Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commercial parties, including placing lechnical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct and hclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers rcach ncw audicnccs. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at|http: //books. google .com/l
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Uiheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche Tür Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials fürdieseZwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .coiril durchsuchen.
BEITRÄGE
ZUB
GESCHICHTE DER DEUTSCHEN SPRACHE
UND LITERATUR. ? -^ /
UNTER MITWIRKUNG VON
HERMANN PAUL UND WILHELM BRAUNE
HERAUSGEGEBEN
VON
EDUARD SIEVERS.
XXIV. BAND.
HALLE A. S.
MAX NIEMEYER
77/18 GR. STEINSTRASSE
1899
INHALT.
Seite
lieber Hartmann von Aue (fortsetzung). Von F. Saran . . . 1
Zur romanischen und deutschen rhythmik. Von demselben . 72
Untersuchungen über Heinrich Heslers Evangelium Nicodemi. Von
K. Helm 85
Zu Wolframs Parzival. Von W. Braune 188
Zu Hartmanns Rede vom glauben. Von A. Leitzmann . . . 206
Kriemhilt. Von K. Bohnenberger 221
üeber den coiyunetiv praeteriti im baiiisch-österreichischen. Von
A.E. Schönbach 232
Eber. Von C. C. ühlenbeck 239
Zum altenglischen Boetius. Von A. S. Napier 2^"
Altengl. ^etcelf ^etel 'zahl*. Von demselben 246
üeber die vom dichter des Anegenge benützten quellen. Von
V. Teuber 247
Das Verhältnis der frauenmonologe in den lyrischen und epischen
deutschen dichtungen des 12. und angehenden 13. Jahrhunderts.
Von E. Lesser 361
Ags. hnesce. Von E. Sievers 383
Textkritische bemerkungen. 1. Zum Erec. 2. Zum Iwein. 3. Zum
Armen Heinrich. Von G. Ehrismann 384
Beiträge zum mhd. Wortschatz. Von demselben 392
Zur geschichte von oder. Von W. Hörn 403
Miscellen. Von A. Gebhardt , 406
(f. Zu Wolfram: S.406. — H. Brausch: S.409. — HI. An.
vceringjar: S.411. — IV. Völuspäö, 1— 4: S.412.
Ein Schlusswort zu Cederschiölds ausgäbe der Bevis saga. Von
E. Kölbing 414
Erwiderung. Von C. Cederschiöld 420
Eine berichtigung. Von J.Meier 424
INHALT.
Seite
Beiträge zur vorgermanischen lautgeschichte. I. Zur erläuterung
des germanischen ai. Von S. Bugge 425
Zur geschichte der adjectiva auf -isch. Von A. Goetze . , . 464
Zu Hartmanns Rede vom glauben. Von Fr. v. d. Leyen . . . 522
Etymologisches. Von F. A. Wood 52^^
lieber den gotischen dat. plur. nahiam. Von H. Pipping . . 534
Zur heimat der Volcae. Von S. Muller 537
Zu Beitr. 24, 403. Von W. Hörn 544
Alte lesezeichen in einer Ortnithandschrift. VonJ. Lunzer. . 545
Der artikel bei personennamen. Von 0. Behaghel 547
Heulied. Von A. Goetze 549
Zum Schlutterscandal. Von E. Sievers 551
Berichtigungen 552
UEBER HARTMANN VON AUE.
(Portsetzung.)
Das sog. II. biichlein.
vn. Inhalt und oomposition.
Die Situation aus der das büchlein erwachsen ist oder sein
soll, lässt sich aus gelegentlichen hinweisen des dichters er-
schliessen. Ebenso kann man ein wenn auch nur schattenhaftes
bild von den personen entwerfen, um deren beziehungen es sich
handelt. Schönbach hat Ueb. Hartm. v. Aue s. 365 f. das wesent-
liche zusammengestellt; doch lässt sich mancherlei nachtragen.
Der dichter ist noch ein junger mann (597 ff.), höchst-
wahrscheinlich ein ritter (v. 79ff. 304 ff.). Vermutlich ist er
ministeriale: er betont in v. 523 ff., dass er nicht nur oft bei
damen seines Standes, sondern auch bei vornehmeren glück
gehabt habe und dass er weit im reiche herumkomme (714 fl
817). Man denkt dabei zunächst an kriegsdienste um sold
oder an reisen im gefolge eines herrn. Auf kriegerischen
beruf weist v. 487 ff., bes. v. 492. Auf ein wechselvolles leben,
in dem beute und frauengunst eine rolle gespielt haben, deutet
V. 468 hin. Darum wundert man sich weniger, wenn der
Schreiber intime angelegenheiten ziemlich offenherzig behan-
delt (v. 526 ff.) und auch in bezug auf die empfängerin des
briefes unverblümt redet (v. 660 — 663).
Aber der dichter war zugleich ein gebildeter mann. Er
betont, dass er schreibe (v. 121). Er besitzt eine genaue
kenntnis der literatur: parallelen zu allen werken Hartmanns,
zum Tristan, Wigalois, Freidank, zur Krone, zu Burkard von
Hohenfels sind nachweisbar, wobei über deren deutung einst-
weilen nichts vorausgenommen werden soll. Dass er auch die
gelehrte bildung hatte, darf man, glaube ich, aus der kunst-
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. ^
2 SARAN
gerechten disposition seines werkes scUiessen, auf die später
eingegangen werden soll. Vielleicht war er in der kanzlei
eines grossen herrn beschäftigt.
Dieser ritter hat nun mit einer juncfrouwe (246 ff. 647)
ein minne Verhältnis angeknüpft. Juncfrouwe ist ^ junge dame',
ob verheiratet oder nicht, bleibt ungewis. Wahrscheinlich ist
sie unverheiratet: andernfalls hätten die worte v. 157 äne
friunde frage u.s.w. keinen rechten sinn. Sie ist mit dem
dichter von gleichem stand: das folgt mittelbar aus v. 523 ff.
Sie hat ihm auch, ohne dass es die angehörigen ahnen, ihre
liebe geschenkt, d. h. sie nimmt seinen dienst an. Durch dies
Verhältnis setzt sie ihren ruf aufs spiel (153 ff. 167. 352 ff.
365); er ist hin, wenn es bekannt wird. Denn die annähme
der ritterdienste (801 ff.) stellt bestimmte gunstbezeugungen
in aussieht, auf die der dienende ritter auch v. 656 ff. rechnet.
Nun merken die friunt die sache und die liebenden
werden durch aufpasser (huote) getrennt (v. 79. 314. 329. 363).
Ausserdem muss der ritter wahrscheinlich dienstlich oft fern
von der dame sein (v. 817). So können sich beide nur selten
sehen (v. 329). Trotzdem bleibt die dame treu: sie hat auch
nach der trennung dem ritter ihre treue liebe versichert
(323 — 27) und der scheint auch überzeugt, dass die geliebte
ihm noch ergeben sei (v. 264f.).
Dies die grundlage des büchleins. Aus ihr begreift sich
auch sein Inhalt. Die liebenden sind getrennt: leicht können
in ihr zweifei auftauchen, ob der ritter treu bleibe. Es gilt
dann, diese in einem briefe niederzuschlagen. Leicht kann
auch mit der zeit die treue der dame wankend werden: so
wird der dichter mahnen, beständig zu bleiben. Selbstverständ-
lich muss in einem 'büchlein' das zweite motiv zurücktreten
und die beteuerungen der liebe und treue von selten des
mannes den mittelpunkt bilden. So ist es denn auch in
unserem gedieht. Im geleit steht das thema:
V. 811 kleinez büechel, swä ich si,
so wone miner frouwen bl,
wis min zunge und min munt
und tuo ir stsete minne kunt . .
Doch fehlt v. 797 nicht das andere:
sus si min frouwe gemant.
UBBBR HABTMANN VON AUE. 3
Aber der dichter verfällt nicht in die eintönigkeit fort-
gesetzter liebesversicherungen oder unaufhörlicher klagen. Er
erreicht seinen zweck durch einen besonderen kunstgriff. Um
die dame von der festigkeit seiner liebe und treue zu über-
zeugen, schildert er den zustand, in dem sich sein gemüt seit
der trennung befindet und sein leid. Er zeigt wie die Unter-
brechung des glücklichen Verhältnisses auf ihn wirkt: wie er
leidet, wie er versucht der pein zu entgehen, wie ihm das
nicht gelingt. Nach allen selten erörtert er seine Stimmungen:
wie fest muss seine liebe sein, wenn sie dennoch stand hält —
soll und wird sich die leserin sagen. Unmittelbare liebes-
versicherungen und mahnungen fehlen dabei nicht, aber sie
werden doch mehr gelegentlich gegeben und ermüden darum
nicht. Ausserdem dienen sie besonders als schlusspointen
der teile.
Schon in der weise sein thema anzugreifen zeigt sich der
dichter als geschickten Schriftsteller. Noch mehr in der anord-
nung der gedanken. Die Schilderung seines grossen Unglücks
und seines seelenzustandes gibt er nämlich in form einer kunst-
gerecht disponierten abhandlung. Das ist schon Hartm. v. Aue
s. 59 erkannt, aber nicht so ausgeführt, wie es die Sache ver-
dient. Denn eben der logische aufbau ist das interessante an
dem gedieht. Schönbach, der im anschluss an meinen hinweis
wenigstens etwas genauer darauf eingeht, urteilt ganz richtig
(s. 366): 'die Schrift ist ein dialektisches kunststück; wir be-
sitzen in der gesammten mhd. literatur kein zweites werk dieses
umfangs, das in so festgeschlossener argumentation zu über-
zeugen sucht'.
Das thema wird nämlich in zwei hauptteilen abgehandelt.
Der erste A reicht von v. 53 — 450, der andere B von 451 — 796.
Beide teile sind also fast gleich lang.
A schildert das leid und den gemütszustand des liebenden
sozusagen positiv. Drei teile jeder mit zwei unterteilen sind
erkennbar. I) Hätte ich doch nie das glück der liebe erlangt,
denn die liebe ist die Ursache meiner quäl: 1) mein glück-
liches minneverhältnis ist mir durch seine Zerstörung ein Un-
glück, 2) meine treue liebe eben durch ihre beständigkeit ein
ewiger schmerz. 11) Zwar kommen mir, wie natürlich, die
gedanken das Verhältnis zu lösen, aber sie können nie zur tat
1*
4 SARAN
führen: denn 1) so leichtherzig mich über meine liebe hinweg-
zusetzen, hindert mich die hoffnung auf einen glücklichen
ausgang und mein ehrgefühl, 2) und die einsieht, dass meine
dame mir keinen anlass bietet, dergleichen zu tun. III) Also
besteht das Verhältnis zu meiner pein weiter und 1) bringt
mir neben ehre viel schmach, 2) und verkehrt meine natürliche
denkweise ganz in ihr gegenteil. — In eine unmittelbare
erklärung der treue läuft der teil A aus.
In B wählt der Verfasser ein anderes mittel, die ungewöhn-
liche stärke seines liebesleides anschaulich zu machen. Es
ist mehr negativ. Er weist nach, dass gegen seinen schmerz
keines der mittel hilft, die man dagegen empfiehlt, ja dass
er selbst die eigene pein selbstquälerisch noch vermehre.
I) Gegen das leid vermag meine kraft nichts: 1) weder der
entschluss zu verzichten, 2) noch liebesrausch mit anderen
damen, 3) noch der wille zur freude. II) Die erfahrungen
der kundigen werden an meinem fall zu schänden: 1) weder
folgt bei mir auf leid freude, 2) noch habe ich mir bei der
wähl meines glückes glück erwählt. HI) Durch zweifei an
der geliebten verderbe ich mir jegliche hoffnungsvolle Stim-
mung: ich denke immer an die alten erfahrungen 1) 'aus den
äugen, aus dem sinn', 2) die weiber sind veränderlich, 3) das
werben eines mannes ist gefährlich und widerstand dagegen
auf die dauer schwer. — In einer mahnung zur treue klingt
dieser teil aus. Wie der Verfasser in A zuletzt bewies, dass
ihm keine andere wähl als beständigkeit bleiben könne, so fügt
er auch hier gleich die gründe bei, mit denen sich die dame
die notwendigkeit treu zu bleiben klar machen möge.
Dem hauptstück A + B geht eine einleitung voraus, die
in ihrem ersten teil die gedanken von A vorbereitet, im zweiten
auf die von B hindeutet.
Den schluss bilden die verse 797—810.
Dem ganzen angehängt ist das geleit, welches das thema,
den zweck der darlegung deutlich angibt.
Eine disposition wird es erleichtern, die technik des Ver-
fassers kennen zu lernen und zugleich in das Verständnis des
Inhaltes einzudringen.
UEBBB HABTMANN VON AUE. 5
Disposition des bttchleins.
Einleitung: Klageruf über das herzeleid durch liebe . 1 — 52
a) 1 — 32: das leid habe ich selbst über mich gebracht
b) 33 — 52: aber selbst mir heraushelfen kann ich nicht.
Hauptstüok:
A Darlegung des leides (positiv) 53 — 450
I 53 — 170: ich habe leid gerade von dem was mir freude
und glück bringen sollte.
1. 53 — 136: ein glückliches minneverhältnis ist mir
durch huote zum Unglück geworden, unter dem
ich schwer leide.
a) 53 — 89 : die wisen und auch ich hielten ein
geziemendes minneverhältnis für das ideal
des ritterlichen lebens (53 — 78): — darum
gieng ich ein solches ein (79 — 89).
b) 90 — 136: aber das gegenteü ist eingetroffen
durch die huote (90—102).
Also glück bringt mir Unglück; glücklich darum,
wem nie glück zu teil ward (103 — 136)!
2. 137 — 170: gerade meine treue schafft mir pein.
a) 137 — 144: treue und beständigkeit soll das
schönste glück sein.
b) 145 — 170: das gegenteil ist wahr. Sie bringt
nur kummer.
Muss ich immer von der geliebten fem sein, dann
wehe mir!
II 171 — 342: meine pein erweckt gedanken an auflösung
des Verhältnisses: sie können nicht zur tat führen.
1. 171 — 270: leichtherzig wie ein tor zu sein hindert
mich hoffnung, ehrgefühl und mein vorteil.
a) 171 — 240: der vernünftige hat es schlecht,
der narr gut (171—211);
ich stehe zwischen beiden, möchte aber
zuweilen lieber ein narr sein (212 — 240).
b) 241 — 270: das würde geschehen, wenn mich
nicht hoffnung (241—248), ehrgefühl (249
—260) und mein vorteil (261—270) ab-
hielten.
SABAN
2. 271 — 342: grund zur auflösung gibt mir die dame
nicht.
a) 271—286: anblick fremden glückes (271—
278) und die lockere auffassung anderer von
der minne (279-286) könnten mich verleiten.
b) 287—342: hätte ich grund, so löste ich es
auf. Aber ich habe keinen: sie ist ohne
falsch.
Auch sie soll aber gedtddig sein und meinen
schmerz teilen (302—342) !
in 343 — 406: also dauert das Verhältnis zu meiner quäl
weiter.
1. 343 — 380: ich werde zum spott der leute, weil
ich fast verrückt geworden bin.
a) 343 — 360: mein Verhältnis bringt mir gewis
ehre.
b) 361 — 380: aber auch schände.
2. 381 — 406: meine ganze denkweise wird verkehrt.
a) 381 — 395: der glückliche fürchtet den tod,
b) 396 — 406: ich wünsche ihn.
Abschluss: die Sachlage macht es notwendig,
treu zu bleiben.
Gründe: a) von zwei Übeln wähle das kleinere:
also lieber treu und selig, als untreu
und verdammt (406—426).
ß) leid ist als gegensatz zur freude nötig
(427—450).
B Die stärke des leides (negativ): nichts kann es lin-
dern, ich selbst mehre es 451 — 796
I 451 — 580: eigene kraft vermag nichts dagegen.
1. 451 — 506: ich kann nicht verzichten.
a) 451—463: man verzichte auf das was man
nicht festhalten kann.
b) 464 — 476: sonst konnte ich es. Jetzt nicht.
2. 507 — 540: ich kann die liebe nicht übertäuben.
a) 507 — 527: liebe vergisst man durch liebe.
b) 528 — 540: bei mir schlägt das mittel nicht an.
3. 541 — 580: ich kann mich nicht bezwingen.
a) 541 — 557: ein starker mann muss sich be-
herschen können.
UEBEB HABTMANN VON AüE. 7
b) 558-580 ich werde den liebesgram nicht los.
Weicht die huote nicht , dann endet nur der tod
meinen gram (571—580).
II 581—643: alle erfahrungen werden an meinem fall zu
schänden.
1. 581 — 614: keine freude auf leid.
a) 581 — 590: freude folgt auf leid; bei schaden
ist auch nutzen.
b) 591 — 614: bei mir ist es aMers.
2. 615—643: ich habe selbst zum Unglück gewählt.
a) 615 — 626: wer teilt und wählt, kann nie
Unglück haben; und doch geschieht es.
b) 627 — 643: ich habe Unglück dabei gehabt.
Offenbar ist aUes im leben znfall und glückssache
(636-643)1
ni 644 — 752 : ich peinige mich selbst mit zweifeln an der
geliebten.
1. 644 — 673: sie ist vielleicht unbeständig.
a) 644 — 665: wenn sie nur beständig ist:
b) 666 — 673 : aber 'aus den äugen, aus dem sinn'.
2. 674—696: sie ist vielleicht leichtsinnig.
a) 674 — 685: wahre liebe vergeht nicht;
b) 686 — 696: wenn sie aber leichtsinnig ist?
3. 697 — 752: die männer sind gefährlich.
a) 697 — 726: ehrgefühl und zurückgezogenheit
werden eine untreue hindern.
b) 727 — 752: manneswerbung ist gefährlich und
widerstand auf die dauer schwer.
Abschluss: 753—796: aber sie muss ja mit mir
zusammenhalten, denn
a) 753—786: die unbeständige ist gott und
menschen verhasst; die brave wird geUebt.
ß) 787—796: es gibt nicht so viel treue männer
wie ich einer bin.
Sohluss: 797 — 810: ich bin also treu, sie sei es auch. Dann
bleiben wir vereint.
Geleit. 811—826.
a) 811 — 820: anrede an das büchlein.
ß) 821 — 826: heileswunsch an die geliebte.
