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Full text of "Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur"

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BEITRÄGE 


ZUB 


GESCHICHTE  DER  DEUTSCHEN  SPRACHE 

UND  LITERATUR.     ? -^  / 


UNTER     MITWIRKUNG     VON 
HERMANN  PAUL  UND  WILHELM  BRAUNE 

HERAUSGEGEBEN 
VON 

EDUARD   SIEVERS. 


XXIV.  BAND. 


HALLE  A.  S. 

MAX    NIEMEYER 

77/18  GR.  STEINSTRASSE 
1899 


INHALT. 


Seite 

lieber  Hartmann  von  Aue  (fortsetzung).    Von  F.  Saran    .    .    .  1 

Zur  romanischen  und  deutschen  rhythmik.    Von  demselben     .  72 
Untersuchungen  über  Heinrich  Heslers  Evangelium  Nicodemi.  Von 

K.  Helm 85 

Zu  Wolframs  Parzival.    Von  W.  Braune 188 

Zu  Hartmanns  Rede  vom  glauben.    Von  A.  Leitzmann    .    .    .  206 

Kriemhilt.    Von  K.  Bohnenberger 221 

üeber  den  coiyunetiv  praeteriti  im  baiiisch-österreichischen.  Von 

A.E.  Schönbach 232 

Eber.    Von  C.  C.  ühlenbeck 239 

Zum  altenglischen  Boetius.    Von  A.  S.  Napier 2^" 

Altengl.  ^etcelf  ^etel  'zahl*.    Von  demselben 246 

üeber  die  vom  dichter  des  Anegenge  benützten  quellen.    Von 

V.  Teuber 247 

Das  Verhältnis  der  frauenmonologe  in  den  lyrischen  und  epischen 

deutschen  dichtungen  des  12.  und  angehenden  13.  Jahrhunderts. 

Von  E.  Lesser 361 

Ags.  hnesce.    Von  E.  Sievers 383 

Textkritische  bemerkungen.    1.  Zum  Erec.  2.  Zum  Iwein.   3.  Zum 

Armen  Heinrich.    Von  G.  Ehrismann 384 

Beiträge  zum  mhd.  Wortschatz.    Von  demselben 392 

Zur  geschichte  von  oder.    Von  W.  Hörn 403 

Miscellen.    Von  A.  Gebhardt , 406 

(f.  Zu  Wolfram:  S.406.  —  H.  Brausch:  S.409.  —  HI.  An. 

vceringjar:  S.411.  —  IV.  Völuspäö,  1— 4:  S.412. 
Ein  Schlusswort  zu  Cederschiölds  ausgäbe  der  Bevis  saga.    Von 

E.  Kölbing 414 

Erwiderung.    Von  C.  Cederschiöld 420 

Eine  berichtigung.    Von  J.Meier 424 


INHALT. 

Seite 

Beiträge  zur  vorgermanischen  lautgeschichte.  I.  Zur  erläuterung 

des  germanischen  ai.    Von  S.  Bugge 425 

Zur  geschichte  der  adjectiva  auf  -isch.    Von  A.  Goetze     .    ,    .  464 

Zu  Hartmanns  Rede  vom  glauben.    Von  Fr.  v.  d.  Leyen    .    .    .  522 

Etymologisches.    Von  F.  A.  Wood 52^^ 

lieber  den  gotischen  dat.  plur.  nahiam.    Von  H.  Pipping     .    .  534 

Zur  heimat  der  Volcae.    Von  S.  Muller 537 

Zu  Beitr.  24, 403.    Von  W.  Hörn 544 

Alte  lesezeichen  in  einer  Ortnithandschrift.    VonJ.  Lunzer.    .  545 

Der  artikel  bei  personennamen.    Von  0.  Behaghel 547 

Heulied.    Von  A.  Goetze 549 

Zum  Schlutterscandal.    Von  E.  Sievers 551 

Berichtigungen 552 


UEBER  HARTMANN  VON  AUE. 

(Portsetzung.) 

Das  sog.  II.  biichlein. 

vn.   Inhalt  und  oomposition. 

Die  Situation  aus  der  das  büchlein  erwachsen  ist  oder  sein 
soll,  lässt  sich  aus  gelegentlichen  hinweisen  des  dichters  er- 
schliessen.  Ebenso  kann  man  ein  wenn  auch  nur  schattenhaftes 
bild  von  den  personen  entwerfen,  um  deren  beziehungen  es  sich 
handelt.  Schönbach  hat  Ueb.  Hartm.  v.  Aue  s.  365  f.  das  wesent- 
liche zusammengestellt;  doch  lässt  sich  mancherlei  nachtragen. 

Der  dichter  ist  noch  ein  junger  mann  (597  ff.),  höchst- 
wahrscheinlich ein  ritter  (v.  79ff.  304  ff.).  Vermutlich  ist  er 
ministeriale:  er  betont  in  v.  523  ff.,  dass  er  nicht  nur  oft  bei 
damen  seines  Standes,  sondern  auch  bei  vornehmeren  glück 
gehabt  habe  und  dass  er  weit  im  reiche  herumkomme  (714  fl 
817).  Man  denkt  dabei  zunächst  an  kriegsdienste  um  sold 
oder  an  reisen  im  gefolge  eines  herrn.  Auf  kriegerischen 
beruf  weist  v.  487  ff.,  bes.  v.  492.  Auf  ein  wechselvolles  leben, 
in  dem  beute  und  frauengunst  eine  rolle  gespielt  haben,  deutet 
V.  468  hin.  Darum  wundert  man  sich  weniger,  wenn  der 
Schreiber  intime  angelegenheiten  ziemlich  offenherzig  behan- 
delt (v.  526  ff.)  und  auch  in  bezug  auf  die  empfängerin  des 
briefes  unverblümt  redet  (v.  660 — 663). 

Aber  der  dichter  war  zugleich  ein  gebildeter  mann.  Er 
betont,  dass  er  schreibe  (v.  121).  Er  besitzt  eine  genaue 
kenntnis  der  literatur:  parallelen  zu  allen  werken  Hartmanns, 
zum  Tristan,  Wigalois,  Freidank,  zur  Krone,  zu  Burkard  von 
Hohenfels  sind  nachweisbar,  wobei  über  deren  deutung  einst- 
weilen nichts  vorausgenommen  werden  soll.  Dass  er  auch  die 
gelehrte  bildung  hatte,  darf  man,  glaube  ich,  aus  der  kunst- 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  ^ 


2  SARAN 

gerechten  disposition  seines  werkes  scUiessen,  auf  die  später 
eingegangen  werden  soll.  Vielleicht  war  er  in  der  kanzlei 
eines  grossen  herrn  beschäftigt. 

Dieser  ritter  hat  nun  mit  einer  juncfrouwe  (246  ff.  647) 
ein  minne Verhältnis  angeknüpft.  Juncfrouwe  ist  ^  junge  dame', 
ob  verheiratet  oder  nicht,  bleibt  ungewis.  Wahrscheinlich  ist 
sie  unverheiratet:  andernfalls  hätten  die  worte  v.  157  äne 
friunde  frage  u.s.w.  keinen  rechten  sinn.  Sie  ist  mit  dem 
dichter  von  gleichem  stand:  das  folgt  mittelbar  aus  v.  523  ff. 
Sie  hat  ihm  auch,  ohne  dass  es  die  angehörigen  ahnen,  ihre 
liebe  geschenkt,  d.  h.  sie  nimmt  seinen  dienst  an.  Durch  dies 
Verhältnis  setzt  sie  ihren  ruf  aufs  spiel  (153  ff.  167.  352  ff. 
365);  er  ist  hin,  wenn  es  bekannt  wird.  Denn  die  annähme 
der  ritterdienste  (801  ff.)  stellt  bestimmte  gunstbezeugungen 
in  aussieht,  auf  die  der  dienende  ritter  auch  v.  656  ff.  rechnet. 

Nun  merken  die  friunt  die  sache  und  die  liebenden 
werden  durch  aufpasser  (huote)  getrennt  (v.  79.  314.  329.  363). 
Ausserdem  muss  der  ritter  wahrscheinlich  dienstlich  oft  fern 
von  der  dame  sein  (v.  817).  So  können  sich  beide  nur  selten 
sehen  (v.  329).  Trotzdem  bleibt  die  dame  treu:  sie  hat  auch 
nach  der  trennung  dem  ritter  ihre  treue  liebe  versichert 
(323 — 27)  und  der  scheint  auch  überzeugt,  dass  die  geliebte 
ihm  noch  ergeben  sei  (v.  264f.). 

Dies  die  grundlage  des  büchleins.  Aus  ihr  begreift  sich 
auch  sein  Inhalt.  Die  liebenden  sind  getrennt:  leicht  können 
in  ihr  zweifei  auftauchen,  ob  der  ritter  treu  bleibe.  Es  gilt 
dann,  diese  in  einem  briefe  niederzuschlagen.  Leicht  kann 
auch  mit  der  zeit  die  treue  der  dame  wankend  werden:  so 
wird  der  dichter  mahnen,  beständig  zu  bleiben.  Selbstverständ- 
lich muss  in  einem  'büchlein'  das  zweite  motiv  zurücktreten 
und  die  beteuerungen  der  liebe  und  treue  von  selten  des 
mannes  den  mittelpunkt  bilden.  So  ist  es  denn  auch  in 
unserem  gedieht.    Im  geleit  steht  das  thema: 

V.  811    kleinez  büechel,  swä  ich  si, 
so  wone  miner  frouwen  bl, 
wis  min  zunge  und  min  munt 
und  tuo  ir  stsete  minne  kunt  . . 

Doch  fehlt  v.  797  nicht  das  andere: 

sus  si  min  frouwe  gemant. 


UBBBR  HABTMANN  VON  AUE.  3 

Aber  der  dichter  verfällt  nicht  in  die  eintönigkeit  fort- 
gesetzter liebesversicherungen  oder  unaufhörlicher  klagen.  Er 
erreicht  seinen  zweck  durch  einen  besonderen  kunstgriff.  Um 
die  dame  von  der  festigkeit  seiner  liebe  und  treue  zu  über- 
zeugen, schildert  er  den  zustand,  in  dem  sich  sein  gemüt  seit 
der  trennung  befindet  und  sein  leid.  Er  zeigt  wie  die  Unter- 
brechung des  glücklichen  Verhältnisses  auf  ihn  wirkt:  wie  er 
leidet,  wie  er  versucht  der  pein  zu  entgehen,  wie  ihm  das 
nicht  gelingt.  Nach  allen  selten  erörtert  er  seine  Stimmungen: 
wie  fest  muss  seine  liebe  sein,  wenn  sie  dennoch  stand  hält  — 
soll  und  wird  sich  die  leserin  sagen.  Unmittelbare  liebes- 
versicherungen und  mahnungen  fehlen  dabei  nicht,  aber  sie 
werden  doch  mehr  gelegentlich  gegeben  und  ermüden  darum 
nicht.  Ausserdem  dienen  sie  besonders  als  schlusspointen 
der  teile. 

Schon  in  der  weise  sein  thema  anzugreifen  zeigt  sich  der 
dichter  als  geschickten  Schriftsteller.  Noch  mehr  in  der  anord- 
nung  der  gedanken.  Die  Schilderung  seines  grossen  Unglücks 
und  seines  seelenzustandes  gibt  er  nämlich  in  form  einer  kunst- 
gerecht disponierten  abhandlung.  Das  ist  schon  Hartm.  v.  Aue 
s.  59  erkannt,  aber  nicht  so  ausgeführt,  wie  es  die  Sache  ver- 
dient. Denn  eben  der  logische  aufbau  ist  das  interessante  an 
dem  gedieht.  Schönbach,  der  im  anschluss  an  meinen  hinweis 
wenigstens  etwas  genauer  darauf  eingeht,  urteilt  ganz  richtig 
(s.  366):  'die  Schrift  ist  ein  dialektisches  kunststück;  wir  be- 
sitzen in  der  gesammten  mhd.  literatur  kein  zweites  werk  dieses 
umfangs,  das  in  so  festgeschlossener  argumentation  zu  über- 
zeugen sucht'. 

Das  thema  wird  nämlich  in  zwei  hauptteilen  abgehandelt. 
Der  erste  A  reicht  von  v.  53 — 450,  der  andere  B  von  451 — 796. 
Beide  teile  sind  also  fast  gleich  lang. 

A  schildert  das  leid  und  den  gemütszustand  des  liebenden 
sozusagen  positiv.  Drei  teile  jeder  mit  zwei  unterteilen  sind 
erkennbar.  I)  Hätte  ich  doch  nie  das  glück  der  liebe  erlangt, 
denn  die  liebe  ist  die  Ursache  meiner  quäl:  1)  mein  glück- 
liches minneverhältnis  ist  mir  durch  seine  Zerstörung  ein  Un- 
glück, 2)  meine  treue  liebe  eben  durch  ihre  beständigkeit  ein 
ewiger  schmerz.  11)  Zwar  kommen  mir,  wie  natürlich,  die 
gedanken  das  Verhältnis  zu  lösen,  aber  sie  können  nie  zur  tat 

1* 


4  SARAN 

führen:  denn  1)  so  leichtherzig  mich  über  meine  liebe  hinweg- 
zusetzen, hindert  mich  die  hoffnung  auf  einen  glücklichen 
ausgang  und  mein  ehrgefühl,  2)  und  die  einsieht,  dass  meine 
dame  mir  keinen  anlass  bietet,  dergleichen  zu  tun.  III)  Also 
besteht  das  Verhältnis  zu  meiner  pein  weiter  und  1)  bringt 
mir  neben  ehre  viel  schmach,  2)  und  verkehrt  meine  natürliche 
denkweise  ganz  in  ihr  gegenteil.  —  In  eine  unmittelbare 
erklärung  der  treue  läuft  der  teil  A  aus. 

In  B  wählt  der  Verfasser  ein  anderes  mittel,  die  ungewöhn- 
liche stärke  seines  liebesleides  anschaulich  zu  machen.  Es 
ist  mehr  negativ.  Er  weist  nach,  dass  gegen  seinen  schmerz 
keines  der  mittel  hilft,  die  man  dagegen  empfiehlt,  ja  dass 
er  selbst  die  eigene  pein  selbstquälerisch  noch  vermehre. 
I)  Gegen  das  leid  vermag  meine  kraft  nichts:  1)  weder  der 
entschluss  zu  verzichten,  2)  noch  liebesrausch  mit  anderen 
damen,  3)  noch  der  wille  zur  freude.  II)  Die  erfahrungen 
der  kundigen  werden  an  meinem  fall  zu  schänden:  1)  weder 
folgt  bei  mir  auf  leid  freude,  2)  noch  habe  ich  mir  bei  der 
wähl  meines  glückes  glück  erwählt.  HI)  Durch  zweifei  an 
der  geliebten  verderbe  ich  mir  jegliche  hoffnungsvolle  Stim- 
mung: ich  denke  immer  an  die  alten  erfahrungen  1)  'aus  den 
äugen,  aus  dem  sinn',  2)  die  weiber  sind  veränderlich,  3)  das 
werben  eines  mannes  ist  gefährlich  und  widerstand  dagegen 
auf  die  dauer  schwer.  —  In  einer  mahnung  zur  treue  klingt 
dieser  teil  aus.  Wie  der  Verfasser  in  A  zuletzt  bewies,  dass 
ihm  keine  andere  wähl  als  beständigkeit  bleiben  könne,  so  fügt 
er  auch  hier  gleich  die  gründe  bei,  mit  denen  sich  die  dame 
die  notwendigkeit  treu  zu  bleiben  klar  machen  möge. 

Dem  hauptstück  A  +  B  geht  eine  einleitung  voraus,  die 
in  ihrem  ersten  teil  die  gedanken  von  A  vorbereitet,  im  zweiten 
auf  die  von  B  hindeutet. 

Den  schluss  bilden  die  verse  797—810. 

Dem  ganzen  angehängt  ist  das  geleit,  welches  das  thema, 
den  zweck  der  darlegung  deutlich  angibt. 

Eine  disposition  wird  es  erleichtern,  die  technik  des  Ver- 
fassers kennen  zu  lernen  und  zugleich  in  das  Verständnis  des 
Inhaltes  einzudringen. 


UEBBB  HABTMANN  VON  AUE.  5 

Disposition  des  bttchleins. 

Einleitung:  Klageruf  über  das  herzeleid  durch  liebe  .    1 — 52 

a)  1 — 32:  das  leid  habe  ich  selbst  über  mich  gebracht 

b)  33 — 52:  aber  selbst  mir  heraushelfen  kann  ich  nicht. 

Hauptstüok: 

A  Darlegung  des  leides  (positiv) 53 — 450 

I  53 — 170:  ich  habe  leid  gerade  von  dem  was  mir  freude 
und  glück  bringen  sollte. 

1.  53 — 136:  ein  glückliches  minneverhältnis  ist  mir 
durch  huote  zum  Unglück  geworden,  unter  dem 
ich  schwer  leide. 

a)  53 — 89 :  die  wisen  und  auch  ich  hielten  ein 
geziemendes  minneverhältnis  für  das  ideal 
des  ritterlichen  lebens  (53 — 78):  —  darum 
gieng  ich  ein  solches  ein  (79 — 89). 

b)  90 — 136:  aber  das  gegenteü  ist  eingetroffen 
durch  die  huote  (90—102). 

Also  glück  bringt  mir  Unglück;  glücklich  darum, 
wem  nie  glück  zu  teil  ward  (103 — 136)! 

2.  137 — 170:  gerade  meine  treue  schafft  mir  pein. 

a)  137 — 144:  treue  und  beständigkeit  soll  das 
schönste  glück  sein. 

b)  145 — 170:  das  gegenteil  ist  wahr.  Sie  bringt 
nur  kummer. 

Muss  ich  immer  von  der  geliebten  fem  sein,  dann 
wehe  mir! 

II  171 — 342:  meine  pein  erweckt  gedanken  an  auflösung 
des  Verhältnisses:  sie  können  nicht  zur  tat  führen. 
1.  171 — 270:  leichtherzig  wie  ein  tor  zu  sein  hindert 
mich  hoffnung,  ehrgefühl  und  mein  vorteil. 

a)  171 — 240:  der  vernünftige  hat  es  schlecht, 
der  narr  gut  (171—211); 

ich  stehe  zwischen  beiden,  möchte  aber 
zuweilen  lieber  ein  narr  sein  (212 — 240). 

b)  241 — 270:  das  würde  geschehen,  wenn  mich 
nicht  hoffnung  (241—248),  ehrgefühl  (249 
—260)  und  mein  vorteil  (261—270)  ab- 
hielten. 


SABAN 

2.  271 — 342:  grund  zur  auflösung  gibt  mir  die  dame 
nicht. 

a)  271—286:  anblick  fremden  glückes  (271— 
278)  und  die  lockere  auffassung  anderer  von 
der  minne  (279-286)  könnten  mich  verleiten. 

b)  287—342:  hätte  ich  grund,  so  löste  ich  es 
auf.  Aber  ich  habe  keinen:  sie  ist  ohne 
falsch. 

Auch  sie  soll  aber  gedtddig  sein  und  meinen 
schmerz  teilen  (302—342) ! 

in  343 — 406:  also  dauert  das  Verhältnis  zu  meiner  quäl 
weiter. 

1.  343 — 380:  ich  werde  zum  spott  der  leute,  weil 
ich  fast  verrückt  geworden  bin. 

a)  343 — 360:  mein  Verhältnis  bringt  mir  gewis 
ehre. 

b)  361 — 380:  aber  auch  schände. 

2.  381 — 406:  meine  ganze  denkweise  wird  verkehrt. 

a)  381 — 395:  der  glückliche  fürchtet  den  tod, 

b)  396 — 406:  ich  wünsche  ihn. 

Abschluss:   die  Sachlage  macht  es  notwendig, 

treu  zu  bleiben. 
Gründe:  a)  von  zwei  Übeln  wähle  das  kleinere: 
also  lieber  treu  und  selig,  als  untreu 
und  verdammt  (406—426). 
ß)  leid  ist  als  gegensatz  zur  freude  nötig 
(427—450). 

B  Die  stärke  des  leides  (negativ):  nichts  kann  es  lin- 
dern, ich  selbst  mehre  es 451 — 796 

I  451 — 580:  eigene  kraft  vermag  nichts  dagegen. 

1.  451 — 506:  ich  kann  nicht  verzichten. 

a)  451—463:  man  verzichte  auf  das  was  man 
nicht  festhalten  kann. 

b)  464 — 476:  sonst  konnte  ich  es.  Jetzt  nicht. 

2.  507 — 540:  ich  kann  die  liebe  nicht  übertäuben. 

a)  507 — 527:  liebe  vergisst  man  durch  liebe. 

b)  528 — 540:  bei  mir  schlägt  das  mittel  nicht  an. 

3.  541 — 580:  ich  kann  mich  nicht  bezwingen. 

a)  541 — 557:  ein  starker  mann  muss  sich  be- 
herschen  können. 


UEBEB  HABTMANN   VON  AüE.  7 

b)  558-580  ich  werde  den  liebesgram  nicht  los. 

Weicht  die  huote  nicht ,  dann  endet  nur  der  tod 
meinen  gram  (571—580). 

II  581—643:  alle  erfahrungen  werden  an  meinem  fall  zu 
schänden. 

1.  581 — 614:  keine  freude  auf  leid. 

a)  581 — 590:  freude  folgt  auf  leid;  bei  schaden 
ist  auch  nutzen. 

b)  591 — 614:  bei  mir  ist  es  aMers. 

2.  615—643:  ich  habe  selbst  zum  Unglück  gewählt. 

a)  615 — 626:  wer  teilt  und  wählt,  kann  nie 
Unglück  haben;  und  doch  geschieht  es. 

b)  627 — 643:  ich  habe  Unglück  dabei  gehabt. 

Offenbar  ist  aUes  im  leben  znfall  und  glückssache 

(636-643)1 

ni  644 — 752 :  ich  peinige  mich  selbst  mit  zweifeln  an  der 
geliebten. 

1.  644 — 673:  sie  ist  vielleicht  unbeständig. 

a)  644 — 665:  wenn  sie  nur  beständig  ist: 

b)  666 — 673 :  aber  'aus  den  äugen,  aus  dem  sinn'. 

2.  674—696:  sie  ist  vielleicht  leichtsinnig. 

a)  674 — 685:  wahre  liebe  vergeht  nicht; 

b)  686 — 696:  wenn  sie  aber  leichtsinnig  ist? 

3.  697 — 752:  die  männer  sind  gefährlich. 

a)  697 — 726:  ehrgefühl  und  zurückgezogenheit 
werden  eine  untreue  hindern. 

b)  727 — 752:  manneswerbung  ist  gefährlich  und 
widerstand  auf  die  dauer  schwer. 

Abschluss:  753—796:  aber  sie  muss  ja  mit  mir 
zusammenhalten,  denn 

a)  753—786:   die  unbeständige  ist  gott  und 
menschen  verhasst;  die  brave  wird  geUebt. 
ß)  787—796:  es  gibt  nicht  so  viel  treue  männer 
wie  ich  einer  bin. 

Sohluss:  797 — 810:  ich  bin  also  treu,  sie  sei  es  auch.    Dann 
bleiben  wir  vereint. 

Geleit.    811—826. 

a)  811 — 820:  anrede  an  das  büchlein. 

ß)  821 — 826:  heileswunsch  an  die  geliebte. 


8  SABAN 

Man  sieht  aus  dieser  disposition,  dass  die  gliedemng  bis 
in  die  kleinsten  unterteile  hinein  geht.  Und  zwar  stehen  die 
gruppen,  wie  Schönbach  bemerkt,  i.  a.  im  gleichgewicht  (s.  367). 

A  hat  ungefähr  400  verse,  B  345.  Jeder  dieser  hauptteile 
zerfällt  zunächst  in  drei  unterteile  (1. 11.  III)  von  verschiedenem 
umfang.  Jeder  dieser  mit  ausnähme  von  B  I  und  HI  zerfällt 
in  zwei  kleinere  teile  (1,  2),  und  alle  diese  sind  zweiteilig  in 
ganz  ausgesprochener  weise  (a — b). 

Die  teile  Ä,  B  und  1. 11.  III  werden  fast  regelmässig  durch 
•einen  ausruf  oder  einen  allgemeinen  satz  abgeschlossen.  Petit- 
druck macht  sie  kenntlich.  Die  Schlüsse  von  A  und  B  ent- 
sprechen einander.  Dort  wird  aus  der  in  1. 11.  HI.  geschilderten 
Sachlage  erwiesen,  dass  der  liebende  treu  sein  müsse.  Hier 
werden  die  gründe  dafür  beigebracht,  warum  der  geliebte  nicht 
untreu  werden  könne.  Die  abschlüsse  der  teile  I.  II.  III  werden 
dazu  benutzt,  directe  klagen  oder  mahnungen  an  die  geliebte 
anzubringen.  Ein  besonderer  schluss  fehlt  nur  hinter  A  11, 1, 
doch  sind  die  letzten  verse  261 — 70  so  gefasst,  dass  sie  wie 
ein  emphatischer  abschluss  wirken. 

Welches  der  gedankengang  des  büchleins  ist,  zeigt  die 
disposition.  Man  wird  sich  aus  ihr  davon  überzeugen,  dass 
Schönbach  (a.  a.  o.  s.  362  ff.)  die  folge  der  gedanken  nicht  zu- 
treffend darstellt.  Namentlich  kann  man  nicht  aufrecht  halten, 
was  er  s.  366  erklärt,  jedem  satze  folge  eine  replik,  ihr  schliesse 
sich  eine  duplik  an,  und  so  fort  bis  zu  ende.  Das  gilt  höch- 
stens für  B  ni,  den  teil  in  dem  der  dichter  seine  selbstquäle- 
rischen zweifei  in  geschlossener  kette  vorträgt:  für  die  vorher- 
gehenden stücke  gut  es  nicht.  Auch  von  gesprächsf orm  finde 
ich  nichts  in  dem  büchlein.  Es  ist  ein  brief,  der  freilich 
seiner  anläge  nach  eigentlich  abhandlung  zu  nennen  wäre; 
diesen  Charakter  verleugnet  er  wenigstens  nirgends. 

Die  gedanken  die  den  Inhalt  der  A  1 1,  2.  II 1, 2  u.  s.  w. 
bilden,  werden  meist  so  abgehandelt,  dass  ein  allgemeiner 
erfahrungssatz  vorangestellt  und  dann  scharf  dagegen  Wider- 
spruch erhoben  wird. 

A 1 1  =  V.  53  ff.    ich  hcere  ie  noch  die  wisen 

loben  unde  prisen 
yolkomene  minne 

aber  y.  90    daz  hat  sich  nu  yerk^ret  . . .    und 


ÜEBEB  HABTMANN  VON   AUE.  9 

y.  98    daz  ist  mir  niht  ze  gnote  komen. 
A 1 2  =  V.  137  ff.    ich  hörte  sagen  maere 

daz  triuwe  und  stsete  wsere 
aller  sselden  beste  . . . 

V.  145  f.    ich  wirdes  anders  gewar. 

A  n  1  =  V.  171—178    ez  lebent  waerliche 

vil  harte  ungeliche 
sanfte  in  ir  muote 
der  töre  und  der  fruote  . . . 

und  das  ist  recht.  Dies  wird  in  woldisponierter  darstellung 
bewiesen.  180 — 204:  der  fruote,  205 — 211:  der  tore.  Nun  die 
pointe  von  la:  212 — 240  ich  bin  weder  ganz /rwo^  noch  ganz 
tore,  möchte  zuweilen  aber  lieber  tore  sein.  Aber  —  mit  241 
kommt  die  wendung  —  vor  dem  tore  werden  schützt  mich  die 
hoffnung,  u.s.w. 

A  n  2  (v.  271  ff.)  bringt  zunächst  wider  allgemeine  er- 
örterungen  über  den  treuen  und  untreuen.  Mit  v.  293  ff.  setzt 
die  abwehr  solcher  gedanken  ein. 

Diese  gewohnheit,  seine  gefühle  im  anschluss  an  allgemeine 
erfahrungssätze  zu  schildern,  erklärt  auch,  weshalb  der  Ver- 
fasser des  liebesbriefes  so  häufig  aussprüche  der  wtsen  und 
sprichwörtliches  heranzieht.  Namentlich  bedingt  es  die  anläge 
von  B  n,  dass  die  wtsen  hier  oft  auftreteu.  Denn  dieser  teil 
soU  ja  zeigen,  dass  die  allgemeinen  erfahrungen  im  falle  des 
dichters  nicht  zutreffen.  Dass  bei  dieser  berufung  auf  die 
kundigen  eine  ziemliche  belesenheit  des  dichters  in  der  lite- 
ratur  seiner  zeit  hervortritt,  ist  nicht  verwunderlich.  Zu  den 
von  andern  und  mir  beigebrachten  parallelen  trage  ich  hier 
noch  nach 

Büchl.  477  ff.    Sit  nu  die  wisen  haben  geseit  . . 

daz  sich  ein  wol  frumer  man 
alles  des  getroesten  kan 
des  er  niht  gehaben  mac. 

Vgl.  dazu  Wigalois  35, 23  ff.: 

d6  teter  als  der  biderbe  man 
der  sich  des  wol  getroesten  kan 
swes  er  niht  gehaben  mac. 

Während  bis  B  11  die  darstellung  mehr  ruhig  ist,  wird 
in  B  m  die  bewegung  lebhafter.    Das  erreicht  der  Verfasser 


10  8ABAN 

durch  die  schon  H.  v.  Aue  s.  59  erkannte  engere  Verbindung 
der  unterteile.    Ganz  wirksam,  um  die  darlegung  zu  beendigen. 

Oben  musste  Schönbachs  ansieht  abgelehnt  werden,  als 
sei  das  werk  nachbildung  der  gesprächsform.  Mehr  trifft  es 
zu,  wenn  er  s.  366  findet,  das  büchlein  sei  ein  mit  lebhafter 
beredsamkeit  vorgetragenes  plaidoyer.  Der  dichter  fühlt  sich 
zwar  durchaus  in  der  läge  eines  schreibenden  —  vgl.  v.  121 
für  war  ouch  ich  daz  schrtbe  —  aber  das  ganze  ist  doch  stark 
rhetorisch  gefärbt.  Nun  verrät  die  ganze  anläge  der  arbeit 
gute  dialektische  Schulung;  offenbar  hat  der  Verfasser  gelehrte 
bildung.  Darum  liegt  nahe  zu  vermuten,  dass  im  H.  büchlein 
versucht  ist,  eine  beim  Studium  der  rhetorik  und  dialektik 
erworbene  fertigkeit  im  disponieren  und  vortragen  auf  ein 
thema  der  minnepoesie  anzuwenden.  Ich  möchte  in  der  tat 
glauben,  dass  der  liebesbrief  nach  den  regeln  der  schule  ge- 
arbeitet ist,  die  man  aus  Cicero  und  Quintilian  kennen  lernte. 
Kenner  der  mittelalterlichen  rhetorik  und  dialektik  werden 
das  vielleicht  im  einzelnen  nachweisen  können.  Wir  haben 
die  bekannten  drei  teile:  exordium,  tractatio  und  conclusio.  Die 
tractatio  ist  zweiteilig:  A  mit  seiner  positiven  erörterung  eine 
art  confirmatio,  B  im  Charakter  mehr  der  refutatio  vergleichbar. 
Im  exordium  fehlt  nicht  das  prindpium  (1 — 13),  in  der  conclusio 
nicht  die  peroratio  (811  ff.). 

Auch  die  zahlreichen  antithesen  passen  sehr  gut  zu  dem 
rhetorischen  wesen  des  gedichtes.  Nicht  minder  die  eingewebten 
citate,  die  sehr  oft  als  belege  oder  zierphrasen  aus  auctores 
locupletissimi  verstanden  werden  müssen  und  nicht  schlechthin 
als  selbstwiderholungen  oder  zufällige  reminiscenzen  gedeutet 
werden  dürfen. 

Wie  dem  nun  auch  sei,  jedenfalls  zeigt  diese  tatsache, 
dass  der  Verfasser  des  büchleins  zwar  ein  gebildeter  und  be- 
lesener mann,  ein  scharf  denkender  und  origineller  köpf  war, 
aber  kein  dichter.  Von  poesie  ist  in  dem  werk  wenig  zu 
spüren,  desto  mehr  aber  von  witz  und  dialektischer  gewant- 
heit.  Der  ausdruck  der  empflndung  ist  gemacht.  Wirkliche 
leidenschaft  und  wärme  des  gefühls  gibt  es  darin  nicht,  dafür 
rhetorisch  zugespitzte  Wendungen  und  geistreiche  oxymora. 
Versucht  aber  der  Verfasser  zum  gemüt  zu  sprechen,  dann 
wird  er  sentimental  (z.  b.  403  ff.).    Ich  muss  also  trotz  Schön- 


UEBEB  HABTMAKK  VON  AÜE.  11 

bachs  urteil  (s.  368)  auf  dem  meinigen  beharren,  das  ich  H.  v.  A. 
s.  60  ausgesprochen  habe.  Nur  möchte  ich  den  dichter  nicht 
mehr  als  'nachtreter'  und  'compilator'  verurteilen.  Denn  er 
hat  sicher  nicht  daran  gedacht,  dies  erzeugnis  seiner  müsse  den 
werken  eines  Hartmann  oder  Gottfried,  ^  an  denen  er  sich 
gebildet,  zur  seite  zu  stellen. 

Man  tut  darum,  meine  ich,  dem  dichter  des  Armen  Hein- 
rich und  einer  reihe  vorzüglicher  lieder  grosses  unrecht,  wenn 
man  ihm  das  poetisch  wertlose  büchlein  zuschreibt.  Liest 
man  dieses  ohne  jeden  philologischen  nebengedanken,  lässt 
man  es  rein  als  dichtung  auf  sich  wirken,  so  macht  es  einen 
durchaus  unerfreulichen  eindruck.  Keine  wahre  empfindung, 
aber  die  phraseologie  der  leidenschaft,  wenig  poesie,  aber  viel 
dialektik  und  geistreiches  hin-  und  herreden.  Der  Verfasser 
war  zweifellos  ein  temperamentvoller  und  gescheiter  mann, 
aber  eben  nur  ein  guter  redner  und  disputator,  kein  guter 
dichter.  Schon  die  bis  ins  kleinste  durchgeführte  logische 
disposition,  die  u.  a.  durch  die  bekannten  prosaischen  Partikeln 
(stt,  Sit  nu  ,. ,  aber  u. s. w.)  dem  leser  geradezu  aufgedrängt 
wird  und  3ie  oben  das  angelegte  Schema  zeigt,  vernichtet  von 
vornherein  jede  poetische  Wirkung.  Der  poetische  eindruck 
beruht  eben  nicht  auf  einer  wolgefügten  schlusskette,  son- 
dern auf  der  einheitlichen,  wolgefügten  entwickelung  eines 
Vorgangs,  der  anschaulich  sein  oder  mehr  ins  gebiet  des 
gefühls  fallen  kann.  Nach  den  proben,  die  Hartmann  in  seinen 
letzten  liedern  (insbesondere  MF  205, 1  ff.  212,37.  214,12.  217,14) 
und  im  Iwein  von  seiner  kunst  gegeben  hat,  liebesempfindungen 
und  liebesangelegenheiten  stimmungsvoll  darzustellen,  sollte 
man  ihm  doch  besseres  zutrauen  als  dies  büchlein.  Dies  selbst 
dann,  wenn  man  annimmt,  dass  er  hier  nicht  eigene,  erlebte 
Stimmungen  darstellt,  sondern  bloss  zur  Unterhaltung  seiner 
dame  ein  so  eigenartiges  werk  aus  der  phantasie  geschöpft 
habe;  nicht  aber  wenn  man  mit  Schönbach  s.  347  glaubt,  das 
zweite  büchlein  beziehe  sich  auf  ein  Verhältnis  echter  gegen- 
seitiger Zuneigung  und  auf  wahi'e  liebe,  die  sich  eben  in  der 
bedrängnis  entfaltet  habe.  Wer  Hartmann  diese  reine  verstandes- 
dichtung  zutraut,  unterschätzt  seine  dichterische  bedeutung  sehr. 


1)  Nachahmimg  Gottfrieds:  vgl.  Büchl.  33—36  mit  Trist.  1863  ff. 


12  .  SABAN 

Mir  scheint  auch,  dass  Schönbach  in  dem  gedieht  zu  viel 
persönliches  und  erlebtes  findet.  Er  sagt  s.  367:  'als  der  dichter 
das  büchlein  schrieb,  war  er  über  die  erste  glut  der  neigung 
hinaus  gekommen;  noch  liegt  ihm  daran  sich  die  gunst  der 
frau  zu  erhalten,  aber  er  fasst  schon  kühler  auch  den  fall 
ins  äuge,  dass  es  ihm  nicht  mehr  gelingen  möchte.  Ohne 
zweifei  trägt  er  schuld,  er  ist  schon  wirklich  untreu  gewesen, 
die  frau  kann  es  erst  werden,  und  nun  ist  es  ihm  wichtig, 
sie  ins  unrecht  zu  setzen.  Nicht  umsonst  widerholt  er,  dass 
sie  es  sich  zuschreiben  müsse,  wenn  das  Verhältnis  abgebrochen 
werde.  Seinen  mahnreden  und  beteuerungen  klingt  das  wil 
st  mir  sin  ze  here  seltsam  nach;  dieser  liebe  blüht  keine  er- 
füllung  mehr'.  Auf  die  differenz  mit  der  auffassung  der  läge, 
die  Schönbach  s.  347  vorträgt,  braucht  man  kein  gewicht  zu 
legen,  aber  ich  bezweifle,  dass  das  büchlein  mehr  als  ein 
schriftstellerisches  erzeugnis  ist.  Sollte  die  form  des  büchleins 
nicht  bloss  ein  mittel  der  darstellung  sein,  um  gewisse  Stim- 
mungen in  einem  passenden  rahmen  zum  Vortrag  zu  bringen? 

Das  minneverhältnis  und  die  trennung  durch  huote,  nament- 
lich aber  das  was  der  Verfasser  über  seine  lebenslage  berichtet, 
mag  wirklich  sein.  Das  büchlein  aber  als  echten  liebesbrief 
aufzufassen,  gerichtet  an  die  geliebte,  um  sie  zur  beständigkeit 
zu  mahnen,  scheint  mir  völlig  unmöglich.  Der  ganze  ton  ist 
so,  als  ob  der  Verfasser  sich  ein  publicum  vorstellte.  Er  fällt 
zwar  nirgends  aus  der  rolle  (iu  v.  386  ist  zusatz  Haupts),  aber 
die  art  wie  er  von  seiner  dame  in  der  dritten  person  spricht 
und  die  ganze  weise  des  Vortrags  deutet  darauf  hin.  Offenbar 
hat  der  ritter  nur  die  allgemeine  Situation,  in  der  er  sich 
befand,  benutzt  und  aus  ihr  heraus  das  büchlein  componiert, 
das  er  als  ein  technisches  kunststück  für  die  öffentlichkeit 
bestimmte.  Für  mich  beweiskräftig  ist  der  teil  B  IL  Dieser 
schildert  die  vergeblichen  versuche  die  der  ritter  gemacht  hat, 
um  von  seiner  liebe  loszukommen.  Man  wird  nicht  glauben, 
dass  ihm  diese  bekenntnisse  bei  seiner  dame  zur  empfehlung 
gereichten.  Hatte  er  wirklich  mit  seinem  gedieht  den  zweck 
den  Schönbach  ihm  zuschreibt,  dann  konnte  er  kaum  un- 
geschickter vorgehen.  Durchschlagend  ist  aber  die  stelle 
V.507 — 540.  Seiner  dame  in  einem  liebesbrief  dergleichen  zu 
schreiben  wäre  vollendete  roheit    Ist  die  form  des  büchleins 


ÜEBEB  HARTMANK  VON  AUE.  13 

nur  einkleidung,  so  mildert  sich  die  stelle.  Aber  auch  dann 
bleibt  sie  ein  unerhörter  Verstoss  gegen  die  kunstform  deren 
sich  der  Verfasser  bedient,  und  zeigt,  dass  er  eben  kein  kttnstler 
ist.  Es  bleibt  mir  schwer  verständlich,  dass  man  einer  sitt- 
lichen persönlichkeit  wie  Hartmann,  einem  so  bedeutenden  künst- 
1er,  dergleichen  verse  und  an  solchem  orte  zuschreiben  kann. 

VJLII.   Zur  kritik  und  erklärung. 

In  diesem  capitel  mögen  einige  besserungsvorschläge  und 
erklärungen  zum  text  des  büchleins  platz  finden.  Dabei  liegt 
Haupts  text  zu  gründe  und  werden  die  H.  v.  A.  s.  89  ff.  ge- 
machten vorschlage  als  bekannt  vorausgesetzt.  Ich  muss  zu- 
weilen ausführlicher  sein,  als  es  die  bedeutung  der  stellen  an 
sich  verlangt.  Der  grund  ist,  dass  es  mehrfach  nötig  wird, 
mich  gegen  die  etwas  scharfen  angriffe  Schönbachs  in  seinem 
schon  oft  citierten  buche  (s.  374  ff.)  zu  verteidigen.  Ich  hoffe 
nachweisen  zu  können,  dass  nicht  immer  ich  derjenige  bin  der 
unrecht  hat. 

Die  oben  mitgeteilte  disposition  zeigt,  dass  die  absätze  bei 
Haupt  zuweilen  nicht  zweckmässig  gewählt  sind.  H.  v.  A.  s.  89, 
bei  ßech  und  dann  bei  Schönbach  sind  besserungsvorschläge 
zu  finden.  Mit  v.  14  beginnt  kein  neuer  teil  (Schönb.  s.  362). 
V.  4  solte  ist  nicht  'könnte'  (Bech),  sondern  'müsste'.  V.  8  zu 
dem  sich  begunde  vgl.  Berl.  heldenb.  5,  s.  xxi  und  Grimms  Gr. 
4, 36.  Hinter  v.  28  setze  man  einen  punkt,  hinter  v.  31  wäre 
ein  kolon  deutlicher.  Hinter  v.  34  ein  komma.  Zu  v.  33 
—36  vgl.  Trist.  1863  ff.  Hinter  v.  41  ein  komma,  hinter  42 
Semikolon.  da0  bezieht  sich  auf  v.  42.  Vgl.  22 — 32.  V.  72 
lies  diu, 

V.  79  schreibt  die  hs.  wirs  leben.  Lachmann  vermutet 
wunschleben.  Diese  besserung  ist  an  sich  —  darauf  weist 
Schönbach  s.  375  mit  grund  hin  —  sehr  gut  und  sinngemäss. 
Aber  man  fragt:  wie  kommt  der  Schreiber  auf  das  sinnlose 
wirs?  Offenbar  durch  eine  Verlesung.  Ich  suche  nun  H.  v.  A. 
s.  89  eine  solche  wahrscheinlich  zu  machen,  allerdings  wie 
Schönbach  mit  recht  tadelt,  in  zu  künstlicher  weise.  Aus 
ritt's  soll  durch  dreifache  vertauschung  der  unverständliche 
ausdruck  entsprungen  sein.  Trotzdem  kann  man  an  der  mög- 
lichkeit  einer  paläographischen  ableitung  festhalten,  nehme 


14  SARAi;r 

dann  aber  rifs  zum  ausgang.  Das  r  wird  vom  Schreiber  ge- 
legentlich in  u  verlesen,  wie  Zingerle,  Zs.  fda.  27, 138  nach- 
weist. Oefter  t  in  r,  ebda.  s.  139  unten.  Dass  dann  unter 
Vernachlässigung  des  abkürzenden  hakens  aus  rits  uirs,  end- 
lich wirs  entstehen  konnte,  ist  also  gewis  möglich.  Ob  freilich 
die  lesart  wirs  gerade  auf  diesem  wege  oder  einfach  durch 
flüchtigkeit  eingetragen  wurde,  bleibe  dahingestellt:  mindestens 
steht  dem  Schriftbild  und  dem  klänge  nach  wirsieben  einem 
rif sieben  näher  als  einem  wunschleben.  Nun  kommt  dazu,  dass 
unmittelbar  vorher  in  v.  67  das  wort  rittersleben  steht  und 
V.  79  ausdrücklich  darauf  zurückdeutet.  Warum  also  nicht 
lieber  dies  in  den  text  setzen?  Dass  es  vorher  v.  67  richtig 
geschrieben  worden,  ist  natürlich  kein  einwand.  In  v.  79  war 
das  wort  eben  so  undeutlich,  dass  der  Schreiber  den  sinn  nicht 
gleich  erkannte.  Lange  darüber  nachzudenken  aber  fiel  ihm 
schwerlich  ein:  er  schrieb  hin  was  er  zu  lesen  glaubte. 

Jedoch  lege  ich  auf  diese  ableitung  keinen  wert.  Ich 
möchte  nur  Schönbachs  kritik  gegenüber  darauf  hindeuten,  dass 
sie  möglich  ist. 

Schönbach  selbst  verzichtet  überhaupt  auf  eine  solche 
und  meint:  'im  ernste  jedoch  genügt  es,  darauf  zu  verweisen, 
dass  wunschleben  bisher  nur  in  guten  mhd.  Schriftwerken, 
nämlich  nur  bei  Hartmann  von  Aue  (Iwein  11.  A.  Heinr.  393) 
gefunden,  also  wol  wie  der  ganze  begriff  wünsch  in  späterer 
zeit  unverständlich  geworden  ist  und  demgemäss  in  unver- 
standenes verlesen  wurde'.  Dieser  hinweis  genügt  aber  nicht: 
vielmehr  kann  diese  erklärung  Schönbachs  mit  Sicherheit 
widerlegt  werden.  Der  Schreiber  der  Ambraser  hs.  verstand 
nämlich  den  ausdruck  wunschleben  sehr  wol;  denn  an  jener 
Iweinstelle  setzt  er  dafür  ein  wunnsamesleben.  Ebenso  ver- 
stehen es  die  jungen  hss.  z  und  r:  diese  bieten  wunschlich  l 
und  erwunstes  l.  Im  A.  Heinr.  hat  B  auch  wunschliches  leben. 
Es  kommt  dazu,  dass  das  wort  wünsch  und  seine  composita 
in  der  Ambraser  hs.  wenigstens  in  den  Hartmannischen  werken, 
die  das  büchl.  umgeben,  selten  verlesen  wird.  Im  Erec  z.  b. 
von  den  zehn  stellen,  die  ich  Bechs  index  entnehme,  nur  in 
V.  2741 :  die  hs.  hat  hier  wüst.  6487  ist  vnns  keine  Verlesung, 
sondern  absichtliche  änderung  des  sinnes.  Ueberdies  steht 
n.  büchl.  V.  113  wünsch  ganz  richtig  in  der  hs. 


TJEBEE  HAETMANN  VON  AUE.  15 

Anstössig,  wie  Schönbach  meint,  konnte  mir  Hartmanns 
wunschleben  im  11.  bttchl.  unmöglich  sein.  Denn  eben  das  habe 
ich  mich  bemüht  nachzuweisen,  dass  der  Verfasser  dieses  ge- 
dichtes  die  werke  des  Auers  genau  kennt  und  benutzt.  Da 
die  Wendung  da^  selbe  wunschleben  nebst  dem  folgenden  reim 
gegeben  im  A.  Heinr.  steht  (v.  393.  394),  so  hätte  man,  Lach- 
manns conjectur  als  richtig  angenommen,  einen  neuen  beweis 
dafür,  wie  gründlich  der  Verfasser  die  werke  seines  meisters 
studiert  hat. 

V.  80  halte  ich  trotz  Schönbach  an  Bechs  lip  fest.  Die 
verse  79 — 80  nehmen  v.  72ff.  wider  auf  und  zwar  mit  den- 
selben ausdrücken.  Ausserdem  ist  sinen  vUis  geben  in  miner 
frouwen  gewalt  gewis  nicht  mhd.,  weil  dem  vUz  geben  dabei 
eine  kaum  glaubliche  anschaung  zu  gründe  liegt.  Auch  finde 
ich  keine  parallelen  dazu.  V.  81  kurzer  ausdruck  für  *in 
die  gewalt  derjenigen,  die  jetzt  meine  dame  ist'.  V.  94 
übersetzt  Haupt  'der  sich  doch  leicht  erfüllen  konnte'.  Aber 
hän  ist  'haben',  nicht  'erlangen'.  Vgl.  Iw.  7864  ichn  habe  ge- 
dingen  noch  wän.  Genauer  also:  'den  ich  leicht  d.  i.  mit  grund 
hegen  konnte'.  V.  95  ist  scelden  gemach  nach  Paul,  Mhd.  gr. 
§  190, 1  zu  beurteilen,  etwa  'mein  ruhiges  glück',  'das  selige 
behagen'  (Bech).  V.  98  nimmt  v.  90  wider  auf.  Beide  dojs 
haben  gleiche  bedeutung.  Haupts  auffassung  ist  also  der 
Schönbachs  (s.  876)  vorzuziehen.  V.  99  ist  kein  anlass  ab- 
zusetzen. Vgl.  die  disposition.  V.  102  steht  dem  sinne  nach 
V.  99  und  100  gleich.  Der  nachsatz  ist  mit  einer  im  mhd.  ge- 
wöhnlichen freiheit  zwischen  die  da-sr-sätze  eingeschoben.  V.  99  : 
100  ==  ie  gesa^h  :  Unheiles, 

V.  117—120  ergibt  die  hs. 

daz  vor  min  trüren  waere 

dö  ich  was  äne  swsere, 

daz  wser  min  beste  freude  nü. 

Hier  werden  die  verse  Greg.  505 — 507  nachgeahmt.  Dort 
haben  die  ausgaben 

daz  §  ir  trüren  wsere 
dö  si  was  äne  swaere, 
daz  was  ir  bestiu  vreude  hie, 

und  zwar  ist  i  in  V.  505  nirgends  überliefert,  sondern  conjectur 
Beneckes.    Nun  hat  Haupt  das  vor  der  Ambraser  hs.  durch 


16  «AEAN 

das  e  Beneckes,  d.  h.  eine  Überlieferung  durch  eine  Vermutung 
ersetzt  H.  v.  A.  s.  90  habe  ich  dem  gegenüber  betont,  dass 
die  Überlieferung  des  Gregor  keinen  anhält  für  das  e  biete, 
weil  alle  hss.  änderten.  Es  sei  darum  methodisch  richtiger, 
die  Gregorstelle  nach  dem  büchlein  zu  bessern  als  umgekehrt, 
also  im  Gregor  wie  im  büchlein  vor  statt  e  zu  schreiben. 
Schönbach  entgegnet  darauf:  'mit  der  beruf ung  auf  Gregor  505 
steht  es  übel.    Dort  verhält  sich  die  Überlieferung  so: 

Daz  ir  tr,  w,    A 
Daz  er  ir  tr.  w.    D 
Dy  ane  tr,  w,    EJK, 

das  heisst:  die  hss.  ändern  nicht  alle,  wie  Saran  behauptet. 
Vielmehr  ist  ein  wort  in  A  ausgefallen,  EJK  haben  das  [?] 
fortgebildet  und  durch  By  einen  neuen  bezug  des  Satzes,  durch 
ane  einen  andern  sinn  hergestellt.  In  D  ist  eine  spur  des 
alten  erhalten:  er.  Die  beziehungen  von  D  zu  den  übrigen 
hss.  sind  nach  Zwierzina,  Zs.  fda.  37, 124  nicht  klar  zu  legen. 
Aber  dass  dieses  er  in  D  leichter  auf  e  denn  auf  vor  zurück- 
zuführen ist,  wird  niemand  bestreiten '.  So  übel,  wie  Schönbach 
meint,  steht  es  aber  mit  meiner  berufung  auf  die  Gregorhss. 
doch  nicht. 

Freilich  glaube  ich  nicht  mehr,  dass  alle  hss.  dort  ändern, 
so  dass  ein  schluss  auf  das  ursprüngliche  nicht  möglich  sei 
(H.  V.  A.  s.  90),  vielmehr  genügt  die  lesart  von  A  dem  sinne 
vollkommen.  Weder  das  e  Beneckes  noch  das  vor,  das  ich 
vorgeschlagen  habe,  ist  von  nöten.  Man  setze  hinter  v.  503 
einen  punkt  und  übersetze:  'die  dame  ward  über  den  rat  des 
bruders  froh.  (Der  ausdruck  'froh'  wird  nun  eingeschränkt:) 
Ihre  freude  wurde  aber  nur  so,  wie  es  ihre  läge  erlaubte. 
Von  wirklicher  freude  wusste  sie  nichts:  denn  ein  zustand, 
der  bei  ihr  zur  zeit  als  sie  noch  nicht  von  dem  leid  gedrückt 
wurde,  traurigkeit  gewesen  wäre,  der  war  in  dieser  läge 
ihre  grösste  freude,  der  zustand  nämlich,  dass  sie  wenigstens 
aufhörte  zu  weinen',  d.h.  der  höchste  grad  ihrer  sogenannten 
freude  in  ihrem  jetzigen  zustand  war  das  blosse  nichtweinen. 
Man  sieht,  sowol  e  wie  vor  ist  hier  völlig  überflüssig,  dies 
um  so  mehr  als  das  modale  hie  v.  507  mit  einem  temporalen 
e  keineswegs  einen  guten  gegensatz  ausmachen  würde.    Im 


UEBEB  HABTMANN  VON  AUE.  17 

Mchlein  dagegen  hat  man  keinen  grund  das  vor  anzufechten. 
Es  ist  offenbar  zusatz  des  dichters.  Um  aber  einen  stumpfen 
gegensatz  wie  e  —  hie  zu  vermeiden,  hat  er  zugleich  das  hie 
(Greg.  V.  507)  in  nü  verändert.  Nun  bringen  die  verse  117 — 
119  die  doppelte  antithese:  vor  —  nü,  trüren  —  beste  vreude  und 
damit  tritt  die  stelle  zu  denen,  über  die  ich  H.  v.  A.  s.  44  ge- 
handelt habe.  Auch  sie  ist  stilisiert  worden,  um  pointierten, 
gegensätzlichen  ausdruck  zu  gewinnen. 

Ist  also  an  der  Gregorstelle  nichts  fortgefallen,  so  lag 
auch  für  die  abschreiber  kein  grund  vor,  eine  unklar  gewordene 
lesart  zu  verbessern,  wie  Schönbach  will.  Was  die  abweichungen 
der  hss.  verschuldet  hat,  sieht  man  leicht,  wenn  nicht  bloss 
zeile  505  für  sich,  sondern  die  stelle  im  ganzen  betrachtet 
wird.  Zudem  sind  Schönbachs  angaben  über  die  lesarten  in 
einem  punkte  nicht  ganz  richtig.    Es  hat 

A 

daz  ir  truren  waere  daz  was  ir  bestiu  vreude  hie 

do  si  was  ane  swsere  daz  si  niuwan  ir  weinen  lie. 

Dies  ist  also  die  richtige  lesart.  Deren  sinn,  der  in  der  tat 
kaum  bequem  zu  finden  war,  haben  die  Schreiber  der  andern 
hss.  nicht  verstanden.  Darum  ändern  sie,  und  nicht  etwa,  weil 
die  vorläge  durch  ausfall  eines  wortes  unklar  geworden  war. 

J,  das  zu  derselben  klasse  wie  A  gehört,  hat  (Beitr.  3, 95  b 
V.  8  ff.): 

die  ane  truren  were  vnd  ir  best  fröd  wz  hie 

wond  si  WZ  ane  swere  daz  waz  so  si  ir  wainen  lie. 

Die  andere  liss.-klasse  bietet 

E 

dy  ane  trewe  waere  daz  was  ir  bestiu  vreude  hie 

do  si  was  ane  swsere  daz  si  nye  von  ir  weinen  lie. 

E  hat  den  sinn  ganz  verkehrt.  Es  versteht  offenbar:  'die 
beste  freude  der  einst  im  glück  treulosen  war  immer  zu  weinen'. 
K  liest  nach  Zs.  fda.  37, 132  unten 

daz  ir  truren  waere  des  was  ir  beste  fröd  hie 

des  si  was  an  ir  swaere  daz  si  nume  ir  weinen  lie. 

Schönbach  hat  sich  hier  bei  der  anführung  der  lesarten  ver- 
sehen: er  identiflciert  die  von  K  mit  denen  von  E  und  J.   K  hat 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  2 


18  SARAN 

offenbar  alles  misverstanden.  In  den  zwei  Schlusszeilen  stellt 
es  denselben  sinn  her  wie  E. 

D,  dessen  Stellung  nach  Zwierzina  a.  a.  o.  s.  214  nicht  sicher 
bestimmt  werden  kann,  hat 

daz  er  ir  tniren  waere  daz  was  ir  bestiu  vreude  hie 

do  was  ane  swaere  daz  si  niuwan  ir  weinen  lie. 

Schönbach  bemerkt  dazu,  das  er  sei  ein  rest  des  ursprüng- 
lichen L  Aber  warum?  Ueberblickt  man  den  Zusammenhang, 
so  sieht  man  woher  das  er  stammt.  D  lässt  nämlich  in  der 
nächsten  zeile  (v.  506)  das  si  fort.  Offenbar  will  es  den  sinn: 
'dass  er  (der  bruder  der  soeben  v.  500  aufgehört  zu  sprechen) 
ihr  schmerz  gewesen  war,  wurde  da  nicht  mehr  betrauert'. 

Ich  kann  also  Schönbachs  beweisführung  zu  gunsten 
des  e  nicht  gelten  lassen.  Seine  bemerkung  s.  377  oben  trifft 
zu,  spricht  aber  gegen  vor  im  büchlein  durchaus  nicht.  Der 
dichter  hat  hier  die  zeit  vor  und  nach  dem  Unglück  gleich- 
zeitig vor  äugen  und  wählt  danach  die  zeitpartikeln. 

V.  147  und  150  {ir  auf  triuwen)  vgl.  Paul,  Mhd.  gr.  §  230 
anm.  Bechs  änderung  scelden  (v.  147)  ist  unnötig.  Vielleicht 
ist  aber  doch  besser  von  miner  triuwe  mit  rücksicht  auf  v.  138 
und  156.  V.  148 — 149  ist  beim  vorlesen  als  beiläufige  an- 
merkung  zu  nehmen.  Also  in  parenthese  zu  schliessen  oder 
doch  zu  denken.  V.  152  ist  daz  einfach  causal  ^weil'.  Das 
sol  von  165  nimmt  das  von  160  wider  auf.  Den  sinn  der  verse 
164  ff.  hat  Bech  nicht  genau  gefasst  und  darum  Haupts  rich- 
tige besserung  in  v.  170  {nimmer  statt  ymmer)  verworfen.  'Ist 
es  mir  bestimmt,  ihr  nicht  lohnen  zu  dürfen,  dann  möge  mein 
ganzes  leben  in  solchem  seelenschmerz  verlaufen,  dass  meine 
klagen  nie  ein  ende  nehmen'.  Ez  verMagen  nach  Paul,  Mhd. 
gr.  §  220  zu  beurteilen.  Zu  179  ff.  vgl.  Freidank  (Grimm) 
78,  7—8. 

V.  199  ist  überliefert  ze  rehte  sol  begän.  Haupt  findet 
offenbar  den  vers  schlecht  und  schreibt  daher  solde.  Daran 
nehme  ich  H.  v.  A.  s.  90  anstoss  und  schlage  vor  wol  ze  rehte 
sol  begän.  Schönbach  nennt  wol  ein  klägliches  flickwort.  Das 
ist  es  allerdings  und  zudem,  wie  ich  jetzt  sehe,  unnötig.  Also 
lese  man  einfach  wie  die  hs.  schreibt.  Der  rhythmus  des 
verses  verlangt  nämlich  keine  besserung.    Der  vers  erscheint 


UEBEB  HARTMANN  VON  AUE. 


19 


nur  dann  zu  kurz,  wenn  man  ihn  auf  dem  papier  scandiert. 
Liest  man  ihn  sinngemäss,  so  muss  ze  rehte,  d.  i.  'ordentlich' 
stark  betont  werden.  Dadurch  wird  die  silbe  reh-  erheblich 
länger  als  in  normaltoniger  Stellung  (in  folge  der  dehnung 
des  -Ä-)  und  auf  das  -te  fällt  dann  ein  kleines  gewicht.  So 
wird  die  geforderte  zeit  durchaus  passend  ausgefüllt.  Vgl. 
auch  V.  611  unrehte  geseit.  Schönbachs  einwand  s.  377  ist  mir 
übrigens  nicht  ganz  klar.  Ich  habe  bei  solde  an  dem  con- 
junctiv  als  solchem  keinen  anstoss  genommen,  sondern  nur  am 
tempus.  Solde  ninmit  Schönbach  als  Irrealis.  Aber  der  dichter 
widerholt  v.  198 — 200  doch  nur  den  gedanken  den  er  v.  193. 
194  mit  ganz  ähnlicher  construction  ausgedrückt  hat:  dort 
sagt  er  er  bedarf,  swer  . . .  dienen  sol;  warum  hier  nun  irreal, 
wo  doch  die  hs.  wider  überliefert:  swer  ,,.  sol  hegdn,  der  darf, .? 
Beide  male  ist  der  sinn:  'wer  die  pflicht  hat  den  beiden  herrn 
zu  dienen,  der  muss  sich  rühren'.  Irreale  fassung  des  ge- 
dankens  wäre  gar  nicht  passend.  Vgl.  auch  I.  büchl.  v.  1284 
swer  in  ze  rehte  sol  hegän.  Wenn  ein  conjunctiv  nötig  wäre, 
so  könnte  man  nur  an  süle  denken,  im  anschluss  an  die  be- 
kannte mhd.  gewohnheit  (vgl.  Paul,  Mhd.  gr.*  §  359,  s.  155  f.). 

Hinter  v.202  ist  ein  kolon  vielleicht  wirksamer.     Zu  v.212 
—220  vgl.  Krone  33—37: 


wan  mir  ist  leider  benomen 
daz  ich  der  gar  volkomen 
einer  wol  geheizen  müge. 


ouch  swtiere  ich  wol,  daz  ich  ztige 
von  den  toren  ein  teil. 


V.  206  treffen  Schönbachs  einwände  zu.  Es  ist  mit  Haupt 
lihten  zu  lesen.  Eben  auf  den  leichtsinn  des  toren  fällt  das 
gewicht,  nicht  auf  sein  unhöfisches  wesen.  V.  287  swache 
=  'niedrig  gesinnt'  passt  durchaus.  Was  H.  v.A.  s.  58  unten 
über  dies  adverbium  gesagt  wird,  ist  also  nicht  richtig. 
V.  320.  321  wider  eine  angehängte,  beiläufige  bemerkung,  wie 
277  f.  148  f.  350  f.  458  f.  Am  besten  sind  die  verse  in  parenthese 
zu  setzen,  ouch  —  niht  =  nicht  einmal.  V.  323  ist  meine  er- 
klärung  H.  v.  A.  s.  91  sehr  gezwungen.  Man  beurteile  die 
phrase  ez  erliden  nach  Pauls  Gr.  §  220  und  übersetze  sie  mit 
'ausharren'.  Das  ez  in  v.  324  darf  man  gewis  streichen. 
Ebenso  streiche  man  nach  H.  v.  A.  s.  91  die  klammem  v.  325 
und  326  und  lese: 

91^ 


20  8ARAN 

also  daz  si  niht  bewege  (als  si  mir  doch  enboten  hat 

unser  fremden  öde  dehein  ander  rät      von  Muntlicher  staetekeit),  u.s.w. 

Das  heisst:  4ch  wünsche,  dass  sie  mich  liebe,  und  dazu,  dass 
sie  die  kraft  habe  auszuharren,  ohne  durch  unsere  entfemung 
oder  irgend  etwas  anderes  erschüttert  zu  werden  (was  sie 
mich  übrigens  trotz  der  dazwischen  getretenen  hindemisse  . . . 
hat  versichern  lassen)'.    Zur  parenthese  vgl.  oben  zu  320.  321. 

V.  396  1.  daran  (so  die  hs.),  und  hinter  dro  ein  kolon. 
Daran  weist  auf  das  folgende  hin:  'insofern  nun  tröstet  mich, 
was  ihn  schreckt'.  Zu  424  vgl.  Schönbach  s.  192.  Mit 
V.  427  beginnt  ein  neuer  absatz,  wie  Bech  richtig  gesehen  hat. 
In  diesem  verse  lese  ich  jetzt  mit  Haupt  trüren.  Ebenso  v.  447. 
Vgl.  dazu  V.  151.  V.  455  es  gevolgen  'gehorsam  sein'.  Vgl. 
A.H.  1017.  Es  auf  rät  zu  beziehen  empfiehlt  sich  nicht.  Paul, 
Gr.  §  222.  V.  458  f.  vgl.  oben  zu  320.  V.  464  für  noch 
lies  ouch.    Bech  schreibt  joch.  Vgl.  unten  zu  774. 

V.  477 — 490  ist  bei  Bech  der  Zusammenhang  nicht  ganz 
klar,  ^ceme  v.  484  ist  potential  (Paul,  Gr.  §  281  anm.).  Die  ir 
in  V.  485  sind  allgemein  'die  leute'.  496  sind  si  wider  die 
wtsen.  Zu  479  vgl.  Henrici  z.  Iw.  3179.  V.  485  steigert  den 
inhalt  von  484:  'ja  ich  würde  sogar  das  gerede  fürchten,  ich 
sei  ohne  persönlichen  mut  und  tapferkeit  im  kämpf,  wenn  ich 
nicht  bis  jetzt  noch  immer  mit  ehren  aus  jeder  schwierigen 
läge  hervorgegangen  wäre'.  Hinter  v.  511  ist  ein  punkt  zu 
setzen.  Mit  541  beginnt  ein  neuer  teil;  also  ein  absatz! 
(Schönbach  s.  364).  V.  588  ist  so  einfach  satzverbindend. 
Vgl.  Mhd.  wb.  22,  s.  458b.  Also  etwa:  'auch  meine  ich  dass  die 
leute  sagen  ...'.  Bech  erklärt  die  stelle  nicht  richtig. 
V.  618  streiche  das  komma.  Dannoch  weist  auf  swenne  in 
V.  620.  'Sogar  dann,  wenn  einer  sich  wirklich  das  beste  ge- 
nommen hat,  ist  der  ausgang  unsicher  oder  kann  die  sache 
geradezu  schlimm  ablaufen'.  V.  621  bringt  eine  neue  Steige- 
rung: 'ja  selbst  wenn  alle  weit  meint'  u.s.w.  V.  625  reht 
=  stand  (als  herr).  V.  644  mit  Bech  einen  absatz.  Zu 
V.  679  f.  vgl.  I.  büchl.  1501  f.        V.  474  neuer  absatz. 

V.  687  kehre  ich  mit  Schönbach  zu  Haupts  gcehers  zurück. 
Vgl.  Lichtenst.  552,  5  ff.  V.  697  neuer  absatz.  Hinter 
V.  700  punkt;  ebenso  .hinter  702. 

Der  sinn  der  verse  753 — 762  ist  nicht  leicht  zu  ermitteln. 


ÜEBEB  HARTMANN  VON  AUE.  21 

Vorher  peinigt  sich  der  dichter  mit  zweifeln  an  der  treue  der 
geliebten.  Er  hält  es  für  viel  gefährlicher,  wenn  die  dame  im 
jähr  auch  nur  einen  wackeren  und  redefertigen  mann  kennen 
lernt,  als  wenn  er  das  ganze  jähr  in  der  nähe  eines  edeln 
weibes  ist.  Denn  e  r  muss  werben,  was  schwer  zum  ziel  führt. 
Sie  aber  braucht  nur  abzulehnen,  wobei  man  eher  einmal  erliegt. 
^Für  solchen  zweifei  gibt  es  aber  wider  einen  trost*  von  dem 
glaube  ich,  dass  er  mehr  ins  gewicht  fällt  als  jener  (v.  727  ff. 
ausgeführte)  gedanke.  Sollen  wir  beide  je  unser  liebe  froh 
werden,  dann  kann  sie  gar  nicht  anders  als  immer  zu  mir 
zu  halten.  Andernfalls  nämlich  {ouch)  wird  mir  zwar  von  ihr 
nie  liebes  geschehen,  aber  auch  ihr  Schicksal  wird  schlimm 
sein;  niemand  würde  das  hindern  können'.  Sie  würde  nämlich 
der  Verachtung  aller  anheimfallen.  Hinter  y.  758  ist  ein  punkt 
zu  setzen,  hinter  760  ein  komma  und  hinter  761  ein  Semi- 
kolon. V.  761  lies  so  (für  und)  wie  die  hs.  hat.  Der  sinn  von 
759  dürfte  sein:  *  kommt  nämlich  unserem  Verhältnis  diese 
hilfe  nicht  (sc.  nämlich  dass  sie  immer  auf  meiner  seite  mit- 
kämpft)'. 

V.  774  schreibt  die  hs.  wan  Up  guot  noch  ere.  Noch  ist 
falsch  und  Haupt  änderte  es  darum  in  joch,  indem  er  eine 
Verlesung  annahm.  H.  v.  A.  s.  49  wende  ich  dagegen  ein,  dass 
joch  im  guten  mhd.  nicht  mehr  die  copulative  bedeutung  *und' 
habe.  Ich  nehme  an,  das  äuge  des  abschreibers  sei  in  die 
darüber  stehende  zeile  abgeirrt,  und  so  stamme  das  noch  aus 
V.  773.  Schönbach  sagt  s.  378;  *was  nennt  Saran  »gutes  mhd.«? 
Jedenfalls  nicht  das  des  12.  und  13.  jh.'s,  auch  nicht  das  Hart- 
manns von  Aue,  denn  da  findet  sich  überall  joch,  das  gleich- 
artiges verbindet'. 

Ueberall  bei  Hartmann?  Das  rein  copulative  jocÄ  (=  unde 
zwischen  zwei  zu  bindenden  begriffen :  von  diesem  ist  allein  die 
rede)  findet  sich  nach  ausweis  der  Specialwörterbücher,  Lach- 
manns und  Haupts  anmerkungen  sowie  der  glossare  ßechs  nie 
in  den  Liedern,  im  I.  büchl.,  Gregor  und  A.  Heinr.  Im  Iw.  hat 
die  hs.  A  6inmal  joh  gegen  unde  in  allen  andern  hss.  (v.  4931). 
Lachmann  setzt  aber  unde  in  den  text  mit  der  bemerkung: 
^johy  nicht  ganz  gegen  Hartmanns  Sprachgebrauch'.  Um  dies 
äusserst  zurückhaltende  'nicht  ganz'  zu  rechtfertigen,  verweist 
er  auf  Haupt  z.  Erec  v.  6265,  wo  aus  dem  Erec  allerdings  vier 


22  SABAN 

beispiele  angeführt  werden.  Man  sehe  sich  aber  die  Über- 
lieferung dieser  stellen  an: 

V.  6265  \  Haupt  joch,  Bech  otich. 

6691  L  ,    ] 

7530     ^'  ^^^^   \  ausgg.  jocÄ. 

,9916  )  J 

V.  6456  hat  Bech  unnötigerweise  joch:  Haupt  mit  der  hs.  doch. 
V.  7681  hs.  noch,  Haupt  jock  Hier  ist  noch  zu  erwähnen 
n.  bttchl.  464  hs.  noch,  Bech  joch:  ich  schlage  oben  zur  stelle 
ouch  vor.  Also  ist  im  Erec  das  rein  copulative  joch 
auch  nicht  ein  einziges  mal  überliefert.  Was  nun  die 
citierten  stellen  anbetrifft,  so  ist  in  v.  7681  das  noch  der  hs. 
keine  Verlesung  sondern  ' Verbesserung'  des  abschreibers.  Das 
deweder  verwechselte  er  mit  weder  und  setzte  dann  statt  des 
unde,  was  gewis  in  der  vorläge  stand,  das  entsprechende  noch 
ein.  Verstanden  hat  er  die  stelle  nicht,  wie  ein  blick  auf 
die  Überlieferung  lehrt.  An  allen  andern  stellen  bietet  die 
Überlieferung  auch,  und  es  müsste  erst  nachgewiesen  werden, 
dass  ouch  nicht  möglich  sei.  Mir  scheint  es  sehr  passend. 
Es  dient  offenbar  dazu,  häufung  des  unde  zu  vermeiden. 

Schönbachs  behauptung,  copulatives  joch  finde  sich  überall 
bei  Hartmann,  ist  also  dahin  zu  berichtigen,  dass  es  sich  tat- 
sächlich nie  bei  ihm  findet. 

Schönbach  meint  nun  auch,  joch  sei  sonst  im  guten  mhd. 
des  12.  und  13.  jh.'s  üblich.  Aber  die  beispiele  des  Mhd.  wb. 
(unter  no.  1)  sprechen  nicht  dafür.  Sie  stammen  aus  gedichten 
älteren  stües  wie  Genesis,  Kaiserchronik,  Alexander  u.  a. 
Stellen  aus  höfischen  dichtem  fehlen.  Auch  Lexer  fügt  nur 
noch  aus  der  thür.  Elisabeth  einige  hinzu,  keine  aus  obd. 
quellen.  In  MF.,  bei  Walther,  Gottfried,  Wolfram,  Wimt,  im 
Nib.-lied  findet  sich,  soweit  ich  sehe,  kein  copulatives  joch. 
J.  Grimm,  Gr.  3, 271  betont,  dass  das  wort  überhaupt  im  13.  jh. 
seltener  vorkomme,  nur  die  quellen  des  12.  jh.'s  hätten  es  öfter. 
Dabei  scheidet  er  aber  die  bedeutungen  noch  nicht.  Ich  sehe 
also  nicht,  auf  welche  tatsachen  Schönbach  seine  aussage  über 
joch  stützt,  und  muss  darum  meine  emendation  der  büchlein- 
stelle noch  immer  für  die  einfachste  und  richtige  halten. 


UEBER  HABTMANN  VON  AÜE.  23 

IX.    Die  eohtheitsfrage  und  die  Chronologie. 

Die  ansieht,  das  büchlein  sei  ein  werk  Hartmanns,  hat 
erst  Haupt  aufgestellt.  Sie  ist  aber  nie  allgemein  anerkannt 
worden.  Bech  bestritt  sie,  femer  Bechstein  (Tristan  1 2,  s.  35), 
Schreyer  und  Kauffmann  (H.  v.  A.  s.  40  f.).  Auch  Bartsch  hat 
sich  dagegen  ausgesprochen  (Liederd.^  s.  xlh  unten).  Dann 
habe  ich  H.  v.  A.  s.  39  fl  versucht,  die  unechtheit  mit  neuen 
gründen  darzutun.  Trotzdem  hält  Vogt  in  seiner  recension 
meiner  schrift  (Zs.  f dph.  24, 244  f.)  an  Haupts  meinung  fest  und 
Schönbach  verteidigt  sie,  indem  er  die  gründe  einzeln  zu 
widerlegen  sucht,  die  man  gegen  Hartmanns  Verfasserschaft 
vorgebracht  hat.^) 

Aber  auch  Vogts  und  Schönbachs  bemerkungen  überzeugen 
nicht  davon,  dass  Haupt  richtig  gesehen  habe,  und  sie  können 
nicht  überzeugen,  weil  keiner  von  beiden  den  hauptpunkt 
meines  beweises  widerlegt.  Ja  sonderbarer  weise  wird  er  von 
beiden  gar  nicht  erwähnt  und  scheint  von  ihnen  völlig  über- 
sehen worden  zu  sein.  Was  Schönbach  bemängelt,  sind  meist 
nebensächliche  dinge.  Sie  wiegen  für  sich  allein  auch  nach 
meiner  ansieht  nicht  schwer  genug,  die  unechtheit  zu  sichern : 
es  sind  beweisgründe  zweiten  ranges,  die  nur  im  verein  mit 
den  hauptgründen  etwas  bedeuten. 

Zunächst  ist  festzuhalten:  das  büchlein  ist  ohne  den 
namen  des  Verfassers  überliefert.  Zweifelt  man  wie 
Schönbach  nicht  daran,  dass  es  Hartmann  gedichtet,  dann 
muss  dies  auch  so  bewiesen  werden,  dass  keine  zweifei  mehr 
bleiben.  Es  nützt  nicht  einmal  etwas  zu  zeigen,  dass  er  es 
verfasst  haben  könnte. 

Wie  steht  es  nun  mit  diesem  nachweis? 

Dass  es  nichts  für  Hartmann  beweist,  dass  das  büchlein 
unter  Hartmanns  werken  steht  (was  zudem  nicht  ganz  richtig 
ist:  H.  V.  A.  s.  39  f.),  dass  es  nicht  gegen  ihn  zeugt,  wenn  sein 
name  hier  fehlt,  ist  selbstverständlich  (Schönbach  s.  345).  Auch 
die  wenigen  abweichungen  vom  wortgebrauch  des  Auers,  die 
ich  im  büchlein  gefunden,  bedeuten  an  sich  nicht  viel;  ich  er- 
wähne sie  in  meiner  arbeit  deshalb  zum  schluss,  um  zu  zeigen. 


^)  NeuerdmgB  spricht  sich  Kraus,  Zs.  f.  d.  Osten*,  gymn.  1898,  s.  242, 
aus  stilistischen  ^^ründen  für  die  unechtheit  aus. 


24  SARAN 

dass  ich  ihnen  allein  keine  bedeutung  beilege.  Die  Vorliebe 
für  antithesen,  pointen  u.s.w.  leitet  Schönbach  aus  dem  all- 
gemeinen Charakter  des  werkes  ab:  eine  abhandlung  rhetorischen 
Stiles  fordert  in  der  tat  eine  besondere  Schreibweise.  Und  wenn 
Stahl,  Reimbrechung  bei  H.  v.  A.  s.  24  zeigt,  dass  die  Sätze  des 
büchleins  wesentlich  länger  sind  als  in  den  übrigen  dichtungen, 
so  kommt  das  vielleicht  ebendaher:  rhetorik  zieht  periodenbau 
nach  sich.  Auch  diese  gründe  sind  also  nicht  so  überzeugend, 
dass  sie  aUein  etwas  ausrichteten. 

Nun  freilich  bezweifle  ich  eben,  dass  Hartmann  auf  der 
höhe  seines  könnens  und  seinem  wesen  nach  je  im  stände  war, 
ein  so  rhetorisches,  unpoetisches,  rein  dialektisches  werk  zu 
schreiben  und  für  poesie  auszugeben.  Ich  vermisse  eben  das 
in  dem  liebesbrief,  was  Schönbach  s.  349  den  persönlichen  stil 
des  künstlers  nennt.  Schönbach  findet  (s.  350  ff.)  keine  spuren 
einer  fremdartigen,  mit  Hartmanns  persönlichkeit  unvereinbaren 
Individualität:  ich  finde  im  gegenteil  nichts  von  Hartmanns 
art  —  die  grossen  und  kleinen  entlehnungen  ausgenommen. 
Schönbach  hält  das  büchlein  für  ein  ganz  vorzügliches  gedieht 
(s.  368):  ich  halte  es  für  eine  gut  disponierte  abhandlung  und 
kein  gedieht.  Hier  stehen  sich  eben  die  ansichten  gegenüber. 
Streiten  lässt  sich  darüber  nicht  wol.  Auf  die  angeführten 
punkte  einzugehen  ist  darum  vergeblich.  Ich  wende  mich 
also  zu  dem  was  objectiv  klargelegt  werden  kann  und  deshalb 
%  eher  erfolg  verspricht. 

Schönbach  führt  unter  no.  5  an,  die  gegner  der  echtheit 
sagten,  gar  vieles  befinde  sich  in  dem  werklein,  das  Hartmann 
nicht  zugetraut  werden  dürfe  (s.  3501).  Bei  dieser  gelegen- 
heit  citiert  er  auch  meine  schrift  öfters.  Die  bemerkungen 
die  er  s.  350  ff.  daran  knüpft  und  die  ich  dort  selbst  nachzu- 
lesen bitte,  muss  ich  also  auch  auf  mich  beziehen.  Dabei  hat 
aber  Schönbach  eins,  wie  es  scheint,  völlig  übersehen,  und  das 
ist  um  so  wichtiger  für  die  beurteilung  meiner  arbeit,  als  es 
eben  die  bedingung  ist,  unter  der  allein  ich  solche  mehr  ethi- 
schen bedenken  gelten  lasse.  Er  übersieht  nämlich,  dass  ich 
an  dem  ton  und  Inhalt  des  büchleins  nur  darum  anstoss  nehme, 
weil  ich  vorher  die  Überzeugung  ausgesprochen  habe,  dass  der 
liebesbrief  nach  sämmtlichen  dichtungen  Hartmanns 
geschrieben  ist.     Es  heisst  auf  s.  57:   'fällt  das  büchlein 


ÜEBEB  HABTHANN  VON   AüE.  25 

Überhaupt  ans  ende  der  werke  des  Auers,  so  kann  er 
ans  inneren  und  formellen  gründen  nicht  der  autor  sein'.  Ich 
behaupte  keineswegs,  dass  Hartmann  unmöglich  je  ein  solches 
werk  habe  dichten  können,  ich  behaupte  nur,  dass  er  nicht 
mehr  dazu  im  stände  war,  nachdem  er  den  Gregor  und  Arm. 
Heinr.  verfasst  hatte.  Denn  in  diesen  gedichten  spricht  sich, 
namentlich  im  A.  H.,  eine  so  schroffe  abwendung  von  dem  welt- 
lichen wesen,  besonders  dem  minnewesen  aus,  dass  man  nicht 
annehmen  dar^  der  dichter  habe  nach  ihnen  wider  ein  minne- 
verhältnis  angefangen,  habe  sich  wider  schrankenlos  der  weit 
hingegeben.  Auch  Schönbach  tut  das  nicht:  er  stellt  eben  das 
büchlein  vor  Greg,  und  A.  Heinr.,  in  die  nähe  des  Iwein  und 
geht  so  der  eigentlichen  Schwierigkeit  aus  dem  wege.  Aber 
er  geht  ihr  eben  nur  aus  dem  wege  und  hebt  sie  nicht  weg. 
Denn  dernachweis,  dass  das  ü.  büchlein  nach  sämmtlichen 
werken  des  Auers  anzusetzen  ist,  bildet  den  kern  meiner 
beweisführung;  den  hauptpunkt  dieses  nachweises  aber  hat 
Schönbach  (und  ebenso  Vogt)  weder  widerlegt  noch  überhaupt 
angegriffen,  ja  nicht  einmal  beachtet.  Wollte  Schönbach 
wirklich  dartun,  dass  meine  ansieht  unrichtig  sei,  dann 
musste  er  jenen  widerlegen  und  positiv  nachweisen,  dass  das 
büchlein  vor  den  Gregor  und  A.  H.  fällt  Die  bedeutung  alles 
dessen,  was  ich  über  den  Charakter  der  dichtung  und  die 
starke  benutzung  von  Hartmanns  werken  vorbringe,  beruht 
durchweg  auf  der  richtigkeit  jenes  ansatzes. 

Jener  hauptpunkt  ist  folgender  (s.  43 — 45).  Paul  hat  ge- 
zeigt, dass  die  widerholungen  in  den  nicht  echten  werken 
Hartmanns  nicht  absichtlich,  sondern  zufällig  sind.^)  Bei  ähn- 
lichen Situationen  und  gedanken  griff  der  dichter  absichtslos 
zu  ausdrücken  die  er  schon  früher  benutzt  oder  geprägt  hatte. 
Das  tut  jeder  dichter;  man  beobachtet  es  bei  alten  dichtem 
ebenso  wie  bei  Goethe  und  Schiller.  Es  ist  also  auch  für 
Hartmann  nicht  auffallend.  Wie  umfangreich  oder  überein- 
stimmend solche  selbstwiderholungen  sein  können,  ist  nicht  zu 
sagen.  Das  hat  individuelle  gründe,  über  die  sich  kaum 
rechten  lässt.  Aber  eins  ist  bei  den  widerholungen  des  büch- 
leins  übersehen  worden  und  wird  trotz  meines  hinweises  von 


1)  Eine  ausnähme  b.  unten  8.31  f. 


26  SARAH 

Vogt  und  Schönbach  noch  immer  übersehen,  dass  sich  für 
die  meisten  und  augenfälligen  stellen  ein  bestimmtes 
princip  der  entlehnung  nachweisen  lässt  (s.  43).  Unter 
diesen  stellen  sind  wider  mehrere  im  einklang  mit  jenem 
princip,  also  in  ganz  bestimmten  sinne  überarbeitet. 
Zu  diesen  neu  stilisierten  stellen  kommt  jetzt  auch  Greg.  505 
— 507,  wie  oben  s.  17  nachgewiesen  ist.  Der  grund  zu  ent- 
lehnen und  zu  ändern  ist  aber,  antithetische  Wendungen  zu 
bekommen,  und  dies  streben  hängt  deutlich  mit  der  rhetori- 
schen, dialektischen  art  des  ganzen  gedichtes  zusammen.  Es 
ist  mithin  nicht  zufällig. 

Hieraus  folgt  allein  schon  mit  Sicherheit,  dass  der  un- 
bekannte Verfasser  des  büchleins  sämmtliche  werke  Hartmanns 
genau  kannte  als  er  dichtete.  Aus  dem  Inhalt  und  Charakter 
des  Werkes  folgt  dann  weiter  ebenso  sicher,  dass  Hartmann 
nicht  der  dichter  ist.    Vgl.  H.  v.  A.  s.  47. 

Wenn  nun  der  Verfasser  die  gewohnheit  hat,  stellen  aus 
Hartmanns  dichtungen  als  citate  und  gleichsam  proben  seiner 
literaturkenntnis  einzuflechten,  so  ist  doch  höchst  wahrscheinlich, 
dass  er  auch  dann  entlehnt,  wenn  stellen  seines  gedichtes  mit 
solchen  anderer  dichtungen  als  denen  Hartmanns  überein- 
stimmen. In  betracht  kommen  Gottfrieds  Tristan,  Burkard 
V.  Hohenfels  (H.  v.  A.  s.  60  fussnote),  Wigalois,  Freidank  und 
Krone.  Vgl.  oben  abschnitt  VIII.  Das  büchlein  fällt  dann 
nach  diesen  werken. 

Der  andere  grund  den  ich  vorgebracht  habe,  beruht  auf 
der  beobachtung,  dass  die  verstechnik  Hartmanns  in  den  ver- 
schiedenen werken  verschieden  ist.  Da  man  zunächst  an- 
nehmen muss,  dass  sich  der  dichter  in  dieser  beziehung  immer 
mehr  vervollkommnet,  so  hat  das  im  versbau  vollendetere 
gedieht  immer  als  das  jüngere  zu  gelten. 

Die  frage  nach  dem  werte  des  büchleins  in  rein  technischer 
hinsieht  hängt  darum  auf  das  engste  zusammen  mit  der  frage, 
wie  die  dichtungen  Hartmanns  chronologisch  aufeinander  folgen. 
Ein  excui^s  meiner  arbeit  (s.  46  ff.)  geht  darum  auf  dies  problem 
etwas  ein.  Dem  ganzen  zweck  meiner  schrift  nach  steht  die 
frage  nach  dem  Verhältnis  des  büchleins  zu  den  dichtungen 
Hartmanns  natürlich  im  Vordergründe.  Auf  das  Verhältnis  der 
letzteren  unter  einander  kommt  es  weniger  an,  obgleich  ich 


UEBER  HABTMAKK  VON  AUE.  27 

die  dort  gefundene  Chronologie  noch  immer  für  die  wahrschein- 
lichste halte. 

Sieht  man  von  allen  formalen  kriterien  ab,  so  stehen 
folgende  steDen  zur  Verfügung,  die  reihenfolge  der  werke  Hart- 
manns zu  erschliessen. 

Iw.  2792  ff.  und  vielleicht  auch  2572  ff.  (Naumann,  Zs.  fda. 
22, 41).  Man  folgert  daraus  mit  recht,  dass  Hartmann  hier  bei 
seinen  zuhörern  den  Inhalt  des  Erec  als  bekannt  voraussetzt. 
Den  hatten  sie  aber  offenbar  aus  seiner  eigenen  bearbeitung 
kennen  gelernt.  Neuerdings  bestreitet  es  Piquet  in  seiner 
Etüde  sur  Hartmann  d'Aue  1898  (s.  217  ff.)  und  setzt  den  Erec 
nach  dem  Iwein  an.  Er  meint,  Hartmann  zeige  im  Erec 
grösseres  geschick  und  grössere  Selbständigkeit  in  der  be- 
arbeitung als  im  Iwein.  Aber  man  kann  die  bekannte  tat- 
sache,  dass  sich  der  Iwein  enger  an  das  französische  original 
anschliesst  als  der  Erec,  auch  so  erklären,  dass  Hartmann  dort 
als  an  dem  meisterwerk  des  Franzosen  nicht  so  viel  zu  ändern 
brauchte  oder  wagte  als  am  Erec.  Wenn  er  dann  am  original 
des  Gregor  wider  mehr  änderte,  so  lag  das  gewis  an  dessen 
mangeln.  Ferner  behauptet  Piquet,  bei  parallelen  stünden  die 
verse  im  Erec  alle  mal  weniger  gut  im  Zusammenhang  als  im 
Iwein.    Bewiesen  hat  er  das  aber  nicht. 

Auch  formale  kriterien  gibt  es,  die  den  Erec  mit  Sicher- 
heit als  die  älteste  der  erzäUungen  Hartmanns  erweisen.  Ich 
will  sie  gleich  hier  zusammenstellen.  Im  Erec  stehen  weitaus 
die  meisten  fremdwörter.  Später  hat  der  dichter  sich  ihrer 
entwöhnt.  Vgl.  H.  v.  A.  s.  54  und  Piquet.  Worte  wie  halt, 
degen,  eilen,  isengewant,  isenwat,  Jcneht  (=  ritter),  magedtn,  rant 
(==  schilt),  Schaft,  snel,  snelheit  u.  ä.  fast  nur  im  Erec,  verein- 
zelt noch  im  Iwein.  0  Es  sind  ausdrücke  eines  älteren  poeti- 
schen Stiles,  die  Hartmann  mit  der  zeit  aufgiebt.  Das  erste 
büchlein  tritt  übrigens  in  dieser  beziehung  nahe  zum  Erec. 
Vgl.  unten  die  tabelle.  Schlagend  ist  der  gebrauch  des  rühren- 
den reimes.2)  I.  büchl.  1644  verse:  16  rühr,  reime,  Erec  10135  v.: 
110  r.  r.,  Iwein  8166  v.:  27  r.  r.,  Gregor  4006  v.:  21  r.  r.,  Arm. 
Heinr.  1524  v.:  8  r.  r.  Der  grammatische  reim  des  Iwein  7151 
— 7160  ist  uls  den  rührenden  gleichartig  natürlich  mitzuzählen. 


^)  Yos,  Diction  and  rune-teclmic  s.  9  ff.  >)  Ebda.  s.  60ff. 


28  SARAN 

Man  sieht  aus  den  zahlen,  dass  —  unter  berttcksichtigung  der 
verszahl  —  L  büchl.  und  Erec  zusammen  stehen  und  von  allen 
anderen  werken  durch  eine  grosse  kluft  getrennt  sind. 

Neuerdings  hat  auch  Zwierzina  (Verh.  d.  44.  vers.  deutsch, 
philol.  u.  schulm.  s.  124  f.)  stilistische  gründe  für  das  höhere  alter 
des  Erec  vorgebracht.  Im  Erec  ist  herre  meist  apposition: 
Erec  der  herre).  Diese  Wendung  dient  nur  dazu,  herre  in  den 
reim  zu  bringen  um  eine  bequeme  versbindung  zu  haben.  Solche 
flickreimerei  weiss  Hartmann  im  Iwein  zu  vermeiden:  dort 
braucht  er  herre  nur  in  der  anrede  Qieher  herre)  und  in  der 
prägnanten  bedeutung  *herr'  (über  knechte)  u.  ä.  m.  Nach  alle- 
dem ist  kein  grund  an  der  richtigkeit  der  ansieht  zu  zweifeln, 
die  Haupt  ausgesprochen  hat. 

Von  wert  für  die  Chronologie  ist  dann  zweitens  die  ein- 
leitung  zum  Gregor,  jetzt  am  besten  bei  Zwierzina,  Zs.  fda. 
37, 407  ff.  Sie  ist  schon  von  Naumann,  Zs.  fda.  22, 38  ff.  benutzt, 
aber  nicht  consequent. 

Hartmann  bekennt  daselbst:  'mein  sinn  hat  oft  meine 
zunge  dazu  gebracht,  viel  von  dem  zu  sprechen,  das  lohn  der 
weit  zum  zweck  hat.  Das  hat  ihm  seine  unerfahrene  Jugend 
angeraten.  Nun  aber  ist  es,  wie  ich  genau  weiss,  ganz  ver- 
kehrt auf  seine  Jugend  zu  bauen  und  zu  denken:  »was  du  in 
der  Jugend  sündigst,  kannst  du  im  alter  wider  gut  machen«. 
Denn  ein  plötzlicher  tod  kann  den  sünder  wegnehmen,  ehe  er 
busse  getan.  Darum  möchte  ich  bei  Zeiten  den  weg  der  sünde 
verlassen  und  mich  durch  ein  gott  wolgefälliges  werk  von  der 
Sünde  befreien,  die  ich  aus  nachlässigkeit  mit  worten  auf 
mich  geladen  habe.  Denn  ich  zweifle  nicht  daran,  dass  auch 
die  grösste  missetat  des  menschen  vergeben  wird,  wenn  sie  ihn 
reut  und  er  sie  nicht  wider  tut.  Die  geschichte  Gregors 
beweist  es'. 

H.  V.  A.  habe  ich  s.  56  das  nü  in  v.  6  temporal  genommen 
und  betont.  Ich  glaubte,  diu  tumben  jär  und  das  nü  stünden 
im  gegensatz  und  Hartmann  stelle  daher  seine  unreife  Jugend 
und  sein  jetziges  reifes  alter  gegenüber.  Diese  deutung  ist 
aber  gezwungen.  Nu  ist  anreihend:  'nun',  'nun  aber'.  Auf 
ein  reifes  mannesalter  darf  man  also  aus  dieser  einleitung 
nicht  schliessen.  Vielmehr  hat  Naumann  recht,  wenn  er  meint. 
Hartmann  stehe  hier  noch  in  der  jugent  (a.  a.  o.  s.  40).    Denn 


UEBER  HARTMAKN  VON  AUE.  29 

eben  das  ist  ja  der  gedanke  der  einleitung:  'ich  will  noch  in 
der  jugent  busse  tun,  damit  es  nicht  zu  spät  wird.  Wer  weiss, 
wie  lange  ich  lebe'. 

Nun  ist  freüich  das  aus  dem  Zusammenhang  der  steDe 
klar:  diu  tumben  jär  sind  für  Hartmann  vorüber.  Ist  er  auch 
junc,  so  ist  er  doch  nicht  mehr  tump  zu  nennen.  Wie  alt 
Hartmann  gewesen,  als  er  diese  worte  schrieb,  ist  natürlich 
nicht  zu  sagen.  Jugent  ist  ein  dehnbarer  begriff.  Ich  stelle 
ihn  mir  als  dreissiger  vor.  Wie  lange  er  sich  für  tump  ge- 
halten, lässt  sich  ebensowenig  bestimmen.  Bis  ende  der  zwan- 
ziger wird  man  diese  zeit  ausdehnen  dürfen,  freilich  ohne  irgend 
welche  Sicherheit. 

Welche  seiner  dichtungen  verurteilt  nun  Hartmann? 

Offenbar  die  weltlichen,  die  dieser  einleitung  vorausgehen. 
Wie  aus  dem  ausdruck  gesprochen  hervorgeht,  denkt  er  dabei 
an  seine  reimpaargedichte.  Aber  welche  sind  das?  Es  kann 
sich  überhaupt  nur  handeln  um  I.  büchlein,  Erec  und  Iwein. 
Denn  den  Arm.  Heinr.  können  wir  nicht  herziehen.  Er  ist  ja, 
wie  seine  einleitung  ausspricht,  geschrieben  zu  gottes  ehren 
und  erst  dann  den  lesern  zur  Unterhaltung.  Der  lohn  soll 
nicht  weltlicher  sein,  sondern  geistlicher:  die  fürbitte  des  hörers. 

Zu  den  verurteilten  dichtungen  gehören  nun  zweifellos 
I.  büchlein  und  Erec.  Denn  in  beiden  wird  ausdrücklich  be- 
tont, dass  sie  erzeugnisse  der  tumben  jär  seien.    Vgl.  I.  büchl. 

1265  f.    swie  tump  ich  nü  selbe  bm, 
ich  wil  dir  raten  guoten  sin. 

Dazu  die  stellen  die  Schönbach  s.  282  ff.  bespricht.  Im  Erec 
gehören  hierher  die  bekannten  verse,  wo  sich  der  dichter 
einen  tumben  Jcneht  nennt  (v.  1603  und  7480).  Namentlich  die 
erstere  stelle  ist  bedeutsam,  da  sich  Hartmann  an  ihr  genau 
so  charakterisiert  wie  im  I.  büchlein.  Man  darf  darum  ohne 
bedenken  annehmen,  dass  dies  streitgedicht  und  der  Erec 
einander  zeitlich  sehr  nahe  stehen.  Daran  zweifelt  man  jetzt 
auch  nicht  mehr  (Piquet  ausgenommen). 

Als  eine  rein  weltliche  erzählung  muss  man  auch  den 
Iwein  mit  unter  die  frühsten  dichtungen  rechnen,  die  im  Gregor 
verurteilt  werden.  Man  tat  das  zunächst  nicht.  Naumann 
bleibt  trotz  der  Gregoreinleitung  bei  Lachmanns  ansatz  und 
hält  ihn  für  das  letzte  werk  unseres  dichters. 


80  SARAN 

Tut  man  das,  dann  kann  man  Hartmanns  worte  in 
jener  einleitung  nur  als  vorübergehende  Stimmung  auffassen, 
die  später  einer  milderen  und  freieren  denkweise  weicht.  So 
Paul,  der  in  der  einleitung  zu  seiner  kleinen  ausgäbe  auf 
Rudolf  von  Ems  hinweist.  Zu  widerlegen  ist  diese  ansieht 
nicht,  ausser  durch  den  positiven  nach  weis  der  wirklichen 
Chronologie.  Dennoch  aber  liegt  sie  gewis  nicht  zunächst. 
Gerade  die  worte  einl.  v.  50  und  st  niht  wider  niuwet  sprechen 
doch  dafür,  dass  der  dichter  dauernd  auf  rein  weltliche  poesie 
verzichten  will.  Jedenfalls  muss  man  den  Iwein  dann  vor  den 
Gregor  setzen,  wenn  irgend  welche  andern  gründe  von  belang 
dafür  entdeckt  werden  können.    Solche  sind  m.  e.  vorhanden. 

Schönbach  macht  auf  die  stelle  Iw.  6574  ff.  aufmerksam. 
Sie  lautet: 

swer  daz  nü  vür  ein  wunder  mit  der  er  anders  niht  enpflac, 

iemer  ime  selben  sagt  dem  weiz  niht  daz  ein  biderbe  man 

daz  im  ein  unsippiu  magt  sich  aUes  des  enthalten  kan 

nahtes  also  nähten  lac  des  er  sich  enthalten  wil. 

Sie  fehlt  bei  Chrestien.  Der  zusatz  zeigt  das  sittliche  Selbst- 
gefühl des  dichters.  Mit  recht  behauptet  nun  Schönbach,  dass 
der  dichter  nach  dem  Gregor  keinen  so  stolzen  ausspruch  ge- 
wagt hätte  (s.  458)  und  darum  der  Iwein  nicht  wol  nach  dem 
Gregor  angesetzt  werden  könne. 

Es  kommen  hinzu  die  inhaltsbeziebungen  der  werke. 
Erec  und  Iwein  verherrlichen  rittertum  und  minne.  Gregor 
und  A.  H.  sind  geistlichen  Charakters,  i)  eine  gruppierung,  auf 
die  ich  H.  v.  A.  s.  107  f.  hingewiesen  und  in  ihrer  bedeutung  für 
die  Chronologie  gewürdigt  habe.  Schönbach  nimmt  sie  an, 
und  neuerdings  hat  auch  Piquet  seine  auffassung  von  Hart- 
manns entwicklung  ganz  darauf  gegründet.  Man  bedenke 
dazu,  dass  Hartmann  den  Iwein  Chrestiens  schon  für  seinen 
Erec  benutzt  (Schönbach  s.  458) :  offenbar  beschäftigte  er  sich 
in  seiner  ersten  periode  eingehend  mit  den  dichtungen  dieses 
meisters,  bis  er  dann  später  durch  innere  erlebnisse  zu  einer 
andern  weise  des  dichtens  getrieben  wurde. 

^)  W^ackemagel  stellt  sie  Lit.  1*,  208  ff.  der  anläge  seiner  literatur- 
geschichte  nach  auch  zusammen.  Aber  er  hält  diese  stoffliche  Zusammen- 
gehörigkeit nicht  zugleich  für  eine  zeitliche.  Auf  eine  Chronologie  ver- 
zichtet er  ausdrücklich.    Vgl.  Wackemagel-Toischer,  Arm.  H.  s.  18  f. 


ÜEBEB  HABTMANN  VON  AÜE.  8t 

Nun  meint  man  freilich,  der  Iwein  falle  nach  dem  A.  H., 
weil  wie  Naumann  a.a.O.  s. 43  behauptet,  die  verse  des  A. H. 
1 — 28  zu  den  ähnlichen  versen  Iw.  21 — 30  im  Verhältnis  des 
Originals  zur  nachbildung  stünden.  Aber  das  wird  von  Nau- 
mann nur  behauptet,  nicht  bewiesen.  Benecke  (zu  v.  22)  führt 
allerdings  dafür  einen  grund  an,  freilich  einen  etwas  sonderbaren: 
die  verse  des  A.  H.  seien  freier  und  leichter,  die  stelle  also 
ursprünglicher  und  älter.  Näher  liegt  doch  die  annähme,  dass 
Hartmann  im  A.  H.  die  etwas  unbeholfene  periode  des  Iwein 
widerholend  zerlegt  und  dadurch  die  stelle  verbessert  habe. 
Mir  scheint  die  einleitung  des  A.  H.  jünger  als  die  des  Iwein. 
Sie  verrät  deutlich  den  einfluss  der  Stimmung  die  den  Gregor 
beherscht.  Im  Iwein  dichtet  Hartmann,  wenn  er  seine  zeit 
nicht  nützlicher  anwenden  kann,  im  A.  H.,  um  schwer  drückende 
zeit  andern  leichter  zu  machen  (vgl.  auch  San  Marte  bei  Haupt, 
A.  H.2  S.  xviii).  Dort  schreibt  er  nur,  weil  er  weiss,  dass  die 
leute  es  gern  hören:  hier  in  erster  linie  um  gott  zu  ehren 
(wie  den  Gregor),  dann  auch  den  leuten  zu  liebe.  Also 
durchweg  im  A.  H.  eine  viel  ernstere  auffassung  seiner  kunst 
(vgl.  H.  V.  A.  s.  54  fussn.  2).  Dazu  kommt,  dass  die  stelle  im 
A.  H.  weit  leichter  und  lesbarer  ist  als  die  im  Iwein,  wie  schon 
Benecke  anmerkt.  Das  spricht  für  spätere  abfassung,  wie  oben 
gesagt. 

Es  tritt  noch  eins  hinzu.  Hartmann  nennt  und  charak- 
terisiert sich  in  seinen  werken  absichtlich,  und  zwar  gleich  in 
der  einleitung.  So  im  I.  büchl.  v.  29,  Iwein  v.  28  und  Gregor 
V.  173.  Aber  an  diesen  drei  stellen  steht  das  persönliche  mit 
dem  namen  immer  am  schluss  der  einleitung,  unmittelbar  vor 
beginn  des  eigentlichen  Inhalts.  Hier  im  A.  H.  stehen  diese 
angaben  voran,  am  beginne  der  einleitung.  Ausserdem  folgt 
V.  18  noch  ein  grund  für  diese  gewohnheit:  er  möchte  sich  die 
fürbitte  des  lesers  oder  hörers  sichern.  In  den  andern  werken 
wird  nie  ein  solcher  grund  angegeben.  Diese  besondere  anläge 
der  einleitung  des  A.H.  ist  natürlich  beabsichtigt;  sie  ist  wahr- 
scheinlich die  antwort  auf  irgend  welche  bemerkungen  die  sich 
jemand  über  Hartmanns  gewohnheit,  insbesondere  über  die 
hervorhebung  seiner  gelehrsamkeit  (im  Iwein)  bez.  deren  her- 
vortreten (im  Gregor)  erlaubt  hat.  Ohne  zweifei  nimmt  Hart- 
mann in  ihr  absichtlich  auf  den  Iwein  bezug  und  widerholt  ^e 


32  •       SABAN 

Selbstcharakteristik  aus  Opposition  ausführlich  und  zwar  am 
anfang  des  ganzen.  Zugleich  lehnt  er  den  Vorwurf  der  eitel- 
keit  indirect  durch  v.  18  ab. 

Ist  diese  beurteilung  der  einleitung  richtig,  dann  folgt 
auch  daraus,  dass  der  A.  H.  das  letzte  werk  des  Auers  ist. 

Man  fragt:  wer  ist  derjenige  dem  Hartmann  Opposition 
macht?  Man  denkt  zunächst  an  Wolfram.  Wie  Hartmann 
im  Iwein  seine  gelehrsamkeit  betont,  so  betont  Wolfram  im 
Parz.  115, 25  ff.  und  Wh.  2, 19  ff.,  dass  ihm  diu  buoch  fremd  seien. 
Das  bedeutet,  er  habe  die  gelehrte  (lateinische,  schulmässige) 
bildung  nicht  genossen.  Es  bedeutet  nicht,  wie  man  vielfach 
glaubt,  er  habe  überhaupt  keine  bildung  und  könne  weder 
lesen  noch  schreiben.  Im  Willehalm  liegt  das  zu  tage.  Es 
handelt  sich  dort  um  den  gegensatz  der  ansichten  und  kennt- 
nisse  die  das  natürliche  denken  (sin)  und  wissenschaftliches 
Studium  der  gelehrten  kirchlichen  literatur  (der  huoche)  gibt. 
Aber  auch  im  Parzival  ist  es  nicht  anders.  Man  scheint  zu 
glauben,  v.  115,28  bedeute  ^damit  (sc.  mit  der  Versicherung  ihrer 
gelehrten  bildung)  fangen  viele  ihre  werke  an'.  In  diesen 
Worten  spürt  man  dann  einen  seitenhieb  auf  Hartmanns  ein- 
leitungen,  bes.  die  des  Arm.  Heinr.  Diese  erklärung  halte  ich 
nicht  für  zulässig.  Erstens  passt  das  genuoge  nicht  (auch  nicht 
wenn  man  es  als  übertreibende  Verallgemeinerung  nimmt),  falls 
bloss  Hartmann  gemeint  ist.  Femer  heisst  urhap  nemen 
nicht  'anheben  etwas  zu  tun'  sondern  'entspringen,  seinen 
Ursprung  nehmen',  also  'anheben  zu  sein'.  Vgl.  die  beispiele 
bei  Lexer.  Genuoge  kann  darum  hier  nur  auf  aventiuren 
gehen.  Also:  'wer  die  fortsetzung  wünscht,  der  betrachte 
meine  erzählung  nicht  als  ein  gelehrtes  werk:  von  gelehrtem 
wesen  verstehe  ich  auch  nicht  einen  buchstaben  (buochstap 
in  einer  durch  das  voraufgehende  buoch  humoristisch  gefärbten 
bedeutung).  Viele  aventiuren  haben  ja  freilich  dort  (in  der 
gelehrsamkeit)  ihren  Ursprung:  diese  hier  dagegen  geht  ohne 
beihilf e  der  gelehrsamkeit  ihren  weg'.  Wolfram  will  also 
hier  offenbar  die  meinung  abwehren,  als  habe  der  Inhalt  seines 
Werkes  in  letzter  Instanz  einen  gelehrten,  lateinischen  Ursprung 
oder  soDe  mit  gelehrsamkeit  abgehandelt  werden.  Man  konnte 
das  denken,  da  er  in  den  ersten  zwei  büchern  scheinbar  ge- 
schichte  des  hauses  Anjou  erzählt.    Aventiuren  deren  Ursprung 


UEBEB  HARTMANN  VON  AUE.  33 

in  der  gelehrten  literatur  liegt,  gab  es  in  der  tat  viele: 
Alexander,  Eneide,  Karlsepen,  die  legenden  u.s.w.  Vgl.  übrigens 
auch  den  anfang  des  Ezzoliedes. 

Trotzdem  ist  nicht  undenkbar,  dass  zwischen  dieser  stelle 
und  Hartmanns  einleitungen  eine  beziehung  besteht.  Wolfram 
kennt  in  den  ersten  sechs  bttchern  des  Parzival  sicher  Erec 
und  Iwein  (vgl.  Pipers  Zusammenstellung,  Wolfr.  v.  Esch.  1, 24); 
kenntnis  des  A.  Heinr.  ist  ihm  in  b.  1 — 6  meines  wissens  nicht 
nachgewiesen.  Er  kennt  mithin  die  einleitung  des  Iwein,  wo 
Hartmann  seine  gelehrsamkeit  hervorhebt  und  damit  seine 
dichtung  als  ein  werk  der  gelehrsamkeit  hinstellt.  Während 
also  Hartmann  seinen  Iwein  wie  ein  gelehrtes  buch  beurteilt 
wissen  möchte,  während  die  Ursprünge  des  Gregor  in  der 
gelehrten  literatur  liegen  und  das  gedieht  selbst  (vgl.  schon 
dessen  einleitung)  mit  der  buoche  stiure  vert,  lehnt  Wolfram 
jede  mittelbare  oder  unmittelbare  beziehung  zur  gelehrsamkeit 
ab.  Er  verlangt  also,  dass  man  seine  dichtung  anders  beurteile 
als  die  seines  berühmten  Vorgängers,  mit  dem  er,  der  anfänger, 
sich  nun  messen  will.  Die  Parzivalstelle  enthält  daher  nicht 
eine  Verspottung  Hartmanns  (dazu  hatte  der  junge  Wolfram, 
der  mit  seinem  ersten  werk  hervortrat,  gar  keine  veranlassung), 
sondern  sie  soll  dem  vorbeugen,  dass  man  den  Parzivaldichter 
ohne  weiteres  mit  dem  masse  messe,  das  man  an  die  werke 
des  allgemein  berühmten  wisen  Hartmann  anlegte.  Besorgnis 
vor  der  kritik  hat  sie  ebenso  sehr  eingegeben  als  stolzes 
Selbstgefühl. 

Wolfram  lehnt  also  wenigstens  für  seine  person  Hart- 
manns weise  der  dichtung  ab.  Dass  Hartmann  bei  gelegenheit 
darauf  geantwortet  ist  wahrscheinlich.  Ich  halte  es  darum 
nicht  für  unmöglich,  dass  sich  die  einleitung  des  A.  Heinr. 
gegen  Wolframs  ablehnung  der  buoche  richtet.  Darum  wird 
gleich  zu  anfang  das  geleret  und  diu  buoch  betont.  Zugleich 
wird  damit  eine  indii-ecte  polemik  gegen  solche  verbunden, 
die  die  namensnennung  für  eitelkeit  halten.  Wolfram  ist 
damit  natürlich  nicht  gemeint,  denn  er  nennt  sich  auch  (Parz. 
114, 12).  Wol  solche  die  es  in  der  weise  der  volkspoesie  für 
unpassend  erachteten  ihren  namen  zu  nennen. 

Ist  diese  deutung  richtig,  dann  sind  die  ersten  bücher 
des  Parzival  schon  vor  dem  abschluss  des  A.  Heinr.  heraus- 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  3 


34  SABAN 

gekommen,  doch  so,  dass  beide  werke  bald  nach  einander 
erschienen. 

Für  den  A.  Heinr.  ist  der  terminus  ad  quem  1203.  Denn 
etwa  in  diesem  jähr  beginnt  Wimt  den  Wigalois  zu  schreiben; 
dies  werk  benutzt  aber  von  vornherein  alle  werke  Hartmanns. 
Vgl.  diese  Beitr.  21, 259.  Wolfram  verrät  kenntnis  des  A.  Heinr. 
erst  Parz.  9, 455, 1  ff.  (nachahmung  der  einleitung).  Gottfried 
kennt  ihn  schon  von  vornherein:  vgl.  Trist.  157  f.  163.  177 
(A.  Heinr.  23).  247  (A.  Heinr.  43).  254  (A.  Heinr.  79).  311  ff. 
(A.  Heinr.  153  ff.).  Aber  auch  die  einleitung  des  Parzival,  damit 
also  dessen  erste  bücher:  Trist.  4636  ff . 

Nun  freilich  lernt  Wirnt  Wolframs  erste  bücher  später 
kennen  als  den  A.  Heinr.  (vgl.  a.  a.  o.  s.  267).  Das  beweist  aber 
gegen  meinen  ansatz  nichts.  Denn  der  A.  Heinr.  war  das  werk 
eines  schon  weit  berühmten  dichters,  ausserdem  nur  kurz, 
daher  schnell  abzuschreiben  und  zu  verbreiten.  Die  sechs 
bücher  Wolframs  aber  abzuschreiben  dauerte  lange,  auch  war 
ihr  Verfasser  noch  ohne  ruf.  Ihre  Verbreitung  konnte  darum 
sehr  wol  langsamer  erfolgt  sein.  Auch  mag  der  zufall  ge- 
waltet haben. 

Das  erscheinen  von  Parz.  1 — 6  und  A.  Heinr.  darf  man  um 
1202/3  ansetzen.  Man  bekäme  dann  die  reihe:  Erec,  Iwein 
(Gregor);  Parz.  1 — 6;  A.  H.;  Parz.  b.  7  ff.,  Tristan  und  Wigalois. 

Ist  nun  der  A.  Heinr.  erst  im  anfang  des  13.  ]h.'s  er- 
schienen, so  findet  auch  das 

da  mite  er  swaere  stunde 
möhte  senfter  machen 

und  Überhaupt  die  ganze  dem  ritterlichen  leben  sehr  abholde 
Stimmung  der  erzählung  eine  erklärung. 

Swcere  stunde  ist  *  drückende,  schmerzliche  zeit',  schwerlich 
bloss  Langeweile'.  Und  in  der  tat  war  die  zeit  manchmal  für 
einen  Schwaben  drückend.  Denn  es  war  die  zeit  des  krieges 
zwischen  Philipp  von  Schwaben  und  Otto,  der  die  Vasallen 
beider  immer  unter  den  waffen  hielt  und  die  frohe  Stimmung 
der  zeit  vor  1197  nicht  aufkommen  liess.  Wie  diese  wirren 
die  ritterliche  gesellschaft  beeinflussten,  wissen  wir  auch  aus 
dem  Wigalois.    Vgl.  diese  Beitr.  21, 269  ff. 

Es  weist  also .  alles  darauf,  den  Iwein  vor  den  Gregor  und 
den  A.  Heinr.  zu  setzen.     Macht  derselbe  einen  besonders 


UEBEB  HARTMANN  VON  AUE.  35 

vollendeten  eindruck,  so  vergesse  man  nicht,  dass  er  eben  das 
meisterwerk  Chrestiens  zienüicli  treu  widergibt,  eine  tatsache, 
die  Piquet  mit  recht  betont  (Etüde  sur  Hartm.  d'Aue,  1898, 
S.219).  Man  darf  die  Verdienste  des  Franzosen  nicht  dem 
Deutschen  zuschreiben.  Der  A.Heinr.  aber  ist  gewis  keine 
Übersetzung,  sondern  die  bearbeitung  einer  lateinischen  ge- 
schichte.  Die  verschiedene  beschaffenheit  der  vorlagen  muss 
eine  Untersuchung  über  die  Chronologie  berücksichtigen  (vgl. 
auch  Schönbach  s.  457). 

Die  kritische  Verwendung  der  zu  geböte  stehenden  Zeug- 
nisse ergibt  also  die  reihe  I.  büchlein  und  Erec,  Iwein,  Gregor, 
A.Heinr.  Damit  hat  man  aber  nur  die  relative  Chronologie, 
nicht  die  absolute.    Kann  man  über  diese  etwas  ermitteln? 

Das  büchlein  steht  sicher  zur  liebespoesie  Hartmanns  in 
beziehung,  fällt  daher  vor  1189.  Den  Erec  setzt  man  wegen 
der  erwähnung  von  Connelant  nach  dem  kreuzzug  an.  Not- 
wendig ist  das  keineswegs.  Die  stelle  beweist  nichts  weiter, 
als  dass  Hartmann  eine  allgemeine  kenntnis  von  Iconium  hatte 
und  dass  er  meinte,  sein  publicum  werde  sich  für  die  notiz 
interessieren.  Das  war  vor  dem  kreuzzug  von  1189  eben  so 
möglich  wie  nachher.  Man  kann  also  den  Erec  ganz  vor  den 
kreuzzug  setzen.  Das  empfiehlt  sich  besonders  wegen  der 
beziehung  zum  I.  büchl.  (oben  s.  27.  29). 

Es  fragt  sich,  ob  man  es  nicht  auch  mit  dem  Iwein  tun 
muss.  Schönbach  meint,  der  dichter  stehe  im  Iwein  noch  ganz 
im  minneleben  (s.461).  Er  weist  hin  auf  die  einschübe  v.  2971  ff. 
1621  ff.  u.  ä.  Schönbachs  annähme  scheint  mir  in  der  tat  sehr 
glaublich.  Man  kann  sich  vorstellen,  dass  Hartmann  das  Ver- 
hältnis von  Laudine  und  Iwein  mit  zügen  aus  seinem  eigenen, 
unglücklichen  ausstattete,  dass  der  Iwein  also  zeitlich  den 
letzten  und  besten  seiner  minnelieder  gleich  steht.  ^  Vielleicht 
ist  dann  seine  anfängliche  Opposition  gegen  den  minnedienst 
grund,  dass  er  zuerst  gerade  den  Erec  zur  bearbeitung  wählte, 
einen  roman,  dessen  held  seine  dame  recht  schlecht  behandelt. 

Nimmt  man  an,  dass  Erec  und  Iwein  in  die  periode  der 
minnepoesie,  also  vor  1189  fallen,  dann  liegt  eine  weitere 


^)  Man  beachte  auch:  gehaz  findet  sich  nnr  im  Iwein  (10 mal  und  immer 
im  reim).    Sonst  bei  Hartmann  nnr  MF  207, 35.    Yos  s.  16. 

3* 


36  SARAX 

Vermutung  nahe.  Mit  dem  beginn  der  kreuzzugspoesie  sehen 
wir  in  Hartmanns  gemiit  einen  völligen  Umschwung  eintreten. 
Er  sagt  sich  von  der  weit  los,  um  nunmehr  auf  sein  Seelen- 
heil bedacht  zu  sein.  Ist  dieser  Umschwung  der  ende  der 
achtziger  jähre  eintrat,  identisch  mit  der  abkehr  von  der 
weit,  die  wir  aus  der  einleitung  des  Gregor  sehen?  Das  ist 
mir  höchst  wahrscheinlich.  Man  vergleiche  die  einleitung  mit 
dem  kreuzlied  209,  25  +  210,  11  +  210,  35.  In  beiden  die 
klage,  aus  tumpheit  der  weit  gefolgt  zu  sein:  Greg.  5:  MF  210, 13. 
Die  sorge  um  das  ewige  leben  Greg.  31  ff.:  MF  211, 3  ff.  Vor 
allem  aber  die  gleiche  Stimmung.  Dann  müsste  man  annehmen, 
Hartmann  habe  den  Gregor  nach  seiner  rückkehr  vom  kreuz- 
zug  gedichtet,  nach  längerer  pause  in  seinem  dichten,  nicht 
mehr  als  tumber  man,  der  er  bis  zum  kreuzzug  war,  aber  doch 
noch  als  junger  mensch.  Setzt  man  seine  geburt  um  1160,  so 
ist  ohne  zwang  durchzukommen.  Hartmanns  todesjahr  hängt 
von  der  datierung  der  Krone  ab.  Diese  wird  von  Haupt,  wie 
mir  scheint  etwas  zu  spät,  um  1220  angesetzt.  Um  1205  lebt 
Hartmann  jedenfalls  noch,  was  man  aus  dem  Tristan  und 
Wigalois  ersieht.    Vgl.  Beitr.  21, 267. 

Legt  man  diesen  erwägungen  wert  bei,  so  würden  sich 
zwei  epochen  in  Hartmanns  leben  und  dichten  ergeben: 

1)  Die  der  weltlichen  dichtung:  minnelied  und  Artus- 
roman. I.  büchlein  und  Erec  den  älteren  (etwa  ton  14.  4.  7), 
Iwein  den  jüngeren  minneliedern  gleichzeitig.  Auf  wie  viel 
jähre  diese  dichtungen  zu  verteilen  sind,  ist  nicht  zu  sagen. 
Ich  habe  Beitr.  23, 108  an  1187  und  1188  gedacht:  jetzt  wo  ich 
geneigt  bin,  auch  den  Iwein  vor  1189  anzusetzen,  würde  ich 
ca.  1180 — 88  vorziehen.  Doch  sind  alle  solche  ausätze  reine 
Vermutung. 

2)  Die  Periode  der  geistlich-moralischen  dichtung: 
Gregor  und  Armer  Heinrich.  Beide  perioden  getrennt  durch 
den  kreuzzug  von  1189. 

Es  folgt  hieraus,  und  deshalb  habe  ich  diese  construction 
gewagt,  dass  man  nicht  in  Schwierigkeiten  gerät,  wenn  der 
einleitung  des  Gregor  volle  bedeutung  beigelegt  wird.  Man 
gelangt  im  gegenteil  auf  diese  weise  unter  benutzung  dessen 
was  früher  über  die  minnepoesie  ermittelt  ist,  zu  einer  auf- 
fassung  des  lebens  und  dichtens  Hartmanns,  die  an  sich  sehr 


ÜEBER  HABTMANN  VON  AüE.  37 

viel  Wahrscheinlichkeit  hat  und  der  von  mir  H.  v.  A.  s.  105 
vorgetragenen  wegen  ihrer  einfachheit  noch  vorzuziehen  ist. 

Widerlegt  werden  könnte  die  relative  Chronologie  der 
werke  Hartmanns  freilich  durch  heranziehung  rein  formeller 
kriterien.  Ergibt  aber  die  beobachtung  des  formalen  eine 
reihenfolge  die  mit  jener  übereinstimmt,  dann  stützt  das  nicht 
nur  jene  reihe,  sondern  ist  mittelbar  wider  ein  beweis  für  die 
richtigkeit  und  brauchbarkeit  der  methode.  Denn  darüber 
entscheidet  schliesslich  doch  der  erfolg. 

Drei  versuche,  formale  kriterien  anzuwenden,  sind  bisher 
gemacht  worden:  Untersuchung  des  Versbaues,  der  reimbrechung 
und  der  reime  nebst  der  spräche.  Die  erstere,  die  ich  zuerst 
in  grösserem  umfange  vorgenommen  habe,  hat  nun  wirklich 
dasselbe  ergebnis  gehabt,  das  eben  aus  textstellen  gewonnen 
worden  ist.  Sie  fordert  darum  mindestens  beachtung:  sie  wie 
Schönbach  als  principiell  verfehlt  zu  behandeln  ist  ungerecht- 
fertigt. Auch  Vogt  tut  das  nicht:  er  stimmt  s.  243  dem  princip 
i.  a.  bei,  ohne  sich  allerdings  ausdrücklich  für  meine  reihen- 
folge zu  entscheiden. 

Die  von  mir  angewante  methode  ist  folgende. 

Man  nimmt  in  den  höfischen  romanen  des  12. 13.  jh.'s  das 
bestreben  wahr,  gewisse  eigenheiten  der  älteren  reimverstechnik 
(Rolandslied,  Alexander  u.  ä.)  zu  beseitigen  und  den  vers  einem 
idealschema: 

X  — X  — x  —  x—  uaer  x  — x  — x  — x 

anzunähern.  Man  vermeidet  es,  viele  zwei-  und  mehrsilbige 
Senkungen  zu  brauchen  und  vor  allem  Senkungen  (natürlich 
mit  ausnähme  der  letzten,  d.h.  vierten)  ausfallen  zu  lassen. 
Dies  streben,  das  im  grossen  die  ganze  gute  erzählungsliteratur 
beherscht,  kommt  auch  bei  Hartmann  zum  Vorschein,  um  so 
mehr  als  er  am  anfang  dieser  entwickelung  steht,  ja  sie 
wesentlich  mit  einleitet.  Man  wird  daher  an  der  hand  einer 
Statistik  bei  Hartmann  das  fortschreiten  dieser  bewegung  fest- 
stellen und  damit  die  folge  seiner  erzählungen  bestimmen 
können.  Zwei  fälle  von  Senkungsausfall  sind  hierbei  zu 
scheiden:  der  eine,  in  dem  der  entstehende  einsilbige  verstakt 
durch  ein  selbständiges  wort,  der  andere,  in  dem  er  durch  eine 


38  SARAN 

unselbständige  silbe  gebildet  wird.  Fälle  der  ersteren  art 
habe  ich  mit  W,  solche  der  zweiten  mit  S  bezeichnet. 

Schönbach  wendet  gegen  diese  Zählungen  ein  (s.  348), 
wenn  sie  etwas  beweisen  sollten,  müssten  sie  vollständig  sein: 
Stichproben  hülfen  nichts.  Nun  habe  ich  zwar  die  proben 
reichlich  bemessen  und  sie,  wie  ein  blick  auf  die  tabelle  H.V.A. 
s.  50  zeigt,  möglichst  gleichmässig  durch  die  werke  verteilt, 
immerhin  aber  würde  Vollständigkeit  grössere  Sicherheit  ge- 
währen. Es  ist  also  zweckmässig  eine  neue  und  zwar  voll- 
ständige Zählung  vorzunehmen. 

Gegen  die  art  der  Zählung  erhebt  Henrici,  Jahresber.  13, 
s.  264  bedenken.  Es  sei  wie  bei  den  späteren  dichtem,  so 
auch  bei  den  jüngeren  Schreibern  zeitgewohnheit  gewesen,  die 
Senkungen,  besonders  zwischen  zwei  Wörtern  auszufüllen.  Die 
überlieferten  texte  gäben  also  schon  in  den  späteren  hss.  wenig 
gewähr  für  des  dichters  gebrauch.  Bedenklich  sei  es  femer, 
dass  ich  Gregor  und  A.  Heinr.  nach  Paul,  Erec,  büchlein  und 
Iwein  aber  nach  Haupt  und  Lachmann  benutzt,  in  der  mei- 
nung,  diese  beiden  herausgeber  hätten  keine  Senkungen  aus- 
gefüllt. Aber  die  Lachmannschen  regeln  über  unde,  niuwet, 
gen.  d.  inf.  auf  -ennes,  die  aufnähme  niederdeutscher  formen 
dienten  doch  grossenteils  diesem  bestreben.  Diesem  einwand 
zu  begegnen  habe  ich  diesmal  alle  dichtungen  mit  ausnähme 
des  Gregor  nach  Lachmanns  und  Haupts  texten  gelesen,  ohne 
irgend  welche  änderung  daran  vorzunehmen,  auch  da  wo  sie 
mir  nötig  schien.  Die  anderen  bedenken  Henricis  wiegen  nicht 
allzu  schwer.  Wenn  auch  die  Schreiber  des  öfteren  Senkungen 
ausfüllen,  so  sind  diese  fälle  doch  gewis  in  weitaus  den  meisten 
fällen  durch  vergleichung  der  hss.  zu  ermitteln.  Darum  sind 
eben  kritische  ausgaben  benutzt.  Aber  auch  dann,  wenn  eine 
anzahl  solcher  Schreiberveränderungen  mit  in  die  texte  ein- 
gegangen sind,  kommen  sie  bei  der  masse  der  untersuchten 
verstakte  doch  schwerlich  in  betracht.  Dasselbe  gilt,  scheint 
mir,  für  die  bemerkungen  Henricis  über  den  gebrauch  von 
unde,  niuwet  u.s.w.  Fehler  der  herausgeber  in  dieser*  beziehung 
heben  sich  durch  widerkehr  in  den  andern  werken  doch  wol 
auf.  Dass  Zählungen,  wie  ich  sie  vornehme,  den  Sachverhalt 
absolut  genau  darstellen,  glaube  ich  natürlich  nicht.  Dass  sie 
ihn  relativ  völlig  ausreichend  verdeutlichen,  meine  ich  allerdings. 


ÜBBBE  HABTMANN  VON  AUE.  39 

Trotzdem  bedarf  meine  methode  noch  einer  berichtigung. 
Es  handelt  sich  um  allgemein  rhythmisches,  was  Schönbach, 
Vogt  u.  a.  entgangen  ist. 

Hartmanns  reimzeilen  sind,  was  sich  von  selbst  versteht, 
Sprechverse.  Sie  gehören  als  solche  zu  der  art  des  rhythmus, 
die  ich  'poetischen  rhythmus'  nennen  will  und  stehen  den 
strengen  rhythmen  der  musik  und  tanzkunst  (auch  des  kinder- 
spruches  u.  ä.)  fem.  Der  'strenge'  rhythmus  zwängt  die  teile 
der  Sprache  (wörter,  silben  u.s.  w.)  nach  dauer  und  bis  zu 
einem  gewissen  grade  auch  schwere  in  feste  Verhältnisse,  die 
oft  dem  accent  ganz  zuwider  sind,  meist  wenigstens  sehr  von 
ihm  abweichen.  Der  poetische  rhythmus  (der  in  der  musik 
z.  b.  im  rhythmus  gewisser  formen  des  begleiteten  recitativs 
und  der  Sequenzen  der  röm.-kathol.  liturgie  nahe  verwante 
hat)  verhält  sich  zum  sprachaccent  anders.  Der  poetische 
rhythmus  ist  eine  art,  die  in  der  mitte  steht  zwischen  dem 
'strengen'  rhythmus,  der  den  tanz,  gewisse  formen  der  musik 
(die  sog.  geschlossenen)  und  den  auszählspruch  beherscht,  und 
dem  'freien',  wie  ihn  die  rhythmische  prosa  (in  der  musik  z.  b. 
das  seccorecitativ)  hat.  Diese  rhythmusart  ist  ergebnis  einer 
mischung  der  beiden  andern,  reinen  arten.  Denn  durch  ein- 
dringen des  sprachlichen  rhythmus  in  das  gefüge  der  strengen 
formen  heben  sich  diese  gelockert  und  einen  neuen  Charakter 
bekommen.  Ich  habe  in  der  abhandlung  'Zur  metrik  Otfrieds 
von  Weissenburg'  (Festschrift  f.  Sievers,  1896)  den  Vorgang  an 
einem  beispiel  dargestellt,  das  auch  für  den  mhd.  reimvers 
grosse  bedeutung  hat. 

Da  der  sich  ergebende  poetische  rhythmus  trotz  seiner 
nahen  beziehungen  zu  den  formen  des  strengen  den  sprach- 
accent nicht  verletzen  darf,  ohne  hässlich  zu  werden,  so  sind 
für  ihn  gewisse  eigenschaften  des  strengen  rhythmus  aus- 
geschlossen, eben  weil  sie  sich  nicht  mit  dem  accent  vertragen. 
Man  kann  ganz  wol  singen  Iw.  79  ze  handen  gevangen  = 
J  I  J  :  J  J  I  J  i  J  -^----  mit  4  thesen,  von  denen  2  vier- 
zeitig sind.  Beim  vorlesen  ist  das  aber  unmöglich.  Da 
müssen  die  strengen  Zeitverhältnisse  zu  gunsten  solcher  weichen, 
die  sinn-  und  stilgemäss  an  dieser  stelle  im  accent  möglich 
sind;  sodann  müssen  sich  die  gewichts Verhältnisse  der  silben 
im  anschluss  an  den  accent  verändern.    Sinn-  und  stilgemäss 


40  SABAK 

gelesen  hat  der  vers  also  das  Schema  x  -  x  x  -  x-  Er  enthält 
also  für  das  ohr  nur  2  thesen  (2  verstakte),  obwol  sein  Schema 
auf  ein  urmetrum  von  4  thesen  (4  takten)  zurückdeutet. 

Es  bedarf  nur  des  hinweises  auf  die  germanische  allitera- 
tionsdichtung,  um  zu  verstehen,  wie  sich  aus  ein  und  demselben 
strengen  metrum  _1-1-1_1  mit  seinen  verschiedenen 
artformen  (_I._-!._-^-^,  ^lL-lL^  _l«^l_i.  u.s.w.)  eine 
fülle  verschiedener  poetischer  rhythmen  entwickeln  konnte, 
rhythmen  von  ganz  verschiedener  taktzahl.  Aus  *_1_.I._1-1 
entwickeln  sich  verse  wie  Iwein  37  deheine  schcener  nie  gewdn 
(=  4  thesen,  4  takte);  *ä  1_1_^-L  >  Iw.  39:  in  vil  swdchem 
werde  (3  thesen,  3  takte);  *_>  ^  J. _  i  1  >  Iw.  34:  nach  rtcher  ge- 
wönheit  (2  thesen,  2  takte)  u.  s.  w. 

Eine  rhythmik  des  mhd.  reimverses  hat  zuerst  die  aufgäbe, 
festzustellen,  welche  rhythmischen  typen  z.  b.  im  Iwein  wirk- 
lich vorliegen.  Sie  hat  also  genau  so,  wie  es  Sievers  gelehrt, 
die  Zeilen  des  romans  zu  analysieren,  dann  verwante  formen 
zusammenzustellen  und  endlich  die  ganze  masse  nach  gattungen 
(typen)  und  arten  zu  ordnen.  Dann  ergibt  sich  das  typensystem 
des  Iweins  eben  so  wie  Sievers  ein  solches  für  den  Beowulf, 
die  Edda  u.s.w.  gefunden  hat. 

Wenn  nun  ein  vers  wie  Iw.  79  /se  hdnden  gevdngen  sinn- 
und  stilgemäss  vorgelesen  (nicht  scandiert!)  nur  zwei  hebungen 
hat  (dass  er  historisch  auf  eine  form  mit  4  zurückweist,  ist 
etwas  ganz  anderes),  dann  ist  es  offenbar  unrichtig  zu  sagen, 
in  diesem  vers  sei  zweimal  die  Senkung  unterdrückt  und  er  sei 
vierhebig.  Tatsächlich  hört  niemand  mehr  als  zwei  thesen 
und  Senkungen  werden  nicht  vermisst.  Man  kann  nur  dies 
behaupten:  in  dem  vierhebigen  urmetrum,  auf  das  verse  von 
solchem  bau  hinweisen,  war  zweimal  hebung  und  folgende 
Senkung  zusammengezogen. 

Nun  kann  allerdings  wenigstens  die  vierhebigkeit  des  alten 
reimverses  gewahrt  bleiben,  wenn  es  der  dichter  versteht,  die 
mittel  recht  auszunutzen,  die  der  sprachaccent  bietet. 

Wenn  in  der  rede  zwei  stärker  betonte  silben  an  einander 
stossen,  so  wird  die  erste  gedehnt  und  es  ergibt  sich  ein  ein- 
druck,  der  einer  rhythmischen  zusammenziehung  gleich  em- 
pfunden wird.    Versteht  es  der  dichter  in  metren  wie 

^ii^^l^L  oder  -.l-3i!-l 


UEBEB  HABTMANN  VON  AUE.  41 

auf  die  erste  und  zweite,  bez.  zweite  und  dritte  hebung  sprach- 
liche hauptaccente  zu  bringen,  so  wird  der  vers  4  hebig  (bez. 
als  3  ^)  und  asynartetisch  gefühlt; 

z.  b.  Iw.  71    er  sprach:  her  Kalogreänt  - 
28    er  was  genant  Hartman. 

Wenn  femer  in  der  rede  eine  silbe  emphatisch  oder  um 
eines  gegensatzes  willen  besonders  stark  betont  wird,  so  wird 
sie  überdehnt.  Dann  bekommt  die  nächste,  auch  wenn  sie 
schwach  von  gewicht  ist,  grössere  stärke.  Dieser  mittelbare 
stärke-  (und  zeit-)  Zuwachs  wird  wie  ein  nebenictus  empfunden. 
Silbengruppen  der  art  können  auch  zur  füUung  von  sprach- 
lichem IJL  dienen.    Vgl.  zu  ü.  büchl.  v.  199  (oben  s.  19). 

Z.  b.  Iwein  v.  17  so  lebt  doch  iemer  sin  nam.  lemer  ist 
emphatisch.  Darum  ie-  zu  überdehnen,  -mer  bekommt  im  an- 
schluss  an  die  Überdehnung  von  ie-  zeit-  und  gewichtsvermeh- 
rung  und  so  klingt  der  vers  tatsächlich  . . .  iemer . . .  ohne  irgend 
wie  gegen  den  sprachaccent  zu  Verstössen. 

Um  wenigstens  zeitliche  gleichmässigkeit  der  verse  zu 
bewirken,  wird  die  pause  (p)  verwendet.  Iw.  208  stinke  (p) 
swä  der  ist  Stinke  würde  nicht  klingen.  Eine  kleine  pause 
vor  swä  macht  den  vers  den  andern  gleichlaufend. 

Nun  ist  klar,  dass  verse  in  denen  durch  die  aufgezählten 
mittel  des  sprachaccents  der  eindruck  von  synkope  der  Senkung 
hervorgebracht  wird,  an  sich  nicht  schlechter  zu  sein  brauchen 
als  verse  von  ganz  alternierendem  rhythmus.  Ebensowenig 
verse  die  wie  Iw.  79.  80  zweihebig  sind.  Verse  mit  freiem 
Wechsel  der  thesenzahl  (von  zwei  bis  vier;  auch  bloss  eine 
these  ist  denkbar)  können,  wie  die  alliterationspoesie  zeigt, 
gerade  in  der  erzählung  sinn-  und  stilgemäss  verwendet  werden 
und  vortrefflich  wirken.  Wenn  also  Hartmann  und  die  höfischen 
erzähler  beginnen,  typen  zu  meiden,  die  auf  asynartetische 
versformen  zurückweisen  (wie  Iw.  79  und  SO),  oder  gar  noch 
selbst  asynartetisch  sind  (wie  Iw.  17.  28.  71  und  viele  andere), 
so  ist  das  zunächst  nicht  schlechthin  als  eine  'Verbesserung' 
des  Verses  zu  deuten,  sondern  als  eine  änderung  seines  stil- 
charakters.  Dass  damit  auch  eine  Verbesserung  der  technik 
verbunden  sei,  braucht  man  natürlich  nicht  zu  leugnen.  Sie 
scheint  mir  bei  Hartmann  klar. 

Meine  Zählungen  der  W  und  S  bedeuten  also  zunächst 


42  8ABAN 

nichts  anderes,  als  dass  der  reimvers  unter  den  bänden  Hart- 
manns seinen  stilcharakter  ändert.  Die  gründe  für  diese 
änderung  sind  zwei:  das  Vorbild  des  französischen  acbtsilbers, 

des  versmasses  der  Artusromane,  und  dann  der  böflscbe  cbarakter 

• 

der  dicbtung  selbst,  wie  ihn  besonders  Hartmann  herausgearbeitet 
hat.  Dass  Hartmann  jenen  französischen  vers  nachahmt,  ist 
schon  lange  erkannt  (vgl.Wackemagel-Toischer,  A.Heinr.s.32ff.). 
Wackemagel  sagt  daselbst,  aus  der  frühmhd.  reimprosa  habe 
sich  durch  nachahmung  des  regelmässigen  verses  französischer 
romane  der  regelmässige  mhd.  reimvers  entwickelt.  Dies  ist 
insofern  nicht  ganz  richtig,  als  die  form  der  frühmhd.  dich- 
tungen  nicht  gereimte  prosa,  sondern  dasselbe  metrum  ist, 
dessen  sich  die  ahd.  reimdichtungen,  besonders  Otfried  bedienen 
(vgl.  verf .,  Zur  metrik  Otfrieds  von  Weissenburg,  a.  a.  o.  s.  204). 
Im  übrigen  aber  ist  Wackemagels  anschauung  richtig,  wie  ich 
ebendort  s.  200  betont  habe.  Dass  sich  Hartmann  von  Chre- 
stiens  vers  beeinflussen  lässt,  wird  niemand  wundem. 

Die  entwicklung  des  altdeutschen  reimverses  bis  in  das 
13.  jh.  würde  also  folgendermassen  zu  deuten  sein. 

Der  altdeutsche  reimvers  hatte  sich  in  alter  zeit  aus  einem 
strengen  liedmetrum  entwickelt,  so  wie  ich  es  a.  a.  o.  s.  201  ff. 
dargestellt  habe.  Er  hatte  dann  schon  in  ahd.  zeit,  noch  mehr 
in  frühmhd.,  die  freiheiten  angenommen,  die  den  sprechvers 
charakterisieren. 

Die  zahl  der  hebungen  wechselte  von  2  (1?)  bis  4,  die 
Senkungen,  bes.  der  auftakt  waren  oft  mehrsilbig,  oft  waren 
sie  ^sprachlich  nicht  ausgedrückt'  ('auftaktlose'  und  asynarte- 
tische  verse)  u.s.w.  Es  war  eine  reihe  formen,  jede  von  eigenem 
ästhetischen  wert  aus  den  artformen  der  alten  strengen  tetra- 
podie  erwachsen,  und  so  ergab  sich  ein  System  poetischer 
rhythmen,  das  von  dem  Charakter  der  urmetra  wenig  mehr  an 
sich  hatte.  Für  die  Litanei  hat  es  Dütschke  (HalL  diss.  1889) 
ermittelt:  es  wäre  sehr  zu  wünschen,  dass  es  auch  für  andere 
dichter  statistisch  dargestellt  würde. 

Durch  den  Wechsel  dieser  zahlreichen  formen  entstand 
eine  äusserst  mannigfaltige  folge  von  schweren  und  leichten, 
gefüllten  und  minder  vollen,  langen  und  kurzen  reihen,  die 
der  poesie  einen  äusserst  beweglichen,  bequemen,  unter  um- 
ständen saloppen  Charakter  verlieh. 


UEBEB  HABTMANN  VON  AUE.  43 

Eben  dies  aber  widersprach  dem  stil  der  neuen,  höfischen 
kunst,  im  besondem  der  Hartmannschen.  Sie  zielt  nicht  auf 
erregung,  sondern  auf  beruhigung  ab,  sie  ist  nicht  lebhaft  oder 
gar  leidenschaftlich,  sondern  massvoll  und  fein.  Scherer 
schildert  Lit.-gesch.s  s.  165  das  wesen  des  Hartmannschen  Vor- 
trags vortrefflich.  Wie  der  dichter  war,  so  musste  der  vers 
werden.  Es  galt  also  alle  die  formen  auszuschliessen  bez.  ihre 
Verwendung  zu  beschränken,  die  der  dichtung  die  lebhafte 
bewegung  und  das  eindringliche  geben  oder  die  schwerfällig 
den  anmutigen  fluss  der  rede  hemmen.  Das  sind  besonders  die 
typen  mit  übervollen  Senkungen  (einschl.  des  auftakts),  dann 
aber  die  welche  auf  alte  musikalisch -strenge  asynarteten  zu- 
rückweisen, sei  es  dass  sie  im  Verhältnis  zum  vierhebigen  vers 
zu  kurz  und  leicht  oder  dui;ch  zusammenstoss  von  schweren 
Silben  in  ihrem  lauf  stockend,  schwerfällig  bez.  pathetisch 
waren. 

Es  galt  m.  a.  w.  den  alten  reimvers  dem  gleichmässigen 
Schema  x-x-x-x-  (bez.  Ix)  anzunähern,  einem  metrum, 
dessen  vierhebige  form  zugleich  das  romanische  zur  Verfügung 
stellte.  So  kommt  es,  dass  die  Senkung  mehr  und  mehr  regel- 
mässig wird,  dass  der  dichter  möglichst  die  zahl  von  4  thesen 
(bez.  3  ^)  zu  erreichen  sucht  und  dass  die  verstypen  beschränkt 
werden,  die  auf  alte  asynartetische  metra  zurückgehen.  Es  findet 
eine  grosse  Umwälzung  im  stilcharakter  des  reimverses  statt. 

Eine  Untersuchung  über  die  metrik  der  Hartmannschen 
reimdichtungen,  die  etwa  in  der  weise  geführt  würde,  wie  sie 
Dütschke  unter  anleitung  von  Sievers  für  die  Litanei  geführt 
hat,  würde  gewis  eine  sichere  Chronologie  der  Hartmannschen 
dichtungen  ergeben.  Sie  würde  nebenbei  zugleich  das  sicherste 
mittel  sein,  die  fragen  über  synkope  und  apokope  schwacher 
vocale  zu  lösen  und  einen  reinen  text  zu  gewinnen,  der,  wie 
Lachmann  durchaus  richtig  erkannt  hat,  ohne  metrik  nicht  zu 
erreichen  ist. 

Meine  Statistik  kann  nicht  beanspruchen,  die  metrischen 
änderungen  in  Hartmanns  versen  auch  nur  annähernd  zum 
ausdruck  zu  bringen.  Sie  erstreckt  sich  bloss  auf  eine 
Seite  der  metrischen  entwicklung.  Selbst  diesen  stellt  sie 
nur  sehr  im  groben  dar.  Sie  zeigt  nämlich  zahlenmässig,  wie 
die  verse  abnehmen,  die  auf  alte  asynarteten  hinweisen  oder 


44 


SABAN 


noch  asynartetisch  sind.  Aber  dies  doch  nur  ganz  im  umriss, 
da  sie  vom  takt  und  nicht,  wie  es  das  richtige  ist,  von  der 
reimzeile  ausgeht.  Es  entgeht  also  meiner  Statistik  der  unter- 
schied im  typengebrauch :  verse  wie  *_^l-i-L,  *-l-.L^_, 
*_1_^1-1,  *_j:,1_1.-1  geben  aUe  dieselbe  zahl  1.  Und 
doch  ist  es  sehr  wesentlich,  wie  häufig  im  Verhältnis  metra 
jeder  art  gebraucht  werden.  Es  entgehen  der  Statistik  auch 
sonst  noch  viele  feinheiten  des  Versbaues,  die  für  die  Wirkung 
der  dichtung  bedeutsam  sind,  z.  b.  der  gebrauch  einsilbiger 
Wörter  an  bestimmten  stellen. 

Trotz  dieser  mängel  liefert  die  Zählung  doch  ergebnisse, 
die  mit  dem  übereinstimmen,  was  die  kritische  Verwendung 
der  Selbstzeugnisse  Hartmanns  ergeben  hat.  Ich  lege  ihr  darum 
auch  jetzt  noch  denselben  wert  bei  wie  früher,  so  lange  ich 
nicht  durch  eine  umfassende  Untersuchung  von  ihrer  Unrichtig- 
keit überzeugt  werde.  Man  muss  bedenken,  dass  sie  eben  nur 
das  allergröbste  der  Veränderung  von  Hartmanns  versbau 
darlegt,  dass  sich  die  unterschiede  zwischen  den  werken  also 
bei  einer  vollständigen  Untersuchung  noch  als  grösser  heraus- 
stellen werden. 

Die  resultate  meiner  neuen  Zählung  sind  nun  folgende. 
Um  die  grundlagen  der  procentzahlen  genau  controlierbar  zu 
machen,  gebe  ich  die  einzelnen  posten  an.  Im  übrigen  vgl. 
meine  schrift  s.  50f. 

Den  Erec  zähle  ich  nicht  durch,  weil  mir  seine  Stellung 
in  der  reihe  gesichert  scheint. 


I.  büohlein  (ohne  S.  G.). 


no.  der  verse 

w  +  s 

W 

S 

S  — W 

1-100 

13 

2 

11 

+  9 

101-200 

17 

5 

12 

+  7 

201-300 

14 

4 

10 

+  6 

301-400 

25 

9 

16 

+  7 

401-500 

35 

18 

17 

-  1 

501—600 

18 

11 

7 

—  4 

601-700 

19 

8 

11 

+  3 

UXBEB  HASTBUHK   VON  XVB. 


no.  der  Terae 

w  +  s 

W 

S 

8-W 

701-800 

23 

7 

16 

+  9 

801—900 

38 

16 

22 

+  6 

901-1000 

^ 

11 

le 

+  5 

1001-1100 

28 

11 

17 

+  ß 

noi-iaoo 

28 

15 

13 

—  2 

1201—1300 

21 

15 

6 

—  9 

1301—1400 

25 

14 

11 

-  3 

1401-1500 

21 

12 

9 

-3 

1501—1600 

86 

17 

19 

+  .2 

1601-1644 

17 

9 

8 

-  1 

Yen  400  zu  400  verseil  berechnet  ist  das  ergebnis: 


Tei^e 

W  +  S 

W 

s 

S-W 

l^WO 

69 

20 

49 

+  29 

401-800 

95 

44 

51 

+    7 

801—1200 

121 

53 

68 

+  15 

laOl— 1600 

103 

58 

45 

+  13 

1601-1644 

17 

9 

8 

9a, 

405 

,84 

221 

+  37 

verse 

W  +  S 

W 

S 

S~W 

1-400 

125 

44 

81 

+  37 

401—800 

125 

62 

63 

+     1 

801—1200 

146 

71 

74 

+    3 

1201—1600 

129 

53 

76 

+  23 

1601-2000 

109 

43 

66 

+  23 

2001-2400 

107 

50 

57 

+    5 

2401-2800 

113 

47 

66 

+  19 

2801—3200 

116 

52 

64 

+  12 

3201—3600 

104 

43 

61 

+  18 

3601—4000 

150 

77 

73 

—    4 

46 


SASAK 


verse 

w  +  s 

W 

S 

S-W 

4001-^4400 
4401—4800 
4801-5200 
5201-5600 
5601—6000 
6001—6400 
6401—6800 
6801—7200 
7201-7600 
7601-8000 
8001—8166 

136 
131 
149 
116 
143 
151 
134 
154 
148 
129 
49 

77 
70 
71 
50 
61 
58 
70 
70 
66 
50 
24 

59 
61 
78 
66 
82 
93 
64 
84 
82 
79 
25 

-  18 

-  9 
+    7 
+  16 
+  21 
+  35 

-  6 
+  14 
-f  16 
+  29 
+    1 

Sa.  8166  w. 

2663 

1209 

1454 

+  245 

Gregor. 


verse 

w  +  s 

W 

S 

S     W 

1-400 

104 

30 

74 

+  44 

401    800 

HO 

41 

69 

4-  28 

801-1200 

HO 

48 

62 

+  14 

1201    1600 

96 

36 

60 

+  24 

1601-2000 

112 

35 

77 

4-  42 

2001    2400 

108 

42 

66 

+  24 

2401    2800 

94 

28 

66 

-f  38 

2801-3200 

133 

49 

84 

+  35 

3201—3600 

119 

47 

72 

-f  25 

3601-4000 

143 

55 

88 

+  33 

4001—4006 

3 

1 

2 

-f    1 

Sa.  4006  w. 

1132 

412 

720 

+  318 

Arm.  Heinrich. 


verse 

w  +  s 

W 

S 

S-W 

1—400 
401    800 

131 
103 

40 
39 

91 
64 

+  51 
+  25 

CEBEB  HABTIUKK  VOK  AÜE. 


47 


verse 

w  +  s 

W 

S 

S-W 

801—1200 
1201—1520 

97 
97 

43 

44 

54 
53 

+  11 
+    9 

Sa.  1520  w. 

428 

166 

262 

+  96 

n.  büohlein. 


verse 

w  +  s 

W 

S 

S-W 

1-100 

30 

4 

26 

+  22 

101-200 

24 

7 

17 

4-  10 

201—300 

23 

4 

19 

+  15 

301-400 

22 

9 

13 

4-    4 

401—500 

21 

10 

11 

+    1 

501-600 

24 

5 

19 

+  14 

601—700 

27 

6 

21 

+  15 

701-800 

25 

10 

15 

+    5 

801—826 

4 

2 

2 

0 

oder  nach  versen  von  je  400: 


verse 

W  +  S 

W 

S 

S-W 

1-400 
401-800 
801-826 

99 

97 

4 

24 

31 

2 

75 

66 

2 

+  51 
-f  35 

Sa.  826  w. 

200 

57 

143 

+  86 

In  procenten  ausgedrückt  stellen  sich  die  ergebnisse  so  dar; 


Titel 

W-f  s 

W 

s 

S-W 

I.  büchl. 

24,63 

11,19 

13,44 

+  2,25 

Iwein 

32,61 

14,80 

17,80 

3,00 

Gregor 

28,25 

10,28 

17,97 

7,69 

A.  Heinr. 

28,15 

10,92 

17,23 

6,31 

n.  büchl. 

24,21 

6,90 

17,31 

10,41 

1 

48  SARAN 

Wie  man  aus  der  vergleichung  mit  der  älteren  tabelle  in 
H.  V.  A.  s.  51  sieht,  sind  die  absoluten  unterschiede  unbedeutend: 
die  Stichproben  und  die  vollständigen  Zählungen  geben  im 
wesentlichen  dasselbe  resultat.  Schönbachs  bedenken  gegen 
Stichproben  erweisen  sich  dadurch  als  hinfällig. 

Nur  eins  lehrt  diese  neue  tabelle,  nämlich  dass  für  Gregor 
und  A.  Heinr.  jene  wie  schon  gesagt  etwas  grobe  methode  nicht 
hinreicht,  die  Chronologie  zu  bestimmen.  Die  differenzen  der 
betreffenden  zahlen  sind  so  gering,  dass  man  aus  ihnen  nichts 
schliessen  kann.  Dass  die  metrik  beider  gedichte  sich  trotzdem 
sehr  von  einander  unterscheiden  mag,  ergibt  sich  aus  meinen 
früheren  bemerkungen  von  selbst. 

Die  tabelle  lehrt  aber  weiterhin  mit  entschiedenheit, 
erstens  dass  der  Iwein  vor  Gregor  und  A.  Heinr.  liegt,  und 
dann,  dass  das  II.  büchlein  an  das  ende  der  ganzen  reihe  fällt. 
Beides  war  schon  oben  aus  andern  gründen  mit  Wahrschein- 
lichkeit bez.  Sicherheit  erschlossen  worden.  In  diesem  zu- 
sammengehen der  ergebnisse  liegt  ein  starker  beweis  für  ihre 
richtigkeit. 

Nun  findet  freilich  Vogt,  meine  Zählungen  seien  ungenau. 
Er  sagt:  'nach  diesen  [meinen  beobachtungen]  würden  die 
Senkungen  besonders  zwischen  zwei  verschiedenen  worten  im 
zweiten  büchlein  weit  seltener  ausgelassen  sein  als  in  allen 
übrigen  dichtungen  Hartmanns.  Ich  bin  zu  einem  andern  er- 
gebnisse gekommen.  Nach  meiner  Zählung  fehlt  die  Senkung 
in  den  826  versen  des  zweiten  büchleins  zwischen  zwei  ver- 
schiedenen Worten  88  mal,  zwischen  zwei  silben  eines  Wortes 
138  mal ;  in  den  826  ersten  versen  des  ersten  büchleins  kommt 
der  erste  fall  87  mal,  der  zweite  91  mal  vor.  Danach  zeigt 
sich  also  in  jenen  sogar  eine  merkwürdige  Übereinstimmung 
zwischen  den  beiden  büchlein;  in  diesem  dagegen  steht  das 
zweite  büchlein  dem  Gregor  und  Iwein  näher,  wo  in  der 
gleichen  verszahl  zwischen  zwei  silben  eines  wertes  die  Senkung 
llOmal  bez.  141mal  unausgefüllt  bleibt'.  Schönbach  stimmt 
dem  auf  s.  348  bei:  Togt  hat  gezeigt,  dass  Sarans  Zählungen 
ungenau  sind:  damit  fällt  auch  ihr  ergebnis'.  Freilich  erklärt 
er  sich  unmittelbar  darauf  gegen  die  Verwendung  von  Stich- 
proben: 'wiU  man  aus  statistischen  Zusammenstellungen  etwas 
erschliessen,  dann  müssen  sie  vollständig  sein,  Stichproben 


UEBEB  HABTMANN  VON  AUE.  49 

helfen  gar  nichts'.  Vogts  nachweis  beruht  aber  eben  auf  einer 
Stichprobe.  Seine  zahlen  stimmen  überdies  genau  zu  meinen 
angaben,  so  dass  ich  hier  weder  Vogts  noch  Schönbachs  tadel 
begreife. 

Denn  dass  das  n.büchlein  in  der  zahl  der  S  mit  Erec, 
Iwein,  Gregor,  A.  Heinr.  nahezu  auf  gleicher  stufe  steht,  zeigt 
meine  procenttabelle  H.  v.  A.  s.  51.  Vogt  sagt  also  mit  dem 
einen  teil  seiner  bemerkung  —  wenn  man  einmal  Stichproben 
zulässt  —  nur  das  was  meine  tabelle  auch  enthält  Nach 
meiner  neuen,  vollständigen  Zählung  ist  die  verwantschaft  in 
diesem  punkte  noch  näher.  Dass  das  n.  büchlein  im  punkte 
der  S  dem  ersten  femer  bleibt,  sieht  man  ebenfalls  deutlich 
aus  meiner  tabelle  s.  51 : 1.  büchl.  13, 99  (jetzt  13, 44)  —  U.  büch- 
lein 17, 40  (jetzt  17, 31).  Auch  damit  widerholt  Vogt  nur  meine 
ergebnisse. 

Dass  femer  das  ü.  büchl.  in  der  zahl  der  W  den  826  versen 
vom  auf ang  des  ersten  ganz  nahe  steht,  habe  ich  ebenfalls  be- 
merkt. Es  folgt  aus  dem  was  ich  H.  v.  A.  s.  52  mitteile,  von 
selbst.  In  v.  1—800  des  I.  büchl.  habe  ich  dort  s.52  gezählt  87  W: 
Vogt  zählt  in  v.  1 — 826  —  auch  87,  also  bei  26  versen  diffe- 
renz  genau  dieselbe  zahl!  Berechtigt  dieser  geringe  unter- 
schied zu  dem  urteil,  dass  meine  Zählung  ungenau  sei?  Ich 
bezweifle,  dass  Vogt  bei  erneuter  Zählung  wider  genau  87  W 
findet.  Da  man  denselben  mhd.  vers  oft  verschieden  lesen 
kann,  so  finde  ich  zwischen  meiner  und  Vogts  Zählung  viel- 
mehr eine  überraschende  Übereinstimmung. 

Wie  sehr  nun  aber  Schönbachs  wamung  vor  dem  gebrauch 
—  wenigstens  unzureichender  und  nicht  genau  controlierter  — 
Stichproben  am  platze  ist,  das  zeigt  sich  gerade  in  diesem 
falle  deutlich,  wo  er  sein  urteil  über  meine  Statistik  eben  auf 
eine  solche  gründet.  Es  wundert  mich  um  so  mehr,  dass  Schön- 
bach dieser  probe  Vogts  so  viel  bedeutung  beilegt,  als  er  schon 
aus  meinen  angaben  über  die  W  des  I.  büchleins  (H.  v.  A.  s.  52) 
hätte  ersehen  können,  dass  er  sich  gerade  auf  jene  Stichprobe 
nicht  verlassen  durfte. 

Dort  (vgl.  jetzt  oben  s.44f.)  zeige  ich  nämlich,  dass  das 
I.  büchl.  in  metrischer  hinsieht  unter  allen  dichtungen  Hart- 
manns eine  Sonderstellung  einnimmt.  Es  ist  für  dies  gedieht 
charakteristisch,  dass  in  ihm  anfangs  die  beseitigung  der 

Beiträge  cur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  ^ 


50  SASAN 

'einsilbigen  verstakte'  überraschend  gut  gelungen  ist,  dass 
aber  die  im  anfang  erreichte  glätte  der  verse  nicht  dauert, 
dass  man  fast  von  100  zu  100  versen  das  zurückgehen  von 
diesem  höheren  Standpunkt  der  technik  beobachten  kann.  So 
kommt  es,  dass  von  den  beiden  hälften  des  I.  büchleins,  das, 
den  sog.  *leich'  natürlich  abgerechnet,  1644  verse  umfasst,  die 
erstere  unverhältnissmässig  viel  glattere  verse  aufweist,  als 
die  zweite  in  der  sie  z.  t.  sehr  uneben  sind.  Ich  habe  H.  v.  A. 
s.  52  gezählt  L  büchl.  v.  1—800:  W  =  87,    S  =  110, 

V.  801—1644:  W  =  136,  S  =  120. 
Hätte  also  Vogt  seine  Stichprobe  von  826  versen  nicht  mit  v.  1, 
sondern  mit  v.  801  begonnen,  so  würde  er  das  entgegengesetzte 
resultat  bekommen  haben. 

Ferner  habe  ich  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  dass  für 
die  beurteilung  der  Hartmannschen  technik  nicht  einseitig  bloss 
die  W  oder  bloss  die  S  herangezogen  werden  dürfen,  sondern 
auch  das  Verhältnis  der  W  zu  den  S.  Dass  dies  für  den 
rhythmischen  eindruck  von  grosser  bedeutung  ist,  liegt  auf 
der  hand.  Wenn  wie  Vogt  sagt,  das  ü.  büchl.  in  den  S  dem 
Iw.,  Greg.,  A.  Heinr.  näher,  der  Klage  femer  steht,  dafür  aber 
sich  dem  ersten  teil  der  Klage  in  den  W  sehr  nähert,  so  be- 
weist das  streng  genommen  nichts  anderes  als  dass  die  technik 
des  II.  büchleins  von  der  dieser  dichtungen  grundverschieden 
ist,  da  sie  eben  mit  ihren  ziff em  in  der  tabeUe  für  Hartmanns 
werke  nicht  eingeordnet  werden  kann. 

Das  eigentümliche  verhalten  des  I.  büchleins  in  bezug  auf 
das  Verhältnis  der  W  und  S  zeigt  die  neue  tabelle  oben  s.  44 1 
deutlicher.  H.  v.  A.  s.  52  habe  ich  versucht  es  zu  erklären. 
Dort  wird  es  auf  das  bestreben  zurückgeführt,  die  W- formen 
zu  beseitigen,  eine  arbeit,  deren  durchführung  die  kraft  des 
dichters  noch  nicht  gewachsen  war  und  bei  der  sie  darum 
allmählich  erlahmte.  Dass  der  dichter  aber  überhaupt  die 
absieht  fassen  konnte  die  W  zu  beseitigen,  erklärt  H.  v.  A.  s.  53 
folgendermassen:  *  Hartmann  hat  versucht,  im  I.  büchlein  die 
formalen  gesetze  der  lyrik  durchzuführen.  Als  lyriker  hatte 
er  schon  eine  ziemliche  höhe  erreicht,  ein  feines  gefühl  füi' 
regelmässigen  versbau  bekommen,  mit  epischen  dichtungen 
hatte  er  sich  gar  nicht  beschäftigt.  Was  wunder  wenn  er  in 
einem  gedieht  dessen  Inhalt  ja  der  minnepoesie  entnommen 


UEBER  HABTMAim  VON  AÜE.  51 

ist,  auch  die  formglätte  derselben  anstrebt?  Er  sucht  schon 
jetzt  die  brücke  zwischen  der  neuen  tradition  der  lyrik  und 
der  alten  der  epik  zu  schlagen,  deren  Vollendung  erst  einer 
viel  späteren  zeit  vorbehalten  war'. 

Diese  erklärung  ist  aber  aus  gründen  der  rhythmik  un- 
möglich. Ich  konnte  sie  nur  zu  einer  zeit  aufetellen,  wo  ich 
in  Übereinstimmung  mit  den  üblichen  anschauungen  die  tiefe 
kluft  noch  nicht  sah,  die  zwischen  'strengem'  und  'poetischem' 
rhythmus  liegt.  Eine  einwirkung  der  lyrik,  die  in  jener  zeit 
ja  keine  buch-,  sondern  eine  singlyrik  war,  auf  die  reimpaar- 
dichtung  ist  in  der  weise,  wie  ich  es  H.  v.  A.  annahm,  aus- 
geschlossen. Musik  und  poesie  haben  ihre  besonderen  traditionen, 
und  ihre  formen  können  sich  nicht  mehr  beeinflussen,  wenn  sie 
sich  einmal  differenziert  haben. 

Es  gibt  nur  6inen  weg  von  strengen  musikalischen  rhythmen 
zu  poetischen,  den  worauf  ich  unter  anderm  auch  in  der  ab- 
handlung  über  die  metrik  Otfrieds  von  Weissenburg  hingewiesen 
habe.  Es  können  gewisse  liedgattungen  im  verlauf  der  histo- 
rischen entwickelung  ihre  strenge  form,  auch  die  melodie  auf- 
geben und  zur  poesie  übertreten,  aber  von  den  strengen  formen 
der  musik  führt  zur  ausgebildeten  Sprechpoesie  unmittelbar 
keine  brücke,  jedenfalls  nicht  in  dem  sinne,  wie  es  H.  v.  A.  s.  53 
angenommen  wurde.  Die  Sonderstellung  des  I.  büchleins  muss 
demnach  anders  erklärt  werden.    Das  ist  auch  nicht  schwer. 

Die  W  und  S  werden  im  büchlein  zweifellos  mit  absieht 
vermieden.  Hartmann  will  sich  eine  neue  verstechnik  schaffen. 
Warum  tritt  dies  bestreben  nun  gerade  im  I.  büchlein  so  deut- 
lich hervor?  Eben  aus  dem  I.  büchlein  erfahren  wir,  dass 
Hartmann  vor  abfassung  desselben  eine  reise  nach  Nordfrank- 
reich gemacht  hat.  An  den  höfen  dieser  gegend  herschte  die 
neue  ritterliche  dichtung,  besonders  die  Chrestiens.  Sie  lernte 
Hartmann  dort  kennen  und  bewundern.  Dass  er  bald  ent- 
schlossen war  diesem  muster  nachzustreben,  beweisen  Erec 
und  Iwein,  die  die  ersten  fruchte  seines  Studiums  sind.  Mit 
dem  Inhalt  jener  höfischen  dichtungen  prägte  sich  aber  seinem 
ohr  auch  der  anmutige,  gleichmässige  fall  des  afrz.  achtsilblers 
in  seinem  alternierenden  rhythmus  ein.  Die  erste  reimdichtung 
die  er  nach  der  rückkehr  verfasste,  war  nun,  wie  man  gewis 
mit  recht  annimmt,  das  I.  büehlein.    Sie  wird  darum  natürlich 


52  SASAN 

metrisch  noch  am  meisten  unter  dem  einfluss  des  frz.  verses 
stehen,  dessen  gang  Hartmann  möglichst  genau  nachbilden 
wollte.  Das  ist  auch  der  fall,  freilich  nur  in  der  ersten  hälfte 
(bis  800).  Denn  es  gelang  dem  dichter  nicht,  den  vorschweben- 
den rhythmus  in  der  spräche  durchweg  auszuprägen:  es  gelang 
einigermassen  nur  im  anfang  der  dichtung;  in  der  andern 
hälfte  erlahmt  die  kraft,  und  die  alte  rhythmik  zieht  den 
dichter  wider  an  sich.  Jenen  versuch  macht  Hartmann  dann 
nicht  wider.  Er  strebt  nunmehr  danach,  das  'alte  heimische 
und  das  neue  frz.  versprincip  zu  vereinigen,  eine  versart  zu 
finden,  die  das  charakteristische  der  frühmhd.  technik  nicht 
ganz  aufgebe  und  andererseits  doch  dem  vorbild  des  frz.  acht- 
silblers  folge.  In  der  tat  macht  Hartmanns  vers,  wie  ihn  be- 
sonders der  A.  Heinr.  zeigt,  die  mitte  zwischen  altheimischer 
und  französischer  technik.  Vgl.  auch  Beitr.  23, 94  ff .,  wo  für 
die  lyrik  ähnliche  tendenzen  nachgewiesen  werden. 

Das  merkwürdige  Verhältnis  der  beiden  hälften  des  I.  büch- 
leins  in  metrischer  hinsieht  erklärt  sich  also  sehr  einfach  daraus, 
dass  dies  werk  noch  unmittelbar  unter  dem  eindruck  franzö- 
sischer verse  gedichtet  ist  und  sich  bestrebt,  diesen  möglichst 
widerzugeben.  Erst  später  hat  sich  Hartmann  sein  eigenes 
rhythmisches  ideal  geschaffen. 

Es  ergibt  sich  somit,  dass  meine  statistischen  Zählungen  in 
jeder  hinsieht  die  Chronologie  bestätigen,  die  man  aus  der 
vergleichung  der  selbstzeugnisse  gewonnen  hat. 

Von  der  reimbrechung  aus  zu  einer  Chronologie  zu  kommen 
hat  K.  Stahl  versucht  in  seiner  dissertation  'Die  reimbrechung 
bei  Hartmann  von  Aue',  Rostock  1888  (rec.  von  Glöde,  Lit.-bl. 
1889,  s.  407).  Er  gewinnt  die  reihe  Erec  —  Gregor  —  Iwein 
—  A.  Heinr.  Diese  stimmt  mit  der  meinigen,  insofern  sie  Erec 
und  A.  Heinr.  an  den  anfang  und  schluss,  Gregor  und  Iwein 
in  die  mitte  setzt.  Aber  mir  scheint  die  ganze  art,  wie  Stahl 
seine  Untersuchung  ansetzt  und  führt,  methodisch  nicht  richtig 
und  darum  sein  ergebnis  unverwertbar.  Glöde  ausserdem  meint 
s.  408,  reimbrechung  aUein  gebe  nicht  den  ausschlag:  sie  sei 
nur  im  verein  mit  vielen  andern  kriterien  beweiskräftig.  Ich 
habe  keine  Untersuchung  hierüber  angestellt,  glaube  aber  auf 
grund  der  angaben  Stahls  doch,  dass  jenes  kriterium  einen  hohen 
wert  hat,  bei  richtiger  verwendung.vielleicht  auch  allein  genügt. 


UEBEB  HABTMANN  VON  AUE.  58 

Ueber  die  rhythmische  bedeutung  der  reimbrechung  wird  Zur 
metrik  Otfrieds  v.  Weissenburg  s.  194  f.  gehandelt.  Es  ist  dort 
die  rhythmische  entwicklung  kurz  angedeutet,  deren  notwendiges 
Schlussglied  die  brechung  der  rime  bildet.  Aus  jener  darstellung 
ergibt  sich  auch,  nach  welchen  regeln  die  erscheinung  statistisch 
aufgenommen  werden  muss.  Man  hat  von  der  tatsache  auszu- 
gehen, dass  ein  reimpaar  von  haus  aus  den  wert  einer  musika- 
lischen Periode  hat;  der  erste  vers  ist  Vordersatz  (a),  der  andere 
nachsatz  (b).  In  der  musik  der  geschlossenen,  strengen  form 
hat  sich  das  wort  der  weise  und  ihrem  rhythmus  unterzuordnen. 
Also  muss  da  entsprechend  der  melodieftthrung  am  perioden- 
schluss  (d.  i.  hinter  dem  zweiten  reim)  ein  relativ  starker,  auf 
der  cäsur  (d.  h.  hinter  dem  ersten  reim)  ein  relativ  schwacher 
Sinneseinschnitt  statt  haben.  Jedenfalls  muss  der  cäsureinschnitt 
schwächer  sein  als  der  am  periodenende,  weil  sonst  die  periode 
nicht  zusammenhalten  würde  (vgl.Beitr.23,52f.  [§22]).  Schwindet 
nun  der  strenge  rhythmus  nebst  melodie,  so  wird  das  alte  Ver- 
hältnis von  cäsur  und  periodenschluss  zunächst  traditionell 
gewahrt.  So  ist  es  noch  in  der  ahd.  und  frühmhd.  dichtung. 
Allmählich  aber  ändert  sich  das.  Man  bestrebt  sich,  aus 
ästhetischen  gründen  das  Verhältnis  der  Schlüsse  umzukehren. 
Dadurch  wird  das  rhythmische  System  der  periode  zerrissen: 
die  rtme  werden  gebrochen.  Eine  lockerung  des  Perioden- 
systems und  eine  Vorstufe  zur  brechung  ist  es  schon,  wenn 
die  cäsur  dem  periodenschluss  an  stärke  gleichgemacht  wird. 

Will  man  nun  statistisch  aufzeigen,  wie  sich  dieses  bestreben 
geltend  macht,  so  darf  man  nicht  mit  Stahl  das  Verhältnis  von 
satz  und  reimbrechung  in  den  Vordergrund  stellen.  Ebenso- 
wenig darf  man  reimbrechung  nur  da  annehmen,  wo  hinter 
dem  ersten  reime  einpunkt  steht  (Stahls.  11).  Man  hat  viel- 
mehr einfach  die  fälle  zu  zählen,  in  denen  jedesmal  die  innere 
Verbindung  eines  reimpaares  loser  ist  als  die  Verbindung  des 
ersten  reimverses  mit  dem  vorausgehenden  oder  des  zweiten 
mit  dem  folgenden,  oder  in  denen  beide  reimpaare  völlig  aus- 
einander gerissen  sind.  So  würde  z.  b.  im  I.  büchlein  gebrochen 
sein  reimpaar  1/2.  Gebunden  ist  3  +  4;  weiter:  5/6,  7/8,  9  + 
10,  11  +  12,  13/14,  15  +  16,  17/18,  19/20  etc.  Dabei  wären 
schwere  und  leichte  fälle  der  brechung  bez.  bindung  zu  scheiden. 
Nützlich  ist  es  vielleicht,  die*  fälle  besonders  zu  zählen,  in  denen 


54  8ABAN 

die  sinneseinschnitte  als  gleich  gefühlt  werden  (so  z.  b.  3  :  4; 
15 :  16).  Fehler  oder  ungenauigkeiten  würden  sich  bei  hin- 
reichend grossem  mateiial  gegenseitig  ausgleichen.  Die  ergeb- 
nisse  wären  dann  einfach  auf  je  100  reimpaare  procentualiter 
zu  berechnen.  Unterscheidungen  der  art  wie  sie  Stahl  macht, 
sind  als  besondere  fälle  jener  3  hauptgattungen  aufzunehmen, 
also  in  zweite  linie  zu  rücken.  Sie  sind  wertvoll  für  die  be- 
urteilung  der  kunst  des  dichters. 

Schönbach  tadelt  an  Stahls  arbeit,  dass  sie  nirgends  auf 
das  Verhältnis  der  poetischen  aufgäbe  zur  form  eingehe.  Nun 
ist  ja  gewis  richtig,  dass  der  gegensatz  von  reimbrechung  und 
bindung  absichtlich  zur  erreichung  bestimmter  zwecke  ver- 
wendet werden  kann.  Aber  ich  glaube  nicht,  dass  eine  Sta- 
tistik die  auf  eine  Chronologie  ausgeht,  jene  möglichkeit  be- 
sonders zu  betonen  braucht.  Sie  wird  sich  damit  begnügen, 
die  fälle  der  bindung  festzulegen,  wo  sie  zweifellos  sinn-  und 
stilgemäss  ist,  brechung  minder  gut  wäre.  Im  allgemeinen 
aber  dürfte  gerade  dieser  punkt  geringe  bedeutung  haben. 
Wo  ist  denn  im  einzelnen  falle  brechung  oder  bindung  nötig 
oder  auch  nur  wolgefällig  und  wo  nicht?  Ich  bezweifle,  dass 
man  diese  frage  unzweideutig  beantworten  kann. 

Man  wird  z.  b.  sagen:  reimbrechung  erhöht  die  lebendig- 
keit  der  darstellung,  bes.  des  dialogs  (vgl.  Stahl  s.  27).  Das 
ist  i.  a.  gewis  richtig.  Muss  aber  lebhaftigkeit  immer  zur  reim- 
brechung führen?  Kann  sie  nicht  auf  andere  weise  (z.  b.  durch 
die  wähl  der  verstypen)  ausgedrückt  werden?  Der  dichter 
hat  gewisse  Stimmungen  zu  erregen  so  mannigfaltige  mittel, 
dass  man. ihm  schwerlich  im  einzelnen  nachrechnen  kann.^) 

Ich  meine  also  gegen  Schönbach:  hat  man  bemerkt,  dass 
sich  ein  dichter  immer  mehr  bestrebt,  die  perioden  zu  brechen 
—  und  für  Hartmann  ist  das  zweifellos  — ,  dann  zähle  man 
einfach  die  fälle  in  der  oben  angedeuteten  weise.  Man  wird 
daraus  meiner  Überzeugung  nach  einen  wertvollen,  vielleicht 
an  sich  schon  genügenden  anhält  gewinnen,  die  reihe  der 
dichtungen  zu  bestimmen.  Das  Verhältnis  von  Inhalt  und  form 
zu  betrachten  wird  zur  Scheidung  der  fälle,  jedenfalls  aber  für 
das  Verständnis  der  dichterischen  kunst  von  grossem  wert  sein; 


*)  Vgl.  Terf.,  Die  einheit  des  Faustmonologs,  Zs.  fdph.  30, 538—545. 


UEBEB  HABTMAKN  VON  AÜE.  55 

aber  für  den  nächsten  zweck  der  Chronologie  würde  die  auf- 
gewendete mühe  und  zeit  schwerlich  im  Verhältnis  zum  wert 
der  ergebnisse  stehen. 

Stahls  ergebnisse  halte  ich  also  aus  rhythmischen  gründen 
nicht  für  stichhaltig.  Sie  sind  unverwendbar  für  oder  gegen 
meine  Chronologie. 

Damit  fällt  freilich  auch  der  grund,  den  er  auf  s.  27  gegen 
die  echtheit  des  büchleins  vorbringt  oder  er  wird  wenigstens 
zweifelhaft.  Dies  büchlein  bricht  nämlich  die  reime  unver- 
hältnismässig oft,  geht  damit  sogar  über  den  A.  Heinr.  hinaus, 
wie  Stahl  behauptet.  Immerhin  sieht  man  aber  doch  so  viel, 
dass  es  auch  in  diesem  punkt  von  Hartmanns  werken  abweicht. 

Noch  ein  dritter  versuch  ist  gemacht  worden  auf  objective 
art  festzustellen,  wie  sich  Hartmanns  dichtungen  an  einander 
schliessen:  B.  J.  Vos,  The  diction  and  rime-technic  of  Hart- 
mann V.  A.,  Leipzig  1896  (rec.  v.  K.  Helm,  Lit.-bl.  1898,  s.264). 
Der  verf.  versucht  durch  beobachtung  des  wortgebrauchs  und 
der  reimtechnik  zu  einer  Chronologie  zu  kommen.  Ansätze  zu 
dieser  methode  finden  sich  schon  bei  Haupt,  Naumann,  Lemcke, 
Greve  (s.  60),  Zwierzina  (Zs.  fda.  40, 237—241),  doch  ist  Vos 
wegen  der  zahl  und  Vollständigkeit  der  belege  als  ihr  eigent- 
licher Vertreter  anzusehen. 

S.  7 — 41  werden  eine  reihe  von  Wörtern  alphabetisch  zu- 
zusammengestellt, die  in  den  werken  Hartmanns  mehr  oder 
weniger  oft  vorkommen.  Aus  dieser  tabelle  werden  dann 
Schlüsse  gezogen.  Aber  der  verf.  hat  es  unterlassen  zu  über- 
legen, ob  solche  Schlüsse  aus  dem  wortgebrauch  überhaupt  wert 
haben  und  wie  weit  etwa. 

Zunächst  musste  bedacht  werden  —  Haupt,  Jänicke  u.  a. 
waren  darin  vorangegangen  —  ob  besondere  gründe  dem 
dichter  nahe  legten,  gewisse  Wörter  oder  Wendungen  allmählich 
zu  meiden.  Das  ist  nun  sicher  der  fall.  Wörter  wie  halt, 
degen^  eilen,  isengewant,  isenwät,  kneht  (=ritter),  rant  (=  Schild), 
schaß,  snel,  snelheit  u.  a.  werden  im  höfischen  roman  gemieden, 
weil  sie  *  unhöfisch'  schienen,  d.  h.  weil  sie  durch  die  dichtung 
älteren  Stiles  so  fest  mit  der  Vorstellung  des  rittertums  älteren 
Stiles  verknüpft  waren,  dass  sie  mit  den  neuen  idealen  nicht 
mehr  recht  stimmten:  ein  ritter  war  für  die  phantasie  der 
Umgebung  Hartmanns  etwas  anderes,  feineres  als  ein  degen\ 


56  SABAN 

mit  jenem  wort  verbanden  sich  ganz  andere  associationen  als 
mit  diesem  oder  gar  mit  kneht  (dem  das  gtwt,  d.i  ^vornehm, 
bevorzugt'  freilich  fast  nie  fehlt).  Lässt  sich  nachweisen,  dass 
auch  Hartmann  solche  Wörter  allmählich  meidet^  dann  bedeutet 
das  allerdings  nicht  wenig.  Die  beobachtung  ergibt  nun,  dass 
solche  Wörter  i.  a.  nur  im  Erec  und  I.  büchl.  vorkommen,  dann 
verschwinden.  Das  sichert,  wie  schon  oben  bemerkt,  den  frühen 
ansatz  beider  dichtungen.  Für  die  reihe  der  übrigen  ergibt 
sich,  dass  im  Iwein  die  besonders  charakteristischen  (degen, 
kneht,  schaß)  noch  zuweilen  da  sind,  im  Gregor  aber  ver- 
schwinden. Das  spricht  für  das  relativ  höhere  alter  des  Iweins. 
Man  vergleiche  folgende  tabelle: 

I.  büchl.  Erec  Iwem  Greg.  A.  Heinr. 

balt  2  3  —  —  — 

degen  —  11  4  _  _ 

degenlich  —  1  —  —  — 

eUen  —  6  11  — 

eUenthaft  —  3  —  1  — 

ich  genende  —  1  —  —  — 

genendic                    1  2  —  1  — 

genendeclichen          1  2  1  —  — 

genendekeit  —  1  —  —  — 

helt  —  14  1  — 

isengewant  —  9  1  —  — 

isenwät  —  1  —  —  — 

kneht  (=ritter)  —  21  5  —  — 

magedin  —  3  —  —  — 

rant  —  4  _  __  — 

Schaft  —  11  1  —  — 

snel  —  1  —  —  — 

snelle                      1  3  —  —  — 

snelheit  —  2  —  —  — 

Zum  teil  hängt  dies  auch  mit  dem  inhalt  zusammen.  Gerade 
für  die  wichtigsten  kann  man  es  aber  nicht  behaupten. 

Im  Zusammenhang  mit  dem  erörterten  steht  es  wol  auch, 
wenn  Wörter  wie  herlich  (Er.  5  m),  herlichen  (Er.  2  m.;  Iw.  1  m.), 
manlich  Er.  8m.;  Iw.  4m.;  Gr.  Im.),  manliche (l.\).  Im.;  Er. 3m.) 
allmählich  verschwinden.  Sie  passten  vermutlich  nicht  mehr 
zu  Hartmanns  voratellung  vom  idealritter  bez.  mann.  Um- 
gekehrt vgl.  hövesch  und  seine  sippe. 

Im  übrigen  scheinen  mir  zu  chronologischen  Schlüssen  nur 
solche  Wörter  geeignet,  die  oft  vorkommen  wd  zugleich  ohne 


ÜEBER  HABTMANN  VON   AUE.  57 

sonderlichen  unterschied  mit  synonymen  wechseln  können. 
Besonders  Partikeln.  Vos  hat  auf  einiges  selbst  hingewiesen. 
So  nimmt  der  gebrauch  von  dagen  (nebst  compositis)  vom  Iwein 
an  ab  (Iw.,  Greg.,  A.  Heinr.  stehen  sich  i.  a.  gleich),  der  von 
steigen  (und  compositis)  entsprechend  zu  (im  A.  Heinr.  wider 
ab).  Harte  nimmt  vom  Iwein  an  ganz  bedeutend  zu  und  bleibt 
im  Gregor  und  A.  Heinr.  auf  der  höhe,  vil  dagegen  nimmt 
merklich  ab.  StarJet  verhält  sich  ähnlich  wie  harte.  Es  wird 
also  statt  des  blasseren  vil  öfters  ein  volleres  wort  gewählt. 
Andere  solche  paare  ergeben  nichts,  wie  z.  b.  dicJce  und  ofte, 
hceren  und  vememen. 

Weitaus  die  meisten  der  von  Vos  beigebrachten  Wörter  sind 
m.  e.  für  eine  Chronologie  ganz  ungeeignet.  Houhet  kommt  Er. 
36  m.,  Iw.  8  m.,  Greg.  5  m.  vor.  Das  wort  als  solches  ist  ganz 
unverfänglich.  Was  soll  sein  gebrauch  für  die  Chronologie 
bedeuten? 

Bei  andern  worten  ist  einfluss  der  lectüre  zu  berücksich- 
tigen. Im  Iwein  findet  sich  das  wort  geha^  10  m.,  sonst  in 
den  reimpaardichtungen  nie.  Dafür  vtent  u.  ä.  Wahrschein- 
lich ist  Hartmann  hier  das  ihm  an  sich  bekannte  wort  durch 
irgend  einen  literarischen  einfluss  neu  in  den  sinn  gekommen; 
es  gefiel  ihm  und  er  brauchte  es  nun  öfter.  Literarische  ein- 
flüsse  können  ihm  aber  ebensogut  ein  wort,  das  er  im  Iwein 
nicht  mehr  verwendet,  im  Greg,  oder  A.  Heinr.  wider  empfohlen 
haben. 

Wenn  Vos  darauf  hinweist,  dass  Gregor  und  Erec  viele 
Worte  der  tabelle  gemeinsam  hätten  (s.  69),  so  ist  zunächst  zu 
bemerken,  dass  die  angeführten  gar  nicht  charakteristisch  sind. 
Femer  ist  die  gegenprobe  nicht  gemacht:  ob  die  fälle  des  Unter- 
schiedes oder  der  zusammenstimmung  überwiegen,  muss  fest- 
gestellt werden,  wenn  über  relative  verwantschaft  etwas  aus- 
gesagt werden  soll.  Dann  ist  zu  bedenken:  Hartmann  hat 
seine  erzählungen  ohne  zweifei  an  seinem  hofe  vorgelesen. 
Las  er  nun  den  Erec,  während  er  am  Gregor  arbeitete,  so 
konnten  ihm  Wörter  aus  jenem,  die  er  im  Iwein  zufällig  nicht 
anwendet,  sehr  wol  wider  ins  gedächtnis  kommen.  Diese 
möglichkeit  hat  Vos  überhaupt  nicht  erwogen. 

Ich  kann  also  den  sprachlichen  beobachtungen  von  Vos 
nur  wenig  bedeutung  beimessen.    So  weit  sie  brauchbar  sind 


58  SABAN 

bestätigen  sie  meine  oben  neu  begründete  reihenfolge.  Im 
allgemeinen  zeigen  sie,  dass  man  mit  dieser  methode  nicht  viel 
ausrichten  kann,  weil  sie  überaus  umständlich  und  unsicher  ist. 
Was  nun  die  reime  anbetrifft,  so  liegt  auf  der  band,  dass 
aus  der  häufigkeit  der  reimvocale  und  gewisser  reimgruppen 
nichts  gewonnen  werden  kann  (vgl.  Helm  a.  a.  o.).  Auch  die 
beobachtung  der  'unreinen'  reime  hilft  zu  nichts.  Höchstens 
könnte  man  in  der  völligen  reinheit  der  reime  des  A.  Heinr. 
einen  beweis  dafür  sehen,  dass  diese  dichtung  die  jüngste  ist. 
Dafür  ist  sie  aber  auch  die  kürzeste. 

Wert  hat  in  diesem  teil  der  arbeit  von  Vos  nur  die  Zu- 
sammenstellung über  die  rührenden  reime.  Es  finden  sich  näm- 
lich von  solchen  reimpaaren  im 

Lbüchlein  16  (excl.  ^eich'), 

Erec     .    110, 

Iwein    .      27  (incl.  der  stelle  7151—60,  die  natür- 
lich nicht  weggelassen  werden  darf), 

Gregor        21, 

A.  Heinr.  8. 
Berücksichtigt  man  den  umfang  der  dichtungen,  dann  er- 
gibt sich,  dass  I.  büchl.  und  Erec  von  den  andern  dichtungen 
durch  eine  grosse  kluft  getrennt  sind.  Iw.,  Greg.,  A.  Heinr. 
stehen  sich  dagegen  so  nahe,  dass  man  keine  Schlüsse  ziehen 
darf.  Genaueres  für  die  reihenfolge  der  strittigen  werke  lernt 
man  also  nicht.  Immerhin  bekommt  man  wider  ein  unverächt- 
liches Zeugnis  für  das  alter  von  I.  büchlein  und  Erec  (vgl. 
oben  s.  27).  — 

Es  ergibt  sich  also  aus  den  vorstehenden  erörterungen: 
von  den  zwei  gründen  die  ich  für  die  Chronologie  des  H.  büch- 
leins  geltend  gemacht,  hat  den  ersten  niemand  angefochten  oder 
gar  widerlegt;  der  zweite  ist  zwar  angegriffen  worden,  aber 
ohne  ausreichende  gründe.  Vielmehr  ist  gerade  meine  Chrono- 
logie der  echten  reimpaardichtungen  Hartmanns  von  Schönbach 
angenommen.  Das  büchlein  ist  also  tatsächlich  nach  sämmt- 
lichen  werken  des  Auers  geschrieben.  Es  fällt  an  das  ende 
der  reihe,  nicht  in  die  mitte,  wie  Schönbach  annimmt,  ohne  es 
zu  beweisen.  Dann  kann  es  aber  auf  keinen  fall  ein  werk  Hart- 
manns sein,  wie  ich  H.  v.  A.  s.  57  f.  zeige,  in  einer  auseinander- 
setzung  der  ich  auch  jetzt  nichts  weiter  hinzuzufügen  habe. 


UEBEB  HABTMANN  VOK  AüE.  59 

Welche  neuen  positiven  gründe  führt  nun  Schönbach  an, 
um  Haupts  annähme  aufrecht  zu  erhalten?  Er  behauptet  zu- 
nächst s.  361,  das  zweite  (und  vor  allem  erste)  büchlein  hingen 
mit  Hartmanns  liebeslyrik  aufs  engste  zusammen.  Das  erste 
büchlein  gehöre  zum  ersten,  das  andere  zu  einem  zweiten 
minneverhältnis.  Diese  behauptung  lässt  sich  nur  dann  recht- 
fertigen, wenn  das  U.  büchlein  spätestens  mit  dem  Iwein  gleich- 
zeitig ist.  Es  muss  aber  weit  hinter  alle  werke  des  Auers 
fallen,  wie  oben  gezeigt.  Also  braucht  man  mit  dieser  annähme 
Schönbachs  nicht  weiter  zu  rechnen. 

Femer  sagt  Schönbach  s.  368:  *dass  der  Verfasser  dieses 
ganz  vorzüglichen  [?]  gedichtes  nicht  wol  jemand  anders  sein 
kann  als  Hartmann  von  Aue,  lässt  sich  meiner  ansieht  nach 
mit  Sicherheit  erweisen.  Meine  analyse  hat  ihren  zweck  voll- 
ständig verfehlt,  wenn  es  ihr  nicht  gelungen  ist  zu  zeigen, 
dass  die  beiden  stellen  121—136.  145—153,  die  mit  MF.  214, 
12  ff.  27  ff.  wörtlich  [?]  übereinstimmen,  in  organischem  zu- 
sammenhange mit  dem  vorausgehenden  und  nachfolgenden 
stehen.  Kein  ausschreiber  und  nachahmer  ist  so  geschickt, 
dass  er  andere  in  dieser  weise  zu  citieren  vermöchte;  ganz 
abgesehen  davon,  dass  der  dichter  des  ü.  büchleins  es  wirklich 
nicht  nötig  hatte,  von  fremden  zu  borgen.  Nur  wer  sich  selbst 
anführt,  verfügt  so  souverain  über  das  angeführte'. 

Ob  es  der  dichter  des  IL.  büchleins  nötig  hatte  zu  borgen 
oder  nicht,  darüber  unten.  Tatsache  ist  jedenfalls,  dass  er 
überaus  häufig  aussprüche  von  gewährsmännern  heranzieht, 
um  seine  erörterungen  daran  zu  knüpfen  oder  um  sie  zur 
Widerlegung  zu  brauchen.  Autoren  zu  citieren  ist  der  Ver- 
fasser, vermutlich  als  kenner  der  rhetorik  und  dialektik,  ge- 
wöhnt; war  es  doch  auch  in  den  lateinischen  versen  und  der 
lateinischen  prosa  ganz  üblich,  phrasen  und  stellen  berühmter 
dichter  nachzuahmen  oder  einzuflechten.  Der  Schreiber  des 
büchleins  hat  mit  diesen  stellen  aus  Hartmann  gewis  nur  einen 
beweis  seiner  kennerschaft  liefern  wollen  und  darin  einen 
Vorzug  seines  werkes  gesehen.  Warum  soll  ein  nachahmer 
werke  seiner  Vorgänger  nicht  auch  einmal  mit  geschick  be- 
nutzen, was  hier  entschieden  der  fall  ist?  Jenen  allgemeinen 
erwägungen  Schönbachs  vermag  ich  keinen  besonderen  wert 
beizulegen. 


60  SABAN 

Sind  nun  weiter  die  fraglichen  stellen  wirklich  so  orga- 
nisch und  unlösbar  mit  dem  Inhalt  des  n.  büchleins  ver- 
bunden ? 

Zunächst  121—136  =  MF.  214, 12—22.  Schon  oben  ist 
angemerkt  worden,  dass  Schönbach  den  gedankengang  des 
liebesbriefes  nicht  immer  richtig  darstellt  und  namentlich  darin 
fehlt,  dass  er  eine  fortlaufende  dialektische  gedankenentwick- 
lung  durch  das  ganze  gedieht  hin  annimmt.  Meine  disposition 
auf  s.  5  ff.  zeigt  das.  Auf  jeden  fall  beginnt  mit  v.  137  ein 
neuer  unterteil  ( A 1 2),  der  dem  gleichgestellt  ist,  der  vorausgeht 
(A 1 1)  und  dessen  gedanke  nicht  aus  dem  vorhergehenden 
folgt.  Die  bemerkung  Schönbachs  s.  363  oben,  mit  v.  137  be- 
ginne die  darstellung  eines  einzelfalles  [zur  begründung  dessen 
was  vorausgeht?]  ist  darum  nicht  zu  billigen.  Dort  in  A  1 1 
(v.  53 — 136)  sagt  der  dichter,  sein  glückliches  minneverhältnis 
habe  ihm  doch  Unglück  gebracht;  hier  in  A  1 2  sagt  er  weiter, 
ebenso  bringe  ihm  die  treue  nicht  freude  sondern  gerade  pein. 
Also  ist  keine  causale  Verbindung  der  teile  1 1  und  2  vorhanden. 
Beide  sind  coordiniert. 

Aber  auch  mit  dem  vorausgehenden  sind  die  verse  121 — 136 
nicht  so  organisch  und  unlösbar  verbunden,  dass  sie  nicht  ent- 
lehnt sein  könnten.  Auch  hier  hat  Schönbach  den  logischen 
Zusammenhang  nicht  erkannt  (s.  362  ff.).  Er  scheint  mit  v.  121 
einen  neuen  gedankengang  anzusetzen:  ouch  (v.  121)  sei  ad- 
versativ ^andererseits',  eine  entgegnung  dialektisch  einleitend. 
Aber  das  ist  unmöglich.  V.  121  ff.  beginnt  nicht  einen  neuen 
teil  (ein  solcher  beginnt  erst  v.  137),  sondern  schliesst  effect- 
voU  den  ersten.  All  hebt  v.  53  (hinter  der  einleitung)  nach 
gewohnheit  des  dichters  mit  einem  allgemeinen  erf ahrungssatz 
an,  den  auch  er  anerkennen  muss:  4ch  höre,  dass  eine  liebe 
die  zum  ziel  gelangt,  das  schönste  ist.  Ferner  {ouch  v.  60) 
sehe  ich  selbst,  dass  glückliche  liebe  die  herzen  froh  macht 
und  zwar  mit  recht.  Wenn  man  nämlich  (v.  65)  das  los  derer 
betrachtet,  die  da  glücklich  sind,  dann  ist  in  der  tat  nicht  zu 
leugnen,  dass  ein  glückliches  minneverhältnis  das  beste  leben 
ist,  das  gott  geben  kann'.  V.  79  wird  nun  angedeutet,  dass 
der  dichter  jener  erfahrung  entsprechend  ein  minneverhältnis 
und  zwar  ein  ^vollkommenes'  eingegangen  ist.  Aber  (v.90 — 102) 
jenes  glück  ist  gerade  sein  Unglück  geworden.    Es  ergibt  sich 


UEBEB  HABTMAKN  VON  AUE.  61 

also,  dass  jener  allgemeine  satz  falsch  ist:   vielmehr  muss  er 
sagen,  sein  glück  bringe  ihm  unglück. 

Dieser  gedanke,  der  zwischen  v.  102  und  103  zu  ergänzen 
ist,  wird  nun  von  v.  103 — 120  in  emphatischer  weise  immer 
wider  ausgesprochen.  Das  ich  in  v.  103,  mich  in  v.  104  u.s.w. 
sind  zu  betonen.  Die  mannigfachsten  antithesen  müssen  dazu 
herhalten,  ihn  einzuschärfen.  V.  121 — 136  setzt  dieser  leiden- 
schaftlichen rede  die  kröne  auf.  *  Darum  {puch  v.  121)  schreibe 
ich  das  auch  als  eine  Wahrheit  nieder,  glücklich  ist  nur  der, 
dem  nie  glück  zu  teil  geworden'.  Damit  wird,  wie  man  sieht, 
das  gegenteil  der  allgemeinen  behauptung  zu  anfang  von  teil 
All  (v.  53  ff.)  aufgestellt.  Das  ouch  von  v.  121  ist  also  keines- 
wegs adversativ,  sondern  folgert  bez.  bekräftigt  (vgl.  Mhd.  wb. 
2,1,450  c). 

Ohne  zweifei  ist  das  ganze  sehr  geschickt  aufgebaut,  und 
der  paradoxe  gedanke  der  die  pointe  bildet,  sehr  gut  vor- 
bereitet. Aber  dass  diese  verse  121 — 136  so  organisch  und 
unlösbar  in  dem  ganzen  stünden,  dass  ein  nachahmer  sie  nicht 
hätte  anbringen  können,  finde  ich  nicht.  An  sich  reichte  es 
hin,  wenn  der  dichter  mit  dem  trumpf  von  v.  117 — 120  schlösse, 
der  schon  kräftig  genug  ist. 

Ausserdem  sieht  man  klar,  wie  der  Verfasser  den  abschluss 
dieses  teiles,  in  dem  er  seine  verzweifelte  Stimmung  schildert, 
aus  lauter  nur  leicht  veränderten  citaten  zusammengebaut  hat: 

V.  103—113  vgl.  Iw.  7066—7074, 

V.  116  „    A.  Heinr.  712, 

V.  117— 120     „    Greg.  505— 507, 

V.  121— 136     „    MF.  214, 12— 22. 
Die  mittel  um  seine  gefühle  auszudrücken,  borgt  er;  die  stelle 
des  liebesbriefes,  wo  der  giösste  schwung  gefühlt  wird,  ist  nicht 
selbständig! 

Gerade  die  verse  also,  die  Schönbach  zum  beweis  dafür 
verwendet,  dass  sie  originell  seien,  beweisen  evident,  dass 
wir  es  mit  einem  nachahmer  zu  tun  haben. 

Auch  die  andere  stelle  büchl.  146—153  =  MF.  214, 27—33 
beweist  nichts  für  Schönbach.  Teil  A  I  2  beginnt  wie  1  mit 
einer  allgemeinen  erfahrung  (137 — 144):  treue  und  beständig- 
keit  soll  für  leib  und  seele  von  allem  was  glück  ist,  das  beste 
sein.    y.  145  wird  die  entgegengesetzte  erfahrung  gemacht  und 


62  SARAH 

zur  darstellung  die  bekannte  Strophe  Hartmanns  benutzt.  Ver- 
mutlich ist  der  ganze  teil  erst  aus  der  antithese  Hartmanns 
herausgewachsen:  darum  passt  die  stelle  auch  so  gut  hinein. 
—  Aber  warum  soll  ein  nachahmer  diesen  teil  nicht  haben 
schreiben  können? 

Die  verse  157—159  sind  nach  Schönbach  s.  363.  369  citat 
aus  einer  liebesbotschaft  der  frau.  Warum?  Derartiges  deutet 
der  text  nirgends  an.  Wenn  ein  dichter  eben  zwei  Strophen 
Hartmanns  benutzt  hat,  dann  liegt  doch  wol  am  nächsten  zu 
glauben,  dass  er  auch  die  andern  lieder  seines  lieblingsdichters 
kennt  und  ausschreibt.  Uebrigens  sind  die  dort  stehenden 
Wendungen  und  die  zu  gründe  liegende  Situation  im  minne- 
sang  so  beliebt,  dass  sie  der  dichter  des  büchleins  auch  anders- 
woher als  aus  Hartmann  haben  könnte.  Vgl.  Reinmar  MF. 
192, 38  (v.  31  steht  das  angestUchen  von  bücMein  154,  das  bei 
Hartmann  fehlt);  Hausen  ebda.  54, 1  dieselbe  Situation  (vgl. 
bes.  55, 5). 

Das  MF.  212, 37  als  Hartmannisch  bezeichnete  lied  soll 
nach  Schönbach  s.  370  von  einer  dame  gedichtet  sein.  Das 
n.  büchlein  sei  die  antwort  Hartmanns  darauf.  Wo  aber  sind 
die  gründe  für  diese  behauptung? 

Alle  diese  constructionen  Schönbachs  haben  die  vorgef asste, 
doch  nirgends  bewiesene  annähme  zur  Voraussetzung,  das  zweite 
büchlein  und  die  dailn  benutzten  lieder  Hartmanns  gehörten 
ihrer  entstehung  nach  zusammen.  Dass  an  eine  solche  beziehung 
nicht  zu  denken  ist,  habe  ich  oben  nachgewiesen.  Schönbachs 
darlegungen  entbehren  also  der  realen  grundlage. 

Meine  ansieht,  dass  das  sog.  II.  büchlein  Hartmann  nicht 
gehört,  halte  ich  demnach  als  völlig  unwiderlegt  fest.  Es  ist 
also  eine  etwas  verfrühte  behauptung  Helms,  wenn  er  Lit.-bl. 
1898,  s.  264  seinen  lesem  versichert:  ^das  sog.  zweite  büchlein 
kann  jetzt,  nachdem  Schönbach  und  Vos  auf  ganz  verschiedenen 
wegen  zum  gleichen  resultat  gelangt  sind,  mit  bestimmtheit 
als  ein  werk  Hartmanns  betrachtet  werden'. 

Wer  ist  nun  der  Verfasser  des  liebesbriefes?  Es  finden 
sich  darin  stellen  aus  sämmtlichen  werken  Hartmanns,  auch 
parallelen  zu  Wigalois,  Freidank,  Ki'one.  Wörtlich  benutzt 
ist  eine  Strophe  Burkards  von  Hohenfels.  Wer  Hartmanns 
Verfasserschaft  retten  will,  muss  annehmen,  dass  die  büchlein- 


UEBEB  HARTMAKN  VON  AÜE.  63 

stellen  original,  die  parallelen  in  den  andern  mM.  werken 
abgeleitet  seien.  Das  wäre  eine  ausflucht  die  ein  unbefangener 
von  vom  herein  ablehnen  wird.  Das  büchlein  rückt  also 
mindestens  in  das  zweite  viertel  des  13.  jh.'s.  Die  Untersuchung 
der  metrischen  technik,  insbesondere  der  reimbrechung  würde 
gewis  ermöglichen,  die  Chronologie  noch  genauer  zu  bestimmen. 

Auf  eins  kann  ich  aber  noch  hinweisen.  Wenn  auch  der 
Verfasser  als  meister  Hartmann  verehrt,  so  kennt  er  doch  auch 
Gottfried  und  ahmt  ihm  nach:  vgl.  v.  33 — 36  mit  Trist,  v.  1863 ff. 
Auch  vierreim  an  prägnanter  stelle  wie  büchl.  99 — 102  liebt 
Gottfried;  vgl.  Trist.  131— 134.  233— 236  ff.  11875  ff.  Ja  — 
und  das  scheint  mir  ausschlaggebend  —  ohne  Gottfrieds  Tristan 
wäre  das  ganze  büchlein  wie  ich  glaube,  nicht  geschrieben. 

Die  Situation  des  ritters  im  büchlein  ist  nämlich  derjenigen 
ziemlich  gleich,  in  der  sich  Tristan  am  ende  von  Gottfrieds 
dichtung  befindet.  Wie  der  dichter  durch  huote  von  seiner 
geliebten  getrennt  in  der  ferne  weilt  oder  schweift,  so  ist  auch 
Tristan  fern  von  der  blonden  Isot  in  Arundel.  Auch  ihm  ist 
ein  glückliches  *  vollkommenes'  minne  Verhältnis  zum  Unglück 
geworden.  Die  Stimmung  beider  liebenden  ist  ganz  ähnlich. 
Dazu  kommen  einzelne  beziehungen  des  Inhalts. 

Der  Verfasser  des  büchleins  kennt  als  sicheres  mittel  gegen 

senedez  leit  daz  man  liebes  müge 

mit  liebe  vergezzen. 

Das  mittel  versucht  er.    So  denkt  auch  Tristan: 

V.  19430  iemer  gesenftet  werden, 

diz  liep,  daz  mir  sos  wirret,  daz  muoz  mit  fremedem  liebe  wesen. 

daz  mir  benimet  lip  unde  sin,  Ich  hän  doch  dicke  daz  gelesen 

d&  von  ich  sus  beswaeret  bin,  und  weiz  wol  daz  ein  trütschaft 

sei  mir  daz  üf  der  erden  benimet  der  anderen  ir  kraft. 

V.  19465  ich  wirde  lihte  dervan 

gewende  ich  mine  sinne  ein  triureloser  Tristan. 

m§  danne  an  eine  minne,  nü  sol  ich  ez  versnochen. 

(Vgl.  Büchl.  515.) 

Bei  Ulr.  v.  Türheim  (Massmann  s.  498)  heisst  es  dann  übrigens 

weiter  Tristan  1&  den  unsin 

unt  tuo  die  gedanke  hin 
die  dir  din  heil  yerk^rent 
und  gar  din  dre  un^rent. 
(Vgl.  Büchl.  550—553.) 


64  SARAK 

Die  zweite  Isot  heisst  juncfrouwe  502, 19.  Tristan  und  Isöt 
Weisshand  vermählen  sich.  Vgl.  nun  die  erzählung  von  der 
hochzeitsnacht  und  was  folgt  bei  Ulrich:  Massm.  503, 6.  7 

Is6t,  der  er  sich  häte  yerzigen, 
diu  kom  im  wider  in  den  sin. 
(Vgl.  Büchl.  533.  534.) 

Ebda.  33  ff.  denkt  Tristan  den  namen  der  fernen  Isot,  während 
er  eine  andere  Isot  triutet  (vgl.  Büchl.  532.  535).  Dann  Isötes 
vorwürfe  506, 20  ff. 

din  herze  mich  niht  meinet, 
ez  ist  diu  blnnde  Isolde 
diu  diz  gebot  geboten  hat. 
ich  hftn  diz  nein  und  lige  da 
so  ist  si  yerre  und  hat  diz  ja. 
(Vgl.  Büchl.  536  ff.) 

Die  zweifei  an  der  beständigkeit  der  dame,  die  büchl.  v.  644 
bringt,  lassen  sich  wenigstens  mit  Tristans  zweifeln  Gottfr. 
19469  ff.  einigermassen  vergleichen,  obgleich  sie  im  übrigen 
anderer  art  sind.  Auch  das  motiv  der  narrheit  büchl.  171  ft 
könnte  mit  dem  Tristanstoff  zusammenhängen. 

Dass  den  büchleinstellen  die  herangezogenen  verse  der 
beiden  dichtungen  unmittelbar  zu  gründe  lägen,  soll  hiermit 
nicht  behauptet  werden.  Nur  so  viel  scheint  mir  gewis,  dass 
der  dichter  des  büchleins  motive  dem  Tristanstoff  in  der 
psychologischen  Vertiefung  entnahm,  wie  ihn  Gottfried  in 
Deutschland  zuerst  bekannt  gemacht  hat.  Das  büchlein  fällt 
offenbar  in  eine  zeit,  der  die  Situationen  des  Tristan,  und  zwar 
ihrem  seelischen  gehalt  nach,  lieb  und  bekannt  waren.  Vor 
dem  erscheinen  des  Werkes  Gottfrieds,  also  rund  vor  1210,  ist 
ein  werk  wie  das  büchlein  nicht  wol  denkbar.  Auch  dies 
passt  völlig  zu  der  oben  ermittelten  zeit.  Ich  halte  daher  an 
meiner  H.  v.A.  s.60  gegebenen  datierung  *um  1230'  fest  bis 
eine  bessere  nachgewiesen  ist. 

HALLE  a.  S.,  august  1898. 

NACHTRAG. 

Nach  abschluss  meiner  Untersuchung  ist  erschienen:  Carl 
Kraus,  Das  sog.  11.  büchlein  und  Hartmanns  werke  (Abhand- 
lungen zur  german.  philol.,  festgabe  für  R.  Heinzel  Halle  1898). 


UBBBR  HARTMANN   VON  AUE.  65 

Ein  hinweis  auf  diese  sorgfältige  und  wertvolle  arbeit  möge 
hier  noch  platz  finden. 

Auch  Kraus  kommt  zu  dem  ergebnis,  dass  das  büchlein 
nicht  von  Hartmann  verfasst  sein  kann.  Bedeutsam  ist,  dass 
er  auf  ganz  anderem  wege  dazu  gelangt  als  meine  arbeit. 
Weder  literarhistorische  noch  metrische  gründe  führt  er  an, 
sondern  rein  technische:  Sprachgebrauch  und  reimgewohnheit. 
Er  weist  auf  grund  seines  vollständigen  materiales  nach,  dass 
die  reime 

n.  büchl.  17    zerunne  :  sunne  II.  büchl.  259    sinne  :  inne 

822    here  :  m^re  u.s.w.  519    jagende  :  tagende 

409    daz  ein  :  zwein  337    klagenne  :  tragenne 

für  Hartmann  unmöglich  sind;  ferner  dass  v.  653  swirt,  v.  30 
snellen  list,  402  dol  gegen  seinen  Sprachgebrauch  Verstössen* 
Endlich  dass  das  büchlein,  die  echtheit  vorausgesetzt,  nicht  in 
die  Chronologie  der  Hartmannschen  werke  passe  und  zwar  aus 
gründen  des  Sprachgebrauchs. 

Wer  sich  gegen  die  kraft  der  gründe  verschliesst,  die  ich 
aus  der  Stilisierung  der  entlehnungen,  aus  der  metrik  und  aus 
andern  tatsachen  hergenommen  habe,  wird  für  diese  rein 
sprachlichen  beobachtungen  von  Kraus  vielleicht  empfäng- 
licher sein,  obwol  meiner  meinung  nach  die  von  mir  Hartm. 
V.  Aue  s.  43 — 45  festgestellte  und  oben  s.  26  nochmals  betonte 
tendenz  allein  schon  die  unechtheit  sicher  stellt.  Diesen  haupt- 
teil meiner  beweisführung  hat  man  —  Piquet  ausgenommen 
—  leider  nicht  genügend  beachtet,  und  das  dürfte  nicht  zum 
wenigsten  der  grund  gewesen  sein,  dass  die  Überzeugung  von 
der  unechtheit  so  wenig  an  boden  gewonnen  hat.  Selbst 
Kraus  erwähnt  jene  meine  ausführungen  nicht,  scheint  ihnen 
also  auch  seine  aufmerksamkeit  nicht  zugewendet  zu  haben. 

Mit  Zuversicht  meint  der  verf .  andrerseits  (s.  40),  dass  die 
werke  Hartmanns  die  reihe  bilden:  I.  büchlein  (und  lieder), 
Erec,  Gregor,  A.  Heinr.,  Iwein.  Das  ist  die  folge  der  reim- 
versdichtungen  Hartmanns,  die  Lachmann  und  Haupt  an- 
nehmen und  zwar  auf  grund  von  reim-  und  Sprachgebrauch. 
Auch  K.  Zwierzina  hat  sich  dieser  ansieht  angeschlossen  und 
sie,  wenigstens  für  die  reimpaardichtungen,  in  derselben  fest- 
gabe  für  R.  Heinzel  mit  sehr  grosser  Sicherheit  vorgetragen. 
Der  titel  seiner  reichhaltigen  und  namentlich  für  das  problem 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  5 


66  SABAN 

der  mhd.  dichtersprache  wichtigen  abhandlung  ist:  Beobach- 
tungen zum  reimgebrauch  Hartmanns  und  Wolframs  (s.  437 
—511).  Ueber  die  Stellung  der  lieder  äussert  er  sich  hier 
nicht.  Kraus  hat  sie  im  anschluss  an  meine  beweisftthrung 
Beitr.  23  alle  in  die  nähe  des  I.  büchleins  gesetzt:  Zwierzina 
ist  meiner  argumentation  minder  geneigt  (vgl.  seine  kritik 
s.  451  und  452  am  schluss  der  fussnote).  Es  ist  nicht  nötig,  des- 
halb auf  die  sache  zurückzukommen. 

Kraus  und  Zwierzina  billigen  die  Chronologie  Lachmanns 
und  Haupts.  Das  ist  begreiflich,  da  sie  dasselbe  kriterium 
benutzen  wie  jene:  den  Wechsel  im  Sprachgebrauch,  wie  ihn 
die  reimstatistik  erkennen  lehrt.  Es  ist  nun  nicht  zu  be- 
zweifeln, dass  dies  kriterium  von  hohem  wert  ist.  Aber  die 
grundlagen  der  ansieht  beider  gelehrten  kann  man  erst  dann 
wirklich  prüfen,  wenn  das  ganze  material  in  übersichtlicher 
form  mitgeteilt  ist,  auf  das  3ie  ihre  annähme  stützen.  Was 
in  den  beiden  oben  citierten  auf  Sätzen  beigebracht  wird,  ge- 
nügt m.  e.,  so  anregend  es  ist,  keineswegs,  die  Ordnung  der 
dichtungen  zu  sichern.  Namentlich  wäre  es  erwünscht,  genauer 
die  grundsätze  zu  wissen,  nach  denen  der  gesammelte  Stoff 
benutzt  ist.  Es  scheint  mir,  als  ob  Zwierzina  den  gemachten 
beobachtungen  gelegentlich  etwas  zu  viel  gewicht  beilege. 
Und  wenn  er  mir  s.  451  fussnote  vorwirft,  ich  hätte  in  meinem 
buch  die  interessantesten  beobachtungen  der  altmeister  unter- 
schätzt, so  will  ich  das  für  die  zeit  jener  erstlingsarbeit  (disser- 
tation  von  1889)  nicht  leugnen.  Aber  ich  möchte  doch  darauf 
hinweisen,  dass  eben  jene  beobachtungen  selbst  die  altmeister 
nicht  gehindert  haben,  das  11.  büchlein  für  zweifellos  echt  zu 
halten,  ein  werk,  dessen  unechtheit  nun  auch  für  Zwierzina 
völlig  feststeht. 

Es  handelt  sich  bei  der  chronologischen  frage  um  die 
Stellung  des  Iwein.  Ich  setze  ihn  —  wie  nun  auch  Schönbach 
—  genau  in  die  mitte  der  fünf  fraglichen  dichtungen.  Kraus 
und  Zwierzina  nach  Lachmann  und  Haupt  ans  ende.  Für 
meine  Ordnung  ^L  büchlein,  Erec,  Iwein,  Gregor,  A.  Heinrich' 
sprechen  vor  allem  die  einleitung  des  Gregor,  die  psychologische 
Wahrscheinlichkeit  und  die  entwicklung  der  metrik.  Die  ersten 
beiden  momente  sind  an  und  für  sich  nicht  ausschlaggebend, 
die  metrische  Statistik  aber  fällt  sehr  in  die  wagschale.    Durch 


UEBER  HARTMANN  VON   AUE.  67 

Übereinstimmung  mit  deren  ergebnis  gewinnen  dann  auch  die 
beiden  ersten  gründe  bedeutend  an  wert.  Für  die  reihe  *I.büch- 
lein,  Gregor,  A.  Heinr.,  Iwein'  werden  besonders  von  Zwierzina 
Wortwahl  und  reimgebrauch  angeführt. 

Ist  die  reihenfolge  Lachmanns  richtig,  so  haben  wir  im 
Iw.  eine  metrische  entwicklung  bergab  bei  zunehmender  *ver- 
besserung'  der  sprachform.  Jene  versstatistik  aber  bleibt, 
so  lange  sie  nicht  als  verfehlt  erwiesen  ist,  ein  beweismoment, 
das  nicht  vernachlässigt  werden  darf.  Wenn  die  anerkannte 
reihe  *I.  büchlein,  Erec  —  Gregor,  A.  Heinr.'  und  die  unecht- 
heit  des  ILbüchleins  durch  sie  bestätigt  wird,  so  darf  man 
den  Iwein  nicht  ohne  zwingenden  grund  ihrem  bereich  ent- 
ziehen. 

Nimmt  man  meine  Chronologie  als  richtig  an,  so  muss 
man  fragen:  wie  weit  sind  beobachtungen  über  Wortwahl  und 
reimtechnik  für  die  Zeitfolge  zwingend?  Mir  scheint,  dass 
Zwierzinas  Sammlungen  in  diesem  pimkt  noch  eine  methodische 
bearbeitung  vertragen. 

Zunächst  können  jene  Sprachbeobachtungen  nicht  so  bequem 
und  einfach  statistisch  aufgenommen  werden,  wie  metrische. 
Zahlen  beweisen  bei  ihnen  nur  dann  etwas,  wenn  sie  relativ 
bedeutend  sind. 

Beobachtet  man  die  glättung  des  verses,  so  kann  i.  a. 
rücksicht  auf  den  Inhalt  bei  seite  bleiben.  Für  den  Sprach- 
gebrauch und  die  reimtechnik  ist  der  erzählte  stoff  aber  von 
grosser  bedeutung.  Viele  Wörter  die  im  Erec  und  Iwein  zu 
brauchen  sind,  passen  für  den  A.  Heinr.  nicht.  Zwierzina 
deutet  selbst  s.  502  an,  dass  der  reichliche  gebrauch  von  dagen 
und  verdagen  im  anfang  des  Iwein  mit  der  Situation  zusammen- 
hängt. Kommt  also  ein  wort  im  Erec  30  mal,  im  Gregor  3  mal, 
im  Iwein  1  oder  2  mal  vor,  so  wird  i.  a.  der  unterschied  von 
Erec  und  andererseits  Gregor  und  Iwein  für  die  Chronologie 
bedeutung  haben.  Der  unterschied  zwischen  Gregor  und  Iwein 
aber  kann  auf  zufall  beruhen.  Trotz  des  Verhältnisses  6  : 1 
(bez.  3  : 1)  ist  er  nicht  bedeutend  genug  gegenüber  dem  Ver- 
hältnis des  Erec  :  Iwein  (16  :  1  oder  18  :  1). 

Die  beobachtungen  bei  Zwierzina  liefern,  so  weit  ich  sehe, 
fast  durchweg  grosse  differenzen  zwischen  Erec  einer-  und 
Gregor,  A.  Heinr.,  Iwein   andererseits.     Aber  das  Verhältnis 

5* 


68  SARAN 

von  Iwein :  Gregor  ist  nicht  so  evident.  Es  bewegt  sich  zu- 
meist in  Zahlenverhältnissen  die  nicht  von  der  priorität  des 
Gregor  überzeugen. 

Aber  nehmen  wir  auch  einmal  an,  der  Gregor  stehe 
zweifellos  tiefer  als  der  Iwein:  was  bedeutet  das?  Zwierzina 
weist  selbst  auf  die  ^rückfälle'  hin  (s.  447.  455.  458.  644). 
Wörter  die  der  dichter  meiden  will,  kommen  ihm  doch  in  die 
feder,  weil  er  einmal  unachtsam  oder  durch  lange  arbeitspause 
aus  der  Übung  gekommen  ist.  Damit  liesse  sich  schon  viel 
entschuldigen.  Nun  aber:  man  nehme  an,  der  Iwein  falle  vor 
den  kreuzzug,  der  Gregor  danach,  wie  ich  oben  vermutet  habe. 
Dann  muss  eigentlich  der  Gregor  tiefer  stehen  als  der  Iwein, 
und  zwar  merklich.  Einerseits  wegen  der  rückfälle.  Dann 
wegen  der  doch  wol  erheblichen  arbeitspause  und  der  ablenkung 
auf  praktische  dinge :  das  literarische  leben  und  arbeiten  hörte 
für  eine  zeit  lang  völlig  auf.  Weiter  wegen  des  Übergangs 
vom  Artusroman  zur  legende.  Der  setzt  einen  Wechsel  auch 
in  der  lectüre  voraus,  einen  Wechsel  der  nicht  wol  ohne  folgen 
auf  den  stil  sein  konnte.  Zugleich  ändert  sich  der  kunstwert 
der  quellen:  dort  Chrestiens  meisterwerk,  hier  eine  massige 
Gregordichtung.  Dort  ist  Hartmann  fast  nur  Übersetzer,  hier 
mehr  bearbeiter. 

Dass  ferner  die  form  des  Iwein,  dieses  der  tendenz  nach 
rein  höfischen  gedichtes,  auch  möglichst  dem  empfindlichen 
geschmack  eines  höfischen  publicums  angepasst  wurde,  ist 
wenigstens  zu  vermuten.  Die  tendenz  des  Gregor  und  A.  Heinr. 
richtet  sich  gegen  das  höfische  ideal:  es  ist  daher  gewis  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  sich  der  dichter  im  formellen  nun  freier 
bewegt.  Um  so  mehr,  da  er  nach  dem  erfolg  des  Iwein 
autorität  wurde  und  mit  seiner  technik  auch  gesetze  gab,  nicht 
mehr  bloss  empfieng.  Zwierzina  führt  aus  Wolframs  und 
Wirnts  reimgebrauch  interessante  einzelheiten  dafür  an  (vgl. 
s.  501  fussn.). 

Wenn  also  die  beobachtung  der  spräche  ergeben  sollte, 
dass  vom  Erec  zum  Iwein  ein  grosser  f ortschritt,  vom  Iwein 
zum  Gregor  ein  merkliches  sinken,  dann  bis  zum  A.  Heinr. 
wider  ein  steigen  zu  beobachten  sei,  so  würde  das,  meine  ich, 
nur  sein,  was  nach  läge  der  dinge  zu  erwarten  wäre. 

Man  kann  auch  fragen,  ob  nach  dem  tode  von  Hartmanns 


ÜEBBB  HARTMANN  VON  AUE.  69 

herrn  und  nach  dem  kreuzzug  je  wider  ein  so  lebhafter  ge- 
dankenaustausch  zwischen  dichter  und  hörerkreis  statt  fand, 
ob  Hartmann  seit  der  zeit  nicht  mehr  an  leser  als  an  hörer 
dachte,  u.dgl. 

Beachtenswert  scheint  mir  sodann,  was  Zwierzina  selbst 
zugibt,  dass  nicht  der  ganze  Iwein  auf  der  höhe  der  Vollendung 
stehe.  In  den  letzten  500  versen  finden  sich,  wie  es  s.  481 
heisst,  ^zahlreiche  nachlässigkeiten'.  Ebenso  s.  484:  ^ gesät  steht 
in  jener  partie,  in  der  wir  bereits  zu  widerholten  malen  reime 
erscheinen  sahen,  die  der  dichter  sonst  im  Iwein  mied'.  Ist 
das  ein  hinweis  auf  das  nachlassen  in  der  arbeit  am  ausdruck, 
das  der  Gregor  zeigt?  Offenbar  wurde  der  schluss  des  Iwein 
wol  etwas  eilig  ausgeführt.  Auch  die  ersten  1000  verse  sind 
nicht  gleich  sauber  wie  die  mitte;  vgl.  s.  502  f. 

Der  Iwein  ist  also  darum  so  vollkommen  in  der  spräche, 
weil  der  dichter  darin  mit  höchster  anspannung  die  regeln 
beobachtete,  die  er  sich  gegeben.  Sobald  er  weniger  sorgsam 
sein  kann  oder  will,  treten  formen  wider  ein,  die  er  eigentlich 
verbannt  hat. 

Ferner  muss  man  bedenken,  dass  jene  Verbesserungen  des 
ausdrucks  mit  vollem  bewusstsein,  mit  rücksicht  aufs  vorlesen 
in  andern  dialekten  gemacht  wurden.  Es  sind  darum  zum 
grossen  teil  nur  vorsichtsmassregeln,  aber  nicht  allmähliche 
technische  fortschritte  wie  jene  glättung  der  verse.  Was  aber 
bewusst,  auf  grund  deutlicher  regeln  (zuweilen,  wie  Zwierzina 
meint,  auch  auf  grund  unrichtiger  anschauungen,  vgl.  Kraus 
s.  41)  geschieht,  kann  jederzeit  laxer  ausgeführt  oder  nach 
belieben  unterlassen  werden.  Eine  Statistik  muss  darum  solche 
dinge  individuell  behandeln.  Metrische  fortschritte  geschehen 
i.  a.  aus  dem  gefühl  heraus;  continuität  ist  darum  als  das  princip 
anzunehmen,  nach  der  ihre  Statistik  zunächst  beurteilt  werden 
muss.  Continuirliche  Zahlenreihen  bei  Wortwahl  und  reim- 
gebrauch darf  man,  glaube  ich,  schon  theoretisch  nicht  ver- 
langen. 

Wichtig  ist  auch  bei  der  beurteilung  von  ^rückf allen'  zu 
scheiden,  ob  sie  formen  und  Wörter  betreffen,  die  dem  dichter 
als  seinem  dialekt  zugehörig  geläufig  waren  oder  andere  dinge. 
Hartmanns  dialekt  eignet  harn,  kämen.  Es  steht  im  Erec 
86  mal   (8  :  1000),    im  Iwein  7  mal  (ca.  1 :  1000),    im  Gregor 


70  8ARAN 

21  mal  (5  :  1000),  im  A.  Heinr.  Imal  (ca.  1 :  1000).  Von  den 
7  fällen  des  Iwein  finden  sich  6  in  v.  1—1000.  Der  siebente 
(v.  3143)  ist  also  ^rückfair.  Was  bedeuten  diese  zahlen? 
Man  könnte  sagen,  Iwein  und  A.  Heinr.  stehen  ungefähr  gleich: 
also  haben  wir  hier  einen  beweis  für  die  späte  abfassung  des 
Iwein.    Das  wäre  aber  uniichtig. 

Zunächst  ist  klar,  dass  der  dichter  nach  dem  Erec  meiden 
will,  die  genannten  formen  zu  reimen.  Grund  ist  nach  Zwier- 
zinas  einleuchtender  Vermutung  s.  503,  dass  er  erfuhr,  jene 
formen  seien  dialektisch  und  würden  anderswo  durch  Tcom, 
hörnen  ersetzt.  Aber  seit  wann  meidet  sie  Hartmann  wirk- 
lich. Wann  hat  er  also  jene  sprachliche  beobachtung  gemacht? 
Zwierzina  bemerkt  wider  ganz  richtig:  um  v.  1000  des  Iwein. 

Wie  soll  man  nun  aber  die  Chronologie  damit  vereinigen  ? 
Ist  Iwein  das  letzte  der  werke,  dann  haben  wir  die  auffallende 
tatsache:  v.  1 — 1000  steht  fast  ganz  auf  dem  Standpunkt  des 
Erec  (6  :  1000).  Aber  sowol  der  Gregor  (5  :  1000)  wie  beson- 
ders der  A.  Heinr.  (1 :  1000)  stehen  erheblich  besser.  Wenn 
Zwierzina  s.  503  oben  meint,  Iw.  1 — 1000  stehe  noch  ganz  auf 
der  stufe  des  Erec  und  Gregor,  so  ist  das  etwas  viel  behauptet, 
mindestens  beurteilt  er  die  differenz  von  3  pro  mille  in  diesem 
falle  etwas  zu  gelinde. 

Bleibt  also  nur  die  annähme:  Iw.  1 — 1000  ist  ein  rückfall 
in  die  technik  des  Erec.  Das  meint  auch  Zwierzina  s.  503. 
Er  fügt  hinzu:  *  solche  rückfälle  zu  anfang  neuer,  sonst  sorg- 
fältiger gereimter  gedichte  sind  uns  ja  nun  schon  etwas  alt- 
bekanntes'. Ueber  das  einmalige  Mm  des  A.  Heinr.  äussert 
er:  ^wenn  es  nicht  zufall  ist'.  Ich  will  ihm  hier  nicht  vor- 
rücken, was  er  s.  458  fussn.  2  andern  vorhält.  Aber  sehr  über- 
zeugend für  die  Chronologie  Lachmanns  ist  die  Verteilung  der 
ham,  kämen  doch  schwerlich.  Der  fall  wiegt  besonders  schwer, 
weil  es  sich  um  ein  unentbehrliches,  alltägliches  wort  handelt. 

Nehmen  wir  meine  Chronologie  an,  so  deutet  sich  die  sache 
leicht,  wie  mii*  scheint. 

Erec  und  Iwein  1—1000  stehen  gleich,  weil  sie  auch 
zeitlich  einander  folgen.  Um  v.  1000  macht  Hartmann  jene 
beobachtung  und  meidet  nun  die  formen  bis  auf  einen  zufälligen 
rückfall  im  Iwein  ganz,  mit  vollem  bewusstsein. 

Zwischen  Iwein  und  Gregor  liegt  eine  lange  arbeitspause, 


ÜEBER  HARTMANN  VON  AUE.  71 

vielleicht  der  kreuzzug,  der  tod  des  herrn  u.  a.  Darum  im 
Gregor  wider  die  seit  Iwein  1000  verpönten  formen,  aber  doch 
nicht  so  zahlreich  wie  Iw.  1—1000.  Der  rückfall  ist  um  so 
leichter  zu  verstehen,  als  die  formen  dem  dialekt  Hartmanns 
angehören,  ihm  also  von  selbst  in  die  feder  flössen.  Erst  im 
A.  Heinr.  sind  sie  wider  ausgemerzt,  der  darum  dem  Iwein  in 
dieser  beziehung  nahe  steht,  streng  genommen  ihn  an  Sorgfalt 
in  diesem  punkt  übertrifft. 

Endlich  macht  der  versbau  vom  Iwein  zum  Gregor  einen 
merklichen  fortschritt.  Hat  die  arbeit  am  rhythmus  die  auf- 
merksamkeit  des  dichters  vom  sprachlichen  abgelenkt?  Vgl. 
Zwierzinas  erörterung  s.  455  unten. 

Diese  erwägungen  und  bedenken  die  ich  mir  erlaubt  habe 
hier  noch  vorzubringen,  machen  es  mir  unmöglich,  meine 
Chronologie  der  werke  Hartmanns  für  unrichtig  zu  halten. 
Wenn  ich  auch  das  problem  durch  meine  darlegungen  oben 
s.  27  ff.  noch  keineswegs  für  erledigt  erachte,  so  sehe  ich  doch 
bis  jetzt  gar  keinen  grund,  einen  rückzug  anzutreten.  Es 
wäre  im  Interesse  der  sache  zu  wünschen,  dass  Zwierzina  den 
s.  451  verheissenen  stringenten  beweis  in  umfassender  weise 
wirklich  in  angriff  nähme.  Falls  er  gelingt,  werde  ich  gern 
meine  ansieht  mit  der  richtigeren  vertauschen. 

[Berichtigung.  In  der  disposition  auf  s.  5  ist  die  stelle  z.  20.  21 
v.u.  nicht  eine  clausel,  sondern  sie  gehört,  wie  s.  61  zeigt,  zur  beweis- 
führung  selbst.  Sie  ist  also  an  die  vorausgehenden  worte  ^  durch  die  huote 
(90 — 102)'  in  corpusschrift  angeschlossen  zu  denken.  —  S.  8,  z.  9  tilge  *in' 
und  *fast',  z.  15  *in*  und  z.  17  ff.  die  worte  *Ein  besonderer  schluss  — 
wirken'.] 

HALLE  a.  S.,  24.  october  1898.  FRANZ  SARAN. 


ZUR  ROMANISCHEN  UND  DEUTSCHEN 

RHYTHMIK. 

ßeitr.  23,  66  ff.  habe  ich  versucht  nachzuweisen,  dass  der 
begriff  ^zehnsilbler'  in  der  romanischen  rhytbmik  mehrdeutig 
sei.  Hinter  einem  vers  der  im  text  10  silben  aufweist,  können 
die  rhythmischen  formen  des  Sechsers  und  des  Vierers  —  dieser 
in  gepresster  art  —  stehen.  Es  handelt  sich  nun  darum,  den 
wichtigen  rhythmischen  unterschied  schon  aus  dem  text  zu 
erkennen.  Auf  s.  79  ist  gezeigt,  wie  dazu  die  sogenannte 
^cäsur'  —  nach  genauer  terminologie  vielmehr  ^binnencäsur'  zu 
nennen  (vgl.  a.  a.  o.  s.  47,  §  8.  s.  49,  §  10)  —  und  ihre  behandlung 
dienen  kann. 

Der  Sechser  _1_-^;  _i!_^_i.^  (bez.  La)  ist  eine 
weit  verbreitete  und  sehr  einfache  form.  Er  hat  als  primäre 
reihe  einen  verhältnismässig  schwachen  einschnitt.  Im  text 
braucht  derselbe  nur  leicht  (durch  wortschluss)  angedeutet  zu 
sein;  zuweilen  wird  er  völlig  übergangen,  so  dass  nur  die 
modulation  der  ganzen  reihe  die  grundteilung  erkennen  lässt. 
Man  spricht  im  letzten  fall  von  ^versen  ohne  (binnen-)cäsur'; 
nicht  ganz  richtig,  man  müsste  denn  ^cäsur'  geradezu  als  *  ein- 
schnitt' verstehen.  Der  vierer,  das  dekasy Ilabon  (s.  75ff.), 
hat  als  secundäre  reihe  eine  viel  stärkere  binnencäsur:  sie  ist 
unter  allen  umständen  ein  einschnitt  und  darum  im  text 
stets  zu  sehen.  Denn  sie  ist,  wie  s.  77  zeigt,  aus  einer  früheren 
^cäsur'  entstanden  dadurch,  dass  die  periode  von  2  gliedern, 
jedes  zu  4  takten  (bez.  füssen)  in  ein  viertaktiges  glied  von 
2  abschnitten  umgewandelt  ist.  Die  grenze  zwischen  den 
gliedern,  d.  h.  die  ^cäsur',  wurde  somit  zu  einer  grenze  zwischen 
abschnitten  (vgl.  s.  47,  §  8),  d.h.  einer  *  binnencäsur'.  Diese 
Umwandlung  heisst  ^pressung'  und  ist  ein  Vorgang,  aus  dem 


ZUR  ROMAN.  UND  DEUTSCHEN  RHYTHMIK.         73 

allein  sich  die  eigentümlichen  formen  erklären,  die  die  moderne 
Instrumentalmusik  vorzugsweise  benutzt  und  die  der  antiken 
rhythmik  ganz  fremd  sind.  Die  hauptform  des  dekasyllabons 
ist  im  französischen  1  > ,L\  ^ ^U^..^ L _  (bez.  L.  /\), 

Der  anschaulichkeit  wegen  mögen  hier  einige  analysen 
dekasyllabischer  Strophen  folgen.  Durch  ligaturen  (im  schema 
durch  -^  angedeutet)  und  einmischung  anderer  verstypen  wird 
das  bild  gelegentlich  ein  wenig  verdunkelt. 

