies  keine  im  Kreise  gehende  Forderung,  sondern, 
recht  verstanden,  verlangt  sie,  es  soll  der  Prüfung  des  Echten 
oder  Unechten  eine  vom  Gegebenen  ausgehende  Beobachtung 
des  in  den  homerischen  Gedichten  herrschenden  Verfahrens  epi- 
scher Composition  und  epischer  Darstellung  vorhergehen '=^). 

Das  Gegebene  sind  zwei  umfängliche  Epopöen,  was  den 
überlieferten  Verfasser  Homer  betrifft,  so  ist  im  Allgemeinen  das 
unläugbar,  dass  diesem  gefeierten  iNamen  wohl  hier  und  da 
manche  dritte,  ja  noch  mehrere  epische  Poesieen  sagenhaft  bei- 


152)  Hiecke,  Progrr.  v.  1857,  Uel)er  die  Einh.  des  1.  Ges.  d.  II., 
S.  8.  Bäumlein,  Zschrft.  f.  A.,  1848.  S.  324  Anm.*) 

153)  Es  kommt  hier  freilich  der  ganze  Zweifel  an  der  Einheit  der 
homerischen  beiden  Epopöen  in  Betracht.  Allein  eben  die  Forschung 
soll  zuerst  die  3Iiltel  und  Wege  der  vorliegenden  Compositionen  wahr- 
nehmen. Zieht  man  hierzu  die  Urlheile  des  Aristoteles  Poet.  8,  3.  vgl. 
mit  17,  5.,  dann  23,  1,  3  und  4  und  wiederum  24,  4,  20,  G,  so  hat  über 
diese  Bestimmungen  des  Aristoteles  Scliömann  in  dispul.  de  Aristotelis 
censura  carminum  epicorum  gewiss  mit  Recht  Ritters  Auslegung  der  Stelle 
23,  4  S.  12  f.  gerügt,  aber  aus  meinen  früheren  3Ielet.  de  bist.  Homeri 
bestreitet  er  Aeusserungen,  ohne  meine  Sagenpoesie,  die  er  doch  kennt, 
beachtet  zu  haben  (S.  506  —  7),  und  der  Widerspruch,  den  er  bei  Aristo- 
teles S.  20  findet,  er  löst  sich  doch  ebenso ,  wie  er  dort  das  Richtige  an- 
giebl.  Der  aristotelische  Ausdruck  rtoXka  .ufy»/  26,  6  meint  nach  Ver- 
gleichung  von  24,  4  und  bes.  23,  3  eben  die  Episoden,  wie  er  sie  versteht. 
Der  Recensent  Bernhardy's  in  N.  Jahrb.  B.  73,  H.  9,  überhaupt  ein  unacht- 
samer Leser  der  Sagenpoesie  trotz  seiner  Citale  daraus,  hat  bei  seinen 
Worten  S.  605:  „Woher  sollen  also  die  Tragiker  u.  s.w.,"  S. 398  f,  und 
407  nicht  recht  gelesen. 


103 

gelegt  worden  sind  zu  den  immer  und  stetig  angenommenen 
zweien,  aber  nirgends  andere  als  umfängliche,  nämlich 
die  alte  Thebais,  ferner  die  Einnahme  Oecbalias,  die  Kypria, 
die  kleine  llias;  diese  mehr  einzeln,  wenigstens  nirgends  und 
von  Niemand  alle  zusammen'^'). 

Ob  nun  unsere  Forschung,  von  diesem  Gegebenen  ausgehend, 
dem  Glauben  Raum  zu  geben  habe,  dass,  wie  überhaupt  der  Geist 
über  die  Materie  herrschet,  so  auch  der  Neues  schaffende  Dichter- 
geist für  ein  umfängliches  Gedicht  den  Vortrag  und  die  Gelegen- 
heiten habe  hervorrufen  können,  diese  Frage  von  vorn  herein  zu 
verneinen,  ist  sehr  voreilig. 

Wir  haben  da  erst  alle  und  jede  Momente,  welche  auf  eine 
umfängliche  Composition  hinwirken  und  den  Dichter  auf  eine 
solche  hinführen  konnten,  in  Betracht  zu  ziehen. 

Sie  liegen  zum  Theil  schon  selbst  im  Stoff.  Er  ist  aus 
den  Sagen  vom  Jüngern  Heldengeschlecht,  handelt  aber  nicht  vom 
einzelnen  Abenteurer  oder  von  Fürstenfehden  wegen  ganz  per- 
sönlicher Beleidigung,  sondern  vom  Völkerkriege,  bei  dem  nicht, 
wie  dort,  nur  einzelne  Schulzgötter  Beistand  leisten,  sondern 
die  gesammte  olympische  Götterwelt  Antheil  nimmt,  und  bei  dem 
also  das  Götlerregiment  durch  Zeus,  der  über  den  Parteien  der 
Götter  und  der  Menschen  steht,  darzustellen  ist. 

Sodann  ist  der  Dichtergeist  ins  Auge  zu  fassen.  Das  gebietet  ja 
wiederum  der  historische  Sinn.  Es  widerspricht  dem  Zeugnisse 
von  Jahrtausenden,  und  zuerst  der  ganzen  Anerkennung  durch 
das  eigne  Volk,  im  Homer,  dem  so  fest  geglaubten  Verfasser  der 
llias  und  Odyssee,  statt  des  hochgefeierten  Nationaldichters  auch 
nur  einen  blossen  Apellationnamen  anzunehmen,  uud  noch  mehr 
Aviederstreitet  es  jenem  Zeugniss  und  dem  historischen  Siime, 
eine  Menge  von  nicht  bloss  gleichbegablen  sondern  auch  gleich- 
gestimmten Dichtern  anzimehmen,  die  dann  alle  ihre  Einzellieder 
entweder  nur  über  Ereignisse  aus  der  Zeit  gedichtet  haben  soUeu, 


154)  Es  muss  Willkür  heisseii ,  weun  man  aus  den  von  ganz  ver- 
schiedenen Bezirken  und  Zeiten  unter  Homers  Namen  angegebenen  andern 
Epopöen  ausser  II.  und  Odyss.  eine  ganze  Reihe  bildet,  als  hätten  sie  bei 
irgend  welchem  Orieclien  insgesnmml  nebeneinander  als  von  demselben 
Dichter  verfasst  gegolten,  nändicli  in  der  Zeil  des  freien  Griechenlands 
und  des  nationalen  Lebens  der  Epopöe. 


104 

in  welcher  in  Folge  der  Kränkung  Achill  unthätig  war,  oder 
über  die  diesen  selbst  treffenden  Folgen  seiner  Unversöhnlichkeit, 
und  wenn  nicht  über  diese,  dann  über  den  lang  abwesenden, 
endlich  heimgeführten  und  die  Prätendenten  seines  Weibes  und 
Königthums  überwältigenden  Odysseus. 

Ehe  man  solche  Meinung  als  das  Walue  darzuthun  sich 
zu  prekären  Versuchen  entschloss,  musste  mau  sich  doch  erst 
empfänglich  gegen  die  Ueberlieferung  erweisen,  und  uicht  wegen 
des  historischen  Problems,  wie  so  umfängliche  Gedichte  hätten 
zum  Vortrag  kommen  können,  alle  Bemühung  genauerer  Betrach- 
tung der  Gedichte  seihst  durch  die  vorschnelle  Annahme  nur 
kleinerer  Lieder  abzuschneiden,  oder  allen  Fleiss  nur  auf  die 
Nachweisung  solcher  zu  richten  versuchen  sollen.  Hat  ja  doch  auch 
die  Analogie  des  altdeutschen  Epos  sich  als  unstatthaft  erwiesen. 

Zuletzt  ist  hinsichtlich  der  Mbelungen  durch  Heinrich 
Fischer  unläugbar  wenigstens  die  Unzulänglichkeit  der  angeb- 
lichen Anzeichen  von  ursprünglich  nur  kleinen  Liedern  darge- 
than*^^),  es  erscheint  als  Willkür,  wenn  man  auch  dort  die  Lach- 
mann'schen  Aufstellungen  eben  doch  wegen  des  Feinsinns,  der  sich 
darin  bethätigt,  nun  als  historisches  Ergebeniss  anerkannte '''*). 


155)  Nibelungenlied  uder  Nibelungenlieder  ?  Hannover  1859.  Er 
hat  den  Gang  des  ganzen  Streites  genau  geschildert  und  alle  die  Kri- 
terien Lachmanns  und  seiner  Anhänger  kritisch  beleuchtet,  namenlhch 
auf  die  Willkür  in  den  Ausscheidungen  aufmerksam  gemacht,  sowie  auf 
den  Wandel  in  dem  eignen  Urlheil  desselben.  Die  Fehlgrifle  sind  hier 
dieselben,  wie  in  der  Zerlegung  der  Ilias.  Nach  Muslorang  der  nur  miss- 
lichen Beweise  für  die  Zerlegung  und  Nachweisung  der  vielmehr  wahr- 
scheinlichen Einheit  folgt  S.  141 — 43  das  Gesammtuilheil  üher  die  Lieder- 
theorie und  das  Resultat,  dass  von  fünf  gefundenen  Widersprüchen  vier 
in  der  Handschrift  C  beseitigt  erscheinen.  Hiernach  wird  im  letzten  Ab- 
schnitt „die  Handschriflenfrage"  behandelt  und  beschlossen  mit  den  Worten : 
Wir  glauben  daher  zu  dem  Schlüsse  berechtigt  zu  sein:  Das  Nibelun- 
genlied ist  das  Werk  eines  Dich  ters,  und  die  Handschrift  C 
enthält,  von  einzelnen  Verderbnissen  abgesehen,  den  ur- 
sprünglichen Text.  Und  so  gdt ,  wa^  der  gläubigste  Anhänger 
Lachmanns,  Haupt,  nach  seiner  Zeitschrift  f.  deutsch.  Alterlh.,  B.  8  von 
1851,  S.  349  schon  vorher  in  B.  5,  S.  504,  n.iduleni  er  bekannt,  dass  ein 
Gleiches  in  der  Gudrun  unerreichbar  sei,  über  die  Nihelungen  erklärt; 
„Hätte  Lachmann  uicht  seine  bestrittene  Ansicht  über  den  Text  festge- 
halten, so  wäre  auch  bei  diesem  Gedicht  es  uicht  gelungen." 

156)  Gervinus,  Gesch.  d.  deutsch.  Dichtung  1,  336  und  37. 


105 

So  hatte  sich  also  die  geschichtliche  Analogie  für  die  ho- 
merische  Frage  vielmehr  als  die  einheitliche  Ansicht  bestä- 
tigend erwiesen.  Der  neugestaltende  Dichtergeist  hatte  auch 
bei  den  Nibelungen  und  vollends  der  Gudrun,  sowie  bei 
der  llias  und  Odyssee  durch  eine  bildnerische,  zur  Har- 
monie wirkende  Thätigkeit  die  früheren  kleinen  Lieder  un- 
kenntlich gemacht.  Und  wenn  dies  auch  von  F  i  r  d  u  s  i ,  dem 
Gestalter  des  iranischen  Epos,  des  Schaname  gilt,  so  kann 
freilich  dieses  Gedicht  von  60,000  Doppelversen  nicht  mit  der 
llias  verglichen  werden,  sondern  nur  allenfalls  mit  der  ganzen 
epischen  Poesie  der  troischen  Sage.  Wie  diese  sechs  geson- 
derte und  doch  in  Beziehung  stehende  Handlungen  gab,  so  kann 
nur  alles  Das,  was  auf  und  aus  des  Paris  Frevel  am  Gastrecht 
und  dem  Raub  der  Helena  bis  zur  Heimkehr  des  Odysseus  er- 
folgte, mit  dem,  was  aus  dem  feinen  Motiv  in  dem  Schaname 
hervorgeht,  zusammengestellt  werden.  Der  Kampf  des  iranischen 
Heldenthums  wider  die  Mächte  der  Finsterniss  dauert  durch 
Jahrhunderle  und  ruft  eine  zahlreiche  Reihe  aufeinander  folgen- 
der Conflikte  und  Heldenthalen  hervor,  welche  nun  sämmtlich 
doch  eine  Gesammtaction  jenes  Kampfes  bilden '^^).  Der  selbst 
durch  mehre  Zeitalter  lebende  und  strebende  eine  Hauptheld 
Rustem'^*)  giebt  in  zwei  Stellen  eine  rückblickende  Uebersicht. 
Bei  dieser  Einheit  des  31otivs  und  seiner  grossartigen  Herrschaft 
über  und  in  den  mannichfachen  Akten  und  Wechseln  der  Hand- 
lung werden  wir  allerdings  durch  ein  mächtiges  Beispiel  erinnert, 
dass  das  Epos  gerade  bei  dem  Mangel  einer  durchherrschenden 
Hauptperson  durch  ein  grossarliges  Grundmoliv  eine  Einheit  be- 
sitzen kann,  welche  sich  dinch  Erhabenheit  hervorthut.  Es  ist 
die  das  Schaname  beherrscliende  Idee  in  griechisclier  Poesie 
nur  mit  der  zu  vergleichen,    durch    welche  Aeschylos   die  Stoffe 


157)  Heldensagen  von  Firdusi.  Von  Ad.  Fr.  von  Schack. 
Berlin  1851,  S.  66.  „Weit  entfernt  aber  ist  diese  doppelle  Eigenscliafl 
—  irgend  einen  Zwiespalt  betrogener  Bestandlheile  auch  nur  durch- 
schimmern zu  lassen.  Der  Dichter  hat  sich  so  mit  voller  Seele  ui  die 
alte  Sagenwell  hineingelebl,  sich  von  ihr  durchdringen  lassen  und  wieder 
sie  mit  seinem  Geiste  durchdrungen,  dass  sich  kaum  sciiciden 
1  ä s s t ,  was  er  von  ihr  empfangen,  was  er  ihr  gegeben". 

158)  Desselben  von  Schack  Ep.  Dichtungen  von  Firdusi.  Berlin 
1853.  11,  S.  375  ff.  und  S.  389  f. 


106 

und  Akte  seiner  Persertrilogie  verband.  Es  war  die  Idee  des 
Strafgerichts  der  Gölter  Griechenlands  über  den  hoffärtigen 
Frevelsinn  der  Barbaren,  die  aus  alter  Sage  den  Argonautenzug, 
aus  der  geschichtlichen  Erfahrung  die  Niederlage  des  Xerxes, 
und  die  der  Karlhager  heim  Himeras  (an  demselben  Tage)  in 
einer  Folge  verband,  und  zugleich  damit  die  des  gottgegebenen 
Sieges  des  freien  Griechenvolks  über  die  despotisch  regierten 
Barbaren  '''^). 

Ein  griechisches  Epos  konnte,  da  es  zum  mündlichen  Ge- 
sammtvortrag  bestimmt  wurde,  nie  einen  solchen  Umfang  haben, 
und  nie  konnte  also  eines  den  ganzen  Troerkrieg  mit  seinen 
wechselnden  Phasen  umfassen,  obwohl  sie  alle  unter  der  Wir- 
kung des  Grundmotivs,  des  Frevels  am  Gaslrecht  standen.  Von 
den  einzelnen  Theilen  dieses  überreichen  Sagen-  und  Lieder- 
sloffes  waren,  wie  weiterhin  genauer  dargelegt  werden  wird,  nur 
drei  der  Art,  dass  der  ganze  Verlauf  der  Handlung  an  Einer 
Person  haftete,  der  der  Ilias,  der  Odyssee  und  der  Aethiopis  des 
Arktinos.  Doch  die  Einheitlichkeit  muss  sich  uns  zuerst  und 
zuletzt  in  der  Handlung  erweisen.  Diese  kann,  wie  in  dem 
Schaname  durch  ein  göttliches  Prinzip,  unter  welchem  die  ein- 
zelnen Hergänge  stehen ,  eine  eigenthümliche  Weihe  haben. 
Auch  unter  den  Partieen  der  troischen  Sage  fand  sich  eine  die- 
ses Charakters,  die  von  der  Eroberung  und  Zerstörung  Troia's, 
da  das  Strafgericht  der  Götter  an  dem  Königssitz  und  Beich, 
welches  den  Frevler  am  Gastrecht  im  bereits  langen  Kampfe 
vertreten  hatte,  endlich  doch  seine  Erfüllung  fand. 

Es  ist  nun  von  selbst  klar,  dass  ein  solches  über  einer  lang 
sich  hinziehenden  Handlung  schwebendes  Motiv  in  dem  Grade, 
als  das  obherrschende  von  dem  Hörer  oder  Leser  empfunden 
wird,  wie  der  Dichter  es  bei  seiner  Ausführung  entweder  be- 
flissener festhält  oder  iheilweisc  vorabsäumt.  Es  wechseln 
darin  die  in  den  V'ordergrund  tretenden  Personen  und  sie 
ziehen  das  Interesse  des  Hörers  an,  welches  immer  sich  be- 
sonders als  menschliches  Mitgefühl  artet.  Dadurch  kann  leicht 
ein  Mangel  an  Einheitlichkeit  entstehn.     Und  eben  deshalb  haben 


159)  S.  Sageiipoesie   S.  576   If.    bes.    S.  579  —  583  und   Gruppe's 
Ariadne  S.  85  —  97. 


107 

diejenigen  Epopöen  den  i'iir  einheitliche  Gestahung  günstigeren 
Sagenstoff,  welche  in  ihrem  Verlauf  den  Bezug  auf  Eine  Person 
festhalten.  Indem  nun  diese  Beschaffenheit  die  heiden  von  Homer 
aus  der  troischen  Sage  gewählten  Stoffe  auszeichnet,  kommt  dazu 
der  sittliche  Geist ,  der  sie  durchdringt  und  heseelt.  Also  hat 
der  Schöpfer  der  wahren  Epopöe  seiner  neuen  Schöpfung  auch 
ein  eigenthiimliches  inneres  Lehen  eingeflösst,  wie  es  in  den 
kleineren  Liedern  sich  in  solcher  Art  und  in  solchem  Grade  gar 
nicht  entfalten  konnte.  Wir  finden  also:  wie  die  iNatur  des  ge- 
wählten Sagenstoffes  auf  eine  weit  scenenreichere  und  somit 
ausgedehntere  Dichtung  hinfühi-te,  als  die  der  Einzellieder,  so 
war  diese  damit  unaushleiblich  auch  eine  weit  seelenvollere  ge- 
worden. 

21.     Der  gebotene  Standpunkt    der  Forschung. 

Sehen  wir  denn,  was  hieraus  sich  ergiebt:  Es  stellt  sich  der 
Forschung  nichl  die  Handlichkeit  zum  einzelnen  Vortrag  in  den 
Vordergrund,  sondern  die  Beschaffenheit  der  uns  überlieferten 
umfänglichen  Epopöen.  Nachdem  wir  kleinere  Gebilde  der  äl- 
testen Sänger  freilich  als  die  nothwendige  Vorstufe  zur  eigent- 
lichen Epopöe  erkannt  haben,  aber  alle  Versuche  auf  Herstellung 
derselben  und  zur  Rückführung  des  vorigen  Standes  sich  als  will- 
kürlich und  zweckwidrig  erweisen,  weil  die  geschehene  Neu- 
bildung des  Ueberkommenen  die  Herstellung  unmöglich  gemacht 
hat:  so  ist  die  Forschung  auf  die  innere  Betrachtung  der  beiden 
Gedichte  als  der  Epopöen  des  hellenischen  Volks'  hingeführt. 
Es  nöthigt  dazu  selbst  das  Weltbild,  welches  sie  geben,  die  vor- 
geschrittene Culturstufe,  auf  welcher  sie  die  Menschheit  zeigen, 
sodann  das  sprechende  Zeugniss,  welches  dieselben  Gedichte  von 
einer  Fülle  von  Heldenliedern  und  bereits  durch  manchen  Wan- 
del gegangenen  Heldensagen  enthalten,  vornehmlich  aber  die 
poetischen  Eigenschaften  derselben,  in  welchen  wir  Runstmiltel 
und  Weisen  nicht  kleiner  romanzenartiger  Lieder,  sondern  um- 
fänglicher Gompositionen  vor  uns  sehen. 

Indem  wir  nicht  anders  können,  als  in  der  Ilias  und  Odyssee 
die  höchste  Blüthe  der  epischen  Poesie  der  Griechen  anzuer- 
kennen,   in    ihnen    die    Musterbeispiele    der    eigentlichen    Epo- 


108 

pöe  zu  finden,  sind  alle  organischen  Eigenschaften,  welche  wir 
wahrnehmen,  eben  solche,  die  den  grösseren  Planen  dienefl. 
Dahin  gehört,  dass  die  Handlungen  beide  auf  zwei  Ausgangs- 
punkte gestellt  sind,  welche  späterhin  in  Eins  zusammengehen, 
sodann  das  iNacheinander  der  gleichzeitigen  Akte,  d.  i,  die  Pa- 
rallelen und  ihre  Verwebung,  da  denn  das  zuletzt  gegeben  wird, 
von  dem  aus  der  Fortschritt  der  Haupthandlung  am  schicklichsten  ge- 
schehen konnte,  ferner  die  Episoden,  die  der  Epopöe  so  wesent- 
lich sind  und  all  das  Retardiren'®").  Diese  Darslellungsweise,  so 
ganz  frei  und  fern  von  aller  Neigung,  den  Zuhörer  in  Spannung 
zu  versetzen,  sie  herrscht  in  allen  Partieen,  durchherrscht  beide 
Epopöen  vom  Anfang  bis  zu  Ende.  Dies  ist  also  die  Dichtungs- 
weise  des  Dichters  gewesen,  er  hat  seinen  im  Geist  gefassten 
Plan  allmählich  ausgeführt,  und  hat  jedem  Theile  die  von  Ver- 
wickelung freie  Fasslichkeit  und  Selbstständigkeit  gegeben,  die 
ihn  dem  Zuhörer  auch  für  sich  annehmlich  machte'"').  Mit  die- 
ser Gestaltung  der  meisten  Theile  seiner  grösseren  Compositionen 
schloss  sich  der  Dichter  der  ersten  Epopöen  dem  bisherigen 
Brauch  und  ßedürfniss  des  Einzelvortrags  an.  Die  Epopöen, 
zu  denen  er  die  Theile  der  Iroischen  Sage  gestaltete,  welche 
durch  den  Zorn  des  Achill  und  die  Heimkehr  des  Odysseus  be- 
seelt und  charakterisirt  waren,  sie  boten  in  den  mannichfaltigen 
Phasen,  durch  welche  die  Handhing  ging,  indem  sie  an  der 
Hauptperson  unmittelbar  oder  mittelbar  festhielt,  für  Einzelvor- 
träge gar  viele  Partieen. 

Dies  ist  ebenso  unverkennbar,  als  die  alhnähliche  Durch- 
führung der  umfassenden  Anlage  und  damit  des  inwohnenden 
ethischen  Motivs  mit  Voraussetzung  eines  möglichen  Gesammt- 
vortrags  geschehen  sein   wird.     Wir   haben  beide  Vortragsarten, 


160)  Göthe  an  Schiller  Tli.  3,  71.  Daher  sind  alle  relardirende 
Motive  episch.  —  Das  Erforderniss  des  Retardireiis,  welches  durch  die 
beiden  homerischen  Gedichte  üherschwenglich  erfüllt  wird.  Vergl.  S.73 
und  dazu  Schiller,  S.  78,  A.W,  Schlegel,  Vorles.  über  dram.  Liter.  1, 
S.  155:  „Die  Ungeduld  ist  ülierhaupt  keine  gute  Stimmung  für  die  Em- 
pfängniss  des  Schönen." 

161)  Schiller  dort  S.  73.  Dass  die  Selbstständigkeit  seiner  Theile 
einen  Hauplcharakter  des  epischen  Gedichts  ausmacht.  V  i  s  c  h  e  r ,  Aesthet. 
III,  1264,  2:  Selbstständigkeit  ohne  Isolirung  und  S.  1279  die  ausgeführ- 
lere Beschreibung, 


109 

Einzelrhapsodie  und  Gesammtrhapsodie,  die  einzelner  Stücke  und 
die  der  ganzen  Epopöe  durch  mehrere  sich  ablösende  Rhapsoden, 
von  Anfang  an  und  immer  fort  neben  einander  üblich 
zu  denken  und  zu  erkennen. 

Wir  mögen  dabei  allerdings  die  Dichtungsweise  und  Arbeit 
des  schöpferischen  Genius  von  dem  Geschäft  und  Dienst  der 
Vortragenden  unterscheiden.  Jener  hat  so  Avenig,  wie  die  Redner 
des  Alterlhums  seine  aufeinanderfolgenden  Gaben  in  Schrift  ent- 
worfen und  einzeln  ausgeführt,  sondern  in  seinem  gedächtniss- 
starken Geiste.  Es  giebt  da  nun  in  meiner  Umgebung  auch 
einige  denkende  und  der  alten  Poesie  kundige  Gelehrte,  welche 
gerade  aus  der  allmählichen,  jeden  Moment  reichlich  ausprägenden 
Darstellungsweise  die  Vermuthung  ziehn,  Homer  habe  die  frei 
ausgedichteten  und  vielleicht  schon  nicht  bloss  von  ihm  selbst 
mündlich  vorgetragenen,  sondern  auch  dem  Gedächtniss  eines 
Kunstgenossen  mitgetheilten  Einzelpartieen  zu  seinem  eignen 
Vortheil  hinterher  selbst  aufgezeichnet.  So  wäre  dem  allmäh- 
lichen freien  Dichten  im  Gedächtniss  auch  ein  allmähliches  Auf- 
zeichnen gefolgt.  Hierüber  bestimmt  zu  entscheiden,  ist  nicht 
möglich ,  doch  klar  ist  soviel,  es  ging  w  ie  allem  Sprechen  das 
Denken,  so  dem  Sprechen  und  Dichten  in  degagirten  paratakti- 
schen Sätzen  und  Versen  ein  so  geartetes  Denken  und  Versbilden 
vorher.  Gar  viele  längst  mit  Schrift  verfahrende  Dichter  haben 
in  einem  Style  gedichtet,  der  dem  Vortragenden  genehm  war. 
Erst  im  Zeilalter  des  Sokrates  gab  es  Dichter ,  w  eiche ,  weil  sie 
nicht  im  Sprech  -  sondern  im  Lesestyl  gedichtet,  dem  Vortragen- 
den unbequem  waren.     (Arist.  Rh.  III,   1 2,   2.)  '*') 

Und  die  Alten  selltst,  namentlich  auch  Aristarch '^^) ,  haben 
den  mündlichen  V'ortrag  keineswegs  mit  Schriflgebraucli  unver- 
einbar gefunden.  Vielmehr  erscheinen  dieselben,  welche  die 
epischen  Gedichte  vortrugen,  eben  die  Rhapsoden  zugleich  als 
die,  welche  den  Schriftgebrauch  auch  Andern  gelehrt  in  den 
Städten    loniens'").     Und  wenn   man    geneigt  ist,    dem    grossen 


162)  S.  in.  Meletelii  11.  122  f. 

163)  Lahrs  de  Aristarchi  stud.  Iloin.  p.  348. 

164)  Welcker  Ep.  Cycl.  1, 370  mit  dem  Schluss :  „Bei  denen  also  vornehm- 
lich waren  die  Schreibkunst  und  geschriebene  Gedichte,  die  man  durch 


HO 

Dichtergeniiis  eine  ausserordentliche  Stärke  des  Gedächtnisses  hei- 
znmessen,  sollen  deshalb  auch  die  Dichter,  welche  nach  Homers 
Vorgange  wirkliche  umfängliche  Epopöen  für  den  Vortrag  hei  den 
Festen  dichteten  (  Welcker,  S.  371,  Anm.  607),  auch  ein  Arktinos 
und  die  Andern  nur  ihre  Werke  bloss  niitlels  des  Gedächtnisses 
geschaffen  und  mitgetheilt  haben?  Hat  solche  Weise  der  Dichtung 
und  des  Vortrags  in  der  Zeit  gegolten,  als  immerfort  Epiker  und 
Lyriker  ihren  Ruf  nicht  anders,  als  durch  mündliche  Mittheilung 
erlangten?  Ging  nicht  die  mündliche  Vortragsweise,  welche  das 
Prädicat  TtoXvyjxoog  bezeichnet,  noch  lange  neben  dem  Lesen 
der  Studirenden  fort?  (Grote,  Gesch.  Gr.   1,  497.) 

Viel  irrige  Vorstellungen  von  diesem  Gange  der  Ueberliefe- 
rung  der  Ilias  und  Odyssee  haben  ihren  Grund  in  der  Unklarheit, 
in  welcher  man  sich  den  Hergang  bei  der  sogenannten  Samm- 
lung des  Pisistratos  vorgestellt  hat.  Die  Sache  selbst  und  alle 
Kunde  von  den  Rhapsoden  lehrt  übereinstimmend,  dass  die  Beauf- 
tragten des  Pisistratos  Alles,  was  sie  zu  den  beiden  Epopöen 
wieder  zusammenstellten,  van  den  Rhapsoden  empfingen,  und 
dass,  wie  nirgends  der  Vorwurf  einer  ungeschickten  und  will- 
kürlichen Zusammenfügung  über  sie  verlautet,  sie,  die  Redactoren, 
mit  dieser  Zusammenordmmg  und  Herstellung  der  Ganzen  wenig 
Mühe  hatten.  Denn  erstens  gaben  die  Rhapsodieen,  welche  die 
Rhapsoden  ihnen  aus  ihrer  bisherigen  Praxis  lieferten,  sich  von 
selbst  kund,  ob  sie  zur  Ilias  oder  zur  Odyssee  gehörten,  Ver- 
wechselung oder  auch  nur  Zweifel  war  unmöglich.  Sodann  aber 
trugen  die  Theile  des  einen  wie  des  andern  Gedichts  auch  die 
Zeichen  ihrer  Stelle  in  der  Reilie  deutlich  genug  an  sich'®*). 
Wer  könnte  z.  R.  auf  den  Gedanken  kommen,    etwa  des  Hektor 


ihr  Gedächtniss  und  ihre  müiulliche  3Iitlheilung  für  ein  Hauplhinderniss 
der  Schrift  angesehen  hat.  Wolf,  Pro!,  pag.  CX.  211".  Leonh.  Schmitz, 
Gesch.  Griechenlands  Leipzig,  1859,  S.  57:  „Die  Alten  scheinen  im  Allge- 
meinen die  ursprüngliche  schriftliche  Abfassung  seiner  Gedichte  als  aus- 
gemacht gehalten  zu  haben". 

165)  Seng  eh  lisch,  N.  Jahrb.  f.  Philol.  B.  (37,  H.  6,  S.  627:  „Dass 
keine  Spuren  da  sind  von  irgend  einem  Widerspruch  gegen  die  Art  der 
Zusammenfügung  im  Einzelnen  und  der  Aenderungen  in  den  Fugen, 
dies  beweist,  dass  man  sich  für  überzeugt  hielt,  Pisislratus  habe  hier  in 
den  Fugen  nicht  gemacht  oder  machen  lassen,  sondern  nur  das  Ursprüng- 
liche wieder  in  sein  Recht  eingesetzt,  beweist  also  weiter,  wie  fest  die 
Ueherzeugung  von  der  ursprünglichen  Einheit  wurzelte". 


111 

Gang  in  die  Sladl  andershin  zu  bringen,  als  nacli  der  Arislie  des 
Diomedes?  Wer  die  Verwundung  der  drei  Helden  Agamemnon, 
Diomedes  und  Odysseus  etwa  von  der  vorhergehenden  Arislie  des 
Agamemnon  losreissen?  u.  s.  w. 

Dass  die  so  mitgetheillen  Partieen  eben  die  waren,  welche 
und  wie  sie  der  liefernde  Rhapsode  vorzutragen  pflegte,  und  untei- 
ihren  den  Inhalt  bezeichnenden  Titeln  (wohl  geschrieben)  bei  sich 
führte,  ergieht  sich  aus  dem  Wesen  der  Sache  selbst.  Hinzuzu- 
denken hat  man  nur,  was  die  mehren  Ausdrücke  von  der  bis 
dahin  stattgefundenen  Vortragsweise  erkennen  lassen  '^^),  dass  w  eil 
man  der  Lieferanten  mehre  brauchte,  der  Einzel  Vortrag  in 
jüngster  Zeit  vorgeherrscht  hatte.  Jedenfalls  aber  mussten  <Ue- 
selben  neben  den  Partieen,  welche  sich  zum  ausserfesllichen  Ein- 
zelvortrag eigneten,  den  Sammlern  auch  die  andern,  die  Zwischen- 
glieder mittheilen.  Es  gemahnt  uns  eben  hier  vorzüglich,  wie 
nebelhaft  die  Vorstellung  von  dem  attischen  Unternehmen  er- 
scheint, wenn  es  heisst,  das  Eine  sei  allgemein  eingestanden 
und  erkannt,  dass  beide  homerische  Epopöen  eben  nur  theil- 
weise  und  in  verschiedener  Ordnung  vorgetragen  worden  seien 
(Wolf  Prolog.  CX)  und  jeder  Tbeil  habe  seinen  besonderen  INamen 
gehabt.  Der  Gewährsmann  des  Aelian  (Versch.  Gesch.  XIH,  14) 
gebe  davon  volles  Zeugniss.  Niemand  hat  nämlich  bei  diesei' 
Behauptung  sich  den  Bereich  dieser  inhaltlichen  Titel  deutlich 
gedacht.  Und  wenn  denn  kein  irgend  Denkender  den  Ordnern 
des  Pisistralus  eine  grosse  Thätigkeit  der  Zudichtung  und  Um- 
dichtung  beimessen  kann'"),  ergieht  sich  aus  der  Musterung 
der  verschiedenen  Partieen,  wie  der  Schöpfer  der  grösseren 
Compositionen  nicht  bloss  die  überkonmienen  Rleinlieder  selbst 
neubildete,  sondern  auch,  wie  eben  Ritschi  sagte,  „mit  eignen 
verschmolzen",  so  manche  eben  für  die  grössere  neue  Handlung 


166)  Jene  Ausdrücke  sind :  Die  (uhUcIiIo  seien  vorder  Zusaninionsetzung 
G7ioQa6r}v  vereinzelt,  6i?;p?/jun'ß/erllieill,  Kai  a^kaakkayov  ^v}]iioi'£vo- 
[X£va  der  eine  Theil  hier,  der  andere  Tiieil  da  vorgetragen  worden.  Wolf, 
Prol.CX.  2,  111.  Der  Ausdruck  des  tiicero  Homeri  liberos  confusos  antea 
besagt  im  rhetorischen  Eifer  etwas  ganz  Unpassendes,  als  wäre  die  Rede 
von  einem  Buciie  dessen  Lagen  versciiulten  gewesen. 

167)  Man  liest  freilich  liier  und  da  solciie  unbedachte  Aeusseruu- 
gen  noch  immer. 


112 

bedeutende  Partie  selbst  erst  einwebte.  Es  mögen  hier  Hektors  Gang 
in  die  Stadt,  II.  6,  102,  237  bis  zum  Ende,  und  die  Gesandtschaft  an 
Achill,  II.  9,  89  bis  zum  Ende  aus  der  Ilias  als  solche  genannt 
werden,  andere  werden  wir  in  derselben,  noch  mehre  überhaupt 
in  der  Odyssee  zu  erkennen  haben '^*). 

Die  hiermit  dargelegte,  doch  den  gegebenen  Nachrichten 
und  dem  Wesen  der  Sache  entnommene  Annahme  von  der  ur- 
sprünglichen Erfindung  und  Ausführung  der  beiden  wahren  Epo- 
pöen, wird  freilich  durch  eine  achtsamere  Hervorhebung  der  den 
grossen  Dichtergenius  bewährenden  Leistungen  erst  ihre  volle 
Bestätigung  finden.  Aber  wenn  es  sich  für  den  geschichtlichen 
Beweis  besonders  um  die  Ueberlieferung  bis  zur  Zusammen- 
stellung und  Redaction  durch  Pisistratos  handelt,  dienen  jene 
Partieen,  welche  als  zur  Ausführung  der  Grundidee  wesentlich 
vom  Schöpfer  der  Epopöe  eigens  hinzugethan  erscheinen,  zum 
speziellen  Zeugniss  der  älterber  überlieferten  und  längst  als  Na- 
tionalepopöen geltenden  Werke.  Der  längst  blühende  Ruhm  des 
Homer,  den  eine  Reihe  Einzellieder  nicht  gründen  konnte, 
leuchtet  hervor  nach  Grote's  Bemerkung*^')  in  Hinsicht  auf 
Homer  als  Auctorität  für  den  Götterglauben  durch  des  Xeno- 
phanes  Polemik  und  andrerseits  in  seinem  Ansehen  als  aner- 
kannter Gewährsmann  für  die  alten  Gebietsverhältnisse  in  meh- 
ren Streitigkeiten  zwischen  Nachbarstaaten  und  eben  in  jenen 
Zeiten. 

168)  Grote.  Gesch.  Griechenl.  513  v.  iMeisler.  „Ausserdem  finden 
wir  besondere  Stücke,  welche  sich  ausdrücklich  durch  ianern  Beweis  als 
zu  einem  grösseren  Ganzen  gehörend,  und  nicht  als  separate  Ganze  er- 
klären". S.  weiter.  Wir  fügen  hinzu,  dass  die  liefernden  Rhapsoden 
diese  Theile,  die  nur  in  Orten  und  Zeilen,  wo  die  Ganzen  hewusst  waren, 
für  sich  befriedigen  konnten,  eben  für  die  Gelegenheiten  der  Gesammt- 
vorträge  J)ei  sich  geführt  haben  werden. 

169)  Grote,  1,  S.  513  f. :  „Es  liälle  keine  so  fest  gegründete  Ehr- 
furcht für  dieses  Document  gefühlt  werden  können,  wenn  nicht  lange  vor 
Pisistratus  es  Gebrauch  gewesen  wäre,  die  Ilias  als  ein  forllaufendes  Ge- 
dicht zu  betrachten  und  anzuhören.  Und  wenn  der  Philosoph  Xeno- 
phanes,  den  Homer  als  den  allgemeinen  Lehrer  bezeichnete,  i^  oQxrjg  xad"' 
OfiviQov  enei  fis^ad^rJKaai  Tcavxeg,  (s.  Sagenp.  303),  und  ihn  als  einen  un- 
würdigen Beschreiber  der  Gölter  anklagte,  so  muss  er  dieses  grosse  gei- 
stige Uebergewicht  nicht  in  einer  Zahl  verbindungsloser  Rhapsodieeu, 
sondern  mit  einer  geschlossenen  Ilias  und  Odyssee  in  Verbindung  gedacht 
haben." 


113 

22.  Die  Odyssee,  eine  Epopöe,  so  planvoll  bei  ihrem 
Umfange  in  ihrer  Anlage  und  Gliederung,  dass 
sie  den  Gesammt Vortrag  durch  sich  ablösende 
Rhapsoden  noch  n  na  b -weis  lieh  er  ^'oraussetzt, 
als  die  Ilias. 

Alle  die  Wahrnehmungen,  welche  man  bei  der  eingehenden 
Betrachtung  der  Ilias  macht,  wiederholen  sich  bei  der  Odyssee, 
nur  bei  den  einzelnen  Punkten  in  verschiedenem  Maasse.  Der 
ursprüngliche  SagenstofT,  ohne  den  es  eine  Odyssee  gar  nicht 
hätte  geben  können,  scheint,  wenn  man  die  für  sich  denkbaren 
und  zum  Einzelvortrag  passlichen  Partieen  mit  denen  vergleicht, 
welche  als  dem  Plane  angehörig,  des  Dichters  Zuthaten  sein 
dürften,  ein  mehr  summarischer,  nur  die  Hauptpunkte  enthalten  • 
der  gewesen  zu  sein  mit  nur  einzelner  Ausfübrung.  Es  gab 
wahrscheinlich  zuerst  ein  oder  mehre  Einzellieder  von  den 
früheren  Irren ,  und  davon  vor  andern  ausgeprägt  das  Aben- 
teuer bei  dem  Kyklopen  Polyphem,  welches  den  lang  umtreibenden 
Zorn  des  Poseidon  verursachte.  Sodann  von  dem  Untergang  der 
Gefährten  und  dem  Ansch\>immen  an  die  Insel  der  Kalypso.  Die 
Phäaken  dagegen  und  die  Heimfahrt  durch  diese  sind  des  Dichters 
eignes  Gebilde,  vielleicht  Um  -  und  Nendiclitung  einer  nordisclien 
Sage,  doch  jedenfalls,  wie  er  darin  ein  ionisches  Leben  malt,  mittels 
Zuziehung  eigner  Lebensanschauungen.  Aber  die  vorhomerischen 
Einzellieder  sind  in  der  vorliegenden  Odyssee  noch  weit  weniger 
wiederzuerkennen,  als  in  der  Ilias.  Sie  sind  eben  weit  mehr 
noch  umgebildet;  die  Erzählung  von  den  früheren  Irrfahrten  ist 
jetzt  sogar  zum  selbsteignen  Bericht  des  Helden  als  Gast  des 
Alkinoos  und  der  andern  Fürsten  der  Phäaken  geworden,  sodass 
eben  dieses  heitei'e  Lehensbild  in  die  ersehnte  Heimkunft  aus- 
geht: 13,  18  fi".  Sodann  ist  ein  anderer  wesentlicher  Theil,  die 
ganze  Expositionspartie,  die  ersten  vier  Büclier  nach  der  alexandrini- 
schen  Abtheilung).  Ein  Interesse  für  sich  hat  er  durchaus  nicht,  ist 
aber  in  den  ganzen  Organismus  auf  das  innigste  verwebt.  Er 
erscheint  sichtlich  eben  vom  Dichter  der  Odyssee  neu  erfunden 
und  hinzugetban.  Genug  es  gilt  das  l'rtheil:  der  Dichter  der 
Odyssee  ist  derjenige,  welcher  das  (iedicht  von  Odysseus'  Heim- 
kunft und  Kampf  mit  den  Prätendenten  seines  Weibes  und  König- 

r^itzsch  ,  Gesch.  d.  griech   Epos.  8 


114 

thums  von  Anbeginn  auf  diese  Heimliunft  stellte.  In  diesem 
Sinne,  mit  Hinweisung  aul'  den  bei  Kalypso  zunickgebaltenen 
Helden,  also  auf  den  andern  Ausgangspunkt  der  Handlung,  stellte 
er  Eingangs  die  Verhältnisse  in  Ithaka  dar,  in  demselben  Sinne 
Hess  er  den  Königssohn  von  der  Schulzgöttin  zur  künftigen  Zu- 
sammenkunft mit  dem  Vater  auf  die  Reise  senden,  besonders 
aber  gestaltete  er  in  diesem  Sinne  die  früheren  Irrfahrten  zur 
Episode. 

Da  diese  beiden  für  die  beviunderte  Kunstanlage  der  Odyssee 
wichtigsten  und  wesentlichsten  Theile,  die  Reise  des  Telemach 
und  die  Selbsterzählung  dei-  früheren  Irrfahrten  neuerlich  mannig- 
fache Anfechtungen  erfahren  haben,  so  erscheint  es  unumgäng- 
lich ,  von  beiden ,  jedoch  in  umgekehrter  Folge ,  eine  geeignete 
Darstellung  zu  geben.'™) 

Die  Erzählung  der  Irrfahrten ,  die  unstreitig  von  den  alten 
Sängern  in  der  dritten  Person  gegeben  wai-,  wurde  bei  der  Neu- 
bildung in  die  erste  umgesetzt,  oder  vielmehr  Alles  in  diese  ge- 
fassl,  nur  eben  in  der  Weise,  wie  es  die  Situation  des  Erzäh- 
lers früherer  Erlebnisse,  der  seinen  Zuhörern  fasslich  und 
angenehm  vortragen  sollte,  mit  sich  brachte.  Diese  Rücksicht 
erzeugte  in  dem  Verlauf  der  lebendigsten  Selbsterzählung  ein- 
zelne Partieen,  da  er  in  der  dritten  Person  berichtete,  und  es 
darauf  ankam ,  diese  Form  vor  den  Zuhörern  natürlich  erschei- 
nen zu  lassen. 

Der  eine  Fall  dieser  Art  erforderte  eine  besondere  Wendung 
und  Angabe.  Der  Verlust  auch  der  Gefährten  in  seinem  eignen 
Schiff  war  ein  besonders  wichtiger  Umstand  nicht  blos  für  die 
Geschichte  der  Irrfahrten,  sondern  für  das  ganze  Gedicht.  Wird 
er  in  diesem  Bezüge  gleich  im  Eingang  hervorgehoben,  1,  6  f., 
so  berichtet  der  Erzählende  die  Warnungen  des  Teiresias  11, 
104  —  110  ff.  und  der  Kirke  12,  127-141,  Diese  auch  der 
göttlichen  Verhältnisse  kundig,  beschreibt  die  heiligen  Heerden 
auf  Thrinakia  mitsammt  den  göttlichen  Hirtinen  auf  das  Genaueste. 
Aber  als  nun  weiterhin  zu  erzählen  kam,  wie  sein  Schiff 
nach  Thrinakia  gelangt,  und  vom  widerspenstigen  Eurylochos  ge- 

170)  Das  Folgende  schon  inilgetheilt  in  Fleckeisen,  Jahrbücher  für 
class.  Philologie  VI,  pag.  365  ff.  Der  Apolog  des  Alkiuoos  in  Odyss. 
i  —  jit  als  Selbsterzäiilung  D,  H. 


315 

nothigt  sei,  trotz  aller  jener  Warnungen  12,  266 — 69  zu  landen: 
Da  galt  es  entweder  die  nach  geschehenem  Frevel  erfolgte 
Strafe  durch  den  Untergang  des  Schi-ffs  und  der  Gefährten  nur 
eben  als  menschliche  Erfahrung  zu  erzählen,  oder  auch  die  durch 
Kirke's  Angabe  wie  in  Erwartung  gestellte  olympische  Geschichte 
in  zulässiger  Weise  eintreten  zu  lassen.  Im  jetzigen  Fortschritt 
geht  der  Erzähler  von  einem  Gebet,  das  er  an  Zeus  und  alle 
Gölter  gerichtet;  371 — 374,  zu  der  olympischen  Parallele  über, 
da  Zeus  auf  die  Klage  des  von  der  bekannten  Nymphe  benach- 
richtigten Helios  die  Bestrafung  zusagt.  Das  war  denn  eine 
himmlische  Kunde,  welche  der  Mensch  Odysseus  so  wenig  an  sich 
besitzen  konnte,  als  Achill,  U,  1,  396,  eine  solche  anders  als  durch 
seihe  göttliche  Mutter  hat,  während  Glaukos,  11,  17,  163,  von 
des  Zeus'  Sorge  für  Sarpedon  (16,  666 — 683)  Nichts  weiss.  Es 
bedurfte  also  hier  einer  mittelbaren  Mittheilung  aus  der  Götter- 
welt. Diese  ist  an  den  F^rzähler  Odysseus,  nach  12,  389  f.,  zu- 
nächst durch  Kalypso  geschehen,  welche  sie  von  Hermes  hatte. 
Die  Wahrscheinlichkeit  dieser  Angabe  lässt  sich  nun  insoweit 
vertreten,  als  Hermes  es  ist,  welcher  die  auf  der  Erde  angesie- 
delten Nymphen,  d.  i.  Göttinen,  mit  den  Olympiern  in  Verbin- 
dung setzt,  wie  auch  Kirke  von  ihm  eine  Miltheilung  über 
Odysseus  empfangen  hat,  10,  331,  und  Kalypso,  5,  88,  durch 
ihre  Aeusserung:  TtccQog  ye  }i£V  ovTt  d-afit^sig,  sonst  pflegst 
Du  ja  nicht  häufig  zu  kommen,  einzelne  wiederholte  Besuche 
nicht  ausschliesst'^').  Die  Erklärung  des  Hermes  aber  besagt,  nur  aus 
eignem  Antriebe  mache  er  solche  Wege  durch  das  ungastliche 
Meer  nicht,  sie  müssten  ihm  immer  von  Zeus  aufgetragen  sein. 
So  ist  in  Hermes  der  passende  Mittelsmann  allerdings  gegeben, 
und  in  Kalypso  diejenige,  welche  den  Odysseus,  als  sein  Schiff 
von  Zeus  zertrümmert  war,  bei  sich  aufnahm  (5,  130  fl".,  7,  248 
ff.) ;  nur  die  genaueren  Umstände,  da  Hermes  der  Kalypso  Mitthei- 
lung gemacht,  durften  und  mochten  vielleicht  auch  die  Zuhörer 
des  Gedichts  nicht  untersuchen ,  nachdem  ihnen  Zeus  in  seiner 
Vertretung  der  Götterrechte  bei  dei-  Klage  des  Helios  iliii  ni 
Glauben  gemäss  erschienen  war. 


171)  Dies  ist  freilich  erst  in  die  VVorWR  liiiioiiizulogeii,  d.i  in  II.  18. 
88  und  425  dieselhen  Worte  den  Besuch  einlacli  ;ds  einen  ungowiilin- 
liolien  bezeichnen. 

»* 


116 

Jedoch  giebt  es  hier  noch  anderes  Auffällige.  Die  olym- 
pische Parallele  tritt  an  sich  freilich  und  der  Sache  nach  im  An- 
schluss  an  das  von  Kirke  her  Bevvusste  ein ,  und  an  ähnlichen 
Beispielen,  da  eine  solche  in  einem  sehr  prägnanten  Moment 
der  menschlichen  Handlung  einfällt ,  fehlt  es  auch  nicht  ganz ; 
man  sehe  II.  5,  353  —  430  und  wieder  daselbst  7  t  1—780.  Allein 
in  unserer  Stelle  stört  das  Eintretende  doch  noch  mehr,  und  der 
Fortgang  ist,  wenn  die  Parallele  375 — 390  ausfällt,  so  unmittel- 
bar anschliessend,  dass  man  wohl  geneigt  sein  kann,  der  Athe- 
tese  des  Aristarch  beizustimmen''^).  Denn,  sind  seine  uns  be- 
kannten Gründe  nicht  hinreichend,  so  verräth  sich  in  der 
Vermittelung  durch  die  Kalypso  immer  ein  Gemachtes,  und  der 
Zusammenhang  ist  für  die  Ausscheidung.  Es  ist  also  hier  die 
Frage,  hat  der  Dichter  das  Ueberkommene  mit  der  etwas  gesuch- 
ten Erklärung  gegeben,  oder  hat  er  im  einfachen  Fortschritt  er- 
zählt, sodass  beim  Hergang  selbst  Odysseus,  so  wie  er  es  erzählt, 
nur  zuerst  aus  dem  Wunderzeichen,  das  sich  an  den  Stücken 
und  Häuten  der  geschlachteten  Thiere  begab  (12,  394  f.),  ferner 
aber  an  den  drohenden  Wolken  über  dem  Schilf  (405)  und  den 
folgenden  Wettern  des  Zeus  (415),  wie  sie  das  Fahrzeug  zer- 
splitterten und  die  Gefährten  versenkten,  des  gekiänkten  Gottes 
Gerichte  erkamit  hat. 

Von  diesem  olympischen  Akt  abgesehn,  hat  die  Selbsterzäh- 
lung zwar  eine  Reihe  Partieen  in  der  dritten  Person,  aber  wo  er 
da  das  nicht  unmittelbar  von  ihm  selbst  Gesehene  oder  Erfah- 
rene in  seinem  Vortrage  einwebt,  geschieht  es  im  Interesse  der 
Hörer,  und  so,  dass  die  Verständigung,  woher  es  ihm  bewusst 
geworden,  alsbald  eintritt. 

Und  zuerst  ist  mit  sichtlichen  Augen  zu  lesen,  wie  in  dem 
ganzen  Bericht  von  Anfang  bis  zum  Schluss  die  erste  Person 
des  Singular  oder  Plural  übrigens  so  dnrchhorrscht,  dass  jene 
Zwischenstellen  die  lebensvolle  Kunst  dei'  Neubildung  keineswegs 
verdunkeln. 


172)  Dass  Aristarch  die  Stelle  luil  dein  Ohclos  bczeiohnele,  zeigt  die 
Vened.  Hdschr.  und  ein  Bezug  darauf  findet  sich  in  Seh.  zu  II.  3,  277  und 
zu  Od.  5,  79.  Die  Vergleichuti^  dieser  Schol.  mit  dem  zu  Od.  12,  374  lässt 
die  Gründe  des  Kritikers  erkennen,  der  Alles  sehende  Helios  bedurfte  des 
Boten  nicht,  und  Hermes  hat  die  Kalypso,  Od.  5,  noch  niemals  vorher  besucht. 


117 

Als  selbslerfahroii  lag  Alles  in  der  Vergangenheit,  sollte  er 
nun  aber  seinen  Znhörern  deutlich  und  angenehm  erzählen,  so 
musste  er  erstens  die  Stadien  seiner  Irren,  Orte  und  Bewohner 
angeben,  wie  er  sie  jetzt  wiisste,  damals  im  Verlauf  der  einzel- 
nen Abenteuer  kennen  gelernt  hatte.  So  führt  er  am  Anfang 
der  Irrfahrt  das  Land  der  Kyklopen  auf  mit  dem  berühmten  Bilde 
des  noch  unciviHsirten  Volkes,  9,  106  — 141,  so  die  Insel  des 
Aeolos  und  den  Windwart  mit  seiner  Familie,  wo  er  einen  Monat 
(14)  verweilte,  10,  \  —  IQ,  so  die  Läslrygonen  mit  dem  Charakter- 
zug von  den  hellen  iSächten  des  Nordens  10,  81  —  86,  so  die 
Insel  der  Kirke,  10,  J35  — 139.  Doch  es  war  an  mehren  Stel- 
len erforderlich,  Kundschafter  zu  senden.  Da  folgt  die  Form  der 
Erzählung  immer  der  Anregung  durch  die  Absendung,  sie  be- 
gleitet zunächst  die  Abgesendeten  und  berichtet  in  dritter  Person, 
was  sie  gefunden  und  erfahren.  Hätte  die  griechische  Sprache 
nur  die  Unterscheidung,  wodurch  die  deutsche  das,  was  ein  Er- 
zähler von  Andern  her  mitzutheilen  hat,  von  dem  unterscheidet, 
wovon  er  als  gegenwärtig  unmittelbare  Kunde  besitzt  —  das  Per- 
fectum  nämlich  vom  andersher  Bewussten,  die  historische  Zeitform 
vom  Unmittelbaren,  dann  hätte  Homer  den  Odysseus  diese  Un- 
terscheidung anwenden  lassen'").  Aber  der  griechische  Brauch 
hat  sie  nicht.  Also  macht  Odysseus  in  jenen  Fällen  nur  bemerk- 
lich, wie  er  das,  was  er  den  Phäaken  von  seinen  Abgesandten 
zum  lebendigen  Bericht  vorweg  in  dritter  Person  vorträgt,  im 
Fortgang  erfahren  hat,  im  Moment  der  Erzählung  also  lebendig  ge- 
ben konnte.  So  zuerst  hei  den  Lotophagen  9,  91  —  97.  Nach 
Angabe,  wie  er  zwei  Genossen  und  einen  Herold  dazu  zur  Er- 
kundigung beordert,  wird  gleich  gesagt,  dass  die  dort  ihnen  den 
süssen  Lotos  gaben,  und  als  sie  den  genossen,  nun  immer  mehr 
geniessen  und  bleiben  wollten,  alle  Rückkehr  und  Meldung  ver- 
gessend. Hier  lässt  der  Erzähler  hinzudenken,  ,,als  ich  eine  Weile 
vergebens  auf  ihre  Rückkehr  gewartet,  ging  ich  ihnen  nach."  Er 
hatte  sie  also  selbst  beim  Lotos  so  selig  und  zur  Rückkehr  wider- 
willig gefunden,  und  daher  konnte  er  jetzt  das  vorher  Geschehene 
angeben.     Nicht  so  einfach,  aber  doch  auch  verständlich  und  er- 


173)  Es  haben,  soviel  ich  weiss,  die  Norddeutschen  (he  obige,  die 
Süddeulscheii  die  umgekehrte  Unterscheidung. 


118 

klärt  genug,  erscheint  das  von  den  an  die  Lastrygonen  Abgesand- 
ten in  dritter  Person  Gegebene,  10,  102 — 116.  Denn  117  kom- 
men Zwei  flüchtig  zurück,  die  also  das  Geschehene  erzählt  haben. 
Das  Weitere,  den  Ruf  durch  die  Stadt,  und  das  Zusammenlau- 
fen der  Riesen  zu  den  Höhen  am  Hafen  und  ihre  Würfe  auf  die 
Schiffe  und  das  Aufspiessen  und  Forttragen  der  im  Wasser  Schwim- 
menden, musste  Odysseus  gehört  und  in  einzelnen  Beispielen 
gesehen  haben,  sodass  er  nun  demnächst  von  sich  in  erster 
Person  erzähleii  konnte,  was  er  gethan,  und  wie  er  mit  seinem 
Schiff"  allein  entkommen  sei:  126  — 132. 

Es  folgt  die  lebendige  Selbsterzählung  von  der  Station  der 
Kirke  135  —  bis  er  203  seine  ganze  Schaar  in  zwei  Rotten  theilt 
und  loost,  ob  er  oder  Eurylochos  niit  der  ihm  untergebenen 
der  Spur  des  aufsteigenden  Rauches  auf  Erkundigung  nachgehen 
soll.  Es  trifft  den  Letzteren.  Wieder  nun  begleitet  die  Erzäh- 
lung in  dritter  Person  die  Abgehenden  210  —  244,  bis  Eurylochos 
allein  zurückkommt,  und  zwar  ihren  Gang  und  was  sie  gefunden, 
kurz  angiebt,  aber  es  ist  vorher  als  geschehen  erzählt  worden, 
was  Eurylochos  nicht  Alles  gesehen  hat,  nämlich  auch  die  Ver- 
wandlung im  Hause  der  Kirke.  Doch  wiederum  erklärt  der  Fort- 
gang, w  ie  jetzt  Odysseus  aus  alsbald  erhaltener  Kunde,  so  wie  er  vor- 
weg gethan,  den  Hergang  verfolgen  konnte.  Dass  die  Verwandlung 
in  Sdnxeine  geschehen,  hat  ihm  alsbald  Hermes  nlitgetheilt, 
2S2  —  283,  und  die  Weise  der  Kirke,  durch  den  Zaubertrank, 
ersah  er  316  —  320,  als  Kirke  ihm  selbst  einen  solchen  mischte. 
So  war  ihm  Alles  bewusst,  was  er  jetzt  vorweg  gegeben,  und 
hat  Eurylochos  in  seinem  ersten  Bericht  der  im  Vorhof  wedelnden 
V^^ölfe  und  Löwen  (212  f.)  niclit  gedacht,  so  spricht  er  doch, 
432  —  434,  seine  Warnung  in  Erinnerung  an  sie  aus.  So  erkennen 
wir  des  Selbsterzählers  Weise.  Und  von  da  an,  wo  nun  Odys- 
seus seinen  Verkehr  mit  Kirke  erzählt,  die  ihn  erkannt  hat,  von 
336  an,  wer  könnte  da  der  Selbsterzählung  das  poetische  und 
gemüthreiche  Leben  absprechen?  3Ian  lese  besonders  das  Gleich- 
niss  410 — 417.  3Ian  beachte,  wie  im  ganzen  Verlauf  der  Cha- 
rakter des  widerspenstigen  Eurylochos  gehalten  wird  und  in  der 
Folge  der  Abenteuer  öfters  eine  Erinnerung  an  die  früheren 
wirkt:  199  f.  435—437. 

In   zwei   andern   Stellen   weiss  der  sonst  in   erster   Person 


119 

Erzählende  das  in  dritter  zu  melden,  was  seine  Gefährten  ge- 
sprochen und  getlian,  während  er  sich  doch  selbst  als  schlafend 
bezeichnet.  Da  sieht  es  aus,  als  sei  vom  Gestalter  des  Apologs 
das,  was  der  Dichter  eines  altern  Liedes  in  die  dritte  Person 
gefasst  gehabt,  unbedachter  Weise  in  derselben  Gestalt  in  seine 
Neubildung  herübergenommen.  Indess  auch  diesen  Stellen  gilt, 
dass  das  den  Zuhörern  nach  bestandenen  Abenteuern  Vorgetra- 
gene nur  aus  dem  im  Fortgang  genommenen  Bewussten  in  fac- 
tische  Folge  gebracht  ist.  So  besonders  nacln^  eislich  im  zweiten 
Falle  12,  339  —  365.  In  der  diesen  Versen  zunächst  voranste- 
henden Partie,  261 — 338,  hat  Odysseus  ganz  seiner  Situation  als 
Selbsterzähler  gemäss  und  in  aller  homerischen  Frische  vorge- 
tragen, wie  er  nach  Kirke's  Warnung  die  Insel  Thrinakia  zu 
meiden  gestrebt  habe,  aber  von  dem  Avidersetzlichen  Eurylochos 
gezwungen  w orden  sei ,  anzulanden ,  und  dort  dann  widrige  Winde 
sie  festgebannt  hätten,  sodass  Hungersnoth  nur  ganz  kümmerlich 
abgewehrt  worden  wäre.  Gerade  nun  in  dieser  höchsten  Nolb, 
als  da  Odysseus  abwärts  von  den  Gefährten  in  die  Stille  gegangen 
ist,  und  er  die  Götter  brünstigst  um  Rettung  anruft,  da  senden 
sie  ihm  den  verderblichen  Schlaf  338.  Hier  also  folgt,  den  Um- 
ständen nach  im  engsten  Anschluss  an  das  eben  Vorhergegangene, 
wie  derselbe  Eurylochos,  der  zum  Anlanden  genöthigt  hat,  die 
Gefährten  zum  Schlachten  heiliger  Rinder  verführte.  Ist  er  vor- 
her durch  Odysseus'  Vorstellungen  überstimmt  worden,  jetzt  in 
dessen  längerer  Abwesenheit  gewinnt  er  die  Gefährten  bei  der 
drohenden  Hungersnoth.  Die  Beschreibung  seiner  Rede  und  des 
ganzen  Hergangs  beim  Schlachtopfer  wird  nach  der  bedrängten 
Lage  auf  das  Genaueste  gegeben '^^).  Aber  diese  vorweggegebene 
Schilderung  hat  der  Dichter  nicht  etwa  in  unbedachter  Neigung 
zum  dramatischen  Leben  und  zur  Anschaulichkeil  gemacht,  nein, 
sie  erhält  sofort  ihre  Erklärung  und  Rechtfertigung.  Odysseus 
erzählt :  Aufgewacht  sei  er  in  dem  Augenblicke,  da  schon  das  Opfer 
gebrannt  und   der   Fettgeruch  sich  verbreitet  habe  369.     Als  er 


174)  Bei  A.  Jacob  S.  444  lesen  wir  das  unbegreifliche  Prädicat  „des 
ganz  unbedeutenden  Eurylochos"  und  darauf  die  Verwunderung,  dass 
Eurylochos  dem  Gott  einen  Tempel  verheisst  und  nicht  blos  eine  Heka- 
tombe wie  Pandaros  11.  4,  119.  Die  Unterscheidung,  was  für  jede  Lage  und 
Stelle  gehört,  ist  hier  ganz  versäumt. 


120 

sich  dem  Schifl  geuäherl  (die  Rinder  waren  von  der  unfern  lie- 
genden Weide  geholt  353  —  355):  „Trat  ich  an  Jeden  heran  und 
schall,  doch  ein  Mittel  zur  Reitung  konnten  wir  nicht 
ausfinden,  da  todt  schon  lagen  die  Rinder." 

Diese  Worte  erklären  es  genugsam,  wie  dem  Odysseus  die 
ganze  Geschichte  des  hegangenen  Frevels  hekannt  geworden.  Er 
kam  zu  den  Opfernden  und  schalt  sie  Einen  nach  dem  Andern, 
und  ^vie  es  heisst:  Ein  Mittel  konnten  Avir  nicht  finden, 
so  versteht  man:  Die  Gescholtenen  haben  sich  verantwortet,  und 
■wie  Odysseus  wohl  selbst  den  Eurylochos  als  den  Urheber  vermuthet 
hat,  so  haben  auch  die  Andern  ihn  angeklagt;  es  hat  also  über- 
haupt viele  Besprechung  des  Vorgangs  gegeben,  und  wer  will  da 
abgränzen,  v>as  von  dcjuselben  und  von  der  Opferhandlung  dabei 
zur  Erwähnung  gekommen  sein  möge  und  was  nicht. 

Der  frühere  Fall  bedarf  etwas  mehr  des  ergänzenden  Ge- 
dankens. Der  Selbslerzähler  sagt  10,  31,  wie  ihn  gerade,  als 
man  schon  die  Hirtenfeuer  auf  den  Bergen  der  Heimath  gesehn, 
da  bei  der  grossen  Anstrengung  Schlaf  überfallen  habe.  Aber 
sofort,  34 — 49,  fügt  er  in  dritter  Person  hinzu,  was  seine  Gefähr- 
ten während  dessen  verliandelt  und  verschuldet.  Wieder  erfolgte, 
was  die  Gefährten  sprachen  und  anstifteten,  im  engsten  Zusam- 
menhange mit  dem  Bisherigen,  und  war,  was  in  dritter  Person 
eben  von  ihnen  bei'ichtet  wird,  die  allein  richtige  Geschichte 
der  Fahit.  Als  sie  den  Schlauch,  indem  sie  Schätze  vermuthen, 
losbinden  und  so  die  Winde  heraus  und  zurückstürmen,  da  er- 
wacht der  Schläfer,  und  sieht  an  dem  Vorgange,  es  muss  eine 
wohl  begehiliche  Vorstellung  sie  verlockt  haben,  und  vielleicht 
auch  wegen  des  silbernen  Bandes  (23  f.),  denn  er  hat  versäumt, 
sie  über  den  Schlauch  zu  unterrichten.  Es  käme  nun  erwartet, 
wenn  der  Erzäliler  hiei'  angäbe,  dass  er  sie  gescholten  und  da- 
durch veranlasst  habe,  zu  erklären,  wie  sie  zu  der  unheilvollen 
That  gekommen.  Doch  er  spricht  nur  von  seiner  eignen  Verzweif- 
lung im  Augenblick  seines  Erwachens,  und  der  darauf  gewon- 
nenen Fassung,  in  welcher  er  ausdauernd  sich  in  seinen  Mantel 
gewickelt  slill  hinlegt.  Wir  sehen,  es  hat  der  Dichter  das  poe- 
tische Motiv,  dea  Charakter  des  ausharrenden  Dulders  bei  diesem 
grossen  Unfall  glänzend  zu  zeigen,  allein  wirken  lassen.  Er  hat 
dem  Zuhörer  die  Enlstehung  des  Unglücks  gezeigt,  und  ihn  befrie- 


12J 

digl  durch  die  psychologische  Wahrheil  und  das  dramatische 
Leben  der  Scene.  Da  Hess  er  ihn  denn  selbst  hinzudenken,  \voher 
der  Erzähler  sich  die  voraus  gegebene  Beschreibung  gebildet  habe, 
sei  es  nur  nach  eignem  Gedankenbilde,  oder  in  Folge  einer  Er- 
kundigung, die  er  nur  nicht  angebe.  Leicht  aber  möchten  die 
Hörer  gar  nicht  weiter  darüber  gegrübelt  haben. 

Als  die  herausgefahrenen  Stürme  denOdysseus  in  der  Erzählung 
zu  ihrem  Bändiger  zurückgetrieben  haben  und  überhaupt  sogleich 
nach  den  16  Versen  mit  der  Angabe  vom  Hergang  während  des 
Schlafes,  geht  der  unmittelbare  Vortrag  mit  seinem  Ich  oder  Wir, 
Avieder  in  derselben  glatten  Weise  fort,  wie  vorher. 

Es  bleibt  nach  diesen  Erledigungen  nur  eine  Stelle  übrig, 
welche  in  wahrhaft  anstössiger  Weise  die  dritte  Person  hat,  9, 
54  und  55,  Diese  Verse  sind  aus  II.  18,  534  und  535  unpassend 
wiederholt,  und  sind  zumal  bei  der  Kürze  der  ganzen  Angabe 
von  den  Kikonen  völlig  entbehrlich,  wie  diess  schon  mehrfach 
anerkannt  Avurde"^). 

Im  ganzen  übrigen  Verlauf  der  Selbsterzählung  hat  die  Rück- 
sicht auf  das  Verhältniss  des  Erzählers,  wie  er  immer  zuerst  die 
Stadien  der  Fahrt  nach  der  überhaupt  gewonnenen  Kunde  be- 
zeichnen musste,  sodann  wenn  sein  Bericht  den  Gang  der  Bege- 
benheiten in  der  wirklichen  Folge  geben  wollte,  mehrere  Male 
vorweg  das  gab,  was  ihm  aus  dem  nachmaligen  Verlauf  bewusst 
war,  diese  Rücksicht  hat  über  die  Stellen  der  dritten  Person  das 
Erforderliche  nachgewiesen.     Dass  im  Lebrigen   nicht  blos  im  9. 


175)  S.  Friedländer  Analecta  llonicrica  in  >'.  Jahrb.  1859.  drill.  Suppl. 
H.  4.  S.  482  f.  Kirchhon".  Rh.  Mus.  N.  f.  XVI.  S.  81  f.  Dieser  selbe  Verf., 
der  die  Odyssee  nach  Wolfs  zweiter  Vermiithung  allmählich  zur  jetzigen 
Gestalt  erwachsen  glaubt,  und  dies  in  Figura  zu  zeigen  versucht  (die 
Entsteh,  d.  Odyssee,  Berl.  1859),  bemüht  sich  im  Rh.  Mus.  a.  0.  die  Er- 
zählung vor  Alkinoos  in  ihrer  jetzigen  Gestalt  als  aus  späterer  Bearbei- 
tung hervorgegangen  zu  erweisen.  Bei  diesem  ganzen  Versucli  hat  er  die 
allein  richtige  Vorstellung  gar  noch  nicht,  dass  der  Scliöjder  der  Odyssee 
freilich  frühere  Lieder  überkonuuen  halten  muss,  die  er  neu  bildete,  dass 
also  namentlich  auch  die  Erzählung  von  den  Irrfahrten  ihre  wesentliche 
Umgestaltung  für  (he  umfassendere  Anlage  erfuhr,  in  welcher  die  Irren 
mit  der  Heimkunft  und  Rache  ein  Ganzes  bildeten.  Sein  spezielles  Ver- 
fahren verfolgt  Kirchhoff  mit  einer  wenig  eingehenden  Prüfung  der  Stellen 
dritter  Person  und  einer  nircnbar  willkührlichcn  Trennung  des  10  — 12. 
Buchs  vom  9.    Man  balle  die  ubif^c  Üarlcf^uiiü;  mit  iler  seinigen  zusammen. 


122 

Bucjje  beim  über  alle  andern  wichtigen  Abenteuer  der  Blendung 
des  Polyphem,  sondern  in  gleicher  Weise  im  10.,  11.  und  12. 
jeder  Versuch  einer  Umbildung  der  Selbsterzählung  in  die  eines 
erzählenden  Dichters  nur  Verwüstung  des  Schöneren,  ja  unmög- 
lich sein  würde,  davon  muss  jeden  Leser  die  Leetüre  überzeugen 
und  vom  Versuche  abschrecken.  Dass  dabei  diese  ganze  Partie, 
und  namentlich  die  Erzählung  vom  Todtenreich  gar  wohl  eben- 
falls wie  andere  durch  kurze  oder  umfängliche  Einschiebsel  ent- 
stellt ist,  bleibt  anderer  Betrachtung  vorbehalten;  über  die  olympi- 
sche Parallele  wird  nach  dem  Obigen  das  Urtheil  immer  schwanken. 

Eine  besondere  Aufgabe  ist  es  übrigens,  zu  prüfen,  ob  die 
Zeit  des  Tages  und  Abends  zu  dem  zureiche,  was  Alles  von  der 
Versammlung  an  Od.  8,  46  bis  zu  13,  17  geschieht,  oder  ob  wir 
vielleicht  die  Spiele  als  später  eingeschoben  zu  betrachten  haben. 

Wir  kommen  zu  dem  dem  Dichter  ganz  eigenen  Expositions- 
theile  B.  1  —  4.  Dieser  erfüllt  seine  Bestimmung  in  dreierlei 
Hinsicht,  und  dies  sehr  vollständig  und  schön.  Er  legt  in  allen 
Beziehungen  die  Grundsituationen  dar,  von  denen  die  Handlung 
ausgeht.  Ausser  dass  er  das  göttliche  Motiv  und  in  der  Schutzgöttin 
des  Helden  die  Bew  egerin  der  Handlung  hinstellt,  zeichnet  er  erstens 
in  allen  Bezügen  die  Momente,  von  denen  die  Erzählung  und  die  sich 
erhebende  Bewegung  ausgeht.  Unverkennbar  sind  diese  ausdrücklich 
gewählt,  zumal  wie  sie  zusammenstimmen.  Die  andern  Achäer,  mit 
denen  Odysseus  Troia  zerstört  hat,  sind  jetzt  alle  schon  zu  Haus  Vers 
11,  auch  Menelaos  der  späteste  1,  287,  3,  318,  4,  82.  —  Aber  Odys- 
seus ist  nicht  blos  nach  den  vorher  bestandenen  Irrfahrten  schon  zur 
Kalypso  auf  Ogygia  im  fernen  Meere  gelangt ,  sondern  von  deren 
Liebe  dort  schon  lange  zurückgehalten.  Dies  also  der  eine  Ausgangs- 
punkt der  Bewegung  ,  die  Insel  der  Kalypso ,  w  ober  Athene  seine 
Erlösung  bei  Zeus  zur  Sprache  bringt  1 ,  13  f.  49  ff.  Wir  erfahren 
weiterhin,  7,  259 — 2  61,  er  hatte  sieben  Jahre  dort  in  Sehn- 
sucht nach  der  Heimath  geschmachtet.  So  war  es  bereits  das 
zwanzigste  Jahr,  dass  er  nach  Troia  gezogen,  wie  das  zehnte  (5, 
107)  seit  dessen  Zerstörung  2,  174.  f.  16,  206.  17,  327.  19, 
484.  21,  208.  23,  102.  Während  dieser  langen  Abwesenheit,  in 
welcher  seine  Mutter  vor  Sehnsucht  nach  ihm  gestorben  (11,  202. 
f.  1.5,  358)  und  der  alte  Laertes,  den  er  an  der  Schwelle  des 
Alters  verliess,  15,  348,  sich  im  Schmerz  um  den  Sohn  und  die 


123 

Gattin  zu  sterben  sehnt,  das.  353,  war  ihm  andrerseits  der  Sohn, 
den  er  noch  an  der  Brust  der  Mutter  verlassen  hatte  (11,  448. 
4,  155.  18,  269.)  zum  kräftigen  dem  Vater  ähnlichen  Jüngling 
herangereift  (1,  208,  301  f.  3,  122—  125.  4,  141.  f).  Er,  nach 
der  Schilderung  genauer  betrachtet,  tritt  als  zwanzigjähriger  Jüng- 
ling bei  einer  schüchternen  Natur  (3,  22—24.  4,  157—159.) 
so  eben  in  das  Alter  der  be^  ussten  Kraft.  Dieses  sein  erst  jetzt 
allmählich  erstarkendes  ßewusstsein  ist  in  seiner  Entwickelung 
fein  gezeichnet  und  zur  Charakteristik  der  Freier  fein  benutzt. 
Es  ist  die  volksgläubige  Dichter  Vorstellung,  dass  dieser  Wandel 
im  Jüngling  durcii  Atliene  geschieht,  aber  ihre  Einwirkung  hat 
durchaus  nichts  Gewaltsames,  sondern  erfolgt  in  einer  Weise, 
wie  ein  wohlbegabter  Jüngling  durch  die  Umstände  angeregt  wer- 
den konnte,  nur  dass  dies  wirklich  erfolgte  und  gedieh,  galt  als 
Werk  der  Athene.  So  ist  dieser  dargestellt,  fein  im  Verhältniss 
zu  den  Freiern,  fein  in  dem  zur  Mutter.  Wie  die  Freier  eben 
jetzt  erst  auf  den  hervortretenden  Sohn  und  Erben  des  von  ihnen 
begehrten  Königthums  aufmerksamer  werden,  dessen  Gewohn- 
heitsrecht ihnen  bewusst  ist,  1,  382  —  387  „Das  durch  Geburl 
Dein  väterlich  Erb  ist"  —  so  ist  überhaupt  ihr  Stand  sehr  \>ohl 
berechnet,  sie  haben  etwa  sieben  Jahre  die  Rückkehr  des  Ober- 
königs abgewartet,  jetzt  aber  schalten  sie  bereits  bald  das  vierte 
Jahr"^)  im  Königshause.  Und  was  die  Hauptsache  ist,  es  ist  die 
List,  wodurch  die  treue  Penelope  Aufschub  suchte,  bereits  ent- 
deckt; dass  sie  das  dem  alten  Laertes  zu  webende  Sterbekleid 
immer  in  jeder  Nacht  wieder  auftrennte,  und  das  drei  Jahre  hin- 
durch so  trieb,  ist  in  diesem  4.  durch  Verrath  von  den  Freiern 
mit  Augen  wahrgenommen,  sie  hat  es  vollenden  müssen'").  So 
steht  sie  jetzt  so,  dass  sie  gedrängt  von  den  Freiern,  die  nicht 
eher  aus  dem  Hause  zu  weichen  erklären,  sie  habe  denn  einen 
von  ihnen  gewählt,  gedrängt  auch  von  ihren  Eltern  ein  Ende 
machen  soll.  Dass  dabei  immer  (Ue  Freier  das  Hausgut  ver- 
zehren, ist  ihr  besonders  um  des  Sohnes  willen  widerwärtig,  so- 
wie dieser  verlangt  sie,  dass  Jeder  wenigstens  von  seinem  Hause 
aus  die  W'erbung  betreibe."^) 

176)  2,  89  nach  Aineis  und  Lelirs  de  Arisl.  102,  dazu  13,  377. 

177)  2.  104  —  110.  10.  149—1.^7  f.  auch  die  Eltern. 

178)  Die  Freier  2,  123  —  128,  203  —  207.    Tclcniath  1,  371—380. 


124 

Bei  den  so  gt-staltelen  Verhältnissen  des  Königshauses  mit 
den  begehrlichen  und  geualLlhätigen  Gäslen,  der  bedrängten  Pene- 
lope  und  dem  eben  hervorgetretenen  Königssohn  ist  der  Glaube 
an  die.  Möglichkeit  doch  immer  noch  zu  erwartender  Uückkunft 
des  Odysseus  ein  ganz  schwankender,  nur  nicht  ganz  aufgegebe- 
ner. So  weckt  ihn  Athene  als  Gastfreund  Mentes,  indem  sie  über 
seine  dermalige  Lage  nach  ihrer  Rolle  nur  menschliche  Vcr- 
,muthungen  äussert,  1,  196  ff.,  die  sich  nur  auf  die  geistige  Be- 
holfenheit  des  Odysseus  gründen,  und  die  sie,  wie  jeder  Mensch 
leicht  that  (Od.  15,  172),  einen  ihr  von  den  Göttern  eingegebenen  Ge- 
danken nennt:  „Doch  hindern  ihn  Götter  am  Rückweg,  er  ist  in 
der  Gewalt  feindlicher  Männer  wilden  Sinnes  u.  s.  w. ,  die  ihn 
wohl  wider  seinen  Willen  zurückhalten",  —  die  so  gegebenen 
Voraussetzungen  lassen  sich  deuthch  als  nur  menschliche  Ver- 
muthung,  nicht  als  göttliches  Wissen  erkennen.  Mehr  wollte  die 
Göttin  jetzt  nicht "»). 

Aber  eben  auch  als  kluger  Freund  giebl  sie  dem  Telemach 
mehrere  Rathschläge.  Die  hauptsächlichsten  sind,  er  soll  eine 
Volksversammlung  berufen  und  ihr  seines  Hauses  Lage  vortragen, 
sodann  zu  den  Freunden  und  Kampfgenossen  seines  Vaters,  Ne- 
stor in  Pylos  und  Menelaos  in  Sparta,  der  zuletzt  heimkam,  reisen 
auf  Kunde  nach  dem  Vater,  Telemach,  der  durch  das  wunder- 
bare Entschwinden  und  den  in  seiner  Seele  wachsenden  Muth, 
sowie  den  Gedanken  an  seinen  Vater  die  Gottheit  ahnet,  nimmt 
Beides  zu  Herzen.  Dass  es  die  Göttin  sehies  Hauses  gewesen  sei, 
ist  ihm  gewiss  (2,  262), 

Es  erfolgt  nun  die  Atisfühiung  beider  Rathschläge,  und  so- 
wohl die  Volksversamndung  als  die  Erkundigungsweise  bewähren 

2,  139—143.  Penelope  18,  272  f.  19,  534.  4,  684—686.,  welche  Verse 
durchaus  so  zu  verstehen  sind:  Nicht  als  Freiwerher,  aucli  nicht  ein  an- 
dermal sich  versammelnd,  mögen  sie  zum  äusserslcn  und  lelzlen  Mal  jetzt 
hier  speisen.  Die  ihr  beständig  in  Haufen  die  Fülle  der  Habe  verwüstet, 
meines  Telemaclis  Gut. 

179)  Eine  solche  MiUheihing  gewäliren  die  Göller  auch  da  nicht, 
wo  sie  sich  ihren  Günstlingen  oflcn  dargestellt  haben,  oder  vielmehr  ge- 
ben sie  bei  aller  Gunst  und  Geneigtheit  nicht,  weil  ihre  Hilfe  nur  mit 
eigener  Thätigkeit  ihrer  Schützlinge  zusammenwirkt!  Sonst  ermuthigen 
sie  nur  mit  Zusage  ihres  Beistandes,  oder  unterrichten  von  Gefahren  und 
geben  Rath,  13,  376—378.  390.  4,  20,  49,  f. 


125 

eine  wesentliche  Mitwirkung  zur  Darstellung  der  Grundverhältnisse. 
In  der  Volksversammlung  offenbart  sich ,  was  der  Einfall  der  vie- 
len Fürsten  in  das  Haus  des  Oberkönigs  in  Wahrheit  ist  und 
anstrebt.  Es  sind  dies  die  sämmtlichen  jungen  Fürstensöhne  von 
allen  vier  Inseln,  welche  den  Odysseus  zum  Oberkönig  haben  (2,  51. 
1^  285  —  248).  Wie  sie  mit  der  Hand  der  Oberkönigin  in  das 
Oberkönigthum  zu  gewinnen  streben,  so  ist  dies  eine  Angelegen- 
heit des  ganzen  Volkes,  und  wenn  sie  in  dieser  Werbung  das 
Hausgut  aufzehren,  mag  das  Volk  in  der  Versammlung  sich  aus- 
sprechen, ob  es  diese  Gewaltsamkeit  gut  heisst.  Da  thut  sich 
nun  in  der  Versammlung  die  Parteiung  kund.  Es  treten  wohl 
einzelne  Getreue  für  das  Königshaus  auf,  am  bedeutendsten  der 
Prophet  Halitherses,  2, 157fT.,  und  Mentor,  an  den  Odysseus  sein  Haus 
gewiesen  hat  2,  225  ff.  Aber  man  sieht  die  zwei  Führer  der 
Freier,  Antinoos  und  Eurymachos  (4,  628  f.),  sie  fühlen  sich  so 
sicher,  dass  sie  Telemachs  Forderung  rund  abschlagen  und  jene 
Beiden  schmählich  bedrohen,  ja  das  erscheinende  Vorzeichen  sammt 
dessen  Ausleger  im  kecken  Unglauben  für  eitel  erklären.  Das 
übrige  Volk  hat  wohl  ein  gutmüthiges  Mitgefühl  (2,  81  f.),  aber 
obgleich  Telemach  selbst  sich  an  dasselbe  wendet  2,  74  f.  und 
Mentor  ihm  seine  Gleichgiltigkeit  scharf  verwirft,  2,  239  —  241, 
es  rührt  sich  doch  nicht  weiter,  sondern  lässt  sich  von  einem 
Dritten,  Leiokritos,  der  auf  die  Aufforderung  des  Mentor  mit 
Schmähungen  ohne  Widerspruch  entgegnet,  geduldig  nach  Hause 
weisen,  2,  252. 

So  ergiebt  sich,  wie  die  Freier  un<l  vornehmlich  die  Ithake- 
sier  Antinoos  (16,  419)  und  Eurymachos  (15,  520)  zur  Zeit  der 
Versammlung  ihr  Unwesen,  gestützt  auf  einen  starken  Anhang 
im  Volke,  trieben.  Dies  wurde  anders,  als  Antinoos  dem  Königs- 
sohn nach  dem  Leben  getrachtet  hatte  und  diess  bekannt  gewor- 
den war.  Da,  überhaupt  nach  einer  Zwischenzeit,  spricht  Jener, 
16,  375,  es  selbst  aus,  das  Volk  sei  ihnen  nicht  mehr  günstig 
gestimmt,  und  fürchtet,  falls  Telemach  ihieii  Mordplan  in  einer  Ver- 
sammlung anzeigte,  würde  man  sie  aus  dem  Lande  treiben,  381  f. 

Es  wird  eben  jener  Mordplan  gegen  den  Königssohn  durch 
die  von  Athene  aufgegebene  Reise  Telemachs  hervorgerufen.  Und 
sie  wird  ausser  ihrem  schon  zwiefachen  Zweck ,  einmal  den  Huhui 
des  Odysseus,  wie  er  bei  den  Kampfgenossen  vor  Troia  lebt,  zu 


126 

ofTenbaren,  sodann  den  Telemach  bei  seiner  Heimkehr  mit  dem 
Vater  zusammenznfiihren  auch  ganz  unmittelbar  mit  den  heimisclien 
Verhältnissen  verflochten.  Die  Freier  in  der  Versammlung  von 
Telemach  schliesslich  angegangen,  ihm  zu  einer  Erkundigungsreise 
nach  Sparta  und  Pylos  SchifT  und  Ruderer  zu  geben  (2,  212(1'.), 
Aveisen  ihn  mit  diesem  Verlangen  an  die  Hausfreunde  Mentor  und 
Halitherses,  doch  nicht  ohne  Andeutung  der  Erwartung,  es  werde 
diesen  nicht  gelingen ,  255  IT.  Als  nachmals  bei  einer  Begegnung 
im  Hause  Antinoos,  wie  Herrische  wohl  thun,  nach  der  heftigen  Ab- 
weisung dem  Telemach  begütigend  hinsichtlich  der  Reise  eine 
ganz  rückhaltlose  Zusage  ausspricht,  da  erwidert  Telemach  in  er- 
bitterter Stimmung  und  weist  nicht  blos  die  Gemeinschaft  des 
Mahles  mit  ihnen  von  sich ,  sondern  drohet  auch ,  indem  er  ohne 
auf  Jenes  Zusage  etwas  zu  geben,  seine  Reise  als  Passagier  an- 
kündigt, mit  Maassregeln  zu  ihrem  Verderben,  und  vielleicht  Hülfe 
aus  Pylos  (316  f.).  Als  er  weggegangen,  folgt  ein  Gespräch  der 
Freier  über  seine  wohl  feindlichen  Absichten  und  sein  mögliches 
Schicksal  auf  dem  Wege.  Dass  er  nun  doch  wirklich  im  Geleit 
des  vermeintlichen  Mentor  am  Abend  abschifft,  weiss  ausser  der 
Alten,  die  ihn  mit  Reisekost  versehen.  Niemand*',  und  es  bleibt 
unbemerkt  und  unhewusst,  bis  Noemon,  von  dem  Athene  in  Ge- 
stalt des  Königssohnes  das  Schiff  geliehen  hat,  dessen  bedarf  und 
nach  Telemachs  Rückkehr  zu  fragen  kommt  (2,  386.  4,  630  f.). 
Da  hören  sie,  welche  ihn  in  seiner  damaligen  Stimmung  irgendwo 
auf  einem  Gehöft  auf  dem  Lande  vermuthet  hatten  (4,  639  f.), 
dass  er  doch  wirklich  es  gewagt  hat,  und  dass  es  ihm  gelungen  ist,  die 
Reise  zu  unternehmen.  Es  erfolgt  dann  auf  des  über  alle  andern 
heftigen  Antinoos  Anschlag  und  unter  seiner  Anführung  die  Ab- 
sendung eines  bemannten  Schiffes ,  das  sich  auf  die  Lauer  legt, 
um  den  Telemach  bei  seiner  Rückfahrt  zu  morden  (4,  669  —  672. 
842  —  847).  So  wollen  sie  mit  freveler  Gewalt  erzielen,  was  sie 
in  ihrem  Gespräch,  im  Falle,  dass  Telemach  auf  der  Reise  um- 
käme, alsdann  auszuführen  sich  bestimmt  äusserten  (2,  332  —  336). 
Dieser  in  Folge  der  Reise  gefasste  Mordplan,  wie  er  den 
ganzen  Sinn  der  Freier  bei  ihrem  Anfall  auf  das  Königshaus 
charakterisirt ,  zieht  sich  nun  fort  durch  das  Gedicht.  Athene, 
welche  durch  die  Reise  nach  der  Deutung  der  Schol.  den  Telemach 
auch  der  bedrohlichen  Lage  unter  den  Freiern  entrücken  wollte, 


nimmt  den  Plan  alsbald  wahr  (5,  18  —  20.  25  —  27).  Sie  un- 
terrichtet dann  den  heimgekommenen  Odysseus  von  der  Lauer, 
13,  425  —  428,  und  vereitelt  sie  durch  die  Anweisung,  welche 
sie  dem  Telemacb  üher  den  zu  nehmenden  Rückweg  giebt,  15, 
28  —  35,  nämlich  abwärts  von  den  Inseln  zu  lenken,  wo  jene 
lauern,  und  von  der  andern  Seite  an  Ithaka  zu  landen.  Dabei 
ist  zu  beachten,  dass  durch  diese  Weisung  mit  der  hinzugefüg- 
ten Zusage  des  göttlichen  Schutzes  eigentlich  die  Gefahr  ohne 
Weiteres  beseitigt  war,  also  an  dieser  Stelle  die  Verse  31  und 
32  überflüssig  sind,  wie  sie  J.  Bekker  als  aus  13,  427  und  28 
wiederholt  ausschied.  Wenn  dem  Jüngling  Telemacb  bei  der 
Befolgung  dieser  Weisung,,  gerade  bei  dem  geheissenen  Wende- 
punkt, es  noch  als  unentschiedene  Gefahr  die  Seele  bewegt,  ob 
er  auch  wirklich  entrinnen  werde,  15,300,  „sinnend,  ob  er  dem  Tode 
entrönne  oder  erläge ",  so  haben  wir  bei  ihm  selbst  darin  eine 
ganz  naturgemässe  Gemüthsbewegung  zu  erkennen,  er  ist  wie 
der  Umstände  auf  Seiten  der  Nachstellenden,  so  des  obschwe- 
benden  Ausgangs  nicht  ganz  gewiss.  Ganz  anders  bei  den  Zu- 
hörern des  vorgetragenen  Gedichts;  sie  wussten,  wie  Zuschauer 
einer  Tragödie  so  oft  mehr  wussten  als  der  Chor,  sicherer  als 
Telemach,  dass  die  Göttin  den  Reisenden  hütete,  und  erwarteten, 
das  alsbald  zu  hören,  was  der  Anstifter  Antinoos,  1 6,  365,  aus- 
spricht: „Ach,  wie  retteten  doch  den  Mann  vom  Verderben  die 
Götter".  In  diesem  Sinne  ging  der  erzählende  Dichter,  um 
die  Parallelerzählung  zu  wahren,  15,  301  ,  zu  Odysseus  und 
Eumäus  über  '*"). 

So  giebt  es  hier  nirgends  einen  begründeten  Anstoss.     Viel- 


180)  Dieses  Sachverhältiiiss ,  da  Athene  als  Gölliii  die  Lauer  der 
Freier  und  deren  Verfahren  dabei  kennl,  und  ihre  Weisung  in  dem  Be- 
wusstsein,  ihn  zu  retten,  gegeben  hat,  alles  Dieses,  wie  es  die  Zuiiörer 
aus  der  ganzen  Geschichte  (13,  421  f.)  nicht  blos  von  früheren  Partieen 
her  Vi'issen,  bedachte  einer  derer  nicht,  welche  in  ihrem  Decret  entschie- 
den sind,  auch  die  Odyssee  müsse  sich  noch  wieder  in  kleine  Stücke  zer- 
legen lassen.  Unachtsam  für  jene  Unterscheidung  der  Zuhörer  sagt  er 
ül)er  300  und  301:  „Subito  autem  in  tanto  rerum  discrimine,  quod  ipsi 
le  et  er  es  cum  Telemacho  e  x  timescun  t,  in  novam  fabulam  a  poeta 
inducimur."  Volkmann  Comenlatt.  epicae  Lps.  54.  p.  81.  Wir  lassen  es 
bei  dieser  Probe  der  in  der  Schrift  bcrrscbenden  uni)e(larliten  Auffassung 
bewenden,  und  berichtigen  ihre  falschen  Versländnisse,  wie  sie  bei  An- 
dern wiederkeliren,  übrigens  imr  stillschweigend. 


1^8 

mehr  ist  uns  die  Genauigkeit  der  Parallelen  in  diesen  Büchern 
vom  Ende  des  13.  bis  zum  Anfang  des  16.  in  ihrer  Planmässig- 
keit  wichtig.  S.  Fäsi,  Einleit.  z.  Od.  1,  XXXIII.  Nach  13,  411 
f.,  439  —  440,  14,  1,  15,  1 — 3  gehen  Odysseus  und  Athene,  nach 
dem  Empfangsgespräch  auf  Ithaka ,  gleichzeitig  noch  in  der 
Frühe  Odysseus  zum  Eumäus,  Athene  nach  Sparta  zu  Telemach, 
und  dieser,  welcher  in  derselhen  INacht,  wo  sein  Vater  von 
Scheria  nach  Ithaka  fuhr,  vor  Gedanken  an  ihn  nicht  schlief, 
reist  an  demselben  Morgen  von  Sparta  ab,  wo  Eumäus  seinen 
todtgeglaubten  Herrn  unerkannt  als  Bettler  aufnimmt.  Es  folgen 
jetzt  in  wechselnden  Parallelerzählungen  zwei  Tage  und  zwei 
Nächte  des  Aufenthalts  bei  Eumäus  und  der  Bückfabrt  des  Tele- 
mach. Am  ersten  Tage,  da  Odysseus  sich  durch  seine  kretische 
Erzählung  in  seiner  Bettlerrolle  festsetzt,  14.  199  ff.,  und  von 
Odysseus  bei  den  Thesproten  dem  ungläubigen  Eumäus  erzählt, 
363  ff.,  gelangt  Telemach  bis  Pherä  zum  Diokles,  15,  185  f. 
Am  zweiten  Tage,  während  Telemach  alsbald  bis  Pylos  und  zu 
seinem  Schille  kommt,  und  nodi  bis  Phea,  15,  296  f.,  geschifft 
ist,  wendet  sich  der  Erzähler  erst  bei  dieser  Abendzeit  zu  Odys- 
seus und  Eumäus  zurück.  Sie  sind  da  natürlich  schon  beim 
Abendessen,  aber  die  Frage  des  Gastes  nach  des  Eumäus  Lebens- 
geschichte ruft  eine  so  lange  Unterhaltung  hervor,  da  Eumäus 
mit  sichllicherem  Drange  sich  mitzutheilen  selbst  die  zeitige 
Dunkelheit  der  Jahreszeit  bevorwortet,  392,  dass  nur  ganz  kurze 
Frist,  etwas  zu  schlafen  übrig  bleibt,  493  f.  Bei  anbrechendem 
Tage,  dem  dritten,  den  Odysseus  bei  Eumäus  ist,  landet  Tele- 
mach an  Ithaka  und  verabschiedet  seinen  Gefährten,  um,  wie  ihm 
aufgegeben  ist,  zu  Eumäus  zu  gehen,  504,  555  f.  Er  findet  zu 
wiederum  genau  zutreffender  Tageszeit  den  Hirten  und  seinen 
Gast  bei  Bereitung  des  Frühstücks,  1 6,  2.  So  erfolgt  am  dritten 
Tage  von  dem  Morgen  an,  wo  die  Parallelen  begannen,  die  Be- 
gegnung des  Vaters  mit  dem  Sohne*-'). 

Es    liegt   hiermit  deutlich  vor,  dass  diese  Form  der  Erzäh- 


lst) Es  ergiebt  sicli  aus  der  vorstehenden  Nachwcisung  unläugj)ai, 
dass  die  Auffassung,  als  komme  Athene  einen  Tag  später  nach  Sparta  als 
Odysseus  zum  Eumäus,  ganz  irrig  ist.  So  Bäumlein  Z.  f.  A.  50.  S.  83  und 
dagegen  Fäsi  Einleit.  z.  Od.  1.  S.  XXXVllI.  2.  Ausg. 


129 

lung  vom  Dichter  gewählt  und  gegeben  ist,  um  die  Absicht  der 
Reise  des  Telemach,  ihn  bei  Eumäos  mit  dem  Vater  zusammen- 
zuführen, in  klarer  Weise  zu  verwirklichen.  Daher  könnte  es 
uns  nur  sehr  befremden,  wenn  derselbe  Erzähler,  welcher  jene 
Parallelen  so  genau  bemessen  hat,  die  Momente  der  Frühe,  in 
welcher  Athene  den  Vater  nach  Empfang  in  Betllergestalt  zum 
Hirten  weist,  und  darauf  selbst  zum  Telemach,  der  noch 
im  Bette  liegt,  geht,  ungleich  berechnet  hätte.  Findet  sich 
da  ein  Anstoss,  so  muss  es  eine  Lösung  geben.  Es  hat,  die 
Worte  ohne  Weiteres  verstanden,  wohl  den  Anschein  einer  Un- 
ebenheit. Odysseus  landet  auf  Ithaka,  als  der  Morgenstern  am 
Himmel  steht,  13,  93  —  95.  Die  parallele  olympische  Scene, 
125 — 160,  und  die  Angabe  von  den  Phäaken,  187,  sind  eben  in 
ihrem  eigenen  Gange  daneben  zu  denken.  Auf  Ithaka  verhan- 
delt Odysseus  mit  Athene  in  der  Morgendämmerung,  aber  wenn 
auch  der  Aufgang  der  Sonne  hier  nirgends  erwähnt  wird,  son- 
dern erst  bei  Telemach  in  Sparta,  15,  56,  so  scheint  was  Athene 
bei  Odysseus  hinsichtlich  der  Helle  wirkt,  doch  schon  eine  lich- 
tere Frühe  zu  verrathen.  Erst  schafft  sie,  13,  189  f.,  einen 
Wundernebel,  damit  er  seine  Heimath  nicht  sogleich  erkennen 
soll,  dann  zerstreut  sie  diesen,  352. 

Wohl  muss  nun  der  Dichter  hier  mit  dem  Nebel  gewisser- 
maassen  eine  ähnliche  Wirkung  gemeint  haben,  wie  die,  welche 
so  häufig  eintritt,  wenn  Götter  sich  und  das  Ihrige  oder  Anderes 
durch  einen  Nebel  unsichtbar  machen  und  dann  wieder  sichtbar  '^'*). 
Allein  keines  Falls  hat  er  damit  eine  Abänderung  der  natürlichen 
Verhältnisse  gemeint,  wie  Athene,  Od.  23,  242 — 245,  die  Nacht 
verlängert,  die  Eos  vom  Aufgang  zurückhält  und  Here,  II.  18, 
239,  den  Helios,  damit  der  Kampf  aufhöre,  zeitiger  zum  Okeanos 
sendet'®^]. 


182)  II.  5,  186,  345,  506  f.    8,  50,  15,  308.  —  Od.  7,  15,  40,  143. 

183)  Wie  Fäsi  bemerkt,  erscheint  es  II.  8,  485  ebenfalls  so,  als  halje 
Here  den  sofort  eintretenden  Untergang  der  Sonne  bewirkt,  da  es  so 
sehr  ihrem  Interesse  entspricht,  dass  dieser  erste  Tajj  des  Unglücks  ihrer 
Griechen,  das  sie  so  widerwillig  hat  geschehen  lassen  müssen,  wenig- 
stens baldigst  zu  Ende  gehe. 


Nltzsch,  Gesch.  (1.  g-iiech.  Epos, 


ZWEITES  BUCH. 

Homers  Verhältniss  zu  seinen  Vorgängern 
und  Nachfolgern. 


Abschnitt  I. 

Die  Torhoinerisclieii  Lieder- 

1.  Zwei  Gesclilecliter  der  Heroen,  ein  älteres  und 
ein  jüngeres.  Jenes  bewahrt  seine  Heldenkraft 
in  Abenteuern  zur  Bekämpfii  ng  von  Ungethümen 
oder  in  Feliden  mit  Nachbarn  unter  einzelner 
Scbutzgötter  Beistand,  dieses  in  Heerfahrten 
und  Volk  er  kriegen  unter  der  zwiespältigen 
Theilnahme  aller  Götter  und  dem  Regiment  des 
höchsten  Zeus. 

Nach  der  nationalen  Sage  gab  es,  wie  schon  oben  bemerkt, 
keine  friedsclige  Urzeit,  kein  goldenes  Zeitalter'),  sondern  wer 
ilir  folgte,  fand  nur  ein  jüngeres  und  ein  älteres  Heldengeschlecht, 

1)  Wie  die  Giganten  und  iUndiche  Sagen  des  Volksglaubens  viehnehr 
die  umgekehrte  Entwickehing  vom  Roheren  und  Wilderen  zum  Milderen 
und  Geordneteren  erkennen  lassen,  erscheint  das  goldene  Alter  erst  bei  lle- 
siod  und  stammt,  wie  von  Bamberger  Rli.  Mus.  N.  Folge  1,  524 (f.  schon 
»largelhan  ist,  aus  Reflexion  und  ausländischer  Idee.  Genauere  Uebersicbt 
lehrt,  dass  Hcsiod  zweimal  Verschlimmerung  durch  drei  Grade  angenom- 
men, indem  er  den  zwei  ersten  aus  guten  und  bösen  Diimouen  umgesetz- 
ten, dem  goldenen  und  silbernen,  nun  zuerst  aus  dem  Volksglauben  das 
eherne  anfügte,  dann  mit  dem  Heroengescblecht  eine  neue  Trias  begann. 
Das  allein  und  zuerst  von  Hesiod  angeführte  goldene  war  niemals 
wirklich  populär.  Der  naturgemässe  Volkssinn  dachte  die  Erdbewohner 
liberhaupt  nie  weder  ganz  löblich  noch  ganz  glücklich  und  Homers  Götter 
kennen  aus  ihrer  Vorzeit  auch  im  Olymp  Hader  und  Strafgerichte.  Re- 
lle'cioii,  im  bewusstercn  Zeilaher,  Seliusucbt  beim  Gefühl  der  schlechten 


131 

und  mit  dem  älteren  gleichzeitig  die  Erde  noch  ganz  unvvirthlich. 
Die  Helden  bildeten  nicht  das  ganze  Geschlecht  der  Erdbewoh- 
ner, sondern  sie  wohnten  unter  schlichten  Menschen,  vor  wel- 
chen sie,  die  Adligen,  sich  wie  durch  höhere  Natur  so  durch  eine 
mit  Geschick  gepaarte  Stärke  und  Mächtigkeit  auszeichneten. 
Ihrer  Hülfe  nun  bedurften  die  gemeinen  Erdbewohner  gar  sehr, 
damit  die  hier  und  da  schaltenden  Ungethüme,  ungestalten  rie- 
sigen Quäler  oder  thierischen  Missgestalten  bewältigt  und  der 
Wohnplatz  der  Erde  befriedet  würde.  Denn  überhaupt  je  älter 
die  Zustände  um  so  wilder  erscheinen  sie  und  die  Menschen  um 
so  heimgesuchter.  , 

So  verlautet  denn  als  die  Folge  der  Wirksamkeit  des  älte- 
ren Heldengeschlechts,  dass  es  durch  Ueberwältigung  jenes  Un- 
wesens Wohlthäter  des  Menschengeschlechts  geworden  sei.  Die 
Gestalten  der  Wesen,  welche  auf  der  Erde  sich  hervorthun,  zei- 
gen selbst  den  Wandel  und  Fortgang  von  dem  ganz  ungeheuer- 
lichen Uebergew altigen,  dann  Gigantischen  oder  Berghohen  bis 
zum  natürlichen  Meuschenmaass,  und  von  Mischnaturen  zu  Men- 
schen und  Thieren  der  Erfahrung.  Die  Heroen  auch  des  älteren 
Geschlechts  selbst  sind  zwar  gross  und  stark ,  aber  keineswegs 
gigantisch  —  wir  hören  den  Kyklopen  über  Odysseus,  Od:  9, 
513 — 516,  und  nicht  blos  der  Thebaner  Melissos,  den  Pindar 
Isthm.  3  oder  4,  67  oder  84  ff.  besingt,  ist  kein  Orion,  sondern 
auch, Herakles  ist  kein  Antäos  gewesen,  aber  sie  siegten  durch 
Klugheit  oder  geschicktere  Kraft  über  die  rohen  Unholde.     Hier- 


Gegenwart,  endlich  auch  ascetisclie  Lclirer  ])racIiton  die  eigentlicli  .ins- 
ländische  Idee  in  einige  Geltung.  Eni]>e(lokles  K.-itliarni.  305  fl'.  (mIpp 
368  ff.  schildert  die  friedfertigen  Menschen  unter  Kypris'  llcrr-schafl  iiei 
nur  unblutigen  Opfern.  Plalo,  der  Ges.  6,  782  C,  diesen  Brauch  orphi- 
sclies  Lehen  nennt,  braucht  im  Idcalslaate  die  Menschen  des  goldenen 
Zeitalters  zum  Gleichniss  seiner  ersten  Classe,  und  benutzt  eben  (he  lin- 
siodischen  Züge  für  verschiedene  Zwecke.  Politik.  271  D.,  Kralyl.  397  K., 
Ges.  4,  7 B.C.  If.  Ausser  ihm  die  Piiilosophen  Üikäarch,  hei  Fuhr  S.  102 
und  Posidonius  hei  Seueca  Br.  90,  g  40  11".  vermischt  mit  Kigf'iicin. 
Spätere  Dichter  des  gelehrten  Zeitalters  wie  Aratus,  Virgil  und  Ovid 
können  nicht  in  Betracht  kommen;  aber  auch  die  Behandlung  des  hesio- 
di.schen  Bildes  in  der  alten  Komödie  zum  rügenden  Gegensatze  der  Sitten 
in  der  Gegenwart  ist  gewiss  ganz  anders  anzusehn  als  von  Bergk  ge- 
schehen (de  reliqu.  comoed.  att.  anliqiiae  188  If.).  Bidiligeres  gieht 
Prell  er  im  Philo!.  7,  30  f. 


132 

bei,  weil  Schön  und  Gross  zusammen  gehören,  waren,  wie  ein 
Herakles,  so  ein  Achill  und  Hektor,  ja  der  greise  Nestor  noch 
in  seinem  dritten  Menschenalter  grössei*  und  mächtiger  als  die 
„Männer  des  Volks"*),  sowie  die  Götter  auf  dem  Bilde  (11.  18, 
519)  über  die  Reihen  der  Krieger  hervorragen. 

Auf  das  ältere  Heldengescblecht  sah  nun  das  jüngere  als 
zu  den  früheren  Männern  (11.  1,  260  ff.)  mit  Bewunderung  hin- 
auf, wie  selbst  Achill  und  Odysseus  auf  Herakles  und  dessen 
Gegner  Eurytos  (II.  18,  117  f.,  Od.  8,  221—25).  Aber  auch 
diese  halten  neben  ihren  Grossthaten  Frevel  begangen  (Od.  21, 
25 — 30)  und  wie  die  grössten  Helden  nach  der  echten  National- 
sage  immer  die  leidenschaftliche  3Ienschennalur  an  sich  tragen, 
so  haben  dieselben  ältesten,  welche  mit  den  Göttern  noch  in  so 
nahem  Verkehr  lebten,  dass  die  Olympier  zu  ihren  Gastmahlen 
kamen  und  zu  ihren  Hochzeitfesten  persönlich  Geschenke  brach- 
ten (U.  18,  84  f.,  Pind.  J.  7,  38  ff.),  sich  sehr  ungleich  erwiesen. 
Von  ihnen,  den  Urvätern  der  Helden  vor  Troia  oder  den  früheren 
Männern,  welcher  die  homerischen  oder  hesiodischen  Gedichte 
sonst  gedenken^),   haben  die  Einen,  wie  Aeakos  und  Peleus,  Mi- 


2)  Achill,  II.  24.  453—456,  Hektor,  II.  12,  445—448,  wo  nicht  blos 
450  sondern  auch  449  unechtes  Einschielisel  ist;  Nestor,  II.  11,  636  f.  — 
In  der  spätem  Zeit  meinten  die  Griechen  die  Länge  der  heroischen  Sta- 
turen unmittelbar  an  Gebeinen  zu  erkennen,  welche  sie  ausgruben  und 
mehrfach  andershin  schaATten,  s.  m.  Heldens.  Kieler  Stud.  401 ,  Les.  Abdr. 
27.  —  Eben  die  meisten  von  Göttern  stammenden  Fürsten  und  Anführer, 
die  vom  Herrenstande  (Geburt  aus  Zeus),  waren  heroischer  Natur,  die 
Leute  im  Heer  gewöhnliche  Menschen  nach  Aristot.  Probl.  19,  48 ,  und 
jene  erkannte  man  gleich  an  ihrer  Gestalt,  Od.  4,  27.  20,  194,  202. 

3)  Achill,  Sohn  dos  Peleus,  der  des  Aeakos,  der  des  Zeus,  II.  21, 
189  f.  —  Diomedes,  Sohn  des  Tydeus,  der  des  Oencus,  der  des  Porthaon, 
II.  14,115 — 118. —  Glaukos,  SohndesHippolochos,  derdesBeller  ophon  , 
dieser  des  Glaukos,  dieser  des  Sisyphos,  II.  6,  196— 20G und  153— 156. 
—  Idomeneus,  Sohn  desDeukalion,  der  des  Minos,  der  des  Zeus,  II.  13., 
449—452,  Od.  19,  178— 181.  Des  .Minos  Bruder,  Rha  daman  thys,  II.  14, 
322,  Od.  4,  564.  Agamemnon  und  Menelaus  des  Atreus,  des  Pelops  des 
Tantalos,  11.2,105— 108,  Od.  11,  582.  Euryalos  Sohn  des  Mekistheus,  der 
des  Talaos,  II.  23,  678,  2,  566.  —  Die  Lapithen  Polypötes  und  Leonleus, 
jener  Sohn  des  P  e  i  r  i  h  o  o  s,  w  elcher  Solin  desZeus,  (heserSohn  des  Koronos, 
welcher  Sohn  des  Kaiueus,  II.  2,  740—746,  14,  317  f.  1,  263  f.  Zeus  hat 
nach  Homer  den  Peirithoos  mit  der  Gattin  des  Ixion  erzeugt,  der  hei 
pragmal isirenden  Sagenschreibern    selbst  Vater  des  Peirithoos   genannt 


133 

nos  und  Rhadamanlhys,  Peirithoos,  Neleus  ii.  A.  als  Betraute 
und  Gesegnete  der  Götter  gelebt,  die  Andern,  wie  Tantalos  und 
Sisyphos,  Salmoneus  und  Ixion  mitten  im  Verkehr  mit  denselben 
arge  Frevel  verübt  und  gebüsst.  Es  war  die  Zeit  der  typischen 
Beispiele,  und  die  Nachwelt  trug  eben  aus  dieser  frevelhafte  wie 
preiswürdige  Beispiele  im  Gedächtniss  und  Munde.  Dies  die 
naturgetreue  Darstellung  der  echten  Sage  von  dem  früheren  Alter, 
dass  die  Menschennatur  von  jeher  zu  Beidem  die  Fähigkeit  und 
Richtung  in  sich  trug,  zum  Guten  und  zum  Schlimmen,  und  dass 
ihr  natürlicher  Entwickelungsgang  nach  der  Erfahrung  der  aus 
Roheit  zur  Bildung  war. 

Und  dieselbe  Annahme  zeigt  uns  das  dritte  Bild  von  der 
Urzeit,  das  der  Prometheussage.  Die  in  diesem  Titanen  personi- 
ficirte  erfindsame,  das  Leben  civilisirende  Kraft  des  Menschen- 
geistes hat  ja  dieselbe  anfängliche  Roheit  der  Menschen  zur 
Voraussetzung.  Aber  die  Prometheussage  gehört  noch  mehr  als 
die  Weltalter  des  Hesiod  einer  späten  Reflexion  an,  sie,  die  den 
ganzen  Schaden  der  Civilisation  und  in  der  Menschenwelt  oder 
dem  menschlichen  Gemüth  das  Weibliche  als  das  Genusssüchtige, 
der  Lust  dienende,  darstellt. 

2.  Fortsetzung.  Allgemeine  Charakteristik  des  älteren 
Heldenthums  nach  Poesie  und  Volkssage. 
Die  Helden  der  Ilias  und  Odyssee  selbst  vielfältig,  oder  Ho- 
mer gelegentlich,  führen,  wie  bemerkt,  die  älteren  Helden  als  die 
früheren  Männer  und  viele  ihrer  Thaten  auf.  Natürlich  nur  nicht 
alle  Helden  und  Thaten,  welche  vom  früheren  Geschlecht  in 
kennbaren  Liedern  und  der  Volkssage  ruchtbar  wurden.  Homer 
berührt  soviel  als  seinen  Organismen  passte.  Namentlich  Per- 
seus  und  Theseus  und  die  Dioskuren  erscheinen  bei  ihm  so  gut 
wie  gar  nicht.  Hierneben  entdecken  wir  hier  und  da,  wie  ältere 
Lieder,    welche    neben    den  bereits    vorgetragenen  homerischen 

wird.  —  Viele  Geschlechter  Hessen  sich  aus  Homer  selbst  noch  anfügen, 
vor  vielen  das  reiche  mit  dem  Stammvater  Poseidon  und  daneben  dem 
Aeoliden  Kreteus,  wie  Od.  11,  2.54 — 259  verzeichnet  und  angedeutel  wird, 
und  wie  wir  die  Abkömmlinge  z.B.  hison,  Sohn  des  Aeson,  Admelos,  Sohn 
des  Pheres,  Melampus  und  Bias,  Söhne  des  Amylhaon,  Nestor,  Sohn  des 
Neleus  ebßnso  finden. 


134 

forllehten,  zu  Einschiebseln  in  diese  Anlass  gaben,  z.  B.  Lieder 
von  Heraiiles  und  von  den  Jugendthatcn  des  Nestor.  Andrer- 
seits macht  die  erst  nach  Homer  kundbare  Verehrung  der  He- 
roen als  Halbgötter  und  Helfer  neben  den  Göttern  keinen  Unter- 
schied. Ausser  dass  Hesiods  Gedichte  nach  älteren  Liedern 
Vieles  hinzubringen,  erkennen  wir  ^chon  bei  Homer  den  Thalen- 
ruhni  und  die  Liedesfeier  der  \\eiterhin  auch  durch  Cullus  Ver- 
herrlichten auf  das  deutlichste. 

Der  Geist  des  Heldenthunis,  uie  er  zuerst  und  am  lichtesten 
in  dem  älteren  Geschlecht,  in  Herakles  vor  Allen  hervortritt,  ist 
der,  welcher  die  schweren  Kämpfe  besteht,  eben  um  ausnehmen- 
den Muth  und  Kraft  zu  bewähren  und  dadurch  Ruhm  zu  er- 
werben. Solchen  Heldengeist  zieht  wie  als  Waffe  das  Erz,  so 
die  trutzige  Kraft,  iiberhaupt  die  drohende  Gefahr  zur  Gegen- 
that  an.  Der  Held  sucht  den  Kampf  und,  wo  auf  dem  Wege  zu 
dem  einen  Abenteuer  sich  irgend  ein  anderer  Kampf  bietet,  er- 
fassl  er  ihn.  So  ist  dies  Heldenthum  und  damit  erscheinen  persön- 
liche Einzelkämpfe,  oder  doch  eben  in  jener  Zeit  der  Wunderwesen 
und  der  Wildlieit  sich  hervorthuende  schwere  Aufgaben,  also  zu 
bestehende  Abenteuer  von  Einzelnen  oder  zusammengeschaar- 
ten  Mehren.  Da  hebt  die  Sage  oder,  sagen  wir,  die  besonders 
laute  Volkssage  und  das  auch  spätere  Volksbewusstsein  drei  oder 
vier  Helden  des  vortroischen  Geschlechts  hervor,  lason,  Herakies, 
Perseus  und  Bellerophon,  welclie  nach  schon  vor  Homer  oder 
doch  vor  Hesiod  besungenen  Abenteuern  auf  weiten  Zügen  über 
das  heimathliche  Griechenland  hinaus  in  ferne  Wundergebiete  ge- 
drungen. Sie  sind  die  Entdecker  der  unbekannten  Gegenden  und 
der  äussersten  Gränzen  der  Erde.  Böswillige  31achthaber  legten 
ihnen  allen  die  Abenteuer  auf,  aber,  mit  günstiger  Schutzgötter  Bei- 
stand sieghaft  bestanden,  brachten  sie  ihnen  Verdienst  und  Ruhm. 
Die  Gebiete,  auf  denen  sie  wirkten,  erscheinen  zuerst  als  Phantasie- 
gebiete,  die  anfangs  höchstens  in  ihrer  allgemeinen  Richtung  durch 
die  Wege  der  schiilfahrenden  Völker  beslinnnt  sind.  So  gehn  sie, 
wie  noch  die  Irrfahrten  des  Odysseus,  zuerst  in  d(>n  dunkeln 
Nordwesten,  sodann  in  dei-  Richtung  auf  Libyen  gegen  die  West- 
gränzen  des  !\lil!ehneeres  iiin,  und  andrerseits  nach  dem  später 
gewagten  Eindringen  in  das  langhin  geförchtete  schwarze  Meer, 
in  diesen   äussersten   Osten.     Der   eine   Held,,  Jason,  fährt  mit 


135 

den  versaninielten  Genossen  auf  dem  Schiff  Argo,  sei  es  nur 
das  von  Aeetes  geraubte  goldene  Vliess  zu  holen  (das  erste  Gegen- 
bild zum  Nibelungenhort,  zum  heiligen  Gral  oder  Sampo  der 
finnischen  Ralewala),  oder  um  auch  die  Seele  des  von  Aeetes 
gemordeten  Phrixos  zu  sühnen.  Die  Fahrt  geht  in  der  vorhome- 
rischen Gestalt,  Od.  12,  69 — 72,  noch  nicht  nach  Osten,  sondern 
bewiesenermaassen  nach  Nordwesten,  wie  das  Ziel  der  Fahrt  nicht 
Kolchis,  sondern  nur  ganz  unbestimmt  Aeaea-Land,  Fernland, 
heisst.  Erst  als  die  milesischen  Schiffe  das  vorher  wegen  seiner 
Räuber,  ja  Menschenfresser,  verrufene  schwarze  Meer  befuhren, 
wandte  die  Sage  sich  nach  dessen  Küsten  und  verlautete  in  den 
Katalogen  Hesiods  und  in  den  nachhesiodischen  Eöen'')  der  Weg- 
weiser Phineus,  der  Fluss  Phasis  und  Anderes  von  der  östlichen 
Fahrt.  Aber  immer  noch  war  das  Aeaea  genannte  Gebiet  unstet, 
bis  die  fahrenden  Korinthier  und  ihr  Dichter  Eumelos  das  Land 
Kolchis  im  Winkel  des  sogenannten  Pontos  fixirten:  0.  Müller, 
Orchom.  274. 

In  das  noch  nur  mit  Augen  der  Phantasie  gesehene  West- 
gebiet Libyens,  wo  der  Berg  Atlas  vor  dem  Strom  Okeanos  liegt, 
der  die  Erde  umfliesst,  gehen  mehre  andere  Abenteuer,  die 
des  Herakles,  nach  den  Rindern  des  Geryoneus  und  den  Gärten 
der  Hesperiden,  und  das  des  Perseus,  zu  den  Graeen  und  Gor- 
gonen.  Die  Zielpunkte  von  allen  dreien  Wegen  sind  phantasirte 
Inseln  im  Okeanos  über  den  Atlas  hinaus:  die  Rinder  auf  dem 
Eiland  Erytheia,  Rotheiland  (Hes.  Theog.  290—294),  die  Hespe- 
riden (215),  die  Gorgonen  (das.  274),  —  denn  anders,  als  auf 
Inseln  des  Okeanos  kann  man  doch  diese  Angaben  nicht  deuten. 
—  Der  vierte  Held ,  Bellerophon ,  wird  nach  dem  nicht  ganz  so 
nebelhaften  aber  doch  auch  wunderreichen  Lykien  in  Vorder- 
asien gesandt,  wo  er  die  drei  Kämpfe  mit  dem  Ungeheuer  Chi- 
maera,  mit  dem  Volk  der  Solymer  und  mit  den  Amazonen  zu  be- 
stehen hat  (11.  6,  179  —  186).  So  führt  die  Sage  diese  älteren 
Helden,  wenngleich  Herakles  auch  in  der  Heimath  aussernaliü'- 
liche  Ungethüme  bekämpfen  musste,  doch  besonders  in  dunkle 
Fernen,    wo    sich    dergleichen    vorzugsweise    finden.      Und    von 


4)  Die  Richtung  nach  Nordwesten;  0.  Müller,  Orcliom.  273 — 277. 
Grolef.  Altit.  1,5,  mit  besondcrn  Beweisen.  Hesiod  im  Schol.z,  Ap.  Ulioil. 
2,  181. 


136 

Wiiiiderwpsen,  WiiiKlerkräften  iiiul  Wirkungen  sind  diese  Aben- 
teuer jener  Helden  voll,  während  die  Sagen  und  Lieder  vom 
thebisclien  oder  Iroisrlien  Kriege  Nichts  der  Art  kundgeben. 
Die  Odyssee  hat  freilich  in  der  Erzählung  des  Helden  von  seinen 
bestandenen  Irrfahrten  (9  —  l2)  mit  ihrem  Windschlauch  des 
Aeolos,  mit  der  Zauberin  Kirke,  den  Seirenen,  der  Skylla,  des 
Wunderwesens  die  Fülle;  dies  aber  erstlich  durchaus  nur  in 
dunkler  Ferne  und  eben  im  Bericht  des  Helden,  der  die  Hörer 
wie  durch  ein  erzähltes  Märchen ,  an  das  man  glauben  mag, 
spannt.  Der  Dichter  giebt  damit  in  demselben  Gedicht  von  der 
Heimkunft  und  Rache  des  Odysseus,  neben  der  Erzählung  vom 
politischen  Kampf  und  somit  aus  der  gewohnten  Welt  und  im 
Geiste  des  Jüngern  Heldengeschlechts,  eine  Partie  dem  älteren 
Epos  ähnlich  mit  vieler  Nachbildung  der  Argonautenfahrt. 

Der  sprechendste  Unterschied,  der  die  Helden  des  älteren 
Heldengeschlechts  von  denen  des  jüngeren  unterscheidet,  liegt 
in  der  persönlichen  Begabung  und  in  den  Mitteln,  durch  welche 
die  Götter  mehren  ihrer  Schützlinge  Beistand  leisten.  Von 
den  Argonauten  sind  viele  mit  Wunderkräften  begabt:  Orpheus, 
der  Steine  wie  Menschengemüther  bannende  Lautner,  Lynkeus, 
dessen  Auge  durch  Fels  und  Holz  dringt,  Periklymenos,  der  alle 
Gestalten  annehmen  kann,  Zetes  und  Kaiais  mit  beflügelten  Füssen. 
Periklymenos  widerstand  mittels  seiner  Gabe  auch  dem  Herakles 
lange  Zeit  in  der  Fehde  gegen  Neleus;  Melampus,  der  Seher, 
der  die  Sprache  der  Thiere  verstand,  wirkte  Wunder,  als  er 
nach  der  Heerde  des  Phylakos  ausgezogen.  An  Perseus  dann 
zeigen  sich  die  reichen  Wunderhilfen  der  Götter,  ein  unsichtbar 
machender  Helm  (den  in  der  Illas  nur  Athene  trägt)  und  Flügel- 
sohlen, zum  W^erke  selbst  eine  Sichel  und  ein  Spiegel.  Wiederum 
aber  ist  Herakles  in  dieser  Hinsicht  von  den  Andern  unterschie- 
den. Ihm  geben  Sagen  und  Poesie  durchaus  nichts  von  Wunder- 
kräften oder  Werkzeugen;  nur  das  Einzige,  das  wunderschnelle 
Pferd  Arion  dient  ihm  bei  Einem  Zuge  (Paus.  8,  25,  10).  Der 
Held  der  Helden  also  bedurfte  keiner  VVunderhilfen ;  er,  der 
echteste  Halbgott  wirkte  und  bestand  Alles  durch  die  ihm  ange- 
stammte eigene  Tugend;  ihm,  dem  grössten  des  älteren  Ge- 
schlechts stand  nur  Athene  zur  Seite,  wie  dem  grössten  des  jün- 
geren, dem  Achill,  Od.  11,   626,  U.  8,  362  f.,   vgl.  mit  11.  22, 


137 

214,  270.  Herakles,  der  allgemeinste  und  eigenste  Nationalheld 
und  wenn  einer,  der  Cid  der  Griechen,  ist  dies  freilich  haupt- 
sächlich durch  die  verbreitetste  Verehrung,  Iheils  als  Heros, 
theils  als  Gott  geworden^).  Hatte  das  Epos  Grossthaten  und 
Erlebnisse  des  Herakles  von  unvordenklichen  Zeiten  her  gefeiert, 
so  haben  an  keines  Helden  besungene  Abenteuer  die  Volks-  und 
Cultussagen  so  viel  angeknüpft,  als  an  die  seinigen  und  bei  kei- 
nem ist  die  Unterscheidung  des  allmählichen  Wachsthums  der  ihn 
feiernden  Poesie,  von  dem,  was  der  Volkssage  angehört,  in  dem 
Grade  unthunlich,  wie  bei  ihm^),  die  ihm  beigelegten  Zi'ige,  Kämpfe 
und  Erduldungen  sind  zahlreicher,  mannigfaltiger  und  im  Fort- 
gang der  Wechselwirkung  von  Poesie  und  anknüpfender  Volks- 
sage wandelvoller,  als  die  irgend  eines  zweiten.  Wohl  sind  seine 
sogenannten  Arbeiten,  die  ihm  in  Dienstbarkeit  unter  dem  schlech- 
teren Mann  Eurystheus  auferlegten  Abenteuer,  sein  zuerst  ruchl- 
barer  Ruhmstitel;  aber  erstens  steht  neben  diesen  eine  andere 
Reihe  von  Bewältigungen,  die  er  auf  den  weiten  Hin-  oder 
Rück-  oder  Seitenwegen  der  Züge  nach  den  Rindern,  den  Aepfeln 
der  Hesperiden,  nach  dem  Hunde  der  Unterwelt  vollbracht  und 
damit  eine  andere  Zahl  von  Ungethümen  vertilgt  hatte,  sodann 
kommen  gar  viele  Fehden  hinzu,  da  er  mit  einer  Schaar  Ge- 
nossen an  einzelnen  Fürsten  Rache  genommen,  ihre  Burgen  ver- 
wüstet und  zerstört  haben  soll ,  wie  vor  allen  die  Fehde  gegen 
Eurytos  in  Oechalia,  dann  die  gegen  Neleus,  die  gegen  Laome- 
don,  Herrscher  in  Troia,  nach  der  er  mehre  Inseln  strafte. 

Mit  alledem  ist  die  Sagenfülle  nicht  umfassl,  und  wir  er- 
kennen in  der  verklitternden  Zusammenreihung  dieser  Fülle ^),  wie 
sie  die  Sagenschreiber,  besonders  ApoUodor,  versucht  haben, 
nur  das  Gemachte,  d.  h.  die  ursprünglich  theils  einzeln  unab- 
hängige Dichtung,  theils  die  ganz  jungen  Wandelungen  und  An- 
knüpfungen.    Eine   besonders    wirksame   Ursache  der  Fülle    und 


5)  Herod.  2,  44  a.E.  Nach  Isokr.  an  Philipp.  12,  Paus.  1,  15,  4  und 
Diod.4,  39,  wollten  die  Attiker  die  ersten  gewesen  sein,  welche  den  Hera- 
kles göttlich  verehrt.   Vgl.  Eur.  ilerakl.  d.  Ras.  1323— 1335,  Plut.  T!ies.35. 

6)  Am  meisten  Sagen  knüpfen  an  das  Abenteuer,  den  Rückweg  mit 
den  Rindern  des  Geryoneus;  bei  den  Skythen  sogar  am  Ponlos  nach  Her. 
4,   8. 

7)  Sie  ist  dargelegt  in  Jacobi's  Handwövterb.  d,  Myth-  S.  305 — 423, 


138 

ManriigfalU^^keit  ist  offenbar  die  Miscliung  des  lielieniselien  Helden 
mit  Heroen  oder  Göttern  der  Lydier  (0.  Müller) ,  Aegypter  und 
besonders  dem  phönikischen  Gott  Melkart. 

Für  uns  nun  gilt  es,  da  wir  das  kundbare  Epos  suchen, 
einerseits  die  jungen  Wandlungen  der  hellenischen  Sage  bemerk- 
lich zu  machen,  andererseits  besonders  das  hervai'zuheben,  was 
deutlich  erkennbar  von  der  Vermischung  des  hellenischen  und 
des  phönikischen  Herakles  herzuleiten  ist.  Beides  tritt  uns  ins 
Licht,  ^Yenn  wir  Pindars  Darstellungen  des  Herakles  an  der  Ge- 
schichte der  griechischen  Colonieen  prüfen  und  die  Ergebnisse 
der  Forschungen  über  die  Phöniker  vergleichen. 

Da  in  der  frühesten  Dichtung  von  Erytheia  und  den  Hespe- 
riden  nur  der  Atlas  an  die  unbestimmte  Gränze  Libyens  gesetzt, 
sonst  das  Phanlasiebild  der  vom  Ocean  umflossenen  Erde  behal- 
ten war,  wie  Hesiod  jene  in  den  Ocean  verlegt,  so  geht  die  rein 
poetische  üeberlieferung  bei  den  Tragikern  zwar  fort*);  Stesi- 
choros  dagegen  und  Pindar  haben  die  im  Fortgang  erfolgten 
Fassungen  der  Volkssage  nachgedichtet.  In  Folge  der  Gründung 
von  Kyrene  erscheinen  erst  die  Hesperiden  und  die  Gorgonen 
fest  angesetzt,  und  zwar  an  der  grossen  Syrte,  und  der  von  He- 
rakles niedergekämpfte  Antäos  heisst  König  der  Libyer  zu  Irasa*), 
zwischen  Kyrene  und  Aziris,  wo  später  Barke.  Die  Kyrenäer 
sind  durch  die  Fruchtbarkeit  ihres  Gebiets  bewogen  worden,  sich 
die  Hesperiden  anzueignen.  Der  Kampf  mit  Antäos,  den  der  do- 
rische Stammheld  besteht,  war  Personification  und  Bild  der  Be- 
wältigung der  Eingebornen,  die,  einmal  besiegt,  in  immer  neuen 
Schaaren  erschienen;  das  ist  der  niedergeworfene  und  immer 
kräftiger  wiedererstehende  Antäos,  wie  0.  Müller  sehr  wahrschein- 
lich deutet  (Dor.  1,  452).  Und  offenbar  ist  auch  der  ägyptische 
Busiris,  der  die  Fremden  opferte,  selbst  ein  Bild  der  durch 
schlimme  Gerüchte  vom  finsteren  Sinn  dei"  Aegypter  angeregten 
Volkssage  (Personification  des  Stadtuamens  Her.  2,  59),  und  diese 
war  es,  die  den  Herakles,  da  ihn  die  Gefahr  bedroht,  den  Wüthe- 
rich bändigen  Hess  (Apollod.  2,  5,  11)'"). 


8)  Aescli.  Prüm,  795.  Soph.  Tracli.  1100,  Eur.  llippolyl.  742 — 748. 

9)  0.  Müller,  Orchoin.  346.    Völker,  Mvtli.  Geogr.  S.    120,  vgl.  mit 
S.  73,  Find.  Pyth.  9. 

10)  Das  Bild  des  Busiris  stammle  schon  aus  älterer  Zeit  mehr  blosser 


139 

Gleichfalls  allein  der  Volkssage  angehörig  finden  wir  die  so 
berühmten  Säulen  des  Herakles,  und  zwar  indem  hier  be- 
sonders der  hellenische  sieghafte  Abenteurer  mit  dem  phöniki- 
schen  Melkart  in  Eins  gemischt  Avard.  Wohl  ist  nämlich  dieser 
Ausdruck  Säulen  des  Herakles  oder  blos  die  Säulen  hei  den 
späteren  Griechen  der  stehende  für  die  Gegend  um  Kadix  (Ga- 
deira)  oder  die  bei  dem  Gebirge  Abile  und  Ralpe  zu  beiden 
Seiten  der  Meerenge  von  Gibi-altar.  Aber  die  ursprüngliche 
hellenische  Sage  und  Sagenpoesie  kennt  keine  andere  Weltgränze, 
als  den  umströmenden  Weltstrom  Okeanos  (Her.  4,  8).  Wie  wir 
sahen,  lagen  die  Zielpunkte  der  beiden  westlichen  Abenteuer  des 
Herakles,  die  Insel  Erytheia,  wo  xlie  Rinder,  und  die  andre,  wo 
der  Garten  der  Hesperiden ") ,  „jenseit  des  Okeanos",  d.  h,  auf 
einer  Insel  desselben.  Nun  hat  jedes  Abenteuer  seine  eignen 
Wege  sowie  seine  eignen  Wunderwesen,  die  auf  denselben  von 
dem  Helden  getroffen  und  bestanden  werden.  Jene  beiden  Wege 
des  Herakles  gingen  aber  von  Tiryns  oder  von  Mykene,  der  Stadt 
des  Eurystheus,  aus  und  führten  zu  Lande  durch  Europa ;  denn  He- 
rakles ist  kein  Seefahrer.  Hatte  er  doch  eben  den  Helios  um  sei- 
nen Kahn  zu  bitten ,  um  zu  seinen  Zielen  zu  gelangen.  Es  ergiebt 
sich  hieraus  zuerst  dies:  die  Säulen  des  Herakles  sind  ein 
Erzeugniss  der  über  das  sagenhafte  Phantasiegebiet  erweiterten 
Kunde  des  Westens,  und  wer  nach  der  Sage  das  Mittelmeer  zu- 
erst bis  zum  Ausfluss  in  den  Ocean  befahren  hat,  dem  gehören 
jene  Säulen  an.  Das  ist  nun  nach  Pindar  (dem  Ersten  in  unse- 
rer Litteratur,  der  die  Säulen  nennt)  Herakles.  Pindar  lässt  die- 
sen nicht,  wie  die  sonstige  Sage,  nur  die  Erde  von  Ungethümen 
säubern  und  befrieden,  sondern  ebenso  die  Meerungeheuer  tilgen 
und    damit    der    Schififahrt    Bahn    machen'-).       Aber    indem   er 


Gerüchte  über  Aegyptcn.  Hesiod  naniiln  ibn  nach  Tlieoii  Progymn.  6, 
11  Alter  aller  als  Herakles,  wie  auch  Isokr.  Busir.  15,  aber  die  Sage  von 
Herakles  kam  später  hinzu.     Es  verwarf  sie  llerodot  2,  45. 

11)  Hes.Theog.  287—294,  309,  das.  215  und  216,  275  f.  und  der  be- 
wachende Drache  394  f.  — 

12)  Nem.  1,  63  — 95  prophezeit  Teiresias  vom  Kinde,  (bis  dir-  Schlan- 
gen erdrückt  hat,  wie  vieles  wiblc  Gelliierig  er  auf  dem  Festlande,  wie 
vieles  auf  dem  Meere  er  tilgen  werde.  Istbm.  3  und  4,  73;  „Der  zum 
Olymp  stieg,  nachdem  er  der  Erde  und  des  klippenvollen  Meeres  Fläche 
besucht  und  den  Schiinahrlen  die  Fuhrt  geruhig  gemacht. 


_     140 

in  der  Meeresfluth  die  Ungeheuer  bezwang,  zeigte  er  wie  weit 
die  Bahn  der  Schiflfahrt  gehe,  indem  er  die  Strömung  und  die 
Seichten  erforschte  und  stellte  zum  Zeugniss  des  Aeussersten  die 
Säulen  auf*^).  Diese  noch  in  andern  Stellen  desselben  Dichters 
festgehaltene  Charakteristik  des  Herakles  hebt  gerade  ein  Verdienst 
hervor,  auf  das  die  frühere  echt  nationale  Sage  und  Poesie  vom 
Helden,  der  auf  Geheiss  des  Eurystheus  erst  nach  den  Rindern, 
dann  nach  den  Aepfeln  der  Hesperiden  in  den  äussersten  Westen 
zieht,  nicht  ausläuft.  Nur  späte  Verklitterer  der  mannigfachen 
Sagen  haben  die  Aufstellung  der  Säulen  dem  Zuge  nach  den 
Rindern  augereihet,  was  gar  keine  innere  Begründung  giebt"). 
Sonst  erscheint  Herakles  erstlich  als  „Reiniger"  auch  des  Meeres 
nur  in  summarischer  Lobeserhebung  wie  bei  Piudar,  so  bei  So- 
phokles Trach.  1012,  und  1061  sind  die  Säulen  ebenso  nur  in  rhe- 
torischem Gesammtbilde  als  Siegesmale  und  Zeugniss,  wie  weit 
griechische  Kraft  gedrungen  (Isokr.  Philipp.  47).  Irgend  Etwas  vom 
speziellen  Hergang  kommt  nirgends  hinzu,  noch  erscheint  Hera- 
kles irgend  wo  als  ein  Heros  und  Hort  der  Schiffenden,  was 
nicht  fehlen  würde,  wenn  irgend  die  Sage  Beispiele  davon  über- 
liefert hätte.  Hätte  er  im  Volksglauben  auch  das  Meer  befriedet 
und  der  SchifFfahrt  Bahn  gemacht,  dann  würde  die  Sage  von 
Kämpfen  mit  Seeungeheuern  erzäblen,  wovon  nirgends,  als  in  der 
ganz  anders  motivirten  Befreiung  der  Hesione  die  Rede  ist,  sonst 
nirgends  eine  Spur*). 

Es  leuchtet  auch  bald  ein,  dass  die  von  Herakles  angeblich 
gesetzten  Säulen  sich  als  solche  in  keiner  Beziehung  zum  deut- 
lichen Bilde  gestalten;  was  und  wo  sie  seien  und  wie  sie  der 
Held  aufgestellt,  wird  entweder  gar  nicht  oder  von  den  mannig- 
fachsten Orten  angegeben,  nur  immer  im  äussersten  Westen. 
Und  so  hat  die  zwiefache  Forschung  über  Herakles  und  über 
die  Schifffahrt  der  Phöniker  überzeugend  dargethan ,  dass  nicht 
der  Herakles  der  hellenischen  Sage,  sondern  der  phönikische, 
d.  h.  die  Verehrer  des  tyrischen  Herakles,  des  Melkart,  die  Säulen 

13)  Nem.  3,  21—26.  Er  zeigte  das  ,,Bis  hierheV  und  nicht  weiter". 
Nem.  4,  69:  ,,Aus  Gadeira  unter  die  Nacht  dringt  nimmer  der  Segelnde; 
nach  dem  Land  Europa  zurück  wende  das  SchilTszeug."  Vgl.  Isthni.  3, 
30.     Ol.  5.  a.  E. 

14)  ApoUod.  -2,  5,  10,  4.     Diod.  4,  18.     Schol.  zu  Find.  3,  79. 

*)  Hierbei  ein  Fragezeichen  von  des  Verfassers  Hand.         A.  d.  H, 


J41 

gesetzt,  oder  dass  sie  von  den  Phönikern  und  ihrer  Scbifffahrt  her- 
stammen und  durch  sie  in  die  herrschende  üeberlieferung  gekommen 
sind.  Die  Phöniker  sind  es  auch  nach  Strabo,  durch  welche  den  Grie- 
chen die  erste  Kunde  jenes  Westens  gekommen,  die  zu  den  Sagen  von 
Herakles  gestaltet  worden  '^).  Sie  sind  früher,  als  die  verschlagenen 
Phokäer  und  kühnen  Aegineten  (Herod.  1,  163)  nach  Tartessos 
gelangt,  und  haben  wie  dieses  in  grauer  Vorzeit  selbst  so  später- 
hin in  Spanien  und  an  den  Küsten  Libyens  andere  Plätze  ge- 
gründet. Gadeira  (Kadix)  gilt  nur  angeblich  für  ihre  kundbar 
älteste  Anlage  in  Spanien,  und  lag  ausserhalb  der  3Ieerenge  und 
in  dessen  Nähe,  oder  nach  Tartessos,  was  man  in  dunkler  Vor- 
stellung für  dasselbe  hielt,  wurden  die  Säulen  meistens  verlegt. 
Mögen  die  Phöniker  nun  selbst  hier  oder  zuerst  am  Anfang  der 
Westhälfte  des  Mittelmeeres  die  warnenden  Armsäulen  aufgerich- 
tet haben:  es  waren  unstreitig  ursprünglich  Warnungszeichen  für 
die  Seefahrer  vor  gefahrvollen  Stellen.  Ob  ehrUch,  ob  lügen- 
haft die  Phöniker  warnten,  ist  nicht  recht  zu  bestimmen,  Strabo 
nennt  die  phönikische  Lüge  (170)  sprichwörtlich,  und  weiss  (175 
a.  E.)  dass  sie  zuerst  in  den  Ocean  hinausgeschifft,  aber  ihre  Fahr- 
ten verheimlicht  hätten.  Die  genauere  Forschung  hat  jüngst  das 
obige  Ergebniss  gebracht'*).  Dass  nun  die  Durchfahrt  in  den 
Ocean  Hemmnisse  gehabt,  wird  allerdings  mehrfach  angegeben, 
sodass  die  Vorstellung  eines  weiterhin  umfahrbaren  Meeres  ge- 
wissen thatsächlichen  Grund  erhält'').      Doch    fest  steht  ja,    die 


15)  Die  verschiedonon  rioulungon  der  Säulen  verzeichnet  derselbe 
170  —  172,  unter  denen  die  auf  die  Jteiden  Gebirge,  Abile  auf  der  afri- 
kanischen, Kalpe  auf  der  spanischen  Seite,  nun  auch  ihre  Vertreter  hat. 
Dieselbe  Vieldeulung  bei  Hesych.  unter  dem  Wort. 

16)  Redslob  Thule,  die  phönikischen  Handelswege  nach  dem  Norden, 
Leipz.  1855,  S.  3,  dessen  obige  Erklärung  vor  der  aus  Cultussäulen  bei 
Movers,  Phönizier  1,  295,  den  Vorzug  verdient.  —  Ueber  Tartessos  und 
sein  Verhällniss  zu  Gadeira  s.  Redslol),  Tartessus.  Ein  Beitrag  zur  Ge- 
schichte des  phönicisch-spainschen  Handels.     Ihunh.  1849,  S.  18. 

17)  Find.  N.  3,  24,  spricht  von  Seichten  und  Arislot.  Meteor.  2.  1, 
ebenfalls  von  seichten  Untiefen.  Nach  dem  Schob  z.  Find.,  Ol.  3,  79,  ist's 
Chacs,  d.  Ii.  Nebclluft,  Finsterniss,  nach  Aristol.  Wundergesch.  148  dich- 
tes Schilf  und  Seegras,  und  nach  dems.  das.  35  sieht  man  hei  Nacht  Flam- 
men dort,  wie  sie  von  solciiem  Boden  aufleuchten.  Man  vergl.  die  merk- 
würdige Aeusserung  des  Tacitus,  German.  34  a.  f.  et  superesse  adhuc 
Herculis  columnas  u.  f. 


142 

Phöniker  sind  frühzeitig  und  viel  liindurcli  gefaliren  und  eben 
von  dieser  Durchfahrt  mögen  wir  eine  besonders  sprechende,  my- 
thische Form  in  der  Angabe  entdecken:  Die  Berge  Abile  und 
Kalpe  hätten  ursprünglich  einen  ununterbrochenen  Höhenzug 
gebildet,  Herakles  aber  habe  sie  getrennt  und  so  das  Aussenmeer 
eingelassen  "*). 

3.  Abschluss  der  Charakteristik  des  älteren  Hei  de n- 
geschlechts. 
Wenden  wir  von  diesen  Um-  und  Zudichtungen  der  Volks- 
sage uns  zu  dem  echt  epischen  Bilde  des  Herakles  und  über- 
haupt zu  den  Helden  des  älteren  Geschlechts  zurück,  so  betonen 
wir  gerade  hier,  dass  gegenüber  den  phönikisirenden  Sagen, 
welche  den  Herakles  so  viel  auf  Heereszügen  in  Afrika  aufführen, 
der  griechische  von  Zeus  erzeugt  ist,  um  Göttern  und  bedürfti- 
gen Menschen  einen  Abwehrer  des  Unheils  zu  schaffen  (Hesiods 
Seh.  29).  Dies  ward  er  gleich  zuerst  und  zumeist,  nachdem 
Zeus,  von  seiner  Here  politisch  überlistet,  es  hatte  geschehen 
lassen  müssen,  dass  der  Sohn  des  Persiden  Sthenelos,  Eury- 
stheus  mit  der  Erstgeburt  die  Herrschaft  über  seinen  Sohn  ge- 
wonnen, und  nun  dieser  in  Dienstbarkeit  die  von  Jenem  aufge- 
gebenen Kämpfe  vollziehn  musste.  Beachtet  man  die  gegebenen 
Andeutungen  und  die  sinnigen  Beziehungen,  so  hat  Herakles  im 
Gehorsam  unter  das  missgünstige  Geschick  sich  schon  als  Wohl- 
thäter  der  Menschen  vollbewährt,  als  Zeus,  nachdem  Prometheus 
Fesseln  und  Strafe  verwirkt,  dessen  Erlösung  durch  Herakles 
gut  heisst.  Denn  dass  Herakles  bereils  im  Buhme  stehe,  besagen 
die  von  jener  Bewilligung  gebrauchten  Worte  ausdrücklich:  Gar 
nicht  zum  ^iissfallen  des  obwaltenden  Zeus,  auf  dass  der  Buhm 
des  Thebäer  Herakles  noch  herrlicher  als  vorher  über  die  weite 
Erde  ginge  (Hes.  Tbeog.  526—531).  Die  ganze  Idee,  welche  in 
diesem  Akt  der  Erlösung  durch  Herakles  ausgesprochen  ist,  ver- 
langt es,  dass  der  Erlösende  bereits  als  das  Gegentheil  vom  fre- 
velen  Prometheus  offenbar    und   anerkannt    sei.      Der    titanische 


18)  Mala  1,  5,  3  und  Diodor  4,  18  iiiil  beigemischten  Verdrehungen. 
Da  ist  Herakles  wie  eine  Naturgewalt  gleich  deniBriareus  und  Säulen  des 
Briareus  nannte  sie  eine  ähnliche  Vorstellung  nacli  Arislol.  hei  Aolian 
V.  G.  Ti,  3.    Vgl.  0.  Müller  Dor.  1,  452  f. 


143 

• 
Geist  und  Sinn,  der  in  achtlos  unfrommer  Maasslosigkeit  den  Men- 
schen wohlzuthun  gestrebt,  wird  aus  der  verhängten  Strafe  und 
Qual  erlöst  durch  den  Helden,  der  im  Gehorsam  unter  ein  Miss- 
geschick derselben  Menschheit  Wohllhäter  geworden  ist. 

So  ist  hiermit  denn  für  die  Folge  und  Geschichte  der  Sagen- 
dichtung und  der  Poesieen  —  da  hier  ein  überaus  sinniger 
Dichtergeist  anzuerkennen  ist  —  deutlich  gegeben,  dass  die  sieg- 
haften Kämpfe  nach  Eurystheus'  Geheiss  früher  gedichtet  waren, 
als  die  Erlösung  des  Prometheus.  Wie  aber  in  der  oben.  Buch 
1,  §  6,  genauer  besprochenen  Dichtung  vom  Herakles  als  Mit- 
kämpfer der  Götter  gegen  die  Giganten  dieser  Held  in  demselben 
ausgeprägten  Charakter  der  gesittigten  gottgefälligen  Menschheit 
erfasst  ist,  so  gilt  derselbe  Schluss  auch  für  die  Dichtung  der 
Gigantomachie,  auch  sie  erweist  sich  als  nach  dem  Dienst  unter 
Eurystheus  erfunden. 

In  dieser  Dienstbarkeit  nun  erhält  Herakles  eine  Reihe  schwe- 
rer Abenteuer  von  dem  Eurystheus  auferlegt,  welcher,  wenn 
nicht  Here  ihm,  dem  Persiden,  in  Argos  die  Herrschaft  erlistet 
hätte,  vielmehr  Jenem  unterworfen  gewesen  wäre  und  der  daher 
in  eifersüchtig  launenhafter  Böswilligkeit  seine  Aufgaben  stellt.  Es 
erscheint  also  auch  hier  die  noch  unbefriedete  Erde  voll  von 
Ungelhümen  und  wilden  Mischgestalten ,  andrerseits  die  Stimme 
der  Völker  in  ihren  Führern  in  Streit  und  Eifersucht  um  Vor- 
rang und  Herrschaft,  also  im  politischen  Kampfe.  Dieses  Ver- 
hältniss,  das  sich  zwischen  Herakles  und  Eurystheus  so  beson- 
ders deutlich  zu  kennen  giebt,  es  wiederholt  sich  bei  mehren 
Andern  des  älteren  Heldengeschlechts,  welche  ebenfalls  von  bös- 
willigen Herrschern  schwere  Abenteuer  auferlegt  erhalten:  bei 
lason,  Bellerophon  Perseus,  auch  bei  Theseus,  Mie  weiterhin 
das  Verzeichniss  der  vorhomerischen  Lieder  genauer  zeigen  wird. 

Als  besonderer  Charakterzug  der  Sagen  gerade  vom  älteren 
Heldengeschlecht  ist  zu  bemerken,  dass  dem  Theseus  bei  seinem 
Unternehmen  die  Liebe  der  Minnstocliter  Ariadne  mit  ilirem 
Faden,  dem  lason  die  der  Medea  mittels  Zauberkünsten  beistand. 
Und  die  Liebe  wirkt  mehrfach  auch  sonst  in  dieser  abenteuern- 
den Welt,  namentlich  ist  sie  noch  öfter  das  Motiv  für  Theseus. 
Als  in  der  Liebe  veränderlich  zeigen  ihn  die  Angaben  Plutanhs 
29.     Vornehmlich   im   Bunde  mit  Peirithoos  hat  er  mehi'e  Liebes- 


144 

• 
aljenleuer  ausgeführt.  Sie  verbinden  sich  gegenseitig  zur  Er- 
werbung einer  Braut.  Theseus  raubte  mit  Peirithoos  Hülfe  die 
Helena  —  und  eine  Sage  nannte  sogar  die  Iphigenia  ihre  Toch- 
ter —  darauf  gingen  sie ,  die  Persephone  oder  Köre  für  Peiri- 
thoos zu  entführen,  in  die  Unterwelt'^).  Mit  Peirithoos  hatte 
Theseus  nach  Pindar  auch  den  Zug  nach  dem  AVohnsitz  der 
Amazonen,  Themiskyra,  unternommen,  auf  dem  er  die  Antiope 
heim  führte,  mit  der  er  den  Hippolytos  zeugte  (Paus.  1,  2,  l 
oder  fr.  151).  Hierzu  kommt,  dass  die  attischen  Sagen  dem  The- 
seus von  den  gemeinsamen  Grossthalen  des  älteren  Heldenthums 
nichts  nach  so  abgevsogenem  Zeugniss  beilegen  als  die  Theil- 
nalime  am  Kampfe  der  Lapithen  gegen  die  Kentauren  unter  Pei- 
rithoos Führung  (PI.  Thes.  2Ü  und  30).  Alles  Dies  zusammen  führt 
zur  Unterscheidung  einer  Zeit  und  Thatenreihe,  während  welcher 
Theseus  in  Freundschaft  mit  Peirithoos  lebte  und  strebte;  wo- 
gegen er  in  einer  andern  Gruppe  von  Sagen  des  Herakles  Nach- 
eifrer  und  Betrauter  ist.  Ist  diese  letztere  Gestalt  die  jüngere? 
oder  sagen  wir  besser,  im  Verhältniss  des  Theseus  zu  Herakles 
ist  am  meisten  geneuert  worden?  Theseus  ward  in  Attika's  Cul- 
tus  und  Sage  erst  gross  von  den  Perserkriegen  an,  und  erst 
dann  zum  gepriesenen  ßürgerkönig. 

Alles  bisher  vom  älteren  Heldengeschlecht  Gesagte  zählt  zum 
Wesen  von  Abenteuern  durcii  die  der  Einzelne  unter  Beistand 
einzelner  Götter  seine  Tugend  bewährte.  Dieselbe  Art  haben 
aber  auch  die  neben  jenen  Abenteuern  kundbaren  Fehden  jener 
Heldenzeit,  sofern  die  Sache  auch  da  immer  auf  Auszeichnung 
und  Buhm  Einzelner  ausgeht.  Es  sind  dies  theils  kleine  Kriege 
zwischen  Nachbarstämmen ,  theils  Züge  einzelner  Helden  mit 
gesammelten  Genossen  gegen  eine  Burg.  Das  unterscheidende 
dieser  Fehden  von  den  Kriegen  des  jüngeren  Heldengeschlechts 
ist,  dass  durch  sie  rein  persönliche  Beleidigungen  gerächt  wer- 
den, nicht  solche,  welche  die  göttliche  Gerechtigkeit  angehn. 
Lud  glänzende  Siege  über  die  Beleidiger  sind  Ausgang  derselben. 
Zu  solchen  Fehden  und  zur  Hülfe  der  Hauptkämpfer  werden  be- 
freundete Helden  aus  der  Ferne   gerufen,  wie  der  junge  Nestor 


19)  Die  Stätte  des  Bundes :  Soph.  Oed.  a.  K.  1593  f.  Helena  i.  Stesi- 
choros  6,  Paus.  2,  22,  7,  Köre:  Pindai-  1).  Pausanias  1,  41,  5.  Das  Epos 
>Iinyas:  Paus.  10,  28,  2.     Der  spätere  Epiker  Panyasis  das.  29,  9. 


145 

von  den  Liipitlien  (II.  1,  269  f.),  oder  sie  finden  sich  selbst  ein. 
Der  allgemeine  Thatendrang  bedarf  nur  der  Gelegenlieil,  um  zu 
Abenteuer  oder  Fehde  Viele  herbeizuziehn.  Von  zwei  Aben- 
teuern meldet  die  Sage  dies  besonders,  der  Argonautenfahrl  des 
lason  und  der  von  Meleagros  angestellten  Jagd  des  kalydonischen 
Ebers,  den  der  Zorn  der  Artemis  gesendet.  Bei  beiden  sehn 
wir  das  Verzeichniss  der  Theilnehmer  im  Fortgang  der  Sagen- 
dichtmig  gewachsen  und  gewandeil,  sei  es  durch  den  Ehrgeiz 
der  Stämme  für  ihre  Helden  oder  durch  Willkür  der  Dichter. 
Die  Theilnahme  an  dem  einen  wie  an  dem  andern  Unternehmen 
wurde  unstreitig  schon  früh  Gegenstand  der  national-ruhmsüch- 
tigen Poesie,  wie  nachmals  die  am  troischen  Kriege,  aber  ein 
ältestes  Namensverzeichniss  vermögen  wir  weder  von  den  Argo- 
nauten noch  von  den  Jägern  zu  unterscheiden,  nur  dass  eine  ge- 
wisse kleinere  Zahl  in  allen  den  Aufzählungen  wiederkehrt,  unter 
den  Argonauten  namentlich  lason  und  Orpheus,  Herakles  und  die 
Dioskuren,  Periklymenos  Neleus',  Peleus  Achills,  Telamon  Aias', 
Menoilios  Patroklos'  Vater,  Zetcs  und  Kaiais  Söhne  des  Boreas,  Idas 
und  Lrnkens,  Söhne  des  Aphareus,  Meleagros,  der  Held  des  andern 
Abenteuers,  der  berühmte  Bogenschütz  Eurjtos  und  der  Steuer- 
mann Tiphys^°). 

Die  Weise  des  älteren  Heldengeschlechts,  da  lason  und  Me- 
leagros eine  Zahl  anderer  einzelner  Tapfern  zur  Theilnahme  an 
ihrem  Vorhaben  aufriefen,  wiederholt  sich  bei  den  Heerzügen  des 
jüngeren  Geschlechts  gegen  Theben  und  Troia.  Aber  in  den 
Sagen  von  diesen  Heerfahrten  gegen  Königssitze  zu  ihrer  Zer- 
störung und  unter  dem  Walten  des  ganzen  Götterraths  mit  dem 
höchsten  Zeus  erscheinen  auch  als  von  der  älteren  Fleldenzeit  über- 
lieferter Brauch  Wettkämpfe  oder  Spiele  auf  zwiefachen  Anlass. 
Einmal  wurden  bei  Bestattung  eines  gefallenen  Helden  ihm  zu 
Ehren  Wettkämpfe  gehalten  im  Wagenrennen,  Faustkampf,  Bin- 
gen, Wettlauf,  Diskoswurf,  Speerwurf,  Lanzenstich,  Bogenschuss. 
Die  Sieger  gewannen  Preise,  erste  und  zweite;  bei  Liberalität 
des  Anstellers  noch  mehre.  Es  bestehen  diese  Preise  in  ge- 
schickten Sclavinen,   Pferden,   Bindern,  Maulthieren,   Gewichten 

20)  Das  Verzeichniss  der  Argonauten  Jiei  dem  für  uns  iilleslen  Zeu- 
gen, dem  Pindar,  P.  4,  171  — 187  nennt  niu"  die  GöUersöhne,  alter  alle  anderen 
Tapfern  habe  Here  angeregt. 

Nitzsch  ,  Gpsch.  d.  eriedi.  Epos.  10 


146 

Goldes  oder  Silbers,  Mischkrügen,  Siedekesseln,  Becken,  Trink- 
bechern, früher  erbeuteten  Waffenstücken  u.  A.  Aus  der  älteren 
Heldenzeit  sind  die  Leichenspiele,  welche  Akastos  seinem  Vater 
Pelias  veranstaltete,  nach  älteren  l^iedern  in  Poesie  und  Kunst- 
bildern vorzüglich  ruchtbar  (Lade  des  Rypselos  Paus.  5,  17 — 19. 
Stesich,  fr.  1 — 3).  Homer,  wo  er  den  Achill  seinem  Patroklos 
Leichenspiele  feiern  lässt,  II.  2:^,  erwähnt  dabei  mehrer  Belege 
des  alten  Brauchs  630—640,  679  f.^').  Zum  andern  Hess  er  in 
der  Odyssee  die  Penelope  den  Bogenkampf,  der  über  ihre  Hand 
entscheiden  sollte,  ebenfalls  nach  alter  Sitte  anstellen  (21,  2, 
74 — 79).  Die  Väter  nelumworbenei'  Jungfrauen,  die  jedenfalls 
von  den  Freiern  durch  bedeutende  Leistungen  zu  erwerben 
waren,  verlangten  bisweilen  bestimmte,  schwer  zu  beschaffende 
Geschenke,  wie  Neleus  für  seine  schöne  Pero,  wovon  alsbald. 
Oefter  aber  gaben  sie  einen  schwierigen  Wetlkampf  auf.  So 
Oenomaos  in  Elis  um  Hippodameia,  Danaos  um  se'ipe  Töchter, 
Ikarios  um  die  Penelope,  ja  noch  Kleisthenes  in  Sikyon  um  seine 
Agariste^^).  Penelope  war  in  der  Lage,  selbst  aus  den  Freiern 
einen  wählen  zu  sollen.  • 

Nach  dem  Angeführten  kommen  alle  von  dem  älteren  Helden- 
geschlecht überlieferten  Charakterzüge  in  Folgendem  überein: 
Der  Held,  als  dem  Menschenloose  unterworfen,  hat  Schweres 
auszudulden;  aber  er  besteht  als  duldherzig  und  starkmüthig 
[TttXaxciQdLug,  xaQTSQod-v^og)  dasselbe,  sei  es  ein  einzelnes  Aben- 
teuer oder  eine  Fehde,  oder  ein  Waffenspiel  sieghaft  und  zwar 
unter  seiner  Stamm-  und  Schutzgötter  Gunst  und  Beistand, 
welche  ihre  Schützlinge  mehrfach  auch  mit  eigenen  ^Vunder- 
kräften  oder  VVunderwerkzeugen  begabten,  so  wie  viele  der 
Abenteuer   ihre  Scene   selbst    in    fernen  Wunderorebieteu    hatten. 


21)  In  Hesiods  Werken  und  Tagen  652—657  oder  654 — 659.  GÖlll. 
wird  der  Wetlkämpfe  bei  des  Ainphidamas  Bestattung  in  Chalkis  auf  Eu- 
böa  gedacht.  Ob  ein  späterer  Interpolator  die  Verse  ^on  Hesiods  Siege 
dabei  eingeschoben,  oder  nur  einer  einen  Wettkanipf  Hesiotls  mit  Homer 
hier  angebracht  habe,  das  ist  streitig.  S.  Göttl.  und  3Iarcksch.  S.  34. 

22)  Oenom:  Eöen  bei  Paus.  9,  21,  7  und  10.  Find.  Ol.  1,  7Ö  oder 
113  ff.  Danaos:  Find.  Pytli.  9,  111  oder  193  ff.  und  Paus.  3,  12,  1  und  2. 
Ikarios:  Paus,  eliendas.  Kleisthenes:  Herod.  6,  126—130.  Dass  Eurylos, 
der  gewaltige  Bogenschülz,  dem  Sieger  seine  lole  doch  verweigerte,  zog 
ihm  die  Fehde  mit  Ileiaklos  zu. 


147 

Die  Dichtungen  vom  jüngeren  HeklengescHlecbt  legen  dagegen 
eigene  Wunderkräfte,  wenn  sie  derselben  nicht  aus  der  Vorzeit 
gedenken,  nur  den  Göttern  bei  und  lassen  sonstige  Wunderwesen 
nur  in  jetzt  ergötzlichen  Berichten  von  bestandenen  Irrfahrten 
aus  ganz  unerkundeter  Ferne  vorkommen. 

4)  Verzeichniss  erkennbarer  Lieder  von  denThaten 
des  älteren  Helden geschlechts,  Avie  sie  theils  aus 
der  echten  Ilias  und  Odyssee,  theils,  weil  siene- 
ben ihnen  fortbestanden,  aus  Interpolationen  der- 
selben,   theils    aus    Hesiod    und    späteren    Zeugen 
erkannt  werden. 
Er  wird  zur  Anerkennung  der  hier  zu  verzeichnenden  Lieder 
nicht  weiter  erforderlich  sein,  den  Leser  daran  zu  erinnern,  dass 
eben  die  Säuger  die  Träger  der  Sagen  von  den  Thaten  der  früheren 
Männer,  des  „Ruhmes  der  Männer  [x^sa  ävÖ^av)",  waren.     Die 
epischen    Liederstoffe,  Abenteuer  oder  Fehden,  deutet  Homer  in 
seiner  lebendigen  Weise  hier  und  dort  an,  oder  er  bezeichnet  sie 
deutlicher,  Hesiod  erwähnt  sie  vornehmlich  in  seinen  Katalogen  der 
Heldeumütler  aber  auch  sonst,  und  die  spätere  Griechenwelt  giebt 
davon  das  lebendige  Bevvusstsein  kund.     Diese  Menge  von  Stoffen 
gebietet  eben,    eine  zahlreiche  Zunft  von  Sängern  in  schon  älte- 
rer Zeit  anzunehmen,    deren   Gesänge   die  allen  Kunden  verbrei- 
teten und  lebendig  erhielten.     Wir  beginnen  die  Reihe  mit  dem 
Stoffe,    den   Homer   ausdrücklich    durch   das   Beiwort   „Allen  im 
Sinn  liegend"  als  den  vielgesungenen  und  gern  gehörten  bezeichnet: 

1.  Lied  von  Jasons  Argonaulenfahrt:  Od.  12,  ö9 — 73. 

Eins  nur  lenkte  vorüber  der  meerdurdnvandelnden  Schilfe 
Argo  die  Allen  bewussle^^),  als  iieim  von  Aeeles  sie  kehrte. 
Und  auch  dies  sliess  risch  damals  an  die  mächtigen  Felsen 
So's  nicht  Here  gelenkt,  die  huldvoll  war  dem  Jason. 

Eine  reichere  Skizze  giebt  der  Anhang  der  hesiodichen  Theo- 

gonie  992  —  999: 

Sie  des  Aeetes  Tochter,  des  gottgesegneten  Königs, 

Führte  der  Aesonid'  in  der  Obhut  ewiger  Götter, 

Von  Aeetes  daher,  nach  bedrohender  Kämpfe  Vollendung. 


23)  S.  Od.  9,  19  f.  m.  Anm.  nebst  Anakr.  Frag.  93.  Plat.  Ges.  8.  835 
E.  —  Die  vier  Verse  werden  gerade  dadurch  als  echt  bezeugt,  dass  sie 
eine  an  sich  zu  erwähnen  nicht  nöthige  Ausnahme  beibringen;  die  durch 


ihren  Ruhm  Allen  hewussle  liess  sich  nicht  lilit'rgelui. 


10 


148 

-     Wie  sie  ihm  viel  auflegte  der  übermiilhige  König 

Pelias,  frevelen  3Iuths  uud  Gewalt'ges  zu  üben  bedachl  nur. 
Diese  bestanden,  erreicht  er  nach  vielen  Gefahren  lolkos. 
Fiihrend  im  hurtigen  Schifl'  die  anmuthblickende  Jungfrau, 
Aesons  Sohn,  und  sie  ward  ihm  blühende  Lagergenussin. 
Hesiods  Katalog  gab  mehr:    fr.  60  und  61  bandeln  vom  blinden 
Phineus,   fr.  65.  67 — 69.  von  den  Harpyien,   von  denen  ihn  die 
beflügelten  Söbne  des  Boreas  befreiten. 

2.  Lied  von  Herakles  Arbeiten:  U.  S,  362  —  369.  Es 
spriebt  Atbene,  den  Vater  Zeus  anklagend! 

Nimmer  gedenkt  er  mir  dessen ,  wie  oft  ich  seinen  Herakles 
Rettete,  als  er  so  sciiwer  von  Euryslheus  Kämpfen  bedrängt  ward. 
Ja  oft  weinte  der  Held  zum  Himmel  empor,  und  Kronion 
Sendete  mich  vom  Himmel  herab,  ihm  schirmend  zu  helfen. 
Hätl'  ich  zuvor  nur  dieses  gewusst  im  ahnenden  Sinne, 
Als  er  hinab  zu  des  Hades  verschlossenen  Thoren  gesandt  ward, 
Dass  er  vom  Erebos  hole  den  Hund  des  entsetzlichen  Hades; 
Niemals  war'  er  der  Styx  graunvollen  Gewässern  entronnen. 
Scbon    diese    Stelle   zeigt   ebne   Weiteres,    dass   dem  ITomer 
ein  Lied   von   mebren  Abenteuern,   welcbe  Eurystbeus  dem   He- 
rakles  auferlegt,  bewusst  war.     Atbene  nennt  sich  eben  bei  den 
mehren   die   helfende    Scbutzgöttin.     Sie  bezeichnet   ihren  molir- 
facben  Beistand  scbon  durch  die  Form  der  Zeitwörter  {-söxov), 
welcbe  anerkannter  Maassen  eine  mehrmalige  einzelne  Handlung 
bedeutet,  und  dazu  kommt  U.  15,  639  der  Held  Kopreus,  der  nach 
derselben   Wortform    dem  Herakles  die  Aufträge  einen  nach  ilen 
andern  zu  melden  hatte.     So  bebt  die  Göttin  nur  den  letzten  und 
schwierigsten  Auftrag  hervor,  wie  es  die  ganze  Situation,  in  der 
sie    spriebt,   mit  sich   brachte,    den   Gang  in  die  Unterwelt,  um 
den  Kerberos  berauf  zu  bringen.     Dieser  selbe  wird  in  der  Odys- 
see   II,    624  eben  als  der   schwerste  von   allen  erwähnt.-^)     Das 
Leben  des  alten  Liedes  bezeugt  dann  zunächst  Hesiod,  indem  er 
seiner   Theogonie,  ohne    Zweifel,   weil  sie  durch    die  Lieder  auf 
Herakles    bekannt    war,     die    Entstehung    mehrer    vom    Helden 
überwältigter  Ungethüme  einweble.^^)     Man  erkeaint  dabei  die  der 

24)  Auch  in  nachmaligen  Aufzählungen,  bei  Eurip.  Ras.  Herakl.  427. 
1102.  1277.  Soph.  Trachin.  1008.  wird  das  Holen  des  Kerlicros  theils  als 
die  letzte  theils  als  besonders  schwere  That  hervorgehoben.  Den  Anfang 
macht  immer  der  nemeische  Löwe :  Soph.  1002.  Eur.  359. 

25)  Den  Geryon  mit  seiner  Heerde,  dem  Hirten  und  seinem  Hunde 
287 — 20 1.   Die  lernäische  Schlange  313 — 318  den  nemeischcn  Löwen  327. 


149 

Poesie  entnommenen  Bilder  aus  den  beseelenden  Zügen,  da  Here 
aus  Hass  gegen  Herakles  die  Hydra  und  den  Löwen  gepflegt,  Athene 
ihm  Beistand  geleistet,  lolaos  sein  Gehilfe  bei  der  Hydra  gewesen. 
3.    Lied  voji    Bellerophons  Abenteuern:   II.  6,  155 — 205, 
Der   Enkel   des  Sisyplios,  des   korinthischen  Heros,    war  —  was 
die  gedrängte  Rede  bei  Homer  nicht  angiebt  —  wegen  eines  Mor- 
des zu  Prötos  in  Argos  geflohen;  seine  Schönheit  und  Männlich- 
keit erwarben  ihm  viel  Gunst  diese  aber  erregte  bei  Prölos  eine 
eifersüchtige  feindseehge  Stimmung,  er  ersann  ihm  Böses  im  Herzen, 
Trieb  ihn  hinweg  aus  Argos  Gebiet,  denn  seine  Gewalt  war 
Grösser  im  Land,  Zeus  beugte  das  Volk  ihm  unter  das  Scepter. 