8 SABAN
Man sieht aus dieser disposition, dass die gliedemng bis
in die kleinsten unterteile hinein geht. Und zwar stehen die
gruppen, wie Schönbach bemerkt, i. a. im gleichgewicht (s. 367).
A hat ungefähr 400 verse, B 345. Jeder dieser hauptteile
zerfällt zunächst in drei unterteile (1. 11. III) von verschiedenem
umfang. Jeder dieser mit ausnähme von B I und HI zerfällt
in zwei kleinere teile (1, 2), und alle diese sind zweiteilig in
ganz ausgesprochener weise (a — b).
Die teile Ä, B und 1. 11. III werden fast regelmässig durch
•einen ausruf oder einen allgemeinen satz abgeschlossen. Petit-
druck macht sie kenntlich. Die Schlüsse von A und B ent-
sprechen einander. Dort wird aus der in 1. 11. HI. geschilderten
Sachlage erwiesen, dass der liebende treu sein müsse. Hier
werden die gründe dafür beigebracht, warum der geliebte nicht
untreu werden könne. Die abschlüsse der teile I. II. III werden
dazu benutzt, directe klagen oder mahnungen an die geliebte
anzubringen. Ein besonderer schluss fehlt nur hinter A 11, 1,
doch sind die letzten verse 261 — 70 so gefasst, dass sie wie
ein emphatischer abschluss wirken.
Welches der gedankengang des büchleins ist, zeigt die
disposition. Man wird sich aus ihr davon überzeugen, dass
Schönbach (a. a. o. s. 362 ff.) die folge der gedanken nicht zu-
treffend darstellt. Namentlich kann man nicht aufrecht halten,
was er s. 366 erklärt, jedem satze folge eine replik, ihr schliesse
sich eine duplik an, und so fort bis zu ende. Das gilt höch-
stens für B ni, den teil in dem der dichter seine selbstquäle-
rischen zweifei in geschlossener kette vorträgt: für die vorher-
gehenden stücke gut es nicht. Auch von gesprächsf orm finde
ich nichts in dem büchlein. Es ist ein brief, der freilich
seiner anläge nach eigentlich abhandlung zu nennen wäre;
diesen Charakter verleugnet er wenigstens nirgends.
Die gedanken die den Inhalt der A 1 1, 2. II 1, 2 u. s. w.
bilden, werden meist so abgehandelt, dass ein allgemeiner
erfahrungssatz vorangestellt und dann scharf dagegen Wider-
spruch erhoben wird.
A 1 1 = V. 53 ff. ich hcere ie noch die wisen
loben unde prisen
yolkomene minne
aber y. 90 daz hat sich nu yerk^ret . . . und
ÜEBEB HABTMANN VON AUE. 9
y. 98 daz ist mir niht ze gnote komen.
A 1 2 = V. 137 ff. ich hörte sagen maere
daz triuwe und stsete wsere
aller sselden beste . . .
V. 145 f. ich wirdes anders gewar.
A n 1 = V. 171—178 ez lebent waerliche
vil harte ungeliche
sanfte in ir muote
der töre und der fruote . . .
und das ist recht. Dies wird in woldisponierter darstellung
bewiesen. 180 — 204: der fruote, 205 — 211: der tore. Nun die
pointe von la: 212 — 240 ich bin weder ganz /rwo^ noch ganz
tore, möchte zuweilen aber lieber tore sein. Aber — mit 241
kommt die wendung — vor dem tore werden schützt mich die
hoffnung, u.s.w.
A n 2 (v. 271 ff.) bringt zunächst wider allgemeine er-
örterungen über den treuen und untreuen. Mit v. 293 ff. setzt
die abwehr solcher gedanken ein.
Diese gewohnheit, seine gefühle im anschluss an allgemeine
erfahrungssätze zu schildern, erklärt auch, weshalb der Ver-
fasser des liebesbriefes so häufig aussprüche der wtsen und
sprichwörtliches heranzieht. Namentlich bedingt es die anläge
von B n, dass die wtsen hier oft auftreteu. Denn dieser teil
soU ja zeigen, dass die allgemeinen erfahrungen im falle des
dichters nicht zutreffen. Dass bei dieser berufung auf die
kundigen eine ziemliche belesenheit des dichters in der lite-
ratur seiner zeit hervortritt, ist nicht verwunderlich. Zu den
von andern und mir beigebrachten parallelen trage ich hier
noch nach
Büchl. 477 ff. Sit nu die wisen haben geseit . .
daz sich ein wol frumer man
alles des getroesten kan
des er niht gehaben mac.
Vgl. dazu Wigalois 35, 23 ff.:
d6 teter als der biderbe man
der sich des wol getroesten kan
swes er niht gehaben mac.
Während bis B 11 die darstellung mehr ruhig ist, wird
in B m die bewegung lebhafter. Das erreicht der Verfasser
10 8ABAN
durch die schon H. v. Aue s. 59 erkannte engere Verbindung
der unterteile. Ganz wirksam, um die darlegung zu beendigen.
Oben musste Schönbachs ansieht abgelehnt werden, als
sei das werk nachbildung der gesprächsform. Mehr trifft es
zu, wenn er s. 366 findet, das büchlein sei ein mit lebhafter
beredsamkeit vorgetragenes plaidoyer. Der dichter fühlt sich
zwar durchaus in der läge eines schreibenden — vgl. v. 121
für war ouch ich daz schrtbe — aber das ganze ist doch stark
rhetorisch gefärbt. Nun verrät die ganze anläge der arbeit
gute dialektische Schulung; offenbar hat der Verfasser gelehrte
bildung. Darum liegt nahe zu vermuten, dass im H. büchlein
versucht ist, eine beim Studium der rhetorik und dialektik
erworbene fertigkeit im disponieren und vortragen auf ein
thema der minnepoesie anzuwenden. Ich möchte in der tat
glauben, dass der liebesbrief nach den regeln der schule ge-
arbeitet ist, die man aus Cicero und Quintilian kennen lernte.
Kenner der mittelalterlichen rhetorik und dialektik werden
das vielleicht im einzelnen nachweisen können. Wir haben
die bekannten drei teile: exordium, tractatio und conclusio. Die
tractatio ist zweiteilig: A mit seiner positiven erörterung eine
art confirmatio, B im Charakter mehr der refutatio vergleichbar.
Im exordium fehlt nicht das prindpium (1 — 13), in der conclusio
nicht die peroratio (811 ff.).
Auch die zahlreichen antithesen passen sehr gut zu dem
rhetorischen wesen des gedichtes. Nicht minder die eingewebten
citate, die sehr oft als belege oder zierphrasen aus auctores
locupletissimi verstanden werden müssen und nicht schlechthin
als selbstwiderholungen oder zufällige reminiscenzen gedeutet
werden dürfen.
Wie dem nun auch sei, jedenfalls zeigt diese tatsache,
dass der Verfasser des büchleins zwar ein gebildeter und be-
lesener mann, ein scharf denkender und origineller köpf war,
aber kein dichter. Von poesie ist in dem werk wenig zu
spüren, desto mehr aber von witz und dialektischer gewant-
heit. Der ausdruck der empflndung ist gemacht. Wirkliche
leidenschaft und wärme des gefühls gibt es darin nicht, dafür
rhetorisch zugespitzte Wendungen und geistreiche oxymora.
Versucht aber der Verfasser zum gemüt zu sprechen, dann
wird er sentimental (z. b. 403 ff.). Ich muss also trotz Schön-
UEBEB HABTMAKK VON AÜE. 11
bachs urteil (s. 368) auf dem meinigen beharren, das ich H. v. A.
s. 60 ausgesprochen habe. Nur möchte ich den dichter nicht
mehr als 'nachtreter' und 'compilator' verurteilen. Denn er
hat sicher nicht daran gedacht, dies erzeugnis seiner müsse den
werken eines Hartmann oder Gottfried, ^ an denen er sich
gebildet, zur seite zu stellen.
Man tut darum, meine ich, dem dichter des Armen Hein-
rich und einer reihe vorzüglicher lieder grosses unrecht, wenn
man ihm das poetisch wertlose büchlein zuschreibt. Liest
man dieses ohne jeden philologischen nebengedanken, lässt
man es rein als dichtung auf sich wirken, so macht es einen
durchaus unerfreulichen eindruck. Keine wahre empfindung,
aber die phraseologie der leidenschaft, wenig poesie, aber viel
dialektik und geistreiches hin- und herreden. Der Verfasser
war zweifellos ein temperamentvoller und gescheiter mann,
aber eben nur ein guter redner und disputator, kein guter
dichter. Schon die bis ins kleinste durchgeführte logische
disposition, die u. a. durch die bekannten prosaischen Partikeln
(stt, Sit nu ,. , aber u. s. w.) dem leser geradezu aufgedrängt
wird und 3ie oben das angelegte Schema zeigt, vernichtet von
vornherein jede poetische Wirkung. Der poetische eindruck
beruht eben nicht auf einer wolgefügten schlusskette, son-
dern auf der einheitlichen, wolgefügten entwickelung eines
Vorgangs, der anschaulich sein oder mehr ins gebiet des
gefühls fallen kann. Nach den proben, die Hartmann in seinen
letzten liedern (insbesondere MF 205, 1 ff. 212,37. 214,12. 217,14)
und im Iwein von seiner kunst gegeben hat, liebesempfindungen
und liebesangelegenheiten stimmungsvoll darzustellen, sollte
man ihm doch besseres zutrauen als dies büchlein. Dies selbst
dann, wenn man annimmt, dass er hier nicht eigene, erlebte
Stimmungen darstellt, sondern bloss zur Unterhaltung seiner
dame ein so eigenartiges werk aus der phantasie geschöpft
habe; nicht aber wenn man mit Schönbach s. 347 glaubt, das
zweite büchlein beziehe sich auf ein Verhältnis echter gegen-
seitiger Zuneigung und auf wahi'e liebe, die sich eben in der
bedrängnis entfaltet habe. Wer Hartmann diese reine verstandes-
dichtung zutraut, unterschätzt seine dichterische bedeutung sehr.
1) Nachahmimg Gottfrieds: vgl. Büchl. 33—36 mit Trist. 1863 ff.
12 . SABAN
Mir scheint auch, dass Schönbach in dem gedieht zu viel
persönliches und erlebtes findet. Er sagt s. 367: 'als der dichter
das büchlein schrieb, war er über die erste glut der neigung
hinaus gekommen; noch liegt ihm daran sich die gunst der
frau zu erhalten, aber er fasst schon kühler auch den fall
ins äuge, dass es ihm nicht mehr gelingen möchte. Ohne
zweifei trägt er schuld, er ist schon wirklich untreu gewesen,
die frau kann es erst werden, und nun ist es ihm wichtig,
sie ins unrecht zu setzen. Nicht umsonst widerholt er, dass
sie es sich zuschreiben müsse, wenn das Verhältnis abgebrochen
werde. Seinen mahnreden und beteuerungen klingt das wil
st mir sin ze here seltsam nach; dieser liebe blüht keine er-
füllung mehr'. Auf die differenz mit der auffassung der läge,
die Schönbach s. 347 vorträgt, braucht man kein gewicht zu
legen, aber ich bezweifle, dass das büchlein mehr als ein
schriftstellerisches erzeugnis ist. Sollte die form des büchleins
nicht bloss ein mittel der darstellung sein, um gewisse Stim-
mungen in einem passenden rahmen zum Vortrag zu bringen?
Das minneverhältnis und die trennung durch huote, nament-
lich aber das was der Verfasser über seine lebenslage berichtet,
mag wirklich sein. Das büchlein aber als echten liebesbrief
aufzufassen, gerichtet an die geliebte, um sie zur beständigkeit
zu mahnen, scheint mir völlig unmöglich. Der ganze ton ist
so, als ob der Verfasser sich ein publicum vorstellte. Er fällt
zwar nirgends aus der rolle (iu v. 386 ist zusatz Haupts), aber
die art wie er von seiner dame in der dritten person spricht
und die ganze weise des Vortrags deutet darauf hin. Offenbar
hat der ritter nur die allgemeine Situation, in der er sich
befand, benutzt und aus ihr heraus das büchlein componiert,
das er als ein technisches kunststück für die öffentlichkeit
bestimmte. Für mich beweiskräftig ist der teil B IL Dieser
schildert die vergeblichen versuche die der ritter gemacht hat,
um von seiner liebe loszukommen. Man wird nicht glauben,
dass ihm diese bekenntnisse bei seiner dame zur empfehlung
gereichten. Hatte er wirklich mit seinem gedieht den zweck
den Schönbach ihm zuschreibt, dann konnte er kaum un-
geschickter vorgehen. Durchschlagend ist aber die stelle
V.507 — 540. Seiner dame in einem liebesbrief dergleichen zu
schreiben wäre vollendete roheit Ist die form des büchleins
ÜEBEB HARTMANK VON AUE. 13
nur einkleidung, so mildert sich die stelle. Aber auch dann
bleibt sie ein unerhörter Verstoss gegen die kunstform deren
sich der Verfasser bedient, und zeigt, dass er eben kein kttnstler
ist. Es bleibt mir schwer verständlich, dass man einer sitt-
lichen persönlichkeit wie Hartmann, einem so bedeutenden künst-
1er, dergleichen verse und an solchem orte zuschreiben kann.
VJLII. Zur kritik und erklärung.
In diesem capitel mögen einige besserungsvorschläge und
erklärungen zum text des büchleins platz finden. Dabei liegt
Haupts text zu gründe und werden die H. v. A. s. 89 ff. ge-
machten vorschlage als bekannt vorausgesetzt. Ich muss zu-
weilen ausführlicher sein, als es die bedeutung der stellen an
sich verlangt. Der grund ist, dass es mehrfach nötig wird,
mich gegen die etwas scharfen angriffe Schönbachs in seinem
schon oft citierten buche (s. 374 ff.) zu verteidigen. Ich hoffe
nachweisen zu können, dass nicht immer ich derjenige bin der
unrecht hat.
Die oben mitgeteilte disposition zeigt, dass die absätze bei
Haupt zuweilen nicht zweckmässig gewählt sind. H. v. A. s. 89,
bei ßech und dann bei Schönbach sind besserungsvorschläge
zu finden. Mit v. 14 beginnt kein neuer teil (Schönb. s. 362).
V. 4 solte ist nicht 'könnte' (Bech), sondern 'müsste'. V. 8 zu
dem sich begunde vgl. Berl. heldenb. 5, s. xxi und Grimms Gr.
4, 36. Hinter v. 28 setze man einen punkt, hinter v. 31 wäre
ein kolon deutlicher. Hinter v. 34 ein komma. Zu v. 33
—36 vgl. Trist. 1863 ff. Hinter v. 41 ein komma, hinter 42
Semikolon. da0 bezieht sich auf v. 42. Vgl. 22 — 32. V. 72
lies diu,
V. 79 schreibt die hs. wirs leben. Lachmann vermutet
wunschleben. Diese besserung ist an sich — darauf weist
Schönbach s. 375 mit grund hin — sehr gut und sinngemäss.
Aber man fragt: wie kommt der Schreiber auf das sinnlose
wirs? Offenbar durch eine Verlesung. Ich suche nun H. v. A.
s. 89 eine solche wahrscheinlich zu machen, allerdings wie
Schönbach mit recht tadelt, in zu künstlicher weise. Aus
ritt's soll durch dreifache vertauschung der unverständliche
ausdruck entsprungen sein. Trotzdem kann man an der mög-
lichkeit einer paläographischen ableitung festhalten, nehme
14 SARAi;r
dann aber rifs zum ausgang. Das r wird vom Schreiber ge-
legentlich in u verlesen, wie Zingerle, Zs. fda. 27, 138 nach-
weist. Oefter t in r, ebda. s. 139 unten. Dass dann unter
Vernachlässigung des abkürzenden hakens aus rits uirs, end-
lich wirs entstehen konnte, ist also gewis möglich. Ob freilich
die lesart wirs gerade auf diesem wege oder einfach durch
flüchtigkeit eingetragen wurde, bleibe dahingestellt: mindestens
steht dem Schriftbild und dem klänge nach wirsieben einem
rif sieben näher als einem wunschleben. Nun kommt dazu, dass
unmittelbar vorher in v. 67 das wort rittersleben steht und
V. 79 ausdrücklich darauf zurückdeutet. Warum also nicht
lieber dies in den text setzen? Dass es vorher v. 67 richtig
geschrieben worden, ist natürlich kein einwand. In v. 79 war
das wort eben so undeutlich, dass der Schreiber den sinn nicht
gleich erkannte. Lange darüber nachzudenken aber fiel ihm
schwerlich ein: er schrieb hin was er zu lesen glaubte.
Jedoch lege ich auf diese ableitung keinen wert. Ich
möchte nur Schönbachs kritik gegenüber darauf hindeuten, dass
sie möglich ist.
Schönbach selbst verzichtet überhaupt auf eine solche
und meint: 'im ernste jedoch genügt es, darauf zu verweisen,
dass wunschleben bisher nur in guten mhd. Schriftwerken,
nämlich nur bei Hartmann von Aue (Iwein 11. A. Heinr. 393)
gefunden, also wol wie der ganze begriff wünsch in späterer
zeit unverständlich geworden ist und demgemäss in unver-
standenes verlesen wurde'. Dieser hinweis genügt aber nicht:
vielmehr kann diese erklärung Schönbachs mit Sicherheit
widerlegt werden. Der Schreiber der Ambraser hs. verstand
nämlich den ausdruck wunschleben sehr wol; denn an jener
Iweinstelle setzt er dafür ein wunnsamesleben. Ebenso ver-
stehen es die jungen hss. z und r: diese bieten wunschlich l
und erwunstes l. Im A. Heinr. hat B auch wunschliches leben.
Es kommt dazu, dass das wort wünsch und seine composita
in der Ambraser hs. wenigstens in den Hartmannischen werken,
die das büchl. umgeben, selten verlesen wird. Im Erec z. b.
von den zehn stellen, die ich Bechs index entnehme, nur in
V. 2741 : die hs. hat hier wüst. 6487 ist vnns keine Verlesung,
sondern absichtliche änderung des sinnes. Ueberdies steht
n. büchl. V. 113 wünsch ganz richtig in der hs.