B6ranger,  Le  coin  de  l'amitie,  in  Musique  des  chansons 
de  Beranger,  Paris,  Garnier  freres,  s.  14: 

L'amour,  Thymen,  l'int^ret,  la  folie, 
aux  quatre  coins  se  disputent  nos  jours: 
L'amitie  vient  completer  la  partie; 
mais  qu'on  lui  fait  de  mauvais  tours! 
Lors  qu'aux  plaisirs  l'äme  se  livre  entiere, 
notre  raison  ne  brille  qu'ä  moitie, 
Et  la  Folie  attaque  la  premiere 
le  coin  de  l'amitie,  le  coin  de  l'amitie, 
le  coin  de  Tamitie. 


v^yv^»  ^^-A^  v^v^  v-'v^  v^>^^  \.^\^ 


L  (achtsilbler!) 

'      A    I    '         '  • 


Rh.  Schema:  1  a  —  b  Reimschema:   a  —  b 

2  a  —  b  .  a  —  b  . 

3  a  — b  c  — d 

4:a  — b  — b'  c  — rf  +  d  — d 

Das  dekasy Ilabon  ist  rein  oder  fast  rein  in  zeile  la,  Ib,  2a, 
3  b,  4  a  des  rhythmischen  Schemas  zu  sehen.  3  a  ist  der  zehn- 
silbler  auf  einen  andern  gepressten  rhythmus  componiert:  in  2  b 
ist  ein  achtsilbler  mit  vielen  ligaturen  so  weit  gestreckt,  dass 
er  für  einen  gepressten  vierer  ausreicht.  Der  primäre  vierer 
würde  in  der  Umgebung  von  pressrhythmen  stören.  Derartige 
freiheiten  sind  erst  neueren  Stiles:  einfluss  der  Instrumental- 
musik liegt  darin  vor.  —  Die  vierte  periode  ist  dreigliedrig. 
Aus  der  melodie  folgt,  dass  der  letzte  sechssilbler  ein  b ' ,  d.  h. 
eine  schlusswiderholung  ist.  Vgl.  Rhythm.  §  10  (s.  49).  Auch 
diese  zeile  ist  hier  auf  einen  gepressten  rhythmus  gezogen 
und  tritt  daher  in  4b  als  gepresster  abschnitt,  in  4b'  als  ge- 


i  4  .  SARAK 

l;re)iibt4^  dij[K)diHclie  reihe  auf.    Die  primäre  form  des  Sechsers 
*_!__  __ly\^'  scheint  noch  aus  der  pressform  heraus. 

Andere  modificationen  des  dekasyllabons  zeigt  ebda.  s.  173 : 
Treize  ä  table: 

Dieu,  mes  amis,  nous  soinmes  treize  k  table, 
et  devant  moi  le  sei  est  repandu. 
Nombre  fatal!  presage  epouvantable! 
la  mort  accourt:  je  frissonne  6perdu, 
la  mort  accourt:  je  frissonne  6perdu. 
Elle  apparait,  esprit,  fee  ou  döesse; 
mais,  belle  et  jeune,  eile  sourit  d'abord, 
mais,  belle  et  jeune,  eile  sourit  d'abord. 
De  vos  Chansons  ranimez  Tallegresse; 
non,  mes  amis,  je  ne  crains  plus  la  mort, 
De  vos  Chansons  ranimez  l'aU^gresse 
non  mes  amis,  je  ne  crains  plus  la  mort. 


f  • 


3.  A.V^.V  ±;  v^v^^v^w^-!--  I  Ä.V^.V  1a;  ww.  V^.  Vi 
_1_^;  ^l.Vw.V.'.^  (+  4mal  L  als  dehnung!) 


4    '      V  '  •      ' 
i*efi\  5.  1  ww  ^  •  w  Iwww  -  —  I  IC^w  ti  *  v^  Iwww  1  Ä 


Kh.  Schema:  1  a  — b  Reimschema:  a  —  b 

2a  — b— b'.  a  — b  — b. 

3  a  — b  — b'  c  — d  — d 

4  a  —  b  c  —  d 
refr.  5  a  —  b                                      refr.  c  —  d 

Zui'  erläuterung  des  rhythmischen  Schemas  vgl.  verf.,  Zur 
metrik  Otfrieds  v.  Weissenburg  (Festschrift  für  Sievers,  1896) 
s.  183.  ^  =  kürze,  v  =  i/^  ^  ==  halbkürze,  v^*  =  1  kürze  + 
V2  kürze;  a  =  pause  vom  wert  ^,  a  *  =  pause  vom  wert  ^ • . 
:  bezeichnet  die  cäsur,  wenn  die  zusammenstossenden  reihen 
des  taktes  wegen  Verkürzungen  oder  Verlängerungen  über  ihren 
ursprünglichen  wert  erlitten  haben.  —  In  reihe  3a.b  habe 
ich  der  Übersicht  wegen  die  pausen  an  den  anfang  gestellt. 
Streng  genommen  muss  man  sie  an  das  anhängen,  was  ihnen 
vorausgeht.  Doch  kommt  darauf  hier  nichts  an.  Im  noten- 
text  wird  ^  durch  ^ ,  v  also  durch  ^ ,  ^ '  durch  J^.  vertreten. 


ZUR  ROMAN.  UND  DEUTSCHEN  RHYTHMIK.         75 

Interessant  ist  dies  lied,  weil  hier  die  melodie  öfters  die 
früher  s.  79  oben  besprochene  form  des  dekasyllabons  zeigt, 


^  *       '    •    '   7v     I         '  '  I 

wenn  auch  ein  wenig  modificiert.    So  in  reihe  la,  2b',  3b'. 

Die  form  3  a,  3  b  ist  in  der  heutigen  musik  sehr  beliebt. 
Sie  ist  secundär  entwickelt. 

Die  binnencäsur  des  dekasyllabons  ist  schon  ihrer  ent- 
stehung  wegen  rhythmisch  unvergleichlich  schärfer  als  die  des 
einfachen  sechsers,  der  eine  primäre  bildung  ist.  Man  erwartet, 
dass  sich  auch  im  romanischen  worttext  der  unterschied  der 
rhythmischen  grenzen  bemerklich  macht.  Das  ist,  wie  es 
scheint,  wirklich  der  fall.  Darauf  möchte  ich  eben  hier  hin- 
weisen. 

Ich  habe  schon  a.  a.  o.  s.  79  die  sog.  epische  cäsur  des  zehn- 
silblers  herangezogen.  Die  scheinbar  überschlagende  silbe  er- 
klärt sich  nur  aus  dem  dekasyllabon  (vgl.  s.  78),  zeugt  also  für 
dieses,  wo  sie  sich  findet.  Im  sechser  würde  sie  zwingen  an- 
zunehmen, dass  die  dritte  Senkung  aufgelöst  sei  und  das  ist 
unmöglich.  Denn  ^auflösung'  oder  genauer  die  besetzung  zweier 
aufeinander  folgender  kürzen  der  melodie  (in  der  function  von 
masszeiten;  ^^)  mit  je  einer  sprachsilbe  kennt  die  mittelalter- 
liche romanische  verskunst  nicht.  Sie  braucht  nur  die  ligatur, 
d.h.  zwei*)  kürzen  der  melodie  auf  eine  silbe  des  textes. 

A.  a.  0.  s.  79  habe  ich  auch  angenommen,  es  gäbe  deka- 
syllaben  mit  überschlagender  weiblicher  silbe  hinter  der  dritten. 
Ein  vers  wie  et  a  Lengres  seroie  malbaillis  wurde  rhythmisiert: 

*  "Ä"    '    •    '    •     I         '         •         '    A     II 

/\i_)UJu- 1  —     I I— 1/\       II 

>A         '  '  .  '  '         Ä 


Nun  würde  sich  ein  contrapunktiker  oder  ein  moderner  opern- 
componist  gewis  nicht  scheuen  verse  mit  jener  sog.  lyrischen 
binnencäsur  so  zu  componieren.  Denn  das  alte  romanische 
rhythmische  System  ist  durch  die  polyphonie  und  jetzt  durch 
den  einfluss  des  instrumentalen  Stiles  sehr  verändert  worden. 
Aber  für  die  ältere  zeit,  d.  h.  die  zeit  der  herschaft  des  homo- 

^)  Auch  mehr  als  zwei  töne  werden  liiert,  namentlich  wenn  sie  den 
Charakter  von  Verzierungen  tragen. 


76  SARAN 

plioneu  vocaleii  stiles  solche  formen  auzunehmeu  ist  nicht  zu- 
lässig, weil  dies  dem  princip  der  silbenzählung  widerspricht. 
Die  Silbe  -gres  schiesst  tatsächlich  nicht  über,  sondern  zählt 
mit,  sie  ist  zwar  dem  sprachaccent  nach  unbetont,  aber  dennoch 
rhythmisch  eine  ^tonsilbe';  vgl.  Tobler^  s.  85.  Stengel,  Gröbers 
Grundr.  2, 1, 1,  s.  51  f. 

Nun  ist  klar,  dass  eine  binnencäsur  sehr  schwach  sein 
muss,  wenn  man  unmittelbar  vor  sie  eine  unbetonte  sprach- 
silbe  stellen  darf.  Denn  starke  rhythmische  einschnitte,  also 
diäresen,  cäsuren,  binnencäsuren  von  pressreihen  haben  immer 
eine  auch  sprachlich  betonte  tonsilbe  vor  sich.  Ist  nun  in 
einem  textzehnsilbler  die  binnencäsur  sehr  schwach,  so  liegt 
nahe,  hinter  ihm  nicht  das  dekasyllabon,  sondern  den  sechser 
zu  suchen.  Somit  wäre  die  sog.  lyiische  binnencäsur  des  zehn- 
silblers  ein  kriterium  für  den  sechser,  wie  es  die  epische  für 
das  dekasyllabon  ist. 

Das  scheint  nach  den  angaben  die  von  Tobler  und  Stengel 
gemacht  werden,  wirklich  der  fall  zu  sein.  Das  dekasyllabon 
ist  der  rhythmus  der  chansons  de  geste.  Daher  ist  in  der 
epik  und  überhaupt  der  erzählenden  afrz.  dichtung  die  epische 
binnencäsur  beliebt  (Stengel  s.  50).  Diese  wird  dagegen  und, 
wie  Stengel  sagt,  von  anfang  an  in  der  nord-  und  südfranzö- 
sischen lyrik  gemieden.  Nicht  ^weil  in  folge  des  einheitlich 
gestalteten  tonsatzes  der  versmelodie  die  pause  im  innern  der 
einzelnen  verse  nicht  mehr  zur  geltung  kam,  zehnsilbler  also 
auch  dem  baue  nach  wie  einreihige  verse  behandelt  werden 
mussten'  (Stengel  s.  50).  Denn  der  zehnsilbler  ist  in  jeder  form 
eine  reihe  wie  der  achtsilbler  und  andere  verse.  Sondern  der 
lyrische  zehnsilbler  wird  eben  in  weitaus  den  meisten  fällen 
rhythmisch  etwas  anderes  gewesen  sein  als  der  epische:  dieser 
das  dekasyllabon,  jener  der  sechser. 

Dass  das  ursprünglich  gewis  französische  dekasyllabon 
zunächst  in  die  französische,  dann  auch  in  die  provenzalische 
lyrik  eingedrungen  sei,  ist  wahrscheinlich.  Umgekehrt  kann 
man  den  erzählervers  gelegentlich  nach  dem  Schema  des  lyri- 
schen gebaut  haben,  um  so  leichter,  wenn  es  sich  dabei  um 
Sprechpoesie  handelte;  vgl.  Stengel  §  108. 

Einen  sicheren  beweis  für  den  sechser  darf  man  in  der 


ZÜE  ROMAN.  UND  DEUTSCHEN  RHYTHMIK.         77 

binnencäsur  sehen,  die  Stengel  §  109  'die  schwache'  nennt. 
Ihr  Schema  ist 

-J-_^_;  - l^Ljl  (bez.  ^ä) 

qui  de  s'amie  respite  sa  joie 
qu'elle  te  face  bien  sovent  chanteir 

(Tobl.  s.  86) ;  vgl.  auch  meine  abhandlung  s.  79  f.  Es  handelt 
sich  da  lediglich  um  den  sechser  mit  *  verschobener'  binnen- 
cäsur (ebda.  s.  52.  Rhythm.  §  20).  Diese  binnencäsur  brauchen 
die  Griechen  z.  b.  im  iambischen  trimeter,  der  bekanntlich  ein 
(freilich  akatalektischer)  sechser  ist: 


.   ff 

j  — 


Aesch.  Prometh.  ro  odv  yag  avd-og,  jtavrixvov  jtvgog  ösjiag. 

Es  ist  sehr  bezeichnend,  dass  diese  'schwache'  binnen- 
cäsur nicht  in  der  epik,  sondern  nur  in  der  lyrik  vorkommt 
(Tobl.  s.  86).  Wenn  sie  auch  selten  ist,  so  beweist  sie  doch 
für  den  rhythmus  der  zehnsilbler,  unter  denen  sie  sich  findet, 
sehr  viel.  Dass  Stengel  s.  53  solche  verse  nicht  cäsurlos  nennen 
will,  ist  durchaus  berechtigt.  Wenigstens  haben  die  von  Tobler 
s.  86  mitgeteilten  verse  alle  einen  wenn  auch  schwachen  ein- 
schnitt. Man  darf  dessen  stärke  aber  nicht  an  der  binnen- 
cäsur des  dekasyllabons  messen. 

Zehnsilbler  ohne  binnencäsur,  die  Tobler  s.  87  f.  mit  recht 
annimmt,  können  nur  sechser  sein,  wie  ich  schon  betont  habe 
(s.  80).  Die  binnencäsur  einer  pressreihe  fällt,  so  weit  ich 
sehe,  nicht  einmal  in  der  sehr  fi-eien  modernen  Instrumental- 
musik weg.  Dagegen  haben  sechser  ohne  einen  im  text  aus- 
geprägten einschnitt  rhythmisch  nichts  ungewöhnliches.  Tobler 
rechnet  mit  recht  dazu  auch  die  fälle,  wo  in  liedern  (nicht 
im  epos)  der  zehnsilbler  hinter  der  sechsten  betonten  einen 
einschnitt  hat.  Man  vergleiche  hierzu  fälle  wie  Aeschylos 
Prom.  6:  aöaiiavTiViDV  ötOficov  tv  aQQ7jxxoig  jitöaig. 

Im  epos,  auch  den  romanzen  1, 5  und  1, 16  (Bartsch)  sind 
solche  verse  ganz  anders  zu  beurteilen  (Tobler  s.  87.  Stengel 
§  110).  Dort  gibt  es  einen  typus,  in  dem  sich  die  silben  in 
6  +  4  gruppieren.  Dabei  ist  die  sechste  sprachlich  und  rhyth- 
misch eine  tonsilbe  und  dahinter  liegt  eine  auch  im  text  scharf 
ausgeprägte  binnencäsur.    Z.  b.  Rom.  und  past.  1, 5  Lou  samedi 


78  SARAN 

d  soir,  fat  la  semainne.  Hinter  der  betonten  sechsten  findet 
sich  oft  eine  ^tiberschiessende'  silbe,  wie  im  dekasyllabon  hinter 
der  betonten  vierten. 

Z.  b.  ebda.  v.  12  reva  toi  an  arriere,  bien  seis  la  vile.  Eben 
dies  beweist  schlagend,  dass  wir  es  hier  nicht  mit  einer  penta- 
podie  oder  einem  zweigliedrigen  langvers  zu  tun  haben,  son- 
dern, wie  Stengel  s.  53  richtig  erkennt,  mit  einer  versform,  die 
man  als  eine  andere  combination  der  teile  (abschnitte)  des 
gewöhnlichen  epischen  zehnsilblers  auffassen  muss.  In  diesem 
gruppieren  sich  die  silben  wie  4  +  6 

z.  b.    Charles  li  reis    nostre  emperere  tnagnes; 

in  jenem  umgekehrt  6  +  4 

z.  b.    L'anfes  Gerairs    et  Gaie  s'an  sont  tomeit. 

Diese  gebilde  sind  also  pressrhythmen  und  abarten  des  deka- 
syllabons,  d.h.  gepresste  vierer. 

Ihr  zweiter  abschnitt  ist  im  rhythmus 

*A^---1A     >a1v^-!-A, 
vielleicht  auch 

eine  form  die  auch  heute  noch  in  liedem  vorkommt. 

Ein  beispiel  wird  es  veranschaulichen,  nämlich  die  schluss- 
zeile  des  bekannten  liedes  ^Hinaus  in  die  ferne  mit  lautem 
hömerklang'.  Lahrer  commersbuch  no.  52  (s.  57).  Ich  analysiere 
die  erste  Strophe  ganz. 

1  '  '        •  '     V  '   A      I  '  '        •  '    V  '   A 

2.  ^L^L      ;  ^:.ys^LA   I  ^U.^L^,]  vL^La 
refr.3.  ^1_jl      ;  ^.w.v^^Ia  |  wv^^^^wl^.;  y---.i.A 

Rliythm.  Schema    1  a  —  b 

2  a  — b 

3  a  — b. 

Der  rhythmus  ist  zweifellos  eine  Weiterbildung  des  französischen 
dekasyllabons.  2  a,  3  a  sind  zehnsilbig  und  haben  die  früher 
s.  79  oben  erläuterte  form ,  nur  mit  gelegentlich  punktierten 
werten.  1  a.  b  haben  vom  französischen  Standpunkt  aus  gesehen 
die  ^epische  binnencäsur';  nämlich  die  kürze  hinter  der  zweiten 
thesis  (1)  ist  *  weiblich'.    Ausserdem  haben  sie  nach  deutschem 


Zu»  ROMAN.  UND  DEUTSCHEN  RHYTHMIK.         79 

brauch  'auftakt',  d.h.  die  erste  arsis  bleibt.  Denkt  man  die 
reihenauftakte  weg,  dann  hat  man  genau  den  rhythmus  des 
epischen  dekasyllabons  mit  ^epischer'  binnencäsur. 

2  b.  3  b  sind  nun  dekasyllaben  der  gruppierung  6  +  4  mit 
^epischer'  binnencäsur;  der  wert  der  ^überschiessenden'  silbe 
tritt  hier  zufällig  punktiert  (w)  auf. 

Im  hinblick  auf  diese  Schlusszeile  könnte  man  die  romanze 
1,5  bei  Bartsch  sehr  wol  so  analysieren: 

Lou  samedi  a  soir,  fat  la  semainne 
Gaiete  et  Oriour,  serors  germainnes, 
main  et  main  vout  bagnier  a  la  fontaiuhe. 
Vante  Tore  et  li  raim  croUent: 
ni  s'antraiminent  soweif  donnent. 


1. 


'        t  >      '       '      i      '        f  » 


2.  1_^_ 


J 


-1-1- A 


Schema    1  a  —  a'  —  b  . 
2  a  — b. 

Die  form  ist  gewis  alt,  aber  dass  sie  älter  als  der  normale 
zehnsilbler  (4  +  6),  ja  ihm  gegenüber  ursprünglich  sei,  wie 
Stengel  will  (§  110),  halte  ich  für  unwahrscheinlich.  Jeden- 
falls reichen  die  beweise  Stengels  nicht  aus,  seine  annähme  zu 
sichern.  Mit  dem  endecasillabo  der  Italiener  hat  der  rhythmus 
nichts  zu  tun,  denn  der  italienische  vers  ist  ein  sechser,  was 
seine  binnencäsur  beweist. 

Nach  alledem  scheint  es,  als  ob  wir  für  die  älteste  zeit 
zu  scheiden  hätten  den  epischen  zehnsilbler  (4  +  6,  6  +  4)  und 
den  lyrischen.  Ersterer  ist  ein  gepresster  vierer  (dekasyllabon), 
letzterer  ein  sechser  primärer  bildung.  Erst  allmählich  dringt 
das  dekasyllabon  in  die  französische  und  provenzalische  lyrik 
ein  und  beeinflusst  umgekehrt  der  sechser  hier  und  da  den 
epischen  versbau.  Entscheiden  kann  im  einzelnen  fall  nur  eine 
umfassende  Untersuchung. 

Für  die  entscheidung  dürfte  ausser  der  beobachtung  der 
formen  der  binnencäsur  von  Wichtigkeit  sein  zu  ermitteln,  wie 
die  einschnitte  im  text  syntaktisch  hergestellt  werden.  Denn 
sowol  das  dekasyllabon  wie  der  sechser  haben  im  romanischen 
der  regel  nach  hinter  der  vierten  betonten  silbe  einen  deutlichen 


80  SARAN 

einschnitt.  Sie  unterscheiden  sich  also  fürs  äuge  nicht  gerade 
sehr.  Stengel  stellt  s.  54  ff.  darüber  mancherlei  zusammen. 
Von  vom  herein  ist  zu  erwarten,  dass  die  binnencäsur  des 
dekasyllabons  durch  syntaktisch  stärkere  einschnitte  festgelegt 
wird,  dass  dagegen  die  binnencäsur  des  Sechsers  i.  a.  schwächer 
ist.  Demnach  müsste  im  allgemeinen  das  epos  relativ  starke, 
die  lyrik  dagegen  relativ  schwache  syntaktische  einschnitte 
vorziehen.  Denn  sie  liebt  ja  den  sechser,  wenn  die  obigen 
erwägungen  richtig  sind. 

Die  beobachtungen  die  man  bisher  gemacht,  stimmen  dazu. 
Stengel  §  113  teilt  mit,  dass  schon  in  der  altfranzösischen  lyrik 
die  binnencäsur  rhythmisch  und  syntaktisch  nachlässig  behan- 
delt, ja  mehrfach  geradezu  verwischt  werde.  Noch  schwächer 
als  die  gleichzeitigen  altfranzösischen  dichter  markierten  die 
Provenzalen  die  binnencäsur  (Stengel  §  116).  Bei  den  Italienern 
könne  von  syntaktischer  ausprägung  der  binnencäsur  überhaupt 
keine  rede  sein  (§  117).    Alles  das  weist  auf  den  sechser. 

Ich  füge  noch  einige  nachtrage  und  Verbesserungen  zu 
meiner  früheren  abhandlung  hinzu. 

S.  44  zeile  11  v.  o.  lies  Aristoxenos'  bd.  2. 

Zu  s.  48,  §  9.  Es  ist  ein  hauptfehler  in  Westphals  Ana- 
lysen von  minneliedern,  dass  er  glaubt,  eine  reihe  könne  in 
ihnen  isoliert  stehen.  So  in  dem  liede  Walthers,  das  er  All- 
gemeine theorie  s.  251  analysiert.  Auch  in  seinen  arbeiten 
über  antike  rhythmik  ist  dieser  punkt  vernachlässigt.  Die 
theorie  der  periode  leidet  sogar  in  Rossbachs  darstellung  der 
antiken  strophenformen  (bd.  3  der  Theorie  der  musischen  künste 
der  Hellenen)  aus  eben  demselben  gründe  an  Unklarheit.  Iso- 
lierte reihen  sind  in  aller  strophik,  überhaupt  den  sog.  geschlos- 
senen formen  nur  in  wenigen,  als  solche  zudem  leicht  verständ- 
lichen fällen  zuzulassen.  Namentlich  kommen  instrumentale 
vor-  und  Zwischenspiele,  auch  clausein  in  betracht.  Im  griech. 
chorlied  halte  ich  alleinstehende  kola  für  ausgeschlossen, 
wenigstens  im  vocalen  teil,  von  dem  wir  allein  wissen. 

Die  anm.  2  auf  s.  50  gehört  zu  §  16. 

Zu  s.  69  unten  kann  ich  jetzt  auf  den  sehr  wichtigen 
aufsatz  von  H.Riemann,  Die  melodik  d.  minnesinger,  Fritzsches 
Musik,  wochenbl.  28,  s.  449  ff.  verweisen  (besprochen  im  Jahresber. 


ZUR  EOMAN.  UND  DEUTSCHEN  EHYTHMIK.         81 

für  german.  philol.  19, 235  f.).  Riemann  hat  dort  nachgewiesen, 
dass  die  melodien  der  romanischen  und  deutschen  minnesinger 
nicht  mensural,  sondern  Choral  notiert  sind.  Die  notenzeichen 
der  hss.  geben  also  keine  Zeitwerte  (longae,  breves  u.  s.  w.),  son- 
dern bloss  tonhöhen  wie  die  griechischen  notenbuchstaben. 
Es  kann  darum  aus  den  melodien  kaum  etwas  über  den 
rhythmus  der  lieder  entnommen  werden.  Der  rhythmiker  ist 
auf  betrachtung  des  textes  angewiesen  und  muss  so  vorgehen, 
wie  es  in  den  abschnitten  in — v  dieser  Untersuchung  geschieht. 
Dennoch  ist  es  gerade  für  romanische  lieder  wichtig,  die  me- 
lodien zu  kennen.  Denn  wie  Riemann  gefunden  (s.  450),  bestätigt 
eben  die  melodieführung  die  vor  Quicherat  und  seinen  an- 
hängern  herschende  ansieht  der  metriker,  dass  die  alten  roma- 
nischen verse  alternierenden  rhythmus  hätten,  eine  ansieht 
der  ich  oben  s.  69  aus  allgemeinen  gründen  und  auf  grund 
mhd.  nachahmungen  romanischer  formen  beigetreten  bin  (s.  71 
—73).  Man  wird  nun  wol  aufhören,  die  einfachen  und  doch 
gefälligen  rhythmen  der  alten  lieder  mensural  zu  verderben. 
Die  rhythmisierung  altfranzösischer  und  provenzalischer  Stro- 
phen, die  oben  versucht  ist,  hat  so  von  ganz  anderer  seite  her 
willkommene  bestätigung  empfangen. 

Ebenso  hat  Riemann  unabhängig  von  Eickhoff  und  mir 
(vgl.  oben  s.  75  ff.)  die  eigentümliche  form  entdeckt,  die  ich  der 
kürze  wegen  dekasyllabon  genannt  habe,  einen  rhythmus  der 
eben  deshalb  merkwürdig  ist,  weil  er  gegen  den  gebrauch  der 
übrigen  romanischen  verse  nicht  immer  alterniert.  Warum  er 
das  nicht  tut,  ist  s.  77  erklärt.  Ueber  die  mängel  der  Riemann- 
schen  arbeit  vgl.  Jahresber.  s.  236. 

Uebrigens  sei  hier  angemerkt,  dass  dasselbe  was  Riemann 
für  die  minnelieder  nachweist,  erst  recht  für  die  homophonen 
melodien  gilt,  die  der  früheren  zeit  angehören.  Es  ist  nicht 
zulässig  z.  b.  Ratperts  lobgesang  mit  MSD^  s.  84  in  ^utakt 
zu  bringen.  Auch  diese  melodie  ist  Choral  notiert  (neumiert) 
und  die  spätere  mensurale  Zeitteilung,  deren  regeln  Jacobsthal 
ermittelt,  auf  sie  anzuwenden,  ist  eben  darum  nicht  statthaft. 
Neumen  haben  keine  mensur.  Tripeltakt  ist  später  freilich 
von  den  mensuralisten  stark  bevorzugt,  ja  als  der  einzig  mög- 
liche angesehen  worden.   Für  die  ältere  zeit  beweist  das  nichts. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  ß 


82  dA&AK 


Der  lateinische  text  ist  vermutlich  folgendermassen  zu  analy- 
sieren, wobei  die  taktart  unsicher  bleibt  i): 


1.  Äl 

2.  Ä 

3.  Ä 

4.  Ä- 1 

5.  Ä  -1- 


t 


A  - 


[_ j_ 

f  f 

f 


f 


Alle  verse  schliessen  thetisch,  wie  bis  zum  minnesang  die  ahd. 
mhd.  reihen  überhaupt.  Die  Vorderglieder  entbehren  meist  des 
auftakts. 

Ebensowenig  ist  das  Petruslied  mensuriert;  anders,  wie 
es  scheint,  bei  Scherer  s.  63.    Das  Schema  ist  wol'): 

MSD.IX 

1.  7iL.l^L^!L  I  1\L^2LL^L 

2.  Äl-1-^ I   Äl-^'l-I. 

3.  Ä^-l-i^-l  I   AdLL^lL^L 

Die  ictenabstufung  nach  Sievers'  typen.  Die  glieder  entbehren 
meist  des  auftakts. 

Hierher  gehören  auch  die  sequenzenformen  no.xix-xxnr, 
die  gleichsam  ^  freie  rhythmen'  sind.  Man  vergleiche  hierzu  die 
darstellung  der  byzantinischen  rhythmik  bei  Christ,  Anthologia 
graeca.  Dass  die  rhythmische  prosa  dieser  Sequenzen  öfters 
versmässig,  metrisch  gesteigert  wird,  fällt  nicht  auf.  Es  ist  das 
eine  natürliche  entwicklung  der  ^freien  rhythmen',  welche  die 
nhd.  poesie  auch  kennt.  Der  rhythmus  dieser  *modi'  ist  natür- 
lich der  gregorianische,  der  sich  an  den  sprachlichen  anschliesst. 
Vgl.  X.  Haberl,  Magister  choralis  lO^  (1893),  s.  1  und  s.  186  f. 
197  ff.  Ich  werde  anderswo  genauer  auf  diese  rhythmen  zu- 
rückkommen. 

Zu  s.  78.  Bei  der  ableitung  der  dekasyllaben  wäre  es 
klarer  gewesen,  statt  der  formen  die  aus  dem  wechselnden 
Zusammenhang  der  compositionen  genommen  sind,    zunächst 

^)  Da  man  es  hier  mit  geistlichen  werken,  nicht  solchen  weltlichen 
Ursprungs  zu  tun  hat,  so  bleibt  auch  die  rhythmusart  unsicher.  Denn  diese 
geistliche  yocalmusik  kann  immer  von  dem  freien  gregorianischen  rhythmus 
beeinflusst  sein.   Dann  hat  die  frage  nach  der  taktart  überhaupt  keinen  sinn. 


ZÜB  ROMAN.  UND  DEUTSCHEN  BHYTHMÄ.        83 

die  historisch  genau  entsprechenden  zu  gründe  zu  legen.   Man 
lese  also: 

>  A    '         '      .       '         'I 

d.  i.  —s^ JL w;  w J Iw  A  ,  wenn  man  die  reihe 

dann  als  neuen  verstypus  schematisch  ansetzen  will. 

>Ä     '  '     A    •         '  '  TT     I 

d.  i.  1  ^  1  A  ;  w  sl^  s.  1  Ä  als  neuer  verstypus. 

Ebenso  unten: 

>Ä     '  '       •         '  '  "TT     I 

d  i  f      f    ,     f        f  ^ 

und  auf  s.  79  oben: 

>  '         '    A  •        '  '  A 

UU.\3X    .  \^   — .  —  — _      /\     •       N^  ^^^y^^V^   /\       • 

S.  80  sind  in  der  analyse  der  pastourelle  die  pausensymbole 
der  Vordersätze  umzustellen:  ä  X  •  Tripodien  nimmt  man 
besser  nicht  an. 

Auf  s.  82  ist  vor  dem  Schema  des  dekasyllabons  die  zwei- 
zeitige pause  natürlich  zu  streichen. 

S.  84.  Zu  den  rhythmen  der  gruppe  A  gehört,  wie  ich 
glaube,  auch  Walther,  Lachm.  39, 11: 

1.  Ä^^-i-'  '      ' 


9         '        ' 

3.  Äl_l 


f  f 


f  t  t  f 

,,    w 

t  t  t  9 


'    '       '      '    '   Äl_l-1 


Schema  a  +  b  —  c 
a  +  b  — c 
d  —  w  — d 

V.  20   ich  Jcdm;      23  wart  ich  en-;      40,  4  wirt  noch  g^-; 

40, 10  däz  er  bt;    40, 13  w^  er  mit   —  In  dem  liede  werden 

absichtlich  die  freiheiten  einer  älteren  technik  nachgeahmt. 

Vgl.  auch  Beitr.  23,  95.    Der  Inhalt  der  mit  höfischer  minne 

nichts  zu  tun  hat,  stimmt  genau  dazu. 

6* 


84  SARAN,  ZUB  ROMAN.  UND  DEUTSCHEN  RHYTHMIK. 

S.  85.  Zu  B  gehören  lieder  wie  folgendes  sehr  künstliche 
von  Konrad  von  Würzburg,  Bartsch  360,  no.  9: 

Meie    den  grüenen  walt    hat  bekleit 
gar  mit  siner  güete,    daz  ist  wol  schin. 
Zweie    sich  jung  nnd  alt!     äne  leit 
üz  der  boome  blüete     diu  yogeUin 
Singent    süezen  sumersanc; 
d&  bi  sibt  man  wunne  m§, 
Binomen  rot,  gel  nnde  blanc 
dringent    in  touwe  darb  den  grüenen  kl§. 

Der  meie  machet     bdhen  muot; 

da  bi  trüren  swachet     diu  minne  guot. 

1.  J.-;  -.i:_^,  L Ä   I  L ^'_;  _1-_Ä 

2.  ^-;  ^!L^^,  L Ä  I  1 ^'_;  ^1 Ä 

3.  L 1—Ä   I  1 ^--Ä 

4.  L 1__Ä  I  ^-;  -1 L 

refr.  5.  _1 ;  L Ä   |  L ii»;  .1 A 

Ebenso  Nithart  14, 14: 

Willekomen     si  des  meien  schoene. 

ich  hän  yemomen,     manegem  senedem  herzen 

trüren  ist  benomen. 

Sorge  lät,    junge  mägde,    deist  min  rät. 

uns  nähet    ein  sumer;  den  enphähet. 

1a'         t:  •  "  '      I      '         Ä  •  "  '      = 
--A 

a,     /\ b_i, —  —    I    —  I— I  — , —  —  U.J  —  • 

Man  sieht  wie  der  reim  oft  benutzt  wird,  die  stellen  der 
zusammenziehung  anzudeuten. 

S.  86.  Zu  MF.  127, 1.  Wenn  man  in  Strophe  2,  v.  1, 6  und 
Str.  3,  V.  6  vil  streicht,  stimmen  die  drei  Strophen  hinsichtlich 
der  auftaktverhältnisse  genau  überein.  Str.  2  wäre  dann  zu 
lesen  der  also  und  Nu  ist,    Vil  konnte  leicht  zugesetzt  werden. 

S.  90  lies  in  str.  1  alsdm  min  selbes. 

HALLE  a.  S.,  october  1898.  F.  SARAN. 


UNTERSUCHUNGEN 

UEBER 

HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEML 

I.  Die  Oberlieferung. 

1.  Die  einzelnen  handsohriften. 

Das  sogenannte  Evangelium  Nicodemi  des  Heinrich  Hesler*) 
ist  uns  erhalten  in  den  hss.  zu  Schwerin  (S),  Görlitz  (6),  Stutt- 
gart (s)  und  Heidelberg  (p).  Von  diesen  ist  jedoch  nur  S  von 
absichtlichen  kürzungen  frei,  hat  aber  durch  Verlust  mehrerer 
blätter  nahezu  1000  verse  eingebüsst.  Zu  diesen  mehr  oder 
weniger  vollständigen  hss.  treten  folgende  fi-agmente:  zu  Wien 
(W),  Erlangen-Berlin-Retz  (Mner  hs.  E  angehörend),  München 
(M),  Karlsruhe  (K)  und  Görlitz  (F).  Endlich  sind  stücke  unseres 
gedichts  in  der  Weltchronik  Heinrichs  von  München  erhalten  (m). 

S.  Perg.-hs.  des  14.  jh.'s  auf  der  grossberzogl.  regierungs- 
bibliothek  zu  Schwerin,  früher  auf  dem  dortigen  Staatsarchiv. 
In  stark  wurmstichigem  holzband;  16, 5  x  23.  67  bll.  Der 
text  ist  zwischen  vorgezeichneten  Knien  geschrieben  in  zwei 
spalten  zu  je  34  zeilen  auf  der  seite.  Jeder  zweite  vers  ist 
eingerückt,  abschnitte  werden  durch  rote  und  grüne  initialen 
gekennzeichnet. 

Die  blätter  1 — 30  enthalten  das  Ev.  Nie.  Von  diesen  bilden 
bl.  2—30  drei  lagen  von  je  4  und  eine  von  3  doppelblättern. 
Von  der  letzten  ist  die  zweite  hälfte  des  zweiten  blattes  vor 
dem  beschreiben  ausgeschnitten  worden.  Bl.  1  ist  der  rest  einer 

0  Vgl.  im  aUgemeinen:  P.Piper,  Die  geistliche  dichtung  des  mittel- 
alters  2, 141.  K.Amersbach,  Ueber  die  Identität  des  Verfassers  des  gereimten 
Ey.  Nicodemi  mit  Heinrich  Hesler  (heilage  zum  Konstanzer  gymnasiumsprogr. 
1882/83  und  1883/84).  F.  Pfeiffer,  Altdeutsches  Übungsbuch  s.  1  if.  R.  P. 
Wülcker,  Pas  £v.  ^ic.  in  der  abendländische4  literatur  s.  44  ffr 


86  HELM 

läge  die  verloren  ist ;  das  gedieht  ist  deshalb  im  anf ang  def ect 
überliefert.  Vorhanden  sind  vers  437—572  und  1413  ff.  Es 
fehlen  also  nach  der  Zählung  von  G  840  vei-se;  wir  können 
darnach  auf  einen  vertust  von  6  blättern  schliessen,  die  aller- 
dings, falls  sie  nicht  zum  teil  enger  beschrieben  waren  (etwa 
wie  bl.  30),  nur  816  verse  enthalten  haben.  Vor  bl.  1  ist  jeden- 
falls nui'  6in  blatt  verloren  gegangen:  denn  es  ist  nicht  an- 
zunehmen, dass  die  erste  läge  ui^sprünglich  5  doppelblätter 
enthalten  hätte,  da  sie  selbst  dann  für  die  fehlenden  436  verse 
zu  klein  gewesen  wäre;  vgl.  auch  Lisch,  Heinrich  von  Krole- 
witz  s.  3.  War  dagegen  am  anfang  nur  6in  blatt  weiter  da, 
und  war  dieses  wie  beim  Vaterunser  des  Heinr.  v.  Krolewitz 
in  derselben  hs.  nur  auf  der  rückseite  beschrieben,  so  konnte 
es  gerade  die  68  fehlenden  verse  des  eigentlichen  gedichtes 
enthalten.  Darnach  hätte  die  hs.  also  den  prolog  nicht  gehabt. 
Auf  bl.  30  7  und  6  sind ,  offenbar  um  den  räum  auszunutzen, 
öfters  zwei  verse  in  eine  zeile  geschrieben.  Custoden  finden 
sich  auf  bl.  9  sprach  nyco  und  bl.  17  wid''  ante. 

Die  hs.  enthält  einige  rasuren  und  von  späterer  hand 
einige  correcturen.  Auf  dem  rand  neben  2y  findet  sich  von 
späterer  hand  der  eintrag  gens  tua  et  plebs  tua  cöprohavit  te 
regem.  Ideo  praecepi  te  flagellari  secundum  statuta  principum 
et  post  modum  in  cruce  levari. 

Bl.  31a  ist  leer,  31b — 67  a  enthalten  das  Paternoster  des 
Heinrich  von  Krolewitz,  hg.  v.  Lisch  1839. 

Stücke  dieser  hs.  sind  abgedruckt  von  Lisch,  Jahrbuch 
für  mecklenburgische  geschichte  2, 156  ff.:  v.  1413—1460.  1605 
—1634.  4837—4905.  5339  bis  schluss,  von  Pfeiffer  a.a.O.  v.2327 
—3786  und  von  H.  Haupt,  WSB.  68,201:  v.  1425  f. 

S  ist  die  einzige  der  grösseren  hss.,  welche  den  md.  Cha- 
rakter des  Originals  bewahrt  hat.  Sie  hat  deshalb  anspruch 
auf  eine  eingehendere  betrachtung. 

L  Vocale.  Umlaut  von  a  finden  wir  in:  geweidig  3155. 
3189,  heldes  3365,  anmehte  3897;  einzeln  steht  freilich  auch  a 
einem  e  in  G  gegenüber:  sanften  4448,  vaterlich  3441,  na(h)sten 
4200;  offenbare  1849,  das  sicher  unursprünglich  ist,  da  es  stets 
nur  mit  ce  reimt. 

Der  Umlaut  anderer  vocale  ist  nicht  bezeichnet,  vgl  ro- 
mesch  4:72b,  geloset  494ß,  bösen  3713.  4793;   ou  in  drowe  5140, 


HEINBICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  87 

gelouhic  4572,  couflinge  4724,  vroude  2917.  4442;  u  in  lutzel 
5232,  gekündet  1549;  ü  in  huschheit  4274,  tio  in  ^ruo&e  3383, 
pruwen  3263. 

Einzelne  vocale: 

a.  S  hat  stets  ^aZ^  fast  ausnahmslos  van  und  einmal  var 
(statt  vor)  1746.  Ob  in  gelart :  sfeiar^  3901.  5049,  hart  2992. 
4197.  4227  kurzes  oder  langes  a  anzusetzen  ist,  lässt  sich  nicht 
entscheiden. 

e.  Die  verschiedenen  e- laute  werden  in  der  hs.  nicht 
unterschieden.  Ausserordentlich  zahlreich  sind  die  belege  für 
e  statt  i:  vorlegen  :  gestegen  4869,  gedegen  5113,  meist  bei  diser: 
desen  :  resen  5081,  geneses  4487,  werdes  5047,  gebet  2524.  3743. 
5226,  vortelgen  h243t^  rechet  3413,  besmedet  3177,  gescrebenl924:, 
negen  3325,  werden  (zu  w?ir^)  3072,  selber  3964.  4669,  hemelisch 
37 U.  en  2460,  segenunft  1634.  2072.  2593.  3502;  mer  (=  mir) 
2690,  wer  1700. 1865. 1953.  2394.  2661.  2698.  2720,  en  (acc.  sg.) 
1424. 1449. 1502. 1926.  8924.  (dat.  pl.)  1438.  5036  in  der  enklise 
oder  proklise. 

Seltener  ist  der  umgekehrte  fall  i  für  e:  sprichet  (2  pl.) 
1596,  nche  (conj.)  4206,  pkhes  3328,  anbiten  3626;  für  e:  willet 
(2  pl.)  4718.  4778.  5056.  5104,  hütete  (zu  hetzen,  statt  regel- 
rechtem hatzte  mit  rückumlaut)  3134,  wilh  5343. 

Nur  vereinzelt  erscheint  für  i,  e  und  e'  auch  ie:  wieldet  : 
Meldet  5065,  swiegen  2499,  und  ei:  heilt :  steilt  5069,  weige  3780. 

In  den  nebensilben  ist  i  häufig:  obi0  2010,  undirste  3226, 
rechtiis  4169,  praefix  ir-  und  m^  stets  statt  er-  und  6»^,  auch 
dir  (aus  dar  geschwächt)  1635. 

Der  entsprechende  Wechsel  zwischen  o  und  u  stellt  sich 
in  S  so  dar,  dass  o  vor  r,  u  dagegen  vor  »,  m  vorherseht, 
vgl.  zornete  4583,  wormig  4885,  worfes  570,  storme  3910,  w?ord6W 
(pl.  praet.)  1734.  3782,  Äorew  (praet.)  4144,  or^eiZ  2118.  3604. 
4741,  kort :  ^feftor^  1735,  dagegen  kuninc  537.  1480.  3167,  be- 
numen  3149,  aber  auch  vernommen  4731.  4905. 

Auch  sonst  erscheint  einzelnes  o:  wocher  4933,  vohse  1909, 
beslojsfzen  (praet.)  3568. 

Für  alten  diphthong  iu  steht  stets  ü:  hüte  1563,  nuwet 
1593,  MCÄ  472.  522.  1549.  2380.  2783,  uwer  481.  1594.  1924. 
2396,  von  du  1488,  tufel  1789.  3035.  3305.  3475.  4187.  5333. 
gejsuc :  lue  (imp.)  2489,  vorbutet  5284. 


88  HELM 

ie  ist  oft  geschrieben;  sehr  häufig  begegnet  dafür  aber 
auch  e:  nergen  4696.  4906,  hesen  3094,  vlen  5239,  schere  2434, 
mete  3836,  ne  1598,  swe  2164.  2530.  4717.  4818,  we  2140.  4622. 
5052,  verlieh  1642.  2637;  auch  ei  findet  sich  dafür:  keiset :  vor- 
leiset  5109  f.,  6e5cM^  4883,  deit  1668. 

Umgekehrt  erscheint  ie  für  6  in  Zißw  (lehen)  4827;  «icfe 
4158  geht  zurück  auf  seola,  vgl.  Leidener  Williram  (Beitr. 
20,  508.  22, 464). 

Einige  male  steht  für  altes  ei  ein  6:  hegref  2601,  ^re/*4662, 
vlesch  1673,  egen  4695,  und  auch  für  dieses  e  tritt  öfters  ie 
ein:  tielten  2126,  trieft  3909.  3932,  hiesset  (=  heisst)  3112,  fiel- 
haft  4824,  ^iecAew  3111.  3650,  hlieket  (bleichet)  3203. 

uOj  üe  wird  meist  durch  u  widergegeben;  o  erscheint  da- 
gegen regelmässig  vor  r:  vorte  2617,  vorten  1424. 1440,  vortes  : 
rortes  3535,  ^wvor^ :  gerort  1685,  sonst  nur  vereinzelt  verdomet 
5208,  mo5^en  2015. 

ö  für  Ä  steht  in  troric  509. 1897.  2670,  vgl.  Behaghel,  Lit.- 
bl.  1, 437. 

ou  für  uo  (*ö)  in  touken  (tuochen)  3205  kann  nd.  einfluss 
zuzuschreiben  sein;  u  fwc  ou  (Weinhold,  Mhd.  gr.)  findet  sich 
in  tugender,  tugentlich  3235. 

Für  die  nebensilben  ist  abgesehen  von  dem  oben  schon 
gesagten  noch  zu  erwähnen,  dass  stets  vor-  als  praefix  erscheint 
statt  ver-:  vorreters  484,  vornam  1415,  vorhat  1673. 

n.  Consonanten.  mb  ist  zu  mm  geworden,  doch  verein- 
zelt als  mb  erhalten:  kumber  3851,  tumbe  1486. 1810;  umgekehrt 
einmal  imber  (vgl.  Werner  v.  Niederrhein). 

Sonst  ist  b  Spirant  (vgl.  Pauls  Grundr.  2^,  722),  für  den  im 
Silbenauslaut  oft  /"geschrieben  wird:  huofiQi,  touf:  row/* 4545 f., 
lof  3534.  3539,  of  513,  dar  af  2058,  afteüig  3542,  afgot  4564, 
«tor/*  4016.  4601,  ^crei/*  2781.  5257,  vorderfnisse  SS77 ;  inlautend 
oft  V,  w:  gewelve  2326,  geweveten  1608,  worwen  4246,  da/rwes 
442;  ebenso  anlautend  in  vewal  3884. 

Umgekehrt  wird  für  inlautendes  f  auch  b  geschrieben  in 
höbe  4584,  höbe  :  bischobe  2513  f.,  tubel  1789.  Häufig  ist  /"  wider- 
gegeben durch  ph:  couph  528,  ruphes  1416,  elph  558,  semphtes 
1532,  scripht  1587. 1640,  bigrapht  1562;  so  auch  das  für  6  ein- 
getretene: trieph  3932,  ^repÄ  4662,  loph 

Für  /?  ist  einige  male  ht  eingetreten:  luht  3679.  3781. 


HEINBICH  HESLEBS  EVANGELIUH  NIGODEMI.  89 

p  ist  inlautend  verschoben,  dagegen  anlautend  nicht  plegen 
2355.  2381,  paffen  5142,  perde  4250. 

g  ist  Spirant  wie  b.  Im  silbenauslaut  geht  es  in  ch  über: 
geluchnisse  ill,  verluchnen  514,  lach  2370.  2595,  sweich  :  neich 
1469,  :  seich  1905.  3071,  mach  2016.  2393.  3109.  4440. 

Dazu  sind  zu  vergleichen  die  formen  hoge  {=  hohe)  3521. 
4870  und  sagen  {=  sähen)  1623.  1894.  2062.  2653.  2662.  2666. 
2790.  3635,  deren  erscheinen  durch  den  spirantischen  wert  des 
g  wesentlich  erleichtert  wird,  mag  der  Vorgang  nun  auf  altem 
grammatischen  Wechsel  beruhen  oder  jüngerer  herkunft  sein 
(vgl.  Wilmanns  1  §  79  anm.  2.  §  88  anm.  2). 

g  und  j  vertreten  sich  wechselseitig;  g  für  j  steht  z.  b.  in 
ge,  gamers^  gamerliche  3306,  meigen  3303,  j  für  g  in  iahen  2246, 
iegene  2503,  heiegenten  3471. 

h  ist  verklungen  in  denselben  fällen,  die  im  reim  zu  be- 
legen sind  (s.  u.),  ausserdem  ist  es  assimiliert  an  s:  was  (tvahs) 
2402,  wassen  (aus  wachs)  2420,  wos  (wuohs)  2998,  wesles  (wehsles) 
5012;  nur  einmal  vocse  1909. 

Unverschobenes  t  steht  in  dit,  das  auch  durch  den  reim 
gesichert  ist,  und  einmal  in  wurte  (=  wurzeln)  2263;  Jcurt  kann 
auf  jüngerer  entlehnung  beruhen. 

Metathesis  von  r  ist  ziemlich  häufig:  verwrohten  1945.  4091. 
4459.  4816.  Im  auslaut  schwerer  einsilbiger  Wörter  ist  r  meist 
erhalten:  er  448.  518.  488.  1993.  3198  u.  a. 

Contractionen  kommen  ausser  den  im  reim  verwendeten 
nur  noch  vor  zwischen  praeposition  und  artikel  oder  pronomen: 
0ume  =  zu  deme  2337,  inme  =  in  deme  1545,  zun  =  zu  den 
1504.  1602.  1923. 

III.  Flexion.  1.  In  der  nominalflexion  ist  bemerkenswert 
die  erhaltung  der  endung  in  den  nomm.  pl.  wie  rittere  1494. 
2286.  2354.  2440,  priestere  2453,  engele  3275,  tohtere  1593. 
Reimbelege  dafür  sind  natürlich  nicht  vorhanden. 

2.  Pronomen.  Beim  Personalpronomen  der  3.  pers.  über- 
wiegt weitaus  er,  daneben  steht  her  (1697.  1928.  2255.  3060) 
und  hie  562.  1455.  2516.  3844;  dagegen  herscht  beim  artikel 
im  nom.  sg.  m.  die  unbedingt  vor  (444.  486.  1752.  2200.  2468. 
3099.  3364),  selten  ist  de  1632.  1735.  4276.  —  Neben  frage- 
pronomen  wer  steht  vereinzelt  we  3237  und  wie  3264.  3636. 
4575.    Ueber  die  ^-formen  für  mir,  wir,  in,  diser  s.  o.  s.  87. 


90  HELM 

Mir  statt  mich  steht  1656.  3941,  mich  statt  mir  2915. 
Das  pron.  poss.  der  1.  pers.  pl.  heisst  stets  unse  1615.  2313. 
2587.  3044.  4023.  3675.  4324. 

3.  Verbum.  In  der  1.  pers.  sg.  einmal  die  endung  -n: 
gelicchnen  515';  die  2.  pers.  geht  nur  ausnahmsweise  auf  -t  aus. 
Die  1.  pers.  pl.  hat  meist,  wenn  das  pron.  wir  nachsteht,  immer 
das  -n  der  endung  eingebüsst:  sähe  mr  2850,  laee  wir  2180, 
werde  wir  3063,  heswer  wir  2783;  wir  gelouhe  1846.  In  der 
2.  pers.  pl.  erscheint  häufig  neben  -et  die  endung  -ent  (454. 
1604.  2299.  2401.  2521.  2746.  4979),  aber  auch  -en:  569.  2471. 
2472 — 74.  Die  3.  pers.,  für  die  durch  den  reim  -en  gesichert 
ist  (in  der  Apokalypse  aber  auch  -ent)  endigt  in  S  auf  -en, 
-ent,  -et 

Die  2.  pers.  sg.  des  starken  praeteritums  hat,  entgegen  den 
reimbelegen,  bereits  die  endung  -e^:  gehes  2011,  spraeches  3320, 
4241,  quaemes  3642.    Der  stamm  zeigt  noch  den  alten  vocal. 

Die  flectierten  Infinitive  entsprechen  dem  reimgebrauch. 

G.  Perg.-hs.  des  14.  jh.'s,  4®,  auf  der  bibliothek  der  Ober- 
lausitzischen gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Görlitz.  Sign. 
A  in.  1. 10.  56  bll.,  zweispaltig  mit  je  40  Zeilen  beschrieben. 
Jeder  zweite  vers  ist  eingerückt.  Grössere  und  kleinere  farbige 
initialen. 

Ueber  die  geschichte  der  hs.  gibt  Hoffmann  in  einem  vom 
eingeklebten  brief  vom  20. 2. 1825  auskunft.  Sie  war  einst  im 
besitz  des  prol  Schwarz  in  Altdorf  (nach  dessen  bibliotheks- 
katalog).  Aus  seinem  nachlass  kaufte  sie  J.  A.  Will,  dessen 
bücherzettel  ex  biUiotheca  Williana  noch  in  der  Innenseite 
des  deckeis  klebt.  Will  beschrieb  sie  noch  während  Schwarz 
lebte  in  einzelnen  Studien :  Beschreibung  eines  alten  deutschen 
evangelischen  codicis,  Altdorf  1763.  Fortsetzungen  1763 — 65. 
Damach  die  ungenaue  notiz  von  der  Hagens  im  Liter.  Grund- 
riss  s.  464.  Zu  vergleichen  ist  über  die  hs.  noch  Hoffmann^ 
Fundgmben  1, 127  ff.  J.  Haupt,  WSB.  70, 101  ff. 

Sie  enthält  auf  bl.  la — 24b  die  gedichte  der  Ava  (ab- 
gedruckt von  Hoffmann  a.a.O.,  von  Piper  nach  der  Vorauer 
und  unserer  hs.  Zs.  fdph.  19, 129  ff.). 

Bl.  24  c — 56  c  enthält  das  Ev.  Nie.  Dasselbe  ist  nach  dieser 
hs.  vollständig  abgedruckt  von  P.Piper,  Geistliche  dichtung 


HEINRICH  HESLERS  EVAK6ELIUM  NICODEMI.  91 

des  mittelalters  2, 141  ff.  Bei  Hof  f  mann  finden  sich  abgedruckt 
die  verse  1 — 10,  369 — 392,  sowie  die  letzten  28  (über  den 
schluss  vgl.  unten).  Eine  abschrift  von  G  von  Hoffmann  be- 
findet sich  auf  der  kgl.  bibl.  zu  Berlin,  Cod.  germ.,  4^,  no.  564. 

6  hat  oberdeutschen  Charakter,  vgl.  anlautendes  p  in 
plut  1241,  perch  585,  erhaltung  von  h  nach  l  in  bevalh,  von 
mh  in  umb,  schimbel,  kumber,  die  endungen  -est,  -ent  in  der 
2.  sg.  und  3.  pl.,  sol  für  md.  sal  i  und  ü  sind  nicht  diphthon- 
giert, bei  iu  herscht  schwanken:  aitiget  1013,  iuch  1142. 1343, 
daneben  meist  eu,  euer,  leut  1094.  1266,  deu  1182.  Da  ausser 
i,  ü  jegliches  merkzeichen  alemannischer  herkunft  fehlt  (z.  b. 
2.  pl.  -ent),  so  ist  wol  anzunehmen,  dass  die  hs.  von  einem 
Baiem  geschrieben  ist,  der  die  in  der  vorläge  stehenden  i,  ü 
respectierte;  nur  vereinzelt  ist  ihm  ein  ei  entschlüpft.  Ein 
bairischer  Schreiber  kann  um  1360 — 1400  wol  in  consequentem 
anschluss  an  seine  vorläge  alle  neuen  diphthongen  unter- 
drücken; ein  schwanken  zwischen  monophthong  und  diphthong 
ist  bei  ihm  aber  kaum  anzunehmen;  er  wird  vielmehr,  sobald 
er  seine  vorläge  nicht  als  unbedingte  autorität  anerkennt,  zur 
durchführung  des  ihm  eigenen  vocalismus  schreiten.  Viel  eher 
könnte  ein  Mitteldeutscher  oder  Alemanne  schwanken.  Denn 
diesem  war  der  monophthong  wol  aus  seiner  eigenen  mundart 
bekannt,  daneben  aber  im  14.  jh.  gewis  auch  der  neue  diphjjiong, 
der  ja  im  literarischen  gebrauch  früh  durchdrang  und  auch  in 
gegenden  fuss  fasste,  wo  er  nie  gesprochen  wurde.  Es  ist 
dies  auch  wichtig  für  die  beurteilung  der  hss.  s  und  p  (s.  u.). 

Dass  neben  t,  ü  meist  eu  steht,  könnte  vielleicht  seine 
erklärung  darin  finden,  dass  diese  eu  zum  teil  schon  der  vor- 
läge angehörten,  wenigstens  ist  eu  ausserhalb  Baierns  früher 
als  ei  und  au  durchgedrungen  (vgl.  Henneberger  urkundenbuch 
2,8  eine  Urkunde  von  1332,  die  bereits  eu,  aber  noch  kein  ei 
hat.  Weinhold,  Mhd.  gr.  §  108).  Dies  konnte  den  Schreiber  wol 
veranlassen,  in  diesem  fall  den  seine  mundart  eigenen  diphthong 
einzuführen,  während  er  ei  und  au,  für  die  ihm  die  vorläge 
kein  beispiel  bot,  vermied. 

Sonst  tritt  der  bairische  Charakter  mehr  hervor:  ie  wird 
durch  ie,  uo  durch  ü  widergegeben,  das  allerdings  auch  für  ü 
und  u  erscheint  (Ms  2219);  für  altes  ei  erscheint  nicht  selten 
ai:  stain  lZi8j  lait  SOOl,  maister  3014,  vorwaist  3016,  menschait 


92  HELM 

3055,  wai2  3087,  wishait  4165,  gemainen  5036,  iswai  533.  555. 
Charakteristisch  für  bairische  herkunft  ist  eu  gerade  in  deu. 
Vereinzelte  bairische  eigenheiten  sind :  wier  (=  wir)  1283, 
siichunde  1417,  warden  (pl.  praet.)  3386.  Auf  dem  gebiete  des 
consonantismus  ist  ch  für  k  (chomen  1011,  Magen  1009,  chint 
1117.  1206,  tvolchen  2659)  hervorzuheben.  Vgl.  auch  Amers- 
bach  1, 3. 

s.  Papierhs.  der  kgl.  öffentl.  bibl.  zu  Stuttgart  aus  dem 
14.  jh.  Cod.  theol.  Q.  98.  15  x  20, 5.  80  blL,  zwischen  bl.  70 
und  71  ist  ein  kleineres  eingeheftet.  Die  Innenseite  des  deckeis, 
sowie  je  ein  pergamentblatt  zu  anfang  und  ende  der  hs.  ent- 
halten einen  lat.  text.  Bl.  1  a  Iste  Über  est  fris  Hermanni 
ordinis  theutonicor^  \  domus  in  Giengen,  Darunter  schreib- 
proben: vrbani  vita,  hmd  und  ein  fisch  (häring)  gezeichnet. 
Unten  findet  sich  ein  a  mit  roter  tinte,  als  bezeichnung  der 
läge,  entsprechend  ein  c  auf  bl.  20  a,  h  fehlt. 

Bl.  Ib — 28  a  enthält  das  Ev.  Nie.  Auf  der  seite  stehen 
30—42  Zeilen,  je  zwei  verse  enthaltend.  Die  schrift  ist  am 
anfang  grösser  und  wird  gegen  den  schluss  immer  kleiner. 

Die  hs.  ist  nicht,  wie  Amersbach  angibt,  defect;  sie  bringt 
nur  das  gedieht  unvollständig,  beginnt  mit  v.  369  und  endigt 
mit  y.  4784,  worauf  ein  besonderer  schluss  von  12  versen  folgt, 
Darimter  explicit  tyhery  potestas  und  von  jüngerer  band  der 
hexameter  finis  adest  v'e  p^'dü  wlt  sc^ptor  hfe. 

Endlich  folgen  noch  in  einheitlicher  schrift  die  folgenden 
liedanfänge:  0  quam  metuendus,  0  pastor  eterne,  0  Margareta 
celor'  virgo  secreta  tarn  (vgl.  dazu  Mone,  Lat.  hymnen  des  mittel- 
alters  s.403),  0  florens  rosa.  Der  rest  der  hs.  bL  28  b — 80  a 
enthält  Heinrich  Susos  Buch  von  der  ewigen  Weisheit.  Auf  80  b 
stehen  wider  schreibproben  und  einige  geistliche  verse.  — 
Abgedruckt  sind  nach  dieser  hs.  die  verse  369 — 392  sowie  die 
letzten  10  schluss  verse  bei  Mone,  Anz.  7, 281  f.,  vers  369—392 
auch  von  Massmann,  Kaiserchronik  3, 595. 

s  schreibt  vorwiegend  I,  daneben  ist  ei  nicht  selten;  statt 
ü  erscheint  meist  au:  traurigen,  läutert  3384.  3737.  uf  ist  als 
kurz  zu  betrachten.  Noch  mehr  herscht  eu  statt  iu:  teure  722, 
freunt  2177,  neuwen  127b,  2261,  Jceut  S4:89,  leuchtet  ISQi,  seuche 
1217. 1221. 1249,  eu,  euch,  ewer  u.s.w.   Der  nom.  sg.  f.  und  nom. 


HEINBICH  HESLERS  EVANGELIUM  KICODEMI.  93 

acc.  pl.  des  adj.  stets  -eu  (371.  460.  576  f.  4144).  —  ou  wird 
meist  au  geschrieben  385.  427.  1907.  3303,  weniger  häufig  ist 
ai  für  ei  941  f.  2910.  4165  f. 

Für  Je  erscheint  oft  ch  (483.  527.  1097.  2256.  2312.  2554. 
2577),  im  anlaut  häufig  p  (468.  472.  722.  4429).  Stellt  man 
dazu  das  erhaltene  -mb-  (tumbe  181.  377.  503,  lambes  1781. 
1787),  epenthetisches  i)  in  dampnen  924,  Icompt  754,  den  Wechsel 
zwischen  b  und  w  in  bas  1030,  beidenthalwen  383,  warrdbam 
1295  und  dem  reim  gelaubet :  getrauwet  2379  (statt  ursprüngl. 
truwet :  nuwet\  so  ist  der  bairische  grundcharakter  der  hs. 
zweifellos.  Es  fragt  sich  aber  doch,  ob  derselbe  auf  rechnung 
des  Schreibers  oder  der  vorläge  kommt.  Ich  glaube  das  letz- 
tere. Beweisend  dafür  erscheint  mir  die  inconsequenz  in  der 
Schreibung  der  neuen  diphthonge,  namentlich  bei  ei  Ebenso 
erklärt  sich  das  schwanken  zwischen  ei  und  ai,  h  und  ch, 
wobei  der  nichtbairische  laut  vorherseht.^)  Weit  schwerer 
wiegt  aber  noch  die  tatsache,  dass  ie,  uo  stets  durch  i,  u,  und 
ae  durch  e  widergegeben  wird,  und  im  anlaut  altes  d  meist 
unverändert  erscheint:  dac  1595.  2637,  drost,  dauel  1361,  dilget 
1363,  fast  stets  bei  dun,  gedan.  Dem  gegenüber  stehen  aller- 
dings wol  die  der  vorläge  angehörenden  formen  mit  t  für 
altes  P:  trien  2332,  trittem  2335.  Apokope  ist  selten,  dagegen 
ist  umgekehrt  ein  unorganisches  -e  beim  starken  praet.  häufig: 
stunde  404,  gäbe  1367,  iahe  444,  läse  1354,  bevalhe  4661;  sonst 
selten:  eine  mensche  415. 

Für  alemannische  heimat  des  Schreibers  und  zwar  für  das 
Elsass  könnte  der  häufige  anlaut  d  sprechen,  auch  e  für  ce 
würde  hierher  passen  (vgl.  Ehrismann,  Beitr.  22, 290.  Haendtke, 
Dialektisches  aus  Strassburger  Urkunden).  Dagegen  spricht 
aber  entschieden  i,  u  für  ie,  uo,  sowie  die  Seltenheit  der  apo- 
kope. Weit  nach  Mitteldeutschland  kann  andererseits  die  hs. 
aber  gewis  nicht  gesetzt  werden.  Ich  setze  sie  deshalb  nach 
Eheinfranken,  wohin  die  angeführten  merkmale,  namentlich 
auch  anlautendes  d  sehr  gut  passen  (vgl.  O.Böhme,  Zur  kenntnis 
des  oberfränkischen  im  13. 14, 15.  jh.). 

^)  In  der  etwa  zu  derselben  zeit  geschriebenen  streng  bairischen  hs. 
der  legende  von  Udo  von  Magdeburg,  Cgm.  5  (vgl.  Neue  Heidelberger  Jahr- 
bücher 1897,  s.  95  ff.)  wird  ei,  au,  eu  für  t,  ü,  tu,  ai  für  ei,  ch  für  k,  ie,  ue 
für  ie,  uo  aufs  strengste  durchgeführt. 


94  HELM 

p.  Cod.  pal.  germ.  342  auf  der  Universitätsbibliothek  zu 
Heidelberg.  Papier.  15.  jh.  124  bll.  Vgl.  K.  Bartsch,  Heidel- 
berger hss.  no.  170. 

Die  hs.  enthält  das  Buch  der  märtyrer.  Zwischen  der 
legende  der  Maria  aegyptiaca  und  dem  evangelisten  Marcos 
steht  unter  dem  titel  der  Passion  auf  bl.  41  cJ — 64  d  das  Evan- 
gelium Nicodemi,  und  zwar  die  verse  369 — 3790,  an  die  sich 
6  Schlussverse  anschliessen.  Vgl.  J.  Haupt,  Das  mhd.  buch 
der  märtyrer,  WSB.  70, 101  ff.  Daselbst  sind  auch  die  verse 
369  f.  und  3790, 3—6  abgedruckt. 

Der  vocalismus  von  p  zeigt  ein  eigentümliches  schwanken: 
ei  für  t  erscheint  zwar  häufig,  eu  für  iu  wenigstens  im  pron. 
der  2.  pers.,  aber  trotzdem  überwiegen  %  iu,  und  ü  ist  geradezu 
regel.  Der  alte  diphthong  ei  wird  meist  so,  seltener  ai  ge- 
schrieben. So  viel  ist  klar,  dass  nach  der  entstehungszeit  der 
hs.  dieser  lautstand  keinem  der  in  betracht  kommenden  ober- 
deutschen dialekte  entspricht:  im  bairischen  war  die  diphthon- 
gierung  damals  schon  ganz  fest,  ebenso  war  sie  im  schwäbischen 
zwar  noch  nicht  herschend,  aber  doch  schon  ziemlich  heimisch 
(vgl.  Bohnenberger,  Zur  geschichte  der  schwäbischen  mundart 
im  15.  jh.  s.  62  ff.  91  ff.).  Wir  haben  uns  also  eine  dialekt- 
mischung  zu  denken,  die  dadurch  zu  stände  kam,  dass  ein  Ale- 
manne nach  bairischer  vorläge  schrieb  und  deren  ei,  eu  zum 
teil  acceptierte.  Gegen  die  umgekehrte  annähme  sprechen  die 
schon  bei  G  und  s  geltend  gemachten  erwägungen.  Ueberdies 
zeigt  die  hs.  in  wesentlichen  punkten  nichtbairischen  Charakter: 
es  fehlt  z.  b.  ch  für  i  fast  ganz.  Auf  keinen  bestimmten  dialekt 
unter  den  oberd.  weisen  hin  das  fast  stets  erhaltene  mb  (tump 
493,  umh  1753),  epenthese  von  p  zwischen  m  und  t:  nempt  1449, 
jsimpt  923,  Jcompt  2872.  3060,  dimpten  (=  dinten)  2832,  und  an- 
lautendes ^:  perg  1359,  prot  468,  erpidmet  2195. 2596.  Bestimmt 
alemannisch  ist  dagegen  au  tür  ä:  gewauffnet  854,  slauffe  926; 
dasselbe  ist  nicht  nur  schwäbisch,  sondern  in  ganz  Alemannien 
beliebt  (vgl.  Weinhold,  AI.  gr.  §  52.  96).  Ebenso  ist  alemannisch 
die  endung  -ent  der  2.  pers.  pl.  v.  569. 1121. 1451.  2756  u.  a. 

Enger  begrenzen  dürfen  wir  aber  die  heimat  des  Schreibers 
wol  auf  das  nördliche  Elsass  i)  wol  schon  sehr  nahe  dem  süd- 


^)  Dass  ftir  ä  oft  eintretende  ö,  das  im  elsässischen  des  14.  jh.'s  fast 


HEINBICH  HESLEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  95 

fränkischen  gebiet.  Zu  diesem  Schlüsse  berechtigen  uns  mehrere 
vocalische  erscheinungen:  1)  die  Vertretung  von  altem  ou,  das 
oft  als  ä,  aber  auch  zu  aü  umgelautet  erscheint,  während 
andererseits  umgelautetes  ou  auch  durch  ä  widergegeben  wird; 
vgl.  hapt  897.  946.  1459.  1521.  1907.  1915,  gelaben  898.  1007. 
1652.  1846,  urlabez  1202,  verJcaf  528,  verUgnen  814.  519,  lauf 
390,  geUuft  391,  frät  (=  freut)  3317,  fräten  2750,  fräden  3583. 
Auf  einem  misverstehen  eines  in  der  vorläge  stehenden  neuen 
diphthongen  au{<ü)  müssen  formen  beruhen  wie  Team  (=  Mm) 
2554.  2577,  lauern  1347,  lassen  (=  lüsen)  3255.  Dies  äu,  ä 
ist  Vorläufer  eines  e,  das  heute  im  südlichsten  teile  der  links- 
rheinischen Pfalz  bis  zu  einer  linie  Sondemheim  -  Freisbach- 
Edenkoben  allgemein  gilt  (weiter  nördlich  herscht  ä)  und  ebenso 
an  der  elsässischen  grenze  um  Lauterburg  (vgl.  Heger,  Dialekt 
der  Südostpfalz,  Landauer  programm  1896,  §  54  und  karte). 
In  dieses  zweite  gebiet  könnte  unsere  hs.  fallen.  Dazu  würde 
auch  passen:  2)  die  erhaltung  von  6  als  monophthong  und  die 
Schreibung  «  für  ce  in  ze  hende  (hoßnede).  Beides  liesse  nach 
den  heutigen  Verhältnissen  auf  die  gegend  südlich  einer  linie 
Jochgrim-Bergzabern  schliessen,  da  nördlich  von  dieser  6  zu  ou 
und  ce  zu  ei  geworden  ist  (vgl.  Heger  §  11). 

Ferner  wird  im  norden  die  heimat  begrenzt  durch  die 
linie  pf/p,  da  unserer  hs.  sicher  pf  zukommt;  p  ist  Siutporten 
beschränkt.  Diese  linie  zieht  nach  Heger  §  55  etwa  von 
Neuburgweier  nördlich  an  Weissenburg  vorbei  nach  Bitsch 
(vgl.  Wrede,  Anz.  fda.  19, 103).  Doch  ist  darauf  bei  dem  con- 
ventioneilen schreibgebrauch  von  pf  auch  in  gegenden  wo  p 
herscht,  kein  besonderes  gewicht  zu  legen  (vgl.  auch  Böhme 
a.  a.  0. ). 

Dem  so  gewonnenen  gebiet  entspricht  es  auch,  wenn 
neben  -ent  als  endung  der  2.  pers.  pl.  auch  -en  erscheint: 
ketten  1336.  Das  dem  elsässischen  sonst  eigene  anlautende  d 
(==  germ.  d)  fehlt  der  hs.  allerdings;  das  ist  wol  auf  rechnung 
der  vorläge  zu  setzen. 


ansschliesslich  herscht,  ist  auch  in  anderen  dialekten  häufig,  also  zu  irgend 
welcher  localisierung  nicht  brauchbar. 


96  HELM 

W.  Perg.-hs.  der  Wiener  hofbibliothek  no.  19681  (suppL 
2560).  14.  jh.  14, 3  x  24, 1,  aber  grossenteils  oben  oder  unten 
beschnitten.  Auch  der  rand  ist  vielfach  beschädigt,  wodurch 
viele  versanfänge  und  Schlüsse  verloren  gegangen  sind.  Er- 
halten sind  uns  nur  16  blätter,  die  in  zwei  columnen  zu  je 
35  linien  beschrieben  sind.  Die  anfangsbuchstaben  der  verse 
sind  über  die  ganze  seite  rot  dui'chstrichen.  Mittelgrosse  rote 
und  grüne  initialen.    Rote  Überschriften. 

Die  hs.  enthält  eine  compilation  des  Ev.  Nie.  mit  bruder 
Philipps  Marienleben.  Das  uns  erhaltene  stück  enthielt  ur- 
sprünglich folgende  partien  des  Ev.,  die  in  [  ]  eingeschlossenen 
verse  sind  durch  beschneiden  verloren  gegangen.  Zur  ergän- 
zung  füge  ich  auch  die  verse  des  Marienlebens  (M)  hinzu. 

M  6577—6697.  —  EN  679—698.  701—714.  721—732. 
735—1151  [986—993.  1021—28.  1056—62.  1091—97.  1126— 
1133].  —  EN  1153—1414  [1162—69.  1197—1204.  1232—39]. 

—  M  6738—39.  —  EN  1415—1424.  —  M  6748—49.  —  EN 
1425—1444.  —  M  6768—6783.  6804-  6927.  —  EN  1464—66. 
M  6930—6947.  —  EN  1522—1570  [1529—31.  1564—66].  — 
M  6976—7112.  —  EN  643—652.  —  M  7116—17.  7120—7137. 
7844—7949  mit  lücken.  —  EN  2269—2334  [2293—96.  2329— 
2331].  —  M  7950—7975.  —  EN  3132—3330  [3166.  3201.  3237]. 
3334—3412.  3563—3713  [3634.  3671.  3706].  3715—3790  [3775]. 
3791—3819.  3821—3846.  3987—4258  [4103.  4123—24.  4157— 
4158.  4193].  Vgl.  J.  Haupt,  Bruder  Philipps  Marienleben,  WSB. 
68, 198  f.  Daselbst  ist  abgedruckt  ein  stück  von  M  6694  bis 
EN  760,  vom  Ev.  Nie.  dann  noch  1413—1416.  Die  Zugehörig- 
keit von  2269—2334  zum  Ev.  Nie.  hat  Haupt,  wie  es  scheint, 
nicht  erkannt  (vgl.  a.a.O.  s.201). 

Der  dialekt  von  W  ist  durchaus  bairisch.  Zwar  erscheint 
i,  u  für  ie,  uo,  dagegen  ist  die  diphthongierung  von  i,  ü,  iu 
streng  durchgeführt,  uf  ist  als  kurz  zu  betrachten,  ebenso 
die  adjectivendung  nom,  sg.  f.  und  nom.  pl.  n.,  obwol  die  hs.  die 
alte  Schreibung  beibehält  (v.  1016. 1183. 1395).  Altes  ei  wird 
stets  als  ai  von  dem  neuen  ei  scharf  geschieden  {zaichen :  waichen 
1175  u.  a.). 

Anlautend  erscheint  fast  durchweg  p,  seltener  t  und  ch 
(jplint  1224,  pischof  Marienleb.  6645,  paten  1442,  chomen  1230). 

—  w;  für  6  findet  sich  z.  b.  in  walthasar  1388,  weUelmb  3187, 


HEINRICH  HESLEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  97 

warrdbam  1295,  erwolgen  1190,  praeflx  we-  1013.  1259.  1271. 
2298;  umgekehrt  b  für  w  in  gebarnet  1401,  boldest  3572,  ge- 
baschen  3725,  erberben  4202  (vgl.  Weinhold,  Bair.  gr.  §  124). 
Einzeln  zu  belegen  ist  a  für  o  (Weinhold  §  21):  bevar  3571, 
wart  705,  verwarht  4092.  6  für  a  etwas  öfter  1088.  1184.  1191. 
3371.  Suffix  -nuss  wird  vorgezogen  (3329.  3336.  3377),  ebenso 
praet.  weste  757.  774  (Weinhold  §  333).  Bairisch  ist  auch  der 
svarabhaktivocal  in  tüigen,  Leist  {lazest)  1304.  1317.  3685  wird 
wie  treist,  seist  nicht  als  dialektisch  gelten  dürfen  (Fischer, 
Zur  gesch.  d.  mhd.). 

E.  Ich  bezeichne  mit  E  die  Erlanger,  Hetzer  und  Berliner 
fragmente  zusammen. 

Die  Erlanger  bruchstücke,  sechs  pergamentstreifen  des 
14.  jh.'s,  wurden  gefunden  von  G.  Wolff  und  beschrieben  und  ab- 
gedruckt von  demselben  Zs.  fda.  33,  115 — 123.  Die  Hetzer 
bruchstücke  wurden  gefunden  1878  von  A.  Schönbach  und  be- 
schrieben und  abgedruckt  von  demselben  Zs.  fda.  24, 83.  Dass 
sie  zum  Ev.  Nie.  gehören,  hat  erst  Wolff  (a.  a.  o.)  erkannt. 
Die  von  Seh.  vorgenommenen  ergänzungen  werden  durch  ver- 
gleich mit  dem  bekannten  text  zum  teil  berichtigt.  Die 
Berliner  fragmente  bestehen  aus  drei  perg.-streifen,  sie  be- 
finden sich  auf  der  kgl.  bibl.  und  tragen  die  Signatur  Cod.  germ. 
4«.  641.  Nach  einer  vorgehefteten  notiz  Massmanns,  die  auch 
abgedruckt  ist  in  v.  d.  Hagens  Germania  10, 104,  hat  dieser  sie 
als  zum  Ev.  Nie.  gehörig  erkannt  auf  grund  von  vergleichung 
mit  der  zu  Berlin  befindlichen  abschrift  (Ms.  germ.  4«.  564),  die 
Hoffmann  nach  der  Görlitzer  hs.  angefertigt  hatte.  Die  von 
M.  angegebenen  verszahlen  sind  zum  teil  falsch. 

Die  drei  fragmente  sind  zum  teil  stillschweigend  als  reste 
verschiedener  hss.  angesehen  worden,  von  Wolff  (a.  a.  o.)  wurde 
überdies  auch  ausdrücklich  betont,  die  von  ihm  gefundenen 
stücke  (E)  stimmten  zu  keiner  anderen  hs.,  auch  nicht  zu  R, 
womit  sie  in  äusserer  ausstattung,  Orthographie  und  text  viel 
verwantschaft  hätten.  Trotzdem  hat  sich  mir  das  resultat 
ergeben,  dass  ERB  zu  einer  einzigen  hs.  gehören.  Dadurch 
fällt  ein  interessantes  licht  auf  die  merkwürdigen  Schicksale, 
die  einer  hs.  zu  teil  werden  konnten. 

Die  Berliner  fragmente  gehörten  zu  einer  hs.,  in  welcher 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  7 


98  HELM 

die  verse  in  zwei  columnen  standen  und  zwischen  linien  ge- 
schrieben waren.  Beides,  auch  das  System  der  linien,  so  weit 
es  noch  zu  erkennen  ist,  stimmt  vollständig  mit  E.  Hier  wie 
dort  ergibt  ein  vergleich  der  auf  gleicher  linie  stehenden 
verse,  dass  jede  columne  41  zeilen  enthielt.  Ebenso  ist  der 
Schriftcharakter  durchaus  derselbe.  Diese  äusserlichkeiten 
werden  nun  aufs  glücklichste  gestützt  und  bestätigt  durch 
einen  merkwürdigen  zufall.  Zwischen  den  von  Wolff  als  1. 
und  2.  bezeichneten  teilen  des  Erlanger  doppelblattes  fehlt 
ein  streifen  von  (je  nach  breite  des  Schnittes)  4 — 5  versen. 
In  diese  lücke  fügt  sich  nun  das  dritte  der  Berliner  fragmente, 
allerdings  sie  nicht  ganz  ausfüllend,  aber  in  directem  anschluss 
an  den  unteren  teil  des  Erlanger  blattes;  und  dieser  anschluss 
ist  so  eng,  dass  an  verschiedenen  stellen,  z.  b.  v.  3385.  8509. 
4576  mit  hilfe  des  schon  bekannten  textes  sowol  aus  den  zu 
B  wie  aus  den  zu  E  gefallenen  buchstabenenden  der  Wortlaut 
zu  erkennen  ist.  Interessant  ist  auch,  dass  das  blatt  am  rande 
beschnitten  wurde,  ehe  der  Berliner  streifen  abgeschnitten 
wurde.  Dass  dieses  blatt  das  äusserste  einer  quaternio  war, 
hat  Wolff  bereits  erkannt;  die  drei  inneren  blätter  müssen 
984  verse  enthalten  haben,  zeigen  also  den  ursprünglichen 
bestand,  während  S  die  verse  3563 — 64  auslässt,  G  die  verse 
3643—44  (nach  G  3427).  3859.  60  (G  3642 ab).  3981.  82 
(G3762ab),  dagegen  vier  andere,  3790ab  (3573.74),  4238ab 
(4019.  20)  einschiebt  (vgl.  unten).  Die  beiden  ersten  Berliner 
streifen  gehören  zu  dem  äussersten  blatt  der  gerade  vorher- 
gehenden läge,  da  zwischen  ihnen  und  dem  ersten  der  Erlanger 
blätter  nur  21  verse  fehlen.  Auf  den  inneren  blättern  dieser 
läge  müssten  nach  der  Zählung  von  G  1144  verse  untergebracht 
werden;  dies  sind  für  3  doppelblätter  160  zu  viel,  für  4  aber 
168  zu  wenig.  Das  richtige  zeigt  uns  die  hs.  S,  die  in  dieser 
Partie  206  verse  mehr  hat.  Wenn  wir  diese  auch  für  unsere 
hs.  in  anspruch  nehmen,  so  erhalten  wir  für  deren  innere 
blätter  allerdings  1350  statt  1312  versen,  es  müssen  also 
38  verse  ausgefallen  sein.  Dies  sind  ohne  zweifei  die  verse 
welche  die  episode  von  den  schachern  am  kreuz  und  Longinus 
erzählen,  die  auch  in  S  an  falsche  stelle  geraten  sind.  Es  ist 
andererseits  daraus  wider  zu  schliessen,  dass  E  die  in  S  in 
dieser  partie  fehlenden  verse  besass  (vgl.  unten). 


HEINRICH  HESLERS  EVAKGELIÜM  NICODEMI.  99 

Für  die  erste  läge  der  ursprünglichen  hs.  bleiben,  falls 
wir  annehmen,  dass  sie  auch  hier  den  alten  bestand  gut  be- 
wahrt hat,  1665  verse  übrig  mit  einschluss  oder  1297  mit  aus- 
schhiss  des  prologs.  Ersteres  sind  15  verse  zu  viel  für  fünf, 
letzteres  15  verse  zu  wenig  für  vier  lagen.  Zwischen  beiden 
möglichkeiten  ist  eine  entscheidung  kaum  zu  finden. 

Betreffs  der  Ketzer  stücke  ist  nun  zunächst  Wolffs  angäbe 
zu  berichtigen,  wonach  bei  diesen  nur  39  verse  in  der  columne 
gestanden  hätten.  Es  ergibt  sich  vielmehr  auch  hier  aus  den 
auf  gleicher  zeile  stehenden  versen  die  zahl  41 ;  es  correspon- 
dieren  z.b.  1679  und  1720,  1720  und  1761,  3197  und  3238,  3238 
und  3279,  3279  und  3320.  Nur  ein  fall  passt  nicht  in  das 
Schema,  1761 — 1800:  wir  müssen  also  hier  zwei  sonst  nirgends 
widerkehrende  plusverse  annehmen. 

Ihrem  versgehalt  nach  sind  die  Ketzer  fragmente  dem 
gleichen  doppelblatte  zuzuweisen  wie  die  ersten  zwei  Berliner. 
Sie  standen  über  denselben,  nur  durch  einen  streifen  von  zwei 
versen  von  ihnen  getrennt,  ebenso  wie  die  beiden  Berliner  und 
die  beiden  Ketzer  streifen  auch  unter  sich  durch  je  einen  solchen 
verloren  gegangenen  getrennt  sind.  Evident  bewiesen  wird  dies 
dadurch,  dass  in  derselben  columne  in  R  wie  auch  in  B  auf  zwei 
plusverse  hingewiesen  wird,  die  wir  nun  auf  grund  beider  hs.- 
stücke  zwischen  1777  und  1800  anzusetzen  im  stände  sind. 

Die  fragmente  enthalten  zusammen  351  verse,  nämlich  ^): 
1679—81.  1684—86  (1689—91.  1693—95).  1720—22.  1725—27. 
(1730—32.  1735—36).  1761—63. 1766—68  (1771.  72.  1776.  77.) 
1800—2.  1805—7  (1810. 11. 1814—16).  3197—99.  3202.  3  (3207 
—3208.  3211—13).  3238—40.  3242—44  (3248.49.  3253.54). 
8279—82.  3285—88  (3289.  90.  3294.  95).  3320—22.  3325—28 
(3830.  31.  3335—37).  [3358—80].  (3383—85).  [3385—94.  3400 
—3420].  (3423—25).  [3426—35.  3442—50.  3454—62].  (3465— 
3466).  [3467—76.  3483—3504].  (3507—9).  [3509—18.  4508—30]. 
(4533—35).  [4535—43.  4549—71].  (4574—76).  [4576—84.  4591 
—4612].  (4615—19).  [4618—25.  4631—53].  (4656—58).  [4658 
—4666]. 

E  bezeichnet  nur  den  umlaut  von  a,  ä,  ausserdem  steht 
dreimal  geloyben  4560.  4562,  dagegen  vroude  4617.   i,  ü  werden 

^)  Davon  die  nicht  eingeklammerten  in  R,     die  in  ()  in  B,     die  in 

[1  in  E. 

7* 


100  HELM 

nicht  diphthongiert,  iu  meist  zu  ü  reduciert  (3197.  3322.  3475. 
8495),  doch  auch  iuch  1768.  3518.  In  den  unbetonten  end- 
silben  ist  i  sehr  häufig  (1802.  1811.  3202.  3406.  3470.  4637), 
ebenso  in  ir-  3233.  3514.  4631.  4645.  In  betonten  silben  er- 
scheint dagegen  umgekehrt  gern  e  f&r  i:  acc.  des  pron.  en  3229. 
3240,  dat.  pl.  en  3408.  4537,  aber  auch  oft  ie :  wier  3451,  hien 
3335,  Memele  3211.  3364  (Weinhold,  Mhd.  gr.  §  115). 

Ebenfalls  md.  ist  der  consonantismus  und  die  flexion. 
h  fällt  im  auslaut  ab:  wa  3376.  Das  pron.  der  3.  pers.  heisst 
her,  seltener  he  (4537)  und  hie  (4513);  der  artikel  dagegen 
stets  der.  Das  Possessivpronomen  der  2.  pers.  plur.  ist  stets 
unse :  unsis  3392.  3454.  —  Die  2.  pers.  sg.  praes.  endet  auf 
-es  4544. 

Eine  genauere  localisierung  der  hs.  innerhalb  des  md. 
gebietes  ist  darnach  nicht  möglich,  wahrscheinlich  gehört  sie 
dem  östlichen  Deutschland  an. 

M.  4  zerschnittene  perg.-bll.  zu  München.  Cgm  5249, 55  b. 
Die  fragmente  wurden  nach  angäbe  Roths  (Denkmähler  der 
deutschen  spräche  vom  8.  bis  zum  14.  Jh.,  München  1840,  s.  xv) 
im  jähre  1838  von  dr.  Reuss  zu  Heidingsfeld  (vgl  Bavaria  i, 
1,427)  entdeckt  und  durch  bibliothekar  Maier  nach  München 
gesant.  Die  hs.  ist  zweispaltig  geschrieben,  die  verse  sind 
nicht  abgesetzt,  aber  durch  punkte  abgeteilt. 

Roth  glaubte  ein  stück  einer  Veronicalegende,  eventuell 
auch  einer  Pilatuslegende  oder  eines  Passionais  vor  sich  zu 
haben.  Er  setzte  die  fragmente  ins  12.  statt  ins  14.  jh.  Ab- 
gedruckt sind  sie  von  ihm  ebda.  s.  103 — 105,  aber  weder  diplo- 
matisch getreu,  noch  fehlerlos,  ausserdem  in  falscher  reihen- 
folge.  Die  richtige  folge  ist:  Ib  (4035—59),  la  (4109—35), 
4a  (4238b— 4840),  3a  (4261—65),  4b  (4265—71),  3b  (4289— 
4294),  4c  (4294—4300),  3c  (4315—19),  4d  (4319—25),  3d 
(4339—43),  2a  (4343—68),  2b  (4521—48).  Stück  3  und  4 
gehören  zu  ein  und  demselben  blatt,  das  direct  vor  2  lag. 

Eine  der  hs.  beiliegende  abschrift,  überschrieben  Hettinges- 
velt  1838,  also  wol  von  der  hand  des  dr.  Reuss,  hat  das  bestreben 
diplomatisch  getreu  zu  sein,  aber  ohne  erfolg.  Auch  die  er- 
gänzungsversuche  sind  zum  teil  nicht  geglückt,  die  reihenfolge 
ist  auch  hier  falsch.    Der  abschreiber  vermutet  Zugehörigkeit 


HEINBICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  101 

zum  Passional  und  verweist  auf  das  bei  Mone,  Anz.  6,  400 
abgedruckte  stück  als  eine  verwante  dichtung. 

Der  dialekt  ist  md.  Es  fehlt  der  umlaut  von  ö,  uo,  ou: 
storit  4154,  horinde  4269,  vroude  4242,  vuomn  4435;  für  iu  er- 
scheint u  in  ruwen  4055,  getruwen  4322;  einmal  e  für  ei:  vresches 
4036;  dagegen  stets  ie,  uo.  —  i  ist  regel  in  den  praeflxen  ir- 
4045. 4050. 4290  f.  und  vir-  4046. 4049. 4345  und  in  den  endungen 
wandir  4038,  werhin  4039,  sterbin  4040,  widir  4113,  achirs  4239, 
lazine  4129.  Das  pron.  poss.  der  2.  pers.  heisst  unse,  unsis  4127. 
4324,  dagegen  steht  stets  er,  nie  her,  he,  Localen  Charakter 
hat  keiner  dieser  punkte;  zweifelhaft  ist  dies  auch  für  ui  in 
virtruic  4325,  das  von  der  Wetterau  bis  Thüringen,  aber  auch 
in  Mittelfranken  belegt  ist  (Weinhold,  Mhd.  gr.  §  127).  —  Auf- 
fallende Schreibungen  sind:  geh'n  4135,  seh'n  4110,  steh'n  4267. 

K.  In  einer  papierhs.  aus  dem  kloster  Thennenbach,  jetzt 
auf  der  hof-  und  landiesbibliothek  zu  Karlsruhe  (sign.  Th.  10), 
vgl.  Läng  in,  Deutsche  hss.  der  hof-  und  landesbibliothek  zu 
Karlsruhe  s.  102,  no.  180. 

1*.  2*.  180  bll.  Auf  la  von  späterer  band  Vocahularia 
magistri  Engelhusen,  darunter  mit  bleistift  sunt  quattuor  lati- 
num,  graecum,  hehraicum,  teutonicum  1462,  Am  Schlüsse  der 
hs.  ist  ein  pergamentblatt  mit  unserem  fragment  verkehrt  ein- 
geheftet. Es  enthält  die  verse  1572 — 1692  und  gehört  in  den 
anfang  des  14.  jh.'s.  Die  verse  sind  durch  punkte  abgeteilt, 
aber  nicht  abgesetzt.  25  zeilen  stehen  auf  der  seite.  Das 
fragment  ist  abgedruckt  von  Mone,  Anz.  4, 326.  Derselbe  setzte 
es  irrtümlich  ins  12.  jh. 

Der  dialekt  der  fragmente  ist  durchaus  md.  Wir  finden 
keine  diphthongierung,  ü  für  iu  {cruce  1578),  dixar  uo  :  so  1573. 
1592. 1606. 1629,  gode  1631,  vort  1644  {uo  nur  in  huoben:  gruoben 
1617),  e  für  ie  in  neman  1586,  sonst  ie]  o  erscheint  für  u  vor  r: 
dorch  1660,  worphen  1612,  worde  :  borde  1661.  i  für  e  in  neben- 
silben  ist  selten;  abgesehen  von  praefix  ir-  1649. 1652  steht  es 
nur  in  nichdn  1598;  e  für  i  in  mer  1640.  Der  artikel  hat  stets 
die  form  die  1583.  1635.  1688  oder  de  1574. 1606. 1688  f.  1691, 
nie  der\  das  pron.  der  3.  pers.  ist  her  1575.  1591. 1664.  Stets 
steht  sal,  aber  von  1600.  1615. 

Besondere  beachtung  verdienen  folgende  erscbeinungen:  ou 


102  HELM 

für  0  in  voulc  1581,  für  uo  in  Uoudig  1664;  uo  für  6  (<  *au) 
in  ö^rwö^  1622  (Weinhold,  Mhd.  gr.  §  131),  ei  für  te  in  veirjsic 
1644,  Zm :  Äei^  1666,  deit  1651,  ei  für  e  in  steit  1650  (ebda.  §  335), 
e  für  ei  in  swe^  1666.  Alle  diese  fälle,  die  vereinzelt  freilich 
im  ganzen  md.  gebiet  vorkommen  (ausser  gruo^^,  vgl.  Anz.  fda. 
19, 348)  weisen  zusammengenommen  mit  bestimmtheit  auf  Mittel- 
franken als  heimat  des  fragmentes  hin.  Auch  heven  1665,  ge- 
weven  1608  stimmen  dazu.  Einen  weiteren  anhaltspunkt  kann 
dich  statt  dir  1645  gewähren.  Zu  dem  von  Behaghel,  Germ. 
24, 28  in  seinen  grenzen  fixierten  mich-lSLnA  gehört  von  Mittel- 
franken nur  ein  sehr  kleiner  teil,  nämlich  der  schmale  streifen 
der  eingeschlossen  wird  durch  die  hd.-nd.  grenze  einerseits  und 
die  linie  München-Gladbach- Jülich- Aachen-Eupen  andererseits. 
Hier  könnte  also  K  wol  entstanden  sein.  Auch  ein  to  (=  jsiio) 
das  dem  Schreiber  v.  1576  entschlüpfte,  hätte  hier  so  nahe  dem 
nd.  wenig  auffallendes.  Ebensogut  kann  man  aber  annehmen, 
der  Schreiber  sei  —  wenn  er  sich  hier*  auch  der  mittelfränk. 
mundart  bediente  —  seiner  heimat  nach  doch  selbst  ein  Nieder- 
deutscher gewesen. 

r.  Mehrere  pergamentstreifen  des  14.  jh.'s,  von  Piper  ab- 
gedruckt Zs.  fdph.  19, 318—321.  Sie  enthalten  die  verse  3689 
—3697  (doch  vgl.  unten).  3718—26.  3745—53.  3775—83.  4043 
—4051.  4072—80.  4101—9.  4130—38.  Nach  einer  mitteilung 
herrn  prof.  Pipers  lagen  sie  einst  ohne  bibliotheksbezeichnung 
lose  in  der  hs.  G.  Da  sie  dort  nicht  mehr  sind  und  auch  die 
Verwaltung  der  bibliothek  der  Oberlausitzer  gesellschaft  keine 
kenntnis  von  ihrem  verbleib  hat,  so  dürften  sie  wol  nicht  mehr 
aufzufinden  sein. 

Die  fragmente  sind  md.  t  ist  nicht  diphthongiert,  für  iu 
steht  ü  (3749.  3777),  einmal  ie  für  t  (Weinhold,  Mhd.  gr.  §  115): 
siet  :  met  3752 ;  vgl.  auch  K.  v.  Bahder,  Ueber  ein  vocalisches 
Problem  des  md.  s.  41.  Dazu  ist  noch  zu  beachten:  sal  3690, 
bevoln  3778,  gekart :  gelart  3749,  her  4133.  4135,  unsem  4137, 
praefix  ir-  3777.  Enger  begrenzen  lässt  sich  nach  diesen  spär- 
lichen resten  die  heimat  natürlich  nicht. 

m,  Heinrich  von  München  hat  in  seiner  fortsetzung  von 
Rudolfs  von  Ems  Weltchronik  auch  partien  unseres  gedichtes 
wörtlich  übernommen.    Die  verse  desselben  sind  untermischt 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  103 

mit  solchen  aus  dem  Passional.  Sie  finden  sich  gedruckt  bei 
Massmann,  Kaiserchronik  3,  611  ff.  v.  193  f.  =  Ev.  Nie.  4619  f. 
(G  4401  f.),  215—228.  233—236  =  Ev.  Nie.  4631—48  (G  4413 
—4431),  293—322  =  Ev.  Nie.  4651—74  (G  4433— 56),  aber  in 
der  letzten  partie  in  v.  297  f.  310—12.  316—18  stark  geändert. 

2.   Das  handsohriftenverhältnis. 

Die  sämmtlichen  hss.  zerfallen  in  zwei  gruppen  y  und  z. 
Zu  y  gehören  KES,  zu  z  dagegen  MGpsWrto.  Innerhalb 
dieser  gruppe  gehören  zunächst  p  und  s  und  dann  diese  mit  G 
wider  enger  zusammen.  W  und  r  nehmen  eine  Sonderstellung 
ein,  indem  sie  auf  zwei  verschiedene  hss.  zurückgehen.  Die 
hss.  der  gruppe  y  stehen  wol  auf  gleicher  stufe;  vielleicht  sind 
noch  weitere  Zwischenglieder  einzuschieben,  die  wir  jedoch  nicht 
erschliessen  können.    Wir  erhalten  demnach  folgendes  Schema: 


y z 

ES  M       ^     z* 

s      p 

w  f 
A.  Die  hauptgruppe  z. 

I.  Die  gruppe  z^ 

1.  Plusverse.  Durch  solche  lässt  sich  diese  gruppe  nicht 
sicher  begründen,  wenn  auch  gegen  die  verse  2803  f.*)  (2595  f.) 

(dine  tougen  zu  sagene,) 

die  du  in  der  helle  hast  getan 

vnd  uf  der  erde  hast  began 

wol  bedenken  entstehen  könnten.  Sie  könnten  als  einfügung 
zur  erklärung  des  Wortes  tougen  aufgefasst  werden;  denn 
dass  dieses  der  gruppe  z^  nicht  geläufig  ist,  zeigt  v.  3095 
(2881),  wo  taugender  in  m  gender  geändert  wurde.  Diese  auf- 
fassung  Hesse  sich  damit  begründen,  dass  der  Inhalt  der  verse 


^)  Die  yerszahlen  beziehen  sich  auf  den  nach  sämmtlichen  hss.  her- 
gestellten text.  Die  Zählung  von  G  (Piper,  Geistl.  dichtung  2),  die  erheblich 
abweicht,  ist  in  klammer  daneben  gesetzt,  wo  es  der  Orientierung  wegen 
geboten  schien. 


104  HELM 

sich  mit  dem  bericht  der  kinder  nicht  deckt;  denn  diese  er- 
zählen nur  von  Christi  taten  in  der  höUe.  Derartige  ungenauig- 
keiten  sind  aber  in  der  ganzen  mhd.  literatur  zu  häufig,  als 
dass  besonderes  gewicht  darauf  gelegt  werden  dürfte.  Anderer- 
seits entspricht  der  parallelismus  im  ausdruck  der  verse  ganz 
der  Schreibart  des  Verfassers. 

Schwerer  wiegen  die  bedenken  gegen  v.  787  f.  Pilatm 
was  uf  gestan  und  von  dem  gerichte  gan.  Diese  zerreissen  den 
ganzen  Zusammenhang  und  werden  nur  durch  die  von  G  vor- 
genommene änderung  in  v.  795  f.  da^  chlagtm  sie  dem  bischofe 
und  dem  richtere  statt  dajs  clagten  die  bischove  Pilato  dem  rihtere 
einigermassen  verständlich.  Gewisheit  ist  leider  nicht  zu  er- 
langen, da  ausser  Gsp  in  keiner  hs.  die  partie  erhalten  ist. 
Da  aber  der  ganze  bericht  über  Christi  gefangennähme  aus 
der  bibel  und  den  angaben  des  Ev.  Nie.  contaminiert  ist  und 
dadurch  an  grosser  Unklarheit  leidet,  so  ist  es  immerhin  mög- 
lich, dass  auch  diese  beiden  verse  im  original  standen.  Sie 
sind  deshalb  im  text  beibehalten  worden. 

2.  Aenderungen  von  z^  Sie  bestehen  zum  teil  in  be- 
seitigung  dialektischer  ausdrücke;  z^  hatte  offenbar  wie  die 
hss.  Gps  bereits  mehr  oberdeutsches  gepräge.  Ausserdem  sind 
ungewöhnliche  ausdrücke  und  misverstandene  Wendungen  ge- 
ändert. 

V.  552  f.  in  dem  abschnitt  über  das  geistliche  schwert 
schreibt  S  ganz  sinngemäss  daz  han  nieman  gesalben  swaz  daz 
swert  vorseretj  woran  sich  dann  v.  554 — 56  ganz  logisch  an- 
schliesst,  gegen  wen  sich  diese  fürchterliche  waffe  wenden 
soll,  z^  ändert  v.  552  so  lat  die  zungen  salben  . . . ,  wodurch 
die  beschreibung  der  f urchtbarkeit  des  Schwertes  gänzlich  ab- 
geschwächt wird.  G  gelangt  durch  Umstellung  von  v.  553  f. 
dann  zu  völligem  unsinn.  —  V.  1486  z^  ändert  bekorn  in  be- 
tören. —  V.  1808  (1806)  ändert  z»  das  sonst  nicht  belegte  un- 
derben  (untüchtig  machen)  in  das  gewöhnliche  verderben,  ebenso 
V.  1949  (1947)  ziU  in  smertzen.  —  V.  2280  (2072)  hat  z'  bewart 
in  behütet  geändert.  Dass  bewart  ursprünglich  ist,  wird  durch 
S  erwiesen,  das  zuerst  nur  wart  schrieb  und  dann  nachträglich 
be-  einflickte;  es  stand  also  gewis  so  in  y.  —  V.  2441  f.  (2233  t) 
und  gaben  in  Schatzes  also  vil  und  buten  in  bi  des  todes  zil . . . ; 
z^  beseitigt  in  2442  den  ungewöhnlichen  ausdruck  und  schreibt 


HEINEICH  HESLEES  EVANGELIUM   NICODEMI.  105 

dai3  si  des  nemen  one  dl.  —  V.  2603  (2395)  ich  versuch  mich 
daz  ez  Crist  was;  sich  versehen  in  der  bedeutung  ^übersehen', 
die  aus  Jeroschin  und  Ludwigs  kreuzfahrt  zu  belegen  ist  (Mhd. 
wb.  2, 279b).  Dafür  setzt  z^  ich  versan  mich,  —  V.  2727  (2519). 
Hier  schreibt  z*  ruoret  statt  höret,  das  sicher  dem  original  zu- 
kommt. Der  Widerspruch  zwischen  diesem  vers  und  dem  fol- 
genden si  ensprechen  aber  niet,  der  S  zur  tilgung  von  man  in 
V.  2727  veranlasst  hat,  scheint  ja  allerdings  sehr  gross,  er  kommt 
aber  nur  auf  rechnung  einer  ungenauen  widergabe  der  quelle, 
wo  ausdrücklich  steht  (Descensus  1,  vgl.  unten):  et  quidem 
audiuntur  clamantes,  cum  nemine  autem  loquentes.  Der 
unterschied  zwischen  schreien  und  sprechen  kommt  im  deutschen 
text  nicht  zum  ausdruck.  —  V.  2768  (2560)  bekorn  durch  ruoren 
ersetzt,  vgl.  v.  1486.  —  V.  2846  (2636).  Hier  und  an  allen 
anderen  stellen  ersetzt  z^  das  md.  dusternisse  durch  vinsternisse, 
vgl.  3156.  3194.  3291.  —  V.  3041  (2829)  claffen  in  clagen  ge- 
ändert. —  V.  3095  (2881)  js^u  gender  statt  tougender,  vgl.  oben. 

—  V.  3460  (3244)  von  Jesus  Cristi  zorne\  die  lesart  in  z^  von 
unses  herren  zorne  passt  nicht  in  den  mund  des  teufeis.  — 
V.  3519  f.  (3303  f.).  Der  psalmtext  ist  in  z^  verdorben;  S  hat 
den  richtigen  Wortlaut  =  Desc.  8, 1.  —  V.  4167  (3947)  S  wie 
er  des  menschen  arbeit  in  der  helle  also  bedechte;  z^  schreibt 
in  der  weit.  —  V.  4483  (4265)  S  schreibt  gewis  ursprünglich 
(du  bist)  so  riche  und  also  creftic  |  und  dar  zu  also  mehtic;  z^ 
ändert  wol  des  reimes  wegen  so  riche  und  also  mehtic  \  din 
land  ist  so  trehtic  \  an  heleden  ...  —  V.  4651  f.  (4433  f.)  und 
liez  in  Syrien  \  grafen,  vorsten,  vrien\  z*  schrieb,  da  es  die 
stelle  nicht  verstand  und  liez  vaste  schrien  \  nach  grafen  . . . 

—  V.  4742  (4524)  ersetzt  z^  den  ausdruck  ze  der  cristenheit 
vahend  durch  ze  der  er.  gahend. 

3.  In  z^  fehlende  verse.  Wenn  auch  im  allgemeinen 
das  fehlen  von  versen  nicht  dieselbe  unbedingte  beweiskraft 
a  priori  hat  wie  ihre  zufügung,  so  lässt  sich  doch  bei  einzelnen 
versen  nachweisen,  dass  sie  schon  in  z»  ausgefallen  sind. 
.- "  V.  3644  f.  S  daz  du  bist  worden  als  unser  ein  \  glich  luter 
sam  ein  Spiegelglas  fehlen  in  z'Gps.  Um  den  reim  auf  v.  3643 
herzustellen,  ist  aus  v.  3647  der  artikel  vorausgenommen  du 
ha^st  war,  wan  ich  wa^  ein  \  diep  und  . . .  Ein  solches  aus- 
einanderreissen  von  artikel  und  nomen  ist  sonst  bei  uns  nirgends 


106  HELM 

ZU  belegen.  Die  ander ung  geht  sicher  auf  z*  zurück,  da  es 
nicht  denkbar  ist,  dass  mehrere  hss.  selbständig  eine  so  harte 
construction  gewählt  hätten.  —  V.  3859  f.  (zwischen  G  3642  f.) 

S    nu  ratet  mir] 

war  mir  nu  schire  werde  ein  man 
die  zn  miner  suche  kan 
[mir  itteswaz  geraten  . . . 

Die  verse  sind  in  z^  jedenfalls  nur  durch  einen  zufall  aus- 
gefallen, vielleicht  wollte  der  Schreiber  sie  noch  einfügen,  ver- 
gass  es  aber;  anderenfalls  hätte  schon  z'  den  vers  3861  (3643) 
passend  ändern  müssen,  während  G  und  s  selbständig  ändern. 

—  V.  1635  f.  (G  zwischen  1634  und  1635).  Die  stelle  1633—36 
ist  =  2071 — 74.  Wir  haben  keinen  grund  anzunehmen,  dass 
sich  ursprünglich  nur  2  verse  widerholten.  Anders  läge  der 
fall,  wenn  die  andere  stelle  vorausgienge;  man  könnte  dann 
annehmen,  dass  der  Schreiber  von  S  die  vollständige  stelle  in 
erinnerung  hatte  und  sie  deshalb  nochmals  ganz  schrieb;  dies 
ist  hier  aber  unmöglich,  da  er  sie  noch  nicht  geschrieben  hatte. 

—  V.  3981  f.  (G  zwischen  3762  und  3763).   Die  lesart  von  S 

r 

(daz  sie  in  viengen 
und  an  ein  cruce  hingen) 
3981    und  giengen  an  Pylaten 

scheint  einen  Verstoss  gegen  die  logische  reihenf  olge  zu  enthalten. 
Doch  ist  dies  für  das  original  keineswegs  undenkbar.  Ausserdem 
enthält  v.  3982  vil  iure  si  in  baten  eine  im  gedieht  sehr  häufige 
Phrase  (vgl.  v.  1441).  —  V.  1959—2164  (G  zwischen  1956  und 
1957)  sind  sicher  auslassung  von  z*,  da  sie  durchaus  den  Cha- 
rakter der  Heslerschen  darstellungsweise  tragen.  Man  ver- 
gleiche die  folgenden  verse:  2037  =  1613.  2071—74  =  1633 
—1636.  2156  =  1149.  4255.  4979.  Zu  v.  2047  vgl.  auch  verse 
der  Apokalypse,  Danziger  hs.  blatt  76  d.  85  a.  115  c. 

4.  Weitere  gliederung  der  gruppe  zK  —  Die  hss.  s 
und  p  gehen  innerhalb  der  gruppe  z'  wider  auf  eine  nähere 
gemeinsame  vorläge  zurück:  z\  Dieser  gehört  z.  b.  der  schluss 
der  episode  von  Lucius  und  Karin  an,  wie  er  hier  lautet: 

dir  sol  al  menschlich  kunne  wen  du  bist  lobebsere; 

dienen  immer  mere;  hie  endet  sich  daz  msere 

dir  si  lop  und  ere  (vgl.  unten). 

Ohne  beweiskraft,  aber  immerhin  bemerkenswert,  sind  folgende 
in  beiden  hss.  fehlenden  verse: 


HEINEICH  HESLEES  EVANGELIUM  NICODEMI.  107 

559  f.  (er  gienc) 

au  sin  heimlich  geberc 
zu  Olivete  uf  den  berc. 

V.  583  f.  mit  blutigem  swaizse  do  gieng  er  ageleize  fehlen  an  der 
ihnen  zukommenden  stelle  in  p  und  s.  Sie  scheinen  in  z^  etwa 
am  rande,  und  zwar  entstellt,  gestanden  zu  haben.  Unter  diesen 
umständen  kann  man  wenigstens  die  von  s  nach  v.  598  ein- 
geschobenen verse  er  was  betrübet  in  angsten  heiz  \  er  switzet 
blutigen  siveiz  als  einen  niederschlag  der  ursprünglichen  lesart 
betrachten. 

Gemeinsame  änderungen  von  p  und  s,  also  von  z^  sind: 
V.  1766  (1764)  ich  werde  noch  din  inbisse;  v.  2363  (2155)  lieht 
statt  liuhtnisse,  das  noch  in  z^  stand;  denn  G  ändert  selbständig 
in  glast]  v.  3072  (2858)  ist  hellewirten  (GS)  in  helle  fursten 
geändert;  v.  1946  (1944)  das  ebenfalls  durch  GS  bestätigte 
envorhten  in  gehorhten. 

Abgesehen  davon  ändern  p  und  s  noch  sehr  viel  einzeln. 
Wii'  sehen  von  den  vielen  verdorbenen  und  willkürlich  ge- 
änderten stellen  ab  und  beschränken  uns  auf  die  differenzen 
im  versbestand.  Es  fehlen  in  p  noch  die  verse  1609.  1835. 
2370  f.  2958.  3379— 82.  33951  3423  f.;  in  s  461  f.  2743  f.  3429 
—3432.  3726.  3757.  3836.  4033  f.  4371  f.  4451  f.  4461  f.  4546. 
4685  f.    Plusverse  in  s  sind  3744ab.  4228ab.  4254ab. 

Die  hs.  G  kann  direct  oder  indirect  auf  z*  zurückgehen; 
sie  hat  ebenfalls  für  sich  noch  eine  beträchtliche  zahl  von 
änderungen  eintreten  lassen,  wo  z^  das  ursprüngliche  bewahrt 
hat;  dazu  gehören  die  Umstellungen  5531  28131  34351,  die 
plusverse3790ab,  die  fehlenden  verse  1721.  28251  30591  33531 
50631  5085—5132.  5151—5240.  5271.  Inwieweit  die  grossen 
auslassungen  am  schluss,  über  die  unten  noch  gehandelt  werden 
soll,  G  oder  schon  z^  angehören,  ist  nicht  zu  entscheiden. 

Die  Zugehörigkeit  der  hs.  W  zu  z^  wird  erwiesen  durch 
die  lesarten  in  v.  2280.  3156.  3194.  3291.  4167.  Dazu  stimmt 
auch  das  fehlen  der  verse  36441  Auch  die  fi-aglichen  verse 
28031  hat  W  mit  z^  gemein.  —  Selbständige  wichtige  ände- 
rungen hat  W  nicht  viel;  nur  die  plusverse  1414ab.  Durch 
ein  versehen  des  Schreibers  sind  ausgefallen  die  verse  3230. 
3331 1  4182 1  V.  4205 — 7  sind  in  einen  vers  zusammen- 
gezogen.  —   Innerhalb  der  gruppe  z*  nimmt  W  eine  ganz 


108  HELM 

eigenartige  Stellung  ein.  Es  teilt  mehrere  bedeutende  ände- 
rungen  mit  s  gegen  alle  anderen  hss.  (auch  gegen  p),  z.  b. 
die  Umstellung  der  verse  777  und  778,  4035  und  4036,  4047 
und  4050,  und  die  plusverse  3744ab.  4228 ab.  4254ab.  —  Da- 
gegen steht  W  in  anderen  punkten  entschieden  zu  G  gegen  s. 
So  V.  3694  (3476)  ieweder  die  schrift  sine  \  gäben  den  iuden  do  \ 
Josepn  und  Nicodemo,  Gegen  Ssp  . . .  gab  die  sine  \  schrift  ir 
ein  Nicodemo  \  der  ander  Josepe  do.  Ebenso  stimmt  W  mit  G 
in  V.  3726  (3508),  der  in  s  fehlt,  und  in  einer  reihe  von  anderen 
stellen,  die  in  s  verdorben  sind. 

Der  einzige  ausweg  ist  hier  die  annähme,  dass  W  nach 
mehreren  hss.  gearbeitet  ist,  jedenfalls  nach  zwei  die  den  hss. 
G  und  s  sehr  nahe  standen.  Gegen  diese  annähme  ist  prin- 
cipiell  nichts  einzuwenden,  da  solche  fälle  auch  sonst  nachzu- 
weisen sind.  9  Umsomehr  ist  dies  jedoch  glaubhaft  bei  einer 
hs.  die  nicht  schlechthin  eine  abschrift  ist,  sondern  das  resultat 
einer  contamination  (vgl.  oben)  mit  einem  anderen  und  vielleicht 
noch  einem  dritten  gedieht  (vgl.  die  verse  9rf.  11 — 12  der  hs., 
die  weder  dem  Ev.  Nie.  noch  dem  Marienleben  angehören). 
Gerade  ein  compilator  kann  am  ehesten  mehrere  hss.  zu  rate 
gezogen  haben.  Vielleicht  ergibt  sich  für  die  dem  Marienleben 
angehörenden  partien  ähnliches. 

Einiges  licht  auf  die  arbeitsweise  des  compilators  kann 
vielleicht  die  fassung  des  oben  schon  kurz  berührten  Schlusses 
der  Luciusepisode  werfen.  Gegen  die  vier  in  z^  stehenden 
verse  hat  S  hier  nur  dienen  immer  mere  \  hir  endet  sich  daz 
mcere;  G  dagegen  dienen  immer  mere  \  lop  dir  vater  herre. 
Für  das  original  wird  durch  alle  hss.  nur  der  erste  vers  3691 
(3473)  gesichert,  durch  S  und  z^  aber  der  zweite  in  S  stehende; 
er  muss  also  auch  in  der  vorläge  von  G  (z^)  gestanden  haben. 
In  z^  wird  aber  auch  die  vorläge  für  den  vers  G  3474  gesucht 
werden  müssen,  denn  der  anklang  zwischen  diesem  und  dem 
zweiten  vers  in  z^  ist  evident.  Die  differenz  zwischen  den 
einzelnen  hss.  erklärt  sich  nun  leicht,  wenn  wir  annehmen, 
dass  der  vers  hie  endet  sich  dais  mcere  in  z'  als  randbemerkung 
stehen  blieb.    G  übernahm  dann   einfach  die  stelle  aus  z\ 


0  Vgl.  den  Nibelungentext  Db ,   die  Tristanhs.  B  (vgl.  Paul,  Beitr.  1, 
309),  die  prosafassung  der  Minneburg  (vgl.  Ehrismann,  Beitr.  22, 280). 


HEINRICH  HE8LEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  109 

indem  es  den  vers  am  rande  wegfallen  Hess;  z^  aber  nahjn 
diesen  wider  in  den  text  auf  und  ergänzte  das  zweite  reim- 
paar.  Die  lesart  in  W  dienen  immer  mere  \  den  du  bist  lobe- 
beere  kann  nun  freilich  direct  durch  Streichung  aus  s  hervor- 
gehen. Es  entspricht  aber  nicht  der  strenge,  mit  der  sonst 
W  sich  an  seine  vorläge  hält,  eigenmächtig  eine  solche  ände- 
rung  vorzunehmen.  Den  ausschlag  gab  wol  doch  erst  das 
beispiel  von  G,  wo  der  vers  hie  endet  sich  dae  mcere,  der  ja 
wol  in  erster  linie  anstoss  erregte,  ebenfalls  beseitigt  war. 

Die  Görlitzer  fragmente  r  stimmen  im  einzelnen  teils 
zu  s  gegen  G,  so  v.  4049 1  (3829  f.),  teils  zu  G  gegen  s  v.  3694. 
8726  (3476.  3508);  aber  stets  gehen  sie  dabei  hand  in  hand 
mit  W,  so  auch  im  schluss  von  Lucius  und  Karins  bericht. 
Sie  können  deshalb  vielleicht  als  reste  eines  zweiten  exemplars 
des  compilationswerks  betrachtet  werden.  Vielleicht  liegt  die 
Sache  aber  auch  so,  dass  der  compilator  von  W  gar  nicht 
zwei  hss.  des  Ev.  Nie.  vor  sich  hatte,  sondern  eben  die  hs., 
deren  Überreste  r  darstellen.  Bei  dem  geringen  umfang  der 
fragmente  ist  dies  nicht  zu  entscheiden.  Sicherheit  könnten 
wir  aber,  auch  wenn  von  F  mehr  erhalten  wäre,  nur  be- 
komme^, wenn  wir  uns  durch  den  augenschein  überzeugen 
könnten,  ob  nicht  F  jünger  als  W  ist.  Diese  möglichkeit  ist 
uns  durch  den  vertust  von  F  benommen. 

Die  hs.  welche  Heinrich  von  München  (m)  benutzte,  ge- 
hörte ebenfalls  zu  zK  Dies  ist  dadurch  erwiesen,  dass  in 
V.  4651  (4433)  der  fehler  da  hiez  er  vaste  schrien  mit  ab- 
geschrieben ist. 

Dass  Heinrich  von  München  und  nicht  Hesler  das  plagiat 
begangen,  bedarf  keines  weiteren  nachweises. 

n.   z^  und  M. 

Die  Münchener  fragmente  zeigen  mit  G  eine  reihe  gemein- 
samer lesarten,  vor  allem  aber  haben  sie  mit  Gs  die  plusverse 
nach  4238  (4018)  gemeinsam.  Das  original  hatte  dort  4237  f. 
er  tete  daz  in  der  Jcaiser  hies  \  der  wind  in  über  mere  stiez. 
Diesen  ungewöhnlichen  ausdruck  umschreibt  GMs  breiter  an 
dass  mer  er  sich  geliez  \  der  wind  in  über  fuorte;  \  alz  er  daz 
stat  ruorte  \  ze  Ackirs  . . .  (vgl.  auch  Amersbach  1, 5).  Als  eine 
hs.  der  gruppe  z^  ist  aber  deshalb  M  doch  nicht  zu  betrachten; 


110  HELM 

dem  widerspricht,  dass  sie  doch  in  manchen  einzelheiten  dem 
original  näher  steht;  v.  4351  (4133)  hat  sie  wol  (als  einzige 
hs.)  die  ursprüngliche  lesart  verchviant  beibehalten  (G  verch- 
hunt  :  S  rechte  viant).  Ausserdem  ist  ihr  Charakter  nicht  wie 
der  aller  anderen  hss.  der  gruppe  z^  oberdeutsch,  sondern  md. 
Ich  setze  sie  deshalb  mit  z»  auf  gleiche  stufe  und  nehme  an, 
dass  sie  eine  abschrift  (und  zwar  die  bessere)  einer  auch  z* 
zu  gründe  liegenden  hs.  z  ist.  Es  ist  natürlich  möglich,  dass 
die  eine  oder  andere  der  für  z*  festgestellten  änderungen  be- 
reits in  z  stand,  doch  lässt  sich  dies  des  geringen  umfanges 
von  M  wegen  nicht  feststellen.  Im  allgemeinen  ist  übrigens 
gewis  z  von  änderungen  noch  frei  geblieben. 

B.  Die  hauptgruppe  y. 

Hierher  gehören  SEK.  Von  der  grössten  bedeutung  für 
die  begründung  dieser  Zusammengehörigkeit  sind  die  verse  1847 
—1884  (1845—82),  die  in  S  nach  v.  2242  (2034)  stehen.t)  Was 
Wülcker  (a.a.O.  s. 47anm.  118)  hierüber  sagt,  ist  unrichtig; 
denn  erstens  ändert  nicht  s  gegen  G  und  S,  wie  dort  angegeben 
ist,  sondern  GspW  stimmen  gegen  S  überein.  Zweitens  steht 
nirgends  die  erzählung  von  Longinus  nach  der  von  den 
beiden  schachern,  sondern  in  allen  hss.  unmittelbar  davor,  wie 
in  der  quelle  Gesta  gruppe  D  cap.  10  (s.  unten),  abweichend 
von  der  biblischen  reihenfolge.  Die  änderung  in  S  besteht 
nun  darin,  dass  die  ganze  partie  (also  beide  episoden)  aus  dem 
Zusammenhang  gerissen  und  später  eingefügt  werden,  nachdem 
schon  vorher  v.  2191  (1983)  Christi  tod  berichtet  wui-de.  Der 
grund  der  Umstellung  ist  klar:  dem  Schreiber  fiel  ein,  dass  in 
der  bibel  die  Longinusepisode  erst  nach  Christi  tod  steht:  diese 
reihenfolge  wollte  er  herstellen,  und  dabei  geriet  auch  die 
episode  von  den  beiden  schachern  am  kreuze  an  die  falsche 
stelle.  Dass  der  Verfasser  aber  mit  absieht  Longinus  bereits 
vor  Christi  tod  einführt,  beweist  v.  1848  (1846)  sines  todes  was 
im  ger.  In  diesem  sinne  fasste  das  mittelalter  den  sperstich 
überhaupt  oft  auf,  so  auch  der  dichter  der  Erlösung,  der  ihn 
zwar  nach  Christi  tod  berichtet,  aber  ihn  glaubt  dadurch  er- 
klären zu  müssen,  dass  er  sagt  (v.  4920  ff.),  Longinus  habe 


^)  Enthaltend  die  episode  von  Longinus  und  von  den  beiden  schächenu 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  111 

geglaubt  Christus  lebe  noch  und  habe  seinen  tod  beschleunigen 
wollen  (vgl.  Walther  von  der  Vogelweide  37, 14).  Man  war  also 
weit  entfernt  von  irgend  einer  symbolischen  auffassung  der 
handlung. 

Dieser  Umstellung  gegenüber  erhebt  sich  nun  die  frage,  ob 
sie  auf  rechnung  von  S  selbst  oder  einer  vorläge  kommt ;  und 
im  engsten  Zusammenhang  damit  steht  die  frage  nach  der 
Stellung  der  hs.  E.  Wir  haben  oben  gesehen,  dass  dieser 
zwischen  v.  1816  (1814)  und  3195  (2983)  gegen  den  bestand 
von  S  38  verse  fehlen,  d.  h.  gerade  so  viel  als  in  S  umgestellt 
sind.  Es  ist  kaum  anders  denkbar,  als  dass  dies  dieselben 
verse  sind.^) 

Dann  ist  aber  ein  Zusammenhang  zwischen  ihrem  fehlen 
in  E  und  der  Umstellung  in  S  kaum  von  der  band  zu  weisen ; 
namentlich  da  in  beiden  hss.  die  episode  von  den  schachern 
mit  der  Longinusepisode  das  gleiche  Schicksal  hat,  obwol  eine 
innere  beziehung  zwischen  beiden  nicht  besteht.  Man  wird 
sich  die  sache  wol  so  vorstellen  können,  dass  die  vorläge  y, 
auf  die  also  auch  E  zurückgehen  muss,  die  verse  noch  an  der 
richtigen  stelle  hatte,  aber  mit  einem  verweis,  dass  sie  an 
eine  spätere  zu  setzen  seien;  dies  führte  S  aus,  E  hatte  die- 
selbe absieht,  übersah  aber  später  die  stelle,  auf  die  hin- 
gewiesen war. 

Amersbach  aber  hat  E,  das  er  allerdings  nur  nach  den 
Berliner  fragmenten  kannte,  eine  andere  stelle  angewiesen  auf 
grund  von  plusversen  die  es  mit  GSt  gemeinsam  habe.  Es 
sind  dies  die  verse  3213  f.  (2999  f.).    Die  stelle  lautet: 

also  wurden  die  sele  von  dem  alten  schimele 

adam  vnde  abele  der  hitze  und  des  vrostes 

ynd  al  den  sunden  meligen  des  swartzen  beches  rostes 

gelich  den  vil  seligen  gewaschen  und  gereinet, 
heiligen  da  zehimele 


*)  Eine  andere  geschlossene  partie  von  38  versen  ist  v.  2205 — ^2242 
(1997 — 2034),  wo  zwischen  tod  und  begräbnis  Jesu  eingeschoben  wird,  wie 
der  teufel  sich  als  tiberwunden  erkennt  und  in  der  hölle  verbirgt.  Dies 
gehört  scheinbar  nicht  hierher,  ist  aber  in  v.  2214 — 16  (2006 — 8)  doch  so 
gut  motiviert,  dass  einem  Schreiber,  der  nicht  ganz  willkürlich  verfuhr, 
kein  grund  gegeben  war,  die  partie  zu  streichen.  Bei  der  gute  der  hs.  E 
ist  übrigens  gar  nicht  daran  zu  denken,  dass  deren  Schreiber  selbst  verse 
absichtlich  zugesetzt  oder  ausgelassen  hätte. 


112  HELM 

Es  ist  klar,  dass  unter  dem  alten  schimmel  zunächst  jedenfalls 
die  Sündenflecke  verstanden  werden  können,  und  es  lag  deshalb 
nahe,  die  beiden  verse  als  misglückten  erklärungsversuch  eines 
Schreibers  anzusehen,  der  das  nicht  mehr  verstand.  Dem  wider- 
spricht aber,  dass  die  verse  ganz  den  stil  Heslers  verraten,  und 
zwar  einen  der  markantesten  züge:  die  Zusammenstellung  von 
gegensätzen  in  einen  vers,  vgl.  3355  (3139)  an  vrost  und  an 
hiUe,  Auch  die  fortführung  der  aufzählung  in  einem  zweiten 
vers  ist  ganz  der  diction  Heslers  angemessen,  der  eine  gewisse 
fülle  des  ausdrucks  liebt.  Der  dichter  hat  also  offenbar  selbst 
schimel  als  den  schmutz  der  hölle  gefasst,  der  denjenigen  an- 
haftet, die  so  lange  sich  dort  gehdmet  haben. 

Ganz  ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  zwei  anderen 
versen,  die  in  E  zwar  nicht  überliefert  sind,  aber  auf  grund 
des  umf anges  ^)  der  spalten  ihm  zugeschrieben  werden  müssen, 
und  die  in  S  fehlen;  v.  3301  f.  (3087  f.)  in  folgender  stelle: 

der  arge  rouk  des  nebeles  da  warp  ein  wint  enzvschen 

des  piches  vnd  des  swebeles  den  seien  vnd  den  geisten 

zu  gienc  die  für  irluschen,  den  minsteu  vnd  den  meisten. 

Auch  hier  ist  ganz  durchsichtig,  wie  S  dazu  kommen  konnte, 
die  beiden  verse  auszulassen.  Auch  ohne  sie  geben  die  vorher- 
gehenden einen  klaren  sinn:  ein  wind  erhob  sich  inmitten  des 
rauches  und  nebeis  und  vertreibt  sie;  ja  es  konnte  so  scheinen, 
als  brächten  die  letzten  beiden  verse  ein  gar  nicht  hierher- 
gehöriges motiv:  die  Scheidung  der  seelen  in  zwei  gruppen 
gewaltsam  und  störend  hinzu.  Dies  war  wol  die  Überlegung 
des  Schreibers  von  S.  Damit  ist  aber  in  die  verse  ein  sinn 
hineingedeutet  worden,  der  ihnen  sicher  nicht  zukommt;  es 
soll  nicht  eine  Scheidung  der  seelen  angedeutet,  sondern 
nur  gesagt  werden,  dass  sich  nun  an  stelle  der  hitze  und  des 
rauches  ein  frischer  wind  mitten  unter  allen  seelen  und  geistern 
ohne  unterschied  woltätig  erhob.  Den  ausschlag  dafür  gibt 
auch  hier  wider  die  schon  oben  besprochene  für  Hesler  cha- 
rakteristische ausdrucksweise.  Man  vergleiche  zu  dieser  stelle 
noch  speciell  aus  der  Apokalypse  (Danziger  hs.)  folgende  verse: 
auf  85  c  den  besseren  noch  den  hosten  \  den  nidersten  noch  den 
hosten,  86  b  der  liberen  und  der  unmersten,  93  c  die  minneren 


^)  Die  betr.  spalte  hätte  sonst  nur  39  verse. 


HBIINBICB  HESLEBS  £VAKGELIUM  NICODEML  113 


und  die  meren,  1  a  (v.  19)  du  wurde  nie  minner  noch  merer, 
echtiger,  wiser  noch  herer,  \  nie  zorniger,  nie  haz  gemut,  \  wen 
du  hist  immer  gliche  gut  (weiteres  über  parallelen  zwischen 
Ev.  Nie.  und  der  Apokalypse  s.  unten). 

Die  abweichungen  die  S  vom  originale  zeigt,  sind  nament- 
lich eine  reihe  fehlender  verse.  V.  1581  f.  als  ursprünglich  er- 
wiesen durch  K  und  z».  —  V.  3213  f.  als  ursprünglich  erwiesen 
durch  E  und  z«,  dazu  treten  noch  folgende  verse,  die  wir  dem 
versbestand  nach  für  E  ansetzen  müssen  (vgl.  oben)  und  die 
dann  ebenfalls  gesichert  sind:  1875  f.  (1873  f.).  1891  f.  (18891). 
2329  f.  (2221  f.).  2649  f.  (2441  f.).  2797—2800  (2589—2593). 
3301  f.  (3087  f.).  3563  f.  (3347  f.).  Bei  allen  diesen  (vgl.  spe- 
ciell  V.  3301  f.)  kommt  hinzu,  dass  sie  inhaltlich  und  formell 
keinen  grund  zu  bedenken  geben;  dasselbe  gilt  von  v.  4887  f. 
(4669  f.),  der  durch  E  nicht  gestützt  werden  kann,  da  dieses 
nicht  so  weit  reicht.  V.  4751  f.  (4533  f.)  ist  deshalb  unbedingt 
nötig,  weil  sich  sie  in  v.  4753  auf  v.  4751  bezieht.  Directer  ist 
die  ui-sprünglichkeit  folgender  verse  zu  erweisen.  V.  3543  f. 
(3327  f.)  du  nimest  unser  missetat  und  tust  unser  sunden  rat 
Sie  sind  gesichert  durch  die  quelle  Desc.  8  Quis  deus  sicut  tu, 
auferens  iniquitates  et  transgrediens  peccata  . . ,  absolvis 
omnes  iniquitates  nostras  et  omnia  peccata  nostra  demer- 
sisti.  V.  4947  f.  (4729  f.)  (hat  uch  erloset  Jesus  Crist)  von  den 
geisten  bösen,  so  soldet  ir  in  ouch  losen  (von  disen  unreinen 
geisten).  Das  überspringen  der  verse  wird  durch  die  grosse 
ähnlichkeit  zwischen  v.  4947  und  4949  leicht  erklärt. 

Aenderungen  im  ausdruck  in  S  sind  sicher  folgende. 
V.  1796  (1794)  Sit  sazte  dar  an  Pilate  \  den  virten  ort  mit  rate, 
S  schreibt  so  drate.  Der  sinn  ist  aber:  Pilatus  setzte  an  das 
wie  ein  T  gebildete  kreuz  das  vierte  ende  mit  rate,  d.h.  mit 
der  absieht  die  Inschrift  anzubringen.  —  V.  2983  (2771)  ist  in 
S  verdorben.  —  V.  3368  (3152)  steht  das  wort  disem  ^Sauerteig' 
in  GW  und  ausserdem  in  E  (s.  unten);  es  gehörte  jedenfalls 
dem  original  an  und  wurde  von  S  nicht  verstanden.  —  V.  4494 
(4276)  ein  hild  und  eine  frouwen  von  S  geändert  in  da  von 
din  suche  sal  ruowen.  Der  folgende  vers  daz  also  Jesus  ist 
gestalt  schwebt  aber  in  der  luft,  wenn  nicht  wirklich  das  bild 
vorher  erwähnt  wird. 

Endlich  ist  die  aufzählung  der  kaiser  v.  4598  (4380  ff.)  zu 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  3 


114  fiELM 

beachten.  S  hat  hier  die  historische  reihenfolge,  z*  und  E 
nicht.  Letzteres  ist  gewis  das  richtige.  Verleitet  wurde  der 
Verfasser  zu  der  falschen  aufzählung  durch  seine  quelle,  die 
Veronicalegende  in  der  Version  D  (s.  unten),  wo  Claudius  als 
directer  nachf olger  des  Tiberius  erscheint :  Tiberius  cum  guter- 
naret  imperium  et  Claudium  in  successipnem  reipublicae  elegisset; 
auch  später  wird  Claudius  als  nachf  olger  des  Tiberius  genannt; 
auf  ihn  folgt  dann  direct  Nero.  Der  Schreiber  von  S  kannte 
die  geschichtlichen  tatsachen  und  wollte  den  text  bessern.  Er 
kommt  dabei  übrigens  zu  einem  bedenklichen  flickvers  und 
einem  reim  der  bei  unserem  dichter  ganz  undenkbar  ist:  Gaius 
wart  do  \  kaiser  der  auch  hiez  \  Galigola  daz  man  wol  weiz, 
endlich  zu  dem  ebenso  unmöglichen  versungeheuer  nach  im 
wart  Galha  Otho,  Vitellius. 

Zur  gruppe  y  stelle  ich  sodann  noch  das  fragment  K,  das 
mit  S  fast  genau  wörtlich  übereinstimmt.  Es  wäre  darnach 
wol  denkbar,  wenn  auch  nicht  wahrscheinlich,  dass  S  eine 
abschrift  von  K  wäre. 

Schwer  zu  entscheiden  ist  die  frage,  ob  v.  1603  als  beleg 
für  Zusammengehörigkeit  von  S  und  K  geltend  gemacht  werden 
kann.  Beide  hss.  schreiben  hier  daz  ir  zu  den  bergen  sprechet 
vnd  zu  den  houmen  allen,  während  Gsp  buheln  statt  houmen 
lesen.  Zu  gründe  liegt  Luc.  23, 30  *dann  werden  sie  anfangen 
und  sagen  zu  den  bergen:  fallet  über  uns!  und  zu  den  hügeln: 
decket  uns'  (vgl.  Hosea  10, 8).  Es  erscheint  darnach  zunächst 
als  die  selbstverständliche  lösung  die  annähme,  dass  y  den 
ausdruck  buhel,  den  es  nicht  verstand,  änderte.  Dem  gegen- 
über ist  nun  aber  wichtig,  dass  in  der  Apokalypse  *)  dieselben 
verse  stehen,  wo  erzählt  ^ird,  wie  die  menschen  vor  gottes 
räche  fliehen  und  zu  den  bergen  sprechen  und  zu  den  bäumen 
allen :  \  mugit  ir  uns  bevdllen  nach  Off enb.  Joh.  6, 16.  Für  die 
Apokalypse  ist  eine  andere  lesart  nicht  überliefert.  Dies  zu- 
sammentreffen ist  äusserst  merkwürdig.  Fänden  wir  in  S 
irgend  ein  anderes  wort  für  hügel  und  dasselbe  auch  in  der 
Apokalypse,  so  brauchten  wir  an  einen  Zusammenhang  gar 
nicht  zu  denken.  Aber  die  änderung  boumen  ist  gegenüber 
dem  jedermann  geläufigen  bibeltext  so  auffallend,  dass  wir 

1)  Danz.  hs.  bl.  93  b. 


HEnmiCH  HEHLERS  EVAKGELIÜM  KtCODEMl.  115 

nicht  annehmen  können,  zwei  leute  hätten  dieselbe  unabhängig 
von  einander  getroffen.  Wir  könnten  boumen  also  als  un  ur- 
sprünglich nur  dann  ansehen,  wenn  wir  annehmen  wollten, 
dass  die  hss.  der  Apokalypse  auf  eine  gemeinsame  vorläge 
zurückgehen,  die  von  demselben  Schreiber  herrühre  wie  y. 
Möglich  ist  dies  ja  sehr  wol,  aber  doch  immer  zweifelhaft. 
Man  wird  darnach  die  lesart  boumen  doch  eher  dem  original 
zuerkennen.  Die  auffallende  differenz  gegen  die  quelle  kann 
ihren  grund  darin  haben,  dass  den  dichter  der  pleonasmus 
der  sich  dort  findet,  störte,  während  z»  dann  in  erinnerung  an 
die  bibel  die  stelle  änderte.  Diese  auffassung  empfiehlt  sich 
auch  deshalb,  weil  buhel,  wie  z*  liest,  gewis  in  keinem  fall 
ursprünglich  sein  kann,  da  es  wesentlich  auf  Oberdeutschland 
beschränkt  ist;  nur  im  hessischen  wird  es  noch  von  Vilmar 
belegt. 

Am  Verhältnis  zwischen  S  und  K  wird  dadui'ch  nichts 
geändert. 

Die  gruppe  y  verdient  vor  der  gruppe  z,  jedenfalls  aber 
vor  'der  gruppe  z*  weitaus  den  vorzug;  Gps  sind  reich  an 
änderungen  und  entstellungen  jeder  art.  M  steht  dagegen  im 
werte  den  hss.  der  gruppe  y  wol  gleich.  Unter  diesen  sind 
wider  die  besten  K  und  E,  während  bei  S  die  kritik,  mit  der 
der  Schreiber  seiner  arbeit  gegenüber  steht  (vgl.  die  kaiser- 
aufzählung  u.  a.),  die  getreue  widergabe  da  und  dort  beeinträch- 
tigt hat.  Unter  den  nicht  fragmentarischen  hss.  bleibt  S  aber 
durchaus  die  beste,  auch  sprachlich  ist  sie  die  wichtigste 
(s.  oben).  Für  die  textkritik  gilt  demnach:  1)  differieren  y 
und  z  ganz,  so  ist  in  der  regel  die  lesart  von  y  die  richtige; 
—  2)  stimmt  irgend  eine  hs.  von  z  zu  y,  oder  irgend  eine  hs. 
von  y  zu  z,  so  ist  die  lesart  dadurch  gesichert;  —  3)  stimmt 
je  eine  hs.  von  z  und  eine  von  y  zusammen,  während  die 
übrigen  hss.  alle  differieren,  so  ist  ebenfalls  dadurch  die  lesart 
gesichert  (hier  sind  fälle  zufälligen  Zusammentreffens  jedoch 
leicht  mögUch);  —  4)  für  die  partien  bis  436  und  573—1412, 
welche  in  S  fehlen,  hat  G  so  viel  gewicht  als  p  und  s  zusammen. 
Aber  auch  wenn  p  oder  s  zu  G  stimmt,  ist  der  Wortlaut  des 
Originals  nicht  mit  voller  Sicherheit  gegeben.  Es  kann  hier 
nötig  sein,  gegen  die  erhaltene  Überlieferung  zu  conjicieren. 

W  und  T  entbehren  textkritisch  jeglicher  bedeutung. 

8* 


116  HELM 

Zu  den  willkürlichen  änderungen  von  G  (z^?)  gehört  auch 
die  kürzung  der  schlusspartie,  die  in  dieser  fassung  nicht  be- 
friedigt; es  ist  nicht  anzunehmen,  dass  der  dichter  mit  einem 
so  nebensächlichen  motiv  plötzlich  sollte  abgebrochen  haben : 

von  got  han  sie  {die  Juden)  sich  gevirret 
und  sind  im  gar  nnmsere; 
SOS  endet  sich  daz  msere. 

Dagegen  erscheint  der  schluss  in  S,  der  sich  an  die  leser  selbst 
wendet,  ganz  angemessen,  und  die  ganze  partie  ist  in  S  präciser 
und  logischer.  Ausserdem  haben  die  nur  in  S  stehenden  partien 
gerade  so  bestimmt  den  Charakter  des  Heslerschen  stils,  dass 
sie  nicht  als  zusätze  aufgefasst  werden  können.  Man  vgl.  den 
reim  5127  tusent :  u  sint  mit  Apokalypse  77b  v.  5219  mit  3755. 
4741;  V.  5302  mit  1951.  Endlich  beachte  man  v.  5382  an  der 
wite  und  an  der  lenge,  an  der  hohe  und  an  der  nidere  und  5386 
an  der  smele  und  an  der  tufe,  an  der  lenge  und  an  der  hurte. 
Die  änderung  geschah  wol  so,  dass  in  G  ebenso  wie  die 
schwierige  partie  1959 — 2164,  so  hier  v.  5085 — 5132  und  5151 
— 5240  gestrichen  wurden  und  im  anschluss  daran  dann  erst 
die  Umstellung  der  partien  5065—84  (4863—82)  und  5133—50 
(4845 — 62)  vorgenommen  wurde. 

Schwieriger  könnte  die  frage  erscheinen,  ob  der  prolog 
V.  1 — 368  dem  original  angehört.  Ueberliefert  ist  er  nur  in  G, 
dagegen  fehlte  er  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  in  S.  Ob  E 
ihn  enthielt,  konnten  wir  nicht  entscheiden.  Es  ist  jedoch 
kein  zweifei,  dass  er  ursprünglich  ist;  denn  abgesehen  davon 
dass  diese  einführungsweise  weit  eher  der  gepflogenheit  der 
mhd.  dichter,  und  auch  Heslers,  entspricht,  als  die  unmittelbare 
aufnähme  des  themas,  so  verleugnet  sich  auch  hier  die  für 
Hesler  charakteristische  diction  nicht,  die  uns  schon  zur  ent- 
scheidung  über  andere  fragliche  stellen  verholfen  hat.  Man 
vgl.  folgende  parallelen:  v.  1.  5  =  1699.  4125.  4135  do  got  der 
werlde  hegan\  v.  143  an  siner  hohen  maiestat,  \  daz  was  ein  vor 
vorborgen  rat  entspr.  3375 . . .  siner  hohen  maiestat,  \  daz  was 
ein  nach  geraten  rat;  359  und  geruch  mich  begnaden  \  in  dinen 
hohen  graden  entspr.  3399  u.  a. 

In  G,  das  mit  v.  5270  (4912)  schliesst,  folgt  endlich  im 
umfang  von  212  versen  noch  das  gleichnis  von  Lazarus  und 
dem  reichen  mann.    Dass  dies  unursprünglich  ist,  bedarf  keines 


HEINRICH  HESLERS   EVANGELIUM  NICODEMI.  117 

beweisest  inhaltlich  passt  es  nicht  hierher  und  formell  hat  es 
einen  wesentlich  anderen  Charakter.  Dass  dieser  zusatz  aber 
nicht  erst  in  G  antrat,  sondern  schon  in  der  vorläge  stand, 
hat  bereits  Amersbach  mit  recht  aus  der  spräche  gefolgert. 
Es  ist  aber  nicht  nötig,  mit  ihm  anzunehmen,  dass  dieser 
vorläge  wider  eine  andere  zu  gründe  lag,  welche  bereits  mit 
4270  schloss,  aber  die  legende  noch  nicht  enthielt.  Ich  glaube 
bestimmt,  dass  in  z  der  schluss  noch  intact  war,  und  möchte 
zwischen  z  und  z»  kein  weiteres  glied  einfügen;  die  verhältnis- 
mässig kurze  zeit,  welche  zwischen  dem  original  und  G  liegt, 
scheint  mir  dies  zu  verbieten.  Es  ist  aber  sehr  wol  denkbar, 
dass  der  Schreiber  von  z^  mit  5270  schloss  —  einerlei  aus 
welchem  gründe  —  und  dann  das  gedieht  von  Lazarus,  das 
vielleicht  schon  in  z  als  selbständiges  gedieht  stand,  daran 
anschloss,  indem  er  wol  glaubte,  damit  einen  wirkungsvollen 
schluss  zu  erzielen. 

II.   Die  quellen. 

1.  Die  kanonischen  evangelien  und  das  Ev.  Nioodemi. 

In  V.  369—  372  nennt  der  dichter  selbst  als  seine  gewährs- 
männer  die  vier  evangelisten  und  Nicodemus,  der  den  unvoll- 
ständigen bericht  jener  ergänzt  habe,  und  erzählt  dessen 
bekehrung  kurz  nach  Joh.  3, 1  ff. 

Diese  gleichzeitige  benutzung  der  kanonischen  und  apo- 
kryphischen  quelle  teilt  unser  gedieht  mit  den  meisten  mittel- 
alterlichen werken,  die  sich  an  Nie.  anschliessen;  vgl.  R.  P. 
Wülcker  a.a.O.  s. 4  und  passim. 

Wir  müssen  und  können  natürlich  für  unseren  zweck 
vollkommen  absehen  von  all  den  controversen,  die  sich  erhoben 
haben  in  der  beantwortung  der  frage,  wann  und  wie  die  unter 
dem  namen  eines  Ev.  Nie.  bekannte  schrift  entstanden  ist;  zur 
Orientierung  sei  verwiesen  auf  C.  Tischendorf,  Evangelia 
apocrypha^,  Leipz.  1876,  R.  A.  Lipsius,  Die  Pilatusakten  kri- 
tisch untersucht,  und  auf  die  Zusammenstellung  bei  Wülcker 
s.  1  ff.  Für  uns  wichtig  ist  folgendes.  Das  Ev.  Nie.  zerfällt 
in  zwei  teile:  I.  Gesta  Pilati  von  der  klage  der  Juden  gegen 
Jesus  bis  zur  auferstehung,  und  IL  Descensus  Christi  ad 
inferos,  den  bericht  über  die  höllenfahrt  Christi. 


118  HELM 

Die  Gesta  sind  in  ihrer  lat.  fassung  im  wesentlichen  nur 
in  einer  recension  überliefert  (=  der  griech.  recension  A);  nur 
eine  gruppe  von  hss.,  D,  wozu  sich  auch  der  älteste  druck 
(Hain,  Repertorium  bibliographicum  no.  11749)  stellt,  weicht 
in  einigen  nicht  unwesentlichen  punkten  davon  ab.  Dieser 
gruppe  D  gehörte  das  unserm  dichter  vorliegende  exemplar 
der  Gesta  an.  Der  text  findet  sich  bei  Tischendorf  s.  333  ff., 
die  abweichungen  von  D  in  den  anmerkungen. 

Der  Descensus  ist  in  zwei  lat.  bearbeitungen,  A  und  B, 
erhalten,*)  unserem  gedichte  liegt  A  zu  gründe.  Den  text  s. 
bei  Tischendorf  s.  389  ff. 

In  den  anfangspartien  wiegen  die  kanonischen  evangelien 
als  quelle  weitaus  vor.  Nur  ganz  kurz  wird  v.  393 — 425  nach 
Gesta  1, 1  die  klage  der  pharisäer  vor  Pilatus,  aber  ohne  den 
klagegrund,  berichtet;  schon  hier  ist  v.  414 — 416  =  Joh.  18, 14, 
und  im  folgenden  schliesst  sich  der  dichter  ganz  an  die  bib- 
lische erzählung  an,  wobei  es  im  einzelnen  oft  unmöglich  ist, 
anzugeben,  welchem  evangelium  er  folgt. 

V.426 — 456  die  fusswaschung  nach  Joh.  13, 4 — 9  und  12 — 15. 
—  V.  457 — 486  einsetzung  des  abendmahls  und  hinweis  auf  den 
verrat  in  anderer  reihenfolge  als  in  Matth.  (26, 21  und  26)  und 
Marc.  (14, 18. 22)  nach  Lucas  22, 19. 21.  —  V.  487—505  Judas 
bietet  sich  den  Juden  als  Verräter  an  nach  Matth.  26, 14  f.  — 
V.  506 — 519  Prophezeiung  von  Petri  Verleugnung. 

V.  520 — 556  anschliessend  an  Luc.  22, 35  ff.  ein  excurs  über 
das  geistliche  und  weltliche  schwert.  Was  darüber  ausgeführt 
wird,  entspricht  im  wesentlichen  dem  wie  die  kaiserliche  partei 
im  mittelalter  den  satz  auffasste,  wonach  beide  Schwerter  direct 
von  gott  gegeben  und  gleichberechtigt  seien,  wie  die  frage 
auch  im  Sachsenspiegel  und  in  der  glosse  dazu  dargestellt  wird 
(vgl.  W.  Grimm,  Vridankes  bescheidenheit  s.  Lvn,  wo  sich  auch 
die  weitere  literatur  über  diesen  punkt  findet).  Eine  eigene 
Stellung  scheint  jedoch  der  Verfasser,  soweit  aus  seiner  nicht 
ganz  klaren  ausdrucksweise  hervorgeht,  darin  einzunehmen, 
dass  er  das  weltliche  schwert  dem  Petrus,  das  geistliche  dem 
Johannes  zuteilt:  eine  auffassung  welche  durch  das  verhalten 


*)  Vgl.  die  gegenübersteUung  bei  Wülcker  a.  a.  o.  s.  4  ff. 


HEIKBICH  HESLEB8  EVANGELIUM  NICODEMI.  119 

Petri  bei  der  gefangennähme  wol  gestützt  werden  konnte,  aber 
anderweitig  nicht  belegt  ist. 

V.  557 — 599  Christi  gebet  in  Gethsemane.  Mehrere  einzel- 
heiten  nach  Luc.  (22,  39 — 46),  spec.  570  eines  wurfes  vort  = 
Luc.  V.  41.  V.  583  der  blutige  schweiss  nach  Luc.  v.  44.  Da- 
gegen berichten  von  einem  dreimaligen  gebet  nur  Matthaeus 
und  Marcus.  —  V.  600 — 608  die  gefangennähme  nach  den 
Synoptikern. 

V.  609 — 623  Petrus  und  Malchus.  Contaminiert  nach  den 
vier  evangelien.  Die  namen  stehen  nur  bei  Joh.,  die  heilung 
des  Ohres  nui*  bei  Luc,  die  aufforderung,  das  schwert  einzu- 
stecken, bei  Matth.  und  Joh.,  die  zwölf  legionen  der  engel  nur 
bei  Matth.  —  V.  624—627  und  654—680  die  Verleugnung  Petri 
wie  in  Matth.  und  Luc.  Dazwischen  steht  v.  628 — 642  Christi 
Schmähung  durch  die  kriegsknechte,  und  v.  643 — 653  ein  hin- 
weis  auf  die  durch  Christi  leiden  erfüllte  Weissagung  Jes.  53, 7, 
vielleicht  geschrieben  in  erinnerung  an  Act.  8, 30. 

Die  art  wie  der  dichter  die  evangelien  benutzt,  zeigt  dass 
er  nach  möglichster  Vollständigkeit  strebte.  Da  nicht  biblisches 
abgesehen  von  dem  excurs  über  die  zwei  Schwerter  nicht  vor- 
kommt, und  ausserdem  seine  eigenen  worte  direct  die  evange- 
lien als  quelle  nennen,  so  ist  ausgeschlossen,  dass  der  Verfasser 
hier  irgend  welche  weiteren  quellen  benutzte.  In  einzelnen 
Partien  schliesst  er  sich  —  das  geschieht  aber  auch  im  folgen- 
den —  wol  oft  an  bestimmte  formein  an,  in  denen  damals  die 
heilsgeschichte  offenbar  ziemlich  genau  fixiert  war. »)  Aus  dem 
zusammentreffen  im  Wortlaut  einzelner  verse  mit  solchen  ver- 
wanter  dichtungen  kann  deshalb  durchaus  nicht  auf  directe 
beeinflussung  geschlossen  werden. 

V.  681 — 726.  Gegen  den  bericht  der  evangelien  wird  nun 
der  des  Nicodemus  gestellt,  damit  die  darstellung  der  Gesta 
aufgenommen  und  die  klage  der  Juden  vor  Pilatus  nochmals 
gebracht.  Es  ergibt  sich  dadurch  ein  Widerspruch  mit  der 
bisherigen  darstellung,  da  die  Vorladung  Jesu,  wie  sie  in  den 
Gesta  steht,  doch  voraussetzt,  dass  dieser  noch  frei  ist. 

V.  727—768  ausführung  der  klage  nach  Gesta  1, 1—2.  Die 


*)  Für  ähnliche  Verhältnisse  des  prosaischen  bibeltextes  des  15.jli-*s 
vgl.  auch  Merzdorf,  Die  deutschen  historienbibeln  des  mittelalters  s.  4. 


120  HELM 

dort  stehende  einwendung  des  Pilatus,  wie  er  denn  als  praeses 
einen  rex  vorladen  könne,  ist  ausgelassen.  Jesus  heisst  hier 
der  son  des  smides  =  filius  fabri,  der  zusatz  lignarii  konnte 
also  nicht  in  der  vorläge  stehen. 

V.  769 — 920  zweimalige  ladung  Christi  und  das  fahnen- 
wunder =  Gesta  1,  2 — 6.  V.  837 — 857  ist  eine  ausführliche 
motivierung  der  anwesenheit  der  fahnen  eingeschoben.  — 
V.  921 — 940  Procula  spricht  für  Jesus  =  Gesta  2, 1.  Der  name 
nur  in  D  (vgl.  Wülcker  s.  47).  —  V.  952—1004  die  Juden  be- 
zweifeln Christi  eheliche  geburt,  die  von  den  zwölf  männem 
bezeugt  wird,  =  Gesta  2,  3.  4.  Ein  name  (Jacobus)  fehlt 
bei  uns. 

Während  nun  im  Gesta  2, 5  Caiphas  sich  darauf  beschränkt, 
die  Ungerechtigkeit  hervorzuheben,  dass  man  zwölf  männem 
glaube,  aber  der  aussage  des  ganzen  Volkes  nicht,  bringen  bei 
uns  die  Juden  neue  anklagepunkte  vor  (v.  1005 — 1019). 

V.  1020 — 1156  Pilatus  bespricht  sich  mit  den  zwölf  männem, 
weigert  sich  Christus  zu  töten,  verhört  ihn  unter  vier  äugen. 
Erneute  Weigerung  und  erneute  klage  der  Juden.  Pilatus  ver- 
sucht vergeblich  die  ältesten  der  Juden  umzustimmen;  Jesus 
weist  auf  die  propheten  hin,  die  seine  marter  geweissagt  hätten; 
Pilatus  will  die  Juden  bewegen,  selbst  zu  richten,  und  erblickt 
die  weinenden  unter  der  menge,  =  Gesta  2, 5  bis  4, 5  (der  schluss 
von  4,5  ist  ausgelassen). 

V.  1157 — 1267  Nicodemus  verteidigt  Christus,  weshalb  die 
Juden  ihm  zürnen  (Gesta  5, 1. 2),  weitere  zeugen  treten  auf  = 
Gesta  6, 1. 2  und  7.  8,  doch  fehlen  dort  der  taube  und  der  stumme 
und  auch  Lazarus  tritt  nicht  selbst  auf,  sondern  es  wird  nur 
von  ihm  berichtet. 

V.  1268 — 76  die  Juden  sinnen  auf  neue  anschlage.    Frei. 

V.  1277 — 1414  Pilatus  bespricht  sich  mit  Nicodemus  und 
den  zwölf  männern,  stellt  den  Juden  die  wähl  zwischen  Jesus 
und  Barrabas  frei;  diese  drohen  ihm,  er  sei  nicht  des  kaisers 
freund  (nach  Joh.  19).  Pilatus  tadelt  die  Juden  scharf;  Caiphas 
erzählt  von  den  drei  königen  und  dem  kindermord  (Gesta 
9, 1—3). 

V.  1415 — 20  Pilatus  schickt  Jesus  zu  Herodes  (Gesta  9, 4, 
aber  nur  in  D).  —  V.  1421 — 39  Herodes  versucht  vergeblich 
Jesus  zu  verhören,  =  Luc.  23, 8—12.   —   V.  1440—92  letztes 


HEINBIGH  HESLEBS  EVANGELroM  NICODEMI.  121 

verhör  vor  Pilatus  und  urteil  nach  den  verschiedenen  evan- 
gelien  (Joh.  19, 9 — 11.  Luc.  23, 22  u.  a.),  das  urteil  selbst  auch 
Gesta  9, 5.  —  V.  1493 — 1521  Christi  krönung  nach  den  evan- 
gelien.  —  V.  1522 — 31  Pilatus  wäscht  seine  hände;  die  Juden 
nehmen  alle  schuld  auf  sich,  =  Gesta  9, 4  (auch  Math.  27, 24  f.). 
—  V.  1532 — 39  verweis  auf  die  worte  Jesaias  'sie  hassen  mich 
ohne  schuld'.  —  V.  1540 — 70  Judas'  tod  und  kauf  der  begräbnis- 
stätte,  Matth.  27, 3—9.  —  V.  1571—1604  gang  nach  Golgatha 
nach  den  Synoptikern,  die  weinenden  frauen  nur  bei  Luc. 
(23,  28—30). 

V.  1605 — 29  die  kriegsknechte  werfen  das  los  um  den  rock; 
im  engen  anschluss  an  Joh.  19, 23. 24  mit  beziehung  auf  Psalm 
22, 19.  Die  losung  steht  jedoch  bei  uns  vor,  in  der  bibel  nach 
der  kreuzigung. 

V.  1630 — 1768  eine  hinweisung  auf  die  Prophezeiung  Micha 
6, 3  f.  und  ausführliche  betrachtung  über  die  Sendung  Christi. 

V.  1769—1802  (1767—1800)  die  kreuzigung,  die  Inschrift 
am  kreuze,  letztere  Gesta  10, 1  schluss,  aber  auch  Luc.  23,  38. 
Joh.  19, 19  f.  Bei  Matth.  und  Marc,  findet  sich  von  der  drei- 
sprachigkeit nichts.  Das  kreuz  ist  nach  der  ansieht  unseres 
dichters  der  bäum  des  lebens,  der  in  gestalt  eines  griechischen  T 
gewachsen  war,  die  sogenannte  crux  commissa  (oder  Antonius- 
kreuz), dasselbe  schrieben  die  Juden  in  Aegypten  an  ihre  türen. 
In  dieser  gestalt  erscheint  das  kreuz  bereits  in  den  alten  kirch- 
lichen Schriften  (z.  b.  Barrabas,  Ep.  c.  9.  TertuUian,  Adv.  Marc. 
3, 22).  Es  handelt  sich  dabei  auch  nicht  nur  um  eine  ungefähre 
ähnlichkeit,  wie  übereinstimmend  Wetzer- Weites  Kirchenlexikon 
und  die  Realencyklopädie  für  protestantische  theologie  angeben. 
Petrus  Comestor  (Migne,  Patrol.  lat.  198, 1630)  sagt  vielmehr 
ausdrücklich  crux  autem  non  hdbebat  super  lignum  transversum 
aliquid,  hahens  formam  Tau.  Pilatus  setzt  mit  der  Inschrift 
erst  das  vierte  ende  an.  Die  darstellung  Comestors  war  wol 
für  die  weite  Verbreitung  dieser  annähme  ausschlaggebend  (vgl. 
auch  Frauenlob  spruch  234, 16  und  im  kreuzesleich  8, 15). 

V.  1803—33  (1801—31)  die  kreuzigung  der  Schacher  deren 
namen  aus  Gesta  10, 1  stammen.  —  V.  1833 — 46  (1831 — 44)  die 
Juden  reichen  Jesus  wein  mit  myrrhen  (Marc.  15, 23)  und  ver- 
spotten ihn  (Matth.  27,  40. 42),  letzteres  auch  Gesta  10, 1.  — 
V.  J  847— 84  (1845—82)  die  episode  von  Longinus  und  die  reden 


122  HELM 

der  beiden  scMcher  in  der  reihenfolge  wie  sie  GtestalO,!  gruppeD 
enthält  (vgl. oben).»)  —  V.  1885— 1904  (1883—1902)  Johannes 
und  die  frauen  am  kreuze  (Joh.  19, 25  -27).  —  V.  1905—1915 
(1903 — 13)  Jesus  senkt  sein  haupt  nieder;  dabei  verweis  auf 
Matth.8, 20  *des  menschen  söhn  hat  nicht  da  er  sein  haupt 
hinlege'. 

V.  1916—25  (1914—23)  nach  Joh.  19, 28—30  die  beiden 
Worte  *mich  dürstet'  und  *es  ist  vollbracht',  darnach  aber  noch 
nicht  der  tod,  sondern  noch  weitere  worte,  nämlich  —  :  V.  1925 
—1932  (1924  -30)  wol  nach  Gesta  10, 1,  wo  die  gruppe  D  mit 
Matth.  27, 46  und  Marc.  15, 34  übereinstimmt,  die  worte  eli,  eli 
lama,  woran  sich  in  v.  1933 — 2167  ein  grosser  excurs  über  deren 
bedeutung  anknüpft  (vgl.  unten). 

V.  2167— 80  (1960—72)  folgt  nun  eine  bemerkung  über 
das  Verhältnis  der  evangelisten  unter  einander: 

daz  hat  gesprochen  Marke  die  sprechen  beidesamt  enein, 

und  sin  genoz  Mattheus,  sie  zwei  gegen  disen  zwein. 

Lucas  und  Nicodemus 

Man  darf  diese  worte  nicht  nur  auf  die  gerade  vorhergehende 
stelle  beziehen,  sondern  auf  das  vorhergehende  und  nachfolgende 
2181 — 2191.  Während  nämlich  Matth.  und  Marcus  nur  die  bis 
V.  1930  erzählten  worte  berichten,  folgt  bei  Lucas  und  Nicodemus 
das  wort  Water  in  deine  bände'  u.s.w.,  das  sich  bei  uns  im 
hebräischen  Wortlaut  nach  Gesta  11, 1  gruppe  D  (Tischendorf 
s.  363  via  alabi  hoc  fricole)  und  dann  übertragen  nach  Luc.  23, 46 
findet  (v.  2187 — 90);  Johannes  aber  sagt  der  dichter  hat  dise 
rede  verswigen,  d.  h.  sowol  dieses  wie  die  vorhergehenden  worte. 
Bemerkenswert  ist  jedenfalls,  dass  die  differenzen  der  evan- 
gelien  und  die  auch  sonst  oft  hervortretende  Übereinstimmung 
zwischen  Lucas  und  Nicodemus  richtig  erkannt  ist. 

V.  2192—2207  (1984—99)  die  zeichen  bei  Jesu  tod  nach 
Matth.,  während  die  anderen  evangelien  sie  nur  zum  teü 
melden.  Gesta  11, 1  stehen  alle  ausser  dem  erdbeben,  zum  teil 
nur  in  D,  jedoch  vor  dem  tod. 

V.  2208— 42  (2000—34)  nehmen  aus  dem  späteren  hier 
den  schreck  des  Satans  voraus,  der  sich  in  der  hölle  verbirgt. 

0  Davon  dass  Longinus  durch  das  blut  von  der  blindheit  geheilt  wird, 
steht  bei  uns  so  wenig  etwas  als  in  den  Gesta.  Wülckers  gegenteilige  an- 
gäbe (a.  a.  0.  s.  47)  ist  irrig. 


HEINRICH  HESLEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  123 

Ausgelassen  ist  bei  uns  die  Wirkung  dieser  zeichen  und 
die  erklärung  der  Juden,  es  handle  sich  um  eine  ganz  ordnungs- 
gemässe Sonnenfinsternis  (Gesta  11, 1.  2). 

V.  2243—68  (2035—60)  begräbnis  nach  den  evangelien 
und  Gest.  11, 3.  Von  da  ab  ist  die  reihenfolge  der  erzählung 
bei  uns  wesentlich  geändert.  Es  folgt  zunächst  2269—92  (2061 
— 2084)  die  bewachung  des  grabes  nach  Matth.  27, 63—66  (in 
den  Gesta  anders  dargestellt),  dann  2293—2334  (2085—2126) 
Josephs  von  Arimathia  gefangennähme  nach  Gesta  12, 1. 

Gesta  12, 2  und  13, 1  folgt  jetzt  die  beratung  über  Josephs 
tod;  als  derselbe  vorgeführt  werden  soll,  findet  sich  das  ge- 
fängnis  leer;  gleichzeitig  melden  die  Wächter  Christi  auf- 
erstehung.  Bei  uns  gehen  die  Juden  am  dritten  tag  zum 
grab,  finden  es  leer,  und  die  Wächter  erzählen  nach  Gesta  13, 
1.  2  den  hergang  v.  2335—79  (2127—71);  der  gang  der  frauen 
zum  grabe  fehlt. 

V.  2380— 2415  (2172—2207)  Wortwechsel  der  Juden  und 
der  Wächter  nach  Gesta  13, 2.  Jetzt  erst  suchen  die  Juden,  die 
doch  schon  behauptet  haben,  Joseph  sei  in  Arimathia,  diesen, 
V.  2416—33  (2208—25). 

V.  2434—51  (2226—43)  die  Wächter  werden  bestochen  aus- 
zusagen, Christus  sei  ihnen  gestohlen  worden,  =  Gesta  13,  3 
(vgl.  Matth.  28, 12—15). 

V.  2452— 75  (2244—2267)  Abda,  Finees  und  Levi  be- 
richten von  Jesus  und  werden  von  sieben  männern  in  die 
ferne  (Gesta:  nach  Galiläa)  geführt  (Gesta  14, 1. 2);  diese  sollen 
Jesus  suchen.  Nicodemus  rät  Joseph  zu  holen,  der  in  den 
Gestis  15, 1  bei  der  suche  nach  Jesus  zufällig  gefunden  wird. 
Die  Juden  schicken  einen  brief  an  Joseph  (Gesta  15, 2. 3),  wel- 
cher kommt  und  von  Nicodemus  beherbergt  wird  (Gesta  15, 4). 

V.  2476— 2703  (2268—2495)  Joseph  wird  nach  Jesus  befragt 
(in  den  Gesta  15,  4  nur  nach  seinen  eigenen  Schicksalen),  be- 
richtet seine  befreiung  (Gesta  15, 5),  dann  mit  erheblicher  ab- 
weichung  von  dem  Inhalt  der  Gesta  die  himmelf ahrt  (Act.  Apost. 
cap.  1);  Finees,  Levi  und  Abda,  von  denen  wir  annehmen  müssen, 
sie  seien  mit  Joseph  zurückgekehrt  (Gesta  16, 2  werden  sie  erst 
selbst  wider  um  geholt),  bestätigen  seine  angaben.  Die  Juden 
äussern  bedenken,  die  mit  hinweis  auf  Elias  und  Enoch  be- 
kämpft werden,  dies  anschliessend  an  die  viel  breitere  aus- 


124  HELM 

führung  Gesta  16, 3. 4.  Der  name  Elias  steht  widerum  nur  in  D, 
daneben  erscheint  dort  als  dritter  noch  Moses. 

V.  2704— 49  (2496-2541)  mit  Josephs  erzählung  von  Leucius 
und  Karin  wird  der  Desc.  (1, 1)  quelle. 

V.  2750—2844  (2542—2634)  die  Juden  lassen  die  beiden 
holen  (Desc.  1, 2),  bitten  sie  um  auskunft  über  Christus  (1, 2), 
worauf  sie  Christus  um  erlaubnis  bitten  zu  reden  und  sich 
tinte  und  pergament  geben  lassen  (Desc.  2, 1  und  1, 3,  also  mit 
veränderter  reihenfolge). 

V.  2845  (2635)  ff.  der  bericht  der  kinder. 

V.  2845—3012  (2635—2800)  das  Ucht  das  in  die  hölle 
dringt,  wird  von  Adam,  Jesaia,i)  Symeon  und  Johannes  dem 
tauf  er  begrüsst  und  erklärt  (Desc.  2, 1 — 3);  Seth  berichtet  von 
seiner  sendung  zum  paradies,  =  Desc.  3,  doch  sind  einige  ab- 
weichungen  zu  bemerken.  Im  Desc.  ist  nur  von  dem  öle  die 
rede;  bei  uns  liegt  dagegen  eine  contamination  mit  der  legende 
vom  kreuzesholz  vor,  wie  sie  in  der  mittelalterlichen  literatur 
vorherseht.  Unser  gedieht  stellt  sich  in  dieser  partie  zu  der 
ersten  der  beiden  von  Mussafia  (Sulla  legenda  del  legno  della 
croce,  WSB.  63, 165  ff.)  unterschiedenen  gruppen,  in  der  von 
einem  zweige  die  rede  ist,  an  dessen  stelle  die  andere  recension 
drei  Samenkörner  treten  lässt.  Ueber  die  weiteren  Schicksale 
des  holzes  wird  bei  uns  nichts  angegeben,  so  dass  von  einer 
weiteren  rubricierung  unter  die  von  Mussafia  aufgestellten 
fassungen  abgesehen  werden  muss.  Doch  gestatten  andere 
gesichtspunkte  eine  nähere  bestimmung  des  Verhältnisses  zu 
anderen  dichtungen.  Wesentlich  anders  sind  die  diese  episode 
enthaltenden  zusätze  der  Vita  Adae  et  Evae  (hg.  von  W.  Meyer, 
Münchner  SB.  14, 3, 186)  und  noch  grösser  ist  die  Verschiedenheit 
von  Lutwins  Adam  und  Eva  (hg.  von  K.  Hoffmann  und  W.  Meyer, 
Bibl.  d.  lit.  ver.  153).  Ausschlaggebend  ist  eines:  in  den  meisten 
fassungen  stirbt  Adam  kurz  nach  Seths  ankunft,  der  dann  den 
bäum  einpflanzt  (so  im  Floridus  des  canonicus  Lambert  von  S. 
Omer,  Mussafia  a.a.O.  s.  172),  oder  Seth  trifft  Adam  schon  nicht 
mehr  am  leben,  so  in  der  Legenda  aurea,  im  Passional,  bei 
Frauenlob  (kreuzesleich  str.  15, 9  er  starp  e  danne  im  Mm  ee 
vromen  der  hohen,  riehen  helfebernden  Scelden  höh),   in  den 


0  Vgl.  Jes.  9, 1. 2.  Matth.  4, 15. 


HEIKBICH  HESLEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  125 

Sibyll.  Weissagungen  (vgl.  Vogt,  Beitr.  4, 91),  auch  bei  Enikel 
V.  1632  (Strauch).  Bei  uns  lebt  aber  Adam  noch  und  pflanzt 
den  zweig  selbst:  eine  version  die  sich  noch  in  Johann  Beleths 
Rationale  divinorum  of ficiorum  ^  und  im  Hortus  deliciarum  der 
Herrad  von  Landsberg  (Engelhardt  s.  41)  findet,  also  im  12.  und 
13.  jh.  wolbekannt  war.  Vgl.  auch  W.  Meyer,  Die  geschichte 
des  kreuzesholzes  vor  Christus,  Abh.  d.  Münchner  ak.  16, 2. 

V.  3013  (2801)  ff.  Christi  ankunft  vor  der  höUe  und  die 
wechselreden  Satans  mit  der  hölle  sind  im  einzelnen  anders 
geordnet  als  im  Desc. 

V.  3013—63  (2801—49)  Satan  befiehlt  der  hölle,  sich  zum 
empfang  Christi  zu  rüsten  (Desc.  4, 1.2);  dann  folgt  der  erste 
ruf  Christi  vor  dem  tore  v.  3064—82  (2850—68),  die  hölle  be- 
tont V.  3083—3151  (2869—2937)  Christi  macht,  deshalb  soll  ihn 
der  Satan  nicht  einlassen  (Desc.  4, 2  und  4, 3) ;  dieser  sucht  sie  zu 
trösten,  er  selbst  habe  den  tod  Christi  veranlasst  (D.  4, 2  schluss). 

V.  3152—60  (2937—46)  Christus  ruft  zum  zweiten  mal,  im 
Desc.  zum  ersten  mal  (5, 1),  erst  5, 3  kommt  hier  der  zweite 
ruf,  an  den  sich  dann  die  frage  der  hölle  quis  est  rex  gloriae 
und  die  antwort  Davids  (vgl.  dazu  Ps.  24, 8)  anschliesst  wie  in 
V.  3161—86  (2947—72). 

V.  3187—3247  (2973—3033)  Satan  befiehlt  jetzt  die  tore 
zu  schliessen  (5, 1)  und  klagt  über  seine  Verblendung,  dass  er 
Christus  nicht  erkannt  habe. 

V.  3248—3311  (3034—97)  die  hölle  verwünscht  ihn  (Desc. 
7, 1),  Christus  ruft  zum  dritten  mal,  die  tore  zerbrechen  (schon 
Desc.  5, 3,  aber  ohne  einen  dritten  ruf),  die  quälen  der  seelen 
hören  auf. 

V.  3312—3465  (3098—3249)  Adam  und  die  seelen  begrüssen 
Christus,  zum  teil  nach  Desc.  8,  1,  aber  Adams  worte  unab- 
hängig (vgl.  unten).  Der  Satan  gibt  sich  besiegt  (Desc.  6, 1), 
und  erntet  erneute  vorwürfe  der  hölle  (ohne  vorbild  im  Desc). 

V.  3466—3515  (3250—99)  Christus  verkündet  den  seelen 
die  erlösung  (Desc.  8, 1),  verdammt  den  Beelzebub  (Desc.  7, 2) 

*)  Rationale  divinorum  officiorum,  Joanne  Beletho  theologo  parisiensi 
authore.  Dilingae  1572.  Daselbst  cap.  151  fenmt  ab  Adamo  Seih  fUms  eins 
missum  fuisse  in  paradisum,  gut  ramum  inde  sihi  datum  ab  angelo  rettUit, 
at  patrem,  qui  stattm  illiics  arboris  mysterium  cognoscens,  eam  terrae 
inseruisse. 


126  HELM 

und  tötet  den  tod  (6, 2).  Die  seelen  bitten  ilin  ein  merkzeichen 
über  die  höUe  zu  setzen  (Desc.  8, 1  scMuss). 

V.  3516—78  (3300—62)  Adam,  David,  Habakuk,  Micheas 
und  die  übrigen  seelen  preisen  Christus,  =  Desc.  8, 1 — 3.  Die 
bibelstellen,  auf  die  sich  deren  worte  beziehen,  sind  Ps.  30, 2 
{exaltdbo  te . . .),  Ps.  96  oder  98  (singet  dem  herm  ein  neues 
lied),  Hab.  4, 13  und  Micha  7, 18.  Unserem  dichter  waren  sie 
offenbar  nicht  gegenwärtig,  im  lat.  original  sind  sie  ziemlich 
klar  erhalten. 

V.  3579—3634  (3363—3418)  der  weg  zum  himmel,  Enoch 
und  Elias  nach  Desc.  9,  aber  namentlich  in  dem  was  vom  Anti- 
christ erzählt  wird,  viel  ausführlicher,  auf  die  legendarische 
quelle  zurückgehend  (vgl.  Wülcker  a.  a.  o.  s.  50). 

V.  3635—63  (3419—45)  der  Schacher  vor  der  himmelstüre, 
=  Desc.  10,  aber  die  erzählung  von  seiner  ankunft  im  paradis 
ist  ausgelassen. 

V.  3664— 92  (3446—74)  lobpreisung  bedeutend  erweitert 
aus  Desc.  10  schluss. 

V.  3693—3705  (3475—3589)  Leucius  und  Karin  geben  ihre 
berichte  ab  (Desc.  11, 3).  Ihre  abschiedsworte  sind  frei  zu  einer 
busspredigt  entwickelt,  während  im  Desc.  eine  ausführliche 
begründung  folgt,  warum  sie  aufhören  müssen  zu  reden.  Die 
Juden  klagen  über  das  geschehene  (Desc.  11, 4),  Joseph  und 
Nicodemus  melden  alles  Pilatus,  der  es  aufschreiben  lässt 
(=  Desc.  11  schluss). 

V.  3706—11  (3589—95)  Püatus  schickt  den  bericht  an  die 
consuln  Claudius  und  Vellio.  Im  Desc.  (13)  ist  der  brief  an 
den  kaiser  Claudius  gerichtet.  Bei  uns  ist  aber  Tiberius  noch 
kaiser,  deshalb  muss  Claudius  als  consul  erscheinen.  Der 
zweite  name  ist  dem  prolog  der  Gesta  entnommen,  wo  die 
gruppe  D  in  der  ed.  prima  schreibt  consulatu  Büß  Vellionis. 

Das  12.  cap.  des  Desc.  enthält  eine  disputation  zwischen 
Pilatus  und  den  Juden  über  die  zeit,  in  der  sie  Christus  er- 
wartet hätten.  Es  ist  bei  uns  ausgelassen  und  der  dichter 
wendet  sich  nun  zur  geschichte  von  der  krankheit  des  Tiberius. 

2.  Die  legenden  von  Tiberius,  Vespasian  und  Veronica. 

Die  entwickelung  der  apokryphischen  erzählungen  und 
legenden  von  Tiberius,  Vespasian  und  Veronica  hat  A.  Schön- 


HEINBICH  HESLEES  EVANGEUüM  NICODEMI. 


127 


bach,  Anz.  fda.  2, 149  in  seiner  besprechung  der  ersten  ausgäbe 
von  Tischendorfs  Evangelia  apocrypha  dargestellt.  Es  sind 
darnach  zwei  recensionen  der  Pilatus- Veronicalegende  zu  unter- 
scheiden, deren  erste  ich  nach  ihrem  vorzüglichsten  repräsen- 
tanten  mit  D  (Grazer  hs.  38/47.  4^.  fol.  41  äff.),  die  zweite  mit 
LM  (L  =  lat.  Pilatusprosa,  Mones  Anz.  1838,  526;  M  =  Grazer 
hs.  37/45.  40.  fol.  157  b  ff.)  bezeichnen  will.  Eine  ergänzung 
bedürfen  nur  Schönbachs  angaben  über  das  Verhältnis  beider 
Versionen  zu  den  beiden  lateinischen  Urformen  A  (Mors  Pilati 
qui  Jesum  condemnavit,  Tischendorf  s.  456)  und  K  (Vindicta 
Salvatoris,  Tischendorf  s.471). 

Im  wesentlichen  ist  nämlich  die  recension  D  eine  f  ortsetzung 
von  A,  LM  von  K.  Aber  wir  müssen  daneben  doch  auch  be- 
kanntschaft  von  D  mit  K  und  von  LM  mit  A  annehmen.  Er- 
kannt hat  dies  Schönbach  (a.  a.  0.  s.  193)  nur  für  den  bericht 
über  die  Pilatusleiche  in  LM,  der  aus  A  stammt.  Dies  hat  seinen 
grund  darin,  dass  Schönbach  einen  wichtigen  unterschied  der 
Veronicalegende  in  A  und  K  nicht  gebührend  würdigt. 

In  D  erfährt  Volusian  von  dem  bilde  das  Veronica  besitze; 
diese  leugnet,  es  wird  ihr  entrissen  und  sie  entschliesst  sich, 
mit  nach  Rom  zu  fahren.  Dies  entspricht  ganz  der  version  K 
Anders  aber  ist  dies  in  LM.  Hier  erfahren  die  Römer  Christi 
tod  durch  Veronica  selbst,  wie  in  A,  und  auch  das  folgende 
entspricht  sich  fast  wörtlich: 


LM 

Vehementer  doleo,  quodlega- 
tionem  domini  mei  nullatenus 
expleo.  Veronica:  dominus  et 
magister  mens  ante  passionem  suam 
verbum  veritatis  longe  lateqiie  pre- 
dicavit;  unde  dum  ärequentius  licet 
invita  ipsius  carerem  praesen- 
tia,  ipsius  similitudinis  suae  ima- 
ginem  et  ad  solacium  saltem  mihi 
disposui  pingendam,  ut  dum  eins 
priyarer  adspectibus,  solacium 
prestaret  figura  imaginis  hu- 
ins.  Dum  autem  lintheum  pic- 
tori  defero  ad  pingendum,  do- 
minus mens  occurrit  mihi  in  via 
et  requirenti  a  me  causam  ape- 


Vehementer  doleo,  quia  id  pro 
quo  dominus  mens  me  miserat 
explere  non  valeo.  Cui  Vero- 
nica: dominus  mens  cum  prae- 
dicando  circuiret, 

et  ego  eins  praesentia  nimis  in- 
vita carerem,  volui  mihi  depingi 
imaginem, 

ut  dum  eins  privarer  praesentia, 
saltem  mihi  praestaret  solacium 
imaginis  suae  figurae. 
Cumque  linteum  pictori  defer- 
rem  pingendum,  dominus  mens 
mihi  obviavit  et  quo  tenderem  re- 
quisiyit.    Cui  cum  viae  causam 


128 


HELM 


LM 
rui.  Ipse  vero  suscipiens  pannum 
venerabili  facie  sua  reddidit 
mihi  signatum.  Igitur  imaginis 
huius  aspectum  si  dominus 
tuus  devote  intuetur,  procul 
dubio  postremo  sanitati  reddetur. 
Albanus:  estne  imago  talis  ar- 
gento  vel  auro  comparabilis? 
Veronica  dixit:  non,  sed  piae  de- 
votionis  affectu.  Albanus:  quid 
ergo  faciam?  Veronica:  tecum  si 
placet  proficiscar  et  medendam 
Caesari  deferam  imaginem  et 
revertar. 


A 

aperuissem,  a  me  petiit  pannnm 
et  ipsum  mihi  venerabili  suae 
faciei  reddidit  signatum  ima- 
gine.  Ergo  huius  aspectum  si 
dominus  tuus  devote  intnebi- 
tur,  continuo  sanitatis  beneficio  po- 
tietur.  Cui  ille:  est  huiusmodi 
imago  auro  et  argento  compa- 
rabilis? Cui  illa:  non,  sed  pio 
affectu  devotionis.  Tecum  igi- 
tur proficiscar,  et  videndam  Cae- 
sari imaginem  deferam  et  re- 
vertar. 


Es  ist  demnach  klar,  dass  sich  die  beiden  recensionen  weit 
weniger  als  Schönbach  meint  nach  A  und  K  scheiden.  Ihre 
hauptsächlichsten  unterschiede  sind  folgende: 

D,  das  an  den  Desc.  13  enthaltenen  brief  des  Pilatus  an- 
knüpft, verlässt  sofort  diesen  punkt  und  geht  zum  bericht  von 
der  krankheit  des  kaisers  über.  LM  bringt  zunächst  die  lebens- 
geschichte  des  Pilatus,  berichtet  die  entsendung  eines  boten 
an  den  kaiser,  dessen  fahrt,  Vespasians  krankheit,  und  geht 
dann  über  zu  der  entsendung  des  boten,  der  hier  Albanus  heisst, 
an  Pilatus.  In  D  wie  in  LM  ist  Voraussetzung,  dass  der  kaiser 
von  Christi  tod  nichts  weiss;  über  die  fassung  der  Veronica- 
legende  ist  bereits  gehandelt. 

Die  heilung  des  kaisers  ist  in  D  ziemlich  ausführlich  be- 
handelt bis  zu  seinem  versuch,  die  Eömer  zu  bekehren.  In 
LM  ist  dagegen  die  heilungsgeschichte  sehr  kurz  (nicht  aus- 
gefallen wie  Schönbach  s.  189  angibt):  Caesar  igitur  iubet  afferri 
imaginem  . . .  cuius  viso  aspectu  consecutus  est  gradam  sanitatis. 
In  D  folgt  nun  noch  die  erzählung  von  Petrus,  Paulus  und 
Simon  Magus,  in  LM  wird  kurz  der  beschluss,  Jerusalem  zu 
zerstören,  mitgeteilt,  dann  wird  des  Pilatus  Selbstmord  und  die 
beseitigung  seiner  leiche  geschildert,  und  daran  schliesst  sich 
—  was  aus  Schönbachs  angaben  nicht  ganz  klar  wird  —  die 
Zerstörung  Jerusalems  im  anschluss  an  die  Vindicta  mit  dem 
unterschied,  dass  hier  natürlich  Vespasian,  nicht  Titus,  den  zug 
unternimmt  und  die  ganze  partie  viel  später  steht  als  dort, 
wo  der  zug  gleich  unternommen  wird  und  dann  die  Schilderung 


HEIKBICH  HESLERS  EVAKGELIUM  NICODEMI.  I2d 

der  ereignisse  durch  die  erzählung  von  Veronica  und  Tiberius 
nicht  eben  geschickt  unterbrochen  wird. 

Im  diagramm  (a.  a.  o.  s.170)  hat  Schönbach  unser  gedieht 
der  gruppe  LM  zugezählt,  s.  206  verzichtet  er  jedoch  selbst 
darauf,  sicheres  zu  geben.  Dies  war  ihm  auch  nicht  möglich, 
da  er  nur  die  fragmente  M  kannte,  aus  denen  ihm  das  Ver- 
hältnis der  namen  Volusian  und  Alban  nicht  klar  werden 
konnte.  Er  fasste,  da  in  keiner  der  anderen  recensionen  von 
zwei  boten  des  kaisers  die  rede  ist,  den  letzteren  als  boten  des 
Pilatus  auf,  und  vermutete  als  quelle  eine  mittelstuf e  zwischen 
K  und  LM.  In  der  tat  liegen  die  Verhältnisse  womöglich  noch 
verwickelter  als  er  glaubte,  da  sich  bei  uns  ganz  ausgesprochene 
Züge  von  D  und  LM  begegnen,  wie  die  vergleichung  im  ein- 
zelnen erweisen  wird. 

Gleich  im  anfang  v.  3712  ff.  bei  der  entsendung  des  Vo- 
lusian finden  sich  spuren  beider  recensionen.  Mit  v.  3867  f. 
(3649  f.)  und  sprach  0u  Volusiane,  einem  sineme  caplane  ver- 
gleiche LM  diMt  Volusiano,  cuidam  suo  privato,  der  auftrag 
V.  3870  (3652)  undvar  nach  im  über  mer  =  LM  vadas  trans 
partes  marinas.  Dagegen  ist  für  das  weitere  D  als  grundlage 
zu  erkennen:  v.  38821  (3664  f.)  sin  hus  und  sin  urbor  beschiet 
er  sinen  Jcinden  =  tunc  Volusianus  secundum  veterem  legem  et 
ordinationem  fecit  testamentum  domui  suae.  Ebenso  wird  über- 
einstimmend mit  D  die  Überfahrtszeit  auf  ein  jähr  und  drei 
monate  angegeben.^) 

Damit  bricht  aber  der  dichter  diese  erzählung  vorläufig 
ab  und  geht  über  zu  der  Sendung  des  boten  von  Pilatus  nach 
LM  V.  3892—4227  (3674—4007).  Dieser  böte  heisst  wie  in  M 
Adrianus  (L  Adanus);  es  folgt  dann  die  krankheit  und  heilung 
des  Vespasian,  ausgeschmückt  mit  reichlichen  erörterungen 
über  das  erlösungswerk.  Abweichend  von  LM  besteht  die 
krankheit  des  Vespasian  nicht  in  wespen,  sondern  in  wünnern 
in  der  nase.^) 


^)  LM  gibt  gar  keine  zeit,  K  ein  jähr  und  sieben  tage  an. 

^)  An  wespen  ist  Yesp.  krank  noch  in  der  Sachs,  weltchronik;  Enenkel 
y.  22241  wand  im  waren  huma^z  a/ne  zal  in  den  nasen  überal.  Dagegen 
sind  Würmer  die  krankheitsursache  im  Chronicon  S.  Aegidii  (Massmann, 
Kehr.  3, 577):   Vespasiamis,   quoddam  genus  vermium  hahens  in  narihus\ 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche,    XXIV.  ^ 


13Ö  fiELM 

Während  man  nun  v.  4228  (4008)  ff.  die  fortsetznng  der 
Sendung  des  Volusian  erwartet,  berichtet  unser  gedieht  von 
einem  zweiten  boten,  der  Albanus»)  heisst.  Motivieren  liess 
sich  diese  zweite  Sendung  sehr  gut  mit  dem  langen  ausbleiben 
Volusians;  der  directe  anlass  dazu  war  aber,  dass  eben  in  LM 
und  D  die  boten  verschieden  heissen,  der  name  Alban  stammt 
aus  LM.  Den  scheinbaren  Widerspruch  löste  der  dichter  auf 
diese  originelle  weise. 

Ganz  neu,  durch  die  zweiheit  der  boten  begründet,  ist 
natürlich  deren  zusammentreffen  zu  Akkers,  v.  4239  (4021),  wo- 
rauf sie  sich  gemeinsam  ihres  auftrags  bei  Pilatus  entledigen 
(v.  4246  ff.).  Dies  selbst,  Pilatus'  und  der  Juden  schreck,  des 
Pilatus  versuch  sich  zu  verteidigen  sind  durchaus  nach  D, 
namentlich  auch  Symeons  entgegnung  v.  4328  (4110)  ff. 

warumb  sprseche  du  do  sns  daz  ich  dich  wol  mac  lazen  gan 

ich  han  gewalt  din  Jesus  oder  an  daz  crnce  han 

==  D  Pilate,  dicebas  ei:  potestatem  habeo  dimittendi  te  et  pote- 
statem  occidendi  te.  Ausgelassen  ist  bei  uns  jedoch  die  Unter- 
redung mit  Joseph  von  Arimathia  und  Nicodemus.  Pilatus' 
bitte  um  vierzehntägigen  aufschub,  die  in  LM  steht,  kennt 
unser  gedieht  nicht. 

V.  4368 — 92  (4150 — 74)  weiber  und  männer,  die  von 
Christus  geheilt  waren,  kommen  und  klagen  gegen  Pilatus, 
unter  ihnen  auch  Lazarus.  Vorbild  für  diese  partie,  die  sich 
weder  in  LM  noch  D  findet,  mögen  wol  wider  cap.  6 — 8  der 
Gesta  gewesen  sein  (vgl.  oben). 

V.  4393  (4175)  ff.  die  Veronicageschichte  Die  Römer  fragen 
nach  einem  bild  Christi  wie  in  D;  die  nachricht  von  demselben 
erhalten  sie  durch  drei  Juden,  in  D  durch  einen  namens 
Marcus,  in  LM  durch  Veronica  selbst.  Die  aussagen  über  die 
entstehung  des  bildes  stammen  aus  LM,  abgesehen  davon,  dass 
sie  dort  der  Veronica  selbst  in  den  mund  gelegt  werden. 


ebenso  im  Vesp.  des  Wilden  mannes  v.  192.    Das  Pass.  spricht  269, 38  von 
Wespen,  270, 10  von  wtirmern. 

^)  lieber  das  eindringen  dieses  namens  in  die  legende,  ebenso  über 
den  namen  Adrian  vgl.  Schönbach  s.  193.  —  Beide  namen,  Yolnsian  und 
Alban,  finden  sich  vereinigt  in  der  hs.  M,  jedoch  ohne  absieht  nur  aus  einem 
versehen,  vgl.  Schönbach,  ebda.  anm.  1. 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  131 

V.  4423—61  (4205—43)  Veronica  gibt  das  bild  nicht  von 
sich,  sondern  fährt  mit  nach  Rom,  und  zwar  geht  abweichend 
von  D  und  LM  der  verschlag  von  ihr  selbst  aus.  Pilatus  wird 
in  ketten  mitgeffihrt,  wie  in  D.  In  LM  wird  er  erst  später 
auf  besonderen  befehl  des  kaisers  gefangen.^ 

V.  4462—4531  (4244—4313)  Volusian  berichtet  dem  kaiser 
ganz  kurz  von  Christus.  Tiberius  voll  zom  (mit  D  verwant) 
droht  den  Juden  räche  an.  Dies  ist  wol  aus  der  Vespasian- 
legende  hier  übernommen.  Der  weg  über  den  das  bild  gebracht 
werden  soll,  wird  mit  kostbaren  teppichen  belegt  (M  stratis 
palliis  in  viam  purpureis),  darauf  erfolgt  die  heilung,  ausführ- 
licher als  in  M,  aber  ohne  directen  anschluss  an  D,  woraus 
der  lohn  den  Veronica  erhält  und  das  ausschmücken  des  bildes 
entnommen  ist.  In  directem  Widerspruch  mit  dem  vorher 
berichteten  steht  nun  die  angäbe,  dass  dieses  bild  noch  in 
Rom  zu  sehen  sei.  Hier  hat  sich  also  ganz  unabhängig  die 
jüngere  tradition  über  das  bild  eingeschlichen,  die  in  der  vor- 
läge unseres  dichters  noch  nicht  zum  worte  gekommen  war 
(vgl.  über  deren  entstehen  Schönbach  s.  165  f.).  Ueber  die 
quelle,  woher  dies  möglicherweise  stammt  s.  unten,  jedenfalls 
war  schon  im  10.  jh.  diese  anschauung  ausgebildet:  1011  weihte 
papst  Sergius  IV.  dem  tuche  in  Rom  einen  altar  (Massmann, 
Kaiserchronik  3, 576). 

Die  sich  v.  4532—60  (4314 — 42)  anschliessende  aufforde- 
rung  des  kaisers,  Volusian  und  Alban  sollten  einen  wünsch 
äussern,  und  deren  bitte,  er  möge  sich  taufen  lassen,  ist  eine 
eigentümliche  modification  der  in  D  stehenden  frage  des  kaisers 
und  antwort  Volusians.^) 

V.  4561—85  (4343—67)  Tiberius  lässt  sich  taufen,  zerstört 


*)  Auch  hierin  folgt  D  der  Vindicta  (K).  Wenigstens  müssen  wir 
nach  abschnitt  25  annehmen,  dass  Pilatus  gefangen  mitgeführt  wurde: 
Jvdeae  optimi  apprehendenmt  Filatum  ut  diicerent  ad  portummaris.  Dem 
widerspricht  allerdings  Volusians  bericht  vor  Tiberius:  Filatum  autem  in 
Damasco  dimisi  ligatum  et  in  carcere  positum  swft  fida  custodia.  —  LM 
folgt  umgekehrt  wider  A,  wo  auch  Pilatus  später  erst  ergriffen  wird. 

')  Es  wäre  gar  nicht  ausgeschlossen,  dass  der  Verfasser  glaubte ^  den 
sinn  des  lat.  textes  widerzugeben,  indem  er  petitio  falsch  als  'bitte'  inter- 
pretierte und  domini  mei  nicht  auf  Christus,  sondern  auf  den  angeredeten 
Volusian  bezog. 

9* 


132  HELM 

den  Isistempel,')  versucht  die  Römer  vergeblich  zu  bekehren 
(nach  D). 

lieber  den  tod  des  Tiberius  v.  4586—97  (4368—79),  den 
LM  in  der  fassung  unseres  dichters  nicht  kennt,  obwol  die 
etymologie  ganz  im  Stile  dieser  recension  ist  (Schönbach 
s.  193). 

Mit  V.  4598  (4380)  bereitet  der  dichter  den  Übergang  zur 
Zerstörung  Jerusalems  vor.  Er  wusste,  dass  diese  nicht  unter 
Tiberius  stattfand,  deshalb  werden  v.  4598—4605  (4380—87) 
mit  einer  aufzählung  der  römischen  kaiser  eingeschoben.  Ueber 
die  differenz  der  gruppen  y  und  z  in  dieser  stelle  und  den 
einfluss  von  D  der  hier  zu  constatieren  ist,  wurde  bereits  ge- 
handelt. 

Auffallend  ist,  dass  als  nachf olger  des  Nero  ein  kaiser 
Anastasius  erscheint,  unter  welchem  Vespasian  nach  Jerusa- 
lem fährt. 

V.  4606—4714  (4388—4496)  der  feldzug  der  in  zwei  teile 
zerfällt.  Der  erste  bis  zur  wähl  Vespasians  zum  kaiser  hat 
in  LM  und  D  seine  quelle  nicht  (vgl.  unten),  erst  der  zweite 
ist  auch  in  LM,  wird  aber  bei  uns  ziemlich  selbständig  be- 
handelt; die  Zerstörung  Jerusalems  selbst  ist  kurz  berichtet, 
dagegen  das  Strafgericht  über  die  Juden  weiter  ausgeführt. 

Fragen  wir,  auf  welchem  wege  in  unserem  gedieht  die 
eigentümliche  vermengung  der  beiden  recensionen  zu  stände 
gekommen  sein  mag,  so  haben  wir  zwei  möglichkeiten  ins  äuge 
zu  fassen.  Entweder  sind  beide  nebeneinander  oder  bereits 
eine  contamination  derselben  benutzt.  Gegen  die  zweite  an- 
nähme spricht  zunächst,  dass  uns  nirgends  eine  spur  einer 
solchen  contamination  vorliegt,  weder  lat.  noch  deutsch;  einzig 
die  hs.  M  zeigt  einen  unfreiwilligen  ansatz  dazu  in  der  doppel- 
heit  der  namen  Volusianus  und  Albanus  für  den  boten  des 
kaisers  (vgl.  oben  s.  129).  Wenn  wir  auch  zugeben  müssen, 
dass  eine  contamination  beider  recensionen  vorhanden  sein 
und  verloren  gehen  konnte,  so  ist  der  ansatz  einer  solchen 
als  quelle  für  uns  doch  auch  deshalb  sehr  zweifelhaft,  weil 
bei  uns  der  lat.  text  der  alten  recensionen,  wie  wir  sahen, 

^)  Vgl.  auch  Gottfr.  V.  Viterbo  s.  153,  dessen  darstellung  sonst  nicht 
verwant  ist. 


HEINRIGH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  133 

Überall  durchschimmert.  Dies  wäre  aber  kaum  mehr  der  fall, 
wenn  zwischen  diesem  und  unserem  gedieht  ein  vermittelndes 
glied  läge.  Eine  deutsche  bearbeitung  ist  dadurch  in  aller- 
erster linie  ausgeschlossen,  eine  lat.  wäre  eher  denkbar,  ist  aber 
doch  auch  unwahrscheinlich.  Wir  müssen  also  annehmen,  dass 
unser  dichter  die  alten  recensionen  selbst  beide  vor  sich  gehabt 
hat,  und  zwar  die  rec.  LM  in  einem  codex  der  M  jedenfalls 
sehr  nahe  gestanden  hat,  z.  b.  den  von  Pilatus  entsanten 
boten  ebenfalls  Adrian  nennt.  Falls  wir  annehmen  dürften, 
M  selbst  oder  eine  bis  auf  die  fehler  getreue  abschrift  davon 
habe  ihm  vorgelegen,  so  könnte  das  dort  zu  constatierende 
versehen  in  der  benennung  des  kaiserlichen  boten  mitgewirkt 
haben  bei  der  von  Hesler  eingeführten  zweifachen  Sendung. 

3.  Quellen  zweiter  Ordnung. 

Ausser  diesen  Schriften,  an  die  unser  gedieht  in  erster 
linie  anknüpft,  sind  aber  noch  eine  ganze  reihe  von  quellen 
zweiten  grades  sicher  für  einzelheiten  von  bedeutung  gewesen. 
Eigene  erflndung  kann  dem  Verfasser  mit  Sicherheit  nur  in  den 
änderungen  in  der  anordnung  einzelner  partien  zugesprochen 
werden,  z.  b.  bei  Christi  ankunft  in  der  hölle,  die  dadurch 
dramatischer  geworden  ist,  freilich  auf  kosten  der  klarheit. 

Diese  quellen  zweiter  Ordnung  näher  zu  bestimmen,  ist 
aber  in  den  meisten  fällen  so  gut  wie  unmöglich.  Die  ganze 
ausgedehnte  kirchliche  literatur,  legenden  und  predigten  können 
in  betracht  kommen,  und  dabei  muss  im  äuge  behalten  werden, 
dass  in  vielen  fällen  eine  geschriebene  quelle  gar  nicht  vor- 
zuliegen braucht,  da  das  meiste  wohl  als  geistiges  eigentum 
jedes  gebildeten  des  13.  und  14.  jh.'s  betrachtet  werden  muss, 
entwachsen  'dem  boden  weitverzweigter  tradition'  (SeemüUer, 
Seifried  Helbling  s.  x). 

Doch  wird  auf  einiges  noch  näher  einzugehen  sein. 

a)  Legendarisches.  Auf  sonstige  legenden,  abgesehen 
von  denen  von  Vespasian,  Tiberius  und  Veronica,  weisen  hin 
die  namen  der  heiligen  drei  könige:  Kaspar,  Melchior,  Balthasar 
(v.  1387  f.),  die  kurze  beschreibung  der  herschaft  des  Antichrists 
V.  3602—31  (3386—3415),  vgl.  Wülcker  s.  50  anm.  126,  endUch 
der  bericht  Seths  über  den  zweig  vom  bäum  des  lebens,  wo- 
rüber schon  gehandelt  wurde. 


134  HELM 

b)  Theologisches.  Theologische  gelehrsamkeit  spielt 
sodann  eine  grosse  rolle  in  unserem  gedieht.  Sie  zeigt  sich 
zum  teil  in  der  neigung  auf  bibelstellen  hinzuweisen,  auch  wo 
die  quellen  dies  nicht  tun.  Es  sind  dies  die  folgenden,  die 
teilweise  schon  berührt  sind:  v.  233:  Hieb  cap.  40;  —  v.  1631: 
Micha  6, 3. 4;  —  v.  1914:  Matth.  8, 20;  —  v.  1760:  Hosea  13, 14; 
—  V.4754  (4536):  Sacharja  12, 10,  vielleicht  angeregt  durch 
Joh.  19,37  oder  Apok.1,7;  —  v.5047  (4829):  Ps.  18, 26  ff.;  — 
V.5016  (4798):  Mar.  8. 36  f. 

Ausserdem  finden  sich  aber  auch  grössere  theologische 
erörterungen,  für  die  die  vorlagen  keine  oder  doch  nur  sehr 
dürftige  grundlage  boten.  An  erster  stelle  steht  der  grosse, 
von  z^  zum  grössten  teil  gestrichene  excurs  über  die  worte 
eli,  eli  lama.  Die  meisten  commentatoren  zu  Marcus  und 
Matthaeus,  z.  b.  Paschasius  Radbertus,  Expositio  in  Mat- 
thaeum  (Migne,  Patrol.  lat.  120,956)  und  Anseimus  Laudu- 
nensis,  Enarrationes  in  Matthaeum  (Migne  162, 1488)  gehen 
über  die  stelle  rasch  hinweg,  sich  meist  auf  den  hinweis  auf 
Ps.22,2  beschränkend.  Einen  speciell  dem  27.capitel  des  Matth. 
gewidmeten  commentar  gibt  es  nicht  (vgl.  Migne,  Index  2, 116  ft). 
Ausführlicheres  über  dieses  wort  findet  sich  nur  in  Alvari 
Cordubensis  Epistola  I  ad  Aurelium  Flavium  Johannem 
(Migne  121, 414),  bei  Beda  Venerabilis,  In  Marci  evangelium 
liber  IV  (Migne  92, 290)  und  bei  Ernaldus,  Tractatus  de  Sep- 
tem verbis  domini  in  cruce  (Migne  189, 1677).  Bestimmte  an- 
klänge an  einen  von  diesen  sind  jedoch  nicht  vorhanden.  Wir 
haben  bei  dieser  partie  vielleicht  am  meisten  an  einfluss  der 
predigt  zu  denken. 

Biblisches,  theologisches  und  legendarisches  findet  sich 
gemeinsam  verarbeitet  namentlich  auch  im  prolog.  Gleich  im 
anfang  begegnen  wir  der  wichtigen  theologischen  erörterung, 
dass  gott  der  gleichzeitig  den  bäum  mit  der  verbotenen  frucht 
und  den  menschen  geschaffen,  dessen  faU  vorher  wusste  (v.  1 
— 78).  Jener  bäum  trug  beides:  tod  und  leben.  Wie  der 
mensch  durch  ihn  schuldig  ward,  so  wird  er  erlöst  durch 
Christi  tod  an  demselben  holze.  Es  begegnet  uns  also  hier  ein 
geläufiger  zug  der  legende  vom  kreuzesholz,  *)  der  aber  hier 

^)  Vgl.  auch  Alcuin,  Cann.190: 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  135 

auch  direet  auf  Descensus  cap.  8  zurückgehen  kann:  qui  per 
lignum  et  didbolum  et  mortem  damnati  fuistis,  modo  videte  per 
lignum  damnatum  didbolum  et  mortem  (vgl.  Wülcker  s.  45). 
Wider  wird  gottes  allmacht  betont:  es  wäre  ihm  wol  möglich 
gewesen,  den  menschen  so  zu  schaffen,  dass  er  nicht  schuldig 
geworden  wäre.  Deshalb  erlöst  er  ihn  auch  wider;  der  teufel 
aber,  der  nicht  aus  erde  geschaffen  ist,  sondern  aus  lüterer 
masse,  und  der  durch  seine  hoffahrt  fiel,  findet  keine  gnade. 
Auch  dies  entspricht  der  anerkannten  lehre  der  kirche,  wie  sie 
auch  bei  Honorius  Augustodunensis  ausgesprochen  wird.')  Mit 
einer  bitte  an  den  heiligen  geist  um  beistand  bei  seinem  werk  2) 
geht  der  dichter  zum  eigentlichen  thema  über. 

c)  Stellung  zu  verwanten  deutschen  dichtungen 
geistlichen  Inhalts.  Als  quelle  hat  keines  derselben  unserem 
dichter  vorgelegen;  andererseits  kann  mit  bestimmtheit  an- 


Per  tactum  ligni  paradisnm  clauserat  Adam, 
perque  crucis  lignum  Christus  reseravit  Olympum. 

*)  Sie  steht  auch  in  der  Sächsischen  weltchronik  (vgl.  unten)  und  sonst 
an  vielen  steUen  der  geistlichen  und  weltlichen  literatur,  vgl.  Augusti- 
nus, Contra  Judaeos,  Paganos  et  Arianos  (Migne  42, 1117)  cap.  2:  Quid  est 
diabolus?  Angelus  per  superbiam  separatus  a  deo,  qui  non  stetit  in  veri- 
tate,  auctor  mendacii,  et  a  semet  ipso  deceptus,  qui  alterum  decipere  concur 
pivit  Iste  adversarius  effectus  humani  generis,  inventor  mortis,  superbiae 
institutor,  radix  malitiae,  scelerum  caput,  princeps  omnium  vitiorum  (vgl. 
V.  3255  [3041  ff.]  du  vindere  der  lugene,  ein  urhab  der  trugene,  anegenge 
aUer  ruwen,  ein  meister  der  u/ntruwen,  des  ewigen  todes  begin).  Aus  der 
deutschen  literatur  vgl.  Millstädter  Sündenklage  (Zs.  fda.  25)  v.  452: 
ubirmuot  diust  so  getan,  diu  verliuset  manegen  man.  diu  välte  von  himele 
iMcifer  mit  menege ;  Kaiserchronik  v.  8822  ff. :  der  herest  engel  der  under 
in  was,  sin  name  hiez  liehtvaz;  durch  sinen  ubirmuot  muose  er  fallen  v/nde 
die  sine  alle,  die  der  ubirmuote  waren  gesellen,  die  buwent  mit  im  die  helle; 
Wolfram  geht  Parz.  463  darauf  ein  und  noch  deutlicher  Willehalm  308, 14: 
sich  heten  mensch  und  engel  bräht  beidiu  in  den  gotes  haz:  wie  Tcumt  daz 
nu  daz  mevmisch  baz  dan  der  engel  gedinget?  min  munt  daz  meiere  bringet, 
daz  m^ennisch  wart  durch  rät  verlorn,  der  engel  hat  sich  selb  erJcom  zer 
ewigen  flüste  mit  siner  äJcüste;  vgl.  auch  W.  Grimm,  anm.  zu  Freidanke,  3; 
Roethe,  anm.  zu  Reinmar  v.  Zweter  192, 7  und  die  reichlichen  zusammen- 
steUungen  Singers  in  der  Festgabe  für  Heinzel  s.  381. 

*)  Derartiges  auch  sonst  häufig,  z.  b.  in  Heslers  Apokalypse  v.  1  ff. 
Jierre  got,  schepfer,  du  were  ie;  der  din  begin  begunde  nie,  din  ende  vorendet 
nimmer . . . ;  v.  136  seliger  vater  sende  mir  dinen  heiligen  geist . . . ;  vgl.  auch 
Passional  v.  1  ff.  Urstende  v.  1—52. 


136  HELM 

genommen  werden,  dass  er  der  selbst  drei  umfangreiche  werke 
schrieb,  auch  mit  der  deutschen  dichtung  seiner  zeit  bekannt 
war.  Es  ist  demnach  natürlich,  dass  er  unbeschadet  seiner 
durchaus  originellen  Schreibweise  doch  in  darstellungsart  und 
zum  teil  auch  im  formelschatz  auf  gleichem  boden  steht  mit 
der  gesammten  geistlichen  dichtung  des  mittelalters.  Welches 
oder  wie  wenig  gewicht  anklängen  an  diese  deshalb  zugemessen 
werden  darf,  darüber  wurde  schon  oben  gesprochen.  Trotzdem 
müssen  wenigstens  einige  der  nächstliegenden  erzeugnisse 
daraufhin  betrachtet  werden,  ob  nicht  kenntnis  derselben  in 
reminiscenzen,  vielleicht  halb  unbewusst,  bei  unserem  dichter 
zu  tage  tritt. 

Es  handelt  sich  vor  allem  um  die  drei  die  inhaltlich  am 
nächsten  stehen:  die  Urstende,  die  Erlösung  und  das  Passional. 
Das  Passional,*)  dessen  kenntnis  am  ehesten  vorauszusetzen 
wäre,  zeigt  keine  züge  von  irgend  welcher  beweiskraft,  geht 
dagegen  in  allem  wesentlichen  andere  wege  im  engen  anschluss 
an  die  Legenda  aurea  (vgl.  Schönbach,  Anz.  2, 196).  Es  hat 
zwar  die  Weissagung  des  Josephus  wie  bei  uns,  aber  bereits 
die  frage  des  kaisers,  weshalb  er  den  Untergang  der  stadt 
nicht  vorher  gesagt  habe,  fehlt,  ebenso  auch  der  name  Jotaphat, 
für  den  irgend  eine  spätere  quelle  als  Josephus  selbst  (Ant. 
Jud.  ^Iwxanaxa)  mir  nicht  bekannt  ist.  Sämmtliche  deutsche 
bearbeitungen,  welche  diese  episode  haben,  nennen  die  Stadt 
Joppe  oder  Jerusalem. 

In  zweiter  linie  kommt  die  Urstende  von  Konrad  von 
Heimesfurt  in  betracht,  die  nächst  unserem  gedieht  den  stoff 
des  Ev.  Nie.  am  ausführlichsten  verarbeitet  hat  (K.  A.  Hahn, 
Deutsche  gedichte;  vgl.  auch  Wülcker  a.a.O.  s. 34). 

Auch  hier  erscheinen  wesentliche  unterschiede:  Nicodemus 
tritt  vor  gericht  als  bestellter  anwalt  für  Christus  auf,  die 
kreuzigung  wird  möglichst  kurz,  die  himmelfahrt  ausführlich 
erzählt.  Aber  andererseits  erscheinen  auch  anklänge,  die  nicht 
für  rein  zufällig  erklärt  werden  können.  Dass  die  Juden  erst 
nach  Jesu  auferstehung  das  verschwinden  Josephs  von  Ari- 
mathia  erfahren,  haben  beide  gedichte  gemeinsam  gegen 
Gesta  12, 1.  18, 1 ;    ebenso    wörtlich  den   gruss  Adams   bei 

1)  Hahns  ausgäbe  85, 35  — 102, 51.  266, 16 — 277, 3. 


HEINBICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  137 

Christi  ankunft  in  der  hölle:  Urst.  127, 124 »)  =  EN  3316  (3102): 
ich  sih  die  hant  die  mich  geschuof,  wofür  der  Descensus  keinen 
anhält  bietet. 

Unter  diesen  umständen  gewinnen  natürlich  auch  andere 
an  sich  weniger  markante  parallelstellen  an  bedeutung,  nament- 
lich wenn  sie  in  gewisser  menge  auftreten.  Ich  stelle  die 
folgenden  deshalb  hier  zusammen  2): 

U 106, 12  EN  641 

Crist  (In  solt  uns  sagen,  Sie  sprachen:  Criste,  du  solt  sagen, 

wer  ist  der  dich  hat  geslagen.  wer  ist  der  dich  hat  geslagen. 

U 123, 5  EN  1839  (2629) 

do  waren  huchstab  unde  sin  unde  schriben  beide  einen  sin, 

so  gar  gelich  daz  ine  noch  min  . . .       weder  mer  noch  min. 

U 125, 6  EN  3069  (2855) 

tut  uf  ir  forsten  iwer  tor,  tut  uf  iwer  helle  tor, 

der  eren  chunic  ist  hie  vor.  hie  ist  der  eren  kuninc  for. 

Die  Worte  des  Schachers  finden  sich  bei  uns  an  der  zweiten 
stelle  V.  3659  (3441)  mit  ausnähme  von  so  statt  nu  wörtlich  gleich 

U 127, 64  herre,  nu  gedenche  min, 

so  du  chomest  in  daz  rieh  din. 

Zu  U 104, 19  mit  lobe  und  auch  mit  sänge, 
mit  suzem  antfange, 

vergleiche  EN  2628  (2420)  ff. 
sie  vielen  im  ze  fuzzen  mit  so  heiligem  antfange 

mit  lobe  und  mit  gesange.  ward  nie  kuniges  kint  . . . 

Aus  der  Erlösung  (hg.  v.  K.  Bartsch),  die  im  grossen  und 
ganzen  viel  verwantschaft  mit  unserem  gedieht  zeigt,  wüsste 
ich  jedoch  nur  eine  stelle  anzugeben,  die  auf  engeren  Zusammen- 
hang schliessen  liesse,  nämlich  den  hinweis  auf  Hosea  13, 14. 

Erl.  1617  EN  1762 

oy  dot,  ich  werden  noch  din  tot,  0  tot,  ich  werde  din  tot, 

du  helle  solt  ouch  wizzen  diz,  und  du  heUe  daz  wizze, 

daz  ich  sol  werden  noch  din  biz.  ich  werde  noch  din  bizze. 

Es  kommt  dabei  namentlich  auf  den  mittleren  vers  an,  für 


^)  Auf  diese  stelle  der  ürstende  ist  wol  auch  zurückzuführen  Erlösung 
V.  5047 — 49  wan  ich  sehe  die  seihen  hant  \  die  mich  und  all  die  werlt  ge- 
schuf I  aMa  huop  sich  ein  freuden  ruof;  vgl.  auch  Urst.  127, 27  do  huop 
»ich  ein  gemeiner  ruof, 

*)  ParaUelen  wie  U  105, 51  =  EN  615  stoz  din  swert  mder  in  sind 
natürlich  ohne  bedeutung  (vgl. Pass. 59, 81  stoz  in  din. swert,  lä  den  strit). 


138  HELM 

den  in  der  bibel  sich  keine  entsprechung  findet.  Der  stelle 
Erl.  4782  =  EN 1593  gewicht  beizulegen,  wage  ich  nicht. 

d)  Wichtige  ausblicke  eröffnet  zum  Schlüsse  die  Stellung, 
die  unser  dichter  den  Juden  gegenüber  einnimmt.  Es  kommt 
darin  ausserordentlich  klar  der  gegensatz  zum  ausdruck,  der 
die  sociale  läge  der  Juden  im  mittelalter  beherscht.  Seit  dem 
zweiten  kreuzzuge  gelten  sie  grundsätzlich  als  kammerknechte 
des  kaisers  (vgl.  Graetz,  Geschichte  der  Juden  6, 183.  268  fi), 
und  zwar  wird  diese  anschauung  in  allem  ernste  durch  die 
erzählung  von  des  Vespasian  Strafgericht  über  sie  begründet; 
sogar  die  rechtsbücher,  der  Schwabenspiegel  an  der  spitze, 
haben  sich  diese  begründung  angeeignet.  Fürsten  und  Städte 
erhielten  durch  kaiserliches  privileg  das  recht,  Juden  zu  halten, 
die  ihnen  eine  bedeutende  einnahmequelle  waren  und  deshalb 
ihren  schütz  genossen.  Namentlich  erfreuten  sie  sich  einer 
günstigen  läge  in  Oesterreich,  9  wo  herzog  Friedrich  der  streit- 
bare sogar  seine  finanzen  durch  Juden  verwalten  liess  und  im 
jähre  1244  ein  besonderes  rechtsstatut  gab,  2)  das  ihnen  einen 
seltenen  grad  von  freiheit  in  handel  und  wandel  und  sicher- 
stellung ihrer  person  durch  eigene  gerichtsbarkeit  zusicherte. 

Dieses  Statut  wurde  von  anderen  fürsten  mit  geringeren 
oder  grösseren  änderungen  übernommen,  so  von  herzog  Boleslav 
von  Polen  1264,  von  Heinrich  dem  erlauchten  von  Meissen  1265 
(vgl.  Graetz  a.  a.  0.  7, 207,  anm.  2). 

Das  Volk  sah  die  Juden  mit  anderen  äugen  an,  denn  ihm 
waren  sie  nur  die  bedränger.  Und  der  Zusammenhang  ist 
nicht  zu  verkennen.  Je  mehr  die  geistlichen  und  weltlichen 
fürsten  die  Juden  hegten,  desto  mehr  wurden  sie  zur  plage  des 
Volkes,  denen  sie  durch  unerhörten  wucher  das  geld  abnahmen, 
das  die  fürsten  wider  von  ihnen  erpressten.  Volk  und  her- 
schende  stehen  sich  deshalb  nicht  selten  in  diesem  punkte 
schroff  gegenüber,  wie  sich  z.  b.  1283  der  erzbischof  Werner 
von  Mainz  energisch  seiner  Juden  gegen  die  ausschreitung  des 
Volkes  annahm  (Graetz  7, 200).  Gegen  die  mitte  des  14.  jL's 
schwenken  die  fürsten  in  das  lager  des  volkes,  wenn  auch 


*)  Schon  herzog  Leopold  von  Oesterreich  hatte  durch  Friedrich  I.  ein 
Privilegium  erhalten,  Juden  zu  halten  (vgl.  Wertheimer,  Die  Juden  in  Oester- 
reich S.34). 

2)  Eauch,  Script,  rer.  Austr.  1, 201. 


HEIKBICH  HBSLERS  EVANGELIUM  NICODBMI.  139 

Xarl  IV.  bei  seinem  regierungsantritt  noch  einmal  energisch 
sein  wort  für  seine  kammerknechte  erhob.  Namentlich  1348  f. 
war  ganz  Deutschland  der  Schauplatz  der  grauenhaftesten 
Judenverfolgungen,  bei  denen  jetzt  schon  einige  fürsten  voran- 
giengen,  namentlich  die  söhne  Ludwigs  des  Baiem,  von  denen 
Ludwig  (markgraf  von  Brandenburg)  alle  Juden  in  Königsberg 
in  der  Neumark  verbrennen  liess.  Im  benachbarten  Polen  war 
die  läge  der  Juden  besser. 

Unser  dichter  steht  vor  der  zeit,  da  die  fürsten  zu  be- 
drängen! der  Juden  wurden.  In  dem  Schlussabschnitt  wendet 
er  sich  mit  heftigen  worten  gegen  die  nachsieht,  mit  der  die 
fürsten  die  Juden  behandeln,  und  tadelt  ihre  giericheit  nach 
dem  schätz  der  Juden,  aus  der  diese  nachsieht  entspringt: 

V.  5190  (in  G  fehlend) 
durch  got  uch  vorsinnet,  lazet  uch  sus  niht  dorsten 

ir  edelen  dutschen  vorsten:  ires  Schatzes. 

Schon  vorher  hat  er  die  strafe  dieser  gesinnung  bezeichnet: 

V.  4822  (4604) 
da  von  werdet  ir  ires  meines  teilhaft  in  jeneme  lebene, 

—  daz  solt  ir  merken  ebene  —       als  ir  tuot  ires  Schatzes  hie. 

Er  erkennt  auch,  woher  das  geld  in  Wahrheit  kommt,  das  die 
Juden  den  fürsten  bezahlen  müssen: 

V.  5125—30  (nicht  in  G) 
sie  sint  so  listeclichen  karc:  uweren  luten,  die  u  sint 

e  sie  u  g^eben  tusent  marc,  uf  uwer  sele  bevoln, 

so  han  sie  zwenzig  tnsint  mit  irme  wocher  abe  gestoln. 

Zweierlei  verlangt  der  dichter  von  den  Juden  als  grundbedingung 
für  den  frieden:  aufgeben  des  wuchers  und  des  Unglaubens; 
denn  nicht  weniger  als  der  sociale  wiegt  bei  ihm  der  kirch- 
liche gegensatz.  Der  Unglaube  der  Juden  erscheint  aber  als 
ein  doppelter:  denn  erstens  haben  sie  Christus  verworfen,  dann 
aber  auch  die  alte  e  aufgegeben: 

V.  5267  (4909) 
nu  hat  ir  ungetruwen 
die  alten  e  gelazen 
und  die  nuwen  vorwazen.*) 

')  Der  hass  der  Christen  gegen  die  Juden  wendet  sich  auf  kirchlichem 
gebiet  yomehmlich  gegen  den  Talmud  (vgl.  die  verbrennungsedicte  Graetz 
7, 100  ff.). 


140  HELM 

Die  Verblendung  der  Juden  dem  Christentum  gegenüber  (vgL 
die  häufige  redensart  sie  sprachen  sender  ougen  blint)  und  ihre 
endliche  bekehrung,  wenn  das  jüngste  gericht  naht,  9  sind  be- 
liebte themata.  Endlich  vertritt  der  dichter  die  bekehrung 
der  Juden  durch  gewalt,  wie  sie  alltäglich  praktisch  betrieben 
wurde,  wenn  auch  im  gegensatz  zu  den  edicten  der  kirche, 
die  theoretisch  wenigstens  die  erzwungene  taufe  misbilligte'): 

V.  5140  (4852)  die  pfaffen  sulen  sie  leren, 

schalt,  bitte,  drowe,  vle  die  leien  sulen  sie  triben  — 

wen  biz  sie  sich  bekeren.  daxnmme  segent  man  u  die  swert! 

So  wird  das  compelle  intrare  erläutert.  Aber  die  anwendung 
von  gewalt  soll  doch  keineswegs  so  weit  gehen,  dass  man  sie 
ganz  vertilge,  vgl.  v.  5242  (4884);  sondern  nur  dass  man  sie 
in  stetiger  bedrückung  halte,  ein  satz,  den  die  kirchliche  lehre 
im  anschluss  an  Ps.  59, 12  'erwürge  sie  nicht,  dass  es  mein  volk 
nicht  vergesse;  zerstreue  sie  aber  mit  deiner  macht,  herr  unser 
Schild,  und  stosse  sie  hinunter'  ausgebildet  hat.^) 

Die  annähme,  dass  unserem  dichter  bei  abfassung  dieser 
Partien  irgend  einer  der  vielen  älteren  und  neueren  tractate 
gegen  die  Juden,  vielleicht  auch  mehrere  derselben,  vorgelegen 
habe,*)  dürfte  kaum  discutierbar  sein.    Möglich  ist  es  immerhin, 


*)  Diese  auffassung  geht  zurück  auf  Jes.  10, 22,  worauf  sich  die  stelle 
Rom.  9, 27.  11,5  bezieht.  lieber  ihre  Verbreitung  in  der  kirchlichen  wie 
in  der  deutschen  literatur  vgl.  Kraus,  Anz.  fda.  19, 59. 

*)  So  in  erlassen  Innocenz' m.,  Gregors  X.  (Graetz  7,  199);  auch  bei 
Thomas  von  Aquino,  Summa  theologiae. 

8)  Vgl.  z.  b.  auch  Augustinus,  De  fide  eorum  qui  non  videntur  cap.6 
(Migne  40,  178)  und  Augustinus,  De  civitate  dei  18,  cap.  46  (Mlgne 
41,  608). 

*)  Vgl.  Cyprianus,  Testimoniorum  libri  tres  adv.  Judaeos  (Migne, 
Patr.  lat.  4, 675);  Severus,  Epistola  de  Judaeis  (Migne20, 731);  Augus- 
tinus, Tractatus  adv.  Judaeos  (42,51);  id.,  Sermo  de  symbolo  contra 
Judaeos,  paganos  et  Arianos  (M.  42, 1117);  id..  De  altercatione  ecclesiae  et 
synagogae  (M.  42, 1131);  Leo  Magnus,  Sermo  35,  cap.  1  (M.  54,250); 
Maximus  Taurinensis,  Tractatus  V  contra  Judaeos  (M.  57, 793);  Ago- 
bardus,  De  insolentia  Judaeorum  (M.  104,69);  id.,  De  iudaicis  supersti- 
tionibus  (M.  104, 77);  id.,  De  cavenda  societate  iudaica  (M.  104, 107);  id., 
De  baptismo  Judaeorum  mancipionim  (M.  104, 99);  Amulo,  Liber  contra 
Judaeos  ad  Carolum  regem  (M.  116, 141);  Fulbertus,  Tractatus  contra  Ju- 
daeos (M.  141, 305  und  827);  Petrus  D ami an us,  Antilogus  contra  Judaeos 
(M.  145,  41);    id.,  Dialogus  inter  Judaeum  et  Christianum  (M.  145,57); 


HEINRICH  HE8LEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  141 

es  ZU  beweisen  oder  zu  widerlegen  ist  gleich  undurchführbar. 
Notwendig  ist  jedoch  keineswegs,  directe  vorlagen  für  diese 
Partien  unseres  gedichtes  anzunehmen.  Die  betrachtung  der 
Zeitumstände,  welche  ihren  hintergrund  bilden,  lehrt  wie  nahe 
es  lag,  die  ja  doch  in  der  luft  liegende  und  allerorts  vielfach 
ventilierte  frage  zu  berühren.  Indessen  muss  hier  doch  wenig- 
stens auf  ein  verwantes  deutsches  erzeugnis  hingewiesen  werden; 
es  ist  dies  das  zweite  gedieht  des  sog.  Seifried  Helbling 
(hg.  von  Seemüller,  Halle  1886),  das  v.  1079—1193  ebenfalls 
eine  rede  gegen  die  Juden  enthält  mit  ähnlicher  schärfe  gegen 
die  nachsieht  der  fürsten:  v.  1159  wmr  ich  ein  fürst  ze  nennen, 
ich  hiez  euch  alle  brennen;  v.  1181  die  fursten  tuont  ze  trage 
unib  iuwer  Synagoge  die  ir  ufrichtet  ...  er  wcer  vil  wol  der  in 
verhut  ir  ketzerlichez  talmut  Gegen  eine  bekanntschaft  unseres 
dichters  mit  dieser  stelle  scheint  ja  von  vornherein  alles  zu 
sprechen.  S.  H.  hat  nur  eine  sehr  beschränkte  Verbreitung 
gefunden,  schon  der  Inhalt  der  gedichte  brachte  es  vielleicht 
zum  teil  mit  sich,  dass  sie  nur  im  engsten  kreise  der  standes- 
und  gesinnungsgenossen  bekannt  gegeben  wurden.  Wir  be- 
sitzen denn  auch  keine  einzige  md.  hs.  der  gedichte.  Aber 
andererseits  wissen  wir,  dass  hss.  verloren  sind  (Seemüller 
s.  cvn),  und  zwar  mit  ausnähme  von  A  alle  die  einzelabschriften 
der  gedichte,  deren  doch  gewis  von  jedem  mehrere  vorhanden 
waren.  Eine  solche  einzelabschrift  konnte  aber  unser  dichter 
sehr  wol  zu  gesicht  bekommen  haben,  und  durch  sie  konnte 
er  zu  der  Judenpredigt  angeregt  worden  sein. 

Auf  Seifr.  Helbling  weist  uns  aber  auch  noch  eine  weitere, 
aUerdings  ebenfalls  unsichere  spur.  Beim  verkauf  der  Juden 
durch  Vespasian  finden  sich  dort  die  verse  1171  ff.  die  (die 
Juden)  fuort  man  an  den  seilen  und  liez  iuch  hin  veilen  umh 

Guibertus,  De  incamatione  contra  Judaeos  (M.  156, 489);  Rupertus, 
Annulus,  sive  dialogus  inter  Christianum  et  Judaeum  (M.  170, 559);  Gisle- 
bertus,  Dispntatio  Judaei  cum  Christiano  (M.  169, 1005);  Odo,  Dispntatio 
contra  Jndaeos  (M.  160,1105);  Rabbi  Samuel,  De  adventu  Messiae  prae- 
terito  (M.  149,  338);  Petrus  Abaelardus,  Dialogus  inter  philosophum 
Judaeum  et  Christianum  (M.  178, 1609);  Petrus  Venerabilis,  Tractatus 
adv.  Judaeos  (M.  189, 355) ;  PetrusBlesensis,  Opusculum  contra  perfidiam 
Judaeorum  (M.  207,  825);  S.  Martinus,  Contra  Judaeos  (M.  209,  423); 
Anonymus  (12.  saec),  Tractatus  adv.  Judaeos  (M. 213, 749);  vgl.  dazu  Migne 
220, 98^—1006,  Index  de  Judaeis). 


142  HELM 

ein  kleinem  dinc,  drUic  Juden  umb  ein  phenninc,  Dass  v.  1174 
=  V.  4710  (4492)  unseres  gedichtes  ist,  hat  keine  bedeutung, 
die  Wendung  lag  zu  nahe:  auch  dass  der  reim  {dinc: phen- 
ninc) der  gleiche  ist,  ist  belanglos,  er  findet  sich  ebenso  bei 
Enenkel  v.  24349  man  sagt  er  schuf  so  wol  sin  dinc  daz  er 
umb  einen  phenninc  . . .  Dagegen  verdient  es  beachtung,  dass 
V.  1172  fast  wörtlich  bei  uns  widerkehrt  in  v.  4694  (4476) 
m^n  fuort  sie  vor  an  seilen.  Dieser  zug  ist  nämlich  ausser- 
ordentlich selten,  er  findet  sich,  so  viel  ich  sehe,  nur  noch  in 
der  Kaiserchronik  v.  1117  an  Jcettenen  und  an  snuoren  hiez  man 
si  veile  vuoren. 

Nun  gibt  unser  dichter  v.  4718  (4500)  auskunft  über  eine 
weitere  quelle:  wellen  sie  mir  folgen  und  die  rechte  warheit 
suochen  in  der  kuninge  buochen,  da  bring  ich  ze  geziuge  die 
Schrift  Unter  der  könige  buch  kann  nun  wol  die  Kaiserchronik 
verstanden  werden,  allerdings  auch  andere  Chroniken,  nament- 
lich noch  die  Sächsische  weltchronik  (hg.  von  Weiland,  MG. 
Deutsche  chron.  2, 1).  Beide  gehören  nicht  der  recension  LM 
an,  sie  enthalten  die  einfache  erzählung  von  Tiberius'  heilung, 
der  böte  des  kaisers  heisst  Volusian.  Die  Kaiserchronik  ist 
aber  überdies  in  allem  wesentlichen  grundverschieden  von 
unserem  gedieht,  namentlich  in  der  ganzen  erzählung  von  Jo- 
sephus,  dessen  Weissagung  fehlt,  während  die  heilung  des  Titus 
hinzugefügt  wird.  Der  zug,  dass  die  gefangenen  Juden  an 
seilen  vorgeführt  werden,  wäre  der  einzige  gemeinsame. 
Aber  der  dichter  beruft  sich  gar  nicht  gerade  für  diesen  einen 
zug  auf  der  könige  buch,  sondern  für  seinen  ganzen  bericht 
von  dem  verkauf  der  Juden;  wir  werden  demnach  bei  dem 
mangel  jeglicher  sonstigen  Übereinstimmung  von  bedeutung 
schliessen  müssen,  dass  der  dichter  mit  der  könige  buch  die 
Kaiserchronik  nicht  gemeint  hat.  So  würden  wir  also  doch 
wider  auf  S.  Helbling  als  quelle  für  v.  4694  f.  zurückgewiesen.*) 
Dürften  wir  das  resultat  als  gewis  annehmen,  so  gewännen 
wir  für  die  Chronologie  unseres  gedichtes  einen  terminus  post 
quem,  da  das  zweite  gedieht  S.  Helblings  zwischen  1292  und 
1294  geschrieben  ist  (vgl.  Seemüller  zu  v.  830  und  874). 

^)  Eäumliche  entfernimg  dürfte  als  hindern  is  nicht  geltend  gemacht 
werden,  haben  doch  auch  Wemher  vom  Niederrhein  nnd  Heinrich  von  Vel- 
deke  den  Heinrich  von  Melk  gekannt;  vgl.  Behaghel,  Eneit  s.  xlxxz. 