So  ist  nach  der  ersten  deutlichen  Angabe  das  Motiv  des  Prö- 
tos der  eigene  Drang  den  INebcnbubler  in  der  Volksgunst  zu  ent- 
fernen. Hierbei  und  bei  allem  Hass  konnte  er  doch  Scheu  tragen, 
ihn  selbst  zu  morden,  daher  lieber  eine  tödtliche  List  ersinnen. 
Wie  aber  der  homerische  Text  jetzt  lautet,  war  es  ein  anderes 
Motiv,  was  tödtlichen  Zorn  in  Prötos  erzeugte;  es  hatte  seine 
Gemahlin  Anleia  (wie  Potiphars  Weib  den  Joseph,  in  der  grie- 
chischen Sage  die  Phädra  den  Hippolytos,  und  die  Gattin  des 
Akastos  den  Peleus  Pind.  Nem.  5.  26  oder  46  ff".)  den  Bellerophon 
lüstern  versucht;  als  er  sie  keusch  abwies,  ihn  bei  Prötos  des  Gegen- 
theils  angeklagt.  So  oder  so,-^)  in  jeder  Sagengestalt  sandte  Prötos 
den  Bellerophon  mit  einem  verschlossenen  Briefe,  der  tödtliche  Runen 
enthielt,  zum  König  lobates  nach  Lykien.  Dieser  bewirthete  ihn  an- 
fangs freundlich,  als  er  aber  die  verderblichen  Runen  gelesen,  gab  er 
demselben  drei  auf  seinen  Untergang  zielende  Abenteuer  auf. 
Zuerst  Tödtung  der'  Chimära,  dann  Kampf  mit  den  Solymern, 
drittens  mit  den  Amazonen.  Als  Bellerophon,  nachdem  er  sie 
alle  bestanden,  heimzog,  legte  lobates  ihm  noch  einen  Hinterhalt 
tapferster  Streiter.  Keiner  derselben  kam  zurück.  Da  erkannte 
lobates  in  ihm  den  Helden  göttlichen  Geschlechts,  gab  ihm  seine 


26)  Die  beiden  Motive  erkannte  Fricdländor,  Philol.  4.  570,  als  unver- 
einbar; es  ist  eine  doppelte  Sagengestalt  zweier  verschiedener  Lieder,  doch 
lassen  sich  die  Verse  160 — 167  als  Üoppell'orm  ohne  Weiteres  ausscheiden  : 
Sageup.  159.  —  Die  Chimära:  Plin.  N.  G.  5,  28.  ^.  100.  In  Lycia  mens  Chi- 
mära noclihus  llagrans.  2,  HO  ^.  236.  Flayral  in  Phasclilis  mens  Chimärii, 
et  quidem  immortali  di^jus  el  noclihus  llauuna.  Slrab.  14.  065.  ,,Uchcr 
dieses  Gebirge  wird  die  Erzählung  von  der  Chimära  gelabell;  es  ist  ein 
geklüfleles."    Als  feuersprüend  bezeichnet  auch  Homer  die  Chimära. 


150 

Tochter  zum  Weibe,  und  theilte  mit  ihm  all  sein  Koiiigthum. 
Die  Lykier  verliehen  ihm  eine  fruchtbare  Feldmark.  So  blühte 
sein  Glück  und  seine  Gattin  gab  ihm  drei  Kinder,  von  denen 
Laodameia  vor  Zeus  Augen  Gnade  fand,  der  mit  ihr  den  Sarpe- 
don  erzeugte.  Doch  \veiterhiu  traf  ihn  nichts  als  Unglück:  seinen 
Sohn  Isandros  tödtete  Ares  bei  einem  Zuge  gegen  die  Solymer, 
seine  Tochter  tödtete  die  Artemis  (^v eiche  Frauen  plötzlichen 
Tod  sandte),  ilni  selbst  aber  befiel  Schwerniuth ,  dass  er  allen 
Menschenverkehr  mied  und  in  der  Einsamkeit  umherirrte.  Solches 
Unglück,  \yo  nichts  Erfreuliches  tröstet,  heisst  Ilass  aller  Götter 
(wie  hier  so  Od.  14,  366.  4,  756). 

Der  ganze  summarische  Bericht  des  homerischen  Erzählers 
von  den  Abenteuern  und  Siegen  des  Bellerophon,  da  nur  die  Chi- 
niära  beschrieben,  von  der  Weise  und  den  Mitteln  des  Kampfes 
und  Sieges  dagegen  Nichts  angegeben  ist,  wird  von  Hesiod  in  der 
Theogonie  in  etwas  ergänzt.  Die  Chimära  wird  319  —  325  ausführ- 
licher gezeichnet  und  als  Mittel  der  Bewältigung  das  Flügelpferd 
Pegasos  genannt.  Nach  Find.  Ol.  13,  84—90  oder  121  ff.  diente 
ihm  dieses  beflügelte  Boss  zu  allen  drei  Siegen,  und  war  Athene 
seine  Helferin,  die  ihm  den  Zaum  zur  Bändigung  des  Bosses 
verlieh.  So  viel  erscheint  als  die  epische  Gestalt  der  Sage  von 
Bellerophon,  die  Wendung  zur  tragischen  finden  wir  zuerst  bei 
Pindar  an  einer  andern  Stelle  und  diese  führten  dann  Sophokles 
und  Euripides  weiter  aus.     S.  Welcker  Gr.  Tr.  2.  S.  785 ff". 

4.  Lied  von  der  kalydonischen  Jagd  mit  dem  Haupthel- 
den Meleagros.  Wie  dieser  den  von  Artenis  im  Zorn  über 
das  versäumte  Opfer  gesandten  verwüstenden  Eber,  nachdem  er 
viele  Jäger  zusammengeschaart  hatte,  erlegt  habe,  erzählte  ein 
Lied  nach  II.  9,  533  —  546.  An  dieses  schliesst  sich  ein  zweites 
an.  Dieselbe  Artemis  erregt  zwischen  den  Nachbarvölkern  den 
Aelolern  und  Kureten  Streit  um  die  Spolien,  Haupt  und  Haut 
des  getödteten  Ebers.  Die  Kureten  belagern  Kalydon,  die  Stadt 
der  Aetoler,  richteten  aber  nichts  aus,  so  lange  Meleagros  der 
Belagerten  Vorkämpfer  war.  Es  heisst  nämlich  nach  der  herzu- 
stellenden Lesart"): 

27)  Es  ist  552  statt  nixiog  szroad-sv  filiweiv  olTenbar  zu  lesen 
£xTOöÖ£v  i  [iivstv  oder  besser  noch  szrog  sovxa  ^ivitv,  wie  Sagenp. 
]48  (largethan  ist.    Vgl.  II  5,  94.    Unser  trefTlicher  üebersetzer  (Donner) 


„Jetzo  so  lang  Meleagros  der  tapfere  Held  in  den  Kampf  kam. 
So  lang  ging  den  Kurelen  es  schlecht,  denn  diese  vermochten, 
War  er  im  Feld  ihn  nicht  zu  beste lin,  so  Viele  sie  waren. 

Als  er  indess  in  ein  Zürnen  versank 

Sass  er  grollend  im  Herzen  der  lieblichen  Mutter  Althäa 
Bei  der  erkorenen  Gattin  daheim,  Kleopatra  der  schönen." 
Wie  es  dort  weiterbin  heisst  565  ff.,  zürnte  er  der  Mutter 
wegen  eines  um  Tödlung  ihres  Bruders  ausgesprochenen  Fluchs'^*) 
und  blieb  auch,  als  bei  immer  wachsender  Noth  Priester  mit  glän- 
zenden Versprechungen  und  alle  Angehörigen  ihn  anflehten  im- 
mer noch  ungeriihrt ,  l)is  endlich  seiner  Gattin  Zureden  ihn  ver- 
mochten, einzutreten,  und  er  das  Unheil  abwandte.  Eben  diese 
doch  endliche  Nachgiebigkeit  ist  das  bewegliche  Beispiel  der  Vorzeit, 
welches  der  sprechende  FMiönix  dem  Achill  vorhalten  wollte.  So 
begann  er  gleich  529  mit  Hinweisung  auf  die  Fehde  der  Kureten 
und  Kalydonier  und  gedachte  nur  zur  Erklärung  der  vorherge- 
gangene Eberjagd.  Wir  erkennen  aber,  wie  er  auch  in  dieser  sei- 
ner Absicht  zwei  Hergänge  und  damit  den  Inhalt  zweier  Lieder 
andeutet  und  gerade  den  des  ruchtbarsten,  die  Eberjagd  nur  mit 
Erwähnung  der  Hauplzüge  berührt.  Obgleich  Artemis  auch  die 
Fehde  erregte  (547),  und  der  Sänger  der  Fehde  an  den  Zorn, 
der  die  Jagd  zur  Folge  gehabt,  erinnert  haben  wird,  immer 
werden  wir  zwei  kleine  Lieder  vermuthen. 

5.  Lied  vom  Abenteuer  des  Sehers  M  e  1  a  m  p  u  s :  Od.  1 1 ,  287  bis 
297  und  15,  230—138.     Pherekyd.  im  Schol.  zur  ersten  Stelle. 


hat  auch  nicht  gesehn,  dass  die  Kurelen  die  Belagerer  sind,  die  Aetoler 
und  ihr  Held  Meleagros  die  Belagerten  und  Verlheidiger. 

28)  Damit  dass  584  auch  die  Mutter  unter  den  Flehenden  genannt 
wird,  mochte  Friedländer  wohl  die  Angabe  vom  Fluche  kaum  vereinbar 
nennen :  Philol.  4.  583.  Vgl.  Sagenp.  148.  Es  giebt  ausserdem  die  unzei- 
lig ausführliche  Zvvischenrede  von  559  —  572  Verdacht  eines  Einschiebsels. 
Der  Vordersalz,  553,  ,,  Als  er  indess"  u.  s,  w.  hat  doch  den  zweitheiligen 
Nachsalz  555  „er  nun"  —  und  573:  „Aber  von  Innen  erscholl  viel  Lär- 
men am  Thor".  —  Freilich  hat  Phönix ,  wenn  wir  die  Verse  als  einge- 
schoben betrachten,  einen  firund,  weshalb  Meleagros  seiner  Muller  zürnte, 
hier  nicht  beigefügt,  indem  der  Dichter  seinen  Hörern  aus  dem  allen  Liede 
irgend  einen  bewusst  dachte,  der  Interpolalor  hat  ihn  aus  anderer  Sagcn- 
geslall  eingeschoben.  Ganz  auffallend  ist  dabei,  dass  es  571  f.  heisst,  die 
Erinys  habe  den  Fluch  gehört.  Dann  wäre  ja  Meleagros  schon  gestorben 
gewesen.  Bei  Paus.  10,  31,  3  sind  die  verschiedenen  Sagen  vom  Tode 
des  Meleagros  bei  Homer  und  in  andern  alten  Epen  erwähnt. 


152 

Der  küniy  ISeleus  will  öeine  viel  unifreietc  Tochlei"  uur  dem  ge- 
ben, der  ihm  die  Heerde  des  Phylakos  oder  seines  Sohnes  Iphi- 
klos  aus  Phylake  bringt  (11,  288  f.).  Der  Scher  Melampus  initer- 
nininit  dies  für  seinen  Bruder  Blas  (15,  235  —  238).  Zuersl 
versuchte  er  sie  mit  List  wegzutreiben,  er  wurde  aber  von  den 
Hirten  festgenommen  und  dem  Iphiklos  überliefert,  der  ihn  ge- 
fesselt ins  Gefängniss  setzen  liess.  Da  sass  er  ein  volles  Jahr; 
doch  einst  vernahm  er,  wie  die  Würmer,  welche  die  Balken 
zernagten,  sprachen,  bald  werde  die  Decke  zusammenstiirzei\. 
Da  rief  er  die  Diener  und  liess  sich  heraustragen,  und  in  dem 
noch  geschah  der  Einsturz.  Phylakos  und  Tphiklos  von  dem  Her- 
gang unterrichtet,  und  vernehmend,  Malampus  sei  ein  Seher,  ver- 
sprachen ihm  nun  die  Heerde,  ^venn  er  Ursache  und  Abhülfe  der 
Kinderlosigkeit  des  Iphiklos  anzugeben  wisse.  Melampus  leistete 
dies,  nachdem  er  prophetische  Vögel  (nicht  beohachtet,  sondern) 
in  Worten  abgehört,  und  ein  Geier  ihm  den  Aufschluss  gegeben. 
So  erhält  er  die  Rinder  und  bringt  sie  nach  Pylos,  wo  er  den 
ihm  feindseligen  ISeleus  nun  nöthigt,  dem  Bruder  die  schöne 
Pero  zu  gewähren  (15,  235  —  238). 

Diese  im  alten  Liede  erzählte  Sage  giebt  Pherekydes  aus- 
geführter ;  die  beiden  homerischen  Stellen  geben  alle  Hauptzüge, 
nur  mit  der  Dunkelheit,  welche  leicht  in  Stellen  sich  findet,  die 
andersher  bekannte  Dinge  erzählen.  Den  Akt,  da  Iphiklos  dem 
Malampus  die  Heerde  feierlich  übergiebt,  lassen  die  Verse  des 
priesterlichen  Gedichts  Melampodia  erkennen,  welche  wir  bei 
Athen.  11,  498  lesen,  oder  Hesiods  Fragmente  S.  291  Göttl.  S. 
363  Mrcksch, 

6,  Lied  vom  Kampf  der  Lapithen  gegen  die  Ken- 
tauren mit  dem  Haupthelden  Peirithoos:  Od.  21,  295  —  302. 
II.  1,  262 — 270.  Es  erzählte  dies  Lied,  wie  der  Kentaur  Eury- 
tion  als  Hochzeitsgast  des  Lapithen  Peirithoos  im  argen  Wein- 
rausch die  Braut  frevelhaft  angefallen  habe  und  die  lapithlschen 
-Mitgäste  den  Frevler  sofort  gefasst,  vor  die  Thür  gezogen  und 
ihm  Ohren  und  Nase  abgehauen  hätten.  Hierauf  habe  der  Ver- 
stümmelte sein  wildes  Volk  zum  Kriegszug  gegen  die  Nachbarn 
aufgeregt,  die  Lapithen  aber,  voran  Peirithoos,  dazu  besonders 
Dryas,  Kaineus,  Exadios  und  Polyphemos,  nachdem  sie  auch 
Freunde   aus   der  Ferne,   z.  B.  den  jugendlichen  Nestor  herbei' 


153 

•  gerufen,  die  Gewalligeu  selbst  gewaltig  säniinllicli  übeiiiiaiint. 
Dies  der  deutliche  Inhalt  das  vorhomerischen  Liedes,  dessen 
erster  Theil  dem  Antinoos  der  Odyssee  das  Beispiel  des  ruch- 
baren Trunkenbolds  zum  Schellwort  bot,  der  zweite  vom  Mit- 
streiter INeslor  zur  Mahnung  und  Küge  gebraucht  wird.-*  In 
einer  andern,  dieser  nachgebildeten  Sage  fällt  derselbe  Eurytion 
eine  andere  Braut  an:  Bakchylides  beim  Schol.  zu  Od.  21,  295. 
Zu  den  genannten  6  oder  7  Liedern,  welche  man  aus  den 
angeführten  Stpllen  als  vorhomerisch  deutlicher  erkennt,  kommen 
aus  dem  echten  Homer  noch  manche  dunklere  Anzeichen  epischer 
Sagen,  wie  vom  gottgeliebten  Peleus^")  und  von  des  Herakles 
Feindschaft  gegen  Eurytos,  dessen  Burg  Oechalia  er  ver\\üstete, 
und  dessen  Sohn  er  mordete^').  Auch  von  einem  Zuge  desselben 
Herakles  gegen  Laomedon  in  Troia  entnehmen  wir  aus  einer 
Anzahl  zerstreuter  Stellen  eine  zusannneidiangende  Erzählung: 
Zeus  hatte  den  beiden  Göttern,  dem  Poseidon  und  dem  Apollon, 
ein  Dienstjahr  auferlegt,  bei  Laomedon,  Vater  des  Priamos,  je- 
nem die  Mauern  von  Troia  zu  bauen,  diesem  Laomedons  Heerden 
zu  weiden  (II.  21,  442  —  449.  7,  452f.)  —  und  zwar  um  einen 
festgesetzten   Lohn.     Als  aber    die   Zeit   des.  Lohns   eintrat,   ver- 


29)  Der  Name  Kenlauren  im  echten  Homer  II.  11,  8.  32.  Od.  21,  295 
neben  dem  andern  Pheres,  Wilde  des  Waldgebirgs  II.  1,  268.  Die  sich 
empfehlendsle  Etymologie  giebt  Preller  Gr.  3Iylh.  2,  14  f.***) 

30)  Homer  sagt  freihch  nur,  wie  er  von  den  Göttern  bei  seiner 
Hochzeil  bescKenkl  worden  II.  24,  62.  23,  277.  18,  84.  17,  443.  16,  143. 
aber  die  reichen  Sagen  von  seinen  Thalen  und  Schicksalen,  wie  sie  be- 
sonders Pindar  erwälml,  enthalten  so  manchen  muthmaasslichen  Lieder- 
slofl"  besonders.  » 

31)  Oechalia  liegt  nach  11.  2",  730  in  Thessalien,  vgl.  das.  596.  Aber 
es  gab  ein  anderes  in  Arkadien  oder  Messenien ,  und  ein  drittes  auf  Eu- 
böa.  Das  Sagenhafte  nun  der  Erzählung  von  des  Herakles  Kampf  gegen 
Oechalia  zeigt  sich  in  der  Verschiedenlieil  der  Meinungen,  in  welchem 
Oechalia  Eurytos  gehaust.  Paus.  4,  2.  3.  Slraho  9,  448.  438.  Der  Erslere 
bezeugt  ausdrücklich,  dass  der  Epikei-  Kr(?o|ihylos  in  seinem  Gedichl  das 
euböische  angenommen,  und  ebenso  Ilekatäos.  Bei  Pherekydes,  der  ilas 
arkadische  annahm,  dürfte  im  Schol.  zu  Soph.  Trach.  354,  in  der  Stelle: 
„Da  Eurytos  ihm  die  Tochter  für  seinen  Sohn  nicht  gab,  eroberte  er  Oe- 
chalia und  lödtete  seine  Söhne"  nun  weiter  statt  „Iphilos  aber  floh 
nach  Euhöa"  zu  lesen  sein  ,, Eurytos".  Es  sollte  die  Gründung  der  j^leich- 
namigcn  Stadt  auf  Euhöa  erklärt  werden.  Und  den  Eurytos  m-mil  richtig 
lierodoros  im  Schol.  zu  Eur.  Hipp.  545, 


154 

^veiger^e  Laoiiipdon  ihn  unter  argen  Drohungen  (das.  450  —  457). 
Hierauf  sandte  Poseidon  aus  dem  Meer  ein  Ungeheuer,  das  vom 
Ufer  in  das  Land  einftel  und  Menschen  und  Fruchtfelder  ver- 
wüstete (11.20,  145—148).  Nach  den  Homers  Kürze  ergänzen- 
den Sagenschreibern  (Hellanikos  im  Scliol,  zu  \'.  H6)  erhielt  Lao- 
medon  auf  Befragung  des  Orakels  nach  einem  Rettungsmittel 
den  Bescheid,  er  müsse  dem  Unthiere  seine  Tochter  Hesione 
zum  Frass  preisgeben.  Er  that  es,  und  versprach  zugleich  Dem, 
welcher  das  Urigethüm  tödten  würde,  Pferde  der  unsterblichen 
Rasse,  welche  das  Königshaus  von  Zeus  für  den  Ganymedes  er- 
halten hatte  (II.  5,  260.  23,  348).  Herakles  kam  nach  Troia. 
sah  die  Gefahr  und  hörte  das  Versprechen.  Er  übernahm  die 
Aufgabe  mit  Hilfe  der  Athene,  auf  deren  Rath  ihm  die  Troer 
eine  vor  dem  Ansturz  des  Ungeheuers  schützende  Mauer  auf- 
führten (11.  20,  145 — 148  wo  fifV  statt  fttV  zu  lesen  ist).  Aber 
wiederum  ward  Laomedon  wortbrüchig,  und  gab  statt  der  ver- 
sprochenen Pferde  Drohworte  (II.  5,  649  —  651).  Dafür  zur  Rache 
schiffte  Herakles  mit  sechs  bemannten  Schiffen  nach  Troia  und 
verwüstete  und  entvölkerte  die  Stadt  (das.  640  —  642).  Auf  der 
Rückfahrt  verfolgte  Here,  jetzt  wie  bei  den  Arbeiten,  den  Hera- 
kles. Sie  bewog  den  Gott  des  Schlafs,  den  Zeus  in  tiefen  Schlum- 
mer zu  versenken ,  und  erregte  während  dessen  mit  Boreas  Hülfe 
Stürme,  welche  des  Herakles  Schiffe  Umtrieben  gegen  Kos  hin, 
bis  Zeus  erwachend,  den  Sohn  der  viel  dabei  ausgestanden,  zu- 
-Tück  nach  der  Peloponnes  (Argos)  rettete  (II.  14,  250  —  258  und 
15,  18  —  30). 

Diesen  Zusammenhang  haben  wir  allein  durch  Zusammen- 
reihen einer  ganzen  Folge  von  Stellen  zu  erkennen  vermocht. 
Im  Einzelnen  gab  jede  nur  eine  Hindeutung  auf  Momente,  welche 
den  Hörern  mittels  ihres  Bewusslseins  vom  Zusammenhange  ver- 
ständlich waren.  Um  so  weniger  werden  wir  hier  nur  von  Mund  zu 
Munde  gehende  Volkssage  annehmen,  vielmehr  das  Verfahren  Ho- 
mers d.  h.  seine  Voraussetzung  jenes  ergänzenden  Bewusslseins  als 
Zeugniss  von  einem  allbekannten  Liede  erkennen,  deren  es  ge- 
rade von  Herakles'  Thaten  eine  Mehrzahl  gegeben  hat. 

Die  in  dem  alten  Liede  gegebene  Sagengestalt  hat  sehr  be- 
merkenswerthe  Forlbildungen  fahren.  Der  eine  Zusatz,  dass  die 
Götter  Poseidon   und  Apollon   beim  Bau   der  Mauer  den  Aeakos, 


155 

d.  li.  den  sterblichen  Helden,  ziun  Gehilfen  genonimen  i^Pind. 
Ol.  8,  31  oder  41),  erscheint  als  besonders  sinnig.  Schon  da- 
mals 3agte  nämlich  ein  Vorzeichen,  an  dem  vom  Sterblichen  ge- 
bauten Theile  werde  einst  Troias  Zerstörung  beginnen.  Wie 
aber  Apollon  dort  selbst  daneben  verkündigt,  waren  nachmals 
die  Aeakiden  Telamon  (Find.  Isthm.  5,  27  f.  Nem.  4,  25)  und 
Peleus  (Pind.  Fr.  149  im  Scbol.  zu  Eur.  Andrem.  781)  Kampfge- 
nossen des  Herakles  gegen  Troia.  Die  Sage  mag  zuerst  in  Aegina 
diese  Zusätze  erhalten  haben,  ^^o  das  Aeakidengeschlecht  so  be- 
sonders verehrt  wurde. 

Wir  mögen  in  der  Kürze  hiernach  noch  auf  einige  andej-e 
Liederstoffe  hinweisen,  welche  wir  in  Homers  lebendiger  Charak- 
teristik des  dreialtrigen  Nestor  erkennen,  wo  er  ihn  die  Thalen 
seiner  Jugend  vor  dem  Jüngern  Geschlecht  mit  seinem:  ,,Wär' 
ich  noch  so  jung  wie  da"  —  aufführen  lässl.  Die  bestimmte  und 
lichte  Weise  und  der  zuversichtliche  Ton,  in  welchem  dies 
geschieht,  somit  der  Ruhmesglanz  eines  gefeierten  Helden,  wel- 
chen Nestor  in  jenen  Stellen  in  Anspruch  nimmt,  lässt  nicht 
zweifeln,  dass  die  Zuhörer  an  vorhandene  Nestorlieder  erinnert 
wurden,  von  denen  wir  weiterhin  noch  mehre  Anzeichen  finden 
werden. 

7.  Nestorlieder,  a)  Im  siebenten  Gesänge  der  Iliaser  zählt 
Nestor,  als  Hektors  Herausforderung  zum  Zweikampi  zuerst  so 
zweifelmülhig  und  matt  aufgenommen  wird,  wie  einst  in  einer 
Fehde  der  Pylier  und  Arkader  Ereuthalion,  wie  jetzt  Hektor  die 
Tapfersten  gefordert,  und  während  alle  Andern  gezagt,  er  der 
Jüngste  von  Allen  sich  entgegengestellt  und  mit  Athene  den  Sieg 
gewonnen  habe.  Das  Lied  Hess  dabei  den  Nestor  die  Geschichte 
einer  langbhi  vererbten  Waffe  des  Gegners  erzählen  (132—156), 
poetisch  zur  Hebung  seiner  Tapferkeit,  für  uns  zum  chatakteristi- 
sehen  Zug  der  zumal  älteren  Heldensitte  solcher  ^'ererbung. 

b)  In  einer  andern  Jugenderinnerung  desselben  II.  23,  630  bis 
645,  an  die  Leichenspiele  des  Epeierkönigs  Amarynkeus,  trill 
uns  das  lebendige  Bild  solchen  Turniers  der  Heldenzeit  entgegen. 
Nestor  zählt  fünf  Arten  des  Wettkampfs  auf,  von  denen  er  Fausl- 
kampf.  Ringen,  Lauf  und  Speerwurf  berühmten  Helden  gegen- 
über sieghaft  bestanden,  nur  im  Wagenrennen  bat  ihm  das  un- 
zertrennliche   Zwillingspaar,    die    Molioniden,    .nach    absichtlich 


156 

(Uinklem  Ausclnick)  durch  die  Ueberzald  übeiijolt^^).  —  Die  Wetl- 
kanipler  waren  Väter  von  vor  Troia  kampfenden  Helden  (U.  2, 
609  f.,  628,  705).  Der  von  Nestor  überwundene  Iphiklos  .ist  in 
der  Sage  als.  wundersehneller  Läufer  viel  genannt^^).  Nach  die- 
sem Allen  mögen  wir  aus  Nestors  Schilderung  ein  Einzellied 
über  die  Leichenspiele  des  Amarynkeus  von  einem  pylischen 
Aöden  zum  Preise  des  Nestor  gedichtet  erkennen. 

5.  Fortsetzung.  Aus  älteren  Liedern  in  die  Ilias  oder 
Odyssee  eingeschobenen  Stellen.  Herakles-  und 
N  e  s  t  o  r  1  i  e  d  e  r. 
Die  beiden  bei  genauerer  Betrachtung  der  homerischen  Ge- 
dichte sich  aufdrängenden  Wahrnehmungen,  einmal,  dass  Homer 
ältere  Lieder  zu  seinen  Corapositionen  theils  benutzen  musste, 
theils  nach  Wahl  seines  Genies  anwandte,  sodann  dass  seine 
Compositionen  im  Laufe  der  Zeiten  durch  die  sie  vortragenden 
Rhapsoden  manchen  Wandel,  besonders  aber  manche  Entstellung 
durch  Einschiebsel  erfuhren,  sie  treffen  in  mehren  Fällen  zusammen 
zu  dem  Ergebniss,  dass  die  Rhapsoden  mehrfach  eben  aus  älteren 
Liedern,  entweder  denselben,  welche  dem  Homer  gedient,  oder 
andern  ihnen  bekannt  gewordenen  gewisse  Partieen  in  die  Ilias 
oder  Odyssee  eingeschoben  haben.  An  dieser  Stelle  unserer 
Geschichte  des  griechischen  Epos  sind  Beispiele  dieser  Art  eigent- 
lich nur  als  Belege  vom  Vorhandensein  solcher  Lieder  nachzu- 
weisen, doch  werden  wir  nicht  umhin  können,  die  Beweise  der 
Interpolation  dabei  schon  darzulegen;  es  ergiebt  sich  gerade  aus 
der  Operation  des  Interpolators   jenes  Vorhandensein  deutlich. 

Es  sind  Lieder  von  Herakles  und  von  Nestor,  welche  uns  in 
dieser  Art  kund  werden. 

A.  Ein  vorhomerisches  Lied  von  des   Herakles  Arbeilen  gab 
Alhene's  Zornrede  uns  schon  oben  §.  4.  Nr.  2.  zu  erkennen.     Die 


32)  Die  Zwilliiigshnuler  Kleatos  und  Eurytos  hatten  zum  mensch- 
lichen Vater  dt-n  Aktor,  zum  götlliclien  den  Poseidon  mit  der  Mutler  Mo- 
Hone,  daher  der  zwiefache  Name  Aktorionen  oder  Molioniden.  Ueber  sie 
vgl.  m.  Heldens.  in  Kieler  philol.-Slud.  433  oder  jjes.  Abdr.  59. 

33)  Bei  den  Leichenspielen  des  Pelias  ist  er  der  Sieger  auf  der  Lade 
des  Kypselos,  Paus.  5,  17,  10.  Nach  Hesiods  Kalal.  fr.  137.  Mrcksch.  hef  er 
über  Äehrenfeldor  ohne  die  Aehren  zu  beschädigen ,  wie  die  Pferde  in 
II.  20.  227, 


157 

Aiifangsparlie  dessell)en  Liedes,  die  breite  Erzählung,  wie  es  durch 
die  Lisi  der  Here  gescliehen,  dass  der  Sohn  des  Zeus  unler 
den  Gehorsam  des  schlechteren  Mannes  gekommen,  finden  wir 
der  Rede  des  Agamemnon,  II.  19,  95  — 133,  eingeschoben.  Es 
wird  selbst  aus  dem  Znsammenhange  und  dem  Fortschritt  der 
Rede  klar,  dass  diese  Ausführlichkeit  nicht  für  jenen  Or(  ur- 
sprünglich bestimmt  war,  und  dass  nicht  Homer  es  war,  der  seinen 
Sprecher,  um,  was  er  begangen,  als  unfreiwillig  in  Unsal  begangen 
zu  entschuldigen,  die  olympische  Geschichte  von  der  Bethörung 
des  höchsten  Zeus,  und  zwar  so  ausführlich  erzählen  Hess.  Aga- 
memnon sprach  in  den  vorhergehenden  Versen:  ,,Ja,  man  schalt 
mich  viel,  doch  ich  bin  nicht  schuldig,  sondern  Zeus,  das  Ge- 
schick und  Erinys  —  ,  die  mir  an  jenem  Tage  in  der  Versamm- 
lung die  heftige  Unsal  in  den  Sinn  warfen,  als  ich  Achills  Preis- 
geschenk wegnahm.  Doch  wie  könnt'  ich  es  anders?  Ein  Gott 
setzt  ja  Alles  durch.  Des  Zeus  ehrwürdige  Tochter  ist  Ate  die 
Alle  verunsalt,  die  verderbliche.  Leise  schwebt  sie  dahin  ohne 
den  Boden  zu  berühren ,  aber  über  dem  Haupt  der  Männer  schrei- 
tet sie  hin  reizend  die  Menschen  zum  Fehl,  und  verstrickt  wenn 
den  nicht  den  Andern".  Diese  Worte  haben  den  unverkennbar  klaren^ 
Sinn:  „Nicht  ich  bin  Schuld,  sondern  göttliche  Mächte,  Zeus,  von 
dem  alles  Geschick  ausgeht,  die  das  Gemüth  erregende  Erinys, 
die  Ate,  die  unversehns  den  Sinn  der  Menschen  bethörende  Ir- 
rung, unselige  Macht  der  Leidenschaft  die  selbst  von  Zeus  stanunt". 
So  zu  Anfang  von  85  —  94 ,  und  ganz  in  demselben  Sinne ,  d.  h. 
dem  Zeus  die  Schuld  beimessend  137.  „Aber  nachdem  ich  ge- 
fehlt und  Zeus  die  Besinnung  mir  wegnahm".  Wenn  man  nun 
anerkennen  muss,  dass  es  ein  verschiedener  Gedanke  ist,  eine 
leidenschaftliche  That  auf  Einwirkung  des  Zeus  und  seiner  Tochter 
Ate  zu  schieben,  und  dann  diesen  Zeus  selbst  als  Beispiel  der 
Bethörung  aufzuführen,  so  kann  man  eine  Incongruenz  der  Dar- 
stellung nicht  in  Abrede  stellen.  Nach  den  Anfangsgedanken 
waltet  die  (unübersetzbare)  Ate^"*)  eben  nach  dem  Willen  des  Zeus 
unter  der  Menschenwelt,  sie  ist  seine  Tochter.  Der  feinsinnige 
Dichter  zeichnet  in  wundervollen  Zügen  ihre  Weise.  Zu  diesen 
Gedanken   stimmt  es  nicht  nun  den  Zeus  selbst  einst  als  licthört 

34)  Schön  ausgelegt  von  Lolirs  in  Rli.  Mus.  N.  Folge  1.  r)0:] — WO. 
Vgl.  Sagenp.  512. 


' ^158 

aufzii führen.  Nach  der  vorhergehenden  Schilderung  erwartet  man 
schon  nichts  Anderes  als  die  Anwendung  auf  den  eigenen  Fall 
des  Sprechers,  nicht  aher  ein  fremdes  Beispiel.  Ueberdies  \>  ürde 
Homer  wenigstens  mit  einem  Wort,  etwa:  „wie  die  Sänger  mel- 
den", es  erklärt  haben,  woher  doch  der  sterbliche  Fürst  die 
olympische  Geschichte  wisse.  Denn  Achill  weiss  II.  1 ,  396  der- 
gleichen von  seiner  göttlichen  Mutter,  Odysseus  Od.  12,  388  von 
Kalypso  und  mittelbar  von  Hermes;  wogegen  Glaukos,  II.  17,  162f. 
nicht  weiss,  was  Zeus  und  Apollon  für  Sarpedou  gethan  haben, 
16,  666  fl.  Endlich  aber  muss  die  lange  Erzählung  dem  Achill 
gegenüber  uns  unzeitig  erscheinen ;  für  ihn  reichten  die  ent- 
schuldigenden Anfangsworte  völlig  aus;  alles  \yeitere  war  ihm 
lästig,  da  er  zum  Kampf  drängte  (6Sf.). 

Dem  Interpolator  kann  bei  der  Ate  das  Lied  von  Herakles 
und  Zeus  Ueberlistung  in  den  Sinn  gekommen  sein,  und  als 
dessen  Anfangspartie  betrachtet  hat  die  Erzählung  die  befriedi- 
gendste Gestalt. 

Noch  mehre  andere  Stellen  Homers  sind  aus  Herakles- 
liedern eingeschoben.  Die  eine,  Od.  11,  601—626,  welche  ein 
Theil  der  umfänglichen  Interpolation  ist  (565 — 627)  erscheint  als 
eine  seltsame  Mosaik  aus  Versen  verschiedener  Lieder.  Abge- 
sehn  von  604  und  612,  welche  aus  Ilesiod,  und  602  und  603, 
welche  bei  der  attischen  Redaction  von  Onomakritos  eingefügt 
worden,  sind  die  übrigen  auch  weder  mit  der  homerischen  Dar- 
stellung von  Odysseus'  Besuch  der  Unterwelt  vereinbar,  noch 
unter  einander  aus  gleicher  Vor-  und  Darstellung  liervorgegangen. 
Die  so  betonte  Lobpreisung  des  Wehrgehenks,  613  f.,  kann  nicht 
einem  blossen  Schattenbilde  gegolten  haben,  vielmehr  muss  He- 
rakles in  der  Poesie,  aus  welcher  die  Verse  genommen  sind,  das 
Wehi'gehenk  lebend  getragen  haben.  Sind  doch  auch  Modus 
und  Zeitform  des  Zeitworts  die  des  Wirklichen  und  Thatsächli- 
chen.  So  war  wohl  das  Auftreten  des  Helden  beschrieben,  als 
er  den  Kerberos  zu  holen  kam?  Aber  damit  stimmt  nicht  607: 
Hielt  enlblösst  das  Geschoss,  und  den  Pfeil  an  der  Sehne  ge- 
richtet, drohenden  Blicks  umschauend,  dem  stets  Abschnel- 
lenden ähnlich.  Das  sind  Züge  wie  eines  stehenden  Bil- 
des —  ganz  übereinstimmend  mit  den  Darstellungen  des  He- 
rakles  in  der  äginetischen  Giebelgruppe  (Thiersch.  Epoch.  249], 


159   _ 

So  lässt  sich  nicht  anders  urtheilen,  als:  der  Rhapsode  hat  das 
Schattenbild  des  Herakles  ebenso  wie  die  Thaten  dargestellt,  wie 
er  es  bei  denen  des  Minos  und  des  Orion  gethan,  wonach  eben 
diese  drei,  wie  sie  dabei  in  dem  Hades  selbst  von  andern  Schatten 
umgeben  erscheinen,  von  der  sonstigen  Erzählung,  da  die  Schatten 
zur  Grube  hervorkommen,  abweichen:  Anm.  zur  Odyssee,  Tb.  3, 
S.  353  f.  Wir  sehn,  der  Interpolator  hat  einen  Theil  seines 
Heraklesbildes  aus  einem  Lied  vom  Gange  nach  dem  Kerberos 
entnommen,  den  andern  aus  einer  nachhomerischen  Nekyia,  das 
Ganze  aber  eingewebt:  um  zuletzt  auf  die  frühere  Form  der 
Darstellung  zurückzulenken,  doch  ein  Gleichartiges  zu  gestalten 
nicht  vermocht. 

B.  Wir  kommen  nun  zu  den  Nes totliedern.  Eine 
längst  als  Interpolation  anerkannte  Stelle  der  Ilias  t1,  664 — 762, 
die  sich  selbst  durch  das  wiederkehrende  „Aber  Achilleus"  ab- 
gränzt,  ist  durch  immer  genauere  Untersuchungen  jetzt  dafür 
angesehn,  dass  die  aller  Anwendbarkeit  auf  die  obwaltenden 
Verhältnisse,  den  steigenden  Nothstand  des  Griechenheers  ent- 
behrenden Mittheilungen  des  Mestor  aus  seiner  Ihatenreichen 
Jugendzeit  zwiefache  Einschiebsel  aus  den  Nestorliedern  enthal- 
ten. Was  Nestor  dem  von  Achill  an  ihn  gesandten  I'atroklos 
jetzt  schicklich  erwiderte,  das  folgt  nach  dem  zweiten  „Aber 
Achilleus".  Wie  unbedacht  aber  die  Rhapsoden,  durch  die  son- 
stige AVeise  des  homerischen  Nestor  verleitet,  ihn  auch  hier  wieder 
eine  ehemalige  Grossthat  erzählen  lassen,  muss  jedem  nicht 
stumpfen  Leser  der  Ein-  und  Uebergang  zum  Eingeschobenen 
fühlbar  machen:  604.  Aber  Achilleus  kümmert  und  härmt  sich 
nimmer  um  uns  —  Wartet  er  bis  —  Erst  die  geflügelten  Schiffe 
von  feindlicher  Flamme  versengt  sind.  Und  wir  selbst  nach- 
einander verbluteten?  Lebt  doch  in  mir  jetzt  Nimmer 
die  Kraft,  die  früher  belebt  die  gelenkigen  Glieder, 
Dass  ich  so  jung  noch  wäre  u.  s.  w.  Das  ist  ja  gesprochen, 
als  ob  Nestor,  wenn  er  noch  die  ehemalige  Jugendkraft  besässe, 
all  das  über  das  Griechenheer  gekommene  und  dasselbe  bedrohende 
Unheil  allein  würde  abgewendet  haben ,  so  dass  es  des  Achill 
gar  nicht  bedürfte.  Die  Erzählungen  aber,  die  nun  folgen,  lei- 
sten durchaus  Nichts,  als  dass  Nestors  ehemalige  Heldenkrafl 
durch  Rericht  von  zwei  Fehden  bewiesen  wird,  ohne  dass  irgend 


160 

eine  solche  Aelmlirlikeil  der  Umstände  stattfindet,  wie  liei  den 
olien  genannten  INestorliedern,  7,  151  und  23,  632  und  aucli 
1,  273  f. 

Die  beiden  Feliden  sind  in  der  jetzigen  Gestall  so  darge- 
stellt, als  wäre  die  zweite,  die  Belagerung  der  Gränzstadt  Tliry- 
oessa  durch  die  Epeier  in  Folge  der  ersten,  drei  Tage  nach 
derselben  eingetreten:  707  f.,  711  f.  Dies  ist  aber  undenkbar. 
In  der  ersten  bat  der  allerdings  auch  da  noch  jugendliche  JNestor 
(684)  Seinem  Vater  Neleus  durch  die  dem  Itomenes,  den  er  er- 
schlug, abgenommenen  und  nach  Pylos  beigetriebenen  Heerden 
schon  grosse  Freude  gemacht.  Neleus  hatte  nun  den  reichlich- 
sten Ersatz  für  das  Viergespann,  welches  der  Epeierkönig  Au- 
geias  zurückbehalten,  in  den  zahlreichen  Heerden,  welche  der 
sieghafte  Sohn  ihm  zugebracht;  696 — 705.  Die  Fülle  der  gan- 
zen Beule  wird  sehr  beflissen  hervorgehoben:  677  —  682.  So 
leuchtet  denn  ohne  Erinnerung  ein,  dass  der  Valer  Neleus  nach 
solchem  Erfolg  des  jugendlichen  Sohnes  unmöglich  denselben 
noch  für  „unkundig  der  Werke  des  Krieges"  geachtet  und  ihm, 
um  ihn  selbst  zurückzuhalten,  sein  Gespann  versteckt  haben 
würde.  31itbin  kann  der  inlerpolirende  Einfüger  der  jetzt  zwei- 
ten Fehde  ursprünglich  die  Erzählung  der  ersten  nicht  vor  sich 
gehabt  haben.  Jeder  der  beiden  Feldzüge  Nestors  ist  für  sich 
gedichtet  und  für  sich  von  einzelnen  Rhapsoden  hier  eingefügt. 
Zuerst  wohl  entnahm  ein  Rhapsode  den  Nestorliedern  den  zwei- 
ten. Die  Geschichte  der  frühesten  Jugendtbat  war  das  Nächste 
und  Geeignetste,  um  Nestors  Einleitungsformel  „War'  ich  noch 
so  jung  wie  da"  zu  bewahrheiten,  wenn  auch  beide  Lieder  den 
Nestor  wie  einen  Herakles  priesen.  In  dem  von  der  frühesten 
Fehde,  wo  er  fünfzig  Wagen  nahm  und  die  zwei  auf  jedem,  also 
hundert  Streiter  mit  seinem  Speer  erlegte,  auch  beinah  die  Mo- 
lioniden,  nur  dass  ihr  Vater  Poseidon  sie  entraffte  (740  —  752), 
ia  diesem  sind  die  Grosstbaten  des  jungen  Helden  sprechender, 
als  in  dem  andern,  wo  die  Fülle  der  Beute  es  thun  soll.  Dieses 
andere  mochte  aber  ein  anderer  Rhapsode  lieber.  Das  Eine  wie 
das  Andere  gehörte  gleich  schlecht  und  gleich  gut  hierher. 
Wahrscheinlich  kamen  sie,  die  epitomirt«n  Lieder,  erst  durch 
spätere  Redaction  nebeneinander  in  den  Text.  Unwahrscheinlich 
genug  verband  man  sie  so,  dass  die  Belagerung  Thryoessas  als 


161 

Rache  für  die  weggeführten  Heerden  unternommen  erschien,  da  man 
bei  diesem  Trimde  doch  wohl  vielmehr  auf  Pylos  losgegangen  wäre. 
Und  in  der  unklaren  Erzählung,  da  die  übermüthigen  Epeier 
Vielen  Ersatz  (für  geraubte  Heerden?)  schuldig  heissen ,  wird 
eben  so  halb  angedeutet,  die  Epeier  hätten  den  Raub  gewagt, 
weil  eben  vorher  die  Pylier  von  Herakles  decimirt  und  also 
wenig  stark  gewesen  wären.  So  wird  in  der  Kürze  aus  einem 
anderen  Liede  der  Rachezug  gegen  Neleus  erwähnt ;  aber  ausser 
dass  diese  Erwähnung  an  diesem  Orte  die  Erzählung  stört,  ist 
das  Motiv  nicht  richtig;  denn  soll  nun  erst  der  Zug  der  Pylier 
zum  Entsatz  von  Thryoessa  gefolgt  sein,  so  schildert  das  folgende 
Lied  die  Pylier  bei  diesem  keineswegs  geschwächt,  nein,  voll 
strebenden  Muths  zur  Schlacht  (717)  und  tapfer  im  ganzen  Ver- 
lauf des  Rampfes. 

Die  genauere  Untersuchung  hat  nun  auch  Anzeichen  ent- 
deckt, wonach  der  Beutezug  um  die  Unbill  des  Königs  Augeias 
erst  in  nachhomerischer  und  ziemlich  junger  Zeit  gedichtet  er- 
scheint. Wie  so  Vieles  in  die  Vorzeit  durch  Rückdichtung  ver- 
legt wm'de,  so  mochte  hier  ein  dichtender  Rhapsode  neuere  ^'er- 
hältnisse  in  die  Zeit  Nestors  zurückverlegen.  Und  zuerst  ist  Pylos 
in  dieser  Erzählung  durch  den  Fluss  Alpheios,  zu  dem  man  in 
einem  halben  Tage  kommt,  sicher  als  in  Triphylien  gelegen  zu 
erkennen,  abweichend  von  der  homerischen  Angabe,  nach  der  "*es 
in  Messenien  lag.  ^'^)  Sodann  ist  der  Name  der  Feinde  der  Pylier 
im  Liede  vom  Beutezuge  Eleier,  nach  demjenigen  der  Landschaft 
EU§,  670  und  672,  685,  697,  also  der  später  übliche,  wogegen 
dieselben  im  andern  Liede  immer  nur  Epeier  heissen,  731,  736, 
743;  nur  das  Einschiebsel  der  Redaction,  690  —  694,  hat  im 
vorletzten  Verse  Epeier  von  den  Feinden.  Also  verräth  sich  auch 
hierdurch;  da  bei  Homer  selbst  die  Bewohner  von  Elis  immer 
sonst  Epeier  heissen  (II.  2,  615  und  619,  Od.  13,  275),  das 
Beutelied  als  jünger.  Endlich  hat  der  Verfasser  des  Aufsalzes 
im  Philol.  8,  722  weiter  es  sehr  wahrscheinlich  gemacht,  dass 
das  Lied,  wo  Eleier   genannt  sind,   eine  rückgedichtete   Nestor- 


35)  S.  m.  Anm.  zu  Od.  Tli.  1,  S.  134  und  die  zu  Od.  11.  257  Ange- 
führten. Eben  durch  die  Anerkennung  der  Stelle  der  II.  als  interpolirl 
wird  der  viel  verhandelte  Streit  beigelegt. 

Nitzsch,  Gesch.  d.  griech.  Epos.  11 


162 

sage  isl,  erfunden  im  Sinne  der  langgefnlirten  Streitigkeiten,  da 
nach  Paus.  6,  22,  2,  die  Eleier  von  der  achten  Olympiade  schon 
und  fortwährend  mit  ihren  Gränznachbarn  Hader  halten,  um  den 
Ruhm  der  Gründung  der  olympischen  Spiele  und  den  Vorstand 
hei  denselben.  Es  hatte  im  Liede  ja  der  Sagenkönig  der  Eleier 
Augeias  bei  angestellten  Wettspielen  dem  Neleus  ein  Viergespann 
zurückgehalten  (699 — 702).  Das  ist  unhomorisch;  nach  II.  23, 
287  ff.  und  überhaupt  fahren  die  Wettkämpfenden  mit  Zwiege- 
spannen,  wie  sie  im  Kriege  dienen.  Nur  in  einem  Gleichnisse 
finden  sich  bei  Homer  die  Wettrenner  zu  Vieren.  Od.  _13,  81, 
wie  der  Dichter  in  seinen  Gleichnissen  mehrfach  Dinge  und 
Wörter  anwendet,  welche  erst  in  seiner  Lehenszeit  kund  ge- 
worden. ^*) 

Nach  diesen  Erweisen  haben  Avir  die  zwei  oder  drei  ISestor- 
lieder,  aus  denen  die  unpassende  Ruhmrede  Nestors  floss,  der 
Zeit  nach  zu  unterscheiden.  Das  von  den  ersten  Jugendthaten 
zählt  zu  den  vorhomerischen  Nestorliedern,  wie  die  zwei  aus  II. 
7  und  23,  das  Reutelied  ist  junger  Fabrik  in  seiner  eingelö- 
iheten  Form. 

Das  nur  in  seinen  Hauptzügen  berührte  dritte  von  des  He- 
rakles Rachezug  gegen  Neleus,  wird  uns  durch  Stellen  aus  He- 
siods  s.  g.  Katalog  deutlicher.  Nestors  Bruder,  Periklymenos,  der 
vom  Stammgott  Poseidon  die  Gabe  der  Verwandlung  besass,  war 
dem  Herakles  lange  unerfassbar,  bis  Athene  ihn  diesem  nach- 
wies. Der  Jüngste,  Nestor,  entging  dem  Tode,  indem  er  in  Ger- 
mos  aufgezogen  wurde  (fr.  16  und  17  M.,  44  und  45  G.).  Als 
Ursache  des  Zuges  ^vird  die  verweigerte  Sühnung  nach  dem  Mord 
des  Iphitos  genannt.  Das  wäre  eine  der  homerischen  Welt  mit 
dem  Sühnbrauche  fremde  Ursache.  Also  war  wohl  auch  dieses 
Lied  oder  die  Sage  später?  Sofern  ursprünglich  eine  andere  Ur- 


36)  Sagenp.  160.  11.  8,  185,  isl  als  uiiechl  schon  durch  den  Dual  der 
folgenden  Zeilwörter  kenntlich,  wie  die  einzelno  Aniede  der  vier  Rosse 
nur  kleinlich  erscheint.  Der  Verwerfung  Aristarchs  werden  in  dcuSchol. 
nur  Spilzlindigkeilen  entgegengeselzl.  Bei  den  olyni|iisclien  Spielen  ka- 
men Viergespanne  erst  Ol.  25  in  GeLrauch.  Stesichor.  fr.  1  liess  die  Di- 
oskuren  bei  den  Leichenspielen  mit  solchen  siegen,  Soph.  Itei  Strabo 
399  den  Aniphiaraos  ganz  gegen  die  heroische  Sille  solches  im  Kriege 
brauchen.  Ebendahei  noch  Andere  nach  Herm.,  Op.  11,  64,  Aesch.  fr. 
-343  oder  318  N. 


'       163 

Sache  stattgefunden  haben  kann,  lässt  sich  darüber  nicht  entschei- 
den. Es  weicht  aber  diese  Sage  in  der  Zahl  der  Söhne  des  Ne- 
leus,  12,  II.  11,  692  und  Hes.  fr.  17  und  45  ab  von  Od.  11, 
285,  wo  ausdrücklich  nur  drei,  Nestor,  Cbronüos  und  Perikly- 
nienos,  gezählt  werden,  und  die  Erklärungen  des  Widerspruclis 
in  den  Scholien  befriedigen  nicht. 

Es  ist  noch  eine  grössere  Interpolation,  als  aus  einem  an- 
dern Liede  entnommen  anzuführen.  Od.  11,  565  —  627,  sie  be- 
sprechen wir  aber  schicklicher  erst  später.  Die  ganze  Beschaffen- 
heit der  Nestorlieder  liesse  die  Vorstellung  zu,  dass  der  Dichter 
der  Ilias  erst  die  Sagen  von  Nestor  und  den  Neleiden  mit  dem 
troischen  Kreise  in  Verbindung  gebracht  habe,  aber  die  Sage 
•  vom  troischen  Kriege  selbst  lässt  sich  ohne  Nestor  nicht  denken. 
(Philol.  XII,  579,  Nr.  25.; 

5.  Ueb ersieht  der  älteren  Lieder  vom  älteren  Hel- 
dengeschlecht, -welche  bisher  nachgewiesen  sind. 
Dann  Erinnerung  an  Sagen  und  Lieder  von  den 
Dioskuren,  von  Theseus,  von  Perseus  und  ans 
andern  Gebieten. 

Wir  haben  folgende  Lieder  oder  Liederstoffe  gefunden:  von 
der' Argonautenfahrt,  von  Herakles'  Arbeiten,  von  den  Aben- 
teuern des  Bellerophon  in  Lykien,  von  der  kalydonisclien  Eber- 
jagd und  der  Fehde  der  Aetoler  und  Kureten,  vom  Abenteuer 
des  Sehers  Melampus,  vom  Kampf  der  Lapilhen  unter  Peirithoos 
gegen  die  Kentauren,  von  Herakles'  Rachezug  gegen  Laomedon, 
von  desselben  Rache  an  Neleus,  dann  die  Nestorlieder,  von  der 
Fehde  der  Pylier  mit  den  Arkadern,  von  den  Leichenspielen  des 
Amarynkeus,  dazu  von  den  Fehden  der  Pylier  mit  den  Epeiern 
ein  älteres  und  von  dem  Beutezug  gegen  die  hier  Elcier  Genann- 
ten ein  jüngeres.  —  Diese  Fülle  von  epischen  Liederstuffen,  die 
"  wir  uns  bald  in  kürzeren  einzelnen  Liedern,  bald  in  aufeinander 
folgenden  (Oemen)  gesungen  denken,  haben  wir  aus  dem  echten 
Text  der  homerischen  Gedichte  oder  aus  eingeschobenen  Stellen 
erkannt.  Aber  diese,  dadurch,  dass  andere  untergingen,  ältesten 
Gedichte  und  somit  ältesten  Denkmale  enthalten  in  dem ,  was 
Homer  oder  Rhapsoden  einwebten,  nicht  die  Ilinweisung  auf  die 
epischen  Lieder  aller  Gebiete  Griechenlands.     Die   ohnehin  ganz 

11* 


164 

dürftigen  Erwähnungen  der  in  Cullus  und  Volkssage,  Poesie  und 
bildender  Kunst  viel  erwähnten  vortroischen  Helden,  die  Dios- 
kuren,  Perseus  und  Theseus  verschwinden  vor  der  Kritik  bei- 
nah vollends  ganz  aus  Homer. ^')  Nehmen  wir  die  Stellen,  wie 
sie  sind,  so  besagen  sie  von  den  Thaten  des  Perseus  gar  nichts, 
von  den  Dioskuren,  welche  nach  II.  3,  243  bereits  die  Erde 
des  vaterländischen  Lakoniens  birgt,  wird  daneben  Od.  11,  298 
bis  304  ihr  besonderes  Todesgeschick  gezeichnet,  da  sie  im 
wechselnden  Loose  Tag  um  Tag  in  der  Unterwelt  und  wieder 
im  Olymp  oder  als  waltende  Götter  auf  der  Erde  leben.  Es  ge- 
schah in  der  Fehde  mit  den  Messeniern  Idas  und  Lynkeus,  dass 
als  Kastor  von  Idas  tödtlich  getrolfen  war,  der  unsterbliche  Bruder 
das  Wechsellos  von  Zeus  erbat  und  erlangte,  wodurch  sie,  indem 
sie  nun  immer  ungetrennt  oben  oder  unten  leben ,  das  griechi- 
sche Ideal  der  Bruderliebe  wurden.  ^^) 

Eine  andere  frühere  Fehde  gegen  Attika,  um  ihre  vom  jun- 
gen Theseus  im  Bunde  mit  Peirithoos  geraubte  Schwester  He- 
lena zurückzuholen,  ist  in  der  epischen  Poesie  und  der  Kunst 
bekannt,  durch  die  Aethra,  Theseus  Mutter,  welche  damals  von 
den  Dioskuren  gefangen  nach  Sparta  abgeführt  sein  sollte,  dann 
als  Sklavin  der  Helena  mit  nach  Troia  gekommen  und  (nach  der 
Kl.  Ilias  des  Lesches)  von  den  Söhnen  des  Theseus  zurückge- 
bracht sei  (Paus.  10,  25,  8).  Den  Zug  mit  jenem  Umstand  halte 
der  spartanische  Lyriker  Alkman  in  einem  Liede  auf  die  Dios- 
kuren erzäLlt  und,  dass  Theseus  abwesend  gewesen,  nach  ihm 
Pindar  (nach  Paus.  1,  41,  4).  Es  war  dieser  Zug  sehr  lebendig 
in  der  Volkssage  (Herod.  9,  73).  Die  Dekeleer  genossen  bei  den 
Spartanern  noch  in  später  Zeil  Vorrechte  und  wurden  bei  Kriegs- 
zügen verschont,  weil  sie  Aphidna  als  Aufenthalt  der  Helena 
nachgewiesen;  Sage  der  Aphidnäer  heisst  es  bei  Strabo  396,  17. 
Dass   die   Dioskuren   gleich  Herakles   unter   den  Argonauten   ge- 


37)  Die  Dioskuren  sind  in  unbestrittenen  Versen  nur  II.  3,  236 — 244 
genannt.  Die  Stellen  II.  3,  144,  Od.  11,  298  fl".  erscheinen  niehrer  sprach- 
lichen und  sachlichen  Gründe  wegen  als  unhomerisch. 

38)  Dies  Letztere  nach  Plut.  v.  d.  Bruderl.  12.  Die  ganze  Sage  aus- 
gefljhrt  von  Stasinos  in  der  Parallelepisode  seines  Epos  vom  Anfange  des 
troischen  Krieges  (Bei  Welcker  Ep.  Cycl.  2,  S  506  und  fr.  9,  S.  515)  und 
Find.  Nem.  10,  55  ff.  oder  101  ff. 


165 

wesen,  sagen  Pindar  und  alle  uns  bekannten  Nachfolger,  und  es 
galt  auch  in  der  Volkssage  (Herod.  4,  144).  Auf  der  Hinfahrt 
bestand  Polydeukes  im  Faustkampf  den  Wütherich  Amykos,  den 
Fürsten  der  Bebryker,  der  älteren  Bewohner  von  Kleinasien 
(Strab.  541  g.  E.),  wie  (natürlich  nach  älteren  Dichtern)  Apoll. 
Rh.  2.  z.  A.  und  Theokrit  ausführlich  schildern.  Kastor  war 
der  erste  unter  mehren,  welche  sich  in  dem  nun  von  den  Be- 
brykern  erhobenen  allgemeinen  Gefecht  hervorthat. 

Von  Theseus  gilt,  dass  die  seiner  erwähnenden  Verse 
Homers  noch  mehr  wie  die  von  den  Dioskuren  als  spätere  Ein- 
schiebsel erscheinen.  Er  kam  nach  dem  Zeugniss  der  älteren 
Sagenschreiber  bei  Flut.  Thes.  29  und  26  spät  in  die  nationale 
Heldensage  und  es  hat  in  der  ßlüthezeit  der  Epopöe  kein  Dich- 
ter ihn  gefeiert.  Der  einzige  Kampf,  an  dem  er  ausserhalb  der 
attischen  Sagen  nach  Jenen  Theil  genommen,  war  der  des  Pei- 
rithoos  gegen  die  Kentauren.  Der  Vers  11.  1 ,  265  fehlte  aber 
in  den  besten  Handschriften  ganz,  und  ist  er  in  andern  doch 
überliefert,  so  macht  seine  Stellung  am  Ende  der  Namen  und 
das  gerade  ihn  allein  hervorhebende  Prädicat  es  wahrscheinlich, 
dass  er  ebenso  wie  es  von  Od.  11,  631  ausdrücklich  bezeugt  ist, 
in  Athen  eingeschoben  worden.  Die  Stelle  von  der  Ariadne  Od. 
11,  322  —  325  wo  es  heisst: 

Sie  von  Minos  erzeugt,  dem  verderblichen,  welche  sich  Theseus 
Einst  aus  Kreta  daher  in  die  heilige  Flur  von  Athenä 
Führte :  jedoch  fruchtlos ,  denn  zuvor  traf  Artemis  Pfeil  sie  — 
diese  Stelle  —  den  folgenden  Vers  lassen  wir  hier  unbesprochen 
—  sie  verräth  die  speziell  attische  Gesinnung  handgreiflich.    Mi- 
nos galt  nicht  dem  Homer  (Od.  19,  178  f.)  noch  überhaupt  dem 
Nationalsinne,  aber  den  Altikern  als  ein  verderblicher,  und  wäh- 
rend die  ältere  der  ausserattischen  Sagen  den  Theseus  überhaupt 
der   Veränderlichkeit  in   der   Liebe  beschuldigt,   der   dann   auch 
die  Ariadne  verlassen   habe,   erscheint   er   hier   seinerseits  treu; 
die  Artemis,  welche  plötzlichen  Tod  sendet,  hat  sie  ihn  nur  nicht 
ßeniessen  lassen.^'*) 


39)  Die  Laurent.  Schol.  zu  Ap.  Rhod.  3,  997.  geben  die  homer.  St. 
noch  ausdrücklicher  in  diesem  Sinn:  „Ehlichte,  doch  fruchtlos".  Ein 
Vers  des  Hesiod,  der  den  Theseus  anklagte,  wurde  von  den  Redacloren 
in  Athen  auf  Peisistratos  Geheiss  getilgt:  Plut.  Thes.  20.  vgl.  das.  29. 


166 

6.  Fortsetziiiag.  T  h  e  s  e  u  s  -  B  a  g  e n  it  n  d  Lieder. 
Unter  der  sehr  reichen  ¥i\\\e  der  Theseiissagen,  welche  durch 
ihre  epische  jNatur  einen  Sänger  zur  Behandhing  reizen  konnten, 
stellt  sich  gerade  die  bei  den  Lobrednern  Athens  und  in  Kunst- 
bildern *")  besonders  gefeierte,  die  von  dem  Kampf  des  Helden 
und  seiner  Schaar  gegen  die  in  Attika  eingefallnen  Amazonen 
am  unklarsten.  Es  erscheint  hier  am  unthunlichsten,  zu  ent- 
scheiden, ob  sie  und  was  davon  nur  dem  Leben  der  Volkssage 
angehört  und  nach  dieser  auch  von  bildender  Kunst  gestaltet  ist, 
oder  Avas  in  einem  alten  Epos  ausgeführt  war.  In  der  Sage  geht 
ein  Zug  des  Theseus  nach  dem  Wohnsitz  der  Amazonen  vorher, 
als  Avelcher  Themiskyra  am  Fluss  Thermodon  am  schwarzen  Meer 
gemeiniglich  angegeben  wird,*')  Von  da  hat  Theseus  nach  der  einen 
Gestalt  der  Sage  mit  Peirithoos  (nach  Pindar  hei  Paus.  1,  2,  1. 
der  es  wohl  so  in  Athen  hörte),  nach  der  andern  ohne  Genossen 
(Plut.  1,  26),  nach  einer  dritten  als  Begleiter  des  Herakles  die 
Amazone  Antiope  oder  Hippolyte  entführt.  Um  diesen  Raub  zu 
rächen  drangen  die  Amazonen  vor  und  fielen  in  Attika  ein.  Gar 
viele  Denkmale,  Festtage,  Ortsnamen  und  die  Gräber  der  gefallenen 
Amazonen  erhielten  beim  Volk  die  Erinnerung  an  jenen  Sieg  des 
Theseus.*^)  Aber  wie  über  alle  diese  Punkte  es  keine  feste 
Ueberlieferung  giebt,  sondern  der  Deutungen  immer  mehre  sind, 
so  gewähren  auch  die  noch  so  vielen  Amazonenbilder  nur  solche 
Gestalten,  dass  man  sie  gern  der  Phantasie  der  Künstler  beimes- 

40)  Der  Alhenäer  l)ei  Herod.  9 ,  27.  Isokr.  Panatheu.  78.  Paiieg.  19 
u.  A.  bei  Stallbaum  zu  Plal.  Menex.  239  B.  Von  bes.  altischen  Künstlern 
war  dieser  Kampf  in  Athen  an  mehren  Stellen ,  dann  in  Olympia  dar- 
gestellt: Paus.  1 ,  15,  2.  17  ,  2.  5,  11 ,  7. 

41)  Herod.  4,  86  uml  110  mit  Bäbrs  Anm.  Steph.  v.  Byz.  xi-^Afia^o- 
V'Loi',  Aesch.  Prom.  724  fl'.  Die  Amazonen  erscheinen  schon  unter  den 
Abenteuern  des  Bellerophon,  11.  6,  186.  und  Priamos  gedenkt  aus  seiner 
Vorzeit  ihrer,  3,  189,  wozu  2,  814  gehört.  Am  vollständigsten  ist  die 
Sage  von  ihnen  behandelt  von  Steiner,  ülier  den  Amazonen -Mythus  in 
der  antiken  Plastik.    Lpz.  1857  s.  bes.  S.  28  f. 

42)  Der  Areopag'(Areshngel)  liatte  nach  der  einen  Deutung  seinen 
Namen  vom  Opfer  der  Amazonen  (Aesch.  Eum.  680  oder  655),  nacb  einer 
andern  vom  ersten  Gericht  über  eine  3Iordschuld  des  Ares  (Demosth. 
Aristokr.  641,  25.);  das  Fest  Boedromia  seinen  Ursprung  nach  der  einen 
vom  Sieg  über  die  Amazonen  (Plut.  Thes.  27.),  nach  dem  beliebteren 
Glauben  vom  Kriege  mit  den  Eleusiniern  unter  Euniolpos  (Et.  M.  202.). 
Grabeshügel  an  mehren  Orten:  Phit.  1 ,  27.  Paus.  1,  41,  7. 


I 


167 

seil  kann,  welche  an  der  Gestalt  der  mannhaften  Frauen  im  Kampf 
mit  Männern  und  an  ihrer  scythischen  und  dorischen  Bekleidung 
Gefallen  hatten.  Eine  Reihe  von  Momenten  des  Kampfes  bilden 
sie  nicht.  Wir  können  uns,  abgesehen  von  späteren  Sagenschrei- 
bein,  deren  gemachte  Darstellung  Plutarch  giebt,  aus  dem  Allen 
keinen  Hergang  des  Kampfes,  keine  Handlung  vermitteln,  wie  dies 
oben  bei  Herakles'  Fehde  gegen  Laomedon  thunlich  war.  Eine 
solche  giebt  nur  der  Kampf  der  Amazone  Penthesileia  mit  Achill, 
der  in  der  Epopöe  Aethiopis  des  Arkinos  die  erste  Scene  bildete, 
und  darnach  der  bildenden  Kunst  ganz  besonders  liänfig  StolT 
gegeben  hat.  ^^)  Es  sind  in  der  Litteraturgeschichte  auch  über 
eine  nacbhomerische  Epopöe  vom  attischen  Amazonenkampf  nur 
unhaltbare  Combinationen  aufgestellt  worden**)  und  nach  dem  Ge- 
sagten müssen  wir  es  unentschieden  lassen,  ob  es  ein  älteres 
Lied  davon  gegeben. 

Andere  Sagen  von  Theseus'  Heldenleben  treten  uns  in  ihrem 
Verlauf  lichter  entgegen.  In  der  wunderreichen  Vorzeit,  auf  der 
von  Unholden  und  Mischnaturen  noch  heimgesuchten  Erde,  be- 
währt der  attische  Heros  seine  Heldentugend  in  mehren  Aben- 
teuern, und  erwirbt  sich  besonders  in  einem  derselben  den  Ruhm 
des  andern  Herakles.  Es  giebt  dies  vier  Liederstoffe,  die  wir, 
wie  sie  von  bestimmten  Anfang  bis  zu  einem  deutlichen  Ausgang  ge- 
führt, auch  von  gemüthlichen  Regungen  beseelt  sind,  wohl  einst 
von  heimischen  Sängern  ausgesungen  erachten  mögen.  So  kamen 
die  Lieder  in  die  nachmaligen  Theseiden,  von  denen  wir  allein 
ausdrückliche  Kunde  haben.  Da  waren  die  mannigfachen  Aben- 
teuer dieses  Helden  eben  zusammengereiht,  und  bildeten  bei  die- 
ser blossen  Einheit  der  Person  keine  wahre  Epopöe.  ^^) 

43)  Overheck  in  Zeilschr.  f.  All.  1850  Nr.  37  S.  289  —  307.  und  in 
seiner  Gallerie  heroischer  Bildwerke  1.  S.  4U7  If.  Sleiner  in  seiner  angel'. 
Schrill  S.  38, 

44)  Die  Allliis  enics  Ilcgesinus ,  welche  Paus  9,  29,  1.  mit  einigen 
Versen  über  die  Gründung  von  Askra  in  der  Schrift  eines  Sagenschreibers 
genannt  ist,  kann  uns  nur  als  ein  Gedicht  erscheinen,  in  welchem  wie 
in  den  vielen  prosaischen  Schriflen  des  Namens  überhaupt  alle  Sagen 
Attika's  zusanmicngereihl  waren,  unter  denen  die  vom  Amazoneneinfall 
freilich  auch  sein  konnte.  DerTilcL\inazonia  vonSuidas  unter  Homer  auf- 
gel'ülirl  in  dieser  Folge:  Amazonia,  Kl.  Ilias,  Nosten,  vcnälh  uns  wahr- 
scheinlich die  Ansicht,  nach  welcher  Homer  die  sämmllichen  Gedichte  der 
Iroischen  Sage  gedichtet  haben  sollte. 

45)  Aristot.  Poet.  8,  2. 


168 

a.  Als  der  vor  andern  viel  und  frühzeitig  ausgedichtete  Lieder- 
stoff hebt  sich  die  Fahrt  nach  Kreta  hervor.  Erzürnt  über  den 
Tod  seines  Sohnes  Androgeos,  welcher  von  Afegeus  gegen  den 
marathoniscben  Stier  gesandt  und  dort  umgekommen  war,  hatte 
Minos,  der  Seekönig  auf  Kreta,  dem  Aegeus  einen  jährlichen 
Tribut  von  7  Knaben  und  7  Mädchen  auferlegt.  Sie  wurden 
dem  menschenfressenden  Minotaur  zum  Frass,  der  innerhalb  des 
\on  üaedalos  erbauten  Labyrinths  hauste.  Als  zum  dritten  Mal 
die  Loosung  der  Opfer  geschah,  stellte  sich  in  die  angstvolle  Be- 
legung der  jugendliche  Theseus  freiwillig  und  verhiess  dem  Vater, 
den  Minotaur  zu  überwältigen.  Aegeus  gab  nun  dem  Steuermann 
des  Trauerschiffs  mit  schwarzem  Segel  ein  weisses  mit,  das  er 
bei  sieghafter  Heimfahrt  aufziehen  sollte.  Als  der  liebliche  Jüng- 
ling angekommen,  sah  ihn  alsbald  Ariadne,  3Iinos'  Tochter,  und 
von  Liebe  für  ihn  ergriffen,  übergab  sie  ihm  den  Knäuel,  dessen 
Faden  ihn  durch  die  Gewinde  des  Labyrinths  liin  und  zurück- 
führte. Der  Held  erlegt  das  Unthier  und  kommt  mit  den  Ge- 
retteten glücklich  zu  seiner  Retterin  zurück.  Es  folgte  die  Feier 
des  Siegs,  |ZU  der  Dädalos  der  Ariadne  den  Tanzplatz  bereitete 
und  einen  Tanz  lehrte,  der  die  Windungen  des  Labyrinths  nach- 
ahmte. So  erschienen  auf  Bildern  Theseus  und  seine  bekränzte 
Freundin  im  jubelnden  Tanz,  mit  ihnen  die  befreiten  Knaben 
und  Mädchen.''®)  Nebst  den  Befreiten  entführte  Theseus  seiner 
Zusage  gemäss  auch  die  Ariadne.  Als  er  auf  dem  Wege  an  der 
hisel  Dia  (Naxos)  angelegt,  und  sie  auf  dem  Gestade  der  Ruhe 
pflagen,  erscheint  nach  der  einen  Sage  dem  Theseus  Athene, 
im  göttlichen  Traumgesicht  und  heisst  ihn  die  Ariadne  zurück- 
lassen, worauf  er  absegelt,  Ariadne  aber  von  Aphrodite  mit  der 
Verheissung  getröstet  wird,  sie  werde  des  Dionysos  Gemahlin 
sein.  Nach  der  andern  Sagengestalt  stirbt  Ariadne  vom  Pfeil 
der  Artemis,  und  Theseus  kann  sie  also  nicht  vollends  nach  Athen 


46)  II.  18,  590  mit  Schul,  und  das  Bild  an  dem  Kasten  des  Kypselos, 
Paus.  5.19. 1,  vgl.  9. 40. 2,  sowie  die  ausrührlichere  Darstellung  an  der  Vase 
des  Klitias  und'Ergotimos  in  Florenz,  abgeb.  in  den  Mon.  d.  Jnst.  di  corrisp. 
arch.  Vol.  4.  tav.  56.  Der  kretische  Tanz  Geranos  geheissen  war  nachmals 
auf  Delos  gebräuchlich  und  während  die  Sage  seine  Entstehung  immer  von 
Theseus'  Sieg  herleitete,  raocliten  die  Deücr  nach  Art  der  Volks-  und  Stif- 
tungs-Sagen diese  Stiftung  einer  Anwesenheit  des  Helden  heimessen.  So  lau- 
tet es  hei  Plut.  Thes.  21 .  Pollux  Onom.  IV.  g.  101.  S.  Prellers  gr.  Myth.  2. 197  f. 


]69 

bringen.  Die  Beunruhigung  wegen  dieser  Ereignisse  macht  den 
Theseus  vergessen,  das  weisse  Segel  aufzuziehen.  Aegeus,  der  nun 
das  Schiff  mit  dem  Trauersegel  von  der  Höhe  der  Akropolis  sieht, 
stürzt  sich  im  Schmerz  über  den  Tod  seines  Sohnes  in  die  Tiefe. 
Theseus  landet  im  Hafen  Phaleron  und  sendet  noch,  indem  er 
den  Göttern  die  gelobten  Opfer  bringt,  einen  Herold  mit  der 
Nachricht  von  seiner  Rettung  zum  Vater,  erfährt  dessen  Tod,  be- 
stattet ihn  feierlich   und  bezahlt  dem  Apollon  sein  Gelübde. 

Das  Leben  dieser  Sage  schon  in  früher  Zeit  bezeugen  ausser 
jener  interpolirten  Stelle  in  Od.  11,  321  ff.,  deren  Alter  sich  nicht 
bestimmen  lässt,  die  Rypria,  wo  Nestor  an  die  Entführung  der 
Ariadne  erinnert,  das  Bild  auf  dem  Kasten  des  Kypselos,  The- 
seus mit  einer  Leyer  und  Ariadne  bekränzt,  bei  der  Siegesfeier, 
und  zahlreiche  Vasenbilder  des  älteren  Stils.  ^') 

Diese  Kunslbilder  aus  dem  Abenteuer  des  Theseus  geben 
wie  andere  aus  der  troischen,  thebeischen,  herakleischen  Sage 
gemeinhin  allerdings  Zeugniss  von  noch  älteren  epischen  Ge- 
dichten, sofern  die  Künstler  natürlich  gern  und  daher  meistens 
das  bildeten,  was  durch  epische  Vorträge  allgemein  ruchtbar  war. 
Der  Kasten  des  Kypselos  weist  auf  die  ersten  zehn  Olympiaden, 
also  bis  736  v.  Chr.  zurück.  Denselben  epischen  Liedern  ent- 
nahmen die  Lyriker  ihren  Stoff,  wenn  sie  alte  Sagen  lyrisch  be- 
handelten. Das  Abenteuer  nach  Kreta  hatte  Simonides,  wie  es 
nach  den  Bruchstücken  scheint,  vollständig  besungen.  Dichter  und 
Künstler  aber  lassen  erkennen,  dass  sie  ihre  Darstellungen  im 
vollen  Glauben  nicht  blos  an  die  Persönlichkeiten  der  Helden, 
sondern  auch  an  die  Ungetlu'unc  d(!r  älteren  Ileroenzeit  gegeben. 

b.  Zu  einem  zweiten  Liedc  bot  des  Theseus'  Auszug  ge- 
gen den  marathonischen  Stier  einen  annehmlichen  Gegen- 
stand. Der  Stier,  von  Poseidon  erzeugt  und  wild  gemacht,  war 
aus  Kreta  herübergekommen  und  verwüstete  die  Fluren  um  3Ia- 
rathon  und  die  ganzen  Vierlande  (Tetrapolis)  Attikas.  Als  der 
junge  Held  in  die  Umgegend  Marathons  kam,  trat  ihm  die  greise 
Hekale  entgegen,  deren  ländliche  Hütte  hei  immer  unverschlosse- 

47)  Kypria:  Welck.  Ep.  Gycl.  11,  506.  Kasten:  Paus.  5,  19,  1.  Va- 
sen: 0.  .lalins  Arch.  Beitr.  258  f.  Amykl.  Thron:  Paus.  3,  18,  16.  und 
schon  §.  11.  wozu  Jahn  S.  257.  Sinioiiidcs  bei  Phil.  TIm\s.  17.  Fr.  54  Iiis 
56.  p.  889.  ^ 


170 

ner  Thür  alle  Wandrer  gern  gastlich  aufnahm.  Mochte  der  alle 
Sänger  schon  ehen  so  ^vie  später  Kallimachos  zuerst  den  Stier 
und  seine  Verwüstungen  beschriehen  haben,  er  schilderte  nun, 
\vie  der  kräftige  Jüngling  von  der  Alten  in  ihre  Hütte  geführt, 
und  hier  auf  schlichtem  Sessel  mit  untergestreutem  Schilf  zum 
einfachen  Mahl  eingeladen  sei.  Dann  Avie  sie  mit  ihm  mütterlich 
sorgliche  Gespräche  gepflogen,  und  sie  dem  Jüngling  ihre  Ge- 
schichte, dieser  ihr  von  gefährlichen  Ungethümen  und  deren  Be- 
kämpfung erzählt  habe.  Als  sie  den  muthvoUen  Jüngling  zum 
Kampfe  entliess,  gelobte  sie  dem  Zeus  ein  Dankopfer,  wenn  er 
glücklichen  Ausgang  gewähre.  Die  Greisin  starb,  ehe  ihr  Gebet 
erhört  war,  aber  es  ^ard  voll  und  ganz  erfüllt.  Theseus  bän- 
digte und  fing  das  Tliier  lebendig,  führte  es  durch  Athen  und 
opferte  es  dem  Apollo  Delphinios,  einem  Geleitsgott.  In  dank- 
barem Andenken  an  die  gastliche  Hekale  rief  Theseus,  als  er 
ihren  Tod  vernommen,  die  Umwohnenden  zusammen  und  stiftete 
einen  Altar  und  ein  Opfer  dem  Zeus  der  Hekale  und  sie  selbst 
wurde  fortan  von  jenen  Gauen  als  Heroine  verehrt.  ^^) 

Es  war  das  hier  Erzählte  Volkssage  der  Marathonier,  und 
kann  die  Legende  zum  Cultus  der  Heroine  Hekale  heissen.  Von 
einem  einheimischen  Sänger  zuerst  lebendig  ausgeprägt,  wurde 
sie  wohl  bis  zu  Kallimachos  zunächst  von  den  zahlreichen  Sagen- 
schreibern auch  älterer  Zeit  den  andern  von  Theseus'  Thaten  an- 
gereiht, dann  ebenso  von  den  Dichtern  der  Theseiden  (s.  Anm. 
45.);  Kallimachos  behandelte  sie  wieder  für  sich. 

c.  Viel  und  nach  Verhältniss  frühzeitig  findet  sich  in  Poesie 
und  Kunstbildern  die  Sage  von  des  Theseus  Bund  mit  Pei- 
rithoos  zu  gegenseitiger  Hilfe  zum  Raub  einer  Braut,  nament- 
lich aber  zu  dem  gemeinsamen  Gang  in  die  Unterwelt,  um  für  Pei- 
rithoos  die  Persephone  oder  Kora  zu  entführen.  Zuvor  raubten 
sie  die  Helena  aus  Sparta  bei  einem  Reigentanz  zu  Ehren  der 
Artemis,   und   loosten  darauf  um  sie  unter  der  Bedingung,   dass 


48)  Phit.  Thes.  14.  und  die  Fragin.  des  Epos  Hekale  von  Kallimachos, 
bearbeitet  von  Näkc  in  Opusc.  II.  Bonn  1845.  Der  Stier  S.  (30.  Tlieseus' 
Auszug  und  Hekale  97.  117.  151.  Der  Kampf  S.  253  ff.  Einzug  in  die 
Stadt  S.  260  ff.  Das  Opfer  niclil  wie  Paus.  1,  27  a.  E.  der  Stadtgöttin,  son- 
dern dem  I)el|tliinios,'(len  Tlieseus  viel  ehrt  S.  266.  Des  Theseus  und  der 
DeinoLcn  SliUiiiig  S.  268. 


171 

der,  Avelchem  sie  zugefallen,  dem  Andern  seinerseits  zu  einer 
Braut  behilflich  sein  solle  (Plut.  Thes.  31.).  Es  erhielt  sie  The- 
seus,  und  er  zeugte  schon  auf  dem  AVege  nach  Argos  die  Iphi- 
genia  mit  ihr.  So  die  Volkssage  der  Argeier,  welche  Stesichoros 
und  spätere  alexandrinische  Epiker  befolgten.  ^^)  Peirilhoos  er- 
sehnte die  Königin  der  Unterwelt  Persephone ;  so  stiegen  sie  hin- 
ab. Dieses  Abenteuer  fand  sich  wie  man  erkennt,  als  selbstän- 
digere Partie  in  den  sogenannten  Eöen,  welche  Hesiods  Katalogen 
der  Heldenmütter  als  4.  oder  4.  und  5.  Buch  angehängt  wur- 
den.''")  Wie  sie  des  Charons  Kahn  gesucht,  erzählte  das  Epos 
Minyas,  und  ausführlicher  (nach  der  Perserzeit)  der  Epiker 
Panyasis  in  seiner  Heraklee.  Nach  beiden  hatte  der  Maler  Po- 
lygnot  die  Bilder  der  beiden  Helden  in  seiner  Unterwelt,  in 
der  Halle  des  Tempels  zu  Delphi  gemalt^').  Der  Verlauf  war 
dieser:  Als  sie  durch  die  Kluft  am  Vorgebirge  Taenaron  im  Schatten- 
reich angelangt  waren,  \\urden  sie  auf  einem  Felsensitz  festgebannt, 
nicht  im  Stande  wieder  aufzustehen.  Es  erlöste  sie  erst  Hera- 
kles, als  er  den  Kerberos  heraufzuholen  in  den  Hades  kam,  wie 
der  Theseus  der  Tragödie  diese  Wohlthat  des  Herakles  so  dank- 
bar anerkennt.  ^^)  Den  Peirithoos  wollte  oder  konnte  Herakles 
nach  anderer  Sage  nicht  befreien.  Während  Theseus  in  der  Un- 
terwelt war,  zogen  die  Brüder  der  Helena,  die  Dioskuren  gegen 
Aphidua  in  Attika,  wo  die  geraubte  Helena  l)ei  Theseus  alter 
iMulter  Aethra  wohnte.  Mit  der  befreiten  Schwester  führten  sie 
die  Aethra  gefangen  nach  Sparta.''^) 

d.    Der   vierte   Liederstotf  aus  der  These ussage  zeigt  vor 
andern    diesen  Helden  als  einen  andern  Herakles,  wie  man 


49)  Paus.  2,  22,  7.  Beide  Hehlen,  wie  sie  soclieii  die  Helena  gerauht 
haben,  waren  an  dem  aniykläisehcn  Thron  zu  sehn:  Paus.  3,  18,  5. 

50)  S.  das  Verzeichniss  hesiodischcr  Gedichte  hei  Paus.  9,  31,  5  f., 
in  welchem  noch  andere  Titel  ebenso  als  Thcile  zu  denken  sind,  so  wie 
manche  anderwärts  genannte.  S.  Marckschellel  Hcsiodi  Fragm.  S.  154 
bis  158. 

51)  Die  Minyas  Paus.  10,  28,  2  vgl.  mit  J5;.  7.  Panyasis  das.  10,  29, 
9.    Auch  Pindar  hat  der  Sage  gedacht  nach  Paus.  1 ,  11  ,  5. 

52)  Diesen  Hergang  giehl  im  Zusauunenhang  das  Schol.  zu  A|in|l. 
Rh.  1.  101.  des  Theseus  Dankharkeil  lici  Kiirip.  Ras.  Herakl.  IIC.'.I.  I.3.'^f3f. 
Herakicid.  2181".  344. 

53)  Diese  Wegfiihruiig  sah  man  schon  an  der  Lade  des  Ky|isclns  dar- 
gestellt nach  Paus.  5,  19,  3.  und  mit  poelisdier  Beischrül.  —  Viol  ])egcg- 


172 

ihn  nannte.  Jedoch  gehört  dies  wesentlich  dem  alten  Gebiet  des 
ionischen  Stammes,  welches  er  auf  seiner  ersten  Heldenbalm  durch- 
zog, dem  Wege  von  Trözen  über  die  korinthische  Landzunge  bis 
nach  Athen  an.  Aehnlich  wie  die  Arbeiten  des  Herakles  bilden 
hier  sechs  auf  einander  folgende  Kämpfe  eine  in  Poesie  und  Kunst 
gefeierte  Reihe  von  Gross-  und  Wohlthaten  des  Theseus,  durch  die, 
wie  sein  Vor-  oder  Ebenbild  Herakles  die  weitere  Erde,  so  er 
jenes  alte  lonien  befriedete.  Erst  nachdem  Theseus  die  hier  die 
AVanderer  anfallenden  Wütheriche  überwältigt,  war  diese  Gegend 
gastlich  und  wohnlich.  Nur  Sagenschreiber  und  Kunstbilder^) 
bezeugen  uns  aus  älterer  Zeit  diesen  ersten  Heldengang  des  io- 
nischen Herakles ,  aber  in  so  lebendiger  Darstellung  und  so  ab- 
gerundetem Verlauf,  dass  die  Voraussetzung,  in  einem  alten  Liede 
seien  die  einzelnen  Gebilde  der  Volkssage  verknüpft  und  beseelt 
gewesen,  hier  besonders  wohl  begründet  erscheint.  Die  Erzäh- 
lung beginnt  mit  der  ersten  Prolte  der  Heldenkraft  bei  Pittheus 
in  Trözen  und  schliesst  mit  der  Erkennung  durch  den  über- 
raschten Vater  im  Beisein  der  Medea  in  Athen.  Die  Vorgeschichte 
des  Liedes  war  diese:  König  Aegeus  war  wegen  der  feindlichen 
Pallantiden  um  so  verlänglicher  nach  einem  Erben  zum  weisen 
Pittheus  nach  Trözene  um  Hülfe  gekommen.  Dieser  gesellte  ihm 
seine  Tochter  Aethra.  In  Hoffnung  auf  einen  Sohn  legte  nun 
Aegeus  beim  Abschied  sein  Schwert  und  seine  Sohlen  unter 
einen    schweren   FeFsblock.     Sobald   der   zu  hoffende  Sohn  stark 


net  die  pragmatische  Deutung  dieser  Sage.  Da  sind  die  Helden  vielmehr 
nach  Epirus  gezogen  (dem  alten  Local  der  Unterwelt),  um  dem  König  der 
Mülosser,  A'amens  Aidoneus,  und  seiner  Gattin  Persephone  die  Tochter 
Kora  zu  enllühren.  Der  König  stellte  jedem  Freier  die  Aufgabe,  seinen 
Hund  Kerheros  zu  bewältigen.  "Da  jene  die  Jungfrau  stall  dessen  rauben 
wollten,  liess  er  sie  festnehmen,  bis  Herakles  sie  davonführte:  Plut. 
Thes.  31.  Paus.  1,  27,  4  2,  22,  6.  lieber  Tliesprotien,  das  Land  der  Mo- 
losser,  als  das  Gebiet,  wo  das  Phantasicliibl  der  Unterwelt  entstand  s. 
Anm.  zu  Od.  10,  513  Th.  3.  S.  15G  I. 

54)  Plut.  Thes.  6  —  12.  Paus.  1,  27,  7  — 9.  Diod.  4.  59.  Ovid  Me- 
tam.  7,  437  —  447.  Die  Kunslbilder  zürn  Tlieil  sc]u:)n  von  Böttiger  Vasen- 
gem. 1 ,  2.  S.  134 — 163.  besprochen.  In  Athen  ia  dem  noch  erlialtenen 
s.  g.  Theseion,  das  nach  Ross  vielmehr  ein  Tempel  des  Ares  war  (dess. 
Theseion  10.  19.  32.  50.),  auf  der  Burg  ein  Erzbild  von  dem  Aufheben  des 
Felsen  Paus.  1,  27,  8.  in  der  s.  g.  Poikile  der  ßilderhalle  der  Skeiron 
Paus.  1,  3,  1.    Ueber  sonstige  Kunstbilder  s.  Preller  Gr.  3Iylh.  2,  192. 


173 

genug  geworden  den  Felsblock  zu  heben,  solle  die  Mutter  ihn 
mit  den  Kennzeichen  nach  Athen  gehen  heissen.  Die  Erzäh- 
lung selbst  aber  lautet  so: 

Im  Hause  ihres  Vaters  hatte  Aethra  den  Sohn  Theseus  gross 
und  schön  aufwachsen  sehen,  ohne  ihm  zu  offenbaren,  wer  ei- 
gentlich sein  Vater  sei  (man  sprach  von  Poseidon}.  Als  er  im 
frischen  Gedeihen  sechszehn  Jahr  geworden,  führte  sie  ihn  zum 
Felsen,  nannte  ihm  Aegeus  als  seinen  Vater  und  hiess  ihn  nach  des- 
sen Willen  thun.  Leicht  hob  der  Jüngling  den  Stein  und  trat  mit 
dem  Schwert  und  den  Sohlen  den  Weg  nach  Athen  an,  nicht,  wie 
Grossvater  und  Mutter  meinten,  auf  der  kurzen  Seefahrt,  sondern 
zu  Lande.  Auf  dem  Grenzgebirge  nach  Epidauros  traf  er  den 
Keulenträger  Peripbetes,  Sohn  des  Hephästos,  der  jeden  Wan- 
derer mit  seiner  Keule  anfiel.  Theseus  erlegte  ihn  und  nahm 
die  Waffe  fortan  als  die  seinige.  Auf  der  korintlüschen  Land- 
enge griff  ihn  Sinis  an,  genannt  Pilyokamptes,  der  Fichten- 
beuger, indem  er  jeden  Ankömmling  zwang,  mit  ihm  eine  der 
dort  häufigen  Fichten  niederzubeugen  und  dann  plötzlich  losliess, 
so  dass  der  Aufgeschnellte  nur  um  so  schmerzlichem  Tod  von 
ihm  erlitt.  Theseus  tödtete  ihn  auf  die  gleiche  Weise.  (Ob  die 
alte  Sage  die  Episode  bei  Plut.  8  von  Sinis'  schöner  Tochter 
schon  gehabt,  ist  nicht  zu  sagen.)  Weiter  beim  korinthischen 
Dorfe  Krommyon  tilgte  er  die  dort  wüthende  Sau,  die  Graue, 
wie  ihr  gefürchteter  Name  war.  Wo  hinter  Krommyon  der 
Weg  nach  Megaris  und  Attika  nah  am  Meer  hingeht  über  den 
küppigen  Abhang  des  links  ragenden  Felsengebirges,  da  empfing 
den  Wanderer  der  Unhold  Skeiron.  Er  —  der  für  alle  Zei- 
ten dem  Pass  und  dem  Gebirg'  und  dem  Wind,  der  von  da  wehte, 
den  verrufenen  Namen  gab  —  zwang  sie,  ihm  die  Füsse  zu  waschen 
und  stiess  sie,  wenn  sie  kauerten,  in  das  3Ieer  hinab,  wo  dami 
eine  Seescbildkröte  herznschwamm  und  die  zerschellten  Glieder 
verschlang.  ^^)  Als  der  Held  darauf  gegen  Eleusis  gekommen, 
bestand  er  den  Kerkyon,  der  Niemand  vorüberliess,  er  musste 
mit  ihm  ringen.  Die  Gewandtheit,  durch  welche  Theseus  den 
sonst  immer  sieghaften  Ringer  überwand,  brachte  ihm  den  Hubm 
als  Erfinder  und  Meister  der  Hingkunst.  ^®)    Daneben  erlöste  The- 

55)  Str.  391,  4.  Diod.  4,  59.  Paus.  1,  44,  8  oder  12. 

56)  Paus.  1,  39,  3. 


174 

seus  die  von  Kerkyon  eingekerkerte  schöne  Tochter  Alope  aus 
der  Haft  und  gab  ihrem  Sohne  die  Herrschaft.")  Unfern  von 
Eleusis  strafte  er  in  sechster  Grossthat  den  Damastes,  den  man 
Prokrustes,  den  Strecker,  nannte,  ^veil  er  hei  ihm  Einkehrende 
in  das  sprichwörtUch  gewordene  Bett  legte. 

Jetzt  war  vollbracht,  was  die  Folgezeit  dem  Theseus  als  dem 
andern  Herakles  nachrühmte.  Es  zog  nun  jeder  Wanderer  in 
diesem  Gebiet  ohne  Unbill  seine  Strasse.  ^^)  Als  der  sieghafte 
Jüngling  am  Kephisos  angekommen ,  wird  er  vom  frommen 
Hause  des  Phytalos  gastlich  aufgenommen  imd  wegen  des  beim 
guten  Werk  vergossenen  Blutes  durch  die  üblichen  Gebräuche 
und  ein  dem  Sühne -Zeus  dargebrachtes  Opfer  gereinigt. ^^)  Als 
er  in  die  Stadt  kommt,  um  zum  Königshaus  zu  gehen,  er  unge- 
kannt  im  ionischen  langen  Gewände  und  schmuck  aufgebundenem 
Haar,  lachen  Bauleute  am  Tempel  des  Apollon  Delphinios  über 
das  bräutliche  Mädchen,  das  so  allein  herumstreiche.  Ohne  ein 
Wort  zu  entgegnen,  spannt  er  von  einem  dastehenden  Lastwagen 
die  Stiere  ab  und  wirft  ein  schweres  Stück  des  Wagens  (die 
Lesart  ist  dunkel)  hoch  in  die  Luft,  höher  als  das  Dach,  das  die 
Spötter  dem  Tempel  aufsetzen.*")  Beim  Eintritt  in  das  Vater- 
haus ist  Medea  bei  diesem;  sie  hatte,  aus  Korinth  flüchtig,  bei 
Aegeus  Aufnahme  gefunden.  Sie  nun  ahnet  {jiQoacöd'oiisvrj)  im 
Ankömmling  den  Sohn  (wohl  nach  Frauenarl,  wie  Helena,  Od. 
4,  143),  aber  weil  er  in  ihre  Plane  nicht  passt,  bestimmt  sie  den 
immer  vor  der  Gegenpartei  bangen  Vater,  den  Fremden  bei  der 
Bewirthung  zu  vergiften.  Neben  dem  aufgetragenen  Fleisch  steht 
der  vergiftete  Becher.  Theseus  will  lieber  ohne  Wort  erkannt 
sein,  er  zieht  des  Vaters  Schlachtmesser,  wie  um  das  Fleisch  zu 
schneiden.  Da  erkennt  Aegeus  ihn,  stösst  den  Becher  um,  um- 
armt den  Sohn  und  stellt  ihn  dem  zusammenberufenen  Volke 
dar«M. 


.57)  Dies  der  Inhalt  der  Tragödien  Alope  von  Chöriios  und  Ker- 
kyon von  Euripides:  Nauck,  Frag.  S.  557  ii.  S.  310—312.  Weicker  Gr. 
Tr.  1.  18,2,  711—717. 

58)  Xen.  Memor.  2.  1,  14,     Kyneg.  1,  10, 

59)  Paus.  1,  37,  2  und  4.  K.  Fr.  Herrn.  Philol.  2,  S.  7. 

60)  Paus.  1.  19,  1. 

61)  In  des  Eurip.  Tragödie  Aegeus  war  Medea  diesem  schon  vonnählt, 
und  wurde  ihre  Hinterlist  weiter  ausgesponnen,  welche  dann  ilue  Ver- 


175 

Hiermit  kann  das  Lied  beschlossen  worden  sein,  doch  der 
in  der  Sage  sich  eng  anschliessende  Kampf  und  Sieg  des  Theseus 
über  die  Pallantiden  gab  als  Bewährung  des  Königssohnes  noch 
einpn  volleren  Schluss.  Es  folgt  nämlich  bei  Plut.  13.  ins  Kurze 
gefasst  diese^:  Die  feindseligen  Pallantiden ,  welche  nach  Aegeus 
Tode  die  Herrschaft  gehofft,  rückten  in  zwei  Zügen  heran;  der 
eine  unter  dem  Pallas  gegen  die  Stadt,  die  Andern  legten  in 
der  Nähe  einen  Hinterhalt.  Durch  ihren  eignen  Herold  Leos 
hiervon  unterrichtet,  überfiel  Theseus  die  Lauerer  und  machte  sie 
alle  nieder,  die  Andern  unter  Pallas  zerstreuten  sich. 

So  'also  bildet  dieser  Heldengang,  des  Theseus  einen  har- 
monisch abgeschlossenen  LiederstofF.  Das  Verhältniss  der  Sänger- 
dichlung  zur  Sage  erscheint  uns  als  dasselbe  wie  bei  der  Aus- 
dichtung der  Arbeiten  des  Herakles.  Bemerkenswerth  ist  dabei, 
wie  jeder  der  beiden  die  Erde  befriedenden  Helden  seine  beson- 
deren Ungethüme  bewältigt,  obwohl  sie  ihre  Abenteuer  in  einan- 
der nahen  Gebieten  bestehen.  Nach  der  Angabe  bei  Plut.  Thes.  6. 
war  Herakles  damals  abwesend,  zur  Dienstbarkeit  an  die  Ompliale 
verkauft. 

7.  Fortsetzung.    Lied  von  P  e  r  s  e  u  s  und  dem  G o  r g  o  h  a  u  p  t. 

Einen  Liederstoff  von  gleicher  ja  wohl  noch  knapperer  Be- 
messenheit giebt  die  Perscussage  von  Seriphos,  deren  Leben  im 
Volk  wir  schon  aus  der  Natursage  von  dem  See  mit  stummen 
Fröschen  erkannt  haben. 

Die  Sage  geht  von  Seriphos  ans,  hat  aber  eine  Vorgeschichte 
in  Argos.  Akrisios,  Fürst  von  Argös ,  schliesst ,  geschreckt  von 
einem  Orakel,  welches  ihm  von  einem  Enkel  den  Tod  verkündigt, 
seine.  Tochter  Dana e  in  ein  unterirdisches  Gemach  ein.  Jedoch 
durch  Zeus'  Goldregen  befruchtet  gebiert  sie  den  Perseus.®*)  Als 
Akrisios  dies  erfährt,  steckt  er  Mutter  und  Kind  in  eine  Arche 
und  übergiebt  sie  den  Meeresw  eilen.  Die  Arche  wird  zur  Insel 
Seriphos  hingetrieben.     Diktys,  der  Halbbruder  des  Königs  Po- 


weisuiig    zur   Folge  halle.     Die  Erkennüngsscene  oisclieinl    in   inHireii 
Kunslbiklern. 

62)  Pind.  Pyth  12,  17  oder  30.  vgl.  in.  11.  14,  319  f.  Sopii.  Aiil.  044 
bis  950.    Das  Goiuach  noch  spät  gezeigt  nach  Paus.  2,  23,  7. 


176 

lydektes  zieht  sie  ans  Land  und  nimmt  Mutter  und  Kind  in  sein 
Haus.®')  Der  Inhalt  des  Liedes  ist  nach  den  Sagenschreibern  dieser: 
Danae  und  ihr  Sohn  Perseus  lebten  in  ihres  Retters  Hause 
und  Pflege  wohlgehalten  wie  Verwandte,  Als  Perseus  bereits  z^im 
Jüngling  herangewachsen  war,  sähe  der  König  PoTy dektes  die 
Danae  und  entbrannte  für  sie,  aber  sie  verschmähte  seine  An- 
muthungen;  so  musste  er  in  seiner  Leidenschaft  auf  besondere 
Wege  sinnen,  seine  Lust  zu  büssen.  Der  Sohn  war  ihm  hinder- 
lich. Polydektes  suchte  irgendwie  ihn  zu  nöthigen,  ihn  gewäh- 
ren zu  lassen.  Die  Gelegenheit  sollte  eine  Einladung  bringen, 
und  sie  brachte  sie  in  eigener  Weise.  Polydektes  stellte  angeb- 
lich um  Brautfahrt  und  Werbung  um  Oenoraaes  Tochter®^)  zu  hal- 
ten ein  Pickenik  der  Art  an,  da  der  Wirth  von  jedem  Gela- 
denen ein  bei  der  Einladung  genanntes  Geschenk  verlangte.  Wie 
andere  Mannen  ward  auch  Perseus  geladen.  Als  er  auf  die  Frage, 
auf  welche  Beisteuer  geladen  werde,  hörte,  auf  ein  Pferd,  erwi- 
derte er,  sei  es  in  ärgerlicher  Stimmung  oder  im  Jugendmuth: 
0,  auf  das  Haupt  der  Gorgo!  Als  am  Tage  nach  dem  Gastgebot 
die  Theilnehmer  die  Pferde  brachten,  nahm  Polydektes  das  des 
Perseus  nicht  an,  sondern  verlangte  ihn  beim  Wort  fassend  das 
Haupt  der  Gorgo  (Pind.  P.  12,  13  oder  25)  mit  dem  Bedeuten: 
wofern  er  ihm  nicht  dies  liefere,  werde  er  sich  seiner  Mutter 
bemächtigen.  Voll  Kummer  und  ralhlos  ging  der  treue  Sohn  in 
die  Einsamkeit,  wo  öfters  Gölter  den  Menschen  begegneten.  Hier 
erschien  Hermes  (wie  Od.  10,  281)  und  fragte  nach  der  Ursache 
des  Kummers.  Er  versprach  ihm  darauf  sein  Geleit,  wenn  er  das 
.\benteuer  unternehmen  wollte.  Seine  Scbutzöttin  Athene  versagte 
ihm  auch  ihren  Beistand  nicht.  So  führten  sie  ihn  zuerst  zu  den 
Gräen  im  äussersten  Westen  (Hes.  Tb.  271,  275),  den  Vorwäch- 
tern der  Gorgonen  (Ae.  Fr.  255.  Nk.  274  Hrm.).  Ihnen  nimmt 
er  nach  Rath  der  Athene  das  Eine  Auge  und  den  Einen  Zahn, 
deren  sie  sich  wechselsweise  bedienten  (Ae.  Prom.  795  —  797). 
Auf  ihr  Flehen  verspricht  er  ihnen  die  Rückgabe,  wenn  sie  ihm 


63)  Des  Simonides  wunderliebliches  Gedicht  Fragni.  3".  ül)ers.  von 
Geibd  in  Klass.  Studien  1.  Heft  Bonn  1840.  S.  41.  Pherekydes  im  Seh. 
zu  Apoll.  4,  109. 

64)  Sie  geschah  durch  Wettfahrt  mit  Pferden  ,  also  als  wolle  Polyd. 
sich  ein  recht  gutes  Gespann  auswählen. 


177 

den  Weg  zu  den  Nymphen  zeigen,  welche  im  Besitz  der  ihm 
nöthigen  F'lngelsohlen,  des  Heims  der  Unsichtbarkeit  und  des 
Ranzens  sind.  Perseus  erhall  das  Gewünschte  (Amykl.  Thron 
Paus.  3,  17.  3).  Bedeckt  mit  dem  Heime  und  mit  den  Flügel- 
sohlen beschuht  schwingt  er  sich  empor  und  fort  zum  Weltstrom 
Okeanos,  wo  die  Gorgonen  auf  einer  Insel  wohnen  (Hes.  Th.  274), 
und  seine  Schutzgötter  begleiten  ihn;  Hermes  versieht  ihn  mit 
einer  Sichel,  Athene  mit  einem  Spiegel.  Er  findet  die  drei  Gräss- 
lichen  (geschildert  von  Aesch.  Prom.  799 — 801)  schlafend.  Nur  eine, 
die  Medusa,  war  sterblich  (Hes.  Th.  276 f.);  ihr  schnitt  Perseus 
mit  der  Sichel  bei  abgewendetem  Blick  mit  Hilfe  des  Spiegels 
das  grause  Haupt  ab,  und  barg  es  im  Ranzen  (Hes.  Schild 
212  —  232);  die  beiden  andern  Gorgonen  stürzen,  wie  sie  ge- 
flügelt sind,  nach  geschehener  That  dem  Thäter  nach,®^)  er  aber, 
unsichtbar  durch  den  Helm,  entkommt.  Im  Besitz  des  Hauptes, 
dessen  Anblick  versteinert,  kehrt  der  Held  nach  Seriphos  zum 
Polydektes  zurück,  lässt  ihn  recht  zahlreiche  Zeugen  zusammen- 
berufen und  übt  mit  Aufweisung  des  Verlangten  am  König  und 
dessen  Genossen  die  Rache  für  den  feindseligen  Auftrag  zur  Er- 
lösung der  Mutter  „aus  des  erzwungenen  Ehebetts  Schmach ".^^) 
Dies  die  fast  unter  allen  wunderreichsle,  aber  zugleich  durch 
das  Motiv  der  Sohnestreue  schön  beseelte  Dichtung.  Dass  bei 
ihrer  so  ausgeprägten  Form  und  ihrer  nationalen  Geltung  in 
Poesie  und  Kunst  sie  die  Vorausstitzung  eines  alten  Liedes  reich- 
lich begründet,  dürfte  ebenso  anzuerkennen  sein,  als  es  bemer- 

65)  Wie  in  der  Stelle  der  dem  Hesiod  zugeschriel)eiieii  Dichtung, 
so  erscheinen  am  Kasten  des  Kypselos,  Paus.  5,  J8,  5.,  die  verfolgenden 
Schwestern;  ähnlich  niciit  seilen  in  alten  Vasenljildern. 

66)  Die  vollsländige  Erzählung  geben  die  Steilen  aus  Pherekydes  Fr. 
26.,  in  gedrängter  Fassung  hal  sie  Str.  10.  487  C,  der  wolil  Pindar  P. 
10,  44  oder  69  fr.  und  12,  9  oder  15  ff.  im  Sinn  halle.  Aeschylos  dichtete 
die  ganze  Sage  zu  einer  Trilogie  aus.  Die  Fragra.  Nauck  S.  65.  Die  Tri- 
logie  m.  Sagenpoesie  494  und  584  —  586.  Wenn  die  Mylhologen  den 
Perseus  und  seine  Hadeskappe  und  die  Gräen  und  Gorgonen  zu  einem 
Nalurmylhus  auszudeuten  geschäftig  sind,  so  halten  wir  es  mit  Steiner, 
Uel)er  den  Aniazonenmylhus.  Lpz.  57.  S.  4.  ,,Um  die  Bezieiiung  der  My- 
then zur  Kunst  richtig  zu  lassen,  muss  jede  symbolische  Deutung  dersel- 
ben unlerhleihen  u.  s.  w.  bis  S.  5."  Eben  so  wenig  als  bei  poetischen 
darf  bei  den  Werken  der  plastischen  Kunst  an  Allegorie  gedacht  wer- 
den, da  auch  hier  Alles  auf  die  unmittelbare  Wirklichkeil  berechnet  war. 

Nilzsch  ,  Gesch.  d.  griech.  Epos.  1  2 


178 

keiiswcrlli  ist,  class  von  einer  Erneuernng  im  Zeilaller  der  Knust- 
epopöe, abgesehn  von  ganz  späten  Epikern,"')  gar  Nichts  über- 
liefert ist. 

8.  Uebergang-  zu  den  vorliomerisclieu  Liedern  vom 
jüngeren  Heldengescblecht,  wnä  damit  zn  den 
Vorläufern  der  Epopöe  homerisclien  Geistes. 
Vergl.  Bucli  1  §.  15  letzte  Hälfte.   * 

Als  Ilauptzüge,  welche  die  Sagen  und  Lieder  des  jüngeren 
Geschlechts  von  dem  des  älteren  unterscheiden,  erkennen  wir  er- 
stens die  Grösse  der  Interessen  und  der  Bewegungen,  da,  weil 
es  sich  um  Reiche  handelt,  nicht  einzelne  Schutzgotter,  sondern 
das  Götterregiment  unter  dem  höchsten  Zeus  l)etheiligt  ist,  und 
so  der  höchste  der  Obherrschenden,  der  über  den  Kriegsparteien 
der  Götter  wie  der  Menschen  steht,  aller  Erfolge  waltet.  Sodann 
gehören  alle  die  Ursachen,  welche  die  Kämpfe  hervorrufen,  den 
allgemeinen  Sittengesetzen  an,  und  ist  es  die  Strafaufsicht  der  Göt- 
ter, welche  alle  Ereignisse  beseelt  und  bedingt.  Da  geschieht 
es  denn,  dass  ganze  Heerfcihrten  oder  besonders  charakterisirte 
Akte  derselben  unter  Götterzorn  vor  sich  gehn.  Ferner  die  ein- 
zelnen Helden  des  älteren  Heldengeschlechls  sind  eben  nur 
mächtige  Kämpen,  sie  bestehen  einzelne  üebergewaltige  auf  noch 
friedloser  Erde  zugleich  durch  eigene  Heldenkraft  wie  durch 
Beistand,  wohl  auch  ^Yunde^hilfen  der  begleitenden  Schutz- 
gölter,  und  vollbringen  sieghaft  überhaupt  das  Schwerste.  Die 
Helden  des  späteren  Epos  dagegen  beschliessen  in  bekannten,  wohn- 
lichen Landen  als  Fürsten  und  Führer  der  Gemeinen  ihrer  Stämme 
zusannnengeschaarl  die  Rachekriege,  und  erscheinen  so  auch  per- 
sönlich bei  aller  auch  nicht  ohne  Gott  sich  hervorthuenden  Tapfer- 
k-eit  als  Träger  der  Menschennatur,  wie  ein  Kenner  sie  in  Jed- 
wedem finden  musste.  \Yird  diese  treffend  dargestellt,  so  erweist 
sie  sich  auch  in  den  Edelsten  des  sterblichen  Geschlechts  nicht 
vollkommen  tugendhaft,  vielmehr  immer  zur  Maasslosigkeit  ge- 
neigt und  versucht,  so  dass  auch  die  edelsten  Triebe  und  berech- 
tigslen  Ansprüche  über  das  Maass  verfolgt  weiden.    So  die  Helden 


67)  Die  Perseis  eines  Miisiios  von  Kphosos  (bei  Suidas)  unter  den 
perganienisclien  Königen  wird  in  ihren  10  Büciiein  den  Theseiden  ähnlich 
gewesen  sein. 


179 

Agamemnon  nnd  Acliill  und  Hektor  und  Odyssens  in  der  Darstel- 
lung des  Menschenkenners  Homer.  Aber  wie  in  den  Gemüthern 
auch  der  herrlichsten  Helden  Leidenschaften  sich  regen,  so  in  den 
Göttern,  welche  Liebe  und  Hass  mit  ihren  Schützlingen  theilen. 
Wenn  hiernach  auch  den  Olymp  Parteiung  theill,  hat  der  Lenker 
der  Geschicke,  Zeus,  der  in  seinen  Gemülhsregungen  auch  selbst 
heftig  ist,  es  schwer,  seinen  Rath  durchzusetzen.  So  herrscht  in 
der  olympischen  Geschichte,  welche  neben  der  irdischen  und  im 
Wechsel  mit  ihr  fortgeht,  das  regeste  Gespräch,  in  welchem  die 
Götter  ihre  verschiedenen  Begabungen  und  Gemüthsarten  ebenso 
offenbaren,  wie  die  verschiedenen  Helden  und  Heldinnen  in  den 
wechselnden  Scenen  und  in  den  Begegnungen  unter  sich  oder  mit  den 
Göttern  auf  der  Erde.  So  wird  erst  in  den  Liedern  vom  jüngeren 
Heldengeschlecht  die  Poesie  charaktervoll.  Urtheilen  wir  so  zunächst 
nach  der  Darstellung  der  uns  allein  als  vollständige  Ganze  vor- 
liegenden beiden  Epopöen  Homers,  deren  eigenste  Eigenheit  wir 
einstimmig  mit  den  Alten  dem  Inhalt  nach  in  dem  Charakter- 
vollen, der  Form  nach  im  dramatischen  Leben  erkennen:  so 
geht  diese  doch  zuerst  als  aus  ihrer  Bedingung  aus  den  Sagen- 
stoffen  hervor,  in  welchen  eben  Völkerkämpfe  unter  dem  Walten 
der  gesammten  Götterwelt  gegeben  sind.  Wonach  auch  keine 
epische  Poesie,  welche  einen  solchen  Stoff  behandelte,  jener  Man- 
nigfaltigkeit des  Inhalts  entbehrte,  mochte  sie  auch  nur  im  klei- 
nen Lied  und  vielleicht  eine  Episode  daraus  erzählen. 

Es  waren  eigentlich  nur  die  zwei  Heerfahrten  gegen  Theben,  der 
Krieg  der  Sieben  und  der  der  sog.  Epigonen,  ihrer  Söhne,  und 
der  troische  Krieg  mit  seinen  mehren  eigenthümlich  charakteri- 
sirten  Phasen,  welche  vom  jüngeren  Heldengeschlecht  in  Betracht 
kamen  und  in  dem  bezeichneten  Charakter  geschildert  werden 
konnten.  Mit  diesen  beiden  Kriegen  zeichnet  auch  Hesiod  in 
den  Weltaltern  das  ihm  näher  gelegene  jüngere  Heroengeschlecht. 
Jene  beiden  Kämpfe  gegen  Theben  mochten  in  vorhomerischer 
Gestalt  vielleicht  jeder  in  einem  nur  um  etwas  längeren  Liede 
nach  ihrem  ganzen  Verlauf  besungen  sein,  anders  als  in  den 
zwei  nachhomerischen  Epopöen,  Thebais  und  Epigonoi,  deren 
jede  ungefähr  7000  Verse  umfasste.  Dagegen  die  Sage  vom  dem 
durch  des  Paris  Frevel  am  Gastrecht  verursachten  Kriegszuge  von 
I    ganz  Griechenland  gegen  Troia,  sie  musste  jedenfalls  gleich  znerst 

12* 


180 

in  einer  ansehnliclien  Zahl  kleinerer  Lieder  besungen  sein.  Die 
Sänger  jedoch ,  welche  Homer  in  seiner  Odyssee  wie  seine  näch- 
sten V^orgänger  vorführt,  ^ie  geben  sciion  eine  Vorstufe  zu  den 
»rossen  Compositionen  der  zweiten  Periode  und  ihrer  Muster  der 
Ilias  und  Odyssee. 

9.  Die  einzelnen  vorbomerisclien  Lieder  von  den 
Heerfahrten  des  jüngeren  Geschlechts.  Zuerst 
die  aus  der  T hebischen  Sage. 

Da  zwei  Epigonen,  Diomedes,  der  Sohn  des  Tydeus,  und 
Sthenelos,  derjenige  des  Kapaneus,  nachdem  sie  am  Siege  über 
Theben  ihren  Antheil  gehabt,  vor  Troia  ktimpften,  so  giebt  die  Ilias 
aus  dem  Munde  dieser  Beiden  oder  im  Verkehr  Anderer  mit  ihnen 
schon  reichlich  Züge  von  jenen  beiden  Kriegen.  Dazu  kouuuen 
andere  Stellen  aus  der  Ilias  oder  Odyssee  oder  den  hesiodischen 
Gedichten. 

Die  Vorgeschichte  des  ersten  Zugs,  die  Oedipussage,  hatte 
im  epischen  Zeitalter  eine  minder  tragische  Gestalt  als  in  den 
Trogödien  ungeachtet  gleicher  Grundlage.^*) 

Oedipus  hat  unbewusst  die  Gräuel  wirklich  begangen,  seinen 
Vater  gemordet  und  das  Königthum  in  Theben  durch  die  Ehe 
mit  der  eigenen  Mutter  überkommen.  Aber  da  das  Wahre  als- 
bald ruchtbar  geworden,  hat  die  Mutter,  hier  Epikaste  statt  lo- 
kasle  genannt,  sich  erhenkt  und  sterbend  über  den  Sohn  den 
Fluch  ausgesprochen.  Oedipus  blieb  König  und  starb  als  solcher 
in  Theben.  Um  in  ein  reines  Verhältniss  zu  kommen,  vermählte 
er  sich  nach  der  Mutter  Tod  und  Fluch  mit  Euryganeia,  der  Toch- 
ter des  Fürsten  Hyperphas,  und  mit  ihr  zeugte  er  die  zwei  Söhne 
Eteokles  und  Polyneikes  und  zwei  Töchter,  Antigone  und  Ismene, 
nicht  mit  seiner  Mutter.  Aber  dass  in  Erfüllung  des  mütterlichen 
Fluches  seine  Söhne  ihn  unehrerbietig  behandelt,  scheint  schon 
in  den  Worten  der  Odyssee  zu  liegen,  und  war  in  der  nachho- 
merischen Thebais  nach  den  erhaltenen  Versen  klar  dargestellt, 
und  dazu  der  in  Folge  dessen  von  ihm  ausgesprochene  Fluch 
über  sie.  Um  die  Wirkungen  dieses  Fluchs  zu  meiden,  war  der 
jüngere   Sohn  Polyneikes  noch  beim  Leben  des  Vaters  nach  Ar- 

68)  Od.  11,  271  —  280.  m.  Anm.  Th.  3.  S.  237  —  240  Welck.  Cycl. 
2,  333  —  339. 


181 

gos  ausgewaiulerl  zum  Fürsten  Adraslos.  Adraslos  in  der  Parleinng 
mit  Anipliiaraos  Iridier  vertrieben  (II.  2,  572),  war  jetzt,  indem 
Jener  die  Eripliyle,  Adrasts  Schwester,  zur  Gattin  nahm,  ver- 
söhnt zuriR-kgekehrl.  Dem  Polyneikes  gab  Adrast  seine  Tochter 
Argeia  zum  Weibe.  Bahl  darauf  kam  von  Eteokles  die  Nachricht 
vom  Tode  des  Oedipus  und  Polyneikes  mit  Argeia  und  Adrasls 
Bruder  Alegistheus  gehen  zur  Feier  der  Leichenspiele  nach  The- 
ben (11.  23,  679  m.  Seh.).  Jetzt  erfüllt  sich  der  Vatertluch,  die 
Brüder  entzweien  sich,  Eteokles  versagt  dem  Polyneikes  den  be- 
dungenen Wechsel  im  Königlhum.  So  erfolgt  der  'erste  Krieg. 
Die  homerischen  Stellen  geben  uns  folgende  Data  desselben. 

Wie  Polyneikes  von  Theben,  so  kam  Tydeus  von  Ralydon 
als  Flüchting  zu  Adrastos  und  erhielt  eine  Tochter  zum  Weibe, 
II.  14,  119 — 125.  3Iit  ihm,  dem  Tydeus,  zog  Polyneikes  umher, 
um  zum  Zuge  gegen  Theben  und  Eteokles  Genossen  zu  sammeln, 
II.  4,  376  —  378.  Manche  waren  geneigt,  aber  schon  hier  schreck- 
ten die  bösen  Vorzeichen  des  Zeus,  das.  381.  Amphiaraos,  den 
Zeus  und  ApoUon  mit  grosser  Sehergabe  gesegnet,  mahnt 
ausdrücklich  ab,  aber  da  er  selbst  sich  verpflichtet  hat,  in  Streit- 
fällen mit  Adrast  der  Eriphyle  zu  folgen,  wird  er  durch  diese, 
die  durch  das  goldne  Halsband  (der  Ilarmonia)  von  Polyneikes 
bestochen  ist,  endlich  doch  genöthigt,  selbst  mitzuziehen.  Od.  15, 
244  —  347.  11,  326  f.  Sein  drängenster  Gegner  ist  der  über 
Alle  kampflustige  Tydeus  (wie  vor  Troia  sein  Sohn  Diomedes), 
der  sich  in  diesem  Muth  des  präsentesten  Beistandes  der  Athene 
erfreut,  II.  4,  372 f.  5,  116.  125 f.  801  —  803.  10,  289 f.  Er  wird, 
als  die  Heerfahrt  zum  Asopos  in  Thebens  Nähe  gekommen,  mit 
Vertragsantrag  an  den  Eteokles  hineingesandt,  5,  803  f.  10,  285  bis 
289.  Als  er,  zwar  gastlich  empfangen,  kein  Gehör  fand,  forderte  er 
die  versammelten  Gäste  zu  Zweikämpfen  auf  und  überwand  sie 
sämmtlich,  4,  387  —  390.  5,  806  f.  Dadurch  erbittert  legten 
sie  ihm  auf  der  Rückkehr  einen  Hinterhalt  von  50  Mann  mit 
zwei  Führern,  aber  er  machte  diese  alle  nieder  und  liess  nur 
den  Mäon  als  Boten  des  Geschehenen  übrig,  4,  391  — 398.  10, 
289 f.  In  den  Kämpfen  dann  vor  Theben  kam  auch  er  um,  6, 
222f.  14,  114.  Und  die  Helden  alle  erreichte  dort  um  ihres  Frevel- 
sinnes willen  das  ihnen  von  Anfang  vorher  verkündete  Geschick, 
4,  409.     Der  einzige  Adrastos  entkam  auf  dem  wunderschnei- 


182 

len,  sagenberühmten  Ross  Areion,  me  es  11.  23.  346 f.  zum 
Vergleich  dient.'''')  Noch  erwähnt  die  Odyssee  mit  einigen  Wor- 
ten den  Untergang  des  Aniphiaraos  vor  Theben: 

Doch  nicht  zur  Schwelle  des  Alters 

Kam  er,  er  starb  vor  Tlicbä  in  FoJge  der  Weibergeschenke, 

womit  Homer,  wenn  die  Stelle  echt  sein  soll,  die  Apotheose 
desselben  znm  prophetischen  Heros  doch  kaum  angedeutet  haben 
kann ,  da ,  wie  wir  bei  den  Dioskuren  gesehen  haben ,  die  Apo- 
theose bei  ihm  nur  in  unechten  Stellen  erscheint. 

Auf  den  unglücklichen  Zug  der  sog.  Sieben,  —  unglücklich, 
weil  er  auf  Anregung  des  fluchtragenden  Polyneikes  und  unter 
bösen  Zeichen  geschehen  war  —  folgte  der  der  Epigonen,  der 
Söhne  der  gefallenen  Helden,  welcher,  unter  glücklichen  Vorzei- 
chen unternommen  und  geführt,  einen  erwünschten  Sieg  und  die 
Zerstörung  des  schuldvollen  Thebens  zum  Ausgang  hatte.  Diesen 
geschichtlichen  Erfolg  findet  man  im  Schiflskatalog  2,  505.  ange- 
deutet. Den  verschiedenen  Ausgang  der  beiden  Kriege  hebt  Sthe- 
nelos,  II.  4,  405 ff.,  hervor.  Da  die  Söhne  der  Sieben  beim  Aus- 
zug der  Väter  noch  kleine  Knaben  gewesen  waren  (II.  6,  222), 
nimmt  man  den  zweiten  zehn  Jahr  später  an.  Aber  so  bestimmt 
dieser  zweite  Krieg  in  der  Ueherlieferung  steht  und  die  home- 
rischen Epigonen  ihn  anerkennen,  wir  müssen  doch  urtheilen, 
dieser  sei  dem  Dichter  nur  durch  die  Volkssage  bewusst  gewesen. 
Nirgends  erscheint  eine  einzelne  Thatsache  daraus,  und  doch  würde 
gerade  Diomedes  selbst  sonst  seine  Schutzgöttin  nicht  blos  an 
den  Beistand  erinnern,  den  sie  vor  Theben  seinem  Vater  gelei- 
stet, er  würde  dort  selbst  erfahrenen  zu  rühmen  haben.  Wie 
die  Sagen  wachsen,  gab  dieser  zweite  Krieg,  besonders  die  Schlacht 
bei  Glisas,  später  reicheren  Stoff,  und  die  bunte  Mannigfaltigkeit  des 


69)  Genaueres  von  diesem  Wundcrross,  das  früher  Herakles  gehabt 
(lies.  Schild  120),  giebt  Paus.  8,  25,  8  — 10.  mit  Citatcn  aus  der  nächst- 
homerischen Tlieliais  und  der  späteren  des  Antimachos.  Dass  das  Ross 
gleich  dem  des  Achill  II.  19,  417.  in  Menscliensprache  bei  jener  Flucht 
einen  künftigen  Sieg  prophezeit  habe,  iial  man  nur  nach  falscher  Deutung 
des  Worts  areion  bei  Find.  Pytb.  8,  49f.  oder  70 f.  gemeint.  Auf:,,  Und 
der  gelitten  im  früheren  Leid"  folgt  der  Gegensatz  im  Comparativ;  „ver- 
traut jetzt  der  Verkündigung  besseren  Vorzeichens".  Auch  die  Deutung 
des  Substantivs  war  irrig. 


183 

nacliliomerischeii  (Itnlichfs  Epigonoi  brachlt'  ihm ,   wie  es  scheint, 
einen  gewissen  Rnf.'") 

10.  Fortsetzung.  Die  vor  homerischen  Lieder  aus  der 
t roischen  Sage;  Charakteristik  dieser  Sage  nach 
ihrem  Umfang  und  viel theili gen  Inhalt.  Die 
sechs  Liederstoffe  der  troischen  Sage.  Die 
Heimath  der  epischen  Kunstpoesie.  Homer  und 
seine  Wahl. 

a.  Die  Sage  vom  troischen  Kriege  als  dem  ersten  Nationalkrieg. 
Wir  kounnen  zu  dem  Sagenkreise  aus  dem  der  BiUlner  der 
Epopöe  seine  beiden  Stofle  gewiddt  hat,  und  aus  welchem  in 
Nachfolge  dieser  Muster  fünf  andere  Epopöen  gedichtet  Avorden 
sind,  von  denen  keine  die  Sagentheile  der  Ilias  oder  Odyssee 
wiederholt,  und  nur  zwei  dieselbe  Partie,  die  vou  der  endlichen 
Eroberung,  behandelt  haben.  Es  gab  also  sieben  Epopöen  aus 
derselben  troischen  Sage,  und  sechs  aus  gesonderten  Theilen. 
Den  Reichthum  der  Sage,  der  sich  hieraus  ergiebt,  erklärt  sie 
selbst  schon  durch  zehnjährige  Dauer  des  Kriegs  von  dem  Auszug 
des  Griechenheeres  bis  zur  Einnahme  der  Königsstadt  und  Zerstö- 
rung des  vorher  blühenden,  weitherrschenden,  von  vielen  Bundes- 
genossen unterstützten  Königtlunns.  Es  sind  beim  Eintritt  des 
Grundmotivs  der  Ilias  schon  8  Jahre  der  Heerfahrt  vergangen, 
es  ist  schon  das  9.,  im  10.  wird  nach  dem  Vorzeichen  die  Ein- 
nahme Troias  gehofft  (II.  2,  295.  327  —  329).  Diese  Zehnzahl 
erscheint  als  eine  mythisch  summarische,  und  wenn  nach  II.  24, 
765.  vom  Raube  der  Helena  es  jetzt  das  20.  Jahr  gewesen  sein 
sollte,  wären  vorher  auch  10  Jahre  der  Vorbereitung  vergangen  ge- 
wesen, doch  jene  Stelle  ist  unecht.  Von  der  Einnahme  Uions  und  der 
Abfahrt  der  Griechen  bis  zur  Heimkunft  des  letzten,  des  Odysseus, 
vergehn  wieder  10  Jahre,  er  kommt  im  20.  nach  seinem  Aus- 
zuge zurück  (Od.  2,  175.  17,  327.  23,  102.).  Hierzu  stimmt  das 
Alter  des  Telemach,  den  er  als  Säugling  verlassen  hat,  wie  das 
des  Orestes  und  anderer  Jünglinge;  aber  mit  dem  Sohne  des  bei 


70)  Es  wird  wie  die  Thehais  summarisch  zu  7000  Versen  «iiigc- 
gclicn  und  kam,  freilich  violloiclit  nur  durch  Comhiiialion,  hier  und  da  zu 
dem  Huf,  dem  Homer  anzugeln'iron :  Ilerod.  4,  32.  Ucbcr  seinen  geringem 
Wcrlh  als  die  Thcbais  s.  Prellcr  Gr.  Myth.  2.  254  f. 


184 

seinem  Ausziige  und  in  der  llias  noch  selbst  jugendlirlien  (IL  9, 
440)  Achill,  mit  dem  XeoptoUniios,  der  in  der  4.  Epoche  des  Krieges 
von  Sliyros  geholt  den  letzten  Helfer  der  Troer  erlegt  imd  Troia 
mit  erobert,  liat  die  Sage  ein  freieres  Spiel  getrieben,  das  \\ir 
als  ihr  Wesen  anzuerkennen  haben.'')  In  der. Od.  3,  189.  führt 
er  die  Myrmidonen  heim. 

Die  zehnjährige  Daner  des  Kriegs  zu  erklären,  enthält  die 
alte  Ueberliefernng  mancherlei  Gründe,  die  stärksten  besagt  Ilora- 
rens:  „Durch  Aufruhr  und  Betrug,  durch  Frevel,  Begier  und 
Zorn  wird  Inner  der  iliscben  Mauer  gefehlt  und  ausser  derselben" 
mit  Bezug  auf  die  Parteiung  in  Troia  und  auf  die  Verzürnung 
des  Achill.  Doch  der  ganze  Hergang,  wie  es  geschehn,  dass 
ans  den)  Frevel  des  Paris  am  Gästrecht  (II.  3,  351  ff.),  welcher 
das  Motiv  der  ganzen  troischen  Sage  bildet,  ein  so  langwieriger 
Völkerkampf  hervorgegangen ,  und  all  der  w  echselreiche  Verlauf 
desselben  war  in  Sagen  und  Liedern  vollständig  ausgebildet,  als 
die  llias  und  Odyssee  gediditet  wurden.")  Wie  die  Forscher 
aus  der  Natur  des  Epos  und  selbst  aus  Freiheitskämpfen  neuerer 
Zeit  erkannt  haben ,  waren  unmittelbar  nach  dem  Kriege  von 
den  Sängern  der  Stämme  einzelne  Lieder  von  diesem  und  jenem 
Helden  gesungen  zuerst  im  Mutterlande,  dann  in  den  kleinasiali- 
schen  Colonieen.'^)  Aber  eben  hier,  wie  wir  sogleich  sehen  wer- 
den ,  in  der  Nähe  des  Kriegsschauplatzes,  gewannen  die  Lieder 
den  Charakter  der  Darstellung  von  Handlungen  und  es  bildeten 
sich  Schilderungen  von  Epochen  des  Kriegs.  Dieser  entdecken 
wir  vier,  abgesehn  von  den  Ueberlieferungen  der  Volkssage  über  die 
Berufung  der  Helden  zu  der  Heerfahrt,  die  Versammlung  in  Au- 
lis  und  die  Ueberfahrt,  kurz  von  dem,  was  die  allbewusste  Voraus- 
setzung umfasste.  Ohne  Zweifel  ist ,  was  von  der  Zeit  der  Bü- 
stung  in  llias  und  Odyssee  vorkommt,  viel  einfacher  und  nur 
als  Vorgeschichte  im  Sinne  gewesen;  die  vorhomerische  und  ho- 
merische Sage  wusste  Nichts  von  einer  zweimaligen  Versammlung 
in  Aulis  und  Nichts  von  einer  nach  der  ersten  geschehenen  Fehl- 
fahrt   statt    nach    Troias    Ufern    nach    der    europäischen     Küste 


71)  JN'coplolcmos  in  der  llias  19,  326.  331  ff.  S.  Anm.  zu  Oil.  11,  509 
bes.  S.  289. 

72)  Welcker  Ep.  Cycl.  II.  S.  17. 

73)  Ritschi,  Lei  Löbell  Weltgcsch.  1.  600. 


185 

am  Hellespont,  nach  Klein -Mysien,  Tcuthranien.  Es  ist  dies 
der  bedentenslc  Punkt  in  dem  Zuwachs  und  Wandel,  \velchen  die 
Iroische  Sage  in  nachhomerischer  Zeit  in  Volksglauben  und  Sage 
erfahren  hat,  die  Landung  in  Teulhrania  und  der  Kampf,  wo 
Telephos  von  Achill  verwundet  wird.  Aber  in  der  V'olkssage  hatte 
dieser  Wandel  sich  begeben,  als  Stasinos  in  der  Epopöe  Kypria 
die  zweimalige  Versammlung  und  den  teuthranischen  Krieg  aus- 
dichtete; nicht  konnte  ein  älterer  Epiker  solche  Thatsachen  aus 
sich  erlinden  und  einflechten. '^) 

Der  Volksgeist  hatte  wahrscheinlich,  wie  er  gern  mischt,  die 
Hergänge  des  troischen  Kriegs  mit  denen  der  äolischen  Wan- 
derung vermengt.  Und  fast  möchte  man  die  Meinung  fassen,  es 
seien  die  Streif-  und  Eroberungszüge  des  Achill,  welche  nach  aller 
Ueberlieferung  die  ganze  erste  Epoche  des  Kriegs  bis  zur  Ent- 
stehung des  Zornes  ausfiiUen ,  das  Dichterbild  der  vornehmlich  aus 
Thessalien  in  mehren  Zügen  gekommenen  s.  g.  äolischen  Ansiede- 
lungen. Die  Sagengeschichte  lehrt  uns,  dass  diese  Wanderung,  die 
frühere  war,  dass  sie  von  der  Küste  Nordgriechenlands  gleich  der 
troischen  Heerfahrt  zum  Theil  von  Aulis  ausging  und  den  Land- 
strich im  höheren  Vorderasien  einnahm,  welchen  Priamos  beherrscht 
hatte.  So  kamen  diese  Acoler,  und  so  brachten  sie  und  ihre 
Sänger  die  älteren  Sagen  und  Heldenlieder  in  die  Scene  selbst  des 
troischen  Kriegs.  Indem  wir  nun  in  dieser  Richtung  der  Aus- 
wanderung an  sich  schon  geneigt  sein  werden,  eine  Nachwirkung 
jenes  Krieges  zu  erkennen,  kommen  die  besonderen  Umstände 
hinzu.  Ausgegangen  heisst  der  Wanderzug  gerade  von  dem  allen 
Gebiet  des  Agamemnon  und  Diomedes,  von  Argolis;  dann  geht 
er  nordwärts  und  wächst  durch  Zuzug  aus  dem  Aeolischen ,  Böo- 


74)  Eben  als  Volkssage  ist  dieser  Krieg  später  in  der  Ueberlieferung 
gel)lieben.  In  der  Ilias  fand  nur  falsches  Versländniss  dos  Ausdrucks 
zurückgetrieben  II.  1.  59.  bei  Iloincr  eine  llindeiiLung  auf  eine  hülie- 
rc  llcerfabn.  Slrab.  015  a.  E.  erkennt  aucb,  dass  in  beiden  Gcdiclilen 
von  Teullu'anien  und  Telephos  nur  dessen  Sohn  Eurypylos  erwäbnt  wird, 
jener,  den  in  der  4.  Epoche  Neoptolenios  erlegte.  Es  ist  dem  Wesen 
der  Volkssage  ganz  gemäss,  was  vermulliet  worden,  es  sei  wobi  im  Volks- 
geisle  eine  Vermischung  der  Ueberlieferung  von)  troischen  Kriege  niil  den 
Hergängen  der  äolisciien  W.tmlcnuig  gescbebn,  und  d.ilier  die  S;igr  von 
zwei  Fabrlen  und  von  Teulluania  entstanden.  S.  I'lass  Urgescb.,(iriecli.  l. 
628  f.  Preller,  Gr.  Mylli.  2.  294.  meine  Sagenp.  S.  9. 


186 

lien  un<l  Thessalien,  also  dem  Gebiet  des  Achill  und  des  Philoktel 
zu  der  Mehrzahl  äoLischer  Theilnehnier  an,  die  ihm  den  Namen  des 
äolischen  gab.  Die  Führer  der  nach  einander  in  derselben  Richtung 
gel'olgten  Züge  heissen  Sohn  und  Enkel  oder  Kindeskinder  des 
Agamemnon.")  Dies  also  der  ganz  njitürliche  Grund  zunächst 
dafür ,  dass  eben  dort  die  Wiege  vieler  kleinen  Lieder  vom  tro- 
ischen  Kriege  zu  finden  ist.  Die  Sagen  niehrer  Städte  Aeoliens, 
welche  Honiers  Geburtsort  genannt  werden ,  freilich  nur  ^yinkelsa- 
gen ,  können  von  vorhomerischen  Sängern  verstanden  werden. 

Indess  auch  die  ionischen  Auswanderer,  die  sich  von  sehr 
verschiedenen  Stänuncn  in  Athen  sammelten,  und  von  dort  aus  die 
den  äolischen  Ansiedelungen  benachbarten  Küsten  und  Inseln  be- 
setzen, auch  sie  hatten  mehrenthcils  Führer,  welche  als  Träger 
der  troischen  Heldensagen  zu  gelten  haben ,  Abkömmlinge  des 
Königsgescblechts  der  Neleiden,  welche  vorher  in  Athen  ge- 
herrscht hatten.'^) 

b.  Homer;  sein  Vaterland,  sein  Zeitalter  nnd  seine  Per- 
sönlichkeit überhaupt. 
Die  lonier  nun  gewannen  von  den  Aeolern  Smyrna  und 
damit  die  Stadt,  die  nach  den  auf  sie  hinweisenden  Sagen  den 
meislcn  Anspruch  bat,  für  die  Ileimatb  Homers  und  zugleich 
des  homerischen  Dialekts  zu  gelten.")  Das  Zeitalter  Homers,  das 
wir  nach  allen  Gründen  als  ein  bereits  vorgeschrillenes  und  so 
spät  als  möglich  anzunehmendes  betrachten,  glauben  wir  am  be- 
sten nach  den  uns  bekannten  Daten  der  Bekanntwerdung  zu  be- 
stimmen, also  ein  oder  zwei  Menschenalter  vor  dem  Gesetzgeber 
Lykurgos  zu  setzen.  Dieser  erhielt  auf  Samos  oder  los  von  dem 
Geschlecht  des  Epikers  und  Rhapsoden  Kreophylos  die  homeri- 
schen Gedichte  milgetheilt.'''^) 

75)  Str.  401.  3  u.  a.  bes.  582.  Paus.  7,  2,  1.  3,  3. 

76)  Str.  633.  Die  Colonisten  aus  fast  allen  Stämmen  der  Griechen: 
Herod.  1.  146.  Paus.  7,  2,  3  und  4. 

77)  Bernhardy,  Gesch.  d.Gr.  Lit.  11,  1.  S.54.  0.  Müller,  G.  d.  Gr.  Lit. 
1.  68  —  72.'  Dialekt:  Müller  72 — 79.  Homer,  lonier  und  das  Zeilalter  wie 
die  Zeitangaben  Herodots  und  Apollodors  es  hcstinnncn,  endlich :  „Die 
Niederlassung  der  llomeriden  auf  Cliios  war  höchst  wahrscliciidicli  eine  Folg«; 
der  Vcrtreihinig  der  lonier  aus  Smyrna".   Von  diesen  das  Genauere  später. 

78).  Plut.  Lyk.  4.  Ilorakicidos  Polii.  2,  2.  die  nach  Schneidcwins  Er- 
weisen Excerpte  aus  Aristoteles  geben. 


187 

Die  vorstehenden  SiUze  sichern  uns  nach  den  äusserlichen 
Verhältnissen  die  Persönlichkeit  des  einigen  Homer,  von  seinem 
INamen  aber  urtheilen  wir  so;  Da  er  aus  keinem  Grunde  sonst 
Appellativum  vvirdj^)  so  würde,  wenn  ein  appellativer  Sinn  an- 
zunehmen wäre,  immer  zu  urlheilen  sein,  wie  der  Verfasser  der 
Cullurgesch.  d.  Gr.  und  R.  92.  sich  ausspricht:  ob  er  wohl  einen 
appcllativen  Sinn  und  die  Gellung  eines  Kunstnamens  hat,  es 
schliesst  ein  solcher  bedeutender  Name  die  grosse  Persönlichkeit  und 
ihre  individuelle  Leistung  so  wenig  bei  ihm  aus,  als  bei  Terpan- 
dros,  Stesichoros,  Eunomos,  Lesches,  Theophrastos,  von  denen 
wir  zum  Theil  die  früheren  Namen  ebenso  kennen,  wie  Homers 
früherer  Melesigenes  gewesen  sein  soll.**")  Indessen  bleibt  jene 
Deutung  an  sich  zweifelhaft,  wie  besonders  Jacob  Entsteh,  der  II. 
S.  29.  zeigt. 

Der  allgefeierte,  und  wie  der  Gesetzgeber  Lykurgos,  wie  He- 
siod,  wie  Pytbagoras,  Ilippokrates,  auch  Sophokles*')  nach  seinem 
Tode  als  Heros  verehrte  Dichtergenius  wählte,  wie  aus  dem  Ge- 
sagten erhellt,  seine  beiden  Stoffe  und  die  ihm  bei  seinen  Schö- 
pfungen dienenden  Lieder  auch  aus  dem  äusserlichen  Grunde, 
weil  in  seiner  Umgebung  offenbar  Nichts  so  populär  war,  als  eben 
die  Sagen  vom  Iroischcn  Kriege.  Er  wählte  damit  aber  auch 
die  Sage  von  dem  ersten  gemeinsamen  Natioualuulernehmen.  Der 
Bruder  des  vom  Frevel  des  Paris  verletzten  Menelaos,  Agamem- 
non, gab  anerkanntermaassen  das  erste  Beispiel  eines  National- 
aufgebots. Er,  als  der  ältere  des  Atreidengeschlechts,  mit  weiter 
Herrschaft  {avQVXQeiav)  nach  dem  ihm  unter  den  iMenscben 
allein  und  zwar  ausschliesslich  beigelegten  Beiwort,  wird  durch 
ausdrückliche  Angabe  als  Oberberr  über  deii  Argos  genannter 
Peloponnes  und  viele  Inseln  bezeichnet.  Ihm  daher  ist  man,  wie 
der  Fürst  dem  Oberkönig  hi  den  einzelnen  Bezirken,  wenn  nicht 
eigentlich  pflichtig,  doch  geneigt,  Heeresfolge  zu  leisten.  Diese 
seine  Machtstellung  war  es  nach  den  alten  Historikern  und  heu- 


79)  Sagenp.  2.  Buch  S.  297  fl". 

80)  Die  Griechen  hallen  viclf;ilti{i;-  diese  Gowolinlieil,  z.  H.  auch  As- 
pasia  und  Pliryne,  die  Liehhclie  und  die  Blasse,  hallen  vorher  aridoro 
Namen:  Allicn.  i:i.  570  I).  ,-)70  E.  .Fonc  Naincnpchuiit^  niil  der  germani- 
schen verglichen  von  MiiileidioirAllg.  Monatsschrill  1.  W.  u.L.  52.  April  33«. 

81)  Sagenp.  S.  2Ü9f. 


,    188 

tigen  Forschern,  welche  ihn  zu  solchem  Aufgebot,  zum  ersten 
Beispiel  einer  Hegemonie  befähigte.*'')  Wir  sehen  tla,  die  Sage 
beruht  auf  wirklichen  Vcrballnisiien ,  aber  zum  Zeichen  der  noch 
mehr  freiwilligen  Unterordnung  der  Andern,  gehn  Agamenmon  und 
Menelaos  zuerst  selbst  aus  (Od.  24,  1  15  f.),  zu  Odyssens,  daini  über- 
nehmen Odysseus  und  INeslor  es,  die  Andern  aufzufordern  (II. 
11,   766  —  768). 

c.   Der  troische  Krieg,  ein  besonders  populärer  Liederstoff 
und  seine  Epochen.    Sechs  Liederstoffe. 

Dass  nun  Homer  die  auf  diese  Weise  gemeinsame  Heerfahrt 
vor  andern  Stoffen  besänge,  empfahl  sich  also  auch  von  Seiten 
des  allgemeinen  Interesses.  Die  nächsten  Zuhörer  gleich  hörten 
ihn  lieber,  da  sie  aus  so  verschiedenen  Stämmen  gemischt  waren. 
Nun  aber  überkam  der  Dichter  die  Sage  von  den  Dichtern  in 
Aeolis  schon  gestaltet,  und  da  trat  Achill  so  hervor,  dass  für 
die  Feier  der  Helden  der  anderen  Stämme  wenig  Raum  blieb.  Es 
schied  sich  der  Sagenstoff  schon  in  ursprünglicher  Gestalt  selbst 
( nicht  erst  durch  den  Sängergeist) ,  abgesehn  von  den  heimischen 
Erreignissen  bis  zur  Landung,  in  vier  Epochen. 

Nach  der  ersten  Landung  hatten  alsbald  Schrecken  und 
Furcht  vor  Achill  die  Troer  in  die  Mauern  gebannt  (11.  6,  99. 
jtore  vordem)  und  er,  nicht  etwa  Agamemnon,  hatte  in  Kampf- 
und Beutelust  langhin  Streifzüge  allerdings  zum  Vortheil  des 
Ganzen  ausgeführt.  Dann  war  mit  der  Erscheinung  des  Prie- 
sters Chryses,  um  seine  Tochter  auszulösen,  die  zweite  Epoche 
eingelreten,  welche  durch  die  Kränkung  Achills  mit  allen  ihren 
Folgen  charakterisirt  war,  bis  die  Auslösung  des  Hektor  sie  ab- 
schloss.  Die  dritte  Epoche  dann  hatte  wieder  den  Achill  zum 
Vordermann  neben  dem  nur  Anfangs  und  wieder  im  letzten  Theile 
von  andern  Helden  die  Rede  war.    Sein  Tod  durch  Paris  Pfeil  hatte 


82)  Wachsmulh  Hell.  Alt.  I.  142.  Herrn.  Staatsallerth.  §.11,  4  und 
5.  S.  45,  A.  4-,  E.  Curtius,  Peloponnes  1.  63.  Wie  im  Schiffskatolog  II.  2, 
569  —  580.  und  von  Athene  1 ,  276 ff.  bei  Homer,  so  von  Herod.  1 ,  1.  und 
Thuk.  1,  0.  3.  als  der  miicliligste  Herrscher  und  01)erfeldlicrr  anerkannt. 
Die  beiden  Stellen  II.  9,  149,  wo  Agamemnon  dem  Achill  sieben  mcssonisclic 
Slädlc  zinsbar  machen  will  und  Od.  4,  174.,  wo  Menelaos  dorn  Odysseus 
eine  Stadt  ganz  hat  eiiuaiunen  wollen,  sie. sprechen  von  Periökcnstadten: 
llerm.  Staalsall.  §.8,9. 


189 

einen  heissen  Kampf  um  seine  Leiche  znr  Folge;  das  V'erdiensl 
um  deren  Rettung  tlieilten  Aias  und  Odysseus;  so  Avar  nacli  den 
liier  folgenden  Leichenspielen  der  Prozess  jener  Beiden  um  Achills 
Waffen  eingetreten,  und  da  er  für  Odysseus  entschieden  worden, 
hatte  Aias  im  Schmerz  rd)er  diese  Kränkung  sich  den  Tod  ge- 
geben. 

Von  hier  an  neigte  Alles  zur  Entscheidung  des  ganzen 
Kampfes.  Die  vierte  Epoche  gab  gleich  in  der  Abholung  des 
Neoptolemos  von  Skyros,  und  der  des  Philoktet  von  Lemnos  den 
Anfang  des  Endes.  Neoptolemos  erlegte  den  letzten  Bundesge- 
nossen der  Troer,  des  Philoktet  Bogen  war  nach  dem  Seher- 
spruch zur  Einnahme  der  Stadt  unentbehrlich.  Dies  erklärt  der 
Erfolg  dahin,  dass  sein  Pfeil  den  Frevler  Paris  erreicht.  Beides 
hat  den  Zweck  mid  die  Wirkung,  dass  die  Troer  sich  nun  ganz 
hinter  ihre  Mauern  zurückziehn  und  es  beginnt  das  Werk  der 
List.  Die  Göttin  der  Klugheit  Athene,  und  ihr  Liebling  Odysseus 
Ihun  es  nun.  Athene  giebt  dem  Epeios  den  Bau  des  hölzernen 
Pferdes  an,  Odysseus  thut  während  dessen  in  Verkleidung  einen 
Spähergang,  holt  auch  das  schicksalsvolle  Pallasbild  und  überwacht 
nochmals  im  hölzernen  Pferde,  dem  Versteck  der  Tapfersten,  das 
Gelingen  der  List,  bis  Troia  bei  nächtlicher  Weile  eingenom- 
men wird. 

Nach  diesen  vier  Epochen  des  Kriegs  enthielt  die  troische 
Sage  noch  zwei  gesonderte  Liederstoffe,  wie  oben  bemerkt,  über 
die  Heimkehr  des  Griecbenheers.  Der  eine  erzählte  die  allge- 
meine Heimkehr,  die  diu'ch  den  von  Agamemnon  verwirkten  Zorn 
der  Athene  eine  gelheilte  und  unheilvolle  wurde,  der  andere  die 
Irren  des  bei  der  Vereinzelung  abgesonderten  Odysseus,  wie  er 
durch  den  nicht  unverschuldeten  Zorn  des  Meergottes  langhin 
von  der  Heimath  abgetrieben,  dann  noch  von  der  widerwärtigen 
Liebe  einer  irdischen  Göttin  auf  ferner  Insel  festgehalten,  endlich 
durch  die  Fürsprache  seiner  Schutzgöttin  bei  Zeus  erlöst  tnid 
heimgeführt  wird,  Aber  dort  nun  bei  seiner  Ankunft  erfährt  er, 
wie  Schweres  ihm  erst  zu  überwinden  bevorsteht,  ehe  er  sein 
treues  WVib,  sein  Königthum  und  seine  ganze  Habe  wieder  sein 
nennen  kann.  Seit  drei  Jahren  belagern  zahlreiche  Freier  seine 
Penelope  und  all  seinen  Besitz.  Diese  Eindringlinge  hat  er  zu 
bewältigen.     In   fremder  Gestalt   sieht   und    erfährt  er  selbst  das 


190 

«anze  Unwesen.  Nachdem  er  es  in  Schlauheit  bestanden ,  ergreift 
er  eine  von  der  bedrängten  (iattin  selbst  herbeigelührte  C.elegenbeit 
die  Prätendenten  sämmtlich  zu  übermannen.  Wenige  in  das  Ge- 
heimniss  gezogene  helfen  ihm,  aber  zuletzt  tritt  die  Wunderhilfe 
der  Schutzgöltin  ein.  Ein  kurzer  Kampf  mit  den  Vätern  der 
Getödteten  folgte  vielleicht  schon  in  der  ältesten  Sagengestalt. 

Dies  die  sechs  Partien ,  aus  denen  Homer  die  zweite  und 
sechste  zur  Neubildung  auswählte.  Dass  sie  sämmtlich  schon 
vor  ihm  besungen  gewesen,  würden  uir  als  in  dem  Wesen  des 
Epos  gegeben  annehmen ,  w  enn  wir  die  Anzeichen  davon  auch 
nicht  oder  nicht  so  vollständig,  wie  es  der  Fall  ist,  den  beiden 
Epopöen  selbst  eingewebt  fänden.  Es  ist  uns  ja  klar,  einmal, 
dass  was  ein  Lied  sein  und  heissen  soll,  ein  kleines  Ganze  sein 
musste,  was  bei  den  Versuchen,  die  Einzellieder  herzustellen",  so 
viel  verabsäumt  ist,  sodann  dass  Manches  aus  einem  Sagenkreise 
Erwähnte  eben  nur  der  Sage,  weil  nur  einem  Anfang  angehört. 
Aber  Alles ,  was  zu  einem  eigenthümlich  charakterisirten  und 
so  bemessenen  Sagentheile  gehörig,  episches  Leben  hat,  wird 
uns  als  Sängerwerk  erscheinen.  Wir  werden  gegenwärtig,  nach- 
dem das  Wesen  der  Sage  und  das  nationale  Leben  der  Sagen- 
poesie erkannt  sind,  überhaupt  Sage,  Einzellied,  Epopöe 
als  die  Stufen  zu  betrachten  haben,  auf  welchen  die  eigentlich 
epische  Poesie  zur  Reife  gelangt  ist,  und  zumal  die  griechische. 
Vom  Einzellied  zur  Epopöe  giebt  es  dabei  natürlich  annähernde 
Zwischengebilde.  Aber  keine  nationale  Epopöe  ohne  das  Material, 
welches  die  früheren  Sänger  in  Einzelliedern  überliefert,  und 
kein  Einzellied  ohne  bewusste  Volkssage  von  der  eigenen  Vorzeit. 

Nach  dieser  Ansicht  und  Ueberzeugung  gelten  uns  die  oben 
verzeichneten  Liederstofl'e  aus  der  älteren  Heldenwelt  nicht  als 
blosse  Volkssage,  sondern  als  Lieder  vorhomerischer  Sänger,  über 
deren  ungleichen  Umfang  und  schicklichen  Vortrag  weiterhin  be- 
sonders zu  sprechen  ist.  Die  Frage  aber  über  die  anzunehmen- 
den Einzellieder  aus  der  troischen  Sage,'  sie  wird  nicht  ohne 
Beachtung  des  Einflusses  zu  behandeln  sein,  den  die  oben  §. 
8  besprochene  Verschiedenheit  des  Sagenstoffes  schon  auf  die 
Fassung  der  vorliomerischen  Lieder  üben  nmsste.  Die  Völker- 
kriege des  jüngeren  Heldengeschlechts  Hessen  sich  gar  nicht  in 
deniMaasse,  wie  die  Abenteuer   oder  Fehden  des  äUeren  in  klei- 


I 


191 

nere  Einzellieder  gelheilt  darstellen.  Allerdings  ist  es  allem  epischen 
Vortrag  eigen  und  also  der  Epopöe  mit  dem  Einzellied  gemein- 
sam, klare  unverstrickte  (degagirte)  Bilder  zu  geben,  Gemälde 
mit  sichtlichem  Vordergrund  und  vortretenden  Hauptfiguren;  jede 
Scene  musste  beim  mündlichen  Vortrag  für  die  Hörer  fasslich 
und  durch  sich  selbst  verständlich  sein.  Dies  gewährte  im 
sprachlichen  Sinne  die  unverscblungene  (parataktische)  Satzfolge; 
dies  leistete  inhaltlich  aber  die  Epopöe  durch  die  ihr  natürliche 
Weise,  den  einzelnen  Theilen  des  grösseren  Organismus  immer 
eine  gewisse  Selbständigkeit  zu  geben,  woher  die  grosse  Rolle, 
welche  die  Episode  in  der  Epopöe  spielt.  Trotz  alledem  konnte 
jedoch  erstens  der  Sänger,  auch  wo  er  eines  V'orkämpfers  Bahn, 
oder  einen  einzelnen  Akt  des  Völkerkampfes  schilderte,  dies  kaum 
ohne  Andeutung  des  umfassenderen  Ganzen  thun,  wie  z.  B.  bei 
dem  Spähergang  des  Odysseus  in  die  Stadt  dies  unausbleiblich 
war.  Sodann  aber  sprachen  einzelne  Partien  jedenfalls  von  dem 
Vorhaben  des  ganzen  Heeres.  Das  Lied  z.  B.  von  der  Einnahme 
Troias  mittels  des  hölzernen  Pferdes  und  das  von  der  Heim- 
kehr nach  der  Eroberung  musste  einen  grösseren  Umfang  haben. 
Der  Umfang  für  den  Hörer  beruht  freilich  zum  Theil  auf  der 
sprachlichen  Darstellung,  ob  sie  der  homerischen  ähnlich,  also 
auch  die  Mittelglieder  darlegend  mählig  fortschritt  oder  so  gear- 
tet war,  wie  ein  jüngst  ausgesprochenes  Urllieil  sie  zur  Unter- 
scheidung von  der  homerischen  zeichnet.^)  „Ein  solches  Lied", 
heisst  es,  „konnte  nur  massigen  Unifangs  sein:  jene  behaglich 
sich  ergehende  Erzählung,  jene  breite  anschauliche  Schilderung 
des  ganzen  Verlaufes,  wie  sie  das  ausgebildete  Epos  verlangt, 
war  nicht  am  Orte:  in  raschem  Verlaufe  schreitet  die  Erzählung 
vorwärts,  nur  die  wichtigsten  Momente  der  Handlung  werden 
festgehalten,  und  kurz,  aber  energisch  geschildert.  Solche 
Lieder  stehen  aber  zwischen  epischer  und  lyrischer  Weise  in  der 
Mitte,  und  dem  entsprechend  war  auch  die  Art  des  V^ortrags. 
Es  wurden  diese  älteren  Lieder  gesungen  und  mit  dem  Spiele  der 
Phorminx  oder  Kithara  begleitet,  und  auch  aus  diesem  Grunde 
dürfen  wir  uns  unter  diesen  Liedern  keine  längeren,  ausgeführ- 


83)  Bergk,  lieber  das  älteste  Versniaass  der   Griechen  Fred»,  im 
Breisg.  54.  S,  2. 


192 

teil  Gedichte  vorstellen:  —  Die  Kräfte  des  Sängers  würden  dazu 
nicht  ausgereicht  hahen".^)  Der  Ton  und  die  Weise  der  klei- 
nen Lieder  wird  mehrfach  romanzenartig  oder  der  Ballade  ähn- 
lich genannt,  aher  wie  das  homerische  Versmaass  auch  erst  man- 
cherlei Formen  durchgehn  musste,  ehe  es  zu  seiner  Vollkommenheit 
gelangte,  so  wird  immer  die  Unterscheidung  der  homerischen 
Darstellung  von  der  vorherigen  mehr  auf  die  stilistische  Form 
gehn  müssen.  Die  Begleitung  des  Vortrags  mit  der  Laute  wird 
gewiss  mit  Becht  als  blosse  Intonation  gedeutet.  Homer  nun  hat 
uns  selbst  in  zwei  Sängern  seine  nächsten  Vorgänger  geschildert, 
und  was  sie  vortragen,  es  sind  eben  die  beiden  betonten  Partien 
der  troischen  Sage  mit  reicherem  Inhalt.  Da  mag  denn  die 
Voraussetzung  gelten,  dass  der  Stil  ein  minder  ausführender  ge- 
wesen sei.  Der  Sänger  konnte  zwar  von  Zeit  zu  Zeit  Pausen 
machen,  aber  die  bemessene  Zeit  verlangte  doch  eine  gedräng- 
tere Fassung. 

11.  Die  einzelnen  v o r h o m e r i s cli e n  Lieder  des  troi- 
schen Sagenkreises.  Zuerst  zwei,  das  von  der 
Heimkehr  des  gesammten  Heeres  und  daneben 
das   vom    Rächer    Orestes. 

Es  kommt  hier  zuvörderst  Folgendes  in  Betracht.  Die  Volks- 
sage hatte  in  aller  Zeit,  wo  sie  im  Bewusstsein  des  Volkes  eben- 
so wohl  als  in  dem  der  Sänger  lebte,  neben  der  Thätigkeit  der 
Sänger  ihre  eigene  Bewegung.  Wir  entdecken  ihren  Wandel  bei 
Vergleichung  der  Sagengestalt,  welche  die  nächsthomerischen 
Epiker  geben,  mit  der  homerischen.  Aber  nach  dem,  was  Homer 
jene  seine  nächsten  Vorgänger  vortragen  lässt,  haben  wir  auch 
wenigstens  in  Einem  Beispiel  eine  vorhomerische  zu  unterschei- 
den. Was  nämlich  Demodokos  den  Phäaken  Od.  8,  73  vorträgt, 
enthält  eine  ältere  Form  der  Sage  von  der  nahen  Eroberung 
Troias. 

Beim  Opfer  im  Zelt  des  Agamemnon  entsteht  ein  Meinungs- 
streit   der   Helden    des   drastischen    Muthes  und    des   drastischen 


84)  Was  dort  sicli  anschliesst,  auch  das  Versmaass  der  kleineren  Lie- 
der sei  ein  anderes  gewesen,  nicht  diis  hexametrische,  erweist  sich  als 
unslatlhaft.  S.  von  Lenlscli  in  Philo).  XII.  1.  S.  12  ff.  bes.  S.  15  und  25. 
Rossbach  de  metroprosod.  comm.  1.  p.  17.  Vischer  Aesth.  3,  2.  1249  und  50. 


1Ö3 

Geistes,  Achill  und  Odysseus,  ob  Troia  durch  Heldengewalt  oder 
durch  List  zu  gewinnen  sei.  Diese  Scene  findet  sich  in  keiner  uns 
sonst  bekannten  Erzählung  vom  „Beginn  des  Leids  für  Troer 
und  Achäer,  d.  h.  vom  ersten  Beginn  des  näheren  Angriffs.  Der 
Umstand  aber,  dass  dieser  Streit  zu  dem  Liedergang  gehörig 
genannt  wird,  der  zuletzt  die  Eroberung  dui'ch  den  Versteck  der 
Helden  darstellte,  er  lässt  uns  das  Verfahren  jener  Sänger  er- 
kennen. Eben  weil  die  Sage  den  Hörern  im  Allgemeinen  schon 
bewusst  war,  nahmen  jene  Sänger,  in  Rechnung  auf  dieses  Be- 
wusstsein,  den  Anhub  zum  einzelnen  Vortrag,  die  Wahl  der  Par- 
tie sowie  das  3Iaass  nach  Belieben  oder  nach  den  Umständen 
oder  nach  dem  Wunsche  der  Gäste.  Aber  möglicher  Weise  konnte 
jene  Scene   die  Erfindung  des  motivirenden  Sängers  sein. 

Endlich  aber  haben  wir  uns  hier  das  Verhältniss  des  Homer 
zu  den  ihm  dienenden  Liedern  im  Ganzen  zu  vergegenwärtigen. 
Zwei  Sänger  lässt  er  mit  Vorträgen  selbst  auftreten.  Der  eine,  Phe- 
mios,  muss  die  Freier  der  Penelope  bei  ihren  Gastmahlen  im 
Königshause  ergötzten,  der  andere,  Demodokos,  ist  der  Sänger 
vor  dem  König  der  Phäaken  und  dessen  Mitfürsten  (Ges.  8.).  Sie 
lässt  er  nicht  beliebige  Heldenlieder,  und  auch  aus  dem  troischen 
Kreise  nicht  etwa  von  Achill  und  Hektor  oder  Diomedes  singen, 
sondern  solche  aus  diesem  Bereich ,  welche  seinem  Plane  dienen. 
Der  Gesang  des  Phemios  ^soll  den  Schmerz  der  Penelope  erregen, 
die  zwei  des  Demodokos  sollen  den  Odysseus  treffen.  Aber  er  ver- 
wandte ja  überhaupt  frühere  Lieder  zu  seiner  lebensvollen  Dar- 
stellung. Neben  dem  des  Phemios  sehn  wir  ein  besondres  vom 
Rächer  Orestes  für  die  Odyssee  benutzt. 

Lassen  wir  nun  die  einzelnen  folgen,    a)  Phemios  singt  Od. 

1,  326. 

„Der  Achäer  traurige  Heiiul'ahtl, 
Welche  von  Troia  verhängt  die  zürneude  Pallas  Athene." 

Er  wusste  gar  viele  Liedergänge  (wie  Buch  1 ,  9  schon  be- 
sprochen) aber  er  sang,  was  für  die  Freier  das  .\ngenehmste 
und  dabei  das  Neueste  war.  Dem  Stoffe  nach  sang  er  (das  5. 
Stück)  das,  was  in  nachhomerischer  Zeit  Agias  von  Trözen  neu 
bildete.  Die  inzwischen  entstandenen  (Aillussagen  von  Kalclias  und 
Neoptoleraos,  wurden  diesem  nachmals  Anlass  zu  Aenderungen, 
im  Ganzen  gab  er  aber  die  aus  der  Odyssee  erkennbare  Gestalt 

Nilzsch,  Gesch.  d.  g-Hoeh.  F.pos.  10 


194 

des  vorhomerischen  Liedes  wieder.  Ganz  übereinstimmend  mit 
Nestors  B-ericht  Od.  3,  130  — 198  giebt  auch  Agias  nachmals  den 
Zorn  der  Athene  als  Motiv  dieses  Sagentheils.  Nestor  erzählt  dort  wie 
Athene  im  Zorn  Streit  gesäet  zwischen  den  Atreiden,  und  wie  dadurch 
die  Zerstreuung  der  Griechen  auf  verschiedene  Wege  und  Zeit- 
punkte der  Heimkehr  erfolgt  sei  (135).  Er  endet  den  Bericht 
zunächst  mit  blosser  Andeutung  der  unlieilvollen  Heimkunft  des 
Agamemnon,  193  —  245.  Alsb;ild  aber  giebt  er  vom  Morde  dieses 
genaueren  Bescheid,  3,  254  —  312.  Dabei  erzählt  er  die  Irrsal 
des  Menelaos  bis  nach  Aegypten.  Hieran  schliesst  sich  dann 
ergänzend  des  Menelaos  eigene  Mittheilung,  4,  351 — 547.  In 
diesen  einander  ergänzenden  Angaben  stellt  sich  der  Schluss  des 
von  Phemios  gesungenen  Liedes  heraus,  und  zwar  um  so  deutlicher, 
als  der  letzte  Satz  des  Inhalt^  von  der  Epopöe  des  Agias  densel- 
ben angiebt.  Menelaos  laugte  an  dem  Tage  in  der  Heimath  an, 
wo  Orestes  den  Mörder  seines  Vaters,  au  dem  er  die  Blutrache 
vollzogen,  und  die  zugleich  umgekommene  Mutter  (Homer  sagt 
nicht  wie)  bestattete  (3,  310(1.).  Es  ist  dies  das  Ende  des  Lie- 
des von  der  Heimkehr,  welche  auch  der  Rückweg  der  Atrei- 
den hiess,  eben  die  Heimkunft  des  andern. 

Das  vorhomerische  Lied  wird  unstreitig  bei  einem  einfacheren 
(centraleren)  Inhalte  bedeutend  kürzer  gewesen  sein,  als  die  nach- 
homerische Epopöe  mit  ihren  eingewebten  Cultussagen.  Diese 
kürzere  Fassung  mag  namentlich  auch  bei  der  Erzählung  der 
Rache  des  Orestes  befolgt  gewesen  sein,  wenn  das  Lied  sie  nach 
jenem  Umstände,  der  den  Schluss  bildete,  doch  enthalten  musste. 

b.  Aber  hierneben  machen  die  Bezüge,  welche  in  der  gan- 
zen Odyssee  auf  jene  Rache  des  Orestes  vorkommen,  und  die 
Details  der  Erzählung  von  Aegisthos  und  der  Klytämnestra  es 
allerdings  sehr  wahrscheinlich,  dass  Homer  beim  Dichten  der 
Odyssee  von  des  Aegisthos  Erevel  und  der  Rache  des  Orestes, 
auch  ein  kleines  besonderes  Lied  gekannt  und  benutzt  hat.  Von 
der  Zeit  der  kleineren  Lieder  sprechen  wir  ja.  Dass  nun  die 
Heimkunft  des  Odysseus,  das  Thema  der  Odyssee,  vom  ersten 
Anfang  (1,  31.)  und  oftmals  wiederum  mit  der  des  .Agamemnon 
in  Vergleichung  tritt,  lag  in  den  auch  jenen  gefährdenden  Um- 
ständen (3,  234 f.  13,  383'f.).  Aber  die  so  hervortönende  Lob- 
preisung des  Rächers  Orestes  (l,  298.  3,  196  —  204.)  und  noch 


mehr  die  ohne  alle  Lücke  vollsländige  lebensvolle  Erzählung,  zu 
welcher  die  Angaben  sich  wie  Ringe  einer  Kelte  zusanimenrei- 
hen,  sie  lassen  eine  ältere  besondere  Dichtung  erkennen. 

„Während  Agameninon",  heisst  es  (3,  262  —  275),  „mit  dem 
versammelten  Heer  vor  Troia  seine  Mühe  hatte,  sass  Aegisthos 
gemächlich  im  goldenen  Mykene  und  buhlte  um  dessen  Gattin. 
Ihr  rechtschaffner  Sinn  widerstand  eine  lange  Zeil,  genährt  zu- 
mal durch  einen  Haussänger  (durch  treue  Mahnung  und  wahr- 
scheinlich auch  Beispiele  der  Sage),  welchem  Agamemnon  sie 
zu  Schutz  und  Rath  anempfohlen  hatte.  Aber  als  Aegisthos  die- 
sen auf  einer  einsamen  Insel  den  Hunden  und  Vögeln  überliefert 
hatte,  da  kam  es  dahin,  dass  Klytämnestra  sich  heimführen  Hess. 
Durch  reiche  Freudenopfer  und  Weihgeschenke  feierte  Aegisthos 
dieses  Gelingen.  Aegisthos,  der  Sohn  des  Thyesles,  auf  den 
(vielleicht  als  seinen  Vormund)  Agamemnon  im  Königthum  gefolgt 
(H.  2,  106  f.),  er  sann  auf  Mord  des  Heimkehrenden  und  achtete 
die  Abmahnung  und  dirBedrohung  der  Götter  durch  ausdrückliche 
Botschaft  (Od.  1  ,  37  ff.)  für  Nichts.  Um  den  Lohn  zweier  Talente 
Goldes  setzte  er  einen  Späher  in  der  Nähe  eines  am  Meer  ge- 
legenen Landhauses  (4,  51 7f.).  Es  sind  hier  einige  Verse  um- 
zustellen.*^) —  Der  Späher  musste  von  hoher  Warte  auf  die  Ankunft 
des  Agamemnon  lauern.  Als  er  nach  jahrelangem  Harren  seine 
Meldung  gemacht  hatte,  legte  Aegisthos  zwanzig  erlesene  Männer  in 
einen  Hinterhalt  und  stellte  in  seinem  Landhause  ein  Gastmahl 
an.  Zu  diesem  holte  er  den  Angekommenen  mit  Boss  und  Wa- 
gen feierlich  ein,  und  mordete  ihn  dann  beim  Mahle  ,,\vie  den 
Stier  an  der  Krippe"  (4,  535.  11,  411)  mitsamnat  seinen  Ge- 
fährten, sowie  auch  von  Aegisthos'  Leuten  keiner  davon  kam. 
Zwischen  dieser  Mordscene  vernahm  Agamemnon  den  durchdrin- 
genden Schwerzensruf  der  Kassandra,  wie  sie,  die  er  als  ihm  zu- 
getheilte  Beute  mit  ins  Haus  gebracht,  jetzt  von  Klytämnestra  ge- 
mordet wurde.  Und  wenn  diese  grause  Gattin  nach  Homers  und 
des  älteren  Liedes  Darstellung  auch  nicht  selbst  die  31örderin 
des  Gemahls  war,  als  er  in  seinem  Blute  liegend  die  Arme  gegen 
sie  hinstreckte,  wandte  sie  sich  ab  und  seine  Bitte,  ihm  doch  den 


85)  Die  richtigere  Folge  ist  19.  20.  17.  18.,  wie  schon  liolhe  hergc- 
slellt  hat.  Vgl.  Sagcnp.  114. 