TJEBEE HAETMANN VON AUE. 15
Anstössig, wie Schönbach meint, konnte mir Hartmanns
wunschleben im 11. bttchl. unmöglich sein. Denn eben das habe
ich mich bemüht nachzuweisen, dass der Verfasser dieses ge-
dichtes die werke des Auers genau kennt und benutzt. Da
die Wendung da^ selbe wunschleben nebst dem folgenden reim
gegeben im A. Heinr. steht (v. 393. 394), so hätte man, Lach-
manns conjectur als richtig angenommen, einen neuen beweis
dafür, wie gründlich der Verfasser die werke seines meisters
studiert hat.
V. 80 halte ich trotz Schönbach an Bechs lip fest. Die
verse 79 — 80 nehmen v. 72ff. wider auf und zwar mit den-
selben ausdrücken. Ausserdem ist sinen vUis geben in miner
frouwen gewalt gewis nicht mhd., weil dem vUz geben dabei
eine kaum glaubliche anschaung zu gründe liegt. Auch finde
ich keine parallelen dazu. V. 81 kurzer ausdruck für *in
die gewalt derjenigen, die jetzt meine dame ist'. V. 94
übersetzt Haupt 'der sich doch leicht erfüllen konnte'. Aber
hän ist 'haben', nicht 'erlangen'. Vgl. Iw. 7864 ichn habe ge-
dingen noch wän. Genauer also: 'den ich leicht d. i. mit grund
hegen konnte'. V. 95 ist scelden gemach nach Paul, Mhd. gr.
§ 190, 1 zu beurteilen, etwa 'mein ruhiges glück', 'das selige
behagen' (Bech). V. 98 nimmt v. 90 wider auf. Beide dojs
haben gleiche bedeutung. Haupts auffassung ist also der
Schönbachs (s. 876) vorzuziehen. V. 99 ist kein anlass ab-
zusetzen. Vgl. die disposition. V. 102 steht dem sinne nach
V. 99 und 100 gleich. Der nachsatz ist mit einer im mhd. ge-
wöhnlichen freiheit zwischen die da-sr-sätze eingeschoben. V. 99 :
100 == ie gesa^h : Unheiles,
V. 117—120 ergibt die hs.
daz vor min trüren waere
dö ich was äne swsere,
daz wser min beste freude nü.
Hier werden die verse Greg. 505 — 507 nachgeahmt. Dort
haben die ausgaben
daz § ir trüren wsere
dö si was äne swaere,
daz was ir bestiu vreude hie,
und zwar ist i in V. 505 nirgends überliefert, sondern conjectur
Beneckes. Nun hat Haupt das vor der Ambraser hs. durch
16 «AEAN
das e Beneckes, d. h. eine Überlieferung durch eine Vermutung
ersetzt H. v. A. s. 90 habe ich dem gegenüber betont, dass
die Überlieferung des Gregor keinen anhält für das e biete,
weil alle hss. änderten. Es sei darum methodisch richtiger,
die Gregorstelle nach dem büchlein zu bessern als umgekehrt,
also im Gregor wie im büchlein vor statt e zu schreiben.
Schönbach entgegnet darauf: 'mit der beruf ung auf Gregor 505
steht es übel. Dort verhält sich die Überlieferung so:
Daz ir tr, w, A
Daz er ir tr. w. D
Dy ane tr, w, EJK,
das heisst: die hss. ändern nicht alle, wie Saran behauptet.
Vielmehr ist ein wort in A ausgefallen, EJK haben das [?]
fortgebildet und durch By einen neuen bezug des Satzes, durch
ane einen andern sinn hergestellt. In D ist eine spur des
alten erhalten: er. Die beziehungen von D zu den übrigen
hss. sind nach Zwierzina, Zs. fda. 37, 124 nicht klar zu legen.
Aber dass dieses er in D leichter auf e denn auf vor zurück-
zuführen ist, wird niemand bestreiten '. So übel, wie Schönbach
meint, steht es aber mit meiner berufung auf die Gregorhss.
doch nicht.
Freilich glaube ich nicht mehr, dass alle hss. dort ändern,
so dass ein schluss auf das ursprüngliche nicht möglich sei
(H. V. A. s. 90), vielmehr genügt die lesart von A dem sinne
vollkommen. Weder das e Beneckes noch das vor, das ich
vorgeschlagen habe, ist von nöten. Man setze hinter v. 503
einen punkt und übersetze: 'die dame ward über den rat des
bruders froh. (Der ausdruck 'froh' wird nun eingeschränkt:)
Ihre freude wurde aber nur so, wie es ihre läge erlaubte.
Von wirklicher freude wusste sie nichts: denn ein zustand,
der bei ihr zur zeit als sie noch nicht von dem leid gedrückt
wurde, traurigkeit gewesen wäre, der war in dieser läge
ihre grösste freude, der zustand nämlich, dass sie wenigstens
aufhörte zu weinen', d.h. der höchste grad ihrer sogenannten
freude in ihrem jetzigen zustand war das blosse nichtweinen.
Man sieht, sowol e wie vor ist hier völlig überflüssig, dies
um so mehr als das modale hie v. 507 mit einem temporalen
e keineswegs einen guten gegensatz ausmachen würde. Im
UEBEB HABTMANN VON AUE. 17
Mchlein dagegen hat man keinen grund das vor anzufechten.
Es ist offenbar zusatz des dichters. Um aber einen stumpfen
gegensatz wie e — hie zu vermeiden, hat er zugleich das hie
(Greg. V. 507) in nü verändert. Nun bringen die verse 117 —
119 die doppelte antithese: vor — nü, trüren — beste vreude und
damit tritt die stelle zu denen, über die ich H. v. A. s. 44 ge-
handelt habe. Auch sie ist stilisiert worden, um pointierten,
gegensätzlichen ausdruck zu gewinnen.
Ist also an der Gregorstelle nichts fortgefallen, so lag
auch für die abschreiber kein grund vor, eine unklar gewordene
lesart zu verbessern, wie Schönbach will. Was die abweichungen
der hss. verschuldet hat, sieht man leicht, wenn nicht bloss
zeile 505 für sich, sondern die stelle im ganzen betrachtet
wird. Zudem sind Schönbachs angaben über die lesarten in
einem punkte nicht ganz richtig. Es hat
A
daz ir truren waere daz was ir bestiu vreude hie
do si was ane swsere daz si niuwan ir weinen lie.
Dies ist also die richtige lesart. Deren sinn, der in der tat
kaum bequem zu finden war, haben die Schreiber der andern
hss. nicht verstanden. Darum ändern sie, und nicht etwa, weil
die vorläge durch ausfall eines wortes unklar geworden war.
J, das zu derselben klasse wie A gehört, hat (Beitr. 3, 95 b
V. 8 ff.):
die ane truren were vnd ir best fröd wz hie
wond si WZ ane swere daz waz so si ir wainen lie.
Die andere liss.-klasse bietet
E
dy ane trewe waere daz was ir bestiu vreude hie
do si was ane swsere daz si nye von ir weinen lie.
E hat den sinn ganz verkehrt. Es versteht offenbar: 'die
beste freude der einst im glück treulosen war immer zu weinen'.
K liest nach Zs. fda. 37, 132 unten
daz ir truren waere des was ir beste fröd hie
des si was an ir swaere daz si nume ir weinen lie.
Schönbach hat sich hier bei der anführung der lesarten ver-
sehen: er identiflciert die von K mit denen von E und J. K hat
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 2
18 SARAN
offenbar alles misverstanden. In den zwei Schlusszeilen stellt
es denselben sinn her wie E.
D, dessen Stellung nach Zwierzina a. a. o. s. 214 nicht sicher
bestimmt werden kann, hat
daz er ir tniren waere daz was ir bestiu vreude hie
do was ane swaere daz si niuwan ir weinen lie.
Schönbach bemerkt dazu, das er sei ein rest des ursprüng-
lichen L Aber warum? Ueberblickt man den Zusammenhang,
so sieht man woher das er stammt. D lässt nämlich in der
nächsten zeile (v. 506) das si fort. Offenbar will es den sinn:
'dass er (der bruder der soeben v. 500 aufgehört zu sprechen)
ihr schmerz gewesen war, wurde da nicht mehr betrauert'.
Ich kann also Schönbachs beweisführung zu gunsten
des e nicht gelten lassen. Seine bemerkung s. 377 oben trifft
zu, spricht aber gegen vor im büchlein durchaus nicht. Der
dichter hat hier die zeit vor und nach dem Unglück gleich-
zeitig vor äugen und wählt danach die zeitpartikeln.
V. 147 und 150 {ir auf triuwen) vgl. Paul, Mhd. gr. § 230
anm. Bechs änderung scelden (v. 147) ist unnötig. Vielleicht
ist aber doch besser von miner triuwe mit rücksicht auf v. 138
und 156. V. 148 — 149 ist beim vorlesen als beiläufige an-
merkung zu nehmen. Also in parenthese zu schliessen oder
doch zu denken. V. 152 ist daz einfach causal ^weil'. Das
sol von 165 nimmt das von 160 wider auf. Den sinn der verse
164 ff. hat Bech nicht genau gefasst und darum Haupts rich-
tige besserung in v. 170 {nimmer statt ymmer) verworfen. 'Ist
es mir bestimmt, ihr nicht lohnen zu dürfen, dann möge mein
ganzes leben in solchem seelenschmerz verlaufen, dass meine
klagen nie ein ende nehmen'. Ez verMagen nach Paul, Mhd.
gr. § 220 zu beurteilen. Zu 179 ff. vgl. Freidank (Grimm)
78, 7—8.
V. 199 ist überliefert ze rehte sol begän. Haupt findet
offenbar den vers schlecht und schreibt daher solde. Daran
nehme ich H. v. A. s. 90 anstoss und schlage vor wol ze rehte
sol begän. Schönbach nennt wol ein klägliches flickwort. Das
ist es allerdings und zudem, wie ich jetzt sehe, unnötig. Also
lese man einfach wie die hs. schreibt. Der rhythmus des
verses verlangt nämlich keine besserung. Der vers erscheint
UEBEB HARTMANN VON AUE.
19
nur dann zu kurz, wenn man ihn auf dem papier scandiert.
Liest man ihn sinngemäss, so muss ze rehte, d. i. 'ordentlich'
stark betont werden. Dadurch wird die silbe reh- erheblich
länger als in normaltoniger Stellung (in folge der dehnung
des -Ä-) und auf das -te fällt dann ein kleines gewicht. So
wird die geforderte zeit durchaus passend ausgefüllt. Vgl.
auch V. 611 unrehte geseit. Schönbachs einwand s. 377 ist mir
übrigens nicht ganz klar. Ich habe bei solde an dem con-
junctiv als solchem keinen anstoss genommen, sondern nur am
tempus. Solde ninmit Schönbach als Irrealis. Aber der dichter
widerholt v. 198 — 200 doch nur den gedanken den er v. 193.
194 mit ganz ähnlicher construction ausgedrückt hat: dort
sagt er er bedarf, swer . . . dienen sol; warum hier nun irreal,
wo doch die hs. wider überliefert: swer ,,. sol hegdn, der darf, .?
Beide male ist der sinn: 'wer die pflicht hat den beiden herrn
zu dienen, der muss sich rühren'. Irreale fassung des ge-
dankens wäre gar nicht passend. Vgl. auch I. büchl. v. 1284
swer in ze rehte sol hegän. Wenn ein conjunctiv nötig wäre,
so könnte man nur an süle denken, im anschluss an die be-
kannte mhd. gewohnheit (vgl. Paul, Mhd. gr.* § 359, s. 155 f.).
Hinter v.202 ist ein kolon vielleicht wirksamer. Zu v.212
—220 vgl. Krone 33—37:
wan mir ist leider benomen
daz ich der gar volkomen
einer wol geheizen müge.
ouch swtiere ich wol, daz ich ztige
von den toren ein teil.
V. 206 treffen Schönbachs einwände zu. Es ist mit Haupt
lihten zu lesen. Eben auf den leichtsinn des toren fällt das
gewicht, nicht auf sein unhöfisches wesen. V. 287 swache
= 'niedrig gesinnt' passt durchaus. Was H. v.A. s. 58 unten
über dies adverbium gesagt wird, ist also nicht richtig.
V. 320. 321 wider eine angehängte, beiläufige bemerkung, wie
277 f. 148 f. 350 f. 458 f. Am besten sind die verse in parenthese
zu setzen, ouch — niht = nicht einmal. V. 323 ist meine er-
klärung H. v. A. s. 91 sehr gezwungen. Man beurteile die
phrase ez erliden nach Pauls Gr. § 220 und übersetze sie mit
'ausharren'. Das ez in v. 324 darf man gewis streichen.
Ebenso streiche man nach H. v. A. s. 91 die klammem v. 325
und 326 und lese:
91^
20 8ARAN
also daz si niht bewege (als si mir doch enboten hat
unser fremden öde dehein ander rät von Muntlicher staetekeit), u.s.w.
Das heisst: 4ch wünsche, dass sie mich liebe, und dazu, dass
sie die kraft habe auszuharren, ohne durch unsere entfemung
oder irgend etwas anderes erschüttert zu werden (was sie
mich übrigens trotz der dazwischen getretenen hindemisse . . .
hat versichern lassen)'. Zur parenthese vgl. oben zu 320. 321.
V. 396 1. daran (so die hs.), und hinter dro ein kolon.
Daran weist auf das folgende hin: 'insofern nun tröstet mich,
was ihn schreckt'. Zu 424 vgl. Schönbach s. 192. Mit
V. 427 beginnt ein neuer absatz, wie Bech richtig gesehen hat.
In diesem verse lese ich jetzt mit Haupt trüren. Ebenso v. 447.
Vgl. dazu V. 151. V. 455 es gevolgen 'gehorsam sein'. Vgl.
A.H. 1017. Es auf rät zu beziehen empfiehlt sich nicht. Paul,
Gr. § 222. V. 458 f. vgl. oben zu 320. V. 464 für noch
lies ouch. Bech schreibt joch. Vgl. unten zu 774.
V. 477 — 490 ist bei Bech der Zusammenhang nicht ganz
klar, ^ceme v. 484 ist potential (Paul, Gr. § 281 anm.). Die ir
in V. 485 sind allgemein 'die leute'. 496 sind si wider die
wtsen. Zu 479 vgl. Henrici z. Iw. 3179. V. 485 steigert den
inhalt von 484: 'ja ich würde sogar das gerede fürchten, ich
sei ohne persönlichen mut und tapferkeit im kämpf, wenn ich
nicht bis jetzt noch immer mit ehren aus jeder schwierigen
läge hervorgegangen wäre'. Hinter v. 511 ist ein punkt zu
setzen. Mit 541 beginnt ein neuer teil; also ein absatz!
(Schönbach s. 364). V. 588 ist so einfach satzverbindend.
Vgl. Mhd. wb. 22, s. 458b. Also etwa: 'auch meine ich dass die
leute sagen ...'. Bech erklärt die stelle nicht richtig.
V. 618 streiche das komma. Dannoch weist auf swenne in
V. 620. 'Sogar dann, wenn einer sich wirklich das beste ge-
nommen hat, ist der ausgang unsicher oder kann die sache
geradezu schlimm ablaufen'. V. 621 bringt eine neue Steige-
rung: 'ja selbst wenn alle weit meint' u.s.w. V. 625 reht
= stand (als herr). V. 644 mit Bech einen absatz. Zu
V. 679 f. vgl. I. büchl. 1501 f. V. 474 neuer absatz.
V. 687 kehre ich mit Schönbach zu Haupts gcehers zurück.
Vgl. Lichtenst. 552, 5 ff. V. 697 neuer absatz. Hinter
V. 700 punkt; ebenso .hinter 702.
Der sinn der verse 753 — 762 ist nicht leicht zu ermitteln.
ÜEBEB HARTMANN VON AUE. 21
Vorher peinigt sich der dichter mit zweifeln an der treue der
geliebten. Er hält es für viel gefährlicher, wenn die dame im
jähr auch nur einen wackeren und redefertigen mann kennen
lernt, als wenn er das ganze jähr in der nähe eines edeln
weibes ist. Denn e r muss werben, was schwer zum ziel führt.
Sie aber braucht nur abzulehnen, wobei man eher einmal erliegt.
^Für solchen zweifei gibt es aber wider einen trost* von dem
glaube ich, dass er mehr ins gewicht fällt als jener (v. 727 ff.
ausgeführte) gedanke. Sollen wir beide je unser liebe froh
werden, dann kann sie gar nicht anders als immer zu mir
zu halten. Andernfalls nämlich {ouch) wird mir zwar von ihr
nie liebes geschehen, aber auch ihr Schicksal wird schlimm
sein; niemand würde das hindern können'. Sie würde nämlich
der Verachtung aller anheimfallen. Hinter y. 758 ist ein punkt
zu setzen, hinter 760 ein komma und hinter 761 ein Semi-
kolon. V. 761 lies so (für und) wie die hs. hat. Der sinn von
759 dürfte sein: * kommt nämlich unserem Verhältnis diese
hilfe nicht (sc. nämlich dass sie immer auf meiner seite mit-
kämpft)'.
V. 774 schreibt die hs. wan Up guot noch ere. Noch ist
falsch und Haupt änderte es darum in joch, indem er eine
Verlesung annahm. H. v. A. s. 49 wende ich dagegen ein, dass
joch im guten mhd. nicht mehr die copulative bedeutung *und'
habe. Ich nehme an, das äuge des abschreibers sei in die
darüber stehende zeile abgeirrt, und so stamme das noch aus
V. 773. Schönbach sagt s. 378; *was nennt Saran »gutes mhd.«?
Jedenfalls nicht das des 12. und 13. jh.'s, auch nicht das Hart-
manns von Aue, denn da findet sich überall joch, das gleich-
artiges verbindet'.
Ueberall bei Hartmann? Das rein copulative jocÄ (= unde
zwischen zwei zu bindenden begriffen : von diesem ist allein die
rede) findet sich nach ausweis der Specialwörterbücher, Lach-
manns und Haupts anmerkungen sowie der glossare ßechs nie
in den Liedern, im I. büchl., Gregor und A. Heinr. Im Iw. hat
die hs. A 6inmal joh gegen unde in allen andern hss. (v. 4931).