HEINBICH  HESLEES  EVANGELIUM   NICODEMI.  143 

Als  das  von  dem  dichter  gemeinte  buch  der  könige  käme 
dann  die  Sächsische  weltchronik  in  betracht,  und  diese  war 
ihm,  wie  mehrere  einzelheiten  dartun,  in  der  tat  bekannt. 
Während  bei  uns  Tiberius  erschlagen  und  in  die  Tiber  geworfen 
wird,  findet  er  sonst  fast  stets,  auch  in  der  Kehr.  v.  1134  und 
in  der  Sachs,  weltchr.  sein  ende  durch  gift.  Aber  in  der  letz- 
teren findet  sich  in  der  Gothaer  hs.  der  zusatz  vn  wart  ge- 
worpen  in  den  tyber  de  da  vore  het  alban  vn  het  nu  tyU  na 
tyberius  de  darinne  wart  gevunden,^)  Die  durch  die  Gothaer 
hs.  repräsentierte  recension  wird  daduixh  als  vorläge  unseres 
dichters  erwiesen.  Dass  das  bild  der  Veronica  in  Eom  zu 
sehen  sei,  findet  sich  ebenfalls  in  der  chronik;  dadurch  kann 
die  angäbe  unseres  gedichtes  mit  beeinflusst  sein.  Endlich 
findet  sich  hier  auch  die  erzählung  vom  jüdischen  krieg  wie 
bei  uns,  Josephus'  gefangennähme  und  Weissagung,  wenn  auch 
natürlich  weit  kürzer,  aber  doch  wie  auch  das  folgende  Straf- 
gericht mit  ganz  directen  parallelen:  vgl.  v.  4639  (4421)  si 
des  niht  so  tote  mich  =  Chron.  ne  ist  it  nicht  so  dode  mich. 
Die  Unfreiheit  der  Juden  namentlich,  wofür  gerade  die  Chronik 
als  beleg  angerufen  wird,  ist  nachdrücklich  hervorgehoben, 
und  auch  hier  ist  verwantschaft  in  den  ausdrücken  mit  unserem 
Ev.  nicht  zu  leugnen:  in  wart  verdelt  echt  und  reht,  erve  und 
eigen,  dat  se  oc  eigen  solden  wesen  immer  mer,  vgl.  v.  4695 — 
4699  (4477—4481). 

Von  dem  Strafgericht  gegen  die  Juden  sind  nach  unserem 
gedieht  zwei  geschlechter,  Gog  und  Magog,  ausgenommen,  die 
von  Alexander  eingeschlossen  wurden  und  deshalb  die  botschaft 
von  Christus  nicht  vernommen  hatten. 

Die  zu  gründe  liegende  sage  erscheint  in  verschiedener 
gestalt.  Anknüpfend  an  die  existenz  einer  wol  von  den  per- 
sischen königen  erbauten  grossen  mauer  bei  Derbend  gewinnt 


*)  Diese  erklärung  des  namens  findet  sich  auch  bei  Enenkel  (Strauch 
s.  385)  V.  20184,  aber  ohne  bestimmte  angäbe  des  gewaltsamen  todes  v.  20191 : 
wan  er  zwar  dar  inne  ertranc,  ich  wetz  nicht  ob  ez  an  sinen  danc  geschach 
oder  mit  dem  wiUen  sin;  daz  ist  mir  noch  nicht  worden  schin.  Die  ety- 
mologie  beruht  auf  einer  Verwechslung  des  Tiberius  mit  Tiberinus  Sylvius, 
dem  alten  Albanerkönig,  von  dem  Honorius  Augustodunensis  dies  erzählt 
(vgl.  Strauch  s.  384).  In  richtiger  beziehung  findet  sich  die  notiz  noch  in 
Gottfrieds  von  Viterbo  Speculum  regum  (MG.  22, 51). 


144  HELM 

sie  anschluss  an  den  bericht  Ezechiels  (38, 39)  von  dem  heeres- 
zug  des  königs  Gog  aus  dem  lande  Magog  (so  genannt  nach 
Japhets  gleichnamigem  söhn,  Gen.  10, 2)  gegen  Israel  und  seiner 
niederlage.  Die  sage  nennt  neben  ihm  noch  bis  zu  dreissig 
heidnische  geschlechter,  und  erzählt  wie  sie  sich  wider  erholen 
und  von  Alexander  zwischen  hohen  bergen  eingeschlossen 
werden.  In  dieser  form  ist  sie  enthalten  in  den  Eevelationes 
Methodii,  von  wo  sie  teils  direct  wie  bei  Eudolf  von  Ems  (vgl. 
Zingerle,  Quellen  zum  Alexander  des  E.  v.  E.  s.  196  ff.),  teils 
indirect  durch  die  von  der  Seitenstetter  hs.  repräsentierte  f assung 
des  Liber  de  proeliis  in  die  meisten  Alexanderdichtungen  über- 
gegangen ist.  9 

In  einer  anderen  fassung  haben  nun  die  stelle  der  ge- 
fangenen beiden  die  in  der  gefangenschaft  befindlichen  zehn 
Stämme  der  Juden  eingenommen,  die  von  Alexander  vergeblich 
ihre  freiheit  erhoffen,  aber  von  demselben  ihrer  frevel  wegen  für 
ewig  eingemauert  werden.  2)  Wann  diese  umdeutung  geschah, 
entzieht  sich  unserer  kenntnis;  schon  Petrus  Comestor  (Migne 
198, 1407)  kennt  sie  offenbar,  wenn  er  sagt:  adhuc  decem  trUms 
ultra  montes  Caspios  captivae  tenentur. 

Bei  Quilichinus  von  Spoleto  (1236)  finden  wir  beide,  heiden 
und  Juden,  genannt,  3)  wovon  dessen  quelle  Julius  Valerius  noch 
nichts  hat.  Ebenso  erzählt  Eudolf  von  Ems  einmal  die  ein- 
schliessung  der  heiden  Gog  und  Magog,  an  einer  anderen  stelle 
der  Juden,  während  die  Sächsische  weltchronik  nur  die  Juden 
nennt.  Mit  einem  weiteren  schritt  gelangte  man  zur  identi- 
ficierung  der  Juden  mit  Gog  und  Magog.  Dies  geschieht  z.b. 
im  Compendium  theologiae  veritatis,  lib.  7,  cap.  11.*)  Ihm  folgt 
Hugo  von  Langensteins  Martina  192, 31  (vgl.  Köhler,  Germ.  8, 
23  ff.) ;  auch  in  Seifrieds  Alexander  erscheinen  Gog  und  Magog 

^)  Eine  ausnähme  bildet  Lamprecht,  der  die  episode  nicht  kennt. 

*)  Wir  tibergehen  hier  die  rolle,  die  die  eingeschlossenen  zur  zeit  des 
Antichrist  spielen. 

®)  Praeterea  inclmit  decem  tribus  fiUorum  Israel,  sed  Judam  et  Ben- 
jamin non  inclusü,  Wiener  jahrbticher  57,  anzeiger  61. 

*)  So  muss  wenigstens  der  Wortlaut  aufgefasst  werden.  De  Gog  et 
Magog  dicunt  quidam  quod  sint  decem  tribus  intra  montes  Caspios 
clausae,  wenn  auch  in  scheinbarem  gegensatz  zu  dem  späteren  has  dicu/r^ 
Judaei  in  fine  exituras  et  venturas  in  Jerusalem  et  cum  suo  messia  ecclesias 
destructuras. 


Heinrich  heslers  evangeltum  nicodemi.  145 

als  Juden.  Die  weite  Verbreitung  dieser  Version  beweist  ihr 
auftreten  im  Poema  de  Alejandro  des  Joan  Lorenzo  Segura  de 
Astorga,  der  um  1260  schrieb  (vgl.  Wiener  jahrbb.  57, 181). 

Hesler  hat  nun  jedenfalls  die  ursprüngliche  version  aus 
irgend  einer  der  Alexanderdichtungen  gekannt,  die  version 
welche  die  Juden  einsetzt,  sicher  wenigstens  aus  der  Sächsischen 
Chronik.  Auch  die  contamination  war  ihm  wol  schon  bekannt; 
denn  das  Compendium  war  ein  ausserordentlich  viel  gelesenes 
buch;  vielleicht  kannte  er  aber  auch  die  (nach  1293)  geschrie- 
bene Martina.  Einen  weiteren  schritt  tut  er  aber,  wenn  er 
an  stelle  der  zehn  israelitischen  stamme  nur  zwei  setzt,  da 
er  nur  für  so  viele  namen  hat.  Dann  ist  aber  auch  der  Inhalt 
der  sage  ein  ganz  anderer  geworden;  die  einschliessung,  die 
ursprünglich  doch  eine  strafe  ist,  erscheint  bei  uns  als  eine 
besondere  gnade.')  Ihren  grund  findet  diese  ganz  vereinzelt 
dastehende  lesart  vielleicht  in  folgendem.  In  einzelnen  juden- 
gemeinden  sehr  hohen  alters  (z.  b.  Worms)  besteht  zum  teil 
heute  noch  die  tradition,  dass  sie  schon  vor  Christus  be- 
standen hätten,  mithin  ihre  mitglieder  an  Christi  tod  nicht 
mitschuldig  seien.  Solche  anschauungen  traten  vielleicht 
Hesler  entgegen  und  gaben  ihm  die  idee  ein;  war  dies  der 
fall,  dann  ist  seine  darstellung  jedenfalls  polemisch  zu  fassen : 
er  tritt  jenen  seiner  meinung  nach  unberechtigten  äusserungen 
entgegen  mit  dem  satze:  alle  Juden  trifft  das  gericht  mit 
ausnähme  jener  von  Alexander  zwischen  den  bergen  ein- 
geschlossenen. 

lil.  Sprache  und  heimat  des  gedichtes. 

A.   Die  spräche. 

Ueber  die  spräche  des  Ev.  Nie.  hat  abgesehen  von  den 
kurzen  bemerkungen  K.  v.  Bahders  (Ueber  ein  vocal.  problem 
des  md.  s.  42)  ausführlicher  gehandelt  K.  Amersbach  (1, 11  und 


*)  Im  Vespasian  des  Wilden  mannes  erscheint  widenun  eine  andere 
fassung,  die  nichts  weiter  ist  als  eine  sehr  verblasste  reminiscenz  der  ganzen 
sage.  Es  heisst  dort  nach  dem  verkauf  der  Juden  y.  255:  zen  geslehte  man 
ir  virsande,  diu  quamen  an  ein  gebirge  zu  lande,  diu  andirin  vm/rdin 
virleidit  und  ovir  alli  di  werlt  verspreidet  (vgl.  Köhn,  Gedichte  des  Wilden 
mannes  s.  41).  Eingehenderes  über  die  ganze  sage  hoffe  ich  in  bälde  vor- 
legen zu  können. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  j[Q 


146  ÄELÄt 

2, 3  ff.).  Seine  darstellung  bedarf  jedoch  sehr  der  ergänzung, 
da  sie,  ohne  abschliessendes  zu  bieten,  sich  darauf  beschränkt, 
die  identität  der  spräche  mit  der  von  Heslers  Apokalypse  nach- 
zuweisen. Ausserdem  ist  sie  aber  auch  nicht  einwandfrei,  da 
sie  zum  teil  mit  zweifelhaftem  material  arbeitet  und  belegen 
aus  dem  versinnern  zu  viel  gewicht  zugesteht.  Wir  beschränken 
uns  zunächst  auf  die  ausbeute  der  reime,  wobei  als  norm  zu 
gelten  hat,  dass  im  zweif eisfalle  jeder  reim  als  dialektisch 
rein  zu  betrachten  ist.  Betreffs  der  spräche  der  Apokalypse 
beschränken  wir  uns  auf  angäbe  etwaiger  abweichungen. 

I.  Vocale. 

Der  Umlaut  ist  nur  durchgeführt  bei  a,  ä,  wo  er  regel 
ist.  Hervorzuheben  ist  besonders ')  tregis  (:  hegis)  3346  und  ehte 
(8)  :  rehte. 

Der  Umlaut  von  ä  ist  gesichert  durch  reime  wie  mere  : 
were  2566,  emphet :  set  (sehet)  2671,  nete  (zu  nähen)  :  ve(he)te 
1967.  offenbare  reimt  auf  -ere  (=  -cere)  1647.  4766.  4978,  was 
allerdings  nichts  beweist;  in  der  Apokalypse  sind  auch  reime 
auf  -are  belegt  (Amersbach  2, 1).  In  einzelnen  fällen  unter- 
bleibt dagegen  der  umlaut  von  a,  vgl.  häte  (conj.  praet.) :  rate 
2507.  Der  reim  swär  (:  war)  998,  swaren  (:  waren)  1217  be- 
gegnet auch  sonst  oft  in  md.  denkmälern,  vgl.  Katharinen  marter 
V.  306  (Germ.  8, 129).  Ebernand  v.  Erfurt  847. 1283.  3671.  Her- 
bort V.  Fritzlar  9596.  Ludwigs  kreuzfahrt  1928.  Der  Sünden 
widerstreit  2200,  sehr  oft  bei  Jeroschin  (Pfeiffer  s.  lvii).  Mit 
dem  umlaut  hat  dies  nichts  zu  tun,  vielmehr  liegt  die  alte 
lautgesetzliche  form  alter  i- stamme  vor;  vgl.  Behaghel,  Germ. 
23,275.  beswäret  {:  wäret)  ist  dann  auf  grund  von  analogie 
zu  erklären. 

Umlaut  unter  einfluss  der  sufflxe  -lieh,  -ic  wird  durch  keinen 
reim  erwiesen.  Rückumlaut  ist  regel:  vorant :  hant  2633.  3579, 
vorJianete  (:  crancte)  2929,  haften  (:  caften)  1807,  sante  (:  mante) 
2964,  genant  (:  want)  4611,  (:  Äan^  2601,  gesant  (:  lant)  2923. 
4055,  (ihailant)  4259,  gestracket  (:  entnacket)  1655,  vorwände 
( :  mände)  3887. 


*)  wennen  ( :  irkennen)  3264  ist  nebenfonn  zu  wamien,  nicht  mit  V^ein- 
hold  §  28  als  umlaut  zu  erklären 


fiBlKBICH  OSLERS  EYANGELIUM  NICODEMI.  147 

Der  Umlaut  sämmtlicher  anderer  vocale  ist  nach  gemein- 
md.  weise  wenig  ausgeprägt;  demgemäss  erscheinen  unbedenk- 
lich umgelauteter  und  unumgelauteter  vocal  im  reim  gebunden  ;9 
vgl.  Behaghel,  Pauls  Grundr.  1,  §  40,  Weinhold,  Mhd.  gr.  §  54. 
82. 102. 118. 132.  Beispiele:  d:  bröde  (:  töde)  3248.  3342.  4027, 
hören  (  :  ören)  1293,  /se  honden  (  :  schonden)  4711,  verbosen 
(:  lasterlosen)  4801,  losen  :  vro  sin  3011,  stören  :  beJcoren  1415. 
—  ou :  frouwen  (inf .)  ( :  frouwen  dat.  sg.)  4494  ist  die  alte 
regelrechte  form  mit  geminiertem  w,  *frawwjan,  wo  nie  Um- 
laut eintritt.  —  u:  geturstic  (:  durstic)  329,  sunden  {:  wunden) 
3771,  sunde  :  rnunde  3573,  urJcunde  :  munde  617,  twunge  (2  p.)  : 
lösunge  150,  runge  :  wustenunge  1645,  wunne  :  sunne  2623,  er- 
vult :  sult  1825,  :  gedult  1910.  2027,  gründen  (:  schunden)  3099, 
turen  ( :  beJcuren)  3283,  stucken  ( :  erschrucken)  3293,  6w^e 
(lÄCÄu^^e-^))  2925. —  i*ö:  guote  (ibluote)  ISllj  ruogen  {: sluogen) 
1815,  mwön  (:  müejen)  :  ^efow  1281.  3077.  4937,  gescuofe  (iruofe) 
345.  4907,  pruofen  (:  huofen)  5121,  5«*öwe  (:  ^wowe)  2099.  Nicht 
beweisend  —  da  die  alte  regelrechte  form  ohne  umlaut  vor- 
liegen kann  bez.  muss  —  sind:  fuosen  {:muozen)  434.  907.  4511, 
kuol  (:  stuoT)  625. 

a. 

a,  a  =^  gemeinmhd.  a,  a.  Insbesondere  ist  a  erhalten  in 
vianden  {:  anden)  4995.  Im  sg.  praes.  des  verbums  ^sollen' 
ist  die  a-form  durch  die  reime  auf  al,  gewalt,  gestalt  gesichert; 
vgl.  V.  998.  2968.  3082.  3352.  3934.  Darnach  wird  wol  auch 
sal :  wal  1281.  2607  zu  lesen  sein,  obwol  auch  sol :  wol  mög- 
lich ist.  Der  gebrauch  von  sol  neben  sal  wäre  ganz  unbedenk- 
lich. Die  a-formen  entsprechen  dem  dialekt  des  dichters,  die 
ö-formen  konnten  als  bequeme  conventionelle  reimwörter  Ver- 
wendung finden.  Dem  entspricht  auch  die  ausschliessliche 
herschaft  der  o- formen  in  den  reimen  der  Apokalypse,  die 
sicher  nicht  als  dialektisch  erklärt  werden  kann.    Auch  die 


*)  Ebenso  bei  Jeroschin  (Pfeiffer  s.  lx),  Erlösung  (anm.  zu  v.  154.  275. 
523).  Im  buch  Hiob  wird  ausser  a,  d  nur  ou  umgelautet  (vgl.  W.  Müller, 
Das  md.  buch  Hiob  s.  14).  Im  Md.  schachbuch  ist  der  umlaut  aber,  wenn 
auch  nicht  ausnahmslos  (gunne  :  brunne  241, 11),  doch  im  allgemeinen  durch- 
gedrungen (vgl.  Sievers,  Zs.  fda.  17, 387). 

*)  =  *das  schütteln';  Jeroschin  v. 22742  die  dries  gab  so  harten  stöz 
mit  schütte  dem  gebuide. 

10* 


14d  fiELM 

meisten  anderen  md.  dichtungen  zeigen  sal  und  sol  neben- 
einander im  reim. 

Md.  van  ist  durch  den  reim  nicht  zu  belegen,  dagegen 
von  (:  ßymeon)  2879,  (:  gewon)  4054.  5177,  (:  ungewon)  3037. 

Ebenso  entbehrt  a  für  e  in  larte,  harte,  welches  Amersbach 
als  zweifellos  annimmt,  eines  beweisenden  reimes,»)  da  beide 
Worte  nie  mit  echtem  a  reimen;  wol  aber  ist  e  belegt  in  Teerte  : 
erte  1589. 

Belege  für  vocaldehnung  sind  im  gegensatz  zu  anderen 
md.  denkmälem  (Schachbuch,  vgl.  Sievers  a.a.O.  s. 385,  buch 
Hiob,  vgl.  W.  Müller  s.  11)  noch  selten,  für  a  nur  vor  r  zu  be- 
legen :  gar  :  war  2073.  5241,  schar  :  ^tvär  617  (vgl.  A.  Eitzert, 
Beitr.  23, 220);  dazu  käme  noch  began  :  wän  5094:,  wenn  man 
diesen  reim  nicht  lieber  als  ungenau  betrachten  will.  In 
brdhten  :  ahten  2755  ist  umgekehrt  wol  ein  Zeugnis  für  kürzung 
vor  doppelconsonanz  zu  erblicken  (vgl.  Erlösung  5776).  Alle 
anderen  in  einzelnen  hss.  stehenden  und  von  Amersbach 
citierten  fälle  sind  unursprünglich  und  corrigieren  sich  leicht. 
Ueber  contractions-a  siehe  unten. 

Eigennamen  auf  -at,  -an,  -am  reimen  in  ihren  flectierten 
formen  nur  auf  ä:  Pilaten  :  bäten  721.  763. 1441.  2449,  Pilate  : 
dräte  1137.  1319,  Adriane  :  äne  4221,  Adame  :  bräme  171,  Ada- 
men :  nämen  2009.  3405  :  quämen  27.  2225,  Albane  :  undertäne 
4591.  Nur  scheinbar  sind  die  ausnahmen  Adamen  :  lichamen 
4085.  4901,  wofür  lichnämen  zu  lesen;  vgl.  Germ.  9, 215.  Zs.  fda. 
6, 299. 

In  der  unflectierten  form  reimen  namen  auf  -am  nur  mit  a: 
Adam  :  nam  917,  :  quam  2855,  :  0am  4057.  3588,  was  allerdings 
bei  der  Seltenheit  der  endung  -am  nichts  bedeutet.  Namen 
auf  -an  reimen  dagegen  auf  a  und  ä :  Jordan  :  an  2867,  Volti- 
sian  :  an  4445,  :  hän  4491,  :  san  4435.  Solche  namen  hat  der 
dichter  also  offenbar  nach  bedürfnis  verwendet. 

Elyas  2603.  3597,  Jesaias  2861,  Micheas  3559,  Satanas 
3013  reimen  auf  was,  gegen  einmal  Satanas :  gas  der  Apoka- 
lypse.   Filat  ist  belegt  im  reim  auf  stät  1085,  tat  755.  4329. 


^)  Wie  z.  b.  bei  Jeroscbm,  Pfeiffer  s.  lvi. 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  149 

Die  e- laute. 

Im  bestand  der  vier  e-laute:  e,  e,  e,  m  ist  natürlich  manche 
Verschiebung  eingetreten;  dass  dieselben  jedoch,  wie  Amersbach 
angibt,  principiell  gar  nicht  mehr  auseinander  gehalten  würden, 
ist  ein  irrtum.  Im  gegenteil:  die  durchaus  reinen  reime  sind 
in  so  erdrückender  majorität  (ca.  80  6  :  e,  160  e  :  e,  4tb  ce  :  ce, 
60  e :  e),  dass  die  anderen  dagegen  völlig  verschwinden. 

Zu  den  reinen  e- reimen  sind  natürlich  alle  die  zwischen  e 
und  dem  jüngeren  umlauts-e  zu  stellen  (vgl.  Wilmanns,  Deutsche 
gramm.  1,  §  198  und  die  dort  verzeichnete  literatur):  ehte  (8) : 
rehte  729,  geslehte  :  ehte  4725,  :  rehte  1311.  1936.  4083.  4297. 
5295,  pfert :  wert  5039 ;  auch  erge  :  berge  547,  vgl.  Ehrismann, 
Beitr.  22,  291.  Daran  schliessen  sich  an  Schemen  ( :  nemen), 
das  auch  sonst  oft  auf  e  reimt  (vgl.  Lexer  2, 299  und  v.  Bahder, 
Grundlagen  des  nhd.  lautsystems  s.  107),  und  stete  ( :  tete)  79. 
279.  1181,  steten  {:  treten)  4851;  vgl.  Ehrismann  a. a. o.  s. 298  f. 

Umgekehrt  liegen  ebenfalls  reine  reime  vor  in  den  fällen, 
in  welchen  e  vor  g  und  st  bereits  gemeinmhd.  geschlossen  ge- 
sprochen wurde  (vgl.  Wilmanns  1,  §  197  anm.2):  gegene  :  we'gene 
2503,  begegenten  :  segenten  3471,  best :  nest  1911,  weste  :  beste 
4707,  besten  :  westen  21.  3171.  In  venie  :  menige  2373.  3575 
kann  wol  Übergang  von  e>  e  vor  i  vorliegen  ^  (vgl.  Kauff- 
mann,  Beitr.  13,  393,  weitere  literatui»  bei  Wilmanns  §  197); 
doch  ist  diese  annähme  nicht  nötig.  Da  es  für  v&nie  ein  reim- 
wort  mit  e  nicht  gibt,  so  ist  dieser  reim  eben  traditionell  ge- 
worden, wie  er  denn  oft  den  Charakter  eines  flickreims  hat. 
Er  steht  z.  b.  Erlösung  1129.  3351.  Lohengrin  6564.  Raben- 
schlacht (Martin,  Heldenbuch  2)  513.  Elisabeth  599.  716.  736. 
Ebernand  von  Erfurt  2841.  Heslers  Apokalypse  113  a.  Nur  aus 
dem  Md.  schachbuch  207, 17  ist  mir  eine  andere  reimbindung 
venjen  :  imdertenjen  bekannt. 

Darnach  bleiben  von  reimen  von  e  :  e  nur  noch  übrig: 
gewerp  :  derp  3367,  gewerhe  :  erbe  4169,  bert :  beschert  2033, 
merken  :  werken  763.  1709,    smern  :  nern  4703.    In  all  diesen 


*)  Schwerlich  menige  mit  offenem  e,  wie  in  der  Vorauer  hs.  der  Kehr, 
anzusetzen  ist,  vgl.  v.  Bahder,  Grundlagen  s.  106.  Ueber  den  reim  i  :  g  vgl. 
Ehrismann  a.  a.  o.  s.  295  und  Weinhold,  Mhd.  gr.  §  222.  Aus  der  Apokalypse 
sind  zu  vergleichen  die  reime  vortügen  ;  conciUen  hl,  145,  :  evangelien  bl.  148. 


150  HELM 

folgt  dem  e  ein  r  +  cons.,  vor  dieser  lautverbindung  findet  ein 
ausgedehnter  Übergang  vom  geschlossenen  zum  offenen  e-laut 
statt  (vgl.  Wilmanns  1,  §  199). 

Fremdes  kurzes  e  erscheint  nur  selten  im  reim,  teils  auf 
geschlossenes  e:  Egestin  :  westin  (s.  oben)  1823,  :  besten  1509, 
teils  auf  offenes:  Herodes  :  des  1397. 

Sehr  selten  sind  die  reime  von  e  :  e  (=  ce)^):  mere  :  mere 
3691,  serde  :  swerde  (ce)  3307,  veie  :  nete  (ce)  1967,  entßt  :  set 
2671.  In  V.  2565  ist  wol  mere  =  mcere  zu  lesen.  Der  conj. 
praet.  von  hän  reimt  auf  e  (=  ce)  :  stete  62.  4133,  crete  675, 
trete,  daneben  auch  auf  kurzes  e:  tete  2399.  3801.  5095. 

Diese  Seltenheit  lässt  erkennen,  dass  für  unseren  dichter 
der  Umlaut  von  ä  sich  mit  altem  e  nicht  deckt,  wenn  beide 
laute  sich  auch  ziemlich  nahe  standen.  In  weit  grösserem 
umfang  werden  e :  ce  gebunden  im  md.  buch  Hiob  (vgl. W.  Müller 
s.  13),  schon  seltener  bei  Jeroschin,  der  die  quantität,  wie  es 
scheint,  strenger  scheidet  als  die  qualität  (vgl.  Pfeiffer  s.  lvii). 
Bei  Ebemand  von  Erfurt  (Bechstein  s.  xx)  und  Heinrich  von 
Krolewitz  sind  diese  reime  ebenfalls  ziemlich  häufig.  Urnen 
stehen  aber  andere  dichter  aus  dem  ganzen  md.  gebiet  gegen- 
über, welche  gleich  Hesler  eine  abneigung  gegen  diese  reim- 
bindungen  haben;  vgl.  auch  v.  Bahder,  Grundlagen  s.  110  und 
Ehrismann,  Beitr.  22, 290.  Es  ist  nicht  notwendigerweise  darin 
ein  dialektisches  Charakteristikum  zu  erkennen,  vielmehr  wird 
oft  nur  der  grad  des  gefühls  für  reimreinheit  darin  zum  aus- 
druck  kommen. 

Einzelne  md.  mundarten  haben  heute  den  unterschied 
zwischen  e  und  ce  ganz  auf  gegeben,  2)  so  das  obersächsische, 
vgl.  W.  Braune,  Beitr.  13,  584.  Bei  Heinrich  von  Krolewitz 
kann  deshalb  wol  auch  schon  sehr  weitgehende  annäherung 
zwischen  e  und  ce  angesetzt  werden.  Andere  md.  dialekte 
dagegen  scheiden   e  und  ce  auch  heute  noch  streng:  e  als 


*)  So  nach  md.  Orthographie. 

2)  Hierzu  sind  auch  die  mundarten  zu  stellen,  die  e  und  ce  vermengen 
und  für  heide  je  nach  der  nachharschaft,  in  der  sie  sich  hefinden,  offenen 
oder  geschlossenen  laut  sprechen,  so  das  ruhlaische,  das  für  e  den  geschlos- 
senen laut  vor  r,  l,  m,  n  erhält  und  in  derselben  Stellung  auch  (b  in  e 
wandelt  (näheres  bei  Regel,  Ruhl.  mundart  s.  8).  Aehnlich  verhält  sich 
die  Stieger  mundart,  vgl.  Liesenberg,  Stieger  mundart  s.  21  und  26. 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  151 

geschlosseneu  und  m  als  offenen  laut;  das  schlesische  hat  ce 
zu  geschlossenem  e  gewandelt,  aber  gleichzeitig  altes  e  (und  oe) 
völlig  zu  i  verengt,  vgl.  Braune  a.  a.  o.  s.  574. 

Langes  fremdes  e  reimt  auf  e  und  e{(B):  Michahele  :  sele 
2581,  Neren  :  eren  4603,  sene  :  Nasarene  1799,  :  Cyrene  1571. 
Olivete  und  prophete  reimen  auf  hete  2228.  2653.  2883.  Das 
aus  -ehe-,  -ehe-,  -ehe-  contrahierte  e  wird  wie  altes  e  behandelt 
und  reimt  wie  dies  einzeln  auf  e  (=  ce). 

Ursprünglich  lange  und  kurze  6 -laute,  die  bei  Jeroschin 
sich  im  reim  oft  begegnen,  werden  bei  uns  selten  gebunden. 
Gar  nicht  belegt  ist  e :  e;  —  e:e  erscheint  in  er : mer  379,  worin 
wir  ein  zeugnis  der  früh  beginnenden  dehnung  des  pron.  er- 
blicken müssen  (Wilmanns  1,  §  246.  Weinhold  §  458).  Auch 
V.  4913  fasse  ich  als  her  :  mer  (nicht  her)-,  herre  reimt  auf 
verre  1541,  wie  auf  ere  4447,  der  zweite  reim  ist  der  specifisch 
mitteldeutsche  (vgl. Germ.  1 1, 150).  —  e:e  (=  ce) :  gezeme : vorleme 
353.  Hier  ist  im  zweiten  wort  gleichzeitig  dehnung  (vor  m, 
Wilmanns  §  243)  und  Verdrängung  des  geschlossenen  lautes 
dui'ch  den  offenen  in  anlehnung  an  ^lahm'  anzusetzen.  —  e:  e 
(==ce):  ledic  :  stcetic.  Der  reim  erklärt  sich  auf  grund  von 
dehnung.  Wenn  ledic  unter  dem  einfluss  des  Suffixes  geschlos- 
senes e  erhalten  hat  (Kauffmann,  Beitr.  13, 392),  so  wird  man 
denselben  wandel  auch  für  stcetic  als  möglich  anerkennen 
müssen. 

In  V.  2663  ist  gegen  Weinhold  §  51  geberde  ( :  erde),  nicht 
geberde  zu  lesen. 

i. 

Langes  i  ist  natürlich  monophthong.  Eeime  von  urspr. 
i :  i  sind  sin  :  sin  619  und  gezihte  :  Ithte  2275.  Der  erste  reim 
kann  nur  als  unrein  betrachtet  werden,  jedenfalls  kann  die 
dehnung,  die  Weinhold  §  72  annimmt,  nicht  fest  gewesen  sein, 
da  sonst  sin  stets  auf  kurzes  i  reimt.  Im  zweiten  reim  nehme 
ich  trotz  bthte  :  Ithte  1877.  4935  lihte  mit  kurzem  i  an,  das 
wol  auf  nd.  einfluss  zurückzuführen  ist;  vgl.  nd.  lihten. 

Sicher  als  kurz  hat  ursprüngliches  i  zu  gelten  in  den 
zweiten  compositionsgliedem  von  esterich  :  dich  781  und  itewis 
(:  iz)  1081,  itewizzen  :  bizzen  1963,  :  vlizzen  1815.  4793.  Ebenso 
reimt  stets  auf  kurzes  i  die  unflectierte  form  des  Suffixes  -lieh  : 
mich  575.  1055.  3097,  :  sich  199.  225.  271.  —  -liehe  und  -liehen 


152  HELM 

werden  dagegen  nur  mit  i  gebunden,  vgl.  v.  837.  1481.  3477. 
4191.  4219.0 

Fremdes  i  reimt  auf  i  (im  buch  Hiob  nur  auf  ie,  W.  Müller 
s.  17):  dri :  Levi  2681,  :  Herodi  1419,  vrie :  AromatUe  2249,  Ma- 
rien :  vrien  1885.  4997,  :  zihen  989,  sin  :  karin  2753.  2715.  3693, 
schinen  :  karinen  2731,  paradis  :  5I5  3663,  :  rfe  11.  119.  4061, 
:  wts  87,  :  prts  57.  1873. 

2)at;t^ :  quU  1615.  2037.  2303, :  strit  3163,  :  m^  5043,  stnten : 
Ty^en  4653. 

e  und  i. 

Die  speciell  md.  berührung  zwischen  e  und  i  ist  in  unserem 
gedieht  im  reim  nicht  häufig  zu  belegen.  Der  grund  dafür 
kann  ein  doppelter  sein.  Entweder  empfand  der  dichter  solche 
reime  entschieden  als  dialektisch  und  suchte  sie  deshalb  zu 
vermeiden,  oder  die  beiden  laute  hatten  sich  doch  nur  bis  zu 
einem  gewissen  grad  genähert,  ohne  aber  zusammengefallen 
zu  sein.  Zwischen  beiden  annahmen  zu  entscheiden  ist  un- 
möglich, wahrscheinlicher  scheint  mir  die  zweite. 

e  :  i  liegt  vor  in  belegen  :  besigen  2347,  e  :  i  in  pferden  : 
wirden  4855,  beschert :  birt  2033.  Nicht  beweiskräftig  ist  her- 
men  :  schirmen  541.  4927.  In  seht :  geschiht  kann  contractions- 
vocal  ie  vorliegen  (Weinh.  §  1 13).  vorjigen  :  swigen  2683  erklärt 
sich  durch  berührung  zwischen  e-  und  i- reihe  in  iehen,  vgl. 
V.  Bahder,  Germ.  30,  400.  Behaghel,  Pauls  Grundr.  1,  §  141,  4. 
werken  (inf.)  {:  merken)  735  ist  altes  werkan  statt  wirkian\ 
einem  as.  brengian  kann  brengen  entsprechen  in  brengen  :  vor- 
hengen  3871,  brenge  :  lenge  2163,  brenget  :  vorhenget  4811 
(Amersbach  1, 12.  Wülcker,  Vocalschwächung  s.  25.  W.  Grimm, 
Kl.  Schriften  3, 224).  Daneben  stehen  jedoch  auch  die  reime 
bring  :  ging  (imperativ)  771,  bringen  :  dingen  303.  841.  4635, 
bringet :  twinget  761.  5085. 

Während  in  den  Stammsilben  der  laut  sich  mehr  zum  e 


^)  Vgl.  ^emhold,  Mhd.  gr.  §  16.  Der  dort  gegebenen  zusammensteUnng 
ist  nachzutragen:  bei  Ebemand  v.  Erfurt  finden  sich  reimbelege  nur  für  % 
(s.  xxiv),  ebenso  reimt  das  Passional  (vgl.  41, 26.  42, 62.  131, 193),  das  buch 
Hiob  (W.  MüUer  s.  12),  Ludwigs  kreuzfahrt  (4932.  4948.  4966.  4996.  5232. 
5368),  die  Erlösung,  das  Md.  schachbuch  (Zs.  fda.  17, 386).  Im  Marienleben 
bruder  Philipps  sind  auch  reime  auf  i  häufig;  doch  reimen  dort  ebenso  wie 
in  der  Erlösung  auch  himelrich  294.  2514,  kumgrich  u.  s.  w.  auf  kurzes  ». 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  153 

neigte  (vgl.  auch  die  heutige  ausspräche  des  i  in  Norddeutsch- 
land, Wilmanns  1,  §  222),  herscht  in  den  flexionssilben  offenbar 
die  i-qualität  vor,  wie  der  reim  losen  :vr6  sin  zeigt;  ebenso 
kint  :  pergament  2831,  sint  :  tusent  5127,  vrides  :  Isidis  4567, 
Cruzes  :  lucis  3487,  Westen  :  iestin  1825;  —  hat  in  :  staten  2563, 
twang  in  :  gangen  1927  geben  über  die  lautqualität  keinen  auf- 
schluss.  Vgl.  auch  Ebernand  von  Erfurt,  akrostichon  v.  3421 
und  s.  XI.  Germ.  5, 489  ff.  6, 424  ff. 

0  und  6  sind  meist  =  gemeinmhd.  o,  6.  Dehnung  von  o 
ist  öfter  anzusetzen  vor  r  +  t;  vgl.  Weinhold  §  79.  Wilmanns 
§  247.  Ritzert,  Beitr.  23, 221  und  die  dort  citierten  paragraphen. 
gehört :  wort  1139.  3747, :  dort  929,  hörte  :  worte  2913,  :  vorQi)te 
695,  hörten  :  pforten  3075.  In  offener  silbe  stören :  bekoren  1485. 
In  V.  2415  boten:  roten  ('rot  werden' 0)  ist  im  zweiten  wort 
kürze  anzusetzen,  die  auch  sonst  im  reim  häufig  belegt  ist, 
vgl.  Lexer  2, 506.  Fremdes  o  vor  n  reimt  mit  ausnähme  von 
Symeon  (:von)  2879  stets  auf  ö:  Salomon  :  lön  1109,  Veronen  : 
lönen  4523,  Pharaöne  :  schöne  1175.  1327.  Der  dativ  auf  -o  ist 
nur  im  reim  auf  dö  belegt  1189.  4597.  3805.  behemot  reimt 
auf  got  253,  Enoch  auf  noch  2687. 

lieber  ö  =  w  und  ö  =  uo  s.  unten. 

ü  ist  natürlich  monophthong.  Nur  scheinbar  sind  aus- 
nahmen hüf:  besouf  8511,  :  touf  3003.  5263,  da  neben  hüf  ein 
altes  houf  einhergeht,  das  damit  im  ablaut  steht;  vgl.  auch 
Passional  115,78.  266,5  und  weitere  belege  bei  Lexer  1, 1376. 
Die  reime  süft :  guft  3305,  :  luft  3679  erklären  sich  wol  am 
einfachsten  durch  eintretende  kürze,  ebenso  auch  lüter  :  geluter 
267.  Als  beleg  für  die  kürze  darf  bei  luter  vielleicht  auch 
die  Orthographie  gelten,  da  die  hss.  S  und  G  übereinstimmend 
stets  lutter  mit  zwei  t  schreiben,  während  sie  sonst  doppel- 
consonanz  nach  langem  vocal  streng  vermeiden.  Luter  reimt 
ausserdem  nur  noch  auf  gekluter  3381,  gelutert :  geklütert  4157, 
das  im  Wb.  mit  langem  ü  angesetzt  wird.    Der  einzige  beleg 

*)  Ein  intr.  roten  =  ^sich  zusammenrotten',  an  das  man  an  dieser 
stelle  zur  not  auch  denken  könnte,  ist  mhd.  nicht  belegt. 


154  HELM 

für  langes  ü  sind  aber  die  reime  eben  auf  kfer,  und  solche 
sind  nur  in  md.  gedichten  anzutreffen,  wo  mit  der  kürze  von 
luter  zu  rechnen  ist.  Ich  glaube  deshalb,  dass  auch  in  geJcluter 
besser  kurzes  u  angesetzt  wird. 

Zu  suß  mit  kurzem  u  vgl.  auch  süffzen  bei  Luther,  Franke 
§  54.  Ohne  bedeutung  sind  neben  sus  :  Tiherius  4472,  :  Jesus 
3083.  3467.  4341,  hus  :  Jesus  2605,  die  reime  hüs :  Tiherius  4583, 
:  Nicodemus  3791.  Ihretwegen  die  endung  -us  (und  consequenter- 
weise  dann  auch  Jeus)  als  länge  anzusetzen,  wie  Amersbach 
tut,  ist  natürlich  falsch.  Die  vei-schiedenheit  erklärt  sich  da- 
raus, dass  der  dichter  die  fremde  endung  je  nach  bedürfnis 
braucht. 

0  und  u. 

Dem  Übergang  zwischen  e  und  i  entspricht  ein  solcher 
zwischen  o  und  u,  wobei  im  einzelnen  nicht  leicht  festzustellen 
ist,  ob  der  lautwert  o  oder  u  anzusetzen  ist.  Amersbach  setzt 
1, 13  vor  nasal  u,  vor  r  dagegen  o  an.  Zweifellos  ist  davon 
jedoch  nur  der  zweite  ansatz.  Mundartlich  ist  gerade  vor  r 
das  0  viel  weiter  verbreitet  als  die  Schriftsprache  es  anerkannt 
hat.  Auch  Luther  setzte  in  früherer  zeit  vor  r  +  cons.  stets  o, 
während  er  sich  allerdings  später  auf  die  fälle  beschränkt,  in 
denen  es  auch  im  nhd.  geblieben  ist ;  vgl.  v.  Bahder,  Grundlagen 
s.  193.  Reimbelege  sind  vorsten  :  getorsien  703;  in  antwurte  : 
gekörte  1431  kann  analogie  an  wort  den  lautlichen  Vorgang 
gestützt  haben. 

Anders  steht  es  aber  mit  dem  ansatz  von  u  vor  nasal. 
Vor  n,m  +  cons.  ist  allerdings  auf  dem  grössten  teil  des  mittel- 
deutschen u  fest;  nur  das  rhein-  und  mittelfränkische  haben 
auch  hier  o.  Vor  n,  nn  dagegen  überwiegt  o  durchaus  im 
ganzen  md.  gebiet,  während  vor  m,  mm  auch  öfter  u  geblieben 
ist,  vgl.  V.  Bahder,  Grundlagen  s.  187.  Wilmanns  1,  §  225. 

In  unserem  gedieht  haben  wir  nur  einen  einzigen  hierher- 
gehörigen reim:  kone  :  sune  733.  1313.  1483.  2105.  2693.  4805. 
Kone  ist  im  reim  auf  ein  anderes  wort  bei  uns  nicht  belegt, 
sun  nur  noch  auf  berun  3023  und  tuon  5321.  Keiner  dieser 
reime  kann  eine  entscheidung  bringen.  Namentlich  entbehrt 
sun  :  tuon  jeder  beweiskraft,  da  er  in  der  ganzen  mhd.  literatur 
als  literarischer  reim  weit  verbreitet  ist  (vgl.  Wolfram). 


HEINRICH  HBSLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  155 

ei, 

ei  ist  nie  neuer  diphthong  =  altem  i.  Es  steht  in  beide  : 
leide  1811.  3557.  4847.  4359,  :  weide  3.  1619,  beiden  :  leiden  1599. 
2123,  :  bescheiden  2763,  beider  :  cleider  811;  ebenso  in  js^wein  : 
ein  1437.  2171.  2492. 

Dazu  tritt  ein  neues  ei  aus  contraction  von  -ege-,  -age-. 
Da  es  sich  auf  die  formen  geseit  (:  -heit)  3417.  4007.  4631  und 
leiten  (:  bereiten)  2437  beschränkt,  so  ist  es  wol  als  rein  lite- 
rarisch zu  betrachten;  vgl.  H.  Fischer,  Zur  geschichte  des  mhd., 
Tübingen  1889. 

Ursprünglicher  diphthong  iu  ist  stets  durch  ü  vertreten; 
eine  Scheidung  in  ü  und  u  ist  nicht  zu  belegen  (Behaghel,  Pauls 
Grundr.  1,  §  59,  2);  suchen  (:  brüchen)  3029,  tüffe  (:  üife)  5385, 
für  (:  sür)  2021.  3197,  rüwen  (:  büwen)  3495,  (:  trüwen)  2521, 
nüwen  (:  büwen)  3767,  nüwet  (:  büwet)  5214.  5289,  (:  trüwet) 
891.  2379.  5307. 

Zu  kurzem  w  wird  dieses  ü  =  in  reduciert  in  frunt 
(:  gesunt)  1305.  2511,  (iJcunt)  2177,  frunden  (:  sunden)  2531, 
(:  ÄMwdew)  3807,  (:  Urkunden)  4081. 

(Vgl.  V.  Bahder,  Ein  vocalisches  problem  des  md.).  Als  laut- 
wert für  mhd.  ie  kann  dreierlei  in  betracht  kommen:  %  e  und 
diphthong. 

1)  t  kann  im  Ev.  Nie.  durch  keinen  reim  belegt  werden. 
Namentlich  ist  nicht  beizuziehen  v.  2293  tiere :  vtre,  da  hier 
dem  vocal  ein  r  folgt.  In  v.  3093  ist  wol  wiesen  :  biesen, 
nicht  btsen  zu  lesen;  vgl.  dagegen  Amersbach  1, 15. 

V.  5179  tiefel :  zwivel  kann  nicht  zum  beweis  herangezogen 
werden,  da  der  reim  als  literarisch  betrachtet  werden  muss^ 
und  als  solcher  auch  in  gedichten  vorkommt,  deren  dialekt  ie 
und  i  sicher  trennt,  z.  b.  Martina  179, 60. 

>)  Eine  andere  möglichkeit  liegt  indessen  hier  doch  noch  vor,  dass 
wir  nämlich  tuvel  lesen  müssen,  wie  auch  S  stets  schreibt.  Wir  müssten 
dann  in  zwivel  Verdunkelung  des  vocals  unter  einfluss  des  w  annehmen,  wie 
sie  für  kurz  i  in  v.  3299  zusehen  :  erliischen  belegt  ist.  Für  i  ist  diese  er- 
scheinung  freilich  nirgends  zu  stützen,  ausser  durch  das  auch  nicht  streng 
beweisende  kut  (=  guidit),  vgl.  Weinhold  §  227,  das  aber  bei  uns  nicht 


156  HELM 

In  der  Apokalypse  findet  sich  in  den  ersten  13400  versen 
nur  6in  reim  ie  :i:  0  6472  sis  :  verlies,  der  bei  dem  grossen  um- 
fang des  gedichtes  natürlich  nicht  ins  gewicht  fällt. 

2)  Für  e  kann  nur  ein  sehr  zweifelhafter  reim  angeführt 
werden:  1369  knete  (^kniete')  :  vlete.  Die  Apokalypse  bietet 
keinen  beleg  für  diesen  fall. 

3)  In  weitaus  den  meisten  fällen  wird  dagegen  ie  mit  sich 
selbst  gebunden:  im  Ev.  Nie.  110  mal  gegen  drei.  Die  laut- 
liche Sonderstellung  kann  dadurch  als  gesichert  gelten.  Ein 
directer  beweis,  dass  tatsächlich  noch  diphthong  anzusetzen 
ist,  ist  jedoch  nicht  zu  erbringen.  Die  reime  auf  i,  i  vor  r 
sind  unbrauchbar.  Ebenso  ist  diet :  geschiet  2309  nicht  zwin- 
gend, da  nicht  unbedingt  ie  angesetzt  werden  muss.  Bemerkens- 
wert sind  jedoch  einige  reime  der  Apokalypse.  Während  z.  b. 
im  Ev.  Nie.  spielen  auf  ziten  4965  und  siten  1517  reimt,  ist 
in  der  Apokalypse  bei  wthen  im  praet.  die  synkope  unter- 
blieben; die  betreffenden  formen  reimen  nie  auf  4t,  dagegen 
auf  diet  (:  gewiet  D  77  a)  und  diete  (:  wiete)  D  68  a. 

uo. 

Auch  hier  sind  dreierlei  lautwerte  denkbar:  ü,  6  und 
diphthong. 

1)  Für  ü  bietet  das  Ev.  Nie.  keinen  beleg;  ü :  uo  reimen 
nur  im  auslaut  (vgl.  v.  Bahder  a.  a.  o.  s.  35.  42) :  nu  :  vruo  2335. 
2571, :  zuo  1229.  Der  reim  sun  :  tuon  beweist  nichts  (vgl.  oben). 
Die  Apokalypse  hat  dagegen  fxiv  ü\uo  ebenso  wie  für  t  :  ie 
einen  reim  in  lüten  (=  Hüten)  :  hüten  {=^huoten)  D  92  b.  Die 
von  V.  Bahder  angeführten  reime  brütegum  :  ruom,  wtstuom  sind 
anders  zu  beurteilen,  da  in  ihnen  kurzes  u  vorliegt.  Zweifel- 
haft ist  die  erklärung  des  in  der  Apokalypse  sehr  häufigen 
reimes  mhit  {isiuhit)  :  bluot  83  b.  92  b,  :  guot  87  a,  tuot  74  c.  Man 
kann  hier  mt  lesen  oder  entsprechend  dem  obengenannten 
gewiet  auch  mit.    Im  reim  auf  -üt  ist  die  form  nicht  belegt. 

2)  An  reimen  von  uo  auf  6  zeigt  das  Ev.  Nie.  nur  einen: 
ruoren  :  stören  1837;  ausserdem  drei  auf  o  (kurz):  vuorten  :  be- 
kommt; vgl.  quit :  Davit  v.  1615  u.a.    Nur  einen  reim  aus  unserem  gedieht 

wtisste  ich  anzuführen,  der  für  unsere  auffassung  sprechen  kann:  v.  5283  be- 
swich  :  böchj  wenn  die  lesart  richtig  ist.  Danehen  steht  freilich  ein  reim  be- 
swich  :  gelich  3419.  —  Zu  tüvel  vgl.  Heinrich  v.  Krolewitz  4053  duJ>el :  w6e/. 


HEINRICH  HESLER8  EVANGELIUM  NICODEMI.  157 

horten  2765,  fuor  :  urbor  3881,  mochte  :  wrohte  3245.  Im  reim 
auf  fruo  kann  v.  2647  duo  gelesen  werden,  wenn  auch  die 
übliche  form  im  Ev.  sonst  do  ist,  vgl.  die  reime  auf  den  dat. 
lateinischer  Wörter  v.  673.  2551,  ausserdem  dö  :  frö  (adj.).  Die 
Apokalypse  zeigt  ebenfalls  einige  reime  auf  6,  nämlich  vuor : 
urhor,  zuo  :  16,  sehr  häufig  tuon  :  Ion,  und  armuot :  not,  :  vorböt. 
Unter  diesen  reimen  müssen  die  gesondert  betrachtet  werden, 
in  welchen  dem  vocal  ein  r  folgt.  In  dieser  Stellung  wird  6 
in  einzelnen  mitteldeutschen  gegenden  zu  ü  verengt,  vgl. 
Weinhold  §  114;  für  Veldeke  Behaghel  s.  lv;  für  den  hessischen 
dialekt  Behaghel,  Lit.-bl.  1880,  437. 

Dieser  Vorgang  war  gewis  nicht  nur  auf  den  westen  be- 
schränkt, sondern  erstreckte  sich  auf  weitere  strecken  Mittel- 
deutschlands, wenn  auch  der  resultierende  laut  nicht  überall 
der  gleiche  gewesen  sein  muss.  Jedenfalls  müssen  wir  für 
unser  gedieht  die  möglichkeit  der  Verengung  anerkennen. 

Ebenso  dürften  die  reime  auf  -ön  aufzufassen  sein.  Es 
bliebe  also  dann  nur  noch  übrig  armöt  ( :  not),  wo  das  ö  wol 
der  Stellung  in  nebentoniger  silbe  zuzuschreiben  ist  und  00 
( :  lö),  das  im  ganzen  md.  gebiet  abgesehen  vom  thüringischen 
einzeln  neben  zuo  zu  belegen  ist,  das  auch  bei  uns  in  erster 
linie  steht.  Vielleicht  ist  hier  im  vocal  einfluss  einer  benach- 
barten nd.  mundart  zu  erkennen. 

3)  Diphthongische  ausspräche  des  uo  ist  aus  dem  Ev.  Nie. 
nirgends  zu  erweisen,  wenn  es  auch  vorwiegend  mit  sich  selbst 
gebunden  wird.  In  der  Apokalypse  sind  es  die  erwähnten 
reime  auf  züit,  die  diphthongisch  gefasst  werden  können. 

Wir  erhalten  also  weder  für  ie  noch  für  uo  ein  völlig 
einheitliches  bild;  bei  beiden  zeigen  sich  nebeneinander  ver- 
schiedenartige sprachformen.  Als  grundcharakter  des  dialekts 
kann  aber  doch  die  lautliche  Sonderstellung  von  ie,  uo  be- 
trachtet werden,  die  durch  die  überwiegende  zahl  von  reimen 
gesichert  ist. 

n.  Consonanten. 

Die  consonanten  stehen  im  wesentlichen  auf  gemeinmhd- 
stufe.    Im  einzelnen  ist  zu  bemerken: 

a)  Labiale.  m6  ist  zu  mm  assimiliert:  dumme:  stumme 
335,  krummen :  stummen  745.  1231.  3117,   wammen  :  flamme^ 


158  HELM 

4180J)  —  Intervocalisches  fmit  b  im  reim  gebunden:  huoben : 
pruofen  5121;  vgl.  Apok.  0  8356  biever  :  lieber.  Dazu  stimmt 
auch  die  Orthographie  in  S:  höbe :  bischobe.  —  Verschiebung 
von  p  nach  r  zu  f  ist  gesichert  durch  scharf :  darf  283,  warf : 
darf  4589.  —  ft>  ht  in  mehtic  :  creftic. 

b)  Gutturale.  Ob  die  aus  -ege-,  -age-  contrahierten  ei 
(s.  oben)  lautlich  von  bedeutung  oder  rein  literarisch  sind,  muss 
dahingestellt  bleiben. 

Im  auslaut  reimt  g  :  c\  tac  :  smac  1961,  :  erschrac  4001, 
lac  :  smac  7.  123,  :  strac  1215,  :  schra^i  2369.  2595,  sJac  :  erschrac 
3065,  wec  :  flec  2209,  dranc  :  stanc  1245,  danc  :  sanc  3545. 

In  der  ableitungssilbe  -ic  ist  wie  schon  teilweise  im  ahd. 
(Jellinek,  Beitr.  15,  268  ff.)  spirans  anzusetzen:  unvellic  :  sich 
225,  vellic  :  sich  271,  Tcundic  :  sich  2511.  Ueber  die  erklärung 
dieser  in  den  heutigen  md.  mundarten  weit  verbreiteten  er- 
scheinung  vgl.  Behaghel,  Pauls  Grundr.  1,  §  103.  V.  235  ist  zu 
lesen  dahte  (zu  decken)  :  mähte.  Der  reim  patriarche  :  starke 
3165  ist  literarisch.  Grammatischer  Wechsel  h :  g  ist  zu  be- 
legen durch  gestigen  :  vorligen  4869,  sluog  :  genuog  4585,  :  truog 
533,  twuog  :  genuog  449  (vgl.  Braune,  Ahd.  gr.  §  346,  anm.  2). 

h  verstummt  nach  gemeinmd.  regel  1)  im  auslaut:  hö  : 
unvrö  3781,  sä  :  entwäQi)  444;  vgl.  Apokalypse  llld  bläsin  : 
nä  sin;  —  2)  nach  liquida:  bevolen  :  vorstolen  2281.  2359.  2445. 
5129,  :  erholen  3777,  :  dolen  621,  enpfolen  :  kolen  627,  bevelen  : 
Stelen  2273,  vorte  (vorhte)  :  horte  695;  —  3)  zwischen  vocalen: 
sten  :  len  4695,  :  ien  2179,  Cyrene  :  ze  sene  1570,  5^aw  :  slän 
3613,  :  5an  (=  sähen)  2661.  4013.  4303,  ^raw  :  hän  (hähen)  1465. 
4343,  äs  :  gäkes  4885,  awß  :  jse  entfäne  3021,  ^a^ :  slät  1064, 
w;ar  :  när  (näher)  2175.  2703,  W^^e  :  hoste  151.  1737,  JfaHen  : 
jsten  989;  —  4)  meist  fällt  h  endlich  in  niet  (:  diet)  395.  1651. 
1661.  2805.  5035,  (:  riet)  1588.  2007;  vgl.  Hertel,  Thüringischer 
Sprachschatz  s.  16. 

c)  Dentale.  Un verschobenes  t  findet  sich  in  dit :  trit  2220 ^ 
in  der  Apokalypse  findet  sich  auch  der  reim  di^i :  vorgiis  bl.97b; 
kurt  (:  geburt)  1003. 1735.  3386.  4911.  5387  kann  anders  erklärt 
werden.    Ueber  die  3  pl.  praes.  ohne  t  s.  unten. 


1)  Die  von  Amersbach  gegebenen  belege  zum  teil  nicht  beweisend, 
z.  b.  umme  :  krumme. 


HBiKßlCH  HBSLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  15Ö 

Eeime  zwischen  germanisch  j^  (d)  und  d  (t)  sind  sehr  selten: 
ledic  :  stcetic  5099,  sntden  :  zUen  4739.  Auch  in  fremdwörtem 
sind  d  und  t  scharf  geschieden:  frides  :  Isidis  4567,  striten  : 
Tyten  4653. 

Im  inlaut  nach  l  und  n  ist  stets  d  anzusetzen:  golde : 
wolde  3963.  4251.  4527,  schulde  :  dulde  133.  1713.  4345  (vgl. 
W.  Braune,  Ahd.  gr.  §  163,  anm.  6),  schuldic  :  geduldic  261. 1113. 
1369.  3655.  4313.  5082,  ander  :  wander  2611.  4037,  munde  : 
sunde  3573,  geJcundet  :  gesundet  1549.  Im  auslaut  dagegen 
herscht  t,  auch  nach  l  und  n:  schult  :  sult  727.  1039.  1165, 
:  erfult  1537.  1977.  4749,  nit  :  strtt  1351,  :  zU  319.  393.  3601, 
leit  (praet.)  :  arbeit  3825,  :  6ßmY  4429,  :  -hat  1675.  1791.  2495. 
5291  U.S.W. 

nd  :  nn  reimt  in  binnen  :  vinden  1914;  dagegen  ist  ein  reim 
ng :  nd,  der  dem  grössten  teil  der  md.  mundarten  entspräche 
(von  Hessen  bis  Schlesien,  vgl.  Behaghel,  Pauls  Grundr.  1,  §  131. 
Hertel,  Thiir.  Sprachschatz  s.  18)  weder  im  Ev.  Nie.  noch  in  der 
Apokalypse  belegt. 

Spirans  ^  :  s  reimen  in  neigen  :  weisen  4931. 

Auffallend  ist  der  reim  hajs  :  schat^s  501.  2447.  Ganz  aus- 
geschlossen ist  hier  natürlich  die  annähme  von  spirans  in 
schätz;  ebensowenig  glaube  ich,  dass  wir  in  diesem  reim  einen 
beleg  für  die  ansieht  erblicken  dürfen,  lautgesetzlich  sei  die 
Verschiebung  im  auslaut  nur  bis  zur  affricata  durchgedrungen. 
Zwei  möglichkeiten  bleiben  aber  noch  übrig.  Der  reim  könnte 
als  consonantisch  ungenau  gelten,  wogegen  an  sich  nichts  ein- 
zuwenden wäre,  als  das  bei  Hesler  direct  ausgesprochene  be- 
streben, reine  reime  zu  bilden  (s.  anh.).  Endlich  wäre  aber 
auch  möglich,  dass  wir  auch  hier  wider  nd.  elemente  vor  uns 
haben  und  demgemäss  hat :  sJcat  ansetzen^üssen. 

Synkopierung  tritt  ein  in  län :  getan  4835,  :  stän  5059,  last': 
hast  3569,  dazu  lie  :  hie  2669. 

d)  Liquidae  und  nasale.  Metathesis  des  r  wird  ge- 
sichert durch  wrohte  :  ruochte  3245.  Abfall  des  r  im  auslaut 
schwerer  einsilbiger  worte :  sä  :  entwä  443,  e  (adv.)  :  e  (subst.) 
893,  da  :  Äbda  2457,  :  Juda  609,  me  :  sne  2665.  3697,  :  i  737. 
1053.  2679.  3763.  5252.  5279.  Umgekehrt  ist  mer  belegt  im 
reim  auf  her  4481.  4579.  4913,  und  wol  auch  v.  379  auf  er. 

Verklingen  von  n  ist  durch  einige  reime  belegt:  urJcunde 


160  HELM 

(gen.  sg.)  :  frunden  2081,    were  (3.  sg.)  :  vorheren  (3.  pl.)  4255, 
veme  :  nemen  5067.    Fraglich  sind  v.  369.  821.  2051.  4387  u.  a. 

n  :  m  werden  gebunden  in  gereinet :  geheimet  3215. 

III.  Flexion. 

1)  Substantivum.  Apokope  des  e  im  dat.  sg.  der  starken 
masc.  und  neutra  ist  nur  in  gehorsam  :  stam  2025  anzutreffen. 
Dagegen  ist  das  e  gesichert  durch  schalke  :  Malke  611.  Nicht 
streng  beweisend  sind  Mnde  :  ich  finde  341.  1045,  jsorne  :  der 
verlorne  3247.  3381.  3459.  Wol  aber  muss  einer  beträchtlichen 
zahl  von  reimen  ohne  beweiskraft  aus  metrischen  gründen 
das  e  zuerkannt  werden. 

Amersbach  führt  als  beleg  noch  an  jse  hüs  :  clus  (dat). 
Wenn  nun  aber  auch  hüts  das  ursprüngliche  ist  (Braune,  Ahd. 
gr.  §  192,  anm.  7)  und  auch  im  mhd.  im  allgemeinen  vorwiegt, 
so  ist  doch  auch  hüse  häufig.  Man  könnte  deshalb  an  unserer 
stelle  unbedenklich  hüse  :  clüse  lesen. 

Die  pluralendung  -er  ist  selten;  im  reim  nur  belegt  in 
kinder  :  hinder  2835,  cleider  :  leider  1625.  4249,  meist  aber  reimt 
kint :  wint  1711.  3043.  3177,  kinden  :  winden  3883,  dorfen  :  ent- 
worfen 4395,  swert :  wert  5145,  landen  :  anden  961. 1337.  4671, 
geisten  :  meisten  5301,  :  leisten  3009.  4950. 

Von  hand  ist  sowol  die  ältere  form  der  w-declination  wie 
die  jüngere  der  i-declination  zu  belegen:  handen  :  landen  3919. 
4959,  :  erstanden  2537,  :  schänden  3993,  henden  :  wenden  3313. 

2)  Adjectivum.  Die  stark  flectierte  form  nach  dem 
bestimmten  artikel  ist  gesichert  in  v.  1902  möter  :  der  wol  goter. 
Selbstverständlich  ist  sie  beim  pron.  poss.  die  sine  (pl.)  :  Ka- 
rine 2753.  ^ 

3)  Pronomen.  Für  das  Personalpronomen  der  2.  p.  pl.  ist 
dat.  ü  gesichert  durch  ü  :  0e  du  877  und  ü  sint  :  tüsent  5127 
(derselbe  reim  auch  Apokalypse  D  77  b).  Die  3.  pers.  er  (:  mer) 
ist  nicht  streng  gesichert,  da  auch  he  :  me  gelesen  werden 
könnte.  Vom  demonstrativum  ist  nom.  sg.  der  belegt  im  reim 
auf  her  1471. 

4)  Verbum.  Praesens:  1.  pers.  sg.:  vernimeiime  1477, 
vreische  :  fleische  3233,  sende :  ende  361,  sage :  tage  1871.  Formen 
auf  -n  sind  nicht  zu  belegen  ausser  hän  (:  gän)  3935,  (:  sän)  713. 


HEINRICH  HESLEÄS  EVANGELIUM  NICODEMI.  l6l 

2.pers.  sg.:  vrdsches :  vleisches  282. 1985. 4035,  gehütes :  lütes 
3877,  Vorteiles :  heiles  (gen.sg.)  2051,  entwahes :  gahes  439.  Ebenso 
im  conj.  sts  :  wis  831.  2530.  2906  und  die  2.  pers.  des  schwachen 
praeteritums  hätes  :  rätes  2799.  Auf  -t  enden  natürlich  die 
praeteritopraesentia:  weist  :  geist  2643,  ebenso  tuost  (imuost) 
3667.  Auch  bist  und  3.  pers.  ist  sind  bei  uns  nur  mit  t  belegt. 
Die  Apokalypse  hat  neben  ist :  vrist  100  a  auch  vegefüris  :  sür 
is  99  a. 

1.  pers.  pl.  Für  den  abfall  des  -n,  -en  sind  keine  reim- 
belege anzuführen. 

2.  pers.  pl.:  gelouhet :  houhet  2771. 4967,  stt :  0it  4781.  In  der 
Apokalypse  daneben  auch  mugent :  tugent  66  a  und  öfter. 

3.  pers.  pl.  Durch  reime  ist  bei  uns  nur  die  endung  -en 
zu  belegen:  sprechen  :  durchstechen  (int)  4814,  wizzen  \gevli1s2en 
2739,  scheiden  :  velden  4791,  :  selten  4963,  leisten  :  geisten  2949, 
wollen  :  envollen  1083,  neigen  :  weisen  4931.  Nur  tuon  bildet 
auch  hier  eine  ausnähme:  tuont :  stuont  3703.  In  der  Apoka- 
lypse findet  sich  auch  tuon  (Amersbach  1, 20),  aber  auch  bei 
anderen  verben  die  endung  -ent:  reichent :  gezeichent  71a. 

Praeteritum:  2. pers.  sg.  gienge :  vienge  (3.  pers.  conj.)  662, 
were :  Romere  4347,  trete :  hete  3.  sg.  ind.  2825,  runge :  wustenunge 
1462,  fände  :  sunde  2829,  betrüge  :  luge  3415. 

Infinitiv.  Abfall  des  -n  ist  nur  in  «;eme  :  genemen  5067 
belegt.  Dagegen  finden  sich  viele  reime  zwischen  inf .  und  3.  pl., 
wodurch  ein  absolut  zwingender  beweis  für  erhaltung  des  -n 
allerdings  nicht  erbracht  wird. 

Die  flectierte  form  des  Infinitivs  auf  -ene  lässt  sich  eben- 
falls im  reim  nachweisen:  Cyrene  :  ze  sene  1572,  ttione  :  suone 
2099. 4129. 5321,  äne :  ze  entfäne  3021,  vorgebene  (adv.)  :  ze  lebene 
3969;  beginninne :  minne  313  (wahrscheinlich  synkope  beginne 
anzusetzen). 

Für  den  vocalismus  des  Stammes  gilt  folgendes: 

Im  praet.  und  part.  der  sw.  v.  ist  rückumlaut  regel  (vgl. 
oben).  Die  1.  pers.  praes.  der  starken  verba  11.  klasse  ist  nur 
mit  ü  (iu)  zu  belegen:  ich  lüge  :  ze  gezüge  1043.  4721.  In  der 
Apokalypse  dagegen  sind  auclv  formen  mit  dem  aus  dem  pl. 
und  inf.  eingedrungenen  ie  gesichert,  vgl.  Amersbach  1, 21. 
Kiese  v.  1062  ist  als  conj.  aufzufassen. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  W 


162  kELM 

Die  2.  und  3.  person  dieser  verba  zeigt  auch  in  der  Apo- 
kalypse nie  den  gebrochenen  vocal,  vgl.  mit :  bluot  u.  a. 

Erschrecken  st.  v.,  das  zur  4.  klasse  gestellt  wird,  bildet 
einen  pl.  praet.  nach  der  3.:  erschrucken  :  stucken  3293.  Ebenso 
findet  sich  von  irleschen  die  bisher  weder  ahd.  noch  mhd.  be- 
legte form  nach  der  3.  klasse:  irluschen  :  zusehen  3299. 

Einzelne  verba:  sol.  Ueber  die  a-  und  ö-formen  s.  oben. 
2.  pl.  sult :  erfult  1823. 

Wizizen.  Das  praet.  ist  durch  den  reim  in  dreierlei  form 
belegt:  weste  \  heste  21^  :veste4707,  westeniJesten  1825]  wiste: 
Criste  417.  773. 3231. 4229,  ipsalmiste  5045, :  geniste  3815;  wisse: 
gelichnisse  1702,  :  dusternisse  2879,  :  vorderhnisse  3377,  wissen : 
gewissen  5079;  —  conj.  praet.  wisse  :  abisse. 

Wil.  ß- formen:  welle  :  helle  1255,  wellet  :  stellet  4865; 
ö -formen:  wollen  :  vollen  1083.  1285. 

Gän  und  stän.  e-  und  a- formen  wechseln:  gän  :  hän  1465. 
3925,  :  getan  1451,  :  wän  5093;  gast :  hast  2897,  gät :  tat  1527, 
:  hat  3185;  stän  :  ^e^aw  65.  979.  1703.  3775.  5055;  stdt :  Pilat 
1085,  :  hat  1127.  2173.  4629.  4863;  gen  :  len  5119,  gre^ :  Set  2919, 
sten  :  len  4695,  :jen  2179;  5/e  :  ^  2735,  vorstend  :  5^nd  3758.  — 
Part.  perf.  gegän  :  gestän  787,  sonst  die  lange  form:  erstanden : 
Zawdew  2475.  2713,  :  banden  2707.  4009,  :  handen  2537,  :  grew;«»»- 
den  2725,  :  awdew  2587;  gegangen  :  gefangen  4665  ist  nicht  be- 
weisend. 

Haben.  Praes.  1.  sg.  hän  :  gän  3935,  :  getan  3027.  4473. 
:  Volusian  4491;  3.  pers.  sg.  stets  hat;  3.  pl.  hän  :  gän  2895,  :  ge- 
tan 875.  —  Inf.  hän  :  vän  3129,  aber  auch  die  lange  form,  z.  b. 
haben  :  graben  2251.  2291.  5091,  :  entsaben  1363;  ebenso  1.  pl. 
Äatm  :  begraben  (part.)  3673.  —  Praet.  häte  :  rate  1683.  4163, 
häten  :  m^m  3851  und  hete  :  trete  2825,  :  Olivete  2653,  %^^ : 
Propheten  569.  2227;  daneben  Äe^e  :  tete  2399,  Ae^ew  :  ^ei^e»  5095. 
In  der  bedeutung  ^festhalten'  einmal  gehabtes  (:  labtes)  2995. 

Sin,  Wesen,  Im  inf.  stehen  beide  formen  nebeneinander: 
sin  :  drin  567,  w^e^ew  :  genesen  2387.  3761.  4331.  5031,  :  lesen 
2477,  :  ^ßZe^ew  5337.  —  3.  pl.  ind.  sint :  kint  3177.  3043.  3715. 
4563:  4723.  5061.  5201,  :  bint  4033;  aber  auch  sin  :  in  807. 
3159,  :  min  3319,  :  schin  4767,  :  drin  2981.  3721. 


fifüNUlCfi  H£SLEttS  EVANGELIUM  ^ICÖD£MI.  16^ 

IV.  Apokope  und  synkope 

sind  auf  die  allgemein  mhd.  fälle  beschränkt;  nach  Z,  r  mit 
voraufgehendem  kurzen  vocal:  gehorn  :  zorn  1224,  :  dorn  2885, 
dar :  gar  693.  2452,  zwischen  zwei  t  in  der  verbalflexion:  ge- 
Stift :  Schrift  337,  hereit(et)en  :  leiten  2437.  Sonst  ist  sie  sehr 
selten;  vgl.  oben  über  den  dat.  Der  dialekt  des  dichters  stand 
offenbar  der  apokope  und  synkope  sehr  ablehnend  gegenüber; 
dieselben  dürfen  deshalb  nirgends  angesetzt  werden,  wo  sie 
nicht  direct  sichergestellt  sind.  So  wird  man  auch  ahe  lesen 
müssen,  das  bei  uns  nur  auf  oblique  casus  und  den  imperativ 
enthöbe  reimt  (2259.  2569.  2337.  4955);  ein  reim  wie  gap  :  ab 
(Apokal^67a)  findet  sich  bei  uns  nicht.  Ebenso  ist  wol  auch 
mite  (vgl.  V.  1853.  2821.  3723)  anzusetzen. 
Epithetisches  e  ist  nicht  zu  belegen. 

Wir  müssen  an  dieser  stelle  einen  augenblick  halt  machen 
und  uns  mit  der  frage  beschäftigen,  ob  in  der  tat  der  Verfasser 
unseres  gedichtes  mit  Heinrich  Hesler  identisch  ist.  Einstweilen 
wurde  dies  stillschweigend  vorausgesetzt,  da  die  allgemein  an- 
genommene theorie  m.  e.  durch  Amersbach  völlig  sichergestellt 
ist.  Als  das  ausschlaggebende  seiner  argumente  —  und  zwar 
das  einzig  ausschlaggebende;  denn  Übereinstimmung  in  technik 
und  spräche  bedingen  nicht  die  einheit  der  person  —  hat  er 
selbst  (2,21)  mit  recht  die  zahlreichen  stellen  bezeichnet,  in 
welchen  beide  gedichte  übereinstimmen.  Nun  ist  freilich  der 
fall,  dass  ein  nachahmer  seinem  vorbild  ganze  stellen  entnimmt, 
in  der  mhd.  literatur  nicht  so  selten,  wie  Amersbach  anzu- 
nehmen geneigt  ist.  So  hat  Heinrich  von  München  sich  ja 
nur  mit  fremden  federn  geschmückt,  der  Verfasser  des  ritter- 
romans  von  Friedrich  von  Schwaben  hat  aus  der  Heidin,  Laurin 
und  Walberan  und  namentlich  aus  Wolframs  Willehalm  grosse 
Partien  übernommen  (vgl.  L.  Voss,  Ueberlieferung  und  Verfasser- 
schaft des  mhd.  ritterromans  Fr.  v.  Schwaben  s.  41.  48.  51  ff.). 
Bei  uns  sind  aber  die  Übereinstimmungen  ganz  anderer  art. 
Es  handelt  sich  nicht  um  einige  grössere  stellen,  die  mehr  oder 
weniger  genau  aus  der  Apokalypse  herübergenommen  worden 
wären.  Es  sind  vielmehr  lauter  kleinere  Übereinstimmungen, 
zerstreut  durch  das  ganze  gedieht.    Und  diese  haben  nicht 

11* 


164 


ii£LM 


etwa  besonders  markanten  Inhalt,  im  gegenteil,  derselbe  ist 
durchaus  nicht  so  geartet,  dass  er  eine  so  ausgedehnte  wört- 
liche entlehnung  durch  einen  anderen  dichter  begünstigt  hätte. 
Dieselbe  wäre  nur  denkbar  bei  einem  nachahmer  der  die  aus- 
gesprochene absieht  gehabt  hätte,  den  leser  glauben  zu  machen, 
dass  Hesler  der  Verfasser  seines  gedichtes  sei,  —  und  der  es 
zugleich  verstanden  hätte,  seinem  vorbild  diction  *)  und  methode 
bis  in  ihre  kleinsten  einzelheiten  abzulauschen. 

Ich  verweise  für  die  Übereinstimmungen  auf  Amersbachs 
Zusammenstellungen  (2, 21 — 27)  und  beschränke  mich  auf  einige 
ergänzungen  aus  dem  teil  der  Apokalypse  der  Amersbach  un- 
bekannt blieb. 


EN  369 
die  vier  evangelisten 
schriben  uns  von  Criste 

3913  (3695) 
des  gedachte  er  im  vil  angen 

4931  (4713) 
und  die  witewen  und  weisen 
und  die  gotes  hus  hie  neizen 

5065  (4863) 
swer  der  sinne  weidet 
daz  er  den  dieb  heldet 

2047 
vgl.  Amersbach  s.  26  unten. 


2877  (2667) 
von  got  Jesu  Criste 
den  ich  her  kunftic  wiste 

3198  (2984) 
da  e  die  wonunge  sur 

3822  (3606) 
do  enhet  er  niht  wan  den  tot 
gewis  an  sineme  tröste 


Apok.  (Danziger  hs.)  67  c 
die  vier  evangeUsten 
schriben  von  Jesu  Criste 

64b 
des  gedenke  dir  niht  angen 

81a 
und  die  cristenheit  hie  neizen 
und  die  witewen  und  die  weisen 
und  goteshus  berouben. 

71a 
swelich  man  des  sinnes  weidet 
daz  er  die  zwei  wol  heldet. 

76  a 
dise  wort  muz  ich  duten 
unvernunftigen  luten 

85a 
diz  muz  ich  baz  beduten 
unvomunftigen  luten. 

87a 
Patriarchen  und  wissagen 
die  got  hier  kunftic  wisten. 

98  b 
wen  die  wonunge  ist  da  sur 

108d 
sie  enhan  dort  niht  so  gewisses 
kuninges  als  den  engel. 


*)  Welchen  wert  dieser  ausgesprochene  stil  für  die  entscheidung  über 
die  echtheit  fraglicher  partien  hat,  zeigte  sich  schon  öfters. 


J 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  165 

EN  4917  (4699)  Apok.  85  c 

die  nideren  und  die  hosten,  den  besseren  noch  den  hosten 

die  besten  und  die  hosten.  den  nidersten  noch  den  hosten. 

Zu  den  redewendungen,  mit  denen  einzelne  abschnitte  ab- 
geschlossen werden,  vgl.  noch  Apok.  73c  hie  mujs  ich  wider 
wandern,  79  c  da  laz  ich  die  rede  wesen,  112  c  da  mite  si  daz 
hingeleity  114  c  da  mite  si  daz  verant 

Die  anderen  argumente  sind  erst  secundärer  art,  sie  be- 
weisen an  sich  nichts,  sind  aber  allerdings  unerlässliche  Voraus- 
setzungen. Fänden  sich  zwischen  der  spräche  der  Apokalypse 
und  des  Ev.  unlösbare  Widersprüche,  so  fiele  damit  trotz  allem 
die  ganze  theorie.  Nun  bestehen  ja  allerdings  einige  differenzen, 
die  an  den  betreffenden  stellen  bereits  angegeben  wurden. 
Ihre  erklärung  finden  diese  aber  ungezwungen  auf  dieselbe 
weise,  wie  die  schon  besprochene  doppelheit  sal — sol\  sie  be- 
ruhen auf  einem  verschieden  starken  hervortreten  des  dialek- 
tischen Clements,  neben  dem  der  dichter  auch  reichlich  andere 
formen  anwendete,  die  seinem  dialekt  zwar  nicht  angehören, 
ihm  aber  durch  die  literarische  production  geläufig  waren. 

Der  sichere  beleg  einer  dialektischen  form  in  nur  einem 
der  gedichte  Heslers  ist  deshalb  nicht  minder  wertvoll  für  die 
fixierung  des  dialektes.  Wir  können  darnach  die  ergebnisse, 
die  wir  aus  dem  Ev.  Nie.  gewonnen  haben,  aus  der  Apokalypse 
in  einigen  punkten  ergänzen. 

1.  Vereinzelt  findet  sich  e  für  ei  (Amersbach  1, 14),  z.  b. 
wenig :  enig, 

2.  Contractionsvocale  d  aus  äwe  in  län  =  läwen,  Amersb. 
1, 14,  und  i  aus  ihi  in  git :  zit,  Amersb.  1, 15. 

3.  Die  in  S  im  versinnern  belegte  form  hogen  zeigt  die 
Apokalypse  auch  im  reim. 

4.  Assimilation  hs  >  ss:  71  d  von  des  heiligen  geistes  wamsen : 
geworden  zu  einer  massen. 

5.  Epenthetisches  d  beim  Infinitiv,  vgl.  Amersb.  1, 21. 

B.   Heimat  des  gediohtes. 

Versuchen  wir  zunächst  die  heimat  unseres  gedichtes  zu 
ergründen  an  der  band  dessen  was  wir  über  den  Verfasser 
wissen.  Bekannt  ist  von  diesem  nur  der  name.  Er  nennt 
sich  Apok.  154  Heinrich  heiz  ich  mines  rehten  namen  Hesler 


166  HELM 

ist  min  hus  genant,  und  ebenso  in  dem  dritten  seiner  werke, 
dessen  reste  Heinemann  Zs.  fda.  32, 111  ff.  und  Steinmayer  ebda. 
s.  446  ff.  veröffentlichten:  v.  60  ...  die  werden  irkennen  mich  \ 
unde  wiesen  daz  ich  Heinrich  \  von  Hasiliere  bin  genant.  Auf 
grund  dieser  angäbe  hat  zuerst  K.  Eoth  in  seinen  Beiträgen 
zur  deutschen  spräche  1 — 10  s.  lvi  auf  Burghäsler  westlich  von 
Naumburg  als  die  heimat  Heslers  hingewiesen,  und  dies  ist 
allgemein,  auch  von  Amersbach,  acceptiert  worden;  vgl.  auch 
Behaghel,  Zs.  fda.  22, 136.  Aber  die  annähme  ist  nicht  zwin- 
gend. Adlige  familien  des  namens  Hesler,  Heseler  begegnen 
uns  im  laufe  der  zeit  mehrere. 

Eine  familie  Heseler  findet  sich  unter  dem  schlesischen 
adel  des  fürstentums  Liegnitz  (Siebmacher  6^,  tat  32).  Wir  sind 
über  sie  leider  nur  sehr  schlecht  unterrichtet,  da  wir  erst 
aus  der  zweiten  hälfte  des  14.  jh.'s  glieder  derselben  kennen. 
Ueber  ihren  Ursprung  und  herkunft  wissen  wir  nichts,  es  ist 
nicht  unmöglich,  dass  sie  ein  erst  im  14.  jh.  nach  Schlesien 
eingewanderter  zweig  einer  der  noch  zu  nennenden  geschlech- 
ter ist. 

Eines  derselben,  ebenfalls  Heseler  genannt  (vgl.  Siebmacher 
6«,  taf.  44)  war  im  stifte  Merseburg  ansässig,  mit  dem  Stamm- 
sitz Oberwünsch.  Dasselbe  erlosch  im  16.  jh.,  kann  aber  mit 
Sicherheit  nicht  weiter  als  ins  14.  jh.  zurück  verfolgt  werden. 

Die  dritte  familie  ist  die  von  Roth  gemeinte.  Sie  hat 
aber  mit  den  jetzigen  grafen  Häseler  nichts  zu  tun.  Diese 
stammen  vielmehr  von  zwei  brüdern  ab,  welche  aus  dem  mag- 
deburgischen einwandernd  das  kloster  Hesler  erwarben  und 
im  jähre  1733  den  adel  erhielten,^)  da  das  alte  geschlecht 
längst  erloschen  war  (Siebmacher  3  *,  taf.  11).  Dieses  selbst 
stammte  von  Heinrich  von  Burkersroda,  der  1239  bürg  und 
kloster  Hesler  im  heutigen  kreis  Eckartsberga  bei  Naumburg 
erwarb.  Seine  söhne  nannten  sich  zueilst  Hessler  (Siebm.  3*^, 
taf.  216).  Nachrichten  über  die  familie  finden  sich  namentlich 
in  Val.  Königs  Genealogischer  adelshistorie  oder  geschlechts- 
beschreibung  der  adeligen  geschlechter  in  Chursachsen  (1727— 
1736).  Daraus  sind  auch  die  angaben  in  Zedlers  Universal- 
lexikon geschöpft.    Die  dort  gegebene  genealogie  lässt  sich 

^)  Der  grafentitel  stammt  aus  dem  jähre  1790. 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  167 

freilich  nicht  halten,  da  nach  ihr  je  drei  generationen  zwei 
Jahrhunderte  umfassen.  Belegt  ist  ausser  dem  gründer  Heinrich 
von  B.,  der  natürlich  als  Verfasser  unseres  gedichts  gar  nicht 
in  betracht  kommen  kann,  noch  ein  Heinrich  Hesler  als  iudex 
et  assessor  zu  Gosserstädt  1264,  der  wol  ein  söhn  des  gründers 
der  familie  war.  Seiner  lebenszeit  nach  könnte  er  als  Ver- 
fasser unseres  gedichts  eventuell  in  betracht  kommen.  Er 
müsste  es  dann  in  höherem  alter  verfasst  haben. 

Ein  Heinrich  Hesler  wird  nach  Zedlers  angäbe  als  mini- 
steriale  des  landgrafen  Hermann  von  Thüringen  erwähnt.  Da 
die  familie  seit  1239  die  bürg  Hesler  besass  und  landgraf 
Hermann  erst  1241  starb,  so  kann  dieser  Hesler  mit  dem  vor- 
genannten identisch  sein.  Als  Verfasser  wäre  derselbe  dann 
aber  auszuschliessen.  Leider  ist  es  unmöglich,  Zedlers  notiz 
zu  prüfen  oder  festzustellen  auf  welches  jähr  sie  sich  bezieht; 
es  ist  jedenfalls  aber  die  möglichkeit  im  äuge  zu  behalten, 
dass  der  ministeriale  Heinr.  Hesler  noch  gar  nicht  dieser 
familie  angehört,  sondern  vielleicht  einer  älteren,  nach  deren 
erlöschen  H.  von  Burkersroda  erst  Burghesler  erwarb. 

Zwei  weitere  Heinrich  v.  Hesler  sind  endlich  1391  erwähnt, 
davon  der  eine  als  clericus  in  einem  briefe  des  klosters  Peters- 
berg bei  Eisenberg.  Beide  sind  ihrer  lebenszeit  nach  schon 
ausgeschlossen,  der  eine  übrigens  auch  als  geistlicher;  vgl. 
Amersbach  2,  28  f. 

Nicht  in  betracht  kommen  die  Haseler  von  Huttenpfühl 
(Siebmacher  6*,  taf.  19),  die  im  17.  jh.  in  Brandenburg  sind  und 
1745  erloschen.  Sie  können  nicht  in  so  alte  zeit  zurückverfolgt 
werden,  und  waren  überdies  eine  süddeutsche  familie. 

Gelingt  es  also  nicht,  einen  Heinrich  v.  Hesler  historisch 
sicher  nachzuweisen,  der  der  Verfasser  unseres  gedichts  sein 
könnte,  so  steht  es  andererseits  auch  gar  nicht  fest,  dass  H. 
wirklich  adligen  Standes  gewesen  ist.  Weder  seine  ausdrucks- 
weise in  der  Apokalypse  noch  in  den  fragmenten  nötigt  dazu; 
die  folgenden  äusserungen  gegen  fürsten  und  hen-^n  im  Ev. 
Nie.  sprechen  dagegen  entschieden  für  bürgerlichen  stand. 

V.  4868  (4650) 

dajs  merket  an  üwerem  mote  daz  ir  so  böge  sit  gestegen 

durch  waz  dese  ere  ü  si  vorlegen,        über  üwer  sippeteile. 


168  HELM 

V.  4831  (4663) 
wint  ir  daz  von  adele  und  ein  also  wormich  äs 

dese  §re  an  ü  wadele  nnd  irsterbet  also  gia, 

oder  von  angebornen  werden!  also  die  bittende  armen, 

ja  Sit  ir  also  vül  erden 

V.  4898  (4680) 

wir  beten  doch  al  einen  vater  alle  glich  eben  her, 

und  eine  mdter  allentsam  oder  der  vater  der  was  m^r 

da  die  menscheit  abe  quam:  ein  höe  und  ein  nidere. 

vrowen  Even  und  Adamen.  da  von    0 

von  der  zweier  Itchn&men  die  nideren  und  die  hosten, 

so  si  wir  al  geliche,  die  besten  und  die  hosten, 

arme  unde  riebe,  die  werden  und  die  unwerden 

ze  der  werlde  gekomen.  sin  komen  zuo  der  erden, 

ich  hän  daz  niergen  vomomeu,  oder  uns  ist  gewalt  gesehen. 

—  man  ruofe  daz  man  ruofe  —  daz  soldet  ir  herren  ane  s^n 

daz  got  ie  m^r  gescuofe  und  soldet  gote  des  sagen  danc, 

wen  Even  und  Adamen,  daz  wir  sin  under  ü  so  cranc 

da,  von  wir  alle  quämen.  daz  wir  ü  ze  den  vuozen  ligen 

daz  ist  lanc  oder  kort:  und  ir  sit  über  uns  gestigen.*) 
wer  sin  an  der  gebort 

Gehörte  aber  Hesler  einem  bürgerlichen  geschlechte  2)  an, 
so  schwindet  jede  hoffnung,  ihn  auf  grund  seines  namens 
localisieren  zu  können,  vollständig.  Die  möglichkeit  des  Vor- 
kommens des  namens  Heseler,  Hesler  ist  unbegrenzt.  In 
ganz  Deutschland  gibt  es  Ortsnamen,  die  von  Hasel  abgeleitet 
sind;  es  ist  nicht  abzusehen,  weshalb  die  familiennamen  gleicher 
herkunft  auf  ein  kleines  gebiet  beschränkt  sein  sollten.  In 
Mecklenburg  ist  z.  b.  eine  familie  Hesler  bezeugt  durch  Ger- 
hard H.,  bürger  in  Rostock  1275.  1283,  Alexander  H.  capitanus 
in  Warnemünde  1302  und  Hermann  H.,  bürger  in  Rostock  1338. 
1348.  1350;  vgl.  Mecklenburgisches  urkundenbuch,  index  1 — L 
5—12. 

Wir  werden  demnach  darauf  zurückgewiesen,  zu  versuchen, 
ob  sich  aus  der  spräche  allein  merkmale  für  die  heimat  des 
gedichtes  ergeben. 

*)  Der  vers  in  G  ganz  verdorben :  so  bin  ich  tcorden  irre.  S  schreibt 
da  von  der  wnde  genere;  doch  halte  ich  dies  nur  für  einen  versuch,  die 
stelle,  die  der  Schreiber  schon  nicht  verstand,  verständlich  zu  machen.  Ich 
vermute  im  original  ein  iedewedere. 

2)  Dass  Hesler  nicht  ein  geistlicher,  sondern  ein  laie  war,  hat  Amers- 
bach  2, 30  ff.  auf  grund  einiger  stellen  der  Apokalypse  nachgewiesen. 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM   NICODEMI.  169 

Die  weitaus  überwiegende  mehrheit  der  aus  den  reimen 
zu  erschliessenden  sprachlichen  tatsachen  sind  gemeinmittel- 
deutsch  und  können  zu  einer  engeren  localisierung  nichts  bei- 
tragen. Wechsel  zwischen  e  und  i,  o  und  u,  vereinzeltes  un- 
verschobenes  t  in  dity  die  contrahierten  verbalformen  fan,  sen, 
doppelformen  wie  gän,gen,  stän,sten,  weste  —  wiste  —  wisse  u.  a. 
sind  an  keine  bestimmte  gegend  gebunden.  Ausserdem  muss 
stets  mit  dem  eindringen  literarischer  formen  gerechnet  werden. 
Einige  enger  zu  begrenzende  dialektische  eigenheiten  sind 
aber  doch  zu  finden,  und  es  fragt  sich  nun:  kann  darnach  die 
bisher  angenommene  thüringische  heimat  des  dichters  als  mög- 
lich oder  wahrscheinlich  erwiesen  werden?  Amersbach  bejaht 
die  frage,  indem  er  sich  auf  die  reime  engrame  :  namen  (Apok.) 
und  veme  :  nemen  Ev.  Nie.  5067  beruft.  Beide  reime  sind  aber 
ganz  verschiedener  natur.  Charakteristisch  für  Thüringen  wäre 
nur  der  zweite  mit  verklingen  des  n  im  inf .  Aber  auch  dieser 
nur,  wenn  er  nicht  der  einzige  seiner  art  wäre;  in  sämmtlichen 
nach  Thüringen  gehörenden  denkmälern  zeigen  sich  die  apo- 
kopierten  Infinitive  in  grosser  zahl.*)  Ebernands  von  Erfurt 
Heinrich  und  Kunigunde  hat  auf  2375  reimpaaren  79  mit  In- 
finitiv auf  -e  (zum  teil  zusammengestellt  von  Bechstein  in  der 
ausgäbe  s.  xxi  f.).  *Daz  brechen  leit'  (Bartsch,  Md.  gedichte 
no.  3)  hat  unter  134  reimpaaren  8  solcher.  Des  alten  weibes 
list  unter  228  sogar  26  (ebda.  no.  4).  Die  Pommersfelder  hs., 
die  auch  die  beiden  letztgenannten  gedichte  enthält,  schreibt 
auch  im  versinnern  sehr  häufig  die  apokopierten  infinitive,  so 
in  der  Heidin  v.  45.  315.  545.  548.  584.  701.  749.  809.  856.  925. 
1084. 1097.  In  Joh.  Rothes  werken  sind  die  infinitive  ohne  -n 
ebenfalls  sehr  zahlreich.  Im  gedieht  Von  der  stete  ampten 
und  der  fursten  ratgeben  stehen  69  solcher  reime  auf  646 
reimpaare.  Im  Ritterspiegel  stehen  705  infinitive  im  reim. 
Von  diesen  reimen  242  untereinander,  von  den  übrigen  463 
reimen  rund  100  mit  -e,  die  übrigen  auf  -n  oder  sind  zweifel- 
haft (z.  b.  ich  schenke  :  gedenken  v.  4050).  Noch  mehr  über- 
wiegen die  apokopierten  infinitive  in  StoUes  Thür.  chronik  (hg. 
von  Hesse).    Dort  finden  sich  auf  den  selten  l — 24.  101 — 108. 

^)  Es  handelt  sich  natürlich  nur  um  den  nominativ  des  Infinitivs.   Die 
flectierte  form  {ze  sehene  >  ze  sehen)  hat  natürlich  das  -n  erhalten. 


170  HELM 

141 — 150.  210  bis  schluss  ca.  250  inflnitive  ohne  -n  gegen  ca. 
200  mit  -w;  von  letzteren  ist  aber  etwa  die  hälfte  in  abrech- 
nung  zu  bringen,  da  sie  nach  dem  syntaktischen  Zusammen- 
hang die  flectierte  form  des  infinitivs  repräsentieren  (s.  oben 
anmerk.). 

Die  Urkunden  sind  in  diesem  punkte  sehr  verschieden.  Die 
der  Vögte  zu  Plauen,  Gera  und  Weida  (Thüringische  geschichts- 
quellen  bd.  5)  zeigen  nur  wenige  fälle.  Die  landgräflichen 
halten  sich  von  diesen  dialektformen  ebenfalls  fast  ganz  frei 
mit  ausnähme  einiger  der  verwitweten  landgräfln  Elisabeth, 
datiert  Gotha  15. 10.  1331  und  24.  4.  1332  (im  Urkundenbuch 
der  Stadt  Jena,  Thür.  geschieh tsquellen  6,  no.  146  und  150),  die 
je  7  apokopierte  Infinitive  aufweisen. 

Andere  Urkunden,  die  mehr  local  gefärbt  sind,  bieten  da- 
gegen eine  reiche  auswahl  dieser  formen.  Die  städtischen 
Urkunden  wiegen  unter  diesen  naturgemäss  vor,  doch  sind 
auch  andere  in  ziemlicher  zahl  darunter.  Einige  beispiele  aus 
dem  Urkundenbuch  von  Arnstadt  (Thüring.  geschichtsquellen 
bd.  4)  mögen  dies  bestätigen.  No.  87  vom  12. 1.  1322  (ver- 
gleich zwischen  Arnstadt  und  Erfurt  wegen  der  über  die  Juden 
obwaltenden  Streitigkeiten)  hat  7  infinitive  ohne  -n,  no.  118. 
119  vom  14.  2. 1332  (vertrag  zwischen  dem  abt  von  Hersfeld 
und  den  grafen  von  Schwarzburg  über  den  verkauf  der  Stadt 
Arnstadt  hersfeldischen  teils)  haben  zusammen  12,  no.  142  vom 
17.  3. 1343  (vertrag  zwischen  dem  grafen  von  Schwarzburg  und 
denen  von  Orlamünde  wegen  Zusammenlegung  ihrer  herschaften) 
15,  no.  147  vom  11.  5. 1347  (vertrag  zwischen  den  grafen  von 
Schwarzburg  über  die  teilung  von  Arnstadt)  ebenfalls  15,  no.l52 
vom  13.  5. 1350  dat.  Erfurt  (vertrag  wegen  des  nachlasses  des 
verstorbenen  königs  Günther  von  Schwarzburg)  30,  no.  156  vom 
26.  2. 1352  (innungsordnung  des  schmiedehandwerks  zu  Arn- 
stadt) 14,  no.  241  vom  9.  2. 1395  (vertrag  zwischen  Bertold 
Alkersleben  und  Kunne  Meydel)  trotz  des  geringen  umfangs  7. 
Im  allgemeinen  werden  die  apokopierten  infinitive  seltener, 
je  jünger  die  Urkunde  ist,  doch  hat  z.  b.  no.  812  vom  16.  7. 
1487  (innungsartikel  des  böttcherhandwerks)  noch  20  derselben. 

Die  heutigen  Verhältnisse  bestätigen  aufs  beste  das  aus  den 
alten  denkmälern  gewonnene  resultat.  Im  ruhlaischen  z.  b. 
begegnen  uns  zwei  inflnitivf ormen  (vgl.  Eegel,  Euhlasche  mundart 


HEINRICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  171 

s.  100  ff.):  eine  endungslose  und  eine  mit  erhaltener  endung. 
Erstere,  die  nach  den  hilfsverben  wollen,  sollen,  müssen,  dürfen 
steht  und  durch  praefix  ge-  verstärkt ')  auch  nach  können  und 
mögen,  ist  die  normale  form  des  infinitivs.  Die  zweite  steht 
in  Verbindung  mit  0u,  nach  den  verben  bleiben  und  werden 
und  bei  den  verben  der  sinnlichen  Wahrnehmung  wie  sehen, 
hören,  wenn  sie  nachstehen.  Diese  zweite  form  repräsentiert 
also  teils  die  alte  flectierte  infinitivform  (nach  ^u),  teils  ein 
ursprüngliches  part.  praes.  (er  wirt  weinende  u.  dgl.).  Ganz  die- 
selbe Verteilung  findet  sich  bei  Joh.  Eothe.  Und  wie  im  ruhla- 
ischen,  so  verhält  es  sich  auch  in  den  übrigen  thüringischen 
mundarten.  Für  Nordthüringen  vergleiche  man  Mart.  Schnitze, 
Idiotikon  der  nordthür.  mundart  s.  12  f.  E.  Pasch,  Altenburger 
bauemdeutsch  s.41  gibt  nur  den  abfall  des  inf.  -w  an,  doch 
werden  seine  angaben  kaum  als  erschöpfend  betrachtet  werden 
dürfen:  s.  44  bemerkt  er  wenigstens,  dass  der  substantivierte 
infinitiv  das  -n  behält.  K.  Schöppe,  Naumburgs  mundart,  gibt 
ebenfalls  s.  10  nur  die  kurze  regel,  der  naumburgische  infinitiv 
habe  kein  -n.  Aber  in  der  textprobe  s.  55  ff.  finden  sich  neben 
ässe  (essen),  du  (tun)  u.  a.  gerade  wie  im  ruhlaischen:  gäbbt 
dachch  emal  mein  sone  e  bar  ganze  schdiweln  ahnzezihn]  ich 
hadde  gedacht  ich  wärrdn  nich  widder  ze  sän  grihche.  Für 
das  übrige  Thüringen  vergleiche  man  Hertel,  Thüringischer 
Sprachschatz;  z.  b.  Ebeleben  (s.  40ff.)  ha  wul  ufgd  (er  wolle 
aufgeben),  aber  nischt  zum  lachen;  Erfurt  (s.  42)  kome,  aber 
lijis  ze  waren  (los  zu  werden);  Nordhausen  (s.  43)  ich  wils 
dich  ängeSdriche,  ene  kü  ufzu fressen!  Eudolstadt  (s.  46)  wolde 
name  (nehmen),  aber  ze  machen, 

Ueber  die  grenze  -enj-e  sind  zu  vergleichen  Wredes  be- 
richte Anz.  fda.  19  und  20  unter  sitzen  und  machen  (zum  teil 
ist  sie  auch  angegeben  auf  der  karte  Zs.  fda.  39, 280),  Je  cht, 
Die  grenzen  der  Mansfelder  mundart,  Zs.  des  Harzvereins  20, 96. 
Behaghel,  Pauls  Grundr.  1,  §  100.    Weitere  angaben  siehe  bei 


*)  Diesen  verstärkten  inf.  als  eine  dritte  form  den  beiden  anderen 
gleichwertig  zur  seite  zu  stellen,  wie  Regel  tut,  halte  ich  nicht  für 
glücklich.  Folgerichtig  müsste  er  dann  auch  beim  inf.  mit  endung  die 
zwei  aUerdings  lautlich  zusammenfallenden,  aber  ihrem  Ursprung  nach  ver- 
schiedenen formen  als  zweierlei  kategorien  auseinander  halten. 


172  HELM 

C.  Franke,  Veterbuch  s.  73.   Braune,  Ahd.  gr.  §  126,  anm.  2,  und 
speciell  fürs  ostfränkische  Ehrismann,  Beitr.  22, 297. 

Allerdings  sind  Infinitive  ohne  n  auch  in  anderen  gegenden 
zu  finden,  in  Oesterreich  (Seifr.  Helbl.,  hg.  v.  Seemüller  s.  xxn), 
in  Hessen,  vgl.  Bartsch  zu  Erlösung  v.  2768,  im  Passional  und 
im  Veterbuch  (a.  a.  o.  s.  74).  Für  Oberdeutschland  vgl.  belege 
bei  Weinhold,  Mhd.  gr.  §  372.  AI.  gr.  §  30.  Bair.  gr.  §  288.  Aber 
hier  überall  wird  das  -n  auch  sonst  abgeworfen,  und  der  all- 
gemeine Verlust  des  -n  zeigt  sich  dann  eben  auch  im  inf.,  im 
thüringischen  und  ostfränkischen  dagegen  bleibt  der  abfall  im 
wesentlichen  auf  den  inf.  beschränkt,  ist  also  ganz  anderer 
natur.  Ein  rein  lautlicher  Vorgang  kann  es  nicht  sein,  es 
wäre  sonst  nicht  abzusehen,  warum  er  auf  eine  eng  geschlos- 
sene syntaktische  kategorie  beschränkt  blieb.  Aus  diesem 
gründe  kann  ich  mich  der  von  Behaghel,  Pauls  Grundr.  1,  §  100 
aufgestellten  ansieht  nicht  anschliessen,  dass  nämlich  der  abfall 
des  -w  lautgesetzlich  bei  stammen  die  mit  nasal  schliessen, 
begonnen  und  sich  von  hier  aus  verallgemeinert  hätte.  Eine 
andere  erklärung  gibt  Ehrismann,  Beitr.  22, 297  f.,  vgl.  auch 
0.  Brenner,  Lit.-bl.  1898,  s.  124. 

Auch  im  Ev.  Nie.  ist  der  abfall  des  -n  nicht  speciell  dem 
inf.  eigen,  findet  sich  vielmehr  weit  häufiger  in  anderen  fällen. 
Diese,  zu  denen  auch  der  von  Amersbach  aus  der  Apokalypse 
angeführte  reim  gehört,  heben  die  beweiskraft  des  einen  reimes 
veme  :  nemen  direct  auf.  Wir  müssen  also  gegen  Amersbach 
gerade  in  dem  fehlen  häufiger  belege  für  apokopierten  inf. 
einen  beweis  gegen  thüringische  heimat  des  dichters  erblicken. 

Auch  weiter  östlich  im  obersächsischen  sind  die  Infinitive 
ohne  -n  häufig,  z.  b.  bei  Heinrich  von  Krolewitz  146  unter  2444 
reimpaaren  (z.  t.  bei  Lisch  s.  11  aufgezählt). 

In  Schlesien  ist  heute  nach  Weinhold,  Dialektforschung 
s.  126  und  Rückert,  Zs.  für  geschichte  und  altertum  Schlesiens 
11, 340  der  apokopierte  inf.  regel.  In  dieser  allgemeinen  fassung 
dürfte  die  angäbe  kaum  stichhaltig  sein  (vgl.  Pauls  Grundr.  1, 
§  100, 4).  Ausserdem  ist  die  erscheinung  ganz  bedeutungslos 
in  den  teilen  Schlesiens,  in  welchen  -n  auch  sonst  verklingt. 
Alte  belege  für  apokopierten  inf.  fehlen.  Es  ist  dies  um  so 
auffälliger,  als  die  grosse  masse  der  schlesischen  colonisten  aus 
Ostfranken  kam,  ihrem  dialekt  also  gerade  die  Unterdrückung 


HEINBICH  HESLEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  173 

des  infinitiv-w  ursprünglich  angehörte;  vgl.  Rückert,  Charak- 
teristik der  schlesischen  mundart,  Zs.  fdph.  1  und  4.  J.  Partsch, 
Schlesien  1, 373  ff. 

Ein  weiteres  wichtiges  kriterium  für  den  dialekt  unseres 
gedichts  ist  die  Vertretung  von  ie,  uo.  Dieselben  sind  heut- 
zutage, abgesehen  vom  bairischen,  alemannischen  und  einem 
teil  des  ostfränkischen,  wo  sie  diphthonge  blieben,  in  zweierlei 
weise  monophthongiert,  teils  zu  e,  6,  teils  zu  i,  ü.  Das  erste 
gebiet  umfasst  den  grössten  teil  Mittelfrankens,  das  t,  ^e-gebiet 
das  ganze  übrige  Mitteldeutschland  (vgl.  Behaghel,  Pauls  Grundr. 
1,  §  52).  Der  wandel  zu  e,  6  tritt  ziemlich  frühe  ein;  da  nun 
unser  gedieht  deutlich  die  Sonderstellung  der  laute  ie,  uo  zeigt, 
so  kann  es  dem  e,  ö- gebiet  nicht  angehören.  Ob  man  in  den 
einzelnen  reimen  i :  ie,  ü  :  uo  einen  beleg  dafür  erblicken  darf, 
dass  diese  laute  sich  damals  schon  nahe  standen,  muss  dahin- 
gestellt bleiben. 

Unser  gedieht  gehört  also  jedenfalls  in  das  t,  w- gebiet, 
von  dem  aber  der  teil,  in  welchem  der  inf.  apokopiert  wurde, 
also  Thüringen,  noch  auszuschliessen  ist.  Damit  ist  aus- 
gesprochen, dass  die  heimat  unseres  gedichts  nicht  mehr  im 
md.  Stammland,  sondern  schon  im  colonisationsgebiet,  eventuell 
also  in  Preussen,  zu  suchen  ist. 

Die  allgemeine  annähme,  Hesler  habe  im  ordenslande  ge- 
schrieben, geht  zurück  auf  G.  Chr.  Pisanskis  Entwurf  der 
preussischen  literärgeschichte  (hg.  von  L.  E.  Borowski,  Königs- 
berg 1791)  s.  85;  sie  gründet  sich  vornehmlich  darauf,  dass  die 
drei  haupthss.  der  Apokalypse  sich  in  Preussen  (Danzig  und 
Königsberg)  befinden  und  wol  auch  dort  geschrieben  sind. 
Dies  beweist  natürlich  nichts:  es  sind  auch  fragmente  vor- 
handen, die  nach  Ostfranken  (vgl.  M.  Eieger,  Germ.  15,  205  ff.) 
und  nach  Baiern  (Eegensburger  und  Augsburger  fragmente) 
gehören.  Vom  Ev.  Nie.  ist  keine  hs.  in  Preussen  selbst.  Amers- 
bach  versuchte  auch  sachliches  zum  beweise  beizusteuern,  je- 
doch ohne  besonderes  glück.  So  glaubte  er  in  den  versen  der 
Apokalypse  v.  6364  f.  gegen  die  habsucht  der  geistlichkeit: 
nach  im  girischen  die  bischove,  tempel,  spitäl,  der  dütschen  Ms 
speciell  eine  anspielung  auf  den  Deutschen  orden  erblicken  zu 
dürfen;  da  nun  andere  orden  gerade  in  beziehung  auf  welt- 
lichkeit und  habsucht  viel  mehr  gelegenheit  zum  tadel  geboten 


174  HELM 

hätten,  so  erklärt  er  sich  diesen  ausschliesslichen  hinweis  auf 
den  Deutschen  orden  mit  Heslers  genauer  kenntnis  desselben. 
Er  hat  aber  übersehen,  dass  in  den  worten  tempel,  spitäl  ja 
auch  der  hinweis  auf  Templer  und  Johanniter  (vgl.  spitalcere 
Gudr.  916,3  spitalbruoder  Ludw.  kreuzfahrt  7882)  liegt,  also  alle 
drei  orden  namhaft  gemacht  werden.  Ebenfalls  ganz  allgemein 
auf  die  ritterorden,  aber  nicht  auf  einen  bestimmten,  kann 
V.  5145  des  Ev.  Nie.  bezogen  werden:  darumme  segent  man  ü 
die  swert^)  Nur  so  viel  ist  aus  beiden  stellen  wol  zu  schliessen: 
da  der  dichter  offenbar  sein  augenmerk  auf  die  geistlichen 
ritterorden  richtet,  so  ist  es  in  anbetracht  unserer  deutschen 
Verhältnisse  wol  am  wahrscheinlichsten,  dass  er  zunächst  an 
den  Deutschen  orden  denkt.  Damit  darf  vielleicht  verknüpft 
werden,  dass  er  als  landungsort  des  Volusian  gerade  Akkon 
nennt.  Vielleicht  spricht  ebenfalls  für  beziehungen  Heslers 
zum  Deutschen  orden  der  umstand,  dass  die  hs.  s  nach  einem 
eintrag  auf  bl.  la  im  besitz  eines  fratris  Hermanni  ordinis 
theutonicorum  domus  in  Giengen  war. 

Auf  grund  des  dialektes  diese  frage  zu  entscheiden  ist 
kaum  möglich,  da  strenge  dialektgrenzen  für  jene  zeit  in  Ost- 
deutschland überhaupt  nicht  gezogen  werden  können.  Ausser 
dem  Ordensland  könnte  also  auch  Schlesien  in  betracht  kommen. 
Literarhistorisch  wäre  dies  sehr  wol  denkbar:  um  dieselbe  zeit 
etwa  entstand  dort  das  gedieht  von  Ludwigs  kreuzfahrt  und  der 
Kreuziger  Johanns  von  Frankensteins.  Auch  der  name  Hesler 
ist  in  Schlesien  wenigstens  wenig  später  nachgewiesen. 

Einige  wenige  punkte  können  nun  aber  doch  auch  auf 
sprachlichem  gebiet  gegen  Schlesien  geltend  gemacht  werden. 
Ohne  besonderes  gewicht  darauf  zu  legen,  mag  doch  darauf 
hingewiesen  werden,  dass  das  schlesische  die  monophthongie- 
rung von  ie,  uo  ziemlich  frühe  durchgeführt  zu  haben  scheint;  2) 
auch  das  im  schlesischen  sehr  stark  ausgeprägte  6  für  a^)  fehlt 
bei  uns  wie  es  scheint.  Stricte  lässt  es  sich  freilich  nicht 
erweisen,  auch  nicht  durch  vers  1125—28  tot :  not,  stät :  hat, 


*)  Aber  auch  dies  ist  nicht  unbedingt  nötig,  da  die  Schwerter  bei  der 
erteilung  der  ritterwürde  überhaupt  stets  geweiht  werden. 

2)  Vgl.  Ludwigs  kreuzfahrt  v.  2962.  3451  u.  a. 

^)  Z.  b.  im  Psalterium  per  hebdom.  cum  yersione  germanica  (Breslau 
Cod.  I  Q  237). 


fiCBmEICH  HESLERS  EVAlfGELIÜM  NICÖDEMI.  175 

da  es  nicht  feststeht,  dass  H.  viererreime  streng  gemieden 
habe.  Es  wäre  denkbar,  dass  er  damit  zufrieden  gewesen, 
dass  die  reime  ihrem  sonstigen  literarischen  gebrauch  nach 
verschieden  sind.  Sichere  viererreime  kommen  bei  ihm  aller- 
dings nicht  vor. 

Von  den  verben  sten  und  gen  kennt  das  schlesische  nur 
die  e-formen,  wähi'end  bei  uns  die  a-form  im  reim  mit  75  proc. 
stark  überwiegt.  Ebenso  kennt  das  schlesische  die  assimilation 
lis  >  SS  nicht,  die  für  Hesler  durch  die  Apokalypse  belegt  ist 
(vgl.  Eückert  9, 61),  allerdings  ist  diese  auch  im  hd.  dialekt  des 
Ordenslandes  heute  nicht  anzutreffen  (vgl.  Anz.  fda.  21,  261). 
Aber  dort  wäre  sie  doch  weit  eher  als  vereinzelte  erscheinung 
denkbar  unter  einfluss  des  nd.  dialekts,  wie  wir  ihn  schon  bei 
z6  (als  contamination  von  to  und  isuo\  lihte  und  hat  :  sTcat 
vermutet  haben. 

So  glaube  ich  denn,  dass  wir  das  ordensland  sehr  wol  als 
heimat  unseres  gedichts  annehmen  dürfen,  wenn  auch  bestimmte 
belege  aus  dem  dialekt  nicht  dafür  zu  erbringen  sind,  dass  es 
dorthin  gehören  müsse.  Der  grund,  weshalb  es  an  solchen 
directen  beweismomenten  fehlt,  ist  sehr  einfach. 

Die  sprachlichen  Verhältnisse  des  Ordenslandes  sind  damals 
noch  durchaus  schwankend  und  unstät.  Von  einer  xotvrj  kann 
noch  keine  rede  sein,  wenn  auch  die  Urkunden  ^  viel  gemein- 
sames zeigen.  Aber  die  kanzleien  sind  ja  in  der  fixierung  der 
sprachform  stets  weit  voraus;  ausserdem  gibt  es  deutsche  Ur- 
kunden aus  den  ersten  Jahrzehnten  des  14.  jh.'s  nur  wenige; 
weitaus  die  mehrzahl  ist  lateinisch. 

Wie  wenig  aber  für  den  literarischen  gebrauch  eine  ein- 
heitliche sprachform  anzusetzen  ist,  zeigt  ein  vergleich  zwischen 
dem  buch  Hiob  und  Jeroschins  Chronik,  die  beide  ziemlich 
gleichzeitig  unter  Dietrich  von  Altenburg  entstanden.  Unter 
einander  stehen  sie  sich  freilich  noch  näher  als  ihnen  Heslers 
spräche  kommt,  namentlich  ist  der  gebrauch  von  ie,  uo  im  reim 
ein  anderer  (vgl.  Bahder  s.  41.  W.  Müller  s.  17). 

Diese  differenzen  können  gleichzeitig  verschiedene  Ursache 

•  *)  J^  Voigt,  Codex  diplomaticus  prussicus.  Urkundensammlung  zur 
ältesten  geschichte  Preussens  aus  dem  kgl.  geh.  archiv  zu  Königsberg  nebst 
regesten  herausgegeben,  Kgsbg.  1845—1861,  bd.  2—6. 


176  HELM 

haben.  Erstens  ist  die  in  Preussen  damals  in  der  aasbildnng 
begriffene  mundart  ein  mischdialekt,  der  naturgemäss  hier 
mehr  diese,  dort  mehr  jene  färbung  annehmen  musste.  Dann 
konnte  aber  in  jedem  einzelnen  individuum  je  nach  den  mn- 
ständen  weitere  Verschiebung  und  mischung  eintreten.  Je 
nachdem  ob  seine  eitern  bereits  im  ordensland  lebten  oder 
nicht,  ob  der  Verfasser  als  kind  oder  erst  als  erwachsener 
einwanderte,  musste  das  resultat  ein  anderes  sein.  Dazu  kann 
kommen,  dass  er  mehrmals  seinen  auf  enthalt  wechselte  und 
jedesmal  mit  anders  gearteten  Sprechgemeinschaften  in  berüh- 
rung  kam,  endlich  konnte  er  vermöge  seiner  Stellung  der  spräche 
des  urkundlichen  Verkehrs  näher  treten.  Alle  diese  möglich- 
keiten  gelten  für  Hesler  unbeschränkt.  Es  ist  darnach  nur 
natürlich,  dass  wir  aus  seiner  spräche  nicht  mehr  entscheiden 
können,  aus  welcher  gegend  er  oder  seine  familie  herstammte, 
da  wir  nicht  entscheiden  können,  wie  viel  und  was  in  seiner 
spräche  aus  dem  dialekt  der  ursprünglichen  heimat  zurück- 
geblieben und  was  neu  hinzugekommen  ist.  Vgl.  über  die 
bedeutung  von  ortsveränderung  für  die  gestaltung  des  dialektes 
namentlich  jetzt  Behaghel,  Schriftsprache  und  mundart  (Gies- 
sener  rectoratsrede  1896)  s.  8  und  anm.  11  f. 

Kehren  wir  nun  noch  einmal  zur  hs.  S  zurück.  Wie  wir 
gesehen  haben,  stimmt  die  spräche  derselben  in  allem  wesent- 
lichen mit  dem  aus  den  reimen  zu  erschliessenden  dialekt 
überein.  Ganz  naturgemäss  ist  es  nur,  wenn  dialektische 
eigenheiten  wie  e  für  i,  o  für  w,  r-metathesis,  ht  für  ft  stärker 
als  in  den  reimen  hervortreten.  Das  von  S  durchgeführte  hs 
>  SS  wird  durch  Apokal.  wassen  :  massen  (s.  oben)  gesichert. 

Directe  Widersprüche  zwischen  S  und  dem  reimgebrauch 
sind  nicht  zu  constatieren;  auch  die  2.  pl.  auf  -ent,  die  in  S 
sehr  häufig  ist,  wurde  in  der  Apokalypse  wenigstens  einmal 
im  reim  (tugent :  mugent)  angetroffen. 

Ausserdem  zeigt  S  bestimmt  ostdeutschen  Charakter  in 
der  regelmässigkeit,  mit  der  formen  wie  rittere,  engele  erscheinen, 
für  die  ein  beweisender  reim  ja  kaum  denkbar  ist.  Auch  an 
nd.  spuren  fehlt  es  nicht,  so  wird  statt  bis  stets  das  ans 
nd.  wente  verhochdeutschte  wen^  geschrieben.  Dass  in  *der 
2.  und  3.pl.  die  endungen  -en,  -ent,  -et  nebeneinander  vorkonmien, 


HEIKBICH  HESLERS  EVAKGELIUM  KtCODEMt.  177 

verrät  vielleicht  auch  nd.  einfluss,  unter  welchem  sich  die  grenz- 
linien  der  einzelnen  personen  des  pl.  sehr  leicht  verwischen 
konnten. 

Es  unterliegt  darnach  m.  e.  keinem  zweifei,  dass  S  der 
gleichen  gegend  entstammt  wie  das  original  und  auch  die 
spräche  desselben  im  allgemeinen  treu  bewahrt  hat.  Für  die 
textherstellung  folgt  daraus,  dass  die  sprachform  von  S  auf- 
zunehmen ist,  so  lange  kein  directer  grund  dagegen  vorliegt. 
Zweifelhaft  kann  dies  sein  bei  nd.  nicht  durch  den  reim  ge- 
sicherten formen  ausser  dem  weit  verbreiteten  wenz\  solche 
sind  für  das  original  ebenfalls  keineswegs  unwahrscheinlich, 
werden  jedoch  der  einheitlichkeit  wegen  besser  getilgt,  da  sie, 
auch  wenn  sie  im  original  standen,  wol  eher  als  lapsus  des 
Verfassers  aufzufassen  sind. 

rv.   Zeit  der  abflässung. 

Dass  das  Ev.  Nie.  um  oder  kurz  nach  1300  geschrieben 
wurde,  bedarf  kaum  eines  beweises.  Es  ist  die  zeit  in  der 
überhaupt  die  sog.  deutschordensdichtung  blüht.  *)  Eine  engere 
begrenzung  zu  gewinnen,  fehlen  uns  die  anhaltspunkte.  Dürfte 
die  bekanntschaft  mit  Seifried  Helbling  als  völlig  gesichert 
gelten,  so  erhielten  wir  als  terminus  post  quem  etwa  das 
jähr  1294  (s.  oben),  früher  hätten  wir  das  gedieht  ohnedies 
kaum  angesetzt.  Die  beziehungen  zur  ürstende,  der  Sachs, 
weltchronik  und  vielleicht  der  Erlösung  sind  für  unsere  frage 
iiTelevant.  Andererseits  benutzte  Heinrich  von  München  ca. 
1350  bereits  unser  gedieht  (s.  oben)  in  einer  hs.  der  gruppe  z». 
Zwanzig  jähre  früher  werden  wir  darnach  das  original  schon 
ansetzen  müssen,  erhielten  also  als  terminus  ante  quem  etwa 
das  jähr  1330. 

Schönbach  vermutete  Anz.  f da.  2,  206,  die  erwähnung  von 
Akkon  (v.  4239)  als  hafenstadt  für  den  nach  Jerusalem  reisen- 
den Volusian  könne  zur  datierung  des  gedichts  verhelfen.  Diese 


^)  Wülcker  a.  a.  o.  setzt  ohne  angäbe  von  gründen  das  gedieht  um  1250, 
was  keiner  weiteren  Widerlegung  bedarf.  Hervorgehoben  mag  nur  werden, 
dass  überhaupt  erst  um  1280  im  ordensland  einigermassen  friedliche  zu- 
stände eintraten.  Auch  dass  selbst  die  besten  erhaltenen  hss.  SEK  erst 
aus  der  zweiten  hälfte  des  14.  jh.'s  stammen,  widerspricht  einem  so  frühen 
ansatz. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  12 


178  HfiLM 

angäbe  beruht  aber  nur  darauf,  dass  Akkon  eben  lange  zeit 
der  einzige  den  Christen  noch  zugängliche  hafen  Palästinas 
war,  so  dass  man  sich  gewöhnte,  zunächst  an  ihn  zu  denken, 
wenn  von  einer  fahrt  nach  Jerusalem  die  rede  war.  Zur  zeit, 
als  H.  das  Ev.  schrieb,  war  Akkon  dagegen  wol  schon  in  den 
händen  der  Türken,  es  fiel  1291. 

ANHANG. 

Zu  Heslers  und  Jeroschins  metrischen  regeln. 

H.  gehört  zu  den  wenigen  mhd.  dichtem,  die  über  die 
metrischen  regeln  die  ihnen  zur  richtschnur  dienten  und  nach 
denen  sie  gemessen  werden  müssen,  sich  selbst  geäussert  haben. 
Seine  bemerkungen  stehen  Apok.  v.  1317 — 1482  und  sind  ab- 
gedruckt von  Köpke  in  v.  d.  Hagens  Germ.  10,  88  f.  und  von 
Bartsch,  Germ.  1, 192.  Aehnliche  äusserungen  finden  sich  be- 
kanntlich bei  dem  wenig  jüngeren  Nie.  von  Jeroschin  in  dessen 
Kronike  von  Pruzinlant  v.  236 — 255  und  294 — 301,  gedruckt 
von  Mone,  Anz.  1836,  s.  82  f.  Piper,  Geistl.  dichtung  2, 137  und 
in  den  ausgaben  von  Pfeiffer  und  Strehlke.  Beide  stellen  sind 
vielfach  besprochen  worden,  zuerst  von  Pisansky,  Preussische 
literärgeschichte  s.  77.  85,  später  von.  Pfeiffer  a.  a.  o.  s.  xxxvii. 
Strehlke  s.  296  ff.  Bartsch  a.a.O.  ßech,  Germ.  7, 75  ff.,  zuletzt  von 
Amersbachl,21ff.;  die  verschiedenen  erklärungsversuche  stehen 
sich  zum  teil  schroff  gegenüber.  Seinen  grund  hat  dies  darin, 
dass  beiden  dichtem  die  notwendigen  termini  technici  fehlten 
und  ihre  ausdrucksweise  deshalb  zum  teil  sehr  dunkel  ist.  So 
kommt  es,  dass  weniger  diese  directen  äusserungen  zur  be- 
leuchtung  der  technik  beitragen,  als  umgekehrt  das  vorhandene 
material  an  versen  herbeigezogen  werden  muss,  um  eine  er- 
klärung  jener  zu  ermöglichen. 

Zu  einer  haltbaren  erklärung  ist  nur  zu  gelangen,  wenn 
man  beide  stellen  neben  einander  betrachtet,  da  es  zweifellos 
ist,  dass  sie  im  wesentlichen  das  gleiche  aussagen  wollen.  Es 
war  deshalb  auch  kaum  anders  denkbar,  als  dass  Pfeiffer,  der 
nur  Jeroschin  kannte,  in  seiner  deutung  fast  durchweg  fehl- 
griff ;  allerdings  trug  dazu  noch  viel  die  falsche  Interpretation 
rim  =  ^endreim'  bei,  wodurch  Pf.  veranlasst  wurde,  alles  was 
Jeroschin  sagt  mit  ausnähme  von  v.  249 — 255  als  reimregeln 


HEINBICH  HESLEBS  EVANGELIUM  NICODEMI.  179 

ZU  betrachten.  Dass  aber  rim  auch  bei  Jeroschin  die  bedeu- 
tung  ^verse'  hat,  erhellt  klar  aus  v.  2991  und  mtn  rim  werdin 
gehuit  an  dem  ende  üf  glichin  luit,  wo  streng  zwischen  Hm 
und  dem  glichin  luit  am  ende  unterschieden  wird.  Zweitens 
ist  für  die  erklärung  der  stellen  wichtig,  dass  Jeroschin  in 
V.  294— 301  nichts  neues  hinzusetzt,  sondern  nur  das  v.  236 — 
255  gesagte  kurz  recapituliert. 

Vollständig  unbestritten  ist  bei  beiden  dichtem  nur  ein 
punkt :  die  f orderung  fest  begrenzter  silbenzahl.  Jeroschin  gibt 
6  und  9  als  die  äussersten  grenzen  an:  v.  248  dajsf  vumf  silben 
sin  ssu  kurz,  zene  Mn  zu  langen  schürz  und  v.  295  ebenso  klar, 
so  dass  die  von  Strehlke  einzeln  angesetzten  fünf-  und  zehn- 
silbigen  verse  unbedingt  zu  verwerfen  sind.  Hesler  setzt  als 
norm  6-8  silben,  v.  1453  swen  ichs  mochte  gachten  mit  sechsen, 
sibenen,  achten,  daz  tet  ich  unde  lutzel  mer.  Neun-  und  zehn- 
silbige  verse  gestattet  er  sich  nur  ausnahmsweise. 

Desto  schwieriger  ist  nun  aber  die  erklärung  der  anderen 
punkte,  doch  scheint  mir  im  allgemeinen  jetzt  auch  hier  durch 
Bech  und  Amersbach  das  richtige  gegeben  zu  sein. 

Als  zweite  f orderung  beider  dichter  hat  darnach  zu  gelten: 
die  gleiche  silbenzahl  der  durch  den  reim  gebundenen  verse, 
eine  f orderung  die  nichts  weiter  enthält,  als  was  bei  Konrad 
von  Würzburg  schon  in  der  hauptsache  durchgeführt  ist.  Sie 
ist  ausgesprochen  bei  Jeroschin  v.  236  ff.^),  bei  Hesler  v.  1442  f. 


1)  Zu  Pfeiffers  eigentümlicher  interpretation  von  v.  247  die  lenge  hell 
der  Silben  zal  *das  heisst,  jedes  zweisilbige  wort  ohne  rücksicht  auf  ur- 
sprüngliche quantität  ist  lang',  die  mit  der  richtigen  erklärung  von  rim 
hinfällig  wird,  ist  doch  noch  zu  bemerken,  dass  ihr  auch  die  tatsachen 
widersprechen.  Pfeiffers  auffassung  müsste  zur  Voraussetzung  haben,  dass 
die  dehnung  des  kurzen  stammvocals  in  offener  silbe  schon  vollständig 
durchgedrungen  wäre.  Dann  müssen  aber  reime  zwischen  Wörtern  der 
mhd.  formen  i.  x  nnd  w  x  ganz  unbedenklich  und  demgemäss  weit 
häufiger  sein,  als  sie  in  der  tat  sind;  nach  Pfeiffers  zusammensteUung 
s.  xLiv  sind  es  aber  im  ganzen  nur  70  auf  18969  reimpaare,  also  0,37  *>/o; 
damit  vgl.  man  das  etwa  zwölf  jähre  jüngere  Schachbuch,  das  derartige 
reime  auf  ca.  7800  reimpaare  gegen  100  hat  (Zs.  fda.  17, 384)  =  1, 25  ^/o, 
d.h.  nahezu  vier  mal  so  viel!  Dass  die  dehnung  der  Stammsilben  bei 
Jer.  wol  schon  ziemlichen  umfang  angenommen  hat  ist  ja  klar,  aber  ein 
unterschied  gegen  die  alten  längen  muss  Jeroschin  doch  noch  empfunden 
haben. 

12* 


180  fifiLM 

wand  ich  hän  die  rime  gewegen  mit  ehenglichen  vüzen  und  v.  1446 
wand  ich  hän  sie  gar  durchmessen  und  ebengliche  gewegen. 

Für  Jeroschin  hat  Bartsch  die  richtige  auffassung  schon 
gehabt  oder  wenigstens  als  möglich  anerkannt  (a.a.O.  s.  199), 
nicht  aber  für  Hesler,  dessen  worte  er  auch  auf  den  endreim 
bezog  und  als  die  f orderung  ansah,  klingende  reime  müssten 
stets  gleiche  quantität  haben.  Nun  hat  H.  diese  regel  aller- 
dings streng  beachtet,  aber  deshalb  muss  er  sie  doch  nicht  un- 
bedingt ausgesprochen  haben,  da  er  ebensowenig  als  Jeroschin 
Vollständigkeit  in  der  aufzählung  seiner  metrischen  regeln 
beabsichtigt.  So  fehlt  beiden  jegliche  angäbe  über  zahl  und 
anordnung  der  hebungen,  und  es  ist  deshalb  doch  keinem  er- 
klärer  eingefallen,  behaupten  zu  wollen,  diese  seien  bei  ihnen 
ganz  beliebig.  Als  bestimmt  unrichtig  wird  Bartschs  auffassung 
dadurch  erwiesen,  dass  direct  ein  beispiel  folgt,  wann  die  aus- 
gesprochene regel  umgangen  werden  darf:  v.  1448  swa  der  sin 
was  so  gelegen  das  ich  in  nicht  mochte  üs  brengen,  ich  enmüste 
den  rim  lengen  (=  wo  der  sinn  so  war,  dass  ich  ihn  nicht 
zu  ende  \us\  hätte  bringen  können,  wenn  ich  nicht  den  vers 
hätte  längen  dürfen!). 

An  den  reim  stellen  beide  dichter  die  anforderung  der 
reinheit,  Jeroschin  in  den  oben  citierten  versen  299  f.,  Hesler 
in  einer  schwerfälligen  erörterung  (v.  1364  ff.),  die  aber  doch 
nicht  miszuverstehen  ist;  nur  Pisansky  ist  in  einem  Irrtum 
befangen,  wenn  er  in  den  Worten  deme  ä  begegene  nicht  das  e, 
deme  e  das  t,  deme  6  das  ü  ein  verbot  des  hiatus  erblickt. 
Zweifelhaft  bleiben  hier  nur  die  verse  Jeroschins  243  f.  vil 
wort  man  gliche  schribit,  der  luit  ungltch  sich  trtbit.  Pfeiffer 
verstand  sie  nicht,  Bartsch,  dem  Bech  folgt,  erklärt  sie  dahin, 
es  sollen  keine  betonten  und  unbetonten  silben,  wenn  sie  auch 
gleichen  vocal  haben,  gereimt  werden.  Eine  weitere  auffassung 
deutet  Bech  s.  86  als  möglich  an:  vielleicht  wende  sich  die 
stelle  gegen  reimpaare,  die  äusserlich  der  zahl  ihrer  silben 
nach  aus  gleich  grossen  zeilen  bestehen,  denen  aber  die  gleich- 
massige  abwechslung  von  hebuiig  und  Senkung  fehle.  Gegen 
diese  ansieht  spricht  zweierlei.  Die  verse  243  ff.  werden  durch 
242  das  ich  alsus  bedüte  einfach  als  ausführung  von  v.  240  f. 
charakterisiert:  dass  man  glich  su  glichin  Urnen  solle  an  lenge, 
sinne,  lute.    Bezöge  man  nun  v.  243  f.  auf  den  rhythmus,  so 


HEINBIGH  HESLEB8  EVANGELIUM  NICODEMI.  181 

fielen  sie  mit  einem  neuen  gedanken  ganz  aus  der  disposition 
heraus,  während  eine  erläuterung  des  Wortes  lüte  fehlen  würde.*) 
Zweitens  aber  wäre  in  diesen  versen,  wenn  ihnen  diese  auf- 
fassung  zukäme,  eine  regel  ausgesprochen,  die  in  praxi  von 
Jeroschin  doch  zu  oft  umgangen  wurde.  Es  finden  sich  reich- 
lich verse,  die  an  silbenzahl  gleich  sind,  aber  eine  verschiedene 
anordnung  der  hebungen  zeigen,  2)  vgl.  v.  20294  f.  (Pfeiffer  s.  76 
V.  164  f.)  von  Littoüwen  und  gehdft  \  im  dinste  siner  herschäft, 
V.  6433  f.  (Pfeiffer  s.  80  v.  157  f.)  von  der  seihen  mdgit  zart  \  der 
herzöge  Uchtir  art,  v.  8122  f.  (Pfeiffer  s.  13,4  v.6f.)  von  übene  wl- 
rünge  breit  \  und  minrünge  von  Idzheit  u.  a. 

Aber  auch  Bartschs  erklärung,  die  ja  wol  denkbar  wäre, 
kann  mich  nicht  befriedigen.  Da  die  verse  ganz  zweifellos 
eine  einfache  erläuterung  des  wortes  lüte  in  241  bieten  wollen, 
so  glaube  ich,  dass  Jeroschin  auch  wirklich  darin  nur  an  den 
lautwert,  nicht  an  die  tonstärke  der  silben  gedacht  hat,  und 
durchaus  nichts  anderes  damit  betonen  will  als  in  den  ent- 
sprechenden versen  299  f. :  dass  die  verse  eben  rein  sein  sollen. 
Inwieweit  reime  von  betonten  und  unbetonten  silben  erlaubt 
sind,  ist  aber  im  gründe  genommen  gar  keine  frage  der  reim- 
technik;  es  handelt  sich  dabei  einzig  darum,  ob  und  in  welchem 
grade  unbetonte  silben  noch  hebungsfähig  sind  oder  nicht. 
Urspiünglich  nebentonige  silben  reimen  z.  b.  Jeroschin  und 
Hesler  ganz  unbedenklich,  vgl.  schepfer  :  ger  Jer.  8751,  tüsunt : 
stund  Jer.  10717,  tüsint :  ü  sint  Ev.  Nie.  5127,  fittich  :  trit  ich 
Apok.  67  c. 

Nehmen  wir  also  die  verse  ganz  ungezwungen  wörtlich, 
und  sie  werden  sich  auch  am  ungezwungensten  erklären:  es 
wird  gewarnt  vor  reimbindungen,  die  nur  fürs  äuge  bestehen 
wegen  ihrer  Orthographie,  die  aber  fürs  ohr  doch  verschieden 
sind  durch  ihren  laut  (nicht  durch  accent  oder  quantität).  Diese 
Warnung  ist  gerade  bei  einem  md.  dichter  von  bedeutung,  da 
gerade  nach  md.  Orthographie  die  vocale  weniger  auseinander 
gehalten  werden  als  nach  oberdeutscher;  ie  und  i,  uo  und  w,  e 


*)  Die  verse  243  ff.  entsprechen  den  ausdrücken  in  v.  241  chiastisch: 
zu  hnge  gehört  247  ff.,   zu  sinne  246,   zu  lüte  243  f. 

*)  Die  von  Bech  s.  82f.  aufgeführten  yerse  gehören  nicht  hierher,  da 
sie  verschiedene  silbenzahl  aufweisen.  Sie  bilden  einen  fall,  in  welchem 
ausnähme  von  der  geforderten  gleichen  silbenzahl  gestattet  ist. 


182  HELM 

und  ce  haben  in  den  meisten  hss.  nur  je  ein  gemeinsames  zeichen. 
Zusammengefallen  sind  sie  deshalb  aber  doch  nicht,  und  sie 
werden,  wie  wir  gesehen  haben,  auch  im  reim  meist  geschieden. 
Ebenso  verhält  es  sich  mit  den  kurzen  e- lauten  e  und  e) 
vgl  oben. 

Die  von  Hesler  und  Jeroschin  aufgestellten  regeln  sind 
also  die  folgenden  drei:  1)  fest  begrenzte  silbenzahl;  —  2)  gleiche 
Silbenzahl  der  verse  eines  reimpaares;  —  3)  reine  reime.  — 
Jedoch  sind  verschiedene  ausnahmen  gestattet.  Jeroschin  nennt 
nur  eine  für  die  zweite  regel  v.  297  f.  biwilen  ich  swü  kurze 
üf  eine  lange  sturze\  dem  entspricht  bei  Hesler 

y.  1472 
doch  ding  ich  ouch  üz  diz  eine  und  üz  zwein  Worten  müz  ein  kort 

daz  ich  dicke  zw^ne  kurze  müz  machen  oder  ein  halb  nnderzin, 

dar  setzen  vor  einen  langen  yüz  daz  ander  teil  da  läzen  sin. 


Pfeiffer,  der  wider  nur  an  den  reim  denkt,  sieht  in  Jeroschins 
versen  eine  erklärung  für  reime  wie  vater  :  hat  er.  Es  ist  aber 
aus  dem  Zusammenhang  klar,  dass  nicht  von  zwei  kurzen  und 
einem  langen  (=  zweisilbigen  nach  Pfeiffer)  worte  die  rede 
ist,  sondern  von  zwei  kurzen  und  einer  langen  silbe,  die  im 
verse  sich  als  gleichwertig  entsprechen.  In  solchem  fall  darf 
also  die  regel  der  Silbengleichheit  der  verse  eines  reimpaares 
durchbrochen  werden. 

Ebenso  sind  Heslers  worte  zu  verstehen.  Die  fälle  die  er 
im  äuge  hat,  sind  vollkommen  richtig  nach  meiner  ansieht  von 
Amersbach  s.  22  specificiert.  Eichtig  erkannt  hat  auch  schon 
Bech  s.  83  Heslers  worte,  während  Bartsch  nur  ein  zeugnis 
für  erlaubte  silbenverschleif ung  auf  der  Senkung  darin  erblicken 
will,  die  häufig  nötig  sei,  um  die  vorgeschriebene  höchstzahl 
der  Silben  nicht  zu  überschreiten.  Eine  solche  notwendigkeit 
liegt  aber  nirgends  vor. 

Den  grund  der  gestatteten  ausnahmen  gibt  Hesler  deut- 
lich genug  an,  v.  1475  swä  mir  der  sin  also  geburt  und  v.  1479 
nach  deme  der  sin  gevellet  Hesler  betrachtet  also  nicht  scla- 
vische  befolgung  der  technischen  regeln  als  den  inbegriff  dich- 
terischer Vollkommenheit,  sondern  die  verständige  berücksich- 
tigung  des  sinnes. 

Des  Sinnes  halber  gestattet  er  auch  noch  eine  weitere 


HEINBIGH  HESLERS  EVANGELIUM  NIGODEMI.  183 

ausnähme  seiner  regeln:  ein  überschreiten  der  höchstzahl  der 
Silben  um  zwei  und  gleichzeitig  damit  verschiedene  silbenzahl 
der  gereimten  verse: 

V.1448 

swä  der  sin  was  s5  gelegen  s5  was  bezzer  gesprochen 

daz  ich  in  nicht  mochte  üz  brengen,      lanc  rtm  den  sin  zubrochen. 

ich  enmüste  den  rim  lengen, 

und  1456 

nüne  sazte  ich  aber  ^r,  (die  selben  sint  selts^ne), 

oder  zum  meisten  z§ne  dan  ich  zubr^che  den  sin. 

Auch  1410  wurde  schon  die  bedeutung  des  sinnes  hervorgehoben: 

da  Yon  müz  man  mit  gelegenen  den  sin  also  berüchen 

werten  die  rime  suchen,  daz  wir  nicht  valsches  sprechen. 

Auch  für  Jeroschin  steht  der  sinn  über  der  äusseren  technik. 
Mehrmals  spricht  er  das  aus,  der  dichter  sol  (v.  245)  den  sin 
niht  versntden  und  die  verse  will  er  reimen:  niht  velschinde 
der  rede  sin  (v.  301).  Es  ist  nicht  nötig  anzunehmen,  Jeroschin 
habe  hierbei  an  einen  speciellen  fall,  etwa  enjambement  (wie 
Gervinus  2, 1  meint)  gedacht. 

Noch  bleibt  für  Hesler  eine  wichtige  stelle  übrig.  An 
die  citierten  verse  1410  ff.  schliesst  v.  1414  folgendermassen  an 
(wir  müssen  die  oft  gedruckte  stelle  noch  einmal  anführen) 

(nach  Bartsch): 

doch  müz  manz  wllen  brechen,  daz  yrien,  stund  iz  anderswar, 

des  endarf  sich  aber  nieman  schämen,  daz  were  yalsch,  und  ist  ganz  dar, 

iz  machet  dürft  der  lüte  namen,  wand  sich  da  rimet  der  name. 

die  nieman  kan  bekennen  den  landen,  steinen  ist  alsame, 

anders,  die  müz  man  nennen,  den  steten,  bürgen,  bergen, 

also  sie  genamet  sin,  die  nieman  kan  vorbergen, 

und  müz  rime  zien  dar  in,  noch  wort  die  mit  uns  wanderen 

die  sich  den  namen  glichen.  die  nieman  kan  yoranderen, 

wir  setzen  wol:  der  riehen,  die  müze  wir  wol  setzen 

der  edelen  und  der  vrien  an  geyellichen  vletzen, 

namen  sante  Marien.  mit  loube  die  buch  machen. 

Es  ist  klar,  dass  H.  von  einer  ausnähme  seiner  regeln 
spricht,  die  erlaubt  ist,  wenn  eigennamen  von  menschen,  ländern, 
bergen  u.s.w.  oder  ein  fremdwort  im  reim  steht.  Worin  be- 
steht nun  aber  diese  ausnähme? 

Bartsch  denkt  an  erlaubte  ungenauigkeit  im  reim,  und 
da  vrten  :  Marien  nach  Heslers  werten  doch  ein  beispiel  dafür 
sein  müsste,  so  vermutet  er,  H.  habe  eigentlich  vrt :  vriges 


184  HELM 

flectiert.  Einen  anhaltspunkt  dafür  gibt  es  nicht,  und  selbst 
wenn  wirklich  vrigen  zu  lesen  wäre,  so  wäre  es  wahrschein- 
lich, dass  derselbe  übergangslaut  auch  in  Marien  sich  ein- 
gestellt hätte. 

Bech  sucht  die  stelle  anders  zu  erklären.  Er  ändert 
V.  1424  namen  in  manne  und  sieht  das  ungewöhnliche  in  der 
Stellung  vrien  manne  statt  manne  vrien.  Gegen  diese  erklä- 
rung  hat  sich  schon  Amersbach  mit  recht  gewendet.  Eine 
conjectur,  mag  sie  wie  hier  bei  uns  auch  noch  so  natürlich 
erscheinen  und  bestechend  sein,  zur  erklärung  einer  dunklen 
stelle  zu  hilfe  zu  nehmen,  ist  principiell  stets  unstatthaft,  so 
lange  man  ohne  sie  noch  zu  einem  annehmbaren  resultat  kommt. 
Ein  solches  bietet  Amersbachs  erklärung:  wenn  man  auf  einen 
namen  u.  s.w.  ein  reimwort  bedarf,  so  ist  es  erlaubt  den  sinn 
zu  brechen,  d.h.  in  diesem  falle  muss  man  eben  ein  passen- 
des reimwort  suchen,  wenn  es  auch  dem  sinn  der  entsprechen- 
den stelle  nicht  ganz  entspricht.  Dafür  ist  nun  Heslers  bei- 
spiel  nach  Amersbach  ganz  zutreffend.  Er  zeigt  (s.  31  f.),  dass 
vrie  überhaupt  als  flickreim  auf  fremdworte  (wie  massenie, 
arzenie)  sehr  beliebt  ist,  dass  es  als  epitheton  der  Maria  nur 
im  reim  und  auch  hier  selten  vorkommt.  Composita  wie  wan- 
delsvrte,  sundenvrie  sind  dagegen  sehr  häufig. 

Ich  ergänze  Amersbachs  angaben  darüber  durch  die  folgen- 
den Zusammenstellungen. 

In  den  Marienlegenden,  hg.  von  Pfeiffer,  findet  sich 
neben  zahlreichen  wandelsvrie  u.  a.  nur  zweimal  das  ein- 
fache vrie, 

1,1—4 
Nu  höret  aUe  die  hie  sin,  die  edele  imd  die  vrie 

üf  daz  ü  die  kuningin  gotes  muter  Marie  . . . 

2,22 
daz  si  wolt  aUe  tage  haben  die  edelen  und  die  vrien 

eine  messe  von  Marien.  lobete  si  alsus  da  mite. 

Aus  den  gedichten  der  Ava  führt  Langguth  (Unter- 
suchungen über  die  gedichte  der  Ava,  Budapest  1880,  s.  201) 
beispiele  für  vrie  als  flickreim  an,  indem  er  gleichzeitig  (also 
vor  Amersbach)  auch  die  Heslersche  stelle  von  diesem  gesichts- 
punkt  aus  betrachtete.  Aus  Ava  selbst  gehören  hierher  die  verse 
siner  trüt  muoter,  \  Bande  Marien  der  guoten,  welche  die  jüngere 


HEINRICH  HESLEBS  EVAKGELIX7M  NICODEin.  185 

hs.,  um  die  assonanz  zu  beseitigen,  änderte  in  siner  muoter 
sande  Marien  der  heren  und  der  vrten.  —  Marienlieder  hg. 
von  W.Grimm,  Zs.fda.  10,47,  v.l3  vrowe  dich,  vrowe  reine  Marie, : 
edele  vrowe  maget  vrie.  —  Mnl.  Osterspiel  hg.  von  Zacher, 
Zs.  fda.  2,  V.  460  Mntndnne  Marie,  \  edel  ende  vrie.  —  Pas- 
sional  96,44  dieseligen  vnde  dievrien,  \  gotes  müter  Marien; 
367,  39  der  edelen  vnde  der  vrien  \  von  Magdalo  Marien,  — 
Orendel  v.  23  dar  isuo  span  in  diu  edel  inde  diu  frie  \  selber 
diu  Jeuninginne  sant  Marie, 

Dagegen  fand  ich  nur  einen  einzigen  beleg  für  vrie  als 
epitheton  der  Maria,  ohne  dass  es  auf  Marie  selbst  reimt: 
Mariengrüsse  hg.  von  F.  Pfeiffer,  Zs.  fda.  8,  v.  157  wis  ge- 
grüezet,  edel  vrie,  \  dich  bezeichent  wol  diu  bie, 

Dass  es  in  der  tat  wenig  reime  auf  Marie  (-en)  gibt,  können 
folgende  stellen  zeigen. 

Marienlieder,  Zs.  fda.  10,  29  v.  34  helpet  mir  schrien,  \ 
der  armer  Marien;  Christi  ritterschaft  hg.  von  J.  Zacher, 
Zs.  fda.  13, 330  ff.  ave  Maria  \  und  böige  dar  sine  knie;  Bordes- 
holmer  Marienklage  hg.  von  MüUenhoff,  Zs.  fda.  13,  288  ff. 
V.  86  do  he  syne  werden  moder  Marien  \  horde  bytterlyhen  sere 
wenen  unde  scrygen  (derselbe  reim  v.  495.  754);  v.  420  wente  yJc 
arme  moder  Marie  \  eynen  anderen  doch  wedder  lye;  v.  885 
ih  bevele  juw  gode  unde  sunte  Marien,  \  damede  wylle  wy  unse 
Jclagent  vortygen;  Mariengrüsse  1,  655  hilf  uns,  vrouwe,  durch 
daz  schrien  \  da^  durch  Märten  und  Marien;  Maria  himmel- 
fahr t  hg.  von Weigand,  Zs.fda. 5, 515ff.,  v.311  {sich)  mich  armen 
Marien,  \  dine  müter,  schrien;  v.  1594  bit  lobelicher  crie:  \  sis 
willehumen  Marie;  Unser  frauen  klage  hg.  von  W.  Grimm, 
Zs.fda.  1,34  ff.,  V.  130  dochter e  von  Syon,  \  wol  ir  nu  schrien  \  mit 
mir  vil  armin  Marien;  Marienlegende  von  Heinrich  dem 
klausner,  Bartsch,  Md.  gedichte  s.  1,  v.  1022  daz  die  suze  vrie  : 
. . .  Marie:  v.  157  sunden  vrie :  Marie  (sonst  stets  Mar  ja  :  da  96. 
231.  284.  428.  465.  577.  593.  882.  1216,  :  sä  585,  :  gä  421,  :  gra 
440);  Mariengrüsse  (Zs.  fda.  8)  v.  275  miner  sünden  masse- 
nie,  \  als  von  Egypten  tet  Marie;  v.  375  hilf  uns  durch  die 
namen  drie,  \  muoter  unte  maget  Marie, 

Deshalb  wird  oft  auch  statt  Marie  :  Maria  oder  Marjä 
gereimt;  vgl.  Amersbach  1,  31.    Weitere  belege  sind: 


186  HELM 

Erlösung  v.  2587  aldä  :  Marjä,  v.  5698  iesd  :  Marjä] 
Grazer  Marienleben  hg.  von  Schönbach,  Zs.  fda.  17,  v.  289 
da  :  Marjä  neben  v.  611  Marie  :  dornes  vrte\  Mariengrüsse  1, 
V.  133  Mllet,  schulet,  Mä,  hiä,  hilf  uns,  hilf  uns,  guot  Maria] 
V.  741 . . .  weinten  gegen  dem  trüte,  owi,  da  \  leit  din  herze  not, 
Maria!]  v.  779  hilf  uns,  hilf  uns,  wir  sin  din:  ja,  \  du  bist  guot, 
vil  guot,  Maria;  Gedicht  auf  Maria  hg.  von  F.  Pfeiffer,  Zs. 
fda.  8,  V.  111  ff.  0  wol,  du  senftigiu,jä  \  hast  du  vil  tugent,  Marjä] 
6  wol,  du  reine  guote,  ja  \  histu  des  mers  stern,  Marjä]  6  wol, 
du  süemu  muoter,  ja  \  bistü  gnaden  vol,  Marjä]  Marienlied  er  ^ 
Zs.  fda.  10, 132, 23  o  clemens,  o  pia,  o  dulcis  Maria!]'  Buch  der 
rügen  hg.  von  Karajan,  Zs.  fda.  2,  v.  507  (der  ez  tuon  wil)  umh 
äve  Marjä,  \  daz  lät  ir  underwilen  da]  Leben  Christi  hg.  von 
F.  Pfeiffer,  Zs.  fda.  5,  v.  119  si  waz  geheizzen  Maria,  \  er  sprach 
plena  gratia]  Bonus  hg.  von  Haupt,  Zs.  fda.  2,  v.  162  dd  wart 
diu  Tcünegin  Marjä,  also  schiere  diu  ober  hrä  (die  nideren  ge- 
rüeret..,)]  Marienlied  hg.  von  Th.  Jacobi,  Zs.  fda.  3,  v.  92 
selich,  selich,  suze,  pia,  reine,  milde,  o  Maria,  v.  125  di  aUe 
sunder  lident  da,  \  da  hilp  mir,  o  Maria]  Frauentrost  hg.  von 
Pfeiffer,  Zs.  fda.  7,  v.  317  si  sprach:  ich  binz  Maria,  \  gotes  müter, 
die  vil  nä  ( . . .  stät).  ^ 

Fraglich  kann  in  dieser  sache  nur  sein,  welche  bedeutung 
man  dem  epitheton  vrie  zukommen  lassen  will.  Ans.  Salzer 
(Die  Sinnbilder  und  beiworte  Mariens  in  der  literatur.  Pro- 
gramme des  gymnasiums  zu  Seitenstetten  1886 — 93)  fasst  offen- 
bar vrie  als  gleichbedeutend  mit  sunden  vrie  auf  (vgl.  seine 
Zusammenstellungen  s.  366).  Nähmen  wir  dies  für  Hesler  an, 
so  müssten  wir  dessen  worte  etwa  so  interpretieren:  des  reimes 
willen  darf  ein  wort  in  einer  ihm  nicht  ursprünglich  eigenen 
prägnanten  bedeutung  gebraucht  werden.  Aber  diese  präg- 
nante bedeutung  steht  doch  sehr  in  frage.  Sie  würde  wol 
passen  in  die  Zusammenstellung  mit  guote  (Wemhers  Marien- 
leben, Fundgr.  2, 172, 26),  aber  für  unsere  stelle  ebenso  für  die 
meisten  andern,  wo  vrie  neben  edele,  riche  u.  ä.  steht  (vgl.  auch 
Fundgr.  2, 163, 25),  passt  doch  eigentlich  nur  der  sinn  'die  vor- 


^)  Gewis  ist  es  anch  kein  zufall,  dass  im  Alsfelder  passionsspiel 
(Zs.  fda.  3)  eine  der  wenigen  waisen  gerade  der  yers  2, 124  ist;  nu  höre 
auch  mer,  Maria, 


HEINBICH  HESLERS  EVANGELIUM  NICODEMI.  187 

nehme,  die  hohe',  wobei  nur  auffallend  bleibt,  dass  eben  ein 
wort  in  dieser  bedeutung  als  gelegenem  epitheton  der  Maria, 
wozu  es  doch  durchaus  zu  passen  scheint  (vgl.  bezeichnungen 
wie  ^himmelskaiserin'  u.  ä.),  nicht  galt. 

Dass  der  grund,  weshalb  Hesler  und  Jeroschin  ihre  metri- 
schen regeln  niederschrieben,  nicht  darin  zu  suchen  ist,  dass 
sie  irgend  etwas  neues  angestrebt  hätten,  ist  von  anderen  schon 
zur  genüge  hervorgehoben  worden  (vgl.Amersbachl,24.  Bartsch 
und  Bech  a.  a.  o.). 

Das  neue  liegt  allein  darin,  dass  sie  die  flxierung  der  regeln 
für  nötig  hielten.  Dass  sie  dabei  die  fest  begrenzte  silbenzahl, 
die  sich  z.  b.  bei  Konrad  von  Würzburg  ungesucht  aus  dem 
bestreben  möglichst  rhythmisch  gleichmässige  verse  zu  bilden 
ergab,  zum  künstlerischen  princip  erhoben,  also  vornehmlich 
die  äusserliche  gesetzmässigkeit  betonten,  ist  sehr  bezeichnend. 
Sie  zeigen  sich  darin  als  echte  kinder  einer  zeit,  wo  in  folge 
einer  beginnenden  sprachlichen  revolution,  die  alle  quantitäts- 
unterschiede  verschob,  das  mit  dem  älteren  sprachstand  eng 
verknüpfte  rhythmische  gefühl  zu  erlöschen  beginnt.  Sie  haben 
die  erkenntnis,  dass  die  technik  im  sinken  begriffen  ist,  aber 
sich  selbst  erhaben  fühlend  über  den  beginnenden  verfall  klam- 
mem sie  sich  ängstlich  an  die  Vorbilder  der  alten  meister  und 
stellen  äusserliche  regeln  auf,  die  im  laufe  der  zeit  zur  völligen 
erstarrung  kamen  in  der  traurigen  periode  des  blossen  silben- 
zählens  im  15./16.  Jahrhundert. 

HEIDELBEEG.  K.  HELM. 


zu  WOLFRAMS  PARZIVAL. 

Im  anschluss  an  eine  erklärung  des  dritten  buchs  von 
Wolframs  Parzival  sind  die  nachfolgenden  besprechungen  ein- 
zelner stellen  entstanden,  welche  noch  der  aufhellung  oder 
schärferen  betrachtung  zu  bedürfen  schienen.  Denn  die  mangel- 
haften auslegungen  dieser  stellen  in  der  ausgäbe  von  Bartsch 
sind  meist  von  späteren  aufgenommen  worden,  so  dass  eine 
correctur  erspriesslich  sein  dürfte.  Der  fortlaufende  commentar 
in  der  ausgäbe  von  Piper  bedeutet  gegen  Bartsch  kaum  einen 
fortschritt.  Er  ist  nützlich  durch  verweise  auf  die  erklärungs- 
literatur,  deren  resultate  verwertet  werden.  Sonst  aber  kehren 
schiefe  auffassungen  von  Bartsch  ziemlich  regelmässig  wider. 
Bereicherungen  der  erkenntnis,  welche  nicht  in  der  eigentlichen 
Wolframliteratur  niedergelegt  sind,  sind  ungenügend  ver- 
wertet ^  und  auch  in  grammatischer  hinsieht  fehlt  es  an  ge- 
nauigkeit.2)  Ein  strengeren  anf orderungen  genügender  com- 
mentar zum  Parzival  bleibt  immer  noch  ein  desideratum. 

Ausser  den  commentaren  von  Bartsch  und  Piper  habe  ich 
von  den  Übersetzungen  im  wesentlichen  nur  die  beiden  neueren 
benutzt,  welche  auf  gründlicher  kenntnis  des  Originals  beruhen: 
die  freilich  nicht  ganz  vollständigen  Übersetzungen  von  Bötticher, 
Berlin  1885  (2.  aufl.  1893)  und  von  W.Hertz,  2.aufl.,  Stuttg.  1898. 


^)  Z.  b.  155,23  wird  Bartschens  falsche  Übersetzung  von  schinndier 
durch  *  annschiene',  die  durch  die  ratlosigkeit  der  Wörterbücher  zu  ent- 
schuldigen war,  von  P.  widerholt,  obwol  inzwischen  aus  Schultz,  Höf.  leben 
s.  31  (2.  aufl.  s.  37)  zu  lernen  war,  dass  schinmlier  (=  afrz.  genouiUüres) 
die  das  knie  schützenden  panzerscheiben  sind.  —  Ich  erinnere  bei  der 
gelegenheit  auch  an  meine  Zs.  fda.  16, 425  gegebene  correctur  von  P.  35, 20, 
die  Piper  entgangen  ist. 

*)  So  z.  b.  wird  158, 26  das  falsche  praesens  gewahen  statt  gesehenen 
zu  gewuoc  Bartsch  nachgeschrieben. 


zu  WOLFRAMS  PARZIVAL.  189 

122, 2.  Ufern  touwe  der  wäpenroc  erwant  Bartsch  erklärt: 
^erwinden  sich  umwenden,  zurückgeworfen  werden:  der  wappen- 
rock spiegelte  sich  im  tau'.  Ebenso  Piper.  Dagegen  übersetzt 
Bötticher:  *wie  tau  erstrahlt  sein  wappenrock'  und  bemerkt 
dazu  in  der  anm.  (1.  aufl.):  nicht  *  spiegelte  sich  im  tau',  sondern 
*  kehrte  am  tau  um',  d.  h.  fand  erst  in  dem  glänze  des  taues 
seine  grenze.  Alles  falsch,  denn  erwinden  heisst  einfach  *  reichen 
bis',  vgl.  z.  b.  130, 17  ir  dechelachen  zdbelin  erwant  an  ir  hüf- 
felin  *  reichte  ihr  bis  an  die  hüfte'.  An  unserer  stelle  ist  also 
der  sinn:  *der  waffenrock  war  so  lang,  dass  er  bis  ans  tauige 
gras  reichte'.  Erst  in  den  'berichtigungen'  der  2.  aufl.  (s.  408) 
corrigiert  Bötticher  seine  Übersetzung  in:  *sein  wappenrock 
streift  an  den  tau'  und  danach  W.  Hertz:  4ang  fiel  der  wappen- 
rock hernieder,  dass  er  den  tau  vom  grase  strich'. 

122, 13.  Aller  manne  schcene  ein  hluomenkranz  umschreibt 
Bartsch:  4hn  der  ein  blumenkranz  war:  der  alle  mannesschön- 
heit  wie  blumen  zu  einem  kränze  in  sich  vereinigte'.  Aber 
diese  auslegung  des  bildes  trifft  wol  nicht  Wolframs  sinn.  W. 
braucht  das  einfache  hluome  sehr  gewöhnlich  metaphorisch  zur 
bezeichnung  des  vollkommensten,  höchsten,  z.  b.  39, 22  er  hluome 
an  mannes  schcene,  109,  11  der  aller  ritter  hluome  wirt  etc.^) 
Ganz  in  der  gleichen  anwendung  braucht  er  aber  auch  das 
wort  TcranZy  bei  welchem  der  ausgangspunkt  der  bedeutung 
ein  anderer  ist,  indem  der  kränz  auf  dem  haupte  wirklich 
das  höchste  am  menschen  ist,  also  ganz  gleichbedeutend  mit 
kröne  (z.  b.  781, 14  du  kröne  menschen  heiles).  Während  also 
bei  hluome  der  begriff  des  *  höchsten'  erst  indirect  aus  dem 
begriffe  der  Schönheit  und  Vollkommenheit  abgeleitet  ist,  geht 
er  bei  kram  (kröne)  direct  aus  der  anschauung  hervor  und 
tritt  von  da  aus  auch  in  den  begriff  der  Vollkommenheit  über. 
Ueberall  braucht  W.  kränz  nur  in  dieser  geltung  (260, 8.  394, 12. 
632, 18.  W.  86, 3.  292, 11),  ja  sogar  er  treit  der  unfuoge  kränz 
P. 343, 25  ^das  höchste  der  unsitte';  vgl.  Ludwig  a.a.O.  Man 
wird  daher  auch  in  unserer  stelle  kränz  in  dieser  bedeutung 
verstehen  müssen  und  nicht  wie  Bartsch  den  dabei  stehenden 
gen.  hluomen  zu  einer  Verschiebung  des  bildes  benutzen  dürfen. 


*)  Weitere  zahlreiche  steUen  verzeichnet  Ludwig,  Der  bildliche  aus- 
druck  bei  W.  (1889)  s.  17. 


190  BRAUNE 

Bluomenlcranz  besagt  hier  nichts  wesentlich  anderes  als  das 
einfache  kranzy  also  *das  höchste  der  mannesschönheit'.  Auch 
aller  manne  schoene  ein  bluome  würde  dasselbe  besagen. 

128, 17.  Der  werelde  riuwe  aldä  geschach.  Bartsch  er- 
klärt: ^der  werelde  dient  hier  zur  Verstärkung,  wie  sonst  in 
Zusammensetzungen  (werlttöre,  werltwtse)  grosses,  das  grösste 
leid'.  Bartsch  vergisst  aber  beispiele  dafür  beizubringen,  dass 
auch  eine  genetivverbindung  statt  der  sonst  allein  in  diesem 
sinne  belegten  composita  (vgl.  noch  werltschande,  werltzage) 
gebraucht  worden  sei.  Es  ist  der  werelde  als  dativ  zu  fassen 
und  zu  übersetzen:  *  der  weit  wurde  da  schmerz  zu  teil',  d.h. 
die  weit  erlitt  durch  Herzeloydens  tod  einen  schweren  Verlust. 
—  Die  erklärung  von  Bartsch  wird  von  Piper  weitergeführt, 
trotzdem  Bötticher  die  richtige  Übersetzung  bot.  Auch  W.  Hertz 
bringt  jetzt  wider  den  fehler  (^o  weit  von  leid,  was  da  geschah'), 
so  dass  dessen  ausmerzung  geboten  erscheint. 

136,  25.  Frouwe,  ir  wert  mir  gar  ze  her:  des  sol  ich  an 
iu  mäzen,  Bartsch  verbindet  hier  des  mit  mäzen:  ^mäzen  sw.  v. 
mass  halten;  mit  gen.  in  etwas.  Das  werde  ich  euch  beschränken'. 
Piper  erklärt  geradezu  mäzen  mit  *  massigen,  einhält  tun'.  Auch 
die  Übersetzer  geben  dieselbe  auff assung  wider.  So  Bötticher : 
^frau,  ihr  werdet  mir  zu  stolz,  des  will  ich  mass  euch  lehren'. 
W.  Hertz:  4hr  führet  noch  das  grosse  wort.  Ich  lehr  euch  wol 
bescheidenheit'.  Nun  würde  aber  ein  transitives  mäzen  einen 
objectsaccusativ  erfordern,  also  des  sol  ich  iuch  mäzen.  Viel- 
mehr hat  hier  m^zen  die  gewöhnliche  intransitive  bedeutung 
*mass  halten',  wie  Bartsch  auch  zuerst  richtig  angibt.  Das 
des  bezieht  sich  aber  nicht  auf  den  inhalt  des  vorhergehenden 
Satzes,  sondern  ist  causal  und  mäzen  weist  auf  das  folgende. 
Der  sinn  ist  also:  4hr  werdet  mir  gar  zu  vornehm.  Deshalb 
will  ich  an  euch  mass  halten,  d.h.  enthaltsamkeit  üben'.  Diese 
enthaltsamkeit  wird  dann  im  folgenden  specialisiert.  Ich  würde 
lieber  hinter  her  einen  punkt,  hinter  mäzen  doppelpunkt  setzen. 

137, 29.  Wasr  mir  aller  wibe  haz  bereit,  mich  müet  doch 
froun  Jeschüten  leit  Bartsch  übersetzt:  'wenn  ich  mir  auch 
den  hass  aller  weiber  dadurch  zuzöge';  Piper  ähnlich:  'wenn 
aller  frauen  hass  mir  drohte,  so  täte  mir  doch  Jeschutens 
kummer  weh'.  Es  wäre  seltsam,  wenn  Wolfram  fürchtete,  sich 
durch  das  mitleid  mit  Jeschute  den  hass  der  übrigen  frauen 


zu  WOLFRAMS  PAEZIVAL.  191 

zuzuziehen.  Der  fehler  liegt  darin,  dass  das  wcer  bereit  auf 
die  Zukunft  bezogen  wird,  während  es  heisst  'zur  hand  sein, 
gegenwärtig  vorliegen'.  Der  sinn  ist:  selbst  wenn  alle  frauen 
mir  gehässig  gesinnt  wären  (mich  hassten),  so  würde  ich  doch 
Jeschuten  bemitleiden',  d.h.  auch  wenn  er  durch  die  von  den 
frauen  bisher  ihm  zu  teil  gewordene  behandlung  grund  hätte, 
nun  auch  seinerseits  ein  prinzipieller  weiberfeind  zu  sein,  so 
würde  ihn  trotzdem  Jeschutens  Unglück  rühren'.  —  Von  den 
Übersetzern  könnte  vielleicht  W.  Hertz  ('und  wären  alle  frauen 
mir  feind,  mich  rührte  wie  Jeschute  weint')  das  richtige  meinen, 
während  die  Übersetzung  Böttichers  ('war  frauenhass  mir  auch 
bereit,  mich  härmten  doch  Jeschutens  leiden')  die  auffassung 
von  Bartsch  widerzugeben  scheint.  [Vgl.  jetzt  S.  Singer,  Bemer- 
kungen zu  Wolframs  Parzival  (1898),  s.  68f.] 

189, 15  ff.  Het  er  gelernt  stns  vater  site,  die  werdeeltche 
im  wonten  mite,  diu  buJcel  wcere  gehurtet  hag,  da  diu  herzoginne 
aleine  saz,  diu  sit  vil  kumbers  durch  in  leit  Das  bild  diu  buhel 
wcere  gehurtet  baz  scheint  allgemein  in  unschöner  weise  mis- 
verstanden  zu  werden.  Bartsch  drückt  das  folgendermassen 
aus:  'der  schildbuckel  hätte  bessere  stösse  empfangen,  d.  h. 
Gahmuret  hätte  sich  mit  dem,  was  Parzival  ihr  nahm,  nicht 
begnügt,  sondern  mehr  geraubt'.  Auch  Piper  erklärt:  'der  un- 
erfahrene wäre  kühner  vorgegangen',  hier  in  engem  anschluss 
an  Kant,  Scherz  und  humor  s.'lO,  der  noch  dazusetzt:  'wol 
nicht  ganz  ohne  eine  kleine  obscönität  im  bilde'.  Aus  der 
gleichen  auffassung  heraus  lassen  wol  Bötticher  und  W.  Hertz 
in  ihren  Übersetzungen  diese  Zwischenbemerkung  Wolframs 
ganz  aus.  Ich  meine  aber,  damit  tut  man  dem  dichter  schwer 
unrecht.  Wolfram  nimmt  in  der  ganzen  erzählung  so  innig 
und  zartfühlend  anteil  an  dem  unverdienten  misgeschick  der 
Jeschute  (vgl.  z.  b.  die  vorige  stelle  137,  29),  dass  es  damit 
seltsam  contrastieren  würde,  wenn  er  hier  meinen  sollte,  Par- 
zival hätte  eigentlich  die  gelegenheit  besser  ausnutzen  und 
die  Jeschute  vergewaltigen  müssen.  Man  vergegenwärtige 
sich,  wie  Wolfram  sonst  derartiges  mit  absehen  verurteilt,  so 
besonders  in  der  kräftigen  stelle  gegen  Meljacanz  343,23  — 
344, 10.  Der  Schlüssel  zum  Verständnis  der  stelle  liegt  viel- 
mehr in  dem  worte  tumpheit,  welches  im  vorhergehenden  verse 
steht:  unde  ein  tumpheit  da  geschach.    Parzival  hat  sich  bei 


192  BBAUKE 

der  Jeschute  ungefuogc,  unhöfisch,  unritterlich  benommen:  er 
war  r*w  tumbe.  Sein  vater  Gahmuret  würde  sich  bei  einem 
solchen  zusammentreffen  ritterlicher  betragen  haben,  mehr 
ritterliche  mht  bewiesen  haben.  Nur  das  soll  m.  e.  durch  das 
vom  kämpfe  hergenommene  bild  ausgedrückt  werden.  Ein 
ritter  von  der  feinen  höfischen  bildung  des  Gahmuret  hätte 
nach  Wolframs  meinung  sicher  nicht  das  zusammentreffen  mit 
der  einsamen  dame  zu  ungebührlichkeiten  benutzt.  Es  liegt 
in  dem  bilde  nicht  einmal  so  viel,  dass  er  etwa  die  läge  be- 
nutzt haben  würde,  um  in  höfisch  sittiger  weise  um  minne  zu 
werben.  Sondern  eben  nur  die  tumpheit  des  Parzival  ist  es, 
der  Wolfram  hier  die  mht  des  vollkommenen  ritters  entgegen- 
setzen will.  Also  *wenn  Parzival  wie  sein  vater  gehandelt 
hätte,  so  würde  er  sich  ritterlicher,  taktvoller  aufgeführt  haben'. 
Wer  mehr  herauslesen  will,  bürdet  Wolfram  eine  roheit  der 
gesinnung  auf,  die  seinem  wesen  fremd  ist.  Zwar  ist  W. 
nicht  prüde  und  vermeidet  es  durchaus  nicht,  sexuelle  Verhält- 
nisse gelegentlich  humoristisch  zu  behandeln.  Aber  in  unserem 
zusammenhange  würde  eine  ^obscönität'  seiner  ganzen  art  nach 
undenkbar  sein. 

141,  8.  Disen  ritter  und  den  vetern  din  ze  tjostiem  sluoc 
Orilus.  Die  fehlerhafte  erklärung  von  Bartsch :  und  den  vetern 
din  =  *der  zugleich  dein  vetter  war'  hat  seltsamer  weise  bis 
in  die  neueste  zeit  immer  wider  nachfolger  gefunden.  Piper 
erklärt:  *der  ritter  und  vetter  sind  dieselbe  person,  Schiona- 
tulander'.  Ebenso  geben  Bötticher  und  noch  jüngst  W.  Hertz 
in  ihren  Übersetzungen  diesen  fehler  wider.  Wer  mittelhoch- 
deutsch versteht  weiss,  dass  veter e  *vatersbruder'  heisst.  Par- 
zivals  Vatersbruder  ist  aber  Galoes.  Und  kurz  vorher  (134, 24) 
hat  Orilus  selbst  erzählt,  dass  er  den  Galoes  im  kämpfe  ge- 
tötet habe.  Schon  die  sprachliche  fassung  unserer  stelle  hätte 
zeigen  können,  dass  von  zwei  verschiedenen  personen  die  rede 
ist.  Auch  inhaltlich  wird  die  gegenüberstellung  wirksamer, 
wenn  Sigune  sagt:  'die  beiden  brüder  haben  dir  viel  zu  leide 
getan.  Zwei  länder  raubte  dir  Lähelin,  zwei  dir  nahe  stehende 
personen,  den  Schionatulander  und  den  Galoes,  erschlug  Orilus'. 
Dass  Schionatulander  mit  Parzival  überhaupt  nicht  blutsver- 
want  war  konmit  noch  hinzu,  um  selbst  die  nhd.  bedeutung 
von  'vetter'  hier  unzulässig  erscheinen  zu  lassen. 


Zu  WOLFBAMS  PABZIVAL.  193 

143^4.  Statt  derlachte  sollte  man  nach  DG  und  den 
meisten  andern  hss.  do  lachte  schreiben.  Lachmanns  derlachte 
ist  nur  durch  erlachte  d  und  der  lachte  g  gestützt;  in  letzterer 
hs.  hat  der  Schreiber  wol  der  als  pronomen  für  do  eingesetzt. 
Ueberhaupt  halte  ich  es  für  gewagt,  Wolframs  originale  schon 
die  praeflxform  der-  statt  er-  zuzuschreiben.  Dieselbe  tritt  in 
hss.  des  14.  und  15.  jh.'s  sehr  häufig  in  ostfränkischen  und  bairi- 
schen  quellen  auf  (vgl.  nachweise  bei  Schmeller  1^,531  ff.  Grimm, 
Wb.2,1011  und  bei  Weinhold,  Bair.gr.  s.  235  und  Mhd.gr.2s.  301); 
sie  ist  in  neueren  mundarten  weiter  verbreitet,  z.  b.  auch  ober- 
sächsisch. Die  entstehung  dieses  der-  aus  er-  ist  durch  den 
Satzzusammenhang  zu  erklären.  ^)  Ehrismann,  Beitr.  22, 259  will 
nur  vorhergehendes  t  verantwortlich  machen  (er  hat^erslagen 
>  er  häPderslagen)y  also  durch  teilung  des  t  zwischen  zwei 
Silben  das  der-  entstanden  sein  lassen.  Mir  ist  es  wahrschein- 
licher, dass  wir  es  mit  einem  Übergangsverschlusslaut  zu  tun 
haben,  wie  er  so  häufig  zwischen  dentalen  consonanten,  beson- 
ders bei  r,  l  entsteht,  vgl.  gr.  dvögog,  franz.  viendrai,  deutsch 
minder  aus  minner,  quendel  aus  quenel,  composita  wie  ordent- 
lich, öffentlich,  die  bairischen  diminutiva  wie  mandl  zu  mann, 
hähndl  zu  hahn.  Voraussetzung  für  diese  erklärung  ist  natür- 
lich, dass  das  praefix  er-  in  der  ausspräche  schon  zu  r  geworden 
war,  so  dass  die  r-articulation  eng  auf  den  vorhergehenden 
dental  folgte.  Bei  der  grossen  häufigkeit  der  wortausgänge  auf 
dentale  (r,  Z,  n,  s,  t)  im  deutschen  sind  die  phonetischen  Ver- 
hältnisse sehr  günstig  für  die  entstehung  eines  solchen  spross- 
lautes, der  dann  schliesslich  fest  wurde,  so  dass  der-  überall 
für  er-  eintreten  konnte.  Da  die  Vorbedingung  die  ausspräche 
des  praefixes  als  f  war,  so  wird  man  vor  dem  12.  jh.  keines- 
falls der-  erwarten  dürfen.  Die  ältesten  sichern  literarischen 
belege  hat  Weinhold  aus  der  Grazer  litanei  (bairische  hs.  vom 
ende  des  12.  jh.'s)  nachgewiesen,  beide  fälle  (220, 16  glasvenster 
derliuhtet,  223, 14  aller  derhräht)  nach  dentalen  consonanten.^) 


^)  Die  früheren  versuche,  er-  und  der-  etymologisch  zu  trennen  und 
sie  auf  verschiedene  germ.  oder  indog.  grundformen  zurückzuführen,  sind 
natürlich  ahzuweisen. 

>)  Sehr,  zweifelhaft  ist  ein  heispiel  in  einer  interlinearglosse  (12.  jh.) 
des  S.  QaUer  Notker,  Ps.  67, 28  (Hatt.  2, 231a),  wo  üher  do  er  raptm  mia/rd 
übergeschrieben  ist  der  eücchit    Schon  Graff  5,203  hegt  zweifei  und  ver- 
Beiträge zur  geschichte  d«r  deutschen  spräche.    XXIV.  j^3 


194  BRAUNE 

Die  darauf  folgenden  vereinzelten  belege  gehören  erst  der 
zweiten  hälfte  des  13.  jL's  an  (Nib.-hss.  B  und  A,  vgl.  Mhd.  wb. 
1,312).  Für  Wolfram  könnte  man  es  allenfalls  als  möglich 
annehmen,  dass  er  seiner  heimat  nach  in  seiner  gesprochenen 
spräche  schon  der-  angewant  hätte.  Aber  in  der  geschriebenen 
spräche  hat  es  um  diese  zeit  noch  kein  legales  dasein  gehabt. 
Höchstens  durch  versehen  könnten  dem  Schreiber  des  Originals 
einige  der-  entschlüpft  sein,  während  man  annehmen  darf,  dass 
Schreiber  jüngerer  Wolframhss.  des  bairisch-ostfränkischen  ge- 
biets  die  ihnen  geläufigen  der-  werden  haben  einfliessen  lassen. 
Ich  meine  also,  dass  eine  der-iorm  in  jüngeren  hss.  nie  in  den 
text  aufgenommen  werden  dürfte.  Nur  ganz  alte  hss.  mit  der- 
könnten  allenfalls  für  die  originalhs.  beweisen.  So  könnte 
man  sich  vielleicht  derzuct  64, 6  gefallen  lassen,  da  hier  wenig- 
stens G  dafür  zeugt,  auch  ein  n  {erschein)  vorausgeht.  Auch 
82,4  könnte  vielleicht  das  da  erworben  von  D  die  conjectur 
derworhen  zulassen  (nach  pris).  Die  meisten  von  Lachmanns 
der-  sind  jedoch  ohne  sicheren  halt  in  der  Überlieferung.  So 
z.b.  170,4  ist  allein  ersiufte  und  erbarmte  überliefert.  Sehr 
unsicher  scheint  mir  auch  er  dersach  161, 23,  wo  man  nach  D 
er  ersach  oder  nach  G  er  dö  sach  schreiben  sollte.  Femer  ist 
147, 18  sicher  nach  D  zu  lesen  Der  bot  oder  nach  G  TJnde  bötA) 
Für  {d)erböt  liegt  hier  gar  keine  veranlassung  vor,  zumal 
Wolfram  in  ähnlichen  formein  wie  gruo/s  bieten,  ere  bieten, 
minne  bieten  nach  ausweis  des  Mhd.  wb.  (1, 181  f.)  das  simplex 
bieten  anzuwenden  pflegt.  —  Im  ganzen  genommen  stehe  ich 
dem  der-  im  Wolframtexte  skeptisch  gegenüber  und  möchte 


mutet  Schreibfehler  für  do  erzucchit  Als  fehlerhaft  wird  man  dies  haupt- 
sächlich deshalb  auffassen,  weil  der-  für  er-  im  ganzen  dem  alemannischen 
fremd  ist.  Einige  spätere  beispiele  s.  bei  Weinhold,  AI.  gr.  s.  279.  Das 
Schweiz.  Idiotikon  1, 401  kennt  kein  der-,  —  Auf  conjectur  Haupts  beruht 
im  Bamberger  Himmel  und  höUe  (Denkm.  30, 6)  dl  derliuhtet  Die  hs.  hat 
aldkMet.  Die  coiijectur  ist  bestechend,  auch  die  Stellung  hinter  l  würde 
stimmen  und  im  ostfränk.  kann  man  der-  erwarten.  Immerhin  kann  auch 
ein  sonstiger  Schreibfehler  vorliegen  und  man  wird  doch  bedenken  tragen, 
den  ältesten  beleg  der  erscheinung  einer  coi\jectur  zu  verdanken. 

^)  Interpungiert  wird  diese  stelle  besser  so,  dass  nach  sprcmc  komma, 
nach  vrie  doppelpunkt  gesetzt  wird,  so  dass  y.  17  apposition  zu  Iwanet  ist. 
Auch  D  hat  die  construction  so  gefasst,  wie  das  ein  statt  der  y.  17  zeigt, 
das  man  yieUeicht  beibehalten  könnte. 


zu  W0LFBAM8  PABZIVAL.  195 

von  den  lesarten  der  alten  hss.  zu  gnnsten  des  der-  abzuweichen 
bedenken  tragen.  Selbst  wenn  Wolfram  der-  gesprochen 
hätte,  so  kann  es  doch  nur  das  ziel  der  kritischen  ausgäbe 
sein,  die  schriftsprachliche  form  des  Originals  herzustellen. 

145,  28.  AI  röt  nach  des  heldes  ger  was  im  sin  swert  ge- 
rottet, nach  der  scherpfe  idoch  gelobtet  Die  Schwierigkeit  der 
sachlichen  erklärung  des  gelcetet  wird,  wie  es  scheint,  über- 
sehen. Das  Mhd.  wb.  1, 1043  b,  von  der  abgeleiteten  bedeutung 
16t  =  'gewicht'  ausgehend,  übersetzt  Iceten  mit  'vollwichtig 
machen,  fest  machen',  Lexer  1, 1961,  der  lot  richtiger  erklärt, 
gibt  für  Iceten  die  Übersetzung  'mit  lot,  mit  übergegossenem 
metall  fest  machen'.  Ebenso  erklärt  Bartsch  unsere  stelle. 
Piper  sagt  nur  'der  schärfe  entsprechend  festgemacht'.  Aber 
diese  erklärung  schwebt  in  der  luft.  Lceten  heisst  nicht 
schlechthin  'durch  metall  festmachen',  sondern  nur  zwei  vorher 
getrennte  metallstücke  durch  eine  metalllegierung  verbinden, 
wie  dies  auch  der  heutige  Sprachgebrauch  besagt,  der  darin 
die  ursprüngliche  bedeutung  festhält.  Und  zwar  ist  das  eigent- 
liche löten  die  bleilötung,  denn  lot  heisst  im  altdeutschen  'blei 
in  technischer  Verwendung'  (vgl.  DWb.  und  Lexer  s.v.),  die 
daraus  abgeleitete  Verwendung  für  'bleigewicht'  und  dann 
'gewicht'  überhaupt  war  allerdings  mhd.  sehr  verbreitet,  ist 
aber  jetzt  in  den  hintergrund  getreten.  Die  Urbedeutung  des 
Wortes  I6t  ist  'blei'  schlechthin  ^  und  wenn  Iceten  im  technischen 

^)  Als  bezeichnung  für  das  bleimetaU  ist  ags.  Uctd,  ne.  lead,  nnl.  lood 
allein  im  gebrauch.  Doch  scheint  mir  ahd.  bli,  das  durch  an.  bl'^  gestützt 
wird,  das  eigentliche  germanische  wort  zu  sein,  dessen  von  J.  Grimm,  DWb. 
2  s.v.  vertretene  zusammensteUung  mit  *blau*  doch  wol  durch  die  Schwierig- 
keiten des  vocalismus  nicht  beseitigt  werden  kann.  Vgl.  auch  Noreen, 
Urgerm.  lantl.  s.  214.  Mit  Much,  Zs.  fda.  42, 164  den  vocal  von  blt  durch 
entiehnung  aus  dem  keltischen  zu  erklären,  halte  ich  auch  deshalb  für  ge- 
wagt, weil  ein  entsprechendes  keltisches  wort  nicht  vorhanden  ist.  Dagegen 
hat  lot  seine  entsprechung  auf  kelt.  gebiete,  vgl.  air.  luaide  plumbum. 
Dieses  wird  von  Stokes  -  Bezzenberger  bei  Fick  2*,  254  als  urverwant  mit 
ags.  Uadf  mhd.  lot  angesehen.  Doch  halte  ich  es  für  wahrscheinlicher,  dass 
agerm.  lauäa-  eine  alte  culturentlehnung  der  Germanen  von  den  Kelten 
sei  zur  bezeichnung  des  technisch  verwanten  bleis.  Nur  diese  specieUe 
bedeutung  liegt  dem  hochdeutschen  gebrauche  zu  gründe.  Dass  dann 
dieses  technische  blei  bei  einzelnen  germanischen  stammen  das  germ.  bli 
ganz  verdrängen  konnte,  zeigt  uns  das  niederländische,  welches  heute  nur 
Ipod  kennt,  zur  mnl.  zeit  daneben  aber  auch  noch  vereinzelt  bU  besass 

13* 


196  BRAUNE 

sinne  auch  für  Verbindung  edler  metalle  durch  andere  lötmassen 
gebraucht  wird,  so  ist  doch  die  bleilötung  der  ausgangspunkt 
dieses  gebrauchs.  Sehen  wir  die  in  den  mhd.  Wörterbüchern 
und  DWb.  6  unter  loeten  gesammelten  beispiele  durch,  so  be- 
zeugen sie  sämmtlich  den  uns  noch  jetzt  geläufigen  sinn  des 
Wortes  als  eines  ^zusammenfügens',  zunächst  im  eigentlichen 
sinne  von  metallen,  dann  aber  besonders  mhd.  auch  übertragen, 
wie  min  manheit  ist  gelcetet  mit  eines  zagen  muot;  ist  last  üf 
mich  gelcetet;  ir  triuwe  also  gelcetet  was  zesamsn  (Lexer)  etc. 
Immer  handelt  es  sich  um  die  Verbindung  zweier  gegenstände, 
weshalb  auch  regelmässig  eine  praep.  wie  üfy  mit,  in  oder 
sonst  eine  sprachliche  bezeichnung  der  Verbindung  bei  Iceten 
steht.  Mit  diesem  sonst  allein  giltigen  gebrauch  unseres  ver- 
bums steht  aber  nun  in  schroffen  Widerspruch  das  absolut  ge- 
brauchte Iceten  an  unserer  Parzivalstelle,  der  sich  noch  die 
zweite  stelle  P.  482, 9  anschliesst,  in  welcher  mit  beziehung 
auf  die  wunde  des  Amfortas  gesagt  wird:  oh  daz  sper  unge- 
Mure  in  dem  heischen  fiure  woer  gelüppet  oder  gelcetet,  dost  uns 
an  fröuden  tcetet  Hierzu  bemerkt  Bartsch :  ^  Iceten  festmachen, 
mit  dem  nebenbegriff  des  zauberischen'.  W.  Hertz  (s.  252) 
übersetzt  einfach:  *ob  nicht  das  fürchterliche  eisen  imhöUen- 
feuer  sei  gelötet'.  Ausser  bei  Wolfram  fljidet  sich  dieser  ge- 
brauch von  Iceten  in  beziehung  auf  ein  schwort  oder  einen 
sper  nur  noch  in  zwei  von  Lexer  nachgewiesenen  stellen  des 
jüngeren  Titurel.  Die  erste  j.  Tit.  1232  in  beziehung  auf  einen 
sper:  von  hitze  noch  von  nceten  sach  ez  nieman  wichen,  dafür 
Jcund  ez  wol  Iceten  der  ez  mit  flizze  worhte  meisterlichen.  So- 
dann von  einem  Schwerte  5814:  daz  swert  daz  bi  Barnant  da 
wart  gelcetet  mit  Lak  dem  edelen  brunnen  daz  wcen  ich  den 
trachen  hie  vil  humhers  ncetet.  Also  hier  ein  schwert,  das  durch 
einen  edelen  brunnen  'gehärtet'  wird,  ebenso  wie  für  die  vorige 
stelle  ^härten'  die  durch  den  Zusammenhang  geforderte  bedeu- 


(s.  Verdam-Verwijs  Mnl.  wb.  s.  v.).  Ebenso  könnte  schon  ags.  lead  ver- 
allgemeinert worden  sein.  Auch  mnd.  war  nach  den  belegen  bei  SchiUer- 
Lübben  zu  schliessen  löd  als  name  des  metaUs  sehr  viel  gebräuchlicher  als 
bU,  bUg.  Entlehnung  von  löt  anzunehmen  ist  auch  Much,  Zs.  fda.  42, 164 
geneigt,  der  es  zu  indog.  pltid,  nhd.  fliessen  steUen  möchte  (vgl.  Fick 
2*f  253).  [Zur  etymologie  von  bli  und  löt  vgl.  jetzt  noch  Hirt,  Beitr.  23, 
354  f.  und  Kluge,  Et.  wb.®  s.  v.  blel] 


Zu  WOLFRAMS  PARZIVAL.  197 

tung  ist.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  Albrecht  diesen  gebrauch 
von  ein  swert,  sper  Iceten  Wolfram  nachgeahmt  hat  und  dass 
wir  darin  einen  individuellen  sonst  nirgends  bisher  nach- 
gewiesenen Sprachgebrauch  Wolframs  haben.  Wir  werden 
hiernach  auch  für  die  beiden  Wolfi^amstellen  die  Übersetzung 
'härten,  hart  machen'  anzunehmen  haben.  Für  die  zweite 
stelle  482, 9  ist  dieser  sinn  zweifellos.  Für  die  stelle  145,  28 
könnte  dem  zusammenhange  nach  ein  anderes  in  frage  kommen. 
Es  wird  da  gesagt,  dass  Ithers  schwert  rot  gefärbt  war,  nach 
der  scherpfe  idoch  geloetet  Das  will  dem  einwurf  begegnen, 
ob  ein  solch  rot  gefärbtes  schwert  auch  gut  schneide.  Man 
sollte  erwarten  'zum  zwecke  der  schärfe  jedoch  stahlglänzend 
gemacht',  d.h.  die  eigentliche  schneide  des  Schwertes  war  von 
der  roten  färbe  frei.  Aus  dieser  erwägung  heraus  übersetzt 
Bötticher:  'nach  seinem  willen  war  auch  das  schwert  gerötet, 
nur  das  stahl  der  schneide  blitzte  hell'  und  W.Hertz  (s.  60): 
'auch  war  sein  schwert  auf  sein  begehr  vom  schmiede  ganz 
mit  rot  bemalt,  dass  nur  die  schneide  stählern  strahlt'.  Aber 
die  andere  stelle  Wolframs  und  die  auffassung  des  Titurel- 
dichters  erlauben  doch  nicht  loeten  einfach  auf  die  färbe  zu 
beziehen.  Wolfram  muss  es  ganz  allgemein  auf  diejenige  tätig- 
keit  des  Waffenschmieds  bezogen  haben,  durch  welche  die 
schneide  einer  waffe  hart,  stahlhart  gemacht  wurde,  so  dass 
sie  gegen  scharten  standhaft  war.  Damit  war  für  unsere  stelle 
von  selbst  gegeben,  dass  die  schneide  nicht  rot  gefärbt  sein 
konnte.  Wie  nun  freilich  diese  manipulation  des  Waffenschmieds 
zu  der  bezeichnung  loeten  kommt,  das  ist  mir  dunkel.  Das 
löten  im  gewöhnUchen  technischen  sinne  kann  damit  nichts  zu 
tun  haben,  denn  stücke  einer  waffe  durch  löten  zu  verbinden 
wäre  wol  die  ungeeignetste  art,  sie  dauerhaft  zu  machen. 
Aber  auch  die  Übersetzung:  'durch  übergossenes  metall  fest 
machen'  ist  doch  nur  eine  Verlegenheitserklärung,  um  irgend- 
wie das  technische  'löten'  für  die  erklärung  der  Wolframstelle 
herbeizuziehen.  Dass  stahl  durch  flüssiges  metall  gehärtet 
werde,  wäre  wunderbar,  vielmehr  wird  seit  alter  zeit  stahl 
dadurch  gehärtet,  dass  er  glühend  in  kaltes  wasser  gehalten 
wird,  wofür  jetzt  'ablöschen'  der  terminus  technicus  ist.  Und 
so  scheint  es  auch  der  Titureldichter  zu  verstehen,  wenn  er 
5814  das  schwert  drachenfest  werden  lässt  dadurch,  dass  es 


198  BRAUNE 

mit  dem  'edeln  brunnen  Lac'  gelcetet,  d.  L  'abgelöscht'  wird. 
Man  muss  daher  wol  annehmen,  dass  Wolfram  Iceten  als 
Schmiedeausdruck  in  dem  sinne  unseres  'ablöschen'  gekannt 
und  verwertet  habe.  Die  herkunft  dieser  bedeutung  vermag 
ich  jedoch  nicht  zu  erklären.  0 

146,  21  ff.  Jacob  Grimm,  D.  rechtsalt.  s.  192. 196  hatte 
diese  stelle  benutzt,  um  allein  aus  ihr  zwei  verschiedene  Symbole 
der  besitznahme  eines  landes  zu  construieren:  1)  ausschütten 
von  wein,  2)  aufstecken  eines  umgekehrten  angebrannten  Stroh- 
wisches. Das  ist  aber  unzulässig.  M.  Haupt  hat  Zs.  fda.  15, 263 
bereits  das  erstere  als  irrig  bezeichnet,  da  Ither  selbst  sage, 
dass  er  den  wein  unabsichtlich  vergossen  habe,  'nicht  einmal 
das  wegnehmen  des  bechers  ist  als  ein  übliches  rechtssymbol 
hierdurch  erwiesen'.  Schon  vor  Haupt  hatte  Bartsch  in  seiner 
ausgäbe  in  bezug  auf  den  becher  ganz  allgemein  gesagt:  'die 
besitzergreifung  geschah  symbolisch  dadurch,  dass  man  von 
dem  eigentum,  auf  welches  man  anspruch  erhob,  etwas  nahm: 
wie  hier  den  becher'.  Wenn  auch  eine  solche  allgemeine  fassung 
einer  rechtsregel  nicht  durch  belege  gestützt  ist,  so  ist  die  auf- 
fassung  selbst  gewis  richtig.  Ither  begieng  eine  symbolische 
handlung,  die  an  sich  verständlich  war,  auch  wenn  sie  sich 
nicht  auf  festen  brauch  gründete.  Dagegen  meinen  alle  aus- 
leger,  dass  durch  die  folgenden  verse  ob  ich  schoube  umbekerte, 
so  wurde  ruozec  mir  min,  vel  in  der  tat  ein  stehendes  rechts- 
symbol erwiesen  werde.  Aber  welches?  J.  Grimm  konnte  aus 
deutschem  rechte  dafür  absolut  nichts  beibringen:   der  auf- 


^)  Nicht  zu  verwerten  ist  ein  von  Lexer  angesetztes  fem.  löt,  gen. 
Icßte,  löt,  zu  dem  er  die  bedeutungen  angibt:  ^reinigung,  brand  des  edeln 
metalls,  vollwichtigkeit  desselben'.  Der  ganze  ansatz  ist  sehr  zweifelhaft. 
Lexer  hat  dafür  nur  zwei  belege:  der  erste  Itehtez  goU  in  vtures  löt  ist 
nicht  dativ  eines  femininums,  sondern  des  gewöhnlichen  neutrums  löt,  da 
in  dem  gedichte  ^&au  ehrenkranz'  Liedersaal  1, 375  die  apokope  herscht, 
speciell  der  dat.  neutr.  hat  das  e  verloren,  es  reimt  z.  b.  in  dem  gras  auf 
gehaz  (v.  77).  An  dieser  stelle  hat  löt  die  gewöhnliche  bedeutung:  der 
glänz  der  sonne  wird  verglichen  mit  dem  glänze  des  goldes  in  viures  löt; 
also  wie  das  gold  im  feuer  glänzt,  wenn  es  zum  zwecke  des  lötens  heiss 
gemacht  wird.  —  Die  zweite  stelle  jung.  Tit.  5467:  gel,  swa/rz,  in  rekter 
loste  würde  zwar  ein  fem.  beweisen,  das  aber  wol  dann  besser  als  nom.  loste 
anzusetzen  wäre.  Aber  der  ganze  vers  ist  in  dem  Hahnschen  abdruck 
kaum  verständlich,  so  dass  es  nicht  rätlich  ist,  ohne  kritischen  text  damit 
zu  operieren. 


ZV  WOLFRAMS  PABZIYAL.  199 

gesteckte  Strohwisch  lässt  sich  in  Deutschland  nur  nachweisen 
entweder  als  zeichen  der  verkäuflichkeit  einer  sache,  oder  als 
zeichen  des  verbotenen  betretens  eines  grundstücks  oder  wegs. 
Er  klammerte  sich  deshalb  an  die  aus  Frankreich  bezeugte 
rechtsgewohnheit  der  saisie  f Nodale:  4e  seigneur  se  transpor- 
toit  sur  le  fief,  y  posoit  la  main  et  y  plantoit  un  bäton  gami 
de  paille  ou  d'un  morceau  de  drap'.  Schon  Haupt  a.a.O.  hat 
die  vergleichbarkeit  dieses  brauches  bezweifelt.  Mit  recht. 
Denn  erstens  handelt  es  sich  in  unserer  stelle  um  kein  lehen, 
zweitens  ist  das  symbol  ein  ganz  anderes,  denn  im  afranz.  ist 
die  hauptsache  der  aufgepflanzte  stab,  welcher  mit  stroh  oder 
mit  einem  stück  tuch  besteckt  ist,  es  spielt  also  das  stroh 
dabei  durchaus  die  nebenrolle,  ganz  abgesehen  davon,  dass  es 
nicht  angebrannt  und  umgekehrt  ist.  Es  ist  klar,  dass  die 
verquickung  des  altfranzösischen  brauchs  mit  den  angaben 
unserer  stelle  ganz  unzulässig  ist.  Wir  sind  also  auf  letztere 
allein  angewiesen,  wonach  es  sich  handelt  um  das  umdrehen 
einer  angebrannt  gewesenen  strohfackel;  von  einem  aufstecken 
derselben  auf  einen  stab  ist  nicht  im  mindesten  die  rede.  Soll 
man  das  nun  wirklich  für  ein  stehendes  deutsches  symbol  der 
besitzergreifung  halten?  >)  Dann  würde  davon  doch  wol  sonst 
irgendwo  eine  spur  sich  finden,  wie  denn  J.  Grimm  andere 
Symbole  derart  gesammelt  und  stichhaltig  belegt  hat.  Aber 
trotzdem  hielt  man  im  allgemeinen  daran  fest.  So  auch  Böt- 
ticher,  der  zwar  in  seinem  excurs  zu  der  stelle  (übers,  s.  343, 
2.  aufl.  s.  123)  die  Schwierigkeit  bemerkt,  weshalb  er  auch  die 
beiden  verse  26.  27  in  seiner  Übersetzung  unterdrückt  hat. 
Kant  (Scherz  und  humor  s.  55)  erklärt:  'über  die  altertümliche 
sitte  der  besitzergreifung  oder  der  erhebung  eines  rechts- 
anspruches  mittels  eines  umgekehrten  brennenden  Strohwisches 
macht  sich  könig  Ither  lustig,  indem  er  sie  verschmäht'.  Er 
weiss  also  sogar,  dass  diese  sitte  früher  existierte,  zu  Wolf- 
rams Zeiten  aber  unmodern  war.  Das  ist  natürlich  phantasie. 
Nach  meiner  auf fassung  ist  das  ganze  nur  ein  etwas  grotesker 
scherz  Wolframs,  der  ihm  in  den  sinn  kam  im  anschluss  an 

^)  Dass  es  sich  auch  nicht  etwa  um  ein  französisches  der  quelle  ent- 
lehntes Symbol  handeln  kann,  geht  daraus  hervor,  dass  bei  Chrestiens  die 
verse  P.  146, 26—30  keine  entsprechung  haben,  vgl.  Lichtenstein,  Beitr.  22, 16 
(die  ausgäbe  von  Fotvin  ist  mir  hier  leider  nicht  zugänglich). 


200  BBAUNE 

das  umdrehen  des  bechers.  Derartiges  findet  sich  ja  bei 
Wolfram  oft:  z.  b.  151,26  er  spancte  se  äne  türhant  und  die 
gleich  darauf  folgende  combination  des  eidstabs  mit  dem  stabe 
Keyes  (vgl.  dazu  John  Meier,  Anz.  fda.  15, 220)  Der  gedanken- 
gang  Ithers  ist  einfach  der:  er  hat  den  becher  weggenommen, 
um  damit  seinen  anspruch  auf  das  land  anzumelden  und  die 
ritter  des  Artus  zu  zwingen,  mit  ihm  um  den  becher  zu  kämpfen. 
Dabei  drehte  er  unversehens  den  becher  um,  so  dass  die  königin 
begossen  wurde.  Das  war  freilich  für  die  königin  unangenehm. 
Er  hätte  ja  am  ende  auch  —  wenn  doch  einmal  etwas  um- 
gedreht werden  sollte  —  eine  Strohfackel  (dies  die  vorwiegende 
bedeutung  von  schoup)  wegnehmen  und  umdrehen  können. 
Aber  dabei  hätte  er  sich  selbst  russig  gemacht  und  da  ist  es 
ihm  schon  lieber,  dass  die  königin  unter  dem  becherguss  hat 
leiden  müssen.  Mit  einem  rechtssymbol  hat  also  dieser  scherz 
nicht  das  mindeste  zu  tun. 

147, 18.    S.  oben  s.  194  (zu  143, 4). 

149, 30.  Ine  ruoch  wer  küneges  gäbe  giht  erklärt  Bartsch : 
giht  zuerkennt,  gewährt.  So  frage  ich  nichts  nach  den  mir 
zugedachten  geschenken'.  Ebenso  Piper.  Aber  jehen  kann 
wol  insofern  mit  zuerkennen  übersetzt  werden,  als  es  heisst 
'anerkennen  dass  jemand  etwas  hat',  'jemandem  etwas  zu- 
gestehen', dagegen  nicht  in  dem  zweiten  sinne  des  nhd.  zu- 
erkennen =  'jemandem  durch  urteil  etwas  verleihen,  gewähren'. 
Es  muss  hier  heissen  'ich  kümmere  mich  nicht  darum,  wer 
königsgabe  eingesteht'  d.  h.  'bekennt  empfangen  zu  haben'. 
Es  bezieht  sich  also  wer  in  ine  ruoch  wer  nicht  auf  den  könig, 
sondern  auf  andere  gabenempfänger.  Der  Zusammenhang  ist 
der,  dass  Parzival  sagt  (v.  27  in  wil  hie  nihtes  Uten):  'ich 
will  hier  drin  am  hofe  nichts  erbitten,  sondern  den  hämisch 
des  ritters  draussen  will  ich  haben.  Wenn  ich  den  nicht 
bekomme,  so  mögen  andere  {ine  ruoch  wer)  empfänger  von 
königsgaben  sein:  das  habe  ich  nicht  nötig,  der  ich  gewöhn- 
liche königsgaben  jeder  zeit  von  meiner  mutter  haben  kann, 
die  ja  selbst  eine  königin  ist'. 

154, 21.  Gip  her  und  laz  dtn  lantreht  ist  zwar  von  Lexer 
s.v.  lantreht  mit  beziehung  auf  146,23  richtig  erklärt:  es  ist 
der  becher^  durch  den  It}ier  §ßin  recjit  auf  das  land  in  anspruch 


zu  WOLFRAMS  PARZIVAL.  201 

genommen  hat.  Aber  die  vom  Mhd.  wb.  2, 1, 625  gegebene  ganz 
unmögliche  erklärung  *höre  auf  zu  streiten',  welcher  Bartsch 
gefolgt  war  (^lantreht  gerichtsverfahren,  process:  dein  proces- 
sieren  und  streiten')  wird  von  den  neueren  immer  wider  nach- 
geschrieben. So  von  Piper,  und  auch  W.  Hertz  übersetzt  ^gib 
her  und  lass  dein  rechten',  weshalb  der  hinweis  auf  Lexer 
nicht  überflüssig  sein  dürfte.  Lantreht  kann  wol  ^gerichts- 
verfahren nach  landrecht'  heissen,  aber  nie  auf  ein  beliebiges 
Wortgefecht  bezogen  werden. 

155, 18.  Bartsch  und  nach  ihm  Piper  setzen  die  lesart 
der  gruppe  D  riuhe  *  rauher  weg'  ein  statt  riuwe  der  gruppe  Gr. 
Letzteres  hat  Lachmann  aber  mit  recht  bevorzugt,  weil  riuwe 
hier  als  gegensatz  zu  schimpf  steht,  auch  riuhe  ein  sonst  von 
Wolfram  nicht  gebrauchtes  wort  ist. 

164, 14.  Der  scelden  spehe.  Die  falsche  vom  Mhd.  wb.  2, 1 
496  nur  aus  unserer  stelle  gefolgerte  bedeutung  *was  geschaut 
wird'  ist  nach  Bartsch  von  Piper  weiter  geführt,  obgleich 
schon  Bötticher  richtig  übersetzt  hat  'auf  ihm  ruht  des  glückes 
äuge'.  Denn  spehe  ist  nur  activ  'das  prüfende  anblicken,  das 
schauen'. 

167,8.  Gegenüber  der  von  Piper  Bartsch  nachgeschrie- 
benen falschen  erklärung  des  Mhd.  wb.  ist  einfach  auf  Lexer 
s.  V.  eilenden  zu  verweisen.    Richtig  Bötticher. 

170,  30.  Der  kumberhafte  werde  man  wol  mit  schäme 
ringen  kan.  Die  stelle  erklärt  Kinzel,  Zs.  fda.  30, 355  falsch:  'der 
bedrückte  würdige  mann,  der  vor  einer  unrechten  handlung 
zurückschreckt'.  Aehnlich  Bötticher  (D.  hohe  lied  v.  rittertum 
s.  38):  'der  mit  seiner  sittlichen  empfindung  ringt,  also  in  gefahr 
ist,  die  schäm  zu  verlieren'.  Hier  heisst  aber  ringen,  wie  öfter 
bei  Wolfram,  nicht  'gegen  etwas  ankämpfen'  sondern  übertragen 
'sich  mit  etwas  einlassen,  mit  etwas  im  verkehr  sein,  etwas 
ausüben,  an  sich  haben'.  So  30, 21  si  ringent  mit  zorne  'sie 
sind  sehr  zornig'  (nicht  etwa  'sie  suchen  ihren  zorn  zu  be- 
kämpfen'), 122, 18  sie  ringent  mit  der  notnunft  'sie  üben  ent- 
führung  aus'.  Es  heisst  also  hier  'der  treffliche  mann,  der  in 
not  ist,  weiss  wol  mit  der  schäm  umzugehen',  'er  befindet  sich 
in  schäm',  d.  h.  er  ist  ein  verschämter  armer,  dem  beizuspringen 
der  ritter  besonders  bereit  sein  soll.    Piper  schliesst  sich  an 


202  BRAÜKE 

Einzels  falsche  auffassung  an,  während  Bartsch  dem  richtigen 
näher  war.  Auch  Wallner,  Zs.  fda.  40, 62  scheint  die  richtige 
auffassung  der  stelle  zu  haben. 

171, 13.  Kinzel,  Zs.  fda.  30, 355  will  den  vers  gebt  rehter 
mä^e  ir  orden  zum  vorhergehenden  abschnitte  ziehen  und  da- 
nach den  reim  brechen,  so  dass  mit  171, 14  ein  neuer  gedanken- 
gang  begönne.  Auch  Bötticher  in  seiner  besprechung  von 
Gurnemanzens  lehre  (D.  hohe  lied  v.  rittertum  s.  34  ff.)  teilt 
ebenso  ab  und  Piper  hat  dies  aufgenommen.  Diese  abteilung 
ist  aber  schon  deshalb  unrätlich,  weil  sie  gegen  die  art  Wolf- 
rams ist,  welcher  bei  stärkeren  sinnabschnitten  keine  reim- 
brechung  hat.*)  Es  wird  also  Lachmanns  abteilung  beizu- 
behalten sein,  üeberhaupt  aber  kann  ich  Einzels  analyse  des 
gedankenganges  der  lehre  des  Gumemanz  nur  zum  teile  billigen. 
Für  mich  zerfällt  dieselbe  in  engem  anschluss  an  Lachmanns 
einteilung  in  folgende  hauptgedanken.  Abschnitt  1 — 3  (170, 15 
— 171, 12)  bilden  einen  allgemeinen  teil  Für  jeden  ritter  ist 
die  schäm  grundbedingung  der  werdekeit.  Für  einen  ritter, 
der  fürstlichen  geschlechts  ist,  wie  Parzival  dem  Gurnemanz 
zu  sein  scheint,  kommen  aber  besondere  pflichten  hinzu.  Er 
soll  den  unterdrückten  und  in  not  befindlichen  helfen  (ab- 
schnitt 2).  Ein  fürst  soll  aber  ferner  weder  geizig  noch  ver- 
schwenderisch sein,  sondern  von  seinen  mittein  den  richtigen 
gebrauch  machen  (abschnitt  3). 

In  dem  kurzen  abschnitte  4  (171, 13 — 16)  wendet  er  sich 
von  den  grundlegenden  tugenden  eines  fürstlichen  ritters  zum 
speciellen  falle,  zu  Parzival,  welchem  er  zunächst  im  allgemeinen 
mä^e  und  fuoge,  weise  mässigung  und  zuchtgemässes  benehmen 
anempfiehlt,  da  er  sieht,  dass  es  gerade  an  diesen  erf ordemissen 
der  äusseren  sitte  dem  Parzival  am  meisten  fehlt:  er  ist  rätes 
dürftic.  Einzel  will  v.  16  statt  des  überlieferten  nu  durch 
conjectur  und  einsetzen.  Seiner  argumentation  kann  ich  nicht 
folgen.  Einzel  meint  der  unfuoge  ir  strit  län  müsse  heissen 
der  u,  nachgeben,  unfuoge  üben.  Nun  ist  es  richtig,  dass  einem 
den  strit  län  heisst:  *  einem  das  feld  räumen'  und  das  kann 
die  folge  haben,  dass  man  ihm  unterworfen  ist,  ihm  nachgibt. 


*)  Hierin  folgt  Wolfram  seinem  'meister'  Veldeke,  s.  Behaghel,  einl. 
zur  Eneide  s.  120  (vgl.  auch  Glöde,  Germ.  33, 359). 


Zu  WOLFRAMS  PARZIVAL.  203 

Es  kann  aber  auch  bloss  heissen,  sich  von  ihm  trennen,  ihn 
schalten  lassen  nnd  selbst  freiledig  davon  gehen.  So  z.  b. 
Walther  69, 18.  Der  dichter  sagt  zur  dame,  wenn  sie  ihn  nicht 
erhören  wolle,  solle  sie  es  bald  sagen:  so  loa  ich  den  strit  und 
unrde  ein  ledic  man  ^dann  höre  ich  auf  zu  kämpfen,  verlasse 
sie  und  gehe  davon'  oder  Walther  64, 6  nü  muois  ich  von  in 
(sc.  den  schamelosen)  gän,  also  diu  isuht  gebot:  ich  läjse  in  laster 
unde  strit  Es  heisst  also  v.  14:  'jetzt  zieht  euch  von  der  un- 
fuoge  zurück,  weriet  gefüege^  und  ^geht  rehter  mäee  ir  orden\ 
Kinzels  conjectur  gegen  aUe  hss.  ist  also  zu  verwerfen.  0 

Dieser  allgemeinen  aufforderung  zu  einer  der  ritterlichen 
Sitte  gemässen  äusseren  lebensführung  lässt  nun  Gumemanz 
vier  speciellere  lehren  der  höfischen  mht  folgen,  welche  alle 
motiviert  sind  durch  besondere  mängel,  die  er  an  Parzival 
bemerkt  hatte.  Parzival  war  ungeschickt  in  seinen  reden  ge- 
wesen: deshalb  belehrt  ihn  Gt.  in  abschnitt  5  (171, 17 — 24)  über 
verständiges  fragen  und  antworten.  Im  anschluss  daran,  dass 
Parzival  seine  begegnung  mit  Ither  erzählt  hatte  (170, 2),  em- 
pfängt er  in  abschnitt  6  (171,  25 — 30)  eine  belehrung  darüber, 
wie  der  ritter  mit  einem  überwundenen  gegner  zu  verfahren 
habe.  Die  anfängliche  Weigerung  Parzivals  bei  seiner  ankunft, 
sich  entwaffnen  zu  lassen  (163, 21  ff.),  hat  die  lehre  des  ab- 
schnitt 7  (172, 1 — 6)  zur  folge,  dass  der  ritter  nach  ablegung 
der  Waffen  sich  durch  Säuberung  für  die  höfische  gesellschaft 
zurichten  müsse.  Endlich  hatte  Parzival  dem  Gurnemanz  auch 
sein  täppisches  verfahren  mit  der  Jeschute  erzählt  (170,1), 
weshalb  ihm  Gurnemanz  eine  eingehende  belehrung  über  das 
verhalten  des  ritters  zu  den  frauen  und  zur  minne  zu  teil 
werden  lässt:  abschnitt  8  (172, 7  —  173, 6).  Hiermit  ist  die 
belehrung  abgeschlossen,  für  welche  Parzival  dankt  (173, 7 — 10). 
Es  folgt  die  praktische  Unterweisung  in  den  kämpf sitten  (173, 
13  ff.),  die  freilich  auch  noch  zum  capitel  der  fuoge  gehört 
(unfuoger  im  sus  werte  174,  7). 

Näher  berührt  sich  die  hier  gegebene  disposition  mit  der 
analyse  von  Bötticher  (D.  hohe  lied  v.  rittertum),  welcher  ins- 
besondere den  gegensatz  des  allgemeinen  teils,  der  sittlichen 


^)  Bötticher  hat  in  der  zweiten  auflade  seiner  tlbersetzon^  nach  Kinzels 
coigectur  geändert. 


204  BRAUNE 

grundlage,  zu  dem  zweiten  hauptteile,  der  lehre  vom  benehmen, 
gut  hervorhebt. 

174,2.  Mit  schenkelen  fliegens  schine  übersetzt  Bartsch 
'mit  schenkein,  die  wie  fliegend  aussehen'  und  Piper  'indem 
die  Schenkel  zu  fliegen  scheinen'.  Aber  mhd.  bezeichnet  scMn 
(scMnen)  noch  nicht  wie  im  nhd.  den  schein  im  gegensatz  zur 
Wirklichkeit,  sondern  glänz,  erscheinung,  gestalt  etc.,  also 
immer  etwas  wirkliches,  nichts  bloss  angenommenes,  so  wie 
ja  auch  Bartsch  146, 16  ine  süle  niht  flühtic  scMnen  richtig 
nicht  mit  'zu  fliehen  scheinen'  übersetzt,  sondern  'man  wird 
mich  nicht  fliehen  sehen'.  Auch  kann  es  sich  nach  allgemein 
mhd.  Sprachgebrauch  hier  gar  nicht  um  einen  vergleich  han- 
deln, sondern  die  Schenkel  des  reiters  flogen  wirklich  (vgl. 
Hartmanns  Greg,  so  liez  ich  schenJcel  vliegen  und  viele  andere 
stellen).  Es  kann  also  hier  nur  von  dem  'in  die  erscheinung 
treten  des  schenkelfliegens'  die  rede  sein.^)  —  Schwieriger 
aber  ist  die  Wortverbindung  zu  beurteilen,  die  Bartsch  (Piper) 
gar  nicht  berührt.  Wie  erklärt  sich  der  dativ  schenkelen,  da 
doch  mit  zum  dativ  schine  gehören  muss?  Das  nächstliegende 
wäre  schenkelen  als  gen.  plur.  zu  fassen  'mit  dem  zur  erschei- 
nung treten  des  fliegens  der  Schenkel'.  Aber  schen^kel  ist  sonst 
nie  schwach  flectiert.  Lachmann  verweist  in  der  anm.  auf  Wh. 
408,  17:  dö  kerte  gein  dem  alten  mit  sparen  getribener  hurte 
CernuUlL  Doch  liegt  dieser  fall  anders.  Man  könnte  hier 
an  'sporengetrieben'  denken  und  mit  zu  hurte  construieren, 
wenn  solche  im  nhd.  beliebten  participialcomposita  dem  mhd. 
sprachgebrauche  nicht  fremd  wären  (vgl.  Grimm,  Gr.  4, 592  f.). 
Da  Wolfram  auch  sonst  dais  ors  mit  sporen  triben  braucht 
(Parz.  387, 11.  611,12),  so  ist  hier  getribener  hurte  als  adver- 
bialer genitiv  zu  fassen.  Für  unsere  Parzivalstelle  weiss  ich 
keine  andere  erklärung,  als  entweder  statt  schenkelen  gradezu 
den  starken  gen.  schenkel{e)  zu  conjicieren,  oder  was  mir  fast 
wahrscheinlicher  ist,  eine  äusserliche  angleichung  dieses  verses 

^)  In  der  zweiten  aufläge  hat  Bötticher  seine  Übersetzung  der  stelle 
zum  schlimmeren  geändert:  ^wie  er  das  ross  ...  mit  dem  spitzen  sporen- 
grusse  und  Schenkeldruck,  als  ob  es  flöge,  zum  anlauf  müsste  lenken'.  Zu 
dem  fehler  von  Bartsch  ist  hier  noch  die  falsche  beziehung  des  *  fliegens' 
auf  das  ross  gekommen,  während  in  der  ersten  aufläge  richtiger  stand:  ^mit 
...  sporengrusse  und  fliegender  Schenkel  druck'. 


zu  WOLFRAMS  PABZIVAL.  205 

an  den  vorhergehenden  parallelen  mit  sporen  gruozes  pine 
anzunehmen,  in  welchem  zwar  sporen  gen.  pl.  ist,  aber  doch 
der  form  nach  auch  als  dativ  zu  mit  misverstanden  werden 
konnte.  In  Lachmanns  texte  steht  die  lesart  von  D;  die 
einzige  hier  vorhandene  weitere  hs.  dieser  gruppe  d  hat  den 
richtigen  gen.  plur.  Schenkel,  Die  gruppe  G  liest  nach  sehen- 
Jcelen  ßegens  schtne,  wobei  schenkelen  notwendig  genetivisch 
gefasst  ssin  muss,  wie  auch  die  Schreibungen  jüngerer  hss. 
(schencJcelns,  schenJceh)  andeuten. 

HEIDELBERG,  29.  sept.  1898.  W.  BRAUNE. 


zu  HARTMANNS  REDE  VOM  GLAUBEN. 

Hartmanns  Credo,  das  erste  stück  der  untergegangenen 
Strassburg-Molsheimischen  hs.,  ist  seit  Massmanns  zu  mannig- 
faltigem tadel  herausfordernder  edition  immer  ein  Stiefkind 
der  forschung  gewesen.  Auch  Reissenbergers  dankenswerte 
arbeit  (Hermannstadt  1871),  die  vor  allem  für  die  heimatsfrage 
wesentlich  wurde,  nimmt  von  einer  genauen  revision  des  textes 
abstand.  Die  so  wünschenswerte  neuausgabe  hat  das  gedieht 
erst  jetzt  durch  von  der  Leyen  (Breslau  1897)  erhalten.  Auf 
die  von  ihm  hergestellte  textform  beziehen  sich  die  folgenden 
bemerkungen.  Sie  machen  es  sich  nicht  zur  aufgäbe,  alle  das 
gedieht  angehenden  formellen  und  sachlichen  probleme  und 
insbesondere  die  über  sie  vom  herausgeber  ausgeführten 
ansichten  einer  erneuten  prüfung  zu  unterziehen,  so  strittig 
mir  die  letzteren  in  manchen  punkten  scheinen  (ich  nenne 
nur  den  versuchten  nachweis  dreier  über  einander  lagernder 
sprachlicher  schichten,  die  eine  unerlässliche  statistische  analyse 
der  rhythmik  ganz  bei  seite  lassende  metrik,  die  sicher  in 
wesentlichen  punkten  zu  modiflcierende  darstellung  der  f ormel- 
technik).  Ich  beschränke  mich  auf  eine  behandlung  der  von 
von  der  Leyen  angesetzten  interpolationen  und  schliesse  ein- 
zelne bemerkungen  zum  text  des  gedichtes  an,  der  an  vielen 
stellen  noch  immer  der  besserung  bedarf. 

1.  Wenn  man  von  Reissenbergers  debattierung  der  frage 
absieht,  ob  die  ganze  partie  1680 — 3224  als  ein  besonderes 
gedieht  *Des  heiligen  geistes  rat'  auszuscheiden  sei,  die  er 
übrigens  im  sinne  der  einheitlichkeit  entscheidet,  ist  Schröder 
der  einzige  gewesen,  der  (Zs.fda.33,104anm.)  interpolationen 
und  zwar  in  sehr  massigem  umfange  in  Hartmanns  Credo  an- 
genommen hat.  Nach  dem  neuesten  herausgeber  (s.  33)  sollen 
nicht  weniger  als  116  verse,  wenn  ich  recht  gezählt  habe. 


Zu  HABTMANlffl  BEDE  VOM  GLAUBEN.  207 

von  einem  'prahlerisch  auftretenden',  täppischen  anfänger'  in 
den  ' Schwung'  von  Hartmanns  perioden  eingeflickt  sein.  In 
diesen  nach  meinem  gefühl  übertriebenen  allgemeinen  bezeich- 
nungen  scheint  mir  gleich  ein  hauptfehler  in  von  der  Leyens 
betrachtungsweise  klar  vorzuliegen.  Er  hat  durch  die  lange 
beschäftigung  mit  seinem  dichter  mehr  und  mehr  sich  ein 
Idealbild  von  seiner  individualität  construiert  und  diese  con- 
struction  ist,  wie  sich  in  seiner  ganzen  einleitung  klar  zeigt 
und  wie  es  ja  auch  zu  erwarten  war,  zu  vollkommen,  zu 
idealistisch  geraten,  als  dass  sie  wahr  sein  könnte.  Gewis 
war  Hartmann  nicht  nur  kein  ungeschickter,  sondern  ein  treff- 
licher, vom  ernst  seiner  aufgäbe  innerlich  durchdrungener, 
viele  seiner  dichtenden  Zeitgenossen  vielleicht  an  darstellungs- 
gabe  überragender  poet;  aber  ebenso  gewis  ist  es  übertrieben, 
ihn,  den  einfachen  laienbruder,  mit  solchen  lobesattributen 
auszustatten,  wie  sie  ihm  von  der  Leyen  nicht  gar  sparsam 
zuteilt,  und  ihn  dadurch  geradezu  zu  einer  phänomenalen 
erscheinung  innerhalb  einer  zeit  zu  machen,  die  so  hervor- 
ragende dichter  sonst  nicht  gezeitigt  hat  und  überhaupt  einem 
so  ausgeprägten  Individualismus  wenig  räum  zur  ausbildung 
gewährte.  In  einer  solchen  sonne  findet  man  natürKch  nun 
flecken: ' Widersprüche',  'stilistisches  und  metrisches  Ungeschick', 
'tautologien',  'not-  und  flickverse'  oder  wie  man  sie  sonst 
nennen  mag.  Ich  greife  nur  z.  b.  die  tautologien  heraus,  die 
von  der  Leyen  bei  weitem  nicht  vollzählig  in  sein  Verzeichnis 
'gleichlautender  Wendungen'  (s.  59)  aufgenommen  hat:  sie  sind 
ein  charakteristicum  der  ganzen  frühmittelhochdeutschen  dich- 
tung,  und  ihr  massenhaftes  auftreten  bei  Hartmann,  einerlei 
ob  nach  unserem  modernen  gefühl  an  passenden  oder  unpassen- 
den stellen,  nötigt  nicht  nur  nicht  zur  annähme  störender, 
ungeschickter  einschiebsei,  sondern  beweist  vielmehr  gerade, 
dass  Hartmann  durchaus  ein  kind  seiner  zeit  und  keine  aus- 
nahmepersönlichkeit  war.  Jenes  verzeichnete  Idealbild  von 
Hartmanns  dichterischer  eigenart  ist  der  psychologische  grund 
für  die  annähme  von  Interpolationen,  die  man  immer  findet, 
wenn  man  sie  sucht,  und  auf  deren  entdeckung  und  nach- 
weisung  gerade  in  unserer  Wissenschaft  schon  viel  Scharfsinn 
nutzlos  verbraucht  worden  ist.  Geben  wir  jene  ideale  construc- 
tion  auf,  so  fällt  auch  die  notwendigkeit  dieser  annähme. 


208  LETTZMANN 

Das  ist,  wie  ich  glaube,  bei  unserem  gedichte  der  fall 
Ich  gehe  nun  die  von  von  der  Leyen  beanstandeten  stellen 
einzeln  durch  und  versuche  die  von  ihm  für  die  ausscheidung 
geltend  gemachten  gründe  zu  entkräften,  sowie  gegengrände 
für  die  unentbehrlichkeit  mancher  stelle  innerhalb  des  gedank- 
lichen Zusammenhangs  darzulegen.  Ich  lege  dabei  die  reihen- 
folge  der  verse,  nicht  die  vom  herausgeber  in  der  einleitung 
beliebte  anordnung  der  stellen  zu  gründe. 

25 — 34  (s.  34).  von  der  Leyen  sagt:  'vers  25  und  34  be- 
sagen ganz  dasselbe  . . .  Der  Inhalt  von  vers  25—34  ist  daher: 
ich  will  anfangen  und  gott  um  hilfe  bitten;  und  da  mir  gott 
verheissen  hat,  er  wolle  mein  gebet  erhören,  so  will  ich  eben 
anfangen.  Einen  solchen  zirkel  macht  Hartmann  niemals'. 
Er  hat  also  den  Zusammenhang  der  gedanken  nicht  erkannt 
Dass  25  und  34  nicht  dasselbe  besagen,  zeigen  schon  die  ein- 
leitenden Partikeln  iedoh  und  so.  Der  ganze  passus  scheint 
mir  inhaltlich  unentbehrlich.  Hartmann  sagt:  *  hätte  ich  die 
nötige  Weisheit  (18),  so  wollte  ich  den  glauben,  an  den 
sich  viele  wertvolle  erwägungen  anknüpfen  lassen  (23),  in 
angemessener  weise  (bescheidenltche  20,  vgl.  1629)  auslegen'. 
Der  bescheidene  laienbruder  subintelligiert  dabei:  'im  besitz 
dieser  Weisheit  bin  ich  aber  nicht'.  'Trotzdem  (iedoh)  will  ich 
die  rede  beginnen;  gott  wird,  wie  er  selbst  verheissen  hat,  mir 
helfen;  in  dieser  hoffnung  will  ich  denn  (so)  getrost  ans  werk 
gehen'  (ich  glaube  in  understän  einen  rest  der  sinnlichen 
grundbedeutung  zu  fühlen).  Inhaltlich  ist  also  alles  in  bester 
Ordnung;  denn  dass  Hartmann  den  so  wichtigen  gedanken  seiner 
Unzulänglichkeit,  göttliche  probleme  würdig  zu  behandeln,  ein 
paar  mal  hin-  und  herwendet,  darf  uns  nicht  wunder  nehmen; 
von  der  Leyen  freilich  sieht  darin  eine  'Wichtigtuer ei'.  Seine 
Schlussbemerkung  verstehe  ich  nicht,  wenn  sie  sich  nicht  auf 
das  glossierende  da^  sprichit  (29)  beziehen  soll;  doch  vgl.  751. 
1109.  2368.  2908.  2954.  3014.  —  Die  äusserlichen  gründe 
von  der  Leyens  fallen  auf  anhieb.  Wände  steht  sonst  immer 
zur  erläuterung  des  Vordersatzes,  hier  (33)  zur  begründung 
des  nachsatzes;  daraufhin  zu  athetieren  heisst  einen  starren 
Schematismus  in  eine  lebendige,  von  grammatikergesetzen  noch 
unbeeinflusste  spräche  hineintragen,  was  auch  in  der  text- 
behandlung  vielfach  geschehen  ist;  der  herausgeber  unterbindet 


zu  HARTMAKKS  RED£  VOM  GLAUBEN.         209 

dem  dichter  jede  freiere  beweglichkeit  und  varietät  des  aus- 
drucks.  Eeiche  belege  für  wände  im  Vordersatz  stehen  im  Mhd. 
wb.  3, 501a,  wo  auch  die  an  unserer  stelle  vorliegende  Satzver- 
bindung wände  —  so  mehrfach  bezeugt  ist.  —  Das  vorkommen 
von  hoffen  war  einer  der  lexikalischen  beweise  für  Hartmanns 
mitteldeutsche  heimat  (ßeissenberger  s.  31).  An  unserer  stelle 
(26)  soll  nun  das  oberdeutsche  gedingen  (wie  auch  1511  dingen) 
in  diesem  sinne  stehen.  Das  wort  an  sich  ist  nun  weder  dem 
mitteldeutschen  überhaupt  noch  Hartmann  im  besondern  fremd 
(vgl.  s.  33  anm.  1 ;  hier  sind  die  Übersetzungen  zum  teil  recht 
sonderbar;  z.b.  war  für  3128  auf  grund  von  Mhd.  wb.  1, 338  a 
eine  andere  bedeutung  anzusetzen).  Warum  soll  es  gerade 
hier  *  hoffen'  bedeuten?  Kann  man  diese  einzelne  bedeutungs- 
nüance  überhaupt  so  isolieren,  dass  man  einem  dichter  den 
stamm  in  verschiedenen  bedeutungsvarietäten  zugesteht,  diese 
eine  aber  abspaltet?  Wer  hat  endlich  bewiesen,  dass  {ge)dingen 
und  hoffen  im  gleichen  sinne  mitteldeutsch  nicht  neben  einander 
bestehen  konnten?  26.  27  können  ganz  gut  'an  den  himm- 
lischen gott  will  ich  wegen  hilfe  appellieren'  oder  'hilfe  will 
ich  mir  vom  himmlischen  gott  ausbedingen'  übersetzt  werden. 

77 — 80  (s.  41).  Hier  nimmt  der  herausgeber  ausser  der 
nicht  weiter  auffallenden  widerholung  (79 — 83)  daran  anstoss, 
dass  tut  (79)  auf  zestunt  (78)  sich  zurückbezieht  und  daher 
'angeflickt'  sei,  während  er  tut  (83)  wegen  des  vorhergehenden 
getete  für  'berechtigt'  erklärt.  Er  hat  also  nicht  an  die  syn- 
taktische regel  gedacht,  dass  tuon  ein  vorangegangenes  verbum 
ersetzen  kann  und  dann  die  construction  dieses  verbums  an- 
nimmt (Paul,  Mhd.  gr.*  §  386).  Consequenterweise  müsste  er 
dann  auch  die  beiden  andern  bei  Hartmann  noch  vorkommenden 
fälle  dieses  gebrauchs,  wo  tuon  ein  vorhergehendes  geschehen 
aufnimmt  (725.  954),  für  Interpolationen  ansehen. 

99 — 104  (s.  38)  sollen  wegen  der  anaphorischen  widerholung 
der  anfangsworte  vil  michil  ist  (89. 104)  unecht  sein  und  'sind 
ohnehin  noch  vers  98  und  84  allzu  ähnlich'.  Diese  widerholung 
aber  ist,  zumal  sie  auch  312  sich  findet,  nicht  nur  zweifellos 
beabsichtigt,  sondern  geradezu  formelhaft  (vgl.  Kraus  zu  Baumg. 
Joh.  55).  Die  formel  fehlt  in  von  der  Leyens  f ormelverzeichnis 
wie  so  manche  wendung,  die  hineingehörte,  während  eine  ganze 
zahl  von  andern  Verbindungen  sich  zu  unrecht  darin  findet. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  j[4 


210  tiElTÄMANK 

105. 106  (s.  40)  ^unterbrechen  störend  die  vielen  paralle- 
lismen  und  anaphern,  die  Hartmann  in  dieser  partie  absichtlich 
häuft'.  Kurz  vorher  war  die  anapher  ein  grund  zur  athetese, 
hier  wird  das  princip  plötzlich  umgekehrt.  Die  verse  sind  schon 
deshalb  unentbehrlich,  weil  105  eine  zweifellos  absichtliche  paral- 
lele zu  125  enthält,  was  schon  Eeissenberger  (s.  10)  gesehen  hat. 

201.  202  (s.  40)  sollen  wegen  des  anklangs  an  105.  106 
fallen  und  *  verwischen  die  juristische  färbung,  die  200  und  203 
ohne  einschiebsei  haben'.  Der  erste  grund  erledigt  sich  von 
selbst;  auf  die  *  juristische  färbung'  muss  ich  mit  ein  paar 
Worten  eingehen.  Von  der  Leyen  hat  (s.  5)  herausgefunden, 
dass  sich  Hartmann  mehrfach  in  Wendungen  bewegt,  'die  nach 
dem  ausweis  der  Wörterbücher  in  der  weltlichen  rechtssprache 
beliebt  sind'.  Beweisen  sollen  das  die  acht  Wörter  (nicht 
Wendungen)  eichenen,  termenunge,  getelinc,  missehellen,  veichen, 
reiten,  verplegen  und  ingetüme.  Die  belege  der  lexica  stammen 
allerdings  zum  teil  aus  rechtsquellen,  geben  uns  aber  keinerlei 
berechtigung,  in  diesen  Wörtern  sozusagen  juristische  termini 
zu  sehen,  die  ein  dichter  wie  Hartmann  der  rechtssprache 
entlehnt  haben  müsste.  Eichenen  kommt  nur  in  der  Wiener 
Genesis  vor,  die  kein  rechtsbuch  ist;  veichen  kennen  in  Hart- 
manns sinne  nur  die  Hohenfurter  Benedictinerregel  und  der 
Williram,  wider  um  keine  rechtsbücher;  ingetüme  hat  auch 
Wernher  von  Elmendorf;  einzig  termenunge  ist  nur  aus  dem 
Kaiserrecht  belegt;  die  übrigen  Wörter  sind  überall  zu  finden. 
Wenn  es  nun  aber  mit  der  'juristischen  färbung'  von  Hart- 
manns spräche  so  steht,  dann  erledigt  sich  auch  der  zweite 
einwand  gegen  unsere  verse  leicht. 

229 — 234  (s.  39).  Der  herausgeber  nimmt  daran  anstoss, 
dass  das  zweimalige  er  (229.  230)  im  nebensatze  (232)  durch 
das  Substantiv  got  aufgenommen  wird.  Schon  die  parallele  1486 
zeigt,  dass  wir  es  hier  mit  einer  formelhaft  stereotypierten 
Wendung  zu  tun  haben,  bei  deren  anwendung  der  dichter  sich 
nicht  erinnerte,  dass  das  viele  zeilen  vorher  stehende  subject 
vater  (222)  ebenfalls  auf  gott  geht.  Warum  die  aufzählung 
von  himmel  und  erde,  meer  und  höUengrund  'ungeschickt'  sein 
soll,  vermag  ich  nicht  einzusehen.  Zudem  wird  der  gedank- 
liche fortschritt  durch  die  athetese  bedenklich  gestört.  Ohne 
sie  ist  alles  in  Ordnung:  gott  hat  seinem  söhne  die  gewalt 


ZV  HARTMANNS  ftEDEl  VOM  GLAUBEN.  21 1 

Über  alles  erschaffene  gegeben;  meer  und  hölle  (also  zwei  der 
unergründlichsten  dinge)  kennt  er  genau,  da  er  sie  ja  in  seiner 
Weisheit  im  anfang  erschaffen  hat.  Dieser  letzte  causalsatz 
schwebt  ohne  234  gänzlich  in  der  luft. 

299.  300  (s.  41).  Warum  gerade  diese  antithese  interpoliert 
sein  soll,  die  im  zusammenhange  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
geschmackvoll  ist  als  alle  andern,  ist  nicht  ersichtlich;  denn 
das  motiv  des  anklingens  von  UM  (299)  an  lieht  (297)  ist  doch 
nicht  ernst  zu  nehmen.  Der  flickvers  300  scheint  mir  zwischen 
den  gepaarten  begriffen  nicht  schlechter  als  298. 