13 '^ 


196 

Anblick  des  gemeinsamen  Sohnes  noch  einmal  zn  gewähren,  rührte 
sie  nicht,  noch  \Yeniger  that  sie  wie  die  Angehörigen  pflegen 
und  blieb  bei  ihm,  um  ihm  Augen  und  Mund  zuzudrücken  (11, 
418—426). 

So  hatte  Aegisthos  als  Gatte  der  Königin  und  Sohn  des 
Verwesers  durch  eine  von  der  buhlerischen  Gattin  begünstigte 
List  das  Königthum  gewonnen.  Menelaos,  der  seinen  Plan  ver- 
eitelt haben  würde,  war  nach  Aegypten  verschlagen,  und  blieb  noch 
längere  Zeit  fern ,  das  Volk  aber  wusste  der  Frevler  unter  dem 
Druck  zu  halten.  Besorgnisse  musste  ihm  der  Sohn  des  gemor- 
deten Königs  erregen  (1,  40 f.).  Man  entzog  diesen  daher  der 
Gefahr;  in  der  Fremde,  und  wahrscheinlich  in  Phokis,*^'')  wuchs 
der  Rächer  auf.  So  herrschte  Aegisthos  sieben  Jahre  im  gold- 
reichen Mykene,  während  dessen  Menelaos  immer  auch  noch 
nicht  heimgekehrt  war.  Im  achten  Jahr  nach  der  unheilvollen 
Abfahrt  von  Troia  und  dem  Mord  des  Agamemnon  kam  der  Rächer 
und  kam  Menelaos  (1,  41.  3,  306.).  *ftben  bestattete  Orestes 
die  Mutter  mit  Aegisthos  zugleich  und  gab  den  Argeiern  das  üb- 
liche Leichenmahl,  als  Menelaos  eintraf  (3,  309  —  311.  4,  82.). 

So  hatte  dieses  besondere  Lied  vom  Rächer  Orestes  wahr- 
scheinlich denselben  Schluss  wie  jenes  des  Phemios.  Das  nach- 
homerische des  Agias  nahm  die  Erzählung  der  Rachethat  in  sich 
auf.  Denn  jener  letzte  Theil  lautet  in  den  Excerpteu  aus  Pro- 
klos" Chrestomathie:  ,, Darauf  füi'  Agamenmons  von  Aegisthos  und 
Klytämnestra  ver üblen  Mord  die  Rache  durch  Orestes  und  P y la- 
de s,  und  des  Menelaos  Zurückkunft  nach  Hause".  Wie  nun  auch 
in  dieserEpQpöe  überhaupt  weiter  Nichts  folgte,  erkennen  wir,  dass 
die  Ansicht  vom  Muttermörder  im  Sinne  auch  des  Agias  noch  die- 
selbe war,  wie  in  der  homerischen  Darstellung.  Orestes  halte  die 
Pflicht  der  Blutrache  erfüllt,  wie  das  Nestor  Od.  3,  196 f.  als  das 
Glück  eines  Gemordeten  rühmt,  dass  er  einen  Rächer  hinterlasse,  und 


86)  Dies  giebt  die  allere  Lesart  des  Verses  3,  307.  Der  Schalten 
des  Agamemnon  weiss  11,  458(1".  davon  uatürlicli  Nichts,  und  nennt  bei 
seiner  Frage,  wo  Orestes  bibe,  erst  uiibeslimint  zwei  berühmte  Orte,  cbinn 
das  ilim  Erwünschteste,  das  Haus  ties  Menelaos  in  Sparta.  Den  I^ylades, 
den  Sohn  des  Slropbios,  der  bei  den  Tragikern  als  Gehilfe  bei  der 
Rache  erscheint,  nennt  allerdings  erst  Agias,  aber  die  wahrscheinlich 
altisirende  Lesart  „von  Athenä"  hat  keinen  klaren  Boden  in  der  Sage  und 
wird  gezwungen  verlheidigt. 


197 

dies  auch  II,  14,  483  ff.  anerkannt  wird,  Orestes  hat  davon  nur 
Ruhm  und  ist  Muster  für  Andere.  Erst  im  gemiithlith  erregten 
Zeitalter,  das  die  Lyriker  darstellen,  finden  wir  die  den  Mutter- 
jnörder  verfolgenden  Erinyen,  bei  Stesichoros,  dem  Vorgänger  des 
Aeschylos :  Fagm.  bei  dem  Schol.  z. Eur.  Or.  258.  Sagenp.  463  f.  522  ß". 

12.  Fortsetzung.  Die  Lieder  des  Demodokos,  kurz  ge- 
nannt, und  die  z  wisch  onlie  gen  den  Liederstoffe. 
Der  andere  Sänger,  in  welchemHomer  ein  lebendiges  Bild  seiner 
nächsten  Vorgänger  darstellt,  ist  Demodokos  bei  den  Phäaken  im 
achten  Gesänge  der  Odyssee.  Dieser  singt  zweimal  Parlieen  der 
troischen  Sage,  durch  die  Odysseus  sollte  gerührt  werden.  Das 
erste  Lied  wählt  Demodokos  seihst  (8,  73 ff.):  zum  zweiten  geht 
er,  wie  es  heisst,  über,  fährt  mittels  Zwischenauslassung  fort,  auf 
den  Wunsch  des  Odysseus  (8,  492).  Wir  sehn,  die  Runden 
der  Männer,  die  Sagen  der  Vorzeit  gebn  in  hingen  Reihen  fort,  aus 
denen  die  Sänger  eingreifend  Partieen  wählen,  und  durch  der  Musen 
Gunst,  Liedergänge  bilden,  welche  ein  grösseres  oder  kleineres 
■Ganze  umfassen.  Diese  Sagen  und  Liederstoffe  sind  selbst  vie- 
lerlei, wie  Penelope  sagt,  wo  sie  vom  Phemios  einen  andern  Ge- 
sang wünscht  (1,  337  —  339),  und  wie  diesem  die  Musen  viele 
Liedergänge  in  die  Seele  legen  (22,  347 f.).  Aber  wie  Demodokos 
aus  der  Mannigfaltigkeit  wählend,  statt  aus  der  herakleischen  Sage 
etwa  den  Gang  nach  dem  Kerberos  oder  aus  der  vom  thebischen 
Kriege  einen  Kampf  des  Tydeus  zu  berichten,  vielmehr  überhaupt  die 
troische  Sage  erzählt,  so  mussle  seine  eigene  oder  durch  den  Wunsch 
des  Hörers  bestimmte  Wahl  aus  dieser  so  umfänglichen  und  nimmer 
in  einem  Zuge  durchzusingenden  Sage  vollends  einzelne  Partieen 
wählen.  Die  Partie,  welche  sein  erster  Vortrag  beginnt,  ist  schon 
für  Einen  und  einer  Mahlzeit  Vortrag  viel  zu  reich.  ®^)  Jene  erste 
singt  er  beim  Frühmabl,  die  zweite  beim  Spälmahl,  und  doch 
konnten  beide  nach  der  Zeit  nur  ausgehobene  sein.  Ja  es  liegt 
zwischen  der  ersten  Partie  und  der  nachmaligen  selbst  nach  der 
aus  Homer  ersichtlichen  Sagengestalt  eine  solche  Fülle  von  Be- 
gebenheiten,   dass   Homers   Nachfolger   aus    denselben   zwei  um- 


87)  BäundcinN.  Jahrb.  f.Philol.  B.  75  und  7G  i.  S.  37.    „Wir  lial.cn 
im  8.  Gesänge  den  Entwurf  eines  grossem,  cinlieillichcn  Epos", 


198 

fängliche  Epopöen  gestalteten.  Es  ist  Alles  darin  begriffen,  was 
nacli  dem  Falle  und  der  Bestattung  Hektors  bis  zur  wirklichen 
Eroberung  und  Zerstörung  Troia's  erfolgte.  Vergegenwärtigen 
wir  uns  denn  hierzwischen  die  schon  bei  der  Dichtung  der  liias 
und  Odyssee  vorhandenen  Lieder  aus  dieser  letzten  Hälfte  des 
Kampfes. 

Es  folgten  zunächst  erst  noch  die  letzten  Kämpfe  des  Achill, 
dann  sein  Fall  durch  Paris'  Pfeil,  der  Kampf  um  seine  Leiche, 
die  Rettung  derselben  durch  Aias  und  Odysseus,  die  feierlichste 
Bestattung,  wobei  Thetis  mit  den  andern  Nereiden  und  den  Mu- 
sen die  Todtenklage  erklingen  lässt,  und  darauf  Leichenspiele, 
wozu  Thetis  Preise  gewährt.  Sie  bestimmt  daliei  aber  auch  Achills 
eigene  Waffen  demjenigen,  der  an  der  Retttmg  derselben  wie 
der  Leiche  das  grösste  Verdienst  gehabt.  Der  daraus  entstehende 
Prozess  zwischen  Aias  und  Odysseus  wird  durch  Athenens  Gunst 
für  Odysseus  entschieden,  und  diese  Entscheidung  bringt  dem 
Aias  den  Tod.*») 

Jetzt  die  Situation ,  da  Alles  auf  die  Eroberung  Troia's  steht. 

Die  Troer  haben,  nachdem  Memnon  und  sein  Aethiopenheer 
auch  überwältigt  ist,  zuletzt  zu  dem  Nachbarvolke  der  Myser 
oder  Keteier  gesandt,  und  es  zieht  Eurypylos,  der  Sohn  des  Te- 
lephos,  mit  einer  Schaar  heran.  Aber  auch  die  Achäer,  des  Achill 
und  Aias  jetzt  verlustig,  werden  (von  ihrem  Kalchas  wohl)  an- 
gewiesen, einen  andern  Achill,  des  ersten  Sohn  herbeizuholen. 
Odysseus  führt  ihnen  den  Neoptolemos  von  Skyros  herbei,  und 
dieser  erlegt  den  Eurypylos,  den  letzten  Helfer  der  Troer,  Od. 
11,  50Sf.  519  —  522.  Aber  jetzt  bedürfen  die  Achäer  auch  des 
auf  Lemnos  einst  zurückgelassene»  Philoktet  und  holen  ihn,  II. 
2,  718  —  725.  Da  er  nämlich  nach  der  Eroberung  glücklich 
heimkehrt  (Od.  3,    190)  und  da,  als  das  hölzerne  Pferd  bereitet 


88)  Vom  ersten  Kampf,  dem  mit  der  Amazone  Penthesileia,  hat  Ho- 
mer keine  Andeutung,  er  erscheint  als  später  in  die  Sage  gekommen, 
aber  vom  zweiten  mit  3Iemnon,  dem  Aethiopenfiirstcn,  der  dem  Achill  sei- 
nen zweiten  Patroklos,  den  Antilochos,  getödtet  hatte,  findet  sich  eine 
solche  Od.  4,  187  f.  und  199 — 202.  Achills  sehr  baldiger  Tod,  nachdem 
er  den  Hektor  erlegt,  ist  berührt  II.  18,  96.  22,  359;  der  Kampf  um  seine 
Leiche,  Od.  5,  308  —  310.  und  24,  37 — ^2;  die  Bestattung  und  Leichen- 
spiele mit  den  Preisen,  das.  43 — 92;  der  Prozess  über  Achills  Wallen,  des 
Odysseus  Sieg  darin  und  Aias'  Tod,  Od.  11,  543  —  548, 


199 

und  der  Kampf  der  daraus  hervorgebrochenen  im  Gange  ist,  die 
Helena  den  Deiphobos  statt  des  Paris  zum  Manne  hat  (4,  276 
8,  517 f.):  so  ergiebt  sich  daraus  über  Philoktet  dasselbe,  was 
die  nachhomerischen  Dichter  von  ihm  erzählten.  Die  Seher  ver- 
kimden,  zur  Einnahme  Troias  sei  der  Bogen  des  Herakles,  jetzt 
im  Besitz  des  Philoktet,  erforderlich.  Das  heisst:  Paris  der  Frev- 
ler und  der  Bogenschütz  soll  von  einem  Bogenschützen,  dem 
Philoktet,  erlegt  \verden.  Philoktet,  von  Podaleirios  wahrschein- 
lith  geheilt  (Quint.  9,  463),  tödtet  den  Paris  und  Helena  geht  zu 
Deiphobos.  Jetzt  ziehn  sich  die  Troer  in  ihre  Mauern  zurück,  und 
es  beginnt  nun  erst  durch  Athene  und  Odysseus  das  Werk  der  List. 

Der  erste  Schritt  in  diesem  Sinne  geschali  von  Odysseus 
durch  den  Spähergang  nach  Troia  hinein  in  Verkleidung  als  Bett- 
ler, den  Helena  in  Od.  4,  242  —  264  zum  Ruhme  desselben  er- 
zählt. Während  dieser  Gang  geschah,  arbeitete  Epeios  das  höl- 
zerne Pferd;  Odysseus  aber  von  Helena  in  seiner  Verhüllung 
erkannt,  besprach  mit  ihr  bei  heiligen  Eiden  der  Verschwiegen- 
heit die  geheimen  Pläne,  und  entkam,  nachdem  er  Viele  getöd- 
tet,  zum  Lager.  V^'ie  in  der  nachhomerisclien  Kleinen  Ilias  dieser 
Spähergang  gerade  ebenso  beschrieben  wird  wie  Helena  ihn  dort 
beschreibt,  so  wissen  wir  aus  jener,  dass  hierauf  alsbald  die 
Anwendung  des  hölzernen  Pferdes  eintrat.  Dass  auch  das  Heils- 
pfand Troia's,  das  Palladion,  erst  noch  von  Odysseus  und  Di- 
omedes  entwendet  worden  sei,  kann  der  homerischen  Sagenform 
unbewusst  gewesen  sein;  es  kommt  darauf  für  uns  Nichts  an. 

So  viele  Thatsachen  also  enthielt  schon  die  vorhomerische  Sage 
zwischen  Heklors  Tod  und  dem  Moment,  da  die  Troer  nach  dem 
verstellten  Abzug  der  Griechen  vor  ihren  Thoren  das  Pferd  fanden. 

13.  Welches  waren  nun  die  zwei  oben  erwähnten 
Lieder    des   D  e  m  o  d  o  k  o  s  ? 

Das  erste  8,  73f.  wird  als  Kunden  der  (früheren)  Männer 
aus  einem  Lredergang  bezeichnet,  dessen  Ruhm  damals  den  Him- 
mel erreicht  habe.  Also  der  Liedergang,  das  Ganze,  dem  das 
Vorgetragene  angehört,  halte  den  grossen  Ruhm  d.  h.  war  schon 
viel  und  immer  gern  gehört  worden,  oder  aus  ihm  halte  man 
schon    viel    und   gern    gehört.*^)     Der  jetzt  gesungene  Inhalt  war 

89)  S,  Welcker  Ep.  Cycl.  I.  349. 


200 

der  Wortstreit  des  Odysseus  und  Achill  ])eim  Opreriiiahle  der 
Götter  mit  ausiielimeuder  Hel'tigkeit  geführt,  \\oraii  König  Aga- 
memnon sich  in  seinem  Sinne  gar  erfreute,  dass  die  besten  der 
Achäer  in  Hader  geriethen ;  denn  ebenso  halte  der  delphische  Gott 
gevveissagt;  „dann  nämlich  entspann  des  Leides  Beginn  sich  Troern 
sowohl  Avie  Achäern  durch  Zeus,  des  gebietenden,  Rathschluss", 
Obgleich  nun  weder  Homer  selbst  noch  ein  späterer  Dichter 
über  den  Slreilpunkl  und  die  Zeit  des  Streits  ausdrückliche  Aus- 
kunft giebt,  die  Sage  wusste  oder  der  Scharfsinn  der  Ausleger 
hat  Folgendes  gefunden."")  Wie  die  Schlussvvorte  „entspann  des 
Leides  Begiini  sich"  auf  eine  zur  Entscheidung  neigende  Zeit 
hindeuten,  war  es  nach  Hektors  Tode,  dass  beim  Opfermahl  des 
Heeres  die  beiden  Besten  desselben,  der  immer  stracks  handelnde 
Achill  und  der  kluge  Odysseus  über  die  zur  Eroberung  erfolg- 
reichste AVeise  und  Eigenschaft  stritten.  Achill  stimmte  für  mäch- 
tige Kraft,  Odysseus  für  erfmdsame  Klugheit,  und  Jeder  pries  die 
empfohlne  Eigenschaft.  Agamemnon  erkannte  erfreut  in  diesem 
Streit  das  Vorzeichen  des  beginnenden  glücklichen  Ausgangs. 
Aber  hat  Demodokos,  wie  es  lautet,  eben  nur  jenen  Streit  ge- 
sungen, zunächst  nichts  weiter,  dann  konnte  er  in  Anschluss 
daran  für  seine  Hörer  bei  dem  Gastmahl  des  Königs  und  seiner  Pairs 
jedenfalls  nur  einzelnes  Ausgewählte  folgen  lassen.  Die  Entschei- 
dung durch  den  Erfolg  zog  sich  länger  hin.  Zuerst  machte 
Achill,  immer  der  Vorkämpfer  des  ganzen  Griechenheers,  wenn 
er  zu  ihm  hielt,  seinen  Satz  durch  sieghaften  Kampf  (Memnon) 
geltend,  aber  alsbald  erlag  er  selbst.  Nun  folgte  des  Neoptole- 
nios  Abholung  und  Sieg  über  Eurypylos,  dann  Philoktets  Eintritt 
und  der  Fall  des  Paris,  dann  des  Odysseus  Spähergang  —  lauter 
Partieen,  welche  schon  für  sich  genug  Stofl'  zu  einem  kürzeren 
Gesänge  gaben.  Jedoch  Odysseus  bat  um  das  „Gebild  des  höl- 
zernen Pferdes",  dazu  heisst  er  den  Sänger  übcrgehn.  Da  hören 
wir  denn  den  Ausdruck,  mit  dem  das  Eifassen  eines  Punktes  im 
Sagenverlauf,  von  dem  ein  Sänger  sein  besonderes  Lied  anliob, 
bezeichnet  wurde:  „Ihn  (den  Gesang)  erfassend  von  da  — ". 
Demodokos   hob    vrin   der  Situation   an    (500),    da    das  Heer  der 


90)   Schol.  und  Eusl.  zu  Od.  8,  75.  Athen  1.  17  E.  und  Scliol.  zu  11. 
9,  347.    Meine  Combinatiou  zur  Stelle  der  Odyssee  war  irrig. 


201 

Acliäer  seine  Zelte  verbraunt  und  scheinl>ar  heimwärts  schiffend 
hei  Tenedos  lag,  die  Troer  aber  das  von  jenen  iiinterlassene 
hölzerne  Pferd ,  in  welchem  sich  Odysseus  mit  einer  Zahl  anderer 
Helden  geborgen,  nach  Odysseus'  schlauer  Voraussicht  durch  die 
eröffneten  Stadtmauern  auf  die  Burg  hinauf  gezogen  hatten.  Er 
singt  nun,  500  —  520,  den  ganzer  Verlauf  der  Eroberung  und  Zer- 
störung zwar  nur  nach  seinen  Ilauptmomenten  in  wenige  Verse 
zusammengedrängt  und  in  solcher  Kürze  gefasst  wie  Od.  23,  310 
bis  341  die  ganzen  Irrfahrten  des  Odysseus,  und  II.  18,  448  bis 
456  der  ganze  Hergang  des  Zorns  Achills  bis  zum  Verlust  der 
Waffen  angedeutet  werden.  Jedoch  war  dies  offenbar  an  sich 
ein  viel  reicherer  Stoff,  ;ils  die  vorhin  genannten  ihm  zunächst 
vorhergehenden,  und  ein  untheilbarer.  Wir  haben  also  an  die- 
sem Gesang  des  Demodokos  ein  Beispiel  umfänglicheren  Gesanges 
noch  gewisser  zu  erkennen,  als  an  dem  des  Phemios.  Zur  ge- 
drängten Inhaltsangabe  stellt  sich  des  3Ienelaos  Erzählung,  4,  270, 
als  ein  ausgeführtes  Moment  aus  der  ersten  Zeit  des  gefundenen 
hölzernen  Pferdes.  Helena,  die  durch  Odysseus  von  dem  Plane 
weiss,  wird,  wie  der  Dichter  sagt  (274),  von  einem  den  Ti"oern 
günstigen  Gölte  erregt  und  verleitet,  die  im  Bau  versteckten 
Helden  durch  ein  Schauspielerkunststück  zum  Verlautbaren  zu  rei- 
zen, da  denn  Menelaos  ihr  Gatte,  der  natürlich  vor  Allen  sie 
erkannte,  und  neben  ihm  der  immer  leicht  erregbare  und  hef- 
tige Diomedes  bei  einem  Haar  sich  und  die  Sache  verratheu  hätten. 
(Die  fünf  folgenden  Verse  vom  Antiklos  sind  eine  Variation,  eine 
Doppelform  zu  den  vorhergehenden.^') 


91)  Die  Verse  285  —  289  sind  Doiipelform :  Friedländer  Pliilol.  4. 
577.  Meine  Vcrtheidij^ung  in  der  Anmerkung  war  ein  Irrlhum.  Einmal, 
nicht  zweimal  hat  Odysseus  die  Vereitelung  der  List  verhütet,  und  zwar 
nur  bei  Jenen,  welchen  es  nach  dem  Verhiillniss  zu  Helena  oder  nacli 
ihrem  Temperament  am  nächsten  lag  zu  antworten.  Ausser  dass  der  Anli- 
klos  der  Iiomerischen  Sage  unbewusst  ist,  enthält  das  Zuhalten  des  Mun- 
des eine  Unglauhlichkeit.  Neben  der  Doppelform  hier  ist  in  Od.  11 .  522  bis 
532  eine  unliedachte  Interpolation  zu  erkennen.  Dass  in  demselben  höl- 
zernen Pferde  Neoptolemos  allein  seinen  Mulh  bewährt  habe,  alle  andern 
Heerführer,  also  auch  Diomedes,  auch  Pliil(d<tet,  auch  bhuneneus  nebst 
Meriones  u.  A.  gezittert  hätten,  ist  eine  so  plumpe  reberlrcihung,  dass  sie 
nicht  Homer,  sondern  nur  eine  Rhajisode  dem  Odysseus  in  den  Mund 
gelegt  haben  kann.  Von  Interpolaloren  rühren  gerade  Ueherlreibungen 
wehrfach  her. 


202 


14.  Die  erst'e  Epoche  des  troi sehen  Kriegs  nach  den 
An  den  tun  gen  Homers. 

Wir  haben  gesehii,  die  troische  Sage  war,  als  Homer  aus 
ihr  die  ParLieen  vom  Zorn  des  Achill  und  von  der  Heimkunft 
des  Odysseus  zu  neuer  Gestaltung  wähUc,  in  den  letzleren  Thei- 
len ,  von  Hektors  Tod  an ,  vollständig  in  einzelnen  Liedern  aus- 
gesungen vorhanden.  Von  selbst  erwartet  man  nun  und  noch 
gewisser  dasselbe  von  dem  Anfangstheile  bis  zur  Kntzvveiung  des 
Achill  und  Agamenmon.  Und  es  ist  so.  Obgleich  die  dazugehörigen 
Data  nirgends  wie  die  von  der  Heimkehr  in  Nestor's  und  Menelaos' 
Berichten  im  Zusammenhang  erscbeinen,  sonderji  ganz  einzeln 
aus  verschiedenen  organisch  eingewebten  Stellen  auszuheben  sind, 
so  bilden  sie  doch  ein  so  lichtes  Ganze,  dass  wir  die  vorho- 
merische Gestalt  ganz  deutlich  von  der  nachbomerischen  unter- 
scheiden können,  die  aus  der  inzwischen  fortwebenden  Volkssage 
mehrfaches  Neue  enlhäh. 

Der  Streit  der  drei  Göttinnen  um  den  Preis  der  Schönheil 
war  wobl  kaum  auch  nur  als  Urgeschichte  in  der  Sage;  und 
somit  vollends  der  berühmte  Streilapfel  und  das  Urtheil  des  Pa- 
ris erst  "spätere  Erfindung.  Die  drei  Göttinnen  vertreten  nach 
ihrem  Wesen  drei  begehrte  Lebensgüter:  Here  Königthum  und 
Macht,  Athene  drastischen  Geist,  Klugheit,  Aphrodite  Schönheit 
und  Liebreiz  —  das  ist  Reflexion,  nicht  Urpoesie.  Die  Verse 
11.  24,  28  und  29  mit  dem  falschen,  auch  im  Satze  unrichtigen 
Gedanken  erkennen  wir,  wie  die  Alten,'  als  unecht. 

Paris  ist  von  Haus  aus  und  seinem  ganzen  Wesen  nach  der 
Liebling  der  Aphrodite  und  ihr  Werk  ist  sein  Raub  der  schön- 
sten Frau.  Jedenfalls  begann  die  vorhomerische  Dichtung  von 
des  Paris'  Fahrt  nach  Sparta,  II.  5,  62 f.  Helena  ward  durch 
Aphrodite  verführt,  damals  Od.  4,  261  —  263  wie  II.  3,  389. 
414  f.  Paris  raubte  auch  viele  Schätze,  II.  3,  282.  7,  362.  Das  erste 
Beilager  mit  der  Entführten,  II.  3,  443.  6,  292.  Der  an  Menelaos 
verübte  Frevel,  II.  3,  351.  13,  622.  Die  Rache  gemeinsame 
Sache  der  Atreiden  und  Agamemnons  Hegemonie,  U.  1,  158  bis 
160.  9,  97.  Od.  5,  308.  Aufruf  zur  Heerfahrt  zuerst  durch  die 
Atreiden,  die  zu  Odysseus  kamen.  Od.  24,  115  f.,  dann  durch  Odys- 
seus und  Nestor,   11,  11,   766  —  768.     Abholung  des  Achill   und 


203 

Patroklos,  (tes.  782  —  789.  Zur  Zeit  dieser  Werbung  Geschenke 
an  Agamemnon,  des  Fürsten  von  Kypros,  II.  11,  19  —  23,  ei- 
nes Edlen  in  Sikyon.  II.  23,  296  —  299.  Die  Sammlung  des 
Heeres  in  Aulis,  II.  2,  303  —  329,  auf  der  Fahrt  Aufenthall  auf 
Lemnos,  wo  Agamemnon  und  Menelaos  sich  einen  Gastfreund 
erwerben  (II.  7,  470 f.);  dort  ein  Gastmahl  voll  lebhafter  Vor- 
sätze, II.  8,  229—235,  auf  Lemnos  der  kranke  Philoktet  zurückge- 
lassen, II.  2,  721  f.  —  Hier  ist  zu  bemerken,  dass  die  Vorgeschichte 
der  Ilias  von  einem  erst  verfehlten  Zuge  nach  Klein  -  Mysien  oder 
Teuthrania  Nichts  weiss.  —  Bei  der  Landung  an  der  Iroischen 
Rüste  fiel  Protesilaos  durch  den  VTurf  eines  Dardaners  im  Mo- 
ment, da  er  vom  Schiffe  sprang,  11.  2,  701  f.  15,  706.  Mene- 
laos und  Odysseus  als  Gesandte  in  Troia,  die  Zurückgabe  der 
Helena  und  der  Schätze  verlangend,  II.  3,  205  —  224.  Antenor 
der  sie  beherbergt,  stimmt  auch,  7,  347  —  352,  zum  Frieden. 
Ein  Antimachos  dagegen,  von  Paris  mit  Gold  bestochen,  verhin- 
dert es,  11,  123  — 125,  ja  er  wollte,  man  solle  den  Menelaos 
morden,  das.  137  — 141.  In  dieser  Zeit  geschah  von  griechischen 
Helden  ein  Anlauf  gegen  die  Mauern,  II.  6,  434  —  436  und  fielen 
zwei  Söhne  des  Priamos,  Mestor  und  Troilos,  II.  24,  257  bis 
260.  Manche  den  Hörern- Homers  wohlbewusste,  uns  dunkle 
"Beziehungen  schliessen  sich  nach  Welckers  sehr  wahrschein 
lieber  Combination  hier  an.  Den  Troilos  tödtete  Achill  vor  dem 
skäischen  Thor,  da  trat  ihm  Hektor  entgegen,  die  Leiche  des 
Bruders  ihm  abzukämpfen,  II.  9,  345  und  Achill  mochte  beim 
ersten  Begegnen  mit  Hektor  in  der  Landungsschlacht  wohl  einiges 
Erschrecken  geäussert  haben,  7,  113  1.^*)  Es  trat  aber  alsbald 
bei  den  Troern  eine  allgemeine  Furcht  vor  dem  gewaltigen  Achill 
ein.  Wenn  Hektor  weiter  als  bis  zum  Feigenbaum  ganz  in  der 
Nähe  des  skäischen  Thores  (11,  170)  vordringen  wollte,  wehr- 
ten ihm  dies  die  Stadtältesten  (15,  722  f.  9,  353  f.).  Und  wer 
von  den  Troern  sich  in  der  Dämmerung  zu  Gärten  oder  Hürden 
hinauswagte,  auch  den  fing  häufig  Arhill  ab,  11,  104  —  106.  21, 
135 — 138.  Auch  Aeneas,  der  zweite  Held  der  Troer  nach  Hek- 
tor, traf  einst,  als  er  zu  seinen  Heerden  im  Idagebirge  gegangen, 
auf^  ihn   und   entging  kaum  seinem  Speer  durch  die  Flucht,    20, 


92}  Welker  Ep.  Cycl.  II. ,  125  uml  126. 


204 

90-94.  Acliill  hatte  dessen  Rinder  erbeuten  mögen,  und  als 
Aeneas  nach  Lyrnessos  floh,  zog  er  ihm  nach  und  zerstörte  diese 
Stadt,  20,  187—192.  Unter  den  Frauen,  welche  er  gefangen 
wegführte  (93),  war  Briseis,  deren  Mann  er  getödtet,  2,  690  f, 
19,  60.  295  f.  Er  erhielt  sie  damals  als  Ehrentheil  zugetheilt, 
16,  56  f. 

Der  ganze  Krieg  hatte  nach  der  Landungsschlachl  bis  gegen 
die  Entzweiung  der  ersten  Helden  folgende  Gestalt  und  Art.  Da 
die  Troer,  wie  auch  Strabo,  584,  7,  sie  bezeichnet,  sich  in  ihren 
Mauern  hielten,  wandte  Achill,  der  Ilauptkämpfer,  die  Schaaren 
zuerst  gegen  die  in  der  Nahe  liegenden  anderen  Städte  der  Herr- 
schaft des  Prianios,  oder  weiter  gegen  Insclstädte,  wie  er,  9,  328, 
selbst  11  zu  Lande  und  12  als  zur  See  eingenommen  angiebt. 
Man  war  der  Beute  bedürftig  (der  Heerden  und  Geräthe),  jeden- 
falls verlänglich  darnach,  und  die  wenig  befestigten  Städte  machten 
die  Plünderung  leicht.  Die  mannigfache  Beute  wurde  an  das 
Heer,  besonders  die  verschiedenen  Helden  vertheilt  (U.  1,  125), 
Agamenmon  aber  erhielt  davon  sein  besonderes  reichüches  Theil, 
2,  226  —  228.  Nach  damaligem  Brauch  (Od.  14,  264  f.)  fielen 
die  Männer  im  Kampf,  Frauen  und  Kinder  wurden  gefangen  weg- 
geführt. So  wurden  vornehmlich  Frauen  erbeutet,  18,  339  bis 
342,  Es  treten  aus  diesen  Hergängen  viele  Einzelheiten  ins  Licht. 
Von  der  Einnahme  der  Insel  Lesbos  hat  Agamemnon  dem  Achill 
sieben  geschickte  Frauen  zu  bieten,  9.  128  f.,  sowie  Achill  selbst 
nach  dem  Verluste  der  Briseis  eine  Lesbierin  zur  Beischläferin 
hat,  9,  664  f.  Seinem  Patroklos  schenkte  Achill  von  Skyros 
her  die  Iphis,  9,  607  f.,  dem  Nestor  von  Tenedos  die  Hekamede 
1 1  „  624.  Die  ruchtbare  Chryseis  war  Agamemnons  Ehrengabe 
von  Thebe  her,  1,  366— 369.3^)  Thebe  heisst  die  Stadt  ihres 
Fürsten  Eetion,  des  Vaters  der  Andromache,  6,  395  —  398.  Achill 
tödtete  dessen  sieben  Söhne  bei  den  Heerden,  tödtete  auch  den 
Vater,  aber  er  erwies  ihm  die  Ehre  und  Milde,  ihn  mitsannnt 
seinen  Waffen  zu  bestatten  und  ibm  ein  Grabmahl  zu  bereiten.  Die 
Mutter  gab  er  gegen  ein  Lösegeld  frei;  sie  starb  im  Hause  ihres 
Vaters,  6,  414  —  428.     Aus  Eetions  Stadt  war  die  Laute,  zu  der 


93)  Dass  ihre  Zurückgabe  au  den  Vater  nach  Cliryse,  nicht  nach 
Tlieben  erfolgt,  beruht  auf  l)Csondon)  UnisUiiulen.  Welcker  ep.  Cycl. 
II.  126. 


^05 

Achill  sang,  und  eben  daher  dessen  Handpferd,  9,  188.  16, 
152  —  154  und  476.- 

Zum  deutlichen  Zeugniss  von  dem  Gange  des  Kriegs  ist  nir- 
gends ein  anderes  Beutestück  zu  entdecken ,  als  entweder  aus 
dem  vor  Kurzem  stattgeliabten  Kampfe  seit  dem  Zorne, '^)  oder 
aus  der  Epoche  jener  Streifzüge  und  Eroberungen  in  der  Um- 
gegend. Gerade  Achill  würde  sich  unstreitig  seiner  Thaten  da- 
bei zu  rühmen  haben,  wenn  es  •  seit  der  Landungsschlacht  bis 
jLur  Zeit  der  Pest  irgend  Kampf  von  Heer  gegen  Heer  unter 
Troia's  Mauern  gegeben  hätte.  Aber  nur  ganz  übereinstimmend 
mit  jenen  Zeugnissen  von  den  Streifzügen  sagt  er,  1,  165  f.: 
,,Doch  das  Mehrste  des  vielerregeten  Krieges,  das  vollbringet 
mein  Arm",  und  Nestor  unterscheidet  Od.  3,  105  —  108  im  Rück- 
blick auf  den  ganzen  Verlauf  des.  Krieges  zwei  Zeiten  desselben, 
ebenso  erst  weitere  Züge  unter  Achills  Führung,  dann  Kampf 
bei  der  Stadt. 

Was  aus  dieser  letzten  Darlegung  erhellt,  dass  die  troische 
Sage  von  einem  Kampfe  der  ganzen  Heere  in  der  Nähe  der 
Stadt  vor  der  Epoche  der  Verzürnung  des  Achill  Nichts  weiss, 
davon  wird  bei  der  Betrachtung  des  Planes  der  Ilias  bedeutende 
Folge  und  Anwendung  sich  ergeben.  Es  wird  weiterhin  nach- 
zusehen sein,  ob  und  welche  Spuren  der  kleinen  Lieder,  aus 
denen  nach  der  geltenden  Annahme  wie  alle  grössere  Composi- 
tionen,  so  die  ilias  und  Odyssee  g-ebildet  sind,  sich  noch  jetzt 
entdecken  lassen.  Zunächst  ist  der  Dichter  selbst  hier  aufzu- 
führen, der  durch  die  Neugestaltung  der  Partieen  von  Achills  Zorn 
und  von  Odysseus'  Heimkehr  der  Meister  der  Epopöe  geworden  ist. 


94)  Diomedes  fahrt  hei  den  Leichenspielen,  23,  291  f.,  mit  i\en  Pfer- 
den des  Aeneias  nacii  5,  319  —  324  olfenliar  als  den  besten  von  mehren, 
die  er  erbeutet  hat  (5,  25  f.  165).  Achill  schenkt  bei  denselben,  23,  560 
und  808  den  Panzer  und  das  Schwert  des  Asteropäos  nach  21,  35  —  44, 
setzt  23,  800  die  Waü'en  des  Sarpedon,  <he  Partoklos,  10,  662,  erbeulet 
hat,  und  23,  827.  den  Diskos  des  Eelion  als  Preise,  hiomeneus  hatte  in 
seinem  Zelte  eine  Menge  von  Troern  erbeuteter  Speere  und  andere  Walfen, 
13,  260  —  265  und  ebenso  sein  Dienstmann  Meriones,  267  1'.  Und  Pferde 
wurtlen  auch  von  Anliloclios  erbeutet,  das.  390  —  400  f.,  von  Andern  die 
Wallen  Erlegter,  das.  041. 


206 


Abschnitt  IL 

Die  nachhonierischen  Epiker. 

15.  Die  Partieen  von  des  Achilleus  Zorn  und  der 
Heimkehr  des  Odysseus  und  der  einige  Homer 
als  Höhe-  und  Mittelpunkt  zAveier  Perioden  der 
epischen  Dichtung  nach  der  zur  Geltung  ge- 
langten Ansicht. 

Wir  haben  eine  gute  Reihe  vorhomerischer  Lieder,  Avie  ja 
Phemios  deren  eine  Menge  weiss  (Od.  1  und  22),  aufzählen 
können.  Wir  haben  dabei  gesehen,  wie  Homer  aucli  sehr  lieder- 
knndig  war  und  diese  Kenntniss  vom  Inhalt  jener  Lieder  be- 
nutzte, um  seinen  zwei  Werken  auch  den  Reiz  der  Mannigfal- 
tigkeit zu  geben,  indem  er  in  seiner  lebendigen  Weise  den  alt- 
kundigen Greisen  oder  den  Epigonen  oder  sonst  seinen  Personen, 
Menschen  und  Göttern ,  solche  Erinnerimgen  in  den  Mund  legte. 
Jetzt  kommen  wir  zu  den  zwei  Partieen  der  troischen  Sage, 
welche  er  auf  Grund  der  aus  ihnen  von  den  früheren  Sängern 
gedichteten  kleinen  Lieder  zu  den  ersten  Epopöen,  den  Mustern 
der  Gattung,  gestaltete.  Dieses  V'erhältniss  Homers,  oder  rich- 
tiger die  Reschaffenheit  der  epischen  Dichtung,  zumal  bei  den 
Griechen,  ist  jetzt  als  das  Gegebene  anerkannt.  Wir  blicken 
hier  auf  Ruch  L  §.12  zurück. 

Es  lautet  von  Homer  g-egenwärlig,  wie  es  von  Ritschi  in 
der  Kürze  deutlich  bezeichnet  wird:  „Aus  einer  reichen  Fülle 
epischer  Einzellieder  wähU  der  hervorragende  Geist  Ho- 
mers eine  Anzahl ,  verschmelzt  sie  mit  eigenen,  und  verknüpft 
sie  kunstgemäss  zu  einem  Ganzen,  in  welchem  sich  Alles  auf 
einen  Mittelpunkt,  der  eine  sittliche  Idee  enthält,  be- 
zieht. Es  ist  ein  Verdienst,  welches  weit  über  eine  blosse  Zu- 
sammenstellung hinausliegl;  es  ist  die  erste  Schöpfung  eines 
grossen    organischen    Ganzen."^^)      Der    reichen   Fälle 


95)  Die  Alexandr.  Bibliolh.  Bresl.  1838.  S.  70.  und  bei  Lobeil  Welt- 
gesch.  1.  601.  Anm.  84  zu  Abschn.  12.  Der  bei  Rilscbl,  folgende  Satz:  „So 
entsteht  der  Umkreis  der  echten  II las  und  Odyssee,  welche  in  den 
geschlosseneu  Schulen  fortgepflanzt  wurden,  während 
daneben  auch  di  e  einzelnen  Lieder ,  aus  denen  sie  entstan- 
den waren,  forlgesungen  werden"  —  er  kann  erst  weiterhin 
seine  genauere  Bestimmung  erhalten. 


207 

von  Liedern,  die  er  Rhapsodieen  nennt,  gedenkt  Goethe  in  den 
Briefen  an  Schiller  (B.  4.  184)  bei  des  Demodokos  erstem  Gesänge 
mit  seiner  eigenthümlichen  Fassung.  Was  aber  Homer  zuerst  gethan 
als  der  Schöpfer  orgiTnischer  Ganzen,  es  bestand  eben  „in  der  Zu  - 
sammenfügung,  aus  der  die  homerischen  Gedichte  entsprangen, 
sie  macht  das  eigentliche  Wesen  aus.  Sie  (die  Neubildung 
zu  kunstgemässen  Ganzen)  trat  also  gleich  in  der  ersten  Zeil  ein, 
wo  von  eigentlicher  epischer  Poesie  (Epopöe)  die  Rede  sein 
konnte,  nicht  wie  Wolf  und  die  Nachfolger  wollen,  erst  spät 
durch  Solon  oder  Peisistratos.  Man  ist  namentlich  dadurch  so  viel- 
fach zu  falschen  Urtheilen  über  Homer  verleitet  worden,  dass 
man  ihn  —  als  einen  Naturdichter  betrachtete."^^)  —  ,,Ilias  und 
Odyssee  sind  ja  nicht  die  ersten  unvollkommenen  Versuche 
des  hellenischen  Dichtergeistes,  sondern  die  Blüthe,  die  vollstän- 
dige Entfaltung  des  poetischen  Vermögens.  Wie  die  Quellen  und 
Bäche  des  Gebirges  den  breiten  und  mächtigen  Strom,  der  die 
Ebene  durchzieht,  erzeugen,  so  gestaltet  sich  das  eigentliche 
Epos  aus  Liedern".  So  auch  die  homerischen  Dichtungen.^')  — 
Diese  Dichtungen ,  welche  getragen  von  dem  Wohlgefallen  jedes 
empfindungsfähigen  Alters  durch  nun  fast  drei  Jahrtausende  allen 
Wechsel  des  Geschmacks  überwunden,  bei  allen  nachfolgenden 
Epikern  Europa's  als  die  Muster  der  Gattung  gegolten  haben,  sie 
sind  es,  sagen  wir  noch  immer  oder  wiederum,  aus  deren  Be- 
trachtung als  der  Musler  der  beutigen  Theorie,  die  Hegel,  Vi- 
scher,  Zimmermann,  Carriere  u.  A. ,  das  Wesen  und  die' 
Eigenschaften  der  Epopöe  am  liebsten  bestimmt  und  erläutert.*®) 


96)  Allqs  Sätze  K.  Fr.  Hermanns,  Culturgesch.  d.Gr.  undR.  S.  92. 

97)  Worte  Bergks  in:  Uebcr  das  älteste  Versmaass  der  Griechen 
Freil).  im  Br.  L854  z.  A. 

98)  Hegel  Aeslhelik  3.  340.  Vi  scher  Aeslhetik  3,  2.  1285.  „Wäh- 
rend das  indische  Epos  Ansätze  von  echt  epischer  Schönheit  in  das  Form- 
lose auflöst,  steht  das  griechische  so  in  einziger  Vollendung  da, 
dass  es  als  historische  Erscheinung  doch  ganz  mit  dem  Begriffe  der 
Sache  zusammenfällt,  denn  in  einer  Üiclitungsart,  welche  ihrem 
Wesen  nach  ein  plastisches  uml  naives  Wolthild  fordert,  wird  das  Voll- 
kommenste geleistet,  wo  nicht  nur  die  Phantasie  des  Volksgcistcs  an  sicli 
plastisch  ist,  sondern  auch  das  dichtende  Bewusstsein  sich  zur  Kunst- 
poesie erhoben  hat,  ohne  den  Boden  der  Naivität  zu  verlassen".  Fr. 
Zimmermann,  Begr.  des  Epos  S.  19.  „Eine  ähnliche  Bewandtniss  muss 
es  mit  den  Volksepen  gehahl  haben,  aus  denen  dei-  Ordner  der  Nibelungen 


208 

Der  als  der  genialste  überhaupt  oder  in  seiner  Gattung  genialste 
von  den  Griechen  anerkannte  Dichter,  er  erscheint  in  Ver- 
gieichung  mit  Shakespeare,  und  an  ihn  als  den  früheren  reihen 
sich  nach  dem  ersten  Kennzeichen  und  dem  eigensten,  dem  der 
Natuiwahrheit,  Shakespeare,  Lope  de  Vega  und  unser  Goethe.'®) 
Lang  hinter  uns  liegt  die  Zeit,  da  sich  der  umschauende  Heeren 
mit  seinem  „das  Grosse  ist,  dass  wir  sie,  die  Gedichte,  haben" '""^ 
bei  den  noch  unabwehrlichen  wölfischen  Einwänden  doch  ihrer 
als  eines  Werks  des  einigen  Griechengeisles  und  dieses  Spiegels 
getröstete,  aus  welchem  uns  ein  Gesammtbild  einer  edelschönen  Natio- 
nalität entgegentrete.  Es  ist  auch  nicht  etwa  blos  eine  Phase  des 
wechselnden  Zeilgeistes,  wie  es  in  Goethe's  ,, Homer  noch  einmal" 
erscheint,"")  wenn  die  jetzige  Generation,  nachdem  der  kritische 
Scharfsinn  Ihätig  gew  esen ,  den  Homer  als  ein  Zusammengefügtes  zu 
erweisen,  ,,ihn  als  eine  herrliche  Einheit,  und  die  unter 
seinem  Namen  überlieferten  Gedichte  als  einem  einzigen 
höheren  Dichtersinne  entquollene  Gottesgeschöpfe" 
anzuerkennen  gelernt  hat.  Es  ist  dies  die  im  Laufe  der 
sechzig  Jahre  gereifte  Frucht  der  Arbeit  und  günstiger  Ereignisse, 
der  Studien  und  erfolgreichen  Entdeckungen  des  Zeitalters,  dass 
gegenwärtig  das  Urtheil  über  die  homerische  Frage  in  allen  ihren 
Momenten  für  die  Mehrzahl  sich  ganz  anders  gestaltet.  So  das 
Moment  des  lebendigen  Vortrags  und  seiner  Gelegenheilen,  das 
des  Schriftgebrauchs  nach  Alter  und  Anwendung  einschliesslich 
der  s.  g.  Sammlung  des  Peisistralos,  das  der  im  Lauf  der  Jahr- 
hunderte geschehenen  Einschiebsel,  und  des  sie  bezeichnenden 
Worts,    das   der  Dichlerkraft   und    ihrer  genialen  Eigenthümlich- 


ein  Ganzes  zusammensetzte.  Aber  auch  er,  obgleich  au  Genialität  tief 
unter  Homer,  bal  nicht  zusammeugeslüppelt  und  willkürlicii  inlerpolirl, 
vielmehr  eine  achtenswcrthe  SelbsLlhäligkeit  geübt.  Wie  viel  mehr, 
in  welcli  höherem  Sinne  Homer,  der  zwei  Ganze  von  so  voll- 
kommener Einheit  componirtc,  als  sie  irgend  ein  Gedicht  der  Welt 
aufweisen  kann". 

99)  Gervinus  Shakespeare  4.  255.  „Wir  sprachen  den  Satz  aus, 
dass  Shak.  im  Kreise  der  neueren  dramatischen  Poesie  als  der  on'enbarende 
Genius  der  Gattung  und  ihrer  Gesetze  an  der  Stelle  stehe,  die  Homer  in 
der  Geschichte  der  epischen  Dichtung  einnehme.  Vgl.  324.  ders.  G.  d. 
deutsch.  Dicht.  1 ,  344 ,  346  f. 

100)  Ideen.  Gott.  1821.  Th.  3.  1.  174. 

101)  Werk.  1833.  8.  B.  46.  S.  61  f. 


209 

keit,  endlicli  das  der  ganzen  Gescliiclite  und  Entwickelung  des 
n;ilionalen  Epos,  und  darin  vorzüglich  der  Vorstellung  von  den 
s.  g.  Cyclikern.  Das  jelzl  zu  gewinnende  Gesammtergebniss  darf 
lauten:  Die  Persönlichkeit  des  Homer,  die  Einheit  des  Urhe- 
bers jener  weltberühmten  Gedichte,  „welche"  nach  Goethes  Wor- 
ten in  der  Schilderung  des  Eindrucks  der  Prolegomenen,  „die 
Freunde  der  Dichtung  einst  mit  so  schmerzlichem  Gefühl  bestrit- 
ten sahen",  sie  ist  wieder  von  vielen  Stimmen  anerkannt.  Auch 
die  Einheit  des  Verfassers  der  Ilias  und  Odyssee  wird,  ungeachtet 
mancher  Unterschiede,  diuch  vorwiegende  Titel  der  Gleichheit, 
durch  das,  was  dem  Menschen  die  Individualität  giebt,  das  Gemüth 
des  Genius  zur  grossen  Wahrscheinlichkeit  erhoben.  Der  Charakter 
des  Organischen,  der  aus  beiden  Gedichten  jedem  Leser  entgegen- 
tritt, und  die  unverkennbaren  besonders  sittlichen  Ideen,  welche  sie 
durchziehn  und  bestimmen,  geben  von  ihrer  Einheitlichkeit  Zeug- 
niss.  Dass  gar  niancherlei  Einschiebsel,  darunter  auch  umfänglichere 
von  den  vortragenden  Rhapsoden  geschehen  seien,  mag  und  kann 
Niemand  läugnen.  Aber  man  sieht  ein,  der  Begriff  selbst,  wie 
das  Wort,  womit  Griechen  und  Römer  ein  Einschiebsel  bezeich- 
nen {dia0x£vät,eiv,  ÖLaöxevaöt^g,  inlerpolare,  interpolator),  sie 
setzen  ein  Früheres  voraus,  welches  dadurch  verändert,  umgebildet, 
entstellt  wird  und  zwar  so,  dass  wenn  auch  ein  kleines  Lied  der- 
gleichen erfahren  konnte,  doch  die  Voraussetzung  eines  früheren 
Ganzen  durch  die  Einfügung  an  einer  bestimmten  Stelle  mehr  ange- 
zeigt ist.  Den)  historischen  Begriff  des  Worts  nach  dienen  diaskeua- 
sirte,  interpolirte  Stellen  nicht  der  Einheitlichkeit,  sie  stören  sie.  Von 
den  Grammatikern  Zenodol,  Aristophanes  von  Byzanz,  namentlich 
von  dem  Meister  der  antiken  Kritik  und  Grammatik,  dem  Ari- 
starch,  wurden  solche  Stellen  an  der  Abweichung  von  Homers 
Sprachgebrauch  oder  dessen  Vorstellungen  oder  an  irriger  Auf- 
fassung des  Fortgangs  erkannt. '"-)  Und  eben  als  Einschiebsel 
in  ein  überliefertes  Ganze  erweisen  sich  alle  Verdacht  erregen- 
den Theilc  dadurch,  dass  sie 'für  die  Stelle  gerade  gedichtet  sind. 


102)  Die  Belege  beiLehrs  de  Arislarciii  studiisHoniericis  p.  349  bis  352. 
zur  Berichtigung  des  fjilscheii  Versländni.sses  von  Wolf  Proleg.  CLIf.  und 
CVII.  Vgl.Sagenp.r24 — 120.  Nonius  5.  V.  inlerj)olare  est  immittereel  inler- 
ponere  et  novam  forniam  e  vetero  fingere.  Das  Interpoliron  aber  ist  immer 
spätere  und  individuelle  Thäligkeit:  Sagenp.  125.  Anm.  zu  Od.Tli.3.  S.337f. 

Nitzsch,  Gesch.  d.  griech.  Epos.  J4 


210 

Gerade  das,  was  Woli  iü  falscher  Deutung  seil  st  des  Worts  und 
Namens:  Diaskeuasiren  oder  Diakeuasl  zur  Verniuthung  ursprüng- 
licher Vereinzelung  niisshrauchte,  komiut  so  zu  den  Belegen  für 
die  antike  Vorstellung  und  für  die  ursprünglich  einheitliche  Be- 
schaffenheit selbst  hinzu.  Für  unsere  eigene  Prüfung  der  Echt- 
heit bleiben  uns  die  von  -  Villoison  (I7SS)  zuerst  herausgege- 
benen Schollen  gar  wohl  auch  nach  genauerer  Untersuchung  von 
grossen»  Werlhe.  Aristarch,  jetzt  weit  genauer  erkannt,  hat,  wie 
wir  sehn,  drei  Klassen  unechter  Verse  unterschieden  und  mit 
besondern  kritischen  Zeichen  notirt,  a)  unhomerische,  b)  aus  der 
einen  vom  Dichter  ihnen  gegebenen  Stelle  anderwärts  falsch  wie- 
derholte, und  c)  Stellen  doppelter  Form,  d.  h.  eines  einzelnen 
kleinen  Gliedes  im  Text  zwiefache  Gestaltung.  Es  geschah  mit 
Stellen  der  letzten  Art  bei  der  Redaction  der  geschriebenen  Texte, 
dass  beide  neben  einander  zu  stehen  kamen;  Jiur  in  den  Exem- 
plaren waren  sie  aneinander  gereiht  durch  eingefügte  Bindeverse. 
Von  den  Rhapsoden  hatte  der  eine  die  überlieferte  Form  vorge- 
tragen, der  andre  statt  dieser  eine  andere  beliebt,  jedoch  kommt 
auch  der  Fall  vor,  dass  beide  Formen  unecht  sind.'"^) 

Diese  Weisungen  antiker  Kritiker  mit  ihren  drei  Klassen 
gelten  uns  immer  als  beachtenswerth.  Erstens  belehrt  uns  die 
durch  alle  dergleichen  Bemerkungen  herrschende  Ausdrucksweise 
—  „einer  der  meinte,  der  nicht  wusste,  der  so  verstand"  — 
dass  jede  Interpolation  als  eine  individuelle  verschiedener  That 
erschien,  nicht  als  wären  die  Stücke  von  Einem,  der  Homers 
kleinere  Ganze  erweitert,  hinzugefügt,  oder  als  «äre  dies  gar  bei 
der  Sammlung  des  Peisistratos  als  der  ersten  Aufzeichnung,  da  die 
vorher  einzelnen  Lieder  zusammen  geordnet  worden,  geschehen. 
Wie  oben  gesagt  ist,  die  Studien  und  Entdeckungen  der  neueren 
Zeit  haben  uns  über  dies  Alles  eines  Anderen  belehrt,  sowohl 
über  die  Einheit  der  beiden  Epopöen,  wie  über  ihren  Schöpfer, 
sowohl  über  die  Art  des  \'ortrags  der  Rlia|)soden,  welchen  selbst 
frühzeitig  schriftliche  Exemplare  dienten ,  wie  ül)fr  die  Interpo- 
lationen.   Wir  erkennen,  dass  in  der  iiescliiclillichen  Frajjre  zuerst 


103)  Fr.  Osann.  Aiiecdolniu  liniiiaiiuiii  de  iiolis  vclenuii  criliris  iii- 
priiiiis  ArisUucIn  Huinericis.  (iissac  51.  p.  1(I2 — 149.  Meispiolc  siiullte- 
sprochen  in  in.  Sagenp.  S.  124 — 131  die  Inleipoialion,  140 — 14V>,  die 
Duppelformen 


211 

iWo  Alten  ühei"  ihren  ersten  Kunstdicliter  zu  hören  sind.  Sie  legten 
ihm  keine  andere  als  umfanf^lichc  Epopöen  mit  einer  Hauplhand- 
lung  hei.  Im  Verlangen,  von  ihm  noch  mehr  zu  hesilzen,  schreibt 
man  ihm  hier  diese,  dort  jene  dritte  oder  auch  vierte  zu  — ,  die 
allgemeine  Stimme  aher  hielt  immer  zuerst  oder  zumeist  an  lUas 
und  Odyssee.  Für  die  frühe  Anerkennung  und  Auszeichnung 
jener  beiden  ^veisl  die  Geschichte  auf  zwei  Thalsachen  hin.        ^ 

Die  eine  ist,  dass  llias  und  Odyssee  als  die  ältesten  Ge- 
dichte galten.  Aber  bei  der  Fülle  kleinerer  Lieder,  welche 
frühere  Sänger  gesungen  und  aus  denen,  wie  oben  gesagt,  Ho- 
mer seine  Stofle  empfing,  sind  sie  die  ältesten  erst  im  Fortgang 
geworden  durch  ihre  Vorzüge,  sowohl  dem  Inhalte  als 
jener  Form  nach,  welche  sie  zum  Erlernen  und  zum  annehmlichen 
Vortrag  vor  Allen  empfahl.  Mochten  daher  die  früheren  Lieder 
natürlich  noch  eine  Zeit  lang  neben  den  homerischen  fortbeslehn» 
mochten  sie  auch  den  iSachfolgern  Homers,  wohl  selbst  manche 
noch  den  episch  lyrischen  Dichtern  (Stesichoros  oder  doch  Xan- 
thos)  Stoll'  Meiern,  jene  Vorzüge  der  homerischen  Dichtungen 
haben  doch  die  Wirkung  gehabt,  dass  jene  früheren  aus  dem 
Rhapsodengehrauch  schwanden  und  so  untergingen.  Einzelliedern, 
welche  unter  Homers  Namen  gegangen  wären,  lässt  sich  diese 
Beschaffenheit  und  Wirkung  nicht  zuschreiben.  Auch  von  den 
Zeugen  Ilerodot,  Aristoteles,  Josephus  und  den  Grammatikern, 
welche  llias  und  Odyssee  die  ältesten  nennen,  hat  keiner  statt 
des  einen  Ilomen  ein  ganzes  Zeitalter  bezeichnet. '"'') 

Die  andere  Thatsache  der  Geschichte  ist  gegeben  in  den 
der  llias  und  Odyssee  zunächst  folgenden  Epopöen,  welche  sämmt- 
lich  eben  mit  jenen  eine  Deihe  bildeten.  Die  Mehrzahl  behandelten 
die  andern  Parlieen  der  troischen  Sage,  aber  nirgends  ist  eine  Spur, 
dass  sie  das  Gebiet  jener  beiden  berührt  hätten.  Hieraus  ent- 
nehmen wir,  dass  in  der  Zeit  jener  Epopöendichter  von  den  ersten 
10  Olympiaden  bis  zu  den  30ern  (740 — G40  v.  Chr.),  die  Parlieen 
vom  Zorn   des  Achill,   und    von   der  Ileindvunit  des  Odysseus  als 


104)  Ilerod.  2,  53.  berechnet  chronologische  Data  und  vergleicht 
den  Verf.  der  II.  mit  dem  der  Kypria ,  Aiistot.  Poet.  4,  8.  iinlerscheidet 
die  vorlijiiideneii  Gcdiclilc  von  Homer  an  von  den  mutlim.i.isslidi  zalilrei- 
clien  vor  ihm.  Joseph.  Apioii  1 ,  2.  der  Gram.  Pindarion  bei  Sexl.  Eiup. 
1,  10.  Lolieck  Agiaoph.  351. 

14* 


212 

schon  ausgesuiigeii  galten,  wenn  auch  damit  der  jetzige  Ljnfang 
der  Gedichte  nicht  bezeugt  ist.  Dass  man  sich  der  Wiederho- 
lung aus  Anerkennung  des  unerreichbaren  Vorgängers  enthalten 
habe,  ist  nicht  sicher  zu  behaupten,  doch  ist  es  wahrscheinlich."'^) 

16.  Vorläufige  B  esclir  eibiing  der  Epop  öend  icliter 
u  a  c  b  Homer  und  der  ihnen  mit  Homer  gemein- 
samen Rhapsodie. 
Jene  Dichter,  Arktinos  in  Milet,  Stasinos  auf  Kypros,  Agias 
in  Argolis,  Lesches  auf  Lesbos,  hatten  zur  Wahl  ihrer  Stoffe 
allerdings  heimathliche  Beweggründe  im  Heroen  -  oder  Göttercul- 
tus  und  haben  auch  keineswegs  das  Ihre  in  der  Absicht  gedich- 
tet, die  llias  oder  Odyssee  zu  ergänzen  —  dies  nebenbei  nur 
Stasinos.  —  Es  zählen  zu  ihren  Gedichten  der  Art  nach  noch 
Thebais  und  Epigonen  von  unbekannten  Dichtern ,  und  aus  der 
Heraklessage  die  Einnahme  Oechalias  jenes  Samiei's  Kreophylos. 
Zwei  andere  Dichtungen  aus  demselben  Kreise,  des  Peisandros 
auf  Rhodos  Herakleia,  und  der  Aegimios,  des  Dorerfürsten  dieses 
Namens  Kampf  gegen  die  Lapithen  mit  dem  Herakles  als  Haupt- 
helden,"*) lassen  sich  nicht  deutlich  charakterisiren  und  ihre 
Einheitlichkeit  bleibt  zweifelhaft.  Wie  sie  daher  in  dieser  Dar- 
stellung, welche  nur  die  einheitliche  Epopöe  berücksichtigen  mag, 
keinen  Platz  finden,  so  auch  andre,  eine  Titanomachie,  Danais, 
Oedipodee,  von  denen  wir  noch  weniger  sichere  Kunde  haben. 
Unter  diesen  als  zu  unbekannt  ausgeschlossenen  Epopöen  hat  die 
Heraklee  des  Rhodiers  das  Bemerkenswerthe,  dass  Peisandros  zu 
seiner  Neudichtung  eine  ältere  Heraklee  eines  Pisinos  auf  der- 
selben Insel  benutzte  (Clem.  AI.  Stron).  628  b.).  Wir  haben 
guten  Grund  anzunehmen,  dass  die  vorbin  als  an  llias  und  Odyssee 
sieb  anreihend  verzeichneten  Epopöen,  deren  jüngste  die  Kleine 
llias  des  Lesches  ist,  von  den  Verfassern  selbst  vorgetragen  wur- 
den, da  sie  von  ihnen  gewiss  für  den  lebendigen  Vortrag  be- 
stimmt waren  und  dies  in  derselben  Weise,  wie  mit  den  home- 
rischen Ganzen  geschah,  worüber  das  Genauere  später. 


105)  S.  0.  Müller  Kl.  Sehr.  1.  401. 

106)  Die  Heraklee:  0.  iM.  bor.  2.  470  f.  und  ßernli.  2,  i.  281.  Aegi- 
mios: Welcker  Ep.  Cycl.  1.  203 — 206.  Bernh.  a.  a.  0.  269.  die  übrigen: 
Sagenp.  21  —  35.  Bernh.  272  und  274. 


213 

Dass  die  Kunstepiker  zuiiäohst  ihr  Werk  mit  Studium  und 
Rljapsodie  der  homerischen  Gediciile  hegonnen,  ist  dabei  unsere 
Meinung  ( Sagenp.  379. ;  und  eine  wohl  natürhche  Voraussetzung. 
Die  Dichter  sind  eben  zuerst  Rhapsoden.  Sie  wurden  aber  darum 
doch  nicht  Homere  genannt  (Sagenp.  369  —  374).  Alles  Leben  der 
Epopöe  ward  nur  dm*ch  ihren  lebendigen  Vortrag  kundbar;  die  Ge- 
schichte derselben  entwickelt  sich  in  der  Zeil,  wo  an  eine  Lese- 
welt nicht  zu  denken  ist,  im  Rhapsodenalter.  Dass  nun  namentlich 
die  Kleine  Ilias  und  die  Kypiia  in  der  ersten  Folgezeit  theils 
von  andern  auch  selbst  dichtenden  Epikern,  theils  von  blossen 
Rhapsoden  au  mehren  Orten  rhapsodirl  worden,  schliesst  man  ge- 
\\iss  mit  Recht  aus  dem  Umstände,  dass  von  ihnen  mehre,  ja 
zahlreiche  Verfasser  auch  ausdrücklich  angegeben  werden,  und  dass 
darunter  sonst  ganz  unbekannte  Nctmen  erscheinen.  Die  ange- 
messenste Erklärung  dieses  ümstands  ist,  dass  man  öfters  den- 
jenigen in  den  verschiedenen  Orten  mit  Umgegend  als  den  Ver- 
fasser genannt,  welcher  ein  Gedicht  daselbst  zuerst  zum  Vortrag 
und  in  Ruf  gebracht.  Hierneben  sind  nur  die  dorischen  Epiker 
Kinäthon  in  Sparta  und  Eumelos  in  Korinth  als  solche  zu  erkennen, 
auf  welche  eine  unglaubliche  Menge  von  Gedichten  zurückgeführt 
werden,  so  dass  man  glauben  muss,  jene  Städte  hätten  eben  ihrem 
alten  Dichter  all  das  Epische  zugeschrieben,  was  ihnen  bekannt 
geworden.  Die  Kleine  Ilias,  welche  Lesbier  ihrem  Lesches  zu- 
eigneten, und  zwar  mit  Zustimmung  geschichlskundiger  Schriftsteller 
wie  Pausanias  und  Proklos,  galt  in  Sparta  für  ein  Werk  des 
Kinäthon.  Aber  weiter  noch  wurden  ein  Thestorides  in  Phokäa,  der 
selbst  eine  Phokais  gedichtet,  und  ein  sonst  nirgends  genannter 
offenbar  blosser  Rhapsode  Diodorus  auf  Erytiu'ä  in  ihren  Gegenden 
als  Verfasser  genannt.  Dem  Dorer  Stasinos  war  im  Vortrag  der 
Kyprien  auf  Kypros  selbst  ein  ionischer  Hegesias  gefolgt,  so  dass 
dort  die  beiden  Stämme  um  die  Dichterehre  stritten;  doch  ein 
hattkarnassischer  Schriftsteller  behauptete,  ein  Halikarnassier  sei 
der  Dichter,  wenn  auch  der  Name  Kypria  auf  Kypros  weise. 
Ajich  bei  den  Nosten  gab  es  eine  ähnliche  Mehrheit  der  Verfasser. 
Nur  natürlich  ist  es,  nun  vorauszusetzen,  es  habe  dasselbe  auch  bei 
den  Gedichten  stattgefunden,  von  denen  nicht  ein  einzelner  bestimm- 
ter Verfasser  uns  genannt  wird,  sondern  von  denen  es  in  unbestimm- 
ter Mehrzahl  lieissl,  die  Dichter,  die  Schreiher  wie  der  Kypria  so 


214 

der  Thebais ,  nämlich ,  die  verschiedenen ,  iin  Gerücht  verlauten- 
den. Ebenso  darf  man  imnelnncn,  dass  auch  der  Singular,  wenn 
er  gebraucht  wird,  ein  skeptischer  ist,  nicht  dass  es  wirklich  Epo- 
pöen ganz  namenloser  Dichter  gegeben  hätte,  wie  nur  die  Epen  der 
ersten  Periode  umgingen. '"')  Zu  dem  dargelegten  V' erhältniss 
kommt  nun  noch  der  begehrliche  Enthusiasnuis  des  Rhapsoden- 
geschlechts auf  Chios,  der  Homeriden.  In  der  Art  andrer  Ge- 
schlechter im  antiken  Sinne,  eigentlicher  einer  Zunft,  nannten 
sie  sich  wie  Abkonunlinge  nach  dem  Dichter  des  Achillszürns 
und  der  Heimkunft  des  Odysseus.  Eben  nur  wenn  man  die 
Homeriden  von  Homeros,  als  dem  geglaubten  Dichter  der  Ilias 
und  Odyssee  benannt  sein  lässt,  ist  ihre  auf  ihn  gerichtete  Thätig- 
keit  erklärt,  und  ist  es  folgerecht,  in  ihnen  Kunstgenossen  zu 
sehn,  welche  jene  Gedichte  bewahrten  und  durch  Vortrag  be- 
rühmt machten.'"^)  Die  durch  ihren  nationalen  und  gemüthreichen, 
charaktervollen  Inhalt  und  ihre  lebendige  sprechsame  Form  offen- 
bar von  Anfang  allen  Rhapsoden  empfohlenen  Gedichte  beschäf- 
tigten auch  die  Homeriden  immer  vorzugsweise.  Doch  wir  er- 
wähnten schon,  wie  es  in  Samos  mit  Oechalias  Eiimahme,  in 
Kypros  mit  den  Kyprien  sich  begab.  Obschon  dort  Kreopbylos, 
hier  Staninos  als  die  Verfasser  bewusst  waren,  entstanden  doch 
späterhin  Sagen,  wonach  nun  die  S^mier  das  Gedicht  des  Kreo- 
pbylos, die  Kyprier  das  des  Stasinos  dem  Homer  als  dritte  Epopöe 
zuschrieben.  Aehnlich  und  noch  weiter  trieben  es  die  Ho- 
meriden: sie  fügten  den  beiden  gefeiertsten  noch  andre  hinzu, 
zuerst  wohl  die  Thebais,  weiterhin  auch  die  Epigonen  und  zu- 
letzt, unbekümmert  um  Zeitrechnung,  die  Kleine  Ilias.'"^)  Sie,  wie 
kein  zweites  Geschlecht  in  Griechenland,  auch  die  Kreophylier 
auf  Samos   nicht,    in    den  Rliapsodendienst  mit  Enthusiasnuis  für 


107)  Die  obige  Erklärung  gab  0.  Müller.  Zeitschr.  f.  All.  1835.  1175. 
vgl.  Allgem.  Littoraturzeit.  1838.  Ergänz.  Nr.  18. 

108)  Eman.  HofTmann,  Homeros  und  die  Homeriden  ,,Sage  auf  Chios." 
Wien  56.  S.  9.  Sageiip.  377. 

109)  Das  Leben  Homers  in  dem  Herodol  nachgebildeten  Dialekt  (der 
Pseudo-Herodot)  giebt  die  Sagen  der  Homeriden  n.inientlicli  über  die 
Kleine  Ilias.  Thestorides  batle  sie  ihnen  wohl  zugebracbt ,  da  erfanden 
sie  eine  Sage,  wie  dieser  sie  von  Homer  erbaltcn  nnd  sich  angeeignet;  und 
wohl  galt  er,  der  sie  in  IMiokäa  zuerst  vorgetragen,  dort  als  ibr  Verfasser. 


215 

ihren  INalioiialiliclilcr  hingegeben,  woUten  immer  nur  Homerisches 
vortragen,  oder  doch  nur,  wtts  liomerische  Art  hatte.  Gewiss 
leiten  wir  mit  guter  Wahrscheinlichkeit  die  Stimmen  über  die 
Thel)ais  und  nlx-r  die  Ej)igonen,  wo  diese  Homer  beigelegt  wer- 
den, von  ihnen  her.  Ks  wai'en  innuer  nur  particulare  Meinungen. 
Dem  alten  J'>legil<er  Kallinos,  dem  Lyriker  Simonides  galt  so  die 
Thebais  lin"  homerisch,"")  Herodot  bestreitet  die  Meinung  von 
den  Kyprien  gellissentlich  (2,  116f.),  erwähnt  die  von  den  Epi- 
gonen {4,  32)  im  Bedinfniss,  die  Hyperboreer  zu  bezeugen,  be- 
zeichnet sie  aber  als  problemaliscb  durch  den  Zusatz,  ,,\venn 
denn  in  Wahrheit  Homer  dies  Gedicht  gedichtet  hat"  —  in 
beiden  Fällen  niag  er  wohl  einen  einzelnen  Sagenschreiber  ; viel- 
leicht den  Hekatäos)  im  Sinne  haben.  Genug  wir  sehn,  die 
Meinungen  von  dritten  oder  mehren  Epopöen  des  Homer  stam- 
men von  den  Stätten  der  Rhapsodie  her. 

Die  von  einzelnen  Hymnen  oder  mit  ecliterm  Namen  Pro- 
ömien,  vorzüglich  von  dem  auf  den  delisclien  Apolion,  ergiebt  sich 
von  selbst  als  in  Chios  entstanden.  Die  Proömien  waren  ja  die 
Eingänge  zum  Vortrag  der  Rhapsoden.  Endlich  die  Sage  von 
Margit  es,  dem  drolligen  Charakterbilde  eines  Menschen,  der 
„viel  zwar  Werke  verstand,  doch  schlecht  sie  alle  verstand  nur" 
und  das  komische  Epos,  welches  ihn  darstellte,  waren  ebentälis 
an  einem  solchen  Orte,  in  Kolophon  entstanden.  Wir  erkennen 
aus  Aristoteles  wie  der  Enthusiasmus  für  den  Dichtergenius  es 
gewesen,  welcher  dem  Margites  den  Homer  zum  Verfasser  gab. 
Der  Dichter,  der  durch  die  dramatische  Darstellungsweise  über- 
haupt den  Arten  des  Drama  voranging,  er  hatte  durch  seine  Ilias 
und  Odyssee  mit  ihrem  sittlich  ernsten  und  tragischen  Geiste 
zur  Tragödie  geführt,  im  Margites  den  Gestalten  der  Komödie 
ein  Vorbihl  gegeben.'") 


110)  Pilus.  0,  0,  5.  bezeugt,  nacli  der  unstreitig  richtig  hcrgoslelllen 
Lesart,  das  Urlheil  des  Kallinos;  sagt,  viele  Beaclilenswerthe  slinunten 
ebenso,  und  fügt  das  eigne  Uitlied  hinzu,  djiss  er  die  Thebais  nach  der 
Ilias  und  Odyssee  am  meisten  pieiswürdig  linde.  So  tritt  diese  Epopöe 
vor  allen  andern  ins  Licht.  Sinionides  feiert  Fr.  85.  den  Spruch  aus  II.  6, 
146.  aber  Fr.  53.,  wo  er  den  Homer  neben  Stcsichoros  nonni,  hat  er  wohl 
die  Thebais  gemeint:  Wclcker  Cycl.  1.  100, 

tu)  Sagenp.  307  f.  und  373.  Bernhardy  2,  1.  S.  177.  181. 


216 

17.    Das  Wahre    vom    epischen  Cyclus    und    den    s.  g. 

Cyclikern.     Die   hin    und  wieder  vermehrte  Zahl 

dem  Homer  beigelegter  Epopöen. 

Aus  dem  Vorslelieiulen  ergiebt  sich:  allerdings  hat  der 
nationale  Enthusiasmus  für  ihren  Homer  die  Griechen  verführt, 
ihm  unkritischer  Weise  auch  den  Margiles  und  ilen  Hymnus  auf 
den  delischen  ApoUon  zuzurechnen,  dagegen  verstehen  sie  sonst 
nach  einstimmigem  Urtheil  unter  seinem  Namen  allgemein  nur 
die  llias  und  Odyssee.  Andere  nach  diesen  Mustern  gedichtete 
Epopöen  kamen  durch  die  Rhapsoden  und  in  Hauptsitzen  der 
Rhapsodie  zu  der  Ehre,  als  dritte  und  so  weiter  allmählich  hin- 
zugenommen zu  werden.  Am  meisten  und  längsten  hat  solche 
Meinung  von  der  Thebais  gegolten ;  von  den  andern  dagegen, 
den  Epigonen  als  Fortsetzung  der  Thebais,  den  Kyprien  als  Zu- 
behör der  llias,  endlich  besonders  von  der  Kleinen  llias  immer 
nur  nach  sehr  einzelnen  TJrtheilen.  Nach  dem  ganzen  Befunde 
muss  man  erwarten,  dass  besonders  im  attischen  Zeitalter  zwar 
Homer  als  der  hochgefeierte  Dichtergenius  überall  hervortrete,  und 
die  zahlreichen  Schriftsteller  seine  Sprüche  und  seine  zu  Typen 
gewordenen  Charaktere  und  Lebensbilder  gar  vielfach  anführen 
werden,  dass  aber  diese  Beziehungen  immer  nur  auf  llias  und  Odys- 
see lauten;  die  genauere  Prüfung  hat  diese  Annahme  nur  bestä- 
tigt."^) So  ist  die  Ausdehnung  des  homerischen  Namens  auf  an- 
dere Epopöen  nach  der  Geschichte  für  die  ganze  erste  geniale 
Periode  der  griechischen  Lilteratur  gehörig  bestimmt.  In  dem 
Zeitraum  nach  Aristoteles  erfolgte  allerdings  in  prekärer  Weise 
die  Ausdehnung  auf  den  sogenannten  epischen  Cyclus.  Mit  ihm 
hat  nun  eine  Geschichte  des  griechischen  Epos  und  seines  natio- 
nalen Lebens  an  sich  Nichts  zu  schaffen.  Eine  Sagengeschichte 
in  epischen  Versen,  aus  verschiedenen  Epikern  zusammengefügt 
und  so,  dass  jeder  Gegenstand  nur  einmal  gegeben  wurde,  das 
Ganze  eine  möglichst  geschlossene  Folge  der  Thatsachen  bildete, 
so   war    er   für  Leser  und  für  annehmliche  Befriedigung  des  In- 


112)  Die  Typen  Sagonp.  333 f.,  daiaiif  die  Spriiclic  333—336.  Diese 
öfters  in  dem  nuindliclien  Goliraucli  aus  dem  Gedäclitiiiss  variirt  336r.  Wie 
diese  Variation  manchen  Cilalen  den  eben  nur  täuscliendcn  Schein  gege- 
ben als  lauteten  sie  nicht  auf  die  llias  luid  Odyssee,  sondern  auf  andere 
dem  Homer  auch  beigelegte  Epopöen,  ist  Sagenp.  330 — 355.  dargethan. 


217 

teresses  an  der  Sagenknnde  bestimmt.  Demnach  konnte  eigent- 
lich die  Gestalt,  in  welclier  die  nächsthomerischen  Epopöen  in 
diesem  rein  stofflichen  Gefüge  erschienen,  keine  Rückwirknng  auf 
unser  Bild  von  ihrer  Kunstgestalt  haben,  wenn  es  auch,  indem 
llias  und  Odyssee  darin  aufgenommen  waren,  a  potiori  homerisch 
hiess.  Aber  dieser  Cycliis  hat  eine  solche  Rückwirkung  leider 
in  Folge  irriger  Auffassung  für  die  neuere  Litteraturgeschichle 
in  gar  fühlbarem  Grade  gehabt.  Er  brachte  jenen  der  llias  und 
Odyssee  nacheifernden  Epikern  den  Namen  der  Cycliker.  Dieser 
hemmte  und  verdarb  in  der  Geschichte  der  epischen  Poesie  eine 
Zeit  lang  allen  gesunden  Blick.  Da  uns  nämlich  von  jenen  Epo- 
pöen selbst  nur  einzelne  Citate  oder  Stellen  erbalten  sind  und 
vom  Cydus,  dem  Gefüge  vielfach  verkürzter  Gedichte,  auch  nur 
die  prosaischen  Inhaltsangaben  der  Rypria  des  Stasinos,  Aethio- 
pis  und  Persis  des  Arktinos,  der  Kleine  llias  des  Lesches  und 
der  Nosten  des  Agias  —  die  späte  unorganische  Telegonie 
des  Eugammon  nicht  zu  erwähnen  —  aus  der  Charakteristik, 
welche  Proklus  in  seiner  grammatischen  Chrestomathie  von  dem 
Cyclus  gegeben :  so  entstand  die  freilich  wundersame  Vorstel- 
lung, die  Verfasser  jener  Epopöen,  die  doch  in  ganz  verschiedenen 
Zeilen  und  entlegenen  Orten  dichteten,  hätten  keine  poetische 
Ganze  mit  bemessenem  Anfang  und  Abschluss  gedichtet,  sondern 
einer  den  andern  nach  der  Zeilfolge  des  Troerkriegs  fortgesetzt. 
Das  hiess  cyclische  Dichlungsweise  und  so  hiessen  sie  Cycliker.  Bei 
dieser  Vorstellung  von  den  dem  Homer  zunächst  stehenden  Epi- 
kern war  der  Begriff  und  das  Wesen  der  Sage  noch  unbewussl. 
So  sland  es  um  die  Geschichte  der  Poesie  und  Litleratur, 
als  Wolf  das  griechische  Epos  auf  seinen  heimathlichen  Boden 
versetzte.  Aber  wenn  er  auf  die  Oede  hinwies,  in  welcher  die 
homerischen  Epopöen  erschienen,  so  war  das  eben  nur  das 
Brachland  der  noch  nicht  erforschten  Geschichte  des  Epos. 
Nachdem  er  eben  dieses  auf  seinen  natürlichen  Boden  geführt, 
wurde  dort  alshald  gleichzeitig  wie  in  andern  Gegenden  der 
Geist  der  Sage  erkannt  und  zeigte  in  Deutschland  Welckers 
feiner  Geist  jene  missbenannlen  Cycliker  in  ihrer  wahren  Gestalt. 
Zwar  behauptete  er  nach  unhaltbarer  Vorausselzunj:.  ihre  Poesieen 
wären  in  den  Cyclus  selbst  unverkürzt  anfgenonunen  gewesen; 
aber  die  Oede  um  die  llias  und  Odyssee  war  nun  doch  nach  beiden 


218 

Seiteil  von  epischen  Diclidmgen  ausgefiilll ,  in  deren  Mitte  Homer 
mit  seinen  ersten  Epopöen  stand."') 

Ein  weiterer  Fortscliritt  zur  geschiclitlicli  begründeten  Aner- 
kennung des  einzigen  Homer  geschieht  sicher,  aber  mühsam  und 
aUmählich  durch  Eingehn  in  den  sittlichen  (ieist  heider  Gedichte 
und  durch  Erwägungen  ül)cr  die  Odyssee.  Dieser  Epopöe  hatte 
Wolf  selbst  im  ausdrückliclien  Gegensatz  zu  den  Cyclikern  sei- 
nes VVissens  und  in  Vergleicli  mit  der  Ilias  eine  schöne  Einheit 
zugestanden  (Prol.  127  und  120  f.).  Aber  eben  die  Kunst  der 
Anlage  und  Durchführung  erschien  ihm  als  zu  gross,  als  dass  in 
der  Zeit  und  bei  dem  in  dem  Gedicht  selbst  beschriebenen  Sänger- 
hraucli  ein  Dichter  sie  hätte  zu  leisten  sich  fähig  gefunden, 
ein  Einwand,  den  Lachmann  seltsamer  Weise  wiederholte 
(Friedländer,  von  Wolf  bis  Grote  VIII.).  Es  ward  gegen  diese 
seine  und  der  Zustinnnenden  Folgerung  und  diesen  ganzen  Stand- 
punkt nach  willigerem  und  beflissenerem  Studium  des  Dichter- 
geistes erinnert:  „Man  legte  zu  hohen  AVerth  auf  das  Argument, 
dass  jene  aUen  Sänger,  zu  kurzer  Ergötzung  bei  Schmausen  und 
Festlichkeiten  herbeigerufen,  der  äussern  Gelegenheit  ern)angelt 
hätten  zu  so  umfangreichen  Gedichten.  Sonst  würde  man  an- 
ders geschlossen  haben,  dass  der  Genius  im  Zeitaller  des  epischen 
Gesanges  aus  einzelnen  Gesängen  sich  zum  vollkommen  organi- 
sirten  Ganzen  durch  iimern  Drang  emporschwingen  musste ,  und 
dass  man  fürwahr  nach  andern  Erscheinungen  nicht 
berechtigt  sei,  den  Griechen  die  höchste  Ausbildung 
des  epischen  Gesanges  in  stetiger  Folge  abzusprechen. 
Man  würde  es  mehr  erkannt  haben,  dass  zwar  poeti- 
sche Elemente  (die  Fülle  der  Einzellieder)  in  jener 
Zeit  ü  b  e  r  s  c  h  w  ä  n  g  1  i  c  h  vorhanden  waren,  dass  aber 
diese  Plan  mässigkei  t  eines  grossen  Gedichts,  diese 
religiöse  und  moralische  Grösse,  die  selbst  unter  den 
Griechen  nur  Sophokles  noch  erreicht,  diese  wohl- 
thätige  Beruhigung,  in  welche  durchweg  alle  Dishar- 
monie en  sich  auflösen,  nie  einer  Masse  nur  einzelnen, 


113)  Welckers  Verdienst:  dess.  Ep.  Cycl.  1,  J23.  Beruh.  2,  l.  1U7. 
(loch  hpschriinkeiKl  203.  —  Das  Richtige  vom  Cyclus  :  Sagenp.  30—39.  und 
42  f.  Die  vorherigen  Meinungen  vun  ilun  hei  Grolo,  Ge.sch.  Griochenl.  ül)cr- 
selzl  von  Meissner  1.  486  —  488. 


219 

den  begabtesten  und  edelsten  unsers  Geschlechts, 
gegönnt  gewesen".'")  Wie  man  nun  einsehn  musste,  dass  — 
wie  oben  besprochen  ist  —  Homers  Leistung  eben  in  der  Neu- 
bildung und  Wiedergeburt  des  in  kleinem  Liedern  überkommenen 
Stofl's  bestand,  und  Ilias  und  Odyssee  unabweislich  den  Höhepunkt 
der  epischen  Poesie  bilden :  so  wurden  denn  die  Bemiduuigen,  diese 
Epopöen  wieder  in  kleine  Lieder  aufzulösen,  gar  seltsam  befunden. 
,,  Nicht  genug  wundern  kann  man  sich,  dass  diese  von  Wolf  einst 
eingenommene,  von  Lachmann  vertheidigte  Position  noch  so  Man- 
che behaupten  wollen;  denn  wir  erhaben  damit  die  höchst  singu- 
lare Erscheinung,  dass  Avir  in  den  kleinen  Liedern  die  Vorstufe, 
in  den  cyclischen  Dichtungen  den  Verfall  des  Epos  vor  uns 
haben,  und  die  in  einheitlichen  Handlungen  grösserer  Epen  sich 
darstellende  Blüthe  völlig  fehlt,  oder  —  das  Allerunbegreiflich- 
ste  —  dass  die  vorliegende,  nicht  abzuläugnende,  künstlerische 
Einheit  das  spätere  Werk  mehr  er  war"."^)  Wohl  fragt  man 
zweifelnd  und  fast  vergeblich,  wem  doch  die  zersetzende  Meinung 
die  Composition  zuschrieb.  Noch  jetzt  etwa  den  falsch  gedeute- 
ten Diaskeuasten,  den  Beauftragten  des  Peisistratos?  Es  giebt 
hierauf  keine  klare  Antwort."")  Die  erkannte  Entstehung  des 
wahren  Nationalepos  aus  kleineren  Einzelliedern ,  wie  sie  in  dem 
Wesen  der  Sage  begründet  ist,  wird  mit  der  mündlichen  Vor- 
tragsweise zusammen  wohl  erwogen  allein  über  die  umfänglichen 
Epopöen  das  Richtige  lehren.  Lächeln  kann  man  aber  nur,  wenn 
die  Trennenden  ihre  Meinung  durch  die  Aeussenmg  zu  bekräf- 
tigen glauben,  auch  die  Odyssee  sei  aus  kleinen  Liedern  ent- 
standen, als  läugnete  man  dies,  als  könnte  die  Odyssee  anders 
als  mit  Verwendung  frühwer  Lieder  von  des  Odysseus  Irrfahrten, 
von  der  allgemeinen  Heimfahrt,  von  dem  Rächer  Orestes,  vom 
Freiermord  auch  nur  vorhanden  sein. 


114)  Lchrs  in  Berl.  Jahrb.  f.  wiss.  Kril.  1834.  B.  2.  S.  627,  und  dazu 
dess.  Populiiie  Aufs.  Lpz.  1856.  S.  11  —  16. 

115)  Bäundein:  der  Scliiirskalalog  der  Ilias.  N.  .Faliili.  f.  I'liilnl.  B. 
75  und  76.  H.  1.  S.  37. 

116)  Bcrnliardy  S.  122.  „Die  llanti,  welclie  Wunden  sdiliig,  lioill 
sie  nicht".  —  „Denn  der  Einfall,  dass  wir  jenes  Wniidei'  ileiii  Peisistra- 
tos und  seiner  Bedattion  verdanken,  war  kaum  ernsliicli  gemeint".  Doch 
Wolf  Proleg.  CLU. 


22a 

18.  Die  Epopöen  der  Nachfolger  Homers  ,  der  fälsch- 
lich benannten  Cyclikern  in  Vergleiclmng  mit 
Ilias  und  Odyssee. 
A.  Allgemeine  üebersiclit  und  das  Urtheil  des  Aristoteles. 
Ehe  nun  der  Dichter  der  Ilias  und  Odyssee  nacli  seiner  Art 
und  Kunst  genauer  cliarakterisirl  win] ,  wird  es  dienlicli  sein, 
seine  Stellung  als  Stifter  und  Meister  der  uahren  Epopöe  in 
das  gehörige  Licht  zu  stellen,  und  zwar  zunächst  durch  die  ge- 
nauere Charakteristik  derjenigen  Epopöen,  welche  im  Laufe  der 
Zeiten  (von  Ol.  2  —  30)  als  jene  beiden  schon  verbreitet  waren, 
von  Epikern  verschiedener  Gegenden  in  ähnlicher  Weise  wie 
Ilias  und  Odyssee  aus  kleinen  Liedern  gebildet  und  unter  ein 
Grundmotiv  gestellt  wurden.  Bilden  sie  ja,  als  der  Gattung  nach 
in  Sloffart,  Composition  und  Stil  gleichartig,  mit  jenen  Mustern 
die  Reihe  der  uns  erkennbaren  griechischen  Kunstepopöen  na- 
tionalen Lebens.  Da  ihr  Verhältniss  zu  diesen  Mustern  auch  ge- 
nauer erkannt  sein  will ,  müssen  wir  mit  Ausschluss  der  zu  dürf- 
tig bekannten  uns  auf  die  beschränken,  deren  Inhalt,  Gang  und 
Fassung  uns  kundbarer  vorliegt,  und  von  deren  Darstellungsweise 
wir  uns  eine  Vorstellung  zu  bilden  im  Stande  sind,  wenn  auch 
mehr  nur  durch  bedachte  Folgerungen  aus  dem  Bezeugten.  Wir 
können  darnach  nur  folgende  zählen;  des  Kreophylos  auf 
Samos  und  los  Einnahme  Oechalias  (durch  Herakles);  des 
Arktinos  in  Älilel  z\vei  Epopöen  Aethiopis  und  Einnahme 
Troias;  von  unbekannten  Verfassern,  wahrscheinlich  in  Aeolis, 
zwei  aus  der  thebischen  Sage,  die  Thebais  und  die  Epigo- 
nen; des  Stasinos  auf  Kypros  Kypria,  die  Epopöe  von  der 
Entstehung  und  den  ersten  Zeiten  destroischen  Kriegs;  des  Hagias 
von  Trözen  Noslen,  das  ist,  die  Epopöe  von  der  Heimkehr  der 
Griechen  von  Troia ,  auch  Rückkehr  der  Atreiden  genannt;  des 
Lesches  auf  Leshos  Kleine  Ilias,  eine  andere  Fassung  der 
Einnahme  Troias."'] 


117)  Alle  Forschung  über  diese  Geilichte  fusst  auf  den  Leistungen 
Welckers,  doch  wenn  er  weit  mehre  aufführt,  müssen  wir  von  einigen:  der 
Danais,  Titanomachie,  Oedipodec  Iheils  schon  wegen  zu  dürftiger  Kunde, 
Iheils  deshalb  absehen,  weil  wir  I)ei  diesem  Dunkel  gar  nicht  zu  urtheilen 
im  Stande  sind,  oh  denn  (hese  Gedichte  nicht  eine  der  humerischen  Art 
(chahl.  Sagenp.  20 — 35.  Es  wurde  der  Muthmaassung 


221 

Diese  aclil  sind,  obgleich  uns  von  keiner  nielir  als,  zum 
Tlieil  noch  verkürzte  oder  epiloniirte,  Inhalte  und  einzelne  Verse 
oder  Citate  erhalten  sind ,  doch  ;ils  Epopöen  homerischer  Dich- 
tungsart sicher  genug  bezeugt.  [>ie  Geschichte  unterscheidet  sie 
von  den  epischen  Heldengenealogieen,  uie  den  Katalogen  des 
Hesiod,  von  den  landschaftlichen  Epen,  \velche  die  Sagen  einer 
Landschaft  zusammenreihten,  uie  die  Gedichte  des  Fumelos  von 
Korinth,  vornehmlich  aber  auch  von  den  Epopöen  blos  persönlicher 
Einheit,  in  denen  die  mannigfachen  Abenteuer,  Fehden,  überhaupt 
Thaten  eines  Herakles  oder  Theseus  nach  einander  erzählt  wur- 
den. Diese  letzten,  die  Herakleiden  oder  Theseiden,  befriedigten 
das  mehr  stofflliche  Interesse  in  ähnlicher  Weise,  wie  mehre 
Epiker  gerade  des  dorischen  Stamms,  der  Spartaner  Kinälhon 
und  der  Korinthier  Eumelos  durch  ihre  gereiheten  Sagen  oder 
Genealogieen,  denen  sie  auch  einzelne  Grosslhalen  der  verschie- 
denen Stammhelden  einzuweben  pflegten.  Das  höhere  Interesse, 
welches  beseelende  Ideen  und  in  Handlung  und  dramatischen 
Leben  ausgeprägte  Charaktere  ansprechen  konnten,  gewährten 
nur  die  organischen  Epopöen. 

Eben  jenen  umfänglichen  Epen  nur  persönlicher  Einheil 
setzt  nun  Aristoteles  (Poet.  8)  die  wahre  Epopöe  entgegen,  welche 
nach  dem  Beispiel  der  Odyssee  eine  einige  Handlung  umfasst. 
Homer,  der  sich  auch  im  Uebrigen  auszeichne,  habe  auch  das 
recht  w  ohl  erkannt ,  ob  durch  Kunstsinn  oder  Genie ,  dass  von 
einem  und  demsell)on  Helden  mehre  Handlungen  erzählt  nim- 
mermehr durch  diese  Einheil  der  Person  zu  einer  Handlung 
werden  könnten.     Indem  er  die  Odyssee  gedichtet,  habe  er  nicht 

und  Combination  zu  viel  eingeräumt.  Auch  die  Deutung  zweier  Titel  auf 
eine  und  dieselbe  Epopöe  ist  in  nielu'en  Fällen  willkürlicli.  ninlänglicli 
begründet  ist  sie  bei  den  Noslen  und  der  Aireiden  Rüciikeiir,  der  Tiiebais 
und  des  Amphiaraos« Ausfalirl,  üechalias  Einnahme  und  der  Heraklee; 
nicht  aber  bei  den  Epigonen  und  der  Alkniäonis,  der  Minyas  und  Phokais, 
und  vollends  nicht  bei  der  Atliiis  und  Amazonia.  Sagenp.  22f.  Bern- 
hardy ,  Gr.  Lilter.  II,  1.  2.  Ausg.  S.  205,  20Ü,  209,  213.  Die  Telegonie,  die 
Fortsetzung  der  Odyssee,  liegt  uns  zwar  in  dem  Inhalte  vor,  aber  eben 
als  so  reizlos,  dass  wir  keinem  Rhapsoden  die  Beschäftigung  mit  ihr  zu- 
muthen.  Beruh.  214.  —  Ist  die  Reihe  der  in  Betracht  kommenden  zu 
beschränken,  so  dient  doch  die  so  umfassende  Darlegung,  welche  Welcker 
im  2.  Theile  seines  epischen  Cyclus  von  den  Epopöen  homerischer 
Art  gegeben  hat,  aller  Betrachtung  derselben  in  der  vielfältigsten  Weise. 


222 

Alles  aufgenommen,  was  dem  Otlysseus  begegnet,  sondern  die 
eine  Handlung  gestaltet,  welche  eben  Odyssee  beisse,  und  ebenso 
die  Ilias. "^)  Wie  eine  solche  eine  Handlung  begrirtlicb  nach 
ihren  Grundzügen  entworfen  werde,  wird  im  1  7.  Kapitel  an  der- 
selben Odyssee  gezeigt.  Dann  folgt  im  23.  wieder  die  Lehre 
über  die  Composition  und  Gliederung  eines  epischen  Mythus  als 
einheitlich  ganze  und  zum  Ziel  geführte  Handlung  mit  besonde- 
rem Bezug  auf  die  Ilias.  Im  Fortschritt  nach  den  Bestimmungen 
des  17.  Kap.  heissl  es  hier,  weder  das  Gleichzeitige  noch  das 
eng  Nacheinanderfolgende  gebe  an  sich  ein  auf  ein  Ziel  Führen- 
des. Auch  bierin  fehlten  viele  Dichter.  Sonach  müsse,  wie 
schon  in  anderm  Bezug  gesagt  sei,  auch  darin  Homer  vor  den 
Andern  gottbegabt  erscheinen,  dass  er  nicht  den  Krieg,  obwohl 
er  Anfang  und  Ende  hat,  in  seiner  Dichtung  ganz  darzustellen 
unternahm,  denn  er  würde  zu  gross  und  nicht  übersichtlich, 
oder  in  kleineres  Maass  gefasst  in  seiner  Mannigfal- 
tigkeit verwickelt  gewesen  sein.  So  aber  bat  er  einen  Theil 
ausgehoben  und  wendet  viele  Episoden  an,  durch  welche  er  seiner 
Dichtung  Ausdehnung  giebt.  Die  Andern  dagegen  dichten  (wie 
jene  im  S.Kap.)  von  einem  und  einer  (ganzen)  Zeit,  aber  zwar 
einer,  aber  einer  vieltheiligen  Handlung,  wie  der  Dichter 
der  Kypria  und  der  der  Kleinen  Ilias.  Daher  denn,  wenn  aus 
der  Ilias»  und  Odyssee  je  Eine  oder  zwei  einzige  Tragödien  ge- 
dichtet werden,  aus  den  Kypria  und  der  Kleinen  Ilias  eine  ganze 
Menge  entstanden  sind. 

Dieses  die  Kypria  und  die  Kleine  Ilias  ausdrücklich  betref- 
fende Urtheil  ist  nun  freilich  richtig  nur  so  zu  verstehn,  dass  er 
diese   beiden  hier    ebenso  wie  dort  die  Herakleiden  und  Thesei- 


118)  Hier  und  anderwärts  belobt,  wie  vorliegt,  Aristoteles  nicht 
Mos  den  Dichter,  etwa  wegen  seines  Gescliicks  in  der  Darsloliuiig,  son- 
dern ausdrücklich  die  Kunslanlage  und  Fassung  der  Ilias  und  Odyssee. 
Nimmermehr  hat  Aristoteles  über  sie  in  Anhequeniung  an  das  Urtheil  der 
Zeitgenossen  sich  geäussert.  Er  war  überhaupt  nicht  der  Mann  solcher 
Scheu  vor  fremder  3[eumng.  Seine  Aeusserung  (Polit.  III.  13.  S.  80  f. 
Bekk.  kl.  A.):  „Wenn  freilich  ein  einzelner  Mann  vor  allen  Trelfliclien,  die 
es  im  Staate  gäl)e,  sich  auszeichnete,  dann  ist  es  der  Sache  gemäss  und 
recht ,  dass  ein  solcher  Manu  die  Vollmacht  inue  habe" ,  —  diese  Aeusse- 
rung, das  ganze  Räsounement  nnd  the  Ausnahme,  sie  ist  aus  Piaton 
Ges.  IV.  711.  D.— E.    Nicht  also  wie  Jacob  Entst.  derB.  u.  d.  Od.  S.  148f. 


223 

den  als  sprechendste  Beispiele  des  Tadellialten  hervorhebt  und 
auswählt.  Durch  diese  Beispiele  sollte  das  Ungehörige  im  Gegen- 
satz des  Mustergiltigen  der  homerischen  Epopöen  am  stärksten 
hervortreten,  ein  spezielleres  l'rlheil  ühev  die  übrigen  Gedichte 
dort  neben  den  Herakleiden  und  'Iheseiden  und  hier  wiederum 
neben  den  Rypria  und  der  Kleinen  llias  ist  an  sich  damit  nicht 
gefällt.  Seine  Theorie,  welche  es  wesenilich  mit  der  Norm  der 
Vollkommenheit  zu  thun  hat,  gab  keinen  Anlass,  die  mehren  üb- 
rigen einzeln  zu  mustern ,  also  sie  neben  der  llias  und  Odyssee 
in  ihrer  Stoffwahl  und  einheitlichen  Composition  zu  charakterisi- 
ren ,  dies  war  Sache  einer  kritischen  Geschichte  der  Epopöe. 
Diese  hat  aber  Aristoteles  in  der  uns  erhaltenen  Poetik  nicht 
gegeben,  wahrscheinlich  anderwärts  in  uns  verlorenen  Schrif- 
ten."^) Hier  aber  sollte  alle  V'ergleichung  der  anderen  nur  die 
homerischen  als  die  Cluster  hervorheben.  Jene  Belobung  des 
Homer,  dass  er  nicht  den  ganzen  Krieg  darzustellen  unternom- 
men, sondern  einen  TJieil,  können  wir,  da  dies  ja  von  der 
Wahl  des  Arktinos,  Lesches  und  Agias  ebenfalls  gilt,  uns  nur  er- 
klären, wenn  der  Theil  des  Blas  als  ein  vor  allen  andern  glücklich 
ausgehobener  und  speziell  charakterisirter  verstanden  wird,  der 
Tadel  der  Kypria  und  der  Kleinen  Uias  ist  wohl  schon  in  den 
Worten  angekündigt:  „oder  in  kleineres  Maass  gefasst  durch  seine 
Mannigfaltigkeit  verwickelt",  dann  näher  motivirt  durch:  „eine 
Handlung  aber  eine  vieltheilige".  Diese  beiden  waren,  das  ist 
auch  uns  einleuchtend,  leicht  so  geartet,  dass  die  einzelnen  Theile 
mit  ihren  mehren  Hauptpersonen  das  Interesse  zu  sehr  indivi- 
dualisirten  und  spalteten.  Dass  das  Urtheil  über  des  Arktinos 
Persis  in  dieser  Hinsicht  ein  günstigeres  sein  konnte,  wird  sich 
später  zeigen.  Ob  Aristoteles  bei  seinen  Erwähnungen  auf  solche 
Epopöen  Rücksicht  genommen,  welche  er  noch  in  den  Händen 
seiner  Leser  wusste,  muss  dahin  gestellt  bleiben;  es  ist  aber 
wahrscheinlich. 

Die  Begingung  eines  für  Einheitlichkeil  günstigen  Stolfes  war 
bei  den  beiden  der  thebischen  Sage  von  selbst  gegeben,  und  eben- 


119)  Oder  in  ainlern  Tiioilfii  der  uinfünglicliereii  Poetik.  S.  Sprengel 
lieber  Aristoteles  Poetik  in  Aliliandl.  d.  Hayrisclion  Ak.ul.  d.  W.  II,  1. 
S.211(r.  und  in  Z.  f.  A.  41.  125211'.  bes.  12091'.  Die  Einrede  Dünlzers  iu 
ders.  Zeitschr.  42.  27811'. 


224 

so  bei  der  Einnahme  Oechalias.  Dagegen  haben  wir  den  Ver- 
lauf des  troisohen  Kriegs  von  seinem  Ursprung  durcli  den  Frevel 
des  Paris  bis  zur  Heimkunft  und  dem  Sieg  des  Odysseus  in  sechs 
Partieen  zerfallen  sehn,  welche  sich  als  durch  eigenthümliche 
Sirebungen  beseelt  zu  Handlungen  mit  Anfang  und  Ausgang  ge- 
stalteten oder  gestalten  Hessen.  Diese  Partieen  schieden  sich  deut- 
lich von  einander;  die  auf  einander  folgenden  Umstände  bildeten 
eigenthümlich  charakterisirte  Epochen.  Auf  dem  Grunde  dieser 
allgemeinen  Umstände  waren  vor  Homer  theils  kleinere  Lieder 
von  Einzelkämpfen  oder  Abenteuern,  theils  auch  schon  umfassen- 
dere von  der  Eroberung  und  von  der  Heimkehr  der  Sieger  gesungen, 
wohl  auch  von  Odysseus  Irren,  und  von  seinem  Sieg  über  die 
Freier.  Jene  Partieen,  abir  jede  ganz  umfasst,  waren  in  den 
durchherrschenden  Motiven  sehr  verschieden.  Nur  in  einigen 
gab  es  eine  die  Handlung  beherrschende  Hauptperson,  als  deren 
Geschichte  der  Hergang  gelten  konnte.  Hätte  Aristoteles  bei 
seiner  Würdigung  der  Epopöen  nach  ihrer  Einheitlichkeit  die 
Beschaffenheit  der  überlieferten  Sagen-  und  Liederstoffe  in  Be- 
tracht gezogen,  so  musste  er  bei  Homer  eben  die  Wahl  der  bei- 
den Stoffe  rühmen,  aber  dabei  anerkennen,  dass  die  andern 
Epiker  einerseits  nicht  blos  dem  Kunslzweck,  sondern  auch  dem 
Interesse  ihrer  nächsten  Hörer  folgten.  Bei  Arktinos,  bei  Sta- 
sinos,  bei  Agias,  auch  wohl  bei  Lesches  ist  dies  der  Fall  gewesen. 
Andrerseits  mussle  Aristoteles,  da  der  zu  gestaltende  Liederstoff 
immer  ein  gegebner  war,  die  tieferen  Motive,  welche  die  Hand- 
lungen der  andern  beseelen,  auch  gelten  lassen,  und  ihr  Erfas- 
sen vom  Vorgange  des  Homer  herleiten.  Aber  ^ie  er  selbst  die 
Tragödie  nur  nach  der  Wirkung  auf  das  Mitgefühl  der  Zuschauer 
beurtheilte,  ihre  nationalen  Elemente  und  Ursprünge  nicht  er- 
gründete, so  hat  er  auch  von  der  Epopöe  eine  gehörig  genetische 
Darstellung  nicht  gegeben.  —  Freilich  urtbeilen  wir  so  eben  nur 
nach  der  uns  vorliegenden  Gestalt  der  Poetik. '-")  —  Wäre  er 
hierauf  eingegangen  und  hätte  er  sich  über  die  Poesieen  des  Ark- 
tinos und  die  Thebais  ausgesprochen,  daneben  mit  jenen  Hera- 
kleiJen  die  Heraklee  des  Peisandros  von  Bbodos  und  die  Einnahme 


120)  Es  ist  vielfach  erwiesen,  dass  sie  nur  als  ein  Theil  oder  aucii 
in  lückenhafteni  Zustande  auf  uns  gekommen  ist.  S.  d.  vorige  Anm.  u. 
Scholl  Piniol.  XII.  593  ff. 


225 

Oechalias  verglichen,    dann   ersl  könnten  uns  seine  spezielleren 
Urtheile  Aveiter  maassgebend  sein. 

Jelzl,  da  ein  \volfisches  Urtlieil  über  die  leidig  benannten 
Cycliker  Aveil  hinter  uns  liegt, '^')  verstchn  \vir,  jene  beiden  spe- 
ziellen Urtheile  des  Aristoteles  mit  dem  Bilde,  \\elches  wh  von 
den  Kyprien  und  der  Kleinen  Ilias  aufstellen  können,  zusammenzu- 
halten, da  denn  —  freilich  ohne  Berücksichtigung  der  Schwierig- 
keiten des  Stoffs  —  die  einigende  WirksamkeiLdes  Dichters  vermissl 
Avorden  sein  muss.  Bei  dem  Dichter  der  Kyprien  haben  wir  die 
Wahl  des  Stoffs  selbst  besonders  ungünstig  gefunden.  Endlich 
wird  auch  ein  drittes  Urtheil  des  Aristoteles  über  nur  seltenen 
Gebrauch  der  dramatischen  Form  bei  den  Andern  sich  durch  Be- 
trachtung der  Stoffe  ebenfalls  ermässigen.  So  kann  und  darf  uns 
Aristoteles  nicht  abhalten,  von  der  Stoffwahl  und  dem  ganzen 
Verfahren  der  griechischen  Epopöendichter  uns  eine  Vorstellimg 
zu  bilden,  soweit  es  unsere  Mittel  gestatten. 

19.    Das  Verfahren    der  alten  Kuiistepiker.     Das  be- 
sondere des  Stasinos  in  den  Kyprien. 

Das  Allgemeine  und.  Gemeinsame  der  epischen  Kimstpoesie 
mit  Bezug  auf  die  genannten  einzelnen  wie  auf  Homer  seihst  ist 
Folgendes:  ^^) 

Kein  wahres  Kunstwerk  der  Sagenpoesie  —  die  Kypria  waren 
eben  kein  solches  —  fängt  vom  Eie  an,  sondern  rechnet  bei  seinen 
Hörern  auf  Sagenkunde,  und  jedes  nimmt  seinen  Anhub  im  An- 
schluss  an  Vorhergegangenes  von  bestimmtem  Charakter.  Die 
Ilias  beginnt  nach  dem  durch  Paris  Frevel  erfolgten  Zuge  der 
Griechen  nach  Troia  und  vielfachen  einzelnen  Streifzügen  und  Ver- 
diensten besonders  des  Achill;  die  Odyssee  nach  der  Freier  Einfall 
in  das  Königshaus  und  mehr  als  dreijrduigem  Schalten  darin, 
während  Odysseus  bei  Kalypso  zurückgehalten  wird;  die  Aethio- 
pis,  als  nach  Hektors  Tode  und  der  Auslieferung  seiner  Leiche  zur 


121)  Mit  viel  zu  weniger  Untcrsclicidung  der  einzelnen  Eigenschaften 
schöner  Darstellung  sprach  iiher  Aristoteles  Schoemann  in  der  Dispulatio 
de  Aristotelis  ccnsura  carminum  epicoruni. 

122)  Wiederhol^aus  Sagenp.  S.  443 f.  Vgl.  Wackernagcl  die  ep. 
Poesie.  N.  Schweiz.  Mus.  1.  301  unten:  Diese  frülieren  Motive  darf 
der  Sänger  ja  als  bekannt  voraussetzen  u.  s.  w. 

Nilzsch,  Gesch.  d.  g-iiech.  Epo«.  15 


226 

Bestattung  Achill  sich  die  fern  hergekommene  Amazone  entge- 
gentreten sieht;  die  Persis  des  Arktinos  und  die  Kleine  Ilias  des 
Lesches,  als  nach  Achills  Tode  und  Bestattung  entweder  Aias  in 
Folge  der  Kränkung  im  Streit  üher  Achills  Waffen  sich  den  Tod 
gegehen  hat,  oder  dieser  Streit  eben  vorliegt;  die  Nosten  unmittel- 
bar nach  des  lokrischen  Aias  Frevel  an  Athene,  ohne  dass  die 
Atreiden  auf  seine  Bestrafung  gedrungen;  die  Thebais  nach  Oedi- 
pus  Geschichte  und  ausgesprochenen  Fluche  über  die  Söhne  und 
des  Polyneikes  Aufnahme  bei  Adrast;  die  Epigonen  nach  dem  un- 
heilvollen Ausgange  des  Zugs  der  Sieben ;  endlich  Oechalias  Ein- 
nahme, nachdem  Fürst  Eurytos  den  Herakles  treulos  beleidigt  hat. 
Nach  diesen  bedingenden  und  hervorrufenden  Vorgeschichten 
ist  das  eintretende  Motiv  der  Ilias  der  durch  Agamemnons  Leiden- 
schaftlichkeit hervorgerufene  Zorn  Achills  und  sein  Abtreten  vom 
Rachekriege  der  Griechen;  das  3Iotiv  der  Odyssee  der  durch  Athene 
angeregte  Götterbeschluss,  den  Langabwesenden  heimzuführen 
und  —  nach  Expositionsgesängen  —  des  Zeus  Erklärung,  dass 
Odysseus  seine  Rache  an  den  Freiern  vollziehen  möge;  das  der 
Aethiopis  von  Achills  Kampf  mit  Penthesileia  und  seinem  Verhalten 
dabei  an  ein:  per  aspera  ad  astra  d.h.  Achills  letzte  Kämpfe  bis 
zu  seinem  Tode;  das  der  Nosten  der  Zorn  der  Athene  und  die 
durch  diesen  verwirkte  Entzweiung  der  Atreiden,  welche  die  ver- 
einzelte Heimkehr  und  Zerstreuung  zur  Folge  hat;  das  der  The- 
bais die  (sicher  zu  vermuthende)  erste  Abmahnung  und  ünglücks- 
prophezeihung  des  Amphiaraos  wegen  des  Vaterlluchs  und  der 
Zeichen  des  Zeus  (II.  4,  377.  381.);  das  der  Epigonen  der  durch 
Vorzeichen  ermuthigte  Racheplan  der  Söhne  gegen  Theben,  das 
sie  zerstörten;  das  der  Einnahme  Oechalias  nur  ebenfalls  der 
Plan  gegen  Eurytos.  Von  der  Persis  des  Arktinos  und  der  Kleinen 
Ilias  lässt  sich  sagen,  beide  Epopöen,  in  welchen  der  Glaube 
der  Atreiden  und  die  böse  Ahnung  des  Hcklor:  Einst  wird  kom- 
men der  Tag  u.  s.  w.  (4,  164.  6,  448.)  in  Erfüllung  gingen,  be- 
gannen von  dem  Stande  der  Dinge,  da  sichs  auf  der  Erde  wie 
im  Olymp  zur  Entscheidung  neigte.  Die  Slrafgeschicke  Troias 
waren  ihr  Motiv;  diese  wurden  jetzt  alsbald  durch  die  Seher  laut, 
bei  Arktinos,  wie  es  scheint,  durch  Kalchas,  bei  Lesches  durcli 
Helenos,  den  Odysseus  zum  Gefangenen  machte.  Nachdem  Troia 
durch  Achill   seinen  Hort,  den  Hektor,    darauf  auch    die    beiden 


227 

fernhergekommenen  Bundesgenossen  halte  fallen  sehn,  das  Grie- 
chenheer aher  seinen  ersten  Helden  auch  verloren  halte,  kommt 
den  Troern  der  letzte  Helfer  im  Eurypylos,  des  Priamos  Schwester- 
sohn, und  holen  die  Griechen  den  zweiten  Achill,  den  Neoptole- 
mos  und  den  Piiiloklet  mit  seinem  Bogen  des  Herakles,  herhei. 
Jener  erlegt  den  letzten  Bundesgenossen,  dieser  den  Frevler  Paris, 
worauf  die  Troer  sich  ^Yieder  hinter  ihre  Mauern  ziehn  und  nun 
die  Einschliessung  und  das  Werk  der  List  heginnt,  dessen  Haupt- 
träger Odysseus  ist. 

Ganz  abweichend  von  allen  übrigen  ist  das  Motiv  der  Ky- 
prien.  Es  hat  dies  Gedicht  allerdings  auch  eines;  aber  ein 
absonderliches,  nichl  wie  die  der  idjrigen  der  Sage  entnommenes, 
sondern  in  ganz  eigener  Weise  überirdisches.  Es  giebt  hier 
keine  irdische  Vorgeschichte,  es  entspringt  die  Ursache  aus  dem 
Weltgedanken  des  Zeus,  dem  der  Dichter  aus  Reflexion  über 
den  so  mörderisch  gewesenen  Krieg  die  Erregung  eines  solchen 
als  Absicht  und  selbsteigenen  Rathschluss  beilegt.  Statt  der  Vor- 
geschichte gilt  hier  das  zur  Ueberzahl  und  damit  zum  Frevel- 
muth  angewachsene  Menschengesclileclit.  Diese  Gefahr  abzuwen- 
den, hält  Zeus  mit  Themis,  der  (^ödin  der  Ordnung,  Rath  und, 
wie  der  Fortgang  des  Inhalts  und  dei"  erhaltene  Anfang  lehren, 
bescliliessen  sie  einen  verderbenden  Krieg  gegen  Troia.  Zu  die- 
sem Zweck  wird  die  Geburt  dos  grössten  Helden  der  Griechen, 
des  Achill,  und  die  der  schönsten  Frau,  der  Helena,  lierbeige- 
führt,  deren  Raub  die  Ursache  zu  dem  Kriege  werden  soll.  So 
sehr  geht  der  Dichter  auf  die  Urgründe  zurück,  so  wie  er  allein 
auch  sein  Gedicht  mit:  ,, Einstmals  war  es,  da"  —  begann,  d.  h.  gar 
nicht  an  in  der  Sage  gegebene  Verhältnisse  anknüpfte.  Der  Sage 
entnahm  er  nur  die  auch  in  der  Rias  18,  82 — 85  u.  a.  erwähnte 
Hochzeit  des  Pelcus  mit  der  Thclis,  und  Hess  bei  dieser,  zu  der 
sich  alle  Götter  mit  Geschenken-  eingefunden,  durch  die  Göttin 
des  Streits,  die  Eris,  den  Streit  der  drei  Göttinnen  um  den  Preis 
der  Schönheit  entstehen,  ru  dessen  Entscheidung  Zeus  sie  zum 
Paris  führen  Hess.  Es  hat ,  was  erst  später  erklärt  w ird ,  Zeus 
die  Helena  erzeugt  und  zwar  nicht  mit  Leda,  sondern  mit  dei- 
Memesis,  der  Göttin  des  Aergernisses  an  aller  Ucberfülle  und 
Ueberkraft.  —  Sie,  die  Helena,  ist  bereits  des  Mcnelaos  Gatüu, 
als  das  Urlheil  des  Paris    geschieht.      Er  giebt    den  Vorzug  der 

15* 


228 

Aphrodite,  angeregt  durch  ihre  Zusage,  ihm  die  Liebe  der  Helena 
zuzuwenden.  So  erfolgt  unter  Aphrodites  Mitwirkung  die  Fahrt 
des  Paris  nach  Lakedämon  und  der  Raub  der  Helena  mit  vielen 
Schätzen,  und  damit  die  unmittelbare  Ursache  des  Kriegszugs. 
Dieser  als  ein  besonders  verderbenreicher  gefasst,  und  hier  als 
von  Zeus  zur  Decimirung  der  Menschenzahl-  und  Kraft  beschlos- 
sen dargestellt,  ist  der  Hauptgedanke  des  Gedichts.  Es  wird  aber 
dieser  Ralhschluss  des  Zeus  mit  dem  in  der  Ilias  angekündigten 
und  wirkenden  willkürlich  verknüpft,  als  habe  Zeus  die  Ent- 
zweiung des  Achill  mit  Agamemnon  und  seine  ITnthätigkeit  in 
der  Absicht  selbst  herbeigeführt,  damit,  nachdem  die  Troer  vor- 
her durch  die  Furcht  vor  Achill  in  ihre  Mauern  gebannt  und 
gelähmt  gewesen,  und  die  Griechen  unter  Achill  in  Beutelust 
umhergeschweift,  nun  erst  der  Auszug  der  ermuthigten  Troer 
den  vollen  Krieg  brächte.  Nur  eben  bis  dahin,  bis  zu  der  Stel- 
lung der  Heere  gegen  einander,  da  ein  verderblicher  und  blutiger 
Fortgang  des  Kampfes  nicht  ausbleiben  konnte,  vermochte  und 
wollte  der  Dichter  das  gewählte  Motiv  führen.  Anders,  als  in 
solcher  Weise  zum  Weltgedanken  erhoben,  konnte  die  Grundursache 
des  Kriegs  nicht  zu  einem  erreichten  Ziele  gebracht  w  erden. '^^) 
Wir  erkennen  leicht,  der  überlieferte  Umstand,  dass  eben 
die  kyprische  Göttin  an  der  Entstehung  dieses  so  langwierigen 
und  verderblichen  Kriegs  einen  solchen  Theil  gehabt,  er  hatte 
den  kyprischen  Dichter  auf  diesen  seinen  Stoff  geführt  und  da- 
mit auf  den  Anfangstheil  dieser  umfassenden  Sage.  Indem  er 
aber  damit  das  Ganze  des  Kriegs  ins  Auge  fasste,  da  der  Ur- 
sprung eben  Ursprung  des  Ganzen  ist,  sah  er  das  aus  diesem 
Ursprung  Erfolgte  in  Sage  und  Dichtungen  zu  einer  so  grossen 
und  motivenreichen  Fülle  angewachsen,  dass  an  eine  Durchfüh- 
rung der  Ursache  im  populären  Sinne  nicht  zu  denken  war.  Das 
populäre  Motiv,  die  Kränkung  des  Gastrechts  und  damit  der  Atrei- 
den  in  seiner  eigenen  Folge,  dem  Untergange  Troias,  darzustel- 
len, war  unmöglich.  Und  wohl  mag  Aristoteles  bei  seiner  Belo- 
bung der  Auswahl  des  Homer,  dass  er  nicht  den  ganzen  Krieg 
gedichtet,  sondern  nur  einen  ausgehobenen  Theil,  au  den  Miss- 
griff des  Stasinos  gedacht  haben. 


123)  Sagenp.  46—48. 


229 

Stasinos  durch  seine  Landesgöttin  angeregt,  den  Krieg  in  sei- 
nen Anfängen  zu  besingen,  erfasste  ihn  also  mit  einem  zur  Re- 
flexion geneigten  Geiste  als  Thatsache  des  Weltregiments.  Zeus, 
der  diesen  verderblichen  Völkerkampf  ausdrücklich  gewollt, 
musste  da  diejenige  Wirkung  erzielen,  v eiche  er  in  der  älteren 
Periode  des  Glaubens  und  der  Poesie  selbst  unmittelbar  übt, 
welche  aber  später  als  besondere  Macht  gedacht  und  personifi- 
cirt  als  Nemesis  oder  Adrasteia  in  Cultus  und  Poesie  erscheint. 
Sie  nun,  der  Geist  des  Aergernisses  an  Ueberkrafl,  des  sittlichen 
Maasses,  würde  wiederum  nach  einer  einfacheren  Darstellung  als 
Beisitzerin  des  Zeus  erschienen  sein,  wie  Dike  öfters,  wie  The- 
mis  oder  auch  die  Aedos,  Scheu  und  Mitleid.  Aber  nicht  so  der 
reflectirende  Dichter.  Er  hat  auch  die  Wachsamkeit  dieses  Dä- 
mons nicht  in  populärer  Form  gedacht.  Populär  musste  Zeus 
mit  ihr  bereits  begangene  Ueberhebungen  einzelner  Frevelsinni- 
ger oder  ganzer  übermüthiger  Völker  bestrafen.  Hier  aber  war 
es  nicht  die  Strafaufsicht  des  Nationalglaubens,,  sondern  ein  vor- 
sorgender Wellgedanke,  in  welchem  Zeus  mit  der  Nemesis  die 
schönste  Frau  erzeugte,  damit  ihr  Raub  den  verderblichen  Krieg 
hervorrufe.  Diese  Darstellungen  sind  sonst  nicht  weiter  bekannt, 
weder  die  Nemesis  als  Mutter  der  Helena,  noch  das  Widerstre- 
ben dieser  Göttin  des  Maasses  gegen  die  Gesellung  in  unzähligen 
Verwandlungen,  noch  die  Genealogie  der  Helena,  nur  Agorakritos, 
der  gewiss  die  Kypria  kannte,  gab  am  Fussgestell  seiner  Statue 
der  Nemesis  von  Rhamnus  eine  Darstellung,  welche  diese  vom 
Epiker  gedichtete  Mutter  mit  der  der  Nationalsage  in  einer  Scene 
vermittelte.'**)  So  ist  aus  der  ganzen  Idee  von  Zeus'  Absicht  und  Ver- 
fahren und  von  dieser  Mutter  der  Helena  die  gemachte  Reflexion  er- 
sichtlich. Einem  Dichter  aber,  der  aus  eigener  Reflexion  von  der 
Nationalsage  und  dazu  von  der  durch  Homer  ausgeprägten  so  wesent- 
lich abweicht,  ihm  können  wir  die  nirgends  genauer  bestimmte  Le- 
benszeit nicht  in  der  Nähe  Homers  zutheilen.  Die  Verknüpfung  des 
Stasinos  mit  Homer  als  dessen  Eidam,  der  von  ihm  die  Kypria  als 

124)  Paus.  1,  33,  7  u.  8.  Kichl  wie  Preller  Gr.  31.  1,  74.,  eher  wie 
Welcker  Cycl.  il.  132,  welcher  nur  anniminl,  Stasinos  habe  bei  meiner 
Neuerung  zur  Erzählung  vom  Widerstreben  der  Nemesis  die  Sage  von 
den  Verwandlungen  benutzt,  durch  welche  Thetis  sich  dem  Peleus  zu 
enlzielien  suchte. 


_    230 

Mitgift  überkommen,  hat  in  keiner  andern  Weise  eine  geschichtliche 
Bedeutung,  als  dass  sie  Bekanntschaft  mit  der  Ilias  und  Bhapsodie 
auf  Kypros  bezeugt.  Ebenso^venig  lässt  die  Angabe  des  Aelian 
erkennen,  wie  viel  und  wie  Pindar  von  dieser  kyprischen 
Sage  gesprochen  habe.'^^)  Die  gesammte  Inhaltsangabe  aber  ent- 
hält Nichts,  was  nicht  recht  wohl  von  einem  Zeitgenossen  des 
Agias  oder  auch  des  Lesches  konmien  könnte. 

Bei  diesem  ganz  unpopulären  Grundgedanken  that  Stasinos 
das  Mögliche,  ihn  populär  auszuführen.  Der  Ralhschluss  des  Zeus, 
dem  er  zuletzt  den  am  Anfang  der  Ilias,  freilich  auch  willkürlich, 
anpasste,  wurde  als  vielfach  gehemmt,  aber  doch  in  soweit  er- 
reicht geschildert,  als  er  aus  der  verwandelten  Volkssage  jene 
zwiefache  Fahrt  nach  der  asiatischen  Küste  und  anderes  Neue 
des  Volksglaubens  aufnahm.  Den  Beifall,  welchen  die  Poesie  vom 
Zorn  sich  erworben,  verwerthete  er  für  die  seinige  in  der  Weise, 
dass  er  seine  Epopöe  zur  reicheren  Auslegerin  aller  in  der  Ilias 
berührten  Umstände  und  Personen  machte,  welche  die  Anfangs- 
zeit des  Kriegs  bilden.  Beides,  jene  Erweiterung  der  Volkssage 
und  diese  Ausführung  des  in  der  Ilias  Angedeuteten,  hatte  die 
fast  unausbleibliche  Wirkung,  dass  der  Dichter,  als  gälte  es  nur 
Einzelvorträge,  eine  bunte  Reihe  einzelner  Akte  an  einander  rei- 
hele,  nicht  ohne  Uebergänge  von  einem  zum  andern,  aber  in  ge- 
mächlicher Breite  der  einzelnen.  Daher  denn  der  Tadel  des 
Aristoteles  hier  besonders  wohl  begründet  war.  Aber  auf  den  ge- 
wöhnlichen Zuhörer  übte  nicht  blos  die  auch  uns  noch  in  den  Ueber- 
resten  erkennbare,  lebensvolle  Darstellung,  sondern  gerade  auch 
der  Sagenreiclithum  so  viel  Reiz  aus,  dass  das  Wohlgefallen  uns 
begreiflich  wird,  das  die  Kypria  scheinen  genossen  zu  haben. 

20.    Genauere  Charakteristik   der  zwei  Epopöen  des 
Arktinos  und  der  Kleinen  Ilias  des  Lesches. 

Es  wird  überhaupt  ein  richtiges  Urtheil  über  diese  andern 
Epopöendichter  sich  nicht  anders  gewinnen  lassen,  als  wenn  man 
einen  Jeden  derselben  für  sich  in  seiner  Eigenthündichkeit  be- 
trachtet.    Wenn   auch   nicht  gleichmässig  bei   ihnen  allen,   und 


125)  Aelian  Vcrm.  Gesch.  IX,  ]5.    Bernhardy  Gr.  Lilt.  II,  1.  207  f.    Auf 
PLndiir  bei  Aehan  ist  kein  Verlass  u,  s.  w. 


231 

nicht  bei  Jedem  in  allen  Punkten,  so  vermögen  >vir  sie  doch 
nach  dem  Gehalte,  dem  Reichthum,  der  Bildsamkeit  des  gewähl- 
ten StoH's,  nach  sprechenden  Beispielen  ihrer  Darstellungsweise, 
nach  Zeichen  ihrer  subjectiven  Stinmiung  mehrfach  zu  unter- 
scheiden. Wir  überzeugen  ims,  dass  ihnen  Nichts  als  die  epi- 
sche Galtung  nach  dem  Vorbilde  Homers  und  andrerseits  >yandel 
der  Sage  in  einzelnen  Punkten  gemeinsam  war.  Es  wird  dies 
bei  der  Charakteristik  der  Einzelnen  deutlich  hervortreten."®) 

A.  Aethiopis.  Der  dem  Homer  der  Zeit  nach  Nächste, '^^) 
Arktinos  von  Milet,  ist  mit  seiner  Aethiopis  nach  seinem  StolT, 
an  dessen  glückhcher  Wahl  und  den  darin  liegenden  Motiven, 
dem  Homer  unter  allen  Epopöendichtern  der  troischen  Sage  am 
nächsten  verwandt.  Diese  Epopöe  hätte  Achilleis  benannt  werden 
können,  denn  den  Achill  hat  sie  zur  Hauptperson  im  vollsten 
Sinne;  der  Dichter  wählte  aber  den  Namen,  welcher  vom  Kampf 
mit  dem  Aethiopenfürsten  Memnon  und  damit  der  besonders 
kennzeichnenden  Partie  entnommen  war.  Die  Handlung  giebt  aus 
der  troischen  Sage  zu  Ilias  und  Odyssee  das  einzige  übrige  Bei- 
spiel der  vollkommensten  Einheitlichkeit  wie  sie  erwirkt  wird, 
wenn  der  Gang  derselben  in  der  Entwickelung  des  obherrschen- 
den  Gedankens  zugleich  als  Geschichte  einer  und  derselben  Per- 
son verläuft.  Zum  Beweise  dient  auch,  dass  Aeschylos  alle  drei 
Akte  einer  Trilogie  wie  aus  Ilias  und  Odyssee  allein  noch  aus 
der  Aethiopis   bilden  konnte  und  gebildet  hat.'^*^) 

Den  Gang  der  Aethiopis  giebt  uns  der  von  ihr  als  Theil  des 
epischen  Cyclus  aus  Proklos  überlieferte  Inhalt  in  so  weit  voU- 
ständigan,  als  nur  am  Ende  der  Selbstmord  des  Aias  fehlt,  den 
der  Scholiast  des  Piudar  bezeugt  (zu  Isthm.  4,  58  Bckh.'^^),  und 


12ü)  Wie  irrig  diese  Dichter  noch  jetzt  aufgefasst  werden  können,  er- 
sieht iiuin  aus  Philol.  V.  3.  430  —  438.  und  aus  den  gewaltsamen  Er- 
gän/Aingen  der  Noslea  in  Phil.  Vlll.  54  ff.  Und  selbst  in  der  verdienst- 
lichen iiislüiia  critica  vor  der  4.  Touliii.  Ausg.  des  Homer  lieisst  es  Diss. 
11.  j».  26.,  diese  Cyclikcr  genannten  Dichter  hätten  supplcmenla  der  Ilias 
und  Odyssee  gcyehcn,  was  ihr  Vcrliiiltniss  augensclieiidicli  entstellt. 

127)  Seine  ßlüllie  setzt  Uicronynuis  Ol.  4.  BcMidiardy  Gr.  Litt.  II,  1. 
210.  Genauer  Sengehusch  IS'.  Jahrb.  f.  Philol.  B.  LXVII.  4.  S.  40.  Arktinos* 
Blülhenzcil  Ol.  1,  2=:  775  v.  Chr.  G.  Lesches'  Ol.  30,  3  =  058. 

128)  Sagenp.  405  und  610  IT.  hcs.  618— 620  ff. 


_    232 

dein  die  Eestaltiiiig  nachfolgen  miissle.  Ist  dieser  Inhalt  in  sei- 
nen Einzelheiten  aufs  Aeusserste  karg  und  wahrscheinlich  von 
Photius  epitomirt,  so  gestatten  theils  der  spätere  Epiker  Quintus, 
theils  Aeschylos  und  Pindar,  theils  aus  Arktinos  herzuleitende 
Kunstwerke ^^")  so  viel  Ergänzung,  dass  wir,  zumal  da  die  vorho- 
merische Sagengestalt  auch  erkennhar  ist,  ein  deutliches  Bild  von 
dieser  Poesie  und  ihrem  an  Motiven  des  Gemiiths  überaus  reichen 
Verlauf  gewinnen.  So  hat  der  Hersteller  der  Geschichte  der 
Epopöe  diese  Poesie  schon  gezeichnet,  dessen  Angaben  nur  einige 
Berichtigung  oder  BeschränWmg  verlangen.'^')  Die  beseelenden 
Motive,  die  in  engster  Verkettung  der  Epopöe  die  ausgezeichnete 
Einheit  geben,  wird  der  Leser  des  Folgenden  ohne  vorherige 
Zusammenstellung  schon  selbst  wahrnehmen.  Die  Gleichheit  der 
Charaktere  des  Achill,  des  Odysseus,  des  Thersites,  des  xVias  mit 
der  Schilderung  Homers  ist  sehr  deutlich,  in  gewissem  Sinne' 
auch  die  der  wirkenden  Motive,  da  der  Tod  des  so  zu  sagen 
zweiten  Patroklos,  des  Antilochos,  hier  dem  des  Patroklos  ähn- 
lich erfolgt  und  wirkt.  Daneben  aber  sehn  wir  dem  Achill 
neue  und  sehr  eigenlhttmliche  Gegner  gegenüber  in  der  Amazone 
und  dem  Aethiopenfürsten ,  und  zwar  in  ganz  eigenthümlichen 
Situationen. 

Es  ist  die  Zeit  nach  Hektors  Tod  und  Bestattung,  die  Troer 
sind  vor  dem  schrecklichen  Achill  wieder  in  ihre  Mauern  geflohen 
und  in  Bangigkeit,  als  stehe  die  Stadt  schon  in  Brand  (Quint.  1, 
3  f.  16  f.),  da  „kommt  die  Amazone  P'enthesileia ,  Tochter  des 
Ares,  Thrakerin  von  Geschlecht,  den  Troern  zu  Hilfe.'^^)  Die 
Beschreibung  ihrer  Erscheinung   und  ihres  Empfanges  bei  Pria- 

129)  '0  yag  tr/v  Al&i07iiöcc  yqccfpav  nfQi  xov  oq&qov  (pr^öl  rov 
Al'avTCi  iavTov  dviXnv. 

130)  Overbcck  Gallcrie  heroischer  Bildwerke.  Braunsclnv.  1853. 
S.  492,  497  fr.  Derselbe  in  Zeitschr.  f.  Altcrlh.  1850.  Nr.  37  —  39. 
Achilleus  und  Penlliesilcia. 

131)  Welcker  Cycl.  II.  170— 172  f.  und  darüber  Sagenp.  618  f. 

132)  Die  im  Schol.  zum  Schluss  der  Ilias  angeführten  zwei  Verse, 
durch  welche  die  Ankunft  der  Amazone  unmittelbar  an  die  Bestattung  des' 
Hektor  angefügt  wird,  können  nur  dem  Gefüge  des  episclien  Cyclus  bei- 
gemessen werden.  Sagenp.  40 f.  Bernhardy  Gr.  Litt.  II,  1.  210.  .Müller 
1.  113.  Overbeck  Galleric  heroisch.  Bildwerke  493:  „nur  dannl  verträgt 
sich  die  ganze  unepische  Dürre,  mit  der  nur  die  Amazone,  nicht  Pcnthe- 
sileia  namentlich  e^enannt  wird". 


233 

mos  niusste  hier  gegeben  sein.  Bei  Quinlus  begleiten  sie  z^völf 
andere  streitbare  Amazonen,  ihre  Dienerinnen  (33fr.),  zwischen 
denen  sie  glänzend  hervorragt.  Ihrer  vermessenen  Zusage,  dass 
sie  dem  Achill  das  Garaus  machen  werde,  entgegnet  Andromache 
mit  Mahnung  an  dessen  Sieg  über  Ilektor,  was  Quintus  wohl  aus 
Aeschylos  nahm.  Am  Morgen  führt  sie  au  Hektors  Stelle  das 
Heer  der  Troer  und  hat,  wie  der  Inhalt  sie  als  sieghaft  kämpfend 
[aQiörevovöciv)  bezeichnet,  eine  Reihe  kriechen  niedergestreckt 

—  nach  mehren   Andern   den   Podarkes   (auf  der  ilischen  Tafel) 

—  als  ihr  Achill  entgegentritt  und  sie  im  Speerkampf  tödtet. 
Dieser  Kampf,  da  Penthesileia  zuerst  tödtlich  verwundet  und, 
wie  es  scheint,  in  die  Knie  gesunken,  durch  ein  flehendes  Wort 
ihn  rührt,  dass  er  sie  emporhebt  und,  als  sie  aushaucht,  sie  mit 
Theilnahme  betrachtet,  er  ist  durch  eine  Folge  von  Kunstbil- 
dern dargestellt,  welche  die  einzelnen  Momente  geben.'^^)  >Vas 
der  trockne  Inhalt  hier  folgen  lässt:  „Die  Troer  bestatten  die 
Penthesileia",  zeigt  als  seine  Bedingung,  dass  der  Sieger  die 
Leiche  den  Troern  überlassen  hat.  Ob  dies  geschehn  in  dem 
Augenblicke,  als  Achill  von  der  schönen  Leiche  eben  nur  nach 
den  Troern  hinsah  oder  nachdem  troische  Helden  zu  ihrer  Rettung 
heranslürmten ,  müssen  wir  unentschieden  lassen.  Als  Achill 
diese  Schonung  bewiesen  hatte,  da  erfolgte  von  Seiten  des  Ther- 
sites,  des  aus  II.  2,  212  —  220.  bekannten  Schmähers  gerade 
auch  des  Achill,  und  von  Seiten  des  wie  ehedem  zornmüthigen 
Achill,  was  der  Inhalt  sagt:  Und  Achill  erschlägt  den  Thersites, 
gelästert  von  ihm  und  mit  Vorwürfen  belegt  wegen  der  Liebe 
zur  Penthesileia,  von  der  man  sprach.  Eine  Angabe  besagt  hier- 
bei: „Thersites  habe  der  Leiche  der  Penthesileia  mit  seiner  Lanze 
in  das  Auge  gestochen,  Achill  ihn  darauf  mit  der  Faust  nieder- 
geschlagen (Schob  zu  S.  Philoktet.  445.).  Der  Faustschlag  ward 
nur  durch  die  Heftigkeit  zum  Todtschlag.  Uebcr  den  Todtschlag 
des  Thersites  (immer  eines  SlammgenossenJ  entsteht  Parteiung 
bei  den  Achäern".  Die  Meisten  mochten  ihn  gut  heissen  wie 
ehedem  die  Züchtigung,  II.  2,  272 — 277 ;  nicht  so  Diomedes.  Als 
Vetter  des  Thersites  und  als  der,  der  schon  in  der  Ilias  zu 
Achill  eher  nebenbuhlerisLh  als  befreundet  stellt,''^')  wallt  er  hef- 

133)  Overbeok  Z.  f.  A.  50.  S.  201  ff. 

134)  II.  9,  G91— 702. 


234 

lig  auf  (nach  Ouintus  1,  767  ff.).  Der  Mord  eines  Slammgenossen 
heischte  nach  dem  Clauhen  jedenfalls  religiöse  Sühne.  Wie  immer 
trat  Odysseus  vermittelnd  ein  und  hewog  den  Achill  zu  dem,  uas 
der  karge  Inhalt  als  Folge  des  Todlschlags  und  der  iiher  densel- 
ben entstandenen  Parteiung  anreihet:  darauf  schifft  Achill  nach 
Lesbos  und  wird,  nachdem  er  dem  Apollon,  der  Artemis  und  der 
Leto  geopfert  hat,  Mcgen  des  Mordes  von  Odysseus  gereinigt. 
Achill  mag  die  Sühne  "«egen  des  so  verächtlichen  Menschen  an- 
fangs unnöthig  gefunden  und  sich  gesträubt  haben,  ihretwegen 
vom  Kampfplatze  zu  gehen. 

Dies  war  der  erste  Akt  der  epischen  Handlung.  Der  Ueber- 
gang  und  das  Verhältniss  zum  zweiten,  dem  Auftreten  des  Aethio- 
penfürsten  Memnon  und  Kampf  Achills  mit  diesem,  bedarf  der 
Auslegung.  Im  Inhalt  fehlt  die  Angabc  von  dem  Zeitpunkt,  da 
Achill  zurückgekehrt  sei,  er  besagt  nur:  „Menmon  al)er,  der  Eos 
Sohn,  angethan  mit  voller  Waffenrüslung  von  Ilephästos  Arbeit, 
kounnl  nun  herbei  den  Troern  zu  helfen,  und  Thetis  verkündet 
ihrem  Sohne  die  Zukunft  in  Bezug  auf  Memnon;  und,  als  es  zum 
Ti'elfen  kounnl  wird  Antilochos  von  Mennu)n  erlegt.  Darauf  töd- 
tet  Achill  den  Memnon".  Zur  Ergänzung  des  hier  F'ehlenden  oder 
zu  dunkel  Gesagten  nehmen  wir  hier  an:  da  Achill  in  Folge  sei- 
ner Heftigkeit  nach  Lesbos  gegangen  ^\ar,  mag  er  beim  Eintref- 
fen des  Memnon  noch  abwesend  gewesen  sein,  und  Thetis  ihn 
doit  von  dessen  Ankunft  unterrichtet  haben,  doch  nicht  nur  wie 
eine  Botin  Iris  (II,  3,  121),  sondern  als  Göttin  Mutter  mit  Mah- 
nung an  sein  frühes  Todesloos.  Wäre  Achill  schon  im  Lager 
gewesen,  als  Memnon  mit  den  Seinen  die  Troer  zum  Kampf 
führte,  dann  wäre  Jener  ihm  wohl  alsbald  unmittelbar  entgegen 
getreten.  Es  kommt  dazu,  dass  bei  seinem  Zusammentreffen  mit 
Memnon  nach  ehiem  Bilde  auf  dem  Kasten  des  Kvpselos  (Paus. 
5,  19,  1)  und  andern  Kunstwerken*^^)  die  Mütter  den  Söhnen  bei- 
standen. Wir  deuten  mm  weiter:  Menmon,  während  Achill  noch 
fern  war,  zugleich  mit  Paris  Nordringeiid,  stiess  zuerst  auf  die  Py- 
lier;  da  geschah,  was  Pindar  (Pylh.  6,  3011.)  nach  Arktinos  fei- 
ert: Indem  Nestor  zu  seinem  W'agen  geeilt  ist,  wird  ein  Pferd 
von  Paris  Pfeil  verwundet  scheu ;  so  bedroht  von  dem  gewaltigen 


135)  Ovcrbeck  Gallone  514  f.  bis  530  f. 


235 

Meninon,  ruft  Nestor  nach  seinem  Sohn  Antilochos,  der  steht  für 
den  Vater  ein,  und  wird  im  Kampf  für  dessen  Lehen  fallend  das 
iMusterhild  der  Kindestreue  (Find,  und  Xenophon  von  der  Jagd 
1,  14).  Antilochos  war  dem  Achill  der  Liehste  nach  Patroklos 
(Od.  24,  78.  II.  17,  G53.  Ü91.  Od.  11.  467  f.  und  m.  Anm.);  dieser 
Tod  ist  daher  hier  für  Achill  ein  ähnlicher  Antrieb  zur  Rache 
wie  der  des  Patroklos  in  der  Ilias.  Nach  mehren  Kunstbildern 
kämpfte  Achill  mit  Mcmnon  um  die  Leiche  des  Antilochos,  in 
andern  febU  dieser  Gegenstand. '^^)  Der  Kampf  war  heiss  und 
schwankte  lange,  die  göttlichen  Mütter  standen  nach  vielen  jener 
Bilder  den  Söhnen  eifrig  zur  Seile.  In  der  Trilogie,  welche 
Aescbylos  nach  der  Aethiopis  dichtete,  fleheten  die  Mütter  vor 
Zeus  um  das  Leben  ihrer  Söhne  und  wog  Zeus  (vielleicht  nach 
Arktinos)  deren  Lebensloose.  (Sagenp.  621  f.)  Aber  Achill  siegte, 
des  Antilochos  Leichnam  verblieb  den  Griechen  (auf  einem  Kunst- 
bilde ninnnt  Nestor  ihn  auf  seinen  Wagen).  In  einer  hier  eintre- 
tenden olympischen  Scene  erbat  Eos  ibrem  Memnon  von  Zeus  die 
Unsterblichkeit,  und  dieser  gab  sie  ihm,  d.  h.  die  sonst  tödllicbe 
Wunde  wurde  durch  des  Zeus  Wunderwirkung  unschädlich  ge- 
macht, und  Eos  entraffte  den  Leib  ihres  Sohnes  und  brachte  ihn 
an  einen  Ort,  wo  er  nun  als  Heros  waltete."')  Nach  dem  Siege 
über  3Iemnon  und  der  damit  erwirkten  Flucht  der  Troer  stürmt 
Achill  gegen  die  Stadt  hin  und  dringt  bis.  in  das  skäische  Thor ; 
da  fällt  er,  wie  ihm  der  sterbende  Ilektor,  II.  22,  359 f.,  prophe- 
zeit hatte,  durch  des  Paris  von  Apollon  gelenkten  Pfeil.  Um  den 
Leib  des  Gefallenen  erhebt  sich  —  nach  der  Aethiopis  wie  nach 
den  vorhomerischen  Liedern   —    ein   heftiger  Kampf  und  dauert 


136)  0.  Jahn  Archäol.  Aufs.  S.  11.  Ovorbcck  Galleric  517  fl".  Ouinliis 
hat  diese  ganze  P.irlie  der  Sage  waliiliall  vcrliimzl.  IJei  ilim  ist  der  Todl- 
scldag  des  Tjiersilcs  Allen  el)Cu  recht,  die  Siihnung  und  der  Weggang 
des  Achill  vom  Schlachlfelde  liiidel  gar  nicht  statt.  Oh  er  gleich  nicht  un- 
geschickt den  Seher  l*ulytlanias  jetzt  Aehnliches  rathen  lässt,  wie  11.7.347  f. 
Antenor  spricht,  und  ehenso  den  Paris  gegen  ihn  sprechen  liisst,  die 
Schilderung  des  darauffolgenden  Kampfes  ist  voll  Unvvahrscheinlichkeiten, 
da  Achill  erst,  nachdem  Memnon  schon  eine  Menge  getödlet  und  auch  den 
Antilochos  erlegt  hat,  von  Nestor,  2,  38811'.,  aufgerufen  wird.  Jenem  ent- 
gegen zu  treten. 

137)  Uehcr  diesen  Glauben  s.  Anm.  zu  Odyss.  Th.  3.  S.  343  f.  Die 
Kunstbildcr  hei  Overheck  526 — 530. 


236 

den  ganzen  Tag  (Od.  5,  309—311,  24,  37—41),  bis,  während  Odys- 
seus  die  Troer  abwehrte  und  ihren  Geschossen  standhielt,  Aias, 
der  Telamonier,  die  Leiche  auf  die  Schuller  nimmt  und  sie  zum 
Schiffslager  trägt.""*)  Die  Ankunft  der  Leiche  des  ersten  Helden 
im  Lager  scheint  auch  Arktinos  in  einer  besonders  bewegten 
Scene  geschildert  zu  haben,  —  bei  Quintus  3,  435  ff.  435  des 
Aias,  des  Phönix,  des  Agamemnon  Klagreden  und  vollends  die 
Trauer  der  Briseis  wie  sie  bei  Properz  2,  8,  9 ff.  im  offenbar  all- 
gemein bekannten  Bilde  den  Todten  umfängt  und  mit  den  hef- 
tigsten Geberden  beweint.  Auch  Kunstbilder  lassen  sie  erkennen. 
Es  gab  nun  zwei  Todte  zu  bestatten,  Antilochos  und  Achill, 
und  nach  dieses  Bestimmung  in  II.  23,  91.  243  f.  bargen  nach- 
mals die  Griechen  die  drei  Freunde  unter  Einem  Hügel  in  zwei 
Urnen,  deren  eine  Achills  und  Patroklos  Gebeine  enthielt,  die 
andere  die  des  Antilochos:  Od.  24,  76 — 80.  Von  den  beiden 
Bestattungen  musste  aber  Arktinos  eine  nach  der  andern  erzählen, 
und  die  des  Achill  gab  einen  viel  reicheren  Akt.  Der  Inhalt  sagt 
mit  troknen  AYorten:  „Darauf  begraben  sie  den  Antilochos". 
Allerdings  konnte  die  Scene  der  Trauer  um  diesen,  welche  den 
noch  lebenden  Achill  umfasst  (Overb.  531.),  nicht  nach  der 
Aethiopis  gebildet  sein.  Die  Aufeinanderfolge  der  drei  Ereig- 
nisse, Erlegung  des  Memnon,  Vertreibung  der  Troer,  beim  Vor- 
dringen, Fall  des  Achill  giebt  keinen  Raum  dazu.  Es  konnte 
hier  Todtcnklage  und  Verbrennung  des  Antilochos  eben  erst  vor 
der  grossartigen  Bestattung  Achills  erzählt  sein.  Es  lautet  gleich 
weiter:     und    sie  stellen    den   Leichnam   des   Achill   aus'^^)   und 


138)  Die  Kunslbilder  hiervon  bei  Overb.  547  f.  Aristarch  urthcille  zu 
11.  17,  719:  „Hätte  Homer  den  Tod  des  Achill  beschrieben,  würde  er  dem 
Aias  nicht  die  Leiche  fortzutragen  gegeben  haben"  —  sondern  ihn  eben 
gegen  die  Troer  haben  Stand  hallen  lassen.  Wie  wir  finden  werden,  er- 
zählte Lcsches  den  Hergang  ebenso  wie  Arktinos,  aber  mit  Spült.  Quin- 
tus vermeidet  solche  Unterscheidung  des  Verdienstes  um  die  Relliing  der 
Leiche.  3,  217 — 295  ist  Aias  der  Vorkämiifer  im  Kampfe  für  dieselbe. 
Darauf  folgt,  296 — 321,  eine  kürzere  Reihe  von  Erfolgen  des  Odysseus. 
330  kehrt  die  Erzählung  zu  den  Thaten  des  Aias  zurück  bis  357.  Die  Troer, 
in  die  Flucht  geschlagen,  verlassen  die  Leiche.    Sie  ist  nachher  im  Zelle. 

139)  Der  Leichnam  (ust  gewaschen  —  bei  Properz  von  Briseis  — 
s^ine  Wunden  mit  Salben  bestrichen,  so  auf  Betten  gelegt;  so  die  Leiche 
des  Patroklos,  11.  18,  350 — 353.  Die  Sille  dieser  Ausstellung  Welcker  Cycl. 
II,  176  und  Wachsmuth  Hell.  All.  11.  428 f.  2.  A. 


237 

Tlietis,  mit  den  Musen  und  ihren  Schwestern  herbeigekommen, 
stimmt  den  Klaggesang  um  ihren  Sohn  an  —  wie  Od.  24,  55. 
58  —  61  und  wie  mit  Ilektor  II.  24,  720(1.  ähnlich  geschieht.  — 
Was  sich  anschliesst:  „und  hiernach  T'ntralTt  Thetis  ihren  Sohn 
vom  Scheiterhaufen  und  bringt  ihn  nach  der  Insel  Lenke",**)  es 
war  der  Akt  der  Apotheose  und  diese  musste  Zeus,  wie  die  des 
Memnon,  bewilligt  haben;  dies  wahrscheinlich  schon  bei  jener  Ver- 
handlung der  beiden  Göttinnen  vor  Zeus  um  ihrer  Söhne  Leben."') 
„Die  Achäer  aber  schütten  einen  Grabhügel  auf,  und  stellen  einen 
Wettkampf  an".  Hier  trat  also  die  Schilderung  der  Leichenspiele 
zu  Ehren  des  Achill  ein,  zu  der  Arktinos  an  der  homerischen 
(II.  23)  ein  lebensvolles  Muster  hatte.  Wie  der  Inhalt  sich  mit 
der  Angabe:  ,,sie  stellten  einen  Wettkampf  an"  —  begnügt,  so 
hat  er  das  Bedeutende  von  Thetis  unerwähnt  gelassen,  was  erst 
den  darauf  folgenden  Streit  des  Aias  und  Odysseus  um  die  eige- 
nen Waffen  Achills  im  Zusammenhang  verständlich  macht.  Das 
Fehlende  zeigen  uns  die  Stellen  Od.  24,  85  — 91.  und  11,  543 
bis  547.  und  dazu  Ouinlus  4,  103  — 117.  u.a.,  besonders  aber 
5,  121-127,  wo  Thetis  spricht: 

Jetzt  (leim  sind  auf  der  Bahn  ja  alle  die  Kämpfe  vollbracht  schon, 
Die  ich  zu  Ehren  des  Sohns  aus  trauerndem  Ilerzen  geordnet. 
Auf  nun ,  wer  da  gerettet  den  Leib  und  der  hoste  Achäer, 
Dass  ich  die  prächtigen  Wallen,  die  j^ollheitvollen,  zur  Rüstung 
Ihm  darreich'!   Unsterhlichen  auch  ein  gcfalh-nder  Anbhck. 

Also,  als  die  Wettkämpfe  um  Preise  vorüber  waren,  bestimmte 
Thetis  die  Waffen  ihres  Sohnes  dem  um  die  Rettung  seines 
Leibes  sammt  der  Rüstung  V'erdienlesicn,  den  sie  damit  als  den 
besten  der  Achäer  bezeichnete.  Es  konnten  nur  Odysseus  und 
Aias  mit  dem  Anspruch  auf  Verdienst  und  Lohn  hervortreten, 
so  wie  der  wortkarge  Inhalt  sagt:  und  über  Achills  Waffen  tritt 
zwischen  Odysseus  und  Aias  Streit  ein.  Von  ihnen  wurde  der- 
selbe  als  Rechtsstreit   mittels  Reden  über  ihr  Verdienst  geführt, 


140)  S.  oben  Buch  1  Anm.  20  und  Anm.  24  über  Achill  als  Heros 
Milets  und  seiner  Colonicen. 

141)  Einstimmend  in  so  weit  aucli  Pindar  Ol.  11,  79:  ..Aueli  brachte 
den  Pcleiden,  als  Zeus'  (iemülb  sie  (hirrli  Bitt"  erweicht,  che  Mutter  (nach 
dem  (Jolihle  der  Seligen)".  Es  pllegt  überhaupt  die  Erhebung  zum  Heros 
von  der  Scbutzgöttin  bei  Zeus  erwirkt  zu  werden. 


238 

wie  Oilysseus,  Od.  11,  54G.,  sagt,  er  habe  den  Sieg  recbtend  mit 
ihm  [ÖLxa^o^svog)  gewonnen.  Elten  in  diesen  ihren  Reden 
gewann  Odysseus  mit  seiner  gewandten  Beredtsamkeil  dem  zu 
vielen  Worten  weder  willigen  noch  geschickten  Aias  den  Vor- 
zug ah.  In  jeder  Sagengestalt  ward  Aias  diu'ch  die  Entschei- 
dung für  Odysseus  gekränkt"^)  und  in  jeder  wurde  auf  Nestors 
Rath  die  Stimme  der  Feinde  abgehört,  nach  der  einen  gefange- 
ner Troer,  nach  der  andern  troischer  Mädchen,  welche  von 
abgesandten  Lauschern  unter  der  Stadtmauer  behorcht  wurden. 
Die  letztere  Form  war  die  Erfindung  des  Lesches,  die  erstcre 
giebt  Quintus  als  Nestors  Rath,  5,  IGl  f.,  nur  dürfte  es  unge- 
schickte Ausführung  sein,  wenn  er  die  Gefangenen  förmlich  ein 
Gericht  bilden  lässt,  vor  denen  nun  Aias  und  Odysseus  ihre 
Thaten  gegen  einander  abmessen  und  Aias  kaum  unberedter  als 
Jener  eifert.  Die  einfachere  und  dem  Verhältniss  angemessenere 
Form  berichtet  der  Scbol.  zu  Od.  11,  547.  Agamemnon  habe, 
um  dem  Schein  der  Parteilichkeit  zu  entgehn,  herbeigeführte  Ge- 
fangene befragt,  von  welchem  jener  beiden  Helden  sie  mehr 
Leid  erlitten,  und  da  si(!  den  Odysseus  genannt,  diesem  die 
Waflcn  zugetheilt.'")  Dies  war  unstreitig  des  Arktinos  Darstellung: 
Vor  Agamemnon  und  andern  Fürsten  sprachen  erst  die  beiden  Hel- 
den, Jeder  in  seiner  Weise,  dann  geschah  die  Befragung  und  erfolgte 
der  Entscheid.  Bei  diesem  erkannte  der  Arzt  Podaleirios  schon 
,,des  zürnenden  Telamoniden  blitzende  Augen  zugleich  und  den 
tiefempörlen  Gedanken"  (Welcker  2,  178.),  welcher  hinzufügt: 
„Von  Wahnsinn   des  Aias  über  den  Verlust  der  Wafl'en  ist  nicht 


142)  Aias  in  aller  Sage  ein  Beispiel  eines  (hircli  ungcrcclilcs  Gericht 
Vorurtlieilten,  Pindar  mit  unmillclbarcni  Bezug  Nein.  7,  20 — 2(5.  Dann  in 
Piatons  Apologie  41 B.  wird  Aias  mit  Palaniedes  als  Beispiel  solcher 
genannt. 

143)  Das  Versländniss  des  homerischen  Verses  von  der  Entscheidung: 
„Troias  Kinder  entscliictlen  den  Streit  und  Pallas  Athene",  lässt  es 
zweifelhaft,  ob  Töchter  oder  Söhne  (die  Gefangenen)  gemeint  sind,  und 
sofern  der  Ausdruck  naiSeg  immer  leichter  auf  Mädchen  gedeutet  wird 
als  auf  Söhne,  auch  hei  jener  Befragung  der  Gefangenen  der  Anlheil  der 
Athene  minder  naliirlicli  als  seelische  Einwirkung  gedacht  werden  kann 
als  in  der  Scenc  des  Lesches,  so  mag  Arislarch  wohl  den  Vers  mit  Grund 
als  unecht  verworfen  haben,  eben  weil  er  des  Lesches  Darslellung  darin 
fand,  und  diese  dazu  in  unepis(;li  dunkler  Zusaiiiinonreiiiung  dei'  Göttin 
mit  den  zu  errathendeu  Menschen. 


239 

die  Rede".  Es  war  wiederum  Lesclies  erst,  der  in  seinem 
inelirbethätigten  Streben,  den  Aias  gegen  den  Odysseus  herabzu- 
setzen, das  Gefühl  der  Kränkung  zum  Wahnsinn  gesteigert  dar- 
stellte. Der  tiefernste  Arktinos  nicht  so:  das  zornige  Gefühl 
der  Kränkung  und  Aergerniss  an  den  Genossen  war  es,  was 
den  immer  „Nächsten  nach  Achill"  trieb,  sich  das  Schwert  in 
die  ßrust  zu  stossen.'^^)  „In  der  Morgendämmerung,  sagt  der 
Dichter  der  Aethiopis,  habe  Aias  sich  getödtet"  Schol.  zu  Find. 
Isth.  4,  35 — 58."^)  Dass  die  Bestattung  des  so  Gefallenen,  welche 
den  Schluss  der  Epopöe  gebildet  haben  wird,  eine  ehrenvolle 
war,  nehmen  wir  mit  allem  Grund  an.  Odysseus  wird  nicht 
erst  hei  der  Begegnung  in  Od.  1 1 ,  548  ff.  diese  Folge  seines 
Sieges  bedauert  haben,  und  des  Grabes  gedenkt  Nestor  Od.  3, 
109.  Lesches  nur  entstellte  auch  die  Bestattung  des  Aias. 

So  das  inhaltreiche  Gedicht  mit  seinen  eng  aneinander  gekette- 
ten vier  Partieen,  welche  sämmtlich  an  Achill  als  der  Hauptper- 
son haften.  Die  erste ,  der  Kampf  mit  Pentbesileia ,  die  nach 
Welckers  feiner  Deutung  selbst  eine  Liebesregung  gegen  ihren 
Sieger  äussert,  wird  durch  den  Todtschlag  des  Spötters  Thersites  und 
den  Sühngang  nach  Lesbos  mit  der  zweiten  verknüpft,  der  vom 
Kampfe  mit  Menmon.  Bei  der  Rückkehr  von  Leshos  findet  Achill 
den  Memnon  bereits  siegreich'  vorgedrungen  und  seinen  Antilo- 
chos  so  eben  von  ihm  entseelt  daliegeiT.  Um  des  Freundes  Leiche 
hat  er  mit  Memnon  einen  schweren  Kampf  und  der  Mutter  Mah- 
nung an  sein  kurzes  Lebensloos  hält  ihn  jetzt  so  wenig  vom 
Rachekampfe  zurück,  als  vordem  nach  des  Patroklos  Fall  (II. 
18,  114  ff.),  und  Zeus  gewährt  ihm  den  Sieg.  An  diesen  Erfolg 
des  zweiten  Hauptakts  schloss  sich  der  dritte,  vom  Tode  Achills, 
in  Einem  Zuge  an.  Denn  wenn  nach  dem  Inhalt  auch  zunächst 
nacji  Memnons  Fall  die  Bitte  der  Eos  bei  Zeus  und  ihre  Ent- 
rückung des  Sohns  erzählt  war,  das  Weitere  von  Achill  aid'  dem 


144)  Aeschylos  in  dem  Miltelslück  seiner  Aiaslrilogio  liess  niohlen, 
Aias  habe  sich  an  der  einzigen  verwundbaren  Stelle,  unter  der  Aclisel, 
das  Schwert  in  die  Brust  gcslossen;  Kr.  78  Nck.  83  Ilrin.  Doili  ebenso 
die  ilisclie  Tafel  Nr.  00.  Overli.  Galleiie  5G7. 

145)  Pindar,  der  durt  und  noch  an  zwei  Stellen,  Noui.  7,  25 f.  und 
8,  23,  der  Sache  gedenkt,  ist  beredt  liber  das  dem  Aias  geschelieue  Un- 
recht, ilber  des  Odysseus  schlaue  Ueberredungskunsl  und  üImt  den  \'ur- 
wurf,  den  das  ganze  Heer  verwirkt. 


240 

Schlaclitfelde  war  gewiss,  dass  er  zugleich  mit  dein  gewonnenen 
Siege  die  Troer  nach  der  Stadt  getriehen  und  so  am  skäischen 
Thor  gefallen  sei.  Derselhe  dritte  Akt  umfasste  den  langen  Kampf 
für  die  Rettung  der  Leiche,  nach  diesem  erst  die  Bestattung  des 
Anlilochos,  die  Todtenklage  um  Achill,  seine  Entführung  als  He- 
ros nach  Leuke  durch  Thetis,  und  die  Leichenspiele  von  dersel- 
hen  angestellt.  Wiederum  in  engem  Anschluss  folgte  nun  noch 
als  vierter  Haupttheil  das  Waffengericht  und  des  Aias  Selhstmord 
nehst  seiner  Bestattung.  Dieselbe  Göttin  Mutter,  welche  den 
Kämpfern  der  Leichenspiele  die  Preise  ertheilt  halte,  sie  fügte 
zur  grössten  Verherrlichung  des  Achill  die  Bestimmung  über 
seine  Waffen  hinzu,  und  es  erfolgte  daher  der  Streit  um  diese 
„als  Gipfel  der  Ehrenkämpfe  nach  seinem  Tode",  (Dass  Thetis 
die  Preise  ertheilt  habe,  sagt  schon  die  ältere  Erzählung  und  die 
Zusage  der  Waffen  des  Sohns  schliesst  sich  natürlich  an  die 
Preisvertheilung  an.)  Wie  zu  diesem  Streit  nur  Aias  und  Odys- 
seus  in  die  Schranken  treten  konnten,  der  Gedanke  aber  einer 
Theilung  der  Waffenstücke  als  kleinlich  ganz  fern  lag,  so  musste 
eine  Entscheidung  folgen.  Wenn  diese  zwischen  dem  Helden 
des  drastischen  Geistes  und  dem  nach  Achill  nächst  grössten  des 
tapfern  Muthes  für  jenen  stimmte,  der  zurückgesetzte  aber  im 
Gefühl  der  Kränkung  sich  den  Tod  gab;  so  wies  auch  diese 
eng  verknüpfte  Folge  auf  Achill  zurück  als  tragische  Nachwirkung 
vom  Fall  des  Gewaltigen.'*")  Die  ehrende  Bestattung,  welche  wir 
hier  als  sich  von  selbst  verstehend  annehmen,  da  das  Gegentheil 
bei  Lesches  durch  ganz  entgegengesetzte  Darstellung  des  Selbst- 
mords bedingt  ist,  die  Bestattung  gab  einen  Schluss,  in  welchem 
das  gerade  durch  den  Selbstmord  bei  den  Fürsten  wachgerufene 
Andenken  an  Aias  Grösse  und  Verdienst  sich  zur  gerülirten  Mah- 
nung an  Natur  und  Loos  der  sterblichen  Älenschen  artete. 

Eben  dies  war  der  nach  der  echten  Sage  natürliche  Ausgang 
der  Epopöe.  Aber  er  ist  auch  dem  individueUen  Geist  und  Sinn 
des  Arktinos  ganz  entsprechend.    Blicken  wir  nur  auf  die  andere 


146)  Overl).  Gallcrie  502:  ,,In  ilicscm  Sinne  auf  Achilleus  noch  ein- 
mal zuiückweiscnil,  seine  Herrlichkeit  noch  einmal  hervorhebend ,  fassle 
Arktinos  den  Walfcnstreit,  und  scldoss  mit  ihm  sein  Aethiopis  —  Achilleis, 
kurz  die  untrennbar  verltundcne  Folge  des  WatTengcrichts ,  Aias'  Tod  an- 
liif^ond".     Anders  Wclokor  Cycl.  II.  234. 


241 

Epopöe  desselben  Dicliters  mit  den  ihr  eigentliümlichen  Zeichen 
des  Laokoon  nnd  Auszug  des  Aeneas  und  besonders  auf  ihren 
Schhisstheil,  da  die  Persis  in  die  ungliicldiche  Heimkehr  der  Sie- 
ger ausging.  Ueberall  ist  derselbe  tiefernste  Diclitergeist  zu 
erkennen,  der  die  waltenden  Gescliicke  zumeist  beachtet  und  die 
Menschennatnr  in  ihrer  Mischung  von  Kraft  und  Leidenschaft 
unter  der  Führung  der  Gölter  darstellt.  Dieser  Sinn  offenbart 
sich  noch  deutlicher  in  dem  Unterschied,  ^velcher  sich  in  der 
Gestaltung  der  Sage  von  der  Eroberung  Troias  zwischen  Arklinos 
und  Lesches  ergiebt.  Lesches  gab  in  seiner  Kleinen  Ilias  eine 
„Aristeia  des  Odysseus" ;  er  strebte,  den  Odysseus  vollends  als 
Eroberer  Troias  darzustellen.'^')  So  war  es  bei  ihm  das  Verdienst 
des  Menschen  Odysseus,  dem  die  Eroberung  gelang,  der  ältere 
Dichter  dagegen  hatte  die  Erfüllung  der  von  den  Göttern  be- 
stimmten Geschicke  Troias  zum  obherrschenden  Gedanken  gehabt 
Denn  obgleich  nach  und  mit  dem  Waffengericht  die  Wendung 
eintritt,  da  der  Krieg  nach  dem  Falle  der  mächtigsten  Helden  auf 
beiden  Seiten  aus  einem  Kampfe  der  Kraft  zum  Werke  der  List 
ward,  und  so  nach  Achills  und  Aias  Tode  mit  einem  Uebergange, 
der  die  Troer  nöthigt,  sich  ganz  hinter  ihre  Mauern  zu  bergen, 
der  Held  und  Meisler  der  Listen  und  seine  Göttin  zur  Wirksamkeit 
kamen;  so  war  die  Einnahme  der  Stadt  und  Bewältigung  des 
Reichs  doch  wesentlich  ein  götiliches  Strafgericht.  Diesen  Charak- 
ter wahrte  Arklinos  der  Sage  mehr  als  Lesches,  der  seinem  Helden 
sogar  die  göttlichen  Geschicke  nahezu  selbst  in  die  Hand  gab, 
wie  wir  sehn  werden. 

21.    Die    E  i  n  b  e  i  t  li  eil  k  e  i  t    der    beiden    Epopöen    v'  o  n 
Troias  Zerstörung,     Ihr  Verbal tniss   zu   einander. 

Indem  nun  an  die  Charakteristik  der  Aelbiopis  die  der  zwei- 


147)  Overbeck  fährt  a.  a.  0.  so  fort  mit  Anerkennung  dos  Lc-scbes: 
„Andrerseits  aher  beginnt  nach  tieni  VVjiircngcricIit  eine  Zeil  im  Kriege 
gegen  llion,  in  der  nach  Acliilleus  und  Ai;isTodc,  Odysseus,  Loselies' 
Held,  n)il  klugem  RaUi  und  energischen  Wagnissen  eine  erfolgreichere 
Tliätigkeit  entfaltet,  als  die  der  grösseren  Todlen  gewesen  war.  Die 
Kleine  Ilias  isl  eine  Aristeia  des  Odysseus ,  und  an  der  Spilze  seines  Ge- 
dichts, seiner  andern  Odysseia ,  stellt  der  Epiker  seines  Heiden  Sieg  ülter 
den  gewaltigen  Gegner,  stelll  er  das  WalTengericIit  als  eben  so  natür- 
lichen Anfang,  wie  dasselbe  unter  anderer  Betonung  ein  nalürlicliei' 
Schluss  der  Aelhiopis  war". 

Nilzsch,  Gesell,  d.  grierti.  Epos.  16 


242 

teil  Epopöe  des  Arkliiios  anzufügen  ist,  ergiebt  sich  deren  Stoff 
als  für  einheitliche  Dichtung  minder  günstig  oder  als  anders  ge- 
artet. Es  giebt  neben  derjenigen  Einlieitliclikeit  epischer  Stoffe, 
wo  die  Handlung  als  Geschichte  einer  Person  das  concentrirtere 
Interesse"")  geA\ährt,  also  neben  der  zugleich  persönlichen,  und 
damit  allerdings  voUkommneren  eine  andere.  Sie  empfiehlt  sich 
wiederum  durch  Grossartigkeit  und  Tiefe  vor  jener.  Es  ist  die 
Einheit  einer  obherrschenden  Idee,  die  eines  Weltgedankens,  wel- 
cher den  Stoff  beseelt,  und,  vom  Dichter  alsbald  hervorgehoben, 
durch  eine  Reihe  von  Ereignissen  sein  Ziel  erreicht.  Wenn  die 
Grundmotive  der  griechischen  Epopöen  theils  menschliche,  theils 
göttliche  sind,  so  gestalten  sich  die  göttlichen  theils  als  unmittel- 
bare Wirkungen,  wie  in  den  Nosten  Athene's  Zorn  waltet,  theils 
als  Vorbeslimmungen,  deren  Verkünder  oder  auch  fortwährende 
Träger  die  Seher  waren.  Fortwährender  Träger  war  in  eigener 
Weise  Amphiaraos,  der  Krieger  und  Seher  zugleich  in  der  Thebais, 
Verkünder  traten  in  den  beiden  Gedichten  von  Troias  Einnahme 
auf,  bei  Arklinos  Kalchas,  bei  Lesches  Ilelenos.  Das  war  also 
die  im  Glauben  an  Vorbestimmungen  und  Prophetenthum  gege- 
bene Weise,  in  der  das  Motiv  des  Frevels  am  Gastrecht,  welches 
die  ganze  troische  Sage  beherrscht,  auf  diese  vierte,  die  Schhiss- 
partie  des  Kriegs,  wie  von  selbst  fortrückt. 