Lachmann setzt aber unde in den text mit der bemerkung:
^johy nicht ganz gegen Hartmanns Sprachgebrauch'. Um dies
äusserst zurückhaltende 'nicht ganz' zu rechtfertigen, verweist
er auf Haupt z. Erec v. 6265, wo aus dem Erec allerdings vier
22 SABAN
beispiele angeführt werden. Man sehe sich aber die Über-
lieferung dieser stellen an:
V. 6265 \ Haupt joch, Bech otich.
6691 L , ]
7530 ^' ^^^^ \ ausgg. jocÄ.
,9916 ) J
V. 6456 hat Bech unnötigerweise joch: Haupt mit der hs. doch.
V. 7681 hs. noch, Haupt jock Hier ist noch zu erwähnen
n. bttchl. 464 hs. noch, Bech joch: ich schlage oben zur stelle
ouch vor. Also ist im Erec das rein copulative joch
auch nicht ein einziges mal überliefert. Was nun die
citierten stellen anbetrifft, so ist in v. 7681 das noch der hs.
keine Verlesung sondern ' Verbesserung' des abschreibers. Das
deweder verwechselte er mit weder und setzte dann statt des
unde, was gewis in der vorläge stand, das entsprechende noch
ein. Verstanden hat er die stelle nicht, wie ein blick auf
die Überlieferung lehrt. An allen andern stellen bietet die
Überlieferung auch, und es müsste erst nachgewiesen werden,
dass ouch nicht möglich sei. Mir scheint es sehr passend.
Es dient offenbar dazu, häufung des unde zu vermeiden.
Schönbachs behauptung, copulatives joch finde sich überall
bei Hartmann, ist also dahin zu berichtigen, dass es sich tat-
sächlich nie bei ihm findet.
Schönbach meint nun auch, joch sei sonst im guten mhd.
des 12. und 13. jh.'s üblich. Aber die beispiele des Mhd. wb.
(unter no. 1) sprechen nicht dafür. Sie stammen aus gedichten
älteren stües wie Genesis, Kaiserchronik, Alexander u. a.
Stellen aus höfischen dichtem fehlen. Auch Lexer fügt nur
noch aus der thür. Elisabeth einige hinzu, keine aus obd.
quellen. In MF., bei Walther, Gottfried, Wolfram, Wimt, im
Nib.-lied findet sich, soweit ich sehe, kein copulatives joch.
J. Grimm, Gr. 3, 271 betont, dass das wort überhaupt im 13. jh.
seltener vorkomme, nur die quellen des 12. jh.'s hätten es öfter.
Dabei scheidet er aber die bedeutungen noch nicht. Ich sehe
also nicht, auf welche tatsachen Schönbach seine aussage über
joch stützt, und muss darum meine emendation der büchlein-
stelle noch immer für die einfachste und richtige halten.
UEBER HABTMANN VON AÜE. 23
IX. Die eohtheitsfrage und die Chronologie.
Die ansieht, das büchlein sei ein werk Hartmanns, hat
erst Haupt aufgestellt. Sie ist aber nie allgemein anerkannt
worden. Bech bestritt sie, femer Bechstein (Tristan 1 2, s. 35),
Schreyer und Kauffmann (H. v. A. s. 40 f.). Auch Bartsch hat
sich dagegen ausgesprochen (Liederd.^ s. xlh unten). Dann
habe ich H. v. A. s. 39 fl versucht, die unechtheit mit neuen
gründen darzutun. Trotzdem hält Vogt in seiner recension
meiner schrift (Zs. f dph. 24, 244 f.) an Haupts meinung fest und
Schönbach verteidigt sie, indem er die gründe einzeln zu
widerlegen sucht, die man gegen Hartmanns Verfasserschaft
vorgebracht hat.^)
Aber auch Vogts und Schönbachs bemerkungen überzeugen
nicht davon, dass Haupt richtig gesehen habe, und sie können
nicht überzeugen, weil keiner von beiden den hauptpunkt
meines beweises widerlegt. Ja sonderbarer weise wird er von
beiden gar nicht erwähnt und scheint von ihnen völlig über-
sehen worden zu sein. Was Schönbach bemängelt, sind meist
nebensächliche dinge. Sie wiegen für sich allein auch nach
meiner ansieht nicht schwer genug, die unechtheit zu sichern :
es sind beweisgründe zweiten ranges, die nur im verein mit
den hauptgründen etwas bedeuten.
Zunächst ist festzuhalten: das büchlein ist ohne den
namen des Verfassers überliefert. Zweifelt man wie
Schönbach nicht daran, dass es Hartmann gedichtet, dann
muss dies auch so bewiesen werden, dass keine zweifei mehr
bleiben. Es nützt nicht einmal etwas zu zeigen, dass er es
verfasst haben könnte.
Wie steht es nun mit diesem nachweis?
Dass es nichts für Hartmann beweist, dass das büchlein
unter Hartmanns werken steht (was zudem nicht ganz richtig
ist: H. V. A. s. 39 f.), dass es nicht gegen ihn zeugt, wenn sein
name hier fehlt, ist selbstverständlich (Schönbach s. 345). Auch
die wenigen abweichungen vom wortgebrauch des Auers, die
ich im büchlein gefunden, bedeuten an sich nicht viel; ich er-
wähne sie in meiner arbeit deshalb zum schluss, um zu zeigen.
^) NeuerdmgB spricht sich Kraus, Zs. f. d. Osten*, gymn. 1898, s. 242,
aus stilistischen ^^ründen für die unechtheit aus.
24 SARAN
dass ich ihnen allein keine bedeutung beilege. Die Vorliebe
für antithesen, pointen u.s.w. leitet Schönbach aus dem all-
gemeinen Charakter des werkes ab: eine abhandlung rhetorischen
Stiles fordert in der tat eine besondere Schreibweise. Und wenn
Stahl, Reimbrechung bei H. v. A. s. 24 zeigt, dass die Sätze des
büchleins wesentlich länger sind als in den übrigen dichtungen,
so kommt das vielleicht ebendaher: rhetorik zieht periodenbau
nach sich. Auch diese gründe sind also nicht so überzeugend,
dass sie aUein etwas ausrichteten.
Nun freilich bezweifle ich eben, dass Hartmann auf der
höhe seines könnens und seinem wesen nach je im stände war,
ein so rhetorisches, unpoetisches, rein dialektisches werk zu
schreiben und für poesie auszugeben. Ich vermisse eben das
in dem liebesbrief, was Schönbach s. 349 den persönlichen stil
des künstlers nennt. Schönbach findet (s. 350 ff.) keine spuren
einer fremdartigen, mit Hartmanns persönlichkeit unvereinbaren
Individualität: ich finde im gegenteil nichts von Hartmanns
art — die grossen und kleinen entlehnungen ausgenommen.
Schönbach hält das büchlein für ein ganz vorzügliches gedieht
(s. 368): ich halte es für eine gut disponierte abhandlung und
kein gedieht. Hier stehen sich eben die ansichten gegenüber.
Streiten lässt sich darüber nicht wol. Auf die angeführten
punkte einzugehen ist darum vergeblich. Ich wende mich
also zu dem was objectiv klargelegt werden kann und deshalb
% eher erfolg verspricht.
Schönbach führt unter no. 5 an, die gegner der echtheit
sagten, gar vieles befinde sich in dem werklein, das Hartmann
nicht zugetraut werden dürfe (s. 3501). Bei dieser gelegen-
heit citiert er auch meine schrift öfters. Die bemerkungen
die er s. 350 ff. daran knüpft und die ich dort selbst nachzu-
lesen bitte, muss ich also auch auf mich beziehen. Dabei hat
aber Schönbach eins, wie es scheint, völlig übersehen, und das
ist um so wichtiger für die beurteilung meiner arbeit, als es
eben die bedingung ist, unter der allein ich solche mehr ethi-
schen bedenken gelten lasse. Er übersieht nämlich, dass ich
an dem ton und Inhalt des büchleins nur darum anstoss nehme,
weil ich vorher die Überzeugung ausgesprochen habe, dass der
liebesbrief nach sämmtlichen dichtungen Hartmanns
geschrieben ist. Es heisst auf s. 57: 'fällt das büchlein
ÜEBEB HABTHANN VON AüE. 25
Überhaupt ans ende der werke des Auers, so kann er
ans inneren und formellen gründen nicht der autor sein'. Ich
behaupte keineswegs, dass Hartmann unmöglich je ein solches
werk habe dichten können, ich behaupte nur, dass er nicht
mehr dazu im stände war, nachdem er den Gregor und Arm.
Heinr. verfasst hatte. Denn in diesen gedichten spricht sich,
namentlich im A. H., eine so schroffe abwendung von dem welt-
lichen wesen, besonders dem minnewesen aus, dass man nicht
annehmen dar^ der dichter habe nach ihnen wider ein minne-
verhältnis angefangen, habe sich wider schrankenlos der weit
hingegeben. Auch Schönbach tut das nicht: er stellt eben das
büchlein vor Greg, und A. Heinr., in die nähe des Iwein und
geht so der eigentlichen Schwierigkeit aus dem wege. Aber
er geht ihr eben nur aus dem wege und hebt sie nicht weg.
Denn dernachweis, dass das ü. büchlein nach sämmtlichen
werken des Auers anzusetzen ist, bildet den kern meiner
beweisführung; den hauptpunkt dieses nachweises aber hat
Schönbach (und ebenso Vogt) weder widerlegt noch überhaupt
angegriffen, ja nicht einmal beachtet. Wollte Schönbach
wirklich dartun, dass meine ansieht unrichtig sei, dann
musste er jenen widerlegen und positiv nachweisen, dass das
büchlein vor den Gregor und A. H. fällt Die bedeutung alles
dessen, was ich über den Charakter der dichtung und die
starke benutzung von Hartmanns werken vorbringe, beruht
durchweg auf der richtigkeit jenes ansatzes.
Jener hauptpunkt ist folgender (s. 43 — 45). Paul hat ge-
zeigt, dass die widerholungen in den nicht echten werken
Hartmanns nicht absichtlich, sondern zufällig sind.^) Bei ähn-
lichen Situationen und gedanken griff der dichter absichtslos
zu ausdrücken die er schon früher benutzt oder geprägt hatte.
Das tut jeder dichter; man beobachtet es bei alten dichtem
ebenso wie bei Goethe und Schiller. Es ist also auch für
Hartmann nicht auffallend. Wie umfangreich oder überein-
stimmend solche selbstwiderholungen sein können, ist nicht zu
sagen. Das hat individuelle gründe, über die sich kaum
rechten lässt. Aber eins ist bei den widerholungen des büch-
leins übersehen worden und wird trotz meines hinweises von
1) Eine ausnähme b. unten 8.31 f.
26 SARAH
Vogt und Schönbach noch immer übersehen, dass sich für
die meisten und augenfälligen stellen ein bestimmtes
princip der entlehnung nachweisen lässt (s. 43). Unter
diesen stellen sind wider mehrere im einklang mit jenem
princip, also in ganz bestimmten sinne überarbeitet.
Zu diesen neu stilisierten stellen kommt jetzt auch Greg. 505
— 507, wie oben s. 17 nachgewiesen ist. Der grund zu ent-
lehnen und zu ändern ist aber, antithetische Wendungen zu
bekommen, und dies streben hängt deutlich mit der rhetori-
schen, dialektischen art des ganzen gedichtes zusammen. Es
ist mithin nicht zufällig.
Hieraus folgt allein schon mit Sicherheit, dass der un-
bekannte Verfasser des büchleins sämmtliche werke Hartmanns
genau kannte als er dichtete. Aus dem Inhalt und Charakter
des Werkes folgt dann weiter ebenso sicher, dass Hartmann
nicht der dichter ist. Vgl. H. v. A. s. 47.
Wenn nun der Verfasser die gewohnheit hat, stellen aus
Hartmanns dichtungen als citate und gleichsam proben seiner
literaturkenntnis einzuflechten, so ist doch höchst wahrscheinlich,
dass er auch dann entlehnt, wenn stellen seines gedichtes mit
solchen anderer dichtungen als denen Hartmanns überein-
stimmen. In betracht kommen Gottfrieds Tristan, Burkard
V. Hohenfels (H. v. A. s. 60 fussnote), Wigalois, Freidank und
Krone. Vgl. oben abschnitt VIII. Das büchlein fällt dann
nach diesen werken.
Der andere grund den ich vorgebracht habe, beruht auf
der beobachtung, dass die verstechnik Hartmanns in den ver-
schiedenen werken verschieden ist. Da man zunächst an-
nehmen muss, dass sich der dichter in dieser beziehung immer
mehr vervollkommnet, so hat das im versbau vollendetere
gedieht immer als das jüngere zu gelten.
Die frage nach dem werte des büchleins in rein technischer
hinsieht hängt darum auf das engste zusammen mit der frage,
wie die dichtungen Hartmanns chronologisch aufeinander folgen.
Ein excui^s meiner arbeit (s. 46 ff.) geht darum auf dies problem
etwas ein. Dem ganzen zweck meiner schrift nach steht die
frage nach dem Verhältnis des büchleins zu den dichtungen
Hartmanns natürlich im Vordergründe. Auf das Verhältnis der
letzteren unter einander kommt es weniger an, obgleich ich
UEBER HABTMAKK VON AUE. 27
die dort gefundene Chronologie noch immer für die wahrschein-
lichste halte.
Sieht man von allen formalen kriterien ab, so stehen
folgende steDen zur Verfügung, die reihenfolge der werke Hart-
manns zu erschliessen.
Iw. 2792 ff. und vielleicht auch 2572 ff. (Naumann, Zs. fda.
22, 41). Man folgert daraus mit recht, dass Hartmann hier bei
seinen zuhörern den Inhalt des Erec als bekannt voraussetzt.
Den hatten sie aber offenbar aus seiner eigenen bearbeitung
kennen gelernt. Neuerdings bestreitet es Piquet in seiner
Etüde sur Hartmann d'Aue 1898 (s. 217 ff.) und setzt den Erec
nach dem Iwein an. Er meint, Hartmann zeige im Erec
grösseres geschick und grössere Selbständigkeit in der be-
arbeitung als im Iwein. Aber man kann die bekannte tat-
sache, dass sich der Iwein enger an das französische original
anschliesst als der Erec, auch so erklären, dass Hartmann dort
als an dem meisterwerk des Franzosen nicht so viel zu ändern
brauchte oder wagte als am Erec. Wenn er dann am original
des Gregor wider mehr änderte, so lag das gewis an dessen
mangeln. Ferner behauptet Piquet, bei parallelen stünden die
verse im Erec alle mal weniger gut im Zusammenhang als im
Iwein. Bewiesen hat er das aber nicht.
Auch formale kriterien gibt es, die den Erec mit Sicher-
heit als die älteste der erzäUungen Hartmanns erweisen. Ich
will sie gleich hier zusammenstellen. Im Erec stehen weitaus
die meisten fremdwörter. Später hat der dichter sich ihrer
entwöhnt. Vgl. H. v. A. s. 54 und Piquet. Worte wie halt,
degen, eilen, isengewant, isenwat, Jcneht (= ritter), magedtn, rant
(== schilt), Schaft, snel, snelheit u. ä. fast nur im Erec, verein-
zelt noch im Iwein. 0 Es sind ausdrücke eines älteren poeti-
schen Stiles, die Hartmann mit der zeit aufgiebt. Das erste
büchlein tritt übrigens in dieser beziehung nahe zum Erec.
Vgl. unten die tabelle. Schlagend ist der gebrauch des rühren-
den reimes.2) I. büchl. 1644 verse: 16 rühr, reime, Erec 10135 v.:
110 r. r., Iwein 8166 v.: 27 r. r., Gregor 4006 v.: 21 r. r., Arm.
Heinr. 1524 v.: 8 r. r. Der grammatische reim des Iwein 7151
— 7160 ist uls den rührenden gleichartig natürlich mitzuzählen.
^) Yos, Diction and rune-teclmic s. 9 ff. >) Ebda. s. 60ff.
28 SARAN
Man sieht aus den zahlen, dass — unter berttcksichtigung der
verszahl — L büchl. und Erec zusammen stehen und von allen
anderen werken durch eine grosse kluft getrennt sind.
Neuerdings hat auch Zwierzina (Verh. d. 44. vers. deutsch,
philol. u. schulm. s. 124 f.) stilistische gründe für das höhere alter
des Erec vorgebracht. Im Erec ist herre meist apposition:
Erec der herre). Diese Wendung dient nur dazu, herre in den
reim zu bringen um eine bequeme versbindung zu haben. Solche
flickreimerei weiss Hartmann im Iwein zu vermeiden: dort
braucht er herre nur in der anrede Qieher herre) und in der
prägnanten bedeutung *herr' (über knechte) u. ä. m. Nach alle-
dem ist kein grund an der richtigkeit der ansieht zu zweifeln,
die Haupt ausgesprochen hat.
Von wert für die Chronologie ist dann zweitens die ein-
leitung zum Gregor, jetzt am besten bei Zwierzina, Zs. fda.
37, 407 ff. Sie ist schon von Naumann, Zs. fda. 22, 38 ff. benutzt,
aber nicht consequent.
Hartmann bekennt daselbst: 'mein sinn hat oft meine
zunge dazu gebracht, viel von dem zu sprechen, das lohn der
weit zum zweck hat. Das hat ihm seine unerfahrene Jugend
angeraten. Nun aber ist es, wie ich genau weiss, ganz ver-
kehrt auf seine Jugend zu bauen und zu denken: »was du in
der Jugend sündigst, kannst du im alter wider gut machen«.
Denn ein plötzlicher tod kann den sünder wegnehmen, ehe er
busse getan. Darum möchte ich bei Zeiten den weg der sünde
verlassen und mich durch ein gott wolgefälliges werk von der
Sünde befreien, die ich aus nachlässigkeit mit worten auf
mich geladen habe. Denn ich zweifle nicht daran, dass auch
die grösste missetat des menschen vergeben wird, wenn sie ihn
reut und er sie nicht wider tut. Die geschichte Gregors
beweist es'.
H. V. A. habe ich s. 56 das nü in v. 6 temporal genommen
und betont. Ich glaubte, diu tumben jär und das nü stünden
im gegensatz und Hartmann stelle daher seine unreife Jugend
und sein jetziges reifes alter gegenüber. Diese deutung ist
aber gezwungen. Nu ist anreihend: 'nun', 'nun aber'. Auf
ein reifes mannesalter darf man also aus dieser einleitung
nicht schliessen. Vielmehr hat Naumann recht, wenn er meint.