617 — 622  (s.  39).  Auf  von  der  Leyens  metrische  kriterien 
kann  ich  ein  für  allemal  nicht  eingehen,  da  seine  behandlung 
dieser  dinge  (s.  45)  den  an  eine  rhythmische  Statistik  zu  stellen- 
den ansprüchen  nicht  genügt.  Von  den  metrischen  tendenzen 
des  gedichts  hat  er  sich  offenbar  selbst  kein  klares  bild  ge- 
macht, vielmehr  bietet  er  an  stelle  einer  nüchternen  Unter- 
suchung phrasen  (wie  z.  b.  s.  52).  Dass  der  Inhalt  dieser  verse 
in  einen  streng  logischen  gedankenzusammenhang  nicht  ganz 
hineinpasst,  kann  man  zugeben,  ohne  an  Interpolation  zu 
denken:  warum  sollen  wir  dem  dichter  jedes  abspringen  des 
gedankens  oder  der  empfindung  vom  geraden  wege  verübeln? 
So  bleibt  nur  das  zweimalige  tübel  (617.  619)  als  stein  des 
anstosses:  619  könnte  wider  wie  oben  bei  232  eine  stereotypierte 
Wendung  vorliegen  (belege  gibt  Kraus  zu  Makkab.  101),  doch 
hilft  schon  die  annähme  einer  emphatischen  anapher  (ähnlich 
z.  b.  1928.  1932.  1935.  1940)  über  die  Schwierigkeit  hinweg, 
wenn  es  überhaupt  eine  gibt. 

705 — 710  (s.  36).  Hier  wird  dem  dichter  wider  ein  ge- 
dankensprung  zum  Vorwurf  gemacht.  Aber  lag  es  denn  wirk- 
lich so  fern,  beim  preise  der  Maria  an  den  glänz  zu  erinnern, 
der  von  dem  göttlichen  söhne  auf  die  mutter  zurückstrahlte? 
Ist  eine  gedankenentwicklung  wie  diese:  Maria  war  aus  Davids 
geschlecht,  nie  hatte  eine  mutter  einen  mächtigeren  söhn,  diesen 
söhn  gebar  sie  als  Jungfrau  —  wirklich  so  ^unpassend'?  Wenn 
die  widerholung  des  reimworts  ist  (704.  710)  athetesen  be- 
gründen kann,  dann  müssen  noch  viel  mehr  zeilen  des  Credo 
verdammt  werden.  Welcher  luftige  türm  endlich  auf  das  wort 
werlthuning  (706)  gebaut  worden  ist,  mag  man  bei  dem  heraus- 
geber  selber  nachlesen. 

14* 


212  tiEItZMAim 

714.  715  (s.  41)  soll  ein  gelehrter  zusatz  sein,  der  aber  doch 
nicht  gelehrter  ist  als  alle  andern  lateinischen  verse  innerhalb 
des  deutschen  contextes.  Der  gute  reim  lilium  713  :  filium  716, 
der  nach  dem  herausgeber  hier  durch  den  interpolator  zerstört 
sein  soll,  sollte  durch  seinen  genauen  gleichklang  eher  ver- 
dächtig wirken. 

805 — 808  (s.  40)  sind  nur  durch  gedankenvariation  an- 
stössig,  also  in  Wahrheit  unverdächtig.  Wie  man  den  zeilen 
807.  808  und  799.  800  denselben  Inhalt  zuschreiben  kann,  weiss 
ich  nicht. 

982 — 985  (s.  40)  werden  aus  dem  nichtigen  gründe  be- 
anstandet, dass  der  bericht  des  Marcus  cap.  14  durch  eine 
Lucasstelle  (denn  statt  Marc.  9, 16  ist  hier  und  s.  178  Luc.  9, 16 
zu  lesen)  und  eine  stelle  der  Apostelgeschichte  unterbrochen 
werde.  Das  erledigt  sich  ohne  weiteres,  da  ja  eine  derartige 
contamination  von  verschiedenen  bibelstellen  doch  wol  dem 
dichter  zuzutrauen  ist.  In  der  widerholung  (982.  985)  sehe 
ich  nicht  ein  ^ nicht  weiter  können',  sondern  emphase,  wie  schon 
oben  in  einem  ähnlichen  falle.  Will  man  nicht  absichtliche 
verquickung  jener  beiden  motive  annehmen,  so  könnten  im 
gedächtnis  des  dichters  die  ähnlichen  Situationen  auch  ganz 
unbewusst  in  einander  geflossen  sein.  Trotzdem  aber  könnte 
von  der  Leyen  von  rechts  wegen  nur  983.  984  ausscheiden, 
da  ja  auch  Marcus  benedicens  hat;  dann  gerieten  aber  die 
beiden  dankverse  unmittelbar  hinter  einander,  wodurch  klar 
wird,  dass  es  mit  der  ganzen  athetese  nichts  ist. 

In  der  partie  1085 — 1124  (s.  42)  bleibt  absolut  unverständ- 
lich, welche  absiebten  der  urheber  derartiger  Umstellungen 
und  Interpolationen  bei  seiner  vandalischen  tätigkeit  gehabt 
haben  soll.  Wo  solche  kunststücke  nötig  sind,  um  den  ver- 
meintlich echten  text  widerherzustellen,  liegt  die  mangelhaftig- 
keit  der  begründung  der  athetesen  auf  der  band.  Aber  wider 
lassen  sich  ausserdem  die  einwände  des  herausgebers  unschwer 
entkräften.  Die  widerholungen  (1095.  1096,  1103.  1104  und 
1123.  1124,  931.  932)  stören  uns  natürlich  nicht,  denn  sie  sind 
nicht  ungeschickter  als  manche  andern,  die  doch  ruhig  passieren 
dürfen.  Der  gedankengang  ist  freilich  nicht  der  einer  logisch- 
dialektischen entwicklung,  aber  doch  keineswegs  *  unklar'. 
Sicher  ist  1097  ein  flickvers,  aber  warum  gleich  ein  *  sinnloser'? 


\ 


zu  HAÄTMANNS  BEDE  VOM  GLAUBEN.  213 

Der  dichter  benötigte  einen  reim  auf  gedenket,  und  ihm  fiel 
nichts  besseres  ein  als  daran  zu  erinnern,  dass  der  teufel  uns 
gern  zu  falle  bringt,  also  aus  reiner  bosheit  und  dem  gefallen 
daran  böses  tut  im  schroffsten  gegensatz  zu  Christus,  der 
sogar  für  die  betete,  die  ihm  das  leben  nahmen  (1109);  diese 
antithese  scheint  mir  in  den  versen  wenn  auch  unvollkommen 
zum  ausdruck  gebracht  werden  zu  sollen.  Gegen  die  zeilen 
1098.  1101.  1102  vermag  von  der  Leyen  selbst  nichts  anzu- 
führen. 

1401 — 1403.  1405  (s.  41).  Hier  stösst  sich  der  herausgeber 
an  der  reimfolge  1401 — 1406  (die  er  übrigens  auch  noch  un- 
richtig ausschreibt)  verJcerten  :  lerten,  keren  :  lugeneren,  gouke- 
leren  :  geleren;  'kann  es  etwas  ärmlicheres  geben?'  Aber  Hart- 
mann hat  derartige  häufung  ähnlicher  reime  noch  öfter:  637 
— 640  Crist :  ist,  liste  :  wiste;  741 — 746  rüte  :  gute,  veltblüme  : 
rüme,  getrüc  :  gut;  753 — 756  gewunnen  :  sunnen,  untrunnen  : 
gerunnen;  1361 — 1364  glich :  sih,  glich :  glich  Der  letztgenannte 
fall  z.  b.  ist  weit  härter  als  der  obige.  Auch  der  Inhalt  der 
verse  ist,  wenn  man  richtig  übersetzt  und  interpungiert,  nicht 
'blödsinn',  wie  von  der  Leyen  findet.  Ich  setze  nach  1399 
eine  stärkere  inteiTpunction,  später  gehören  je  zwei  verse  dem 
sinne  nach  zusammen.  So  hat  der  passus  vernünftigen  Zu- 
sammenhang: die  Juden  sprachen,  Christi  jünger  seien  unrein; 
niemand  solle  mit  ihnen  gemeinschaft  haben,  da  sie  die  weit 
auf  den  köpf  stellten;  um  ihre  lügenhafte  predigt  solle  sich 
niemand  kümmern;  sie  seien  lügner  und  gaukler  und  zwar 
nach  dem  vorbilde  ihres  lehrers  Christus.  'Ein  satz  wider- 
spricht immer  dem  andern'  sagt  von  der  Leyen! 

1481—1492  (s.  38).  Ich  sehe  nicht  ein,  warum  der  Inhalt 
dieser  verse,  den  der  herausgeber  ganz  richtig  angibt,  'unsinn' 
sein  soll.  Dass  von  den  geschöpfen  gerade  die  fische  heraus- 
gegriffen und  besonders  namhaft  gemacht  werden,  mag  uns  ja 
sonderbar  erscheinen,  berechtigt  aber  noch  lange  nicht  zu 
einer  athetese  oder  doch  höchstens  zur  beanstandung  von 
1488.  1489,  nicht  aber  der  ganzen  umliegenden  partie.  1489 
übrigens  enthält  keine  tautologie:  der  dichter  unterscheidet 
fluss-  und  Seefische  als  verschiedene  (manicvalt)  arten.  Die 
weiterhin  gerügten  stilwiderholungen  finden  sich  sonst  bei 


214  LEITZMANN 

Hartmann  so  massenhaft,  dass  ich  mir  belege  ersparen  kann. 
Wo  bleibt  die  Impotenz'  des  interpolators? 

1501 — 1512  (s.  35).  Von  der  Leyens  ei-ster  einwand,  dass 
hier  die  engelchöre  in  anderer  reihenfolge  als  im  späteren 
gedieht  genannt  werden,  ist  wol  kaum  ernst  zu  nehmen; 
Hartmann  schrieb  ja  nicht  ein  logisches  compendium  über  die 
himmelsbewohner,  und  die  vorliegende  stelle  ist  auch  nicht 
excurs  oder  Inhaltsverzeichnis  zu  der  späteren  breiteren  aus- 
führung.  Auch  das  zweite  motiv  zur  athetese,  an  1500  müsse 
sich  der  inhalt  des  lobes  sofort  anschliessen ,  hält  einer  rich- 
tigen Interpretation  nicht  stand.  Ich  bleibe  1500  bei  der 
handschriftlichen  lesart,  die  si  nicht  hat,  und  verstehe  die 
ganze  stelle:  loben  soll  dich  all  deine  Schöpfung,  wie  eines 
jeden  art  es  ihm  durch  deine  gnade  vorschreibt,  die  das  lob 
(ich  fasse  dijs  als  di  daz\  vgl.  1189. 1335)  auf  dich  hin  richtet; 
id.  h.  gottes  gnade  lehrt  die  creaturen,  dass  sie  jede  auf  ihre 
weise  gott  zu  loben  haben.  Wenn  man  diese  auffassung  von 
di^  sprachlich  für  Hartmann  untunlich  hält,  kann  man  auch 
mit  von  der  Leyen  si  einsetzen  und  diz  auf  1495  zui-ück- 
beziehen,  also  *  dieses  lob'  als  das,  von  dem  der  dichter  soeben 
gesagt  hat,  dass  es  gott  dargebracht  werden  solle,  verstehen. 
Ueber  dingen  endlich  vgl.  oben  zu  25. 

1531.  1532  (s.  40)  widerholen  105.  106,  brauchten  also 
darum  nach  meiner  auffassung  nicht  unecht  zu  sein;  dass  sie 
'der  diction  zum  nachteil  gereichen',  ist  ebenfalls  kein  genügen- 
der grund  zur  athetese.  Aber  im  gegenteil  ist  die  diction  nur 
dann  in  schönster  harmonie,  wenn  die  verse  stehen  bleiben, 
da  dann  jeder  der  drei  mit  in  beginnenden  verse  (1530. 1533. 
1535)  einen  nachsatz  hat  und  1531. 1532  z.  b.  ganz  parallel 
1534  stehen. 

1610 — 1613  (s.  34).  Gegen  diese  verse  erhebt  von  der  Leyen 
fast  nur  aus  gründen  Widerspruch,  die  ich  schon  anderweitig 
als  nicht  stichhaltig  nachgewiesen  habe:  zwei  der  incriminierten 
Zeilen  stehen  auch  an  einer  anderen  stelle  des  Credo;  zwei 
andere  werden  Hartmann  abgesprochen,  weil  sie  einem  neben- 
gedanken  ausdruck  verleihen  und  dadurch  die  stelle  ihren 
parallelismus  gegen  zwei  andere  einbüsst,  die  diesen  neben- 
gedanken  nicht  enthalten.  So  schematisch  lässt  von  der  Leyen 
seinen  begabten  dichter  arbeiten,  wenn  es  gilt  Interpolationen 


zu  HARTMAKNS  REDE  VOM  GLAUBEN.  215 

ZU  finden.  —  1612  steht  das  wort  riezen  wie  1911  beriefen, 
die  nach  dem  herausgeber  (s.  32.  33)  bairisch  oder  doch  ober- 
deutsch sein  sollen.  Das  ist  einmal  nicht  ganz  richtig,  denn 
auch  das  Rolandslied  hat  rieben.  Ferner  aber  dürfte  es  rein 
zufällig  sein,  dass  fast  alle  mhd.  (aber  nicht  ahd.)  belege  aus 
Oberdeutschland  stammen;  denn  das  wort  ist  auch  im  mnd.  als 
reten  vorhanden  (vgl.  Mnd.  wb.  3,  469  a). 

1910 — 1913  (s.  33).  Ueber  leriezen  habe  ich  eben  ge- 
sprochen. Hier  muss  ein  neuer  Schematismus  herhalten:  inner- 
halb der  geschichte  des  Schachers  am  kreuz  enthalten  unsere 
verse  eine  ganz  persönliche  bitte  des  dichters  um  erlösung,  und 
Hartmann  *  unterbricht  seine  geschichten  nie  durch  solche 
bitten  oder  ähnliche  deliberationen'.  Nun,  dann  hat  er  es 
eben  in  diesem  einen  falle  doch  getan.  Mit  recht  wies  zudem 
schon  Scherer  (Gesch.  d.  d.  dicht,  im  11.  u.  12.  jh.  s.  36)  auf  eine 
'ängstliche  sorge  um  die  ewige  Seligkeit  und  ein  starkes  in- 
dividuelles schuldgeführ  als  für  unsern  Hartmann  charakte- 
ristische eigenschaften  hin. 

Die  bedenken  gegen  die  verse  2674 — 2683  (s.  37),  die 
widerum  einen  kleinen  gedankensprung  enthalten,  wie  ihn  ein 
dichter  wie  Hartmann  nicht  machen  darf,  sind  wesentlich 
metrischer  natur,  also,  wie  ich  schon  oben  hervorhob,  für  mich 
undiscutierbar. 

2850. 2851  (s.  42)  enthalten  'ohne  grund'  (!)  einen  rührenden 
reim,  machen  die  absieht  des  dichters  'unkenntlich'  das  wort 
helle  in  den  versen  der  Umgebung  möglichst  oft  zu  nennen 
und  widerholen  'ungeschickt'  den  dichter;  'wenn  er  sich  wider- 
holen wollte,  würde  er  doch  gesagt  haben '    Ich  brauche 

nichts  zur  Widerlegung  hinzuzufügen. 

2880—2883  (s.  37)  endlich  sind  nur  deshalb  anstössig, 
weil  sie  die  quelle  'so  correct,  so  bestimmt'  nennen  'wie  der 
dichter  niemals',  ein  argument,  dessen  tragweite  ich  schon 
oben  zu  1910  beleuchtet  habe. 

An  keiner  einzigen  stelle  also  hat  sich  von  der  Leyens 
auffassung  halten  lassen.  Wir  besitzen,  wenn  man  meinen 
darlegungen  beistimmt,  Hartmanns  Credo  durchaus  in  reiner, 
uninterpolierter  gestalt.  Jeder  nicht  voreingenommene  leser 
des  gedichts  wird,  glaube  ich,  bei  eingehender  lectüre  von 
selbst  auf  dieses  resultat  kommen.    Indessen  hat  dieser  neueste 


J^^^  LErrzMAKX 

>Ui.     (fii^um  "mw  im  texte  zu  belassen;  800  zwingt  nicht 

^  oU^i!  ;«tt»iikHWir  Ud  dem, 

^v  X^Wfcacht  ist  hier  das  handschriftliche  leben  doch 
>i^;<)rHiM)k9^ttf.  jedenfalls  aber  sulen  nicht  zu  eliminieren. 

l^X^  ftisse  ich  als  zweiten,  1067  parallel  stehenden  relativ- 
tsMä  ttJüwi  streiche  daher  die  gedankenstriche;  anders  Kraus  zu 
Kfe^iit  Paul.  107, 3, 1  ba. 

1082.  Wenn  ich  Massmanns  anmerkung  recht  verstehe, 
Ä>  hat  die  hs.  gehucnisse  ein  ein  war  urchunde  und  die  zeichen 
a  und  b  über  den  beiden  ersten  Wörtern  deuten  Umstellung 
an.  Dann  haben  wir  also  kein  an  in  dem  ganzen  satze,  das 
Massmann  misverständlich  aus  ein  mit  darüber  stehendem  a 
entnahm.  Ich  lese  also  demnach:  ein  gehucnisse,  ein  war  ur- 
chunde, 

1287  lese  ich  mit  der  hs.  daj^  erz  selbe  wer£,  er  lebete. 
Die  wichtigste  mitteilung  ist  zweifellos  'dass  er  selbst  es  wäre'; 
*und  zwar  ein  lebendiger'  kommt  erst  in  zweiter  linie.  Dae 
er  selbe  wol  lebete  scheint  mir  hier  ganz  unpassend;  2224  heisst 
es  ^dass  es  ihm  gut  gienge',  was  hier  schon  wegen  des  selbe 
nicht  angeht.  Dass  es  zunächst  auf  die  Identification  der 
erscheinung  mit  Christus  ankommt,  lehrt  deutlich  1290.  1292. 

1592  war  rüwent,  das  die  hs.  hat,  beizubehalten.  Die  er- 
gänzung  1593a  ist  zu  streichen;  es  liegt  ein  dreireim  vor. 

1908  ist  da:s  nicht  zu  ändern,  1909  ein  komma  zu  setzen. 
Ich  verstehe:  'dass  sein  glaube  so  gut  war,  dass  er  ihm  die 
ewige  Seligkeit  erwarb,  derselben  gnade  lass  auch  mich  teil- 
haftig werden'. 

2055  ist  lerist  aus  der  hs.  beizubehalten,  am  Schlüsse  ein 
punkt,  2053  aber  ein  komma  zu  setzen:  'selten  hat  das  jemand 
auf  den  rat  eines  andern  hin  getan,  wenn  du  ihm  nicht  diesen 
guten  rat  gibst'. 

2160.    Dürftigen  ist  nicht  auszuscheiden. 

2171  lese  man  mit  der  hs.  dinen  Üb. 

2210.  Für  si  hat  Massmann  f ,  das  wol  abkürzung  für  ind 
sein  soll. 

2212.    Die  hs.  hat  des  statt  von  der  Leyens  der. 

2287.  Huor  ist  sonst  niemals  masculinum,  sondern  stets 
neutrum;  unsere  stelle  ist  bei  Lexer  1,1392  das  einzige  bei- 
spiel.    Sonst  hat  Hartmann  das  f emininum  huore  (2286.  2492). 


zu  HARTMANNS  REDE  VOM  GLAUBEN.         217 

146  ist  die  handschriftliche  lesart  sine  im  texte  zu  be- 
lassen. Trakten  hat  in  diesem  sinne  stets  den  accusativ  bei 
sich  (Mhd.wb.3,82a). 

206.  207.  In  einem  dieser  verse  scheint  eine  dittographie 
vorzuliegen.  Ich  schlage  vor,  nach  dem  muster  von  70  einmal 
ebenJcreftic  zu  lesen. 

324  lese  ich  ^o  gesihte;  vgl.  262.  1636.  2096.  Milst.  Gen. 
63, 32.  91, 7.  30.  Heinr.  v.  Melk  1, 208.  Bruinier,  Krit.  stud.  z. 
Wemh.  Mar.  s.  180  anm.  2. 

444  lag  kein  grund  vor  das  handschriftliche  tuon  in  tuo 
zu  ändern. 

530.  Mir  ist  sehr  zweifelhaft,  ob  getwäs  hier  'gespenst' 
bedeutet,  wie  von  der  Leyen  (s.  32)  nach  den  Wörterbüchern 
annimmt,  zumal  Hartmann  an  einer  andern  stelle  (1292)  für 
diesen  begriff  getustemisse  braucht.  Die  bedeutung  'bösewicht, 
tor',  die  das  wort  sonst  meist  in  mittelfränkischen  dichtungen 
hat  (Bartsch,  Ueb.  Karlm.  s.  278)  und  die  auch  niederdeutsch 
die  bei  weitem  bevorzugte  ist  (viele  belege  in  meiner  anmer- 
kung  zu  Gerh.  v.  Mind.  66, 58),  passt  an  unserer  stelle  ebenso 
wie  an  den  meisten  andern,  die  in  den  Wörterbüchern  ver- 
zeichnet sind,  so  gut,  dass  eine  andere  auffassung  gänzlich 
unnötig  erscheint. 

559  ist  ime  im  texte  zu  belassen. 

636.  Die  hs.  hat  bechudit,  wofür  von  der  Lej'^en  bedechit, 
Vogt  belmlit  lesen  will;  beides  ist  dem  sinne  nach  richtig, 
steht  aber  graphisch  recht  fern.  Glaublicher  ist  mir,  dass 
Massmann  bechudit  aus  becleidit  verlesen  hat.  cl  für  hl  steht 
auch  sonst  im  Credo  mehrfach  (z.  b.  289. 1439.  2818). 

758.  Ist  ist  der  hs.  gemäss  im  texte  zu  belassen,  757 
punkt  oder  Semikolon  zu  setzen. 

766.  Der  reim  verlangt  ein  dem  ahd.  s^indun  entsprechen- 
des sinden,  wie  schon,  was  von  der  Leyen  übersehen  hat,  zu 
Denkm.  56, 16  bemerkt  ist. 

783.  Den  war  nicht  zu  ändern;  es  ist  dem  sinne  nach 
construiert,  da  teil  (780)  ein  coUectivum  ist. 

795.  Das  handschriftliche  Pilatis  ändert  von  der  Leyen 
ohne  grund  in  Pilati;  es  ist  aber  kein  Sprachfehler,  sondern  ein 
deutscher  genetiv  Pilates,  Mit  demselben  rechte  hätte  dann 
auch  Cristis  (972. 1086.  2897.  3638)  geändert  werden  müssen. 


218  LEITZMANN 

801.  Einem  war  im  texte  zu  belassen;  800  zwingt  nicht 
zu  einer  änderung  in  dem. 

925.  Vielleicht  ist  hier  das  handschriftliche  leben  doch 
beizubehalten,  jedenfalls  aber  sulen  nicht  zu  eliminieren. 

1068  fasse  ich  als  zweiten,  1067  parallel  stehenden  relativ- 
satz  und  streiche  daher  die  gedankenstriche;  anders  Erans  zu 
Rhein.  Paul.  107, 3, 1  ba. 

1082.  Wenn  ich  Massmanns  anmerkung  recht  verstehe, 
so  hat  die  hs.  gehucnisse  ein  ein  war  urchunde  und  die  zeichen 
a  und  h  über  den  beiden  ersten  Wörtern  deuten  Umstellung 
an.  Dann  haben  wir  also  kein  an  in  dem  ganzen  satze,  das 
Massmann  misverständlich  aus  ein  mit  darüber  stehendem  a 
entnahm.  Ich  lese  also  demnach:  ein  gehucnisse,  ein  war  ur- 
chunde. 

1287  lese  ich  mit  der  hs.  dajs  erz  selbe  were,  er  lebete. 
Die  wichtigste  mitteilung  ist  zweifellos  *dass  er  selbst  es  wäre'; 
*und  zwar  ein  lebendiger'  kommt  erst  in  zweiter  linie.  Dae 
er  selbe  wol  lebete  scheint  mir  hier  ganz  unpassend;  2224  heisst 
es  *dass  es  ihm  gut  gienge',  was  hier  schon  wegen  des  selbe 
nicht  angeht.  Dass  es  zunächst  auf  die  identification  der 
erscheinung  mit  Christus  ankommt,  lehrt  deutlich  1290.  1292. 

1592  war  rüwent,  das  die  hs.  hat,  beizubehalten.  Die  er- 
gänzung  1593a  ist  zu  streichen;  es  liegt  ein  dreireim  vor. 

1908  ist  daz  nicht  zu  ändern,  1909  ein  komma  zu  setzen. 
Ich  verstehe:  *dass  sein  glaube  so  gut  war,  dass  er  ihm  die 
ewige  Seligkeit  erwarb,  derselben  gnade  lass  auch  mich  teil- 
haftig werden'. 

2055  ist  lerist  aus  der  hs.  beizubehalten,  am  Schlüsse  ein 
punkt,  2053  aber  ein  komma  zu  setzen:  'selten  hat  das  jemand 
auf  den  rat  eines  andern  hin  getan,  wenn  du  ihm  nicht  diesen 
guten  rat  gibst'. 

2160.    Dürftigen  ist  nicht  auszuscheiden. 

2171  lese  man  mit  der  hs.  dinen  Üb. 

2210.  Für  si  hat  Massmann  f ,  das  wol  abkürzung  für  ind 
sein  soll. 

2212.    Die  hs,  hat  des  statt  von  der  Leyens  der. 

2287.  lluor  ist  sonst  niemals  masculinum,  sondern  stets 
neutrum;  unsere  stelle  ist  bei  Lexer  1, 1392  das  einzige  bei- 
spiel.    Sonst  hat  Hartmann  das  femininum  huore  (2286.  2492). 


zu  HABTMANNS  REDE  VOM  GLAUBEN.         219 

Dieses  wird  auch  für  diese  stelle  anzusetzen  sein,  und  das 
handschriftliche  der  ist  aus  einem  die  der  vorläge  falsch 
übertragen. 

2307.  Für  das  in  allen  den  gebäre  der  hs.  lese  ich  gebären; 
auch  sonst  ist  der  plural  in  dieser  formel  das  gewöhnliche. 

2413.  Was  soll  man  sich  in  dieser  beschreibung  eines  ritter- 
lichen hausrats  unter  daisi  türe  gebeine  vorstellen?  Lexer  1, 749 
setzt  die  bedeutung  'gerippe'  an,  was  natürlich  unmöglich  ist, 
und  scheint  ausserdem  dürre  lesen  zu  wollen.  Die  lesart  ist 
zweifellos  fehlerhaft,  da  es  sich  um  eine  coUectivbezeichnung 
für  ausrüstungsgegenstände  handeln  muss,  wie  der  Zusammen- 
hang deutlich  zeigt.  Ich  schlage  vor  gereide  oder  gehleide  zu 
lesen.  Das  letztere  wort,  das  zweimal  in  der  Elisabeth  belegt 
ist  (Lexer  1, 803)  würde  zu  Meiers  annähme  (Beitr.  16,  99) 
stimmen,  dass  der  dichter  des  Credo  nach  Hessen  gehört.^) 

2469  hat  die  hs.  dir  für  der,  was  beizubehalten  war. 

2523  liegt  durchaus  kein  grund  zur  Umstellung  von  rüchent 
si  vor. 

2528  passt  dm,  wie  Massmann  hat,  weit  besser  in  den 
context  der  ganzen  stelle  als  Wackernagels  diu,  das  übrigens 
in  der  mir  hier  allein  vorliegenden  fünften  aufläge  des  lese- 
buchs  (427,20)  nicht  steht;  danach  durfte  es,  wenn  es  in  einer 
der  älteren  auflagen  wirklich  sich  findet,  wol  druckfehler  sein. 

2534  ist  das  fragezeichen  zu  streichen;  die  folgende  zeile 
ist  nicht  die  antwort,  sondern  gehört  noch  mit  zur  frage,  die 
erst  2537  endigt. 

2547  dürfte  doch  wol  mit  Massmann  ausfall  eines  verses 
anzunehmen  sein,  da  ein  dreireim  so  innerhalb  eines  sinnes- 
abschnittes  doch  sehr  auffällig  wäre  und  sonst  ohne  paral- 
lelen ist. 

2564  lese  ich  lieber  mit  Massmann  dem  tübele. 


[0  Näher  scheint  mir  die  annähme  zu  liegen,  es  habe  ursprünglich 
gezeine  geheissen.  Das  wort  ist  zwar,  wie  es  scheint,  im  mhd.  bisher  nicht 
belegt,  aber  eine  solche  coUectivbildung  konnte  ja  leicht  jeden  augenblick 
neu  geschaffen  und  verstanden  werden.  Goldene  etc.  zeine  als  schmuck 
sind  ja  bekannt,  und  wie  hier  —  daz  edele  gesteine,  daz  iure  gezeine,  di 
manige  goltborten  —  sind  auch  in  der  bei  Lexer  s.  v.  zetn  citierten  stelle 
GA.  1, 462, 282  edele  steine,  borte  und  zein  mit  einander  verbunden:  ich  hdn 
einen  borten,  der  ist  an  beiden  orten  geziert  mit  edelen  steinen-,  mit  gvldmen 
zeinen  ist  er  wol  imderslagen.    E.  S.] 


^>         LBimUNN,  lU  HARTMANNS  REDE  VOM  GLAUBEN. 

2829  tL  ist  die  interpunction  verfehlt.  Ich  setze  2829 
punkte  2834  komma,  2835  punkt,  2841  komma.  Der  gedank- 
liche lusammenhang  gewinnt  dabei  an  klarheit. 

2974.  Beredeten  in  bredigeten  zu  ändern  ist  trotz  s.  78 
anm.  1  ein  unberechtigter  einfall.  Es  ist  an  unserer  stelle  von 
nichts  weniger  als  vom  predigen  die  rede.  ^Ktthn',  sagt  Hart- 
mann^  Hraten  sie  den  irrlehrem  entgegen;  selbst  vor  königen 
und  fürsten  bewiesen,  verteidigten  sie  die  Wahrheit  ihres 
glaubens.'  Das  ist  der  specifische  sinn  von  bereden  (reichliche 
belege  im  Mhd.  wb.  2, 1,  603  b),  das  in  diesem  sinne  geradezu 
juristischer  terminus  geworden  ist.  Wie  merkwürdig,  dass 
von  der  Leyen  gerade  die  einzige  sichere  spur  *  juristischer 
färbung'  durch  conjectur  beseitigt  hat! 

3135  behält  von  der  Leyen  das  unverständliche  lU  Mass- 
manns ohne  weiteres  bei;  ist  git  zu  lesen? 

3207  war  sin  im  texte  zu  belassen;  dienist  ist  neutrum 
wie  drei  verse  vorher  (3204). 

3699.  Die  lesung  der  hs.  der  ist  trotz  der  beiden  di 
3698.  3700)  nicht  anzutasten,  da  Hartmann  auch  sonst  (2514) 
zegän  mit  dem  genetiv  braucht. 

JENA,  23.  mai  1898.  ALBERT  LEITZMANN. 


KRIEMHILT. 

Der  name  der  Wormser  königstochter  zeigt  gegenüber 
der  menge  der  namen  mit  Grim-  zwei  laute  in  auffallender 
form.  Der  anlautende  guttural  erscheint  in  weiter  räumlicher 
ausdehnung  wie  germ.  k  behandelt  und  als  vocal  der  tonsilbe 
treten  neben  i  die  Varianten  mhd.  ie,  nhd.  ei,  auch  e  auf. 
Belege  dafür  sind  mehrfach  zusammengestellt,  am  eingehendsten 
von  Müllenhoff  in  seinen  Zeugnissen  und  excursen  zur  deutschen 
heldensage  no.l2. 66. 72. 84  (Zs.fda.12,299. 413.  15,313),  vor  ihm 
von  Mone  (Untersuchungen  zur  gesch.  der  teutschen  heldensage 
s.  67).  Eine  reihe  von  belegen  gibt  Förstemanns  Namenbuch, 
einige  alte  auch  J.  Leichtlen,  Forschungen  im  geb.  der  geschichte 
Deutschlands  (1820),  1,  2,  s.  46.  54.  Endlich  enthält  Grimms 
Heldensage  (ich  eitlere  nach  der  dritten  aufläge)  solche  in 
beträchtlicher  anzahl.  Müllenhoff  hat  zugleich  die  auffallenden 
lautverhältnisse  besprochen.  Heute  lassen  sich  die  belege 
vermehren  und  die  lautverhältnisse  genauer  bestimmen. 

Ich  behandle  zunächst  die  frage  nach  dem  vocal  der 
tonsilbe.  Unter  meinen  belegen  sind  die  an  den  genannten 
stellen  gesammelten  widerholt. 

Die  ältesten  belege  für  ie  geben  Urkunden,  eine  aus 
dem  8.,  zwei  aus  dem  9.  jh.,  aber  sämmtlich  noch  ohne  controle 
durch  das  original.  785  Worms  /Fulda:  Criemhilt,  neben 
Cremhilte  der  Unterschrift,  aus  der  chartulariencopie  des  mo- 
nachus  Eberhardus  von  Fulda  (Dronke,  Cod.  dipl.  Fuld.  [1850], 
s,  49).  Da  Eberhard  in  seinen  Summarien  an  der  entsprechenden 
stelle  CrimhiU  schi'eibt  (Dronke,  Trad.  Fuld.  [1844],  s.  10),  werden 
die  namensformen  der  Urkunde  dem  original  entnommen  sein. 
Auch  die  übrigen  namen  der  Urkunde  zeigen  alte  formen.  — 
881  Luzern:  Chriemhilt  (Neugart,  Cod.  dipl.  Alem.  1,428).  — 


222  BOHNBNBERGER 

890  Fulda  (?):  Crienihilterot  in  provinda  Turingtorum,  eben- 
falls aus  dem  Codex  Eberhard!  (Dronke,  Trad.  Fuld.  s.  79).  Aus 
dem  10.  jh.  ist  ie  in  einer  Originalurkunde  erhalten:  927  Ursula- 
kloster Köln,  actum  Worms,  scripta  ah  Heriherto  canceUario: 
Criemilt  (Nassauisches  urkundenbuch,  bearb.v.  Sauer  [1886]  1,40). 
Aus  dem  11. 12.  jh.  habe  ich  keine  belege  mit  ie,  im  13. — 15.  jh. 
treten  zu  den  urkundlichen  Zeugnissen  solche  aus  poetischen 
denkmälern.  1228,  markgraf  v.  Istrien  für  Benedict- 
beuern:  Chriemhilt  (Mon.  Boica  7, 115).  —  Marner  v.  266: 
Kriemhilt  (Strauch  gibt  keine  abweichende  lesart).  —  Enenkel, 
Weltchronik  v.  23372:  Chriemhielten  neben  lesarten  Krimhild, 
Kreimhild.  —  Ulrich  v.  Türlein,  Willehalm:  KriemJiilde  (hg. 
V.  Singer,  0111,5).  —  Hugo  v.  Trimberg:  Kriemilde  und  Kri- 
milden  (nach  Grimm  s.  191).  —  Feldbauer  in  Cod.  pal.  341: 
Kriemhilt  (nach  Grimm  s.  185)  neben  Krimhilt  in  Pfeiffers  aus- 
gäbe V.  344  (Germ.  1, 346).  —  Wachtelmärchen:  Chriemhilt 
(nach  der  Wiener  hs.  119.  Denkmäler  deutscher  spräche  und 
lit.,  hg.  V.  Massmann  1,  s.  112).  —  Zornbraten:  Chriemhilt, 
Krienhilt  (Lassbergs  Liedersaal  2, 508  und  Dresdener  hs.  nach 
V.  d.  Hagen,  GA.  1, 487)  gegen  Crimilt  der  Königsberger  hs.  — 
Nibelungenlied  und  Klage,  in  den  alten  hss.  vorwiegend  ie 
und  i,  näheres  unten.  —  Rosengarten:  ie  und  i,  vereinzelt  e; 
Holz  druckt  ie,  z.  t.  führt  er  die  Varianten  mit  i,  e  auf.  Grimm 
druckt  Krimhilt  und  so  schreibt  nach  den  noten  auch  die  hs.  C. 
D  (v.  d.  Hagen)  hat  ie,  das  fragment  Zs.  fda.  11, 536  i,  dasjenige 
Zs.  fda.  11, 243  ie  und  i,  dasjenige  Germ.  8, 196  Cremilt  und  Cri- 
milt neben  Ditrich,  bruder,  hroder,  Nodung,  die  hs.  P  (Germ. 
4, 1  ff.)  nach  Bartschs  druck  i  wie  in  Crichen,  Diterich.  —  1354 
Thol,  Karl  IV  für  Saarbrücken:  Criemildespil  (Kremer,  6e- 
neal.  geschichte  d.  ardenn.  geschlechts,  Cod.  dipl.  s.  484.  Bonner 
Jahrbücher  20, 128).  —  Maria  Magdalena:  Criemehilt  (Wiener 
sitz.-ber.  34, 290).  —  Hugo  von  Montfort:  Kriemhilt  (hg.  v. 
Wackerneil  s.  70,  Cod.  pal.  329).  —  Bericht  von  den  sieben 
hauptkirchen  Roms  in  deutscher  hs.  von  1448:  Cryenhüt, 
Crenhild  (v.  d.  Hagens  Germania  7, 240.  =  GA.  3,  cxLn)  gegen 
Crinhilt  in  deutscher  hs.  von  1454  (Zs.  fda.  12, 360).  —  Se- 
bastian Brant:  Kryemhild  (hg.  v.  Zarncke);  Kriemhild  (hg.  v. 
Gödeke  s.  80).  —  Murner,  Mühle  von  Schwindelsheim  71. 1082: 
Kriemhilt   —    Borsikon  bei  Affoltern:    Kriemhilten  graben 


KBIEMHILT.  223 

(Grimm,  Weistttmer  1,  48.  49).  —  1476  Korker  waldspruch 
(Ortenau):  Kriemhildenstein  (Leichtlen  1, 2, 54,  nach  mitteilung 
aus  Kehl  heute  unbekannt).  —  St.  Gallen:  Criemhilt  (Mon. 
Germ.,  Libri  confrat.  1, 299, 25). 

An  belegen  für,  ei  als  stammsilbenvocal,  also  Kreimhilt, 
habe  ich  ausser  der  schon  genannten  lesart  in  Enenkels  Welt- 
chronik noch  folgende:  Nibelungen,  hs.  H:  Chreimhüt  — 
Heinrich  von  München,  v.  372  ff.:  Chreimhild  (Dresdener  hs., 
Grimm,  Altdeutsche  wälder  2, 130).  —  Ladislaus  Suntheim: 
Kreimhilt  (Grimm  s. 479).  —  Aventin,  Ann.  Boi.:  Greimhyld, 
Grimylda,  canitur  apud  nos]  Bair.  chron.:  Greimhild,  andere 
lesart  Grimhilt  (Werke,  hg.  v.  d.  Bayr.  akad.  2, 19.  4, 1137). 

Von  diesen  formen  mit  ei  aus  sind  die  älteren  belege  mit  i 
darauf  zu  untersuchen,  wie  weit  unter  ihnen  solche  mit  l  voraus- 
zusetzen sind.  Wie  zu  erwarten,  sind  die  Schreibungen  mit  i 
die  häufigsten.  Die  reihe  eröffnen  wider  belege  aus  Urkunden, 
deren  original  nicht  mehr  vorliegt  oder  in  der  ausgäbe  nicht 
ausdrücklich  berücksichtigt  ist.  743  We issenburg:  Grimhildis 
(Zeuss,  Trad.  Wiz.  s.  11).  —  763  Cod.  Lauresh:  6frmMd  iw 
pago  Worm.  in  MerstaU  (Cod.  Laur.  2, 217).  —  806  Freising: 
Chrimhilt  (Meichelbeck,  Hist.  Frisingensis  1724.  1, 2, 103).  — 
Verbrüderungsbücher  von  St.  Peter  in  Salzburg  (hg.  v.  Karajan, 
1852),  vor  781:  Grimhilt  (sp.77,31),  um  800  und  um  850: 
Crimhilt  (Il0,i2.  40,37).  —  975—1101  Regensburg:  Grim- 
hilt (Trad.  Emm.  in Pez,  Thes.  anecdot.  1, 3, 89).  —  996Brixen: 
Chrimehildae  in  Prixina  (J.  Resch,  Ann.  eccl.  Sab.  1767.  2, 675). 
—  1180  Falkenstein,  Weyarn  bei  Miesbach,  Crimhiltiperc 
(Mon.  Boic.  7, 498).  —  1211  Windisch  Graz,  markgraf  von 
Istrien  und  bischof  von  Gurk,  original,  Grimhilt  (Zahn,  ÜB. 
V.  Steiermark  2, 171).  —  1228  patriarch  v.  Aquileia:  Grimhilt 
(Duellius,  Hist.  ordinis  equitum  teutonicorum  1727.  s.113).  —  In 
den  Libri  confrat.  von  St.  Gallen  und  Reichenau  viele 
Chrimhilt,  datierbar  St.  Gallen  um  890:  Crimh^l\t,  Grimhilt 
(Mon.  Genn.,  L.  confr.  1, 180, 2.  1, 130, 7);  Reichenau  um  826. 
830  Grimhilt,  Chrimhilt  (2, 24, 15.  2, 294, 12).  Ueber  die  wei- 
teren formen  vgl.  den  index  in  MG.,  L.  confr.*)  —  Biterolf, 

^)  Die  Libri  confr.  meint  auch  Mone  mit  seinen  belegen  aus  *  Necrolog. 
Aug.'  Die  necrologien  von  St.  Güllen  undEeichenau  entiialten  den  namen 
nicht.    Die  übrigen  necrologien  in  den  Mon.  Germ,  habe  ich  nicht  durch- 


224  BOHKENBEKGER 

Hürnen  Seyfrid,  poetisches  heldenbuch,  prosaisches 
heldenb.:  Krimhilde,  Crimhilt,  Crymhilt,  Grimhild,  Grymhilde, 
—  Berthold  von  Regensburg  in  der  Leipziger  hs.  496: 
Crimhilt  (Grimm  s.  181.  Müllenhoff,  ZE.  72).  —  Wiener  meer- 
fahrt nach  der  Heidelberger  hs.:  Krimhilden  (von  der  Hagen, 
GA.no.  51,  V.  629).  —  Ottokar,  Oesterr.  reimchronik  v.  8162: 
Krimhilten  (MG.,  Deutsche  ehr.  5, 1).  —  Minneburg:  Krim- 
hilde  (Grimm  s.  315).  —  Johann  von  Neumark:  Chrimhildis 
s.  314).  —  Simon  V.  Keza,  Gesta  Hung.  (moderne  abschritten): 
prelio  Crimildino  neben  Cremildi  (MG.,  Script.  29, 531.  533).  — 
1438.  1484  Lübeck:  Crimolt  (Grimm  s.  477). 

Aus  Neustrien  nennt  Förstemann:  Grimhildis,  Grimildis, 
Grimoildis  (Irminon,  Polypt.  de  St.  Germain-des-Pr6s,  um  800, 
p.  p.  Guörard  1844,  2, 88.  92.  71.  26.  89  und  Polypt.  de  l'abb. 
de  St.  Remi,  moderne  copie  des  Originals  von  ca.  850,  p.  p.  Gu6- 
rard  1853,  p.  79).  Aus  einem  cod.  Remigianus  stammt  die  Gri- 
milt  zum  j.  853,  welche  Müllenhoff,  Zs.  fda.  12, 413  aufführt. 

Hierzu  kommen  die  oben  bei  Kriemhilt  gegebenen  belege 
für  Krimhilt 

Weniger  häufig  erscheint  e.  Ausser  den  schon  genannten 
belegen  sind  es  noch  folgende.  766  Cod.  Lauresh:  Cremhilt 
in  Gardachgowe  (C.  Laur.  2, 560).  —  787  Cod.  Lauresh:  Cre- 
nihildam  inpago  Lobodun  (Cod.  Laur.  1, 546).  —  796  Schenkung 
an  Murbach:  Cremhildis  (Schöpflin,  Alsatia  diplom.  1,59).  -r- 
1385  ff.  Schaffhausen:  Kremhilten  weg  (Stadtbuch  v.  Seh., 
Alemannia  6, 274).  —  Hvenische  chronik:  Gremild  (Grimm 
s.  345).  —  Dänisch:  fru  Kremol  (Grimm  s.  477). 

Von  diesen  formen  mit  e  sind  die  aus  dem  8.  jh.  Vor- 
läufer derer  mit  ie,  sie  enthalten  also  e\  Im  Schaffhauser 
stadtbuch  wird  ein  Schreibfehler  für  ie  oder  i  vorliegen.  Die 
niederdeutschen  iind  dänischen  formen  lasse  ich  ausser  be- 
tracht.  So  bleiben  für  das  hd.  gebiet  an  auffallenden  formen 
die  mit  ie,  e  und  die  mit  ei  und  vorauszusetzendem  f.  Für 
sie  lässt  sich  eine  räumliche  teilung  wahrscheinlich  machen. 
Geht  man  davon  aus,  dass  Murner,  S.  Brant,  Maria  Magdalena, 
Borsikon,  Hugo  v.  Montf  ort  und  der  Korker  waldspruch  ie  haben, 

gesucht.    Leider  enthält  hd.  1  kein  genügendes  register.    Es  ist  sehr  za 
wünschen,  dass  dies  hei  hd.  2  nachgeholt  wird. 


KBIEMHILT.  225 

Aventin  und  Suntheim  dagegen  ei,  so  ist  man  veranlasst, 
letztere  form  dem  SO,  erstere  dem  SW  zuzuweisen.  Und 
dieser  annähme  steht  m.  e.  auch  kein  ernstlicher  gegengrund 
gegenüber,  sie  lässt  sich  vielmehr  noch  durch  weiteres  stützen. 
Auch  ohne  zunächst  zur  frage  nach  der  entstehung  der  ab- 
geänderten namensformen  Stellung  zu  nehmen,  kann  man  als 
stütze  ihrer  räumlichen  Scheidung  beiziehen,  dass  im  osten  paral- 
lele formen  wie  GreimoUshusen  (c.  1223,  Mon.  Geisenfeldensia  in 
den  MB.  14, 240.  Geisenfeld,  Oberbayern  a.  d.  lim)  und  Greimold 
(z.  b.  1398  Ingolstadt,  Chron.  d.  Städte  15, 572.  Aventin  2,  19) 
auftreten  und  im  westen  entsprechend:  Griemaldus  (1320,  Ebers- 
heim i.  Eis.,  Chron.  Eberh.  in  den  Mon.  Germ.,  Scr.  23, 438).  Dann 
erscheint  der  name  Kriemilt  auch  in  den  übrigen  quellen  des 
SO  häufiger  mit  i  als  mit  ie,  während  im  SW  die  formen  mit  i 
seltener  sind  als  im  SO.  Zu  den  ie-f ormen  des  S W  sind  auch 
die  alten  e-formen  zu  rechnen,  ferner  die  belege  aus  Luzem, 
dem  Murner  und  Worms  (927,  or.!),  mit  Wahrscheinlichkeit  auch 
die  Ortsbestimmung  der  Urkunde  Karls  IV.  Ganz  reinlich  geht 
die  teilung  nicht  auf.  Wie  es  scheint,  findet  sich  ie  vereinzelt 
auch  im  SO  (Benedictbeuren  /  Istrien.  Ulrich  v.  d.  Türlin,  Hugo 
V.  Trimberg)  und  jedenfalls  geht  überall  neben  ie  und  i  auch 
i  her.  Wie  i  im  SW  nicht  gar  selten  auftritt,  darf  man  auch 
nicht  alle  i  des  SO  als  t  deuten.  Diese  mischung  kann  aber 
nicht  weiter  auffallen.  Nach  der  natur  der  sache  mussten 
durch  die  spielleute  und  ihre  quellen,  durch  literarische  vor- 
lagen und  anderes  immer  wider  fremde  formen  unter  die  volks- 
tümlichen hineingetragen  werden.  Auch  lag  es  überall  nahe 
genug,  den  namen  Kriemhilt  nach  analogie  der  übrigen  mit 
Grim-  umzubilden.  Ob  die  südöstliche  form  geradezu  als  bai- 
rische  bezeichnet  werden  darf,  ist  auf  grund  des  mir  vor- 
liegenden materials  nicht  zu  entscheiden.  Im  bejahungsfalle 
wäre  damit  auch  noch  nicht  gesagt,  dass  nicht  ein  westliches 
stück  des  bairisch-österreichischen  mundartgebietes  in  der  be- 
handlung  des  namens  mit  dem  westlichen  nachbar  gehen 
könnte.  Die  form  mit  ie  gilt  jedenfalls  über  das  alemannische 
gebiet  hinaus.  Nach  den  urkundlichen  belegen  aus  dem  8.  und 
10.  jh.  erstreckt  sie  sich  auch  ins  rheinfränkische  (Lorsch  oder 
Gardach-  und  Lobdengau,  Worms)  hinein.  Ob  es  in  der  mund- 
art  seinen  grund  hat,  dass  der  Monachus  Eberhardus  in  Fulda 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  ^5 


226  BOHNENBERGEB 

Crimhilt  schreibt?  Ueber  die  form  Cremildi  bei  Simon  v.  Keza 
ist  kein  urteil  möglich,  ebensowenig  über  den  Gremboldus 
miles,  der  in  der  geschichte  des  erzbischofs  Robert  von  Trier 
zum  jähr  956  genannt  wird  (Gallia  christiana  13,  397). 

Wesentlich  einfacher  liegt  die  sache  bei  dem  anlauten- 
den guttural.  Die  gegebenen  belege  erweisen  ihn  auf  rhein- 
fränkischem, alemannischem  und  bairischem  boden  als  germ.  Je. 
Wenn  auch  die  Lübecker  notiz  von  1484  und  das  dänische 
citat  bei  Grimm  fortis  haben,  so  fragt  es  sich,  wie  weit  diese 
neben  Grimilde  bei  Saxo  und  dem  sonstigen  verfahren  der 
skandinavischen  denkmäler  als  alt  und  echt  anzusehen  ist. 
Auf  hochdeutschem  boden  gehören  meine  belege  für  die  lenis, 
abgesehen  von  den  vereinzelten  g-  beim  Patriarchen  v.  Aquileia 
1228  und  in  den  Trad.  Emm.  von  1100,  der  ältesten  und  dann 
wider  der  jüngsten  zeit  an.  Zu  der  form  mit  Grim-  aus  den 
Trad.  Wiz.,  dem  Cod.  Lauresh.  und  den  Salzburger  verbrüde- 
rungsbüchern  von  743,  763,  781  kommt  ein  Grimhüt  in  den 
Libri  confr.  aus  St.  Gallen  c.  890  und  dann  wider  g-  bei  Aventin, 
Fischart. 

Die  vereinzelten  und  die  jungen  formen  mit  g-  fallen  so 
wenig  auf  als  die  vocalformen,  die  sich  der  räumlichen  Schei- 
dung nicht  fügten.  Mit  ende  des  8.  jh.'s  weist  h  schon  eine 
weite  Verbreitung  auf:  766.  787  Lorsch,  796  Murbach,  800  Salz- 
burg, 806  Freising. 

Wenig  befriedigend  ist,  was  sich  zur  erklärung  der 
dargelegten  Verhältnisse  vorbringen  lässt.  Es  ist  nicht  einmal 
mit  Sicherheit  zu  sagen,  was  als  ursprüngliche  form  anzusetzen 
ist.  Dass  der  anlautende  guttural  ursprünglich  lenis 
ist,  steht  zwar  ausser  frage,  und  als  stammsilbenvocal  ist  e 
zweifellos  secundär,  aber  zwischen  i  und  i  ist  keine 
völlig  sichere  entscheidung  zu  treffen.  Die  namen  mit 
Ortm-  lassen  sich  auf  deutschem  boden  nicht  reinlich  von  denen 
mit  Grim-  scheiden,  aber  es  scheint  mir  zweifellos,  dass  letz- 
tere stark  in  der  mehrheit  sind.  Demnach  ist  es  wahrschein- 
licher, dass  auf  deutschem  boden  Grim-  zu  Grim-  umgebildet 
wird,  als  dass  die  entgegengesetzte  Umbildung  eintritt.  Auf 
nordischem  boden  wäre  die  Umbildung  von  Grimhild  zu  Grim- 
hildr  weniger  unwahrscheinlich,  setzt  man  aber  Grimhild  als 


KRIEMHILT.  227 

das  ursprüngliche  an,  so  erspart  man  für  die  an.  form  die  an- 
nähme der  Umbildung.  Aus  der  bedeutung  der  Wörter  lässt 
sich  gegen  keine  von  beiden  formen  etwas  entnehmen.  Da- 
gegen spricht  der  name  mit  umgekehrten  bestandteilen  Hilde- 
grim,  Hildegrtn  in  gewissem  masse  für  Grtmhild  (s.  Grimm, 
Myth.  14, 197).  Es  bleiben  aber  immer  nur  gründe  der  Wahr- 
scheinlichkeit, die  für  Grtmhild  entscheiden. 

Von  den  Umbildungen  g  >  Je  und  i  >  e  wird  erstere 
die  ältere  sein,  da  sie  auch  das  gebiet  mit  unverändertem  t 
getroffen  hat.  Wäre  erst  grim-  zu  grem-  geworden  und  hätte 
daraufhin  das  östliche  oder  westliche  gebiet  Je  angenommen, 
so  wäre  wenig  wahrscheinlich,  dass  das  andere  gebiet  wol 
die  Veränderung  des  consonanten  übernommen  hätte,  im  vocal 
aber  bei  der  bisherigen  form  geblieben  wäre.  Wo  und  aus 
welchen  gründen  g  zu  Je  wurde,  ist  nicht  zu  sagen.  Gegen 
Müllenhoffs  hinweis  auf  das  Wortspiel  mit  erJerummen  im  träum 
der  Kriemhilt  (Zs.  fda.  12, 303)  sprechen  zu  starke  sachliche 
wie  sprachUche  bedenken. 

Eine  naheliegende  parallele  für  das  Je  von  Kriemhilt 
bildet  der  anlaut  von  Kütrün,  Küdrün,  wo  die  formen  mit 
Je  (eh)  nicht  etwa  nur  der  jungen  Ambraser  hs.  angehören, 
sondern  auch  ausserhalb  des  gedichtes  bezeugt  sind.  Bei 
Kütrün  lässt  sich  vermuten,  das  wort  sei  bei  seiner  Wande- 
rung durch  verschiedene  mundarten  irgendwo  beim  Übergang 
von  einer  mundart  in  die  andere  als  fremdwort  entstellt  worden. 
Und  da  bieten  sich  die  grenzen  von  anlautender  gutturaler 
Spirans  gegen  anlautende  tönende  lenis  explosiva,  von  letzterer 
gegen  stumme  lenis  und  von  dieser  gegen  fortis.  Von  diesen 
drei  grenzen  kann  aber  für  Kriemhilt  jedenfalls  die  erste  nicht 
in  betracht  kommen.  Sollen  also  beide  namen  an  derselben 
stelle  geändert  worden  sein  sein,  so  wäre  allein  mit  den  grenzen 
der  explosiven  gegen  einander  zu  rechnen.  Und  gegen  die 
annähme,  die  entstellung  sei  an  der  grenze  von  lenis  gegen 
fortis,  also  der  mitteld.-oberd.  grenze  vollzogen  worden,  spricht, 
dass  Kriemhilt  zum  mindesten  auch  auf  rheinfränkischem  boden 
mit  Je  erscheint.  Man  müsste  also,  um  mit  ihr  zu  rechnen, 
zu  der  annähme  weiter  gehen,  es  sei  schon  im  8.  jh.  die  oberd. 
form  ins  rheinfränk.  gebiet  eingerückt  gewesen.  Die  grenze 
von  tönender  gegen  stumme  lenis  endlich   bleibt  ganz  im 

15* 


228  BOHNENBERGER 

unsicheren.  So  bringt  also  auch  die  beiziehung  dieser  parallele 
kein  licht  in  die  sache.  Sieht  man  von  Küdrün  ab,  so  lässt 
sich  daran  denken,  dass  heute  g  und  Tc  vor  consonant  in  weiter 
ausdehnung  zusammenfallen.  Aber  wie  alt  ist  dieser  zu- 
sammenfall? 

Auch  für  den  Übergang  von  i  zvl  e  weiss  ich  keinen 
anhält  zu  geben.  Noreens  Zusammenstellung  von  Kriemhilt  : 
Krimhilt  mit  den  bekannten  beispielen,  in  denen  6  in  der 
ei-reihe  auftritt  (Urgerm.  lautlehre  s.  31),  fürt  zu  Ungeheuer- 
lichkeiten, denn  auf  indog.  ablautsverhältnisse  ist  immer 
zurückzugreifen,  ob  man  Sievers'  erklärung  von  e^  annehmen 
will  oder  nicht. 

Ich  komme  noch  im  besonderen  auf  die  behandlung  des 
namens  Kriemhilt  in  den  Nibelungendichtungen.  Von  den 
drei  haupthandschriften  scheint  B  im  text  des  liedes  ie  und  i 
zu  mischen.  Das  stück  im  facsimile  bei  Laistner  hat  zu- 
nächst ie,  dann  str.  46  i  Letzteres  ist  nach  Bartschs  apparat 
häufig,  Bartsch  bezeugt  dasselbe  auch  bei  den  nächsten  stellen 
ausdrücklich.  Die  Klage  hat  in  der  kurzen  anfangsstelle  bei 
Laistner  ebenfalls  ie,  und  Bartschs  ausgäbe  setzt  den  diphthong 
auch  weiterhin.  C  hat  nach  Lassbergs  druck,  auf  den  man 
sich  hierin  allem  anschein  nach  verlassen  kann,  im  Lied,  in 
den  aventiurenüberschriften  und  in  der  Klage  ie.  Für  die 
kurzen  dort  gegebenen  stellen  bestätigt  dies  Laistners  nach- 
bildung.  A  hat  nach  letzterer  im  Lied  in  der  regel  ie,  ein- 
mal i  (str.  687,  —  nicht  961,  wo  Lachmann  ebenfalls  Krimhilde 
druckt),  und  in  einer  reihe  aufeinander  folgender  stellen  e 
(1784  91.  98.  1806.  7. 17.  27.  49.  54.  62),  in  den  aventiuren- 
überschriften durchweg  i,  ebenso  in  der  Klage  mit  einer 
ausnähme  {ie  381).  Bei  D  steht  nach  Bartschs  apparat  im 
text  des  Liedes  i  und  ie  gemischt,  in  der  Klage  scheint  i  die 
regel  zu  sein,  und  in  den  aventiurenüberschriften  des  Liedes 
steht  es  durchweg  mit  der  einen  ausnähme  von  av.  13,  Völliger 
verlass  ist  in  dieser  frage  auf  Bartschs  apparat  nicht.  Die 
controlierbaren  lesarten  aus  A  stimmen  nicht  immer  zum  fac- 
simile. Die  bruchstücke  auf  pergament  haben  teils  ie  (J  K  Q) 
teils  i  (N  P  R  S  U  und  mit  ei  H)  teils  ie  und  i  gemischt  (L 
[mitteldeutsch],  und  0). 

Vergleicht  man  ABC,  so  ergibt  sich,  dass  A  einen  be- 


KBIEMHILT.  229 

stand  darstellt,  der  nicht  auf  zufall  beruhen  kann  und  der 
ursprünglicher  sein  muss,  als  der  von  B  und  C.  Der  bestand 
von  B  und  C  lässt  sich  aus  dem  von  A  ableiten,  letzterer  nicht 
aus  ersteren.  Hatten  ursprünglich  der  text  des  Liedes  ie,  der 
text  der  Klage  i,  und  die  aventiurenüberschriften  des  Liedes, 
falls  man  diese  als  der  vorläge  von  ABC  zugehörig  anerkennen 
will,  ebenfalls  i,  so  konnte  einerseits  zu  gunsten  von  ie  aus- 
geglichen werden  (so  C),  oder  es  konnten  abschreiber,  die  dem 
l-gebiet  angehörten,  letzteres  mehr  oder  weniger  stark  unter 
das  ie  der  vorläge  einmengen  und  andererseits,  nachdem  sie 
einmal  mit  gemischter  Verwendung  begonnen  hatten,  auch  ein- 
mal ie  setzen,  wo  die  vorläge  i  gab  (so  B).  Nach  den  gleichen 
gesichtspunkten  erklären  sich  bei  A  das  eine  i  des  Liedtextes 
und  das  eine  ie  der  Klage.  Diese  Vermischung  ist  aber  bei  A 
nur  die  verschwindende  ausnähme  gegenüber  der  regel:  ie  im 
Liedtext,  i  in  aventiurenüberschriften  und  Klage.  Und  diese 
regel  fordert  ihre  erklärung.  Wenn  ie  im  alten  bestandteil, 
i  im  jüngeren  vorliegt,  muss  ersteres  in  der  geschichte  des 
Liedes  und  seiner  hss.  eine  ältere  schiebt  darstellen.  Dass 
ie  dem  original  selbst  angehörte,  ist  damit  nicht  gesagt. 
Aber  diese  Schreibung  wird  dem  original  sehr  nahe  gerückt, 
und  da  man  suchen  muss,  zwischen  diesem  und  den  ältesten 
vorliegenden  hss.  möglichst  wenig  abschriften  einzuschieben, 
und  da  die  Schreibung  sehr  gleichmässig  auftritt,  so  ist  es 
immerhin  sehr  wahrscheinlich,  dass  sie  aus  dem  original 
selbst  stammt.  Die  Schreibung  i  hat  dem  exemplar  der  Klage 
angehört,  welches  mit  dem  Lied  verbunden  wurde.  Ob  dies 
die  erste  niederschrift  der  Klage  war,  bleibt  damit  offen. 
Endlich  hat  der  Verfasser  der  Aventiurenüberschriften,  welche 
in  A  vorliegen,  i  geschrieben.  Ob  dieser  der  hinzufügung  der 
Klage  vorangeht  oder  nachfolgt,  oder  ob  er  mit  dem  schi^eiber 
der  Klage  identisch  ist,  bleibt  dabei  ebenfalls  unentschieden. 
Nahe  liegt  es,  die  i-formen  derselben  band  zuzuschreiben,  und 
das  fehlen  der  aventiurenüberschriften  in  B  beweist  noch  nicht, 
dass  diese  der  Klage  erst  nachfolgten.  Wenn  aber  die  hinzu- 
fügung der  Klage  wie  der  aventiurenüberschriften  einer  gegend 
angehört,  welche  i  gesprochen  hat,  so  können  auch  verschiedene 
Personen  i  geschieben  haben,  lieber  das  gegenseitige  Verhältnis 
der  abänderungen,  welche  in  B  und  C  vorliegen,  lässt  sich 


230  BOHNENBERGEB 

von  der  vorliegenden  frage  aus  nichts  entscheiden.  Beide 
können  selbständig  von  der  Schreibung  von  A  ausgehen,  es 
kann  aber  auch  die  eine  aus  der  anderen  hervorgegangen  sein, 
nur  die  von  B  aus  der  von  C  allein  bei  einem  Schreiber,  der 
die  i-form  seinerseits  mitbrachte,  lieber  die  herkunft  der 
e-formen  in  A  weiss  ich  keine  entscheidung  zu  treffen.  Dem 
Schreiber  von  A,  der  gelegentlich  das  r  auslassend  Kiemhilt 
(721.  929.  1760),  oder  das  l  auslassend  Kriemhit  (1334)  oder 
das  h  auslassend  Kriemilde  (1774  und  mit  nachträglicher  cor- 
rectur  1775)  schreibt,  wäre  wol  zuzutrauen,  dass  er  auch  aus 
flüchtigkeit  mehrfach  e  statt  ie  schreibt,  aber  die  reihe  der  e 
ist  doch  zu  geschlossen  und  ausgedehnt,  als  dass  diese  annähme 
genügen  würde.  Soll  der  Schreiber  von  A  oder  ein  ihm  voraus- 
gehender abschreiber  die  e-formen  irgendwo  anders  hergekannt 
und  eingemengt  haben?  Aber  es  lässt  nicht  vorstellen,  wo 
man  damals  e  geschrieben  oder  gesprochen  haben  sollte.  Ebenso 
rätselhaft  bleiben  die  e-formen,  wenn  man  sie  dem  original 
zuweisen  wollte.  Auch  die  annähme,  sie  seien  in  quellen  des 
liedes  vom  8.  jh.  an  mitgeführt  worden  und  hätten  sich  nun 
gerade  in  den  str.  1784  ff.  bis  in  unsere  hs.  hinein  erhalten, 
erscheint  mir  wenig  glaublich.  Hervorheben  möchte  ich  aber 
immerhin,  dass  dieselben  erst  in  der  geschichte  vom  Untergang 
der  Hunnen  auftreten.  An  dem  Verhältnis  der  i-  und  ie-schrei- 
bungen  wird  jedenfalls  durch  die  entscheidung  über  die  e-f ormen 
nichts  geändert. 

Die  einzelfrage  zeigt,  wie  A  bei  aller  flüchtigkeit  doch  an 
bestimmten  punkten  altes  gut  erhalten  hat.  Es  mag  gerade 
seine  flüchtigkeit  sein,  die  den  Schreiber  an  ausgleichungen 
gehindert  hat. 

Ist  die  form  Kriemhilt  mit  Wahrscheinlichkeit  dem  original 
zuzuweisen,  so  wird  dadurch  auch  die  frage  nach  dessen  heimat 
berührt.  Von  dieser  namensform  aus  ist  die  heimat  des  Origi- 
nals in  erster  linie  in  dem  gebiete  zu  suchen,  wo  die  form 
Kriemhilt  zu  hause  ist.  Es  kann  ja  wol  zufall  im  spiel  sein, 
wie  unter  den  räumlich  bestimmbaren  belegen  aus  dem  SO 
sich  auch  einzelne  mit  ie  finden,  und  gewisheit  ist  um  so 
weniger  zu  erreichen,  als  schon  die  Voraussetzung,  die  Zu- 
weisung der  form  Kriemhilt  an  das  original,  nur  als  wahr- 
scheinlich gelten  kann.    Aber  immerhin  liegt  ein  in  betracht 


KBIEMHILT.  231 

ZU  ziehendes  moment  vor.  Dass  mit  der  heimatsbestimmung 
des  Originals  des  Liedes  nicht  über  die  bairisch-alemannischen 
grenzgebiete  nach  westen  gegangen  werden  darf,  steht  durch 
das  sonstige  sprachliche  verhalten  der  hss.  fest.^)  Eine  genauere 
grenze  für  die  ausdehnung  der  te-formen  nach  0  ist  nicht  zu 
geben,  aber  das  westliche  gebiet  Baierns  sowie  Tirol  scheinen 
mir  nicht  ausgeschlossen.  Jedenfalls  ist  da  die  regelmässige 
Verwendung  der  form  Kriemhilt  weniger  auffallend  als  weiter 
östlich.  So  weist  die  namensform  in  die  gebiete,  auf  welche 
Zamckes  darlegungen  in  den  Ber.  üb.  d.  verh.  d.  sächs.  ges.  d. 
wiss.  8, 211  hinführten.  Letztere  haben  nicht  viel  anklang  ge- 
funden, weil  man  glaubte,  andere  durchschlagendere  gesichts- 
punkte  wiesen  auf  Oesterreich.  Von  diesen  letzteren  bleibt 
aber  heute  nicht  viel  übrig.  Dass  die  reiseberichte  der  haupt- 
sache  nach  der  quelle  des  Liedes  angehören,  ist  m.  e.  durch 
die  erneuerte  gründliche  Untersuchung  H.  Neuferts  (Der  weg 
der  Nibelungen,  1892,  progr.)  ausser  zweifei  gestellt,  mag  Neu- 
fert  auch  im  einzelnen  zu  weit  gehen  und  unerklärbares 
erklären  wollen.  Die  sprachlichen  gesichtspunkte  aber,  die 
man  für  die  österreichische  heimat  anzuführen  pflegt,  sind  nach 
unserem  heutigen  wissen  über  eine  recht  bescheidene  Wahr- 
scheinlichkeit nicht  hinauszubringen.  So  sind  wir  heute  jeden- 
falls verpflichtet  ein  moment,  das  mit  Zamckes  gründen  zu- 
sammentreffend mehr  nach  westen  zeigt,  ernstlich  in  betracht 
zu  ziehen. 


*)  Manche  sprachliche  frage,  die  durch  vergleichung  von  Lasshergs 
und  Laistners  text  nahe  gelegt  wird,  muss  offen  bleihen,  so  lange  nicht  ein 
diplomatisch  genauer  abdruck  von  B  vorliegt.  Ein  solcher  ist  ein  grosses 
bedürfnis. 

TÜBINGEN,  aprü  1898.  K.  BOHNENBERGER. 


UEBER  DEN  CONJUNCTIV  PRAETERITI  IM 
B  AIRISCH  -  OESTERREICHISCHEN. 

Zu  den  auffälligsten  kennzeichen  der  groben  mundart  in 
Oberbaiem  und  den  angrenzenden  provinzen  Oesterreichs  (Ober-, 
Nieder-,  Innerösterreich)  gehört  der  conj.  praet.  schwacher  verba 
auf  -ad,  der  dann  auch  die  starke  conjugation  ergriffen  hat, 
die  nunmehr  aus  dem  praesensstamme  (nicht  immer:  neben 
Ißengad  lebt  giengad)  die  neue  hybride  form  entwickelt,  lieber 
das  historische  aufkommen  dieser  bildungen  herscht,  so  weit 
ich  sehe,  noch  keine  klare  anschauung.  H.  W.  Nagl  handelt  in 
seinem  reichhaltigen  buche  '  Grammatische  analyse  des  nieder- 
österreichischen dialektes'  (1886)  mehrmals  einlässlich  (z.  b. 
s.  376  ff.  389  ff.)  über  diese  erscheinung,  ohne  sie  jedoch  an  den 
älteren  sprachstand  anzuknüpfen.  Daraus  schöpfe  ich  den  mut, 
eine  beobachtung  vorzulegen,  die  vielleicht  etwas  zur  erklärung 
dieser  merkwürdigen  formen  beiträgt. 

Die  ausarbeitung  des  zweiten  teiles  meiner  'Miscellen  aus 
Grazer  handschriften',  der  sich  mit  den  deutschen  Übersetzungen 
biblischer  Schriften  auf  unserer  bibliothek  beschäftigt,  ver- 
anlasste mich,  den  codex  no.  1631,  der  einen  deutschen  psalter 
enthält,  genauer  zu  analysieren.  Es  gelang  der  erweis,  dass 
diese  aufzeichnung  (nach  einer  ursprünglich  mitteldeutschen 
Vorlage)  von  einem  oberbairischen  priester,  namens  Konrad, 
für  die  nonnen  von  Altomünster  (diöc.  Freising)  im  jähre  1407 
liergestellt  worden  ist.  Die  hs.  enthält  eine  ganz  naive  und 
grobe  lautbezeichnung  und  formengebung,  weshalb  ich  sie  auch 
der  achtsamkeit  aller  forscher  auf  dem  gebiete  der  bairisch- 
österreichischen  mundart  dringend  empfehle.  Besonders  fielen 
mir  eine  anzahl  von  verbalformen  auf,  die  ich  hier  gesammelt 
und  geordnet  vorlege.    Ueberall  setze  ich  den  deutschen  bei- 


' 


UEBER  DEN  CONJ.  PRAET.  IM  BAIR.-Ö8TERR.       233 

spielen  den  text  der  lateinischen  vulgata  zur  seite,  um  über 
die  auffassung  der  worte  keinen  zweifei  zu  lassen. 

Praet.  ind.  1.  pers.  sing.:  ich  hazzacht  di  chirchen  der 
ubeln  38  a,  odivi  ecclesiam  malignantium  Ps.  25, 5;  ich  chundacht 
dein  rechtichait  57  b,  annuntiavi  justitiam  tuam  Ps.  39, 10;  do 
ich  an  hoffnaht  59  a,  in  quo  speravi  Ps.  40, 10;  ich  wartacht 
sein  73  a,  expectabam  eum  Ps.  54, 9;  ich  chundacht  75  a,  annun- 
tiavi Ps.  55, 9;  ich  richtacht  mich  77b,  direxi  Ps.  58,  5;  ich 
trahtacht  94  b,  existimabam  Ps.  72, 16;  ich  vestnaht  98  a,  con- 
flrmavi  Ps.  74,4;  ich  cheraht  100  a,  scopebam  Ps.  76, 7;  ich 
hoffnaht  156a  ff.,  speravi  Ps.  118, 42.  43.  81.  114;  ich  suehacht 
159a,  exquisivi  Ps.  118, 94;  ich  hazmht  159b,  odivi  Ps.  118, 
104;  ich  irraht  159b.  165a,  erravi  Ps.  118, 110. 176;  ich  atmit- 
zaht  161  a^  attraxi  spiritum  Ps.  118, 131;  ich  verwideraht  IGSb,, 
abominatus  sum  Ps.  118, 163.  —  2.  pers.  wand  du  hailachtest 
uns  61b,  salvasti  enim  nos  Ps.43, 8;  set^achtestu  69  s,,  ponebas 
Ps.  49, 18;  du  trachtacht  bosleich  69  a,  existimasti  inique  Ps.  49, 
21;  du  zufürahtest  uns  78  b,  destruxisti  nos  Ps.  59, 3;  du  zur- 
nahtzt  uns  79  a,  iratus  es  Ps.  59, 3;  du  zaichnecht  79  a,  osten- 
disti  Ps.  59, 3;  du  hohceht  79  b,  exaltasti  Ps.  60,  3;  du  helaiteht 
mich  80  a,  deduxisti  me  Ps.  60, 3;  du  erlceutrahtest  84b,  exami- 
nasti  Ps.  65. 10;  du  laitaht  zweimal  84  b,  induxisti  —  eduxisti 
Ps.  65, 11;  du  lerceht  mich  92h,  docuisti  me  Ps.  70, 17;  du  helai- 
tahstmich  95  a,  deduxisti  me  Ps.  72, 24;  du  mohdht  97  b,  fabri- 
catus  es  Ps.  73, 16;  du  laidaht  101a,  deduxisti  Ps.  76, 21;  du 
peltzahtest  108  a,  plantasti  Ps.  79, 9;  du  plantzicht  108  a,  plan- 
tasti  Ps.  79, 10;  du  rüffeht  109  a,  invocasti  Ps.  80, 8;  du  m^hcedt 
senft  112b,  mitigasti  Ps.84, 4;  du  iecherceht  dich  112b,  avertisti 
Ps.  84, 4;  du  laittceht  115  a,  induxisti  Ps.  87,  8;  du  versmcehceht 
118b,  despexisti  Ps.  88, 39 ;  dti  vercherwht  118b.  119a,  evertisti 
—  avertisti  Ps.  88, 40.  44;  du  hohceht  119a,  exaltasti  Ps.  88, 43; 
du  zefurceht  119  a,  destruxisti  Ps.  88, 45;  du  vercheusceht  119  a, 
coUisisti  Ps.  88,45;  du  satzceht  IMh,  posuisti  Ps.  103, 20;  du 
straffceht  154  b,  increpasti  Ps.  118, 21;  du  braittceht  155  b,  dila- 
tasti  Ps.  118, 32;  du  vestnceht  159a,  fundasti  Ps.  118, 90;  du 
machceht  159  a,  fecisti  Ps.  118, 98;  du  versmcehceht  160  b,  sprevisti 
Ps.  118, 118;  dM  höcheht  174a,  magniflcasti  Ps.  137, 2;  du  vor- 
schceht  174b,  investigasti  Ps.  138,3;  du  losceht  186a,  eruisti 
Isai.  38, 17;    du  verfluchahtest  190  a,    maledixisti  Habac.  3, 14; 


234  SCHÖNBACH 

du  machceht  190a,  fecisti  Habac.  3, 15.  —  3.  pers.  der  michlacht 
59a,  magniflcavit  Ps.  40, 10;  er  hoffnaht  llh,  speravit  Ps.  51,9; 
er  ertrenchacht  88  b,  demersit  Ps.  68, 3;  er  itweizzaht  97  b,  im- 
properavitPs.73, 18;  er  raitmht  97]),  incitavit  Ps.  73, 18;  di  erd 
hidmaht  99  a,  terra  tremuit  Ps.  75, 9;  er  stellaht  102  a,  statuit 
Ps.  77, 14;  irraht  er  103a,  impedivit  Ps.  77, 31;  er  laitdht  104b. 
106  a,  induxit  Ps.  77, 54.  72;  er  wanaht  105  a,  habitavit  Ps.  77, 
60;  er  sattaht  109  b,  saturavit  Ps.  80, 17;  er  mnraht  (?)  131a, 
aediflcavit  Ps.  101, 17;  er  scher faht  137  a,  exacerbavit  Ps.  104, 
28;  er  tötaht  137a,  occidit  Ps.104,29;  er  haiiaht  138b.  139b, 
salvavit  Ps.  105,8.  21;  er  straffaht  138b,  increpuit  Ps.  105,9; 
er  dechceht  138  a.  139  a,  operuit  Ps.  105, 11. 17;  er  erUsaht  141a, 
redemit  Ps.  106, 2;  er  sammaht  141a,  congregavit  Ps.  106,2;  er 
sattaht  zweimal  141b,  satiavit  Ps.  106,9;  er  haiiaht  142  b,  sanavit 
Ps.  106,20;  er  ahfwht  145b,  persecutus  est  Ps.  108, 17;  er  min- 
naht  145b— 165b,  dilexit  Ps.108,18.  118,113.  159.  163.  167; 
chestigund  chestigaht  mich  unser  herr  152  b,  castigans  castigavit 
me  dominus  Ps.  117, 18;  M  haftaht  155a,  adhaesit  Ps.  118, 25; 
er  erchuTchceht  156b,  viviflcavit  Ps.  118, 50;  er  habaht  156b, 
tenuit  Ps.  118,  53;  er  erwelaht  170a,  elegit  Ps.  131, 13;  er 
töttacht  171b.  172b,  occidit  Ps.134,10;  percussit  Ps.  135, 17; 
er  mahaht  142  b,  fecit  Ps.  135,  7;  er  haiiaht  174  a,  salvum  fecit 
Ps.  137,  7;  er  achtaht  178  a,  persecutus  est  Ps.  142, 3;  er  vestnaht 
186  a,  confortavit  Ps.  147, 13;  er  tailaht  191a,  dividebat  Deuter. 
32, 8;  er  hoffnaht  191a,  separabat  Deuter.  32, 8  (vom  Übersetzer 
für  sperabat  gehalten);  er  schawaht  196a,  visitavit  Luc.  1,78. 
—  Plur.  3.  pers.  (1.  und  2.  kommen  nicht  vor)  da  hidmachten 
si  mit  vorhten  24  a,  illic  trepidaverunt  timore  Ps.  13, 5;  unser 
vceter  trauochten  dir  33  b,  in  te  speraverunt  patres  nostri  Ps. 
21,5;  si  spottachten  mein  33b,  deriserunt  me  Ps.  21, 8;  si  ach- 
tachten  mich  34  b,  consideraverunt  me  Ps.  21, 18;  si  braittachten 
49  b,  dilataverunt  Ps.  34, 21;  unser  vdter  chundachten  uns  61a, 
patres  nostri  annuntiaverunt  nobis  Ps.  43, 2;  da  zid/rahten  si 
von  den  vorhten  72  a,  illic  trepidaverunt  timore  Ps.  52,  6;  si 
gesegnähten  80  b,  benedicebant  Ps.  61,  5;  si  uberahten  82  a, 
praevaluerunt  Ps.  64, 4;  si  wetzahten  83  b,  exacuerunt  Ps.  63, 4 
(die  psalmen  63  und  64  sind  in  der  hs.  versetzt);  si  vestnahten 
83  b,  firmaverunt  Ps.  63, 6;  si  chundahten  83  b,  annuntiaverunt 
Ps.63, 10;  si  cehtuhten  88  b,  persecuti  sunt  Ps.68, 5;  si  hoffnahten 


ÜEBER  DEN  CONJ.  PRAET.  IM  BAIR.-ÖSTERR.       235 

102  b,  speravemnt  Ps.  77,22;  si  suntahten  103  a.,  peccaverunt 
Ps.  77, 32;  si  erscher(f)hten  103b.  104a.  142a,  exacerbaverunt 
Ps.  77, 40.  41.  106,11;  si  verwüstahten  106b,  desolaverunt  Ps. 
78,7;  si  erfullahten  108  a,  implevit  (frei  nach  dem  sinne  tiber- 
setzt) Ps.  79, 10;  si  raitzahten  142  a,  irritaverunt  Ps.  106, 11;  si 
hoffnahten  IbOhj  speraverunt  Ps.  113, 11;  si  helaittcehten  161b, 
deduxerunt  Ps.  118, 136;  si  ahtahten  163  a,  persecuti  sunt  Ps. 
118,161;  si  suntahten  191a,  peccaverunt  Deuter.  32, 5. 

Praet.  conj.  1.  pers.  sing.:  ich  iehuettacht  159b,  custodiam 
Ps.  118,  101  (doch  gemäss  der  deutschen  Zeitfolge,  nach  dem 
perfectum  im  hauptsatz,  als  conj.  praet.  aufzufassen).  —  3.  pers. 
der  seu  haileicht  29  b,  qui  salvos  faceret  Ps.  17,42;  er  lösicht 
131b,  solveretPs.101,21;  er  lernaht  136  b,  doceret  Ps.  104,22; 
er  Iceuchtaht  137  b,  luceret  Ps.l04, 39;  er  saugceht  191b,  sugeret 
Deuter.  32, 14.  —  Plur.  3.  pers.  5i  hochvertcehten  193  a,  super- 
birent  Deuter.  32, 27. 

Es  finden  sich  noch  ein  paar  fälle  von  praesens,  und  zwar 
ind.  er  wonaht  130  a,  habitabit  Ps.  100,  7;  er  redäht  130  a,  lo- 
quitur  Ps.  100,  7;  er  reichsnaht  188b,  regnabit  Exod.  15, 18.  — 
Conj.  er  ahtaht  193  a,  persequatur  Deuter.  32, 30.  —  Die  mög- 
lichkeit,  dass  der  tibersetzer  (und  der  corrector)  habitabit  und 
regnabit  mit  habitavit  und  regnavit  verwechselt  hätte,  muss 
ich  zugeben;  für  wahrscheinlich  halte  ich  das  im  zusammen- 
hange nicht.  —  Den  fall  er  ßraht  106  a,  pavit  Ps.  77, 72  habe 
ich  ausgeschlossen,  weil  hier  eine  andere  auffassung  (a  zwischen 
r  +  h)  sehr  wol  zulässig  ist. 

Nun  ist  ja  diese  ganze  erscheinung  an  sich  durchaus  nicht 
unbekannt:  Weinhold  widmet  ihr  in  seiner  Bair.  gr.  den  §  305 
(part.  praet.  §  317)  und  bringt  dort  aus  einer  hs.  der  Gesta 
Eomanorum,  aus  einer  Grazer  hs.  (leben  des  h.  Ludwig  von 
Toulouse,  vgl.  Germ.  32, 99  ff.  und  Zs.  fda.  34, 235  ff.)  und  aus 
etlichen  Urkunden  eine  reihe  von  beispielen  (sie  betreffen  zum 
teil  dieselben  verba,  die  meine  Sammlung  enthält),  tiber  die  er 
zusammenfassend  bemerkt:  *eine  eigentümliche  Verstärkung  der 
bindesilbe  im  perfect  erfolgt  durch  einschiebung  eines  aspirierten 
gutturallautes'. 

Das  von  mir  aus  der  Grazer  hs.  1631  vorgelegte  material 
umfasst  im  ganzen  137  fälle.    Davon  betreffen  105  sicher  verba 


236  SCHÖNBACH 

der  zweiten  schwachen  conjugation,  19  verba  schwanken 
zwischen  erster  und  zweiter,  dritter  und  zweiter  klasse, 
10  fallen  gewis  in  den  bereich  der  ersten  klasse,  nur  ein  fall 
gehört  bestimmt  einem  verbum  auf  e  an,  zwei  bleiben  über- 
haupt unbestimmbar.  Diese  Zuweisung  ist  vermittelst  der 
Wörterbücher  unternommen  worden;  dabei  erübrigt  jedesfalls 
manches  unsichere,  weil  erstens  die  überlieferten  denkmäler 
nicht  alle  möglichkeiten  erschöpfen,  zweitens  die  bezeugten 
formen  verschiedene  deutung  zulassen.  Immerhin,  das  zahlen- 
verhältnis  zwischen  der  gesammtmenge  der  fälle  und  denen, 
welche  verbis  der  o-klasse  angehören,  scheint  mir  den  schluss 
zu  erlauben,  dass  diese  bildungen  auf  -acht,  -aht  nur  reflexe 
des  alten  praeteritums  auf  '6t(a)  bezeichnen. 

Will  man  sich  die  erscheinung  verständlich  machen,  so 
wird  man  sich  zunächst  daran  erinnern  dürfen,  dass  die  ahd. 
verba  auf  ö  ihren  charaktervocal  mit  besonderer  Zähigkeit 
weit  ins  mhd.  hinein  festgehalten  haben.  Vielleicht  wird  aber, 
da  diese  bildungen  auf  -acht,  -aht  nur  im  bereiche  der  groben 
bairisch-österreichischen  mundart  zu  treffen  sind,  auch  an  die 
Wirkung  der  diesem  dialekte  eigentümlichen  starken  apokope 
gedacht  werden  dürfen,  in  folge  dessen  (wie  sonst  bei  der 
längung  kurzer  Wurzelsilben  nach  Wrede)  eine  Verstärkung 
des  lautgehaltes  der  vorhergehenden  silbe  (oder  hier  vielmehr 
bewahrung  des  älteren  lautgehaltes)  eingetreten  wäre.  Die 
praeterita  der  übrigen  Massen  schwacher  verba  wären  dann 
durch  analogie  nachgezogen  worden.  Auch  die  starken  verba 
mögen  später  gefolgt  sein;  fälle,  wo  schwache  und  starke 
verba  derselben  klasse  neben  einander  standen  (z.  b.  rüffeht), 
können  den  Übergang  erleichtert  haben.  Dazu  kommt,  wie 
ich  glaube,  noch  ein  anderer  umstand  in  betracht.  Es  wird 
dem  leser  nicht  entgangen  sein,  dass  von  den  beispielen  der 
2.  pers.  sing.  ind.  sehr  viele  nur  f,  nicht  st  besitzen:  unter 
allen  37  fällen  gehen  nur  8  auf  st  aus;  vgl.  über  diese  aus- 
stossung  des  s  Weinhold  §  314.  An  dieses  t  tritt  e  schon  im 
12.  Jh.,  Weinhold  ebenda.  Durch  diese  Veränderung  fiel  nun 
die  2.  pers.  sing,  praet.  der  schwachen  verba  ganz  mit  der 
entsprechenden  der  starken  verba  zusammen,  denn  diese  bildete 
im  grob  bairisch-österreichischen  die  2.  pers.  sing,  praet.  bei 
starken  verbis  aus  dem  conjunctivstamme  des  praeteritums 


UEBER  DEN  CONJ.  PRAET.  IM  BAIR.-ÖSTERR.       237 

(also  aus  der  mhd.  normalen  form)  durch  anhängung  von  t 
oder  d,  Weinhold  §  291.  Unsere  hs.  zeigt  diese  formen  sehr 
reichlich,  ja  fast  ausschliesslich,  z.  b.  du  gcehd  29  a,  du  ^eprceht 
151b,  du  sprcecJid  116a.  117b,  du  hulft  119a,  du  vertrzbd  78\), 
du  stigd  87  a,  du  fhcJit  20  b,  du  sluegd  14  b,  du  empJiiengd  59  a, 
lieftu  69  a.  Die  Identität  dieser  besonders  charakteristischen 
form  musste  das  zusammenfallen  der  endung  schwacher  und 
starker  conjugation  im  praeteritum  ungemein  erleichtern. 

Das  aber  ist  es,  was  angenommen  werden  muss,  wenn 
man  den  heutigen  conj.  praet.  (auch  ind.,  vgl.  Nagl  s.  369  ff.) 
als  eine  fortsetzung  dieser  alten  mundartlichen  reflexe  der 
schwachen  praeterita  auf  6  verstehen  will.  Besondere 
Schwierigkeiten  sehe  ich  dabei  nicht.  Der  inhärierende  gut- 
tural ist  verflüchtigt,  ganz  wie  die  endung  der  adjectiva  auf 
ht  (Wilmanns,  D.  gramm.  2, 464  ff)  in  dem  heutigen  bair.-österr. 
dialekte  nur  als  -(a)d  erscheint.  Wenn  aber  die  bildung  -ad 
jetzt  auf  den  conjunctiv  praeteriti  beschränkt  ist,  so  erklärt 
sich  das  einmal  daraus,  dass  der  ind.  praet.  von  der  mundart 
überhaupt  gänzlich  fallen  gelassen  wurde  (vgl.  NagJ  a.  a.  o.  — 
unsere  hs.  gibt  noch  lat.  perf.  meistens  durch  das  praet. 
wider  und  kann  somit,  da  sie  fest  datiert  ist,  als  ein  zeit- 
licher fixpunkt  für  die  eliminierung  des  praeteritums  dienen), 
ein  zusammengesetzter  conj.  perf.  aber  zu  schwierig  ge- 
wesen wäre. 

Die  Identität  der  heutigen  endung  -ad  mit  den  -acht,  -aht 
der  Grazer  hs.  wird  dadurch  nicht  zweifelhaft,  dass  ich  für 
den  guttural  der  alten  formen  keine  sichere  erklärung  weiss. 
Ist  das  ch,  h  nicht  etwa  überhaupt  nur  ein  dehnungszeichen  ? 
Bei  ch  ist  das  schwer  zu  glauben,  aber  in  unserer  hs.  über- 
wiegen von  quinio  zu  quinio  die  h  immer  mehr.  Sollte  sich 
der  Schreiber  allmählich  überzeugt  haben,  dass  er  dem  Cha- 
rakter des  lautes  gemäss  besser  h  als  ch  zu  setzen  habe? 
h  zur  dehnung  ist  in  alten  aufzeichnungen  dieser  mundart 
nicht  selten.  Weinhold  §  197.  Und  die  vorkommenden  praesens- 
formen  auf  -aht  sprechen  gleichfalls  für  die  blosse  länge  des 
vocals  der  endung.  Nur  die  berufung  auf  sonstige  alte  Zeug- 
nisse oder  auf  den  lebenden  dialekt  kann  meines  erachtens  die 
frage  entscheiden. 


238   SCHÖNBACH,  ÜEBER  DEN  CONJ.  PBAET.  IM  BAIB.-ÖSTEBB. 

Zum  Schlüsse  will  ich  nicht  unbemerkt  lassen,  dass  die 
vorgeführten  beispiele  der  Grazer  hs.  auch  verschiedene 
färbungen  der  vocale  vor  ht  aufweisen.  Ich  habe  vergebens 
gestrebt,  sie  unter  einheitliche  gesichtspunkte  zu  bringen. 
Einfluss  des  wurzelvocals  lässt  sich  vermuten,  aber  nicht 
erweisen,  ebensowenig  einfluss  der  function,  an  den  man  sonst 
am  ehesten  denken  möchte.  Auch  diesen  punkt  muss  ich  also 
vorläufig  im  dunkeln  lassen. 

GRAZ.  ANTON  E.  SCHÖNBACH. 


EBER. 

Vor  kurzem  hat  Berneker  (IF.  8, 283  f.)  eine  neue  erklärung 
von  ahd.  ebur  zu  geben  versucht,  indem  er  sich  berechtigt  fand, 
das  wort  von  lat.  aper  und  slav.  veprt  zu  trennen.  Er  macht 
übrigens  wenig  umstände,  denn  —  lautet  seine  argumentation 
—  'während  bei  ersterem  vergleich  der  vocalismus  Schwierig- 
keiten macht,  verbietet  den  letzteren  einfach  das  v\ 

An  erster  stelle  werde  ich  auf  das  slavische  wort  ein- 
gehen, über  dessen  v  Meillet  (IF.  5, 332f.)  eine  scharfsinnige 
Vermutung  aufgestellt  hat.  Er  hebt  mit  recht  hervor,  dass  ein 
w-vorschlag  im  slavischen  vor  dunkeln  vocalen  keineswegs 
unerhört  ist,  und  erklärt  veprl  als  eine  contamination  von 
"^wopn  aus  "^opri  (vgl.  lat.  aper)  und  "^jepri  aus  *epn  (vgl. 
ahd.  elur).  Bei  dieser  auffassung  wäre  lett.  vepris  natürlich 
als  ein  lehnwort  aus  dem  slav.  zu  betrachten.  Der  «c;- Vorschlag 
vor  0  (d.  i.  indog.  a,  ö,  9)  scheint  aber  eine  jüngere  und  einzel- 
dialektische erscheinung  zu  sein,  welche  im  allgemeinen  auf 
westslav.  und  russ.  mundarten  beschränkt  ist.  Aus  Miklosich 
habe  ich  mir  die  folgenden  beispiele  verzeichnet: 

osorb.  vdbli,  klruss.  voblyj  :  aksl.  öblü  'rund'  (aus  *obvlu, 
vgl.  lit.  ap'Valüs)] 

wruss.  vocet  :  aksl.  ocXtü  'essig'  (got.  aJceit); 

osorb.  vorcl  :  aksl.  ocelt  'stahl'  (ahd.  ecchil?); 

czech.  vodr  :  odr  'vorscheune'. 

osorb.  vopor  :  nsorb.  hopor  'opfer'  (ahd.  opfar); 

polab.  vü^in,  vü^ün,  osorb.  vohen,  nsorb.  vogen  :  hogen,  aksl. 
ogn^  'feuer'  (vgl.  lit.  ugnls,  lat.  ignis,  aind.  agni-); 

osorb.  nsorb.  vojo,  klruss.  voje,  czech.  vüje  :  oje,  südslav.  oje 
Cojes-,  vgl.  gr.  o?ä§  und  aind.  tshä,  Liden,  s.  Brugmann,  Grundr. 
12,1091); 


240  ÜHLENBECK 

polab.  vätcüy  osorb.  voko,  nsorb.  voho  :  JioJco,  aksl.  oJco  ^auge' 
(vgl.  lat.  oculus)] 

polab.  vülüv,  välüv,  osorb.  nsorb.  voloj,  wi'uss.  volovo  :  polab. 
äVäv,  aksl.  olovo  'blei'  (in  den  jungem  dialekten  auch  'zinn'  : 
vgl.  über  die  etymologie  Beitr.  22, 537); 

osorb.  voltar,  klruss.  völtar  :  oUar,  aksl.  ofö^an' altar'  (ahd. 
aliäri)] 

osorb.  vornan  :  russ.  u.s.w.  oman  'inula  helenium'  (wol  ein 
f remdwort) ; 

polab.  voböräh,  poln.  w^bor,  wqhoreh  (apr.  lehnwort  wumba- 
ris)  :  aksl.  "^qhorüQcü),  aruss.  uborüJcü  ^eimer'  (ahd.  eimbar); 

czech.  vomej  :  ome)*,  slov.  omej  ^aconitum  napellus'  (vgl.  poln. 
omi^g,  rum.  lehnwort  omeag,  welche  auf  *om^gü  hinweisen) ; 

osorb.  vuda,  poln.  tv^da,  klruss.  vudka,  wruss.  vuda  :  aksl. 
g,da  ^hamus'; 

nsorb.  vui,  poln.  wg,z,  ka§.  vo^,  wruss.  vuä  :  russ.  ui,  aksl. 
*g,Si  'schlänge'  (vgl.  lit.  angis); 

polab.  vo^ör,  osorb.  vuhor,  nsorb.  vugor,  poln.  w^gom  :  russ. 
wgfo>%  aksl.  *q,gori:  'aal'  (vgl.  apr.  angurjis); 

poln.  wagtet,  klruss.  wruss.  vwäö?  :  aksl.  a^^Zw  'winkel'  (dazu 
stelle  ich  aind.  dgra-,  avest.  ayra-  *  spitze',  das  auf  *wgfZo  zurück- 
gehen kann); 

polab.  vo^il,  osorb.  vuhl,  poln.  w^giel,  klruss.  vuhoY  :  aksl. 
^gfZ^  *  kohle'  (vgl.  lit.  angüs  und  aind.  dngära-)] 

osorb.  vMÄrö,  poln.  pl.  wq,gry,  w^gry,  klruss.  vuhor  :  russ. 
ugon,  aksl.  *(3t5^rw,  *q,gn  'beule'  u.  dgl.; 

polab.  vös,  poln.  wq,s  (apr.  lehnwort  wanso),  klruss.  wruss. 
vus,  czech.  vous  :  aksl.  ^5m  'flaum,  hart'  u.  dgl.  (ich  vergleiche 
aind.  amgü-  'faser,  Stengel',  av.  g,su-  'schoss,  Stengel); 

poln.  tvg>tly  'nicht  dauerhaft'  :  aksl.  g,tlü  'durchlöchert'; 

nsorb.  vuh  'junge  ente',  klruss.  vut'a  :  aksl.  q,ty  'ente'  (vgl. 
lit.  dntis); 

polab.  vän,  osorb.  nsorb.  von,  klruss.  von  :  aksl.  onü  'jener, 
der'  (vgl.  lit.  afts); 

osorb.  vopica  :  aruss.  opica  'äffe'  (an.  ape,  ahd.  a^o); 

osorb.  nsorb.  vopak  :  aksl.  ö/^aÄö,  opaky  'retrorsum'  (vgl.  aind. 
dpäka); 

polab.  värat,  osorb.  vorac ,  nsorb.  vora^ :  aksl.  öm^i  'pflügen' 
(vgl.  lit.  drti)\ 


EBER.  241 

polab.  vüräl,  osorb.  vorol  :  aksl.  orilü  'adler'  (vgl.  lit. 
ar^lis) ; 

polab.  vüs,  osorb.  vosica,  klruss.  voS  :  aksl.  o^  (vgl.  lit. 
asz\s)\ 

osorb.  vosTcrot  :  aksl.  oskrüdü  ^haue,  hammer'  u.  dgl.  (vgl. 
apr.  scurdis)] 

osorb.  vosom,  nsorb.  vosym,  russ.  vosemt  :  aksl.  osm^  'acht' 
(vgl.  lit.  äszmas)\ 

osorb.  nsorb.  vö5a  :  poln.  05a,  russ.  osma  'espe'  (vgl. 
apr.  dbse)\ 

osorb.  vö5^,  nsorb.  voset  'disteP,  russ.  vostryj  :  ostryj,  aksl. 
ö5^r«*  'scharf'  (vgl.  lit.  asjstrüs); 

osorb.  nsorb.  vosol  :  aksl.  öä^w  'esel'  (got.  asüus)\ 

osorb.  nsorb.  t;ö^ai;a  :  russ.  u.s.w.  otava  'grummet'. 

osorb.  votruby,  nsorb.  votsuhy,]  wruss.  votrubi  :  aksl.  otrqhi 
'furfur'; 

polab.  vüt,  klruss.  v6d  :  aksl.  otu  'von'  (vgl.  lit.  at-)\ 

osorb.  votCy  nsorb.  i;oÄ  'vater',  russ.  votcina  'erbgut',  votcim 
'Schwiegervater'  :  aksl.  otM  'vater'; 

polab.  vüca,  osorb.  vovca,  nsorb.  vejca,  klruss.  vövca  :  aksl. 
ov^ca  'schaf  (vgl.  lit.  avls); 

polab.  vüväs,  vüjäs,  osorb.  vovs,  klruss.  vövSuch  :  aksl.  ovtsü 
'hafer'  (vgl.  lat.  avma)\ 

klruss.  voznyca  'darrhaus',  czech.  vozditi  :  oisditi  'darren'. 

Im  südslav.  fehlt  der  «c;-vorschlag  vor  einfachem  0  (slov. 
vol  :  ol  'bier'  steht  vereinzelt  da)  und  nur  in  einem  beson- 
deren falle,  nämlich  vor  q^  (aus  on)  hat  das  slovenische  (und 
zum  teil  auch  das  bulgarische)  ein  anlautendes  w  entwickelt, 
vgl.  slov.  vodica  (ödica,  aksl.  adica),  voz  (aksl.  *(^i^),  vugor  {ögor, 
aksl.  "^Qgori),  vögel  (aksl.  q^glü\  vögel  (aksl.  q^glf),  vögrc  (aksl. 
*q,grM\  vds  (aksl.  qsü\  vötel  (aksl.  q,tlü).  Für  altslav.  «c;-pro- 
these  vor  0  ist  kaum  etwas  anzuführen,  denn  auf  vq,grinü  neben 
qgrinü  darf  man  sich  nicht  berufen,  weil  es  sein  v  von  vügrinü 
herübergenommen  haben  wird,  und  ebensowenig  auf  vq,m  (v§zati), 
dessen  v  (w)  wol  nur  in  der  Zusammensetzung  mit  sür,  u-  laut- 
gesetzlich entstanden  ist  (Brugmann,  Grundr.  I2, 943).  Es  bleibt, 
soviel  ich  sehe,  nur  gemeinslav.  vonja  'geruch'  (vgl.  aind.  dniti) 
übrig,  das  aber  ohne  weitere  stütze  die  annähme  einer  alt- 
oder  gemeinslav.  «c;-prothese  vor  0  nicht  rechtfertigen  kann 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  -^ß 


242  ÜHLENBECR 

(vielleicht  ist  vonja  aus  "^vü-onja  entstanden  und  hat  es  ur- 
sprünglich 'einatmung'  bedeutet).  Im  gegenteil:  aksl.  serb.  russ. 
poln.  osa  'wespe'  beweist  uns,  dass  das  urslavische,  weit  davon 
entfernt  vor  o  einen  m? -Vorschlag  anzunehmen,  vielmehr  das 
indog.  w  vor  o  verlieren  konnte,  vgl.  lit.  vapsä,  ahd.  wefsa,  lat. 
vespa,  bal.  gvdbs.  Ob  polab.  vöLsa,  osorb.  vosa,  nsorb.  vos  das 
alte  w  erhalten  haben  (vgl.  aksl.  voda,  vosM  u.  s.  w.),  oder  ihr  w 
erst  der  einzeldialektischen  prothese  verdanken,  ist  nicht  zu 
entscheiden. 

Wenn  aber  das  anlautende  o  (d.  i.  indog.  a,  o,  9)  im  alt- 
slav.  unverändert  blieb,  so  fällt  die  an  sich  wahrscheinliche 
hypothese  Meillets,  dass  veprt  durch  eine  contamination  von 
"^voprt  und  "^jeprt  entstanden  sei,  denn  "^opri  (*aprio-)  hätte 
kein  gemeinslav.  *vopfi  ergeben  können.  Wir  werden  mit 
Bemeker  das  w  in  vepr^  für  indogermanisch  halten  müssen 
und  brauchen  dann  lett.  vepris  nicht  mehr  als  ein  lehnwort 
aus  dem  slavischen  zu  betrachten.  Dennoch  trifft  Bernekers 
etymologie  aksl.  vepri  ^eber'  :  aind.  vdpati  *  wirft  hin,  streut 
aus,  sät'  kaum  das  richtige,  denn  vap-  ist  doch  eigentlich 
*  werfen',  wie  aus  den  bei  Böhtlingk  und  Eoth  verzeichneten 
stellen  leicht  zu  ersehen  ist  (z.  b.  Rv.  2, 14, 6. 7,  wo  vap-  für  das 
niederwerfen  der  feinde  gebraucht  wird).  Der  technische  aus- 
druck  ahshän  vapati  heisst  doch  nicht  etwa  ^er  sät  die  Würfel'! 
Und  das  offenbar  zu  vap-  gehörige  väpra-  'aufwurf,  erdwall' 
lässt  sich  ebenfalls  nur  begreifen,  wenn  man  von  der  grund- 
bedeutung  'werfen'  ausgeht.  Allem  anschein  nach  ist  vap- 
erst  im  sonderleben  des  indischen  ein  wort  für  'säen'  geworden. 
Nebenbei  sei  bemerkt,  dass  Bernekers  ähnliche  erklärung  von 
lit.  sisefnas  'wilder  eher'  ebenso  verfehlt  ist:  das  wort  kann 
nicht  zu  aind.  kshdrati  gehören,  weil  dieses  nach  ausweis  von 
mind.  jharati,  avest.  yiaraiti,  gr.  ^d^elQO)  auf  eine  grundform 
mit  anlautendem  ^Sh  hinweist  und  wir  also  lit.  z  (gz),  nicht  sjs 
zu  erwarten  hätten.  Auch  ahd.  haran  und  ags.  scearn,  an. 
skarn,  gr.  öxcig  (genit.  öxatog)  dürfen  nicht  mit  kshdrati  ver- 
bunden werden. 

Auch  sonst  weiss  ich  keine  indog.  wurzel,  wovon  vepH 
abgeleitet  sein  kann  —  denn  an  aind.  vdpati  'scheert'  ist 
natürlich  nicht  zu  denken  —  und  so  werden  wir  uns  vorläufig 
damit  zufrieden  geben  müssen,  dass  vepri  'eher'  bedeutet,  also 


EBER.  243 

gerade  dasselbe  wie  ahd.  ehur.  Möglicherweise  verhält  vepri 
sich  zu  ehur  wie  aind.  vrshdbhd'  zu  rsliabhä-  (s.  Et.  wb.  der  got. 
Sprache  s.  v.  wargipa),  d.  h.  wir  haben  mit  indog.  doppelformen 
zu  tun,  welche  sich  wol  am  besten  durch  sandhi  erklären  lassen. 
Aehnlicherweise  gibt  es  Wörter  mit  und  ohne  inlautendes  w 
(vgl.  Feist,  Beitr,  15, 548  ff.),  welche  man  doch  auch  nicht  gerne 
von  einander  trennen  wird. 

Gehen  wir  zur  besprechung  des  lat.  wortes  über,  das  nach 
Berneker  nicht  mit  ebur,  sondern  vielleicht  mit  aind.  äp- 

*  Wasser'  zu  verbinden  wäre  (eine  Vermutung,  welche  wir  gerne 
auf  sich  beruhen  lassen).  Steht  aper  dann  nicht  mit  ebur  in 
einem  gut  beglaubigten  ablautsverhältnis?  Oder  ist  etwa  lat. 
pateo  von  gr.  jtatavvvfii,  lat.  saxum  von  secäre,  lat.  gradior 
von  got.  grids,  lat.  labrum  von  ags.  lepor  zu  trennen?  Wir 
bedürfen  der  Vermutung,  dass  aper  sein  a  erst  von  caper  be- 
kommen habe  (Fick  1^,  362),  nicht  im  mindesten  und  können 
getrost  das  Verhältnis  von  aper  zu  Sbur  als  ein  rein-lautliches 
betrachten.  Das  verwerfen  einer  evidenten  gleichung  wie  ahd. 
ebur  :  lat.  aper  ist  ein  methodologischer  fehler  und  wider- 
streitet den  principien  einer  Wissenschaft,  welche  ausschliess- 
lich auf  evidenten  gleichungen  beruht. 

Und  jetzt  ebur  selbst.  Nach  den  vorhergehenden  aus- 
führungen  stehe  ich  nicht  an,  jede  etymologie,  welche  ebur 
auf  eine  i-wurzel  zurückführen  will,  von  vornherein  als  ver- 
fehlt zu  betrachten,  weil  sie  der  unleugbaren  verwantschaft 
mit  lat.  aper  und  dem  wahrscheinlichen  Zusammenhang  mit 
aksL  veprt  keine  rechnung  trägt.  Darum  ist  Bernekers  er- 
klärung  von  ebur  aus  indog.  Hhhoro-  zu  aind.  ydbh-,  slav.  je6- 

*  begatten'  unbedingt  abzuweisen,  und  das  um  so  eher,  wenn 
die  letztgenannte  wurzel  in  der  Ursprache  ein  spirantisches  j 
gehabt  hat,  was  mir  auf  grund  von  gr.  ^£g)VQog,  dem  namen 
des  feuchten  und  befruchtenden  Westwindes,  in  hohem  grade 
wahrscheinlich  ist  (Odyss.  7,  118  f.  dZXä  /laZ^  alsl  ZsipvQlrj 
jcvelovöa  rä  fiev  g)V6i,  aXXa  de  jtsöösi).  Also  ^iqrvQOg  :  ydbhati 
=  ^vyov  :  yugdm.  Natürlich  ist  bei  dieser  auffassung  von 
yabh'  das  synonyme  gr.  olqxo,  olg)e(o  ferne  zu  halten. 

Eine  etymologie  von  ahd.  ebur,  ags.  eofor  (an.  jgfurr)  : 
lat.  aper,  umbr.  abro-  :  aksl.  vepri,  lett.  vepris  zu  geben,  bin 
ich  nicht  im  stände.    Schade  123  denkt  an  die  wurzel  *^- 


244  UHLEKBEGK,  EBER. 

in  an.  afl  u.  s.  w.,  welche  aber  nirgends  ein  w  im  anlaut  zeigt 
und  uns  deshalb  bei  der  erklärung  von  aksl.  vepr(,  lett.  vepris 
und  von  ahd.  ebur  im  stich  lässt.  Wahrscheinlich  haben  wir 
bei  ebur,  aper,  vepri  von  *«c;ejp-  auszugehen,  denn  dass  die  formen 
ohne  anlautendes  w  erst  dui'ch  indog.  sandhi  aus  den  mit  w 
anlautenden  hervorgegangen  sind,  bedarf  kaum  des  beweises. 
Zum  Schlüsse  noch  einige  fragen  über  ein  anderes  wort, 
das  lautliche  Schwierigkeiten  macht.  Steht  got.  stiur,  avest. 
staora-  nicht  in  demselben  Verhältnis  zu  an.  J^jorr  wie  got. 
stautan  zu  aind.  tuddti,  an  deren  Zusammengehörigkeit  niemand 
zweifelt?  Führt  ]>j6rr  uns  nicht  zu  gr.  ravQog,  lat.  taurus 
u.  s.  w.  hinüber,  wenn  wir  nur  annehmen  wollen,  dass  germ.  eu 
und  gr.  lat.  au  mit  einander  ablauten  wie  in  got.  stiurjan  : 
gr.  öravQog,  lat.  re-stauräre.  Und  wird  am  ende  gall.  tarvos 
nicht  irgendwie  mit  stiur  und  staora-,  mit  pjörr  und  ravQog 
verwant  sein?  Wörter  wie  stier  und  eber  lehren  uns,  wie 
wenig  wir  noch  von  der  indog.  lautlehre  wissen. 

AMSTERDAM,  februar  1898.  C.  C.  UHLENBECK. 


ZUM  ALTENGLISCHEN  BOETIUS. 

Bei  Bosworth- Toller  findet  man  s.  1086  ein  ^ys  'storm' 
angesetzt,  das  Toller  mit  an.  ^yss  'uproar,  tumult'  vergleicht. 
Er  bringt  dafür  nur  einen  einzigen  beleg  und  zwar  aus  dem 
20.  cap.  der  aengl.  Boetiusübersetzung.  Die  stelle  lautet  bei 
Fox  s.  72, 4:  Ac  seo  orsorhnes  ^cep  scyrmcelum  swa  pces  windes 
yst,  ^)  doch  aus  der  anmerkung  erfahren  wir,  dass  yst  in  keiner 
hs.  steht,  sondern  nur  eine  conjectur  von  Cardale  ist,  indem 
Ms.  Cotton^)  swaj^cer  windes  ]>ys  und  Ms.  Bodl.  swce]>er  windes 
pys  hätten.  Ein  blick  in  Ms.  Bodley  180  zeigte  mir  indessen, 
dass  diese  hs.  nicht  pys,  sondern  ganz  deutlich  öyf  hat.  Die 
Juniussche  abschritt  hat  natürlich  ebenfalls  ffyf.  Da  nun  Ju- 
nius  die  abweichenden  lesarten  der  Cottonhs.  am  rande  notiert, 
zu  dieser  stelle  aber  nichts  bemerkt,  so  ist  anzunehmen,  dass 
auch  Otho  A.  VI  ffyf  hatte.  Leider  fehlt  das  wort  jetzt  in  der 
Cottonhs.,  indem  an  dieser  stelle  der  rand  abgebröckelt  ist.  3) 
Jedenfalls  aber  entbehrt  die  Fox'sche  lesart  J>ys  jeder  hand- 
schriftlichen autorität,  und  dieses  wort  ist  demnach  aus  den 
lexicis  zu  streichen. 

Bei  der  erklärung  unserer  stelle  haben  wir  nunmehr  von 
dyf  auszugehen,  und  ich  meine,  sie  lässt  sich  am  ungezwungen- 
sten erklären,   wenn  man  annimmt,   dass  in  der  urhs.  pyf 

^)  Das  lat.  original  lautet:  iUam  (d.  h.  prosperam  forUmam)  videas 
ventosam  fluentem. 

2)  Von  der  aengl.  Boetiusübersetzung  gibt  es  bekanntlich  zwei  alte 
hss. :  1.  die  Cottonsche  hs.  Otho  A.  VI,  die  durch  den  brand  der  Cottoniana 
stark  gelitten  hat,  2.  Ms.  Bodley  180.  Diese  letztere  hs.  schrieb  Jimius  ab, 
gab  aber  auch  die  yarianten  aus  der  Cottonhs.  Seine  abschrift  wird  als 
ms.  Junius  12  in  der  Bodleiana  aufbewahrt. 

8)  Nach  einer  freundlichen  mitteilung  des  herm  W.  J.  Sedgefield,  von 
dem  wir  bald  eine  ausgäbe  d^r  aengl.  Boetiusübersetzung  erwarten  dürfen. 


246  NAPIEB,  ZUM  AENGL.  BOBTIÜS. 

(r=pyff,  l^Kpuff)  gestanden  habe:  aus  diesem  konnte  leicht 
ein  nachlässiger  abschreiber  pyf  machen,  das  unter  der  band 
eines  zweiten  abschreibers  leicht  zu  ffyf  werden  konnte.  Ich 
bin  zwar  nicht  im  stände  ein  aengl.  Substantiv  pyff  anderswo 
zu  belegen,  doch  war  es  nachweislich  frühmengl.  im  gebrauch: 
vgl.  Ancren  Riwle  s.  122, 17  a  windes  puf\  und  auf  das  Vor- 
handensein eines  aengl.  verbums  pyffan  habe  ich  bereits  in 
der  Academy,  7.  mai  1892,  s.  447  hingewiesen. ')  Ein  windes 
pyff  passt  für  diese  stelle  vorzüglich. 

OXFOED,  13.  juli  1898.  AETHUE  S.  NAPIEE. 


AENGL.  SET^L,  5ETEL  ^ZAHL'. 

Neben  westsächs.  ^etceP)  (g.  ^etceles  u.s.w.,  pl.  n.  b^cc,  ^etalu) 
muss  es  im  spätwestsächs.  eine  form  ^etel  mit  durchgehendem  e 
(g.  ^eteles  u.s.  w.,  pl.  n.  acc.  ^etel  ohne  endung)  gegeben  haben. 
Den  beweis  dafür  dürften  die  folgenden  beispiele  liefern,  aus 
denen  auch  hervorgeht,  dass  namentlich  iElfric  die  e- formen 
gebraucht  hat. 

1.  Belege  für  cp(a)- formen: 

Nom.  acc.  sg.  ^etcel  Wright-Wülker  43, 39  (Corp.  GH.).  G^n. 
1420.  Exod.  229. 234.  Beda  ed.  MiUer  344, 34.  454, 24.  Matth. 
14,21.  Anglia  8,  302,  34  u.s.w.  (ich  habe  aus  dem  dort  mit- 
geteilten stück  22  beispiele  notiert).  WW.  366, 10. 11. 

g.  ^etceles  Cockayne,  Narratiunculae  s.33  ff.  (11  mal).  Anglia 
8, 302, 42.  Ae.  Chronik  z.  j.  973  (Ms.C);  getales  Sal.  38.  Leech- 
doms  2, 284, 22.  Cockayne,  Narrat.  36, 28. 

^)  Zu  dem  einzigen  ans  Techmers  Internationaler  zs.  2, 121  dort  an- 
geführten beleg  kann  ich  jetzt  aus  meinem  demnächst  erscheinenden  bände 
aengl.  glossen  folgende  hinzufügen :  1, 1886  spirantis  =  piffendes  (vgl.  Zs. 
fda.  9, 450).  1, 4931  exalauit  =  ut  apyfte  (vgl.  Zs.  fda.  9, 519).  18, 42  efflauä 
=  pyft€. 

^)  Im  nordh.  galt  die  form  t<ü  (Lindisf.  und  Bushw.  Gospels,  Durham 
Bitual),  das  sein  a  wol  dem  verbum  {j^e)t(üi$a  oder  dem  an.  toi  verdankt« 


AE.  GET^L,  GETEL.  247 

d.  ^eteZe  Anglia  8, 304, 40  u.s.w.  (6  mal).  Deut.  32, 8.  WW. 
418,36;  fetale  Beut  1, 11.  Thorpe,  Ancient  Laws  1, 86, 1.  Cod. 
Dipl.  4, 116.  Menologium  63. 

Nom.  acc.  pl.  getalu  0  WW.  176, 25.  429, 27. 

d.  ^etalum  Gen.  1688.  WW.  431, 18. 

2.  Belege  für  e -formen: 

Nom.  accsg.  ^etel  Gen.  2755.  WW.  250, 42.  Exod.  5, 18.  Ass- 
mann, Ags.liomilien  43, 477  (iElfric).  iElfrics  Grammatik  2)  9,21. 
25,16  U.S.W.  (ich  habe  ca.  45  fälle  notiert).  iElfi\  Hom.  ed. 
Thorpe  1, 32, 26.  188,35.  190, 11.  338,27.  536  (5  mal).  Ae.  Chron. 
z.  j.  1014  (Mss.  C,  D). 

g.  geteles  Mite.  Gr.  13, 8.  83, 9.  108, 19.  110, 3. 5.  135, 14. 
Assmann  45, 528  (iElfr.).  Ae.  Chron.  z.  j.  973  (Mss.  Parker  und  B). 

d.  ^etele  Mite.  Hom.  1, 102, 33.  190, 1.  2,  222, 3.  586, 32. 
iElfr. Gramm.  13, 10  u.s.w.  (26 mal).  Num.  15, 34,  Anglia  8, 299,13. 
318, 23.  WW.  251, 1. 

Nom.  acc.  pl.  ^etel  M\ir.  Gr.  83, 7.  126, 13.  283, 8.  286, 16. 
296, 13  und  vielleicht  13, 19.  232, 6.  280, 18  (die  letztgenannten 
können  aber  auch  sing.  sein). 

d.  ^etelum  Mlfr.  Gr.  134, 3.  286, 12. 
Da  die  hss.,  welche  6-formen  aufweisen,  das  e  und  ce  sonst 
nicht  verwechseln,  so  setzen  die  angeführten  beispiele  die  exi- 
stenz  eines  ^etel  neben  dem  normalem  ^etcel  für  das  spätere 
westsächs.  ganz  ausser  zweifei. 

Abgesehen  aber  von  dem  wurzelvocal  unterscheiden  sich 
die  beiden  formen  auch  ferner  dadurch,  dass  erstere  im  nom. 
acc.  pl.  ^etel  (ohne  endung),^)  letztere  das  regelrechte  ^etalu 
hat.  Da  nun  aber  iElfric  kurz-  und  langstämmige  neutra  sonst 
nie  verwechselt,  4)  sondern  bei  ersteren  den  pl.  auf  -u  bildet, 

^)  Nom.  acc.  pl.  lautet  im  nordh.  tcUo,,  vgl.  Cook,  Glossary  of  the  Cid 
North.  Gospels. 

')  Was  die  beispiele  aus  iElfrics  Grammatik  anbelangt,  so  muss  er- 
wähnt werden,  dass,  während  die  grosse  mehrzahl  der  hss.  stets  e  schreiben, 
ein  paar  hss.,  F,  I  und  gegen  den  schluss  des  werkes  H,  dieses  e  consequent 
durch  cB  ersetzen.  Doch  ist  es  klar,  dass  MlMc  selbst  die  e -formen 
brauchte. 

*)  Sämmtliche  hss.  der  Grammatik  stimmen  in  der  endungslosen  form 
tiberein. 

*)  Auch  wo  die  ganz  späte  Verwechselung  stattfand,  ergab  sie  formen 
wie  wordu  (mit  -w),  nicht  umgekehrt  pluralformen  wie  *hof. 


248  NAPIEB,  AE.  GETiEL,  GETEL. 

bei  letzteren  die  endungslose  form  hat,  so  folgt  daraus,  dass 
zu  ^Ifrics  zeit  der  wurzelvocal  von  getel  lang  war.  Da  man 
^  aber  femer  angesichts  des  relativ  späten  Vorkommens  der 
e-formen  wol  kaum  berechtigt  ist,  eine  ablautsform  ^etel  = 
*gatöli  anzusetzen,  so  bleibt  als  einzige  möglichkeit  die  an- 
nähme einer  aengl.  dehnung.  Geht  man  von  einem  ge0  (mit 
^ »)  statt  ä  durch  einfluss  des  vb.  tellan)  aus,  so  bekommt  man 
mit  dehnung  im  nom.  acc.  sg.  getel  —  ebenso  wie  wel  aus  wH 
(vgl.  Sweet,  Hist.  of  Engl.  Sounds  §§  388.  389).  Das  lange  e 
drang  dann  in  die  obliquen  casus  ein,  daher  geteles  u.s.w. 
statt  des  zu  erwartenden  geteles;  dazu  bildete  man  ganz 
natürlich  den  nom.  acc.  pl.  getel  statt  *geMu.  Bei  hof,  lof 
U.S.W.  dagegen,  wo  eine  ähnliche  dehnung  im  nom.  acc.  sg. 
stattgefunden  zu  haben  scheint,  blieb  die  länge  auf  diese  casus 
beschränkt  und  erstreckte  sich  nicht  auf  die  anderen  casus: 
daher  höfes,  pl.  höfu. 

Sollte  diese  erklärung  das  richtige  getroffen  haben,  so 
liefert  sie  eine  ganz  unabhängige  bestätigung  der  aengl.  deh- 
nung einsilbiger  Wörter  auf  einfachen  consonanten. 


^)  Dieses  e  kann  nicht  direct  im  subst.  durch  umlaut  hervorgebracht 
worden  sein,  da  man  dann  *^etele  (e-stamm)  oder  *^etell  (ja-st)  erwarten 
müsste. 

OXFOED,  13.  juli  1898.  AETHUE  S.  NAPIEE. 


UEBER  DIE  VOM  DICHTER  DES  ANEGENGE 

BENUETZTEN  QUELLEN. 

Mit  einem  kleinen  bruchstücke  des  Anegenge,  mit  dem 
*  streite  der  vier  töchter  gottes'  —  s.  unten  —  hat  sich  E. 
Heinzel,  Zs.  fda.  17, 1  ff.  beschäftigt.  Er  sucht  nachzuweisen, 
dass  diese  partie  in  einer  predigt  des  hl.  Bernard  ihre  quelle 
habe.  Ausführlicher  beschäftigt  sich  mit  den  quellen  des 
gedichtes  E.  Schröder  in  seiner  schrift:  Das  Anegenge.  Eine 
litterarhistorische  Untersuchung  (QF.  44),  Strassburg  1881.  Er 
hat  das  Verhältnis  desselben  zur  Bibel  und  zu  den  verschie- 
denen commentaren  der  hl.  schrift  behandelt.  Auch  auf  die 
apokryphe  literatur,  welche  der  Verfasser  des  Anegenge  benützt 
haben  könnte,  weist  er  hin,  ohne  jedoch  ein  bestimmtes  buch 
als  directe  quelle  namhaft  zu  machen.  Dass  Honorius  Augusto- 
dunensis  dem  gedichte  den  Stempel  seines  geistes  aufgedrückt 
habe,  ist  ein  iiTtum:  das  deutsche  gedieht  erinnert  nur  des- 
halb manchmal  an  die  werke  dieses  abschreibers,  weil  er  die- 
selben quellen  benützt  hat,  die  auch  dem  Verfasser  des  Ane- 
genge vorlagen.  Uebereinstimmungen  mit  anderen  deutschen 
gedichten  sind  gleichfalls  auf  eine  gemeinsame  lateinische 
quelle  zurückzuführen.  Kelle,  der  in  seiner  Geschichte  der 
deutschen  litteratur  von  der  ältesten  zeit  bis  zum  13.  jh.  bd.  2 
(Berlin  1896)  s.  141  ff.  eingehend  von  den  quellen  des  Anegenge 
handelt  und  zeigt,  dass  das  deutsche  gedieht  nach  Inhalt  und 
form  von  Hugo  von  St.  Victor  —  Summa  sententiarum  und 
De  sacramentis  —  abhängig  ist,  bemerkt  s.  353  in  einer 
anmerkung  zu  s.  151,  dass  es  der  räum  nicht  gestatte,  diese 
abhängigkeit  im  einzelnen  darzulegen.  Diese  ins  einzelne 
gehende  darlegung  soll  nun  auf  den  folgenden  blättern  geliefert 
werden. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIY.  17 


250  TEUBER 

Wie  der  priester  sein  gebet,  in  welchem  er  die  geheim- 
nisse  der  hl.  religion  feiert,  mit  den  worten  des  Psalmes  50, 16 
domine  lahia  mea  aperies  beginnt,  so  auch  unser  dichter,  der 
ja  in  seinem  gedichte  auch  die  grössten  geheimnisse  des  christ- 
lichen glaubens  feiern  will.  1, 2 — 8 ')  bittet  er  gott  um  seinen 
beistand  zu  der  schwierigen  aufgäbe,  die  er  unternehmen  will. 
1,9 — 16  bedient  er  sich  eines  biblischen  Vergleiches  im  an- 
schluss  an  Num.  22, 28:  aperuitque  dominus  os  asinae  et  locuta 
est:  quid  feci  tibi?  cur  per  cutis  me?  ecce  iam  tertio.  Wenn  der 
dichter  sagt:  daz  si  ir  mceister  tcete  chunt,  dcus  er  nicht  furhcus 
solde,  so  stimmt  das  mit  der  bibel  nicht  überein;  denn  die 
eselin  gibt  durch  ihr  abweichen  vom  wege  (ib.  v.  23  avertit 
sc  de  itinere),  durch  ihr  andrücken  an  die  mauer  (v.  25  iunxit 
se  parieti)  u.s.w.  kund,  dass  sie  den  weg  nicht  gehen  will; 
die  eigentliche  belehrung  des  propheten  Balaam  geschieht  erst 
durch  den  engel,  den  er  früher  nicht  gesehen  hat.  Die  stelle 
ist  also  frei  citiert  und  frei  angewendet.  Warum  der  dichter 
so  innig  um  beistand  fleht,  sagt  er  im  folgenden  1, 17 — 26,  wo 
er  einen  kleinen,  keineswegs  erschöpfenden  überblick  über  die 
folgende  darstellung  gibt,  um  1, 27  ö.  speciell  auf  die  erlösung 
als  das  vorzüglichste  werk  der  gottheit  hinzuweisen.  Doch 
bevor  er  beginnt,  ruft  er  gott  nochmals  um  seinen  beistand 
an  und  bedient  sich  hierbei  abermals  eines  biblischen  Ver- 
gleiches: 1,  37  ff.  Für  V.  40 — 42  ist  Lev.  9, 14  heranzuziehen: 
non  maledices  surdo,  nee  coram  caeco  pones  offendiculum;  v.  43: 
daz  in  der  vasten  solde  ist  dem  sinne  nach  aus  der  stelle  ent- 
lehnt, welche  zu  v.  44 — 47  als  quelle  gedient  hat :  si  quis  aper- 
uerit  cisternam,  et  foderit,  et  non  operuerit  eam,  cedderitque 
hos  aut  asinus  in  eam.  Beddet  dominus  cisternae  pretium  iumen- 
torum  (Ex.  21, 33.  34).  Der  sinn  dieses  letzten  verses  ist  auf 
den  beschädigten  blinden  mit  den  worten:  v.  43  daz  in  der 
vasten  solde  angewendet.  Im  folgenden  (1, 48 — 69  und  2, 1 — 19) 
richtet  sich  der  dichter  gegen  die  tumben  und  ermahnt  sie 
nicht  ze  tieff'e  nachzudenken;  2)  er  bringt  eine  ziemlich  grosse 
anzahl  von  punkten,  über  welche  die  tumhen  nicht  nachdenken 

')  Ich  eitlere  nach  Hahn,  Gedichte  des  12.  und  13.  jh.'s,  1840. 

*)  Es  wäre  möglich,  dass  der  dichter  hierbei  Ecclus.  3,  22  ff.  im  äuge 
hatte :  cUtiora  te  ne  quaesieris,  et  fortiora  te  ne  scruteris .  .  .  Non  est 
enim  tibi  necessarium  ea,  quae  abscondita  sunt,  videre  oculis. 


QUELLEN  D£S  ANEGENGE.  251 

sollen,  um  sich  nicht  zu  'ertränken',  gibt  aber  damit  zugleich 
die  wichtigsten  punkte  an,  die  er  in  seiner  späteren  darstellung 
ausführlich  behandelt:  ja  man  könnte  sagen  von  1, 60 — 69  bis 
2, 1 — 19  ist  der  hauptinhalt  des  ganzen  gedichtes  niedergelegt. 
Die  gedanken  welche  hier  ausgesprochen  sind,  sind  ganz  all- 
gemeine Sätze,  welche  dem  dichter  aus  seinem  theologischen 
wissen  in  die  feder  flössen,  gedanken  über  gott,  über  die 
Schöpfung,  über  den  fall  der  engel  und  des  menschen,  über 
die  erlösung  und  heiligung  des  menschen,  über  die  ungetauften 
kinder  —  die  übrigens  chronologisch  sehr  gut  geordnet  sind 
— :  gedanken,  wie  sie  dem  dichter  aus  der  hl.  schrift  und  den 
Vätern  bekannt  sein  mussten. 

Wo  der  dichter  endlich  nach  einer  ziemlich  langen  ein- 
leitung  mit  der  eigentlichen  behandlung  seines  themas  beginnt, 
können  wir  sofort  eine  für  ihn  sehr  ausgiebige  quelle  nach- 
weisen: Hugo  von  St.  Victor,  De  sacramentis  und  Summa  sen- 
tentiarum  (Migne,  Patrologia  latina  1. 176).  2, 20 — 22  ist  näm- 
lich entnommen  aus  Hugos  Dialogus  de  sacramentis  legis 
naturalis  et  scriptae,  wo  gleichfalls  mit  der  frage  begonnen 
wird.  D. ;  quid  fuit  priusquam  mundus  fieret?  M,:  solus  deus. 
D. ;  ubi  fuit  cum  nihil  esset  praeter  ipsum?  M,:  ubi  modo; 
nur  dass  der  dichter  die  doppelfrage  zusammenzieht  und  nun 
2,23 — 26  direct  antwortet.  Dazu  stimmt  Hugo  t.  2, 18:  D.; 
ubi  est  modo?  M,:  in  semetipso  est,  et  omnia  in  ipso  sunt  et 
ipse  est  in  omnibus. 

Die  verse  2,  27  ff.:  owe  wie  sanfte  er  enbceit  dirre  werlde 
gruntveste  geben  den  inhalt  einer  stelle  bei  Hugo  t.  2,  c.  21. 22 
wider:  deus  ita  ab  aeterno  in  se  et  per  se  beatus  fuit,  ut  eius 
gloria  et  beatitudo,  quia  aeterna  et  incommutabilis  erat,  non 
posset  minui,  et  quia  plena  et  perfecta  fuit,  non  posset  augeri 
Nullo  igitur  indigens . . . 

In  den  folgenden  versen  2,  29  f.:  ob  dem  abgrunde  was  sein 
reste,  der  gotes  geeist  da  swebte  denkt  der  dichter  wol  zu- 
nächst an  Gen.  1,2:  terra  autem  inanis  et  vacua,  et  tenebra^ 
erant  super  fadem  terrae:  et  spiritus  dei  ferebatur  super  aquas, 
wenn  ihn  nicht  Augustinus,  De  genesi  contra  Manich.  c.  5  be- 
einflusst  hat,  der  da  sagt:  non  enim  per  spatia  locorum  super- 
ferebatur  aquae  ille  spiritus  . . .  sed  per  potentiam  invisibilis 
sublimitatis  suae, 

17* 


252  TEUBER 

2,31—41  ist,  wenn  auch  nicht  wörtlich,  doch  inhaltlich 
aus  Hugo  t.  2,  c.  21. 22  entnommen:  Jf.;  deus,  qui  summum  et 
verum  perfedumque  bonum  est,  ita  ab  aeterno  in  se  et  per  se 
beatus  fuit,  ut  eins  gloria  et  beatitudOj  quia  aeterna  in  incom- 
mutabilis  erat,  non  passet  ^minuV  et  quia  plena  et  perfecta 
fuerat,  non  passet  'augeri'.  Nulla  igitur  indigens,  sed  bonum, 
quod  ipse  erat  et  quo  beatus  erat,  cum  aliis  partidpare  et  alias 
in  illo  et  per  illud  beatificare  volens,  nulla  necessitate,  sed  sola 
charitate  creavit  rationalem  creaturam . . .  Dieser  passus  nullo 
igitur  indigens  führte  den  dichter  dazu,  die  abhängigkeit  der 
Schöpfung  von  gott  und  die  Unabhängigkeit  des  Schöpfers  von 
den  geschöpfen  zu  betonen.  Für  v.  40  und  41  ist  Hugo  t.  2, 
c.  20,  c  heranzuziehen:  D.:  quarc  novissime  f actus  est  homo? 
M.:  quia  homo  universae  creaturae  prasficiendus  fuit,  congruum 
erat,  ut  prius  mansio  eius  praepararetur,  postmodum  ipse  or- 
dinatis  Omnibus  qtiasi  possessor  et  rector  introduceretur  in  orbem 
terrarum. 

2,  42 — 44.  Hugo  spricht  t.  2,  c.  19  auch  von  der  erschaf- 
fung  des  lichtes:  D.:  quae  formatio  fa^ta  est  prima  die?  M,: 
lux  facta  est  prima  die,  natürlich  im  anschluss  an  Gen.  1,  3: 
dixitque  deus:  fiat  hex.  Et  facta  est  lux.  Der  ansieht,  dajs  er 
ie  vinster  gewunne  entgegenzutreten,  darüber  belelirte  den  Ver- 
fasser des  Anegenge  Augustinus,  der  schreibt:  et  vidit  deus 
lucem,  quia  bona  est.  Dicunt  enim:  'ergo  non  noverat  deus 
lucem,  aut  non  noverat  bonum'. 

2,45 — 48.  Dazu  stimmt  wider  Hugo  (De  sacram.,  Migne 
1.  c.  s.  20)  D.;  quae  formatio  facta  est  die  quartaf  M.:  lumi- 
naria  condita  sunt  in  coelo,  i.  e.  sol  et  luna  et  stellae,  ut  lucerent 
super  terram  et  illuminarent  illam. 

Wife  der  dichter  schon  2, 43  f.  der  irrigen  meinung  ent- 
gegengetreten war,  es  könnte  für  gott  je  eine  finsternis  existiert 
haben,  so  tritt  er  im  folgenden  abermals  einer  irrigen  meinung, 
diesmal  über  den  beweggrund  der  Schöpfung  und  über  die 
erhaltung  derselben  entgegen.  Und  wie  er  dort  durch  Augu- 
stinus angeregt  wurde,  so  geschah  es  auch  hier:  2,49 — 56. 
Augustinus,  De  Genesi  ad  literam  c.  7,  no.  13,  s.  151  sagt,  aller- 
dings nur  vom  hl.  geiste  redend:  an  quoniam  egenus  atque  in- 
dignus  amor  ita  diligit,  subidatur;  propterea  cum  commemoratur 
Spiritus  dei,  in  quo  sancta  eius  benevolentia  dilectioque  intelli- 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  253 

gitur,  superferri  dictus  est,  ne  facienda  opera  sua  'per  indigen- 
tiae  necessitatem'  potius  quam  per  ahmdantiam  heneficentia^ 
deiis  amare  putaretur?  . . .  Cum  ergo  sie  oporteret  insinuari 
spiritum  dei,  ut  superferri  diceretur,  commodius  factum  est,  ut 
prius  insinuaretur  aliquid  inchoatum,  cui  superferri  diceretur; 
non  enim  loco,  *sed  omnia  super  ante  et  praecellente  potentia'. 

Die  verse  2, 57 — 59  bilden  den  Übergang  zu  der  folgenden 
darstellung  von  der  erschaffung  und  dem  falle  der  engel,  was 
Hugo  t.  2,  22  andeutet  und  s.  83  ff.  weiter  ausführt.  Aber  bei 
seiner  nicht  zu  verkennenden  Weitläufigkeit  kann  der  dichter 
es  sich  nicht  vei'sagen  (2, 60 — 68)  nochmals  an  die  gewalt  und 
chrafft  gottes,  die  er  schon  vor  der  Schöpfung  besessen,  zu  er- 
innern, allerdings  auch  hier  im  anschlusse  an  die  bereits  citierte 
stelle  aus  Hugo,  De  sacram.,  t.  2, 21  f. 

Nun  kommt  er  zur  erschaffung  der  engel  selbst,  2, 69 — 78. 
Dazu  hat  Hugo  die  gedanken  hergegeben;  denn  De  sacram.  c.22 
schreibt  er:  nullo  igitur  indigens,  sed  bonum  quod  ipse  erat 
et  quo  beatus  erat,  cum  aliis  participare  et  alios  in  illo  et  per 
illud  beatißcare  volens,  nulla  necessitate,  sed  sola  charitate  creavit 
rationalem  creaturam,  id  est  Spiritus  rationales,  iussitque  ut  ipsi 
partim  in  sua  puritate  persisterent ,  und  unter  diesen  Spiritus 
rationales  meint  eben  Hugo,  wie  der  context  ergibt,  die  engel. 

2, 79  —  3, 1  folgt  der  dichter  seinem  gewährsmann  Hugo 
an  derselben  stelle  weiter:  Ulis  vero,  qui  in  sua  puritate  per- 
mansuri  fuerant,  mansionem  in  coelo  collocavit  .,,  et  ilhs  per 
oboedientiam  in  summo  confirmaret  ...  Et  sicut  excellentiam 
Spiritus  infirmitate  corporalis  naturae  coniunxerat  una  creationis 
condido,  ita  'humilitatem'  creaturae  spiritualis,  excellentiae  crea- 
toris  sodare  debuerat  una  pietatis  dignatio.  Für  die  verse  79 
und  80  ist  der  Tractatus  de  creatione  et  statu  angelicae  naturae 
c.  2  heranzuziehen,  wo  gefragt  wird,  ob  die  engel  im  anfang 
gut  oder  schlecht,  gerecht  oder  ungerecht  u.  s.  w.  gewesen  seien, 
und  schliesslich  gesagt  ist:  est  enim  omnis  virtus  meritum,  et 
omne  meritum  ex  'libero  arbitrio'  und  das  ist  das  frei  ir  gemute, 
wie  unser  dichter  es  widergibt. 

Im  folgenden  geht  nun  der  dichter  auf  die  sache  näher 
ein  und  sucht  uns  das  frei  gemute  und  den  grund,  warum  der 
Schöpfer  den  engein  ein  solches  verliehen  habe,  näher  zu  er- 
klären: 3,2—25:  Hugo  von  St.  Victor  hat  den  in  der  patris- 


254  TEÜBER 

tischen  literatur  namentlich  von  Augustinus  sehr  ausführlich 
besprochenen  passus  über  das  liberum  arUtrium  (vgl.  Augustinus, 
De  gratia  et  libero  arbitrio)  nicht  übergangen  und  auch  bei 
der  lehre  von  den  engein  darüber  gehandelt.  T.  2,  85  A  heisst 
es:  et  honi  (sc.  angeli)  non  necessitate  cogente,  sed  libera  volun- 
täte  a  malo  abstinent;  similiter  et  mali  a  bono  . . .  Boni  angeli 
possunt  peccare  ex  sua  natura,  i.,  e,  eorum  natura  ad  hoc  non 
repugnat,  nee  tarnen  concedendum  est,  boni  angeli  possunt  pec- 
care, id  est  gratia,  per  quam  sunt  confirmati,  ad  hoc  repugnat 
Augustinus  sagt  hierüber  De  civitate  dei  lib.  22,  c.  1,  no.  2:  qui 
liberum  arbitrium  eidem  intellectuali  naturae  tribuit  tale,  ut  si 
vellet  desereret  deum,  beatitudinem  scilicet  suam  continuo  miseria 
secutura,  Qui  cum  'praesciref  angelos  quosdam  per  elationem, 
qua  ipsi  sibi  ad  beatam  vitam  sufficere  vellent,  tanti  boni  de- 
sertores  futuros,  non  eis  ademit  hanc  potestatem,  potentius  et 
melius  iudicans  etiam  de  malis  bene  fa^cere,  quam  mala  esse  non 
sinere  . . .  qui  casum  angelorum  voluntarium  iu^tissima  poena 
sempiterna  infelicitatis  obstrinxit,  atque  in  eo  summo  bono  per- 
manentibus  caeteris,  ut  de  su>a  sine  fine  permansione  certi  essent, 
tamquam  ipsius  praemium  permansionis  dedit.  Nimmt  man  nach 
Augustinus  De  vera  religione  c.l4,  no.27  hinzu:  tales  enim  servos 
suos  meliores  esse  deus  iudicavit,  si  ei  servirent  ^liberaliter\' 
quod  nullo  modo  fieri  possent,  si  non  voluntate,  sed  necessitate 
servirent,  so  wird  man  sagen  müssen,  dass  für  diese  stelle 
unseres  gedichtes,  die  wol  durch  Hugo  veranlasst  ist,  Augu- 
stinus als  quelle  gedient  habe. 

Für  seine  darstellung  bringt  nun  der  dichter  ein  praktisches 
beispiel:  3,26 — 34.  So  originell  dasselbe  zu  sein  scheint,  so 
sehr  man  versucht  ist  zu  glauben,  der  dichter  hätte  es  aus 
der  unmittelbaren  anschauung  des  praktischen  lebens  heraus- 
gegriffen und  poetisch  verwertet;  es  ist  doch  nicht  des  dichters 
eigentum,  sondern  im  Ecclus.  7. 22  f.  vorgebildet,  wo  es  heisst: 
non  laedas  servum  in  veritate  operantem,  neque  mercenarium 
dantem  animam  suam,  Servus  sensatus  sit  tibi  dilectus,  qu,asi 
anima  tua,  non  defraudes  illum  libertate  neque  inopem  dere- 
linqua^  illum. 

Nachdem  der  dichter  bereits  2,  40  ff.  von  der  Schöpfung 
gesprochen,  geht  er  in  der  folgenden  partie  seines  gedichtes 
auf  dieselbe  etwas  näher  ein,  ohne  die  sache  jedoch  ganz  zu 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  255 

erledigen:  3, 35 — 45.  An  dieser  stelle  hat  der  dichter  mehrere 
quellen  benützt.  Zunächst  wider  Hugo,  der  sie  veranlasst  und 
auch  einen  teil  des  materials  geboten  hat.  T.  2, 79C  heisst 
es;  fides  catholica  unum  pnndpium  credit  esse  omnium  rerum, 
deum  scilicet  cuius  'honitas'  omnium  rerum  causa  fuit  Bei  der 
auf  Zählung  der  geschaffenen  dinge  fällt  ihm  Gen.  1, 1  ein:  in 
principio  creavit  deus  'coelum  et  terram' ...  3:  diooitqus  deus: 
'fiat  lux,  et  facta  est  lux'.  Ganz  treffend  sagt  der  dichter 
V.  44f.:  das  was  sein  erste  stimme,  die  got  ie  gesprach.  Denn 
soweit  unsere  biblischen  Offenbarungsberichte  reichen,  wird 
gott  tatsächlich  der  zeit  nach  hier  das  erstemal  redend  ein- 
geführt. Dass  gott  daz  Hecht  werden  hiez  und  die  enget  darinne 
berichtet  unserem  dichter  Hugo  (t.  2, 81 C)  aus  Augustinus:  unde 
Augustinus  exponit  ita  locum  illum:  Hn  principio  creavit  deus 
coelum  et  terram;  coelum  i.  e.  angelos'  (frei  citiert  nach  Aug., 
De  Genesi  ad  lit.  c.  9,  no.  15,  s.  252).  Hier  ist  aber  vom  coelum, 
nicht  vom  Hecht  die  rede,  wenn  auch  die  auff assung  des  dichters 
sich  sehr  leicht  daraus  ergeben  konnte;  die  für  unsem  dichter 
massgebende  stelle  steht  wol  bei  Augustinus,  De  Genesi  ad  lit. 
lib.  1  imperf.,  c.  5,  no.  21:  et  fortasse  quod  quaerunt  homines, 
quando  angeli  facti  sunt,  ipsi  significantur  hac  luce,  brevissime 
quidem,  sed  tam  convenientissime  et  decentissime;  und  an  einer 
zweiten  stelle  heisst  es:  et  facta  est  lux,  id  est  angelica  et 
coeUstis  substantia  in  se  temporaliter ;  sicut  erat  in  sapientia, 
quantum  ad  eius  incommutdbilitatem  aeternaliter 

Zu  3,46—53  hat  Hugo  t.  2,  79C  die  gedanken  geboten: 
cum  esset  summe  honus  et  perfecte  heatus  aeternaliter  esset, 
voluit  aliquos  esse  participes  suae  beatitudinis.  Et  quia  non 
potest  eius  beatitudo  participari  nisi  per  intellectum,  et  quanto 
magis  intelligitur  tanto  magis  habetur;  fecit  rationalem  creaturam 
ut  intelligeret,  inteUigendo  amaret,  amando  possideret,  possidendo 
frueretur. 

Für  V.  51 — 53  ist  Gen.  1, 1—23  {das  buch,  wie  der  dichter 
es  nennt)  die  quelle  gewesen,  deren  Inhalt  er  in  diese  drei 
verse  zusammendrängt.  Dass  er  sagt  der  heilige  Christ  habe 
alles  geschaffen,  darf  uns  nicht  wunder  nehmen,  denn  der 
Scholastiker  kannte  wol  die  worte  des  Johannes  (Ev.  1, 1  ff.) 
in  principio  erat  verbum,  et  verbum  erat  apud  deum;  . . .  omnia 
per  ipsum  facta  sunt,  und  unter  diesem  verbum  versteht  ja 


256  TEUBER 

der  evangelist  niemand  anderen  als  Chiistus.  Zweitens  be- 
tonen die  Väter  und  an  ihrer  spitze  Augnstinus,  *)  dem  auch 
Hugo  folgt,  immer  und  immer  wider,  dass  der  vater  allesr 
durch  den  söhn  wirke.  Drittens  ist  es  für  den  in  der  mittel- 
hochdeutschen literatur  nur  halbwegs  bewanderten  gar  mchts 
besonderes,  der  hceilige  Christ  für  got  überhaupt  geschrieben 
zu  finden. 

Auffallend  mag  uns  erscheinen,  dass  der  dichter  sagt,  der 
hceilige  Christ  habe  alles  in  fünf  tagen  geschaffen,  und  dass  er 
sich  dabei  noch  auf  die  hl.  schrift  als  quelle  beruft,  wo  doch 
(Gen.  1, 24)  erzählt  wird,  dass  gott  auch  am  sechsten  tage 
noch  verschiedene  tiere  geschaffen  habe.  Ein  lapsus  memoriae 
kann  das  wol  kaum  sein,  also  muss  ein  anderer  grund  vor- 
liegen, und  dieser  dürfte  der  sein:  wenn  der  dichter  den 
sechsten  schöpfungstag  für  die  Schöpfung  des  menschen  ganz 
in  anspruch  nahm,  so  wollte  er  dadurch  die  hohe  würde  des 
menschen,  gegenüber  welcher  der  später  geschilderte  fall  des- 
selben um  so  bedauerlicher  und  erschütternder  hervortreten 
sollte,  ganz  besonders  betonen.  Daher  sagt  er  3, 54  f. :  an  dem 
sehsten  er  den  man  geschüf  unt  ouch  sumlichiu  tyer.  Und  wenn 
er  auch  hier  die  tyer  erwähnt,  so  erscheint  unsere  behauptung 
gegenüber  jenen  fünf  tagen  trotzdem  gerechtfertigt;  es  scheint 
ihm  dieser  vers  55  mehr  unbewusst  in  die  feder  geflossen  zu 
sein;  denn  sonst  müssten  wii*  einen  Widerspruch  mit  v.  52  f. 
annehmen.  Dieselbe  stelle  findet  sich  auch  bei  Hugo  (t.  2, 20). 
D,:  quae  formatio  facta  est  die  sexta?  M.:  iestiae  et  cetera 
animantia,  quae  vivunt  super  terram,  de  terra  creata  sunt 
Consummatio  autem  et  praeparatio  omnium,  postremo  (eadem 
tarnen  sexta  die)  factus  est  homo  (vgl.  Gen.  1, 25  f.).  Der  dichter 
stellt  die  Sachen  um. 

Etwas  voreilig  schiebt  der  dichter  3, 56—58  den  fall  Lu- 
cifers  jetzt  schon  ein,  ob  wol  er  3,  79  ff.  ausführlicher  darauf 
zu  sprechen  kommt  Die  stelle  beruht  auf  Luc.  10, 18:  ecce 
vidi  Satana/ni  sicut  fulgur  de  coelo  cadentem.  Wenn  sie,  was 
wol  nicht  anzunehmen  ist,  der  dichter  nicht  selbst  gewusst 
hat,  so  hätte  ihn  Hugo  (t.  2, 81C)  darauf  führen  müssen,  der 
sie  bei  demselben  umstände  citiert. 


*)  Um  nur  einige  naheliegende  stellen  zu  eitleren:  De  Genesi  ad  lit. 
lib.  1,  c.  1.  2.  8. 4. 6.    In  De  trinitate  widerholt. 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  257 

Teils  au  Hugo,  teils  au  die  hl.  schrift  schliesst  sich  der 
dichter  iu  deu  folgeudeu  verseu  an:  3, 59 — 66.  Die  betreff eudeu 
fragen  werden  von  Hugo  (t.  2, 19  B)  ziemlich  ausführlich  be- 
handelt. Aber  der  Verfasser  des  Anegenge  hält  sich  hier  zu- 
nächst an  die  hl.  schrift.  Gen.  1, 4  f.:  et  vidit  deus  lucem,  qtiod 
esset  bona,  et  divisit  lucem  a  tenehris.  Äppellavitque  lucem  diem 
et  tenebras  noctem  (Aneg.  59 — 61). 

In  V.  62  fasst  der  dichter  Gen.  1,9:  dixit  vero  deus:  eon- 
gregentur  aquas,  quae  sub  coelo  sunt,  in  locum  unum  et  appareat 
arida  sehr  geschickt  zusammen.  V.  63 — 66  endlich  ist  Hugo 
(t.  2, 20  B)  verwertet,  wo  es  heisst :  luminaria  condita  sunt  in 
coelo,  i,  e,  sol  et  luna  et  stellae;  ut  lucerent  super  terram,  et 
illuminarent  illam  'et  tempora,  cursu  suo  distingueret'.  Freilich 
könnte  zu  jenen  versen  auch  Gen.  1, 14  ausgereicht  haben: 
dimt  autem  deus:  fiant  luminaria  in  firmamento  coeli,  et  divi- 
dant  diem  ac  noctem  et  sint  in  signa,  et  tempora,  et  dies,  et 
annos.    V.  64  ist  subjectiver  herzenserguss  des  dichters. 

Es  heisst  weiter  3,  67  ff.:  wie  chlceine  er  ez  do  ordenot,  des 
ist  dehcein  not,  dais  wir  das:  allez  gesagen,  wan  wir  der  ceit  nicht 
enhaben,  duz  wir  so  verre  chomen  dar  in.  An  derselben  stelle, 
wo  Hugo  die  Schöpfungsgeschichte  abbricht  und  zur  erschaffung 
der  engel  übergeht;  bricht  auch  unser  dichter  ab,  um  aller- 
dings nicht  auf  die  erschaffung  —  denn  diese  hat  er  schon 
behandelt,  —  sondern  auf  den  fall  der  engel  überzugehen. 
T.  2, 21  sagt  Hugo:  et  ut  'breviter'  id  quod  mihi  dicendum  inde 
videtur  tibi  absolvam,  universa  tunc  facta  sunt,  ut  nihil  post- 
modum  fieret,  quod  prius  vel  in  materia  vel  in  similitudine 
creatum  non  fuisset 

Mit  den  versen  3,  72 — 78  hat  sich  der  dichter  einen  Über- 
gang zur  folgenden  Schilderung  von  Lucifers  falle  geschaffen, 
einen  Übergang,  der  insofern  bei  Hugo  vorgebildet  ist,  als  der- 
selbe t.  2,  82  ebenfalls  nach  der  allgemeinen  darstellung  von 
der  erschaffung  der  engel  zur  Schilderung  des  faUes  der  bösen 
engel  übergeht.  Aber  auch  die  gedanken,  die  in  den  versen 
76 — 78  ausgedrückt  sind,  finden  sich  bei  Hugo  (t.  2, 84B):  et 
quia  contra  creatorem  suum  in  tantum  superbivit,  deiectus  est 
in  istum  locum  caliginosum  ,,,  et  'hoc  ad  nostri  probationem, 
ut  sit  nohis  adminiculum  eoc€rcitationis\  Aber  unser  dichter 
beliebt  hie  und  da  etwas  breit  zu  sein,  so  auch  hier.    Es 


258  TEUBER 

handelte  sich  um  einen  engel,  der  fällt  (Lucifer),  und  das  be- 
wog  ihn,  was  übrigens  nicht  ganz  ungeschickt  war,  nochmals 
auf  die  erschaffung  und  den  zweck  der  engel,  wovon  er  bereits 
2, 70 — 83  gesprochen  hatte,  zurückzugreifen.  Allerdings  ist 
er  hier  viel  kürzer  als  dort,  wenn  er  sagt  v.  79 :  die  engel  he- 
schüff  der  gotes  giwalt  durch  seiner  gute  einvalt,  (4, 1)  dcus  st 
in  loben  solden. 

Was  er  dann  4,2*)  — 15  anführt,  finden  wir  ebenso  bei 
Hugo,  nur  dass  für  6  und  7  eine  später  zu  citierende  stelle 
massgebend  war.  T.  2, 83  ff.  heisst  es :  inter  eos  qui  cedderunt 
fuit  excellentior  omnibus  aliis  non  solum  iis,  qui  cedderunt, 
sed  et  aliis  omnibus  cum  fuisse  excellentiorem  videntur  auctores 
velle ...  Et  in  Ezechiele  (c.  28,  12  ff.  heisst  es  wörtlich:  tu 
signaculum  similitudinis,  et  perfectus  decore,  in  delidis  paradisi 
dei  fuisti . . .  Hugo  hat  frei  citiert):  tu  signaculum  similitudinis 
plenus  sdentia  et  perfectione  decoris  in  delidis  paradisi,  Quod 
sie  exponit  Gregorius :  quanto  in  eo  subtilior  erat  natura,  tanto 
in  illo  imago  dd  similius  'expressa\  Dieser  letzte  satz  führte 
unsern  dichter  dazu,  das  gleichnis  vom  wachsabdruck  zu  bringen, 
das  ihm  ja  aus  dem  damals  allgemein  üblichen  gebrauch  von 
wachssiegeln  geläufig  sein  musste. 

Zu  4, 16 — 19  stimmt  Hugo  (t.  2, 84 AB):  quia  ut  Isidorus, 
postquam  creatus  est  absque  aliquo  intervallo  profunditatem  suae 
sdentiae  perpendens  (er  douchte  sich  so  wol  gitan,  da  er  sich 
selben  ane  sa^h)  in  suum  creatorem  superbivit  et,  ut  didtur  in 
Isaia,  deo  aequari  voluit  (er  wolde  dem  obristen  sdn  geleich) 
dicens:  in  coelum  ascendam,  super  astra  coeli  exaltabo  solium 
meum,  et  ero  similis  altissimo  (der  obriste).  Is.  14, 13  f.  ist  frei 
citiert.  Der  letzte  satz  ist  die  quelle  für  Anegenge  4,  6  f. 
gewesen. 

Im  folgenden  (4, 20 — 33)  geht  der  dichter,  wie  wir  das 
im  verlaufe  der  darstellung  auch  an  anderen  stellen  finden 
werden,  von  seinem  viel  benützten  Hugo  von  St.  Victor  ab, 
weil  er  ihm  nicht  ausreicht;  er  ist  aber  zweifelsohne  gerade 
durch  ihn  auf  die  neue  quelle  geführt  worden. 


^)  Diese  stelle  mnss  comimpiert  sein.  Entweder  muss  es  heissen:  das 
wollten  sie  jedoch  nicht  —  nämlich  gott  loben  — :  dann  ist  aber  der  Zu- 
sammenhang mit  y.  3  unklar,  wenn  es  auch  dem  sinne  nach  zu  y.  1  stimmt. 
Ich  meine  es  sollte  heissen :  des  doch  nicht  enwolde  —  Lucifem  dimchen  genuc. 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  259 

4, 20—33.  Bei  Hugo  (t.  2, 83  C)  wird  Augustinus  citiert. 
Hugo  citiert  frei  und  bei  weitem  nicht  alles,  was  bei  Augu- 
stinus steht.  Hugo  sagt:  item  didt  Augustinus  super  Genesim, 
und  unser  dichter,  dem  das  was  Hugo  aus  Augustinus  repro- 
duciert  hat,  nicht  genügte,  schlug  den  kirchenvater  nach  und 
fand  bei  ihm,  was  er  uns  in  der  citierten  stelle  sagt.  Denn 
bei  Augustinus  (De  genesi  ad  lit.  lib.  11,  c.  23,  no.  50)  heisst 
es  von  Lucifer:  sed  f actus  continuo  se  a  luce  veritatis  avertit, 
superbia  tumidus  et  propriae  potestatis  delectatione  corruptus, 
Unde  beatae  et  angelicae  vitae  dulcedinem  non  gustavit  (ganz 
wörtlich  sagt  unser  dichter  v.  32  ff.  dajs^  er  der  gotes  gute 
ie  'gesmachte'  dehcein  tceil),  quam  non  utique  acceptam  fasti- 
divit,  sed  nolendo  acdpere  deseruit  et  amisit . . .  Ille  autem 
continuo  impius,  consequenter  (swie  ez  im  ergienge)  et  mente 
ca£cus  non  ex  eo  quod  acceperat  ceddit,  sed  ex  eo  quod  acd- 
peret,  si  subdi  voluisset  deo  ...  et  potestatem  illius,  sub  quo 
esse  voluit,  non  evasit  (vgl.  v.  21 — 23);  factumque  est  pondere 
meritorum,  ut  nee  iustitia£  possit  lumine  delectari  nee  ab  dus 
sententia  liberari  (v.  21  ff.).  Die  gedanken  sind  beim  Verfasser 
des  Anegenge  dieselben  wie  bei  Augustinus,  ja  mitunter  wört- 
lich herübergenommen,  wenn  man  auch  sagen  muss,  dass  die 
reihenfolge  eine  andere  ist. 

Im  folgenden  geht  der  dichter  wider  auf  Hugo  zurück. 
Vergleicht  man  mit  4,34 — 44  Hugo,  t.  2, 84B,  so  ist  der  Zu- 
sammenhang unverkennbar.  Dort  heisst  es:  et  qui  contra 
creatorem  in  tantum  superbivit,  deiectus  est  in  istum  caliginosum 
aerem  cum  omnibus,  qui  d  consuerant  (sehr  gut  gegeben  durch 
unt  alle  die  iu  der  sunde  wolden  gehelen  unt  bd  gestan)\  sed 
in  aifre  caliginoso,  qui  est  carcer  iis  usque  in  diem  iudidi, 
Tunc  enim  detrudetur  in  barathrum  inferni  secundum  illud: 
ite  maledicti  in  ignem  aeternum,  qui  praeparatus  est  diaholo 
et  angelis  dus  (Matth.  25, 41). 

Li  V.  42  denkt  der  dichter  wol  ausserdem  an  die  bekannten 
biblischen  stellen:  ibi  erit  f,etus  et  Stridor  dentium  und  vermis 
eorum  non  m^ritur  (Matth.  8, 12). 

In  den  versen  4, 45  ff. :  durch  so  getane  sunde  hat  daz  ab- 
gründe  der  tivel  besetzen  widerholt  der  dichter  eigentlich  das 
in  V.34 — 37  gesagte,  schliesst  aber  zugleich  die  darstellung 
von  Lucifers  fall  und  strafe  ganz  geschickt  ab,  um  zu  einem 


260  TEÜBER 

neuen  thema  überzugehen,  das  er  mit  den  worten  v.  48  f.:  tvir 
sulen  nicht  vergezzen,  wirn  sagen  waz  sei  die  dri  genende  an- 
kündigt. Man  wird  gern  bereit  sein,  dem  dichter  diesen  tiber- 
gang als  selbständige  erfindung  zuzuschreiben,  aber  unerwähnt 
darf  nicht  bleiben,  dass  bei  Hugo  (t.  2,  50D)  fast  dieselben 
Worte  stehen:  his  consideratis  restat  de  iis  videre  quae  pertinent 
ad  distinctionem  personarum  trinitatis. 

Ganz  entsprechend  der  grosse  des  geheimnisses  und  der 
Schwierigkeit  der  darstellung  desselben  beginnt  der  dichter 
abermals  mit  einem  gebete  um  gottes  beistand,  4, 50 — 70.  Wie 
wir  schon  früher  bemerkt  haben,  gentigte  unserem  dichter  Hugo 
ftir  manche  partien  seines  werkes  nicht.  Er  war  aber  ver- 
ständig genug,  die  von  Hugo  citierten  vätersteilen  nachzu- 
schlagen und  selbständig  zu  verarbeiten.  Hugo  citiert  in  seiner 
Summa  sententiarum  und  speciell  in  der  abhandlung  tiber  die 
trinität  widerholt  den  hl.  Augustinus  und  ganz  besonders 
dessen  werk  De  trinitate.  Augustinus  sagt  (De  trin.  1.  1,  c.  1, 
no.  3,  Migne  t.  42,  821):  proinde  substantiam  dei  sine  ulla 
siii  commutatione  mutabilia  facientem,  et  sine  ullo  temporali 
motu  temporalia  creantem  intueri  et  plene  nosse  difßciU  est 
Also  die  Schwierigkeit  der  aufgäbe  gibt  er  zu,  und  unser 
dichter  schliesst  sich  darin  an,  indem  er  sich  auf  1.  Tim.  6, 16 
sttitzt:  qui  sol/us  Jmbet  immortalitatem  et  lucem  inhahitat  in- 
accessibilem:  quem  nullus  hominum  vidit,  nee  videre  potest 
(v.  50.  51).  Augustinus  fährt  fort  (a. a. o.  s.  821):  ,,,  et  ideo 
est  necessaria  purgatio  mentis  nostrae,  qua  illud  ineffdbile  in- 
effahiliter  videri  possit . . .  Unde:  apostolus  in  ^Christo'  quident 
dicit  esse  omnes  thesauros  sapientiae  et  sdentiae  ahsconditos. 
Unser  dichter  erinnert  sich  dabei  an  jenes  wort,  das  der  herr 
selbst  gesprochen:  ponite  in  cordibus  vestris  non  praemeditari, 
quemadmodum  respondeatis,  Ego  enim  dabo  vobis  os  et  sapien- 
tiam,  cui  non  poterunt  resistere  et  contradicere  omnes  adversarii 
vestri  (Luc.  21, 14.  15;  vgl.  Aneg.  4, 56—63). 

Bis  jetzt  möchte  man  glauben,  unser  dichter  habe  Augu- 
stinus gar  nicht  gebraucht,  sondern  er  habe  an  den  citierten 
schriftstellen  stoff  genug  ftir  seine  einleitung  zui'  darstellung 
der  hl.  dreifaltigkeit  gehabt.  Dass  er  aber  des  Augustinus 
De  trinitate  gekannt  und  wenigstens  dessen  Inhalt  im  ge- 
dächtnisse  gehabt  hat  —  wenn  er  ihn  auch  nicht  gerade  vor 


QUELLEN  DES  ANEGEKGE.  261 

sich  hatte  —  beweist  die  folgende  stelle  (s.  Augustinus  a.  a.  o. 
p.  822):  qtmpropter  adnivante  domino  deo  nostro  suscipiemus 
et  eam  ipsam  quam  flagitanf,  quantum  possumuSj  reddere  ra- 
tionem,  quod  trinitas  sit  unus  et  solus  et  verus  deus,  et  quam 
recte  pater  et  filius  et  spiritus  sanctus  unius  eiusdemque  sub- 
stantias  vel  essentiae  dicatur . . .  Dazu  kommt  noch  eine  zweite 
stelle,  wo  Augustinus  ebenso  wie  unser  dichter  auf  die  zuhörer 
oder  leser  rücksicht  nimmt,  nämlich  (a.a.O.  s. 825,  c. 5,  no. 8): 
oportet  autem  et  dondbit  deus,  ut  eis  ministrando  quae  legant, 
ipse  quoque  proficiam;  et  eis  eupiens  respondere  quaerentihus, 
ipse  quoque  inveniam  quod  quaereham.  Ergo  suscepi  haec  tu- 
hente  atque  adiuvante  domino  deo  nostro  (vgl.  v.  65 — 70). 

Auch  im  folgenden  4,  71 »)  —  5,  2  schliesst  sich  der  dichter 
an  Augustinus  an.  August.  (De  trin.  lib.  1,  c.  6,  no.  10,  s.  826) 
citiert  1.  Tim.  6,  14 — 16  und  knüpft  daran  die  worte:  in 
quibus  verbis  nee  pater  proprie  nominatus  est,  nee  filius^  nee 
Spiritus  sanctus;  sed  beatus  et  solus  potens,  rex  regum  et  do- 
minus dominantium,  quod  est  unus  et  solus  et  verus  deus  ipsa 
trinitas.  Dieses  unus  et  solus  potens  erinnerte  den  dichter  an 
jene  zeit,  wo  gott  wii*klich  unus  et  solus  war,  und  die  trinität 
noch  nicht  geoffenbart  war.  Daher  ist  er  in  v.  71 — 73  auf 
diesen  Zeitpunkt  zurückgegangen,  wobei  ihm  allerdings  Gen.  1,2 
et  Spiritus  dei  ferebatur  super  aquas  vorschwebte. 

5, 3 — 7  scheint  auch  durch  Augustinus  (De  trin.  1. 1,  c.  2, 
no.  4,  s.  822)  veranlasst  zu  sein:  ,.,  et  esse  illud  summum 
bonum  (sc.  trinitatem)  quod  purgatissimis  mentibus  cernitur,  et 
a  se  propterea  cerni  comprehendique  non  posse,  quia  'humanae 
mentis  acies  invalida'  in  tarn  exeellenti  luee  non  figitur,  nisi 
per  iustitiam  fidei  nutrita  vegetetur. 

Zuletzt  wendet  sich  der  dichter  an  seine  zuhörer,  als  ob 
er  von  der  kanzel  herab  zu  ihnen  redete,  für  ihn  um  erleuch- 
tung  zu  bitten:  5, 8 — 10.  Diese  verse,  welche  wol  selbständige 
erflndung  des  dichters  sind,  bilden  den  schluss  seiner  einleitung 
zu  der  darstellung  von  der  hl.  dreifaltigkeit. 

Der  dichter  beginnt  mit  einer  allgemeinen  Charakteristik 
des  Vaters  5, 11 — 15.  Dass  dem  vater  hier  die  'gewalt'  zu- 
geschrieben wird,  ist  eine  alte  patristische  tradition,  die  in  der 


^)  S.  4, 72  gibt  nur  die  lesart  saz  einen  sinn. 


262  TEUBER 

hl.  Schrift  selbst  ihre  grundlagen  hat.  Auch  Hugo  widerholt 
an  vielen  stellen  seines  werkes,  dass  per  potentiam  pater  in- 
telligitur.  Weiter  ist  für  diese  stelle  Hugo  heranzuziehen,  wo 
gesagt  wird:  coelum  et  terram  ego  impleo  (Jer.  23, 24);  item 
sapientia:  quae  attingit  a  ßne  usque  ad  finem  fortiter,  i.  e.  a 
minima  creatura  usque  od  maximam  und  ita  deus  sine  labore 
regenSj  sine  onere  continens  mundum  in  coelo  totus,  in  terra 
totus  et  in  utroque  totus. 

Nun  geht  der  dichter  auf  den  söhn  über,  um  dessen  ewige 
geburt  vom  vater  und  dessen  haupteigenschaften  kurz  hervor- 
zuheben: 5, 16 — 22.  Hugo  (Migne  1. 176,  57  C)  sagt:  per  sapien- 
tiam  filius  . . .  intelligitur.  S.  54  bringt  er  dasselbe  was  unser 
dichter  sagt:  dominus  Jesus  Christus  in  eo  quod  virtus  et  sa- 
pientia dei  est,  de  patre  ante  tempora  natus  est.  Wenn  unser 
dichter  sagt  in  einer  churzen  vrist  gebar  er  den  sun  und  damit 
eigentlich  aussagt,  es  sei  zwischen  der  existenz  des  vaters  und 
des  sohnes  ein  Zwischenraum  gewesen,  so  ist  das  ein  dogma- 
tischer Irrtum,  denn  nach  der  lehre  der  kirche  sind  vater  und 
söhn  gleich  ewig,  der  söhn  von  dem  vater  von  ewigkeit  her 
gezeugt.  V.  20  ff.  ist  im  anschluss  an  Phil.  2,  8:  humiliavit 
semetipsum  f actus  ^ohoediens'  usque  ad  mortem  verfasst.  Dazu 
ist  noch  heranzuziehen  Joh.  6,  38:  descendi  de  coelo,  non  ut 
faciam  voluntatem  meam,  sed  voluntatem  eius  qui  me  misit. 

Nun  kommt  der  dichter  auf  die  dritte  göttliche  person, 
die  er  ebenfalls  kurz  charakterisiert:  5, 23 — 25.  Auch  hierfür 
hat  Hugo  dem  Verfasser  den  stoff  geliefert;  dort  (Migne  s.57C) 
heisst  es:  ...  per  bonitatem  Spiritus  sanctus  intelligitur.  T.  2, 
120  erklärt  Hugo  die  drei  ausdrücke  potestas,  sapientia  und 
bonitas,  und  zwar  wie  gott  mit  diesen  eigenschaften  wirkt. 
Nur  sagt  er  an  derselben  stelle:  et  bonitate  voluit.  Unter  der 
bonitas  ist  aber  der  hl.  geist  zu  verstehen,  also  konnte  unser 
dichter  darauf  gestützt  mit  recht  schreiben:  e  er  ie  icht  getcete, 
diu  het  sein  alles  ermant.^) 

5, 26  heisst  es  weiter:  die  dri  tugende  waren  ensamt  an 
der  einen  gothceit  ie,  von  diu  wart  er  an  die  namen  nie.  Darüber 

0  Man  könnte  bei  dieser  stelle  auf  die  Vermutung  kommen,  dass 
Hugo  sogar  der  lehrer  unseres  dichters  gewesen  sei;  er  könnte  beim  vor- 
trage jener  stellen :  per  bonitatem  spiritics  sanctus  tnteUigitu/r  gleich  erklärt 
liaben,  wie  das  zu  verstehen  sei,  nämlich  et  bonitate  voluit 


QUELLEN  DES  ANEGBNGE.  263 

spricht  sich  Hugo  (t.  2, 51)  folgendennassen  aus:  et  ideo  unitas 
manet  in  trinitate.  Et  Jmec  trinitas  est  pater,  quia  a  nullo  est 
(von  dem  er  früher  gesagt  hatte  per  potentiam  pater  intelligitur), 
et  sapientia  patris  quae  a  patre  genita  est  (fiUus  wie  er  oben 
sagt),  et  Spiritus  sanctus  . . .  qui  saepissime  in  scripturts  amor 
patris  et  filii  appellatur  (an  anderen  stellen  nennt  er  ihn  bo- 
nita^).  Die  potentia,  sapientia  und  bonitas  sind  die  dri  tugende, 
welche  unser  dichter  hier  im  äuge  hat. 

Im  folgenden  versucht  er  eine  erklär ung,  warum  gerade 
diese  drei  namen  ausgesucht  und  beibehalten  wurden:  5, 29 — 40. 
Auch  diese  stelle  ist  in  ihrem  ganzen  umfange  aus  Hugo  ent- 
nommen; denn  dort  (Migne  s.  52)  heisst  es:  his  praemissis  vi- 
dendum  est,  quod  in  sancta  trinitate  sunt  quaedam  nomina 
distinguentia  persona^,  sunt  et  alia  unitatem  naturae  vel  sub- 
stantiae  significantia,  ut  haec  nomina,  deus,  omnipotens,  aetemu^, 
immensus;  et  haec  dicuntur  secundum  substantiam.  Non  enim 
aliud  est  Uli  naturae  esse  quam  deum  esse,  omnipotentem  esse, 
aeternum,  imrmnsum,  iustum,  sapientem  et  similia,  et  ideo  sicut 
una  essentia  et  non  tres.  Hugo  citiert  nun  Augustinus,  De  trin. 
1.  7  und  fährt  s. 53  fort:  ...  sunt  et  alia  nomina  quibus  dis- 
tinguitur  trinitas.  Pater  ingenitus,  genitor;  et  haec  conveniunt 
patri  tantum,  Filio  soli  conveniunt  haec  alia  (tantum):  filius 
genitus,  natus,  verbum  et  alia.  Spiritui  sancto  haec,  Spiritus 
sanctus,  donum,  procedens  a  patre  et  filio;  et  haec  nomina  sig- 
nificant  proprietates  quibus  personale  distinguuntur.  Unser 
dichter  gibt  natürlich  nur  den  Inhalt  von  dem  was  Hugo  hier 
sagt,  und  zieht  aus  dem  letzten  satze  nur  den  schluss:  wenn 
die  angefühi1;en  bezeichnungen,  die  fremden  namen  unt  die 
chunden,  den  drei  göttlichen  personen  zukommen,  so  sind  sie 
natürlich  schon  in  dem  namen  derselben  mit  einbegriffen  {be- 
vangen). 

Nachdem  der  dichter  (5,  29 — 40)  im  allgemeinen  auf  die 
namen,  welche  den  drei  göttlichen  personen  zukommen,  hin- 
gewiesen hat,  zählt  er  die  fremden  namen  unt  die  chunden 
auf  (5, 41 — 79),  wobei  er  eine  grosse  kenntnis  der  hl.  schrift 
verrät.  Es  wird  sich  zwar  nicht  leugnen  lassen,  dass  unser 
dichter  durch  Hugo  (an  der  citierten  stelle  schon  und  noch 
mehr  t.  2, 57f.,  wo  eine  grosse  anzahl  von  attributen,  welche 
den  drei  göttlichen  personen  zugeschrieben  werden,  angegeben 


264  TEUBER 

ist),  angeregt  wurde,  auch  das  in  sein  gedieht  einzufügen. 
Vielleicht  hat  er  §ogar  manches  attribut  von  Hugo  geborgt. 
Aber  weder  Hugo  noch  der  von  Hugo  so  oft  citierte  Augustinus 
sind  für  den  Verfasser  des  Anegenge  in  den  folgenden  versen 
die  quelle  gewesen,  sondern  die  hl.  schrift  selbst  hat  ihm  das 
material  an  die  band  gegeben.  Beweis  dafür  ist,  dass  diese 
attribute  bei  unserm  dichter  erstens  zahlreicher,  zweitens  in 
anderer  reihenfolge,  drittens  in  anderer  Zuteilung  an  die  ver- 
schiedenen göttlichen  personen  aufgeführt  werden,  als  dies  bei 
Hugo  und  Augustinus  der  fall  ist.  Die  wichtigsten  belegstellen 
beizubringen  erscheint  notwendig. 

Der  dichter  sagt  5, 41  er  hmzzei  here  unt  gebietcere.  Diese 
ausdrücke,  denen  die  lateinischen  dominus  und  dominator 
entsprechen,  kann  man  fast  auf  jeder  seite  der  hl.  schrift 
finden.  —  5,  42  er  hceizzet  reicher  unt  vorchtigoere.  Dazu 
vgl.  z.  b.  Rom.  10, 12  nam  idem  dominus  omnium  'dives'  in 
omnes.  Eph.  2, 4,  weiter  Ps.  75,  7  tu  'terrihilis'  es ,..  Deut.  7, 21 
deus  magnus  et  'terrihilis\  Ebenso  Ps.  64, 3.  65,  5.  -88, 8.  95, 4. 
Eccl.  41, 31.  Dan.  9, 4.  —  5,  43  er  hmzzet  unwandeliger;  dazu 
ist  Mal.  3,  6  ego  enim  dominus  et  ^non  mutor'  heranzuziehen. 

—  5,44  unt  starcher  unt  chre/ftiger.  Diese  beiden  ausdrücke 
kommen  sehr  häufig  in  den  büchern  des  Alten  testam.  vor,  so 
z.  b.  Ps.  23,  8  dominus  'fortis  et  potens\  dominus  ^potens'  in 
proelio.  Oder  Gen.  46, 3  ego  sum  ^ fortissimus'  deus  u.s.w.  — 
5, 45 — 50  sind,  wie  sich  unten  zeigen  wird,  nach  Hugo  gedichtet. 

—  5, 51  er  hmzzet  schephoere.  Auch  dieser  ausdruck  ist  in 
der  hl.  schrift  nicht  selten:  Eccl.  24, 12  et  praecepit  et  dixit 
mihi  ^Creator'  omnium.  Ebenso  Deut.  32, 18.  Judith  9, 17.  Eccl. 
12, 1.  Sap.  13, 5.  Rom.  1, 25.  1.  Petr.  4, 19.  —  5, 52  tmt  got  der 
gewcere.  Schon  Ps.  85, 15  können  wir  lesen  et  tu  domine  deus 
. . .  multae  misericordiae  et  ^verax\  Joh.  14,  6  ego  sum  via  et 
'veritas'  et  vita.  Aehnliche  stellen  Matth.  23, 16.  Marc.  12, 14. 
Joh.  3, 33.  Rom.  3, 4.  —  5, 53  er  hcßizzet  rechter  unt  chumftigcere. 
Dazu  wäre  heranzuziehen  Ps.  91, 16  quoniam  Wectus'  dominus. 
Deut.  32, 4  deus  iustus  et  Wectus'  und  Hebr.  10, 37  . . .  qui  'ven- 
turus  est'  et  veniet  Apoc.il,  17  qui  ^venturus'  es  ...  —  5,54 
richtcere  unt  furnunftigcere.  Parallelstellen  dazu  bietet  Ps.  7, 12 
deus  Hudex\  iustus,  fortis  et  patiens.  Hebr.  12, 23  ...  et  Hudi- 
cem'  omnium  deum.    Der  ausdruck  furnunftigcere  ist  aus  den 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  265 

stellen  der  hl.  schrift  abgeleitet,  wo  von  dem  einflusse  gottes 
auf  verstand  und  herz  des  menschen  die  rede  ist;  so  z.  b.  in 
Ps.  22,  1  dominus  regit  nie,  et  nihil  mihi  deerit  Ps.  118,  105 
Interna  pedibus  meis  verbum  tuum  u.  s.  w.  —  5,  55  hceilant  unt 
wunderlich  entsprechend  dem  lateinischen  salvator  und  mirabilis 
wie  in  Gen.  41, 45.  Reg.  14, 39.  Is.  12, 2,  wo  der  ausdruck  sal- 
vator für  hcBilant  gebraucht  ist.  Bezüglich  Jesus  Christus  ist 
besonders  Luc.  2, 1.  Joh.  4, 42.  1.  Tim.  1, 1,  2, 3.  4, 10  heranzu- 
ziehen. —  Mirabilis  wird  gott  genannt  Ps.  67,  36.  Ps.  62,  4 
und  widerholt  ist  namentlich  in  den  Psalmen  hervorgehoben, 
dass  er  mirabilia  wirke.  —  5,  56 — 60  sind  durch  Hugo  ver- 
anlasst; davon  später.  —  5,  61.  62  er  hosisisiet  senfter  und  guter 
unt  diemuter;  wo  man  zunächst  an  Matth.  11, 29  sich  erinnert: 
disdte  a  me,  quia  ^mitis'  sum  et  'humilis'  corde.  Ps.  85,  5  tu 
domine  ^suavis'  et  ^mitis\  Ps.  71, 1  quam  ^bonus'  Israel  deus. 
Ebenso  Ps.  117, 1. 118, 61.  Luc.  18, 18  magister  'bone\  —  5, 63  f. 
milter  unt  erbarmiger,  gedultiger  und  genosdiger.  Milter  = 
Clemens  wird  gott  genannt  Ex.  34. 6.  2.  Par.  30, 9.  2.  Esdr.  9, 31. 
4, 2.  Dazu  in  Ps.  85,  5  tu  domine  'suavis'  et  'mitis',  ibid.  14 
et  du  domine  'miserator  et  misericors,  patiens  et  multae  miseri- 
cordiae\  —  5,  65  unt  diu  wäre  minne.  So  wird  gott  genannt 
1.  Joh.  4, 16  deus  charitas  est.    Aehnlich  1.  Joh.  3, 17.  Rom.  5, 5. 

—  5,  68  ff.  nu  sult  ir  ouch  wiisisen:  so  hosizet  der  hmlige  geeist 
alles  gutes  schuntosre  ufl  vollceist  Diese  stelle  beruht  auf  1.  Cor. 
12, 11  omnia  haec  operatur  unus  atque  idem  Spiritus  dividens 
propria  unicuique  prout  vult.  Heranzuziehen  wäre  noch  Rom. 
8, 26  similiter  autem  et  Spiritus  adiuvat  infirmitatem  nostram . . . 

—  5,  71  f.  beruhen  auf  Hugo.  —  5,  74  heisst  es  weiter  im 
möcht  ouch  nicht  minner  sin,  wan  so  gebrcest  des  vollen  da. 
Das  ist  eine  reminiscenz  aus  August.,  De  trin.  1. 15,  c.  7,  s.  1065, 
der  sagt  nee  aliquid  ad  naturam  dei  pertinet,  quod  ad  illam 
non  pertineat  trinitatem.  Und  wenn  der  dichter  76  ff.  weiter 
sagt:  ez  hat  ouch  anderswa  michel  bezmchnunge,  die  man  mit 
tiuscher  zunge  nicht  mag  errechen,  so  scheint  er  auch  hier  eine 
ganz  merkwürdig  übereinstimmende  stelle  des  Augustinus,  De 
trin.  1. 5,  c.  12,  no.  13,  s.919  vor  äugen  gehabt  zu  haben:  in  multis 
enim  relativis  (bezeichnungen  der  drei  göttlichen  personen  sind 
gemeint)  hoc  contingit,  ^ut  non  inveniatur  vocahulum',  quo  sibi 
vidssim  respondeant,  quae  ad  se  referuntur. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  j[3 


266  TEUBEB 

Es  wurde  schon  darauf  hingewiesen,  dass  unser  dichter 
durch  Hugo  zur  aufzählung  der  genannten  eigenschaften  der 
göttlichen  personen  angeregt  worden  sei  und  auch  zugegeben, 
dass  er  manches  von  ihm  geborgt  habe.  Um  das  was  der 
dichter  in  der  genannten  partie  seines  werkes  dem  Hugo  ver- 
dankt, nachzutragen,  muss  auch  die  betreffende  stelle  hier 
ihren  platz  finden  (t.  2,  57  f.):  unde  dicitur:  credo  in  unum 
deum,  patrem  omnipotentem.  Spiritus  etiam  solet  poni  ad  rigorem 
significandum  et  crudelem  (vielleicht  jenes  vorchtigcere)  solet 
denotare;  sed  ideo  bonitas  vel  benignitas  (v.  71  gotes  gut  hceizzet 
er  ouch  da  bei)  frequentius  appellatur.  Hie  oritur  quaestio 
difßdlis,  si  in  deo  tres  personae  dicuntur  esse,  quia  potens,  sa- 
piens, benignus  est  (hier  und  im  folgenden  liegt  für  den  dichter 
die  veranlassung  zur  aufzählung  der  namen),  quare  non  potius 
quatuor  vel  quinque  vel  multo  plures,  cum  sit  fortis,  iustus, 
misericors,  pius  etc.  ?  Ad  quod  dici  potest,  quod  quaecunque 
dicuntur  de  deo  et  creduntur  verölter  in  deo,  ad  haec  tria 
referuntur  (dazu  stimmen  5,  72 — 75,  wenn  nicht  die  letzten 
zwei  verse,  wie  angegeben,  auf  Augustinus  zurückzuführen 
sind).  Si  enim  fortis  dicitur,  incorruptus,  immutahilis  (5,  43 
unwandeliger  ?)  et  similia  (dieses  et  similia  war  die  eigentliche 
veranlassung  für  den  dichter,  andere  namen  aus  dem  Sprach- 
schätze der  hl.  schrift  hervorzusuchen),  totum  hoc  potentiae  est 
(dazu  stimmt  aus  dem  gedichte  5, 45 — 48 ;  beachte  speciell  die 
ich  den  geleichen  wil  =  et  similia).  Si  providus,  inspector,  in- 
telligens,  hoc  totum  sapientiae  est  (dazu  5,  56 — 58:  alle  namen 
di  den  sint  gelich  die  hörent  an  den  weistüm  der  da  genant 
ist  der  sun;  bringt  der  dichter  für  den  söhn  auch  andere  namen 
als  Hugo,  so  stimmt  doch  die  Zuteilung  an  den  weistüm,  sa- 
pientia  überein).  Si  pius^  mansuetus,  misericors,  totum  hoc 
bonitas  est  (vgl.  5,  69 — 71).  Et  in  his  tribus  summa  perfectio 
est  übi  enim  concurrunt  ista  tria,  posse  scire  velle,  nihil  deest 
(ganz  so  unser  dichter  5,  72  f.:  ez  ist  niht  dürft,  daz  er  baz 
genennet  sei:  ir  ist  genuc  an  disen  drin). 

Nachdem  der  dichter  diese  ziemlich  subtile  frage  abgetan, 
greift  er  noch  einmal  auf  5, 11  ff.  zurück,  um  den  grund  an- 
zugeben, warum  dem  vater  der  gewalt,  dem  söhne  der  weistüm, 
dem  hl.  geiste  diu  gute  zugeschrieben  werden:  5,80»)  —  6,3. 

')  5,82  steht  im  texte  rat,  was  aber  absolut  keinen  sinn  gibt;  der 
Zusammenhang  verlangt  yielmehr  die  lesart  vater. 


QUELLEN  DES  AKEGENGE.  267 

Zu  diesen  versen  hat  abermals  die  aus  Hugo  (Migne  t.  2, 57  C) 
citierte  stelle  als  quelle  gedient:  et  tarnen  saepissime  in  sacra 
scriptura  per  potentiam  pater,  per  sapientiam  fiUus,  per  honi- 
totem  Spiritus  sanctus  intelligitur.  Freilich  fügt  der  dichter 
etwas  selbstbewusst  hinzu:  6, 4  ich  wil  dirz  sagen:  du  sein  niht 
enweist,  wenn  er  auch  im  folgenden  den  Urheber  jener  gedanken 
lobt:  6,  5 — 11  owe,  wie  rechte  er  sprach,  der  da>ss  von  erste  ane 
sa^h,  daz  der  gotes  gewalt  an  den  vater  ist  geisalt;  wan  er  nie 
nicht  geworchte  durch  liehe  noch  durch  vorchte,  wan  durch  den 
sun  hat  erz  getan.  Nach  dem  bereits  gesagten  ist  wol  kein 
zweifei,  dass  Hugo  mit  dem  gemeint  ist  der  rechte  sprach,  daz 
der  gotes  gewalt  an  den  vdter  ist  gezalt.  V.  9 — 11  könnten 
ebenfalls  durch  Hugo  (t.  2,375 C)  veranlasst  sein:  quia  omne 
quod  pater  facit,  per  filium  facit.  Diese  stelle  beruht  ihrer- 
seits wider  auf  mehreren  schriftstellen,  so  Hebr.  1, 2  novissime 
diebus  istis  locutus  est  nobis  in  filio,  quem  constituit  haeredem 
universorum,  'per  quem  fecit  et  saecula'  und  von  diesem  filius 
sagt  der  apostel  1,  10:  et  tu  in  prindpio  terram  fundasti:  et 
opera  tnanuum  tuarum  sunt  coeli.  Nimmt  man  hinzu  Joh.  5, 22 
neque  enim  pater  iudicat  quemquam,  sed  omne  iudidum  dedit 
ßio,  so  würde  man  erklären  können,  warum  der  dichter  sagt : 
er  nie  nicht  geworchte  durch  liebe  noch  durch  vorchte.  Denn 
die  Schöpfung  überhaupt  geschah  aus  liebe,  das  gericht  aber 
ist  etwas  furchtbares. 

6,12 — 19.  Dazu  stimmt  abermals  Hugo  (t.  2,373  A):  sed 
hie  pnrno  considerandum  est,  quod  cum  didtur  filius  facere 
omne  quod  pater  fadt,  de  illa  nimirum  operatione  intelligendum 
est,  qua  creaturam  condit  et  regit  et  disponit  conditor  et  artifex 
deus  . . . ;  ib.  C  hie  ergo  omnia  quae  fedt  pater  et  filius  fadt 
similiter.  Und  weiter  t.  2, 58:  patet  itaque  quod  deus  a  tempore 
est  dominus  et  creator;  et  tamen  verum  est,  dominus  omnium 
est  ab  aeterno  et  creator  ab  asterno. 

6,20 — 26  hat  der  dichter  folgende  gedanken  Hugos  ein- 
fach umgestellt  (t.  2, 57):  attribuitur  ergo  patri  potentia,  ne 
videatur  prior  filio  et  ideo  impotentior;  filio  sapientia  {'sinne')  ne 
videatur  posterior  et  inde  minus  sapiens  patre  vel  inferior. 

6,  27 — 29.  Mit  diesen  versen  will  der  dichter  nichts 
anderes  sagen  als  in  Joh.  1,3  gesagt  wird:  omnia  per  ipsum 
facta  sunt,  et  sine  ipso  factum  est  nihil,  quod  factum  est. 

18* 


268  I^EUBER 

Etwas  dunkel  scheint  6, 30  ff.  zu  sein.   Die  frage  ist,  was 
der  dichter  unter  dem  orden  versteht,  den  der  gottessohn  ver- 
loren hätte,  wenn  uns  der  vater  nicht  geschaffen  hätte?    Er 
kann,  so  weit  uns  wenigstens  das  belehrt  was  er  später  vom 
sun  erzählt,  unter  dem  orden  wol  nichts  anderes  verstehen, 
als  die  Stellung  welche  dem  gottessohn  nach  der  erschaffung 
bez.   nach   dem   falle   des   menschengeschlechtes  angewiesen 
wurde.     Hugo  deutet  die  Sache  wol  an  (t.  2, 70):  est  igitur 
persona  filii  incarnata,  ut  idem  qui  erat  filius  in  divinitate, 
esset  filius  in  humanitate.    Erat  et  decens,  ut  sicuti  per  sapien- 
tiam  suam  pater  mundum  fecit,  ita  per  eamdem  redimeret.  Deut- 
licher sprechen  darüber  andere  väter,  so  Ambrosius  (De  incar- 
nationis  dominicae  sacramento  c.  6,  no.  56):  quae  erat  causa 
incarnationis  nisi  ut  caro,  quae  peccaverit  per  se  (i.  e.  verhum) 
redimeretur]  Augustinus  (Sermo  175,  no.  1):   nulla  causa  fuit 
veniendi   Christo   domino,   nisi  peccatores  salvos  fasere.    Am 
massgebendsten  erscheint  mir  jedoch  für  diesen  punkt  eine 
stelle  bei  Athanasius  zu  sein,  welcher  (De  incamatione  no.  4) 
sehreibt:  quia  enim  sermonem  habemus  de  salvatoris  nostri  ad 
nos  adventu  (das  ist  sein  orden),  necesse  est  etiam  de  hominum 
primordiis  loqui,  quo  plane  perspicias  nostram   causam   eius 
adventu^  fuisse  occasionem  nostroque  peccato  verbi  henignitatem 
excitatam  fuisse,  ut  ad  nos  accederet  et  inter  homines  dominus 
appareretA)    Es  ist  wol  möglich,  dass  dem  Verfasser  des  Ane- 
genge  diese  ansieht  aus  der  theologischen  literatur  im  voraus 
bekannt  gewesen  ist;  aber  ihren  Ursprung  dargetan  zu  haben, 
scheint  mir  nicht  ohne  nutzen  zu  sein. 

Nachdem  der  dichter  gesagt,  dass  dem  vater  der  gewalt, 
dem  söhne  weist&m,  dem  hl.  geiste  diu  gute  zukommen,  sucht 
er  6, 33 — 42  die  sache  weiter  auszuführen.  Diese  verse  geben 
den  Inhalt  von  dem  wider,  was  Hugo  t.  2,  210,  c.  10  sagt: 
secundum  voluntatem  quippe  disposuit  quod  voluntate  facturus 
fuit;  et  volunta>s  aeterna  fuit,  et  opus  voluntatis  aeternum  non 
fuit.  Semper  enim  voluit  ut  faceret;  sed  ut  aliquando  faceret, 
quod  semper  voluit  ut  aliquando  faceret.  Sic  voluntas  aeterna 
fuit,  qtmndo  fieret  quod  futurum  fuit.     Duo  itaque  haec  in 

*)  Dazu  ist  zu  vergleichen  jene  stelle  des  Symbol.  Athanas.:  quipropter 
nos  hommes  et  propter  nostram  scUutem  descendit  de  coelis.  Et  incamatm 
^st  de  spiritu  sancto  ,.,  et  homo  (actus  est 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  269 

Creatore  pariter  erant  bonitas  et  sapientia,  et  haec  aeterna 
erant;  et  aderat  simul  potestas  coaeterna,  et  bonitate  voluit, 
sapientia  disposuit,  potestate  fecit.  Et  videtur  quasi  quaedam 
esse  distinctio  et  successio  temporalis;  et  demonstrat  se  eonsi- 
derationi  prima  bonitas,  quia  per  eam  voluit  deus  (die  consequenz 
daraus  zieht  der  dichter  m  v.  39 — 42),  deinde  sapientia,  quia 
per  eam  disposuit  novissima  potestas,  quia  per  eam  fecit;  quo- 
niam  ordo  videtur  esse,  et  fuisse  voluntas  prima,  et  post  eam 
dispositio  et  novissime  operatio  subsecuta.  Nisi  enim  voluisset, 
non  disposuisset,  et  si  non  disposuisset,  non  fedsset 

Im  folgenden  wird  unser  dichter  dramatisch;  er  lässt  die 
personiflcationen  der  drei  göttlichen  personen,  den  gewalt,  den 
weistüm  und  die  gute  redend  auftreten  und  den  plan  der  Schöpfung 
entwerfen.  Das  findet  sich  bei  Hugo  nicht.  Die  ganze  aus- 
führung  von  6, 43  —  7, 82  erscheint  als  selbständige  arbeit  des 
dichters,  wenn  auch  gesagt  werden  muss,  dass  gedanken  dazu 
sowol  aus  Hugo,  als  auch  der  hl.  schrift  herangezogen  wurden. 
So  wird  man,  wenn  man  von  der  dialogform  absieht,  Hugo 
gleich  widererkennen:  6, 48 — 51,  zu  denen  Hugo  t.  2, 21  f.  heran- 
zuziehen ist:  deus,  qui  summum  et  verum  perfectumque  bonum 
est,  ita  ab  aeterno  in  se  et  per  se  beatus  fuit,  ut  eius  gloria 
et  beatitudo  . . .  non  posset  minui,  et  quia  plena  et  perfecta 
fuerat,  non  posset  augeri.  Nulh  igitur  indigens,  sed  bonum, 
quod  ipse  erat  et  quo  beatus  erat,  cum  aliis  partidpare  et  alios 
in  illo  et  per  illud  beatificare  volens  nulla  necessitate,  sed  sola 
'charitate'  creavit  rationalem  creaturam.  Ebenso  6,  52^  —  71 
verglichen  mit  Hugo  t.  2, 205:  ergo  deus  erat  et  mundus  non 
erat;  et  factus  est  propter  deum  homo  {'sein  stat  tuon')  qui 
non  erat  et  mundus  qui  necdum  erat . . .  Nam  et  homo  factus 
est  ut  deo  serviret  propter  quem  factus  est;  et  mundus  factus 
est,  ut  serviret  homini  propter  quem  factus  est . ,.  Deus  per- 
fectus  erat  et  plenus  bono  consummato;  neque  opus  habuit 
aliunde  iuvari,  quoniam  nee  minui  potuit  asternus,  nee  immensus 
augeri.  Homo  vero  natura  'egens  erat  alieni  auxilii\  quo  vel 
conservaret  quod  mutabile  acceperat,  vel  augeret  quod  non  con- 
summatum  habebat . . .   Voluit  enim  deus  ut  (s.  206)  ab  homine 


')  Unter  dem  ausdrucke  stat  6, 56.  58  scheint  derselbe  sinn  verborgen 
zu  sein,  wie  6,30  unter  dem  worte  orden,  das  oben  erklärt  wurde. 


270  TEÜBER 

sibi  serviretur;  sie  tarnen  ut  ea  Servitute  non  deiis  sed  homo 
ipse  serviens  iuvaretur\ 

Etwas  unklar  sind  die  verse  6, 72  *)  —  82.  Hier  muss  dem 
dichter  Matth.  12,  31  f.  vorgeschwebt  haben:  ideo  dieo  vobis: 
omne  peeeatum  et  ilasphemia  remittetur  hominihuSj  Spiritus 
autem  hlasphemia  non  remittetur.  Et  quicunque  dixerit  verbum 
contra  filium  hominis,  remittetur  ei:  qui  autem  dixerit  contra 
spiritum  sanctum,  non  remittetur  ei,  neque  in  hoc  saeculo,  neque 
in  futuro.  Freilich  spricht  der  dichter  nicht  direct  von  der 
Sünde  gegen  den  hl.  geist,  aber  er  kann  v.  77  f.  wol  kaum  eine 
andere  schuld  meinen. 

In  den  nächstfolgenden  versen  (7, 1 — 8)  kommt  er  noch 
einmal  auf  6, 63  der  deiner  hilfe  muze  dürft  sein  zurück  und 
erklärt  es  näher.  2)  Nach  Hugo  (t.  2,205  D):  voluit  enim  deus 
ut  (s.  206)  ab  homine  sibi  serviretur;  sie  tamen  ut  ea  Servitute 
'non  deus  sed  homo  ipse  serviens  iuvaretur,  et  voluit  ut  mundus 
serviret  homini,  et  eodnde  similiter  iuvaretur  homö,  et  totum 
hominis  esset  bonum\ 

Die  folgenden  verse  (7, 9  ff.)  sind  im  ganzen  und  grossen 
der  erfindungsgabe  des  dichters  zuzuschreiben,  wenigstens  in 
ihrer  anwendung  auf  die  drei  göttlichen  personen.  Bei  7, 9 — 17 
dürfte  Ez.  44, 28  vorgeschwebt  haben :  non  erit  autem  eis  hasre- 
ditas  eorum:  et  possessionem  non  dabitis  eis  in  Israel,  ego  enim 
possessio  eorum.  Im  folgenden  sind  es  zumeist  praktische  an- 
wendungen  biblischer  stellen: 

V.  42  f.  als  er  des  tages  tet  do  er  elliu  dinc  werden  hiez 
sind  eine  reminiscenz  an  Gen.  1, 1  ff.  In  v.  44  f.  erinnert  sich  der 
dichter  an  Hugo  t.  2, 84  B  oder  Ez.  28.  In  v.  47  an  Gen.  7;  in 
V.  53  an  die  totenerweckungen,  wie  sie  in  der  hl.  schrift  erzählt 
werden.  In  v.  54f.  denkt  er  an  Matth.  25, 33  et  statuet  oves 
quidem  a  dextris  suis,  hoedos  autem  a  sinistris. 

Wenn  der  dichter  7,  76  f.  schreibt:  daz  er  sein  chint  geerbet 
hat  mit  Hüten  unt  mit  lande,  so  ist  das  wol  in  hinsieht  auf 


0  6,72  soll  wol  sie  statt  wir  stehen?  6,74  bezieht  sich  si  auf  die 
güle.  6, 76 ff.  kann  der  sinn  wol  nur  der  sein:  wenn  sie,  die  menschen, 
etwas  tun,  was  keine  gnade  verdient,  so  sollen  sie  dvHten  deinen  slac,  im 
anderen  falle  aber  Verzeihung  erhalten. 

^)  7jS  sie  =  der  vater  und  der  sehn,  die  eben  untereinander  sich  be- 
sprechen. 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  271 

Ps.  2, 8  eingefügt  worden:  dabo  tibi  gentes  haereditatem  tuam 
et  possessionem  tuam  terminos  terrae.  Dieser  psalm  wurde 
von  den  ältesten  Zeiten  ab  stets  für  messianisch  gehalten  und 
speciell  jene  stelle  auf  das  weitreich  des  kommenden  erlösers 
gedeutet. 

7, 78—82.  Diese  stelle  ist  bei  Hugo  t.  2, 70 C  vorgebildet: 
erat  et  decens  ut  sicuti  per  sapientiam  (d.i.  *der  söhn')  pater 
mundum  fecit,  ita  per  eandeni  redimeret. 

Nun  schliesst  der  dichter  den  ersten  teil  seiner  darstellung 
über  die  trinität  mit  folgenden  Sätzen  ab:  8,1 — 7  (warten  y.1 
steht  für  worten).  Dazu  hat  Hugo  t.  2,377  A  den  gedanken 
hergegeben:  in  trinitate  ergo,  quae  deus  est,  pater  est  deus,  et 
filius  est  deu^,  et  Spiritus  sanctus  est  deus,  et  simul  hi  tres  unus 
deus,  V.  6  f.  sind  eine  consequenz,  die  wir  dem  dichter  wol 
zutrauen  dürfen. 

8, 8  f.  finden  wir  ebenfalls  bei  Hugo  t.  2,376  D):  idem  (er 
citiert  den  Augustinus)  contra  Maximum:  nulla  sit  partium 
'divisio'  in  unitate  deitatis;  unus  est  deus  pater  et  filius  et 
Spiritus  sanctus,  hoc  est  ipsa  trinitas  unus  deus.  Auf  die  be- 
merkung  swie  doch  diu  buch  iehen  kam  unser  dichter  durch 
diese  stelle  bei  Hugo,  der  (ib.B)  ausserdem  noch  Augustinus' 
Adversus  impietatem  Arii  citiert.  Die  Schriften  des  Maximus 
und  Arius  sind  also  diese  buch,  die  unser  dichter  meint. 

Nun  sagt  uns  der  dichter,  was  diu  buch  meinen,  8, 10 — 15. 
Auch  diese  stelle  ist  durch  Hugo  (t.  2, 60C)  veranlasst:  oppo- 
nitur:  soli  filio  convenit  assumpsisse  carnem  . . .  igitur  aliquid 
operatur  filius  quod  non  pater,  quod  non  Spiritus  sanctus. 
Freilich  gibt  Hugo  die  von  unserm  dichter  angedeuteten  buch 
erst  t.2,376  an,  wo  er  über  dasselbe  thema  ausführlicher  redet,  i) 
Dabei  erinnert  sich  aber  der  dichter  an  die  erzählung  der  evan- 
gelisten  und  hebt  auf  Hugo  gestützt  die  taufe  Christi  hervor, 
wo  in  der  tat  die  hl.  dreif altigkeit  scheinbar  getrennt  erschien. 
Man  wird  sich  hier  zunächst  an  Matth.  3, 13  erinnern  müssen : 
tunc  venit  Jesus  a  Galilaea  in  Jordanem  ad  Johannem,  ut 
baptizaretur  ab  eo  (^do  der  gotes  sun  was  chomen,  do  man  in 
solte  touffen').    Zu  v.  14  f.  haben  dem  dichter  die  stellen  des 

')  Wider  eine  stelle,  aus  der  man  schliessen  könnte,  dass  Hugo  der 
lebrer  des  dichters  gewesen  sei. 


272  TEUBEE 

evangeliums  beigetragen,  welche  davon  reden,  dass  der  herr 
mit  Sündern  umgieng:  so  Luc.  5,32  non  veni  vocare  iustos,  sed 
peccatores  ad  poenitentiam.  Dazu  wäre  noch  Marc.  2, 16.  Luc. 
5,30.  19,7  u.a.  heranzuziehen,  wo  dem  heiland  der  Vorwurf 
gemacht  wird,  dass  er  mit  Sündern  umgehe. 

Im  anschluss  an  die  evangelien  fährt  der  dichter  fort: 
8,16 — 23.9  Unter  denen,  die  icht  davon  gelwren,  meint  er 
wol  zunächst  die  evangelisten,  denen  er  sich  tatsächlich  in 
den  folgenden  versen  anschliesst.  Will  er  aber  auch  das 
weitere  mit  inbegriffen  wissen,  so  kann  er  an  erster  stelle 
wol  nur  Hugo  (t.  2, 61  und  376)  gemeint  haben,  möglich  auch, 
dass  er  an  Ambrosius  (De  trinitato  tractatus,  t.  4, 518)  gedacht 
hat,  der  dasselbe  thema  behandelt.  Die  evangelisten  behandeln 
die  citierte  tatsache  an  folgenden  stellen:  Matth.  3, 16.  Marc. 
1, 10  ff.  Luc.  3, 21  ff.  Joh.  1, 32  (letzterer  spricht  nur  von  der 
erscheinung  des  hl.  geistes  in  taubengestalt).  Luc.  3, 21  heisst 
es:  apertum  est  coelum:  et  descendit  spiritus  sanctus  corporali 
spede  sicut  colurnba  in  ipsum,  et  vox  de  coelo  facta  est:  tu  es 
ftlius  mens  düectus,  in  te  complacui  mihi.  Diese  stelle  stimmt 
voll  und  ganz  zu  den  oben  citierten  versen. 

Nachdem  der  dichter  wider  einmal  seine  bibelkenntnis 
gezeigt,  geht  er  im  folgenden  mit  8,24 — 41  wider  auf  seinen 
gewährsmann  Hugo  (t.  2,  61  AB)  zurück:  tota  enim  trinitas 
operata  est,  ut  homo  ille  esset  et  ut  verbo  uniretur;  sed  non  ut 
toti  trinitati  uniretur.  Ergo  illa  operatio  non  magis  filii  quam 
patris;  sed  unio  filii  et  non  patris,  sicut  solius  patris  vox  de 
nuhe  audita  est:  hie  est  filius  meu^  dilectus,  in  quo  mihi  com- 
placui etc.  Si  enim  esset  vox  filii  vel  spiritus  sancti  falsum 
esset:  hie  est  filius  meus.  Non  est  enim  filius  sui  ipsius  vel 
Spiritus  sancti  filius.  Et  tamen  tota  trinitas  operata  est  vocem 
illam,  sed  soli  patri  convenit,  quia  solus  pater  per  eam  signi- 
ficatus  est.  Sicut  etiam  solus  spiritus  sanctus  in  colurnba 
apparuit,  cum  tota  trinitas  operata  sit.  Sed  solus  spiritus 
sanctus  in  ea  apparuit,  quia  ipse  solus  per  eam  significatus 
est  (dasselbe  bei  Hugo  t.  2,375  C.  Für  diesen  ist  Augustinus 
[t.  8,  692,  c.  13  und  694,  c.  15  in  libro  De  trinitate]  die  quelle 
gewesen.     Freilich  muss  bemerkt  werden,  dass  der  dichter 

^)  8, 17  würde  ich  statt  des  zweiten  die  lieber  des  lesen. 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  273 

nicht  den  ^vater'  sondern  den  'söhn'  als  hauptperson  hinstellt. 
Das  hat  aber  für  den  theologen,  dem  jenes  wort  des  heilandes : 
ego  et  pater  untim  sumus^)  und  qui  me  vidit,  videt  etpatrem^) 
bekannt  ist,  keine  Schwierigkeit.  Die  leitenden  gedanken  hat 
doch  Hugo  geboten. 

Die  verse  8, 38 — 41  sind  eigene  erfindung  des  dichters  und 
bilden  einen  ganz  guten  Übergang  zu 

8, 42  —50.  Diese  stelle  stimmt  mit  einer  anderen,  welche 
Hugo  (t.  2, 49A)  und  Augustinus  (Ad  Dardanum)  citiert,  nur 
dass  sie  hier  von  unserm  dichter  speciell  auf  den  'söhn'  an- 
gewendet erscheint:  ita  et  deus  sine  labore  regens,  sine  onere 
continens  mundum,  in  coelo  totus,  in  terra  totus,  et  in  utroque 
totus;  et  nullo  eontentus  loco,  sed  in  seipso  uhique  totus.  Mit 
V.  50  ff.  geht  der  dichter  wider  zurück  auf  das  was  er  bereits 
6, 12 — 19  im  anschlusse  an  Hugo  gesagt  hatte,  es  scheint  aber, 
dass  ihm  von  8, 60  ff.  eine  stelle  aus  dem  tractat  des  Ambrosius 
De  trinitate  vorgeschwebt  habe.  Dort  heisst  es  (t.  4, 520):  ipse 
est  ergo  semper  in  patre  filiiis . . .  Ipse  est  (nämlich  filius), 
cui  perfecto  orie  eongaudebat  pater,  quia  tantam  molem  terrae 
funda^set  (vgl.  namentlich  67 — 69)  super  maria,  et  super  fiumina 
collocasset  ea  .,,  In  stabilitate  ergo  orbis  terra/rum,  quando 
illius  fundamenta  pater  firmabat,  nullus  erat  cum  eo  praeter 
eos,  qui  erant  in  eo,  id  est  filius  et  Spiritus  sanctus.  Eben- 
daselbst (t.  4, 522,  c.  11)  heisst  es  weiter:  et  iddrco  filius  de 
hoe  genitus,  cuius  generationem  humanus  sermo  edicere  non 
valet,  inferior  ab  eo  esse  non  potest,  quia  ut  dictum  est,  verbum, 
virtus  et  sapientia  eius  est  (vgl.  8,  71 — 80). 

Für  8, 81  f.  bietet  wider  Hugo  (t.2,70C)  einen  anhalts- 
punkt:  et  quia  in  homine  utroque  corrupta  erat  natura,  sc. 
anima  et  corpus;  utramque  suscepit,  ut  utramque  liberaret 

9, 1  kommt  der  dichter  endlich  dazu,  zu  erklären,  was  er 
8,27 — 36  angedeutet  und  8,38—41  zu  erklären  versprochen 
hat.  Hierbei  stützt  er  sich  auf  die  aus  Hugo  (t.  2, 61  AB)  be- 
reits citierte  stelle;  doch  spielen  auch  andere  reminiscenzen 
mit  herein. 

9, 1 — 8  ist  nach  Hugo  (t.  2, 61)  widergegeben  (v.  1  knüpft 
an  das  vorausgehende  an  und  leitet  zum  folgenden  hinüber): 


0  Job.  10, 30.  «)  Job.  14, 9. 


274  TBUBER 

et  tarnen  tota   trinitds  operata  est  vocem  iUam,  sed  sali  ptUri 
convenit,  quia  solits  pater  per  eam  significatus  est 

Auch  die  folgenden  verse  9,9 — 20  sind  durch  Hugo  ver- 
anlasst. Was  zunächst  v.  9  f.  anbelangt,  so  bot  Hugo  (t.  2, 395  A) 
den  Stoff  dazu;  dort  heisst  es  von  Christus:  utrobique  enim  erat. 
In,  terra  per  humanitatem,  in  coelo  per  dtvinitatem.  Idem  qui 
in  coelo  erat  in  terra  erat  . . .  per  divinitatem  in  coelo  et  in 
terra.  Von  v.  10 — 20  setzt  er  mit  jener  stelle  Hugos  (t.  2, 61, 
s.  oben)  fort:  sicut  etiam  soltis  Spiritus  sancttis  in  columba 
apparuit,  cum  tota  trinitas  eam  operata  est, ,.  Quaeritii/r  an 
aliter  Spiritus  sanctus  fuerit  in  columba  illa  quam  in  aliis 
creaturis.  Bespondetur:  non  aliter,  quantum  ad  praesentiam 
vel  essentiam  divinitatis  . . . ,  qua^  est  in  omnibus  crea/turis 
aequaliter.^)  Doch  scheint  dem  dichter  bei  v.  18 — 20  eine 
andere  stelle  der  hl.  schrift  vorgeschwebt  zu  haben,  nämlich 
Sap.  1,  7:  Spiritus  domini  replevit  orhem  terrarum:  et  hoc,  quod 
continet  omnia,  sdentiam  habet  vods. 

Bei  9,21 — 252)  stützt  sich  der  dichter  gleichfalls  auf  die 
bereits  citierte  stelle  von  Hugo,  zieht  gewissermassen  das 
resultat  aus  seiner  bisherigen  darstellung  (wozu  allerdings 
noch  die  folgenden  verse  26 — 29  gehören),  und  schliesst  mit  den 
folgenden  versen,  9, 26 — 45,  wider  einen  teil  seiner  darstellung 
über  die  trinität  ab. 

In  den  versen  9,26—29  schliesst  er  sich  sodann  wol 
an  Hugos  ausspruch  an:  sicut  etiam  solus  spiritus  sanctus  in 
columba  apparuit,  cum  tota  trinitas  eam  operata  est  (t.  2, 61), 
bringt  aber  im  folgenden  ein  beispiel,  dass  auch  über  einen 
diener  gottes  bei  dessen  taufe  der  hl.  geist  herabkam,  und 
zeigt  dadurch,  dass  derselbe  hl.  geist  mit  um  so  grösserem 
rechte  über  den  gottessohn  herabkommen  musste.  Er  sagt 
V.30 — 33:  wan  da  man  seit  seinen  chnecht  sande  Basilium  toufte 
und  in  dem  wazzer  hesoufte  (flickvers),  alda  wart  er  auch  gi- 
sehen.    Diese  erzählung  könnte  der  dichter  wol  aus  mündlicher 

')  Ebenso  Augustinus,  Senno  52,  t.  5S  354  ff.  August.,  De  trin.  1. 1,  c.  5, 
t.  8, 824.  Ambrosius,  De  trinit.  tractat.  c.  9,  t.  4,  518.  Das  sind  die  qneUen 
Hugos. 

2)  Der  sinn  dieser  stelle  kann  nur  der  sein:  es  möge  die  tatsache, 
dass  man  die  stimme  des  vaters  hörte  und  den  söhn  wirklich  sah,  niemand 
für  einen  urdanc  (=  erfindung)  ansehen. 


QUELLEN  DES  ANEQEKGE.  275 

mitteilung  haben  keimen  lernen;  denn  wie  heute,  so  liefen 
auch  in  jener  zeit  verschiedene  fromme  erzählungen  aus  dem 
leben  der  heiligen  im  volksmunde  um. 

Wenn  der  dichter  dann  9, 34  f.  weiter  sagt:  unt  ist  vil  diche 
geschehen  daz  man  in  iemer  touben  bilde  sach,  so  weist  er  da- 
mit entweder  auf  ähnliche  begebenheiten  hin,  die  wir  nicht 
kennen,  oder,  was  das  wahrscheinlichere  ist,  er  deutet  damit 
auf  die  abbildungen  des  hl.  geistes  in  taubengestalt  hin,  wie 
wir  solche  seit  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten  in  menge 
vorfinden. 

In  den  folgenden  zwei  versen  9, 36  f.  hatte  der  dichter 
wol  1.  Cor.  12, 3  ff.  vor  äugen:  ideo  natum  vobis  facio,  quod 
nemo  in  spiritu  dei  loquens  dicit  anathema  Jesu,  Et  nemo 
potest  dicere:  dominits  Jesits,  nisi  in  spiritu  sancto,  Divisiones 
vero  gratiarum  sunt,  idem  autem  Spiritus. 

Aber  sofort  verwahrt  er  sich  gegen  eine  solche  auffassung 
9, 38—40.  In  v.  39  f.  kann  der  dichter  nur  den  'söhn  gottes' 
meinen,  den  der  hl.  geist  nicht  enmocht  bigeben.  Rom.  8, 9  aber 
wird  der  hl.  geist  geradezu  der  'geist  Christi'  genannt:  si  quis 
autem  spiritum  Christi  non  habet,  hie  non  est  eius\  daher  dürfte 
wol  diese  stelle  hier  für  unsern  dichter  massgebend  ge- 
wesen sein. 

9, 41 — 44  fasst  der  dichter  das  bisher  gesagte  zusammen. 
Dabei  könnte  ihm  wol  Hugo  t.  2, 59B  zu  statten  gekommen 
sein;  fateamur  igitur  tres  persona^,  vel  tres  illarum  proprietates 
unum  deum,  unam  essentiam  et  unam  divinam  substantiam. 
Es  ist  aber  auch  möglich,  dass  er  selbstschöpferisch  das  was 
er  über  die  einheit  der  drei  göttlichen  personen  wusste,  kui'z 
zusammenfasste.  Und  in  der  tat  selbsttätig,  wenn  auch  nicht 
im  Stoffe,  so  doch  in  der  composition  und  in  der  Verwendung 
des  Stoffes  tritt  uns  der  dichter  in  dem  folgenden  entgegen: 

9, 45—47.  Dass  dem  vater  die  'alimacht',  dem  söhne  die 
'Weisheit',  dem  hl.geiste  die  'gute'  zukomme,  das  sind  gedanken, 
die  unser  dichter,  wie  gezeigt  wurde,  aus  Hugo  entlehnt  hat. 
Dass  aber  jeder  der  drei  göttlichen  personen  alle  diese  eigen- 
schaften  zukommen  und  den  beweis  dafür,  den  der  dichter  zu- 
meist aus  der  hl.  schrift  erbringt,  davon  sagt  Hugo  nichts, 
davon  konnte  ich  auch  bei  den  alten  kirchenvätern  nichts 
vorfinden.     Die  schriftstellen  jedoch,  welche  unserm  dichter 


276  TBÜBER 

bei  seiner  darstellung  zu  gute  kamen,  sollen  nicht  unerwähnt 
bleiben. 

In  9, 48  ff.  denkt  der  dichter  an  Luc.  1, 31  ff.  und  macht 
die  anwendung  auf  den  vater. 

9, 55 — 81  und  10, 1 — 3  hat  der  dichter  die  passionsgeschichte 
(davon  einzelne  hierher  passende  stellen  zu  eitleren  scheint  mir 
überflüssig,  da  sie  zu  bekannt  sind),  wie  sie  von  den  evan- 
gelisten  (Matth.  27.  Marc.  14  und  15.  Luc.  22  und  23.  Joh.  18 
und  19)  erzählt  wird,  vor  äugen  und  wendet  einzelnes  daraus 
zur  durchführung  seines  beweises  sehr  geschickt  an,  so  dass 
man  diese  partie  unseres  gedichtes  wol  für  eine  der  gelungensten 
wird  erklären  dürfen. 

10,4 — 11.  Im  engeren  anschluss  an  die  bibel  fährt  der 
dichter  weiter  fort,  uns  die  fügende  an  dem  gottessohne  zu 
zeigen.  In  v.  8  hat  er  uns  auf  eine  quelle  hingewiesen,  und 
diese  ist  Joh.  21,  25:  sunt  autem  et  alia  multa,  quae  fecit  Jesus: 
qude  si  scribantur  per  singula,  nee  ipsum  arbitror  mundum  ca- 
pere  posse  eos  qui  scribendi  sunt  libros.  Der  dichter  hat  die 
stelle  frei  und  dem  zwecke  seiner  darstellung  gemäss  wider- 
gegeben. 

10, 12  heisst  es  den  gedanchen  er  widersprach.  Dieser  vers 
beruht  auf  Matth.  9, 4  et  cum  vidisset  Jesus  cogitationes  eorum, 
diocit :  ut  quid  cogitatis  mala  in  cordibus  vestris  (ähnlich  Matth. 
12,25.  Luc.  5, 22.  6,8.  9,47.  11,17).  Und  er  fügt  hinzu,  was 
eigentlich  damit  zusammenhängt:  10, 13  in  elliu  herce  er  wol 
sack,  wobei  man  sich  neben  den  citierten  stellen  auch  an 
Ps.  7, 10  scrutans  corda  et  renes  deus  erinnert.  Wenn  der  dichter 
dann  selbsterfinderisch  daraus  den  schluss  zieht:  10, 14  daz  wa^ 
ein  michel  weistüm,  so  werden  wir  ihm  nicht  nur  beistimmen, 
sondern  ihn  auch  ob  seiner  geschicklichkeit  loben.  Ebenso 
trefflich  ist  die  folgende  anwendung  einer  biblischen  stelle  auf 
den  gottessohn:  10, 15 — 19.  Diese  stelle  ist  aus  der  passions- 
geschichte bekannt.  Ich  eitlere  hier  nur  Matth.  27,  30.  31: 
illudebant  ei  dicentes :  ave  rex  Judaeorum  ,..  et  percutiebant 
Caput  eius.  Für  v.  19  ist  Matth.  26, 53  heranzuziehen:  anputas 
quia  non  possum  rogare  patrem  meum,  et  exhibebit  mihi  modo 
plus  qu^m  duodecim  legiones  angelorum. 

Zu  10,20 — 22  veranlasste  den  dichter  Matth.  9,  5:  caeci 
vident,    claudi  ambulant,   leprosi   mundantur,   surdi    audiunt, 


QUELLEN  DES  ANEaENGE.  277 

mortui  resurgunt,  pauperes  evangelimntur  {er  weiste  die  tumben) 
(ähnlich  Matth.  15, 31.  Luc.  7, 12.  Joh.7,22).  Freüich  ist  die 
stelle  nicht  vollinhaltlich  widergegeben,  was  jedoch  keineswegs 
gegen  deren  benützung  spricht. 

Ein  merkwürdiger  lapsus  memoriae  ist  dem  dichter  im 
folgenden  v.10, 23  passiert:  do  er  sibentousent  sat  Die  Sät- 
tigung vieler  durch  das  allmächtige  wirken  Christi  war  dem 
dichter  aus  den  evangelien  bekannt.  Es  wird  dort  wol  von 
der  Sättigung  von  fünftausend  (Matth.  14, 21  ff.  Marc.  6, 44.  Joh. 
6, 10)  und  von  der  Sättigung  von  viertausend  mann  gesprochen 
(Matth.  15, 38.  Marc.  8, 9),  aber  nirgends  lesen  wir,  dass  sieben- 
tausend gesättigt  worden  seien. 

Auf  Matth.  4,  2  et  cum  ieiunasset  quadraginta  diebus  et 
quadraginta  noctibus  , . .  (Luc.  4, 2)  beruht  endlich  10,  24.  V.  25 
— 27  sind  wider  eine  specielle  anwendung  der  citierten  stellen 
aus  der  hl.  schrift  auf  den  söhn  gottes. 

Mit  10, 29  f.  beruft  sich  der  dichter  auf  eine  mündliche 
mitteilung  der  eben  ausgesprochenen  ansichten.  Man  denkt 
dabei  zuerst  an  den  lehrer  des  dichters.  Und  wider  greift, 
wie  es  schon  an  anderen  stellen  der  fall  war,  die  Vermutung 
platz,  dass  Hugo  selbst  dieser  lehrer  war,  der  beim  mündlichen 
Vortrag  zu  jener  bekannten  stelle  per  patrem  potentia,  per  filium 
sapientia,  per  spiritum  sanctum  bonitas  intelligitur  die  von 
unserm  dichter  poetisch  widergegebenen  erklärungen  geboten 
haben  könnte. 

Die  verse  10, 31—67  dürfen  wir  wol  als  freie  erfindung 
des  dichters  ansehen. 

Im  folgenden  kommt  er  wider  auf  seine  alte  quelle  zurück. 
Mit  10, 68 — 81 1)  gibt  er  den  Inhalt  von  mehreren  stellen,  die 
sich  bei  Hugo  finden,  wider.  T.  2, 390 D  heisst  es:  si  Christus 
in  cruce  dolorem  passus  non  fuit,  qu^re  tantopere  calicem  pas- 
sionis  a  se  transferre  postulavit?  Quid  sibi  voluit  sanguis 
desudans  angustiam  imminentis  mortis  contestatus?  Quid  sibi 
voluit  quod  ipse  Christus  infirmitatem  secundum  quam  caro 
pdssionem  timuit,  et  voluntatem  secundum  qu^m  spiritus  promp- 
tus  fuit?  Weiter  t.  2,399 C:  quidam  putßverunt  inmorte  divi- 
nitatem  a  Christo  homine  discessisse.    Citiert  Ambrosius,  Sup. 


0  10, 81  erfordert  der  sinn  hete  statt  hcete. 


278  TEUBEB 

ps.  21 :  clamat  homo  separatione  divinitatis  moriturus  . . .  deus 
meuSy  ut  quid  dereliquisti  me?  S.  400D:  dereliquit  quia  'auxi- 
lium'  non  contulit,  sed  non  dereliquit,  quia  praesentiam  non 
dbstulit. 

Ebenfalls  auf  Hugo  stützt  sich  11, 1—6. 0  T.  2, 390C  heisst 
es  nämlich:  de  sensu  autem  passionis  quidem  'male  sensisse 
videntur\  Asserentes  'carnem'  illam  in  omnibus  iis,  qua^e  in 
ea  et  drca  eam  exhibita  sunt  passionis  genera,  simiUtudinem 
quidem  passionis  et  doloris  suscepisse,  sed  nullum  omnino  do- 
lorem aut  passionem  sensisse . . .  Quomodo  stabit,  quod  didt 
propheta:  vere  languores  nostros  ipse  tulit,  et  dolores  nostros 
ipse  portavit?  (Is.  53). 

Zu  11,  7— 12^)  stimmt  inhaltlich  Hugo  t.  2,  400A:  quam 
tamen  mortem  quia  non  pro  sua  iniquitate,  sed  pro  nostra 
redemptione  sustinuit  in  cruce  pendens;  quare  sit  derelicta 
requirit,  non  quasi  adversus  deum  de  poena  murmurans,  sed 
nobis  innocentiam  suam  in  poena  demonstrans,  causam  quaerebat, 
qui  peccatum  nesciebat 

11, 13 — 21.  Die  stelle,  welche  der  dichter  hier  aus  Salomo 
citiert,  steht  im  Ecclesiastes  5, 1 :  ne  temere  quid  loquaris  neque 
cor  tuum  sit  velox  ad  profuendum  sermonem  de  deo.  Dazu  ist 
noch  heranzuziehen  Eccles.  8, 17:  et  intellexi,  quod  omnium 
operum  dei  nullam  possit  homo  invenire  rationem  eorum,  quae 
fiunt  sub  sole:  et  quanto  plus  laboraverit  ad  quaerendum,  tanto 
minus  inveniat. 

11,22 — 32  sind  widerum  selbständige  zutat  des  dichters, 
verse,  in  denen  er  das  eigentlich  schon  gesagte  widerholt:  *es 
ist  unmöglich,  die  geheimnisse  gottes  zu  schildern'.  Aber  er 
erinnert  sich  noch  an  einen  vergleich  über  die  trinität,  den  er 
bei  Hugo  (t.  2,  61)  gelesen:  quod  per  simiUtudinem  ostendunt 
sancti  (so  nämlich  die  trinität).  In  radio  namque  solis  sicut 
inseparabiliter  adiunguntur  splendor  et  calor;  tarnen  splendor 
illuminat,  calor  exsiccat,  nee  calor  illuminat,  nee  splendor  ex- 
siccat  Similiter  in  sancta  trinitate  tota  trinitas  operata  est 
incarnationem  ßii.    Diesen  vergleich  führt  er  11, 35  ff.  durch. 


0  11, 6  ist  we  wol  die  richtige  lesart.  Hahn  schreibt  wer,  was  keinen 
sinn  gibt. 

*)  11, 8  wäre  die  statt  der  sinngemäss,  v.  10  er  richtiger  als  ez,  v.  11 
verlangt  der  context  in  statt  ez. 


QUELLEN  DES  ANEGEKGE.  27d 

wobei  er  aber  schliesslich  ganz  aus  dem  vergleiche  der  trinität 
(den  er  nach  dem  ganzen  zusammenhange  beabsichtigt  haben 
muss),  mit  der  sonne  herausfällt  und  die  mannigfachen  Wir- 
kungen gottes  mit  den  mannigfachen  Wirkungen  der  sonne 
vergleicht  (v.  54  f.  so  gitaner  wunder  hat  er  geschaffen  also  vil). 

11, 60  ff.  entwirft  er  neuerdings  ein  programm  alles  dessen 
was  er  noch  im  verlaufe  seines  gedichtes  schildern  will.  Der 
erste  punkt  ist  11,  74 — 78.  Die  frage  über  das  los  der  un- 
getauft  dahingeschiedenen  kinder  behandelt  Hugo  (t.  2, 132  f.  D, 
c.  6)  sehr  kurz,  und  das  was  er  darüber  sagt,  ist  eigentlich 
aus  Augustinus,  der  in  seinem  werke  De  peccatorum  meritis 
et  remissione,  et  de  baptismo  parvulorum  ad  Marcellinum 
libri  tres  (Migne  t.44,  der  werke  1. 10",  109  ff.)  sehr  ausführ- 
lich darüber  gehandelt  hat.  Da  unserm  dichter  von  Hugo 
sehr  wenig  geboten  wurde,  was  er  über  das  Schicksal  der 
ungetauften  kinder  hätte  sagen  können,  so  suchte  er  bei 
Augustinus  sein  wissen  zu  bereichem,  und  zwar  wie  wahr- 
scheinlich durch  Hugo  angeregt,  der  jenen  als  autorität  in 
dieser  sache  citiert. 

Gleichsam  als  entferntere  einleitung  zu  der  folgenden 
darstellung  dienen  12, 1 — 10.  Die  ersten  drei  verse  dieses 
Stückes  scheinen  eine  Schlussfolgerung  aus  einer  stelle  des 
Augustinus  zu  sein;  De  genesi  ad  literam  lib.  11,  c.  9,  no.  12, 
t.  3^,434  heisst  es:  cur  ergo  eos  creavit,  quos  tales  futuros  (sc. 
malos)  esse  praesciebat?  Quia  sicut  praevidit  quid  mali  essent 
facturi,  sie  etiam  praevidit  de  malis  factis  eorum,  quid  honi 
esset  ipse  facturus.  Sic  enim  eos  fecit,  ut  eis  relinqueret  unde 
et  ipsi  aliquid  facerent,  quo  quidquid  etiam  culpabiliter  eligerent, 
illum  de  se  laudabiliter  operantem  invenirent.  Die  verse  4 — 10 
dagegen  sind  sicher  aus  Hugo  entlehnt,  welcher  sagt  (t.  2, 260): 
non  enim  ut  quidam  putant  conditio  hominis  ita  ad  restaura- 
tionem  angelorum  provisa  est,  quasi  homo  non  fuisset  factus, 
nisi  angelus  cecidisset;  sed  idcirco  ad  restaurandum  et  supplen- 
dum  lapsorum  angelorum  numerum  factus  homo  dicitur;  quia 
cum  homo  postmodum  creatus  illuc  unde  Uli  cedderunt  ductus 
est,  illius  societatis  numerus  qui  in  cadentihus  diminutus  fuerat, 
per  hominem  reparatur.  Und  t.  2,  287:  et  ille  dedmus  ordo 
{'der  ohriste  chor*\  ut  scriptura  didt,  de  hominibus  restauratur. 

Die  verse  nun  12, 11—  14  dienen  als  nächste  einleitung  zu 


280  TEÜBER 

diesem  thema:  12, 15  ff.  si  heten  mit  ir  missetceten,  ob  siz  gelebt 
heten,  gechouffet  doch  die  hellen.  Schon  diese  verse  beruhen 
auf  Augustinus  (vorausgeschickt  muss  werden,  dass  der  dichter 
in  der  ganzen  darstellung  die  indirecte  rede  gebraucht,  wodurch 
er  anzeigen  will,  dass  er  hier  nicht  seine,  sondern  die  meinung 
eines  andern  bringt).  Dort  (De  peccatorum  meritis  et  remis- 
sione  c.  21,  no.30, 1. 10^,  126)  heisst  es:  ex  ipsis  deinde  baptizatis 
parvulis  dicatur  mihi,  cur  alius  rapitur,  ne  malitia  mutet  in- 
tellectum  eius;  et  alius  vivit,  impius  futurus?  Der  dichter 
hat  in  den  citierten  versen  den  schluss  aus  dieser  stelle  ge- 
zogen. 

Der  grundstock  zu  den  ausführungen  12, 18 — 35  findet  sich 
bei  Augustinus  1.  c.  126,  c.  22,  no.  31:  an  forte  illud  tarn  explosum 
repudiatumque  sentiendum  est,  quod  animae  prius  in  coelesti 
habitatione  peccantes,  gradatim  atque  paullatim  ad  suorum  me- 
ritorum  corpora  perveniant,  ac  pro  ante  gesta  vita  magis  minusve 
corporis  pestibus  afßigantur?  Ibid.  128,  no.33:  cedamus  igitur 
et  consentiamus  auctoritati  sanctae  scripturae,  quae  nesdt  falli 
nee  f allere;  et  'sicut  nondum  natos  ad  discernenda  merita  eorum 
aliquid  boni  vel  mali  egisse'  non  credimus;  ita  omnes  sub  pec- 
cato  esse  . . .  minime  dubitemus.  In  der  ersten  eben  citierten 
stelle  bezieht  sich  Augustinus  auf  die  seelen  überhaupt,  welche 
wegen  der  in  ihrer  praeexistenz  begangenen  Sünden  in  die 
körper  gebannt  und  in  denselben  mehr  oder  weniger  gepeinigt 
werden.  Die  zweite  stelle  könnte  man  füglich  für  die  parvuli 
allein  in  anspruch  nehmen,  was  auch  unser  dichter  tut.  Was 
lag  aber  für  ihn  näher  bei  dem  allerdings  von  Augustinus  als 
irrig  bezeichneten  gedanken,  die  seelen  könnten  vor  ihrem 
eintritt  in  den  körper  bereits  gesündigt  haben,  —  als  anzu- 
nehmen, dass  sie  sich  mit  den  bösen  engein  in  Verbindung 
gesetzt  und  gegen  gott  erhoben  hätten,  da  er  sich  ja  so  ein- 
gehend auch  mit  diesen  befasst  hatte  (4, 1  ff.).  Wie  er  zu  den 
zwelf  potentaten  gekommen,  bleibt  allerdings  vor  der  hand  ein 
rätsei.  Was  der  dichter  als  einleitung  zu  dieser  partie  sagt: 
daz  diu  armen  chindelein  die  not  habent  erarnet  daz  sich  got 
über  siu  nicht  erbarmet,  ist  ebenfalls  aus  Augustinus,  nur  dass 
dieser  seine  ansieht  erst  am  ende  seiner  Untersuchung  als 
Schlussfolgerung  beibringt  (1.  c.  s.  120):  potest  proinde  recte 
did  parvulos  sine   bap,   de  corpore  exeuntes  in   damnatione 


QUELLEN  DBS  AKEGENGE.  281 

omnium  mitissima  futuros  und  (ib.  s.  140  f.):  parvulos  non  bap- 
tizatos  fore  cum  diaholo. 