Dieses  ganz  und  gar  verschiedene  Grundmotiv  der  Persis 
trennt  sie  auf  das  Sichtlichste  von  der  Aethiopis.  Fud  wie  nir- 
gends ein  beide  Gedichte  umfassender  Titel  verlautet,  so  kann  am 
wenigsten  Troias  Untergang  als  Sühne  für  den  Tod  des  Achill  an- 
gesehn  worden  sein,  noch  als  Fortwirkung  derselben  am  Hause  des 
Priamos."*)  Achill  war  dem  Arktinos  ein  grosser,  aber  in  eben  dem 
Maasse  ein  tragischer  Mensch.  Er  hat  nach  der  Epopöe,  welche 
den  grössten  Helden  nach  seiner  menschlichen  Natur  schilderte 
und  ihn  als  milesischen  Heros  feierte,  diese  andere  von  dem  sich 
«■rfüllenden  Geschick  Troias  in  gleich  ernst  tragischem  Sinne 
hinzugethan. 

Die   Verkündigung    der    Schicksalsbestimmungen    jiab,    wenn 


148)  Wclcker  Cycl.  II.  (]H.  Anni.  verweist  niif  Arist.sl.  Pidl.I.  Will.  9. 

14'.»)  Ihncli  (lit'scii  iinklaicii  (uHJ.iiikcii  lioeiiili;i(lilif:!le  Welckcr  seine 
grosse  Leistung,  (>ycl.  II.  229,  und  treiliili  i^ciiide  ülier  Aiklinds  können 
wir  ihm  öfters  nicht  heislininion. 


243 

wir  die  in  der  Ilias  gegebenen  Anzeichen  befolgen,  wabrscbein- 
licb  kein  anderer  Seher  als  der  Achäer  Kalchas  (bei  Lesches  Hele" 
nos).  Kalchas  ist's  bei  Qnintus  6,  57,  der  an  seine  dereinstige 
Propbezeihung  mahnt  (II,  2,  329.)  und  zunächst  Achills  Sohn 
von  Skyros  (II.  19,  326.)  herbeizurufen  anrälh.  Neoptolenios,  der 
bei  der  Einnahme  so  gewaltig  mitwirkt,  musste  jedenfalls  im 
Gedicht  des  Arktinos  ebenso  aus  Skyros  herbeigerufen  werden, 
wie  er  es  nach  Proklos  in  der  Kleinen  Ilias  ward.  Es  gehörte 
diese  Berufung  des  andern  Achill  und  sein  Sieg  über  den  letzten 
auswärtigen  Kämpfer  für  Priaraos'  Reich ,  ebenso  wie  die  des 
Philoktet,  der  nach  dem  Schicksal  den  Paris  erlegen  musste,  wie 
sie  die  vollständige  Einschliessung  zur  Folge  hatten,  als  folge- 
rechte Einleitung  in  jede  Epopöe  von  der  Einnahme  und  Zer- 
störung Troias.  Sollte  sie  irgend  beseelt  sein,  so  musste  die 
Dichtung  dieses  Sagentheils  nach  dem  Tode  der  grössten  Helden 
von  einer  das  Heer  entmulhigenden  Stimmung,  als  von  der  ersten 
Wirkung  dieser  Verluste,  ausgehn.  Hiervon  erlösten  es  jene 
Berufimgen.  Fügte  die  stetige  üeberlieferung  hierzu  die  Ofl'en- 
barungen  der  Vorbestimmungen  über  den  Fall  Troias,  so  bil- 
dete die  der  Einschliessung  folgende  Einnahme  din'ch  List  mit 
ihren  drei  wellborühmten  Akten,  dem  Bau  des  hölzernen  Bosses, 
der  verstellten  Abfahrt  des  übrigen  Heeres  und  dem  nächtlichen 
Ueberfall,  den  gebotenen  HauplstofT  solchen  Gedichts.'^) 

Diese  Bestandtheile  des  SagenslofTs  waren  als  das  Thema 
bildend  beiden  Dichtern  gemeinsam.  Auch  manches  Bedeu- 
tende in  der  Motivirung  des  Fortschritts  ist,  da  die  früheren 
Lieder  es  brachten,  wahrscheinlich  von  Beiden  beibehalten. 
Spät  und  mühsam  hatte  schon  nach  dem  vorhonierischcn  Liede. 
Priamos  den  Eurypylos  mit  seineji  Leuten  zum  Ililfszug  bewogen. 
Die  Angabe,  Od.  11,  51 9 ff.,  Eurypylos  und  viele  Genossen  seien 
getödtet  worden  „in  Folge  der  Weibergeschenke",  ist  nicht  vom 
Weibe  des  Eurypylos  zu  verstehn,  wie  von  Eriphyle  (Od.  15,  24 G, 
1 1  ,  327).  Er  war  noch  ein  Jinigling  wie  Neoptolemos.  Viel- 
mehr, wie  im  Scholiast  zu  diesen  Worten  Akusilaus  auslegt-und  des 
Lesches   erhaltene  Verse   zeigen:    Priamos    hatte    die  Mutter   des 


150)  Wckker  Cycl.  II.   l'.IB.   lilior  die  in  Prnklds'   liili.illcn  gegelie- 
ueii  Tlicilc. 

IG* 


244 

Eurypylos,  seine  Schwester,  durch  das  Geschenk  emes  goldenen 
Weinstoclis  von  Ilephästos'  Arheit  erst  bewogen,  den  Sohn  nicht 
ferner  zurückzuhalten.  Dass  Arklinos  dieses  Motiv  auch  erziUdt 
hahe,  ist  zu  vermuthen.  Ebenso  und  sicherer  noch  wird  Helena 
nach  d«s  Paris  Fall  auch  bei  Arktinos  die  Gattin  des  Deiphobos 
geworden  sein,  wie  sie  in  Demodokos'  Liede  und  bei  Lesches 
als  solche  erscheint.  Dieser  Uebergang  der  Helena  zum  Heerd 
und  Bett  eines  andern  Fürsten  Troias  ward  durch  die  Parteien 
in  Troia  ein  Moment  des  Kriegs.  Es  wird  der  Streit  von  II.  7, 
350  f.  357  fr.  sich  erneuert,  Antenor,  das  Haupt  der  bisher  unter- 
drückten (II.  11,  123  — 125)  Friedenspartei,  von  neuem  auf  die 
Rückgabe  des  Raubes  gedrungen  haben.  Die  Götter  selbst  ver- 
hinderten diese,  und  Helena,  obgleich  in  ihrem  Sinne  schon  heim- 
gewandt, bedurfte  eines  männlichen  Schutzes. 

Auch  manche  nachhomerischen  Sagengebilde  sind  beiden 
Epikern  gemein.  Demophoon  und  Akamas,  die  Söhne  des 
Theseus,  dem  Homer  unbekannt,  befreien  nach  Beiden  ihre 
Grossmutter  Aetbra  und  waren  unstreitig,  wie  bei  Quintus,  im 
hölzernen  Ross.  Ebenso  kam  der  Antiklos  dazu ,  den  Homer 
nicht  erwähnt,  nur  die  unechte  Doppelform  Od.  4,  285.'-')  Die 
ganze  Scene  scheint  aber  nur  dem  Plan  und  dem  Geist  des 
Lesches  angemessen.  Dagegen  ist  es  in  beiden  Sinon,  wel- 
cher den  Griechen  das  Zeichen  giebt.*^*)  Zweifelhaft  ist  die 
Folge  der  Abholungen  des  Neoptolemos  und  des  Philoktet;  so- 
dann die  Weise,  wie  den  Griechen  die  Bestimmungen  des  Schick- 
sals bewusst  wurden,  an  denen  Troias  Fall  hing.  Eine  feine 
Ausdeutung  des  trocknen  Inhalts  von  der  ersten  Hälfte  der  Kleinen 
Ilias,  welche  in  das  Versgefüge  des  epischen  Cyclus  aufgenom- 
men war,  giebt  zwar  eine  Darstellung,  welche  jene  Fragen  in 
Einem  zu  erledigen  scheint;  allein  sie  kann,  insofern  sie  nur 
auf  den  späteren  Epikern  fusst,  nicht  sofort  über  den  Gang  des 
Arktinos  entscheiden.  Sie  geht  von  der  allerdings  gewiss  beiden 
Epikern  gemeinsamen  Lage  und  Stimmung  des  Griechenheeres 
aus  und  ergänzt  in  ansprechendem  Verständniss  den  dürftigen 
Auszug:    „Wie    immer   iu  solchen  Nöthen    wird  Kalchas  befragt; 


151)  S.  Philoi.  4.  170  f. 

152)  Aiktiiios  nacli  dem  Inhalt,  Lesclies  Fr.  11.  bei  Tzetz.  zu  Ly- 
kopin-. 344.,  wie  Viii?.  Aeii.  2.,  57 fl".  258.    Ouint.  12,  243.  360.  419. 


245 

er   enthüllt, '^^)   Heleiios   kenne   die  Schicksalssprüche ,   an  denen 
Troias  Fall  hänge.     Odysseus  —    erbietet  sich,  ihn  einzufangen- 
Es  gelingt.     Sein  Spruch  lautet,  ohne  den  in  Philokteis  Händen 
befindlichen  herakleischen  Bogen,  dem  Troia  einst  schon  erlegen 
(II.  5,  638 IT.),  könne   die   Veste   nicht  genommen   werden".   — 
„Allein  auch  Neoptolenios'  Abholung  muss  Helenos  als   erforder- 
lich  bezeichnet  haben.     Schon   im  Epos  muss   er  gesagt  haben, 
was  in  Tragödien  des  Sophokles  und  bei  Philostratos  sich  aner- 
kannt findet:   nur  durch  einen  Aeakiden  könne  Troia  fallen".*^*) 
Diese  Weisungen  haben  die  griechischen  Fürsten   durch  gleich- 
zeitige Absendungen   nach  Lemnos  und  nach  Skyros  befolgt,  in- 
dem  sie  den  Philoktet  durch  Diomedes,  den  Neoptolenios  durch 
Odysseus  beschickten,  nicht  beide  durch  diese  beiden.  Den  Odys- 
seus,  der  ihn   ausgesetzt  hatte,  hasste  Philoktet,  dem  Neoptole- 
nios  aber   halte   derselbe   des  Vaters  \yairen  zu   übergeben;   die 
epische  Erzählung  konnte   nur   eine    Sendung  nach   der   andern 
berichten.     Lesches  schilderte,   wie  der  Inhalt  sagt,  zuerst  Phi- 
loklets   Berufung.     Dem   Inhaber   des   herakleischen  Bogens   ge- 
nügte   im  Epos    die   31itlheilung   des   Orakelspruchs,    nebst  der 
Aussicht  auf  Heilung  und  auf  Ruhm  —  ihm  die  Wiedervereinigung 
mit  den  Seinigen  annehmlich  und  unabweislich  zu  machen.     So 
schloss  sich   hier   erst  noch  die  Erfüllung  an:    die  Heilung  der 
Wunde  durch   Machaon,   der   Kampf  mit  Paris   und  dessen  Er- 
legung,   da    gerade    er    den    Achill    getödlel:     Auslieferung    des 
Leichnams  an  die  Troer  und  Verheirathung  Helena's  an  Deipho- 
bos,  die  für  die  Katastrophe  am  Ende  bedeutsam  werden  sollte. 
Darnach  erst  holte  Lesches  (nach  dem  Inhalt)  das  andere  Aben- 


153)  Lag  Das  nicht  schon  im  Wesen  des  Sehers? 

154)  Schneidewin,  Philo!.  4.  6460".  Sein  Gcsammlergebniss  S.  648 
schon  ausgesprochen:  „Odysseus  fängt  den  Ifelenos,  Diomedes  iioll  den 
Philüklet,  und  Odysseus,  wie  in  der  Odyssee,  gidil  nacli  Skyros,  iil)ergiebt 
die  achillcischcn  Walfen  und  iioll  den  jungen  Krieger.  Ein  merkwürdiger 
Paralkdismus  in  beiden  Falirlen.  I'liiluklets  Bogen ,  den  die  (iöllcr  ])is 
ins  zehnte  Jahr  fern  gehalten  haben,  nuiss  licrbei  und  Odysseus  muss  des 
Vaters  Rüstung  dem  natürlichen  Erl)en  üljergcben,  und  so  ist  Troia  zu 
nehmen".  —  „Welcker  hat  (S.  238)  diesen  ganzen  einfachen  Zusammen- 
hang verkannt".  Ausführlich  wird  dies  Alles  begründet  und  besonders 
die  Verschiedenheit  der  mit  Unrecht  auch  für  das  Epos  angenommeneu 
Gestaltung  der  Tragiker  aus  den  Motiven  der  Tragödie  dargelhnn. 


246 

teuer  nach:  Odysseiis,  der  gleichzeilig  iiacli  Skyrus  gegaiiyeii, 
erscheint,  nachdem  Philoktet  bereits  vor  Troia  seine  Ilauptaid- 
gabe  erfüllt  hatte,  mit  dem  Achill eiissohn e ;  dieser  erlegt  den 
Eurypylos  und  nun  beginnt  die  Einschliessung  der  aller  hervor- 
stechenden Kampfer  beraubten  Troer  in  die  Stadt. 

Diese  so  abgerundete  Darlegung  mag  allerdings  im  Sinne 
des  Lcsches,  dessen  Held  Odysseus  war,  ganz  richtig  sowohl 
beide  Abholungen  als  vom  Geschick  geheischt,  als  auch  in  dieser 
Folge  geschehn  geben.  Aber  der  milesische  Epiker  hatte  ja  in 
der  Acthiopis  den  Achill  zugleich  als  Heros  gefeiert  und  in  Lei- 
denschaften der  3Ienschennatur  geschildert,  endlich  mit  der  tra- 
gischen Nachwirkung  seines  Todes  das  Gedicht  geschlossen.  Er  hat 
demnach  erstlich  gewiss  seine  zweite  Epopöe  nicht  mit  dem  Siege 
des  Odysseus  im  Waffengericht  begonnen,  sondern  sein  Held 
war,  wenn  Einer,  der  Sohn  des  Achill;  Odysseus,  der  Meister 
der  Listen,  galt  ihm  als  das  andere  Werkzeug  der  Götter  neben 
dem  andern  Achill.  Aber  auch  die  Uebergabe  der  Waffen  ist  viel- 
leicht nicht  als  Befolgung  der  auch  über  den  Aeakiden  vernom- 
menen Olfenbarung,  sondern  als  gewinnender  Beweggrund,  ja  als 
natürliche  Rücksicht  für  den  Erben  vom  Odysseus  des  Arktinos 
behandelt  worden,  der  ebenso  wie  das  ganze  Heer  den  Neopto- 
Icmos  als  den  jetzt  allein  möglichen  Ersatz  für  den  V'erlust  des 
Vaters  herbeiwünschte. 

Wenn  doch  überhaupt  die  Neudichtung  desselben  Sagentheils, 
welchen  der  begabte  Arktinos  schon  zur  Ej)Opöe  gestaltet  hatte, 
eine  vielfach  andere  Gestaltung  erzielen  musste,  so  kommt  die 
lange  Zwischenzeit  in  Rechnung:  Lesches  dichtete  über  hundert 
Jahre  später  als  Arktinos.'^'')  Dieses  Jahrhundert  ist  unstreitig 
an  Wachstinnn  und  Wandel  wie  der  Sagen  überhaupt,  so  an 
dem  des  Ruhmes  der  Aeakiden  ergiebig  gewesen.  In  dieser  Zeit 
wohl  erst  wurde  Acakos,  der  sterbliche  Gehilfe  des  Apollou  und 
des   Poseidon    beim  Bau    der   Mauer   Troias   (II.  7,   452),    und 


155)  Sengebusch  in  N.Jalirb.  f.  Philol.  Und.  LXVII.  II.  4.  S.  410.  Ark- 
linos'  Bliilhc  Ol.  1,  2  :::=  775  v.  Chr.  Lcsclies  Ol.  30,  3  :=  G58  v.  Chr. 
Aber  auf  des  Lcsches  Wahl  des  Sloircs  konnten  die  Kypria  nur  Einlluss 
haben,  wenn  er  die  einheitliche  ßeschaircnheit,  welche  bei  dem  scinigen 
jedenfalls  grösser  war,  nicht  in  Anschlag  ])rachtc.  Sie  und  der  äolisclie 
llcld  Odysseus  cn)pfalden  ihm,  dem  Lcsl)icr,  den  gewählten  SlofT  mehr. 


247 

uiirdeii  seine  Söhne  Telanion  und  rdeiis,  die  Kampfgenossen 
des  Herakles,  so  dass  nachmals  Pindar  diese  neueren  Sagen  zu 
der  Angahe  zusamnienlassen  konnte,  Apoll  habe  schon  heim 
Bau  verkündet:  es  bürden  die  Aeakiden  vier  Geschlechter  hin- 
durch für  Troia  entscheidend  sein.*^*) 

Aber  überhaupt  kann  die  Reibe  der  Bedingungen,  an  welche 
die  Einnahme  Troias  vom  Schicksal  gebunden  heisst,  nicht  auf 
Einmal  und  nicht  auf  Einem  Stamme  erwachsen  sein.  Vom  Triebe 
der  Heraklessage,  den  Cid  der  Griechen  zu  verherrlichen,  kam  die 
eine,  von  wachsendem  Ruhm  der  Aeakiden-  oder  der  Achillssage  die 
andere  Anregung,  dazu  die  dritte  vom  Heilspfande  Troias,  dem 
Pallasbilde.  Dies  Letztere  ist  ein  Glaubensartikel  der  Griechen, 
welcher  erst  nachbomerischer  Zeit  angehört, '^^)  aber  doch  auch 
als  ein  für  sich  entstandenes  Moment  der  Eroberung  zu  betrachten 
ist.  Die  ersleren  beiden  nun  in  ihrer  Verbindung  scheinen  einem 
so  zu  sagen  symbolischen  Gedanken  anzugehören,  Herakles  und 
Achill  stellen  als  die  Spitzen  der  griechischen  Heroen,  die  Sieges- 
maclit  des  Griecbenvolks  dar.  Dies  scheinen  beider  Waffen  als 
die  Troia  erobernden  zu  bedeuten.  Doch  wie  die  eine  Sage 
(vom  Heraklesbogen)  immer  früher  für  sich  vorhanden  sein 
konnte,  so  dürfte  das  Wissen  von  diesen  Schicksalsbestimmungen 
wohl  auch  dem  griechischen  Seher  beigemessen  worden  sein. 

Ein  Anderes  war  es  mit  der  Sage  vom  Palladion,  dem  Heils- 
pfande Troias.  Um  dieses  als  solches  zu  kennen,  bedurfte  es  ohne 
Frage  einer  einheimischen  höherstehenden  Person,  und  um  es  in 
der  Feinde  Gewalt  zu  bringen,  des  Verralhs.  Dies  also  eigentlich 
erst  war  ein  Gebeimniss,  welches  von  Helenos  zu  erfahren  stand. 
Wir  finden  nun  sowohl  über  die  Art,  wie  die  Belagerer  sich  des 
Helenos  bemächtigten,  unterschiedene  Sagen  als  über  den  Verrath, 
der    dem   Odysseus   und   Diomedes    das  Palladion   verschaffte.'^') 


156)  Ol.  8.  45  Aeakos.  Tclamon  iiiul  Pcleus,  Achill,  Neuplülciuüs. 

157)  Lobeck  Aglaopli.  304.  l'io;}.  1205.  über  den  mystischen  (ilnuhon 
an  llcilsiifändcr. 

158)  Enlwciiilol  wird  es  llicils  durch  ilolcna's  I)al(l  nidierc  bald  cnl- 
ferntcM'«  Milwirkiiiig,  llioils  ihircli  den  (IiiccIiciifioiiiKl  Aiilcnor  nnd  soine 
(lallin  Tlicano,  die  l'iieslcrin  der  l'allas  Allioiic  (11.  Ü,  208— 300).  Wclckor 
Oycl.  II,  241.  Gr.  Trag.  110 If.  Die  KiinsU.ilder  in  Uvcrhceks  Calleric  578 
bis  607,  besonders  581—583.  Aber  die  Anweisung  gab  aucli  ilclonos: 
Konen  34. 


248 

Eben  so  verschiedene  giebt  es  noch  über  das  Palladion  selbst, 
je  nachdem  Aeneas  ^vährend  der  Eroberung  nach  Dardania  ent- 
Aveicht  und  mit  dem  geretteten  echten  Palladion  dort  eine  Herr- 
schaft der  Aeneaden  stiftet,  oder  zuletzt  mit  Neoptolemos  abschifft. 
Wie  in  der  letzteren  Fassung  aller  Anlass  fehlt,  ein  echtes  und  un- 
echtes Palladion  zu  unterscheiden,  so  heissen  Odysseus  und  Dio- 
medes  gemeinhin  ohne  Weiteres  die  Entführer  desselben.'^'') 

Nach  den  dargelegten  Anzeichen  oder  sich  ergebenden  Fol- 
gerungen in  Betreff  der  Uebereinstimmung  oder  Verschiedenheit 
der  beiden  Epopöen  von  der  Zerstörung  Troias  stellen  wiv  uns 
den  Gang  derselben  muthmaasslich  folgendermaassen  vor: 

22.  Die  Persis  des  Arktinos.*^") 
Der  kurz  nach  einander  erfolgte  Tod  der  beiden  grössten 
Helden  und  besonders  der  so  unerwartete  des  Aias  hat  das  Grie- 
chenheer lief  bewegt.  Wie  grosse  Unfälle  über  den  Verlust  hinaus 
als  böse  Vorzeichen  wirkten,  hat  die  Gemüther  die  Verzagtheit 
befallen ,  als  wäre  die  Einnahme  Troias  und  ein  sieghafter  Aus- 
gang nicht  mehr  möglich.  Vielleicht  äusserte  der  sanguinische 
Agamemnon  sogar  wieder,  wie  früher  einige  Male  (11.9,  27.  14,  80.), 
Neigung,  das  Unternehmen  aufzugeben,  dem  dann  der  immer 
kampfmuthige  Diomedes  heftig  entgegnete.  Jedenfalls  war  des 
Aias  Verdienst  jetzt  bei  Agamenmon,  dem  andere  Fürsten  beige- 
stimmt hatten,  zum  bittern  Vorwurf  wegen  ihrer  Entscheidung 
des  Waffenstreits  geworden.  Odysseus  empfand  seinen  Sieg  jetzt 
selbst  nahezu  wie  ein  Unrecht,  das  er  um  des  Ganzen  willen 
gut  zu  machen  habe.  Da  tritt  der  Seher  Kalchas  auf,  ruft  der  Ver- 
sammlung das  ehemalige  Vorzeichen  des  Siegs  im  zehnten  Jahre 
ins  Gedächtniss  und  bedeutet  sie:  solle  das  jetzige  böse  Zeichen 
zum  Heil  gewendet  werden,  so  müsse  der  natürliche  Erbe  der 
Waffen   des  Achill,   müsse   Neoptolemos  herbeigerufen,   ihm  die 

159)  Das  echte  und  uncclilc  nach  Arklinos  Dionys  von  Ilalik.  1,  69. 
und  Sophokles  das.  48.  Uehcrhaupt  Welcker  Cycl.  II,  181  — 184  und 
438  f.  Quinl.  13,  303  IT.  sagt  Nichts  vom  Palladion  beim  Auszuge  des 
Aeneas.  Die  einfache  Entführung  dessclhcn  gilt  in  den  Tempelsagen  der 
vielen  Slädlc,  deren  jede  sich  rülnnle,  das  Iroischc  zu  besitzen.  Heffler, 
Götlcrdienste  auf  Rhodos  S.  122  f.    Prcller,  Rom.  3Iylh.  265  und  622  f. 

160)  Vcrgl.  Welcker  Cycl.  II.  ISlfT.  „Der  Anfang  dieser  hdialtsangabe 
ist  sehr  abüebrochcn"  u.  s.  w. 


249 

goltbereitele  Wehr  eingehändigt  werden,  in  diesen  rechten  Hän- 
den werde  sie  zum  Siege  wirken.  Derselbe  griechische  Seher 
mag  gleich  jetzt  auch  an  Philoktet  erinnert  haben,  den  die  ver- 
zögernden Geschicke  Troias  bis  ins  zehnte  Jahr  ferngehalten,  der 
jetzt  aber  auch  herzuholen  sei.  Doch  zunächst  kommt  Odysscus 
dem  Ratlie  des  Ralchas  willig  entgegen,  und  erbietet  sich  die 
Waffen  Achills  dem  Sohne  abzutreten  und  so  ihn  von  Skyros  her- 
zm'ufen.  —  So  ward,  um  die  unheilvolle  Entscheidung  des  Waffen- 
gerichts zum  Segen  zu  wenden,  zuerst  der  Sohn  des  Achill  ge- 
rufen. —  Ob  den  Odysseus  Diomedes,  wie  bei  Quintus  oder  etwa 
Phönix  (wie  Soph.  Phil.  344.),  begleitet  habe,  ist  nicht  zu  ent- 
scheiden, doch  wahrscheinlich  Diomedes.  Neoptolemos,  eben  jetzt 
erst  im  geeigneten  Alter,  ist  sofort  bereit  und  vollends,  da  er 
den  Tod  des  Vaters  erfährt,  von  Rache  erfüllt.  Ein  Versuch  der 
Mutter,  der  Deidameia,  ihn  zurückzuhalten,  mochte  in  seiner  Ver- 
gebüchkeit  von  Arklinos  kurz,  von  Lesches  ausgeführter  erwähnt 
werden  wie  bei  Quintus  7.  Eine  Parallelerzählung  beschrieb 
hier  oder  nach  des  Neoptolemos  Ankunft  das  Eintreffen  des  schö- 
nen Eurypylos  (Od.  11.  552)  und  sein  Vordringen  an  der  Spitze 
seiner  Keteier  (Beiname  der  Myser*").  Neben  ihm  lebten  von 
den  II.  12,  93  — 103  verzeichneten  Iroischen  Anführern  noch 
jetzt  Paris,  Deiphobos,  Aeneas,  die  Söhne  des  alten  Antenor, 
Agenor  und  Archelochos,  auch  Ilelenos  und  auch  diese  mochten 
troische  Schaaren  führen.*^^)  Eurypylos,  der  Enkel  des  Herakles, 
erlegt  auf  seinem  Siegesgange  Viele,  darunter  den  schönen  Ni- 
reus  (II.  2,  671  —  673)  und  den  Arzt  Maciiaon.  Doch  der  andere 
Achill  war  ja  angelangt  und  hatte,  freudigst  bewillkommt,  zunächst 
das  Grab  seines  Vaters  besucht,  wo  ihm  vielleicht  das  Schatten- 
bild desselben  erschien.  Er  strebte  jetzt  ebenfalls  vor  und  that  wie 
Od.  11,  514  steht  „und  viel  Männer  erschlug  er  im  grässlichen 
Schlachtengetümmel",  bis  er  den  Eurypylos  fand  und  ihn  mit 
der  auch  ihm  handlichen  Lanze  Pelias  niederstiess.  —  In  allen 
Sagen  ist  dies  seine  llaupllhat  vor  dem  Eintritt  der  iMaassregeln 
der  List. 

Es  folgte  jetzt  nach  Geheiss  des  Kalchas,  das  entweder  schon 
vorher  oder  erst  hier  Ausgesprochene  (Quintus  9,  325),  die  Sen- 

161)  Welcker  Cycl.  IL  137. 

162)  Die  übrigen  waren  schon  in  der  Zeit  des  Zorns  gefallen. 


250 

dang  des  Odysseiis  iiiul  Diomedes  nach  Lemnos,  den  IMiiloktet 
mit  seinem  Dogen  herbeizuführen.  Die  Vorbeslinnnung  für  die- 
sen Bogen  war  für  Troia  eine  drohende,  für  die  Belagerer  eine 
verheissende,  und  dass  Arklinos  die  Kenntniss  und  Verkündigung 
derselben  dem  griecjjischen  Propheten  beigelegt  habe,  scheint 
wohl  anzunehmen.  Der  Spruch  zielte  auf  den  Urfrevler  Paris, 
den  Bogenschützen,  ihn  sollte  der  Gegner  gleicher  Waffe  mit 
dem  unfehlbaren  Pfeile  treffen;  denn  weiter  geschieht  durch 
Philoktet  durchaus  gar  nichts  Entscheidendes.  Nun  konnten 
zwar  die  Umstände  die  griechischen  Fürsten  von  selbst  an  Phi- 
loktet erinnern,  vornehmlich  den  Odysseus,  wenn  auf  seinen 
Bath  der  vom  Schlangenbiss  Verwundete  zurückgelassen  war  (U. 
2,  723).  Doch  dagegen  spricht  der  späte  Zeitpunkt,  im  selben 
zehnten  Jahr,  und  die  Betonung  des  altberühmten  Bogens,  da  doch 
das  Heer  I^ogenschützen  genug  hatte.  Diese  Umstände  weisen 
vielmehr  auf  einen  symbolischen  Sinn,  da  Herakles'  Waffe,  wie 
bemerkt,  die  Siegeskraft  der  Griechen  bedeutet,  und  endlich  geben 
des  Quintus  Angaben  Grund,  den  Schicksalsspruch  bei  Arklinos 
anzuerkennen.  Es  wurde  hier  wieder  Odysseus  mit  Diomedes 
gesandt,  wie  dieses  Paar  gewöhnlich  die  Aufträge  ausführt.  D(  ii 
Philoktet  zu  bewegen,  reichte  iu)  Epos  die  Mittheilung  des  Ora- 
kels und  die  Aussicht  auf  Heilung  fast  schon  hin;"'^)  zwei  so  edle 
Gesandte,  und  unter  ihnen  der  gewandle  Redner  Odysseus,  be- 
wogen ihn,  zu  folgen.  Philoktet  ward  bei  Arklinos,  wie  bei 
Quintus,  nicht  durch  3Iachaon,  sondern  durch  den  andern  Askle- 
piaden  Podaleirios  geheilt,  welcher  ausser  Wunden  in  andern 
Fällen  auch  innere  Uebel  zu  heilen  verstand.^") 


1G3)  Die  Tragiker  sehufeu  erst  die  Sohwicrigkoileu,  Scliiieidcwin 
Pliilol.  IV.  659. 

164)  Der  schroil'e  Unterschied  von  Wiindäizlon  und  iinicrn  ist  mo- 
dern. Die  Kunst  hat  seil  Homer  nun  auch  Kranklieilcn  behandeln  golornt. 
Das  Loh,  weleiies  die  Verse  des  Arklinos  dem  Podaleirios  heilej^en,  spricht 
üherhaupt  diesem  die  Behandlung  von  Wunden  darum  nicht  ah.  Sodann 
war  I'hiloktel  durch  einen  Schlangcnhiss,  nicht  durch  eine  Walle  verwun- 
det und  war  sein  Uchel  durch  die  lange  Zeit  vollends  ein  aussergewöhn- 
liches  geworden  (Quint.  9,  376  f.).  Am  Ende  der  Aclhiopis  erkannte  Poda- 
leirios vor  Andern  die  hedroldiclic  Gemülh.sbewegung  hei  Aias,  hier,  wo  es 
auch  nicht  der  leichten  Hand  nur  hednrfle,  lieillc  er  den  Philoktet,  und 
immer  bedurfte  es  einer  vom  Asklepios  seihst  den  Sühnen  hier  crhöhelcn 


Paris  hatte  nach  des  Euiypylos  Falle  mit  auderii  tioischen 
Führern  für  die  Rettung  der  Leiche  gekämpft:  Er,  der  vor  Allen 
Interessirte ,  der  den  Helfer  mit  besondern  Ehren  aufgenommen, 
ist  jetzt  auch  vor  Andern  ergrinnnt.  Wenn  vielleicht  Andere  ge- 
neigt sind,  vor  Neoptolcmos  sich  zurückzuziehn,  so  schweift  Paris 
mit  seinem  Ferngeschoss  ferner  undier  und  eine  verlockende  Göl- 
termacht treibt  ihn  seinem  Geschick  zu.  Doch  auch  Deiphohos 
und  Aeneas  und  Andere  überhören  noch  die  warnende  Stimme 
des  Polydamas. 

Es  ist  hier  Folgendes  anzuerkennen:  Liessen  Arktinos  und  Les- 
ches  den  Ilelenos  die  beiden  Weisungen  auf  Neoptolemos  und 
auf  Philoktet  zugleich  aussprechen,  und  ebenso  die  beiden  Ge- 
sandten nicht  zusammen,  sondern  wie  dort  den  Odysseus  nach  Sky- 
ros,  den  Diomedes  nach  Lemnos  gehn ;  so  erfolgten  dann  die  mög- 
lichen Tagesgeschichlen  leichter.  Auf  die  kürzere  Erzählung  von 
der  Ankunft  des  Neoptolcmos  und  von  seinem  Siege  über  Eury- 
pylos  folgte  die  von  dem  fast  gleichzeitigen  Eintreffen  und  der 
Heilung  des  Philoktet  und  der  Erlegung  des  Paris.  Wie  der 
Dichter  die  für  Philoktet  namentlich  erforderliche  Zeit  natürlich 
motivirt  habe,  lässt  sich  bei  allerlei  Möglichkeiten  (ein  Tag  zur 
Beerdigung  der  Todlen)  bestinnnter  nicht  sagen.  Dass  nach  den 
beiden  Siegen  über  den  letzten  Bundesgenossen  und  über  den 
Frevler  Paris  die  Troer  sich  ganz  zurückgezogen,  stand  in  jeder 
Erzählung,  und  zwar  hauptsächlich  als  Wirkung  des  Neoptolemos, 
und  geschah  jetzt. 

Bei  Arktinos,  wie  bei  Lcsches,  war  dies  der  Zeitpuidit, 
da  vom  Olymp  —  wohl  auf  des  Zeus  und  der  Here  jetzt  ein- 
sthnmiges  Geheiss  —  Athene  herabging  und  den  Epeios  zum 
Bau  des  hölzernen  Bosses  erweckte.  Ihr  lielrauter  Odysseus  be- 
waltet die  Ausführung  in  jeder  Sagengestalt,  möge  er  auch  den 
allgemeinen  Gedanken  solchen  V^crstecks  der  Helden  angege- 
ben, oder  nur  den  ganzen  Plan  der  Ueberlistung  vorgezeichnet 
haben.     Schon  in  Od.  22,  280  bezeichnet  Athene  selbst   ihn  als 


Wirkung.  Weil  der  eine  Dichlor  den  Miicliaon,  der  andere  den  Puilaleirios 
genannt  halte,  überhaupt  jeilenralis  i'ui  Askiepiadc  orfoidcrlicli  wai-,  nennen 
Sophokl.  Phil.  1333  und  Pliihtslr.  Heroika  fiO  in  der  Mclir/.ald  die  As- 
klepiadcn.  Also  ist  Quinlus  nicht  zu  tadeln.  Vgl.  Ovcrb.  (ialleric  S.  577 
Anmerk.  22. 


252 

den  Eroberer  diireli  List,  und  schon  das  Lied  des  Demodokos 
(s.  Buch  2.  §.  12.)  feierte  ihn  als  solchen. 

Bei  den  Troern  ward  nach  des  Paris  Tode  Helena  —  ein 
VVittMenstand  war  vollends  ihr  unter  den  Troern  unmöglich  — 
das  Weib  des  Deiphobos.*''^)  Aber  auch  Helen os  begehrte  sie, 
und  so  gilt  es,  hier  die  mehren  Sagen  zu  beachten,  welche  von 
dessen  Verbindung  mit  den  Belagerern  neben  der  frühzeitigen 
Gefangennehmung  durch  Odysseus  vorliegen.'^*)  Eben  weil  es  sich 
jetzt  erst  um  ein  Gchcinniiss  Troias  handelt,  ziehn  wir  jener  Wen- 
dung bei  Lesches  eine  von  diesen  vor.  Bei  kleinen  Verschieden- 
heiten herrscht  in  ihnen  im  Gegensatz  zu  jener  des  Lesches  die 
Angabe  des  Anlasses  und  Zeilpunktes,  dass,  nachdem  Helena  dem 
Deiphobos  zu  Theil  geworden,  Helenos  im  Zorn  Troia  verlassen 
habe.'")  Der  Grund  dazu  war  für  den  Seher  die  Erkenntniss 
und  Voraussicht  des  Götterzorns.  Die  eine  Sage  lässt  ihn  frei- 
willig geradezu  zu  den  Griechen  übergehn,  wie  er  nach- 
mals mit  Neoptolemos  nach  Griechenland  geht  (Euripides).  Unter 
zwei  Schattirungen  der  andern  von  seiner  Gefangennehmung 
empfiehlt  sich  die  zweite  als  die  klarere.  Er  geht  nach  der 
einen  zum  Ida,  und  wird  da  auf  des  Kalchas  Anregung  gefangen, 
nach  der  andern  begiebt  er  sich  in  den  Tempel  seines  Gottes 
ApoUon,  und  dessen  Priester  Chryses  (II.  1.)  unterrichtet  die  Be- 
lagerer hiervon.  Sie  senden  den  Diomedes  und  Odysseus;  diese 
bemächtigen  sich  seiner  und  so  hier  erst  gefangen,  offenbart  er, 
was  der  griechische  Seher  nicht  wissen  konnte,  vom  Heilspfand 
dem  Pallad ion  Troias. 

Dieses  Geheimniss  verrieth  bei  Lesches  die  Helena  dem  in 
V^erkleidung  als  Kundschafter  in  die  Stadt  geschlichenen  Odys- 
seus.    Mittels   dieses  Spähergangs,  der   allerdings   in  Odyssee  4, 


1G5)  Möglich,  dass  einer  der  beiden  Epiker  jetzt  die  Helena  erst  die 
Fluclil  vcrsuclR'ii  licss,  wie  sie  bei  Eur.  Troer.  055  selbst  aiigielit. 

J60)  llealencycl.  d.All.  3.  1097.  Jacobi's  Handwörlorb.  d.iMylliol.  376. 

1G7)  <Juint.  X.  344 — 360.  Die  Stelle  kündigt  Künfliges  an,  was  der 
Dichter  nachmals  an  seinem  Orte  nicht  ausgedichtet  hat.  Köcldy  Pro- 
leg. XXXI f.  Die  Worte  geben  die  Ursache  des  Zorns  dunkel  au:  wegen 
des  Weibes.  Wenn  damit  gemeint  ist,  weil  mau  sie  ibm  versagte,  dann 
hat  Quint.  scldecliler  als  Tryphiod.  45  verstanden.  S.  dazu  Kouon  34. 
Ddvtys  4 ,  18. 


253 

242  fl".  schon  erzählt  ward,  eignete  Lesches  das  Verdienst  auch 
dieser  Entdeckung  seinem  Helden  zu.  Arktinos  nicht  so;  da  er 
höchst  wahrscheinlich  nach  der  andern  Sage  den  erst  später 
gefangenen  Helenos  es  dem  Heere  niittheilcn  Hess.  Doch  Dio- 
medes  und  Odysseus  unternahmen  in  heiden  Berichten  das  Ahen- 
teuer  und  der  Verrath  der  Antenoriden '^®)  verhalf  hier  ^^i•'  dort 
zu  dem  Rauhe.  Der  Hergang,  durch  den  die  beiden  Rauher  liei 
Lesches  das  verborgene  echte,  bei  Arktinos  das  unechte,  das 
im  Tempel  aufgestellte,  gewannen,  musste  ein  verschiedener  sein. 
Nach  ihrer  Rückkunft  werden  nach  des  Odysseus  Weisung 
die  Maassregeln  auf  den  nächtlichen  Ueberfall  genommen;  es 
steigen  die  Tüchtigsten  in  bedeutender  Zahl  in  das  hölzerne 
Ross,  sowohl  die  von  Homer  genannten,  als  auch  noch  andere.'"^) 
Man  verbrennt  die  Zelte  und  das  übrige  Heer,  wohl  unter  Aga- 
memnons  und  des  allen  Nestor  Führung,  schifft,  als  sei  das  ganze 
Unternehmen  aufgegeben,  ab,  landet  aber  an  der  nahen  Insel 
Tenedos.  Der  Grieche  Sinon  wird  zurückgelassen,  ebenfalls 
nach  Odysseus  Plan,  auf  Verstellung  und  täuschende  Angaben 
gehörig  instruirt."")  Als  die  Troer  beim  freudigen  Herausströmen 
auf  das  verlassene  Schlachtfeld  das  Ross  anstaunen,  weiss  Sinon 
ihnen  die  Meinung  einzureden,  es  sei  als  Sühnegeschenk  der 
erzürnten  Athene  gebaut,  und  so  hoch,  damit  es  nicht  durch 
das  Thor  in  die  Stadt  gebracht  werden  könne.  Sie  also,  wähnend 
von  dem  Uebel  befreit  zu  sein,  nehmen  das  hölzerne  Ross  in  die 


168)  Wie  Dionys  v.  Ilalik.  1.  40.  „Nachdem  Ilion  von  den  Acliäorn 
erobert  w;ir,  sei  es  durch  den  Trug  des  luilzerncn  Rosscs,  wie  von  Homer 
erzählt  wird,  oder  durch  den  Verralh  der  Anlenoriden,  oder  sonst  wie". 

109)  Bei  Homer  finden  wir  nur  Neoptolenios,  Dioniedes,  Menefaos 
und  Odysseus  genannt,  Od.  4,  271 — 280;  11,  523.  Kein  älterer  Ejtilier, 
auch  Stesiclioros  nicht  in  seiner  lyrisch-episclien  Zerstörung  Troias,  fiallc 
sie  volfständig  noch  auch  nur  in  grösserer  Anzald  verzeichnet.  Atlien. 
13,  610 C.  Die  späteren  Dichter  waren  erst  beflissen,  des  Homer  „lauter 
Beste"  wenigstens  in  reiclierer  Zaiil  einzeln  aufzufüliren.  Quinlus  zäldl, 
12,  314  fr.,  mit  einem  ,,und  Andere  melir"  29  auf,  meistens  die  aus  iler 
Dias  licliannlen  Anfülirer,  von  Neuem  die  erst  bei  ArlUinos  und  Lesriies 
ersclieinenden  Söline  des  Tlieseus  (328f.)  und  den  Anlildos,  den  Homer 
nicht  anders  nennt  als  in  der  inlerpolirten  Dnppeifnini  (Id.  1,  2S.jf. 
S.  Pliitol.  4,  170 f.  Andere  Verzeichnisse  vergleiclil  Slruve  de  argumenlo 
carm.  epic.  rer.  iliac.  11.  25  f. 

170)  Virgil.  Aen.  2,  78,  bes.  182fr.    Ouint.  12,  243fr. 


254 

Stadt  auf,  indem  sie  einen  Tiieil  der  Mauer  ^vegTeissen.  (Schon 
nach  dem  Liede  des  Demodokos,  Od.  8,  504.,  zogen  sie  das  Weih- 
geschenk, was  das  Ross  nach  Sinons  schlauer  Angahe  sein  sollte, 
zur  Burg  empor.'^')  Das  haben  sie  in  erster  Aufregung  und  wohl 
von  Athene  dazu  hethört  gethan. 

liier  schliesst  sich  an  das  muthmasslich  Ermittelte  der  Theil 
an,  dessen  Inhalt  als  in  den  Cyclus  aufgenommen  aus  Proklns 
gegeben  ist;  dies  freilich  ohne  alle  Rücksicht  auf  Beseelung  und 
poetische  Molivirung  überhaupt. 

Dort  auf  der  Höhe  erst  erheben  sich  Zweifel  über  das  Ross. 
Der  Sache  nicht  trauend,  umstehen  es  die  Troer  und  berathen, 
\Aas  zu  thun  sei.  Die  Eilten  stimmen  dafür,  es  den  Abhang  hin- 
abzustürzen, die  Andern  es  zu  verbrennen,  die  aber  sagten,  als 
Ileiligthum  müsse  man  es  der  Athene  zum  Weihgeschenk  auf- 
stellen, und  am  Ende  siegt  diese  dritte  Meinung  (wie  auch  Od. 
8,  509  f.).  Darauf  zur  Fröhlichkeit  sich  wendend,  halten  sie  fest- 
liche Schmause  als  befreit  vom  Kriege.  Hier  kann  man  die 
Rassandra  erwarten,  wie  sie  bei  Virgil  2,  245  und  Qnintus  12, 
525.  ihre  von  Niemand  anerkannte  Mahnung  hören  lässt.  Wenn 
nach  der  ilischen  Tafel  Nr.  90  sie  bei  Lesches  erschien ,  hat 
doch  Arktinos  sie  wahrscheinlich  ebenso  wie  Homer  noch  nicht  als 
begeisterte  Seherin  gekannt,  wenn  sie  auch  in  den  Kyprien  als 
solche  auftrat;  sonst  würde  der  Inhalt  sie  hier  nicht  unerwähnt 
lassen."^)  Es  folgt,  als  jene  dritte  Meinung  schon  vorwaltet,  das 
Wunderzeichen  am  Priester  Laokoon.  Niemand  sonst  hat  nach 
Arktinos  zum  sichersten  Mittel,  das  Innere  des  Bosses  zu  erfor- 
schen ,    zur  Durchbohnmg   mit   einer  Lanze   gerathen  —  Od.  8, 


171)  Weil  Odysseus  dies  angestiftet  hat,  lieisst  es  Otl.  8,  494  vom 
Ross,  „das  vordem  zu  der  I5iirij  durch  IJelrug  liinfüliile  Odysseus". 
Las  man  stall  des  Ablativ  den  Accnsaliv  öoXov ,  im  Verse  zum  Holrug, 
wörtlich  als  Mittel  des  Betrugs ;  immer  scheint  ein  Sinon  anzunclnnen  zu 
sein,  der  den  schlauen  Gedanken  bei  den  Troern  geltend  niaciite.  Bei 
Virgil  ereignete  sich  das  Geschick  des  Laokoon  schon  frölier,  noch  ausser- 
halb der  Mauern,  und  das  Wunderzeichen  wirkt  hei  den  Troern  gerade 
dazu,  dass  sie  nun  das  unhoilschwangre  Ross  durch  die  Mauerlückc  in 
die  Stadt  zichn.  Aber  wie  in  Od.  8  dort  die  Rurg  zweimal  ausdiürklicli 
gonannl  ist,  besagt  der  Ausdruck  y.aTay.Qijiivioai ,  den  Ahliaiig,  von  lU'i' 
liiilie  hinabstürzen,  für  Arkliuos  dasselbe. 

172)  11.  1,3,  3fiÜ.    24,  6i)t1. 


255 

506  —  Laokoon  ruft  dazu  auf  und  lliut  so;  da  kommen  durchs 
Meer  von  Tenedos  oder  von  dem  danebenliegenden  Inselclien 
Ralydnä  (Bacchylides  fr,  32)  z\vei  Drachen  (von  Athene  oder 
Apollon  erregt),  und  tödten  umschlingend  ihn  und  den  einen  seiner 
Söhne. '")  —  So  Avehrten  die  strafenden  Mächte  die  Entdeckung 
der  List.  —  Bei  diesem  drohenden  Zeichen  entweicht  Aeneas 
(wie  oben  besprochen)  nach  dem  Ida  mit  dem  echten  Palladion, 
auch  seinen  Vater  rettend.*")  In  diesem  Zeitpunkt  nur  hatte 
die  Scene  eintreten  können,  da  Helena,  wie  Menelaos,  Od.  4,  274 
bis  279  erzählt,  zum  Rosse  kam  und  die  verborgenen  Helden  zu 
verlocken  suchte,  sich  zu  verlautbaren.  Aber  nur  Lesches  nahm  die 
Scene  auf  (Welcker  Cycl.  2,  244  f.),  dessen  Sinn  sie  sehr  zusagte. 
Der  verschmitzte  Sinon  ist  schon  alsbald  in  die  Stadt  einge- 
lassen. Die  Troer  sind  nach  ihrem  Schmausen  und  Zechen,  wo- 
bei wohl  ein  besonders  Kecker  über  das  eitle  Unternehmen  der 
Griechen  höhnende  Worte  gesprochen,  erhitzt  zur  Ruhe  gegangen. 
In  der  Nacht,  da  sie  alle  im  Schlafe  liegen,  giebt  Sinon  nach 
der  V^erabredung  den  Achäern  das  Zeichen,  denen  in  Tenedos 
durch  Fackeln,  denen  im  Rosse  durch  Zuruf;  worauf  die  Ilerbei- 
geschifften  und  die  aus  dem  Rosse  Herausgestiegenen  über  die 
Feinde  herfallen  und  so  in  der  Stadt  umher  Viele  tödtend  duirh 
Gewalt  Troia  einnehmen.  Von  einzelnen  Scenen  sind  nur  die 
bedeutendsten  aus  Proklos  gegeben:  Menelaos  allein  (oder  mit 
Odysseus?)  eilt  zum  Hause  des  Deiphobos,  überwältigt  ihn  und 
führt  die  Helena  nach  freundlichem  Wiedersehn  zu  seinem  Schilfe. 
IN'coptolemos  stürmt  zum  Pallast  des  Priamos  und  mordet  diesen, 


173)  Die  Geschichle  des  hcrüiinUen  Kunstwerks  der  ims  erhaltenen 
(Irupite  des  Laokoon  —  Plin.  366,  37  —  gescliiclitlicii  und  kiinslleiiseli 
besprochen,  Ijcs.  von  Overbcck,  Gesch.  der  Plasjik  2,  162 — 183,  zeigt  wie 
mehre  Dichter,  auch  den  andern  Sohn  in  die  Vcrsclilingung  vernochlen, 
aber  weniger  tödllich.  Von  griechischen  Dichtern  hatte  nach  dem  An- 
zeiclien  hei  Arislol.  Poet.  23  a.  E.,  wo  sonst  Laokoon  genannt  sein  würde, 
Lesches  diesen  niclit,  Daccliylides  din  in  für  uns  dunkler  Weise  erwiiliiil, 
aher  Sopliokles  in  seiner  Tragödie  Laokoon  den  Gegenstand  nach  Aik- 
linos  vollständiger  dargestellt.  Mit  vielen  eigenlinunJichen  Wendungen 
liciiclitet  Ouinlus  12,  391.  444  u.  a.  den  Hergang. 

174}  Der  fromme  Aeneas  der  virgihschen  Aeneide  hat  diesen  Hulim 
s(;h()n  allersher  nach  dem  Verzcichniss  der  sichenden  llerocncliaraklere 
hei  Xenophon  von  der  Jagd  1,  15  und  elten  durch  jene  Heilung  des  lieilig- 
Ihuiiis  und  des  Vaters  hat  er  dieses  Beiwort  zuerst  i^ewonnen. 


256 

der  sicli  zum  Altar  des  Haus  und  Hof  schützenden  Zeus  [sQxsiog) 
geflüchtet  liat.  In  Bctrefl"  des  Hauses  Hektors  bewhkt  Odysseus 
durch  die  Mahnung:  Rindisch  ist,  wer  den  Vater  ersclilug, 
und  die  Söhne  znrücklässt,  den  Tod  des  Astyanax  —  ob  er. 
Hektors  Sohn  seihst  vom  Thurmc  warf,  ist  nicht  zu  entscheiden;"^) 
die  Mutter  Andromache  führt  Avohl  Neoptolenios  ah  und  erhält 
sie  nachmals  als  Ehrentheil.  Die  Söhne  dos  ^''eseus  Demophoon 
und  Akamas  finden  ihre  Grossmutter  Aethra  (II.  3,  144)  und  Aga- 
memnon üherlässt  sie  ihnen.  "^)  Auf  die  Heimkehr  hin  wirkt  ein 
arger  Frevel  des  lokrischen  Aias  und  dass  die  Anführer  ihn  nicht 
strafen.  Die  Kassandra  hat  sich  zum  Bilde  der  Athene  geflüchtet 
und  umfasst  dieses,  er  reisst  sie  mit  Gewalt  sammt  dem  Bilde 
von  ihrem  Schutzort  weg.  Darüber  entrüstet  wollen  die  Grie- 
chen den  Aias  steinigen,  das  gewöhnliche  Volksgericht.  Er  flüch- 
tet sich  zum  Altar  der  Göttin  selbst  und  rettet  sich  so  aus  der 
ihn  bedrängenden  Gefahr  in  soweit  als  die  Zürnenden  ihn  da 
nicht  wegreissen.  Dass  er  aber  von  den  Fürsten  nicht  bestraft 
wird,  giebt  eben  der  Göttin  Ursache  dem  ganzen  Heere  zu  zür- 
nen. Die  Griechen  rüsten '")  sich  nun  zur  Abfahrt,  aber  Athene 
bereitet  ihnen  Verderben  auf  ihrer  Seefahrt.  (Dies  musste 
im  Gedicht  durch  Klage  bei  Zeus  und  mit  seiner  Bewilligung 
geschehn,  wie  es  denn  Quintus  gar  ausfühlich  angiebt.)  In  des  Ark- 
tinos  Versen  folgte  hierauf  noch  nach  der  ganz  summarischen  In- 
haltsangabe dieses:"*)  Da  (vorher)  Odysseus  dem  Astyanax  den 
Tod  bewirkt  hat,  erhält  Neoptolenios  die  Andromache  als  Ehren- 
geschenk,  die  übrige  Beute  wird    vertheilt.  "*)     Demophoon  und 


175)  Weickcr  Kl.  Schrift.  1 ,  358. 

170)  S.  olien  die  Lieder  von  Theseus  und  die  Fehde  der  Dioskuren 
gegen  Anika.  ^ 

177)  Nicht  kann  Proklos  gesagt  haben :  schiffen  ab,  wenn  die  Folge 
seiner  Sätze  die  richtige  sein  soll,  sondern  etwa,  den  AhschilTonden  he- 
reilet u.  s.  w^    Vgl.  Welcker  Cycl.  11.  185  f. 

178)  Quintus  mit  vieler  Beimischung  14,  419  (T.  Was  die  nöllin  mit 
Genehmigung  des  Zeus  nun  erwirkte,  als  die  wirkliche  Abralirt  erfolgen 
sollte  und  erfolgte,  das  gab  der  (^yclus  stall  nach  Arkliiios  durch  den 
Anfangslheil  der  Epopöe  des  Agias  und  damit  ausführlicher. 

170)  Ganz  irrig  Slicldo  Philol.8. 69,  „nach  Arklinos  (s.  Exe.  ausProkl.) 
tlieillen  Neoptolenios  und  Odysseus  nach  der  Rückkehr  von  Troia  die 
daselhst  gemachte  Beute  in  Griechenland.  Weder  diese  verlheilen, 
noch  irgend  sonst  .Jemand  erst  in  Giieclienland. 


257 

Akamas  nehmen  die  Aethra  mit  sich.  Darauf  zünden  sie  die 
Stadt  an  und  schlachten  (Ncoptolcmos  nach  dem  Verlangen  des 
ihm  erschienenen  Vaters)  die  Polyxena  aul  Achills  Grabe.  Bricht 
der  Inhalt  hier  ah ,  so  war  der  Schluss  des  Gedichts,  welches 
die  Wirkung  jenes  verschuldeten  Zorns  jcdenlalls  noch  gegeben 
hat,  wahrscheinlich  der  Sturm  hei  den  kaphareischen  Felsen.'*^") 
So  hatte  die  zweite  Epopöe  des  ernsten  Arktinos  gleich  der 
Aelhiopis  einen  tragischen  Ausgang,  die  eine  den  tragischen  Tod 
des  Aias,   die  andere  die  tragische  Heimkehr  der  Sieger  Troias. 

23.    Die   Kleine    II las    des   Lesches. 

In  wesentlich  anderem  Geist  und  besonders  entgegengesetz- 
ter Gemüthsart  gestaltete  der  so  viel  jüngere  Lesches  den  Stoff 
der  Einnahme  Troias.  Er  mass  nach  seiner  Weltansicht  auch 
solche  Ereignisse  doch  zunächst  der  Thätigkeit  und  den  Erfolgen 
ausgezeichneter  Menschen  bei  und  hatte  am  schlauen  Odysseus 
sein  eigenstes  Wohlgefallen.  Er  erscheint  dabei  wie  Euripidcs 
gegenüber  dem  Aeschylos  ganz  vorzüglich  gestimmt  und  geschickt, 
Leidenschaften  zu  schildern  und  überlieferte  Motiven  in  diesem 
Sinne  zu  benutzen  und  umzuformen.  Was  den  hiermit  bezeich- 
neten Geist  und  Sinn  an  sich  trägt,  mag  hier  aus  seiner  Kleinen 
Ilias  hervorgehoben  werden. 

Nach  jener  seiner  Weltansicht  und  seinem  Wohlgefallen  am 
listenreichen  Odysscus  zog  er  erstens,  um  diesen  zur  vollen  wirk- 
lichen Hauptperson  zu  gestallen,  das  Waffengericbt  zur  Darstellung 
des  Untergangs  Troias.  Um  damit  seinen  Helden  um  so  mehr  gleich 
Eingangs  zu  verherrlichen ,  wurde  die  Entscheidung  für  den 
Listenreichen  erstlich  statt  durch  Befragung  Gefangener  mittels 
einer  lebensvollen  Scene  herbeigeführt.  Sie  ist  uns  zum  Theil  in 
ihren  Versen  erhalten,  da  auf  Nestors  Bath  Horcher  unter  die 
Mauern  der  Stadt  geschickt  werden.  Von  Athene  angeregt  las- 
sen da  zwei  Jungfraun  ihre  verschiedene  Meinung  über  Odysscus 
und  Aias  hören.     Die  Eine  macht  für  Aias  geltend: 


180)  Die  Noslcn  crziihllcn  dies  olioiif.ills,  und  der  epische  Cyclus 
gab  es  allein  aus  diesen.  Aber  or  llioillc,  wie  er  Jedes  nur  einmal  ent- 
hielt, liier  die  Erzählung  von  doni  Verfahren  der  erzürnten  Athene  in  der 
Art,  dass  die  vorbereitende  Maasregel  in  den  Versen  dos  Arklinos,  die 
Ansführnng  in  denen  des  Agias  erfolgte. 

Nilzsch,  Gesch.  il.  gricch.  Eiios,  17 


258 

Aias  ja  liob  auf  und  entriss  aus  des  Kampfes  Gedränge 
Hin  den  Peleiden  und  nicht  vermocht'  es  der  edle  Odysseus. 

Die  Andere  widerspracli  durch  Atliene's  Vorsorge: 

Wie  doch  soll  ich  erwidern,  wie  sprachst  du  so  wider  die  Ordnung 
Unwahr ! 

und : 

Auch  wohl  ein  Weih  mag  tragen  die  Last,  wenn  ein  Mann  sie  ihr  auflegt, 
Doch  nicht  kämpfen  im  Streit. 

Hierzu  neuerte  Lasches  das  Andere;  er  mochte  seinen  Odys- 
seus nicht  hehen  ohne  den  Aias  als  verächtlich  und  verachtet 
darzustellen:  statt  im  edlen  Groll  erschien  er  im  Wahnsinn, 
mordete  wüthend  die  Heerden  der  Achäer  und  tödtete  dann  sich 
seihst.  Darauf  wurde  seine  Leiche  auf  Geheiss  des  Agamemnon 
aus  Zorn  nicht  nach  der  Gewohnheit  verbrannt,  sondern  so  bios 
in  einer  Todtenkiste,  einem  Sarge  begraben,  —  Das  aus  Zorn 
bezeichnet  deutlich  dies  als  minder  ehrenvolle  Beslattung,^^') 

Nach  diesem  Eingange  machte  Lesches  den  zur  Hanptperson 
geschmückten  Sieger  sofort  durch  den  schlau  vollzogenen  P'ang 
des  Helenos  (Soph.  Phil,  606,  bei  Nacht  ausgehend,  er  aliein)  zum 
Entdecker  der  Schicksalsbestimmungen ,  welche  die  Erfordernisse 
zur  Eroberung  von  Seiten  der  Griechen  angaben.  Vor  dem 
Fürstenrath  vereinbarte  er  mit  Diomedes  die  Ausführung  der 
beiden  Weisungen  des  Sehers,  Nachdem  zunächst  Philoktet  mit 
seinem  Bogen  durch  Diomedes  herbeigeholt  und  Paris  gefallen 
ist,  misshandelt  in  dieser  Erzählung  Menelaos  die  Leiche,  Da  die 
Sitte ,  die  Leichen  auszuliefern  in  dieses  Dichters  Zeit  bereits  zur 
Geltung  gekommen,  dürfte  dies  als  eine  leidenschaftliche  Wild- 
heit zu  deuten  sein,  die  dem  Charakter  des  Menelaos  eigentlich 
fremd,  dem  Räuber  Paris  gegenüber  noch  am  ersten  denkbar  war. 

Lesches  hat  den  Odysseus  zu  dem  Orakel  von  Herakles  Waffe 
auch  das  jüngere  von  den  Waffen  des  Achill  vernehmen  lassen 
—  wie  für  sich  entstandene  Sagen  nachmals  mehrfach  von  Dich- 

181)  Der  neben  der  Verbrennung  übliche  Brauch  kann  also  hier  nicht 
in  Retraclil  konnnen,  noch  dass  das  Wort  aoQog  auch  die  Aschenurne  he- 
dculete,  gerade  wie  im  Epos  11.23,  91,  Bei  Sopli.  Ai.  11(35  ist  KaTterog 
nur  die  Grube,  die  der  ("bor  schnell  zu  bereiten  räth,  und  auch  das,  1403 
das  Graben  derseiben  nur  Vurbereilung  der  wirklichen  Bestattung,  welche 
in  diesem  Drama  nicht  selbst  erfolgt,  sondern  mir  in  sicherer  Erwartung 
voriianden  ist. 


259 

ter  ziisammengereilil  wurden  —  und  mit  willigster  Beflissen- 
heit hat  Odysseus  selbst  dieses  andere  zur  Geltung  gebracht. 
Von  der  geheimsten  Bedingung  der  Erolierung,  dem  Palladion, 
hat  der  Gefangene  aber  Nichts  verrathen.  Jenes  Geheimniss 
mnsste  eben  verrathen  oder  unwillkiniich  ofl'enbar  werden,  und 
Lesches  mochte  seinen  Erfindsamen  lieber  durch  eine  neue  List 
sich  dessen  bemeistern  lassen.  Die  bisherige  Sage  war,  dass 
die  Kunde  vom  Palladion  den  Griechen  allerdings  von  Ilelcnos 
her  bekannt  geworden  war,  aber  indem  dieser  in  ganz  anderer 
Weise  und  erst  nach  dem  Tode  des  Paris  mit  den  Belagerern  in 
Verkehr  gekommen.  Sie  war  durch  die  Umdichtung  in  den  schon 
früheren  Fang  des  troischen  Sehers  für  Lesches  ganz  unbrauch- 
bar geworden.  Nachdem  des  Herakles  Bogen  und  die  Lanze 
des  Achill  das  Ihre  geleistet  haben,  erfolgte  in  natürlichster 
Weise  die  völlige  Einschliessnng  der  Stadt.  Sie  brachte  schon 
nach  allgemeiner  Ueberlieferung  dem  Odysseus  den  mächtigsten 
Beiz  zur  Erfindsamkeit.  Durch  seine  Listen  und  seiner  olympi- 
schen Freundin  eigenste  Mitwirkung  hiess  Troia  erobert,  er 
vorzugsweise  der  Eroberer  (Od.  22,  230.  1,  2).  Die  unpoetische 
Inhaltsangabe  der  Kleinen  Ilias  besagt  nach:  „Die  Troer  werden  be- 
lagert" nur:  „und  Epeios  bereitet  nach  Athcne's  Aufgabe  das  höl- 
zerne Boss,  Odyssens  aber  kommt  als  Kundschafter  nach  Ilion".  — 
Dem  Epeios  musste  freilich  eben  die  Göttin  seine  Geschicklich- 
keit verleihn,  aber  dem  Odysseus  selbst  wird  dieser  Dichter  ver- 
muthlich  die  Erfindung  des  ganzen  Plans  zugetheilt  haben.  Das 
Verhaltniss  zwischen  dem  Vermögen  des  Menschengeistes  und 
dem  göttlichen  Einfluss  artet  sich  überhaupt  wohl  als  eine  eben 
nm-  potenzirte  Menschenkraft,  dies  nach  dem  Grade  des  Genies 
mehr  oder  weniger  z.  B.  beim  Dichter;'"^)  doch  in  Fällen  wie 
dem  Verhaltniss  des  Odysseus  zur  Athene  steigert  es  sich  mehr 
zum  Wohlgefallen  des  Gottes  an  dem  Menschen  als  zum  Bei- 
stände, ja  zur  lebhaftesten  Anerkennung  des  gleichen  Wesens.'"') 

182)  Find.  Ol.  7,  7.  nennt  sein  Lied  in  Einem  Zuge  Gabe  der  Muson 
und  des  Geistes  sijsse  Frucht,  indem  der  einmal  bogabtc  Geist  diese  bringt. 

—  Der  seclisjährige  Achill  wird  Nem.  3,  43  =  75(1'.  von  Athene  und  Ar- 
temis bewundert. 

183)  AlheneOd.  13,  2<»1  (f.  330fr.  Dalicr  die  VcMlrnulichkoil  dcrAlIicne 
mit  Odysseus,  der  nurdio  zwischen  Aitlirodile  und  Helena  f^lciclil,  11.3,  405(1. 

—  Odysseus  giebl  den  ganzen  Plan  an  liei  Qui'il-  25  —  45.  224 — 252. 

n* 


260 

Lesches  also  benutzte  eifrig,  was  nur  immer  von  Odysseus  damaligen 
Listen  und  Schlichen  erzählt  war.  So  jenen  Gang  in  die  Stadt 
nach  Od.  4,  244  IT.,  da  er  verkleidet  nur  von  Helena  erkannt  wird, 
ihr  den  Plan  der  Achäer  niittheilt  und  mit  ihr  —  nach  dem 
Proklos  —  über  die  Einnahme  der  Stadt  Verabredung  trifft.  Da- 
durch wurde  dieser  Spähergang  zum  integrirenden  Theil  der 
Handlung,  blieb  nicht  Episode."^^) 

Diesem  Gange  folgte  bei  Lesches  der  andere  mit  Diome- 
des  nach  dem  Palladion ,  von  dem  die  Zeit  vor  Arktinos  noch 
nicht  gewusst  hatte.  Von  der  poetisch  lebendigen  Erzählung 
dieses  Abenteuers,  welches  Proklos  in  dürren  Worten  bezeugt, 
ist  durch  bedachtsame  Ausdeutung  combinirter  Zeugnisse  jeden- 
falls Einiges  ermittelt.  Es  steht  fest,  dass  wie  die  Verhandlung 
mit  Helena  just  vorher  stattgefunden  hei  Lesches,  das  verborgene 
Palladion  nach  Weisung  dieser  selben  und  durch  Verratb  der 
Priesterin  Theano,  auch  wohl  ihres  Gatten  Antenor,  erlangt  ward. 
So  hatte  dieser  Epiker  dem  Odysseus  das  Verdienst  auch  dieser 
Entdeckung  und  Lösung  zugewandt.  Aus  den  Zeugnissen  vom 
Sprichwort  dioni edischer  Zwang  (Ilesych.  u.  A.)  lässt  sich 
dazu  erkennen,  dass  hier  Diomedes  sich  das  Hauptverdienst  an- 
zueignen suchte,  Odysseus  aber  diese  Absicht  nicht  ohne  Gott 
vereitelte."^^) 

Jetzt  folgte  das  Einsteigen  in  das  Ross,  die  verstellte  Ab- 
fahrt, des  Sinon  verschmitzte  Rolle.  Nach  Fr.  11  und  den  Dil- 
dern  96 — 98  der  ilischen  Tafel  zusammen  mit  Proklos  wurde 
Sinon  gemissbandelt,  aber  das  Ross  liess  Priamos  feierlich  voran- 
schreitend durch  die  auf  sein  Geheiss  niedergerissene  Mauer  zur 
Stadt   und  Burg    ziehn.'®**)     Darnach   entnahm  Lesches,   was  das 


184)  Daher  von  Aristoteles  als  Stoff  einer  Tragödie  aufgezählt. 
Poet.  23,  4.  mco'jiiia,  worüber  Schoemann  de  Arislol.  censnra  carni. 
epic.  p.  16. 

185)  Wclcker  Cycl.  II,  241  —  243.  Bcrgk  Rliein.  Mus.  von  1830  4. 
224 f.  Nach  der  Stelle  in  der  Reihe  der  Kleinen  Ihas  goI)iidctcn  Tragö(hen 
l)ei  Aristot.  Poet.  23  a.  E.  waren  die  Lai<;incn  des  Sophokles,  deren  Name 
auf  Ilelena's  Dienerinnen  und  sie  seihst  liinweist,  eine  Darstellung  vom 
Rauhe  des  Palindion.  Der  Vers:  ,, Durch  enges  Gewölbe  drangen  wir  nicht 
ohne  Schmutz"  malt  den  Weg  der  beiden  Rauher. 

186)  Weicker  a.  a.  0.  in  Beziehung  auf  die  Darstellung  der  ilischen 
Tafel:  „Priamos,  als  der  Anführer  des  Zuges,  schreitet  mit  Würde  und 


Scliol.  zu  Od.  4,  285.  bestätigt,  von  den  älteren  Erzählern  eine 
Scene,  und  dies  um  so  eifriger,  als  ihm  an  der  ihr  einwohnen- 
den Absicht  lag,  den  Odysseus  als  den  Retter  aus  der  grossen 
Gefahr  zu  zeichnen.  Wahrscheinlich  gab  er  die  Aphrodite  als 
die  an,  welche  die  Helena  verlockte;  aber  für  die  ganze  Schil- 
derung mit  Helena's  gefährlichem  Leichtsinn  und  echt  weiblicher 
Schausi^ielerkunst  war  seine  Muse  in  hohem  Grade  geschickt.**^) 
In  mondheller  Mitternacht  (Fr.  11.)  gab  Sinon  das  Feuerzeichen, 
vund  es  begann  zunächst  der  Nachtkampf.'*')  Nur  eben  ein- 
zelne Scenen  dieses  Kampfes,  nicht  mehr  fortgehende  Inhalts- 
angaben sind  uns  überliefert,'-^)  aber  deren  mehre  als  aus 
Arktinos. 

Die  für  die  Parteien  des  Kriegs  und  dessen  Entscheidung 
namhaftesten  Personen,  treten  genügend  ins  Licht;  es  sind  auf 
griechischer  Seite  Menelaos,  Odysseus,  Neoptolemos,  auf  troischer 
Deiphobos  mit  seiner  jetzigen  Gattin  Helena,  die  Antenoriden,  Pria- 
mos,  Astyanax  und  seine  Mutter."'')  Menelaos,  ganz  besonders 
im  Sinne  des  affectvollen  Dichters  dargestellt ,  dringt  mit  Odys- 
seus zum  Hause  des  Deiphobos,  erstürmt  es,  und  erlegt  diesen. 
Das  Schwert  in   der   Hand  sucht  er   darauf  und   findet  Helena; 

triumphirendcr  Hallung  der  Arme  voran.  Fröhlichkeit  drückt  der  tanzende 
Schrill  des  3Ianncs  aus,  der  uninillelhar  an  dem  Ross  den  Strick  fassl, 
und  die  Gruppe  zwischen  der  zielicndcn  Menge  und  Priamos  u.  s.  w." 
Ucber  andere  Kunsthdder  vgl.  Overhcck,  Call.  S.  610  ff. 

187)  Die  in  die  Odyssee  eingescliohenc  DoppcHurm  ist  nicht  hlos 
wegen  des  Anliklos  unecht,  sondern  auch  weil  der  Diaskeuast  in  üeher- 
Ircdjung  dem  Odysseus  eine  doppelle  Hemmung  heilegle.  Die  Einfügung 
geschah  mit  Undjildung  S.  Stoll  Flui.  4,  1701".  Die  Verlheidigung  Welckers 
2,  254  f.  Ihul  zu  viel. 

188)  Paus.  10.  2G,  8. 

189)  Die  Cilatc  grösstcnlhcils  hei  Pausanias  in  der  Erklärung  der 
von  Polygnol  gemalten  Zerstörung  Troias  und  Ahfaiirl  der  Griechen,  10, 
25,  26  und  27,  indem  dieser  Maler  vorzugsweise  die  Kleine  llias  hcfulgl 
liatle.  S.  Wclcker  Cycl.  II,  245 — 250  und  dcsselhcn:  Ihe  Composition  der 
polygnolischcn  Gemälde  in  der  Lösche  zu  Deljilii.  Berl.  48.  S.  32  f.  ..Pau*- 
sanias  hat  richtig  wahrgcnouunen,  dass  Polygnol  zur  besondern  Ouelle 
die  Kleine  Ilias  des  Lesches  gehabt  habe".  Die  Fragm.  Welcker  Cycl.  II.  532 
bis  540. 

190)  Wie  der  Scholiasl  zu  Arisloph.  Lysistr.  155  bezeugt,  war  Les- 
ches der  Erfinder  dieses  von  aller  Poesie  und  Plastik  mehrfach  nachge- 
bildeten Moments.  Wclcker  S.  245.  Die  Kunslhilder  theilon  sich  nach  des 
Arktinos  und  des  Lesches  Darstellung.   Vgl.  Overbecks  Gallcrie  S.  626  f. 


262 

doch  beim  Anblick  ihres  enlblössten  Busens  lässt  er  das  Schwert 
fallen  (Fr.  16.).  In  Vorsorge  fih'  die  Familie  des  Gast-  und 
Griechenfreundes  Antenor  ward  über  seiner  Thür  ein  Sicherungs- 
zeichen aufgehängt  (ein  Pardelfell,  auch  nach  Sophokles).  Im 
nächtlichen  Kampfe  ward  Anlenor's  Sohn  Ilelikaon  verwundet, 
doch  Odysseus  erkannte  ihn  und  führte  ihn  aus  dem  Getümmel; 
auch  dessen  Gallin  Laodike,  Tochter  des  Priamos  (II.  3,  123  f.), 
blieb  frei  (Paus.  26.  7  und  8).  Odysseus  erlitt  eine  Verwundung 
durch  Thoas  (Fr.  8.)  und  erlegte  den  Leokritos.  Neoptolemos,  nicht 
blos  gewallig  wie  bei  Arktinos,  sondern  einzig  im  Uachegefühl 
dahinfahrend,  tödtete  erstens  den  Priamos  nicht  auf  den  Stufen  des 
Altars,  sondern  von  da  w  eggerissen,  that  er  ihn  im  Thor  des  eigenen 
Hauses  kurz  ab  (Fr.  15.  P.  27,  2),  und  den  Astyanax  riss  er  aus 
den  Armen  der  Amme  (U.  6,  399  f.  467),  ihn  am  Fusse  packend, 
und  schleuderte  ihn  vom  Thurme  hinab  (Fr.  19  und  18  die  ei- 
genen Verse),  also  ganz  nach  eigenem  Triebe.  Von  andern  Tro- 
ern erlagen  ihm  Aslynoos,  ob  dieser  ihn  gleich  fussfällig  um  sein 
Leben  anllehete  (P.  26,  4),  dann  Eioneus  (27,  1)  und  Agenor 
(27,  2.  II.  11,  59  und  A.).  Wohl  mag  die  Epopöe  ihm  der- 
gleichen noch  mehr  beigelegt  haben,  doch  er  erweist  sich  schon 
nach  jenen  uns  kundbaren  Beispielen  als  der  furchtbarste  Held. 
Aber  Lesches  theilte  ihm  doch  nur  das  zu,  was  er  unmittelbar 
und  in  seinem  Rachegefühl  thut.  In  diesem  Sinne  hat  ihn  gleich 
nach  seiner  Ankunft  der  erscheinende  Geist  seines  Vaters  geweiht, 
und  demgemäss  hat  unstreitig  derselbe  Geist  des  Achill  dem  Sohn 
vor  der  Abfahrt  aufgetragen,  das  Opfer  der  Polyxena  zu  erwirken, 
und  hat  es  dieser  selbst  ausgeführt.  '^')  Lesches  versäumte  dabei 
nicht  auch  andere  Helden  in  der  Nachtschlacht  sich  bewähren 
zu  lassen.  Von  der  Hand  des  Diomedes,  nicht  des  Neoptolemos, 
wie  es  sonst  lautete,  fiel  Koröbos,  der  spätere  Bräutigam  der 
Kassandra,'"^)  von  der  des  Philoktetes  Admet,  von  Eurypylos,  Sohn 
des  Eumäon,  Axion,  Sohn  des  Priamos  (P.  27,  2).  Auch  dies  sind 
nur  einzelne  Beispiele,  so  wie  auch  Verwundungen  griechischer 
Helden  nicht  fehlen,  wie  die  des  Meges  durch  einen  Admet,  des 
Lykomedes  (II.  9,  84.     12,  366  u.  a.)   durch  Agenor  (P.  25,  5 

191)  Welcker  II.  247,  269  f.  und  üverbcck,  Call.  S.  662  f. 

192)  Der  frühere,  Olhryoneus,  war  dem  Idomeneus  erlegen.    II.  13, 
362-373.    Koröbos  bei  Paus.  10.  27,  1  u.  E. 


263 

und  6.),  des  Euryalos,  Sohn  des  Mekisteus  (II.  23,  677  f.),  durch 
einen  Ungenannten.  Die  Composilion  des  polygnotischen  Gemäl- 
des brachte  eben  nur  diese  Bilder.  Wie  viel  Mannigfaltigkeit  die 
nicht  unlebendige  Darstellung  dieses  Dichters  überhaupt  in  seine 
Schilderung  gebracht,  können  wir  nicht  weiter  nachweisen.  Einige 
Beispiele  aus  den  Verwundungen  gab  das  Gemälde  ausdrücklich 
nach  Lesches,  die  des  Meges  am  Arme,  mehre  des  Lykomedes,  am 
Handgelenk,  am  Fussknöchel,  am  Kopfe,  des  Euryalos  am  Kopfe 
und  Handgelenk  (25,  5  und  6),  Und  über  diese  Eigenschaft 
lebendiger  Darstellung  enthält  jenes  Urtheil  des  Aristoteles  hin- 
sichtlich mangelnder  Einheitlichkeit  eben  Nichts. 

Bei  diesem  Allen  ist  vielmehr  des  Lesches  Eigenthümlichkeit 
darin  wahrzunehmen,  dass  alle  diese  Thaten  und  namentlich  auch 
die  des  Neoptolemos  immer  in  Ausführung  des  von  Odysseus 
vorgezeichneten  Planes  geschehen.  Daneben  gestaltet  aber  der 
Dichter  die  überlieferten  Züge  sowohl  umständlicher  als  auch 
verdienstlich  für  Odysseus. 

Dies  ist  bei  Darstellung  des  vom  lokrischen  Aias  verübten 
Frevels  an  Athene  besonders  sichtlich.  Hier  ward  zwar  wie  bej 
Arktinos  die  Kassandra  von  Aias,  wie  sie  das  Bild  der  Göttin  um- 
fasste,  mit  diesem  also  aus  der  Bittstelle  hinweggerissen.  Jedoch 
dort  wollten  die  Griechen  ihn  steinigen,  er  aber  ward  durch  die 
Scheu  vor  der  heiligen  Stätte  vor  der  Strafe  geschützt,  da  er  zum 
Altar  der  verletzten  Göttin  selbst  flüchtete.  Hier  dagegen,  wo 
auch  die  Kassandra  wohl  als  begeisterte  Seherin  zu  um  so  mehr 
zu  scheuender  Würde  erhoben  erschien,  ward  er  auf  Betrieb  des 
Odysseus  vor  ein  Gericht  gestellt,  entging  aber  diesem  durch 
einen  Meineid."^) 

Von  der  Vertheilung  der  Gefangenen  und  schonenden  Be- 
handlung Einzelner  vor  der  Abfahrt  ergiebt  sich  einfach  oder 
muthmaassUch  Folgendes:  Die  Andromache  wurde  auch  hier  dem 
Neoptolemos;  derselbe  nahm  in  Güte  den  Aeueas*^^)  und  wohl 
auch  den  Helenes  mit;  von  der  Aethra  lautete  die  Erzählung  nio- 
tivirter:   Sie,  die  Sklavin  der  Helena,  kam  aus  der  Überfallenen 


193)  So  im  Gemälde  des  Polygiiot  Paus.  10,  26,  3  und  bei  Sophokles 
ihi  Lokr.  Aias  S.  105.    Nauck ,  gewiss  nach  Lesclies.   Welckor  II.  268. 

194)  Fr.  18.  Die  Gallin  stall  Krcusa  von  Lesches  und  Slasinos  Eury- 
dike  genannt,  wohl  ebenso.   Fr.  20. 


264 

Stadt  in  das  Lager  und  wurde  von  Demoplioon  und  Akamas  er- 
kannt; aber  \Yenn  es  doch  nur  natürlich  war,  dass  man  sie  die- 
sen Enkeln  ohne  Weiteres  schenkte,  bedurfte  es  bei  Lesches 
einer  Bitte  bei  Agamemnon,  und  dieser  gewährte  sie  erst,  nach- 
dem ein  an  Helena  gesandter  Herold  deren  Einwilligung  gemel- 
det hatte  (P.  10,  25,  8).  Die  Kassandra  folgte  nach  alter  und 
bleibender  Sagengestalt  dem  Agamemnon  (Od.  11,  421,  Pind  P. 
11,  19 f.  Aesch.  Agam.  994—1280.  Eur.  Tr.  44.  249.  und 
El.  1032.  Iloraz  Od.  2,  4.).  Die  schmerzenreiche  Älutter  Hekabe, 
welche  nach  keiner  Sage  irgend  in  Griechenland  erscheint,  mag 
Lesches,  nachdem  sie  dem  Odysseus  (Eur.  Tro.  277.  1271.  1283.) 
zugetlieilt  war,  durch  das  überfüllte  Maass  des  Schmerzes  und 
Zornes  aus  dem  Leben  haben  scheiden  lassen ;  Polygnot  hatte  sie 
unter  den  Gefangenen  nicht  erscheinen  lassen,  indem  sie  nach  des 
Pausanias  Angabe  von  Apollon  nach  Lykien  entrückt  war.  '"^j  Von 
den  andern  Sagen  über  ihr  Ende  mag  Lesches  mit  seiner  Stimmung 
zu  erregter  Darstellung  wohl  die  gegeben  haben,  welche  in  einer, 
dem  Alkman  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  zugeschriebenen  Stelle 
voll  Leben  erscheint.  '^^) 

Dass  die  Kleine  Ilias  die  Abfahrt  erzählte,  ist  von  selbst  anzu- 
nehmen, aber  auch  durch  Aristoteles  Poet.  23  a.  E.  in  dem  Titel 
Abfahrt  bezeugt."^)     Es   war  nach   dem  Obigen  das  Opfer  der 


195)  So  Stesichoros  bei  Paus.  10,  27,  2.  in  seiner  Poesie ,  Troias 
Zerstörung ,  bei  Bergk  Fr.  19.  p.  745. 

190)  Wclcker  Rh.  3Ius.  v.  1833.  1.  430  f.  Cycl.  II.  249.  „Es  ist  aber 
auch  möglich,  dass  Lesches  schon  die  Localsage  vom  Kynosscma  aufge- 
nommen lialle.  Denn  aus  Alkman,  der  viel  aus  dem  nachhomcrischcn  Epos 
geschöpft  hat  —  vor  Andern  hierzu  bezüglich  Fr.  31.  /JvgTtaQig  u.  s.  w. 
—  scheint  ein  Bruchstück  zu  sein,  wonach  die  Erinyen  Hekahe  nach  allem 
unerträglichen  Leid  in  eine  bellende  Hündin  verwandelten,  was  auch  Euri- 
pides  in  die  Ilekahe  zog  (1265)".  Die  Lokal^age  hei  Strabo  13.  595.  28. 
und  7.  431.  56.*)  Doch  die  Poesie  halle  die  Verwandlung,  che  die  Local- 
sage aus  ihr  die  Benennung  nahm.  Lesches  zog  nicht  wie  Agias  Local- 
sagen  licrbei.  —  Euripides  zeigt  die  lickahe  in  der  Tragödie  als  Sclavin 
des  Odysseus,  dann  wird  ihr  die  Verwandlung  prophezeit.  Von  Odysseus, 
den  sie  durch  ihre  Verwünschungen  erzürnt  halte,  ward  sie  getödtet  und 
begraben,  nach  dem  vor  den  Biillni.  Schoben  siehenden  Inhalt;  nach  Dik- 
tys  stürzte  sie  sich  ins  Meer. 

197)  Welcker  Gr.  Tr.  178  und  über  die  ganze  Stelle  des  Arislot.  das. 
1148  Anm. 

*)  Hierbei  ein  Fragezeichen  des  Verfassers.  D.  II. 


265 

Polyxena  durch  Neoptolemos  zunächst  vorhergegangen,  welches 
jener  Titel  umschloss;  und  da  dieses  hier  wie  hei  Arktinos  er- 
folgt war,  mag  auch  die  Erscheinung  des  Achill  in  ähnlicher 
Weise,  wie  aus  des  Agias  Nosten  angegehen  ist,  dem  Agamemnon 
warnend  das  ihm  Bevorstehende  angedeutet  haben.  Es  erfolgte 
die  wiederholte  Erscheinung  zur  dankbaren  Anerkennung  des 
Opfers,  und,  was  als  Gesetz  der  Epopöe  gelten  durfte,  es  weisen 
eben  nur  Prophezeihungen  über  den  Verlauf  der  erzählten  Hand- 
lung hinaus.  So  in  des  Arktinos  Gedicht  von  der  Zerstörung  und 
so  in  dem  des  Lesches,  in  der  homerischen  Ilias  des  sterbenden 
Hektor  Prophezeihung,  so  22,  359  f.  vom  Tode  des  Achill,  in  der 
Odyssee  die  des  Proteus  und  Teiresias. '^®)  Es  erzählten  andere 
Epopöen  die  Erfüllung  dieser  Voraussagungen.  Die  Aethiopis 
den  Tod  Achills,  die  Nosten  den  des  Agamemnon  u.  s.  w. ; 
allein  diese  wurden  immer  nach  eigener  Wahl  des  Stoffes  aus 
eigener  Absicht  und  ihrer  Zeit  gedichtet.  Die  Dichter  der  Pro- 
phezeihungen bezogen  sich  durchaus  nicht  auf  sie.  Der  epische 
Mensch  hat  auch  eine  Zukunft  und  einen  Glauben  an  Vorhersa- 
gung, und  sein  Erzähler  konnte  dabei  den  Hörer  vielleicht  an  die 
Sage  oder  an  Lieder,  welche  die  Erfüllung  angaben,  erinnern;  ihm 
aber   diente  jenes  Künftige  nur   zur  Beseelung  seiner  Personen. 

Mehr  des  Einzelnen  kann  auch  muthmaasslicbe  Combination 
vom  Ausgang  der  Kleinen  Ilias  nicht  ermitteln.  Wir  fragen  nament- 
lich, wie  Lesches  den  Odysseus  gestellt  habe,  der  vor  Troia  am 
längsten  bei  Agamemnon  blieb  (Od.  3,  262 — 264),  dann  aber  nach 
Agias  von  dem  zu  Lande  heimziebenden  Neoptolemos  in  Maro- 
neia  d.  h.  bei  den  Kikonen  (Od.  9,  39  f.  m.  Anm.)  gesehn  wurde, 
der  also  nach  dem  Abschied  von  Agamemnon  seinen  eigenen 
Weg  fuhr,  alsbald  aber  verschlagen  auf  seine  Irren  gcrieth. 

Die  Poesie  des  Lesches  hat  nun  den  Anschein,  als  müsse 
sie  durch   die  Neuerungen,   durch  welche  sie  den  Odysseus  als 


198)  In  dem  jetzigen  Text  der  Odyssee,  die  des  Proteus  4,  501  bis 
569  und  des  Teiresias  11,  119 — 137,  von  denen  die  letztere  ficilicli  an  sicli 
unter  der  Voraussetzung  der  UnccIiUicil  leicht  ausgeschieden  \v(!rden 
könnte,  wie  Fäsi  und  Amcis  wollen;  aher  die  Aeusscrungen  des  Odysseus 
23,  251 — 286 f.  gestatten  dies  nicht,  sowie  die  Kritiker  dieser  Meinung 
nicht  waren,  wenn  sie  die  Odyssee  als  mit  23,  V.  296  geschlossen  hctrach- 
Icten  und  in  11  die  grosse  Interpolation  565 — 627  erkannten. 


266 

Hauptperson  voranstellte  und  schon  zunächst  vollständiger  dazu 
gestaltete,  eine  recht  vorzügliche  Einheitlichkeit  erzielt  liahen. 
Dem  ist  aber  nicht  so.  Es  hat  erstlich  die  Einheit  der  Person 
in  diesem  Falle  ihre  Kehrseite.  Ihr  Prinzip  des  menschlichen 
Verdienstes  beeinträchtigte  die  erhabenere  Idee  des  göttlichen 
Wallens  und  der  Vollziehung  eines  langher  drohenden,  vorbe- 
stimmten Strafgerichts.  Aber  auch  die  künstlerische  Gestaltung 
der  folgenden  zum  Ziel  strebenden  Momente  geht  einfacher  und 
für  den  nationalgläubigen  Hörer  befriedigender  vor  sich,  wenn 
der  durch  den  griechischen  Seher  sich  offenbarende  Schicksalswille 
die  verschiedenen  ihm  dienenden  Kräfte,  eine  neben  oder  nach  der 
andern,  jetzt  unmittelbar  herbeizieht.  So  werden  bei  Arktinos 
Odysseus  und  Diomedes  von  Kalchas  bestellt,  nach  Weisung  der 
Schicksalsmacht  dem  Griechenheer  an  Ncoptolemos  und  Philoktet 
mit  ihren  Waffen  die  Werkzeuge  zum  Siege  herbeizurufen.  Ebenso 
ist  Arktinos  in  einem  andern  Falle  natürlicher.  Die  Gottheit  hatte 
nach  unserer  Annahme  die  nach  Paris  Tode  wieder  angeregte 
Auslieferung  der  Helena  in  Strafabsicht  vereitelt;  darnach  lässt 
er  gehöriger  und  wahrscheinlicher  das  Geheimniss  des  troischen 
Heilspfandes  vom  natürlichen  Inhaber  desselben  her  entdecken, 
dem  troischen  Helenos,  der  zu  seinem  Gott  entwichen,  nicht 
aber  wie  dort  durch  den  Bund  dos  schlauen  Helden  mit  Helena. 
Und  im  Sinne  der  alten  Sage  beginnt  jetzt  erst  des  Odysseus 
Hauptrolle.  Die  Göttin  der  Klugheit,  unzAveifelhaft  in  Ueberein- 
stimmung  mit  Zeus,  erwirkt  nach  der  völligen  Einscliliessung 
die  Einnahme  durch  Listen  mittels  ilires  Betrauten  und  mensch- 
lichen Ebenbildes  oder  fördert  ebenso  das  Gelingen.  Neben 
dem  Odysseus  als  dem  Hauptbeweger  verbleibt  den  Tapfersten 
ihr  Antheil.'»») 


199)  Diesellje  Charakteristik  der  beiden  Dicliler  ist  Sagenpoesie  366 
bis  369  so  gegeben :  „Arktinos  und  Lcschcs  vcrlialtcn  sicli  wie  Aeschylos 
und  Euripides,  jener  tiefernsten  Geistes,  dieser  3Ialer  der  Leidenschaft 
und  Andichter  derselben,  wo  die' frühere  DarsteUung  sie  nicht  hatte, 
jener  mit  dem  Blick  auf  die  Gescliickc  der  Gölter,  Verehrer  der  allen 
acliilleisch  tüchtigen  Ileldenkraft  in  Neoptoleraos ,  dieser  ganz  für  den 
schlauen  Odysseus,  und  wie  den  Aias  schändend,  so  den  Ncoplolenios 
wilder  darstellend,  als  er  bei  Arktinos  erschienen  war.  Leidenschaft- 
liche Erregung  und  Freude  an  Scidaulieilen  sind  die  Musen  dieses  bild- 
nerischen Geistes.  Diese  Leidenschaft  cnucdrigt  den  Aias,  diesellje  überträgt 


267 

Die  erhabenere  Idee  ward  demnach  von  Arktinos  besser  ge- 
wahrt, so  wie  er  zur  inhumanen  Darsteüung  des  von  der  Sage 
nl)erlieferten  tragischen  Aias  gar  keinen  Grund  hatte.  Dagegen 
zeigt  die  obige  Charakteristik  des  jüngeren  Dichters  bei  ihm 
ebenso  deutlich  Leidenscliaftlichkeit  und  Talent  für  bewegte 
Handlung  vollkommen  deutlich.  Wir  begreifen  wiederum  Beides, 
die  Anerkennung  sowohl  als  den  Tadel  seines  Gedichts,  jene 
beim  hörenden  Volk,  diesen  beim  Aristoteles,  neben  einander 
recht  wohl,  und  sind  im  Stande,  uns  dieselben  aus  einer  und 
derselben  Darstellungsweise  zu  erklären.  Eine  solche  Erregt- 
heit gerade  ist  erfinderisch  zur  bewegten  Schilderung  und  er- 
scheint angethan  und  gleich  von  vornherein  thätig  dramatisches 
Leben  da  hinein  zu  bringen,  wo  es  vorher  nicht  \\ar.  Sie  ist 
aber  auch  viel  weniger  versucht,  eine  vi  eil  heil  ige  Handlung 
(Aristoteles)  d.  h.  eine  Reihe  nach  einander  hervortretender  Per- 
sonen je  mit  eigenen  Gemülhsverfassungen  und  Umständen  zum 
merkbaren  Fortschritt  der  Haupthandlung  dem  Grundmotiv  unter- 
zuordnen. Im  Geäentheil  sucht  sie  eine  solche  Reihe  von  Handeln- 
den zu  einem  Wechsel  lebensvoller  Einzelbilder  auszuprägen, 
welche  durch  den  Reiz  lebendiger  Anschaulichkeit  und  durch 
Mannigfaltigkeit  vergnügen.  Dieser  Reiz  und  jener  des  drama- 
tischen Lebens  empfahl  die  Kleine  Ilias  zuerst  den  darstellenden 
Rhapsoden  zum  Vortrag  und  zwar  dem  gewöhnlicheren  einzelner 
Partieen. 

Dass  diese  Epopöe  viel  umher  rhapsodirt  worden,  bezeugen 
uns  ja  die  vielerlei  Angaben  über  ihre  Verfasser,  wie  die  nicht  sel- 
tenen Kunst bilder,^"*')  welche  verbreitete Rekanntschaft  voraussetzen; 
wenn  die  Nachbildungen  der  Tragiker  auch  in  Folge  der  Lesung 
geschehn  sein  mögen.  Aristoteles  mochte  mit  vollem  Recht  aus  den 
zahlreichen  Tragödien,  zu  denen  die  Kleine  Ilias  in  obiger  Weise 
die  mannigfachen  Situationen  gab,  sich  das  tadelnde  Urtheil  bil- 


den Mord  des  Astyanax  von  Odysscus  (seinem  Ralli)  auf  den  Neoplolenios 
(in  rascher  Thal),  —  sie  erfand  jene  Scenc,  da  der  scliöne  Uusen  der 
Helena  den  zornentbrannten  Menelaos  entwaffnet".  —  S.  weiter,  wo  das 
Üliigc  folgt. 

200)  S.  Buch  2  Anm.  107  mit  dem  dortigen  Text.  Die  Kiiiislhildcr 
in  Ovcrbccks  Gallerie  heroischer  Hildwerke,  hcs.  von  S.  62G — 055  Helenas 
Wiedergewinnung, Demoplioon  undAkamas  milAelhra,  Aias  und Kassandra, 


268 

den,  tlass  ilir  die  Einlieitliclikeit  mangele  (Poet.  23.  a.  E.),  nur 
wird  diese,  wie  in  unserer  Zeit  Goetlie  rügte,  von  der  Menge 
nicbt  geschätzt,  die  das  Ganze  doch  zerpflückt.  Damals  aher 
wurden  die  Hörer  gerade  durch  jene  Mannigfaltigkeit  und  das 
dramatische  Leben  angezogen. 

24.   Charakter  des  Vortrags.     Das  Dramatische. 

Den  Reiz  des  dramatischen  Lehens  kann  ein  solches  Gedicht 
gar  ^^ohl  an  sich  tragen ,  diesen  hat  Aristoteles  der  Kleinen  Ilias 
auch  weder  dort  noch  in  der  andern  Stelle  abgesprochen  — 
Poet.  24.,  7.  —  wenn  man  sein  Urtheil  als  wirklich  von  ihm 
gefällt,  als  ein  besonnenes  versteht  und  ausdeutet.  Er  sagt  hier 
„Homer  wie  in  Vielen  preiswürdig,  habe  auch  unter  den  Epikern 
allein  recht  verstanden,  dass  der  Dichter  nur  ganz  wenig  in 
eigener  Person  sagen  dürfe,  sondern  darstellen  d.  h.  in  drama- 
tische Handlung  setzen  müsse;  daher  führe  er  alsitald  einen 
Charakter  auf,  und  gel)e  nichts  Uncharakterisirtes.  Die  Andern 
debütirten  gemeinhin  selbst,  und  stellten  nur  Weniges  und  in 
seltenen  Stellen  dar".  Dieser  so  summarische  Ausspruch  über- 
geht ebenso  wie  jener  über  die  Einheitlichkeit  alle  speziellere 
Vergleichung,  mithin  alle  Ausnahmen  und  annähernden  Ab- 
stufungen. Aber  Aristoteles  und  jeder  irgend  Kundige  mussle 
alle  die  mehren  in  jeder  Epopöe  vorkommenden  Handlungen 
und  Lagen  ganz  ausser  der  Rechnung  lassen,  welche  sich  von 
einem  Dichter  gar  nicht  anders  gegeben  denken  lassen,  als  durch 
sprechende  Personen,  man  müsste  denn  ihm  alles  Talent  selbst 
absprechen. 

Jede  Musterung  der  Sagenstoffe  oder  der  Inhalte  des  Prok- 
los gemahnt  an  eine  Reihe  solcher  Akte,  welche  blos  als  ge- 
schehn  zu  berichten,  ohne  sie  durch  Worte  zu  beseelen,  auch 
dem  massigsten  Dichter  kaum  in  den  Sinn  konnuen  konnte.  Es 
begegnen  uns  da  die  nach  den  SloITen  und  dem  Gange  der  Re- 
gebenheiten verschiedenen  und  seltneren  oder  häutigeren,  aber 
doch  in  keiner  Epopöe  fehlenden  Anlässe  zu  Rotschaften  vor  und 
während  der  Kriege  nach  Theben  oder  Troia,  um  Cemigthu- 
ung  oder  um  der  einen  oder  der  andern  Kriegspartei  neue  Ge- 
hilfen herbeizurufen,  wie  in  beiden  Gedichten  von  Troias  Zer- 
störung   die    nach   Skyros   um   Neoptolemos,    nach  Lemnos    um 


269 

Philoktet,  nach  Mysien  uin  Enrypylos.  Ferner  gab  es  natür- 
lich Gebete  oder  besondere  Uitten  an  Zeus  in  der  Aethiopis,  den 
Kyprien,  der  Thebais  um  Unsterblichkeit  gefallener  Helden,  Ver- 
kündigungen und  Mahnungen  der  Seher  Kalchas,  Ilclenos,  Kas- 
sandra,  Amphiaraos,  dieses  durch  die  ganze  Thebais.  Die  be- 
sonderen Ereignisse  brachten  aber  auch  Fälle  von  Parteiung 
und  Streitigkeiten,  wie  der  Prozess  um  Achills  Waffen  bei  Arktinos 
und  Lesches,  die  Bewegung  nach  des  Thersites  Todtschlag  in 
der  Aethiopis,  des  Amphiaraos  Abmahnung  vom  Kriegszuge  und 
die  bestochene  Eriphylc  in  der  Thebais,  der  Streit  der  Atreiden 
zu  Anfang  der  Nosten,  der  zwischen  dem  verletzten  Achill  und 
Agamemnon  in  den  Kyprien.  Hierzu  kommen  endlich  auch 
mehrfach  Verhandlungen ,  Verabredungen ,  kurz  Zwiegespräche 
zwischen  Einzelnen.  Und  nimmer  doch  werden  die  Gemüther 
in  ihrer  Freude  über  die  Ankunft  der  ersehnten  Gehilfen  oder 
vollends  über  den  geglaubten  Abzug  der  Feinde  von  diesen  Epi- 
kern nur  durch  starke  Prädicate  oder  etwa  Gleichnisse  charak- 
terisirt  worden  sein. 

Solche  Anlässe  lagen  also  mehr  oder  weniger  scbon  in  den 
überlieferten  Sagengestalten,  doch  sehn  wir  in  den  Darstellungen 
desselben  Stoffs  zwischen  Arktinos  und  Lesches  diese  Anlässe 
gemehrt,  dramatische  Scenen  von  dem  Letztern  gebildet,  wo  sie 
bei  Arktinos  nicht  vorgingen.  Ueberhaupt  fand  sich  in  der 
Kleinen  Ilias  des  Lesches  des  Dramatischen  nicht  wenig,  wie 
folgende  Uebersicht  zeigt: 

Nicht  blos  dass  von  einem  Epiker,  der  gleich  die  erste 
Scenc,  den  Waffenstreit,  ausser  den  nothwendigen  Reden  der 
Streitenden,  din'ch  das  Gespräch  der  Jungfrauen  so  lebendig  dra- 
matisirte,  die  Voraussetzung  eines  häufigem  Gebrauchs  derselben 
Form  gilt,  es  begegnen  uns  folgende  Fälle:  die  Befragung  des 
Helenos,  die  beiden  Sendungen  zur  Berufung  des  Philoktet  und 
Neoptolemos,  des  Odysseus  Spähergang  und  Vcrliandlung  mit 
Helena,  der  auch  kaum  ohne  Gespräch  zu  denkende  Baub  des 
Palladion  mit  Hilfe  der  Antenoriden,  die  Scene  da  Helena  das 
Boss  umgeht,  des  Sinon  Bolle  vor  den  Troern,  der  Troer  Jubel 
über  die  vermeintliche  Abfabrt,  ihre  Bcrathung  über  das  Boss 
und  des  Priamos  Anordnung.  Im  Nachtkampfe  Aehnliches:  Odys- 
seus  erkennt   den  Antenoriden  Helikaon  und  reitet  ihn  aus  dem 


270 

Gelüininel,  Asiynoos  (Iclit  iiin  sein  Lehon,  die  Thescussölino,  von 
der  Aetlira  aufgesuclil,  bitten  um  sie  bei  Agamemnon,  Menelaos 
tritt,  nacbdem  er  den  Deipiiobos  bewältigt  hat  der  Helena  mit 
dem  Schwerte  entgegen,  doch  es  entfällt  ihm  —  doch  wohl 
keine  stumme  Scene  — ,  es  wird  über  des  Aias  Frevel  Gericht 
gehalten  und  er  muss  schwören,  Neoptolcmos  —  auch  sonst  wohl 
ein  nicht  wortloser  Haudegen  —  wird  vom  erscheinenden  Geist 
des  Achill  beauftragt  und  verlangt  das  Opfer  der  Polyxena,  und 
Achill  bei  zweiter  Erscheinung  warnt  den  Agamemnon.  Kaum 
irgend  eines  dieser  Ereignisse  möchte  anders  als  dramatisch  er- 
zählt gewesen  sein.  Noch  weniger  des  Odysseus  Anordnung  der 
Listen,  Berichte  aus  Troia,  Vereinbarung  mit  Diomedes  u.  s.  w. 
Auch  Nestor  wird  nicht  blos  in  der  ersten  Scene  einen  Rath 
gegeben,  noch  Lesches  dessen  Mahnungen  ganz  in  eigener  Per- 
son berichtet  haben. 

Diese  theils  bezeugten,  theils  so  wahrscheinlichen  Beispiele 
bestätigten  die  obige  Angabe,  dass  Lesches  dem  Homer  an  dra- 
matischem Leben  am  ähnlichsten  gewesen  sei.  Aristoteles  hat 
diese  stärkste  Ausnahme  von  seinem  allgemeinen  Tadel  nicht 
beachtet,  und  ebenso  wenig  dem  Dichter  der  Kypria  die  auch 
dramatische  Belebung  zu  Gute  gerechnet,  die  uns  in  mehren 
Citaten  augenscheinlich  vorliegt  und  über  diese  hinaus  seiner 
ganzen  Poesie  zuzutrauen  ist.^"')  Die  Ausnainucn  von  seinen  Bü- 
gen und  die  Annährnngen  an  Homer  in  einzelnen  Eigenschaften 
gingen  den  Aristoteles  Nichts  an,  wie  gesagt.  Seiner  Theorie 
war  es  auch  bei  dem  Lobe  der  dramatischen  Darstellung  nur  um 
die  Betonung  des  Vorzugs  zu  thun,  durch  welchen  Homer  vor 
allen  andern  Epikern  hervorleuchtete.  Daher  das  nur  allgemeine 
Urtheil  über  diese  andern,  und  gerade  in  diesem  nach  Aristote- 
les Begriff  von   poetischer   Darstellung  wesentlichsten  Punkte.**"*) 


201)  Fr.  10.  des  Nestor  Gespräch  mit  Menelaos,  Fr.  14  Agaiiieniiioiis 
Ver-wuiulcruiig  über  Achills  Verlclzllicil ,  Fr.  22  ein  Wort  des  Paris  nach 
Weicker  II.  211 ,  dessen  Darlegung  des  ganzen  Inhalts  der  Kypricn,  die 
mehren  Anlässe  zu  Reden  bemerklich  macht,  von  S.  85  an. 

202)  Wie  er  die  Lehre  von  Piaton  überkommen  halte;  Mimcsis,  Nach- 
ahmung, ist  das  Werk  des  Üicliters.  Ar.  Poet.  3,  2.  Plalon  Staat  III.  3021). 
und  393 AB.:  „er  legte  Alles  so  an,  dass  wir  glaulien  sollen,  nicht  Homer 
sei  der  Spreciiende,  sondern  der  Priester;  und  olingofälir  auf  dicscihe 
Weise  hat  er  nun  auch  die  Ranze  ül)rii(c  Erzäldnnc;  von  den  Besebenlioilen 


271 

Wie  schon  Poet.  4,  9  oder  12  lloiiier  l)elolit  Aviid,  weil  er  niclil 
überhaupt  nur  gut,  sondern  gerade  dramatische  Nachahmungen 
gedichtet,  so  wird  in  der  vorliin  angeführten  Stelle  24,  7  oder  25, 1. 
in  dieser  Nachahmung,  dieser  dramatischen  Darstellung  das  Haupt- 
werk und  Wesen  der  Poesie  gefunden.  Hierbei  sah  Aristoteles  wohl, 
wie  in  Homers  Poesieen  die  dramatische  Darstellung  durchgehends 
mit  Erzählung  cles  Dichters  wechselte  und  wechseln  musste  (Poet.  3, 
1.)  Es  kam  aber  auf  das  Bemühn  und  Geschick  an,  bei  Hand- 
lungen und  Zuständen ,  welche  nicht  schon  an  sich  mit  Reden 
stattfanden,  das  Interesse  auf  einzelne  Personen  zu  concentriren 
und  aus  den  betheiligten  Vielen,  Einzelne  mit  ihrem  besondern 
Charakter  und  ihrer  Empfindung  des  Moments  auftreten  und  laut 
werden  zu  lassen  —  die  Schlachlgemälde  zu  Einzelkämpfen  zu  ge- 
stalten. Auf  diese  Weise  ward  die  Epopöe  in  ihren  einzelnen 
Partieen  beseelt,  so  dass  kein  Theil  uncharakterisirt  blieb.  Die 
sprechenden  Charaktere  machten  die  homerische  Poesie  zur  cha- 
raktervollen, indem  die  Ausprägung  der  Charaktere  und  die  dra- 
matische Darstellungsweise  fast  Eins  sind,  Eins  das  Andere  be- 
dingt, und  beide  in  einander  wirken.^"^)  Obwohl  das  Cliarak- 
terisiren  keineswegs  nur  durch  beigelegte  Rede  geschah,  der 
rechte  Dichter  und  eben  Homer  that  es  bei  dem  seltenen  Ge- 
brauch der  Beschreibung  in  eigener  Person  mittels  der  Handlung 
selbst,  und  durch  aus  ihr  hervorgehende  Worte. 

So  ist  die  Charakter  -  und  Seelenmalerei  i  und  individuelle 
Zeichnung  überhaupt  ein  Titel  poetischer  Kraft  und  Wesenheit, 
an  dem  die  Griechen  selbst  ihrer  Dichter  Trefflichkeit  und  zu- 
gleich Aehnlichkeit  mit  Homer  messen.  In  diesem  Sinne  heisst 
es  von  dem  Stesichoros,  in  ihm  habe  Homers  Seele  gewohnt. 
So  auch  erklärte  ein  Anderer,  einzig  Sophokles  sei  ein  Schüler 
Homers,  und  nannte  Polcmon  Homer  den  epischen  Sophokles, 
Sophokles    den   tragischen   Homer. ^''*)      So   sollten   wir   also  ge- 


in  Troia  sowohl,  als  in  llliaka  und  in  der  ganzen  Odyssee  oingorirlilot. 
S.Forcldianimer  dcAristotelis  arlc  poctica  exPlalone  illuslrandaCuninient. 
Kiel  1848. 

203)  Um  lehensvoller  Charakteristik  willen  liessen  die  antiken  Go- 
schichlschreiLer,  Staalsmänner  und  Fcldlierron  Reden  liallcn. 

204)  Stesichoros   in  der  Antlud.  Palal.   1.   328.     Sopiioklcs  im  Gr. 
Lc])en  dcss.    S.  Philol.  VIII.  733.  Mehr  Sagenp.  08  f.  504  f. 


272 

rade  auch  in  diesem  Punkle  zu  erkennen  im  Stande  sein,  wie 
sich  Arklinos  und  Lesches  und  die  übrigen  Nachfolger  zu  Homer 
verlialten. 

Gerade  aber  hierzu  dienen  uns  die  Inhaltsverzeichnisse  aus 
Proklos,  wie  sie  vollends  von  Photios  noch  oft  epitomirt  erschei- 
nen, kaum  irgend  einmal.  Ist  es  doch  ihr  Prinzip,  Personen 
und  Sachen  von  aller  Poesie  entkleidet  zu  gehen,"  so  dass  nach 
ihnen  die  Poesie  der  andern  zu  heurtheilen  ein  Missgriff  und  un- 
bedachtes Vorurtheil  hcissen  muss.  Homers  Nachfolger  führten 
zwar  von  ihm  bekannte  Charaktere,  vornehmlich  Achill,  Aias, 
Diomedes,  Odysseus,  Nestor,  die  Atreiden,  Paris  und  Helena  u, 
A.  vor,  theils  aber  auch  neue,  Pcnthesileia,  Memnon,  Neoptolemos, 
Orestes,  namentlich  auch  Palamedes.  Wir  müssen  daher  ein 
Urtheil  über  Beides  zu  gewinnen  suchen,  ob  die  einzelnen  Dich- 
ter bei  jenen  die  homerischen  Bilder  behalten,  bei  diesen  und 
überhaupt  die  homerische  Bilderweise  oder  eine  verschiedene 
befolgt  haben.  Eine  Unterscheidung  des  Arktinos  und  Lesches 
hat  sich  hinsichtlich  der  altbekannten  schon  in  dem  Obigen  er- 
geben. Schon  die  Wahl  der  Stofle  und  Hauptpersonen  verrieth 
die  verschiedene  Individualität.  Arktinos  wählte  Achill  und  Neop- 
tolemos, Lesches  seinen  Odysseus.  Aber  auch  Arktinos  hat  seinen 
Achill  nach  seiner  Weltansicht  eigen  gestaltet.  Achill  erscheint 
menschlicher  in  Gefühlen  der  Pcnthesileia  gegenüber  und  wenn 
im  Todlschlag  zornmüthig  zur  Bache  für  den  P'rcund  aufgestachelt 
gleich  dem  der  Ilias,  doch  hier  tragischer  noch.  Neoptolemos 
aber  nur  eben  tapfer  wie  sein  Vater,  nicht  unbarmherzig  rasch 
wie  bei  Lesches  (Tod  des  Astyanax).  Dem  von  Lesches  so  über- 
eifrig ausgeschmückten  Odysseus  beliess  Arktinos  seinen  Charak- 
ter und  sein  Verdienst  zur  Eroberung  ganz  der  Sage  gemäss, 
wiederum  aber  stellten  Stasinos  und  Agias  ihm  den  Palamedes 
als  Bivalen  auf,  der  ihn  bei  der  Aufforderung  zum  Heerzug  ent- 
larvte, und  dem  er  mit  Hilfe  des  Diomedes  kurz  vor  der  Zeit 
des  Zorns  den  Tod  bereitete  (Paus.  10,  31,  2.).  Daher  denn 
des  Getödteten  Vater  Nauplios  aus  Bache  bei  der  Heimkehr  die 
Schiffe  der  Achäer  durch  Fackelschein  an  die  Klippen  Euböas 
lockt.  Von  den  Erfindungen,  welche  dem  Palamedes  mehr  und 
mehr  nachgerühmt  wurden,  nannte  schon  Stasinos  die  Buch- 
stabenschrift,  die   Zahl    und    deren   Gebrauch   und    das   Würfel- 


273 

spiel.*"^)  Nehmen  wir  den  Aias  und  den  Menelaos  in  LescLes'  Dar- 
stellung hinzu,  so  hahen  wir  die  sprechendsten  Belege  der  von  diesen 
Dichtern  beliebten  Wandlungen  der  überlieferten  Charaktere.  Die 
neuen  aber,  Penthesileia  und  Memnon,  auch  Neoptolemos,  wie  er 
des  Vaters  Waffen  empfing,  wurden,  wie  aus  den  dürftigen  Ueber- 
bieibseln  doch  deutlich  genug  hervorgeht,  mit  glänzenden  Be- 
schreibungen eingeführt.  Solche  Beispiele  halten  wir  mit  dem 
IJrÜieil  des  Aristoteles  zusammen,  da  er  den  „Andern"  von  dra- 
matischer Darstellung  nur  wenig  beilegt.  Zunächst  mögen  sie 
wenig  von  der  Erfindsamkeit  geübt  haben,  mit  der  Homer  in  der 
llias  die  umfassenden  Zustände  zu  Einzelscenen  zu  concentriren, 
also  für  lebendige  Rede  Gelegenheilen  zu  schaffen  wusste.  Dann 
aber  standen  sie  hinter  der  Weise  ihres  Meisters  wohl  ebenso 
w  eit  zurück  in  der  Zeichnung  von  Charakterbildern ,  in  der 
Schilderung  von  Gestallen  mit  ihrem  Schmuck,  von  den  Innern 
Eigenschaften  der  Personen,  von  Schönheit  der  umgebenden  Na- 
tur oder  der  Wohnungen  und  dergleichen.  Homer  selbst  hebt 
durch  Beschreibung  die  Eigenschaften  der  Person<»n  oder  Sachen 
oder  Orte  da  hervor,  wo  sie  für  die  Handlung  alsbald  bedeutend 
werden  sollen;  aber  mehr  noch  thut  er  es  in  energischer  Weise 
durch  die  Handlung  selbst,  feiner  noch  mittels  Reflex,  als  von  Per- 
sonen empfunden  und  lebendig  offenbart.  Es  wird  dies  in  der  später 
auszuführenden  Nachweisung  seiner  Darstellungsweise  voll  und 
reich  hervortreten.  Dürftig  stehn  uns  die  Beispiele  aus  den  an- 
dern Epopöen  zu  Gebote,  aber  jene  Beschreibungen  der  ganz  neu 
auftretenden  Helden  waren  auch  in  Homers  Weise  an  ihrer  Stelle, 
wie  er  Waffen  und  Bewaffnung  des  Aias  {II.  7),  des  Agamemnon 
(11)  und  gar  des  Achill  (IS)  beschreibt.  AVeiin  er  ferner  die 
Schönheit  der  Helena  durch  die  Wirkung  auf  die  Greise  und  ihr 
Gespräch  (11.3,  154  —  160),  die  der  Penelope  durch  die  auf  die 
Freier  zeichnet,  können  wir  Achills  Bewegung  beim  Anblick  der 
schönen  Leiche  in  der  Aethiopis,  imd  den  Menelaos,  dem  vor 
Helenas  Busen  die  Waffe  entsinkt,  in  der  Kleinen  llias  verglei- 
chen.    Auch  die  Vorbereitung   und   der   vor  den  Augen  des  Hö- 

205)  Die  Erfindung  der  Schrift  legte  Slesiclioros  in  seiner  Oresleia 
Fr.  31.,  den  Gehraucli  der  Zahl  zur  Ilooresonlntni;;  Acscliylos  im  Palanie- 
des  hei  Athen  1.  11.  E.  Fr.  170.  Nck.  S.  40  -vgl.  11111  I'lato  Staat  7.  522.  U.. 
den  der  Würfel  Pojygnot  in  seinem  Cit'iuiiido  Paus.  10,31,  1  dvinPalamedesLei. 

Nilzscli,  Gesell,  a.  griech.  Epos.  18 


274 

rers  werdende  Scliniuck  der  Aphrodite  in  den  erlialtencn  Versen 
der  Kypria  (Fr.  3.  Welck.,  S.  88 f.)  kann  mit  der  Schilderung  der 
Here  II.  14,  169  0".  einigermaassen  zusammengestellt  werden.  Es 
ist  wahrscheinlich,  dass  ausser  an  jenen  Stellen  noch  an  andern, 
gerade  in  den  Ryprien  und  der  Kleinen  Ilias,  die  lehendigc  Ue- 
schreihung  und  auch  die  Wirkung  gebraucht  war  z.  B.  als  Paris 
die  Helena  zuerst  erblickte.  Trotz  alledem  aber  muss  doch  die 
dem  Homer  gleichkonmiende  Anwendung  der  dramatischen  Form, 
wie  das  Maass  in  den  Beschreibungen,  wohl  von  Aristoteles 
vermisst  worden  sein.  Eine  Vergleichung  der  Nachfolger  mit 
Homer  kann  nur  so  versucht  werden,  dass  wir  durch  muthmaass- 
liche  Folgerung  aus  dem  Gegebenen  dahin,  streben,  die  allgemei- 
nen Sätze  des  Aristoteles  ungeachtet  der  ganz  unpoetischen  In- 
haltsanzeigen auf  die  einzelnen  Darstellungsformen  zu  beziehen 
und  so  einigermaassen  auszulegen.  Ueher  die  drei,  Arktinos, 
Lesches  und  Stasinos  konnten  wir  ein  unterscheidendes  Urlheil 
gewinnen;  die  gewählten  Stoffe  zeigten  sich  für-  die  Einheitlich- 
keit in  ganz  ungleichem  Grade  geeignet.  Die  Aethiopis  des  Ark- 
tinos stellte  sich  durch  ihre  vortreffliche  Einheit  neben  Ilias  und 
Odyssee,  dagegen  verriethen  die  Kypria  des  Stasinos  in  dieser  Be- 
ziehung ein  schwaches  Kunstgefüljl.  In  der  doppelten  Behandlung 
der  Einnahme  Troias  offenbarte  sich  die  verschiedene  Wellansicht, 
aber  Lesches  bei  seiner  Hervorhebung  der  Menschenkraft  erreichte 
doch  die  persönliche  Einheitlichkeit  nur  durch  willkürliche  Um- 
bildungen der  überlieferten  Sage,  während  der  ernste  Arktinos, 
dieser  getreu,  seine  erhabenere  Idee  von  den  Geschicken  nach 
Möglichkeit  durchführte.  Indem  bei  diesem  letztern  das  langher 
drohende  Strafgericht  an  Troia  sich  erfüllte,  geschah  es  wegen 
Frevels  der  Sieger  nicht  zu  ihrem  reinen  Gewinn,  und  aus  dem 
Fall  der  Königsstadt  ging  das  Aeneadenreich  hervor.  Ausser  diesem 
Ergebniss  hinsichtlich  der  Norm  für  Gestaltung  des  Ganzen  und 
dessen  Einheitlichkeil,  finden  wir  das  ganz  summarische  Urlheil 
über  die  Darstellungsweise  der  Andern  in  seiner  Allgemeinheit 
ungiltig,  die  dort  getadelten   Beiden  waren  hierin    auszuzeichnen. 

25.   Fortsetzung.     Gleichnisse    und    Gemeinspr ü  che. 
Es   fehlt  uns   zur   Vergleichung   der  Andern   mit  Homer   in 
emptindlichstem   Grade    an    Beispielen   von    ihrem  Gebrauch    der 


275 

so  mannigfachen  Mittel  der  Darstellung.  Auf  sie  Hess  die  be- 
griffliche Theorie  freilich  sich  wenig  ein;  und  doch  müssen  sie 
sämmtlich  bei  ihnen  Allen  mehr  oder  weniger  vorgekommen 
sein.  Jedenfalls  würde  ein  gehöriges  Urlheil  sich  dann  erst  bil- 
den können,  wenn  auch  diese  spezielle  Vergleichung  möglich  wäre. 

Gleichnisse  und  Gemeinsprüche  sind  nach  der  dramatischen 
und  immer  charakterisirten  Darstellungsweise  die  namhaftesten 
Erweisungen  des  homerischen  Genius.  Die  Theorie  des  Aristo- 
teles gedenkt  in  der  Topik  der  Vergleicliungen  als  Mittel  der 
Verdeutlichung  und  stellt  den  homerischen,  welche  von  allgemein 
vorliegenden  und  bewussten  Anschauungen  entnommen  seien,  die 
des  Chörilos  im  Epos  über  die  Perserkriege  entgegen.^^^)  Dem 
Gegensatz  nach  waren  die  des  Chörilos  gesucht  und  gezwungen. 
Dieses  Ungehörige  ins  Licht  zu  setzen,  gaben  die  ältesten  Epiker 
gewiss  keine  Gelegenheit,  so  unzweifelhaft  ihrer  Phantasie  auch 
Gleichnisse  zu  Gebole  standen,  um  Momente  der  Erzählung  zu 
versinnlichen  und  zu  heben.  Freilich  findet  sich  unter  den  spar- 
sam erhaltenen  Versen  kein  eigentliches  Glcichniss,  nur  eine 
einfache  V^ergleicliung  in  dem  Wort  jener  Jungfrau  bei  Lesches: 
„Auch  wohl  ein  Weib  mag  tragen  die  Last,  wenn  ein  Mann  ihr 
sie  auflegt". 

Gemeinsprüche  konnten  ebenso  wenig  bei  den  Nachfolgern 
Homers,  der  daran  so  reich  ist,  fehlen.  Bei  aller  Zufälligkeit 
liegen  uns  doch  einige  vor,  aus  Arktinos'  Eroberung:  „Thöricht 
ist,  wer  den  Vater  erschlug  und  die  Söhne  zurücklässt";  aus 
Stasinos  „denn  wo  Furcht,  da  ist  auch  Scheu  stets",  ,,Wein, 
Menelaos,  erschufen  den  sterblichen  Menschen  die  Götter  Als  gar 
treffliches  Mittel  hinwegzuschcuchen  die  Sorgen". 

Von  diesen  beiden  Formen  wendet  Homer  die  Gleichnisse 
gemeiniglich  in  eigener  Person  an,  die  Gemeinsprüclie  dagegen 
nirgends  für  sich  präcepternd,  sondern  immer  dramatisch  im  Munde 
seiner  Personen  und  an  Stellen,  welche  für  die  Sprecher  charak- 
teristisch, für  die  Handlung  bedcnliuigsvoll  sind.^"')    Wenn  wir  nun 


206)  Topica  VIII.  a.  E.  Nake  Qliöril.  04. 

207)  Sagonp.  TBf.  Odysscus  11.2,  204:  „ViollKMTsrliaftlaugl  niiiiiiicr 
im  Volk;  Ein  König  gchiok'".  Kcslor  II.  9,  ^\'^■.  ..Hcclillos  nonn'  icli  den 
Mann"  u.  s.  w.  Hoklor  11.12,24:5:  „Ein  Walirzcidicn  nur  gilt,  das  Valpr- 
land  zu  onellon'-.     Pulydanias  II.  13,  72'.)  If.    Zeus  11.  17,  440.    Odysscus 

18* 


^276 

bei  den  Epikern,  welche,  vom  Vortrag  der  homerischen  Gedichte 
zu  eigener  Dichtung  angeregt,  ihrem  Meister  wohl  auch  in  diesen 
Stücken  nachdichteten,  von  beiden  nicht  wenigen  Gebrauch  vor- 
aussetzen, so  fehlt  es  uns  allerdings  an  Belegen,  um  ihr  Ver- 
fahren mit  dem  Vorbilde  genau  zu  vergleichen.  Dessenunge- 
achtet ist  es  denn  doch  nur  eine  naliu'liche  Annahme,  dass 
auch  diese  Nachfolger,  vollends  der  so  gern  ausführende  kyp- 
rische  Epiker  nnd  der  erregte  Lesches,  diese  Darstellungsmiltel 
nicht  ungebraucht  gelassen.  Die  spezifische  Kraft  des  Dichters, 
die  Phantasie  und  gerade  auch  die  epische  Dichtung  brachte 
unausbleiblich  die  Darstellung  belebende  und  hebende  Bilder  her- 
vor. Und  waren  jene  durch  Homer  in  die  Phantasie-  und  Glaubens- 
welt der  Sagen  eingeführt,  und  halte  er  seine  Darstellung  durch 
Bilder  so  reichlich  belebt,  durch  Sprüche  so  häufig  gewürzt,  so 
konnte  Beides  bei  ihnen  nicht  ausbleiben.  Ist  uns  die  spezielle  Ver- 
gleichung  nicht  möglich,  so  können  wir  wenigstens  ein  muthmaass- 
liches  Urtheil  aus  dem  Verhältniss  gewinnen,  welches  zwischen  den 
Spätem,  Quintus  und  Apollonios  von  Bhodos,  und  Homer  stattfin- 
det. Sie  sind  in  ihren  Gleichnissen  und  Sprüchen  theils  den  homeri- 
schen Mustern  gefolgt,  theils  haben  sie  selbsterfindsam  Eigenes  ge- 
geben.'^"'') So  wird  das  Verhältniss  der  älteren  Nachfolger  des  Ho- 
mer unstreitig  ebenso  theils  das  abhängige  des  Nachahmens,  theils 
ein  freithätiges  gewesen  sein.  Dass  Qleichnisse  und  dass  Gemein- 
sprüche gerade  in  lebendig  vorgetragenen  Gedichten  als  annehm- 


Od.  8,  IGT  11".  927  f.  uiul  18,  136  f.  und  19,  13.  Telemach  Od.  2  ,  04—66. 
Der  fromme  Eumaos  Od.  14,  83  f.  und  404—400.  Solche  Sprüclie  aus 
Homer  lebten  den  Griechen  im  Gedäclitniss  imd  gingen  von  Munde  zu 
Munde,  und  wurden  von  ihren  Schriflslellern  nacli  diesem  populären  Ge- 
brauch citirl.  So  Ihat  auch  Aristoteles  und  verwecliselle  dabei  melirfach 
die  eine  Stelle  mit  der  andern.    Sagenp.  338 f. 

208)  Ueber  Quinlus  s.  Koecldy  Proleg.  XGIV.  und  V.  Die  Sphären 
und  unmillelbaren  Anschauungen,  aus  denen  Homer  seine  Bilder  enlnalun, 
konnten  bei  den  Epikern  so  viel  civilisirterer  Zeil  nidit  innner  ikk  b  die- 
selben sein.  Wohl  waren  Bilder  von  der  gewobuliflien  Viebznclil  und 
von  Hauslbieren  ihnen  aus  eigener  Erfahrung  Li;egenwärlig,  aber  Löwen 
und  Panther  halle  gewiss  weder  Apollonios,  noch  vollends  Ouinlus  aus 
eige'ner  Anschauung.  Und  wohl  schon  Lesches  nicht  mehr,  wälueml  die 
Gleichnisse  von  Löwen  und  der  Löwenjagd  der  bewadnelen  llirlen  bei 
Homer  aus  eigener  Kunde  und  lebemliyer  Auffassung  der  Tbierwell  ganz 
besonders  hervortreten. 


277 

liehe  Ziithat  galten ,  ersehn  wir  aus  den  mehren  Stellen  der  IliaS 
und  Odyssee,  \vo  wir  sie  als  von  Rhapsoden  selbst  eingefügt  er- 
kennen.'""^) Also  von  allen  Seiten  her  wird  uns  der  Gebrauch 
Beider  bei  den  ncächsthomerischen  Epikern  glaublich.  Sie  unter- 
schieden sich  aber  von  den  Spätem  wahrscheinlich  nach  der 
Bestimmung  für  Hörer,  nicht  für  Leser;  ihre  Gedichte  werden 
nach  der  Unterscheidung  des  Aristoteles  den  Sprechstil,  nicht 
den  für  Leser  oder  Vorleser  bestimmten  gehabt  haben.  Dieser 
letztere  trat  in  epischen  Gedichten  mit  Chörilos,  Panyasis,  An- 
timachos  ein,  und  waltete  bei  den  Alexandrinern  bei  aller  Nach- 
ahmung des  Homer  doch  vor.''") 

Das  Musterhafte  der  homerischen  Gleichnisse  besteht  frei- 
lich nicht  in  diesem  Stilistischen  zunächst,  sondern  in  all  ihrer 
Erfindung,  ihrer  bemessenen  Anwendung  und  Ausfidirung.  In 
der  Erfindung  offenbart  der  geniale  Dichter  seine,  die  ganze  Er- 
scheinungswelt beherrschende  allgegenwärtige  Phantasie,  da  er 
bei  dem  häufigen  Gebrauch  doch  nur  in  ganz  einzelnen  Fällen 
dasselbe  Bild  wiederholt.  Die  Gestaltung  der  Vergleichungspunkte, 
da  vorherrschend  nicht  die  Subjecte,  sondern  deren  Situation  ihn 
bilden,  offenbart  in  einer  Anzahl  in  ganz  eigenthümlichem  Grade 
den  mit  der  Phantasie  wirkenden  Verstand,  der  in  dem  verschie- 
densten das  Analoge  erfasste,  wie  Iris  gleich  dem  Senkblei  in 
das  Meer  taucht  (II.  24,  80.),  Odysseus  (Od,  5,  a.  E.)  unter  einer 
Schütte  Laubes  liegt  wie  der  glimmende  Brand  unter  der  Asche.'") 


209)  Die  Rhapsoden  schoben  dergleichen  neu  ein  oder  erweiterten 
üJicrkounnene  durch  Einschiebsel. 

210)  Arisloleles  Rliet.  3,  12,  2.  vgl.  mit  13,  1,6.  unterscheidet  die 
Sclu'eibart  und  Slilfürm  für  Rtiapsoilen  und  dramatischen  Vortrag  von 
dem  Lesostil.  Sagenp.  304.  ,, Hätten  die  Kleine  llias  und  die  Kyj)ria  nicht 
viel  der  homerisclicn  Darstellungsarl  gehahl,  so  wären  sie  wohl  weder 
auf  den  Jiomerischen  Namen  gekommen,  nocli  liätten  die  Rhapsoden  sich 
mit  ihrem  Vortrag  so  viel  eingelassen,  wie  von  der  Kleinen  llias  und  den 
Kypria  ausser  den  Horaeriden  die  mehren  andern  Angaben  des  Verfassers 
nns  erkennen  lassen". 

211)  Dieses  feine  Erfassen  des  Analogen  überrascht  bisweilen  auch 
bei  andern  allen  Dichtern.  Rei  Aeschyl.  Clioeph.  409  oder  505  erhalten 
überlebende  Kinder  den  Ruf  des  Vaters  dem  Koike  gleich,  der  das  Fischer- 
netz vor  dem  Untersinken  schützt.  Die  schnellen  Weclisel  des  (iesciiicks 
sind  dem  Simonides  im  39.  oder  32.  Fr.  der  Threnen  so  uidiesländig,  wie 
die  Fliege  die  Stelle  wechselt.  Vgl.  Sokrates  bei  Xenophon  Memor.3,  11,5. 


278 

Es  werden  in  einem  späteren  Abschnitt  (Buch  3  §.  6)  diese  und 
andere  charakteristisclie  Eigenschaften  der  homerisclien  Gleich- 
nisse in  reichlichen  Beispielen  aufgewiesen  werden.  Dahin 
gehört  zuerst,  dass  der  Dichter  ihnen  so  oft  einen  das  Men- 
schengefühl ansprechenden  Zug  beigiebt  z.  B.  dem  von  der  Woll- 
spinnerin (II.  12,  435),  dann,  dass  die  grosse  Mehrzahl  sich 
knapp  in  wenigen  Versen  hält,  endlich,  dass  die  häufigere  oder 
seltnere  Anwendung  dieser  Darstellungsform  theils  sich  nach  dem 
Inhalte  der  Erzählung  richtet,  theils  nach  dem  genialen  Belieben, 
mit  andern  Mitteln  den  Hörer  festzuhalten,  wechselt.  Hier  ist 
diejenige  Eigenschaft  hervorzuheben,  welche  die  späteren  Epiker 
so  oft  verlassen  haben.  Homers  Gleichnisse  sind  innner  der  An- 
schaulichkeit wegen  angewendet,  und  daher  von  allbekannten  An- 
schauungen entnommen,  sie  stellen  deswegen  ihre  Bilder  reinlich 
und  hell  in  ihren  Zügen  hin,  und  auch,  wo  sie  in  grösserer  Zahl 
gleich  nach  einander  erscheinen,  hebt  jedes  seinen  Moment  unver- 
wickelt  hervor.  Anders  die  uns  vorliegenden  späteren  Epiker. 
Sowohl  häufen  sie  bei  der  einfachen  Vergleichung  zu  gern  und 
oft  die  Subjecte,  als  sie  auch  öfter  ihre  Bilder  überhäufen  und  ver- 
schlingen, so  dass  sie  weder  zu  rechter  Sichtlichkeit  hervortreten, 
noch  dem  Geiste  die  Ruhe  der  Wahrnehmung  gewähren. ^'^)  Und 
wenn  die  Nachbildung  der  homerischen  ihre  Selbstthätigkeit  hat, 
so  behält  das  Vorbild  doch  vor  dem  Nachbilde  seinen  Vorzug.  In- 
dessen nicht  die  nächsthomerischen  Epiker,  sondern  Chörilos  in 
seinem  Epos  vom  Perserkriege  diente  dem  Aristoteles  zum  Gegen- 
satz bei  der  Unterscheidung  der  schönen  oder  tadelhaften  Wahl 
der  Bilder.  Aus  allbewussten  Anschauungen  sollen  sie  entnommen 
sein  wie  die  homerischen,  nicht  wie  die  des  Chörilos,  nicht  gesucht 
und  erkünstelt.  Da  ist  nun  an  sich  kein  Zweifel,  dass  die  Gleichnisse 
der  älteren  Epiker  ebenso  wie  die  homerischen  gemeinverständ- 
liche Anschauungen  gebracht  haben.  Aber  auch  die  unverwickelte, 
das  einzelne  Bild  schlichthinmalende  Ausführung  haben  wir  ihnen 
zuzutrauen.  In  der  Ilias  und  Odyssee  treten  Gleichnisse  nicht 
ein,  wo  die  Erzählung  durch  sich  drängende  Thatsachen  rascher 
fortschreitet  oder  die  Handlung  durch  Gespräche  gefördert  wird. 
Gewiss  auch  so  bei  den  Nachfolgern  Homers.     Ebenfalls  werden 

212)  Homer  häuft  die  Sul»jecte  nur,  wo  durch  gehäufle  Verneinungen 
ein  Gegensalz  gehoben  wird.    II.  14,  394.  96.  98.  —  22,  262  f. 


279 

die  Einzelkämpfe  in  der  Aethiopis  und  der  Thebais,  der  ersten 
Partie  der  Epopöen  von  der  Zerstörung,  ihren  Diclitern,  wie  die 
Erzählung  vom  Kampfe  auf  dem  Schlachtfelde  dem  Homer,  oft- 
mals Anregung  zu  Bildern  gegeben  haben;  auch  sie  werden  nicht 
ermangelt  haben,  besondere  Erfolge  durch  Bilder  zu  heben.  Es 
kommt  uns  nirgends  her  ein  Grund,  Fähigkeit  und  Absicht  sol- 
cher Belebung  den  rhapsodirenden  Epikern  weniger  zuzuschrei- 
ben, als  einem  ApoUonios  oder  Quinlus.  Vielmehr  wirkte,  wie 
gesagt,  die  Bestimmung  für  den  lebendigen  Vortrag  auf  Gebrauch 
der  dem  Hörer  gefälligen  Darstellung  und  zugleich  auf  jene  epi- 
sche Durchsichtigkeit. 

26.   Allgemeine    Stellung   der   späteren   Epiker    zu 

Homer. 

So  haben  wir  die  nächsthomerischen  Epiker  uns  als  Dichter 
vergegenwärtigt,  welche  ihre  Sagenparlieen  jeder  aus  eigenem  An- 
triebe \^ählten,  und  doch  ihre  Darstellung  der  des  Flomer  nachbilde- 
ten. Aber  Homer  halle  durch  seine  Neubildung  früherer  Lieder 
nicht  blos  diese  vergessen  gemacht.  Die  mannigfachen  Erwei- 
sungen seiner  Genialität  bildeten  eine  harmonische  Gesammtheit 
von  Vorzügen,  denen  auch  nur  im  Einzelnen  es  annähernd  gleich- 
zulhun,  schon  Beifall  und  Buhm  brachte.  Homer  halte,  durch 
die  glücklich  und  sinnvoll  gewählten  Stolle  begünstigt,  es  mit  seiner 
in  allen  Zeitaltern  seltenen  Begabung  vermocht,  Hörern  des  ver- 
schiedensten Geistes  und  Geschmacks  zu  gefallen,  den  flacheren 
und  auch  den  tieferen,  denen,  welche  der  Scenenwechsel  und  er- 
regtes dramatisches  Leben  anzog,  und  auch  den  Sinnigeren,  welche 
die  Pläne  und  Charaktere  im  Fortgang  der  Handlung  verfolgten. 
Die  Nachfolger  waren  alle  minder  als  er  begabt,  und  nur  in 
Einem  Falle  durch  ihren  Stofl'  gleich  begünstigt,  den  jeder  Epi- 
ker nach  dem  Interesse  seiner  Umgebung  wählte.  Was  die  Ein- 
heillichkcll  anbetrifft,  hatten  sie  es  meistenlheils  schwerer,  behan- 
delten aber  das^  Gewählte  natürlich  auch  als  Individuen  nach  dem 
Grade  und  Eigenlhündichkeit  ihrer  Begabung,  wie  nach  ihrer 
Weltansicht  verschieden.  So  ist  jedes  allgemeine  Urthcil  unhi- 
storisch, wenn  es  mehr  besagt,  als  dass  keiner  von  ihnen  die 
Vortreftlichkeit  der  Uias  und  Odyssee  erreicht.  Die  griechische 
Epopöe,   deren   Blülhe   und   Höhepunkt  jene   beiden   darstellten. 


280     . 

erschien  mithin  sell)st  in  der  Aethiopis  und  der  Zerstörung  Troias 
von  Arktinos  und  der  häufig  für  homerisch  anerkannten  Thehais 
schon  als  NachhUithe  und  Abnahme.  Dessenungeachtet  giebt  die 
Einwirkung  dieser  Gedichte  auf  die  Lyriker  und  Tragiker,  nament- 
lich Stesichoros,  Pindar  und  Aeschylos,  von  ihrer  sinn-  und  le- 
bensvollen Darstellung  Zeugniss.  Sodann  lassen  die  Nachbildungen 
der  Kunst,  welche  nur  Bekanntes  darstellen  mochte,  schliessen 
auf  eine  durch  Rhapsodie  verbreitete  Kunde  wie  von  Uias  und 
Odyssee,  so  von  der  Aethiopis  und  andern.  Ja  wenigstens  für  die 
Annerkennung  der  Thehais  giebt  es  auch  ausdrückliche  Urtheile.'") 
Dass  Aristoteles  dieser  Epopöe  in  der  uns  vorliegenden  Poetik 
nirgends  erwähnt,  darüber  lässt  sich  nur  das  constaliren,  dass  er 
also  sie  weder  zum  tadelnden  Gegensatze  noch  als  Beispiel  des 
Richtigen  und  Schönen  angewandt  hat.  Ihre  Einheit  war  voll- 
kommen, da  sie  im  Amphiaraos  auch  eine  Hauptperson  besass, 
aber  da  der  Zug  gegen  Theben  diese  Einheit  an  sich  schon  gab, 
so  konnte  sie  nicht  so  gut,  wie  die  der  Ilias,  dienen,  um  die 
AVeisheit  ins  Licht  zu  setzen,  mit  welcher  die  Epopöendichter 
einen  reicheren  SagenstofF  zur  übersichtlichen  Handlung  zu  be- 
schränken habe.  Des  Aristoteles  Bemerkung  über  den  troischen 
Krieg  als  zu  umfänglich  wies  tadelnd  vielmehr  auf  die  Kypria  hin. 
Dieser  Tadel  hatte  Recht,  aber  was  die  Theorie  über  die 
gute  Wahl  der  epischen  Stoffe  vorschrieb,  war  für  den  Dichter 
nicht  das  Entscheidende.  Er  wählte  aus  der  Fülle  der  überlie- 
ferten Sagenstoffe,  nicht  nach  einem  Kunsturtheil,  sondern  zu- 
nächst nach  den  volksthümlichen  Beziehungen.  So  Stasinos,  so 
schon  Homer  selbst.  Wäre  es  anders  geschehen,  dann  würden 
manche  Sagentheile  nie  zur  Behandlung  gekommen  sein. 

27.  Die  Nosteu  des  Agias. 
Ausser   dem  Anfangstheil   des  troischen  Kriegs  war  der  von 
der  Heimkehr  der  Griechen  der  ungünstigste ,  vieltheiligste.    Dies 
war  bei  beiden  Partieen  um  so  mehr  der  Fall,  als  in  der  nach- 
homerischen  Zeit   in   der   Vorstellung   von    den  Ereignissen   und 


213)  Pausanias  sagt  gewiss  nicht  nach  einzeln  stehender  Auffassung 
9,  9,  5,  er  lohe  diese  Poesie  nacii  Ilias  und  Odyssee  am  meisten.  S.  nach 
dem  01)igen  ( und  dazu  das  vorliomerische  Lied.  Buch  2 ,  §.  10.)  Welcker 
Cycl.  II ,  377  und  378. 


281 

Personen,  wie  sie  von  Homer  dargestellt  ^Yorclen,  mehrfacher 
Wandel  geschehn  war.  Das  Volksbewusstsein  und  der  Glaube 
war  ,ein  andrer  geworden,  so  dass  Arktinos  seinen  Milesiern 
ihren  verehrten  Heros  Achill  nicht  anders  als  bei  seinem  Tode 
vergöttert  darstellen  konnte,  und  dass  ebenso  vollends  Kreophy- 
los  den  Herakles  am  Ende  seiner  Einnahme  Oechalias,  welche 
nach  aller  Sage  in  seine  Vergötterung  auslief,  diese  seine  Ent- 
rücknng  geschildert  haben  wird.^'*)  Die  Vermählung  mit  der 
Göttin  der  ewigen  Jugend  bezeichnet  den  Herakles  ja  als  den 
ersten  vergötterten  Heros.^'^)  Durch  den  Wandel  im  Glauben  an 
jetzt  zur  göttlichen  Natur  erhobene  Heroen''^)  waren  auch  manche 
der  vor  Troia  kämpfenden  Helden  aus  ihrer  homerischen  Heimath 
durch  die  Colonieen  und  die  Völkerzüge  an  einen  andern  Ort 
versetzt.  Dies  bewog  den  Agias  von  Trözen  in  Argolis,  in  seiner 
Epopöe,  welche  die  Heimkehr  der  Atrciden  oder  der  Achäer 
hiess,  den  Kalchas  nicht  nach  dem  3Iutterlande,  sondern  nach 
Kolophon  ziehn  zu  lassen,  den  Neoptolemos  ebenfalls  zu  Lande 
durch  Thrakien  zu  den  Molossern,  statt  nach  Phthia  (Od.  3, 
188).  Kalchas  nämlich  war  nach  der  jetzigen  Sage  bei  der 
Heimkehr  des  Griechenheeres  von  Troia  zu  Lande  nach  Kolo- 
phon gewandert;  von  mehren  Cultusstätten  dieses  prophetischen 
Heros  ist  gerade  diese  von  den  ältesten  und  meisten  Schriftstel- 
lern bezeugt.  Aber  bei  Agias  muss  in  dem  Inhalte  bei  Proklos, 
da  eben  Kalchas,  nicht  Teiresias  bei  Kolophon  bestattet  war,  statt 
„sie  bestatteten  den  Teiresias"  gelesen  werden  „den  Kal- 
chas". Eben  die  Cultussage  von  Kalchas'  Grabe  war  die  Ursache, 
welche  des  Agias  Erzählung  hervorrief.  —  Dass  Neoptolemos  zu 
den  Molossern  geht,  giebt  sich  sofort  als  die  Geschlechlssage  der 
Könige  von  Epirus  zu  erkennen,  wie  sie  Pindar  (Nem.  7,  38  =  57) 
und  die  Geschlechtstafeln  bei  Pausanias,  1,  11,  und  Plutarch 
(Pyrrh.  '1.)  bezeugen.  —  Nur  diese  Cultussagen  erscheinen  von 
Agias  zu  seiner  Epopöe  verwendet,  nicht  auch  die  von  Diomedes 
und  von  Nestor.     Von  diesen  besagt  der  Inhalt  aus  Proklos  aus- 


214)  Welcker  Cycl.  I,  233. 

215)  Prellcr  Gr.  »lytli.  2,  178  und  meine  Anni.  zur  Odyssee  Tli.  3, 
346  und  344. 

216)  Der  uns  eben  erst  in  den  iiächslhomcrischcu  Eiinpöcn  als  er- 
folgt kund  wird. 


282 

drücklich  nichts  Anderes  als:  Diomedes  und  Nestor  zu  Schiffe 
gegangen,  kommen  giiickiich  nach  ihrer  Heimalh  (Argos  und 
Messenien).  Es  verbietet  zuerst  die  Bestimmtheil  dieser  Angabe, 
dann  der  augenscheinliche  Ursprung  der  andern  Sagen  aus  dem 
Heroencultus,  dem  Agias  diese  andern  auch  beizulegen.  Endlich 
aber  war  der  Verlauf  der  Epopöe,  wie  die  Vergleichung  der  In- 
haltsangabe in  ihrem  Fortschrill  mit  Od.  3,  165  — 167  — 180  bis 
183  lehrt,  eben  der,  dass  der  Dichter  zuerst  von  der  Heimkunfl 
der  Lieblinge  der  Athene  erzählte ,  welche  über  die  See  unge- 
fährdet und  ohne  Abenteuer  in  ihre  Heimath  gelangten.  Dann 
erst  beginnt  er ,  die  eigentlichen  Folgen  des  Zorns  der  Athene 
zu  berichten.  Sonach  haben  wir  allen  Grund,  diesem  Epiker 
auch  viele  Bemessenheit  und  Sorge  für  einheitlichen  Fortschritt 
zuzutrauen ;  andrerseits  aber  kann  einer  besonnenen  Forschung 
nicht  entgehn,  dass  eine  gar  zahlreiche  Älenge  von  angeblichen 
Gründern  und  Stiftern,  wie  deren  Buch  1,  §.  4b.  besprochen 
sind,  aus  dem  Heroencultus  herzuleiten  sind,  der  eines  Grabes 
bedurfte  und  in  Folge  dessen  eine  Sage  mittels  Rückdichtung 
hervorrief.  Allerdings  sind  mm  diese  Sagen,  wie  wir  sehn, 
theilweise  von  den  nächsthomerischen  Epikern  beachtet  worden. 
Indessen,  wenn  Arklinos  im  Sinne  der  milesischen  Golonieen 
den  Achill  bei  seiner  V^ergötterung  eben  dorthin  entrückt  schil- 
derte, wenn  Agias  in  seiner  Epopöe  von  der  Heimkehr  den 
Neoptolemos  und  den  Kalchas,  den  Polypöles  und  Leonteus,  die 
heroischen  Gründer  von  Aspendos  in  Pamphylien,  durch  Wan- 
derung nach  den  Orten  ihrer  Verehrung^*')  gerettet  sein  lässt: 
so  haben  sie  damit  augenscheinlich  nur  die  Cultussagen  aufge- 
nommen, welche  sie  ihrem  Plan  anpassen  konnten.  Der  des  Agias 
Mar  der,  die  Heimkehr  unter  dem  Zorn  der  Athene  zu  besingen.'^'*) 


217)  Eusl.  zu  11.334,  26—28. 

2J8)  Es  ist  schon  in  Buch  1,  %.  4  b,  Anni.  21  aiil'  lüo  ülmr  die  Gräber 
der  Ciründcr  so  sprecliende  Stelle  des  Slmbo  VI.  264,  15  vgl.  mit  222  liin- 
gewiescn:  „Metapunlion  heisst  eine  Grinulung  der  Pylier,  die  mit  Nestor, 
von  llion  zurückkehrend,  verschlagen  wurden.  Zur  Bestätigung  verweisen 
sie  auf  den  bei  ihnen  bräiicldichcn  Grabescultus  derNelcidcn".  Von  Nestors 
verschlagenen  SchiB'en,  überhaupt  von  iluu  oder  von  Diomedes  Etwas  zu 
erzählen ,  gab  es  in  des  Agias  Plan  gar  keine  Stelle.  Ganz  unstatthaft 
muss  also  die  Ausdehnung  erscheinen ,  welche  der  gelehrte  Stichle  den 
Noslen  beilegt.    Philo!.  8,  54—57,  sowie  er  selbst  keinen  Maassslab  hat. 


^283 

Das  Gedicht  des  Agias  war  durch  den  zweiten  Titel  „Rück- 
kehr der  Atreiden"  nach  seinem  Hauptinhalt  bezeichnet  und  be- 
messen. Der  Inhalt  des  Proklos  macht  es  bei  seiner  mehr  als 
skeletlartigen  Dürftigkeit  schwer.  Etwas  von  der  poetischen  Aus- 
führung herauszudeuten ;  nur  den  Eingang  und  Ausgang  ermittelt 
oder  erkennt  man  leicht  aus  der  Uebereinstimnmng  mit  den 
Angaben  der  Odyssee  aus  dem  Gesang  des  Phemios  (Buch  2,  §. 
11).  Der  sichtbar  enge  Anschluss  des  Agias  an  diese  Angaben 
der  Odyssee  ergänzt  überhaupt  nicht  Weniges.  Die  Citate  dann 
anderer  jüngerer  Schriftsteller  fügen  Anderes  hinzu.  Hauptsäch- 
lich bezeugen  sie  eine  Schilderung  der  Unterwelt,  da  denn  ein 
wahrscheinlicher  Anlass  dazu  zu  finden  ist.  Gleich  wie  in  der 
Todtenerzählung  (Nekyia)  der  Odyssee  erschienen  die  Jungfrauen 
Maira,  Klymene  und  Eriphyle  (wie  Od.  11,  326),  auch  Antiope 
und  Medea  und  war  neben  andern  Büssenden  Tantalos  unter 
einem  immer  drohenden  Felsen  zu  sehen.^"*) 

Der  erste  Satz  des  proklischen  Inhalts:  „Athene  setzt  den 
Agamemnon  und  Menelaos  in  Streit  wegen  der  Abfahrt",  be- 
zeichnet den  die  ganze  Handlung  beherrschenden  Zorn  der  Athene 
in  und  nach  seiner  Maassregel  deutlich.  Auch  der  Anfang  des 
Gedichts  selbst  wird,  sei  es  nach  Od.  3,  135  und  136.  den  Zorn 
der  Athene,  oder  nach  Od.  1 ,  326 f.  die  traurige  Heimkehr, 
welche  jener  Zorn  verhängte,  angekündigt  haben.  Dagegen 
musste  die  auf  die  Anrufung  der  Muse  folgende  Exposition 
alsbald  eine  olympische  Scene  oder  die  Erzählung  geben,  da 
Athene,  durch  den  lokrischen  Aias  und  mehr  noch  durch  seine 
Straflosigkeit  von  Seiten  der  Atreiden  erzürnt,  bei  Zeus  klagte, 
und  von  ihm  die  Bewilligung  und  wohl  auch  die  Wade  (Aegis) 
ziu"  Bestrafung  der  Frevler  erhielt.  Schon  in  der  Epopöe  von 
der  Zerstörung    musste,    da    das   Gedicht  in   diese  unglückliche 


219)  Wclcker  Cycl.  II.  542 f.  und  283.  Tantalos  im  Cital  bei  Atiicn. 
7,  281 B.,  wo  unter  dem  Titel,  Heimweg  der  Atreiden,  des  Tantalos  Strafe 
aus  der  Oberwelt  in  die  Unterwelt  versetzt  zu  denken  ist,  welche  niclil, 
wie  bei  Homer,  im  Darben  bei  immer  naiigebotenem  tJcnusse,  sondern, 
wie  beim  Damoklesschwert,  in  steter  Angst  durcli  den  überscliwebendeii 
Fels  bestellt,  wie  bei  Arcliiloclios ,  Alkman ,  Alkäos,  I'indar  (Ul.  1,  57. 
2,  7,  10)  und  Eur.  Or.  5  mit  der  Anm.  Im  Citat  des  Pausanias  1,  2,  1  ist 
der  ältere  Agias  durch  den  Beisatz  von  Trözen  gesichert,  der  jüngere 
hcisst  iuiincr  Argeier.    Vgl.  Zlschr.  f.  A.  41.  S.  165. 


284 

H<;imkehr  ausging,  jenes  ,,nn(l  Alliene  erwirkt  ihnen  Verderben  auf 
ileni  Meer"  diese  poetische  tiestaltung  gehabt  haben,  da  der  Volks- 
glaube verlangte,  dass  Athene  in  Einstimmigkeit  mit  Zeus  handele. 
Aber  der  Dichter  der  Heindiehr  musste  sie  ebenfalls  geben.  Nur 
hat  der  redigirte  Cyclus  und  also  der  proklische  Inhalt,  indem 
er  Jedes  nur  einmal  gab,  aus  Arktinos'  Poesie  die  Angabe  von 
der  Athene  Plan  und  dessen  Genehmigung  durch  Zeus,  aus  Agias 
erst  dessen  Ausführung  aufgenonnnen. 

Die  Ausführung  begann  niit  dem  Hader  der  Aireiden,  des- 
sen Veranlassung  und  nächste  Folgen  die  Odyssee  nach  dem  Lied 
des  Phemios,  3,  135  ff.,  so  erziUdl: 

Die  Aireiden  gerathen,  belliört  durch  die  zürnende  Athene,  in 
Streit  über  die  Abfahrt.  Menelaos  drängt  zum  baldigsten  Auf- 
bruch, Agamemnon  Avill  das  ganze  Heer  noch  zurückhalten,  um 
die  gewiss  zürnende  Athene  durch  Hekatomben  zu  versöhnen. 
Sie  können  sich  nicht  einigen  und  berufen  übereUl  alle  Achäer 
zur  Versammlung.  Ganz  zur  Unzeit  dies,-  es  war  schon  gegen 
Sonnenuntergang,  die  Leute  kamen  lärmend  und  vom  Weine  be- 
schwert. Nachdem  die  beiden  Führer  der  Versannnlung  ihre 
zwiespältigen  Meinungen  vorgetragen,  theilt  sich  das  Heer  in 
Parteien,  Avährend  die  Beiden  sich  in  heftigen  Wortwechsel  ge- 
genüber stehen.  Man  grollt  die  Nacht  hindurch,  am  Morgen 
zieht  man  die  Schiffe  ins  Meer,  aber  nur  zur  Hälfle  bleiben  die 
Leute  bei  Agamemnon  zurück,  zur  andern  Hälfte  schiffen  sie  ab 
und  hatten  ruhiges  Meer.  So  kamen  diese  nach  Tenedos;  da 
brachten  sie  den  Göttern  Opfer  für  glückliche  Fahrt  zur  lleimath. 
Doch  die  Gottheit  gewährte  auch  jetzt  noch  nicht  Heimkehr,  zum 
zweiten  Mal  erregt  sie  Streit,  die  Einen,  die  Partei  des  Odys- 
seus,  kehren  dem  Agamemnon  zu  Gefallen  zurück,  Nestor  und 
Diomedes  aber  mit  ihren  Genossen  erkennen,  der  Dämon  sinne 
Unheil  und  eilen  ihm  zu  entkonnuen.  Menelaos  hatte  auf  Te- 
nedos länger  gesäumt,  aber  er  kam  nach  und  traf  jene  auf  Les- 
bos,  als  sie  eben  erwogen,  ob  sie  den  kürzeren  Weg  oberhalb 
Chios  oder  den  sicherern  unterhalb  dieser  Insel  wählen  sollten. 
Ein  erbetenes  Vorzeichen  entschied  für  den  kürzeren  gerade  auf 
Euböa  zu;  diesen  fuhren  nun  Nestor  und  Diomedes  und  Mene- 
laos zusammen  (3,  173  —  179.  276  —  285),  und  brachten,  nach 
Gerästos  auf  Euböa   gelangt,   dem  Poseidon   ein   Dankopfer  für 


285 

die  glückliche  Fahrt.  Als  sie  weiler  am  attischen  Vorgehirge 
Sunion  vorbeifuhren,  traf  den  Steuermann  des  Menelaos  ein 
plötzlicher  Tod  durch  die  Pfeile  des  Apollon.  So  musste  Mene- 
laos hier  landen,  um  seinen  Steuermann  zu  bestatten.  Diomedes 
und  Nestor  aber  fuhren  weiter;  da  denn  jener  am  vierten  Tage, 
von  dem  enthaltenen  Vorzeichen  und  Lesbos  aus  gerechnet,  in 
Arges  landete,  Nestor  mit  günstigem  Fahrwind  alsbald  nach  Py- 
los  gelangle.  Während  dess  war  Menelaos  von  Sunion  den  Freun- 
den auf  glücklicher  Fahrt  gefolgt,  bis  zum  berüchtigten  Vorge- 
birge Lakoniens  Maleia  {Od.  3,  287.  9,  80.  m.  Anm.).  Hier 
verstürmle  Zeus  des  Menelaos  Schiffe  nach  Kreta  zu,  wo  der 
eine  Theil  derselben  an  Klippen  zerschellte,  so  dass  die  Mann- 
schaft nur  mühsam  sich  rettete;  die  andern,  fünf  an  Zahl,  auf 
denen  Menelaos  mit  Helena  A\ar,  trugen  die  Wogen  dem  Strom 
und  Land  Aegyptos  zu.  So  erfährt  der  andere  Atreide  den  Zorn 
der  Göttin. 

Dies  der  Gang  des  alten  Liedes  bis  Menelaos  fern  ab  in  die 
Irre  getrieben  wird.  Die  kurze  Inhaltsanzeige  lässt  keinen  Zwei- 
fel ,  dass  Agias  denselben  befolgt  hat.  W'ir  nehmen  aber  an, 
dass  er  die  weiteren  Irren  des  Menelaos  von  Kreta  aus  nicht 
gleich  im  Anschluss,  sondern  erst  später  erzählte.  Da  nämlich 
Menelaos  aus  dem  Munde  des  ägyptischen  Proteus  (Od.  4,  495  bis 
537.)  die  ganze  Geschichte  der  Heimfahrt  und  der  Ermordung  des 
Agamenmon  als  geschehn,  nicht  etwa  als  Vorhersagung  vernimmt, 
so  muss  Agias  eine  solche  Theilung  befolgt  haben,  dass  des 
Agamenmon  Geschick  den  ^gyplischen  Abenteuern  vorherging. 

Die  zu  Agamemnon  zurückgewandte  Erzählung  berichtete 
nun  zunächst,  wie  Kalchas,  der  gewiss  beim  Oberfeldberrn  ge- 
blieben und  an  dessen  Sühnopfer  theilgenonunen  hatte  —  viel- 
h'icbt,  nachdem  er  dabei  ungünstige  Zeichen  \\abrgenonnnen  — 
mit  den  beiden  Lapithen  sich  landwärts  auf  Kolophon  zu  gewendet. 
Dass  mit  Kah  lias  bei  Agias  noch  Andere  gezogen  seien,  ist  anzu- 
nehmen unstattbaft,  mögen  auch  mancherlei  Gidtussagen  ihm  nament- 
lich den  Seher  Amphiloclios,  den  Sobn  des  Amphiaraos,  gesellen.'^") 
Noch   weniger   ist   dies  von  dem  Arzt  Podaleirios  glaublicb,    von 

220)  Herod.  7,  91  a.  E.  vgl.  iiiil  3,  Ol.  Ainpliilochus,  wogegen  Str. 
088  an  das  äUere  Zeugniss  vom  Tode  des  Kalclias  crinnerl,  Aaipliiloclius 
und  Mopsos  hiessen  die  Gründer  von  Mallos ,  wie  Str.  mit  llückhlick  auf 


286 

dem  eine  unglückliclie  Seofalirt  voiinntet,  in  Folge  welcher  er 
Gründer  von  Syrna  in  Karien  ward.  Ueberhaupt  erzeugte  das 
wahre  Verhällniss  dieser  Sagen  von  den  an  Gräbern  als  Cultiis- 
stätten  verehrten  Heroen,  von  vielen  derselben,  aber  besonders 
von  den  prophetischen  Heroen  an  mehren  Stellen  Gräber  nnd 
Grabeslegenden. 

Wie  es  nun  undenkbar  ist,  dass  Agias  die  Sagen  alle  um- 
fasst,  welche  durch  die  Rückkehr  aus  Troia  ihre  Annahme  ver- 
mittelten, so  musste  des  Dichters  Plan  über  die  Auswahl  entchei- 
den.  Er  hat  denn  auch,  wie  vorher  bei  Diomedes  und  Nestor, 
so  hier  bei  Kalchas,  darnach  gewählt. ^^') 

Nach  Beendigung  der  Episode  von  Kalchas,  welche  nach 
dessen  Wettstreit  mit  Mopsos  seinen  Tod  und  die  feierliche  Be- 
stattung enthalten  haben  wird,  ging  Agias  zu  Agamemnon  zurück. 
Der  Epiker  vermied  ein  öfteres  Umspringen.  Während  nun  Aga- 
memnon die  Abfa-Inl  rüsten  lässt,  erscheint  (nach  dem  Inhalt) 
der  Geist  des  Achill,  bemüht,  ihn  durch  Verkündigung  dessen, 
was  ihm  bevorsteht,  zurückzuhalten.  „Ein  schöner  Zug  — ;  der 
Zweck,  grosse  Ereignisse  im  Voraus  prophetisch  anzukündigen, 
verbindet  sich  hier  mit  dem  Motiv,  den  Achilleus  theilnehmend 
gegen  den  früher  so  Gehassten  zu  zeigen".  (Welcker.)  Dieser 
Geist  musste  auch  den  Sohn  Neoptolemos  bestimmen.  Wie  die 
Folge  in  Scheidung  der  Partieen  berichtet,  bleibt  Neoptolemos 
mit  dem  alten  Phönix  und  ihren  Leuten  zurück.  Nicht  so  Aga- 
memnon und  nicht  der  schuldvolle  lokrische  Aias. 

Es  folgt  die  Hauptpartie  des  Rückwegs  der  Atreiden  und  der 


die  Sagen  von  Kalchas  bezeugt,  G75.  16 — 676.  Und  von  Ampliilochos  gab 
es  auch  noch  mannigfache  Sagen ,  wie  Str.  daselbst  mehre  verzeichnet, 
und  wie  sie  sich  namenllioh  Innsiclillich  einer  Rückkehr  nach  Argos  (Paus. 
2,  18,  5)  widersprechen,  zeigt  die  Verglcicliung  mit  Thuk.  2,  68,  von 
dessen  Erzäldung  üjjer  das  Argos  Anipliilochikon  wieder  Ephoros  hei  Str. 
326  ujul  462,  26.  abweicht.  —  Dass  dem  Quintus,  14,  366,  es  beliebte,  der 
Sage  von  Mallos  zu  folgen,  kann  nicht  über  Agias  entscheiden. 

221)  Podaleirios  wird  allein  von  Tzclzes  und  zwar  in  den  Schob  zu 
Lykoplir.  426  und  980  als  vierter  oder  dritter  erwähnt.  Die  Sagen  von 
diesem  erzählten  aber  von  einem  Schilfbruch,  von  dem  gerettet  er  Syrna 
gegründet,  Stcph.  v.  Byz.  unter  Syrna  und  Paus.  3,  26,  10.  Eine  andere 
von  einem  lleroon  im  italisclien  Daunien  in  der  Nähe  eines  solchen  des 
Kalchas  bei  Str.  6.  284.  Das  für  Agias  Richtige  untcrsciiied  auch  Stichle 
Philol.  8,  61  und  62,  nur  nicht  folgerecht. 


287 

Zornwirkung  der  Athene.  Jene  segeln  (wie  der  Inhalt  den  Sturm 
hei  den  kephareischen  Felsen  und  des  Aias  Untergang  hier  zu- 
nächst angiebl)  gerade  auf  Euböa,  und  dort  befällt,  wie  es  ein- 
stimmig lautet,^^*)  die  mit  Agamemnon  zusammenfahrenden  Schiffe, 
die  für  die  Flotte  des  Griechenheers  gelten,  ein  heftiger  Sturm 
mit  allem  Unwetter.  Athene,  von  Zeus  mit  dem  Blitz  oder  der 
Aegis  bewaffnet  (vgl.  II.  15,  229),  schmettert  ihn  auf  des  Aias 
Schiff.  Dieser  Untergang  erscheint  ebenfalls  in  allen  beredteren 
Schilderungen,  nur  dass  ihn  diese  mehr  oder  weniger  vor  dem 
allgemeinern  Verderben  hervorheben.  Agias  hat  nach  der  An- 
zeige ihn  besonders  betont,  und  das  ganze  Griechenheer  ward, 
wie  ein  Citat  vermuthen  lässt,  durch  Nauplios,  des  Palamedes 
Vater,  zu  den  verderblichen  Klippen  gelockt. ^^^)  Nachdem  hier 
Viele  umgekommen,  die  Wogen  den  Agamemnon  ins  weite  Meer 
getrieben,  so  wandten  die  Gölter  den  Wind  und  führten  ihn  zur 
Heimaihsküste,  in  die  Gegend,  wo  jetzt  Aegistlios  wohnte.'-^) 
Dort  erlitt  er  denn  den  Mord,  wie  ihn  bereits  das  vorhonierische 
Lied  vom  Rächer  Orestes  (Buch  2  §.  11)  besungen  hatte  und 
Phemios  in  seiner  Heimkehr  der  Achäer.  Keine  Wahrscheinlich- 
keit hat  bei  genauer  Prüfung  die  Vermulhung,  Mord  und  Nieder- 
gang des  Agamemnon  habe  den  Anlass,  hier  die  Nekyia  einzufü- 
gen, gegelien,  indem  seine  Ankunft  im  Hades  erzählt  worden  sei. 
Dieser  Mord  des  Oberfcldherrn  ist  ein  Ereigniss  der  Rück- 
kehr der  Atreiden,  die  zur  bewegenden  Grundursache  den  Zorn 
der  Athene  gegen  denselben  hat;  aber  er  selbst  dieser  Untergang 


222)  Aesch.  Agam.  624 — 635.  Ilcrni.  G48  ff.  Dind.  Eurip.  Tro.  iiiul 
78 — 86.  Ouiiit.  14,  420  tr.  450—465,  wo  ALliciie  ziuii  Ueberfluss  .lucli  lien 
Wiiulgoll  herljeinifl,  dann  aber  530  fl".  auf  dos  Aias  Scliiireincn  Hlilz  wirft. 
Ol)  Agias  liior  den  Zug  aus  Uil.  4,  500 — 510  von  Aias  Ficvelworl  aufge- 
nommen habe,  bleibt  ungewiss,  ist  aber  wahrscheinlich. 

223)  Apollodor  2.  1.  a.  E.  giebl  freibch  nur  den  Namen  Philyra  als 
den  der  Gallin  des  Nauplios  aus  den  Noslcn  an.  Aber  wcini  er  danach 
dem  Dichter  l)ekannt  war,  lässt  sich  nicht  wohl  ein  anderer  Anlass  ver- 
mullicn,  als  die  in  der  Tragödie  so  rurhlharc  Tliatsache,  welche  Ilygin  in 
den  Worten  angiebl:  lanquam  auxilium  iis  afferrel,  facem  ardenleni  eo 
loco  exlulit,  quo  saxa  acuta  et  locus  periculosissiuuis  erat.  Sophokles 
Trag.  Nauplios  der  Feueranzünder  Weick.  <ir.  Tr.  1,  184 — 101. 

224)  Es  sind  im  gewöhnlichen  Text  deM>dyss.  IV.  die  Verse  510  und 
520  vor  517  und  518  zu  setzen,  wie  bereits  liothc  und  .1.  Hekker  in  der 
kritischen  Ausgabe  gethan.    S.  Sagenp.  113  und  114.  Anm.  *) 


288 

des  Agamemnon  ist  nicht  in  jenem  Zorn  inbegriffen.  Das  Götter- 
regiment hatte  den  Aegisthos  gewarnt  und  schon  auf  die  folgende 
Strafe  hingewiesen  (Od.  1,  38).  Diese  Strafe  erfolgt  seihst  in 
dem  Gedicht  und  hildet  einen  Ilaupltheil  seines  Ausgangs.  Die 
homerische  Athene  spricht.  Od.  1 ,  46  f.,  es  zum  UeberOuss  selbst 
aus,  was  aller  Glaube  anerkannte,  Gatten-  und  Königsmord  war 
allen  Griechen  ein  Gräuel.  Es  ist  eine  That  Avider  Geschick  be- 
gangen und  ebenso  wenig  nach  dem  Sinn  des  Dichters,  irgend 
anders  zu  betrachten  für  Götter  und  Menschen  als  wie  ein  Fall 
des  drangsalvollen  Menschenlebens,  das  freilich  dies,  besonders 
durch  Schuld  der  Leidenschaften  Merde. 