Hartmann stehe hier noch in der jugent (a. a. o. s. 40). Denn
UEBER HARTMAKN VON AUE. 29
eben das ist ja der gedanke der einleitung: 'ich will noch in
der jugent busse tun, damit es nicht zu spät wird. Wer weiss,
wie lange ich lebe'.
Nun ist freüich das aus dem Zusammenhang der steDe
klar: diu tumben jär sind für Hartmann vorüber. Ist er auch
junc, so ist er doch nicht mehr tump zu nennen. Wie alt
Hartmann gewesen, als er diese worte schrieb, ist natürlich
nicht zu sagen. Jugent ist ein dehnbarer begriff. Ich stelle
ihn mir als dreissiger vor. Wie lange er sich für tump ge-
halten, lässt sich ebensowenig bestimmen. Bis ende der zwan-
ziger wird man diese zeit ausdehnen dürfen, freilich ohne irgend
welche Sicherheit.
Welche seiner dichtungen verurteilt nun Hartmann?
Offenbar die weltlichen, die dieser einleitung vorausgehen.
Wie aus dem ausdruck gesprochen hervorgeht, denkt er dabei
an seine reimpaargedichte. Aber welche sind das? Es kann
sich überhaupt nur handeln um I. büchlein, Erec und Iwein.
Denn den Arm. Heinr. können wir nicht herziehen. Er ist ja,
wie seine einleitung ausspricht, geschrieben zu gottes ehren
und erst dann den lesern zur Unterhaltung. Der lohn soll
nicht weltlicher sein, sondern geistlicher: die fürbitte des hörers.
Zu den verurteilten dichtungen gehören nun zweifellos
I. büchlein und Erec. Denn in beiden wird ausdrücklich be-
tont, dass sie erzeugnisse der tumben jär seien. Vgl. I. büchl.
1265 f. swie tump ich nü selbe bm,
ich wil dir raten guoten sin.
Dazu die stellen die Schönbach s. 282 ff. bespricht. Im Erec
gehören hierher die bekannten verse, wo sich der dichter
einen tumben Jcneht nennt (v. 1603 und 7480). Namentlich die
erstere stelle ist bedeutsam, da sich Hartmann an ihr genau
so charakterisiert wie im I. büchlein. Man darf darum ohne
bedenken annehmen, dass dies streitgedicht und der Erec
einander zeitlich sehr nahe stehen. Daran zweifelt man jetzt
auch nicht mehr (Piquet ausgenommen).
Als eine rein weltliche erzählung muss man auch den
Iwein mit unter die frühsten dichtungen rechnen, die im Gregor
verurteilt werden. Man tat das zunächst nicht. Naumann
bleibt trotz der Gregoreinleitung bei Lachmanns ansatz und
hält ihn für das letzte werk unseres dichters.
80 SARAN
Tut man das, dann kann man Hartmanns worte in
jener einleitung nur als vorübergehende Stimmung auffassen,
die später einer milderen und freieren denkweise weicht. So
Paul, der in der einleitung zu seiner kleinen ausgäbe auf
Rudolf von Ems hinweist. Zu widerlegen ist diese ansieht
nicht, ausser durch den positiven nach weis der wirklichen
Chronologie. Dennoch aber liegt sie gewis nicht zunächst.
Gerade die worte einl. v. 50 und st niht wider niuwet sprechen
doch dafür, dass der dichter dauernd auf rein weltliche poesie
verzichten will. Jedenfalls muss man den Iwein dann vor den
Gregor setzen, wenn irgend welche andern gründe von belang
dafür entdeckt werden können. Solche sind m. e. vorhanden.
Schönbach macht auf die stelle Iw. 6574 ff. aufmerksam.
Sie lautet:
swer daz nü vür ein wunder mit der er anders niht enpflac,
iemer ime selben sagt dem weiz niht daz ein biderbe man
daz im ein unsippiu magt sich aUes des enthalten kan
nahtes also nähten lac des er sich enthalten wil.
Sie fehlt bei Chrestien. Der zusatz zeigt das sittliche Selbst-
gefühl des dichters. Mit recht behauptet nun Schönbach, dass
der dichter nach dem Gregor keinen so stolzen ausspruch ge-
wagt hätte (s. 458) und darum der Iwein nicht wol nach dem
Gregor angesetzt werden könne.
Es kommen hinzu die inhaltsbeziebungen der werke.
Erec und Iwein verherrlichen rittertum und minne. Gregor
und A. H. sind geistlichen Charakters, i) eine gruppierung, auf
die ich H. v. A. s. 107 f. hingewiesen und in ihrer bedeutung für
die Chronologie gewürdigt habe. Schönbach nimmt sie an,
und neuerdings hat auch Piquet seine auffassung von Hart-
manns entwicklung ganz darauf gegründet. Man bedenke
dazu, dass Hartmann den Iwein Chrestiens schon für seinen
Erec benutzt (Schönbach s. 458) : offenbar beschäftigte er sich
in seiner ersten periode eingehend mit den dichtungen dieses
meisters, bis er dann später durch innere erlebnisse zu einer
andern weise des dichtens getrieben wurde.
^) W^ackemagel stellt sie Lit. 1*, 208 ff. der anläge seiner literatur-
geschichte nach auch zusammen. Aber er hält diese stoffliche Zusammen-
gehörigkeit nicht zugleich für eine zeitliche. Auf eine Chronologie ver-
zichtet er ausdrücklich. Vgl. Wackemagel-Toischer, Arm. H. s. 18 f.
ÜEBEB HABTMANN VON AÜE. 8t
Nun meint man freilich, der Iwein falle nach dem A. H.,
weil wie Naumann a.a.O. s. 43 behauptet, die verse des A. H.
1 — 28 zu den ähnlichen versen Iw. 21 — 30 im Verhältnis des
Originals zur nachbildung stünden. Aber das wird von Nau-
mann nur behauptet, nicht bewiesen. Benecke (zu v. 22) führt
allerdings dafür einen grund an, freilich einen etwas sonderbaren:
die verse des A. H. seien freier und leichter, die stelle also
ursprünglicher und älter. Näher liegt doch die annähme, dass
Hartmann im A. H. die etwas unbeholfene periode des Iwein
widerholend zerlegt und dadurch die stelle verbessert habe.
Mir scheint die einleitung des A. H. jünger als die des Iwein.
Sie verrät deutlich den einfluss der Stimmung die den Gregor
beherscht. Im Iwein dichtet Hartmann, wenn er seine zeit
nicht nützlicher anwenden kann, im A. H., um schwer drückende
zeit andern leichter zu machen (vgl. auch San Marte bei Haupt,
A. H.2 S. xviii). Dort schreibt er nur, weil er weiss, dass die
leute es gern hören: hier in erster linie um gott zu ehren
(wie den Gregor), dann auch den leuten zu liebe. Also
durchweg im A. H. eine viel ernstere auffassung seiner kunst
(vgl. H. V. A. s. 54 fussn. 2). Dazu kommt, dass die stelle im
A. H. weit leichter und lesbarer ist als die im Iwein, wie schon
Benecke anmerkt. Das spricht für spätere abfassung, wie oben
gesagt.
Es tritt noch eins hinzu. Hartmann nennt und charak-
terisiert sich in seinen werken absichtlich, und zwar gleich in
der einleitung. So im I. büchl. v. 29, Iwein v. 28 und Gregor
V. 173. Aber an diesen drei stellen steht das persönliche mit
dem namen immer am schluss der einleitung, unmittelbar vor
beginn des eigentlichen Inhalts. Hier im A. H. stehen diese
angaben voran, am beginne der einleitung. Ausserdem folgt
V. 18 noch ein grund für diese gewohnheit: er möchte sich die
fürbitte des lesers oder hörers sichern. In den andern werken
wird nie ein solcher grund angegeben. Diese besondere anläge
der einleitung des A.H. ist natürlich beabsichtigt; sie ist wahr-
scheinlich die antwort auf irgend welche bemerkungen die sich
jemand über Hartmanns gewohnheit, insbesondere über die
hervorhebung seiner gelehrsamkeit (im Iwein) bez. deren her-
vortreten (im Gregor) erlaubt hat. Ohne zweifei nimmt Hart-
mann in ihr absichtlich auf den Iwein bezug und widerholt ^e
32 • SABAN
Selbstcharakteristik aus Opposition ausführlich und zwar am
anfang des ganzen. Zugleich lehnt er den Vorwurf der eitel-
keit indirect durch v. 18 ab.
Ist diese beurteilung der einleitung richtig, dann folgt
auch daraus, dass der A. H. das letzte werk des Auers ist.
Man fragt: wer ist derjenige dem Hartmann Opposition
macht? Man denkt zunächst an Wolfram. Wie Hartmann
im Iwein seine gelehrsamkeit betont, so betont Wolfram im
Parz. 115, 25 ff. und Wh. 2, 19 ff., dass ihm diu buoch fremd seien.
Das bedeutet, er habe die gelehrte (lateinische, schulmässige)
bildung nicht genossen. Es bedeutet nicht, wie man vielfach
glaubt, er habe überhaupt keine bildung und könne weder
lesen noch schreiben. Im Willehalm liegt das zu tage. Es
handelt sich dort um den gegensatz der ansichten und kennt-
nisse die das natürliche denken (sin) und wissenschaftliches
Studium der gelehrten kirchlichen literatur (der huoche) gibt.
Aber auch im Parzival ist es nicht anders. Man scheint zu
glauben, v. 115,28 bedeute ^damit (sc. mit der Versicherung ihrer
gelehrten bildung) fangen viele ihre werke an'. In diesen
Worten spürt man dann einen seitenhieb auf Hartmanns ein-
leitungen, bes. die des Arm. Heinr. Diese erklärung halte ich
nicht für zulässig. Erstens passt das genuoge nicht (auch nicht
wenn man es als übertreibende Verallgemeinerung nimmt), falls
bloss Hartmann gemeint ist. Femer heisst urhap nemen
nicht 'anheben etwas zu tun' sondern 'entspringen, seinen
Ursprung nehmen', also 'anheben zu sein'. Vgl. die beispiele
bei Lexer. Genuoge kann darum hier nur auf aventiuren
gehen. Also: 'wer die fortsetzung wünscht, der betrachte
meine erzählung nicht als ein gelehrtes werk: von gelehrtem
wesen verstehe ich auch nicht einen buchstaben (buochstap
in einer durch das voraufgehende buoch humoristisch gefärbten
bedeutung). Viele aventiuren haben ja freilich dort (in der
gelehrsamkeit) ihren Ursprung: diese hier dagegen geht ohne
beihilf e der gelehrsamkeit ihren weg'. Wolfram will also
hier offenbar die meinung abwehren, als habe der Inhalt seines
Werkes in letzter Instanz einen gelehrten, lateinischen Ursprung
oder soDe mit gelehrsamkeit abgehandelt werden. Man konnte
das denken, da er in den ersten zwei büchern scheinbar ge-
schichte des hauses Anjou erzählt. Aventiuren deren Ursprung
UEBEB HARTMANN VON AUE. 33
in der gelehrten literatur liegt, gab es in der tat viele:
Alexander, Eneide, Karlsepen, die legenden u.s.w. Vgl. übrigens
auch den anfang des Ezzoliedes.
Trotzdem ist nicht undenkbar, dass zwischen dieser stelle
und Hartmanns einleitungen eine beziehung besteht. Wolfram
kennt in den ersten sechs bttchern des Parzival sicher Erec
und Iwein (vgl. Pipers Zusammenstellung, Wolfr. v. Esch. 1, 24);
kenntnis des A. Heinr. ist ihm in b. 1 — 6 meines wissens nicht
nachgewiesen. Er kennt mithin die einleitung des Iwein, wo
Hartmann seine gelehrsamkeit hervorhebt und damit seine
dichtung als ein werk der gelehrsamkeit hinstellt. Während
also Hartmann seinen Iwein wie ein gelehrtes buch beurteilt
wissen möchte, während die Ursprünge des Gregor in der
gelehrten literatur liegen und das gedieht selbst (vgl. schon
dessen einleitung) mit der buoche stiure vert, lehnt Wolfram
jede mittelbare oder unmittelbare beziehung zur gelehrsamkeit
ab. Er verlangt also, dass man seine dichtung anders beurteile
als die seines berühmten Vorgängers, mit dem er, der anfänger,
sich nun messen will. Die Parzivalstelle enthält daher nicht
eine Verspottung Hartmanns (dazu hatte der junge Wolfram,
der mit seinem ersten werk hervortrat, gar keine veranlassung),
sondern sie soll dem vorbeugen, dass man den Parzivaldichter
ohne weiteres mit dem masse messe, das man an die werke
des allgemein berühmten wisen Hartmann anlegte. Besorgnis
vor der kritik hat sie ebenso sehr eingegeben als stolzes
Selbstgefühl.
Wolfram lehnt also wenigstens für seine person Hart-
manns weise der dichtung ab. Dass Hartmann bei gelegenheit
darauf geantwortet ist wahrscheinlich. Ich halte es darum
nicht für unmöglich, dass sich die einleitung des A. Heinr.
gegen Wolframs ablehnung der buoche richtet. Darum wird
gleich zu anfang das geleret und diu buoch betont. Zugleich
wird damit eine indii-ecte polemik gegen solche verbunden,
die die namensnennung für eitelkeit halten. Wolfram ist
damit natürlich nicht gemeint, denn er nennt sich auch (Parz.
114, 12). Wol solche die es in der weise der volkspoesie für
unpassend erachteten ihren namen zu nennen.
Ist diese deutung richtig, dann sind die ersten bücher
des Parzival schon vor dem abschluss des A. Heinr. heraus-
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 3
34 SABAN
gekommen, doch so, dass beide werke bald nach einander
erschienen.
Für den A. Heinr. ist der terminus ad quem 1203. Denn
etwa in diesem jähr beginnt Wimt den Wigalois zu schreiben;
dies werk benutzt aber von vornherein alle werke Hartmanns.
Vgl. diese Beitr. 21, 259. Wolfram verrät kenntnis des A. Heinr.
erst Parz. 9, 455, 1 ff. (nachahmung der einleitung). Gottfried
kennt ihn schon von vornherein: vgl. Trist. 157 f. 163. 177
(A. Heinr. 23). 247 (A. Heinr. 43). 254 (A. Heinr. 79). 311 ff.
(A. Heinr. 153 ff.). Aber auch die einleitung des Parzival, damit
also dessen erste bücher: Trist. 4636 ff .
Nun freilich lernt Wirnt Wolframs erste bücher später
kennen als den A. Heinr. (vgl. a. a. o. s. 267). Das beweist aber
gegen meinen ansatz nichts. Denn der A. Heinr. war das werk
eines schon weit berühmten dichters, ausserdem nur kurz,
daher schnell abzuschreiben und zu verbreiten. Die sechs
bücher Wolframs aber abzuschreiben dauerte lange, auch war
ihr Verfasser noch ohne ruf. Ihre Verbreitung konnte darum
sehr wol langsamer erfolgt sein. Auch mag der zufall ge-
waltet haben.
Das erscheinen von Parz. 1 — 6 und A. Heinr. darf man um
1202/3 ansetzen. Man bekäme dann die reihe: Erec, Iwein
(Gregor); Parz. 1 — 6; A. H.; Parz. b. 7 ff., Tristan und Wigalois.
Ist nun der A. Heinr. erst im anfang des 13. ]h.'s er-
schienen, so findet auch das
da mite er swaere stunde
möhte senfter machen
und Überhaupt die ganze dem ritterlichen leben sehr abholde
Stimmung der erzählung eine erklärung.
Swcere stunde ist * drückende, schmerzliche zeit', schwerlich
bloss Langeweile'. Und in der tat war die zeit manchmal für
einen Schwaben drückend. Denn es war die zeit des krieges
zwischen Philipp von Schwaben und Otto, der die Vasallen
beider immer unter den waffen hielt und die frohe Stimmung
der zeit vor 1197 nicht aufkommen liess. Wie diese wirren
die ritterliche gesellschaft beeinflussten, wissen wir auch aus
dem Wigalois. Vgl. diese Beitr. 21, 269 ff.
Es weist also . alles darauf, den Iwein vor den Gregor und
den A. Heinr. zu setzen. Macht derselbe einen besonders
UEBEB HARTMANN VON AUE. 35
vollendeten eindruck, so vergesse man nicht, dass er eben das
meisterwerk Chrestiens zienüicli treu widergibt, eine tatsache,
die Piquet mit recht betont (Etüde sur Hartm. d'Aue, 1898,
S.219). Man darf die Verdienste des Franzosen nicht dem
Deutschen zuschreiben. Der A.Heinr. aber ist gewis keine
Übersetzung, sondern die bearbeitung einer lateinischen ge-
schichte. Die verschiedene beschaffenheit der vorlagen muss
eine Untersuchung über die Chronologie berücksichtigen (vgl.
auch Schönbach s. 457).
Die kritische Verwendung der zu geböte stehenden Zeug-
nisse ergibt also die reihe I. büchlein und Erec, Iwein, Gregor,
A.Heinr. Damit hat man aber nur die relative Chronologie,
nicht die absolute. Kann man über diese etwas ermitteln?
Das büchlein steht sicher zur liebespoesie Hartmanns in
beziehung, fällt daher vor 1189. Den Erec setzt man wegen
der erwähnung von Connelant nach dem kreuzzug an. Not-
wendig ist das keineswegs. Die stelle beweist nichts weiter,
als dass Hartmann eine allgemeine kenntnis von Iconium hatte
und dass er meinte, sein publicum werde sich für die notiz
interessieren. Das war vor dem kreuzzug von 1189 eben so
möglich wie nachher. Man kann also den Erec ganz vor den
kreuzzug setzen. Das empfiehlt sich besonders wegen der
beziehung zum I. büchl. (oben s. 27. 29).
Es fragt sich, ob man es nicht auch mit dem Iwein tun
muss. Schönbach meint, der dichter stehe im Iwein noch ganz
im minneleben (s.461). Er weist hin auf die einschübe v. 2971 ff.
1621 ff. u. ä. Schönbachs annähme scheint mir in der tat sehr
glaublich. Man kann sich vorstellen, dass Hartmann das Ver-
hältnis von Laudine und Iwein mit zügen aus seinem eigenen,
unglücklichen ausstattete, dass der Iwein also zeitlich den
letzten und besten seiner minnelieder gleich steht. ^ Vielleicht
ist dann seine anfängliche Opposition gegen den minnedienst
grund, dass er zuerst gerade den Erec zur bearbeitung wählte,
einen roman, dessen held seine dame recht schlecht behandelt.