Auch  für  12, 36 — 47  hat  Augustinus  die  leitenden  gedanken 
hergeben  müssen.  Er  sagt  (De  Genesi  ad  liter.  lib.  11,  c.8,  no.lO, 
t.  3*,  434):  quodsi  inerudite  atque  insapienfer  didtur^  cur  ergo 
non  crearet  deus  etiam  quos  malos  futuros  esse  praesdebat, 
volens  ostendere  iram  et  demonstrare  potentiam  suam,  'et  ob 
hoc  sustinens  in  multa  patientia  vasa  ir<ie,  quae  perfecta  sunt 
in  perditionem'  {'volliu  ^aV),  ut  notas  faceret  divitias  gloriae 
suae  in  vasa  misericordiae,  quae  praeparavit  in  gloriam?  Und 
weiter  (ib.  c.9,  no.l2,  s.434)  heisst  es:  sed praesdebat,  quod  eorum 
futura  voluntas  mala  . . .  Cur  ergo  eos  creavit,  quos  tales  esse 
praesdvit?  Quia  sicut  praevidit,  quid  mali  essent  facturi,  'sie 
etiam  praevidit  de  malis  factis  eorum,  quid  boni  esset  ipse  fac- 
turus'. Der  dichter  zieht  also  aus  diesem  satze  in  v.  45 — 47 
den  schluss:  dajs  was  michel  groiser  recht,  denne  daz  diu  gute 
vorbesicht  da  gelukJcet  wcere. 

Was  der  dichter  12,48 — 54  sagt,  scheint  auf  eine  andere 
stelle  bei  Augustinus  (De  natura  et  gratia,  1. 10, 250,  c.  5,  no.  5) 
zurückzugehen:  qui  ergo  inde  per  gratiam  liberaretur,  non 
vasa  meritorum  suorum,  sed  vasa  misericordiae  nominantur. 
Cuius  misericordia,  nisi  illius,  qui  Christum  Jesum  {'wdstüm') 
misit  in  hunc  mundum  peccatores  salvos  facere,  quos  praesdvit 
et  praedestinavit . . . 

12,55 — 84  dürfen  wir  als  eigene  erfindung  des  dichters 
bezeichnen,  wenn  auch  in  v.  55 — 63  anklänge  an  Augustinus 
(De  Genesi  ad  lit.  c.  10,  s.434)  und  in  v.  66 — 73  anklänge  an  Ps. 
103, 2 — 6  und  Ps.  148, 8  vorhanden  sind;  mit  Sicherheit  lassen 
sich  die  angegebenen  stellen  nicht  als  quellen  bezeichnen. 

Dagegen  scheint  es  kaum  zu  bezweifeln  zu  sein,  dass  der 
dichter  13, 1-— 9  auf  einer  stelle  fusse,  welche  sich  bei  Eupert 
V.  Deutz  findet  (Migne  1. 170,  73):  cum  praevaricatio  nulla  sit, 
si  praeceptum  aut  lex  non  fuerit  cur  deus  homini  praeceptum 
dedit,  quod  non  servandum  praesdvit  VideUcet,  quia  'creator 
erat  ille',  iste  creatura,  et  a  Creatore  creaturam  erudiri  opor- 
tuerat,  'quippe  quae  ita  creari  non  potuerat^  ut  suapte  natura 
perfecta  essef  quod  solius  divinae  natura^  est,  neque  uri  posset 
quia  deus  mitis  et  humilis  corde  est, .. 

Jetzt  kommt  der  dichter  mit  13, 13 — 18  abermals  auf  die 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  19 


282  TEUBBB 

Sache  zurück,  die  er  bereits  12, 7 — 10  fast  mit  denselben  Worten 
ausgesprochen  hatte.  Diese  stelle  beruht  auf  Hugo  t.  2,260  D: 
. . .  sed  idcirco  ad  restaurandwm  et  supplendum  lapsorum  ange- 
lorum  numerum  factus  homo  dicitur,  quia  homo  postmodum 
creatus  illuc  unde  cedderunt  ductus  est,  illius  sodetatis  numerus, 
qui  in  cadentihus  ddminutus  fuerat,  per  hominem  reparatur. 
Wenn  der  dichter  vom  'falle'  Adams  spricht,  so  tut  er  das 
deswegen,  weil  er  damit  betonen  will,  dass  er  das  liberum 
arUtrium  ebenso  hatte  wie  die  engel,  seien  es  nun  die  guten 
oder  die  gefallenen,  setzt  aber  notwendigerweise  die  bekehrung 
Adams  und  dessen  erlösung  voraus. 

Zu  13, 19 — 37  dienten  als  quellen  neben  Hugo  von  St.  Victor 
auch  Ephes.  1, 11.  Hugo  (t.  2, 84C)  sagt:  et  quia  contra  creor 
torem  suum  in  tantum  superbivit,  deiectus  est  in  locum  caligino- 
sunt  'cum  omnihus  Ulis,  qui  ei  consenserunf  . . .  Non  est  eis 
concessum  hdbita/re  in  coelo,  quae  est  clara  patria  (13, 19 — 22). 
Weiter  heisst  es  t.  2, 87A:  legimus  quod  'decimus  ordo  ab  ho- 
minibus  impleri  debeaf.  Mali  enim  angeli  cum  de  singulis 
ordinibus  cader ent,  fecerunt  unum  ordinem ...  Et  ille  'dedmus 
ordo\  ut  scriptura  didt,  ab  hominibus  restau/ratu/r  (13, 23). 
Weiter  ist  heranzuziehen  Hugo  t.  2, 87:  et  quamvis  de  hominibus 
restauratur  {dedmus  sc.  ordo),  quod  lapsum  est  in  angeUs  (propter 
quod  ait  apostolus:  proposuit  instaura/re  omnia  in  Christo,  quas 
sunt  in  coelo  et  qu^ae  in  terris  (Eph.  1, 10).  Durch  Hugo,  der 
den  Epheserbrief  citiert,  wurde  der  dichter  auf  Eph.  1, 11  ge- 
führt, wo  er  das  fand,  was  er  noch  brauchte.  Dort  heisst  es: 
in  quo  etiam  et  nos  sorte  vocati  sumurS  praedestinati  secundum 
propositum  dus,  qui  operatur  omnia  secundum  consilium  volun- 
tatis  suae,  und  Hugo  fährt  fort:  non  tarnen  intelligendum  est, 
quod  solum  propter  illos  qui  cedderant  factum  sit  homo.  Licet 
enim  angelus  non  ceddisset,  homo  non  minus  factus  esset. 

Erst  jetzt  kommt  der  dichter  13  ff.  auf  die  Schöpfung  des 
menschen  ausführlich  zu  sprechen.  Den  13, 38 — 43  ausgespro- 
chenen gedanken  finden  wir  bei  Hugo  (t.  2,22):  fedt  ergo,  ut 
dictum  est,  corpus  de  limo  terrae  et  inspiravit  d  cmimam  ratio- 
nalem, quam  creavit  de  nihilo,  'ut  in  corpore  obedienter  viventem 
ad  consortium  illorum  spirituum  qui  sine  corpore  vivebanf  . . . 
quandoque  simul  cum  corpore  elevaret. 

Zu  13,44 — 53  stimmt  widerum  Hugo  (t.2,24B):  si  igitur 


QUELLEN  BBS  ANEGENGE.  283 

homo  in  hac  oboedientia  perstitisset,  post  tempus  definitum  a 
deo  ad  illud  sunmiidm  honum  quod  in  coelis  ei  prmpa/ratum 
fuerat,  sine  mortis  dolore  Hransferri  debuerat  cum  omni  prole 
sua!  in  consortio  beatorum  angelorum  aeternaliter  victums, 

13,54—61.  Ganz  ähnlich  sagt  Hugo  (t.  2,  23 M):  faetos 
igitur  extra  pa/radisum  in  paradiso  posuit  informans  praeceptis 
vitae  et  disdplinae.  Und  weiter  (t.  2, 95) :  ad  illud  quod  pro- 
posuerat  promerendum  'praeceptum  dedit  oboedientia^^  dicens: 
de  ligno  scientiae  boni  et  m^li  ne  comedas  {'nichtes  er  in  bcete, 
wan  daz  er  wcere  gehorsam'). 

13,62 — 14,9.  Diese  stelle,  deren  einzelne  Sätze  aufs  innigste 
zusammenhängen,  ist  aus  mehreren  stellen  zusammengesetzt, 
die  sich  bei  Hugo  getrennt  vorfinden.  Auf  den  unterschied 
der  einzelnen  engelchöre  macht  Hugo  (t.  2, 86D)  aufmerksam 
(vgl.  13, 63 — 65):  sie  et  in  Ulis  spiritualibus  naturis  convenientes 
eorum  puritati  et  excellentiae  et  in  essentia  et  in  forma  diffe- 
rentiae  gradus  in  ipso  condidonis  exordio  potuerunt  esse,  quibus 
diu  superioreSy  alii  inferiores.  Und  dass  der  dichter  gerade 
den  obristen  und  den  nidristen  gegenüberstellt  (v.  63.  65),  ist 
ebenfalls  durch  Hugo  (t.  2, 86  f.)  veranlasst;  er  sagt:  quaeritur 
OM  omnes  eiusdem  ordinis  pa/res  sunt  et  aequales,  Quod  qui- 
busdam  visum  est  Sed  illud  non  potest  stare,  cum  scriptura 
dicat  Ludferum  cunctis  aliis  excellentiorem;  quem  constat  fuisse 
de  ordine  'supremo'  (obriste),  Dass  der  dichter  darauf  kam 
zu  sagen:  hete  got  des  nicht  gitan,  so  het  er  den  obristen  chöre 
geminneret  sein  ere,  u.s.w.,  dazu  mochte  ihn  ebenfalls  Hugo 
bestimmen,  der  widerholt  vom  liberum  arbitrium  des  menschen 
und  der  engel  spricht,  das  sich  durch  den  freien  gehorsam  für 
und  durch  den  freien  ungehorsam  gegen  gott  entscheidet 
(t.  2, 82) ;  der  dichter  nimmt  aber  dabei  (auf  Hugo  gestützt) 
an,  dass  den  engein  ebenso  wie  den  menschen  von  gott  der 
gehorsam  geboten  wurde.  Die  folgenden  verse  (13, 66 — 84  und 
14, 1 — 9)  beruhen  auf  einer  bei  Hugo  ganz  klaren  stelle,  welche 
der  dichter  dadurch  dass  er  die  geschichte  mit  dem  zehnten 
chor  einfügt,  die  er  ebenfalls  bei  Hugo  vorfand,  etwas  unklar 
gemacht  hat;  dort  (t.  2, 22B)  heisst  es:  illos  {angelos)  quidem 
per  dispensationem  in  imo  disponens  ut  et  istos  quandoque  'per 
oboedientiam'  ab  imo  ad  summa  proveheret\  darin  liegt  die 
veranlassung  für  unsem  dichter,  jene  andere  stelle  bei  Hugo 

19* 


284  TEÜBBB 

(t.  2,  260 D)  mit  hereinzuziehen:  quia  cum  homo  posimodum 
creatus  illuc  unde  Uli  ceciderunt  ductus  est,  illius  sodetatis  nu- 
merus, qui  in  cadentibus  diminutus  fuerat  (v.  68  ist  daher  zu 
beziehen),  per  hominem  reparatur  (vgl.  v.  66—75).  Hugo  fährt 
a.a.O.  fort:  etillos  per  ^ oboedientiam^  summo  confirmaret  Das 
war  wider  für  unsern  dichter  die  veranlassung  zu  v.  62ff.: 
hete  got  des  nicht  gitan,  so  het  er  den  Christen  chöre  geminneret 
sein  ere.  Denn  wie  die  menftchen  durch  *  gehorsam'  zu  gott 
geführt  werden  sollen,  so  auch  die  engel,  und  in  diesem  ge- 
horsam liegt  die  ere,  welche  der  dichter  hier  verstanden  wissen 
will.  Bei  Hugo  (t.  2, 22 C)  heisst  es  weiter:  fedt  ergo,  ut  dictum 
est,  corpus  hominis  de  limo  terrae  et  inspiravit  ei  cmimam 
rationalem  ...  ut  in  corpore  ' ohoedienter^  (dasselbe  setzt  der 
dichter  von  den  engein  voraus  v.  83:  si  enwolden  gotes  willen 
tun)  ad  consortium  illorum  spintuum  qui  sine  corpore  vivebant, 
i.  e.  angelorum,  quando  simul  cum  corpore  elevaret;  et  pariter 
utrosque  ad  participationem  gloriae  attoUeret  (v.  78  f.  daz  wir  da 
solden  immer  leben  den  engein  geleiche);  et  quantumprius  summa 
per  dispensationem  inclinavit  dum  conderet,  tantum  nunc  ima 
per  dignationem  exaltaret. 

Und  t.  2, 80,  wo  Hugo  ausführlich  auf  die  erschaff ung  der 
engel  zu  sprechen  kommt,  heisst  es:  ideo  etiam  animae  sunt 
associatae  corporibus;  ut  in  eis  domino  famulentur,  et  verum 
et  summum  bonum  promereantur  (14, 1 — 3).  Die  folgenden 
verse  14,  4 — 6  ständen  besser  und  dem  Zusammenhang  ent- 
sprechender nach  13,65.  Wenn  sie  der  dichter  erst  hier  ein- 
gefügt hat,  so  ist  ihm  wol  eingefallen,  was  Hugo  t.2,  84C 
sagt :  sciendum  quoque  est  quod  boni  angeli  ita  sunt  conßrmati 
per  gratiam,  quod  peccare  non  possunt  Darin  lag  für  unsern 
dichter  der  ganz  richtige  schluss:  4st  das  der  fall,  dann  waren 
die  engel  gott  dank  dafür  schuldig;  und  diesen  dank  konnten 
sie  nicht  besser  abstatten  als  durch  gehorsam.  Hätte  nun 
gott  den  gehorsam  von  ihnen  nicht  verlangt,  so  wäre  ihnen 
keine  gelegenheit  geboten  gewesen,  ihren  dank  abzustatten'; 
also  got  hete  wider  die  engel  gitan,  die  in  danches  wolden 
bistan. 

14, 7 — 9  sind  mit  beziehung  auf  das  was  der  dichter  früher 
gesagt  hat,  dass  die  menschen  den  obristen  chor  inne  haben 
werden,  eigentlich  der  inhalt  von  einer  stelle  bei  Hugo  1 2, 88  A: 


QUELLEN  DES  AKEGENGE.  285 

Ghegorius  etiam  dicit  quod  quisque  habet  unum  honum  angelum 
ad  custodiam  deputatum, 

Schwierigkeit  bietet  der  weitere  satz  14, 10 — 12  daz  sant 
Peter  dar  in  für,  dojs  endoucht  sant  Michhel  niht  umbiUich; 
wan  ir  ^wceier  arhceit  waren  ungelich.  Bei  Hugo  wird  t.  2, 88  A 
wol  gesagt:  unde  videtur,  quod  'MichaeV  Gabriel  Baphael  'de 
superiore  ordine  sint';  auch  wird  de  angelo  'Petri'  in  actibus 
apostolorum  (s.  88  B)  gesprochen.  Aber  eine  solche  combination, 
wie  sie  der  dichter  in  den  citierten  versen  gemacht  hat,  findet 
sich  nirgends.  Es  scheint  also  diese  stelle  wol  durch  Hugo 
veranlasst,  aber  vom  dichter  selbst  in  dieser  eigentümlichen 
weise  combiniert  zu  sein. 

14, 13 — 22.  Diese  verse  haben  für  unser  gedieht  eine 
doppelte  bedeutung:  einmal  fassen  sie  das  bisher  gesagte  zu- 
sammen, das  andere  mal  aber  leiten  sie  ganz  treffend  zu  der 
darstellung  von  der  Schöpfung  des  menschen  hinüber.  Dass 
er  mit  v.  21  als  er  den  ehor  leren  sach  unmittelbar  an  das 
vorangehende  anschliesst  und  die  erschaffung  des  menschen  in 
unmittelbaren  Zusammenhang  mit  dem  falle  und  der  verstossung 
der  bösen  engel  bringt,  werden  wir  als  ein  meisterstück  dich- 
terischer Verknüpfung  ansehen,  wenn  wir  auch  zugeben  müssen, 
dass  er  durch  Hugo  (t.  2, 260)  hat  darauf  geführt  werden 
müssen.  Dass  der  dichter,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  unmittel- 
bar an  die  Genesis  anknüpft  wie  Hugo,  aber  auch  Hugo  punkt 
für  punkt  im  folgenden  als  quelle  benutzt,  macht  es  sehr 
wahrscheinlich,  dass  dieser  jenem  hierin  Vorbild  war.  Denn 
Hugo  sagt  an  derselben  stelle,  wo  er  zur  Schöpfung  des  menschen 
übergeht  (t.  2, 91,  c.  2  de  creatione  hominis) :  his  excussis  restat 
agere  de  creatione  hominis,  de  lapsu  eins  et  de  reparatione.  In 
Genesi  didtur:  'fadamus  hominem*  und  unser  dichter:  willich- 
liehen  er  do  sprach:  einen  menschen  sul  wir  schephen, 

14,  23 — 26.*)  Hugo  t.  2,  91:  fadamus  hominem  ad  imaginem 
et  similitudinem  nostram  (Gen.  1, 26).  Aber  unser  dichter  folgt 
in  der  directen  rede  seinem  gewährsmann  Hugo  (bez.  der 
Genesis)  nur  in  den  ersten  zwei  worten,  da  erinnert  er  sich 
schon  wider  daran,  dass  er  v.  21  gesagt  hat  als  er  den  chor 


0  Hahn  schreibt  14, 24  ersetzet]  der  reim  und  der  sinn  verlangen  aber 
ersetzen. 


•  •  1 


286  TEITB^ 

leren  such,  und  gibt,  sobald  er  den  plan  gottes  einen  menschen 
zu  schaffen,  ohne  weiter  auf  dessen  eigenschaften  einzugehen, 
berichtet,  sofort  den  grund  an  warum:  einen  grund,  den  er 
eben  ganz  geschickt  von  Hugo  darauf  geführt,  hier  einflicht. 

14,  27 — 29.  Dass  v.  23  mit  der  directen  rede  begonnen, 
hat  er  nach  einschaltung  jenes  grundes  für  die  Schöpfung  des 
menschen  wider  vergessen  und  geht  in  die  erzählungsform 
über.  Dazu  stimmt  Hugo  a.a.O.:  fadamus  hominem  ad  ima- 
ginem  et  similitudinem  nostram.  Ad  imaginem  dei  factus  est 
homo  secundum  animam. 

14, 30 — 34.  Wenn  wir  v.  30  f.  der  erfindung  des  dichters 
zuschreiben,  so  tun  wir  damit  wol  nicht  unrecht.  Dagegen 
beruhen  die  weiteren  verse  auf  Hugo,  bez.  der  hl.  schrift.  Bei 
ersterem  heisst  es  (t.  2, 92A):  corpus  vero  formavit  de  limo 
terrae,  cui  animam  inspiravit  (Gen.  2, 7).  ünde  in  Genesi:  in- 
sufßavit  in  fadem  eius  spiraculum  vitae.  Wenn  der  dichter 
V.  34  dajs  er  ewic  solde  sein  sagt,  so  gibt  er  damit  den  gedanken 
wider,  den  Hugo  (t.  2,  92A)  ausspricht:  in  hoc  etiam  potest 
anim^a  ad  similitudinem  dei,  'quia  immortalis'\  denn  was  un- 
sterblich ist,  ist  auch  ewig.  Doch  scheint  der  dichter  hier 
vielmehr  die  ewigkeit  des  ganzen  menschen  (der  seele  nicht 
nur,  sondern  auch  des  leibes)  betonen  zu  wollen;  auch  dafür 
war  bei  Hugo  vorgesorgt  (t.  2, 94D):  sed  completo  oboedientiae 
numero  transferretur  ad  illum  statum,  in  quo  nee  mori  passet 
nee  peccare.    Erat  igitur  ante  peccatum  Hmmortalis' . . . 

Wie  gerne  sich  der  dichter  mit  den  subtilsten  fragen  der 
Scholastik  beschäftigt  hat,  sahen  wir  in  ganz  hervorragendem 
masse  bei  seiner  darstellung  der  drei  göttlichen  personen;  das 
folgende  ist  ein  neuer  beweis  dafür. 

14, 35 — 58.9  V-  36  ist  zugäbe  des  dichters,  womit  er  übri- 
gens ganz  geschickt  an  v.  33  f.  anknüpft;  dort  hat  er  von  der 
seele  gesprochen,  mit  den  fumf  sinnen  charakterisiert  er  ganz 
gut  den  sterblichen  teil  des  menschen.*)    In  v.  36  widerholt 

^)  Nach  14,37  fehlt  ein  reim  und  ein  nachsatz.  Es  dürfte  wol  das 
richtige  sein  zu  schreiben  wan  daz  er  gerne  toste,  swes  er  in  hoste.  V.  43 
lies  dlrerste  für  Hahns  cUre  ste, 

')  Möglich  wäre  es  freilich,  dass  er  Angastinus  (De  Genesi  ad  lit. 
lib.  3,  c.  4,  no.  67,  t.  8^,  281  f.)  gekannt  hat,  der  sich  ex  professo  nut  den 
fünf  sinnen  beschäftigt. 


QUELLEN  DES  AKEGENGE.  287 

er,  was  er  bereits  13, 60  f.  gesagt  und  aus  Hugo  1 2, 95  genommen 
hat.  Von  v.  38—58  schliesst  sich  der  dichter  an  eine  stelle  bei 
Hugo  an,  die  er  etwas  breitspurig,  aber  inhaltsgetreu  widergibt. 
Es  heisst  dort  (t.  2, 94C):  Mit  deushominem,  et  posuit  in  pa- 
radisum  voluptatis  (Gen.  2,  8).  Quibus  verbis  plane  ostendit 
Moyses,  quod  extra  para4isum  creatris  sit,  et  postmodum  in 
pa/radisum  positus,  Quod  ideo  factum  dicitur,  quia  non  erat 
in  eo  permansuruSy  vel  ne  benefidum  dei  imputaret  naturae, 
sed  gratiae. 

Wenn  der  dichter  v.  57  f.  sagt  des  wcer  mr  doch  verlorn, 
het  Adam  daz  obez  gar  verborn,  so  ist  das  ein  einfacher  schluss 
aus  den  letzten  worten  Hugos:  *  hätte  der  mensch  die  woltat 
gottes  seiner  eigenen  natur  zugeschrieben,  so  hätte  er  ebenso 
gesündigt,  als  wie  er  dadurch  sündigte,  dass  er  von  dem  ver- 
botenen bäume  ass;  aber  seine  nachkommenschaft  hätte  er  in 
jedem  falle  in  sein  verderben  mit  hineingezogen'.  Alles  was 
der  dichter  hier  sagt,  steht  in  der  Genesis.  In  v.  59 — 62  hat 
der  dichter  die  zwei  verse  Gen.  1,  28.  29  zusammengefasst: 
benedixit  que  Ulis  deus  et  ait:  cresdte  et  multiplicamini  et 
replete  terram  et  ^suhicite*  eam  et  'dominamini*  pisdbus  maris 
et  volatilibus  coeli  et  universis  animantibus,  quae  moventur 
super  terram  (was  hier  aufgezählt  ist,  hat  der  dichter  in  den 
V.  61  zusammengefasst:  alles  des  ufder  erde  ist).  Dazu  kommt 
Gen.  2,  19:  formatis  igitur  dominum  deus  de  humo  cunctis 
animantibus  terrae  et  universis  volatilibus  coeli,  'adduxit  ea 
ad  Adam*  ('zceigt  imz%  ut  videret,  quid  vocaret  ea.  In  v.  63  ff. 
geht  er  im  anschluss  an  Gen.  2, 16  ff.  in  die  directe  rede  über 
und  benutzt  die  citierte  stelle  fast  wörtlich;  dort  heisst  es 
(Gen.  2, 16  f.):  praecepitque  ei  dicens:  ex  ligno  autem  scientiae 
boni  et  mali  ne  comedas;  in  qtmcumque  enim  die  comederis  ex 
eo,  morte  morieris, 

14,68 — 15,1.  Hugo  spricht  über  die  hier  vorgebrachten 
dinge  an  mehreren  stellen  (t.  2, 23  ff.  93  ff.  281  f.).  Mit  v.  68 
knüpft  der  dichter  ganz  gut  an  das  vorausgehende  an,  und 
zwar  wie  mir  scheint,  ganz  selbständig,  während  er  in  v.  69  f. 
an  folgende  stelle  Hugos  anknüpft,  die  er  allerdings  nur  dem 
inhalte  nach  widergibt.  Hugo  sagt  nämlich  (t.  2, 95D):  sicut 
enim  duae  naturale  sunt  in  homine,  corporalis  et  spiritualis; 
ita  duo  bona  homini  praeparaverat  deus,  temporale  et  aetemum 


288  TEÜBEB 

. . .  temporale  prius  datum  fuit  Alterum,  i.  e,  aetemum,  non 
tunc  datum,  sed  propositum  fuit  Die  verse  71 — 77  sind  in 
der  einkleidung,  wie  sie  unser  dichter  gibt,  selbständige  erfin- 
dung.  14, 78  — 15, 1  beruhen  wider  auf  Hugo,  t.  2, 282  C:  prop- 
terea  hominem  ad  experiendam  experientiam  mandato  informans 
multa  concessit  et  'poMca  prohibuit*  {'mit  dem  wenigem  gebof), 
ut  ipsa  ohoedientia  esset  libera,  et  quas  prohibuit  iddrco  potius 
prohibuit  quam  praecepit,  ut  oboedientia  ipsa  esset  pura.  De 
omni,  inquit,  paradisi  ligno  comede  etc,  Si  ergo  homo  in  hac 
oboedientia  perstitisset,  post  tempus  deßnitum  a  deo  ad  illud 
bonum  quod  ei  in  coelis  praeparatum  fuerat  sine  mortis  dolore 
transferri  debuisset  cum  omni  prole  sua  post  ipsum  subsequente 
in  consortio  bonorum  angelorum  vita  coelesti  sine  fine  victurus. 
In  V.  82  erinnert  sich  der  dichter  wider  daran,  was  er  im 
früheren,  auf  Hugo  t.  2, 87  gestützt,  gesagt  hat:  et  ille  dedmus 
ordo  ...de  hominibus  restauraiur, 

15, 2 — 38.  Was  der  dichter  hier  sagt,  hat  er  grösstenteils 
bei  Hugo  gefunden.  V.  2—17  stimmen  wol  inhaltlich  mit  fol- 
gender stelle  bei  Hugo  überein  (t.  2, 23):  si  igitur  homo  per 
naturale  praeceptum  imbutus  negligentiam  cavisset  divina  Pro- 
videntia nulla  eum  violentia  opprimi  permitteret  (der  dichter 
schliesst:  'nun  hat  er  es  aber  übertreten,  was  gott  voraus 
wusste,  also  violentia  opprimi  permissus  est,  v.  5 — 7.  14 — 16). 
Aber  eine  stelle,  welche  sich  bei  Augustinus,  De  Gen.  ad  lit., 
lib.ll,  C.4,  no.6,  tS\  431  f.  vorfindet,  spielt  hier  mit  herein;  sie 
muss  der  dichter  gekannt  haben.  Dort  heisst  es:  si  ergo  quue- 
ritur,  cur  deus  tentari  permiserit  hominem,  quem  tentatori  con- 
sensurum  esse  praesciebat;  altitudinem  quidem  consilii  eius 
penetrare  non  possumus  . . .  sed  tamen  quantum  vel  donat 
sapere,  vel  sinit  dicere,  'non  mihi  videtur  magnae  laudis  futurum 
fuisse  hominem,  —  si  propterea  posset  bene  vivere,  quia  nemo 
male  vivere  suaderef  (v.  12 — 17).  V.  18—20  widerholt  der 
dichter  dasselbe,  was  er  bereits  14, 78 — 82  und  15, 1  gesagt 
hatte.  Für  15,  8 — 27  ist  auch  Hugo,  t.  2, 24D  heranzuziehen: 
quomodo  praevaricatus  est  homo?  M.:  videns  diabolus,  quod 
homo  per  obedientiam  illuc  ascenderet  (v.  18 — 20),  unde  ipse 
per  superbiam  ceciderat  (v.21f.),  invidit  ei,  et  quia  per  violentiam 
ei  nocere  non  poterat,  ad  fraudem  se  convertit  (v.  23 — 25).  Ne 
OMtem  fraus  illius,  si  minus  ocmlta/retur^  cßveri  omnino  non 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  289 

posset,  non  permissus  est  per  aliud  animal  tentare  nisi  per 
serpentem,  ut  naturalis  astutia  serpentis  proderet  tentatoris  {^oh 
wir  in  wider sten  walten'  ...)-0  Weiter  sagt  Hugo  t. 2, 25A: 
propterea  diaholus  veniam  non  meruit,  quia  nulla  tentatione 
peccavit  (v.  34 — 38) ;  homo  vero  qui  exteriori  tentatione  pulsatus 
ceddit,  tanto  gravius  plectendus  erat,  quanto  leviori  impulsus 
fuerat  prostratus.  Et  tarnen,  quia  aliquam  in  cadendo,  ut  ita 
dicam,  violentiam  sensit  (v.  29 — 31);  dagegen  sind  v.  32  f.  eine 
consequenz  aus  dem  satze  Hugos  diaholus  veniam  . . .  tentatione 
peccavit^),  iddrco  hunc  tandem  dei  gratia  ad  veniam  erexit 
(v.  26—28).  Wir  sehen,  unser  dichter  hat  die  gedanken  welche 
sich  in  den  citierten  stellen  vorfinden,  sämmtlich  verwertet, 
aber  selbständig,  und  man  muss  sagen,  geschickt  umgestellt 
und  verarbeitet. 

Was  die  folgende  darstellung  über  die  Schöpfung  des 
ersten  weibes  anbelangt,  so  findet  sich  davon  bei  Hugo  (t.  2, 
92  ff.)  genugsam  gehandelt;  er  stellt  aber  die  sache  mehr 
philosophisch -theologisch  dar.  Das  mochte  dem  Verfasser  des 
Anegenge  nicht  anstehen  (obwol  auch  er  solche  theologisch- 
philosophische bemerkungen  nicht  unterlässt),  weshalb  er  es 
vorzog,  sich  zunächst  an  den  schlichten  und  einfachen  histo- 
rischen bericht  der  Genesis  zu  halten.  Dass  ihm  Hugo  aber 
hierin  führer  gewesen  ist,  beweist  uns  der  umstand,  dass  er 
die  einzelnen  teile  seiner  darstellung  fast  in  derselben  reihen- 
folge  anordnet  wie  Hugo. 

15, 39 — 45.  Dazu  stimmt  Gen.  2, 19:  formatis  igitur  dominus 
deus  de  humo  cunctis  animantibus  terrae  et  universis  volatilihus 
coeli,  adduxit  ea  ad  Adam,  ut  videret,  quid  vocaret  ea.  Diese 
stelle  ist  ihrem  Inhalte  nach  in  v.  39 — 41  widergegeben,  und 
daran  Gen.  2, 20  ganz  geschickt  verknüpft:  . . .  Ädae  vero  non 
inveniebatur  adiutor  similis  eius, 

15,  47 — 50  stimmen  fast  wörtlich  mit  Gen.  2, 21 :  immisit 
ergo  dominus  deus  soporem  in  Adam ...  22  Et  aedificavit  do- 
minus deus  costam  quam  tulerat  de  Adam  in  mulierem  . . . 
24  ...  et  erunt  duo  in  carne  una, 

15, 51 — 53  sind  eine  recht  naive  zugäbe  des  dichters,  der 
sich  in  die  läge  Adams  hineinzudenken  versucht. 


*)  Diese  ansieht  hat  Hugo  fast  wörtlich  aus  Augnstinus,  De  Gen.  ad 
Ut.  üb.  11,  C.3,  no.5,  t»  3^431  berübergenommen. 


290  TBtJBBR 

Zu  15,  54 — 59  benutzte  der  dichter  Gen.  2,  23:  dixitque 
Adam  :  hoc  nunc  os  ex  ossibus  meis,  et  caro  de  came  mea 
(v.  56  f.).  In  V.  59  anticipiert  er,  was  erst  später  wäre  zu 
sagen  gewesen,  Gen.  3, 20 :  et  vocavit  Adam  nomen  itxoris  sutie 
Heva,  Wo  Adam  die  vom  dichter  ihm  in  den  mund  gelegten 
Worte  spricht,  nennt  er  sein  weih  virago\  Heva  heisst  sie  erst 
nach  dem  Sündenfalle.  Wenn  der  dichter  v.  58  sagt:  ungerne 
was  ich  (Bine,  so  hat  er  dabei  Gen.  2, 18  non  est  bonum  esse 
hominem  solum  vor  äugen  und  legt  diese  worte  gottes  dem 
Adam  in  den  mund. 

Bei  15,  60 — 62  hat  der  dichter  1.  Tim.  2, 14  vor  äugen:  et 
Adam  non  est  seductus:  mulier  autem  seducta  in  praevarica- 
tione  fuit. 

15, 63 — 75.  Derjenige  welchen  der  dichter  in  v.  65  meint, 
ist  niemand  anders  als  Beda  Venerabilis,  der  in  der  tat  in 
seinem  Hexaemeron  (Migne  t.  91)  zu  Gen.  5, 1. 2  ganz  dasselbe 
bemerkt.  Was  unser  dichter  in  der  citierten  stelle  als  eine 
Sache  angibt  (da^  git  dirre  rede  einen  michel  archwän),  die 
man  bezweifeln  könnte,  ist  natürlich  die  ansieht,  die  er 
15,39 — 62  ausgesprochen  hat.  Dort  heisst  es:  Adamvero  ita, 
ut  utrique  sexui  possit  aptari,  unde  rede  dicitur :  quia  vocavit 
nomina  eorum  Adam,  i.  e.  homo.  Quod  autem  dicit:  et  vocavit 
nomina  eorum  Adam,  et  addidit:  in  die,  quo  creati  sunt,  patenter 
insinuit  quod  uno  eodemque  die,  i  e.  sexto  mundi  nascentis, 
Adam  et  Eva  facti  sunt,  et  non  uxor  de  latere  eius  post  sexium 
aut  post  septimum  diem  seorsum  creata.  Das  ist  es  was  der 
dichter  v.  70  f.  zunächst  als  tadelnswert  hervorhebt.  Auch  das 
was  er  in  v.  72  f.  sagt,  bezieht  sich  auf  Beda.  A.  a.  o.  sagt  er: 
in  qua  videlicet  sententia  vitanda  est  paupertas  sensus  carnaUs, 
ne  forte  putemus  deum  vel  manibus  corporeis  de  limo  formasse 
corpus  hominis,  vel  faucibus  labiisve  inspirasse  in  fadem,  ut 
vivere  posset  et  spiraculum  vitae  habere. 

Mit  15,76 — 16,2  geht  der  dichter  zur  Widerlegung  jener 
ansieht  und  zur  bekräftigung  seiner  eigenen  über.  Er  beruft 
sich  mit  v.  77  unverkennbar  auf  die  autorität  der  hl.  schrift, 
wol  wissend,  dass  dieser  nicht  so  leicht  zu  widersprechen  ist. 
In  V.  79  f.  bezieht  er  sich  auf  die  schon  citierte  stelle  aus 
Gen.  2, 21  f.  et  aedificavit  dominus  deus  costam,  quam  tulerat 
de  Adam,  in  mulierem.    In  den  versen  15,  81—83  und  16, 1  i 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  291 

schweben  ihm  Gen.  2,  20.  23.  3,  20  vor.  Gen.  2,  20  heisst  es: 
appellavitque  Adam  nominibus  suis  cuncta  animcmtia  et  universa 
volatüia  coeli  et  onrnes  hestias  terrae;  2, 23  haec  vocahitur  vi- 
rago;  3, 20  et  vocavit  Adam  nomen  uxoris  suae  Heva, 

16, 3 — 18.1)  Der  dichter  beruft  sich  in  v.  3—7  auf  schul- 
meinungen  seiner  zeit  und  speciell  in  v.  7  auf  seinen  lehrer. 
Die  stelle  hat  aber  zugleich  den  zweck,  jene  oben  aus  Beda 
entnommene  ansieht  zu  widerlegen.  Und  merkwürdig,  wenn 
auch  nicht  dem  Wortlaute,  so  doch  der  sache  nach,  dieselbe 
Widerlegung  findet  sich  ebenfalls  bei  Beda,  Hexaemeron  s.  42: 
Mc  itaque  latiüs  hominis  factura  describitur,  qui  in  die  quidem 
sexto  facttts  est;  sed  ibi^)  breviter  eins  est  commemorata  creatio, 
quae  hie  plenius  exponitur,  quia  videlicet  in  corporis  et  animae 
substantiam  factus  sit,  e  quibus  corpus  de  limo  terrae  formatum, 
anima  vero  de  nihilo  sit  deo  inspirante  creata,  sed  et  femina 
de  eius  latere  dormientis  condita.  Wenn  nun  der  dichter  Beda 
selbst  gelesen  hätte,  so  hätte  es  ihm  wol  nicht  einfallen  können, 
gegen  jene  stelle  zu  polemisieren;  er  hat  sie  also  in  der  schule 
gehört  und  ist  schlecht  berichtet  worden;  denn  diese  und  die 
oben  citierte  stelle  zusammengehalten  ergänzen  einander  sehr 
gut  und  stehen  mit  der  hl.  schrift  keineswegs  im  Widerspruch. 

Dass  sich  überhaupt  eine  solche  schulmeinung  bilden  konnte 
ist  begreiflich;  denn  man  fasste  die  Schöpfung  der  erde  mit  den 
unvernünftigen  wesen  als  einen  schöpfungsact  für  sich  auf. 
Die  Schöpfung  des  mannes  war  dann  natürlich  ein  zweiter, 
die  erschaffung  des  weibes  ein  dritter  schöpfungsact.  Falls 
also  der  dichter,  was  sich  ja  weder  bejahen  noch  verneinen 
lässt,  jene  zweite  stelle  aus  Beda  nicht  gelesen  oder  gehört 
hätte,  so  ist  für  diese  schulmeinung  eine  andere  erklärung, 
die  viel  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat,  möglich.  In  der  Genesis 
wird  c.  1  summarisch  die  Schöpfung  der  weit  und  aller  unver- 
nünftigen wesen  auf  und  über  ihr  erzählt.  In  c.  2  wird  die  Schö- 
pfung des  menschen  und  dessen  Stellung  zu  den  übrigen  dingen 
getrennt  von  der  übrigen  Schöpfung,  welche  als  bereits  fertig 
gekennzeichnet  wird,  berichtet.    Und  nachdem  die  Stellung  des 


0  16, 12  schreibt  Hahn  tms,  was  offenbar  falsch  ist.    Der  sinn  ver- 
langt uz, 

»)  Gen.  5, 1. 8. 


292  TBUBEB 

menschen  als  beherscher  der  weit  dargetan  ist,  heisst  es  weiter 
2,20:  Adae  vero  non  inveniebatur  adiutor  similis  eius.  Und 
nun  wird  von  v.  21  an  die  Schöpfung  des  weibes  erzählt  Diese 
in  der  bibel  ganz  unverkennbare  trennung  der  genannten  drei 
schöpfungsacte  und  deren  aufeinanderfolge:  weit,  mann,  weib, 
konnte  eine  ansieht,  wie  sie  der  dichter  bringt,  ganz  leicht 
erzeugen.  In  der  älteren  patristik  ist  sie  nicht  belegt.  Uebri- 
gens  entspricht  ja  v.  9 — 11  Gen.  1, 1  in  principio  creavit  deus 
coelum  et  terram,  v.  12  aber  Gen.  2,  7  formavit  igitur  dominus 
deus  hominem  de  limo  terrae,  V.  13  f.  sind  die  consequenz  aus 
dem  vorhergehenden;  die  ^erde'  und  der  ^mann'  sind  eben 
zwmi  geschefte,  und  *Eva'  natürlich  das  dritte  geschöpf.  V.  15  f. 
steht  parallel  zu  Gen.  2, 21  f.  tulit  unam  de  costis  eius  . . . ;  et 
aedificavit  dominus  deus  costam,  quam  tulerat  de  Adam,  in 
mulier em,  V.  17  f.  entspricht  dagegen  Gen.  2, 23  haec  vocabitur 
virago,  quia  de  viro  sumpta  est.  Unter  dem  buch  kann  der 
dichter  nur  die  Genesis  meinen. 

16, 20 — 30.  Hier  kommt  der  dichter  wider  auf  den  in  dem 
früheren  so  oft  benutzten  Hugo  zurück,  der  t.  2, 96  sagt:  videns 
ergo  diaholus,  quod  homo  per  oboedientiam  illuc  ascenderet, 
unde  iste  per  superbiam  ceciderat,  invidit  ei  (v.  20 — 23).  Unde 
et  mulierem  tentavit,  in  qua  minus  quam  in  viro  rationem 
vigere  sdebat  Und  t.  2, 25:  diabolus,  quia  vidit  mulierem  infir- 
miorem  et  minus  ratione  egentem,  faxMius  fraude  eam  circum- 
veniri  posse,  primum  eam  aggressus  est . . ,  Diese  letzten  worte 
und  der  umstand,  dass  in  der  Genesis  (2, 21  ff.)  bei  der  erschaf- 
fung  des  weibes  nichts  davon  geredet  wird,  dass  sie  nach  dem 
ebenbilde  gottes  geschaffen  worden  sei  (erst  Gen.  5, 12  wird 
davon  gesprochen),  mögen  den  dichter  zu  v.  25 — 30  veranlasst 
haben.») 

16, 31—37.  In  V.  31  f.  ist  die  oben  citierte  stelle  von 
Hugo  benutzt.  Die  übrigen  verse  (33 — 37)  sind  wol  mehr  oder 
weniger  theologische  Spitzfindigkeit,  die  wol  eine  stelle  bei 
Hugo  (t.  2,  98B)  veranlasst  haben  könnte:  ignorantia  peccavit 
Eva,  Der  dichter  könnte  dabei  an  die  ignorantia  des  gebotes 
gottes  gedacht  haben.    Aber  die  erklärung  welche  Hugo  dazu 


*)  Möglich,  dass  die  steUe  bei  Ambroslus  (femina  non  est  facta  ad 
imaginem  det)  hier  ihren  einfluss  geltend  gemacht  hat. 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  293 

gibt:  quia,  ut  ait  apostolus,  seduda  fuit,  scheint  dem  zu  wider- 
sprechen; denn  diese  erklärung  hätte  unsern  dichter  und  uns 
selbst  nicht  auf  jenen  gedanken  führen  können.  Der  dichter 
gieng  bei  dieser  stelle  vielmehr,  wie  sich  bald  zeigen  wird, 
auf  die  hauptsächlichste  quelle  Hugos,  Augustinus,  zurück. 
Dieser  handelt  über  diesen  punkt  in  seinem  werke  De  Genesi 
ad  literam  (lib.8,  c.l7,  no.36,  t.  3^  387)  wo  er  sagt:  merito  sane 
quaeritur,  utrum  hoc  praeceptum  viro  tantum  dederit  deus,  an 
etiam  feminae?  Sed  nondum  narratum  est,  quemadmodum 
facta  Sit  femina,  Augustinus  entscheidet  die  sache  nicht  ganz, 
sondern  schliesst  mit  der  frage:  an  sdens  quod  ei  facturus 
erat  mulierem,  ita  praecepit  ordinatissime,  ut  per  virum  prae- 
ceptum domini  ad  feminam  perveniret?  Diese  stelle  hat  unser 
dichter  sicher  gekannt.  Freilich  muss  man  sagen,  dass  die 
behauptung,  das  weib  habe  das  gebot  nicht  vernommen.  Gen. 
3, 3,  ganz  entschieden  widerspricht,  wenn  dort  gesagt  wird: 
de  fructu  vero  ligni  quod  est  in  medio  paradisi,  praecepit  nohis 
deus,  ne  comederemus, 

16,38 — 50.1)  Die  stelle  ist,  wie  sie  liegt,  ihrem  ganzen 
Inhalte  nach  —  auch  die  polemischen  seitenhiebe  nicht  aus- 
genommen —  aus  Ambrosius  herübergenommen.  Derselbe  be- 
schäftigt sich  mit  der  frage,  ob  der  teufel  im  paradiese  war 
oder  nicht,  ganz  eingehend  in  seinem  werke  De  paradiso  (c.  2, 
no.  9,  Migne  1. 14, 278).  Dort  heisst  es  auch:  deinde  serpentem 
in  paradiso  invenis,  utique  non  sine  dei  voluntate  generatum. 
In  serpentis  autem  figura  didbolus  est  Fuisse  enim  diabolum 
in  paradiso  etiam  Ezechiel  propheta  docet  (Ez.  28, 13).  Ibid. 
no.  10:  itaque  neque  duhitandum  neque  reprehendendum,  quod 
in  paradiso  diabolum  non  fuisse  . . .  secundum  suam  accipiant 
voluntatem  interpretationem  istius  lectionis.  Vergleicht  man 
diese  stelle  des  Ambrosius  mit  jener  des  Anegenge,  so  sieht 
man  vor  allem  andern,  dass  es  nur  mehr  gelehrter  anstrich 
ist,  wenn  es  sagt:  nu  sten  ich  an  einem  dinge,  da^  ich  enwcei/s 
wie  ich  für  bringe  einen  streit  ^e  einer  warhceit  Wir  ver- 
stehen auch,  wer  die  phaffen  sind,  denen  es  leid  ist,  wenn 
jemand  behauptet,  dass  der  teufel  im  paradise  gewesen  sei. 


^)  Der  smn  von  16, 38 ff.  kann  nur  der  sein:  'ich  weiss  nicht,  wie  ich 
diese  Streitsache  richtig  steUen  soU'. 


294  TEÜBBB 

Es  sind  dieselben,  die  Ambrosius  im  äuge  hat,  wenn  er  sagt: 
plerique  tarnen,  qui  volunt  in  paradiso  diaholum  non  fuisse . . . ; 
wenn  man  auch  nicht  wird  leugnen  können,  dass  jene  leute, 
welche  Ambrosius  meint,  auch  zu  lebzeiten  unsers  dichters 
ihre  nachf olger  hatten.  Und  wenn  er  sagt:  die  nu  sein  so 
Mchweise,  die  Widerreden  ez,  ob  si  megen,  so  klingt  es  ganz  so 
wie  bei  Ambrosius,  der  sagt:  secundum  suam  acdpiant  vohm- 
tatem  interpretationem  istim  lectionis.  Sein  mceister,  auf  den 
er  sich  in  v.  47  beruft,  hat  ihm  die  ganz  richtige  ansieht  bei- 
gebracht, eine  ansieht  die  wir  zunächst  auch  bei  Hugo  finden 
(t.  2, 96A),  der  aber  seinerseits  wider  auf  Augustinus  (De  Ge- 
nesi  ad  lit.  lib.  11,  c.  27,  no.  34,  t.  3*,  443)  fusst,  wo  es  heisst: 
non  est  permissus  (sc.  didbolus)  tentare  feminam  nisi  per  ser- 
pentem  (v.48 — 50). 

16, 51—57.  V.  51  f.  ist  auf  die  bereits  citierte  stelle  des 
Augustinus  zurückzuführen,  der  ebendort  sagt:  sed  in  serpente 
ipse  (sc.  diaboltis)  locutus  est  Auch  Hugo  spricht  ähnlich, 
aber  nicht  so  deutlich  (t.  2, 96B):  hoc  modo  tentatio  facta  est 
Primum  interrogatione  (was  wol  das  sprechen  voraussetzt) 
aggressus  est  ...  Cur  non  comeditis  de  ligno  sdentiae  boni  et 
mali?  Ad  quem  mulier:  ne  forte  moriamur.  Unser  dichter 
stimmt  aber  nicht  so  sehr  mit  Hugo,  als  vielmehr  mit  der  hL 
Schrift  überein;  denn  Gen.  3,1 — 3  heisst  es:  qui  dixit:  cur 
praecepit  vobis  deus,  ut  non  commederetis  de  omni  ligno  para- 
disi  (zu  V. 52 — 54).  . . .  Cui  respondit  mulier  , ,.  de  fructu  vero 
ligni,  quod  est  in  medio  paradisi,  praecepit  nobis  deus,  ne  com- 
ederemus  (zu  v.  55 — 57).  Nun  kommt  der  dichter  wider  auf 
das  zurück,  was  er  schon  16, 35  f.  ausgesprochen  hatte,  nämlich 
dass  Eva  von  dem  geböte  nichts  gewusst  haben  könnte. 

16, 58—73.  V.  58—62  beziehen  sich  auf  16,  v.  35  fi  und 
widerholen  eigentlich  das  dort  gesagte.  Der  dichter  scheint 
verlegen  zu  sein  und  einen  ausweg  aus  der  Schwierigkeit,  in 
die  er  sich  16, 35  ff.  hineingewagt,  zu  suchen.  Allein  es  stellt 
sich  heraus,  dass  für  die  ganze  stelle  Hugo  von  St.  Victor  dem 
dichter  als  quelle  diente.  Dadurch  erscheinen  jene  verse  nicht 
mehr  als  ein  ausfluss  selbständigen  denkens  und  forschens, 
sondern  lediglich  als  gelehrter  und  poetischer  aufputz.  Bei 
Hugo  t.  2, 288  f.  (c.5)  heisst  es  nämlich:  sane  hie  cormderandum, 
quod  non  quemadmodum  superiu^s  videtur  soli  viro  praecq^tum 


QUELLEN  DES  AKEGENaE.  295 

datum  Sit  (wie  genau  stimmt  doch  das  zu  v.  58 — 62).  Ipsa 
enim  mulier  hie  testatur  (zu  v.  55 — 57  passt  das  ebenso  wie 
zu  V.  63  f.)  siii  quoque  mandatum,  ut  lignum  scientiae  honi  et 
mali  non  tangeret  (^unt  daz  si  sich  selbe  an  not  hat  doch  so 
vaste  an  gezogen').  Sdlicet  voluit  scriptura  ostendere,  quod 
mulier,  quae  viro  subiecta  fuit,  divinum  mandatum  non  nisi 
mediante  viro  acdpere  dehuit,  ut  sermo  dei  primum  quasi  im- 
mediale  ad  virum  fieret,  deinde  mediante  viro  ad  mulierem 
quoque  (^ir  möcht  ez  der  man  haben  gesagt')  quae  subjecta 
viro  fuit  et  consüio  viri  instituenda  pervenirel.  In  v.  73  ist 
Gen.  2, 24  benutzt:  et  erunt  duo  in  carne  una. 

16,74 — 79.*)  Veranlasst  sind  diese  verse  wol  durch  Hugo 
(t.  2, 287  C):  venit  ergo  ad  hominem  in  serpente  'callidus'  hostis; 
(s.  288C)  nequaqu^am  amtem  diäbolus  cor  am  mulier  e  verba  dei 
negare  praesumpsisset,  si  non  prius  ipsam  mulierem  dubitantem 
invenisset.  Und  noch  deutlicher  spricht  Hugo  t.  2, 97:  audiens 
enim  mulier:  eritis  sicut  di%  'elata  est  in  superbiam'  (^daz  ir 
herce  was  böse').  Ebenso  t.  2, 96B:  in  quo  verbo  dedit  locum 
tentanti  cum  dixit:  'ne  forte'  {'daz  er  wol  horte  an  dem  ir  gi- 
chöse).  Nicht  zu  übersehen  ist  eine  diesbezügliche  stelle  bei 
Augustinus,  auf  welcher  Hugo  fusst.  Dort  heisst  es  (De  Gen. 
ad  lit.  lib.  11,  c.  30,  no.  38,  t.  3^,  445):  ideo  prius  interrogavit 
serpens  et  respondit  hoc  mulier  (das  ist  das  gichöse,  wie  es 
der  dichter  etwas  derb  nennt),  ut  praevaricatio  esset  inex- 
cusabilis, 

16,80 — 17,6.  Mit  V.  81  steht  der  dichter  im  Widerspruche 
mit  der  bibel ;  denn  Gen.  3, 1  ff.  spricht  der  teufel  nur  zu  dem 
weibe  allein.  Wenn  aber  der  dichter  einmal  v.  81  schrieb: 
dir  unt  deinem  m^xnne,  wobei  er  also  annimmt,  dass  die  schlänge 
zu  beiden  gesprochen,  so  hätte  er  in  17,2  auch  den  plural 
beibehalten  und  er  verbot  ez  iu  umbe  daz  u.s.w.  schreiben 
sollen.  Die  stelle  selbst  beruht  auf  Gen.  3, 4  f.,  wo  fast  die- 
selben Worte  stehen:  diadt  serpens  ad  mulierem:  nequaquam 
morte  moriemini.  Seit  enim  deus,  quod  in  quocunque  die  com- 
ederitis  ex  eo,  aperientur  oculi  vestri  (et  eritis  sicut  dii\ 
sdentes  bonum  et  malum,    16, 80  beruht  auf  der  bereits  aus 


*)  Hahn  schreibt  16, 76  tote,  was  offenbar  in  der  hs.  verschrieben  war. 
Es  kann  nur  wtp  heissen. 


296  TEUBER 

Augustinus  (lib.  2,  c.  27,  s.  443)  citierten  stelle:  non  est  per- 
missus  (sc.  diaholus)  tentare  feminam  nisi  per  serpentem  . . . 
'sed  in  serpente  ipse  locutiis  est\ 

17,  7 — 13.  Auch  diese  stelle  ist  dem  inhalte  nach  aus 
Hugo  entnommen.  T.  2, 288  sagt  er:  quae  ergo  dubitavit  ah 
afßrmante  (deo)  recessit,  et  neganti  (diäbolo)  appropinquavit 
Ipsa  igitur  secundum  aliquid  inchoavit  malitiam,  quae  tenta- 
toris  iniqui persuasionis  dedit  audadam.  Dazukommt  t.2,290D: 
et  ideirco  non  solum  inordinate  similitudinem  dei  cum  sdentia 
honi  et  mali  appetiit  {'michel  wunder  sei  des  nam,  was  da^  übel 
woere') . . .  Voluntaria  ergo  malitia  se  contra  creatorem  suum 
ereodt.^)  17, 11 — 13  sind  eine  consequenz,  die  der  dichter  aus 
dem  letzten  satze  Hugos  zieht. 

17, 14 — 18  sind  eine  widerholung  des  bereits  16,  55 — 57 
gesagten,  nur  in  etwas  anderer  einkleidung.  Die  quelle  dazu 
ist  Gen.  3, 2  f.:  cui  respondit  mulier:  de  fructu  vero  ligni  . . . 
praecepit  deus,  ne  comederemus,  et  ne  tangeremus  illud,  ne  forte 
moriamur. 

Ebenfalls  eine  widerholung  des  schon  17, 1  ff.  gesagten  ist 
17,19 — 26.  Dazu  stimmt  Gen.  3, 41:  nequaquam  {'da0  la  dir 
sein  ummcere')  morte  moriemini.  Sdt  enim  deus,  quod  in  quo- 
cunque  die  comederitis  ex  eo,  aperientur  oculi  vestri,  et  eritis 
sicut  dii  sdentes  honum  et  malum.  V.  26  fasst  der  dichter 
unter  dem  ausdruck  elliu  dinc  das  ionum  et  malum  der  bibel 
zusammen. 

17, 27 — 29.  Während  in  der  Genesis  der  teufel  nur  dem 
weibe  rät,  das  obst  zu  essen,  so  lässt  unser  dichter  die  schlänge 
in  weiterer  activität,  indem  sie  Eva  noch  zum  bäume  der  er- 
kenntnis  lockt  und  sie  von  der  frucht  nehmen  heisst.  Die 
stelle  selbst  stimmt  daher  wol  in  der  sache,  aber  nicht  im 
Wortlaute  mit  Gen.  3,  6:  vidit  igitur  mulier,  quod  honum  esset 
lignum  ad  vescendum  et  pulchrum  oculis  aspectuque  delectdbile: 
et  tulit  de  fructu  illius  et  comedit, 

17, 30—45.  Gerade  so  wie  Hugo  (t.  2, 97  f.  und  289  ff.)  sich 
ganz  besonders  mit  dem  ersten  weibe  und  dessen  falle  beschäf- 
tigt, so  auch  unser  dichter.    Aber  nicht  Hugo  allein  ist  es, 

0  T.  2, 290:  nam  cum  amore  permissionis  prius  mens  strdta  *flecteretur' 
=  des  weibes  geüoser  müt  sich  sa  'wandelen^  bigan. 


QUELLEN  DER  ANEGENGE.  297 

welcher  ihm  den  stoff  für  diese  stelle  lieferte.  Zunächst  kommt 
die  hl.  Schrift  in  betracht,  denn  an  diese  knüpft  der  dichter 
mit  V.  30  zuerst  an.  Gen.  3,  6  f.  heisst  es:  et  tulit  de  fructu 
illius  et  comedit  Et  aperti  sunt  oculi  amborum:  cumque  co- 
gnovissent  se  esse  nudos,  consuerunt  folia  ficus,  et  fecerunt  sibi 
perizomata  (v.  32 — 34  nudos).  Für  v.  37 — 45  ist  Hugo  (t.  2, 
290  D)  heranzuziehen.  Dieser  sagt  übereinstimmend  mit  unserm 
dichter:  et  iddrco  non  solum  inordinate  simüitudinem  dei  ... 
appetiit,  sed  in  tantam  prolapsa  perversitatem  verisimiliter 
putatur,  ut  deum  ex  invidia  lignum  sdentiae  honi  et  mali  ho- 
mini  vetuisse  crederet,  ne  ipse  homo  ex  eo  gustando  ad  aequor 
litatem  ipsius  proficere  potuisset,  Voluntaria  ergo  malitia  se 
contra  creatorem  suum  erexit  Weiter  t.  2, 98A:  mulier  quoque 
peccavit  in  deum  et  proximum . . .  Item  mulier  magis  punita 
fuit,  cui  dictum  est:  in  dolore  paries  filios  (Gen.  3, 16),  unde 
apparet  quod  plus  peccavit.  In  v.  45  scheint  sich  der  dichter 
auf  Eom.  5, 12  zu  beziehen:  propterea  sicut  per  unum  hominem 
peccatum  in  hunc  mundum  intravit,  et  per  peccatum  mors,  et 
'ita  in  omnes  homines  mors  pertransiit',  in  quo  omnes  pecca- 
verunt, 

17, 46 — 71.  Hugo  hat  von  dem  was  unser  dichter  in  diesen 
versen  sagt,  nichts.  Möglich  allerdings  ist  es,  dass  ihn  eine 
stelle  bei  Hugo  (t.  2,291  A)  veranlasst  hat  nach  dem  gründe 
zu  fragen,  warum  Eva  den  Adam  in  ihr  verderben  mit  hinein- 
ziehen wollte;  denn  Hugo  fragt  sich  an  der  citierten  stelle 
nach  dem  gründe,  warum  Adam  der  Eva  gefolgt  habe:  sed 
tantum,  so  antwortet  er  auf  die  frage,  warum  Adam  mit- 
gesündigt habe,  ne  mulieris  animum,  quae  sibi  per  affectum 
dilectionis  sodata  fuerat,  eius  petitioni  et  voluntati  resistendo 
contristaret.  Maxime  quia  putavit  se  et  mulieri  morem  gerere. 
Das  wie  gesagt  könnte  unsem  dichter  veranlasst  haben,  sich 
jene  frage  zu  stellen;  aber  die  antwort  darauf  fand  er  bei 
Hugo  nicht,  wol  aber  bei  Ambrosius  und  Augustinus.  Ersterer 
schreibt  in  seinem  werke  De  paradiso  (t.  1,289):  sine  dubio 
ubi  gustavit  mulier  (erinnert  an  v.  30  alz  si  ez  in  den  munt 
ginam)  de  ligno  sdentiae  boni  et  mali,  peccavit  et  se  peccasse 
cognosdt  Quae  igitur  se  peccasse  cognoverat,  vel  virum  ad 
peccati  communionem  invitare  non  debuit  Ulidendo  autem 
virum  et  dando  ei  quod  ipsa  gustaverat,  non  vitavit,  sed  iteravit 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche,    XXIV.  20 


298  TEÜBER 

peccatum  . . .  quamvis  videatur  haec  mulier  sciens  quod  post 
culpam  in  paradiso  esse  non  posset,  metuisse  ne  sola  de  para- 
diso  eiceretur . . .  Excludendam  igitur  se  esse  cognoscens,  eon- 
sortio  viri,  quem  diligebat,  noluit  defraudari.  Diese  stelle 
stimmt  inhaltlich,  was  die  motive  der  handlungsweise  Evas 
anbelangt,  ganz  genau  zu  der  citierten  stelle  17,46 — 56. 
Warum  Adam  in  die  Sünde  Evas  eingewilligt  (v.  57 — 66),  dar- 
über belehrte  den  Verfasser  des  Anegenge  Augustinus,  der 
De  Gen.  ad  lit.  lib.  11,  c.  30,  no.  39,  t.  3 *,  445  sagt:  et  non  cre- 
dens  posse  inde  se  mori,  arbitror  quod  putaverü  deum  alicuius 
significationis  causa  dixisse:  si  manducaveritis,  morte  moriemini; 
atque  inde  sumpsit  de  fructu  eius,  et  manducavit,  et  dedit  etiam 
viro  suo  secum:  fortassis  etiam  cum  verbo  suasorio  (vgl.  die 
citierte  stelle  aus  Ambrosius,  auf  die  sich  Augustinus  hier  stützt), 
quod  scripiura  tacens  intelligendum  relinquit.  An  forte  nee 
suaderi  iam  opus  erat  viro,  quando  illam  eo  ciho  mortuam  non 
esse  cernelat?  Diese  stelle  hat  der  dichter  in  v.  57 — 66  weiter 
ausgeführt,  indem  er  in  v.  59  f.  und  63  die  stelle  aus  Gen.  2, 7: 
in  quocumque  enim  die  comederitis  ex  eo,  morte  moriemini  mit 
einfliessen  lässt.  Für  die  schlussverse  67 — 71  mag  Hugo  (t.  2, 
291 B)  den  stoff  gegeben  haben:  et  hoc  quidem  modo  prius 
homo  a  diabolo  seductus  est  ut  peccaret,  und  weiter  von  der 
Sünde:  tollit  pulchritudinem  et  integritatem  illius. 

17, 72 — 83.  Auch  in  diesen  versen  hat  der  dichter  Augu- 
stinus (De  Gen.  ad  lit.  lib.  11,  c.  31,  no.  40,  t.  3^,  445)  benutzt: 
ergo  ederunt  et  aperti  sunt  oculi  amborum.  Quo  nisi  ad  invicem 
concupiscendum  ad  peccati  poenam  carnis  ipsius  morte  concep- 
tarn  ('do  musen  si  laz^en  die  wat  der  unschulde^).  Und  ibid. 
(c.  32,  no.  42,  s.  447):  hoc  ergo  amisso  statu,  corpus  eorum  duxit 
morbidam  et  mortiferam  qualitatem,  quae  inest  etiam  pecorum 
carni,  ac  per  hoc  etiam  eumdem  motum  quo  fit  in  pecoribus 
concumbendi  appetitus,  ut  succedant  nascentia  morientibus  . . . 
(ir  affter  chomen  alle  von  dem  selbem  volle  sagt  unser  dichter 
etwas  zarter).  In  den  versen  75 — 79  nimmt  der  dichter  voraus, 
was  er  später  ausführlich  schildert  (s.  18ff.);  es  ist  darin  das 
kurz  zusammengefasst,  was  Gen.  3, 7. 16. 19  ausführlicher  erzählt 
wird.  Er  kommt  nun  an  der  band  der  Genesis  dazu,  uns  die 
unmittelbaren  folgen  der  ersten  sünde  vor  äugen  zu  stellen. 

17,84—18,9.  Die  verse  17,84—18,1  beruhen  auf  Gen. 3,8: 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  299 

et  cum  audissent  vocem  domini  dei  deambulantis  ad  auram  post 
meridiem,  dbscondit  se  Adam  et  uxor  eins  a  fade  domini  dei 
in  medio  paradisi.  Und  eben  weil  sie  sich  verborgen  hatten, 
sagt  der  dichter  18,1:  unt  suchte  den  man.  Die  folgenden 
verse  beruhen  teils  auf  Augustinus,  teils  auf  Hugo.  Augustinus 
(lib.  11,  c.  33,  no.  43,  t.  3*,  447)  sagt:  ea  quippe  hora  tales  iam 
convenerat  visitare,  qui  'defecerant  a  luce  veritatis'  (an  dem 
was  gevallen  san  diu  sunne  des  rechtes)  , , .  und  an  einer  an- 
deren stelle  (ib.  c.  34,  no.  45,  s.  448)  spricht  er  von  derselben 
Sache  folgendermassen:  increpantis  vox  est,  non  ignorantis 
(v.  41).  Von  einer  erbarmung  spricht  Augustinus  nicht,  wie 
unser  dichter  in  v.  6:  im  erbarmte,  da^  in  der  übel  hunt  hete 
betöret]  dagegen  aber  Hugo  (t.  1, 42)  in  seinen  Adnotationes 
elucidatoriae  in  Pentateuchon:  vocem  domini  ambulantis.  Ucee 
quanta  est  misericordia  dei?  non  vult  cos  subito  convenire  de 
culpa  sua . . .  Die  Ursache  dieser  schuld  und  worin  sie  bestand 
sagt  der  dichter  in  v.  6 — 9. 

18, 10 — 12.  Woher  der  dichter  weiss,  dass  gott  den  Adam 
gerade  dreimal  gerufen  hat,  lässt  sich  nicht  sagen;  vielleicht 
ist  es  eigene  erflndung;  die  stelle  selbst  beruht  ihrem  Inhalte 
nach  auf  Gen.  3, 9:  vocavitque  dominus  deus  Adam,  et  dixit  ei: 
ubi  es? 

18, 13 — 18.  Zunächst  ist  hier  Augustinus  heranzuziehen 
(lib.  11,  c.  34,  no.  46,  t.  3',  448),  der  über  dasselbe  thema  handelt 
und  sagt:  quod  enim  iam  ipsos  pendebat  erga  seipsos,  unde 
sibi  et  sucdnctoria  fecerunt,  multo  vehementius  ab  illo  etiam 
sie  succincti  videri  verebantur,  Dass  der  dichter  auch  von 
Adam  sagt  (wie  von  Eva  17,32)  dass  er  ein  hup  für  sich 
brach,  mag  die  stelle  aus  der  Gen.  3, 7  veranlasst  haben:  con- 
suerunt  folia  ficus  et  fecerunt  sibi  perizomata,  wozu  noch  der 
umstand  hinzukommt,  dass  Gen.  3, 10  gesagt  wird  et  timui,  eo 
quod  nudus  essem,  et  abscondi  me.  Das  hup  aber,  das  Adam 
für  sich  brach,  war  aber  merkwürdiger  weise  nach  unserem 
dichter  das  eines  dlboumes.  Davon  ist  in  der  hl.  schrift  nir- 
gends die  rede.  Ists  ein  lapsus  memoriae?  Das  ist  wol  nicht 
anzunehmen.   Dagegen  findet  sich  in  der  Vita  Adae  et  Evae  i) 


1)  Vita  Adae  et  Evae,  hg.  und  erläutert  von  W.  Meyer,  Abh.  der  kgl. 
bair.  akademie  der  wiss.  1.  kl.,  14.  bd.,  3.  abt.  München  1879. 

20* 


300  TEÜBEB 

(die  im  mittelalter  sich  einer  grossen  Verbreitung  und  beliebtheit 
erfreute)  s.  49  folgende  bemerkenswerte  stelle:  et  dixit  Adam 
(derselbe  hat  zuvor  mit  seinen  söhnen  über  den  aufenthalt  im 
paradiese  gesprochen)  ad  Evam:  exurge  et  vade  cum  filio  meo 
Seth  ad  proximum  paradisi  et  mittue  pulverem  in  capita  vestra 
et  prosternite  vos  in  terram  et  plangite  in  conspectu  dei,  For- 
sitan  miserebitur  et  transmittet  angelum  suum  ad  arborem  mi- 
sericordiae  suae,  de  qua  currit  oleum  vitae . . .  Das  kann  natür- 
lich nur  ein  Ölbaum  sein,  der  sich  im  paradiese  befunden  haben 
muss,  und  das  ists  was  den  dichter  veranlasst  hat  zu  schreiben 
dajs  eines  Ölbaumes  was, 

18, 19—22.  Diese  stelle  ist  vom  dichter  lebendig  und  an- 
schaulich nach  Gen.  3, 10  widergegeben:  qui  ait:  vocem  tuam 
audivi  in  paradiso,  et  timui,  eo  quod  nudus  essem,  et  abscondi 
me.    Desgleichen  beruhen  die  folgenden  verse  auf  der  Genesis. 

Zu  18,23 — 25  stimmt  Gen.  3, 11:  cui  dixit:  quis  enim  in- 
dicavit  tibi,  quod  nudus  esses,  nisi  quod  de  ligno  . . .  comedisti? 
Der  dichter  behält  hier  sogar  die  directe  frage  seiner  quelle  bei. 

18,26—30.  Dazu  stimmt  wider  Hugo  (t.  1, 42B),  der  zu 
diesem  passus  der  Genesis  bemerkt:  ecce  quanta  misericordia 
dei?  non  vult  eos  subito  convenire  de  culpa  sua  . . .  sed  dat 
locum  'poenitentiae'  et  consilii,  unde  deambuläbat  ut  audiant 
et  sie  fiant  memores  ipsius  dei.  Und  weiter  (ib.  s.  42C)  heisst 
es  ganz  ähnlich:  de  homine  peccante  non  statim  dedit  senten- 
tiam,  sed  'proposita  quaestione  dedit  ei  spatium,  ut  cogitaret  de 
causa  sua  et  poeniteret\ 

18, 31 — 41.  Auch  für  diese  stelle  hat  Hugo  die  gedanken 
hergegeben,  die  jedoch  der  dichter  nur  dem  Inhalte  nach  und 
etwas  breiter  widergibt,  als  er  sie  in  seiner  quelle  vorfand. 
Bei  Hugo  lesen  wir  (t.  1, 42B)  zu  der  stelle  eo  quod  nudus 
essem  (Gen.  3, 10)  folgende  bemerkung:  nota  quod  stulte  agit, 
inducens  se  ad  excusandum  (der  arme  begunde  sich  entsagen, 
den  schilt  er  für  sich  bot  sagt  ganz  schön  unser  dichter),  quod 
potius  vertitur  in  eius  accusationem,  ut  potius  per  hoc  convin- 
catur  peccasse  in  pomo  (in  diesem  satze  liegt  wol  die  ver- 
anlassung zu  V.  33  f.)  ...  Mulier  quam  dedisti  mihi  . . .  (Gen. 
3, 12).  Convictus  de  facto,  'removeV  crimen  in  mulierem  et 
mulier  in  serpentem,  et  per  hoc  uterque  'retorquet  culpam  in 
creatorem  deum\    Dieser  letzte  satz  bot  ihm  den  Stoff  für 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  301 

V.  35— 41.  Der  dichter  führt  die  sache  weiter  aus  und  wird 
durch  die  ausdehnung  der  rede  Adams  dramatisch  lebendig. 

18, 42 — 46.  lieber  diesen  punkt  handelt  Hugo  nicht;  aber 
Gen.  3, 13  ist  davon  die  rede:  et  dixit  dominus  deus  ad  mu- 
lierem:  quare  hoc  fedsti?  Qtiae  respondit:  serpens  decepit  me, 
et  comedi  Das  stimmt  inhaltlich  zu  dieser  stelle.  Dass  aber 
der  dichter  gott  sagen  lässt  wes  riet  du  dass  dem  manne  ?  darf 
uns  nicht  wundem;  denn  er  erinnerte  sich,  als  er  dieses  nieder- 
schrieb, an  die  vorher  benutzte  stelle  des  Augustinus:  fortassis 
etiam  cum  verbo  suasorio  (t.  3^,  445). 

18,47 — 63.  Die  stelle  ist  ihrem  hauptinhalte  nach  auf 
Gren.  3, 14  f.  aufgebaut:  et  ait  dominus  ad  serpentem:  quia  fedsti 
hoc,  maledictus  es  inter  omnia  animantia  et  hestias  terrae; 
super  pectus  tuum  gradieris  et  Herram^  comedes  cunctis  diebus 
vitae  tuae  (v.  47 — 50).  Diese  letzten  worte  hat  der  dichter 
nicht  übel  mit  /se  unlusten  widergegeben.  Inimidtias  ponam 
inter  te  et  mulier em,  et  semen  tuum  et  semen  illius:  ipsa  con- 
teret  caput  tuum,  et  tu  insidiäberis  calcaneo  dus.  Dieser  stelle 
entsprechen  inhaltlich  v.  51 — 63.  Doch  der  dichter  gebraucht 
abweichend  von  der  bibel  in  v.  52  den  plural:  under  wdhen 
unt  under  slangen  und  sagt  ausserdem  v.  53  f.  von  dieser 
feindschaft:  unt  muz  ouch  vil  lange  under  in  iswoein  gesten. 
Diese  dinge  hat  der  dichter  wider  aus  Hugo  (t.  1, 43  A):  semen 
diaboli  vocat  alios  daemones  (slangen).  Mulieris  semen  alios 
homines  (weihen),  'Et  tu  insidiäberis  calcaneo  dus'  i.  e.  'semper' 
persequeris  Qvil  lange')  ut  dedpias. 

18, 64 — 71.  Die  ansieht,  dass  die  schlänge  ein  herrliches 
geschöpf  war  und  aufrecht  gieng,  findet  sich  bei  den  grossen 
lateinischen  kirchenvätern  wie  Hieronymus,  Ambrosius,  Augu- 
stinus und  Gregorius  nicht.  Eine  andeutung  davon  macht  aber 
Chrysostomus,  Homiliae  in  Genesim  s.  142  f.:  sicut  igitur  dia- 
bolus,  qui  per  te  operatus  est  et  te  instrumento  usus  est,  e 
coelis  deorsum  depulsus  est,  quia  plus  quam  dignitatis  suae 
erat,  sapere  volebat:  ita  similiter  impero,  ut  et  tu  aliam  for- 
mationis  figuram  habeas,  et  super  terram  repas  atque  adeo  ne 
liceat  tibi  suspicere,  sed  semper  in  hoc  manea^  statu.  Daraus 
ergibt  sich  also,  dass  die  schlänge  gleich  wie  der  teufel  einst 
ein  herrliches  geschöpf  war,  und  dass  sie  aufrecht  gegangen 
ist;  ne  liceat  tibi  suspicere,     Direct  ausgesprochen  hat  diese 


302  TEÜBEB 

ansieht  Petrus  Comestor  in  seiner  Historia  scholastica  c.  21 
(Migne  1. 198):  et  hoc  per  serpentem,  quia  tunc  serpens  erectus 
est  ut  homo, 

18,  72 — 78.  Hier  und  im  folgenden  hält  sich  der  dichter 
wider  genau  an  den  biblischen  bericht,  Gen.  3,  16:  mulieri 
quoque  diant:  muUiplicäbo  aerumnas  tuas  et  conceptus  tuos: 
in  dolore  partes  filios,  et  sub  viri  potestate  eris,  et  ipse  domi- 
näbitur  tut. 

18, 79—19, 8.  Fast  wörtlich  so  heisst  es  in  Gen.  3, 17—19: 
Ädae  vero  dixit:  quia  audisti  vocem  uxoris  tui  (vgl.  18,  79  und 
9, 2 1)  ...  maledicta  terra  in  opere  tuo  (18, 80  f.).  Spinae  et  tri- 
hulos  germinabit  tibi^  et  comedes  herham  terrae  (18,  83  f.).  In 
sudore  vultus  tui  vesceris  pane  (sehr  gut  übersetzt  in  v.  18, 84  f. 
und  19, 1),  donec  revertaris  in  terram  de  qua  sumptus  es:  quia 
pulvis  es,  et  in  pulverem  reverteris  (19, 5 — 8).  Man  sieht,  der 
dichter  hat  keinen  gedanken  mehr  und  keinen  weniger  als 
die  bibel;  nur  ist  die  anordnung  derselben  bei  ihm  etwas 
anders  als  dort. 

19,9 — 19.  Diese  stelle  beruht  zunächst  auf  Gen.  3, 22:  et 
ait:  ecce  Adam  quasi  unus  ex  nohis  factus  est,  sdens  ionum 
et  malum.  Den  grund  dafür,  warum  gott  diese  worte  sprach, 
fand  der  dichter  bei  Hugo  (t.  1, 43C):  ecce  Adam  factus  est 
quasi  unus  ex  noiis.  Irrisio  est,  quae  respidt  ad  stultam  cre- 
dulitatem  eius  de  verhis  serpentis:  eritis  sicut  dii  sdentes  honum 
et  malum;  et  quamvis  sola  Eva,  non  Adam,  hoc  crederet,  tarnen 
Uli  quasi  praelato  et  doctori  imputatur.  Talis  autem  irrisio 
aliquando  fit  merito  patientis  (^ze  Iceide')  et  iuste.  Diese  ansieht 
ist  übrigens  sehr  alt  und  zieht  sich  durch  die  ganze  patristi- 
sche  literatur  hindurch  (Beda,  Aleuin,  Rupert  v.  Deutz  1, 315  ff. 
3,  83  f.  etc.).  Schon  Augustinus  (De  Gen.  ad  lit.  lib.  11,  c.  39, 
no.  53,  t.  3^,  451)  sagt:  replicatum  est  igitur  in  caput  superbi, 
quo  exitu  concupiverat,  quod  a  serpente  suggestum  est.  'Eritis 
sicut  dii' . . .  Verha  enim  haec  sunt  dei,  non  tam  huic  insulr 
tantis,  quam  caeteros  ne  ita  superbiant  deterrentis . . . 

19,  20 — 25  entnahm  der  deutsehe  dichter  aus  Gen.  3, 24: 
eiedtque  Adam;  et  collocavit  ante  paradisum  voluptatis  Cheru- 
bim [et  flammsum  gladium  atque  versatilem]  ad  custodiendam 
viam  ligni  vitae, 

19^26—29  stimmt  abermals  zu  Gen.  3, 22:  nunc  ergo  ne 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  303 

forte  mittat  manum  suam,  et  sumat  etiam  de  ligno  vitae  et 
comedat,  et  vivat  in  aeternum.  V.  29  scheint  mir  überdies  auf 
eine  bekanntschaft  mit  Hugo  (t.  1, 43  C)  hinzudeuten,  wo  es 
heisst:  nunc  ergo  ne  forte  mittat  manum  , . .  Hie  innuitur, 
quod  etiam  post  peccatum  si  comederet  homo  de  ligno  vitae, 
fieret  immortalis.  Dieses  immortalis  entspricht  ganz  dem  un- 
tödlich  in  v.  29. 

19,30—40.  Wider  eine  ganz  tiefsinnige  scholastische  an- 
sieht, die  unser  dichter  aus  Hugo  entnommen  hat,  der  den- 
selben gedanken  in  seiner  Summa  sententiarum  (t.  2,  lOOD  und 
101 A)  ausspricht:  quomodo  igitur  peccato  remanente  non  more- 
retur?  Ad  quod  didtur,  si  non  puniretur  ista  poena,  scilicet 
morte,  puniretur  graviori;  quia  nunquam  finirentur  miseriae, 
quae  modo  finiuntur  morte.  B  Ad  esum  itaque  ligni  vitae  per 
tribulationes  multas,  et  per  charitatem,  quae  estplenitudo  seien- 
tiae  post  peccatum  redire  fuit  necesse  est  Der  erste  teil  dieser 
stelle  ist  fast  wörtlich  in  v.  30 — 37,  der  zweite  (B)  teil  inhalt- 
lich in  V.  38 — 40  widergegeben. 

Nachdem  der  dichter  diese  ansieht  eingeflochten,  kommt 
er  mit  19, 41  f.  wider  auf  den  biblischen  bericht  zurück,  womit 
er  Gen.  3, 24  allerdings  nur  dem  hauptgedanken  nach  wider- 
gibt: eiecitque  Adam:  et  collocavit  ante  paradisum  voluptatis 
Cherubim,  et  flammeum  gladium  atque  versatilem,  ad  custodi- 
endam  viam  ligni  vitae. 

19, 43 — 56.  Die  ansieht,  dass  der  Schacher  der  erste  ge- 
wesen sei,  welcher  das  feurige  schwert,  das  vor  dem  paradiese 
war,  aufgehoben  habe  und  folglieh  auch  der  erste  glückliche 
gewesen  sei,  der  das  paradies  nach  so  langer  zeit  der  Ver- 
bannung des  menschen  aus  demselben  wider  betreten  habe, 
findet  sich  am  ausführlichsten  bei  Chrysostomus  in  dessen 
homilien  De  eruce  et  latrone  vertreten.  Speciell  in  der  homilie 
welche  wir  in  t.  2  (Migne  t.  49),  401  finden,  heisst  es:  hodie 
mecum  eris  in  paradiso.  Atqui  Cherubim  paradisum  servabat; 
verum  hie  cherubinorum  etiam  dominus  est:  et  flammeus  gladius 
ibi  volvitu/r;  verum  ipse  et  flammae  et  gehennae  et  vitae  et  mortis 
potestatem  habet . . .  Vis  dicere  aliud  eius  insigne  opus.  Para- 
disum a  quinque  mille  et  amplius  annis  clausum  hodie  nobis 
aperuit  Hoc  quippe  die,  hac  ipsa  hora  latronem  etintroduxit 
deuSj  duo  praeclara  praesignans  opera  . , .  hodie  patriam  nobis 


304  TEÜBEB 

reddidit,  hodie  in  patriam  civitatem  nos  reduxit,  et  cornmuni 
hominum  donum  dedit,  Aehnliches,  aber  kürzer  gefasst  finden 
wir  bei  Leo  Magnus  (t.  1, 317),  bei  S.  Maximus  (Hom.  52,  Migne 
t.  57),  bei  Ehab.  Maurus  (Hom.  17,  Migne  1. 110,  der  werke 
t.  4, 35),  bei  Eupert  v.  Deutz  (t.  1, 520).  Letzterer  sagt:  porro 
ante  eamdem  domini  nostri  passionem  nulU  omnino  filiorum 
Adam  pervius  fuit  (sc.  paradisus)  . . .  Secutus  est  confestim 
latro  nie  veneräbilis,  quem  confessum  in  cruce  continuo  muni- 
erat  fides  sanguinis  Christi  contra  illum  ignem,  ne  obsisteret 
Uli.  Es  ist  wol  das  wahrscheinlichere,  dass  unser  dichter  die 
hier  ausgesprochene  ansieht  aus  Eupert  v.  Deutz  schöpfte,  da 
er  ihn,  wie  wir  sehen  werden,  auch  an  anderen  stellen  seines 
gedichtes  benutzt  hat.  Die  folgenden  verse  47 — 56  scheinen 
teils  selbständige  erfindung  des  dichters,  teils  eine  reminiscenz 
an  die  bekannte  stelle  des  evangeliums  zu  sein:  si  quis  vult 
post  me  venire,  ahneget  semetipsum  et  tollat  crucem  suam,  et 
sequatur  me  (Matth.  16, 24.  Luc.  9, 23),  namentlich  v.  52 — 56. 

Nachdem  der  dichter  den  fall  der  ersten  menschen  und 
dessen  nächste  folgen  geschildert  hat,  geht  er  an  der  band 
der  Genesis  weiter  vorwärts  und  gibt  eine  ziemlich  ausführ- 
liche geschichte  der  nachkommen  Adams  bis  zu  Noe  und  dessen 
söhnen  hinauf  (19,72  —  25,63). 

Als  anschluss  an  das  vorhergehende  und  Übergang  zum 
folgenden  dienen  die  verse  19, 57 — 71.  Hier  beruhen  die  verse 
57 — 65  auf  zwei  stellen  der  Genesis,  die  der  dichter,  obwol 
sie  schon  in  anderem  Zusammenhang  verwendet  wurden,  hier 
ganz  trefflich  zusammengefügt.  Gen.  1,29:  dixitque  deus :  ecce 
dedi  vobis  ^omnem'  herbam  afferentem  semen  super  terram,  et 
'universa'  ligna,  quae  habent  in  semetipsis  sementem  generis 
suij  ut  sint  vobis  in  escam,  V.  62 — 65  erinnern  an  Gen.  3, 19: 
in  sudore  vultis  tui  vesceris  pane.  Ob  v.  66 — 71  selbständige 
erfindung  des  dichters  sind  oder  ob  sie  nicht  eine  Zusammen- 
fassung dessen  sind,  was  im  Christlichen  Adamsbuche  des 
morgenlandes  widerholt  ausgesprochen  wird,  dass  Adam  vom 
teufel  sehr  geplagt  wurde  —  in  der  bibel  steht  nichts  davon 
—  lässt  sich  mit  Sicherheit  nicht  sagen.^ 


^)  Das  Christliche  Adamshuch  des  morgenlandes  ist  von  A.  Dillmann 
aus  dem  äthiopischen  tihersetzt  und  1853  (Göttingen)  herausgegeben  worden. 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  305 

19,  72 — 77  ist  der  Inhalt  von  Gen.  4, 1 :  Adam  vero  cognovit 
uxorem  suam  Hevam;  quae  concepit  et  peperit  Cain,  dicens: 
possedi  hominem  per  deum.  Dieser  letzte  satz  possedi  hominem 
per  deum  mag  unsem  dichter  zu  v.  74  f.  77  angeregt'  haben. 
V.  76  fasst  summarisch  zusammen,  was  der  dichter  später  von 
ihm  erzählt  und  übrigens  auch  in  Gen.  4  gesagt  wird.  Möglich 
ist  es  aber  auch,  dass  ihm  eine  stelle  des  Christi.  Adamsbuches 
vorschwebte;  denn  dort  heisst  es  s.  67:  und  Adam  freute  sich 
über  die  rettung  der  Eva,  sowie  über  die  kinder  die  ihm  ge- 
boren wurden. 

Mit  19, 78  f.  sagt  dQr  dichter  eigentlich  dasselbe  was  Gen. 
4,2  steht:  rursumque  peperit  fratrem  dus  Abel, 

19,80 — 20,8.  Die  tatsachen  welche  der  dichter  hier  be- 
richtet, finden  sich  wol  in  der  Gen.  So  wird  man  für  19,84 
und  20, 1 — 3  Gen.  4, 4  heranziehen  müssen:  Abel  quoque  obtulit 
de  primogenitis  gregis  sui^  et  de  adipibus  eorum.  Ebenso  wird 
man  sagen  müssen,  dass  19, 80 — 82  und  20, 6  f.  schliesslich  auf 
Gen.  4, 3  fussen,  wo  es  heisst:  factum  est  autem  post  multos 
dies,  ut  offerret  Cain  de  fructibus  terrae  munera  domino. 

In  der  bibel  wird  keinem  von  beiden  ein  attribut  bei- 
gelegt, höchstens  dass  Gen.  4, 5  gesagt  wird  iratusque  est  Cain 
vehementer.  Dagegen  gibt  das  Christi.  Adamsbuch  eine  ganz 
gute  Charakteristik  beider:  und  die  kinder  fiengen  an  zu 
wachsen  und  gross  isu  werden  an  Mbesgrösse,  Und  Kain  war 
ha/rthermg  und  herschsüchtig  . . .  und  oftm>als  wenn  sein  vater 
zum  opfer  hinaufgieng,  blieb  er  zurück  und  gieng  nicht  mit, 
um  am  opfer  teil  zu  nehmen,  Abel  aber  hatte  ein  sanftes  herz 
und  war  seinen  eitern  Untertan,  und  er  trieb  sie  oftm^xls  an 
wegen  des  opfers;  denn  er  liebte  das  opfer  und  betete  und 
fastete  viel.  Was  hier  nebst  der  Charakterisierung  Kains  und 
Abels  vom  opfern  gesagt  wird,  scheint  der  dichter  in  19, 80 — 82 
vor  äugen  zu  haben;  denn  soweit  ich  diese  stelle  auszulegen 

Dülmann  leugnet,  dass  dieses  buch  im  abendlande  bekannt  gewesen  sei. 
W.  Meyer,  Vita  Adae  et  Evae  steUt  viele  stellen  aus  jenem  zusammen, 
welche  zu  diesem  passen.  Nun  hat  aber  der  dichter  des  Anegenge  im  fol- 
genden viele  gedanken,  welche  sich  in  der  uns  bekannten  literatur  nirgends 
wo  anders  vorfinden,  als  gerade  im  Christi.  Adamsbuche.  Folglich  muss 
er  eine  Version  derselben  und  zwar  eine  lateinische  gekannt  haben.  Woher 
diese  kam,  wohin  sie  gekommen,  wissen  wir  freilich  nicht  zu  sagen. 


306  TEUBEE 

im  Stande  bin,  meint  der  dichter,  dass  sie  *  öfters'  geopfert 
haben;  in  der  Gen.  lesen  wir  4,3  nur  von  einem  solchen  opfer. 

20, 9 — 16.  Für  v.  9  ist  dem  dichter  wol  Hugo  massgebend 
gewesen,  wenn  er  den  satz  nicht  selbst  aus  dem  texte  der 
bibel,  was  ja  nicht  schwer  war,  erschlossen  hat.  T.  2, 44 AB 
sagt  Hugo:  quod  autem  munera  non  ex  se,  sed  ex  merito  offe- 
rentis  ei  placebant,  per  hoc  innuitur,  quod  ad  Abel  afferentem 
prius  quam  ad  munus  didtur  respexisse,  V.  10 — 16  geben  den 
inhalt  von  Gen.  4, 6  f.,  auf  die  sich  der  dichter  in  v.  11  beruft: 
dixitque  dominus  ad  eum  (nämlich  Kain):  quare  iratus  es,  et 
cur  conddit  fades  tua?  Nonne  si  bene  egeris,  recipies;  sin  vero 
male,  statim  in  foribus  peccatum  aderit?  Sed  sub  te  erit  appe- 
titus  eius,  et  tu  dominaberis  illiusA)  Gen.  4, 4:  et  respexit  do- 
minus ad  Abel  et  ad  munera  eius  (v.  14 — 16). 

20, 17 — 19  gibt  Gen.  4,  5  wider:  ad  Cain  vero  et  ad  munera 
illius  non  respexit;  iratusque  est  Cain  vehementer,  et  conddit 
vultus  eius,  allerdings  nur  dem  Inhalte  nach.  Ebenso  20, 20  f. 
=  Gen.  4, 8  cumque  essent  in  agro,  consurrexit  Cain  adversus 
fratrem  suum  Abel,  et  interfedt  eum. 

20,22 — 26.  Die  bezeichnung  der  erde  als  virgo  (magetrceine) 
findet  sich  bei  Augustinus  an  zwei  stellen;  Sermo  125 (a)  In 
natali  domini  9(b),  t.  5^,  1993  heisst  es:  quoniam  sicut  Adam  ex 
'terra  virgine'  figuratus  est,  ita  et  Christus  ex  virgine  natus 
agnoscitur.  Und  ib.  Sermo  147  (a)  In  quadrages.  8  (b),  s.  2031 : 
Adam  enim  'de  terra  virgine'  natus  est.  Die  übrigen  verse 
beruhen  auf  Gen.  4, 11:  [nunc  ergo  maledictus  eris  super]  ter- 
ram,  quae  aperuit  os  suum,  et  suscepit  sanguinem  fratris  tui 
de  manu  tua. 

20, 27 — 37.  V.  27 — 29  schliessen  an  das  vorhergehende  an 
und  führen  ganz  gut  zum  folgenden  über,  das  aus  Gen.  4,  9 
entnommen  ist:  et  ait  dominus  ad  Cain:  ubi  est  Abel  frater 
tuus?  Qui  respondit:  nescio:  num  custos  fratris  mei  sum  ego? 
Der  dichter  hat  die  directe  rede  der  bibel  in  die  indirecte 
verwandelt. 

20, 38—43  gibt  mit  beibehaltung  der  directen  rede  Gen.  4, 10 


*)  Nach  20,13  muss  etwas  fehlen,  und  zwar  einer  oder  zwei  verse, 
welche  sich  auf  Gen.  4, 7  beziehen :  sed  sub  te  erit  appetitus  eius  et  tu 
dominaberis  iUius  ('gistillen'). 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  307 

wider:  dixitque  ad  cum:  quid  fecisti:  vox  sanguinis  fratris  tui 
clamat  ad  me  de  terra, 

20,44 — 49.  V.44f.  widerholen  aus  Gen. 4, 10  das  quid  fecisti? 
und  bestimmen  den  ausdruck  näher.  V.  46 — 49  geben  eigent- 
lich Gen.  4, 11  wider:  nunc  igitur  maledictus  eris  super  terram, 
quae  aperuit  os  suum  et  suscepit  sanguinem  fratris  tui  de  manu 
tua.  Von  der  Verfluchung  der  erde,  wie  sie  der  dichter  dar- 
stellt, ist  in  der  bibel  direct  nichts  gesagt;  aber  sie  ist  in  den 
Worten  Gen.  4, 12  cum  operatus  fueris  eam,  non  ddbit  tibi  fructus 
suos  indirect  mit  ausgesprochen.^) 

20, 50 — 55.  Die  quelle  unsers  dichters  ist  auch  hier  die 
Genesis;  nur  gibt  er  etwas  breiter  wider,  was  sich  Gen.  4, 13 
vorfindet:  dixitque  Cain  ad  dominum:  maior  est  iniquitas  mea, 
quam  ut  veniam  merear. 

Zu  20,56 — 63  stimmt  Gen.  4, 14:  ecce  eicies  me  hodie  a 
fade  terrae,  et  a  fade  tua  dbscondar,  et  ero  vagus  et  profugus 
in  terra:  omnis  igitur,  qui  invenerit  me,  occidet  me.  Merkwürdig 
erscheint  der  ausspruch  da  ersiecht  mich  mein  eigen  chunne. 
Dachte  der  dichter,  als  er  das  niederschrieb,  vielleicht  daran, 
dass  Kain,  was  ja  ganz  richtig  ist,  keine  anderen  leute  als 
seine  eigenen  verwanten,  dais  dgen  chunne,  um  sich  hatte,  oder 
dachte  er  an  die  stelle  des  Christlichen  Adamsbuches,  wo  es 
lieisst:  so  wird  mich  Adam  töten  (s.  73)?  Sehr  schön  gibt  der 
dichter  das  vagus  et  profugus  der  hl.  schritt  durch  swa  ich 
nu  gen  ceine  uf  der  wilden  hande;  recht  anschaulich  und  lebendig 
weiss  er  sich  in  die  läge  des  Kain  liineinzudenken. 

20,64 — 72.  Alle  gedanken  die  hier  ausgesprochen  sind, 
finden  sich  auch  in  der  Genesis,  aber  nicht  in  derselben  an- 
ordnung.  Der  dichter  hat,  was  dort  getrennt  ist,  zusammen- 
gerückt und  trefflich  ineinander  verwoben.  So  entspricht 
V.  64  f.  Gen.  4, 15:  dixitque  ei  dominus:  nequaquam  ita  fiet 
(recht  schön  widergegeben  durch  da/s  wcere  mir  nicht  liep); 
V.  66 — 68  geben  den  inhalt  von  Gen.  4, 12  wider:  cum  operatus 
fueris  eam  (sc.  terram),  non  ddbit  tibi  fructus  suos:  vagus  et 


^)  Direct  ausgesprochen  findet  sich,  was  unser  dichter  in  den  versen 
46—49  sagt,  im  Christi.  Adamsbuche  s.  73:  wid  gott  sprach  zu  Kain:  ver- 
flucht sei  die  erde,  die  das  blut  deines  hruders  Abel  trank.  Vielleicht 
schwebte  ihm  diese  stelle  vor. 


308  TEÜBEB 

profugus  eris  super  terram,  V.  68  f.  stimmt  zu  Gen.  4, 11:  quae 
aperuit  os  suum,  et  suscepit  sanguinem  fratris  tui  de  manu  tu,a. 
V.  70 — 72  endlich  übersetzen  Gen.  4, 15:  sed  omnis  qui  occiderit 
Cain,  septuplum  punietur.  Zu  bemerken  wäre  noch,  dass  der 
dichter  auch  hier  die  directe  rede  der  hl.  schritt  beibehalten  hat. 

20, 73 — 86.  Diese  verse  geben  inhaltlich  wider,  was  Hugo 
(t.  1, 44C)  sagt:  malo  suo  (sc.punietur,  qui  Cain  interfecerit), 
quia  volo  ut  septuplum  puniatur,  i,  e,  temporaliter  de  te  punitio 
fiat,  vel  interfector  Cain  multipliciter  puniatur.  Plus  etiam  quam 
Cain  propter  ' prohibitionem  homiddii  factam  a  deo,  quae  non 
erat  facta  Cain\ 

21, 1 — 7.  Diese  verse  stimmen  teilweise  mit  Gen.  4, 16: 
egressusque  Cain  a  fade  domini  habitavit  profugus  in  terra  ad 
orientalem  plagam  Eden.  Gen.  4,  17:  cognovit  autem  Cain 
uxorem  suam,  quae  concepit  et  peperit  Henoch.  Weit  mehr 
aber  nähern  sich  die  verse  dem  Christlichen  Adamsbuche,  wo 
es  s.  74  heisst:  Kain  aber,  nachdem  er  seinen  hruder  getötet 
hatte,  hatte  keine  ruhe  mehr,  und  weiter:  und  Kain  nahm  seine 
Schwester  und  heiratete  sie  ohne  hefehl  von  seinen  eitern  . . . 
und  er  bekam  viele  kinder  von  seiner  Schwester. 

21,  8 — 24.  Was  der  dichter  des  Anegenge  hier  erzählt, 
findet  sich  weder  in  der  M.  schritt  noch  in  irgend  einem 
kirchenvater  oder  -schriftsteiler.  Aber  im  Christlichen  Adams- 
buch findet  sich  das  meiste  davon.  Zu  v.  9  ist  zu  bemerken, 
dass  unter  dem  wip  dem  zusammenhange  nach  nur  Eva  ver- 
standen werden  kann.  Zu  v.  10 — 13  muss  vor  allem  das  Adams- 
buch als  quelle  gedient  haben.  Dort  heisst  es  s.  68:  so  lebten 
Adam  und  Eva  (ohne  sich  zu  nähern),  bis  sie  die  kinder  ent- 
wöhnt hatten;  und  als  sie  sie  entwöhnt  hatten,  ward  Eva 
schwanger,  und  sie  vollendete  ihre  tage  und  sie  gebar  widerum 
einen  söhn  und  eine  tochter,  und  er  nannte  den  söhn  Abel  und 
die  tochter  Aklejam.  Doch  diese  zeit,  welche  im  Adamsbuche 
als  zwischen  der  geburt  Abels  und  Kains  liegend  angegeben 
wird,  ist  zu  kurz,  als  dass  unser  dichter  hätte  sagen  können: 
da  was  ez  ein  vil  lange  ceit  von  Cayns  geburte,  e  von  im  wurte 
sein  bruder  Abel  geborn.  Es  hat  der  dichter  noch  eine  andere 
stelle  aus  dem  Adamsbuche  gekannt,  welche  er  mit  der  eben 
citierten  confundiert.  Im  Christlichen  Adamsbuche  heisst  es 
z.  b.  (s.  74):   dass  Adam  und  Eva    durch   zweihundert   und 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  309 

zehn ...  1)  enthaltsamkeit  geübt  haben,  innerhalb  welcher  zeit 
allerdings  das  geschehen  konnte,  was  der  dichter  v.  14  f.  sagt. 
Auch  eine  zweite  stelle  desselben  buches  ist  hier  hereinzuziehen. 
S.  75  heisst  es:  nachdem  nun  unser  vater  Adam  sich  sieben  jähre 
lang  von  seinem  weibe  Eva  abgesondert  gehalten  hatte,  ward 
Satan  neidisch  auf  ihn  . . .  und  er  bestritt  ihn,  dass  er  bei  ihr 
schlafen  sollte.  Der  teufel  erscheint  dem  Adam  in  gestalt  eines 
schönen  weibes  und  sucht  ihn  zu  berücken;  gott  befreit  den 
Adam  aus  dieser  Versuchung  und  befiehlt  ihm,  die  eheliche  ge- 
meinschaf t  mit  seinem  weibe  Eva  wider  aufzunehmen  (s.  76  ff.). 
Das  sind  die  beiden  stellen,  auf  die  sich  der  dichter  in  v.  10 — 13 
beziehen  muss.  Wenn  der  dichter  weiter  sagt:  wand  Adam  driu 
unt  sechzig  chint  gewan,  der  waren  driu  unt  dricic  man,  dais 
ander  waren  alUis  wip,  so  hat  er  auch  hierfür  eine  apokryphe 
quelle  benutzt,  nämlich  die  Vita  Adae  et  Evae,  wo  es  s.  45 
also  heisst:  et  post  haec  cognovit.  Adam  uxorem  suam  et  genuit 
filium  et  vocavit  nomen  eins  Seth,  et  dixit  Adam  ad  Evam:  ecce 
genui  filium  pro  Abel,  quem  occidit  Cain,  et  postquam  genuit 
Adam  Seth,  vixit  annos  DCCC  et  genuit  filios  XXX  et  filias 
triginta,  simul  'LXIIF  et  multiplicati  sunt  super  terram.^) 

Zu  V.  21 — 25  wäre  noch  folgendes  zu  bemerken:  der  dichter 
hat  recht,  wenn  er  sagt,  dass  andere  bücher  diese  zahl  nicht 
haben;  denn  die  Vita  Adae  et  Evae  hat  sie  allein.  Die  U. 
Schrift  und  alle  erklärungen  derselben  (Petrus  Comestor  aus- 
genommen) sagen  im  gründe  genommen  dasselbe  was  die  Gen. 
5,4  sagt:  et  fa^ti  sunt  dies  Adam,  postquam  genuit  Seth,  oct- 
ingenti  anni:  genuitque  filios  et  filias  ]  und  auf  diesen  letzten 
satz  scheint  21,20  zu  beziehen  zu  sein:  die  gewan  er  e  unt 
ouch  seit,  so  diu  schrift  in  genügen  steten  wil,  womit  der  dichter 
im  allgemeinen  sagen  will,  dass  Adam  früher  und  später  kinder 
zeugte,  die  eben  nach  seiner  quelle  (dirre  buchstab)  bis  auf 
die  zahl  63  anwuchsen. 


^)  Ob  das  Jahre  oder  tage  sind,  wird  dort  nicht  gesagt.  Unser  dichter 
fasst  die  210  als  jähre  auf. 

')  Da  unser  dichter  in  der  citierten  stelle  dinge  zusammenstellt,  welche 
im  Christi.  Adamsbuche  und  in  der  Vita  Adae  et  Evae  vorkommen,  ja  diese 
dinge  unmittelbar  verbindet,  so  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  unser 
dichter  eine  erweiterte  version  des  Christi.  Adamsbuches  vor  sich  hatte,  in 
welches  die  Vita  Adae  et  Evae  mit  eingeflochten  war. 


o 


10  TEÜBER 


21,25—34.  Auch  die  meinung  welche  der  dichter  hier 
ausspricht,  findet  sich  im  Christlichen  Adamsbuche.  S.  74  heisst 
es:  und  Adam  trug  iAw  (Abel),  während  ihm  die  tränen  über 
die  Wangen  rollten,  isu  der  schatzhöhle . . .  Und  Adam  und  JEva 
blieben  in  der  trauer  und  vielem  weinen  WO  tage  lang . . .  Adam 
und  Eva  aber  warteten  nach  der  bestattung  Abels,  ohne  sich 
einander  zu  nähern  (vgl.  v.  31)  210  (jähre?)  %  und  nach  dieser 
zeit  ernannte  Adam  die  Eva  und  sie  ward  schwanger.  Das  ist 
inhaltlich  dasselbe  was  der  dichter  in  den  citierten  versen 
sagt.  V.  34  beruht  auf  Adamsbuch  s.  77:  und  gott  ...  sagte 
zu  ihm:  geh  hinab  in  die  schatzhöhle  und  halte  dich  nicht  ge- 
trennt von  Eva,  ich  will  in  dir  und  in  ihr  der  tierischen  lust 
die  hraft  nehmen. 

21, 35 — 50.  Auch  in  diesen  versen  stimmt  unser  dichter 
teilweise  mit  dem  Christlichen  Adamsbuche  zusammen,  nament- 
lich in  V.  35 — 39.  Dort  heisst  es  s.  75 :  und  Eva  gebar  einen 
schönen  von  natur  aus  vollkommenen  söhn;  . . .  und  Eva  ward 
getröstet  von  der  stunde  an,  da  sie  ihn  sah;  . . .  und  als  Adam 
Jcam,  und  des  hindes  Schönheit,  gestalt  und  vollkommene  natur 
sah,  freute  er  sich  über  es  und  ward  getröstet  für  Abel  (v.  35 
— 38)  und  nannte  das  kind  Seth  (v.  45).  Dass  der  dichter  sagt 
do  gewan  er  daz  beste  chint,  dürfte  wol  auf  die  stelle  des 
Adamsbuches  zurückgehen,  wo  alle  tugenden  und  Vorzüge  des 
Seth  aufgezählt  werden  (s.  77  ff.).  Die  ansieht,  dass  von  Seth 
der  gottessohn  abstammen  sollte,  und  welche  der  dichter  v.  40  ff. 
ausspricht,  fusst  eigentlich  auf  Lucas,  der  3, 23  ff.  die  Stamm- 
tafel Christi  angibt.  Er  beginnt  v.  23:  et  ipse  Jesus  erat  in- 
cipiens  quasi  annorum  triginta,  ut  putabatur  filius  Joseph,  qui 
fuit  Heli  etc.,  bis  er  in  v.  38  sagt:  qui  fuit  Henos,  qui  fuit 
Seth,  qui  fuit  Adam,  qui  fuit  dei.  Diese  stelle  legte  zuerst 
Augustinus  seiner  darstellung  über  die  nachkommen  Adams 
(De  civitate  dei  c.  18,  t.  7, 461  nur  vorübergehend,  c.  20,  s.  463 
ausführlicher)  zu  gründe.  S.  463  sagt  er:  nam  si  non  inten- 
debat  auctor  libri  huius  aliquem,  ad  quem  necessario  produceret 
seriem  generationum,  sicut  in  Ulis  quae  veniunt  de  'semine  Seth' 
intendebat  pervenire  ad  Noe,  a  quo  rursus  ordo  necessarius 
sequeretur;  . . .  quasi  esset  aliquid  deinceps  connectendum,  unde 


*)  Der  context  verlangt  tage.    Vgl.  s.  309,  anm.  1. 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  311 

pervenirettir  ad  Israeliticum  populum,  in  quo  coelesti  civitati 
etiam  terrena  Jerusalem  figuram  propheticam  praebuit,  vel  'ad 
Christum  secundum  carnem\  qui  est  super  omnia  deus  benedictus 
in  saecula,  S.  461:  ex  duobus  namque  ilUs  hominibus,  Abel, 
quod  interpretatur  luctus,  et  eius  fratre  Seth,  quod  interpre- 
tatur  resurrectio,  mors  Christi  et  vita  eius  figuraturJ)  Diese 
beiden  stellen  waren  für  unsern  dichter  die  qaelle  zu  den 
versen  40 — 43.  V.  36  ff.  heisst  es:  do  er  'hundert  iar^  alt  wart, 
do  gewan  er  daz  beste  chint;  womit  eben  nach  v.  45  Seth  ge- 
meint ist.  Das  ist  ein  Verstoss  gegen  Gen.  5, 3,  wo  es  heisst: 
vixit  autem  Adam  'centum  triginta'  annis  et  genuit  ad  imaginem 
et  similitudinem  suam,  vocavitque  nomen  eius  'Seth\  Da  sich 
nun  weder  in  den  apokryphen  noch  in  irgend  welchem  com- 
mentare  die  angäbe  findet,  dass  Adam  im  alter  von  100  jähren 
den  Seth  gezeugt  habe,  so  werden  wir  an  dieser  stelle  unserm 
dichter  einen  lapsus  memoriae  vorwerfen  müssen.  Dagegen 
stimmen  v.  47 — 50  mit  Gen.  5, 4:  et  facti  sunt  dies  Adam,  post- 
quam  genuit  Seth,  'octingenti  anni\ 

21,51 — 71.  In  V.  52  ist,  wie  wir  aus  v.  62  f.  ganz  genau 
erfahren,  unter  dem  verworchten  man  niemand  anders  zu  ver- 
stehen als  Kain.  Sachlich  stimmen  v.  51 — 58  mit  Gen.  4, 17: 
cognovit  autem  Cain  uxorem  suam,  quae  concepit  et  peperit 
'HenocW;  et  aedificavit  civitatem,  vocavitque  nomen  eius  ex  no- 
mine filii  sui  'Henoch\  Bei  unserm  dichter  heisst  der  söhn 
des  Kain  aber  Enos,  der  nach  Gen.  5, 6  der  söhn  des  Seth  war. 
Für  diese  Verwechslung  können  wir  eine  quelle  nicht  auffinden. 
Auch  das  Adamsbuch  bietet  hiefür  nichts;  denn  dort  erscheint 
Henoch  als  söhn  des  Jared  (s.  96),  Enos  aber  als  ^hn  des  Seth, 
wie  in  der  bibel  (s.  83).  Einen  weiteren  fehler  begeht  der 
dichter,  wenn  er  v.  62  ff.  sagt  darnach  lebt  er  manigen  tac  Cayn, 
der  verworchte  man,  untz  er  einen  sun  gewan,  der  hiez  Girat 
In  der  bibel  wird  nur  an  der  citierten  stelle  Gen.  4, 17  von 
einer  nachkommenschaft  Kains  gesprochen,  sonst  nirgends. 
Weiter  heisst  es  Gen.  4, 18:  porro  genuit  Henoch  (nicht  Cain) 
Irad,  et  Irad  genuit  Maviael,  et  Maviael  genuit  Mathusael,  et 

*)  Die  andern  auctoren  welche  sich  mit  dieser  frage  befassen,  wie 
Isidor.  Hispal.  (Migne  t.  73, 101),  Rhaban.  Maurus  (Migne  1. 111, 32),  Hugo 
(Migne  1. 175, 640),  Petrus  Comestor  (Migne  1. 198, 1080)  haben  ihre  Wissen- 
schaft, wie  ich  mich  genau  überzeugt  habe,  aus  Augustinus  geschöpft. 


312  TEÜBEB 

Mafhusael  genuit  Lantech.  Es  hat  demnach  unser  dichter  den 
enkel  Kains  zu  einem  söhne  desselben  gemacht,  wenn  anders 
Girat  und  Irad  dieselben  namen  sind,  so  sehr  er  sich  auch  auf 
die  richtigkeit  seiner  ansieht  mit  berufung  auf  seine  quelle 
(v.  66  so  ez  der  huchstabe  hat)  stemmen  mag.  Lamech  ist  zwar 
ein  nachkomme  Kains,  aber  wenn  der  dichter  sagt  von  des 
chindes  chinde,  so  stimmt  das  abermals  nicht  mit  der  bibel; 
wenn  er  mit  diesem  ausdrucke  nichts  anderes  sagen  will  als: 
'durch  einen  seiner  nachkommen',  so  können  wir  damit  ein- 
verstanden sein.  Was  der  dichter  endlich  in  v.  68 — 71  sagt, 
steht  in  der  bibel  nur  andeutungsweise:  Gen.  4, 23  qiwniam 
occidi  virum  in  vulnus  meum, 

21,72  —  22,10.  Was  der  dichter  21,72—80  sagt,  ist  bib- 
lisch nicht  belegt.  Dagegen  findet  sich  im  ChristUchen  Adams- 
buche s.  85  die  geschichte  von  der  ermordung  Kains  durch 
Lamech  sehr  ausfuhrlich  geschildert.  Es  heisst  dort:  und  in 
jenen  tagen  wa/rd  Lamech,  einer  von  den  nachkommen  Kains, 
blind  (v.  75).  . . .  Da  stand  Lamech  auf  und  nahm  einen  bogen, 
den  er  früher  in  seiner  jünglingszeit  zu  tragen  pflegte  (v.  72.  73), 
und  nahm  grosse  pfeile  und  glatte  steine  und  eine  Schleuder, 
die  er  hatte.  Und  er  gieng  mit  dem  jungen  hirten  auf  das 
feld  und  blieb  hinter  dem  vieh,  während  der  junge  hi/rte  das 
vieh  hütete;  so  hielt  er  es  etliche  tage  lang.  Kain  aber,  seit 
ihn  der  herr  verabscheut  und  mit  dem  zittern  und  der  erschrocken- 
heit  verflacht  hatte,  hatte  an  keinem  orte  ruhe  (in  diesem  satze 
liegt  für  unsern  dichter  die  veranlassung,  noch  einmal  21,  81 
— 85  und  22, 1 — 3  auf  die  erbauung  der  Stadt  durch  Kain 
und  auf  den  fluch  der  auf  ihm  lastete,  zurückzukommen;  für 
22, 4 — 9  speciell  ist  Adamsbuch  s.  74  heranzuziehen,  wo  gesagt 
wird:  und  er  gieng  hinab  in  die  gegend,  unterhalb  des  berges, 
des  gartens,  an  einen  nahen  ort,  wo  es  ^  viele  bäume  und  wälder' 
hatte;  und  er  bekam  'viele  kinder'  von  seiner  Schwester).  So 
kam  er  zu  den  weibern  des  Lamech  und  fragte  sie  (nach  ihm); 
da  sagten  sie  ihm,  dass  er  auf  dem  felde  bei  dem  vieh  sei.  Und 
Kain  gieng  hinaus,  um  Lamech  aufzusuchen  und  kam  auf  das 
feld.  Und  der  junge  hirte  hörte  das  geräusch  von  ihm,  das  er 
durch  das  gehen  hervorbrachte,  und  sagte  zu  Lamech:  ist  es 
ein  ^wildes  tier'  oder  ein  räuberf  ...  Und  Lamech  spa/nnte 
seinen  bogen . . .     Und  als  nun  Kain  auf  dem  felde  hervortrat, 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  313 

sagte  der  hirte  zu  Lantech:  schiesse,  siehe,  da  kommt  er.  Und 
er  schoss  ihn  mit  dem  pfeil  . . .  und  er  stürzte  alsbald  nieder 
und  starb. 

Mit  22, 11  f.  sagt  der  dichter  eben  nur,  dass  er  noch  mehr 
zu  erzählen  wüsste,  und  bricht  die  geschichte  ab,  um  in  seiner 
weitern  darstellung  mit  Gen.  6  einzusetzen. 

22, 13 — 21  geben  den  inhalt  von  Gen.  6, 5. 6  wider:  videns 
autem  deus,  quod  multa  malitia  hominum  esset  in  terra  et 
cuncta  cogitatio  cordis  intenta  esset  ad  mal/um  omni  tempore, 
poenituit  cum,  quod  hominem  fedsset  in  terra.  In  v.  16  nimmt 
der  dichter  voraus,  was  erst  Gen.  6, 17  erzählt  wird:  ecce  ego 
adducam  aquas  diluvii  super  terram,  ut  interfidam  omnem 
carnem. 

22,22 — 29  schliesst  zunächst  an  Gen.  6,8  an:  Noe  vero 
invenit  gratiam  coram  domino.  Dass  er  aus  Setes  geslcechte 
war,  ergab  sich  aus  der  genealogie  Seths,  wie  sie  Gen.  5, 6 — 29 
erzählt  wird.  In  v.  26 — 28  scheint  aber  unser  dichter  widerum 
auf  das  Adamsbuch  zurückzugehen,  wo  s.  98  gesagt  wird:  und 
so  lange  er  auf  dem  berge  war,  lud  er  auch  nicht  durch  eine 
Übertretung  eine  schuld  vor  gott  auf  sich . . .  Und  es  geschahen 
unter  ihm  viele  wunderzeichen  m^ehr  als  zu  den  Zeiten  der  Vor- 
väter, gegen  die  tage  der  fiut  hin. 

Mit  22, 30 — 33  ist  der  inhalt  dessen  kurz  angegeben,  was 
Gen.  7  und  8  erzählt  wird. 

22, 34—44.  In  v.  34—39  übersetzt  der  dichter  Gen.  5, 31 : 
Noe  vero  cum  quingentorum  esset  annorum  genuit  Sem,  Cham 
et  Japhet.  Wenn  der  dichter  weiter  in  v.  40 — 44  nicht  eine 
Zusammenfassung  dessen  im  äuge  hat,  was  über  die  errettung 
dieser  söhne  in  Gen.  7  und  8  berichtet  wird,  ähnlich  wie  oben 
V.  30 — 33  bezüglich  des  Noe,  so  könnte  man  vermuten,  dass 
er  hier  abermals  das  Adamsbuch  vor  äugen  hatte,  wo  die 
Sündflut  ebenfalls  s.  105  f.  ausführlich  geschildert  wird. 

22, 45—53.  Was  der  dichter  schon  22, 13  ff.  gesagt  hat, 
widerholt  er  hier  als  einleitung  zu  dem  mer,  das  er  darüber 
berichten  will.  Die  stelle  selbst  fusst  auf  Gen.  7, 21  ff.:  consum- 
taque  est  omnis  caro  quae  movebatur  super  terram  ...  Et  cuncta 
in  quibus  spiraculum  vitae  est  in  terra  mortua  sunt  (v.  47 — 49). 
Gen.  7,1:  dixitque  dominum  ad  eum  (sc.  Noe):  ingredere  tu,  et 
omnis  donms  tua  in  arcam:  te  enim  vidi  iustum  coram  me  in 

Beiträge  rar  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  21 


314  TAUBER 

generatione  hac  (v.  50  f.).    In  v.  52  f.  wird  der  sündflutbericht 
der  bibel  (Gen.  7)  zusammengefasst. 

22,54 — 79 J)  Die  grundlage  dieser  ausftihrungen  bildet 
unverkennbar  Gen.  6,2:  videntes  filii  dei  filias  hominum,  quod 
essent  pulchrae,  acceperunt  sibi  uxores  ex  omnihus  quas  eUgerant 
Aber  die  weitere  ausführung,  die  genaue  Schilderung  des  landes 
der  Sünde  kennt  weder  die  bibel,  noch  irgend  ein  bibel- 
commentar ;  wol  aber  hat  sie  das  Adamsbuch,  das  sich  gerade 
an  dieser  stelle  am  allerauffälligsten  als  quelle  des  Anegenge 
erweist.  Vor  allem  wird  im  Adamsbuche  widerholt  auf  die 
kinder  gottes  und  die  kinder  der  menschen,  oder  wie  es  s.  95 
heisst  söhne  des  teuf  eis,  hingewiesen  (unser  dichter  in  v.  55. 
58  f.).  Auch  wird  weiter  ebendaselbst  von  s.  94  f.  von  dem 
allmählichen  abfall  der  kinder  gottes  gesprochen.  S.  95:  und 
darnach  sammelten  sich  andere  scharen  und  giengen  hinab, 
ihre  hrüder  aufzusuchen^  und  stürzten  sich  allesammt  ins  ver- 
derben. Und  so  machte  es  eine  schar  nach  der  andern,  bis  nur 
noch  tvenige  nach  ihnen  übrig  waren  (unser  dichter  spricht 
ganz  in  demselben  sinne  v.  56  f.).  Das  Adamsbuch  erählt  weiter 
s.  95:  und  als  sie  die  Kainstöchter  sahen,  dass  sie  schön  wären, 
und  an  ihren  händen  und  füssen  die  färbstoffe  zum  schmucke 
und  ...  in  den  gesichtern,  entbrannte  in  ihnen  das  feuer  der 
Sünde,  Und  der  Satan  verlieh  ihnen  vor  den  hindern  Seths 
grosse  Schönheit  und  ebenso  machte  der  Satan  die  Jcinder  Seths 
sehr  schön  in  den  äugen  der  Kainitinnen;  und  die  Kainitinnen 
sprangen  auf  die  Sethiten  los  wie  raubtiere,  und  ebenso  die 
Sethiten  auf  die  Kainitinnen,  und  sie  verunreinigten  sich  mit 
ihnen  (den  weibem).  Das  stimmt  mit  dem  was  unser  dichter 
kürzer  in  v.  60 — 67  gesagt  hat,  inhaltlich  ganz  trefflich  zu- 
sammen, mitunter  sogar  wörtlich.  Dass  das  Anegenge  v.  63 
schreibt  daz  ander  chom  von  Cham,  scheint  nicht  dem  dichter, 
sondern  einem  späteren  abschreiber  zu  gehören;  denn  eine 
solche  Verwechslung  darf  man  unserm  dichter  doch  nicht  zu- 
trauen: es  muss  heissen  daz  ander  chom  von  Cayn,  Von  dem 
unterschiede  zwischen  den  Sethiten  und  Kainiten,  welchen  unser 


>)  Der  sinn  von  v.  56  f.  ist:  die  woltat,  kinder  gottes  zu  heissen,  liessen 
sie  gott  sehr  übel  entgelten,  indem  sie,  wie  später  gesagt  wird,  ahfielen. 
22;  67  möchte  man  erwarten  uz  dem  veno,  chunne. 


Quellen  des  anegexge.  315 

dichter  v.  62  f.  aufstellt,  war  in  der  aus  dem  Adamsbuche 
citierten  stelle  schon  die  rede;  derselbe  wird  im  Adamsbuche 
widerholt  und  scharf  betont  (vgl.  s.  93  f.).  In  dem  folgenden 
verse  (22,68)  knüpft  der  dichter  die  aus  dem  Adamsbuche 
benutzte  und  eben  citierte  stelle  an  eine  andere  desselben 
buches  an,  welch  letztere  aber  in  ganz  anderem  zusammen- 
hange steht  als  bei  unserm  dichter.  Im  Adamsbuche  wird 
s.  78  erzählt,  wie  der  teufel  den  Seth  zum  abfalle  von  gott  zu 
vei'führen  sucht;  damit  ihm  das  besser  gelinge,  schildert  er 
dem  knaben  die  herrlichkeiten  seines  reiches,  wo  es  neben 
vielen  schönen  weibern  noch  folgende  dinge  gibt:  s.  78:  und 
nun  wünsche  ich  dich  dorthin  ^u  bringen,  damit  du  meine  ver- 
Wanten  sehest;  und  ich  will  dich  verheiraten  mit  welcher  du 
willst  . . .  und  du  wirst  kein  opfer  mehr  bringen  und  keine 
harmherzigkeit  mehr  zu  erflehen  haben  (v.  70 — 72)  und  keine 
Sünde  tun  und  keine  tierische  last  empfinden.  Und  wenn  du 
mich  da  sagen  hörst,  dass  ich  dich  mit  einer  von  meinen  töchtern 
vermählen  wolle,  —  so  ist  das  hei  uns  keine  sünde  und  keine 
tierische  lusit  (v.  73  f.).  Und  wir  in  unserer  weit  haben  keine 
götter,  sondern  wir  alle  sind  selbst  götter  (75  unt  ouch  got  ver- 
manden),  —  Das  stimmt  also  inhaltlich  zum  Anegenge.  Und 
es  ist  nur  eine  für  den  dichter  aus  dem  vorhergehenden  leicht 
zu  ziehende  consequenz,  wenn  er  22,  76 — 80  schliesst:  in  allen 
den  landen  wart  daz  unrecht  so  groz,  dajs  si  got  von  recht 
verlos,  wand  er  vil  m>anic  mml  sach;  durch  ^nof  er  do  sprach. 

Nun  kommt  der  dichter  wider  auf  den  biblischen  bericht 
zurück.  22, 81 — 83  übersetzt  Gen.  6, 3:  dixitque  deus:  nonper- 
manebit  spiritus  meus  in  homine  in  a^eternum,  nur  dass  die 
directe  rede  der  bibel  hier  in  die  indirecte  rede  übertragen 
wurde.    Ganz  ähnlich  ist  es  im  folgenden 

22,84 — 23,4.  Dazu  stimmt  Gen.  6, 6:  poenituit  eum,  quod 
hominem  fecisset  in  terra;  et  tactus  dolore  cordis  intrinsecus 
(22,84—23,1,  wobei  22, 86  und  23, 1  durch  den  letzten  satz  der 
bibel  angeregt  sind).  Weiter  Gen.  6, 7 :  deUbo,  inquit,  hominem, 
quem  creavi,  a  fade  terrae,  ab  homine  usque  ad  animantia,  a 
reptili  usque  ad  volucres  coeli:  poenitet  enim  me  fecisse  eos. 
Und  Gen.  6, 17:  ecce  ego  odducam  aquas  diluvii  super  terram, 
ut  interfidam  omnem  ca/tnem;  in  qua  spiritus  vitae  est  subter 
coelum:   universa,   quae  in  terra   sunt,   consumentur.    Diese 

21* 


316  TEUBEB 

zweite  stelle,  welche  mit  jener  aus  Gen.  6, 7  fast  wörtlich  über- 
einstimmt, musste  citiert  werden,  weil  der  dichter  23,5  sagt: 
diu  wort  sprach  er  Noe  0Ü,  was  nur  für  den  zweiten  teil  der 
Worte  gottes  gilt;  denn  dass  gott  dem  Noe  gesagt  hatte,  es 
reue  ihn  den  menschen  geschaffen  zu  haben,  davon  weiss  die 
bibel  nichts.  Es  ist  das  eine  poetische  licenz,  die  wir  ihm 
gerne  nachsehen. 

23, 5 — 10  stützt  sich  auf  Gen.  6, 14 :  fac  tibi  arcam  de  lignis 
laevigatis,  wobei  aber  in  v.  8  zugleich  an  Gen.  6, 19 — 21  gedacht 
wurde,  wo  erzählt  wird,  was  alles  in  die  arche  hineinkommen 
sollte;  deshalb  musste  sie  michel  unt  starch  sein.  Ebenso 
schwebte  bei  v.  10  Gen.  7, 1  ff.  vor,  wo  von  der  rettung  Noes 
in  der  arche  die  rede  ist. 

23, 11 — 29.  In  der  hauptsache  stimmen  die  verse  mit  der 
Genesis  tiberein,  nämlich  im  berichte  der  tatsache,  dass  gott 
dem  Noe  befohlen  hat,  eine  arche  zu  bauen.  Mit  dem  verse 
er  gab  im  die  mazze  ist  Gen.  6, 15  et  sie  fades  eam  übersetzt, 
und  wenn  es  dort  weiter  heisst:  trecentorum  cubitorum  erit 
longitudo  arcae,  so  müssen  wir  uns  schon  fragen,  wie  der 
dichter  zu  seinem  fumf  hundert  chlaffter  lanc  kommt.  Gen.  6, 15 
setzt  fort:  quinquaginta  cubitorum  latitudo,  et  triginta  cubitorum 
altiiudo  illius;  die  zahlen  stimmen  hier  mit  unserm  gedichte 
überein,  aber  die  nähere  bestimmung  der  breite  und  höhe 
stimmen  widerum  nicht;  v.  17:  fumfzic  chlaffter  ^tieff'  kann 
nur  die  höhe  und  dreicecher  . . .  'vollechleiche'  nur  die  breite  be- 
deuten. Zur  not  stimmen  v.  14f.:  an  der  hindern  want  hiez 
er  lazzen  diu  tur  dar  in  zu  Gen.  6,16:  ostium  autem  arcae 
pones  ex  latere,  wobei  wir  uns  aber  immer  noch  wundern 
müssen,  wie  der  dichter  zu  der  bestimmung  an  der  hindern 
want,  was  ja  doch  nicht  gleich  ex  latere  ist,  gekommen 
sein  mag. 

23, 20 — 23  gibt  Gen.  6, 14:  mansiunculas  in  arca  fades 
und  Gen.  6, 16:  deorsum  coenacula  et  tristega  fades  in  ea  wider. 
Die  mansiunculae  und  coenacula  sind  es,  welche  der  dichter 
unter  dem  ausdrucke  chemnate  versteht.  Unter  stiege  kann 
nur  sinngemäss  stige  stswf.  =  'stall  für  kleinvieh'  verstanden 
werden;  oder  wollte  der  dichter  das  lateinische  tristega  damit 
widergeben? 

23, 24—29  ist  etwas  unklar  und  gedanken  welche  in  der 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  317 

bibel  in  ganz  anderem  zusammenhange  stehen,  sind  hier  mit- 
einander zu  einem  schwer  entwirrbaren  knäul  zusammen- 
gedreht. V.  24  f.  beziehen  sich  auf  Gen.  6, 16:  fenestram  in 
arca  fades,  v.  28  f.  auf  die  f ortsetzung  dieses  verses :  et  in  cu- 
hito  consummdbis  summitatem  eius.  Woher  aber  der  vierst 
kommt,  lässt  sich  nicht  sagen;  hat  der  dichter  ihn  aus  dem 
ausdrucke  summitatem,  der  sich  in  der  bibel  auf  fenestram 
bezieht,  herausconstruiert?  Dann  bleibt  aber  immer  noch  un- 
klar, wie  das  zu  verstehen  ist,  dass  er  einer  chlafftern  hrceit 
war.  V.  26  endlich  si  bestriche  mit  chlenster  bezieht  sich  bei 
unserm  dichter  auf  venster\  in  der  bibel  dagegen  auf  die  ganze 
arche.  Gen.  6, 14:  fac  tibi  arcam  de  lignis  laevigatis;  mansiun- 
culas  in  arca  fades,  et  bitumine  lines  intrinsecus  et  extrinsecus. 
Es  fragt  sich  nun,  ob  wir  alle  diese  Irrtümer  auf  rechnung 
des  dichters  oder  auf  rechnung  irgend  einer  apokryphen  quelle 
zu  setzen  haben.  Es  kommt  noch  ein  weiteres,  wovon  die 
bibel  nichts  weiss,  nämlich  23, 30 — 34.  Dafür  bietet  die  bibel 
eigentlich  nur  den  schlichten  satz  Gen.  6, 22 :  fedt  igitur  Noe 
omnia  quae  praeceperat  deus.  Eine  Zeitangabe,  aus  der  wir 
schliessen  können,  wie  lange  Noe  an  der  arche  gebaut  haben 
kann,  findet  sich  Gen.  6, 3 :  nachdem  gott  beschlossen  hatte,  alles 
lebende  zu  vertilgen,  sagt  er:  eruntque  dies  illius  centum  viginti 
annorum,  d.  h.  bis  zur  zeit  der  sündflut  sollen  noch  120  jähre 
sein.  Und  gleich  darauf  erhält  Noe  den  auftrag  die  arche  zu 
bauen;  also  hat  er  wol  120  jähre  dazu  gebraucht.  Wie  ver- 
schieden ist  diese  angäbe  von  der  unsers  dichters!  Eine  Ver- 
mutung lässt  sich  jedoch  aussprechen:  wäre  es  nicht  möglich, 
dass  der  dichter  diesen  bericht  über  die  erbauung  der  arche 
Noes  in  der  fassung  des  Adamsbuches  welche  ihm  vorlag,  ge- 
funden hat,  während  er  in  der  fassung  fehlt  welche  wir  kennen? 

23,  35 — 41  entspricht  inhaltlich  Gen.  6,  21 :  tolles  igitur 
tecum  ex  omnibus  esds,  quae  mandi  possunt,  et  comportabis 
apud  te;  et  erunt  tam  tibi  quam  Ulis  in  dbum. 

23,42 — 44  übersetzt  Gen.  6, 18:  et  ingredieris  arcam  tu  et 
filii  tui,  uxor  tua  et  u^cores  filiorum  tuorum  tecum, 

23,45—51  sind  eine  getreue  Übersetzung  von  Gen.  7,  2: 
ex  omnibus  animantibus  mundis  tolle  septena  et  septena,  mas- 
culum  et  feminam;  de  animantibus  vero  immundis  duo  et  duo^ 
masculum  et  feminam. 


818  TEUBEB 

23, 52 — 55.  Dem  entspricht  Gen.  7, 4:  adhuc  mim,  et  post 
'dies  Septem'  ego  phmm  super  terram  ...et  delebo  omnem  sub- 
stantiam  quam  fed  de  superfacie  terrae. 

23,56 — 76.  Diese  ganze  stelle  ist  nur  eine  weitere  aus- 
führung  dessen  was  wir  im  Adamsbuche  s.  105  finden:  und 
gott  sprach  su  Noah:  steige  hinauf  oben  auf  die  arche  und 
blase  mit  der  trompete  dreimal,  damit  die  tiere  und  die  vögel 
sich  versammeln.  Und  gott  sagte  zu  Noah:  der  schall  dieser 
trompete  geht  nicht  allein  aus  ihr  hervor,  sondern  'meine  TcrafV 
geht  mit  ihrem  schalle  aus,  damit  er  in  die  ohren  der  tiere  und 
vögel  dringe.  Und  wenn  du  diese  trompete  blasen  wirst,  werde 
ich  meinem  enget  befehlen,  dass  er  vom  himmel  herab  in  ein 
hörn  stosse,  und  es  werden  sich  alle  tiere  zu  dir  versammeln. 
Und  alsbald  blies  Noah  die  trompete,  me  gott  ihm  gesagt  hatte, 
und  der  engel  stiess  in  das  hörn  vom  himmel  herab,  also  dass 
die  erde  erbebte  und  alle  geschöpfe  auf  ihr  erschüttert  wurden. 
Und  es  versammelten  sich  die  tiere  und  die  vögel  und  alles  was 
sich  regt. 

23, 77  got  selbe  zu  sloz  entspricht  Gen.  7, 16:  et  inchsit  eum 
dominus  deforis  (auch  Adamsbuch  s.  106). 

23, 78—83  gibt  inhaltlich  Gen.  7, 10—12  wider:  aquae  di- 
luvii  inundaverunt  super  terram  (das  ist  der  allgemeine  aus- 
druck,  der  später  näher  bestimmt  wird,  und  unser  dichter  hatte 
nicht  unrecht,  wenn  er  dafür  im  kräftigen  deutsch  sagte  do 
wart  ein  weter  vil  groz),  rupti  sunt  omnes  fontes  abyssi  magnae, 
et  cataractae  coeli  apertae  sunt  (v.  79 — 81).  Et  facta  estpluvia 
super  terram  quadraginta  diebus  et  quadraginta  noctibus  (v.82f.). 

23,84  —  24,5  ist  zum  teile  wörtlich  genau  dasselbe,  was 
in  der  Gen.  7, 19  f.  gesagt  wird:  et  aquae  praevaluerunt  nimis 
super  terram,  opertique  sunt  omnes  montes  excelsi  sub  universo 
coelo.  Quindecim  cubitis  altior  fuit  aqua  super  montes,  quos 
operuerat 

24,6 — 14.  Zurückgreifend  (v.6)  auf  das,  was  er  b^eits 
22, 80  ff.  und  23, 1 — 4  gesagt  hatte,  schliesst  der  dichter  im 
übrigen  wider  an  Gen.  7, 21  ff.  8,4  an:  'universi  homines"  et 
cuncta,  in  quibus  spiraculum  vitae  est  in  terra,  mortua  sunt 
(24, 7 — 9).  Bemansit  autem  solus  Noe  et  qui  cum  eo  era/nt  in 
arca  (24, 10).  Bequievit  arca  mense  septimo  . . .  super  montes 
Armeniae  (24, 11. 13). 


QUELLE!^  DES  ANEGENGE.  319 

24,15—18.  V.  15  übersetzt  zunächst  G^n.  8, 1 :  et  immi- 
nutae  sunt  aquae.  V.  16 — 18  sind  selbständige  erflndung  des 
dichters  mit  anscUuss  an  Gen.  7, 23. 

24, 19 — 25  enthält  ganz  dieselben  gedanken  wie  Gen.  8, 6  f.: 
cumque  transissent  quaä/raginta  dies,  aperiens  Noe  fenestram 
arcae  quam  fecerat  ^dimisit  corvunC,  Qui  egrediebatur  et  non 
revertehatur  (v.  19.  21.  24  f.).  V.  20.  22  f.  beruhen  auf  Gen.  8, 8: 
emisit  quoque  columbam  post  eum  (vom  dichter  allerdings  auf 
den  raben  angewendet,  was  ja  der  context  der  bibel  zulässt), 
ut  videret,  si  iam  cessassent  aquae  super  fadem  terrae, 

24,26 — 34.  V.  26f.  übersetzt  Gen.  8, 8:  emisit  quoque  co- 
lumbam. V.  28  ist  selbständige  zugäbe  des  dichters  (übrigens 
an  allen  stellen  der  patristischen  literatur,  wo  von  dem  er- 
scheinen des  U.  geistes  die  rede  ist,  wird  von  den  vorzüglichen 
eigenschaften  der  taube  gesprochen,  und  es  ist  nicht  unmöglich, 
dass  der  dichter  beim  niederschreiben  dieses  verses  daran  ge- 
dacht hat).  V.  29—34  geben  den  Inhalt  von  Gen.  8, 9  etwas 
subjectiv  gehalten  wider:  quae  (sc.columba)  cum  non  invenisset, 
ubi  requiesceret  pes  eius,  reversa  est  ad  eum  in  arcam:  aquae 
enim  erant  super  universam  terram, 

24, 35 — 39  stimmt  zu  Gen.  8, 10:  expectatis  autem  ultra 
Septem  diebus  aliis  rursum  dimisit  columbam  ex  arca. 

24,40 — 47  ist  frei  nach  Gen.  8, 11  gearbeitet:  at  illa  venit 
ad  eum  ad  vesperam,  portans  ramum  olivae  virentibus  foliis  in 
ore  suo  (was  notwendig  vorausgegangen  sein  muss,  sagt  der 
dichter  v.  40 — 43).  Intelleodt  ergo  Noe,  quod  cessassent  aquae 
super  terram.  Diesen  letzten  satz  hat  der  dichter  in  v.  44 — 47 
ganz  schön  auszuschmücken  verstanden. 

24, 48—59.  V.  48—54  gibt  den  Inhalt  von  Gen.  8, 12:  ex- 
pectavit  nihilominus  Septem  alios  dies,  et  emisit  columbam,  quae 
non  est  reversa  ultra  ad  eum,  V.  55 — 57  sind,  wie  der  dichter 
selbst  in  v.58  f.  zugibt,  subjective  selbsterfundene  Vermutungen; 
ein  übrigens  nicht  ungeschickter  versuch,  das  wegbleiben  der 
taube  zu  erklären. 

24, 60 — 65  gibt  abgesehen  von  der  poetischen  einkleidung 
denselben  gedanken  wider  wie  Gen.  8, 13:  igitur  , , ,  imminutae 
sunt  aquae  super  terram;  et  aperiens  Noe  tectum  arcae  aspexit, 
viditque  quod  exsiccata  esset  superficies  terrae, 

24, 66—74.    Mit  v.  66  f.  sagt  der  dichter  dasselbe,  was  er 


320  TEUBBB 

bereits  22, 29. 32  f.,  gestützt  auf  Gen.  6, 9  und  Gen.  7  und  8  zu- 
sammenfassend, gesagt  hatte.  V.  72  f.  übersetzen  Gen.  8, 14: 
arefacta  (st  terra.  In  v.  68 — 70  gibt  der  dichter  recht  poetisch 
den  gedanken  wider,  den  Gen.  8, 15 — 17  enthalten:  locutus  est 
autem  deus  ad  Noe,  dicens:  egredere  de  arca,  tu  et  uxor  tua, 
filii  tui  et  uxores  filiorum  tuorum  tecum,  Cuncta  animantia, 
quae  sunt  apud  te,  ex  omni  came,  tarn  in  volatilibus,  quam  in 
hestiis,  et  universis  reptilihus,  quae  reptant  super  terram,  educ 
tecum  (alles  das  fasst  der  dichter  in  dem  verse  do  gie  uz  unt 
chras  allez  daz  dar  inne  was  sehr  gut  zusammen),  et  egredimini 
super  terram  {an  die  suzzen  wmde). 

24,  75—78  erinnert  an  Adamsbuch  s.  108,  ist  aber  auch 
Gen.  9, 3  enthalten:  et  omne  quod  movetur  et  vivit,  erit  vohis 
in  cihum.  Die  stelle  ist  wol  auf  die  Genesis  zurückzuführen; 
denn  im  Adamsbuche  wird  nur  gesagt,  dass  gott  speise  für  die 
tiere  geschaffen  habe. 

24,  79 — 81  fusst  auf  Gen.  9, 1 :  lenedixitque  deus  Noe  et 
filiis  eius.  Et  dixit  ad  eos:  cresdte  et  muUipUcamini  etreplete 
terram.  Das  henedixit,  der  segen  gottes,  war  notwendig,  dass 
die  erde  dem  Noe  genuchtsam  allez  gutes  brachte. 

24, 82—25, 1.  V.  82  f.  übersetzt  wörtlich  Gen.  9, 4:  excepto 
quod  camem  cum  sanguine  non  comedetis.  Die  verse  84 — 87 
entsprechen  der  gleich  folgenden  stelle  der  bibel,  allerdings 
nur  dem  Inhalte  nach;  denn  Gen.  9,  5  heisst  es:  sanguinem 
enim  animarum  vestrarum  requiram  de  manu  cuncta/rum  bestia- 
rum:  et  de  manu  hominis,  et  manu  viri,  et  fratris  eius  requiram 
animam  hominis.  Direct  ist  das  was  unser  dichter  sagt,  Lev. 
17, 14  ausgesprochen:  anima  enim  omnis  carnis  in  sanguine 
est;  unde  diad  filiis  Israel:  sanguinem  universae  carnis  non 
comedetis,  quia  anim^  carnis  in  sanguine  est:  et  quicumque 
comederit  illum,  interihit^) 

25, 2—19.  Die  verse  9—19  sind  im  wesentlichen  dasselbe, 
was  Gen.  9, 9 — 15  gesagt  wird:  ecce  ego  statuam  pactum  meum 
vohiscum,  et  cum  semine  vestro  post  vos  . . .  Statuam  pactum 


*  Mit  dieser  frage  beschäftigt  sich  Ambrosius  in  seinem  werke  De  Noe 
et  arca  lib.  unus  (t.  1, 404  f.)  ausführlich.  Nicht  minder  Rupert  v.  Deutz, 
1. 1, 356.  Es  ist  wol  nicht  notwendig,  in  einem  dieser  beiden  Schriftsteller 
die  quelle  unsers  dichters  zu  vermuten,  da  ihm  ja  die  hl.  schrift  doch  viel 
näher  gelegen, 


Quellen  des  anegenge.  321 

meum  voUscum,  et  nequaquam  ultra  interfidetur  omnis  caro 
aquis  diluvii,  neque  erit  deinceps  diluvium  dissipans  terram 
(v.  9. 10. 13. 14).  Diadtque  deus:  hoc  Signum  foederis,  quod  do 
inter  me  et  vos,  et  ad  omnem  animam  viventem,  quae  est  vo- 
hiscum  in  generationes  sempiternas,  Ärcum  meum  ponam  in 
nuhibus,  et  erit  Signum  foederis  inter  me  et  inter  terram  (v.  11  f.). 
Cumque  obduxero  nubibus  coelum,  apparebit  arcus  meus  in 
nuhibus,  et  recordabor  foederis  mei  vobiscum,  et  cum  omni 
anima  vivente  quas  carnem  vegetat:  et  non  erunt  ultra  aquae 
diluvii  ad  delendum  universam  carnem  (v.  15 — 19).  Auch  hier 
hat  der  dichter,  wie  wir  schon  öfters  zu  bemerken  gelegenheit 
hatten,  die  directe  rede  der  bibel  in  die  indirecte  übertragen. 
Schwierigkeit  machen  die  verse  2 — 8;  denn  davon,  dass  Noe 
die  erde  nicht  bebauen  wollte,  weil  er  fürchtete,  es  könnte 
neuerdings  eine  Wasserflut  hereinbrechen,  die  seine  ganze 
arbeit  unnütz  machen  würde,  steht  in  der  bibel  nichts,  noch 
ist  es  mir  gelungen  in  irgend  einem  commentare  oder  einer 
apokryphen  schritt  etwas  derartiges  aufzufinden.  Es  scheint 
demnach  diese  ansieht  erfindung  des  dichters  zu  sein;  ja  ich 
halte  es  nicht  für  ganz  schwierig,  eine  erklärung  dafür  zu 
geben,  wie  in  unserm  dichter  diese  ansieht  entstanden  ist. 
Hält  man  sich  nämlich  vor  äugen,  mit  welcher  feierlichkeit 
Gen.  9, 8 — 17  gott  der  herr  den  bund  mit  Noe  eingeht,  nachdem 
er  kurz  zuvor  gesagt  et  egredimini  super  terram,  et  implete  eam 
(v.  7),  was  doch  schliesslich  auf  das  'bebauen'  der  erde  hinaus- 
geht; denkt  man  weiter  daran,  dass  zweimal  gesagt  wird  sta- 
tuam  pactum  meum  vobiscum  (9. 11)  und  gewissermassen  mit  dem 
erscheinen  des  regenbogens  von  seite  gottes  eine  schriftliche 
Urkunde  dieses  Vertrages  ausgestellt  wird;  erinnert  man  sich 
endlich  daran,  wie  gott  immer  wider  betont,  er  werde  des 
bundes  den  er  mit  Noe  geschlossen,  stets  eingedenk  sein,  so 
liegt  die  frage  nach  dem  warum?  sehr  nahe.  Diese  frage 
mag  sich  auch  unser  dichter  gestellt  haben,  und  er  kam  zu  dem 
resultate,  dass  das  alles  nur  geschehen  sei,  weil  Noe  vom 
herrn  eine  ausdrückliche  Versicherung,  ein  förmliches  ver- 
sprechen verlangt  habe,  dass  er  die  erde  nie  wider  durch  eine 
Wasserflut  heimsuchen  werde;  denn  wäre  er  dessen  nicht  ver- 
sichert worden,  so  hätte  er  sich  aus  furcht  vor  einem  ähnlichen 
ereignisse  nicht  dazu  herangemacht,  die  erde  z\i  bebauen. 


322  TEüBEB 

25,20 — 22  fassen  die  rettung  des  Noe  aus  der  sttndflnt 
kurz  zusammen  und  dürfen  als  des  dichters  eigentum  bezeichnet 
werden. 

25,  23 — 30.  Gen.  8,  20  heisst  es:  aedificavit  autem  Noe 
altare  domino;  et  tollens  de  cunctis  pecorihus  et  volucribus 
mundis,  dbtulit  holocausta  super  altare.  Das  geschieht  nach 
der  bibel  vor  abschliessung  des  bundes  mit  Noe;  unser  dichter 
setzt  die  darbringung  des  opfers  aber  nach  der  bundes- 
schliessung.  Weiter  bringt  nach  dem  berichte  der  bibel  Noe 
freiwillig  ein  opfer  dar,  ohne  geheissen  zu  sein,  nachdem  er 
zuvor  aus  eigenem  antrieb,  ohne  befehl  gottes,  einen  altar 
erbaut  hat;  bei  unserm  dichter  wird  Noe  von  gott  dazu  auf- 
gefordert. Und  das  ist  wider  ein  gedanke,  der  dem  Adams- 
buche angehört,  wo  es  s.  108  heisst:  und  gott  sante  sein  wort 
^u  Nodh,  indem  er  sagte:  Noah,  nimm  von  der  reinen  gattung 
und  bringe  von  ihnen  auf  dem  altar  vor  mir  ein  opfer  dar 
und  entlasse  die  tiere  aus  dem  Jcasten,  Und  Noah  gieng  hinein 
in  den  kästen  und  nahm  von  den  reinen  vögeln  . . .  und  fieng 
an,  wie  ihm  gott  befohlen  hatte,  und  brachte  opfer  dar  auf  dem 
altare  vor  gott  Die  letzten  worte  und  fieng  an  u.s.w.  scheinen 
die  verse  27  f.  veranlasst  zu  haben.  Uebrigens  sieht  man  aus 
V.  25f.,  dass  dem  dichter  auch  der  oben  citierte  vers  der  Ge- 
nesis 8, 20  et  tollens  ex  'cunctis'  pecoribus  etc.  vorschwebte. 

25, 31  f.  übersetzt  Gen.  9,  20:  coepitque  Noe  vir  agricola 
exercere  terram,  et  plantavit  vineam. 

25,  33—42.  Die  grundlage  für  diese  stelle  bildet  Gen.  9,21: 
bibensque  vinum  inebriatus  est,  et  nudatus  in  tabernaculo  suo. 
Alles  andere  ist  ausmalung  des  dichters.  Wenn  er  sich  auf 
diu  schrifft  beruft,  so  citiert  er  wol  eine  quelle  an  einer  stelle, 
wo  er  gar  keine  benutzte. 

25,43 — 52  stimmt  inhaltlich  mit  Gen.  9, 22:  quod  cum  vi- 
disset  Cham,  pater  Chanaan,  verenda  sdlicet  patris  sui  esse 
nudata,  nuntiavit  duobus  fratribus  suis  foras.  V.  52  bezieht 
sich  auf  den  fluch  des  vaters,  der  später  (25, 59  f.,  vgl.  Gen. 
9,25)  über  ihn  ergeht. 

25,  53  f.  f asst  der  dichter  zusammen,  was  G^n.  9, 23  steht : 
at  vero  Sem  et  Japhet  pallium  imposuerunt  humeris  suis,  et 
incedentes  retrorsum,  operuerunt  reverenda  patris  sui, 

25,55—57  ^bt  Gen.  9,24  wider:  evigilans  autem  Noe  ex 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  323 

vino,  cum  dddicisset,  quae  fecerat  ei  filius  suus  minor.  — 
25, 58 — 62  übersetzt  und  erklärt  Gren.  9,25:  m^ledictus  Chanaan, 
servtis  servorum  erit  fratrihus  suis. 

Damit  hat  der  dichter  einen  grossen  teil  seines  gedichtes 
vollendet.  Bevor  er  zu  dem  anderen  hauptteile  seines  werkes, 
den  wir  wol  am  besten  'erlösungsgeschichte'  betiteln,  übergeht, 
schiebt  er  eine  partie  (25,64 — 27,2)  ein,  in  welcher  er  dar- 
zutun sucht,  ob  und  inwieweit  es  möglich  sei  *gott  zu  sehen', 
oder,  um  den  patristisch-scholastischen  ausdruck  beizubehalten: 
der  dichter  handelt  de  visione  dei  Wir  hatten  bereits  in 
früheren  abschnitten  des  Anegenge  bemerken  können,  wie 
unserm  dichter  Hugo  von  St.  Victor  als  quelle  für  viele  theo- 
logisch-philosophische ansichten,  als  führer  durch  manch  schwie- 
rige frage  diente.  Wir  sahen  auch,  wie  der  Verfasser  des 
Anegenge  durch  Hugo  auf  andere  quellen  geführt  wurde,  und 
zwar  dadurch,  dass  sie  bei  Hugo  citiert  waren.  Das  letztere 
scheint  auch  bei  der  folgenden  partie  unsers  gedichtes  der 
fall  zu  sein.  Hugo  von  St.  Victor  behandelt  nämlich  in  seiner 
Schrift  De  sacramentis  lib.2,  pars  18,  c.  16  ff.  (Migne  1. 176, 613  ff.) 
ebenfalls  die  frage  de  visione  dei.  Diese  abhandlung  Hugos 
hat  unser  dichter  wol  gekannt,  und  durch  sie  kann  er  auf  die 
Schrift  De  videndo  deo  des  Augustinus  (Migne  t.  33, 596  ff.)  auf- 
merksam gemacht  worden  sein. 

Anschliessend  an  die  vorhergehende  erzählung  von  Noe 
und  dem  bündnisse,  das  der  herr  mit  ihm  geschlossen,  kommt 
der  dichter  auf  die  frage,  ob  wir  mit  *  fleischlichen  äugen'  wol 
im  Stande  seien,  gott  zu  sehen:  25,64 — 72.  V.  64— 68  sind 
hier  selbständige  einleitung  des  dichters;  v.  69 — 72  stellen  das 
thema  füi-  die  folgende  darstellung  (bis  28, 2)  fest.  Der  dichter 
wül  aber  mit  manigen  urchunden  her  wider  reden,  d.h.  nicht 
aus  dem  eigenen  anschauungskreise  will  er  die  sache  darstellen, 
sondern  mit  manigen  urchunden,  worunter  die  Zeugnisse  der 
hl.  Schrift  und  der  kirchenväter,  auf  die  sich  der  dichter  in 
seiner  darstellung  entweder  direct  beruft,  oder  die  er,  ohne 
sich  speciell  darauf  zu  berufen,  doch  benutzt  und  ausbeutet. 
Ganz  ähnliche  gedanken  finden  wir  auch  bei  Augustinus  aus- 
gesprochen. Nachdem  er  sich  über  das  schauen  des  leiblichen 
und  geistigen  auges  verbreitet  hat,  nachdem  er  den  unterschied 


824  TEÜBER 

zwischen  glauben  und  schauen  klar  gelegt,  kommt  er  auf  die 
scheinbar  einander  widersprechenden  schriftstellen  Joh.  4, 9: 
qui  me  vidit,  videt  et  patrem  und  Joh.  1,18:  deum  nemo  mdü 
unquam  zu  sprechen  (Ep.  147,  c.  5,  no.  16,  t.  2, 603)  und  fährt 
fort:  profecto  quoniam  deum  nemo  hominum  vidit  unquam,  nee 
patrem  quisquam  putandus  est  vidisse,  nee  filium  secundum 
quod  deus  est  et  cum  patre  unus  deus,  Nam  secundum  id 
quod  hämo  est,  utique  in  terra  visus  est  et  cum  hominibus  con- 
versatus  est  (die  stelle  nee  filium  secundum  quod  est  deus  hat 
unser  dichter,  das  sei  hier  im  voraus  bemerkt,  scharf  hervor- 
gehoben s.  26).  De  trinitate  (lib.  2,  c.  9,  no.  16,  t.  8, 855)  sagt 
Augustinus:  nos  qui  nunquam  corporis  apparuisse  oculis  deum 
nee  patrem  nee  filium  nee  spiritum  sanctum  dicimus,  nisi  per 
subiectam  suae  potestati  corpoream  creaturam, 

25,  73 — 80.  Dass  der  dichter  unter  den  männem  des 
alten  bundes,  von  denen  erzählt  wird,  dass  gott  mit  ihnen 
geredet  habe,  dass  sie  aber  gott,  theologisch  zu  sprechen, 
naturaliter  sicut  est  nicht  gesehen  haben,  Noe  zuerst  anführt, 
ist  begreiflich;  denn  er  hat  uns  ja  kurz  zuvor  dessen  geschichte 
erzählt.  Von  Noe  ist  bei  Augustinus  nicht  die  rede,  ebenso 
von  Adam  nicht;  wol  aber  von  Kain.  Ep.  147,  c.  11,  no.26 
heisst  es:  quando  non  solum  cum  Abraham  aliisque  iustis 
verum  etiam  cum  Cain  fratridda  locutus  est.  Die  worte  aliis- 
que iustis  mögen  unsern  dichter  veranlasst  haben  sowol  jene 
zu  nennen,  welche  Augustinus  nicht  nennt,  als  auch  mögen 
sie  ihm  den  ganz  richtigen  gedanken  eingegeben  haben,  eine 
gewisse  chronologische  Ordnung  in  die  aufführung  der  gerechten 
des  alten  bundes  hineinzubringen;  daher  die  verse  26, 1  ff.,  wo 
er  der  reihe  nach  Enoch,  Elias,  Abraham,  David,  Moyses  auf- 
führt. Wenn  der  dichter  25,  79  f.  sagt  da^s;  was  nicht  mere, 
wan  daz  ein  enget  im  erschcein,  so  beruht  das  auf  Augustinus' 
De  trinitate  1.3,  c.  11,  no.  22,  s.  822:  omnia  quae  patribus  visa 
sunt,  cum  deus  Ulis  praesentaretur,  per  creaturam  facta  esse 
manifestum  est  Etsi  nos  tatet,  quomodo  ea  ministris  angelis 
fecerit,  'per  angelos  tamen  esse  dicimus  facta', 

26, 1 — 10.  Damit  gibt  der  dichter  nur  einen  historischen 
aus  der  hl.  schrift  entnommenen  beleg  für  die  behauptung  des 
Augustinus  (Ep.  147,  c.  7,  no.  19,  t.  2,  604) :  qui  (sc.  deus)  cui 
voluerit  sicut  voluerit  apparet  ea  spede,  quam  voluntas  elegerit 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  325 

etiam  latente  natura,  Elyas  und  Enoch  wären  vom  dichter 
eigentlich  in  umgekehrter  reihenfolge  aufzuführen  gewesen, 
wenn  der  dichter  anders  die  Chronologie  bewahren  wollte. 
Allein  Enoch  reimt  sich  mit  /sfoch  (so  wird  die  form  im  original 
geheissen  haben),  und  das  ist  wol  der  grund  für  diese  Umstel- 
lung gewesen.  Die  belegstellen  aus  der  hl.  schrift  für  Enoch 
finden  sich  Gen.  5, 24:  ambulavitque  (sc.  Henoch)  coram  deo,  et 
non  apparuit,  quia  tulit  eum  deus;  für  Elias  ist  4.  Reg.  2, 11 
heranzuziehen:  et  ascendit  Elias  per  turhinem  in  coelum.  Ganz 
consequent  sagt  der  dichter  dais  er  siu  noch  hede  mit  leihe  unt 
mit  sele  hat  Inhalten  'swa  er  wiV :  denn  nirgends  wird  über  den 
auf  enthalt  dieser  beiden  männer  gottes  etwas  näheres  erzählt. 
Was  der  dichter  in  v.  9  von  Abraham  sagt,  bezieht  sich  auf 
Gen.  18, 1:  apparuit  autem  ei  dominus  in  convalle  Mambre; 
und  was  er  ebenda  von  David  sagt,  bezieht  sich  auf  2.  Reg. 
23,  3 :  dixit  deus  Israel  mihi  (David  spricht  von  sich  selbst), 
locutus  est  fortis  Israel.  Vielfach  ist  in  der  patristischen 
literatur  die  frage  behandelt  worden,  ob  denn  Moses,  als  er 
auf  dem  berge  Sinai  von  gott  die  gesetztafeln  empfieng,  auch 
gott  wirklich  gesehen  habe,  wie  er  (natura  sua)  ist,  da  er  ja 
facie  ad  fadem  mit  ihm  sprach.  Dieses  thema  behandelten 
Athanasius  von  Alexandrien,  Gregorius  (wahrscheinlich  Nazian- 
zenus),  Ambrosius  und  nach  ihm  Augustinus,  der  unserm  dichter 
auch  die  gedanken  geliehen  hat,  welche  er  über  Moyses  aus- 
spricht (26,12-32).  Augustinus  sagt  (Ep.l47,  c.8,  no.20,  t.2,605): 
desiderium  autem  veraciter  piorum,  quo  videre  deum  cupiunt  et 
inhianter  ardescunt,  non,  opinor,  in  eam  spedem  contuendam 
flagrat,  qua  ut  vult  apparet,  quod  ipse  non  est;  sed  in  eam 
substantiam  qua  ipse  est  quod  est,  Huius  enim  desiderii  sui 
flammam  sanctus  Moyses,  fidelis  famulus  eius,  ostendit,  uhi  ait 
deo,  cum  quo  ut  amiüus  fade  ad  fadem  loquehatur:  si  inveni 
gratiam  ante  te,  ostende  mihi  tdpsum  (Ex.  33, 13  frei  citiert). 
Quid  ergo?  ille  non  erat  ipse?  si  non  esset  ipse,  non  d  diceret: 
ostende  mihi  tdpsum,  sed  ostende  mihi  deum:  et  tamen  si  dus 
natu/r  am  suhstantiamque  conspiceret,  multo  minus  diceret:  ostende 
mihi  tdpsum.  Ipse  ergo  erat  in  ea  spede,  qua  apparere  vo- 
luerat;  non  autem  ipse  appa/rebat  in  natura  propria,  quam 
Moyses  videre  cupiehat  . , .  Unde  quod  responsum  est  Moysi 
verum  est,  quia  nemo  potest  fadem  dd  videre  et  vivere. 


326  TSUBEB 

Anegenge  26, 11—36  mit  der  stelle  des  Augustinus  zu- 
sammengehalten lässt  ein  abhängigkeitsverhältnis  zwischen 
beiden  nicht  verkennen.  Wir  werden  sagen,  der  dichter  ist 
durch  jene  stelle  angeregt  worden,  die  frage  ob  gott  von 
Moyses  {natura  sicuti  est)  gesehen  worden  sei,  ausführlicher 
zu  behandeln,  als  wie  er  das  bezüglich  der  übrigen  gerechten 
des  alten  bundes  tut.  Er  hält  dabei  ganz  das  verfahren  des 
Augustinus  bei.  Jedoch  näher  zugesehen  stellt  sich  heraus, 
dass  der  dichter  die  frage  nicht  wie  Augustinus  philosophisch 
zu  erläutern,  sondern  einfach  historisch  darzustellen  versucht. 
Die  ganze  darstellung  des  Augustinus  beruht  auf  Ex.  33, 13, 
ja  er  citiert  stellen  daraus,  und  das  war  es,  was  unsem  dichter 
wider  veranlasste,  auf  den  biblischen  bericht  zurückzugehen. 
So  ergibt  sich  denn  für  26, 11 — 16  folgendes  quellenverhältnis: 
die  stelle  beruht  teils  auf  der  oben  citierten  stelle  des  Augu- 
stinus, teils  auf  Ex.  33, 13. 18:  si  ergo  inveni  gratiam  in  con- 
spectu  tuo,  ostende  mihi  fadem  tuam,  Qui  ait:  ostende  mihi 
gloriam  tuam.  Und  schon  v.  17  nennt  der  dichter  uns  seine 
quelle:  nu  sprichet  daz  buch,  worunter  er  kein  anderes  buch 
als  die  Exodus  verstehen  kann,  die  er  übrigens  füglich  schon 
V.13  hätte  eitleren  können.  —  V.  17. 18  geben  Ex.  33, 22  inhalt- 
lich wider:  et  iterum:  ecce,  inquit,  est  locus  apud  me,  et  stabis 
supra  petram.  Der  dichter  weicht  insofern  von  seiner  quelle 
ab,  als  er  sagt:  hinder  einen  stcein,  statt  uff  einen  stasin,  — 
V.  19  stimmt  zu  Ex.  33,  22:  cumque  transibit  gloria  mea.  — 
Ebenso  v.  20  zu  Ex.  33, 23:  tollamque  manum  meam  et  videhis 
'posteriora'  mea,  —  V.  21—23  gibt  Ex.  33, 20  (denn  das  ist  das 
buch,  welches  der  dichter  hier  meint)  wider:  rursumqus  ait: 
non  poteris  vtdere  fadem  meam,  Non  enim  videbit  me  hämo 
et  vivet,  —  V.  24 — 29  geben  inhaltlich  Ex.  34, 29  wider:  cum- 
que descenderet  Moyses  de  monte  Sinai,  tenebat  dtms  tabulas 
testimonii,  et  ignoräbat,  quod  cornuta  esset  fades  sua  ex  con- 
sortio  sermonis  domini,  —  Die  verse  30 — 36  sind  subjective 
reflexionen  des  dichters. 

Nun  hat  uns  der  dichter  die  grossen  männer  des  alten 
testamentes  vorgeführt  und  gezeigt,  dass  sie  den  herm  (natu/ra 
proprio)  nicht  gesehen  haben;  im  folgenden  geht  er  zu  den 
heiligen  des  neuen  testamentes  über,  legt  sich  auch  hier  die 
frage  vor,  ob  sie  gott  gesehen  haben,  und  beginnt  nicht 


Quellen  des  anegenge.  327 

ungeschickt  mit  Petrus.  Auch  von  ihm  behauptet  er  26, 37—39: 
wosrlich  die  (gotes  magenchrafft  nämlich)  engisach  sant  Peter 
noch  nie  weder  dort  noch  hie.  Auch  diese  stelle  ist  durch 
Augustinus  (Ep.  147,  c.  12,  no.  30,  t.  2, 610)  angeregt:  Petrus  hat 
Christum,  so  heisst  es  dort,  als  den  söhn  gottes  bekannt  mit 
den  Worten:  tu  es  ChristuSj  filius  dei  vivi  Augustinus  knüpft 
daran  die  bemerkung:  quamvis  illa  revelatio  utrum  per  fidem 
tantae  rei  creditae,  an  'per  visionem'  conspectae  facta  in  eius 
mente  fuerit,  mon  mihi  videtur  elucere,  cum  et  ipse  Petrus  tarn 
parvulum  se  adhuc  Uli  ostenderit,  ut  timeret,  ne  amitteret  mo- 
rientem,  quem  filium  dei  vivi  . . .  paulo  ante  confessus  fuerit. 
Damit  will  Augustinus  sagen,  dass  Petrus,  obwol  er  Christum 
als  söhn  gottes  bekannt  hat,  ihn  nur  deswegen  als  solchen 
bekannte,  weil  er  entweder  glaubte,  dass  er  es  sei,  oder  weil 
er  eine  Offenbarung  erhalten  habe;  dass  er  ihn  aber  deswegen 
nicht  als  söhn  gottes  bekannte,  weil  er  die  gottheit  in  Christus 
von  angesicht  zu  angesicht  sah.  Diesen  sinn  hat  der  dichter 
in  den  citierten  versen  widergegeben  und  die  sache  auch  gleich 
aufe  jenseits  ausgedehnt. 

Zu  26, 40 — 46  ist  ein  citat  heranzuziehen,  das  Augustinus 
(Ep.  148,  C.2,  no.  7,  t.  2, 625)  aus  Hieronymus  bringt:  videre  deum 
sicut  est  in  natura  sua  oculus  hominis  non  potest:  non  solum 
homo,  nee  angeli,  nee  throni,  nee  potestates,  nee  dominationes 
nee  omne  nomen  quod  nominatur,  neque  enim  creatura  potest 
aspicere  creatorem  suum.  Den  sinn  dieser  worte  gibt  der 
dichter  in  v.  40 — 44  wider  und  wendet  sie  in  v.  39  auch  auf 
Petrus  an.  Dass  er  auch  die  uheln  (enge!)  mit  herein  zieht, 
mag  Augustinus  (Ep.  147,  c.  5,  no.  15,  t.  2,  602)  ebenfalls  ver- 
anlasst haben,  der  ausdrücklich  Verwahrung  dagegen  einlegt, 
dass  auch  die  bösen  engel  gott  schauen:  multum  enim  miror, 
si  eo  usque  progrediuntur,  qui  existimant  impios  visuros  deum 
et  a  didbolo  visum  deum,  ut  eos  et  mundo  corde  esse,  et  pacem 
et  sanctificationem  cum  omnihus  a^ssectari  perseverent, 

26,47 — 50.  Damit  sucht  der  dichter  einer  naiven  frage 
zu  begegnen;  er  verweist  aber  den  fragenden  sofort  mit  26, 51 
— 56  auf  Paulus.  Die  stelle  ist  tatsächlich  auf  2.  Cor.  12, 1 — 4 
zurückzuführen,  speciell  heisst  es  v.  2:  scio  hominem  in  Christo 
natum  . . .  raptum  huiusmodi  usque  ad  tertium  coelum.  Unter 
dOTi  Worte  hominem  versteht  Paulus,  wie  der  context  erkennen 


328  TEUBEB 

lässt,  niemand  anderen  als  seine  eigene  person.  Weil  er  nun 
seinen  namen  nicht  nennt,  sondern  nur  sagt:  scio  hominem, 
deshalb  schrieb  unser  dichter:  der  grozze  lercere,  daz  er  ez  selbe 
wcere,  daz  zöch  er  sich  nicht  an,  Paulus  und  dessen  aus- 
spruch  in  diese  abhandlung  hineinzuziehen,  veranlasste  unsem 
dichter  aber  Augustinus,  der  (Ep.  147,  c.l3,  no.31)  sagt:  deinde 
potest  moveri  quomodo  ipsa  dei  suhstantia  videri  potuerit  a 
quihusdam  in  hoc  vita  positis  . . .  nisi  quia  humana  mens  divi- 
nitus  rapi  ex  ha^c  vita  ad  angelicam  vitam ...  Si  enim  raptus 
est,  qui  audivit  illic  ineffabilia  verha,  qua£  non  licet  hominibus 
loqul  Diese  letzten  worte  sind  worte  des  Paulus,  und  es 
kann  kein  zweifei  sein,  dass  Augustinus  unter  demjenigen  qui 
raptus  est  auch  Paulus  verstanden  wissen  will.  Und  das  ver- 
anlasste eben  den  dichter  auf  jene  stelle  selbst  zurückzugehen, 
wo  Paulus  diese  sache  erzählt,  d.  h.  2.  Cor.  12, 2 — 4.  Und  diese 
stelle  hat  der  dichter  durch  26,57 — 62  widergegeben.  Augu- 
stinus ist  a.a.O.  nicht  geneigt  zu  glauben,  dass  Paulus  wirk- 
lich gott  gesehen  habe  wie  er  ist,  und  da  Paulus  selbst  sagt, 
dass  er  in  den  dritten  himmel  entrückt  wurde,  aber  gänzlich 
davon  schweigt,  dass  er  gott  gesehen  habe,  so  finden  wir  auch 
die  verse  26, 63—68  ganz  begreiflich. 

26, 69 — 81.  Wenn  der  dichter  in  diesen  versen  die  mög- 
lichkeit,  gott  zu  sehen,  mit  aller  entschiedenheit  in  abrede 
stellt,  so  fusst  er  auch  hierin  auf  Augustinus,  der  seinerseits 
wider  dem  ansehen  des  Hieronymus  weicht.  Augustinus  (Ep.  148, 
c.  2,  no.  7,  t.  2, 625)  sagt:  sanctus  autem  Hieronymus  ait:  videre 
deum  sicuti  est  in  natura  sua,  oculus  hominis  non  potest.  Zu 
diesem  citat  gibt  Augustinus  folgende  erklärung:  his  verhis  vir 
doctissimus  satis  ostendit,  quid  etiam  de  futuro  saeculo  senserit, 
quod  ad  hanc  rem  attinet  Quantumlihet  enim  oculi  corporis 
nostri  mutentur  in  melius,  angelorum  oculis  aequabuntur.  Hie 
autem  et  ipsis  et  universae  omnino  coelesti  creaturae  invisibilem 
naturam  didt  esse  creatoris.  Und  auf  diese  stelle  scheint 
sich  Gregorius  (Migne  t.  76,  90)  zu  beziehen:  sciendum  vero 
est,  quod  fuere  nonnulli,  qui  deum  dicerent  etiam  in  illa  regione 
beatitudinis  in  claritate  quidem  sua  conspici,  sed  in  natura 
minime  videri.  Auch  diese  stelle  muss  der  dichter  gekannt 
haben;  wenigstens  lassen  das  die  verse  73 — 76  erschliessen. 

Dunkel,  zum  teil  schwer  verständlich  und  vielleicht  schlecht 


QUELLEN  DES  ANEGENGfi.  329 

Überliefert  sind  26, 82  —  27, 19.  Diese  stelle  könnte  ganz  gut, 
ohne  dass  im  geringsten  eine  Störung  verursacht  würde,  aus 
dem  texte  fortgelassen  werden.  Denn  27,20 — 23  iedoch  wil 
ich  nü  zestunde  tu  des  ein  tcetl  sagen,  wie  daz  chumt  dcus  si 
nicht  enmegen  gesehen  den  hceiligen  Christ  schliesst  ganz  gut 
an  26,81  an,  wo  der  dichter  die  frage,  ob  man  gott  sehen 
könne  —  und  hier  versteht  der  dichter  vorzugsweise  gott  den 
vater  —  abgeschlossen  hat. 

Weiter  fragt  es  sich  sehr,  auf  wen  sich  die  verse  27, 14 — 19 
beziehen.  Auf  Gregorius  können  sie  sich  nicht  beziehen;  denn 
das  gäbe  keinen  sinn.  Sie  scheinen  sich  auf  den  dichter  des 
Anegenge  selbst  zu  beziehen,  speciell  auf  26,79 — 81;  und  es 
soll  damit  gesagt  werden:  derjenige  der  dieses  lied  gedichtet, 
der  speciell  darüber  gesprochen  hat,  dass  man  gott  mit  fleisch- 
lichen äugen  nicht  sehen  könne,  hat  nach  den  besten  quellen 
gearbeitet,  unter  anderen  auch  nach  Gregorius,  der  ebenfalls 
von  dieser  sache  spricht;  und  deswegen  möget  ihr  leicht  er- 
kennen, dass  dieser  mann  auch  leicht  den  streit  in  dieser  sache 
aufnehmen  könnte  mit  demjenigen  der  ihm  etwa  widerspräche, 
wie  er  26,  79 — 81  gesagt  hat:  swer  icht  anders  dar  unibe  wil 
jehen,  des  antwurt  wir  enceit,  so  wir  vernemen  seinen  streit 
Hätte  der  Verfasser  des  Anegenge  in  dieser  stelle  aber  von 
sich  selbst  gesprochen,  so  hätte  er  wol  die  1.  pers.  sing,  oder 
höchstens  die  l.pers.  pl.  gebraucht  und  gesagt:  da  bi  ir  wol 
meget  die  warhceit  erchennen,  da0  wir  (ich)  denne  vil  wol  vinden 
(vinde).  Das  alles  zusammengenommen  ergibt,  dass  diese  stelle 
sehr  wahrscheinlich  nicht  von  dem  Verfasser  des  Anegenge  her- 
rührt, sondern  von  einem  späteren  abschreiber  dieses  gedichtes, 
der  dem  dichter  einen  denkstein  in  dessen  eigenem  gedichte 
setzen  wollte,  wobei  er  es  nicht  übel  verstand,  26, 81  mit  27, 20 
zu  verbinden. 

Man  könnte  einwenden:  der  dichter  musste  in  v.  16. 17 
schreiben:  daz  er  (nicht  wir  oder  ich)  denne  vil  wol  vindet; 
denn  sonst  hätte  er  keinen  reim  auf  under  windet  in  v.  18  ge- 
habt. Darauf  lässt  sich  vor  allem  antworten,  dass  man  nicht 
einsehen  könnte,  warum  der  dichter  nicht  auch  hier  mit  einer 
blossen  assonanz  hätte  zufrieden  sein  können,  da  er  es  an 
vielen  anderen  stellen  auch  ist.  Wollte  man  aber  diese  stelle 
als  eigentum  des  Verfassers  des  Anegenge  ansehen  mit  rücksicht 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  22 


330  1?EÜBE& 

darauf  dass  sich  ja  sonst  nirgends  in  dem  so  langen  gedichte 
eine  fremde  band  bemerken  lasse,  so  wäre  wol  eine  andere 
conjectur  möglich:  Augustinus,  der,  wie  wir  gesehen  haben,  für 
diese  so  schwierige  frage  die  quelle  unsers  dichters  ist,  führt 
(Ep.  148,  no.  10,  t.  2, 626)  unter  den  schriftsteilem  welche  über 
die  visio  dei  gehandelt  haben,  neben  Hieronymus,  Ambrosius, 
Athanasius  auch  einen  Gregorius  an,  den  er  sanctus  episcopus 
Orientalis  nennt.  Und  tatsächlich  findet  sich  unter  den  Schriften 
des  Gregor  von  Nazianz  eine  rede  (no.  49),  welche  denselben 
Stoff  de  visione  dei  behandelt;  diesen  also  könnte  Augustinus 
genannt  haben.  Die  späteren  gelehrten  schreiben  allerdings 
die  rede  dem  Gregorius  Eliberitanus,  einem  spanischen  bischofe 
zu.  Mag  sie  nun  gehören  wem  sie  will:  Augustinus  citiert  die 
meinung  dieses  Gregorius  zweimal  (a.  a.  o.  und  ib.  c.  4,  no.  15, 
s.  625).  Sollte  das  unserm  dichter  veranlassung  gegeben  haben, 
sich  hier  speciell  auf  Gregorius  zu  berufen?  Es  wäre  dann 
derjenige  von  dem  der  dichter  sagt:  er  hat  eine  tieffe  rede  gi- 
tan,  ze  diu  d^iz  er  uns  benne  den  man  der  da  ticktet  dajs  liet 
(also  de  visione  dei?),  Augustinus;  der  mann  den  er  benennt, 
wäre  jener  Gregorius  und  der  vers  ern  tmte  sein  für  namens 
nicht  bezöge  sich  darauf,  dass  ihn  Augustinus  einfach  als  epi- 
scopus Orientalis  bezeichnet.  Und  die  verse  3 — 7  wären  dann 
ein  lob  auf  Augustinus  (während  sie  im  anderen  falle,  dass 
diese  stelle  ein  einschiebsei  wäre,  sich  auf  den  dichter  des 
Anegenge  bezögen).  Femer  bezögen  sich  v.  8  ff.  auf  eine  stelle 
desselben  (Ep.  148,  c.  2,  no.  10,  t.  2, 626),  wo  es  heisst:  ut  et  illud 
verum  sit  quod  deum  nemo  vidit  unquam,  quae  vox  ipsius  domini 
Christi  est,  was  ja  mit  Aneg.  27,  8.  9:  da^  der  wäre  gotes  sun 
von  dem  selben  dinge  sprach  stimmen  würde.  So  viel  ist  bei 
der  ganzen  sache  aber  sicher,  dass  unser  dichter  jene  rede 
des  Gregorius  höchstens  aus  dem  citate  des  Augustinus  ge- 
kannt hat,  und  es  scheint  daher  nur  gelehrter  anstrich  zu 
sein,  wenn  er  sich  auf  jenen  Gregorius  bemft.  Wie  wir  aber 
sehen  werden,  hat  unser  dichter  in  der  späteren  partie  seines 
gedichtes  Gregorius  den  grossen  benutzt.  Wäre  es  dann  nicht 
möglich,  dass  er  in  jenem  citat  (v.  13)  Gregorius  dervon  ge- 
redet diesen  meint,  allerdings  an  einer  stelle  wo  es  nicht  an- 
gezeigt war?  So  viel  lässt  sich  hier  conjecturieren:  ganz 
aufhellen  lässt  sich  die  sache  nicht. 


QtTELLEN  Dm  ANfiGENGS!.  331 

27, 20 — 38.  Diese  stelle  fusst  auf  Augustinus,  Ep.  147,  c.  19, 
no.46,  t.2,617:  et  quod  corruptibüe  hoc  et  mortale  corpus  nostrum 
in  resurrectione  commutabitur  et  induet  incorruptionem  et  im- 
mortalitatem;  et  quia  seminatur  corpus  animale,  resurget  corpus 
spirituale  transfigurante  domino  corpus  humilitatis  nostrde.  Das 
drückt  der  dichter  sehr  schön  aus  in  den  versen  25 — 29. 

Bei  Augustinus  heisst  es  weiter  Ep.  148,  c.  -2,  no.  8,  s.  626 : 
quando  visus  est  (sc.  Jesus  Christus)  ah  hominihus  per  oculos 
corporis  tamqiMm  ipse  corporeus,  non  cum  secundum  naturae 
proprietatem  fuisse  visum,  in  qua  tunc  mente  cernitur,  quando 
invisibilis  cernitur.  Quibus  invisibilis,  nisi  aspectibus  corpora- 
libus  etiam  coelestihus,  sicut  supra  de  angelis  et  potestatibus 
et  dominationibus  dixit?  (gemeint  ist  Hieronymus).  Diese  stelle 
gibt  der  dichter  wider  durch  die  verse  22 — 24  und  30 — 33. 

Auch  den  letzten  satz,  den  der  dichter  in  v.  34 — 37  aus- 
spricht, finden  wir  bei  Augustinus  vorgebildet,  a.a.O.  no. 7, 
s.  625:  nos  autem  omnes  revelata  fade  gloriam  domini  specu- 
lantes,  in  eamdem  imaginem  transformamur  a  gloria  in  gloriam, 
tamquam  a  domini  spiritu,  licet  fadem  ad  fadem  dei  iusta 
naturae  proprietatem  nulla  videat  creatura,  et  tunc  mente  cer- 
natur,  quando  invisibilis  creditur. 

27, 39 — 47.  Diese  stelle  hat  ihre  grundlage  zunächst  bei 
Matth.  27, 52:  et  monumenta  aperta  sunt;  et  multa  sanctorum 
Corpora,  qui  dormierant,  surrexerunt.  Was  der  dichter  sagt, 
ist  nur  eine  anwendung  dieser  stelle  zu  seinem  zwecke,  näm- 
lich darzutun,  dass  auch  Christus  als  gott  nicht  gesehen  worden 
sei,  und  damit  fusst  er  auf  der  oben  citierten  stelle  des  Augu- 
stinus (s.  626)  quando  visus  est  u.  s.  w.  Und  wenn  er  sagt  wan 
scehen  in  die  wol,  so  wcds  ich  zwiu  das  buch  sol  da  man  uns 
abe  hat  gelemet,  so  meint  er  wol  unter  diesem  buch  kein 
anderes  als  jene  abhandlung  des  Augustinus,  De  visione  dei 
und  versteht  das  'sehen  des  gottessohnes  durch  jene  gerechten, 
welche  mit  ihm  auferstanden  sind'  ebenso  wie  jenes  buch  über- 
haupt das  schauen  des  gottessohnes  versteht,  nämlich  non 
secundum  naturale  proprietatem,^) 


*)  Diese  frage  ist  von  den  vätem  des  öfteren  erörtert  worden,  so  von 
Ambrosius,  Sermo  in  natali  martyrum,  Hieronymus,  Super  Matth.,  Augu- 
stinus, Supra  Joann.  (21, 22),  Chrysostomus,  Hom.  28  De  expositione  symboli 
Beda,  Super  canticum  (5, 1)  lib.  3  (vgl.  Abseiard  s.  1472  ff.)* 

22* 


332  TEUBEB 

27,48—61.  Die  ansieht  dass  selbst  die  engel,  obwol  sie 
im  himmel  verweilen,  gott  nicht  sehen,  nämlich  wie  er  ist, 
haben  wir  bei  Augustinus  wenn  auch  nicht  eingehend  behan- 
delt, so  doch  unverkennbar  angedeutet  gefunden.  Ausffihrlich 
handelt  darüber  Gregorius  (Moralia  in  Job  lib.  18,  t.  2, 94).  Er 
sagt:  sed  quia  de  deo  primum  ecclesiae  praedicatorem  didtur: 
in  quem  desiderant  angelt  prospicere  (1.  Petr.  1, 12),  sunt  non- 
nulli  qui  nequaquam  deum  videre  vel  angelos  suspicantur,  et 
tarnen  dictum  per  veritatis  sententiam  sdmus:  angeli  eorum  in 
coelis  semper  vident  faciem  patris  mei  qui  in  coelis  est  (Matth. 
18, 10)  . . .  Deum  quippe  angeli  et  vident,  et  videre  desiderant; 
et  sitiunt  intueri  et  intuentur,  Si  enim  sie  videre  desiderant, 
ut  affectu  sui  desiderii  minime  perfruantur,  desiderium  sine 
fructu  anxietatem  habet  et  anxietas  poenam  (diese  stelle  hat 
ßhabanus  Maurus  t.  6, 1282  ff.  aufgenommen).  Beati  vero  angeli 
ah  omni  poena  anxietatis  longe  sunt,  quia  nunquam  simulpoena 
et  beatitudo  conveniunt  Rursum  cum  eos  didmus  dei  visione 
satiari,  quia  psalmista  ait:  satiabor  dum  manifestabitur  gloria 
tua  (Ps.  16, 15),  considerandum  nobis  est,  quoniam  satietatem 
solet  fastidium  subsequi,  Ut  ergo  recte  sibi  utraque  conveniant 
dicat  veritas:  quia  semper  vident:  dicat  praedicator  egregius: 
quia  semper  videre  desiderant,  Ne  enim  sit  in  desiderio  an- 
xietas, desiderantes  satiantur,  ne  autem  sit  in  satietate  fastidium, 
satiati  desiderant  Den  inhalt  dieser  stelle  gibt  der  dichter 
in  V.  48 — 56  wider.  Dass  er  Michael  mit  hineinbringt,  ist  wol 
seine  eigene  erflndung;  er  wollte  eben  von  den  engein,  welche 
gott  sehen  und  nicht  sehen,  ein  beispiel  anführen.  Aber  für 
diese  und  für  die  folgenden  verse  muss  noch  das  weitere 
herangezogen  werden,  was  Gregorius  über  diesen  punkt  sagt 
(a.  a.  0.  s.  95  f.):  nee  tamen  videbimus  sicut  videt  seipsum.  Longe 
quippe  dispariliter  videt  creator  se  quam  videt  creatorem,  Nam 
quantum  ad  immensitatem  dei  quidem  nobis  modus  figitur  con- 
templationis,  quia  eo  ipso  pondere  circumscribimur  ('der  e  in 
einem  gaden  sajs'),  quo  creatura  sumus.  Sed  profecto  non  ita 
conspidmus  deum  sicut  ipse  se  conspidt,  sicut  non  ita  requies- 
drnus  in  deo,  quemadmodum  requiesdt  in  se, 

27,  62 — 65  bezieht  sich  auf  die  bereits  aus  Augustinus 
citierte  stelle  (Ep.  148,  c.  2,  no.  7,  t.  2, 625):  hie  autem  et  ipsis 
et  universal  omnino  coelesti  creaturae  invisibilem  naturam  dixit 


QUELLEN  DBS  ANEGENGE.  333 

esse  creatoris.  Den  grund  welchen  der  dichter  27, 66 — 69  dafür 
anführt,  scheint  er  aus  der  oben  citierten  stelle  des  Gregorius 
entnommen  zu  haben:  nam  quantum  ad  immensitatem  . . .  qum 
eo  ipso  pondere  'circumscrihitur^. 

27, 70 — 80.  Den  Johannes  als  zeugen  für  seine  behaup- 
tung  aufzuführen,  dass  gott  noch  niemand  gesehen  habe,  dazu 
veranlasste  den  dichter  ebenfalls  Augustinus,  der  in  der  wider- 
holt citierten  schrif  t  De  visione  dei  immer  wider  auf  Johannes 
hinweist,  namentlich  s.  601,  wo  er  Joh.  1, 18  und  1.  Joh.  4, 12: 
deum  nemo  vidit  umquam  citiert;  daher  sagt  unser  dichter 
V.  79  f.  der  wil  des  vaste  jehen  daz  er  noch  sei  ungesehen,  Dass 
Johannes  an  der  brüst  des  herm  gelegen  sei,  sagt  er  selbst: 
Joh.  21, 20:  qui  et  recubuit  in  coena  super  pectus  eins  (sc.  Jesu). 
Was  die  folge  dieses  innigen  Verhältnisses  zwischen  schüler 
und  meister  war,  liesse  sich  zwar  aus  den  Schriften  des  evan- 
gelisten  selbst  herauslesen,  und  auch  unser  dichter  konnte  es 
wol  treffen.  Aber  wir  finden  in  den  patristischen  Schriften 
stellen,  welche  stark  an  die  ausführungen  unsers  dichters  in 
V.  72 — 78  anklingen.  So  sagt  z.  b.  Beda  in  seiner  homilie  In 
natali  domini  (t.  5,  8D):  neque  enim  frustra  in  coena  super 
pectus  domini  Jesu  recubuisse  perhihetur,  sed  per  hoc  typice 
docetur,  quia  coelestis  haustum  sapientias  caeteris  excellentius 
de  sanctissimo  eiusdem  pectoris  fönte  potavit.  Aehnlich  W.  Strabo 
(t.  2, 426):  super  pectus:  in  pectore  Jesu  omnes  thesauri  sapien- 
tiae  et  scientiae  äbsconditi,  super  quod  recubuit,  quem  maiori 
caeteris  sapientiae  et  scientiae  singularis  munere  donat,  in  quo 
figurabatur,  quanta  arcana  de  divinitate  prae  caeteris  esset  scrip- 
turus.  Eine  dieser  beiden  stellen,  welche  lässt  sich  schwer 
entscheiden,  muss  unser  dichter  gekannt  haben. 

27, 84 — 28, 2.  Der  dichter  schliesst  hiermit  seine  abhand- 
lung  über  die  visio  dei  und  zwar  merkwürdiger  weise  mit 
demselben  gedanken,  den  Augustinus  in  seiner  abhandlung 
über  dasselbe  thema  ausgesprochen  hat  (Ep.  147,  c.  4,  no.  11, 
t.  2, 601):  quod  quidem  fit  mente  et  videtur  mente  . . .  sicut  äbest 
a  conspectu  mentis  meae  fides  tua,  quamvis  eam  esse  in  te 
credam,  cum  eam  non  videam  corpore,  quod  nee  tu  potes;  nee 
mente,  quod  tu  potes.  Nemo  enim  seit  quid  (watur  in  homine, 
nisi  Spiritus  hominis  qui  in  ipso  est. 


334  TEUBER 

28, 3 — 22.  Woher  der  dichter  weiss,  dass  von  Adam  sehs 
unt  dricic  geslcechte  chomen  waren  (28, 12),  lässt  sich  nicht 
eruieren;  biblisch  ist  es  nicht,  und  in  der  patiistischen  literatur 
lässt  sich  davon  auch  nichts  entdecken.  Die  ansieht,  dass  alle 
menschen  bis  auf  Christi  ankunft  in  die  hölle  gekommen  seien, 
ist  ebenfalls  weder  biblisch  noch  in  den  kirchenschriftstellem 
belegt.  Die  anschauungen  über  die  hölle  selbst  beruhen  auf 
Apoc.  14. 17.  20, 9. 14.  21, 8. 

Nachdem  der  dichter  auf  diese  weise  die  ganze  geschichte 
des  menschengeschlechts  behandelt  und  in  v.  15  do^  got  mensch 
wart  auf  die  erlösung  hingewiesen  hat,  geht  er  in  der  tat  auch 
auf  die  erlösungsgeschichte  über:  da^  wir  iu  da  wellen  sagen, 
da  Jiöret  vlodzechlichen  8%  wie  der  wäre  got  du  uns  dem  tivel 
angewunne,  28j  24 — 26.  Aber  noch  immer  nicht  kommt  unser 
dichter  auf  das  historische  der  erlösung:  menschwerdung  gottes, 
tod,  auferstehung  und  himmelfahrt,  sondern  er  bringt  uns  erst 
(von  28,27  —  29,85)  die  vorberatungen,  wie  sie  im  himmel 
zwischen  gott  und  den  vier  töchtern  gottes:  misericordia,  verüas, 
iiistitia,  pax  (erbarmde,  warhce^it,  recht,  fride)  über  die  mensch- 
werdung und  erlösung  des  menschengeschlechtes  abgehalten 
werden.  . 

Der  erste  welcher  die  vier  töchter  gottes,  wie  man  sie 
nun  einmal  zu  benennen  beliebt,  in  die  literatur,  wenn  man 
so  sagen  darf,  eingeführt  hat,  ist  der  Verfasser  des  84.  psaJms, 
wo  uns  dieselben  kurz  gezeichnet  werden  mit  den  Worten 
(v.  11. 12. 14):  misericordia  et  veritas  ohviaverunt  sihi:  iustitia 
et  pa^  osculatas  sunt,  Verität  de  terra  orta  est,  et  iustitia  de 
coelo  prospexit  Iustitia  ante  eum  ambuläbit  et  ponet  in  via 
gressus  suos.  Im  neuen  testamente  fehlte  es  natürlich  nicht 
an  commentatoren  zu  dieser  stelle,  die  wegen  ihres  prophe- 
tischen Charakters  von  ganz  besonderer  bedeutung  ist.  Einen 
commentar  gab  zuerst  Hieronymus  (t.  7, 1077),  der  aber  die 
sog.  Höchter  gottes'  als  tugenden  auslegt,  welche  der  mensch 
vor  der  Sünde  besessen  habe.  Ihm  folgte  Augustinus  in  seiner 
Enarratio  in  psalmos  (t.  4^,  Migne  t.  37, 1078);  er  geht  aber 
bereits  weiter,  indem  er  sagt,  dass  diese  vier  die  tugenden  des 
menschen  vor  der  sünde  gewesen  seien,  aber  auch  die  tugenden 
seien,  welche  dei*  mensch,  wenn  er  gesündigt,  sich  anzueignen 
habe.  Dasselbe  widerholt  er  an  anderen  stellen  (wie  Sermo  185, 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  335 

s.  998.  Seimo  192,  s.  1013).  Der  im  jähre  1126  verstorbene 
Wemerus,  abbas  S.  Blasii  Silvae  Nigrae  hat  nun  in  seinen 
Deflorationes  ss.  patrum  (Migne  1. 157, 1039)  diese  vier  tagenden 
misericordia,  veritas,  iustitia,  pax  erst  zu  t^chtem  gottes,  zu 
beraterinnen  des  allerhöchsten  gemacht.  Woher  diese  steUe 
von  Wernerus  genommen  ist,  lässt  sich  nicht  ermitteln;  denn 
er  selbst  gibt  hier  keine  quelle  an;  da  er  aber  solche  bei 
anderen  stellen  regelmässig  angibt,  so  könnte  man  den  schluss 
ziehen,  dass  die  ganze  darstellung  von  Wernerus  selbst  erfunden 
sei.  Die  hauptsache  dabei  bleibt  der  umstand,  dass  Hugo  von 
St.  Victor  diese  stelle  seinen  Miscellanea  (lib.  2,  t.  3, 623)  wört- 
lich einverleibt,  d.  h.  sie  wörtlich  aus  Wernerus  abgeschrieben 
hat.  Und  von  da  aus  dürfte  sie  unserm  dichter  bekannt  ge- 
worden sein.  Dass  er  sie  gekannt  hat,  wird  die  spätere  aus- 
einandersetzung  zeigen.  Der  hl.  Bernard  endlich  behandelt 
dasselbe  thema  (S.  Bernardi  opera,  Parisiis  1719,  s.  977  ff.)  im 
Sermo  primus  in  festo  annuntiationis  B.  M.  Virginis;  aber  wäh- 
rend bei  Wernerus  nur  die  Misericordia  und  die  Veritas  redend 
auftreten  —  daher  der  titel  De  altercatione  Misericordiae  et 
Veritatis,  hinc  inde  se  accusantis  et  defendentis  —  lässt  der 
hl.  Bernard  alle  vier  töchter  gottes  zu  worte  kommen.  Die 
beiden  letzteren  erscheinen  bei  Wernerus  erst  auf  dem  schau- 
platze, als  der  streit  zwischen  der  Veritds  und  der  Misericordia 
bereits  geschlichtet  ist.  Derselbe  Stoff  findet  sich  auch  bei 
Beda  in  Homiliae  subditae  (no.  104,  t.  5, 505  ff.).  Unser  dichter 
nun  hat  sowol  die  darstellung  des  Wernerus,  bez.  die  abschrift 
Hugos,  als  auch  die  rede  des  hl.  Bernard  über  diesen  gegen- 
ständ gekannt,  beide  mit  einander  geschickt  verflochten  und 
ein  abgerundetes  poetisch  schönes  ganze  geschaffen.^) 

Gleich  mit  28,  27 — 32  setzt  der  dichter  mit  dem  hl.  Ber- 
nard ein  (vgl.  die  einleitung  zu  derselben  erzählung  bei  Bernard 
s.  981 B).  Misericordia  und  Pax  bitten  gott  für  den  menschen, 
Veritas  und  Iustitia  verlangen  dessen  bestrafung.  Gott  hört 
die  bitten  der  ersteren  und  das  drängen  der  letzteren  und 
spricht:  vocentur,  et  super  hoc  verho  pariter  conferamus,  Medius 
oMtem  pater  luminum  residebat  et  utraque  pro  parte  Siia  utilius 


^)  Möglich  wäre  es  natürlich  anch,  dass  bereiti^  zu  lebzeiten  unsers 
dichters  eine  yerbindung  beider  stattgefanden  hätte  nnd  dass  diese  dem 
dichter  bei  seiner  arbeit  vorgelegen.    Wir  allerdings  kennen  keine  solche. 


336  TEUBER 

quod  hahehat  loquehatur.  Das  ist  die  samnunge,  von  welcher 
unser  dichter  spricht,  die  im  Anegenge  allerdings  von  der 
erha/rmde,  hier  von  gott  selbst  berufen  wird,  was  ja  sachlich 
keinen  grossen  un^rschied  macht.  Dass  aber  der  dichter  die 
erbarmde  eine  solche  samnunge  sprechen  lässt,  veranlasste  wol 
der  umstand,  dass  die  Misericordia  in  diesem  rate  als  die  erste 
spricht:  s.  Bernard  S.981D:  eget  miseratione  creatura  rationalis, 
ait  Misericordia,  quoniam  misera  facta  est  et  miseroMlis  valde. 
Econtra  Verität:  das  stimmt  ja  mehr  als  inhaltlich  zu  den 
versen  28  ff. 

28, 33—36.  V.  33  gibt  die  folge  dessen  an,  was  in  v.  27  f. 
angedeutet  wurde.  V.  34 — 36  beziehen  sich  wol  ebenfalls  auf 
Bernard  s.  981 B :  et  quamvis  diu  multumque  visus  sit  dissimulare 
pater  miserationum,  ut  interim  satisfaceret  selo  iustitiae  et  veri- 
tatis:  non  tarnen  infructuosa  fuit  supplicantium  importunitas, 
sed  exaudita  est  in  tempore  opportuno.  Dazu  kommt  noch,  dass 
nach  der  darstellung  Bernards  (ib.)  gott  auf  das  drängen  der 
Misericordia  und  der  Fax  hin  etwas  unwillig  zu  sein  scheint: 
forte  etiam  interpellantihus  tale  dicatur  dedisse  responsum:  us- 
quequo  preces  vestrae?  Debitor  sunt  et  sororibus  vestris,  quas 
acdnctas  videtis  ad  faciendam  vindictam  in  nationibus,  Iustitiae 
et  Veritati 

28, 37 — 46.  Auch  diese  gedanken  finden  sich  in  der 
citierten  predigt  Bernards  (s.  981):  eget  miseratione  creatura 
rationalis,  quoniam  misera  facta  est  et  miseroMlis  valde  . . . 
Ut  quid  ergo,  ait  Misericordia,  ut  quid  me  genuisti,  pater,  dtiu^s 
perituram?  Seit  enim  Verität,  quoniam  Misericordia  tua  periit, 
et  nulla  est,  si  non  aliquando  miserearis. 

28, 47 — 54  enthalten  gedanken  die  auch  Bernard  ausspricht 
(a.a.O.):  econtra  Veritas:  totus  m^riatur  Adam  necesse  est  cum 
Omnibus  qui  in  eo  erant,  qua  die  vetitum  pomum  in  praevari- 
catione  gustavit\  und  kurz  zuvor:  oportet  inquit  (Veritas),  im- 
pleri  sermonem  quem  locutus  es,  domine;  und  ib.  F:  cumque 
adiceret  Verität  in  ipsum  quoque  iudicem  partis  suae  iniuriam 
retorqueri,  dicens,  cavendum  omnino,  ne  fieret  irritum  verbum 
patris,  ne  sermo  vivus  et  efficax  qualibet  occasione  evacaaretur 
(vgl.  V.  54). 

28,55 — 62.  Davon  findet  sich  bei  Bemard  nur  eine  an- 
deutung,  welche  den  dichter  zu  dieser  stelle  und  zum  folgenden 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  837 

veranlasst  haben  könnte,  s.  982  A:  haec  didt:  perii  si  Adam  non 
nioriatur;  et  haec  diodt:  perii  nisi  misericordiam  consequatur; 
und  ib.  C:  sed  übi  potent  ille  innocens  inveniri?  Der  gedanke 
selbst,  den  der  dichter  hier  ausspricht,  findet  sich  bei  Hugo 
von  St.  Victor  (t.  2, 308  und  t.  2, 29  f.)  ausgesprochen,  nur  dass 
ihn  der  dichter  der  Veritas  in  den  mund  legt.  S.  308  D  heisst 
es:  dedit  igitur  homini  hominem  quem  homo  pro  homine  redderet. 
Was  hier  als  schon  geschehen  ausgesprochen  wird,  deutet  der 
dichter  als  etwas  erst  kommendes  an. 

28, 63 — 72.  Diese  verse  stützen  sich  ebenfalls  auf  Hugo, 
t.  2,  308:  sed  nee  hominem  pro  homine  reddere  potuit,  quia 
iustum  et  innoeentem  ahstulerat,  et  neminem  nisi  peccatorem 
invenit  Der  dichter  hat  diesen  gedanken  wider  dramatisiert, 
indem  er  ihn  der  Veritas  in  den  mund  legt,  er  hat  ihn  aber 
auch  mit  Zuhilfenahme  der  hl.  schrift  Gen.  3,  namentlich  v.  17: 
m^ledicta  terra  in  opere  tuo  (vgl.  65 — 67)  weiter  ausgebaut. 

28,73  —  29,4.  In  v.  75— 77  widerholt  der  dichter  das  be- 
reits in  V.  66  f.  gesagte.  Es  ist  aber  eine  schöne  Verknüpfung 
mit  den  folgenden  versen  dadurch  erzielt  worden.  Die  stelle 
selbst  beruht,  wie  es  scheint,  auf  der  schon  genannten  predigt 
Bemards.  Dort  wird  (no.  13D,  s.982)  erzählt,  wie  die  Miseri- 
cordia  und  Veritas  ausgehen,  um  ein  wesen  zu  suchen,  welches 
fähig  wäre  die  menschheit  zu  erlösen.  Sie  finden  kein  solches 
und  kehren  betrübt  zurück.  Da  tröstet  sie  der  *  Friede'  und 
sagt  (ib.  D):  qui  consilium  dedit,  ferat  auxilium.  Intelleodt  rex 
quid  loqueretur,  et  ait:  ... :  ecce  venio  ...Et  accersito  protinus 
Gabriele:  vade,  inquit,  die  filia^  Sion:  adorna  thalamum  tuum 
Sion  et  suscipe  regem.  Die  tochter  Sions  welche  hier  gemeint 
ist,  ist  eben  Maria,  welche  der  dichter  in  v.  3  da  mit  wart  diu 
maget  gem^ßinet  vor  äugen  hat;  der  könig  den  sie  empfangen 
soll,  ist  Christus;  daher  sagt  unser  dichter  v.  4  diu  uns  das 
hceil  brachte.  In  den  versen  5 — 35  kommen  zwar  anklänge  an 
Hugo,  namentlich  t.  2, 22  vor;  manches  stimmt  zu  Augustinus, 
namentlich  zu  den  stellen  welche  der  dichter  3, 2 — 34  benutzt 
hat;  aber  ich  möchte  weder  den  einen  noch  den  andern  als 
directe  quelle  für  diese  stelle  bezeichnen. 

29,36 — 47.9    Die  gedanken  welche  der  dichter  hier  aus- 


^)  Hahn  schreibt  29, 43  stmne,  was  keinen  sinn  gibt.    Ich  würde  sunde 
schreiben,  was  zum  inhalte  der  stelle  ganz  gut  passt. 


388  TEUBER 

spricht,  finden  sich  bei  Hugo  von  St.  Victor  1 2, 389BC:  de  carne 
verbi  hoc  primum  commemorare  oportet,  quod  iUam  ah  ipsa  con- 
ceptione  Spiritus  sancti  operatione  ita  mundatam  credemus,  ut 
eam  verbum  ipsum  liberam  prorst^s  et  immunem  ab  omni  pec- 
cato  assumeret  (vgl.  v.  36 — 44);  poena  tamen  peccati  voluntate 
non  necessitate  assumentis  remanente,  ut  dum  ista  in  salvatore 
sine  culpa  pateretur,  illa,  quae  in  salvandis  pro  culpa  poenae 
obnoxia  fuerat,  liberaretur  (v.  45 — 47).  Der  dichter  hat  aller- 
dings nur  den  inhalt  dieser  stelle  widergegeben  und  noch  dazu 
die  Sache  dramatisch  eingekleidet,  indem  er  die  gedanken  der 
bwrmde  in  den  mund  legte. 

29, 48 — 56.  Diese  stelle  ist  unklar;  nach  v.  51  scheint 
etwas  zu  fehlen;  man  müsste  höchstens,  um  nur  irgend  einen 
sinn  hineinzubringen,  v.  52  so  schreiben  unt  elliu  dinc  ze  bi- 
waren.  Der  hauptgedanke  dieser  stelle  scheint  Bemard  ent- 
nommen zu  sein,  bei  dem  es  s.  982  heisst:  poena,  inquit,  me 
tenet,  mihi  incumMt  sustinere  poenam,  poenitentiam  agere  pro 
homine  quem  creavi,  Tunc  ergo  dixit:  ecce  venio.  Non  enm 
potest  hie  calix  transire,  nisi  bibam. 

29, 57—72.  Eine  stelle  voll  tiefer  speculation!  Aber  die 
gedanken  welche  der  dichter  hier  ausspricht,  sind  nicht  sein 
eigentum,  wenn  wir  ihm  auch  ihre  einkleidung  als  selbständige 
arbeit  zuschreiben  müssen.  Hugo  handelt  t.  2, 30  ff.  über  die- 
selbe Sache.  Er  sagt  s.  30  C:  Christus  igitur  et  nascendo  debitum 
patri  sohit,  et  moriendo  reatum  hominis  expiavit;  ut  cum  ipse 
mortem  pro  homine  (quam  non  debebat)  sustineret,  Hustet  hämo 
pro  ipso  mortem,  quam  debebat,  evaderet,  ^et  iam  locum  calum- 
niandi  diabolus  non  inveniret'  (vgL  v.  64 — 67);  quia  et  ipse 
homini  dominari  non  debuit  et  homo  liberari  dignus  fuit.  Dazu 
ist  noch  heranzuziehen  Hugo,  t.2, 32  f.:  postquam primus parens 
generis  humani  propter  inoboedientiae  culpam  a  paradiso  in  hunc 
mundum  venit,  diabolus  ius  tyrannicum  in  illo  exercens,  sicwt 
prius  fraudulenter  seduxerat,  ita  postmodum  violenter  possidebai 
Sed  dei  Providentia^  quae  hunc  ad  salutem  disponebat,  sie  iusti- 
tiae  rigorem  per  mdsericordiam  temperavit,  ut  cum  ad  tempitö 
quidem  ab  illo  premi  permitteret  (vgl.  v.  68 — 70).  V.  71 1  gibt 
Ps.  44, 7  wider:  virga  diredionis,  virga  regni  tui 

29,  73—78.  Dazu  stimmt  Bernard  S.982F:  sed  tunc  iustitia 
et  pax  osculatae  sunt,  quae  non  modice  videbantur  hactenus 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  339 

dissidcre.  Dieses  dissidere  scheint  wol  von  allen  anderen  ähn- 
lich lautenden  stellen  am  ehesten  die  verse  veranlasst  zu  haben: 
e  diu  stunt  vil  vrömdeleiche  der  fride  hin  dane.  V.  76 — 78  ent- 
sprechen übrigens  auch  Ps.  84, 11:  iitstitia  etpax  osculatae  sunt 

29,  79 — 82.  Dieses  stimmt  inhaltlich  ganz  genau  zu  Wer- 
nerus,  Deflor.  s.  1041 B  (Hugo  t.  3, 625  B):  Misericordia  vero  non 
desistehat  in  coelo  dominum  orare  pro  homine  postulans  ...et 
Misericordia  predhus  suis  dominum  ad  iustificationem  hominis 
compellebat. 

29, 83 — 85.  Auch  dieser  gedanke  findet  sich  bei  Wernerus, 
Deflor.  s.  1041 C  (Hugo  t.  3, 625):  et  ascendit  iustitia  ad  deum  ab 
homine  pacem  postulans. 

30, 1—8.  Wernerus  sagt  s.  1041  (Hugo  t.  3, 625D),  nach- 
dem der  streit  der  gottestöchter  zu  ende  ist:  et  audiens  iustitia 
praecurrens  reversa  est  ad  hominem,  ut  ab  eo  non  discedat, 
donec  dominus  ponat  in  via  gressus  suos,  et  veniat.  In  den 
letzten  worten  wird  wol  auf  die  ankunft  des  erlösers  hin- 
gedeutet, aber  nicht  direct  gesagt,  dass  gott  seine  ankunft 
auf  erden  verkündet  habe.  Das  hat  aber  der  hl.  Bemard 
getan.  Nachdem  die  beratung  der  töchter  gottes  zu  ende  ist, 
heisst  es:  et  accersito  protinus  Gabriele,  vade,  inquit  (sc.  deus), 
die  filiae  Sion:  adorna  thalamum  tuum  et  suscipe  regem  (s.982). 
Also  hier  kündet  gott  sofort,  nachdem  die  beratung  geschehen 
ist,  seine  ankunft  an.  Das  lässt  ihn  auch  unser  dichter  tun. 
Daraus  folgt,  dass  sich  unser  dichter  in  dieser  stelle  widerum 
auf  Bernard  gestützt  hat. 

30, 9 — 14.  Die  verse  9  f.  sind  eine  erinnerung  von  selten 
des  dichters  daran,  dass  der  herr  den  propheten  auftrage  er- 
teilte, die  Weissagungen  dem  volke  zu  verkünden.  Und  diese 
auftrage,  ja  den  Wortlaut  derselben  haben  die  propheten  in 
ihre  Schriften  mit  aufgenonmien.  Daran  erinnert  sich  also  der 
dichter  hier. 

30, 15 — 28.  Man  möchte  meinen,  der  dichter  habe  hier 
alle  propheten,  auch  die  zwölf  kleinen,  vor  äugen.  Betrachtet 
man  jedoch  das  was  er  hier  als  Weissagungen  der  propheten 
voiiührt  näher,  so  findet  man,  dass  er  mit  allem  und  jedem 
was  er  hier  sagt,  auch  v.  5 — 8  mit  eingeschlossen,  nur  auf 
einen  hinweist  und  nur  auf  einem  fusst,  nämlich  auf  Isaias, 
speciell  auf  Is.  53, 4 — 6:  vere  languores  nostros  ipse  tulit,  et 


340  TBUBEB 

dolores  nostros  ipse  portavit  . . .  ipse  vulneratus  est  propter 
iniquitates  nostras,  attritus  propter  scelera  nostra . . .  Omnes 
nos  quasi  oves  erravimus,  unusquisque  in  viam  suam  dedinavit, 
et  posuit  domintAS  in  eo  iniquitatem  omnium  nostrum  etc. 
Wörtlich  hat  der  dichter  diese  stellen  freilich  nicht  wider- 
gegeben, aber  deren  Inhalt  in  den  angezogenen  versen  kurz 
zusammengefasst.  Uebrigens  spricht  auch  gar  kein  anderer 
prophet  so  deutlich  über  das  leiden  des  künftigen  erlösers  als 
gerade  Isaias,  und  wir  begreifen  bei  nur  einiger  kenntnis 
dieses  propheten,  die  wir  dem  dichter  nicht  werden  absprechen 
können,  dass  er  sagt:  daz  taten  si  zeware  vil  unheJbcßre.  Wie 
er  mensch  wolde  werden  (v.  17)  erinnert  an  Is.  9,  6:  parvultfs 
enim  natus  est  nobis,  et  filias  datus  est  nobis,  V.  18  setzt  das 
in  V.  5 — 8  begonnene  fort  und  beruht  auf  denselben  Isaias- 
stellen.  Bei  v.  19 — 21  denkt  man  unwillkürlich  an  Is.  55,  3: 
Inclinate  aurem  vestram  et  venite  ad  me:  audite  et  vivet  anima 
vestra.  In  v.  24  ist  Is.  44, 1:  utinam  dirumperes  coelos  et  de- 
scenderes  widergegeben.  V.  25 — 28  übersetzt  die  bekannte  stelle 
Is.  45, 8:  rorate  codi  desuper,  et  nubes  pluant  iustum,  aperiatur 
terra  et  germinet  salvatorem. 

Nachdem  der  dichter  die  erlösung  des  menschengeschlechts 
durch  die  propheten  hat  vorherverkünden  lassen,  geht  er  nun 
auf  das  historische  der  menschwerdung  und  erlösung  selbst  ein. 

Mit  den  versen  30, 29 — 33  schafft  er  sich  einen  recht  pas- 
senden Übergang  vom  vorausgegangenem  zu  dem  folgenden, 
wo  er  nun  direct  an  das  evangelium  anknüpft. 

30, 34—42.  Die  verse  34.  39—42  übersetzen  Luc.  1,  26  f.: 
missus  est  angdm  Gabriel  a  deo  in  dvitatem  Galilasae,  cui 
nomen  Nazareth,  ad  virginem, . .  Der  ausdruck  virgo  veranlasste 
den  dichter  einige  epitheta  ornantia  hinzuzufügen,  die  sich 
eigentlich  von  selbst  verstehen,  weil  sie  in  dem  begriffe  virgo 
enthalten  sind. 

30, 43—50.  Die  verse  43 — 48  entsprechen  Luc.  1,  28:  et 
ingressus  angelus  ad  eam  dixit:  ave  (dieses  ave  gibt  der  dichter 
einmal  wider  mit  er  gehiez  ir  hadl  von  got,  das  andere  mal 
mit:  hadlic  wis  du  frowe  Maria;  was  der  dichter  hinzugefügt 
hat  ist  dieses  frouwe  Maria)  gratia  plena:  dominiis  tecum. 
Benedicta  tu  in  mulieribu^.  V.  50  ist  aus  der  begrüssung 
Marias  durch  Elisabeth  Luc.  1, 42  herübergenommen  {benedida 


QUELLEN  DER  ANEGENGE.  341 

tu  inter  umUeres),  et  henedictus  fructus  ventris  tui  Der  engel 
spricht  davon  Maria  gegenüber  nichts. 

30, 51  f.  gibt  wörtlich  Luc.  1,  31.  33  wider:  ecce  condpies 
in  utero  et  partes  filium ...    JSt  regni  eius  non  erit  finis. 

30, 53  f.  schliesst  sich  anLuc.  1, 29  an:  quae  cumaudisset, 
turhata  est  in  sermone  eius,  et  cogitabat,  qualis  esset  ista  sal/u- 
tatio,  wobei  der  dichter  die  ausdrücke  der  bibel  turbata  est 
und  cogitabat  in  einem  ausdrucke  erchom  si  vil  harte  vereinigt. 

30, 55 — 59.  Diese  verse  sind  eine  etwas  erweiterte  wider- 
gabe  von  Luc.  1, 34:  diocit  autem  Maria  ad  angelum.  Quomodo 
fiet  istud,  quoniam  virum  non  cognosco? 

Die  verse  30, 60 — 63  sind  eine  etwas  freie  widergabe  zu- 
nächst von  Luc.  1,35:  et  respondens  angelus  dixit  ei:  Spiritus 
sanctus  superveniet  in  te,  et  virtus  altissimi  obunibrdbit  tibi. 
Ideoque  et  quod  nascetur  ex  te  sanctum,  vocabitur  filius  dei. 
Der  dichter  der  früher  nicht  gesagt  hat,  wie  der  erlöser  heissen 
sollte,  fügt  jetzt  erst  in  v.  63  den  namen  hinzu,  der  nach  Luc. 
1,31  früher  genannt  wird:  et  vocabis  nomen  eius  Jesus.  Wir 
sehen  hier  abermals,  was  wir  schon  in  früheren  partien  unsers 
gedichtes  bemerkten,  wie  einander  mitunter  fernstehende  bibel- 
stellen geschickt  mit  einander  verbunden  werden,  ohne  dass 
der  sinn  gestört  oder  der  dogmatischen  auffassung  eintrag 
getan  würde. 

30,64 — 68.  Die  grundlage  zu  diesen  versen  bildet  Luc. 
1,38:  dixit  autem  Maria:  ecce  andlla  domini,  fiat  mihi  secun- 
dum  verbum  tuum.  Das  wort  andlla  hat  den  dichter  zu  v.  66 
veranlasst,  in  welchen  er  Maria  wie  eine  untergeordnete  dienerin 
sprechen  lässt. 

30, 69 — 71  übersetzt  mit  auslassung  der  eigennamen  Matth. 
1, 18:  cum  esset  desponsata  mater  dus  Maria  Joseph,  antequam 
convenirent,  inventa  est  in  utero  habens  de  spiritu  sancto. 

Mit  30, 72  f.  fährt  der  dichter  mit  Matth.  1, 19  fort:  Joseph 
autem  vir  dus  . . .  voluit  occulte  dimittere  eam,  während  30,  74 
—77  kurz  den  Inhalt  von  Matth.  1, 20 — 24  angeben,  wo  erzählt 
wird,  dass  Joseph,  während  er  eben  noch  überlegte,  wie  er 
sich  Mariens  entledigen  sollte,  ein  engel  erschien  und  ihm  das 
geheimnis  der  menschwerdung  gottes  verkündigte,  worauf  sich 
Joseph  einverstanden  erklärte  und  sie  als  gattin  annahm.  Zu 
V.  76f.  ist  ferner  Matth.  1,22  heranzuziehen:  hoc  autem  totum 


342  TBUBEB 

factum  est,  ut  'adimpleretur^,  quod  dictum  est  a  domino  per 
prophetam. 

30,78  —  31,18.  Die  ganze  stelle  stützt  sich  zunächst  auf 
ein  dem  Hieronymus  unterschobenes  werk,  Expositio  in  quattuor 
evangelia  (Migne  1 30, 535  B),  wo  zu  der  betreffenden  stelle  aus 
Matthäus  die  notiz  gemacht  wird:  desponsata  mater  eius,  l  e. 
pro  quattuor  causis  (vgl.  30, 78 — 81),  ut  non  lapidaretur  ut 
aduUera  (31, 2 — 12),  et  ut  in  fugam  haberet  solatium  (13 — 18) 
et  genealogia  Christi  per  Joseph  (lässt  der  dichter  aus),  ut 
partus  celaretur  diabolo  (30, 82.  31, 1).  Die  verse  sind  durch 
den  satz  des  Hieronymus  ut  non  lapidaretur  ut  adultera  inso- 
fern veranlasst,  als  sich  der  dichter  durch  denselben  bewogen 
fühlte,  auf  das  betreffende  gesetz  bezüglich  der  adulterae  et 
fornicariae,  wie  es  im  alten  bunde  gehandhabt  wurde  und  dem 
ja  die  Zeitgenossen  Josephs  und  Mariae  noch  anhiengen,  zurück- 
zugehen. 

In  den  folgenden  versen  31, 19 — 23  fasst  der  dichter  das 
in  den  unmittelbar  vorausgehenden  versen  bereits  gesagte  noch 
einmal  zusammen,  um  dann  31, 24 — 29  an  der  band  des  evan- 
geliums  weiter  fortzufahren.  In  v.  24  anticipiert  der  dichter 
die  engelerscheinung,  von  der  er  in  v.  27  spricht;  das  ist  ja 
auch  richtig;  denn  bevor  der  engel  erscheint,  befasst  sich 
Joseph  mit  dem  plane,  Maria  zu  entlassen,  wie  es  Matth.  1, 19 
heisst:  voluit  occulte  dimittere  eam.  V.  27 — 29  und  weiter 
31,30 — 33  entspricht  Matth.  1,20:  haec  autem  eo  cogitante,  ecce 
angelus  domini  apparuit  in  somnis  ei,  dicens:  Joseph,  fili  David, 
noli  timere  acdpere  Mariam  coniugem  tuam,  quod  enim  etc. 

Zu  31,34 — 38  stimmt  Matth.  1,  21:  et  vocaMs  nomen  eius 
Jesum  (aus  dem  werte  vocabis  hat  der  dichter  noch  den  satz 
herausgezogen  mein  gebot  du  da/r  an  hmte) :  ipse  enim  salvum 
fadet  populum  suum  a  peccatis  eorum.  Wenn  der  dichter  sagt 
dais  chiut  in  diutscher  isunge  hmlant,  so  scheint  ihn  entweder 
das  wort  salvum  oder  eine  andere  stelle  bei  Matth.  1, 23  dazu 
veranlasst  zu  haben;  dort  wird  nämlich  gesagt:  et  vocabitur 
nomen  eius  Emmanuel,  quod  est  Hnterpretatum' :  nobiscum  deus. 
Wie  also  der  evangelist  'interpretiert',  so  auch  unser  dichter. 

31, 39—43.  V.  39—41  beruhen  auf  Matth.  1,  24:  exurgens 
autem  Joseph  ä  somno,  fecit  sicut  praecepit  ei  angelus  domini, 
et  accepit  coniugem  suam.     Dagegen  nimmt  der  dichter  in 


QUELLEN  DES  ANEGEKGE.  343 

V.  42f.  bereits  voraus,  was  Luc.  2, 6  steht:  factum  est  autem, 
cum  essent  ibi,  impleti  sunt  dies,  ut  pareret 

31, 44 — 49.  Da  sich  Matthäus  und  Lucas  in  dem  berichte 
über  die  menschwerdung  ergänzen,  so  ist  es  begreiflich,  dass 
der  dichter  für  die  partie  die  er  bei  Matthäus  nicht  fand  — 
denn  dieser  übergeht  die  näheren  umstände  der  geburt  und 
kommt  gleich  auf  die  ankunft  der  drei  weisen  aus  dem  morgen- 
lande zu  sprechen  —  wider  zu  dem  berichte  des  Lucas  zurück- 
kehrte. Dort  heisst  es  2, 6.  7:  factum  est  autem,  cum  essent  ibi, 
impleti  sunt  dies,  ut  pareret.  Et  peperit  filium  suum  primo- 
genitum,  et  pannis  cum  involvit,  et  reclinavit  cum  in  praesepio, 
quia  non  erat  eis  locus  in  diversorio.  Die  umstände  unter 
denen  der  heiland  geboren  wurde,  sind  in  der  tat  sehr  ärmlich, 
was  ja  auch  der  evangelist  in  den  letzten  worten  quia  non 
erat  eis  locus  in  diversorio  unverkennbar  andeuten  will.  Und 
so  begreifen  wir  denn  auch  die  worte  des  dichters,  die  er 
V.  44  f.  vorausschickt,  vollkommen.  Dass  dieses  praesepium 
gerade  ein  cMharen  oder  wie  der  dichter  —  wahrscheinlich 
hat  er  das  früher  gesagte  schon  vergessen  —  in  v.  52  will 
der  sweine  hackt  war,  finden  wir  nirgends  angedeutet;  es 
scheinen  demnach  diese  erklärungen  des  biblischen  praesepium 
auf  rechnung  des  naiven  dichters  zu  schreiben  zu  sein. 

31,50 — 57  sind  wol  selbständige  erfindung  des  dichters. 
Es  könnte  dieser  passus  aber  wol  auch  ein  einschiebsei  sein; 
denn  v.56  knüpft  ganz  gut  an  v.  48  an. 

31, 58 — 61  gibt  wörtlich  wider  was  bei  Luc.  2, 8—11  steht, 
aber  nicht  alles  was  wir  dort  finden:  et  pastores  erant  in  re- 
gione  eadem  (v.  58)  ...  Et  dvdt  Ulis  angelus  (v.  59)  . . .  quia 
natus  est  vohis  salvator,  qui  est  Christus  dominus,  in  civitate 
David  (v.  60  f.). 

Von  31, 62  er  hiez  siu  drate  dar  gen  steht  bei  Lucas  nichts. 
Allerdings  ist  die  Verkündigung  des  engeis  an  die  hirten  schon 
an  und  für  sich  eine  auff orderung,  den  neugeborenen  erlöser 
aufzusuchen.  Vielleicht  dachte  der  dichter  an  Luc.  2, 16:  et 
venerunt  'festinantes^,  nachdem  die  hirten  unter  einander  be- 
schlossen hatten,  nach  Bethlehem  zu  gehen. 

31,63 — 66  ist  dem  Inhalte  nach  abermals  aus  Lucas  ent- 
nommen. Dort  heisst  es  2, 16:  et  venerunt  festinantes,  et  in- 
venerunt  Mariam  et  Joseph  et  infantem  positum  in  praesepio 


344  TEUBER 

(v.  63.  65);  und  Luc.  2, 12  wurde,  obwol  es  dort  in  anderem  zu- 
sammenhange steht,  nicht  ungeschickt  in  v.  64. 66  widergegeben: 
invenietis  infantem  'pannis  involutunC  et  positum  in  praesepio, 

31,  67 — 72  stinmit  zu  Luc.  2,17:  et  subito  facta  est  cum 
angelo  multitudo  militiae  coelestis  laudantium  dominum  et  di- 
centium:  gloria  in  excelsis  deo  et  in  terra  pax  (gibt  der  dichter 
durch  dojs  ewige  hml  ganz  sinngemäss  wider)  hominilms  bonae 
voluntatis, 

31,73  —  32,1.  Die  gedanken  welche  hier  ausgesprochen 
sind,  scheinen  mir  nicht  vom  dichter  selbst  herzurühren,  son- 
dern aus  einem  sermon  geschöpft  zu  sein,  welcher  dem  Ambro- 
sius  zugeschrieben  wird.  Ambrosius,  Sermo  5  (Migne  1. 17, 
613.  3)  heisst  es  nämlich  folgendermassen:  hac  persultarunt 
angeli  in  illa  nocte,  qua  pastores  nascentem  dominum  super 
gregem  suum  vigilias  observantes,  pras  omnibus  primi  didicerunt; 
ipsi  enim  primi  ortum  salvatoris  ante  omnes  homines  nuntian- 
tibus  angelis  agnoverunt.  Unde  non  mirum  est,  quod  redemp- 
tionem  saeculi  ante  pastores  saeculi  potuerunt  scire,  quam  prin- 
dpes;  non  enim  angeli  nuntiaverunt  regibus,  non  iudicibus  sed 
hominibus  rusticanis  (das  ist  die  ehre,  von  welcher  der  dichter 
in  V.  80  spricht)  . . .  Ergo  in  nativitate  domini  angeli  pariter 
cum  pastoribus  sunt  laetati,  excelsam  deo  dicentes  gloriam;  nam 
'vicinis'  (das  sind  die  Juden,  vgl.  v.  76)  quodammodo  et  iunctis 
'choris  dd'  gloriam  nuntiaverunt 

32,2 — 16.  Auch  dieser  gedanke  ist  nicht  des  dichters 
eigentum,  sondern  aus  Augustinus  entlehnt,  der  Sermo  202, 
In  epiphania  domini  4,  t.  5, 1035)  sagt:  haec  prima  puer  spolia 
idololatriae  dominationi  detra^t  (v.  10  f.),  ut  ad  se  adorandum 
magos  conversus  a  peste  illius  superstitionis  averteret  (v.  10  f.) 
et  in  hac  terra  nondum  loquens  per  linguam  loqueretur  dt 
coelo  per  stellam.  Dieser  stern  ist  der  unredhafte  böte,  das 
vil  unredliche  dinc,  daz  nicht  hete  stimme,  unt  was  ouch  unver- 
stenlich.  Heranzuziehen  ist  noch  Augustinus,  Sermo  203,  s.1035: 
iustum  enim  visum  est,  quod  et  vere  iustum  est,  ut  quoniam  Uli 
magi  primi  ex  gentibus  Christum  dominum  cognoverunt,  et 
nondum  eius  sermone  commoti  stellam  sibi  apparentem  et  pro 
infante  verbo  visibiliter  loquentem  velut  linguam  coeli  secuti 
sunt  (dasselbe  ist  widerholt  in  Sermo  185,  s.998  und  Sermo  192, 
s.  1013).  Der  ausdruck  ut  ..,a peste  illius  superstitionis  averteret 


QUELLEN  DES  AltEGENGE.  545 

hätte  wol  den  dichter  vielleicht  auch  auf  den  v.  10  führen  und 
ihn  schliessen  ^lassen  können  v.  13:  do  si  nicht  sinnes  haben 
wolden;  aber  es  ist  wol  das  wahrscheinlichere,  dass  er  hier 
eine  notiz  des  Strabo  vor  äugen  hat,  der  in  seiner  Glossa 
ordinaria  (Migne  1. 114, 73)  sagt:  magos  vero  primüias  gentium 
nondum  ratione  utentium  irrationalis  i.  e.  Stella  perduxit 

32, 17 — 23.  Ehe  der  dichter  noch  seine  quelle  nennt,  hat 
er  sie  schon  benutzt;  denn  was  er  in  v.  17 — 20  in  eine  in- 
directe  frage  kleidet,  steht  bei  Matth.  2, 2. 

32, 24—28.  Das  sagt  nun  Matthäus  gerade  nicht  so;  wir 
müssen  es  der  poetischen  licenz  zu  gute  schreiben.  Die  ge- 
danken  welche  der  dichter  hier  ausspricht,  sind  allerdings  aus 
Matth.  genommen.  2, 1.  2  heisst  es:  cum  ergo  natus  esset  Jesus 
(24  f.;  V.  26  ist  eine  reminiscenz  aus  Luc.  1,  33:  et  regni  eius 
non  erit  finis)  in  Bethlehem  Juda  Hn  diehus  (Hn  den  tagen') 
Herodis  regis,  ecce  magi  ab  Oriente'  (Hn  dem  ostem  reiche  verre') 
venerunt  Jerosolymam,  dicentes:  ubi  est  qui  natus  est  rex  Ju- 
daeorumf  ^Vidimus  enim  stellam  eius  in  Oriente'  (Röstern  reichet) 
et  venimus  adorare  eum. 

32, 30 — 46.  Die  erzählung,  dass  die  drei  weisen  aus  dem 
morgenlande  entweder  astronomen  waren,  oder  sich  doch 
wenigstens  einigermassen  auf  die  Sternkunde  verstanden,  ist 
sehr  alt  und  stützt  sich  einzig  und  allein  auf  die  bekannte 
prophetie  des  Balaam,  Num.  24,  17:  orietur  Stella  ex  Jacob, 
Dass  diese  stelle  schon  vor  dem  erscheinen  des  erlösers  beachtet, 
dass  namentlich  von  den  sternkundigen  Chaldäem  bezüglich 
dieses  Sternes,  der  aus  Israel  aufgehen  sollte,  häufige  astrono- 
mische Untersuchungen  gepflogen  wurden,  ist  bekannt.  Als 
nun  der  erlöser  geboren  worden  war,  und  die  magier  Stella 
duce  zu  seiner  geburtsstätte  geführt  worden  waren,  fragte  man 
sich,  woher  denn  die  magier  wussten,  dass  gerade  dieser  der 
verheissene  stem  war.  Und  was  lag  da  näher  als  die  antwort: 
sie  waren  eben  astronomen,  sternkundige  leute.  Freilich  die 
streng  kirchliche  Wissenschaft  sagte  einfach:  deo  inspirante 
sind  sie  dem  steme  gefolgt.  Es  fragt  sich:  woher  hat  der 
Verfasser  des  Anegenge  seine  ansieht  über  diesen  punkt  ge- 
schöpft? Aus  der  tradition?  Vielleicht.  Aus  einer  apokryphen 
quelle?  Auch  möglich.  Aus  der  uns  bekannten  literatur  tritt 
uns  zunächst  Abaelard  entgegen,  der  diese  ansieht  zwar  nicht 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV  28 


r 

346  l^tJBäft 

selbst  vertritt,  aber  als  zuverlässiger  berichterstatter  mitteilt. 
Derselbe  sagt  (Migne  1. 178,  413):  sunt  qui  praedictos  magos 
sie  appellari  autumnant  (Isidor.  Et.  1.  9)  sed  quod  astrorum 
periti,  qucLsi  astronomid  vel  quacunque  aüa  de  eausa  sie  voeati. 
Dann  bringt  Abaelard  wörtlich  was  Chrysostomus  gelegentlich 
der  Interpretation  des  MatthäusevangeÜums  sagt:  legi  apud 
aliquem  (damit  kann  nur  eine  apokryphe  schrift  gemeint  sein) 
magos  istos  ex  libris  Balaam  divinatoris  appariturae  ülius 
stellae  scientiam  aceepisse,  cuitis  divinatio  posita  est  in  veteri 
testamento:  ^orietur  Stella  ex  JaeoV.  Et  audivi  aliquos  referentes 
de  quadam  scriptura,  etsi  non  certa . . .  quoniam  erat  qua,edam 
gens  . . .  apud  quos  ferebatur  quaedam  scriptura  inscripta  no- 
mine Seth  de  apparitura  huc  Stella  et  de  munerihus  eitismodi 
offerendis  quae  per  generationes  studiosorum  hominum  patribus 
referentibus  filiis  suis  habehatur  deducta.  Itaque  elegerunt  inter 
seipsos  duodedm  quosdam  ex  ipsis  studiosiores  et  amatores 
mysteriorum  eoelestium  et  posuerunt  seipsos  od  exspeetationem 
stellae  illius.  Einige  gedanken  welche  hier  nicht  ausgesprochen 
sind,  stimmen  wol  zu  der  oben  citierten  stelle  des  Anegenge; 
aber  eine  quelle  für  alles  das  was  der  dichter  dort  sagt,  kann 
sie  nicht  gewesen  sein.  Interessant  ist  jedoch  der  umstand, 
dass  Chrysostomus  eine  schrift  inscripta  nomine  Seth  nennt, 
worunter  er  nur  eine  apokryphe  schrift  verstehen  kann.  Nun 
ist  es  aber  sehr  wahrscheinlich,  dass  das  früher  genannte 
Adamsbuch  aus  einem  grösseren  werke  welches  den  titel  Vita 
Adami  oder  Apocalypsis  Sethi  hatte,  entnommen  ist  (Dillmann, 
Das  christliche  Adamsbuch  einl.  s.  12) ;  also  meint  Chrysostomus 
wol  kein  anderes  buch  als  das  Adamsbuch  in  seiner  damaligen 
fassung.  Dass  unser  dichter  etwa  durch  Chrysostomus  auf 
jenes  buch  geführt  worden  sei,  ist  nicht  anzunehmen.  Dagegen 
lehrt  ein  vergleich  mit  dem  uns  vorliegenden  texte  des  Adams- 
buches, dass  er  für  diese  stelle  dieses  und  kein  anderes  buch 
benutzt  hat.  Dort  heisst  es  s.  135  ff.:  und  als  er  in  BetTüehem 
im  lande  Juda  geboren  wurde,  erschien  sein  stern  im  osten 
(vgl.  V.  25 — 29),  und  die  magier  sahen  ihn,  wie  er  am  himmel 
mitten  unter  allen  Sternen  glänzte  und  flimmerte  (vgl.  v.  30  f.). 
S.  137  heisst  es  weiter:  und  sie  forschten  in  den  wahrsage- 
büchern  und  den  phtlosophenbüchern;  denn  sie  hatten  festgestellt 
und  erJcundet,  dass  ein  Jcönig  in  Israel  geboren  werde.    Und 


Quellen  des  akegüiTge.  MI 

diese  Sternkunde  scigt  die  hedeutung  von  allem  was  geschehen 
wird,  ehe  es  geschieht  (und  unser  dichter  sagt,  wie  sinn-  ja 
wie  wortverwant,  v.  32 — 35).  Das  buch  sagt  weiter:  und  so 
erkannten  die  magier,  als  sie  in  ihren  Schriften  nachladen,  dass 
Christus  im  lande  Juda  geboren  sei.  Da  stiegen  die  magier 
auf  das  hohe  gehirge  im  osten,  indem  sie  nach  Westen  zu  giengen, 
und  nahmen  mit  sich  jene  geschenke^  die  sie  sich  vor  ihrer  ab- 
reise zugerichtet  hatten,  nämlich  das  gold,  den  Weihrauch  und 
die  myrrhen . . .  Die  magier  aber,  die  auf  der  reise  waren, 
sagten:  ^dieser  stern  ist  nicht  ohne  grund  aufgegangen/  Und 
die  magier  isogen  weiter,  bis  sie  nach  Jerusalem  kämmen.  Auch 
dazu  stimmt  unser  dichter  v.  36 — 46. 