Nach  Vollendung  des  Berichts  über  die  Schicksale  derer, 
welche  der  Warnung  Achills  nicht  gefolgt  waren,  kam  der  Er- 
zähler auf  den  dadurch  zurückgehaltenen  Neoptolemos  zurück. 
Er  hatte  mit  der  Abfahrt  gezaudert  und  überlegte  den  Weg,  da 
wird  er  durch  eine  Erscheinung  der  göttlichen  Mutter  seines 
Vaters,  der  Thetis,  bestimmt,  den  Landweg  durch  Thrakien  zu 
wählen.  Er  trifft  in  der  s.  g.  Maroneia  (Ismaros  Od.  9,  40.  mit 
Anm.)  den  Odysseus,  der  auch  nicht  mit  Agamemnon  abgefahren 
Mar  und  in  dieser  Epopöe  vom  Zorn  der  Athene  nur  hier  er- 
wähnt wurde.  Auf  dem  weiteren  Zuge  durch  Thrakien  starb  der 
alte  Erzieher  des  Achill  —  Phönix ^^^),  und  Neoptolemos  bestattete 
ihn.  Es  erfolgte  dieser  Tod  wahrscheinlich  bei  Eion  am  Ausfluss 
des  Strymon  unfern  Amphipolis.^^'')  Es  fehlt  uns  alle  Charakteristik 
des  Neoptolemos  auch  hier,  aber  Leichenspiele  sind  wohl,  ob- 
gleich die  Leute  dazu  nicht  fehlten,  niclit  beschrieben  worden. 
Mehrfach  dunkel  ist  die  Ankunft  des  weiter  ziehenden  Neoptole- 


225)  Hier  ist  eine  doppelte  Ungcuauigkeit- Stielile's  Pliil.  8,  68  zu 
rügen:  „Neoplolenios  —  trillt  in  der  Sladl  Maroneia  —  mit  dem  Odysseus 
zusammen,  mit  dem  er,  nachdem  er  zuvor  seinen  d  asel  b  s  t  versloi'- 
l)enen Begleiter, Phönix,  beerdigt,  d  ie  Reise  gemeins  cha  ftl  icli  fort- 
setzt". Wie  darf  die  suimnariscli  karge  Angabe:  „nnd  vollendet  dann 
den  übrigen  Weg"  durch  ein  ,,mit  diesem"  ergänzt,  und  wie  die  darauf  fol- 
gende Bestattung  des  Phönix  schon  bei  Maroneia  geschehen  gedacht  werden? 

226)  Tzelzes  zu  Lyk.  41711'.  Uerod.  7,  25  und  113  mit  Bahr  bes. 
Pop|io  Proleg.  zu  Thuk.  1,  2.  S.  350  f.  Ein  anderes  Grab  desselben  Phönix 
als  Heros  nennt  Slrabo  noch  bei  dem  gleichnamigen  Flusse  7,  428.  14. 
Der  Fluss  auch  von  Herodot  7,  200  nnd  27G  erwähnt  also  hei  Thcrmopylä. 
Dies  also  eine  Cullussage. 


289 

mos  angcgcljon  mit  „er  selbst  alier  zu  den  Molossern  gelangt, 
wird  erkannt  von  dem  Peleus".  Wir  erklären  sie  so:  Da  des 
Achills  Vater,  jedenfalls  alt  und  sclnvach,  von  den  Grossen  in 
seinem  Königtlium  bedroht  ward,^^')  musste  Neoptolemos  ihn  in 
solcher  Lage  trefTen  ;  aber  Peleus  war  bei  den  Molossern?  Dann  war 
der  greise  König  vertrieben  wie  in  mehren  Tragödien.  Da  nun 
Pindar ,  wenn  auch  mit  abweichender  Angabe  über  den  Weg, 
den  Neoptolemos  Nem.  7.  39  oder  54  IT.  ebenso  nach  Molossien 
kommen  und  da  die  Herrschaft  auf  seine  Nachkommen  vererben 
lässt,  so  haben  wir  vollends  eben  diese  Sage  als  von  Agias  be- 
folgt anzunehmen.*^-) 

Unbestimmt  muss  bleiben,  wo  nun  der  starke  Held  Neopto- 
lemos seinen  Ahn  traf  und  wie  er  durch  die  ihm  widerfahrene 
Gewalt  hindurch  nachmals  der  Stammvater  der  Könige  in  Molos- 
sien geworden  sei,  ob  er  den  Peleus  zuerst  in  Plithia  gesucht 
und  dann  den  vertriebenen  in  Molossien  gefunden  habe.  Für 
unsern  Zweck ,  die  Partieen  und  den  Fortschritt  der  Epopöe  zu 
verzeichnen,  ist  dies  auch  ohne  Bedeutung. 

Näher  zu  prüfen  ist  dagegen  die  Ansicht,  dass  Neoptolemos 
nun  in  das  Todtenrcich  gestiegen  und  den  Geist  des  Teiresias 
über  seine  Zukunft  befragt  habe,  so  dass  demnach  jene  Nekyia 
in  dieser  Anwendung  zu  denken  sei.  Günstig  für  eine  solche 
Annahme  ist  der  Umstand,  dass  gerade  das  wohl  älteste  bekannte 
Todtenorakel  in  Thesprotien  unfern  von  den  Molossern  war.  *^*) 
Wesentlicher  aber  empfiehlt  sich  Neoptolemos  inid  sein  Verhältniss, 
wenn  man  die  aus  der  Nekvia  genommenen  Bilder  von  Heroinen 


227)  So  in  II.  24,  487—489  in  Od.  11,  495 — 497,  503,  wonach  ihn 
Tragödien  von  Akastos  oder  seincui  Sühnen  verlrichen  darslolilcn.  Sopli. 
Peleus  Welcker  Gr.  Tr.  205.    Nanck  189.    Vgl.  Welftkcr  Cycl.  2,  289  f. 

228)  Wenn  auf  Tzclzos  zu  Lykophr.  TiOä  Voilass  ist,  holiielt  Les- 
ches  die  honicrisclic  Sagcngcslall  bei,  docii  beiiilil  Alles  auf  dem  \Vort 
Pharsalia  ohne  jede  weitere  Andeutung. 

229)  Ilerod.  5,  92,  7  und  die  i>foi  MokoOOixoi  in  den  Paroeniiac. 
Gott.  1.  419.  Einer  der  in  Ruf  stellenden  Eingängo  zur  IJnl(!r\voll  und 
zu  einem  Todtenorakel  schien  anzunehmen  zu  sein.  Jene  Annahme  befolgt 
Wolcker  Cycl.  2,  300,  der  S.  297  seine  frülierc  Vcnnulliung  (Cycl.  1.  281) 
zurückninnnl.  Ehendicsclhe  Slieldc  Pliilol.  a.  a.  0.  S.  50  f.,  der  aber  einen 
Beweggrund,  weslialh  Neoplolemos  in  die  Unlerwell  gegangen,  weder 
dort  noch  S.  G9  unten  angielit.  Was  Welcker  .bei  rillt,  müssen  wir  zuerst 
einen  Grund  vermissen ,  der  Neoptolemos  hewog. 

rlilzscli,  Gesch.  il.  giicch.  Ejids.  \\) 


290 

und  von  Tantalos  und  darin  eine  Nachbildung  der  homerischen 
so  deullicli  erkennt.  Diese  Bilder  müssen  unslreitig  wie  die  ho- 
merisciien  in  der  Unterwelt  seihst  gesehn  worden  sein.  Der 
erschienene  Geist  eines  Abgeschiedenen,  kam  er  nun  aus  dem 
Elysium  oder  aus  dem  Hades,  war  eben  nicht  dort,  und  kann  sie 
nicht  aufgewiesen  haben.  Also  nicht  der  Geist  des  Achill  vor  des 
Sohnes  Aufbruch,  aber  wohl  Neoptolenios  au  dieser  Stelle  eignete 
sich  zu  der  Annahme.  Nur  müsste  der  Wunsch,  seine  Zukunft  zu 
erfragen,  doch  bei  Neoptolenios  bestimmt  motivirt  worden  sein, 
was  er  nicht  ist.  So  schwebt  auch  diese  Vermuthung  in  Un- 
sicherheit, und  der  Niedergang  des  Aegisthos  und  der  Klytämne- 
stra  wird  eine  kaum  weniger  annehmliche  Wahrscheinlichkeit  bieten. 

Was,  nachdem  die  Rückkehr  des  Neoptoleraos  episch  un- 
unterbrochen durchgeführt  war,  in  der  Poesie  des  Agias  folgte, 
ist  aus  Proklos  oder  vielmehr  dem  Excerpt  seiner  Inhaltsangabe 
nicht  ohne  Weiteres  zu  entnehmen.  Dieses  trockne  Excerpt  hat 
vorher  nur  die  Abfahrt  des  Agamemnon  und  darauf  den  Unter- 
gang des  Aias  und  Anderer  bei  Euböa  angegeben,  nicht  aber 
die  Ankunft  und  den  Mord  der  Hauptperson,  wie  früher  ebenso- 
wenig des  Menelaos  weitere  Irren.  So  schiebt  es  denn  hier  den 
noch  nicht  erwähnten  Mord  eng  mit  der  Rachetbat  des  Orestes 
zusammen.  Diese  letztere  muss  aber  erst  nach  der  weiteren  Er- 
zählung von  Menelaos'  und  der  Helena  Irrfahrten  gefolgt  sein. 
Denn  während  dieser  Irrfahrten  geschah  der  Mord  und  schon 
in  Aegypten  erfährt  ihn  Menelaos,  aber  nicht  mehr,  nicht  auch 
die  erfolgte  Rache.  Diese  war  soeben  erst  vollzogen,  als  Mene- 
laos im  achten  Jahr  nach  Troias  Fall  heim  kam. 

Die  sieben  Jahre,  welche  Aegisthos  im  goldreichen  Mykene 
herrschte  und  der  erbuhlten  Gattin  des  gemordeten  Königs  ge- 
noss  (Od.  3,  304f. ),  Orestes  aber  zum  Jüngling  reifte  (Od.  1, 
41),  diese  Zvischenzeit  füllte  Agias  mit  den  Abenteuern  des  von 
Kreta  südwärts  getriebenen  Menelaos  aus.  Dass  nun  dieser  spä- 
tere Epiker  die  Schilderung  der  Landungen,  Gastbesuchc  und 
eingesammelten  Schätze  des  Menelaos  und  seiner  Helena  (Od.  3, 
300  —  302.  4,  81 — 85)  dem  Homer  im  Ganzen  nachgedichtet 
habe,  folgert  man  schon  aus  der  bisher  mit  Homer  übereinstim- 
menden Erzählung.  Strabo,  der  freilich  das  Gedicht  des  Agias 
wohl   so   wenig  als   sonst   eines   der   nächstbomerischen   kannte, 


291 

erläutert  nur  die  von  Homer  erwähnten  Besuche  —  his  nach 
Theben  —  und  besonders  die  durch  Geschenke  oder  Küslen- 
räuberei  gewonnenen  Reichthümer  (Str.  39  und  40).  Die  vielen 
Namen,  welche  die  Volkssage  von  dieser  Anwesenheit  des  Mene- 
laos  oder  der  Helena  herleitete,  wird  sänimtlich  rsieuiand  bei  Agias 
begründet  annehmen.-^")  Ob  er  der  Antenoridcn  Ankunft  in  liy- 
rene  erzählt  habe,  welche  Pindar  Pyth.  5,  89  mit  Helena  aus 
Troia  gekommen  nennt,  bleibt  ungewiss,  da  derselbe  sie  als 
verehrte  Heroen  bezeichnet,  es  also  eine  Cultussage  war.*^*)  Nä- 
her lag  dem  Plane  des  Agias  die  Sage  von  Kanopos  oder  Kano- 
bos,  einem  Steuermann  des  Älenelaos,  der  bei  der  Landung  an 
einer  Nilmündung  von  einem  Schlangenbiss  getödtet,  von  Mene- 
laos  dort  ein  Grab  und  Denkmal  erhalten  haben  sollte,  so  dass 
eine  dabei  erbaute  Stadt  von  ihm  benannt  worden  sei."')  Kein 
Zweifel  kann  nun  sein,  dass  bei  Agias  die  Helena  mit  Menelaos 
von  Troia  kam,  und  dass  er  statt  der  späteren  Dichtung  des  Stesicho- 
ros  von  ihrem  Scheinbilde,  welche  die  Priester  sich  angeeignet 
hatten  (Herod.  2,  113),  vielmehr  ausführlicher  als  Od.  4,  125  bis 
132,  220 f.  und  228  erzählt  habe,  wie  die  leibhaftige  mit  ihrem 
Gemahl  in  Aegypten  zum  König  Polybos  und  zum  Fürsten  Thon 
gekommen  und  beide  von  Jenen  die  reichen  Geschenke  erhalten. 
Ebenso  denken  wir,  der  Epiker  hat  die  Od.  4,  617 — 619  der 
Handlung  kurz  eingewebte  Beschenkung  des  Menelaos  durch  den 
König  in  Sidon  mit  dem  kostbaren  Becher  zum  lichten  Hergang 
gestaltet.  Was  Homer  dem  Nestor  oder  dem  Menelaos  als  lebendige 
Erzählung  in  den  Mund  legte,  davon  musste  Agias  berichten,  wie 
es  geschehen  sei.  Die  Begegnung  mit  dem  Meergreis  Proteus 
kann  aber  auch  nicht  gefehlt  haben  (Od.  4,  363—569.),  der  Me- 


230)  Auch  Sliehle  nicht  S.  58  f. 

231)  Die  nielircn  sagcnhafltMiAiigahon  von  Troern  oder  von  Monolaos' 
Hafen  in  Kyreno,  liiier  die  Süline  des  Anlonor  iiml  andere  Truer  bei  Ilero- 
dot  4,  1G9,  191,  sie  düifton  nicht  vor  Kyrenes  (iründung  entstanden  sein  ;  in 
eine  so  späte  Zeil  den  Agias  zu  setzen,  wird  al)cr  Jeder  Bedenkon  tragen. 
Tlirige  Res  Cyren.  79  und  292,  die  Gründung  Ol.  37  2.  zw.  631  v.  Chr.  G. 
—  Ueberliaupt  über  dergleichen  lienaniungen,  wie  sie  an  che  Argonauleii 
oder  die  Iroisclie  Sage  geknüpft,  ganz  unhedadil  als  clironologisch  ge- 
deutet wurden  s.  Lelirs  de  Aiislarcho  251.  Völckei'  .Mvlli.  Gecigr.  S.  11 
und  37. 

232)  Str.  XVII.  801.    Konon  8.    Andere  bei  Stichle  a.  a.  0.  S.  58. 

19* 


292 

nelaos  des  Agias  muss  aiidi  Agamemnons  Tod  dorl  erfaliren 
haben,  und  wird  Proteus  am  Schluss  ihn  auf  Elysion  vertrustet 
haben.  Freilich  konnte  es  in  dieser  Zeit  des  bereits  allherr- 
schenden Ilcroencultus  nicht  lauten ,  als  würde  dieses  Loos  nifr 
den  Verwandten  des  Zeus  zu  Theil.  Jedenfalls  jedoch  musste  die 
Tröstung  hier  als  Prophezcihung  nicht  am  Ende  des  Gedichts 
verlauten.^^^)  Soviel  also  hat  man  dem  Dichlergeist  des  Agias  zu- 
zutrauen, seine  einzelnen  Partieen  in  ihrer  Gestalt  und  Folge 
f^enauer  anzugeben,  ist  uns  versagt.  Noch  auf  der  Fahrt  aber 
verliess  Agias  vermuthlich  den  Menelaos  mit  der  Helena  und 
ging  nun  zu  Orestes  über. 

Orestes  kam  nach  Mykene,  um  den  Mord  zu  rächen,  in 
Begleitung  des  Pylades,  des  Sohnes  des  Strophios,  wie  bei  Pin- 
dar  und  den  Tragikern.'^*)  Es  ist  jedenfalls  anzunehmen,  dass 
sie,  wie  in  den  Tragödien,  welche  die  Rachethat  darstellen,  in 
Verstellung  (als  Boten  aus  Phokis)  zu  Aegisthos  und  Klytämnestra 
eintraten,  um  die  Gelegenheiten  zur  Ausführung  ihrer  Absicht 
wahrzunehmen  und  sich  entweder  der  Schwester  Elektra  offen- 
barten oder  wer  sonst  den  Orestes  einst  als  Kind  in  Sicherheit 
gebracht  hatte.  So  ward  durch  Ueberlistung  Aegisthos  und  die 
Mutter  von  Orestes  getödtet.  Die  Letztere  starb  unstreitig  eben- 
falls von  des  Sohnes  Hand;  schon  Homer  hat  dies  (Od.  3,  310) 
nur  im  Dunkel  gelassen.  Die  Pflicht  der  Blutrache  rechtfertigte 
auch  den  Mord  der  grausen  Mutter,,  und  die  Vorstellung,  dass 
die  Erinyen  einen  Thäter  schon  im  Leben  verfolgten,  war  in  des 
Agias  Tagen  noch  ebensowenig  vorhanden  als  in  denen  Homers. 
Erst  bei  Stesichoros  —  er  lebte  ungefähr  von  630—550  v.  Chr.  — 
zeigt  sie  sich."^)  Das  Zeugniss  lässt  dabei  auch  erkennen,  dass 
jetzt  Apollon  den  Orestes  zur  Erfüllung  der  Blutrache  antreilit, 
im  Epos  that  es  das  dem  Sohn  nach  alter  Sitte  heilige  Gefühl 
der  Blutrache  schon  ohne  Weiteres. 


233)  Nicht  wie  Welckor  Cycl.  2.  282  uiilcii. 

234)  Aesch.  Cho.  555  f.  und  887  f.  Sopli.  El.  10  und  1373.  Eunp. 
El.  82.  281.    Pindar  Pyth.  11.  15  =  23  bis  56. 

235)  Der  bei  Aeschylos  in  den  Choephoren  und  Eunienidcni  er- 
scheinende Glaube  zeigt  sich  zuerst  in  einem  Cital  aus  Stesichoros,  der 
in  lyrischer  Chorpoesie  Noslen  luid  auch  eine  Oreslie  gedichtet  halle, 
Scliol  .  zu  Eur.  Orcsl.  258  Er.  40,  und  der  ii]ieriiaui)l  der  eiyensle  Vur- 
giingei-  dos  Aeschylos  war.    Sagonp.  403 — 465. 


293 

Dies  war  zunächst  über  die  von  Orestes  an  Aegistlios  und 
Klytämnestra  vollzogene  Strafe  zu  sagen.  Aber,  wie  schon  be- 
merkt ist,  es  scheint  hier  eine  passende  Stelle  zu  sein  für  den 
Einblick  in  das  Todtenreich,  die  Nekyia  dieser  Epopöe.  Am 
schicklichsten  bezieht  sie  sich  auf  die  Hauptperson,  also  hier 
auf  den  vorhergemordeten  Agamemnon.  Dieser  Bezug  erstreckt 
sich  aber  auch  auf  seine  Mörder  und  die  Schilderung  ihrer  Strafe. 
Die  Seelen  der  Beiden  mögen,  wie  im  letzten  Gesänge  der  Odys- 
see die  der  Freier,  (durch  Hermes  oder  ohne  ihn  eben  vom 
Dichter)  in  den  Hades  geführt  worden  sein.  Im  Verfolg  dieses  Ak- 
tes ward  dann  wohl  geschildert,  wie  sie  den  Tantalos  und  an- 
dere Büssende  dort  gesehn  und  wie  Klytämnestra  sich  jenen 
Frauen  gesellt  habe.  Von  der  Nekyia  im  11.  Buche  der  Odys- 
see unterschied  die  des  Agias  sich  vermuthlich  mehrfach.  Es 
war  jetzt  das  ßhittrinken  der  Seelen  ebenso  wenig  im  Glauben 
als  da  die  zweite  Nekyia  der  Odyssee  gedichtet  wurde.  Eine 
lebendige  Scene,  da  der  erkannte  Aegisthos  erzählte,  wie  Ore- 
stes ia  angenommener  Rolle  mit  Pylades  gekommen  und  ihn 
nebst  der  Klytämnestra  überlistet  habe,  konnte  Agias  denen  in 
Od.  24  ähnlich  dichten,  wo  Agamemnon  Soff,  dem  Achill,  und 
der  Freier  Amphimedon  106  ff.  dem  Agamemnon  den  Hergang 
ihres  Todes  erzählten.  Wem  er  erzählte,  ob  seinem  Vater 
Thyestes  oder  wem  sonst,  ist  nicht  zu  entscheiden.  Die  Zeug- 
nisse aus  der  Nekyia  der  Nosten  von  dem  Büsser  Tantalos  und 
den  verschiedenen  Frauen  tragen  keine  dramatische  Form  an 
sich.  So  mag  denn  der  Dichter  in  eigener  Person  angegeben 
haben,  was  und  wen  die  Ankömmlinge  gefunden.  Mit  einfach 
wiederholter  Formel  wie  die  homerische  „ich  sah"  235.  260. 
266.  u.  f.  also  mit  „sie  sahen,  fanden"  konnte  Agias  seine 
Ueihen  bilden.  Von  Büssern  hat  er  wohl  auch  den  Ixion  aufge- 
führt, da  dieser  bei  Pindar  und  Aeschylos  so  vollständig  als  der 
erste  Mörder  eines  Verwandten  und  zugleich  der  erste  Gesühnte 
schon  althor  rucbtbar  erscheint  mitsammt  der  Strafe  des  nimmer- 
ruhenden Bades.^'^") 

lieber   die  Frauen,    die  uns  freilich  sehr  einzeln  und  zufäl- 

236)  Pind.  Pylh.  II.,  21  — 34  =10  IT.  Aeschylos  Trilogic  Sagcu- 
pocsie  Ü27f.  Nauck  Fragni.  22  f.  und  40  f.  Die  Strafe^:  Piiidar  V.  22.  Eur. 
Phon.  1185. 


294 

lig  genannt  sind,  ist  Folgendes  zu  bemerken.  Mara,  Klymene 
und  Eriphyle  sind  in  der  homerischen  Nekyia  326.  nur  ganz  kurz 
genannt,  sie  also  wurden  gerade  von  Agias  mehr  char^ikterisirt. 
Jene  drei  sowohl  als  Medea  und  des  Theseus  Geliebte,  die  Ama- 
zone Antiope,  erschienen  nicht  wie  die  Frauen  der  echten  Artikel 
bei  Homer  als  HeldenmiUter  ausgewählt,  um  ihrer  Söhne,  Män- 
ner und  Sippschaft  willen,  sondern  mehr  nach  ihrem  eigenen 
Wesen  oder  Geschick.  Doch  sind  es  nicht  lauter  böse  Frauen, 
wie  Eriphyle,  Medea  und  Antiope,  die  Verrätherin  ihrer  Stadt; 
ein  auf  Alle  passender  Zweck  und  Gesichtspunkt  bei  der  Aus- 
wahl lässt  sich  eben  nicht  erweisen. 

Neben  diesem  Bilde  der  in  den  Hades  geführten  Mörder 
erzählte  Agias  nun  die  Bestattung  derselben  durch  Orestes  mit 
einem  üblichen  Leichenmahle  (Od.  3,  309 f.).  Bei  dieser  Bestat- 
tung ist  in  des  Agias  Epos  ganz  gewiss  nicht  erfolgt,  was  Eur. 
Orest.  402  an  diesem  Tage  beginnen  lässt,  die  Erhebung  der 
Erinyen  gegen  den  Muttermörder."')  Gerade  in  der  Orestes- 
und  Agamemnonssage  trat  vor  andern  der  Wandel  im  Glauben 
hervor,  welcher  die  Lyrik  und  Tragödie  vom  nationalen  Epos 
unterscheidet.  Der  Plan  des  Agias  lief  ganz  unzweifelhaft  noch 
in  die  endliche  Heimkunft  des  Menelaos  aus,  der  eben  am  Tage 
jener  Bestattung  anlangte.  So  die  vorhomerischen  Lieder  (oben 
Buch  2.,  §.  11.)  und  so  die  Epopöe  des  Agias  nach  dem  Inhalt. 
Dieses  in  Sage  und  Poesie  feststehende  Zusammentreffen  der 
beiden  Thatsachen  gab  den  Schlussstein  der  Epopöe  von  der 
Atreidcn  Bückweg.  Die  poetisch  als  Hergang  ausgeführte  An- 
kunft des  Menelaos  und  der  Helena  muss  hier  eine  bewegte 
Scene  gegeben  haben.  Sie  haben  Agamemnons  Mord  schon  von 
Proteus  erfahren  und  auf  das  Schmerzlichste  beklagt,  auch  dem 
Todlen  am  fernen  Strande  ein  Denkmal  errichtet,  dazu  von  Ae- 


237)  Irrig  Welcker  Cycl.  2 ,  287  und  vollends  über  Homer.  Siehe 
Sagenp.  463 f.  521 — 524.  Overb.  Gallerie  heroischer  Bildw.  1.677.  „Homer 
kennt  nur  den  ruhmvollen  Orestes,  der  seines  Vaters  Mord  gerächt  hat, 
und  die  Exccrple  ans  Proldos  lassen  die  Noslen  ebenfalls  nach  der  voll- 
braclitcn  Tbat  des  Orestes  mit  Jlenclaos  Heimkelir  schlicssen.  In  der 
Tragödie  also  iia])cn  wir  die  Quellen  der  Bildwerke  (zur  Oreslce)  zu  suchen, 
und  es  ist  liicrfür  eine  wohl  zu  merkende  Thatsache,  dass  wir  in  dem  reichen 
Bildorkreis  der  Oresteia  nicht  ein  einziges  Vasenbild  mit  schwarzen 
Fiijurcn  besitzen". 


295 

gisthos  Strafe  eine  Vermutlmng  gehört.^'®)  Eine  Begegnung  mit 
Orestes  musste  Agias,  sei  es  später  nach  der  Landung  am  lake- 
dämonischen Ufer  oder  bei  anderer  Landung,  gleich  einti'eten 
lassen.  Ganz  in  natürlicher  Lage  war  hier  eine  Scene  mit 
schmerzlicher  Begrüssung  gegeben,  aber  neben  dem  Ausdruck 
der  zornigen  Klage  um  Agamemnon  und  des  Abscheus  gegen  sei- 
nen Mörder  musste  auch  die  Anerkennung  der  Rachethat  des 
Orestes  hier  ihre  Stalte  finden.  Auch  Helena  musste  einstimmen 
und  die  Schwester  Rlytämnestra  verabscheuen.^^^) 

Dem  Menelaos  lag  es  nun  gar  nahe,  seine  Trennung  vom 
Bruder  in  Troia  jetzt  schmerzlich  zu  bereuen.  Der  Zwist  war 
dort  durch  sein  Verhalten  geschehn,  seinen  sonst  milden  Sinn 
hatte  Athene's  Zorn  hauptsächlich  verkehrt.  Er  musste  sich  sa- 
gen, wäre  ich  mit  dem  Bruder  zusammengeblieben  und  heimge- 
kommen, dann  wäre  der  Mordplan  entweder  vereitelt  oder  nach 
erfolgler  Rache  Aegisthos  nicht  so  bestattet  worden  (Od.  3,  248  ff.). 
Durch  diese  Mahnung  an  die  Entstehung  des  Haders,  der  die 
Heimkehrenden  durch  Parteiung  zerstreute,  ward  die  Erzählung 
vollends  abgerundet.  Die  Gestaltung  dieses  Schlussaktes  würden 
wir  uns  bestimmter  vorstellen  können,  wenn  uns  nicht  alle  An- 
zeichen des  individuell  geraüthlichen  Dichtergeistes  fehlten. 

Eine  Vermuthung  ergiebt  sich  aus  einem  Citat,  dass  Agias 
die  Vermählung  der  Tochter  des  3Ienelaos  und  der  Helena,  Her- 
mione,  an  den  Neoptolemos  in  die  unfrohe  Schlussscene  einge- 
flochten habe.  Das  schwersinnige  Gedicht,  welches  den  Um- 
schlag des  endlichen  Sieges  über  die  reiche  Königsstadt  in  die 
unglückliche  Heimkehr  besang,  es  hatte  als  Schlussakt  die  späte 
Heimkehr  des  Menelaos  in  die  Heimath,  und  der  Helena  zu  den 
zuerst  geliebten  Ihrigen;  aber  die  Freude  hierüber  war  sehr  ge- 
dämpft durch  die  eben  jetzt  in  allen  Umständen  gegebene  Er- 
innerung an   das  Geschick  des  verwandten  Hauses.     Da  nun  hat 


238)  Od.  4,  538  fr.  584.  546  E. 

2.30)  Klytamnestra  war  hier  noch  nicht,  wie  durch  Aeschylos,  die  Haupt- 
thätcrin ,  sondern  nur  die  horaerisclie ,  und  auch  Helena  die  homerische 
(s.  Buch  3  §.  3  die  homcr.  Frauen).  Nur  die  rcclificirendc  Poesie  des 
Hcsiod  im  Cobctschcn  Schol.  zu  Eur.  Or.  239  und  Euripides  240  reihcle 
Helena  mit  Klylamncstra,  als  Töchter  des  Tyndareos,  an  sclimrdilichcr  Un- 
treue zusammen. 


296 

Agias  den  Neoptolenios  dazwischen  anlionmien  lassen,  um  die 
Tochter  der  jetzt  Ileiingekommeiicn,  die  Ilermione,  wie  Mene- 
laos  ihm  vor  Troia  zugesagt,  als  Gattin  heimzuführen.  Diese 
Hochzeit  feiert  nun  das  Ilaus  zugleich  mit  der  zweiten  des  Sohnes 
Megapenthes  (Schmcrzenssohn),  erzeugt  nach  Ilelena's  Rauhe  mit 
einer  Dule;  so  geht  die  Erzählung  in  eine  Erheiterung  aus  und  ver- 
knüpft den  früheren  Theil  von  Neoptolenios  Ileindiehr  mit  diesem 
letzten.^*'')  So  verfuhr  der  Dichtergeist  hier  in  Beimischung  eines 
Froheren  zuletzt  noch  ehenso,  wie  er  die  freilich  durch  Wechsel 
anziehenden  aber  schw  eren  Abenteuer  des  um  -  und  abgetriebenen 
Menelaos  durch  die  Castbesuche  in  Sidon  und  im  ägyptischen 
Theben  erheiterte. 

Nur  in  solcher  Weise  und  insoweit  hatte  Agias  die  viel- 
theilige  Handlung,  wie  sie  allerdings  das  die  Betroffenen  von  An- 
fang zerstreuende  göttliche  Motiv  erzeugte,  noch  einheitlich  durch- 
zuführen vermocht.  Es  waren  fast  nur  leidentliche,  nicht  thälliche 
Folgen,  wo  der  menschliche  Wille  dem  theilnehmenden  Hörer 
sich  meistens  nur  im  Bestehen  des  Ungünstigen  erwies,  das  In- 
teresse aber  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  wechselnden  Aben- 
teuer angesprochen  wurde.  Ein  einheitliches  Ganze  bildete  die 
Epopöe  immer  noch.  Halle  Agias  die  Wege  des  Kalchas  mit  den 
beiden  Lapilhen  und  des  Neoptolenios  nach  den  Städte-  und  Ge- 
schlechtssagcn  geneuert,  so  waren  dies  doch  Nebenpersonen 
und  episodische  Nebenpartieen.  Wie  der  Titel  ,, Bückweg  der 
Atreiden "  hervorhob ,  waren  die  Fahrten  dieser  doch  die  w esent- 
lichen  centralen  Bestandtheile.  Der  trözenische  Dichter  hatte 
diese  gewählt.  Sein  ernster  Sinn  mochte  damit,  ^vas  den  Aga- 
memnon betrifft,  nicht  sowohl  dessen  Trauergeschick  als  die 
Bachcthat  des  Orestes  im  Auge  haben.  Agamemnon  galt  dem 
Agias    unstreitig    als    verehrter   Heros,   und   hatte  sein   Grab    in 


I 


240)  Das  Cilat  im  Schol.  zu  Od.  4,  12  oder  cigcnllich  schon  4 — 14. 
Dass  der  Dichter  der  Heimkehr  das  Wort  öovh],  üienstmagd,  selbst  als 
Eigcniiaiucii  gebraucht  oder  statt  dieses  einen  Eigennamen  gesetzt  habe, 
wird  von  Welcker  S.  282  fein,  wie  oben,  ausgedeutet.  3Ienelaos  feiert 
zugleich  die  Hochzeiten  seiner  beiden  Kinder,  die  des  Megapenthes  mit 
einer  Sparlanerin  und  die  der  Ilermione,  die  mit  Neoptolenios  wegzieht. 
Naliirlicli  liess  Agias  sie  nicht  nach  der  Lurg  der  3Iyrmidonen,  sondern 
nach  den  Molosscrn  ziehn. 


297 

MyUene  nicht  erst  in  späterer  Zeit  (Paus.  2,  16,  G.).  Auch  die 
That  des  Orestes  war  ruhmreich  in  der  alleren  Poesie.  So  führte 
die  Rückkehr  der  Atreiden  ihre  Erzähhing  als  zum  schliesslichen 
Hauptpunkt,  zu  Orestes  Rache,  und  höh  diese  durch  die  Parallel- 
partie von  des  Aegisthos  und  der  Klytämestra  Ankunft  und 
Schrecken  im  Hades.  Dann  Hess  er  aber  auch  den  Menelaos 
gerade  zu  dieser  Genugthuung  eintreffen,  worauf  nun  noch  der 
erheiternde  Akt  der  Doppelhochzeit  folgte. 

Durch  die  vorstehende  Jlusterung  der  nächsthomerischen 
Epopöen  ist  Nichts  so  deutlich  ins  Licht  getreten,  als  wie  viel, 
wenn  es  die  Einheitlichkeit  gilt,  auf  die  Beschaffenheit  des  Stoffs 
ankommt,  wie  vor  allen  andern  dazu  bildsam  und  günstig  die 
homerischen  sind,  wie  unstatthaft  es  also  war  und  ist,  die  ge- 
sammten  folgenden  Epopöen  in  Einem  für  unkünstlerisch  zu  ver- 
werfen, weil  keine  eine  ähnliche  Harmonie  an  sich  trage,  wie 
die  Odyssee.  Unter  ihnen  stand,  wie  wir  sehen,  die  Aethiopis  den 
homerischen  ganz  nahe.  Der  Stoff  der  Eroberung  Troias  gewann 
eine  zwar  nicht  persönliche,  aber  dennoch  grossartige  Harmonie, 
wenn  er  unter  die  Idee  des  göttlichen  Waltens  gestellt  und  unter 
ihr  ei'halten  wurde,  wie  der  ältere  Epiker  sie  durchführte.  Was  der 
jüngere  Lesches  hier  bei  seiner  Neudichtung  angestrebt,  war  nicht 
ohne  Umkehr  der  Nationalsage,  noch  ohne  unhomerische  Weltan- 
sicht ausführbar.  Von  allen  reicheren  und  vom  Götterregiment 
beseelten  Sagentheilen  waren  der  Ursprung  des  troischen  Kriegs 
und  die  Heimkehr  der  troischeu  Helden  die  ungünstigtcn  Stoffe. 
Gewählt  aber  haben  die  Dichter  erst  in  zweiter  Reihe  nach  der 
künstlerischen  Bildsamkeit;  das  erste  war  das  Interesse  der 
Mitbürger  und  Nachbarn,  die  da  ihre  Helden  und  Götter  am 
liebsten  gefeiert  hörten. 

Der  Vorzug  der  von  Homer  gewählten  Stoffe  vor  allen  üb- 
rigen beruht  aber  nicht  auf  der  vollkonuuencn,  auch  persönlichen 
Einheitlichkeit  allein.  Sic  sind  der  Art,  dass  die  an  den  Haupt- 
belden  geknüpfte  Handlung  zugleich  einmal  das  weiteste  National- 
interesse befriedigt,  sodann  ganz  auf  natürliche  Weise  eine  brei- 
tere inhaltsreichere  Folie  gewiimt.  Hierzu  kommen  daiui  die 
individuellen  Gaben  des  Dicblcrgenius,  das  dramatische  Leben 
mit  dem  Redestoff  aus  der  Fülle  anderer  Sagen,  besonders  vom 
älteren  Ileldengeschlechl,  und  alle  die  andern  Vorzüge  mehr,  die 


29S 

im  Folgenden  aufgelesen  werden.     Es  ist  ja  der  Zorn  des  Ge- 
kränkten mit  seinen  Folgen  der  das  Thema  der  Ilias  bildet. 

Gehn  wir  denn  nun  zur  speziellen  Charakteristik  Homers 
über,  und  beginnen  diese  mit  dem,  was  vom  individuellen  Dich- 
tergeiste das  sprechendste  Zeugniss  giebt ,  und  wovon  die  Aner- 
kennung des  Dichtergenius  Homers  auszugehn  hat.  Dringt  diese 
Anerkennung  sich  doch  bei  allem  Widerstreben  auch  den  Zweif- 
lern auf,  die  ihre  Kritik  einseitig  auf  die  Ungleichheiten  richten. 


DRITTES  BUCH. 
Der  Dichter  Homer. 


1.  Vorwort  zur  speziellen  Charakteristik  des  indi- 
viduellen  Dicbtergeistes   Homer. 

In  dem  vorhergehenden  Buch  ist  der  Versuch  gemacht,  so- 
wohl die  Vorgänger  als  die  Nachfolger  Homers  nach  ihrer  Art,  die 
letzteren  auch  nach  ihrer  Individualität  zu  bestimmen.  Der  ent- 
schiedene Gegensatz  dieser  verschiedenen  Perioden  einer  reichen 
Kunstentwickelung  weist  schon  von  selbst  auf  die  grosse  Indivi- 
dualität hin,  die  zwischen  ihnen  für  die  Nation  unbestritten  das 
Grösste  und  Schönste  leistete. 

Ehe  die  Betrachtung  sich  diesem  Dichtergei^t  selbst  einge- 
hend zuwendet,  ist  daran  zu  erinnern,  wie  die  seelische  Einheit 
der  homerischen  Gedichte  so  viele  bedeutende  Forscher  fast  wi- 
derwillig zu  ihrer  Anerkennung  getrieben  hat. 

Der  Verfasser  der  bedeutendsten  Litteraturgesch.  d.  Gr.  ver- 
fahrt noch    mit   einer  mystischen  Deutung  des  Namens  Homer.*) 


1)  Bernhardy  2.  S.  71.  „Ilonier  nun  (wenn  wir  so  den  Geist  nennen, 
der  in  den  homerischen  Gesängen  loht)  hat  darin  als  Meister  sich  be- 
währt, dass  er  mit  vollkommenem  Kunstvermögen  alle  diese  Grundlagen 
beherrscht  und  die  Elemente  des  Epos  in  ungestörter  Harmonie  vereint. 
S.  76.  „Ueherall  bewährt  Homer  die  cigenlliümlichc  Kunst  organisch 
zu  dichten;  sein  Blick  nmsste  genial  sein,  Avenn  er  in  den  Massen 
glänzender  Sagenkreise  denjenigen  Stoff  erkannte,  welcher  den  allgemein 
menschlichen  Geliililen  die  reichste  Nahrung  darhot  und  alle  Regungen 
des  Herzens  heschäl'tigt"  u.  s.  w.  mit  dem  folgenden  Bedenken.  Dann 
aber  nach  Anerkennunt,'  des  früheren  Gebrauchs  der  Schrift  zum  Einlernen, 


300 

Er  befand  sich  zwischen  der  Anerkennung  der  seelenvollen  und 
kunstreichen  Organismen,  welche  er  nicht  anders  als  EiiuMU  Geist 
zuzuschreiben  wusste,  und  den  erregten  Zweifeln  in  einem  selt- 
samen Hin  und  Her,  fast  noch  wie  der  edle  Fr.  Jacobs  einst,  der 
in  der  Hellas  (von  1809)  erst  (S.  248)  sagt:  „Dass  Ilomeros 
nicht  der  Name  Einer  Person,  sondern  die  Benemnnig  einer 
ganzen  Klasse  von  Dichtern  gewesen",  aber  weiterhin  die  Gedichte 
zeichnet,  wie  sie  (252  und  254)  „mit  tiefer  Besonnenheit  im 
Innersten  der  Seele  empfangen  und  künstlerisch  ausgebildet  sind" 
—  dann  erklärt:  „Die  gestaltvolle  Lebendigkeit  mit  gehalt- 
reicher Tiefe,  hoher  Ruhe  und  reicher  Besonnenheit  vereinigt,  ist 
das  Abzeichen  der  homerischen  Poesie  in  einem  ganz  vorzüg- 
lichen Grade".  Hier  ist  wie  un  Vorhergehenden  das  grosse 
Individuum  gezeichnet.  Da  nämlich  der  Genius  sein  Wesen  als 
ganzer  Mensch  hat,  und  nicht  durch  die  Stärke  der  bildnerischen 
Kraft  allein,  sondern  im  Zusammenwirken  aller  Seelenvermögen-) 
sich  bethätigt,  besonders  aber  durch  den  Seelenlon,  seine  Eigen- 
heit erkennen  lässt,  welcher  in  seinen  Werken  —  hier  in  beiden 
glcichmässig  als  derselbe  —  sich  offenbart ;  so  ist  in  jenen  Wor- 
ten die  Individualität  bestimmt  anerkannt.  Eben  das  Gemüth 
giebt  die  Persönlichkeit  und  deren  Besonderheit,  und  diese  kann 
unmöglich,  mit  gleicher  Stärke  und  Einheit  der  bildnerischen 
Kraft  versclnvistert,  Gemein-  und  Erbgut  einer  Vielheit  oder  Reihe 
von  Dichtern  gewesen  sein. 

Diese  Seele,  welche  die  beiden  Organismen  durchzieht  und 
eben  als  solche  erweist,  sie  ist  auch  das  Entscheidende  für  alle 
Anerkennung  des  einigen  Dichtergenius  und  damit  für  alle  rich- 
tige Erkenntniss  der  ganzen  Geschichte  des  Dichters  und  seiner 
Werke.  Alles,  was  den  Homer  zum  Nationaldichter  gemacht  hat, 
wie   es   unter   keinem   Volk   einen   so  mächtigen   giebt,    es   sind 


S.  104  f.  und  weiterem  Einspruch  gegen  Wolf,  die  Darlegung  des  Enl- 
wickelungsganges  und  S.  11  das  Verdienst  Homers. 

2)  Vgl.  Gervinus  Sliakespeare  4.  306.  „Nicht  in  dem  Vorwallen  einer 
einzelnen  Kraft  bewährt  sich  die  Genialität,  auch  ist  das  Genie  nicht 
selbst  ein  bestimmtes  Vermögen,  sontlorn  es  ist  eben  die  harmonisolic 
Verbindung  und  zusannncnwirkendc  Totalilät  aller  mensclilichon  Ver- 
mögen". —  „Vielmehr  ist  auch  der  Bcgrilf  der  Gesetzmässigkeit  in  dem 
Genius  wesentlich  gelegen,  und  die  ganze  Vorstellung  des  geselzloswir- 
kenden  Genius  ist  die  Erfindung  von  Pedanten"  u.  s.  w. 


301 

persönliche  Eigenschaften,  aher  vor  Allem  ist  er  dnrch  seine  hei 
tiefem  Lebensernst  mildschöne  Weltansicht  nnd  Humanität  wie 
Liebling  so  Lehrer  seines  Volks  geworden.  Die  Beachtung  und 
Verfolgung  dieser  Seele  ist  es,  welche  die  Buch  2  §.  17  a.  E. 
Angeführten  zu  ihrem  Urtheil  gegen  die  Zersplitterung  bewogen 
hat,  Sie  und  Andere,  die  alsbald  genannt  werden,  heben  sämmt- 
lich  die  sittlichen  Ideen  hervor,  welche  beide  Gedichte  als  ihr 
inneres  Motiv  durchziehn,  und  sie  sind  eben  aucii  durch  die 
Gleichheit  des  sittlichen  Geistes  in  Beiden  gehalten,  die  Odyssee 
nicht  einem  andern  Verfasser  zuzuschreiben.  Mehr  nur  äusser- 
lich  die  Geschichte  der  epischen  Dichtung  als  dieses  innere  Le- 
ben beachtend  hat  der  Forscher,  welcher  als  der  erste  Reforma- 
tor nach  Wolf  Epoche  machte,  durch  richtigere  Würdigung  der 
Cycliker  zwar  die  Einheitlichkeit  der  Gedichte  vertreten,  aber  die 
des  Verfassers  nicht  anerkannt,  während  er  die  verdächtigen 
Stellen  gern  verth eidigt. ^)  Die  erkannte  Reihe  der  Cycliker  als 
Epopöendichter  verführte  ihn,  den  Regriff  Homer  zum  Gemein- 
namen zu  verllachen.  Die  Homeriden  wiederum  mit  ihrem  be- 
gehrlichen Enthusiasmus  sind  dagegen  Seite  X06  ganz  richtig  im 
Allgemeinen  charakterisirt.  Es  übten  die  Homeriden  ihre  Kunst 
des  Rhapsodirens,  wie  sie  sie  üben  wollten  und  zu  üben  verstan- 
den, ohne  sie,  so  viel  bekannt  ist,  zu  irgend  einer  Zeit  einem  an- 
dern ausser  dem  Geschlecht  zunftartig  verwehren  zu  können.  So 
wies  er  ihnen  den  geschichtlich  richtigen  Platz  an.  Da  sie  eine 
Mehrzahl  haben,  so  giebt  es  alle  Wahrscheinlichkeit,  dass  sie 
zuerst  die  umfänglichen  Gedichte  Einer  den  Andern  ablösend  d.  i. 
in  agonistischer  Rhapsodie  vorgetragen  und  Proömicn  zu  diesem 
Vortrag  gedichtet  haben. 

Durch  unstatthafte  so  zu  sagen  Vertheilung  der  genialen  Kraft 
mul  Leistung  an  diese  Homeriden  verkümmerte  ein  anderer  bedeuten- 


3)  Wclckcr  Ep.  Cycl.  L  127.  „Der  Dichter  der  Ilias  ist  eine  Person, 
unter  nlleii  Gcschleclilern  der  Mcnsclien  eine  der  heivorragcnsten,  eine 
nndfp  nni)ck;inntc  Person,  eine  liöclisl  sinnvolle  und  knnsl^oiihte  ist  der 
Dichter  der  Odyssee;  nicht  aber  ist  der  llonicr  eine  I'crson,  woielicr  so 
viele  Pocsioen  einige  Jahriuindorle  hindurch  zu  (lichten  foriräiul".  Dies 
Letztere  ist  in  dem  Obigen  auf  das  Geschichtliche  zuriickgefülirl.  Aus- 
führlicher im  2  Bncli  der  Sagenpoesic  S.  21)7  (f..  besonders  die  missitrauchte 
Stelle  Xon.  Mem.  4,  2,  10.  S.  310—352. 


302 

der  Förderer  der  Unlersuclning  seine  Verdienst.  Grote  maehte 
erstens  ebenfalls  die  Stellung  der  Ilias  und  Odyssee  in  der  Reihe 
der  Epopöen  geltend ,  da  man  doch  nicht  etwa  die  des  Arktinos 
als  die  voranstehenden  Muster  hehaupten  könne,  und  wies  auf 
den  Philosophen  Xenophanes  hin,  der  um  dieselbe  Zeit  mit  dem 
Unternehmen  des  Peisistratos  „den  Homer  schon  als  den  allge- 
meinen Lehrer  bezeichnete  und  ihn  als  einen  unwürdigen  Be- 
schreiber  der  Götter  anklagte".  ,, Dieses  grosse  geistige  Ueberge- 
Avicht  muss  der  Philosoph",  sagt  Grole,  „nicht  mit  einer  Zahl 
verbindungsloser  Rhapsodieen,  sondern  mit  einer  zusammenhängen- 
den Ilias  und  Odyssee  in  Beziehung  gebracht  haben.  Und  auch 
das  politische  Ansehen,  welches  der  Schiffskatalog  hatte  im  Streit 
Athens  mit  Megara  um  Salamis  und  in  dem  noch  früheren  um 
das  Vorgebirge  Sigeum,'*)  hätte  in  seiner  kanonischen  Bedeutung 
nicht  stattfinden  können,  wäre  es  nicht  lang  vor  Peisistratos  Ge- 
brauch gewesen,  die  Ilias  als  fortlaufendes  Gedicht  zu  hören". ^) 
Es  schliesst  sich  hier  das  mittelbare  Zeugniss  an,  welches  in  der 
damals  entstandenen  Periode  homerischer  Formeln  liegt  von  ver- 
breiteter Bekanntschaft  mit  dieser  Poesie  (Sagenp.  319.).  Ausser 
den  obigen  Beweisen,  dass  die  Ilias  und  Odyssee  vor  Arktinos, 
der  über  zwei  Jahrhunderte  vor  Peisistratos  zwei  umfängliche 
Epopöen  von  mehren  Tausend  Versen  dichtete,  als  zusammen- 
hängende Ganze  vorhanden  gewesen  sein  müssen  (512  f.)  und 
der  sehr  eingehenden  Darlegung  der  Einheit  der  Odyssee  (520 f.), 
spricht  derselbe  Geschichtschreiber  (519)  das  sehr  folgenreiche 
Urlheil  aus,  welches  übrigens  schon  im  Jahre*  1838.  von  W. 
Wackernagel  ganz  gleichlautend  ausgesprochen  war:®)  „Wäre  uns 
die  Odyssee  allein  erhalten  worden,  ohne  die  Iliade,  so  glaube 
ich,    der  Streit  in  Bezug  auf  die  homerische  Einheit  würde  nie 


4)  Hcrod.  5,  94.    Arisl.  Rhet.  5,  15,  13. 

5)  Grote  G.  Gr.  1 ,  512  der  Uebers.  Per  V'erf.  dieses  ist  von  Grote 
missvcrstanden.  lieber  Xenoplianes  und  Theagenes  von  Rhegium  das 
Genauere  Sagenp.  303.  Es  gilt  aber  alles  Dieses  und  fast  zuerst  gegen 
die  Welckersche  Vorallgenieinorung  des  Namens  und  BegrilTs  Homer. 

6)  Schweiz.  Mus.  U.S.  84.  „Wäre  die  Ilias  niclit  —  bei  der  Odyssee 
allein  wäre  die  Kritik  sclnverlich  darauf  verfallen,  die  Existenz  eines 
einigen  Dichters  zu  läugnen;  mit  so  gereifter  Kunst  siml  liier  die  Spalten 
zwischen  den  einzelnen  Tlieilen  iiberkleidel,  mit  sülchem  Geschick  sind 
die  kleineren  Einheiten  unter  eine  neue  grosse  zusammengebracht". 


303 

erhoben  sein.  Denn  die  eislcre  ist,  meiner  Meinung  nach,  fast 
von  Anfang  bis  zu  Ende  von  Zeichen  absichtUcher  in  Eins  Bil- 
dung durchdrungen,  und  der  si^eziellen  Fehler,  welche  Wolf  u.  A. 
aufsuchten,  um  das  Gegentheil  zu  beAveisen,  sind  so  Avenige  und 
von  so  geringer  Wichtigkeit,  dass  sie  aligemein  als  blosse  Versehen 
des  Dichters  betrachtet  Avorden  sein  Avürden,  wenn  sie  nicht 
durch  die  weit  mächtigere  Batterie,  die  man  gegen  die  llias  er- 
öffnete, secundirt  worden  wären".  Auch  in  der  letzteren  erkennt 
er  grosse  Partieen,  welche  uniäugbare  Beweise  von  Zusammen- 
hang in  Bezug  auf  Vorhergehendes  und  Folgendes  darbieten,  und 
macht  es  dem  Kritiker  zur  Pflicht,  nicht  die  einzelnen  Wider- 
sprüche nur,  sondern  den  durch  den  grössten  Theil  des  Gedichts 
gehenden  Zusammenhang  (die,  Hauptsache)  zu  betrachten  (525). 
Ihn  selbst  hat  seine  Betrachtung  dahin  geführt  und  verführt,  die 
Gesänge  der  llias  als  ursprünglich  zwei  kleineren  Epopöen  ange- 
hörig zu  glauben,  einer  Achill  eis,  welche  aus  Ges.  1 — 8  und  11 
bis  22  bestanden  habe,  und  einer  llias,  welche  aus  Ges.  2 — 7 
und  10  gebildet  wird.  Der  9.  heisst  unecht,  der  23.  und  24.  wird 
als  vielleicht  der  Achilleis  angefügt  geduldet.^)  Diese  sehr  subjective 
Annahme  hat  bereits  durch  den  um  die  Wahrung  der  antiken  Ueber- 
zeugung  hochverdienten  schon  oben  genannten  Baumle  in  ihre 
Würdigung  gefunden,*)  und  wird  bei  Darlegung  des  Planes  der  llias 
im  Zusammenhang  berichtigt  werden.  Hier  ist  Grote's  mangelhafter 
Begriff  vom  Dichtergenius  und  sein  Unterschieben  der  Homeri- 
den  aufzuführen.  Wie  es  S.  494  heisst:  „Homer  ist  kein  in- 
dividueller Mensch ,  sondern  der  göttÜche  und  heroische  Vater 
(die  Ideen  von  Verehrung  und  Ahnenschaft  verschmelzen,  wie 
sie  es  in  der  Seele  der  Griechen  stets  thaten)  der  Homeriden- 
gens  — "  so  wird  S.  543,  nachdem  die  Möglichkeit  eingeräumt 
worden,  dass  ein  anfangs  kleineres  Gedicht  von  seinem  ursprüng- 
lichen Verfasser  später  erweitert  sei  (wie  Goethe  mit  seinem  Faust 
gethan),  eine  andere  Entstehungsweise  so  bezeichnet:  „Anderer- 
seits kann  ein  planmässiges  Gedicht  recht  gut  nach  vorher 
bestimmterUebereinkunft  zwischen  verschiedenen  Dichtern 
entworfen  und  ausgeführt  worden  sein,  unter  denen  einer  wahr- 


.7)  Uebers.  S.  527—534.    Die  Acliilleis  534—542.    Die  Ili.is  im  Ori- 
ginal History  of  tJreece  Vol.  II.  Part  1.  chapler  XXI.  p.  191. 

8)  Philül.  XI.  3.    Grole's  Ansicht  über  die  llias.    S.  405—430. 


304 

seil  ein  lieh  der  regicrt-nde  G  eisl  sein  wird,  obgleich  die 
andern  auch  wirksam ,  vielleicht  gleich  wirksam  sind  in  der  Aus- 
führung der  Theile.  Eine  solche  Verbrüderung  sei  in  den  Ho- 
meriden  zu  erkennen,  welche  man,  wenn  auch  ohne  Zweifel  sehr 
verschieden  unter  einander  an  Geisteskraft,  doch  in  höherem  Grade 
gleichen  Wesens  zu  denken  habe  als  Individuen  in  modernen 
Zeiten".  Schon  in  diesen  Meinungsäusserungen  verräth  Grote, 
wie  sich  ihm  bei  der  gebotenen  Annahme  eines  Planmässigen 
das  Erforderniss  eines  Individuums  höherer  Begabung  aufdrängte. 
Im  Fortgange  (543  f.)  lesen  wir  dann  doch  nichts  Anderes  als 
der  Odyssee  sei  die  Abfassung  durch  Eine  Person  zur  Zeit  durch 
keine  haltbaren  Gründe  streitig  gemacht,  und  vom  Bau  der  Ilias 
sei  nach  seinem  Urtheile  keine  Theorie  zulässig,  die  nicht  eine 
ursprüngliche  und  vorher  aufgefasste  Achilleis  annehme.  So 
haben  \^iv  doch  einheitliche  Ganze,  und  müssen  nur  urtheilen, 
das  Wesen  der  genialen  Kraft  sei  dem  hochachtbaren  Mann 
nicht  klar  gewesen,  und  in  die  Verfolgung  der  die  homerischen 
Dichtungen  beseelenden  sittlichen  Ideen  sei  er  nicht  eingegangen. 
Ehe  wir  selbst  aber  die  beiden  Pläne  darlegen,  ist  zur  sorg- 
samen Vorbereitung  dieser  Entwickelung  noch  Mancherlei  erfor- 
derlich, was  wir  in  zwei  Abschnitte  oder  zwei  Schlussreihen  fas- 
sen. Der  eine ,  den  wir  weiterhin  folgen  lassen ,  hat  die  epische 
Darstellungsweise  zu  charakterisiren,  aus  der  einerseits  die  Beur- 
theilung  und  das  Verzeichniss  der  umfänglichen  Interpolationen 
hervorgeht,  andrerseits  das  Verfehlte  der  Versuche  sich  ergiebt, 
die  kleinen  Lieder  herzustellen.  Der  zunächst  folgende  Abschnitt 
soll  den  Dichtergenius  theils  in  seiner  gemüthlichen  Eigenheit 
und  seiner  bildnerischen  Geisteskraft,  theils  in  seinem  Composi- 
tionsverfahren  beschreiben.  Ist  er  in  diesen  Ilücksichten  als  ge- 
meinsamer Verfasser  der  Odyssee  wie  der  Ilias  erschienen,  dann 
werden  schliesslich  die  vermeintlichen,  aber  nicht  entscheidenden 
Unterschiede  zusammengestellt.*) 


*)  Wir  haben  diese  Andeutung  des  Verf.  stellen  lassen.  In  der  hier 
folgenden  Darstellung  findet  sich  die  Kritik  der  kleinen  Lieder  iiiclil,  son- 
dern^Bucli  l,  AJischn.  2,  die  ZusaunntMislellun^  „der  vcnnoinlliclien,  aber 
nicliL  enlsclieidcnden  Unlerschiede",  teidl  i(anz.  I).  11. 


305 


Abschnitt  I. 
Homers  Darstellung  uud  Coniposltions verfahren. 

2.    Der   gemüthreiche    D  iclitergen  ius    Homer    wach 
Odyssee   wie   Ilias. 

Dem  Wesen  genialer  Schöpferkraft,  Avie  sie  sich  znmal  in 
der  Odyssee,  aher  auch  in  der  Anlage  und  Durchführung  der 
Poesie  vom  Zorn  des  Achill  erwiesen  hat,  geschieht  nicht  Genüge 
durch  die  dem  Heroencultus  entnommenen  Bezeichnungen  gött- 
licher, heroischer  Vater  oder  „in  einer  Dichterreihe  herr- 
schender Geist".  Dass  dies  wirklich  nicht  genüge,  erklären  phi- 
lologische Forscher  zum  Theil  wie  im  Aergerniss  an  der  Sünde 
wider  den  Genius,  indem  sie  nicht  hlos  die  lachmannische  Mei- 
nung, sondern  auch  die  allmähliche  S'^höpfung  der  Homeriden  von 
sich  weisen ,  während  sie  Ausdehnung  durch  Einschiebsel  eben- 
so entschieden  anerkennen.**)  Allmählich  hat  freilich  der  Dichter 
die  im  Stoff  gefundene  sittliche  Idee  in  sich  zu  dem  Plane  und 
allmählich  diesen  seihst  ausgebaut,  allmählich  in  Partieen  gegeben 
aber  schöpferisch  mit  ei<^enen  Theilen  durchwebt  (z.  B.  in  der 
Odyssee  Telemachs  Reise,  in  der  Ilias  Ilektors  Gang  in  die  Stadt). 
Sein  aber  ist  besonders  das,  was  jener  von  Lehrs  hervorgeho- 
benen religiösen  und  moralischen  Grösse  verdankt  wird.  —  „Die 
künstlerische  Grösse  verlangt  nämlich  zu  ihrer  Basis  die  rein  inensch- 


9)  Lehrs  an  der  schon  oben  S.  5(')  P.  angeführten  Stelle  seiner 
Popul.  Aui'ss.  Fr.  Zimmorniann  Begr.  d.  E|»os  S.  18 f.:  „Als  Hesse  sich  eine 
Zeit  (lenken,  in  wekiicr  die  liürliste  Gcnialiliit  Scliullon  war?  Und  wir 
sollen  noch  das  wunderliaftoro  Wunder  glaiilicn,  dass  diese  riodiditc, 
durch  welche  ein  Geist  unverkennliar ,  durchaus  eigcnlliinnlicli  und  uner- 
reichbar weht  —  von  einer  Innung  ausgegangen  seien,  welche  durch 
unerhörtes  Naturspiel  genau  dicselhc  dichterische  Individualität,  denselben 
Grad  des  schöpferisclicn  Vermögens  besessen  lial)en  niiisslcn,  wenn  wir 
die  II i ade  und  Odyssee  bei  solcher  Gleichartigkeit  ilires 
Charakters  auf  sie  zurückfüliren  dürften".  Dei-s.  über  Einscliie])sel  das. 
und  über  Homers  Compos.  S.  1  10.  Hegel  Aeslli.  '^.  ;33n:  „Die  homerisclieu 
Gedichte  —  manclien  Einscliaihiiigen  und  sonstigen  Veriinderungen  aus- 
gesetzt —  bilden  durchaus  eine  waiirhafte,  innerlicii  organische  Totali- 
tät, und  solcli  ein  Ganzes  kann  nur  Einer  machen".  Vorlier:  ,, Viele  Stücke 
in  demselben  Tone  forlgesungen ,  machen  jedocli  noch  kein  einbeitvolles 
Werk,  das  nur  aus  einem  t^eiste  entspringen  kann". 

^i(zs.•ll,   (jrsch    d.  gii.-oh.  Kpos.  20 


306 

liehe,"  Avie  Carriere  sagt.  Dadurch  hat  er  seinen  Gedichten  über- 
haupt das  Charaktervolle  gegeben,  was  ihre  eigenste  innerste  Eigen- 
schaft ist,  aus  der  auch  die  dramatische  Form  hervorgeht.  Be- 
sonders sprechend  offenbarte  sich  dieser  Sinn  in  seinem  Zeus  wie 
unter  den  Helden  im  Achill  und  Rektor ;  der  Zeus  Homers  gestaltet 
ungern  den  Rachekrieg  gegen  das  in  allen  andern  Gliedern  wegen 
seiner  Frömmigkeit  geliebte  Königshaus  (11.4,  43.),  erst  da  die 
Kränkung  des  Achill  bei  ihm  angebracht  wird,  nach  langem  Sinnen 
(1,  512).  entgegen  den  Schutzgöttern  der  Griechen  und  besonders 
der  Here  (der  der  Atreiden),  beschliesst  er,  zur  Genugthuung  des 
verdientesten  Helden  einen  selbstbemessenen  Rath.  Der  Sohn  des 
frommen  Königshauses  soll  darnach,  in  drei  Stadien  sieghaft,  den 
Griechen  Noth  schaffen,  bis  Achill  aufgeregt  werde  (11.  8,  473  f.),  wo- 
nach dann,  wann  dieser  in  seiner  Nähe  ein  Schiff  aufleuchten  sieht, 
allmählich  erst  durch  Patrokjos,  dann  durch  Achill  selbst,  Umkehr 
geschehen  soll.  Dieser  menschlich  auch  erregbare,  aber  maassvoll 
über  den  Parteien  stehende  höchste  Gott  gewährt  dem  Agamem- 
non mitten  in  der  Büssungszeit  doch  Rettung  (8,  246.),  ja  einen 
Siegesgang,  als  Achill,  der  nicht  vergessen  kann,  die  Versöhnung 
verweigert  hat  (11,  186  ff.).  Er  erwirkt  endlich  nochmals, 
als  Achill  wieder  maasslos  in  der  Rache  sich  erweist,  die  Aus- 
lösung der  Leiche  des  Hektor  an  Priamos.  So  nicht  von  der 
Sage,  sondern  vom  edeln  Dichter  ausgeprägt,  gab  dieser  gött- 
liche Charakter  ganz  besonders  die  Ueberzeugung,  dass  nur  Ein 
Schöpfer  diese  Rias  entworfen  und  ausgeführt  habe.  So  heisst  es 
nach  einer  Charakteristik  eben  des  Zeus:  ,,Wie  hoch  aber  Homer 
im  Ethischen  und  Religiösen  stehe,  muss  man  im  Ganzen  erken- 
nen. Diese  im  Ganzen  lebende  Seele,  das  höchste  dichterische 
Vermögen  nicht  gerechnet,  bürgt  für  die  Einheit  der  Gedichte, 
und  da  alle  dagegen  sprechenden  Wahrnehmungen  auf  andere 
Weise  befriedigend  erklärt  sind,  so  weiss  ich  nicht,  was  uns  be- 
wegen soll,  gegen  alle  Erfahrung  das  Wunder  einer  Reihe  von  Dich- 
tern zu  glauben,  die  sich  an  sich  so  gleich  gewesen,  und  deren 
Namen  noch  dazu  in  dem  eines  einzigen  untergegangen  seien. 
Was  Ilomeriden  vermögen,  ersehe  man  an  den  Hymnen:  alles 
Schöne  bei  ihnen  —  ist  Nachklang  des  homerischen  Götterliedes."'") 

10)  Thudichum  die  Trag.  d.  Soph.  übers.  1.  A.  S.  242  (noch  heute 
nicht  anders),  und Bäunileins  Aachwoisungen Philol.  XI.  ;3. 400.  Sagenp.  189f. 


307 

Der  sittlich  religiösp  Sinn  liatte  den  Dirlitcr  schon  zn  der 
Wahl  seiner  heiden  Stoffe  bestimmt.  Die  Dias  stellt  in  ihrem 
ersten  Gange  (1  — 16)  die  Büssung  der  von  Agamemnon  verwirkten 
Kränkung  und  das  Leid  der  Griechen  dar,  in  dem  zweiten  den 
tragischen  Achill.  *')  Die  Odyssee  lässt  in  der  Erzählung  der 
Irrfahrten  des  Helden,  welche  der  Dichter  durch  ein  Meisterstück 
als  bereits  bestanden  zum  Ruhmestitel  gestaltet  hat,  doch  diese 
eigentlich  als  Folge  eines  in  der  Siegesfreude  entfallenen  Wortes 
und  dadurch  verwirkten  Götterzorns  erkennen,  dann  im  Haupt- 
Iheil  aber  gieht  sie  ein  Beispiel  eines  durch  denselben  gotlge- 
liebten  Helden  bestraften  frevelhaften  Attentats.'^)  Hiermit  ist 
denn  ein  tieferer  Grundton  beider  Epopöen  gegeben,  der  in  sei- 
ner Durchführung  nicht  anders  als  aus  der  persönlichen  Seelen- 
stimmung des  Dichters  hergeleitet  werden  kann.  Aber  bei  dem 
Ernst  und  der  Grossartigkeil  der  Weltansicht,  welche  sich  dadurch 
kund  geben ,  können  ^^ir  ganz  unzweifelhaft  einen  Unterschied 
zwischen  ihm  und  Hesiod  an  heiterer  Lebensansicht  und  Weltan- 
schauung und  die  glückliche  Mischimg  des  Ernstes  mit  Frohsinn 
und  überhaupt  die  Humanität  dieses  Sprechers  und  Bildners  des 
Griechengeistes  wahrnehmen.  Nicht  erst  in  den  Zeiten  schon  ent- 
wickelter mannigfacher  Dichtungsarten  treten  verschiedene  Dichter- 
geister hervor,  nicht  blos  Lyriker  etwa  wie  Solon  und  Mimner- 
mos,  und  Tragiker,  wie  Euripidcs  und  Sophokles,  unterscheiden 
sich  in  ihrer  gcmüfhlichen  Eigenthümlichkeit,  auch  das  Epos, 
welches  in  Darstellung  der  Götter-    und  Menschenwelt  ein  Welt- 


11)  Bäiinilcin  das.  S.  417.  „Es  miiss  sich  ja  wolil,  je  inniger 
man  sich  mit  dem  Gedichte  vertraut  niaclil,  um  so  klarer  die  Ucbcrzcngung 
aufdrängen,  dass  das  Gediclit  von  dem  verderblichen  Zorn  recht 
eigentlich  darlliim  soll,  wie  selbst  bei  den  edelsten  Nalurnnlagon  der 
Mangel  an  Miissi^ung  in  dem  Selbstgefrild  nnd  einem  an  sich  berechtigten 
Pathos  unheilvolle  Wirkungen  liat,  wie  die  Nemesis  die  Ucbersclncitung 
des  3hiasscs  ahndet".  Ad.  Scholl,  Beitr.  z.  Kenntn.  d.  tr.  Poesie  1,  288. 
„Der  Achillszorn ,  das  Thcnia  dcrilias,  dieser  edelste  Kern  des  antiken 
E[)0s,  ist,  wie  der  Kraftlhcil  aller  Völker,  Prototyp  der  vollkommensten 
Tragödie".  Sagenp.  2(55  f.  291  f.  4.33.  „Am  Iragischslen  sind  die  Fälle  und 
Menschen,  wenn  sie  ihr  Recht  und  ihre  Tugend  libertreiben ,  Maasslosig- 
keit  in  an  sich  berechtigten  Erregungen  und  Strebungen  üben,  oder  sich 
dahin  vergreifen,  dass  sie  durch  dasselbe,  woduich  sie  sich  Heil  und  Ge- 
winn zu  sehaflen  meinten,  ihr  Verderben  linden". 

12)  GroleS.  523.    Sagenp.  292 f. 

20* 


308 

gemäldc  iinifasst,  hat  hei  semen  Erzählungen  dazu  Anlass,  und 
gieht  dem  Geschilderten  die  Farbe  des  Dichtergemüths.  Es  ist 
nicht  eitles  Spiel,  wenn  schon  alle  Schriftsteller  hemerken,  in 
Homers  Mund  werde  Alles  preiswürdig  und  auch  das  Unschein- 
bare erscheine  im  hebenden  Glanz.  Sie  hatten  nicht  Unrecht, 
die  schmückenden  Beiwörter,  wie  sie  der  lebendigen  Anschauung 
angehören,  aus  seinem  freundlichen  Geniüth  herzuleiten.")  Es 
ist  zum  guten  Theil  als  persönlicher  Unterschied  der  Dichlerge- 
müther  zu  fassen,  wenn  die  Menschenwelt  Homers  mit  ihrem  ver- 
trauensvollen Glauben  und  naiven  Verkehr  mit  ihren  Göttern  den 
entschiedensten  Gegensatz  bildet  zur  Schilderung  des  Hesiod,  wo 
Anklage  des  ganzen  Menschenalters  verlautet  und  im  Gottesdienst 
ängstliche  Sorglichkeit  herrscht.  Freilich  tritt  auch  bei  Hesiod 
an  die  Stelle  des  Bildes  der  Heldenwplt  mit  ihrer  zum  Lied  ge- 
\Aordenen  Thatenlust  die  Wirklichkeit,  in  welcher  Alles  auf  Ar- 
beit und  Ervverb  abzielt.  Verwandt  mit  seiner  freundlichen  An- 
schauungsweise ist  der  Ausdruck  menschlicher  Rührung,  wenn 
Homer  gerade  bei  seiner  Schilderung  der  Kriegsscenen  den  sich 
begebenden  oder  geahneten  Tod  eines  Kriegers  mit  einer  aus 
dem  Leben  gegriffenen  Aeusserung  des  Mitgefühls  begleitet.  Der 
Tod  des  Gefallenen  ist  schmerzlich  hier  a)  für  Vater  und  Mutter, 
denen  er  nicht  Kindesdank  erweisen  oder  im  Erbe  folgen  wird, 
dort  b)  für  die  Gattin,  die  er  umsonst  mit  reichen  Brautgaben 
erworben,  oder  die,  wenn  sie  die  Kunde  vernommen,  bei  ihrer 
durch  die  Nacht  hinschallenden  Wehklage  Hausgenossen  und  Nach- 
barn nicht  schlafen  lässt;  er  ist  bedauerlich,  c)  weil  kein  Reicli- 
tlium,  keine  Kunstbegabung  durch  eine  frcimdliche  Gottheit,  keine 
Beliebtheit  bei  den  Menschen,  keine  königliche  Schwägerschaft 
davon  erretlet  hat.**)  Den  prophetischen  Vater,  der  ihnen  den 
Tod  vorausgesagt,  hatten  sie  nicht  gehört  (11,  3301'.).  Jener 
aber,  dem  der  Vater  ein  Doppelgeschick  verkündet,  wählte  den 
Kriegertod  vor  dem  daheim  durch  Krankheit  und  dazu  dem  ihm 


13)  Die  Chrysosl.  33.  II.  5.  Rsk.    Themist.  1.  a.  E. 

14)  a)  II.  4,  477.  5,  150 — 158.  b)  11,  242—246.  5,412  —  415. 
c)  5,  612—014.  5,  51—54.  6.  14—16.  13,  172—176.  S.  auch  z.  B.  11, 
330  und  wie  der  in  eigenen  Worten  immer  liumyne  Üichler  Sieger  ihre 
Schlüge  mit  Sarknsmen  lieglciten  lässt  14,501 — 505.  456f.  13,373  bis 
382.  414-416,  Lei  der  Drohung  11,  301  —395. 


309 

Ireffenden  bösen  Leumund  der  Feigheit  (13,  666 ff.).  Endlicii 
Zeus  selbst,  als  Heklor  dem  gefällten  Patroklos  allzukühn  die 
Waffen  des  Achill  abgezogen,  lässt  er  ihn  doch  gewähren,  er 
mag  sie  tragen  auf  dieser  letzten  Siegesbahn,  wird  doch  An- 
dromache  ihm  nicht  bei  der  Heimkehr  jene  Waffen  abnehmen 
(17,   207 f.). 

3.  Fortsetzung.     Die  homerischen  Frauen. 

Auf  dem  Grunde  der  hiermit  im  Allgemeinen  gezeichneten 
Seelenstimmung  heben  sich  nun  zum  wohl  individuellsten  Zeug- 
niss  die  Bilder  der  edlen  Frauen  oder  treuer  Diener  hervor; 
also  Andromache  und  Helena,  Penelope  und  Nausikaa, 
die  Amme  Eurykleia  und  der  Hirt  Eumäos  auch  der  schlau- 
treue Herold  Medon.'")  Sehen  wir,  wie  in  diesen  Charakteren 
aus  beiden  Epopöen,  und  namentlich  in  dem  beiden  gemein- 
samen der  Helena  sich  ein  und  dieselbe  gemiithreiche  Bildner - 
kraft  erwiesen  hat.  Diese  selbe  Kraft  schuf  die  Andromache  des  6. 
und  des  22,  Gesanges  der  Bias,  diese  beiden  lebensvollen  Familien- 
bilder. Die  allberühmte  Abschiedsscene  am  Thor  zum  Schlacht- 
felde nicht  blos  mit  dem  „Hektor,  so  bist  du  Vater  mir  jetzt 
und  würdige  Mutter"  u.  s.  w.,  sondern  mit  allen  und  jeden  Pulsen 
des  Gatten-  und  Elternherzens  in  Einem,  und  die  andere  22, 
437 ff.,  wo  sie  vom  Fleisse  am  Webstuhle  und  der  Sorge  für  das 
Bad,  wenn  der  Gatte  aus  der  Schlacht  komme,  (seine  Pferde 
8,  186 — 188)  durch  ein  fernes  Jammergeschrei  aufgeschreckt 
zum  Thurm  eilt,  von  da  ilin  geschleift  sieht  und  die  Klage  er- 
hebt mit  der  unvergleichlichen  Schilderung  des  Wittwen-  und 
Waisenstandes.'") 

Derselbe  Renner  des  Menschengemüths  prägte  die  sich  durch 
die  ganze  Odyssee  gleichen  Züge  der  Penelope,  „des  treucsten 
der  Weiber",  aus,  wie  sie,  nachdem  ihr  durch  alle  Zeiten 
sprichwörtliches  Gewebe  verrathen  ist,  in  1  ,  336.  dem  Gesänge 
von  der  trauervollen  Heimkehr  wehrt  und  sich  über  den  eben 
mündig  werdenden   Sohn  verwundert,   306 f.,   wie  sie  bei  ihren 


15)  Anra.  zu  Od.  4 .  677. 

16)  Fr.  Zinimcrniann :  Ucber  den  Begr.  d.  Epos  S.  24  mit  Ver- 
gleichung  der  Klage  der  Dainajaiiti  um  ihre»  Nalus.  S.  Hollzraainis  Ind. 
Stud.  Th.  3.  S.  33ff. 


310 

Ihränenreichen  Nachten  und  Tagen  in  Sehnsucht  nach  dem  Gatten 
verlangt,  wie  sie,  unterrichtet  von  dem  Mordplan  gegen  den  Sohn, 
im  4.  Gesang  um  diesen  hangt,  und  der  treuen  Eurykleia  die  Ver- 
heimlichung der  Reise  vorwirft,  wie  sie  weiter,  ahgesehn  von  ihrer 
Leichtgläuhigkeit,  mit  der  sie  jeden  fernher  Rommenden  nach  dem 
Manne  fragt  (14,  126 — 130),  als  ihr  der  Gedanke,  den  Freiern  zu 
erscheinen,   entsteht,  das  unühersetzhare  Lächeln  im  Gesicht  hat 
(18,  163.  uxQSLOv),   von  Athene  durch  einen  Wunderschlaf  er- 
(juickt,   sich   in  ihrem  Sehnsuchtsleid  solch  sanften  Tod  wünscht 
(18,  201 — 205).    Vor  Allem  köstlich  aher  ist  sie  in  zwei  Sceuen 
bezeichnet,  da  sie  im  19.  Gesänge  den  unerkannten  Gatten,  der  mit 
seinen    wie  Hörn  und  Eisen  stehenden  Augen  ihr  gegenüber- 
silzt  (211),  im  längeren  Gespräch  ausfragt,  und  mit  der  Nothwendig- 
keit  ringt  eine  Entscheidung  herbeizuführen,  sodann  da  sie,  als  der 
Freiermord  vollbracht  ist,  die  Meldung  der  Eurykleia  erst  ungläubig 
abweist  (23,   1 1  IT.),  dann,  zum  Glauben  gedrängt,  als  das  Gegcn- 
hild  ihres  besonnenen  Mannes,  noch  zweifelmüthig,  ob  sie  ihn  von 
fern  ausfragen  oder  ihm  um  den  Hals  fallen  soll,    noch   an  sich 
hält,  so  dass  der  Sohn  sie  schilt,  und  wie  die  wunderbare  Scene 
weiter    geschildert   ist.     Endlich  hat  die  Vergleichung  der  Heim- 
kunft des  Agamemnon  mit  der  des  Odysseus  in  des  Dichters  Be- 
handlung besonders   die  Wirkung,  die  Treue  der  Penelope  zum 
Gegenbild  der  grausen  Klylänmestra  zu  machen  (11,  444 — 446).'^) 
Wenn   nun   unser  wohlbegründeter  Glaube  mehr  als  geneigt 
sein   mus's,    diese  beiden  Frauenbilder,  die  Andromache  und  die 
Penelope,    gleich    dem    Allerlhum,    von    einem    und    demselben 
Dichtergeist  gedacht  und  durchgeführt  anzunehmen,**)  so  zeugt  der 
Charakter  der  Helena,  der  in  beiden  Epopöen  licht  und  lebendig 
erscheint,    bei  gehöriger  Zusammenstellung   der  in  beiden  gege- 


17)  Lasaulx  die  Ehe  hei  den  Gr.  in  den  Abband!. d.bair.Ak. d.W.  B.  7. 
S.  156.  Die  Ilauptheklen  Ijoidor  Gedichte ,  sonst  su  verschieden,  sind  darin 
einig,  dass  ohne  Frauenlicbe  kein  männliches  Glück  bestehe.  S.  37.  Die 
ganze  Odyssee  ist  ein  Lobgesang  auf  Penelope  u.  s.  w. 

18)  Carriere  das  Wesen  der  Poesie.  S.  147 f.:  „aus  Andromaches 
lächchider  Thränc  spricht  die  hungkeit  seines  Gcniüths  uns  an,  wie  die 
Kindcreinlalt  seiner  reinen  Seele  aus  dem  Zurückbeben  des  kleinen  Astya- 
nax  vor  dem  Helmbusch  dos  Vaters;  Odysseus  und  Penelope  offenbaren 
den  Erapfindungsreiclithum  seines  Geistes,  die  Treue  seines  Herzens." 
S.  dens.  S.  174  und  Lasaulx  a.  a.  0.  S.  38. 


311 

bellen  Züge  von  ihr,  ganz  besonders  sprechend  für  die  Einlieit 
des  Dichters.  Ganz  hriger  Weise  bildeten  sich  gewisse  alte  Er- 
klärer aus  falschem  Verständniss  der  Verse  II.  2,  356  und  590. 
und  entgegen  den  Anzeichen,  welche  andere  Stellen  enthalten, 
das  ürtheil,  die  Helena  der  Ilias  sei  von  Paris  mit  Gewalt 
und  wider  ihren  Willen  geraubt,  die  der  Odyssee  dagegen  sei 
ihm  freiwillig  gefolgt.  Nach  dem  richtigen  Verständniss  jenes 
Verses  und  seiner  Beziehung  auf  Nestor  und  Menelaos  spricht 
derselbe  von  den  sehnlichen  Gedanken  und  Seufzern  der  Helena, 
A\ie  Nestor  und  Menelaos  und  selbst  Hektor  nur  den  Paris  als 
Schuldigen  am  Kriege  anklagen;  Helena  selbst  bekennt  ihre 
Schuld ,  klagt  sich  selbst  als  Verführte  und  den  Paris  als  den 
Verführer  an,  dies  in  beiden  Situationen,  in  Troia,  II.  3,173 f., 
und  6,  344  —  358.,  wo  sie  sagt,  Hektor  habe  Mühe  wegen  ihrer 
Schamlosigkeit  und  Paris  Unsal  [ätr]),  in  Sparta,  Od.  4,  259 — 264., 
wo  sie  bei  der  Erzählung,  wie  in  Troia  ihre  Sehnsucht  nach 
dem  vorigen  Verhältniss  erwacht  sei  (vgl,  II.  3,  139 — 142),  ganz 
nach  dem  Glauben  der  Griechen  (II.  14,  198,  214  —  217.)  die 
Aphrodite  nicht  anders  als  Verführerin  nennt,  wie  II.  3 ,  395  bis 
447  in  dem  Gespräch  mit  der  Göttin  selbst.  Ausführlicher  ist 
dies  Alles  von  Lehrs  dargethan.'^) 

Wie  naturgetreu  einfach  und  doch  so  fein  ist  das  Bild  des 
unvergleichbar  schönen  aber  sinnlichen  und  daher  verfülirbaren 
Weibes  —  verführbar  vollends  durch  einen  Paris,  ihr  männliches 
Gegenbild!  Mit  welchem  Geist  gezeichnet  ist  dies  Bild  im  Moment, 
da  sie  den  vorigen  Gatten  sieht,  aber  die  Göttin  des  Liebreizes 
ihre  Lieblinge  selbst  kuppelt,  sie  aber  sich  ebenda  zurecbt  fin- 
det und  besonders  an  Ilektors  Freundlichkeit  emporhebt.  Lieb- 
lich vollendet  wird  es  in  der  Odyssee  bei  Telemaclis  Besuch. 
Nachdem  sie  ganz  nach  Frauenart  den  Telemach  an  der  Aehii- 
licbkeil   mit   dem  Vater    erkannt   hat,    ist  sie  die  anmuthige  und 


19)  Populäre  Aufs.  Lpz.  1856.  S.  11 — 15,  wo  auch  die  beiden  Stellen 
II.  19,  325  und  Od.  14,  68  in  das  gehörige  Licht  gestellt  werden,  in 
welchen  allein  von  griechischer  Seite  die  Helena  angeklagt  wird.  Achill 
nennt  sie  die  Enlselzliche  im  Acrgerniss  an  dem  um  ein  Weib  entstan- 
denen Krieg  und  in  seiner  durch  den  Verlust  des  Palroklos,  aufgereizten 
Stimmung.  Eumäos  aber  verwünscht  ihren  Stamm  nicht  aiulers  als  Achill 
nach  11.19,  591V.  die  Briseis,  den  Gegenstand  seines  Zwistes,  lieber  am 
Tage,  da  er  sie  gewann,  getödtct  gesehen  hätte. 


312 

freundliche  WirUiin,   Avie   gegen  Heklor,  II.  6,  354  f.,  so  hier  ge- 
gen  den  Sohn   des   gefeierten    Odysseys,   und   als   ihre  und   des 
3Iannes  Erzählungen  Schmerz    und  Thränen   erregt,   hat  sie  den 
allen  Kummer   stillenden  Wundcrlrank   (4,  220).     Als   dann  der 
Jüngling  Ahschied  nimmt,  beschenkt  sie  ihn  mit  dem  Gewände 
für  die  künftige  Braut  (15,  125).    Und  als  hei  der  Abfahrt  selbst 
ein  Vorzeichen  erscheint,   hat  sie,  gegenüber  dem  schwerfälligen 
Älenelaos,   auf  einen  Schlag  die  Deutung  (15,   169  bis  ITl).^'') 
Es    kann    dem    willigen  Leser   nicht  entgehn,    wie  harmo- 
nisch  all   die  Züge  beider  Situationen  zu  einem  wahrsten  Typus 
fein    gedachter    Weiblichkeit    zusammenstinnncn.       Wenn    er    in 
dem  Bildner   dieses  beseelten  und  stetigen  Charakters  besonders 
der   homerischen  Frauen    den    innigen,  tief  individuellen  Genius 
vollends  unabweislich  gegeben  sieht,  höre  er  denselben  geistvollen 
Gelehrten,   der    die  Beweisstellen  am  sprgfälltigsten  auslegt,  was 
er  S.  14  jener  Schrift  als  Ergebniss  ausspricht:    „Zu  alle  dem 
gehörte   nicht  weniger   als  die  unbefleckte  sittliche 
und  dichterische  Grösse   des  Homer,  wodurch  er  der 
gepriesene    Liebling   jeder   Zeit,    jedes    Standes    und 
jedes  Alters   geworden   ist".     Es  wird  der  Leser   sich  die 
Kunstweise  des  Dichters  besonders  in  dem  Hin  und  Her  des  Lust- 
reizes   und    der    Scham,    der    Hingebung    an    den   Liebling    der 
Aphrodite    und    der    treuen   Erinnerung   an   Menelaos   nebst   der 
Vergleichung  beider  Männer  im  Gedächtniss  behalten,  wie  es  auf 
das  feinste  in  dem  Gespräch  zuerst  mit  Aphrodite,  dann  mit  Paris 
selbst  gezeichnet  ist,  3,  395 — 447.   Und  wenn  er  in  der  weiteren 
Litteratur  der  Griechen  das  zarte  Bild   der  Helena   in   das  has- 
senswürdigste    entstellt  findet   (s.  Lehrs'   weitere   Ausführungen), 
Homer    aber    in   seiner   lebensvollen   dramatischen  Darstellungs- 
weise gerade  auch  in  dieser  Frau  die  Menschennatur  nach  ihrem 
Gemisch    von  Schwäche   und  Edelsinn   gezeichnet    und  das  Lieb- 
liche  hervorgehoben   hat,    dann  mag  er  auch  eben  hier  an  dem 
sprechendsten  Beispiel  die  der  Poesie  darstellender  Kunst  eigenste 
Weise  als  die   homerische   bestätigt  finden.     Der   wahre  Epiker 
malt  tlieils   nur  dasjenige  und  nur  da  aus,  wovon  und  wo  Wir- 

20)  Man  vgl.  auch  Aug.  Jacob :  lieber  Entsteh,  d.  II.  und  Od.  S.  105. 
„Vollkoniiiien  entsprechend  ihrer  Darstellung  in  der  Ilias  erscheint  Helena 
auch  in  der  Odyssee". 


313 

kling  erfolgt,  theils  charakterisirt  er  mehr  durch  Thalsacben  der 
Handlung  als  durch  Worte  ,^')  theils  endUcb  lässt  er  Eigenschaften 
mittels  Reflex  der  handelnden  Personen  erscheinen.  Wie  dies 
die  Bedeutung  ist  von  der  ganzen  „Mauerschau",  wie  die  Griechen 
die  Partie  des  3.  Gesangs  der  liias  etwa  von  121 — 244  nannten, 
so  hören  wir  in  derselben  die  Art,  wie  Homer  die  zum  Typus  ge- 
wordene Schönheit  der  Helena  preist.  Es  geschieht  dies,  abgesehn 
von  der  einfachen  Vergleichung  mit  der  Artemis  (Od.  4,  122), 
mittels  Anregung  der  Phantasie,  allerdings  auch  durch  die  Zu- 
neigung der  Verleiherin  alles  Liebreizes,  der  Aphrodite,  zu  ihr 
(IL  3,  415),  aber  sinniger  (und  mit  mehren  Worten  sonst  nir- 
gends) durch  den  dramalisch  geschilderten  Eindruck  auf  die  troi- 
schen  Greise:    3,  154  — 160. 

Als  sie  Helena  sah'n ,  die  jetzt  zu  dem  Thurme  dalierkam, 
Raunte  der  Eine  dem  Andern  ins  Ohr  die  geffiigelten  Worte: 
Schelte  mir  keiner  die  Troer  und  wohlumschientcn  Achäer, 
Dass  sie  um  solch  ein  Weil)  so  lange  sich  mühen  im  Elend, 
Gleicht  sie  ja  doch  an  Gestalt  unsterbHchen  Frauen  der  Götter. 
Aber  wie  reizend  sie  sei,  doch  schifle  sie  wieder  nach  Hause, 
Ehe  sie  uns  und  den  Kindern  dereinst  noch  werde  zum  Unheil. 

Wir  erkennen  hierbei  auch,  welche  Feinheit  in  dem  in's 
Ohr  raunen  liegt.  Die  Stelle  diente  Lessing  vor  andern  zum 
Beleg  für  seine  Lehre  vom  Unterschied  der  Dichtkunst  und  der 
Malerei  (Laokoon  322):  „Was  kann  eine  lebhaftere  Idee  von 
Schönheit  gewähren,  als  das  kalte  Alter  sie  des  Krieges  wohl 
werlh  erkennen  lassen,  der  so  viel  Blut  und  so  viele  Thränen 
kostet"?  Wir  fügen  mit  Carrieres  Worten  die  Theorie  hinzu 
(155  f.):  „Der  Dichter  arbeitet  eigentlich  mit  der  Phantasie  des 
Hörers  oder  Lesers,  sie  will  er  anregen,  dasselbe  Bild  zu  ent- 
werfen, das  vor  seiner  eigenen  Seele  schwebt'-.  ,,Von  Helena 
sagt  Homer  nur,  dass  sie  schön  gewesen  wie  eine  Göttin,  er 
zeigt  uns  aber  die  Wirkung  ihrer  Schönheit"  —  es  folgt  die- 
selbe Auslegung. 

Die  Feinheit  und  Naturwahrheit  in  der  Zeichnung  dieser 
drei  Frauen   finden   wir   unvergleichlich   auch   in   dem  Bilde  der 


21)  Lessings  Werke  in  12.  Th.  2.  Laokoon  S.  258  ff.  bes.  270: 
Homer  malt  Nichts  als  fortschreitende  Handlungen  u.  s.  w.  Carrierc,  We- 
sen und  Formen  der  Poesie  S.  154fr 


314 

biäuüichen  Jungfrau  Nausikaa  im  6.  Gesänge  der  Odyssee  bewährt. 
Wie  bei  jenen,  zeigt  sich  das  edelschöne  Gemüth  des  Dichters  hier 
eng  verschwistert  mit  seiner  genialen  Erlhulsamkeit.  Man  kennt 
die  Aeusserung  Goethes  (an  Scliillcr  Br.  424)  über  die  unübertrelT- 
liche  Begegnung  eines  Fremdlings  im  fernen  Lande  mit  den  Ein- 
gebornen,  durch  welche  er  jedem  folgenden  Darsteller  solchen 
Hergangs  das  Schönste  vorweggenommen  erklärt.  Es  zählt  zu 
den  anmuthigsten  Zügen  des  Bildes  das  Ballspiel,  das  zugleich  als 
feines  Motiv  den  Schlafenden  aufzuwecken  dient.  Aber  auch  eben 
Nausikaa  als  bräutliche  Jungfrau  gleich  zuerst  in  ilirem  Traum, 
der  die  Wäsche  motivirt,  in  der  Verheimlichung  bei  der  Bitte 
an  den  Vater,  in  ihrer  schämig  muthvollen  Haltung  beim  Anblick 
des  nackten  Mannes,  in  ihrer  Aeusserung  gegen  die  Dienerinen, 
,  240fl",,  in  ihrer  Rücksicht  auf  das  Gerede  der  Leute,  27311.;  ihrer 
Weisung  des  Fremden  an  die  Mutter,  310,  nachmals  im  Hause 
in  der  Mahnung,  dass  er  ihrer  daheim  gedenke,  8,  459 fl\") 
Ihre  eigene  Erscheinung  mit  allen  Beizen  malen  nicht  eigene 
Worte  des  Dichters,  sondern  die  Anrede  des  Odysseus  6,  149. 
Carriere  S.  162. 

Die  Amme  Eurykleia  gehöi't  wesentlich  zur  Charakteristik 
der  heimischen  und  häuslichen  Verhältnisse,  in  die  Odysseus  ein- 
treten soll  und  eintritt.  Sie  die  bejahrteste,  die  vor  allen  altge- 
wohnte Dienerin  des  Hauses,  w  eiche,  einst  von  dem  Grossvater  La- 
ertes  in  zartester  Jugend  gekauft  und  gleich  der  Gattin  werth 
gehalten  (1,  430 ff.),  den  Sohn  und  den  Enkel  gewartet  und  auf- 
wachsen gesehn  hatte,  sie  war  dem  Odysseus  wie  der  Penelope 
und  ihrem  Erben  die  trauteste  und  anhänglichste  Dienerin.  Von 
Arbeit  und  Amt  hatte  sie  nur,  was  dem  höheren  Alter  und  dem 
Vertrauen  eignet,  erstens  die  Aufsicht  ülier  die  Sclavinen  und 
Anordnung  ihrer  Besorgungen  (20,  145.)  ausser  der  sesshaften 
Arbeit,  bei  der  sie  die  Hausfrau  hier  wie  überall  umgaben,  so- 
dann die  Obhut  über  einen  weiten  Keller,  in  welchem  ausser  Me- 
tallvorrath  und  Kleiderzeug  —  besonders  auch  wohl  Mehl  nebst 
Gel   —  die   verschiedenen  Weine   und    der  beste  für  den  abwe- 


22)  Aristarch  fand  244  —  246  und  275  —  285  der  Jungfrau  unge- 
ziemend, die  letzteren  scheinen  den  beieils  hinlänglich  angedcutclen  Ge- 
danken in  unangemessener  Breite  auszufüluen.    Doch  s.  Sagenj».  171. 


315 

senden  Herrn  bewahrt  werden,  2,  237 — 247.^^)  Sie  nun  Irill  nach 
dieser  ihrer  Stellung  in  beiden  der  Haupthandlung  angehörigen 
Ereignissen  hervor,  als  Teleniachs  Vertraute  bei  der  Reise,  die 
er  vor  der  Mutter  verheimlicht,  und  als  die  Ircueste  Dienerin  des 
Hauses  bei  der  Heimkunft  und  dem  Itacheplan  des  Odysseus,  da 
sie  allmählich  in  die  3Iitwissenschaft  theils  gezogen  wird  (19,  16.), 
theils  durch  die  von  Odysseus  seihst  herbeigeführten  Umstände 
gelangt  (19,  346.  353 f.).  Die  frühere  Hauptscene  für  Eurykleia, 
als  Penelope  des  Sohnes  Reise  und  zugleich  der  Freier  Mord- 
plan  erfahren  hat,  lesen  wir  4,  742ff.  Die  andere,  besonders 
gemüthlich  schöne,  wo  sie  beim  Fussbade  den  Odysseus  au  der 
Narbe  erkennt,  19,  469—490.  Nachmals  nach  vollbrachtem  Freier- 
mord  wird  sie  herbeigerufen,  22,  391,  und  hat  sie  über  das  Be- 
tragen der  Sclavinen  Bescheid  zu  geben,  22,  417.  Diese  zum 
Fortschalfen  der  Leichen  und  Reinigen  des  Saals  herbeizuholen, 
und  der  Penelope  das  Geschehene  zu  melden.  Die  Scene,  wo 
dieses  geschieht,  zu  Anfang  23.,  ist,  wenn  vorzüglich  für  die  bei 
treuester  Sehnsucht  vorsichtige  Penelope,  doch  auch  für  den  Sinn 
der  Alten  charakterisch. 

An  Treue  wie  an  Bedeutung  für  die  Handlung,  und  so  als 
Erweis  des  gemüthreichen  Dichters  der  Odyssee,  steht  neben  Eu- 
rykleia der  Hirt  Eumäos.  Jeder  irgend  uidjefangene  Leser  wird 
diesen  in  den  Büchern  14 — 17  von  selbst  linden.  In  seiner 
Hütte  treffen   sich  Vater  und  Sohn,   dort  führt   der  Dichter   die 


23)  Das  iv  öe — saxs  die  Form  der  einzeln  wiederholten  Handlung 
und  die  Sache  selbst  sagt,  dass  sie  nicht  Tag  und  Nacht  in  dem  Keller 
sass,  sondern  als  Ausgcherin  dieser  Vurrällie  diesen  Keller  mit  treuer 
Sorgsanikeit  hewaltetc.  Das  Tag  und  Nacht  drückt  nur  die  Stetigkeit 
der  Sorge  aus.  Also  wie  Fäsi  und  Ameis.  Teleniach  ruft  sie  ja  erst  zu 
dem  Gewölbe.  Ueber  iv  öe,  dabei,  daran,  s.  Dassovv  5.  A.  und  Iv  C.  — 
Neben  ihr,  der  Hochbcjaiirten,  ist  für  den  täghchen  Dienst  als  Schadnerin 
die  auch  schon  ältere  Eurynonie  im  Hause,  deren  spätere  Erwähnung 
niciit  zu  trennenden  Folgerungen  misshraucht,  w-cr  nur  für  planmässige 
Erzählung  Sinn  hat.  Was  die  Dienstleistungen  belrillt,  so  Icuclitel  Eury- 
kleia iiirem  lieben  Kinde  ins  Schlaigcmach  1,  428,  wird  später  neben  der 
Eurynonie  als  Kammerfrau  bezeichnet,  23,  177,  154,  und  riclilet  mit  dieser 
den  wieder  vereinten  Gatten  das  Lager  zu,  doch  leuchtet  ihnen  Eurynonie 
23,  289—294  und  wenn  die  Sklavinen  um  die  Herrin  sind,  wendet  sich 
diese  mit  einem  Auftrag  an  Eurynonie  18,  164  —  182,  19,  96;  und  spricht 
diese  vor  Anderen  17,  495,  Eurykleia,  wo  sie  bcllieiligl  ist,  4,  142. 


316 

beiden  Fäden  der  Handlung  von  Ilhaka  und  der  Insel  Ogygia  her 
in  Eins,  d.  h.  dorthin  lässt  er  die  göttliche  Bewegerin  der  Ge- 
schichte, nachdem  sie  den  Odysseus  heimgeführt,  diesen  weisen, 
und  darauf  ebendorthin  den  Sohn  von  Sparta  rufen  zur  Verabre- 
dung des  Weiteren.  So  hat  Eumäos  grosse  Bedeutung  in  der 
Haupthandlung.  Es  offenbart  sich  ihm  Odysseus  kurz  vor  dem 
Beginn  des  Freiermords  zugleich  mit  dem  Rinderhirten  Philötios, 
21,  188  ff.,  dem  auch  herzlich  getreuen,  der  wie  Eumäos.  als  er 
den  Bogen  sieht,  tief  gerührt  wird,  21,  83,  und  vorher  bei  seiner 
Erscheinung  in  seiner  treuen  Gesinnung  und  seinem  offnen  Auge 
für  den  mitleidswürdigen  Bettler  mit  Rönigsgestalt  in  kurzer  Scene 
geschildert  ist,  20,  185—239. 

Als  des  Eumäos  nebst  Philötios  und  der  Eurykleia  äusserste  Ge- 
genbilder erscheinen  die  Geschwister  Mclanthios  und  Melantho, 
der  Ziegeidiirt  des  Odysseus  und  seine  in  dessen  Hause  dienende 
Schwester.  Beide  hängen  den  Freiern  und  besonders  dem 
Eurymachos  an,  dessen  Buhlerin  die  Melantho  ist  (17,  256f.  18, 
325).  Die  Erzählung  17,  I97ff. ,  wie  Odyssee  nach  Telemachs 
Willen  von  Eumäos  zur  Stadt  geführt  wird,  ist  vom  Dichter  sicht- 
lich darauf  angelegt,  jenen  Gegensatz  ins  Licht  zu  setzen.  Der 
Ziegenhirt  begegnet  ihnen  und  fährt  sie  sofort  mit  Stachel-  und 
Schmähreden  an,  lästert  aber  vornehmlich  den  vermeintlichen 
Bettler  bis  zum  Fusstritt  (233)  und  wünscht  auch  dem  Telemach 
den  Tod  (251).  Er  geht  darauf  voraus  mit  seinen  Ziegen  zum 
Königshaus  und  nimmt  dem  Eurymachos  gegenüber  seinen  Platz. 
Am  folgenden  Tage  kommt  er  wieder  und  bethätigt  wieder  im 
Gegensatz  zu  Eumäos  seine  Frechheit,  20,  177.  Nachmals  beim 
Bogenkampf  ist  er  den  Freiern  zur  Hand,  21,  181  If.,  als  Eiunäos 
dem  Odysseus  den  Bogen,  das  Werkzeug  des  Freiermords,  in  die 
Hände  gespielt  hat,  und  wie  Philötios  für  den  Herrn  einsteht,  da 
trägt  Melanthios  den  Freiern  Waffen  zu,  22,  15211'.  Doch  wird  er 
dabei  ertappt  und  auf  Odysseus  Geheiss  von  Eumäos  und  Philö- 
tios an  Füssen  und  Armen  geknebelt  emporgehängt,  später  so 
erbarmungslos  wie  kein  Zweiler  zu  Tode  gebracht  (22,  474 If.). 
Seine  ihm  an  Frechheit  gleiche  Schwester  ist  es  zweimal  allein, 
die,  als  die  Sclavinen  im  Saale  zu  thun  haben,  den  vom  Hause 
aufgenommenen  Bettler  mit  Spott  und  Hohn  überhäuft,  ja  mit 
dem  Feuerbrande  bedroht  (10,  321  IT.    19,  66 ff.).     Sie  wird  von 


317 

Penelope  scharf  getadelt;  und  nach  der  Güte,  welche  diese  ihr  als 
Kind  erwiesen  hatte  (20,  322 — 325),  war  ihre  Buhlerei  und  hier 
ihr  herzloser  Uebermuth  um  so  ärger. ^^)  Ihr  Lohn  ist,  dass  sie 
unter  den  zwölf  Mägden  aufgeknüpft  wird,  22,  465  vgl.  mit  424. 
Der  Sinn,  in  welchem  Homer  den  3Ielanthios  auf  jenem 
Gange  des  Odysseus  eintreten  lässt,  wird  noch  greller  aber  zugleich 
aus  tieferer  Empfindung  und  für  diese  gezeichnet  in  dem  alsbald 
vor  dem  Hause  getroffenen  Hunde  Argos.  Auch  der  zweifel- 
niüthigste  Leser  dieser  Stelle  kann,  wenn  er  ihren  Verlauf  wohl 
beachtet,  nicht  verkennen,  wie  der  Dichter  seinen  Odysseus  mit 
seiner  immer  besonnenen  Selbstbeherrschung  auch  dem  treuen 
Thier  gegenüber  geschildert,  aber  zugleich  durch  den  Contrast 
zu  dieser  Treue  des  Thieres,  die  in  Melanthios  vorher,  in  Andern 
nachher  erscheinende  Schlechtigkeit  der  Menschen  hervorgeho- 
ben hat.'^)     So  gilt  das  Urtheil  bei  Gernnus  Gesch.  1,  101. 


24)  Der  Dolios,  dessen  Kinder  Melanthios  und  Melantho  genannt 
werden  (17,  212.  18,  322)  kann  er  derselbe  sein,  den  Penelope  aus  dem 
Vaterhause  initbekomnien  hat  (4,  735)?  Wie  dies  in  Fr.ige  stellt,  so  auch 
ob  der  Dolios  des  24.  Gesanges  derselbe  mit  dem  Sklaven  der  Penelope 
und  wiederum  auch  Vater  jener  so  abtrünnigen  und  so  gestraften  Ge- 
schwister sein  künnc.  Es  sind  in  Homers  Gcdiciiten  viele  Beispiele  gleicher 
Namen  doch  zu  unterscheidender  Personen.  Der  genannte  Fall  ist  von 
J.  Bekker  in  Monatsber.  d.  Berl.  Ak.  1842.  S.  131  neben  andern,  aber  in 
unslaltbafter  Weise  besprochen.  Dass  Meianlhios  mit  der  Schwester  nicht 
zusammengeführt  erscheint,  wem  kann  das  auffallen,  der  die  Lage  Beider 
bedenkt?  Und  wenn  sich  der  Dolios  des  24.  mit  dem  des  4.  Gesanges  ver- 
eimgen  liisst,  gcliört  jener  doch  dem  uneclilen  Tbeile  der  Odyssee  an. 
Der  Dichter  dieses  unechten  Schliisstlieils  bildete  den  Sklaven  der  Pene- 
lope weiter  aus. 

25)  Nägelsbacb.  Münchencr  g.  Anz.  1842.  Nr.  41.  S.  335.  Unbedacht 
las  auch  Sengehusch,  N.  Jahrb.  f.  Pbilol,  ß.  07.  3.  S.  244  und,  wie 
er  von  Lachmann  erzählt,  auch  dieser.  ISicIil,  als  Odysseus  den  Hund  er- 
blickt und  einen  Augenblick  von  Eumäos  abgewandt,  sich  eine  Thräne 
abwischt,  stirbt  das  treue  Thier,  sondern  wie  der  Diciiler  sie  langsam 
durch  den  Hof  scbreitcn  lässt,  und  si(!  über  dasselbe  ein  Gespräch  gehabt 
haben,  ist  erst  gesagt,  was  zur  Handlung  gehört,  Eumäos  sei  voran  in 
das  Haus  gegangen.  Dann  fügt  der  Dichter  zwei  Verse  ein ,  welche  be- 
sagen, gleich  nachdem  Argos  seinen  Herrn  wieder  erkannt,  im  20.  Jahre 
nach  dessen  Auszug,  sei  er  gestorben.  Die  Möglichkeit  solcher  Lebens- 
dauer wird  von  Aristoteles  Thierg.  6,  20,  4  nicht  ganz  in  Abrede  gestellt, 
von  Aclian  Thierg.  4,  40  ohne  so  abgewogene  Wissenscliafl  ein  Didilcr- 
spiel  Homers  genannt.  Uebrij^ens  möclite  aucli  Arisloicics  die  Angabe  zu 
den    Unwabrsclieinlicbkeilen    gezähll    haben,    welche    Itei    Homer    durch 


318 

4.  Die  in  b e i  d  e n  E p  o  p  ö  e n  g  1  o i  c li e  D a r s t e  1 1  u n g s -  ii n  d 
Redeform  des  Homer  in  der  einzelnen  Durchfüh- 
rung  seiner   Pläne. 

So  bat  sieb  der  individuelle  Dichter  in  dem  Gemütb,  das 
seine  Bihhmgen  ])eseeU,  ofi'enbart  und  zwar  in  den  spreebendslen 
Beispielen,  wäbrend  ein  humaner  Sinn  und  Kennlniss  der  Men- 
scbennatur  im  dicliterisch  mannigfachen  Wechsel  der  Gestalten 
überall  empfunden  wird. 

Zeige  sieb  nun  auch  der  erfindsam  bildnerische  Geist,  und  zwar 
zuerst  im  Einzelnen,  in  der  gleicbmässigen  Darstellungs-  und  Rede- 
form. Wie  wir  immer  uns  zuerst  empfänglich  verhalten,  mögen 
wir  auch  hier  zunäcbst  diejenigen  Eigenschaften  vernehmen, 
welche  der  homerischen  Poesie  von  den  alten  Schriftstellern 
nachgeridunt  werden,  ihrem  Stil  im  Ganzen  und  ibren  einzelnen 
Darstellungsmitteln  und  Weisen. 

Das  höchste  Lob  und  der  schlagendste  Beweis  für  das  von 
Grund  aus  nationale  Wesen  der  homerischen  Poesie  ist,  dass 
der  Dichter  ganz  in  seinen  SagenstofT  ein  und  seine  Person  da- 
rin aufgebt.  Das  nationale  Wohlgefallen  an  den  homerischen  Ge- 
dichten bei  den  Vortragenden  wie  dem  hörenden  Volk  beruht  zurii 
grossen  Theil  auf  der  dramatischen  Darstellung  als  der  spezifischen 
Eigenschaft,  welche  Aristoteles  dem  Homer  (wohl  nur  zu  ausschliess- 
lich) nachrühmt  (Poet.  24,  7).  Und  dazu  kommt  über  seine 
Form  das  höchste  Lob,  das  dem  Genie  werden  kann,  dass  näm- 
lich seine  Darstellung  mit  aller  Kraft  sowohl  als  Anmuth  ihres 
Inhalts  den  Eindruck  des  ohne  alle  Mühsamkeit  Klaren  und  Leich- 
ten mache,  im  Gegensatz  des  Mühevollen  und  Errungenen  bei 
Antimachos.'^'')  Dabei  gebe  Homer  in  einziger  Weise  regungsvolle, 
energische  Bezeichnungen.")  INicbts  also  ist  müssig,  wo  er  mit 
Mehrem  beschreibt.  Diese  Woblbemessenheit,  diese  Unterschei- 
dung nach  der  Bedeutung  für  die  Handlung  war  der  leitende 
Grundsatz  für  die  Kritik  z.  B.  bei  der  Ausstattung  der  Götter 
mit  ilnen  Werkzeugen ;  Hermes  braucht  hier  seine  Schwungsoblen 


tausend  Vorzüge  verdeckt  wiinlon ,  wie  er  Poet.  24,  8  und  10  zwei  An- 
gaben honrlhcill.  Snniniariscli  etwa  lial  der  birliler  diese  20  .laiire  ulTen- 
bar  nicht  gemeint.  Od.  2,  175.   10,  206.  21,  20S  u.  a. 

20)  Piut.  Timol.  30. 

27)  Aristol.  bei  Plnl.  de  and.  poet.  4. 


319 

(Od.  5.),  (lorl  (11.  24)  seinen  Schlaf  bewirkenden  Zauberslab; 
Athene  ergreift  wohl,  11.  5,  745 f.,  die  männerbändigende  Lanze, 
wo  sie  ihren  Schützlingen  beizustehn  auf  das  Schlachtfeld  zu 
gehn  in  Begriff  ist,  aber  nicht  zur  Berathung  des  Telemach,  Od. 
1 ,  99.,  und  ergreift  dort  ebenfalls  die  Aegis  als  Schild,  aber  8, 
385—387  ist  die  Beschreibung  derselben  auffallend.^®)  Diese  Kri- 
tik war  völlig  begründet  durch  Homers  sonstiges  Verfahren.  Er 
beschreibt  Waffen  und  Bewaffnung  der  Personen  oder  ihre  Ge- 
stalt oder  auch  innere  Eigenschaften,  wo  sie  bedeutend  eintreten 
und  wirken  sollen  oder  wollen,  so  Nestor,  den  süssredenden  drei- 
altrigen,  11.  1,  248 — 252.,  Agamenuion  mit  seinem  Scepler,  II.  2, 
101 — 109.,  Thersites,  den  Ausbund  an  Ilässlichkeit  des  Leibes  wie 
der  Seele,  als  Sündenbock  des  Aufruhrs  daselbst  21 2 — 222,  Paris 
vor  dem  Zweikampf,  3,  328 — 338,  aber  nicht  auch  Menelaos,  339, 
des  Pandaros  Bogen,  11.4,  105  — 112,  den  V^orkämpfer  Diomedes, 
5,  1 — 8,  Aias,  den  erwünschten  Gegner  desHektor  und  seinen  Schild, 
7,  206 — 223.,  Agamemnon  als  Vorkämpfer,  11,  15—46,  Poseidon, 
wo  er  als  Zeus  unachtsam  geworden,  den  Achäern  zur  Hilfe  geht, 
13,  17- — 31.,  den  sich  hervorthuenden  Idomeneus,  13,  240  bis 
245.  In  allen  diesen  und  ähnlichen  Fällen  ist  die  beflissene 
Schilderung  der  Bewaffnung  oder  überhaupt  der  kommenden  Er- 
scheinung einer  Person  die  hebende  Farbe  dieser  Erscheinung 
im  Fortgang  und  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen.  Der  betonte 
Anfang  kündigt  nicht  einen  für  sich  gemeinten  Theil  mit  Ab- 
schluss  an.  Dabei  entgeht  keinem  achtsamen  Leser,  wie  der  be- 
wusste  Dichter  das  Maass  dieser  eigenen  Schilderungen  nach  dem 
Grade  der  Bedeutung  der  hervortretenden  Person  abstuft,  und  wie 
er  dies  in  beiden  Gedichten  gleichmässig  Ihut,  immer  doch 
mehr  energisch  durch  die  Handlung  charakterisirend  als  mit  sei- 
nen Worten.  Diese  Abstufung  findet  sich  auch  im  Gebrauch 
der  in  gleichen  Worten  wiederholten  Angaben  wie  z.  B.  des  An- 
kleidens  (Od.  4,  307  Menelaos,  nicht  auch  Telcmach,  durch 
Weiteres  gehoben  bei  Telemach,  2,  2—5.  10—13)  oder  der  gast- 
lichen Bewirthimg,  II.  9,  206—220.  Dieselbe  Abstufung  belhätigt 
der  Dichter  in  beiden  Gedichleu  beim  Einlriü  bedeutender  Per- 
sonen   oder   entscheidender    Momente,   in  der  Blas  z.  B.  bei  Pa- 


28)  Sagenp.  l^l  vgl.  niil  81. 


320 

troklos'  und  vollends  Achills  Ilcrvoilreten,  in  der  Odyssee  in  der 
Erzählung  von  Penelopes  Gang  nach  dem  Bogen  und  in  der 
Schilderung  dieser  Waffe  (Ges.  21  z.  A.). 

Patroklos  Sendung  an  Nestor  ist  das  Bindeglied,  >vodurch 
die  gespaltene  Handlung  Achills  und  des  Griechenheeres  wieder 
zusammengeht.  Aher  seine  Rückkunft  zu  Achill  und  die  von 
diesem  ihm  gegehene  Weisung,  so  charakteristisch  für  Achills 
Ehrsucht  (16,  1—47.  48—90),  sie  motivirt  im  voraus  des  Patro- 
klos Erscheinen  in  seiner  Bedeutung  für  die  Haupthandlung.  Die 
folgenden  Momente  sind  noch  mehr  hervorgehoben.  Mit  einge- 
fügter Andeutung  der  wachsenden  Gefahr  und  des  Eindrucks,  den 
diese  auf  Achill  macht  (112 — 129),  \\ird  des  Patroklos  Auftreten 
nicht  hlos  durch  das  gewohnte  Detail  der  Bewaffnung  hervorge- 
hoben, sondern  auch  durch  die  ausführlichste  Schilderung  der 
aus  der  Unthätigkeit  erlösten  Myrmidonen,  ihrer  fünf  Züge  und 
fünf  Anführer,  wie  der  jetzt  tragisch  werdende  Achill  sie  eifrig 
ordnet  und  vermahnt,  und  dann  den  Freund  und  diese  seine 
Leute  mit  feierlichster  Lihation  und  brünstigem  Gebet  entlässt, 
233 ff.  Da  werden  das  Gespann,  das  sonst  Patroklos  (17,  427. 
477.  19,  401),  jetzt  wie  nach  jenes  Fall  Automedon  (9,  209) 
führte  (16,  145.  219),  die  drei  ersten  Führer  (175—195),  der 
Becher  und  das  Hervorlangen  desselben  (221 — 230)  genau  be- 
schrieben. 

So  dieser  Auszug,  aber  vollends  das  Hervortreten  und  die 
Bewaffnung  des  Achill,  nachdem  dieser  tragische  Held  die  Trauer- 
kunde vernommen  hat  (18,  20):  „Unser  Patroklos  fiel,  schon 
kämpfen  sie  dort  um  den  Leichnam,  Nackt  wie  er  ist;  ihm 
raubte  die  Wehr  der  gewaltige  Hektor".  Schon  durch 
die  Reihe  der  vorigen  V^orkämpfer,  denen  Achills  unthätigkeit 
Raum  gegelien,  ist  seine  Erscheinung  auf  das  Glänzendste  vorbe- 
reitet. Nun  aber  nutzt  der  Dichter  den  Verlust  der  Waffen  dazu, 
mittels  der  Hilfe  der  göttlichen  Mutter  die  neue  Rüstung  wie  vor 
den  Augen  des  Hörers  in  ihrem  Werden  unter  den  Händen  des 
Gottes  darzustellen.  Und  als  der  Held  die  so  energisch  geschil- 
derten Waffen  von  Thetis  empfängt,  wird  bei  der  lebendigen  Be- 
schreibung des  Anlegens,  19,  368 — 383,  durch  drei,  eigentlich 
einen  Vers  und  Zug,  der  wahrste,  eigenste  Kriegsheld  gezeichnet, 
nämlich  der,  welcher  wie  der  echte  Reiter  mit  seinem  Pferd,  und 


321 

der  grosse  ^Fnsiker  mil  seinem  Instrument,  so  mit  seiner  Bewaff- 
nung wie  Ein  Wesen  ist,  384 — 386,  er  versuchte  sich  seihst  in 
den  Waffen 

Ob  sie  Itequem  anschlössen  und  leicht  sich  heweprteii  die  Glieder. 
Und  {gleich  Fittigen  waren  sie  ihm,  sie  hohen  den  Fiiislen. 

Wir  werden  alsbald  anderer  Beispiele  ähnlicher  Art  gedenken. 

Das  Hervorholen  des  Bechers  mit  seinem  Detail  hat  sein 
Ehenhild  in  dem  Holen  des  Bogens  in  der  Odyssee,  aber  wie 
dieser  Bogen  noch  Aveit  liefere  Bedeutung  hat  als  jener  Becher 
zur  Libation ,  so  ist  auch  das  Detail  dort  noch  grösser  und  der 
langsame  Fortschritt  als  malte  er  die  Aviderstrehende  Stimmung 
der  Penelope. 

Nach  Maassgahe  der  Bedeutung  für  die  Handlung  Averden 
also  von  der  echten  Epopöe  die  Erscheinung  der  Helden  und 
ihre  Werkzeuge  mehr  oder  weniger  ausführlich  beschrieben,  wie 
es  Lessing  (Laokoon  2,  270 — 278.  Berlin  Ausg.  in  12)  an  den 
homerischen  Beispielen  zeigt.  Die  Helden  selbst  Averden  in  ihrer 
Kraft  und  ihrem  ganzen  Wesen  in  lebendiger  Handlung  gezeichnet, 
oder  es  Avird  durch  einen  genial  gefundenen  Zug  die  Phantasie 
des  Hörers  angeregt,  sich  selbst  das  Bild  zu  schaffen,  und  be- 
sonders fein  geschieht  dies  mittels  des  Widerscheins  aus  dem 
Gemüth  und  der  Bede  Anderer. 

Achills  Gestalt  und  Statur  Avird  nirgends  für  sich  in  Worten 
des  Dichters  hingestellt  (nur  durch  den  Eindruck  auf  Priamos 
II.  24,  624  f.),  aber  indem  der  telamonische  Aias  an  stattlicher 
Erscheinung  und  Thaten  über  alle  Andern  gesetzt  AAird  nach 
Achill  (U.  17,  279.  Od.  11,  469.),  sind  damit  Beide  ins  Licht 
gesetzt,  und  Aias'  Waffen  könnten  dem  Achill  allein  passen  (II.  18, 
193),  die  Lanze  Pelias'  aber  kann  nur  Achill,  kein  Anderer,  auch 
Patroklos  nicht,  sclnvingen  (16,  140  f).  Den  Aias  zeichnet  vor- 
nehmlich das  Auftreten  gegen  Hektoi'  im  7.  Gesänge  der  Ilias.  Wie 
er,  der  vom  Heer  vor  Allen  gewünschte  (7,  179  f.  182  f.),  Lächeln 
im  furchtbaren  Antlitz  mit  weiten  Schrillen  dahersclireilet  den 
Seinen  zur  Freude,  den  Troein  zum  Beben  (7,  211—215^  und 
Avie  dem  Heklor  selbst  das  Herz  klopft.  Der  hier  weiter  aus- 
führlich beschriebene  Schild  hat  im  nachmaligen  Kriegsgang 
durch  die  böse  Zeit  hin  bedeutenden  Dienst  (8,  267.  11,  485. 
545.  17,  132)   und  gehört  wesentlich  zum  Helden  der  Avidcrhal- 

Nitzscli,  Gesch.  d.  griech.  Ejios.  21 


322 

tigen  Tapferkeit  dem  sogeiiainiteu  Haag,  der  inäcliligen  Welir 
der  Achäer  (II.  3,  229.  7,  211).  Wie  er,  wenn  nicht  ganz  ent- 
schieden, doch  nach  der  erregten  Vermuthung  als  dem  Ilelvtor 
in  etwas  üherlegen  erscheint,  ofl'enhart  sich  weiter  hin  dies 
denUicher  (14,  412).  Hektor,  der  erste  Troerheld  mit  Aeneas, 
wird  wie  zum  Maassstab  auch  der  übrigen  Grieclienhehlen.  Me- 
nelaos  und  Antilochos  meiden  den  Kampf  mit  ihm ;  den  ihm 
schwerlich  gewachsenen  Agamemnon  wahrt  Zeus  absichtlich  vor 
der  Begegnung  (11,  185),  Diomftdes  scheut  ihn  zwar  als  Ares 
neben  ihm  (5,  596),  Ihut  ihm  aber  nachher  fast  wie  später  Aias 
(11,  346). 

So  schildert  die  Handlung  Odysseus  schon  in  der  Ilias  zwar 
als  klugen  Vermittler  mehr  als  durch  Tapferkeit  hervorragend, 
nur  nicht  untapfer.  In  der  Odyssee  dagegen  offenbart  die  Hand- 
lung seine  noch  rüstige  Heldenkraft  mehr  und  mehr  in  drei  be- 
sonders lebendigen  Scenen.  Bei  den  Wettspielen  der  Phäaken 
schleudert  der  Gekränkte  einen  schweren  Üiskos  unerreichbar 
weit  (8,  186 — 192);  in  seinem  Haus  als  unerkannter  Bettler  be- 
sieht er  den  langen  aber  nervlosen  Iros  im  Faustkampf,  wobei 
seine  Gestalt  zumal  in  den  Gesprächen  der  Freier  gar  lebendig 
hervortritt  (18,  66  —  76ff.);  endlich  im  21.  Gesänge,  als  Pe- 
nelope  den  Wettkampf  mit  dem  Bogen,  ehedem  des  Eurytos,  an- 
stellt, vermag  er  diesen  zu  spannen  (415 — 423),  von  den  Freiern 
aber  keiner  (253  f.). 

Jene  jungen  Herren  sind  neben  Odysseus  ein  schwächeres 
Geschlecht,  eben  wie  die  gemeinen  Krieger  vor  Troia  neben  ihren 
Führern.*^)  Den  Biegel  am  Zelühor  des  Achill  vermag  dieser  allein 
zuzuschieben,  wozu  sonst  drei  Myrmidonen  erforderlich  sind. 
Andere  Helden  handhaben  behend ,  was  zwei  Männer  des  Volks 
oder  zwei  von  Homers  Zeitgenossen  nicht  im  Stande  sind.  Und 
selbst  der  greise  Nestor  hebt  einen  Becher  mit  Leichtigkeit,  den 
ein  gemeiner  Pylier  nur  mit  Mühe  von  der  Stelle  bringt  (II,  636 f.). 

Die  Bauten  der  Menschen  oder  die  Beize  der  Natur  werden 
gleicherweise  im  Gange  der  Handlung  geschildert.  Die  Pi-acht 
oder  Anmuth  derselben  tritt  in  der  Bewunderung  der  zu  ihnen 
Kommenden   hervor.     Führt   der  Dichter   selbst   auf,   so  ist  sein 


29)   II.  5,  303.    12,  381.   445.   20,  285. 


323  ^ 

Rericlit  zur  Charakteristik  von  Personen  beseell,  oder  dient  als 
passende  P'olie  einer  lebendigen  Scene.  Die  Pracht  im  Palaste 
des  Menelaos  verlantet  in  den  Worten  Telemachs  Od.  4,  44.  69  f. 
und  sie  Merken  dabei  Gespräch  ;  die  annuithige  Grotte  der  Ka- 
lypso,  die  den  Odysseus  nicht  fesseln  kann,  der  nur  nach  der 
Heimath  sich  sehnt,  sie  erscheint  in  der  Bewunderung  des  Her- 
mes, 556 — 577;  die  Wunder  im  Palaste  des  Alkinoos  und  die 
offenbar  den  ionischen  nachgebildete  Phäakenstadt  wird  auf  dem 
Gange  des  Odysseus  und  nach  seiner  Wahrnehuumg  gezeichnet,  7, 
44  ff.  82  fr.  In  besonders  sinnig  gedachter  Weise  lässt  der  Dich- 
ter den  Odysseus  sein  eignes  Haus  beschreiben,  wie  er  in  seiner 
Bettlerrolle,  aber  er,  der  endlich  Heimgekehrte,  doch  zuerst  es 
wiedersieht  (17,  260—277  vgl.  mit  18,  333—336).  Nur  eben 
als  Folie  für  Hektors  Begegnung  und  Gespräch  mit  der  ,, huld- 
reich spendenden"  Mutler  zeichnet  die  Erzählung  das  Königshaus 
des  patriarchalischen  Herrschers  Priamos,  11.6,  241 — 251  ff.  Da- 
hin, zu  ihrem  Haus,  zu  dem  sie  eben  die  Tochter  herbeigeführt, 
gehört  diese  ja,  wie  sie  denn  dem  allgemeinen  Liebling  (22,  54  ff.) 
und  dem  Hort  des  Reichs  auch  sogleich  müUerliche  Vorsorge 
erweist.^") 

Ganz  inmitten  lebendiger  Charakteristik  des  treuen  Eumäos  ist 
dessen  Gehöft  bei  der  Ankunft  des  Odysseus  zu  Anfang  des  14.  Ge- 
sangs der  Odyssee  beschrieben.  Und  nachdem  die  so  beseelte  Schil- 
derung auch  vier  gewaltige  Hunde  erwähnt  hat,  wird  deren  An- 
stürmen gegen  den  Ankommenden  in  einfacher  Selbstfolge  Anlass, 
den  frommgasllichen  Sinn  des  Hirten  zu  offenbaren ;  erst  Vers  55 
bei  der  Erklärung  dieses  seines  Sinnes  wird  der  Eigenname 
Eumäos  genannt,  nicht  früher  (13,  404  If.   14,  3 f.). 

Des   Hirten    frommen    Sinn    noch    sprechender   zu   betonen. 


30)  Was  sie  dort  vom  Weine  rühmt,  ü,  261,  ist  nebon  einfacheu 
Beiwörtern  und  dem  schlichton  Aiischuck,  II.  9,  705f.  Od.  10,  4C0f.,  der 
einzige  besondere  LoJispruch  auf  den  Wein,  <\o,v  sich  in  Homers  Gedichten 
findet,  hei  all  dem  häufigen  Gehraucli  als  des  gewnlmliclicn  GcUänks,  II.  7, 
407—475.  Od.  2,  340—343.  349.  352.  Slräniclic  Rüge  des  rel.crmaasses 
im  Genuss  hcgognnt  öfters,  in  etwas  schon  11.  8,  23011".,  mehr  im  Sciiimpf- 
worl  II.  1  ,  225,  und  vom  Srliwiicldiiig  Elpenor,  Od.  10,  552 — 555,  und 
vollends  im  Schcllworl  des  Telcmach,  18,  400f.,  endlich  in  der  Schimpf- 
rede  des  Antinoos  und  der  auf  Odysseus  angewandten  Sage  vom  Ken- 
lauren Eurytion,  21  ,  203—302. 

21* 


324 

dient  weiterhin  die  eigenthümlich  variirte  Erzälilung  von  dem 
dargebrachten  Opfer,  14,  414—438.  Anderwärts  werden  die  un- 
ansbleiblirben  Opferbandbingen  in  stehenden  Ausdrücken  berichtet, 
niclit  so  bei  dem,  welches  Nestor  der  Atliene  zum  Dank  für  den 
Besuch  l)ei  seinem  Volksfeste  darbringt,  3,  418—472,  Für  sol- 
chen Besucli  heischte  der  Nalionalsinn,  der  eben  auch  am  Ilonu.'r 
den  beredten  Sprecher  hatte,  jedenfalls  eine  recht  bellissene  Aner- 
kennung, Noch  dazu  aber  galt  dieses  Opfer  der  Göttin,  welche  der 
Dichter  der  Epopöe  von  ihrem  erklärtesten  Lieblinge  zur  Bewegerin 
der  ganzen  Handlung  gemacht  hatte.  Doch  auch  Nestor  und  sein 
Haus  in  diesem  frommen  Werk  zu  zeichnen,  gehörte  zu  den  Mo- 
tiven der  Dichtung,  ihn,  der  sich  dem  Odysseus  so  eng  verbunden 
bekennt  und  von  ihm  ein  so  rühmliches  Zeugniss  ausspricht, 
3,   120  —  129.    218  —  222. 

Dies  die  Belege  zu  dem  Urtheil ,  es  giebt  bei  Homer  nichts 
Müssiges  noch  Unbeseeltes,  auch  in  seinen  Episoden  mnd  Bei- 
werken nicht. 

5.  Fortsetzung.     Homer,    der   immer   neiie. 

Sehen  wir  nun,  wie  sich  ein  anderes  von  den  Alten  aner- 
kanntes Lob  ebenfalls  bewährt,  da  er  der  immer  neue  und  zu 
frischer  Anmuth  ergiebige  heisst.^')  Immer  neu  sind  freilich 
beide  Epopöen  hauplsächlich  durch  die  Mannigfaltigkeit  und  IJm- 
fänglichkeit  ihres  Inhalts,  als  Weltgemälde,  welche  Götter-  und 
Menschenwelt,  Nähe  und  Ferne,  derzeitige  Handlung  und  ältere 
Sagen  umfassen.  Diese  Mannigfaltigkeit  aber  wird  zunächst  doch 
durch  die  in  einem  folgenden  Abschnitt  anzugebenden  Weisen 
der  grossen  Composition  bewirkt,  und  ist  in  gewissem  Sinne  eine 
innerliche,  da,  bei  der  Menge  der  die  Handlung  bewegenden  Cha- 
raktere, die  vorwaUcnd  dramatische  Darstellung  die  verschieden- 
sten Phasen  der  Gemüthsrcgungcn  abbildet. 

Jedoch  die  Erfindsamkeit,  welche  immer  Neues  zu  geben 
weiss,  bewährt  sich  am  unzweifelhaftesten  und  sichtlichsten  ge- 
rade im  Gebrauch  der  epischen  Darstellung.  Eine  Menge  Thal- 
sachen und  Begriffe  haben  in  dieser,  da  ihr  als  Bericht  eine  ge- 


31)  Plutarch  von  der  Geschwätzigkeit  5.  „Von  dem,  was  über  den 
Dichter  gesagt  worden,  ist  das  Alierwalirsle,  dass  allein  Homer  allem 
Uebenlruss  entging,  er  ael  xaivog  cov  y,al  TCQog  läqiv  cmiid'^cov". 


325 

Avisse  Iiulie  luul  Gleiclinuissigkeit  eignet,  in  Sprache  und  Versform 
den  gleichen  Ausdruck.  UnzähUge  Verse  oder  Versglieder  kehren 
oftmals  unverändert  oder  mit  nur  einzelnem  Tausch  der  Aus- 
drücke wieder.  Wie  Homers  Sinn  und  Takt  die  Erwähnungen  der 
gemeinen  Bedürfnisse  oder  stehenden  Bräuche  nach  dem  Obigen 
nicht  variirte,  so  überkam  oder  bildete  er,  und  sanctionirte 
als  Muster  der  Gattung  zahlreiche  Formeln  für  das  oft  Wieder- 
kehrende, zumal  in  der  Erzählung  der  Kämpfe,  also  in  der  Uias. 
Die  parodische  Poesie  von  Margites  an,  und  in  ihrer  Weiterbil- 
dung durch  Ilipponax  u.  A.  trieb  ihr  Spiel  eben  mit  diesen  For- 
meln der  ältest  erhaltenen,  und  allbekannten  Poesieen.^^)  Der  Bild- 
ner der  epischen  Sprechweise  gab  die  unausbleiblich  oft  gleichen 
Phasen  der  einzelnen  Kämpfe,  natürlich  oft  ganz  mit  denselben 
Worten ,  so  das  Anstürmen  oder  Weichen  oder  ängstliche  Um- 
schaun,  das  sich  berühmende  Prahlen,  das  „er  vermochte  nicht, 
noch  mehr  zu  erbeuten,  denn  er  ward  bedrängt  von  Geschossen", 
das  von  bleicher  Furcht  Ergriffenwerden  einzelner  Krieger, 
oder  den  einzelnen  Stand  des  gesammten  Kriegslooses,  vollends 
den  Sturz  eines  zum  Tode  Getroffenen. 

Daneben  hatte  er  als  Individuum  auch  seine  beliebte  Aus- 
drucksweise. Er  sagt  gern  mit  Verneinung  aus:  und  nicht  unfolg- 
sam erwies  sich,  und  nicht  entflog  ihr  das  Gesprochene,  und  nicht 
unwirksam  entflog  das  Geschoss,  und  er  peitschte  die  Pferd'  und 
nicht  unwillig  sie  flogen  u.  dgl.  m.  In  der  dramtischen  Form, 
wie  das  zu  seiner  beseelenden  Art  gehört,  charakterisirt  er  gern  vor- 
her oder  hinterher  ein  Gesprochenes.^^)  Wie  sollte  da  also  das: 
„wohlrathend  sprach  er,  mit  freundlichen  W^orten  trat  er  an,  mit 
zornigen  Worten  schalt  er"  —  nicht  in  beiden  Gedichten  öfter 
vorkommen'!'  Wie  sollte  nicht  oftmals  Einer  zu  einem  Gölte  beten 
und  der  Dichter  die  günstige  oder  ungünstige  Wirkung  des  Gebets, 
oder  das  Zusammentrelfen  eines  solchen  juit  einem  Vorzeichen  (II. 
13,  821.  Od.  17,  525]  auch  gleichmässig  angeben?  Auch  im  Be- 
sonderen die  den  Personen  in  den  Älund  gegebenen  Worte  wieder- 
holen sich,  wie  die  gleichen  Anlässe,  so  die  gleichen  Aeusserungen 
(IL  16,  440 ff.   22,  178 ff.).     Bei  alledem  erweist  sich  Homer  als 

32)  Peltzer,  de  parodica  Graecoruni  pocsi  et  de  llijipoiiactis,  llcge- 
monis,  Matronis  parodiaruni  fraguicnlis.    Monasterii,  1855. 

33)  Schoi.  zu  II.  1 ,  105.   riul.  de  aiulieud.  pect.  4- 


der  immer  neue  gerade  bei  dem  stehenden  Gebrauch  derselben 
Formehl  oder  Verse,  wenn  es  auch  bisweilen  mehre  sind.  Die 
Umstände  der  sich  wiederholenden  Tlialsache,  die  vorher  oder 
nachher  gegebene  Schilderung  des  einzelnen  Falles  bringt  Mannig- 
faltigkeit. Wer  die  Umgebungen  mustert,  unter  welchen  die  in 
der  Ilias  so  häufige  Formel:  „Tosend  stürzt  er  in  Slauh  und 
über  ihm  dröhnte  die  Rüstung",  oder  „und  schauriges  Dunkel 
umfing  ihn",  wiederkehrt,  der  wird  den  immer  neuen  Dichter 
wohl  finden.''^)  Wenn  die  Angaben  der  verschiedenen  Verwun- 
dungen des  Dichters  Kennlniss  des  Menschenkörpers  zu  bewun- 
dern geben,  so  kommen  freilich  auch  gleiche  Fälle  vor.  In- 
dessen auch,  wo  eine  Verwundung  gleicher  Art  zweimal  in  ihrem 
Hergang  mit  mehren  gleichen  Versen  beschrieben  wird,  wie 
4,  459—461  und  6,  9  — 11,  dann  5,  40—43  und  11,  449-504 
oder  13,  671  f.,  wie  16,  606 f.,  variiren  doch  die  Umstände  und 
Wirkungen.  So  wendet  der  Dichter  auch  dasselbe  Gleichniss 
vom  fallenden  Baum  (bei  besonders  hochgewachsenen  Helden) 
zweimal  an,  aber  mit  w eiterer  Ausführung  an  der  zweiten  Stelle 
(13,  389—393.  16,  482— 4S6.),  indem  er  hier  das  „knirschend" 
durch  ein  zweites  Gleichniss  ins  Licht  setzt.  Solcher  Paare 
gleicher  Stellen  giebt  es  mehr,  gleich  nahe  bei  einander  II.  5, 
31 6 f.  und  345  f.  und  13,  371  fl\  wie  396 ff.  mit  kleiner  Variation, 
wo  die  Gleichheit  an  sich  natürlich;  dann  von  Hektors  Erschei- 
nung mit  der  elfeiligen  Lanze,  6,  318 — 320  und  8,  493  —  495,  von 
der  Wunderstärkung  eines  Gottes,  5,  122  und  13,  61;  bei  ganz 
gleichen  Situationen  derselben  Person,  wie  Hektors  als  Oberfeld- 
herr, 5,  494  ff.  6,  103  ff  11,  211  ff.,  des  Agamemnon,  II.  6,  62  f. 
und  7,  1 20  f.,  des  Achill,  2,  772  und  7,  230  f.,  zweier  Personen, 
Od.  14,  361  f.  und  15,  486f, ;  beim  Gange  zum  Keller  in  gleicher 
Absicht,  II.  6,  288ff'.  und  Od.  15,  105  —  108.  In  allen  diesen 
Stellen  kann  die  Gleichheit,  von  eigenthümlicher  Gestaltung  um- 
geben ,  dem  Leser  nicht  auffallen. 

Und    haben    wir   doch   in   all   dieser  Poesie  die  Bestimmung 
für    den    lebendigen   Vortrag    zu    beachten.      Jede    Stelle   musste 


34)  In  mehren  Stellen  der  Ilias  kommt  der  Ausdruck  dazu:  und  er 
sank  in  den  Staub  und  griff  mit  der  Hand  nach  der  Erde;  in  beiden  auch, 
wie  unsere  Sprache  „in's  Gras  beissen"  braucht,  die  Formel:  und  erfasst 
mit  den  Zidinen  den  Boden. 


327 

mit  eigenem  Leben  nm"  in  ihrem  Zusammenhange  passen,  und, 
wenn  sie  AYohi  eingereihet,  guten  Fortgang  gab,  so  fand  eine  über- 
zählende Vergleichung  mit  andern  nicht  statt.  Indess  eben  der 
Zusammenhang  und  Fortgang,  wie  ihn  die  homerische  Dichtungs- 
weise nach  ihrer  Eigenheit  verlangt  und  giebt,  liess  und  lässt  bei 
achtsamer  Leetüre  viele  Wiederholungen  als  Einschiebsel  der 
Rhapsoden  erkennen.  Besonders  ist  es  gar  oft  geschehn,  dass  ein 
nicht  unpassend  wiederholter  Vers  von  der  andern  Stelle  das  sich 
dort  Anschliessende  im  Gedächniss  der  Rhapsoden  sich  nachzog, 
bisweilen  auch  gegenseitig  Verse  gemischt  wurden.  ^^) 

Der  Satz:  „bei  Homer  nichts  Müssiges"  bestimmt  unser  Ur- 
lheil, wie  er  das  der  Alexandriner  beslinunte.  Es  fehlt  übrigens 
noch  die  rechte  Achtsamkeit,  um  so  viel  als  erreichbar  und  ge- 
hörig ist,  doch  wenigstens  an  den  meisten  Stellen  über  richtige 
und  unrichtige  Wiederholung  zu  entscheiden.^")  Umfänglichere 
Einschiebsel  lassen  sich  leichter  nach  dem  Zusammenhang  beur- 
theilen,  wie  dass  Od.  18,  39U-392  dort  vorher  330—332  un- 
gehörig sind,  was  Aristarch  schon  sah,  wie  Vieles  dergleichen. 
Ganze  Episoden  wurden,  wie  der  epische  Stil  dazu  verführte,  von 
den  Rhapsoden  mehrfach  eingeschoben,  aber  an  Unpasslichkeit 
in  den  Fortschritt  oder  Störung  des  Tons  und  Zuges  auch  un- 
schwer als  Einschiebsel  erkannt,  wovon  ein  späterer  Abschnitt 
Belege  geben  wird.  Wenn  das  Urtheil  der  heutigen  Leser  über 
die  einzelnen  Interpolationen  zur  völlig  allgemeinen  Ueberein- 
slimmung  nun  wohl  nie  gebracht  werden  wird,  so  ist  doch  so 
viel  gewiss,  mit  ganz  wenigen  Ausnahmen  wird  durch  die  Aus- 
scheidung die  Einheitlichkeit  gewinnen  und  somit  der  individuelle 
Dichtergenius  nur  noch  mehr  ins  Licht  treten.  ^^) 


35)  Sagenp.  150—153. 

36)  Od.  13,  427  r.  ganz  goliüriy,  aber  15,  31  f.  IjcsoihIois  deslinll) 
ungeliörig,  weil  Athene  33  CT.  den  Rath  giebt,  durch  dessen  Befolgung  der 
Plan  der  Freier  ohne  Weiteres  vereitelt  wird.  Od.  20,  318 f.  richtig,  aber 
16,  108  unrichtig,  denn  dies  Spezielle  weiss  Odysseus  nicht  einmal. 

37)  Gerade  aber  der  oltjoctivste  (irund,  die  Abweichung  von  allem 
homerischen  Sprachgebrauch,  scheinl  einzelne  Verse  anstössig  zu  machen, 
weiche  ihrem  Inhalte  nach  ihrer  Stelle  vorlrefllich  passen.  Die  Adverbien 
{tkxXlv  cxvTig),  welche  hei  llunier  sonst  überall  zurück,  wie  der  be- 
deuten, slehn  11.  2,  276  anscheinend  im  erst  nachhomerischen  Sinne  noch- 
mals wieder.    Wer  sie  gellen  lassen  will,  wird  sie  mit  II.  5,  257  und 


328 

Doch  Mir  lialjcn  lUe  bedeutendsten  Darstellungsweisen  Ho- 
mers erst  nocli  hinzu  zu  fügen;  zunächst  die  bereits  in  der 
Einleitung  bezeichneten  Gleichnisse,  wie  sie  aus  allen  Sphären  der 
Natur  oder  Menschenwelt  aus  einem  wie  allgegenwärtigen  Welt- 
bewusstsein  Bilder  geben,  aber  eben  ein  Kunstmittel  des  dar- 
stellenden Dichters  sind. 

6.  Fortsetzung.     Die  Gleichnisse  Homers. 

Die  allgemeine  Eigenschaft,  welche  in  den  homerischen 
Gleichnissen  als  maassgebend  anerkannt  wird,  ist,  dass  sie  aus 
der  lebendigen  Anschauung  bekannter  Erscheinungen  genommen 
sind.^-)  Der  Reichthum  und  die  jMannigfaltigkeit  derselben  ent- 
steht daher  theils  aus  der  allgegenwärtigen  Dichterphantasie,  theils 
aus  der  Lebendigkeit,  mit  welcher  die  verschiedenen  Phasen  im 
Leben  derselben  Gegenstände  erfasst  werden.  Erweitert  hat  der 
Dichter  seinen  Bilderkreis  und  Vorratb  noch  dadurch,  dass  er 
Manches  zum  Gleichniss  heranzog,  was  erst  seine  Zeit  an  Fer- 
tigkeit oder  ^Yerkzeugen  kannte,  die  Trompete,  das  Viergespann 
für  Wettrennen,  das  Reiten  und  Reiterkünste,  da  der  Führer 
eines  Viergespannes   von  einem  Pferde  auf  das  andere  springt.^'*) 

AVo   nun  und   wie   der   Dichter  Gleichnisse   anwendet,   dies 


Od.  16,  456  nicht  hinliinglich  belegen.  Vielmehr  müssen  wir  die  zwei 
Verse  als  geschickten  Zusatz  eines  Rhapsoden  betrachten.  Dagegen,  Od. 
17,  218,  wird,  da  die  gewöhnhche  Bedeutung  des  ag,  wie,  in  der  zweiten 
Stelle  allerdings  nicht  naturlich  ist,  die  Lesart  dg  anzunehmen  sein, 
wie  sie  Homers  Sprachgebrauch  sehr  wühl  gestattet.  Spilzner  Excurs 
35  zur  lUas. 

38)  So  Aristot.  Tojiik.  VIII.  1  a.  E.  „Zur  Verdeutlichung  sind 
Beispiele  und  Gleichnisse  anzuwenden,  aber  den  Dingen  Eigenes  und  aus 
Bekanntem,  wie  Homer  und  nicht  wie  Cliörilos".  Aristarch  im  Sehol. 
zu  11.  16,  364.  ,, Homer  bildet  seine  Aehnlichkeilcn  immer  von  dem  sich 
Kundgebenden".  Eustath.  zu  11.  2,  87.  „Die  Vergieichung  ist  der  Tag 
für  Tag  geschehenden  Dinge  Lehrerin,  zur  Anschaulichkeit  wirksam  und 
erpicht  auf  reiche  Erfahrung.  Ihr  Werk  ist,  die  vorliegenden  Gegenstände 
recht  vernehmbar  aufzuweisen  (ro  öi,8c'coxeiv  aQidtjkcüg). 

39)  S.  II.  18,  219.  Od.  13,  81  und  II.  22,  162.  —  II.  15,  680  und 
Od.  5,  371  sämmtlich  mit  Scliol.  und  Erklärern.  —  Andererseits  ist  Beides 
unecht,  wo  die  Erzählung  ausserhalb  der  Gleichnisse  etwas  Dergleichen 
bringt,  wie  das  Viergespann,  II.  8,  185,  und  wo  einem  gewöhnlichen  Her- 
gang im  Gleichniss  ein  der  Sitte  widerstreitender  Zug  eingefügt  ist,  wie 
Od.  8,  526 — 530,  nämlich  das  Einsperren. 


329 

beruht  auf  seinem  genialen  Belieben  und  organischen  Gedanken 
ebenso  wie  die  Anwendung,  Mischung  und  der  Wechsel  seiner 
verschiedenen  Darstellungsmittel  überhaupt.  Ein  Ueberblick  lehrt, 
dass  die  3Ienge  der  angewendeten  Gleichnisse  in  den  beiden  Dich- 
tungen und  ihren  einzelnen  Partieen  eine  sehr  ungleiche  ist.  Im 
Ganzen  verhält  sich  die  Gesammtzahl  der  Gleichnisse  in  der  Odyssee 
zu  denen  in  der  Ilias  nur  wie  1  zu  5  (Bernhardy:  ungef.  40  zu  200). 
Gar  keine  finden  sich  in  der  Ilias  1  und  in  9  und  Od.  1 — 3.  11. 
14.  15  und  18.  Dagegen  in  kleiner  Partie  zwischen  solchen,  in 
welchen  gar  keine,  sehen  wir  mehre  Gleichnisse.  Auch  in  der 
Odyssee  hat  der  5.  Gesang,  wo  der  Dichter  nur  selbst  erzählt,  deren 
fünf:  51.  368.  394.  432.  487.,  von  249.  abgesehn;  II.  18.  in  den 
kleinen  Zwischenstellen,  welche  vom  fortgehenden  Kriege  erzählen, 
doch  drei:  161.  207.  219.  Ueberhaupt  ist  im  Ganzen  zu  erkennen, 
dass  die  Gleichnisse  bei  weitem  vorherrschend  vom  Dichter  bei 
eigener  Erzählung  angewandt  werden,  dagegen  wo  er  nach  sei- 
ner dramatischen  Weise  Personen  sprechen  lässt,  entweder  sel- 
ten oder  mehr  nur  in  der  schlichten  Art  blosser  Vergleichung 
erscheinen.  Da  heisst  es:  scharf  wie  ein  Beil,  zitternd  wie  ein 
Reh,  wie  des  Laubes  Dauer,  des  Pardels  oder  Löwen  oder  Ebers 
Wildheit  nicht  so  gross  (IL  17,  20),  zu  schimpfen  wie  Weiber 
(das.  20,  252),  wie  zwischen  Löwen  und  Menschen,  Wölfen  und 
Lämmern  keine  Eintracht  (das.  22,  262).  Wo  aber  Personen 
in  ausgeführteren  Bildern  sich  aussprechen,  wird  es  immer  eine 
Heftigkeit  des  Gemüths  sein ,  w  elcher  sie  nun  eben  diese  Form 
geben,  was  nicht  häufig  vorkonmit.^") 

So  wird  alle  richtige  Ansicht  von  des  Dichters  Anwendung 
oder  Nichtanwendung  immer  die  einzelnen  Stofle  und  Stoffpar- 
tieen  seiner  Darstellung  zu  beachten  lutben.  Es  sind  eben  die 
Stoffe  der  Odyssee,  welche  die  seltnere  Anwendung  veranlassen. 
In  den  ersten  drei,  fast  vier  Büchern,  da  das  letztere  erst,  und  nur 
zwei  Gleichnisse  enthäU  (335.  Menel.  791),  im  14.  15.  und  18.  Ge- 
sang, welche  gar  keins  haben,  hu  7.,  «o  nur  das  kurze  36,  im  8., 
wo  nur  523  sich  eines  findet,  in  allen  diesen  Partieen  hält  der  Gang 
der  Erzählung  den  Hörer  durcli  sich  selbst  b  st,  und  bringt  die  Ge- 


40)  11.12,  1G7— 171.    13,  102—104.    24,  41—43.    Od.  4,  335  l»is 
339.  (17,  120).  19,  518—523.  20,  00 ff.  was  mehr  Beispiel  aus  der  Sage. 


330 

sprächsform  das  Leben,  welches  vom  Dichtergeiiiiis  kommt.  In 
der  Erzählung  von  seinen  Irren  9  bis  1 2  wie  sollte  da  Odysseus 
ausser  den  häufigen  Maassvergieichungen  (gleich  einem  Berge,  190, 
frass  wie  ein  Löwe,  292.,  lang  wie  ein  Mastbaum,  322.,  süss  wie  Nek- 
tar und  Ambrosia,  359)  weiter  zu  Bildern  veraidasst  erscheinen  als 
liei  der  Ausführung  der  List,  384.  und  391?  Wie  nicht  ebenso  im 
10.  bei  dem  Drange  der  Wunderbogebenheiten  neben  den  ein- 
fachen, 124.  und  216,  nur  (gleich  dem  in  8,  523)  das  einzige 
410  durch  den  Anlass  besonders  motivirt  sein?  Im  11.  versteht 
sich  das  Fehlen  wie  von  selbst.  Im  12.  giebt  die  Instruction  der 
Kirke  und  die  folgende  Reihe  der  das  Interesse  fesselnden  Todes- 
gefahren dem  Erzähler  nur  Ein  seiner  Seele  besonders  gegen- 
wärtiges Bild  zu  heben,  die  wie  Fische  an  der  Angel  zappelnden 
Gefährten  251.  Dazu  die  Zeitbestimmung  430.  So  erklärt  sich 
die  gewöhnlich  bildlose  Darstellung  in  den  zunächst  folgenden 
Büchern  einfach  aus  der  Dichlerweise  und  Weisheit,  welche  den 
Ilöi'cr  durch  den  diängenden  Fortschritt  oder  das  dramatische 
Leben  der  Handlung  ohne  weiteres  Zuthun  fesseln  mochte.  Die- 
selbe Beschaffenheit  der  selbstredenden  Handlung  war  der  Grund, 
weshalb  wir  im  ersten  und  neunten  Gesänge  der  Ilias  Gleich- 
nisse gar  nicht  angebracht  sehen. 

Der  Uebei'blick  lässl  überhaupt  die  an  Gleichnissen  reichen 
Partieen  und  andere  unterscheiden,  wo  ganz  wenige  oder  einzelne 
auf  nur  Einzelnes  ein  hebendes  Licht  werfen.  —  Es  sind  die 
Theile  der  Ilias,  welche  den  Gang  des  eigentlichen  Kriegs  schil- 
dern, in  denen  der  Dichter  Gleichnisse  reichlicher  eingewebt 
liat,  die  um  so  häufiger  erscheinen,  je  mehr  Einzelkämpfe  im 
Fortschritt  auftreten.  Nach  diesem  Verhältniss  häufiger  oder  sehr 
häufig  schon  im  5.,  8.,  11.,  12.  Gesänge,  und  genau  gezählt 
im  13.  bei  837  Versen  14,  im  15.  bei  746  Versen  15.,  im  16. 
bei  867,  17,  im  17.  bei  761,  18.  Dagegen  im  6.  nur  jenes 
vom  Staatsrosse  506,  im  7.  nur  zwei,  Vers  4  und  63,  im  14. 
bei  dem  vielen  Bericht  von  Here  fast  nur  Eins,  16,  da  394 
einfache  Maassvergleichung  und  414  vielleicht  unecht  ist. 

Mehre  in  Einem  Zuge  gereihet  oder  nah  bei  einander,  wer- 
den nicht  anders  bemerkt,  als  wo  die  grössere  Bedeutung  des 
I^rzählten  den  Dichter  zur  beflisseneren  Hebung  jedes  Mo- 
ments anregte,   das  heisst,   zum  Malen   mit  leuchtenderen  Far- 


331 

ben.'*')  Denn  es  erscheinen  nach  Homers  Kunstart  meistens  so  viel 
Bilder  als  Momente,  indem  jedes  ßild  in  diesen  Fällen  eben  nm* 
Einen  Zug  meint.  Dieser  Art  sind  nicht  \yenige  und  zu  ihnen  zählen 
auch  diejenigen ,  wo  zwei  Subjecte  in  einem  Akte  erscheinen, 
wie  Od.  9,  384.  Meisler  und  Gesellen,  II.  11,  67.  Troer  und 
Achäer  gleich  zwei  3Iähern,  13,  198.,  die  zwei  Alanten,  22, 
139.  Achill  und  Hektor  wie  Habicht  und  Taube.  Die  Eigenheit 
der  Subjecte  konnut  aber  öfters  gar  nicht  in  Vergleichung,  son- 
dern die  Lage,  das  Charakteristische,  die  Seele  der  Erschei- 
nung, wie  wenn  Aias  mit  dem  störrigen  Esel  (11,  556),  Menelaos, 
Avo  er  aushält  mit  der  unabtreiblichen  fliege  (17,  570),  Her- 
mes mit  der  Möwe  (Od.  5,  51)  verglichen  werden,  Odysseus 
unter  einer  Schütte  von  Laub  liegt  wie  ein  glimmender  Brand 
unter  der  Asche  (Od.  5,  488).  Und  wenn  nicht  blos  der  kla- 
gende Ton  gemeint  wäre,  wie  könnten  die  Herzenslaute  des  Odys- 
seus und  Telemach  beim  Wiedersehn  mit  dem  Ton  der  Vögel 
verglichen  werden,  denen  ihre  Jungen  geraubt  sind?  und  wie 
würde  ein  Löwe  Gegynbild  zur  Penelope  sein  (Od.  4,  791  f.), 
wenn  die  Aehnlichkeit  nicht  in  der  umschliessenden  Gefahr  und 


41)  Am  gehäuflesten  erscheinen  sie  11.  2,  455 — 483,  wo  beim  ersten 
Ausziehn  des  Griechenhecres  eine  Reihe  von  fünf  Gleichnissen :  den  WafTen- 
glanz,  das  Gedröhn  der  Tritte,  das  dichte  Gediiingc  der  3Ienge,  das  Ord- 
nen der  einzelnen  Führer,  den  hervorragenden  Fcldlierrn  nacli  einander 
malen.  S.  Nägelsbach.  —  Der  zweite  Auszug :  4,  422  Griechen,  433  Troer, 
452  ihr  Zusammentreflen.  —  Des  durch  Zeus  gesehreckten  Aias  innerlich 
widerwilliges,  äusserlich  slörrisches  Weichen  II.  11,  555 f.  502.  lleklor, 
wie  er  die  Troer  antreibt  und  in  eigener  Erscheinung,  11,  292  und  297 f. 
Desselben  schwerer  Ansturm  gegen  die  standhaften  Griechen,  15,  618. 
624.  630.  Das  Wegtragen  der  Leiciie  des  Patroklos ,  II.  17,  725.  Gruppe 
der  verfolgenden  Troer  und  des  rückschlagcnden  Aias,  das.  137.  747.  755. 
andere  Momente.  —  Achills  Mordbahn,  um  den  Patroklos  zu  rächen, 
II.  20,  490  und  495  und  wiederum  21,  12  und  22,  dann  21,  252  und  257, 
endlich  22,  22  und  26.  —  Der  Freierniord,  als  Athene  die  Aegis  hervor- 
Ihut,  Od.  22,  299—301  und  302—306.  —  Des  Odysseus  Fahrt  nacli  Ilhaka, 
13,  81  und  80.  S.  Hoffmann  in  Lüneburg,  Progr.  Lüneb.  50. 
Prüfung  des  von  Lachmann  über  den  letzten  Gesang  der  Ilias  gefällten  Ur- 
theils.  S.  6.  „Abgesehen  von  der  Verschiedenheit  des  Gegenstandes,  — 
kommt  hier  noch  der  Umstand  in  Detracht,  dass,  wo  einmal  eine  auf- 
fallende Menge  von  Gleichnissen  erscheint,  regelmässig  ein  bedeutender 
Abschnitt  in  der  Erzählung  gemacht  wird,  und  dabei  ein  glülienderes 
poetisches  Coloril  ganz  gerechtfertigt  ist". 


332 

dein  Sinnen  auf  einen  Aus\veg  lüge?  Wo  aber  Menelaos  scharf 
umherblickt  nach  dem  Anlilochos  ^\ie  ein  Adler  nach  dem  Hasen 
(11.  17,  674),  wird  ausser  dem  Scharfblick,  der  sein  Ziel  erreicht, 
offenbar  Nichts  verglichen. 

Wir  sind  hiermit  in  die  Kunstweise  der  Gleichnisse  einge- 
gangen und  es  gilt  das  richtige  Geschmacksurtheil  über  Stoff, 
Fassung  und  Gliederung  derselben.  Einzelne  mögen  uns  nicht 
gefallen,  ob  wir  schon  die  soeben  besprochene  Unterscheidung 
anerkennen,  wie  wenn  II.  17,  389  —  397.  Griechen  und  Troer 
den  Leichnam  des  Patroklos  Jiin-  und  herzerren,  wie  die  Leute 
des  Gerbers  ein  mit  Fett  getränktes  Leder,  oder  Odysseus,  Od, 
20,  24 — 28,  sich  auf  seinem  Lager  hin-  und  herwälzt,  wie  ein 
Mann  eine  3Iagenwurst  im  Siedekessel  hin  und  her  umdreht, 
dass  sie  schnell  brate.  Andere  entzücken  uns,  wie  jenes  schon 
in  der  Einleitung  gegebene  II.  6.,  sodann  die  mehren,  durch 
Avelche  wie  schrittweise  das  Hervortreten  des  Hauplhcklen  der 
Ilias,  des  Achill  zum  Rachekampf  wegen  Patroklos,  in  glänzendes 
Licht  gesetzt  wird. 

Nachdem  erst  sein  wundervoll  leuchtendes  Haupt,  18,  207., 
und  seine  entsetzliche  Stimme,  das.  219.,  dann  sein  rachedursti- 
ges Gestöhn  bei  Patroklos'  Leiche,  das.  318  ff.,  in  treffenden  Bil- 
dern 'gezeichnet  sind,*^)  wird  seine  erste  Begegnung  mit  einem 
Feinde,  dem  Aeneas,  durch  das  über  alle  andern  Löwen-  und 
Jagdbilder  schöne  Gleichniss  verherrlicht,  20,  164ff. 

Jenseits  drang  der  Peleide  heran,  wie  der  reissende  Löwe, 
Welchen  zu  lödten  verlangend  die  ländlichen  Männer,  ein  ganzes 
Volk  ausziehen  geschaart;  er  schreitet  zuerst  mit  Verachtung 
Trotzig  daher;  doch  sobald  mit  dem  Speer  ihn  ein  rüstiger  Jüngling 
Traf,  dann  knäuelt  er  sich  mit  geöffnetem  Rachen  zusammen, 
Triefend  die  Zähne  von  Schaum,  er  slölml  aus  muthigem  Herzen, 
Gcissclt  sich  dann  mit  dem  Schweife  zugleich  zur  Rechten  und  Linken, 
Ribben  und  Hüften  umher,  und  entflammt  sich  selbst  zu  dem  Kampfe, 
Funkelnden  Rlickes  fährt  hin  er  in  Wulli,  dass  einen  der  Männer 
Tödt'  er,  oder  auch  selber  er  stürz'  im  Vordergetümmel. 
Also  drängte  die-Kraft  und  der  männliche  Muth  den  Achilleus, 
Külin  sich  entgegen  zu  werfen  dem  tapferen  Helden  Aeneas.''^) 


42)  Lattmann  de  poclt.  Or.  compar.  Gott.  52  p.  17  hat  bei  seiner 
spitzfindigen  Deutung  die  parallelisirenden  Ausdrücke  des  Dichters  selbst 
übersehen. 

43)  Hegels  Aesthct.  I.  S.  534.    Iloffmann  Progr.  S.  9.    Sagcnp.  12. 


333 

ferner  das  von  seiner  Verfolgung  des  Ilektor  22,   139 — 144: 
Wie  im  Gebirge  der  Falk' ,  der  behendste  unter  den  Vögeln, 
Leicht  im  gewaltigen  Schwünge  der  schüchternen  Taube  sich  nachstürzt; 
Seitwärts  ilüchtet  sie  bang ,  dicht  hinter  ihr  stürmt  er  ])eständig 
Nach  mit  hellem  Geschrei,  und  er  brennt  vor  Begier  sie  zu  haschen. 
So  flog  jener  im  Schwung  grad  aus;  bang  flüchtete  Hektor 
Unter  der  Mauer  dahin,  die  gelenkigen  Füsse  bewegend. 

Nicht    minder    schön  nach   mehrstimmigem  Urtheil   das   frühere 
vom  Agenor  dem  Achill  gegenüher,  21,  573  —  580. 

Wie  wenn  etwa  ein  Panther  hervor  aus  tiefem  Gesträuche 
Wider  den  jagenden  Mann  anstürzt,  und  mit  nichten  im  Herzen 
Zagt,  noch  furchtsam  entflieht,  nachdem  er  das  Bellen  vernommen. 
Sondern  ob  jener  ereilend  im  Stoss  oder  Wurf  ihn  getrofl'en, 
Gleichwohl,   selbst   von  der  Lanze  durchbohrt  schon,    lässt  er  vom 

Kampf  nicht, 
Bis  er  im  Streit  auf  ihn  sich  gestürzt  hat  oder  dahinsank. 
Also  Antenors  Sohn,  des  erlauchten,  der  edle  Agenor, 
Nicht  kam  Lust  ihm  zu  fliehn,  bis  er  mit  Achill  sich  gemessen. 

An  diesen  und  noch  mehren  andern  Beispielen  gerade  aus 
diesen  Büchern  18 — 22,  welche  den  um  eigenen  Leides  willen 
hervorgetretenen  Ilaupthelden  in  seinen  Fahrten  schildern,  gieht 
sich  die  Kunstweise  Homers  deutlich  zu  erkennen.  Wie  Alles 
hei  ihm  Leben,  und  am  liebsten  concretes  Lehen  hat,  so  wer- 
den die  Bilder  immer  zu  einer  deullichen  Anschauung  mit  be- 
stimmtem Gehalt  ausgeprägt,  und  wird  in  die  concrete  Gestalt 
gern  ein  beseelender  Zug  eingewebt.  Diese  letztere  Eigenschaft 
stellen  wir  mit  den  poetischen  Angaben  räumlicher  Maasse  oder 
Tageszeiten  zusammen. ''^)  Besonders  feine  Bezeichnungen  s.  II, 
23,  517  und  noch  mehr  760.  Und  wie  auch  da  die  Würfe 
beseelt  erscheinen  (z.  B.  11.  16,  589),  so  die  Bezeichnungen  des 
Mittags,  II.  11,  86—89.,  und  Abends,  Od.  12,  439  f.  Ebenso 
nun  die  Gleichnisse,  deren  Bilder  zwar  vielfältig  ihrem  Haupt- 
inhalt nach  beseelt  sind,  da  sie  selbst  ein  Gemüthsverhältniss 
ins  Licht  zu  setzen  dienen,  aber  ausserdem  gar  oft  vom  Dichter 
durch  einen  besondern  Zusatz  das  Gefühl  ansprechen.  Wenn 
der  Glanz  von  Achills  Schild.  II.  19,  395,  in  einem  Gruppenbilde 
mit  dem  Hirtenfeuer  verglichen  wird,  welches  Schiffern  leuchtet. 


44)  Ausser  dem  Wurf  des  Speers  oder  Steines  oder  der  Wurfscheibe 
(II.  3, 12.  15,  358.  23,  431),  die  allgemein  gebräucblicli  (auch  Tiiuk.  5,  05). 


334 

„indem  ein  Orkan  sie  weil  von  dcM  ilucn  liinwejilreibl",  so  ist 
das  Beseelung  der  concreten  Geslalt.  So  dient  das  Bild  von  der 
Pnrpnrfarberin,  II.  4,  141.,  die  einen  elfenbeinernen  Pferde- 
schmuck rölhet,  eigentlich  nur  durch  die  Farbe,  aber  es  wird 
durch  den  Zusatz  beseelt:  der  Reisigen  viele  u.  s.  w. 

II.  3,  10.  giebt  zum  Staub  das  Bild:  ein  Nebel  unwillkommen 
dem  Hirten,  aber  dem  Dieb  lieber  als  das  Dunkel  der  Nacht.  II.  12, 
433  ff.  wird  das  Gleichniss  der  gleichhängenden  Waagschale  durch 
die  ehrliche  Wollspinnerin  beseelt,  die  für  ihre  Kinder  den  küm- 
merlichen Lohn  erwirbt.  II.  21,  345  ff.  trocknet  Hephästos  den 
Boden,  wie  der  Wind  die  neugenetzte  Tenne  (weder  Saalflur  noch 
Garten),  die  eben  auf  dem  olTenen  Felde  angelegt  wird,  und  es 
freut  sich  der,  welcher  sie  zur  Ernte  brauchen  will.  Es  las- 
sen sich  diesen  noch  manche  andere  Beispiele  hinzufügen^-')  und 
dazu  eine  Reihe,  da  das  durch  ein  Bild  zu  Verklärende  selbst 
ein  Gefühl  ist."«) 

Wenn  nun  die  Gleichnisse  vom  Dichter  eine  sehr  verschie- 
dene Ausführung  erhalten  haben,  so  gilt  es,  den  Grund  dieser 
Verschiedenheit  in  den  poetischen  Gedanken  zu  erkennen.  Die 
kurzen  von  zwei  oder  drei  Versen,  wie  13,  62.  102.  198.  57 J. 
587.  18,  161.  219.  600."")  bringen  zu  dem  Erzähllen  allerdings  in 
ihrer  Knappheit  ein  ganz  trefl'endes  und  lebendiges  Licht.  Andere 
von  vier  oder  fünf  Versen  13,  471.  703.  12,  146.  167.  15,  624. 
23,  760.  Od.  6,  130.  zeigen  sich  ofl'enbar  bei  gleicher  Angemessen- 
heit nur  nach  dem  gewählten  Phantasiebilde  etwas  mehr  aus- 
geprägt. Noch  bei  sechs  bis  acht  oder  neun  Versen  ist  das 
nicht    sofort    anders.      Die   W'ahl    der   Bilder   führt  den    Dichter 


45)  II.  4,  455.  13,  493.  18,  212.  Od.  22,  306.  Es  wirkt  hier  das 
Dichtergemülh,  was  von  Mehren  verkannt  ist,  vorzüglich  von  Jul.  Latt- 
niann,  de  poet.  Gr.  compar.  p.  14  f. 

46)  Es  erfreut  die  Wiedorersclicinung  des  Hektor  wie  der  aufgellende 
Fahrwind,  II.  7,  4,  es  umdrängen  den  Odysseus  seine  Gefährten  wie  die 
K;ill)cr  ilae  Mütter,  Od.  10,  410,  und  Iiat  Odysseus,  Od.  5.  395,  solche 
Freude,  als  er  die  nahe  Küste  der  Pliäaken  sieht ,  wie  Kinder  über  den 
genesenen  Vater.  Menelaos  aber  ward  erfreut,  als  er  den  Paris  sah,  wie 
ein  hungriger  Löwe,  der  ein  grosses  Wild  gepackt  hat,  II.  3,  23,  Paris 
dagegen  fuhr  entsetzt  zurück,  wie  ein  Mann,  der  eine  Natter  sieht,  33., 
Kioniedes  wich  vor  dem  Ares  zurück,  wie  ein  Wanderer  ralhlos  sieht  an 
dem  Rande  des  Stroms,  der  reissend  ins  Meer  stürzt,  II.  5,  598. 

47)  Ebenso  20,  490.   495.   21,  12.   22,  22. 


335 

zu  melirer  oder  minderer  Aiisfüluiiclikeit.  Sie,  aus  dem  beweg- 
ten Leben  der  Natur  und  der  Mcnsrlienwelt  in  grosser  Mannig- 
faltigkeit entnommen,  sollen  eigenthümlich  charakterislisch  sein, 
um  der  jedesmaligen  Vergleichung  zu  dienen.  Schon  dies  er- 
fordert hin  und  ^vieder  der  Züge  mehre,  aber  die  bildnerische 
Vergegenwärtigung  und  seelische  Belebung  nimmt  auch  ein  eige- 
nes Recht  in  Anspruch. 

Genug  es  ist  die  Poesie  selbst,  welche  zu  den  wechselnden 
Situationen  besonders  der  Kämpfe  in  den  an  diesen  reicliern  Ge- 
sängen, also  dem  oben  genannten  11.,  12.,  13.,  16.  und  17.  der 
Ilias,  neben  jenen  kürzeren  mehre  Gleichnisse  von  6 — 9  Versen 
zum  Theil  nach  ihrem  eigenen  Recht  hervorbringt.  Gerade  die 
als  die  vielleicht  unter  allen  schönsten  hervorgehobenen,  von  des 
Paris  Auszug  und  Achill  dem  Aeneas  gegenüber  (II.  6,  503.  20, 
164.)  umfassen  über  6,  ja  9  Verse,  und  wie  diese,  so  ist  das 
gleich  lange,  12,  278,  eben  nur  durch  die  poetische  Malerei  (wie 
auf  dem  Schilde,  II.  18,  579ff.)  so  ausgedehnt,  und  tritt  aus  die- 
ser doch  der  Ilauptzug  hell  hervor.  jNicht  anders  bei  denen  von 
8  Versen,  den  oben  angeführten,  II.  21,  753,  und  den  beiden 
Gruppenbildern,  11,  474  und  548,  so  wie  denen  von  7,  15.  630. 
11,  113,  17,  61  und  auch  18,  207,  indem  der  wundervolle  Glanz 
des  Achill  in  hellester  Farbe  erscheinen  sollte.  Wie  jene  acht- 
zeiligen  Gruppenbilder,  so  zeichnen  auch  mehrfach  fünf-  oder 
sechszeilige  anmuthige  Hergänge  mehrer  Momente,  besonders 
17,   53«".*«) 

In  all  dergleichen  Ausführungen  haben  wir  aber  eben  auch 
den  Charakter  des  Epos  zu  erkennen,  das  nimmer  für  ungedul- 
dige Hörer  erzählt.  Nach  dem  Obigen  zählen  wir  die  Menge 
der  Gleichnisse,  da  sie  vom  Dichter  genieiiiliin  in  eigener  Person 
eingewebt  werden,  in  den  Schilderungen  der  Kämpfe  zu  den 
Mitteln ,  durch  w  eiche  der  Dichter  noch  mehr  aller  Ermüdung 
vorgebeugt  hat,  als  er,  der  immer  neue,  es  schon  durch  den 
möglichsten  Wechsel  der  Scenen  gethan.  Er  hat  dabei  noch 
andere  Mittel,  die  Schilderung  der  Kämpfe  vor  aller  Einförmigkeit 
zu  wahren,  doch  die  Anzahl  der  kürzer  gefassten  Gleichnisse  ist 
auch    in    den   daran   reichsten    Partieen   überall   weit   die    über- 


48)  II.  15,  271.   G79.    17.  725.    18,  318.   257. 