Nimmt man an, dass Erec und Iwein in die periode der
minnepoesie, also vor 1189 fallen, dann liegt eine weitere
^) Man beachte auch: gehaz findet sich nnr im Iwein (10 mal und immer
im reim). Sonst bei Hartmann nnr MF 207, 35. Yos s. 16.
3*
36 SARAX
Vermutung nahe. Mit dem beginn der kreuzzugspoesie sehen
wir in Hartmanns gemiit einen völligen Umschwung eintreten.
Er sagt sich von der weit los, um nunmehr auf sein Seelen-
heil bedacht zu sein. Ist dieser Umschwung der ende der
achtziger jähre eintrat, identisch mit der abkehr von der
weit, die wir aus der einleitung des Gregor sehen? Das ist
mir höchst wahrscheinlich. Man vergleiche die einleitung mit
dem kreuzlied 209, 25 + 210, 11 + 210, 35. In beiden die
klage, aus tumpheit der weit gefolgt zu sein: Greg. 5: MF 210, 13.
Die sorge um das ewige leben Greg. 31 ff.: MF 211, 3 ff. Vor
allem aber die gleiche Stimmung. Dann müsste man annehmen,
Hartmann habe den Gregor nach seiner rückkehr vom kreuz-
zug gedichtet, nach längerer pause in seinem dichten, nicht
mehr als tumber man, der er bis zum kreuzzug war, aber doch
noch als junger mensch. Setzt man seine geburt um 1160, so
ist ohne zwang durchzukommen. Hartmanns todesjahr hängt
von der datierung der Krone ab. Diese wird von Haupt, wie
mir scheint etwas zu spät, um 1220 angesetzt. Um 1205 lebt
Hartmann jedenfalls noch, was man aus dem Tristan und
Wigalois ersieht. Vgl. Beitr. 21, 267.
Legt man diesen erwägungen wert bei, so würden sich
zwei epochen in Hartmanns leben und dichten ergeben:
1) Die der weltlichen dichtung: minnelied und Artus-
roman. I. büchlein und Erec den älteren (etwa ton 14. 4. 7),
Iwein den jüngeren minneliedern gleichzeitig. Auf wie viel
jähre diese dichtungen zu verteilen sind, ist nicht zu sagen.
Ich habe Beitr. 23, 108 an 1187 und 1188 gedacht: jetzt wo ich
geneigt bin, auch den Iwein vor 1189 anzusetzen, würde ich
ca. 1180 — 88 vorziehen. Doch sind alle solche ausätze reine
Vermutung.
2) Die Periode der geistlich-moralischen dichtung:
Gregor und Armer Heinrich. Beide perioden getrennt durch
den kreuzzug von 1189.
Es folgt hieraus, und deshalb habe ich diese construction
gewagt, dass man nicht in Schwierigkeiten gerät, wenn der
einleitung des Gregor volle bedeutung beigelegt wird. Man
gelangt im gegenteil auf diese weise unter benutzung dessen
was früher über die minnepoesie ermittelt ist, zu einer auf-
fassung des lebens und dichtens Hartmanns, die an sich sehr
ÜEBER HABTMANN VON AüE. 37
viel Wahrscheinlichkeit hat und der von mir H. v. A. s. 105
vorgetragenen wegen ihrer einfachheit noch vorzuziehen ist.
Widerlegt werden könnte die relative Chronologie der
werke Hartmanns freilich durch heranziehung rein formeller
kriterien. Ergibt aber die beobachtung des formalen eine
reihenfolge die mit jener übereinstimmt, dann stützt das nicht
nur jene reihe, sondern ist mittelbar wider ein beweis für die
richtigkeit und brauchbarkeit der methode. Denn darüber
entscheidet schliesslich doch der erfolg.
Drei versuche, formale kriterien anzuwenden, sind bisher
gemacht worden: Untersuchung des Versbaues, der reimbrechung
und der reime nebst der spräche. Die erstere, die ich zuerst
in grösserem umfange vorgenommen habe, hat nun wirklich
dasselbe ergebnis gehabt, das eben aus textstellen gewonnen
worden ist. Sie fordert darum mindestens beachtung: sie wie
Schönbach als principiell verfehlt zu behandeln ist ungerecht-
fertigt. Auch Vogt tut das nicht: er stimmt s. 243 dem princip
i. a. bei, ohne sich allerdings ausdrücklich für meine reihen-
folge zu entscheiden.
Die von mir angewante methode ist folgende.
Man nimmt in den höfischen romanen des 12. 13. jh.'s das
bestreben wahr, gewisse eigenheiten der älteren reimverstechnik
(Rolandslied, Alexander u. ä.) zu beseitigen und den vers einem
idealschema:
X — X — x — x— uaer x — x — x — x
anzunähern. Man vermeidet es, viele zwei- und mehrsilbige
Senkungen zu brauchen und vor allem Senkungen (natürlich
mit ausnähme der letzten, d.h. vierten) ausfallen zu lassen.
Dies streben, das im grossen die ganze gute erzählungsliteratur
beherscht, kommt auch bei Hartmann zum Vorschein, um so
mehr als er am anfang dieser entwickelung steht, ja sie
wesentlich mit einleitet. Man wird daher an der hand einer
Statistik bei Hartmann das fortschreiten dieser bewegung fest-
stellen und damit die folge seiner erzählungen bestimmen
können. Zwei fälle von Senkungsausfall sind hierbei zu
scheiden: der eine, in dem der entstehende einsilbige verstakt
durch ein selbständiges wort, der andere, in dem er durch eine
38 SARAN
unselbständige silbe gebildet wird. Fälle der ersteren art
habe ich mit W, solche der zweiten mit S bezeichnet.
Schönbach wendet gegen diese Zählungen ein (s. 348),
wenn sie etwas beweisen sollten, müssten sie vollständig sein:
Stichproben hülfen nichts. Nun habe ich zwar die proben
reichlich bemessen und sie, wie ein blick auf die tabelle H.V.A.
s. 50 zeigt, möglichst gleichmässig durch die werke verteilt,
immerhin aber würde Vollständigkeit grössere Sicherheit ge-
währen. Es ist also zweckmässig eine neue und zwar voll-
ständige Zählung vorzunehmen.
Gegen die art der Zählung erhebt Henrici, Jahresber. 13,
s. 264 bedenken. Es sei wie bei den späteren dichtem, so
auch bei den jüngeren Schreibern zeitgewohnheit gewesen, die
Senkungen, besonders zwischen zwei Wörtern auszufüllen. Die
überlieferten texte gäben also schon in den späteren hss. wenig
gewähr für des dichters gebrauch. Bedenklich sei es femer,
dass ich Gregor und A. Heinr. nach Paul, Erec, büchlein und
Iwein aber nach Haupt und Lachmann benutzt, in der mei-
nung, diese beiden herausgeber hätten keine Senkungen aus-
gefüllt. Aber die Lachmannschen regeln über unde, niuwet,
gen. d. inf. auf -ennes, die aufnähme niederdeutscher formen
dienten doch grossenteils diesem bestreben. Diesem einwand
zu begegnen habe ich diesmal alle dichtungen mit ausnähme
des Gregor nach Lachmanns und Haupts texten gelesen, ohne
irgend welche änderung daran vorzunehmen, auch da wo sie
mir nötig schien. Die anderen bedenken Henricis wiegen nicht
allzu schwer. Wenn auch die Schreiber des öfteren Senkungen
ausfüllen, so sind diese fälle doch gewis in weitaus den meisten
fällen durch vergleichung der hss. zu ermitteln. Darum sind
eben kritische ausgaben benutzt. Aber auch dann, wenn eine
anzahl solcher Schreiberveränderungen mit in die texte ein-
gegangen sind, kommen sie bei der masse der untersuchten
verstakte doch schwerlich in betracht. Dasselbe gilt, scheint
mir, für die bemerkungen Henricis über den gebrauch von
unde, niuwet u.s.w. Fehler der herausgeber in dieser* beziehung
heben sich durch widerkehr in den andern werken doch wol
auf. Dass Zählungen, wie ich sie vornehme, den Sachverhalt
absolut genau darstellen, glaube ich natürlich nicht. Dass sie
ihn relativ völlig ausreichend verdeutlichen, meine ich allerdings.
ÜBBBE HABTMANN VON AUE. 39
Trotzdem bedarf meine methode noch einer berichtigung.
Es handelt sich um allgemein rhythmisches, was Schönbach,
Vogt u. a. entgangen ist.
Hartmanns reimzeilen sind, was sich von selbst versteht,
Sprechverse. Sie gehören als solche zu der art des rhythmus,
die ich 'poetischen rhythmus' nennen will und stehen den
strengen rhythmen der musik und tanzkunst (auch des kinder-
spruches u. ä.) fem. Der 'strenge' rhythmus zwängt die teile
der Sprache (wörter, silben u.s. w.) nach dauer und bis zu
einem gewissen grade auch schwere in feste Verhältnisse, die
oft dem accent ganz zuwider sind, meist wenigstens sehr von
ihm abweichen. Der poetische rhythmus (der in der musik
z. b. im rhythmus gewisser formen des begleiteten recitativs
und der Sequenzen der röm.-kathol. liturgie nahe verwante
hat) verhält sich zum sprachaccent anders. Der poetische
rhythmus ist eine art, die in der mitte steht zwischen dem
'strengen' rhythmus, der den tanz, gewisse formen der musik
(die sog. geschlossenen) und den auszählspruch beherscht, und
dem 'freien', wie ihn die rhythmische prosa (in der musik z. b.
das seccorecitativ) hat. Diese rhythmusart ist ergebnis einer
mischung der beiden andern, reinen arten. Denn durch ein-
dringen des sprachlichen rhythmus in das gefüge der strengen
formen heben sich diese gelockert und einen neuen Charakter
bekommen. Ich habe in der abhandlung 'Zur metrik Otfrieds
von Weissenburg' (Festschrift f. Sievers, 1896) den Vorgang an
einem beispiel dargestellt, das auch für den mhd. reimvers
grosse bedeutung hat.
Da der sich ergebende poetische rhythmus trotz seiner
nahen beziehungen zu den formen des strengen den sprach-
accent nicht verletzen darf, ohne hässlich zu werden, so sind
für ihn gewisse eigenschaften des strengen rhythmus aus-
geschlossen, eben weil sie sich nicht mit dem accent vertragen.
Man kann ganz wol singen Iw. 79 ze handen gevangen =
J I J : J J I J i J -^---- mit 4 thesen, von denen 2 vier-
zeitig sind. Beim vorlesen ist das aber unmöglich. Da
müssen die strengen Zeitverhältnisse zu gunsten solcher weichen,
die sinn- und stilgemäss an dieser stelle im accent möglich
sind; sodann müssen sich die gewichts Verhältnisse der silben
im anschluss an den accent verändern. Sinn- und stilgemäss
40 SABAK
gelesen hat der vers also das Schema x - x x - x- Er enthält
also für das ohr nur 2 thesen (2 verstakte), obwol sein Schema
auf ein urmetrum von 4 thesen (4 takten) zurückdeutet.
Es bedarf nur des hinweises auf die germanische allitera-
tionsdichtung, um zu verstehen, wie sich aus ein und demselben
strengen metrum _1-1-1_1 mit seinen verschiedenen
artformen (_I._-!._-^-^, ^lL-lL^ _l«^l_i. u.s.w.) eine
fülle verschiedener poetischer rhythmen entwickeln konnte,
rhythmen von ganz verschiedener taktzahl. Aus *_1_.I._1-1
entwickeln sich verse wie Iwein 37 deheine schcener nie gewdn
(= 4 thesen, 4 takte); *ä 1_1_^-L > Iw. 39: in vil swdchem
werde (3 thesen, 3 takte); *_> ^ J. _ i 1 > Iw. 34: nach rtcher ge-
wönheit (2 thesen, 2 takte) u. s. w.
Eine rhythmik des mhd. reimverses hat zuerst die aufgäbe,
festzustellen, welche rhythmischen typen z. b. im Iwein wirk-
lich vorliegen. Sie hat also genau so, wie es Sievers gelehrt,
die Zeilen des romans zu analysieren, dann verwante formen
zusammenzustellen und endlich die ganze masse nach gattungen
(typen) und arten zu ordnen. Dann ergibt sich das typensystem
des Iweins eben so wie Sievers ein solches für den Beowulf,
die Edda u.s.w. gefunden hat.
Wenn nun ein vers wie Iw. 79 /se hdnden gevdngen sinn-
und stilgemäss vorgelesen (nicht scandiert!) nur zwei hebungen
hat (dass er historisch auf eine form mit 4 zurückweist, ist
etwas ganz anderes), dann ist es offenbar unrichtig zu sagen,
in diesem vers sei zweimal die Senkung unterdrückt und er sei
vierhebig. Tatsächlich hört niemand mehr als zwei thesen
und Senkungen werden nicht vermisst. Man kann nur dies
behaupten: in dem vierhebigen urmetrum, auf das verse von
solchem bau hinweisen, war zweimal hebung und folgende
Senkung zusammengezogen.
Nun kann allerdings wenigstens die vierhebigkeit des alten
reimverses gewahrt bleiben, wenn es der dichter versteht, die
mittel recht auszunutzen, die der sprachaccent bietet.
Wenn in der rede zwei stärker betonte silben an einander
stossen, so wird die erste gedehnt und es ergibt sich ein ein-
druck, der einer rhythmischen zusammenziehung gleich em-
pfunden wird. Versteht es der dichter in metren wie
^ii^^l^L oder -.l-3i!-l
UEBEB HABTMANN VON AUE. 41
auf die erste und zweite, bez. zweite und dritte hebung sprach-
liche hauptaccente zu bringen, so wird der vers 4 hebig (bez.
als 3 ^) und asynartetisch gefühlt;
z. b. Iw. 71 er sprach: her Kalogreänt -
28 er was genant Hartman.
Wenn femer in der rede eine silbe emphatisch oder um
eines gegensatzes willen besonders stark betont wird, so wird
sie überdehnt. Dann bekommt die nächste, auch wenn sie
schwach von gewicht ist, grössere stärke. Dieser mittelbare
stärke- (und zeit-) Zuwachs wird wie ein nebenictus empfunden.
Silbengruppen der art können auch zur füUung von sprach-
lichem IJL dienen. Vgl. zu ü. büchl. v. 199 (oben s. 19).
Z. b. Iwein v. 17 so lebt doch iemer sin nam. lemer ist
emphatisch. Darum ie- zu überdehnen, -mer bekommt im an-
schluss an die Überdehnung von ie- zeit- und gewichtsvermeh-
rung und so klingt der vers tatsächlich . . . iemer . . . ohne irgend
wie gegen den sprachaccent zu Verstössen.
Um wenigstens zeitliche gleichmässigkeit der verse zu
bewirken, wird die pause (p) verwendet. Iw. 208 stinke (p)
swä der ist Stinke würde nicht klingen. Eine kleine pause
vor swä macht den vers den andern gleichlaufend.
Nun ist klar, dass verse in denen durch die aufgezählten
mittel des sprachaccents der eindruck von synkope der Senkung
hervorgebracht wird, an sich nicht schlechter zu sein brauchen
als verse von ganz alternierendem rhythmus. Ebensowenig
verse die wie Iw. 79. 80 zweihebig sind. Verse mit freiem
Wechsel der thesenzahl (von zwei bis vier; auch bloss eine
these ist denkbar) können, wie die alliterationspoesie zeigt,
gerade in der erzählung sinn- und stilgemäss verwendet werden
und vortrefflich wirken. Wenn also Hartmann und die höfischen
erzähler beginnen, typen zu meiden, die auf asynartetische
versformen zurückweisen (wie Iw. 79 und SO), oder gar noch
selbst asynartetisch sind (wie Iw. 17. 28. 71 und viele andere),
so ist das zunächst nicht schlechthin als eine 'Verbesserung'
des Verses zu deuten, sondern als eine änderung seines stil-
charakters. Dass damit auch eine Verbesserung der technik
verbunden sei, braucht man natürlich nicht zu leugnen. Sie
scheint mir bei Hartmann klar.
Meine Zählungen der W und S bedeuten also zunächst
42 8ABAN
nichts anderes, als dass der reimvers unter den bänden Hart-
manns seinen stilcharakter ändert. Die gründe für diese
änderung sind zwei: das Vorbild des französischen acbtsilbers,
des versmasses der Artusromane, und dann der böflscbe cbarakter
•
der dicbtung selbst, wie ihn besonders Hartmann herausgearbeitet
hat. Dass Hartmann jenen französischen vers nachahmt, ist
schon lange erkannt (vgl.Wackemagel-Toischer, A.Heinr.s.32ff.).
Wackemagel sagt daselbst, aus der frühmhd. reimprosa habe
sich durch nachahmung des regelmässigen verses französischer
romane der regelmässige mhd. reimvers entwickelt. Dies ist
insofern nicht ganz richtig, als die form der frühmhd. dich-
tungen nicht gereimte prosa, sondern dasselbe metrum ist,
dessen sich die ahd. reimdichtungen, besonders Otfried bedienen
(vgl. verf ., Zur metrik Otfrieds von Weissenburg, a. a. o. s. 204).
Im übrigen aber ist Wackemagels anschauung richtig, wie ich
ebendort s. 200 betont habe. Dass sich Hartmann von Chre-
stiens vers beeinflussen lässt, wird niemand wundem.
Die entwicklung des altdeutschen reimverses bis in das
13. jh. würde also folgendermassen zu deuten sein.
Der altdeutsche reimvers hatte sich in alter zeit aus einem
strengen liedmetrum entwickelt, so wie ich es a. a. o. s. 201 ff.
dargestellt habe. Er hatte dann schon in ahd. zeit, noch mehr
in frühmhd., die freiheiten angenommen, die den sprechvers
charakterisieren.
Die zahl der hebungen wechselte von 2 (1?) bis 4, die
Senkungen, bes. der auftakt waren oft mehrsilbig, oft waren
sie ^sprachlich nicht ausgedrückt' ('auftaktlose' und asynarte-
tische verse) u.s.w. Es war eine reihe formen, jede von eigenem
ästhetischen wert aus den artformen der alten strengen tetra-
podie erwachsen, und so ergab sich ein System poetischer
rhythmen, das von dem Charakter der urmetra wenig mehr an
sich hatte. Für die Litanei hat es Dütschke (HalL diss. 1889)
ermittelt: es wäre sehr zu wünschen, dass es auch für andere
dichter statistisch dargestellt würde.