32, 47 — 49.  Davon  steht  im  evangelium  direct  nichts,  aber 
indirect  ist  der  vom  dichter  hier  ausgesprochene  gedanke 
schon  angedeutet  in  Matth.  2, 10.  Dort  heisst  es  von  den 
magiern:  videntes  autem  stellam  (nachdem  sie  den  Herodes 
verlassen  hatten)  gavisi  sunt  gaudio  magno  valde,  was  voraus- 
setzt, dass  der  stern  ihnen  für  einige  zeit  unsichtbar  gewesen 
ist;  denn  es  hätte  keinen  sinn  zu  sagen,  dass  sie  sich  über 
den  anblick  des  stemes  ungemein  freuten,  wenn  er  nie  aus 
ihren  äugen  entschwunden  wäre. 

32, 50 — 57  übersetzt  wörtlich  Matth.  2, 2:  ubi  est  qui  natus 
est  rex  Judaeorum?  Vidimus  enim  stellam  eius  in  Oriente,  et 
venimus  adorare  cum.  Der  dichter  hat  auch  hier,  wie  er  sonst 
schon  oft  getan,  die  directe  rede  der  bibel  in  indirecte  über- 
tragen. 

Mit  32, 58—66  gibt  der  dichter  etwas  breit  Matth.  2,  3 
wider:  audiens  autem  Herodes  rex  turbatus  est,  et  omnis  Jero- 
solyma  cum  illo\  32,67 — 71  entspricht  Matth.  2,7:  tunc  Herodes 
dam  vocatis  magis  diligenter  didicit  ab  eis  tempus  stellae,  quae 
apparuit  eis;  v.  71  ist  eine  Voraussetzung,  die  aus  diesem  verse 
sehr  leicht  zu  erschliessen  war. 

32, 72—85.  Die  verse  72—79  geben  Matth.  2, 4  wider:  et 
congregans  omnes  prindpes  sacerdotum  et  scribas  populi  scisci- 
tabatur  ab  eis,  ubi  Christum  natus  esset  V.  77  f.  nehmen  bereits 
voraus  was  in  Matth.  2, 5  steht:  sie  enim  scriptum  est  per  pro- 
phetam.  In  den  versen  80 — 85  schliesst  sich  der  dichter  aber- 
mals an  Matth.  2, 5  an:  at  ilU  dixerunt  in  Bethlehem:  sie  enim 
scriptum  est  per  prophetam.    Die  Weissagung  des  propheten 

23* 


348  MüBtiÄ 

(Matth.  2, 6):  et  tu  Bethlehem  terra  Juda,  neqiMqaam  minima 
es  in  principibus  Juda:  ex  te  enim  exiet  dux,  qui  regatpopulum 
meum  Israel,  gibt  der  dichter  nur  verhüllt  wider,  indem  er 
sagt,  dass  der  Stadt  Bethlehem  dinge  zugesprochen  gewesen 
seien,  da>z  wir  alle  nine  mugen  mit  Worten  vervdhen,  wodurch 
aber  gerade  die  grossai-tigkeit  und  bedeutung  jener  worte 
keineswegs  herabgemindert,  sondern  viel  mehr  erhöht  wird, 
als  wenn  sie  direct  angeführt  wären. 

32,86 — 33,6.  V.  86f.  sind  Übergangs verse,  die  sich  aus 
der  zwischen  Herodes  und  den  drei  weisen  gepflogenen  Unter- 
redung (Matth.  2, 7)  von  selbst  ergaben.  Die  übrigen  verse 
33, 1  —6  knüpfen  unmittelbar,  ja  zum  teil  wörtlich  an  Matth. 
2,  8  an:  et  mittens  illos  in  Bethlehem  dixit:  ite,  interrogate 
diligenter  de  puero;  et  cum  inveneritis,  renuntiate  mihi,  ut  et 
ego  veniens  adorem  eum, 

33, 7 — 9.  Hier  fasst  der  dichter  kurz  den  bethlemitischen 
kindermord,  der  Matth.  2, 13 — 18  berichtet  wird,  zusammen. 

33, 10 — 19.  Dass  Jesus  mit  dreissig  jähren  sein  lehramt 
antrat,  finden  wir  bei  Luc.  3,23:  et  ipse  Jesus  erat  incipiens 
quasi  annorum  triginta,  ut  putdbatur  filius  Joseph,  Dass  seine 
öffentliche  lehrtätigkeit  drei  jähre  und  im  vierten  jähre  bis 
zu  Ostern  dauerte,  ist  allgemeine  tradition  der  kirche,  die  in 
den  evangelien  ihre  begründung  hat.  Woher  aber  hat  der 
dichter  die  26  wochen?  Der  dichter  hat  vom  geburtstage  des 
33.  Jahres  Jesu  bis  ascensio  domini  gerechnet  und  brachte  so 
26  Wochen  heraus,  eine  rechnung  die  aber  falsch  ist;  denn 
dann  müsste  in  dem  jähre,  in  welchem  unser  dichter  schrieb, 
ostem  in  die  mitte  des  monats  mai  gefallen  sein,  was  unmög- 
lich ist.  Die  verse  17 — 19  beziehen  sich  auf  den  in  den 
evangelien  so  oft  widerholten  aussprach:  factum  est  hoc  ut 
adimpleretur,  quod  dictum  est  per  prophetam  dicentem, 

33,20 — 22  bezieht  sich  auf  Joh.  10, 14  f.:  ego  sum  pastor 
honus ...  Et  alias  oves  häbeo,  quae  non  sunt  ex  hoc  ovili;  et 
illas  oportet  me  adducere,  et  vocem  meam  audient,  et  fiet  unum 
onile  et  unus  pastor, 

33, 23 — 34.  Beim  angedenken  an  das  leiden  des  herra, 
das  der  dichter  in  v.  23  f.  hier  vorbereitend  andeutet  und  s.  38 
dann  ausführlicher  schildert,  kommt  er  wider  auf  die  Ursache 
dieses  leidens,  auf  die  sünde  der  ersten  menschen  zurück.  Dabei 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  349 

ist  es  ganz  natürlich,  dass  ihm  hier  wider  zunächst  die  Genesis 
die  nötigen  gedanken  liefert.  So  entsprechen  denn  auch  v.  27 
— 34  Gen.  3, 45:  diadt  autem  serpens  ad  mulierem . . .  Seit  enim 
deus,  quod  in  quocunque  die  eomederitis  ex  eo,  aperientur  oculi 
vestri,  et  eritis  sicut  dii,  scientes  bonum  et  mal/am  (vielleicht 
schwebt  ihm  auch  17,37 — 45  aus  Hugo  t.  2, 290  ff.  benutzte 
stelle  vor). 

Auf  Hugo  von  St.  Victor  kommt  unser  dichter  in  dem  fol- 
genden mit  33,35 — 40  wider  zurück  (t.  2, 26B):  volait  aliquid 
extra  mensuram  (v.  35 — 37)  und  weiter  (s.  29  B):  homo  iniuriam 
fecisse  convindtur  deo,  quia  prasceptum  eins  contempsit  (hier 
lag  wol  für  unsem  dichter  die  veranlassung,  überhaupt  noch 
einmal  auf  die  Sünde  des  ersten  menschen  zurückzugreifen)  et 
sub  manum  alienam  ponens  suae  servitutis  damnum  Uli  intulit 
Item  diabolus  homini  iniuriam  fecisse  convindtur,  quia  illum 
et  bona  promittendo  decepit  (vgl.  v.  28  f.)  et  post  mala  infe- 
rendo  laesit 

33,41 — 48.  Diese  stelle  stützt  sich  zunächst  auf  Hugo 
t.  2, 25B:  per  tria  tentavit,  per  gulam,  per  vanam  gloriam,  per 
avaritiam.  Die  übrigen  Sünden  welche  der  dichter  aufzählt, 
sind  aus  Wemerus  genommen,  welcher  seinerseits  wider  auf 
Augustinus  aufbaut. 

33, 49 — 53.  Auch  dafür  hat  Hugo  die  leitenden  gedanken 
hergegeben,  t.  2, 22B:  D.;  quare  voluit  deus  spiritus  sodare 
corporibus  cum  maioris  excellentiae  fuissent  in  sua  puritate 
persistentes?  M,:  ...  quia  enim  in  rebus  creatis  nihil  excellen- 
tius  est  spiritu  Qden  engein  in  der  h6he%  nihil  terra  inßmius 
atque  corruptibilius  {'unt  der  menschlichen  br6d^\  vgl.  v.51 — 54), 
dum  corpori  de  terra  facto  et  corruptibilem  materiam  habenti 
rationalem  spiritum,  i,  e,  animam  rationalem  tribuit  (v.  56 — 58), 
in  unum  quoddam  consortium  et  societatem  summis  ima  con- 
iunxit  ostendens  quia,  quod  erat  corpus  spiritui,  hoc  quodam- 
modo  Spiritus  erat  sibi  (v.  59f.).  Fedt  ergo,  ut  dictum  est, 
corpus  hominis  de  limo  terrae  et  inspiravit  d  animam  ratio- 
nalem quam  creavit  de  nihilo,  V.  61 — 63  sind  eine  Zusammen- 
fassung des  vorausgehenden. 

33, 64 — 84.  Hier  schliesst  der  dichter  wider  an  Wernerus 
(Migne  1. 167)  an.  Derselbe  sagt  in  einem  Sermo  de  nativitate 
domini  s.  788  f.:  acquisiverat  sibi  fratres  charissimi  genus  huma- 


350  TEUBEB 

num  astutia  diabolicae  fraudis,  suhdiderat  eos  suae  conditioni 
per  peccata  primi  parentis  . . .  Quäle  autem  peccatum  Adam 
commisit?  Tale  utique  peccatum,  quod  malus  mundo  erat  Sex 
enim  criminalia  fkigitia  in  uno  crimine  admisit  (vgl.  v.68  f.  50  f.; 
was  Wernerus  von  Adam  speciell  sagt,  wendet  der  dichter 
zunächst  allgemein  an,  um  dann  auf  die  Sünden  der  ersten 
menschen  wider  zurückzukommen),  quibus  sex  aetates  su,ae 
posteritatis  involvit.  Primum  namque  superbia  fuit,  cui  dei 
asqualis  esse  voluit,  et  ideo  factus  est  omnium  inßmus,  qui  fuit 
Omnibus  pra^latus,  Secundum  inoboedientia  exstitit,  cum  man- 
datum  pra^terivit,  et  ideo  facta  sunt  ei  omnia  inoboedientia 
quae  priu,s  erant  subiecta  (vgl.  v.  76 — 84). 

34,1 — 20.  Auch  für  diese  stelle  hat  Wernerus  (Migne 
1. 167,  789)  die  gedanken  geboten:  quartum  erat  sacrilegium . . . 
(v.  1),  quintum  spiritalis  fornicatio.  Anima  enim  illius  erat 
deo  coniuncta  (v.  4 — 9).  Sed  cum  spreto  deo  diabolum  admisit, 
quasi  cum  extraneo  adulterium  commisit,  et  ideo  veri  sponsi 
amidtiam  amisit  (v.  10 — 20).  Sexto  homiddium  perpetravit, 
quo  se  et  omne  genus  humanum  in  mortem  prasdpitavit  (v.  2  f.). 
Speciell  zu  v.  17 — 19  möchte  ich  auf  Augustinus,  De  Genesi 
ad  literam,  lib.  11,  c.  31. 32,  t.  3*,  445  ff.  und  De  nuptiis  et  con- 
cupiscentia  c.  6,  1. 10^,  417  hinweisen,  der  über  diese  folge  der 
erbsünde  sehr  treffliche  bemerkungen  macht.  So  sagt  er  am 
letztangeführten  orte:  iU  homo  primitus  dei  lege  transgressa, 
aliam  legem  repugnantem  suas  menti  habere  coepit  in  membris, 
et  inoboedientiae  malum  sensit,  quando  sibi  dignissim^  retributam 
inoboedientiam  suae  carnis  invenit 

34, 21—26.  Hier  schliesst  der  dichter  wider  an  Gen.  2, 17 
an:  de  ligno  autem  sdentiae  boni  et  mali  ne  comedas:  quo- 
cumque  enim  die  comederis  ex  eo,  morte  morieris.  Der  dichter 
setzt  nun  voraus,  dass  Adam  gott  dem  herm  ausdrücklich 
versprochen,  ja  geschworen  habe,  das  gebot  zu  erfüllen,  und 
findet  dann  ganz  natürlich  in  der  nichterfüllung  des  gebotes 
einen  meineid. 

34, 27 — 43.  Die  gedanken  welche  hier  als  ein  abgeschlos- 
senes ganze  erscheinen,  sind  aus  mehreren  schriftstellen  zu- 
sammengesetzt und  frei  verarbeitet.  Zunächst  ist  hier  Ps.  93 
heranzuziehen,  wo  es  v.  9. 11  heisst:  qui  plantavit  aurem  non 
audiet?  aut  qui  finxit  oculum,  non  considerat?  . . .    Dominus 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  351 

sdt  cogitationes  hominum,  quoniam  vanae  sunt  (v.  27 — 34). 
Prov.  16, 1  f.:  hominis  est  animam  praeparare,  et  domini  guher- 
nare  linguam,  Omnes  viae  hominis  patent  oculis  eins:  spiritum 
ponderator  est  dominum  (v.  351).  Eccles.  5, 3f.:  si  quid  vovisti 
deo,  ne  m^reris  reddere;  displicet  enim  ei  infidelis  et  stulta 
promissio:  sed  quodcunque  voveris,  redde;  multoque  melius  est 
non  vovere,  quam  post  votum  promissa  non  reddere  (v.  37  f.). 
Auch  die  folgenden  verse  39 — 43  fussen  auf  dieser  letzten 
stelle,  nur  dass  sie  von  unserm  dichter  polemisch  gewendet  wurde. 

34, 44 — 50  stimmt  inhaltlich  ganz  genau  zu  dem  was  Wer- 
nerus  a.a.O.  s.789  sagt:  quartum  (scpeccatum)  erat  sacrilegium, 
cum  vetitum  in  sacro  loco  quasi  per  furtum  subripuit,  et  ideo 
de  sacrario  excludi  meruit 

Die  folgenden  verse  34, 51 — 65  scheinen  mir  nicht  eine 
polemik  etwa  gegen  einen  Zeitgenossen  zu  enthalten,  sondern 
auf  Pelagius  und  dessen  anhänger  zu  zielen,  welche,  wie  be- 
kannt, die  Sünde  Adams  namentlich  in  bezug  auf  ihre  folgen 
für  dessen  nachkommen  gar  nicht  hoch  anschlugen  (vgl.  die 
Schriften  des  Augustinus  gegen  Pelagius,  1. 10^). 

Im  folgenden  kehrt  der  dichter  wider  zu  Wernerus  zurück: 
34, 56 — 62  =  Wernerus  a.  a.  o.  s.  788:  dominus  vero  iustus  iudex, 
qui  nee  adversario  suo  aliquid  iniustum  vult  irrogare,  sed  omnia 
sive  per  misericordiam  sive  per  iustitiam  facere,  sie  voluit  genus 
humanum  per  gratiam  redimere,  ut  nee  iniustitiam  videretur 
inferre  dicibolo:  nur  hat  der  dichter  warhasit  statt  misericordia 
gesetzt. 

34, 63 — 82.  Die  stelle  welche  unserm  dichter  die  gedanken 
bot,  die  er  hier  ausspricht,  findet  sich  bei  Eupert  von  Deutz, 
De  gloriflcatione  trinitatis  et  processione  s.  Spiritus  I.e.  c.  7C 
(Migne  1. 169, 188):  astando  ante  trihunal  Christi  et  parata  ibi 
statera  (v.  63  f.)  quam  heatus  Job  suis  temporibus  nor^um  pa- 
ratam  susjnrans  dicebat:  utinam  appenderentur  peccata  mea 
quibus  iram  merui  et  calamitas  quampatior  in  statera  (Job  6,2; 
vgl.  Aneg.  34, 65 — 67)/  Quasi  arena  maris  haec  gravior  appa- 
reret  Statera  ista  tunc  parata  est,  quando  misericordia  et  veri- 
täte  , . .  obviantibus  sibi  immortalis  deus  mortalis  homo  factus 
est,, .  appenduntur peccata unius  tantum in  statera  iudidi  (v. 68 
— 72),  appendilmr  calamitas  duorum  in  statera  misericordia^ 
et  calamitas  mortis  eius  qui  peccavit,  verbi  gratia  Job  aut 


352  TEÜBEK 

alterius  viri  fidelis  (v.  73 — 76),  et  calamitas  mortis  eius  qui  non 
peccatnt,  sdlicet  Jesu  Christi  (v.  77  ff.).  Nonne  itaque  calamitas 
in  lance  misericordiae  gravior  appareret  quam  peccata  in  lance 
iudicii?  Plane  gravior.  Aus  dem  letzten  satze  hat  der  dichter 
den  schluss  gezogen:  also  waren,  ohne  dass  gott  selbst  sich 
auf  die  wage  legte,  die  Sünden  so  schwer,  dass  sie  selbst  die 
werke  der  gerechten  nicht  emporheben  konnten. 

35, 1 — 6.  Diese  und  die  zunächst  folgenden  verse  gehen 
ilirem  Inhalte  nach  wider  auf  Hugo  als  quelle  zurück,  t.  2, 96C: 
in  hoc  loco  videtur  inquirendum,  quae  fuit  origo  et  radix  illius 
peccati  (v.  2).  Dass  dieser  fall  ch^om  von  einem  weibCy  wusste 
der  dichter  aus  Gen.  3, 1  ff.  ebensogut  wie  aus  Hugo,  der  sich 
an  verschiedenen  stellen  (so  t.  2, 24.  96.  289  ff.)  über  diese  sache 
äussert.  Dass  das  weib  mit  neide  von  dem  tivel  bistanden  wurde, 
finden  wir  bei  Hugo  widerholt  ausgesprochen,  so  namentlich 
t.  2,  24:  videns  diäboluSy  quod  hom^  per  ohoedientiam  iUuc 
ascenderet,  unde  ipse  per  superhiam  cedderat,  'invidit  ei\ 

35,8 — 16.  Dass  die  teufel  einen  rat  abhielten,  das  weib 
zum  falle  zu  bringen,  steht  weder  in  der  bibel  noch  sonst  in 
einem  commentare.  Veranlasst  könnte  der  dichter  dazu  durch 
Hugo  sein:  t.  2, 24:  et  quia  per  violentiam  ei  nocere  nonpoterat, 
ad  fraudem  sc  convertit,  wobei  der  dichter  sich  vorstellte,  dass 
die  art  und  weise  des  'betrugs'  durch  beratung  beschlossen 
worden  sei.  Dass  das  weib  zum  Übermut,  der  obersten  Sünde, 
verleitet  wurde,  sagt  abermals  Hugo  t.  2, 96  A:  est  enim  superbia 
radix  omnis  peccati,  Audiens  enim  mulier:  eritis  sicut  dii, 
elata  est  in  superhiam.  Die  verse  13 — 16  sind  parenthese;  der 
dichter  weist  auf  die  folgen  der  sünde  hin,  um  dann  mit  35, 17 
— 25  wider  an  v.  12  anzuknüpfen.  Diese  stelle  schliesst  zu- 
nächst an  Gen.  3,1  ff.  an,  wo  die  Versuchung  des  weibes  und 
deren  fall  erzählt  wird.  Dann  ist  aber  für  v.  22 — 25  Hugo 
t.2,97A  heranzuziehen  :^o^^  etiam  did  quod  non  erat  homincm 
deiecturus  in  actum  illius  peccati,  ut  sdlicet  pomum  veütum 
comederet,  nisi  elatio  praecessisset . . .  Audiens  enim  mulier: 
eritis  sicut  dii,  elata  est  in  superhiam;  quae  superhia  erat  com- 
primenda  per  poenas  illud  peccatum  secuturas.  Der  vergleich 
zwischen  dem  guten  engel,  welcher  die  ankunft  Christi  ver- 
kündigte, und  dem  teufel,  welcher  das  erste  weib  verführte, 
und  der  vergleich  zwischen  Eva,  welche  die  süude  in  die  weit 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  853 

gebracht,  und  Maria,  welche  das  heil  der  weit  geboren  und 
für  die  Sünde  Evas  gebüsst,  ist  35,26  —  36,44  durchgeführt 
worden.  Obwol  namentlich  in  den  Sermones  des  Augustinus 
und  anderer  kirchenschriftsteller  andeutungen  über  diese  dinge 
vorkommen,  so  lässt  sich  dennoch  eine  bestimmte  quelle  für 
diese  partie  nicht  nachweisen,  und  wir  müssen  dieselbe  als 
erfindung  des  dichters  bezeichnen.  Die  schriftstellen,  auf  welche 
sich  der  dichter  in  diesem  abschnitte  seines  werkes  bezieht, 
haben  wir  bereits  citiert,  nämlich  Gen.  3, 1  ff.  und  Luc.  1, 26  ff. 

Undogmatisch  ist  was  der  dichter  36, 5 — 8  sagt:  do  diu 
maget  unbewollen  von  dem  chinde  hegunde  grojsjsen,  do  macht 
diu  natover  nicht  verla^zen,  im  wurde  etwenne  we.  Etwas 
ähnliches  findet  sich  bei  keinem  kirchenschriftsteller.  Eine 
erklärung  für  die  annähme  des  dichters,  Maria  habe  ihr  kind 
unter  schmerzen  geboren,  lässt  sich  nur  dahin  abgeben,  dass 
er  alles  mögliche  zusammensuchte,  um  seinen  lesem  recht  klar 
zu  zeigen,  dass  Maria  für  die  Sünde  Evas  gebüsst  habe. 

Was  der  dichter  36, 29 — 31  sagt,  scheint  aus  Beda,  Hom. 
in  puriflc.  B.  M.  V.,  t.  5, 81  ff.  genommen  zu  sein:  dominicae  pas- 
sionis  et  mortis  in  cruce,  qui  Marias  anim^m  pertransivit:  quia 
non  sine  acerho  dolore  potuit  sacrificium  morientemque  videre. 
Ganz  ähnlich  Beda  t.  3, 346. 

36,45—51.  Mit  diesen  worten  kehrt  der  dichter  wider 
zu  Hugo  zurück,  t.  2, 29:  diäbolu^  deo  iniuriam  fecisse  convin- 
citur . . .  Item  didbolus  homini  iniuriam  fecisse  convindtur  . . . 
Iniuste  ergo  tenet  diaholus  hominem,  'sed  homo  iuste  tenetur^, 
quia  diaholus  numquam  meruit,  ut  hominem  sibi  subiectum  pre- 
meret,  sed  'homo  meruit  per  culpam  suam,  ut  ab  eo  premi  per- 
mitteretur . . .  lu^te  ergo  homo  subiectus  est  diaholo  quantum 
pertinet  ad  culpam  suam\  Für  v.  51  war  ebenfalls  Hugo  (t.  2, 30) 
massgebend:  causam  nostram  fedt  qui  debitum  patri  pro  nobis 
solvit  et  moriendo  reatum  expiavit 

36, 52—59  beruht  ebenfalls  auf  Hugo,  der  an  der  citierten 
stelle  weiter  sagt:  sed  deus  causam  hominis  suscipere  noluit, 
quia  homini  adhuc  pro  culpa  sua  iratus  fuit  Oportuit  ergo, 
ut  prius  homo  deum  placeret,  et  sie  deinde  fidudaliter  deo  pa- 
trodnante  cum  diabolo  causam  iniret,  Sed  deum  rationcibiliter 
placare  non  poterat,  nisi  damnum  quod  intulerat  restitueret  et 
de  contemptu  satisfaceret 


o 


354  TEUBEB 


o 


36,60 — 62  stimmt  inhaltlich  zu  Hugos  ansieht  (t.  2,29): 
homo  vero  nihil  habuit^  qtwd  digne  deo  pro  ablato  damno  recam- 
pensaret . . .  Sed  nee  hominem  pro  homine  reddere  potuit;  quia 
itistum  et  innoeentem  ahstulerat  (^nicht  so  vil  rmnef^,  et  nemi- 
nem nisi  peccatorem  invenit.  Nihil  ergo  homo  invenit  (vgl. 
V.  62),  unde  deum  sibi  plaeare  posset . . . 

36,63 — 80.  Auch  diese  gedanken  hat  der  dichter  Hugo 
von  St.  Victor  entlehnt  (t.  2, 30):  ut  ergo  detts  ab  homine  pla- 
cari  posset,  dedit  deus  gratis  homini  quod  homo  ex  debito  deo 
redderet  Dedit  ergo  homini  hominem  (v.  63 — 66),  qui  priori 
non  solum  aequalis  sed  maior  esset  . . .  f actus  est  det*5  homo 
pro  homine . . .  Sed  hoc  convenientitts  fieri  non  poterat,  nisi 
ut  poenam  quam  non  debebat  sponte  et  oboedienter  susciperet 
(v.  67 — 71),  ut  de  poena  quam  per  inoboedientiam  meruerat, 
eripi  dignus  fieret  (v.  72 — 75)  ...  üt  ergo  homo  iuste  poenam 
debitam  evaderet,  necesse  fuit  ut  talis  homo  pro  homine  poenam 
susciperet,  qui  nihil  poenae  debuisset.  Sed  talis  nullus  inveniri 
poterat  nisi  Christus.  Mit  v.  79  bricht  der  dichter  mit  der 
weiteren  darstellung,  wie  er  sie  bei  Hugo  vorfand,  ab  und 
geht  wider  auf  den  bericht  der  evangelien  zurück,  um  an  der 
band  derselben  zu  zeigen,  wie  Christus  den  teufel  überwunden, 
durch  sein  leiden  die  Sünden  der  ersten  menschen  gebüsst  und 
endlich  durch  seine  auf erstehung  und  himmelf ahrt  (die  höllen- 
fahrt  wird  eingeschoben)  dem  erlösungswerke  die  kröne  auf- 
gesetzt habe.  V.  79  f.  schliessen  an  Luc.  2, 7  an:  et  reclinavit 
cum  in  praesepio. 

Mit  36, 81  f.  widerholt  der  dichter  etwas  anders  gewendet 
was  er  bereits  34,63 — 82  ausführlich  geschildert  hat. 

37, 1—17.  In  V.  1—7  fasst  der  dichter  die  erzählung  von 
der  Versuchung  Jesu,  wie  sie  Matth.  4, 1  ff.  berichtet  wird,  kurz 
zusammen,  um  sie  dann  von  v.  34  an  ausführlicher  zu  geben. 
Die  gründe  jedoch,  welche  er  für  die  Versuchung  und  für  das 
fasten  des  herm  angibt,  hat  er  aus  Augustinus  geschöpft 
oder  vielmehr  aus  einem  sermon  welcher  diesem  zugeschrieben 
wird,  Sermo  144,  In  quadragesima  8,  t.  5^,  2031, 2:  arbiträr  itaque 
causam  hanc  esse  ieiunii,  ut  quia  primus  Adam  in  paradiso 
constitutum  per  intemperantiam  gulae  gloriam  immortaiitatis 
amiserat.  Et  quia  contra  m^ndatum  dei  gumtans  de  interdicta 
arbore  peccatum  mortis  indderat  (das  nehmen  der  fiticht  im 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  855 

paradiese  ist  das  s<icrüegium,  von  dem  der  dichter  schon  34, 44 
gesprochen);  ...  vel  quia  epulando  mulier em  dognoverat  . . . 
Adam  enim  Evam  nonnisi  intemperantia  provocante  cognovit 
(das  ist  uherMr,  wie  es  der  dichter  in  anderer  Verbindung 
schon  34, 20  gebraucht  hatte).  Hoc  enim  agit  sälvator,  ut  eis- 
dem  vestigiis,  quibus  admissa  fuerant  delicta,  purgentur:  hoc 
est,  ut  quia  homo  manducando  deliquerat,  corrigat  abstinendo, 
—  Ibid.  s.  2032, 4:  formmn  igitur  dedit  nobis  deus  in  hoc  facto, 
ut  ieiuniorum  tempore  tamquam  ^desertum  habitantes',  abstinea- 
mus  Qwie  wir  uns  da  vor  tempern  solten^  epulis,  voluptate, 
muliere, 

37, 18 — 33.  Auch  für  diese  stelle  holte  sich  der  Verfasser 
des  Anegenge  die  leitenden  gedanken  aus  Augustinus:  Quae- 
stiones  ex  novo  testamento,  pars  2,  qu.  9,  s.  2394:  similiter  et 
quod  esuriit,  non  sua  causa,  sed  nostra  est  leiuniis  enim  cum 
superatae  fuissent  ientationes  diaboli;  . . .  postea  i,  e.  post  qua- 
draginta  dies  permisit,  ut  (quod  hominis  erat)  pateretur  famem 
('so  sich  der  gotes  sun  hungern  lie*);  ut  videns  diabolus,  qui 
iam  fuerat  superatus  infirmitatem  in  eo  famis,  indtaretur  rur- 
sum  ad  tentandum,  videns  hominem  esse  a  quo  vincebatur  . . . 
Mirabatur  enim  stupore  hebetatus,  quod  mysterium  inesset,  quod 
se  lateret;  ut  potesta>s  esset  a^cedendi,  circumveniendi  non  esset, 
Duabus  enim  ex  coAisis  torquebatur,  Videns  enim  infirmitatem 
(v.  21 — 30  sind  durch  diese  stelle  veranlasst)  accedebat  et  in- 
veniebat  virtutem;  ut  cernens  hominem  suspectus  esset  de  dei 
mrtute.  Ad  hoc  ergo  esuriit,  ut  illuderet  a^tutiam  Satanae  (vgl. 
V.  31—33). 

37, 34 — 44.  Diese  verse  sind  nichts  anderes  als  eine  etwas 
langatmige  ausführung  dessen  was  bei  Matth.  4, 2. 3  steht: 
postea  esuriit.  Et  a^ccedens  tentator  dixit  ei:  si  filius  dei  es, 
die,  ut  lapides  isti  pa/nes  fiant  Dass  der  dichter  sagt  (43  f.), 
der  teufel  hätte  den  herrn  gerne  zu  der  chelgitichmt  getrieben, 
beruht  auf  der  früher  citierten  stelle  aus  Augustinus,  Sermo  147 
in  quadrag.  8,  t.  5«,  2031, 2. 

37, 45—51.  In  v.  45—48  übersetzt  der  dichter  wörtUch 
Matth.  4, 4:  qui  respondens  dixit:  scriptum  est:  non  in  solo 
pane  vivit  homo,  sed  in  omni  verbo,  quod  procedit  de  ore  dei. 
In  V.  49 — 51  greift  er  abermals  auf  die  oben  citierte  stelle  des 
Augustinus  zurück. 


356  TEUBEB 

Mit  den  versen  37, 52  f.  leitet  der  dichter  zur  zweiten  Ver- 
suchung über,  die  er  37, 54 — 63  im  engen  anschluss  an  Matth. 
4, 5  f.  schildert:  tunc  assumpsit  eum  diabolus  in  sanctam  civi- 
tatem,  et  statuit  eum  super  pinnaculum  templi.  Et  dixit  ei: 
si  fHius  dei  es,  mitte  te  deorsum.  Scriptum  est  enim:  quia 
angelis  suis  mandavit  de  te,  et  in  manihus  tollent  te,  ne  forte 
offendas  ad  lapidem  pedem  tuum  (vgl.  Ps.  90, 11).  Dass  der 
dichter  sagt  unt  hiez  in  den  liuten  zelobene,  also  aus  ruhm- 
sucht  solle  er  sich  hinabstürzen,  dürfen  wir  uns  nicht  wundem; 
denn  das  ist  eine  alte  ansieht  der  exegeten.  Schon  Hieronymus 
(Commentariorum  in  ev.  Matthaei  lib.  1,  c.  4,  t.  7,  Migne  t.  26, 32) 
bemerkt  zu  der  stelle  Matth.  4, 5 :  ut  quem  fame  tentaverat, 
tentaret  et  ^vana  gloria'.  Diese  ansieht  pflanzt  sich  dann  durch 
die  exegesen  der  kirchenschriftsteller  fort;  bis  auf  den  heutigen 
tag  ist  sie  beibehalten  worden.  Wenn  sie  der  dichter  nicht 
aus  Hieronymus  direct  entnommen  hat,  so  hat  er  sie  wol  in 
einem  späteren  commentare  gelesen,  der  sich  nicht  eruieren 
lässt,  da  dieselben  übereinstimmen. 

37,64 — 69  stimmt  zu  Matth.  4, 7:  ait  Uli  Jesus:  rursum 
scriptum  est:  non  tentdbis  dominum  deum  tuum.  Woher  der 
dichter  die  ansieht  hat,  dass  der  herr  durch  demut  die  ruhm- 
sucht  der  ersten  menschen,  die  von  den  leuten  gelobt  werden 
wollten,  wider  gut  gemacht  habe,  lässt  sich  schwer  sagen.  In 
den  commentaren  konnte  ich  davon  nichts  entdecken.  Vielleicht 
ist  es  eine  erfindung  des  dichters. 

37,77  —  38,5.  Diese  verse  übersetzen  zum  teil  wörtlich 
Matth.  4, 8 — 10:  iterum  assumpsit  eum  diabolus  in  montem  ex- 
celsum  valde,  et  ostendit  ei  regna  mundi  et  gloriam  eorum; 
et  dixit  ei:  haec  omnia  tibi  dabo,  si  cadens  (nider  vollende: 
man  beachte  das  part.)  adoraveris  me  (v.  77 — 83).  Tunc  dicit 
ei  Jesus:  vade,  Satana,  scriptum  est  enim:  dominum  deum 
adorahis  et  Uli  soli  servies. 

38, 6 — 9.  Der  dichter  scheint  hier  eine  stelle  aus  Hugo 
(t.  2, 289)  vor  äugen  gehabt  zu  haben:  in  promissione  divinv- 
tatis  et  cognitionis  vana  gloria  et  avaritia.  Das  eingehen  auf 
dieses  versprechen  von  seite  der  ersten  eitern  war  die  Sünde, 
welche  der  dichter  hier  kennzeichnet. 

Nachdem  der  dichter  gezeigt,  welche  Sünden  der  gottes- 
sohn  durch  sein  fasten  und  seine  Versuchung  gesühnt  habe, 


QUELLEN  DES  AKEGEKGE.  357 

geht  er  auf  das  leiden  des  heim,  auf  seinen  tod  und  seine 
grablegung  über,  um  hier  in  ganz  ähnlicher  weise  darzutun, 
wie  der  herr  das  alles  nur  aus  dem  einen  gründe  über  sich 
habe  ergehen  lassen,  weil  er  dadurch  die  Sünden  des  ersten 
menschenpaares  büssen  wollte.  Der  dichter  versteht  es,  die 
einzelnen  leidensphasen  bestimmten  Sünden,  zu  deren  busse 
sie  erduldet  wurden,  gegenüberzustellen.  Die  darstellung  des 
leidens  selbst  knüpft  an  den  bericht  der  hl.  schrift  (Matth.  27. 
Marc.  15.  Luc.  23.  Joh.  19)  nicht  selten  in  wörtlicher  Überein- 
stimmung an. 

Noch  ist  hinzuzufügen,  dass  der  dichter  38, 23  ff.  auf  eine 
rechtspraxis  seiner  zeit  hinweist. 

38, 63 — 68.  Hier  bezieht  sich  der  dichter  auf  den  brief 
des  Paulus  an  Titus  3, 4.  5.  7 :  cum  autem  lenignitas  et  huma- 
nitas  apparuit  salvatoris  nostri  dei,  non  ex  operibus  iustitiae, 
quae  fedmus  nos,  sed  secundum  suam  misericordiam  salvos  nos 
fedt  ,.,  ut  iustificati  gratia  ipsius,  haeredes  simus  secundum 
spem  vitae  aeternae.  Der  dichter  scheint  aber  erst  durch 
Wemerus,  den  er  in  den  unmittelbar  folgenden  versen  benutzt 
hat,  auf  diese  stelle  geführt  worden  zu  sein;  denn  dieser  citiert 
von  derselben  allerdings  nur  den  ersten  vers,  was  ja  schliess- 
lich jenem  genügte,  um  das  übrige  leicht  finden  zu  können. 

38,69 — 81.  Diese  verse  fussen  abermals  auf  Wernerus 
Peflor.  SS.  PR,  Migne  1. 167,  788 CD),  der  ganz  dieselben  ge- 
danken  wie  unser  dichter  ausspricht,  nur  in  anderer  reihen- 
folge,  aber  nicht  in  anderem  zusammenhange:  acquisiverat  sihi, 
fratres  charissimi,  genus  hum^num  astutia  diabolicae  fraudis . . . 
Cum  ergo  Satanas  contra  hominem  astute  egisset  per  falladam 
(v.  73 — 75),  voluit  dominus  contra  Satan  propter  hominem  pru- 
denter  agere  per  sapientiam,  Tali  igitur  dominus  egit  consilio 
de  humana  reparatione,  necessarium  erat  ut  contra  diäbolum 
pugnaturus  talis  mitteretur,  qui  nee  succumheret,  sed  rationaM- 
liter  ageret.  Adam  purus  homo  erat  (v.  72)  et  ideo  ex  humana 
fragilitate  tentationibus  diäboli  succübuit  (v.  73—75),  et  propterea 
purus  homo  ad  redemptionem  nostram  mittendus  non  erat,  qui 
vel  per  se  cum  tentaretur  peccaret  Ib.  s.  790:  in  ea  OMtem 
natura  qua  homo  erat  pro  iniuria,  maius  nmndo  solvit,  quod 
solus  homo  debuit  (v.  76 — 81). 

38, 82 — 85.    Denselben  gedanken  finden  wir  bei  Wemerus 


358  TEUBER 

s.  789B:  vaMe  enim  iustum  est,  ut,  qui  alii  sua  abstulerit,  et 
dblata  restituat  et  pro  iniuria  satisfaciat 

39, 1 — 3  sind  selbständige  zugäbe  des  dichters.  Dagegen 
ist  die  folgende  darstellung  von  der  höllenfahrt  Christi  einer 
pseudo-augustinischen  rede  Sermo  160,  t.  5*,  2059  ff.)  entnommen, 
welche  eine  compilation  von  stellen  aus  einer  homilie  Gregors 
des  grossen  und  aus  mehreren  homilien  des  Eusebius  ist.  Der 
Verfasser  des  Anegenge  nimmt  aber  von  dort  nur  die  gedanken  ; 
herüber  und  gibt  ihnen  teilweise  eine  andere  einkleidung.  ' 

39,4 — 9.  In  jener  rede  haben  wir  die  form  des  dialogs;  \ 
es  sprechen  die  verdammten  untereinander  (no.2,  s. 2060);  es  \ 
sprechen  die  verdammten  zu  ihrem  herscher  (no.  3,  s.2060);  es  , 
sprechen  endlich  die  gerechten  zu  Christus  (no.  4,  s.  2061).  i 
Was  unser  dichter  hier  sagt,  machen  dort  die  verdammten 
ihrem  herscher  zum  vorwürfe  (s.  2061):  si  attenderes  cwusam,  \ 
requireres  culpam.  In  quo  nihil  mali  cognoveras,  quare  cum  \ 
ad  nostram  patriam  perducebas?  Istum  liberum  adduodsü;  et  \ 
totos  obnoxios  perdidisti  (das  ists  was  der  dichter  mit  dem 
Worte  gischande  sagen  will). 

39, 10 — 22.  Auch  diesen  gedanken  hat  der  dichter  aus  der 
anspräche  der  höllischen  geister  an  ihren  fürsten  übertragen, 
dem  sie  die  torheit  und  nichtigkeit  seiner  Versprechungen  vor- 
halten, woraus  wir  ja  indirect  erfahren,  was  der  teufel  seinen 
genossen  versprochen  hat.  Und  das  letztere  gibt  unser  dichter 
dem  Inhalte  nach  wider.  In  jener  rede  heisst  es  (no.3,  s.2060): 
an  forte  ipse  est  ille  de  quo  princeps  noster  paulo  ante  dicebat 
(daraus  ergab  sich  für  unsern  dichter  ein  anlass,  den  teufel 
sprechen  zu  lassen),  quod  per  eius  mortem  totius  mundi  acci- 
peret  potestatem  (daher  die  aufforderung  v.  19  die  hölle  solle 
sich  frölichen  uftün)?  Sed  si  iste  est  in  contrarium  est  nostri 
proeliatoris  versa  sententia:  et  dum  sibi  vincere  visus  est,  ipse 
potius  victus  atque  prostratus  est  (vgl.  oben  v.  5).  0  princeps 
noster,  hicne  ille  de  cuius  tibi  semper  futura  morte  plaudebas? 
ipsene  est  in  cuius  cruce  omnem  mundum  tibi  subiugandum  esse 
credebas  (v.  10 — 12;  durch  die  worte  plaudebas,  credebas  und 
dem  folgenden  promittebas  wurde  der  dichter  auf  das  geführt 
was  er  in  v.  13 — 22  sagt);  ipsene  est  in  cuiu^s  exitu  nobis  tanta 
spolia  permittebas  ? 

39^  23—35.    Hier  schliesst  sich  unser  dichter  insofern  mehr 


QUELLEN  DES  ANEGENGE.  359 

an  seine  quelle  an,  als  er  die  directe  rede  der  verdammten 
teilweise  beibehält.  In  dem  citierten  sermo  lieisst  es  (no.  2, 
s.  2060):  postquam  enim  exältatus,  i.  e.  a  Judaeis  in  cruce  sus- 

pensus  est, mox  ut  spiritum  reddidit,  unita  suae  divinitati 

anima  ad  inferorum  profunda  descendü.  Cumque  tenebra/rum 
terminum  qua^si  quidam  depraedator  splendidus  ac  terribilis 
attigisset,  aspicientes  eum  impiae  ac  tartareae  legiones  territae 
ac  trementes  inquirere  coeperunt  dicentes.  Quisnam  est  iste 
terribilis  niveo  splendore  coruscus?  Numquam  noster  talem 
excepit  tartarus,  nunquam  in  nostram  cavernam  talem  evomuit 
mundus . . .  insuper  et  de  nostro  interitu  formidamus  (v.  23 — 28). 
Ib.  s.  2061  heisst  es  weiter:  ecce  ipsi  qui  sub  nostris  solebant 
suspirare  tormentis,  insultant  nobis  de  perceptione  salutis . . . 
Numquam  hie  ita  superbierunt  mortui  nee  aliquando  sie  potu- 
erunt  laeti  esse  captivi.  Utquid  huc  istum  adducere  voluisti, 
quo  veniente  omnes  sunt  laetitiae  restituti,  qui  ante  fuerant 
desperati  (v.  29 — 35). 

39,36 — 51.  Die  gedanken  welche  der  dichter  hier  vor- 
bringt, sind,  abgesehen  davon  dass  er  die  ganze  hl.  dreif altig- 
keit  in  die  unterweit  hinabsteigen  lässt,  was  wol  seine  eigene 
erfindung  ist,  wider  aus  dem  citierten  pseudo-augustinischen 
sermo  genommen.  Denn  dort  heisst  es  (no.  4,  s.  2061):  post 
ista>s  crudelium  ministrorum  infernalium  voces  sine  aliqua  mora 
ad  imperium  domini  ac  salvatoris  nostri  omnes  ferrei  confra^ti 
sunt  vectes  (v.  36 — 42);  ib.  no.  2,  s.  2060:  nunqu^am  huic  coeno- 
lento  loco  et  nigra  semper  caligine  caecato  iucundum  lumen 
apparuit  (v.  43f.);    ib.  s.  2061, 4:   et  ecce  subito  innumeroMles 

sanctorum  populi,  qui  tenebantur  in  morte  captivi  (v.  39  f.) 

In  tyranno  catena  nectitur,  et  tortor  noster  poena  torquetur 
(v.  45f.);  ib.  s.  2061, 5  heisst  es  weiter:  statim  a  domini  iussu 
omnes  antiqui  iusti  iura  potestatis  acdpiunt . . .  lucundentur 
in  ascensu  tuo  fideUs,  aspicientes  dcatrices  corporis  tui  (v.  47 
— 49),  Fedt  hoc  Christus,  sicut  iam  superius  dictum  est.  Fa>cta 
praeda  in  inferno,  vivus  exit  de  sepulchro  (v.  50f.). 

39, 52—63.  In  v.  52—62  scheint  der  dichter  Wernerus, 
Migne  1. 167,  926 A  vor  äugen  gehabt  zu  haben;  denn  dort 
wird  gesagt:  quidam  sentiunt,  quod  ab  hora  mortis  usque  ad 
horam  resurrectionis  in  inferno  cum  electis  fuerit,  et  inde  cum 
eis  abiens  resurrexerit    Wernerus  gibt  zwar  eine  bestimmte 


360  TEUBEB,  QUELLEN  DES  ANEGEKGE. 

antwort,  aber  unser  dichter  hält  damit  zurück  (zu  v.  57 — 63 
vgl.  s.  124  ff.). 

39,64 — 40,2.  Die  grundstelle  zu  diesen  gedanken  findet 
sich  in  Ps.  23, 7 — 10,  welcher  seit  den  ältesten  zeiten  prophe- 
tisch gedeutet  wurde.  Aber  gerade  die  prophetische  deutung 
dieses  psalmes  ist  es,  welche  der  dichter  in  den  citierten 
versen  widergibt.  Die  erste  auslegung  desselben  mit  beziehung 
auf  die  himmelfahrt  Christi  findet  sich  bei  Ambrosius,  De 
mysterüs  c.  7:  duhitaverunt  enim  etiam  angelt,  cum  resurgeret 
Christus;  duhitaverunt  coelorum  potestates  videntes  quod  caro 
in  coelum  ascenderet,  quia  dicehant:  quis  est  iste  rex  gloriae? 
Dieselbe  auslegung  dieser  verse  des  Ps.  23  finden  wir  bei 
Augustinus,  Sermo  179,  t.  5^,  2085.  Am  ausführlichsten  erklärt 
die  stelle  jedoch  Eupert  von  Deutz  im  anschlusse  an  Ambrosius 
und  Augustinus,  De  trinitate  et  operibus  eins.  In  Isaiam  lib.  2, 
1. 1, 1375,  wo  es  heisst:  interrogant  igitur  occurrentes  angeli  et 
dicunt:  quis  est  iste,  quis  est  iste,  rei  novitate  perterriti  (v.  64 
— 74,  wobei  wir  allerdings  v.  64 — 67  als  selbständig  hinzu- 
gefügte Übergangsverse  anzusehen  haben).  Mysterium  enim 
passionis  et  resurrectionis  Christi  cunctis  retro  generationibus 
fuerat  ignotum . . .  Rursus  angeli  sdscitantur,  et  dicunt:  qum'e 
ergo  rubrum  est  indumentum  tuum,  et  vestimenta  tua  sicut  cal- 
cantium  in  torculari  (v.75)?  . . .  Respondet  ergo  percunctantibus : 
torcular  calcavi  solus,  et  de  gentibus  non  erat  vir  mecum  . .  . 
Calcavi  autem  solus,  nullum  quippe  habui  adiutorem  (v.76 — 78; 
vgl.  Is.  63).  Die  verse  39, 79 — 40, 1  scheinen  selbständige  er- 
findung  zu  sein. 

Mit  einer  aufforderung  an  seine  leser,  Christo  dem  herrn 
für  die  woltat  der  erlösung  durch  ein  wahrhaft  gutes  leben 
zu  danken,  weil  es  sonst  besser  wäre  da^  derselben  verte  nie 
gedacht  wurde,  schliesst  der  dichter  sein  werk,  das  unter  allen 
mittelhochdeutschen  geistlichen  gedichten  das  dunkelste,  aber 
auch  an  gedankentiefe  und  reichtum  des  Inhaltes  das  bedeu- 
tendste ist. 

KOMOTAU.  P.  VALENTIN  TEUBEE,  0.  Cist 


DAS  VERHÄLTNIS 

DER  FRAUENMONOLOGE  IN  DEN  LYRISCHEN 

UND  EPISCHEN  DEUTSCHEN  DICHTUNGEN  DES 

12.  UND  ANGEHENDEN  13.  JAHRHUNDERTS. 

Burdach  hat  in  seinem  buche  Eeinmar  der  alte  und  Walther 
von  der  Vogelweide  s.  69.  74  120  auf  einen  Zusammenhang  der 
epik  und  lyrik  des  12.  und  angehenden  13.  jh.'s  hingewiesen. 
Die  grossen  Selbstgespräche  der  Isalde  im  Tristrant  Eilharts 
von  Oberge  und  der  Lavinia  in  der  Eneide  Veldekes  erscheinen 
ihm  als  die  Vorbilder  Hausens  und  Eeinmars.  Ich  habe  dieses 
Problem  weiter  verfolgt  und  hoffe  einige  neue  stützen  für 
Burdachs  hypothese  gefunden  zu  haben. 

Die  Chronologie  der  dichter  würde  dieser  annähme  nichts 
in  den  weg  legen:  Eilharts  Tristrant  wird  von  seinem  heraus- 
geber  Lichtenstein  (s.  l  und  cliv)  mit  grosser  Wahrscheinlich- 
keit in  die  siebziger  jähre  des  12.jh.'s  gesetzt.  0  Die  Eneide 
ist  zum  grössten  teile  um  1175  verfasst,  vollendet  und  bekannt 
wurde  sie  nach  Behaghels  Untersuchungen  (ausg.  s.  clxiii)  erst 
um  1186.  Hausens  monolog  (MF.  54, 1)  wird,  wenn  er  von 
ihm  gedichtet  ist,  wol  mit  recht  von  Becker  (Der  altheimische 
minnesang,  Halle  1882,  s.  135  ff.)  wegen  seiner  Vollendung  unter 
die  letzten  gedichte  gerechnet,  d.h.  er  ist  ungefähr  1189  ent- 
standen. An  Hausen  schliessen  sich  dann  Eeinmar  2)  und  spä- 
tere^) an. 


»)  Auch  Schröder  (Zs.  fda.  42, 79)  gesteht  zu,  dass  entscheidende  beweis- 
momente  gegen  diese  datierung  sich  nicht  vorbringen  lassen. 

^)  Becker  a.  a.  o.  s.  136  nimmt  umgekehrt  Hausen  als  den  entlehnenden 
an,  dagegen  Burdach,  Anz.  fda.  10, 27. 

8)  Ich  habe  in  den  kreis  meiner  betrachtung  folgende  monologe  ge- 
zogen: Eilharts  Tristrant  1212.  1874—1880.  2398—2598.  3516—3522. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  24 


362  LESSER 

Bevor  ich  aber  an  eine  vergleichende  betrachtung  dieser 
epischen  und  lyrischen  frauenlieder  herangehe,  muss  ich  zu- 
nächst den  Eilhartischen  liebesmonolog,  der  ja  das  vorbild  für 
die  späteren  wurde,  einer  kritischen  Untersuchung  in  bezug  auf 
echtheit  und  interpolation  unterwerfen.  Denn  da  das  gedieht 
Eilharts  vollständig  nur  in  einer  bearbeitung  des  13.  jh.'s  vor- 
liegt, so  konnte  die  annähme  nahe  liegen,  dass  viele  Überein- 
stimmungen mit  der  späteren  höfischen  dichtung  auf  rechnung 
des  bearbeiters  zu  setzen  seien.  Diese  etwaigen  interpolationen 
müssten  natürlich  für  die  Untersuchung  über  die  abhängigkeit 
der  lyrik  von  der  vorausgegangenen  epik  durchaus  unberück- 
sichtigt bleiben. 

Wir  haben  für  die  herstellung  des  textes  drei  quellen:  1)  die 
jüngere  gereimte  bearbeitung  aus  dem  13.  jh.,  D  und  H  =  X 
(Lichtenstein).  Aeltere,  dem  originale  näher  stehende  f assungen 
aber  bieten  2)  die  prosaauflösung  P  aus  dem  15.  jh.  und  3)  die 
czechische  Übersetzung  Ö  aus  dem  13.  jh.  (vgl.  Feifalik,  WSB. 
32,300).    Doch  man  darf  2)  und  3)  nicht  überschätzen;  denn 

2)  enthält  eine  reihe  von  misverständnissen  (Lichtenstein,  Zur 
kritik  des  prosaromans  s.  19  ff.),  und  was  schwerwiegender  ist, 
es  setzt  moderne  Wörter  für  antiquierte  ein  (Lichtenstein  a.  a.  o. 
s.23ff.)  und  kürzt  die  dialoge  (X  457— 495  ist  in  P8,8ff. 
stark  gekürzt  im  gegensatz  zu  Ö  14, 12 — 15,  23,  das  hier  auf 
Seiten  von  X  steht;  ähnlich  X  646—668  =  Ö  22, 6  —  23, 1  : 
P  12,  5—20;    X  729—736  =  6  24, 17  —  25,  5  :  P  13,  17—19). 

3)  ist  ebensowenig  eine  einwandsfreie  quelle.  Denn  sie  ent- 
hält eigene  zusätze,  die  nur  eine  widerholung  früherer  gedanken 
oder  eine  notdürftige  herstellung  eines  anschlusses  sind  (Knie- 
schek  a.a.O.  s. 348),  misverständnisse  des  deutschen  Originals 
(Knieschek  s.  351),  abweichungen  und  änderungen  (Ö  92, 19  : 
X  2558).    Wichtiger  sind  aber  die  unstatthaften  auslas- 


3525—3527;  VeldekesEneide  1362-1408.  2442—2447  (Dido),  10064— 
10388.  10400—10435.  10476-10495.  10726-10784.  11383-11422.  11428— 
11465.  11504— 11552.  12215— 12300.  12672— 12688  (Lavinia).  Hausen,  MF. 
54, 1.  Veldeke  57, 10.  67, 17.  Johannsdorf  94,  35.  Rugge  106,  15. 
Morungen  142,26.  Reinmar  151,  1.  167,  31.  178,  1.  186,  19.  192,  25 
(199, 25  und  203, 10  werden  mit  recht  von  Er.  Schmidt,  QF.  4, 76  und  74  für 
unecht  erklärt);  Hartmann  212,37.  217,  14.  216, 1.  Walt  her  113,  31. 
39,11.    Otto  von  Botenlauben  MSH.  28,8. 


MHD.  FRAUENMONOLOGE;  363 

sungen  (Lichtenstein  a.a.O.  s.  10, 8).  In  der  grossen  kampf- 
schilderung  X  6022—6072  hat  C  offenbar  stark  gekürzt.  Dass 
aber  P  nur  drei  Zeilen  (130, 10 — 12)  dafür  verwende,  wie  Knie- 
schek  meint,  ist  falsch,  denn  nur  die  anordnung  der  gedanken 
weicht  in  P  von  der  in  X  ab;  man  vergleiche  X  6035  ff.  mit 
P  130, 24;  X  6048  mit  P  130, 21. 

Wie  alle  jüngeren  Überarbeitungen  älterer  gedichte  hat 
auch  X  das  bestreben,  das  gedieht  nach  inhalt  und  form  der 
neuen  kunstentwickelung  anzupassen.  So  finden  sich  denn  in 
der  tat  neben  der  beseitigung  der  alten  assonanzen  auch  tiefer 
gehende  erweiterungen  (Lichtenstein  a.  a.  o.  s.  17).  Manchmal 
aber  stimmt  X  mit  Ö  und  P  gegen  die  alten  fragmente  (A) 
überein,  so  dass  selbst  Knieschek  (a.a.O.  s. 339 ff.)  zu  der  an- 
sieht kommt,  dass  X  an  einigen  stellen  das  ursprüngliche 
widergebe.  Jedenfalls  aber  muss  ich  mit  Lichtenstein  (ausg. 
s.  xx)  übereinstimmen,  dass  X  sehr  wenig  sachliche  Verschieden- 
heiten aufweist.  Ueberhaupt  glaube  ich,  dass  aus  der  ganzen, 
mit  grosser  heftigkeit  geführten  Untersuchung  nur  das  heraus- 
gekommen ist,  dass  P  und  C  für  die  reconstruction  der  alten 
reime  nach  wie  vor  eine  vorzügliche  handhabe  bieten,  dass 
aber  sonst  im  grossen  und  ganzen  alle  drei  von  einander  un- 
abhängige und  gleich  gute  oder  gleich  schlechte  recensionen 
sind.  Denn  das  resignierende  Schlussurteil  Ejiiescheks  wird 
bestehen  bleibon,  dass  wir  wol  nie  im  stände  sein  werden,  das 
original  Eilharts  überall  herzustellen,  wenn  uns  nicht  neues 
handschriftliches  material  zufliesst.  Nur  wo  zwei  quellen  gegen 
die  eine  stimmen,  da  ist  freilich  wahrscheinlich,  dass  diese  das 
ursprüngliche  bewahrt  haben. 

Gehen  wir  nun  unter  diesen  ungünstigen  anspielen  an  die 
kritik  unseres  monologes,  so  ist  sogleich  die  sehr  energische 
f orderung  Kniescheks,  115  verse  (X  2436 — 2551)  zu  streichen, 
die  in  C  fehlen,  auf  ein  sehr  bescheidenes  mass  herabzustimmen. 
Nur  an  folgenden  stellen  gehen  P  und  Ö  in  der  auslassung 
zusammen:  X  2436—2438.  X  2444— 2457.0  X  2464—2466 
(frauwe  Amur),  X  2539—2551.  X  2480  ff.  setzt  die  bearbeitung 
mit  der  anrufung  der  frauwe  Minne  ein.    Es  ist  nun  auffällig, 

*)  X  2458— 24C3  ist  gegen  den  verdacht  der  Interpolation  durch  P  48. 
14—16  geschützt. 

24* 


364  '  LES8EB 

dass  C  und  P  eine  personification  der  liebe  nicht  kennen. 
P  hat  nur  den  liebesgott  Cupido.  Auch  in  X  2714,  der  ein- 
zigen stelle,  in  welcher  diese  personification  in  X  noch  be- 
gegnet, fehlt  sie  in  P  und  Ö.  In  den  fragmenten  des  franzö- 
sischen Originals  (Michel,  Tristan,  London  1835 — 39,  bd.  1) 
findet  sich  niemals  V Amors.  Wol  aber  erscheinen  diese  namen 
Amor  und  Cupido  in  dem  fi'anzösischen  Eneas:  Amor  v.  8655, 
Cupido  V.  8630  (ausg.  v.  J.  Salverda  de  Grave,  Halle  1891).  Ich 
glaube  nun  mit  Lichtenstein  (s.  cxxxix),  dass  Eilhart  diese 
namen  dem  Eneas  entnommen  und  überhaupt  das  ganze  Selbst- 
gespräch dem  dichter  dieses  epos  nachgebildet  hat.  Durch 
diese  annähme  würden  sich  auch  am  leichtesten  die  vielen 
oft  wörtlichen  anlehnungen  an  die  Eneide  Heinrichs  von  Vel- 
deke  erklären,  die  ja  eine  bearbeitung  des  französischen  Eneas 
ist.  —  Dass  nun  die  czechische  Übersetzung  des  Eilhartischen 
Tristrant  diese  namen  Amor,  Cupido  fallen  gelassen  hat,  kann 
nicht  sehr  wunder  nehmen,  da  überhaupt  die  czechischen 
bearbeiter  die  Zieraten  ihrer  romanischen  originale  abstreifen 
(Lichtenstein,  Anz.  fda.  10, 8).  Die  deutsche  prosaauflösung  aus 
dem  15.  jh.  aber  hat  vielleicht  deshalb  frautve  Minne  ver- 
schmäht, weil  das  wort  mtnne  mehr  und  mehr  die  vergröberte 
bedeutung  annahm  und  aus  dem  schriftdeutschen  verschwand 
(DWb.  6, 2241).  Ueberhaupt  aber  möchte  ich  auch  den  son- 
stigen auslassungen  von  P  und  C  bei  ihrem  durchgehenden 
bestreben,  gespräche  zu  kürzen,  nicht  den  wert  beilegen,  dass 
ich  glaubte,  den  echten  text  des  monologes  durch  beseitigung 
dieser  stellen  widerhergestellt  zu  haben,  vielmehr  werde  ich 
in  der  folgenden  arbeit  das  ganze  Selbstgespräch  berücksich- 
tigen und  nur  an  die  betreffenden  stellen  das  zeichen  ?  setzen. 

Ich  gehe  nunmehr  an  die  vergleichung  der  epischen  und 
lyrischen  monologe  heran.  Es  finden  sich  zuerst  wörtliche 
Übereinstimmungen  der  lyriker  mit 

a)  Eilhart  und  Veldeke:  Eüh.  2400*  >)  :  Veld.  En.  2294  : 
Eeinm.  187, 11*  (Burdach  a.a.O.  s.  120),  dazu  kommt  Eüh.  2591* 
der  lip  ist  mir  so  Up,  so  ist  er  mir  auch  Up  (s.  P  49, 6),  vgl. 
V.  7564.  8825.  9036  =  Veld.  2262  de  mir  liever  was  danne  mines 


^)  Die  mit  einem  *  versehenen  zahlen  beziehen  sich  auf  steUen  aus 
den  liebesmonologen  selbst. 


MHD.  FRAÜENMONOLOGE.  365 

selves  Zi/'^  Haus. 54, 18*  der  mir  ist  alsam  der  lip\  Eilh.8839  sie 
ist  mir  vor  al  die  werld  lip  =  Veld.  12720  die  mir  es  vor  alle 
wif  =  Haus.  54, 34*  ich  solle  im  sin  immer  liep  für  alliu  wip\ 
vgl.  43, 14  (solche  Wendungen  treten  im  minnesange  zuerst  mit 
Hausen  auf,  vgl.  E.M.  Meyer,  Zs.  fda.  29, 157).  Eilh.  2361  si  wor- 
din . . .  heide  bleich  unde  rot  =  Veld.  10057  si  wart  bleich  ende 
rot  (10509  ff.)  =  Eeinm.  178, 31*  bleich  und  eteswenne  rot,  also 
verwet  ez  diu  wipA)  Eilh.  2490*.  Veld.  10295*.  Eeinm.  161, 31. 
Mor.  133, 12.  Walth.  116, 35.  99, 1  wird  vom  nahen  der  liebe  das 
verbum  bestän  gebraucht,  das  sonst  im  minnesange  nicht  weiter 
vorkommt. 

b)  mit  Eilhart:  v.2528*  2586  =  Eeinm.  192, 38*  (Bur- 
dach s.  120).  Dazu  kommt  v.  609  swes  her  zem  rehte  begert, 
des  wird  er  alles  gewert  =  Haus.,  MF.  55, 3*  des  ist  er  von  mir 
geivert  alles  swes  sin  herze  gert,  vgl.  44, 8;  ähnlich  Hartmann 
im  frauenmonolog  216,22*  er  ist  alles  des  wol  wert  des  ein 
man  ze  wihe  gert;  Walth.  44, 8  der  mac  erwerben  swes  er  gert; 
Eilh.  9159  daz  sie  gerne  toste  swes  sie  der  hell  bcete  =  Walth. 
113, 34*  dem  enmag  ich  nicht  versagen  me  des  er  mich  gebeten 
hat  Eilh.  8841 :  ich  gan  doch  ntman  gütis  baz  =  Haus.  49, 26 
der  man  . . .  der  ir  baz  heiles  gan. 

c)  mit  Veldeke:  v.  10108*  =  Haus.  54,  23*  =  Eeinm. 
187,11.  Veld.  En.  271, 10  (ausg.  von  Ettmüller:  Behaghel  tilgt 
den  vers)  =  Haus.  54, 3*  (Burdach  s.  120).  Dazu  kommt  Veld. 
10071*  we  hat  mir  sus  gebonden  min  herte  in  körten  stonden 
=  Haus.  52, 14  min  stcete  mir  nu  hat  da^  herze  also  gebunden: 
diese  Verbindung  findet  sich  im  minnesange  überhaupt  nur  bei 
Hausen.  Veld.  En.  10233*  des  es  min  herte  vele  swär  =  Haus. 
51, 3  dest  minem  herzen  swwre;  Veld.  En.  10322*  ich  weit  wale 
dat  mir  wäre  vele  beter  gedän  . . .  dan  ich  min  herte  skeide  van 
Turnö  so  verre  =  Haus.  54, 32*  und  ich  daz  herze  min  von  im 
gescheiden  niht  enkan.  Diese  phrase  kommt  nur  noch  vor  Guten- 
b.  72, 34  und  Fenis  83, 10. 

Veld.  En.  10185*  minde  ich  me  dan  einen,  so  enminde  ich 
enlieinen  (vgl.  10222  ff.)  =  Johannsd.  86, 5  solde  ich  minnen  mer 


1)  Aehnlich  schon  Kaiserchron.  2799  (Edw.  Schröder).  Nib.  284, 4  (vgl. 
Uhland,  Schriften*  403);  die  rote  färbe  ist  es  aUein  bei  dem  Kümb.  MF.  8, 21. 
Mor.  134, 10.  Reinm.  176, 32 ;  die  kranke  färbe  bei  Veld.  En.  9836  und  MF. 
67,23. 


366  LESSER 

den  eine  daz  emvcere  mir  niht  guot,  söne  minnet  ich  d^heifie. 
AehnUch  bei  Walth.86,19.  51,11  (Burdach  s.  149).  Veld.  En. 
10096*  wan  sint  . . .  ich  den  helet  lussam  alre  erste  gesach,  des 
ich  vergeten  niet  enmach  =  Rugge  106, 19*  sU  ich  sin  Jcunde 
dir  erst  gewan,  son  sach  ich  u.  s.w.  Veld.  En.  10855  nu  doe  dorch 
den  willen  min  =  Reinm.  178,  5*  nu  sage  im  durch  den  willen 
min.  Veld.  En.  10858  lieve  friunt  =  Reinm.  178, 1*  lieber  böte, 
Veld.  En.  10856  des  ich  dir  iemer  holt  wel  sin  =  Reinm.  178, 23* 
daz  ichs  immer  löne  dir,^) 

Veld.  En.  10173*  wat  luste  mich  deich  hen  gesach,  dat  ich 
nu  wale  spreken  mach,  wan  et  moeste  also  geskien  =  Reinm. 
193, 18*  ja  zürne  ich  äne  not:  ez  solte  cht  sin. 

Zur  Syntax  (Burdach  s.  56  ff.). 

Die  beiden  epen  Eilharts  und  Veldekes  zeigen  gerade  in 
den  frauenmonologen  schon  eine  entwickelte  syntax. 

1)  Causalsätze.  In  dem  Selbstgespräch  der  Lavinia 
kommt  diese  satzform  11  mal  vor  (10092.*  10096.*  10107.* 
10143.*  10148.*  10162.*  10175.*  10270.*  10294.*  10316. 
10359*).  Im  monologe  der  Isalde  begegnen  uns  deren  8: 
V.  2432.*  2515.*  2519.*  2523.*  2566.*  2573.*  2574.*  2591.*  In 
den  lyrischen  monologen  finden  sich  an  folgenden  stellen  causal- 
sätze: Haus.  54, 30.*  Reinm.  168, 1.*  193, 3.*  Hartm.  216, 17.* 
19.  217, 35.*  Walth.  114, 17.* 

2)  Consecutivsätze.  Eilhart  wendet  diese  form  oft  an: 
V.  2409.*  2441.*  2449*  (?).  2457.*  2491.*  2500.*  2503.*  2508.* 
2553.*  2562.*  2569.*  2579.*  Dagegen  gebraucht  Veldeke  diese 
satzform  in  einem  128  verse  mehr  zählenden  abschnitte  nur 
einhalbmal  so  viel:  v.  10174.*  10189.*  10190.*  10192.*  10218.* 
10229.*  In  seinen  beiden  lyrischen  monologen  überwiegen 
freilich  noch  diese  Sätze:  MF.  57, 15.  16.  20.  23.  31.  58,9.  10. 
67,20.  Im  frauenliede  Hausens  begegnet  nur  54,38*  ein  sol- 
cher (im  übrigen  vgl.  Burdach  s.  57). 

^)  Diese  letzten  stellen  aus  Eeinmar  gehören  alle  dem  längeren  frauen- 
liede an,  welches  an  einen  boten  gerichtet  ist  und  womit  Reinmar  im  minne- 
sange  eine  besondere  Stellung  einnimmt.  Aber  es  scheint  doch,  dass  er 
eine  ähnliche  Situation  in  Veldekes  Eneide  zum  vorbilde  nahm.  Auch  in 
Eilhart«  Tristrant  v.  7161—7187  haben  wir  gewissermassen  ein  solches  boten- 
lied,  doch  habe  ich  keine  ähnlichkeiten  mit  Eeinmar  entdecken  können. 


MHD.  FRAÜENMONOLOGE.  367 

3)  Conditionalsätze.  Eilharts  frauenmonolog  weist  11 
solcher  sätze  auf  (v.  2405*.  2468*.  2476.*  2497.*  2504.* 
2540*  (?).  2541*  (?).  2548*  (?).  2571.*  2574.*  2582*),  aber 
darunter  ist  kein  irrationaler,  sondern  alle  sind  von  der  ein- 
fachen natur,  wie  sie  uns  im  älteren  minnesange  entgegen- 
tritt. Schon  dem  inhalte  nach  erinnert  z.  b.  2476*  du  engibest 
mir  din  htdde,  so  enmag  ich  niJit  genesin  an  MF.  16, 21  e^n 
heile  mir  ein  frouwe  mit  ir  mmne,  ez  enwirdet  niemer  me  ge- 
sunt  Ganz  anders  bei  Veldeke.  Er  hat  nicht  weniger  als 
25  conditionalsätze:  10058.*')  10131.*  10139.*  10141.*  10151.* 
10164.*  10166.*  10168.*  10181.*  10185.*  10216.*  10227.* 
10253.*  10267.*  10271.*  10281.*  10290.*  10297.*  10300.* 
10302.*  10317.*  10346.*  10357.*  10368.*  10380*).  In  diesen 
Sätzen  erscheinen  schon  die  complicierten  typen,  die  mit  dem 
auftreten  Hausens  in  den  minnesang  eingeführt  werden  (Bur- 
dach s. 69).  1)  Wäre  das  so  und  so,  so  würde  ...  es  ist 
aber  nicht  so,  also'  begegnet  uns  bei  Veld.  En.  10210*: 
mochte  ich  die  (salwe)  gewinnen,  dat  iväre  gröt  richeit:  ich 
vorcht  aver,  si  st  vel  ungereit.  so  wart  ich  onheiles  geboren. 
lieber  die  beispiele  bei  den  lyrikern  s.  Burdach  s.  65  ff.  — 
2)  Asyndetische  aneinanderfügung  zweier  conditional- 
sätze: Veld.  En.  v.  4316:  woldt  ir  üch  gemäten  soliker  ontochte, 
of  et  üch  goet  dochte,  et  dochte  mich  vele  goet;  v.  11161. 
V.  12677*  des  engetroude  ich  hem  niet,  of  sin  dinc  wale  quäme, 
dat  he  min  niet  wäre  näme,  of  hem  got  genäde,  dat  he  mich 
versmäde.  Die  beispiele  aus  den  lyrikern  bei  Burdach  s.  65; 
im  übrigen  vgl.  auch  Behaghels  En.  s.  cvi.  —  3)  Die  form 
der  einschränkung:  Veld.  En.  10168*  des  endede  ich  aver 
niet,  wan  dat  mir  min  herte  riet,  dat  ich  mich  her  wolde  ernern, 
vgl.  Haus.  54, 4.*  54, 15.*  Eeinm.  167, 26.  Walth.  114, 10.* 

lieber  periodenbau  (Burdach  s.  64ff.). 

Im  minnesange  kommen  zuerst  complicierte  Satzgefüge  bei 
Hausen  auf.  MF.  45,  1  besteht  aus  einem  conditionalen 
Vordersatz  mit  consecutiv-  und  eingeschobenem 
relativsatz,  dann  folgt  der  nachsatz.  Auch  bei  Veld.  En. 
10215*  ff.  findet  sich  in  ähnlicher  weise  ein  conditionaler 
Vordersatz  mit  consecutiv-   und  eingeschobenem 


^)  Die  gesperrten  zahlen  bedeuten  irrationale  fälle. 


368  LESSER 

Kelativsatz,  woran  sich  allerdings  vor  dem  nachsatz  noch 
ein  zweiter  consecutivsatz  anschliesst. 

Veld.  En.  10380*  ff.:  Waltli.  72, 1  ff.,  d.  i.  condit.-s.,  object- 
satz  mit  daz^  relativs.,  nachsatz  mit  antiphasis,  bez.  con- 
dit.-s., nachsatz  mit  antiphasis,  relativsatz  mit  ein- 
schränkung. 

Veld.  En.  10290* ff.:  Reinm.  172, 30,  d.i.  conditionalsatz 
mit  relativs.,  nachs.  mit  causalsatz. 

Eine  kunstvoll  verschlungene  periode  findet  sich  Veld.  En. 
10297*:  conditionals.,  relativs.,  nachs.  mit  einem  zweiten 
conditionals.  und  vergleichungssatz. 

Endlich  findet  sich  in  Veldekes  monologe  auch  das  stil- 
princip  der  trennung  (Burdach  s.  65),  d.  h.  die  trennung 
zusammengehöriger  Satzteile  durch  einschiebung  anderer:  Veld. 
En.  10164*  hedd  ich  joch  me  gesproJcen  . . . ,  end  of  ich  st  hede 
besJcolden;  v.  10177*  mcnegen  wale  gedänen  man . . .  end  menegen 
sJconen  jongelinc.^) 

Poetische  technik. 

Antithese  und  oxymorou. 

I.  Antithesen.  1)  Die  bei  den  minnesängern  so  beliebte 
gegenüberstellung  der  eigenen  liebe  und  der  anderer  ist  in 
antithetischer  form  auch  in  den  beiden  epen  zum  ausdruck 
gebracht.  Eilh.  Tristr.  2480*  ff.  Minne,  nü  senfte  mir  ein  teil, 
daz  ich  dich  möge  irltden!  Du  bist  niht  allen  wthen  als  un- 
genedig  als  mir,  Aehnliches  liegt  v.  2485*  zu  gründe.  Nicht 
so  deutlich  bei  Veld.  En.  10492*  ff.  owd  wat  ich  al  weit  des 
ovelen  des  van  dir  geshiet  des  goeden  enweit  ich  niet,  dat  hästu 
mich  noch  verholen.  Denselben  gedanken,  nur  der  allegorischen 
form  entkleidet,  haben  wir  bei  Haus.  44, 5.  Reinm.  153, 16. 
155, 5  ff.  Walth.  95, 29  ff. 

2)  Der  gedanke:  4ch  bin  ihr  so  treu,  sie  aber  will  nichts 
von  mir  wissen'  (Lehfeld,  Beitr.  2,401.  Burdach  s.  105)  findet 


^)  Es  ist  auffäUig,  dass  diese  eigentümlichkeiten  einer  höheren  kunst- 
form des  Stiles  in  Veldekes  liedem,  insbesondere  in  seinen  frauenmonologen, 
noch  nicht  erscheinen,  offenbar  weil  diese  vor  dem  epischen  monologe  ge- 
dichtet waren.  Ebenso  möchte  ich  diesen  syntaktischen  unterschied  als  ein 
kriterinm  für  die  priorität  Eilharts  vor  Veldeke  ansehen,  eine  ansieht,  welche 
noch  andere  sachliche  momente  stützen,  s.  s.  380,  anm.  1. 


MHD.  FRAUENMONOLOGE.  369 

sich  bei  Eilh.  Tristr.  2552*  wie  ist  mir  gesehen  so,  daz  ich  minne 
den  'tnan  der  des  ni  Jceinen  müd  gewan  daz  her  mich  minnen 
wolde?  V. 2519*  ...  wan  ich  in  lip  hän  und  he  mich  nicht 
Veld.  Ell.  10400*  nu  enweit  ich  leider  wat  ich  sdl,  dat  ich  den 
man  moet  minnen  de  alsus  vert  hinnen  dat  he  mich  niet  ane 
siet,  vgl.  Haus.  52, 17.  Fenis  81, 9.  Mor.  130, 11  ff.  Reinm.  166, 31. 
Hartm.  208, 14.  Walth.  64, 21. 

3)  Auch  der  zeitlich  gefasste  gegensatz  zwischen  der 
jetzigen  und  der  früheren  läge  hat  bei  Veldeke  schon  etwas 
vergleichbares:  Veld.  En.  10071*  we  hat  mir  siis  gebonden  min 
horte  in  körten  stonden,  dat  e  was  ledeliJce  fri,  vgl.  Haus.  43, 27. 
Reinm.  192, 29.*  Walth.  113, 37  ff. 

4)  Die  gegensätze  der  liebesempfindung  werden  bei  den 
epischen  dichtem  vorzugsweise  durch  Schilderung  der  körper- 
lichen Veränderungen  anschaulich  gemacht:  Eilh.  2497*  was 
ich  bevorn  an  hitze  halt,  ich  tverde  nü  als  ein  is  kalt  und  dar 
nä  also  sere  heiz  daz  mir  rinnet  der  sweiz  uz  allen  minen 
geledin,  vgl.  2377  ff.  2534.*  Veld.  En.  10046*  want  st  brande 
end  st  fros  in  vele  körten  stonden.  Von  den  lyrikern  kennt 
nur  Reinm.  178, 31*  die  Veränderung  der  färbe  (vgl.  Eilh.  2363. 
Veld.  10057). 

IL  Oxymoron.  Die  alte  epische  formel  liep — leit^)  findet 
sich  bei  Eilh.  2402.*  Veld.  2295  und  im  minnesange  bei  Veld. 
MF.  58, 24.  Johannsd.  94, 36.*  Hartm.  217, 35.*  Reinm.  187, 11.* 
Walth.  116, 28.  Oefter  erscheint  sie  kunstvoller  mit  geringer 
Variation  in  antithetische  Verbindung  gebracht  (Haus.  54, 10. 13.* 
50, 38.  49, 29.  Hartm.  217, 35.*  Reinm.  166, 26*  u.  ö.). 

Aehnliche  oxymora  finden  sich  Veld.  En.  11435  der  sköne 
ovel  Eneas,  v.  11463  holt  ende  gram,  v.  1876  rouwich  ende  frö, 
V.  10390  wonne  end  ongemac,  v.  9865  ongemac  —  soete;  Reinm. 
159,24.*  Walth.  92,30  u.ö.  süeze  arebeit;  Walth.  119, 25  (vgl. 
Mor.  125, 35.  147, 4)  senfte  unsenftekeit 

Kevocatio  (Burdach  8.71). 

In  kunstvoller  und  ergreifender  weise  ist  in  dem  Tristrant 
Eilharts  diese  figur  durchgeführt.  2403.*  2413.*  2568.*  2579.* 
2589:  'ich  liebe  ihn  —  und  darfs  doch  nicht  wagen;  ich  will 
ihn  vergessen  —  das  kann  ich  nicht;    ich  will  ihm  die  liebe 

*)  Kettner,  Die  österreictisolie  Nibelungendichtung  s.29. 


370  LESSER 

gestehn  —  und  ich  schäme  mich  doch  —  so  will  ich  sterben 
—  doch  nein  —  ich  werde  es  ihm  sagen',  vgl.  Veld.  En.  10084  * 
10104.*  10306.*  Auffälligerweise  kennt  widerum  Veldeke  in 
seinen  liedern  diese  redefigur  nicht,  wie  denn  auch  die  älteren 
minnesänger  kein  beispiel  aufweisen.  Die  revocatio  scheint 
erst  bei  Hausen  aufzutreten  (54,27.*  28*).  Freilich  fällt  bei 
diesem  beispiel  zwischen  satz  und  gegensatz  die  pause  des 
Strophenendes,»)  ßeinm.  187, 24.*  187, 27.*  193, 17*  u.  ö.  Hartm. 
213, 21.*  Walther  (Wilmanns  s.  67).  69, 27  u.  ö. 

Fragen  (bei  Burdach  s.  120, 72). 

Synonyma  und  synonymer  parallelismus 
(s.  Burdach  s.  85.  Wilmanns'  ausg.  s.  71  ff.). 

Das  ausserordentlich  häufige  vorkommen  der  figur  der 
Variation  in  den  epen  Eilharts  und  Veldekes  zeigt  die  bewusste 
absieht  des  dichters. 

a)  Substantiva.  Tristr.  2485*  ungemach  und  schaden. 
2442*  her^se  iinde  müd,  2600*  mit  sorgen  und  mit  rüwe\  Veld. 
En.  10360*  hopeninge  end  goet  wan  u.  ö.,  vgl.  besonders  8057  ff. 
und  12615  ff.  —  b)  Adjectiva  und  adverbia.  Trist.  2414* 
gehaz  oder  gram,  2438.*  2458.*  2461*  u.  ö.  Veld.  En.  12617* 
getroiiwe  ende  wärhacht  u.  ö.  —  c)  Verbale  Verbindungen. 
Tristr.  2489*  bestän  —  ane  gän,  2545  (?).*  2558.*  Veld.  10126* 
derren  —  vale  maken,  10196.*  10247.*  10374.*  —  Ueber  die 
minnesänger  vgl.  Burdach  s.  88  f.  94.  97.  Wilmanns,  Walth.  s.  71. 

Anhang.  Zur  Synonymik  der  worte  für  freude  und  leid^): 
1)  soslic  findet  sich  in  den  höfischen  epen  zuerst  bei  Veldeke 
(En.  1511.  6535.  10024),  noch  nicht  bei  Eilhart.  Im  minne- 
sange  kommt  dieser  ausdruck  zuerst  3)  auch  bei  Veldeke  vor 
(61,36),  öfter  bei  Hausen  (44,6.  45,24.  54,1.*  4.*  55,2*)  und 
wird  dann  stehender  ausdruck  (Burdach  s.  68. 103).*)  —  2)  Un- 

0  Doch  s.  Lehfeld  Beitr.  2, 363  und  Becker  a.  a.  o.  s.  134. 

*)  Ueber  den  älteren  minnesang  vgl.  Scherer,  Deutsche  stud.  2, 33. 66, 
über  den  ganzen  minnesang  bis  Walther  s.  E.  Schmidt  a.  a.  o.  s.  102,  über 
Hausen  s.  Lehfeld,  Beitr.  2,  über  Walther  s.  Wilmanns,  Leb.  W.  s.  192. 

3)  MF.  6, 17  scelic  si  daz  beste  wip :  dieses  gedieht  aber  weisen  die 
überschlagenden  reime  und  die  mehrstrophigkeit  in  die  zeit  nach  1180. 
Ausserdem  bedeutet  sadic  hier  wol  nur  *  gesegnet'. 

*)  Die  Wendung  scelic  man  u.  a.  für  einen  niederschlag  alter  deutscher 
Tolksliedchen  zu  halten,  wie  es  E.  M.  Meyer,  Zs.  fda.  29, 144  tut,  halte  ich 


MHD.  FRAUENMONOLOGE.  371 

gleich  wichtiger  und  zahlreicher  sind  die  worte  für  liebesleid : 

es  zeigt  sich,  dass  manche  Synonyma,  welche  erst  durch  Hausen 

und  spätere  eingeführt  werden,  schon  in  den  epen  Eilharts  und 

Veldekes  vorkommen,  a)  Substantiva:  rouwe  (=  rmwe),  das 

wort  für  empfindsamen  liebesschmerz  (s.  Bock,  Wolframs  bilder 

und  Wörter,  QF.  44, 55)  findet  sich  bei  Eilh.  Tristr.  2400.*  Veld. 

En.  9877,  im  minnesange  zuerst  bei  Haus.  45, 7.  49, 33  und  wird 

nun  allgemein  üblich.    Hausen  hat  den  ausdruck  kumber,  der 

später  so  viel  gebraucht  und  typisch  geworden  ist,  zuerst^) 

in  den  minnesang  eingeführt,  aber  Eilhart  wendet  ihn  schon 

in  seinem  epos  an  v.  7166  so  saltu  . . .  minen  kumber  clagin 

den  ich  nach  im  Ude\  —  Tristr.  2390  herzeser  =  Haus.  53, 21; 

—  Tristr.  2485*  schaden  =  Haus.  47, 1 ;  —  Tristr.  2532*  smer^e 

=  Fenis85,24.  Mor.146,7.2)    Veld.  En.  9880  wendet  das  im 

minnesange  widerum  bei  Hausen  zuerst  auftretende  wort  angest 

bereits  im  epos  an  (s.  Haus.  44, 17.  44,33).  —  b)  Adjectiva: 

Eilh.  2462*.  Veld.  En.  10233*  swere,  vgl.  Haus.  45, 9 ;  —  Veld. 

En.  10196*  wunt,  vgl.  Haus.  49, 13.  —  c)  Das  adver bium  leider 

Veld.  En.  10404*,  vgl.  Haus.  44, 3.  —  d)  Das  verbum  Itden  hat 

Eilh.  2395*,  im  minnesange  zuerst  bei  Haus.  43, 39;  klagen  Eilh. 

2486.*  Haus.  43, 34;  verwüeten  Eüh.  2539*  (?).  Haus.  51, 13;  be- 

trüeben  Veld.  En.  9834.  10355.*   Haus.  55,  2*;    mich  twingeP) 

Veld.  En.  10152.*  10467.*  Haus.  43, 1.  —  Natürlich  haben  die 

epischen  und  lyrischen  dichter  noch  manche  Synonyma,  die  auf 

sie  selbst  beschränkt  geblieben  sind.    Eilh.  2479*  unheil,  2496* 

wankelmüd  u.  a.  Haus.  44, 38  daz  seren,  44,  37  dajs  klagen,  49, 3 

dajs  tve  unde  ach.    Reinm.  152, 13  erliden.    Walther  118, 17 

imgelilcke. 

Synonymer  parallelismus. 

Eilh.  2468*  =  2470*  liabe  ich  ergin  dtn  gebot  mit  ichte  i 
missehaldin  und  habe  ich  . . .  icht  wedir  dich  getan,    V.  2476  f. 


zum  mindesten  für  bedenklich,  da  die  beispiele  erst  spät  bei  dichtem,  welche 
Ton  höfischer  manier  beeinflusst  sind,  vorkommen! 

*)  Schon  MF.  5,27  sender  kumher,  doch  dieses  gedieht  gehört  wahr- 
scheinlich kaiser  Heinrich  an  (s.  Er.  Schmidt  a.  a.  o.  s.  102). 

-)  Scherer,  Deutsche  stud.  2, 61.  Das  wort  smerze  ist  fast  nur  auf  das 
epos  beschränkt  (vgl  E.  Schmidt  a.  a.  o.  s.  108). 

^)  Schon  Graf  Rudolf,  Grimm  17, 13.  Später  im  minnesange  sehr  zahl- 
reich, vgl.  R.  M.  Meyer,  Zs.  fda.  29, 138.  Lehf eld,  Beitr.  2, 404. 


372  LESSEB 

=  2478*  f.  Veld.  Eu.  10112*  des  nioet  ich  queleu  sere  efid  nwet 
ei  koupen  düre\  10288*.  10164*  liedd  ich  joch  me  gesprohen  — 
end  of  ich  si  hede  heskolden:  brechung  des  synonymen 
parallelismus  wie  bei  Joliannsdorf  92,  31.  Eeinm.  158,  23. 
150, 10  11.  ö.  Im  übrigen  vgl  Burdach  s.  84  ff.  Wilmanns,  Leben 
Walthers  s.44ff. 

Antithetischer  parallelismns. 

a)  Eilh.  2497*  was  ich  bevorn  an  hitze  halt,  ich  werde  nü 
als  ein  ts  halt  Veld.  En.  10185*  minde  ich  me  dan  einen,  so 
enminde  ich  dehdnen.  Dieser  parallelismns  mit  conditionalem 
Vordersatz  hat  viele  analoga  bei  Walther  (Wilmanns  s.  80). 

—  b)  Mit  der  conjunction  und  verbunden:  Veld.  En.  10068* 
nu  was  ich  ietoe  al  gesont  ende  hin  nu  vele  na  döt  =  Joh.  88, 37. 
Walth.  35, 10  u.  a.  —  c)  Parallelismus  in  relativer  Verbindung: 
Veld.  En.  10191*  wan  komet  mir  der  sin  dat  ich  sus  wise  worden 
hin  des  ich  e  so  domp  was,  ebenso  10246*;  vgl.  Walth.  64, 21. 

—  d)  Ohne  conjunction:  Veld.  En.  10248*  Minne,  du  bist  noch 
galle,  Minne,  nu  wert  soete,  vgl.  Walth.  110, 36,  parallelismns  mit 
anaphora  auch  bei  Haus.  50, 23. 27.  —  e)  Widerholung  des  prädi- 
cats  mit  verschiedenem  tempus:  Veld.  En.  10231*  f.  ich  konde  es 
luttel  hüde  froe  end  kan  et  so  wale  ietoe,  vgl.  Walther  117, 15 
ich  hän  ir  gedienet  vil  und  wolle  ir  gerne  dienen  me, 

Widerholung  derselben  worte. 
Eilh.  2412*  (Äö^O;  2436*  (?).  2438*  (?;Ki?);  2hhh*  (minnen) 
U.Ö.  Veld.  En.  10064*  (mM;eiO;  10185*  (mmde  «cä)  u.ö.  Veldeke 
ist  überhaupt  für  die  widerholung  eines  und  desselben  wortes 
innerhalb  des  kleinsten  raumes  völlig  unempfindlich  (vgl.  Be- 
haghel,  En.  s.  cxxiii — cxxv.  Burdach  s.  87  f.).  lieber  die  lyriker 
vergleiche  man  Burdach  s.  96  und  Wilmanns  s.  84. 

Anaphora. 

Die  anapher  ist  in  den  epen  Eilharts  und  Veldekes  auf 
die  anrufung  der  Minne  beschränkt:  Eilh.  2512*f.  2517*f.  2519.* 
Veld.  En.  10246*  steht  das  wort  minne  fünf  mal  am  anfang, 
V.  10256  f.  steht  es  sieben  mal  immer  am  Schlüsse.  Eine  ähn- 
liche Spielerei  findet  sich  von  v.  1 1098  an,  wo  zehn  mal  minne 
am  anfang  eines  verses  gesetzt  ist,  so  zwar,  dass  der  betreffende 
vers  immer  durch  einen  schaltvers  getrennt  wird.  Ueber  die 
lyriker  vgl.  Burdach  s.  89.  94.  96.  103  und  Wilmanns  s.  76- 


MHT>.  FBAUENMONOLOGE.  373 

Widerholung  ähnlicher  gedanken. 

Zu  den  charakteristischen  eigentümlichkeiten  der  beiden 
liebesmonologe  in  den  epen  Eilharts  und  Veldekes  gehört  die 
widerholung  wichtiger  gedanken  an  ganz  verschiedenen  stellen. 
Das  kann  mit  mass  und  ziel  verwant  ein  bedeutsames  kunst- 
mittel  sein,  weil  es  auf  der  feinen  psychologischen  beobachtung 
beruht,  dass  bei  heftigem  seelenkampfe  dieselben  gedanken, 
gleichsam  die  central-  und  brennpunkte  der  ganzen  betrach- 
tungen,  immer  wider  gebieterisch  ins  bewusstsein  zurück- 
kehren. Von  dem  gedanken  4ch  habe  die  huld  der  minne  ver- 
loren' kann  sich  Isalde  nicht  losreissen  (v.  2476.*  2478.*  2482.* 
2507*).  'Die  minne  bereitet  mir  schmerzen'  (v.  2453*  [?].  2462.* 
2473*.  2489.*  2493*  f.  2510.*  2532*).  'Minne  sei  mir  gnädig' 
(v.  2516.*  2522.*  2536.*  2543*  [?] ).  'Ich  werde  kalt  und  heiss' 
(v.  2497*.  2534*).  'Ich  liebe  Tristrant,  er  mich  nicht  (v.2519.* 
2554.*).  'Ich  will  ihm  die  liebe  gestehn'  (v.  2582.*  2598*).  Bei 
Veldeke  kehrt  drei  mal  der  gedanke  wider:  'ich  werde  kalt 
und  heiss'  (v.  10092.*  10122.*  10132*).  'Einen  andern  kann 
ich  nicht  lieben'  (v.  10178.  10182.  10185).  Drei  mal  begegnet 
auch  der  ähnliche,  in  originellem  ausdruck  gefasste  gedanke: 
'liebe  kann  ich  nicht  in  zwei  teile  teilen'  (v.  10189.  10350. 
10372).  'Käme  doch  die  heilende  salbe  der  liebe'  (v.  10202. 
10210).  'Die  liebe  hat  mich  plötzlich  weise  gemacht'  (v.  10192. 
10229).  *)  Bei  den  miunesängern  begegnet  zuerst  bei  Meinloh 
eine  ähnliche  widerholung  der  gedanken,  worauf  Scherer, 
Deutsche  stud.  2, 458  (24)  aufmerksam  gemacht  hat.  So  findet 
sich  MF.  15, 9  und  13  derselbe  gedanke:  'ich  sah  keine  schönere 
frau';  12, 1  f.  9  f.  'eine  edle  dame  fordert  edlen  dienst'  u.s.w. 
Ob  freilich  schon  bewusste  künstlerische  absieht  vorliegt,  wie 
Scherer  für  wahrscheinlich  hält,  ist  mir  fraglich.  Bei  der 
kürze  der  lieder  wirken  die  widerholungen  zu  ärmlich,  und 
sie  sind  wol  auch  nur  folgen  einer  gedankenarmut  (Burdach 
s.  87).  Sicher  ist  aber  bei  Veldeke  die  absieht  nicht  zu  ver- 
kennen. 56, 1  ff.  kehrt  in  allen  vier  Strophen  der  gedanke  an 
seine  torheit  wider.    Sein  grösserer  frauenmonolog  gar  besteht 

*)  Auch  im  monologe  der  Medea  in  Herbort  v.  Fritzlars  Trojanerkrieg 
findet  der  gedanke,  dass  seele  und  leib  durch  die  liebe  getrennt  sind,  zwei- 
maligen ausdruck  (v.  8057.  8063  f.)?  ebenfaUs  im  monologe  der  Briseis  der 
gedanke  an  den  geliebten  mann  (v.  8355.  8384). 


374  LESSEB 

nur  aus  den  zwei  Sätzen  (57, 26  ff.):  ez  harn  von  tumbes  herzen 
rate,  ez  sal  ze  tumpheit  och  ergän.  Bei  Hausen  wird  die  wider- 
holung  öfter  zur  kunstvollen  responsion  an  gleichen  versstellen 
(Burdach  s.  89).  In  dem  frauenmonologe  54, 1  ff.  drängt  das 
überwältigende  gefühl  der  liebe  zu  dem  geliebten  immer  wider 
zum  ausdruck  (54,*  4.  10  f.  13.  18.  22.  24  f.  30.  32.  36.  38  f.). 
Der  entschluss  der  liebesgewährung  aber  (54,*  5. 14. 19.  28.  37. 
55,*  3)  wird  immer  wider  durchkreuzt  durch  den  dazwischen 
klingenden  gedanken  der  scheu  vor  der  weit  (54,*  7  f.  15  f.  20. 
26.  29.  55,*  5).  —  Ganz  ähnlich  in  dem  grossen  frauenliede  Eein- 
mars  (178,*  1  f.):  1)  innige  liebe:  178,*  2  f.  (12).»)  16.  23.  (36)  f.; 
—  2)  die  gewährung  mass voller  liebe  aus  rücksicht  auf  die  weit: 
178,*  6  (11).  25.  27.  29  f.  MF.  186,*  19  ff.  Das  bild  des  glühend 
werbenden  ritters  tritt  immer  wider  vor  die  seele  der  frau: 
186,*  35.  187,1  f.  141;  sie  liebt  ihn  von  herzen:  186,*  25.  32. 
37.  187,*  6.  9  f.  11.  27  f.,  aber  der  resignierende  entschluss  ihn 
aufzugeben,  behält  doch  die  Oberhand:  186,*  26.  187,*  14.  20. 
25.  29  f.  —  MF.  192,*  25:  hier  gewinnt  die  Hebe  (193,*  2.  4  f. 
18  f.)  den  sieg  über  die  furcht  vor  der  weit,  die  in  immer 
wider  hervorbrechenden  klagen  sich  luft  macht:  192,*  25.  31. 
37.  193,*  13.  In  der  totenklage  der  gattin  Leopolds  über  den 
Verlust  des  gemahls  kehrt  das  wort  tot  und  damit  der  ge- 
danke  in  allen  drei  Strophen  wider  (167,*  35.  168,*  15. 19)  und 
sogleich  wird  die  erinnerung  an  die  lebenswarme,  liebespendende 
gestalt  des  gatten  rege:  168,*  1  f.  6  f.  12. 13.  25.  Auch  in  dem 
unter  Eeinmars  namen  überlieferten  gedichte  MF.  199,*  25  ff. 
klingt  immer  wider  der  gedanke  an  das  scheiden  und  meiden 
an:  199,*  32.  200,*  10.  24.  33.  201,*  1  und  ruft  seinerseits  das 
bild  des  glänzenden  ritters  hervor:  199,*  29.  39.  200,*  1. 3  f.  19  f. 
201,*  10.  In  dem  frauenmonolog  Hartmanns  (MF.  212,*  37), 
welcher  die  erbitterten  klagen  über  getäuschte  liebe  enthält, 
herscht  ein  einheitlicher  ton,  nur  ist  bemerkenswert,  dass  die 
gleisnerischen  reden  des  mannes  der  frau  nicht  aus  dem  sinne 
wollen:  212,*  37  ff.  213,*  15  ff.  In  dem  zweiten  frauenliede 
(MF.  216,*  1  f.),  welches  sonst  ganz  das  von  den  epikern  an- 
geschlagene  motiv   des   conflicts   zwischen  pflicht   und  liebe 


1)  Die  klammem  beziehen  sich  auf  die  durch  die  kritik  Burdachs 
(s.  219)  in  wegfaU  kommenden  steUen. 


MHD.  FRAÜENMONOLOGE.  375 

durchführt,  wird  man  wol  schwerlich  eine  widerholung  der 
gedanken  nachweisen  können.  Der  inhalt  ist  mit  einer  ge- 
wissen logischen  genauigkeit  dispositionsartig  abgehandelt. 
Str.  1:  ich  liebe.  Str.  2:  ich  hatte  die  wähl  zwischen  freund- 
schaft  und  liebe  gehabt.  Str.  3:  aber  die  letztere  habe  ich 
gewählt,  denn  str.  4:  mein  geliebter  verdient  es.  In  dem 
dritten  frauenliede  (MF.  217,*  14  ff.),  der  wehmütigen  klage 
über  den  verlorenen  geliebten,  herscht  wider  ein  bunter 
Wechsel  der  gedanken:  1)  der  vertust  des  geliebten  mannes 
(217,*  19.  28);  —  2)  die  trauer  darüber  (217,*  16.  31.  38);  — 
3)  preis  des  geliebten  (217,*  20.  26.  218,*  4);  —  4)  erinnerung 
an  die  frühere,  schöne  zeit  der  liebe  (217,*  22.  218,*  2). 

Vielleicht  am  kunstvollsten  ist  diese  widerholung  der  ge- 
danken in  Walthers  frauenlied  113,*  31  ff.  durchgeführt.  Das 
ganze  gedieht  besteht  aus  zwei  strophenweise  sich  abwechseln- 
den gedanken:  der  entschluss  der  liebesge Währung  (str.  1. 3. 5) 
kämpft  mit  dem  hangen  und  bangen  vor  demselben  (str.  2. 4). 

Parenthese. 

Ueber  Eilhart  s.  Lichtenstein  s.  clxxx,  über  Veldeke  s. 
Behaghel  s.  cxxx,  über  den  minnesang  s.  Burdach  s.  104  f.  116. 
123,  über  Walther  ausser  Burdach  noch  Wilmanns  ausg.  s.  67. 
Eine  anticipierende  parenthese,  die  im  minnesange  vor 
Reinmar  ohne  beispiel  ist,  findet  sich  schon  bei  Eilhart  v.  4562* 
swer  nu  sulchin  hunger  ein  jär  solde  Uden  —  ich  kan  des  nicht 
vorswtgcn  —  he  muste  wesin  hungers  töd,  vgl.  Reinm.  109, 11: 
dö  rieten  niine  sinne  daz  (des  ich  enkeinen  tröst  mir  Jean  ge- 
geben) daz  ich  die  sorge  gar  verhcere\  170, 13.  181, 33.  192,  37*. 
Walther  95, 32. 

Personification. 

Eilhart  scheint  der  erste  gewesen  zu  sein,  der  frauwe 
Amur  (2464?),  Cttpido  (2467)  und  frautve  Minne  (?)  in  die 
literatui'  eingeführt  hat  (Lichtenstein  s.  xlxvii).  Bei  Veldeke 
erscheint  noch  Venus  und  statt  frauwe  Amur  in  strengerer 
anlehnung  an  das  franz.  original  Amor.^)  Im  minnesange 
findet  sich  die  personification  der  minne  zuerst  bei  Hausen 
(52, 37  u.  ö.),  wenigstens  schreiben  Lachmann  und  Haupt  zuerst 


*)  Misverstanden  bei  Veld.En.  1015G:  der  minnen  got  Cwpido  end  Amor 
sin  broeder. 


376  LESSEB 

das  wort  gross.»)  Freilich  lieben  die  lyriker  die  fremden 
namen  Venus,  Amor,  Cupido  nicht.  So  viel  ich  sehe,  kommt 
Amor  zuerst  bei  dem  Tanhauser  (MSH.  1, 886)  und  dem  Wilden 
Alexander  (MSH.  1,365  a),  Venus  und  Amor  bei  Konrad  von 
Kirchberg  (MSH.  1,24  a)  und  Rudolf  von  Rotenburg  (MSE 
78  b)  vor.  Wilmanns  (Leben  Walthers  s.  328)  erklärt  das 
fehlen  der  fremdwörter  überhaupt  wol  mit  recht  daraus,  dass 
die  Sänger  einen  grösseren  zuhörerkreis  hatten  als  der  Vorleser 
der  epen,  die  für  ein  auserleseneres  publicum  gedichtet  waren, 
an  das  höhere  anforderungen  gestellt  werden  konnten.  Dennoch 
aber  stehen  die  lyriker  hinter  den  epikern  an  lebendiger  aus- 
raalung  der  allegorie  keineswegs  zurück:  1)  die  Minne  herscht 
gleichsam  als  königin  über  die  ganze  weit  2):  Eilh.  2514*  2537.* 
Veld.  En.  10285.*  11160.*  Walther  56, 12,  vgl.  41, 1.  —  2)  Sie 
erscheint  als  kriegerin  mit  pfeil  und  bogen:  Veld.  En.  10036.* 
11198.*  Walth.  40, 35  f.,  vgl.  40, 32.  —  3)  Sie  verwundet:  Veld. 
En.  10159.*  11201.*  Walth.  41, 2.  Fenis  82, 3.  —  4)  Sie  heüt 
aber  auch:  Veld.  En.  10266.*  Walth.  41, 2,  vgl.  Hartm.,  1.  büchl. 
1269  und  Reinm.  185, 16.  —  5)  Sie  benimmt  den  sinn:  Eilh. 
2491.*  2539?*  Veld.  En.  10154.*  Johannsdorf  94, 25.  —  6)  Sie 
bestürmt  das  herz  wie  eine  bürg:  Eilh.  2489.*  Reinm.  161,31. 
Walth.  55, 10.  —  7)  Man  begibt  sich  in  ihren  dienst:  EilL 
2521.*  Veld.  En.  10252.*  Walth.  58, 18.  —  8)  Der  liebende  ruft 
sie  3)  an  und  klagt  ihr  seine  not  4):  EUh.  2516.*  vgl  2530.  2536.* 
2543*  (?).  2547*  (?).  Veld.  En.  10262*,  vgl.  Herb.  v.  Fritzlar  874.* 
Veld.  MF.  66, 9.  Fenis  82, 2.  Walth.  14, 11.  41, 5.  55, 15.  109, 25. 
27.  —  9)  Wenn  aber  die  hilfe  ausbleibt,  beschwert  man  sich 
über  sie:  Eüh.2488.*  2510.  Veld. En.  10258.*  10290.  Haus.  49,35. 
53, 23.  Walth.  41, 10. 

*)  Dietin.  32, 7:  owe  minne,  der  dm  äne  möhte  sm,  daz  wceren  sinne: 
hier  läge  es  allerdings  wegen  der  anrede  nahe,  an  eine  personification  zu 
denken. 

2)  Die  Vorstellung  ist  schon  angedeutet  Kaiserchron.  141, 21  umbe  die 
minne  ist  ez  aber  so  getan,  da  ne  mac  niht  lebendiges  gestän,  vgl.  Hansen 
52, 37  f.  53, 30. 

8)  Gott  wird  um  hilfe  angerufen  Eilh.  2398*.  2439*.  Veld.  MF.  63, 20. 
Johannsdorf  92, 14.  Hartm.  116, 5. 

*)  Walther  gestaltet  diesen  zug  zu  einem  anschaulichen  bilde,  indem 
er  frau  Minne  als  richterin  einführt,  vor  deren  richterstuhl  der  dichter  sein 
recht  sucht,  vgl.  40, 27  ff. 


BIHD.  FBAÜENHONOLOaE.  377 

Reinmar  und  Hausen  bieten  fast  gar  nichts,  und  das  hängt 
wol  mit  ihrem  sonstigen  mangel  an  bildern  zusammen.  Auf- 
fälliger aber  ist,  dass  Morungen  auch  die  personificationen  der 
liebe  verschmäht:  freilich  überträgt  seine  kühnere  spräche  die 
anschaulichen  Wendungen  auf  die  geliebte  selbst. 

Zerlegung  der  Persönlichkeit. 

üeber  die  anrede  an  herz  und  mut  vgl.  Burdach  s.  120. 
Das  herz  wird  der  torheit  und  der  verräterei  bezichtigt:  Veld. 
En.  2198  ff.  Eietb.  19,  33.  Haus.  49, 15;  vgl.  Veld.  MF.  56,  7. 
Fenis  82, 23.  Eugge  101, 31.  Bemger  114, 3.  Mor.  125, 3.  134, 6. 
147, 5  ff.  Hartm.  205, 10  ff.  Das  herz  weilt  bei' dem  geliebten: 
Yeld.  En.  10378.*  Haus.  51, 29  ff.  54,  32.*  Johannsd.  87, 15  ff. 
Eeinm.  159, 19.  Bernger  114,  35.  Hartm.  215, 30.  Walth.  44, 17. 
98, 9.  44, 15.0 

Bilder,  vergleiche,  metaphern. 

Bilder,  vergleiche  und  metaphern  findet  man  in  den  epen 
Eilharts  und  Veldekes  nicht  sehr  viele  (s.  Lichtenstein  s.  CLvin  f. 
Behaghel  s.  cxxxix).  Im  Eilhartischen  liebesmonolog  kommen 
zwei  vergleiche  vor,  welche  im  minnesange  keine  parallelen 
haben.  Eilh.  2434*  he  ist  lüter  . . .  alse  daz  golt  ist  vor  daz  hli, 
ähnlich  in  volkstümlichen  epen  Ortnit  1, 15.  Eol.  148, 15.  Eilh. 
2462*  nu  is  sie  (die  Minne)  mir  leider  wordin  sw^re  unde  als 
ein  ezzich  sür  =  Veld.  En.  10248.*  Aber  Eüh.  6462  und  6514 
wird  die  geliebte  mit  der  sonne  verglichen.  Dieser  vergleich, 
der  allerdings  volkstümlich  ist  (Spervogel  24, 4.  Nib.  280, 1)  und 
in  der  geistlichen  poesie  (V.  d.  hochzeit,  s.  QF.  12, 52)  nicht 
selten  vorkommt,^)  begegnet  auch  bei  den  minnesängern:  Dietm. 
40,93.  Mor.  138, 38;  vgl.  123,1.  144,27  u.ö.  Walth.  46, 15. 

Veld.  En.  10279*5):  sint  dat  ich  dir  dienen  sal,  sömoetich 
swäre  bor  de  dragen,  vgl.  v.  11110.  Dieses  bild  findet- sich  im 
minnesange  nicht  selten:  Veld.  MF.  56. 8.  Eugge,  107, 7.  Eeinm. 
201, 16.  Bemger  113, 8.  Walth.  69, 15. 


>)  Die  gesonderte  existenz  des  herzens  ist  schon  deutlich  bei  Dietmar 
V.  Eist  34, 6  ausgesprochen:  dö  huop  sich  aber  daz  herze  mm  a/n  eine  stat 
daz  e  da  was. 

2)  Schon  bei  Plautus  Menaechmil,  2, 66:  eapse  eccam  emit:  ah  solem 
vides  salin  ut  occaecatust  prae  huius  corporis  candorihus. 

8)  VieUeicht  schon  bei  Eilh.  nach  X  2505*,  auf  grund  von  P.  48,  7. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  25 


378  LESSEB 

Die  in  der  modernen  liebesdichtung  so  beliebte  und  häufige 
metapher  von  dem  feuer  der  liebe  begegnet  auffälligerweise 
in  der  mittelalterlichen  minnepoesie  äusserst  selten.  Zuerst 
erscheint  sie  im  epos  bei  Veld.  En.  10114*:  met  den  heiten  füre 
brennet  mich  frouwe  Venus,  und  zu  diesem  bildlichen  ausdruck 
gehört  auch  das  verbum  derren  (v.  10126*)  und  switten  (v.  10257* 
u.  ö.).  Moritz  V.  Cräon  (v.  322)  und  Herb.  v.  Fritzlar  (v.  646. 
672)  haben  diese  metapher  von  Veldeke  übernommen.  Im 
ganzen  minnesange  aber  existiert,  so  viel  ich  sehe,  nur  bei 
Rietenb.  19, 19  etwas  ähnliches. 

Epische  züge. 

Die  Unterbrechung  der  rede  durch  eine  epische  formel 
findet  sich  sehr  häufig  in  den  epischen  frauenmonologen :  Eilh. 
2467.*  2551.*  2587.*  Veld.  En.  10117.*  10191.*  10271.*  10395.* 
10775*  u.  ö.  Es  ist,  als  ob  diese  einschnitte  in  die  langen 
Selbstgespräche  uns  eine  pause  in  dem  sprach-  und  denkver- 
laufe der  redenden  veranschaulichen.  Aufgeregt  schreiten  sie 
wortlos  auf  und  nieder,  bis  endlich  wider  allgewaltig  der 
gedankenstrom  hervorbricht.  —  Die  grossen  lyrischen  frauen- 
monologe  teilen  diese  epische  eigentümlichkeit  nicht,  nur  Vel- 
deke, MF.  57, 12.  Joh.  94,  35.  Reinm.  (?)  203, 11  haben  diese 
formel  beibehalten,  welche  in  der  älteren  lyrik  sich  häufiger 
findet  (Kürenb.  8, 16.  Dietm.  32, 3.  39,  7  u.  ö.).  Ein  epischer 
zug  im  altheimischen  minnesang  ist  ferner  das  vorhersehen 
der  erzählung  (MF.  34, 4.  8, 9.  33),  nur  selten  enthält  ein  ge- 
dieht reine  empfindung,  sondern  gewöhnlich  wird  sie  erst 
durch  einen  äusseren  Vorgang  hervorgerufen,  und  der  gegen- 
satz  zwischen  der  scheinbar  ruhigen  erzählung  und  dem  hervor- 
brechen des  glühenden,  warmen  gefühls  gibt  diesen  gedichten 
einen  so  eigentümlichen,  unvergänglichen  reiz.  In  einem 
schroffen  gegensatz  zu  den  frauenmonologen  dieser  zeit  stehen 
die  epischen  monologe  Eilhai-ts,  Veldekes  und  die  der  späteren 
lyrik.  Es  fehlt  in  ihnen  zwar  nicht  an  erzählenden  momenten, 
aber  sie  betreffen  vorzugsweise  Vorgänge  im  Individuum  selbst, 
und  diese  werden  einer  beobachtung  unterzogen,  eine  rationa- 
listische deutung  und  erklärung  wird  versucht.  Viel  öfter 
aber  verlässt  man  den  boden  der  Wirklichkeit  und  beschäftigt 
sich  lieber  mit  dem  gedachten,  möglichen,  fraglichen.   Walther 


MHD.  FRAÜENMONOLOGE.  379 

ist  es  erst  wider,  der  in  seinem  frauenmonologe  (39, 11)  mit 
anschaulicher  Situationsmalerei  die  begebenheit  ruhig  erzählt. 
Damit  verbindet  er  freilich  in  wunderbar  kunstvoller  weise 
die  errungenschaft  der  späteren  lyrik,  die  entwickelung  des 
gefühls,  wie  sich  es  bald  mächtig  erhebt,  bald  wider  sich  be- 
schwichtigend in  ruhige  bahnen  zurücklenkt.  —  Ist  nun  auf 
grund  jener  kriterien  eine  anlehnung  des  altheimischen  minne- 
sanges  an  die  epik  nicht  zu  verkennen,  so  geht  doch  Brach- 
mann a.a.O.  s. 451  zu  weit,  wenn  er  sagt:  'so  betrachten  wir 
also  die  frauenstrophen  als  eine  dem  epos  glücklich  entlehnte 
form'.  Denn  das  Selbstgespräch  lässt  sich  durchaus  nicht,  so 
viel  ich  sehe,  aus  vorangegangenen  epischen  monologen  ableiten. 
Aber  wenn  sich  auch  wirklich  solche  in  den  epen  fänden,  so 
wäre  das  nur  ein  neues  argument  für  die  behauptung  der 
Priorität  der  lyrik  vor  der  epik.  Denn  das  Selbstgespräch  ist 
doch  nur  in  einem  lyrisch  gehaltenen  gedichte  denkbar.  Natür- 
lich kann  diese  art  der  lyrik  von  der  epik  beeinflusst  werden, 
zumal  da  die  epik  zuerst  schriftliche  fixierung  fand.  Anders 
steht  es  mit  den  sogenannten  wechseln  in  der  lyrik.  Diese 
veranschaulichen  einen  auftrag  und  gegenauftrag  an  den  boten, 
welcher  den  vermittler  zwischen  den  beiden  liebenden  spielt, 
und  das  ist  ein  motiv,  das  schon  in  den  alten  epischen  dich- 
tungen  sich  findet  (z.  b.  Rother  v.  1926  ff.). 

Aehnliche  anschauungen  und  gedanken 

im  liebesieben. 

1)  Die  liebe  ist  etwas  seltsam -wunderbares:  Eilh.  2495.* 
Veld.  En.  10065,*  vgl.  Herb.  v.  Fritzlar  856.*  Haus.  53, 15. 
52,17.  Walth.  83, 3  u.  ö.;  —  2)  man  hat  vorher  ähnliches  nie 
kennen  gelernt:  EUh.  2493,*  vgl.  2458.*  Veld.  En.  10067*  u.  ö. 
Haus.  54, 3.*  42, 12  u.  ö.  Rugge  102, 1.  Reinm.  192,*  29  u.  ö. 
Walth.  109, 12;  —  3)  man  ist  immer  in  gedanken  mit  dem  ge- 
liebten gegenständ  beschäftigt:  Eilh.  2568.*  2606.  Veld.  En. 
1344.  Haus.  46, 15  u.  ö.  Rugge  99, 36.  Joh.88,4;  —  4)  auf  die 
Umgebung  achtet  man  nicht:  Veld.  En.  10459.*  Reinm.  163, 19. 
Walth.  41, 37;  —  5)  man  fragt  nach  dem  natürlichen  gründe 
der  liebe:  EUh. 2412.*  2439.*  2456*  (?).  2552.*  Veld.  En.  10173.* 
10129.*  10228.*  Haus.  46, 18.  Reinm.  163, 32.  Mor.  136,1;  — 
6)  man  hat  den  mut  nicht,  die  liebe  zu  gestehen:  Eilh.  2588.* 

25* 


380  LESSEB 

Veld.  En.  10413  *  Reinm.  153,  25  ff.  164,  21.  Mor.  136, 14. 
135,32;  —  7)  und  doch  ist  die  liebe  zum  geliebten  einzig  in 
ihrer  art:  Eilh.2523*.  Veld.  En.  10104.*  Haus.  54, 30.*  Reinm. 
190,34.  Walth.49, 29;  —  8)  das  bekennen  der  Uebe  steigert 
sich  zur  liebesversicherung  und  zum  schwur*):  Eilh.  1416.  Walth. 
74,4.  Joh.  87, 35;  —  9)  der  einfluss  anderer  kann  nicht  die 
Uebe  mindern:  Eilh.  5280.  1394.  Haus.  54, 28.*  Hartm.  216, 8.* 
Walth.  119, 5;  —  10)  oft  liebt  man  aber  unglücklich:  Eilh. 
2552.*  Veld.  En.  10400.*  10735.  Haus.  52, 19.^)  53,12.  Gutb. 
77, 4.  Fenis  81, 9.  Reinm.  153, 1.  Hartm.  207, 5.  Mor.  130, 1. 
Walth.  50, 19.  71,31.  57, 17;  —  11)  die  pein  fiberschreitet  jedes 
mass:  Eilh.  2510.*.  Reinm.  186, 20*;  —  12)  man  liebt  eigentlich 
wider  seinen  willen,  ist  aber  doch  auch  wider  zufrieden:  Eilh 
2564*  ff.  2572.*  Veld.  En.  10168.*  10240.*  10174.*  Haus.  54, 23.* 
51, 3.  Reinm.  187, 11.*  186, 37*;  —  13)  die  hoffnung  auf  end- 
liche gewährung  beseelt  den  liebenden:  Eilh.  2593*.  Veld.  En. 
10360.*  Haus.  45,  32.  Gutb.  76,  34.  Rugge  104,  33.  Hartm. 
208,33.  Mor.  125,30.  Walth.  92, 9;  —  14)  denn  der  dienst  for- 
dert lohn:  Eilh.  2522*.  Joh.  86, 9.  Horb.  114,18.  Haus.  45, 23. 
54,  21.*  Bligger  118,  24.  Rugge  104, 19.  Walth.  120,  22;  — 
15)  oft  setzt  der  liebende  seine  ehre  aufs  spiel  3):  Eilh.  2528.* 
2586.  Veld.  En.  10425.*  Haus.  54, 15.*  Reinm.  186, 26.*  192, 38.* 
Hartm.  216, 19.*  205,25.  Walth.  114, 10*;  —  16)  weltliche  ehre 
aber  und  guter  ruf  gelten  viel  und  rufen  die  erste  liebesregung 
hervor:  Eilh.  2427.*  Haus.  54,  37*  ff.  44,1.  Reinm.  200,  7*. 
200, 13.  Walth.  114, 17*  (vgl.  Lehfeld  a.a.O.  s.389).  Die  Deut- 
schen legten  auf  dieses  zeugnis  grösseres  gewicht  als  die  Romanen 
(Wilmanns,  Leben  Walthers  s.  103*)). 


*)  Wenngleich  liebesschwüre  im  ganzen  minnesange  vorkommen  (s. 
Wilmanns,  Leben  Walthers  s.  356.  152),  so  findet  man  doch  keine,  die  so 
ähnlich  wären:  e  wolde  ich  die  helle  hüwen  etcigliche:  die  helle  müeze  mir 
gezemen:  got  vor  der  helle  niemer  mich  bewar. 

*)  Es  ist  bemerkenswert,  dass  dieses  motiv  der  unglücklichen  liebe 
erst  mit  Hausen  in  den  minnesang  eintritt.  Die  epen  waren  aber  schon 
darin  vorangegangen. 

3)  In  diesem  conflict  zwischen  liebe  und  ehre  siegt  in  den  monologen 
Eilharts,  Veldekes,  Hausens,  Hartmanns  (216,  9),  Walthers  (114,*  23)  die 
liebe,  dagegen  behält  in  den  frauenliedern  Reinmars  die  rticksicht  auf  die 
ehre  die  oberhand,  vgl.  178,*  28.  187,*  29. 

*)  Sonst  stimmen  in  dem  preise  des  geliebten  die  epischen  mid  lyri- 


MHD.  FBAÜEKMONOLOGE.  381 

Ich  stehe  am  Schlüsse.  Eine  beeinflussung  der  späteren 
lyiiker  durch  die  ersten  höfischen  epen  Eüharts  und  Veldekes 
und  namentlich  eine  nachahmung  der  epischen  frauenmonologe 
Isaldens  und  Lavinias  von  Seiten  Hausens,  Reinmars,  Hart- 
manns, Walthers  scheint  mir  sicher  zu  stehen.  Denn  die 
Übereinstimmungen  nach  inhalt  und  form  sind  zu  gross  und 
zu  zahlreich,  als  dass  sie  lediglich  durch  die  gleiche  Situation 
hätten  hervorgerufen  werden  können. 

Freilich  ist  aber  auch  andererseits  eine  tiefgehende  Ver- 
schiedenheit in  den  monologen  nicht  zu  verkennen,  welche  der 
ähnlichkeit  denn  doch  gewisse  grenzen  steckt.  Denn  in  den 
epen  sind  es  die  frauen,  welche  liebe  heischen  von  dem  zurück- 
haltenden, oft  gleichgültigen  mann,  und  das  ist  ein  zug  der 
an  die  ältere  lyrik  erinnert.-) 

sehen  dichter  nicht  überein.  Bei  EiUiart  ist  es  die  bewährung  Tristrants 
im  kämpfe,  welche  Isalde  vor  allen  anderen  Vorzügen  hervorhebt  (v.  2418 : 
he  ist  ein  vil  Mner  degin,  daz  hat  he  dicke  schin  getan,  he  tar  wol  eine 
bestän  swaz  ein  helt  tun  sol).  Die  czechische  Übersetzung  und  die  prosa- 
auflösung  gehen  in  der  ausmalung  der  kampftüchtigkeit  noch  weiter:  das 
ist  also  sicherlich  ein  ursprünglicher  zug  in  der  fassung  des  gedichtes  und 
zeigt  noch  die  verwantschaft  mit  den  anschauungen  des  älteren  volkstüm- 
lichen epos.  Darauf  deuten  schon  die  ausdrücke  für  den  geliebten:  helt, 
Mner  degen,  guoter  kneht  hin  (vgl.  Lichtenstein  s.  OL — CLxxrv.  Kettner,  Die 
österreichische  Nibelungendichtung  s.  19  ff.).  Schon  bei  Veldeke  aber  schwin- 
det die  vorsteUung  von  einem  streitbaren  beiden,  obgleich  sie  doch  bei  dem 
Stoffe  der  Eneide  viel  eher  erwartet  werden  konnte  als  in  dem  liebesepos 
Tristrant.  In  der  Eneide  wird  immer  nur  auf  die  stattlichkeit  und  Schön- 
heit des  mannes  gewicht  gelegt :  v.  10102*  toie  wart  er  ie  so  wale  gedän, 
sin  houvet  end  al  sin  lif.  Aeneas  selbst  wird  here,  rike,  lussam,  edel  ge- 
nannt, nur  selten  noch  Mit  und  degen,  jedenfalls  gedenkt  die  geliebte  nie- 
mals seiner  waffentaten  (vgl.  die  lobpreisungen  Didos  v.  1544  ff.).  Aeneas 
tritt  auch  in  Veldekes  dichtung  *  überall  als  breiter  redner  auf,  andere  lässt 
er  für  sich  handeln*  (Goedeke,  Grundriss  s. 80).  In  den  minneliedem  end- 
lich wird  häufiger  der  bezaubernden  rede  des  ritters  gedacht.  Das  wird 
wol  mit  der  gesellschaftlichen  Vorschrift  in  Verbindung  gebracht  werden 
müssen,  wonach  kein  böses  wort  gegen  die  frauen  über  die  lippen  gebracht 
werden  durfte,  sondern  es  sitte  war,  in  zierlichen  worten  der  frauen  loblied 
zu  singen,  vgl.  Haus. 55, 21.*  Reinm.  187, 15.  187,21.  25.  193,*  5.  Hartm. 
213,*  15.  Walth.  44, 1. 

^)  Auch  sonst  finden  sich  in  den  epen  anlehnungen  an  die  alte  lyrik. 
Eilh.  6610  f.  scheint  eine  etwas  scherzhaft  gewendete  paraphrase  des  unter 
Dietmar  von  Eist  stehenden  ältesten  frauenliedes  zu  sein  (37,4):  dö  sprach 
die  vramoe  äne  nit  \  zu  den  vogelin  die  da  stmgin:  \  ir  hat  michel  wimne 


882  LESSBB 

In  den  frauenliedern  des  höfischen  minnesanges  dagegen 
finden  wir  das  Verhältnis  der  geschlechter  umgekehrt:  schon  Vel- 
deke,  der  sonst  durch  die  einstrophigkeit  seines  monologes  und 
durch  die  epische  formel  an  die  altheimische  dichtung  sich  an- 
lehnt, zeigt  einen  ganz  neuen  Inhalt:  denn  hier  tritt  uns  zum 
ersten  male  eine  spröde  dame  entgegen,  welche  dem  ritter  auf 
sein  werben  erwidert,  er  könne  mit  ihrem  blick  zufrieden  sein, 
oder  einen  Verstoss  gegen  die  höfische  sitte  mit  einer  langen 
Ungnade  vergilt J)  Und  vollends  in  den  frauenliedern  Hausens 
und  der  übrigen  erscheint  die  frau  vorsichtig  und  zurückhaltend 
gegenüber  dem  drängen  des  liebeglühenden  mannes.  Daher 
erklären  sich  auch  die  anklänge  unter  den  lyrikem  selbst,  die 
in  den  epen  keine  parallelen  aufweisen,  weil  das  Verhältnis 
fehlt,  welches  jene  voraussetzen,  vgl.  Haus.  54,*  21  läjse  ab  ich 
in  ungewert,  dag  ist  ein  Ion,  der  guotem  manne  nie  gescJmch 
=  Walth.  113,*  34.  Reinm.  193,*  19.  Haus.  54,*  19  owe  teste  ich 
des  er  gert  =  Joh.  94,*  8. 

Aber  noch  eine  dritte  seite  dieses  literarhistorischen  Pro- 
blems ist  einer  Untersuchung  wert.  Das  ist  die  abhängigkeit 
der  frauenlieder  der  späteren  epik  von  denen  der  höfischen 
lyrik.  In  dem  Moritz  v.  Cräon  erinnert  der  monolog  der  gräfin 
(v.  1270)  solt  ich  in  des  ungelönet  län  u.  s.  w.  an  die  worte 
Hausens  54, 21  lä^  ab  ich  in  ungewert,  da^  ist  ein  Ion,  der 
guotem  manne  nie  geschach.  In  dem  monologe  der  Blanscheflur 
in  dem  Tristan  Gottfrieds  v.  Strassburg  muss  z.  b.  die  Wendung 
(v.  989)  da  von  ichhän  erworben  nähe  gendiu  leit  unzweifel- 
haft von  den  lyrikern  übernommen  sein,  denn  bei  diesen  tritt 
sie  zuerst  auf;  v.  972  seneliche  arbeit  weist  auf  Hausens  senede 


mit  manchir  hande  stimmen:  |  ich  gebe  üch  dorch  minne  \  zwelf  giddin  böige 
gut  I  daz  ir  mir  zu  Übe  tut  \  und  vliget  mit  mir  hinnen.  Hier  wie  dort  die 
anrede  an  einen  vogel,  hier  wie  dort  der  vergleich  zwischen  der  eigenen 
Unfreiheit  und  der  fröhlichen  ungebundenheit  der  leichtbeschwingten  be- 
wohner  der  luft.  Veld.  En.  11082 :  of  dl  die  werelt  wäre  min,  so  engewonne 
ich  niemer  ander  wif  =  MF.  3, 7 :  wobt  diu  werelt  aUiu  min.  üebrigens 
auch  Mor.  v.  Cräon  592 :  du  bist  min  umde  ich  bin  din  =  MF.  3, 3. 

1)  Freilich  findet  sich  auch  für  dieses  auftreten  der  frau  eine  auf- 
faUende  parallele  bei  Eilhart:  Gymele  weist  den  rohen,  stürmisch  begehren- 
den Kehenis  mit  einem  Vorwurf  zurück :  v.  6680  ff.  ja  sei  ir  wol  daz  ich 
nicht  bin  eine  gebürinne,  der  an  Veld.  MF.  57, 30  erinnert. 


MHD.  FRAÜENMONOLOGE.  —  SIEVEBS,  AGS.  HNESCE,       383 

arheit  (54,*  2),  v.  1015  waz  wize  ich  aber  dem  guoten  man,  er 
ist  hie  lihte  unschuldec  an  enthält  den  gleichen  gedanken  wie 
Hartm.  213,*  19.  Die  verse  1043  ff.  min  tumber  meisterlöser 
muot  der  ist  der  mir  da  leide  tuot  rufen  uns  das  erste  lied 
Veldekes  (MF.  56, 1)  und  ähnliche  aussprüche  der  lyriker  ins 
gedächtnis. 

LANGENSALZA,  october  1898.        ERNST  LESSER. 


AGS.  HNESCE. 

Während  der  i-umlaut  von  a  vor  sc  im  ags.  sonst  stets 
(B  ist  {odsc  esche,  rodsc  blitz,  du-cescan  ersticken,  vgl.  meine  Ags. 
gr.^  §  89, 2),  wird  hnesce,  dem  man  auch  gemeinhin  ein  umlauts-e 
zuschreibt,  ebenso  consequent  mit  e  geschrieben  (auch  Sal.  und 
Sat.  286  hat  die  Überlieferung  hnesce,  nicht  hncesce).  Schon  hier- 
an dürfte  die  beliebte  directe  gleichsetzung  mit  got.  hnasqus 
scheitern.  Erwägt  man  dazu  die  formen  north,  nom.  {h)nesc 
L  Mt.  24,  32.  Mc.  13, 28,  hnisca  W-  Mc.  13, 28,  dazu  ^ehnis{c)tun 
moUierunt  Vesp.  Ps.  54, 22  (spätws.  hnysce  in  glossen  ist  dagegen 
vielleicht  kenticismus),  so  wird  man  gezwungen  sein,  jenes 
hnesce  vielmehr  als  eine  mischform  von  hnesc  und  %nisce  zu 
einem  mit  got.  hnasqus  im  ablaut  stehenden  st.  Vinesqu-  auf- 
zufassen. 

LEIPZIG-GOHLIS,  20.  märz  1899.         E.  SIEVERS. 


TEXTKRITISCHE  BEMERKUNGEN. 

1.  Zum  Erec. 

V.  2079.  Hs.  der  höret  alter  zehn,  Haupt  und  Bech  der 
alter  hceret  /seilen.  Der  fehler  der  hs.  ist  eher  erklärUch  aus 
ursprünglichem  da  hceret  alter  wellen!  'da  hört  von  alter  er- 
zählen!' 

V.  2302.  Hs.  vnd  nyeman  dem  erennen  geleich,  Haupt  und 
Bech  %ind  niender  dem  erren  glich.  Beim  ersten  und  dritten 
Schilde  wird  die  färbe  des  äussern,  der  mouwe  und  des  innern 
(innen  v.  2295  und  2305)  beschrieben.  Demnach  ist  statt  nyeman 
V.2302  ebenfalls  innen  zu  lesen  und  die  interpunction  zu  ändern: 

V.  2296    der  ander  von  zinober  röt  — 
dar  üf  er  slahen  gebot 
ein  mouwen  von  silber  wiz 
(diu  was  geworht  in  solhen  vliz 
daz  man  sie  so  kurzer  stunde 
niht  baz  erziugen  künde)  — 
und  innen  dem  erren  glich. 

Nach  der  lesung  von  Haupt  und  Bech  fehlt  hier,  bei  der  be- 
schreibung  des  zweiten  Schildes,  eine  angäbe  über  die  färbe 
der  Innenseite  ganz. 

V.  6231.  Hs.  für  schaden  der  euch  wenig  frunib  ist  Die 
bisherigen  besserungs versuche  verzeichnet  Bechstein,  Grerm. 
25,319  (nachzutragen  ist  Bechs  Vorschlag  in  der  anmerkung 
seiner  ersten  und  zweiten  aufläge  der  wcene  ich  frum  für  schaden 
ist)  und  fügt  noch  einen  eigenen  hinzu.  Die  einfachste  ändeiOQig 

ist:  ditz  ist  der  schoeniste  list 

für  schaden  —  der  iu  wasn  ich 

(oder  wsen)  frum  ist  — 
daz  man  sichs  getroeste  enzit 

'das  ist  die  schönste  kunst  gegen  einen  schaden  —  der  euch 
(nebenbei  gesagt),  wie  ich  meine,  zu  nutzen  kommt  —  dass 


TEXTKRITISCHE  BEMERKUNGEN.  385 

man's  bei  zeiten  verschmerzt'.  Der  tod  Erecs  sei  für  Enite 
ein  glück,  denn  nun  will  er,  der  mächtige  graf  Oringles,  sie 
heiraten!  —  Die  vorläge  der  hs.  mochte  wenih  gehabt  haben, 
vgl.  die  lesarten  zu  Iwein  v.  8157. 

V.  6570.  Hs.  sy  stund  im  vil  verre,  Haupt  si  stuont  von 
im  unverre,  Bech  st  schunt  in  vil  verre,  Bechstein  nimmt  Germ. 
25, 325  die  lesart  der  hs.  wider  auf  und  übersetzt  'sie  leistete 
ihm  energischen  (vil  verre)  widerstand'.  Die  lesart  der  hs. 
gibt  allerdings  einen  guten  sinn,  aber  einen  andern  als  Bech- 
stein übersetzt.  Verre  stän  heisst  'hoch  im  werte  stehen,  teuer 
sein,  teuer  zu  stehen  kommen'  =  tiure,  höhe  stän.  Hartmann 
gebraucht  es  selbst  Iwein  4316  so  stüendez  iuch  ze  verre,  vgl. 
dazu  Beneckes  anmerkung  und  sein  wb.  zum  Iwein  unter  verre. 
Ausserdem  begegnet  verre  stän  mehrfach  in  dem  gedieht  von 
der  hochzeit,  vgl.  Kraus,  Vom  rechte  und  die  hochzeit  s.  120. 
Der  sinn  ist  also  'sie  kam  ihm  teuer  zu  stehen,  sie  gieng  nicht 
so  leichten  kaufs  auf  sein  verlangen  ein'.  Das  gegenteil  von 
verre  stän  ist  nähe  stän  'wolfeil  sein'.  Nähe  =  ' billig,  wolfeil' 
hat  Bech,  Germ.  17, 296  in  vielen  belegen  nachgewiesen,  vgl. 
ferner  für  Hartmanns  Sprachgebrauch  die  im  Mhd.  wb.  2  2,  574b 
verzeichneten  stellen  Erec  968  f.  so  stüende  iuch  ze  ringe  iuwer 
fUrgedinge,  6108  ez  sol  dich  niht  so  ringe  stän,  I.  büchl.  438  f. 
ob  dich  min  smerze  iedoch  so  gar  vergebene  ste.  Die  person 
der  etwas  billig  oder  teuer  zu  stehen  kommt,  steht  im  acc. 
oder  im  dat.  —  verre  und  tiure  sind  ausser  in  diesem  falle 
auch  sonst  Synonyma,  z.  b.  verre  Uten  Erec  3524.  4757.  4943. 
Iwein  5128.  5459.  8131  var.,  und  tiure  Uten  Iwein  6859;  verre 
beswern  A.Heinr.l073,  und  tiure  beswern  ebda.  1104,  tiure  swern 
Iwein  5740;  verre  manen  Erec  4558.  Iwein  4853.  6050.  6836. 
8131,  und  diu  tiure  manunge  Iwein  4862;  verre  begrifen  Erec 
9490  und  Iwein  lesarten  8131  =  'hoch  und  teuer  beschwören'; 
verre  bevelhen  Tristan  1894  und  tiure  bevelhen  ebda.  11474. 

V.  6652.  Haupt  und  Bech  folgen  im  texte  der  hs.,  indem 
sie  dicke  fliuhet  grozen  schal  aufnehmen,  in  der  anmerkung 
stellt  Bech  die  feinsinnige  conjectur  gruozesal  für  grozen  schal 
auf  und  Haupt  (2.  ausgäbe)  hält  diese  Vermutung  für  nicht 
unwahrscheinlich.  Trotzdem  hat  die  hs.  diesmal  das  richtige 
bewahrt,  denn  v.  6862  ff.  wird  eine  ähnliche  Situation,  wie  die 
hier  vorausgesetzte,  geschildert:  Erec,  mit.  Enite  im  wald 


386  KHRTRMANN 

reitend,  hört  von  ferne  eine  schar  gewappneter,  denn  der  schal 
und  der  doz  weis  von  den  schellen  groe  (6876  t),  und  findet 
selbst  die  läge  füi'  gefahrvoll  (6879  ff.).  Eine  solche  wider- 
holung  gleicher  gedanken  und  gleicher  worte  in  kurzem  ab- 
stände ist  ja  eine  stilistische  ungewantheit  Hartmanns. 

V.  6931  f.  ouch  wsere  es  der  werde 

yil  wol  erlän  da  ze  stont 

Haupt;  die  hs.  hat  worden  statt  erlän,  weshalb  Bechs  her- 
stellung  (3.  auf.)  vil  wol  worden  äne  da  ze  stunt  sich  durch 
engeren  anschluss  an  die  Überlieferung  mehr  empfiehlt.  Da- 
neben kann  auch  folgende  in  betracht  gezogen  werden:  wol 
über  worden  da  ze  stunt, 

V.  7138  ff.  Nach  Lachmanns  correctur  von  v.  7140  f.  geben 
Haupt  und  Bech  folgenden  text: 

mit  müre  was  der  selbe  kreiz, 
als  ich  iu  ze  sagen  weiz, 
gliche  endriu  gescheiden  hin. 
daz  dritte  teil  von  den  drin 
häte  rotwildes  gnuoc: 
swarzwilt  daz  ander  teil  truoc. 
in  dem  dritten  teile  d&  bi, 
fragt  ir  waz  dar  inne  si? 

U.S.W.  Die  hs.  hat  als  reim  Wörter  von  v.  7140  f.  gescheiden  : 
den  beiden,  wof üi*  Lachmann  gescheiden  hin  :  den  drin  einführte. 
Ich  vermute  folgende  ursprüngliche  fassung  von  v.  7140 — 42 

gliche  endriu  gescheiden, 

daz  dritte  teil  von  den  beiden. 

einez  häte  rotwildes  gnuoc 

U.S.W.;  d.h.  ^ mit  mauern  war  dieser  kreis  in  drei  gleiche  teile 
geschieden,  je  der  dritte  teil  von  den  beiden  andern'.  Dann 
folgt  die  aufzählung  der  drei  teile  und  ihres  wildbestandes, 
^ein  teil  (einez)  hatte  genug  rotwild,  der  andere  teil  schwarz- 
wild,  in  dem  diitten  teil  u.s.w.  waren  fuchse,  hasen  und  der- 
gleichen'. Der  fehler  der  hs.  erklärt  sich  aus  solcher  gestalt 
des  ursprünglichen  textes  leicht:  der  Schreiber  zog  den  vers 
einez  häte  rotwildes  gnuoc  zum  vorhergehenden  satze  statt  zum 
folgenden,  gerade  wie  Lachmann,  dabei  war  einez  sinnlos  und 
wurde  von  ihm  weggelassen.  Lachmanns  änderung  der  reime 
setzt  eine  viel  stärkere  abweichung  des  Schreibers  von  seinem 
originale  voraus,  deren  grund  zudem  nicht  ersichtlich  ist. 


TBXTKRITISCHE  BEMERKUNGEN.  387 

3.  Zum  Iwein. 

V.  3225  f.  Das  eigentümliche  handschriftenverhältnis,  wo- 
nach B  allein  ern  Imzte,  die  übrigen  hss.  ern  ahte  , ..  üf  haben 
oder  doch  voraussetzen,  erklärt  sich  aus  der  Schreibung  der 
urhandschrift  bez.  einer  der  frühesten  vorlagen:  für  ^  war 
die  dem  Ji  ähnliche  über  die  zeile  aufsteigende  form  gesetzt, 
und  aus  einem  solchen  ha^te  konnte  leicht  hahte  >  ahte  ver- 
lesen werden.  Die  Verwechslung  des  langen  ^  und  h  kommt 
ja  in  mhd.  hss.  häufig  genug  vor,  und  es  ist  deshalb  auch  nicht 
auffallend,  wenn  mehrere  Schreiber  von  Iweinhss.  unabhängig 
von  einander  den  fehler  begiengen.  Pauls  annähme  (Beitr. 
1,374),  Hartm.  V.  3225  f.  ern  hazte  u.s.w.  sei  eine  Übersetzung 
von  ehrest,  v.  2790  ne  het  tant  rien  u.  s.  w.,  wird  von  Zwierzina 
in  seiner  gründlichen  erörterung  dieser  stelle  in  der  Zs.  f da.  40, 
230  ff.  bekämpft.  Zwierzina  tritt  wider  für  Lachmanns  lesung 
ern  ahte  ...  üf  u.  s.  w.  ein,  denn  Hartmann  folge  in  dieser 
ganzen  partie  schritt  für  schritt  seiner  quelle  Chrest.  V.  2790 
ne  het  tant  rien  u.  s.  w.  sei  also  durch  Hartm.  v.  3221  er  verlos 
sin  selbes  hulde  widergegeben.  Indessen  entspricht  selbst  hier 
auch  nach  Zwierzinas  vergleichung  der  text  Hartmanns  nicht 
zeile  für  zeile  dem  von  Chrestien.  Denn  v.  32  2  7  er  stal  sich 
swtgende  dan  ersetzt  doch  jedenfalls  Chrest.  v.  2796  d'antre  les 
harons  se  remue  und  der  folgende  vers  Hartmanns  3228  dajs 
ersach  da  nieman  den  übernächsten  Chrestiens,  v.  2798  et  de 
ce  ne  se  gardoit  Van,  erst  darauf  folgen  dann  Chrestiens  verse 
2800  f.  Uen  sevent  u.s.w.,  die  aber  Z.  schon  den  in  frage 
stehenden  versen  Hartmanns  3225  f.  gleich  setzt.  Es  fällt  also 
dieser  grund  gegen  Pauls  parallelstellung  von  Hartm.  v.  3225  f. 
ern  hazte  mit  Chrest.  2790  ne  het  tant  rien  u.  s.  w.  weg. 

Bleibt  man  umgekehrt  bei  dieser:  der  gedankengehalt  bei 
beiden  stellen  deckt  sich  vollständig,  Hartmann  sagt  nicht 
mehr  und  nicht  weniger  als  Chrestien  und  hazte  ist  zudem  so 
gut  wie  wörtliche  Übersetzung  von  het  Dagegen  bei  Zwier- 
zinas parallele,  wo  Hartmann  er  verlos  sin  selbes  hulde  = 
Chrest.  ne  het  tant  rien  com  lui  meisme  und  Hartmanns  ern 
ahte  weder  man  noch  wip  niuwan  üf  sin  selbes  lip  =  Chrest. 
bien  sevent  que  de  lor  parier  ne  de  lor  siegle  n'a  il  soing, 
berühren  sich  die  gedanken  nur. 


388  EHBISlffANN  \ 

Eine  andere  erwägung  spricht  direct  gegen  Lachmanns 
text:  V.  3201  ff.  wird  die  Stimmung  Iweins  geschildert,  er  schämt 
sich  vor  den  leuten  (vgl.  v.  3204  der  slac  siner  eren,  3207  da^i 
schemeliche  ungemach\  sie  sind  ihm  lästig,  er  will  sich  vor 
ihnen  verbergen.  Die  gegenwart  der  menschen  ist  ihm  also 
keineswegs  gleichgültig,  sondern  sie  übt  einen  höchst  be- 
drückenden einfluss  auf  ihn  aus;  dann  kann  aber  nicht  wol 
fünf  bis  zehn  zeilen  später  gesagt  werden  ern  ahte  weder  man 
noch  wip. 

Demnach,  da  rein  graphisch  betrachtet  B  mit  heulte  immer- 
hin das  ursprüngliche  bewahrt  haben  kann,  die  wörtliche  Über- 
einstimmung mit  Chrestien  aber  und  der  sinn  eher  für  hazte 
als  für  ahte  sprechen,  so  wird  man  doch  der  lesung  von  Pfeiffer, 
Paul,  Bech  und  Heniici  den  vorzug  geben  müssen. 

3.  Zum  Armen  Heinrich. 

V.  225  und  447.  Die  in  beiden  hss.  A  und  B  (=  Ba  und  Bb) 
auseinandergehenden  lesarten  sind  erhcere  A,  vriehere  B  in  v.  225 
bez.  maniere  A,  verhere  B  in  v.  447.  Haupt  und  Bech  (3.  aufl.) 
setzen  dafür  beide  male  erbcere,  Wackernagel  hibcere,  Scherer 
schlug  vor  vnehcere  *  heiratsfähig,  reif  zum  freien'  (Wacker- 
nagel-Toischer,  anm.  zu  v.  225),  dafür  Burdach  vribcere  'von 
freier  geburt'  (Anz.  fda.  12, 196f.);  letzterem  folgen  Paul  in 
seiner  zweiten  aufläge  des  A.  Heinrich,  Schönbach,  Ueber  Hart- 
mann V.  Aue  s.  140  f.,  Schulte,  Zs.  fda.  41, 267.  Doch  scheint  mir 
auch  gegen  vribcere  ein  anderes  wort,  nämlich  werbcere,  den 
Vorzug  zu  verdienen.  In  technischer  hinsieht  lassen  sich  die 
entstellungen  der  hss.  aus  werbcere  nicht  schwerer  begreifen 
als  aus  vribcere,  im  gegenteil,  die  eine  lesart  von  A,  erbcere, 
lässt  sich  leichter  mit  werbcere  vereinigen  als  mit  vribcere. 
Werbcere  ist  zusammengesetzt  mit  diu  were  'besitz,  gewalt'  = 
dm  gewere.  Es  ist  speciell  die  gewalt  des  vaters  über  die 
unmündigen  kinder,  des  mannes  über  die  frau;  auch  die  hörigen 
und  eigenleute  stehen  unter  dem  verfügungsrecht,  nämlich 
ihres  herrn.  Werbcere  heisst  demnach,  wer  der  väterlichen 
gewalt  oder  der  eines  herren  nicht  bez.  nicht  mehr  unterworfen 
ist,  der  freie  handlungsfähigkeit  besitzt  (zu  der  rechtsgeschicht- 
lichen bedeutung  vgl.  Schröder,  D.  rechtsgesch.*  bes.  s.  667  ff. 
693  ff.  und  die  daselbst  angebene  literatur;  über  Hartmanns 


TEXTKRinSCHB  BEMERKUNGEN.  389 

rechtskenntnisse  s.  Schönbach  s.  228  ff.).  Werbcere  ist  also  in 
der  bedeutung  und  hinsichtlich  der  Zusammensetzung  mit  -beere 
zu  vergleichen  mit  vogtbeere  und  muntbar  (Schmeller-Fr.  1, 1624 
^ mundbar,  wie  vogtbar,  d.h.  im  stände  sich  selbst  zu  vertreten; 
keiner  tutela  oder  schutzherschaft  unterworfen'). 

Der  mündigkeitstermin  im  mittelalter  ist  sehr  häufig  das 
alter  von  zwölf  jähren  (vgl.  Wackemagel  a.a.O.  Kraut,  Die 
Vormundschaft  1, 110  ff.  u.  a.).  Als  alter  des  mädchens  im  Arm. 
Heinr.  kommen  bei  der  berechnung  von  v.  303  und  351  nur  elf 
jähre  heraus  als  sie  den  entschluss  fasst  für  ihren  herrn  zu 
sterben,  aber  ein  gewisser  Spielraum  in  der  Zeitbestimmung 
des  gedichtes  muss  immerhin  zugegeben  werden  (vgl.  Wacker- 
nagel und  Schönbach  a.a.O.).  Im  falle  dass  Hartmann  unter 
werbcere  'frei  von  dem  verfügungsrecht  des  herren'  verstand, 
kommt  die  altersfrage  überhaupt  nicht  in  betracht,  das  mädchen 
musste  nur  freien  Standes  sein,  und  der  begriff  von  werbcere 
ist  dann  inbegriffen  in  dem  des  fraglichen  vribcere  'von  freier 
geburt'. 

Zu  der  auffassung  die  das  gedieht  von  dem  opfer  der 
Jungfrau  hat,  passt  werbcere  'fähig  zu  freiem  handeln'  besser 
als  vribcere:  ihre  tat  muss  eine  freiwillige  sein,  überall  wird 
hervorgehoben,  dass  sie  aus  freien  stücken  und  ungezwungen 
für  ihren  herrn  in  den  tod  gehen  muss,  so  an  den  obigen 
stellen,  so  ferner  v.  923  und  besonders  v.  1064 — 83;  von  freiem 
Stande  ist  gerade  bei  der  letzten  ausführlichen  gewissensfrage, 
die  der  arzt  an  sie  richtet,  nicht  die  rede. 

Belegt  ist  werbcere  nicht,  ein  werbcere  'im  stände  bürg- 
schaft  zu  leisten'  führt  Lexer  an,  also  zu  were  'bürgschaft'. 
Auch  vribcere  ist  nicht  nachgewiesen.  Auf  die  Seltenheit  der 
Zusammensetzungen  von  -beere  mit  adjectiven,  also  wie  vribcere, 
macht  auch  Burdach  aufmerksam.  Sie  sind  dem  Sprachgefühl 
ganz  zuwider.  Unter  den  von  Weinhold,  Mhd.  gr.  §  295  und 
Wilmanns,  D.  gr.  2,  §  374  ff.  angeführten  mhd.  compositen  ist 
nur  ein  einziges  alt  ererbt,  offenbeere,  schon  ahd.  offanbäri, 
aber  -beere  hatte  hier,  als  das  wort  gebildet  wurde,  noch  sub- 
stanziellen  gehalt  und  war  noch  nicht  zum  suffix  verblasst, 
=  'sich  offenbar  darbringend',  vgl.  Wilmanns  a.a.O.  Die 
übrigen  Zusammensetzungen  mit  -beere  und  einem  adjectiv  sind 
individuelle  bildungen:  verholnbeere  von  Wolfram,  der  gegensatz 


390  EHBISMAKN 

ZU  offenbeere;  wärbeere,  verb.  wärbeeren  von  Gk)tfrid;  UhÜxjere 
und  lüterbcere  von  Konrad  von  Würzburg;  auch  irrebeere  ist 
nur  aus  Gotfrids  und  Konrads  werken  belegt,  ausserdem  hat 
hier  sicher  das  verbum  irren  vorgeschwebt;  lüfbeere  ist  um- 
gebildet aus  liufbeere  (s.  Wilmanns  a.  a.  o.),  also  keine  adjec- 
tivische  Zusammensetzung.  Das  von  Weinhold  noch  angegebene 
trütbeere  fehlt  bei  Wilmanns  und  Lexer,  dafür  bei  letzterem 
triutebeere,  das  also  zum  verbum  triuten  gebildet  ist.  Aus 
dieser  musterung  ergibt  sich,  dass  adjectivcomposita  mit  -beere 
nur  von  einigen  sprachkünstlem  gebildet  wurden,  aber  nicht 
dem  allgemeinen  sprachgebrauche  geläufig  waren.  Auch  dies 
spricht  gegen  vribcere,  man  müsste  es  denn  als  originelle  Wort- 
bildung Hartmanns  auffassen,  wozu  man  ohne  weitere  ein- 
schlägige Zeugnisse  gerade  bei  ihm  nicht  geneigt  sein  wird. 

V.  391  wan  ich  enhete  nüt  vil  gar  A,  minen  willen  hatte 
(hat  B  a)  ich  mit  vrowen  gar  B.  Ueber  die  lesung  der  neueren 
ausgaben  seit  Wackernagel  wan  ich  enhete  niht  gar  (mit  aus- 
lassung  von  vil  in  A)  kommt  man  ohne  mistrauen  nicht  weg 
trotz  der  deutungen  von  Wackernagel  (in  Toischers  ausg.), 
von  Bech  (in  der  anmerkung  seiner  ausgaben)  und  von  Schön- 
bach (Ueb.  Hartmann  s.  143).  Zwei  andere  besserungsvorschläge 
machte  Bech  in  der  anmerkung  zur  2.aufl.:  da^  ich  in  hete  vil 
gar  oder  ich  hete  muotwillen  gar.  Sprenger  führte  Germ.  37, 172, 
ohne  letztere  conjectur  Bechs  zu  kennen,  ebenfalls  muotwillen 
ein  (wan  ich  hete  muottvillen  gar)  'weil  ich  gänzlich  bösen 
willen  hatte'.  Aber  muotwille  ist  nicht  ohne  weiteres  'böser 
Wille'  und  ausserdem  läge  darin  eine  zu  harte  selbstanklage 
Heinrichs.  Eine  andere  conjectur,  die  graphisch  keinerlei 
Schwierigkeiten  bietet  und  auch  der  sonstigen  beschaffenheit 
der  hss.  nicht  widerspricht,  gründet  sich  auf  eine  auch  ander- 
wärts von  Hartmann  niedergelegte  ethische  anschauung,  näm- 
lich statt  vil  in  A  witze  zu  lesen,  ohne  weitere  änderungen: 

V.  390    und  was  daz  doch  unmügelich 

wan  ich  enhete  niht  witze  gar: 
da  nam  ich  sin  vil  kleine  war 

U.S.W.  'und  das  war  doch  ohnmächtig,  denn  ich  hatte  nicht 
ganze  Weisheit:  ich  habe  mich  nämlich  sehr  wenig  um  ihn 
bekümmert,  der  mir  jenes  wimschleben  von  sinen  gnaden  hete 
gegeben\    Dann  die  folgenden  verse  bis  408:  daz  herze  mir  do 


TEXTKRITISCHE  BEMERKUNGEN.  391 

also  stuont  als  alle  werlttoren  tuont,  den  daz  saget  ir  muot  daz 
sie  ere  unde  guot  äne  got  mügen  hän.  Sus  troug  ouch  mich 
min  tumber  wän,  wan  ich  in  lützel  ane  sach  von  des  genäden 
mir  geschach  vil  eren  unde  guotes.  Also  der  gegensatz  der 
torheit  der  weit,  in  der  er  lebte,  gegen  dm  witze,  die  ihm 
fehlte.  Er  hatte  nicht  witze  gar,  nicht  die  volle  Weisheit. 
V.  74  wird  er  hübesch  und  dar  zuo  wis  genannt,  aber  das  ist 
die  Weisheit  der  weit  —  hövesch  unde  wis  ist  formelhaft  (vgl. 
Mhd.  wb.  3, 751b.  Schönbach  s.  133)  und  wird  öfter  in  bezug  auf 
Iwein  gebraucht  Iw.  v.  3356.  3521.  3752.  6055  —  die  volle 
Weisheit  (witze  gar)  aber  ist  die  gottesfurcht,  die  demut  vor 
gott,  welche  weiss  dass  alles  gute  von  gott  kommt  und  nicht 
aus  eigener  macht  erworben  werden  kann.  Es  ist  derselbe 
religiöse  grundsatz,  dem  Hartmann  am  Schlüsse  des  Erec  zum 
teil  in  ganz  ähnlicher  sprachlicher  fassung  ausdruck  verleiht, 
V.  10085  ff.  (vgl.  auch  v.  2491  ff.  8633  ff.,  dazu  Schönbach  s.  173 1): 
er  (Erec)  tete  sam  die  wisen  tuont  die  des  gote  genäde  sagent 
stvaz  sie  eren  b^agent  und  ez  von  im  wellent  hän.  So  triuget 
manegen  ein  wän  ...  ob  im  iht  guotes  widervert  daz  im  da£ 
si  beschert  niuwan  von  siner  frümeJceit  und  es  gote  dehein  gnäde 
seit.  Vil  lihte  ein  ende  des  geschiht.  Also  entete  der  Jcünec 
niht,  aber  Heinrich  hat  so  getan  und  deshalb  war  das  ende 
die  strafe  die  gott  an  ihn  legte  (A.  H.  v.  409). 

Die  parallele  zwischen  beiden  stellen  ist  deutlich:  Erec 
tete  sam  die  wisen  tuont,  der  arme  Heinrich  enhete  niht 
witze  gar. 

HEIDELBERG.  GUSTAV  EHRISMANN. 


BEITRÄGE  ZUM  MHD.  WORTSCHATZ. 

Ein  grosser  teil  des  gedichtes  von  der  Minneburg  ist  in 
der  sogenannten  'geblümten  rede'  abgefasst  (s.  Beitr.  22, 313  tt 
[über  sie  vgl.  jetzt  auch  Ernst  Meyer,  Die  gereimten  liebes- 
briefe  des  deutschen  mittelalters,  Marburg  1898]).  Einen  be- 
sonderen schmuck  derselben  bilden  seltene  und  auffallende 
Wörter.  In  folge  dessen  finden  sich  in  den  gedichten,  welche 
in  jener  Stuart  prangen,  viele  in  der  sonstigen  literatur  gar 
nicht  oder  nur  selten  vorkommende  Wörter.  So  auch  in  der 
Minneburg.  Ich  führe  im  folgenden  zunächst  solche  an,  die 
im  Mhd.  wb.  und  bei  Lexer  nicht  belegt  sind.  Die  liste  liesse 
sich  vermehren,  aber  ich  habe  nur  dasjenige  material  bieten 
wollen,  welches  sich  auf  gesicherte  handschriftliche  Über- 
lieferung gründet.  Ganz  weggelassen  sind  die  sprachlichen 
Ungeheuerlichkeiten  der  Überarbeitung  (ß),  welche  nur  der 
ungewantheit  des  Verfassers  ihr  dasein  verdanken. 

oberer  n.  'abfall  von  der  speise'  5240. 

anglaffen  'anstarren':  ich  hän  sie  an  geglaffet  lang  mit  miner 
ougen  zwirlel  (2322);  s.  verglaffen  DWB.  12, 446.  Schmeller- 
Fr.  1,971.  Schweiz,  id.  2, 607,  erglaffen  verglaben  verglaveren 
Lexer  1,631.  3,118. 

anJcünten  ^anzünden'  1570,  belegt  bei  Schmeller-Fr.1,1260.  DWB. 
5, 554  f. 

astroldbium  509,  vgl.  Diefenbach,  Gloss.  56  c.  Nov.  gloss.  39. 

attravers  attrafers  2430.  2908.  2953  =  treviers,  s.  Lexer  2, 1508. 
Rückert,  anm.  zu  Lohengrin  v.  4861. 

ati^eln  *  törichtes  zeug  schwatzen':  dojs;  ez  (das  herz)  vor  leide 
würde  brotzeln  und  also  törlich  atzein  reht  sam  ein  teil 
diu  atzel  tuet  so  sie  verrert  ir  zungen  hluot  1628  'das  herz 
würde  so  töricht  dummes  zeug  schwatzen  wie  die  atzel, 
wenn  sie  das  blut  ihrer  zunge  vergiesst',  d.h.  wenn  sie 
schwätzt;    vgl.  Schmeller-Fr.  1, 180  aizeln  *  vergebliches, 


BEITRlaE  Zütt  MHD.  WOETSCHATZ.  393 

läppisches  zeug  vornehmen'  (aus  Nordfranken).  Vilmar, 
Id.  s.18.  DWB.  1, 596  atzelwerk  'geschwätz,  geplauder'  (bei 
Lexer  nachtrag  s.  36  fälschlich  hrasseln :  azzeln  nach  der 
hs.W). 

halsamstüde  4974. 

banieren  2691  in  der  bedeutung  'ein  banner  beschreiben'  = 
hlasenieren,  visieren. 

hehüchen  'behauchen'  1973. 

sich  heTcnüdeln  'sich  in  einer  schlinge  verfangen':  ich  hän  ouch 
mich  heknüdelt  und  lang  darüf  gestüdelt  2351  'ich  habe 
mich  ganz  in  den  gedanken  verfangen',  zu  Tmode  'knoten, 
schlinge'.  Verschieden  davon  ist  lehnudeln  'beschmutzen' 
DWB.  1, 1424.  5, 1514. 

heknüseln  'beschmutzen':  sie  hat  ouch  mich  hemüselt  mit  irre 
minne  ilsein  und  tuot  mich  ouch  heknüseln  daz  ich  vor 
leide  hin  worden  swarz  2372.  DWB.  1, 1425  heknüseln 
maculare;  5,1526  (unter  knüseT)  'besudeln';  Schmeller-Fr. 
1, 1355  knusig,  knuselig  'unsauber,  schmutzig'. 

hillungs  adv.  kunstausdruck  der  Wappenkunde:  dar  ohe  (über 
dem  mund)  so  stet  von  diamant  hillungs  ein  winic  ver- 
renket gar  m^eisterlich  gesenket  zwo  kleine  winhräwen  2436  ff., 
und  was  von  spehen  sinnen  verworht  zwar  darinnen  (in 
dem  banner)  von  ruhin  ein  leharte  der  sich  in  hillungs 
harte  zu  Sprunge  hete  gestrecket  2777  tt  Billungs  kann 
adverbiale  bildung  sein  zu  hille  =  franz.  hille  'ball,  kugel', 
das  in  der  heraldischen  spräche  gebraucht  wird  für  runde 
flächen  (kreislinien)  oder  für  kugeln  etc.,  vgl.  Bernd,  Die 
hauptstücke  der  Wappenwissenschaft  2, 282  ff.;  also  hillungs 
hier  so  viel  wie  (halb)kreisf örmig  gebogen,  was  sowol  auf 
die  Wimpern  als  auch  auf  die  gestalt  des  gekrümmt  sich 
niederduckenden  (in  der  heraldik  'gekrüpft',  treiiiz.accroupt) 
leoparden  passen  würde.  —  Stehen  in  Zusammenhang  da- 
mit helle,  hellunge  Lexer  1, 174,  und  heldung  bei  Martin, 
Hermann  v.  Sachsenheim,  Mörin,  anm.  zu  v.  511  und  Gold, 
tempel  v.  1238? 

hizze  'bissen',  als  Verstärkung  der  Verneinung  (DWB.  2,  47): 
du  tuost  im  niergen  hizzen  wi  2139,  und  nimst  sin  nin- 
dert  hizzen  goum  2229,  du  hist  nindert  hizzen  wunt  4424. 
Die  gruppe  x  hat  dafür  den  fehler  niergen  hintzen  we 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  26 


394  EHRISMANK 

2139,  nit  ein  hintzen  goum  2229  (4424  feMt  B),  daher 
stammt  das  citat  in  Grimms  Gr^  n.'abdr.  3, 703  und  nimpst 
si  niht  ein  hinsen  (lies  himen)  goum, 

Uotschen  ( :  rotschen  *fels')  34  =  platzen  'mit  schall  hinfallen'. 

cylindrium  510,  vgl.  Diefenbach,  Gloss.  118  c.  Nov.  gloss.  89. 

diu  diptonge  fj  6lg)9^oyyoq  2388. 

durch.  Ausserordentlich  häufig  sind  Verbalzusammensetzungen 
mit  durch\  folgende  sind  im  Mhd.  wb.  und  bei  Lexer  nicht 
belegt:  durchcedem  2454,  durchbalsmen  1710.  4267,  durdi- 
bismen  1710,  durchgemen  2975,  durchhecheln  3276,  durch- 
kirnen  4400.  5430,  durchkrispen  4452,  durchkrüUen  4456, 
durchliden  266,  durchlüchen  ( :  Sprüchen)  2012  ('durch- 
löchern', Lexers  durchlüchen  nachtr.  130  ist  in  durchlüchen 
zu  ändern),  durchlühtieren  6,  durchmeistern  2994,  durch- 
obern  1642,  durchpinsen  ('durchpinseln')  2964,  durchrcezen 
(durchrcezt :  Icezt,  das  citat  bei  Lexer  nachtr.  130  durch- 
retzen  beruht  auf  falscher  lesart  der  hs.  W),  durchrisen 
3288,  durchrcesen  2658,  durchrüemen  2660,  durchsaffen 
459,  durchschimmern  2405,  durchsmiden  265,  dMrchspisen 
3287,  durchsticken  2^&1  ^  durchstachen  1755,^)  durchstüpfen 
3278,  durchtemmern  3316,  durchvioln  2659,  dwrcÄwrwe» 
5429,  durchweifen  (^durchhaspeln')  4276,  durchwifeln 
('durchsticken  mit  der  nadel')  4276,  durchwirden  2660, 
durchzuckern  2658. 

durfm,?  'bedürfnis,  notwendigkeit',  Verbalsubstantiv  zu  dürfen; 
durch  der  sinnen  durf  'weil  es  der  sinn  verlangt'. 

ebichhalp  {ewichhälb  P)  'verkehrt'  1607,  dazu  auwich:  mir  ist 
daz  auwich  üz  gekert  5Ö45.  Äuwich  ist  =  awech,  abech 
DWB.  1,  58.  Schmeller-Fr.  1, 11. 13.  2, 834:  ahd.  abuh.  In 
ebich  ist  offenes  e  anzusetzen,  gemäss  äbich  u.  s.  w.  im  DWB. 


*)  Nach  Bemd,  Hauptstücke  der  wappen Wissenschaft  2, 125  besteht 
folgender  unterschied  in  der  heraldik :  gestickt  wird  gesagt,  wenn  die  ober- 
flache  'mit  verschiedenen  widerholten  Verzierungen  etc.  gestickt,  gemustert 
oder  durchwebt  erscheint'  —  so  hier  in  der  Mbg.:  der  dritte  strich  der  ist 
durchsticket  hinden  und  vorn  mit  meisterlichen  Steinbocks  harn;  gestückt 
wird  gebraucht,  wenn  sie  'aus  gleich  grossen  viereckigen  stücken  von  ver- 
schiedener färbe  zusammengesetzt  erscheinet'  —  dem  ebenfalls  entsprechend 
hier  in  der  Mbg.:  ein  haniere,  diu  was  von  7'uhin  glänzen  und  smaragden 
wol  durchstücket 


BEITRAGE  «UM   MHD.  WORTSCHATZ.  395 

und  bei  Schmeller  a.  a.  o.  Lexer,  Kämt.  wb.  sp.  2,  u.  a.; 
e  ist  also  jüngerer  umlaut,  -ich  demnach  später  für  älteres 
'uch  eingetreten,  wie  denn  im  früheren  ahd.  nur  dbuh  be- 
legt ist  (Graff  1,  90  f.,  erst  in  den  Augsburger  glossen  mit 
hahihemo,  Ahd.  gU.  2, 206, 6),  vgl.  aisl.  ofogr  und  Qfegr  (afegr) 
Noreen,  Aisl.  gr.^  §  150, 4.  —  (Daz)  ehich  leeren  ist  formel- 
haft, vgl.  Freid.  21, 22.  Renner  5522.  Nie.  v.  Jeroschin  28  d 
V.  167;  ahd.  in  ahuh  Mran  Graff  1, 91.  —  Auch  eUchltchen 
bei  Suchenwirt  21, 163  fehlt  bei  Lexer  und  im  Mhd.  wb. 

eifeHe  'äfferei'  3958. 

ergälmen  'ertönen'  31. 

ergitzen  1174.  4103.  4933,  s.  Beitr.  22, 341. 

erJclumpen  'zusammenschrumpfen'  2099. 4852  {erklumpt :  erstumpt), 
vgl.  klumpen  DWB.  5, 1292.  Lexer  1, 1636. 

erluckern  'locker  machen'  2383  (erluckert :  durchzuckert)\  lückern, 
luckern  DWB.  6, 1113.  Lexer  1, 1975. 

sich  erluodern:  min  ougen  künden  nie  derluoder(n)  sich  der 
zarten  frouwen  guot  1866  'meine  äugen  konnten  nie  genug 
in  ihrem  anblick  schwelgen'. 

sich  erwandelieren  2726,  bei  Lexer  unter  wandelieren  3,  672 
fälschlich  sich  her  wandelieren  nach  der  hs.  W. 

galanderisch  ad].:  galanderischer  engel  3380. 

sich  gemildern  'sich  mildem'  2350. 

gequecklich  adv.  5018,  zu  quec,  s.  unten  zecklich, 

gesperge  n.  461.  1631:  nu  wil  ich  aber  kumen  mder  mitmines 
Sinnes  gesperge  üf  des  buoches  rehte  materge,  und  doch  e 
ich  duz  gesperge  rüere  der  rehten  materge,  =  gesperre 
'sparrenwerk,  gebälke';  gesperge  in  der  bedeutung  'schar' 
bei  Lexer  1, 923. 

gestrange  adv.  5024. 

gevlcezen  4100  =  vlcezen. 

glohzen  =  gelohzen  1955,  einfaches  lohzen  1956.  4495. 

gloyren  =  geloschieren  c.  acc:  die  (die  färben)  wil  ich  hie  vi- 
sieren, gar  wepenlich  gloyren  reht  in  dines  antlützes  schilt 
2412  'die  färben  will  ich  in  den  schild  deines  antlitzes 
einlogieren,  ihnen  ihre  statte  darin  anweisen';  bei  Lexer 
intrans.  und  mit  dat.  d.  pers.  1, 822.  1957. 

gränätkisel  1507. 

hegein:   holz  üf  einander  gehegelt  89,  zu  hac,   welches  nach 

26* 


396  EHBISMANN 

Schmeller-Fr.  1, 1067  'bes.  eine  kunstlose,  leichtere'  ein- 
friedigung  von  Stangen  ist  'und  als  solche  dem  dichtern, 
festern  zäun  wie  der  hecke  entgegengesetzt';  also  hier 
etwa  =  leicht  auf  einander  geschichtet. 

honechrunne  4972. 

JctrJcel  'das  röcheln':  mit  heiserer  stimme  kirJcel  1827.  Schweiz, 
id.  3,  457  chirchel,  charchlen,  chürcMen  XL  a.  DWB.  5,  208 
karcheln.  Lexer  1, 1551  Jcerchen, 

Tcridenwtz  1946. 

Jcrinnel  'strähne':  ez  (das  haar)  hat  sulich  krinnel  als  ee  von 
einer  spinnel  st  hübsch  herab  gezogen  4453,  zu  Tcrinne  'ein- 
schnitt', s.  auch  Schmeller-Fr.  1, 1372  krir^el  =  hrinnel, 

krüseln  'kitzeln'  2369  (krüselt :  gemüselt).  DWB.  5, 2100  und 
2478;  im  ablaut  zu  hriuseln  'jucken'.  Lexer  1,1739. 

lerzic  'linkisch,  ungelenk'  2619,  zu  lerg  'link'. 

lippen- läppen  verb.:  klaffer,  die  üe  irem  munde  manic  rede 
lippen-lappen  559,  s.  lippen-lappe  sb.  Lexer  1, 1934.  DWB. 
6,  1059. 

lunder  'brand'  2472.  3274.  3330,  lundern  'brennen'  5358.  DWB. 
6, 1308 :  fränk.-henneberg.  lunnem  'lodern,  hell  aufbrennen, 
lohen',  s.  auch  Fromm.,  Mundarten  2, 79, 15.  3,133.  3,404,12; 
vgl.  Lexer  1, 1983  lünden  'brennen,  glimmen'. 

lürpen  'mit  der  zunge  anstossen':  ein  lürpent  zunge  1275.  Schweiz, 
id.  2, 1385  lurpen,  nebenform  zu  lurggen,  lorggen  (ebda. 
3, 1381  f.)  'mit  schwerer  zunge,  undeutlich  und  unverständ- 
lich sprechen,  lallen,  stammeln'.  Schmeller-Fr.  1, 1500  lorbsen 
(Aschaff.)  'mit  der  zunge  anstossen';  ebda.  1, 1501  und  Lexer 
1, 1885  lerken,  lirken,  lurken  'stottern'.  Schmid,  Schwab,  wb. 
lurken,  lorken  'im  sprechen  die  worte  verschlingen,  schwer 
sprechen'  u.  s.w.  Spiess,  Beitr.  zu  e.  Henneberg.  id.  156  lurksen 
'schwer,  mit  anstrengung  sprechen'. 

margramepfelwazzer  'aus  malum  granatum  destilliertes  wasser' 
2520. 

melissenwazzer  'aus  melissen  destilliertes  wasser'  3502.  DWB. 
6, 1996. 

murzeln  1776  und 

murzen  2362  'zerreiben'.  DWB.  6, 2728. 

müseln  'beflecken'  2370,  s.  oben  unter  beknüseln,  bemüseln  Lexer 
1,177.  DWB.  1,1463.  Schweiz,  id.  4, 484.  Grimm,  Gr.,  n.abdr. 


BEITRXGE  zum  med.  WORTSCHATZ.  397 

1, 984;  vermüseln  var.  zur  Halben  bir  v.  149.  Dazu  die 
umdeutung  müselsuht  für  miselsuht,  vgl.  DWB.  6,  2257. 
Müseln  stellt  im  ablaut  zu  mhd.  mase  ^entstellender  flecken', 
masel  'blutgeschwulst'  (auch  maselsuht  =  miselsuht),  nhd. 
masem, 

nacta  platonis  kunst:  ich  hän  gemacht ...  ein  salben  riche  mit 
guoter  gunst  diu  heilet  na^ta  platonis  hunst  506;  nacta 
für  napta  vgl.  Diefenbacli,Gloss.  374b.  Nov.gloss.  260,  napta 
Dief.,  Gloss.  375  a  =  resina  (Harz)  olitrestir  peterol.  Nov. 
gloss.261.  'Naphta'. 

nuofer  (:  uofer)  'tätig,  munter'  72  =  uoher.  Lexer,  nachtr.  388, 
vgl.  Schmeller-Fr.  1, 19.  1714. 1731.  Das  vorgeschlagene  n 
ist  aus  sandhi  entstanden;  zu  beachten  ist  auch  der  gram- 
matische Wechsel  zwischen  f  und  6,  s.  auch  unten  ver- 
ziben,  zifen, 

ochzen  (ilohzen)  ^och  schreien'  4496,  zu  der  interjection  och 
gebildet  wie  ächzen  zu  ach. 

papelrose  'herbstrose,  herbstpappel'  u.s.w.,  3401.  DWB.  7, 1445 

parisvarwe  3408.  4477,  vgl.  parisrot  Schmeller-Fr.  1, 402. 

pfimpfen  (:  dimpfen)  ^vor  hitze  dampfen'  2341,  vgl.  Schmeller- 
Fr.  1, 427  pfimpfet  adj.  Das  citat  bei  Lexer  3, 352  vimpen 
( :  dimpen)  ist  nach  der  hs.  W  und  fehlerhaft. 

pionienwurz  3571,  s.  peonia,  pionia  }i.s.w.  Dief enbach,  Gloss. 
424  a.  Nov.  gloss»  286. 

quadrante  schw.m.  'ein  messinstrument'  511.  DWB.  7, 2296.  Germ. 
28,  397.  29, 391. 

quic  m.  'erquickung'  3464.  4603. 

rampant  'aufrecht,  aufgerichtet'  (von  löwen  etc.),  kunstausdruck 
der  Wappenkunde:  alumb  an  des  Schildes  rant  sehs  lewen 
ligen  rampant  2928.  Rapante  in  barellen  unde  berlin  wiz 
rapante  durchflorieret  2419  ist  wol  das  nämliche. 

raspe  f.:  dö  nu  der  minnen  ra^spe  mich  so  genzlich  überwuohs 
3284;  raspe  und  rispe  'taubhafer'  DWB.  8, 141;  raspelein 
und  rispelein  'isländische  flechte'  Schmeller-Fr.  2, 159. 

schedic  2607.  4513  =  schadec. 

Schimmer  sb.  4794,  schimmern  3466,  durchschimmern  2405. 
Schimmern  ist  zuerst  bei  Luther  belegt  (DWb.  9, 162), 
Schimmer  noch  später  (DWB.  9, 159).  Die  beispiele  aus 
der  Mbg.  sind  für  die  geschichte  dieser  Wörter  von  wichtig- 


308  EHKISMANN 

keit:  sie  waren  längst  volkstümlich,  ehe  sie  in  der  literatur- 

sprache  aufnähme  fanden. 
schregeln:  höh  geschregelt  400  *  schräg  über  einander  gelegtes 

holz'  (bei  einem  floss),    vgl.  waldschragen  'bretterfloss', 

Schmeller-Fr.  2, 600. 
schuofen  oder  schüefen?  1678  ( :  ruofen  oier  rüefen)  'mit  einer 

schuofe,  einem  wassereimer,  schöpfen'. 
selplich  adv.  zu  selp  553. 
selwe  f.  'schmutz'  2408.  2475. 
sendic  =  ^senendic  5014. 
serf  oder  serfe  ein  edelstein,  Serpentin?  von  serfen  golde  topasion 

gemusieret  2980;  vgl.  seravin  Lexer2, 887. 
sich  sihtern  *  seichter  werden'  (von  einer  fürt)  664. 
spcenisch  grüen  'viride  hispanicum'  2958  =  spängrüen,  spens- 

grüen,  grüenspän  Lexer  2, 1068. 
sprüzgeltn  1498,  deminutiv  zu  sprüzzel  Leitersprosse'. 
stahelfiurisen  (1564)  *  feuerstahl,  stahl  um  feuer  zu  schlagen  am 

fiurstein'  (1562),  vgl.  Lexer  3, 379  viunsen.  Die  stelle  1562  ff. 

schildert  den  Vorgang  des  feuerschlagens:  mins  armen  herzen 

fiurstein  rüert  hart  an  alle  zerte  dtn  stahelfiurisen 

herte,  da  zwischen  hat  gestözen  zun  der  ein  zartez  wip  . . . 

dar  an  mins  leides  swe feiherzen  fürwär  sin  enzündet 

Aelteste  erwähnung  der  swefelkerze  bez.  des  schwefelholzes 

(swebelhölzUn  bei  Lexer  2, 1347  erst  aus  der  Zimm.  Chron., 

s.  auch  Alem.  16, 188  f.). 
stolzen  trans.  'stolz  machen'  3626. 
stüdeln  üf  'darauf  bauen,  sich  auf  etwas  verlassen'  2352,  zu 

studel  'unterläge',  s.  oben  sicli  heknüdeln, 
timmern  intr.  'dunkel  sein'  3465. 
üf,  Verbalzusammensetzungen:  üf  rifeln  4275;  üf  wimeln  533; 

üf  zipfen  2382. 
unervirnet  'nicht  alt  geworden'  3364. 
unloben  'tadeln'  3475. 
sich  unseiden  'sich  unselig  machen'  1274. 
vertumpfen  'dumpf  werden',  in  übertragener  bedeutung:  getihtes, 

geist  , ..  ist  in  mir  vertumpfet  4669. 
verziben  'verkümmern,  absterben':    ich  wil  ouch  gar  verziben 

( :  geschriben),  Schmeller-Fr.  2, 1087  zifen,  zifeln  (Franken) 

'im  Wachstum  zurückbleiben',  verwiesen  auf  Graff  5,  578 


BEITRÄGE   ZUM   MHD.   WORTSCHATZ.  399 

arjsihvta  residem,  dpun  ignauos  (AM.  gl.  2, 422, 34.  2, 453, 1). 
Schmeller-Fr.  2,  1144  zipfen  *  schlapp,  kränklich,  nieder- 
geschlagen sein',  verzipfen  (Würzb.)  *  verschmachten'.  Spiess, 
Henneberg.  id.  unter  mpfen,  verzipfen. 

visür  (ilasür)  =  visier  in  der  bedeutung  'aufriss,  plan'  2923, 
s.  Lexer  3,  374.  Schmeller-Fr.  1, 848. 

ja  vix!  5193,  vix  DWB.  3, 1697:  mhi  ist  vix  noch  einmal  belegt 
aus  Hätzl.  2, 69, 38  =  Keller,  Erzähl.  666, 18. 

vlindern  *  flimmern'  4882,  s.  Lexer  3, 288  vervlindern, 

wdfnöt:  wäfnöt  ie  und  wäfen!  4341,  aus  wäfenö  umgedeutet. 

wcenic  sin  in  der  bedeutung  ^w€enen\  gegensatz  zu  wisszen:  sie 
sol  wizzen  und  niht  sin  wenic  1877. 

wint  und  ach  4943  =  wint  und  we,  wozu  vgl.  Schmeller-Fr. 
2, 949. 

zecklich  4n  aufreizender,  herausfordernder  weise':  icie  malitu 
also  zecklich  und  also  gar  gequecklich  mich  mit  sulhem  leide 
gederren?  5017;  zu  zecken  *  reizen,  necken'. 

zerströufen  697. 

zimme  (igimme)  3370;  diese  form  für  *zimmt'  fehlt  bei  Lexer 
3, 1123. 

Zuckerstengel  4974. 

Daran  reihen  sich  folgende  Wörter,  die  bei  Lexer  nur 
einmal  belegt  sind:  belesten  1997,  berillin  (adj.)  588,  betterisic 
4892,  durchpolieren  237  (s.  J.  Meier,  anm.  zu  lolande  v.  5784), 
durchvrischen  212.  247,  erkirren  2336,  finieren  (gefinieret  golt) 
911,  harnen  3731,  kengel  (kopfputz)  4448,  krasteln  3292,  krülle 
sb.  3444,  malvasin  (:wtn)  2522,  österwunne  4971,  pillele  5449, 
remedige  5386,  spünic  3326  (eigentlich  ^spüne,  muttermilch  ha- 
bend', mit  linden  Worten  honges  spünic  ist  also  etwa  'von 
honig  träufelnd'),  trindel  (:  swindeT)  60,  violisch  1711. 

Etwa  35  Wörter  sind  bei  Lexer  nur  aus  der  Minneburg, 
ungefähr  ein  dutzend  ausser  aus  der  Minneburg  nur  noch  in 
6inem  anderen  mhd.  text  belegt. 

Als  Varianten  zu  belegten  Wörtern  seien  aus  der  Minne- 
burg verzeichnet: 

timlitze  1806  =  timenize  Lexer  2, 1439;  das  von  Lexer  3, 1120 
angeführte  zimelitze  ist  eine  durch  Verschiebung  von  an- 
lautendem t>z  falsch  verhochdeutschte  form  aus  der  hs.  W. 


400  EHBISMANN 

visonomie  430  (visomonye  P,  visanye  W,  visamie  H),  bei  Lexer 

3,369  visamei  (Vintler). 
lonker  *ein  belagerungswerkzeug':  triböcke  hnJcer  katzen  111 

=  Icedingcere  Lexer  1, 1951. 

Einige  aus  der  hs.  W  bei  Lexer  aufgenommene  citate  sind 
zu  ändern,  so  u.a.:  statt  brässeln:  asseln,  nachtr.lOl,  ist  zu  lesen 
hratiseln:  aUeln  1627  (s.  oben  atzeln)\  bei  lürsse,  fem.  abstr.  zu 
lurgy  nachtr.  306,  ist  das  zweite  citat  zu  streichen  (1993  lurz 
in  W  fälschlich  für  guft)\  ougen  gapfei  1966,  Lexer  2, 182,  ist 
eine  vom  dichter  beabsichtigte  etymologische  deutung  von  aug- 
apfel  und  nicht  in  ougen  apfel  umzuschreiben;  statt  mit  stillen 
tritten  tucken  Lexer  2. 1557  (unter  tticken  verb.)  lies  mit  stillen 
trittes  tücken,  zu  tue  sb.  *tücke'  (v.  143);  überhiusen  2448,  Lexer 
2, 1629:  die  citierte  stelle  befindet  sich  in  dem  der  Minneburg 
entnommenen  stücke  Hätzl.  2, 25, 48,  lautet  aber  im  ursprüng- 
lichen text  den  schilt  den  üherhiuset  ir  här,  nicht  der  schilt 
überhiuset  . . . ;  üis  knüpfen  1963  statt  üz  knöpfen  bei  Lexer 
2, 2024.    Femer  noch 

zerpfnürschen  2328;  die  bei  Lexer  3, 1075  aus  W  angezogene 
stelle  lautet  im  urtext  nu  hoert  wie  sie  mich  zermürschet,  zer- 
sluoc  und  ouch  zerpfnürschet  Zerpfnürschen  bedeutet  wol 
'zerbeissen,  zermalmen'  \mi  pfnürschen  ist  so  viel  wie  knür sehen 
DWB.  5,1525  =  knirschen  im  sinne  von  *  knirschend  zerbeissen'. 
Wechsel  zwischen  anlautendem  pfn  und  kn,  also  germ.  pn 
und  kn,  wie  in  pfnüsel  und  knüsel  *  schnupfen'  (DWB.  5, 1526), 
pfnischen  und  knischen  'niesen'  (Vilmar,  Id.  300),  pfnurren  und 
knurren  (Schmeller-Fr.  1, 451),  vgl.  auch  pfneisten  und  gneisten 
'funkeln'  (Stalder  163)  und  Johansson,  Beitr.  14, 329  fi 

Vltern  2561;  verultern  im  Mhd.  wb.  3, 178  b  und  bei  Lexer 
3, 280  aus  dem  liederbuche  der  Hätzlerin  (=  Minneburg  2561) 
ist  fehlerhaft  für  einfaches  ultem.  Uliern  scheint  fremdwort 
zu  sein,  aus  mlat.  ultrare  'stossen',  'contumeliam  facere,  injurüs 
afficere'  Du  Gange  8, 364  b,  in  dem  citat  bei  Lexer  2, 1721  aufe 
obscöne  übertragen.  Die  ganze  stelle  dürfte  übrigens  auf  die 
etymologie  von  foltern  (fultern,  s.  DWB.  3, 1885.  4, 1, 525)  licht 
werfen,  das  an  dieser  stelle  der  Minneburg  am  frühesten  be- 
legt ist.  Sie  lautet  2558  ff.  (s.  auch  Hätzl.  2, 25, 156  ff.)  nie 
gevangener  wart  gederret  in  gevenknisse  so  swinde  als  ich  an 


BEITBAGE  ZUM  MHD.  WORTSCHATZ.  401 

alle  linde:  man  mich  ga/r  dicke  ultert,  ich  wird  ouch  dicke 
gefultert  zwar  über  spottes  balken,  mtns  herzen  gelider  walken 
werden  üz  ir  rehten  seze.  Diese  beschreibung  und  die  Zu- 
sammenstellung von  fultern  mit  walken  lässt  vermuten,  dass 
fultern  ebenfalls  ursprünglich  ein  ausdruck  des  walkergewerbes 
war.  Nun  bestehen  neben  mlat.  feltrum,  filtrum  *filz,  hären 
tuch'  formen  mit  o  und  u,  foltrum,  fultrum  Diefenbach,  Gloss. 
250  b  (es  fand  dann  Verwirrung  statt  mit  fulcrum,  fultrum 
*  bettsteile  und  bettdecke'  Diefenbach,  Gloss.  250  b),  fultrum  Du 
Gange  3,429  c.  624  b,  fultrarius  'filzmacher,  walker'  für  feltrarius 
Du  Gange  3, 428  c.  Dementsprechend  lässt  sich  auch  ein  */w'" 
trare  voraussetzen  neben  ßtrare  *  filzen',  *  filtrum  seu  lanam 
coactam  operari,  feutrer'  Du  Gange  3, 500  a;  somit  wäre  fultern, 
foltern  =  walken,  —  Das  obige  fultrum,  germ.  Ursprungs  wie 
feltrum,  filtrum  'filz',  wurde  wider  als  lehnwort  ins  deutsche 
aufgenommen,  es  ist  das  ahd.  mhd.  Substantiv  fulter  (nie  ad- 
jectiv,  wie  in  den  Wörterbüchern,  wol  zufolge  der  anmerk.  zu 
Engelhard  6294,  angegeben  wird).  Der  älteste  beleg  findet 
sich  bei  Otfrid  4, 29, 39  joh  thär  (an  dem  gewand)  wiht  fulteres 
ni  wäri  'es  sollte  an  dem  gewand  nichts  von  filz,  keine  filzige, 
rauhe  stelle  sein.  Im  mhd.  erscheint  vulter  dreimal  bei  Konrad 
von  Würzburg:  Part.  1133  ff.  ein  deckelachen  lac  dar  obe  er- 
ziuget  äne  fulter  'ohne  filzige,  rauhe  stelle,  ohne  makel',  dann 
in  übertragenem  sinne  ebda.  7840  f.  er  hete  sich  dar  an  gestoln 
durch  sine  valsche  fulter  und  Engelhard  6294  (s.  besonders  die 
anmerkung)  sin  herze  an  allez  fulter  lac  in  der  Triuwen  Muse, 
Weitere  beispiele  gibt  Bech,  Germ.  35, 195  aus  der  lolande  (es 
sind  nach  J.  Meiers  ausgäbe  die  verse  356.  5785,  dazu  folterlos 
1988;  vgl.  auch  J.  Meiers  anm.  zu  v.  5032)  und  Zs.  fdph.  29, 338. 
Das  mlat.,  ursprünglich  germ.  fultrum,  ahd.  mhd.  fulter  steht 
im  ablaut  zu  feltrum,  filtrum  =  ags.  feit,  ahd.  filz  und  ist  aus 
der  Wurzel  peld-  mit  r-suffix  gebildet;  zur  etymologie  von  filz 
s.  bes.  A.  Erdmann,  Kleid  und  filz,  Skrifter  utg.  af  hum.  veten- 
skapssamfundet  i  Upsala  1, 3.  —  Eine  ähnliche  bedeutungs- 
entwicklung  wie  die  oben  bei  fulter  dargelegte  ist  die  von 
fleck  =  'flicken,  läppen'  zu  'makel  in  sittlicher  hinsieht, 
Schandfleck'. 

Ihrer  herkunft  nach  lassen  sich  die  von  dem  dichter  mit 
einer  bestimmten  stilistischen  absieht  gebrauchten  Wörter,  zu 


404  HOBN 

I 

gang  von  }>>  f  im  germ.  nichts  unerhörtes,  vgl.  pliuhan  > 
fliehen  und  th  >  f  in  englischen  mundarten  (Storm,  Engl.  phil. 
V,  825.  Engl.  stud.  12, 209).  Das  nord.  kennt  übrigens  auch 
einen  dissimilatorischen  Übergang  von  r  =  d  (Noreen  §  203). 
Das  von  Grimm  a.  a.  o.  herangezogene  oberhessische  ertlich  = 
ettich  (ahd.  ettesUch)  ist  anders  zu  beurteilen  als  erdo.  Die 
heute,  wie  es  scheint,  selten  gewordene  form  findet  sich  als 
^atlix  in  mundarten,  die  auch  h'^al  =  'kehle',  sn^l  =  *  schnell', 
tow  = 'kind(er)'  u.s.w.  sprechen  mit  dem  nachlaut  a  hinter 
vocalen;*)  dieses  a  lautet  einem  r  ähnlich. 

Neuerdings  hat  F.  Hartmann  in  Dieters  oben  citiertem  buch 
s.  308  eine  erklärung  von  ahd.  erdo  vorgetragen.  Er  sagt: 
*  eigentümlich  ist  eine  art  von  r-epenthese  in  kurzer  Stamm- 
silbe vor  p  bei  folgendem  r:  wirthar,  wirdar,  wer  dar  findet 
sich  mehrfach.  Nach  werdar  scheint  dann  auch  in  disjunctiven 
fragen  und  Sätzen  erdo  (got.  aippau)  statt  eddo,  edo  sein  r 
bekommen  zu  haben,  wie  jedenfalls  nhd.  oder  sein  schliessendes 
r  dem  weder ,  entweder  verdankt'.  Diese  erklärung  halte  ich 
für  unwahrscheinlich,  da  ich  mich  der  ansieht  derer  nicht 
anschliessen  kann,  die  glauben,  oder  habe  sein  r  von  (ent)weder 
bezogen  (s.  unten). 

Eine  andere  eigentümliche  form  für  oder  verzeichnet  Ph. 
Lenz,  Der  Handschuhsheimer  dialekt,  progr.  von  Konstanz  1887, 
s.  10,  aus  dem  pfälzischen;  ^wer  von  'unbekannter  herkunft' 
ist  dort  seltene  nebenform  von  orer  =  'oder'.  In  Eemscheid 
(Beitr.  10, 416.  599)  kommt  dieselbe  form  vor  (^r),  auch  in 
Greiz  (ebher,  Mitteilungen  der  geograph.  gesellschaft  zu  Jena 
5, 155),  jedoch  in  der  bedeutung  'aber'.  Und  im  mittleren 
Odenwald  begegnet  ^wer  als  entsprechung  von  'aber'  und 
'oder'.  Holthausens  erklärung,  wonach  ^  in  ^vr  Schwächung 
von  a  in  folge  der  unbetontheit  ist,  kann  nicht  auf  das  pfäl- 
zische und  odenwäldische  anwendung  finden.    Es  ist  also  eine 

andere  erklärung  zu  suchen. 

Aber  und  oder  haben  sich  bekanntlich  in  den  verschieden- 
sten mundarten  in  ihrer  bedeutung  beeinflusst,  manchmal  sogar 
ihre  function  geradezu  vertauscht.^)    Diese  erscheinung  erklärt 


^)  Nach  den  ennittelungen  meines  freundes  Alles  in  Friedberg  i.  H.  — 
Ueber  a  vgl.  auch  David,  Germ.  37, 379. 

^)  Oder  für  aber,  ower  für  oder  in  bayreuth.-fräuk.  ma.  (Bay.  maa.  2, 266). 


ZUR  GESCHICHTE  VON  ODER. 

Im  oberdeutschen  des  13.  bis  15.  jh.'s  begegnen  für  ode/r 
die  formen  cMer,  alde,^)  von  denen  sich  letztere  als  oU,  ol 
erhalten  hat  (Weinhold,  AI.  gr.  §  25.  Deutsche  ma.  6, 409).  Die 
Wörter  sind  verschiedentlich  zu  al,alja  *  ander'  gestellt  worden 
(so  von  Benecke-Müller,  Lexer,  Weinhold  a.  a.  o.).  Dabei  bleibt 
aber  die  tatsache  unbegreiflich,  dass  dlde{r)  erst  so  spät  in 
der  literatur  auftritt,  wol  nie  vor  dem  13.  jh.  Sollten  diese 
formen  nicht  vielmehr  in  Zusammenhang  stehen  mit  ahd.  erdo?'^) 
Älder  wäre  aus  erder  ( :  erdo  =  oder  :  edo,  odo)  entstanden  mit 
dissimilation  des  ersten  r  >  ü;  aide  wäre  aus  erdo  dissimiliert, 
wenn  ein  r  im  Satzzusammenhang  in  der  nähe  stand.  Das  a 
vor  alde(r)  lässt  sich  leicht  mit  e  von  erdo  in  einklang  bringen: 
a  für  e  in  nebentonigen  silben  ist  nichts  seltenes;  und  dass  die 
Stellung  unter  dem  nebenton  die  lautform  unseres  wertes  be- 
einflusst  hat,  zeigt  ja  auch  die  Vereinfachung  der  geminata  in 
ahd.  edo,  an.  eäii.  Auch  das  o  in  ol(t)  ist  dem  unbetonten  ge- 
brauch des  Wortes  zuzuschreiben:  unbetontes 3)  a  vor  l  Avird  auch 
sonst  zu  o:  ygl,  her old  neben  heralt  (afranz.  ÄeraZ^),  Schweiz,  «oürfn 
=  salaire,  obersächs.  soldd  =  salat  u.s.w.  [vgl.  Lit.-bl.  20, 10], 

Ist  in  ahd.  erdo  rd  aus  Jiji  auch  durch  dissimilation  ent- 
standen? Vgl.  auch  an.  eär,  auch  etpa  (das  nach  Noreen,  An. 
gr.  §  186  contamination  aus  betontem  ^etta  [<  e])pa]  und  un- 
betontem eda  ist).  Freilich  kann  ich  parallele  fälle  ebenso- 
wenig beibringen,  wie  man  dies  für  die  erklärung  von  as. 
eßo  <  aippau  vermocht  hat;*)  doch  ist  ja  immerhin  der  über- 

*)  Eauffmann,  Geschichte  der  schwäb.  ma.  §  184  b.  Weinhold,  AI.  gr. 
§317.  Mhd.wb.  1,22.  2,1,437.  Lexer  1,35.  Schweiz,  id.  1, 40  (aMaher,  alaher 
=  oder  aber  in  der  älteren  spräche). 

3)  Braune,  Ahd.  gr.«  §  167  anm.ll.  Grimm,  Gr.  3»,  54  («60). 

^)  Nicht  aber  betontes  a.  Holön  z.  b.  ist  nicht  als  hcUön  entstanden, 
so  dass  das  l  das  a  zu  o  gewandelt  hätte,  wie  neuerdings  wider  F.  Hart- 
mann in  Dieters  Laut-  u.  formenlehre  der  altgerm.  diall.  s.  145  annimmt; 
warum  nicht  boMo  >  *boUo?  Vgl.  Braune«  §25  anm.l. 

*)  Singer,  Beitr.  12, 211,  dagegen  Siebs,  Pauls  Grundr.  1^,  744. 


404  HOBN 

I 

gang  von  p>  f  im  germ.  nichts  unerhörtes,  vgl.  pliuhan  > 
ftiehen  und  {h>  f  m  englischen  mundarten  (Storm,  Engl.  phil. 
1\  825.  Engl.  stud.  12, 209).  Das  nord.  kennt  übrigens  auch 
einen  dissimilatorischen  Übergang  von  r  =  ä  (Noreen  §  203). 
Das  von  Grimm  a.  a.  o.  herangezogene  oberhessische  erüich  = 
eilich  (ahd.  ettesUch)  ist  anders  zu  beurteilen  als  erdo.  Die 
heute,  wie  es  scheint,  selten  gewordene  form  findet  sich  als 
^atlix  ^  mundarten,  die  auch  Jc^al  =  'kehle',  Sn^al  =  'schnell', 
tow  = 'kind(er)'  u.s.w.  sprechen  mit  dem  nachlaut  a  hinter 
vocalen;*)  dieses  a  lautet  einem  r  ähnlich. 

Neuerdings  hat  F.  Hartmann  in  Dieters  oben  citiertem  buch 
s.  308  eine  erklärung  von  ahd.  erdo  vorgetragen.  Er  sagt: 
'eigentümlich  ist  eine  art  von  r-epenthese  in  kurzer  Stamm- 
silbe vor  p  bei  folgendem  r:  wirthar,  wir  dar ^  werdar  findet 
sich  mehrfach.  Nach  werdar  scheint  dann  auch  in  disjunctiven 
fragen  und  Sätzen  erdo  (got.  aippau)  statt  eddo,  edo  sein  r 
bekommen  zu  haben,  wie  jedenfalls  nhd.  oder  sein  schliessendes 
r  dem  weder,  entweder  verdankt'.  Diese  erklärung  halte  ich 
für  unwahrscheinlich,  da  ich  mich  der  ansieht  derer  nicht 
anschliessen  kann,  die  glauben,  oder  habe  sein  r  von  (ent)weder 
bezogen  (s.  unten). 

Eine  andere  eigentümliche  form  für  oder  verzeichnet  Ph. 
Lenz,  Der  Handschuhsheimer  dialekt,  progr.  von  Konstanz  1887, 
s.  10,  aus  dem  pfälzischen;  ^wer  von  'unbekannter  herkunft' 
ist  dort  seltene  nebenform  von  orer  =  'oder'.  In  Remscheid 
(Beitr.  10, 416.  599)  kommt  dieselbe  form  vor  (^vr),  auch  in 
Greiz  (ebber,  Mitteilungen  der  geograph.  gesellschaft  zu  Jena 
5, 155),  jedoch  in  der  bedeutung  'aber'.  Und  im  mittleren 
Odenwald  begegnet  ^wer  als  entsprechung  von  'aber'  und 
'oder'.  Holthausens  erklärung,  wonach  §  in  §vr  Schwächung 
von  a  in  folge  der  unbetontheit  ist,  kann  nicht  auf  das  pfäl- 
zische und  odenwäldische  anwendung  finden.    Es  ist  also  eine 

andere  erklärung  zu  suchen. 

Aber  und  oder  haben  sich  bekanntlich  in  den  verschieden- 
sten mundarten  in  ihrer  bedeutung  beeinflusst,  manchmal  sogar 
ihre  function  geradezu  vertauscht.^)    Diese  erscheinung  erklärt 


^)  Nach  den  ermittelungen  meines  freundes  Alles  in  Friedberg  i.  H.  — 
Ueber  a  vgl.  auch  David,  Germ.  37, 379. 

^)  Oder  für  aber,  ower  für  oder  in  bayreuth.-fräiik.  ma.  (Bay.  maa.  2, 266). 


ZÜB  GESCHICHTE  VON   ODEB,  405 

sich  nach  Behaghel,  Deutsche  spr.  s.  100  daraus,  dass  die  beiden 
conjunctionen  zur  bezeichnung  des  gegensatzes  dienen.  Zahl- 
reiche nachweise  der  Vermischung  bietet  Lexer  im  DWb.\) 

Die  mundarten  nun,  die  §wer  für  'aber',  für  'oder',  für 
'aber  +  oder'  aufweisen,  sind  noch  weiter  gegangen:  sie  haben 
ed{c[)o  (mhd.  vereinzelt  ede,  md.  [Lexer  2,  140J  nd.  eder)  und 
aber  contaminiert.  Das  e  von  edo  ist  also  in  ^wer,  eher 
U.S.W.  erhalten  wie  in  nni.  edder  (Tümpel,  Niederd.  Studien  s.l8). 

Als  mischung  von  aber  und  oder  ist  wol  auch  das  in  der 
älteren  spräche  und  auch  heute  noch  hie  und  da  begegnende 
md.  ader^)  (teils  =  'aber',  teils  =  'oder')  zu  betrachten;  auch 
ado  in  der  Exhortatio  ad  plebem  christianam,  MSD.^  54, 13, 
afhe  =  'oder'  im  Trierer  capitulare.  Kaum  zu  bejahen  ist 
die  frage,  die  ein  zusatz  im  neudruck  von  Grimms  Grammatik 
(3, 264)  stellt:  'erklärt  sich  aus  oder  aber  das  provinzielle  mhd. 
ader  (=  aber)?' 

Ahd.  abo,  äbe  (vgl.  Seemüllers  glossar  zu  Williram),  mhd. 
abe  (Lexer  1, 11,  dazu  J.  Meier,  lolande  18,  fussn.)  verdankt  wol 
den  endvocal  dem  einfluss  von  edo,  odo,  ode,  Obir,  ober,  obe, 
ob  =  'oder'  (vgl.  J.Meier  und  Sievers  a.a.O.)  zeigen  beeinflus- 
sung  durch  aber. 

Und  schliesslich  hat  nhd.  oder  sein  r  von  aber  erhalten.^) 
Die  Wörterbücher  pflegen  die  wähl  zu  lassen  zwischen  'com- 
parativischer  Weiterbildung'  und  einfluss  von  weder.  Die  erste 
erklärung  erscheint  mir  unmöglich,  unter  einer  comparativi- 
schen  Weiterbildung  von  odo  kann  ich  mir  nichts  denken.  Die 
zweite  ist  unwahrscheinlich:  oder  wird  doch  gewis  öfter  in 
Verbindungen  wie  er  oder  du  gebraucht  als  mit  {ent)weder, 

*)  Vgl.  noch  besonders  die  formen  in  der  lolande  (worauf  mich  herr 
geheimrat  Behaghel  hinweist)  bei  J.  Meier,  einl.  s.  17  ff.,  und  E.  Sievers, 
Oxforder  benedictinerregel,  Tübinger  decanatsprogr.  1887,  einl.  s.  9. 

1)  Damköhler,  Germ.  33, 480.  Grimm,  Gr.  3«,  264.  Lexer  1, 21.  Schweiz, 
id.  1, 89.  97.  J.  Meier,  lol.  18. 

8)  Od  noch  im  jähre  1588  in  der  Schweiz  (Schweiz,  id.  1, 97). 

DAEMSTADT,  3.  dec.  1898.  WILHELM  HOHN. 


MISCELLEN. 

L    Zu  Wolfram. 

1.  Bei  Wolfram  finden  sich  bekanntlich  reime  wie  (ge)- 
stuont :  hunt,  stuonden  :  künden,  sun  :  tiwn,  stüende  :  künde  in 
grosser  zahl  (s.  San  Hartes  Reimregister  s.  108. 110  f.).  Lach- 
mann schreibt  sie,  um  reine  reime  herzustellen  stuont :  kuont, 
suon  :  tuon  u.  s.  w.    Ob  mit  recht  soll  unten  erörtert  werden. 

Reime  wie  z.  b.  hurte  :  fuorte  600, 3  oder  gefuart :  hurt 
444, 13  können  zur  erklärung  nichts  beitragen,  da  sie  unter 
die  lautregel  fallen,  dass  i  und  u  vor  r  diphthongiert  werden, 
so  dass  tatsächlich  in  vielen  teilen  Deutschlands  z.b.  gesprochen 
wird  nü9r,  üdr  Qmii\  ^uhr').  Das  gleiche  ist  bei  i  der  fall, 
z.  b.  *wir'  gespr.  wt9r,  wie  denn  auch  Wolfram  bekanntlich  oft 
ir  :  ier  reimt. 

Es  bleiben  somit,  abgesehen  von  den  reimen  wie  nü :  suo 
(San  Harte  s.  109)  und  vereinzelten  andern  beispielen  nur  solche 
fälle  übrig,  in  denen  auf  den  vocal  u  bez.  uo  in  der  gleichen 
Silbe  ein  n  folgt,  und  zwar  sind  diese  reime  auf  alle  bücher 
des  Parzival  verteilt,  können  also  nicht  mit  Behaghel,  Germ. 
34, 487  f.  als  mittel  zur  entscheidung  darüber  dienen,  ob  die 
bücher  in  denen  sie  sich  finden,  vor,  während  oder  nach  dem 
aufenthalte  Wolframs  in  Thüringen  entstanden  sind,  wie  schon 
W.  Hoffmann,  Der  einfluss  des  reimes  auf  die  spräche  Wolf- 
rams, Strassb.  1894,  s.  26  und  L.  Grimm,  Wolfram  von  Eschen- 
bach und  die  Zeitgenossen,  Leipzig  1897,  s.  60  ausgesprochen 
haben. 

Ist  aber  Behaghels  annähme,  dass  jene  reime  auf  thürin- 
gischen einfluss  zurückzuführen  sind,  überhaupt  richtig?  Und 
ist  es  andrerseits  gerechtfertigt,  die  reinheit  der  reime  dadurch 
herzustellen,  dass  man  die  w-formen  durch  solche  mit  uo  ersetzt? 


MISCELLEN.  407 

Wenn  wir  die  zeitgenössischen  werke  aus  Wolframs  näherer 
heimat  betrachten,  so  finden  wir,  dass  auch  der  mit  Wolfram 
am  nächsten  benachbarte  mhd.  dichter,  der  Winsbeke,  das 
reimpaar  sun :  tuon  hat,  und  zwar  gleich  im  eingang  (1, 1  und  3), 
während  der  andere  mhd.  dichter  den  wir  einen  engeren  lands- 
mann  Walthers  nennen  können,  Wirnt,  solche  reime  nicht 
kennt.  Er  reimt  derartige  formen  immer  rein,  z.  b.  Wigalois 
(Pf.)  14,  27.  39,  40  stuont  :  tuont^  81, 20  bestuont  :  tuont  Da 
nun  aber  Wirnts  heimat  Gräfenberg  fränkisch  ist,  diejenige 
Wolframs  dagegen  ebenso  wie  Windsbach  in  dem  gebiete 
desjenigen  dialektes  liegt,  der  als  eine  tibergangsstufe  zwischen 
bairisch  und  fränkisch  zu  betrachten  ist,  so  mag  es  gestattet 
sein,  die  erklärung  durch  ein  analogen  in  einer  neueren  mund- 
art  zu  suchen,  und  zwar  in  der  meiner  Vaterstadt  Nürnberg, 
welche  ja  das  typische  beispiel  einer  Übergangsmundart  zwi- 
schen bairisch  (speciell  oberpfälzisch)  und  ostfränkisch  darstellt, 
indem  ihr  vocalismus  noch  heute  rein  oberpfälzisch  ist,  wäh- 
rend der  consonantismus  (der  noch  zu  Grübeis  zeiten  ein  stark 
bairisches  gepräge  gehabt  zu  haben  scheint)  heute  schon  fast 
rein  fränkisch  zu  nennen  ist.  In  der  Nürnberger  mundart 
findet  sich  nun  eine  fast  vereinzelte  form,  die  den  Schlüssel 
zur  lösung  unserer  frage  gibt,  der  infinitiv  t^  (mit  nasalem  ü) 
und  daneben  die  seltene  flectierte  form  ^tyna  (mhd.  ^e  tuonne), 
für  die  allerdings,  namentlich  bei  jüngeren,  fast  stets  schon 
zt^  gesagt  wird.  Vereinzelt  steht  die  form  deshalb,  weil  die 
anderen  hier  in  betracht  kommenden  formen  fast  lauter  prae- 
terita  sind  —  mhd.  stuont,  stüende  —  und  das  einfache  prae- 
teritum  ind.  in  der  mundart  überhaupt  nicht  gebraucht  wird, 
der  Optativ  aber  durch  eine  -^-neubildung  ersetzt  ist:  stedt 
(auch  St^n9t  nach  1.  3.  pl.  praes.  st^nd).  Das  wort  mhd.  huon 
ist  in  der  ma.  durch  putla  ersetzt.  Die  unflectierte  form  grof 
mit  nasalem  oi  kommt  nicht  in  frage,  weil  zu  der  zeit  von 
der  die  rede  ist,  das  -e  von  grüene  noch  nicht  gefallen  war, 
also  n  nicht  zur  gleichen  silbe  gehörte  (es  wurde  grüene  also 
erst  >  greind,  dann  erst  >  grein  >  gre^).  Neben  inf.  ty,  flec- 
tiert  ztyna  haben  wir  1.  2.  3.  sg.  i  tou,  du  tou^t,  er  tout,  wäh- 
rend der  plural  nach  analogie  von  *  stehen'  lautet  mir  {nwr) 
t^a,  ir  tu,  ^  t^na.  Ueber  die  zeit,  wann  im  oberpfälzischen 
uo  zu  oii,  üe  und  ie  zu  ei  geworden  sind,  vermag  ich  nichts 


408  GEBHARDT 

ZU  sagen,  auch  sind  in  Wolframs  heimat  heute  tw,  üe  und  ie 
zu  u,  ü,  t  monophthongiert,  wie  denn  diese  mundart  heute  ein 
durchaus  fränkisches  äussere  hat.  Da  sich  aber  Wolfram  selbst 
Parz.  121, 7  einen  Beier  nennt,  so  können  wir  gewis  annehmen, 
dass  die  mundart  seiner  heimat  damals  in  der  hauptsache 
bairisch  war.  Und  wenn  wir  annehmen,  dass  sie  etwa  damals 
schon  auf  dem  wege  war,  fränkisch  zu  werden,  so  können  wir 
um  so  mehr  einen  Vorgang  auf  sie  übertragen,  der  sich  heute 
in  einer  mundart  abspielt,  welche  eben  heute  auf  dem  wege 
ist,  aus  einer  bairischen  zu  einer  fränkischen  zu  werden.  Die 
reime  sind  also,  wenn  wir  nicht  die  lesart  der  hss.  beibehalten 
oder  nach  dem  mustermhd.  normalisieren  wollen,  nicht  mit 
Lachmann  suon  :  tuon  u.  s.  w.,  sondern  vielmehr  sun  :  tun  zu 
schreiben,  und  zwar  mit  kurzem  u,  nicht  mit  ü,  denn  *tün 
wäre  ja  heute  nicht  zu  ty,  sondern  zu  ta\i  geworden.  Weit 
entfernt,  spuren  thüringischen  einflusses  auf  Wolfi'ams  spräche 
darzustellen,  zeigen  diese  reime  vielmehr,  dass  er,  auch  fem 
von  der  heimat,  diese  freiheit  der  heimischen  mundart  in  seine 
dichtersprache  herüberzunehmen  sich  nicht  gescheut  hat,  wo 
es  ihm  um  des  reimes  willen  angenehm  schien. 

2.  Parz.  702, 18  f.  liest  Lachmann:  der  sin  (sc.  schilt)  was 
üjse  unt  innen  zerhurtiert  unt  ouch  zerslagen,  obwol  sämmt- 
liche  hss.  w5e»  —  oder  eine  nur  graphisch  davon  verschiedene 
form,  z.  b.  G  ujsjsen,  D  uozen  —  haben.  Der  grund  zu  seiner 
abänderung  der  lesart  liegt  auf  der  hand:  durch  einsetzung 
des  elidierbaren  üjse  für  das  überlieferte  üisen  sollte  die  Senkung 
auf  6ine  silbe  gebracht  werden.  Aber  abgesehen  von  der  Über- 
lieferung ist  auch  sprachlich  uzen  die  einzig  richtige  form. 
Der  Schild  wird  doch  nicht  üjsie  ^draussen'  zerstossen  und  zer- 
schlagen, sondern  uzen  'von  aussen  her'.  Die  participia  haben 
doch  stets  den  gleichen  casus  wie  das  verbum  finitum,  es  steht 
also  ebenso  wie  Parz.  560, 17  f.  von  fuoss  üf  wäpent  in  do  gar 
diu  süeze  niaget  wol  gevar,  wo  wir  gleichsam  sehen,  wie  vor 
uns  die  wappnung  des  ritters  vor  sich  geht,  indem  er  zunächst 
mit  den  füssen  in  die  kettenhosen  steigt  und  nach  oben  zu 
ein  stück  dem  anderen  folgt,  bis  ihm  zuletzt  der  heim  aufe 
haupt  gesetzt  wird,  ebenso  auch  Parz.  120, 24  f.  mit  part.  praet. 
pass.  nu  seht:  dort  hom  geschuftet  her  dr%  riter  nach  wünsche 
var,  von  fuoze  üf  gewäpent  gar. 


IfXSCELLKK.  409 

Es  spricht  also  in  sprachlicher  beziehung  nichts  gegen, 
alles  für  beibehaltung  der  handschriftlichen  lesart,  und  zwar 
nicht  zum  mindesten  auch  der  parallelismus  mit  dem  folgenden 
innen,  das  ausser  der  Überlieferung  auch  noch  durch  den  reim 
(gewinnen  :  innen)  gesichert  ist. 

3.  Parz.  230, 13.  Wildenberc  wird  als  Wolframs  Wohn- 
sitz bezeichnet  und  für  das  jetzige  Wehlenberg  erklärt.  Es 
ist  dies  ein  weiler,  aus  zwei  wohnstätten  bestehend,  49^  9'  50" 
n.  b.,  52'  20"  westlich  von  München  (nach  der  bairischen  general- 
stabskarte).  Doch  halte  ich  für  das  richtigste,  Wildenberc  an 
der  betreffenden  stelle  für  nichts  anderes  aufzufassen  als  für 
ein  Wortspiel.  Es  ist  vorher  von  der  pracht  und  dem  aufwände 
zu  Munsalvaesche  die  rede  gewesen.  Nun  ist  aber  doch  wol 
anzunehmen,  dass  Wolframs  kenntnisse  des  französischen  ihn 
wol  haben  verstehen  lassen,  was  sein  Munsalvcesche,  Moni 
sauvage  auf  deutsch  heisst.  Die  worte  hie  ee  Wildenberc  u.  s.  w. 
sind  m.  e.  so  zu  erklären:  'hier,  auf  meinem  »Munsalvaesche«, 
meinem  »Wilden  berg«  geht  es  bescheidener  her'.  Er  benennt 
seinen  wohnsitz  in  selbstii^onie  wie  die  gralsburg,  um  so  den 
gegensatz  noch  mehr  hervorzuheben.  Ich  glaube  nicht,  dass 
zwingende  gründe  dafür  vorhanden  sind,  Wolfram  als  auf 
einem  'Wildenberg'  wohnend  anzunehmen. 

II.  firausch. 

In  Nürnberg  und  seiner  Umgebung  ist  ein  adjectiv  gebräuch- 
lich, welches  brausch  lautet  und  von  denjenigen  personen,  deren 
beschäftigung  den  öfteren  gebrauch  des  wortes  mit  sich  bringt, 
durchaus  nicht  als  mundartlich  gefühlt  wird.  Es  kommt  meines 
Wissens  nur  beim  hopf en  und  beim  holze  vor.  Hopfen  ist  brausch, 
wenn  er  zu  rasch  gedörrt  ist,  so  dass  die  blättchen  der  einzelnen 
dolden  nicht  aufeinander  liegen,  sondern  sich  sträuben.  Brausches 
holz  ist  nach  der  erklärung  eines  Zimmermanns  in  Nürnberg  des 
wou  recht  frech  gwachsn  is,  dau  sen  sU  groussi  mx  drin,  des 
Spalt,  si  über  zw  er  ch,  während  es  ein  schreiner  in  Lauf  an  der 
Pegnitz  erklärt  hat:  des  wou  recht  frech  gwachsn  is.  dau  sen 
recht  bräti  gauom  drin,  des  bricht  nauch  der  läng.  Die  'grossen 
Züge'  und  'die  breiten  jähren'  sind  selbstverständlich  das  gleiche: 
recht  grosse  Jahrestriebe,  die  in  folge  ihres  raschen  Wachstums 
nicht  kernig,  sondern  locker  sind  und  deshalb,  wenn  sie  zu 

Beiträge  zur  gescbichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  27 


410  OEBHABDT 

brettern  geschnitten  sind,  leicht  brechen,  die  aber  auch  eine 
menge  von  ansätzen  zu  ästen  überwachsen  und  in  sich  ein- 
geschlossen haben,  woher  es  denn  kommt,  dass  sich  das  T)rausche' 
holz  ^überzwerch'  spaltet. 

Zu  diesem  worte  ist  mir  bis  jetzt  noch  nicht  gelungen, 
irgend  etwas  in  einem  Wörterbuche  zu  finden  ausser  dem 
artikel  'brauschholz'  im  DWb.,  wo  aber  die  erklärung;  *b. 
nennen  die  bötticher  weiches  holz,  das  sich  leicht  verarbeiten 
lässt'  weder  erschöpfend  noch  unzweideutig  verständlich  ist. 
Das  subst.  brauschef.  tuber  (mhd.  stf.  brüsche),  das  adj.  b rau- 
sch ig  turgiduSj  tumidus  führen  die  wbb.  an,  das  einfachere 
b rausch  dagegen  nicht. 

Was  das  Verbreitungsgebiet  des  Wortes  betrifft,  so  habe 
ich  es,  soweit  es  sich  auf  holz  bezieht,  bekannt  gefunden  bei 
Personen  aus  Nürnberg,  Lauf,  Dinkelsbühl,  Marktbreit,  während 
es  mit  beziehung  auf  den  hopfen  unter  hopfenhändlem  und 
bierbrauern  im  ganzen  hochdeutschen  Sprachgebiete  gebräuch- 
lich sein  soll,  und  zwar  überall  in  der  lautform  brausch. 

Sprachgeschichtlich  muss  es  mit  dem  fem.  brausche,  mhd. 
stf.  brüsche  zusammenhängen,  denn  der  vocal  weist  ausschliess- 
lich auf  mhd.  ü  zurück,  indem  ou  vor  dental  ja  schon  ahd.  zu 
ö  geworden  sein  müsste,  während  mhd.  ä  zwar  im  oberpfälzi- 
schen zu  au  (Lauf,  Nürnberg),  im  fränkischen  aber  zu  ä  ge- 
worden ist  (Dinkelsbühl,  Marktbreit),  und  selbst  bei  oberpfälzi- 
schem vocalismus  wird  wenigstens  in  Nürnberg  von  den  gebil- 
deten in  ihrer  Umgangssprache  mhd.  ä  als  ä  gesprochen.  Das 
wort  lautet  aber  im  munde  aller  gesellschaftskreise  brausch, 
soweit  es  überhaupt  bekannt  ist. 

Es  ist  also  nur  noch  die  frage  zu  beantworten,  ob  es  sich 
der  bedeutung  nach  mit  brausche  *  beule'  vereinigen  lässt.  Diese 
frage  lässt  sich  m.  e.  sehr  wol  bejahen.  Es  ist  stets  ein 
rasches  anschwellen  vorhanden  sowol  bei  der  beule  als  beim 
brauschen  hopfen  wie  beim  brauschen  holz.  Oder  sollte  mit 
Kluge  (Et.  wb.  unter  brausche)  die  grundbedeutung  die 
*  rundliche  erhöhung'  sein?  Dann  wäre  das  brausche  holz  im 
gründe  solches  holz,  das  in  rundlichen  zügen  rasch  um  die 
alten  äste  gewachsen  ist,  so  dass  die  ganze  faserrichtung  in 
Wellenlinien  verläuft,  daher  es  sich  denn  auch  schief  spaltet. 
Hiermit  würde  sich  auch  am  ehesten  vertragen,  dass  man  z.  b. 


MISCELLEN.  411 

von  gestärkten  Stoffen,  wenn  sie  sich  nicht  schön  flach  auf- 
einanderlegen, sagt  'sie  brauschen  sich'. 

In  verwanten  sprachen  habe  ich  nichts  gefunden,  das  sich 
mit  'brausch'  zusammenbringen  liesse.  Oder  etwa  aind.  bhrü 
*  braue',  so  dass  damit  ursprünglich  die  wulstige  erhöhung  des 
Stirnknochens  gemeint  wäre,  und  das  wort  erst  später  die  auf 
dieser  wachsenden  haare  bezeichnet  hätte?  Und  könnte  man 
nicht  franz.  brusque  als  aus  deutschem  '^brüsc  entlehnt  ansehen? 
Diez,  Et.  wb.  stellt  nur  Vermutungen  über  die  herkunft  von 
brusque  auf.  Sowohl  das  rasche,  'freche'  —  vgl.  oben  —  als 
auch  das  rauhe  hat  franz.  brusque  mit  deutsch  'brausch'  gemein. 

Vielleicht  veranlassen  diese  andeutungen  zu  weiteren  nach- 
forschungen  über  die  herkunft  dieses  zwar  nicht  in  allen 
schichten  der  bevölkerung,  wol  aber  in  gewissen  berufskreisen 
auf  grösserem  gebiete  gebräuchlichen  Wortes. 

III.  An.  vffiringjar. 

Dass  in  dem  worte  vceringjar  die  endung  -ingjar  nicht  die 
bezeichnung  der  herkunft  ist,  ist  seit  Bugges  ausführungen 
Arkiv  2, 225  wol  allgemein  anerkannt.  Bugge  erklärt  voeringi 
für  identisch  mit  Sigs,  wcer^en^a  'fremder'.  Beide  formen,  die 
nordische  und  die  ags.,  hat  man  bisher  mit  einem  veralteten 
wort  vdr  'foedus'  zusammengebracht,  so  dass  vceringjar  heisse 
'foederati',  wie  sie  ja  in  alten  griech.  und  lat.  quellen  auch 
genannt  werden.  Ein  gegenbeweis  gegen  diese  auffassung 
lässt  sich  wol  kaum  erbringen.  Aber  m.  e.  lässt  sich  auch 
eine  andere  erklärung  geben.  Njäla  81, 14 — 21  heisst  es: 
Kolsheggr  tök  skirn  i  Danmgrlcu,  en  nam  par  ]>ö  eigi  yndi,  oJc 
för  austr  i  Oardariki  oh  var  par  einn  vetr,  pd  for  liannpaöan 
üt  i  Mihlagarö  ok  gekk  par  d  mala,  Spurffisk  pat  til  hans,  at 
kann  kvdngadisk  par  ok  var  hgfdingi  fyri  Vceringjaliöi  ok  var 
Par  tu  dauöadags.  Kann  die  conjunction  pd  unmittelbar  nach 
einn  vetr  anders  gefasst  werden  als  'im  darauf  folgenden  früh- 
jahr'?  Und  kann  man  sich  denken,  dass  die  alten  nordleute, 
die  bekanntlich  Konstantinopel  auf  dem  landwege  durch  Russ- 
land aufzusuchen  pflegten  und  zwar  meist  zu  schiffe  auf  den 
flüssen,  indem  sie  ihre  fahrzeuge  über  die  Wasserscheide 
schleppten,  eine  andere  Jahreszeit  zu  dieser  beschwerlichen 
reise  wählten  als  den  frühling,  wo  die  steppe  vom  schnee,  die 

27* 


412  GEBHABDT 

flüsse  vom  eise  frei  wurden,  nachdem  sie  während  der  aus  den 
sQgur  männiglich  bekannten  nordischen  winterruhe  lust  und 
kräfte  für  neue  abenteuer  gesammelt  hatten?  Dem  entsprechend 
fasse  ich  vceringjar  als  vdrgengjar  'früh Jahrswanderer'  von  an. 
vdr  =  lat.  ver. 

lY.  Yöluspä  5, 1—4. 

Zu  den  bisherigen  deutungen  dieser  vier  kurzzeilen 

S61  varp  sunnan 
sinni  Mäna 
hendi  inni  Ugri 
um  himinlQÖur 

hat  vor  einigen  tagen  Wadstein  eine  neue  gefügt.  Er  erklärt 
Arkiv  15  (n.  f.  11)  s.  158  ff.:  *solen  kastades  fram  söderifrän 
pä  högra  sidan  över  himlaranden  i  mänens  sällskap',  worin 
ich  die  (hier  von  mir)  gesperrten  neuerungen  ohne  weiteres 
annehme.    Dagegen  erkläre  ich  sunnan  und  sinni  Mdna  anders. 

Sunnan  muss  m.  e.  mit  hendi  inni  hägri  zusammengefasst 
und  so  erklärt  werden,  wie  ich  in  meinen  Beiträgen  zur  be- 
deutungslehre  der  altwestnordischen  präpositionen,  Halle  1896, 
s.  60  f.  Verbindungen  wie  fyrir  —  neöan  u.  s.  w.  erklärt  habe. 
Die  sonne  sieht  man  zur  eigenen  rechten  aufgehen,  wenn  man 
sich  nach  norden  wendet,  also  den  Vorgang  von  Süden  aus 
betrachtet.  Sol  varp  sunnan  —  hendi  inni  liägri  heisst  also 
'die  sonne  warf  sich,  d.h.  sie  erschien,  rechterhand,  von  Süden 
gesehen'.  Ebenso  wie  die  sonne  alltäglich  im  osten  über  den 
himmelsrand,  den  horizont,  heraufkommt,  ebenso  dachte  man 
sich  ihr  erstes  erscheinen  nach  ihrer  erschaffung. 

Sinni  Mdna  kann  m.  e.  mit  4  mänens  sällskap'  nicht 
richtig  übersetzt  sein.  Ebensowenig  wie  man  täglich  sonne 
und  mond  mit  einander,  das  eine  in  des  anderen  gesellschaft, 
ihren  scheinbaren  lauf  um  die  erde  vollbringen  sieht,  ebenso- 
wenig wird  sich  der  dichter  der  eddischen  kosmogonie  das 
erste  auftreten  der  sonne  und  des  mondes  gemeinsam  gedacht 
haben.  Sinni  >  *^a-sinpa  ist  'wer  den  gleichen  weg  macht 
wie  jemand  anders',  ob  selbander  oder  zu  verschiedener  zeit 
kommt  etymologisch  nicht  in  betracht:  sonne  und  mond  be- 
schreiben täglich  eine  scheinbare  bahn  um  die  erde,  welche, 
wenn  auch  nicht  für  den  astronomen,  so  doch  für  den  gewöhn- 


MISCELLEN.  413 

liehen  menschen  eine  und  dieselbe  ist.  Wenn  Gylf.  cap.  11. 12. 
SE.  1,  56,  58  gesagt  wird,  dass  S61  auf  ihrer  täglichen  fahrt 
um  die  erde  in  der  weise  zwischen  zwei  Wolfen  dahinfährt, 
dass  der  sie  verfolgende  wolf  SkpU  sie,  der  vor  ihr  her- 
laufende wolf  Hati  HroÖvitnisson  dagegen  den  Mäni  ver- 
schlingen will,  so  ist  dies  doch  nur  so  zu  denken  möglich, 
dass  beide  zwar  die  gleiche  bahn  beschreiben,  aber  nicht 
mit,  sondern  hinter  einander. 

Daher  erkläre  ich  die  vier  kurzzeilen  so:  zu  unserer 
rechten  hand,  wenn  wirs  von  sttden  aus  betrachten, 
kam  um  den  himmelsrand  herauf  (erschien  über  dem  h.) 
die  sonne,  welche  die  nämliche  bahn  beschreibt  wie 
der  mond. 

NÜRNBERG,  9.  dec.  1898.    AUGUST  GERHARDT. 


EIN  SCHLUSSWORT 
ZU  CEDERSCHIÖLDS  AUSGABE  DER 

BEVIS  SAGA. 

Zu  Cederschiölds  aufsatz  ^lieber  die  ausgäbe  der  Bevis 
saga'  Beitr.  23, 257  ff.  gestatte  ich  mir  folgende  erwiderung, 
indem  ich  dabei  gleich  bemerke,  dass  ich  mich  bemühen  werde, 
einen  weniger  hochfahrenden  ton  anzuschlagen  als  C;  ausdrücke 
wie  lächerlich'  und  *  Unwissenheit'  werden  in  meinen  dar- 
legungen  z.b.  nicht  vorkommen. 

Recapitulieren  wir  zunächst  kurz  die  Sachlage.  C.  legt 
seiner  ausgäbe  der  Bevis  saga  den  cod.  Holm,  membr.  6,  4<>  (B) 
zu  gründe,  soweit  er  vollständig,  und  ergänzt  die  lücken  durch 
cod.  Holm.  7  fol.  (C)  bez.  durch  zwei  demselben  nahe  stehende 
papierhss.  (/d).  Bezüglich  der  Verwertung  dieser  letzteren  hss. 
für  die  teile  der  saga,  welche  in  beiden  fassungen  vorliegen, 
erklärt  er  s.  lxiv  seiner  FSS.,  er  habe  aus  ihnen  *alle  von 
unserem  texte  abweichenden  lesarten  aufgenommen,  so  dass 
nur  die  so  gut  wie  wertlosen  abweichungen  nicht  angemerkt 
worden'  seien.  Diese  äussening  liegt  gedruckt  vor;  der  Zu- 
sammenhang, in  dem  sie  vorgebracht  wird,  ändert  an  ihrem 
sinne  nicht  das  mindeste  (vgl.  C.  s.  262).  Wenn  er  (abgesehen 
von  einer  späteren  stelle  der  einleitung  s.  ccxl)  jetzt  (s.  262) 
diese  in  denkbar  klarster  form  abgegebene  zusage  in  merk- 
würdig verclausulierter  weise  dahin  abgeschwächt,  er  habe 
'eine  hauptsächlich  vom  nordisch-philologischen  Standpunkte 
aus  einigermassen  vollständige  Sammlung  der  abweichenden 
lesarten  ...  zu  geben  versucht',  so  muss  ihm  die,  wie  mir 
scheint  nicht  ganz  leicht  zu  tragende  Verantwortung  dafür 
zugeschoben  werden. 


ZUR  BEVIS  SAGA.  415 

Er  hat  ferner  weder  die  franz.  hss.,  deren  eine  ihm  aus 
meinen  Beiträgen  (1876)  s.  136  bekannt  sein  musste,*)  benutzt, 
noch  auch  die  englische,  1838  erschienene,  oder  die  gälische 
fassung,  mit  englischer  Übersetzung  gedruckt  1880,  zur  ver- 
gleichung  herangezogen.  Und  hätte  er  wenigstens  noch  seine 
zusage  erfüllt,  alle  inhaltlichen  ('sachlich'  verstehe  ich  in 
meinem  aufsatze  ebenso  wie  Elis  s.  s.  xxxvii  im  gegensatz  zu 
'graphisch',  wodurch  C.'s  darauf  bezügliche  auslassungen 
s.  265  ff.  gegenstandslos  werden)  Varianten  von  Cyö  zu  notieren, 
so  träfe  ihn  zwar  immer  noch  der  Vorwurf,  eine  minderwertige 
hs.  zu  gründe  gelegt  zu  haben,  aber  er  hätte  doch  dankens- 
wertes, vollständiges  material  geliefert;  dass  das  nicht  ge- 
schehen, lehrt  ein  blick  auf  meine  nachtrage.  Ja  nicht  einmal 
die  recht  bescheidene  aussieht,  eine  'hauptsächlich  vom  nordisch- 
philologischen Standpunkte  aus  einigermassen  vollständige 
Sammlung  der  abweichenden  lesarten'  zu  erhalten,  hat  C.  ver- 
wirklicht; an  einer  ganzen  anzahl  von  stellen,  wo  die  lesung 
von  B  sich  auch  ohne  die  hinzunahme  fremder  redactionen 
als  mangelhaft  erwies,  hat  der  herausgeber  die  wichtigen 
Varianten  der  anderen  hss.  anzuführen  unterlassen;  vgl.  meine 
note  zu  s.  216  z.  25,  aus  der  er  sehen  kann,  dass  die  frage, 
ob  Bevis  von  elf  oder  zwölf  rittern  angegriffen  wird,  doch 
nicht  so  bedeutungslos  ist  wie  er  glaubt  (s.  280);  femer  meine 
anmerkungen  zu  s.  216, 38  (vgl.  auch  Beitr.  s.  42  no.  40).  232, 6 
(Beitr.  s.  46  no.  118).  248, 34  f.  251, 15  f.  57.  251, 16.  253, 33  f. 
46  f.  256, 50  f.  265, 40  f. 

Alle  diese  punkte  stehen  fest,  und  weder  die  früheren 
noch  etwaige  zukünftige  argumentationen  C.'s  werden  im  stände 
sein,  sie  zu  beseitigen. 

C.  behauptet,  ich  hätte  ihm  unrecht  getan  durch  die  ver- 
schweigung des  umstandes,  dass  er  von  jeder  saga  nur  eine 
redaction  mitzuteilen  beabsichtigt  habe.  Nun,  ich  habe  keines- 
wegs 'ausser  betracht  gelassen,  dass  auch  von  romantischen 
SQgur  verschiedene  redactionen  existieren  können'  (s.  261);  ich 
verstehe  darunter  aber  nur  solche  fälle,  wo,  um  mich  etwas 

*)  Wenn  Finnin  Didot  mir,  dem  Deutschen,  1876,  also  wenige  jähre 
nach  dem  kriege,  ausdrücklich  die  erlaubnis  verweigerte,  eine  copie  von  der 
hs.  zu  nehmen,  so  ist  das  wol  erklärlich;  ein  Schwede  hätte  gewis  einen 
besseren  erfolg  erzielt. 


416  KÖLBING 

äusserlich  auszudrücken,  die  differenzen  so  stark  sind,  dass  es 
unmöglich  wird,  dieselben  in  variantenform  darzustellen,  wie 
das  z.  b.  bei  hs.  D  der  Elis  saga  im  Verhältnis  zum  Upsalaer 
codex  und  bei  cod.  Holm.  6, 4®  der  pjalar  Jons  saga,  verglichen 
mit  pöröarsons  text,  der  fall  ist.  Die  verschiedenen  mss.  der 
Bevis  saga  repräsentieren  dagegen  nur  zwei  hss.-klassen;  das 
besagt  schon  die  von  C.  s.  265  ausgehobene  bemerkung  in 
meinem  ersten  aufsatze.  Und  dazu  kommt  die  früher  be- 
sprochene erklärung  des  herausgebers  selbst,  dass  er  in  diesem 
falle  anders  verfahren  wolle.  Ich  fühle  mich  also  von  dem 
Vorwurf  durchaus  frei,  in  tendenziöser  absieht  mich  einer  ver- 
schweigung schuldig  gemacht  zu  haben.  Im  übrigen  aber 
haben  wir  es  gerade  hier  mit  einem  grundirrtum  C.'s  zu  tun. 
Es  ist  nicht  richtig,  dass  jeder  herausgeber,  wie  er  vorauszu- 
setzen scheint,  das  recht  hat,  sich  selbst  eine  eigene  kritische 
methode  zu  construieren  und  dann  zu  verlangen,  dass  seine 
leistung  bloss  von  diesem  Standpunkte  aus,  als  einem  ge- 
gebenen, beurteilt  werde.  Ein  text  der  nur  auf  einen  eng 
beschränkten  kreis  von  Interessenten  zu  rechnen  hat,  muss 
gleich  das  erste  mal  in  einer  form  geboten  werden,  die  für 
alle  weitere  arbeit  eine  feste  grundlage  liefert  —  eine  forde- 
rung  deren  berechtigung  gewis  alle  einsichtigen  anerkennen 
werden.  Ist  das  nicht  der  fall,  so  halst  der  herausgeber  dem 
benutzer  weitere  arbeit  auf  und  erschwert  zugleich  buch- 
händlerisch die  Veröffentlichung  einer  vollständigeren  ausgäbe. 
C.  erkennt  dies  princip  nicht  an:  ^das  ganze  material  zu  bieten, 
das  möglicherweise  zur  vergleichung  mit  den  franz.  texten 
nötig  werden  könnte,  hatte  ich  weder  beabsichtigt  noch  ver- 
sprochen', bemerkt  er  (s.  263*))  und  gibt  damit  das  selbst  zu, 
was  ich  hauptsächlich  hatte  nachweisen  wollen. 