336 

wiegend e.'"')  Wenn  nun  diese  kürzeren  der  Ilias  gar  Avohl  ein 
Bild  voll  concreten  Lebens  geben  können  und  geben,^")  so  ist  es 
unstatlbafl  diese  Eigenscbaft  der  Gleichnisse,  welche  sich  in  der 
Odyssee  finden,  anders  herzuleiten  als  aus  dem  Belieben  des 
bildnerischen  Geistes.  Wenn  von  den  Bildern  der  Odyssee  ausser 
dem  einen  des  unechten  Zusatzes  verdächtigen  (8,  423.)  nur  1 
zu  6  (19,  518)  und  3  bis  5  (5,  335.  6,  130.  12,  251)  die 
übrigen  nur  2,  3,  4  Verse  füllen,  so  haben  wir  darin  doch  nur 
dieselbe  Weise  zu  erkennen,  die  er  auch  in  der  Ilias  vorherrschend 
befolgt  hat,  und  wenn  er  hier  einzelne  Bilder  ganz  einfach  nur 
nennt,  welche  er  in  der  Ilias  ausgeführter  giebt,  wie  5,  371. 
„und  sass  wie  ein  Reiter  zu  Rosse"  verglichen  mit  II.  15, 
679  und  7,  36.  „Schnell  sind  jenen  die  SchifTe  wie  Fittige 
oder  Gedanken",  vergl.  mit  II.  15,  80,  so  hat  er  dergleichen 
neben  einander  auch  in  der  Ilias.  Einfache  Metaphern  werden 
Bilder  4,  342.  17,  737,  und  wir  Averden  darin  immer  nur  die 
Wahl  dessen,  was  für  jede  Stelle  passte,  finden  müssen.  Es  blei- 
ben wohl  einzelne  Fälle  übrig,  wo  die  Rhapsoden  wie  in  andern 
Formen  so  in  den  Gleichnissen  hinzugethan  haben,  was  der 
Dichter  weder  zur  concreten  Ausprägung  noch  zur  Beseelung 
seines  Bildes  eingewebt  hatte.  ^')  Allein  die  Verschiedenheit, 
da  dem  Dichter  in  der  einen  Stelle  der  ganz  einfache  Ge- 
brauch eines  Wahrgenommenen  zur  Vergleichung  beliebt,  in 
der  andern  dasselbe  in  concreter  Gestalt  erscheint,  in  einer 
dritten  er  es  zum  charakterisirlen  Bilde  ausführt,  diese  Verschie- 

40)  Das  12.  Buch  hat  in  471  Versen  9  Gleichnisse,  von  denen  4  zu  3, 

1  zu  4,  1  zu  0  Versen;  also  nur  3  ])ereits  crwäluite  umfassen  8  oder  9 
Verse;  das  13.  von  837  Versen  mit  14  Gleichnissen  hat  darunter  9  zu  nur 

2  oder  3  Versen,  von  den  übrigen  fünf  3  zu  5,  2  zu  6  Versen;  das  15.  in  740 
Versen  mit  15  Gleichnissen,  unter  diesen  10  zu  nur  3  oder  2,  und  dazu 
1  zu  5,  3  zu  6,  1  zu  7;  das  10.  in  807  Versen  17  Gleichnisse,  von  denen 
12  zu  1^2  bis  3%,  2  zu  4,  die  drei  übrigen  zu  0,  7,  9;  das  17.  in  761  Versen 
18  Gleichnisse,  davon  12  zu  nur  1  bis  4  Versen,  die  andern  6  zu  mehr. 
So  enlhallen  dieRhapsodieen  18 — 22  in  der  Zahl  von  27GleicIuussen,  deren 
8  zu  2  und  10  zu  3  Versen,  also  nur  den  dritten  Tlicil  zu  mehr,  und  unter 
diesen  sehen  wir  gerade  so  iu'rrliclie.  S.  Progr.  von  Lüneburg  Ost.  1850. 
II offmann,  Prüfung  dos  von  Lacbmann  über  die  letzten  Gesänge  der 
Ilias  gefällten  Urliieils. 

50)  II.  15,  80.   302.    16,  7—9.   17,  133.   547.    Od.  5,  51.   328. 

51)  Wie  Od.  8.  526—529.    11.  15,  411  f. 


337 

denheit  ist  an  gar  vielen  Beispielen  aus  Ilias  wie  Odyssee  nach- 
gewiesen.^^) 

Alle  nähere  Betrachtung  hiess  uns  sonach  die  Gleichnisse 
der  nnisfergilligen  episclien  Darstellung  als  einen  besondern  Er- 
weis des  plastischen  Vermögens  und  Willens  auffassen,  und  zwar 
wie  es  sich  im  zugleich  gemüthreichen  Dichter  kundgiebt.  Da 
Ihut  sich  aber  zuerst  und  zumeist  in  dessen  Erfindsamkeit  das 
hervor,  was  wir  das  Weltbewusstsein  der  grossen  Dichter  nennen, 
oder  sagen  wir  populärer,  ihre  aus  Natur-  und  Menschenwelt 
anschauungsreiche  Phantasie.  Dies  bringt  auch  in  dieses  Gebiet 
den  Reiz  des  immer  Neuen.  Znm  Beweise  dient  zuvörderst  die 
Seltenheit  einer  Wiederholung,  trotz  der  so  vielfältigen  Anwen- 
dung von  anregenden  und  fesselnden  Bildern.  Wir  können  kaum 
drei  Fälle  zählen.  ^^)  Sodann  sind  dieselben  W\Thrnehmungen, 
doch  mannigfach  gewendet,  die  um  höchste  Höhen  sich  sanmieln- 
den  W^olken  (11.5,  522.  16,  297  und  3G4),  der  unaufliallsame 
Strom  (II.  4,  452.  5,  87  und  11,  492),  ein  W^aldbrand  (II.  2,  455 
und  11,  155),  der  Löwe  im  Lager  des  Hirsches,  der  Hirsch  in 
dem  des  Löwen  (II.  11,  113  und  Od.  4,  335),  die  kleinen  und 
die  Raubvögel  (II.  16,  482.  17,  755.  22,  139.  Od.  22,  302),  Fisch- 
fang  (II.  16,  406.  Od.  10,  124.  22,  3S4),  die  Fliegen  um  den  Milch- 
eimer  (II.  2,  469.  16,  641  ),  der  Leitbock  (II.  3,  196  und  13,  492), 


52)  S.  Rcmacly,  de  cümp.'iralioiiilius  Homer,  disp.  Paiiic.  III.  pag. 
36  bis  41. 

53)  II.  11,  548  —  555  und  17,  ('i57 — 064,  wo  man  erkennt,  dass  das 
Bild  zunächst  für  die  erslere  Sielle  gedielitel  ist,  wo  ein  zweites  Cdeicli- 
uiss  zu  dem  inneren  Wideislrelien  des  Aias  die  äussere  ßesliiligung,  das 
scliriltweise  Weichen,  hinzuriigt,  wie  Beides  znsamnien  schon  durcii  547 
vorbedeulet  ist.  II.  13,  389—391  und  10,  482  —  484.  Hier  folgt  an  der 
zweiten  Stelle  ein  zw^eiles  Gleichniss  unmiltelhar.  das  das  „stöhnend"  ins 
Licht  setzt.  Es  scheint  aber  der  Vers,  welcher  dieses  enthält,  von  dieser 
Stelle  her,  13,  393,  ungehörig  wiederholt  zu  sein.  —  Das  dritte  Beispiel 
ist  an  der  zweiten  Sielle  kritisch  verdächtig;  prächtig  sieht  II.  (i,  500  bis 
511,  wo  die  drei  folgenden  Verse  die  d(i]ipelte  Beziehung  auf  des  Paris 
Erscheinung  uiul  aul  seine  slreheude  Eile  so  deiillich  aussprechen.  In  der 
andern  Stelle,  15,  203 — 208,  aber  passl  seihst  der  Zug  der  Eile  nicht 
recht  in  den  Verlauf,  jedo(  h  hat  Arislarch ,  indem  er  die  Verse  205 — 20S 
in  beredter  Auslegung  allein  für  die  ersterc  Stelle  gedichtet  erklärte,  die 
beiden  vorhergehenden  hier  gelassen.  Ein  für  Ileklor  in  diesem  Zeitpunkt 
passendes  (lleichniss  folgt  weiter  hin,  271 — 270,  wo  denn  aucii,  27711".,  die 
trellende  Anwendung  folgt.    S.  Sagenp.  S.  15Sf. 

Nitzscli,  Gesell.  .1.  griech.  Epos.  22 


338 

die  Schneeflocken  (II.  12,  156.  278—286.  19,  357.  3,  222),  die 
Wespen  (II.  12,  167.  16,  259),  Mutter  und  Kind  (II.  4,  130.  8, 
271.  16,  8),  Liebe  der  Thiere  zu  ihren  Jungen  (II.  16,  259  bis 
265.  17,  4.  133.  Od.  16,  217  f.  20,  14),  wie  der  Kälber  zu  ihren 
Müttern  (Od.  10,  410—417).  An  der  letztgenannter  Stelle  wird 
die  Freude  der  Gefährten  beim  Erblicken  des  Odysseus  mit  der 
der  Kälber  verglichen,  wie  sie  ihren  Müttern  entgegenspringen. 
Die  Liebe  erscheint  hier  ganz  als  ISaturgefühl ,  das  in  den  Men- 
schen dasselbe  ist  wie  in  den  Thieren.  Dazu  kommt  die  sich 
dort  anknüpfende  Weckung  der  Heimathsliebe.  Wenn  nun  das 
Gleichniss  5,  394,  als  Odysseus  nach  seinem  mehrtägigen  ümber- 
schwimmen  von  der  Welle  gehoben  das  Ufer  Phäakiens  er- 
blickt,  lautet: 

Wie  wenn  herzlich  erwihischt  das  gerettete  Leben  des  Vaters 
Kindern  erscheint,  w-enn  dieser  erlag  schwer  drückender  Krankheit, 
Lang  abzehrend  an  Kraft,  ihn  quält  ein  entsetzlicher  Dämon. 
Doch  zur  herzlichen  Freude  erlösten  ihn  Gölter  vom  Elend; 
So  zur  Freud'  erschien  dem  Odysseus  Ufer  und  Waldung, 

so  erkennen  wir  in  diesem  Gleichniss  allerdings  einen  unser 
Gefühl  noch  mehr  ansprechenden  Ausdruck.  Aber  Homer  nimmt 
hier  das  Gefühl  jedweden  Kindes  und  nicht  etwa  nur  gewisser 
wohlgearteter.  In  diesem  und  in  dem  Gleichniss  8,  523  liegt  also 
nur  das  überhaupt  Naturgemässe  der  Kinder-  und  der  Gattenliebe, 
und  so  findet  es  sich  ganz  unläugbar  bei  ihm,  wozu  Anlass  ist, 
ganz  gleichmässig,  wenn  auch  nach  Maassgabe  der  erzählten  Ver- 
hältnisse verschieden  ausgedrückt.  In  diesen  Naturgefühlen  ist 
am  allerwenigsten  irgend  eine  Unterscheidung  der  Ilias  und 
Odyssee  auch  nur  zu  versuchen, ^^) 


54)  Dies  gegen  Fäsi,  Einleitung  zur  Odyssee.  S.  XIV.  Die  in  jenem 
Gleichniss  verlautende  Freude  iilicr  die  Rettung  des  Vaters  von  schwerer 
Kranklieit  sollen  wir  sie  als  dem  Achill  seihst  fremd  helrachlen?  Er,  dem 
hei  üherhaupt  lebendigem  Andenken  an  denselben  (11.  JG.  14— l(i),  das 
Denk  an  den  Vater  zurück  (24.  504),  das  Herz  so  zur  Sehnsucht  nach 
diesem  und  damit  zur  Menschlichkeit  erweicht  (507 — 511);  soll  er  nicht 
ebenso  empfunden  haben?  In  der  Ilias  kämpft  der  Streiter  für  ilas  Vater- 
land zuerst  für  seine  Eltern  (II.  21,  587.  6,  446),  eben  in  ilu'  verlautet 
wiederholt  das  Bedauern,  dass  ein  im  Kampf  gefallener  .lüngling  den 
Eltern  den  Erziehungslohn  nicht  hahe  abtragen  köiuien  (4,  4771".  17, 
301  f.).    Die  Liehe  zu  den  Eltern  ist  Maassstah  der  Liebe  zu  Andern  (15, 


339 

Nach  dem  Dargelegten  darf  man  nichts  Anderes  als  die  Er- 
findsamkeit  des  einigen  Dichters  in  all  der  Verschiedenheit  er- 
kennen, welche  Mir  im  Gebrauch  der  Vergleicbungen  durch  beide 
Epopöen  hindurch  wahrnehmen.  Ob  sie  eintreten  oder  nicht,  ob 
sie  blos  als  adverbiale  Beisätze,  oder  einfach  mit  Subjecl  und  Prä- 
dicat  angereiht,  oder  zu  Perioden  ausgeführt  erscheinen,  darüber 
entscheidet  der  dichterische  Gedanke,  der  sie  an  ihrem  Ort  im 
Wechsel  mit  seinen  andern  Mitteln  verwendet.  Sie  sind  von  ihm 
nicht  gebraucht,  wo  entweder  der  D^ang  der  erzählten  Tliatsacben 
oder  das  beseelte  Gespräch  für  das  den  Hörer  bei  einzelner  An- 
schauung Festhaltende  Bildern  keinen  Platz  gab.  Bei  gleichartigen 
Hergängen  dagegen,  wie  bei  Kampfesscenen  der  Ilias,  wusste  er 
den  Hörer   noch   durch   andere  Darstellungsmittel  zu  befriedigen. 

Dass  die  Gründe  der  Anwendung  oder  Nichtanwendung  in 
der  Ilias  nicht  anders  als  in  der  Odyssee  wirkten,  zeigen  besonders 
sprechend  das  6.,  7.  und  14.  Buch.  Hier  nehmen  besonders 
charakterisirte  Akte  der  Handlung  den  meisten  Raum  ein,  da- 
neben aber  wird  der  fortgehende  allgemeine  Kampf  durch  eine 
Reihe  einzelner  Tödlungen  versinnlicht.  Hier  halten  die  einzel- 
nen Fälle  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  Wunden  oder  durch 
Charakteristik  der  Gefallenen  nach  Herkunft  oder  andern  Eigen- 
heiten   das    Interesse    fest;    dazu    kommen    manche   besonderen 


439.  19,  322)  und  bei  den  Eltern  einen  betheuern,  erscheint  (15,  600  Itis 
665.  22,  339)  gewiss  doch  nicht  minder  als  andriiigh'cher  Anruf,  als  es 
in  der  Odyssee  sein  würde.  Soll  da  also  in  ihr  ein  anderes  Gefühl  gelten? 
Soll  etwa  das  Gefühl  der  Vaterlandsliehe  auch  erst  in  der  Odyssee  in 
seiner  Stärke  vorhanden  sein,  w'eil  ihr  Held  sie  darstellt?  Und  nun  die 
Klage  einer  Frau  um  den  gefallenen  Galten  —  ist  denn  Androniache  nicht. 
Audromaclie  (22,  452.  466.  483.  6,  454 f.)?  Und  lesen  wir  nicht  17,  36 f. 
18,  122 — 124  und  vollends  5,  412fr.  die  böse  Erwartung  vom  Leid  der 
Aegialeia,  der  Gattin  des  Diomedes?  Wenn  aber  im  Gleicluiiss  der  Odyssee, 
8,  523  —  530,  jener  Gelehrte  eine  höiierc  Hlüliie  der  Gallenliehe,  ein 
anderer  eine  unhomerische  Weichlichkeit  (Lallmaun  S.  14)  ausgedrückt 
findet,  ein  dritter  (Ameis  zur  St.)  zur  Barbarei,  mit  der  hier  die  iliren 
Todten  umarmende  Frau  mit  dem  Speer  geschlagen  und  in  Gefangenschart 
oder  in  ein  Gefängniss  ahgefülu't  wird,  ihe  idudiche  in  II.  6,  58 f.  ver- 
gleicht, welche  das  Kind  im  Mullerleihc  nicht  verschont,  so  erkeimen  wir 
gewiss  richtiger  in  den  Versen  526  —  529  ein  Einscliiehsel,  eine  über- 
treibende Ausmalung  der  Scene,  wie  die  Rhapsoden  an  mehren  Stellen 
gelhan,  Sagenp.  132,  wo  n,  97 — 100  zu  lesen  statt  |.  Die  Stellen  sind 
meistens  schon  von  alten  und  neueren  Kritikern  notiit. 

22* 


340 

fesselnde  Zwischenfälle,  so  6,  1—65  und  14,  440 — 522,  wie  öfters 
auch  anderwärts  5,  380".  (Verwundungen)  daseihst  60 ff.  69 ff. 
77.  (Verwundung  und  Beschreihung  der  Erlegten)  15,  338 — 345. 
Nur  eintretendes  Bedeutendere  wird  durch  Gleichnisse  in  diesen 
Büchern  hetont,  so  in  6  durch  das  so  schöne,  der  zum  Kampf 
strebende  Paris  506,  in  7  die  Freude  der  Troer,  4  und  63  die 
wogenden  Schaaren  der  Troer,  als  sie  vor  dem  Zweikampf  sich 
setzen.  Das  14.  schildert  16  ff.  Nestors  hin-  und  hergehende  Er- 
wägung bis  zu  einer  Entscheidung  durch  ein  Gleichniss;  aher 
die  folgende  Erzählung,  vollends  die  von  Heres  Listen  und  Be- 
thörung  des  Zeus  gab  dazu  keinen  schicklichen  Anlass.  Erst  als 
der  durch  Heres  Botschaft  angefeuerte  Poseidon  (362 f.)  die 
Griechen  zum  Kampf  antreibt,  wird  (394)  der  Lärm  der  zusammen- 
stossenden  Heere  in  der  Satzform  gehäufter  einfacher  Ver- 
gleichungen  (wie  17,  20  und  22,  262)  hervorgehoben.  Dann  ist 
der  Fall  des  Ilektor  vom  gewaltigen  Wurf  des  Aias  (409  fr.)  durch 
seine  zwei  Momente,  erst  das  Drehen,  dann  den  Sturz,  betont. 
In  dem  bereits  besprochenen  folgenden  Theil  nehmen  wir  noch 
einen  andern  Zug  der  belebenden  Darstellung  wahr,  der  wiederum 
auch  in  mannigfaltiger  Gestalt  vorkommt,  den  Wechsel  sarkasti- 
scher Reden  bei  den  rächerischen  Thaten  (454.  471.  vgl. 
16,  745). 

So  sehn  wir  den  Dichter  seine  reichen  Mittel  verwenden. 
An  andern  Stellen  (4,  457 — 539)  beliebte  ihm,  in  einer  Reihe 
geschilderter  Einzelkämpfe  auch  theils  einfache  Vergleichungen 
(462,  471),  theils  ein  volleres  Gleichniss  anzubringen,  4S2 — 487, 

Die  rege  Erfindsamkeit  des  immer  Neuen,  die  Mischung 
und  der  mannigfach  gewandte  Gebrauch  der  verschiedenen  Dar- 
stellungsweisen ist  am  sichtlichsten  in  den  Gleichnissen  ,  die  der 
Jagd  und  überhaupt  dem  Tbierleben  entnommen  sind.  Zum 
Zeichen  der  Zeit  und  des  Landes  begegnen  wir  da  oft  der  länd- 
lichen ihre  Ileerden  gegen  Löwen  schützenden  Revölkerung. 
Diese  Klasse  zeugt  von  der  lebhaften  Vergegenwärtigung  einer 
Fülle  von  Beobachtungen'^)  ganz  vorzüglich.  Von  den  18  oder 
17  Gleichnissen   des    16.  und    17.  Gesanges   sind  je  5 — 6  Jagd- 


55)  Die  allen  Erklärer  maclien  öfters  auf  die  Rioliligkeil  aufmerksam, 
Euslalh  zu  11.  2,  87.   Seh.  A.  zu  II.  17,  725  vgl.  8,  340. 


341 

oder  Wiklbikler  16,  156.  352.  487.  752.  756.  826.  17,  61.  133.  281. 
657.  725.,  im  12.  und  15.  4:  12,  41.  146.  299.  324.  15,  271. 
323.  586.  630.,  im  5.  mul  11.  je  3:  5,  136.  161.  554.  11,  113. 
173.  292.,  im  13.  2:  198.  471.  Und  es  kommen  noch  einzelne 
in  andern  Gesängen  hinzu,  wie  das  schon  oben  ausgezeichnete 
20,  156  und  8,  338.  3,  21;  aber  ausser  dem  einen,  als  wieder- 
holt bemerkten,  sind  sie  alle  eigenthümlich  gestaltet,  und  auch,  wo 
die  gleiche  Situation  zu  vergleichen  war,  lautet  das  Gruppenbild 
verschieden,  11,  474 — 481.  15,  271.  im  Einzelnen  wechseln 
diese  Thierstücke  mit  den  mannigfachsten  Bildern  aus  andern 
Sphären.  Man  sehe  in  17  neben  den  Jagdbildern  434.  520. 
570.  674.  737.  742.  747.  755.  in  12,  132.  278.  421.  433.  451., 
in   n,  S6.  147.  155.  269. 

So  wäre  wohl  diese  glänzende  Erweisung  des  Dichtergenius 
hinlänglich  belegt.^^)  Je  mehr  wir  uns  aber  an  ihr  erfrcun,  um 
so  weniger  übersehn  wir  die  mehren  einzelnen  Fälle,  welche 
einen  Ansloss  geben  können.  Gäbe  ihn  die  Ausführlichkeit,  die 
Fülle  des  Details,  dann  hätten  wir  erst  uns  zu  fragen,  ob  wir 
auch  die  epische  Weise  der  Gleichnisse,  ob  wir  die  homerische 
Genre- Zeichnung    und    concrete   Beseelung    genugsam   erwogen. 

Der  heutige  Leser,  auch  der  deutsche,  versteht  an  sich  die 
epische  Ruhe  wenig.  Es  ist  dem  Epiker  theils  um  Anschaulich- 
keit, theils  um  concrete  Beseelung  des  Bildes  öfters  mehr  zu 
thun,  als  nach  dem  Maasse  unseres  Geschmacks  der  Moment  zu 
gestatten  scheint.  So  sind  die  Wölfe,  denen  die  Führer  der  Myr- 
midonen  gleichen,  16,  157—163,  doch  in  allen  sieben  Versen 
als  die  im  Blut  schwelgenden  Thiere  gemalt.  Und  wenn,  12,  278 
bis  283,  ein  dichter  Schneefall  hinlänglich  dargestellt  scheinen 
kann,  darf  man  doch  nicht  behau{iten,  der  Dichter  habe  die  drei 
folgenden ,  da  er  an  den  Anblick  von  Küstengegenden  gewöhnt, 
gehörigcrmaassen  weglassen  müssen.  Wie  sich  ferner  12,  41  fl". 
ganz  natürlich  ausgeführt  verhält,  so  gilt  dies  auch  von  12,  299 
bis  306,  obgleich  diese  Stelle  einer  Interpolation  angehört. 


50)  C.  Fr.  llcruiaim  Cullurgcsch.  S.  03.  —  „Es  liegt  sowohl  diT  Ver- 
knüpfung im  Ganzen  als  den  Gleichnissen  so  echter  üichlcrgeist  zu 
Grunde,  dass  auch  die  zahlreichen  Discrepanzen  ina  Einzelnen  uns  nicht 
an  (lern  dichterischen  Berufe  und  der  grossen  Persönlichkeit  des  Mannes 
irre  machen  dürfen". 


342 

Schon  ein  Anderes  ist  es,  wo  ein  so  Einfaches,  Avenn  auch 
nicht  Unbedeutendes,  die  allgemeine  Flucht  des  Troerheers,  zu 
vergleichen  ist  16,  393:  ,,also  losten  gewaltig  die  lliehenden 
Rosse  der  Troer".  Wird  da  nicht  hlos  das  Gegenhild  einer 
tosenden  Ueberschwemmung  auf  das  Lebendigste  ausgemalt  — 
das  wäre  ganz  in  der  Weise  der  epischen  Poesie  —  sondern 
wird  da  vielmehr  dieses  Bild  noch  wortreich  beseelt  durch  den 
motivirten  Zorn  des  Zeus,  386 — 388.,  dann  mag  man  wohl  meinen, 
das  Bild  thue  zu  viel,  so  interessant  der  Zug  an  sich  ist.  Die 
Structur  der  Periode,  nach  der  das  rdv  389  auf  vöcoq  zu  385 
zu  beziehen  ist,  sie  macht  wahrscheinlich,  diese  drei  Verse  seien 
eingeschoben. 

So  dürften  die  ausgeführten  Prädicate  zu  beurtheilen  sein. 
Aber  wo  in  einfacher  Vergleichung  und  wie  in  der  All  von 
Metaphern  einfach  charakterisirte  Subjecle  eintreten,  da  giebt  es 
mehrfach  ein  Problem,  An  des  Dichters  allgegenwärtige  Phan- 
tasie sind  wb*  zwar  gewöhnt,  so  wie  an  das  Erfassen  derselben 
Prädicate  bei  den  an  sich  ungleichen  Subjecten.  So  wird,  wer 
in  Gebirgsgegenden  die  mehre  Tage  lang  feststehenden  Wolken- 
schichten gesehn  bat,  das  Gleichniss  zum  standhaltenden  Heer 
5,  522  —  526  recht  wohl  verstehn,  neben  dem  ihm  dann  wohl 
12,  433,  die  Mannigfaltigkeit  der  Anschauungen  zeigt.  Anderer- 
seits gefällt  auch  die  bewegte  Verwendung  desselben  Subjecls, 
wenn  in  16,  365.  die  Wolke,  welche  sich  gern  an  Bergkuppen 
anlehnt,  beim  Sturm  sich  aus  der  Höhe  in  die  Weite  verbreitet, 
und  zum  Bilde  des  sich  von  den  Schiffen  verbreitenden  Lautes 
wird,  oder  die  entgegengesetzte  Erscheinung  das.  297.,  dass  der 
Gott  die  bisher  die  Höhen  verhüllenden  Wolken  davon  wegtreibt, 
so  dass  der  lichte  Aether  sie  alle  umieuchtet.  Dieser  Wandel 
bildet  die  Freude  der  Achäer  ab,  als  Patroklos  die  Troer  mit 
ihren  Bränden  von  den  Schiffen  verjagt  hat.^^) 

Doch  einige  Stellen  sind  schwerer  zu  deuten,  ja  bilden  ein 
kaum  zu  lösendes  Problem.  So  13,  754:  „Sprach  es,  und 
stürmte  von  dannen,  dem  schneeigen  Berge  vergleichbar 
—  und  flog  durch  die  Troer  dahin".  So  lauten  die  Worte 
genau   wiedergegeben.     Hier   sind   die   an  sich  gezwungenen  Er- 

57)  Die  Verse  299  und  300  geliören  nur  hierher,  nicht  auch  8, 
557  und  558. 


343 

klärungen  der  Alten,  da  Hektor  wegen  seiner  ragenden  Gestalt 
(also  wohl  wie  Polyphem)  einem  Berge  gleichen  soll,  ganz  un- 
statthaft, weil  das  „stürmte"  voransteht.  Die  einzig  mögliche 
Erklärung  scheint,  dass  mit  den  ^yorten  eine  Lawine  angedeutet 
wäre,  deren  Anschauung  den  Bewohnern  Asiens  freilich  nicht 
so  leicht  heizulegen  ist. 

Ein  andre  Schwierigkeit  hat  die  Stelle  II.  4,  75 — 84.  Hier 
wird  eine  Lufterscheinung  des  Sternenhimmels  zum  Gleichniss 
für  das  Herabkommen  der  Athene  am  lichten  Tage  gebraucht. 
Ein  solches  Herabkommen  eines  Gottes  wird  in  andern  Stellen 
nach  seiner  Schnelligkeit  natürlich  verglichen;  15,  10,  wie 
Schnee  oder  Hagel,  das.  237.  und  19,  350  f. ,  wie  ein  schneller 
Vogel.  Dort  nun  kann  man  auch  nicht  eine  eigentlich  nächt- 
liche Erscheinung  eben  nur  als  Bild  für  die  auch  vom  Himmel 
niederfallende  Göttin  fassen.  Wir  werden  belehrt  und  wissen 
iwar  von  Feuerkugeln,  welche  am  hellen  Tage  fielen  und  auch 
Funken  sprühten,^^)  aber  der  genau  übertragene  Text  spricht  von 
einem  Stern  und  von  Funken,  welche  von  ihm  sprühen,  so 
dass  wir  Sternschnuppen  zu  verstehn  bewogen  werden.  Diese 
sieht  man  aber  nur  in  der  Nacht,  und  doch  heisst  es  hier  solchem 
glänzenden  und  Funken  sprühenden  Stern  gleich  sei  Athene  zur 
Erde  geschossen,  mitten  hinein,  und  Staunen  habe  Troer  und 
Achäer  befallen.  Sie  deuten  es  als  ein  göttliches  Vorzeichen, 
gutes  oder  schlimmes,  wie  der  Dichter  es  gleich  zuerst  ein 
Zeichen  {tSQag)  genannt  hat.  Ein  solches,  eine  ausserordent- 
liche Erscheinung,  ist  demnach  jedenfalls  gemeint  und  zu  ver- 
stehn, und  z\>ar  ein  bei  Tage  gesehenes  Meteor.  Sagt  nun 
unsere  Naturkunde  nur  Feuerkugeln  oder  s.  g.  Meteorsteine 
kämen  bei  Tage  vor,  so  ist  das  Problem  dieses:  entweder  der 
Dichter  hat  verschiedene  Meteore  verwechselt,  oder  wir  haben 
seinen  Ausdruck  Stern,  welcher  Funken  sprüht;  da  er  im  wei- 
teren Sinne  gebraucht,  zu  eng  gefasst.  Die  letztere  Erklärung 
vird  durch  die  schon  viel  verglichenen  mehren  Stellen  der  Al- 
tm,  in  denen  eine  solche  Erscheinung  bei  Tage  stattfindet,  un- 
terstützt.    Dabei    ist    wahrzunehmen,    dass    das  Volk    nicht   die 


58)  Gchlers  Physik.  Wörter!).  IV.  215.  228.  und  Benzenberg,  die 
Stü-nschniippen  S.  45.  Auch  die  Scliol.  zur  St.  erklären  Sternschnuppen 
Gr  öiaTTOvTEff  uaxeQBg,  wie  bei  Flut.  Lysand.  12. 


344 

Athene,  sondern  das  niederfallende  Meteor  sieht,  Alhenc  aher, 
sobald  sie  herabgekoninien,  die  Gestall  des  Laodokos  amünmit.^") 
Der  unbefangene  Leser  erkeiuit  übrigens  in  diesem  Gange  der 
Athene,  um  den  Pandaros  zu  verführen,  ein  Moment  der  Handlung, 
da  in  Folge  des  treulosen  Schusses  der  Gcsammtkrieg  nun  wirk- 
lich beginnt. 

So  viel  über  die  homerische  Darstellung  in  ihren  einzelnen 
Gestalten  und  Eigenheiten. 

7.  Die  liomerische  Darstellung  in  D  u  rchf  ülirung  uud 
Gliederung  der  umfassenden  Anlage,  und  in  Ge- 
staltung der  T  h  e  i  1 6 ,  wie  sie  den  e  in  z  e  1  n  e  n  P  ar  - 
ticen  eine  gewisse  Selbständigkeitgiebt,  dies  aber 
eben  z  ii  r  schönen  epischen  und  für  mündlicheu 
Vortrag  gearteten  Kunstform    gehört.      Der   Epo- 

»  pöe  eigenthümliche  Formen  und  Weisen  der  Glie- 
d  e  r  u  n  g. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  dem  allgemeinen  Charakter  der 
echt  epischen,  duich  Ilonser  für  die  Gattung  mustergiltigen  Dar- 
stellung. Nach  ihrem  Grundwesen  als  Erzählung  und  ihrem  weit- 
greifenden Inhalt  besteht  ihre  eigenste  Eigenheit  in  der  mählichen 
Forlbewegung  durch  zwar  organisch  verbundene,  sämmtlich  aus 
einander  heraus  wachsende  Theile,  aber  von  der  Beschaflenheil, 
dass  der  einzelne  sein  eignes  entwickeltes  Wesen  hat  und  ein 
nicht  zersplittertes,  sondern  auf  eine  hervortretende  Person  oder 
einen  charakterisirten  Akt  bezügliches  Interesse  gewährt,  daher 
auch  für  sich  ansprechend  und  im  einzelnen  Vortrag  geniesshar 
Iirfunden  ward.  Anders  nämlich  als  das  gelesene,  muss  das  ge- 
hörte Werk    in  jedem  Theile  auch  für  und  durch  sich  verständ- 


59)  Hymn.  a.  den  Pylh.  Ap.  263  (441).  „Jetzt  eutschwang  sich  dem 
Schiffe  flcr  Fürst,  FenilrefTer  Apollon,  gleichend  dem  Stern,  der  mittel 
am  Tage  scheint,  und  es  enlstieben  Funken  die  Menge  von  ihm".  Apoll 
Rhüd.  3,  1377  m.  Schob  vgl.  Aen.  5,  527  f.  So  ist  die  Auffassung  1)0 
A.  Jacol),  Entsl.  der  Ilias  S.  199 ff. ,  irrig;  am  unrichtigsten  die  Benioi- 
i.ung :  „Eben  so  wenig  kann  Athene  hier  erst  als  Ilimmelszeiclien  gedeul;l 
sein  sollen,  nachdem  sie  schon  die  Gestalt  des  Laodokos  angenoninien 
hat".  Das  Staunen  betrilfl  ausdrücklich  das  Ilimmelszoiclicn,  welches  dis 
Volk  sieht,  wie  5,  8G4f.  Diomedes  den  Ares  als  diclile  Wolke;  Atheic, 
wie  oben  gesagt  ist,  nimmt  unten  angekommen  die  Gestalt  an. 


345 

lieh  sein,  und  durch  seinen  Inhalt  anziehn.  Die  kleinen  Lieder 
der  vorhonierischen  Sänger  sind  kurz  genug  für  Einen  Vortrag 
zu  denken.  Sie  hatten  also  zumal  bei  ihrer  ^vahrscheinlich  ro- 
manzenarligen  Form  (Ahsclin.  23  letzt.  Th.)  diese  BeschalTenhcit 
meistens  schon  durch  ihre  Gegenstände,  Abenteuer  Einzelner 
oder  Nachbarfehden  mit  einem  Haupthelden.  Die  umfänglicheren 
LiederstofTe  vom  älteren  Geschlecht,  die  Abenteuer  des  Herakles 
und  die  Argonautenfahrt,  schieden  sich  entweder  leicht  selbst  in 
mehre  Vorträge  oder  mögen  in  Akte  getbeilt  bei  wiederholten 
Zusammenkünften  gegeben  worden  sein.  Homer  nun  halte,  wie 
Mir  sahen,  in  den  Sängern  der  Völkerkämpfe  des  jüngeren  Ge- 
schlechts Vorgänger  in  Dichtung  umfassenderer  Stolfe,  und  die 
besonders  umfängliche  Sage  vom  troischen  Kriege  war  vor  ihm 
in  Liedern  aus  allen  Theilen  besungen.  Als  in  Akte  theilbar  er- 
kennen wir  auch  diese  Stoffe,  wie  die  von  den  beiden  Heerfahr- 
ten gegen  Theben ''"j,  so  den  von  der  troischen.  Gerade  die 
Argonautenfahrt  wird  als  schon  vor  Homer  viel  besungen  bezeich- 
net; sie  erscheint  in  der  Rückfahrt  schon  bei  Hesiod  umfänglich, 
dann  kommen  zu  dieser  und  den  Abenteuern  des  Herakles  jene 
viellheiligen  Heerfahrten.  Wir  müssen  also  annehmen,  dass  schon 
damals  die  Orte  und  Gelegenheiten,  wo  die  Sänger  eine  Gesell- 
schaft durch  ihre  Lieder  vergnügten,  für  eine  Reihe  von  Vorträgen 
bei  wiederholten  Zusammenkünften  geeignet  waren,  sei  es  bei  den 
Gastmahlen  der  Edlen  oder  bei  Versammlungen  in  den  Sprech- 
hallen und  Gemeinhäusern.  Diesen  Brauch  fand  Homer  vor;  was 
die  Sänger  in  den  einzelnen  V'orträgen  absangen,  war  hnmer 
ein   kleines  Ganze,   eben   ein  Lied   und  mussle  ein  solches  sein. 


60)  Der  erste  Zug  der  sieben  Ilelilen,  obgleicli  auch  als  Ganzes  nicht 
ilbergross,  theilt  sich  etwa  in  folgentle  Parlieen:  die  Werbungen  und 
daneben  die  AbinaJinungen  des  Aniphiaraos  bis  die  beslocliene  Eiiphyie 
ilin  zum  Auszug  nöthigle;  eine  andere  the  Semhiiig  des  Tydeus  au  Kleo- 
kles,  nach  seiner  Aljweisung  sein  Wellkauijif  inil  säninillichou  Gäslcn,  nach 
seinem  Siege  über  sie  der  Ilinleriiall,  dessen  Ueherwälligung;  weiter  ihe 
Partie  des  Ilaupikampfes  mil  des  Kapancus  Sturz  und  dem  lödllichen 
Zweikampfe  der  feindlichen  Brüder  bis  zur  Fluclit  des  Adrastos.  Vom 
Zuge  der  Söhne  (Epigonen)  und  seinem  Erfolge  erscheint  wahrsclieiniieh, 
er  sei  in  Homers  Zeit  übrigens  nur  in  der  Vulkssagc  gewesen,  ausge- 
sungen nur  die  Scldachl  bei  Glisas  (Paus.  9,  5,  13 f.  9,  9,  4).  Später 
erst  dürfte  der  SlofT  so  ausgesponnen  sein,  dass  die  nacldiomcrischc 
Epopöe  7000  Verse  umfasseu  konnte. 


346    _ 

Jedes  wurde  von  einem  merklichen  Anhub  zu  einem  entweder 
tlialsächlichen  Erfolge  oder  überhaupt  einem  Ruhepunkte  geführt, 
wenn  nicht  eine  Hemmung  (wie  z,  B.  durch  Penelope  Od.  1, 
340 f.)  eintrat.  So  allein  konnte  es  den  Hörern  wohlgefällig  und 
verständlich  sein.  Zum  Theil  mögen  wir  uns  die  Fassung  der 
einzelnen  Lieder  aus  der  troischen  Sage  vorstellen,  welche  wir 
oben  von  Homer,  dem  liederkundigen,  benutzt  sahen.  Des  Achilles 
Streifzüge  mochten  ein  Lied  geben,  ebenso  der  erste  Gesang  des 
Demodokos,  der  Wortstreit  des  Achilleus  und  Odysseus  über  die 
zur  Eroberung  wirksamste  Eigenschaft  (Od.  8,  73  oben  Buch  2 
§.  12).  Und  wie  oben  a.  a.  0.  gezeigt  ist,  lassen  sich  die  auf 
Hektors  Tod  folgenden  Begebenheiten  weiter  in  einzelne  Lieder 
gefasst  vermuthen.  Aber  wie  wir  diese  und  alle  ausser  der  Ilias 
und  Odyssee  liegenden  Parlieen  des  troischen  Kriegs  aus  den 
einzelnen  durch  beide  Gedichte  zerstreuten  Stellen  zusammenge- 
stellt haben,  und  der  Dichter  sämmtliche  anderweitige  Lieder- 
sloffe  seinen  Organismen  in  lebensvollster  Weise  einverleibt  hat;  so 
sind  gerade  die  kleinen  Lieder,  die  ihm  zu  seinen  beiden 
Schöpfungen  das  nöthige  Material  gaben,  eben  weil  er  sie  neu 
bildete  und  beseelte,  in  ihrer  vorigen  Gestalt  nicht  völlig  wieder- 
zukennen.  Gewisse  Spuren  nur  ihres  Ursprungs  sind  in  aller 
Auffassung  der  nationalen  Epopöe  der  Griechen  anzuerkennen. 
Die  ganze  Kunstweise  derselben,  ihre  Composition  wie  ihre  Satz- 
gestaltung hat  sich  unter  Wirkung  jenes  Ursprungs  und  ihrer 
Bestimmung  für  mündlichen  Vortrag  geartet.  Ihre  Vorzüge,  aber 
auch  manche  Mängel  sind  eben  daher  zu  erklären.  Solche 
Mängel  sind  eine  geringere  Umbildung  als  das  Ganze  nun  ver- 
langte, Gedächtnissfehler,  ja  einzelne  Widersprüche.  Auch  schrei- 
bende Verfasser  umfänglicher  Dichtungen  haben  dergleichen  be- 
gangen. Immer  muss  uns  bei  der  Betrachtung  der  Ilias  und 
Odyssee  hinsichtlich  ihrer  Einheitlichkeit  jener  Ursprung  aus  be- 
reits bekannten  Gesängen  und  dabei  die  dem  sie  neu  beseelen- 
den Dichter  offenbar  eigene  Anschauung  und  Stimnmng  gegen- 
wärtig bleiben,  da  er  mehr  um  innere  als  um  äussere  Einheit 
bemüht,  die  Grundverhältnisse  genau  verfolgt  und  einhält,  und 
gerade  dazu  Eigenes  einfügt,  das  Ueberkommene  neu  gestaltet, 
al)er  nicht  in  allen  Einzelheiten.  Eben  diese  beseelende  Motivirung 
ist  das  ihm  Eigenste,  das  Ueberlieferte  wird  bisweilen  belassen. 


347    __ 

>vie  es  \var.  **)  Sonach  tlurfte  nicht  die  Erkenntniss  jenes  Ur- 
sprungs und  die  Wahrnehmung  jener  Spuren  der  benutzten  klei- 
nen Lieder,  namentlich  die  hebende  Beschreibung  des  Eintritts 
sich  hervorlhuender  Streiter,  so  missverstanden  und  missbraucht 
werden,  dass  man  auf  Hersteüung  jener  Lieder  ausging.  Es  er- 
wies sich  freilich  die  Ungehörigkeit  des  Verfahrens  bei  ihm  selbst. 
Das  Entscheidende,  den  Ausgang  und  selbst  den  Gang  des  vor- 
ausgesetzten Liedes  konnte  man  nur  durch  ge\^altsame  Ausschei- 
dungen und  Umstellungen  bewerksteUigen ,  und  gelangte  selbst 
damit  oftmals  zu  keinem  Ziele.  ^^)  Der  Meister  der  griechischen 
Epopöe,  der  mittels  einer  durchherrschenden  Idee  grosse  Ganze 
schuf,  hatte  eben  durch  seine  Neubildung  jene  Elemente  ganz 
oder  zum  Theil  unkenntlich  gemacht;  bald  hatte  er  mehr  den 
Ausgang,  bald  den  Anfang  umgebildet  und  mit  neuen  Gliedern  in 
jenes  Ganze  verwebt.  Dies  d.  li.  der  Dichtergenius  ist  auch  jetzt 
besser  erkannt  und  jenes  Verfahren  (das  lachmannische)  wird 
bald  als  überwundener  Standpunkt  gelten.  ^^)  Betrachten  wir 
so,  welchen  Gebrauch  Homer  von  den  überkommenen  Liedern 
machte. 

8.   Beschaffenheit   der   Tlieile    der   Epopöe. 

Auch  Homer  konnte  seine  neuen  Gebilde  nur  für  münd- 
lichen Vortrag  bestinnnen  und  einrichten,  als  er  die  Partie  vom 
Zorn  wählte  und  seinen  umfassenden  Plan  entwarf.  Fand  er  im 
Gebrauch  der  Sänger  und  dem  Wohlgefallen  ihrer  Zuhörer  klei- 
nere Vorträge  mit  Hauptfiguren  oder  Einzelakten,  so  sagte  ihm 
sein  Genius,  dass  die  Theile  seiner  grössern  Pläne,  um  vorgetra- 


61)  S.  Receiis.  (Weisse  in  Leipzig)  in  Bliill.  f.  lilter.  Unterli.  1844. 
Nr.  129.  S.  514  und  515.  Gedächtnissfelilcr  Pyläniencs  II.  13,  (558  nach 
5,  576  und  Antiphüs  Od.  17,  68.  der  Sului  stall  des  Valers  Aogyptios  ge- 
nannt, 2,  15—19. 

62)  Bäumlein,  Zeitschr.  f.  All.  1850.  S.  161  und  mit  Bezug  darauf 
S.  166:  „Wir  hallen  also  liier  wieder  die  hei  den  laclimaniiisclien  Liedern 
wiederholt  bemerkte  Erscheinung,  dass  sie  ohne  schickiiclien  Anfang, 
ohne  passenden  Schluss,  ohne  eine  hesondere  Handlung  zu  Ende  geführt 
zu  haben,  des  Charakters  selhsländigcr  Lieder  enthehren.  Wie  viel  nnilor.s 
in  den  Eddaliederu,  die  doch  jedenfalls  auf  einer  niedrigeren  Kunslslufe 
stehn.  S.  die  Edda  ühers.  von  Simrock.  Stutig.  1855.  hcs.  die  Gudrun- 
heder  S.  226— 240. 

63)  Der  oben  genannte  Recens.  ia  Blätl.f.htter.Unterh.  1844.  ^'r.  129. 


348 

gen  und  gern  gehört  zu  werden,  an  unver^^ickclter  Weise  und  con- 
centrirlem  Interesse  den  kleineren  Vorträgen  es  gleich  thun  oder 
ihnen  sich  annähern  müssten.  Sein  genialer  Kunstverstand  oder 
bildnerischer  Trieb  und  Takt  für  das  dem  Epos  und  seinem  Vor- 
trag Passende  hiess  ihn  also  den  auf  einander  folgenden  Theilen 
der  Epopöe  eine  gewisse  Selbständigkeit  verleihen,  damit  sie 
auch  für  sich  wohlverständlich  und  durch  ihren  eigenen  Inhalt 
annehmlich  würden.  Andererseits  fand  er  für  die  einheitliche 
Gestaltung  seiner  reicheren  Stoffe  einige  bildnerische  Mittel  und 
Weisen ,  welche  die  einfach  grade  fortgehende  Handlung  der 
Einzellieder  nicht  bedurft  und  nicht  gebraucht  hatte.  Paralleles 
in  der  Zeit,  was  in  verschiedenen  Scenen  von  verschiedenen 
Personen  geschehn,  kam  erst  hier  zu  erzählen,  konnte  aber,  da 
der  Dichter  kein  Maler,  das  Gedicht  kein  Bild  fürs  Auge  ist,  nur 
Eins   nach   dem  Andern   (öfters   im  Wechsel)  gegeben  werden/*) 

Sodann  ergab  sich  bei  Ausführung  der  grossen  Entwürfe 
eine  zwiefache  Klasse  von  Bestandlheilen  nach  zwiefachem  Grade 
der  Zugehörigkeit.  Die  einen  waren  wesentlich  für  die  Ver- 
folgung des  Grundgedankens,  die  anderen  dagegen  förderten  die 
vom  gewählten  Motiv  her  fortschreitende  Handlung  nicht  un- 
mittelbar, sondern  fügten  nur  zum  Noth wendigen  gleich- 
sam eine  liberale  Fülle,  gaben  den  Orten,  Personen  und 
einzelnen  Momenten  der  Handlung,  kurz  dem  ihr  anhängenden 
Apparat  concreteres  Leben,  sinnlichere  Breite  und  Anschaulich- 
keit oder  tiefere  Empfindbarkeit. 

Der  Epiker  unterscheidet  sich  vom  Tragiker  in  Verfolgung 
der  durchzuführenden  Idee.  Jener  verfolgt  nämlich  nicht  minder 
als  dieser  ein  Motiv,  aber  während  der  Tragiker  in  der  Reihe 
seiner  Akte  stracks  auf  sein  Ziel  hinstrebt  oder  hinstreben  soll, 
liebt  der  Epiker  es,  wie  er  ein  Wellbild  im  Sinne  hat,  seinen 
Fortscbiitt  von  einem  vorgesteckten  Stadium  zum  andern  auf 
Umwegen,  oder  mit  Ruhepunklen,  Rück-  und  Umschau  zu  voll- 
ziehn.  Er  flicht  also  in  die  wesentlichen  Theile  solche  ein, 
welclic,  in  natürlicher  Weise  mit  jenen  Ilaupttheilen  verknüpft, 
den  Inhalt   des  Ganzen    bereichern,    und   seinen   Reiz   und    seine 


64)  Die  Scholieii  säiiiinllicli,  A  au  der  Spitze  zum  Aufaug  der  12. 
Rhaps.  ötacpöijovg  ya^  7iQäi,£tg  iv  evl  ^elvai  xcuqm  aövvatov  und 
die  Dipl.  zu  Vers  2.  orj  xa  aiia  yevoiiira  ov  dvvazai  a^a  i^ayyskkuv. 


349^ 

Sinnigl<oit  meliren  und  lieben,  oline  fliicli  dir  Sliiligkoit  des  Forl- 
schriUs  zu  stören.  Es  sind  dies  die  Episoden,  die  eben  erst 
der  Epopöe  eignen,  in  ihr  eine  grosse  Rolle  spielen,  ja  ihr  We- 
sen erst  zu  einer  Blüthe  bringen.  Ist  aber  ihr  Gesetz  von  der 
Theorie  bestimmt  genug  dahin  aufgestellt,  dass  sie,  als  Tbeile  dem 
Ganzen  angebörig,  aus  ihm  entsprossen  sein  sollen,  so  reicht 
das  doch  keineswegs  immer  aus.  Die  Unterscheidung  dieser 
Tbeile  von  den  wesentlichen  bleibt  in  einzelnen  Fällen  schwan- 
kend und  das  Urtheil  über  manche  Episoden  der  homerischen 
Gedichte  unter  den  prüfenden  Lesern  streitig.  Die  Unthunlicb- 
keit  jener  Unterscheidung  bat  ihren  Grund  im  Dichtergeist  und 
seinem  überkommenen  Stoffe  selbst.  Die  Tlieorie  verfährt  abstract, 
wenn  sie  auch  als  das  von  ihm  Ausgeführte  ein  allgemeines  Ver- 
bältniss  des  Menschenlebens  angiebt;  der  Sagendichter  dagegen 
überkam  und  fasste  in  seine  Anlage  ein  concretes  Ereigniss. 
Daher  ist  es  insofern  nicht  zweifelhaft,  dass  des  Aristoteles  Ge- 
brauch des  skelettirten  Plans  als  Maassstab  zur  Unterscheidung 
der  episodischen  Tbeile  unstatthaft  ist;  nach  Homers  Entwurf 
gehörte,  da  er  Ueberkommenes  d.  h.  Individuelles  gestaltete,  Mebres 
zu  den  wesentlichen  Theilen,  ist  also  Wenigeres  zu  den  Episoden 
zu  reebnen,  als  der  Philosoph  ihnen  zuweist.  Obgleich  er  den 
Entwickelungsgang  und  das  Verbältniss  der  beiden  Ilauptarten 
der  Sagenpoesie  recht  wohl  kannte,  wie  aus  den  epischen  Stoffen 
die  Tragödien  hervorgingen  (Poet.  4,  10  oder  13)  und  er  der 
Ilias  und  Odyssee  nur  die  bei  ihrer  Entstehungsart  mögliche  Ein- 
heitlichkeit beilegt  (Poet.  2G  oder  27  g.  E.  cog  evdexBtac^''')  aQiara), 
so  war  ihm  doch  das  Dichten  zu  sehr  eine  begrifi'licbe  Geistes- 
Ihätigkeit.  Wir  müssen  urtbeilen,  sein  für  die  Unterscheidiuig 
der  Episoden  gegebener  Maassstab  dient  wohl,  die  Einheitlichkeit 
des  Planes  zu  prüfen,  aber  nicht  die  Gliederung  des  von  dem 
Dichter  angelegten  Mythus  nach  seinen  den  Fortschritt  bildenden 
Akten  zu  bestimmen,  welche  doch  für  die  wesentlichen  Tbeile 
der  einzelnen  Poesie  gelten  müssen.  In  17,  2  oder  5  giebt  Arist- 
toleles  die  Regel:  der  Dichter  müsse  seine  Entwürfe  im  Allgemeinen 
anlegen,  darnach  dann  sie  in  Episoden  ausprägen  und  ausdehnen. 


65)  DerAus(lniL'kii'öf;(frfa,  licet,  nicht  polcsl,  fiilui;itiftli('s<'l)<Mil um 
so  wie  die  Sache  sellisl. 


350 

Dann  nach  der  Bemerkung,  dass  die  Epopöe  durch  Episoden 
ausgedehnt  werde,  heisst  es,  §.5  oder  10:  ,,Der  Entwurf  (Plan 
^oyog)  der  Odyssee  ist  kurz:  indem  Jemand  viele  Jahre  vom 
Hause  abwesend  ist  und  von  Poseidon  überwacht  wird,  und  zwar  er 
ohne  Gefährten,  während  daheim  es  so  steht,  das  seine  Habe  von 
Freiern  verzehrt  und  seinem  Sohne  nachgestellt  wird:  kommt 
er  selbst  nach  ausgehaltenen  Stürmen  zurück,  greift,  nachdem 
er  Gewisse  erkannt.  Jene  an,  bleibt  selbst  erhalten,  die  Feinde 
aber  vernichtete  er.  Dies  also  ist  das  Wesentliche,  das  Andere 
sind  Episoden".  Aristoteles  gab  hiermit  in  bewundernswürdiger 
Präzision  die  begrifflichen  Grundzüge  der  Odyssee,  aber  nicht 
ihre  poetischen.  Und  wenn  er  aus  der  Ilias,  welche  ihm  nach 
8,  3.  ebenfalls  für  vollkommen  einheitlich  gestaltet  galt,  23,  3.  ge- 
rade bei  der  Belobung  der  Wahl  des  Stoffs  den  Schiffskalalog  als 
Beispiel  der  Episoden  nennt,  welche  zur  Gliederung  der  Ilias 
dienten,  dann  sehn  wir  darin  seinen  weiteren  Begriff.  Der  Ent- 
wurf der  Ilias,  in  gleicher  Weise  wie  jener  der  Odyssee  ge- 
fasst,  würde  etwa  so  lauten:®")  In  einem  Kriege  der  Griechen 
gegen  ein  blühendes  Beich  zieht  sich  der  Hauptheld,  vom  Ober- 
feldherrn schwer  gekränkt  vom  Kampfe  zurück  und  soll  von 
Zeus  Genugthuung  erhalten.  Deshalb  verleitet  dieser  den  Ober- 
feldherrn durch  einen  Traum  zu  der  Schlacht,  in  welcher  ihm 
der  Sieg  verheissen  ist.  Aber  nach  kurzem  Erfolge  werden  die 
Griechen  in  steigende  Noth  versetzt  und  bis  zu  ihrem  Schiffs- 
lager zurückgedrängt;  der  Gekränkte  lässt  sich  nicht  versöhnen 
und  dem  Heere  droht  die  grösste  Gefahr.  Da  erlangt  der  Dienst- 
mann und  Freund  des  Erzürnten,  dass  er  ihn  zur  Hilfe  sendet.  Er 
treibt  die  Feinde  zurück,  erliegt  aber  dem  feindlichen  Oberfeld- 
herrn. Nun  endlich  zieht  der  Zürnende  zur  Rache  aus,  erschlägt 
Jenen,  bestattet  seinen  Freund  und  giebt  zuletzt  des  getödteten 
Feindes  Leiche  den  Seinigen  zurück. 

Auch  dieser  begrifTliche  Entwurf  kann  uns  nicht  als  die 
dichterische  Anlage  gelten.  So  wie  wir  nach  heutiger  Theorie 
in  der  Skizze  des  Planes  diejenigen  Tlieile  als  die  wesentlichen 
ansehn,    welche    die    concrele    Gliederung    geben    und    die    eine 


Ö6)  Vgl.  Aug.  J.icoi),  Eiilsl.  der  Ili.is  und  der  Odyssee.  S.  151.  Seine 
weiteren  Folgerungen  werden  liei  Darlegung  dos  diclilerisciien  Planes  lie- 
urlheilt  werden. 


351 

Wendung  der  fortschreitenden  Handlung  bringen,  so  erkennen 
wir  für  Episoden  nur  solche  Parlieen,  welche  einzelne  Momente 
reich  ausführen,  die  in  dem  Forlgang  eintretend  doch  seihst  die 
Handlung  nicht  weiter  führen. 

Diese  Unterscheidung  in  Einzelnen  zu  betliätigen,  wird  spä- 
ter die  geeignete  Stelle  sich  finden.  Hier  ist  zur  weiteren  Cha- 
rakteristik der  epischen  Darstellung  zunächst  zu  erklären,  wie 
wir  in  beiden  Arten,  den  Episoden  und  den  wesentlichen  Partieen, 
denselben  Charakter  der  unverwickelten  für  sich  geniessbaren  Selb- 
ständigkeit finden.  Derselbe  nnn  allen  Theilen  der  Epopöen 
gemeinsame  Charakter  war  es  auch,  der  den  sie  vortragenden 
Declamatoren  es  erleichterte,  Einschiebsel  einzufügen.  Die  Mu- 
sterung der  echten  und  unechten  Episoden*)  wird  erforderlich 
sein,  um  die  Pläne  der  beiden  Epopöen,  wie  sie  von  Homer  in 
der  ihm  eigenen  Dichtungsweise  durchgeführt  sind,  aufzuweisen. 
Vorerst  aber  wird,  um  die  falsche  Auffassung  jener  dem  Epos 
eigenen  Darstellungsform  durch  ein  recht  sprechendes  Beispiel 
überzeugend  zu  berichtigen,  es  dienlich  sein,  die  am  meisten 
missdeuteten  Erscheinungen,  die  Hervorhebung  einzelner  Streiter 
in  den  Schlachtgemälden,  in  das  rechte  Licht  zu  stellen;  und 
da  aus  der  irrigen  Deutung  des  der  Epopöe  mit  den  kleinen 
Liedern  gemeinsamen  Verfahrens  auch  ein  wesentlicher  Irrthum 
über  den  Sinn  der  Ilias  hervorgegangen  ist,  so  muss  auch  dar- 
über das  Gehörige  schon  hier  gezeigt  werden. 

9.  Fortsetzung.  Die  Ilias  in  gewissem  Sinne  das  Hel- 
denbuch des  griecbiscb  en  Volks,  aber  ihre  Be- 
stimmung mit  Verberrlicliung  des  Achill  nicht 
richtig   bezeichnet. 

Der  Genius,  der  den  Homer  bei  der  Wahl  seiner  beiden 
Stoffe  leitete,  hatte  ihn  in  der  Partie  vom  Achillszorn  auch  den 
Sagentheil  wählen  lassen ,  der  in  seiner  grösseren  Hälfte ,  wäh- 
rend der  erste  Held  fehlte  und  vermisst  wurde,  den  andern 
so  viel  Raum  gab,  wie  kein  zweiter.  Insofern  also  die  Dichtung 
sich    bei    ihrem   der   Gennithswelt   entnonuncnen    ITauplgcdaidien 


*)  Diese  schon  olicii  Hiicli  .3  §.  1  a.  E.  angekündigte  Miislening  der 
Episoden  fehlt  leider.  D.  H. 


352 

(locli  zum  Ilcldeiilmcli  dci'  griocliisrlicn  Stäninir,  jn  bcidor  V'öl- 
ker,  gestalten  konnte  inid  sollte,  war  dieser  Stoü'  der  geeignetste. 
Und  so  führt  die  Ilias  allerdings  in  ihrer  bewussten  Anlage  und 
ihrem  wechselvollen  Fortgange  für  das  Nationalinteresse  eine 
Gallerie  einzelner  Helden  fast  aus  allen  Stämmen  auf,  die  in  ver- 
schiedener Weise  hier  und  da  in  den  Vordergrund  treten,  da 
denn  ihr  Eintritt,  wie  Buch  3  §.  4  besprochen  worden  ist,  seiner 
Bedeutung  gemäss  durch  Beschreibung  gehoben  wird.  Ueber- 
scbaun  wir  diese  gewaltige  Reihe! 

INachdem  der  erste  Gesang  die  Verzürnung  und  Absonderung 
des  Ilaupthelden  Achill  erzählt  hat,  und  in  den  drei  nächsten  die 
Erregung  des  vollen  Kriegs  geschehn  ist  —  wo  in  andrer  AVeise 
besonders  charakterisirte  Personen  oder  Akte  auf  einander  folgen 

—  sehen  wir  die  beiden  nächst  Achill  grössten,  den  Diomedes 
im  5.,  den  Aias  im  7.  sich  in  ihrem  Wesen  offenbaren,  wie  dies 
weiter  sich  bewähren  und  zur  Wirkung  kommen  soll.  Dann  im  11. 
den  dritten  unter  den  nächsten  (7,  179 f.),  den  Agamemnon.  Und 
nachdem  in  demselben  Gesänge  Agamemnon,  Diomedes  und 
Odysseus  jeder  nach  tapferem  Kampfe  verwundet  zu  ihren  Zelten 
gefahren,  im  12.  des  Aias  widerhallige  Tapferkeit  dem  Ilektor 
gegenüber  zuerst  recht  hervorgehoben  ist,  so  tritt  im  13.  der 
Griechengott  Poseidon  wie  ein  menschlicher  Führer  hervor,  und 
es  erscheinen  wiederum  die  beiden  Alanten,  weiter  bin  Idomeneus 
und  sein  jMeriones,  im  15.  neben  dem  weiteren  Werk  des  Aias 
dessen  Bruder  Teukros,  Menelaos  und  Antilochos.  Jetzt,  gegen 
Ende  dieses  Gesanges  und  im  Anfang  des  16.  erreicht  die  Nolh 
der  Griechen  schon  den  dritten  Grad  (Annäherung  an  die  Schiffe 
selbst).  Der  vom  bereits  aufmerksamen  Achill  zu  Nestor  gesen- 
dete Palroklos  kommt,  nach  Verweilen  beim  verwundeten  Eury- 
pylos,  zum  Achill  zurück.  Dieses  Freundes  (tragische)  Abseudung 
mit  Achills  Waffen  und  Leuten  bildet  den  Anfang  des  zweiten 
riaupttheils  der  Epopöe  (16.  Ges.).  Nach  des  Patroklos  kurzen 
Erfolgen  und  allbedauertem  Fall  durch  Ilektor  erscheint  dann 
im  17.  beim  Kampf  um  seine  Leiche  der  jetzige  Oberfeldherr, 
Menelaos  (246  ff.),  und  der  grosse  Aias  —  von  Andern  abgesehen 

—  der  wieder  vor  Allen  gegen  ITektor  Stand  hält.  Doch  dem 
Ilektor  gewährt  Zeus  die  Vollendung  seiner  Siegesbahn,  mu"  dass 
er  (269  —  363)  die  Leiche  des  l'atroklos  ihn  nicht  ei'beuten  Hess. 


353 

Mpiiclans  und  Meriones  (717)  nnlimon  sie  auf  ihre  SclmUcrn 
und  trugen  sie,  wälireiid  die  Aianleii  von  den  üiirigen  Aeliiiern 
fast  allein  die  nachdrängenden  Troer  aufhielten,  zu  Achill,  an 
den  Antilochos,  sein  zweiler  Palroklos,  mit  der  Trauerholschaft 
ahgesandt  war.  Nach  allen  den  Genannten  und  jetzt  erst  tritt 
Achill    hervor. 

So  grade  sollte  es  erfolgen  nach  dem  Gedanken  des  erfind- 
samen  Pichters,  in  ^vclchenl  er  die  üherkommenen  Lieder  zum 
Nationalepos ,  zum  Gedicht  von  den  [leiden  und  der  Heerfahrt 
aller  Stämme  und  von  der  ganzen  Gölterwell  gcslaltete.  Allerdings 
leuchtet  nun  in  den  Gesängen  vom  IS.  an  Achill  allein  auf  der 
Scene  hervor,  alle  andern  Helden  des  Achäerheers  verschwinden. 
Aher  diese  unzweifelhafte  Thalsache  konnte  nur  dann  auffällig 
erscheinen,  wenn  man  die  Wahl  gerade  des  Sagentheils  vom  Zorn, 
und  damit  die  Wahl  des  Ilanplhelden  der  Iroischen  Sage,  nicht 
erwogen  und  ehen  so  A\enig  das  nationale  A'erhältniss  der  Dich- 
tung gewürdigt  halte.  Alles  dieses  aher  war  niu*  möglich  in 
Folge  einer  vorgefasslen  Ansicht,  welche  von  Haus  aus  d(;n  Willen 
und  Sinn  henahm,  die  Idee  und  Gestaltung  des  Ganzen  aehtsani 
zu  verfolgen,  und  hesonders  in  diesem  Sloff  (vom  Zorn  und 
seinen  Folgen)  den  sittlichen  Geist  zu  erkennen. '^^)  Es  wirkte  zu 
dieser  Nichtheachtung  freilich  jener  irrige  Grundhegrill"  vom 
Gegensatz  einer  Volkspoesic  zur  Kunstpoesie,  und  die  Avundcrsame 
Vorstellung,  die  echtere  und  schönere  Poesie  sei  in  den  vor  der 
llias  geweseneu  kleinern  Liedern  zu  suchen. 

1 0.   Z  u  r  genaue  r  e  n  B  e  s  t  i  in  ni  u  n  g  des  Geistes  der  1 1  i  a  s. 

Aher  um  so  mehr  hat  Lacliniann.  der  Uiheher  dieser  nega- 
tiven Ansicht,  zur  Darlegung  der  wahn^n  lieschall'enheit  angeregt, 
seihst  hei  einem  sonst  mehrfach  einstimmigen  Verfasser.*"*)  Wir 
werden  hier  ähnlich  Avie  ohen  (lUich  3  ^.  1)  in  den  .\eusserungen 

07)  Laeliniann,  Ik'lraclilniigoii  ühov  die  Ili.is.  Nr.  XXIX.  |iag.  5*.l  f. 
oder  wiederholt  von  Haupt,  IJerliii  1847.  S.  80. 

08)  II  o  rfni  an  n  ,  IM'ügi'.  Lüncliing.  Ost.  IS.">():  ,,!' ri'i  fii  iig  des  von 
L  a  c  h  m  a  n  ii  i'i  li  c  !•  die  letzte  n  G  e  s  ä'ii  ge  der  Mi  ;i  s  g  o  f  ;i  II  t  e  ii  II  r  - 
llieils".  S.  1  f.  „\k'V  erste  dieser  rirüiidc  ist  d.is  gänzliehe  Veiseliwiii- 
den  aller  griecliiselion  Heroen  ausser  Aeliillos.  Hieseni  (Innide  kann  ieli 
auch  nicht  die  mindeste  Giltigkeit  eiiuäuiiien"  u.  s.  w. 

Nitzseli,  (jesth.  ^\.  g-iieili.  E|jos.  23 


354 

Fr.  Jacobsen's  und  Bcrnhardy's  neben  Eingehen  in  die  wölfischen 
Zweifel  die  entschiedenste  Anerkennung  eines  durchgeführten 
Planes,  ja  des  homerischen  Dichtergeistes  finden.  Es  heisst  dort: 
„Dürfen  wir  annehmen,  dass  dem,  was  wir  jetzt  Ilias  nennen,  eine 
umfassendere  poetische  Anlage  zu  Grande  liegt  — ,  so  kann  diese 
offenbar  nichts  Anderes  beabsichtigen  als  die  Verherrlichung  (?) 
des  Ilauptheldcn  der  Griechen".  —  „Es  versteht  sich  von  selbst, 
dass  das  ganze  Gedicht  nur  dann  grossartig  werden  und  er- 
greifend wirken  konnte,  wenn  die  Grundlage  desselben  eine  sitt- 
liche war,  wenn  das  Gefühl  des  Rechts  und  Unrechts  in  Anspruch 
genommen,  und  eine  solche  Kränkung  des  Gefühls  persönlichen 
Werthes  dem  Ganzen  unterlegt  wurde,  das.<5  es  genügend  gerecht- 
fertigt erschien,  wenn  der  grösste  Held  sich  von  der  nationalen 
und  deshalb  heiligen  Sache  in  stolzer  Unbeugsamkeit  zurückzog. 
Jene  Verherrlichung  al)er  ist  einestheils  so  zu  sagen  negativ, 
anderntheils  positiv  von  dem  Dichter  durchgeführt.  Denn  in  den 
ersten  siebenzehn  Rüchern  hat  der  Dichter,  wie  Goethe  treffend 
bemerkt,  die  schwierige  Aufgahe  gelöst,  seinen  Helden  durch 
nichts  Anderes  als  dessen  Unlhütigkeit  in's  helle  Licht  zu  stellen ; 
und  —  so  viel  bleibt  gewiss,  dass  die  ganze  Anlage  des  Gedichts 
darauf  hingehen  musste,  die  Tapferkeit  der  übrigen  Helden  her- 
vorzuheben ,  gerade  um  ihre  Fruchtlosigkeit  im  Vergleiche  mit 
Achilleus  Heldenkraft  um  so  schlagender  nachzuweisen.  Dabei 
findet  denn  jeder  griechische  Hauplheld  Spielraum  für  eine  Ari- 
steia  (Auszeichnung  im  Vorderkampfe),  und  eben  dadurch  wird 
das  Ganze  ein  nationales  Gedicht,  in  dem  fast  jede  griechische 
Landschaft  einen  ihrer  Heroen  gefeiert  fand".  Man  sehe  weiter, 
wie  Achills  Erscheinen  nothwendig  geworden,  wie  auch,  wenn 
die  Verwundungen  des  Agamemnon,  Diomedes,  Odysseus  nicht 
statt  gehabt,  der  Dichter  sie  und  die  andern  hätte  müssen  ver- 
schwinden lassen.  Jene  Aristeien  Aviesen  alle  auf  Achill  hin  und 
verhielten  sich  zum  Auftreten  des  Hauptlielden  wie  eine  Menge 
schöner  Ströme,  welche  einer  nach  den)  andern  ihre  Gewässer 
einem  majestätischen  Hauptslrome  zuführten,  der  auch  ihre  Na- 
men hinwegnehme. 

Diese  Zurechtweisung  giebt  bei  allem  Recht  gegen  Lachmann 
in  der  Zeichnung  der  poetischen  Anlage  und  der  Angabe  der 
Absicht   des  Dichters   nicht   das  Trefl'ende.     Die   anerkannte  sitt- 


355 

liehe  Grundlage  miisste  conoretcr  verfolgt  und  der  verderb- 
liche Zorn  des  Achilleus  nach  den  äussern  Hergängen  und 
den  Wandlungen  im  eigenen  Gcmüth  eingehender  dargelegt  wer- 
den. Das  herechtigte  Selbstgefühl  und  der  berechtigte  Groll 
^varen  abzugrenzen  und  die  Hauptperson  der  Epopöe  in  ibrem 
Wandel  zu  beachten.  So  erst  würde  der  wahre  Grund  jenes  Ver- 
schwindens  der  Andern,  die  eigene  Büssung  der  „stolzen  Unbeug- 
samkeit" durch  den  Tod  des  Freundes  und  die  nun  ül>er  allen  andern 
Kampf  gegen  die  frevele  Stadt  geltende  Rache  für  dessen  Tödtnng 
hervorgetreten  sein.  Durch  Verherrlichung  des  Ilauplbel- 
den  und  Hervorheben  der  Tapferkeit  der  übrigen 
Helden,  um  ihre  Fruchtlosigkeit  im  Vergleich  mit 
Achilleus  Ileldeukraft  nachzuweisen,  sind  der  Gang  des 
Gedichts  und  vollends  die  sittliche  Grundlage  desselben  nicht  an- 
gemessen bezeichnet. 

Der  Sinn,  in  welchem  Homer  den  Zorn  des  Achill  gesungen, 
ist  tiefer  zu  fassen.  „Es  war  dieser  nicht  gleich  in  seinem  er- 
sten Ausbruch,  noch  schon  in  seiner  Verderblichkeit  für  das  Heer 
ein  Gegenstand  für  eine  Dichtung,  deren  tragische  Schön- 
heit alte  Zeilen  und  Völker  bewundern  sollten;  son- 
dern er  ward  dies  erst  durch  seine  Maa  sslosigkeit. 
Die  Schilderung  dieser  I\I  a  a  s  s  1  o  s  i  g  k  e  i  t  also,  aus  wel- 
cher sich  nachher  einfach  und  naturgemäss,  mit  der 
Bestrafung  des  Achilleus  durch  den  Fall  des  Patro- 
klos  die  ganze  weitere  Dichtung  wie  aus  ihrem  Kerne 
V  o  n  s  e  1  b  st  e  n  t  w  i  c  k  e  1 1  e ,  war  eine  der  wesentlichen 
Aufgaben,  und  ihr  bat  sie  (zuerst)  durch  ihre  Darstel- 
lung im  neunten  Gesänge  genügt."'"')  Denselben  tragi- 
schen Achill  erkannte  bei  so  manchem  Älissgrin'  luul  manchem 
Mangel  an  }»oetischem  Verständniss  doch  auch  Gepperl  an:  Ur- 
sprung der  homerischen  Gesänge   1 ,  224.^") 

Die  obige  Berichtigung  Hoilinaiuis  gi(!bt  in  soMeit  den  so 
genannten  Aristeieu  die  richtige  Stellung  als  sie  sie  der  Hau])l- 
handlung  einfügt  und  dadurch  die  andern  sich  hervorlliuenden 
Helden    dem  Haupthelden    unterordnet;    auch    ist   die   eigenthüm- 

G9)  Worte  A.  ,l;icol.'.s  in  Eiilsl.  dor  llias  und  der  Odyssee.   S.  235. 
70)  Die   gröiislon  Vcisclicii  ricjtperl's   luil  IS';igclsl»;icli  (icl.  Anz.  clor 
bayor.  Akad  .    1842.  Kr.  40.   S.  321 — 320  auf-  und  ajigewiesen. 

23* 


356 

lirlie  BeschafTenheil  des  goAviilillcn  Sa  gen  Stoffes  und  der  ihn  aus- 
prägenden Anlage  ganz  richtig  henierkt ,  da  der  llauptheld  im  ganzen 
ersten  Theile  Ges.  1^ — 16.  hei  seiner  (zürnenden)  Abwesenheit  und 
durch  sie  als  solcher  dargestellt  wird.  Die  Grösse  und  Bedeu- 
tung eines  Menschen  wird,  wie  in  allen  Lehensverhältnissen,  wo 
ein  gemeines  Maass  an  Thatkraft  oder  Geist  nicht  ausreicht,  so 
in  der  darstellenden  Poesie  auch  da  und  nicht  am  wenigsten 
ndil])ar,  wo  er  fehlt  und  vermisst  wird. 

Aber  es  galt,  um  die  poetische  Anlage  der  Ilias  nach  dem 
wahren  Befunde  zu  bezeichnen,  erstens  die  Einheit  der  Epopöe, 
wie  sie  von  Homer  zuerst  aus  kleinen  Liedern  gestaltet  und  an- 
ders beseelt  worden,  zu  beachten.  Das  Göttliche  und  das  Mensch- 
liche artete  sich  in  der  Epopöe  verschieden  vom  Früheren,  wie 
in  Buch  2.  §.  3.  a.  E.  und  §.  8.  dargelegt  ist.  In  den  Liedern 
einzelne  Helden  mit  einzelner  Schutzgöttcr  Beistand,  in  der  Epo- 
pöe Völkerkrieg  mit  den  Führern  der  mehren  Schaaren  und  über 
den  Kriegsparteien  der  Menschen  und  der  Gölter  das  Weltregi- 
ment des  höchsten  Zeus.  Dort  nach  Gegenstand  und  Sängergeist 
der  Eine  Held  in  der  Bewährung  seiner  grössern  oder  geschick- 
teren Kraft  verherrlicht,  hier  nach  der  Sage  zumal  der  troischen 
die  mehren  Helden  beider  Parteien  im  Kampf  um  Fall  oder  Bet- 
tung eines  Beichs  mit  seinen  Bundesgenossen.  Dort  der  Eine 
Held  nur  eben  ein  starkherziger  und  gottbegünstigter  Träger  des 
Menschenlooses  und  Better  aus  iVoth,  hier  die  mehren  Helden  in 
dem  aus  Frevel  entstandenen  Krieg,  sie  abgestuft  in  ihrer  Hel- 
denkraft, aber  wie  auch  sie  erregbar  durch  Leidenschaften,  so 
auch  der  grösste  nicht  frei  von  der  Maasslosigkeit  der  Menschen- 
natur. So  geht  die  homerische  Epopöe  bei  ihrem  sittlichen 
Geiste  nicht  auf  Verherrlichung  der  lleldenkraft  wie  die  kleinen 
Lieder,  sondern  fasst  ihre  Aufgabe  tiefer.  Wie  die  Leidenschaft 
des  Frevlers  Paris  den  gerechten  Bachekrieg  hervorgerufen,  aber 
der  Frevel  des  Oherfeldherrn  durch  Kränkung  des  grössten  Hel- 
den seinem  Heer  grosses  Leid  verwirkt,  so  hat  die  Epopöe  vom 
verderblichen  Zorn  Achills  erst  die  Hergänge  während  des  ge- 
rechten Zorns,  daim  die  tragischen  Folgen  der  Maasslosigkeit 
dieses  Zorns  zu  schildern.  Dass  wie  die  obige  Angabe  es  dar- 
stellt das  erregte  Selbstgefühl  in  seinem  Grund  ein  berechtigtes 
war,  ist  für  den  Charakter  des  Haupthelden  nur  der  Ausgangspunkt. 


357 

11.    Der    g r  ö  s s  t  e    Held    in    seiner    M e n s c li e n n a t ii  r    als 
Hauptperson   der  einheitlichen  Epopöe. 

Der  geniale  Dichter  ist  gross  hesonders  im  Verständniss  der 
Meiis^lieiinatur,  und  Homer  dabei  in  Verständniss  und  Darstel- 
lung der  Seelenart  seines  Volks  nnt  seiner  Ehr-  und  Rulnnliehe 
imd  seinem  Begriir  vom  tüchtigen  Manne,  der  natur^^ahr  und 
stark  in  Liebe  und  Ilass  dem  Freunde  es  im  Wohlthun  und 
treuen  Dienst,  dem  Feinde  in  Schaden  und  Rache  zuvorthun 
nmss.^')  Ein  Älusterhild  heider  Eigenschaften  stellte  er  im  Achill 
dar.  Daher  dessen  Wort:  19,  98  — 108.  Hören  wir  darüber 
eine  andere  Stimme:")  ,,Es  muss  sich  ja  wohl,  je  inniger  man 
sich  mit  dem  Gediclite  vertraut  macht  um  so  klarer  die  Ueher- 
zeugung  aufdrängen,  dass  das  Gedicht  von  dem  „verderhlichen 
Zorn "  recht  eigentlich  dai'thun  soll ,  wie  seihst  hei  den  edelsten 
Naturanlagen  der  Mangel  an  Mässigung  in  dem  Selhstgefühl  und 
einem  an  sich  herechtigtcn  Pathos  unheilvolle  Wirkungen  hat, 
wie  die  Nemesis  die  Ueberschreilung  des  Maasses  ahndet".  Es 
folgen  genauere  Nachweisungen. 

Dieses  Selhstgefühl  also  wie  es  sich  gleich  nach  der  Kränkung 
im  Auftrage  an  die  göttliche  Mutler,  1,  408  ff.,  offenhart,  dann  vor 
der  Gesandtschaft,  9,  37S  und  386  f.  und  650 ff.,  und  zum  Patro- 
klos,  11,  609  f.,  und  mit  Rückblick  auf  9,  650  wieder  16,  52  bis 
63.  wiederholt,  es  heischt,  unvermögend  zu  vergessen,  die  em- 
plindlicliste  Niederlage  der  Griechen  und  dadurch  thatsächliche 
Demütliigung  des  Agamemnon  als  allein  genügende  Ausgleichung 
der  ihm  angethanen  Schmach.  Ohne  diesen  Erfolg  werden  die 
reichsten  Anerhietungen  für  Nichts  geachtet  und  ist  alle  Freund- 
lichkeit dessen,  der  so  achtlos  gekrankt  hat,  nur  verhasst  (9, 
378  ff.). 

Von  diesem  stolzen  Zorngefühl  erfüllt  zeigt  der  Dichter  den  Hel- 
den,   den    er   so   wie    er   ihn    als  den  grössten  in  der  Sage  und 


71)  Selon,  Theognis,  Sokrales,  Xenophon:  Sagenp.  77. 

72)  Bäuinleiii,  Piniol.  XI.  3.  417  1".  Derselbe  über  das  Verschwiiulen 
der  andern  Holden.  Zlsclir.  f.  Alt.  185U.  Nr.  22.  S.  109  dass  —  die  übrigen 
Helden  verschwinden,  recIiH'erligt  es  sich  nicht  aus  der  Wahrnelimung, 
dass  diese  —  ilire  Aristeia  bereits  erbaltcn  haben,  und  dass  die  einfache 
(vielmehr  klare  Bilder  gebende)  Kunst  der  Ilias  überhaupt  nur  Einen 
Helden  auf  eimiial  zu  feiern  weiss  (liebt)? 


358 

den  früheren  Liedern  überkam,  so  darstellte  und  daistellen  niusste. 
Nur  konnte  hier  nicht  das  ungebrochen  reine  Lieht  der  Verherr- 
lichung Avalten.  —  Nach  seiner  Weltansicht  und  Erkennfniss 
der  Menschennatur  musste,  wie  der  Eingang  ankündigt,  des  Be- 
gabtesten verderblicher  Zorn  unter  dem  Walten  des  Weltregi- 
ments erst  Genugthuung,  dann  die  aus  seiner  Maasslosigkeit  her- 
vorgehenden Folgen  erfahren.  Den  in  diesem  Sinne  gewähl- 
ten Stoff  bildete  er  zu  einer  Epopöe  der,  was  das  innere  Grund- 
motiv betrifft,  vollkommensten  Einheitlichkeit  aus.  Sie  lindet  sich 
da,  wo  eine  von  einem  Motiv  ausgehende  Bewegung  mit  all  ihrem 
wesentlichen  Wandel  bis  zur  Beruhigung  —  eine  ganze  Hand- 
lung —  an  Einer  Person,  der  Hauptperson,  sich  ereignet.  Der 
Zorn,  der  durch  den  Frevelmuth  [vßgis  1,  203.214.)  des  Ober- 
feldherrn in  der  Brust  des  grössten  Helden  entstanden,  erreicht 
in  derselben  Brust  seine  Beruhigung.  Und  derselbe  erweist  sich 
als  die  Grundlage  der  ganzen  Gliederung  des  Gedichts.  Seine 
Entstehung  gleich  spaltet  die  Handlung  in  zwei  Stätten  und  Aus- 
gangspunkte, die  des  zürnenden  Achill  und  die  des  Griechen- 
heers. —  Durch  die  Sendung  des  Palroklos  beginnen  sie  in  Eins 
zu  gehen  (11,  599  ff.).  Dazu  verursacht  er  den  über  der  ganzen 
Handlung  waltenden  Bath  des  Zeus.  Die  Wirkungen  aber  des 
Zorns  bilden  zwei  Hälften  der  Handlung.  Die  erste  geht  von  Gesang 
1—15.,  da  das  Zorngefühl  unerbittlich  andauert,  Zeus  nach 
seinem  aus  der  Bitte  der  Thetis  frei  gebildeten  Plan  dem  Grie- 
chenheer  Leid  bis  zum  dritten  und  vierten  Stadium  schaflt,  indem 
er  den  Troern  Sieg  gewährt.  Diese  vier  Stadien,  welche  Zeus 
den  zu  den  Schiffen  hinstrebenden  Hektor  durchschreiten  lässt, 
steigern  die  Bedrängniss  des  Griechenheeres  von  einfachem  Gegen- 
satz der  vorherigen  Bangigkeit  der  Troer  vor  Achill  zur  äusscr- 
slen  Gefahr.  Das  erste  Ilektors  Vordringen  bis  nahe  der  Mauer, 
das  zweite  die  Verwundung  fünf  bedeutender  griechischer  Helden 
besonders  des  Agamemnon,  Diomedes  utul  Odysseus,  dann  des 
Arztes  Machaon  und  des  Eurypylos,  das  dritte  Durchbruch 
der  Mauer  —  worauf  ein  Intermezzo  —  und  Herstellung  des 
vorigen  Stands,  das  vierte  das  Vordringen  zu  den  Schiffen  und  An- 
zünden eines  Schiffes.  So  in  Anfang  des  16.  Gesanges.  In  dem- 
selben beginnt  die  andere  Hälfte.  liier  wird  das  Zorn-  und 
Selbstgefühl  tragisch,  und  wird  es  in  Folge  des  Berichts  und  der 


359 

Anspraclje  des  Patroklos,  der  selbst  als  tragische  Person  des 
Achill  halbe  Nachgiebigkeit  in's  Werk  setzt  und  als  deren  Opfer 
fallen  soll. 

In  Achill  lebt  nämlich  allerdings  das  Gefühl  der  erfahrenen 
Kränkung  noch,  wie  es  von  Anfang  empfindliches  Unheil  zur 
Sühne  heischte.  Nun  sagt  er  selbst  im  Gebet  an  Zeus,  237:  „hast 
mü-  Ehre  verlichn  und  die  Danaer  sdnnählich  gezüchtigt",  er  erkennt 
an,  dass  man  nicht  unablässig  grollen  dürfe  (60),  und  würde 
sich  vielleicht  entschlossen  haben,  selbst  zur  Hilfe  zu  gehn.  Schon 
ist  er  auch  nicht  mehr  ohneBesorgniss  für  die  Schilfe  —  und  vollends 
als  eben  eines  wirklich  aufleuchtet  (122).  Alier  freilich  er  hat  vor  den 
Abgesandten  des  Agamemnon  (9,  650)  seiner  Rückkehr  zum  Heer 
einen  Termin  gesetzt  „wenn  Hektor  zu  seinen  Schiffen  käme"  — 
der  ist  noch  nicht  eingetreten,  und  ein  Achill  nimmt  Nichts  zurück.''^) 
Da,  in  dieser  zwiespältigen  Stimmung,  bringt  ihm  Patroklos  (von 
Nestor  eingegeben,  11,  796)  den  Vorschlag  eines  Mittelwegs,  er 
möge  ihm  seine  Waffen  und  Leute  geben  und  so,  wenn  er  selbst 
nicht  wolle,  ihn  statt  seiner  das  drohende  Verderben  abwehren  lassen. 
Achill  geht  auf  diesen  Vorschlag  ein,  indem  er  der  Gefahr,  in 
welche  er  den  Freund  sendet  —  tragisch  und  charakteristisch 
für  seine  Ehrsucht  zugleich  —  durch  eine  Vorschrift  vorzubeu- 
gen sucht,  wodurch  er  sich  die  grössere  Ehre  wahrt  (16,  87 
bis  90).  Der  Freund  befolgt  sie  nicht,  denn  Zeus  hat  seinen 
Tod  beschlossen;  er  fällt  durch  Ilektor.  Nun  erfolgt,  was  für 
den  Geist  des  Gedichts  so  sprechend  ist:  Der  Unerbittliche  tritt 
zuerst  wieder  hervor  um  der  Leiche  des  Freundes  willen  (18, 
170  f.  503  fr.).     Und  jetzt  da  er  dem  Theuersten  ein  Hort  nicht 

73)  Unsircitig  weist  10,  61  f.  auf  U,  650  zurück,  sowie  j;i  die  friiliere 
Gesancllscliafl  gerade  Lei  der  Versöluiung,  19,  140 f.,  ausdnicklich  er- 
wähnt wird.  Das  rjzoi  scprjv  yt  mag,  wie  Aiislarcli  im  Schuliuu  bihvm\%r]v 
erklärt,  immerhin  hier  wie  11.  22,  280  niclil  anders  als  Od.  11,  430.  14, 
176.  11.20,  348.  22,  331  zu  verstehen  sein:  ich  dachte,  nicht  wie 
Nägclsbach  zu  II.  3,  215  ich  sagte;  da  er  denn  zuletzt  doch  nicht  selbst  geht, 
und  einen  andern  Grund,  der  ihn  zurückliielle,  nicht  hat,  da  auch  giauuna- 
lisch  das  lyroi,  freilich  oder  wiewohl  den  Gegensalz  bildet  zu  docli 
das  Geschehene  lassen  wirruhn;  so  gilt  jener  Bezug  unläiigbar. 
Es  wird  eben  daran,  weil  er  jetzt  seinen  früheren  Gedanken  durcii  die  Tliat 
feslliäU,  jenes  als  das  damals  Gesagte  anerkannt.  So  urllu'ill  auch  Bä  um- 
lein,  Philol.  XI.  3,  423,  irrig  dagegen  Scliömann,  M.  Jahrb.  f.  Philol. 
B.  LXIX.  1.  S.  30. 


360 

gewesen,  verwüiiselil  er  iillcn  Zorn  der  Well,  nntl  den  seinigeu 
siunnil  dessen  Anl.iss,  die  BriscTs,  und  h'wXvl  niil  entseliieden- 
sler  Selhstonklage  dem  Ayjiniemnon  Versöhnung,  18,  107  — 111. 
19,  56  —  60.  67  1'.  Nun  hat  er  eigenes  Leid  zu  räehen.  Da 
tritt  er  denn  wolil  in  seiner  Mäclitigkeit  hervor.  —  Zeus  hestä- 
tigt  sie,  indem  er  das  frühere  Verhot  aufhehend  die  beiderseitigen 
Götter  zum  Schlaehtleld  gehn  lässt,  damit  dem  Aehill  Sehwierig- 
keiten  bereitet  Averden,  und  er  nicht  gar  wider  die  Schieksals- 
ordnung  seilen  jetzt  Troia  einnehme  (20,  36  {!'.).  —  Aber  seine 
Hilfe  wird  von  A  i  a  s  nicht  Ij  e  i  A  b  ^^  e  h  r  d  e  s  R  r  a  n  d  e  s  v  o  n 
den  Schiffen,  sondern  zur  Rettung  der  Leiche  seines 
Patroklos  gewünscht,  nur  \\ird  er,  wie  Menehios  meint,  da 
Ileklor  seine  Waflen  hat,  nicht  kommen  können  (17,  709 f,);  erst 
mit  Göllerliilfe  ist  es  die  Stimme  des  GewaUigen,  welche  die 
Leiche  rettet.  Der  jetzt  so  eigene  rächerische  Zorn  erreicht 
sein  Ziel ,  Achill  erlegt  den  Flektor ,  aber  hier  wiederum  niaass- 
los  kounnt  er  erst  durch  des  Priamos  Ansprache  und  Mahnung 
an  den  Vater  zur  Anerkennung  des  menschlichen  Looses  und  zur 
Menschlichkeit,    24,  486.  507  f. 

Nach  diesem  Gange  des  Gedichts  wird  d(!r  grösste  Held  dar- 
in keineswegs  im  Sinne  des  reinen  Lohpreises  nacii  seiner  Alle 
überragenden  Held(>ngrösse  gedacht  und  wirksam  gezeigt,  sondern 
der  Dichter  hat  es  nicht  minder  n)it  den  Schwächen  dieser  oh 
auch  begabtesten  Heldeunatur  als  mit  ihrer  Herrlichkeit  zu  thun. 
Ist  die  Menschennatur  auch  berechtigte  Empfindungen  zu  über- 
treiben geneigt  und  schallt  sie  so  Andern  und  sich  selbst  Unheil, 
so  hat  der  tiefe  Kenner  derselben  das  in  der  Sage  und  den 
früheren  Liedern  überlieferte  Reispiel,  dass  auch  und  gerade  eine 
solche  Heldenseele  in  ihrem  Selbstgefühl  nicht  Maass  hielt  und 
dafür  büsste,  auf  das  Sinnigste  ausgeprägt. 

22.    Fortsetzung.      Die   andern   Helden    als   Neben- 
p  ersonen. 

Ebenso  ist  die  Unterordnung  der  andern  Helden  vom  Dich- 
ter nicht  einfach  in  dem  Sinn  behandelt,  den  Hanpthelden  zu 
heben.  Ihre  Erweisung  in  der  ganzen  Handlung  und  ihre  Stellung 
zu  der  Hauptperson  ist  nach  gleichfalls  in  den  Liedern  gegebenen 
Verhältnissen  wesentlich  anders  und  ebenso  mehrseitig  ausgeprägt 


361 

wie  tlie  scinige.  In  doni  Wandel  der  Iliindlnng  lässl  er  sie  ilire 
verschiedenen  Cliaraktere  In'llKiüyen,  nnd  nicht  sowohl  ihre 
JMangelliafligkeit  als  ihre  verscliieden  gearteten  und  abgestillten 
Stärken,    Alles  unter  Zeus'  Walten,    erweisen. 

Wohl  also  bildet  die  Anerkennung  der  mächtigen  Kraft  des 
Achilleus  die  allgemeine  Grundlage  und  V\)raussetzung  iin  ganzen 
Verlauf  der  Dichtung.  Sie  macht  sich  in  lieiden  Ilaupttheilen  in 
der  Lage  und  dem  Verhalten  der  Besten  nach  ihm  mittelbar 
oder  unmittelbar  geltend;  in  der  lebensvollen  Darstellung  durch 
die  Handlung  und  mittels  Reflexes  aus  dem  Bezeigen  oder  den 
Aeusserungen  Anderer  wird  der  Ilauptheld  und  werden  die  neben 
ihm  Aufgeführten  geschildert.  Aber  das  Thema  des  Gedichts  ist 
ja  nicht  die  Sieghaftigkeit  des  die  Andern  Ueberragenden,  son- 
dern der  Zorn,  der  erst  dem  Griechenheer  dann  ihm  selbst  ver- 
derbliche Zorn  des  Ileldengemüths.  Es  ist  also  keine  richtige 
Bezeichnung,  wenn  man  in  der  Stellung  der  Andern  nur  die 
Unzulänglichkeit  zur  Abwendung  der  Noth  hervorhebt.  Allerdings 
gab  der  glücklich  gewählte  Sagenlheil  eben  zur  Aufführimg  eines 
Aias,  Diomedes,  Agamemnon  u.  a.  Stamndielden  Baum,  da  es  da- 
gegen vor  dem  Eintritt  der  Pest  und  der  Altsonderung  des  Achill 
einen  Gesanuutkrieg  und  vor  Troia  selbst  noch  nicht  gegeben 
hatte.  Aber  Homer  wusste  in  seiner  Anlage  und  allmähligen 
Ausdichlung  dieses  Stolfs  das  Nationalinteresse  mit  sittlicher  und 
nationalgläubiger  Lebensansicht  zu  vermählen.  In  seinem  gross- 
arligen  Plan  thateu  sich  neben  Achill  Viele  rühmlich  hervor, 
aber  ihre  ganze  wechselnde  Theilnahme  geschah  unter  den 
Wirkungen  jenes  obwaltenden  Zorns,  und  so  bewährten  sie  ihre 
Tüchtigkeit  nach  der  Verschiedenheit  jener  Wirkungen  auch 
verschieden.  Wird  doch  die  Noth  selbst  in  den  Gesäugen  vom 
tragischen  Achill  eine  ganz  andere,  als  sie  vorher  in  der  Zeit 
gewesen,  da  der  Gekränkte  sie  unbeugsam  wachsen  Hess,  utui  ist 
llektor  nachmals  ein  anderer,  in  jener  ersten  Zeit  bis  zu  den 
Schilfen  vorzudringen  und  sie  anzuzünden  bestreik,  in  der  folgen- 
den den  Leichnam  des  Patroklos  zu  erbeuten.  Sonach  haben 
die  andern  Helden  im  ersten  Gange  iler  Handlung  die  Aufgabe, 
dem  allgemeinen  Unheil  des  Griechenheers  tapfer  zu  widerstehn, 
im  zweiten  die  Leiche  zu  verlheidigen.  Es  liegt  vor:  in  der 
Epoche    des  Zorns    war    der   Uachekampf  gegen   Troia   für   die 


362 

Griechen  hinghin  mehr  Verlheidigungskrieg  als  Angriffskrieg,  und 
von  selbst  sagt  man  sich,  dass  «ie  Charakterkrafl  überhaupt  im 
Unglück,  so  Tapferkeit  in  Abwehr  und  Widerstand  sich  gar  wohl 
und  besonders  erweisen  kaini. 

Die  griechische  Sprache  hat  in  Einem  Worlstannn  die  Be- 
griffe Aushalten  und  Wagen  vereinigt  [rkävai).  Sie  bezeichnet 
den  Heldenckarakter  im  Herakles  durch  mehre  davon  gebildete 
Beiwörter,  und  Odysseus  führt  das  eine  mit  Herakles  gemein 
{noXvxlag).  Homer  hat  in  den  Haupthelden  seiner  zwei  Epo- 
pöen die  zwiefache  Art  der  Tapferkeit  dargestellt,  aber  auch  in 
der  Ilias  und  in  ihrem  ersten  Theil  an  den  beiden  grössten  nach 
Achill,  an  Dionjcdcs  und  Aias,  Bilder  der  Angriffs-  und  der  stand- 
haltenden Tapferkeit  neben  einander  gezeichnet,  und  nachdem 
Aias  in  seiner  Art  die  widerhaltige  bewiesen,  tritt  Achill  in  der 
angreifenden  hervor. 

Hierbei  kommt  bei  der  Auffassung  der  Ilias  als  Nationalge- 
dicht ein  Anderes  gar  sehr  in  Betracht,  das  Walten  der  höhereu 
Mächte  überhaupt,  und  hier  bei  dem  in  seiner  Grundursache 
gerechten  Rachekrieg  die  Darstellung  des  höchsten  Zeus,  der  in 
dem  mit  seiner  Bewilligung  unternommenen  Heerzuge  jetzt  den 
Anführer  des  schuldigen  Volks  langhin  siegen  lässt.  So  musste 
Homer  den  Zeus  neben  der  eben  zeitweiligen  Begünstigung  der 
J'einde    den   künftigen  Sieg  der  Griechen  berücksichtigen  lassen. 

Sodann  ist  Homers  Musterepopöe  in  Bezug  auf  Haupt-  und 
Nebenpersonen  als  solche  zu  zeigen.  Das  durchgehende  Verhiilt- 
niss  der  andern  Helden  zu  Achill  ist  ganz  deutlich  als  das  ge- 
setzmässige  der  Nebenpersonen  zur  Hauptperson  zu  erkennen; 
nur  ist  der  Geist  der  von  Homer  vollends  ethisch  beseelten 
Epopöe  die  Voraussetzung,  Die  Hauptperson  verursacht  oder 
bietet  den  Stand  und  die  obwaltenden  Verhältnisse,  unter  denen 
die  IMenschenwelt  sich  dermalen  bewegt.  Die  Nebenpersonen 
müssen  in  einem  Gedicht  einheitlicher  Handlung  immer  unter 
deni,  Einllusse  jener  Verhältnisse  handelnd  erscheinen.  Eben 
dadurch  ündet  die  vollkommenste  Einheitlichkeit  in  einer  Epopöe 
statt,  dass  sämmtlichc  Phasen  des  Hergangs  im  Verhalten,  Thun 
und  Leiden  auch  der  mehren  Nehenpersone»  in  Bezug  zu  einer 
Hauptperson  stehn,  mithin  die  Entwickelung  des  Motivs  auch  als 
Geschichte  jener  Person  gelten  kann,     Diese  Beschalfenheit  muss 


363 

im  Sagentlieil  begründel  sein ;  von  der  troischen  Sage  gaben  sie 
nur  tlic  Stolle  der  Ilias,  der  Odyssee  und  der  von  Acliills  letztem 
Lebensakt,  der  der  Aetbiopis. 

Nach  diesem  Bezüge  nuisste  also  Homer  die  überkommenen 
Lieder,  welche  andere  einzelne  Vorkämi)fer  besungen  hatten,  für 
sein  neues  Ganze  verwenden  und  undtilden. 

Im  Verlauf  der  Handlung,  die  sich  von  der  Kränkung  des 
Achill  her  entwickelt,  sehn  wir  vier  auf  einander  folgende  Pha- 
sen der  Hauptperson  und  der  nationalen  Nebenpersonen.  Die 
erste  Gesang  2 — 7  an  dem  Tage,  wo  Zeus  die  Ausführung  des 
gefassten  Plans  noch  aufschiebt,  die  Kriegs-  und  Schutzgötlcr  noch 
wirken;  die  zweite  8 — 13  nach  dem  Verbot  Anfang  8  die  drei 
bis  vier  Stadien  der  Noth  hindurch;  die  dritte  in  16  und  17  bei 
dem  Hervortreten  und  Fall  des  Patroklos  besonders  dem  Kampf 
um  seine  Leiche;  die  vierte  18 — 24,  als  Achill  im  jetzt  rächeii- 
schen  Zorn  in  den  Vordergrund  tritt  und  allein  kämpft.  Die 
Gestaltung  aller  dieser  ist  durch  das  Verhalten  des  obwaltenden 
Zeus  bedingt  und  gemodelt,  vornehmlich  hinsichtlich  der  andern 
Helden  neben  Achill.  Zeus  mit  seiner  Hoheit  und  3Iacht  ül)er 
alle  Parteien  der  Götter  und  Menschen,  der  Lenker  aller  Erfolge, 
hat  der  Thetis  in  der  Genugthuung  für  ihren  Sohn  durch  Be- 
günstigung der  Troer  ein  gar  schwer  Auszuführendes  zugesagt. 
Die  Bitte  brachte  ihn  in  Conflict  mit  Here,  mit  Athene  und  Po- 
seidon, den  Griechengöttern,  und  drängle  ihn,  den  an  Zahl  und 
tüchtigen  Streitern  schwächeren  Troern  (8,  56 f.)  Uebermacht 
über  das  Griechenheer  zu  verleihen.  Dieses  an  Zahl  überlegen, 
machte,  wenn  auch  der  mächtigste  Arm  fehlte,  auch  im  Einzelnen 
durch  seine  übrigen  Helden,  wie  sie  z.  B.  7,  16211.  und  8,  261  ff. 
zu  neun  sich  melden,  dem  Troischen  mit  seinen  12,  88  — 104 
aufgezählten  Besten  den  Sieg  gar  sehr  streitig.  So  konnte  nur 
entschiedene  Gunst  des  höchsten  Schadners  des  Kriegs  (4,  84) 
dem  schwächeren  Heer  Erfolge  sichern.  Die  Griechengötter  mussleii 
durch  ein  Machtgebot  von  ihren  Schützlingen  fern  gehalten  wer- 
den, wie  8  z.  A.  es  ausgesprochen  wird.  Die  aus  Sage  und 
Liedern  längst  ruchtbaren  Helden  musste  der  Zeus  Homers  durch 
seine  Wetter  schrecken  oder  mittels  Fernwirkung  ihre  ^Va^■en 
brechen  oder  ihren  Muth  einschüchtern  und  lähmen.  Dies  ge- 
schieht öfters  in  der  ganzen  Zeit,  da  des  Zeus  Beistand  den  Hek- 


364 

tor  iillinälilich  l)is  in  die  Niüie,  des  Achill  fi'dirl,  und  wenn  am  erslen 
(iliickslaj^e  des  Ilektor  am  meisten,  doch  auch  spiiter  wieder  und 
selltst  (k-m  Aias.")  Nur  erscheinen  jene  nach  der  nalurgemassen 
Darstellung  solcher  Helden  und  des  Kriegsj^anges  nicht  stetig  wie 
gebannt,  sondern  sie  erweisen  sich  nach  ihren  (Jiarakleren  liicli- 
lig  auch  in  der  sciiweren  Zeit  und  in  heiden  Kämpfen,  dem 
gegen  das  allgemeine  Unheil  und  dem  lür  Patroklos  Leichnam; 
der  natürliche  Gang  der  Schlachten  aher  ist  der,  dass  die  Wen- 
dung Zinn  Siege  der  Einen,  oder  die  Entscheidung  lür  Ilektor 
erst  nach  einer  Zeil  des  noch  gleichstehenden  Kampfes  einlrill.^-) 
Der  Moment  dieser  Wendung  wird  l»ei  beiden  Ilauptentscheidungen 
vom  Dichter  in  der  plastischen  Form  der  sinkenden  Waagschale 
erzidilt  (8,  69  vgl.  auch  die  grosse  Darstellung  22,  209  —  212). 

Hierzu  konnnt  im  Verhalten  des  Zeus  gegen  das  Griechen- 
Iieer  und  dessen  Helden  ein  Anderes  noch,  welches  aus  des  Gottes 
Gedanken  vom  ganzen  Rachekrieg  hervorgehl,  der  nach  seiner 
Ursache  und  allen  Umständen  zuletzt  mit  der  Eroberung  der  Königs- 
stadt enden  nuiss  und  A\ird.  Die  vom  Achillszorn  charakterisirte 
Epoche  dieses  Kiieges  hat  selber  in  ihrer  letzten  Phase  ein  für 
seim-n  Erfolg  höchst  bedeutendes  Ereigniss,  den  Tod  des  Hektor, 
uiul    im    Hinlergrund    der    llias    steht  ja    der    Untergang   Troias. 

Es  ist  als  eine  Erweisung  des  Dichtergenius  anzuerkennen, 
dass  gerade  Hektor,  der  Hort  Troias,  es  ist,  der  das  „Einst  wird 
lionunen  der  Tag"  etc.  6,  448  ausspricht.  So  liitt  auch  bei 
dessen  Gefahr  dem  Priamos  das  grause  Bild  der  eroberten  Stadt 
und  seines  eigenen  Todes  vor  die  Seele,  ja  beim  wirklichen 
Falle  des  Hektor  erheben  Vater  und  Mutler  und  alles  Volk  Weh- 
klage als  stände  die  Stadt  schon  in  Flammen  (22,  4081'.).  Es 
ist  das  der  Sinn  und  die  Arl  dieses  Dichtergenius,  dass  er  — 
freilich  nach  der  Gunst  des  Stoffes  —  die  Grossen  und  die  Ver- 
hältnisse psycliologisch  fein  componirt.  So  eben  wird  das  Dild 
des  Kämpfers  für  das  Vaterland  durch  den  rührenden  Zug  jenes 
Blicks  in  die  Zukunft  eigenlbümlicb  gehoben. 

Die  längst  besungene  Sage  von  diesem  Ausgang  des  Kampfes 


74)  8,  75—79.   133.   170.   —   11,  406.  544.  550.   —   17,  595  und 
97,  625.  —  WafTen  3,  36311"    15,  461  f. 

75)  8,  66  ir.   11,  8411".  336.   12,  436. 


365 

Avnr  dem  Dirhter  und  srinon  Ilörorn  bcwusst.  Naoli  allem 
Glauben  musste  Zeus  \vie  den  ganzen  Haehekrieg  zugelassen,  so 
die  endliche  Zerstörung  der  Stadt  und  des  Reichs  gewollt  haben. 
Wir  hören  jene  Bewilligung  in  der  Verhandlung  des  Zeus  und 
der  Ilere,  im  4.  Buche,  wo  er  bei  schlauen  Hintergedanken  mit  Ilere 
die  Fortsetzung  des  Kriegs  vereinbart,  den  jene  zu  fiunslen  der 
Atreiden,  er  zur  Genugthuung  für  Achill  will.  Ceberninimt  er 
aber  auch  diese  Rache,  frei  im  Entschlüsse  und  stellt  er  seine  Er- 
füllung der  nur  allgemein  auf  Unglück  der  Achäer  lautenden 
Bitte  nach  Zeitdauer  und  Umständen  fest,  so  berücksichligl  er 
doch  eben  die  künftige  Wendung  zum  Siege  der  Achäer.  Nach 
aller  Sage  und  Poesie  hatte  ihr  Heer  vom  Falle  Heklors  an  <lie 
Olierband  behalten,  und  wurde,  obschon  auch  Achill  das  Geschick 
ei'reicht  und,  migeachtet  neuer  Vorkämpfer  auf  beiden  Seiten, 
Troia  zerstört. 

Der  höchste  Gott,  welcher  nach  dem  Glauben  ursprünglich 
den  Kriegszug  bewilligt  und  all  dessen  Gang  und  Wandel  bewal- 
tet hatte,  ist  durch  die  lebensvolle  Plastik  des  Nationaldichlers 
vollkommen  deutlich  in  der  massvollen  Haltung,  welche  die  Par- 
teien der  Götter  und  Menschen  und  die  eigenlbümlichen  Wechsel 
verlangten.  Erst  durch  die  Versuche  der  Griechengötter,  imd 
namentlich  der  widerspänstigen  Gemahlin,  werden  seine  Er- 
klärungen hervorgerufen  und  treten  daher  im  Verlauf  der  Ereig- 
nisse ein ,  aber  sie  setzen  der  Bedrängniss  der  Griechen  und 
llektors  Erfolgen  eine  Grenze.  Es  soll  der  gewaltige  Heklor 
nicht  eher  rasten  vom  Streit,  „Bis  sich  erhebt  von  den  Schillen  der 
flüchtige  Renner  Achilleus"  (8,  470  —  4731.).  Was  der  Streiter 
für's  Vaterland  von  Anfang  wollte  und  durch  die  vier  Stadien  er- 
strebte, das  lässt  ihn  Zeus  zur  Genugthuung  Achills  erreichen,  zu 
den  Schiflen  vorzudringen  und  eines  in  Brand  stecken  —  das 
Patroklos  dann  löscht.  Es  wird  dies  öüers  nur  Vordringen  oder 
Flucht  der  Achäer  bis  zu  den  SchiHen  genannt,  11,  IW.i.  15, 
61-63: 

—  Doch  die  Achäer 
Troilt'  er  (Apoilon)  von  ncueni  ziinick  iiiiniiiiinliclie  Schrecken  erregend, 
l>is  sie  llielionden  L.iiir.s  ,iiir  die  limlcrscIiiHe  sicli  werfen. 

Vgl.  11,  311.  —  denn  von  der  intcrpolirten  Stelle  sind  jen(!  Verse 


366 

(loch  wolil  pcht.'^)  Dassellx^  gicld  der  dein  Ajtollon  sellist  or- 
llieilte  Auftrag  sanimt  einer  allgemeinen  Andeutung  der  künltigcn 
Wendung  15.'  232-235. 

Und  so  lange  belebe  die  Kraft  ihm  bis  die  Acliäer 
Fliehend  daher  die  Schiff'  und  den  Hcllespontos  erreichen. 
Fürder  gedenk'  ich  selbst  mit  Wort  und  Tliat  es  zu  ordnen, 
Dass  sich  Achaias  Heer  von  der  Arbeit  wieder  erhole. 

Beides,  was  Zeus  in  seinem  der  Thetis  Verlangen  regelnden 
Plan  als  letztes  Stadium  des  Ilektor  bestimmt  hat,  und  das,  was 
er  dann  weiter  erwirken  will,  sagt  der  Dichter,  als  der  Erfolg 
ganz  nahe  bevorsteht,  mit  eignen  Worten,  und  ])ezeirhnet  dabei 
das  löwenmuthige  Vordringen  der  Troer  als  Vollzug  der  Auf- 
träge des   Zeus:    15,  592  —  604. 

Aber  das  troische  Volk,  wie  beiilcverscblingende  Löwen, 
Stürmt  an  die  Schiffe  liinan,  des  Zeus  Aufträge  vollziehend. 
Der  zu  mächtiger  Kraft  sie  weckte,  der  Scliaar  dci-  Achäor, 
Denn  er  hatte  l)esch]ossen,  dem  llektor,  Priamos  Sohne, 
Ruhm  zu  verleilien,  dass  er  ni  die  bauchigen  Schiffe  gewalt'ges 
Feuer  iiinschleudrc  zum  Brand  und  ganz  ausführte  der  Thetis 
Unheilbringenden  Wunsch,  denn  darauf  harite  Kronion,  . 

Leuchtend  im  Glänze  der  Flammen  ein  Schiff  auflodern  zu  sehen. 
Darauf  wollte  der  Golt  dann  Rückwärtsschlag  von  den  Schiffen 
Schaffen  dem  Iroischen  Heer,  und  Kampfglück  so  den  Achäern. 

Thetis  Wunsch  lautete  nur  allgemein  auf  Büssung  der  Achäer 
und  damit  Ehre  für  ihren  Sohn.  Zeus  gab  ihm  thatsächliche  Ge- 
staU,  indem  er  den  llektor  bis  zum  Anzünden  eines  Schiffes  gelangen 
liess.  Eines  aufleuchten  zu  sehen,  darauf  war  er  in  jenem  Zeit- 
punkte gespannt  und  alsbald  geschah  es  so.     llektor  ist  von   15, 

76)  Beide  Stellen,  8, 470  ff.  und  15, 56  fl".,  erfuiu-cn  als  durch  Zusätze  ent- 
stellt die  Kritik  der  Alexandriner.  Dass  4,  875  und  876  wie  nach  dem  Vorher- 
gehenden überflüssig,  so  nach  Sprache  und  Inhalt  unecht  sind,  hat  Fasi 
vollends  dargelhan.  Von  der  andern  Stelle  erklärten  Arislophanes  und 
Arislarcli  alle  die  22  Verse  56 — 77  für  eingeschoben;  Zenodot  (Scli.  zu  64) 
verwarf  nach  seiner  Gewofudicit  die  t4  von  64  —  77  durch  gänzliches  Weg- 
lassen. Rekl<er  undFäsi  lielialtcii  alle,  Bäumlein  davon  nur  56 — 60,  die  folgen- 
den nicht.  Es  dürfte  weiter  zu  untersclieidcn  und  nurdie64— 77,  vorallen 
69  —  71,  wegen  des  Neutrum  llinn  undder  unpassenden  iS'ennung  der  einzigen 
Athene  als  unecht  zu  betrachten  sein.  Schicklich  beschränken  wir  die  Worte 
des  Zeus  auf  das,  was  eben  im  Werke  ist.  Der  Rhapsode  hat  an  ,,auf  die 
Ruderschiffe  sich  werfen"  angekiu'i|ill,  aber  ungehöriger  und  unrichtiger 
Weise.  Nur  ilie  Einschärfun'^  des  I'.eab.siclilii'lcn  scheint  liier  antremessen. 


367 

415  f.  an  mit  seinen  Troern  im  Strelx-n,  die  ScbilFe  anzuznnden 
cegren  Aias  nnd   die  Seinen ;   nachdem  erst  der  Letzlere  einen  mit 

Do 

Bränden  nalienden  Troer  getödtet,  dann  ein  allgemeiner  AngrifTder 
Troer  auf  die  Reihe  der  Schiffe  geschehn  ist  und  es  besonders  heissen 
Kampf  gegeben,  die  Achäer  aber  weichen  müssen  —  auch  hier 
Einschiebsel")  —  geht  Heklor  auf  ein  einzelnes  Schiff  los 
und,  dessen  Spiegel  anpackend,  ruft  er  716 — 718:  „Feuer  her- 
bei! und  erhebt  in  geschlossenen  Reihen  den  Schlachtruf!"  Aias 
muss  auch  weichen,  aber  wehrt  ab,  was  er  kann  (Ges.  15.  a.  E.).  Im 
Fortgang  16,  102  ff.  kappt  Rektor  ihm  die  Lanze,  dass  er  Nichts  weiter 
vermag  und:  „da  warfen  sie  loderndes  Feuer  doch  in  das  Schiff;  bald 
schlang  sich  umher  unlöschbare  Lohe.  Also  flammte  die  Glut  um  den 
Spiegel  empor;  der  Peleide  schlug  sich  dabei  an  die  Hüf- 
ten und  sprach  zu  dem  Freunde  Patroklos:  Auf  denn! 
Schon  ja  gewahr'  ich  der  Flammen  verheerende  W u t h 
an  den  Schiffen;  „dass  sie  nicht  uns  so  tilgen  die  Schiff 
unwendbar  es  werde.  Waffne  Dich  ohne  Verzug"  etc. 
—  Wir  sehn,  hier  in  dieser  drängenden  Eile,  mit  welcher  der 
bisher  unthätig  Zusehende  jetzt  seinen  Patroklos  und  207  ff.  seine 
Myrmidonen  antreibt,  das  Unheil  abzuwenden,  darin  geht,  was 
Zeus  8 ,  473.  vorbestimmte,  das  oQ&ai,  sich  Erheben  oder  Erregt- 
werden des  Achill  schon  im  ersten  Grade  in  Erfüllung  —  solche 
Aufregung  und  vollends  eines  Achill  musste  ja  erst  ihre  Ursache 
finden  und  Gestalt  annehmen ,  und  diese  Ursache  steigerte  sich. 
Im  zweiten  vollen  Grade  tritt  sie  ein,  da  er  die  Leiche  zu  ret- 
ten persönlich  hervortritt.  Und  es  ist  da,  18,  148  ff.,  nahe  daran, 
dass  die  selbstische  Bedingung  erfolgte,  unter  welcher  Achill,  9, 
652.,  wieder  helfen  wollte.  Rektor  geht  in  Verfolgung  der  Leiche 
wie  die  Träger  dieser  ge'^en  die  Zelte  der  Mvrmidonen  vor.") 


77)  Am  siohllichston  in  der  Soiilciiz  dos  floktor  498  iiml  400:  „Wenn 
die  Achäer  zu  Schilf  heimziehn  in  der  Väter  (lelilde".  Die  Scliillc  soUrn 
ja  eben  vertilgt  werden.  Aber  hei  aller  Beachtung  der  classischcn  Ruhe 
in  der  Scliilderung  und  wie  der  Dicliter  das  weitere  Schlachtfeld  itcrück- 
sichligt,  nuissen  wir,  um  den  Fortschritt  zu  wahren,  die  ganze  Sleiio, 
514 — 501,  ja,  vielleicht  auch  die  Worte  des  Aias  von  501  an,  für  uncdil 
halten,  so  dass  das  ganze  Einsciiichscl  408 — 501  undassle.  Bei  der 
Musterung  (h,-r  inlcrpolirlcn  Slolh'ii  sind  die  (iründe  genauer  anzugehen. 

78)  Die  Verinulhung  des  Rec.  in  Blätl.  f.  liüer.  Unterh.  44.  Nr.  127. 
S.  507,  die  Stelle  18,   148 — -231  von  einem  l)och  die  Achäer  zum 


368 

Wiircn  nun  die  ol)if^('n  Verse,  15,  69 — 71,  statt  angenschoin- 
licli  unecht  von  Homer  selbst,  so  liälte  der  Dichter  den  Zeus 
die  künftigen  Ereignisse  sogar  über  die  llias  hinaus  verkündigen 
lassen.  So  aber  giebt  seine  fortschreitende  Ilandhnig  selbst  nur 
weiterhin  die  Siegeshahn  des  Achill  und  als  Vorzeichen  des  künf- 
tigen Ausgangs  den  Fall  Ilektors.  Doch  der  Gedanke  an  die  im 
Hintergrund  stehende  Ueberwaltigung  Troias  hat  ihn  vermocht, 
den  obwaltenden  Gott  schon  während  der  Büssungszeit  durch 
Ilektor  mit  Schonung  und  Mässigung  vei'fahren  zu  lassen. 

Es  wird  damit  eine  Ausdeutung  der  Erzählung  ausgesprochen 
ahcr  keine  un])egründete.  —  Zeus  sorgt  dafür,  dass  das  Heer 
in  seinem  Unglück  nicht  untergehe,  sondern  Erholungszeiten  ein- 
treten und  Einzelne  zeitweilig  glänzende  Erfolge  haben.  Wäh- 
rend nebst  Achill  auch  mehre  der  nächsten  dem  Heere  fehlen, 
kann  doch  der  Held  der  Kampflust,  Diomedes,  zunächst  die  schwäch- 
lichen Friedensgedanken  und  allen  Kleinmuth  abwehren,  hleibt 
der  Held  des  Widerstandes,  Aias,  immer  wohlbehalten  und  ersciiei- 
nen  jene  Kampfunfähigen  bei  nicht  tödtlichen  Wunden")  nach  der 
schlimmen  Zeit  alsbald  wieder  rüstig  im  Felde.  Schon  auf  dem 
ersten  Stadium  giebt  er  dem  Agamemnon  auf  sein  Gehet  ein 
deutliches  Zeichen,  dass  er  nicht  das  Aeusscrste  will,  8,  245  bis 
252;  es  werden  dadurch  viele  Helden  ermuthigt  und  es  folgen 
mehre  tapfere  Thaten,  und  eine  kurze  Aristeia  des  Teukros ; 
doch  bald  verwundet  Hektor  den  Teukros,  der  zu  den  Schillen 
getragen  wird,  333 f.,  und  schon  erregt  Zeus  die  Troer  wieder. 
Eine  ähnliche  Erhörung  eines  Gebets  des  Nestor  um  Reitung, 
von  derselben  Bedeutung  flndet    sich    15,   375—378.     Doch  den 

aiidorn  wäre  eingcscliol)en,  k;inn  niil  dor  IJiicksichl  auf  d'w  Erzählung  am 
Ende  des  17.  Gesanges,  auf  18,  232  und  243  nicht  wohl  hostclien.  Woher 
hätten  die  Troer  von  Aciiills  Wictlorersclieiuen  gewusstV 

70)  Agamemnon  am  (linken)  Unlcrarm  gleich  unter  dem  Ellltogen. 
11,252,  von  durchgehendem  Lanzenstich;  Diomedes  am  rcclileu  PJaliruss 
über  den  Zehen,  das.  377,  durch  einen  Pfeil,  der  durcligelil,  aber  sofort 
ausgezogen  wird,  398;  Odysscus  durch  einen  Lanzenslich,  welcher  Schild 
und  Panzer  durchdi'ingl,  ;ilter  bei  Alhene's  Einwirkung  niciit  liefer  in  die 
Haut,  das.  430—438;  M;irli;ion  in  die. rechte  Scliuller  ,  das.  'MI,  vyl.  (m7 
und  02,  834 f.;  Euryiiylos  in  den  rechten  Schenkel,  das.  5831'.  Itie  Wun- 
den bluten,  schmerzen  Anfangs  zum  Theil  sehr,  aber  oh  sie  gleich  zu- 
nächst kamjifunfähig  machen,  ist  keine  von  ihnen  gelalirlicii .  so  dass  die 
V'erwnndelen  alsbald  wieder  auf  dem  Platze  sind. 


369 

sprocliensten  Fall  gicbt  der  11.  Gesang,  dessen  von  der  Anfangs- 
parlie  bis  279  entnommener  Name  Arislie  des  Agamemnon  sehon 
eineErzählung  ankündigt,  in  der  dieser  Oberfeldherr  sich  hervortimt. 
Ihm  macht  Zeus  zu  diesem  Vorkiimpfergang  auf  das  beflissenste 
Bahn  durch  \Veg\veisung  Ilektors  auf  einige  Zeit.  In  dieser 
Weisung  spricht  der  Gott  seinen  wohlbedachten  Willen,  auch 
während  def  Unglückszeit  doch  den  Führer  des  Griechenheers 
zu  erhalten  und  zu  ermutbigen  sehr  deutlich  aus:  187 — 194.  Sie 
lautet- durch  Iris  bestellt:  ,,So  lang  als  ersähe,  dass  Agamemnon 
im  Vordertreffen  mordend  vorgebe,  solle  er  sich  zurückziehen 
und  andere  Troer  den  Feind  bestehn  lassen;  aber  sobald  Jener 
verwundet  seinen  Wagen  bestiegen,  dann  will  er  ihm  Stärke  ver- 
leihen, l)is  er  mit  tödtendem  Speer  zu  den  stattlichen  Schiffen  ge- 
langt". Hier  ist  die  baldige  Verw undung  zugleich  vorbeslimmt,  wie 
sie  252  erfolgt,  und  kurz  darauf  die  des  EHomedes  und  Odysseus 
und  noch  einiger,  was  wir  das  zweite  Stadium  der  ISolh  nennen. 
Für  den  Augenblick  sind  diese  Verwundungen  ein  sehr  empfind- 
liches Unglück,  aber  die  jetzt  Kampfunfähigen  erstehen  bald  wieder. 

13.  Fortsetzung.  Erklärung  der  Aristie  des  Agamem- 
non aus  seinem   ganzen  Charakter  und  der  »Situ  ati  on. 

Agamemnon  ist  eben  an  diesem  Morgen  als  Vorkämpfer  des 
ganzen  Heeres  vorangetreten,  ganz  wie  es  der  streitbare  Diome- 
des  in  der  Versammlung  des  vorhergehenden  Spätabends  mit  all- 
gemeiner Zustimnumg  für  das  Beste  erklärt  bat  (9,  709 — 711). 
Agamemnon  wird  zu  den  drei  lücbligslen  nach  Achill  gezählt, 
sowohl  in  der  Volksslimme,  7,  1791'.,  als  in  Aufzählungen  der 
Kampfbereiten  als  der  Feldherr,  der  Erste,  7,  162,  wo  besonders 
Anlass  und  8,  261.  In  der  Zeichnung  des  Dichters  erscheint  er 
vorzüglich  in  der  Würde  und  dem  Amte  des  Anführers;  besonders  in 
Ansprachen,  2,  371—374.,  bei  seiner  .Musterung,  4,  223  0".  257  fl'. 
336,  340  und  daselbst  359  If.  370  f.  mit  40011.  vergl.  das  Wort 
des  Diomedes,  415ff.  8,  278.  286—291.  In  mehren  dieser  An- 
sprachen schon  erkennen  wir  ein  Gemüth,  welches,  sanguinisch 
rasch  aufgelegt  zu  Lob  oder  Tadel,  doch  alsbald  sich  besinnt  wie 
gegen  Odysseus,  4,  336 fl".  35611'.  Ein  solcbes  besedt  die  slatt- 
liche  Königsgestalt.  Eben  ein  solches  (lemiilli  niu-  konnle  einen 
so  argen  Fehler  und  heillosen  Missgrifl'  begehn,  durch  eiin.>  solche 

Wilzsch,  Gesell.  J.  grifcli.  Ejios.  24 


370 

hocbfabreiule  Beleidigung,  wie  sie  Agamemnon  dem  Achill  anthat, 
den  anerkannt  tapfersten  und  um  das  Heer  und  seine  Sache  ver- 
dientesten Helden  zu  kränken.  Es  war  auch  bei  Agamemnon 
das  Uebermaass  eines  berechtigten  Gefühls,  die  Unsal  [uxy]),  was 
dazu  verführte,  es  war  die  Eifersucht  des  Oberfeldherrn  —  „dass 
Du  erkennest  wie  viel  grösser  ich  sei",  1,  1S6  und  287 — 291. 
Der  Sünder  bekannte  diese  seine  Unsal  nachmals  nicht  minder 
als  Achill  die  seinige,  19,  86 — 91  mit  leidiger  Entschuldigung, 
und  nicht  erst  dann,  sondern  schon  früher,  9,  116  f.  Der  Fehler 
im  Gemüth  des  Oheranführers  und  Ohmannes  dieses  Heerzugs 
war  bei  ihm  um  so  grösser,  da  er  nicht  als  feudaler  Kriegsherr 
gebot,  sondern  freiverbundene  Fürsten  (1,  154 — 160)  führte. 
Er  fehlte  somit  aus  der  heillosesten  Unbesonnenheit,  und  seinem 
Kriegsmuth  war  also  von  der  andern  homerischen  Cardinaltugend 
der  Klugheit  Nichts  beigemischt.  Schon  die  Sage  hatte  nun  die- 
sem des  verständigen  Beiraths  so  bedürftigen  Charakter  an  INestor 
und  Odysseus  die  begabtesten  Gehilfen  beigegeben.  Nach  dem 
Brauch  der  jüngeren  Heldenzeit  berief  der  Oberfeldherr  die  Für- 
sten zur  Berathung  aller  Maassregeln  und  unter  den  freiverbun- 
denen galten  die  persönlichen  Eigenschaften.  Vor  Allem  aber 
erwirkte  ein  erfahrungsreiches  Alter  mit  Bedegabe  den  edeln 
Geist  der  Scheu,  „die  freie  Dienstbarkeit  des  Herzens".^)  Also 
konnte  der  geniale  Bildner  der  Charaktere  jene  beiden  Helden 
der  beredten  Klugheit  und  ihre  Stellung  zum  Kriegsobmann  fei- 
ner ausprägen.  ISestor,  der  süssredende  Pylier  (1,  248 f.),  stand, 
jetzt  im  dritten  Menschenalter,  mit  Söhnen  und  Enkeln  seiner 
Jugendgenossen  vor  Troia,  II.  1,  250 f.  Od.  3,  245  f.  m.  Anni.  In 
ihm,  der  seine  Mahnung  durch  Berufung  auf  das  eigene  thaten- 
reiche  Leben  bekräftigen  konnte,  halte  sich  den  ihm  befreunde- 
ten Atreiden  ein  Heldengreis  des  berechtigtsten  und  allgemeinsten 
Ansehns  angeschlossen,  ebenso  in  Odysseus  ein  ihnen  ergebener, 
durch  Gewandtheit  und  Beredtsamkeit  den  ganzen  Krieg  hindurch 
dienender  Genosse.  Beide  waren  gleich  beim  Aufruf  zum  Rachezug 
thätig  geworden,  (II.  11,  766).  Odysseus  hatte  den  Menelaos  vor 
dem  Angriff  nach   Troia  hegleitet,   um    die  Helena    und    die  ge- 

80)  Ilesiod  Theog.  OJ  : 

„Wie  ein  Gott  rings  wird  er  geehret 
Mit  sanflfreimdlicher  Scheu". 


371 

raubten  Schätze  ziirfirkziifordcrn  (11.  3,  205 f.).  Des  allgeelirten 
ISestor  aclitsamc  Wohlbcrathenheit  trat  in  den  meisten  Fällen  ein, 
wo  Anordnung  erforderlich  oder  dienlich  ward ;  er  wirkte  über- 
haupt gleichsam  als  der  personificirte  Verstand  im  Griechenheer 
statt  des  Agamemnon.*')  Odysseus,  als  noch  kräftigeren  Alters 
von  seiner  Schutzgötlin  Athene  belebt,  brachte  mit  dem  Scepter, 
das  ihm  Agamemnon  gab,  das  durch  Jenes  Missgrifl"  aufgeregte 
Heer  zur  Ordnung  (2,  lS5ff. );  er  weckte  bei  Allen  das  tapfere 
Bewusstsein  des  Vorhabens  (2,  298 IT.),  er  niass  mit  Hektor  die 
Mensur  ab  (3,  314  f.),  er,  zum  Hauptsprecher  der  Gesandtschaft 
an  Achill  von  Nestor  gewähll,  fügte  Agamemnons  ungemessenen  Aner- 
bietungen die  beweglichen  Zusätze  hinzu  (9,  228 — 260.300 — 303). 
Diese  beiden  sind  mit  einander  immer  einmüthig.  Od.  3, 
126fr.  Sie  rufen  und  bewegen  auch  den  sanguinischen  Agamemnon 
zur  Besinnung,  wo  er  in  der  äussersten  Verzagtheit  ernstlich  vom 
Aufgeben  des  ganzen  Krieges  spricht.  Und  zwar  zuerst  9,  9iY., 
besonders  26 — 28,^^)  am  Abend  des  ersten  Unglückstages,  als  die 


81)  Aligeseheii  jetzt  von  2,  7(3  fl".  und  337  ff.  s.  das.  344  ff.  ])es.  3G2f. 
vgl.  mit  4,  297 — 309,  wo  sogar  die  Ordnung  der  Schaaren  und  des  Waffen- 
gelirauclis  von  Nestor  ausgeht,  dann  7,  191.  325 ff.  9,  66.  179 — 181.,  wo 
nach  Rüge  der  Zaghaltigkeit  vor  Hektor,  als  sie  gefruchtet  hat,  die  An- 
ordnung derLoosung,  nach  dem  nicht  unblutigen  Tage  die  der  Bestattung 
(lerTodlcn,  weiter  die  der  Nachtwache,  dieder  Gesandlschaflan  Acliill  nehst 
der  Wald  der  Gesandton  und  Anweisung  der  Gewählten  Nestors  Werk  ist. 

82)  Agamemnon  spricht  hier,  9,  18 ff.,  in  denseliien  Worten,  w'elclie 
er,  2,  111 — 118,  hei  seiner  verstellten  Versuchung  des  Heers  brauchte, 
al)er  klagt  nun  den  Zeus  im  Ernst  schlimmslcr  Täuschung  an;  diese 
Täuschung  ist  vorhanden  und  er  empfindet  sie  eben  nach  seiner  Erregbar- 
keit auf  das  Trostloseste.  ,.So  kann  (mag)  die  Wahl  derselben  Worte 
von  Seiten  des  Dichters  nur  darum  getroffen  sein,  um  an  jene  in  ganz 
anderer  Hoffnung  gesprocbencn  Worte  zu  erinnern  uml  dadurch  die  liefe 
Demütbigung  desselben  hervorzulieben".  Räum  lein.  Zeitsobr.  f.  Alt. 
1848.  S.  341  und  IMiilolog.  XI.  421  f.  Die  drei  Verse  23—25  sind  als  aus 
2,  116 — 118  wiederholt  nach  den  alexandr.  Kritikern  hier  unecht  und  sie 
dürften,  wenn  erst  später  von  dort  nach  dem  Anklang  hier  angefügt, 
doch  auch  dort  und  überhaupt  unnütz  sein.  Dagegen  ist  die  Vermulliung 
des  Rec.  in  Rlätt.  f.  litter.  Unlcrh.  1844.  Nr.  127.  S.  500,  die  Stelle  9,  9  bis 
88.  sei  als  unecht  auszuscheiden,  ebenso  gewaltsam,  wie  nach  dem  Zu- 
sanunenbange  unslattliaft.  Der  Grund  wäre  doch  nur  die  Wiederbolung. 
Aber  eine  eigene  Aensserung  des  Agamenmon  und  zwar  gleicli  zunäcbsl 
und  nicht  erst  in  dem  Fürslenratb  in  Antwort  auf  Nestors  Rede,  llöff., 
ist  durchaus  zu  erwarten. 

24* 


372 

griechischen  Fürsten  die  Lage  des  TTeeres  so  gefahrvoll  empHin- 
den,  wie  Odysseus  sie  vor  Achill  schildert,  9,  229  —  246.  Das 
andere  Mal  in  14,  als  das  Leid  schon  nher  das  drilte  Stadinni 
hinans,  als  Agamemnon  nchst  Diomedes  nnd  Odysseus  verwundet 
ist  und  Hektor  nach  Durchhruch  der  Mauer  nun  den  Schiffen  zu- 
strebt, also  auf  der  Bahn  ist,  das  Anzünden  der  SchilTe  auszu- 
führen, womit  er  von  Anfang  drohete.  Die  beiden  Aeusserungen 
sind  in  der  planmässigen  Darstellung  deutlich  unterschieden  und 
durch  die  fortschreitende  Noth  motivirt.  An  der  ersteren  Stelle 
hören  wir  nach  der  Klage  über  des  Zeus  Täuschung  nur  den 
einfachen  Ausdruck  der  verzweifelnden  Stimmung,  an  der  zwei- 
ten die  bei  den  dcrmaligen  Umständen,  welche  er  schildert,  von 
ihm  ausgedachte  Weise  der  Flucht,  14,  74 — 81.  Wir  hören  ihn 
hier,  wie  er,  unbekannt  mit  den  Umständen  Nestors,  sich  einbildet, 
dieser  habe  den  Kampf  aus  Aergerniss  über  die  dem  Achill  an- 
gelhane  Kränkung  verlassen:  42.  49 — 51  ;  denn  Nestor  hatte  seine 
Missbilligung  ihm  zuerst  I,  282—284,  dann  9,  108—111  erklärt. 
Da  aber  Agamemnon  mit  dieser  seiner  irrigen  Meinung  zugleich 
die  so  bedrohlichen  Umstände  in  äusserster  Besorgniss  hervor- 
hebt, erwiedert  Nestor,  wie  ein  Antwortender  von  einer  Mehres 
enthallenden  Ansprache  das  Bedeutendere  erfasst,  nur  auf  jene 
Besorgniss;  ,,Wohl,  dem  ist  so,  auch  Zeus  könnte  das  Geschehene 
nicht  umschaffen",  und  beschreibt  den  unheilvollen  Zustand  in 
den  lebhaftesten  Farben.  Doch  der  besonnen  tapfere  Alte  endet 
mit:  Da  gilt  es  denn  guten  Bath  zu  finden,  ,,wcnn  der  Verstand 
noch  Etwas  vermag  (62),  euch  rath'  ich  indess  nicht,  wieder 
in  die  Schlacht  zu  gchn;  wie  könnten  Verwundete  kämpfen"?*') 
Da  Agamemnon  hierauf  seinen  Vorschlag  heimlicher  Flucht  aus- 
spricht, entgegnet  nun  Odysseus  mit  seiner  Büge.     Neben  diesen 


83)  Er  selbst  hat  verlier  ülierlegt,  ob  er  bei  derNolh  sofort  liingebe 
zum  Kampl'gewiihl,  14,  21,  und  erscboiut  vielfältig  auf  dorn  Scldacblfolile. 
Wie  er  aber  da  nirgends  kämpfend  dargestellt  wird,  sondern  mabnend 
oder  ermunternd  (6,  60  If.)  bei  eigener  Gefalir,  8,  80  f.,  und  von  Diomedes 
gerettet,  warnend  (8,  137.  151  ff.),  auch  betend  (15,  317  ff.),  so  gicbt  er 
hier  nach  einfach  ungekünsteltem  Verständniss  mit  seinem  Euch  nur  den 
Verwundeten  seinen  Ralh,  in  seinen  Worten  über  sich  selbst  keine  An- 
deutung. Dass  er  immer  oder  meistens  nur  als  Beralber  da  wirke,  w^ar 
also  die  von  ihm  gellende  Voraussetzung,  welche  er  bei  dem  Ralh,  den 
er  Jenen  K'cbl,  slillschweiirend  auch  als  die  ibriirc  andeulel. 


373 

beiden  Mahnern  stellt  der  Dichter  der  sanguinischen  Muthlosig- 
keit  des  Agauieninon  auch  den  Helden  der  Kampflust  Diomedes 
entgegen,  dem  nach  Nestors  Urtheil  auch  Klugheit  nicht  fehlt  (9, 
54f.)  und  dessen  Tapferkeit  nicht  minder  standhält.  Er  hat  den 
kampfmuthigen  Sinn  schon  in  den  ersten  sieben  Gesängen  durch 
That  und  Rath  (z.  B.  Abwehr  des  troischen  Antrags,  7,  400), 
nachher  bei  dem  Schrecken  des  Zeus  (8,  91.  99fr.  169 f.)  be- 
währt. Jetzt  antwortet  (9,  31)  er  dem  Verzagten  zuerst  mit  Mah- 
nung an  4,  370,  wo  jener  ihm  Verzagtheit  vorgeworfen,  und 
tritt  14,  110  mit  dem  Rath  hervor,  wenn  sie  nicht  im  Stande 
Avärcn,  selbst  zu  kämpfen,  doch  Andere  anzufeuern,  12Sf.  *'')  Es 
tritt  hier  Poseidon  zu  ihnen.  Dann  wird  nach  der  Paralleler- 
zählung von  Here,  153 — 363,  wo  Poseidon  auf  derselben  Stelle  ist, 
angegeben,  wie  die  Drei  gewirkt  haben,  379 ff. 

Wie  dem  sanguinisch  Verzagten  in  beiden  3Iomenten  diesel- 
ben Charaktere  entgegentreten,  so  erweist  er  beide  Male  auch 
seine  sanguinische  Natur.  Ist  es  ja  deren  Art,  gar  leicht  ins 
Gegentheil  umzuschlagen,'^^)  und  nach  leidenschaftlicher  Ueber- 
treibung  sich  zu  besinnen,  ]»ei  eintretender  Mahnung  wohl  mit 
der  Aeusserung,  man  habe  es  selbst  nicht  so  gemeint,  (14,  105) 
auf  das  Bessere  willig  einzugehn.  Solclien  Umschlag  in  den  Ge- 
gensalz,  die  baldige  Selbstverbesserung,  die  daim  wieder  ins 
Unbemessene  gehn  kann,  hat  der  Dichter  vorzüglich  im  Falle 
des  9.  Gesanges  dem  Agamemnon  angebildet.  Dies  hier  in  Be- 
zug auf  Beides,  sowohl  auf  die  gerügte  erste  leidenschaftliche 
Kränkung  des  Achill  als  die  Verzagtheit  nach  dem  ersten  Un- 
glückstage. Eine  gewisse  Anerkennung  seiner  Leidenschaftlich- 
keit spricht  Agamemnon  gleich  am  nächsten  Morgen  in  Antwort  auf 
Nestors  Mahnung  aus,  2,  375—378.  „ich  war  Urheber  des  Streites". 
Jetzt  auf  Nestors  scharfen  Tadel,  9,  109 f.  —  ausgesproclien 
nach  ehrerbietigstem  V^orwort,  96 — 102.  —  und  auf  des  Allen 
Aufforderung,  durch  Gaben  und  freundliche  Worte  zu  versöhnen, 
erfolgte  das  unverholenste  Bekenntniss  der  Schuld  116fV.  Diesem 
aber  scbliessen  sich  endlich  so  ungemessene  Anerbietungen  und 
Zusagen  an,  dass  ein  Mehres  an  Eingesländniss  oder  reichere  Ge- 


84)  Die   geschwätzige  Genealogie,    115 — 127  oder   125,    mag  hier 
wohl  An-sluss  gehen  oder  lässt  sich  aiisschcideu. 

85)  Jacob,  Entsteh,  der  II.  230 f. 


374 

schenke  auch  nur  zu  denken  unmöglich  ist,  so  dass  das  sanguini- 
sche Geniüth  sich  liier  wieder  oH'enhart.  Doch  all  diese  Fülle 
erreicht  Nichts. 

Nestor  wie  Odysseus,  Aias  wie  Phönix,  erwarten  zwar  ohne 
Geschenke  keine  Versöhnung,  jedoch  die  gebotenen  finden  sie  dazu 
vollauf  genügend  und  belegen  ihre  Abweisung  bei  der  schon  drohenden 
Gefahr  mit  schärfstem  Tadel  (629  f.)  —  aber  ein  Achill  hat  sein 
ganz  eignes  Maass  der  Ehren  und  der  Gebühr,  er  weist  alle 
Anerbietungen  und  Vorstellungen  zurück. 

Mit  tiefem  Schweigen  hören  die  Fürsten  in  Agameninons 
Zelt  den  Bericht  von  diesem  Erfolg  der  Gesandtschaft,  Diomedes 
nur  findet  das  Wort  und  er,  der  vor  der  Sendung  den  Verzagen- 
den so  scharf  angelassen,  dem  Zeus,  wie  er  meint,  zur  Herrschaft 
nicht  auch  Wehrkraft  verliehn  (38  f.),  er  spricht  jetzt  9,  698  ff. 
aus,  Agamemnon  habe  den  Achill  gar  nicht  angehn  sollen;  der  möge 
bleiben  oder  gehn  nach  Belieben;  dagegen  sei  nun  sein  Rath, 
jetzt  sich  durch  Nahrung  und  Schlaf  zu  stärken;  mit  dem  Mor- 
gen möge  dann  der  Oberfeldherr  Schaaren  und  Kriegswagen 
vorwärts  treiben  und  selbst  Vorkämpfer  sein.  Dieser  Rath  erhält 
allgemeine  Zustimmung,  710  f. 

Reim  Aufgang  dieses  Morgens,  11,  4  f.,  da  Zeus  durch  die 
Göttin  der  Kampfbegier,  Eris,  das  Heer  aufregen  lässt,  tliut  Aga- 
memnon genau  nach  jenem  Beschluss.  Er  ruft  seinerseits  auf 
und  ^^alTnet  sich.  Reisige  mit  Kriegswagen  und  Fussgänger 
gehn  geordnet  vorwärts,  47  —  52,  Als  nach  dem  eine  Zeit  lang 
gleichen  Kampfe  die  Griechen  die  geschlossene  Reihe  der  Troer 
durchbrachen,  begann  der  Einzelkampf  und  er  hatte  jene  seine 
Siegesbahn,  wo  ihm  Hektor  nicht  begegnen  darf.  Die  Schil- 
derung dieser  bedarf  mehrfach  der  Auslegung. 

Mancher  Irrlhnm  voreiliger  Deutung  dieser  Arislie  ist  schon 
in  den  obigen  Erörterungen  beseitigt;  die  den  Vorkämpfer  aus- 
zeichnende Beschreibung  seiner  Rewaffnung  erkennen  Avir  als  der 
Epopöe  nicht  minder  gerecht  als  dem  Einzelliede,  die  Anrufung 
der  Musen  in  der  Mehrzahl  geschieht  nicht  am  Eingang  des  Ein- 
zelliedes, sondern  in  Fällen,  da  der  Sänger  der  allen  Sagen  der 
Stärke  oder  Genauigkeit  des  Gedächtnisses  besonders  bedarf 
mitten  im  Verlauf  der  Erzählung,  Aber  der  Hauptpunkt  für 
die  richtige  Auffassung  ist  der  Gegensatz,  welchen  der  Agamem- 


375 

non  dieser  Aristie  zu  jenem  verzagten,  ganz  verzweifelnden  bil- 
det. Da  ist  nun  freilich  zuerst  in  derselben  Person  der  Ober- 
feldherr mit  seiner  Sorge  von  dem  einzelnen  Streiter  zu  unter- 
scheiden. Die  vor  der  Gesandtschaft  bezeigte  Niedergeschlagenheit 
und  der  spätere  Flucbtplan  gelin  die  persönliche  Tapferkeit  un- 
mittelbar nicht  an.  Agamemnon  hat  in  Helenas  Munde,  3,  179. 
beide  persönliche  Eigenschaften  als  vortrefflicher  König  zugleich  und 
auch  tapfrer  Kämpfer.  Dazu  nannte  ihn  jene  Volksstimme  neben 
Aias  und  Diomedes  als  dritten  der  erwünschtesten  Gegner  Hek- 
tors.  Beides  zeigt  uns  mit  der  Nennung  in  den  Aufzählungen 
der  Kampfbereitesten  (7,  167.  8,  261.)  seinen  altüberlieferten 
Leumund.  Es  ist  also  auch  in  dieser  Hinsicht  aus  der  vorher 
seltenen  und  kurzen  Erwähnung  seiner  im  persönlichen  Kampfe 
(5,  38.  6,  33.)  kein  Schluss  zu  ziehen.  Es  ist  genug,  dass  sie 
nicht  fehlt,  da  der  Dichter  jedem  Helden  nach  seiner  vorherr- 
schenden Eigenthümlichkeit  seine  Rolle  giebt,  den  Agamemnon 
aber  im  Uebrigen  hauptsächlich  in  der  des  Oberfeldherrn  auftreten 
lässt.  Und  was  zweifeln  wir?  einen  feigen  Fürsten  giebt  es  über- 
haupt bei  Homer  nicht,  auch  Paris  ist  kein  Feigling  überhaupt, '^^) 
und  die  Tapferkeit  erscheint  nur  nach  den  individuellen  Gemüths- 
'arten  verschieden  abgestuft  und  gemodelt.  Agamemnon  ist,  wenn  es 
ihn  befällt,  muthlos  in  dem  Gedanken  an  das  Gelingen  des  gan- 
zen Kriegs,  nicht  einem  Gegner  gegenüber  untapfer.  Seiner 
erregbaren  Natur  nach  haben  die  Verhältnisse  grossen  Einfluss 
auf  seine  Stimmung  und  seine  Willenskraft.  Aus  ihr  erklärt  es 
sich  gewiss  ganz  folgerecht,  wenn  er  am  nächsten  Morgen  nach 
der  Ablehnung  seines  Versöhnungsantrags  in  solcher  Ritterlichkeit 
auftritt.®^)  Er  hatte  an  Beweisen  seiner  Geneigtheit,  die  Beleidi- 
gung zu  sühnen  und  den  Beleidigten  sich  zu  befreunden  (142 
bis  148.),  das  Aeusserste  gethan,  und  mit  der  Bestellung  seiner 
Anerbietungen  die  von  Achill  selbst  geschätztesten  Männer  beauf- 


86)  Gervinus  Shalicspcare  4.  S.  317.  „Dies,  ilass  bei  Sliakespeare 
selbst  der  Weichling  im  Vergleich  mit  flauen  Uollen  der  neuen  Dioliter 
ein  starker  Charakter  wird,  lässt  sich  in  aller  Dichtung  nur  mit  Homers 
Charakteren  vergleichen,  bei  dem  auch  Paris  ein  IIolil  ist". 

87)  Bäumlein,  Pliilol.  XI.  426.  „Der  ritterliche  Mulli,  den  Agamem- 
non im  elften  Gesang  l)cweist,  ist  nach  der  missglückten  Gesandtschaft 
psychologisch  zu  erklären". 


376 

tra"t.  Dass  sie  dennoch  al)ge>vicsen  \>orden,  musste  ihm  in  eben 
dem  Grade  emptindlich  sein ,  als  er  in  dieser  Abweisung  nur  die 
fortgrollende  Schadenfreude  erkennen  konnte,  ^^ eiche  abwarten 
wollte  bis  er  und  sein  Heer  bei  steigender  Notb  den  Beistand 
seines  stärksten  Armes  noch  schmerzlicher  vermisslen.  Dies  Ur- 
theil  erzeugt  die  Thalsache  der  Ablehnung  von  selbst,  obschon  der 
kluge  Sprecher  der  Botschaft  die  Drohung  nicht  vollständig  be- 
stellt. Agamemnon  —  so  deuten  wir  psychologisch  —  hörte  in 
der  besagten  Stimmung  des  Diomedes  Aeusserung,  und  wurde 
durch  die  in  der  Abweisung  liegende  Kränkung  zusammen  mit 
den  drängenden  Umständen  gestachelt,  nun  mit  aller  Kraft  zu 
versuchen,  was  er  ohne  den  llochmüthigen  vermöge.  Bei  dieser 
Auffassung  des  Hergangs  meinen  wir,  Homer  habe  dem  sangui- 
nischen Helden  eben  weder  früher  noch  später,  sondern  gerade 
in  Folge  dieser  demüthigenden  Erfahrung  diese  Aristie  zugelheilt. 
Dabei  konnte  er  jenen  zwiefachen  Plan  des  Zeus  einwirken  las- 
sen. Während  der  Siegesbahn  des  Hektor  konnten  doch  die 
Helden  des  jetzt  gezüchtigten  Heers  im  Sinne  des  Gottes  und  der 
Sage  für  die  künftige  Wendung  am  Leben  erhalten  werden.  Aber 
es  konnten  so  auch  in  der  Neudichtung  der  früheren  Lieder  von 
ihnen  ihre  den  Hörern  bewussten  Charaktere  behalten  werden. 
Die  Anerkenntniss  solcher  früheren  Lieder  giebt  hiernach  mit  der 
Anerkennung  des  sie  neugestaltenden,  fortschreitenden  Dichter- 
geistes zusammen,  allein  den  richtigen  Standpunkt  für  die  Auffas- 
sung. Wir  finden  in  der  so  mannigfach  bedeutenden  Erzählung 
der  vom  Anfangstheil  benannten  elften  Rhapsodie  die  sprechendsten 
Beweise  für  die  Zusammenfügung,  aber  wir  erkennen  hier  auch, 
wie  schwer  es  ist,  von  der  Geschichte  des  uns  jetzt  vorliegenden 
Ganzen  uns  eine  Vorstellung  zu  verschalTen.  Zu  einer  solchen 
Geschichte  gehört  aber  auch  die  Dichtung  von  Episoden  und  die 
spätere  Einfügung  solcher  in  das  schon  vorher  vorhandene  Gedicht. 
An  keiner  zweiten  Stelle  der  Ilias  ist  das  irregehende  Bemühn, 
das  zusammengefügte  Gedicht  und  die  vorherigen  Einzellieder 
wieder  aufzulösen  thätiger  gewesen,  als  an  dieser,  an  keiner  aber 
auch    eigenwilliger   und  gewaltsamer.*")     Die   Gewaltsamkeit  lag 


88)  Die  gereclilc  und  umsichtige  Würdigung  dieses  Verfahrens  voU- 
zoK  Bäumleiu  in  Zcilschr.  f.  Alterlh.  1850.  Nr.  L9.  S.  145—148.    Ruhigere 


377 

besonders  darin,  dass  die  poetische  Erfindung,  durch  welche  der 
Dichter  den  Anfang  der  Annäherung  des  Ilaupthehlen  zum  Grie- 
clienhccr  geschehen  Hess,  dass  der  Anlass,  wodurch  diese  An- 
näherung vermittelt  wird,  die  Sendung  des  Patroklos  und  die 
Wegführung  des  Ai'zles  Machaon  durch  Nestor,  dass,  sagen  wir, 
diese  allerdings  in  ihrer  Ahsichtlidikeit  unverkennbare  Erfindung 
.verkannt  und  verkehrt  ward.  Es  ward  damit  eine  Auflösung  des 
Organismus  in  einzelne  Stücke  versucht,  Avelche  in  der  äussern 
Geschichte  der  Gedichte  die  Rücksicht  auf  das  Bezeugte,  in  der 
innern  Prüfung  die  Willigkeit  zu  empfänglichem  Eingehn  ver- 
säumt und  ein  Relieben  eigener  Voraussetzungen  dafür  geltend 
macht.*^)  Später  erst  können  wir  die  Angemessenheit  der  orga- 
nischen Erfindung  nachweisen,  welche  durch  die  Verwundung 
des  Machaon  die  Sendung  des  Patroklos  an  Nestor  und  damit 
jene  Annäherung  vermittelt.  Betrachten  wir  zunächst  das  Vcrhält- 
niss  der  Aristie  des  Agamemnon  im  Verlauf  der  Handlung  und 
die  Beschaffenheit  der  Partie  des  Gedichts,  wie  sie  vorliegt. 

Wir  empfinden,  meine  ich,  bei  dem  thatsächlichen  An- 
schluss  des  Morgens,  wo  Aganuumion  hervortritt,  an  den  vor- 
hergehenden Abend,  wo  Diomedes  angerathen  hat,  was  Jener 
ausführt,  also  den  des  elften  Gesanges  an  den  neunten,  einen 
Vermiss  an  deutlicher  Molivirung.  Nach  der  homerischen  Dar- 
stellungsweise muss  man  bei  diesem  so  grossen  und  bedeutenden 
Umschwung  erwarten,  dass  der  Dichter  den  Agamemnon  seinen 
erregbaren  Charakter  nicht  blos  durch  seine  Ermannung  im 
thatsächlichen  Erfolg  bewährend  dargestellt  habe,  sondern  auch  den 
Wandel  erzählt  und  an  ihm  selbst  habe  erscheinen  lassen.  Wie 
die  zum  Gegenthcil  umschlagende  Natur  in  jenen  beiden  Scenen 
diesen  Umschlag  selbst  ausspricht,  so  erwarten  wir,  dass  hier  der 
Eindruck,  den  die  Abweisung  auf  dieses  Geniüth  macht,  durch  die 
fortgehende  Handlung    nnt    eigener   Aeusserunof    anschaulich    "e- 


IJelrachtuiig,  die  aber  bei  der  unabw^eisliclici)  Anerkennung  dos  Diclilor- 
gciiius  (loci)  Aiistössen  zu  viel  llauiii  giebt,  s.  bei  A.  Jacob:  lieber  Kiilsleli. 
der  llias  und  Odyssee.    Berl.   185Ü.  S.  247  —  252. 

89)  Wie  der  niehrbezeicbnete  Boridiardy  IL,  1.  134  erkennl:  ,,Ks  ist 
unmöglicb,  so  weit  auseinander  gelegte  Stücke,  wie  manclic  versuclilen 
(z.  B.  8,  1 — 51  mit  B.  zu  Anf.  Renn.  S.  ü3  oder  wie  Lachuiann  11,  557 
mit  14,  402),  zu  verkitten". 


378 

macht  Morden  sei.  Naturgemäss  erfolgten  da  zwei  Stufen;  erst 
verniullilich  Niedergeschlagenheit  mit  Aergerniss  gemischt,  dann 
in  Beachtung  des  vernommenen  Rathes  und  der  Lage  des  Heers 
Ermannung  und  nicht  stumme.  Die  jetzt  dazwischen  folgende 
Erzählung  zeigt  den  Agamemnon  in  der  Nacht,  wie  er  schlaflos 
nach  der  entsetzlichsten  Aufregung  sich  aufmacht,  den  Nestor  zu 
suchen,  und  wie  ehenso  Menelaos  in  Sorgen  ihm  entgegen  kommt 
und  man  ausser  mit  Nestor  mit  andern  zusammengerufenen  Hel- 
den ])ei  den  ausgestellten  ^Yächtern  eine  Berathung  hält,  Mas  zu 
thun  sei.  —  In  dieser  allerdings  sehr  lebendigen  Erzählung  hören 
wir  auch  Etwas,  was  wir  im  Sinne  des  Dichters  verlangten,  Aga- 
memnon spricht  seine  Besorgnisse  um  das  Heer  gegen  Nestor 
—  nur  freilich  wieder  zu  stark  —  aus,  93 — 95.,  Nestor  aber  er- 
wiedert  zwar  ganz  in  seinem  bewährten  Charakter  mit  seinem 
besonnenen  Vertrauen,  Zeus  werde  dem  Hektor  gewiss  nicht  alle 
seine  Gedanken  erfüllen,  sondern  dieser  werde  gewiss  noch  in 
Leid  verfallen,  zumal  wenn  Achill  seinen  Groll  aufgebe. 
Mit  dem  Letzteren  aber  spricht  er  ein  Vertrauen  aus,  zu  dem  die 
jüngste  Erfahrung  nicht  im  Entferntesten  stimmt,  und  ebenso 
wenig  wirkt  auf  die  Lage  des  Heers  oder  Stimmung  des  Agamemnon 
das,  was  nun  weiter  nach  dem  jetzigen  Texte  geschieht,  und  (in 
Episode)  durch  das  nächtliche  Abenteuer  des  Diomedes  im  Bunde 
Odysseus  erzielt  wird.  Da  ergiebt  sich  denn  das  von  Vielen  aus- 
gesprochene Urtheil  als  richtig,  dass  die  Episode  ein  späteres  Ein- 
schiebsel, und  die  Einfügung,  welche  auch  erst  den  Redactoren  des 
Peisislratos  zugeschrieben  wird,  eine  ungeschickte  sei."")    Dass  dem 


90)  Bernhardy,  Gr.  Litter.  II.,  1.  1.33  unten.  Rilschl  Alex.  Bibl. 
S.  ()2.  A.  Jacob,  Ueber  die  Entsich.  der  Ilias.  S.  143f.  147.  G.  Cur- 
lius,  Alldeut,  über  den  Stand  der  lioiner.  Frage.  Wien.  1854.  S.  28. 
Düntzer  in  Philol.  XII.  41 — 59,  der  auch  die  von  Bäuniloin  versuchte 
Vertheidiguiig  (Zeitschr.  f.  Allerlh.  48.  S.  341—343.  vgl.  Philol.  XI.  3. 
420)  W'ideilcgt  und  überhaupt  die  Unmöglichkeit  der  Echtheit  auf  das 
Eiiigcliciulste  darlliut.  Er  iiiucht  dabei  auch  vom  Urtheil  des  Verfassers, 
Sagenp.  224f. ,  Gebrauch,  indem  er  den  10.  Gesang  ohne  Weiteres  aus- 
scheidet; aber  was  er  der  hier  wiederholten  Erwartung  mehrer  Motivirung 
enlgegensclzt,  halte  ich  nicht  für  richtig,  nämlich:  „Anzudeuten,  wie 
diese  Reden  auf  Agamcmnons  Gemülh  gewirkt,  liegt  nicht  in  homerischer 
Weise;  es  gnflgt  diesem  kurz  auziigclten,  wie  eine  Rede  die  Versammlung 
ergreift;  dass  Agaiuemnoii  Nichts  zu  crwiedeni  hat,  deutet  auf  dessen  Zu- 
stimmung ,  die  9,  710  und  711  in  der  allgemeinen  Bezeichnung  mit  ein- 


379 

Feinde  durch  den  üeberfall  des  thrakischen  Lagers  Schaden  ge- 
schehn  und  ein  Paar  sehr  vorzüglicher  Pferde  erbeutet  \var,  also 
das  Abenteuer  in  so  weit  einen  glücklichen  Erfolg  hatte,  dies 
bedeutete  für  den  Stand  des  Heeres  gegen  Hektor  Nichts,  und 
die  moralische  Wirkung,  welche  nicht  einmal  ins  Licht  tritt, 
kann  die  Nichtübereinstimmung  mit  dem  Fortgang  der  Erzählung 
nicht  übertragen.  Auch  wenn  man  das  Gesetz,  welches  der 
Dichter  bei  seinen  Episoden  befolgte,  bis  zum  losesten  Zusam- 
menhang lockert,  wie  es  Zimmermann  Begr.  d.  Epos  119.  zuläs- 
sig zu  finden  scheint,  oder  die  Aufnahme  vorhandener  Einzellie- 
der sich  so  unbemessen  vorstellt,  wie  Bäumlein  thut:  immer 
überwiegt  die  Nichtsnutzigkeit  des  Erfolgs  und  die  Verwirrung  der 
Umstände  in  der  Erzählung.  Eher  kann  man  den  Mangel  der 
Motivirung  nach  der  bei  andern  Stellen  gemachten  Bemerkung 
erklären  (Jacob  100):  „Der  epische  Dichter  habe,  wie  der  dra* 
matische,  nicht  überall  die  Verpflichtung,  die  Beweggründe  oder 
die  Folgen  der  Handlungen  seiner  Personen  ausdrücklich  anzu- 
geben, sondern  ihm  genüge  eine  solche  Darstellung  derselben, 
dass  sich  aus  ihr  jene  von  selbst  unzweifelhaft  erkennen  lasse". 
Im  vorliegenden  Falle  hätte  der  Dichter  diese  Weisung  blos  durch 
die  Stelle  gegeben,  wo  er  die  sich  hervorthuende  Tapferkeit  gerade 
des  Oberfeldherrn  eintreten  lässt.  Bei  der  umittelbaren  Folge 
der  Ausführung  auf  den  Rath  durfte  der  Hörer,  um  den  Beweg- 
grund hinzuzudenken,  sich  nur  den  sanguinischen  Charakter  des 
Agamemnon  und  die  ihn  aufregenden  Umstände  vergegenwärtigen. 
Aber  man  denke  sich  die  10.  Rhapsodie  auch  ganz  weg;  es 
dürfte  doch  dieser  so  Itedeutende  Umschwung  und  Charakter 
nach  Homers  Art  eine  Oflenbarung  in  Worten  erwarten  lassen; 
sie  ist  also  wohl  durch  das  Einschiebsel  verdiängt. 


geschlossen  zu  deukcn  ist".  Es  ist  nur  zu  erinnern:  die  niögliciicn  Ilechl- 
lerligungsgründe,  wie,  dass  diese  Tluaker  nach  434  und  558  kürzlich 
erst  angckoininen  und  die  irülieren  Führer,  welche,  2,  882,  Ireiüch  alleiu 
genannt  werden,  Peiroos,  4,  527—536,  Aknnias,  6,  8,  schon  voriier  ge- 
fallen sind,  von  den  neuen  Rhesos,  hier  10,  495  und  559,  gelödlel  wird, 
so  dass  inu-  llipiiolaon  ührig  hlcii)t;  d.iss  forner  das  4301'.  550  f.  so  ge- 
rühmte Gesp.iiui  doch  dem  göUhcher  Ahkunft  chen  so  nachgeslamion 
liabe,  wie  andere  von  Diomcdcs  crheulele,  sie  sind  an  sich  sciiwacli, 
Wtcgen  aber  die  wescnlliclien  Verwerfungsgründe  gewiss  nicht  auf. 


3S0 

14.  Fortsetzung.  Die  Verwebung  der  Aristeien,  und 
die  Benennung  der  R  li  a  p  s  o  d  i  e  e  u . 
Dlt  sich  liervorlliiicnde  Agamemnon  wird,  wie  es  Zeus  dem 
Heklor  nach  seinem  IMan  ausdrücklich  veraussagt  (1911.),  bald 
verwundet.  •  Dieser  nur  zeitweilige  Erfolg  konnte  als  eine  Ari- 
steia  benannt  werden.  Wie  das  Zeitwort  {aQiöTSveiv)  nur  den 
Sinn  persönlicher  Auszeichnung  hat,  da  vielfältig  ein  so  sich  Ilervor- 
Ihuender,  ^^ährend  dessen  getödtet  \\ird,  so  findet  der  Begrifl"  des 
Hauptworts  seine  Anwendung  ebensowohl  auf  eine  dem  Falle 
vorhergegangene  kürzere  BeN\;ihrung,  als  auf  eine  vom  hervor- 
leuchtenden Helden  vollständig  ansgcführle  Grosstliat."')  Im  er- 
steren  Sinne  haben  die  Gi'iechen  drei  Partieen  der  Ilias  als  Ari- 
steien ausdrücklich  bezeichnet;  des  Diomedes,  des  Agamemnon, 
das  3Ienelaos  Aristie  sind  die  Bencinnmgen  des  5.,  11.  und  17, 
Gesanges.  Gerade  an  ihnen  erkennen  wir  aber  Beides,  sowohl 
dass  dergleichen  Hervortreten  Einzelner  der  Partie  der  Erzählung 
zwar  ein  concentrirtes  Interesse  und  die  oben  besprochene  Selb- 
ständigkeit giebt,  als  dass  sie  dabei  so  in  den  Fortgang  der  Hand- 
lung rückwärts  und  vorwärts  verwebt  sind,  dass  es  sich  ganz 
unthunlich  erweist,  sie  jetzt  noch  als  blos  eingereihete  Einzel- 
lieder zu  betrachten,  welche  man  wieder  abheben  und  ohne  Willkür 
aus  ihrem  Zusammenhang  lösen  könnte.  Es  sind  ja  hier  Heere, 
sind  ^^echselnde  Phasen  des  Völkerkriegs.  Der  Kriegsbrauch  der 
Heldenzeit  brachte  schon  an  sich  viel  Einzelkämpfe  mit  sich, 
Massenkämpfe  entbehren  der  Klarheit.  Daher  erscheint  Homers 
bildnerische  Kunst  eben  in  der  Anschaulichkeit  und  Durchsich- 
tigkeit der  Kriegsscenen  wie  er,  wenn  die  Heere  einander  entge- 
gen rücken  und  der  allgemeine  Kampf  sich  erhebt,  zuerst  dieses 
Allgemeuic  mit  lichten  Zügen  schildert,  dann  beim  Zusaujinenstoss 
eine  Anzahl  von  Helden  in  Einzelkämpfe  so  zu  sagen  in  mannig- 

91)  Das  Zeitwort:  II.  7,  00.  11,  50G.  15,  400.  und  nach  den  In- 
halten der  nachliomerischen  Epoiiöen  wurde  bei  solclier  Erweisung  Pcn- 
thesileia  von  Achill,  Eurypylos  von  NeopLulcuios  erlegt.  Das  Hauptwort 
im  zweiten  Sinn  fand  stall  bei  den  Känijd'en  des  iilloren  Ilcldengescliloclils, 
und  wo  sonst  in  Poesie  untl  Gcscinciile  Kricgslielden  dergleichen  nach- 
zurühmen war.  So  werden  Aristeien  der  Lyder,  des  Pillakos,  des  Scipio 
genannt  und  sind  preiswürdige  Thatcn.  Die  erste  Bedeutung,  welche 
gerade  für  Homer  gilt,  verabsäumlc  der  Verfasser  ehedem.  Pi'iif.  Me- 
let.  n.  XIV. 


38t 

fache  Scene  setzt  und  erst  ans  deren  j^lilte  den  Einen  sich  Hervor- 
thuenden  hervortreten  lässt.  Am  Ende  verläuft  dann  die  hesonderc 
Partie  in  den-  allgemeinen  Forlschrilt  oder  es  geht  der  eine  Zeit 
lang  Hervorragende  in  die  andere  Menge  zurück.  Auch  giebt  es 
leicht  andere  Uehergänge,  auch  Parallelhandlungen  etwa  olympi- 
scher und  irdischer  Geschichte,  was  Alles  zu  jener  Verwebung 
gehört,  lieber  dem  Ganzen  aber  schwebt  die  Idee,  ^velche  die 
Handlung  beherrscht.  Jedoch  fragt  es  sich  auch  in  solchen  Par- 
lieen,  ob  nicht  Einschiebsel  geschehn  sind,  so  wie  in  der  Aristie 
sich  wohl  Spuren  älterer  Darstellungsweise  finden  können,  als 
die  eigentlich  homerische. 

a.  Die  Aristie  des  Agamemnon. 