Durch den Wechsel dieser zahlreichen formen entstand
eine äusserst mannigfaltige folge von schweren und leichten,
gefüllten und minder vollen, langen und kurzen reihen, die
der poesie einen äusserst beweglichen, bequemen, unter um-
ständen saloppen Charakter verlieh.
UEBEB HABTMANN VON AUE. 43
Eben dies aber widersprach dem stil der neuen, höfischen
kunst, im besondem der Hartmannschen. Sie zielt nicht auf
erregung, sondern auf beruhigung ab, sie ist nicht lebhaft oder
gar leidenschaftlich, sondern massvoll und fein. Scherer
schildert Lit.-gesch.s s. 165 das wesen des Hartmannschen Vor-
trags vortrefflich. Wie der dichter war, so musste der vers
werden. Es galt also alle die formen auszuschliessen bez. ihre
Verwendung zu beschränken, die der dichtung die lebhafte
bewegung und das eindringliche geben oder die schwerfällig
den anmutigen fluss der rede hemmen. Das sind besonders die
typen mit übervollen Senkungen (einschl. des auftakts), dann
aber die welche auf alte musikalisch -strenge asynarteten zu-
rückweisen, sei es dass sie im Verhältnis zum vierhebigen vers
zu kurz und leicht oder dui;ch zusammenstoss von schweren
Silben in ihrem lauf stockend, schwerfällig bez. pathetisch
waren.
Es galt m. a. w. den alten reimvers dem gleichmässigen
Schema x-x-x-x- (bez. Ix) anzunähern, einem metrum,
dessen vierhebige form zugleich das romanische zur Verfügung
stellte. So kommt es, dass die Senkung mehr und mehr regel-
mässig wird, dass der dichter möglichst die zahl von 4 thesen
(bez. 3 ^) zu erreichen sucht und dass die verstypen beschränkt
werden, die auf alte asynartetische metra zurückgehen. Es findet
eine grosse Umwälzung im stilcharakter des reimverses statt.
Eine Untersuchung über die metrik der Hartmannschen
reimdichtungen, die etwa in der weise geführt würde, wie sie
Dütschke unter anleitung von Sievers für die Litanei geführt
hat, würde gewis eine sichere Chronologie der Hartmannschen
dichtungen ergeben. Sie würde nebenbei zugleich das sicherste
mittel sein, die fragen über synkope und apokope schwacher
vocale zu lösen und einen reinen text zu gewinnen, der, wie
Lachmann durchaus richtig erkannt hat, ohne metrik nicht zu
erreichen ist.
Meine Statistik kann nicht beanspruchen, die metrischen
änderungen in Hartmanns versen auch nur annähernd zum
ausdruck zu bringen. Sie erstreckt sich bloss auf eine
Seite der metrischen entwicklung. Selbst diesen stellt sie
nur sehr im groben dar. Sie zeigt nämlich zahlenmässig, wie
die verse abnehmen, die auf alte asynarteten hinweisen oder
44
SABAN
noch asynartetisch sind. Aber dies doch nur ganz im umriss,
da sie vom takt und nicht, wie es das richtige ist, von der
reimzeile ausgeht. Es entgeht also meiner Statistik der unter-
schied im typengebrauch : verse wie *_^l-i-L, *-l-.L^_,
*_1_^1-1, *_j:,1_1.-1 geben aUe dieselbe zahl 1. Und
doch ist es sehr wesentlich, wie häufig im Verhältnis metra
jeder art gebraucht werden. Es entgehen der Statistik auch
sonst noch viele feinheiten des Versbaues, die für die Wirkung
der dichtung bedeutsam sind, z. b. der gebrauch einsilbiger
Wörter an bestimmten stellen.
Trotz dieser mängel liefert die Zählung doch ergebnisse,
die mit dem übereinstimmen, was die kritische Verwendung
der Selbstzeugnisse Hartmanns ergeben hat. Ich lege ihr darum
auch jetzt noch denselben wert bei wie früher, so lange ich
nicht durch eine umfassende Untersuchung von ihrer Unrichtig-
keit überzeugt werde. Man muss bedenken, dass sie eben nur
das allergröbste der Veränderung von Hartmanns versbau
darlegt, dass sich die unterschiede zwischen den werken also
bei einer vollständigen Untersuchung noch als grösser heraus-
stellen werden.
Die resultate meiner neuen Zählung sind nun folgende.
Um die grundlagen der procentzahlen genau controlierbar zu
machen, gebe ich die einzelnen posten an. Im übrigen vgl.
meine schrift s. 50f.
Den Erec zähle ich nicht durch, weil mir seine Stellung
in der reihe gesichert scheint.
I. büohlein (ohne S. G.).
no. der verse
w + s
W
S
S — W
1-100
13
2
11
+ 9
101-200
17
5
12
+ 7
201-300
14
4
10
+ 6
301-400
25
9
16
+ 7
401-500
35
18
17
- 1
501—600
18
11
7
— 4
601-700
19
8
11
+ 3
UXBEB HASTBUHK VON XVB.
no. der Terae
w + s
W
S
8-W
701-800
23
7
16
+ 9
801—900
38
16
22
+ 6
901-1000
^
11
le
+ 5
1001-1100
28
11
17
+ ß
noi-iaoo
28
15
13
— 2
1201—1300
21
15
6
— 9
1301—1400
25
14
11
- 3
1401-1500
21
12
9
-3
1501—1600
86
17
19
+ .2
1601-1644
17
9
8
- 1
Yen 400 zu 400 verseil berechnet ist das ergebnis:
Tei^e
W + S
W
s
S-W
l^WO
69
20
49
+ 29
401-800
95
44
51
+ 7
801—1200
121
53
68
+ 15
laOl— 1600
103
58
45
+ 13
1601-1644
17
9
8
9a,
405
,84
221
+ 37
verse
W + S
W
S
S~W
1-400
125
44
81
+ 37
401—800
125
62
63
+ 1
801—1200
146
71
74
+ 3
1201—1600
129
53
76
+ 23
1601-2000
109
43
66
+ 23
2001-2400
107
50
57
+ 5
2401-2800
113
47
66
+ 19
2801—3200
116
52
64
+ 12
3201—3600
104
43
61
+ 18
3601—4000
150
77
73
— 4
46
SASAK
verse
w + s
W
S
S-W
4001-^4400
4401—4800
4801-5200
5201-5600
5601—6000
6001—6400
6401—6800
6801—7200
7201-7600
7601-8000
8001—8166
136
131
149
116
143
151
134
154
148
129
49
77
70
71
50
61
58
70
70
66
50
24
59
61
78
66
82
93
64
84
82
79
25
- 18
- 9
+ 7
+ 16
+ 21
+ 35
- 6
+ 14
-f 16
+ 29
+ 1
Sa. 8166 w.
2663
1209
1454
+ 245
Gregor.
verse
w + s
W
S
S W
1-400
104
30
74
+ 44
401 800
HO
41
69
4- 28
801-1200
HO
48
62
+ 14
1201 1600
96
36
60
+ 24
1601-2000
112
35
77
4- 42
2001 2400
108
42
66
+ 24
2401 2800
94
28
66
-f 38
2801-3200
133
49
84
+ 35
3201—3600
119
47
72
-f 25
3601-4000
143
55
88
+ 33
4001—4006
3
1
2
-f 1
Sa. 4006 w.
1132
412
720
+ 318
Arm. Heinrich.
verse
w + s
W
S
S-W
1—400
401 800
131
103
40
39
91
64
+ 51
+ 25
CEBEB HABTIUKK VOK AÜE.
47
verse
w + s
W
S
S-W
801—1200
1201—1520
97
97
43
44
54
53
+ 11
+ 9
Sa. 1520 w.
428
166
262
+ 96
n. büohlein.
verse
w + s
W
S
S-W
1-100
30
4
26
+ 22
101-200
24
7
17
4- 10
201—300
23
4
19
+ 15
301-400
22
9
13
4- 4
401—500
21
10
11
+ 1
501-600
24
5
19
+ 14
601—700
27
6
21
+ 15
701-800
25
10
15
+ 5
801—826
4
2
2
0
oder nach versen von je 400:
verse
W + S
W
S
S-W
1-400
401-800
801-826
99
97
4
24
31
2
75
66
2
+ 51
-f 35
Sa. 826 w.
200
57
143
+ 86
In procenten ausgedrückt stellen sich die ergebnisse so dar;
Titel
W-f s
W
s
S-W
I. büchl.
24,63
11,19
13,44
+ 2,25
Iwein
32,61
14,80
17,80
3,00
Gregor
28,25
10,28
17,97
7,69
A. Heinr.
28,15
10,92
17,23
6,31
n. büchl.
24,21
6,90
17,31
10,41
1
48 SARAN
Wie man aus der vergleichung mit der älteren tabelle in
H. V. A. s. 51 sieht, sind die absoluten unterschiede unbedeutend:
die Stichproben und die vollständigen Zählungen geben im
wesentlichen dasselbe resultat. Schönbachs bedenken gegen
Stichproben erweisen sich dadurch als hinfällig.
Nur eins lehrt diese neue tabelle, nämlich dass für Gregor
und A. Heinr. jene wie schon gesagt etwas grobe methode nicht
hinreicht, die Chronologie zu bestimmen. Die differenzen der
betreffenden zahlen sind so gering, dass man aus ihnen nichts
schliessen kann. Dass die metrik beider gedichte sich trotzdem
sehr von einander unterscheiden mag, ergibt sich aus meinen
früheren bemerkungen von selbst.
Die tabelle lehrt aber weiterhin mit entschiedenheit,
erstens dass der Iwein vor Gregor und A. Heinr. liegt, und
dann, dass das II. büchlein an das ende der ganzen reihe fällt.
Beides war schon oben aus andern gründen mit Wahrschein-
lichkeit bez. Sicherheit erschlossen worden. In diesem zu-
sammengehen der ergebnisse liegt ein starker beweis für ihre
richtigkeit.
Nun findet freilich Vogt, meine Zählungen seien ungenau.
Er sagt: 'nach diesen [meinen beobachtungen] würden die
Senkungen besonders zwischen zwei verschiedenen worten im
zweiten büchlein weit seltener ausgelassen sein als in allen
übrigen dichtungen Hartmanns. Ich bin zu einem andern er-
gebnisse gekommen. Nach meiner Zählung fehlt die Senkung
in den 826 versen des zweiten büchleins zwischen zwei ver-
schiedenen Worten 88 mal, zwischen zwei silben eines Wortes
138 mal ; in den 826 ersten versen des ersten büchleins kommt
der erste fall 87 mal, der zweite 91 mal vor. Danach zeigt
sich also in jenen sogar eine merkwürdige Übereinstimmung
zwischen den beiden büchlein; in diesem dagegen steht das
zweite büchlein dem Gregor und Iwein näher, wo in der
gleichen verszahl zwischen zwei silben eines wertes die Senkung
llOmal bez. 141mal unausgefüllt bleibt'. Schönbach stimmt
dem auf s. 348 bei: Togt hat gezeigt, dass Sarans Zählungen
ungenau sind: damit fällt auch ihr ergebnis'. Freilich erklärt
er sich unmittelbar darauf gegen die Verwendung von Stich-
proben: 'wiU man aus statistischen Zusammenstellungen etwas
erschliessen, dann müssen sie vollständig sein, Stichproben
UEBEB HABTMANN VON AUE. 49
helfen gar nichts'. Vogts nachweis beruht aber eben auf einer
Stichprobe. Seine zahlen stimmen überdies genau zu meinen
angaben, so dass ich hier weder Vogts noch Schönbachs tadel
begreife.
Denn dass das n.büchlein in der zahl der S mit Erec,
Iwein, Gregor, A. Heinr. nahezu auf gleicher stufe steht, zeigt
meine procenttabelle H. v. A. s. 51. Vogt sagt also mit dem
einen teil seiner bemerkung — wenn man einmal Stichproben
zulässt — nur das was meine tabelle auch enthält Nach
meiner neuen, vollständigen Zählung ist die verwantschaft in
diesem punkte noch näher. Dass das n. büchlein im punkte
der S dem ersten femer bleibt, sieht man ebenfalls deutlich
aus meiner tabelle s. 51 : 1. büchl. 13, 99 (jetzt 13, 44) — U. büch-
lein 17, 40 (jetzt 17, 31). Auch damit widerholt Vogt nur meine
ergebnisse.
Dass femer das ü. büchl. in der zahl der W den 826 versen
vom auf ang des ersten ganz nahe steht, habe ich ebenfalls be-
merkt. Es folgt aus dem was ich H. v. A. s. 52 mitteile, von
selbst. In v. 1—800 des I. büchl. habe ich dort s.52 gezählt 87 W:
Vogt zählt in v. 1 — 826 — auch 87, also bei 26 versen diffe-
renz genau dieselbe zahl! Berechtigt dieser geringe unter-
schied zu dem urteil, dass meine Zählung ungenau sei? Ich
bezweifle, dass Vogt bei erneuter Zählung wider genau 87 W
findet. Da man denselben mhd. vers oft verschieden lesen
kann, so finde ich zwischen meiner und Vogts Zählung viel-
mehr eine überraschende Übereinstimmung.
Wie sehr nun aber Schönbachs wamung vor dem gebrauch
— wenigstens unzureichender und nicht genau controlierter —
Stichproben am platze ist, das zeigt sich gerade in diesem
falle deutlich, wo er sein urteil über meine Statistik eben auf
eine solche gründet. Es wundert mich um so mehr, dass Schön-
bach dieser probe Vogts so viel bedeutung beilegt, als er schon
aus meinen angaben über die W des I. büchleins (H. v. A. s. 52)
hätte ersehen können, dass er sich gerade auf jene Stichprobe
nicht verlassen durfte.
Dort (vgl. jetzt oben s.44f.) zeige ich nämlich, dass das
I. büchl. in metrischer hinsieht unter allen dichtungen Hart-
manns eine Sonderstellung einnimmt. Es ist für dies gedieht
charakteristisch, dass in ihm anfangs die beseitigung der
Beiträge cur geschichte der deutschen spräche. XXIV. ^
50 SASAN
'einsilbigen verstakte' überraschend gut gelungen ist, dass
aber die im anfang erreichte glätte der verse nicht dauert,
dass man fast von 100 zu 100 versen das zurückgehen von
diesem höheren Standpunkt der technik beobachten kann. So
kommt es, dass von den beiden hälften des I. büchleins, das,
den sog. *leich' natürlich abgerechnet, 1644 verse umfasst, die
erstere unverhältnissmässig viel glattere verse aufweist, als
die zweite in der sie z. t. sehr uneben sind. Ich habe H. v. A.
s. 52 gezählt L büchl. v. 1—800: W = 87, S = 110,
V. 801—1644: W = 136, S = 120.
Hätte also Vogt seine Stichprobe von 826 versen nicht mit v. 1,
sondern mit v. 801 begonnen, so würde er das entgegengesetzte
resultat bekommen haben.
Ferner habe ich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für
die beurteilung der Hartmannschen technik nicht einseitig bloss
die W oder bloss die S herangezogen werden dürfen, sondern
auch das Verhältnis der W zu den S. Dass dies für den
rhythmischen eindruck von grosser bedeutung ist, liegt auf
der hand. Wenn wie Vogt sagt, das ü. büchl. in den S dem
Iw., Greg., A. Heinr. näher, der Klage femer steht, dafür aber
sich dem ersten teil der Klage in den W sehr nähert, so be-
weist das streng genommen nichts anderes als dass die technik
des II. büchleins von der dieser dichtungen grundverschieden
ist, da sie eben mit ihren ziff em in der tabeUe für Hartmanns
werke nicht eingeordnet werden kann.
Das eigentümliche verhalten des I. büchleins in bezug auf
das Verhältnis der W und S zeigt die neue tabelle oben s. 44 1
deutlicher. H. v. A. s. 52 habe ich versucht es zu erklären.
Dort wird es auf das bestreben zurückgeführt, die W- formen
zu beseitigen, eine arbeit, deren durchführung die kraft des
dichters noch nicht gewachsen war und bei der sie darum
allmählich erlahmte. Dass der dichter aber überhaupt die
absieht fassen konnte die W zu beseitigen, erklärt H. v. A. s. 53
folgendermassen: * Hartmann hat versucht, im I. büchlein die
formalen gesetze der lyrik durchzuführen. Als lyriker hatte
er schon eine ziemliche höhe erreicht, ein feines gefühl füi'
regelmässigen versbau bekommen, mit epischen dichtungen
hatte er sich gar nicht beschäftigt. Was wunder wenn er in
einem gedieht dessen Inhalt ja der minnepoesie entnommen
UEBER HABTMAim VON AÜE. 51
ist, auch die formglätte derselben anstrebt? Er sucht schon
jetzt die brücke zwischen der neuen tradition der lyrik und
der alten der epik zu schlagen, deren Vollendung erst einer
viel späteren zeit vorbehalten war'.
Diese erklärung ist aber aus gründen der rhythmik un-
möglich. Ich konnte sie nur zu einer zeit aufetellen, wo ich
in Übereinstimmung mit den üblichen anschauungen die tiefe
kluft noch nicht sah, die zwischen 'strengem' und 'poetischem'
rhythmus liegt. Eine einwirkung der lyrik, die in jener zeit
ja keine buch-, sondern eine singlyrik war, auf die reimpaar-
dichtung ist in der weise, wie ich es H. v. A. annahm, aus-
geschlossen. Musik und poesie haben ihre besonderen traditionen,
und ihre formen können sich nicht mehr beeinflussen, wenn sie
sich einmal differenziert haben.
Es gibt nur 6inen weg von strengen musikalischen rhythmen
zu poetischen, den worauf ich unter anderm auch in der ab-
handlung über die metrik Otfrieds von Weissenburg hingewiesen
habe. Es können gewisse liedgattungen im verlauf der histo-
rischen entwickelung ihre strenge form, auch die melodie auf-
geben und zur poesie übertreten, aber von den strengen formen
der musik führt zur ausgebildeten Sprechpoesie unmittelbar
keine brücke, jedenfalls nicht in dem sinne, wie es H. v. A. s. 53
angenommen wurde. Die Sonderstellung des I. büchleins muss
demnach anders erklärt werden. Das ist auch nicht schwer.