Eine  ganz  andere  frage  ist  die  nach  der  aufnähme 
'formeller'  Varianten,  wie  sie  C.  nennt;  hier  können  die 
meinungen  in  der  tat  auseinander  gehen,  wie  ich  das  vor 
erscheinen  von  C.'s  artikel  selbst  (Publ.  of  the  Mod.  Lang. 
Assoc.  of  America,  vol.  13,  Baltimore  1898,  s.  554)  offen  aus- 
gesprochen habe.  Indessen  hat  kein  recensent  meiner  Elis 
saga,  auch  C.  nicht,  mir  einen  Vorwurf  daraus  gemacht,  dass 
ich  in  dieser  ausgäbe  selbst  in  der  anführung  dieser  gruppe 
von  Varianten  Vollständigkeit  angestrebt  habe. 


ZÜB  BEVIS  SAGA.  417 

C.  meint  feiner,  das  factum,  dass  prof.  Stimming  mii'  seine 
copien  der  zwei  hss.  des  ältesten  franz.  textes  geliehen  habe, 
hätte  stärker  betont  werden  sollen  als  ich  es  getan;  er  glaubt 
nicht  fehlzugreifen,  wenn  er  gerade  in  dem  entleihen  dieser 
copien  den  eigentlichen  entstehungsgrund  von  meiner  strengen 
kritik  seiner  ausgäbe  erblicke.  *Und  ich  kann  nicht  umhin, 
seine  art,  sich  über  meine  ausgäbe  zu  äussern,  mit  der  über- 
mütigen kritik  zu  vergleichen,  die  ein  schüler  mit  hilfe  des  in 
seine  hände  gelangten  schlüsseis  des  lehrers  an  der  von  einem 
mitschüler  ohne  dieses  unschätzbare  hilfsmittel  angefertigten 
Übersetzung  übt'  (s.  259).  C.  irrt  sich.  Mir  standen  die  Pariser 
hss.  in  derselben  weise  zur  Verfügung  wie  Stimming;  hätte 
dieser  die  abschrift  nicht  schon  genommen  und  die  liebens- 
würdigkeit  gehabt  sie  mir  zu  leihen,  so  würde  ich,  ehe  ich 
an  die  herausgäbe  des  Sir  Beves  und  an  die  nähere  betrach- 
tung  der  saga  gieng,  die  nochmalige  9  reise  nach  Paris  für 
diesen  zweck  ebensowenig  gescheut  haben,  wie  ich  versäumt 
habe,  vor  abfassung  meiner  abhandlung  über  die  Elis  saga 
den  damals  noch  nicht  gedruckten  Elie  de  St.  Gille  derselben 
bibliothek  zu  studieren,  oder  zum  zweck  der  herstellung  eines 
kritischen  textes  der  me.  Ipomandonromanze  von  den  beiden 
afranz.  hss.  der  —  beiläufig  ca.  10,000  verse  langen  —  quelle 
im  Brit.  museum  copien  zu  nehmen.  Beides  erachtete  ich  für 
ganz  selbstverständlich,  und  so  erschien  es  mir  auch  als  ziem- 
lich irrelevant  für  die  sache,  wo  ich  mein  unentbehrliches 
kritisches  material  im  vorliegenden  falle  herbekommen  hatte; 
nur  die  schuldige  danksagung  gab  zur  andeutung  dieser  Ver- 
hältnisse veranlassung.  Dass  übrigens  der  für  mich  nicht 
sonderlich  schmeichelhafte  vergleich  mit  dem  *  schlüsser  herz- 
lich schlecht  passt,  bedarf  keiner  ausführung. 

Ich  habe  C.  immer  für  einen  sehr  sorgsamen  und  gewissen- 
haften handschriftenleser  gehalten,  2)  und  darin  macht  mich 


*)  Vgl.  oben  s.  415  anm  1. 

')  Dieser  selben  meinong  hatte  ich  Beitr.  19,64')  folgenden  ansdruck 
geliehen:  ^C.'s  textabdrücke  werden  im  aUgemeinen  mit  recht  wegen  ihrer 
ausserordentlichen  akribie  gerühmt'.  Ich  weiss  nicht,  wie  C.  dazu  kommt, 
darin  etwas  wie  spott  zu  wittern  (s.  276):  ich  habe  nichts  dergleichen  be- 
absichtigt und  muss  mich  gegen  eine  solche  wiUkürliche  Unterstellung 
verwahren. 


418  KÖLBINO 

auch  der  umstand  nicht  irre,  dass  sein  abdruck  einer  kurzen 
handschriftlichen  notiz  aus  dem  17.  jh.  vier  lesefehler  enthält 
(vgl.  Publ.  a.  a.  o.  s.  544)  und  er  in  den  Varianten  zur  Clarus 
saga  zweimal  ohne  erklärung  den  casus  abgeändert  hat  (vgl. 
das.  s.  5572)).  Sein  urteil  über  mich  ist  freilich  weniger 
freundlich:  er  spricht  meinem  ergänzenden  Variantenapparate 
Zuverlässigkeit  und  genauigkeit  ab  (s.  276).  Die  sache  liegt 
so.  Als  ich  für  die  An.  sagabibliothek  die  herausgäbe  der 
Flöres  saga  übernommen  und  zugleich  beschlossen  hatte,  der 
Bevis  saga  ein  eingehenderes  Studium  zuzuwenden,  nahm  ich 
im  herbst  1892  zunächst  einen  kurzen  aufenthalt  in  Kopen- 
hagen, um  über  das  handschriftliche  material  einen  vorläufigen 
überblick  zu  gewinnen.  Bei  dieser  gelegenheit  coUationierte 
ich  u.  a.  unter  ungünstigen  beleuchtungsverhältnissen  die  frag- 
mente  A  und  D  der  Bevis  saga,  und  hielt  dann  bei  ausarbei- 
tung  des  apparates  meine  coUation  derselben  für  genügend, 
zumal  C.  gerade  von  A  besonders  reichliche  Varianten  mit- 
geteilt hatte;  doch  stiegen  mir  schon  bald  nach  dem  druck 
des  auf  Satzes  bedenken  auf,  ob  ich  darin  recht  getan  hätte. 
Die  hss.  Cyrf,  also  das  hauptsächlichste  material  für 
meine  arbeit,  dagegen  habe  ich  lange  zeit  hier  benutzen 
dürfen  und  dabei  namentlich  gelegenheit  gehabt,  der  oft  recht 
schwer  lesbaren  hs.  C  das  eingehendste  Studium  zu  widmen; 
ich  war  in  der  läge,  die  correctur  in  aller  müsse  mit  den 
mss.  zur  seite  zu  lesen,  und  ich  bin  mir  bewusst,  den  apparat 
mit  der  denkbar  grössten  gewissenhaftigkeit  zusammengestellt 
zu  haben.  Höchstens  könnte  —  um  ja  nichts  zu  verschweigen 
—  das  misgeschick,  dass  zu  einer  zeit,  wo  die  eine  der  papier- 
hss.  bereits  wider  weggeschickt  war,  auf  dem  wege  von  Leipzig 
nach  Halle  ein  revisionsbogen  durch  die  post  in  Verlust  geraten 
ist,  vielleicht  ein  paar  kleine  ungenauigkeiten  verschuldet 
haben.  Die  hss.  sind  allgemein  zugänglich:  jeder  Interessent, 
vor  allem  C.  selbst,  kann  sich  mit  leichtigkeit  überzeugen,  ob 
ich  zu  viel  behaupte.  Ja  vielleicht  ist  eine  erneute  einsieht 
in  die  hss.  zur  beurteilung  der  Sachlage  nicht  einmal  nötig; 
fast  sämmtliche  correcturen  meines  apparates  durch  C.  (s.  277  f.) 
beziehen  sich  auf  die  fragmente  D  und  A;  nur  zwei  gesicherte 
berühren  yd,  und  zwar  handelt  es  sich  das  erste  mal  s.  209,4 
um  ein  druckversehen,  indem  vor  'unnit  ok  /d'  add.  ausgefallen 


ZUR  BEVIS  SAGA.  419 

ist:  es  war  von  vornherein  unwahrscheinlich,  dass  beide  hss. 
kann  haßi  undir  unnit  oh  lag  \  lesen  sollten;  unmittelbar  darauf 
liegt  eine  Unterlassungssünde  vor,  indem  das  fehlen  von  riddari 
in  yö  nicht  angemerkt  worden  ist.  C.  hat  etwa  ein  zehntel 
meiner  liste  verglichen:  wenn,  wie  ich  zu  hoffen  wage,  das 
Verhältnis  für  die  übrigen  neun  zehntel  der  saga  dasselbe  ist, 
dass  also  in  den  ca.  3000  einzelangaben  sich,  was  die  haupthss. 
anlangt,  nur  etwa  zehn  druckversehen  und  zehn  auslassungen 
sollten  entdecken  lassen,  so  darf  ich  wol  behaupten,  dass  sich 
schwerlich  jemand  finden  wird,  der  eine  solche  minutiöse  arbeit 
genauer  macht.  C.  müsste  diese  Sachlage  ja  wol  eigentlich 
auch  bemerkt  haben;  sein  überaus  schroffes  urteil  über  meine 
coUation,  das  er  dann  scrupellos  auf  alle  meine  bisherigen 
publicationen  ausdehnt  (s.  276),  scheint  eine  solche  Voraus- 
setzung jedoch  völlig  auszuschliessen. 

Dass  ich  A  und  D  nicht  zur  nochmaligen  einsieht  für  die 
correctur  hierher  erbeten  habe,  wodurch  auch  diese  versehen 
vermieden  worden  wären,  bedaure  ich  jetzt  selbst  sehr. 

Die  zwölf  Zeilen  lexicalischer  bemerkungen,  über  welche 
C.  sich  behaglich  auf  fast  drei  selten  verbreitet,  gebe  ich  ihm 
gern  preis,  und  bemerke  nur,  dass  den  ausdruck  axag  Xsyofievov 
ausser  ihm  schwerlich  jemand  absolut  auffassen  wird;  er  meint 
natürlich:  nach  ausweis  unserer  bisherigen,  natürlich  nicht 
vollständigen  Wörterbücher. 

So  viel  für  diesmal.  Auf  andere  punkte  werde  ich  gelegen- 
heit  haben,  in  meiner  kritischen  ausgäbe  der  Bevis  saga  zurück- 
zukommen, die  ich  erst  dann  zu  veröffentlichen  gedenke,  wenn 
Stimmings  lang  ersehnter  text  des  ältesten  Beuve  erschienen 
und  damit  für  diesen  sagenstoff  ein  neues,  unmittelbares  Inter- 
esse wachgerufen  sein  wird. 

Nur  noch  eine  bemerkung  zum  schluss.  C.  möchte  gern 
(s.  260)  einen  Widerspruch  construieren  zwischen  meiner  recen- 
sion  der  FSS.  in  der  Literaturzeitung  1885  und  dem  in  meinem 
aufsatz  von  1894  niedergelegten  urteil.  Auch  darin  ist  er  im 
unrecht'  Wenn  meine  ansieht  über  seine  Bevis  saga  jetzt, 
wo  ich  die  hss.  selbst  eingesehen  habe,  ungünstiger  geworden 
ist,  so  kann  ihn  das  nach  meinen  ausführungen  kaum  wundern. 
Im  übrigen  aber  halte  ich  sein  buch  auch  jetzt  noch  für  wert- 
voll, wenn  auch  nicht  als  abschliessende  leistung,  so  doch  als 


420  KÖLBING,  ZUB  BEVIS  SAOA. 

sehr  wichtige  materialiensammlung;  ihr  habe  ich  in  meinen 
anmerkiingen  zur  Flöres  saga  und  zur  Ivens  saga  viele  inter- 
essante parallelstellen  entnommen  und  femer  in  meinen  notizen 
zur  Konrads  saga  (Publ.  a.  a.  o.  s.  547  ff.)  das  von  C.  gebotene 
mit  gutem  willen  nach  6iner  seite  hin  zu  ergänzen  versucht 
—  wol  die  wirksamste  art,  wie  man  seine  achtung  vor  der 
literarischen  leistung  eines  anderen  bekunden  kann. 

BRESLAU,  nov.  1898.  E.  KÖLBING. 


ERWIDERUNG. 

Durch  die  gute  der  redaction  bin  ich  im  stände,  gleich- 
zeitig mit  dem  erscheinen  des  obigen  'Schluss Wortes'  von  prof. 
Kölbing  meinerseits  auf  den  erneuten  angriff  zu  erwidern.  Ich 
werde  mich  jedoch,  um  die  gute  der  redaction  und  die  geduld 
des  lesers  nicht  zu  misbrauchen,  sehr  kurz  fassen. 

Betreffend  den  von  K.  gerügten  ton  meines  aufsatzes 
(^Ueber  die  ausgäbe  der  Bevers  saga')  mögen  wol  andere 
unbefangener  urteilen,  ob  dieser  ton  schärfer  war,  als  die  art 
des  von  K.  (in  seinen  'Studien  zur  Bevis  saga')  gegen  mich 
gerichteten  angriffs  es  berechtigte. 

Das  ^Schlusswort'  K.'s  besteht  hauptsächlich  in  der  wider- 
holung  einiger  der  beschuldigungen,  die  er  bereits  in  seinen 
Studien  gegen  mich  gerichtet  hatte.  Da  ich  auf  diese  beschul- 
digungen schon  hinlänglich  in  meinem  früheren  aufeatz  (*  Ueber 
die  ausgäbe'  etc.)  geantwortet  zu  haben  glaube,  genügt  es  mir 
jetzt  auf  diesen  aufsatz  hinzuweisen.  Uebrigens  wird  der 
kundige  leser  wahrscheinlich  ohne  fingerzeige  finden,  dass  K 
im  Schlussworte  nichts  neues  zur  hauptfrage  —  über  die  be- 
grenzung  des  Variantenapparats  —  beigesteuert  hat,  und  dass 
er  keinen  ernstlichen  versuch  gemacht  hat,  zwischen  entbehr- 
lichen und  unentbehrlichen  Varianten  eine  sicherere  grenze 
zu  ziehen. 

Wesentlich  neu  ist  aber  die  behauptung:  *an  einer  ganzen 


CEDEBSCmÖLD,   EBWIDERUNG.  421 

anzahlO  von  stellen,  wo  die  lesung  von  B  sich  auch  ohne  die 
hinzunahme  fremder  redactionen  als  mangelhaft*)  erwies, 
hat  der  herausgeber  die  wichtigen  Varianten  der  anderen  hss. 
anzuführen  unterlassen'.  Den  beweis  sollen,  nach  K,  zehn 
stellen  liefern  —  was  wol  für  eine  ^ganze  anzahl'  nicht  allzu 
erheblich,  wenn  es  56  textseiten  in  quarto  gilt.  Und  diese  zehn 
beweisstellen,  stehen  sie  wirklich  fest?   Wir  werden  sehen. 

S.  216, 25  und  216,38  erzählt  die  saga,  hs.  B,  dass  der 
held  von  elf  feinden  angegriffen  wurde,  und  dass  er  sieben 
von  diesen  erschlug;  die  hss.  C  und  D  reden  von  zwölf  und 
acht.  Aber  wie  sollte  man  ohne  hinzunahme  fremder  redac- 
tionen ersehen,  dass  die  zahlangaben  in  B  mangelhaft  sind? 
Auch  s.  253, 33  f.  würde  ich  wol  die  schroffe  und  hochfahrende 
behandlung  K.'s  (Studien  s.  112)  schwerlich  verdient  haben; 
denn  s.  253,  33  f.  stimmt  inhaltlich  mit  s.  253,  24— 25  (Bdy) 
über  ein.  Es  ist  wahr,  dass  nach  der  saga,  s.  255, 17  f.,  Terri 
später  aufgefordert  wird,  aus  Civile  zu  ziehen.  Aber  wie  sollte 
man  wider  ohne  fremde  redactionen  wissen  können,  dass  die 
notiz  s.  253, 24 — 25  ein  nordischer  zusatz  ist?  War  es  nicht 
einfacher,  anzunehmen,  der  sagaschreiber  habe  die  rückreise 
Terris  vom  hofe  Erminriks  nach  Civile  als  selbstverständlich 
betrachtet  (vgl.  s.  254, 17 — 18)  und  folglich  die  notiz  von  dieser 
rückreise  ausgelassen?  —  In  der  reihe  kommen  ferner  drei 
stellen  wider,  s.  248,  34  f.  s.  256, 50  f.  s.  265, 40,  bei  denen  K. 
schon  Studien  s.  64  'merkwürdige  satzfügungen'  gefunden  hatte, 
imd  über  die  ich  mich  Beitr.  23, 285  f.^)  schon  geäussert  habe. 
K.  scheint  also  das  für  die  kritik  altnord.  texte  grundfalsche 
princip  'je  logischer,  je  ursprünglicher'  festhalten  zu  wollen.  Es 
muss  wol  dasselbe  princip  sein,  das  K.  bewogen  hat,  unter  die 
zehn  beweissteilen  auch  s.  232, 6  f.  und  s.  252, 16  mitzurechnen; 
denn  B  bietet  an  diesen  beiden  stellen  nichts,  das  von  alt- 
nordischem stilistisch-sprachlichen  Standpunkte  aus  mangelhaft 
genannt  werden  kann;  bemerkenswert  ist  es,  dass  s.  232,  6  f. 
die  von  B  gegebene  fassung  der  rede  der  heldin  die  scham- 
haftere ist.  Auch  s.  253, 46  f.  ist,  scheint  es  mir,  die  lesung 
von  B  gar  nicht  verdächtig,  und  zwar  um  so  weniger,  als  die 


»)  Von  mir  gesperrt. 

*)  Vgl.  daselbst  auch  über  j&e/r  [IUI,  er  epttr  liföu]. 


422  CEDEBSCHIÖLD 

lesarten  der  hss.  yd  (wie  es  aus  der  ganzen  darstellung  hervor- 
geht) schwerlich  eine  inhaltlich  verschiedene  bedeutung  geben 
können.  Bei  s.  251, 57  (und  wol  zum  teil  auch  s.  256, 50)  zielt 
K.  auf  die  Verwendung  von  hverr  als  relativum;  wie  kann 
aber  K.  behaupten,  B  sei  wegen  dieses  Sprachgebrauchs  ^mangel- 
haft'? Für  einen  verhältnismässig  jungen  und  (wahrscheinlich 
ins  norwegische)  übersetzten  text  ist  doch  das  relativum 
hverr  nicht  befremdend;  vgl.  Fritzner 2.  —  Von  jenen  zehn 
stellen  bleibt  jetzt  nur  eine  übrig,  s.  251, 15  f.  Hier  ist  wirk- 
lich B  ^mangelhaft',  wie  ich  auch  in  einer  note  zum  texte  an- 
gedeutet hatte;  es  scheint  mir  aber  fraglich,  ob  die  ziemlich 
abweichende  fassung  von  C  hier  ursprünglicher  ist;  das  ein- 
fachste wäre  wol  anzunehmen,  dass  Nu  in  B  ein  Schreibfehler 
für  En  sei. 

Neu  ist  endlich  K.'s  behauptung  —  die  mit  der  kritik  von 
Bev.  s.  nicht  viel  zu  schaffen  hat  — ,  ich  habe  in  einer  FSS. 
s.  Lvin  f.  abgedruckten  notiz  vier  lesef ehler  gemacht,  und  dass 
ich  in  den  Varianten  zur  Clarus  saga  zweimal  ohne  bemerkung 
geändert  habe;  so  fasst  K.  einige  annotationen  zusammen,  die 
von  ihm  in  den  Publications  of  the  Modern  Language  Associa- 
tion of  America  vol.  13,  544  (mitte)  und  557  (letzte  zeile  und 
note  2)  mitgeteilt  sind,  womit  ferner  das  entsprechende  s.  558 
(mitte)  zu  vergleichen  ist.  Da  die  hs.  mir  jetzt  nicht  zugäng- 
lich ist,  so  muss  ich  es  dahingestellt  sein  lassen,  inwiefern 
diese  angäbe  richtig  ist.  Dass  sie  tendenziös  gefärbt  ist, 
kann  ein  jeder  finden,  der  meinen  abdruck  in  den  FSS.  s.  lviii  f. 
nachschlägt  und  sieht,  wie  K.  Publ.  s.  544  denselben  wider- 
gegeben hat,  oder  der  Publ.  s.  557.  58  (vgl.  Clarus  saga  s.  14, 
note  19)  prüft,  wie  es  sich  mit  der  'änderung'  verhält.*) 

Betreffend  seine  eigenen  von  mir  bemerkten  lesefehler 
und  sonstigen  ungenauigkeiten  in  den  'Studien'  tröstet  sich  K. 
mit  einem  optimistischen  rechenexempel.  Er  verlangt  jedoch 
etwas  zu  viel  von  mir,  wenn  er  meint,  ich  habe  merken  müssen, 

*)  Dass  ich  das  ende  des  (mit  roter  tinte  geschriebenen)  Wortes  nicht 
deutlich  lesen  könnte,  hatte  ich  durch  die  Schreibung  jimgfrudo(ms)  an- 
gedeutet; wenn  auch  K.,  von  besserer  beleuchtung  u.  dgl.  begünstigt, 
sicherere  lesung  ermittelt  hat,  so  hat  er  doch  wol  nicht  das  recht  zu  be- 
haupten, ich  habe  das  handschriftliche -ciow  in  -doms  ohne  bemerkung 
geändert. 


ERWIDBEUKG.  423 

dass  er  die  membranfragmente  A  und  D  nur  unter  ungünstigen 
umständen  habe  benutzen  können.  Dass  ich  zufällig  gerade 
das  schwächste  zehntel  seiner  arbeit  nachverglich,  konnte  ich 
nicht  wissen.  Und  aus  den  früheren  publicationen  K.'s  hatte 
ich  nicht  den  eindruck  gewonnen,  K.  nähme  es  so  überaus 
genau  mit  der  behandlung  altisländischer  texte;  vgl.  Germ.  20, 
306  ff.  (über  K.'s  Riddarasögur),  Lit.-bl.  1880,  93  ff.  (über  seine 
Tristramssaga).  Zu  einigen  anderen  von  seinen  publicationen 
hatte  ich  vor  jähren  kritische  Sammlungen  angelegt,  die  ich, 
wenn  zeit,  gesundheit  und  gelegenheit  es  gestatten,  vielleicht 
einmal  completieren  und  veröffentlichen  werde.') 

[^)  Für  die  Beiträge  muss  dieser  streit  hiermit  für  abgeschlossen  erklärt 
werden.    E.  S.J 

GÖTEBORG,  februar  1899.        G.  CEDERSCHIÖLD. 


EINE  BERICHTIGUNG. 

Immer  hoffte  ich  noch  ein  paar  falsche  angaben,  die  mir 
in  meinem  aufsatz  über  ^Eine  populäre  sjmonymik  des  16.  Jahr- 
hunderts' (Philolog.  Studien,  festgabe  für  Sievers  s.  401  ff.)  aus 
der  f eder  geflossen  sind,  bei  gelegenheit  einer  andern,  das  gleiche 
thema  streifenden  arbeit  richtig  stellen  zu  können.  Nachdem 
aber  sich  mir  dieser  Zeitpunkt  weiter,  als  ich  wünschte,  hinaus- 
geschoben hat,  ist  es  mir  wol  gestattet,  an  diesem  platze  von 
zwei  freundlichen  berichtigungen  gebrauch  zu  machen,  die  ich 
gleich  nach  erscheinen  des  aufsatzes  Schnorr  von  Carolsfeld 
und  Edward  Schröder  verdankte. 

Unrichtig  hatte  ich  (1.  c.  s.  433  anm.  3)  aus  Schnorrsvon 
Carolsfeld  beschreibung  des  autographon  Melbers  heraus- 
gelesen, dass  Schnorr  v.  C.  zwei  schi-eiber  für  die  hs.  annehme. 
Auch  der  Dresdner  handschriftenkatalog  spricht  nur  von 
einer  hand. 

Weiter  hat  Edward  Schröder  die  ihm  in  seiner  ab- 
handlung  über  Jacob  Schöpper  in  der  Identification  Melbers 
von  Geroltzhofen  (darüber  meine  abhandlung  s.  433  anm.  3) 
begegneten  Irrtümer  schon  selbst  nach  dem  erscheinen  von 
Töpke's  register  zur  Heidelberger  matrikel  im  Anz.  fda.  17, 344 
berichtigt. 

HALLE  a.  S.  im  Januar  1899.  JOHN  MEIER. 


BEITRÄGE  ZUR  VORGERMANISCHEN 

LAUTGESCHICHTE. 

L 
Zur  erlänternng  des  germanischen  ai. 

Man  hat  längst  beobachtet,  dass  nicht  wenige  germ.  Wörter 
in  der  ersten  silbe,  namentlich  in  der  nähe  der  liquidae  oder 
der  nasale,  einen  vocal  haben,  der  urgerm.  ai  (oi),  ei  oder  l 
voraussetzt,  während  germ.  Wörter,  die  mit  jenen  anscheinend 
nahe  verwant  sind,  oder  Wörter  anderer  indog.  sprachen,  die 
jenen,  wie  es  scheint,  wenigstens  zum  teil  entsprechen,  einen 
kurzen  oder  langen  a-,  o-  oder  6 -vocal  zeigen,  z.  b.  ahd.  feili 
neben  dem  gleichbedeutenden  fäli,  an.  fair.  Diese  erscheinung 
ist  namentlich  von  Joh.  Schmidt  in  seiner  schrift  ^Zur  ge- 
schichte  des  indog.  vocalismus'  eingehend  und  anregend  behan- 
delt und  durch  ein  reichhaltiges  material  erläutert  worden. 
Manches  haben  Herm.  Möller  in  Kuhns  zs.  24,  427.  ff.  Scherer, 
Amelung  u.  a.  besprochen.  Noreen  (Abriss  d.  urgerm.  lautl. 
s.  211 — 215)  hat  die  erscheinung  durch  viele  beispiele  be- 
leuchtet. 

Man  hat  dies  germ.  ai  mehrfach  aus  der  epenthese  eines 
y  (i)  erklären  wollen.  Allein  die  hierauf  bezüglichen  Unter- 
suchungen haben  zu  keinem  überzeugenden  oder  allgemein 
anerkannten  ergebnisse  geführt.  Kluge  in  seiner  trefflichen 
*  Vorgeschichte  der  altgerm.  dialekte'  hat  an  der  epenthese 
festgehalten  (Pauls  Grundr.  1*,  355);  allein  in  der  zweiten  be- 
arbeitung  (12,411)  schiebt  er  ein  zweifelndes  ^woP  ein.  Er 
muss  einräumen:  ^die  stricte  regel  für  die  germ.  epenthese  ist 
noch  nicht  gefunden'.  Brugmann  (Grundr.  1^,  834)  sagt:  *für 
i- epenthese  im  germanischen  ...  gibt  es  kein  irgend  zuver- 
lässiges beispier.     Ahd.  reihhen,  das  längst  mit  recchen,  got. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  28 


426  BÜGGE 

uf-rakjan  zusammengestellt  worden  ist  und  worin  Amelung 
und  Möller,  obgleich  nicht  in  derselben  weise,  epenthese  an- 
nahmen, vermittelt  Brugmann  durch  ein  ursprüngliches  *m^- 
{V,  504)  mit  rdkjan\  allein  sonst  geht  er  auf  die  frage 
nicht  ein. 

Solmsen  (Kuhns  zs.  29, 108  anm.  1)  leugnet  ebenfalls  im 
urgerm.  *  epenthese,  von  der  weder  das  urslav.  noch  das  ur- 
germ.  etwas  weiss'. 

Auch  Fick  in  seinem  Vergleichenden  wb.  hat  das  problem 
nicht  gelöst.  Streitberg  in  seiner  Urgerm.  gramm.  bespricht 
die  frage  fast  nicht.  Ich  werde  im  folgenden  eine  neue  er- 
klärung  einiger  hierher  gehörigen  erscheinungen  versuchen. 

Das  vorgermanische  hat  nach  meiner  Vermutung  ein 
reduciertes,  vielleicht  gemurmeltes  i  (einen  schwa-laut  mit 
i-timbre)  gehabt.  Obgleich  ich  diesen  laut  im  folgenden 
reduciertes  i  nenne,  behaupte  ich  damit  nicht,  dass  derselbe 
überall  aus  einem  vollen  i  duixh  reduction  entstanden  sei. 
Vielmehr  scheint  mir  das  reducierte  i  regelmässig  aus  9  ent- 
standen. Ich  bezeichne  den  laut  graphisch  durch  ein  kleines 
i  unter  der  zeile.  Als  die  bezeichnung  einer  älteren  form 
desselben  lautes  wende  ich  daneben  oft  9  an.  Ich  vermute, 
dass  das  vorgerm.  daneben  andere  schwa-vocale  hatte. 

Nicht  selten  setzt  germ.  ai  nach  meiner  Vermutung  eine 
zweisilbige  form  des  vorgerm.  mit  zwei  vocalen  voraus,  die 
durch  einen  consonanten  getrennt  waren.  Der  erste  war 
ein  kurzes  indog.  o  oder  a;  der  zweite  war  das  aus  9  ent- 
standene reducierte  i,  dem  in  mehreren  Wörtern  aind.  i,  gr.  « 
entspricht. 

Ich  werde  zuerst  die  einzelnen  Wörter,  in  welchen  ai  nach 
meiner  Vermutung  aus  vorgerm.  ö  oder  ä  und  dem  reducierten 
i  entstanden  ist,  anführen  und  die  Urformen  derselben  annähe- 
rungsweise zu  bestimmen  suchen.  Sodann  werde  ich  die  be- 
dingungen  und  die  Voraussetzungen  des  lautüberganges  im 
allgemeinen  besprechen. 

Die  Sammlung  der  belege  ist  nicht  vollständig.  Mehrere 
Wörter,  in  denen  ich  den  genannten  lautübergang  vermute, 
bespreche  ich  hier  nicht,  weil  ich  bei  ihnen  in  anderen  be- 
ziehungen  zweifei  hege,  die  ich  nicht  entfernen  kann. 


BEITRÄGE  ZÜE  VORGERMANISCHEN  LAÜTGESCHICHTE.      427 

1.  Got.  %raiw  in  hraiwa-duho  Hurteltaube';  an.  hrce  n. 
(dat.  hrcevi)  deiche,  aas  (eines  tieres  oder  eines  menschen)'. 
Es  bezeichnet  die  leiche  namentlich  als  das  fleisch  eines  toten 
körpers,  das  die  raubtiere  und  raubvögel  lockt.  Es  wird  oft 
im  pl.  angewendet,  wo  von  einem  menschen  die  rede  ist,  und 
kann  im  pl.  das  lat.  carnes  widergeben.  Ags.  hrdj  hrdw,  hrce, 
hrcew,  hreaw  n.  m.  deiche,  aas';  selten  und  uneigentlich  von 
einem  lebenden  körper  angewendet.  As.  ahd.  hreo  n.,  mhd.  re 
n.  m.  deiche'  (auch  in  abgeleiteten  bedeutungen:  grab,  toten- 
bahre  u.s.w.). 

Mit  ir.  cri  4eib,  köi^per'  (des  menschgewordenen  Christus) 
hat  germ.  hraiw-  gewis  nichts  zu  tun.  Die  bedeutung  des  ir. 
cri  weicht  von  der  ursprünglichen  bedeutung  des  germ.  hraiw- 
ab.  Der  vocal  des  ir.  cri  ist  mit  dem  des  germ.  hraiw-  jeden- 
falls nicht  identisch.  Ir.  cri  lässt  sich  dagegen  wol  mit  lat. 
corpus  verbinden  (Stokes,  Kuhns  zs.  36, 275). 

Auch  ksl.  örevo  intestinum',  aus  "^öervo,  ist  vom  germ. 
hraiw-,  wie  bereits  J.  Schmidt  bewiesen  hat,  verschieden. 

Man  hat  germ.  hraiw-  oft  mit  dem  aind.  kravya-m  *  rohes 
fleisch,  aas'  zusammengestellt;  so  z.b.  J.  Schmidt,  Vocal.  2, 475. 
Dies  passt  der  bedeutung  nach  trefflich.  Allein  ein  mit  aind. 
Tcravya-m  identisches  wort  "^krow-yo-m  müsste  got.  "^hrawi,  gen. 
"^hraujis,  an.  *hrey,  ags.  *hre^,  *hri^,  ahd.  %rewi,  *hrouwi  ge- 
lautet haben;  vgl.  z.  b.  got.  hawi,  an.  hey,  ags.  he^,  hi^,  ahd. 
hewi,  houwi,    Indog.  "^hrewyo-m  hätte  got.  "^hriwi  lauten  müssen. 

In  der  vedensprache  heisst  hravis-  n.  'rohes  fleisch,  aas'; 
diesem  entspricht  gr.  xgeag,  jedoch  mit  verschiedener  betonung. 
Neben  aind.  hravis-  erscheint  ein  stamm  hravi-  in  dkravihasta-s 
'nicht  mit  blutigen  bänden  versehen'.  Dem  aind.  kravi-  ent- 
spricht gr.  xQia  (J.  Schmidt,  Plur.  der  neutra  337  f.). 

Nach  meiner  Vermutung  wurden  vorgerm.  or,  (und  ari),  oli 
(ali),  ofHi  (anii),  oui  (ani),  owt  (awi)  im  germ.  zu  air  (vor  conso- 
nanten  öfter  rai),  ail  (lai),  aim  (mai),  ain  (nat),  aiw  (wai). 
Hiernach  erkläre  ich  germ.  hraiw-  aus  vorgerm.  "^krowr,  *krow9-, 
vgl.  aind.  kravi-,  gr.  xQsa, 

Stokes  führt  cymr.  er  au  'blut'  auf  einen  st.  krowo-  zurück. 
kravi-  steht  zu  aind.  krürd-  'roh'  im  ablautsverhältnisse.  kravi- 
gehört  zu  den  von  de  Saussure  erläuterten  zweisilbigen  aind. 
wurzelformen,  in  denen  das  -i  der  zweiten  silbe,  wie  man  an- 

28* 


428  BÜGGE 

nimmt,  einem  indog.  d  entspricht;  z.  b.  tdri-tum,  vdmi-tum  u.s.w. 
Manche  solche  zweisilbige  wurzelformen  haben  im  gr.  und  lat.  ö 
in  der  ersten  silbe:  eorogsoa  (neben  lat.  sterno),  xofiico,  XQO- 
f/aöog  neben  XQ^(^^'^^5^>  öoXixog;  lat.  domitum,  molitum. 

Daher  ist  eine  vorgerm.  zweisilbige  Stammform  "^krowr, 
*krow9-  unbedenklich. 

Vcrowr  gieng,  wie  ich  voraussetze,  in  ^kroiw-,  germ.  hraiw- 
ohne  folgenden  vocal  über.  Dies  hraiw-  gieng  im  germ.  in  die 
flexion  teils  der  -0-  (ä-) stamme,  teils  der  -i-stämme  über:  got. 
hraiwa-duho,  allein  u.  a.  an.  hrce  aus  *hraiwi. 

Im  ahd.  findet  sich  der  nom.  acc.  pl.  rewir:  hierin  erscheint 
ein  -5-stamm  wie  in  aind.  Jcravis-,  gr.  xgeag.  Vorgerm.  "^kroWiS- 
müsste  im  germ.  zu  ^hraiivs-,  *hraiw^-  werden.  Ahd.  rewir, 
aus  urgerm.  "^hraiwizö,  hat  daher  das  i  in  der  zweiten  silbe 
durch  den  einfluss  der  -e5/o5-stämme  erhalten.  Vgl.  gr.  degog 
neben  6iQaq\  aind.  tamas  neben  tamisra-^  aind.  tydjas  neben 
gr.  Obßag  u.  s.  w. 

Der  bedeutung  wegen  beachte  man  anorw.  hrcedyri,  hrce- 
kvikindi  animal  carnivorum,  fuglar  slita  hrce  oh  eta,  vgl.  aind. 
kravyäd'  *  fleisch-,  cadaver  verzehrend'. 

Verwant  mit  germ.  hraiw-  ist  also  ahd.  ro  (räwer)  'roh 
(crudus)',  as.  hrä,  nl.  raauw,  ags.  hreaw,  an.  hrdr;  st.  hräwa- 
und  hräwa-  (an.  acc.  hrdn  aus  *hräwand). 

Im  anorw.  findet  sich  hrer,  hrer  n.  deiche'.  Dies  wird 
GuÖr.  1, 5  und  1, 11  hr§r,  1, 12  hrgr  geschrieben;  in  einer  hs. 
der  Ynglinga  saga  hrer,  in  anderen  hreyr,  s.  die  ausgäbe  von 
F.  Jonsson  cap.  16.  17.  23.') 

hrer  erkläre  ich  nicht  aus  *hrewu^,  sondern  aus  *hroj3a, 
%rujsa.  Das  wort  ist  nach  dieser  erklärung  von  einem  dem 
ags.  hreosan  ^fallen'  entsprechenden  verbum  abgeleitet.  Vgl. 
z.  b.  frer,  fr  er  von  frjösa  und  in  betreff  der  bedeutung  *  cada- 
ver', jcTCQfia  'leichnam',  nord.  fall  'körper  eines  geschlachteten 
tieres'.  Für  diese  auffassung  spricht  ags.  ^eÄrör  'ruin  (exter- 
minium)';  ferner  anorw.  hrerna  und  hreöask  (aus  *hrerask) 
'hinfällig  werden',  hrerlegr  'hinfällig'. 


*)  In  hreyr  ist  also  ey  bezeichnung  des  kurzen  0.    Daher  darf  hreyr 
nicht  mit  Noreen  aus  *hraiwiz  erklärt  werden. 


BEITRÄaE  ZUR  VORaERMANISCHEN  LAüTaESCHICHTE.      429 

2.  Ags.  dr  t  ^ rüder';  an.  ^r,  dr  f.  (nom.  pl.  drar),  davon 
sexcerr  ^sechsruderig',  teincerr  'zehnruderig';  urnord.  *ai>w,  ur- 
germ.  *aiVö.  Aus  dem  germ.  entlehnt  finn.  airo,  läpp,  ajrro, 
airo,  airu,  est.  aer  (Thomsen).  Aus  den  läpp,  nebenformen 
arjo,  arje  ist  nicht  mit  J.Schmidt  eine  ältere  germ.  form  zu 
folgern.  Läpp,  arjo  ist  vielmehr  aus  ajrro  (ai'ro,  wo  '  die 
länge  des  zweiten  teiles  des  diphthongs  bezeichnet)  entstanden; 
vgl.  z.  b.  läpp,  uv^ja  ^daune'  aus  *ui'va  =  anorw.  hy  (Qvigstad). 
Thomsen  (Finske  og  halt,  sprog  s.  110)  vermutet,  dass  lett. 
airis  *  rüder',  lit.  vairas,  vaira  *  grosses  rüder'  ebenfalls  aus  dem 
germ.  entlehnt  sind.  Liv.  airas  ist  secundär  vom  lett.  airis 
beeinflusst. 

Urgerm.  *airö  'rüder'  gehört  der  bedeutung  nach  natürlich 
mit  lit.  iriü,  yriau,  trti  'rudern',  preuss.  artwes  'schiffreise', 
gr.  iQtrrjg,  dfiq)  -  i^Qfjg,  jcevTrjxovT-oQog,  aind.  aritra-m  'Steuer- 
ruder', aritd  'rüderer'  zusammen.  Mit  diesen  Wörtern  hat  man 
das  germ.  wort  oft  verbunden.  Allein  *airö  kann  nicht,  wie 
u.  a.  J.  Schmidt  (Vocal.  2, 479  f.)  meint,  aus  *arjö  entstanden 
sein,  denn  dies  hätte  im  an.  zu  *^r  gen.  *§rjar  werden  müssen. 
Auch  aus  vorgerm.  *eryä  kann  germ.  *airu  nicht  entstanden 
sein;  vgl.  z.  b.  ahd.  märi  und  got.  ferja. 

Die  indog.  wurzel,  wozu  aind.  aritra-m  u.  m.  a.  gehören, 
war  er9',  Germ.  *airö  'rüder'  setzt  nach  meiner  Vermutung 
ein  vorgerm.  wurzelnomen  or,-,  ord-  oder  arr,  ard-  voraus. 

Die  indog.  wurzelnomina,  sowol  die  vocalisch  als  die  con- 
sonantisch  auslautenden,  sind  häufig  fem.  gen.  (ßrugmann, 
Grundr.  2',  449ff.).  Man  nimmt  auch  zweisilbige  vocalisch 
auslautende  wurzelnomina  an,  welche  fem.  gen.  sein  können. 
'Die  beispiele  sind  aber  undeutlich  geworden,  da  sie  nach  dem 
Wandel  von  a  zu  i  im  indischen  in  die  i-declination  über- 
getreten sind'  (Hirt,  IF.  7, 191).  Vgl.  aind.jam*-f.  'weib',  lat. 
indi-gena,  zu  aind.  jam-^aV-  u.s.w.;  aind.  vani-  f.  'das  ver- 
langen' zu  vdni-tar-;  aind.  khani-  'wühlend'  zu  khdni-tum; 
u.  m.  a. 

Das  vorgerm.  wurzelnomen  *ari-  f.  oder  *ori-  wurde  zu 
germ.  *mV-.  Dies  wurde  in  die  ä-flexion  herübergezogen.  So 
entstand  nach  meiner  Vermutung  germ.  *airö. 

Es  scheint  mir  möglich,  dass  ein  Werkzeug  wie  'ein  rüder' 
in  der  Ursprache  durch  ein  wurzelnomen  bezeichnet  werden 


430  BuaGE 

konnte.  Vgl.  z.  b.  ags.  sulh  f.,  pl.  sylh  ^pflug',  ags.  furh  t,  pl. 
fyrh  'furche'  neben  lat.  porca,  got.  baurgs  *burg',  lat.  arx,  gr. 
xQoxa  acc.  'einschlagfaden'  neben  xqoxt],  Prot  Torp,  dem  ich 
meine  deutung  mitgeteilt  habe,  vermutet  dagegen  für  germ. 
*airö  eine  vorgerm.  form  *arirä. 

In  betreff  des  ersten  vocals  vergleiche  man  vorgerm.  *an- 
oder  *ör,-  mit  preuss.  artwes  oder  mit  gr.  -ogoq^  wobei  Zu- 
sammensetzungen wie  anorw.  sexcerr  zu  beachten  sind. 

Germ.  *airö,  an.  ags.  dr  gehört  also  nach  meiner  ansieht 
zu  derselben  wurzel  wie  ahd.  ruodar  und  mhd.  rüejen^  ags.  ro- 
wan,  an.  roa.  Das  germ.  rö-  entspricht  dem  kelt.  rä-  in  air. 
rdm,  rdme  *  rüder'. 

3.  Got.  airus  m.  ' Sendbote'  {ayyeXoq^  jiQsößtla).  Ags.  dr 
(wie  ein  a-stamm  flectiert)  'legatus,  nuntius,  minister,  apostolus, 
angelus'.  As.  *er,  nom.  pl.  eri.  Anorw.  ^rr,  drr  (w- stamm). 
Aus  dem  germ.  entlehnt  finn.  airut  Uegatus,  nuntius',  läpp. 
airas.  Das  got.  wort  haben  einige  forscher  als  ai-ru-s  auf- 
gefasst  und  von  der  wurzel  ei-  'gehen'  abgeleitet.  Dagegen 
spricht  schon  die  bedeutung  des  Wortes.  Anorw.  drr  ist  nicht 
nur  ' Sendbote',  sondern  überhaupt  'ein  untergeordneter  mann, 
der  im  auftrage  seines  herrn  oder  seiner  herrin  etwas  aus- 
richtet', 'minister'.  Ein  mann  der  im  Ynglingatal  Äsu  drr 
heisst,  wird  in  der  prosa  (Yngl.  s.  cap.  48  F.  J.  53  Unger) 
slcosveinn  Äsu  drötningar  genannt.  Sigvatr  nennt  die  hirdmenn 
des  königs  Jconungs  cerir  (Magn.  s.  g.  Heimskr.  cap.  7  F.  J.  9  Un- 
ger). Die  äsen  werden  Yggs  cerir  genannt;  die  zunge  drr 
ööar  'minister  poeseos',  u.s.w.  Mit  drr  ist  drmaör  zusammen- 
gesetzt: 'ein  Verwalter,  der  im  auf  trag  eines  anderen  einen 
hof  bestellt';  namentlich  ein  mann  der  einen  grundbesitz  des 
königs  verwaltet.  Auch  dies  zeigt,  dass  die  grundbedeutung 
von  drr  nicht  ' Sendbote'  ist. 

Dass  got.  airu'S,  an.  drr  u.s.w.  nicht  von  der  wurzel  ei- 
abgeleitet  ist,  wird  durch  ein  davon  abgeleitetes  wort  end- 
giltig  bewiesen.  Anorw.  erendi  n.;  auch  eorende  (was  nur 
graphisch  verschieden  ist),  eyrende,  erendi  geschrieben:  'auftrag 
den  man  für  einen  anderen  ausrichtet,  botschaft  (flytja  guös 
erendi),  geschäft';  neugotl.  arundi;  ags.  cerende;  neuengl.  errand; 
as.  ärundi;  ahd.  ärunti.  Dies  wort  entspricht  dem  sinne  nach 
als  nomen  actionis  genau  dem  nomen  actoris  airus.    Das  nomen 


BEITRÄGE  ZUR  VORGEBMANISCHEN  LAüTGESCHICHTE.      431 

actionis  hat  in  der  ersten  silbe  sowol  einen  langen  als  einen 
kurzen  vocal  gehabt.  Einen  kurzen  anfangsvocal  hat  aisl. 
erendi  sicher  in  dem  gedichte  Lilja  24.  Neuengl.  errand  setzt 
wol  kürze  des  ersten  vocals  voraus.  Ebenso  nach  J.  Schmidt 
(Vocal.  2, 477)  das  aus  dem  germ.  entlehnte  ksl.  orq^dije  'appa- 
ratus,  instrumentum,  negotium,  res';  vgl.  poln.  or^dzie  'nuntius', 
orendowac  'auftrage  verrichten'.  Mhd.  erende  mit  kurzem  an- 
lautenden e.  Allein  in  den  agerm.  sprachen  wurde  das  wort 
vorwiegend  mit  langem  vocal  im  anlaut  ausgesprochen.  Die 
kürzung  des  vocals  ist  vielleicht  daraus  zu  erklären,  dass  die 
zweite  silbe  stark  betont  wurde. 

Nach  Sievers  (Proben  einer  metr.  herstell,  der  Eddalieder 
s.  34)  wird  für  an.  erendi  in  dem  verse  oJc  erendi  prymskv.  10 
sicher  länge  der  Wurzelsilbe  verlangt;  ebenso  in  riäa  erindi 
Atlakv.  3  und  in  mehreren  anderen  versen  der  Eddalieder. 
Freilich  erkennt  Sievers  jetzt  (Metrik  s.  61)  verse  wie  af  Jco- 
nungum  GuÖr.  2, 4  als  richtig  an.  Für  länge  des  vocals  spricht 
namentlich  der  vers  Sigvats:  en  eyrindi  öru  Öl.  s.  helga  in 
Fms.  cap.  142.  In  dem  von  Wisen  herausgegebenen  Homilien- 
buche  wird  das  wort  gewöhnlich  eyrende  mit  ey,  selten  mit  eo 
oder  e  geschrieben.  Da  diese  hs.  nur  sehr  selten  ^  ey  für  e 
anwendet,  spricht  dies  dafür,  dass  eine  nebenform  mit  dem 
langen  diphthonge  ey  existiert  hat.^) 

Bei  ags.  cerende  und  as.  ärundi  verlangt  das  metrum  länge 
des  ce,  d. 

Das  nomen  actionis  beweist  nach  meiner  ansieht,  dass  das 
ai  von  airus  nicht  =  indog.  oi  oder  ai  ist.  Denn  obgleich 
aisl.  eyrendi,  wie  es  scheint,  aus  älterem  '^airundl  stammt,  lassen 
sich  andere  formen,  z.  b.  as.  ärundi,  ahd.  ärunti,  daraus  nicht 
erklären. 

Die  älteste  nachweisbare  form  der  zwei  letzten  silben  ist 
'undi.    Hiernach  darf  man  vielleicht  vermuten,  dass  der  ur- 


0  ßreyngva  s.  165  z.  30. 

*)  J.  Schmidt  hat  die  anorw.  form  des  Wortes  nicht  richtig  behandelt. 
Er  führt  eyrendi  auf  *arvjandi  zurück  und  beruft  sich  dabei  auf  die  von 
Egilsson  angeführte  form  örvendi.  Allein  diese  form  hat  nicht  existiert. 
Die  einzige  dafür  angeführte  stelle  ist  ein  vers  der  FostbrceÖra  saga,  aUein 
dort  bedeutet  grvendi  '  lef t-handedness '  (Vigfusson,  Corp.  poet.  bor.  2,  175, 
V.7). 


432  BUGGE 

sprünglichere  stamm  von  airus  nicht  airu-,  sondern  vielmehr 
"^airund-  war.  Wenn  wir  von  dem  vocal  der  ersten  silbe  ab- 
sehen, kann  as.  ärundi  von  "^airund-,  wie  z.  b.  got.  andbahti  n. 
*  dienst'  von  andbahts  'diener',  lat.  praeconium  von  praecon-, 
abgeleitet  sein.  Auch  dies  spricht  gegen  die  auffassung,  dass 
got.  airu'S  von  ei-  'gehen'  abgeleitet  sei. 

Der  urgerm.  stanmi  "^airund-  bildete  wol  den  nom.  sg. 
ohne  die  endung  s,  also  *airund,  woraus  regelrecht  *airun 
entstehen  sollte.  Allein  da  ein  nom.  sg.  m.  ^airun,  wenigstens 
in  der  späteren  spräche,  isoliert  dastand,  wurde  diese  form 
nach  der  analogie  der  te-flexion  zu  airus  umgebildet.  Dabei 
wirkte  der  dat.  pl.  airum  aus  *airundm-  mit.  Aehnlich  ist 
geiin.  *tegti'^  'decade',  anorw.  tegr,  wie  es  scheint,  aus  älterem 
*tegunp  entstanden.  Brugmann  hat  bereits  ausgesprochen 
(Grundr.  2*,491),  dass  Hegu-z  von  einem  stamme  tegunp-  ge- 
bildet ist.  Er  nimmt  an,  dass  nur  der  instr.  pl.  und  eine 
gleichartige  dualform  den  ausgangspunkt  der  w-flexion  bil- 
deten. *) 

Ich  vermute,  dass  airus,  aus  älterem  "^airund,  mit  "^airü 
'rüder'  verwant  ist,  denn  zu  gr.  igitrig  'rüderer'  gehört  vjcfj- 
Qirrjg  'diener,  gehilfe'.  Dies  könnte  in  manchen  Verbindungen 
durch  an.  drr  widergegeben  werden;  so  wenn  Hermes  bei 
Aischylos  d^ecov  vjtTjQiTtjg  genannt  wird,  wenn  die  adjutanten 
und  Ordonnanzen  des  feldherrn  vjtfiQsrai  heissen,  u.s.w.  Vgl. 
ferner  das  zu  derselben  wurzel  gehörende  aind.  arati-  m.  'ge- 
hilfe, diener,  Verwalter',  und  air.  ara  'diener,  f uhrmann',  gen. 
arad,  st.  arät-  (Stokes,  Sprachschatz  s.  39). 

Ich  vermute  hiernach,  dass  got.  airus,  urgerm.  *airund 
part.  praes.  von  einem  verbalst,  air-  'rudern'  ist.  Ferner  dass 
air-  'rudern'  aus  vorgerm.  *arr  oder  *on-  entstanden  ist  und 
dass  dies  zu  indog.  er9-  im  ablautsverhältnisse  steht. 

Eine  frühere  vorgerm.  form  des  part.  war  wol  *ar9nt-. 
Ich  finde  es  weniger  wahrscheinlich,  dass  ^arQnt-  zu  *ariunt- 


')  Es  ist  verlockend,  im  finn.  airut  eine  spur  der  vorausgesetzten  älteren 
germ.  nominativform  *airimd,  wie  im  finn.  olut  'hier'  nach  der  andeutung 
Thomsens  eine  spur  von  germ.  *alup  oder  lit.  *olut,  zu  finden.  Vgl.  Thom- 
sen,  Finske  og  halt,  sprog  s.  158.  Finn.  aüut  *  plage'  könnte  eine  germ. 
neutralform  *aglut  sein.  Wegen  des  fehlens  des  n  in  airid  könnte  man 
dann  finn.  tuhat  neben  tuhansi  aus  lit.  tükstantis  vergleichen. 


BEITRÄGE  ZUR  VOBGEBMANISCHEN   LAUTGESCHICHTE.      433 

wurde  wie  gr.  aya^iai  zu  ayao\iai.  Ich  möchte  lieber  vermuten, 
dass  vorgerm.  an-  in  anderen  verbalformen  lautgesetzlich  zu 
germ.  air-  wurde  und  dass  die  form  des  part.  praes.  ^airunä- 
darnach  durch  analogie  gebildet  wurde. 

Dass  as.  ärundi  einen  anderen  vocal  als  eri  (pL),  got.  airus 
hat,  beruht  darauf,  dass  die  urgerm.  form  von  ärundi  zur  zeit 
der  fi'eien  betonung  auf  der  dritten  silbe  betont  war. 

4.  Ahd.  feili,  mhd.  und  mnd.  veile,  nhd.  feil,  nl.  veil  ist 
offenbar  mit  dem  gleichbedeutenden  ahd.  ßli  und  mit  an.  fair 
'feil'  verwant.  Darum  kann  das  ei  von  feili  nicht  einem  indog. 
oi  entsprechen.  Allein  wie  diese  formen  sich  zu  einander  ver- 
halten, ist  bisher  nicht  erklärt  worden.  Man  hat  gr.  jtwXsco 
'verkaufe',  Siini, pana-, 2^änate  (s.us*palnate)  'einhandeln,  kaufen, 
tauschen',  litpetnas  'erwerb,  verdienst'  verglichen. 

Hierzu  gehört  ferner  kelt.  {p)elniö  'verdiene'  in  air.  at-rö- 
illi  'meret'  (Stokes,  Sprachsch.  s.  42). 

Für  jccoXia),  lit.  petnas  u.s.w.  vermute  ich  eine  wurzel 
*peld-.  Ahd.  feili  ist  nach  meiner  Vermutung  aus  vorgerm. 
^pobyO'S,  ^pohyO'S  entstanden.  Ich  lasse  es  unentschieden,  ob 
das  ä  von  fäli  mit  dem  ä  des  as.  ärundi  gleichartig  ist  oder 
ob  fäli  vielmehr  eine  bildung  wie  mhd.  gcebe^  got.  unqeps,  an- 
danems  u.s.w.  ist. 

An.  fair  kann  nach  der  an.  form  einen  stamm  fala-  oder 
fali-  enthalten.  Ich  vermute  in  *fali-js  eine  bildung  wie  die 
der  adjj.  rQotptg,  ögojtig  und  der  substt.  germ.  mati-Sy  halgi-z^ 
gr.jtoXig,  fi6fig)ig  u.s.w.  (Osthoff,  IF.  3,390). 

5.  Got.  *mail  Qvrlg  (nur  im  gen.  pl.  maile  erhalten),  ahd. 
meila  f.  macula,  mhd.  meil  n.  und  meile  f.  'fleck,  mal',  auch 
bildlich  'sittliche  befleckung,  sünde'  (dazu  meilen  'beflecken'), 
ags.  mal  n.  'fleck',  neuengl.  mole  'muttermal'.  J.  Schmidt  u.a. 
haben  mit  recht  die  folgenden  Wörter  verglichen:  aind.  mdla-m 
n.  'schmutz,  unrat  (in  der  physischen  und  in  der  moralischen 
weit)',  malind-s  'schmutzig,  unrein',  später  'von  unbestimmter 
dunkler  färbe';  ^,[iiXag\  lett. me?n5  'schwarz',  melums  'schwärze, 
Schmutzfleck',  melt  'schwarz  werden'.  Zu  diesen  Wörtern  ge- 
hört u.a.  cymr.melyn  'gelblich'. 

Gr.  fiiXag  setzt  eine  indog.  wurzelform  ^meb-  voraus;  dazu 
verhält  sich  gr.  (leXav-  in  betreff  des  -v-  wie  raXav-  zu  der 
wurzelform  raXa-,    Zu  *mefo-  steht  vorgerm.  *wafo,  "^mali  oder 


434  BuaoE 

*iwöfo  im  ablautsverhältnis.  Aus  vorgerm.  *mäli,  *mol9  erkläre 
ich  mail    Vgl.  in  betreff  des  o  gr.  (loXvvm, 

Der  germ.  neutrale  substantivstamm  mcBla-,  meta-  ist  we- 
nigstens in  mehreren  bedeutungen  von  got.  mail  *  fleck'  gänzlich 
zu  trennen.  Von  der  wurzel  me-  'messen'  ist  sicher  an.  mal 
n.  'mass'  gebildet.  Hiermit  identisch  ist  gewis  got.  mel  n. 
'zeit',  an.  mal  'zeit,  Zeitpunkt',  ahd.  mhd.  mal  'Zeitpunkt'. 
Ferner  mhd.  mal  'grenzzeichen,  grenzstein,  Zielpunkt'.  Von 
'Zielpunkt'  wäre  ein  Übergang  zu  mhd.  mal  'zeichen,  merkmal, 
fleck'  möglich.  Jedoch  finde  ich  es  wahrscheinlicher,  dass  im 
germ.  m^la-,  mela-  zwei  verschiedene  Wörter  verschmolzen  sind 
und  dass  mhd.  mdl  'fleck'  mit  meil  'fleck'  verwant  ist  und 
mit  an.  mal  'mass'  nicht  zusammengehört.  Mhd.  äne  mal 
'ohne  makel'  ist  mit  äne  meil,  nhd.  muttermal  mit  bair.  mutter- 
mailen,  engl,  mole  synonym.  Dem  alt.  nhd.  anmal  'macula, 
naevus,  cicatrix',  ahd.  anamäli  steht  bair.  onmail  zur  seite. 
Got.  mela  neutr.  pl.  'schrift',  meljan  'schreiben',  ahd.  *mal  in 
anamäli  'fleck,  narbe',  mhd.  mal  'fleck',  und  vor  allem  ahd. 
mälon,  malen  'malen,  zeichnen',  mhd.  malen  'färben,  schminken, 
malen',  anorw.  mcela  'färben,  malen'  möchte  ich  von  den  fol- 
genden halt.  Wörtern  nicht  trennen:  lit.  melys  pl.  'blauer  färb- 
stoff',  melynas  'blau',  melyne  'blauer  fleck',  lett.  meles  'ein 
zum  blaufärben  gebrauchtes  kraut'.  Vgl.  Leskien,  Ablaut  s.  335. 

Das  B  des  got.  meljan  entspricht  genau  dem  e  des  lit. 
melys,  Got.  meljan  kann  sich  in  betreff  des  vocals  der  ei'sten 
silbe  zu  mail  verhalten  wie  ahd.  fäli  zu  feilL 

6.  An.  hreinn  m.  'renntier'  (n.  pl.  hreinar),  ags.  hrdn.  Das 
wort  ist  nicht  lappisch.  Thomsen  hat  gezeigt,  dass  ein  wort 
raingo  sich  im  läpp,  nicht  findet.  Die  angäbe  Gessners  (1563), 
dass  reen  lappisch  sei,  ist  einfach  fehlerhaft.  Auch  in  den 
mitteilungen  Öhtheres  bei  iElfred  findet  die  meinung,  dass 
hrdn  lappisch  sei,  keine  stütze,  hreinn  aus  ^hraina-sf  ist  sicher 
echt  nordisch  und  gewis  mit  gr.  xigag  verwant.  Das  tier  ist 
etymologisch  als  'der  gehörnte'  bezeichnet,  wie  bereits  Jo- 
hansson (Kuhns  zs.  30, 349)  angenommen  hat.  Jedoch  finde  ich 
den  von  ihm  angenommenen  stamm  *Jcrä-i-  'hom',  der  auch  in 
xQiog  ' Widder'  (xgi-fog)  stecken  soll,  nicht  hinlänglich  gestützt. 
Man  könnte  versucht  sein,  "^hraina-z  aus  *hra-ina-z,  indog. 
fcrd'ino'S  erklären  zu  wollen.    Allein  ich  finde  das  suffiz  -ino- 


BEITRÄGE  ZUR  VORGERMANISCHEN  LAÜTGESCHICHTE.      435 

nicht  in  dieser  weise  angewendet.  Ich  ziehe  eine  andere  er- 
klärung  vor. 

Wie  sich  aind.  Jcravt-,  gr.  xgea  neben  Jcravis-,  xgiag  findet, 
so  können  wir  neben  gr.  xigag  eine  indog.  Stammform  *kera- 
voraussetzen.  Davon  kann  man  durch  das  secundärsufflx  -no- 
*ker9no-s  ^gehörnt'  gebildet  haben.  Formell  entspricht  das  der 
bedeutung  nach  abweichende  xegavlgai  'sich  kopfüber  stürzen' 
bei  Hesych. 

Germ.  *hraina-0  'renntier'  setzt  nach  meiner  Vermutung 
vorgerm.  "^hor^o-s  voraus.  Dies  steht  zu  *ker9no-s  im  ablauts- 
verhältnis.  Euss.  serna  'reh'  ist  wol  nahe  verwant;  vgl.  auch 
J.  Schmidt,  Sonant.  s.  33 — 38.  Weil  im  vorgerm.  ^kort^no-s  ein 
n  nach  ,•  folgte,  wurde  das  wort  im  germ.,  wie  ich  vermute, 
nicht  zu  *hairna-£f,  sondern  zu  hraina-z. 

Für  das  o  des  vorgerm.  ^kort^no-s  vgl.  gr.  xoQVfißog  'spitze' 
und  ir.  com  'trinkhorn',  wenn  dies  nicht  entlehnt  ist. 

Mehrere  andere  indog.  bezeichnungen  verwanter  tiere  ent- 
halten das  Suffix  -no-:  gr.  iXXog  'junger  hirsch'  aus  *Uv6g, 
vgl.  lit.  elnis  aus  ^ebnis  BB.  17, 225;  aind.  harinä-s  'gazelle'. 

Sowol  in  dem  von  mii*  vorausgesetzten  vorgerm.  *kor9no-s 
als  im  aind.  harind-s  ist  das  suffix  -no-  an  eine  zweisilbige 
wurzelform  gefügt,  welche  im  auslaut  einen  nach  einer  liquida 
folgenden  reducierten  vocal  hat. 

7.  Got.  fraisan  (praet.  faifrais)  mit  acc.  'versuchen',  Jtsi- 
Qa^eiv;  fraistubni  f.  jreiQaöfiog;  ahd.  freisa  f.  'tentatio,  pericu- 
lum',  freisön  'periclitari',  mhd.  vreise  f.  m.  'gefährdung,  gefahr, 
verderben, schrecken',  vr eisen  'in  gefahr  und  schrecken  bringen'; 
as.  fresa  f.  'gefahr',  fresön  (mit  gen.)  'gefährden,  versuchen'; 
ags.  frdsian  'question,  tempt';  an.  freista  (praet.  freistand)  mit 
gen.  'versuchen'. 

Eine  deutung  von  fraisan  als  fra-isan  oder  fr(ayaisan 
würde  der  bedeutung  nicht  genügen;  vgl.  aind.  iS-,  icchdti 
'suchen,  wünschen'  (nicht  mit  pra);  is-,  isyati  'in  rasche  be- 
wegung  setzen',  mit  pra  'forttreiben,  antreiben,  (zur  dar- 
bringung oder  zur  recitation)  auffordern'.  Mit  mhd.  ver-eischen, 
vr  eischen  'vernehmen,  erfahren,  erfragen'  ist  das  ältere  verbum, 
got.  fraisan  u.  s.  w.,  kaum  verwant. 

Mit  dem  germ.  fraisan  u.  s.  w.  hat  man  längst  gr.  und  lat. 
Wörter,  die  zu  jenem  dem  sinne  nach  trefflich  passen,  zusammen- 


436  BUGGE 

gestellt,  ohne  jedoch  die  germ.  form  erklären  zu  können.  Gr. 
:!taQa,  ^oX.jttQQa  (für  jtiQJa)  'versuch,  probe,  erfahrung',  jteiQaco 
'versuche',  mit  gen.  'stelle  auf  die  probe',  später  mit  acc.  'ver- 
suche'; lat.  experior  'versuche',  periculum  'versuch,  gefahr', 
peritus  'erfahren'.  Hiemach  deute  ich  das  germ.  verbe  "^fraisö 
aus  vorgerm.  "^pordsö  von  einer  wurzel  *perd-,  wozu  jtelga  und 
ex'perlri  gehören.  Vgl.  wegen  des  s  z.  b.  got.  fra-liusa  neben 
gr.  Xvco,  ahd.  hläsu  neben  bläu.  Verwant  sind  got.  ßrja  'nach- 
steller', ahd.  fära  f.  'nachstellung,  gefährdung,  gefahr',  as.  fär, 
ags.  fcer  f.  'nachstellung,  unvorhergesehene  gefahr,  schrecken', 
anorw.  fdr  n.  'gefahr,  schaden,  verderben,  zorn'. 

Germ.  *fmisö  verhält  sich  in  betreff  des  ersten  vocals  zu 
ahd.  fära,  wie  ahd.  faüi  zu  fäli,  mhd.  meil  zu  mal. 

Das  ö  des  vorgerm.  *por9so-  wird  vielleicht  durch  das 
subst.  ahd.  freisa  erklärt,  das  vorgerm.  *por9sa  voraussetzt. 
—  Für  die  bildung  dieses  *por9sä  vgl.  aind.  tavisd-  von  tu-, 
tavUi. 

8.  Neunorw.  dial.  (besonders  im  östlichen  Norwegen)  adj. 
eim,  mm,  emm,  öm,  öym,  auch  cemen,  emmen,  vielleicht  eimen 
'unschmackhaft,  ekelhaft',  besonders  von  dem  allzu  fetten  und 
allzu  süssen.  Vgl.  Aasen  und  Eoss.  In  Telemarken  mme  f. '  ekel- 
hafter geschmack'.  Hiemach  ist  anorw.  adj.  "^eimr,  urgerm. 
'^aim{a^)'Z,  und  anorw.  "^deminn,  subst.  '^'cem^a  f.  oder  cemi  f. 
vorauszusetzen.  Aus  mmen  neben  eim  folgere  ich,  dass  ei 
hier  nicht  aus  indog.  oi  oder  ai  entstanden  ist. 

Im  alban.  bedeutet  dm^Xd,  dmhdVd  'süss';  davon  tamXd 
'galle,  milch'.  Dies  gehört  zu  aind.  amld-s  (ambla-s)  'sauer, 
säure,  essig',  amla-m  'buttermilch'.  Für  die  bedeutungsent Wicke- 
lung vergleicht  man  got.  sali  neben  lit.  saldiis  'süss',  gr.  ^öog 
'essig'  neben  7)övg  'süss',  suUe  'jede  zu  gallert  erstarrte  brühe 
oder  saft,  namentlich  auch  süss  eingekochtes  fruchtmuss'.  Ind. 
amld'S  gehört  mit  lat.  amärus  'bitter',  nhd.  ampfer  zu  aind. 
ämd'S,  ir.  6m,  gr.  cofiog  'roh',  aind.  amiti,  amlti  *  plagt',  ämdyati 
'ist  schadhaft,  krank',  dmlvä  *  plage,  krankheit',  anorw.  am>a 
'plagen'. 

Hiernach  vermute  ich,  dass  germ.  aim-  im  norw.  eim  aus 
indog.  '^am^-,  vorgerm.  *amr  entstanden  ist  und  dass  das  wort 
zu  aind.  amlti  'plagt'  gehört.  Norw.  eim  'ekelhaft  süss'  ist 
hiernach  mit  alb.  dm9V9  'süss'  verwant. 


BEITRÄGE  ZUR  VORQERHANISCHEN  LAUTGESCHICHTE.      437 

Neunorw.  cemen,  an.  *ceminn  verhält  sich  in  betreff  des 
vocals  zu  eim,  an.  eimr,  wie  as.  ärundi  zu  got.  airu-s,  Neunorw. 
eimen  ist  analogiebildung  nach  eim,  wie  umgekehrt  emm  nach 
emmen,  cemen.  Die  Urformen  der  hier  behandelten  Wörter  lassen 
sich  jedoch  in  betreff  der  sufflxe  nicht  sicher  bestimmen,  weil 
sie  nur  in  neueren  mundarten  erhalten  sind. 

9.  Got.  maitan,  maimait  *  hauen',  himaitan  ^beschneiden'; 
anorw.  meita  (praet.  meitta)  'schneiden,  scheren'  (davon  meitill 
'meissel');  ahd.  mman,  mM,  meinen  *  hauen,  schneiden'.  Dieses 
verbum  ist  etymologisch  nicht  befriedigend  erklärt  worden. 
Einige  haben  es  mit  engl,  mattock  *  hacke'  verbinden  wollen. 
Allein  dies  ist  aus  dem  cymr.  matog  entlehnt;  das  cymr.  wort 
gehört  mit  ksl.  motylca,  lit.  matikas,  ferner  wol  auch  mit  lat. 
*matea,  mateola,  aind.  matyä-m  zusammen. 

Persson  und  Brugmann  führen  maitan  mit  got.  -smi^a 
' Schmied'  auf  eine  gemeinsame  wurzel  sm^ei-  zurück.  Allein 
germ.  *5m^-  *in  harten  Stoffen  arbeiten'  liegt  seiner  bedeu- 
tung  nach  so  weit  ab,  dass  ich  dies  bedenklich  finde.  Noch 
weiter  ab  liegt  das  daneben  verglichene  gr.  Ofi^  'reibt  ab,  putzt'. 

wmtan  ist  dagegen  mit  gr.  tifiveiv  wesentlich  gleichbedeu- 
tend. Got.  himaitan  gibt  jcegizißveiv^  himait  jteQirofii^  wider. 
Mit  astans  maimaitun  us  hagmam  vgl.  sgireov  . . .  tafive  veovq 
oQjcTjxag;  haubip  afmaitan  wie  rafietv  xaga  xipog.  Anorw. 
meita  m^nar  ist  'die  mahne  der  pferde  scheren';  vgl.  rifipers 
jccoXovg  q)6ßrjv  Eurip.  Mit  ahd.  steinmeiisiso,  steinmezzo  mhd. 
steinmeize,  -meizel  vgl.  Xarofiog, 

Aus  rifiaxog,  rfirjzog,  rtfiva)  ist  eine  indog.  wurzelform 
"^temd-  zu  folgern.  Indog.  verba  werden  oft  durch  -do-  erweitert, 
z.  b.  anorw.  vel-t  (aus  vorgerm.  *wel-dö)  und  mit  verschiedenem 
vocal  ahd.  wal-isu. 

Hiernach  vermute  ich  vorgerm.  *tom9dö,  vgl.  lat.  tondere 
'scheren'  aus  Hom-de-re,  Vorgerm.  Homodö  wurde  nach  der 
von  mir  begründeten  regel  zu  *tmoidö,  verschoben  "^pmaitö. 
Allein  da  pm  im  germ.  anlaute  nicht  möglich  war,  entstand 
daraus  germ.  *maitö. 

Das  erste  ö  eines  vorgerm.  Stammes  ^tomsdo-,  woraus  germ. 
maita-,  lässt  sich  bei  Substantiven  am  leichtesten  erklären. 
Vgl.  got.  limait  n.  jtsQirofii^,  norw.  dial.  meit  f.  'streifen,  zeile, 
kerbe',  mhd.  meiz  m.  'einschnitt',  mit  gr.tofii^,  ro/iog,  ro/iog. 


438  BÜGGB 

Darauf  dass  das  ai  von  maitan  nicht  =  indog.  ai  oder  oi 
ist,  deutet  vielleicht  ahd.  steinmemzo  neben  dem  einmaligen  stein- 
meizzOy  mhd.  steinnietze  neben  steinmeize,  nhd.  Steinmetz;  mezzo 
aus  *matja,  Oder  ist  mcezo  aus  dem  einfluss  des  synonymen 
roman.  Wortes  (franz.  magon,  prov.  masso)  zu  erklären? 

Für  die  metathesis  germ.  maitö  für  *j>maitö  aus  vorgerm. 
Hoimdü  vgl.  u.  a.  no.  6  *hraina-z  aus  vorgerm.  "^kordno-s, 

10.  Got.  *aglaits  *  schändlich'  in  aglait-gastdlds  aioxQo- 
xiQÖTjg;  ahd.  agaleizi  improbus  (labor),  sollers;  adv.  agaleizo, 
mhd.  ageleize  'emsig,  eifrig',  as.  agaUto,  agUto;  got.  aglaitei  f. 
und  aglaiti  n.  doiXyeia^  mhd.  ageleize  f.  'eifer'.  Dies  wort 
gehört  sicher  zu  got.  agffe  aloxQog,  dem  nach  meiner  Vermutung 
das  urnord.  agala  n.  auf  dem  Kragehuler  lanzenschaft  ent- 
spricht. 

Ferner  ist  es  wahrscheinlich,  dass  aglaits  mit  den  adjectiv- 
bildungen  zusammengehört,  deren  suffix  ein  germ.  -t-,  vorgerm. 
-d-  als  den  charakteristischen  consonanten  zeigen;  z.  b.  ahd. 
gremizzi  'erzürnt',  einazzi,  gr.  fiomö-,  yvfipaö'  u.s.w.  Allein 
das  ai  von  aglaits  ist  unerklärt. 

Es  scheint  möglich,  dass  im  vorgerm.  eine  form  mit  einem  a 
unmittelbar  vor  l  bestand,  obgleich  ich  hierfür  in  urnord.  agala 
und  ahd.  agaleizo  keine  stütze  suche.  Ferner  scheint  es  mir 
möglich,  dass  der  unmittelbar  vor  dem  -d-  (germ.  -t-)  des  Suf- 
fixes stehende  vocal  im  vorgerm.  ein  schwalaut  war,  der  nach 
dem  vocal  der  folgenden  silbe  wechselte  und  als  ein  reduciertes 
i  erscheinen  konnte. 

Ich  setze  hiernach  vorgerm.  *aghalid-  voraus.  Daraus 
entstand  nach  der  von  mir  begründeten  regel  germ.  "^aglait-. 
Allein  das  a  vor  l  in  der  vorausgesetzten  vorgerm.  form  *aghalid- 
kann  mit  dem  a  vor  l  im  ahd.  agaleizo  keinen  historischen  Zu- 
sammenhang haben. 

11.  Ahd.  araweiz,  arwiz  f.  'erbse',  mhd.  areweiz,  eriweiz, 
erwiZj  nl.  erwt,  ert,  and.  erit\  anorw.  ertr  f.  pl.,  gen.  ertra; 
aschw.  cert,  non.  pl.  certer,  gen.  pl.  certa.  Das  wort  gehört  mit 
gr.  iQißivd^og,  oQoßog  'erbse',  lat.  ervum  'eine  art  wicke'  (wie 
ags.  earfan)  zusammen,  allein  dasselbe  ist  nicht  aus  dem  gr. 
oder  lat.  entlehnt.  Als  urgerm.  stamme  sind  *arwait-  und 
arwit'  fem.  vorauszusetzen.  Die  suffixe  dieser  stamme  sind 
offenbar  mit  gr.  -d-suffixen  verwant;  vgl.  z.  b.  xeöglö-  f.  frucht 


BEITRÄaE  ZUR  VORaERMANISCHEN  LAUTGESCHICHTE.      439 

der  ceder,  xortvad-  t  frucht  des  wilden  Ölbaums.  Nach  der 
von  mir  gegebenen  regel  kann  germ.  *arwait-  aus  vorgerm. 
*oroWid'  entstanden  sein.  Dieselbe  form  des  Suffixes  habe  ich 
im  vorhergehenden  bei  got.  aglaits  vermutet. 

Germ,  "^arwlt-  scheint  auf  eine  vorgerm.  nebenform  *oriWid- 
hinzuweisen.  Siehe  davon  in  dem  folgenden  artikel  über  das 
germ.  t.  Im  vorgerm.  "^orowid-^  woraus  germ.  *arwait-,  waren 
die  vocale  o  und  das  reducierte  i,  aus  denen  im  germ.  ai  ent- 
standen ist,  wie  im  vorgerm.  Jcrowr  =  germ.  hraiw-,  durch  w 
getrennt. 

12.  Got.  arhaips  (st.  arhaidi-)  f.  'bedrängnis,  not';  ahd. 
ar(a)beit  f.  *  arbeit,  mühsal,  not';  as.  arded  f.  und  ardedi  n. 
'mühsal,  beschwerde,  leid';  nl.  arbeid  m.;  ags.  earbed,  earfod, 
erfede  n.;  aisl.  erfiöi  n.;  aschw.  arvope,  -upe  n.,  osrvop,  -upe,  -ape 
^arbeit,  landarbeit'.  Ueber  die  form  des  deutschen  wertes  vgl. 
Sievers,  Beitr.  19, 551  f.  Behaghel,  ebda.  20, 344. 

Es  ist  allgemein  anerkannt,  dass  das  wort  mit  kslav. 
rabota  f.  ^knechtschaft,  frohndienst,  arbeit',  rabü  'knecht',  aus 
*orbu,  zusammengehört;  vgl.  armen,  arbanedk  ^diener,  gehilf e'. 
Allein  unter  der  Voraussetzung,  dass  arbaips  ein  nicht  zu- 
sammengesetztes wort  sei,  hat  man  das  ai  desselben  nicht  er- 
klären können.  Man  hat  daher  in  arbaid{i)'  notgedrungen 
eine  Zusammensetzung  gesucht.  Kluge  (Et.  wb.*)  teilt  arba-id(iy 
und  sucht  in  dem  zweiten  gliede  ein  mit  anorw.  iä  f.  'werk, 
Wirksamkeit'  verwantes  wort,  während  Thurneysen  (IF.  8, 1.13) 
an  ein  compositum  mit  baid-  'zwang'  (zu  baidjan)  denkt. 

Vielleicht  ist  jedoch  germ.  arbaid{i)  aus  vorgerm.  *aräbit- 
entstanden,  und  dies  von  einem  mit  dem  ksl.  subst.  rabü  zu- 
sammengehörenden  verbum  abgeleitet,  das  'arbeiten'  bedeutet 
hat.  Darf  man  in  betreff  des  vokals  der  letzten  silbe  aind. 
sarit'  f.  'bach'  vergleichen?  Zur  erklärung  davon,  dass  das 
got.  wort  arbaid'y  nicht,  wie  man  nach  der  für  den  spiranten- 
wechsel  geltenden  regel  erwarten  sollte,  "^arbaip-  lautet,  be- 
merkt Thurneysen:  ^arbaid-  kann  sich,  falls  -aid-  suffixal  ist, 
an  das  participialsuffix  -aida-  anlehnen'. 

13.  Ahd.  mhd.  öheim,  nl.  öm,  ags.  eam  'oheim',  afries.  em 
'mutterbruder'.  Man  ist  darüber  einig,  dass  dies  wort  mit 
lat.  avonculus  verwant  ist,  ferner  mit  cymr.  ewythr  'onkel' 
(aus  *avonter  Stokes),   corn.  euitor,    bret.  eontr;    endlich  mit 


440  BUGGE 

preuss.  awis  'oheim',  ksl.  uß  'avunculus'  und  lit  avynas  'der 
mutter  und  des  vaters  bruder'.  Alle  diese  bezeichnungen  des 
Oheims  oder  eigentlich  des  mutterbruders  sind  von  der  bezeich- 
nung  des  grossvaters  mütterlicherseits  abgeleitet:  lat.  avos, 
vgl.  got.  awö  1  *grossmutter'.  Vgl.  namentlich  Kluge  und 
Osthoff,  Beitr.  13, 447  ff.  Das  h  von  öheim  hat  man  mit  dem 
c  des  lat.  avonculus  identiflciert. 

Allein  die  bildung  des  deutschen  öheim  ist  noch  nicht 
klar  geworden.  Ahd.  öheim  führt  auf  *auhaim^-z  zurück;  als 
urgerm.  form  vermute  ich  *aunxaima-£f.  Dies  erkläre  ich  aus 
vorgerm.  ^awonkdmo-s.  Das  o  der  zweiten  silbe  wurde  durch 
den  einfluss  des  folgenden  9  zu  oi,  ai  und  durch  Versetzung 
wurde  -oinJc-  zu  -nxai-;  vgl.  hraina-z  aus  ^/corQno-s  u.s.w. 
Nach  dieser  Versetzung  musste  vor  -nx-  einsilbiges  au  ein- 
treten. In  dem  vorausgesetztem  vorgerm.  *awonkdmO'S  finde 
ich  das  awon-  des  lat.  avonculus  und  des  britann.  *awonter 
wider.  Das  -kd-  von  *awon-kdmO'S  ist  deminutivsuffix;  vgl. 
lat.  avon-cu'lu^.    Endlich  enthält  das  wort  das  suffix  -mo-. 

In  indog.  verwantschaftswörtern  ist  -no-  ein  häufig  vor- 
kommendes suffix,  dagegen  nicht  -mo-.  So  namentlich  in  den 
halt,  sprachen:  lit.  avynas  'mutterbruder',  tetenas  'mann  der 
tetä,  der  Schwester  des  vaters  oder  der  mutter',  laigönas  'bruder 
der  frau',  u.v.a.  Auch  in  anderen  indog.  sprachen,  z.b.  ksl. 
Äwnni^ 'bruder  der  frau',  corn.  Ävigf er en' Schwiegervater'.  Darum 
liegt  die  Vermutung  nicht  fem,  dass  vorgerm.  ^awonkamo-s 
durch  den  einfluss  des  w  aus  *awonkdno-s  entstanden  sei;  vgl. 
ahd.  piligrim  aus  lat.  peregrinus,  ahd,  pflümo  und  pfruma 
gegen  lat.  prunu^,  prunum,  u.  a.  ähnl.  Allein  gegen  ^ie  ge- 
nannte auffassung  des  in  oheim  enthaltenen  m  spricht  viel- 
leicht ahd.  eidum  'eidam',  ags.  döum. 

Nach  Osthoff  ist  mhd.  ceheim  eine  compromissform  zwischen 
öheim  und  *(jßhim;  das  letztere  findet  er  durch  neund.  ö^mo 
bezeugt.    Vgl.  aber  Behaghel,  Beitr.  20, 344. 

14.  Ahd.  meinen,  meinan  'meinen,  denken,  sagen,  erklären', 
mhd.  meinen  'sinnen,  nachdenken,  bezwecken,  eine  gesinnung 
gegen  oder  für  jemand  haben';  as.  menian,  nl.  meenen,  ags. 
mcenan;  ahd.  meina  f.,  mhd.  meine  f.  'sinn,  gesinnung,  meinung, 
liebe'.  Man  stellt  diese  Wörter  gewöhnlich  zu  der  indog.  wurzel 
men-  'denken',  wozu  u.  a.  gr.  (ii/iova,  /itvog,  ahd.  manön,  manen 


BEITRÄGE  ZUR  VORGERMANISCHEN  LAÜTGESCHICHTE.      441 

gehören;  allein  man  hat  die  lautform  des  westgerm.  wortes 
nicht  überzeugend  erklären  können.  Die  nahe  anklingenden 
slav.  Wörter  ksl.  menjq,,  meniti  *  meinen',  po-menü  'memoria', 
pomenq,ti  *  gedenken'  werden  von  slav.  Standpunkte  aus  in  ver- 
schiedener weise  erklärt;  s.  Zubaty,  Arch.  f.  sl.  phil.  15,  497  f. 
Meillet,  MEN  s.  26.  36.  Brugmann,  Grundr.  12, 388.  Ich  gehe  auf 
die  slav.  Wörter  nicht  ein.  Stokes  (BB.  21, 131)  führt  air.  mein 
'sinn,  meinung'  auf  eine  urform  meini-  zurück  und  stellt  dies 
mit  ahd.  meinen,  ksl.  meniti  zusammen.  Der  vocal  des  air. 
Wortes  ist  mit  dem  des  germ.  etymologisch  nicht  identisch. 
Ahd.  meinen,  urgerm.  "^mainjan  kann  von  meina,  urgerm.  *mainö 
abgeleitet  sein.  Um  das  Verhältnis  dieser  Wörter  zu  gr.  fisvog, 
fiBfiova  erläutern  zu  können,  wende  ich  mich  zum  gr.  (isvo). 
Auch  nach  meiner  ansieht  gehört  fisvco  mit  fiirog,  fiifiova  zu- 
sammen, obgleich  Meillet,  MEN  s.  7  dies  leugnet.  Curtius 
(Grundzüge  s.  103)  sagt:  'es  scheint  unzweifelhaft,  dass  die 
spräche  den  begriff  des  bleibens  und  beharrens  erst  aus  dem 
des  sinnenden,  zögernden  denkens  und  bedenkens  als  dem  gegen- 
teil  rascher  tat,  ableitete'. 

Aind.  man-  in  mamandhi,  dmaman  'zögern,  zuwarten,  still 
stehen'  zeigt  vielleicht  die  vermittelung  der  genannten  bedeu- 
tungen.  Deutlicher  ist  dies  im  germanischen.  Mhd.  meinen 
ist  'sinnen,  nachdenken'.  Davon  trenne  ich  nicht  vollständig 
ostnorw.  dial.  meine,  schw.  dial.  mena  'zögern,  sich  bedenken, 
unentschlossen  sein'.  Z.  b.  norw.  hä  cer'e  du  stä/r  ä  meiner 
etter  ä  kann  itte  hämmä  a  gale?  (Eoss);  schw.  dial.  han  sto  d 
mena  innan  han  hom  sej  före.  Dies  verbum  (praes.  meinar, 
menar)  wird  formell  meistens  von  dem  aus  dem  deutschen 
entlehnten  meine  (praes.  meiner,  mener)  'meinen'  geschieden. 
Hierher  wol  auch  aschw.  utan  meen  'ohne  Verzug'? 

Diese  ostnord.  Wörter  sind,  wie  es  scheint,  nicht  aus  dem 
deutschen  entlehnt.  Sie  gehören  dem  sinne  nach  natürlich  zu 
lat.  maneo  'bleibe,  warte';  gr.  fievco  'bleibe,  warte,  harre',  oft 
mit  dem  nebenbegriffe  von  Untätigkeit;  kelt.  "^anmenjä  'geduld' 
(ir.  ainnme,  cymr.  amynedd)  Stokes,  Urkelt.  sprachsch.  s.  13  und 
210;  armen,  mnam  'bleibe,  erwarte';  apers.  amänaya  'er  er- 
wartete; neupers.  mänam  'bleibe'. 

Gr.  fitvsTog  und  ion.  fut.  fievico  bezeugen  wol  eine  zweisil- 
bige wurzelform.  Man  kann  hiernach  indog.  men9'  voraussetzen. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  29 


Arm.  mncHn  kann,  wie  Meillet  (MEN  s.  31)  meint,  ans  *mnäye- 
entstanden  sein.  Allein  wie  arm.  cna-  in  cnatU  'genitor'  = 
aind.  jani-,  vgl.  gr.  Yevs-,  ist,  so  kann  mna-  ans  *mina-  =  indog. 
*men9'  entstanden  sein.  Zweifelhafter  ist  es,  ob  aind.  mamSä 
'andenken,  andacht'  und  apers.  -maniS  (in  namen)  eine  zwei- 
silbige wurzelform  *mew5-  *  denken'  bezeugen. 

Nach  dem  vorhergehenden  betrachte  ich  mhd.  meine  f. 
'sinn',  urgerm.  *mainö  als  mit  an.  dr  'rüder',  urgerm.  *airö, 
aus  einer  vorgerm.  wurzelform  *arr  oder  *ön-,  analog.  Ich 
setze  für  *mainö  eine  vorgerm.  wurzelform  *monr  oder  *man^- 
(vgl.  lat.  maneo)  voraus.  Von  *mainö  ist  *mainijan  'meinen', 
wie  anorw.  cera  'rudern'  von  dr,  abgeleitet. 

15.  Wenn  man  in  den  aisl.  )?ulur  unter  den  (poetischen) 
namen  des  feuers  eimi  und  eimr  aufgeführt  findet,  so  liegt 
nichts  näher  als  die  Vermutung,  dass  eimi  aus  *eiämi  ent- 
standen sei  und  mit  ahd.  eit  'glut',  gr.  ald^co  zusammen  gehöre. 
Jedoch  trifft  diese  Vermutung  kaum  das  richtige.  Anorw. 
eimr  m.  bedeutet  'damp^  weisser  rauch'  und  findet  sich  so  in 
der  alten  prosaliteratur  angewendet.  Ebenso  ist  eimi  in  der 
VQluspä  als  'dampf  aufzufassen.  Nur  die  kunstdichter  haben 
eimi  und  eimr  in  der  bedeutung  'feuer'  angewendet. 

Die  grundbedeutung  dieser  Wörter  erhellt  aus  den  neu- 
nord.  mundarten.  Norw.  dial.  eim  m.  'dampf  (von  heissen 
fiüssigkeiten)',  'brodem  (dampf  oder  geruch  von  gebrannten 
oder  heissen  gegenständen)';  allein  auch  'schwaches  lüftchen', 
'schwache  andeutung  (schwacher  geruch  oder  geschmack  von 
etw.,  fiüchtige  ähnlichkeit)',  'empfindung  eines  Schmerzes,  wie 
eine  Strömung  im  körper'.  Daneben  das  verbum  eima  in  ent- 
sprechenden anwendungen.  Siehe  Aasen  und  Ross.  Neuisl.  eimur 
m.  'dampf,  feuer  (dies  nur  poet.),  schwacher  undeutlicher  laut 
aus  der  ferne,  resonanz,  spur  von  etw.';  s.  Thorkelsson,  Supple- 
ment, 3.  Sammlung. 

Auf  den  Färöern  weicht  die  bedeutung  des  Wortes  ab: 
eimur  'wärme  von  glühenden  kohlen',  auch  'glühheisse  asche' 
(was  anorw.  eimyrja  heisst);  eimingur  m.  'schwaches  feuer,  ein 
kleiner  angezündeter  Scheiterhaufen'. 

Gotl.  aim  m.  'dampf,  schwaches  lüftchen',  aima  'dampfen, 
ausdünsten'.  Aschw.  adän.  ember,  em  m.  'dampf;  noch  jetzt 
in  Jütland  eme  'dampfen'. 


BEITRÄGE  ZÜE  VORGERMANISCHEN   LAÜTGESCHICHTE.      443 

Hierher  gehört  wol  auch  estschw.  aim  n.  *  nördlich!',  verb. 
impers.  aim,  äim,  das  zugleich  ^hitzen'  bedeutet. 

Nach  dem  angeführten  scheint  die  grundbedeutung  des  an. 
eimr  dieselbe  wie  die  des  deutschen  ateni  gewesen  zu  sein,  vgl. 
gr.  ccTfiog  ^  dampf,  brodem'.  Dies  passt  nicht  zu  der  Verbindung 
mit  aiB^co,    Die  urgerm.  Stammform  war  aima-. 

Dies  folgere  ich  aus  anorw.  dmyrja  f.  'glühheisse  asche', 
dän.  emmer;  ags.  cemyrie,  cemer^e  f.,  engl,  embers,  schott.  ammeris-^ 
nd.  eemere,  ämere;  ahd.  eimuria,  mhd.  eimere,  alt.  nhd.  ammer. 

Dies  wort  verhält  sich  zu  anorw.  dmiy  stamm  *mmaw-, 
kaum  wie  aind.  ^ft;an  zu^^^^^aw-;  ist  auch  nicht  ungefähr  wie 
got.  berusjös  gebildet.  Pott,  Kluge  und  Noreen  sehen  in  an. 
eim-yrja  eine  Zusammensetzung  mit  ^ujsyö,  das  mit  aisl.  poet. 
ysia  'feuer',  mhd.  usel,  üsel  ^  funke,  aschenstäubchen'  verwant 
sein  soll.  Diese  annähme  wird  dadurch  bedenklich,  dass  norw. 
dial.  und  aschw.  eldmyrja,  adän.  ildmörie  mit  derselben  bedeu- 
tung  wie  anorw.  eimyrja  angewendet  wird;  auch  neunorw.  dial. 
myrja,  adän.  mörrice,  Neunorw.  dial.  myrja,  schw.  mörja  be- 
zeichnet zugleich  *  dicke,  flüssige  masse  (z.  b.  von  schlämm)'. 

Daher  ist  an.  eimyrja,  ahd.  eimuria  eher  aus  ^eim-myrja, 
"^eim-muria  zusammengesetzt. 

Man  könnte  freilich  daran  denken,  dass  man  im  germ. 
zwei  verschiedene  substantivstämme  aim{a-)  hätte;  notwendig 
scheint  diese  annähme  jedoch  nicht.  Sicher  ist  es  jedenfalls, 
dass  neuisl.  eimur,  neunorw.  eim  in  mehreren  bedeutungen 
(z.  b.  als  ^schwaches  lüftchen')  nicht  zu  einer  wurzel  gehören 
kann,  die  ursprünglich  *  brennen'  bedeutet  hat. 

Im  ablautsverhältnis  zu  eimr  stehen:  aisl.  ima  *  dampf?' 
(in  der  Verbindung  eldz  ima)  Harmsöl  39;  neunorw.  dial.  im  m. 
^geruch,  Witterung'  (nicht  =  anorw.  ilmr)\  *  schwacher  Schim- 
mer, wie  von  einer  fernen  f euersbrunst '  (ähnlich  wird  eim  an- 
gewendet); im  n.  *eine  schwache  andeutung  von  etwas  (durch 
Schimmer,  bewegung,  färbe),  welche  sich  auf  einer  Oberfläche 
zeigt';  ima  ^dampfen,  eine  schwache  andeutung  geben';  wie 
eima  4icht  ausstrahlen',  ^wie  ein  schmerz  durchströmen'.  Neu- 
schw.  im,  imme  m.;  immu  f.  *  dampf;  schw.  dial.  immla  *  dam- 
pfen'; südjüt.  dial.  ime  *  rauchen,  zu  brennen  anfangen'.*) 

^)  Zu  eimr,  im  wol  mit  dem  praefix  ga-  norw.  dial.  geim,  gim  m. 

*  dampf '  Wadstein,  IF.  5, 9. 

29* 


444  BUGGE 

Mit  an.  eimr  und  den  dazu  gehörigen  Wörtern  wesentlich 
gleichbedeutend  ist  ein  anderer  nord.  wortstamm:  schw.  dial. 
am  m.  *  dampf,  geruch'  (in  Finnland);  dma,  ämo  t  'dampf, 
Windhauch;  stimme,  ausspräche';  in  anderen  mundarten  ämme 
m.  'damp^  Windhauch';  vb.  äma  *  dampfen,  duften,  schlimmen 
geruch  ausdünsten',  anderswo  ämma  *  wehen'  (hierher  schott. 
oam  *  dampf'?).  Durch  den  einfluss  des  m  geht  ä  in  das  lange 
geschlossene  o  über  (Falk,  Arkiv  6, 116).  Daher  gehören  hierher 
norw.  dial.  6m  m.  'schwacher  geruch,  z.  b.  von  verdorbenem 
kom';  ome  m.  'geruch  von  etwas  brennendem'  (wie  anderswo 
eim);  'sonnenrauch,  Strömung  warmer  und  trockener  luft';  vb. 
6m^  'schwach  riechen;  warm  und  trocken  sein  (von  der  luft)'; 
schw.  dial.  öma  'riechen,  wärme  ausstrahlen,  schwach  schmerzen'. 
Shetl.  a  em  &  heat  'schwüle  hitze'. 

Got.  dhma  'geist'  (jtvavfia)  würde  zwar  in  an.  form  *aiwi 
lauten  müssen.  Allein  die  verwantschaft  desselben  mit  ahjan 
'glauben',  aha  'verstand'  zeigt,  dass  seine  grundbedeutung  eine 
andere  ist  als  die  des  nord.  dm.  Eher  könnte  man  geneigt  sein, 
dies  am  mit  ahd.  ätum  zu  verbinden;  vgl.  namentlich  afries. 
omma,  om  'atem'.  Allein  man  wird  nord.  am  nicht  gern  von 
dem  gleichbedeutenden  eim  trennen  wollen.  Formell  ist  das 
Verhältnis  von  dm  zu  eim  mit  dem  von  ahd.  ärunti  zu  got. 
airus  oder  von  norw.  cemen  zu  eim  adj.  zu  vergleichen. 

Namentlich  ist  hier  hervorzuheben,  dass  eine  neunorw. 
mundart  ämyrja  in  derselben  bedeutung  wie  eimyrja  hat.  Hier 
ist  ä  in  stark  nebentoniger  silbe  entstanden:  vgl.  Noreen,  Aisl. 
gr.  1,  37. 

Nach  dem  vorhergehenden  möchte  ich  vermuten,  dass  das 
ei  des  an.  eimr  'dampf  nicht  aus  indog.  oi  oder  ai  entstanden 
ist,  sondern,  wie  in  got.  airus  und  dem  norw.  adj.  eim,  aus 
vorgerm.  a  (oder  6)  durch  die  epenthese  eines  reducierten  i, 
das  einem  aind.  i  entsprach. 

Ich  erkläre  an.  eimr,  urgerm.  ^aima-z  aus  vorgerm.  *aw,-wo-;er 
und  vgl.  gr.  ävsfiog,  lat.  animus,  von  aind.  dniti  'atmet',  got. 
an-,  uz'ön  'hauchen'.  Urgerm.  "^aimaz  ist  hiernach  aus  "^ainma-z 
entstanden,  "^ainmaz  wurde  zu  *aimmaz,  wie  ahd.  hamma  'Schen- 
kel', nd.  hamm  'bergwald',  aus  *hanma  entstanden  sein  soll, 
vgl.  gr.  xvTif4Tj.  xvrjfiog.  "^aimmaz  wurde  zu  *aimaz  in  Überein- 
stimmung mit  den  von  Brugmann,  Grundr.  1^,  812  genannten 


BEITRÄGE  ZUR  VORGERMAKISCHEN  LAUTGESGHICHTE.     445 

Übergängen,  z.  b.  ahd.  wis  aus  *wissa'.  Die  bedeutungen  er- 
klären sich  durch  diese  deutung  trefflich.  Norw.  dial.  eim 
*  schwaches  lüftchen',  schw.  dial.  ämme  m.,  äma  t  *  Windhauch' 
wie  lat.  anima  Uuft,  lufthauch,  wind'.  Das  geschlecht  wechselt 
im  nord.  zwischen  masc.  und  fem.,  wie  bei  ävefiog,  animus, 
anima,  Nord,  eim,  dm  bedeutet  auch  ^geruch',  vgl.  an.  angi 
*duft'  und  ksl.  vonja.  Wie  bei  eimr  hat  sich  bei  ags.  ceäm 
die  bedeutung  'dampf  aus  'hauch,  atem'  entwickelt. 

Endlich  ist  bei  meiner  erklärung  norw.  dial.  ama  'wärme 
ausstrahlen  (Boss)  zu  beachten.  Dies  erkläre  ich  aus  urgerm. 
*anmön.  Das  einfache  m  ist  hier  wie  in  anorw.  hgm  'Schenkel' 
neben  ahd.  hamma  zu  beurteilen. 

Ueber  im,  im>a  vgl.  den  folgenden  artikel  von  germ.  l. 

Warum  wurde  vorgerm.  "^andmo-s  zu  germ.  "^ainmaz,  "^aimaz, 
nicht  zu  *naima0,  während  vorgerm.  Hordno-s  nach  meiner 
deutung  zu  germ.  *hraina-z,  vorgerm.  Homedö  zu  germ.  *pmaitö, 
*maito  wurde?  Die  Versetzung  scheint  in  den  hier  behandelten 
lautformen  vor  consonanten  nicht  in  allen  fällen  notwendig, 
sondern  nur  facultativ.  Dass  im  vorgerm.  andmo-s  Versetzung 
nicht  eintrat  und  dass  das  germ.  wort  die  form  *ainmaz,  nicht 
*naima0,  erhielt,  wurde  wahrscheinlich  durch  den  einfluss  ver- 
wanter  Wörter  bewirkt;  vgl.  got.  u/s-ön,  an.  gnd,  andi,  angi, 
u.  s.  w. 

16.  Die  Goten  Ermanarichs  und  Theodorichs  werden  ags. 
Hred^otan  (Elene  20)  genannt;  dat.  Hred^otum  (WidsiÖ  52); 
gen.  Hreda  Elene  58.  Daneben  Hrdeda  gen.  Wids.  52.  Mit  der 
letzteren  form  stimmt  in  betreff  des  vocals  anorw.  Hreidgotum 
VafJ?r.  12;  aschw.  hraipJcutum  und  hraipmaraR  gen.  (das  gotische 
meer)  auf  dem  Rökstein.  Derselbe  stamm  findet  sich  in  Personen- 
namen ahä,  HreidJcer,  Hreidperht,  Hraitun  u.  m.;  BXi.  Hreidulfr 
Hreidarr  u.  m.;  ags.  Hrcedel  (der  Beow.  454  gen.  Hreälan,  1485 
gen.  HredUs  genannt  wird). 

Dieser  volksname  ist  besprochen  u.  a.  von  Müllenhoff,  Zs. 
fda.  12, 259  f.  H.  Kern,  Taalkund.  bijdr.  1, 29  f.  S.  Bugge,  Ueber 
die  inschr.  des  Röksteins,  erste  abh.  s.  35.  43;  zweite  abh.  s.  16. 21. 
Heinzel,  Ostgoth.  heldensage  s.  26  (WSB.  119)  ff.  R.  Much,  Zs. 
fda.  39, 152. 

Hred^otan  bedeutet  'die  sieg-  oder  ruhmreichen  Goten'. 
Ags.  hred-  ist  aus  hröj^i-  entstanden;    vgl.  u.  a.  got.  hröpeigs, 


446  BÜGGE 

germ.  hrö^-  gehört  mit  aind.  IcirU-  f.  *  preis,  rühm'  zusammen. 
Germ,  hrö-  aus  vorgerm.  *A;ra-  steht  zu  *ÄeVa-  *  gedenken,  rühmen' 
im  ablautsverhältnis. 

Ags.  Hrceda,  mit  an.  Hreid-  und  mit  ahd.  Hreid-,  Hrait- 
verglichen,  setzt  dagegen  die  Stammformen  *IIraipi-  und  *Hra0i' 
(nicht,  wie  Much  annimmt,  Hraipa-)  voraus.  Ich  nehme  daher 
den  nom.  pl.  ags.  Hrcede  (nicht  wie  man  gewöhnlich  annimmt, 
Hrdedas)  an. 

Man  lehrt,  dass  Hrceda  ursprünglich  mit  hreä,  *hröpi-  nichts 
zu  tun  gehabt  habe.  Allein  durch  die  von  mir  angenommene 
regel  wii*d  es  möglich,  Hrceda  und  HreÖa  als  etymologisch  gleich- 
bedeutend zu  erklären. 

Germ,  "^hraijbi-  ist  nach  meiner  Vermutung  aus  vorgerm. 
*Jcariti'  oder  *lcoriti-  entstanden.  Dieser  name  der  Goten  be- 
deutete also  ebenso wol  wie  Hreäa  'die  ruhmvollen'. 

Hraijbi'  ist  wol  u.  a.  als  erstes  glied  der  composita,  welche 
den  hauptton  auf  dem  zweiten  gliede  hatten,  zu  Hraidi-  ge- 
worden; vgl.  got.  fidurdögs  neben  ags.  fyderfete. 

Germ.  *hrai]bi-  verhält  sich  in  betreff  des  wurzelvocals  zu 
hröj^i-  wie  *airö  'rüder'  zu  rö]>ra-. 

17.  Got.  tains  m.  xX^fia  'schössling,  zweig  am  weinstocke' 
(nom.  pl.  tainös),  ahd.  mhd.  mn  'reis,  rute,  röhr,  'Stäbchen, 
metallstab',  nd.  teen,  nl.  teen,  teene  f.  'gerte,  weidengerte',  ags. 
tan,  an.  teinn.    Daraus  entlehnt  finn.  taina  'planta'  (Thomsen). 

Fick  (Vgl.  wb.  1*,  459)  vergleicht  hiermit  gr.  öova^,  dor. 
öcova^  m.  'röhr,  rute',  lit.  dü'nis  'binse',  lett.  döni  pl.  'schuf. 
Allein  er  hat  die  form  des  germ.  Wortes  nicht  genügend  er- 
klärt. Ein  anderer  versuch  bei  Prellwitz,  Et.  wb.  der  gr.  spr.  >) 
ist  auch  wenig  sicher. 

Ich  erkläre  germ.  taina-is  aus  vorgerm.  *dop9-.  Mit  don- 
in  6aiva^,  lett.  döni-,  neben  *dön9-,  ist  dorn-  (vgl.  gr.  dco,  (Jc5//a, 
armen,  tun)  neben  di^a-q  analog.  Vgl.  im  folgenden  (no.  23) 
lakon.  ^Qwva^  neben  ags.  dran.  Für  die  bedeutung  ist  hervor- 
zuheben, dass  mhd.  zein,  neunorw.  dial.  tein  wie  66va^  II.  11, 
584  von  einem  pfeile  angewendet  wird.  Die  an.  deminutiv- 
ableitung  teinungr,  aschw.  tenunger,  entspricht  wol  in  betreff 
des  Suffixes  wesentlich  dem  gr.  öovag,  aus  -^A;-. 


*)  Wurzel  dB(t)  :  dö  :  deji^a  :  dai  '  schwingen '  (Sovica,  Slvog). 


BEITRÄGE  ZUR  VORGERMANISCHEN  LAUTGESGHICHTE.      447 

An.  teinungr  verdankt  sein  ei  (aus  ai)  dem  stammworte 
teinn;  die  lautgesetzliche  form  des  abgeleiteten  wortes  wäre 
*tänunga-,  vgl.  66va§.  Vgl.  meine  bemerkungen  zu  airus 
(no.  3). 

Die  hier  gegebene  erklärung  des  got.  tains  erklärt  das 
unerklärte  got.  fauratani  n.  'wunderzeichen'  (rsQag),  denn  -tani 
verhält  sich  in  betreff  des  vocals  zu  tains  wie  an.  fair  zu  ahd. 
feili  Germ,  tan-  in  fauratani  entspricht  dem  gr.  öov-  in  66va§, 
Auch  nach  der  bedeutung  kann  fauratani  wol  mit  tains  zu- 
sammen gehören,  denn  ags.  tan,  an.  teinn  bezeichnet  ja  den 
ramus  sortilegus. 

18.  Ahd.  (alem.)  neinian  (neimda)  ^loquV,  heneiman  ^ iecer- 
nere, statuere',  mM.heneimen  'bestimmen,  festsetzen,  verheissen'. 
Es  ist  wol  sicher,  dass  dies  verbum  mit  name,  nennen  zusammen 
gehört;  vgl.  besonders  mhd.  benuomen  'namhaft  machen,  urkund- 
lich verheissen'.  Allein  neiman  kann  nicht,  wie  J.  Schmidt  u.  a. 
angenommen  haben,  aus  namnjan  entstanden  sein. 

Ich  erkläre  germ.  *nainüp  aus  vorgerm.  "^nom^iyeti,  "^no- 
mdniyeti,  vgl.  gr.  ovofialvco. 

Diese  erklärung  wird  durch  germ.  formen  wie  got.  glit- 
munjan  'glänzen'  nicht  widerlegt.  Wenn  die  von  mir  voraus- 
gesetzte form  vorgerm.  *nominiyeti  ein  reduciertes  i  hat,  wäh- 
rend got.  glitmunjan  vor  n  ein  u  hat,  so  darf  man  an  ahd. 
nebenf ormen  wie  wirtin  neben  wirtun,  enit  neben  anut  erinnern. 
Ich  nehme  mit  Bezzenberger  (BB.  17, 221)  an,  dass  in  der  vor- 
germ. spräche  mindestens  zwei  verschieden  gefärbte  schwas 
(ein  i-schwa  und  ein  w-schwa)  vorhanden  waren.  Der  Wechsel 
dieser  laute  war  wahrscheinlich  durch  die  umstehenden  laute 
bedingt,  ohne  dass  wir  die  dabei  geltenden  gesetze  jetzt  im 
einzelnen  bestimmen  können. 

Auch  der  umstand,  dass  in  got.  glitmunjan  ein  vocal  vor 
n  erhalten  ist,  während  ahd.  neiman  den  früheren  Schwund 
eines  solchen  voraussetzt,  kann  meine  erklärung  nicht  wider- 
legen. Denn  bereits  got.  namnjan  zeigt,  dass  wir  kein  recht 
haben,  hier  einförmigkeit  zu  fordern.  In  1)  glitmunjan,  2)  ahd. 
neiman  aus  vorgerm.  *nominiyo-,  3)  namnjan  sind  drei  ver- 
schiedene stufen  vertreten.  Der  Wechsel  dieser  stufen  ist  gewis 
durch  den  Wechsel  der  betonungsverhältnisse  in  der  vorgerm. 
spräche  bedingt. 


448  BUGGE 

19.  Ahd.  cheren,  nhd.Z:cÄrcw  'vertere',  zunächst  aus  *kairjan', 
as.  Jcerian  und  kerön;  subst.  ahd.  chera  t  und  eher  m.  Dieses 
wort,  das  etymologisch  noch  nicht  genügend  erklärt  ist,  weicht 
formell  vom  ags.  cierran  (praet.  der  de)  'kehren,  wenden'  (zu- 
nächst aus  ^karrjan),  subst.  eierr  m.  (aus  *karri-)  ab.  Neben 
m^d.  keren  findet  sich  in  derselben  bedeutung  kerren,  das  wol 
zu  ags.  cierran  gehört.  An.  kayra (praet. Ä»yr (Ja)  'jagen,  treiben', 
das  der  bedeutung  wegen  nicht  zu  got.  kausjan  'kosten,  prüfen' 
gehören  kann,  ist  in  mehreren  anwendungen  mit  kehren  synonym. 
Es  heisst  'vieh  auf  die  weide,  in  einen  wald  kehren',  d.  h. 
treiben;  daz  vihe  eherten  sie  über  dl  'Hessen  es  allenthalben 
weiden'.  Ebenso  aschw.  kör  de  sin  swin  Mit  wthpa  aallenskog. 
Norddeutsch  die  hühner  kehren,  d.h.  'jagen,  treiben,  scheuchen'; 
ganz  in  derselben  bedeutung  mengl.  charen  away  und  an.  keyra, 
Nl.  den  vijand  keeren,  d.h.  'abtreiben',  wie  aschw.  köra  bort 
'abtreiben,  vertreiben'.  Im  deutschen  dajs  ros  keren  'das  ross 
antreiben,  in  eine  bestimmte  richtung  reiten',  wie  an.  keyra, 
Aschw.  alle  the  thin  viisdom  hördhe,  äff  blygdh  oc  wnder  fran 
thegh  körde,  d.  h.  'giengen  fort',  wie  deutsch  keren  'fortgehen'; 
hier  ist  das  aschw.  wort  vielleicht  vom  deutschen  beeinflusst. 

Schweiz,  heisst  es  diesen  kehr  'dieses  mal',  einen  andern 
kehr.  Ebenso  in  anderen  deutschen  mundarten,  z.  b.  nnd.  de 
erste,  twede  ker.  Dies  stimmt  mit  der  anwendung  des  ags. 
cierr  überein:  cet  dnum  derre  'einmal',  cet  darum  derre  'das 
andere  mal'.  Mit  Schweiz,  es  god  i  em  eher  'es  geht  in  einem 
geschäf te  (in  einem  hin) '  vgl.  dän.  i  en  kjöre,  schw.  dial.  i  ett 
köre  'in  einem  zuge  fort'. 

Nach  diesen  Zusammenstellungen,  die  sich  grösstenteils 
bereits  im  DWb.  finden,  scheint  es  mir  deutlich,  dass  ahd. 
cheren  (aus  *kairjan),  an.  keyra  (aus  Vcaurjan)  und  ags.  derran 
(aus  Vcarrjan),  subst.  derr  (aus  *karri-)  zusammen  gehören. 
Sie  können  durch  vorgerm.  formen  vermittelt  werden. 

Ags.  derre  kann  aus  "^karrjö,  urgerm.  *karzijö,  vorgerm. 
*garsiyö  entstanden  sein.  Ahd.  cheru  aus  *katrijö,  *katrrijö, 
urgerm.  "^kairzijö,  vorgerm.  "^gartsiyö.  An.  keyri  aus  *kaurijö, 
"^kaurrijö,  urgerm.  *kaurjgijö,  vorgerm.  *garusiyö.  Vorgerm.  formen 
*garriyö,  "^gaririyö,  *garuriyö  finde  ich  weniger  wahrscheinlich. 
Ueber  an.  keyri  aus  "^kaurzijö,  vorgerm.  ^gar^siyö  vgl.  einen 
folgenden  artikel,  wo  ich  germ.  au  bespreche. 


BEITBÄGE  ZUR  VOBGERMANISCHEN  LAÜTGESCHICHTE.       449 

Ahd.  cheren  aus  *kairja-,  "^Jcaimja-,  vorgerm.  ^gausiyo-  ver- 
hält sich  zu  ags.  derran  aus  Viardja-,  vorgerm.  ^garsiyo-,  wie 
ahd.  neiman  aus  vorgerm.  ^nom^iyo-  zu  got.  namnjan.  Der 
Wechsel  der  reducierten  vocale  im  vorgerm.  "^garisiyo-  neben 
*garuSiyo-  ist  mit  dem  Wechsel  in  germ.  wortformen  wie  ahd. 
enit  —  anut  'ente',  ags.  reced  —  as.  racud  *gebäude',  ags.  hyrnet 
—  ahd.  homuz  ^hornisse'  u.  a.  bei  Noreen,  Abriss  d.  urgerm.  lautl. 
s.  64—66  analog.  Ahd.  cheren  aus  *gariSiyo-  stimmt  in  betreff 
des  reducierten  i  mit  hraiw,  aus  *krowir,  überein. 

Vom  fries.  Jcera  ^kehren'  trennt  Siebs  (Zur  gesch.  d.  fries.- 
engl.  spr.  1, 266)  nordfries.  kere  'fahren,  treiben',  das  er  auf  eine 
Urform  "^körjan  zurückführt.  Allein  dies  kere  ist  wol  aus  dem 
dän.  kere  entlehnt. 

Die  vorausgesetzten  vorgerm.  verba  "^garisiyö,  "^garusiyo, 
*gar$iyö-,  die  unter  sich  wesentlich  identisch  sind,  betrachte 
ich  als  ableitungen  von  einem  subst.  *gariS',  *garuS-,  "^gars-, 
üie  wurzelform  ist  "^ga/r-  oder  wol  älter  gor-, 

Zupitza  (Die  germ.  gutturale  s.  211)  stellt  ags.  derran,  ahd. 
cheren  mit  cymr.gyrru  'treiben',  gyrr  o  wartheg  'drove  of  cattle' 
zusammen. 

20.  Got.  aihy  aigum;  an.  d,  eigum\  ags.  ah,  d^on;  ahd.  dgun. 
Mehrere  gründe,  die  Möller  (Kuhns  zs.  24, 444  f.)  gegen  die  jetzt 
übliche  Verbindung  dieses  praet-praes.  zunächst  mit  aind.  ige, 
avest.  ise  vorgebracht  hat,  haben  noch  jetzt  gewicht.  Die  ar. 
formen,  denen  keine  europ.  formen  entsprechen,  bezeugen  nicht 
eine  indog.  wurzel  *eik',  perf.  *oi/ca,  und  bei  der  genannten 
Zusammenstellung  ist  die  germ.  form  aigun,  nicht  *igun,  höchst 
auffallend.  Möller  und  J.Schmidt  haben  die  Verbindung  des 
germ.  ath,  aigun  mit  aind.  änq^a,  änagür  versucht,  allein  ohne 
erfolg.  dn(jiga  ist  perf.  zu  agnömi '  erlange,  komme  in  den  besitz 
einer  sache'  und  passt  somit  der  bedeutung  nach  trefflich  zu 
aih,  Dass  änq^a  eine  urindog.  bildung  ist,  wird  durch  air. 
t-anac  'kam'  bezeugt;  vgl.  gr.  eveyxslv.  In  den  auf  der  endung 
betonten  formen  wurde  der  vocal  der  Wurzelsilbe  reduciert. 
Als  vorgerm.  form  der  3.  pers.  pl.  ist  daher  *aninknt  möglich 
(vgl.  wegen  des  reducierten  i  aind.  präninat  von  an-).  Daraus 
konnte  nach  der  von  mir  begründeten  regel  urgerm.  "^ainxun 
entstehen.  Nach  dem  diphthong  konnte  sich  das  n  vor  x  nicht 
halten;  germ.  aigun,  *aixün  lässt  sich  hiernach  aus  "^ainxun 


450  BÜGGE 

erklären.  Vielleicht  sind  jedoch  die  germ.  formen  eher  aus 
vorgerm.  *ani/cünt  zu  erklären  und  näher  an  die  nicht  nasa- 
lierten formen  aind.  änäga,  gr.  xar-Tjvoxa  '  xarevi^voxct  zu 
knüpfen.  Germ,  formen  wie  ags.  (^e)nti^on,  frugnon,  die  in 
der  ersten  silbe  u  haben,  können  dies  nicht  widerlegen. 

Unter  dem  einfluss  der  germ.  perfectformen  mit  ai  in  der 
Wurzelsilbe  {wait  u.  s.  w.)  wurde  das  ai  aus  den  pluralformen 
(aigun  u.s.w.)  in  die  singularformen  übertragen. 

Ahd.  eigan,  as.  egan,  ags.  d$en,  an.  eiginn,  urgerm.  *ai- 
gand-  ist  hiernach  aus  vorgerm.  "^an^nkono-  oder  ^anikono-  ent- 
standen und  mit  aind.  part.  perf.  änagänd-  zusammen  zu  stellen. 

Got.  aihts  f.  (stamm  aihti-)  'eigentum,  besitz',  ahd.  eht,  ags. 
ceht  (an.  cett  'geschlecht')  ist  von  derselben  wurzel  wie  aind. 
dsH-  f.  'erreichung'  durch  dasselbe  sufflx  abgeleitet,  allein  das 
germ.  subst.  schliesst  sich  in  betreff  des  ersten  vocals  und  der 
bedeutung  dem  perfectstamm  an. 

21.  Ags.wdsend,  wcesend  f.  m.  'throat,  gullet,  ruminatinj 
stomach';  neuengl.  weasand  Luftröhre';  afries.  wäsende  Luft- 
röhre'; ahd.  weisunt  'arteriae';  Schweiz,  oberd.  waisel,  wasel, 
wäsling  m.  '  Schlund  widerkäuender  tiere'.  Vgl.  Diefenbach, 
Got.  wb.  1, 246.  2, 748.  Hertzberg  und  Zacher,  Zs.  f dph.  10, 383  ff. 
Das  wort  ist  etymologisch  bisher  nicht  genügend  erklärt.  Isl. 
voesa  'spirare',  das  man  verglichen  hat,  ist  in  der  alten  lite- 
ratur  nicht  nachgewiesen  (vgl.  neunorw.  dial.  vcesa  '  erfrischen, 
erwärmen'  und  isl.  vas  *aura  refrigerans').  Der  stamm  "^wai- 
sund-  scheint  ein  altes  participium.  Nach  meiner  Vermutung 
aus  vorgerm.  ^awdsnt-,  zu  gr.  ärjfii,  dsiq  gen.  divzog.  Wegen 
des  s  vgl.  u.  a.  fraisan,  got.  fra-liusu  neben  gr.  Xveo,  ahd.  hläsu 
neben  bläu  u.s.w. 

22.  Mit  ahd.  weisunt,  ags.  wdsend  parallel  ist  gotländ. 
vajlunde  m.  *  Speiseröhre',  aisl.  velendi  n.,  neuisl.  vwlindi  Dies 
wort  hat  in  den  neunord.  mundarten  vielfache  nebenformen. 
Von  diesen  führe  ich  die  folgenden  an:  nordschw.  valan,  välan 
m.  (in  bestimmter  form);  norw.  dial.  velende  n.,  vcelende,  vceland, 
volende,  välafun,  vaolcende  (aus  *vdlende\  vailen  m.,  im  südöstl. 
Norw.  viljan.  Das  von  norw.  formen  vorausgesetzte  *vdlendi 
verhält  sich  in  betreff  des  ersten  vocals  zu  gotl.  vajlunde,  wie 
as.  ärundi  zu  got.  airus.  Für  den  parallelismus  des  gotl.  vaj- 
lunde mit  dem  ags.  wdsend  ist  es  zu  beachten,  dass  ags.  wdsend, 


BEITRÄGE  ZUR  VORGERMANISCHEN  LAÜTGESCHICHTE.      451 

wie  vajlmide,  'Speiseröhre'  bedeuten  kann.  Dies  macht  es 
wahrscheinlich,  dass  vajlunde  nicht  nur  wesentlich  wie  wdsend 
abgeleitet  ist,  sondern  zugleich,  dass  germ.  wai-  in  vajlunde 
mit  germ.  wai-  in  wdsend  identisch  ist  und  dass  das  ai  in 
beiden  denselben  Ursprung  hat.  Daher  vermute  ich,  dass  vaj- 
lunde, germ.  ^waHund-  aus  vorgerm.  *aw9lnt'  entstanden  ist. 

Verwant  ist  wol  cymr.  awell  t  'conduit,  pipe'.  Dies  kann 
wol  aus  älterem  *awelnä  entstanden  sein  und  zu  awel  'flatus, 
aura,  ventus',  gr.  aeXXa,  äol.  avsXXa  gehören.  Vgl.  gr.  avXog 
'röhre,  flöte',  aind.  vänd-  m.  'röhre',  väni-  f.  'röhr',  Persson, 
Uppsalastudier  189. 

Aisl.  velendij  aus  *velyndi,  scheint  vorgerm.  *dW9l-  voraus- 
zusetzen; s.  den  folgenden  artikel  über  germ.  t.  Norw.  viljan 
gehört  einem  wenig  ursprünglichen  dialekte  an;  ich  wage 
daraus  nichts  sicheres  zu  folgern. 

23.  Bekannt  ist  die  Zusammenstellung:  ahd.  treno  'dröhne', 
mhd.  trene,  Iren,  noch  jetzt  in  Sachsen  und  Oesterreich  trene;  as. 
dran,  pl.  dräni  (wozu  nhd.  dröhne),  das  ein  urgerm.  "^dren- 
voraussetzt;  gr.  rev-d^QijvTj  'eine  art  wespe  oder  hummel', 
ard^Qrjvri  'waldbiene'  (aus  ^avd^o-d-QrivrjT),  lakon.  d^gmva^ 
'dröhne'.  Unerklärt  ist  der  vocal  des  ags.  dran  (pl.  drdne) 
neben  drden,  mengl.  drane.  Das  ags.  d  setzt  wol  urgerm.  ai 
voraus. 

Ich  würde  es  nicht  wahrscheinlich  finden,  wenn  man  germ. 
drain-,  drPn-  und  dren-,  gr.  d^Qrjr-,  O^gcov-  durch  eine  urwurzel 
dhrein-  verbinden  wollte.  Ich  finde  es  wahrscheinlicher,  dass 
germ.  "^drain-  auf  vorgerm.  *dhrönd'  zurückgeht  (vgl.  no.  17  got. 
tains  neben  gr.  6c5va§),  Dafür  dass  das  wort  mit  got.  drunjus 
'schall'  verwant  ist,  sprechen  schw.  dial.  drönje  m.  'wasser- 
biene',  wahrscheinlich,  wie  Tamm  annimmt,  ein  lehnwort  aus 
dem  nd.,  das  durch  anlehnung  an  drönja,  an.  drynja  umgeän- 
dert worden  ist,  und  norw.  dial.  drumbe  m.  'eine  art  grosse 
wespe'.  Wurzelformen  *dhrend-,  *dhrond'  sind  mit  *dhwend- 
(aind.  ddhvanlt,  dhväntd-)  analog. 

24.  Der  Ursprung  des  Wortes  lerche  ist  dunkel  geblieben. 
Ahd.  lerahha  f.,  mhd.  lerche  und  daneben  lewerich,  lewerech, 
lewerch,  nl.  leeuwerik,  ags.  Idtvricce,  Idwerce,  Icewerce.  Diese 
formen  erklären  sich  aus  ^laiwraJcön-,  ^laiwrikön-.    Nordfries. 


452  BUGGE 

läsh  deutet  auf  *laiwsaJcön-  neben  *laiw^aJcön-  hin.  Zwischen 
w  und  13  (s)  kann  einst  ein  vocal  gestanden  haben. 

Anorw.  16  (pl.  loßr)  und  loa,  das  man  mit  ags.  Idwerce  zu- 
sammengestellt hat,  bezeichnet  den  charadrius.  Der  umstand, 
dass  caradrius  in  ahd.  glossen  durch  leraha  übersetzt  wird, 
deutet  darauf  hin,  dass  jener  vogel  mit  der  lerche  verwechselt 
wurde,  lö  kann  auf  älteres  Höw-  hinweisen,  und  dies  kann 
aus  vorgerm.  *law-  entstanden  sein. 

Wenn  das  urgerm.  *tow-  (in  ags.  Idwerce  'lerche')  aus 
vorgerm.  *läw9'  entstanden  ist,  kann  Idwerce  mit  an.  16  ver- 
want  sein.  Die  wurzel  dieser  Wörter  kann  dieselbe  sein  wie 
die  des  lat.  laus,  laudis. 

Gall.  alauda  ist  'haubenlerche'.  Damit  verbindet  d'Arbois 
neubret.  alchouez  aus  *alavidissa.  Diese  kelt.  Wörter  kann  ich 
mit  der  germ.  bezeichnung  der  lerche  nicht  überzeugend  ver- 
mitteln. 

25.  Westgerm.  *raikjan,  ahd.  reihhen  'darreichen,  sich  er- 
strecken', Sigs.rcecan  (i.h.  rcecan),  engl,  to  reach,  afries.  reJca, 
retsia. ')  Man  hat  dies  verbum  längst  mit  got.  rakjan  (nur  in 
compp.),  ahd.  recchen  verbunden.  Amelung  und  Möller  haben 
das  ai  ohne  erfolg  durch  epenthese  (raikjan  aus  rakjan)  erklären 
wollen. 

Brugmann  (Grundr.  1^,504)  vergleicht  mit  dem  germ.  worte 
lit.  rdizyü-s  'sich  recken',  das  mit  rq,zyti-s  gleichbedeutend  ist, 
und  reizti'S  'sich  brüsten'.  Er  legt  eine  wurzel  reig-  zu  gründe 
und  fasst  das  i  des  gr.  ogiyraofiai  'recke  mich'  als  ursprach- 
liches i  auf,  während  man  dies  i  gewöhnlich  mit  dem  c  von 
jiiövQsq,  xO^t^og  U.S.W.  zusammen  stellt. 

Nach  Leskien,  Ablaut  s.  365  (103)  setzen  räztis  und  rdi- 
zyti-s  (das  s.v.a.  rg^zyti-s  bedeutet)  eine  unbelegte  lit.  stufe  mit  i 
neben  a  voraus.  Wenn  diese  erklärung  richtig  ist,  muss  die 
Übereinstimmung  der  lit.  formen  mit  germ.  *raikjan  wol  zu- 
fällig sein. 

Nach  der  von  mir  begründeten  regel  ist  es  lautlich  mög- 
lich, dass  ^raikjan  aus  vorgerm.  *or,^-,  *ora^-  entstanden  sei. 
Vgl.  gr.  oQcyvdofiai,  vgeym,  aind.  Tjyafit-,  rjyate.  Allein  viel- 
leicht ist  die  intransitive  anwendung  von  reichen  die  ursprüng- 


*)  Einen  früheren  versuch  (Beitr.  13, 338)  gebe  ich  auf. 


BEITEAGE   ZUR  VOBGEBMANISCHEN  LAÜTGESCHICHTE.      453 

liehe.  Ich  möchte  darin  einen  der  von  Hirt  erläuterten  stamme 
auf  -ei  vermuten.  Wenn  man  zugleich  aind.  bildungen  wie 
Tjtsd,  fjlsin-  beachtet,  so  wird  man  es  vielleicht  nicht  zu 
dreist  finden,  dass  ich  eine  vorgerm.  wurzelform  "^ragr,  *ra^9- 
annehme.  Daraus  entstand  nach  meiner  Vermutung  germ. 
raik-.  Die  deutung  des  ahd.  reihhen  darf  von  der  des  anorw. 
reik  (no.  26)  schwerlich  ganz  getrennt  werden. 

26.  Wie  germ.  *raiJcjan,  ahd.  reihhen  neben  germ.  rdkjan 
steht  (no.  25),  so  findet  sich  anorw.  reih  f.  ^scheitellinie,  welche 
die  haare  trennt',  neunorw.  dial.  reik,  gotl.  raik,  schw.  dial.  rek, 
allein  in  ganz  derselben  bedeutung  nordschw.  dial.  räk  f.  Schw. 
dial.  räk  auch  von  anderen  furchen;  dazu  neuisl.  räk  (pl.  räkir) 
'streifen',  norw.  dial.  räk  f.  'streifen,  furche'  (z.  b.  in  einem 
berge).  Neunorw.  dial.  reik  f.  ist  überhaupt  'streifen,  linie' 
(vgl.  Noreen,  Svenska  etymologier  s.  62  f.). 

Mit  neuisl.  rdk  f.,  pl.  rdkir  'streifen'  vergleiche  ich  aind. 
rdji-  und  räji-  f.  'streifen'.  Dies  gehört  mit  aind.  rdji-  f.  'rich- 
tung',  rju'  'gerade',  rj-  'sich  strecken'  zusammen.  Neuisl.  rdk 
setzt  urgerm.  *rceki-,  vorgerm.  "^rce^-,  '^re^i-  voraus. 

Das  synonyme  an.  reik  möchte  ich  aus  vorgerm.  ^ragr,  ^ra^^- 
erklären. 

27.  Germ,  hraiöa-z  'breit'  ist  etymologisch  noch  nicht  über- 
zeugend erklärt  worden.  Sowol  lit.  brandiis  'körnig'  und  gr. 
ßgl^w  'bin  belastet'  als  aind.  mrityati  'zerfällt,  löst  sich  auf 
stehen,  wie  mir  scheint,  der  grundbedeutung  nach  dem  germ. 
hreit  fern. 

Ich  erkläre  germ.  hraida-z  aus  vorgerm.  *hhor9dhO'S.  Für 
die  bedeutung  hebe  ich  got.  usbraidjan  'ausbreiten'  hervor. 
Im  norw.  breiffa  u.  a.  'heu  (zum  trocknen)  ausbreiten';  nord- 
fries.  hriadan  (praet.  hriat\  oberdeutsch  mist  braten  'fimum  in 
agro  expandere'.  Ich  vergleiche  mit  Bezzenberger,  BB.  3,  81 
lit.  beriii,  berti  'streuen',  byrii,  btrti  'sich  verstreuen',  lett.  birdlt 
caus,  'ausstreuen'.  Norw.  dial.  engji  breier  seg  wird  gesagt, 
wenn  das  gemähte  gras  über  die  ganze  fläche  ausgebreitet 
liegt.  Vgl.  die  anwendung  des  wortstammes  in  dem  von  Leskien 
zu  berti  gestellten  lit.  bdrus  'in  einem  zuge  gemähtes  stück 
feld',  lett.  baris  'Schwaden'. 

Mit  anorw.  breidr  verwant  ist,  wie  schon  Aasen  vermutet 
hat,  anorw.  bredi  (in  bredafgnn)  'Schneehaufen',  neunorw.  dial. 


454  BUGGE 

hrede,  bride  m.,  in  anderen  mundarten  fem.,  *schneemasse', 
namentlich  der  alte,  nie  schmelzende  schnee  des  hochgebirges, 
'Arn',  auch  'gletscher'.  Für  die  anwendung  in  bezug  auf  den 
schnee  vgl.  lett.  iirda  ^feiner  schnee'. 

Mit  ahd.  breit  verwant  ist  ahd.  hreta  *  flache  hand'.  Dies 
lässt  sich  von  ahd.  Iret  'brett',  ags.  ired  und  von  bort,  got. 
baurd  nicht  gänzlich  trennen.  Die  lautliche  vermittelung  mit 
breit  wird  möglich,  wenn  man  germ.  braida-is  aus  vorgerm. 
%hor9do-s  erklärt. 

Für  die  bei  breit  stattgefundene  bedeutungsentwickelung 
vergleicht  Bezzenberger  passend  aind.  ästtrna-  'hingestreut, 
ausgebreitet';  auch  'bestreut,  bedeckt'  (wie  nord.  breiöa  *  über- 
decken' bedeutet);  aind.  ästrta-  'hingestreut,  ausgebreitet,  breit'. 

Für  die  von  mir  vorausgesetzte  vorgerm.  form  ^bhorddho-s, 
worin  -dho-  an  eine  zweisilbige  wurzelform  gefügt  ist,  vgl.  gr. 

28.  Ahd.  heimo  m.  'hausgrille',  nhd.  Imme  m.  f.,  wovon 
heimchen;  ags.  hdma  'hausgrille'.  Gewöhnlich  sieht  man  hierin 
eine  ableitung  von  heim,  so  dass  das  wort  etymologisch  'haus- 
be wohner'  bedeuten  sollte.  Allein  einige  formen  lassen  sich 
hiermit  nicht  leicht  vereinigen.  Für  ahd.  mühheimo  'cicada', 
später  mucheim,  heimuch  findet  sich  in  der  Schweiz  hammemauch, 
muchkam  und  für  mhd.  heimelmüs  'cicada'  wird  in  der  Wetterau 
hammelmaus  gesagt.  Diese  formen  hammemauch,  hammelmaus 
lassen  sich  nicht  aus  heim  erklären,  hammelmaus  gehört  zu 
hammein  bei  Fischart  'hüpfen,  springen',  das  von  hamme  ab- 
geleitet ist.  In  den  hervorgehobenen  formen  nur  umdeutungen 
zu  sehen,  scheint  mir  nicht  nötig.  Ahd.  hamma  f.  'hinter- 
schenkel,  kniekehle',  ags.  hamm  gehören  mit  gr.  xv^^firj,  air. 
cndm  'bein,  knochen'  zusammen,  und  Fick,  Vgl.  wb.  1*,  389 
nimmt  eine  urform  "^qonämo-s  an.  Hiernach  vermute  ich,  dass 
ahd.  heimo  'heimchen',  urgerm.  ^haiman-  aus  "^hainman,  vor- 
germ. ^karitmon-  entstanden  ist  und  zu  ahd.  hamma  aus  vor- 
germ. *kanmä-  gehört,  so  dass  das  wort  etymologisch  'das 
tierchen  mit  den  grossen  schenkein'  bedeutet.  Dass  vorgerm. 
*kondmon-  zu  germ.  Viainman-,  haiman-,  nicht  zu  ^hnaiman- 
wurde,  erkläre  ich  aus  dem  einfluss  der  verwanten  Wörter  (ahd. 
hamma  u.s.w.). 


BEITRAGE  ZUE  VOEGERMANISCHEN  LAUTGESCHICHTE.      455 

29.  Germ,  faigja-  'dem  tode  verfallen,  dem  tode  nahe';  an. 
feigr,  aschw.  acc.  feeig jq,n\  ags.  fdege]  as.  ßgi\  ahd.  feigi,  Fick 
und  Osthoff  haben  hiermit  aind.  paJcvd-  von  pac-  verglichen. 
Dies  passt  der  bedeutung  nach  trefflich:  paJcvd-  ist  'gekocht, 
reif,  reif  s.  v.  a.  dem  vergehen,  dem  tode  nahe,  —  verfallen'; 
vgl.  gr.  jcBjcwv  'reif.  Hierbei  ist  zu  beachten,  dass  tirol.  feig 
'fast  reif,  vom  obst  das  schwarze  kerne  hat',  bedeutet  (Kluge, 
Et.  wb.*).  Nhd.  feiges  gestein  'das  sich  zu  lösen  beginnt';  feiges 
mmmerwerk  'das  schon  fault'  (DWb.);  mhd.  ain  feiges  höh 
'biegsam,  schlank'.  Mhd.  veige  zugleich  'furchtsam,  feige',  wie 
in  der  Hias  co  jrejtovsg  'ihr  Weichlinge'. 

Diese  anwendungen  machen  die  Verbindung  des  germ. 
faigja-  mit  got.  faihs  'bunt',  urnord.  faihidö  'schrieb'  höchst 
unwahrscheinlich.  Allein  nach  germ.  lautgesetzen  kann  faigja- 
weder  aus  *fagja-  noch  aus  *fBgja-,  wie  man  gemeint  hat,  ent- 
standen sein. 

Zu  aind.  pdkvd-  gehört  zugleich  nach  meiner  Vermutung 
armen,  pax  (gen.  pl.  paxio)  'gekocht'.  Ich  erkläre  die  erhaltung 
des  p  und  das  x  ^^s  dem  einfluss  des  w,  einer  grundform 
*pa}cwi-,  was  ich  hier  nicht  begründen  kann. 

Nach  dem  vorhergehenden  vermute  ich,  dass  germ.  faigja- 
von  derselben  wurzel  wie  ind.  paJcvd-  gebildet  ist  und  dass 
das  ai  desselben  nach  der  von  mir  begründeten  regel  sich  aus 
vorgerm.  0  +  9  entwickelt  hat,  welche  vocale  zwei  verschie- 
denen Silben  angehörten.  Prof.  Torp,  dem  ich  dies  mitgeteilt 
habe,  vermutet  für  germ.  faigja-  eine  vorgerm.  form  *poq9wyo-. 
Ich  kenne  sonst  keine  form,  die  mit  Sicherheit  auf  eine  zwei- 
silbige wurzelform  *peq9-  führt.  Vorgerm.  *poq9wyo-  verhält 
sich  in  betreff  des  a  zu  aind.  pakvd-,  wie  avest.  yemvt  zu 
aind.  yahvt 

30.  Isl.  smdri  m.  'klee'  (trifolium),  smcerur  f.  pl.  'klee- 
wurzel';  norw.  dial.  smcere  m.  und  smcera  f.;  ebenso  in  schwed. 
mundarten,  dän.  smcere  und  pl.  smcerer,  J.  Grimm,  Kl.  sehr.  2, 
121)  bemerkt  zu  Marceil.  Burdig.  cap.3,  s.40:  'trifolium  herbam, 
quae  gallice  dicitur  uisumarus'  folgendes:  'es  ist  deutlich  das 
ir.  seamar,  seamrog,  gael.  seamrag,  woher  das  engl,  shamroeh 
und  an.  smdri^  jütische  smwre\ 

Dass  nord.  smdri  aus  dem  ir.  worte  entlehnt  sein  sollte, 
ist  unglaublich,  dagegen  kann  smdri  mit  neuir.  seamar,  mittelir. 


456  BüGGE 

adj.  semrach  urverwant  sein.    Ir.  semrach  kann  aus  "^sembrako- 
und  dies  wieder  aus  *semrako-  entstanden  sein. 

Isl.  smdri  erkläre  ich  aus  urgerm.  '^smdirhon-,  vorgerm. 
*smar9Jcon-.  Wenn  dies  richtig  ist,  steht  smdri  zu  ir.  seamrog 
im  ablautsverhältnis. 

31.  Anorw.  hreistr  n.  collect,  und  hreistrar  f.  pl.  'schuppen', 
norw.  dial.  reist  n.  Davon  vb.  isl.  hreistra,  norw.  dial.  reista 
'die  schuppen  abschaben'.  In  einer  anderen  mundart  sagt  man 
risp  'schuppen',  was  zugleich  'was  man  abstreift'  bedeutet  und 
zu  rispa  'abstreifen,  abreissen'  gehört.  Nhd.  schuppe,  ahd. 
scuoppa  ist  von  schaben  abgeleitet.  Man  erwartet  hiernach, 
dass  anorw.  hreistr  von  einem  verbum  abgeleitet  ist,  das 
'schaben'  bedeutet  hat. 

Ich  deute  germ.  hraistra-  aus  vorgerm.  ^karsdtro-  und  ver- 
gleiche kslav.  krasta  'Scabies'  aus  *korsta,  lit.  karssti  'flachs 
riffeln,  wolle  kämmen,  striegeln',  aind.  ka§-y  ka§ati  (aus  "^kars-) 
'reiben,  schaben,  kratzen',  fut.  kasiäyati.  Oder  aber  aus  *Z:a- 
r9strO'. 

In  derselben  bedeutung  wie  reist  (anorw.  hreistr)  wird  in 
anderen  neunorw.  mundarten  ras  n.  gesagt;  davon  vb.  rasa 
s.v.a.  reista.  Auch  ras,  aus  *hrasa-,  spricht  dafür,  dass  das 
ei  von  hreistr  aus  vorgerm.  a  +  9  entstanden  ist.  In  betreff 
des  ra-  von  ras  vgl.  anorw.  rass  aus  "^arss,  ragr  =  argr,  frata, 

32.  Ahd.  gameit  'vanus,  obtusus,  stultus,  contumax,  jactans'; 
in  gimeitun^  ungimeitun  'vane,  incassum';  gameitheit  'insolentia'; 
gameitison  'luxuriare'.  Im  mhd.  bedeutet  gemeit  'lebensfroh, 
keck,  schön,  lieblich,  lieb',  welche  anwendung  sich  aus  'eitel, 
mutwillig,  ausgelassen'  entwickelt  hat  (vgl.  die  bedeutungs- 
entwickelung  bei  mhd.  toi).  As.  gimed  'töricht,  übermütig'. 
Ags.  gemdd  'vecors',  einmal  poet.  mddmöd  'foUy';  neuengl.  mad 
aus  dem  ags.  part.  praet.  ^emcedd.  Abweichend  ist  die  bedeu- 
tung des  goi,  gamaids  {8iCC  j^l.  gamaidans)  'verkrüppelt'.  Der 
bedeutungen  wegen  gehört  gamaids,  ahd.  gameit  u.s.w.  nicht 
sicher  zu  got.  inmaidjan  'verwandeln',  inmaideins  'vertauschung', 
maidjan  xajtTßivsiv,  eig.  'vertauschen',  welche  mit  lat.  mutuus, 
alat.  moituos,  lett.  mitet  'verändern,  unterlassen'  und  wol  zu- 
gleich mit  ahd.  mtdan,  nhd.  meiden  verwant  sind. 

Ahd.  gameit  (wozu  in  gameitun)  stimmt  dem  sinne  nach 
trefflich  mit  den  folgenden  Wörtern  überein:  gr.fidrrjv  'umsonst', 


BEITRÄGE  ZUR  VOBGERMANISCHEN   LAÜTGE8CHICHTE.      457 

fiaraiog  *  eitel,  nichtig,  vergeblich;  töricht,  wahnsinnig;  leicht- 
fertig, ausgelassen,  mutwillig';  air.  in-madce  *sine  causa',  madae 
*  vergeblich'  (Stokes,  Urkelt.  sprachsch.  s.  206).  Die  ir.  Wörter 
zeigen,  dass  gr.  ^ax-  nicht  aus  mr^t-  entstanden  ist. 

Ich  vermute,  dass  ahd.  gameit,  *gamaida-i3  aus  *gd-maipa-z 
entstanden  ist,  weil  der  hauptton  früher  auf  der  ersteh  silbe 
lag.  Germ,  -maida-,  *maipa-  ist  nach  meiner  Vermutung  aus 
vorgerm.  *matd'  entstanden  und  gehört  mit  den  angeführten 
gr.  und  ir.  Wörtern  zusammen.  Hier  hat  vorgerm.  9  oder 
reduciertes  i  dem  gr.  a,  wie  in  vorgerm.  *krow9-  (woraus  germ. 
hraiw-),  entsprochen.    Diese  erklärung  ist  jedoch  unsicher. 

Der  bedeutung  des  got.  wortes  näher  steht  anorw.  meiöa 
'verstümmeln;  etwas  so  beschädigen,  dass  es  unnütz  wird'. 
Neunorw.  dial.  meiffa  (meie  ausgesprochen)  'eine  spur  nach- 
lassen', meidd  f.  'streifen,  spur'  muss  dagegen  anders  wohin 
gehören. 

33.  Got.  fraiw  n.,  anorw.  free,  frjö  n.  (dat.  frcevi)  'same 
(der  gewächse,  menschen  und  tiere),  nachkommenschaft';  schwed, 
dän.  fre  'same'.  Eine  scharfsinnige  etymologische  deutung  hat 
Osthoff,  Beitr.  20, 95  f.  gegeben.  Früher  hatte  man  das  wort 
mit  Isit pario  'gebäre,  zeuge,  bringe  hervor'  (z.  b.  fruges  et  reliqua 
quae  terra  pariat),  \itperiü,pereti  'brüten'  zusammengestellt. 
Dies  scheint  mir  noch  jetzt  möglich.  Germ,  fraiwa-  kann  aus 
vorgerm.  ^pariwo-  entstanden  sein. 

Der  Umlaut  des  anorw.  free  kann  in  verschiedener  weise 
erklärt  werden.  Das  anorw.  adj.  frcer  'fruchtbringend'  kann 
auf  einen  stamm  ^fraiwja-  zurückgeführt  werden.  Auf  ein 
verbum  *fraiwjan  deutet  schw.  dial.  frö  (praet.  frödd)  säg 
'reif  werden'.  Aus  diesen  formen  kann  das  de  auf  free  über- 
tragen sein. 

Allein  auch  eine  andere  erklärung  ist  möglich.  Von  vielen 
germ.  neutralen  Wörtern  finden  sich  nebenstämme  1)  auf  -a, 
2)  auf  -s  oder  -cusj-iz,  Z.  b.  an.  egg  neben  ags.  pl.  desru.  Daher 
kann  das  de  von  free  aus  einem  stamme  yraiwü-  auf  den  stamm 
fraiwa-  übertragen  sein. 

Für  die  bildung  eines  vorgerm.  ^pariwo-m  vgl.  lat.  vacuos, 
nocuos,  arvom,  salvos\  anorw.  adj.  grr,  st.  arwa-^  aind.  rhvd-, 
eva-, 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV  gO 


458  BUGGE 

34.  Ueber  das  wort  'kleid'  hat  A.  Erdmann  in  einer 
umsichtigen  und  gründlichen  abhandlung  *  Kleid  und  filz'  (Up- 
sala  1891)  gehandelt.  Mhd.  (zuerst  in  der  mitte  des  12.  jh.'s) 
hleit  n.  (gen.  hleides,  nom.  pl.  Tdeit  und  Meider),  mnd.  klet,  mnl. 
cleet,  afries.  Jcleth,  Math,  ags.  cldä  (seit  dem  8.  jh.),  selten  clceff; 
an.  Mceäi  n.  Erdmann  erklärt  Meid  als  ^zusammengeklebtes 
zeug'  und  stellt  es  zu  Meister,  yXoiog  u.s.w.  Dies  kommt  mir 
der  bedeutung  wegen  nicht  wahrscheinlich  vor.  Eine  anwen- 
dung  wie  ags.  hine  mid  cildclddum  bewand  'pannis  eum  in- 
volvit'  deutet  eher  darauf  hin,  dass  *kleid'  als  ^umwurf  be- 
zeichnet ist.  Darauf  deutet  auch  der  umstand,  dass  aisl.  Mceffi 
speciell  ^die  Überkleider'  bedeuten  kann  (Eyrb.  cap.  45).  Von 
der  Wurzel  Mai-,  gloi-  *  kleben'  sind  Wörter  die  mit  Meid  der 
bedeutung  nach  verwant  sind,  sonst  nicht  gebildet. 

Ich  wage  eine  dreiste  Vermutung.  Aus  ßeXefjvov,  ßdXXo}, 
ßXijfia,  ßeßoXrjfmi  ist  eine  indog.  wurzel  geh-  zu  folgern.  Ags. 
cldff,  cMÖ,  urgerm.  *Mai]>ijsf  oder  *Maipa  könnte  daher  ein  vor- 
germ.  *golitos  oder  ^golito-m  mit  dem  hauptton  auf  der  ersten 
oder  zweiten  silbe  voraussetzen.  Der  bedeutung  wegen  ver- 
gleiche man  ßäXXofiac  mit  dfi^l-  oder  jtsqU  'sich  umtun,  sich 
anlegen'  (z.  b.  jvsqI  de  fisya  ßäXXtxo  (paQog)  von  waffen  und 
kleidern;  act.  ßdXXeiv  'anlegen,  umtun'  (dfigA  de  (loi  gdxog 
aXXo  xaxov  ßdXov  7^61  ;^iT(JOi;a);  ßX^fia  (xolTi]g)  'decke',  dfi- 
(flßXfjiia  'umwurf,  anzug,  kleidung',  dfitflßoXov  'gewand'.  Man 
beachte  hierbei  namentlich  mhd.  umbeMeit  n.,  mnd.  ummeMeit 
'mantel'. 

Ein  gewisses  kleid  heisst  aisl.  und  neuisl.  hast^  dän.  haste- 
Mcede,  norw.  hasteplagg,  von  kasta  'werfen'. 

An.  Mceffi  kann,  wie  u.  a.  Hellqvist  vermutet  hat,  aus  dem 
ags.  entlehnt  sein.  Dagegen  spricht  nicht  das  läpp,  lehnwort 
laffäe,  denn  läpp,  a  kann  aus  dem  umgelauteten  nord.  ce  ent- 
standen sein;  siehe  Qvigstad,  Nord,  lehnwörter  im  läpp.  Auch 
die  durch  4  abgeleitete  form  verbietet  es  nicht,  in  Mcedi  ein 
lehnwort  zu  sehen.  Denn  nach  ags.  dat.  *clceffe,  gen.  *clceÖes 
kann  man  im  an.  dat.  Mcede,  gen.  Mdedes  gesagt  und  nach 
diesen  formen  einen  nom.  Mcede  gebildet  haben.  Ebenso  ist 
anorw.  dat.  strebte,  wie  Zimmer  zuerst  gesehen  hat,  aus  dem 
ags.  dat.  strebte  entlehnt,  und  nach  dem  dat.  ist  der  anorw. 
nom.  strebte  n.  gebildet.    Wenn  dagegen  MdbÖi  ein  echt  nord. 


BEITRÄGE  ZUR  VORGEEMANISCHEN  LAÜTGESCHICHTE.      459 

wort  wäre,  könnte  es  sich  in  betreff  des  vocals  der  Wurzel- 
silbe zu  ahd.  hleit  verhalten  wie  as.  ärundi  zu  got.  airus. 
Der  anorw.  gen.  pl.  Mcedna  ist,  wie  ich  vermute,  von  der 
flexion  der  schwachen  feminina  beeinflusst. 

35.  Ahd.  mhd.  hein  n.,  and.  Mn,  ags.  hdn,  an.  hein  ^os  (ossis) 
knochen',  später  *bein,  Unterschenkel'.  Dafür,  dass  gerra.  haina- 
aus  vorgerm.  *5on9-  entstanden  ist,  spricht  ein  nord.  wort.  In 
vielen  der  altertümlichsten  neunorw.  mundarten  huna  t^knochen- 
röhre',  besonders  von  der  tibia;  pl.  *arme  oder  Schienbeine'. 
Auch  überh.  *knochenbau'.  Nordschw.  dial.  bords-huner  f.  pl. 
Fischbeine'.    Björn  Halldörssen  erklärt  isl.  buna  als  ^pes  ursi'. 

Dies  nord.  bunön-  f.  kann  mit  bein  m.  verwant  sein,  wenn 
dies  aus  vorgerm.  dorn-  entstanden  ist. 

Der  von  mir  im  vorhergehenden  belegte  lautübergang,  dass 
germ.  ai  aus  vorgerm.  ä  (Ö)  mit  einem  reducierten  i  entstanden 
sein  kann,  wird  wol  in  der  folgenden  weise  aufzufassen  sein. 
Das  reducierte  i  palatalisierte  den  in  der  vorgerm.  form  vor- 
hergehenden consonanten.  Das  i-element,  welches  sich  aus  dem 
palatalisierten  consonanten  entwickelte,  verband  sich  mit  dem 
unmittelbar  vorhergehenden  vocal  ä  (ö)  zu  dem  diphthong  ai, 
wonach  das  nach  dem  consonanten  folgende  reducierte  i  schwand. 

Die  in  den  germ.  formen  häufig  eingetretene  Versetzung 
(z.  b.  no.  6  Viraina-z  aus  vorgerm.  korifio-s)  spricht  kaum  gegen 
die  annähme  einer  palatalisierung  des  früher  unmittelbar  vor 
dem  reducierten  i  stehenden  consonanten.  Denn  die  palatali- 
sierung des  consonanten  und  die  einwirkung  desselben  auf  den 
vorhergehenden  vocal  hat  nach  meiner  Voraussetzung,  wenig- 
stens zum  teil,  zu  einer  zeit  stattgefunden,  wo  das  reducierte  i 
noch  nicht  geschwunden  und  die  metathesis  noch  nicht  ein- 
getreten war. 

Der  hier  besprochene  lautwandel  ist  mit  dem  späteren 
germ.  i-umlaut  verwant,  z.  b.  anorw.  ferr  aus  *fariR,  Der 
umgelautete  vocal  (e)  wird  zuweilen  sowol  im  ahd.  (z.  b.  airin 
=  erin)  als  in  nord.  runeninschriften  durch  ai  bezeichnet,  allein 
der  durch  i-umlaut  geänderte  vocal  bleibt  kurz  und  ist  nicht 
diphthong  geworden  (vgl.  J.  Schmidt,  Voc.  2, 473  f.). 

Der  lautübergang,  wodurch  zweisilbige  vorgerm.  formen 
wie  *krowr  zu  einsilbigen  (germ.  hraiw-)  wurden,  hängt  viel- 

30* 


460  BUOOE 

leicht  damit  zusammen,  dass  ein  mehr  musikalischer  accent 
in  einen  mehr  energischen  exspiratorischen  accent  übergieng. 

Die  consonantischen  vermittler  bei  dem  Übergang  von 
vorgerm.  ä  (ö)  +  reduciertem  i  zu  germ.  ai  waren  namentlich 
r,  l,  n,  m,  v.  Im  folgenden  führe  ich  alle  die  von  mir  behan- 
delten Wörter  auf,  obgleich  die  erklärung  bei  mehreren  un- 
sicher ist. 

Der  vermittler  ist 

1)  r;  s.  no.  2.  germ.  *air^;  3.  got.  airw«;  6.  an.  Ämnn;  7.  got. 
fraisau]  16.  a,gs,  Hrceda;  19,  Bhi.  cheren]  27.  got.  fcraida-;  30.  isl. 
smdri;  31.  got.  fraiw.    Im  ganzen  bei  9  wortformen. 

2)  l;  s.  no.  4.  ahd.  feili;  5.  got.  mail]  10.  got.  aglaits;  34.  ahd. 
kleit.    Im  ganzen  bei  4  wortformen. 

3)  n;  s.  no.  14.  ahd.  meinen]  15.  an.  subst.  eimr\  17.  got.  tains; 
20.  got.  aih;  23. ags. dran;  28. ahd.  heimo]  35. ahd. bein.  Im  ganzen 
bei  7  wortformen. 

4)  m;  s.  no.  8.  norw.  adj.etm;  9.  got.  waiton;  18.  ahd.  neiVwan. 
Im  ganzen  bei  3  wortformen. 

5)  w]  s.  no.  1. gothraiwa-;  11.  ahd. araweiz:  21,^g;&.wdsend\ 
22.  gotl.  vajlunde;  24.  ags.  Idwerce.  Im  ganzen  bei  5  wortformen. 

Mehr  isoliert  sind  die  folgenden  fälle: 
rs  als  vermittler:  no.  31.  an.  hreistr?; 
nk  als  vermittler:  no.  13  ahd.  oheim. 

Ferner  ist  bei  no.  29.  germ.  faigja-  eine  vorgerm.  form  *po- 
qdwyo'  vorausgesetzt,  in  welcher  ein  q  das  vor  wy  stehende  d 
mit  dem  vorhergehenden  o  vermittelte. 

Endlich  habe  ich  für  no.  25.  ahd.  reihhen  und  für  26.  anorw. 
reik  vorgerm.  formen  vermutet,  in  denen  ein  vorgerm.  ^  ein  ä 
mit  dem  folgenden  reducierten  i  vermittelte  und  wo  das  ä  nach 
einem  r  folgte.  Für  no.  12.  got.  arbaips  f.,  ags.  earfod  n.  habe 
ich  vorgerm.  *aräb9t-,  für  no.  32  ahd.  ga-meit  vorgerm.  *mat9'  (?) 
vermutet. 

Auch  sonst  treten  die  consonanten  r,  l,  n,  m,  w  ähnlich  als 
vermittler  auf.  In  aind.  grathitd-,  trsitd-,  mrditd'  ist  das  a 
*  hinter  muta,  media  und  spirans'  als  i  geblieben.  Dagegen  ist 
dasselbe  *  hinter  nasal  und  liquida'  nicht  geblieben:  gräntd-, 
jätd-,  dlrnd-,  purnd-^  (Bechtel,  Hauptprobleme  s.  218).  Auch 
nach  w  nicht:  dlmSi.  pütd-.    In  diesen  wortformen  ist,  wie  in 


BEITRAGE  ZUR  VORGERMANISCHEN  LAUTGESOHICHTE.      461 

den  von  mir  behandelten  germanischen,  eine  silbe  aus  zweien 
entstanden;  freilich  unter  anderen  betonungsverhältnissen. 

Nach  den  im  vorhergehenden  gegebenen  belegen  kann  germ. 
ai  teils  aus  urspr.  (indog.)  ä  mit  einem  reducierten  i,  teils  aus 
urspr.  (indog.)  ö  mit  einem  reducierten  i  entstanden  sein. 

Aus  *  u.  a.  in  no.  8.  norw.  eim  adj.,  15.  an.  dmr  subst.,  21. 
22.  30.  32. 

Häufiger  aus  o.  So  u.  a.  in  1.  got.  hraiw-,  11.  ahd.  araweiz, 
13.  ahd.  oheim,  14.  got.  tains,  18.  ahd.  ndman,  27.  got.  braids,  29. 
germ.  faigja-,  34.  ahd.  kleit 

Bei  mehreren  Wörtern  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden, 
ob  indog.  ö  oder  ein  vocal  der  dem  ä  des  lat.  pario,  des  umbr. 
Jcumaltu  entspricht,  vorauszusetzen  ist;  z.  b.  bei  2.  germ.  *airö. 

Brugmann  nimmt  in  seinem  Grundr.  an,  dass  indog.  a 
hinter  der  ersten  silbe  (im  auslaut  der  zweisilbigen  wurzel- 
formen, in  flexionssilben  und  suffixen)  im  aind.  und  avest.  durch 
i,  im  armen,  durch  a,  im  gr.  durch  a,  im  kelt.  durch  a  ver- 
treten ist,  und  er  belegt  dies  durch  nicht  wenige  beispiele. 
Dagegen  hat  er  keine  spur  des  in  dieser  Stellung  vorauszu- 
setzenden indog.  9  im  germ.  nachweisen  können.  Durch  meine 
begründung  habe  ich  dieser  auffassung  der  germ.  lautverhält- 
nisse  im  vorhergehenden  eine  andere  entgegen  zu  stellen  ver- 
sucht. Das  reducierte  i  der  von  mir  vorausgesetzten  vorgerm. 
formen  entspricht  einem  aind.  i  oder  einem  gr.  a  oder  beiden. 
S.  1.  got.  hraiw-;  2.  germ.  airö;  5.  got.  mail;  6.  an.  Amww;  8.  norw. 
eim  adj.;  15.  an.  dmr  subst.;  18.  ahd.  neiman;  32.  ahd.  gameit 
Diese  Zusammenstellungen  geben  keinen  beweis  für  die  aus- 
spräche des  9  im  urindog.  Allein  z.b.  nach  hraiw-  aus  vor- 
germ. *krow9'  neben  aind.  Jcravi-,  gr.  xQsa,  finde  ich  es  un- 
wahrscheinlich, dass  indog.  a  in  dieser  Stellung  als  ein  ge- 
murmeltes kurzes  a  ausgesprochen  wurde. 

Der  gegensatz  des  germ.  hraiw-  aus  vorgerm.  *hrow9-, 
vgl.  xQsa,  zu  got.  miluks  aus  vorgerm.  meld^-,  vgl.  ydXa,  setzt 
voraus,  dass  die  zweite  silbe  von  '^krow9-  schwächer  als  die 
von  meb^-  betont  war.  Daher  vermute  ich,  dass  die  form 
miluh-  lautgesetzlich  in  der  zweisilbigen  nominativform  ent- 
standen ist.  Dagegen  scheint  *krow9-  in  dreisilbigen  casus- 
formen, wo  die  zweite  silbe  unbetont  war,  lautgesetzlich  zu 


462  BÜGGE 

hraiw-  geworden  zu  sein,  wahrscheinlich  wo  in  der  dritten  silbe 
i,  ei  oder  e  folgte. 

Besonders  interessant  ist  das  Verhältnis  bei  no.  19:  ahd. 
cheren  aus  ^kairjan,  vorgerm.  ^garisiyo-]  ags.  cierran  aus  Vcarr- 
Jan,  vorgerm.  *garsiyO'\  sin,keyra  aus  ^kaurjan,  vorgerm.  *öra- 
VuSiyo.  —  Hier  setzt  ein  gerra.  verbum  eine  vorgerm.  form 
mit  reduciertem  i  voraus;  ein  anderes,  das  mit  jenem  wesent- 
lich identisch  ist,  eine  vorgerm.  form,  worin  s  unmittelbar 
nach  r  folgte  (eine  vorgerm.  form  auf  der  ^ nullstufe');  ein 
drittes  germ.  verbum,  das  sich  von  jenen  nicht  trennen  lässt, 
setzt  eine  vorgerm.  form  mit  reduciertem  u  voraus.  Wie  diese 
Verschiedenheiten  erklärt  werden  sollen,  lässt  sich  aus  den 
historischen  formen  dieser  verba  nicht  nachweisen.  Allein  es 
ist  wahrscheinlich,  dass  der  Wechsel  des  reducierten  i  und  des 
reducierten  u  in  den  vorgerm.  formen  dieser  verba  durch  den 
in  der  flexion  stattfindenden  Wechsel  der  vocale  der  folgenden 
Silben  bestimmt  wui'de  (vgl.  ahd.  neiman,  aus  vorgerm.  *wom,- 
niyo-,  neben  got.  glitmunjan). 

Die  abweichung  des  ags.  cierran  von  ahd.  cheren  und  von 
an.  keyra  hat  wahrscheinlich  in  betonungsverhältnissen  der 
vorgerm.  spräche  ihren  grund. 

Wo  in  den  vorgerm.  formen  der  von  mir  behandelten 
Wörter  ein  consonant  auf  das  reducierte  i  folgte,  ist  in  den 
entsprechenden  germ.  formen  gewöhnlich  eine  Versetzung  ein- 
getreten: germ.  rai  aus  vorgerm.  ar„  lai  aus  alt,  nai  aus  aw„ 
mai  aus  am,,  wai  aus  aWi.  S.  no.  6.  7.  9.  10.  11.  12.  13.  16. 
21.  22.  27.  31.  33.  34. 

Zuweilen  ist  eine  Versetzung  vor  einem  consonanten  unter- 
blieben, wie  es  scheint,  wegen  des  einflusses  verwanter  Wörter. 
S.  no.  15.  19.  20.  28.  Dass  Versetzung  bei  no.  18  ahd.  nehnan 
aus  vorgerm.  *nominiyO'  nicht  eingetreten  ist,  hat  darin  seinen 
hauptgrund,  dass  die  lautverbindung  nm-  im  germ.  anlaute 
nicht  gestattet  ist.  Aehnlich  ist  bei  no.  30  smdri  zu  beachten, 
dass  das  germanische  anlautendes  smr-  nicht  duldet. 

Das  aus  vorgerm.  ä  (ö)  +  reduciertem  i  entstandene  germ. 
ai  steht  mehrmals  zu  germ.  ce  (e)  im  ablautsverhältnis.  So 
got.  mail  neben  meljan  (no.  5),  wo  mir  das  e  urindog.  scheint. 
Gleichartig  scheint  mir  das  Verhältnis  des  got.  fraisan  zu 
ferja  (no.  7),  ags.  dran  zum  as.  dran  (no.  23),  an.  reik  zu  rdk 


BEITBÄGE  ZUR  VOBGEBMANISGHEN  LAUTGESOHIGHTE.      463 

(no.  26);  am  ehesten  auch  das  des  ahd.  fäli  zu  fäli  (no.  4). 
Anders  fasse  ich  das  Verhältnis  des  got.  airus  zum  as.  ärundi 
(no.  3)  auf.  Das  ce  welches  von  ä  in  ärundi  vorausgesetzt 
wird,  scheint  mir  speciell  germanisch,  und  ich  erkläre  mir  die 
entstehung  dieses  ce  daraus,  dass  die  erste  silbe  damals,  als 
dies  cB  entstand,  nicht  den  hauptton  trug.  Gleichartig  hiermit 
scheint  mir  das  vocalverhältnis  bei  eim  adj.  —  cemen  (no.8), 
eimr  —  am  (no.  15),  vajlunde  —  välan  (no.  22).  Germ.  *airö 
(no.  2^  aus  vorgerm.  *ard-  steht  zu  rö  in  an.  röär  im  ablauts- 
verhältnis;  ebenso  an.  Hrei&gotar  aus  "^hraiöi-  zu  ags.  hreö- 
aus  *hrö2>i'.  Die  formen  rö-,  hröpi-  sind  mit  gr.  xgcc-öefipov, 
vtO'öfiärog  in  betreff  des  langen  vocals  gleichartig. 

Da  das  hier  behandelte  germ.  ai  aus  vorgerm.  a  (d)  + 
reduciertem  i  entstanden  ist,  kann  es  natürlich  zu  ä  und  zu 
den  verschiedenen  vocalen  der  e- reihe  im  ablautsverhältnis 
stehen. 

Neben  ahd.  araweiz  (no.  11)  findet  sich  arawlz,  dessen  i 
ich  aus  schwa-i  +  schwa-i  erkläre.  Diesen  Übergang  bespreche 
ich  im  folgenden  artikel  näher.  Die  ablautstufe  im-  neben  eim- 
(no.  15)  ist  wahrscheinlich  speciell  germ.  und  zu  eim-  nach  der 
analogie  ähnlicher  ablautsreihen  gebildet.  Ueber  anorw.  velendi 
no.  22  vgl.  den  folgenden  artikel. 

Das  zusammenrücken  der  zwei  Silben  zu  der  germ.  einen 
(von  ä  +  schwa-i  zu  at)  hat  zur  zeit  der  vorgerm.  freien  be- 
tonung  stattgefunden.  S.  meine  bemerkungen  zu  as.  ärundi 
(no.  3),  norw.  cemen  (no.  8),  schw.  am  (no.  15),  schw.  välan  (no.  22). 

Der  lautwandel  macht  überhaupt  den  eindruck,  dass  er 
auf  einer  weit  zurückliegenden  stufe  der  sprachentwickelung 
eingetreten  ist.  Vgl.  z.  b.  no.  30  an.  smdri  aus  "^smairhan-, 
vorgerm.  ^sm^rskon-  neben  mittelir.  semrcLch.  Ich  zweifle  nicht, 
dass  derselbe  älter  ist  als  die  germ.  lautverschiebung. 

Es  ist  meine  absieht,  zwei  artikel  folgen  zu  lassen:  II.  zur 
erläuterung  des  germ.  i\  in.  zur  erläuterung  des  germ.  au,  eu 
und  ü, 

CHRISTIANIA,  april  1899.  SOPHUS  BUGGE. 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA 

AUF  'ISCH. 

I. 
Die  entwicblung  des  bösen  Sinnes. 

1.  Durch  unsere  spräche  geht  seit  beginn  der  neuen  zeit 
ein  starker  zug  vom  objectiven  zum  subjectiven.  Das  individuum 
hat  gelernt,  zu  den  dingen  der  aussenwelt  Stellung  zu  nehmen 
im  grossen  wie  im  kleinen,  in  reformation  und  revolutionen 
haben  sich  die  Völker  der  neuen  zeit  das  recht  der  freien  mei- 
nung  erkämpft,  in  dem  namen  den  der  moderne  mensch  den 
dingen  gibt,  heftet  er  ihnen  das  urteil  an,  das  er  über  sie  hat. 
Da  er  aber  nicht  lauter  neue  Wörter  schafft,  um  diesem  streben 
zu  genügen,  so  verschiebt  sich  ihm  die  bedeutung  der  vorhan- 
denen: glück  ist  ihm  nicht  mehr  die  art,  wie  etwas  ausschlägt, 
sondern  der  ausschlag  zum  guten  (der  alte  sinn  noch  bei  Luther, 
z.  b.  Vom  auffrürischen  geist  3  und  Müntzer,  Schutzrede  19  des 
neudrucks,9  beide  1524),  und  wie  glück  sind  viele  voces  mediae 
des  mittelalters  behandelt  worden,  z.  b.  pris,  das  unserm  're- 
nommee '  im  guten  wie  im  bösen  sinne  entspricht,  oder  schulde, 
das  so  gut  nhd.  *  verdienst'  wie  nhd.  *  schuld'  umfasst.  Das 
erste  beispiel  zeigt  uns  zugleich,  wie  die  durch  die  subjectivie- 
rung  entstandenen  lücken  des  Wortschatzes  gefüllt  werden: 
durch  heranziehung  von  fremdworten.  Höchst  bezeichnend  aber 
für  die  entwicklung  unsrer  spräche  und  für  das  übergewicht 
des  subjectiven  triebes  ist  es,  dass  diese  fremden  ersatzwörter, 
sobald  sie  einwurzeln,  gleichfalls  subjectiv  gefärbt  werden:  bei 
renommee,  interessant,  qualität  hat  sich  eine  entwicklung  zum 

^)  Die  belege  sind  nur  dann  ausführlich  angeführt  —  wo  nichts  anderes 
angegeben  ist,  nach  band  und  seite  —  wenn  sie  sich  in  den  Wörterbüchern 
noch  nicht  finden. 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  465 

guten,  bei  mechanisch,  Schablone,  schematisch  zum  bösen  sinne 
vollzogen.  Daneben  geht  die  entwicklung  innerhalb  des  alten 
sprachgutes  immer  weiter:  gesellschaft  und  stand  treten  seit 
dem  ende  des  vorigen  jh.'s  im  prägnanten  sinne  auf,  familie 
und  weit  erst  in  diesem  (Burdach  scheint  mir  in  ßeimars  und 
Walthers  verse  einen  zu  modernen  sinn  zu  legen,  wenn  er, 
ßeinmar  der  alte  und  Walther  von  der  vogelweide  s.  9,  deren 
werlt  mit  *  gesellschaft'  übersetzt:  nirgends  fordert  das  mhd. 
coUective  werlt  diesen  gefühlston).  Wie  sehr  der  zug  zum 
subjectiven  die  nhd.  spräche  beherscht,  zeigt  sich  auch  darin, 
wie  schwer  es  der  Wissenschaft,  die  die  dinge  objectiv  fasst, 
fällt,  deutsch  zu  sprechen,  und  wie  unmöglich  es  der  alltags- 
sprache  ist,  wissenschaftliche  ausdrücke  unverändert  aufzu- 
nehmen. Man  denke  an  bedeutungsverschiebungen,  wie  sie 
absolut,  ästhetisch,  dilemma,  exact,  indifferent,  kritisch,  moralisch, 
originell,  religiös,  speculation,  wahlverwant  erfahren  haben,  so- 
bald sie  in  die  gemeinsprache  aufgenommen  wurden.  Noch 
eine  beobachtung  möge  die  ausdehnung  unserer  bewegung 
zeigen:  von  den  beispielen,  mit  denen  Bechstein,  Germ.  8, 330  ff. 
den  pessimistischen  zug  in  unserer  spräche  beweisen  will,  ist 
mehr  als  die  hälfte  subjectiv  gefärbt  worden  und  hat  bloss 
dadurch  ihren  bösen  sinn  bekommen:  tyrann,  pfaffe,  unverschämt 
u.  a.  sind  mit  hass  erfüllt  worden,  buhle,  wollust,  geil,  demokrat, 
aristokrat,  komödiant,  literat,  Schulmeister,  tölpel,  bauer,  knecht, 
dirne,  wicht,  mensch,  armselig,  erbärmlich,  elend,  pobel,  dumm, 
naiv  mit  Verachtung. 

So  Hessen  sich  noch  hunderte  von  beispielen  für  diese  ent- 
wicklung vom  objectiven  zum  subjectiven  anführen,  sowol  für 
den  fall  dass  die  alte  vox  media  zu  einem  lobe,  wie  dafür 
dass  sie  zu  einem  tadel  geworden  ist.  Einen  pessimistischen 
zug  unserer  spräche  darf  man  darin  nicht  sehen  wollen,  wie 
es  Bechstein  a.  a.  o.  mit  einseitiger  hervorhebung  der  fälle  der 
letzten  art  getan  hat,  aber  allerdings  zeigt  sich  ein  übergewicht 
dieser  fälle.  Den  grund  dafür  muss  man  wol  in  neigung  und 
bedürfnis  der  alltagssprache  suchen,  die  eben  zum  tadel  mehr 
affect  braucht  als  zum  lobe,  und  auch  daran  darf  man  wol 
denken,  dass  die  höhezeit  dieser  entwicklung,  das  16.  jh.,  dui'ch 
ein  hinabsteigen  der  literatur,  ein  versenken  in  die  tiefen  eines 
politisch  und  religiös  bis  zur  leidenschaft  erregten,  im  kämpfe 


466  GOETZE 

beredten,  mit  lob  und  Zustimmung  kargen  Volkslebens  bezeich- 
net wird. 

2.  Durch  jenen  umstui-z  im  sprachleben  wurde  ein  ganz 
neuer  Wortschatz  zu  tage  gefördert  und  (was  für  uns  allein 
controlierbar  ist)  zur  literaturfähigkeit  erhoben,  der  bisher  tief 
unter  allem  Schrifttum  gestanden  hatte:  mit  ihm  eine  klasse 
von  adjectiven,  deren  entwicklung  uns  hier  näher  beschäftigen 
soll:  die  adjectiva  auf  -isch.  Vielleicht  gerade  weil  ihre  bil- 
dung  zu  jener  zeit  weit  um  sich  gegriffen  hat,  haben  sie,  so- 
weit ihnen  ein  gefühlswert  beigelegt  worden  ist,  durchweg 
eine  entwicklung  zum  bösen  genommen.  Freilich  nicht  aus- 
nahmslos. Zwar  zum  lobe  gewordene  adjectiva  wie  deutsch 
und  hübsch  sind  nur  scheinbare  ausnahmen,  denn  sie  wurden 
zur  zeit  der  subjectivierung  vom  Sprachgefühl  nicht  mehr  als 
adjectiva  auf  -isch  erkannt,  aber  auch  andre  durchbrechen  die 
regel:  zunächst  fremde  adjectiva,  die  schon  mit  einem  lobe 
ins  deutsche  aufgenommen  sind,  so  ätherisch,  franz.  ethere,  erst 
zu  ende  des  vorigen  jh.'s  ins  deutsche  aufgenommen  oder  doch 
allgemeiner  geworden,  vgl.  Hildebrand  im  DWb.  unter  genie  10  f. 
Zachariae,  Poet.  Schriften  1765,  1, 130,  1754  von  Schönaich  im 
Neologischen  Wörterbuch  verspottet,  nach  Klopstock  und  Schiller 
bei  Jean  Paul,  z.  b.  Werke,  Berlin  1840,  3, 26. 42  und  Seume, 
Spaziergang  nach  Syrakus  1^,  150  (1803).  —  balsamisch,  franz. 
balsamiqxie,  ebenfalls  bei  Schönaich,  Seume  und  späteren,  doch 
auch  schon  in  Stielers  Wörterbuch  (1691).  So  recht  ein  ana- 
kreontisches  wort,  schon  ironisch  bei  Zachariae,  Poet.  Schriften 
1765,  1,250:  ein  balsamisches  theer  tränkt  ietzt  die  durstigen 
räder,  —  exemplarisch  ^exemplaris'.  Lobend  bei  Grimmeis- 
hausen, Simpl.  663. ')  Courage  14.  Keuscher  Joseph  11;  vgl.  Anz. 
fda.  4, 173.  —  musikalisch  ^musicalis',  Anz.  fda.  4, 176.  Germ.  29, 
387.  —  politisch  ^politicus,  politique',  Germ.  28, 395.  29, 389. 
Zs.  fdu.  10, 777  ff.  Anz.  fda.  4, 181. 

Diesen  als  adjectiva  übernommenen  fremdworten  schliessen 
sich  solche  an,  die  erst  im  deutschen  zu  fremden  Substantiven 
mit  lobendem  sinne  gebildet  worden  worden  sind,  so  gravitätisch 


^)  Der  Simplicissimus  wird  nach  selten  der  ausgäbe  A  angeführt,  weil 
danach  die  stellen  bei  Keller,  Kögel  und  Kurz  leicht  zu  finden  sind,  Grim- 
welshausens  andere  werke  nach  buch  und  capitel 


ZUR  GESCHICHTE   DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH,  467 

ZU  gravitas,  oft  bei  Christ.  Weise  und  Grimmelshausen.  Fischart 
kann  doch  nicht  umhin,  in  das  wort  einen  tadel  zu  legen:  im 
Ausspruch  des  esels  v.  26  entstellt  er  es  zu  gröbitetisch  (s.  auch 
Hauffen,  Caspar  Scheidt  22).  Auch  bei  Serz,  Teutsche  Idiotismen, 
Provinzialismen,  volksausdrücke  u.s.w.,  Nürnberg  1797,  wird  das 
wort  tadelnd  verwendet:  er  kommt  ganz  gravitätisch,  magnifice 
se  infert    Jetzt  hat  es  wol  immer  ironischen  klang. 

Deutsche  adjectiva  auf  -isch  können  ein  lob  erhalten 

a)  wenn  sie  Übersetzungen  von  solchen  f remdworten  sind ; 
so  das  junge  dichterisch  zu  poetisch;  haushältisch  und  haus- 
hälterisch zu  ökonomisch;  heldisch  neuerdings  zu  heroisch; 
malerisch  zu  pittoresque  (nicht  vor  Stieler  zu  belegen);  redne- 
risch und  schönrednerisch  zu  rhetorisch;  reiterisch  und  ritterisch 
zu  cavalier  und  chevaleresque,  beide  bei  Stieler,  reuterisch  mit  lob 
auch  in  Grimmeishausens  Courage  3,  wo  das  DWb.  seltsamer- 
weise tadelnde  bedeutung  annimmt,  und  in  der  Deutschen 
grammatik  des  Laurentius  Albertus  71  d.  n.,  dagegen  mit  tadel: 
eyn  zornig,  vnchristlich,  bitter  hertz,  vnd  gar  eyn  hitzig,  reute- 
risch  gehlüt,  Ickelschamer,  Clag  etlicher  brüder  43  d.  n.  (Rothen- 
burg 1525);  ohne  gefühlston:  die  andern  zween  machten  (d.  i. 
statteten)  sich  reuterisch  aus,  allein  der  amptschreiber  von  Zossen 
. . .  konte  nicht  zu  fasse  gehn  (also  die  beiden  reuterisch  aus- 
gestatteten tun  das),  der  setzt  sich  auff  einen  pawrwagen  Barth. 
Krüger,  Hans  Ciawerts  werckliche  historien  35  d.n.  (Berlin  1587) ; 
retterisch  für  sauveur  bei  Stieler;  staatsmännisch  für  politique 
und  weltmännisch  für  cavalier-,  wol  nicht  vor  Goethes  Dichtung 
und  Wahrheit  15.  buch  (1814); 

b)  als  Verneinungen  von  tadelnden  adjectiven  auf  -isch. 
Die  meisten  bildungen  dieser  art  sind  künstlich  und  selten: 
unmüssiggängerisch,  unschlächterisch,  untyrannisch  und  unzän- 
kisch bei  Stieler,  unweidmännisch  in  Zachariaes  Poet.  Schriften 
1765,  1,  284,  vnpfäffisch  in  Fischarts  Bienenkorb  204  a,  und 
manches  mit  un-  beginnende  adjectiv  in  Campes  Wörterbuch. 
Alt  und  verbreitet  ist  allein  unparteiisch:  Lexer,  Mhd.  wb. 
DWb.  unter  kreppisch.  Murner,  An  den  adel  5.  H.  ß.  Manuel, 
Weinspiel  (1548)  V.  3511.  Faustbuch  des  christlich  meinenden, 
vorr.  (auch  Scheible,  Kloster  2, 76).  Scheidt,  Grobianus  v.  1902. 
Goldast,  ßeichshändel  (1614)  titel,  vorr.  2.  Simpl.  350.  353.  Der 
schlesisch  -  lausitzische  ausdruck  der  unparteiische  für  ^dieb' 


468  GOETZE 

gehört  wol  zu  partei  in  dem  sinne  '  streif corps  zum  plündern 
und  fouragieren',  bezeichnet  also  scherzhaft  den  der  nimmt 
ohne  einer  solchen  partei  anzugehören.  Eine  unhaltbare  er- 
klärung  bringt  K.  G.  Anton  in  seinem  Verzeichnis  oberlausitzi- 
scher  Wörter  (Görlitz  1825—48)  14, 6,  doch  auch  er  fasst  den 
ausdruck  als  scherz  auf.  Beispiele  genug  von  solchen  die  der 
ausdruck  nach  unsrer  auffassung  zunächst  getroffen  hätte, 
stehen  im  DWb.  unter  gart  {garde,  stipis  coUectio  sive  potius 
extorsio  Frisch),  garten  {garden,  exire  praedatum  Schottel)  und 
garthruder  {gardebruder  =  miles  vagabundus,  praedo  mendicus 
Stieler); 

c)  wenn  das  wort  von  dem  sie  abgeleitet  sind,  nachträg- 
lich seinen  tadelnden  sinn  zum  lobe  wendet ;  so  neckisch,  schel- 
misch (in  der  bedeutung  ^zu  heiteren  possen  geneigt'  zuerst 
und  hauptsächlich  bei  Mitteldeutschen,  vgl.  ausser  den  nach- 
weisen des  DWb.  Gryphius,  Peter  Squenz  25.  Horrib.  66.  Hay- 
neccius,  Hans  Pfriem  v.  2360  [Leipzig  1582].  Weise,  Erznarren 
203.  GrimmeLshausen,  Simpl.  117.  205.  439.  507.  717.  Keuscher 
Joseph  15);  schalUsch  (nur  md.  zu  belegen);  närrisch  s.  unter  21. 

3.  Die  geschichte  unserer  adjectiva  hat  bisher  mehr  die 
lexikographen  als  die  grammatiker  beschäftigt,  sie  ist  mehr 
analytisch  als  synthetisch  behandelt  worden.  Jakob  Grimm 
hat  in  der  Deutschen  grammatik  2,  375  fl  über  ihre  lautliche 
gestalt  und  ihre  Verbreitung,  Wilmanns  in  der  Wortbildungs- 
lehre 467  ff.  über  die  gesetze  ihrer  bildung.  Kluge  in  der 
Nominalen  Stammbildungslehre  §  210  f.  über  ihre  älteste  ge- 
schichte gehandelt-,  aber  die  entwicklung  ihrer  bedeutung  ist 
noch  nicht  im  Zusammenhang  dargestellt  worden.  Einen  ansatz 
dazu  enthält  Bechsteins  erwähnter  aufsatz.  Das  material  im 
einzelnen  findet  sich  in  unseren  älteren  und  neueren  Wörter- 
büchern, bei  Schade,  Müller  und  Zarncke,  Lexer,  Maaler,  Stieler, 
Frisch,  Adelung,  Grimm,  Kluge  und  Paul,  dann  aber  auch  in 
den  Wörterbüchern  der  md.  und  nd.  mundarten.  Schliesslich 
wurde,  soweit  es  nötig  und  möglich  war,  auf  die  quellen  selbst 
zurückgegangen. 

4.  Im  allgemeinen  ist  die  entwicklung  der  adjectiva  auf 
4sch  folgenden  weg  gegangen:  von  haus  aus  bezeichnen  sie 
die  herkunft.  Hatte  das  wort  von  dem  sie  abgeleitet  wurden, 
einen  lobenden  oder  tadelnden  sinn,  so  teilten  sie  ihn.    So 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  460 

entwickelte  sich  der  zustand,  dass  ein  teil  unserer  adjectiva 
einen  tadel  bezeichnete.  Zufällig  waren  das  gerade  die  häufig- 
sten, die  also  im  sprachbewusstsein  einen  grösseren  räum  ein- 
nahmen als  die  ohne  tadel.  Darum  gewöhnte  sich  das  Sprach- 
gefühl, diesen  gelegentlichen  tadel  als  einen  wesentlichen 
bestandteil  der  bedeutung  der  gruppe  aufzufassen:  neue  adjec- 
tiva auf  'isch  wurden  vorwiegend  von  solchen  worten  abgeleitet 
die  einen  tadel  enthielten,  ja  zu  adjectiven  mit  anderen 
Suffixen  wurden  nebenformen  auf  -isch  gebildet,  so 

widersinnisch  von  Kant  zu  widersinnig  (ebenso  auch  schon 
Fischart,  Garg.163).  —  eigenwillisch  von  Fischart,  Bienenk.l74a 
und  ßingwald  zu  eigenwillig,  —  grätisch  schlesisch  und  ober- 
laus, zu  grätig,  Weinhold,  Beiträge  zu  einem  schlesischen  wb. 
unter  grätig,  K.  G.  Anton  8, 14.  —  drecksch  oberlaus,  zu  dreckig. 
K.  G.  Anton  7, 16.  —  gallisch  zu  gallig,  Stieler,  Frank,  Krämer, 
Paracelsus.  —  gr entisch  zu  grandig  'mürrisch'  bei  Sachs,  Fabeln 
und  schwanke  1, 206.  513,  zu  scheiden  von  einem  wie  es  scheint 
rotwelschen  grandig  'gross'  nach  franz.  grand,  Simpl.  253.  Teut- 
scher  Michel  13.  Springinsfeld  23.  Vgl.  femer  Murner,  Narren- 
beschwörung 16,41.  Moscheroschs  rotwelsches  Wörterbuch.  Weim. 
jb.  4, 83.  K.  G.  Anton  unter  grandig.  Hörn,  Soldatensprache  118. 
—  statisch  zu  stätig  'störrisch'  von  pf erden,  denn  nur  das  kann 
stätig  bedeuten  (vgl.  Lexer,  Maaler,  Frisch,  Adelung,  Campe, 
das  Bremisch-niedersächsische  wb.),  und  nicht  'lammfromm',  wie 
Spanier,  Zs.  fdph.  29,  420  Mumers  stettig  rösser  übersetzt 
haben  will. 

Schliesslich  wurde  es  auch  möglich,  dass  die  ableitungs- 
silbe  erst  den  tadel  in  ein  wort  hineinbrachte,  indem  sie  eine 
tadelnde  Übertragung  veranlasste,  und  schliesslich  wurden 
adjectiva  lediglich  dadurch  dass  sie  auf  -isch  endeten,  zum 
tadel.  Diese  letzte  entwicklung  ist  sehr  selten;  eins  der 
wenigen  beispiele  ist  jägerisch,  zu  dem  Frisch  bemerkt:  'ist 
etwas  spöttisch  wegen  der  endung  -isch,  jägerlich  ist  besser'. 
Wenn  man  auch  keinen  anlass  hat,  Frischs  angäbe  zu  be- 
zweifeln, so  kann  doch  der  spöttische  beigeschmack  \on  jäge- 
risch nur  geringe  ausdehnung  gehabt  haben,  denn  weder  bei 
Sebitz  1580  noch  bei  Goethe  1816  noch  im  heutigen  bairischen 
(z.  b.  Fliegende  blätter  2731. 1897)  ist  ein  tadel  darin  zu  ver- 
spüren, und  schon  1775  erhebt  Adelung  einsprach  gegen  Frischs 


470  GOETZE 

jägerlich.    Jedenfalls  ist  die  aufstellung  einer  gruppe  von  ad- 
jectiven  dieser  art  praktisch  ohne  wert. 

5.  Die  wenigen  adjectiva  auf  -isch  die  in  germanische  zeit 
zui'tickreichen,  bezeichnen  die  herkunft.    Es  sind 

ahd.  mennisc  —  an.  menskr  —  got.  mannisks 
2ihd.  himiUsc  —  B.n.himne8kr 
ahd.heimisc   —  zji.heimskr 
ahd.  diutisc  —  got.  fyiudiskö 

ahd.  heidanisc  —  got.  haipimsks 

ohd.judeisc  —  got.  iudaiwisks 

an.  hernskr  —  got.  bamisks. 

Diese  ältesten  adjectiva  unserer  klasse  haben  sich  in  den 
späteren  sprachen  alle  erhalten:  himmlisch,  jüdisch,  heimisch 
bezeichnen  noch  heute  die  herkunft  vom  himmel,  den  Juden 
und  der  heimat :  aber  auch  schon  an  diesen  ältesten  beispielen 
erkennt  man,  dass  sie  durch  eine  leichte  bedeutungsverschiebung 
zum  tadel  werden  können:  bei  jüdisch  hat  sich  diese  entwick- 
lung  in  dem  zu  gründe  liegenden  Substantiv,  bei  an.  heimskr 
^diotus'  in  dem  adjectiv  selbst  vollzogen. 

6.  In  ahd.  zeit  wächst  die  zahl  der  adjectiva  auf  -isch. 
Sie  sind  bei  Grimm,  Kluge  und  Wilmanns  angeführt,  so  dass 
hier  eine  aufzählung  unnötig  ist.  Natürlich  wächst  bei  dem 
anschwellen  der  ganzen  bildung  auch  die  zahl  der  adjectiva 
mit  bösem  sinne.  Von  tadelnden  nominibus  abgeleitet  und 
daher,  aber  auch  bloss  daher,  mit  einem  tadel  behaftet  sind: 
ahd.  bruttisc  'schrecklich',  von  brutti  *  schrecken';  gtrisc  *  gierig', 
von  ^m*gier';  mordisc  ^m'6riensch\  von  mord;  ^i^fec  *  töricht', 
von  toi,  vielleicht  schon  gemeingermanisch:  aschw.  dulsker, 
dylsJcer  'träge,  gleichgiltig'  bei  Tamm,  Et.  svensk  ordbok.  In 
den  später  zu  tadelndem  sinne  entwickelten  adjectiven  gawisk^ 
dorfisc,  gipürisch,  kindisc,  unadalisc  ist  der  tadel  wol  erst  im 
keime  enthalten,  heidanisc,  irdisc,  weraltisc  mussten  im  munde 
eifriger  Christen  zum  Vorwurf  werden;  dass  das  aber  nicht 
auf  rechnung  der  endung  zu  setzen  ist,  zeigen  die  ihnen  ent- 
gegengesetzten frönisc,  himilisc,  erwirdisc.  Immerhin  ist  zu 
bemerken,  dass  bei  einer  verhältnismässig  grossen  zahl  ahd. 
adjectiva  möglichkeit  und  wol  auch  neigung  zu  einer  Wen- 
dung ins  moralische  vorhanden  ist;  es  muss  aber  betont 
werden,  dass  diese  neigung  noch  keine  bestimmte  richtung 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  471 

eingeschlagen  hat,  weder  zum  guten  noch  zum  bösen  sinne: 
beide  wege  stehen  noch  offen.  Wir  erkennen  aber  in  den 
angeführten  beispielen  auch  schon  den  grund  dafür,  dass  der 
erste  weg  beschritten  worden  ist:  gerade  die  häufigsten  der 
aufgezählten  Wörter,  gtrisc,  mordisc,  gipürisch,  kindisc  waren 
nur  dieser  entwicklung  fähig,  die  entgegengesetzten,  erwirdisc, 
adalisc,  fronisc  waren  leichter  ersetzbar  und  sind  denn  auch 
früh  ausgestorben,  denn  adelisch  bei  Luther,  Mumer  (An  den 
adel  36)  und  Agricola  ist  eine  junge  neubildung  und  ohne 
gefühlswert:  dass  es  hier  u.  ö.,  z.  b.  auch  in  Scheidts  Grobianus 
s.  4  d.  n.  ironisch  gebraucht  wird,  ist  wol  zufall. 

Die  grosse  menge  der  ahd.  adjectiva  auf  -isc  bezeichnet 
die  herkunft,  die  meisten  sind  von  Völker-  und  ländernamen 
abgeleitet:  arabisc,  frenkisc,  crehhisc,  nazarenisc,  punikish,  sama- 
ritanisg,  sirisc,  spanisc,  walahisc  u.  v.  a. 

7.  Auch  im  mhd.  bleibt  das  die  hauptsächlichste  Verwen- 
dung unsrer  adjectiva,  und  noch  heute  können  wir  fast  zu 
jedem  völkemamen  ein  adjectiv  auf  -isch  bilden.  Aber  gerade 
weil  diese  klasse  unserer  adjectiva  immer  neu  gebildet  wird, 
entwickelt  sie  meist  gar  keine  eigne  bedeutung:  für  die  be- 
deutungsgeschichte  kommen  nur  wenige  fälle  in  betracht,  in 
denen  eine  Übertragung  der  bedeutung  stattgefunden  hat.  Zwei 
beispielen  für  diese  entwicklung  sind  wir  schon  oben  in  jüdisch 
und  heimisch  begegnet,  weitere  mögen  hier  folgen. 

vlämisch,  d.i.  'flamländisch',  war  im  mittelalter  *fein  ge- 
bildet', denn  aus  den  Niederlanden  kam  die  ritterliche  cultur 
nach  Deutschland,  und  nach  Stalder  1,  376  bedeutet  es  in  der 
Schweiz  noch  'das  feine,  zarte'.  Flämisch  zu  reden  hält  der 
junge  Helmbreht  und  nach  Grimmeishausens  Vogelnest  1, 18 
im  schwedischen  kriege  ein  Schwabe  für  vornehm.  Umgekehrt 
redet  in  Paulis  Schimpf  und  ernst  no.  484  ein  heraufgekom- 
mener nit  nie  sein  sprach,  er  nimpt  sich  an  schwebisch  zureden. 
Als  eine  andere  culturwelle  viele  flämische  colonisten  über 
Mitteldeutschland  nach  dem  osten  führte,  bekam  flämisch 
offenbar  nach  dem  grossen  wuchs,  der  ernsten  art  und  den 
trotzigen  gesichtern  der  Flemminge  die  neue  bedeutung  'gross, 
grob,  plump,  rücksichtslos'  (im  Hennebergischen  ist  auch  hol- 
landsch  'sehr  gross',  Zs.  fdm.  3, 134;  die  lausitzische  bedeutung 
'sehr'  ist  wol  eine  abschwächung  aus  der  folgenden;  K. G.Anton 


472  GOETZE 

17, 19  vergleicht  unflätig),  dann  in  der  Altmark  und  in  Nieder- 
sachsen, Schlesien  und  Nordböhmen,  Franken,  Henneberg  und 
Hessen  *  mürrisch,  verschlossen,  tückisch',  schliesslich  im  Bairi- 
schen  wald,  Nordböhmen  und  Thüringen  (Stieler  496)  *böse, 
zornig'.  Auf  eine  dritte,  vielleicht  noch  bevorstehende,  ent- 
wicklung  deutet  Knothe,  Markersdorfer  mundart  38,  wenn  er 
für  Nordböhmen  flamända  *vagabund,  liederlicher  mensch'  an- 
führt. Sie  entspräche  einer  dritten  Invasion  der  Flamen,  der 
als  herumziehender  händler.  Dieses  neueste  flämisch  hat  aus- 
sieht, entwickelt  zu  werden,  denn  es  kann  an  redensarten  an- 
knüpfen wie  er  ist  von  Flandern,  vagi  sunt  eius  amores  (Serz, 
Teutsche  idiotismen  43  a),  er  ist  aus  Flandern,  ein  Fländerer, 
er  fländert  (J.G.Berndt,  Versuch  zu  einem  schlesischen  idiotikon, 
Stendal  1787),  mädchen  aus  Flandern  (Schmeller  1,792),  die  aus 
volksetymologischer  umdeutung  von  fländern  *  flattern'  ent- 
standen sind  (vgl.  auch  fländern  im  DWb.).  Umgekehrt  hat 
wol  auf  die  entwicklung  des  volksnamens  flämisch  zu  ^mürrisch' 
das  weitverbreitete  flanschen  *das  gesicht  verziehen'  einfluss 
gehabt,  namentlich  die  Verbindung  flämisches  gesicht  ist  durch- 
aus =  flunsch,  doch  darf  man  nicht  mit  Adelung  flämisch  in 
diesem  sinne  überhaupt  als  ableitung  zu  flennen  u.s.w.  an- 
sehen. 

Auf  einem  umwege  vom  volksnamen  zum  tadel  geworden 
ist  mhd.  hiunisch.  Begreiflicherweise  hatten  die  Hunnen  in 
Deutschland  nicht  den  besten  ruf  hinterlassen,  das  zeigt  schon 
die  38.  zeile  des  Hildebrandsliedes:  du  bist  dir,  alter  Hün, 
ummet  späher  . . . ,  wo  der  tadel  noch  rein  occasionell  in  das 
Substantiv  gelegt  zu  sein  scheint.  Doch  hat  sich  wol  Althün 
als  scheltname  festgesetzt,  vgl.  Förstemanns  Namejibuch  1, 757 
und  Grimm,  Deutsche  mythologie  490.  hiunisch  aber  und  hart- 
hiunisch  wurde  scheltname  für  eine  schlechte  weinsorte  (s. 
ausser  Lexer  und  DWb.  Schmids  Schwab,  wb.  Anz.  fda.  4, 138  ff. 
Zs.  fda.  23,  207  und  Zs.  fdm.  1, 257.  2, 250.  Weistümer  3,  487. 
Fischart,  Garg.  310.  313  f.  Bienenk.  243  a.  Ist  vielleicht  hundz- 
wein  Sachs,  Schwanke  1, 262  =  hiunischer  wein?  Dann  könnte 
htmdssoff  und  hundstrunh  im  DWb.  als  rausch  von  hiunischem 
weine  aufgefasst  werden,  hundsvoll  und  hundstrunken  (auch 
bei  Sachs,  Schwanke  1,  262.  594)  'von  hundswein  trunken' 
heissen.    Eine  andere  erklärung  im  DWb.  und  den  Generibus 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  473 

ebriositatis,  das.  unter  hundsvolT).  Unabhängig  von  dieser  in 
den  Weingegenden,  also  namentlich  im  obd.  vorgenommenen  ent- 
wicklung,  wandelte  die  norddeutsche  sage  mit  dem  mittelpunkt 
in  Westfalen  (Grimm,  Myth,  490)  die  Hunnen  in  riesen.  Das 
zugehörige  hiunisch  gieng  aus  der  bedeutung  *  riesenhaft'  mit 
neuem  tadel  in  die  von  *  ungeschlacht,  roh,  unedel'  oder 
*  grimmig'  über,  des  letzte  oft  bei  Sachs,  z.b.  Schwanke  1,  25. 
Widerum  abweichend  ist  das  bairische  hünsch  aus  'ungeschlacht' 
zu  'gierig,  heisshungrig'  verengert  worden.  Sollte  hier  das 
Wortspiel  Ungern — hungern  eingewirkt  haben,  das  z.  b.  Murner, 
Narrenbeschw.  88, 15  verwendet  (vgl.  Spaniers  anm.  zu  dieser 
stelle  und  unter  17)?  Ganz  anderer  herkunft  ist  das  weit- 
verbreitete hinsch  als  name  einer  pferdekrankheit,  Spanier  zur 
Narrenbeschw.  95, 78.  Staub -Tobler  2, 1475.  Jung  ist  hünisch 
=  'wie  ein  hüne'  in  Jordans  Nibelungen  1,15  u.  ö. 

Wenn  Fischart,  Garg.  374  das  Ungeziefer  seines  beiden 
das  vngarisch  vihe  nennt,  so  knüpft  er  ausser  an  die  unrein- 
lichkeit  der  Ungarn  (vgl.  Sachs,  Schwanke  2,421)  an  den  grossen 
rühm  an,  den  das  ungarische  rindvieh  in  Deutschland  genoss 
(Garg.  381.  Podagr.  trostbüchlein  28).  Es  ist  schwer  zu  sagen, 
ob  diese  bosheit  ein  witz  Fischarts  oder  eine  redensart  ist. 
Geschichtliche  Verhältnisse  dagegen  spiegeln  sich  in  der  ent- 
wicklung  die  die  Wörter  sklavisch  und  polnisch  im  deutschen 
genommen  haben.  Sklavisch  wird  etwa  zu  Fischarts  zeit  zu 
'servus'  geworden  sein:  Garg.  161  meint  auff  türckisch  vnd 
sclavisch  bloss  die  spräche,  163  den  sclavischen  Bömern  die 
denkart,  Grimmeishausen  nimmt  lieber  sclavonisch  oder  böh- 
misch, wo  er  Volk  und  spräche  meint,  aber  schon  für  Fischart 
ist  eine  bildung  wie  übersklavisch  möglich:  vberschlavischer, 
vberknechtischer  dienst  übersetzt  er  Bienenk.  187  a  hyperdulia, 
Polnisch  ist  in  Schlesien  und  Sachsen,  in  dem  lande  das  an 
Polen  grenzt  und  dem  das  lange  mit  ihm  politisch  verbunden 
war  (bei  Bernd,  Die  deutsche  spräche  in  dem  grossherzogtum 
Posen  und  einem  teile  des  angrenzenden  königreiches  Polen, 
fehlt  es),  ferner  in  Baiern  zu  'liederlich'  geworden  in  den 
redensarten  hier  siehts  polsch  aus,  heute  manchen  wir  pohlsch, 
es  geht  pohlsch  über  eck.  Ein  stück  geschichte  lebt  in  der  in 
den  Sudeten  üblichen  wendung  es  sitt  aus  wie  im  pulschen 
kriege  (Albrecht,  Leipziger  mundart)  und  dem  in  Sachsen  und 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  31 


474  GOETZE 

Franken  üblichen  hier  siehts  aus  wie  im  bohlschen  reichstag 
(Albrecht  und  Serz).  Mit  unrecht  zieht  Schmeller  das  dänische 
polisk  hierher,  denn  das  ist,  wie  die  nebenf orm  polidsk  und  die 
bedeutung  *  verschmitzt'  anzeigen,  =  politisch,  das  ja  auch  im 
md.  nd.  vielfach  in  diesem  sinne  auftritt.  Auch  das  schwedische 
kennt  ein  politisk  *  schlau'  neben  polsk  *  polnisch'.  Dass  pokk 
hier  zum  tadel  würde,  ist  schon  wegen  der  alten  Waffenbrüder- 
schaft der  Polen  und  Schweden  unwahrscheinlich.  Von  einem 
verrückten  kleiderschnitt  heisst  es  Simpl.  137:  die  hosen  waren 
auf  polnisch  oder  schwäbisch,  und  das  wams  noch  wol  auff  eine 
närrischere  manier  gemacht  Die  hosen  waren,  wie  s.  207  lehrt, 
sehr  eng. 

Häufig  kommen  adjectiva  von  völkernamen,  weil  sie  eine 
fremde,  unverständliche  spräche  bezeichnen,  zu  der  bedeutung 
'unverständlich,  seltsam,  verkehrt'.  Verbale  ausdrücke  dieser 
art  führt  Hildebrand  im  DWb.  unter  kauderwelsch  an;  von 
adjectiven  auf  -isch  gehören  hierher:  hebräisch  'unverständlich' 
Fischart,  Bienenk.  55a.  79a;  —  lateinisch  vielfach  'gelehrt- ver- 
kehrt'; —  winsch  aus  windisch  'unbeholfen,  einfältig,  verkehrt' 
K.  G.  Anton  15, 12;  —  ucJcerwendsch,  göttingisch  und  bremisch- 
nieders.  'eigensinnig,  albern',  altmärkisch  auch  'unordentlich, 
verkehrt';  —  krabatisch  'wunderlich'  bei  Fischart:  crabatisch 
verzunckt,  von  griechischen  buchstaben,  Bienenk.  228  a;  welches 
(Gargantuas  mantel)  mächtig  lustig  crabatisch  sähe  Garg.  180 ; 
gut  krabatisch  geschirr  229;  ein  krabatischen  verrenkten  bossen 
reissen  354;  —  böhmisch  in  den  redensarten  böhmische  dörfer, 
schon  Simpl.  21,  von  Schmeller  durch  ein  spottverschen  auf  die 
czechischen  dorfnamen  erläutert,  böhmischer  ohrleffel  Simpl.  u.  ö. 
von  einem  starken  knotenstock,  böhmischer  sträl  Garg.  u.  ö. 
'fünf zinkiger  kämm',  und  in  ausdrücken  wie:  mausen  und  der 
pferdte  warten,  worzu  die  böhmische  art,  wie  ich  höre,  die  beste 
seyn  soll  Courage  2;  disz  böhmisch  handw&rck  ebda.,  vom  stehlen, 
vgl.  Sachs,  Schwanke  2, 421.  Die  vorwürfe  die  hier  den  Böhmen 
gemacht  werden,  sind  also  unverständliche  spräche,  gewalt- 
tätigkeit,  unsauberkeit  und  dieberei.  Eine  geschichtliche  er- 
innerung  birgt  dagegen  der  satz  du  (Luther  in  Woims)  wür- 
dest mit  deinem  predigen,  beheymische  geschenck  geben,  clöster 
vnd  stifft,  welche  du  ytzt  den  fürsten  verheyssest  Th.  Müntzer, 
Schutzrede  38  d.  n.     Erklärt  wird   die  stelle   durch   Mumer, 


ZUR  GESCHICHTE  DEE  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  475 

Narrenbeschw.  35,  32.  Dan  du  (Luther)  . . .  vnderstast  vnsern 
glauben  zu  schedigen,  vnd  höhemische  meren  zu  verkünden  Mumer, 
An  den  adel  22  d.  n.  geht  deutlich  auf  die  Hussiten;  —  zigeu- 
nerisch 'vagabundus  et  vage'  Stieler.  Auf  die  zigeuner  als 
marktschreier  zielt  der  satz  jnen  das  pludermusz  vnd  wurm- 
samenhat  auff  zigeinerisch  eingauckelen  Garg.  302;  —  spanisch 
noch  fast  im  eigentlichen  sinne  bei  Grimmeishausen:  da  satzte 
es  schmale  hiszlein,  so  meinem  magen,  der  nunmehr  zu  den 
westphälischen  tractamenten  gewöhnet  war,  gantz  spanisch  vor- 
kam Simpl.  371.  Uebertragen  schon  ley  diesem  herrn  kam  mir 
alles  widerwertig  und  fast  spanisch  vor  174.  Der  herr  ist  ein 
Kroate.  Allmählich  hat  man  die  herkunft  der  wendung  so 
ganz  vergessen,  dass  die  gelahrtheit  des  magisters  Serz  und 
CS. T.Bernds  dabei  an  gr.cjtavcog  gedacht  hat,  mit  dem  es 
natürlich  ausser  durch  diese  gelehrte  Volksetymologie  nicht  im 
geringsten  zusammenhängt.  Eine  spur  schliesslich  der  Inqui- 
sition sind  die  spanischen  Stiefel  und  der  spanische  mantel;  — 
kauderwelsch,  weitverbreitet  in  der  älteren  spräche:  Fischart, 
Praktik  11.  Bienenk.  Ib.  Grimmeishausen,  Teutscher  Michel  5. 
Simpl.  684.  Gryphius,  Peter  Squenz  12.  Stieler.  Germ.  28, 371, 
und  in  den  neueren  mundarten:  Bernd.  Zs.  fdm.  1,286.  2,247. 
6,292.  Freier  als  der  heutige  Sprachgebrauch  bewegt  sich 
Grimmeishausen,  Vogelnest"2,  3 :  so  kauderwelsch  . . . ,  dasz  ich 
keins  verstehen  kante,  und  Serz:  kauderwälsch,  verborum  prae- 
stigiae,  mixobarbarum;  kauderwälsches  latein,  cum  faunis  et 
äboriginibus  loqui;  —  krautwelsch,  nach  dem  urteile  des  Tirolers 
Schöpf,  Zs.  fdm.  6, 292  nur  eine  entstellung  aus  kauderwelsch ; 
—  kurwelsch,  als  churwallisch  zuerst  in  einer  Graubündner  Ur- 
kunde. Fischart,  Garg.  31;  —  rotwelsch,  zunächst  und  noch  heute 
die  stark  mit  welschen  brocken  versetzte  spräche  der  bettler 
bezeichnend  (der  erste  teil  des  wortes  selbst  ist  welsch:  rupta 
>  mhd.  rote),  aber  früh  verallgemeinert  zu  'ungereimt'  (Grim- 
melshausen,  Teutscher  Michel  13)  und  'unverständlich'.  Ganz 
allgemein  in  Holteis  Schlesischen  gedichten,  ausgäbe  letzter 
hand  218:  uflateinsch  a  brünkel  ruthwälschen;  —  kinder-,  klug- 
welsch  in  Kluges  wb.  unter  kauderwelsch;  —  rebsteckenwelsch 
Grimmeishausen;  —  zeitungswelsch  Grenzboten  vom  5.6.  1897 
(58,18)  s.  213;  —  gotisch  nahmen  die  Deutschen,  vorurteilslos 
genug,  in  der  bedeutung  'mittelalterlich  beschränkt'  aus  dem 

31* 


476  GOBTZE 

französischen  herüber,  oft  bei  Goethe.  Vgl.  Zs.  fdph.  30,  510. 
J.  Grimm,  GDS.  454  *).  Socin,  Schriftsprache  und  dialekte  12. 
Paul,  DWb. 

deutsch,    Luther  hat  einmal,  vielleicht  an  ein  im  yolke 
lebendes  Wortspiel  denkend,  ein  gewundenes  und  gedehntes 
deutsch  wendisch  oder  denisch  deudsch  genannt.     Natürlich 
machen  es  unsere  nachbam  mit  uns  nicht  besser,  als  wir  mit 
ihnen:  im  dänischen  heisst,  in  unbewusstem  Widerspruch  zu 
der  etymologie  des  wortes  deutsch,  det  er  tydsh  for  mig  'das 
sind  mir  böhmische  dörfer';  von  einem  kinde  das  noch  nicht 
ordentlich  sprechen  kann,  heisst  es:  harnet  taler  endnu  tydsk: 
eine  bestätigung  für  Fr.  PoUes  ansieht  von  der  volksmeinung 
über  fremde  sprachen;  auf  die  deutsche  grobheit  zielt  der  aus- 
druck:  hau  hliver  saa  vred  soni  en  tydsker.    Noch  gröber  sind 
unsere  slavischen  nachbam,  die  uns  überhaupt  die  spräche  ab- 
sprechen und  uns  nevnM  'stumm'  nennen.    Im  norditalischen 
heisst  todescare  'unverständlich  sprechen',  im  übrigen  ist  den 
Italienem  an  uns  Deutschen  der  grosse  durst  das  auffallendste 
gewesen,  so  bei  Scheffels  trinkas  wein  alla  tedesca  (Gaudeamus, 
Abschied  von  Olevano),  aber  auch  schon  in  K.  Scheidts  vorwort 
zum  Grobianus  4  d.n.  und  in  Basiles  Pentamerone  (l.tag,  7.mär- 
chen.  2.  tag,  7.  märchen  und  Liebrechts  anmerkungen  in  seiner 
Übersetzung).     Die  Franzosen  haften  sich  über  die  deutsche 
Schwerfälligkeit  auf,  ein  beispiel  dafür  steht  im  Simpl.  384,  wo 
ein  französischer  arzt  zu  Simplicius  sagt:   ihr  redet  von  der 
sacke  wie  ein  teutscher,  wan  ihr  aber  einer  andern  nation  wäret, 
so  wolte  ich  sagen,  ihr  hättet  davon  geredet  tote  ein  narr  (das 
wolte  verrät,  dass  der  satz  aus  dem  französischen  übersetzt 
ist).    Umgekehrt  ist  im  deutschen  seit  Brants,  Luthers  und 
Huttens  tagen  deutsch  zum  lobe  geworden;  die  ganze  entwick- 
lung  lässt  sich  bei  Grimmeishausen  zeigen  und  wir  führen 
daher  einige  beispiele  aus  seinen  Schriften  hier  an:  zunächst 
heisst  deutsch  deutlich  von  der  spräche:  sagte  dieser  mit  teuischen 
Worten  Simpl.  87;  meinen  au^zdrücklichen  teutschen  Worten  Keu- 
scher Joseph  8  (von  der  Egypterin  Selicha),  femer  vom  inhalt 
der  rede:  dasz  sie  mir  endlich  na>ch  lang -gehabter  mühe  und 
vergeblicher  umschwaiffender  wdtläuffigkeit  nur  aJlzu  tewtseh 
zuverstehen  gab  Simpl.  217;   sie  solte  aber  nicht  so  dunckd, 
sondern  fein  teutsch  mit  der  spra^che  herause  340;  teutscher  eu 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  477 

reden  Simpl.  2  continuatio  (Keller  1023)  =  Courage  22  =  war- 
haffter  zu  reden  Teutscher  Michel  4  (derselbe  comparativ  auch 
in  neuen  mundarten:  des  muost  mo  deutscJiQ  machn  'besser  aus- 
deutschen' Schmeller  1, 555);  wan  ich  dir  ausz  brüderlicher  liebe 
teutsch  herausz  sage  489;  der  könig  fing  selbst  an  sein  gut  teutsch 
mit  mir  zureden  'mir  ohne  Umschweife  vorwürfe  zu  machen' 
553  (in  Kögels  ausgäbe  sind  die  Seitenzahlen  553  und  554  ver- 
druckt). Schliesslich  von  der  gesinnung:  werde  ich  . . .  mich  so 
gut  teutsch  erzeigen  274;  ich  muste  schweigen,  weil  Spring-ins- 
feld  ausz  einem  teutschen  auffrichtigen  hertzen  mir  die  warheit 
so  getreulich  sagte  321;  so  vertraue  ich  meine  person  ihrer  an- 
gebornen  teutschen  redUchkeit  393.  Ganz  vergessen  ist  der 
eigentliche  sinn  des  wortes  im  Keuschen  Joseph  11:  Musai,  der 
allerdings  nach  der  Elamiten  art  einen  offenhertzigen  teutschen 
sinn  hatte, 

altdeutsch  konnte  erst  zum  lobe  werden  mit  und  nach  der 
ausbildung  d«s  Hermanncultus.  Aus  Fischart  gehört  hierher 
die  alt  teutsch  tugendmutsamJceyt  Peter  von  Stauffenberg  v.  79 
(1588);  vnd  für  alt  teutsch  standhafftigkeyt  reiszt  ein  weibisch 
leichtfertigkeyt  Eikones  1,47  f.;  aus  Grimmeishausen:  auff  gut 
alt-teutsch,  ohn  einzige  bemäntelung  und  gleisznerey  Simpl.  441; 
bey  christlicher  treue  und  altteutschem  bidermannsglauben  760. 
Stieler  kennt  altteutsch  nur  als  bezeichnung  für  verba  obsoleta ; 
ebenso  altväterischteutsch  2277;  undeutsch  ist  'undeutlich'  ge- 
worden, so  schon  bei  Luther:  so  ich  nu  nicht  weis  der  stimme 
deutunge,  werde  ich  vndeudsch  sein  dem,  der  da  redet,  vnd  der 
da  redet,  wird  mir  vndeudsch  sein.  Bei  Grimmeishausen  ist  es 
widerholt  'nicht  deutsch':  ausz  jedem  unteutschen  wort  Simpl. 
686;  die  unteutsche  hinter  Liffland  689;  an  einigen  undeutschen 
orten  Vogelnest  2, 16.  Mit  tadel:  dasz  ein  solcher  phantast . . . 
sich  verlarven,  mit  allem  fleisz  zum  unteutschen  manchen  und 
seine  redliche  landsleut  veraschten  will  Teutscher  Michel  3; 
seltzam,  unteutsch  und  unverständlich  Simpl.  660. 

Während  der  name  deutsch  überall  in  Deutschland,  wo  er 
einen  gef ühlswert  bekonmien  hat,  zum  lobe  geworden  ist,  sind 
die  namen  der  einzelnen  stänmie  mannichfach  mit  tadel  be- 
hängt worden,  der  meist  harmlose  neckerei  zum  ausgangspunkte 
hat;  pommerisch  enthält  den  Vorwurf  des  bäurisch  kräftigen 
in  der  wendung  pommrischer  trunk  bei  Stieler  und  Schmeller; 


478  GOBTZB 

preussisch  ist  in  den  Zeiten  des  particularismus  in  Sachsen  zum 
Schreckenswort  geworden:  da  gennte  merja  hreissch  warn  heisst 
*das  ist  um  aus  der  haut  zu  fahren'.  In  der  Schweiz  bedeutet 
prüssisch  'grob,  brutal';  schwäbisch  hat  an  einer  stelle  bei 
Fischart  einen  tadel:  dann  ich  Tcan  auch  noch  fünff  sprachen 
ahn  schwätzenschwähisch,  das  ist  die  sechszt,  heiszt  lügen  Garg. 
459  (geschwätzigkeit  wirft  auch  Sachs  den  Schwaben  vor, 
Schwanke  2, 421,  ebenso  Kümelant  dem  Marner:  daz  ander  rat 
dir  swcebisch  melt,  din  diutsch  ist  uns  ze  drcete  MSH.  3,  56  b). 
Ferner  das  häufige  wort  'schwäbisch  ist  gäbisch'.  fränkisch 
wird  in  der  Altmark  gebraucht  wie  sonst  spanisch:  dat  wärt 
di  fränJcsch  ankaomn  Danneil.  Hiermit  vergleiche  man,  dass 
schon  Luther  in  den  Tischreden  die  spräche  der  Franken  als 
groh  und  vngehöflet  bezeichnet,  femer  die  Untugenden  die  un- 
gefähr gleichzeitig  der  Schwabe  Frank  und  der  Baier  Sachs 
den  Franken  nachsagen:  geldgier,  räuberei  und  gotteslästerung, 
raub  und  trank.  Schliesslich  gehört  hierher  altfränkisch,  das 
bei  dem  Franken  Hugo  von  Trimberg  natürlich  ohne  tadel 
erscheint: 

auch  sol  man  noch  besvnder  danken  er  sei  der  alten  f renkischen  lente : 

eins  Sprichwortes  aUen  Franken.  die  waren  einveltich  getreu,  gewere. 

man  sprichet  gern,  swen  man  lobt  wolte  got,  daz  ich  alsam  were 

hevte,  Renner  22264  ff. 

Der  Tiroler  Vintler  bezeichnet  in  seiner  Blume  der  tugend  um 
1411  das  wort  als  neumodisch.  Im  schlesischen  hat  es,  schon 
1640  bei  Wencel  Scherffer,  den  beigeschmack  von  'einfältig' 
angenommen,  doch  scheint  dieser  durchaus  auf  den  osten  be- 
schränkt geblieben  zu  sein,  denn  sowol  bei  denen  die  vor  und 
mit  Scherffer  zugleich  schrieben  (Maaler.  Fischart,  Garg.  446. 
Grimmeishausen,  Simpl.  314.  657.  Vogelnest  2, 1)  wie  auch  in 
den  heutigen  mundarten  ist  es  durchaus  nur  'altmodisch'.  Ob 
in  bairisch  eine  neckerei  liegt,  wenn  Grimmeishausen,  Simpl. 
195  sagt:  unter  den  falschen  würffein  befanden  sich  Niderländer, 
ivelche  man  schläiffend  hinein  rollen  muste  . . . ,  andere  waren 
oberländisch,  denselben  muste  man  die  bayrische  höhe  geben, 
wan  man  werffen  wolte,  ist  nicht  zu  sagen:  die  beiden  andern 
ländernamen  sind  nur  der  äusseren  anlehnung  wegen  eingesetzt. 
Auch  einzelnen  Städten  wird  ein  tadel  angehängt,  den 
bedeutendsten  zuerst,  vor  allen  Köln.    Kölnisches  gewicht  sind 


ZÜB  GESCHICHTE  DBB  ADJECTIVA  AUF  -ISCH,  479 

'schlage',  in  Holland  'zu  leichtes  gewicht',  Kölsche  muff  'maul- 
hänger'  werden  die  Kölner  im  Kheinfränkischen  gescholten 
(Zs.  fdm.  3, 555),  am  verbreitetsten  ist  die  redensart  vom  Köll- 
sehen  hötchen,  in  der  den  Kölnern  nachgesagt  wird,  dass  sie 
noch  einmal  so  viel  auf  die  wäre  aufschlagen,  als  sie  zu  nehmen 
vorhaben.  Zu  Hildebrands  belegen  im  DWb.  Woeste,  Wb.  der 
westf.  ma.  138.  Mit  dieser  redensart  fällt  die  vom  niderlenschen 
bieten  (Murner,  Schelmenzunft  2, 20)  zusammen :  der  Alemanne 
Murner  meint  mit  Niderland  eben  Köln.  In  Oberdeutschland 
spielt  Nürnberg  die  rolle  von  Köln:  vff  Nürenbergerisch  handien 
(Zarncke  zum  Narrenschiff  48,  86)  entspricht  hier  dem  Koll- 
sehen  hötchen.  Andre  äusserungen  des  unmuts  über  Nürnberg 
stehen  bei  Murner,  Schelmenzunft  16, 27.  28, 40.  Narrenbeschw. 
79, 14.  —  sodomitisch,  Sodomit  war  nach  1.  Mos.  19, 4  ff.  zuerst 
in  der  theologischen  und  juristischen  spräche  zu  'knaben- 
schänder '  geworden,  aus  dem  Schwabenspiegel  bringt  Adelung 
ein  beispiel  dafür,  dazu  sodomitisch  Fischart,  Bienenk.  146b. 
Frisch  2,284  a.  Adelung  4, 501.  Campe  4, 463.  —  altwilisch  Garg. 
40  f.  bringt  J.  Grimm  im  DWb.  mit  mhd.  altvil  'hermaphroditus' 
zusammen;  da  aber  bei  Fischart  beide  male  der  sinn  ^altmodisch' 
sein  wird  und  gleich  nach  der  ersten  stelle  Rastatt,  Schilck- 
haim  und  Henau  (Schiltigheim  und  Hagenau)  genannt  werden, 
so  ist  es  wahrscheinlicher,  dass  Fischart  an  das  dorf  Altweiler 
im  kreise  Zabem  gedacht  und  dass  ihm  dabei  doch  mhd.  wile 
vorgeschwebt  hat:  das  wäre  ganz  fischartisch.  Diese  erklärung 
scheint  mir  näher  zu  liegen  als  die  Grimms  unter  altwilisch 
und  auch  unter  antiquisch,  wo  er  altwilisch  für  eine  scherz- 
hafte Verdrehung  oder  für  einen  druckf ehler  für  altwibisch  hält. 
Fast  überall  tragen  hier  adjectiva  auf  -isch  einen  tadel, 
den  ihre  grundworte  nicht  oder  doch  nicht  so  scharf  aus- 
drücken ;  man  darf  aber  doch  nicht  den  tadel  schlechtweg  auf 
rechnung  der  endung  setzen,  wie  es  z.  b.  Albrecht,  Leipziger 
ma.  s.  42  tut :  gerade  bei  seinen  beispielen  Pegsche  schuster  und 
de  Zwickschen  liegt  die  misachtung  schon  in  den  grundworten: 
man  denke  bloss  daran,  dass  Pegau  hierzulande  nicht  anders 
als  Kuhpege  heisst.  Auch  brauchen  es  nicht  immer  die  adjec- 
tiva auf  'isch  zu  sein,  die  den  tadel  tragen,  so  namentlich 
wenn  dieser  seinen  Ursprung  nur  einem  zufälligen  anklang 
dankt^  wie  bei  der  in  Leipzig  beliebten  ZwenJcschen  laune, 


480  GOETZE 

d.  h.  der  neigung,  mit  den  äugen  zu  zwinkern.  Oft  entwickelt 
sich  hier  gar  kein  adjectiv,  so  in  der  gleichbedeutenden  frage 
an  einen  gähnenden  was  machen  se  denn  in  Jene?  den  schelt- 
naraen  Lappländer  (* schlecht  gekleideter  mensch,  um  den  die 
läppen  hängen'  Albrecht.  Bemdt,  Versuch  zu  einem  schlesischen 
idiotikon),  Nassauer,  Potjsdamer,  Cappadocier  (Renner  3939 
neben  diep,  trvgner,  lugncr\  Schwetzinger  (Fischart,  Bienenk. 
195b),  Butzmaclier  (lügner',  butzhacherei  ^aufschneiderei'  Schmid, 
Schwäbisches  wb.  111),  Hotteniott  (^Centaurus  est'  Serz),  Lappen- 
hauser  und  Altenhauser  (Sachs,  Schwanke  1,588  ff.  2, 314).  Dass 
aber  dennoch  das  adjectiv  viel  öfter  einen  tadel  ausspricht  als 
das  grundwort,  liegt  daran  dass  es  einen  vergleich  und  damit 
ein  Werturteil  enthält:  Kölsch  ist  nicht  mehr  bloss  *aus  Köln 
stammend',  sondern  *wie  in  Köln',  und  femer  daran  dass  in 
dieser  function  viel  eher  eine  Übertragung  möglich  ist. 

8.  Wie  die  Ortsnamen  zu  den  ländemamen,  so  verhalten 
sich  zu  den  Völker-  die  personennamen  und  entsprechend 
ihre  ableitungen  unter  einander.  Auch  von  ihnen  sind  einige 
zum  tadel  geworden:  gretisch  'weibisch'  bei  Mumer,  Geuchmatt 
V.157.  1791.  1797.1871.  Maaler  144d.  192c.  Stieler;  zu  Grete, 
im  allgemeinen  sinne  verächtlich  'mädchen',  hierzu  Wacker- 
nagel, Kl.  sehr.  3, 137.  ^Gritte  oder  Grete,  für  Margarethe;  doch 
meist  nur,  wenn  man  tadeln  und  schelten  will.  Dumme,  a(o)l' 
berne  Gritte  s.  auch  Pimpelgrüte^  Bernd,  Die  deutsche  spräche 
in  Posen.  Auch  ausserhalb  Deutschlands:  Margarethe  heisst 
hei  den  Siziliern  durchaus  ein  gefälliges,  feiles  mädchen  Seume, 
Spaziergang  1^,  166.  epikurisch  hat  seit  Luther  immer  die  be- 
deutung  *  gottlos  und  genusssüchtig',  so  im  Spiesschen  Faust- 
buch von  1587,  s.  105  d.  n.  Simpl.  257.  261.  348.  Ebenso  das 
grundwort:  Epicurus  ist  bei  Sachs,  Schwanke  1, 139  haupt- 
mann  der  schlauraffen,  epicurer  ist  bei  Fischart,  Bienenk.  206  b. 
208  b  und  Grimmeishausen,  Simpl.  512.  643  schlechtweg  '  Schlem- 
mer'. —  matthiasch  'gestreng'  von  einem  herscher  bei  Luther, 
von  Matthias  Corvinus;  s.  Zs.  fdph.  26, 48  f.  430  f.  —  beelze- 
bubisch,  ludferisch,  satanisch  haben  wie  teuflisch  tadelnden  sinn 
und  lassen  sich  sämmtlich  aus  Fischart  belegen:  Bienenk.  217b. 
Jesuiterhütlein  v.  263  und  549,  zu  dem  dritten  s.  Germ.  28, 400. 
29, 393,  zu  dem  zweiten  lucif ersehe  hoffart  Luther,  An  den  christ- 
lichen adel  40. 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCR.  481 

Diese  ableitungen  von  personennamen  führen  uns  schliess- 
lich auf  die  namen  der  religiösen  parteien  des  reformations- 
zeitalters,  die  hier  zusammengestellt  werden  mögen,  lutherisch 
hat  jetzt  in  katholischen  gegenden  Baierns  oft  einen  feind- 
seligen, mistrauischen  beigeschmack  (Brenner,  Zs.  des  allg.  d. 
Sprachvereins  12, 92);  der  bairische  herzog  Wilhelm  IV.  (1508 
— 1550)  sagte  einst  zu  seinem  hof Staat:  saufft,  frest,  huret: 
werdet  nur  nicht  Lauterisch  (der  Chronist  fügt  hinzu:  sie  enim 
dixit  pro  Lutherisch,  denn  er  war  ein  Sewlair  Schmeller  1, 1541. 
Das  geschichtchen  auch  bei  Fischart,  Garg.  142.  Woher  der 
name  sewpayren  kommt,  sucht  Sachs,  Schwanke  1,  317  zu  er- 
klären, vgl.  2, 303).  Im  Elsass  werden  die  Protestanten  luth- 
rischi  dickkepf  gescholten  (Zs.  f dm.  3, 483),  und  wol  von  anf ang 
an  ist  das  wort  feindselig  gemeint,  denn  nach  Luthers  schrift 
Wider  Hans  Worst  49  scheint  es  zuerst  von  erzbischof  Al- 
brecht von  Magdeburg,  also  einem  gegner  Luthers,  gebraucht 
worden  zu  sein.  Luther  selbst  wendet  es  nur  an,  wo  er  worte 
seiner  feinde  anführt  oder  verspottet,  und  auch  in  der  zeit 
kurz  nach  ihm  überwiegt  durchaus  der  gebrauch  im  munde 
der  gegner ;  bezeichnende  beispiele  stehen  in  der  Zimmrischen 
Chronik  2, 322  und  3, 630,  bei  Sachs,  Fabeln  2, 408.  412  und  in 
Fischarts  Bienenk.  107  b.  Eine  erinnerung  an  die  geusen  ent- 
hält wol  die  nnl.  scherzrede  luthers  wezen  für  *kein  geld  im 
beutel  haben'  (Molema,  wb.  der  groningenschen  ma.;  gösisch 
Bienenk.  171a;  das  grundwort  j^öä  im  Podagr.  trostb.  16,30,  wo 
Haüffens  erklärung  wol  nicht  zutrifft),  einen  wortwitz  das 
bekenntnis  des  trinkers  im  Garg. :  ich  hin  kaltwinisch  (s.  o.  alt- 
wilisch),  wenn  ich  jn  (den  wein)  kalt  habe,  und  Lutherisch, 
wenn  er  trüb  ist  (lüter).  —  Zu  kalvinisch  ist  ausser  diesem 
beispiele  noch  die  schweizerische  redensart  anzuführen  en  kal- 
vinische  mage  ha  'alles  vertragen  können'  (Staub-Tobler  3, 238). 
Nach  Kochlitzer  gerichtsrechnungen  ist  ein  dortiger  pfarrer 
1604  vor  einen  calvinischen  hurentreiber  gescholten  worden 
(Mitteilungen  des  Vereins  für  sächsische  Volkskunde  5,  7).  — 
ketzerisch  ist  in  einem  ratsprotokoll  von  Ulm  1517  'sodomitisch', 
ebenso  im  älteren  dänisch.  Unbeirrt  davon  kommt  es  z.  b.  bei 
Luther  und  Fischart  vor:  An  den  christl.  adel  12.  15.  18.  61.  65. 
Wider  Hans  Worst  18.  20  u. ö.  Bienenk. IIa.  16a  u. ö.  Garg.  5, 
387,  auch  bei  Sachs,  Fastn.  5, 37.    —    täuferisch  und  wider- 


482  GOETZE 

täuferisch  sind  tadelnd,  so  oft  sie  vorkommen,  bei  Luther,  aber 
auch  noch  im  Flöhhaz  v.  1999  und  Simpl.  491.  575,  namentlich 
der  Vorwurf  der  Vielweiberei  liegt  ganz  gewöhnlich  darin,  vgl. 
Luther,  Wider  Hans  Worst  58.  —  zwinglisch  zuweilen  mit 
tadel:  man  sagt,  das  itzt  ettUcJie  papisten  zwinglisch  sind  Luther, 
Von  der  winckelmesse  vnd  pfaffen weihe  24  d.  n.;  das  die  gott- 
selligen  Stiftungen  von  den  zwinglischen  schwermem  also  jemer- 
liehen  sollen  zerrissen  und  vernichtet  werden  Zimmrische  chronik 
1, 192.  —  katholisch  zeigt  von  allen  diesen  worten  die  reichste 
entwicklung.  Am  mildesten  ist  hier  der  tadel,  wenn  es  in  der 
Schweiz  'sonderbar,  fiemdartig'  bedeutet,  in  Westfalen  und 
Nordböhmen  ist  es  zu  'fügsam,  willenlos',  in  der  Schweiz  weiter 
zu  'dumm'  geworden,  diesen  klang  hat  auch  Fischarts  häufiges 
katholisch  oder  katzwollisch  (das  o  war  kurz :  catollischen  Zinmir. 
Chronik  3, 377).  In  Posen,  Pommern,  der  Altmark,  Sachsen, 
Thüringen  und  der  Schweiz  ist  es  in  der  redensart  das  ist  ja 
um  katholisch  zu  werden  =  'verrückt'  (ohne  tadel  dagegen  asz 
me  möcht  katholisch  werde  in  Hebels  Alemannischen  gedichten. 
Die  feldhüter).  Dänisch  catholsk  ist  geradezu  'toll',  schwedisch 
katolsk  'unrecht,  verkehrt',  und  das  Göttingische  (Schambach 
140)  hat  gar  die  Zusammensetzung  muttenkatholsch,  mit  der 
einem  verdriesslichen  menschen  gleichsam  nachgesagt  wird, 
er  sei  aus  lauter  ärger  (mutten  wie  sonst  mucken,  grillen) 
katholisch  geworden.  In  Kaspar  Stielers  Geharnschter  Venus 
121  d.n.  wird  katolisch  ein  mädchen  genannt,  das  es  mit  allen 
männern  hält:  sollte  dieser  bedeutung  die  etymologie  des 
Wortes  zu  gründe  liegen?  Umgekehrt  hat  das  wort  in  katho- 
lischen gegenden  den  sinn  von  'echt  und  recht,  vernünftig' 
angenommen,  so  (allerdings  ironisch)  gut  catholisch  Fischart, 
Bienenk.  196b.  233a.  234a,  gut  vnd  catholisch  36b.  51a,  gleich- 
bedeutend gut  mönchisch  Grimmeishausen,  Immerwährender 
calender  (Kurz  4, 248) ;  in  der  Schweiz  heisst  es  bei  recht- 
schaffener kälte  hüt  is  katholisch,  in  Baiem  ists  in  der  Wen- 
dung da  gehts  nicht  katholisch  zu  'rechtmässig';  einen  katholisch 
machen  heisst  hier  und  in  Nordböhmen  'ihn  zur  Vernunft 
bringen'  und  so  ganz  geht  in  dieser  wendung  die  grund- 
bedeutung  des  wortes  verloren,  dass  der  Oberpfälzer  seinem 
störrischen  ochsen  zuruft:  wart,  i  will  di  katolisch  machng! 
An  die  guten  klosterweine  denkt  Fischart,  wenn  er  Garg.  87 


ZUR  GESCHICHTE  DES  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  483 

sagt:  nur  catholischen  wein  her,  so  sich  cmff  seine  gute  verlaszt, 
das  zeigen  die  gleichbedeutenden  Wendungen  neben  eym  kännlin 
gutes  reinischen  weins,  den  man  theologischen  wein  nennet  Bienen- 
k.  4b;  vinum  theologicum  oder  theologantenwein,  noch  vinum  cos 
oder  kostwein,  dag  ist,  wein  ausz  desz  pfarrhers  fäszlein  4b; 
so  nem  man  vom  besten  vino  theologico,  oder  vom  wein,  den  die 
babilonisch  hur  (der  papst)  den  fürsten  vnd  königen  einzu 
schencken  pflegt  241b.  Und  noch  heute  in  der  Schweiz  das 
stg  iez  au  wider  emol  es  katolisches  tröpfli 

9.  Die  zuletzt  besprochenen  worte  und  ihre  Synonyma 
gehören  einer  klasse  unserer  adjectiva  an,  die  die  entwicklung 
des  bösen  sinnes  sehr  anschaulich  zeigt  und  die  wir  daher  bei 
dem  schriftsteiler  der  sie  in  voller  entwicklung  zeigt,  bei 
Luther,  an  einigen  beispielen  im  Zusammenhang  betrachten 
wollen:  es  sind  die  adjectiva  auf  -isch,  die  die  Zugehörigkeit 
zu  einer  partei  bezeichnen.  Johannes  Clajus,  der  seine  gram- 
matik  auf  beispielen  aus  Luthers  deutschen  Schriften  aufgebaut 
hat,  sagt  s.  57  d.n.:  in  -isch  desinentia  possessionem  significant, 
aut proprietatem,  aut  gentem,  aut  patriam,  aut  sectam,  zu  den 
adjectiven  der  letzten  klasse  rechnet  er  keiserisch,  königisch, 
churfürstisch,  lutherisch,  papistisch,  caluinisch,  fladanisch.  Die 
meisten  dieser  beispiele  sind  ohne  tadel,  und  in  der  tat  bedingt 
die  Verwendung  unserer  adjectiva  zur  bezeichnung  der  partei 
keinen  tadel:  parteiisch  und  unparteiisch  gebraucht  Luther 
regelmässig  so,  auch  1.  Cor.  1, 12  ist  ohne  bösen  sinn:  ich  sage 
aber  dauon,  das  vnter  euch  einer  spricht  ich  bin  paulisch,  der 
ander  ich  bin  apollisch,  der  dritte  ich  bin  kephisch,  der  vierde 
ich  bin  christisch,  ebenso  1.  Cor.  3,  4:  denn  so  einer  saget,  ich 
bin  paulisch,  der  ander  aber,  ich  bin  apollisch  (ähnlich  dasz  ich 
weder  petrisch  noch  paulisch  bin  Simpl.  349;  der  bibelisch  pau- 
lisch  vnd  euangelisch  luft  möcht  in  ketzerisch  machen  Bienenk. 
196b;  vgl.  232a.  Garg.  5;  wörtlich  an  die  Vulgata  hält  sich 
dagegen  Fischart  oder  sein  niederländisches  vorbild  Bienenk. 
29\):  das  in  der  gemein  der  Corinther  etliche  sich  nanten  Petri 
jünger,  die  anderen  Pauli  discipeln,  die  driten  apollisch  etc.). 
Dagegen  stellt  sich  der  tadel  sofort  ein,  wenn  Luther  von  den 
angehörigen  einer  feindlichen  partei  redet,  wenn  er  bekennt: 
wir  sind  widder  bepstisch  noch  carlstadisch,  sondern  frey  und 
christisch,  oder  wenn  er  klagt:  viel  ebräisten  sind,  die  mehr 


484  OOETZE 

rabhinisch,  denn  christisch  sifid;  zum  bittersten  vorwarf  steigert 
sich  der  böse  sinn  in  Luthers  bepstisch  und  papistisch. 
Beide  Wörter  sind  in  der  reformationszeit  und  später  überaus 
häufig,  natürlich  nur  auf  protestantischer  und  calvinischer 
Seite.  Für  Luther  vgl.  noch  die  papistischen  Heintzen  (Hein- 
rich d.  j.  von  Braunschweig)  vnd  heintzische  papisten  Wider 
Hans  Worst  29,  femer  Germ.  28, 393.  29, 388.  Simpl.  751  wird 
das  wort  ganz  wie  hatlwlisch  gebraucht;  ein  papistischer  böse- 
wicht  Alberus,  Fabeln  37, 10;  der  teüfel,  der  den  miszbrauch 
des  papistischen  sacraments  erfunden  hat  Val.  Ickelschamer,  Clag 
etlicher  brüder  54  d.  n.;  die  papistischen  alfentzereyen  Weise, 
Erznarren  183;  die  papistischen  ceremonien  mit  dem  kindischen 
kinderwiegen  189.  Aber  nötig  ist  dieser  tadel  nicht,  das  zeigen 
barfusstsch  (Dietz,  Wb.  zu  Luthers  deutschen  Schriften  1,  Leipzig 
1870;  barfüserisch  Fischart,  Garg.  28.  176.  Bienenk.  194b;  bar- 
fusserseylerisch  Garg.  178),  churfürstisch,  herzogisch  (Dietz  unter 
churfürstisch.  Deutsche  Städtechroniken  10, 355.  22, 60.  25, 210 
[Nürnberg  und  Augsburg]),  kaiserisch  (Chroniken  3, 118,  Nürn- 
berg. Fischart,  Bienenk.  130  b.  Garg.  394.  Helber,  Syllabierbüch- 
lein  1593,  titel.  Simpl.  265.  471.  Courage  6.  Springinsfeld  20. 
Calender  Kurz  4, 217  f.),  kirchisch  und  thümisch,  d.  i  'domisch', 
königisch,  pfalzgräfisch  (Sachs,  Schwanke  2, 247).  Zufällig  für 
Luther  nicht  belegt,  dafür  aber  bei  Melanchthon,  ist  land- 
grafisch  (Lexer  unter  melhüs.  Garg.  84.  Limburger  Chronik  cap.26), 
grafisch  und  freiherrisch  (Goldast,  Keichshändel,  vorrede).  Diese 
parteinamen  zeigen  uns  so  gut  wie  die  vorher  behandelten 
ableitungen  von  orts-  und  personennamen  einen  weg,  auf  dem 
adjectiva  auf  -isch  aus  der  reinen  bezeichnung  der  herkunft 
zum  tadel  werden  können. 