Die  Aristie  des  Agamemnon  hat,  als  zweitweiliger  Vorkämpfer- 
gang eines  einzelnen  Helden  betrachtet,  einen  so  glänzenden 
Eingang  wie  keine  andere,  abgesehn  natürlich  von  dem  Hervor- 
treten des  Patroklos  und  vollends  des  Achill,  welches  ja  Beides 
als  dem  tragischen  Zorn  und  der  Annäherung  des  Achill  ange- 
hörig nicht  in  Vergleichung  kommt.  Allein  dieser  einzelne  Held 
ist  eben  der  Oberfeldherr,  und  ist  damit  und  durch  die  Lage  der 
Dinge  der  Vordermann  des  ganzen  an  diesem  Morgen  neu  und 
mit  besondrer  Heftigkeit  ausbrechenden  Krieges.  Eben  daher 
wird  sie  durch  die  Maassregel  des  Zeus  eingeleitet,  wie  er  die 
Heere  durch  den  Dämon  des  Streits  selbst  mit  Kampfbegier  er- 
füllen lässt  —  die  Verse  13  und  H  aus  2,  453  f.  Dos  ganze 
Heer  der  Achäer  wird  von  dem  Feldherrn  in  die  streitbare  Be- 
wegung gesetzt,  Zeus  aber  giebt  das  Vorzeichen  eines  blutigen 
Tages.  ^^)  So  erkennt  der  unbefangene  Leser  auch  in  der  so 
reichen  Schilderung  der  Waffen  und  der  Bewaffnung  jenen  oben 
erläuterten  Gebrauch  Homers,  das  Mehr  oder  Weniger  der  Be- 
schreibung nach  der  Bedeutung  für  die  Handlung  abzumessen. 
Er   hat   diese   seine  Weise   hier   in  der  Verwenduns    der  älteren 


92)  11,  53,  sowie  10,  450  Rhilrogcn,  „mit  dorn  liier  Zeus  die  Er- 
eignisse der  zweiten  grossen  Sclilaclil  sclirockcnvoll  vorliedculcl".  Niigels- 
b.'ich,  Iloni.  Theol.  149.  Die  Roniorknng  bei  Jacob  S.  243.  Zeus  lässt  — 
oltonein,  ohne  dass  .Tcniand  Etwas  davon  merkt  oder  sagt  —  Blnl  roj^ncn, 
sin  darf  man  unljognindot  nennen ;  die  p]rz;ildung  will  in  manchen  Zügen 
nicht  materiell,  sondern  dcutsam  verslanden  sein. 


382 

Kloinoren  Lieder  befolgt.  Diese  Arisleien  tragen  die  Spuren  ilu'er 
friilieren  Existenz  als  Einzellied  noch  an  sich;  der  Anfang,  die 
ausführliche  Beschreibung,  erscheint  herübergenomnien.  So 
gewiss  nun  als  diese  bebende  Färbung  des  Auftretenden  als  solche 
hier  ganz  an  ihrer  Stelle  ist,  so  hat  sie  doch  einen  andern  Ton 
und  Geschmack,  in  den  gehäuften  Zahlen  der  Metallstreifen  und 
der  Mannigfaltigkeit  dieser  ein  grobsinnlicheres  Streben  als  dem 
Homer  beizumessen  richtig  scheint.  Sind  aber  selbst  die  Verse  vom 
Panzer,  dem  gewiss  prächtigen  Gehenk,  doch  wohl  niclit  später 
erst  eingeschoben,  geschweige  die  vom  Schilde,  so  hat  der  Dich- 
ter diese  Schilderung  eben  beibehalten.'*^)  Nach  der  Angabe  des 
beiderseitigen  Vorrückens,  47  —  66,  und  des  anfänglich  gleich 
stehenden  Kampfes,  84  fr.,  dann  der  von  den  Achäern  durchbroche- 
nen Schlachtordnung  der  Troer,  90,  also  einer  dermalen  für  die 
Achäer  glückliche  Wendung  folgt,  91  — 180,  das  Vorgehen  des 
Oberfeldherrn.  Da  folgt  erst  eine  Reihe  gar  lebensvoll  gezeichneter 
einzelner  Erfolge,  worauf  mit  kurzer  Bezeichnung  des  allgemeinen 
Kampfes,  148 — 157,  als  Gesammtwirkung  des  sieghaften  Helden 
die  Flucht  der  Troer  gegen  die  Stadt  hin  erzählt  wird.  Dies  ist 
der  Gang  der  wirklichen  Aristie,  es  ist  ihre  Höhe  erreicht,  das 
Weitere  wird  in  eigener  Weise  gestaltet  von  181  an.  Die  fliehen- 
den Troer,  zwei  Haufen,  deren  einer  sich  schon  weiter  gerettet 
bat  und  sich  jetzt  ordnet,  der  andre  hinter  diesem  nocli  vom 
Agamemnon  gejagt,  sie 'sind  noch  etwas  von  der  Stadtmauer  ent- 
fernt, die  Letztern  fliehen  ihr  noch  erst  zu.  Da  könnte  nun  eine 
Wendung  und  in  der  Sprache  eine  Satzform  eintreten,  wie  wir 
sie  1 1,  310.  6,  73  ff.  8,  217,  5,  679  f.  und  öfter  finden.  Der  Sieges- 
lauf des  Agamemnon  konnte,  da  ihm  die  Schaaren  folgten,  wenn 
nicht  wie  der  des  Patroklos  die  Gefahr  der  ^^ irklichen  Einnahme 


93)  Den  Schild  des  Againomnoii  s.  niif  dem  ivaslen  des  Kypselos, 
Paus.  5,  19,  4.  —  Das  Urllioil,  welches  Jacob  S.  242f.  vgl.  iiiil  S.  205 
fällt,  ist  aus  zu  wenig  Unisiclil  und  Bcaclilimg  der  hier  in  Bolraclil 
kommenden  Momente  hervorgegangen.  Der  Schild  des  Acliilles  im  18.  Ge- 
sänge stellt  und  entstellt  uiiler  gänzlich  verschiedenen  Uinstäiiden  der 
Handlung  und  der  Darstellung.  Es  hat  dieser  Verfasser  sogar  die  Dedeii- 
tung  der  ausführlichen  Besclireihungeii  nicht  erkannt,  die  Anrufung  der 
Musen,  welche  auf  Treue  des  Gedächtnisses  geschieht:  „wer  zuerst", 
ungenau  gelesen,  überliaupt  vorschnell  geurllicilt. 


383 

(16,  698),  doch  die  bringen,  dass  die  Troer  wieder  wie  vordem 
in  die  Älaueru  eingepfercht  wurden  und  die  Stadt  mit  Ilungers- 
noth  heimgesucht  (18,  286  —  292).  Der  Hort  der  Stadt  und 
Führer  ihres  Heers,  Hektor,  stand  da  dem  Dichter  und  seinen 
Hörern  vor  der  Seele  als  der,  welcher  diese  Gefahr  wahrnehmen 
und  dem  Agamemnon  entgegentreten  müsse,  und  seinem  Sinne 
nach  werde  er  also  herbeieilen,  da  er  vorher  von  Zeus  wegge- 
führt ist,  11,  163,^")  durch  Fernwirkung  (?).  Aber  es  kommt 
eben  in  diesem  Äloment  Zeus  (182 f.)  auf  die  Höhen  des  Ida  und 
sendet  eben  jetzt  das  Geheiss  an  Hektor,  sich  so  lange  fern  zu 
halten,  wie  Agamemnon  im  Vorderkampfe  sei.  Wie  der  gcslachehe 
Agamemnon  jetzt  so  gewaltig  ist,  will  Zeus  nach  seiner  Absicht 
dem  Hektor  Aveiteren  Erfolg  zu  geben,  ihn  nicht  gefährden,  so 
wenig  als  beim  Vorbehalt  für  die  Zukunft  den  Agamemnon.  Also 
nach  der  Parallelangabe  von  Zeus,  182 — 210,  thut  Hektor  das- 
selbe wie  5,  399 ff.  und  6,  lOSlT.,  er  waltet  anregend  umher  — 
dann,  wie  wir  zu  verstehen  haben,  geht  er  eine  Weile  abseits 
(bis  284).  Die  beiderseitigen  Heere  jedes  sammelt  und  dichtet 
sich  wieder,  und  wieder  tritt  Agamemnon  aus  dem  achäischen 
hervor,  ihm  aus  dem  troischen  entgegen  zuerst  Iphidamas,  216 
bis  221. 

In  der  Nähe  der  Stadt  ist  dieser  zweite,  kurze  Akt  der  Ari- 
stie.  Der  Dichter  ruft  die  Musen  an,  wie  öfters,  weil  es  beson- 
ders treuen  Gedächtnisses  bedarf,  um  etwas  ganz  Bestimmtes 
genau   anzugeben.  ^^)     Der  Kampf  mit   dem  in  diesem  Akt  zuerst 


94)  Die  V^erse  1G3  und  1G4  sind  eigener,  wolil  Bedenken  erregender 
Beschaffenheit;  wie  und  wohin  hat  Zeus  seinen  Scliülzliiig  gefiiln'l?  Was 
der  Schol.  B.  zu  diesen  Versen  lieinerkl:  „Gcscliiekt  erzählt  ist  dies,  dass 
er  dem  Agamemnon  erläge,  würde  der  Diclilung  (dorn  Plan  des  Gediclils), 
dass  er  selbst  ihn  nu'ede,  der  KühnlieiL  des  lleklor  entgegen  sein;  schön 
also  sagt  er,  Zeus  liahe  ihn  weggcfiihrl,  da  er,  war  er  dabei,  von  dem 
Gewaltigen  Etwas  erlitten  hätte".  —  Dies  passt  erst  auf  die  ausdnickliclie 
Wegweisung,  und  es  fragt  sich,  wie  diese  zur  Wegfülirung  jener  Verse 
sich  verhält.  Fäsi  fasst  beide  als  eins;  wie  dies?  Ich  möchle  die  Verse 
für  unecht  halten.  Der  Diaskeuast  wollte  die  Wundcrmacht  des  rellenden 
Zeus  recht  beredt  und  stark  zeichnen. 

95)  Wie  auch  14,  508.  16,  112.  In  allen  drei  Sleilcn  gehl  die  Anrufung 
ausdrücklich  auf  ein:  wer  zuerst,  und  elienso  auf  bestimnile  Kinzelne,  2, 
701.    Hier  ist  also  die  Ti'euc  der  Grund,  andiwwärls,  wo  es  eine  grosse 


_^  384 

l)ogognenden  Ipliid.'inias  giol)l,  den  Anlass  zu  der  Verwundung 
des  Agamemnon,  welche  ilin  nötliigl,  vom  Kampfplatz  zu  seinen 
Zelten  zu  fahren.  Iphidamas  AAird  von  ihm  gelödtet  und  ge- 
plündert. Dessen  Bruder  Koon  aher  trifft  ihn  am  Unterarm, 
und  die  hesonders  schmerzhafte  Wunde  macht  seiner  Ruhmes- 
bahn für  jetzt  ein  Ende.  Doch  zuvor  fällt  auch  Koon  noch  von 
seiner  Hand. 

Durch  die  so  haldige,  für  den  Augenhlick  lähmende,  aber 
nicht  schwere  Verwundung  des  Agamemnon  ist  des  Zeus  Be- 
stimmung erfüllt.  Ilektor  nimmt  es  sofort  wahr,  und  erhebt 
wieder  seine  anfeuernde  Stimme,  2S4f.  Dann  fällt  er  an  und 
tödtet  zehn  kurz  genannte  Führer  und  eine  Menge  Volks,  die 
ein  Gleichniss  beschreibt. 

Hier  treten  Odysseus  und  Diomedes  ein,  im  Fortgang  erfol- 
gen dann  die  Verwundungen  dieser  Beiden  mitten  im  tapfersten 
Kampfe.  Es  ist  aber  hier  zunächst  von  den  andern  beiden  aus- 
drücklich benannten  Aristieen  zu  handeln. 

b.  Aristie  des  Diomedes. 

Diomedes  thut  sich  nach  naiurgemässem  Kriegsgang  im  Ver- 
laufe des  ganzen  Kampfes  hervor ,  w  elcher  am  ersten  Tage  nach 
der  Musterung  beginnt,  4,  419  fr.  An  den  Ausgang  dieser  Muste- 
rung vom  Dichter  gestellt,  gieht  er  so  zu  sagen  das  Vorzeichen 
des  beginnenden  Kampfes  durch  seinen  Sprung  vom  Wagen. 
Nach  der  lebendigen  Schilderung  des  Zusamnienrückcns  der 
Heere,  422 — 456,  erscheinen,  Jeder  mit  einigen  Zügen,  welche 
])esonders  die  Besiegten  charakterisiren,    gezeichnet,    Antilochos, 


Vielheit  gilt,  die  Stärke,  2,  484 — 493.  Eine  ihetorische  Formel  der  Au- 
deulung  einer  grossen  Menge  ist:  wen  zuerst,  wen  zuletzt,  11,  299.  430. 
5,  703.  16,  692,  aber  auch  eben  den  Ersten  nur  mochte  der  Dichter  nicht 
immer  mit  Anrufung  der  Musen  finden,  8,  273.  Jene  Anrufungen  um  der 
Treue  willen  erfolgen  immer  inmitten  einer  Erziddung,  und  es  war  eine  irrige 
Meinung,  als  wären  diese  Anrufungen  noch  zu  erkennende  Anfänge  einzel- 
jier  Lieder,  Osann  Anecd.  Rom.  p.  265.  Und  chenso  wenig  richtig  urlheilt 
Fäsi  zu  unserer  Stelle,  und  noch  weniger  .Tacoh,  Entsteh,  der  Ilias,  242. 
„Darauf  werden  dic3Iusen  angerufen,  um  die  von  Agamemnon  Erschlagenen 
zu  nennen,  und  doch  sind  dies  nachher  nur  zw'ci".  Nicht  lun  die  Er- 
schlagenen, sondern  den  Einen  Ersten,  und  wenn  gezählt  sein  soll, 
kommen  die  zwei  zu  den  vorigen. 


385 

der  lelamonische  Aias,  Odysseus  während  Apollon  und  Athene 
beiderseitig  einwirken,  auch  Thoas  gegen  Peiroos,  518  —  538. 
Jelzt  —  nach  der  gramniaüschen  Ahlheilung  zu  Anfange  des  5. 
Gesanges  —  5,  1 — 8,  die  glänzende  Erscheinung  des  Diomedes, 
worin  wir  den  Eingang  eines  früheren  Einzellieds  erkennen.  Er, 
von  4,  419  her  zu  Fuss,  I3ff.  ,  besiegt  ein  Brüderpaar  zum 
Schmerz  der  Troer,  27  f.  Schlau  und  im  Interesse  der  Griechen 
und  besonders  des  Diomedes  beredet  Athene  den  Ares,  ruhig 
zuzusehen,**^)  wie  ihn,  355,  Aphrodite  findet,  während  ihn  erst  Apol- 
lon, 454,  aus  dieser  Ruhe  aufregt.  Hierauf  wird  in  Ankündigung 
der  Wirkung  des  Folgenden  gesagt,  die  Troer  seien  den  Achäern 
gewichen,  37,  Dies  wird  erklärt  durch  eine  Reihe  einzelner  Tha- 
ten,  38 — 42,  des  Agamemnon,  43 — 48,  des  Idomeneus,  49  —  58, 
des  Menelaos,  59 — 68,  des  Meriones,  69 — 75,  des  Meges,  76  bis 
83,  des  Eurypylos,  d.  i.  der  meistens  auch  sonst  genannten  Streit- 
barsten, Doch  wo  ist  Diomedes?  Ihn  beisst  es,  85,  konnte  man 
überall  sehn,  wie  ein  Waldstrom  warf  er  Alles  nieder.  Auf  den 
Daherwüthenden  schiesst  jener  Pandaros  seinen  Pfeil  ab  und 
trifft  ihn  an  der  Schulter  nicht  ganz  leicht,  so  dass  er  sich  den 
Pfeil  ausziehn  lässt  und  seine  Athene  anruft.  Von  ihr  gestärkt 
und  ermuthigl  hat  er  dreifachen  Muth  und  erlegt  nun,  144 — 165 
vier  Paare,  je  zwei  Kämpfer  und  Wagenführer,  Jetzt  gesellen 
sich  Aeneas  und  Pandaros  und  fahren  ihm  entgegen,  eine 
Scene  voll  dramatischen  Lebens,  166  —  273,  Prahlend  wirft 
Pandaros  seinen  Speer  auf  Diomedes;  doch  der  prallt  vom  Pan- 
zer ab.  Dafür  schleudert  Diomedes  sein  Geschoss  auf  ibn,  und 
dieselbe  Athene,  welche,  4,  92ff. ,  den  Manu  zum  treulosen 
Schuss   auf  Menelaos   verführt   halte,    sie  lenkt  den  Wurf  (290) 


96)  Diese  Aiigal)e  ist  ;illor(lings  eigonthiimlich.  Ares  und  Athene,  die 
beiderseitigen  Kriegsgöllor,  luillen  sie  nur  die  erste  Anregung  gobensollen, 
4,  439?  Aber  Athene  ersclioinl  sclion  125 — 132  dem  Diomedes  persön- 
lich ;  süirkt  ihn  und  giehl  ihm  Anweisung  für  die  nächste  Begegnung  mit 
Aeneas  und  Aphrodite.  Diomedes  verwundet  etwas  weiter  hin  die  Aphro- 
dite, 335 f.  Und  als  sie  dies  im  Olymp  klagt,  sagt  Zeus,  der  Krieg  sei 
des  Ares  und  der  Athene,  nicht  ihre  Sache.  Genug,  wir  müssen  jene 
Ueherredung  als  eine  List  der  Athene  erkennen  und  zwar  vornehmlich  zu 
Gunsten  ihres  Diomedes.  Eiideuciilcnd  a])er  ist  das  Verhällniss  der  beiden 
Kriegsgölter  in  der  nacinnaligen  Erzählung,  wie  Athene  den  Ares  bewäl- 
tigt, und  später  im  15.  Gesang  ilm  zurückhält. 

Nitzsoh,  Gesch.  d.  gi  iech.  Epos.  25 


_    386 

dass  Pandaros  stürzt  und  das  Gespann  scheuet,  294,  welches 
nach  nachgehrachter  ParaUele  Kapaneus  Sohn  erfasst,  319,  wie  ihn 
Diomedes  geheissen,  263  fl".  Aeneas,  bemüht  den  Leichnam  zu 
retten ,  wird  von  Diomedes  mit  einem  gewaltigen  Steine  an  dem 
Hüftgelenk  getrofl'en,  und  wia  er  in's  Knie  sank,  halte  Diomedes 
oder  ein  anderer  ihm  den  Garaus  gemacht,  wenn  die  Mutter 
Aphrodite  ihn  nicht  gedeckt  hätte,   315  —  317. 

Jetzt  verfolgt  Diomedes  die  den  Sohn  wegtragende  Göttin, 
die  er  nach  der  ihm  von  Athene  gewordenen  Weisung  (127  bis 
1311.)  sich  nicht  scheut  zu  verwunden.  Beim  Stich  in  den 
Arm  lässt  sie  den  Sohn  fallen;  ApoUon  zieht  ihn  empor.  Die 
hier  eintretende  Parallelerzählung  von  der  Aphrodite  Rückkehr 
in  den  Olymp,  ihrer  Klage  im  Schoosse  ihrer  Mutter  und  was 
von  Spott  der  andern  Götter  und  sonst  folgt,  352 — 431,  sie  unter- 
bricht allerdings  einen  sehr  prägnanten  Moment.  Apollon  hat  den 
Aeneas  aufgerichtet  vmd  hält  ihn,  indem  er  ihn  unsichtbar  macht, 
in  seinen  Händen.  In  diesem  Augenblicke  stürmt  Diomedes  gegen 
den  Aeneas  an,  und  wohl  erkennt  er  den  schirmenden  Gott;  aber 
in  der  Heftigkeit,  mit  der  er  immer  erscheint,  namentlich  den 
Donnern  des  Zeus,  8,  170 f.,  so  schwer  weicht,  stösst  er  ihn 
hier,  wo  ihm  der  Schutzgott  den  schon  Geschlagenen  entreissen 
will,  so  lange  als  hinter  einander  drei  Stösse  dauern  fort  und 
scheuet  diesen  Augenblick  lang  den  grossen  Gott  nicht;  da  ruft 
ihn  Apollon  heftig  an  und  nun  geht  er  zurück.*^')  In  der  präg- 
nanten Handlung  versetzt  Apollon  den  wahren  Aeneas  in  seineu 
Tempel,  wo  er  von  Artemis  und  Leto  gepflegt  wird,  auf  dem 
Schlachtfelde  schafft  er  ein  Schattenbild  des  Entrückten  ,  um  das 
nun  Troer  und  Achäer  streiten. 

Jetzt  nach  der  Begegnung  mit  dem  heftigen  Diomedes  ruft 
Apollon,  der  Stadtgott,  den  Ares  aus  seiner  Ruhe  auf,  dass  er 
jenen  hemme,  er  selbst  nimmt  auf  der  Biu'g  Platz,  454  —  460. 
Ares,  der  in  Thrakien  heimische  (13,  301),  ruft  in  Gestalt  des 
thrakischen  Akamas  (6,  7)  die  Söhne  des  Priamos  zur  tapferen 
Abwehr   (5,    464  fl'.),    zunächst   zur  Rettung   des  Aeneas   auf  als 


97)  Er  vergriff  sich  zwar  nicht  nnApollon  scihsl,  liesssicli  al)or  (hircli 
dessen  Nähe  auch  (diesen  Augenblick  lang)  nicht  von  weiteren  Angrilfen 
abhalten;   handelte   also    der  Vorsclirifl  iler  Athene,    130f.,  (insoweit) 


387 

wäre  er  schon  gefallen  —  nach  den  Scholion  nicht  in  Unwissen- 
heit, sondern  um  noch  mehr  anzufeuern. 

So  weit  sehn  wir  guten  Fortgaug.  Aber  statt  dass  nun  die 
aufgerufenen  Sohne  des  Priamos  sich  sofort  zeigen  sollten,  und 
zwar  in  Folge  jenes  Aufrufs  des  Ares,  erscheint  in  unserm  Text 
Sarpedon  und  spricht  gegen  Hektor  eine  Mahnung  ganz  ähnlichen 
Inhalts  aus,  wie  die  vorliegende  des  Gottes.  Das  kann  nicht 
vom  verständigen  Dichter  kommen.  Eine  genauere  Prüfung  lehrt, 
dass  in  Homers  Anlage  mehrfache  Einschiehsel  zu  Ehren  des  Sar- 
pedon geschehn  sind,  und  zwei  solcher  eben  in  diesem  Gesang 
hier,  470  —  492,  dann  628  —  698.«*)  Wir  haben  nur  493  in  den 
Anfang  des  Verses  statt  Sarpedon  Akamas  oder  Ares  gesetzt  zu 
denken,  sonst  geht  die  Erzählung  gleichmässig  fort.  Der  d'.irch 
die  Ausscheidung  der  beiden  Stellen  gewonnene  Gang  zeigt  den 
Hektor  von  Ares  angeregt,  wie  er  und  neben  ihm  der  Gott  und 
der  zur  Freude  der  Troer  frisch  und  gesund  wieder  erscheinende 
Aeneas  den  Kampf  erneuen,  während  andererseits  (519)  mehre 
achäische  Helden,  mit  denen  Diomedes  nur  genannt  wird,  und  vor- 
züglich Agamemnon  (528)  die  (brigen  antreiben.  So  folgt  nun  ein  Bild 
des  allgemeinen  Kampfes  anschaulich  und  l)elebt  durch  Thaten 
Einzelner,  von  denen  auf  jeder  Seite  wieder  Einzelne  mehr  her- 
vorgehoben sind,  als  Andere.  Weiterhin  hat  dem  gefährdeten 
Menelaos  Antilochos  sich  zugesellt;  vor  ihnen  weicht  Aeneas, 
751  f.  Sie  aber  erlegen  das  Heldenpaar  eines  Wagens.  Diesen 
Fall  erschaut  Hektor  und  führt  mit  Kriegsruf  die  Schaareu  auf 
sie  zu,  und  Ares  ist  wieder  in  i übrigster  Thätigkeit  um  ihn 
(593  —  595).  So  sieht  ihn  Diomedes  und  weicht  vor  dem  Mann, 
dem  immer  ein  Gott  zur  Seite  steht  (603),  eben  dieses  Be- 
gleiters wegen  und  gebietet  so  auch  seinen  Leuten.  Hektor 
dringt  heran  und  tödtel  zwei.  Aias  rächt  sie  und  will  den 
von  ihm  Gefällten  aucli  plündern  (621  ff.);  doch  ein  Regen 
von  Pfeilen  treibt  ihn  zurück  ,  so  gewaltig  er  isl.  Gerade 
dieselbe  Lage  ist  hinter  der  hier  eingeschobenen  Episode 
vom  Sarpedon  und  Tlepolemos,  die  Achäer  müssen  weichen 
vor  Ares   und  Hektor  (699),  die  jetzt  eine  grössere  Zahl  nieder- 

98)  (jcnaiier  im  Progr.  von  Gisekc:  Qiiaorilur,  luiiii  (|iias  lielli  Trojaiii 
partes  Ihtmerus  nnn  ad  veiilahMii  iiarrassc  viilcaliir.  iMtMiiiiigen,  1S54. 
S.  5  f.    A.  Jacoli,  Enlslcli.  d.  II.  2(r,i.  Vv.   Vieles  daliei  iiiclit  zu  Biiligcndes. 

25* 


388 

strecken.  Dadurch  schmerzlich  betroffen  (711),  machen  Here 
und  Athene  sich  auf,  dem  rasenden  Ares  Einhalt  zu  thun.  Beide 
—  nach  des  Dichters  Brauch  durch  Beschreibung  gehohen  —  Here 
mit  ihrem  Wagen,  Athene  in  voller  Biistung  —  sie  fahren  zunächst 
zu  Zeus,  um  dessen  Genehmigung  ihres  Vorhabens  (755f.)  ein- 
zuholen. So  autorisirt,  den  Ares  zu  zahmen,  fahren  sie  schnell 
wie  der  Gedanke  zum  troischen  Felde  (773  —  777).  Hier  ent- 
eilen sie  im  Schwünge  des  Taubenfluges  zu  der  Stelle  des  Griechen- 
heeres, wo  eine  Anzahl  der  Besten  um  Diomedes  versammelt  ist 
(781).  Here  lässt  ihre  Stimme  gleich  der  des  Stentor  erschallen  zur 
allgemeinen  Anfeuerung,  die  sie  durch  die  Hinweisung  verschärft, 
wie  anders  jetzt  die  Troer  sich  vorwagten,  als  in  der  Zeit,  da 
sie  noch  des  Achill  schreckliche  Lanze  gefürchtet.  Athene  da- 
gegen eilt  sofort  zu  ihrem  Diomedes  hin  (793).  Sie  findet  ihn 
jetzt  an  der  Wunde  des  Pandaros,  welche  ihre  vorige  Stärkung 
ihm  unfühlhar  gemacht  hatte,  wieder  mehr  leidend;  das  Schild- 
gehenk  drückt  heiss  auf  die  verwundete  Schulter,  eben  hob  er 
den  Biemen  und  wischte  sich  das  Blut  ab  (798).  Die  Göttin 
muthet  ihm  auch  so  allen  Kampfmuth  zu  und  mahnet  ihn  so  an 
seinen  Vater.^^)  Er  erw ledert,  gerade  aus  Gehorsam  gegen  ihr 
Gebot  keinem  Gott  entgegen  zu  treten  ausser  der  Aphrodite, 
er  weiche  vor  Ares  zurück.  Da  heisst  ihn  die  jetzt  wider  den 
wüthigen  Gott  Aufgebrachte  im-Gegentheil,  auf  Ares  das  Gespann 
zu  lenken  und  loszustossen.  Schon  bei  diesen  Worten  zog  sie 
den  Wagenlenker  Kapaneus  herab,  stieg  auf  neben  dem  Diome- 
des, erfasste  Zügel  und  Peitsche  und  hielt  auf  Ares.  Der  Helm 
des  Aides  macht  sie  auch  dem  Gott  unsichtbar'"")  Ares  wird  n)il  thä- 
tigster  Hilfe  der  Athene  von  Diomedes  verwundet  und  schreit  wie 
neun-  oder  zehntausend  Krieger.    Dieses  Schreien  wird  ebenso  dem 


99)  Dass  hier  die  Göttin,  in  4,  370  Agamemnon  den  Diomedes,  wo  sie 
ihm  Mangel  an  Kampfmuth  Schuld  gehen,  ilin  durch  Mahnung  an  seinen 
Vater  aufrufen,  ist,  zumal  hei  ganz  verschiedenen  Wendungen,  nur  natür- 
lich. Eher  wäre  zu  hemerken,  wie  die  Göttin  nur  kurz  an  die  llauptthal 
mit  dem  Gegensatz  ihrer  Warnung  erinnert. 

100)  Ohne  irgend  weitere  Untersuchung  ül)er  (hesc  Tarnkappe  der 
griechischen  Sage  ist  nur  gegen  A.  Jacoh,  Entsteh,  der  Ilias  200  zu  he- 
merken: Die  Vorstellung,  ,, Athene  hahe  üher  ihren  grossen  Helm  sicii 
den  noch  grösseren  des  Hades  aufgesetzt",  gieht  eine  unstaltliafte  Aus- 
deutung.   Dieser  Hehn  will  nicht  so  materiell  verstanden  sein. 


389 

Poseidou,  14,  148,  beigelegt,  ^vo  die  Hyperbel  minder  schicklieb 
ist,  für  den  Aufruf  zum  Kriegsmiith  als  hier,  wo  es  Schrecken 
erregt.  Denn  Züge  einer  riesigen  Natur  finden  wir  in  der  Dar- 
stellung der  Gölter  öfters.*"')  Der  verwundete  Gott  fährt  zum 
Olymp  und  hört  von  Zeus,  wie  widerwärtig  er  dem  höchsten  Gott 
mit  seinem  wilden  Charakter  ist.  Athene  und  Here  kehren, 
nachdem  sie  ihre  Absicht  erreicht  haben,  eben  dahin  zurück. 
So  ist  die  zwiefache  Siegesbabn  des  Diomedes  zu  Ende. 

Insofern  mm,  wenn  wir  eben  nur  seine  eigentlichen  Thaten 
rechnen,  er  in  zwei  Aristeien  nach  einander  geschildert  ist,  kann 
eine  getrennte  Behandlung  dieser  in  vorbomerischen  Liedern  für 
möglich  gelten.  Allein  in  der  vorliegenden  Folge  steht  die  zweite 
im  natürlichsten  Zusammenhang  mit  der  ersten.  Ares,  den  Rek- 
tor umgebend  und  um  ihn  her  schaltend,  wird  Ursache  zum  Gange 
(1er  Göttinen  und  zum  Eifer  der  Athene,  indem  sie  mit  ihrem 
Diomedes  den  wilden  Gott  selbst  angreift.  Dieser  eigenthümlicb 
mittelbare  Kampf  der  achäischen  Kriegsgöttin  gegen  den  troiscben 
Gott  wird  unstreitig  schon  älter  sein;  aber  fälschlich  fand  man 
in  dem  offenen  Verfahren  der  Göttin  gegen  ihren  Betrauten  et- 
was Abw  eichendes.'"^)  Es  hat  die  ganze  Erzählung  ihren  moti- 
virten  Forlgang  und  dies,  wie  beim  ersten  Hervortreten  des  Vor- 
kämpfers, so  nach  desselben  Zurückweichen  vor  Apollon  (443f,)  u. 
s.  w.  Der  Einzelkampf  gegen  den  Troergott,  Ares,  ist  geendigt 
und  er  vertrieben,  nnd  auch  Here  sammt  Athene  haben  die  bei- 


101)  Einzelnes  der  Art  gehört  unechten  Stellen  an;  so  21,  407  Ares, 
was  mit  Od.  11,  576  nicht  zu  rechlferligcn  ist,  denn  die  enormen  lio- 
stalten  der  Urwelt  wurden  vom  verständigen  Dichter  nicht  auf  die  Gnltor 
übertragen.  S.  Herrn.  Op,  IV.  206.  Die  Slinnne  oder  die  Schrille  der 
Götter,  wie  sie  sich  forlschwingcn  (13,  201'.  vgl.  14,  227 — 230),  sind 
ein  Anderes  als  die  Gestalt  und  die  Glieder.  Bei  14,  272,  wo  die  scliwö- 
rende  Here  den  Erdboden  mit  der  einen,  das  Meer  mit  der  andern  Hand 
berühren  soll,  kann  der  Stand  auf  der  Insel  gedacht  sein.  Ueber  das  Hun- 
dert 5,  744  s.  Herrn,  a.  a.  0.  291  und  Fäsi.  Anm.  zu  dieser  wie  zur  vor- 
hergehenden Stelle. 

102)  Das  Genauere  weiterhin.  Die  Götter  oflcnharen  sich  nändicli  nur 
nach  ihrem  Willen  meistens  ihren  Schützlingen,  aber  zuweilen  und  im  Zorn 
auch  den  Gegnern.  Sie  sind  an  sich  weder  unsichtbar  noch  siclitljar,  nur 
verhüllen  sie  sich  gewöhnlich.  Die  Vcrlrautheit  der  Alliene  niil  Diomedes, 
wie  die  derselben  mit  Odysseus  in  Od.  13  ist  mit  der  der  Aphrodite  und 
Helena  in  II.  3  zu  vergleichen. 


•  390 

den  Heere  wieder  sich  selbst  überlassen  (6,  J ).  Jetzt  aber,  wo 
Hektor  und  seine  Troer  göltlicbe  Hilfe  nicht  mehr  haben,  bricht 
zuerst  Aias  die  Iroische  Reihe  durch  Erlegung  des  tapfersten 
Thrakers  Akamas  (7);  Dioraedes  (12)  und  eine  Reihe  Anderer 
(20.  29  f.  37  ff.)  tödten  gleicher  Weise  Viele.  Da  sind  die  Troer 
in  Bedrängniss.  Obgleich  die  mehren  andern  Helden  zu  dieser 
Bedrängniss  mitgewirkt  haben,  Diomedes,  der  heute  so  vor  Allen 
gewüthet,  so  Namhafte  erlegt  oder  schwer  verwundet  hat,  er 
ist  es ,  gegen  den  es  gilt ,  göttlichen  Beistand  zu  suchen, 
und  eben  seine  Schutzgöttin  wird  auch  in  Troia  verehrt.  So 
tritt  hier  der  Seher  Helenes  ein,  dem  es  nach  seiner  Be- 
gabung besonders  nahe  liegt ,  Gottesdienst  anzuordnen ,  wie  er 
es  nur  sein  konnte,  der,  7,  44,  das  Gespräch  der  beiden  Götter 
vernahm.  Er  also  fordert  seinen  Bruder  Hektor  und  den  Aeneas 
auf,  ihre  Schaaren  zum  Schulze  der  Stadt  zu  ordnen  und  anzu- 
regen, dann  möge,  während  die  Zurückbleibenden  Stand  hielten, 
Hektor,  der  troische  Befehlshaber,  zu  seiner  Mutter,  der 
Königin,  hineingehn  und  ihr  einen  Bittgang  zu  Athene  mit  Weih- 
geschenk und  Gelübde  auftragen,  dass  die  Göttin  den  Diomedes 
von  Ilios  zurückhalte.  Der  Seher  bezeichnet  die  Eurchtbarkeit 
des  Diomedes  in  Vergleichung;  selbst  den  Achill  hätten  sie  ehe- 
dem {nota  6,  99.)  nicht  so  gefürchtet.  Helenos  meint  nämlich 
die  Zeit,  da  die  Troer  sich  aus  Furcht  vor  Achill  in  den  Mau- 
ern hielten  und  sich  nur  verstohlen  und  einzeln  herauswagten."*') 
Es  ist  seine  persönliche  Sprache,  dass  er  den  Grad  der  damali- 
gen Furcht  durch  diese  Vergleichung  misst.  Achill  ist  der  Ty- 
pus der  Heldenkraft  für  den  troischen  Seher  wie  für  Agamemnon 
7,  113,  wo  er  den  Menelaos  vom  Kampf  mit  Hektor  abmahnt. 
Den  Hektor  brachte  Diomedes  und  brachte  Aias  in  Todesgefahr 
(11,  354-360.  14,  409  —  418.),  und  in  der  ganzen  Ilias  herrscht 
neben  dem  Gedanken  an  den  mächtigen  Achill  der,  dass  die 
Troer  mit  all  ihren  Helden  nachstehn,  und  einst  werden  unter- 
liegen müssen.  Nur  Zeus'  Gunst  für  Hektor  und  sein  jetziger  Plan*"*) 

103)  5,  788 f.  9,  352 f.  15,  721.  Einzelne  gefasst  oder  verfolgt: 
11.  104  —  106.  21,  34  —  37.  20.  89  —  91.  —  Daneben  die  Furcht  vor 
seinem  Wiedererscheiuen  18.  261 — 265. 

104)  Schol.  13.  zu  11  Anf. ;  „Durch  die  Geschicke,  nicht  durch  die 
Gesinnungen  geschah  es,  dass  die  Griechen  nachstanden". 


391 

braclile  deoi  Ilektor  solchen  Erfolg  und  den  Griechen  das 
Verhingen  nach  Achills  Beistand.  So  darf  man  nicht  sagen 
jenes  Wort,  das  den  Diömedes  ja  über  Achill  seihst  erhebe, 
könne  nicht  vom  Dichter  des  Zorns  kommen.  Dieser  hat  unver- 
kennbar die  von  Diömedes  erregle  Furcht  als  3Iotiv  gehraucht, 
den  Hektor  nach  der  Stadt  gehen  zu  lassen,  Hektors  Tod  ist  es 
vor  Allem,  ^vas  den  Sageiitheil  vom  Zorn  als  Thcil  der  Sage 
vom  ganzen  Kriege  charaklerisirt,  und  wie  er  in  der  ersten  Partie 
als  Vorkämpfer  und  Oberfeldherr ^'*^)  geschildert  wird,  sollte  er  bei 
jenem  Besuch  sich  recht  als  der  Streiter  für's  Vaterland  kundgeben 
als  der  er  in  der  weiteren  Handlung  nach  all  ihrem  sittlichen 
und  nationalen  Geist  erscheint. 

In  dieser  Weise  gehl  die  Arislie  des  Diömedes  in  den  Gang 
des  Ilektor  aus,  den  wir  wohl  ganz  als  des  Dichters  Erfindung 
zu  achten  haben.  Nach  dem  Cilat  des  Ilerodot  2,  116,  welcher 
die  Verse  6,  289  —  293  unter  dem  Titel  Arislie  des  Diömedes 
anführt,  mochte  vor  der  Abtheilimg  in  24  Rhapsodieen  jener  Titel 
vermuthlich  bis  311   bemessen  werden. 

0.  Aristie  des  Menelaos. 

Der  17.  Gesang,  welcher  als  die  Aristie  des  Menelaos 
betitelt  ist,  erzählt,  nachdem  Patroklos  im  16.  von  Hektor  unter 
Mitwirkung  des  Euphorbos  und  des  Apollon  niedergeworfen  ist, 
den  Kampf  um  die  Leiche  dieses  Helden.  Sein  Ende  erreicht 
dieser  Kampf  aber  erst,  wie  schon  bemerkt,  durch  Achills  Hervor- 
treten ,  seine  Erscheinung  und  a\  undervoll  verstärkte  Stimme 
scheucht  erst  die  Troer  und  rettet  den  Leichnam.  Hier  nun 
musste  die  Botschaft  vom  Fall  des  Freundes  an  Achill  gelangt  sein. 
So  sehn  wir  im  17.  Gesänge  die  verschlungene  Parallelcrzählung 
vom  Kampfe  für  die  Leiche  und  von  der  Sorge  für  Achills  Be- 
nachrichtigung. Diese  Parallele  gilt  auch  in  dem  Anfan^gstheil 
des  18.,  aber  die  Ankunft  des  Boten  bei  Achill,  der  hier  zum 
büssenden  und  rächerischen  wird,  liildet  aus  diesem  tiefen  Grunde 
einen  neuen  Abschnitt. 

Jene  Benennung  Arislie  zeigt  sich  hier,  wie  sie  auf  den 
ganzen  Verlauf  des  Gesanges   ausgedehnt   ist,   besonders  augen- 

105)  3,  76.  86.  324.  6,  104  f.  8,  502 — 525.  Im  Vcrliältniss  zu  Puly- 
dainas  12,  230  IT.   18,  285  ff.   13,  802.   14,  389  f.   15,  209  f.  306.  48511.  718. 


392 

fällig  so  zu  sagen  als  blosse  Titelvignette,  denn  buchstäblich 
trifl't  sie  nur  den  Anfangstheil,  1 — 69.  Es  tritt  Menelaos  sofort 
nach  Patroklos'  Fall  für  die  Leiche  ein  und  dem  Euphorbos  ent- 
gegen. Er  besteht  diesen  siegreich,  aber  als  er  ihn  plündern 
Avill,  sieht  er  den  Hcktor  mit  seinen  Schaaren  heranstüi'nien. 
Da  zieht  er  sich  vor  dem  „von  der  Gottheit  Begünstigten"  unter 
Worten  der  Rechtfertigung  langsam  zurück,  und  ruft  in  die 
Ferne  nach  Aias.  Die  Waffen  des  Gefallenen  hat  Hektor  schon 
erbeutet,  17,  130  f.  Die  Leiche  aber  deckt  nun  Aias  mit  seinem 
Schilde  beAvehrt,  und  neben  ihm  Menelaos.  Hektor,  der  zuerst 
vor  Aias  gewichen,  ^vie  des  Glaukos  Vorwurf  (166f. )  und  das 
eigene  Geständniss  lehrt,  ermannt  sich,  ruft  gewaltig  die  Seinen 
auf,  holt  die  weggeschickte  Rüstung  des  Patroklos  zurück ,  und 
thut  sie  an  (119.  210.).  So  männiglich  Andere  auffordernd 
geht  er  dem  Aias  entgegen,  und  Aias,  obwohl  zunächst  bestürzt, 
so  dass  er  Hilfe  herbei  zu  rufen  auffordert,  er  ist  und  bleibt  es 
weit  mehr  als  irgend  ein  Anderer,  der  Widerstand  leistet;  seine 
Aristie  könnte  dieser  Theil  mit  fast  grösserem  Recht  heissen. 
Menelaos  vollbringt  zwar,  von  Athene  gestärkt,  auch  noch  einen 
Kampf  (553  fr.  578.),  aber  mehr  doch  besorgt  er  auf  des  Aias 
Anregung  die  Benachrichtigung  des  Achill  und  hebt  mit  Meriones 
die  Leiche  auf,  sie  zu  Achill  zu  tragen. 

d.  Die  Namen  der  Partieen. 

So  also  verhält  es  sich  mit  den  drei  benannten  Aristeien 
nach  der  bedingten  Bedeutung  des  Ausdrucks  und  ihrer  Verwebung 
in  die  Handlung.  Ebendaher  hätte  dieselbe  Benennung  mehren 
Partieen  mit  gleichem  Rechte  gegeben  werden  können.  Der 
Scholiast  B.  zum  Anfang  der  Aristie  des  Agamemnon  bezeichnet 
die  letzte  Kampfbahn  des  Diomedes,  etwa  von  316  an  bis  400, 
wo  er  auch  zu  den  Zelten  niuss,  und  die  kurze  des  Odysseus 
ebenfalls  als  Aristeien.  Also  nennen  Avir  nicht  unpassend  so 
auch  den  Zweikampf  des  Aias,  7,  206—312,  die  Erweisung  des 
Teukros,  8,  278—334,  den  Kampf  des  Idomeneus,  13,  361  bis 
517,  und  die  sich  anschliessenden  des  Meriones,  des  Antilochos, 
des  Menelaos,  bis  659,  obgleich  immer  dabei  mehre  Streiter  im 
Wechsel  eingeführt  werden.  Weiterhin  folgt,  nachdem  die  Er- 
zählung  zu  Hektor   übergegangen  ist,    674 f.,    der  Kampf  (809) 


393 

des  Hektor  und  Aias  und  Avieder,  14,  402,  avo  Aias  den  Heklor 
olinmäclitig  macht.  Alle  die  Einzelkämpfe  des  13.  Gesanges  stehn 
unter  dem  allgemeinen  Titel:  Der  Kampf  bei  den  Schiffen. 
Das  ist  denn  einer  der  Titel,  an  denen  wir  den  eigenthümlich 
nationalen  Gesichtspunkt  erkennen,  aus  dem  eine  Reihe  dieser 
Titel  gewählt  wurden.  Die  Gesänge  8,  12,  13,  2ü  und  21  sind 
als  Erzählungen  von  Kämpfen  bezeichnet,  der  abgebrochene 
Kampf,  der  3Iauerkampf,  der  bei  den  Schiffen,  der  Götterkampf, 
der  beim  Elusse.  "Wie  diese  Namen  in  dem  Sinn  gewählt  sind, 
nach  welchem  man  die  Ilias  als  Kriegsgedicht  betrachtete  (Arist. 
Frösche  1035 f.)  und  sie  von  der  Odyssee  als  Friedens  oder 
Mussegedicht,  oder  von  dem  Werke  des  Hesiod  von  Hausgeschäf- 
ten unterschied,  so  erscheinen  auch  die  Aristeien  in  gleichem 
Gedanken  benannt.  iNeben  diesen  Namen  sehn  wir  einige  Be- 
zeichnungen, Patrokleia  und  Doloneia,  von  summarischer  Bedeu- 
tung. Doloneia  wechselte  mit  Nachtwache  als  Name  des 
10.  Gesanges,  jener  Episode  von  des  Diomedes  und  Odysseus 
nächtlichem  Abenteuer  gegen  das  thrakische  Lager,  wobei  sie  den 
Späher  Dolon  fingen.  Den  Namen  Patrokleia  hat  bei  den 
Grammatikern  nur  das  16.  Buch,  aber  unstreitig  gehörte  das  17. 
auch  dazu,  und  wenn  der  Kampf  um  die  Leiche  des  Patroklos 
erst  im  18.  endet,  so  gebot,  wie  schon  bemerkt,  die  eintretende 
Ankunft  der  Nachricht  bei  und  Wirkung  auf  Achill,  hier  einen 
neuen  Abschnitt  zu  machen. 

Jenem  nationalen  Gesichtspunkt  mag  es  zuzusehreiben  sein, 
dass  kein  Theil  der  Ilias,  auch  kein  kürzerer,  vom  Erfolg  eines 
troischeu  Helden  den  üblichen  Namen  hat,  da  doch  Hektor  und 
Sarpedon  sich  ihrerseits  ebenfalls  hervorlhun  und  ihr  Eintritt 
zum  Theil  ausdrücklich  durch  Beschreibung  gehoben  wird.  Hek- 
tors  erster  Siegestag  im  8.  Gesänge  gab  dem  Dichter  freilich  Anlass, 
viel  Parallelhandlung  aus  dem  Olymp  zu  erzählen,  aber  hcisst 
dessen  einer  Titel  die  Götter  Versammlung  {&£c5v  ayogä) 
so  wäre  als  zweiter  Hektors  Drohun  g  treffender  gewesen,  als 
der  abgebrochene  Kampf."""')  Den  12.  Gesang  bezeichnete 
die  poetische  Ueberschrift  am  besten: 
12  hat  den  Kampf  um  die  Mauer,  es  sprengt  sie  der  glänzende  Hektor. 

106)  8,  489fr.    Abgebrochen  zwar  wird  er  wiiklicli  (liircli  das  ein- 
tretende Dunkel  500,  aber  auf  das  Weitere  weist  526 — 541.    Uehrigens 


394 

Doch  es  wird  dioulicli  sein,  überliaupt  genauer  nachzuweisen, 
wie  es  sicli  niil  der  Ablheihnig  in  so  genainilen  Ilhapsodieen  und 
nnl  den  einzehieu  Benennungen  dieser  nach  dem  Zengniss  der 
Geschichte  verhält. 

Abschnitt  II. 

Ilomers  Bedeiitiiiig  für  die  Gesrhichte  ilcr   Rhapsodie. 

15.  Fortsetzung.  Weder  ist  die  Bezeiclinung  derlvlei- 
iieu  Lieder  al  ö  Rh  ap  sod  ieen  geschichtlich,  iiocli 
können  d  i  e  v  o  m  I  n  h  alt  e  n  t  n  o  m  in  e  n  e  n  N  a  m  e  n  der 
Partieen  als  Kennzeichen  selbständiger  Lieder 
gelten. 

Wenn  heulige  Schriltsteller  die  Einzellieder  der  voriioniei-i- 
sciien  Periode  Hhapsodieen  nennen,"")  so  ist  dies  ein  ganz  moder- 
ner Sprachgebrauch.  Er  lässt  sich  mit  kurzem  Wort  als  eigent- 
lich ungeschichllich  darthun.  Erst  die  Grammatiker  unter  den 
Ptolemäern  —  schon  Zcnodol,  niclit  erst  Aristarcli  —  theilten 
die  beiden  Epopöen  nach  dem  Zahlenalphabet  in  je  24  Bücher, 
urul  nannten  diese  nach  blosser  Analogie  der  für  die  einzelnen 
Vorträge  geeigneten  Partieen  Bhapsodieen.  In  der  ganzen  Vorzeit 
des  freien  Griechenlands  und  der  Blüthe  des  lebendigen  Vortrags 
der  homerischen  und  andern  älteren  Epopöen  wurde  eben  nur 
die  epische  Poesie  vom  Standpunkt  der  Hörer  aus  nach  der  Vor- 
tragsart im  Ganzen  Rhapsodie  genannt/"*)  Dagegen  sind  wir  nicht 
im  Stande,  in  jener  älteren  Zeit  eine  festbegrenzte  Abtheilung  der 
Ilias  und  Odyssee,  ein  anerkanntes  System  ihrer  einzelnen  Tlieile 


bedeutet  xoXog  die  [idirj  niclil  wie  Eusl.  ci klärt,  als  die  kurz  beschrie- 
bene im  Vergleicl)  mit  dem  vorhergehenden  Tage  in  Gesang  4 — 7  und 
dem  späteren,  der  sich  von  11 — 18  ausdehnt. 

107)  Goelhe,  Briefw.  zw.  Seh.  u.  0.  3.  S.  184:  „Die  unzäldigon 
Rliapsudioen ,  aus  denen  nachher  die  beiden  Gedichte  so  glücklich  zu- 
sammengestellt wurden".  Fr.  Zimmermann,  Begr.  d.  Epos  13.  „Zuerst 
pflegen  cineReilie  vülksthündichcrRhapsodieeu  aus  dem  Sagenkreise  voran- 
zugehen".   Ebenso  S.  19.    Vi  scher,  Aeslhet.  111,  2,  1287. 

108)  Eustath.  zur  liias  S.  6,  23.  Plat.  Gesetze  II.  658  B.  und  I).  VI. 
704  E.  Staat  II.,  373B.  Straho  1.  18.  acp'  ov  8i]  gaipaölav  t  ekiyov 
Kccl  TQccYcpöiciv  Kai  7icoficp6i(xv.  Der  allgemeine  Begrifi'Declamation  von 
Versen ,  Plato  Tim.  21 B. 


395 

mit  be\vussleiii  Anfang  unil  Schluss  zu  entdecken.  Freilich  lionnte 
Homer  selbst  seine  grossen  Epopöen  niclit  auf  einmal  hinter- 
einander dichten,  sondern  nur  allmählig  seine  Entwürfe  ausführen 
und  theilweise  niittheilen,  worüber  unten  das  Nähere  (§§.  26  und 
27).  Und  freilich  werden  Rhapsoden,  wie  Leser,  vor  der  alexan- 
drinischen  Theilung  die  viele  tausend  Verse  grossen  Gedichte  in 
handlicher  Weise  in  Partieen  gefasst  und  diese  Partieen  zur  Orien- 
tirung  bezeichnet  haben.  Dies  eine,  Bezeichnung  zur  Orientirung 
ist  uns  auch  sicher  bezeugt.  Schon  ällerher  sind  beide  Epopöen 
in  ihren  auf  einander  folgenden  Partieen  oder  kürzeren  Stellen 
durch  Benennungen  unterschieden  worden,  die  ihren  Inhalt  an- 
deuteten. Dies  ersehn  wir  aus  einer  Anzahl  derselben,  unter 
welchen  Herodot,  Piaton  und  Aristoteles  Verse  oder  längere 
Theile  citiren.  Eine  Reihe  anderer  werden  von  den  Scholien,  welche 
uns  aus  den  alexandrinischen  Connnentaren  berichten,  so  aufge- 
führt, dass  sie  als  aus  früherer  Zeit  überkommen  und  beibehalten 
erscheinen ;  "'^)    die  fehlenden  ergänzt  Eustathius. 

Dergleichen  Titel  also  haben  die  Grammatiker  den  so  ge- 
nannten Rhapsodieen  beigesetzt,  aber  mit  Auswahl.  Ueberblicken 
wir  sie  in  ihrer  sehr  ungleichen  Beschafl'enheit,  so  erkennen 
wir,  dass  mehre  allgemein  und  an  sich  ohne  Bezug  auf  ge- 
rade die  Rias  oder  Odyssee  lauten,  wie  Od.  3,  das  in  Pylos, 
4,  d a s  i n  L a-k e d ä m o n,  24 ,  das  a  u f  d e m  La n d e  (Vorgehende), 


109)  Der  bereits  angefühlte  Herodot,  2,  IIG,  die  besproclicne 
Aristie  desDiomedes,  ausgedolnit  liis  6,  289—293.  Plato  zweimal 
die  Bitten  d.  i.  Ges.  9,  da  die  GcsaiitUsfh.ift  an  Achill  wohl  besonders 
wegen  502 — 512  so  benannt  wird.  EralsocilirlKl.  Hipp.  30-1  E.  die  Verse  308 
bis  314.  Kralyl.  428 G.  die  Verse  644  und  045.  Derselbe  ■Jun593A.  unter: 
der  Mau  erkämpf  die  Stelle  II.  12.  200—207,  das.  537  A.  unter:  das 
Pferderennen  zu  Ehren  des  Palroklos  II.  23,  335.  Aus  der  Odyssee: 
Plato  Staat  X.  614 B.  der  Apolog  bei  Alkinoos  d.  i.  Gesang  9 — 12 
die  Erzählung  der  Irren  des  Odysseus.  Denselben  Titel  braucht  in  seiner 
Ausdehnung  Aristot.  Bhet.  3,  10,  7  und  Poet.  16,  5  oder  8,  wo  er  schon 
8,  521fr.  dazu  rechnet.  Die  Stelle  Poet.  16,  3  oder  5  nennt  das  Fuss- 
bad  d.  i.  Gessng  19  (24,  9  ist  walirscbeinlich  unecht).  Der  Titel  {vin- 
TQu)  mit  vielen  andern  bei  Aclian  Verm.  Gesell.  13,  14.  Vgl.  die  Schollen 
zur  Ilias  zu  den  ersten  Versen  der  Gesänge  5,  8,  9,  10,  12.  Ausserdem 
bei  Verweisung  von  einer  Stelle  auf  die  andere,  wie  zu  1,  177,  wo,  da  auf 
5,  891  verwiesen  wird,  Aristeia  statt  Odysseia  zu  lesen  ist.  Dann  zu  5, 
231  u.  a. 


396 

andere  nur  die  Anfangstlieile  andeuten,  oder  ein  darin  vorkom- 
mendes l]edeutenderes ,  wie  II.  17,  jene  Aristie  des  Menelaos, 
14,  Täuschung  des  Zeus,  15,  die  Fluchtumkehr,  20,  den  Götter- 
kampf, noch  andere  jetzige  Rhapsodieen  zwei  'oder  noch  mehr 
Titel  haben.  So  sehn  wir,  die  meisten  sind  von  Solchen  gewählt 
und  für  Solche  nur  verständlich ,  denen  der  Verlauf  der  ganzen 
Gedichte  nicht  unbekannt  ist.  Daher  erscheinen  sie  eigentlich 
alle  eben  nur  zur  Orientirung  angebracht,  zumal  bei  der  Kürze 
der  Stellen,  auf  welche  mehre  hindeuten.^"')  Aber  auch  die 
umfänglicheren  lassen  nie  einen  bestimmt  bemessenen  Theil  er- 
kennen; wie  weit  sie  reichen,  ist  öfters,  von  der  grammatischen 
Rhapsodieenzählung  abgesehn,  nicht  zu  wissen. 

Sonach  können  sie  uns  an  sich  über  die  Einzelvorträge  der 
Rhapsoden  nicht  genügend  belehren,  sondern  wir  müssen  uns 
über  diese,  ihren  Anfang,  wie  über  den  zum  Ausheben  passenden 
Inhalt,  endlich  über  die  Motiven  der  Wahl  eine  Vorstellung  selbst 
bilden.  Die  richtige  Ansicht  hierüber  ist  für  die  ganze  homeri- 
sche Frage  von  entscheidender  Redeutung. 

Es  leuchtet  dem  Achtsamen  bei  der  Uebersicht  der  Titel 
ein,  dass  es  irrig  ist,  in  ihnen  ursprünglich  für  sich  gedichtete 
Theile  finden  oder  auch  die  vor  der  Sammlung  des  Peisistratos 
und  der  attischen  Redaction  vereinzelten  Partieen  als  ursprüng- 
lich suchen  und  mit  ihrer  Renutzung  herstellen  zu  Wollen,  Die 
denkbare  Vorstellung  von  den  vereinzelten  Partieen  ist  nur  die 
solcher,  welche  die  Rhapsoden  zum  Einzelvortrag  geeignet  fan- 
den, und  vorzutragen  pflegten.    Dabei  war,  wie  wir  sehn  werden, 


HO)  Ein  Verzeichniss  der  den  Rhapsodieen  der  Ilias  beigesetzten  s. 
b.  Heyne  Th.  8.  787  f.  Dies  ist  aber  mehrfach  unvollständig  und  ebenso 
die  von  den  Herausgebern  der  Texte  vorgesetzten.  Aber  namentlich  ist, 
um  sie  als  der  Orientirung  dienend  zu  erkennen,  die  gleiche  Gewohnheil 
beim  Citircn  kurzer  Stellen  zu  beachten:  Thucyd.  1 ,  9,  3  „  in  der  Ver- 
erbung des  Scepters"  d.  i.  II.  2,  102  — 108,  wegen  108.  Aristot. 
Thiergesch.  9.  22:  „im  Ausgang  des  Priamos"  mit  II.  24.  316. 
Straho  1,  17:  „in  der  Versuchung"  nach  II.  2,  73.  Die  Stelle  2, 
HO  ff.  bes.  wegen  246  ff.  und  284  ff.  Ders.  dort:  „in  der  Gesandt- 
schaft" mit  Citat  der  Verse  H.  3,  221—223,  also  die  Stelle  3,  205—224. 
Paus.  8,  37,  5:  „im  Eidschwur  der  Here"  mit  Verw.  auf  11.  14,  278 
und  279.  Ders.  7,  25,  12:  „in  der  Rede  der  Here"  aus  8,  201  bis 
207.  Vers  203. 


397 

ihre  Fassung,  sowie  ihr  Bereich  ein  verschiedener,  und  nur  zum 
Theil  passten  die  inhaltliclien  Titel  zur  Bezeichnung  der  Einzel- 
vorträge, sowie  mehre  auch  längere  Stellen  nur  im  Gesammt- 
vortrag  vorkommen  konnten.  Die  richtige  3Ieinung,  welche  in 
der  Geschichte  der  epischen  Poesie  den  Homer  als  den  Schöp- 
fer der  von  einem  Grundmotiv  durchherrschten  Epopöe  sieht, 
kann  nicht  umhin,  von  Anheginn  beide  Formen  des  Vortrags  ne- 
ben einander  bräuchlich  zu  denken,  den  Vortrag  der  ganzen 
Gedichte  in  der  Folge  ihrer  Uaupttheile,  und  den  der  einzel- 
nen Theile. 

16.  Die  Einzel  vor  träge   und  die  Sammlung   des  Pei- 
sistratos  zur  Berichtigung. 

In  den  Zeugnissen,  welche  diese  zwiefache  Art  der  Rhaps- 
odie berichten  und  als  Inhalt  der  Einzelvorträge  eine  bunte 
Reihe  jener  Titel  aufzählen,  haben  wir  unabweislich  mehrfache 
Unrichtigkeit  und  besonders  in  der  Angabe  von  der  Sammlung 
des  Peisislratos  eine  einseitige,  der  historischen  Uebersicht  baare 
Beschränktheit  anzuerkennen.  Alle  diese  Zeugnisse,  ihrer  Zeit 
nach  sehr  spät  und  jung,  geben  ihre  Berichte  in  einer  Fassung, 
welche  sie  nach  der  Ueberlieferung  schon  durch  viele  Hände 
endlich  erhalten  hatte.  Die  oben  in  Buch  2  §§.  15  — 17  ange- 
führten Beweise  von  der  längst  vor  Peisistratos  anerkannten  Aus- 
zeichnung des  Dichtergenius  und  seiner  einheitlichen  llias  lassen 
uns  an  der  schon  früheren  doppelten  Rhapsodie  nicht  zweifeln. 
Und  dass  die  alexandrinischen  Kritiker,  indem  sie  nirgends  eine 
attische  Ausgabe  erwähnen,  eben  aus  dem  Grunde  so  verfahren 
wären,  weil  sie  jene  als  die  allgemeine  Grundlage  betrachtet  hät- 
ten, es  ist  wohl  behauptet  worden,  aber  nach  irrthümlicher  Deu- 
tung der  „gemeinen"  oder  ,, nachlässigem"  Ausgaben,  da 
diese  vielmehr  nur  zu  den  kritisch  genauen  und  namentlich  ari- 
starchischen  den  allgemeinen  Gegensatz  bilden.'") 

Hierin   ist   also    kein  Beweis    eines  den  Kritikern  bewussten 


111)  Jene  Annalinie  bei  Rilscld,  Aloxnndr.  Biltliolliok  1838.  S.  60  f. 
und  W.  Ribbeck,  Philol.  8,  470.  Das  wahre  Verhältniss  ist  vom  Verfasser 
ausfülirlidi  in  Melel.  de  hisl.  Houi.  11,  4  <lo  Pisislralo  Homoricoiiini  car- 
niinuiii  inslauralore.  Kiel  1839.  p.  20 — 31  dargelegt;  kürzer  Anni.  zui'  Od, 
Th.  3.   S.  337—339. 


398 

Gemeinlextcs  von  der  attisclien  Ausgabe  her  gegehen.  Wir  können 
nach  (leiTi,  \vas  uns  vorliegt,  nur  so  annehmen,  dass  Jene  tlie 
Ausgaben,  welche  von  dort  her  stammten,  von  andern  nicht  mehr 
zu  unterscheiden  vermochten.  Und  gewiss  ist  es  wenig  glaub- 
lich, dass  die  Ausgaben  von  Cliios,  Argos,  Massilia,  von  Kyp- 
ros,  von  Sinope,  deren  in  den  Scbolien  Erwähnung  geschieht, 
sämnitlich  eben  nur  von  Athen  ihren  Ursprung  gehabt^'')  Da 
uns  alle  die  Kennzeichen  des  einigen  Dichters,  welche  im  Obigen 
angegeben  sind,  den  Glauben  an  den  Schöpfer  der  umfänglichen 
Compositionen  bestätigen,  können  wir  das,  was  durch  die  Beauf- 
tragten des  Peisistratos  geschehn,  nicht  für  so  wesentlich,  ihre 
Herstellung  der  rechten  Folge  nicht  für  eine  Leistung  dichteri- 
scher Erfindsamkeit  halten.  Was  von  Einschiebseln  und  Erwei- 
terungen der  Partieen  im  Fortgange  die  Rhapsoden  sich  erlaubt 
hatten,  es  war  geschehn.  Man  sammelte  eben  Alles,  was  Homers 
Namen  trug,  und  es  fügte  sich  im  Ganzen  wie  von  selbst  in  die 
zwei  Werke.  War  es  doch  ein  Unternehmen  für  die  Bibliothek 
des  Peisistratos.  Die  für  die  organische  Anlage  und  Gliederung 
wesentlichen  Theile  hatten  in  ihrem  nicht  kleinen  Umfang  schon 
ihre  eben  vom  Dichter  ihnen  gegebene  Fassung.  In  der  Ilias 
sah  man  zum  Beispiel  aus  der  Sendung  und  Verhandlung  des 
Patroklos  mit  Nestor,  dass  die  Verwundung  der  drei  bedeuten- 
den Helden  vorhergegangen;  der  Kampf  der  Heere,  das  war 
klar,  war  neben  Patroklos'  Verhallen  fortgegangen,  der  Mauer- 
kampf gab  sich  bei  all  seiner  Abrundung  doch  offenbar  als  ein 
eben  hier  folgendes  Stück  zu  erkennen,  und  wie  der  Durebbruch 
der  Mauer  und  der  für  Hektor  damit  gebahnte  Weg  zu  den  Schiffen 
selbst  zu  dessen  von  Anfang  ausgesprochener  Absicht,  die  Schiffe 
anzuzünden,  gehörte,  so  wies  er  auch  vorwärts.  In  der  Odyssee 
hatte   der  Dichter   dem  Odysseus   die  Erzählung   von  seinen  vor- 


112)  Bemerkenswcrlli  sind  besonders  folgende  Angaben:  die  ar- 
golisclie  erscheint  ausdrücklich  allein  zu  den  empfoiilensten  [laQUOTurcug) 
gezählt,  zu  3,  51,  wie  Arislarch  ihrer  rein  ionischen  Lesart  mehrfach 
folgte.  Dieselbe  gab,  13,  303,  einen  ganz  ihr  eigenlln'iniliclien  Halbvers; 
sie  halte  das  Verzeichnis?  der  Nereiden,  18,  39 — 4'.),  welches  die  Kritiker 
wegen  des  hesiodisclien  Charakters  für  uneciit  orkiiirlon,  ganz  wegge- 
lassen. .  Die  niassiliscbe  und  cbiiscbe  slinmiten  mebrfacii  mit  einander 
iiberein ,  so  II.  19,  76  inid  77  in  der  eigentbiinilicben  Fassung  und  24,  109. 
Die  chiische  halte  die  Verse  17,  134 — 136  nicht,  so  wie  Zenodol, 


399 

liergegangenen  Irrfalirlen   in    den  Mund   gegeben,    und  der  Held 
sprach  sie  im  Palaste  des  Alkinoos. 

Die  Folge  der  Parlieen  ^var  in  beiden  Epopöen  unschwer 
zu  erkennen.*")  Die  einzelnen  umfänglichen  müssen  aber  gewiss 
als  nicht  blos  aus  dem  Munde,  sondern  öfters  nur  aus  den  Händen 
der  Rhapsoden  zusammengebracht  gedacht  werden,  als  schon 
früher  aufgezeichnet.  Kann  doch  des  Hesiod  bei  den  Allen  so 
vorwiegend  genanntes  Werk,  der  Katalog  der  Heldenmülter,  da 
es  die  Heldengescblechter  von  ganz  Hellas  umfasste,"^)  nicht  durch 
Umfrage,  sondern  mittels  Sammlung  aufgeschriebener  Genealogieen 
erzielt  sein,  muss  viehuehr  von  ihm  selbst  als  Sannnler  mehr 
denn  als  Dichter  aufgezeichnet  gelten.  Und  ist  es  doch  nicht 
verständig,  wenn  Homers  Geist  durch  Gedächtnisskraft  ausge- 
zeichnet vorgestellt  wird,  dieselbe  Gedächlnissstärke  auch  den 
den»  Homer  zunächst  folgenden  Epikern  und  sämmtlichen  Rhaps- 
oden zuzuschreiben.  Findet  doch  ISiemand  mehr  zwischen  auf- 
geschriebenen Gedichten  und  mündlichem  Vortrag  einen  Wider- 
spruch und  ist  hinlänglich  bewusst,  dass  der  für  mündlichen 
Vortrag  passende  Sprechstil  erst  ganz  spät  in  der  Poesie  dem 
Schreibstil  wich,  der  zum  Vorlesen  bestimmt  war."*) 


113)  S.  Welcker,  Ep.  Cycl.  1,  383  f.  In  den  Schol.  findet  sich  meines 
Wissens  nur  bei  der  Episode  von  Glaukos  und  iJiomedes,  6,  119,  die 
Anmerkung  Arislarchs :  ,, Diese  Zusammenkunft  versetzen  Einige  amlers- 
hin".  Ist  mit  dem  Versetzen  das  der  ganzen  Erziildung  an  eine  andere 
Stelle  des  Gedichts  gemeint?  Heyne  verstand  so,  gab  aber  aucli  keine 
Stelle  an.  —  In  unsern  Tagen  haben  wir  den  sehr  ernsllicli  gemeinten 
Einfall  gelesen,  die  Verse,  1 ,  488  bis  604,  seien  mit  Tilgung  der  Stelle 
7,  443  —  404  nach  7,  242  hin  zu  versetzen:  Die  Eürbilte  der  Tlielis. 
Mainz.  185G. 

114)  Marckscbeffcl,  llesiodi  etc.  Fragm.  p.  120  —  ila  ut  catalogi 
genealogiae  non  unius  aut  alterius  terrae  ralionem  baberent,  sed  lolius 
Graeciae  stemma  fuisse  videanlur.  Nam  rclifiuiae  i)erlinent  ad  diversissi- 
mas  gentes  u.  s.  w.  Die  als  viertes  Bucb  oder  viertes  und  fünftes 
den  dreien  des  Katalogs  nachmals  angefügten  Eöen  eines  jüngeren  Dichters 
enthielten  auch  mehr  als  Geschlechter  aus  Nordgriechenland.  Dagegen  die 
echten  Theile  des  in  Odyssee  11  aufgenommenen  Verzeichnisses  von  Hel- 
deufrauen  mit  ihren  Söhnen  sind  nur  daher.  Unecht:  298 — 304  und  323 
bis  .325.    S.  die  Aum. 

115)  Die  Pdiapsoden  und  Schauspieler  mochlen  lieber  den  Sprech- 
slil;  naiürlicb.  Aiislol.  Übet.  3,  12,  2,  der  über  beide  Stile  ausführ- 
lich handelt. 


400 

a.  Die  kürzlicli  bekannt  gewordenen  Zeugnisse  von  der  Sammlung. 
Als  völlig  beseitigt  können  \vir  also  die  irrige  Vorstellung 
ansehen,  dass  die  wieder  geordneten  Gedichte  Homers  auf  Peisi- 
stratos  Veranlassung  zuerst  niedergeschrieben  'worden  seien.""') 
Auch  das  in  einem  späten  lateinischen  Scholion  verlautende  Lob 
jener  Veranstaltung,  da  es  ein  opus  divinum  heisst,  kann  uns 
nicht  bewegen,  den  von  Peisistratos  Beauftragten,  dem  Onoma- 
kritos,  Zopyros  und  Orpheus  von  Krolon,  weil  sie  Verse  macheu 
konnten,  eine  geniale  Umgestaltung  der  homerischen  Gedichte 
beizumessen.  Es  war  ein  erst  den  Tzetzes  (im  Ausgang  des  12, 
Jahrhunderts)  benutzender  Italiener,  der  dort  spricht,"^)  und  es 
scheint  das  stolze  Prädicat  eben  von  ihm  nur  zu  kommen.  Was 
wir  sonst  aus  den  jüngst  erst  entdeckten  Schollen  gelernt  haben, 
zeigt  uns  die  Fertigung  einer  vollständigen  Ausgabe  für  die  Bi- 
bliothek des  Peisistratos,  die  im  Vergleich  mit  der  vorherigen  Ge- 
stalt viel  besser  zu  lesen  ist.  Hiernach  mögen  wir  dann  auch 
die  Angabe  des  Suidas  verstehn :  Homer  habe  die  Ilias  nicht 
auf  Einmal  noch  hintereinander,  sondern  in  einzelnen  Theilen 
verfasst,  die  er  umherziehend  vorgetragen.  Nachmals  seien  sie 
zusammengesetzt  und  geordnet  worden  von  Vielen,  vornehm- 
lich aber  von  Pisistratus.  Dieses  von  Vielen  auf  vor- 
herige ähnliche  Zusammenordnungen,  wie  die  in  Athen,  zu  deu- 
ten, ist  keine  unstatthafte  Auslegung."®) 


116)  Ritschi,  Alexandr.  Bihl.  70.  IIulTinann  in  Allg.  Monatssclir.  f. 
Wiss.  u.  K.  1852.  April.  288,  „eine  Ansicht,  die  jetzt  wold  nur  von 
Wenigen  gelheilt  wird". 

117)  Heinr.  Keil,  Rh.  iMus.  1848.  N.  F.  6,  127 f.  Die  früher  schon 
bekannten  Zeugnisse,  alle  aus  verliältnissmässig  später  Zeit,  sie  rühmen, 
ohne  der  gestifteten  Bibliothek  zu  gedenken  und  die  Zeitumslände  zu  be- 
rücksichtigen, welche  durch  bequemeres  Material  dies  damals  erst  mög- 
lich machlcn,  den  Peisistratos  als  den  Sammler,  und  unter  ihnen  spricht 
Cicero  doch  unläug])ar  im  rhelorisircnden  Ton  sein  Lob  unhedaeht  aus, 
als  halle  des  Peisistratos  gelehrte  Einsicht  die  Sache  gemacht  und  ist 
namentlich  sein  primus  von  Weicker  Cycl.  1,  38G  richtig  heurlheilt. 
Welcher  Zeit  die  Inschrift  auf  Peisistratos  und  das  Bild  (?  fiKüiv)  ange- 
höre, weiss  Niemand  zu  sagen,  auch  Weicker  dort  nicht;  nicht  einmal 
das  ist  entschieden,  ob  das  Ganze  nicht  ein  Erzeugniss  der  Schulühung  sei. 

118)  S.  Weicker,  Ep.  Cycl.  1,  382. 


401 

b.  Die  zwei  Zeitalter  der  homerisclieu  Poesi«. 

Es  isl  (lies  eine  Avolilljogründete  Folgerung ,  \vohll)egriin(let 
tlieHs  durch  die  von  der  Geschichte  und  Analogie  gegchene  Idee 
von  Homer  als  dem  ^Meister  der  Avirkliclien  E|)opöe,  tlieils  durch 
die  BeschalTenhcil  der  Theile  der  Iii;is  und  Odyssee.  Da  <lie 
eigene  Befrachtung  der  Iteiden  Epopöen  den  pei'sönlichen  einigen 
Dichfergeist  sowohl  in  dem  heseeleiiden  Gemülh,  als  in  der 
dichtenden  Erlindsamkeit  unzweifelhaft  anerkennt,  die  Geschichte 
ehenso  in  ihnen  den  Höhepunkt  der  epischen  Poesie  aufweist 
und  alle  Zeichen  des  nationalen  Bildes  von  Homer  nur  den  Dich- 
ter grosser  Compositionen  gehen:  so  ist  zunächst  die  Voraus- 
setzung solcher  Werke  nach  ihrer  urspriniglichen  Form  heslens  he- 
gründet.  Mit  der  attischen  Zusammenordnung  ist  die  Polemik  des 
Xenophanes,  der  in  Homer  den  Hauptsprecher  und  Vertreter  der 
vermenschlichenden  Darstellung  der  Gölter  hekanipft,  gleichzeitig. 
Er  hildet  mit  Theagenes  von  Bhegion,  welcher  den  Homer 
in  einem  prosaischen  Werke  mittels  Allegorie  rechtfertigt,  ehen.so 
den  Uehergang  von  der  Periode  der  naiven  Blütlie  des  allgefeier- 
len  Nationaldichlers,  wie  zu  der  gelehrten  und  afft-ctirendeuBe- 
Irachlung  jene  attische  Bedaclion.  Indem  diese  alli'  für  Iiomerisch 
geltenden  Parlieen  zu  den  zwei  Epopöen  vcrhaiid  und  herslellle, 
und  damit  von  der  einheillichen  BcsclKifrenhcit  der  id)er- 
konnnenen  Theile  einen  sprechenden  Beweiss  lieferl,  hrachte  sie, 
den  Beginn  des  Zeitalters,  wo  diese  Epopöen,  im  Athenäischen 
im  stricteren  Zusammenhang  vorgetragen  wurden,  und  danehen 
durch  Ahschriften  in  den  gewöhnlichen  Fnterricht  und  eine  Le- 
sewelt kamen.  Bei' diesem  Verhältniss  der  heiden  Zeilallcr  hahcn 
wir  nun  darnach  aiuh  den  Bhapsodenvorhag  der  vorliergehenden 
und  der  nachfolgenden  Zeit  nach  nalinli(  her  Deiilnng  der  vcr- 
scliiedenen  oiien  hesprochenen  inliallliclicn  Titel  zu  nntersclicidcn. 

Wie  seihst  die  rechten  Dichter,  indem  sie  einen  Theil  der 
Sage  ziu-  Behandlung  herausgrilleu,  so  rechneten  die  Bhapsoden 
auf  das  ihnui  Zuhörern  innewohnende  Sagenhewusstsein,  und  rech- 
neten hei  der  \Vahl  ihres  hesonderen  Vortrags  auf  eine  allgemeine 
Kennlniss  des  ganzen  Gedichls,  dem  das  ge«ählle  Sliick  angehörte. 

Doch  diese  Voi'aussetznng  hatte  ihre,  verschiedenen  (irade 
in  den  verschiedenen  Zeilen  und  Orlen.  Wann  luid  wo  die 
homerischen  Gedichte  schon  aneli   vcm  der  .intjend   in  den  Sehn- 

Kitzsch,  Gesell,  d.  giiorli.  Epos.  20 


402 

Ion  gelernt  und  aufgeschrieben  verbreitet  waren,  konnlen  die 
Rhapsoden  fast  jedweden  auch  kürzeren  Theil  herausgreifen,  er 
wurde  doch  verstanden,  und  konnten  auf  Verlangen  aus  den 
mannigfachsten  Theilen  auch  im  Wechsel  je  das  Gewünschte  vor- 
tragen. So  in  Athen  in  der  Zeit  nach  Peisistratos.  Denn  dass 
ein  gehörig  befähigter  Rhapsode  die  Ilias  und  die  Odyssee  voll- 
ständig auswendig  wusste,  und  sie  mittels  der  sclirifllicheu 
Exemplare  gelernt  hatte,  die  er  vermöge  seines  Berufs  vor  An- 
dern in  ihren  mehren  Rollen  vollständig  besass,  dies  sagen  uns 
zwei  Stellen  des  Xenophon."^)  Also  mochte  dort  und  damals  ein 
Rhapsode  Jon  immer  in  seinen  Einzelvorträgen  solche  affectvolle 
Partieen  vortragen,  wie  er  dafür  die  besondere  Vorliebe  hatte 
(Fiat.  Jon  535  B.):  Achill  gegen  Hektor  anstürmend  (22.  312fr.), 
Andromaches  Wehklage  (das.  475fl'. ),  Odysseus'  Auftreten  zum 
f>eiermord  (Od.  22  Auf.).  Auch  in  Kolophon  zur  Zeit  des 
Xenophanes  konnten  die  Rhapsoden  wahrscheinlich  in  ähnlicher 
Weise  auf  allgemeine  Bekanntschaft  mit  den  Gedichten  rechnen. 
Doch  nur  dunkele  Kunde  haben  \\ir  über  die  Rhapsodie  der 
weiter  zurückliegenden  Zeit,  in  deren  Verlauf  Homer  zu  der  Gel- 
tung als  Nationaldichter  und  dem  für  Glauben  und  ältere  Ver- 
hältnisse kanonischen  Ansehn  gelangte,  welches  Xenophanes  zu- 
erst angriff.  Indessen  da  dieses  Ansehn  nicht  allein  in  diesem 
Widerstreit,  sondern  auch  in  einigen  andern  uns  bezeugten  Fällen 
als  bereits  feststehend  und  als  vollendete  Thatsache  vorliegt,  so 
gewährt  uns  dies  einen  sicheren  Rückschluss  auf  die  ßlüthe  und 
Verbreitung  der  homerischen  Rhapsodie,  da  ohne  diese  jene 
Geltung  gar  nicht  hätte  erfolgen  können.  Dieser  Schluss  ist  so 
bündig,  dass  wir  speziellerer  Zeugnisse  zur  Beglaubigung  gar 
nicht  bedürfen.  Ein  solches  käme  durch  eine  Anekdote  hinzu, 
nach  der  Fürst  Hiero  zu  Xenophanes  gesagt  haben  soll:  Aber 
Homer,  den  Du  verhöhnst,  giebt  Unzähligen  Unterhalt  (Rhapsoden 
und  Lehren ).  '-")  Jedoch  es  bedarf  solchen  Zeugnisses  nicht. 
Nur  der  viel  und  weit  umher  rhapsodirte  Dichter  konnte  zu  sol- 
cher bevorzugten  Bedeutung  gelangen,  dass  Xenophanes  ihn,  den 


119)  r.astin.  3,  0.  und  Dciikwiinligk.  4,  2,  10  vgl.  mit  55'.  1.    Sagen- 
poesie 350. 

120)  Plut.  Spniohe  der  Könige;  ilioro's  4.  11.  8  Tclin. 


403 

er  als  den  alleren  kannte  (Gell.  3,  11,  2),  als  den  Urlieber  oder 
Hauptbildner  der  vermenscblicbenden  Theologie  bekämpfte,  und 
dass  zu  Solons,  wie  Peisistralos'  Zeil  die  Streitigkeiten  über  Sala- 
mis und  über  das  Gebiet  am  Vorgebirge  Sigeion  durch  Homers 
Zeugnisse  geschlichtet  wurden."')  Ueberhaupt  also  sehn  ww, 
dass  Alles,  was  in  Athen  durch  Solon  und  Peisistralos  und  dessen 
Sohn  auf  die  homerischen  Gesänge  Bezügliches  geschah,  schon  die 
Wahrzeichen  ihres  zweiten  Zeilalters  an  sich  trägt.  Die  ganz 
ausnahmlos  naive  Freude  an  ihnen  bei  allem  Volk  liegt  i'ück- 
wärts.  Am  harmlosesten  treibt  noch  die  I'arodie  mit  den  viel- 
gebörten  epischen  Formeln  ihr  Spiel  (Xenopbanes  und  Hipponax). 
Mil  dem  Z\\iespall  zwischen  den  ersten  philosophischen  (physio- 
logischen) Systemen  und  der  Poesie  (den  Plato  einen  alten  nennl 
Staat.  10.  607  B),  mit  der  Vcrtheidigung  des  gerügten  Göller- 
kampfes  (11.20,  67),  mit  der  Schrift  des  Theagen  es  von  Rhegion 
l)eginnt  die  gelehrte  Erklärung  und  die  sächliche  Grammatik.'^-) 
Diese  Vertheidigung  dient  uns  zugleich  zum  doppellen  Anzeichen 
einer  spätem  Zeit,  sie  verfährt  mit  Allegorie,  also  nicht  mehr 
naiv  gläubig,  und  ist  damit  um  eine  Stelle  bemüht  —  II.  20,  o4 — 74 
und  dazu  21,  385 — 514  —  die  bei  achtsamer  Lesung  als  ent- 
sdiieden  unecht  erkannt  A\ird,'^^j  so  dass  also  das  Beispiel,  zu 
dem  noch  andere  kommen,  auch  von  den  Einschiebseln  der  Rhaps- 
oden in  der  vorhergegangenen  Zeil  ein  sprcrhendes  Zeugniss 
giebt.  AVie  nun  alle  diese  Zeichen  (hr  Zeil  eine  sehr  thälige 
Rhapsodie  mit  Sicberheil  voraussetzen  lassen,  so  verlaulet  vom 
Heraklit,  dem  mit  Homer  gleichfalls  hadeinden  Philosophen  ein 
Wort,  welches  den  häufigen  Vortrag  in  den  rhapsodischen  Festspielen 
aiisdiücklich  besagt.  Er  verlangte,  maij  solle  die  den  Homer,  d.  h. 
die  Ilias  oder  Odyssee  Vortragenden  durch  die  Diener  der  Fest- 
polizei   mit   Streichen    aus    den   Feslsjjielcn    vertreiben.  '^')      Die 


iSl)  Arislul.  Kliol.  1,  15,  l:j.  licrtMl.  5,  U4  iiiid  05.  ScIk.I.  IJ.  zu 
II.  2,  49G.  p.  80.  Bckk. 

122)  Die  Grainuialik,  welche  von  Tlieagoncs  bis  zu  Praxijilianes  und 
Aristoteles  datirl  wird. 

123)  S.  Sagcnp.  128.  Niigelshadi,  Nacliliomor.  Tlieojdgie  S.  128. 
II.  cp.  385  —  514:  ..odenltar  ein  der  Ilias  unorganiscii  oingcri'iglcr  l{e- 
slaiidllieil". 

124)  Diog.  V.  La.  0,2,1.  in  rcov  «ycoi-cor  iy-ßakkscd-ai  x.ol  ^a- 
ni'geG&ai.    Sagenp.  304. 

26* 


404 

Festspiele  halte  also  Tleraklit,  ober  halten  aueh  schon  Xenoplia- 
nes  und  Ilipponax  in  ihren  lleiniathen  Ephesos,  Klazonienä,  Ko- 
lophon,  doch  unstreitig  als  von  früher  hcstehcnd  gesehn  und 
Niemand  kann  glaublich  finden,  dass  in  den  Festen  die  Gedichte 
lediglich  in  vereinzelten  Tartieen  und  ^vesentlich  anderer  Gestalt 
vorgetragen  worden  wären ,  als  es  nach  Solons  Anordnung  in 
den  Festen  Attika's  geschah,  und  als  die  war,  welche  des  Peisi- 
stratos  Gehilfen  gaben. 

Es  wird  von  allen  Seiten  klar:  die  Geschichte  der  alteren 
Rhapsodie  ist  die  Geschichte  der  homerischen  Poesie  und  Ho- 
mers selbst,  nur  dass  man  dabei  die  hervorleuchtende  Trefflich- 
keit  und  Annehmlichkeit  für  lebendigen  Vortrag,  wie  sie  an  der 
llias  und  Odyssee  oben  charakterisirt  worden  ist,  anerkennen 
muss.  Wir  versteim  und  ersehn  aus  dem  Erfolge,  erstens  dass  in 
der  Zeit,  als  die  vorhomerischen  Einzellieder  neben  den  neuen 
Schöpfungen  noch  bestanden,  der  Vorzug,  den  die  Vortragenden 
den  letzteren  wegen  ihrer  sprechsamen  und  charaktervollen  Art  ga- 
ben, jene  iilleren  Lieder  allmählich  in  Vergessenheit  brachte,  zum 
andern,  dass  ehe  dies  geschehen  war,  die  Rhapsoden  aus  einzel- 
nen jener  Lieder  von  der  älteren  Ilcldenzeit  manche  grösseren 
Stellen  eingeschoben  hatten  und  zum  dritten,"  dass  solche  Ein- 
schiebsel und  überhaupt  alle,  jedes  immer  an  einer  dafür  geeig- 
neten Stelle  dieser  poetischen  Ganzen ,  eingew  ebt  oder  eben  aus 
ihr  heraus  gedacht  und  gedichtet  ist.  So  unterstützen  mehre 
sprechende  Anzeichen  den  Glauben  an  Ueberlieferung  der  orga- 
nischen Ganzen  aus  der  Entstehungszeit,  wie  er  zuerst  aus  der 
Wahrnehmung  der  individuellen  Eigenheit  des  Dichtergeistes  im 
empfänglichen  Leser  entstanden  ist. 

17.  Das    Verfahren    der    Sammler    des    P  eisistrat  os. 

Die  Sammler  des  Peisistratos  haben,  sowiel  wir  erkennen, 
das,  was  als  homerisch  umging,  ohne  Prüfung  der  Echtheit  in  die 
Iteiden  Werke  geordnet.  Eingeschobenes  nicht  unterschieden. 
Dass  später  noch  ein  Einschiebsel  geschehn,  davon  ist,  von  ganz 
einzelnen  Versen  abgesehn,  uns  Nichts  ersichtlich.  Dagegen  von 
der  Episode  des  zehnten  Gesanges  der  llias,  jenem  näclillichen 
Abenleuer  des  Dioniech's  und  Odyssens,  heisst  es,  si(!  sei  erst  von 
des    Peisisiralos    (leliiifcn    cini^cITii;!.      V'on    ciniiicn    Sicllen,     wie 


405 

nieliicii  von  Tliescus  unol  jenen  von  Minos,  die  ganz  im  attisdien 
Sinne  getlielilet  sind,  und  von  einer  von  des  Herakles  Vergötlerung 
(Od.  11,  602  ff.)  niuss  dasselbe  gelten.  Sie  sind,  die  letztere  nach 
ansdrückliclieni  Zeiigniss,  die  andern  nach  nahliegender  Folge- 
rung von  jenen  so  genannten  orphischen  31ännern  hei  Beschaffung 
der  Handschriften  von  Homer  und  Hcsiod  und  vielleicht  noch 
anderer  Dichter,  in  den  Text  gekommen.  Da  wir  das  Verhältniss 
der  attischen  Ausgalte  zu  den  über  zweihundert  Jahre  späteren 
Arbeiten  der  Alexandriner,  wie  gezeigt  ist,  nicht  zu  beurthcilen 
im  Stande  sind,  können  wir  darüber  uns  nur  subjective  Ansich- 
ten bilden.  Die;  attische  für  eine  Biblioliiek  und  in  der  Zeit  der 
entstehenden  Lesewelt  verfasst^^^)  mag  durch  hier  und  da  einge- 
legte Binde verse  geschlosseneren  Forlschritt  und  engere  Verkettung 
der  Theile  erzielt  haben,  wie  das  Auge  des  Lesers  es  verlangt. 
Die  Alexandriner  \\iederum  mögen  erst  in  den  zahlreichen 
Exeniplaren,  w  eiche  ihnen  vorlagen,  namentlich  die  Doppelformen 
einer  und  derselben  Stelle  erkannt  haben.  ^ 

\yas  uns  jetzt  näher  angeht,  die  so  genannten  Orphikcr, 
welche  seihst  ihre  von  der  homerischen  abweichende  Heligions- 
und  Götterlehre  in  Gedichte  l'assten,  sie  wurden  oll'eiibar  eben 
als  31änner,  welche  mit  Poesie  und  allen  Sagen  umgingen,  zu 
dem  Geschäft  gewählt.  Sie  nun  haben  das,  was  sie  als  homeri- 
sche Dichtung  überkamen,  in  seinem  Inhalt  und  seiner  gleich- 
n)ässigen  Sprache  bewahrt,  wie  es  die  nationale  Geltung  gebot. 
Sie  haben  also  weder  selbst  erst  die  Einzellieder,  welche  in  Ho- 
mers Neubildungen  aufgegangen  waren,  für  eine  von  ihnen  er- 
soiniene  Gestallung  zerlegt,  wie  unbedachte  Herstellungsversuche 
in  unsern  Tagen  annahmen ,  noch  von  den  Rhapsoden  irgend 
Partieen  empfangen,  welche  nicht  ihre  Beziehung  und  Zugehörig- 
keit zu  einer  der  beiden  Kunstepopöen  deutlich  genug  an  sich 
"elragen  hätten. 


125)  Der  uns  ülirigc  spczicllslc  Rcriclilerslaller  Tzelzos  wusslc  nur 
von  stückweiscii  Absclirirteii,  welche  ni  Allicii  vorerst  ziisamiiieu  gosclu-ic- 
lion,  nun  Bücher  ga])Cii,  und  ähnlich  sein  lateinischer  Nobonmann,  nach  doni 
die  iiümcrischen  Gedichte,  die  vorlicr  luu-  stückweise  und  mit  Beschwerde 
gelesen  wurden,  in  die  beiden  Werke  gc])raclil  worden  seien.  Von  den 
Rhapsoden  wissen  Beide  Nichts. 


406 

18.  Das  li  i  c  li  t  i  g  e  von  der  Rhapsodie  vor  S  o  1  o  n  und 
Peis  is  t  r  at  OS. 
So  gilt  es  denn  hier,  die  von  Wolf  her  vielfach  verdrehte  und 
misshrauchte,  schon  seihst  nur  halhwalire  Angabe  des  Aelian  von 
den  Einzeh  orlrägen  der  inhaltliclien  Titel  in  das  rechte  Licht 
umzustellen.  Es  war  nämlich  die  Avundersame  Annahme  Wolfs 
(Proleg.  CXLl),  vor  der  solonischen  Anordnung  der  nach  dem 
Fortschrilt  auf  einander  folgenden  Vorträge  habe  man  bei  Einem 
und  demselben  Fest  die  verschiedenen  Titelpartieen  in  he- 
liel)iger  Folge  vortragen  gehört  z.  B.  aus  der  Ilias  zuerst  die 
Leicbenspiele,  23,  dann  die  Waflenbereitung,  18,  hierauf  die  Bit- 
ten, 9,  zuletzt  die  Pest,  1 ;  oder  aus  der  Odyssee  zuerst  das  Fuss- 
bad,  19,  darauf  den  Freiermord,  22,  dann  das  Bild  der  Unterwelt, 
11,  nach  diesen  das,  was  in  Pylos  und  das,  uas  in  Lakedämon 
( bei  Telemachs  Reise)  gesclielin,  3  und  4.  In  solcher  beliebigen 
Beihenfolge  also,  ^vie  Aelian  13,  14  andere  \villkinliche  Folgen 
giebt,  sollen  die  Einzelvorträge  immer  stattgefunden  haben,  bis 
Peisislratos  die  einzelnen  Stücke  in  Ordnungen  zusannnenge- 
setzt  habe.  Wer  dergleichen  Angaben  für  geschichtlich  hält, 
niuss  bei  den  gedachten  Hörern  das  Bewusstsein  von  der  nicht 
blos  in  der  Sage,  sondern  im  V^erlauf  der  Gedichte  gegebenen 
Folge  des  Erzählten  voraussetzen.  Und  wenn  weder  Wolf, 
no(h  Aelian  angeben,  ob  einzelne  Bhapsoden  oder  die  mehren, 
welche  doch  bei  Festrhapsodieen  gewiss  sicli  zusammenfanden ,  so 
bunle  Beihcn  gegeben  haben  sollen,  erscheint  uns  dies  selbst 
unter  jener  Voraussetzung  seltsam.*^'')  Allerdings  hörte  man  das 
schon  Bekannte  gern  wieder,  aber  selbst  die  Mehren  haben  sich 
doch  selbst  wohl  lieber  nach  der  den  Stücken  inwohnenden 
Reihe  geordnet,  statt  ihren  Hörern  ein  solches  Umspringen  ihres 
Sagenbewusstseins  zuzumuthen.  3Ian  vergegenwärtige  sich  nur 
den  Hergang   einer   solchen  Rhapsodie,  und  man  wird  das  Selt- 


12G)  Unliegreifliche  Annaliine  der  wölfischen  Vorstellung  gicbl  es 
.illerdings  noch  in  unscrn  Tngon,  aber  freilich  bei  einem  Verfasser,  der 
nur  der  wolliscli-lachniannischen  Tradition  ohne  Weiteres  folgt,  und  dem 
(las  Prädicat  vorurtlicilsfrei  nicht  zukommen  kann;  Hennings  über  die 
Tclemachie.  Lpz.  Teubner.  1858.  S.  136.  Was  S.  141  gesagt  ist:  Lach- 
mann habe  18  ältere,  einzeln  gesungene  Lieder  bewiesen,  welche  von 
verschiedenen  Verfassern  hcrrührlen,  charaklerisirt  den  Verf.  hinreichend. 


407 

same  selbst  empfinden:  Die  Leichenspiele  zuerst,  die  Pest  und 
die  Verzürnung  zuletzt!  Das  Fussbad,  mo  der  unerkannte  Odys- 
seus  mit  Penelope  spricht  und  von  der  Amme  beim  Fussbad  an 
der  Narbe  erkannt  wird  zuerst,  dann  später  erst  aus  den  Irr- 
fahrten der  Besuch  in  der  Unterwelt  und  dann  von  Telemachs 
Reise,  die  mit  ihrem  Bezüge  auf  den  vermissten  Odysseus  frei- 
lich annehmliche  Bilder  verbindet,  aber  in  ihrer  ganzen  Gestalt 
und  Färbung  die  Grundsituation  des  Gedichts  an  sich  trägt. 

Die  wahrscheinliche,  die  gesunde  Vorstellung  von  den  Ein- 
zelvorlrägen  und  die  Deutung  dessen,  was  bei  der  Sammlung 
in  Athen  geschah,  sie  stehen  in  Wechselwirkung  eine  zu  der  an- 
dern. Die  Rhapsoden  als  die  Träger  und  jedenfalls  vorzüglich- 
sten Inhaber  dessen,  was  Homers  Namen  trug,  sie  lieferten  den 
Sajumürn  das,  woraus  diese  die  Ilias  und  Odyssee  zusammen- 
stellten. Was  sie  lieferten,  mussten  ja  doch  die  Par- 
tieen  sein,  so  gefasst,  wie  sie  sie  vorzutragen  pfleg- 
ten. Das  einzelne  Vorgetragene  muss  um  geeignet 
zu  erscheinen  eine  merkbare  Selbständigkeit  d.  h. 
einen  v  e  r  s  t  ä  n  d  1  i  c  h  e  n  A  n  h  u  b  und  e  i  n  e  n  S  c  h  1  u  s  s  d  u  r  c  h 
den  Ausgang  eines  Aktes  gehabt  haben.  Eine  nicht 
geringe  Anzahl  so  beschaflener  Theile  lassen  sich  in  unsern 
Texten  aufweisen,  und  zwar  grossentheils  unter  jenen  beige- 
setzten Titeln  und  theils  genauer,  theils  anders  als  in  den 
Rhapsodieen  der  Grammatiker  bemessen.  Doch  es  treten  Stücke 
ein,  welche  zu  sehr  den  Charakter  von  nur  Anfängen,  Vorberei- 
tungen oder  Uebergängcn  an  sich  tragen ,  also  nur  dem  ganzen 
Zusammenhange  dienen,  daher  übrig  bleiben.  Aber  diese  müs- 
sen, weil  sie  sonst  gar  nicht  in  die  Redaction  gekommen  und  weil 
sie  nicht  vorhanden  gewesen  wären,  hätten  sie  nicht  schon 
früher  ihre  Anwendung  gefunden,  ebenfalls  von  Rhapsoden, 
welche  Gesammtvorträgen  gedient,  beigebracht  worden  sein,  und 
dies  nicht  blos  mündlich. 

Von  jener  ersleren  Art  sind  folgende:  Aus  der  Ilias  das 
erste  Burch,  die  Pest  und  die  Verzürnung  mit  der  Bitte 
der  Thetis;  der  griechische  Schiffskatalog,  2,  484—779; 
die  Musterung  des  Agamemnon,  4,  223  —  432;  die  Ari- 
stie  des  Diomedes,  5,  1  —  (nach  Ilcrodot)  —  6,  115,  oder 
verlängert  bis  230,  wenn  eben  nur  der  persönliche  Held  beach- 


408 

leL  wurde,  oder  l»is  .111;  im  kürzeron  Vorti'iig  die  Episode 
von  (ilaiikos  und  Dio  in  cd  es,  6,  1 19  —  236;  llek  lors  G  ang 
in  die  Stadt,  6,  237 — 7,  1;  Ilektors  und  Aias'  Zwei- 
kampf, 7,  17 — -312;  die  IJitten,  die  Gesandtschaft  an  Achill, 
9,  96  bis  ans  Ende  des  Buchs;  die  Doloneia,  10,  203  bis  zu 
Ende;  die  Aristic  des  Agamemnon,  genau  bemessen  11, 
1  — 283.  oder  der  Rhapsode  gab  nach  einigem  Ausruhn  dazu 
auch  die  Verwundungen  des  Dionicdes,  Odysseus,  Machaon  und 
Eurypylos,  also  bis  595;  die  Sendung  des  Patroklos  an 
Nestor,  n,  597  bis  zu  Ende;  der  Mauerkampf,  das  12, 
Buch;  des  Poseidon  Hilfe,  13,  1  —  239;  des  Idomeneus 
und  iAIeriones  Aristie  13,  240  —  539;  des  Zeus  Tausch- 
ung,  14,  154  —  360;  die  Fluchtumkehr  d.  h,  Zeus'  Herstel- 
lung des  vorigen  Standes,  15,  143  —  bis  zu  Ende  746;  die' 
Patrokleia,  entweder  das  16'.  Buch  mit  schon  über  800  Vier- 
sen  oder  dazu  auch  der  Kampf  um  seine  Leiche. 

Freilich  mochte  der  Dichter-  zunächst  das  Verhalten  der 
Kampfgenosson  erziUilen  und  damit  die  so  genannte  Aristie  des  Me- 
nelaos  17,  1  —  eigentlich  nur  bis  69.  Jedoch  die  Erzählung  dieses 
Kam[)fes  hat  den  zwiefachen  Bezug  auf  die  Vertheidigung  der 
Lei(hü-  liud  auf  die  Benachrichtigung  des  Achill.  Sie  ist  auch 
mit  dem  Vorhergehenden  dadurch  verwebt,  dass  Ilektor  gleich 
nach  dem  Fall  des  Patroklos  dessen  Wagenführer  verfolgt,  16, 
864,  in  17,  71 — 81  aber  von  ApoUon  in  Gestalt  eines  Bundes- 
genossen von  diesem  Eifer,  Achills  Gespann  zu  erbeuten,  zur  Ver- 
theidigung des  gefallenen  Euphorbos  abgerufen  wird.  Darauf  erst 
ciilbrennt  jener  Kampf  um  die  Leiche  heisser.  Noch  mehr  rück- 
wärts weist  auch  des  Glaukos  Bede,  17,  150  —  165.,  auf  Sarpe- 
dons  Fall,  16,  482.  502,  und  Plünderung,  663.,  in  dem  Glauben, 
dessen  Leichnam  sei  in  der  Gewalt  der  Griechen,  weil  ihm,  dem 
Sterblichen,  das,  was  Zeus  und  Apollon  für  diese  gethan,  unbe- 
wusst  ist  (16,  666(1.).  Doch  es  gehört  nicht  blos  auch  der 
Kampf  um  die  Leiche  des  Helden  mit  der  Aristie  nnd  dem  Falle 
des' Patroklos  zusannnen,  jener  Kampf  geht,  wie  erst  Achills  Er- 
scheinen ihn  en(Hgl,  in  das  18.' Buch  hinein  nnd  hinaus  über 
dessen  Anfang,  wo  die  Nachricht  vom  Falle  und  der  Plünderung 
seines  Patroklos  den  Achill  in  Beue  und  grösslcs  Leid  versetzt. 
Genug  die  Palrokleia  musste  bei  irgend  sinnigeren  Rhapsoden  und 


409 

Hörern  die  ganze  Partie  von  16,  1  — 18,  355.  nnifasscn.  Da 
bei  ihrem  Anfang  die  W»endung  des  Zorns  zum  Tragischen  ein- 
tritt, Avar  auch  nicht  sowohl  der  Erfolg,  den  der  hervorgesandte 
Freund  eruirkte,  als  der  Tod  desselben  des  Dichters  Hauptge- 
danke und  umfasst  die  Patroklie  den  ganzen  Hergang  von  jener 
tragischen  Veranlassung  des  Auszugs  bis  zur  Wirkung  auf  den 
Absender  und  seiner  Klage  um  den  Freund.'-') 

Zum  kürzeren  Vortrag  eignete  sich  die  W  äffen  b  er  ei - 
tung,  18,  369—617;  sie  enthält  in  442—456  die  erklärteste 
iJeziehung  auf  die  vorherige  Handlung,  bat  aber  ihren  eigenen 
Abschluss;  Achills  Entsagung  alles  Zorns  nebst  Klage  um  Palro- 
klos,  19,  1 — 356.  Die  andere  Hälfte  dieses  Gesanges  bis  424, 
die  Bewaffnung  des  Achill  und  des  andern  Heers,  und  die  Gölter- 
versammlung zu  Anfang  des  20.,  \\ekhe  zu  jener  die  olympische 
Parallele  bildet,  sie  konnten  schicklich  nur  im  Sinne  des  Ganzen 
und,  wenn  das  Weitere  folgen  sollte,  hinzugenommen  werden. 
Doch  wir  iibergehn  die  hier  folgende  Partie,  da  sie  durch  Inter- 
polation zu  sehr  verwirrt  ist.  Aus  demselben  und  anderen  Grün- 
den lässt  sich  nach  dem  Gesichtspunkt  der  Einzehorlräge  auch 
über  Ges.  21  in  der  Kürze  nicht  sprechen. 

Es  folgt  die  Erlegung  des  Hektör,  das  22.  Buch,  in 
welchem  der  tragische  Heklor  bei  dem  tiefpoetischeii  Selbstge- 
spräch, 99—102,  auf  die  Scene  mit  Polydamas  zurückblickt,  18, 
243  —  313;  die  Leicbenspiele  zu  Ehren  des  Patroklos,  oder  die 
ganze  Bestattung  {rcccpos)  des  Patroklos,  23,  59  bis  zu  Ende 
897.  Die  Partie  von  826  an  wurde  wegen  „zu  magerer  Kürze" 
für  unechten  Zusatz  erklärt;  aber  es  hat  die  Stelle  nicht  erst 
von  874,  sondern  der  ganze  Bogeukampf  von  850  an  bis  883 
die  belobte  Lebendigkeit,  und  es  gieht  auch  für  die  anderen 
Kämpfe  mit  dem  Diskos,  826  —  849,  und  den  letzten  mit  dem  Wurf- 
spiess,  884 — 897,  die  Vollzähligkeit  der  Kamplarten  den  Hecht- 
fertigungsgrnnd   ab,   sowie   die   Mannigfaltigkeit    der    Darstellung 


127)  Denselben  Umfang  dcrPatroklio  nclinicn  Bäunilcin  in  Z.  f.  A. 
1850.  S.  160  nnd  Schütz  an  de  I'alrocloae  composilionc.  Progr.  Ankiain. 
1854.  S.  4j.  Dagegen  sind  die  Leiclicnspielc  nicht  dazu  zu  uohnieu,  sie 
sind  des  Achill  Sache,  der  hier  mit  seiner  Treue  auch  seine  IVeuntllieiic 
Milde  gegen  die  Kainpfgeuossen  in  dem  Akte  ollenbarle,  den  die  Volks- 
silte  mit  sich  brachte. 


410 

auch  diesen  kurz  geiiisslen  nicht  fehlt.  —  Die  Auslösung  des 
Ilekto  r,  welche  der  letzte  Gesang  erzählt,  ging  von  der  Entschei- 
dung des  Zeus  aus,  der  selbst  an  der  Wisshandlung  der  Leiche 
grossen  Anstoss  nahm.  Sie  musste  im  Einzelvortrag  den  ganzen 
Gesang  umfassen,  nur  könnte  der  Dichter  seihst  seine  Erzählung 
uiit  des  Hermes  Rückkehr  zum  Olymp  geschlossen  haben,  also 
mit  694. 

Die  in  diesem  Verzeichniss  nicht  begrilfcncn  Stücke,  Avie  die 
V'ersuchung,  2,  1  — 483,  das  sich  dieser,  indem  über  die  Troer 
urs])rünj;licli  nur  7S6 — 818  hinzukam,  anschliessende  dritte  Buch 
mit  der  Herausforderung  des  Paris,  dem  Eid  vertrag,  dem  unent- 
schiedenen Zweikampf  des  Paris  und  Menelaos  und  der 
M  a  u  e  r  s  c  h  a  u  daz\^  ischen,  dann  die  olympische  Parallele  zu  Anfang 
des  vierten  Buchs  mit  ihrer  irdischen  Folge  der  Verletzung 
des  Vertrags,  sie  gehören  dem  angelegten  Plane  so  an,  dass 
sie  nur  für  den  Vortrag  entweder  des  ganzen  Gedichts  oder  doch 
eines  die  ganzen  vier  ersten  Gesänge  umfassenden  brauchbar 
gewesen  sein  dürften.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  zweiten 
Hälfte  des  7.  Buchs,  welches  die  auf  Nestors  Rath  erfolgte  Be- 
stattung der  Todten  und  den  3lauerbau  nebst  der  Verhandlung 
mit  den  Troern  enthält.  Auch  das  8.  Buch  gehört  zu  dieser 
Kategorie,  da  es  gleichfalls  durch  die  Verschlingung  wechseln- 
der theils  olympischer,  theils  irdische  Scenen  in  sich  untheilbar 
und  für  das  Ganze  von  grösster  Bedeutung  ist.  Diese  Partie  von 
7,  313  bis  zu  Ende  des  8.  Buchs  wurde  wohl  von  einem  Rhaps- 
oden geliefert,  der  sie  mit  dem  vorhergehenden  Zweikampfe 
des  Hektor  und  Aias  zusammenfasste  und  so  das  erste  Stadium 
der  Noth  vortrug  mit  dem  Schluss  durch  den  so  genannten  ab- 
gebrochenen Kampf,  dessen  Erzählung  bis  9,  8  reichen  konnte. 
Es  sind  dieses  Parlieen,  wie  die  der  Patrokleia.  Wir  werden 
hier  besonders  erinnert,  wie  docli  die  rhapsochschen  \'orträgc 
nicht  die  Kiuze  mancher  lachmannischer  Lieder,  sondern  grössern 
Umfang  haben  mussten. 

19.    Die   Particen    der    Odyssee. 

Da  die  Sammler  nicht  selbst  die  Erfinder  der  IMäne  waren, 
auch  nicht  viel  umgesetzt,  nocli  mehr  als  einzelne  Bindeverse 
hinzugethan  haben  können ,   kurz  da  nicht  ein  Onomakritos  erst 


411 

eine  llias  gestaltet  hat,'*^)  so  haben  ^vir  uns  solche  grössere 
Partleen,  wie  die  Patrokleia,  mehrfach  von  den  Rhapsoden  ge- 
bracht zu  denken.  Darauf  führt  vollends  die  Beschaflenhcit  der 
die  Odyssee  bildenden  Partieen.  Ihre  Einheitlichkeit  ist  gleich 
durch  die  Stellung  des  Eingangs  auf  die  Heimkunft  des  Helden 
und  durch  die  Gestaltung  der  früheren  Irren  zur  Episode  erzielt. 
Auch  in  den  einzelnen  Theilen  musste  sie  einfacheren  Fortgang 
und  nähere  Zugehörigkeit  zum  Ganzen  bringen.  Wohl  hat  die 
Handlung  zwei  Ausgangspunkte,  die  Heimath  Ilhaka  und  die  In- 
sel der  Kalypso,  wo  Odysseus  bis  dahin  festgehalten  ist.  Aber  der 
enge  Bezug  aller  Theile  auf  den  Helden  giebt  doch  nur  die  Ab- 
schnitte 1.  den  Gesang  vom  abwesenden,  vermissten  und  gesuch- 
ten 2.  den  vom  heimkehrenden  3.  den  vom  Rache  sinnenden  und 
4.  den  vom  Rache  übenden  und  mit  seinem  Volke  versöhnten 
Odysseus.  Diese  auf  einander  folgenden  Phasen  des  Helden  uiu1 
damit  einer  Hauptperson  im  vollesten  Sinne  bilden  eben  so  viele 
Ilauptakte  der  epischen  Handlung.  Jeder  derselben  verläuft  im 
Forlschritt  mannigfacher  Scenen ,  aber  obwohl  diese  Sccncn  dem 
Hörer  für  sich  ein  episch  klares  und  ansprechendes  Bild  vor- 
führen, so  macht  doch  dabei  jede  immer  die  Phase  des  Helden 
und  Stelle  der  Handlung  wohl  hemerklich. 

Vorzüglich  geschieht  dies  im  ersten  Hauptakt  durch  die  zahl- 
reichsten Erinnerungen  an  den  lang  abwesenden  König.  Zu 
diesen  gehört  wesentlich  ja  die  Charakteristik  der  die  treue  Galtiti 
und  den  Sohn  hilflos  bedrängenden,  für  ihn  selbst  bedrohlichen 
Umstände,  welche  ihn  hei  seiner  hier  angekündigten  Heimkunft 
erwarten.  Diese  Heimkunft  wird  in  den  vier  Büchern  der  Ex- 
position durch  die  Schilderung  der  heimischen  Verhältnisse  und 
die  Erkundigungsreise  des  Sohns  vorbereitet,  die  Person  des 
Ilaupthelden  durch  die  Sehnsucht  der  Seinigen,  durch  den  Lob- 
preis Befreundeter    (Mentes,    Halitherses    und  Mentor  i,    und  der 


128)  Suseinihl,  N.  J.-I5.  B.  LXXIli.  II.  0.  S.  599:  „Oder  soll  uns 
wirklich  die  Thorheit  aufgebünlel  werden,  dass  Ononiakrilos  und  seine 
Genossen  sie  ganz  nach  eigcneui  Gulihinkcn  in  diese  beiden  grossen  Werke 
zusammenfiiglon  und  also  den  Begrilf  einer  llias  und  Odyssee  erst  sehurenV 
Das  verlangt  die  wolf-hicliniannisclie  Aiisiciit  niclit  einiii;d.  IJornhardy, 
II,  I.  122.  gegen  Lacliiniuiu:  „Denn  der  Einfall,  dass  wir  jenes  Wunder  dem 
Peisistralos  und  seiner  Samndung  verdanken,  war  kauniernsllicli  gemeint", 


412 

Kiinipfgenosscn  vor  Troia  (Nestor  und  Mcnelaos  nebst  Helena) 
verberrliclit.  Wie  im  Plane  der  Ilias  der  in  seinem  Groll  un- 
thälige,  langhin  fehlende  Achill  so  bedeutend  ist,  ebenso  in  der 
Odyssee  der  vcrmissle  Odysseus.  Mögen  neuere  Leser  diese  Be- 
schafTenheit  der  einleitenden  ßiicber  nielit  sehen  Avollen,  dem 
Unbefangenen  sind  sie  handgreiflich  oder  ganz  leicht  nachweis- 
bar.'-'') ■  Der  empfängliche  Leser,  der  gestimmt  ist,  einen  liier 
angelegten  und  im  Folgenden  fortgeführten  Plan  anzuerkeimen 
und  zu  verfolgen,  sieht  in  der  Scbulzgötlin  des  Helden,  Athene, 
^vie  sie  in  der  olympischen  Eingangsscene  des  Zeus  Verwillignng 
der  Heimkunft  (das  Motiv  der  ganzen  Handlung)  erwirkt,  und 
darauf  nach  Ithaka  geht,  weiter  gleich  von  der  Anregung  des 
Telemach  an  die  Bewegerin  und  ßewalterin  der  ganzen  Hand- 
lung' in  allen  bedeutenden  3Iömenten,  dabei  auch  in  manchen 
kleineren  Hilfen.  Zeus  entscheidet  zwischen  der  Scbulzgötlin 
und  dem  mächtigen  Poseidon  hier  gleich,  wie  in  der  Ilias  zwi- 
schen Thetis  und  seiner  Gemahlin.  Die  Reise  des  Telemach, 
welche  die  Göttin  ihm  eingiebt,  hat  neben  der  Absicht,  in  den 
amnuthigen  Scenen  in  Pylos  und  Sparta  das  Lob  des  Helden 
laut  werden  zu  lassen,  einen  doppelten  für  die  Handlung  wesent- 
lichen Zweck.  Einmal  hat  sie  den  Mordplan  gegen  den  Rönigs- 
■sohn  zur  Folge,  sodann  und  hauptsächlich  soll  der  Sohn  bei  sei- 
ner Rückkehr  mit  dem  endlich  heimgelangten  Vater  in  der  Hütte 
des  treuen  Eumäos  zusammenlreflen  und  mit  ihm  das  Einverständ- 
niss  stiften,  wie  es  zur  Ausführung  der  Rache  erforderlich  ist. 
Sonach  kann  man  gewiss  nach  all  solcher  Wahrnehmung  des  In- 
halts der  vier  Bücher  darhi  nicht  irgend  ein  besonderes  Lied 
von  Telemach  finden.  Es  ist  nur  eine  Partie,  welche  einer- 
seits in  Sohn  und  3Iutter  die  heimischen  Umstände  offenbart, 
andererseits  den  \'ermissten  verherrlicht.  Der  Mordplan  gegen 
Telemach,  welcher  die  schon  ohnedies  gcwaltthätigc  Werbung 
um  Pen(dope    vollends   zum    frevelhaften  Attentat   auf  das  Rönig- 


129)  S.  1,  115—117.  1G2— 168.  195—220.  253  —  270.  2,  58—01. 
1(33—170.  225 f.,  in  3  bei  Jseslor  83—88.  120—129.  102 f.  219 f.,  in  1 
Helena  240—258.,  Mcnelaos  209  0".  —  eniige  Verse  nncclil  —  333  fl".  Ancii 
die  Vergleichung  zwischen  Oilysscus'  Gefahr  und  Aganieuniuns  lleimkunfl, 
welche  durch  das  ganze  Gedicht  sich  durchzieht,  gehört  hierzu;  1,  298 
bis  302.   3,232—235.   11,444-^440.   13,183—185. 


413 

tlinm  stempelt,  er  gehört  als  sprechendster  Zug  zur  Zeiehming  der 
heimischen  ]\Iissslände,  nnd  die  Erzählung  von  ihm  tritt  ehen 
so  natürlich  hier  ein  als  die  Reise  ihn  hervorruft.  •  Da  diese 
Reise  Telemachs  ohne  Wissen  der  Mutter  und  der  Freier  gesehehn 
ist,  Avird  sie  auf  die  natürlichste  Weise  ehen  jetzt  in  Ithaka  durch 
den  Noemon  hekannt,  der  dem  Telemach  sein  Schiff  geliehen 
hat;  er  bedarf  jetzt  des  Schiffes  und  kommt  gegen  die  Ilaupt- 
malilzeit  des  vierten  Tages  nach  der  nächtlichen  Abfahrt,  um  sich 
nach  der  Rückkebr  des  Telemach  zu  erkundigen  (4,  632 f.). 
So  tritt  der  Uebergang  zu  den  Freiern  in  Ithaka  (625)  ein,  nachdem 
Telemach  von  Menelaos  Alles  und  Jedes  Aernommen  hat,  was  er 
von  ihm  erfahren  konnte,  und  nun  bei  allem  Behagen  doch  an 
den  Heimweg  denkt,  nur  dass  er  abwarten  muss,  bis  er  mit  dem 
verheissenen  Gastgeschenk  entlassen  werde. 

In  dieser  Weise  war  von  Telemachs  Unterhaltung  mit  Menelaos 
hier  durchaus  Nichts  weiter  zu  »sagen.  Auch  der  Uebergang 
nach  Ithaka,  der  durch  die  Freier  vor  Odysseus'  Hause  und  ihr 
gewöhnliches  Vormittagsspiel  in  einfachster  Deutlichkeit  geschiehl, 
bringt  in  den  Mordplan,  der  so  natürlich  aus  der  Reise  hervor- 
geht und  sammt  dieser  der  Penelope  hinterbracht  wird,  einen 
wesentlichen  Charakterzug  des  Attentats  gegen  das  Königtlium, 
wie  er  immer  als  arge  Zuthat  erwähnt  Avird  (gleich  5,  18).  So- 
nach war  aller  Anstoss  an  diesem  Uebergange  unbedacht.'^") 

Der  so  abgeschlossene  einleitende  Theil  leistet  die  Voifüh- 
rung  des  Helden  und  der  Grundslluation  mit  den  in  der  Hand- 
lung geltenden  Umständen,  wie  Personen  in  lebensvoller  Darstel- 
lung so  angemessen  und  in  solchem  Maasse,  dass  nichts  küidlig 
Redeutendes  unerwähnt  bleibt,  dagegen  alle  hier  zuerst  aufge- 
wiesenen Verhältnisse  oder  Cliaraklere  im  weiteren  Gange  der 
Erzählung  ihre  Anwendung  und  Fortbildung  finden.  Zu  Anfang 
wird    der  Held    für  das  Sagenhewusstsein ''")  kctmbar  aufgeführt, 

130)  Die  Verse,  021  —  021,  wclolic  die  T.igcszcit  auch  fiir  Spart n  go- 
n.iucr  anzeigen  sollen  —  mittels  der  Ankunl'l  der  gownliniiclicii  Tiscli- 
gcnossen  —  können  echt  sein,  sind  aber  cnlheiirlici). 

131)  Daher  nicht  mit  seinem  Namen,  sondern  (huch  (he  eigensten 
Priidicale  hezeirlinel;  dnrcli  das  svd'a  wird  niclil  hios  die  Sitiiatidn  des 
Odysseus,  von  der  das  Ccdiciil  ausgeht,  sondern  zugltMch  das  Verhi'dtiiiss 
zur  (icsauuulnil•|^iiellr  auijcdcud'l. 


414 

wie  er  jetzt  nacli  Verlust  aller  Gefährten  und  naclideni  alle  An- 
dern von  Troia  heimgelangt  sind,  noch  immer  fern  von  der  Hei- 
math ist.  Darauf  zeigt  die  olympische  Eingangsscene  die  heiden 
wirkenden  Götter,  den  im  erklärten  Zorn  der  Heimkunft  widri- 
gen Poseidon  (1,  69  —  79)  und  die  durch  ihre  F'ürsprnche 
die  ganze  Handlung  anregende  Athene.  Diese  Fürsprache  und 
gleichfolgende  Erklärung  (1,  84 — 88}  der  Göttin  gehen  die  hei- 
den Ausgangspunkte  der  Bewegung  kund,  Ithaka  und  die  Insel 
der  Kalypso,  nehst  den  zwei  Hauptträgern  derselben,  Telemach 
in  Ithaka  und  Odysseus,  der  von  den  unlieben  Aufenthalt  zu  er- 
lösen ist.  Odysseus  wird  schon  hier  mit  seiner  heissen  Sehn- 
sucht nach  der  Heimath  und  den  Seinigen  hingestellt  (57—59), 
und  von  seiner  Göttin,  der  idealen  Trägerin  und  Geberin  seiner 
Tugenden  (13,  294 — 299),  auch  die  Sendung  an  die  Kalypso 
dem  Götterrath  aufgegeben,  während  sie  zunächst  nach  Ithaka 
gelin  werde,  um  den  Sohn  zu  kräftigen  und  anzuregen,  dass  er 
den  im  Königshause  von  dessen  Heerden  zehrenden  Freiern  vor 
einer  Volksversammlung  dies  verbiete,  selbst  aber  zur  Erkundi- 
gung nach  seinem  Vater  nach  Pylos  und  Sparta  gehe. 

Sie  bezeichnet  hier  dasselbe  als  ihre  nächste  Angelegenheil, 
was  für  die  poetische  Anlage  der  Erzählung  das  Nächste  war. 
Und  wenn  es  auch  denkbar  ist,  der  Dichter  hätte  gleichzeitig 
mit  ihrem  Abgange  nach  Ithaka  den  Zeus  schon  hier  den  Her- 
mes ihrem  Ralh  gemäss  zur  Kalypso  enlsenden  lassen,  so  haben 
wir  doch  seine  Wahl  als  die  schönere  zu  betrachten,  da  er  diese 
Ausführung  erst  nachher,  erst  nach  der  Schilderung  der  heimi- 
schen Verhältnisse,  eintreten  lässt.  Eineslheils  und  hauptsächlich 
ist  sie  in  Anerkennung  des  Gesetzes  epischer  Darstellung  gutzubeis- 
sen,  welches  ein  mehrfaches  Hin  und  Her  durch  Scenenwecbsel  in 
Rücksicht  auf  den  Vortrag  und  die  Hörer  gern  meidet;  sodann 
mögen  wir  auch  ein  Säumen  des  Zeus  annehmbar  finden,  da  es  hier 
in  der  Odyssee  der  in  der  Gölterfamilie  auch  boclisteliende  Posei- 
don ist,  dem  entgegenzuwirken  er  eine  gewisse  Scheu  Irägt.'^*)   In- 


132)  Zeus  erkliirl  in  Ab  wcscn  lic  i  l  dos  Posoidoii  seine  Tlicil- 
nnlime  für  den  frommen  Odysseus;  und  wie  er  vorher  Hin  Ji.il  seinen,  vom 
Holden  verwirkten  Zorn  bethäligen  lassen,  so  behandelt  er  ihn  auch  nach- 
mals rücksichtsvoll,  13,  125 tf.  140 If.  154 (f.,  wo,  da  Poseidon  nach  diesem 
nur  das  Stliid'  vorsleincrl,  158  statt  fif'y«  niil  Arislojdi.  v.  I5yz.  im  Schob 


415 

(loni  \\\v  also  dem  Zeus  eine  säumige  Ausfiihrunf;  beimessen, 
hat  die  durch  eine  Reihe  engverketteter  Scenen  vollständige 
Charakteristik  der  heimischen  Zustände  mit  allem  Recht  unsern 
Reifall. 

Die  Athene  thut  in  Itliaka,  \vas  sie  im  Olymp  angekündigt 
liat,  und  Telemach  fühlt  in  dem  Fortgang  nach  ihrem  jelzt  erst 
die  Göttin  verrathenden  Abschiede  ihre  Rathschläge  aus;  im 
z^veiten  Gesänge  die  Ansprache  und  Anklage  der  Freier  vor  dem 
versammelten  Volk,  in  Ruch  3  und  4  die  Erkundigungsreise.  Aber 
Avie  jene  Ansprache  und  diese  Resuche  in  der  sprechendsten 
Weise  an  den  Langabwesenden  mahnen,  ja  seine  Person  weit 
mehr  als  seinen  Sohn  betonen,  so  ist  von  den  seine  Heimkunft 
heischenden  Umständen  seines  Hauses  erstlich  und  vorzüglich  in 
der  Versammlung,  doch  gar  wohl  auch  in  Pylos  und  Sparta  die 
Rede,  Als  iSestor  seinen  redseligen  Rericht  von  dem  Ausgang 
des  troischen  Kriegs  und  der  Heimfahrt  beendet  und  erklärt  hat, 
dass  er  von  dem  ihm  so  betrauten  Odysseus  Nichts  wisse,  be- 
spricht er  mit  Telemach  das  Treiben  der  Freier  und  Odysseus' 
Heimkimft  dazu,  3,  212  fr.,  und  ebenso  geschieht  es  in  Spai-ta, 
4,  164— 167.  und  318  —  346.  Telemach  nun  wird  von  Nestor 
zwar  gemahnt  (3,  312  —  322),  nicht  lange  von  seinem  Haus  und 
dessen  übermüthigen  Gästen  fern  zu  bleiben,  aber  zugleich  auch 
aufgefordert,  erst  zu  Menelaos  zu  reisen,  der  zuletzt  und  nach 
vielen  Irrwegen  heimgekommen  sei.  Schon  am  zweiten  Tage 
seines  Aufenthalts  bei  Menelaos  denkt  er,  wie  gesagt,  in  Erinn- 
rung  an  die  Gefährten  in  Pylos  an  die  Heimkehr.  "  Aber  der 
Plan  des  Gedichts  und  der  künftige  Verlauf  der  Sage  oder  der 
homerischen  Erzählung  Hess  ihn  erst  nach  der  Heimkunft  des 
Vaters  wirklich  zurückreisen.  Hiernach  war  also  der  Fortgang 
zu  gestallen.  Es  musste  nun  erst  der  zweite  Hauptakt  folgen, 
Odysseus  musste  von  Kalypso  entlassen  zu  den  Phäaken  mul 
durch  diese  nach  Ithaka  geführt  werden.  Dauerte  dies  viele 
Tage   hindurch,   so   zählte   Homer  und  zählten   die  Hörer   diese 


jUTf  herzustellen  ist.  Muss  docli  Zeus  nach  seinem  „Wie  es  mir  das  Beste 
bcdünkl",  in  Poseidons  Absiclil  Etwas  geändert  liaiicn.  Das  (iiya  ist  also 
irrig  wiederholt.  Die  Erklärung':  „Poseidon  habe  den  zweiten  Tlieil  der 
Strafe  niclit  gleichzeitig  auszuführen  gebraucht",  ist  unslalUiafl 
und  aar  nicht  Jionierisch. 


41G 

nicht  in  Anscliluss  an  Tclcniaclis  Aufenthalt  in  Sparta.  Wie  ps 
Parallelen  zu  erzählen  gah  nnd  Glcirhzeitiges  nur  Eines  nach  dem 
Andern  darzustellen  war,  so  hrachle  ein  Uebergang  von  einer 
Scene  zur  ~  andern  mit  andern  Personen  auch  eine  neue  Zeil- 
rechnung.  So  hat  ge^^iss  kein  Hörer  Homers  oder  der  Rhapso- 
den die  23  Tage  und  iNächle,  welche  nachgezählt  die  Heim- 
kehr des  Odysseus  von  Ogygia  nach  Ithaka  beträgt,  mit  der  Zeit 
der  Abwesenheit  des  Telemach  zAisamniengerechnet,  so  dass  sie 
85  Nächte  und  34  Tage  gedauert  hätte.  Odysseus  treibt  20  Tage 
auf  dem  Meer  zwischen  Ogygia  und  Scheria,  4  Tage  hat  vorher 
sein  Schiffsbau  gekostet,  und  der  letzte  Tag  bei  den  Phäaken  ist 
ebenfalls  nur  mit  der  Sehnsucht  nach  der  Abfahrt  ausgefüllt: 
so  sind  es  jene  25  Tage  ohne  andere  epische  Bedeutsamkeit  als 
dass  sie  die  Ausdauer  des  Odysseus  cliarakterisiren,  welche  die 
unerwartet  lange  Abwesenheit  des  Telemach  zu  AVege  brachten. 
Der  Hörer  behielt  nur  die  V^erfassung  im  Gedächtniss ,  in  wel- 
cher er  den  Jüngling  mit  seinem  Behagen  im  gastlichen  Hause 
verlassen  hatte  und  was  ihm  der  Schlusstheil  des  einleitenden 
Aktes  vom  Mordplan  der  Freier  mid  Penelope's  Sorgen  erzählt 
hattc.'^^)  Telemach  in  Sparta  und  die  gegen  ihn  auf  d(>r  Lauer 
liegenden,  Antinoos  mit  Genossen,  weisen  in  die  Zukunft.  Nach- 
dem aber  die  geängstete  Mutter  einstweilen  l)eruhigt  war  und  da 
in  d(>r  fortgehenden  Erzählung  jene  beiden  Umstände ,  der  Mord- 
anschlag öfters,  Telemach  seiner  Zeit  berücksichtigt  wurden,  so 
geschah  den  Zuhörern  Genüge. 

Was  die  einleitende  Scenenjeihc  an  Umständen  oder  bedeu- 
tenden Charakteren  aufgewiesen  bat,  sind  eben  die  im  Fortgang 
wirkenden.  Zuerst  Penelopc  und  Telemach.  Beide  sind  zu  An- 
fang der  Handlung  in  dem  trelfcnden  Zeitpunkt  gefasst.  Jene  in 
ihrer  thränenreichen  Sehnsucht  wird  jetzt,  nachdem  ihre  verzö- 
gernde List  verrathen  ist  (2,  93  ff.  106 — 110),  von  den  Freiern 
zur  Entscheidung  gedrängt.  Der  bisher  übersehene  Sohn,  er- 
scheint eben  zum  Mannesbewusstsein  erweckt,  und  wenn  zuerst 
durch  Athenes  Ermulbigung  zuversichtlicher,  doch  son.st  noch 
schüchtern  und  sorgenvoll,  dabei  in  unerfahrner  Jünglingsart  auf 
Neues   und    Prächtiges   aufmerksam    (4,   71)   und    durch    Erzäh- 


133)  Aiini.  zu  Odyssoo  5.  S.  1 — 3. 


417 

lungen  ergötzt  (4,  596)."*)  Wenn  einem  Hörer  der  Epopöe  in 
ihrem  Zusammenhange  der  Gedanke  kam,  als  er  den  Aufhruch 
des  Telemach  zu  Anfange  des  15.  Gesanges  vernahm,  es  wären 
doch  seit  dem  Gespräch,  4,  593  ff. ,  viele  Tage  vergangen,  dann 
konnte  und  moclite  er  sich  den  Aufschub  der  Abreise  sowobj 
aus  des  Jünglings  noch  nicht  festem  Charakter  und  geäussertem 
Behagen  gegenüber  den  heimischen  Missständen  erklären.  Nach- 
mals aber  neben  dem  Vater  nach  dem  getroffenen  Einverständ- 
niss  in  den  Büchern  vom  17.  an  haben  Mir  die  feine  Schilderung 
im  Verhalten  des  noch  unfertigen  Mannes  zu  erkennen.  Die 
treue  Penelope  ist,  wie  sie  im  erste  Gesang  und  im  4.  erschien, 
nachmals  immer  dieselbe.  Ihre  schmerzensreiche  Sehnsucht  ist 
in  den  gleichen  Zügen  gezeichnet  (16,  850),  ihre  Lage  schon 
die,  welche  nach  der  Heimkunft  des  Odysseus  und  Verabredung 
mit  Telemach  sich  zu  der  Höhe  steigert,  welche  im  Gespräch 
mit  Odysseus  von  ihr  bezeichnet.  Od.  19,  524  ff.  571  ff.,  den  Bo- 
genkampf  hervorruft,  „den  Anfang  des  Mordes",  21,  4. 

So  erscheinen  die  Götter  wie  die  Menschen  ferner  nach  den 
zuerst  angegebenen  Zügen.  Der  zürnende  Poseidon  erkennt,  5, 
286  ff.,  den  Beschluss  der  Götter,  thut  aber  noch,  was  er  kann, 
und  wahrt  sein  Ansehn,  nachdem  die  Phäaken  den  Umgetrjebenen 
nun  doch  so  ganz  geruhig  heimgebracht  haben  (13,  125  ff.).  Die 
Erregerin  des  ganzen  Hergangs,  Athene,  mahnt,  5,  5  ff.,  den  säu- 
migen Zeus,  indem  sie  jetzt  ihr  Anliegen  durch  Angabe  jenes 
Mordplans  verstärkt,  wahrt  ihren  Schützling  beim  Sturme  des 
Poseidon,  5,  382.  437.,  macht  ihm  die  Phäaken  auf  alle  Weise 
geneigt,  6,  2.  13.  24.  u.  s.  w.  8,  7.  193.  vgl.  13,  302.,  empfängt 
ihn  nach  der  Landung  auf  Ithaka,  13,  221  f.  287  ff.,  beräth  ihn 
wegen  der  Freier,  376  ff.,  beruhigt  ihn  wegen  des  Sohnes,  421  bis 
427.,  und  verwandelt  ihn  Behufs  des  Racheplans  mit  Versicherung 
ihres  Beistandes,  393.,  heisst  ihn  zu  Eumäos  gehn  und  holt,  hier 
die  Doppelerzählung  in  Eins  führend,  den  Telemach  von  Sparta, 
15,  1.,  fördert  nach  Wegsendung  des  Eumäos  (15,  40  f.  16, 
130  )  die  Erkennung  und  Verabredung  zwischen  Vater  und  Sohn, 


134)  4,  155  ff.  niniml  Pcisislratos,  der  wohl  dem  Menelaos  bereits 
bekannt  war,  für  Telemach  das  Wurt,  und  erklärt  dessen  Schüchternheit 
bei  diesem  ersten  Besuche. 

Nitzsch,  Gesch.  d.  griech.  Epos.  27 


418 

(16,  155.  168  — 171),  betliört  nach  GöUerart  den  einmal  ver- 
hassten  Sinn  der  Freier  und  selbst  der  Besseren,  18,  155  und 
158,  giebt  der  Penelope  den  Boyenlvanipf  ein,  21,  I.,  und  leistet 
Beistand  beim  Freiermord.  22,  205.  224.  256.  297. 

Aus  der  dargelegten  Bescbaflenheit  der  ersten  vier  Gesänge 
ergiebt  sich  ein  Verhältniss  zum  einheitlichen  Ganzen,  welches 
sie  bei  all  ihren  wechselnden  Scenen  eigentlich  für  den  Gesammt- 
vortrag  als  Vorwort  bestimmt  zeigt.  Insofern  sie  jedoch  die 
Schilderung  der  den  Odysseus  bei  seiner  Heimkunft  bedrohenden 
oder  ihn  heischenden  Umstände  zu  einem  gewissen  Abschluss 
bringen,  und  durch  die  Zusage,  welche  Penelope  über  ihren 
Sohn  erhält,  4,  805  —  807,  825  —  829.,  hier  auch  eine  gemülh- 
liehe  Beruhigung  stattfindet,  konnte  die  Partie  recht  wohl  einen 
längeren  Einzelvortrag  geben.  Die  kürzeren  Theile  aber,  wie  sie 
die  inhaltlichen  Titel  angeben ,  sind  einer  mit  dem  andern  in  so 
engem  Anschluss  verknüpft,  dass  ihr  Einzelvortrag  nur  bei  einer 
Vorkenntniss  wahrscheinlich  ist,  welche  aucli  Ausgehobenes  ver- 
ständlich machte. 

Ebenso  mnfassen  die  andern  Hauptakte  jeder  eine  Reihe  von 
jetzigen  Büchern,  wobei  sie  indess  bei  ihrer  Ausdehnung  auch 
mehrfach  in  für  den  besonderen  V^ortrag  passende  Abschnitte  sich 
eintheilen    Hessen,   welche    eine  Phase   der  Handlung   darstellen. 

Der  zweite,  der  heimkehrende  Odysseus  oder  die  wirklich 
vollzogene  Heimkehr,  reicht,  durch  die  Episode  von  den  früheren 
Irren  so  ausgedehnt,  von  5,  1  —  13,  92,  zerfällt  aber  eben 
durch  jene  Episode,  den  so  genannten  A pol og  bei  Alkin oos, 
für  den  Einzelvorlrag  in  zwei  Partieen ,  5,  1 — 8,  520  und  8, 
521  — 13,  92.  Indem  wir  den  Schluss  mit  diesem  Verse  an- 
nehmen, stellen  wir  uns  vor,  dass  die  Rhapsoden  ihren  Vortrag 
gern  in  die  Verse  ausgehn  Hessen,  13,  83 — 92: 

So  liineilond  im  Flug  durchsclinitl  es  die  Wogen  des  Meeres, 
Tragend  den  Mann,  der  rdinlicii  unsterbliclicn  Göttern  an  Weisheit. 
So  viel  Leiden  zuvor  mit  Ijokünnnerlem  Herzen  erduldet. 
Während  er  Schlaciilcn  der  Männer  bestand  und  das  Grauen  der  Wogen, 
Jetzt,  sein  Leiden  vergessend,  in  ruhigem  Scldumnier  versenkt  lag, 

oder  in  der  Folge  des  Textes  nach  Voss: 

Und  nun  schlief  er  so  ruhig  und  all  sein  Leiden  vergessend. 

Das  Folgende,   wie  sie   ihn  auf  das  Ufer  bringen,  gehört  selbst 


419 

schon  einer  neuen  Situation  an,  vorziiglicli  aber  Hessen  sitli  die 
Verse  bis  125  nicht  wohl  trennen  von  dem,  ^vas  über  Poseidon 
folgt,  und  (heses  hätte  doch  wohl  keinen  guten  Schluss  abgegeben. 

rsach  der  angenommenen  Theihing  enthielt  die  erste  Partie 
1 681 ,  die  zweite  2398  Verse.  Aus  der  letztern  konnte  des  Odys- 
seus  Ueberlistung  des  Kyklopen,  9  ,  105  —  564.  [KvxXcoTCSLa),  und 
wieder  Odysseus'  Besuch  der  Unterwelt,  11,  1—635.  [vsxvLa) 
zum  kürzern  Vortrag  dienen. 

Der  dritte  Ilauptakt,  der  rachesinnende  Odysseus  oder  die 
Vorbereitung  zur  Rache,  geht  von  13,  93  bis  zu  Ende  des  19. 
Buches.  Theilen  Hess  er  sich  in  die  Partieen  von  seinem  Anfang 
bis  zu  Ende  des  16.  Buchs  mit  1917  Versen  und  die  Bücher 
17 — 19  mit  1635.  Diese  beiden  Partieen  steHfen  jede  eine  unter- 
schiedene Phase  der  werdenden  Rache  dar,  beide  der  Gesammthand- 
lung  noch  augehörig.  In  der  ersten  der  Heimgelangte  von  Athene 
empfangen  und  berathen  und  bei  Eumäos  mit  dem  zurückgeru- 
fenen Sohn  zusammengeführt,  dem  er,  nachdem  er  von  ihm 
speziell  über  die  Zahl  der  Freier  unterrichtet  ist,  das  geeignete 
Verhalten  einprägt.  Dabei  wird  der  Hirt  zur  Stadt  geschickt, 
wo  die  Freier,  nachdem  der  erste  Anschlag  gegen  den  Königs- 
sohn von  Athene  vereitelt  ist,  einen  zweiten  fassen,  der  wie  der 
erste  von  demselben  Antinoos  erdacht,  von  demselben  heimlich 
treuen  Medon  der  Penelope  verrathen  wird  (16,  412.  wie  4, 
677).  In  einem  Gespräch  mit  Penelope  wird  der  beiden  Rotten- 
führer, Antinoos'  und  Eurymachos'  Charakter  in  neuen  Erweisen 
offenbar,  wie  er  sich  gleich  im  ersten  Buche  im  Bezug  auf  das 
Königthum  (383  —  420),  im  zweiten  in  ihrer  damaligen  Stellung 
im  Volke  kundgab  und  schon  dort  kundgeben  sollte. 

In  der  andern  Partie  kommt  erst  Telemach ,  dann  der  Lang- 
abwesende in  sein  Haus  und  unter  die  Freier.  Hier  erfährt 
der  Harrende  nun  an  sich  und  dem  treuen  Eumäos  und  dem 
gastlich  aufgenommenen  Seher  die  frevele  Art  der  nach  einander 
auftretenden  Freier  und  ihrer  Anhänger  in  der  Steigerung,  wel- 
che Athene  selbst  fördert.  Am  Abend,  nachdem  Vater  und  Sohn 
bei  Alhenes  Leuchte  die  Waffen  geborgen,  findet  das  schon  17, 
582  f.  vorbestimmte  Gespräch  des  Unerkannten  mit  der  Penelope 
statt,  und  dazwischen  das  Fussbad,  wo  dieselbe  Amme  Eurykleia 
ihren  Herrn   an   der  Narbe   erkennt,   die  uns  zuerst  1  ,  428  bis 

27* 


420 

435,  dann  2,  345  —  380,  dann  4,  742  —  757.  als  die  betrauteste 
Dienerin  des  Hauses  schon  von  Laertes  her  vorgeführt  ist,  und 
welche  den  Telemach,  37,  31.,  zuerst  bemerkt  hat.  Penelope 
denkt  schon  auf  den  Bogenkainpf. 

Der  vierte  Hauptakl  hat  wiederum  zwei  Theile,  20,  1  bis 
23.  296.:  den  Freiermord  und  die  Erkennung  durch  Penelope. 
dann  den  jedenfalls  stark  interpolirten ,  von  23,  296  und  24  bis 
zum  Schluss,  Erkennung  durch  Laertes,  Kampf  mit  den  Ange- 
hörigen der  Freier  und  Friedensschluss,  den  wir  hier  nicht  ge- 
nauer besprechen  können. 

Der  20.  Gesang  leitet  den  Freiermord,  zu  welchem  nach 
Athenes  Eingebung  der  Bogenkampf  des  21.  die  unmittelbare 
Gelegenheit  bringt,  von  allen  Seiten  ein;  er  bringt  alle  Zustände 
auf  die  Spitze;  zuerst  des  Odysseus  Ingrimm  und  Rachetrieb  und 
dabei  Bangen  vor  der  Menge  der  Freier,  dann  der  Penelope 
Schmerz  bei  der  unabweislicben  Entscheidung,  dann  der  Freier 
,  Uebermuth  gegen  Odysseus,  den  Athene  verstärkt,  endlich  auch 
des  Telemach  Muth  ihnen  gegenüber,  worauf  ein  Vernünftigerer, 
indem  er  Telemachs  Recht  anerkennt,  die  Umstände  hervorhebt, 
wonach  er  die  Mutter  zu  einer  Wahl  anhalten  solle.  Darauf 
treten  Wunderzeichen  ein,  welche  der  Seher,  Telemachs  Gast, 
deutet,  der  aber  von  Eurymachos  ausgetrieben  wird,  so  dass  auch 
der  heilige  Mann  ihren  Uebermuth  erfährt.  Schon  Athenes  An- 
sprache und  zwei  auf  seine  Anrufung  von  Zeus  erwirkte  Vorzei- 
chen haben  gleich  anfangs  den  Odysseus  ermuthigt,  und  er  har- 
ret auf  die  verheissene  Gelegenheit.  In  Erwartung  dieser  hat 
er,  wie  dem  Eumäos  so  dem  Rinderhirt  Philötios,  der  auch  seine 
Treue  ausgesprochen,  mit  Eidschwur  (226 ff.)  die  nahe  Erschei- 
nung ihres  Herrn  versichert.  Diese  Hirten  sind  sammt  dem  argen 
Melanthios  mit  vielem  Vieh  für  die  Freier  gekommen  zu  dem  Feste 
(156)  des  Apollon,  welches  daneben  das  Volk  im  Haine  begeht 
(276ff. ).  Unter  diesen  Umständen  und  während  Telemach  still 
auf  den  Vater  blickt,  wann  er  denn  die  Hände  gegen  die  Freier 
erheben  werde  (385),  regt  Athene  die  Penelope  an,  den  Bogen- 
kampf anzustellen  (21,  1)  Als  dieser  im  Gange  ist.  Alle  ver- 
geblich sich  versucht  haben,  nur  Antinoos  und  Eurymachos  noch 
übrig  sind,  gehn  die  beiden  treuen  Hirten  hinaus,  Odysseus  folgt 
ihnen,  giebt  sich  ihnen  zu  erkennen  und  instruirt  sie  (21,  188  ff.  234 


421 

bis  241).  Alsbald  versucht  sich  auch  Eurymachos  vergebens, 
Antinoos  aber  findet,  heute  könne  es  kein  Glück  im  ßogenschuss 
geben,  da  des  Bogengotles  Fest  gefeiert  werde.  Sie  werden 
einig,  den  Bogenkampf  auf  den  folgenden  Tag  zu  verschieben, 
und  da  nach  dargebrachtem  Opfer  den  Kampf  zu  erneuern. 
Während  sie  sich  zum  Schmause  wenden,  bittet  Odysseus,  ihn 
einmal  den  Bogen  versuchen  zu  lassen.  Da  diese  Bitte  den  An- 
tinoos zur  schmählichsten  Erwiederung  reizt,  mischt  sich  Pene- 
lope  ein,  und,  nachdem  sie  von  Telemachos  in  Ahndung  des  Be- 
vorstehenden veranlasst  ist,  sich  zu  entfernen,  überbringt  Eumäos 
nach  des  jungen  Hausherrn  kräftiger  Entscheidung  den  Bogen 
dem  Odysseus.  Nach  stiller  Wahrung  der  Thüren  fasst  der  Rächer 
mit  allbewundertem  Geschick  den  Bogen  und  thut  den  Meister- 
schuss  zum  bittersten  Weh  und  Schrecken  der  Freier,  Mit  hei- 
terem Muthe  mahnt  er  sie  jetzt,  es  sei  Zeit  zum  Nachtessen  mit 
Saitenspiel  und  Tanz;  aber  dem  Telemach  mit  den  Augen  win- 
kend, sich  zu  waffnen,  wirft  er  seine  Lumpen  ab,  und  mit  dem 
Scbuss,  der  den  Antinoos  niederstreckt,  beginnt  er  den  Freier- 
mord, der  im  22.  Buche  geschildert  wird.  Als  er  vollbracht  ist, 
wird  Eurykleia  gerufen,  um  die  schuldigen  Mägde  zu  nennen, 
und  sie  alle  zu  rufen.  Jetzt  werden  die  Leichname  in  den  Hof 
getragen,  der  Saal  gesäubert,  die  schuldigen  Sclavinen  aufge- 
henkt, Melanthios  verslümmelt,  und  während  Odysseus  Haus  und 
Hof  mit  Schwefeldampf  von  Unheil  reinigt,  wird  Eurykleia  zur  so 
fest  wie  nie  schlafenden  Penelope  gesandt,  um  ihr  des  Gatten  An- 
kunft und  das  an  den  Freiern  vollzogene  Strafgericht  zu  melden. 
Es  folgen  zu  Anfang  23  die  zwei  unvergleichbaren  Scenen,  die 
Eurykleia  und  die  schwergläubige  Penelope,  und  Penelope,  die 
besonnen  zärtliche,  dem  Gatten  und  dem  Sohn  gegenüber,  bis 
Odysseus  durch  Beschreibung  seines  kunstreichen  Schlafgemachs 
ein  unabweisliches  Erkennungszeichen  giebt  und  die  Getreue  ihm 
um  den  Hals  fällt,  worauf  „die  Gatten  Wandten  sich  herzlich  er- 
freut zu  des  Ehebetts  alter  Gemeinschaft",  296, 

Hier ,  wo  die  Grammatiker  die  echte  Odyssee  geendigt  an- 
nahmen, sehn  wir,  wenn  auch  der  Dichter  wahrscheinlich  noch 
die  Erkennung  des  Laertes  berichtet  und  Beruhigung  wegen  der 
getödteten  Fürsten  hinzugefügt  haben  mag,  doch  die  so  eng  ver- 
webte  Partie   vom  Freiermord   und   der   Wiedervereinigung    mit 


422 

Penelope  geschlossen.  Sie  zu  vereinzeln ,  war  wohl  auch  vor 
Zuhörern,   die  ihren  Homer  kannten,  nicht  üblich. 

Die  somit  vollzogene  Musterung  der  Odyssee  hat  im  Ver- 
laufe der  Erzählung  fast  nur  umfassendere  Partieen  gel'unden. 
Die  einzelnen  Scenen  dieser  sind  eng  verknüpft.  Wenn  daher 
eine  gehörige  Rhapsodie  immer  ein  kleines  Ganze  zu  gegeben  hatte, 
so  ist  es  hier  eine  natürliche  F'olgerung,  dass  die  Rhapsoden 
eben  altersher  gemeinhin  jene  umfassenderen  Partieen  vorgetra- 
gen haben,  dass  sie  solche  besessen  und  gewusst  und  also  auch 
den  Sammlern  des  Peisistratos  solche  mitgetheilt  haben.  Um 
diese  Folgerung  richtig  zu  finden,  hat  man  sich  nur  zu  vergegen- 
wärtigen, was  ein  Hörer  an  den  vereinzelten  Scenen  überhaupt, 
aber  besonders,  was  er  an  den  Anfangsscenen  der  verscliiedenen 
Hauptakle  gehört  hatte,  wenn  der  Vortrag  abbrach.  Es  gab  ohne 
die  Fortsetzung  ja  doch  nur  Lieblingsstücke,  Scenen  oder  Cha- 
raktere, welche  die  Liebhaber  schon  kannten  und  nicht  oft  ge- 
nug hören  konnten,  wie  etwa  die  pylische  Scene  und  den  alten 
Nestor,  einmal  vielleicht  auch  nur  die  Resclireibung  seines  Opfers, 
3,  404 — 476,  oder  die  Kyklopenmär,  oder  die  Wäsche  der  Wau- 
sikaa,  auch  wohl  um  der  Helena  willen,  nach  4  bis  Vers  619,  gleich 
Telemachs  wirkliche  Entlassung,  15,  86 — 183.  —  Die  Beschrei- 
bung des  Bechers  fiel  hier  oder  dort  weg. 

Weiter  nun  hat  dieselbe  Musterung  jene  mehre  Bücher  um- 
fassenden Partieen  als  Stufen  und  Akte  einer  fortschreitenden 
Handlung  wahrnehmen  und  eine  diese  beseelende  sittliche  Idee 
inne  werden  lassen.  Diese  Motivirung  wohnt  nicht  von  selbst  in 
der  Sage,^^^)  welche  nur  Personen  und  Thatsachen  überliefert, 
die  Beseelung  kommt  von  den  Dichtern;  gerade  in  der  durch 
jede  der  beiden  Poesieen  Homers  gehenden  Beseelung  des  Gan- 
zen, wie  der  einzelnen  Scenen,  offenbart  sich  die  PersöniicIiKeit, 
das  eigenthümliche  Dichtergemüth.  Ajles  dieses,  wie  es  in  der 
Odyssee    sich    noch    fühlbarer  macht,    führt  auf  den  Bildner  der 


135)  0.  Müller  Proleg.  S.  108 f.  „Den  Dichtern  von  Homer  an 
war  durchaus  das  psychologische  Moliviren  der  Begolienheilen 
überlassen.  Was  Aganiemnon  und  Acliill  gedacht,  sngle  die  Tradition 
nicht,  es  war  genug,  wenn  sie  vom  Zorn  der  Fürsten  ,  und  wie  dadurcli 
Verderben  über  die  Griechen  kam,  meldete.  Jene  Motiviruiip  ist  d.ilier 
auclj  bei  verscliiedenen  verschieden". 


423 


grossen  Compositioneii  und  drängt  zu  der  Voraussetzung,  dass 
er  für  diese  grossen  Ganzen  eine  geeignete  Weise  des  lebendi- 
gen Vortrags  zu  finden  und  ins  Werk  zu  setzen  gewusst  liabe. 
In  der  Odyssee  also  und  in  den  Epopöen,  ^velclie  nach  dem 
V^organge  der  beiden  homerischen  Gebilde  ähnliche  grösseren 
Umfangs  darstellten ,  liegt  uns  guter  Grund  vor,  es  als  unzweifel- 
haftes Postulat  anzuerkennen,  dass  die  immer  für  den  lebendigen 
Vortrag  bestimmten  nationalen  Kunstepopöen  der  Griechen ,  von 
Homer  bis  Lesches  und  vielleicht  auch  Pisander  von  Rhodos,  in 
der  zwiefachen  Weise  vorgetragen  worden  seien,  theils  als  Ganze 
in  ihrem  Fortgange  vollständig,  theils  vereinzelt  [otioqccöyiv)  in 
ausge\vählten  Partieen. 

20.  Begründung   und  genauere  Erörterung  des  Vor- 
trags der  wirklichen  Epopöen. 

Indem  wir  beide  Arten  der  Rhapsodie,  die  theihveise  und 
die  ganzer  Epopöen  als  vor  Solon  und  Peisistratos  schon  lange 
üblich  darthun  wollen,  sehn  wir  vorläufig  aus  später  ersichtli- 
chem Grunde  ab  von  der  Frage  über  die  Möglichkeit  der  Dich- 
tung und  Ueberlielerung  so  grosser  Gedichte  für  Homer  selbst. 
Aber  wir  vergegenwärtigen  uns  alle  die  im  Vorigen  gegebenen 
geschichtlichen  oder  logischen  Sätze,  welche  die  Existenz 
grosser  epischer  Ganzen  bewahrheiten.  Der  stärkste  und  unmit- 
telbarste liegt  in  der  Odyssee,  welche  so  wenig  als  die  Gudrun 
anders  für  kleinere  Vorträge  theilbar  ist,  als  in  solche  Akte 
oder  Scenen,  welche  ihren  Bezug  auf  den  Plan  der  Epopöe  und 
seinen  Fortschritt  deutlich  an  sich  tragen.  Wer  die  Ilias  ihr  an 
Einheitlichkeit  auch  ganz  und  gar  unähnlich  fände,  wer  ihr  auch 
in  solcher  Verkennung  wie  W.  Wackernagel,  weil  Zeus  die  Ge- 
nugthuung  für  den  Gekränkten  in  die  Hand  nimmt,  die  einheit- 
liche Durchführung  ihres  Motivs  abspräche, '^^;  er  müsste  doch 
durch  die  Odyssee  sich  gedrungen  fühlen,  eine  Form  der  Rhaps- 
odie älterher  vorauszusetzen  und  in  der  Ueberlieferung  aufzu- 
suchen, durch  welche  eine  Epopöe  von  vielen  tausend  Versen 
zum  Vortrag  habe  konmien  können. 

Was  die  Form  dafür  betrifft,  so  haben  wir  schon  bei  zwei  Lie- 


136)  Schweiz.  Mus.  2.  83. 


424 


derstoffen  des  älteren  Heldengeschlechts,  der  Argonaulenfahrt 
und  den  Arbeiten  des  Herakles,  die  Durchführung  mittels  mehrer 
Zusammenkünfte  %  auf  einander  folgenden  Tagen  erforderlich  er- 
kannt und  dieselbe  Weise,  umfängliche  Gedichte  durchzuführen, 
zeigt  Welcker  als  ganz  natürliche,  wie  schon  für  Homers  Vor- 
gänger, Demodükos  und  Phemios,  so  für  die  Ilias  und  Odyssee:  Ep. 
Cycl.  l,  371  ,  wo  er  aus  dem  Schol.  zu  Od.  3,  261.  die  Angabe 
mehrtägiger  Vorträge  beibringt. 

Diese  Weise  der  nicht  in  Einer,  sondern  in  wiederholten 
Zusammenkünften  vollzogenen  Rhapsodie  der  ganzen  Epopöen, 
sie  erscheint  als  Brauch  der  ersten  Zeit  am  glaubhaftesten.  Dies 
zumal,  wenn  der  Dichter  in  seiner  allmähligen  Ausdichtung  der 
entworfenen  Pläne  zunächst  nur  die  Hauptmomenle  ausgeprägt 
hatte.  Die  Hörer,  für  die  er  dichtete,  erkannten  auch  ohne 
Schritt  für  Schritt  gegebene  Uebergänge  doch  den  Fortschritt  von 
einem  Moment  zum  andern.'") 

Doch  eine  Form  der  vollständigen  Rhapsodie  der  Ilias  und 
Odyssee  wird  uns  in  drei  mit  einander  wohl  übereinstimmenden 
Zeugnissen  dahin  angegeben,  dass  eine  Anzahl  von  Rhapsoden  die 
ganzen  Epopöen  durchdeclamirten,  so  dass  jedem  sein  Stück  so 
zu  sagen  seine  epische  Rolle  zugewiesen  war,  indem  der  Fol- 
gende, wenn  er  den  Stab  empfing,'^®)  da  fortfuhr,  wo  der  Vor- 
gänger geendigt  hatte.  Wie  Alles,  was  von  gymnastischen  oder 
poetischen  und  musikalischen  Fertigkeiten  Tlieil  einer  Festfeier 
wurde,  sich  alsbald  nach  dem  Ehrlriebe  des  griechischen  Volks- 
geistes zum  Wettstreit,  zum  Agon,  gestaltete,  so  auch  diese 
vertheilte  Rhapsodie,  daher  denn  jeder  alte  Schriftsteller  diese 
agonistische    Vortragsweise    versteht,    wenn    er    von    dem    Vor" 


137)  Der  sinnige  Recens.  in  den  Bl.  f.  litler.  Unterh.1844  sagt  Nr.  29. 
S.  515. :  „gar  woid  könne  ein  Cyclus  geist-  und  inhaltvoller  Lieder,  wie  die 
vom  Zorn  des  Achill  —  auch  wenn  sie  sich  nicht  vollständig  zu  einem 
künstlerischen  Ganzen  zusammenfügen  W'Ollten,  doch  von  einem  und  dem- 
selben Dichter  herrühren".  Und  wenn  wir  dies  auf  das  Fehlen  der  über- 
führenden Verbindungen  ermässigen ,  gilt  das  Obige  um  so  mehr. 

138)  Die  intonirende  Zitter  war  nach  Welckers  Erörterung  Cykl.  1. 
358  f.  und  Bergks  Untersucimng  über  das  älteste  Versmaass  gegen  den 
Stab  verlauscht,  den  die  Declamirenden  wie  die  Sänger  der  Skolien, 
Tischlieder ,  gleich  dem  Sprecher  in  der  Versammlung  führten ,  und  den 
einer  dem  andern  überreichte.    Welcker,  Proleg.  zu  Theogn.  XCVII. 


425 

l^rag   ganzer    Gedichte   spricht,    ihm    also    der   Einzelne   ein  Ago- 
nist  heisst. 

Der  eine  Zeuge,  der  Scholiast  des  Pindar  (zu  Neni.  2,  Anf.), 
belehrt  uns  ohne  allen  speziellen  Bezug  ganz  im  Allgemeinen 
über  beide  Arten  der  Rhapsodie.  Die  eine  Art  sei  gewesen 
(die  vereinzelnde)  da  die  Absingenden  (Declamatoren)  je  nach  Be- 
lieben irgend  einen  Theil  vorgetragen  hätten,  die  andere,  wenn 
eine  der  beiden  Epopöen  (vom  Festordner)  in  den  Agon' einge- 
führt worden  und  dann  die  Agonisten  die  Theile  zusammen- 
gereiht und  so  die  ganze  Dichtung  durchrecitirt  hätten.  Die 
beiden  Andern  sprechen  von  den  P'esten  Attikas ,  und  hier  wieder 
der  eine  von  einem  allgemeinen  Gesetz  des  Gesetzgebers  Solon 
ohne  Angabe  bestimmter  Feste,  der  andere  von  dem  Hauptfeste 
des  Staates,  den  Panathenäen:  Von  Solon  heisst  es:''^)  er  gab 
das  Gesetz,  man  solle  die  homerischen  Gedichte  nach  Anw  eis ung 
vortragen  lassen,  so  dass,  wo  der  Erste  aufgehört,  von  da  der 
Folgende  beginne.  Der  Ausdruck  „nach  Anweisung"  bildet  eben 
den  Gegensatz  zu  der  beliebigen  Wahl,  nach  der  man  ausser  den 
Festen  auf  den  Plätzen  oder  in  den  so  genannten  Sprechhallen 
(Leschen  Buch  1,  Anm.  53 J  selbstgewählle  Stücke  hörte.  Die 
Anweisung,  welche  das  Gesetz  vorschrieb,  hatten  die  Festordner 
bei  eintretenden  Festfeiern  zu  vollziehen,  wie  wir  im  dritten  Zeug- 
niss  einen  solchen  finden  werden.  Da  zu  jedem  Fest  immer 
mehre  Rhapsoden  sich  einfanden,  war  diesen  erstlich  die  Ilias 
oder  die  Odyssee,  und  dann  jedem  einzeln  seine  Partie  aufzuge- 
ben. Die  im  Zeugniss  hinzugefügte  Erklärung:  ,, nämlich  wo 
der  Eine  aufgehört,  sollte  der  Andere  anfangen",  hat  das  Selt- 
same, dass  sie,  wie  im  Sprung,  die  mittelbare  Folge  des  Gesetzes, 
die  beabsichtigte  Wirkung  der  Anweisung  angiebt,  aber  sie  giebt 
das  der  Sache  Gemässe. 

Solon  musste  schon  bestimmte  Feste  vor  Augen  haben,  und 
er  konnte  das  der  brauronischen  Artemis ,  vielleicht  auch  Diony- 
sien   älterer  Form   meinen."")     Dagegen   hatten   die  Panathenäen 


139)  Diog.  V.  Laerl.  1,  57  und  Suidas:  vnoßoX'rj.  Beide  aus  der- 
selben älteren  Quelle:  ZoXmv  ra  'Ofxrjijov  i'^  vnoßokrjg  Ey^aipe  ^ai/^w- 
ötloQai.  oiov,  onov  v  TiQcoTog  skr]^tv  SKet\}ev  ÜQ^^a^cci  vov  d(Jx6^evov. 
lieber  die  Formel  1^  Jjto^o/l^Jg  s.  Sagenp.  413 — 418. 

140)  S.  Meyer,  Panathenäen  S.  285  in  Allgem.  Hall.  Encycl.  111,  10: 


426 

zur  Zeit  seiner  Gesetzgelning  die  nachmals  so  hocligeloble  Rhaps- 
odie des  Homer  noch  nicht.  Während  er  auf  seine  lü  Jahre 
von  Athen  abwesend  war,  571  —  561,'^^)  geschah  es  noch  erst, 
so  viel  wir  sehn,  dass  (566)  unter  dem  Archon  Hippokieides  den 
i'rüheren  Pferderennen  zunächst  nur  gymnasiische  Wettkämpfe 
hinzugefügt  wurden,  woran  vielleicht  Peisistratos  Verdienst  hatte, 
der  aber  erst  560  zum  ersten  Mal  die  Herrschaft  gewann.  Hätte 
er  schon  während  dieser,  überhaupt  vor  der  dritten,  neben  anderem 
Schmuck  der  Panalhenäen  auch  die  Rhapsodie  eingeführt,  so  wäre 
dies  vor  der  Gründung  seiner  Bibliothek  und  vor  seiner  Sammlung 
der  homerischen  Gedichte  geschehn.  Dies  anzunehmen,  haben  wir 
keinen  sicheren  Anhalt.  Dagegen  gilt  uns  das  dritte  Zeugniss 
aus  dem  wenn  auch  sehr  rhelorisirenden  Pseudo-  Piaton.  Hipp- 
arch,  228  B.,  so  viel  als  es  von  diesem  Sohne  des  Peisistratos 
sagt:  ,,Er  hielt  die  Rhapsoden  an,  homerische  Gedichte  mittels  Ue- 
bernahme  von  Vorgänger  —  in  Aufeinanderfolge  —  nach  der  Reihe 
durchzugehn,  durchzudeclamiren".  Der  hier  gebrauchte  Ausdruck 
verhält  sich  zu  dem  des  solonischen  Gesetzes  sprachlich  wie  ein 
bezügliches  Verhalten  oder  sich  Aeussern  zu  einem  Massgebenden, 
concret  sachlich  wie  Ausführung  und  spezielle  Anwendung  zu  einer 
Vorschrift.  Hipparch  handelte  als  Festordner  wie  er  später  in  gleicher 
Thätigkeit  seinen  Tod  fand  (Thuk.  1,  20,  3.  6,  57.  2.).'«)  Wenn 
man  vielfältig  geneigt  ist  dem  Vater  Peisistratos,  an  dieser  Einführung 
in  die  Panathenäen  einen  Antheil  zuzuschreiben,  so  steht  dem 
das  Zeugniss   von  Solon  entgegen,  wo  nach  der  gewiss  richtigen 


Die  Dcclamirübungen  aiijden  Apaluricn  bei  Plato  Tim.  21 B.  passen  jedoch 
nicht.  An  den  Brauronien  wurde  nach  Ilcsych.  die  llias  vorgetragen,  von 
der  früheren  Rhapsodie  der  Dionysien  giehl  Athen.  VII.  z.  A.  Zeugniss; 
sie  machte  vcrmulldicli  durch  Peisistratos  den  drauiatisclien  Gattungen  Platz. 

141)  Westermann  hinter  Plut.  Solon:  de  actatc  Solonis  p.  87.  Die 
Panalhenäcnrhapsodie :  Lykurg  geg.  Lcokr.  c.  26.  S.  209  Rsk.  Isokrates 
Panegyric.  42.  Plalons  Jon  z.  A.  Sie  bezeugen:  nach  allem  Braucii  wür- 
den Homers  Gedichte  und  sie  allein  bei  den  grossen  Panalhenäen  recitirt, 
kein  irgend  anderer  Epiker,  und  zwar  im  Wetlkampf,  so  dass  die  Preise 
gewonnen  würden.  Dass  sie  Redner  von  dem  bericliten ,  was  noch  in 
ihren  Tagen  statt  fand,  ist  nicht  zu  zweifeln. 

142)  Es  heisst:  rjvdynaas  Tovg  Qa^p(p8ovg  nava&i^vaiotg  e^  vno- 
A>  t/'fwg  icpe'E,'rjg  avrcc  6t.eivai,  agneQ  vvv  hi  oXde  tiüiovOi.  Der 
ganz  gleichbedeutende  Ausdruck  xar«  riva  nsgioöov  i^  vnodo'ji^rjg  wird 
vom  Gesang  der  Skolien  gebraucht;  Mclet.  2.  135. 


427 

Herstellung  Ritschis'")  gesagt  ist,  dem  Solon  sei  wohl  eher  ein 
Verdienst  um  die  V'erhreitung  der  Bekanntschaft  und  des  Ruh- 
mes der  homerischen  Gedichte  beizumessen,  als  dem  Peisistratos, 
der  dessen  Gedichte  nur  gesammelt  und  einige  Stellen  habe 
einschieben  lassen.  Also  Solon  ordnete  Recitation  bei  öflentlichen 
Festen  an,  Peisistratos  schuf  nur  Exemplare  zu  Abschriften  und 
dies  nicht  ohne  Fälschung.  Und  wenn  Solons  Regel  die  auf 
einander  folgenden  Partieen  nur  in  ihren  Forlschritt  brachte, 
mochte  Hipparch  die  Rhapsoden  auf  Abschriften  der  redigirten 
Ausgabe  verweisen,  da  denn  der  Anschluss  des  Einen  an  den 
Andern  nie  enger  war. 

So  also  geschah  die  Einführung  der  vollständigen  Rhapso- 
die der  Jlias  und  Odyssee  in  die  Feste  Attikas  und  namentlich 
in  die  grossen  Panathenäen,  welche  in  jedem  dritten  Olympiaden- 
jahr vier  Tage  hindurch  begangen  wurden  (Meier  S.  279.).  Eine  sol- 
che Festrhapsodie  war  etwas  Besonderes  und  Neues,  vor  dessen 
Stiftung  die  homerischen  Gedichte,  wie  anderwärts,  so  in  Attika 
schon  längst  durch  Einzelvorträge  bekannt  waren.  Die  obige 
Darlegung  der  in  den  Gedichten  selbst  gegebenen  Fassung  die- 
ser Einzelvorträge  lässt  einsehn,  dass  die  Rhapsoden  nicht  etwa 
viel  umzulernen  hatten,  als  sie  die  redigirten  Exemplare  bekamen. 
Sie  hatten  ja  eben  geliefert,  was  die  Sammler  redigirten.  Eben 
dieser  Umstand  und  diese  Beschaffeuheit  des  in  Attika  bis  da- 
hin vereinzelt  Vorgetragenen  beseitigt  jede  Vorstellung  von  einem 
wesentlich  Andern,  was  durch  die  Veranstaltung  des  Peisistratos 
erwirkt  sei.  Rein  besonnenes  Urtheil  kann  anders  hierüber  lau- 
ten als  das  Schömanns:'")  „Dass  jene  Composition  (der  llias)  vor 
Peisistratos  gar  nicht  vorhanden  gewesen  sei ,  ist  —  zuletzt  von 
Grote  —  mit  so  schlagenden  Argumenten  widerlegt,  dass  unseres 
Erachtens  diese  Meinung  für  immer  abgethan  ist.  Alles  stimmt 
vielmehr  dafür,  dass  eine  llias  als  Ganzes  schon  vor  den  ältesten 
Cyclikern,  also  vor  dem  Anfang  der  Olympiaden,   vorhanden  ge- 


143)  Rilschl  Alex.  Bibl.  65.  Das  cpcotiaai  hodculcl  aber  iJluslmre, 
in  luce  et  celebritjile  poiiere,  oder  iniiulcslcns  ovulgaro,  was  von  den  be- 
reits vorhandenen  Gocbolilcn  gilt  nnd  ist  niclil  mit  Aeiians  anitpiivs  rijv 
'ikiaSa  zu  vergleichen,  was  ilire  Gcslallung  bezeiclincl;  cxbibnit. 

144)  Rcc.  m.  Sagen]),  in  N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Pädag.  B.  09.  S.  3Ü. 


428 

wesen,  und  es  ist  gar  kein  Grund,  anzunehmen,  dass  dieses  v^e- 
sentlich  von  der  unsrigen  verschieden  gewesen". 

21.      Das     Allgemeine     von     den     nach  st  homerischen 
Epopöen  als  rhapsodirt  neben   den  homerischen. 

Indem  die  Anordnungen  des  Solon  und  des  Peisislratos,  «ie 
seines  Sohnes,  uns  Beides  als  bereits  aus  langer  Vorzeit  voriian- 
den  und  üblich  annehmen  heissen,  sowohl  die  von  dem  Bildner 
der  wahren  Epopöe  gedichteten  Ganzen,  als  die  zur  Darstellung 
dieser  Ganzen  geeignete  Rhapsodie,  so  gemahnen  sie  uns  an  alle 
Anzeichen,  welche  uns  die  Geschichte  der  nationalen  Geltung  die- 
ser Gedichte  gewährt.  Zuerst  daran,  dass  mit  des  Peisislratos 
Unternehmen,  woneben  Xenophanes  und  Thcagenes  stehen,  die 
zweite  Periode  jener  nationalen  Geltung  der  homerischen  Gedichte 
beginnt,  die  nicht  mehr  naive,  sondern  reflectirende  neben  der 
fortwährend  volksthümlichen.  Vor  Allem  aber  gedenken  wir  der 
Epopöen,  welche  sich  an  Ilias  und  Odyssee  anreihen.  In  ihren 
Vei'fassern  Arklinos,  Stasinos,  Kreophylos,  Agias,  Lesches,  haben 
wir,  insofern  keiner  von  ihnen  den  Sagentheil  der  Ilias  oder 
Odyssee  berührt,  selbst  Zeugen  für  die  ihnen  bereits  bewusste 
Behandlung  jener  beiden  Sagenlheile  erkannt.  Mehre  von  ihnen, 
namentlich  Arktinos,  Stasinos  und  Agias  lassen  nach  den  uns  vor- 
liegenden Inhaltsanzeigen  nicht  undeutliche  Bezüge  auf  die  bei- 
den Musterepopöen  erkennen.  Waren  sie  doch  wahrscheinlich 
von  deren  Vortrage  zur  eigenen  Dichtung  der  andern  Sagen- 
lheile fortgeschritten.  Mehr  und  einfachen  Beweis  giebt  die 
Vergleichung  der  Religion  jener  Nachfolger  mit  der  des  Homer. 
Die  religiöse  Sühne  des  Mörders,  die  Apotheose  der  Heroen,  die 
prophetische  Begeisterung,  die  Erscheinung  Verstorbener  bei 
ihren  Gräbern  bilden  eben  so  viele  sprechende  Anzeichen  eines 
veränderten  religiösen  Glaubens.  Mancher  Wandel  in  der  Volks- 
sage, den  die  Aethiopis  des  Arktinos,  die  Kyprien  des  Stasinos 
und  die  Nosten  des  Agias  enthalten,  kommt  nur  zum  Ueberfluss 
hinzu.  Die  schon  bei  ihnen  giltige  Unterscheidung  der  religiö- 
sen Vorstellungen  von  den  homerischen  giebt  bei  den  Sammlern 
des  Peisistratos  wiederum  Zeugniss  wie  von  ihrem  Verfahren,  so 
von  ihrer  Gebundenheit  hinsichtlich  des  Ueberlieferten. 

Es  zählen  zu  den  nächsthomerischen  noch  die  zwei  namen- 


I 


429 

losen  aus  der  thebanischen  Sage,  die  Thebais  und  die  Epigonen, 
welche  wir  einerseits  —  wohl  durch  die  rhapsodirenden  Homeri- 
den  —  dem  Homer  zugeschrieben  sahen,  andererseits  als  aus- 
drücklich bemessen  mit  je  7000  Versen  kennen.  Sonach  ver- 
stärken diese  ursprünglichen  Epopöen,  8  an  Zahl,  das  Postulat 
einer  Rhapsodie ,  welche  für  den  Vortrag  der  schon  vor  ihnen 
gedichteten  beiden  um  ein  Bedeutendes  länger  erforderlich 
war."^)  Mögen  diese,  die  Ilias  und  Odyssee,  seit  Arktinos,  Kreo- 
phylos  u.  s.  w.  noch  ansehnlich  durch  Einschiebsel  ausgedehnt 
sein  ;  die  in  Attika  erst  spät  eingeführte  vollständige  Rhapsodie 
mit  vertheilten  Parlieen  halten  wir  jedenfalls  als  alther  und  ganz 
natürlich  gefunden  fest,  mögen  wir  auch  nicht  wissen,  wann  und 
wo  dieselbe  zuerst  als  Akt  eines  Festes  eingerichtet  worden.  Es 
geschah  wohl  so,  wie  Volkssitten  unter  ähnlichen  Bedingungen  an 
mehren  Orten  zugleich  sich  bilden.  Der  Charakter  und  die  Art 
der  Festage  als  Volkszusammenkünfte  (Panegyren),  bei  Feiern  der 
Stammgemeinschaften  (Amphiktyonien)  oder  überhaupt  geweihten 
Freudentagen,  führte  sehr  natürlich  auch  die  epischen  Erzähler 
dahin  ,  und  eine  Mehrzahl  dersellien  zur  geordneten  Rhapsodie. 
Es  ist  da  nur  zu  bemerken,  dass  nicht  der  Charakter  des  Got- 
tes entschied.  Das  Fest  des  Asklepios  in  Epidaurus  hatte  auch 
die  agonistische  Rhapsodie  (Plat.  Jon  z.  A.),  wenn  es  auch  das 
apollinische  Gesammtfest  auf  Delos  die  Delia  sind,  bei  welchem 
uns  nach  dem  Hymnus  an  Apoll,  165  ff.,  angeblich  Homer  selbst 
seinen  und  seiner  Gedichte  Ruhm  verkündet,  und  wo  also  diese 
Chorgedichte  auch  vorgetragen  wurden.  Wie  hier  der  persön- 
liche Dichter  statt  der  seine  Gedichte  vortragenden  Homeriden 
genannt  ist,  so  hat  sich  vielfältig  in  der  Sage  das  Leben  der 
Gedichte  d.  h.  ihr  Vortrag  durch  Rhapsoden  zum  Lehen  des  Ho- 
mer selbst  gestaltet.  So  nahmen  wir  schon  oben  wie  von  Chios 
so  von  Kolophon,  von  Samos,  von  Kypros  und  andern  Orten  an. 
Freilich  um  allen  diesen  Orten  Etwas,  was  eine  Rhapsodenschule 


145)  Das  viel  zu  siiiiiinarisclie  Urtlieil  Bcrnhardy's,  2,  1.  188  — 190, 
das  diese  Epiker  fast  nur  als  den  Cyklos  bildend  auffasst,  kann  uns  niclit 
abhalten,  ihre  Epopöen  als  für  öffentlichen  Vortrag  bestimmt  und  ge- 
braucht zu  nehmen.  Gedichtet  dafür  haben  sie  jedenfalls,  in  wie  weit 
ihnen  dies  gelungen,  oder  im  andern  Falle  sie  nur  gelesen  worden,  darüber 
fehlen  die  Nachrichten. 


430 

heissen  dar!',  niiUliniaasslich  beizulegen ,  muss  man  einmal  den 
Vorzug  anerkennen ,  welchen  die  homerischen  beiden  Epopöen 
vor  allen  andern,  besonders  in  der  sprcchsamen  Form  behauptet 
haben;  sodann  darf  man  nicht  nach  Welckers  Annahme  mit  sei- 
nem appellativen  Verständniss  des  Namens  Homeros,  der  homeri- 
schen Poesie  die  ganze  Reihe  von  Epopöen  beizählen,  durch 
deren  Zusanmienfügen  der  epische  Cyclus  gebihh't  wurde.'"'*) 
Vielmehr  ist  unter  jener  vorleuchtenden  Idee  vom  Dichtergenius 
Homer  das  volksthümliche  Leben  seiner  beiden  Schöpfungen  in 
der  sich  verbreitenden  lUiapsodie  zu  erkennen.  In  den  einen 
Orten  wurden  selbst  dichterische  Geister  durch  Vortrag  und  gei- 
stige Befreundung  mit  jenen  Mustern  zu  eigenen  Dichtungen, 
wenn  auch  keineswegs  ohne  heimathliche  Anregungen ,  geführt, 
an  andern  standen  eben  nur  die  homerischen  Werke  in  be- 
sonderer Anerkennung  und  Bliithe.  Die  überlieferte  Mannig- 
faltigkeit der  Sagen  sowohl  von  Homers  Heimathen  oder  bleiben- 
deren Aufenthaltsorten,  als  von  den  ihm  als  drittes  oder  viertes 
hier  und  da  zugeschriebenen  Gedichten,  kann  so  allein  richtig 
gedeutet  werden.  Das,  was  durch  innere  und  äussere  Gründe 
als  das  Unveräusserlichste  zu  gelten  hat ,  der  Vorzug  und  die 
Geltung  der  Uias  und  Odyssee  und  ihres  Dichters  bleibt  vor  allen 
gewahrt,    und    man    vermeidet   den   Widerspruch,    der   zwischen 


140)  Welckers  Annahme  beruhcle  auf  falsch  gedeuteten  Citalen, 
welche  er  als  Belege  für  den  appellativen  Gel)raiich  des  Namens  Homer  auf 
andere  f]popüen  bezog,  die  aber  alle  statt  dessen  auf  die  Ilias  oder  Odyssee 
verwiesen.  S.  besonders  Sagenp.  330  ■ —  341  ,  dann  S.  349  Kap.  X.  und 
S.  352  Kap.  XI. ,  S.  355  und  309  Kap.  XV.  Der  sonst  verdiente  Verfasser 
einer  historia  eritica  Homeri,  welche  der  4.  Ausgabe  des  Teubnerschen 
Homer  beigegeben  ist,  Sengehusch,  bat  ohne  Prüfung  die  Welckersclie 
Ilypotliese  wiederholt,  und  die  Berichtigungen  der  Sagenpocsie  nicht  be- 
achtet ,  bes.  Sagenp.  398.  So  sagt  er  Diss.  2.  14. :  Aeschylus  universa 
carmina  cyclica  (ad  Ilomerum  retulit).  Dass  nämlich  Aeschylos  einst  seine 
Tragödien  Stücke  (zerlegte)  vom  grossen  Mahle  des  Homer  genannt  haben 
soll ,  deutete  Welcker  Gr.  Tr.  1.  S.  4.  daliin ,  Aeschylos  habe  den  ganzen 
epischen  Cyclus  in  seiner  Poesie  erschöpft.  Aber  Aeschylos  meinte  sein 
Wort  gar  nicht  so,  und  konnte  es  nicht  so  meinen.  Dass  er  einen  Cyclus 
von  Epopöen  gekannt  und  homerisch  genannt,  davon  haben  wir  kein  Zelig- 
niss,  und  seine  Trilogien  konnten  gar  nicht  die  Epopöen  alle  so  verwenden. 
Aber  wohl  hat  er  aus  der  Ilias  und  Odyssee  eine  Trilogie  gestaltet.  Ob 
er  nun  hierauf  anspielte  oder  mit  Homer  nur  die  epische  Gattung  als  mit 
ihrem  Haupt  bezeichnete,  das  lässt  sich  nicht  entscheiden.  S.  Sagenp.  541  f. 


431 

dem  genialen  Dicliter  der  neuen  Gattung  und  neuen  Periode 
statlfindel,  welcher  die  neben  ihm  fortbestehenden  früheren  Lie- 
der in  Vergessenheit  bringt,  und  der  verflachenden  Verallgemei- 
nerung seines  Namens,  nach  der  jeder  Nachbildner  auch  Homer 
genannt  worden  sein  soll. '") 

Es  wäre  dieses  Beides,  jene  hervortretende  epochemachende 
Auszeichnung  und  diese  Verflachung  seines  Namens  nur  denkbar, 
wenn  die  Vorzüge  und  Reize  der  homerischen  Poesie  erst  spät 
empfunden  und  anerkannt  worden  wären.  Dass  dem  al)er  nicht 
so  gewesen  sei,  dass  dieselben  schon  frühzeitig  gewirkt  haben, 
ist  durch  zwei  thatsächliche  Erfolge  von  der  Geschichte  bezeugt. 

Während  bei  der  Entstehung  vieler  jener  Gedichte  einzelne 
Lieder  bestanden  und  neben  ihnen  fortbestanden,  was  zum  Theil 
durch  aus  diesen  geschehene  Einschiebsel  sich  auch  ausdrücklich 
kundgiebl,  sind  sie  schon  in  älterer  Zeit  durch  ihre  Vorzüge 
d  i  e  V  0  r  h  a  n  d  e  n  e  n  ältesten  e  r  s  t  g  e \a  o  r  d  e  n.  Später  dann,  wo 
ihre  nationale  Geltung  durch  des  Xenophaues  Tadel  und  des 
Theagenes  allegorische  Vertheidigung,  wie  durch  Anwendung  in 
politischen  Streitfällen  i'uchtbar  wird,  erkennen  wir  aus  der  Wir- 
kung, aus  dem  bestehenden  Ansehn  der  Gedichte,  dass 
eine  grosse  Verbreitung  und  Blüthe  durch  eine  sehr  be- 
flissene Rhapsodie  hervorgegangen  ist. 

Zu  diesen  nur  summarischen  Beweisen  blühender  Rhapsodie 
und  zwar  auch  Gesammtrhapsodie  vor  der  Sammlung  des  Peisi- 
stratos,  welche  das  Gesetz  des  Solou  schon  voraussetzen  heisst, 
kommt  auch  das  spezielle  Zeugniss  des  Herodot,  5,  67,  wo  der 
Tyrann  Klislhenes  von  Sikyon,  der  Schwiegervater  des  Peisistra- 
tos,  die  festlichen  Vorträge  der  Rhapsoden  untersagt  ,,der  home- 
rischen Epen  wegen".  Sein  Grund ,  weil  sie  die  Argeier  so  viel 
und  all  überall  priesen,  kaim  nicht  ohne  Bezug  auf  die  llias  ge- 
meint sein;  die  Thebais,  die  Epopöe  von  dem  ersten  unheilvollen 

147)  Sagenp.  371.  „Weicker  halte,  indem  er  den  Namen  Homer 
attributiv  als  den  Zusammcnfiigcr  gedeutet,  mit  der  Ilias  oder  mit  Iloiiier 
ein  zweites  Zeitaller  epischer  Poesie,  d.  h  grosser  Conil)iiialionen  be- 
ginnen lassen;  so  musste  er  allein  mit  der  letzleren  Vorstellung  und  An- 
nahme verfahren,  was  er  aber  weder  in  jener  Erklärung  noch  ülier- 
liani>l  nachmals  befolgt ,  vielmehr  weiterhin  die  erslere  Annahme  allein 
walten  lässl". 


432 

Zuge  gegen  Theben  zu  verstehn,  hat  weder  von  Seiten  des  In- 
halts noch  nach  des  Herodot  Persönliclikeit  Wahrscheinlichkeit, 
der  die  homerischen  Epen  schwerlich  so  genannt  hat."*) 

Derselbe  Grund,  der  den  Klisthenes  (um  558  vor  Chr.)  ge- 
gen Homer  missstimmte,  machte  diesen  den  geschichtlichen  Argei- 
ern theuer  wie  das  Epigraunn  der  Statue  angiebt,  welche  ihm  in 
Argos  mit  heroischen  Ehren  gewidmet  war."^)  Hierzu  kommt 
eine  andere  Nachricht  zwar  aus  späten  Schriftstellern,  doch 
eben  beglaubigt  durch  die  Uebereinslimmung  mit  den  eigen- 
thümlichen  Bräuchen.  Die  Argeier  sollen  den  Homer  über  alle 
andern  Dichter  geschätzt,  ihn  bei  ihren  (besonders  den  Dorern 
und  dem  Apollon  eigenen)  Theoxenien,  mit  Apollon  zusammen- 
geehrt und  zu  seinem  fünfjährigen  Opferfest  auf  Chios  eine  so 
genannte  Theorie  gesandt  haben. '^°)  Die  einer  solchen  Schätzung 
entsprechende  Rhapsodie  werden  wir  doch  weder  erst  nach  Athens 
Vorgange,  noch  erst  spät  zur  vollständigen  eingerichtet  zu 
denken  haben.  Einen  dem  Homer  naclxlichtenden  Epiker  ken- 
nen wir  in  dortiger  Umgegend  im  Verfasser  der  nachhomerischen 
Nosten,  dem  Agias  von  Trözen.  So  wie  wir  nun  die  in  den  ioni- 
schen Städten  alther  übliche  agonistische  Rhapsodie  des  Homer  aus 
jener  strafenden  Aeusscrung  des  Heraklit  anzunehmen  hatten, 
und  sie  uns  als  die  der  Feste  gilt,  so  konnte  sie  auch  allein  die 
Epopöen  jener,  dem  Vorgang  des  Homer  folgenden  Epiker  zum 
vollständigen  Vortrag  bringen. 

Aber  auch  bei  diesen  haben  wir  die  zwiefache  Rhapsodie, 
Einzelvorträge   und  Gesammtvorträge   anzunehmen.     Jene   in  der 


148)  Grote  verstand  diese.  Aber  weder  ist  dem  Herodot  bei  seinen 
Aeusserungen  über  die  Meinungen  von  den  Epigonen  und  den  Kyprien 
die  schlichte  Annahme  von  der  Thehais  als  homerischem  Gedicht  so  leicht 
beizumessen,  noch  trifft  jener  Grund  auf  diese  mehr  als  auf  die  Ilias;  im 
GegenLheil  das  Gedicht  vom  unghicklichen  Kriegszug  mit  dem  fliehenden 
Adrast  am  Ende  eignet  sich  wenig,  während  die  Ilias  bei  dem  Vollsinn 
der  Namen  Argeier  und  Argos,  der  Stellung  des  Agamemnon,  den  Erfolgen 
und  der  ganzen  Bedeutung  des  Diomedes  gewiss  reich  ist  an  Verherrlichung 
der  Argeier,  Eustalh.  zu  II.  2,  568  S.  288,  44.  Sagenp.  305  und  316.  Was 
aber  Klisthenes  dort  gegen  den  Heros  Adrastos  thut,  ist  ausdrücklich  als 
ein  von  jener  3Iaassregel  Verschiedenes  bezeichnet. 

149)  Bruncks  Anal.  III.  265.  Jacobs  Deduct.  S.  84  Nr.  15  aus  dem 
Agon  des  Homer  und  Hesiod  §.  18. 

150)  Aelian  V.  G.  9,  15.  Agon  des  Homer  und  Hesiod  §.  18. 


1 


433 

Ilias  so  viel  bemerkte  DarstellungsAveise,  da  theils  hervortretende 
Vorkämpfer  und  Einzelkämpfe,  theils  andere  Akte  eigenthümlichen 
Charakters  den  auf  einander  folgenden  Patieen  ein  seihständiges 
Interesse  i;ehen,  nnd  diese  dadnrch  znm  Einzelvortrag  eignen, 
dieselbe  können  wir  in  den  Inhaltsanzeigen  der  ISachfolger  nach- 
weisen.'^') Es  ist  hier  nnr  der  Unterschied  in  ihrer  Einheitlich- 
keit zu  beachten,  der  durch  die  Beschaffenheit  des  Sagenstoffs 
seihst  bedingt  war.  In  dem  Maasse  als  die  Handlung  ihre  ein- 
heitliche Entwickelung  hatte,  und  diese  an  einer  Hauptperson 
vorging,  bewog  die  Epopöe  selbst  zum  Gesammtvortrage,  wobei 
immer  die  unverwickelte  Folge  von  Einzelakten  daneben  Einzelvor- 
trägen dienen  konnte.  Zumeist  die  über  alle  andern  sowohl  einheit- 
liche, als  an  den  schönsten  Motiven  reiche  und  der  Ilias  beziehent- 
lich ähnlichste  Aethiopis  des  Arktinos.'"^)  Die  Einheitlichkeit  der 
Handlung,  welche  vom  Anfang  bis  zum  Schluss  den  Achill  zum 
Mittelpunkt  hat ,  eignete  diese  Epopöe  gar  sehr  zum  Gesammt- 
vortrag,  und  sie  gab  eben  deswegen  dem  Aeschylos  eine  Trilogie 
mit  vollständigen  drei  Tragödien. '^^)  Diese  zum  Gesammtvortrag 
führende  Einheitlichkeit  machte  sich  um  so  fühlbarer,  als  es  innere 
seelische  Motiven  sind,  welche  mit  einander  verkettet  den  einen 
Theil  mit  dem  andern  verweben,  wie  oben  genauer  nachgewiesen  ist. 

151)  Von  vielen,  welche  Weicker  aufführte,  ist  wegen  zu  dürftiger 
Kunde  abzusehen.  Er  räumte  der  Condjination  und  Muthniaassuug  zu  viel 
ein.  Von  der  Danais,  der  Oedipodee,  aucii  der  Titanüinaciiie  wissen  wir 
zuwenig;  Siigcnp.  20 — 35.  Die  Deutung  zw^eier  Titel  auf  Eine  Epopöe 
ist  hol  einigen  iiinlnnglich  begründet,  die  Kosten  und  der  Alrcidon  Rück- 
kehr sind  (inssolI)O,  die  Thebais  und  des  Aniphiaraos  Ausfidu-t,  Occhalias 
Einnahme  und  Ilerakloe  ebenso ;  dagegen  dass  mit  Alkmäonis  die  Epi- 
gonen,  mit  Minyas  die  Phokais,  mit  Aniazonia  die  Atthis,  als  Erziddung 
von  des  Theseus  Kampf  mit  den  Amazonen,  benannt  sei,  beruht  auf  ge- 
waltsamen Deutungen  und  Combinationen ;  Sagenp.  22f.  Bernliardy,  Gr. 
Litter.  IL,  1.  2.  A.  S.  205.  206.  209.  213.  Die  nach  der  Zeit  des  blühen- 
den Epos  gedichtete  Telegonie,  die  Fortsetzung  der  Odyssee ,  liegt  uns 
zwar  auch  in  dem  Inhalte  vor,  alter  eben  als  an  sich  reizloses  Gediciit, 
welches  schwerlicii  je  die  Rhapsoden  ]»escli;ifligl  hat;  Bernhardy  214. 

152)  S.  Sagenp.  614  ff.  bes.  ^g.  146  und  148.  und  ölten  Buch  2  §.  19. 
Auch  hat  den  Gang  der  Epopöe  Aethiopis,  die  ihren  Namen  von  einem 
Haupttheil  hat,  der  VerL  in  Meletem.  2,  49 — 51  angegeben. 

153)  Wie  schon  früher  gesagt  ist ,  gaben  eben  nur  die  drei  Epo- 
pöen, welche  in  ihrem  Fortschritt  an  einer  Hauptperson  hielten,  zu  allen 
drei  Acten  einer  Trilogie  den  Stoff. 

Nilzsch,  üfiscli.  i1.  gricch.  Eiios.  28 


434 

22.  Fortsetzung.  Die  Einnahme  Oecli alias  des  Kreo- 
pliylos  nncl  die  Thebais. 

Dieselbe  Eigenschaft  persönlicher  Einheitlichkeit,  welche  die 
Aethiopis  mit  der  Ilias  nnd  der  Odyssee  gemein  hatte,  empfahl 
auch  die  Epopöe  des  Kreophylos  zum  ficsannntvortrag  durch 
sich  ablösende  Rhapsoden.  Man  könnte  zwar  meinen,  ein  Lied 
von  des  Herakles  Fehde  gegen  Enrytos  in  Oechalia  auf  Euhöa 
(s.  Buch  2,  Anni.  3.)  sei  Avohl  nur  des  massigen  Umfangs  gewe- 
sen wie  die  vorhomerischen;  aber  die  Sagen  von  dem  Kreophy- 
los auf  Samos  oder  los,'^*)  wie  er  den  Homer  einst  gastlich 
aufgenommen  und  zum  Dank  jene  Epopöe  zum  Eigenthum  erhal- 
ten habe  —  sie  machen  den  Kreophylos  zum  Epiker  homerischer 
Art  und  lassen  nur  ein  Werk  anneimien,  das  die  Ausdehnung  und 
Entwickelung  einer  wirklicluMi  Epopöe  gehabt  hat.'^-')  Auch  ist 
es  undenkbar,  dass  darin  nichl  auch  mehrfache  Einwirkung  der 
Götter  dargestellt  worden  wäre.  War  es  kein  Völkerkampf,  an 
dem  die  Götter  sich  wie  die  Streiter  in  Parteien  theilten,  und 
Zeus  entschied,  so  ward  dieser  erstlich  doch  gewiss  von  seinem 
Sohn  angerufen  als  Rächer  gegen  den  wortbrüchigen  Eurytos, 
uml  ausser  ihm  konnte  der  Bogengott  ApoUon  kaum  unbetheiligt 
lib'iben,  den  Eurytos  wohl  erzürnt  halte,  und  der  dem  Herakles 
daher  beistand.'-*)  Endlich  wird  Aphrodite  bei  der  Liebe  des 
Herakles  zur  lole  nicht  unerwähnt  geblieben  sein. 

Es  war  ein  Heerzug  mit  gesannnelten  Schaaren  (So[di. 
Tiach.  258  f.)  zur  Eroberung  der  Stadt,  nicht  ein  Einzelkampf, 
und  zwar  ein  von  Anfang  auf  die  Vernichtung  des  Treubrüchi- 
gen abgesehener.  Eurytos  hatte  früher  um  die  Hand  seiner 
schönen  Tochter  lole  einen  Bogenkampf  ausrufen  lassen,  wer 
ihn    und  seine  (2)  Söhne  darin  übertrofl'en ,  der  sollte  sie  heim- 


154)  Da  wohnt  Kreo])hylos  nach  dem  Agon  §.49  g.  E.  S.45.  Westorni. 
und  Proklos,  S.  25  das.  Sonst  wird  er  nnd  sein  Gescldochl  nach  Sanios 
gesetzt,  wo  Lykurg  von  seinen  Nachkommen  die  homerischen  Gedichte 
empfängt. 

155)  So  auch  Wclcker  Cycl.  2,  481  r.  Derselhc  iiandciL  /msCiihrlich 
liher  ilas  Gedicht  im  1.  Hände,  wo  er  jedoch  2U)  den  N.imon  Kreophylus  un- 
riclilig  deutete,  indem  er  auch  Pinto  missversland.  Sagenp.  02 — (14  und 
das.  die  weitere  Auslegung  der  Nachrichten  vom  Verhällniss  dieses  Epikers 
und  seines  Geschlechts  zu  den  homerischen  Gedichten. 

150)  Od.  8,  220—228.    0.  Müller,  Dor.  1,  413 f. 


435 

führen.  Herakles  war  dem  Rufe  gefolgt  und  halle  üher  Alle  den 
Sieg  ge^vonnen,  aber  Enrytos  dann  nichl  Wort  gehalten,  ja  den 
Sieger  mit  Schim[)f  aus  seinem  Hanse  gewiesen  (Traehin.  263). 
So  sammelte  Herakles,  naehdem  er  inzwisehen  Anderes  bestan- 
den ,  in  der  thessalisehen  Trachis  eine  Sehaar  theils  I^lalier, 
epiknemidische  Lokrer  aus  der  Umgegend  und  Ändere  ferner  her, 
Ibeils  einzelne  betraute  Genossen,  den  Hippasos,  Sohn  des  Keyx, 
bei  dem  Herakles  jetzt  wohnte,  und  die  Vetlern  Argeios  und 
Melos.  So  geschahen  mehrfach  Einzelkämpfe  in  der  Schlacht, 
in  welcher  jene  drei  Genossen  fielen,  die  Herakles  nachmals  be- 
stattete. Diese,  eine  epische  Erzählung  verrathenden  Einzelheiten 
giebt  Apollodor,  2,  7,  7.,  aus  älteren  Sagenschreibern,  vermnlhlich 
von  der  Epopöe  des  Kreophylos  her.'''')  Weiter  geben  sie  nur  den 
Erfolg,  „dass  Herakles  Oechalia  Vrolicrl,  den  Enrytos  und 
seine  Söhne  gctödtet,  die  schöne  lole  gefangen  abgeführt".  Sie 
kam  mit  mehren  (Trach.  283.  299.)  —  wie  die  Frauen  einer 
eroberten  Stadl  dies  Loos  halten,  während  die  Männer  gefallen 
waren  (Od.  14,  264  f.)  —  und  kam  in  stets  Ihränender  Trauer 
(Trach,  325  f.);  Herakles  aber  war,  wenn  zur  Rache,  doch  auch 
aus  Verlangen  nach  lole  gegen  Enrytos  ausgezogen  (Trach.  nicht 
blos  352  ff. ,  sondern  475).  Gerade  eine  Scene  zwischen  Hera- 
kles und  lole  bezeugt  uns  der  einzige  wörtlich  erhaltene  Vers 
der  Epopöe.'^**)  Und  dass  loles  Stellung  und  Antheil  an  der 
ganzen  Handlung  ein  bedeutender  war,  sagt  uns  das  Epigramm 
des  Kallimachos  bei  Slrabo  •}'^^) 


157)  Ilcroiloros  ( w.ihrscliciiilicli  um  5J0  vor  Chr.)  im  Scliol.  zu 
Eur.  Hipp.  545.   Phcrokyilcs  Scliol.  zu  Od.  2] ,  23  und  zu  Sopli.  Traoli. 

158)  Wcicker  2,  557  f.  —  Die  übrigen  Citnte  au.s  Kreophylus  hefern 
niclits  für  Konnliiiss  des  Inhalts  Bezeiclinciulores.  in  IN'i'.  4  liezieht  sich 
(las  yuQ,  nändich,  zwar  nach  häufigem  Ocltrauch  auf  das  vorher  auküii- 
(ligcnde  ovrag  (Matlh.  §.  ßSOf.),  aber  aus  Kreophylos  kann  das  nicht 
alles  sein.  Noch  weniger  liissl  sicli  üher  das  Citat  uiUer  dem  Namen 
Kinälhon  enlsclieidcn;  Weicker  1.  232  f. 

159)  14,  ü3y  a.  K.,  wo  er  die  Sage  von  lIünuT  als  Verfasser  mit  der 
Berichtigung  des  Kallimaclios  anfüliit.  Im  Iclzlen  Verse:  yQä(xi.ict  Ä^fco- 
qpvA.ro,  Zev  cpiXs ,  roiTro  (leya^  ist  offcnhar  reine  Verwunderung,  und 
somit  das  Urtheil  deutlich  angedeutet,  dass  ihm  eine  Vergleichung  mil 
den  Vorzügen  Homers  um  iiclräclitliches  zu  viel  scheine.  In  dem  zweiten 
Verse  lesen  w'ir  stall  xlc^Uo,  icli  klage,  Kkilco,  künde,  singe,  nach  der 
unabweislichen  llerslelhiii^  Mcinocke's  Vimliciao  21 ,  W'as  auch  allein  als 

28* 


436 

Werk  fies  Samiers  Itin  ich,  der  einst  den  göltlichen  Sänger 

Aufnahm;  Eurylos  Loos  sing'  ich,  was  Alles  er  litt 
Und  loleia  die  Blonde.    Münierisch  nennet  der  Ruf  mich 

Traun,  von  Kreophylos  ward  damit  Grosses  hesagt. 

Gegenliebe  der  lole  ITii'  Herakles  ist  sonst  nirgends  her 
kennbar,  nur  bei  Euripides  im  (lliorgesang  auf  die  iMaelit  des 
Eros  und  der  Aphrodite  ( Hippol.  545  —  554)  könnte  sie  gefunden 
werden;^*")  doch  bleibt  die  Stelle,  al  gesebn  auch  von  ihrer 
Verderbniss  und  kritischen  Unsicherheit  immer  deshalb  dunkel, 
weil  wir  sonst  nirgends  her  ein  Bild  haben,  wie  sich  lole  dem 
Herakles  persönlich  gegenüber  verhalten  habe.  Dagegen  ist,  dass 
Herakles  sie  für  sich  erstrebte,  weit  mehr  bezeugt,  als  dass  er  von 
Anfang  in  ihr  eine  Gattin  für  seinen  Sohn  Hyllos  gesucht  habe.'*') 

Die  Ausgangspartie  der  Epopöe  kann  in  zwei  einzelnen  Punk- 
ten aus  der  Nachbildung  des  Sophokles  und  aus  der  Sage  überhaupt 
vermutbet  werden.  Der  kenäische  Zeus,  auch  von  Aescbylos  er- 
wähnt, war  auf  dem  Vorgebirge  EuböasKenäon  von  Herakles  geweiht. 
Dieser  hatte  dort  seinem  Stammgott,  indem  er  für  den  gewonne- 
nen Sieg  dankte,  einen  Altar  und  Opfer  gestiftet  (Trach.  237.  750 
bis  754).  Dieser  Akt  war  unstreitig  in  der  euböischen  Sage,  wel- 
che Kreophylos  ausdichtete,  mit  enthalten.  Sodann  nehmen  wir 
wohlbegründeter  Weise  an,  dass  auf  den  Zug  gegen  Oechalia  als 
der  letzten  That  des  Herakles  die  Apotheose  des  Helden  folgte, 
und  eben  diese  nach  der  Weise  anderer  nJichsthomerischen  Epo- 
pöen (Aethiopis  u.  a.)  den  Schluss  der  Heldenbahn  bildete.  Der 
Fortgang  vom  Dankopfer  am  Kenäon  zum  Scheiterhaufen  auf  dem 
Oela  ist  in  Dunkel  gehüllt."'^)  Wie  viel  also  von  den  tragischen 
Begebnissen,  weldie  der  Entrückuug  vom  Scheiterhaufen  zunächst         j 


allgemeiner  Ausdruck  vom  Epiker  passt.    Anders  Welcker  Cycl.  1 ,  229 
und  früher  ich  seihst,  Sagcup.  63. 

KiO)  Die  Stelle  hesagt,  Aphrodite  hahe  die  lole  uiitleu  unter  den 
Gräueln  der  Eroherung  dem  Soluie  der  Alkmene  zugefiihrl.  Oh  sie  nun 
etwa,  nachdem  sie  Vater  und  Brüder  von  Herakles  hatte  getödtel  gesehn, 
ihm  doch  freiwillig  folgte?  Bei  Hygiu  35.  .inimo  pertinacior  parentes  suos 
ante  (coram)  se  necari  est  perpessa. 

161)  ^Velcker  1.  233 f.    Schcidewin,  Einleit.  zu  S.  Trachin.  11. 

162)  Ein  Ort  auf  dem  Oeta  hiess  nach  der  Sage  Pyra,  Toophr. 
Pflanzengesch.  9,  10,  2.  Liv.  36,  30.  Prellor,  Gr.  Myth.  2,  177.  Die  Lage 
des    Oeta    im    Ursitz    der   Doricr    scheint   Antheil    zu    haben    auch    an 


437 

vorhergingen,  schon  in  jener  Epopöe  gewesen,  lässt  sich  kaum 
irgend  ermessen.  Deianeir«  war  zwar  in  aller  Sage  hei  jenem 
Zuge  des  Herakles  Weih.  Aher  dass  diese  ihm  schon  l)ei  Kreo- 
phylos  das  mit  dem  Blut  des  Nessos  getränkte  Gewand  gesandt 
habe,  lässt  sich  wenigstens  nicht  bestimmt  nachweisen.  Im  Frag- 
ment des  Aeschylos  bei  Strabo  (447.  9.)  schwimmt  Glaukos  „am 
Ufer  Euböas  längs  des  kenäischen  Zeus  Gestaden  unterm  Grab 
des  unseligen  iäd-Uov)  Lichas  hin";  da  denn  das  Beiwort  des 
Lichas,  des  auf  Euhöa  sehr  ruchtbaren  (Str.  426),  auf  dessen  Tod 
durch  den  erzürnten  Herakles  hinzmveisen  scheint,  weil  der  He- 
rold Lichas  das  verderbliche  Gewand  überhracht  hatte  (Trachiu. 
777-780).  Zwischen  Aeschylos  und  Kreophylos  lag  freilich 
eine  lange  Zeit  der  webenden  Sage  und  der  die  epischen  Sageii- 
stoffe  neugestaltenden  Lyriker.  Die  Heirath  des  dadurch  auch 
den  Aetolern  zugeeigneten  Herakles  mit  Deianeira  sammt  dem 
Abenteuer  mit  Nessos  hatte  Archilochos  schon  lehensvoll  darge- 
stellt.'*^) Ein  anderer  Tod  des  Herakles  verlautet  aber  nirgends, 
als  der  auf  dem  Oeta.  In  Hesiods  Theogonie,  950  —  955,  ist 
eben  nur  die  Apotheose  bezeichnet."'*) 

23.  Fortsetzung.  Die  Thebais. 
Soviel  von  der  einheitlichen  Epopöe  des  Kreophylos,  deren 
einzelne  Partieen,  wie  nicht  zu  zweifeln  ist,  beim  Einzelvortrag 
als  dem  grösseren  Ganzen  angehörig  erkannt  wurden.  Ebenso 
verhielt  es  sich  mit  der  Thebais,  auch  die  Ausfahrt  des  Amphia- 
raos  genannt.  Diese  Epopöe  vom  Zuge  der  Sieben  gegen  The- 
ben, den  wir  Buch  2  §.  9  in  vorhomerischen  Liedern  schon 
reichlich  besungen  fanden,  umfasste,  im  homerischen  Stil  ausge- 


dieser  Sage.  Ob  der  Scheiterhauicri  vom  pliöiiikischeii  Ilerakles  auf  den 
liiehisclieii  ülterlnigeii  ist  (Wclckcr  (Ivel.  1,  235),  weiss  ich  iiichl  zu  oul- 
schciden.  Ein  Fest  wurde  ihm  allerdings  in  Tyros  gowidniel;  Uio  Chrys 
33.   S.  23  ilsk.  oder  467  Enip. 

163)  Fr.  146  i>.  569  IJrgk.    Scimoidew.  Piniol.  1.  148(1.  lies.  150. 

164)  In  der  Wortfolge  liat  Voss  gewiss  richtig  das  w-ohnt  mit  bei 
den  Göttern  verbunden,  das  laln,  wohnt,  erfordert,  wie  es  den  Auf- 
enlliall  bezeichnet,  diese  Verbindung.  Das  Iv  f'O-fo  aroiui  mit  ^iya  l'gyov 
zusammengefassl,  könnte  keinen  andern  Sinn  haben  als  bei,  unter,  vor 
den  Göttern  vollbracht,  und  nuisstc  auf  die  Venniddung  mit  der  Hebe 
gehen.  Dies  ist  für  Hesiod  unwahrscheiidich,  der  ober  in  seiner  Wort- 
stellung die  zwei  Momente  scheidet. 


438 

führt,  in  runrler  Zahl  7000  Verse.  Der  im  andern  Titel  als  Haiipl- 
person  hczcichnele  Ainphiaraos  ist  dies  dem  schwersinnigen  Geiste 
der  Handlung  gemäss.  Wie  sein  Name  auf  Gebet  lautet,  ist  er 
der  weise  Seher  und  starke  Held  in  Einem,  vor  dem  vom  fluch- 
tragenden  Polyneikes  angeregten  unter  wiederholten  i)öst'n  Vor- 
zeichen vollführten,  unheilvollen  Heerzuge,  während  desselben  und 
bei  seinem  Ausgange;  er  ist  der  von  Zeus  und  Apollon  begabte 
Träger  und  Sprecher  des  Götterwillens,  der  auf  allen  Hauptstadien 
des  Unternebmens  seine  Abmahnung  erneuert,  doch  auch  in  der 
abgenöthigten  Theilnabme  ein  bewährter  Streiter  im  WafFenspiel 
wie  in  heissesler  Schlacht,  und  wird  bei  dem  von  ihm  vorherge- 
sagten Ausgange  des  Zugs,  wie  in  dem  eigenen  Fall  vor  Theben 
allein  von  Allen  durch  Zeus  verherrlicht,  von  dem  anderen  An- 
führer Adrastos  durch  den  anerkennendsten  Nachruf  gefeiert. 

Eben  dieser  Lobpreis,  uns  in  Pindars  Nachbildung  aus  der 
Thebais  überliefert,  ist  uns  das  sprechendste  Beispiel,  wie  eine 
nicht  erhaltene  Epopöe  aus  nacbfolgenden  Dichtungen  oder  Stel- 
len anderer  Dichter  als  ihre  Quelle  erkannt  wird.  In  den  eige- 
nen Versen  sind  nur  die  Flüche  des  Vaters  Oedipus,  also  das 
die  Handlung  beseelende  Motiv ,  und  die  Flucht  des  allein  ent- 
kommenen Adrastos  auf  dem  wunderschnellen  Pferde,  auf  uns 
gekommen ;  ausserdem  bestätigen  vereinzelte  Citate  einzelne  Züge 
unmittelbar.  Hierbei  aber  zeigt  sich  gerade  an  dieser  nicht  selbst 
vorliegenden  Epopöe  das  ganze  Verhältniss  der  Sagenpoesic  nach 
ihrer  Vorgeschichte  und  ihrer  Fortwirkung.  Wie  die  homerischen 
und  nächstbomerischen  Epopöen  mittels  Neubildung  aus  älteren 
Liedern  stammen,  geben  hier  die  Buch  2  §.  9  aufgewiesenen  Lie- 
der vom  Zuge  der  Sieben  den  bereits  gestalteten  und  beseelten 
Sagenstoff,  den  die  nachhomerische  Thebais  zur  Kunstepopöe 
ausgeführt  und  neugebildet  bat.  liu'e  Darstellungen  aber  ersehn  wir 
aus  den  lyrischen  und  tragischen  Poesieen,  auch  Kunstbilderu, 
welchen  sie  das  maassgehende  Vorbild  war.  Die  prosaischen 
Sagenschreiber  belehren  uns  dann  nur  über  den  Verlauf  des 
ganzen  Zuges  im  Zusammenhange  und  über  die  Folge  der  Ereig- 
nisse, ob  sie- gleich  in  einzelnen  Angaben  die  neuernde  Volkssage 
geben  statt  der  durch  die  Dichtung  bestätigten.  ^''^) 


165)  Paus.  9,  18,  6  vgl.  mit  Apo'llod. 


439 

Die  beseelten  (jiimtizüge  und  liervoitieleiulen  llauptbeweger 
dei'  Ilaiullnng  nehsl  den  völlig  gleich  geschilderten  Charakteren 
säniniüicher  Helden  geben  Pindar  in  njehren  Oden,  besonders  in 
Ol.  6  und  INem.  9,  Aeschylos  in  den  Sieben,  Euripides  in  den 
Phönissen,  Sophokles  im  Oed.  a.  Kol.,"")  dazu  die  Lyriker 
Mininermos  und  Bakchylides,  und  der  Epiker  Anliniachos,  end- 
lich Knnstbilder  Einzelnes.  Indem  wir  auf  Welckers  ausführliche 
Besprechung  der  Zeugnisse  und  weiteren  Ausflüsse  der  alten 
Dichtung  verweisen,  genügt  es  für  unsern  Zweck  mit  Andeutung 
der  bereits  Buch  2  §.  9  gegebenen  Vorgeschichte,  den  dadurch 
bedingten  Anhub  der  Epopöe,  dann  nur  die  bedeutendsten  Vor- 
gänge zu  verzeichnen,  welche  die  Stadien  der  unheilvollen  Hand- 
lung bilden.  Sie  eben  boten  neben  dem  durch  den  einheitlich- 
sten Eortschritt  empfohlenen  festlichen  Gesammtvortrag,  einzelne 
Partieen  für  die  ausserfestliche  Rhapsodie. 

Die  epische  Gestalt  der  Sachlage,  von  welcher  die  Handlung 
ausging,  war  also  folgende:  die  beiden  Söhne  des  Oedipus 
von  der  Euriganeia,  der  altere  Eteokles  und  der  jüngere 
Polyneikes  (der  haderreiche),  sind  bereits  entzweit.  Polyneikes 
zum  zweiten  Mal  nach  Argos  gekommen,  hat  von  Adrastos,  der 
ihm  schon  bei  der  ersten  Aufnahme  als  Flüchtling  seine  Tochter 
Argeia  znm  Weibe  gegeben,  die  Zusage,  ihn  und  zwar  zuerst  in 
seine  Heimath  und  seine  Rechte  zurückzuführen.  Ihnen  schliesst 
sich  zunächst  Tydeus  an,  der  aus  Aetolien  flüchtig,  mit  Polynei- 
kes von  Adrastos  aufgenommen,  das  gleiche  V^ersprechen  erhalten 

KXi)  Pindar  Nein.  ".»,  Irt  oder  30 (f.  singt,  wie  nnclidcni  der  verlier 
vom  übermächtigen  Amjdiiaraos  verlrieiiene  Adrastos  jenem  zur  V'er- 
sölinung  seine  Schwester  Eriphyle,  die  .Mannl)ezwingerin ,  als  ßundes- 
pfand  zum  Weibe  gegeben,  sie  nachmals  ein  Heer  zur  siebenlhorigcn 
Thcbä  gefülirl,  nicht  die  Bahn  glückbringender  Vögel  und  nicht 
Zeus  mit  seinem  Blitze  die  von  Ibius  Forlrascndcn  zum  Zuge  antrieb,  vicl- 
meiir  abstellen  liiess  vom  Streben.  Wie  in  siclitliclies  l'nlioil  zu  geralhen, 
die  Schaar  eilerle  mit  ehernen  Walfen  und  Bossgescbirr.  Doch  au  den 
Ufern  des  Isnienos  verwirkten  sie  die  süsse  Heimkehr  und  verilam|d'lou 
ihre  Leiber.  Sieben  Sclieilcrliaurcii  verzehrten  die  jugondkräfligen  Maimcr, 
dem  Aniphiaraos  aber  spaltete  Zeus  mit  seinem  Donnerkeil  den  Erdgrund 
und  barg  ihn  sammt  seinem  Gcspaim,  ehe  noch  des  Periklymenos  Lanze, 
des  Fliehenden  Rücken  Ircllend,  seinen  streitbaren  Mulli  beschimpfte. 
Aesch.  358  und  377  Tydeus,  404  Kapaneus,  439  Eteokles,  408  Hi|)ponic- 
don  ,  528  Parlbenopiios  ,  550  Amphiaraos,  022  P(dyneikes. 


440 

hatte,  aber  zuvor  gegen  Theben  mitzuziehn  mit  all  seiner  Ram- 
pfeslust bereit  war.  Aus  Argo^  selbst  rüsteten  sich  Kapaneus, 
dessen  Schwager  Eteokles  und  Hippomedon.  Die  andern  Theil- 
nehmer  warben  Polyncikes  und  Tydeus  (U.  4.  476  fl".). 

All  dieser  Rüstung  und  Kampflust,  vornehmlich  des  Tydeus, 
trat  also  der  Seher  und  Held  Amphiaraos  entgegen.  Unstreitig 
waren  die  Opfer,  die  man  angesichts  des  baldigen  Auszuges  dar- 
brachte, schon  in  Argos  ungünstig  wie  nachmals  (Aesch.  360 
oder  79),  und  es  eiferte  der  wilde  Tydeus  schon  da  vor  Allen  ge- 
gen die  Abmahnungen  des  Sehers,  .\lsbald  aber  nöthigte  die 
eigene  Gattin  Eriphyle  den  Propheten  trotz  seinen  Vorhersagun- 
gen Mider  Willen  selbst  mitzuziehn.  Sie  war  bei  der  Versöhn- 
ung des  Amphiaraos  mit  Adrastos  für  Streitfälle  zur  Schieds- 
lichterin  bestimmt.  So  gab  Iphis,  der  Vater  des  Etcoklos  und 
der  Gattin  des  Kapaneus  dem  Polyneikes  den  Gedanken  ein,  die 
Eriphyle  durch  das  goldene  Halsband  zu  gewinnen,  so  dass  sie 
für  Adrastos'  Plan  entschied.  Dies  die  Grundverhältnisse  der 
Epopöe,  des  Amphiaraos  Ausfahrt  geheissen. 

Der  erhaltene  Anfangsvers  kündigt  ein  Lied  vom  unheilvollen 
Kriegszuge  an,  der  von  Argos  ausging.  Wie  die  ersten  Verse 
der  Ilias  das  Lied  vom  verderblichen  Zorn,  die  der  Odyssee  das 
von  Odysseus  allgemein  ankündigen,  so  wurde  hier  das  Thenja  durch 
das  vielgeschlagene  {■JioXvdCi'iov)  Argos  angekündigt.  Diese  Stellung 
und  Bedeutung  des  Beiworts  als  Ankündigung  lässt  keinen  Zwei- 
fel, dass  die  Form  ursprünglich  ohne  Ö  noKvtipLov  lautete,  wie 
dies  die  allen  Erklärer  auslegen  zu  der  einzigen  Stelle,  wo  es 
in  der  Ilias  und  überhaupt  noch  vorkommt.  Er  kam  ohne  Zwei- 
fel in  jene  einzige  Stelle  aus  dem  vorhomerischen  Liede  von 
demselben  Kriegszuge,  und  hatte  da  dieselbe  Form  ohne  das  8 
und  denselben  Sinn.'®^)     Das  Beiwort  vieldurstig  ist  selbst  auffal- 


167)  Es  hat  diese  Deutung  des  jioXvöiipiov  als  Tiolvtil^iov  {nokv- 
ßkaßeg  öia  Tt]v  rjTrav,  Scliol.  zu  II.  4,  171 )  freilich  das  Bedenken,  dass 
es  melire  Composila  gichl,  nül  jtokv  und  einem  i  ohne  d  {lazwisclien. 
Dies  lässt  alter  nur  schlicsson,  es  muss  jene  Aussprache  mit  ö  aus  einer 
Umdoulung  hervorgegangen  sein.  Nun  aber  ist  diese  das  durstige, 
wasserlose  .\rgOB  aus  der  zuerst  positiven  Volkssagc  mittels  Rück- 
dichtung hervorgegangen,  die  den  Wasser-  und  Qucllenreiclithum  des 
Landes  Argos  von  Danaos  und  den  Danaiden  herleitete.  Da  sollte  denn 
natürlich   vorher   dieser   Landstrich   wasserlos   gewesen   sein ,    und   ein 


441 

lentl  als  Ausdruck  und  \vasserlos  hat  das  Land  Aigos  in  der  Zeit 
des  blühenden  Epos  scbAverlich  nach  verbreiteterem  Gebrauch 
geheissen.  Man  hat  also  zu  übersetzen :  Arges  singe  mir,  Göttin,  das 
unheilvolle  (vielgeschlagene)  woher  einst  zogen  die  Fürsten.  — 
Weiler  wird  das  Proöuiiou  den  Ort  und  den  Krieg,  in  den  man 
auszog,  allgemein  charakterisirt,  besonders  aber  und  schon  durch 
die  nächsten  Verse  das  böse  Beiwort  erklärt  haben  „nicht  fol- 
gend den  vielen  Warnungen  des  gottvollen  Sehers.  Denn  es 
wehrte  Zeus,  viel  unheildrohende  Zeichen  sendend,  nicht  zu 
ziehn  mit  den  Fluchtragenden.  Doch  sie  folgten  nicht  und  gin- 
gen unter  durch  die  eigene  Thorheit". 

Nach  solcher  Ankündigung  wird  die  Exposition  des  ersten 
Buches  nach  der  Vorgeschichte  episch  die  schon  versannnelten 
Helden  haben  auftreten  lassen,  und  die  Entscheidung  des  dem 
Auszug  vorhergehenden  Streites,  in  welchem  Amphiaraos  allein 
allen  den  Uebrigen  gegenüberstand,  am  heftigsten  und  nicht  ohne 
Schmähung  von  Tydeus  überschrien  wurde,  in  lebendigster  Scene 
geschildert  haben.  Während  nun  sprechende  Fragmente  aus  der 
Thebais  des  Anlimacbos  ein  von  Adrastos  angestelltes  Gastmahl 
als  auch  vom  älteren  Dichter  gewählte  Form  erkennen  lassen,  um 
die  versammelten  Helden  charakteristisch  aufzuführen,'^)  hat  die 
Auslegung  einer  Sloschischcn  Gemme '^^)  die  aus  der  Thebais  her- 
zuleitende  Scene    dahin    ermittelt,    dass    Amphiaraos    im    Hause 


späterer  angojjüch  hesiodisclier  Vers  nannte  das  Land  so.  Nach  alledem 
hatte  Straho  mit  seiner  Bourliieilmig  des  Beiworts  8.  370,  7.  nicht  ganz 
Unrecht. 

168)  Anliniachos  lunfasste  in  seiner  Tiiebais  erstens  lieide  Heerziige 
gegen  Theben  (Stoll.  Antini.  rel.  p.  8f.),  sodann  hatte  er  die  Begeben- 
heiten mit  saniml  der  Vorgeschiciite  in  der  niaassloscsten  Weilschwoifig- 
keit  erzählt.  In  dieser  Weise  hatte  er,  wie  die  Forschung  Iclirl,  in  den 
ersten  vier  Büchern  (h'c  erste  Aidamft  (\os  Polynoikcs  um!  Tydens  hei 
Adrastos  geschildert  und  Beide  den  Hergang  ihrer  Vcrlreihung  von  den 
ersten  Ursachen  lier  erzählen  lassen.  Dann  erst  im  fiinflen  erschienen  die 
Vorhereitungeji  zum  Zuge  der  Sieben,  und  hier  hesciuieh  er  das  Gastmahl, 
das  er,  der  nirgends  seihst  erfinderisch  erscheint,  ganz  unstreitig  der 
älteren  Thebais  entnahm;  Stoll,  Antimachi  reliqu.  p.  10.  Woicker  Cycl. 
2.  327.  Ilie  Urlheile  liher  tien  Bichler  Benih.  2,  1.  285  288.  der  aber 
hyperkritisch  vcrlahrl. 

im]  Wehker  Cycl.  2.  332.  Anm.  25,  lies,  aber  Oveiheck  (iailerip 
1.  81f.  und  Tafel  3,  2* 


442 

des  Adraslos  vor  diesem  und  Polyiieikes  im  IJeiseiii  auch  des 
Tydeiis  und  des  Partlu'rioi)äos,  seiue  drohend  ahniahnende  Wahr- 
sagung ausspricht,  ^velche  dermalen  auf  jene  beiden  Angeredeten 
eine  niederschlagende  Wirkung  ausübt.  Beide  werden  alshald  ihren 
streitbaren  Zorn  gegen  den  Seher  ausgelassen  haben,  namentlich  ist 
dies  von  Tydens  anzunehmen.  Ueber  dem  in  der  Geberde  des 
Nachdenklichen  sitzenden  Polyneikes  steht  Tydeus,  Lanze  und  Schild 
wie  kriegsbereit  haltend,  mit  dem  Blicke  nach  Amphiaraos,  Par- 
thenopäos  gleichfalls  aufrecht  mit  Speer  und  Schild  sieht  scharf 
nach  Adrastos  hin.  Hierauf  folgte  dann  wohl  die  weitere  Gegenwir- 
kung durch  Iphis  und  seinen  Anhang,  zumal  Kapaneus,  den  auch 
besonders  wüthigen;  Polyneikes  bestach  die  Eriphyle,  und  diese 
entschied  den  Auszug  auch  ihres  Galten.  Wer  die  Flüche  des 
Oedipus  erzählt  und  wo,  ist  nicht  zu  entscheiden,  nur  mussten 
sie  in  der  Exposition  verlauten.*™)  Die  Scene  des  Aufbruchs, 
da  Amphiaraos  vor  seinem  Hause  den  Ivriegswagen  besteigt,  war, 
ohne  Zweifel  nach  der  Thebais,  an  dem  Kasten  des  Kypselos, 
Paus.  5,  17,  7,  zu  sehn,  wovon  es  heisst:  Dann  ist  das  Haus 
des  Amphiaraos  gebildet,  davor  steht  eine  Alte  mit  dem  kleinen 
Amphilochos  auf  dem  Arm,  daneben  Eriphyle  mit  dem  Halsbande 
und  neben  der  Mutter  die  Töchter  Eurydike  und  Demonassa,  auch 
der  nackte  Knabe  Alkmäon.  Baton,  des  Amphiaraos  W^agen- 
lenker,  hält  in  der  einen  Hand  die  Zügel,  in  der  andern  eine 
Lanze.  Amphiaraos,  mit  dem  einen  Fuss  schon  auf  dem  Wagen, 
ist  mit  gezücktem  Schwert  gegen  die  Eriphyle  gewandt,  indem 
er  vor  Zorn  sich  kaum  enthalten  kann ,  sie  niederzustossen, 
doch  enthält  er  sich.'^') 

Das  erste  bedeutende  Ereigniss  und  folgenreiche  Abenteuer 
auf  dem  Zuge  begab  sich  bei  INemea.  Die  Sagenschreiber '") 
erzählen  den  Hergang  so:  Nach  Nemea  gekonmien,  wo  Lykurgos 
König  war,  suchten  sie  Wasser.  Hypsipyle,  welche  den  Ophel- 
tes,    den    kleinen    Sohn    des  Lykurgos    und    der   Eurydike    war- 


170)  Vgl.  Welcker  2,  3:U. 

171)  Overb.  Gall.  02,  wo  (laraul'  mehre  Bilder  vom  Auszug  des 
Amphiaraos  mit  nur  variirler  Darstellung  aufgewiesen  werden,  wogegen 
(las  Bild  des  Kypscloskastcns  als  das  echtere  erscheint. 

172)  Apollod.  3,  G,  4.  Paus.  2,  15,  2  und  3.  Vgl.  Welcker  2.  350. 
Ovcrb.  r.allcric  107  f.    Prcllcr  Gr.  Mylli.  2,  247. 


443 

tele/")  legte  das  Kind  ins  Gras  und  fiihrln  sie  zu  einer  Ouelle.  Wäh- 
rend dessen  wird  das  Kind  von  einer  Sehlange  getödlet.  Die  lier- 
beikommenden  Helden  erlegten  die  Schlange  und  beslatteten  das 
Kind.  Da  verkündet  Ampliiaraos,  dies  Ereigniss  sei  ein  Vor- 
zeichen des  kommenden  Geschickes,  und  nannte  das  Kind  Arche- 
moros  d.  i.  Beginner  des  Todesgeschicks.  Die  Melden  slilleteu 
nun  zu  seinem  Andenken  die  nemeischen  Wettkämpfe  (Find. 
Nem.  10,  28.  8.  a.  E.).  Es  siegten  damals  Adraslos  mit  seinem 
Ross,  Eleokles  im  Stadion,  Tydeus  im  Faustkampf,  Amphiaraos 
im  Wagenrennen  und  Diskosvvurf,  Laodokos  mit  dem  Wurfspiess, 
Polyneikes  im  Ringen,  Parthenopäos  im  ßogenschuss. 

Dieser  schichten  Erzählung  wird  durch  die  zahlreichen  Kunst- 
bilder, welche  die  Phasen  des  den  Archemoros  trelVenden  Ge- 
schicks darstellen,  manches  einzelne  Moment  hinzugefifgt,  das 
schon  der  alten  Epopöe  angehören  kann.''^)  Wahrscheinliche  Aus- 
schmückung ist  es,  wenn  Opheltes  nicht  als  Kind,  das  die  Wär- 
terin ins  Gras  gelegt,  sondern  sei  es  als  ein  Knabe,  der  Blumen 
sucht,  oder  gar  jünglingshaft  erscheint;  nur  das  Kind  war  in  der 
echten  Dichtung.  Dass  ein  Schrei  des  umschlungenen  Kindes 
die  Hypsipyle  und  die  Helden  herbeiruft,  dass  sie  es,  da  es  von 
Einem  Riss  getödtet  war,  todt  aber  umschlungen  fanden,  und 
der  mehrfach  '  erkannte  Kapaneus  oder  ausser  ihm  Ilipponiedon 
die  kleine  Leiche  inn-  von  den  Ringeln  des  Drachen  befreien  und 
diesen  so  tödten,  dies  wären  Züge  einfach  genug,  und  die  sich 
gut  an  das  Bild  dfes  Kastens  anschlössen;  mögen  also  aus  der 
Thebais  sein.  Nachdem  das  Unglück  geschehn,  war  natürlich 
die  Hypsipyle  vom  Schmerz  und  Zorn  der  Eltern  des  Kindes  be- 
droht. Von  mehren  Gestallungen  auch  dieses  Moments  wählen  wii' 
wiederum  die  einfach  lebensvollere.  Auf  einem  Bihh;  am  amy- 
kläischen  Thron,  Paus.  3,  18,  7,  (12),  sah  man  den  Adrastos 
und  Amphiaraos,  wie  sie  die  in  einem  Kampfe  begrinenen  Tydeus 
und  Eykurgds  zur  Ruhe  bringen.  Der  Vater  des  Kindes,  Lykiu'gos, 
wollte    nändich    in    der  Wuth    des  Schmerzes    die  Hypsipyle  um- 


173)  Sie  war  von  den  inüniicriiinriliMKleii  Fr'.iiicii  ;nif  bemnns,  weil 
sie  ihren  V.iler  gerettet,  vertrichoii :  A|i()ll(ui.  Uli.  1  ,  (CO.  Aiutiludor.  I, 
9,  17  iniil  :^.  6,  4.    S.igenp.  (J57r. 

174)  Overl».  nailcrie  107-113.    Weleker  2.   S.  ,351  f. 


444 

bringen;  il;i  sliirnite  Tydeus  auf  iliri  ein,  doch  Adrastos  und  Am- 
|)liiaiaos  liiellen  ilin  durcli  kiiUligc  Mahnung  zurück."^) 

Eine  andere  Sceue,  avo  vor  der  Mutter  Eurydike,  die  iln- 
„.süsses  Kind"  heueiul,  Ilypsi|iyh,'  in  demüthigster  Sleihnig  sieht, 
während  Anipiiiaraos  aucli  hier  Trost  spricht,  erhält  durch  eine 
auf  sie  lautende  Stelle  des  Simonides  (Fr,  52)  eine' gewisse  Ge- 
währ, dass  auch  sie  der  The])ais  entnommen  sei.*'") 

Die  nächste  selbständige  Partie  beschrieb  die  Sendung  deS 
Tydeus  vom  Asopos  her  an  den  Etcokles  nach  Theben  mit  Ver- 
gleicbsverträgen ,  wie  sie  drei  Stellen  der  Uias  eizählen,  sie 
also  in  einem  vorliomcrischen  Licde  besungen  war.  Nach  dem, 
was  Buch  1  §  9  davon  berichtet  ist,  mag  nur  zur  Charak- 
teristik der  Epopöe  hier  bemerkt  sein,  einerseits  dass  bei  dieser 
Grossthat  des  Tydeus  sich  der  trotz  des  gegen  Geschick  unter- 
nommenen Zuges  präsente  Beistand  der  Athene  zuerst  recht  sicht- 
lich hervorthat,  andererseits  dass  die  Sendung  dem  Dichter  Ge- 
legenheit gab,  die  Verhältnisse  in  Theben  und  die  Charaktere 
der  thebaniscben  Helden  im  Voraus  zu  zeichnen.  Speziellere  Züge 
dieser  Partie  in  poetisch  lebendigen  Bildern  aus  der  Thebais  vor- 
zuführen,  ist  nirgendsher  möglich.  Doch  auf  Grund  der  ho- 
merischen Stellen,  ja  der  rsalur  der  Sache  lässt  sich  voraus- 
setzen, dass  die  Verhandlung  mit  Eleokles  dramatisch  dargestellt 
war,  und  die  Schilderung  der  Wettkämpfe  des  Tydeus  mit  den 
hei  Eteokles  versammelten  thebaniscben  Helden  in  homerischer 
Weise  eine  Beschreibung  dieser  Helden  durdi  Handlung  gab. 

Das  indess  weiter  gezogene  Heer  gelangt  an  den  Fluss  Is- 
menos,  welcher  nahe  vor  Thebens  Nordseite  vom  Osten  nach 
Westen  die  Ebene  durchströmte.  Als  der  Uebergang  über  den 
Fluss  l)evorstaud,  da  opferte  der  Seher  Amphiara'os,  und,  da  hier 
wieder  unheilkündende  Zeichen  erschienen,  mahnte  er  zum  dritten 
Mal  von  dem  Vorhaben  ab  (Aescb.  359 f.  oder  78 f.).  Slinmisch 
eiferte  Tydeus  dagegen  und  mit  Schimpfreden,  als  spräche  der 
Seher  aus  Feigheit.  Die  Verbündeten  hielten  jedoch  alle  in  Kampf- 
lust zusammen    uiul    verj)flic]ileli  n    sich    heilig,   die  Stadt  zu  cr- 


175)  Dies  die  epische  Gestall  des  Vorfalls,  die  uns  jetzt  nur  in 
Statins  Thebais  5,  600 ff.  vorliegl.  Man  erkciinl  daraus  vollends,  dass 
Pausanias  die  >'an)en  Tydeus  und  Anipiiiaraos  irrlJuunlicl)  unjstcllle. 

17t))  Overbeck  S.  114  f.  Nr.  20. 


445 

obern ,  oder  die  Erde  mit  ihrem  Blute  zu  tränken."^)  So  kam 
es  zur  Sciilaclit,  und  die  Stieiter  von  Argos  jagten  die  Thebäer 
in  ihre  Mauern.  Die  nun  beginnende  Belagerung  verslanden  sie 
wenig  wirksam  zu  machen,  vielmehr  lödteten  die  Thebäer  Viele 
der  belageinden  Schaar  durch  Würfe  von  den  Mauern  herab 
(Paus.  9,  9,  2  und  3\  Au  die  sieben  Thore  waren  sieben  der 
angreifenden  Hauptlielden  mit  ihien  Leuten  getreten,  denen  Eteokles 
sieben  seiner  Mitkämpfer  mit  je  Begleitern  entgegenstellte,  woher 
überhaupt  eben  die  Siebenzahl  ruchtbar  wurde.  Die  epische 
Erzählung  hiervon  mochte  die  Bilder  der  Helden,  namentlich 
ihrer  Schilde  und  Waffen  geben,  wie  Aeschylos  und  Euripides  sie- 
dem  Epos  nachdichteten.  In  einer  ruhigeren  Zeit  war  die  Schwester 
der  feindlichen  Brüder,  Ismeue,  aus  der  Stadt  zu  einer  Quelle 
gegangen,  um  Wasser  zu  holen.  Da  stand  sie  im  Gespräch  mit 
einem  Theoklymenes,  als  Tydeus  sie  fand,  und,  wie  Mimnermos'^*) 
erzählte,  sie  auf  Antrieb  der  Athene  tödtete,  wonach  die  Quelle 
Ismenes  Namen  erhielt. 

Es  wurde  an  allen  Thoren  gekämpft,  und  überall  ward  von 
den  Belagerten  mit  Pfeilen  und  geworfenen  Steinmassen  den  Fein- 
den viel  Leid  angethan.  Da  rufen  (nach  Euripides)  Tydeus  und 
Polyneikes:  0  Danaer!  —  Was  zaudert  ihr  zu  stürmen  in  die 
Thore  ein?  (Phon.  1145).  Da  stürmt  man  denn,  und  Viele  von 
beiden  Seilen  fallen.  Parlhenopäos  seines  Orts  stürmt  gar 
drohend  mit  Doppelhacke  zum  INiederreissen  und  Feuer  wie  ein 
Sturmwind  an,  aber  Periklymenos  —  so  die  Thebais  Paus.  9. 
1 S ,  6  —  wälzt  von  der  Brustwehr  ein  Felsstück  herab  und  zer- 
malmt ihn;  von  Tydeus  und  seiner  Leute  Speeren  werden  die 
Vertheidiger  von  der  Mauer  weggeUi(;beu ,  da  denn  Eteokles  sie 
zum  Posten  zurückführt.  Doch  das  Bedrohlichste,  aber  durch 
Zeus  selbst  auch  zur  Bellung  Mächtigste  geschieht  beim  elek- 
trischen Thor    von    und    an  Kapaneus.     Auf  von  ihm  erfundener 


177)  Dies  nach  Aescli.  43 — 51  im  feierlichsten  Briiucli,  indem  sie 
ihre  Illinde  in  Opforhlul  lauciilon,  ilalici  auch  Andenken  (Vir  die  Ihrigen 
daheim  auf  des  Anführers  Adraslos  Wagen  legten. 

178)  Argum.  der  Anlig.  d.  Soph.  u.  Pherek.  im  Sciiol.  zu  Eur.  Phü- 
niss.  53.  hie  Kunstbildcr  der  Scene  Üvcrb.  fiallerie  122 — 124.  Wird  Tlieo- 
klymenes  von  Welckor  andershor  als  aus  der  Odyssee  15,  25G  u.  a.  als 
ein  Seiler  ar'MvisrIier  Herkunft  bezeichnet? 


446 

Slurmlt'iter  steigt  dieser  Riesengrosse  mit  tollstem  Pralilon,  wieder- 
holend die  schon  frühere  Drohung,  er  werde  die  Stadt  verderben, 
ob  die  Gottheit  wolle  oder  nicht,  und  auch  Zeus'  Blitze  und 
Donnerkeile  möchten  fallen,  sie  seien  nur  Mittagsschwüle  —  so 
steigt  er  zur  Mauer  empor  unter  allen  Steinwürfen;  an  der  Zinne 
aber  trifll  ihn  des  Zeus  Blitz  beim  Krachen  des  Donners,  und 
mit  zerrissenen  Gliedern  und  brennend  stürzt  er  hernieder,  ''"j 

Als  Adrastps  an  diesem  Gericht  des  Zeus  dessen  Abgunst 
so  deutlich  erkannte,  führte  er  das  Argeierheer  aus  dem  Graben 
(I*hön.  1187  f.),  und  die  Thebäer  dringen  vor.  Doch  Eteokles  ruft 
von  der  Mauer,  man  solle  nun  die  Entscheidung  einem  Zwei- 
kampf der  Brüder  anheimgehen  (das.  1236—1241).''^}  So  be- 
ginnen die  feindlichen  Brüder  wuthenlhrannl  den  Kampf,  dessen 
Gang  Euripides  freilich  nach  den  Künsten  und  Gewandtheiten 
seiiu'r  Zeit,  nicht  nach  der  heroischen  schildert,  aber  ihre  Ge- 
bete, des  Polyneikes  an  die  Here,  des  Eteokles  an  die  Pallas, 
nnd  der  Fortgang  erst  mit  der  Lanze,  dann  mit  dem  Schwert, 
iiaben  ihre  Vorbilder  gewiss  im  alten  Epos  gehabt.'*^')  Auch  der 
spezielle  Gang  und  namentlich  der  Ausgang  mag  insow  eit  daher  ent- 
nommen sein,  wie  Beide  zuerst  zwar  mit  schlauen  Lanzenstössen 
('S  versucht,  aber  alsbald  Beide  ohne  Lanze  sind,  dann  zu  den 
Schwertern  greifen,  Eteokles  den  Bruder  lödtlich  trifl't  und  schon 
siegsgewiss  die  Waffe  wegwirft,  doch  Polyneikes  mit  Ictzler  Kraft 
gegen  Eteokles  den  Todesstoss  führt.  So  liegen  Beide  und  un- 
entschieden ist  der  Sieg  (Phon.  1424). 


179)  Am  elektr.  Thor  Acsch.  404  oder  422  Eur.  Pli.  1129.  Seine 
frühere  Droliung  Aesch.  407  fr.,  die  jetzige  Prahlerei  und  sein  Sturz,  Enr. 
Plitiu.  1172—1186  und  ders.  Schutzfleh.  496  0".:  „Dass  der  Leih  (k^s  Ka- 
p.ineus  vom  Blitz  verdampft,  auf  hoher  Leiter  stehend,  stürzt,  dor  an  das 
Thor  anstürmend,  auszutilgen  schwur  die  Veste,  woll'  es  nun  die  fioltheil 
oder  nicht".  Kunslbildcr  Overb.  Gallcrie  120—128,  auch  Wclcker  2,  300. 

180)  Die  epische  Sage  wusstc,  da  lokasle  wie  Oedipus  schon  vorher 
gestorben  sind.  Nichts  von  lokastes  Versuch,  die  Söhne  zu  versöhnen  in 
der  Stadt,  noch  von  ihrem,  der  3Iutter  Gange  zum  Kampf  der  Söhne.  Es 
sind  dies  Erfindungen  des  Euripides,,  so  wie  der  von  Teiresias  vorlangte 
Opfertod  des  Menökeus.  Dagegen  mag  die  Euryganeia  als  gegenwärtig 
l)ei  dem  Wechselmord  ihrer  Söhne  auf  dem  Rihio  des  Onasias  (nicht  Ona- 
tas  )  hei  Paus.  9,  5,  11  vgl.  mit  4,  2,  wohl  der  Tliehais  naeligeliildet  sein. 

181)  II.  10,  335  —  341.  20.  283.  21,  109  und  73.  22,  289  f.  300 
und  311  f. 


447 

Die  Heere  geriethen  in  Hader,  ob  einer  und  wer  der  Sie- 
ger sei ;  al.sbald  aber  entbrannte  aucli  der  Krieg  von  neuem 
(Phon.  1460 IT.)',  wobei  die  Tbebäer  die  noch  nicht  Gerüsleten 
liberfallen  (1466 f.).  Jetzt  fielen  von  den  Ärgeiern  alle  die,  welche 
nicht  schon  fräher  gefallen ,  so  dass  nur  Adrastos  sich  rettete. 
Von  einzelnen  Siegern  und  Besiegten  gie])t  sonst  nur  ApoUodor 
ein«'  Reihe  i'"-!  hervor  hebt  sich  die  Hauptscene  von  Amphiaraos 
und  Tydcus'  Untergang,  die  Apollodor  nach  Plierekydes  "^^}  aus- 
ITdirlich  eizälilt  und  sie,  wie  der  ganze  Ausgang,  hat  an  mehren 
Stellen  des  Pindar  lebendiges  Zfugniss  und  zuar  nicht  ohne 
Angabe  der  Thebais  als  Quelle  in  den  Schollen. 

Beim  neu  entbrannten  Kampf  thnn  sich  auf  thebanischcr 
Seite  die  Sühne  des  Abakos  hervor;  Ismaros  (nicht  Ismeros, 
Welcker)  erlegt  den  Hlppomedon,  Leades  den  Eteoklos,  Melanip- 
pos  aber  lödtete  erst  den  Meneslheus,  dann  aber  verwundet  er 
den  Tydeus  lödllicli.  Da  eilt  Athene  zum  Zeus  und  verlangt  von 
ihm  ein  Ileilkraut,  um  ihn  unsterblich  zu  machen.''^')  Auf  dem 
SchlacbtCelde  wird  unterdessen  Melanippos  von  Amphiaraos  ge- 
fällt, und  es  schlägt  dieser  dem  Gefallenen  das  Hauj)!  ab  und 
reicht  es  dem  Tydeus.*-")  Ob  nun  Amphiaraos  durch  den  Sieg 
über  3ielanippos  mächtiger  als  Tydeus  erschien,  und  das  Ab- 
scl)neiden  des  Kopfes  wie  im  Sinne  desselben  wilden  Helden  ge- 
schehn  aussiebt,  des  Sehers  Empfindung  ist  beim  Letzteren  nicht 
klar.  Tydeus  nun  spaltet  den  empfangenen  Schädel  und  schlürft 
das  blutige  Hirn.'*'^)  Bei  diesem  Anblick  hielt  Albeiu'  ihr  tJe- 
schenk  zurück    und    Hess   den  AYüthigen    sterben    (11.   14.    114). 


182)  Apollod.  3,  6,  8. 

1831  IMiorok.  im  Schob  zu  11.5.  126. 

184)  Unkchylides  Fr.  54  li.  ScIi.  zu  Ar.  Vüi;.  1530.  Er  scheint  ein 
anderes  Symbol  der  UtisleiLlicIikoit  Itezeichiicl  zu  li.ilioii  sl.ill  des  llcd- 
krautes,  welches  Apollodor  angiolit. 

185)  Amjdiiaraos  tödtet  zuerst  den  iMelanippos  iiacli  Plieiek.  dort 
und  Paus.  9,  18,  1.  iSacli  Apoilod.  aus  eigenem  Antriebe  und  eigentlich 
aus  Ingrimm  wolil  zur  Aufreizung;  nach  dem  Scliol.  zu  Pind.  12.  10,  12. 
lliat  er  Beides  auf  Bitten  des  Tydeus,  der,  üher  (he  Winnie  eri^iinniil.  zu 
Beiden!  aufforderte. 

ISO)  Das  Scidürfen  des  Hirns  liezeugen  ausser  den  Sagens«  lireihern 
Sopjiokles  unl).  Fr.  720,  5  f.  S.  242  Nck.  und  Fiu'.  Melea^i-.  Iiei  Seliol. 
zu  Pind.  N.  10,  12.  V^l.  hei  Wcleker  Cyel.  II,  301.  Parallelen.  —  Kunst- 
bildcr  Overh.  129  fr. 


448 

Dass  der  Sterbende  die  Göllin  gebeten,  statt  seiner  seinem  Dio- 
medes  künftig  ihre  (iabe  zu  verleihen,  erscheint  als  Kombination. 

Alsbald  ward  auch  Amphiaraos  in  die  Flucht  gescheucht 
von  Periklyraenos  —  ,,denn  beim  Schrecken  des  Dämon  fliehen 
der  Gottheit  Söhne  auch"  —  aber  ehe  noch  tler  geworfene  Speer 
seinen  Rücken  erreichte,  spaltete  Zeus  mit  seinem  Blitz  den  Bo- 
den, dass  er  den  Helden  mit  Zwiegespann  und  Wagenführer  ver- 
schlag, da  er  hinfort  denn  als  propbetischei'  Heros  waltete.  ^^'') 

Mit  dieser  Entraffung  des  Amphiaraos  bezeichnete  der  höchste 
Zeus  selbst  den  Ausgang  des  unheilvollen  Krieges,  und  erfüllte 
.sich  des  Sehers  eigene  Vorhersagung  (Aesch.  Siel)en,  68  —  7(1), 
dass  ihn  Thebens  Boden  bergen  werde.  Nun  ist  uns  die  Stelle 
selbst  erhalten,  da  der  allein  überlebende  Adrastos  auf  dem 
wunderschnellen  Boss  Areion  entkommt  bei  Pausanias  8,  25,  8, 
,,in  der  Thebais  wie  Adrastos  aus  Theben  floh.  Er  im  Trauer- 
gewand mit  Areion,  dem  dunkelbemähnten";  und  ebenso  des  Anli- 
machos.  Fr.  33:  ,,Ihn,  Adrastos,  allein  errettet  das  Boss  noch 
Areion",  und  des  Pindar,  Isthm.  6  (7),  10.  „Oder  da  den  Adra- 
stos Du  aus  dem  gewaltigen  Schlachtruf  entsandtest,  entblösst 
der  unzähligen  Genossen  zum  reisigen  Argos."'®^) 

Hierneben  giebt  es  einen  ungelösten  Zweifel.  Adrastos  ist 
alther  als  Typus  der  gewinnenden  Rede  ruchtbar,  schon  bei  Tyr- 
läos. '^'')  Wenn  nun  Pindar  in  einer  dritten  Stelle  sagt:  nach 
Amphiaraos  Verschwinden,  als  sieben  Scheiterliaufen"")  erbaut 
wurden,  liabe  Adrastos  ein  Lob  des  Amphiaraos  gesprochen  (Ol.  6, 
13fl.):-  „Ich  vermisse  den  Augstern  unsers  Heers,  Beides,  den 
Mann  wohlkundig  der  Zukunft,  wohl  des  Spcerkanipfs"  —  so  mögen 
wir  damit  eine  Bestattung  der  aus  der  siejjen  Führer  Schaaren 
Gefallenen    verstehn    und    in    der   Thebais,    aus   welcher   Pindar 


187)  Pind.  N.  9,  23  f.  10,  8  f.  Kunstbildcr  Üverb.  144  ff.  Es  sescliah 
(lies  und  befand  sich  das  frühere  Orakel  in  der  Nähe  von  Theben  in  Knopi.i, 
Paus.  1,  34,  2.  Strabo  9,  399  und  404.  mit  den  unlj.  Fr.  des  Soph.  870 
Nck.,  sjiäter  ward  das  Orakel  in  Oropos  Ijeriihmt.  S.  Preller,  Ber.  d. 
Sachs.  G.  d.  W.   1852.  S.  166  ff. 

188)  Dass  das  Ross  Areion  liei  Pindar,  Pylh.  8,  4811'.,  nicht  weissage, 
ja  gar  nicht  genannt  sei ,  ist  schon  Anm.  175  nachgewiesen  worden. 

189)  Tyrt.  12,  8.  ykco66av  6'  'ASQi]a-ov  fisdix6y>]()xn'  e'ioi,  Hält' 
er  des  Adrastos  freundlich  gewinnenden  3Iund. 

190)  Sieben  Scheiterhaufen  (hui  auch  Keni.  9,  24. 


449 

iiaoli  Zeiigniss  scliöprie.  eine  längere  Rede  zur  Feier  der  C.e- 
lalleiien  jinnelinieii ,  Avobei  Aniphiar.ios  vor  Allen  licrvorgeliolien 
AMirdc ,  immer  fehlt  uns  der  natürliche  Fortschrid  ziu'  Flucht 
des  Adrastos  und  inuner  bleibt  hier  die  Frage,  ob  im  Epos 
'Adrastos  seine  Woblredenheit  nicht  in  einer  Verhandlung  mit  den 
Thebäern  ül)er  die  Bestattung  seiner  Genossen ,  ül)erhaupl  als 
Kraft  der  Ueberredung  beAvahrt  habe.  In  der  neueren  tragischen 
(i estalt  der  Sage  nimmt  Adrasos  die  Athenäer  und  den  Theseus 
dazu  zu  Hilfe,  und  dessen  Beredtsamkeit  bewirkte  das  Cewünschte 
(IMut.  Thes.  29  )J^')  Anzunehmen  ist  nach  allen  Vorstellungen 
und  Bräuchen  der  Griechen  und  ihres  Natioualepos ,  doss  die 
Bestattung  der  Todlen  in  der  Erzählung  nicht  unerledigt  blieb, 
mid  vor  Allem  die  der  im  Wechselmord  gefallenen  Brüder.  Auch 
über  Polyneikes  musste  entschieden  werden  und  Antigone  mag 
schon  in  der  Epopöe  ihre  Rolle  gehabt  haben,  wie  in  Aeschylos 
Sieben  und  in  Sophokles  Antigone,  nur  eine  einfachere,  da  Is- 
mene  gar  nicht  mehr  am  Leben  war. 

Die  andere  Epopöe  aus  der  thebanischen  Sage,  die  Epigouoi, 
war  ZAvar  schon  durch  ihren  Stofl'  einheitlich  und  lässt  sich  nach 
ihrem  allgemeinen  Verlauf  und  ihren  Hauptpartieen  wohl  erken- 
nen ;^^*)  allein  wie  sie  als  eine  in  unglaublicher  Weise  schwache 
wiederholende,  gewiss  viel  spätere  Nachbildung  der  Thebais  er- 
scheint, kann  man  nicht  geneigt  sein,  sie  in  Rechnung  zu  bringen, 
wenn  von  dem  nationalen  Leben  der  Epopöen  durch  Rhapsodie 
die  Rede  ist.  Sie  wird  meistens  nur  gelesen  und  als  Ouelle  be- 
nutzt worden  sein;  zu  Kunstbildern  soviel  kenntlich  auf  uns  ge- 
kommen, wenig.  ^^^) 

24.  Die  H a u  p  t s t ä  1 1 e u   d er  li h  a p s  o d  i o  w n d  die  R h a p s - 
odenzünfte  an  mehren   Orten.     Nach  §.  21.  das  Genauere. 

Es  sind  in  den  nächstvorhergehenden  Paragraphen  den  bei- 
den homerischen  JMiisterepopöen,  deren  einheitliche  l'arliec  u 
durch    die    Rliapsoden,    wie   sie    dieselben   vorzutragen    pflegten. 


ini)  Die.  Vcrmittolung  Wclckers,  Cyel.  2,  300.  avo  .iiif  jeiio  Traiicr- 
cäremoiiio  uiimillolh.ir  die  Fliiolit  des  Adrastijs  im  Traiierg('w;iiid(>  tolgl, 
ersrlieint  mir  unzulässig. 

102)  Welckcr  Cyel,  2,  380—38811". 

103)  Ovorheck  fi.illerie  158—103. 

Nilzsch,  Gesch.  (I.  gpiiech.  Epos.  29 


450 

den  Sammlern  des  Peisislratos  zukamen,  noch  drei  vor  andern 
einheitliche  hinzugefügt.  Diese  ihre  umfängliche  Einheit  ward 
hier  geflissentlich  hervorgehohen ,  um  es  recht  zu  betonen, 
in  wie  natürlicher  und  gebietender  Wechselwirkung  die  epi- 
sche Darstellungsweise  und  ganze  poetische  Oekonomie  mit? 
dem  lebendigen  Vortrag  der  Rhapsoden  standen.  Sie  eben, 
die  Aetbiopis,  die  Einnahme  Oechalias  und  die  Thehais  zeigten 
sich  in  gleicher  Weise  wie  die  Ilias  und  die  Odyssee  für  beider- 
lei Art  und  Gelegenheit  des  Vortrags,  den  ausserf estlichen  Ein- 
zel-  und  den  festlichen  Gesammtvortrag,  geeignet  und  gedichtet. 

Hiernächst  ist  aber  vorzüglich  der  Gesammtvortrag  der  bei- 
den homerischen  umfänglichen  Epopöen  zu  ermitteln  wie  er  von 
sich  ablösenden  Rhapsoden  nach  den  obigen  drei  übereinstim- 
menden Zeugnissen  vor  sich  ging  und  üblich  war.  Da  die  Zeug- 
nisse nur  die  formale  Beschreibung  geben  und  nur  auf  Attika 
nach  Peisistratos  zu  lauten  scheinen,  so  gilt  es  nun,  für  die 
frühere  Zeit  ihn  in  seiner  thatsächUchen  Ausführung  und  als 
gerade  älterher  von  Homer  selbst  ausgehenden  Brauch  aus  den 
geschichtlichen  Anzeigen  darzulegen. 

Zu  diesem  Zweck  sind  die  bekannten  Stätten  der  Rhapsodie 
zu  unterscheiden  und  die  Orte  zu  beachten,  wo  die  sagenhaften 
Angaben  Homers  Heimath  oder  bleibendere  Wirksamkeit  hin- 
setzen. Wie  wir  aber  dabei  das  Wesen  der  Sage  überall  erkennen, 
ist  es  uns  ein  maasssebendes  Gesetz  bei  der  Vielheit  dieser  An- 
gaben Verschiedenes  zu  beachten.  Erstens  kommt  der  Fortgang 
der  Zeit,  der  Lauf  der  Jahrhunderte  von  Homers  Lebens-  und 
Dichtungszeit  bis  zu  Lesches,  dem  letzten  organischen  Epiker,  in 
Betracht,  dann  ist  die  andere  Entwickelung  besonders  wichtig, 
wo  vor  Peisislratos  die  andern  Gattungen  der  nationalen  Poesie, 
die  iambische,  elegische,  die  mannigfache  lyrische  sowohl  das  na- 
tionale Interesse,  als  auch  den  Raum  für  die  Vorträge  neben  der 
Rhapsodie  in  Anspruch  nahmen.  Wo  so  viele  andere  Poesieen 
zu  den  Agonen  der  Feste  gebracht  wurden,  musste  dieser  Um- 
stand, wie  sich  von  selbst  ergiebt,  theils  die  Rhapsodie  aus  man- 
chen Festen  ganz  verdrängen,  theils  den  Raum  für  epische 
Gesammtvorträge  benehmen ,  ja  mitunter  nur  Einzelvorträge, 
selbst  in  Festakte  bringen.  Dies  also  wirkte  gerade  zu  der 
rhapsodischen  Vereinzelung    der   Partieen    und    dies    wieder   gab 


451 

Veranlassung  zur  Samnilnng,  welche  mit  unscliwerer  Mühe, 
wie  oben  gezeigt,  den  Zusammenhang  herstellte,  nur  mit- 
tels einzelner  Zubildung  oder  durch  ßindeverse ,  möglicherweise 
in  einzelnen  Fällen  mittels  Entscheidung  zwischen  verschiedener 
Form  einzelner  Stellen. 

Wie  nun  überhaupt  die  UeberKeferung  über  die  vorpeisi- 
stratische  Zeit  das  Wichtigste  in  der  Geschichte  der  homerischen 
Poesie  ist,  so  handelt  es  sich  wiederum  mehr  um  die  ältere 
Hälfte,  die  Blüthezeit  der  Kunstepopöe  bis  Lesches  und  um  die 
Form  der  nationalen  üeberlieferung  dieser  von  Homer,  dem  Stifter 
und  Meister,  selbst  an.  Die  Frfrage,  ob  und  wie  der  Stifter  und 
Bildner  umfänglicher  Epopöen,  und  so  umfänglicher,  zumal  Bei- 
der nach  einander,  solche  geschaffen  habe,  und  habe  denkbarer 
Weise  schaffen  und  überliefern  können  und  mögen,  steht  ja 
zuerst  zu  beantworten.  Sie  ist  ein  schwieriges,  aber  ein  von 
aller  Geschichte  nicht  blos  des  Homer  bei  den  Griechen,  son- 
dern der  Epopöe  der  Griechen  gegebenes  und  der  Forschung  aufge- 
gebenes Problem.  Noch  hat  es  Niemand  eingehend  genug  bespro- 
chen, auch  Welcker  nicht,  noch  ein  Anderer  der  Vielen,  die  wir 
in  der  Anerkennung  einheitlicher  Gestaltung  beider  Werke  ein- 
stimmig gehört  haben.  Die  beiden  Muster  der  Gattung  haben 
gerade  einen  so  grossen  Umfang,  wie  keine  zweite  nationale 
Epopöe  der  Griechen,  denn  von  den  uns  durch  die  freilich  sehr 
dürftige  Kundgebung  genannten  Verszahlen  sind  die  höchsten 
9100,  dann  7000,  während  die  Ilias  und  Odyssee,  wenn  auch  im 
Fortgang  durch  die  verschiedenen  Einschiebsel  je  um  einige 
Tausend  gewachsen,  doch  ursprünglich  nach  ihrem  ausgeführten 
Plane  zu  der  mehr  als  doppelten  Länge  in  Vergleich  mit  jenen 
Zahlen  anzunehmen  sind."*^)  Dieser  grosse  umfang  wird  freilich 
nicht  blos  von  dem  des  indischen  Epos,  sondern  auch  von  dem 
iranischen  des  Firdusi  noch  weit  übertroffen.  Sein  Schahname 
umfasst  60000  Doppelverse.  Doch  einmal  hatte  er,  der  im  10. 
Jahrhundert  der  chiistlichen  Zeitrechnung  dichtete,  den  vollen 
Gebrauch  der  Schrift,  so  wie  die  in  der  Handlung  selbst  vor- 
kommenden  mehren  Briefe  auch  den  Personen  diesen  Gebrauch 


194)  Nacli  <ieni  lÜx-rlicrrTtoii  Texte  uiiilassl  die  Ilias  ülior  IVinfzeliii, 
die  Odyssee  liltcr  zwölf  Tan>;i'ii(lo  von  Vorst'n :  15509.  12396. 

29* 


452 

beilegen.  Sodann  kann,  wenn  denn  das  Seliahnanie  mit  dem  griechi- 
sclien  Epos  narli  Anlage  und  Umfang  soll  verglichen  werden,  dieser 
Vergleirli  ni(Iil  mit  der  Ilias  zulässig  erscheinen,  sondern  allenfalls 
nur  mit  tler  ganzen  epischen  Poesie  der  troischen  Sage.  Nur  mit 
einzelnen  Partieen  kann  die  Ilias  verglichen  werden.  Die  in 
dem  Schahname  herrschende  Einheit  ist  die  umfassendere  eines 
durch  viele  Menschenalter  und  Jahrhuiidi  rie  fortwirkenden  Kam- 
pfes, des  Kamjifes  des  iranischen  lleldenthums  gegen  die  Mächte 
der  Finsterniss;  „in  ihm  hat  sich  das  ganze  reiche  Leben  der 
Begebenheiten  von  Jahrhunderten  concentrirl".^*^) 

25.  Homers  grosse  Corapositioiien  ein  Problem  von 
der  Geschichte  g- es  teilt,  durch  Anerkennung  des 
Dichtergenius  zu  lösen. 

Ganz  anders  der  Meister  der  griechischen  Epopöe.  Er  traf 
zuerst  eine  Auswahl  aus  dem  umfassenderen  Sagenkreise  vom 
troischen  Kriege.  Er  wählte  von  den  sechs  Partieen,  in  welche 
der  Stoff  sich  selbst  scheidet,  diejenigen  zwei,  welche  ebenso- 
wohl für  persönliche  Einheit  als  für  Durchbildung  zum  Weltge- 
mälde die  günstigsten  waren,  Die  Empfehlung  und  der  Kunst- 
werth,  den  die  Einheitlichkeit  hat,  der  des  beseelten  und  über- 
sehbaren Organismus ,  ist  ja  keineswegs  blos  durch  die  geniale 
Dicbterkraft ,  sondern  gar  sehr  dinch  die  Beschaffenheil  des  Sa- 
genstoffs bedingt.  Hierbei  ist  aber  auch  die  Vorstellung  zu  ver- 
werfen ,  als  habe  die  wachsende  troische  Sage  sich  um  Achill 
und  Odysseus  gruppirt.  Der  Stoff  war  inmier  ein  überkommener, 
nicht  neugedichteter.  Für  seine  Ausprägung  ist  die  von  dem 
Grundmotiv  beherrschte  Ausführlichkeil  an  sich  eben  das  Ge- 
hörige, das  Schöne.  Der  epische  Stil  selbst  führt  auf  umfäng- 
liche Dichtungen.    Allerdings  ist  es  eine  viel  verbreitete  Ansicht, 


195)  S.  Fr.  V.  Schack,  IleMonsagen  von  Firdusi,  Berl.  1851.  S.  71 
])is  76,  wo  es  heissl;  „Eine  grössere  Gewalt  erhält  die  rirumlaclion  ferner 
(ladurcii,  dass  der  Streit  des  iranischen  lleldeiilliuiiis  mit  den  M;irh- 
len  der  Finsterniss  zugleich  als  Streit  des  guten  AVeilitriiizips  mit  dem 
bösen  dargestellt  wird"  u.  s.  w.  Eine  Art  von  Recapilulation  des  Ganzen 
d.  h.  der  Reilic  der  Ilaiiplklimpfe  geben  die  Partieen  im  andern  Werk  von 
Schack:  Epische  Diclilungen  aus  dem  Persischen  des  Firdusi.  Berl.  1853. 
B.  2.   S.  375—379  und  S.  ,389. 


453 

dass  der  Diditei'geist  das  Maass  der  Aiisfülirimg  seines  Plans, 
den  Zorn  des  Achill  zu  besingen,  von  den  für  den  Vortrag  ge- 
gebenen Umständen  habe  abhängig  machen  müssen.  Dem  \\ider- 
sprechen  aber  so\\ohl  die  Geschichte  anderer  Dichtungsarten  und 
der  Dichter-  Agonen  selbst,  als  auch  die  maassgebenden  Be- 
griffe selbst. 

Die  Ungehörigkeit  der  Schlussfolgerung  aus  den  Vorträgen 
bei  den  Fiirstenmahlen  in  der  Odyssee  ist  schon  oben  mit  Lehrs' 
und  Andrer  Worten  bemerkt.  Bedurften  die  Sänger  oder  Rhaps- 
oden der  Zeit  und  der  Gelegenheiten  zu  ihren  Vorträgen,  so  ist 
es  doch  voreilig,  zu  urtheilen  wie  nach  Wolf  G.  Hermann  und 
andere  Stinmien  wiederholen.  Da  heisst  es  „eine  Unglaublichkeit 
ist  es,  dass  maii  in  Zeiten,  wo  die  Poesie  durch  mündlichen  Vor- 
trag mit  dem  Leben  verwebt  war,  und  wo  man  nicht  Bücher 
las,  den  (Tedanken  gefasst  habe,  Gedichte  von  einem  Umfange 
zu  verfertigen,  der  für  den  Gebrauch  ganz  zwecklos  ge- 
wesen wäre",  oder:  „Wo  keine  Gekgenheit  für  das  Publikum 
der  Dichter  vorhanden  \^ar,  so  grosse  Ganze  zu  geniessen,  da 
war  auch  für  den  Dichter  selbst,  so  scheint  es,  kein  Anlass,  die- 
selben zu  schaffen,"^)  Dieser  Einwand  ist  in  seinem  Vordersatz 
irrig,  so  wie  nach  der  Geschichte,  wie  gesagt,  unrichtig.  In  dem 
Verhältniss  der  dichterischen  Schöpfungen  zu  den  Gelegenheiten 
des  Vortrags  sind  jene  für  diese  das  Maassgebende  gewesen,  nicht 
umgekehrt.  Die  Geister  haben  die  Umstände  beherrscht  und  die 
erforderlichen  Institute  erwirkt.  Wenn  Terpandros  uns  als  der 
erste  Sieger  bei  den  in  der  26.  Ol.  gestifteten  Karneien  in  Sparta 
bezeugt  ist,  so  erkennen  wir,  dass  seine  bereiten  Poesieen  den 
Anlass  zu  der  Stiftung  des  musischen  Agon  gaben.  Bei  aller 
Dürftigkeit  und  Zufälligkeit  der  iNacbricbten  leuchtet  uns  feiner 
ein,  dass  in  Athen  die  vier  Tage  hinter  einander,  wo  der  Schau- 
spieler Polos,  obscbon  70  Jahre  alt,  in  acht  Rollen  spielte  (Plut. 
an  seni  c.  3  a.  E.),  erst  für  tragische  Aufführung  beslinunt  wur- 
den,   als   die    reiche    Zahl    der    Triigikcr    mit   ihren  Telralo-iiecn 


196)  C.  HoriiiJimi  Op.  VI.  81.  Suseiiiilil,  Roc.  in  N.  Jalirb.  f.  Phtlol. 
und  Päd.  Md.  LWIII.  11.9.  S.  6001'.  (Dicsor  Roconsont  hedcissigl  sich 
dos  umsichtigen  Uillioils,  ist  aber  weder  von  fafsclien  Angaben  oder  Mis.s- 
versländnissen  noch  von  Widcrs]>rüclion  frei.)  Wuldeni.  Ribbeck  in  IMiil. 
8.   S.  465. 


454 

zusammenkamen,  um  das  Publikum  zu  vergnügen.  Maassgebend 
war  dem  freien  Dichtergcisl  nur  das  SagenbeAvusSlsein  und  natio- 
nale Interesse  seiner  Zuhörer.  Die  Zeit  und  der  Ort  für  die 
Vorträge  fand  sieb.  Wie  die  wahre  Epojiöe  der  Griechen  nir- 
gends anders  hergeleitet  werden  kann,  als  von  Homer  und  seinen 
beiden  Mustern,  nicht  von  Arktinos  oder  sonst  Jemand,  so  hat 
jener  Dichtergenius  von  allen  Seiten  her  geistige  Anregung  ge- 
habt, die  Sagentheile  von  den  beiden  ausgezeichnetsten  Helden 
des  Troerkriegs  mittels  Neudichtung  und  verknüpfender  Ergän- 
zung zu  den  grossen  Weltgemälden  auszuprägen. 

Der  Sagentheil  vom  Zorn  des  Achill  gehörte  ja  dem  nationalsten 
Völkerkampfe  an,  und  gab  da)nit  einerseits  Gelegenheit,  das  Götter- 
regiment darzustellen,  anders  als  Lieder  vom  älteren  Heldenge- 
schlecht mit  den  nur  einzelnen  Schutzgöttern.  Eben  dadurch  ward 
Homer  der  Hauptzeuge  für  die  Theologie  der  Griechen.  In  jenem 
Theile  traten  die  Parteien  der  Götter,  die  griechische  und  tro- 
ische  so  lebendig  wie  in  keinem  andern  sich  entgegen;  aber  be- 
sonders gab  andererseits  kein  zweiter  solche  Anregung  und  Ge- 
legenheit, den  höchsten  Zeus  in  seinem  Walten  über  den  Parteien 
der  Götter  und  der  Menschen  zu  schildern  und  zu  verherr- 
lichen. Schon  dies  führte  also  auf  Darstellung  des  Verlaufs  der 
Wirkungen  und  Folgen  des  Zorns. 

Aber  dieser  selbe  Stoff  gab  auch  wie  kein  anderer  den  Raum, 
für  das  allgemeinere  Interesse  die  andern  grossen  Helden  in  gut 
epischer  Weise  hervortreten  zu  lassen.  Dass  aber  der  schöpfe- 
rische Neubildner  damit  nicht  blos  ältere  Lieder  von  den  einzel- 
nen Vorkämpfern  zusammengereiht  habe,  ist  durch  die  obige  Nach- 
weisung, wie  die  Arisleien  mit  dem  Ganzen  verwebt  sind,  dargethan. 
Vornehmlich  aber  ist  es  an  den  vielen  Partieen  erkennbar, 
welche,  wie  sie  noch  weniger  für  blos  gesonderten  Vortrag  ge- 
artet sind,  entschieden  dem  Fortschritt  des  Ganzen  dienen  und 
ohne  Frage  eben  erst  vom  Schöpfer  dieses  ganz  neu  gebildet  sind. 

Hieran  schliesst  sich  das  für  die  Persönlichkeit  Sprechendste, 
weil  Eigenste,  das  Gemüthliche,  womit  und  wie  der  Dichter  die 
Handlung  seiner  Gedichte  durch  Motiven  und  die'  sie  tragenden 
Charaktere  der  Menschen  und  Götter  beseelt  hat.  Hierdurch,  durch 
die  Seele,  die  er  seinen  Gedichten  eingeflösst,  und  besonders  hier- 
durch hat  Homer  die  neue  Periode  der  epischen  Poesie  geschaffen. 


455 

Lleberhauiil  isl  zu  erkennen,  dass  es  niclil  die  Eigenschaften 
des  Einzelliedes  allein  sind,  welche  das  Wohlgefallen  und  die 
Werthschätzung  des  Nalionaldichters  erzeugt  haben.  Das  dra- 
niatische  Lehen,  und  die  iuuner  frische  und  wie  anschaulich 
durchsichtige  so  nirgends  31ühe  verrathende  Darstellung,  diese 
Eigenschaften  zeugen  für  den  einigen  Dichtergenius  nur,  insofern 
sie  durchgehend  vorhanden  sind.  Wo  sie  fehlen,  erkennen  wir 
spätere  Entstellung  des  Ursprünglichen.  Was  den  Ruhm  und 
die  hohe  Würdigung  dieses  einzigen  Nationaldichlers  hervorrief, 
waren  stofflich  Gesanimteigenschaften,  seelisch  die  inneren  das 
grössere  Ganze  durchdringenden  und  wie  verbindenden  so  bemessen- 
den Eigenschaften.  Als  stoffliche  Gesammteigenschaften  bewähren 
sich  die  fast  alle  Stämme  umfassenden  Heldenbilder  und  die  Jlannig- 
faltigkeit  der  theils  aus  den  alleren  Liedern  meistens  als  Rede- 
stoff eingewehten  Sagen,  theils  (in  den  Gleichnissen)  die  aus 
allen  Sphären  der  NStur  und  des  Menschenlebens  angebrachten 
Bilder,  endlich  in  der  Erzählung  selbst  der  Wandel  und  Wechsel 
derselben,  da  in  grösserem  Maasse  in  der  Odyssee  aber  auch  in 
der  Ilias  der  Wechsel  der  Scenen,  der  Personen,  der  Lebens- 
und Weltbilder  den  grössten  Reiz  übt.  Als  innere  Eigenschaft 
haben  wir  erstens  die  durchherrschende  Gleichheit  der  Charak- 
tere zu  zählen,  wo  ausser  ihrer  Haltung  in  der  Ilias  besonders 
die  Gleichheit  derer  in  Betracht  kommt,  welche  beiden  Epopöen 
gemeinsam  sind,  indem  weder  hei  Helena,  noch  bei  Odysseus, 
geschweige  bei  Menelaos  und  Nestor  eine  Ungleichheit,  vielmehr 
nur  die  sinnigste  Durchführung  gefunden  wird.  Aber  noch 
entscheidender  ist  ein  anderes  Moment  innerer  Eigenthündichkeit 
für  die  gemüthreiche  Sinnigkeit  und  die  schöpferische  Erfind- 
samkeit  des  seltenen  Genius.  Wir  meinen  die  gewählten  und 
durchgeführten  Motive  des  Zorns  in  seinen  Wirkungen  und  der 
Heimkunft  und  Rache  des  Odysseus. 

Dass  ein  solcher  einheitlicher  Gedanke  von  einem  Dichter  habe 
gefasst,  ein  solcher  Plan  ausgeführt  werden  können,  wird  von 
den  Gegnern  der  antiken  einheitlichen  Auffassung  aus  mehr  als 
Einem  Grunde  noch  heute  geläugnet.  Den  ersten  Einwurf, 
den  man  von  den  fehlenden  Gelegenheilen  entnahm,  wies  Welcker 
Cycl.  1,  348)  seihst  in  seiner  ersten  Instanz  als  unzurei- 
chend nach. 


456 

Der  zweite  EinvMur  ist  der,  dass  ein  so  leiu  angelegter  Plan 
wie  vollends  der  der  Odyssee  nur  die  spätere  Frucht  allmäldi- 
ger  dichterischer  Uebung  und  auf  einander  folgender  Beispiele 
sein  könne.  Das  Aeusserste  dieses  Unheils  in  der  Beziehung  auf 
die  Dichtergabe  als  Naturgabe  war,  dass  man  den  Homer,  wie 
Wood  (Originalgen.  S.  Uff.),  als  Naturdichter  fasste.  Diese  Auf- 
fassung hat  sich  zu  der  Anerkenntniss  berichtigt,  dass  das  Genie 
die  Einheit  von  Natur  und-  Kunst  nach  seinem  \Yesen  darstelle, 
indem  eben  sein  Wirken  unmittelbar  das  Kunstverfahren  zuerst 
vorbilde  (Nägelsb.  Ilom,  Theol.  Iff.).  In  der  Sprache  der  Theorie 
drückte  man  das  so  aus,  dass  den  Griechen  und  ihnen  allein  in 
ihrem  Homer  das  Glück  geworden,  ihr  National -Epos  zu  voll- 
enden in  dem  Momente,  da  eben  die  naive  Poesie  die  Vortheile 
der  Kunst  in  sich  aufnimmt  und  die  Kunstpoesie  den  ganzen 
Vorlheil  der  Naivetät  geniesst  (Vischer  Aesthet.  3,  2.  1287  vgl. 
oben  mit  Buch  2  Anm.  98).'^') 

Die  Geschichte  des  griechischen  »Epos  lässt  uns  diesen  Her- 
gang zumal  bei  dem  Lichte  der  Vcrgleicliung  des  Epos  anderer 
Völker  genugsam  erkennen.  Beides  wird  uns  klar,  sowohl,  was 
es  war  und  wie  es  geschah,  dass  die  naive  Posie  in  das  Werk 
und  Wesen  der  Kunst  überging,  als  das  Andere,  wodurch  das 
griechische  Epos  zu  seinem  Vorzug  vor  den  grossen  Composi- 
tionen  anderer  Völkerstämme  gelangte. 

Es  ist  schon  Buch  1  §.  13  der  Gegensalz  von  Volks-  und 
Kunstdichtung  in  gewisser  Beziehung  als  unrichtig  bezeichnet. 
Die  jedenfalls  zum  Dichten  erforderliche  besondere  Begabung, 
die  nur  Einzelne  auszeichnende  Stärke  des  erlindsam  bildnerischen 
Vermögens  ist  kein  Gemeingut,  sondern  immer  Vorzug  besonders 
begabter  Sänger.  Bei  keinem  Volke  hat  Jedweder  vermocht,  wo 
Anlass  gewesen,  nicht  blos  sein  Gefühl  von  Freud'  oder  Leid, 
sondern  die  Sagen  der  Vorzeit  seines  Stamms  zu  singen.  Wenn 
die  Sänger  alle  als  Behälter  und  Bewahrer  des  Sagenschatzes 
erschienen,  zeichneten  sich  Einzelne  als  annehmliche  Erzähler 
besonders  aus  (gleich  dem  Pheniios  der  Odyssee,  22,  347).     Es 


197)  Inwiefern  weder  das  indische,  noch  das  iranische  grosse  Flpos 
diese  glückhchc  Vereinigung  erreicht  hajje,  zeigt  Vischer  das.  wu  joncni 
S.  128G,  von  diesem  S.  1293. 


457 

war  die  Gabe  der  lebendigen  Vorgegenwärtigung  des  früher  Ge- 
sciieheneu,  der  liandelnden  Personen  sannnt  der  Scene,  durch 
>\  eiche  die  vor  andern  berufenen  Erzähler  gefielen.  Nun  machten 
aber  die  LiedersloHe  selbst  verschiedene  Anforderungen  an  das 
Talent  des  Sängers.  Die  meisten  friUicrcn  Lieder  hatten  nur 
eine  einfache  einzelne  Handlung  erzählt.  Sie  also,  uie  sie  Buch 
2  §§.  4  und  5  einzeln  verzeichnet  sind,  hatten  von  den  vorho- 
merischen Aöden  nur  das  Talent  anschaulicher  Erzählung  und 
ßeschreibung  verlangt,  auch  die  Gemiithserregungen  waren  ein- 
fachen Wesens.  Und  selbst  die  vorhomerischen  Einzellieder  aus 
den  Sagen  des  jüngeren  Heldengeschlechts,  die  vom  Heerzuge 
gegen  Theben  und  die  aus  dem  Troerkriege,  hatten  zum  Thcil 
denselben  einfacheren  Charakter,  wie  das  von  Tydeus  Sendung  vor 
der  Ankunft  des  Heeres  in  Theben  und  das  von  den  Streifzügen 
des  Achill  vor  der  Zeit  des  Zorns,  Gab  es  hier  auch  unifäng- 
lichere  Stoffe,  wie  wir  sie  in  der  Odyssee  dem  Phemios  und  dem 
Demodokos  beigelegt  gefunden  haben,  und  hatten  diese  auch  die 
Buch  2  §.  8  charakterisirten  lieferen  Motive,  so  bildeten  sie  doch 
nur  auch  hierin  den  Uel»ergang  zu  den  Schöpfungen  des  Homer, 
indem  sie  und  selbst  jene  JEinzellieder  nicht  umhin  konnten,  die 
ihrem  Ganzen  innewohnenden  tieferen  Motive  zu  berühren. 

Es  ist  aber  das  ^eue  beim  Beginn  der  zweiten  Periode  der 
epischen  Dichtkunst,  dass  darin  alle  bewegenden  Ursachen  ethischer 
Natur  sind,  und  dass  die  Handlungen  unter  dem  das  Thun  der 
Menschenwelt  überwahenden  Götterregimenl  slehn.  Im  tieferen 
Sinne  ethischer  Natur  siiul  sie,  als  auch  die  Lieder  und  kleinereu 
Ganzen  der  ersten  Periode,  nach  dem  griechischen  Sprachge- 
brauch des  Worts  ,  ethisch  bewegt  d.  h.  eine  Sirebung 
schildernd,  welche  bei  der  Heldenkraft  durch  Kampf  ihr  Ziel  er- 
reicht.  Das  gicbt  überhaupt  nur  ein  durchgeführtes  Motiv,  wie 
alles  Epos  die  thatlebendigen  Menschen  schildert  und  jedes  epi- 
sche Ganze  durch  ehie  entstandene  und  (hn'chgeführte  Strebung 
darstellt. 

Gegen  diese  ältere,  auch  ethische  Motivirung  ist  es  etwas  Neues, 
wenn  die  handelnde  Menschenwelt  unter  die  nationalen  Sllteiigcsetze 
gestellt  erscheint,  wenn  ganze  Völker  und  j^rosse  Verliällnisse, 
durch  die  Leidenscliaflen  der  Menschenbrust  in  Kampf  imd  Con- 
flicte    gebracht,  dargestellt    werden,    w(!nn    Kriegsparteien    der 


458 

Menschen  und  Götter  einerseits  von  Beiden  eine  zahlreiche  Reihe 
verschiedener  Charalitere  zu  schildern  geben,  wenn  andererseits 
das  Menschengemiith  auch  in  den  Tüchtigsten  seine  der  Leiden- 
schaft ausgesetzte  Natur  erwiesen  hat,  und  wenn  der  Glaube, 
den  die  Sänger  mit  ihrem  Volke  theilen,  über  aller  dieser  Bewe- 
gung den  höchsten  Gott  waltend  denkt.  Um  ein  solches  Welt- 
bild zu  gestalten,   da  mnss  wohl  ein  grosser  Geist  eintreten. 

Homer,  der  es  war,  halte  eine  liederreiche  Vorzeit.  Die 
spezielle  Sage  vom  troischen  Kriege  war  in  vielen  Liedern  be- 
sungen und  ihm  also  bekannt.  Die  von  ihm  getrofl'ene  Aus\^ahl  der 
zwei  Theile  dieser  Sage  und  vornehmlich  die  des  Achillszorns 
mag  wohl  auch  den  Grund  gehabt  baben,  dass  dieser  Theil  mit 
dem  Kampfe  der  beiderseitig  grössten  Helden  den  Hauptakt  des 
gesammlen  Krieges  bildete;  allein  so  gewiss  auch  die  Erzählungen 
vom  Zorn  von  ihm  als  ein  Stück  der  Erzählung  vom  Kampfe 
um  Troia  behandelt  ist  und  behandelt  werden  musste,  der  Inhalt 
des  Stolfes,  die  Handlung  selbst  und  alle  ihre  Ausführung  ist  eine 
so  charaktervolle,  von  Erregungen  und  mannigfachen  Aeusserungen 
der  Menschenseele  so  durchdrungene,  dass  diese  Eigenheit,  d.  h. 
die  Fähigkeit  dazu,  an  welcher  kein  anderer  Sagentheil  ihr 
gleichkommt,  der  besonders  anziehende  Grund  der  Wahl  gewe- 
sen zu  sein  scheint.  Der  Centralpunkt  dieser  Anschauung  war 
die  Seele  des  Achill  mit  seinem  Selbslbewusstsein  und  seinem 
in  allen  Affecten  gewaltigen  Gemüth,  wie  der  Dichter  es  auffasste. 

Die  Wahl  eines  Sagenstoffs  und  der  ihm  angehörigen  älteren 
Lieder  war  immer  Wahl  des  ihnen  innewohnenden  Motivs,  der 
sie  beseelenden  Idee.  Nun  ist  es  eben  das  Wesen  eines  Kunst- 
werks, dass  es  eine  Idee  ausprägt  und  durchführt  (s.  oben  Buch 
1  §§.  11  und  13).  Sonach  übte  Homer  Kunst,  indem  er  die 
Idee  des  Achillszorns  zur  Seele  seiner  Epopöe  machte,  und,  da 
dieser  Sagentheil  der  bezeichneten  seelenvollen  Art  war,  eben 
diesen  Charakter  des  Stoffs  in  schöner  Entwickelung  ausführte. 
Es  halten  die  von  Homer  vorgebildeten  Epopöen  durch  ihren 
ethisch  religiösen  Geist  eben  sämmtlich  Motive,  welche  das  Ganze 
tiefer  durchdrangen. 

Homers  Poesie  hatte  und  bewahrte  dabei  das  Wesen  der 
Naivetät.  Er  stand  eben  noch  ganz  auf  dem  Standpunkte,  wo, 
wie  es  in  der  Einleitung  dieser  Schrift  gezeichnet  ist,  die  Phan- 


459 

tasie  in  den  Geistern  über  alle  anderen  Kräfte  oblierrschte,  und 
wo  dalier  beim  Dichter  Dichten  und  Denken,  bei  seinen  Hörern 
Wissen  und  Glauben  noch  ununlerschieden  ^varen.  Wenn  der 
Dichter  das  Erzählte  vergegenwärtigte,  als  sei  er  selbst  bei  Allem 
gewesen,  so  galt  die  poetische  Wahrheit  der  Wirklichkeit  gleich. 
Als  von  der  Muse  gelehrt,  hatte  er  nicht  blos  nach  dem  Glauben 
seiner  Zuhörer  Beruf  und  Befähigung,  von  den  Göttern,  von  der 
Unterwelt,  von  den  fernen  Phantasiegebieten  zu  erzählen, 
sondern  er  selbst  dichtete  in  dem  Glauben,  das  Leben  und  We- 
sen der  Götter  sei  so  und  ihre  Thaten  seien  so  erfolgt,  wie  er 
es  sich  vorstellte. 

Ebenso  nun  und  vollends  bei  der  Darstellung  der  Helden- 
charaktere. Das  Verhältniss  des  Dichtergeistes  zu  den  vom  Volks - 
geist  überlieferten  Personen  und.  Vorgängen  war  längst  nicht 
mehr  das  uranfängliche.  3Iochte  eine  Heldengestall  ursprünglich 
mittels  einer  Personification  erdacht  sein  oder  den  wirklichen 
Ahn  eines  Fürstengeschlechts  darstellen,  unzählige  solche  Rei- 
hen'"^) lebten  längst  im  Bewusstsein  der  Stämme  und  eine  Fülle 
von  Liedern  hatte  jenen  Gestalten  bereits  die  individuellen  Züge 
angeeignet,  welche,  dem  hörenden  V^olke  bewusst,  auch  in  aller 
Neudichtung  gewahrt  werden  mussten.  Kein  Epiker  that  anders, 
aber  durch  Homers  seelenvolle  und  namentlich  dramatische  Dar- 
stellungsweise wurde  das  persönliche  Wiesen  der  ihm  zugekom- 
menen Helden  und  Götter  vollends  so  durchgebildet,  dass  sie 
nach  seinen  Bildern  im  Glauben  fortlebten  und  als  Typen  des 
Menschenlebens  gebraucht  wurden. 

In  dieser  Weise  wirkten  Naivetät  und  geniales  Kunstvermö- 
gen bei  Homer  zusammen.  Sein  bildnerischer  Kunstgedanke 
hatte  eben  schon  den  Stoff  ergriffen,  der  ihm  neben  den  reiche- 
ren Anlässen  zur  Seelenmalerei  die  schöne  Gelegenheit  bot,  seine 


198)  S.  üben  Buch  1,  §§.  12  und  13.  Höchst  verwunderlich  ist  es, 
(lass  der  Gedanke,  noch  in  Homers  Nekyia  lasse  sich  Odysscus  als  ur- 
sprünglich agrarischer  Gott  erkennen,  auch  bei  gewiegten  Forschern  ent- 
stehen konnte;  Sengehusch,  Rec.  in  N.  Jahrh.  B.  67.  H.  G.  S.  031.  Da 
wird  der  Etymologie  Alles  geopfert,  und  nachdem  alles  individuelle  Leben 
von  den  Sagengestailen  abgestreift  ist,  die  übrig  blfMliomleii  dürren 
Skelette  eigenmächtig  gedeutet.  Es  kommt  auf  die  ganze  Sage  an  und 
auf  das  allmäblige  ^^'e^dcu  der  vorliegenden  Gestalt;  davon  ist  Nichts  er- 
klärt. .Denn  dies  ist  durch  dicHinwcisung  auf  dieKephallcncn  nicht  gelhan. 


460 

iil)t'i-  di'u  l'arteien  stehende  HimianiÜU  zu  oireuljaren.  Eine 
wirkliche  Epopöe  nationalen  (Sagen-)  Stoffs  konnte  nur  zur  V^)r- 
irellllchkeit  yedeihn,  nenn  ein  vorlreniicher  Stoff,  und  eine  vor- 
trellliche  Dichlerkraft  in  Eins  wirkten.  Der  Voi'zug,  den  die 
Ilias  und  Odyssee  vor  den  grossen  Conipositionen  anderer  Völ- 
ker hahen ,  beruht  ebenso\vohl  auf  den  concentrirenden  Stoffen, 
als  auch  den  mannigfachen  Erweisungen  der  Dichterkraft. 

Die  Wahl  des  Stoffs  ist  immer  auch  heute  das  erste  Werk 
der  Erfindsamkeit  und  speziellen  Erfindung.  Aber  der  antike 
Nalionalepiker  uar  ge\viesen,  nur  aus  überkommenen  Sagenkrei- 
sen, und  Tlieile  von  diesen  zu  wählen.  Nothwendig  waren  es 
Lieder,  in  welclien  dem  Homer  die  verschiedenen  Akte  des  Troer- 
kriegs überliefen  vorlagen,  sonst  wären  es  nur  einzelne^  Data 
sewesen.''*^) 


199)  Dieser  Umstand  wurde  von  raanclicii  ßeurtheilern  der  Gedichte 
nicht  beachlel,  und  irriger  Weise  die  Verschmelzung  kleinerer  Lieder  zu 
einem  umfänglicheren  Ganzen  als  eine  unschnere,  kaum  raeiir  als  die 
Ueljung  in  Vorsbildung  verlangende  Leistung  liozcichnet.  Oder  aber  es 
ward  in  so  weil  treffend  gcurlheiU,  da  alle  Kuiisl  in  ihrer  Jugendzeit  stets 
etwas  Traditionelles  sei,  und  nur  d.ulurcli  sichere  und  rasche  Fortschritte 
mache,  so  müsse  die  epische  schon  hedeulend  ausgebildet  gewesen  sein, 
ehe  ein  Homer  habe  auftreten  können.  Dieses  Letztere  setze  nun  eine 
Schule  voraus,  und  wenn  Homer  seine  Schule  vorzugsweise  auf  den  Kreis 
der  Ilias  hingewiesen  habe,  so  müsse  auch  vor  ihm  schon  in  diesem  Kreise 
gedichtet  sein.*)  Der  vortrelfliche  Verfasser  dieser  Betrachtung  isl  bei 
lachniannischer  Grundansicht  doch  dahin  vorgeschritten:  „in  der  Ilias, 
selbst  in  der  jetzigen  Gestalt,  einen  im  grossen  Ganzen  echt  künst- 
lerisch angelegten  Plan  zu  erkennen,  S.  277.,  dem  er  nur  (im  Lüneb. 
Progr. ),  unrichtig  grade  hier,  die  Verherrlichung  des  Achill  zur  Seele 
gab,  wie  oben  gezeigt  isl.  —  Aber  er  gebt  dann  noch  W'eiter;  er  legt 
nun  eben  im  lachmanniscben  Sinne  einerseits  dem  Volksgeiste  die  Bildung 
der  schon  gestalteten  Sage  bei  (278 f.),  statt  dass  auch  hier  ältere  Sänger 
genannt  sein  sollten.  Indem  er  die  Motivirung,  die  Beseelung  übersieht, 
findet  er  darnach  Homers  Thäligkeil  nicht  so  bedeutend,  dass  sie  nur  eui 
einziger  Dichter  besessen  haben  konnte;  er  übersetzt  andererseits  die 
Vorstellung  von  der  Unenlbehrlicbkcit  der  Schule  für  die  epische  Kunst 
in  die  Annahme  von  Sängerinnungen,  wie  die  der  Ilomeriden.  Endlich 
nimmt  er,  287,  mehre  solcher  Jenen  ähnlicher  an,  und  schon  von  dieser 
Annahme  aus,  bei  der  die  Sage  und  die  ganze  dichterische  Production 
der  episLlien  Zeit  ihre  Giltigkeil  behalte,  erscheint  ihm  die  künstlerische 

''')  HolTniaiins  nmfassende  Ahliandl.,  der  gegenwärtige  Stand  der  Unlors. 
liber  die  Einlieit  der  Ilias  iu  der  Allg.  Monatsschr.  f.  W.  u.  K.  Halle  1852. 
April.  S.  279. 


461 

Aber  Homers  Genius  lialle  doch  gewiss  nicht  hios  zusani- 
nienzureihen.  Er  iiherkani  freilich  in  den  Liedern  vielleicht 
schon  folgendes  Alles,  die  Entstehung  des  Zorns  und  Abson- 
derung des  grössten  Helden  von  der  Sache  seines  Volks  und  — 
wie  jede  Sagengestaltung  ihn  gegeben  haben  muss  —  den  den- 
noch erfolgten  Ausbruch  des  Kriegs  in  Troias  Nähe,  einzelne 
Aristeien  ,  langhin  fortdauerndes  Grollen  des  gekrankten  Helden, 
wachsende  Notli  der  Griechen,  bis  Patroklos  von  ihr  gerührt 
den  zürnenden  Freund  anging  und  von  ihm  mit  den  Myrmidonen 
und  den  geliehenen  Waffen  entsandt  vurde,  Hektors  Kampf  mit 
dem  Freunde  Achills   und  Sieg   über  ihn  bis  zur  Erheuluni!  der 


Abruiidung  der  Uias  und  Odyssee  völlig  unerklärlich.  In  allen  diesen 
IiofTniannsclien  Sülzen  dürfte  gerade  das  Wesen  der  Dichlcrgahe  nicht 
richtig  erwogen  sein. 

Zuerst  fehlt  hier  (hc  Unterscheidung  dessen ,  was  der  Volksgeist  ge- 
dichtet, von  der  Ansdichtung  zu  Liedern  durcli  die  von  den  Musen  begali- 
len  Sänger.  Wer  al)er  diese  durch  alle  Erfahrung  an  der  3Icnschcnnatur 
gebotene  Unterscheidung  anerkannt  hat,  wird  solchen  Innungen  oder  Ge- 
scldechtern,  wie  die  Ilomeriden  ein  Geschlecht  heissen,  nicht  als  gemein- 
same Eigenschaft  die  Sängergahe  ])eilegen.  Nennt  er  sie  Schulen,  so  kann 
er  damit  nichts  Anderes  meinen,  als  das  Lernen  und  Vortragen  fertiger 
Gedichte  und  die  damit  gegebene  Uel)ung  zum  Vershjiden,  durch  welche 
Bescliäfligung  einzelne  Begabtere  zu  eigener  Dichtung  angeregt  wurden. 

Es  erhelten  sich  nämlicii  hier  Zweifel  und  Fragen,  wie  sclion  jjci 
Grote's  ähnlicher  Hypothese  (Abschn.  32):  Die  Vennullienden  bekeiuien 
sich  zu  einem  uns  undenkbaren  Hergang,  als  könne  ein  Gedicht  durch 
Mehre  nach  Eines  ßegalitern  Plane,  wie  ein  Bau  durch  Meister  und  Ge- 
sellen, zu  Stande  gekommen  sein.  Uns  gemahnt  das  nur  an  eine  andere 
schiefe  Parallele  und  Deutung,  wenn  Mancher  mehre  Dichter  der  einheit- 
liclien  (ianzen,  die  ilomeriden  stall  des  Einen  Ihmier,  nnt  Dädalos  und  den 
Dädaliden  vergleichen  mag.  Die  Bildner  in  Holz  brachten  in  der  rolifii 
Kunst,  (he  des  Dädalos  Kamen  trägt,  jeder  inuncr  Ein  Ihdzl)d([  hervor, 
und  ein  Holzbild  schnitzen  isl  ein  Anderes  als  eine  homerische  Epopöe 
dichten.  Und  keines  der  patronymiscb  benannten  Geschlechter  mit  einein 
geglaubten  Urvater  und  Namengeber  an  ihrer  Spitze  giebl  zu  den  als 
Werkmeister  der  Ilias  und  Odyssee  gedachten  Ilomeriden  eine  trelTende 
Analogie,  auch  die  Euneidcn  in  Atlika  nicht,  die  bei  den  0|)feihandlungcn 
verschiedene  Dienste  leisteten  (Melelem.  I.  128.  172). 

Dagegen  im  i'iclitigen  Verstände  und  in  ihrer  iiezcughm  Thäligkeit 
gefasst,  iiahcn  die  Ilomeriden  allerdings  an  (]om  Eun<Mden  ein  vergleich- 
bares Beispiel.  Wie  jene,  indem  sie  die  Gedichte  Homers  vortrugen,  zu 
ihren  Vorträgen  sogenannte  Proönncn  dichteten,  so  gab  es  unter  den 
Euneiden  welche,   die  hei  den  Opfern,   ausser  andern  Diensien,  auch  tlie 


462 

Waffen  ,  Kampf  um  des  Patroklos  Leiche  und  den  bitteren  Um- 
stand, dass  der  durcli  alle  Notli  der  Seinen  nicht  zur  Versöhnung 
Bewogene,  nun  zuerst  %vieder  hervortreten  musste  oder  liervor- 
trat,  um  des  Freundes  Leidmam  aus  der  Troer  Händen  zu  retten; 
ferner  gcAviss  den  Kampf  des  zur  Rache  gespornten  Helden  mit 
dem  Hort  Troias,  und  dessen  Fall,  die  Misshandlung  seiner  Leiche, 
die  Leichenspiele,  bei  fortgeheiider  iMisshandlung  der  Leiche  des 
Hektor  der  Streit  der  Götter  darüber  bis  Zeus  entscheidet,  und 
den  Priamos  beauftragen  lässt,  den  Leichnam  auszulösen  und 
nun  Achill  und  die  Handlung  endlich  zur  Ruhe  kommt. 

Mögen   alle   diese  Momente    schon  in  der  Sage  gelegen  inid 
mehre  derselben,  schon  ganz  lebendig  in  den  Liedern  ausgeprägt. 


Hvniiien  zur  Laute  absangen,  auch  deren  Einzelne,  welche  seihst  der- 
gleichen dichteten,  was  Kratinos  bezeugt.*) 

Der  Versuch  nun,  zwei  verschiedenen  so  genannten  Sängerinnungen 
oder  Scliulen  der  einen  die  llias,  der  andern  die  Odyssee  als  Erzeugniss  zu- 
zutheilen,  er  ist  wohl  gemacht  worden,  aber  ganz  niisslungen.  Da  sollten 
die  Ilomeriden  auf  Chios  die  IHas,  das  Geschlecht  des  Kreophylos  auf 
Samos  die  Odyssee  gedichtet  haben ,  was  durch  die  sprechendsten  Gründe 
als  verfehlt  erwiesen  ist.  **)  Und  wenn  dieUelierlieferung  dcrliomerischen 
Gedichte  durch  das  Geschlecht  der  Kreophyher  unzweifelhaft  l)ezeugt  ist,' 
so  hatte  ja  doch  Kreophylos  sell)st  die  Einnahme  Oechalias  gedichtet. 
Sollte  etwa  die  Fabrikarbeit  Vieler  an  Einer  Epopöe  sich  auf  Samos  gar 
zweimal  begeben  haben? 

Wir  haben  das  W^ahrsclieinliche  schon  Abschn.  35 — 37  des  breiteren 
cbarakterisirt.  Iliei"  mögen  um  der  bedeutenden  Gegner  willen  nur  die 
Hauptmomente  des  Problems  noch  prägnanter  gefasst  werden. 

Die  Gestaltung  der  llias  aus  früheren  kleineren  Liedern  darf  ebenso 
wen  ig  wie  es  ein  statthaftes  Begiimen  war,  sie  in  der  früheren,  eben  vor- 
Iiomerische  Fassung  wiederherstellen  zu  wollen,  in  ihrer  vorhegenden 
Verbindung  als  eine  wenig  Poesie  und  individuelle  Genialität  verlangende 

*)  Sein  Vers  aus  der  nacli  ihnen  benannten  Komödie:  Meinecke  I. 
S.  19  oder  11.  S.  57.  TEKXovsg  svnuXäfioav  vfivwv  bezeichnet  sie  als  Dicli- 
ter.  während  sie  sonst  bei  dem  Glossogr.  nur  xi&aQadoi,  ngog  tag 
IsQOVQyiag  ■Kagixovxig  xrjv  xqsiuv,  also  Sänger  zur  Laute  heisscn.  welche 
die  den  sagenhaften  oder  sicher  bekannten  Dichtern  zugeschriebenen  Hymnen 
absangen,  wie  von  den  drei  Hauptarten  der  Dichtkunst  jede  ihre  vortragen- 
den  Gehilfen  hatte;  Plato  Staat.   II.  373  B.    Ges.  VI.   1Ö4CD. 

**)  Lauer,  Gesch.  d.  homerischen  Poesie.  Berl.  1851.  S.  *242.  Eine 
Hauptstelle  war  zu  corrigiren  (Sagenp.  358),  denn  obgleich  sie  selbst  in 
der  historia  critica  von  Sengebusch,  üiss.  1  ,  03,  ohne  Anstoss  aufgeführt 
wird,  das:  ,,die  von  Homer  geschilderten  fidxag  singen,  beginnend  von 
der  Odyssee"  ist  doch  Unsinn.  Aber  wie  die  nationale  Beziehung  für 
Samos  gerade  viel  eher  die  llias  wahrscheinlich  hätte  machen  können,  in 
der  die  saniische  Hauptgöttin,  Here,  eine  solche  Bolle  spielt  u.  s.  w. ,  dies 
hat  Scuj'ebusch   in  der  Rec  N.  .lahib.   B.  07.   11.  ß    S.  (ififf.  dargethan. 


I 


463 

dem  Homer  gedient  haben,  so  dass  namentlich  in  den  Momen- 
ten der  letzten  Bücher  eine  ursprüngliche  Verkettung  staltfand: 
immer  blieb  dem  Dichtergenius  Viel  in  dem  Gegebenen  der  An- 
lage oder  des  Reizes  oder  alicr  der  vollen  Freiheit  zu  eigen- 
thümlicher  Bethätigung  seiner  Darstellungsgaben  und  Mittel.  Es 
genügt  an  dieser  Stelle  nur  auf  die  Bedeutendsten  für  die  Oeko- 
nomie  hinzuweisen. 

Die  Ilias  erhielt  gleich  durch  die  Entstehung  des  Zorns  zwei 
Ausgangspunkte,  Achill  in  seinen  Zelten  und  das  Achäerheer  un- 
ter Agamemnon.  Da  nun  der  Sage  nach  der  gekränkte  erste 
Held  nicht  eher  und  nicht  durch  andern  Grund  zur  Rückkehr 
zum  Kampf  seines  Volkes  bewogen  war,  als  durch  des  Freundes 
Tod  und  den  Kampf  um  dessen  Leiche,  so  musste  Patroklos 
ohne  Achill  vorgegangen  sein ,  musste  es  also  geschehn  sein ,  dass 
die  Niederlage  des  Heers  der  Griechen  einen  hohen  Grad  er- 
reichte, und  sie  so  den  Patroklos  ohne  Achill  zum  Kampfe  zog, 
in  Folge  dessen  der  Freund  fiel.  Dieser  so  verkettete  Hergang, 
die  gesteigerte  Noth,  des  Patroklos  alleiniges  Eintreten  zu  ihrer 
Abwehr,  sein  Fall  und  in  Folge  dessen  der  Kampf  des  Achill, 
des  grössten  Helden  der  Achäer ,  mit  dem  grössten  der  Troer,  diese 
unlösbare  Kette  zeigt  sich  unverkennbar  als  alliier  überliefert. 
Die  Patrokleia  mit  ihren  beiden  Theilen,  da  er,  nachdem  er  die 
~ Troer  zurückgescheucht,  durch  Hektor  fällt,  und  der  Kampf  um 
seine  Leiche  zeigte  sich  uns  schon  als  ein  grösseres  Lied.  Aber 
dieses  in  seiner  engsten  Zusammengehörigkeit  mit  dem  Rache- 
kampf zwischen  Achill  und  Hektor  nötbigt  nun ,  hier  ein  umfäng- 
licheres Ganze  als  schon  vorhomerisch  anzunehmen;  und  es  war 
hier  die  Motivirung  und  Charakteristik  der  Helden  und  der  Füh- 
rung   des  Zeus,    welche   die  Neudichtung  brachte.     Diese  führte 


Geistesar])eit  geschätzt  wonlcii.  Das  Beseelen  des  Sagenstofls,  das  Moti- 
viren der  rortsclireitciidon  llandhing  isl  das  Werk  des  den  erkorenen  SlolT 
nusfiihrenden  Dichlergoislos.  Je  nachdem  dicsoui  Ueljerkommcnen  seihst 
schon  eine  für  die  thälige  oder  leidendhchc  Bewegung  drastischere  Be- 
schaffenheit inncAvohnt  —  was  eben  durch  die  Wald  desselhon  hechngt 
ist  —  wird  der  ausdichtende  Geist  mehr  oder  minder  der  beseelenden 
narsl(dlung  seihst  zu  leisten  halten.  Da  der  zur  Ilias  gewählte  und  ansge- 
fiihrle  SlolT  jener  zwiefach  drastischen  Art  war,  so  lag  alleidnigs  in  ihm 
schon  ein  gutes  Theil  (h^i-  heseeileii  Kigeidieil  des  von  Ildiiier  ansgeffdir- 
len  (lediehls. 


464 

itber  zu  zAvei  anilern  MaassnalniK'H  flcr  Verl<eUung  und  ilostal- 
Uiiig  eines  grossem  Ganzen,  inid  damil  zur  Dielitung  von  Par- 
tieen,  welche  vorher  als  Einzeliieder  zu  denken  hei  ihrer  aus- 
drüeklichen  Berechnung  auf  Wen  Zusammenhang  unstatthaft  ist. 
Diese  Partieen  gilt  es  hauptsächlich  wahrzunehmen. 

liier  also  kommt  die  Erfindung  und  Motivirung  zu  heaehten, 
durch  welche  Homer  die  vorher  in  zwei  Ausgangspunkte  ge- 
trennte Handlung  in  feinstem  Torlschritt  allmählig  zusammen- 
gehen lässt.  Zugleich  werden  aher  juittels  Parallelhandlung  die 
vier  Stadien  der  Noth  ins  Licht  gesetzt,  an  welchen  die  schaden- 
frohe Widerhaltigkeit  des  gekränkten  Ehrgefühls  im  Achill  sich 
olfenhart.  Wie  scheinhar  unbedeutend  noch  wird  erst,  11,  510, 
Nestor  angeregt,  den  verwundeten  Arzt  Machaon  vom  Kampfplatze 
wegzufahren,  und  erscheint  darauf,  das.  599 f.,  Achill  auf  einer 
Warte  neugierig  und  schadenfroh  nach  u^m  Gange  des  Kampfes 
ausschauend.  Hier  wird  Patroklos  unter  des  Dichters  Vorher- 
sagung, 604,  „der  Anfang  seines  Verderbens"  —  durch  die  Sen- 
dmig  an  Nestor  der  Vcrnüttler  der  vorher  getrennten  Handlung, 
der  Wiederannäherung  des  Achill  an  den  Kampf  des  Heeres.^"") 
Mau  hätte  die  schmerzvolle  Aeusserung  des  Patroklos  bei  seiner 
Rückkunft  zu  Achill  nicht  falsch  auffassen  sollen  (16.  z.  A. ), 
welche,  zuerst  durch  Nestors  Mittheilung  und  ganze  Auslassung 
angeregt  (11,  660.  790.),  während  er  bei  der  Heilung  des  Eury- 
|)ylos  (12.  z.  A. )  dem  weiteren  Gange  des  Kampfes  zusieht,  dahin 
gesteigert  ist.  Sie  würde  auch  nicht  verkannt  worden  sein,  wenn 
man  nicht  in  zweifelnder  und  verneinender  Stimmung  unterlassen 
hätte,  den  erfinderischen  Dichtergenius  im  Einzelnen  und  die 
von  seinem  ethischen  Geiste  durchgeführte  Handlung  im  Ganzen 
zu  verfolgen. 

Eben  der  11.  Gesang  war  in  seiner  feinen  Motivirung  zu 
erkennen;  sodann  der  16.,  wie  da  der  Zorn  des  Achill  tragisch 
wird ,  was  dem  Unbefangenen  so  deutlich  entgegentritt. 

Als  die  wesentUchen  Maassnahmen  des  Dichters  zur  beseel- 
ten Gestaltung  der  Epopöe  erkennen  wir  also:  jene  Sendung  des 


200)  Die  Vormiilhung,  wolclie  l?crgk  als  Tlicsi.s  aufslolll,  Pliilol. 
XII.  597.  Nr.  25,  erst  durcii  Ildnicr  sei  Nestor  in  die  Iroisclie  S;ige  ge- 
koininoii,  Itodarf  des  Beweises  in  lioliciii  Mansso,  ii.inicnlliili  wogen  seiner 
f(anzon  Slellnns  zn  Affanienmoii 


465 

Patroklos,  die  vier  Stadien  der  Noth,  die  iMotivirung  des  Ueber- 
gangs  des  Achill  aus  berechtigtem  Zorn  und  gerechtfertigter  Ent- 
fremdung von  der  Griechensache  in  das  selbstische  Uehermaass, 
vor  allem  Andern  aber  die  das  Ganze  verbindende  Führung  des  Zeus 
und  die  Charakteristik  derselben.  Von  Heldencharakteren  zeugen 
die  des  Achill,  des  Hektor  und  des  sanguinischen  Agamemnon 
in  ihrer  völlig  harmonischen  Hallung  am  sprechendsten  für  die 
organische  Dichtung. 

Alle  diese  die  ganze  Handlung  durchziehenden  und  beniessen- 
den Charaktere  mit  ihrer  ethisch  beseelten  Eigenheit  werden  in 
den  ExpositJonsgesängen  d.  h.  im  Anschluss  an  die  im  ersten 
erwähnte  Grundursache  nebst  der  Trennung  in  zwei  Stätten  der 
ferneren  Bewegung,  in  den  Gesängen  2 — 7,  welche  nur  Einen 
Tag  enthalten,  mit  epischer  Breite  nach  dem  Stand  des  bisherigen 
Kriegs  vollständiger  gvzeichnet.  Es  ist  eben  hier  des  Dichters 
ganze  Eigenthümlichkeit  in  der  Fassung  und  Beseelung  seines 
Werks  in  seinem  nationalen,  aber  dabei  humanen  Sinne  anzuer- 
kennen. Er  dachte  den  Sagentheil  vom  Achillszorn  mit  seinen 
Wirkungen  als  besonders  charakterisirten  Theil  der  Sage  vom 
Völkerkampfe  um  das  troische  Reich,  und  legte  ihn  so  an.  Er 
erzielte  dies  durch  eine  Neubildung  gerade  in  den  die  Folgen  der 
Verzürnung  vorbereitenden  Theilen,  für  die  er  auch  grössere  Par- 
tieen  selbst  erst  einfügte.  Die  Exposition,  welche  im  Epos  immer 
die  Grundverhältnisse  zu  zeichnen  hat,  von  welchen  die  Hand- 
lung ausgeht,^"')  und  zwar  die  göttlichen  und  menschlichen,  sie 
schildert  hauptsächlich  den  Alles  bewegenden  höchsten  Gott  in 
seinen  schlauen  Maassregeln. 

Er  war,  nachdem  er  der  iMutter  Achills  eine  seiner  Gattin 
Here  widrige  Zusage  gegeben,  darüber  mit  der  letzteren  in  lief- 
tigen  Zwist  gerathen,  der  aber  durch  den  naiven  Hephästos  in 
olympische  Heiterkeit  ausging.  Auf  diese  olympische  Ausgangs- 
scene  konnte  der  Dichter,  das  ist  klar,  unmöglich  sofort  die 
im  Eingang  des  8.  Gesanges  folgen  lassen ,   wo  Zeus  den  beider- 


201)  Schiller  an  Goollic  im  Hriefwecliscl  3.  Br.  298.  S.  85  und  80 
iinlorscheidel  zu  scharf  zwischen  doni  Epos  und  dem  Drania.  Dip  Be- 
stimmung der  Exoposition  ist  die  obige  in  beiden ,  nur  giebl  es  im  Epos 
breitere  Grundlüge  der  zugleich  golllichen  und  menschlichen  Verhältnisse 
mit  ihren  Trägern  aufzustellen. 

Nilzsch,  Gesch.  d.  griech.  Epos.  30 


466 

seitigen  Schutzgöttern  —  iinparleiiscli  Jjeiden  —  alle  persönliche 
Hilfe  mit  den  heftigsten  Bedrolinngen  untersagt.  Nein,  vielmehr 
was  er  dem  Vorwurf  der  Here  hei  jenem  Zwist  entgegnet  hatte, 
sie  dürfe  nicht  alle  seine  Gedanken  wissen  wollen  (1,  545 — 550), 
und  der  ihm  wohlhekannte  Sinn  dieser  heisshlütigen  Griechen- 
freundin (1,  520 f.)  Itewogon  ihn  zur  schlauen  Verheimlichung 
des  zur  Verwirklichung  seiner  Zusage  an  Thetis  erst  von  ihm 
gefassten  Planes. 

Wohl  hedurfte  es  zu  dessen  Ausführung  ehenso  des  vollen 
Kriegs  von  Heer  gegen  Heer,  wie  ihn  Here  als  Patronin  der 
Atreiden  auf  Troias  Untergang  hin  schon  längst  heischte,  des 
Kriegs  um  den  Königssitz  seihst.  Seit  Kurzem  waren  die  Streif- 
züge, wobei  Ghryseis  und  Briseis  gefangen  winden,  beendet,  und 
waren  die  Achäer  im  Schiflslager  beisammen.  Da  hatte  sie,  wah- 
rend die  Troer  aus  Furcht  vor  Achill  sich  in  ihren  Mauern  hiel- 
ten, in  Folge  der  Abweisung  des  Ghryses  die  Pest  -heimgesuc^hl, 
und  war  die  Kränkung  des  Achill  erfolgt.  Die  Entfrenidiing  und 
Abwesenheit  dieses  grössten  Helden  wird  nun  in  diesen  Gesängen 
2 — 7  oftmals  erwähnt,  ja  sie  gilt  im  ganzen  Gange  des  jetzt  an- 
geregten vollen  Krieges  als  Voraussetzung,  so  dass  so  gut  wie 
Nichts  von  dem  was  wirklich  geschieht,  erfolgen  könnte,  wenn 
Achill  beim  Griechenheere  wäre.^°-)  Die  Troer  nun  haben  im 
jetzigen  Text   einen  Späher   sitzen,    der    aussehen   muss,   ob  das 

202)  Bäumlein  über  Grote  Piniol.  XI.  3.  S.  412  und  413.  Sagenp.  193 
bis  195.  S.  die  Stellen  2,  239  f.  375—378,  im  Schiil'skatalog  689—694. 
769—779.  Achill  ist  auch  nicht  unter  den  Geronlen,  2,  404 — 408,  nicht 
unter  den  Helden,  welche  sich  7, 161  — 169  melden,  ,,w'0  er  gewiss  zu  erwar- 
ten war",  vom  Oherfeldlierrn  hei  seiner  Runde,  4,  231  If.,  natüriicii  niclil  ge- 
trolfen,  noch  in  der  Mauerschau,  3,  101  ff.,  gesehen.  Ferner  als  abwesend 
vom  Ih^er  ausdrücklich  bezeichnet  von  Apoll,  4,  512f. ,  von  Here,  5,  512, 
von  Aias,  7,  229,  von  Ilelenos,  6,  99,  als  ehedem  gcfürchlel  vergliclicn, 
sowie  andererseits,  7,  1J3,  Achill  vor  llektor  sicherlich  nur  hei  erster 
Begegnung  in  der  Landungsschlacht  erschrocken  w-ar,  wie  solcher  erste 
Eindruck  auch  die  Tapfersten  im  Laufe  der  Erzählung  mehrfach  IrilU. 
VVelcker  Cycl.  2,  125.  Also  giebl  diese  Stelle,  zumal  da  dort  der  be- 
sorgte Bruder  abmahnt  d.  b.  es  einer  starken  Instanz  bedarf,  keinen  rich- 
tigen Linwand,  Schömann,  Bcc.  der  Sagciij).  in  N.  Jahrb.  Bd.  69.  II.  1. 
S.  16,  und  wenn  jene  so  zu  sagen  rlictorisclie  Bescluideniieil  der  IJcdc 
vom  Bec.  selbst  aiicikannt  wird,  er  aber  andere  Stellen  .iniüliit ,  welche 
schon  trübere  Scidacliten  der  Gosammllieere  ])ewiesen,  so  werden  wir 
alsbald  die  crerinse  Beweiskraft  ersehen. 


467 

Griechenheer  elwa  von)  Schiffslager  gegen  die  Stadt  heranzieht. 
Dessen  Gestalt  nimmt  die  Botin  des  Zeus,  Iris,  jetzt  an,  da  sie 
von  Zeus  ohne  wörtlichen  Auftrag  nach  des  Dichters  Ausdruck 
mit  (für  die  Troer,  wie  sie  zur  Zeit  en)pfanden)  trauriger  Mel- 
dung des  Anzugs  der  Griechen  abgesendet  wird  (2,  786 — 795). 
Sie  meldet  ganz  natürlich  das  und  nur  das,  was  der  Späher  ge- 
sehen hat  und  wissen  konnte-  —  von  Achill  konnte  der  Späher 
weder  Etwas  gesehen  haben,  noch  Etwas  melden.  —  Die  Be- 
schreibung, wo  und  wie  sie  die  Troer  gefunden,  musste  gegeben 
werden.  Priamos  verhandelt  eben  vor  seinem  Palaste  niit  seinem 
versanmielten  Volke  wie  im  liefen  Frieden,  also  ganz  im  Gegensatze 
zu  den  wirklichen  Umständen.  Diese,  des  Griechenheeres  Anzug, 
möchte  nun  Iris  als  Späher  in  den  lebhaftesten  Ausdrücken  schil- 
dern, aber  sie,  als  Sohn  des  Priamos,  tadelt  den  Vater  wegen  der 
unzeitigen  Sorglosigkeit  —  und  allerdings  in  unehrerbietigem 
Ausdruck  —  und  ruft  den  Bruder  Hektor,  den  Oberanführer, 
auf,  sofort  zu  waffnen.  Dies  gab  dem  Aristarch  Anstoss,  und 
wohl  nicht  ohne  Grund, ^"^j  nur  ist's  mit  Verwerfung  der  fünf, 
von  der  angenommenen  Gestalt  sprechenden  Verse  791  —  795  nicht 
gethan;  die  Erinnerung  an  früher  gesehene  Heere,  798  —  799, 
passt  schwerlich  für  Iris,  die  Botin  des  Zeus. 


203)  NachSchol.A.  verwarf  er  die  fünf  Verse  erstens  aus  d(Mn  Grunde: 
,,Gall  es  die  Voraukündigiing  des  Anzugs  der  Griechen,  dann  war  Poliles 
hinreichend,  sollten  aber  die  Troer,  die  vorher  zu  gehen,  nicht 
den  Muth  gehabt,  dazu  angeregt  und  ermuthigt  werden,  dann  musste 
Iris  in  eigener  Gestalt  eintreten.  Denn  Homers  Brauch  ist,  dass  die  Götter, 
wo  sie  eine  fremde  Gestalt  angenommen  haben ,  heim  Weggehen  ein 
Zeichen  der  Erkennung  hinterlassen.  (Sodann)  auch  ihe  Reden  sind  nicht 
gestaltet  als  die  des  Poliles  zu  seinem  Vater,  sondern  zornerregt  und  vor- 
wurfsvoll. Endlich  das:  „Hektor  Dich  vor  Allen  heauflrage  ich",  ist  für 
Pohtes  unpassend,  für  Ins  vielmehr  passt  das  Beauftragen".  Hiervon  ist 
das  von  den  Göttern  Gesagte  richtig,  sie  werden  in  der  angenommenen 
Gestalt  immer  an  etwas  Sichtlichem  erkannt.  IL  13,  66  ff.  3,  396  ff.  Od.  1, 
322 f.  3,  372 ff.  Hier  soll  Hektor  aus  den  Reden  die  Golllieil  merken  807. 
wo  Aristarch  das  '^yvobjasv  als  vom  Diaskeuasten  missverslaiiden  <hirch 
arci&ijOEv  erklärt.  Vgl.  1,  537.  13,28.  Üd.  5,  78,  liess  nicht  unbemerkt 
nicht  sich  entgclien.  Aber  der  Anstoss  an  den  Reden  ist  durch  die  Auf- 
fassung des  Gegners  im  Schob  R.  zu  706  nicht  zu  hesoiligon,  der  gerade 
in  dem  Tadel  des  Vaters  den  Poliles  erkennt,  indem  er  ihis  Piädicat  der 
Reden,  ßxpiroi,  für  unzählig  versieht,  ohwold  die  Erklärung  aucii  von 
Thersites'  Schwatzen,  2,  246,  ungemessen  builei. 

30* 


468 

Man  mag  verniuthen,  die  ganze  Stelle  habe  Umbildung  er- 
f'aliren ,  da  alsbald  der  entschieden  unechte  und  jüngere  Katalog 
der  Troer  folgt.  Verlheidigen  lässt  sich  die  jetzige  Gestalt  durch 
die  Annahme,  dass  der  Sohn  des  schwachen  Priamos  eben  solcher 
Sprache  sich  erkühnt,  und  den  Bruder  Ilcktor  eben  nur  auf  sein 
Beiden  bevvusstes  Amt  hingewiesen  habe,  Hektor  aber  mag  immer 
im  ungewöhnlichen  Falle  ohne  sichtliches  Kennzeichen  eine  gött- 
liche Stimme  empfunden  haben. 

Wie  der  Dichter  hier  das  Verl'ahren  des  Zeus  bei  Ausführung 
des  gefassten  Plans  gedacht  und  geschildert  habe,  das  verstehen 
wir  gut  und  mit  Befriedigung.  Nachdem  er  das  Feindesheer  zum 
Angriff  auf  die  Stadt  angeregt  hat  und  es  anrückt,  sorgt  er  da- 
für, dass  die  Troer  ebenfalls  walTnen  und  ausziehn ,  damit  es 
eben  den  erforderlichen  Krieg  gebe. 

Den  obwaltenden  Beweggrund  der  Ermuthigung,  weil  Achill 
jetzt  nicht  mehr  zu  fürchten  sei,  hat  er  der  Iris  bei  ihrer  Ab- 
sendung nicht  aufgetragen,  dergleichen  geschieht  nur  an  Einzelne. 
Wie  er  aber  in  der  besungenen  Sage  war,  d.  h.  im  Bewusstsein 
der  Hörer,  und  den  erzählten  Ereignissen  zu  Grund  liegt ,-°*)  so 
Hess  der  Dichter  erst,  als  die  Heere  zusammengetroffen  waren,  nach- 
dem die  Kriegsgötlei',  Athene  und  Ares  u.  a.,  den  Krieg  enltlannnt 
liatlen  (4,  439  ff.),  den  Stadtgott  Apollon  jenen  Umstand  zur  An- 
feuerung  aussprechen  (4,  512),  wie  er  Alles  dergleichen  energisch 


204)  Es  mag  wegen  sich  wiederliolciulen  Widerspruchs  hier  nach 
(lern  Buch  2  §,  14  Angclüliilen  nocli  hoslinmiler  dargelhan  werden,  dass 
hislier  die  Troer  sicli  in  den  Manciii  geliallen  hatten,  und  entweder  nur 
verstohlen  einzeln  sich  lierausgewagt  h;iUen  (20,  91),  oder  Hektor,  der 
Kühne,  einen  Versuch  machte  (0,  351  —  355),  es  ist  in  einer  Reihe 
Stellen  als  der  vorherige  Stand  bezeichnet.  3IitNennung  des  Achill  vonHere 
(5,  787-^791),  mit  Vorwurf  für  Agamemnon  von  Poseidon  (13,  lOOfl'.), 
und  der  Umstand  kommt  bei  den  verschiedenen  Stadien  der  Noth  des 
Griechenheeres  zur  Spraclie,  beim  ersten,  wie  oben,  und  beim  späteren, 
beidemal  aus  Achills  eigenem  Munde,  16,  69 f.  Dass  nun  dagegen,  nach- 
dem Achill  zürnend  in  seinen  Zellen  sitzt,  jetzt  am  ersten  Tage  für  beide 
Theile  ein  neuer  Zustand  eingetreten ,  besagen  die  vorhin  in  der  Anmer- 
kung bezeichneten  Slelh^n  von  Achills  Abwesenheit.  Dies  sieht  man  er- 
kannt, aber  sehr  hastig  beurtheilt  von  Köcbly  de  lliadis  carminibus  diss. 
III.  p.  7.  Die  vom  Verfasser  schon  früher  vorgetragene  Meinung  ward 
getheilt  von  ßäumlein  commenlat.  de  conipos.  II.  et  Od.  pg.  11  und  Piniol. 
XI.  p.  415.  vgl.  auch  Fäsi,  Einl.  zu  II.  18. 


469 

im  Verlauf  der  Handlung  erwähnt.  Das  griechische  Heer,  als  es 
nach  seinen  Streifzügen  im  Schiflslager  zusammen  war,  ^var  auch 
während  der  I^est  von  den  Troern  gar  nicht  angegriffen  uorden, 
und  die  ganze  Kriegsmannschafl  der  Troer  hatte  sich  in  der 
Stadl  hefunden,  so  dass  sie  auch  Tags  zuvor  nicht  im  freien 
Felde  gekämpft  hatten.  Der  Erfolg  des  Hektor  am  ersten  Tage 
des  ihm  von  Zeus  gewährten  Sieges  wird  daher  besonders  als 
Gegensatz  zum  vorherigen  Stande  des  Kriegs  charakterisirt.  Hek- 
tor ist  im  ersten  Stadium  ganz  nahe  bis  zu  der  Mauer  ge- 
drungen und  hat  da  ausserhalb  der  Stadt  sein  Lager  (8,  54111.). 
Eben  dieser  Gegensatz  lässt  die  Griechen  jenen  Erfolg  so  schmerz- 
lich empfinden,  wie  des  Odysseus  Worte  zu  Achill,  9.  229 fl., 
es  beschreiben,  während  Achills  Erwiderung  darauf,  das.  352, 
die  Thatsache  aus  seiner  Abwesenheit  erklärt.  Konuuen  daneben 
Stellen  vor,  welche  von  vorherigen  Kämpfen  beider  Heere  zu 
sprechen  scheinen,  so  stellen  diese  allerdings  ein  Problem,  aber 
kein  der  Erklärung  unlösbares.  ^"^) 

Die  Stellen  sind  in  jedem  Verständniss  nur  allgemeinen  Inhalts 
ohne  jeden  speziellen  Bezug.    Einzelne  Thatsachen  aus  Schlachten 


205)  Schömann,  Roc.  der  Sagenp.  in  N.  Jahrh.  1859.  H..1.  S.  l«f. 
stellt  sie  entgegen.  Aber  1 ,  344  bezeichnet  „bei  den  Sclullen"  eben  nur 
das  Schiflslager  und  das  Seldachlfekl  überhaupt,  wie  2,  725.  16,  272. 
(17.  105.)  22,  89  nicht  ganz  concret  die  Nähe  wie  13,  123  u.  a.  —  1. 
520  kann,  ja  nuiss,  was  Zeus  sagt,  llere  beschuldige  ihn  so  innncr,  „er 
helle  den  Troern  im  Kampfe",  von  der  ganzen  bisherigen  Leitung  ver- 
slanden werilen,  da  llerc  die  Eroberung  und  Zerstörung  der  Sladt  heischt; 
er  hat  die  Troer  begüustigt,  indem  er  die  Griechen  ab  und  gogen  die  Um- 
gegend gewandt,  denn  wo  verlautete  sonst  irgend  etwas  von  vorherigen 
Erfolgen  der  Troer?  Beim  Auszuge  gegen  die  Stadt,  hin  erwarten  die 
(iriechen  freilich  wohl,  dass  die  darin  eingesciilossenen  ihnen  entgegen- 
treten werden,  aber  jeder  solcher  Angrilf  geschah  in  der  Absicht  der 
Eroberung,  sowie  Hektor  bei  allem  Vordringen  die  Absicht  hatte,  die 
Scbifl'c  in  Brand  zu  stecken.  Es  kommt  nur  auf  den  vorhin  besprochenen 
.Mulh  der  Troer  an  und  auf  die  Erregung  des  Krieges  durch  Zeus.  — 
2,  132  sagt  Agamemnon  in  seiner  verstellten  Anrede  an  sein  Heer,  nach- 
dem er  die  Ueberzahl  imd  Maclit  desselbtui  liber  die  weil  wenigeren  Troer 
witzig  dargelhan  hat,  „aber  die  Bundesgenossen,  die  aus  vielen  Städten 
dabei  wären,  (nach  den  Krit.  ist  zu  lesen  «vöjjfc  heiGiv,  auch  war  ülter 
den  Ort,  ob  in  oder  ausser  der  Sladt,  gar  nichts  bestimmt )  fifya  Tikd^ovai 
na)  üvx  iiwg  e^skovra ,  sie  lenkten  ihn  von  seinem  Plane  ab  und  ver- 
slallelen  ihm  nicht,  seinem  Verlangen  gemäss,  Troia  zu  zerstören".   Ohne 


470 

beider  Heere  vor  dem  verführerischen  Traum  finden  sich  nir- 
gends, und  die  Annahme  uns  verlorner  Parlieen,  \\ eiche  davon 
erzählt  hätten,  worauf  kann  sie  sich  stützen?  Wie  alle  Beute- 
stücke vor  der  Zeit  des  Zorns  aus  den  Streifzügen,  so  sind  alle 
erwähnten  früheren  Todesfälle  aus  der  Landungsschlacht;  üher- 
haupt  giebt  es  keine  Spur  eines  vorhomerischen  Liedes  über 
andere  angenommene  Kämpfe  vor  der  Stadt;  endlich  das  Bedeu- 
tendste, die  Rypria,  die  Epopöe  von  dem  Ursprung  und  der  dem 
Zorn  vorhergehenden  Periode  des  Troerkriegs,  sie  weiss  Nichts 
von  andern  Kämpfen;  nur  dass  Stasinos  die  seit  Homer  entstan- 
dene Volkssage  von  der  verfehlten  Fahrt  und  dem  Kampf  in 
Mysien  eingewebt  hat.  Obgleich  sein  Grundmotiv,  die  Absicht 
des  Zeus,  das  Menschengeschlecht  durch  diesen  Krieg  zu  decimi- 


Weiteres  verstanden ,  geben  diese  Worte  nur  eine  Willenserklärung  aus 
Rellcxion  über  die  beiderseitigen  Streitmächte,  durchaus  nichts  coucrel 
Tliatsächliclies.  Er  sagt:  Obwulil  die  für  sich  so  viel  geringere  Hecres- 
niaclit  der  Troer  von  seinem  Uocr  zu  viberwälligcn  sein  würde,  die  Stärke, 
welclic  dassellie  durch  dieBundesgcnossen  erlange,  bewege  ihn,  von  seinem 
Wunsche  und  PlaJie  abzustehen.  Ein  solches  Gewicht  konnte  aber  Aga- 
memnon, wenn  er  im  Ernst  und  mit  Kunde  sprach,  die  er  doch  als  Ober- 
leldlierr  haben  musste,  auf  die  Bundesgenossen  und  ihre  Zahl  nicht  in 
Wahrheit  legen.  Es  kam  nicht  auf  die  Zahl  überhaupt,  sondern  auf  die 
Vorkämpfer  an,  und  deren  meiste  und  tüchtigste  waren  im  Feindeslieer. 
Die  Troischen ,  12,  88 f.,  Heklor  selbst  redet,  17,  220,  zwar  die  „un- 
zähligen Stämme"  l)euacbl)arter Bundesgenossen  an,  bedeutet  sie  aber, 
,, nicht  die  Menge  suchend  noch  ihrer  bedürftig",  habe  er  sie  ge- 
sammelt, sondern  damit  sie  ihm  die  Frauen  und  Kinder  der  Troer  retten, 
il.h.  durch  tapferen  Mulb,  also  zur  grösseren  Sicherheit  des  Gelingens.  Wir 
sehn,  Agamemnon  macht  seinen  Antrag  in  Verstellung,  er  will  des  Heeres 
Stimmung  prüfen  (Bäumlein,  Philol.  7,  232  f.),  wie  er  dem  Ratb  der  Alten 
angekündigt  hat.  .■ 

Wenn  nun  Agamemnon  in  den  beiden  ganz  gleichlautenden  Stellen, 
2,  110 — 118  und  9,  17 — 25,  sagt:  ,,nacbdem  viel  Volks  ich  verloren",  da 
kommt  es  erstens  auf  das  ürtheil  über  diese  Wiederholung  an.  Gehn  wir 
nämlich  auf  den  Zweifel  des  Zenodot  ein,  und  sind  die  Verse  111  — 118 
in  der  ersten  Stelle  zu  tilgen,  was  das  yaQ  nach  Homers  Brauch  die 
Gründe  voranzustellen  (Classen  Beob.  1)  erlaubt,  dann  umfasst  die 
Aeusserung  seines  Verlustes  in  der  zweiten  Stelle  die  Niederlage  des  vor- 
hergegangenen Tages.  Umgekehrt  die  zweite  Stelle  für  unecht  zu  nehmen, 
ist  schon  früher  als  unstatthaft  besprochen.  Indessen ,  wenn  auch  Aga- 
memnon schon  im  früheren  Moment  über  Verluste  geklagt  hat,  sie  concret 
airzugeben  sind  wir  nicht  im  Stande,  nur  dass  auch  die  Slreil'züge  und 
überhaupt  die  10  Jahre  deren  gebracht  haben  müssen. 


471 

ren,  gerade  besonders  darauf  ausging,  jeden  Akt  verderblichen 
Zusammenstosses  hervorzuheben,  so  erzählte  er  doch  nach  der 
Landungsschlacht,  wo  Protesilaos  und  dazu  ein  dem  Homer  unbe- 
kannter Kyknos  gewiss  auch  Troilus  und  Mcstor  fielen,  nur  des 
Achilleus  Begegnungen  mit  Einzelnen,  die  er  in  Gärten  oder  bei 
den  Heorden  traf  oder  bei  den  unter  seiner  Führung  stattfnv 
denden  Streifzügen. 

Auf  Grund  dieses  ihm  in  aller  Sage  angegebenen  Standes 
des  Ivriegs^"^)  vor  der  Pest  und  Entzweiung  der  ersten  Helden 
entwarf  und  gestaltete  der  Dichter  der  Ilias  die  Expositionsge- 
sänge vom  2 — 7,  welche  sich,  wie  wir  gesehn  haben,  durch  viele 
Erinnerungen  an  den  gekränkten  Achill  eng  an  den  ersten  Ge- 
sang anschliessen.  Er  gestaltete  sie  in  mehrfacher  Hinsicht  so, 
als  käme  es  Oberhaupt  erst  jetzt  zum  Kriege  zwischen  den  bei- 
den Heeren.  Wenn  nun  Beides  klar  ist,  einerseits,  dass  im 
jetzigen  Zeitpunkt  Etwas  kommen  musste,  was  einen  üebergang 
von  der  heiteren  olympischen  Scene  am  Schlüsse  des  ersten  Ge- 
sanges zu  der  zu  Anfang  des  8.  vermittelte,  und  irgend  wie  der 
von  Zeus  so  feierlich  gegebenen  Zusage  Folge  gäbe,  sodann  dass 
diese  Gesänge,  für  sich  betrachtet,  in  keiner  Weise  selbständig 
erscheinen  können,  so  findet  der  achtsame  Leser  oder  Hörer  in 
ihrem  Inhalt  und  Gange  nicht  blos  die  Bindemittel,  welche 
jenen  öebergang  passend  gewähren,  sondern  des  Zeus  Verbalten 
und  überhaupt  die  im  Fortgang  bedeutenden  Verhältnisse  und 
Charaktere  der  Menschen  oder  Gölter  in  ihrer  Eigenheit  vorge- 
führt, besonders  aber  die  seelischen  Motiven  der  künftigen  Hand- 
lung für  ihre  Wirkung  im  Hörer  vorbereitet  und  in  diesem 
Allen  den  Dichtergeist  offenbart,  wie  er  mit  seinem  Volke  empfin- 
det, aber  dabei  human  und  sinnig  über  den  Kriegsparteien  waltet. 

Allerdings  ist  es  eine  eigenthümliche  Darstellung,  wenn  man 
sie  ohne  Weiteres  und  vereinzelt  empfindet,  dass  erst  im  10. 
Kriegsjahr  das  Heer  der  Griechen  beschrieben  wird  im  Katalog 
des    2.  Gesanges,    und    ebenso    Priamos    in  der  Mauerschau  erst 


200)  Der  Grioche  Prolesilaos,  15,  705.  2,  008—702.  Die  Söhne  des 
Priamo.«!,  Meslor  und  Troilos,  24,  257.  —  Andere:  Doniokoon  fälll  gleicli. 
4,  499,  aber  Lykaon ,  21,  35—37.  100.  Isos  und  .\iili|.lius.  11,  101 — 100, 
die  im  Lauf  der  Ilias  golödlol  werden,  halte  Achill  in  der  ersten  Sclireckens- 
zeil  einzeln  in  der  Flur  ahscfanKcn  gehabt. 


472 

sich  von  Helena  die  Heerführer  beschreiben  lässl.  Aber  der 
Schiffskalalog  ist  in  seiner  ganz  unpoetischen  Gestalt  und  Ein- 
schiebun»  als  ein  für  sich ,  wenn  auch  auf  dem  Standpunkt  der 
Zeit  des  Zorns  gedichtetes  Einzellied  anerkannt,  das  dem  Dichter 
der  Ilias  nicht  angehört.-"')  Die  Erklärung  der  iMauerschau  aber 
ist  in  die  gesammte  Rechtfertigung  der  Expositionsscenen  zu 
fassen,  wie  sie  von  den)selben  Gelehrten  vollzogen  ist,  der  Grote's 
Scheidung  der  Ilias  in  eine  Achilleis  und  in  eine  Ilias  wider- 
legte.'"'*) In  seinem  Sinne,  glauben  wir,  ist  des  Dichters  Gedanken 
und  seine  Vorbereitung  des  mit  dem  8.  Buch  beginnenden 
Ganges  aufzufassen,  wenn  auch  die  fruchtlosen  10  Jahre  uns 
wohl  ein  nicht  ganz  erklärtes  Problem  bleiben,  aber  dies  nur 
ebenso  wie  schon  den  Ahen  nach  des  Thukydides,  versuchter 
Erklärung,  1,  11.  Es  fehlten  von  jeher  die  Lieder  zur  vollstän- 
digen Aufklärung 


207)  Wenn  von  Lachmann  (V.  a.  E.)  in  seinem  Sinne,  so  auch  von 
Vielen  'der  mehr  oder  minder  einheilüclien  Ansicht  als  ein  für  sich  ge- 
dichtetes Stück  anerkannt;  Schömann ,  Gr.  Allerlli.  1,  22.  A.  Jacob,  Ent- 
steh, d.  Ilias  184. 

208)  ßäumlein,  Recens.  der  lachmannischen  Bolrachl.  Z.  f.  A.  1848. 
S.  333 f.,  wo  er  Lachmanns  Urlheil  i'ihcr  die  Mauersciiau  als  allein  unter 
der  Vorausselznng  kleiner  Lieder  richtig  erklärt,  und  in  Pliilol.  XI.  tirole 
ülier  die  Ilias  S.  409—413,  endlich  auch  Philol.  VIl.  22511'.  über  die  Com- 
posilion  der  zweiten  Rhapsodie  der  Ilias  mit  Bezug  auf  Köcidy.  Auch 
ßernhardVs  Urtlieil  ülicr  die  fraglichen  Bücher  zeigt  die  Unlhunlichkeit 
der  Trennung,  obwohl  mit  widerstrebender  Stimmung  für  Grotc  2,  l. 
S.  114.  „Dagegen  sind  in  die  Mitte  zwischen  Eingang  und  die  Akte  der 
Achillcis  mehre  Bücher,  2 — 7  10.,  eingeschoben,  reich  an  Erfindiuig  und 
hohen  Schönheilen ,  welche  mit  dem  ursprünglichen  Plan  weder  zu- 
sammenhängen, noch  den  Verlauf  der  Erzählung  in  seinem  Sinne  fördern, 
a  her  selten  eine  Spur  hinterlassen,  die  a  u  f  j  li  n  g  e  r  e  Zeiten 
oder  verschiedene  K u  n s  t s c li u  1  e n  de  u l e  l. 


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