10.  Von  den  eigennamen  aus  hat  sich  eine  Verwendungsart 
unserer  adjectiva  zu  ziemlicher  Selbständigkeit  entwickelt,  die 
construction  von  auf  mit  dem  acc.  eines  adjectivs  auf 
-isch,  die  einer  besondem  betrachtung  bedarf.  Wir  wollen 
die  entwicklung  dieser  construction  an  einigen  beispielen  aus 
Fischart  und  Grimmeishausen  verfolgen. 

•  Ausgegangen  ist  sie  offenbar  von  der  räumlichen  bedeutung 
der  praep.  auf,  von  fällen  wo  ein  nachzubildendes  neues  auf 
ein  vorhandenes  Vorbild  gelegt  wurde,  wie  ein  kleid  vom 
Schneider  auf  ein  modeil.    Die  Wendung  kam  allmählich  zu 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH,  485 

der  weiteren  bedeutung  'auf  diese  und  jene  weise';  in  dieser 
Verwendung  verdrängt  auf  älteres  in,  dann  bleibt  wie  beim 
französischen  ä  la  maniere  das  Substantiv  weg,  aus  älterem 
auf  deutsche  art  wird  auf  deutsch.  Da  sich  nun  der  volks- 
mässigen  Vorstellung  die  art  eines  Volkes  vor  allem  und  fast 
nur  in  seiner  spräche  ausdrückt  (viele  beispiele  bei  Fr.  PoUe, 
Wie  denkt  das  volk  über  die  spräche.  Vgl.  Sachs,  Schwanke 
2, 302.  Schmeller  unter  deutsch),  so  wird  die  wendung  auf  dieser 
stufe  ihrer  entwicklung  verengert  zu  der  bedeutung  'auf  die 
und  die  spräche'.  Diese  Verwendungsart  ist  im  frühnhd.  die 
normale,  für  sie  führen  wir  zuerst  beispiele  an:  aus  Fischart 
auffnider  deutsch  auffgutpreyt  fräncJcisch  hoch  teutsch  Bienenk. 
Ib;  auff  teutsch  oder  frantzösisch  5b;  auff  niderländisch  114a; 
auff  frantzösisch  141b;  auff  welsch  194a;  auf  sein  spanisch 
121a;  auff  italiänisch  vnd  franteözisch  238b.  f.;  auff  vnser 
teutsch  242  b;  auf  dein  latein  Glückh.  schiff,  Kehrab  v.  69;  auf 
gut  teutsch  vnd  hain  latein  v. 85  u.a.m.;  aus  Grimmeishausen 
auff  sclavonisch  Springinsfeld  12,  auff  böhmisch  ebia,.;  auf  latei- 
nisch Vogelnest  1, 7;  auf  hehreisch  Keuscher  Joseph  13;  uff  recht- 
schaffen teutsch  Kalender,  Kurz  4, 243;  auff  gut  alt-teutsch,  ohn 
eintzige  bemäntelung  und  gleisznerey  Simpl.  441.  Die  letzten 
stellen  beider  Schriftsteller  legen  schon  ein  gefühl  in  die 
Wendung. 

Daneben  findet  sich  die  construction  nicht  selten  von 
Sitten  und  eigenschaften,  bei  Fischart  auch  von  einzelnen  vor- 
fallen gebraucht;  doch  stellt  sich  diese  Verwendung  dem  Sprach- 
gefühl immer  als  kühner  gebrauch  der  ersten  dar,  das  zeigt 
Fischarts  den  zweck  mit  den  schönen  zänen  aus  dem  treck 
müssen  auf  niderländisch  trecken  vnd  schlecken  (nnl.  trekken) 
Garg.  157.    Hierher  gehört  ferner  auff  spartanisch  Garg.  102; 

auff  getisch  102;  auf  cananeisch  151.  Bienenk.  84a;  brüstlein 

nicht  zu  hoch  auff  schweitzerisch  vnnd  kölnisch,  nicht  zu  nider  auff 
niderländisch  . . . ,  sondern  auff  frantzösisch  . . .  oder  auff  gut 
engellendisch  Garg.  113;  auff  indianisch  Bienenk.  58  b.  Selten 
sind  beispiele  dieser  art  bei  Grimmeishausen:  auf  spa/rtanisch 
Teutscher  Michel  8  (wir  sagen  jetzt  lakonisch);  deszwegen  hielt 
er  auch  das  versprochene  quartier  sehr  ehrlich  und  auff  hollän- 
disch Simpl.  324.  Oefter  wird  hier  das  Substantiv  hinzugesetzt: 
auf  eine  altfränckische  oder  holländische  manier,  da  alles  mit 


486  GOETZE 

guter  ordre  zugeht  Springinsfeld  18;  auf  die  böhmische  manier 
Springinsfeld  4;  auch  bei  Fischart:  cmfeuangelische  weise  Bienen- 
k.  192  a.  Diese  ganze  Verwendungsart  steht  sichtlich  unter  dem 
einflusse  des  romanischen  d  Za,  deutsches  gepräge  erhält  sie 
erst  dadurch  dass  sich  auch  hier  wider  der  böse  sinn  durch- 
setzt. Zunächst  kann  auch  hier  das  Substantiv  dabei  stehen: 
auff  die  phariseische  weisz  Bienenk.  166  a;  auff  päpstische  weisz 
262  a;  auff  eine  gantz  fremde  und  hey  nahe  auff  die  alte  anti- 
quitätische  manier  Springinsfeld  2;  wann  man  auff  italienische 
oder  spannische  manier  gemein  Walser  unter  den  wein  schüttet 
Vogelnest  1, 4;  die  hosen  waren,  auff  polnisch  oder  schwäbisch, 
und  das  wams  noch  wol  auff  eine  närrischere  manier  gemacht 
Simpl.  137.  Weit  öfter  aber  fehlt  es;  auch  bei  dieser  häufigsten 
Verwendungsart  ist  es  deutlich,  wie  sie  von  der  spräche  aus- 
gegangen ist:  aw/fw205Cöm^iscÄ  Bienenk.  133b;  auff  sein  römisch 
oder  cardinalisch  232  a;  auff  tratzisch,  auff  indisch  Garg.  100; 
auff  zigeinerisch  302;  auff  jüdisch  372;  auff  dlidsch  vnnd 
fallensüchtisch  (valencisch)  372;  auf  gut  schweizrisch  Glückh. 
schiff,  Kehrab  v.  64;  auf  grob  schweizerisch  v.858;  eiw  . . .  scheuer 
...  in  deren  wir  auff  türchisch  auff  der  erden  herum  sassen  und 
gleichwol  auff  alt  teutsch  herum  soffen  Springinsfeld  22;  auff 
jüdisch  oder  türchisch  . . .  auff  frantzösisch,  spanisch  oder  croa- 
tisch  Teutscher  Michel  3;  auff  böhmisch  zu  stehlen,  auff  cretisch 
zu  lügen,  auff  italianisch  zu  lefflen,  auff  spanisch  zu  schmeichlen 
und  zu  betriegen,  auff  russisch  zu  prallen  und  auff  gut  frantzö- 
sisch zu  potzmartern  wissen  Teutscher  Michel  3;  auff  frantzö- 
sisch thun  11;  ein  weiter  rock  oder  kittel  auf  frantzösisch,  pol- 
nisch oder  crawatisch  Simpl.  3.  continuatio  (Keller  1045);  er 
mästete  uns  auf  schwädisch,  und  hielt  gewaltig  zurück  Simpl. 
371;  auf  catholisch,  lutherisch,  calvinisch  Vogelnest  1,  3.  Ein 
in  diesen  und  den  folgenden  belegen  dem  adjectivum  beigefügtes 
gut  soll  es  nicht  zum  lobe  erheben,  es  drückt  nur  aus,  dass 
sich  der  betreffende  Vorgang  vollkommen  in  der  art  des  be- 
griff es  vollzogen  hat,  den  das  adjectiv  ausdrückt.  Einen 
ironischen  klang  bringt  ferner  das  gut  in  das  folgende  bei- 
spiel:  obgleich  die  reimen  von  schlechter  kunst  auff  gut  Hans 
Sächsisch  geschmiedet,  so  war  doch  der  inhalt  so  vemunft- 
mässig  Vogelnest  2, 12.  Das  ist  zugleich  der  einzige  fall,  dass 
Grimmeishausen  diese  construction  mit  einem  von  einem  eigen- 


ZTJB  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  487 

namen  abgeleiteten  adjeetiv  auf  -isch  wagt;  um  so  häufiger 
sind  solche  fälle  bei  dem  wortkühnen  Fischart.  Vergleichend 
ohne  tadel  sind  bei  ihm:  auff  maximilianisch  oder  teurdanckisch 

m 

Garg.  281;  auff  saulisch  283;  auff  adamisch  S06;  auff  janisch 
335;  auff  alckestisch,  senedsch,  eneisch  102;  auff  gut  michel- 
angelisch,  holbeinisch,  stimmerisch,  Älbrechtdurerisch,  luxmale- 
risch,  hockspergerisch,  Josz  ammisch  446.  Tadelnd  sind  dagegen 
auff  eulenspiglisch  25S  u.  ö.;  auff  diogenisch  80;  auff  diomedisch 
371;  auff  müntzerisch  vnnd  münsterisch  prophetisch  380;  auff 
machiauellisch  417;  auf  nmchometisch  oder  mässometisch  Bienen- 
k.81a;  auff  achitophelisch  127  b.  Tadelnd  sind  schliesslich  von 
Fischarts  hierher  gehörigen  fügungen  die  zu  appellativen  ge- 
hörigen: der  Übergang  zu  ihnen  wurde  Fischarts  Sprachgefühl 
erleichtert  durch  die  vielen  constructionen  zu  erdichteten,  aus 
appellativen  zurechtgestutzten  Ortsnamen,  an  die  er  gewöhnt 
war,  so:  auff  schlauraffisch  Garg.  78;  auf  durstbergisch  4:2;  auff 
es0lingisch  vnd  leberauisch  (Leberau  nördlich  von  Kappoltsweiler) 
340.  Hierher  gehören  auch  die  alten  durstallerischen  panta- 
gruelisten  115  (durst- thaler  isch,  unorganisch  wie  schweitzerisch 
Garg.  89.  113.  122.  172  u.ö.;  baselerisch  33.  176;  barhüserisch 
89  Vült parisisch;  jochimsthalerisch  374;  ^^roÄ^fewr^femcÄ  Bienenk. 
36  a;  cartheuserisch  89  b;  rockenstubnerisch  104  a). 

Lobend  ist  von  den  ableitungen  von  appellativen  nur  auf 
gut  schreiberisch  Glückh.  schiff,  Kehrab  v.  71,  bei  Grimmeishausen 
nui'  auff  gut  änsidlerisch  Sim^\,l&&j  alle  andern  sind  tadelnd:  auff 
chorherrisch  Garg.  23;  auf  schiffmännisch  246;  auff  sein  pfäffisch 
Bienenk.  220b;  auf  edelmännisch  Simpl.  471  und  6, 8  (Keller  822. 
868);  auff  soldatisch  581;  auf  gut  betierisch  Springinsfeld  22; 
auff  rechtschaffen  gut  bulerisch  Vogelnest  2,  7,  auf  gut  bäurisch 
Courage  23,  ohne  Werturteil  auff  stättisch  gebauet  Simpl.  246. 

Bei  Grimmeishausen  spielt  hier  die  ironische  Verwendung 
eine  besonders  grosse  rolle,  und  überall  fühlt  man  den  gedanken 
an  die  Verwendung  unserer  adjectiva  für  die  spräche  hindurch, 
der  die  construction  überhaupt  ermöglicht  hat. 

11.  Wir  schliessen  diesen  abschnitt  über  die  adjectiva  auf 
'isch  von  eigennamen  u.  ä.  mit  der  bemerkung,  dass  diese  auch 
jetzt  noch  nicht  aufgehört  haben,  gelegentlich  einen  tadel  zu 
entwickeln.  Wenn  Bismarck,  Gedanken  und  erinnerungen  2, 228 
von   asiatischen  auffassungen   spricht   oder   eine   Europäerin 


488  GOETZE 

gelegentlich  aus  Ceylon  schreibt:  die  harke  die  uns  ans  land 
bringen  sollte,  sah  sehr  asiatisch  aiis,  so  gebrauchen  sie  rein 
occasionell  asiatisch  in  dem  sinne  von  *  barbarisch';  schon  fester 
scheint  eine  derartige  Verwendung  von  schweizerisch  ein- 
gewurzelt zu  sein:  die  neuen  grossen  ga^thäuser  im  Schwarz- 
wald sind  in  ganz  Deutschland  die  schweizerischsten  im  guten 
und  Übeln  sinne  Grenzboten  57,  1, 89. 

12.  Aufs  engste  sind  den  adjectiven  von  ländemamen  die 
von  land,  heim  u.a.  abgeleiteten  verwant,  wie  mhd.  lendisch 
(* inländisch',  Chroniken  15, 153;  das  baltische  landsch  in  der 
bedeutung  ^vom  lande  stammend'  ist  junger,  schon  weil  der 
Umlaut  fehlt,  Wissensch.  beihefte  zur  zs.  des  allg.  d.  Sprachvereins 
3, 29),  inlendisch  (Bienenk.  192  b.  Keuscher  Joseph  15),  üzlendisch 
(mhd.  Luther.  Maaler.  Helber,  Syllabierbüchlein  15.  28.  Grim- 
melshausen,Teutscher  Michel  1),  mörlendisch,  niderlendisch,  ober- 
lendisch  (Geiler  von  Kaisersberg,  Irrig  schaf,  Strassburg  1510, 
Aa  VI.  Eck,  Vorrede  zur  bibelübersetzung,  Ingolstadt  1537  = 
Kluge,  Von  Luther  bis  Lessing  30.  Im  Wortspiel  Simpl.  195), 
überlendisch,  zu  denen  im  nhd.  noch  viele  andere  gekommen 
sind,  wie  altländisch,  binnenländisch,  fern-,  fremd-,  hier-,  mit- 
ländisch  (Fischart,  Garg.  349),  mittel-,  vaterländisch  (erst  in 
neuester  zeit  für  'patriotisch'  ==  'vaterlandsliebend';  in  diesem 
sinne  behält  z.  b.  noch  Seume  das  fremdwort  immer  bei: 
Spaziergang  2^,  6.  19.  151.  203;  ihm  ist  vaterländisch  entweder 
'das  Vaterland  betreffend':  eine  vaterländische  neuigkeit  2,  70, 
oder  'wie  im  vaterlande':  weiter  herab  ist  alles  vaterländisch 
160,  öfter  ist  es  geradezu  'deutsch'  (vgl.  engl,  fatherland,  father- 
landers,  schw.  det  stora  fosterland  =  Deutschland):  den  vater- 
ländischen bäum  10;  grüne  vaterländische  eichen  54;  hier  bin 
ich  nun  wieder  unter  vaterländischen  freunden  152;  vaterländische 
gegend  1,145  könnte  man  mit  ' Vaterland'  widergeben',  in  das 
andenken  des  vaterländischen  flusses  2, 12  und  den  vaterländi- 
schen boden  194  den  genetiv  'des  Vaterlandes'  einsetzen,  ebenso 
in  die  meisten  beispiele  des  DWb.);  unter-  und  holländisch  {die 
holländische  manier  Weise,  Erznarren  123  und  holländisch  durch- 
zugehn  im  DWb.  knüpft  vielleicht  an  fländrer  in  dem  dritten 
oben  besprochenen  sinne  an;  vgl.  auch  Holländer  im  DWb.); 
heimisch  mit  aus-  und  inheimisch,  einheimisch  (Spiessches  Faust- 
buch 134  d.n.  Simpl.  585);  unheimisch  (Lexer  im  nachtrag.  Seume, 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  48Ö 

Spaziergang  2^,  75.  126  *  unheimlich');  geheimisch  (vgl.  Kluge, 
Von  Luther  bis  Lessing  52")  aus  einem  psalterium  latinum 
von  Strassburg  1508) ;  ferner  bürgisch,  Mrgisch,  gehirgisch  (un- 
übertragen 'aus  dem  gebirge',  so  nach  Adelung  im  gemeinen 
leben.  Seume,  Spaziergang  1^,  9;  recht  gebürgisch  reden  'grob  wie 
ein  Tiroler',  Zs.  f .  d.  culturgeschichte  5, 55,  aus  Nürnberg  1765; 
bei  Sachs  'dumm');  irdisch  mit  über-,  unter-,  unirdisch  (tvmme 
priester  vnd  Schulerorden  ist  nv  sogar  vnerdisch  worden,  daz  sie 
wenent,  sie  sin  die  an  künsten,  die  sie  wurden  nie:  swen  dvnJcet, 
daz  er  weise  sei,  dem  wont  ein  gauch  vil  nahen  bei  Renner 
17885:  der  sinn  ist  'hochmütig',  also  vielleicht  gegensatz  zu 
einem  irdisch  'demütig'?),  seeisch  mit  über-  und  unterseeisch^ 
meerisch  mit  mittelmeerisch\  mittelweltisch;  städtisch  mit  gross- 
und  Meinstädtisch  (es  ist  ihm  gangen  wie  jenem  kleinstädtischen 
bürgemeister  'jenem  bürgemeister  einer  kleinen  Stadt'  Weise, 
Erznarren  219;  kleinstädtisch  'oppidanum'  Serz,  mit  sehr  starkem 
tadel  Adelung  2, 1626;  vgl.  1401);  reichisch  (Wissensch.  beihefte 
zur  zs.  des  allg.  d.  Sprachvereins  1, 25). 

Jede  erweiterung  des  horizonts  hat  zu  diesen  adjectiven 
neue  gebracht,  die  entdeckung  von  Amerika  (oder  Luthers 
bibelübersetzung?)  den  gegensatz  von  morgen-  und  abendlän- 
disch, die  gründüng  von  colonien  die  adjectiva  hinter-,  mutter-, 
tochterländisch. 

13.  Hierher  gehören  schliesslich  die  jungen  ausdrücke  der 
Sprachwissenschaft,  die  sich  nicht  besinnen  wird,  ein  adjectivum 
ordensländisch  oder  neckarländisch  oder  nordisch  zu  bilden, 
wenn  sie  von  der  spräche  des  Ordenslandes  oder  des  Neckar- 
gebietes oder  des  nordens  spricht  (als  richtungsbezeichnung 
hatte  sich  nordisch  nicht  durchgesetzt,  so  wenig  wie  südisch, 
mitternächtisch  [mittnächtisch  Fischart,  Garg.  354.  Frisch  1, 40  b. 
666  c]  und  mittägisch  [Garg.  354]),  so  wenig  sie  sich  am  ende 
des  16.  jh.'s  bedacht  hatte,  thonawisch  (als  bezeichnung  der 
herkunft  1572  in  Fischarts  Praktik  19),  suntgewisch  und  höchst- 
retnisch  (alle  in  Helbers  Syllabierbüchlein  von  1593)  zu  er- 
finden. Allein  auf  Otto  Bremers  karte  der  deutschen  mund- 
arten  finden  sich  sechs  derartige  worte,  die  sich  noch  in  keinem 
Wörterbuche  und  kaum  in  volksmässigem  gebrauche  finden: 
havelländisch,  breisgauisch,  ringgauisch,  riesengebirgisch,  itzgrün- 
disch  und  taubergrundisch, 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  32 


490  GOETZB 

Wie  leicht  sich  solche  bildungen  jetzt  einbürgern,  erkennt 
man  an  diesrheinisch  und  überrheinisch,  rechts-  und  linksrhei- 
nisch, von  denen  die  beiden  ersten  nicht  älter  als  das  11.  buch 
von  Goethes  Dichtung  und  Wahrheit,  die  beiden  andern  nicht 
älter  als  die  entsprechenden  eisenbahnen  sein  werden,  dann 
an  der  bildung  reichsländisch,  die  sicher  aus  der  zeit  nach  1871 
stammt,  und  endlich  an  ostelhisch,  das  sammt  dem  noch  ge- 
schmackloseren Ostelhien  erst  ein  geschenk  der  agrarischen 
bewegung  der  letzten  jähre  ist. 

14.  Für  die  bedeutungsentwicklung  sind  auch  diese  adjec- 
tiva  wichtig,  weil  sie  aus  der  bedeutung  der  reinen  herkunft 
zu  einem  bösen  sinne  überleiten  können.  Die  möglichkeit 
dazu  ist  gegeben,  wenn  z.  b.  das  adjectiv  der  herkunft  von 
einem  teile  eines  Volkes,  etwa  von  einem  einzelnen  stände,  ab- 
geleitet wird.  Solche  adjectiva  erhalten  dann  im  munde  der 
gegner  dieses  Standes  oder  auch  schon  der  angehörigen  andrer 
stände  fast  mit  notwendigkeit  einen  bösen  klang.  So  ist  bei 
keiner  bezeichnung  der  grossen  Standesgegensätze  Deutschlands 
der  böse  sinn  ausgeblieben:  mhd.  Uurisch,  göuwisch,  dörpisch 
bedeuten  im  munde  der  ritter  täppisch',  ein  ritterisch  etwa  in 
dem  sinne  von  *  hochmütig'  oder  *  habgierig'  ist  uns  vielleicht 
nur  deshalb  nicht  überliefert,  weil  wir  aus  der  ritterzeit  keine 
bauernliteratur  haben;  städtisch  hat  im  munde  unserer  nord- 
deutschen bauern  noch  heute  einen  bösen,  argwöhnischen  klang 
(natürlich  bei  dem  Glogauer  Gryphius  nicht,  Palm,  Lustspiele 
287),  und  ebenso  in  dem  fastnachtspiele  Claws  bür  die  wendung 
up  borgers  leben. 

Wie  biurisch  und  seine  verwanten  sind  dann  auch  nerrisch, 
teerisch,  risenisch,  twergisch  aufzufassen.  Sie  bedeuten  ursprüng- 
lich ^dem  Stande,  der  klasse  der  narren,  toren,  risen,  twerc 
entstammend,  ihr  angehörend'.  Da  aber  der  begriff  der  her- 
leitung neben  dem  der  Zugehörigkeit  mehr  und  mehr  zurück- 
tritt —  ein  ganz  natürlicher  Vorgang,  denn  der  alltäglichen 
rede  sind  die  gegenwärtigen,  tatsächlichen  Verhältnisse  wich- 
tiger als  die  geschichtlichen  und  logischen  zusammenhänge  — 
und  da  zugleich  der  attributive  gebrauch  in  der  apperceptiven 
bedeutungsentwicklung  eine  gi'össere  rolle  spielt  als  der  prä- 
dicative,  so  gehen  sie  einfach  in  die  bedeutung  *wie  ein  narre, 
tore,  rise,  twerc^  über,  und  diese  grössere  freiheit  der  bedeutung 


ZUR  aESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  491 

ist  der  grund  dafür  geworden,  dass  sich  diese  adjectiva  viel 
weiter  ausgedehnt  haben,  als  die  substantiva,  von  denen  sie 
abgeleitet  sind:  das  wort  du  narr,  das  Luther  im  neuen  testa- 
ment  zum  Scheltwort  macht,  in  das  er  also  einen  vergleich 
legen  will,  hat  sich  dazu  viel  ungeeigneter  gezeigt  als  das, 
logisch  genommen  etwas  mildere  du  närrscher  kerl  Ebenso 
ist  läppisch  in  vollem  gebrauch,  läppe  fast  ausgestorben.  Ur- 
sprünglich aber  hat  neben  jedem  dieser  adjectiva  ein  gleich 
lebendiges  Substantiv  gestanden,  wie  neben  Uurisch  in  Hart- 
manns Gregorius  v.  1125  groze  gebüre  v.  2791.  Die  substantiva 
bewahrten  aber  ihre  grundbedeutung,  blieben  darum,  einmal 
angewendet,  gröber  als  die  vergleichenden  adjectiva  (du  narr 
Matth.  5, 22  ist  die  ärgste  beleidigung,  es  heisst  eben  ^geistes- 
kranker'), waren  auch  mehr  auf  den  gebrauch  in  der  anrede 
beschränkt  und  fanden  deshalb  nicht  so  leicht  eingang  in  die 
bücher,  wenn  sie  auch  in  der  mundart  häufiger  sein  mögen: 
hier  wird  bauer  noch  jetzt  als  Scheltwort  verwendet,  so  gut 
wie  bei  Fritz  Reuter  demokratte  und  jesuwitter  oder  bei  Johanna 
Spyri  gar  aristokraten. 

Nach  dem  muster  dieser  adjectiva,  die  rein  vergleichend 
gebraucht  werden  können,  werden  solche  gebildet  die  nur  so 
zu  verwenden  sind,  auf  die  der  begriff  der  abstammung  über- 
haupt nicht  mehr  passt,  so  kindisch,  weibisch,  eselisch,  herisch. 
Auch  bei  diesen  geht  dann  wider  das  bewusstsein  verloren, 
dass  sie  ursprünglich  ^wie  ein  kind,  weib,  esel,  herr'  bedeuten. 
Für  die  nun  folgende  bedeutungsverschiebung  ist  wol  der  ge- 
brauch in  prädicativer  Stellung  vorbildlich  geworden,  der  oft 
bei  adjectiven,  die  daneben  oft  attributiv  verwendet  werden, 
an  der  associativen  bedeutungsentwicklung  mitarbeitet  und 
gerade  die  grösseren  Sprünge  ermöglicht.  Der  satz  er  ist 
kindisch,  naidixoq  iaziv,  ist  —  wenn  wir  von  der  weiteren 
entwicklung  des  griechischen  verbs  absehen  —  durchaus  = 
jtal^ei,  das  adjectiv  auf  -isch  verhält  sich  zu  seinem  grundwort 
wie  das  particip  zum  verbum,  oder  genauer  zum  substantivierten 
Verbalinfinitiv.  Diesem  Verhältnis  gemäss  sind  nur  adjectiva 
auf  'isch  gebildet,  die  einen  bösen  sinn  haben:  die  ohne  tadel 
sind  entweder  bei  der  bedeutung  der  reinen  herkunft  oder  bei 
der  des  Vergleichs  stehen  geblieben.  Diese  erscheinung  hat 
ihren  grund  darin,  dass  jede  grammatische  gruppe,  in  unserm 

32* 


492  GOETZE 

falle  also  eine  durch  gleiches  suffix  verbundene  gruppe  von 
adjectiven,  auch  eines  inneren  bandes,  einer  gleichheit  in  der 
bedeutung  bedarf.  Bei  jungen  gruppen,  z.  b.  unsern  adjectiven 
auf  -haft,  wird  dieses  band  von  dem  noch  bedeutungsvollen 
Suffix  geliefert.  Erblasst  die  sinnliche  bedeutung  des  Suffixes, 
so  wird  sie  durch  eine  geistige,  oft  durch  eine  bloss  gramma- 
tische function  ersetzt;  bei  unseren  adjectiven  auf  -isch,  wie 
wir  gesehen  haben,  drückt  das  suffix  auf  der  zweiten  stufe 
einen  vergleich  aus.  Lockert  sich  aber  auch  dieses  band,  so 
wird  es  nötig,  die  gruppe  durch  etwas  gemeinsames  zu  binden, 
das  nicht  mehr  in  der  natur  des  Suffixes  liegt,  sondern  in  der 
der  stamme  gesucht  werden  muss,  und  dazu  bot  sich  in  unserm 
falle  als  das  praktischste,  weil  von  den  meisten  der  vorhan- 
denen bildungen  dargebotene,  der  böse  sinn,  der  darum  von 
allen  adjectiven  verlangt  wird,  die  die  participiale  stufe,  wie 
wir  sie  nennen  wollen,  ersteigen.  Trotzdem  blieb  die  freiheit 
der  bedeutung  so  gross,  dass  zusammenstösse  mit  andern  gruppen 
eintreten,  namentlich  mit  der  der  adjectiva  auf  -lichy  die  ja  in 
der  entwicklung  vom  vergleich  zu  participialera  sinne  der  unsern 
parallel  gegangen  ist.  Als  beispiel  mag  Luthers^und  Müntzers 
(Schutzrede  20)  huchstäbisch  dienen,  das  genau  unserm  Imch- 
Stählich  entspricht  (dies  Bienenk.l08a),  während  wir  für  Luthers 
drdhuchstahisch  wol  dreibuchstäbig  oder  -stabig  sagen  würden. 
Bei  jedem  solchen  zusammenstoss  ist,  zuerst  gewis  mit 
bewusster  absieht,  dann  nach  analogie,  zuletzt  und  hauptsäch- 
lich aber  unbewusst  nach  dem  Sprachgefühl  eine  Scheidung 
des  gebiets  nach  dem  grundsatz  eingetreten:  das  adjectiv  auf 
'isch  bekommt  einen  tadelnden  sinn,  das  concurrierende  auf 
-lieh,  -ig,  -haß  wird  zum  lobe.  Die  erste  erscheinung  haben 
alle  deutschen  grammatiken,  von  J.  Chr.  A.  Heyse  bis  Wilmanns 
gebucht:  neben  bäurisch,  dörfisch,  abgöttisch,  herrisch,  kindisch, 
launisch,  schmeichlerisch,  schulmeisterisch,  widersinnisch,  weibisch, 
eigenwillisch  und  abergläubisch  stehen  bäuerlich,  dörflich,  gött- 
lich, herrlich,  kindlich,  launig,  schmeichelhaft,  meisterlich,  sinnig, 
weiblich,  willig  und  gläubig.  Mhd.  standen  ausserdem  neben 
klef fisch,  kriegisch,  mordisch  und  nidisch:  klaffic,  kriegte,  mordic 
und  nidic,  neben  hoenisch,  tcerisch^  eselisch  und  tiufelisch:  hönlich, 
törltch,  esellich,  tiufelUch  und  neben  girisch:  giric  und  girltch. 
Die  andere  erscheinung  aber,  die  die  grammatiker  übersehen 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  493 

haben,  wie  Bechstein  oben  die  entwicklung  zum  guten  sinne, 
verdient  auch  beachtet  zu  werden:  die  concurrierenden  adjec- 
tiva  auf  -ig^  -lieh,  -haft  sind  im  gegensatz  zu  denen  auf  -isch 
zum  lobe  geworden.  Man  denke  nur  an  den  häuerlichen  Wohl- 
stand, die  dörfliche  stille  und  das  häusliche  glück  in  unseren 
romanen,  an  die  Verallgemeinerung  und  verblassung  des  wortes 
herrlich,  an  die  fülle  von  gemüt  und  gefühl  die  in  weiblich 
oder  kindlich  liegen  kann.  Alle  diese  adjectiva  übertreffen 
ihre  grundworte  an  gefühlsinhalt ;  wo  diese  Steigerung  zu  gutem 
sinne  nicht  möglich  war,  sind  sie  ausgestorben  und  haben  denen 
auf  -isch  das  feld  geräumt,  so  mhd.  klaffte,  kriegic,  mordic  und 
nidie ;  hönlich,  törltch,  esellich,  tiufelUch  und  girltch.  Dass  aber 
diese  teilung  des  gebiets  etwas  junges  ist,  wird  eben  durch 
die  existenz  dieser  nun  ausgestorbenen  adjectiva  bewiesen:  bis 
tief  ins  mittelalter  hinein  haben  viele  von  ihnen  bestanden, 
und  dass  sie  meist  älter  sind  als  die  entsprechenden  auf  -isch, 
das  zeigen  ahd.  hönlihho,  esillih,  tiufalUh,  nidig,  girig  und  herlih, 
denen  noch  keine  adjectiva  auf  -isch  zur  seite  stehen. 

15.  Vielleicht  gelingt  es,  den  Ursprung  des  bösen  sinnes 
zeitlich  und  örtlich  näher  zu  bestimmen.  Den  ausgangspunkt 
mag  eine  beobachtung  Rudolf  Hildebrands  zum  werte  kindisch 
(DWb.  5, 766)  bilden.  In  Schillers  Künstlern  v.  62  f.  hiess  es 
statt  der  anmuth  gürtel  umgewunden  wird  sie  (die  Schönheit) 
gum  kind,  da^s  kinder  sie  verstehn  in  der  ersten  fassung  sieht 
man  sie  kindisch  uns  entgegen  gehn,  was  wir  als  Schönheit 
hier  empfunden,  wird  dort  als  Wahrheit  vor  uns  stehn.  Schiller 
hat  dieses  ihm  geläufige  kindisch  entfernt  auf  einen  wink  aus 
Sachsen,  auf  den  rat  des  Meissners  Körner,  der  in  seinem 
briefe  vom  16.  jan.  1789  zweifelte,  ob  das  wort  edel  genug 
sei.  So  änderte  der  dichter,  ^um  dem  worte  kindisch  auszu- 
weichen ',  wie  er  am  22.  jan.  an  Körner  schreibt.  Also  für  den 
Mitteldeutschen  bietet  das  wort  einen  anstoss,  für  den  Schwaben 
nicht.  Verfolgen  wir  es  rückwärts,  so  finden  wir  es  bei  den 
Oberdeutschen  Sebastian  Brant,  Johann  Pauli,  Gottfried  von 
Strassburg,  Heinrich  von  Witten weiler  (andre  beispiele  in 
Haupts  anmerkung  zu  MF.  4, 10)  ohne  tadel,  dagegen  hat 
kindisch  schon  im  md.  Passional  des  13.  jh.'s  einen  bösen  sinn, 
ohne  den  es  später  sehr  selten  anzutreffen  ist:  den  wenigen 
hierher  gehörigen  belegen  des  DWb.  aus  Luther  wüsste  ich 


494  GOETZE 

nur  zuzufügen :  alle  meine  heimlichkeiten,  die  zwar  aujf  nichts 
anders,  als  aujf  hindischer  einfalt  und  frömmiglceit  bestunden 
Simpl.  100  (dagegen  tadelnd  über  das  kam  er  mir  auch  gantz 
kindisch  vor  509).  Ebenso  Weise,  Erznarren  127.  189.  Der 
leyen  disputa,  zii  dem  leser  (hg.  von  John  Meier;  wetterauisch 
um  1530).  Sachs,  Fastn.  1, 151. 159.  6, 98. 113.  Schwanke  1, 133. 
381.  2, 132.  543.  Fischart,  Anweisung  zum  Ismenius  v.  27.  45. 
Gryphius,  Geliebte  dornrose,  Palm  328);  die  kindischen  jähre 
Zachariae,  Poet.  Schriften  1765,  1, 227,  und  wie  dass  a  halarde 
und  kindsch  war  *  alert  und  jung'  Holtei,  Schlesische  gedichte, 
ausg.  letzter  band  219.  Ebenso  wird  weibisch  noch  im  15.  jh. 
bei  Heinrich  von  Wittenweiler  und  noch  1512  in  einem  obd. 
glossar  ohne  tadel  verwendet,  während  es  in  Mitteldeutschland 
schon  1349  bei  Konrad  von  Megenberg  ^weichlich'  bedeutet. 

16.  Auch  bei  den  adjectiven  auf  -isch,  die  nicht  bis  ins 
nhd.  eins  auf  -lieh  neben  sich  haben,  stellt  sich  der  böse  sinn 
zuerst  in  Mitteldeutschland  ein.  Betrachten  wir  zunächst  einige 
ableitungen  von  tiernamen:  im  mhd.  werden  sie  ohne  tadel 
gebraucht :  bärisch,  kühisch,  rehisch  (sämmtlich  im  D Wb.  unter 
kühisch)  und  taubisch  (im  md.  Leben  Ludwigs)  haben  alle 
keinen  bösen  sinn,  ebenso  die  im  ausgehenden  mittelalter  ge- 
bildeten tierisch  und  viehisch  (DWb.  unter  kühisch  und  eselisch). 
Wenn  sie  aber  einmal  in  tadelnder,  d.  h.  hier  übertragener, 
bedeutung  gebraucht  werden,  so  ist  das  stets  bei  Mitteldeut- 
schen: wölfisch  gebraucht  zuerst  der  Thüringer  Köditz  von 
Saalfeld,  nach  ihm  der  Franke  Melissus  (DWb.  unter  laurisch) 
in  dem  sinne  von  ^raubgierig',  eselisch  wendet  zuerst  Heinrich 
von  Mügeln,  also  ein  Sachse,  auf  den  menschen  an  (obd.  mund- 
arten  ist  der  esel  gar  nicht  immer  Sinnbild  der  dummheit,  da- 
für dient  z.  b.  im  Elsässischen  der  stier,  Martin  und  Lienhart, 
Wb.  der  eis.  maa.  73  b ;  vgl.  PoUe,  Wie  denkt  das  volk  über 
die  spräche  2  23;  für  Baiern  führt  Schmeller  1,25  und  2,  778 
^  ganzer  ochs  oder  stisrax  an),  und  auch  von  den  späteren  die 
es  haben,  gebraucht  es  nur  der  Mitteldeutsche  Luther  schlecht- 
weg als  Schimpfwort,  also  mit  völliger  misachtung  der  bedeu- 
tung der  herkunft.  viehisch  bei  Megenberg  noch  ohne  tadel, 
hat  zuerst  in  der  md.  Griseldis  des  15.  jh.'s  einen  bösen  sinn, 
der  dann  bei  den  späteren  Mitteldeutschen  durchaus  vorherseht, 
vgl.  Scheidt,  Grobianus  v.2246.  Fischart,  Garg.3.  Bienenk.  120b, 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  495 

204  b,  kaum  dass  Luther  cor  ferae  noch  mit  viehisch  hertz  über- 
setzt. Allerdings  ist  der  tadel  dann  auch  früh  ins  hd.  ge- 
drungen, s.  die  beispiele  aus  Keisersberg,  DWb.  unter  eselisch 
und  Mhischy  aus  Murner  und  Brant,  Thesmophagia  v.  28.  Bei 
Grimmeishausen  ist  es  oft  geradezu  'unkeusch',  namentlich  in 
der  häufigen  Wendung  viehische  begierden  Simpl.  222.  516.  525. 
546.  Courage  6. 12.  Vögeln.  2, 12. 14.  Keuscher  Joseph  6.  8.  9.  10, 
aber  auch  sonst:  ein  zärtlich  weibisch,  ja  schier  viehisches  leben 
Teutscher  Michel  3 ;  viehische  geilheit  Stolzer  Melcher  (Kurz  4, 
329);  irrdisch  und  viehisch  Keuscher  Joseph  13.  Lebendiger  ist 
der  vergleich  noch  in  Wendungen  wie  viehische  Unmenschen 
Courage  12;  viehischer  Unwissenheit  und  bestialität  Vogelnest 
1,19;  auch  bei  Fischart:  so  wird  die  lieb  ein  viehisch  brunst 
Anweisung  zum  Ismenius  v.  61.  —  Luther  schimpft  über  D. 
Fabers  vnd  dergleichen  lugenhafftige ,  lästerliche,  eselische 
schrifft,  über  das  lesterliche,  fressende,  beerwölffische  (d.  i. 
werwölfische;  Sachs  hat  mit  anderer  anlehnung  nerwoljf) 
monstrum  zu  Born,  das  böckische  weszen  des  doctor  Emser, 
die  crocodilische  rachgir  des  bischofs  Albrecht  von  Magde- 
burg, die  falsche  füchsische  busse  (Reinhart  Fuchs)  des  ge- 
fangen herzogs  von  Braunschweig,  er  spricht  von  aller  mördi- 
schen  und  wölfischen  lerer  art  (DWb.  unter  mördisch)  und 
über  das  epicurische  und  sewische  leben  der  bischöfe  (Wider 
Hans  Worst  29). 

17.  Nicht  so  leicht  zur  hand,  dafür  aber  mit  schärferer 
ausprägung  hat  Hans  Sachs  die  adjectiva  auf  -isch  von  tier- 
namen:  alle  die  in  seinen  fastnachtspielen  und  schwanken 
vorkommen,  sind  tadelnd;  ohne  bösen  sinn  nur  einige  aus  den 
fabeln:  perische  stim  ^bärenstimme',  fuechsisch  geselschaft  *ge- 
sellschaft  von  fuchsen'  1, 269  (nach  Götzes  neudruck),  räppisch 
awg  ^rabenauge',  wölfisch  rot  *  rotte  von  Wolfen'  2, 598,  vgl.  336, 
also  überall  das  adjectiv  an  stelle  des  genetivs  des  grundworts. 
Unübertragen  wird  1,69  vom  esel  gesagt:  vor  frewden  hüb  er  an 
zu  schreyen  mit  seiner  eszlischen  schalmeyen:  ob  diber  eselisch 
hier  ganz  ohne  tadel  ist,  erscheint  fraglich,  wenn  man  ver- 
gleicht, dass  1, 44  eselisch  geschrey  von  der  keifenden,  groben 
rede  einer  frau  gebraucht  wird. 

Damit  kommen  wir  zu  der  viel  grösseren  zahl  der  über- 
tragenen tiernamen:  füchsisch  'falsch'  Schwanke  1, 200.  2,21; 


496  OOETZE 

kueisch  vom  trinken  der  menschen  2,615,  vgl.  Zarncke  zum 
Narrenschiff  16,53;  rüdisch  *wild  wie  ein  hund'  1,78.  Hürnen 
Seufried  v.  59;  sewisch  von  unmässigem  essen  Schwanke  1, 440. 
2,552  und  von  unordentlichem  leben  2,553.  589.  611;  tirisch 
*wild'  vom  aussehen  1,11,  vom  blick  1,483,  vom  benehmen 
Fastn.  2, 14;  hündisch  'geizig'  1,57,  'cynicus'  Fastn.4,  79  (ta- 
delnd auch  bei  Frisch  1,475  c.  Simpl.  89,  doch  ohne  tadel  in 
Weises  Erznarren  130,  wo  der  laut  r  ein  hündischer  buchstabe 
(=  litera  canina  der  römischen  grammatiker)  genannt  wird. 
Das  tertium  comparationis  ist  das  knurren,  hier  wie  in  einem 
beispiele  des  DWb.  aus  Scriver:  der  geizige  ist  hundisch  und 
mürrisch  wenn  er  etwas  ausgeben  soll.  Nur  scheinbar  liegt 
ein  adjectiv  auf  -isch  vor,  wenn  in  einem  schwäbischen  monats- 
reim  des  15.  jh.'s  die  hundstage  hundische  tage  genannt  werden, 
denn  das  ist  wol  unter  dem  zwange  des  verses  aus  hundstage 
zerdehnt,  das  seit  dem  15.  jh.  auch  in  Oberdeutschland  nach- 
zuweisen ist;  man  beachte  auch  den  mangel  des  umlauts. 
Ebenso  ist  das  adjectiv  anheimisch  aus  dem  adverb  anheims-^ 
räterisch  (auch  Simpl.  752)  aus  dem  Substantiv  räters;  gelfisch 
aus  dem  adjectiv  gelfs  entstanden  (DWb.  unter  anheimisch, 
räter  seh,  gelf),  vielleicht  auch  linkisch,  das  nach  den  belegen 
des  DWb.  nicht  vor  dem  18.  jh.  in  attributiven  gebrauch 
tibergeht,  aus  prädicativem  linksch,  danach  auch  denkisch  bei 
Schmeller,  tausiksch  und  fannerhandsch  (Zs.  fdm.  6,  530),  alle 
ein  ausdruck  des  bedürfnisses,  isolierte  adverbien  auch  attributiv 
zu  verwenden.  Hierher  gehört  wol  auch  hungerisch  sterben 
bei  Murner,  Narrenbeschwörung  88, 15,  aus  hungers  sterben, 
wobei  das  i,  das  überdies  den  vers  zu  lang  macht,  wol  nur 
auf  rechnung  des  setzers,  nicht  Murners  selbst,  zu  stellen  ist, 
der  gedanke  an  ungerisch  den  Übergang  gewis  erleichtert  hat. 
Andrer  ansieht  ist  freilich  Spanier  in  seiner  anmerkung  zu 
dieser  stelle.  Umgekehrt  ist  gewis  in  der  Gäuchmatt  v.  3687 
statt  tvo  ist  der  leckers  böszwicht  her?  leckersch  zu  lesen, 
das  Murner,  Schelmenzunft  26,  20  hat.  —  Besonders  gross 
in  der  bildung  unmöglicher  adjectiva  auf  -isch  ist  Stieler: 
er  bildet  zur  erklärung  von  falsch,  barsch,  harsch,  unwirsch: 
ballisch  sp.  86,  barrisch  99,  harrisch  und  hartisch  773  und  wir- 
risch  2517). 

Zu  hündisch  gehört  bei  Sachs  hündzfütisch  (auch  im  neueren 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  497 

bairisch:  hundsfütisch  'res  frivola';  hundsfütisch  leben  'parum 
liberal!  fortuna  est'  Serz.  *  Erbärmlich'  bedeutet  das  wort 
jetzt  auch  im  Breisgau:  Zs.  fdm.  5, 408,  *  betrügerisch'  in  Nord- 
böhmen: Knothe,  Markersdorfer  ma.  unter  hundsfittsch]  böckisch 
Germ.  18,373  =  Lexer  im  nachtrag  'widerspenstig'  {beckisch 
Garg.  37?);  eglisch  Schwanke  1, 381. 516.  Fastn.  6, 3  (das  adjectiv 
bedeutet  überall,  wo  es  vorkommt,  'sonderbar',  es  ist  wie  egel 
'seltsamer  einfall'  und  egeln  'sich  närrisch  benehmen'  nur  bei 
Sachs  belegt,  und  schon  deshalb  scheint  es  bedenklich,  die 
Sippe  zu  trennen,  wie  es  Grimm  im  DWb.  tut,  der  die  stark 
flectierten  formen  des  Substantivs  egel  zu  egel  m.  'igel',  die 
schwachen  zu  egel  f.  'arista',  ahd.  agana,  das  adjectiv  eglisch 
wider  zn  egel  m.  stellt.  Das  schwanken  zwischen  starken 
und  schwachen  formen  im  plural  von  masculinen  auf  -el  ist 
ja  in  nmd.  mundarten  nichts  ungewöhnliches,  zudem  hat  Sachs 
schwache  formen  nur  unter  dem  drucke  des  reims:  Schwanke 
2,  67  reimt  egeln  auf  segeln,  465  auf  pregeln,  508  auf  schwegeln, 
und  damit  hat  er  wol  zugegeben,  dass  ihm  die  starke  form 
das  normale  ist.  Auch  erklären  sich  alle  verwendungsweisen 
des  Wortes,  wenn  wir  es  von  egel  'igel'  ableiten.  Eine  be- 
trachtung  der  bedeutung  wird  am  besten  von  den  verschiedenen 
eigenschaften  dieses  tieres  ausgehen,  die  zu  einer  Übertragung 
auf  menschliche  zustände  einluden.  Das  nächste  sind  natür- 
lich die  stacheln  des  igels;  daher  sagt  Heinz  Widerborst, 
Schwanke  1, 120: 

mein  gwandt  das  ist  ein  igels  palck.      halt  allenthalben  widerpart, 

damit  deck  ich  mein  alten  schalck,       wann  ich  stich  mit  spitzigen  worten 

bin  stachlicht,  gantz  iglischer  art,        dückisch  vmb  mich  an  allen  orten. 

So  wird  igeln  zu  'stechen,  prickeln',  auch  übertragen  auf 
stechenden  verdruss:  das  igelt  mich  'ärgert  mich'  (Maaler.  Stalder. 
Thurneiszer).  Die  so  verblassende  bedeutung  wird  zu  neuer 
anschaulichkeit  geweckt  dadurch  dass  man  die  stechenden  egel 
wie  die  gleichfalls  stechenden  mucken,  raupen,  würmer,  schnaken, 
Späne,  Sparren,  oder  die  im  köpfe  oder  ohr  zirpenden,  girrenden, 
rumorenden  grillen,  tauben,  ratten,  mause  (Scheidt,  Grobianus 
V.  1199.  3157)  und  flöhe  in  den  köpf  des  geärgerten  versetzt; 
das  bild  ist  freilich  kühn,  namentlich  wenn  die  egel  im  plural 
auftreten,  aber  die  tauben  finden  ja  auch  zu  mehreren  platz 
im  köpfe.    In  dieser  Verwendung  steht  egel  bei  Sachs  oft  neben 


498  GOETZE 

einem  andern  der  genannten  tiernamen,  so  sagt  der  Egelmair, 
Schwanke  2, 611  vil  egel  trag  ich  in  meim  schopff,  die  hundz- 
muckn  schwirmen  vmb  mein  kopff;  von  einem  betrunkenen 
heisst  es  1, 383  er  hob  so  selcisam  tawbn  vnd  egel,  ein  anderer 
treibt  so  seltzam  egel  vnd  grillen;  am  geläufigsten  ist  aber  die 
Zusammenstellung  mit  schwancJc:  mit  schwencken  vnd  egeln 
unterhält  2, 508  ein  lustigmacher  das  volk;  ein  freyharts  hndb 
erzählt  von  sich:  auch  so  treib  ich  gut  schwench  vnd  egel  2, 275 
(wo  egel  freilich  auch  1.  sing.  ind.  praes.  vom  verbum  egeln  sein 
könnte,  doch  vgl.)  vnd  treibt  ser  selzam  schwench  vnd  egeln 
2,67  von  einem  betrunkenen.  Dass  die  egel  im  köpfe  sind 
und  dass  unter  dem  schöpfe  des  Egelmairs  nicht  etwa  der 
äussere  haarschopf  zu  verstehen  ist,  zeigt  2,465,  wo  es  von 
einem  zänkischen  weibe  heisst  wen  si  stechen  ir  zenchisch  egeln, 
und  auch  von  dem  nervösen  mönche  1, 516  könnte  Sachs  nicht 
sagen  der  so  ein  eglischen  hopff  ist  hon,  wenn  die  egel  nicht 
im  köpfe  gedacht  wären.  Auch  auf  sinn  und  wesen  könnte 
eglisch  nicht  so  leicht  übertragen  werden,  wie  es  an  folgenden 
stellen  geschieht:  mit  dem  eglischen  wessen  mein  1,516;  mein 
eglisch  selczam  weis  ebda.;  mein  syn  seltzam,  eglisch  vnd  wunder- 
lich, all  mein  gedancken  die  sind  sunderlich  1, 119;  der  eglisch 
wirt  selzam  vnd  wunderlich  1,381;  dw  pist  gar  wunderlich  vnd 
entisch,  zw  selzam,  eglisch  vnd  zv  grentisch,  vnferstanden,  grob, 
vnpescheiden  Fastn.  6, 3.  Aber  auch  abgesehen  von  seiner 
stachlichkeit  hat  der  igel  zu  vergleichen  anlass  gegeben:  zu- 
nächst hat  sein  familienleben  anstoss  erregt,  denn  Megenberg 
sagt  im  Buche  der  natur  von  ungeordnetem  eheleben  der 
menschen:  der  mensch  würkt  iglischen  oder  gensischen;  man  ist 
versucht  diese  anwendung  mit  einer  stelle  des  märchens  Hans 
mein  igel  in  Verbindung  zu  bringen  (Grimm,  Kinder-  und  haus- 
märchen  2'^,  118);  ferner  leitet  sich  von  der  unreinlichkeit  des 
igels  die  landesübliche  Verwendung  des  namens  Schweinigel 
her,  der  aber  seinen  Ursprung  der  ähnlichkeit  der  igelphysiog- 
nomie  mit  der  des  Schweines  verdankt  (vgl.  Stachelschwein); 
schliesslich  aber  hat,  und  das  kommt  wider  für  unser  egeln 
in  betracht,  der  drollige  gang  und  das  planlose  hin-  und  her- 
fahren des  lichtscheuen  tieres  zu  Übertragungen  herausgefordert. 
Daher  das  märchen  vom  Swinegel:  alles  kunn  he  verdregen, 
aver  up  siene  been  laet  he  nicks  komen,  eben  weil  se  von  natuhr 


ZÜB  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCK  499 

scheef  wöören  Märchen  2%  404.  Daher  auch  bei  Sachs  egeln 
Haumein'  von  trunkenen  und  schlaf trunknen,  ganz  deutlich 
vom  gang :  er  phantasirt  vnd  da  her  egelt  vnd  nur  mit  halbem 
winde  segelt  2, 92;  als  sie  zv  der  stieg  kumen  was,  gings  hinauff 
mit  prumen  vnd  muncken  vnd  war  noch  wol  halber  schlaff 
druncJcen  vnd  egelt  also  auf  die  stiegen  2, 197.  Mit  dem  ge- 
danken  an  egel  'schwank':  den  thuet  man  mit  halbem  wint 
segeln,  nach  dem  so  fecht  man  an  zv  egeln  mit  selczamen  possen 
vnd  schwencken,  so  nerrisch,  als  mans  kan  erdencken  2,  56; 
fantasirest,  wunderst  vnd  egelst  gleich  ainem  thorn  vor  pider- 
lewten  1,423. 

Während  eglisch  von  Sachs  noch  als  ableitung  zu  einem 
tiernamen  empfunden  worden  sein  mag,  haben  zwei  andere 
wol  schon  bei  ihm  den  Zusammenhang  mit  ihrem  grundwort 
verloren:  ewdrisch  'mürrisch',  das  Grimm  zu  ur  stellt  (ein  beleg 
aus  Luther  mit  seltsamen  deutungsversuchen  Zs.  fdph.  26,  57 ; 
nach  Sachs  bei  Hayneccius,  Hans  Pfriem  v.  2238)  und  muckisch 
(bloss  md.:  Schmid,  Schwab,  wb.  378.  Schambach.  Hennebergisch: 
Zs. fdm.  3, 134.  Obersächsisch:  Albrecht.  Schlesisch:  Holtei475. 
Posnisch:  Bernd). 

Nicht  unter  die  tiernamen  gehören  entisch  'seltsam,  ver- 
drossen' Schwanke  1, 206.  513  (nach  ausweis  der  nebenform 
entrisch  zu  ahd.  antisc  —  antrisc,  dieses  wol  zu  anti  'alt'  und 
danach  'seltsam,  unheimlich,  nicht  geheuer'.  In  diesen  be- 
deutungen  herscht  es  jetzt  in  md.  mundarten:  Schmeller.  Knothe. 
Holtei  239  und  Weinhold  im  glossar  zu  Holteis  Schlesischen 
gedichten.  P.Drechsler,  Wencel  Scherffer;  vgl.  entig  'seltsam' 
Sachs,  Schwanke  1, 30)  und  rebisch  Fastn.  5,  74  'flott,  schmuck 
von  der  kleidung,  nach  Zs.  fdm.  6, 65  und  Schmeller  2, 5  sammt 
den  nebenformen  röbisch  und  rdbisch  nicht  zu  rabe,  denn  dazu 
heisst  bei  Sachs  das  adjectivum  räbbisch,  sondern  röubisch  zu 
raub  'gestohlenes  kleid,  robe',  scharf  geschieden  von  dem  gleich- 
falls vorkommenden  rawbisch, 

18.  Auch  bei  Fischart  sind  die  adjectiva  auf  -isch  von  tier- 
namen fast  alle  tadelnd:  äf fisch  Bienenk.  148b,  =  'närrisch' 
auch  bei  Luther;  duckmäusisch;  Sachs  denkt  nachweisbar  an 
maus:  er  , . .  daucht  wie  ein  mausm  Schwanke  1,  36;  esilisch 
Garg.  18;  fledermäusisch  Garg.  28;  füchsisch  Garg.  254;  grillisch 
Garg.  17.  Praktik  16.    Auch  bei  Gryphius,  Peter  Squenz  16, 20; 


500  GOETZE 

hetzhundisch  Garg.  163,  wol  *hunde  hetzend';  lugentisch  Bienen- 
k.  185  a,  aus  legendisch  mit  dem  gedanken  an  lügen  und  ente 
entstellt,  vgl.  Andresen,  Deutsche  Volksetymologie  ^  59;  lugenden 
auch  bei  Grimmeishausen,  Vögeln.  2, 13;  meusisch  Garg.  254; 
nachteulisch  Garg.  28;  nachtigallisch  ohne  tadel;  predigkautzisch 
Garg.  6.  159.  216,  immer  in  Zusätzen  der  ausgäbe  von  1582; 
rosshäferisch  Garg.  309 ;  säuisch  Podagr.  trostb.  98, 12,  auch  bei 
Fischarts  lehrer  Scheidt,  Grobianus  s.  7  d.  n.  und  v.  485 ;  vihisch 
Garg.  3. 143. 

19.  Im  17.  jh.  hat  die  anwendung  unserer  adjectiva  von 
tiernamen  merklich  abgenommen;  aus  dem  Simplicissimus  ist 
holtzböckisch  *  unbeholfen'  und  säuisch  zu  nennen,  aus  Weises 
Erznarren  schulfüchsisch  35,  81,  bestialisch  151  (auch  bei  Grim- 
melshausen  von  menschlichen  zuständen:  Simpl.  109. 116. 137). 
Eine  grössere  menge  dieser  adjectiva  lässt  sich  nur  noch  aus 
Stieler  belegen:  ohne  tadel  einige  ableitungen  von  vogelnamen, 
wie  adlerisch,  falkisch  und  voglerisch,  dann  hiherisch  neben 
und  gleichbedeutend  mit  hihern  'von  biberfeil',  und  tigerisch 
'getigert',  weit  mehr  aber  tadelnd:  äffisch,  beestisch,  melius  qu^m 
bestialisch,  böckisch,  füchsisch,  gauchisch  (göuchisch  'ineptus'  bei 
Maaler,  in  Oberdeutschland  bekannt  aus  Mumers  Geuchmatt, 
in  der  es  das  häufigste  adjectiv  auf  -isch  ist),  geyerisch  'gierig', 
volksetymologisch  zu  vultur  gestellt,  hündisch,  schneckisch, 
kühisch,  schwälbisch  'unzuverlässig',  seuisch,  tierisch,  viehisch, 
wölfisch. 

Der  erwähnung  bedarf  schliesslich  noch  eine  eigentümliche 
Verwendung  die  diese  adjectiva  von  tiernamen  in  nmd.  mund- 
arten  gefunden  haben:  einige  ableitungen  von  den  namen 
männlicher  und  weiblicher  haustiere  bezeichnen  die  brunst  der 
entsprechenden  weibchen.  Das  älteste  dieser  adjectiva,  mhd. 
reinisch,  bezeichnet  die  stute,  die  nach  dem  reine,  dem  hengste, 
verlangt;  gerade  dieses  wort  ist  nicht  nur  md.:  sollte  es  auf 
die  bedeutung  des  nmd.  reihisch  (Zs.  fdph.  8, 347.  9,472)  ein- 
gewirkt haben?  Woeste  verzeichnet  in  seinem  Wb.  der  westf. 
ma.  bcersk  'brünstig'  von  sauen,  zu  bosr  =  diiLper,  und  m- 
melsk  von  der  katze,  die  nach  dem  r^el,  dem  kater,  begehrt; 
Danneil  im  Wb.  der  altmärk.-plattd.  ma.  bocksch  von  schafen 
und  ziegen  'nach  dem  bocke  verlangend'.  Zu  scharfem  Vor- 
wurf werden  diese  adjectiva,  wenn  sie  vom  menschen  gebraucht 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH,  501 

werden,  so  gut  wie  anders  gebildete  bezeichnungen  der  brunst, 
wie  läufisch,  reiisch,  westfälisch  fleisch  (von  fasel  ^f ortpflanzung') 
und  göttingisch  bramsch  (von  brammen  =  hd.  brummen). 

In  der  modernen  spräche  endlich  ist  die  anwendung  der 
adjectiva  von  tiernamen  sehr  eingeschränkt,  ausser  tierisch, 
viehisch  und  einigen  fremdworten  sind  eigentlich  nur  äffisch 
und  hündisch  in  lebendigem  gebrauch;  schweinisch,  das  wol 
gelegentlich  gebildet  wird,  ist  zuerst  aus  dem  Leipziger  Sing- 
spiele von  Harlequins  hochzeit  -  schmausz  1696  (neudruck  von 
Ellinger  s.  67)  zu  belegen. 

20.  Die  beispiele  von  no.  19  zeigen,  dass  die  tadelnde  Ver- 
wendung der  adjectiva  von  tiernamen,  ihre  Übertragung  auf 
menschen,  wesentlich  md.  ist.  Dasselbe  wird  die  folgende  be- 
trachtung  einiger  besonders  häufiger  adjectiva  auf  -isch  mit 
bösem  sinne  lehren. 

abgöttisch  und  abgötterisch  sind  in  ältester  zeit  nur  aus 
Mitteldeutschland  zu  belegen;  zuerst  steht  abgöttisch  in  des 
Thüringers  Ernst  von  Kirchberg  Mecklenburgischer  Chronik, 
Zu  weiterer  Verbreitung  ist  das  wort  erst  bei  Luther  und  seit 
ihm  gelangt;  in  der  art  wie  er  es  verwendet,  offenbart  sich 
auch  wie  das  seltsame  wort  aufzufassen  ist:  es  bezeichnet  die 
Zugehörigkeit  zur  partei  des  abgottes:  daher  so  oft  die  sub- 
stantivierte form  die  abgöttischen  Weish.  Sal.  1, 5.  1.  Cor.  5, 10. 
11.  6, 9.  Offenb.  22, 15.  Ebenso  noch  im  Spiesschen  Faustbuch 
von  1587,  s.  9,  und  erst  danach  allgemein  *  falschgläubig',  wie 
Apostelgesch.  17,  16,  und  durchgängig  bei  Fischart,  Bienenk. 
38b.  57a.  83  b.  175b. 

Auch  manches  andere  der  die  augehörigkeit  zu  einer  partei 
bezeichnenden  adjectiva  zeigt  md.  Ursprung  und  ist  auf  Mittel- 
deutschland beschränkt  geblieben,  s.  no.  9  churfürstisch,  kaise- 
risch,  hetzerisch,  lutherisch,  papistisch  und  päpstisch,  pfalz-  und 
landgräfisch,  marJcgräfisch  Städtechroniken  11,  660  (Nürnberg). 
Einen  fiänkischen  beleg  bringt  Lexer  im  nachtrag.  Nicht  zu- 
fällig ist  es  der  Mitteldeutsche  Clajus,  der  diese  gruppe  unserer 
adjectiva  zuerst  aufgestellt  und  aus  dem  Mitteldeutschen  Luther 
belegt  hat.  Hierher  scheint  auch  elbisch  zu  gehören,  wenig- 
stens kommt  es  im  Vocabular  von  1482  als  Substantiv  *phan- 
tasta'  vor,  so  dass  es  zunächst  den  den  elben  anhangenden 
bezeichnete.     Die   älteren  belege  gehören   durchweg  Mittel- 


502  GOETZE 

deutschen,  Herbort  von  Fritzlar,  Rüdiger  von  Münerstadt  au 
der  Rhön,  dem  alten  Passional  an,  jetzt  ist  es  in  der  bedeutung 
*von  elben  verwirrt'  in  md.  mundarten  weit  verbreitet,  vgl. 
Grimm,  Myth.*  412.  Schambach.  Zs.  fdm.  5, 472,  doch  auch  obd. 
Zs.  fdm.  4, 40.  Staub-Tobler  1, 186. 

21.  Entschieden  md.  herkunft  sind  folgende  adjectiva  auf 
-isch,  die  einen  vergleich  enthalten:  bettlerisch  und  hettelisch 
bei  Lexer,  Stieler,  Luther,  Fischart,  Sachs,  sammt  den  ablei- 
tungen  hettelsäckisch  *  dürftig'  bei  Weise,  Erznarren  82,  und 
hettelschamisch  'sich  des  betteis  schämend'  Garg.  299,  ohne 
Umlaut  und  daher  wol  vom  Substantiv.  —  diebisch  verdrängte 
von  Mitteldeutschland  aus  das  mhd.  dieplich,  das  bei  Luther 
nur  noch  vereinzelt  als  adverb,  als  adjectiv  überhaupt  nicht 
mehr  vorkommt.  Er  hat  das  im  15.  jh.  gebildete  diebisch  — 
älter  wirds  wegen  des  fehlens  der  brechung  nicht  sein  —  in 
die  Schriftsprache  eingeführt,  doch  auch  schon  früh  im  obd.: 
Murner,  Schelmenzunft  26, 20.  29, 12  (1512).  An  den  adel  42. 
Dasypodius  1535.  Maaler  1561,  viel  häufiger  aber  bei  Mittel- 
deutschen: Sachs,  Fastn.  1, 130.  6,51.  7,  34.  95.  Schwanke  1, 
31.  364.  2,53.  516.  600,  hier  übertragen  'heimlich'  2,83  (zu 
dieser  Verwendung  leitet  die  des  unübertragnen  adverbs  über : 
das  ir  mir  wölt  den  enspan  mein  so  diebisch  tragen  aus  dem 
haus  1,364)  und  diebischer  Verräter  'böse wicht'  1,109  in  ganz 
allgemeiner  bedeutung  Fischart,  Bienenk.  215  a.  238  b.  M.  Hay- 
neccius,  Hans  Pfriem  v.  1833.  1852. 2361.  Grimmeishausen,  Simpl. 
117.  177.  675.  Keuscher  Joseph  2.  Kalender  Kurz  4, 252.  Beson- 
ders deutlich  ist  die  vergleichung  in  der  häufigen  wendung 
diebischer  weis  zu  erkennen  Simpl.  594.  717.  Vögeln.  1,  12.  17. 
2,  Privilegia  und  25.  Participiale  auffassung  des  Wortes  ver- 
raten hingegen  Fischarts  Zusammensetzungen  blutdiebisch  'blut- 
stehlend' Flöhhaz,  Überschrift  vor  v.  893  und  nachtdiebisch  Garg. 
91.  —  läppisch  zeigt  in  seiner  form  nd.  Ursprung;  auf  hd. 
boden  kommt  es  zuerst  bei  Heinrich  von  Wittenweiler  vor, 
mit  starker  erinnerung  daran  bei  Sachs,  Schwanke  1,  588, 
beide  male  daneben  der  dorfname  Lappenhausen.  Seine  Ver- 
breitung verdankt  das  wort  also  wol  der  satirik  des  15.  16.  jh.'s; 
ein  bild  von  seiner  Verbreitung  in  den  mundarten  ist  schwer 
zu  gewinnen;  jedenfalls  gehört  es  im  nmd.  zu  den  häufigsten 
adjectiven  auf  -isch.    Einzelne  belege:   Spiessches  Faustbuch 


ZÜB  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF   -ISCH.  503 

von  1587, 129.  Fischart,  ßienenk.  230  a.  Praktik  18.31.  Neithart 
Fuchs  (um  1500)  v.  227.  2332.  23ß0.  Grimmeishausen,  Simpl. 
495.  Galgenmänlin  Kurz  4,  293.  Sachs,  Fastn.  5, 140.  146. 
Schwanke  2,  399,  In  Chr.  Reuters  lustspiel  von  der  Ehrlichen 
frau  (1695)  heisst  ein  hippen junge  so.  —  närrisch  steht  zuerst 
in  Heinrichs  von  Freiberg  Tristan.  Von  ihm  gilt  das  über 
läppisch  gesagte  fast  noch  mehr.  Es  ist  gewis,  dass  das  wort 
im  md.  viel  fester  wurzelt  als  im  obd.,  wo  es  mit  narreht  und 
dessen  nachkommen  das  gebiet  teilen  muss,  aber  dank  dem 
obd.  Charakter  der  narrenliteratur  lässt  es  sich  in  älterer  zeit 
für  Oberdeutschland  viel  öfter  belegen.  Eine  grössere  be- 
deutungsentwicklung  hat  es  dagegen  nur  im  md.  erlebt.  Zu- 
nächst ist  der  sinn  viel  milder  geworden,  wie  in  der  ganzen 
Wortsippe.  Femer  ist,  da  oft  der  zornige  narr  seh  genannt 
wurde,  unser  wort  in  einigen  gegenden  Mitteldeutschlands  zu- 
nächst in  prädicativer  Stellung  zu  *  reizbar'  geworden,  vgl.  Zs. 
fdm.  3, 267  und  Woeste,  Westf.  wb. 

22.  Noch  auffälliger  als  bei  diesen  vergleichenden  adjec- 
tiven  ist  die  md.  herkunft  bei  denen  die  bis  zu  partici  pialer 
bedeutung  durchgedrungen  sind.  —  argwöhnisch  ist  in  md. 
form  und  bedeutung  schriftsprachlich  geworden:  schwäbisch 
arcJcweinisch  heisst  z.  b.  in  Augsburger  Chroniken  des  16.  jh.'s 
(Städtechroniken  23, 162.  165.  238)  'verdächtig,  beargwöhnt', 
ebenso  bei  Th.  Platter  und  im  Vocabularius  von  1482,  so  dass 
man  zur  erklärung  des  nhd.  wortes  einen  starken  druck  von 
Mitteldeutschland  her  annehmen  muss.  Vgl.  Sachs,  Fastn.  6, 
146.  Schwanke  2,  26.  Grimmeishausen,  Simpl.  223.  Vogelnest 
2,4.  Keuscher  Joseph  10.  —  grämisch  *  feindselig'  in  Kirch- 
bergs Chronik,  also  aus  der  wendung  *  einem  gram  sein'  ge- 
bildet {sich  ergrämsen  'sich  erzürnen'  K.  G.  Anton,  Verzeich- 
nis oberlaus.  Wörter  8,  5),  später  'grämlich'  Sachs,  Fastn.  1, 
143.  Simpl.  465.  Vögeln.  2, 8.  21.  sieben  grümische,  grämische 
böhmische  polnische  beUelleut  Dunger,  Kinderlieder  und  kinder- 
spiele  aus  dem  Vogtlande  ^  132.  Das  wort  ist  nie  über  md. 
gebiet  hinausgekommen,  ebensowenig  die  jüngere  bildung  gries- 
grämisch,  —  hämisch  ist  nach  Kluges  Et.  wb.<*  ebenfalls  md., 
wenn  aber  Kluge  hier  angibt,  das  wort  trete  zuerst  im  15.  jh. 
in  Mitteldeutschland  auf,  so  wird  er  durch  Lexer  widerlegt, 
der  es  für  Heinrich  von  Freiberg  (um  1300)  und  Nicolaus  von 


504  GOETZE 

Jeroschin  (nach  1355),  zugleich  aber  auch  für  Oberdeutsche 
wie  Ottokar  von  Steier  (um  1309;  im  steirischen  des  15.jh.'s 
auch  hemischheit),  den  sog.  Seifried  Helbling  (1290 — 98)  und 
Oswald  von  Wolkenstein  (1367 — 1445)  belegt.  In  den  nd. 
Wörterbüchern  kommt  es  nirgends  vor;  für  'hinterlistig'  gibt 
es  hier  reichlich  ersatz  in  den  weitverbreiteten  Wörtern  fUnisch 
und  glupisch,  nücksch  und  luurhaftig  (Adelung  2,  731.  932.  1080. 
Woeste  305.  Schambach  65.  259.  283.  Mi  21.  24.  27.  Danneü 
58.  65.  Weinhold  28.  Müllenhoff  zu  Klaus  Groths  Quickbom^i 
284).  Dagegen  ist  hämisch  in  obd.  mundarten  weit  verbreitet : 
für  Baiem  belegt  es  Schmeller  von  Sachs  (auch  Fastn.  1, 139. 
2,  7.  3,  94.  7,  98.  Schwanke  1,  25.  153.  482.  2,  32.  430.  622) 
bis  auf  die  gegenwart,  noch  früher  ist  es  durch  Oswald  von 
Wolkenstein  für  Tirol  bezeugt,  während  es  Zs.  fdm.  5, 447  für 
die  jetzige  Etschtalmundart  belegt  wird.  Im  Nordböhmischen 
ist  es  jetzt  gleichfalls  geläufig,  vgl.  Knothe,  Markersdorfer  ma., 
und  so  steht  eigentlich  nichts  als  der  beleg  aus  Jeroschin  der 
annähme  im  wege,  dass  hämisch  ein  altes  bairisch-fränkisches 
wort  sei,  das  Luther  (z.  b.  Fabeln  7  d.  n.)  adoptiert  und  in  md. 
form  in  die  nhd.  Schriftsprache  eingeführt  habe.  Bei  obd,  Ur- 
sprung ist  es  aber  unwahrscheinlich,  dass  hämisch  mit  heimisch 
zusammenfällt,  wie  Kluge  und  Paul  in  ihren  Wörterbüchern 
vermuten:  bairisch  hämisch  fällt  nicht  mit  hoamisch  zusammen, 
vielmehr  wird  hämisch,  wie  Lexer  im  mhd.,  Heyne  im  DWb. 
und  Wilmanns  in  seiner  Grammatik  annehmen,  zum  stamme 
ham,  spec.  zu  mhd.  Jiem  'zu  schaden  beflissen,  aufsässig'  ge- 
hören, in  dem  also  der  begriff  des  heimlichen  schon  von  dem 
des  böswilligen  zurückgedrängt  war,  als  das  adjectiv  auf  -isch 
davon  abgeleitet  wurde.  Wider  eine  andere  bedeutungs- 
entwicklung  zeigt  schw.  hem^k  *  schauerlich,  düster'.  Später 
ist  dann  freilich  hämisch  oft  mit  heimisch  vermischt  worden: 
heimisch  erscheint  in  der  bedeutung  von  'boshaft'  bei  dem 
Thüringer  Jonas  (Nordhausen  1546),  dem  Sachsen  Musculus 
(Frankfurt  an  der  Oder  1564),  dem  Franken  Eyring  (Witten- 
berg 1725),  sowie  bei  den  Oberdeutschen  Frank  (Tübingen 
1534)  und  Scheidenreiszer  (Augsburg  1838),  umgekehrt  hämisch 
bei  Sachs  in  der  bedeutung  'versteckt',  Und  gerade  Sachs 
kann  uns  zeigen,  wie  man  dazu  gekommen  ist,  hämisch  zu 
'heimlich  boshaft'  zu  machen:  zunächst  braucht  er  das  wort 


ZÜB  GESCHICHTE  DBB  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  505 

für  *  boshaft'  ganz  ohne  den  begriff  der  heimlichkeit:  pöcJcisch, 
mutwillig,  hösz  vnd  heunisch  hemisch,  muncket  vnd  wetterleunisch 
Schwanke  1,  25;  siehst  nit,  wie  sieht  dein  man  so  heunisch, 
tücTciseh,  hemiseh  vnd  wetterleuniseh  Fastn.  3, 94;  darnach  ver- 
maint  der  hemisch  dropff  den  poeJc  gewislich  ^v  erdappen 
Schwanke  2, 622  von  einem  wolfe.  Oefter  tritt  dann  neben 
hämisch  ein  wort,  das  den  begriff  des  heimlichen  dazubringt: 
den  schmaichler,  gleisner  vnd  den  hewchler,  den  duechischen, 
hemischen  meuchler  Fastn.  2,  7 ;  auf  das  hemischt  vnd  duecMscht 
wol  Schwanke  2, 32,  oft  in  der  Verbindung  hemische  duck  Fastn. 
1, 139.  Schwanke  1, 482.  2, 430.  Und  schliesslich  kann  dieses 
wort  auch  fehlen,  ohne  dass  der  begriff  des  heimlichen  mit 
verschwände:  wer  prauchet  vil  hemischer  stuecJc  vnd  fieisset  sich 
neidischer  dueck  Schwanke  1, 153.  Hier  ist  wol  nur  des  reimes 
wegen  die  gewohnte  Verbindung  aufgegeben  worden.  Statt 
hemischer  duck  steht  bei  anderen  heimtücke,  dazu  haben  die 
Mitteldeutschen  Fischart,  Grimmeishausen  (Simpl.  511)  und 
Stieler  das  adjectiv  heimtückisch.  Lessing  und  noch  Adelung 
2,1080  schreiben  dafür  hämtückisch,  indem  sie  sich  das  wort 
zu  deuten  versuchen.  —  hederisch  'zänkisch',  von  hader,  ist 
wenigstens  vorwiegend  md.,  zu  den  belegen  des  DWb.  Müntzer, 
von'ede  zum  neudruck  der  Schutzrede  x.  Sachs,  Schwanke  1, 206. 
2, 470.  538.  In  Kehreins  Grammatik  2^,  86  aus  Hugens  Eetho- 
rica,  Tübingen  1528.  —  höhnisch  ist  sicher  md.  herkunft.  Zu- 
erst kommt  es  gegen  1290  bei  einem  Franken,  Eüdeger  dem 
Hunchover,  dann  bei  Luther  vor,  und  Petri  muss  in  seinem 
Bibelglossar,  Basel  1523,  seinen  obd.  lesern  honen  mit  spotten, 
schmähen,  sehenden  erklären.  Sachs  hat  das  wort  erst  seit 
1559:  Schwanke  2, 127.  303.  380.  584.  Fischart  1576  im  Glück- 
hafften  schiff,  Kehrab  v.226  und  1581  im  Bienenk.  126  a.  Bei 
Grimmeishausen  z.b.  Teutscher  Michel  7.  Springinsfeld  1.  Simpl. 
1.  continuatio,  bei  Chr.  Eeuter  Schelmuffsky  B  15.  25. 116  d.  n., 
bei  Zachariae,  Poet.  Schriften  1765,  1,60.  164.  —  klaffisch, 
klefßsch  von  klaffe  'geschwätz'  ist  niemals  im  obd.  fest  ge- 
worden, dagegen  kleppisch  im  nd.  sehr  häufig.  Zuerst  tritt 
das  wort  in  Hugos  Eenner  auf,  dann  in  Megenbergs  Buch  der 
natur  und  im  Königsberger  Passional,  öfters  auch  in  alten 
bibeln,  vgl.  Kehrein,  Gramm.  2\  86  und  DWb.  unter  fUrnehmisch. 
—  kriegisch,  zuerst  im  Eenner  des  Franken  Hugo  von  Trim- 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  tprache,    XXIV.  g3 


506  OOETZB 

berg,  hat  schon  hier  die  bedeutung  der  herkunft  verloren, 
denn  es  heisst  'trotzig,  streitsüchtig'.  Es  kehrt  dann  bei  Al- 
brecht von  Eyb  wider,  der  in  Eichstedt  in  Mittelfranken  dom- 
herr  war,  femer  bei  Luther  und  Opitz,  aber  früh  ist  es  auch 
ins  obd.  gedrungen:  es  steht  in  dem  vor  1487  in  Baiem  ent- 
standenen Salman  und  Markolf  v.  264,  bei  Keisersberg,  in  einem 
Berner  fastnachtsspiel  von  1522  sowie  bei  Frisius  und  Maaler. 
Möglicherweise  hat  aber  das  wort  keine  selbständige  bedeutungs- 
geschichte,  sondern  ist  zu  hrieg  gebildet  wie  bellkus  zu  bellum. 
In  der  späteren  spräche  kommt  es  übrigens  auch  ohne  tadel 
vor,  so  bei  Murner,  Geuchmatt  v.  2370.  H.  R.  Manuel,  Weinspiel 
(1548)  V.3331.  Fischart,  Bienenk.  255  a.  Jesuiterhütlein  v.  592. 
Glückhafft  schiff,  Kehrab  v.  420.  —  mördisch  ist  schon  vor 
1122  in  der  ad.  Genesis  bezeugt,  dann  im  liederbuch  der  Hätz- 
lerin,  im  Renner  und  in  Kirchbergs  chronik.  1360  findet  es 
sich  in  einer  Nürnberger  chronik,  1489  bei  Heinrich  von  Mügeln, 
nicht  selten  bei  Luther  und  Sachs  (ohne  Übertragung  Schwanke 
1,466).  Es  ist  also  ganz  md.  und  hier  viel  gebraucht,  denn 
es  hat  schon  früh  eine  starke  abblassung  erfahren;  schon  im 
Renner  kann  man  es  bisweilen  für  eine  blosse  Verstärkung 
halten:  dv  machest  vil  mördisch  vhel  leut  4829,  we  weih  ein 
mordisch  diep  du  bist  7015,  so  hiez  der  mördisch  vbel  man  14253. 
Jetzt  ist  mordsch  in  diesem  sinne  weit  verbreitet,  vgl.  Scham- 
bach, Mi.  Im  nhd.  ist  mördisch  in  diesem  sinne  wie  sonst 
auch  von  mörderisch  abgelöst  worden,  das  gleichfalls  zuerst 
im  md.  auftritt.  Der  erste  beleg  ist  eine  Variante  zu  der  eben 
erwähnten  Nürnberger  chronik;  Luther  gebraucht  in  späteren 
Jahren,  etwa  seit  1530,  mörderisch,  wo  er  früher  mördisch  ge- 
setzt hatte,  andre  schon  etwas  früher:  Mumer,  An  den  adel 
13  d.  n.  (1520).  Müntzer,  Schutzrede  30. 34  (1524).  Ickelschamer, 
Clag  etlicher  brüder  53  (1525).  Ganz  fest  ist  es  bei  den  spä- 
teren: Fischart,  Bienenk.  238  a.  Hayneccius,  Hans  Pfriem  v.1457. 
Grimmeishausen,  Simpl.  490.  Courage  3.  Keuscher  Joseph  4. 
Musai  2.  Ebenso  als  Verstärkung:  Zs.  fdm.  2, 192  (aus  Nürnberg 
und  Koburg)  und  dän.  morderisk  Md.  ist  natürlich  auch 
meuchelmördisch  und  -mörderisch  (dies  bei  Grimmeishausen, 
Keuscher  Joseph  1,  zusatz  und  beim  jungen  Goethe  3,  428), 
muss  doch  Petris  bibelglossar,  Basel  1523,  Luthers  meüchel- 
mörder  mit  heimlich  mörder,  das  Nürnberger  glossar  von  1526 


ZUR  GESCHICHTE  DBB  ADJECTIVA   AUF  -ISCH,  507 

Luthers  meucheln  mit  heymlieh  tviegen  erklären.  —  neidisch 
kommt  zuerst  bei  Eilhart  von  Oberge  und  Hugo  von  Trimberg 
vor,  es  ist  zugleich  nnl.,  dänisch  und  schwedisch,  und  schon 
Lexer  macht  im  DWb.  auf  die  md.  herkunft  aufmerksam. 
Früh  hat  es  sich  über  ganz  Deutschland  verbreitet:  Brant, 
Narrenschiff  57,  65.  64,  59.  69,  25.  Sachs,  Fastn.  1,  28.  104. 
Schwanke  1, 153.  198.  264.  381.  2,  592.  Frisius  und  Maaler. 
Scheidt,  Grobianus  137.  Fischart,  Bienenk.  254  a.  Glückhaff t 
schiff,  Kehrab  v.  581  und  nach  858.  Grimmeishausen,  Simpl. 
anhang  (Kögel  s.  590).  Zachariae,  Poet.  Schriften  1765,  1,176. 
184.  250.  264.  —  räubisch  erscheint  zuerst  mit  tadel  im  md. 
Leben  des  heiligen  Ludwig,  in  J.Rothes  Ritterspiegel  und  in 
Kirchbergs  Chronik,  auch  später  vorwiegend  bei  Mitteldeutschen: 
Alberus,  Fabeln  9,  v.  25.  Flöhhaz  v.  1208.  Ueber  Sachs  s.  s.  499. 
Ebenso  sind  die  belege  für  räuberisch  md.,  zu  denen  des  DWb. 
Grimmeishausen,  Vögeln.  1, 2.  Keuscher  Joseph  8.  —  spöttisch 
tritt  zuerst  bei  Konrad  von  Megenberg  auf,  und  zwar,  wie 
diese  adjectiva  mit  participialer  bedeutung  oft,  als  adverb. 
Nhd.  belege:  Th.  Müntzer,  Schutzrede  37.  Agricola,  Auslegung 
vom  19.  psalme  (s.  den  neudruck  von  Luthers  Auffrurischem 
geyst  41, 1525).  Sachs,  Fastn.  7, 157. 159.  Schwanke  2,  303.  312. 
378.  Fischart,  Bienenk.  172  b.  Peter  von  Stauffenberg  v.  444. 
Grimmeishausen,  Simpl.  139.  Springinsfeld  13.  Vögeln.  2, 12. 
Zachariae,  Poet.  Schriften  1765,  1, 33.  39.  62.  2,  92.  Aus  dem 
nhd.  ist  das  wort  ins  dänische  und  schwedische  gedrungen.  — 
tämisch  wird  von  den  md.  idiotiken  für  Posen,  Schlesien,  die 
Oberlausitz,  Böhmen,  Baiem,  Henneberg,  den  Westerwald, 
Nordwürtemberg  und  die  Pfalz  bezeugt.  Mitteldeutsche  wie 
Weise,  Grimmeishausen  (Keuscher  Joseph  15),  Gryphius  (Ge- 
liebte dornrose,  Palm  257),  Goethe  und  Musäus  verwenden  es. 
Als  tämisch  ist  es  in  Baiern  altheimisch,  sogar  bei  dem  Tiroler 
Oswald  von  Wolkenstein  kommt  es  schon  vor.  Aus  Schlesien 
(Weinhold,  Beiträge  zu  einem  schles.  wb.  WSB.  1854  f.  anhänge. 
Zs.  fdm.  4, 165.  Zs.  fdph.  26, 252)  ist  es  nach  Mähren  und  Nord- 
böhmen gelangt  (Knothe,  Markersdorfer  ma.  Zs.  fdm.  5, 465.  478); 
von  Baiern  nach  Kärnten  (Lexer,  Kämt.  wb.).  Ueberall  be- 
deutet es  zuerst  *  schwindlig,  betäubt',  dann  *  närrisch,  dumm', 
und  endlich  ist  es  zur  einfachen  Verstärkung  geworden,  in 
Sommers  Bildern  und  klängen  aus  Rudolstadt  (2^,  62  z.  b.)  wie 

83* 


508  GOBTZE 

im  bairischen,  in  Kärnten  wie  bei  Fr.  Reuter.  Der  Übergang 
mag  sich  in  Wendungen  wie  einen  tämisch  schlagen  vollzogen 
haben,  wo  tämisch  ursprunglich  acc.  des  resultats  war,  aber 
als  adverb  aufgefasst  wurde.  Dem  bairisch-österr.  eigentum- 
lich ist  die  entwicklung  über  'närrisch'  (s.  das.)  zu  *  aufbrausend, 
zornig'  Zs.  fdm.  4, 340.  6, 272.  Schmeller  1, 603.  —  tüchisch  be- 
legt Lexer  vorwiegend  aus  Franken;  zuerst  freilich  kommt  es 
in  des  Alemannen  Anthonius  von  Phor  Buch  der  gleichnisse 
vor,  dann  auch  bei  Mumer,  An  den  adel  41  d.  n.  Narrenbeschw. 
16,  y.  8  und  Maaler.  Die  mehrzahl  der  belege  ist  aber  doch 
md.,  sowol  für  die  mundarten,  vgl.  Schmeller.  Zs.  fdm.  3,  406. 
Weinhold,  Beiträge  zu  einem  schles.  wb.  101  a.  Holtei,  Schles. 
gedichte,  ausgäbe  letzter  hand  101.  246.  334  u.  ö.,  als  auch  für 
die  Schriftsprache:  Luther.  Müntzer,  Schutzrede  39.  Sachs, 
Hürnen  Seufried  v.  1140.  Fastn.  1, 49.  106  u.  o.  Fischart,  Jesu- 
iterhütlein  v.  9.  Grimmeishausen,  Simpl.  332.  619.  Zachariae, 
Poet.  Schriften  1765,  1, 62.  —  hintertückisch,  jetzt  im  sächsi- 
schen gebräuchlich,  ist  wol  eine  contaminationsbildung  aus 
hinterlistig  und  heimtückisch.  In  einer  Tiroler  volkserzählung, 
Der  pfannenflicker,  von  Karl  Wolf,  Gartenlaube  1897,  s.  700, 
wird  von  hintertückischen  Preussen  gesprochen  wegen  der 
hinterlader  die  sie  im  kriege  von  1866  hatten  (tücken  also  = 
'stossen'),  und  auch  das  gegenstück  vordertückisch  gewagt. 
Eine  andere  Zusammensetzung  ist  hlasztückisch  'betrüglich', 
bei  Luther  1522.  —  vorteilisch  ist  in  der  bedeutung  'auf  un- 
redlichen gewinn  bedacht'  nur  aus  Mitteldeutschland  zu  be- 
legen, Luther  hat  es  Maleachi  1, 14,  Sachs,  Schwanke  1,  335. 
Auch  das  verbum  vorteilen,  Sachs,  Fastn.  1, 89  und  verforteilen 
1,92  scheint  nur  md.  zu  sein,  ebenso  vorteilhaftig,  z.  b.  bei 
Grimmeishausen,  Keuscher  Joseph  2.  —  wucherisch,  zuerst  in 
einer  Nürnberger  chronik  vor  1488,  erscheint  bei  Stieler  ohne 
tadel.  Ausserhalb  des  md.  ist  das  wort  nicht  zu  belegen.  — 
ssänkisch,  dessen  grundwort  Weigand  in  seinem  Wörterbuch 
für  Mitteldeutschland  in  ansprach  nimmt,  tritt  von  anfang  an 
in  participialem  sinne  auf.  Zuerst  steht  es  im  cölnischen  Voca- 
bularius  theutonista  von  1475  und  im  Arnstädter  rechtsbuch, 
dann  bei  Luther,  z.  b.  Eömer  2,  8.  Sachs,  Fastn.  4,  50.  112. 
127.  6, 111.  7, 35.  135.  Schwanke  1, 135.  136.  170.  201.  273. 
2, 6.  7.  26  u.  ö.,   bei  dem  Hessen  Alberus  und  in  der  wetter- 


ZUR  GBSCHICHTB  DBB  ADJBCTIVA  AUF  -ISCH.  509 

auischen  Leyen  disputa,   sowie  bei  Fischart,  Praktik  18  und 
Hayneccius,  Hans  Pfriem  s.  8  d.  n. 

23.  So  haben  wir  für  einen  teil  der  vergleichenden  adjec- 
tiva  auf  -isch  und  die  wichtigsten  von  denen  mit  participialer 
bedeutung  den  md.  Ursprung  im  einzelnen  gezeigt;  für  die 
ältesten  beispiele  mag  es  die  folgende  Übersicht  tun:  Lexer 
verzeichnet  aus  mhd.  quellen,  abgesehen  von  fremd  Worten, 
ableitungen  von  orts-  und  personennamen  und  Substantivierungen 
aus  ahd.  zeit,  113  adjectiva  auf  -isch  (-esch),  die  zu  gleichen 
teilen  aus  obd.  und  md.  quellen  stammen.  Vergleichend  sind  43, 
davon  enthalten  26  einen  tadel,  und  von  diesen  26  stammen 
ausschliesslich  aus  md.  oder  von  Mitteldeutschland  her  beein- 
flussten  quellen  11.  Zu  participialer  bedeutung  sind  34  durch- 
gedrungen; diese  sind  bis  auf  3,  girisch,  tcepisch  und  tückisch, 
nur  aus  md.  quellen  belegt. 

24.  Schon  in  md.  zeit  sind  auch  die  fremden  adjectiva 
auf  'isch  mit  tadel  meist  md.  und  umgekehrt  die  in  Mittel- 
deutschland Üblichen  meist  tadelnd,  so  auch  fast  alle  die  Luther 
gebraucht,  z.b.  aZ/few^^'^cÄ  täppisch';  bacchantisch  *  unverständig', 
so  auch  bei  Stieler;  curtisanisch;  epikurisch  *  ungläubig',  s.  no.8; 
fantastisch,  zugleich  obd. :  Petri  benutzt  in  seinem  Bibelglossar, 
Basel  1523,  fanteschtisch  zur  erklärung  von  Luthers  alher\  Tcar- 
dinälisch:  mit  solchen  cardinelischen,  wetterwendischen,  meuchel 
warten  Wider  Hans  Worst  58  d.  n.;  auch  bei  Seume,  Spazier- 
gang 13, 154  hat  kardinalisch  nicht  den  besten  sinn;  launisch, 
auch  bei  Sachs,  Fastn.  1, 143.  7,  87.  Schwanke  1,  381.  492, 
danach  bei  Hayneccius,  Hans  Pfriem  v.  823  als  leunisch\  par- 
teiisch, vor  Luther  nur  im  Nürnberger  Vocabularius  von  1482; 
pestilenzisch,  bald  nach  Luther  auch  bei  Oberdeutschen  wie 
Maaler,  vgl.  auch  Kluge,  Von  Luther  bis  Lessing  46.  Germ. 
28,395.  29,389,  wo  sich,  wie  auch  in  den  übrigen  beitragen 
Gomberts  zur  altersbestimmung  nhd.  wortformen  gerade  für 
fremdworte  viele  alte  nachweise  finden;  phariseisch  'heuchle- 
risch' Von  dem  auffrürischen  geist  12.  Müntzer,  Schutzrede  20. 
Ickelschamer,  Clag45;  sophistisch;  tyrannisch,  auchickelschamer, 
Clag  47.  53.  Sachs,  Fastn.  1, 33.  4, 113.  Schwanke  1, 399.  2, 128. 
129.  629.  Alberus,  Fabeln  no.  21,  v.  36.  96.  132.  Grimmeishausen, 
Simpl.  44.  52.  Springinsfeld  4;  vgl.  DWb.  unter  mördisch  und 
mordlich;  altvetteUsch  fabel,  von  Petri  mit  alter  weyher  märlin 


510  GOETZE 

erklärt,  später  bei  Dasypodius  und  danach  bei  Frisch.    Erst 
aus  altvettelisch  hat  wol  Stieler  sein  vettelisch  gebildet. 

Ohne  tadel  sind  von  Luthers  fremden  adjectiven  nur 
wenige  und  nur  solche  die  er  nicht  frei,  sondern  genau  nach 
lat.  Vorbildern  geschaffen  hat;  so  das  häufige  evangelisch,  das 
schon  500  jähre  früher  Notker  und  der  Wessobrunner  prediger 
dem  lat.  evangeltcus  nachgebildet  hatten,  und  apostolisch. 
Diese  häufigen  Wörter  haben  dann  wider  anderen,  wie  evan- 
gelistisch und  new  testamentisch  (Dietz  unter  evangelisch)  zum 
Vorbild  gedient,  biblisch  fehlt  auffällig  genug  bei  Luther, 
offenbar  weil  er  zu  dieser  bildung  keinen  anhält  im  lat.  fand, 
denn  mlat.  Ublicus  war  Substantiv  und  nur  in  Paris  gebräuch- 
lich, und  weil  sein  Sprachgefühl  eine  bildung  dieser  art,  rein 
aus  dem  deutschen  heraus,  schon  verlernt  hatte.  Dem  Ober- 
deutschen Ickelschamer  war  sie  noch  möglich,  s.  Clag  49.  Wie 
sehr  aber  der  Mitteldeutsche  jener  zeit  für  solche  bildungen 
eines  fremden  Vorbilds  bedurfte,  zeigt  Alberus,  der  in  seinem 
Dictionar  zur  rechtfertigung  des  seit  1520  gewagten  endchris- 
tisch  ein  antichristicus  erfindet. 

Md.  sind  ursprünglich  auch  einige  andere  tadelnde  adjec- 
tiva  auf  -isch:  abenteurisch,  als  aventiurisch  in  einer  Kölner 
Chronik  von  1499,  als  ebentheuwerisch  in  Kehreins  Gramm.  2^,  86 
aus  Aventin  belegt,  als  abenteurisch  oft  bei  Sachs,  Schwanke 
1, 302.  379.  549.  552.  2, 489  und  danach  bei  Hayneccius,  Hans 
Pfriem  v.  693,  durchweg  in  der  bedeutung  'seltsam'.  —  rebel- 
lisch,  in  schrift  und  mundarten  nur  md.,  und  hier  zu  der  be- 
deutung 'unruhig'  abgeschwächt:  Albrecht,  Leipziger  ma.  Grimms 
Märchen  no.82  (aus  Weitra  in  Deutschböhmen).  Grimmeishausen, 
Courage  23.  28.  Simpl.  107.  620.  713.  Zachariae,  Poet.  Schriften 
(1765)  1, 45.  235.  —  barbarisch,  Lexer  im  nachtrag.  Grimmels- 
hausen,  Teutscher  Michel  1.  Simpl.  1.  continuatio  (Keller  1012) 
von  Türken,  Keuscher  Joseph  6  und  Musai  5  von  Beduinen. 
Stieler.  —  melancholisch  Fischart,  Praktik  8.  15.  Spiessches 
Faustbuch  von  1587,  39. 113.  Simpl.  202.  539.  642.  Vögeln.  2, 1. 
5.  8.  Auch  die  entstellung  maulhenkolisch  ist  vorwiegend  md. 
(zu  den  belegen  des  DWb.  noch  Courage  5.  Vögeln.  2,  vorr.),  und 
in  Mitteldeutschland  hat  sie  sich  so  festgesetzt,  dass  sie  kaum 
noch  verstanden  wurde;  so  sagt  K.  G.  Anton  im  Verz.  oberlaus. 
Wörter  2, 11  (1826):  maulhängolisch,  s.  v.  a.  verdrossen.    Es  ist 


ZUR  GBSCmCHTB  DEB  ADJBCTIVA  AUF  -ISCH.  511 

entweder  von  maulhängen  gebildet,  oder  wahrscheinlicher  aus 
melancholisch  verderbt,  aber  10,5  (1837):  manJcolsch  ist  nur 
verderbt  aus  melancholisch,  was  es  auch  heissen  soll.  Wencel 
Scherffer  hat  dafür  melampisch,  s.  Paul  Drechsler,  Wencel 
Scherffer  180.  —  schmarot^erisch,  ausser  bei  Keisersberg  nur 
bei  Mitteldeutschen. 

Andere  sind  ganz  auf  die  mundart  beschränkt  geblieben, 
so  Ugottisch  bei  Albrecht;  feninsch  bei  Schambach,  Danneil, 
Dähnert,  Mi,  und  das  daraus  zusammengezogene  fünsch,  das. 
und  Zs.  fdm.  2, 318;  hassardisch  von  franz.  haza/rd,  aber  mit  dem 
gedanken  an  hass  und  daher  'feindselig'  Eeinwald.  Vilmar. 
Schmeller;  JcraJceelisch  Stieler.  Dähnert,  als  JcrajoelsJc  Zs.  fdm. 
6,217  aus  Lippe;  liberalisch  Albrecht;  bei  Reinwald  'von  frauen- 
zimmem,  freigebig  mit  ihrer  gunst';  o65fma^i5c&  Woeste.  Dan- 
neil. Mi.  Albrecht.  Zs.  fdm.  5,  296;  schawernacJcsch  auch  nd.: 
Reuter,  Franzosentid»  203. 

Dann  auch  einige  die  zur  blossen  Verstärkung  geworden 
sind,  wie  kannibalisch,  auch  entstellt  zu  galvanisch  Polle,  Wie 
denkt  das  volk  über  die  spräche  ^  45,  Jcalaboarsch  Danneil, 
calaberisch  Zs.  fdm.  6, 118  (dies  obd.);  Jcapitalisch,  eine  md.  er- 
weiterung  zu  dem  weiter  verbreiteten  steigernden  Jcapital,  vgl. 
Schmids  Schwab,  wb.;  mordialisch  Alhrecht  Zs.fdm.  2, 192  aus 
Nürnberg  und  Koburg,  3, 134  aus  dem  Hennebergischen,  5, 505 
aus  Pressburg,  und  namentlich  die  ableitungen  von  sacrament: 
schlappermentsch  Gryphius,  saJcJcermentsch  Holtei,  Schlesische 
ged.  463,  aber  auch  die  obd.  sakrisch  Zs.  fdm.  3, 185.  5, 103.  252. 
6, 197.  510  und  sappermentisch  Hebel,  Alem.  ged.  (Werke  1834, 
2, 13)  und  endlich  malefi^fisch,  bei  Lexer  und  im  DWb.  aus 
Oesterreich  und  Tirol,  bei  Schmeller  aus  Baiern  belegt. 

Die  für  die  deutschen  adjectiva  auf  -isch  aufgestellten 
bedeutungsklassen  treffen  für  diese  fremdworte  nicht  zu,  denn 
die  sind  den  adjectiven  auf  lat.  -icus  nachgebildet  und  be- 
zeichnen demnach  die  Zugehörigkeit  überhaupt;  doch  sind 
manche  vergleichend,  so  bacchantisch,  curtisanisch,  pharisäisch, 
sophistisch,  andere  participial  geworden,  so  äbenteurisch,  rebel- 
lisch, krakeelisch,  launisch,  melancholisch  und  schmarotzerisch, 

25.  Die  fremden  adjectiva  auf  -isch  mögen  zu  einer  kurzen 
betrachtung  des  bösen  sinnes  bei  unsrer  adjectivklasse  in 
anderen  germanischen  sprachen  überleiten.    Auf  zwei  arten 


512  GOETZE 

kommt  hier  ein  böser  sinn  zu  stände,  selbständig  vom  deutschen 
oder  durch  entlehnung.  Als  beispiel  für  die  erste  art  der  ent- 
wicklung  kann  uns  das  englische  dienen,  für  die  zweite  das 
schwedische.  Im  engl,  hat,  widerum  von  den  eigennamen  ab- 
gesehen, reichlich  die  hälfte  aller  adjectiva  auf  -ish  einen 
bösen  sinn;  von  diesen  fallen  die  wenigsten  mit  deutschen  ad- 
jectiven  auf  -isch  zusammen,  wie  chüdish  mit  Tcindisch\  boorish 
mit  bäurisch]  hellish  mit  höllisch]  selfish  mit  selbstisch;  thievish 
mit  diebisch,  so  dass  man  nicht  genötigt  ist,  aus  sprachverglei- 
chenden gründen  ein  höheres  alter  des  bösen  Sinnes  anzunehmen, 
als  wir  oben,  no.  6,  zugegeben  haben.  Die  geringe  Überein- 
stimmung beider  sprachen  erklärt  sich  vollkommen,  wenn  man 
annimmt,  dass  eben  nur  keime  dieser  entwicklung,  die  un- 
bewusste  neigung  gelegentlich  einmal  einen  gefühlswert  irgend 
welcher  art  in  ein  adjectiv  auf  -isch  zu  legen,  in  der  mutter- 
sprache  vorhanden  waren.  Ein  tiefgehender  unterschied  ist 
namentlich  der,  dass  das  engl,  keine  adjectiva  auf  -ish  mit 
participialer  bedeutung  kennt,  mit  einer  ausnähme:  snappish 
^schnippisch',  das  schon  deshalb  der  entlehnung  aus  dem  nd. 
(snappsJc)  verdächtig  ist.  Die  grosse  masse  der  engl,  adjectiva 
auf  -ish  enthält  einen  vergleich  und  ist  von  Substantiven  ab- 
geleitet: von  den  tadelnden  z.  b.  beastish  'viehisch'  von  beast; 
brutish  *  tierisch,  sinnlich,  roh',  von  brüte;  bearish  *  bärenhaft' 
von  bear;  doggish  'hündisch'  von  dog;  goatish  'geil  wie  eine  . 
ziege'  von  goat;  snaJcish  'schlangenartig'  von  snake;  churlish 
'bäurisch'  zu  churl;  clownisch  'bäurisch'  zu  clown,;  fiendish  'bos- 
haft zu  fiend;  foolish  'läppisch'  zu  fool;  foppish  'geckenhaft' 
zu  fop;  Jcnavish  'schelmisch'  zu  knave;  monJcish  'mönchisch'  zu 
monk;  rakish  'liederlich'  zu  rake;  roguish  'schurkisch'  zu  rogue; 
rompish  'ausgelassen'  zu  romp;  womanish  'weibisch'  zu  woman. 
Die  stelle  des  nhd.  -lieh  vertritt  -ish  in  ableitungen  zu  farben- 
namen  wie  blueish,  brownish,  greenish,  greyish,  reddish  und  ist 
hier  ganz  lebendig.  Einem  deutschen  adjectiv  auf  -isch  nach- 
gebildet ist  slavish,  ausserdem  stimmt  thickish  zu  thick  mit 
dem  bei  Schmeller  verzeichneten  dickisch;  bookish  'buchgelehrt' 
mit  mhd.  buochisch  überein,  ohne  dass  man  entlehnung  an- 
nehmen müsste. 

26.    Auf  dem  anderen  wege  ist  in  den   neueren  nord. 
sprachen  der  böse  sinn  in  die  adjectiva  auf  -isk  gekommen, 


zun  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH.  513 

durch  entlehnung  aus  dem  deutschen.  Ich  entnehme  die  belege 
für  diese  behauptung  dem  neuschwedischen,  weil  es  dem  nhd. 
femer  steht  als  das  dänische,  und  daher  alles  was  in  dieser 
beziehung  vom  schwed.  gilt,  auch  für  das  dän.  angenommen 
werden  dar^  der  umgekehrte  schluss  aber  unrichtig  wäre,  und 
führe  dabei  Fredrik  Tamms  abhandlung  Om  tyska  ändelser 
i  svenskan  (aus  Upsala  univ.  ärsskrift  1880)  ausführlicher  an 
als  nötig  wäre,  wenn  diese  schrift  in  Deutschland  so  bekannt 
wäre  wie  sie  es  verdient. 

Im  allgemeinen  darf  man  im  nordischen  jedes  adjectiv 
auf  'isk  für  entlehnt  halten,  denn  lautgesetzlich  hat  im  nord. 
das  Suffix  -iska-  sein  i  verloren.  In  einigen  adjectiven  auf 
-nisJcer  ist  die  regel  nicht  durchbrochen,  sondern  das  i  ist 
secundär  aus  sonantischem  n  entstanden,  ebensowenig  bedeutet 
z.b.  sundrisker  eine  ausnähme,  denn  hier  gehört  das  i  zum 
stamme,  das  wort  ist  wahrscheinlich  aus  sundriksker  zusammen- 
gezogen. Somit  ist  jedes  schw.  adjectiv  auf  Ask  entlehnt.  Doch 
nicht  jedes  auf  consonant  +  sk  ist  altheimisch,  denn  etwas 
später  als  im  nord.  fieng  das  synkopierungsgesetz  auch  im  nd. 
an  zu  wirken,  im  mnd.  war  die  synkope  nach  r,  l  und  n  durch- 
geführt, und.  und  nnl.  ist  sie  allgemein  durchgedrungen,  also 
können  derartige  adjectiva  ebenso  aus  einer  dieser  sprachen 
entlehnt  sein.  Hierher  gehören  z.  b.  djcevulsk,  himmelsk,  hätsk, 
spetelsk  aus  mnd.  düvelsch,  hetsch,  hemelsch,  spetelsch]  glupsk, 
hundsk,  luthersk,  löpsk,  spotsk  aus  nnd.  glupsch,  hundsch,  lu- 
thersch,  löpsch,  spöttsch;  kcettersk,  nidsk,  skcelmsk,  stursk  aus 
nnl.  kettersch,  nijdsch,  schelmsch,  stuursch. 

Auch  die  schw.  adjectiva  die  in  dem  i  das  kennzeichen 
der  entlehnung  tragen,  haben  im  übrigen  schw.  lautform  an- 
genommen. Eine  der  ältesten  entlehnungen  ist  afgudisk  (Tamm, 
Et.  svensk  ordbok,  Stockholm  1890  ff.);  in  aschw.  zeit  ist  ^y- 
]>isker  und  hövisker  (dazu  das  jüngere  ohöfvisk)  entlehnt  worden, 
die  grosse  masse  aber  erst  seit  dem  15.  jh.,  so  djurisk,  hednisk, 
horisky  jordisk,  nitisk,  partisk  (im  15.  jh.  partijsk),  sekterisk, 
sjelfvisk,  slafvisk.  Selten  sind  entlehnungen  aus  dem  nhd.;  das 
beste  zeichen  dafür  ist,  dass  es  ausser  luthersk  und  den  un- 
deutschen kcettersk  und  sekterisk  im  schw.  keine  adjectiva  auf 
-ersk  oder  -erisk  gibt:  förförisk,  förrädisk,  inbilsk,  krigisk, 
mordisk,  svärmisk,  upprorisk   entsprechen   noch   den  älteren 


514  GOETZE 

verführisch,  verrausch,  einbUdisch,  kriegisch,  mördisch,  schwär- 
misch,  aufrührisch,  während  das  dän.  hier  und  öfter  die  jüngeren 
formen  hat,  vgl.  ausser  förförersh :  holersh,  forbrydersJc,  hyhlersTc, 
reversJc,  trylUrisk.  Schliesslich  sind  auch  von  echt  schw.  stam- 
men adjectiva  auf  4sh  dem  deutschen  nachgebildet  worden, 
wie  helvetisk  und  hädisJc, 

Von  wirklich  schw.  adjectiven  auf  -sJc  bleiben  mit  tadel 
nur  sehr  wenige  übrig :  aschw.  dulsJcer,  glömsker,  ilzker,  HömsJcer 
=  nschw.  dolsJc,  glömsJc,  ilsh,  lömsJc:  ein  neues  zeichen  für  unsere 
behauptung,  dass  der  böse  sinn  im  germ.  erst  im  keime  vor- 
handen war. 

IL 
Zur  bildongsgeschichte  der  adjectiva  auf  -dsch. 

27.  Eine  neue  bedeutungsgruppe  pflegt  im  sprachbewusst- 
sein  einen  so  grossen  räum  einzunehmen,  dass  sie  auch  benach- 
barte teile  des  Wortschatzes  in  ihre  kreise  zieht.  So  haben 
auch  die  participialen  adjectiva  auf  -isch  einen  teil  der  älteren, 
die  herkunft  oder  einen  vergleich  bezeichnenden  adjectiva  in 
ihren  kreis  gezogen;  beispiele  genug  für  diese  entwicklung 
sind  im  ersten  teile  vorgekommen. 

Diese  neue  art  der  betrachtung  hat  nun  aber  auch  auf 
die  bildung  der  adjectiva  auf  -isch  eingewirkt.  Bei  partici- 
pialer  bedeutung  war  es  nicht  mehr  wie  bei  der  der  herkunft 
oder  des  Vergleiches  nötig,  dass  der  bildung  ein  hauptwort  zu 
gründe  lag,  vielmehr  lag  es  näher,  sie  zu  einem  verbum  zu 
stellen,  und  wir  haben  mannichfache  belege  dafür,  dass  adjec- 
tiva auf  -isch,  die  unzweifelhaft  von  Substantiven  abgeleitet 
sind,  nachträglich  zu  verben  bezogen  worden  sind,  so  aufrüh- 
risch, regnerisch,  stürmisch  und  zänkisch  von  Adelung  im  Lehr- 
gebäude der  deutschen  spräche  2, 69,  abergläubisch,  argwöhnisch, 
neidisch,  spöttisch,  tückisch,  zänkisch  von  Heyse  im  Lehrbuch 
der  deutschen  spräche  1, 565,  höhnisch  und  zänkisch  noch  1878 
von  Weigand  in  seinem  Deutschen  wb. 

28.  Eein  äusserlich  war  diese  ableitung  noch  viel  öfter 
möglich:  auch  bei  arbeitisch  (Albrecht,  Leipziger  ma.),  balMerisch 
(ausser  bei  Stieler  auch  bei  Paracelsus,  DWb.  unter  baderisch), 
bettelisch,  girisch,  röubisch,  rumorisch  (Sachs,  Schw.  2, 544.  Scheidt, 
Grobianus  112  d.  n.  Fischart,  Podagr.  trostb.  13),  täppisch  und 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ADJBCTIVA  AUF  -ISCK  515 

verrausch  konnte  man  an  o/rheiten,  halbieren,  betteln,  gern, 
rouhen,  rumoren,  tappen,  verraten  denken  so  gut  wie  an  arbeit, 
balbier,  bettele  gir,  roup,  rumor,  tappe,  verrat;  hlapperisch, 
Tcnauserisch,  meuterisch,  ölperisch,  zauberisch  (z.  b.  Fischart, 
Bienenk.63b.  237  a.  Spiessches  Faustbuch  8. 13.  25.  Grimmeis- 
hausen, Simpl.  686.  757.  Springinsfeld  6.  Vögeln.  1, 1. 12.  2,  22. 
25.  Stieler.  Zachariae,  Poet,  schritten  1765,  1, 133.  143  u.  ö.) 
konnten,  so  lange  zwei  congruente  silben  hinter  einander 
nicht  geduldet  wurden,  sowol  zu  Substantiven  auf  -rer  als  zu 
verben  auf  -em  gehören;  ganz  zweifelhaft  ist  mistrauisch,  das 
entweder  vom  verbum  oder  vom  substantivierten  int  abgeleitet 
ist.  Ott  genug  lag  es  auch  formell  näher,  an  das  verbum  zu 
denken,  z.  b.  wenn  das  zu  gründe  liegende  subst.  ausgestorben 
war,  wie  bei  lamrisch  zu  Iwuer  'spitzbube',  oder  bei  abtrün- 
nisch  zu  mhd.  abetrünne  'abfair,  oder  wenn  das  verb  mit  dem 
adjectiv  den  umlaut  gemein  hatte,  wie  a/rcwosnen  mit  arc- 
wcenisch  gegen  arcwän;  aufrühren  mit  aufruhrisch  gegen  auf- 
ruhr  (auch  bei  Fischart,  Garg.  235.  349.  Alberus,  Fabeln  10, 
V.  108);  höhnen  mit  höhnisch  gegen  höhn;  Jcleffen  mit  Jcleffisch 
gegen  klaffe;  rühmen  mit  rühmisch  gegen  rühm-;  stürmen  mit 
stürmisch  gegen  stürm  (Grimmeishausen,  Keuscher  Joseph  4. 
Stieler.  Zachariae,  Poet,  schritten  1765,  1, 143.  280,  stürmerisch 
2, 33,  dann  ott  im  stürm  und  drang:  Der  junge  Goethe  1,  91 
U.O.  Gerstenberg,  Ugolino,  Vorbemerkung  (1768).  KPh.  Moritz, 
Anton  Reiser  293.  427.  432  d.n.  [1786].  Seume,  Spaziergang  2», 
54  u.  0.  Ursprünglich  scheint  das  wort  dem  französischen  nach- 
gebildet zu  sein,  es  tritt  zuerst  in  einer  Übersetzung  des  14.  jh.'s 
[Hagen,  Gesammtab.  1, 26,  211]  auf  und  zwar  sofort  in  über- 
tragener bedeutung  wie  das  franz.  orageux;  auch  bei  Fischart, 
Garg.  235  kann  es  nachbildung  sein.  Dazu  bei  Stieler  wind- 
stürmisch);  wüten  mit  wütisch  gegen  wut  (wütnisch  im  Peter 
Leu  V.  974  [1557],  wittisch,  wüttisch  *  aufgebracht'  in  Schmids 
Schwab,  wb.  als  bairisch.  Das  rotwelsche  wittisch,  wittsch  ist 
vielleicht  durch  einen  gleichen  bedeutungsttbergang  zu  'sonder- 
bar, albern '  geworden,  wie  wir  ihn  oben  bei  närrisch  fanden). 
Es  traf  sich,  dass  in  Mitteldeutschland,  wo  der  participiale 
sinn  früher  als  im  obd.  eingetreten  war,  auch  diese  neue  ety- 
mologie  mehr  nahrung  fand,  weil  hier  die  verba  viel  öfter 
umgelauteten  stammvocal  hatten;  hier  konnte  sich  auch  aber- 


1 


516  GOETZB 

gläubisch  (nebst  dbgläubisch  bei  Luther,  femer  in  Maalers  Wb 
in  Widmanns  Faustbach,  Überschrift  zum  1.  cap.  =  Scheibles 
Kloster  2,  285  [Hamburg  1599],  bei  Grimmeishausen,  Galgen- 
männlin  1.  3.  6.  Vögeln.  2, 12  ff.  26.  Oehlinger  führt  in  seiner 
Gramm.  54  d.  n.  abergleuhisch  als  possessiuum  an,  der  Strass- 
burger  kann  eben  mit  dem  participialen  sinne  nicht  zurecht- 
kommen, aftergläubisch  Zs.  fdph.  3, 365)  zu  glauben;  mördisch 
und  meuchehnördisch  zu  morden;  tückisch  zu  tücken;  zenleisch 
zu  zenTcen  stellen. 

29.  Die  folge  dieses  Zusammentreffens  war,  dass  seit  mhd. 
zeit  neue  adjectiva  auf  -isch  nun  auch  wirklich  zu  verben  ge- 
bildet wurden.  Diese  bildung  ist  bis  auf  unsere  tage  lebendig 
geblieben  und  ist  stets  auf  Mitteldeutschland  beschränkt  ge- 
wesen. Das  ist  nicht  unwichtig  für  die  wortbildungslehre, 
denn  nach  diesem  gesichtspunkte  wird  man  in  zweifelhaften 
fällen  entscheiden  können,  ob  ein  adjectivum  auf  -isch  von 
einem  subst.  oder  einem  verbum  abgeleitet  ist.  Die  ableitung 
von  verben  hat  übrigens  ziemlich  weiten  umfang  angenommen; 
mir  sind  158  sichere  ableitungen  von  verben  bekannt,  das  sind 
—  wenn  meine  zahlen  auch  gewis  zu  klein  sind,  werden  die 
Verhältnisse  doch  etwa  stimmen  —  von  den  ableitungen  zu 
eigennamen  abgesehen,  15,5  proc.  aller  adjectiva  auf  -isch. 

39.  Die  ältesten  verbalableitungen  stehen  im  Renner  des 
Franken  Hugo  von  Trimberg,  es  sind  fümasmisch  *sich  heraus- 
nehmend, vermessen'  v.  300  und  neckisch  ^boshaft'  7087  (auch 
bei  Sachs  noch  nicht  in  dem  milden  sinne  wie  jetzt;  s.  Schwanke 
1, 342.  2, 71.  378.  382,  wo  es  'zu  derben  possen  aufgelegt'  und 
1, 258,  wo  es  'wunderlich'  bedeutet.  In  dem  zweiten  sinne  im 
nmd.  weit  verbreitet:  Bernd,  Die  deutsche  spräche  in  Posen. 
Berndt,  Vers,  zu  einem  schles.  id.  unter  schnake.  KG. Anton, 
Verz.  oberlaus.  Wörter  2, 13.  Albrecht.  Adelung.  Fulda.  Campe. 
Eeinwald.  Schmid.  In  demselben  sinne  dohemeckisch,  auch  bei 
Eeinwald,  und  kieferneckisch,  dagegen  schabernacMsch  bei  Weise, 
Erznarren  106  und  Reinwald  von  nack  m.).  Ein  credisch  'aber- 
gläubisch' wird  durch  das  im  Servatius  vorkommende  credischeit 
verlangt;  gebisch  'zu  geben  geneigt',  das  im  nmd.  auch  in 
gutem  sinne  vorliegt  (Bernd.  Reinwald.  Albrecht.  Adelung), 
wird  früher  mit  tadel  verbunden  gewesen  sein,  das  zeigt  tAber- 
gebisch  'verschwenderisch'  im  md,  Aristoteles  des   15.  jh.'s. 


ZUR  GBSCHICHTB  DER  ADJBCTIVA  AUF  -ISCH.  517 

Oswald  von  Wolkenstein  hat,  wol  ans  dem  md.,  rumblisch 
(rumpeln  gleichzeitig  nnr  noch  bei  Heinrich  von  Freiberg), 
smielisch,  tumbrisch,  türmisch,  der  Nürnberger  Voc.  von  1482 
u.  a.  betrübisch,  der  des  Antonius  Annaberger  vom  anfang  des 
15.  jh.'s  tobisch  (vgl.  döwesch  'wütend'  von  wetter  und  vieh  bei 
Schambach,  diwisk  'verkehrt,  verwirrt'  von  der  schöpsdrehe 
Zs.  fdm.  6, 57,  dagegen  ist  toben  im  obd.  zu  Luthers  zeit  un- 
bekannt, Th. Wolfe  bibelglossar,  Basel  1523,  gibt  es  mit  grymmig, 
'dornig  sein  wider,  Zs.  f dph.  22, 328). 

31.  Häufiger  werden  die  verbalableitungen  seit  Luther.  Mit 
anklebisch  übersetzt  er  Hebr.  12, 1  t^p  svjtsQlöxaxov  dfiagrlav, 
er  bringt  heuchelisch,  mürrisch  (auch  bei  Hayneccius,  Hans 
Pfriem  V.  334,  Grimmeishausen,  Simpl.  704.  Zachariae,  Poet. 
Schriften  1765,  1,180.  232.  2,12.  Moscherosch.  DWb.  5, 582  o.), 
störrisch  (Sachs,  Schwanke  2,  513.  Hayneccius,  Hans  Pfriem 
V.  2054.  Zachariae,  Poet.  Schriften  1765,  1, 193,  obd.  dagegen 
unbekannt,  denn  Petri  erklärt  Luthers  störrig  1.  Mos.  49, 7 
u.  ö.  mit  widerspennig,  streytig),  verführisch  (Ickelschamer,  Clag 
47.  Spiessches  Faustbuch  s.  7.  Adelung  2, 1401)  und  wetter- 
wendisch (daher  bei  Clajus,  Deutsche  gr.  57  d.  n.  und  Helber, 
Syllabierbüchlein  14,  27 ;  dafür  bei  Petri  unstet,  vgl.  Schambachs 
wickenwendisch)  in  die  Schriftsprache,  seinem  sprachkreise  ge- 
hören auch  kreppisch  von  kreppen  'kröpfen,  ärgern'  und  em- 
pörisch  an. 

32.  Hans  Sachs  hat  crnfschnüppisch  (Fastn.3, 13  auffschnüp- 
pich  wie  kreppisch  mit  unverschobnem  pp,  in  der  bedeutung 
*  hochmütig').  Das  wort  zeigt  zugleich  den  sinn  des  gleichbed. 
schnippisch,  wie  aufschnüppisch  von  aufschnuppen,  aufschnupfen 
kommt,  so  wfrd  schnippisch  oder  besser  schnüppisch  von  hd. 
schnupfen  kommen,  das  heisst  aber  'die  luft  heftig  durch  die 
nase  ziehen',  in  diesem  falle  aus  hochmut,  etwa  mit  zurück- 
werfen des  kopfes  verbunden  (dieselbe  grundbedeutung  hat 
schnupfen  oder  schnuppen  'weinen',  bei  Sachs,  Schwanke  1, 28. 
430.  482.  535.  2,196,  denn  das  heisst:  'die  luft  heftig  durch 
die  nase  ziehen',  um  das  tränenwasser  aufzuhalten).  Etwas 
anders  bezeichnet  Hayneccius  dasselbe  benehmen:  vnd  vnter- 
steht  sich  noch,  das  er  vns  schnarchend  vberpoch  Hans  Pfriem 
V.  1470  f.  Ganz  hiervon  zu  trennen  und  immer  nur  von  der 
spräche  gebraucht  ist  schnüppisch  mit  fürschnäppisch  'vorlaut', 


518  aoETZE 

bei  Reinwald  und  Zs.  fdm.  3, 140,  die  von  schnappen  ^laut  werden' 
kommen,  vgl.  Hans  Pfriem  s.  4  d.n.  und  v.  553;  dagegen  zeigt 
schnuppisch  *  lecker  im  essen',  bei  Reinwald,  eine  dritte  be- 
deutungsentwicklung  von  schnupfen:  hier  heisst  es  'die  luft 
über  dem  essen  durch  die  nase  einziehen,  schnuppem'),  gewd- 
nisch  *  verschwenderisch'  Schwanke  1,  381.  2, 312.  547.  Fastn. 
1, 92.  95.  138  (dazu  bei  Stieler  vergeudisch),  münchisch  'mürrisch', 
prängisch  'prangend',  schmarotzisch  'schmarotzend'  Schwanke 
2, 318,  jsutäppisch  Fastn.  5, 142  ('sich  einschmeichelnd'  auch  bei 
Fischart,  Podagr.  trostb.  s.  22  bei  Kürschner.  Grimmeishausen, 
Simpl.  212.  354.  451. 591.  Courage  23.  Springinsfeld  1.  Keuscher 
Joseph  8.  Ad.  Stifter,  Studien  2, 15  [1844].  Schmid,  Schwab,  wb. 
Anders  bei  K.  G.  Anton,  Verz.  oberlaus.  Wörter  15, 23:  ^  zutäppisch 
wird  ein  plumper,  grober,  auch  wol  zudringlicher  und  unver- 
schämter mensch  genannt,  weil  er  immer  zutappt,  mit  der  tappe 
oder  talpe  überall  hinzutritt  oder  zugreift.  Campe.'  Sollten  die 
beiden  ersten  bedeutungen  bloss  der  etymologie  zu  liebe  an- 
gesetzt sein?). 

33.  Fischart  wendet  ausser  den  schon  genannten  heuch- 
lisch,  mürrisch  und  zutäppisch  folgende  Verbalableitungen  auf 
'isch  an:  balgisch,  bübelisch  (zu  hübein,  vgl.  bübelieren  Brant, 
Narrenschiff  27, 6,  vielleicht  auch  mit  dem  gedanken  an  biblisch 
Garg.  117),  diebraumisch  'hinwegräumend  wie  ein  dieb',  Ucht- 
verbergisch  im  Wortspiel  mit  lichtenbergisch  Garg.  24,  schindisch 
'geizig',  schhmpampisch  und  schnippisch.  Bei  Grimmeishausen 
kommen  neu  hinzu  haushältisch  und  wurmisch  ('verdriesslich', 
von  wurmen  'verdriessen',  Vögeln.  2,  Privilegia,  später  bei  Gry- 
phius,  Peter  Squenz  16  und  Lessing),  sowie  vexirisch  Calender, 
Kurz  4, 255. 

34.  Die  reichste  ausbeute  an  verbalableitungen  auf  -isch 
gibt  Stielers  Wb.  Nur  ein  achtel  von  seinen  beispielen  ist  frei 
von  tadel:  lehnisch  (wider  bei  Reinwald  im  anhang)  mit  an- 
lehnisch,  auslehnisch,  entlehnisch  und  verlehnisch,  die  Stieler 
sp.  1124  so  schematisch  hinter  einander  aufzählt,  dass  man 
denken  kann,  er  habe  sie  selbst  erst  zu  lehnisch  gebildet, 
ferner  flechtisch,  flicJcisch,  Jcaffisch,  das  Stieler  =  'wachsam'  setzt, 
das  wol  aber  entsprechend  der  bedeutung  des  nhd.  gaffen  und 
dem  westfäl.  gcepsk,  das  nach  Woeste  'unberufen,  neugierig' 
bedeutet,  mindestens  eine  hinneigung  zum  bösen  sinne  gehabt 


ZUE  GESCHICHTE  DER  ADJECTIVA  AUF  -ISCH,  519 

hat,  linderisch,  sinnisch  (in  beispielen  auch  bei  Stieler  nirgends) 
und  wehnisch  'wöhnisch'. 

Im  ganzen  besser  bezeugt,  auch  bei  anderen  Schriftstellern, 
sind  Stielers  verbalableitungen  mit  tadel:  ausäf fisch,  hellisch, 
empörisch,  ergieMsch,  gäkisch,  geltwerfisch,  greifi^sch,  kasteyisch, 
hlauhisch  (=  nd.  glubsch),  Jcletterisch,  Griechisch,  lermisch,  lörisch 
(=  leirisch  *  langsam',  wie  lören  =  leiren,  vgl.  Lexers  liererisch 
aus  einer  md.  hs.  des  15.  jh.'s),  misdenkisch,  misdünhisch,  nach- 
äffi^ch,  plackisch,  plapperisch,  plünderisch  (seiner  bedeutung 
gemäss  zu  plündern,  nicht  zu  plunder,  auch  die  hauptsächlich 
md.  Verbreitung  macht  die  verbalableitung  wahrscheinlich), 
polterisch  {^xmgestiim^;  polderisch  oder  hüisch  Ickelschamer,  Clag 
54),  porrisch  und  aufporrisch,  saufisch  und  seufi^sch  (nd.  supsch), 
scheuchisch,  schlägisch  (auch  bei  Campe),  schleuderisch,  schien- 
kerisch,  schmähisch,  schmälerisch,  schmeichelisch,  schmiegisch, 
schnackisch,  stolperisch,  verdenkisch,  verheerisch,  verödisch,  wer- 
fi^sch  und  wirfisch,  zauderisch,  eechisch,  zergisch  und  herrisch. 
Dann  einige  von  verben  auf  -ieren:  banquetierisch,  bossierisch, 
brafirisch,  feodrisch,  flattirisch,  haselirisch,  hausirisch,  partirisch, 
schändirisch,  schimpfirisch,  sektirisch,  skallirisch,  spa^irisch, 
spendirisch, 

35.  In  grösserer  zahl  begegnen  wir  verbalableitungen  auf 
'isch  wider  in  den  nmd.  mundarten.  Am  wenigsten  werden  wir 
von  dem  bisher  innegehaltenen  chronologischen  verfahren  ab- 
weichen, wenn  wir  zuerst  die  mehreren  mundarten  gemeinsamen 
und  dann  die  einzelnen  eigentümlichen  betrachten.  Zwar  nicht 
alle  finden  sich  in  den  Idiotiken,  an  die  wir  uns  hier  halten 
müssen,  bei  Woeste,  Schambach,  Albrecht,  Danneil,  Mi,  Wein- 
hold verzeichnet;  namentlich  von  denen,  die  kraft  ihrer  weiten 
Verbreitung  in  die  Schriftsprache  gedrungen  sind,  wie  mis- 
trauisch,  mürrisch,  störrisch  und  wetterwendisch,  fehlen  manche. 

Für  das  göttingische,  westfälische,  mecklenburgische  und 
altmärkische  sind  bezeugt:  bitsch  oder  betsch  'bissig',  löpsch 
und  snippsch  oder  snepsch;  für  Mecklenburg,  die  Altmark  und 
Leipzig  angreifisch,  anschlägisch  und  nachträgisch;  für  West- 
falen, Göttingen  und  die  Altmark  glupisch  und  snacksch  *  ge- 
schwätzig'; für  Göttingen  und  Westfalen  körisch  *  wählerisch' 
(zu  scheiden  von  nd.  körisk,  kürisch  'schreiend',  z.  b.  Voss  2, 119) 


520  OOBTZB 

undprdYtecÄ  o&er  prötsch  *  maulend';  für  Göttingen  und  Mecklen- 
burg wederwensch. 

Dem  westfäl.  aUein  gehören  an:  argdenkesch,  driewisJc, 
iterbietsk,  nieterhktsk,  stubietsk,  gcengesk,  gäpsk  oder  geitaisk, 
gcepsk,  hürksk,  nitsch,  prängesk,  slensk,  smöksk,  snaigesk,  snü- 
wesk  und  ni^entücksk;  dem  göttingisch-grubenliagisclien:  änisch, 
hramsch,  brüüsch,  döwesch,  fälsch^  grepsch,  lüsch,  merksch, 
melksch  und  maisemelksch,  smetsch,  schefmsch,  bespreksch;  stö- 
ätsch,  süpsch,  twingelsch,  unverlätsch,  upscetsch  und  upstcetsch; 
dem  mecklenburgischen  äwerögsch,  krüdsch,  schulsch,  langtägsch 
(oft  auch  in  Reuters  Stromtid),  wetterdänsdi;  dem  altmärkischen 
nur  naotäögsch\  in  Leipzig  hört  man  anhängisch,  riebisch  'rei- 
bend, scheuernd'  von  kleidem,  übelnehmiscJi  (K.  G.  Anton  ge- 
braucht das  wort  selbst  1, 11  und  18, 13)  und  wäTdisch. 

Mehr  als  dreiviertel  dieser  adjectiva  haben  einen  bösen 
sinn,  und  productiv  ist  die  gruppe  nur  noch  insoweit  sie  einen 
bösen  sinn  hat,  aber  innerhalb  dieser  grenze  ist  die  bildung 
durchaus  lebendig,  z.  b.  wird  in  Leipzig  jetzt  bisweilen  ruppsch 
für  ruppig  gesagt,  und  ein  hohes  alter  ist  für  keine  der  verbal- 
ableitungen  anzunehmen,  die  nur  einer  einzelnen  mundart  an- 
gehört. 

36.  Es  ist  s.  514  gesagt  worden,  dass  die  participialen 
adjectiva  auf  -isch  den  verwanten  verben  besonders  nahe  stehen. 
Als  eine  bestätigung  dieser  annähme  wird  es  aufzufassen  sein, 
wenn  zu  participial  gewordenen  adjectiven,  neben  denen  kein 
verbum  steht,  gern  eins  aus  dem  adjectiv  abgeleitet  wird. 
Wir  belegen  im  folgenden  diese  erscheinung  aus  Schriftsprache 
und  mundarten,  schicken  aber  voraus,  dass  die  md.  und  nd. 
belege,  trotz  ihres  absoluten  Übergewichts,  relativ  in  der 
minderheit  [sind,  d.  h.  den  vorhandenen  sprachstoff  weniger 
erschöpfen,  als  die  möglichst  reichlich  gegebenen  obd.  beispiele. 

Die  ältesten  verba  von  adjectiven  auf  -isch  bedeuten  *die 
spräche,  die  das  adjectivum  bezeichnet,  sprechen',  so  welschen, 
kauderwelschen  bei  Lessing,  Thümmel,  Campe  und  Stalder;  rot- 
welschen  bei  Holtei,  Schlesische  ged.  218;  latinischen  bei  Mumer, 
Luth.  narr  v.  1284  (vgl.  latinvsare)\  polschen  auch  in  übertra- 
genem sinne  =  'unverständlich  sprechen'  Bernd,  Die  deutsche 
spräche  in  Posen.  Holtei  357  und  Weinhold  im  glossar  dazu. 


ZUR  GESCHICHTE  DES  ADJECTIVA  AUF  -ISGH,  521 

Intransitiv  ist  dann  auch  das  von  einem  übertragenen 
Völkernamen  abgeleitete  flämschen  'eine  finstre  miene  machen' 
K.  G.  Anton,  Verz.  oberlaus.  Wörter.  J.  Petters,  Andeutungen  zur 
Stoffsammlung  in  den  deutschen  maa.  Böhmens.  Fr.  Knothe, 
Markersdorfer  ma.;  anflämschen  ist  durch  die  präposition  tran- 
sitiv geworden.  Anton.  Petters.  Knothe;  galbschen  'zanken'  zu 
mhd.  gelf  'übermütig'  Schmeller  aus  Aschaffenburg;  gir sehen 
'erschleichen,  subrepere'  Lexer  aus  der  Hohenfurter  Benedic- 
tinerregel  des  13.  jh.'s  =  Zs.  fda.  16, 266;  glubschen  'scheel,  glu- 
pisch  ansehen'  Anton;  dazu  das  transitive  anglupschen  bei 
Anton  und  Bernd;  hämischen  'hämisch  sein'  und  daher  einen 
'hämisch  behandeln'  Anton.  Dagegen  von  hämsch  'reizbar, 
empfindlich'  das  nordböhmische  'shot'n  g'hämscht  'er  hat  sich 
tüchtig  verletzt'  Knothe;  hübschen,  transitiv,  namentlich  in  den 
Wendungen  sich  hübschen  Anton  und  Campe,  und  sich  anhübschen 
in  Thüringen  und  Obersachsen,  hübschen  'hübsch  machen'  im 
DWb.  auch  aus  Wirsung  Calixtus  und  'hübsch  werden'  aus 
Stalder;  mhd.  höveschen  'den  hof  machen'  ist  offenbar  franz. 
courtiser  nachgebildet;  Tcindschen  'kindisch  sein'  im  DWb.  und 
bei  Holtei,  Gedichte  364.  Berndt,  Versuch  zu  einem  schles.  id. 
Anton;  verMndschen  'kindisch  werden'  Adelung  2, 1580;  läpp- 
schen,  das  häufigste  dieser  verba,  auch  in  Weinholds  Beiträgen 
zu  einem  schles.  wb.  Bernd  und  Albrecht;  lünschen  'übellaunig 
sein'  Zs.  fdm.  5,  155  aus  Fallersleben,  6,  354  aus  Lippe,  im 
Bremisch -ns.  wb.  aus  Braunschweig,  schliesslich  in  J.  Fr. 
Schützes  Holst,  id.;  muckschen  bei  Anton  und  Holtei,  Gedichte 
336.  365;  narr  sehen  bei  Anton.  Albrecht.  Campe,  aber  auch  in 
Murners  Luth.  narren  v.  2  (vielleicht  nach  fatuari?);  neidschen 
in  den  bedeutungen  'neidisch  sein,  einen  neidisch  behandeln, 
ansehen'  aus  Westmitteldeutschland  belegt;  fälschen  .'tälsch, 
albern  sprechen  und  handeln'  bei  Bernd.  Holtei  228.  364.  437. 
491.  Anton  (auch  unter  dälschen)\  teerischen  'närrische  dinge 
treiben'  in  Heinrichs  von  Freiberg  Tristan;  tückschen  'tückisch 
tun,  schmollen'  Albrecht.  Bismarck,  Gedanken  und  erinnerungen 
1, 189;  unwirdischen  'unwirdisch  werden,  indignari'  in  Megen- 
bergs  Buch  der  natur. 

Diese  beispiele  werden  für  sich  selbst  sprechen  und  zur 
genüge  zeigen,  dass  die  bildung  durchaus  md.  ist.  Damit 
ordnen  sich  die  verba  auf  -ischen  oder  -sehen  passend  in  das 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  34 


522  VON  DER  LETEN 

bild  ein,  das  wir  oben  von  der  Verbreitung  der  participialen 
adjectiva  auf  -isch  gewonnen  haben. 

LEIPZIG.  ALFRED  GOETZE. 


ZU  HARTMANNS  REDE  VOM  GLAUBEN. 

Beitr.  24, 206  ff.  beschäftigt  sich  Leitzmann  mit  meinem 
buch:  Des  armen  Hartmann  rede  vom  glouven  (Breslau  1897). 
Er  sucht  nachzuweisen,  dass  die  interpolationen ,  die  ich  in 
diesem  denkmal  zu  erkennen  glaubte,  als  solche  nicht  gelten 
dürfen,  und  macht  dann  einige  bemerkungen  zu  dem  von  mir 
hergestellten  text.  Da  seine  angriffe  bei  unbefangenen  lesern 
den  eindruck  hervorrufen  müssen,  als  seien  meine  annahmen 
recht  leichtfertig,  möchte  ich  um  die  erlaubnis  bitten,  hier 
einige  worte  zu  meiner  Verteidigung  zu  sagen. 

Als  ich  mich  s.  z.  mit  der  'Rede  vom  glouven'  abgab,  las 
ich  sie  mir  widerholt  laut  vor.  Dabei  fiel  mir  auf,  dass  ver- 
schiedene versgruppen  in  rhythmus  und  diction  sich  sehr  merk- 
lich von  dem  tenor  der  anderen  verse  unterschieden.  Als  ich 
daraufhin  näher  zusah,  bemerkte  ich  in  diesen  versen  auch 
andere  eigenheiten,  in  denen  sie  gegen  H.'s  verse  überein- 
stimmten. 

Als  solche  erschienen  mir  und  erscheinen  mir  noch  heute: 

1)  Die  verse  mit  fünf  hebungen,  die  für  jene  zeit  im  all- 
gemeinen gewis  nichts  ungewöhnliches  sind,  aber  auffallen 
müssen,  wenn  sie  in  einem  gedieht  von  über  3000  versen  nur 
sechs  mal  begegnen  (vgl.  mein  buch  s.  34.  38).  —  Während 
ferner  H.'s  verse  durchaus  schwungvoll  und  bewegt  sind,  kann 
man  diese  fünfheber  kaum  als  verse  lesen:  es  ist  baare  prosa, 
wie  denn  auch  einer  dieser  verse  (2675,  vgl.  mein  buch  s.  37) 
tatsächlich  als  prosasatz  vorkommt.  Bei  einem  andern  wäre 
es  ganz  leicht  gewesen,  ihn  nach  dem  muster  von  Hartmann- 
schen  in  einen  guten  vers  zu  verwandeln  (vgl.  1481  gelobet 


zu  HABTMANNS  REDE  VOM  GLAUBEN.  523 

ststu,  Mrre,  heüich  Crist  mit   1942.  2114.  2354   lob  dir,  Mrre, 
heilich  Crist), 

2)  Armut  in  ausdruck  und  worten,  not-  und  flickverse, 
äusserst  ungeschickte  widerholungen  von  versen  die  keines- 
wegs formelwert  besitzen  und  einander  beinahe  unmittelbar 
folgen.  Vgl.  bes.  79  noh  ouh  niemer  mer  ne  tut,  83  noh  ouh 
niemer  mer  ne  tut;  982  da  hegunder  dem  vater  danke,  985  gote 
begunder  danken.  Aehnlich  10951  =  1103  f.  1097  beinah  = 
1137.  Derlei  mag  ich  einem  dichter  nicht  zutrauen,  der  über 
einen  für  jene  zeit  fast  ungewöhnlichen  reichtum  an  worten 
und  synonymen  Wendungen  verfügt;  der  in  der  kunst,  dasselbe 
in  immer  andrer  form  zu  sagen,  ein  meister  ist  (man  vgl.  die 
verse  75—164. 199—220. 1225  f.  2404  f.  und  mein  buch  s.  70  f.). 

3)  Eine  art,  wissen  und  kenntnisse  zur  schau  zu  tragen, 
die  ich  mit  dem  sehr  bescheidnen,  jeder  prahlerei  abholden 
wesen  H.'s  auch  nicht  in  einklang  bringen  kann.  Der  inter- 
polator  citiert  genau  (1510.  2881),  H.  beruhigt  sich  mit  einem 
einfachen  hinweis  auf  die  heilige  schrift  oder  das  neue  testa- 
ment  (vgl.  mein  buch  s.  68),  der  interpolator  bringt  bibel- 
sprüche  und  -citate  an  unpassender  stelle,  bloss  um  zu  zeigen 
dass  er  sie  kennt  (vgl.  v.  714  f.  2674—79.  2880—83),  während 
H.'s  citate  immer  in  den  Zusammenhang  passen  (man  vgl.  mein 
buch  s.  94f.).  Besonders  charakteristisch  für  den  interpolator 
sind  die  verse  2674 — 79,  die  in  fünf  reihen  zwei  (von  den 
sechs)  fünfhebigen  versen  und  zwei  unpassende  bibelcitate 
enthalten. 

Diese  eigenheiten  des  interpolators  verbinden  sich  auch 
psychologisch  aufs  beste:  impotenz  und  unbescheidenheit  gehen 
doch  oft  genug  zusammen. 

Wenn  ich  auch  sonst  stilistische  und  metrische  Ungeschick- 
lichkeiten auf  das  conto  des  interpolators  setzte,  wird  sich 
niemand  darüber  wundern.  Z.  b.  lauten  2850  f.  (die  zudem  in 
die  umliegenden  leidenschaftlichen  mahnungen  sehr  unglücklich 
eingeschoben  sind)  wole  gedenke  an  daz,  intrüwen  rätich  dir 
daz,  bringen  also  einen  rührenden  reim,  wie  ihn  H.  sonst  ver- 
meidet (vgl.  mein  buch  s.  8),  und  den  er  in  diesem  fall  doppelt 
gut  hätte  vermeiden  können,  hätte  er  sich  nur,  wie  das  sonst 
seine  art  ist,    selbst  (2404.  2512)  widerholt:  nü  bedenke  dih 

34* 


524  VON  DER  LEYEN 

haZj  intrüwen  rätih  dir  daz.    Darum  erklärte  ich  die  beiden 
verse  für  unecht. 

Die  andern  argumente  die  ich  als  solche  ansah,  besonders 
die  obd.  worte  in  interpolierten  versen,  kommen  jetzt  nicht 
mehr  für  mich  in  betracht. 

Allerdings  muss  ich  einräumen,  dass  meine  kriterien  im 
grund  ästhetische  sind,  und  dass  ihnen  viel  subjectives  anhaftet. 
Es  ist  darum  eben  so  schwer,  sie  für  jedermann  einleuchtend 
zu  machen,  wie  ihre  beweiskraft  richtig  abzuschätzen,  ins- 
besondere für  einen  anfänger,  der  des  guten  noch  gern  zu  viel 
tut,  in  philologischen  Untersuchungen  noch  unerfahren  ist,  auch 
beobachtungen  die  für  sein  empfinden  gewis  sind,  leicht  für 
objectiv  erwiesene  hält. 

Darum  sehe  ich  heute,  nachdem  mein  blick  natürlich  un- 
befangener geworden,  dass  ich  bisweilen  ins  tüfteln  geriet, 
unterschiede  herausfühlte,  die  nicht  existierten,  auch  von  ärm- 
lichkeit  redete,  wenn  sie  nicht  vorhanden  war.  Ich  lasse  dem- 
gemäss  meine  bedenken  gegen  105  f.  201  f.  229—34  (vgl.  auch 
Ps.  134, 6  und  Eeuschel,  Lit.-bl.  20, 161).  805—8. 1401—3.  1405. 
1531  f.  1610—13  fallen. 

Ueber  25 — 34  bin  ich  mir  noch  nicht  im  klaren;  ich  gebe 
aber,  zumal  wenn  ich  das  von  L.  s.  216  gesagte  in  betracht 
ziehe,  zu,  dass  ich  mich  auch  hier  irrte.  Freilich  bleibt  mir 
der  gebrauch  von  wände  in  v.  33  für  H.  auffällig;  ebenso  ver- 
stehe ich,  wenn  die  verse  echt  sind,  nicht  recht,  warum  H.  gott 
in  20  versen  um  hilfe  bittet,  nachdem  er  weiss  und  zuversicht- 
lich hoffen  darf,  dass  gott  ihm  diese  hilfe  gewähren  wird. 

Die  andern  verse  halte  ich  nach  wie  vor  für  interpolator- 
mache. 

Ich  komme  nun  zu  Leitzmanns  gegenargumenten.  L.  geht 
auf  meine  metrischen  kriterien  'ein  für  alle  mal'  nicht  ein,  da 
meine  behandlung  dieser  dinge  'den  an  eine  rhythmische 
ßtatistik  zu  stellenden  ansprüchen  nicht  genügt',  (s.211;  vgl. 
auch  s.  215  und  s.  206  'die  eine  unerlässliche  statistische  ana- 
lyse  der  rhythmik  ganz  beiseite  lassende  metrik').  'Von  den 
metrischen  tendenzen  des  gedichts',  fährt  L.  fort,  'hat  er  sich 
offenbar  selbst  kein  klares  bild  gemacht,  vielmehr  bietet  er 
an  stelle  einer  nüchternen  Untersuchung  phrasen'  (z.  b.  s.52). 


Zu  HABTMANKS  BEDE  VOM  GLAUBEN.         525 

Dass  meine  metrik  in  vielen  punkten  anfechtbar  ist,  weiss 
auch  ich.  Darf  man  sie  aber  darum  in  bausch  und  bogen 
verwerfen?  Nebenbei  habe  ich  s.  z.  für  mich  eine  'ausführliche 
statistische  analyse  der  rhythmik'  hergestellt  und  sie  absicht- 
lich nicht  abgedruckt,  ebensowenig  wie  ein  reimregister.  Wa- 
rum ich  so  verfuhr,  kann  ich  hier  nicht  begründen.  Meine 
'phrasen'  auf  s.  52  mag  jeder  selbst  nachlesen;  ich  habe 
mich  in  den  betr.  Sätzen  so  gut  ich  konnte  bemüht,  die  be- 
sondere art  von  H.'s  metrik  und  den  eindruck,  den  sie  mir 
machte,  zu  schildern.  Anscheinend  also  kennt  L.  meine  metrik 
nicht  so  genau,  dass  er  sie  mit  solchen  werten  beiseite  schieben 
dürfte. 

Meine  stilistischen  kriterien  behandelt  L.  auch  recht  ge- 
ringschätzig. Zu  28501  (mein  buch  s.  42):  4ch  brauche  nichts 
zur  Widerlegung  hinzuzufügen'.  —  Zu  2880—83  (mein  buch 
s.  37:  ich  hatte  gesagt,  H.  eitlere  nie  so  genau,  vgl.  zu  1910  ff.): 
'nun,  dann  hat  er  es  in  diesem  einem  fall  doch  getan'.  —  Zu 
1481—92  (mein  buch  s.  38) :  'die  weiterhin  gerügten  stilwider- 
holungen  finden  sich  bei  H.  so  massenhaft,  dass  ich  mir  belege 
ersparen  kann'  (wo  finden  sie  sich?  ich  finde  sie  nirgends).  — 
Zu  299  f.  (mein  buch  s.  41,  297  Hecht  —  299  Uecht]  299  swär  — 
301  swarjs,  ausserdem  schliessen  sich  301  wiz  und  swarz  viel 
besser  an  297  vinster  und  Hecht  an  als  299  Hecht  und  swär) 
'das  motiv  des  anklingens  von  Uht  an  Hecht  ist  doch  nicht 
ernst  zu  nehmen'.  —  Zu  1501 — 12  (mein  buch  s.  35)  findet  L. 
meine  Interpretation  von  1500  und  den  vorangehenden  versen 
falsch.  Er  will  die  'richtige'  Interpretation  geben  und  erklärt 
dann  die  verse:  'gottes  gnade  lehrt  (!)  die  creaturen,  dass  sie 
jede  auf  ihre  weise  gott  zu  loben  haben'  (eine  merkwürdige 
gnade!).  Er  gibt  dann  sofort  eine  zweite  'richtige'  Interpreta- 
tion und  fasst  di>  lob  in  1500  rückbezüglich  als  'das  lob,  von 
dem  der  dichter  eben  gesagt  hat,  dass  es  gott  dargebracht 
werden  solle'.  Aber  dann  hätte  diz  lob  gar  keinen  Inhalt, 
und  grade  diesen  Inhalt  bieten  die  folgenden  echten  verse,  in 
denen  der  rühm  gottes  sozusagen  specificiert  wird,  eben  weil 
gott  den  verschiedenen  dingen  verschiedene  gnadenbeweise  zu 
teil  werden  liess  (1497—99).  —  Zu  1085—1124  (mein  buch 
s.  42):  'die  widerholungen  stören  uns  natürlich  nicht,  denn  sie 
sind  nicht  ungeschickter  als  manche  andren,  die  doch  ruhig 


526  VON  DER  LEYBN 

passieren  dürfen'  (bitte,  welche?  Nebenbei  war  meine  behand- 
lung  von  1085 — 1124,  wie  ich  auch  ausdrücklich  sagte,  nur  ein 
Vorschlag;  damit  erledigen  sich  alle  anderen  ausfälle  von  L.) 
—  Zu  705—10  (mein  buch  s.  36)  sagt  L.,  ich  hätte  auf  das 
wort  werltkuning  einen  *  luftigen  tui'm'  (was  ist  das?)  gebaut. 
Auch  sonst  zieht  er  starke  worte  starken  argumenten  vor  und 
macht  sich  seine  Widerlegung  allzuleicht.  In  v.  714  f.  (mein 
buch  s.  41)  hatte  ich  festgestellt,  dass  der  interpolator  den 
guten  reim  lüium  :  filiuni  verderbe.  L.  sagt  *  dieser  gute  reim 
sollte  durch  seinen  gleichklang  eher  verdächtig  wirken'.  Nun 
vgl.  man  89  f.  ineffdbilis  :  mirdbilis,  317  f.  beatrix  :  creatrix,  343 
eloquentia :  sapientia,  367.  401  u.  s.  w.  —  Zu  1612  (mein  buch 
s.  34):  ich  hatte  behauptet,  riejs^en  trans.  sei  bairisch  (das  ist 
nicht  zutreffend,  vgl.  Otfr.  1, 18, 11  und  ßeuschel,  Lit.-bl.20, 161). 
L.  sagt  nun:  ^das  ist  nicht  einmal  ganz  richtig,  denn  auch  das 
Kolandslied  hat  rieben'.  Ist  denn  das  Eolandslied  kein  bai- 
risches  denkmal?  Ferner  sei  das  wort  auch  mnd.  vorhanden 
als  reten.  Ja,  aber  nur  in  6inem  beleg,  aus  dem  jähre  1464 
(Eedentiner  osterspiel),  und  es  ist  noch  nicht  einmal  sicher, 
ob  hier  reten  wirklich  dem  mhd.  rieben  entspricht. 

Diese  belege  werden  genügen,  um  L.'s  Widerlegung  zu 
charakterisieren.  Es  wird  nicht  nötig  sein,  auch  zu  seinen 
anderen  angriffen  Stellung  zu  nehmen,  obwol  ich  manches  auch 
gegen  sie  vorbringen  könnte.  Ich  erkenne  gern  an,  dass  mich 
L.  in  manchen  fällen  eines  bessern  belehrt  hat;  im  übrigen 
halte  ich  seine  starken  worte  für  nicht  so  schlimm  wie  sie 
vielleicht  klingen.  Etwas  schmerzlich  ist  mir  nur,  dass  er 
mir  eine  *  starr  schematisierende'  betrachtungsweise  vorwirft, 
während  ich  mich  überall  nach  besten  kräften  bemühte,  der 
Individualität  des  Armen  H.  gerecht  zu  werden.  Es  liegt  mir 
hier  auch  nicht  daran,  L.  zu  überzeugen;  er  mag  meinetwegen 
die  ganze  Eede  vom  glouven  für  echt  halten:  ich  wollte  mich 
nur  rechtfertigen,  indem  ich  meine  motive  für  die  annähme 
von  Interpolationen,  die  L.  kaum  oder  gar  nicht  nennt,  noch- 
mals vorführte  und  zeigte,  dass  L.  es  mit  seiner  Widerlegung 
doch  bisweilen  allzu  leicht  nimmt. 

L.'s  bemerkungen  zu  meinem  text  geben  mir  auch  zu 
kurzen  erwiderungen  anlass.  L.  macht,  nachdem  er  mir,  leider 
mit  recht,  einige  flüchtigkeiten  vorgeworfen,  39  besserungs- 


Zu  HABTMANNS  REDE  VOM  GLAUBEN.         527 

vorschlage.  In  25  davon  beschränkt  er  sich  darauf,  den  hsl. 
text,  den  ich  geändert,  zu  verteidigen;  mit  recht  in  444.  795. 
1287.  3207.  3699.  In  2528.  2547.  2564  gibt  L.  gegen  Wacker- 
nagel und  mich  Massmann  recht.  2171.  2469  halte  ich  meine 
änderungen  aufrecht,  weil  sie  dem  stil  des  dichters  besser 
gerecht  werden  als  der  überlieferte  text;  ich  kann  aber  nicht 
verlangen,  dass  sie  einen  andern  durchaus  überzeugen.  —  Zu 
2974  (ich  hatte  beredeten  in  bredigeten  geändert)  gebe  ich  zu, 
dass  L.'s  Interpretation  viel  für  sich  hat.  —  1088  war  ich 
auf  die  von  L.  vorgeschlagene  lesart  selbst  verfallen,  zog  sie 
aber  auf  anraten  von  Vogt  zurück.  —  559.  801.  2160  bleibe 
ich  bei  meiner  lesart  aus  metrischen  gründen.  —  2212  habe 
ich  nicht  gebessert,  sondern  es  liegt  ein  druckfehler  vor.  — 
146;  wer  sine  im  text  lässt,  muss  auch  goteheite  in  goteheit 
ändern  und  den  guten  reim  zu  wisheite  zerstören.  Für  trahten 
mit  dem  acc.  bringt  das  Mhd. wb.  a.a.O.  sehr  wenig  belege. 
Ich  bleibe  also  bei  meiner  lesart.  —  758;  wenn  L.  das  ist 
der  hs.  wider  einfügt,  zerstört  er  das  ganze  rhythmische  und 
syntaktische  gefüge  der  umliegenden  verse.  —  782  muss  den 
in  dem  geändert  werden  wegen  des  da^  in  781.  —  925;  wel- 
chen sinn  L.  aus  dem  vers  herauslesen  will,  wenn  er  das 
sulen  nicht  eliminiert,  das  weiss  ich  nicht.  —  1592;  rüwent, 
das  L.  wider  herstellt,  kommt  in  der  Verbindung  mit  clagen 
nie  und  im  absoluten  sinn  sehr  selten  vor.  Seit  wann  ist 
ferner  geböte  :  volgen  :  verbolgen  ein  dreireim?  —  1908  ver- 
stehe ich  L.'s  interpretation  nicht  und  finde  sie  ausserdem 
syntaktisch  höchst  sonderlich.  —  2055  änderte  ich  wegen  2056 
liege,  2057  woldis,  2059  gebe.  —  2210  hat  Massmann  %  L.  hält 
es  für  abkürzung  von  ind.  Dies  wort  kommt  aber  sonst  bei 
H.  nie  vor,  obwol  sich  die  gelegenheit  dazu  oft  genug  geboten 
hätte.  —  2528  stellte  ich  um  wegen  2521.  2522.  2525,  vgl. 
auch  mein  buch  s.  51,  metrik  §  8. 

In  andern  fällen  gibt  L.  eigne  Vermutungen.  Davon 
scheinen  mir  zutreffend  die  zu  9.  29.  206  f.  324.  2287.  2307. 
2413  (gemeine),  unwahrscheinlich  die  zu  636.  —  530;  getwas 
kann  hier  nicht,  wie  L.  will,  'bösewicht,  tor'  heissen.  Denn 
erstens  ist  der  teufel  kein  tor,  zweitens  wäre  doch  böse  getwas 
*  böser  bösewicht'  eine  arge  tautologie.  Den  einwand,  dass  H. 
1292  für  'gespenst'  getüsternisse  sage,  hätte  ich  machen  sollen! 


528   VON  DER  LETEN,  ZU  HABTMANKS  BEDE  TOM  GLAUBEN. 

Da  hätte  ich  schöne  dinge  über  'schematisierende  betrachtungs- 
weise'  zu  hören  bekommen!  —  755  sint  (:  Jcinden)  ändere  ich 
trotz  MSD.  56, 16  nicht  in  sinden,  vgl.  meine  Metrik  §  1  (s.  45). 
—  3135  halte  lit  nicht  für  unverständlich,  sondern  für  eine 
md.  contraction  von  ligit  (vgl.  Weinhold  2  §  52).  —  1068.  2534. 
2829  erklärt  L.  meine  interpunction  für  verfehlt:  ich  kann 
ihm  keineswegs  beipflichten;  es  mag  jeder  selbst  darüber 
urteilen. 

MÜNCHEN.  FEIEDRICH  VON  DER  LEYEN. 


ETYMOLOGISCHES. 

1.  Nhd.  gaul  aus  mhd.  gul  *eber,  männliches  tier  über- 
haupt', zu  welchem  nl.  guü  'eine  noch  nicht  trächtig  gewesene 
Stute'  eine  femininbildung  ist,  geht  auf  vorgerm.  ^ghulo-s  zu- 
rück. Dies  lasse  ich  der  indog.  wz.  ^heu-  'giessen'  entstammen 
und  vergleiche  damit  gr.xvXog  *saft'.  Vgl.  gotauhsa  'ochse', 
aind.  uJcädn  'stier'  zu  ukSati  'besprengt';  lat.  verres  'eher'  zu 
Miii.varSati  'beregnet',  u.s.w. 

2.  Mhd.  Mt^,  hütze  'kauz'  erhielt  wahrscheinlich  den  namen 
wegen  seines  geschreies.  So  verhält  es  sich  vielleicht  auch 
bei  ags.  oyta  'rohrdommel;  weihe',  engl.  Ute.  Die  beiden  Wörter 
dürfen  wir  also  zusammenstellen  und  weiter  mit  lit.  gaudziü, 
gaüsti  'in  langgezogenen  tönen  heulen,  dumpf  heulen,  weh- 
klagen', gatidlmas  'geheul,  wehklage',  lett.  gauda  dass.,  gaudüt 
'heulen,  wehklagen'  verbinden. 

3.  Mhd.  ge-hiure  'sanft,  anmutig,  woran  nichts  unheim- 
heimliches  ist',  ahd.  as.  un-Muri  'grausig,  schrecklich',  ags. 
hyre  'freundlich,  mild',  aisl.Ä^rr  'mild'  sind  noch  nicht  genügend 
erklärt.  Sie  sind  vielleicht  mit  mhd.  hüren  'kauern',  behüren 
'niederhalten,  niedertreten'  verwant  und  verhalten  sich  dazu, 
wie  ahd.  hold  'gnädig,  herablassend'  zu  hald  'sich  vorwärts 
senkend,  geneigt'.  Vgl.  auch  ahd.  wwAiwn,  im^fiÄmW schreck- 
lich, unheimlich'  :  got.  unhulj^üns  'unholdinnen'.  Aus  ahd.  un- 
gihiuri  'unheimlich'  entwickelte  sich  wahrscheinlich  bei  mhd. 
gehiure  der  begriff  'woran  nichts  unheimliches  ist'. 

Die  grundbedeutung  der  germ.  wz.  hur-  wäre  also  'biegen, 
beugen'.  Hierher  können  weiter  gehören:  ags.  hyran,  engl. 
hire,  mnd.  hüren  'mieten',  mhd.  iehuren  'mieten,  kaufen',  ver- 
huren  'verkaufen'.  Vgl.  got.  biugan  'biegen'  :  bugjan  'kaufen', 
Verf.,  Am.  journ.  phil.  19, 42  f.;  aind.  namayati  'biegt,  lenkt  ab', 


530  WOOD 

gr.  vofidcD  4enke,  regiere'  :  lett.  nömdt  *  mieten';  aind.  ndmati 
*  beugt,  beugt  sich'  :  lat.  emö'kaufe',  got.  niman  'nehmen'.  Vgl. 
Prellwitz,  Et.  wb.  s.  v.  vi/io),  vcD/ido).  Uhlenbeck,  Et.  wb.  s.  v. 
niman. 

Die  germ.  wz.  hur-,  vorgerm.  qü-ro-,  scheint  eine  erweite- 
rung  der  indog.  wz.  qu-,  qau-  zu  sein.  Vgl.  got.  hauns  *  niedrig, 
demütig',  lett.  kduns  *scham,  schmach',  gr.xavpog '  xaxog,  xavQog  • 
xaxog,  lit.  kuvetis  'sich  schämen'  (s. Uhlenbeck,  Et. wb.  s.v.  hauns). 
Hier  ist  wol  auch  die  grundbedeutung  'sich  beugen,  sich  ducken'. 

4.  Aisl.  kura  'untätig  sein',  schw.  kura,  dän.  kure,  mengl. 
couren,  engl,  cower  'kauern'  haben  natürlich  nichts  mit  mhd. 
huren  'kauern'  zu  tun.  Sie  gehören  mit  kaufen  zur  selben 
WZ.  ku-  (Kluge,  Et.  wb.*^  s.  v.  kamen)  und  lassen  sich  mit  gr. 
yvQog  'rund,  gekrümmt,  gebückt',  yvQog  'kreis',  yvQoo)  'biege, 
krümme'  vergleichen.  Hierher  wol  auch  mhd.  küme  'gebrech- 
lich, schwach,  elend',  ahd.  kumlg  'gebrechlich,  schwack,  krank', 
ursprünglich  'niedergebeugt,  hinfällig'  (vgl.  engl,  crank  'krüm- 
mung'  :  d.  krank,  Kluge,  Et.  wb.*^),  ahd.  chumön  'trauern',  as. 
kümian  'beklagen'  (vgl.  got.  driusan  'fallen'  :  ahd.  truren 
'trauern'),  ags.  cyme  'anmutig,  schön',  eigentlich  'biegsam, 
schmuck'  (vgl.  schmiegen  :  schmuck).  Weiteres  über  die  wz. 
gtt-  bei  Prellwitz,  Et.  wb.  s.  v.  yvajiov. 

5.  Got.  hnasqus  'weich,  fein',  ags.  hnesce  'zart',  ahd.  na^cun 
'naschen'  können  auf  vorgerm.  *qnod-sqo-  oder  *qndd-sqo-  zu- 
rückgehen. Vgl.  lit.  kdndu  'beisse',  aind.  khädati  'kaut,  zer- 
beisst',  gr.  xvdöcov  'zahn  am  jagdspiess'  (Brugmann,  Grundr. 
V,  420). 

6.  Got.  neh,  neha  'nahe',  aisl.  när,  ags.  neah,  as.  ahd.  näh 
U.S.W.  führe  ich  auf  vorgerm.  *nSk-uo-  zurück  und  vergleiche 
damit  aind.  ndgati  'erreicht,  erlangt',  lat.  nandscor,  got.  ga- 
nöhs  'genug'  u.s.w. 

7.  Ahd.  glsal,  ags.  ^isel,  aisl.  gisl  'kriegsgefangener,  bürg- 
schaftsgefangener' vergleicht  man  mit  dem  gleichbed.  air.  giall 
Die  grundform  *gheislo-,  worauf  diese  sippe  beruht,  bedeutete 
vielleicht  ursprünglich  'anhaftend,  zurückbleibend'  und  lässt 
sich  dann  in  diesem  falle  mit  lat.  haereö  vergleichen. 

8.  D.  mahr  'alp',  mhd.  mar,  mare,  ahd.  mara  'quälendes 
nachtgespenst,  nachtalp',    ags.  mara  'nightmare',    aisl.  mara 


ETTMOLOaiSGHES.  531 

'mahr'  sind  nicht  genügend  erklärt.  Ausserhalb  des  germ. 
vergleicht  man  russ.  Jcikimora  'gespenst',  poln.  mora,  böhm. 
müra  'alp'. 

Die  germ.  wz.  mar-,  zu  welcher  auch  ags.  ma-mor  'schlaf, 
betäubung'  gehört,  ist  identisch  mit  der  indog.  wz.  mr- 
*  zermalmen,  zerdrücken'.  Vgl.  aind.  mrnäti  'zerschlägt,  zer- 
malmt', gr.  fiagvafiai  'kämpfe',  (lagaivw  'reibe  auf,  aisl.  merja 
'stossen'  und  auch  aind.  mdrate  'stirbt',  lat.  morior  u.  s.  w. 
(s.  Prell witz.  Et.  wb.).  Vgl.  aind.  svapiti  'schläft,  schläft  ein', 
svapdyati  'schläfert  ein,  tötet',  ags.  swehban  'einschläfern, 
töten'. 

9.  Got.  sels  'gütig,  mild',  aisl.  söell  'glücklich',  ahd.  sälig 
'glücklich,  selig',  ags.  söeli^  'gut,  glücklich',  smlra  'besser' 
U.S.W,  vergleicht  man  mit  ncymr.  holl  'ganz',  lat.  sollus,  osk. 
sullus  'omnes',  und  weiter  auch  mit  gr.  oXoq,  aind.  sarvas 
'ganz'.  Vgl.  Brugmann,  Die  ausdrücke  für  den  begriff  der 
totalität  43  f.  Kluge,  Et.  wb.*^  s.  v.  selig \  Schade,  Wb.  s.  v.  sels, 
Uhlenbeck,  Et.  wb.  s.  v.  sels  will  diese  erklärung  verwerfen, 
schlägt  aber  keine  andere  vor. 

Germ,  "^se-la-  leite  ich  von  der  wz.  se-  'säen'  ab.  Morpho- 
logisch ist  es  mit  air.  sil  'same'  identisch.  Vorgerm,  se-lo- 
bedeutete  also  'das  säen,  die  säezeit'  und  dann  'Jahreszeit, 
zeit'  überhaupt.  Vgl.  die  ähnliche  bedeutungsentwicklung  bei 
lat.  satiOj  franz.  saison,  engl,  season,  wz.  se-.  Als  adj.  be- 
deutete es  'zeitgemäss,  rechtzeitig,  schicklich,  passend'  (wie 
engl,  seasonaile),  woher  'tauglich,  glücklich,  gut'  u.s.w.  Vgl. 
gr.  wQa  'zeit,  Jahreszeit,  tageszeit,  rechte  zeit',  cogatog  'recht- 
zeitig, schicklich,  schön';  lat.  tempestlvus  'zeitgemäss,  recht- 
zeitig, schicklich,  passend'. 

Dass  diese  erklärung  des  germ.  *se-la-  das  richtige  trifft, 
beweist  die  bedeutung  von  ags.  scel:  'zeit,  günstige  zeit,  ge- 
legenheit,  glücklicher  umstand,  glück'.  Daraus  erklärt  sich 
auch  der  begriff  von  ags.  scelan:  'zufallen,  zu  teil  werden'. 
Vgl.  ags.  ttd  'zeit: :  Man  'zufallen'.  Ags.  scel  steht  dem  grund- 
begriff  'das  säen,  die  säezeit'  am  nächsten.  Obwol  dieses  wort 
weder  von  Kluge  noch  von  Uhlenbeck  bei  der  anführung  von 
Wörtern  erwähnt  wird,  die  mit  got.  sels  verwant  sind,  darf  es 
nicht  davon  getrennt  werden.  Für  germ.  *sela-  können  wir 
also  folgenden  bedeutungswandel  constatieren:  vorgerm.  *selo- 


532  WOOD 

'das  säen,  die  säezeit;  zum  säen,  zur  säezeit  gehörig,  recht- 
zeitig' :  ags.  sml  'zeit,  günstige  zeit,  glück';  aisl.  smll  'glück- 
lich' U.S.W.  Vgl.  lit.  se-Mäy  lett.  se-hla  'same'  :  lat.  sae-culum, 
Brugmann,  Grundr.  2, 115.  Fick,  Vgl.  wb.  2*,  294. 

10.  Mhd.  schrube,  nl.  schroef,  aisl.  skrufa  'schraube',  worin 
Kluge,  Et.  wb.s  lehnwörter  aus  lat.  scropha  'sau'  sieht,  sind 
vielleicht  echt  germ.  Sie  lassen  sich  gut  mit  lat.  scrupus 
'spitzer  stein',  gr.  axogjtlog  'stachlig'  verbinden  und  vielleicht 
auch  mit  aisl.  pl.  skurfor,  as.  scurf,  ahd.  scorf  'schorf'  (vgl. 
Noreen,  Urg.  lautlehre  s.  205  f.).  Diese  beruhen  auf  der  grund- 
form  *squerpo-  mit  den  ablautsstufen  ^squrp-,  *squrp-,  ^squfp- 
(vgl.  Brugmann,  Grundr.  1^,  260). 

Die  grundform  ^squerpo-  kann  man  von  der  wz.  squer- 
herleiten,  welche  sich  in  com.  bret.  spern  ' Spinae',  lit.  skverUi 
'mit  einem  spitzen  Werkzeug  bohrend  stechen'  findet  (vgl.  Fick, 
Vgl.  wb.  2*,  311).  Vielleicht  ist  mhd.  schrube  enger  mit  lit. 
skverbti  als  mit  lat.  scrüpus  zu  verbinden.  Dann  repräsentiert 
schrübe  ein  vorgerm.  *squfbhä-, 

11.  Ags.  strldan  'schreiten'  :  ahd.  strttan  'streiten'  ist  eine 
gleichung,  an  deren  möglichkeit  Kluge  gar  nicht  gedacht  zu 
haben  scheint  (s.  dessen  Et.  wb.  s.  v.  streit).  Phonetisch  darf 
sie  allerdings  nicht  für  ganz  sicher  gelten,  da  germ.  str-  auf 
vorgerm.  str-  oder  sr-  zui'ück  gehen  kann.  Begrifflich  aber 
ist  diese  Verbindung  natürlich  und  ohne  Schwierigkeit,  wenn 
man  für  die  germ.  wz.  strtd-  die  ursprüngliche  bedeutung  'aus- 
strecken, wonach  trachten,  sich  anstrengen'  anninmit.  Daraus 
entwickelt  sich  leicht  sowol  'schreiten'  als  'streiten'. 

Man  vergleiche  ähnliche  bedeutungsentwicklung  bei  den 
folgenden:  gr.  dpt/co  'ausstrecken'  :  'schreiten' :  'angreifen,  an- 
fallen', oQBfna  'das  ausstrecken'  :  'schritt';  aind.5%Ä-  'schrei- 
ten' :  'angreifen';  2islo\, stignq>ti  'eilen' :  gr.arelxco  'gehe,  steige', 
got.  steigan  'steigen';  gr.  jterdvvvfii  'strecke  aus'  :  jciro/iai 
'fliege'  :  lat.jpe^ö  'greife  an';  ags.  rcBsan  'stürzen'  :  'anfallen' : 
^e-rls  'wut' :  rtsan  'steigen' :  mhd.  reise  'zug,  reise';  ags.  clacian 
'eilen'  :  clacu  'streit';  ten^an  'eilen'  :  'anfallen'. 

12.  Engl.  ^Äröe 'schmerz',  Sigs.pruwian,  ahd.  drwo^w 'leiden' 
aus  der  germ.  wz.  pro-  sind  aus  der  indog.  wz.  tre-  'drehen' 
entstanden,  also  mit  ags.  j^räwan,  ahd.  dräen  verwant.  Vgl. 
für  die  bedeutung  lat.  torqueo  'drehe'  :  'peinige';  engl,  writhe 


ETYMOLOGISCHES.  533 

'drehen,  winden'  :  'sich  winden,  sich  vor  schmerz  krümmen', 
an  Zuckungen  leiden'. 

18.  Mhi.  strafe  'tadel,  strafe',  strafen  'bestrafen,  züchtigen' 
sollen  nach  Kluge  den  übrigen  germ.  dialekten  fehlen.  Man 
darf  sie  aber  mit  ags.  }rafian  'antreiben;  tadeln,  züchtigen', 
prafung  'verweis,  Züchtigung'  verbinden  und  auf  die  erweiterte 
WZ.  tr^-pO'  zurückführen.  '  Vgl.  gr.  tq^jvo)  'drehe,  wende;  treibe 
zurück,  schlage  ab;  treibe  an,  überrede',  Iv-tqbjkd  'beschäme, 
züchtige',  aind.  trapate  'schämt  sich,  wird  verlegen',  trapayati 
'beschämt',  lat.  trepidus  etc.  Vgl.  Prellwitz,  Et.wb.  s.v.  rgsjcco. 
Persson,  Wurzelerweiterung  s.  51.  Diese  sippe  ist  also  mit  der 
vorhergehenden  urverwant. 

14.  Ahi.  ^idaläri,  mhd. -s^^detere 'zeidler',  ableitung  zu  ahd. 
^idal-,  mhd.  mdel-  in  der  Zusammensetzung  zldalweida  u.  s.  w. 
(s.  Kluge,  Et.  wb.  s.  v.  iseidler)  weisen  auf  ein  germ.  Hlpla-,  vor- 
germ.  *dt4lO'  hin,  welches  der  wz.  di-,  dei-  entstammt.  Aus 
derselben  wz.  sind  entstanden  lett.  dejums  'gehöhlter  bienen- 
stock',  dejele  'bäum,  worin  ein  bienenstock  ausgehöhlt  ist  oder 
ausgehöhlt  werden  kann'  (wegen  weiterer  beziehungen  vgl. 
Prellwitz,  Et.  wb.  s.  v.  ölvoo), 

Mt.  VERNON,  Iowa.  FRANCIS  A.  WOOD. 


UEBER  DEN  GOTISCBE^B AT.  FLUR.  JVABTAM 

Nach  der  ansieht  der  meisten  autoren  haben  wir  bei  den 
consonantstämmen  im  got.  die  endung  -um  im  dat.  pl.  zu  er- 
warten. Diese  endung  finden  wir  bewahrt  in  den  verwant- 
schaftswörtern  auf  -r,  in  menöpum,  bajöpum  uijd  bei  denjenigen 
consonantstämmen  welche  dank  diesem  dativ  auf  -um  und 
anderen  ein  lautgesetzliches  u  enthaltenden  endungen  (acc. 
sg.  'U ;  acc.  pl.  -uns)  zur  w-declination  tibergetreten  sind.  Solche 
nomina  sind  bekanntlich  fötus  (gr.  jtovg,  lat.  pes,  aisl.  fötr), 
tunpus  (gr.  oöovq,  lat.  dens^  aisl.  tgnn)  und  wol  auch  handus 
(aisl.  hgnd,  pl.  hendr).  Baürgs,  alhs,  spaürds,  brusts,  dulps, 
waihts,  miluks,  mitaps  haben  sich  alle  mehr  oder  weniger  der 
i-declination  genähert  und  haben  im  dat.  pl.  -im,^)  Die  endung 
-am,  wol  der  a-declination  entlehnt,  haben  die  participia  prae- 
sentis  und  das  masc.  reiks,  welches  sich  auch  im  gen.  sg.  mit 
der  form  reiMs  den  mascc.  auf  -a  anschliesst.  Das  wort  ndlits 
steht  aber  mit  seiner  dativendung  -am  unter  den  got.  femi- 
ninis  absolut  vereinzelt,  und  es  wird  deshalb  vergeblich  sein, 
die  betreffende  form  durch  annähme  von  anlehnung  an  andere 
Paradigmen  erklären  zu  wollen. 

Joh.  Schmidt,  meines  Wissens  der  erste  welcher  diese 
eigentümliche  form  zu  erklären  versuchte  (KZ.  26, 18),  findet  in 
got.  ndhtam  den  rest  eines  alten  w-stammes  und  betrachtet 
das  betreffende  wort  als  ein  beispiel  des  wechseis  zwischen 
-r-  und  -n-   in  verschiedenen  indog.   neutralen  Substantiven. 

')  Die  angaben  der  gi*ammatiker  über  die  declination  der  zur  letzt- 
genannten gruppe  gehörenden  Substantive  müssen  jedoch  mit  einiger  reserve 
aufgenommen  werden,  weil  ihre  pluralformen  bei  Ulfilas  sehr  spärlich  ver- 
treten sind.  Nach  Schulzes  Stellenverzeichnis  sind  nur  von  baürgs  alle 
pluralcasus  überliefert,  ausser  baürgim  ist  spaürdim  der  einzige  dat.  pl., 
von  miluks  und  diäps  sind  gar  keine  pluralformen  da. 


GOT.  NÄHTÄM.  535 

Den  r-stamm  haben  wir  sowol  in  gr.  vvxtcjq,  als  auch  in  lat. 
noctur-nu'S  bewahrt;  den  neutralen  n-stamm  sucht  Schmidt  in 
skr.  naJctdbhis,  got.  nahtam  und  in  der  got.  compositionsform 
nahta-  in  nahta-mats. 

Was  zunächst  die  compositionsform  nahta-  betrifft,  so  ist 
ihre  beweiskraft  so  gut  wie  gar  keine.  Die  von  Braune  in 
seiner  Got.  gramm.  s.  39  aufgeführten  beispiele  zeigen,  dass  in 
den  nominalcompositis  der  a-vocal  in  der  compositionsfuge 
keineswegs  an  stamme  gebunden  ist,  wo  er  lautgesetzlich  hin- 
gehört. Nahta-mats  muss  wol  in  derselben  weise  beurteilt 
werden,  wie  bröfra-lubö  und  garda-wdldands.  Ich  gebe  aller- 
dings zu,  dass  Schmidt  nicht  ganz  unberechtigt  war,  für  die 
compositionsform  nahta-  eine  Specialerklärung  zu  suchen,  so 
lange  er  in  dem  daneben  gestellten  nahtam  eine  uralte  form 
erblicken  zu  müssen  glaubte.  B.  Kahle  9  hat  indessen  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dass  die  form  nahtam  sehr  wol  auf  got. 
boden  entstanden  sein  kann,  und  zwar  durch  den  einfluss  des 
sinnverwanten  dagam.  Bei  erneuter  behandlung  der  frage 
hat  J.  Schmidt-)  die  meinung  Kahles  nicht  einmal  erwähnt; 
seinem  beispiele  folgen  Braune,  Streitberg  und  Wrede,  von 
denen  die  beiden  erstgenannten  keine  erklärung  geben,  wäh- 
rend Wrede  mit  Schmidts  darstellung  einverstanden  ist. 

Die  ungünstige  aufnähme,  welche  Kahles  Vermutung  ge- 
funden hat,  beruht  m.  e.  auf  der  knappheit  seiner  beweis- 
führung.  Kahle  bringt  allerdings  mehrere  schöne  analogien 
aus  verwanten  sprachen,  wie  z.  b.  ahd.  gen.  sg.  nahtes  und 
dat.  sg.  nahte  neben  der  regelmässigen  gen. -dat. -form  naht, 
aber  die  beweise  welche  aus  dem  got.  geschöpft  werden  können, 
scheinen  ihm  entgangen  zu  sein. 

In  Schulzes  Glossar  finden  wir  als  belegsteilen  für  die 
form  nahtam  angegeben  Marc.  5,  5.  Luc.  2, 37.  1.  Tim.  5, 5.  Luc. 
18,  7.  Marc.  5,  5  steht  nahtam  jah  dagam,  gr.  pvxrog  xai  i^fidgag; 
Luc.  2, 37  nahtam  jah  dagam,  gr.  vvxra  xal  ^f/dgav]  1.  Tim.  5, 5 
nahtam  jah  dagam,  gr.  vvxroq  xal  ^fiigag;  Luc.  18,  7  dagam  jah 
nahtam,  gr.^fddgag  xal  vvxrog. 

Die  form  nahtam  ist  also  nur  in  der  Verbindung  nahtam 

^)  Ziir  entwickelung  der  consonantischen  declination  im  germ.  s.  35. 
^)  Die  plnralbildung  der  indog.  neutra  s.  212.  253  f. 


536  PIPPING,  GOT.  NÄETAM. 

jdh  dagam  bez.  dagam  jah  nahtam  überliefert.  Die  bedeutung 
ist  in  allen  fällen  dieselbe  und  zwar  =  'ohne  Unterbrechung'. 
An  eine  mechanische  Übersetzung  aus  dem  griech.  ist  nicht  zu 
denken,  da  wir  im  grundtexte  ganz  andere  und  dazu  wechselnde 
casusformen  antreffen  (bald  den  gen.,  bald  den  acc).  Nur  die 
reihenfolge  der  beiden  dative  ist  beweglich  und  richtet  sich 
nach  dem  griech.  Vorbild. 

Folglich  haben  wir  es  im  got.  nahtam  jah  dagam  bez. 
dagam  jah  nahtam  mit  einer  stereotypen  Wortfügung  von 
stereotyper  adverbialer  bedeutung  zu  tun.  Wenn  man  auf 
grund  der  genannten  belegsteilen  bisher  erschlossen  hat,  dass 
der  dat.  pl.  von  nahts  nahtam  gelautet  habe,  so  ist  diese  schluss- 
folgerung  entschieden  übereilt  gewesen.  Auf  grund  der  ahd. 
adverbialform  nahtes  hat  niemand  den  gen.  nahtes  angesetzt, 
weil  der  wirkliche  gen.  naht  zufällig  belegt  ist.  So  lange  wir 
im  got.  die  form  nahtam  nur  in  der  oben  genannten  Verbin- 
dung vorfinden,  müssen  wir  den  in  das  paradigma  von  nahts 
gehörenden  dat.  pl.  als  unbelegt  betrachten. 

J.  Schmidts  ansetzung  eines  alten  Stammes  ndktan-  hat 
also  nunmehr  keine  andere  stütze  als  skr.  nahtdbhis.  Aber 
auch  diese  stütze  ist  trüglich,  denn  wie  mein  freund  Liden 
bemerkt,  erklärt  sich  diese  form  am  einfachsten  durch  annähme 
von  beeinflussung  durch  das  sinnverwante  dhabhis, 

UPSALA.  HUGO  PIPPING. 


ZUR  HEIMAT  DER  VOLCAE. 

Müllenhoff  hat  bekanntlich  im  zweiten  teile  der  Deutschen 
altertumskunde  aus  den  schon  in  M.  W.  Dunckers  Origines  Ger- 
manicae  vollständig  gesammelten  berichten  über  die  Wohnsitze 
der  Volcae  zu  erweisen  versucht,  dass  die  heimat  dieses  Volkes 
bis  gegen  das  4.  jh.  'an  der  Weser  abwärts'  und  dann  im  Main- 
tale gelegen  habe  (2,279).  Diese  ansieht  ist  von  Much  als 
unrichtig  erwiesen,  aber  noch  verfehlter  scheint  mir  seine  an 
ihrer  statt  aufgestellte  hypothese,  dass  Mähren  die  heimat  der 
Volcae  gewesen  sei. 

An  den  zwei  ersten  Keltenzügen  hatten  die  Volcae  keinen 
anteil;  erst  der  dritte,  der  galatische,  führte  sie  in  den  hori- 
zont  der  Griechen  und  Römer  hinein.  Nach  dessen  ablauf 
finden  wir  das  volk  zersplittert  in  drei  oder  vier  weit  aus- 
einander liegenden  gegenden  wohnhaft.  Erstens  in  Narbonensis 
zwischen  Rhone  und  Pyrenäen,  wo  sie  zuerst  bei  Hannibals 
Alpenzuge  erwähnt  werden,  aber  schon  anfangs  des  3.  jh.'s 
angekommen  sein  müssen  (Duncker  s.  33).  Dann  in  Kleinasien, 
wo  ein  teil  des  völkerschwarmes,  der  seit  281  die  thrakisch- 
griechische  halbinsel  durchzogen  hatte,  neue  Wohnsitze  gefunden 
hatte.  Und  drittens  an  den  Ost- Alpen  und  (oder)  an  der  Her- 
cynia  silva. 

Justin  berichtet  (32,  3) :  Namque  Galli  hello  adver sus  Del- 
phos  infeliciter  gesto,  . . .  pars  in  Asiam  pars  in  Thradam  ex- 
torres  fugerant  Inde  per  eadem  vestigia  qua  venerant  antiquam 
patriam  repetivere.  Ex  Ms  manus  quaedam  in  confluente  Da- 
nubii  et  Savi  consedit  Scordiscosque  se  appellari  voluit     Tecto- 

sages  autem,  cum  in  antiquam  patriam  Tolosam  venissent. 

Ex  gente  Tectosagorum  non  mediocris  populus  praedae  dulce- 
dine  Ulyricum  repetivit  spoliatisque  Istris  in  Pannonia  consedit 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XXIV.  35 


538  MÜLLER 

Der  letzte  teil  des  berichtes  steht  vereinzelt  da:  kein  anderer 
autor  weiss  etwas  von  Tectosages  in  Pannonien.  Aber  die 
notiz  wird  dadurch  noch  nicht  verwerflich.  Sowol  der  ge- 
schichtsschreibung  wie  der  sage  galt  das  tolosanische  als  die 
heimat  des  ganzen  Volkes  der  Volcae,  und  zugleich  leitete  die 
erstere  das  tolosanische  gold  vom  Brennuszuge  nach  Delphi 
her.  Daraus  erklärt  sich  die  fassung  des  berichts  Justins, 
dass  der  in  Pannonien  angesiedelte  teil  erst  von  Narbonensis 
nach  Griechenland,  dann  zurück  nach  Tolosa  und  dann  wider 
nach  Illyrien  gezogen  sei.  Nach  ausmerzung  dieses  augen- 
scheinlichen von  der  tradition  betreffend  Tolosa  veranlassten 
irrtumes  bleibt  die  an  sich  nicht  unwahrscheinliche  nachricht 
übrig,  dass  die  Tectosages  ausser  in  Narbonensis  und  in  Ga- 
latien,  auch  zum  teil  in  Pannonien  in  der  nähe  der  Istri,  d.  h. 
im  obem  Sautale,  sich  niedergelassen  hatten. 

Wir  finden  aber  das  volk  bei  Caesar  noch  an  einer  vierten 
stelle,  nämlich  an  der  Hercynia  silva,  ansässig.  Dieser  sagt 
(BG.  6, 24):  Ac  fuit  antea  tempus,  cum  Germanos  Galli  virtute 
superarent,  nitro  bella  inferrent,  propter  hominum  multitudinem 
agrique  inopiam  trans  Rhenum  colonias  mitterent  Itaque  ea 
quae  fertilissima  Germaniae  sunt  loca  circa  Hercyniam  silvam, 
quam  Eratostheni  et  quihusdam  Graecis  fama  notam  esse  video, 
quam  Uli  Orcyniam  appellant,  Volcae  Tectosages  occupaverunt 
atque  ibi  consederunt;  quae  gens  ad  hoc  tempus  his  sedihus 
sese  continet  summamque  habet  iustitiae  et  bellicae  laudis  opi- 
nionem.  Schon  Ben.  Niese  hat  diese  nachricht  mit  der  Justins 
verbunden  (Zs.  fda.  42, 142),  aber  nur  um  beide  gänzlich  zu 
verwerfen.  Nach  ihm  soll  dui^ch  die  Tectosages  Caesars  und 
Justins  *  ursprünglich  wol  nur  die  herkunft  der  pannonischen 
Kelten  erklärt  werden',  und  ^ diese  Volcae  am  hercynischen 
walde  ganz  und  gar  der  fabel  zuzuweisen  sein'.  Es  ist  aber 
schwerlich  einzusehen,  wie  ^die  wanderungssage '  dazu  kommen 
konnte,  in  Pannonien  die  existenz  eines  zweiges  der  Volcae 
Tectosages  zu  fingieren,  mit  dem  zwecke,  die  herkunft  anderer 
pannonischer  Keltenstämme  zu  erklären. 

Müllenhoff  meinte  mit  recht,  Caesar  habe,  der  sage  und 
der  tradition  folgend,  die  Tectosages  an  der  Hercynia  für  eine 
colonie  ihrer  stammesgenossen  an  der  Cevenna  gehalten  (2, 276), 
und  habe  die  sage  vom  Sigovesuszuge  im  sinne  gehabt  (204), 


ZUR  HEIMAT   DER  VOLCAE.  539 

wonach  zur  gleichen  zeit,  als  die  Gallier  unter  Bellovesus 
über  die  Alpen  in  Italien  eindrangen,  ein  anderer  teil  desselben 
lieeres  sich  unter  Sigovesus  ostwärts  gewant  habe  und  in  die 
hercynischen  Wälder  ausgezogen  sei  (261).  Aber  unberechtigt 
ist  der  daraus  von  MttUenhoff  gezogene  schluss,  dass  alles  an 
dem  berichte  verwerflich  sei  ausser  dem  Wohnsitze  eines  teiles 
der  Tectosages  an  der  Hercynia.  Beseitigt  man  Caesars 
oratorische  fassung  des  berichts,  so  besagt  der  kern  nichts 
anderes,  als  dass  die  Tectosages  noch  zu  seiner  zeit  an  der 
Hercynia  wohnten,  aber  da  keine  autochthonen  waren,  son- 
dern aus  dem  alten  Keltenlande  stammten.  Warum  diese 
offenbar  auf  gallischer  tradition  beruhende  notiz  fabelhaft  sein 
soll,  ist  nicht  einzusehen.  Im  gegenteil  stimmt  sie  zu  allem, 
was  wir  übrigens  von  den  Wohnsitzen  des  volkes  wissen  und 
zu  den  resultaten  der  Untersuchungen  über  die  Keltenzüge 
(Duncker,  MüUenhoff,  Hirschfeld,  Niese  u.s.w.). 

Nach  den  Volcae  an  der  Hercynia  ist  überall  herumgesucht 
worden:  den  meisten  anklang  fanden  noch  Müllenhoffs  hypo- 
these,  sie  hätten  im  Maintale  gewohnt,  und  die  Muchs,  ihre 
heimat  sei  Mähren.  Beide  hielten  jene  gegenden  für  die, 
woraus  die  Volcae  zu  anfang  des  3.  jh.'s  einerseits  nach  Nar- 
bonensis,  andererseits  nach  der  thrakisch-griechischen  halbinsel 
abgezogen  seien.  Dem  widersprechen  aber  Caesars  worte  quae 
gens  ad  hoc  tempus  his  sedibus  sese  continet,  denn  die  Volcae 
von  Narbonensis  und  Galatien  können  unmöglich  aus  einem 
ver  sacrum  hervorgegangen  sein  und  nur  aus  dem  auszuge 
des  ganzen  volkes  aus  seiner  vorigen  heimat  erklärt  werden. 
Der  fehler  liegt  m.  a.  n.  hierin,  dass  man  bis  jetzt  nicht  er- 
wogen hat,  was  in  Caesars  notiz  unter  Hercynia  silva  zu  ver- 
stehen ist. 

Die  stelle  Caesars  lag  Tacitus  vor  bei  c.  28  der  Germania: 
Validiores  olim  Gallorum  res  fuisse  summus  auctor  divus  Julius 
tradit,  eoque  credibile  est  etiam  Gallos  in  Germaniam  trans- 
gressos.  Worauf  folgt:  Igiiur  inter  Hercyniam  silvam  Rhenum- 
que  et  Moenum  amnes  Helvetii,  ulteriora  Boii,  Gallica  utraque 
gens,  tenuere,  Manet  adhuc  Boihaemi  nomen  significatque  loci 
veterem  memoriam,  quamvis  mutatis  cultoribus.  An  dieser 
stelle  ist  Hercynia  silva  natürlich  die  Eauhe  Alb,  nicht  wie 
sonst  bei  Tacitus  (Germ.  80.  Ann.  2, 40)  und  den  anderen  nach- 

85* 


540  MULLER 

caesarischen  autoren,  das  deutsche  mittelgebirge,  was  andeutet, 
dass  Tacitus  die  stelle  einem  altem  autor  entnommen,  der  die 
gebirge  nördlich  vom  Main  noch  nicht  kannte.  Ich  vermute, 
dass  seine  quelle  eben  dieselbe  stelle  Posidonius  war,  woraus 
Strabo  entnahm  (Z293):  (priöl  de  Tcal  Bolovg  rov  ^Eqxvvlov 
ÖQVfiov  olxelv  JCQOTSQOP,  rovg  dh  Kl/ißgovg  oQ/n^öavrag  km 
TOP  roütov  xovxov,  djtoxQOVöd^evrag  tJaro  rcov  Bolcov  ijil  rov 
^iöTQOP  xal  Tovg  UxoQÖlöxovg  FaXarag  xataß^vai,  sir  ijcl 
Tevglövag  xal  Tavglöxovg,  xal  tovrovg  rakdrag,  eiz  im  ^EXov- 
rjxxlovg.  Daraus  geht  nur  hervor,  dass  Posidonius  die  ge- 
birge Böhmens  Hercynia  nannte,  aber  nicht  ob  er  die  Eauhe 
Alb  oder  die  gebirge  nördlich  vom  Main  unter  dem  namen 
mitbegriff,  und  in  anbetracht  seines  alters  ist  das  erstere 
wahrscheinlicher.  Jedenfalls  aber  hatte  Tacitus  einen  autor 
vor  sich,  der  ihn  veranlasste  die  ihm  ebenfalls  vorliegende 
stelle  Caesars,  welche  als  keltisches  volk  an  der  Hercynia 
nur  die  Volcae  Tectosages  nannte,  zu  verwerfen,  denn  sonst 
hätte  er  hier  ohne  zweifei  auch  diese  miterwähnt. 

Caesars  notiz  stammt  augenscheinlich  aus  einer  griechischen 
quelle,  aber  nicht  aus  Posidonius,  weil  sonst  Strabo  die  Tecto- 
sages wol  auch  genannt  haben  würde.  Erwägt  man  aber,  dass 
die  angeführte  stelle  des  Posidonius  die  älteste  uns  bekannte 
ist,  worin  der  name  'Egxvvia  von  den  Alpen  i)  auf  die  Rauhe 
Alb  und  die  nordöstlich  anschliessenden  gebirge  übertragen 
war  (DA.  1,432),  und  dass  Caesar  in  seiner  vorläge  noch  die 
ältere  form  'Ogxvvia  vorfand,  dann  liegt  die  Vermutung  nahe, 
dass  diese  unter  dem  namen  noch  die  Alpen  verstand,  was 
Caesar  natürlich  entgehen  musste.  Und  hält  man  nun  die 
stelle,  so  gedeutet,  neben  der  von  Justin  aus  Trogus  aus- 
gezogenen, so  zeigt  sich  sofort,  dass  beide  aus  derselben  quelle 

^)  Es  scheint  mir  nicht  üherflüssig  hervorzuheben,  dass  die  anwendung 
des  keltischen  namens  anf  die  Alpen  natürlich  nur  von  der  geographischen 
Unkenntnis  der  älteren  Griechen  herrührt.  Im  keltischen  muss  Perktmia 
von  anfang  an  das  deutsche  mittelgebirge  zwischen  Ehein  und  Weichsel 
bezeichnet  haben;  denn  nur  so  lässt  sich  die  entlehnung  von  fairgvm  im 
gotischen  mit  der  bedeutung  des  namens  bei  den  nachcaesarischen  autoren 
vereinigen.  Jedenfalls  ist  es  unrichtig,  den  namen  auf  das  Erzgebirge  oder 
die  böhmischen  randgebirge  zu  beschränken,  und  ist  mithin  auch  der  schluss 
hinfällig,  dass  die  Germanen  den  namen  nur  an  der  grenze  Böhmens  oder 
Mährens  aus  dem  keltischen  entlehnen  konnten. 


ZUR  HEIMAT  DER  VOLCAE.  541 

geflossen  sein  müssen,  welche  etwa  dieses  enthielt,  dass  die 
Tectosages  sich  von  Gallien  nach  der  Orcynia  gewant  und 
sich  dort  nach  besiegung  der  Istri  niedergelassen  hatten J) 
Caesar  hat  dann  die  Istri  weggelassen,  weil  er  wusste,  dass 
diese  nicht  an  (seiner)  Hercynia  wohnten,  und  überdies  für 
den  zweck  seines  excerptes  keinen  wert  hatten,  während 
Trogus  umgekehrt  die  Orcynia  ausmerzte,  weil  er  wusste,  dass 
bei  den  Istri  nur  von  den  Alpen,  nicht  von  (seiner)  Hercynia 
die  rede  sein  konnte. 

Ob  Caesars  worte  quae  gens  ad  hoc  tempus  his  sedibus 
sese  continet  von  ihm  selbst  herrühren  oder  aus  der  gemein- 
samen quelle  stammen,  lässt  sich  schwerlich  entscheiden.  Es 
wäre  möglich,  dass  das  volk  schon  vor  Caesar  verschwunden 
war,  und  z.  b.  das  los  der  Boier,  der  Vernichtung  durch  die 
Daker  Boirebistas  (Strabo  J  213),  geteilt  hatte,  aber  ebenso 
möglich  und  m.  a.  n.  wahrscheinlicher  ist,  dass  sie  bei  Ptole- 
maeus  widerkehren  unter  dem  erst  bei  diesem  vorkommenden 
namen  Latovici.  Jedenfalls  aber  ist  das  fehlen  der  Tectosages 
bei  Strabo  und  Ptolemaeus  kein  grund,  wie  Niese  will,  um 
die  notizen  Caesars  und  Justins  ganz  der  fabel  zuzuweisen. 

Aus  der  gemeinsamen  quelle  Caesars  und  Justins  muss 
auch  die  enge  Verbindung  stammen,  worin  bei  letzterm  der 
zug  der  Tectosages  nach  lUyrien  zum  Galaterzuge  nach  Delphi 
stand,  wobei  es  gleichgiltig  ist,  von  wem  die  augenscheinliche 
umkehrung  der  Zeitfolge  der  zwei  züge  herrührt.  Die  Ver- 
bindung aber  bestätigt  die  Vermutung  Dunckers  (28),  dass  die 
grosse  Keltenbewegung  an  den  Alpen  um  300,  woran  die  er- 
innerung  bei  Livius  (10, 10)  und  Polybius  (2, 19)  erhalten  blieb, 
den  stoss  gab  zum  Galaterzuge.  Ist  die  Vermutung  richtig, 
dann  gehörte  zum  Gallorum  ingens  exerdtus,  der  nach  Livius 
in  299  in  Etrurien  eingefallen  war,  auch  der  non  mediocris 
populus  ex  gente  Tectosagorum,  der  nach  Justin  nachher  die 
Istri  besiegte  und  sich  in  Ulyrien  niederliess.  Von  ihren 
neuen  dortigen  Wohnsitzen  muss  dann  in  281  der  vorstoss  zum 
Galaterzuge  ausgegangen  sein,  denn  die  Volcae  bildeten  omnium 


^)  Diese  ursprüngliche  qneUe  muss  also  älter  als  Posidonius  gewesen 
sein,  aber  das  hindert  nicht  die  ansieht  Gutschmids,  dass  die  hauptqueUe 
Justins  Timagenes  gewesen  sei,  noch  die  Nieses,  dass  Nepos  die  gemein- 
schaftliche nächste  quelle  für  diesen  passus  Justins  und  Livius^  war. 


542  MULLEB 

consensu  den  Schwerpunkt  des  zuges,  und  das  zurdckbleiben 
eines  teils  des  Stammes  in  Ulyrien  steht  der  annähme  gar 
nicht  entgegen.  Es  ist  begreiflich,  dass  die  bei  Callimachus 
und  Pausanias  erhaltene  sage  (DA.  2, 272)  die  zwei  kurz  auf- 
einander folgenden  züge  desselben  volkes  miteinander  verband 
und  es  aus  dem  äussersten  westen  Europas  nach  Griechenland 
kommen  liess.  Und  zugleich  wird  dadurch  die  scharfsinnige 
Vermutung  Dunckers  (33)  bestätigt,  die  Volcae  an  der  Cevenna 
seien  da  ums  jähr  300  angekommen.  Livius  erzählt,  dass  die 
Gallier  mit  der  bestimmten  absieht  gekommen  waren,  neue 
Wohnsitze  zu  erlangen,  ut  tandem  aliqua  sede  certa  consistcmt 
Es  ist  mithin  wahrscheinlich,  dass  die  Volcae  sich  erst,  nach- 
dem die  Etrusker  sich  ihren  abzug  erkauft  hatten,  in  zwei 
Züge  geteilt  haben,  wovon  der  eine  sich  ostwärts  nach  Ulyrien 
und  der  andere  westwärts  nach  Narbonensis  wandte,  und  es 
scheint  mir  selbst  nicht  unmöglich,  dass  das  zwei  Jahrhunderte 
später  von  Caepio  geraubte  aurum  iolosanum  grösstenteils  aus 
der  ingens  pecunia  stammte,  welche  die  Galli  (Volcae)  in  299 
aus  Etrurien  über  die  Alpen  mitgenommen  hatten. 

Den  Wohnsitzen  der  Volcae  im  Maintale  und  in  Böhmen 
bei  Mttllenhoff  und  in  Mähren  bei  Much  ist  hiermit  glaube  ich 
der  boden  geschwunden.  Nach  Griechenland  kam  das  volk 
aus  Pannonien,  und  nach  Pannonien  und  Narbonensis  aus 
Etrurien.  Woher  aber  kam  es,  als  es  im  jähre  299  in  Etru- 
rien einfiel?  Hier  müssen  wir  anknüpfen  an  MüUenhoffs 
schöne  und  folgenreiche  entdeckung  (2,279):  'dass  die  Volcae 
einst  die  unmittelbaren  nachbarn  der  Germanen  waren  und 
aus  deren  nächster  nähe  abgerückt  sind,  unterliegt  mindestens 
keinem  zweifei,  weil  die  Germanen  nach  ihnen  den  ganzen 
keltischen  volksstamm  benannt  haben'.  Dabei  muss  man  aber 
im  äuge  behalten,  dass  der  name  Walxöz  =  'Kelten'  sich  nui' 
im  westgermanischen  findet,  während  er  im  ostgermanischen 
fehlt.  ^)  Die  Volcae  waren  also  wahrscheinlich  die  ursprüng- 
lichen keltischen  nachbarn  der  Westgermanen. 

^)  Dass  Wlahu  im  slavischen  aus  dem  deutschen  entlehnt  ist,  beweist 
noch  nicht,  wie  Müllenhoff  will,  dass  die  Slaven  den  namen  von  den  Qoten 
oder  Ostgermanen  entlehnt  haben  müssen.  Die  eutlehnung  kann  ebensogut 
geschehen  sein,  nachdem  die  Slaven  nach  dem  abzuge  der  Goten  und  an- 
deren Ostgermanen  zu  nachbarn  der  Westgermaneu  geworden  waren,  und 


ZUR  HEIMAT  DER  VOLCAB.  543 

An  den  zwei  ersten  Keltenzügen  hatten  die  Volcae  keinen 
anteil  gehabt.  Der  erste,  nach  Müllenhoff  im  6.  jh.  anzusetzen, 
fügte  dem  alten  Keltenlande  das  vorher  nur  von  Iberiern  und 
Liguriern  bewohnte  gebiet  zwischen  Loire  und  Garonne  hinzu, 
und  führte  den  stamm  dann  nach  Iberien,  wo  er  den  Griechen 
zuerst  bekannt  wurde  unter  dem  namen  Celtae.i)  Er  gieng 
also  vermutlich  von  der  Loire  aus.  Der  zweite  zug  gieng  zu 
anfang  des  4.jh.'s  über  die  Alpen  nach  Italien,  und  mag  er 
nun  nach  der  bei  Livius  erhaltenen  tradition  ebenfalls  von  dem 
mittleren  Gallien,  oder  nach  der  modernen  ansieht  Bertrands, 
d'Arbois  de  Jubainvilles  und  Nieses  (a.  a.  o.  s.  151)  von  den 
Donauländern  ausgegangen  sein,  jedenfalls  wird  die  bei  Justin 
erhaltene  tradition,  der  zug  sei  aus  einem  ver  sacrum  hervor- 
gegangen, bestätigt  durch  den  umstand,  dass  sich  damals  im 
cisalpinischen  Gallien  eine  anzahl  Völker  niederliess,  wovon 
mehrere  namensvetter  im  transalpinischen  zurückliessen.  Für 
sich  allein  berechtigen  die  zwei  züge  nur  zu  dem  Schlüsse, 
dass  die  ursprünglichen  grenzen  zwischen  Germanen  und 
Kelten  gegen  den  schluss  des  5.  jh.'s  noch  nicht  verschoben 
waren.2) 

Ein  Jahrhundert  später  aber  kommen  die  ursprünglichen 
keltischen  nachbam  der  Westgermanen  nach  Italien,  ut  tandem 
aliqua  sede  certa  consistant.  Sie  sind  aus  ihrer  Urheimat  ver- 
trieben, ohne  zweifei  durch  die  Germanen,  denn  nach  dem 
jähre  300  waren  diese  nie  und  nirgends  ihre  nachbarn,  so 
dass  die  entlehnung  ihres  namens  nur  vorher  stattgefunden 
haben  kann,  und  ihre  Vertreibung  gegen  den  schluss  des 
4.  jh.'s  geschehen  sein  muss.  Treffend  stimmt  hierzu  das 
resultat  der  Untersuchungen  Kossinnas  (Ueber  den  Ursprung 

es  wäre  höchst  auffallend,  dass  sich  keine  einzige  spur  des  namens  in  den 
ostgermanischen  sprachresten  erhalten  hat,  wenn  er  da  wirklich  exi- 
stiert hätte. 

1)  In  meiner  abhandlung  De  civitates  van  Gallie,  in  den  Verhh.  der 
k.  akad.  v.  wetensch.,  afd.  letterk.,  n.  r.  2,  no.  1  (Amst.  1898,  s.  48)  habe  ich 
gezeigt,  dass  der  zweifei  Kieperts  und  Mtillenhoffs  an  der  Wahrheit  der 
äusserung  Caesars,  dass  der  keltische  stamm  des  mittleren  Gulliens  ipsorum 
lingua  Celtae  appellantur,  unberechtigt  ist. 

*)  Obiges  beanstandet  nicht  die  auch  m.  a.  n.  richtige  hypothese,  dass 
die  küsten  zwischen  Weser  und  Rhein  schon  damals  von  Ingväonen  be- 
siedelt waren. 


544  Müller,  zur  heimat  der  volcae.  —  hörn,  zu  beitr.  24, 403. 

des  Gennanennamens,  Beitr.  20, 297,  und  Die  vorgeschichtliche 
ausbreitung  der  Germanen  in  Deutschland  in  der  Zs.  d.  ver.  f. 
volksk.  1896,  s.  9),  dass  das  gebiet  zwischen  Leine  und  Rhein 
seit  etwa  300  seine  germanische  bevölkerung  erhalten  hat, 
und  es  scheint  mir  deshalb  unmöglich,  die  Urheimat  der  Volcae 
vor  ihrem  aufbruch  nach  dem  Süden  gegen  300  anderswohin 
ZU  verlegen  als  nach  jenem  gebiet,  woraus  sie  durch  die  Istae- 
vonen  vertrieben  wurden. *)  An  der  Weser,  Aller  und  Leine 
lag  Jahrhunderte  hindurch  die  grenze  zwischen  Kelten  und 
Westgermanen:  dort  muss  die  benennung  Wolköz,  Wol^öz, 
Walxöz'^)  =  *  Kelten'  entstanden  sein. 

ROTTERDAM,  november  1899.  S.  MULLER. 


ZU  BEITR.  24,  403. 

Nachträglich  finde  ich,  dass  bereits  Scherer  im  jähre  1869 
in  der  besprechung  von  Lexers  Wörterbuch  (Zs.  f.  österr.  gymn. 
20, 831  f.  =  Kleine  schritten  1, 379)  aide  mit  ahd.  erdo  zusammen- 
gestellt hat.  Er  sagt:  *Die  zurttckführung  von  aide,  alder 
(nebenform  von  oder)  auf  al  »ander«  halte  ich  nicht  für  glück- 
lich, das  dd  der  hochdeutschen  grundform  eddö  ist  singulär 
genug,  um  singulare  lautvertretungen  begreiflich  zu  machen. 
Man  mag  hier  zunächst  an  althochdeutsches  erdo  und  das  ver- 
einzelte l  für  r  denken.' 

DARMSTADT,  1.  aiigust  1899.         WILHELM  HÖRN. 


^)  Wenn  die  durch  Timagenes  bei  Ammian  (15, 9, 4)  erhaltene  druiden- 
sage,  dass  die  Kelten  zum  teil  ab  instdis  extimls  et  tractibus  transrhenanis 
stammten,  jenem  in  Narbonensis  erzählt  war,  so  könnte  darin  eine  volks- 
sage  der  Volcae  stecken. 

2)  Für  die  Zeitbestimmung  der  lautverschiebung  ist  das  gewonnene 
datum  unerheblich,  da  die  Umbildung  von  Wolküz  in  Walxüz  ebensogut 
vor  als  nach  dem  abzuge  der  Volcae  stattgefunden  haben  kann, 


ALTE  LESEZEICHEN  IN  EINER  ORTNIT- 

HANDSCHRIFT. 

Beitr.  20,  349  ff.  habe  ich  alte  lesezeichen  besprochen, 
welche  in  der  Nibelungenhandschrift  k  mit  rötel  am  rande 
angebracht  sind.  Der  dritte  teil  der  sammelhandschrift,  zu 
der  k  gehört  (no.  15478  [suppl.3145J  der  Wiener  hofbibliothek) 
enthält  eine  bearbeitung  des  Ortnit,  die  in  Müllenhoffs  Deut- 
schem heldenbuch  3  mit  y  bezeichnet  ist.  Auch  diese  weist 
ähnliche  vermerke  auf,  je  drei  im  dreieck  stehende  punkte 
mit  einem  darangesetzten  Schnörkel.  Die  stellen,  wo  sie  sich 
finden,  sollen  im  folgenden  aufgezählt  werden.  Da  für  die 
erkenntnis  ihrer  bedeutung  der  Zusammenhang  entscheidend 
ist,  so  füge  ich  in  klammern  jedesmal  die  Strophen  und  verse 
der  Ortnitausgabe  im  Deutschen  heldenbuche  an,  die  mit  der 
stelle  der  Wiener  bearbeitung  zu  vergleichen  sind. 

Die  lesezeichen  stehen  bei 

4,  3  (6, 3)  Er  het  zwelff  mannes  stercke  der  kaiser  lobesam, 

13,  4  (13, 4)  Jerusalem  im  lande  der  her  sein  kröne  treit 

21, 1  (18, 4)  Ich  wil  nach  der  junchfrawe  hin  faren  über  mer, 

49,  3  (53, 3)  wol  achc^ig  tusent  schilde  vil  manges  ritters  fach. 

100, 2  (106, 1)  Er  het  czwelff  mannes  stercke  ortnit  der  kune  mä. 

105, 1. 2  (111,  3. 4)  So  wil  ich  dir  helt  gehen  dipesten  sturmewat 

als  si  auff  diser  erde  kain  kunig  noch  kaiser 
hat. 
176,  3  (188, 1)  rot  guldin  was  di  schaide  vnd  auch  der  fesselt  sin, 
177,1.2  (188,3.4)  Sin  knopff  der  luchtet  helle  waz  luter  vnde 

rain 
Dar  eyn  so  lag  begraben  ain  licht  karfunckel- 
stain, 


546  LUNZER 

209. 2. 3  (225, 2. 3)  [hier  steht  das  zeichen  doppelt] 

die  euch  nu  helffen  sollen  und  di  sin  alle  hie 
mit  lichten  stahelringen  sin  si  gar  wol  bewart 

221. 2  (241, 2)  Es  mugen  wol  gar  ferre  die  frunde  vü  dir  sin. 
221, 4  (241, 4)  ich  han  uff  mine  Übe  mer  dann  fir  hundert  jar. 

224. 3. 4  (245,  3.  4)  wann  du  den  stain  beslussest  und  nimst  in 

deinen  munt 
waz  sprach  sin  in  der  weite  das  wirt  dir 
alles  kunt, 

246. 3  (275,  3)  wann  nie  kein  mä  uff  erde  mich  umb  min  tochter 

bat. 

249. 4  (282, 4)  si  stachen  unde  schlugen  und  wo  dy  styme  wa^s. 
257,4  (293,4)  [hier  steht  das  zeichen  doppelt] 

Der  cristen  achczig  tusent  di  käme  uff  da^  lant 
276,4  (317,4?)  funff  tusent  guter  helde  di  han  ich  hie  verlorn. 
297, 3. 4  (344, 3. 4)  wefs  bitest  du  so  lange  plas  bald  uff  din 

herhorn 
Nun  tusent  guter  helde  di  hmt  du  hie  ver- 
lorn. 
335, 3.  4  (396, 3. 4)  Er  sprach  er  hat  beschaffen  himel  und  erterich 

an  den  solt  du  gelauben  sprach  zu  ir  alberich. 
340, 1.  2  (405, 1.  2)  Da  sprach  zu  ir  ir  muter  vil  gut  ist  mannes 

lip 
Du  macht  vil  gerne  werden  des  kuneJieldes 
wip. 
344, 3.  4  (409, 3.  4)  Si  sprach  ner  mir  min  fater  und  bis  sin  fride- 

schilt 
Daz  er  nit  werd  erschlagen  so  tun  ich  wa^s 
du  wilt. 
356,  2.  3  (420, 2.  3)  Da  het  er  guter  helde  ain  michel  tail  verlorn 

wol  achczig  tusent  helde  bis  uff  czwelff  tu- 
sent mä. 

403. 1.  2  (481,  4)  Das  zwerg  nach  cristem  orden  si  in  daz  Walser 

stis 
vnd  auch  der  kunig  von  reussen  fraw  libgart 
mä  si  his. 

404. 2.  3  (482,  3)  daz  si  da  vber  käme  follig  in  zwenzig  tagn 

Dar  nach   an  ainem  morgen   si   kamen   gen 
messin. 


ALTE  LESEZEICHEN  IN   EINER  0RTNITH8.  —   BEHAGHEL      547 

Den  mann  der  diese  vermerke  angebracht  hat,  interessierten 
also  angaben  von  zahlen  (49, 3.  257, 4.  276, 4.  297, 3. 4.  356, 2. 3. 
404,2),  namen  (13,4.  403,1.2.  404,3),  vorausdeutungen  (21,4. 
105, 1. 2.  340, 2.  344, 3. 4),  berichte  über  wunderbares,  erstaun- 
liche begebenheiten,  prachtstücke  u.dgl.  (4,3.  100,2.  176,3. 
177, 1. 2.  209, 2. 3.  221, 2.  4.  224, 3. 4.  246, 3.  249, 4.  335, 3. 4). 

Nach  allem  war  er  derselbe,  von  dem  die  lesezeichen  in  der 
Nibelungenhandschrift  herrühren,  und  das  hier  mitgeteilte  be- 
stätigt und  ergänzt  die  Charakteristik,  die  ich  von  ihm  a.  a.  o. 
s.  353  zu  geben  versuchte,  um  auf  den  geschmack  des  publicums 
zu  schliessen,  das  jene  bearbeitungen  fanden. 

FELDKIKCH  in  Vorarlberg,  19.  sept.  1899. 

JUSTUS  LUNZER. 


DER  ARTIKEL  BEI  PERSONENNAMEN. 

Immer  wider,  zuletzt  von  Wunderlich,  Zs.  fdph.  31,  518, 
wurden  vergebliche  versuche  gemacht,  die  erscheinung  zu 
deuten,  dass  der  deutsche  personenname  zu  gewissen  zeiten 
und  in  gewissen  gegenden  mit  dem  artikel  verbunden  wird. 
Es  sei  daher  gestattet,  mit  wenigen  Worten  das  lächerlich 
einfache  Sachverhältnis  darzulegen. 

Unter  den  altdeutschen  beinamen,  aus  denen  sich  die 
heutigen  familiennamen  entwickelt  haben,  lassen  sich  zwei 
besonders  wichtige  gruppen  unterscheiden.  Die  eine  gruppe 
enthält  die  bezeichnung  der  abstammung:  Dieterich  Bernhardes, 
Dietrich,  der  söhn  des  Bernhard:  hier  wird  der  genitiv  regel- 
mässig ohne  artikel  angereiht.  In  einer  zweiten  gruppe  werden 
bezeichnungen  von  eigentümlichkeiten  einem  personennamen 
als  attributive  nomina  angefügt;  dies  geschieht  regelmässig 
mit  hilfe  des  artikels:  Hans  der  Bühelcere,  Wernker  der  garte- 
ncerCy  Herman  der  rote.  Wir  sollten  also  erwarten,  dass  sich 
daraus  zwei  arten  von  neuhochdeutschen  eigennamen  entwickelt 
hätten:   die  eine  ohne  artikel:   Bernhards,  Biedrichs,  Peters 


548  BEHAaHEL,  DER  ARTIKEL  BEI  PEBSONENNAMEK. 

u.  s.  w.,  die  andere  mit  artikel :  der  Bühler,  der  Fries,  der 
Gärtner,  der  Bofhe,  der  Freund  u.  dgl.  Ein  solcher  zustand 
lässt  sich  tatsächlich  in  älterer  zeit  nachweisen.  Es  ist  aber 
sehr  begreiflich,  dass  er  nicht  dauernd  sich  behauptet  hat, 
dass  vielmehr  ausgleichung  eingetreten  ist.  Wenn  nun  im 
norden  die  herkunftsbezeichnungen  den  sieg  davon  getragen 
haben,  im  siiden  die  eigenschaftsbezeichnungen,  so  darf  man 
vermuten^  dass  das  kräfteverhältnis  der  beiden  selten  in  den 
verschiedenen  gegenden  ein  verschiedenes  gewesen  sei.  In 
der  tat  wissen  wir,  dass  im  norden  die  eigennamen,  die  vom 
vaternamen  gebildet  sind,  viel  häufiger  erscheinen  als  im  Süden. 
Wie  das  zu  erklären  sei,  das  ist  in  letzter  linie  eine  frage 
der  lebensverhältnisse,  eine  frage  der  Völkerpsychologie.  Man 
sieht,  wie  scheinbar  ganz  unbedeutende  grammatische  kleinig- 
keiten  mit  recht  tief  greifenden  fragen  sachlicher  art  in  be- 
ziehung  stehen  können. 

Von  den  familiennamen  ist  im  süden  der  artikel  dann  auch 
auf  die  vomamen  tibertragen  worden. 

Ich  behalte  mir  vor,  auf  die  angelegenheit  ausführlicher 
zurtickzukommen. 

GIESSEN,  18.  october  1899.  0.  BEHAGHEL. 


,„«*.r'»**-    '»v/xij^^    ^^ 


HEULIED. 

Von  dem  in  Uhlands  Volksliedern  2,  604  als  no.  232  nach 
einem  Baseler  flugblatt  von  1572  abgedruckten  gedichte  Vinum 
foenum  (vgl.  auch  Uhlands  Schriften  4,  211  ff.)  steht  eine  ab- 
schrift  auf  den  drei  letzten  selten  des  jetzt  in  der  bibliothek 
des  deutschen  seminars  zu  Leipzig  befindlichen  exemplars  von 
eTosua  Maalers  deutschem  Wörterbuch  (Zürich  1561).  Diese 
abschrift  weicht  von  Uhlands  texte  mannichfach  ab  und  bringt 
eine  siebente  Strophe  neu  hinzu,  durch  die  erst  die  zweite 
rätselfrage  (v.  55)  gelöst  wird. 

Abgschribenn. 

Ein  lustig  lied  in  eins 

fründtlichem  schlaftrunck 

zegebruchenn.  — 

Wo  wachßt  h6uw  vff  der  matten, 
dem  frag  ich  gar  nichts  nach, 
Hab  Sunnen  oder  Schatten 
Ist  mir  ein  ruwige  sach, 
5    Sonder  das  da  komt  von  räben. 
Das  selbig  wellt  wir  han. 
Es  kan  vil  fröuden  gaben 
das  weißt  doch  wyb  vn  man, 
das  ist  gut  h6uw  deß  ich  mich  fröuw 
10    vn  blanget  wenn  es  rjüen^)  thüt 
dan  es  macht  alzyth  fr6ud  vn  müt. 

2    Man  sol  es  trüwlich  pflantzen 
dan  es  vil  wunder  thüt, 
macht  krum  vnd  Lam  zu  tantzeü 
15    Ist  das  von  art  nit  gutt? 
macht  Jung  vnd  alt  zu  singen 
ein  trurigs  Hertz  erquickt, 

0  ^l/ff  iiiit  abkürzungsschnörkel. 


550  OOBTZE 


daß  es  wirt  gutter  dingen, 
zu  allen  sacliefi  gschickt, 
20    gitt  crafiPt  dem  man  daß  er  gat  dran, 
an  stryt  vnd  an  die  fröuwlin  fyn, 
macht  onch  daß  die  thnnd  hurtig  syn. 

3  Wo  wachßt  doch  höuw  so  gutte, 
daß  mir  min  theil  ouch  werd, 

25    Grotts  hallts  in  siner  hntte, 

wo  es  ie  wachßt  vff  erd 

daß  es  m6cht  wol  geratten, 

zu  fröuden  dient  es  fyn, 

wir  wellend  sieden,  hraaten, 
30    da  muß  kein  mangel  syn 

mit  froud  ynd  müt  das  höuw  ist  gut 

lond  vns  das  suber  f&ren  yn, 

es  mag  alzyth  gutt  höuwen  syn. 

4  Der  vns  das  höuw  thüt  g&ben 
35    Gott  well  sin  Schirmer  syn, 

daß  er  blyb  lang  by  l&ben, 
yß  höuw  macht  er  gut  wyn, 
vnd  kocht  vns  gutte  bisslin, 
darzü  bastettenn  gnüg 
40    wir  achten  nit  der  Spisslin 
räbhüner  sind  sin  fug, 
die  wachtlen  vnd  die  lerchen  gsund, 
die  sind  so  lustenklich  bereit 
mit  gsellschafft  gut  vü  aller  fröud, 

45    5    Das  höuw  thüt  in  nit  rüwen 

gibt  vns  deß  alzyth  gnüg, 

wer  das  nit  wol  mag  küwen, 

der  selb  ist  nit  sin  füg, 

vü  in  wolt  ouch  verdrießen, 
50    bim  gsang  vn  seitenspil, 

der  möcht  deß  höuws  nit  gnießen 

vn  wer  sin  gar  zv  vil, 

wer  fröud  wil  han,  der  selb  gang  dran, 

das  höuw  mit  vns  v'^dempfe  friy, 
55    nun  raath  wer  doch  der  höuwer  siy. 

6    Wil  am  besten  das  melden, 
mä  labt  in  solcher  art 
Im  holtz  vn  vff  den  felden, 
wo  mä  mit  höuw  vß  fart, 
60    es  möcht  ein  ieds  wanen, 
das  mäyen  in  dem  graß. 


HEÜLIED.  —  SIEVERS,  ZUM  SCHLÜTTERSCANDAL.  551 

rä,chen  mit  den  zänen, 
yn  laden  mit  dem  glas, 
das  h5nw  so  gut  das  manchem  thüt, 
65    dschaben  tryben  wol  vß  dem  gwand*) 
das  höuw  ist  iedem  wol  bekannt. 

7    Der  höuwer  thüt  selbst  höuwen, 

sin  gartlin  wol  gestallt 

Tn  thüt  ouch  selber  säyen, 
70    darin  was  im  gefallt, 

es  thünd  im  Blümlin  tragen  2) 

die  sind  so  wol  gformiert, 

darab  thüt  in  belangen, 

sin  gä-rtlin  wol  geziert, 
75    das  buwt  er  wol,  darü  er  sol, 

der  frucht  gemessen  alle  zyth, 

die  im  sin  Gartlin  täglich  gibt. 

Ist  gwüßlich  war. 
vnd  er  findts  sich. 

LEIPZIG.  ALFRED  GOETZE. 


ZUM  SCHLUTTERSCANDAL. 

In  den  Modern  language  notes  14  (1899),  317  ff.  misbraucht 
0.  B.  Schlutter  meinen  namen,  um  für  seine  elaborate  auf  dem 
gebiete  der  ags.  glossographie  Stimmung  zu  machen,  indem  er 
u.a.  sp. 318  schreibt:  ^He  (nämlich  Prof.  Sie vers)  showed  kind 
interest  in  my  work  in  that  he  wrote  to  Prof.  Wölfflin  of  Munich, 
to  give  me  some  friendly  ad  vice  as  to  prudence,  an  act  of 
kindness  which  he  certainly  would  not  have  done  me,  had  he 
thought  me  capable  of  the  »moral  obliquity«  of  which  Prof. 
Hart  accuses  me.  Moreover,  he  and  Prof.  Kluge  being  the 

>)  Vgl.  Sachs,  Fastnachtsp.  7, 87  neudr. :  Wer  dem  kerüein  so  schnewczen 
kon,  Des  rock  die  schabn  nit  kumen  on,  sondern  der  verapielt  seinen  rock 
(v.  32.  175  ff.  254  ff.).  Aehnliche  enphemismen  bei  Fischart,  Garg.  133  f. 
neudr.,  femer  den  Schimmel  aus  dem  gelde  treiben  DWb.  9, 155  und  Sachs, 
Fabeln  u.  schwanke  no.  127, 11.  212, 43. 

^)  trag  mit  abkürzungsschnörkel. 


552       SIBVEBS,   ZUM  SGHLUTTER8CANDAL.   —  BEBICHTlGUlfaEir. 

advisers  of  Prof.  Goetz  of  Jena,  as  to  tlie  Old  English  part 
of  the  Corpus  Glossariorum  Latinorum,  whatever  I  have  done 
towards  elucidating  glosses  or  finding  sources  of  them,  has  been 
submitted  to  him.' 

Das  wahre  an  der  sache  ist,  dass  ich  seinerzeit  die  herren 
Wölfflin  und  Goetz,  bei  denen  sich  Schlutter  wie  an  andern 
orten  eingedrängt  hatte,  direct  und  dringlich  vor  den  in  bezug 
auf  Unkenntnis  und  methodelosigkeit  bisher  unerreichten 
ergüssen  Schlutters  auf  einem  gebiete  gewarnt  habe,  dem  sie 
als  klassische  philologen  fern  standen.  Wenn  die  beiden  herren 
daraufhin  ihre  absagen  an  Schlutter  in  freundliche  form  ge- 
kleidet haben,  so  war  das  ihr  gutes  recht:  ich  muss  mich 
aber  dagegen  verwahren,  dass  Schlutter  daraus  nun  mit  der 
ihm  eigenen  Unverfrorenheit  für  sich  capital  zu  schlagen 
versucht. 

LKIPZIG-GOHLIS,  8.  dec.  1899.  E.  SIEVERS. 


Berichtigungen. 

S.  25, 12  V.  u.  lies  sicher  statt  nicht.  —  31, 9  v.u,  l  der  dichter  8t.  er. 

—  40, 1  tilfje  also.  —  56, 9  v.  u.  l  wichtigsten  jener  Wörter.  —  63, 9  Z.  ihn 

—  70, 17  /.'  (8 :  1000).  —  73,4  Z.  1  Ä.  -  75, 10  v.  u.  Z.  ^  Ä.  —  78, 13  l 
L'anfes  Gerairs  et  Gaie  8*an  ...  —  80, 2  v.  w.  Z.  Fritzschs.  —  82, 10 
V.  1/.  /.  clioralis,  10.  aiiH. 


Halle  a.  S.    Druck  von  Khrhardt  Karras.