Die W und S werden im büchlein zweifellos mit absieht
vermieden. Hartmann will sich eine neue verstechnik schaffen.
Warum tritt dies bestreben nun gerade im I. büchlein so deut-
lich hervor? Eben aus dem I. büchlein erfahren wir, dass
Hartmann vor abfassung desselben eine reise nach Nordfrank-
reich gemacht hat. An den höfen dieser gegend herschte die
neue ritterliche dichtung, besonders die Chrestiens. Sie lernte
Hartmann dort kennen und bewundern. Dass er bald ent-
schlossen war diesem muster nachzustreben, beweisen Erec
und Iwein, die die ersten fruchte seines Studiums sind. Mit
dem Inhalt jener höfischen dichtungen prägte sich aber seinem
ohr auch der anmutige, gleichmässige fall des afrz. achtsilblers
in seinem alternierenden rhythmus ein. Die erste reimdichtung
die er nach der rückkehr verfasste, war nun, wie man gewis
mit recht annimmt, das I. büehlein. Sie wird darum natürlich
52 SASAN
metrisch noch am meisten unter dem einfluss des frz. verses
stehen, dessen gang Hartmann möglichst genau nachbilden
wollte. Das ist auch der fall, freilich nur in der ersten hälfte
(bis 800). Denn es gelang dem dichter nicht, den vorschweben-
den rhythmus in der spräche durchweg auszuprägen: es gelang
einigermassen nur im anfang der dichtung; in der andern
hälfte erlahmt die kraft, und die alte rhythmik zieht den
dichter wider an sich. Jenen versuch macht Hartmann dann
nicht wider. Er strebt nunmehr danach, das 'alte heimische
und das neue frz. versprincip zu vereinigen, eine versart zu
finden, die das charakteristische der frühmhd. technik nicht
ganz aufgebe und andererseits doch dem vorbild des frz. acht-
silblers folge. In der tat macht Hartmanns vers, wie ihn be-
sonders der A. Heinr. zeigt, die mitte zwischen altheimischer
und französischer technik. Vgl. auch Beitr. 23, 94 ff ., wo für
die lyrik ähnliche tendenzen nachgewiesen werden.
Das merkwürdige Verhältnis der beiden hälften des I. büch-
leins in metrischer hinsieht erklärt sich also sehr einfach daraus,
dass dies werk noch unmittelbar unter dem eindruck franzö-
sischer verse gedichtet ist und sich bestrebt, diesen möglichst
widerzugeben. Erst später hat sich Hartmann sein eigenes
rhythmisches ideal geschaffen.
Es ergibt sich somit, dass meine statistischen Zählungen in
jeder hinsieht die Chronologie bestätigen, die man aus der
vergleichung der selbstzeugnisse gewonnen hat.
Von der reimbrechung aus zu einer Chronologie zu kommen
hat K. Stahl versucht in seiner dissertation 'Die reimbrechung
bei Hartmann von Aue', Rostock 1888 (rec. von Glöde, Lit.-bl.
1889, s. 407). Er gewinnt die reihe Erec — Gregor — Iwein
— A. Heinr. Diese stimmt mit der meinigen, insofern sie Erec
und A. Heinr. an den anfang und schluss, Gregor und Iwein
in die mitte setzt. Aber mir scheint die ganze art, wie Stahl
seine Untersuchung ansetzt und führt, methodisch nicht richtig
und darum sein ergebnis unverwertbar. Glöde ausserdem meint
s. 408, reimbrechung aUein gebe nicht den ausschlag: sie sei
nur im verein mit vielen andern kriterien beweiskräftig. Ich
habe keine Untersuchung hierüber angestellt, glaube aber auf
grund der angaben Stahls doch, dass jenes kriterium einen hohen
wert hat, bei richtiger verwendung.vielleicht auch allein genügt.
UEBEB HABTMANN VON AUE. 58
Ueber die rhythmische bedeutung der reimbrechung wird Zur
metrik Otfrieds v. Weissenburg s. 194 f. gehandelt. Es ist dort
die rhythmische entwicklung kurz angedeutet, deren notwendiges
Schlussglied die brechung der rime bildet. Aus jener darstellung
ergibt sich auch, nach welchen regeln die erscheinung statistisch
aufgenommen werden muss. Man hat von der tatsache auszu-
gehen, dass ein reimpaar von haus aus den wert einer musika-
lischen Periode hat; der erste vers ist Vordersatz (a), der andere
nachsatz (b). In der musik der geschlossenen, strengen form
hat sich das wort der weise und ihrem rhythmus unterzuordnen.
Also muss da entsprechend der melodieftthrung am perioden-
schluss (d. i. hinter dem zweiten reim) ein relativ starker, auf
der cäsur (d. h. hinter dem ersten reim) ein relativ schwacher
Sinneseinschnitt statt haben. Jedenfalls muss der cäsureinschnitt
schwächer sein als der am periodenende, weil sonst die periode
nicht zusammenhalten würde (vgl.Beitr.23,52f. [§22]). Schwindet
nun der strenge rhythmus nebst melodie, so wird das alte Ver-
hältnis von cäsur und periodenschluss zunächst traditionell
gewahrt. So ist es noch in der ahd. und frühmhd. dichtung.
Allmählich aber ändert sich das. Man bestrebt sich, aus
ästhetischen gründen das Verhältnis der Schlüsse umzukehren.
Dadurch wird das rhythmische System der periode zerrissen:
die rtme werden gebrochen. Eine lockerung des Perioden-
systems und eine Vorstufe zur brechung ist es schon, wenn
die cäsur dem periodenschluss an stärke gleichgemacht wird.
Will man nun statistisch aufzeigen, wie sich dieses bestreben
geltend macht, so darf man nicht mit Stahl das Verhältnis von
satz und reimbrechung in den Vordergrund stellen. Ebenso-
wenig darf man reimbrechung nur da annehmen, wo hinter
dem ersten reime einpunkt steht (Stahls. 11). Man hat viel-
mehr einfach die fälle zu zählen, in denen jedesmal die innere
Verbindung eines reimpaares loser ist als die Verbindung des
ersten reimverses mit dem vorausgehenden oder des zweiten
mit dem folgenden, oder in denen beide reimpaare völlig aus-
einander gerissen sind. So würde z. b. im I. büchlein gebrochen
sein reimpaar 1/2. Gebunden ist 3 + 4; weiter: 5/6, 7/8, 9 +
10, 11 + 12, 13/14, 15 + 16, 17/18, 19/20 etc. Dabei wären
schwere und leichte fälle der brechung bez. bindung zu scheiden.
Nützlich ist es vielleicht, die* fälle besonders zu zählen, in denen
54 8ABAN
die sinneseinschnitte als gleich gefühlt werden (so z. b. 3 : 4;
15 : 16). Fehler oder ungenauigkeiten würden sich bei hin-
reichend grossem mateiial gegenseitig ausgleichen. Die ergeb-
nisse wären dann einfach auf je 100 reimpaare procentualiter
zu berechnen. Unterscheidungen der art wie sie Stahl macht,
sind als besondere fälle jener 3 hauptgattungen aufzunehmen,
also in zweite linie zu rücken. Sie sind wertvoll für die be-
urteilung der kunst des dichters.
Schönbach tadelt an Stahls arbeit, dass sie nirgends auf
das Verhältnis der poetischen aufgäbe zur form eingehe. Nun
ist ja gewis richtig, dass der gegensatz von reimbrechung und
bindung absichtlich zur erreichung bestimmter zwecke ver-
wendet werden kann. Aber ich glaube nicht, dass eine Sta-
tistik die auf eine Chronologie ausgeht, jene möglichkeit be-
sonders zu betonen braucht. Sie wird sich damit begnügen,
die fälle der bindung festzulegen, wo sie zweifellos sinn- und
stilgemäss ist, brechung minder gut wäre. Im allgemeinen
aber dürfte gerade dieser punkt geringe bedeutung haben.
Wo ist denn im einzelnen falle brechung oder bindung nötig
oder auch nur wolgefällig und wo nicht? Ich bezweifle, dass
man diese frage unzweideutig beantworten kann.
Man wird z. b. sagen: reimbrechung erhöht die lebendig-
keit der darstellung, bes. des dialogs (vgl. Stahl s. 27). Das
ist i. a. gewis richtig. Muss aber lebhaftigkeit immer zur reim-
brechung führen? Kann sie nicht auf andere weise (z. b. durch
die wähl der verstypen) ausgedrückt werden? Der dichter
hat gewisse Stimmungen zu erregen so mannigfaltige mittel,
dass man. ihm schwerlich im einzelnen nachrechnen kann.^)
Ich meine also gegen Schönbach: hat man bemerkt, dass
sich ein dichter immer mehr bestrebt, die perioden zu brechen
— und für Hartmann ist das zweifellos — , dann zähle man
einfach die fälle in der oben angedeuteten weise. Man wird
daraus meiner Überzeugung nach einen wertvollen, vielleicht
an sich schon genügenden anhält gewinnen, die reihe der
dichtungen zu bestimmen. Das Verhältnis von Inhalt und form
zu betrachten wird zur Scheidung der fälle, jedenfalls aber für
das Verständnis der dichterischen kunst von grossem wert sein;
*) Vgl. Terf., Die einheit des Faustmonologs, Zs. fdph. 30, 538—545.
UEBEB HABTMAKN VON AÜE. 55
aber für den nächsten zweck der Chronologie würde die auf-
gewendete mühe und zeit schwerlich im Verhältnis zum wert
der ergebnisse stehen.
Stahls ergebnisse halte ich also aus rhythmischen gründen
nicht für stichhaltig. Sie sind unverwendbar für oder gegen
meine Chronologie.
Damit fällt freilich auch der grund, den er auf s. 27 gegen
die echtheit des büchleins vorbringt oder er wird wenigstens
zweifelhaft. Dies büchlein bricht nämlich die reime unver-
hältnismässig oft, geht damit sogar über den A. Heinr. hinaus,
wie Stahl behauptet. Immerhin sieht man aber doch so viel,
dass es auch in diesem punkt von Hartmanns werken abweicht.
Noch ein dritter versuch ist gemacht worden auf objective
art festzustellen, wie sich Hartmanns dichtungen an einander
schliessen: B. J. Vos, The diction and rime-technic of Hart-
mann V. A., Leipzig 1896 (rec. v. K. Helm, Lit.-bl. 1898, s.264).
Der verf. versucht durch beobachtung des wortgebrauchs und
der reimtechnik zu einer Chronologie zu kommen. Ansätze zu
dieser methode finden sich schon bei Haupt, Naumann, Lemcke,
Greve (s. 60), Zwierzina (Zs. fda. 40, 237—241), doch ist Vos
wegen der zahl und Vollständigkeit der belege als ihr eigent-
licher Vertreter anzusehen.
S. 7 — 41 werden eine reihe von Wörtern alphabetisch zu-
zusammengestellt, die in den werken Hartmanns mehr oder
weniger oft vorkommen. Aus dieser tabelle werden dann
Schlüsse gezogen. Aber der verf. hat es unterlassen zu über-
legen, ob solche Schlüsse aus dem wortgebrauch überhaupt wert
haben und wie weit etwa.
Zunächst musste bedacht werden — Haupt, Jänicke u. a.
waren darin vorangegangen — ob besondere gründe dem
dichter nahe legten, gewisse Wörter oder Wendungen allmählich
zu meiden. Das ist nun sicher der fall. Wörter wie halt,
degen^ eilen, isengewant, isenwät, kneht (=ritter), rant (= Schild),
schaß, snel, snelheit u. a. werden im höfischen roman gemieden,
weil sie * unhöfisch' schienen, d. h. weil sie durch die dichtung
älteren Stiles so fest mit der Vorstellung des rittertums älteren
Stiles verknüpft waren, dass sie mit den neuen idealen nicht
mehr recht stimmten: ein ritter war für die phantasie der
Umgebung Hartmanns etwas anderes, feineres als ein degen\
56 SABAN
mit jenem wort verbanden sich ganz andere associationen als
mit diesem oder gar mit kneht (dem das gtwt, d.i ^vornehm,
bevorzugt' freilich fast nie fehlt). Lässt sich nachweisen, dass
auch Hartmann solche Wörter allmählich meidet^ dann bedeutet
das allerdings nicht wenig. Die beobachtung ergibt nun, dass
solche Wörter i. a. nur im Erec und I. büchl. vorkommen, dann
verschwinden. Das sichert, wie schon oben bemerkt, den frühen
ansatz beider dichtungen. Für die reihe der übrigen ergibt
sich, dass im Iwein die besonders charakteristischen (degen,
kneht, schaß) noch zuweilen da sind, im Gregor aber ver-
schwinden. Das spricht für das relativ höhere alter des Iweins.
Man vergleiche folgende tabelle:
I. büchl. Erec Iwem Greg. A. Heinr.
balt 2 3 — — —
degen — 11 4 _ _
degenlich — 1 — — —
eUen — 6 11 —
eUenthaft — 3 — 1 —
ich genende — 1 — — —
genendic 1 2 — 1 —
genendeclichen 1 2 1 — —
genendekeit — 1 — — —
helt — 14 1 —
isengewant — 9 1 — —
isenwät — 1 — — —
kneht (=ritter) — 21 5 — —
magedin — 3 — — —
rant — 4 _ __ —
Schaft — 11 1 — —
snel — 1 — — —
snelle 1 3 — — —
snelheit — 2 — — —
Zum teil hängt dies auch mit dem inhalt zusammen. Gerade
für die wichtigsten kann man es aber nicht behaupten.
Im Zusammenhang mit dem erörterten steht es wol auch,
wenn Wörter wie herlich (Er. 5 m), herlichen (Er. 2 m.; Iw. 1 m.),
manlich Er. 8m.; Iw. 4m.; Gr. Im.), manliche (l.\). Im.; Er. 3m.)
allmählich verschwinden. Sie passten vermutlich nicht mehr
zu Hartmanns voratellung vom idealritter bez. mann. Um-
gekehrt vgl. hövesch und seine sippe.
Im übrigen scheinen mir zu chronologischen Schlüssen nur
solche Wörter geeignet, die oft vorkommen wd zugleich ohne
ÜEBER HABTMANN VON AUE. 57
sonderlichen unterschied mit synonymen wechseln können.
Besonders Partikeln. Vos hat auf einiges selbst hingewiesen.
So nimmt der gebrauch von dagen (nebst compositis) vom Iwein
an ab (Iw., Greg., A. Heinr. stehen sich i. a. gleich), der von
steigen (und compositis) entsprechend zu (im A. Heinr. wider
ab). Harte nimmt vom Iwein an ganz bedeutend zu und bleibt
im Gregor und A. Heinr. auf der höhe, vil dagegen nimmt
merklich ab. StarJet verhält sich ähnlich wie harte. Es wird
also statt des blasseren vil öfters ein volleres wort gewählt.
Andere solche paare ergeben nichts, wie z. b. dicJce und ofte,
hceren und vememen.
Weitaus die meisten der von Vos beigebrachten Wörter sind
m. e. für eine Chronologie ganz ungeeignet. Houhet kommt Er.
36 m., Iw. 8 m., Greg. 5 m. vor. Das wort als solches ist ganz
unverfänglich. Was soll sein gebrauch für die Chronologie
bedeuten?
Bei andern worten ist einfluss der lectüre zu berücksich-
tigen. Im Iwein findet sich das wort geha^ 10 m., sonst in
den reimpaardichtungen nie. Dafür vtent u. ä. Wahrschein-
lich ist Hartmann hier das ihm an sich bekannte wort durch
irgend einen literarischen einfluss neu in den sinn gekommen;
es gefiel ihm und er brauchte es nun öfter. Literarische ein-
flüsse können ihm aber ebensogut ein wort, das er im Iwein
nicht mehr verwendet, im Greg, oder A. Heinr. wider empfohlen
haben.
Wenn Vos darauf hinweist, dass Gregor und Erec viele
Worte der tabelle gemeinsam hätten (s. 69), so ist zunächst zu
bemerken, dass die angeführten gar nicht charakteristisch sind.
Femer ist die gegenprobe nicht gemacht: ob die fälle des Unter-
schiedes oder der zusammenstimmung überwiegen, muss fest-
gestellt werden, wenn über relative verwantschaft etwas aus-
gesagt werden soll. Dann ist zu bedenken: Hartmann hat
seine erzählungen ohne zweifei an seinem hofe vorgelesen.
Las er nun den Erec, während er am Gregor arbeitete, so
konnten ihm Wörter aus jenem, die er im Iwein zufällig nicht
anwendet, sehr wol wider ins gedächtnis kommen. Diese
möglichkeit hat Vos überhaupt nicht erwogen.
Ich kann also den sprachlichen beobachtungen von Vos
nur wenig bedeutung beimessen. So weit sie brauchbar sind
58 SABAN
bestätigen sie meine oben neu begründete reihenfolge. Im
allgemeinen zeigen sie, dass man mit dieser methode nicht viel
ausrichten kann, weil sie überaus umständlich und unsicher ist.
Was nun die reime anbetrifft, so liegt auf der band, dass
aus der häufigkeit der reimvocale und gewisser reimgruppen
nichts gewonnen werden kann (vgl. Helm a. a. o.). Auch die
beobachtung der 'unreinen' reime hilft zu nichts. Höchstens
könnte man in der völligen reinheit der reime des A. Heinr.
einen beweis dafür sehen, dass diese dichtung die jüngste ist.
Dafür ist sie aber auch die kürzeste.
Wert hat in diesem teil der arbeit von Vos nur die Zu-
sammenstellung über die rührenden reime. Es finden sich näm-
lich von solchen reimpaaren im
Lbüchlein 16 (excl. ^eich'),
Erec . 110,
Iwein . 27 (incl. der stelle 7151—60, die natür-
lich nicht weggelassen werden darf),
Gregor 21,
A. Heinr. 8.
Berücksichtigt man den umfang der dichtungen, dann er-
gibt sich, dass I. büchl. und Erec von den andern dichtungen
durch eine grosse kluft getrennt sind. Iw., Greg., A. Heinr.
stehen sich dagegen so nahe, dass man keine Schlüsse ziehen
darf. Genaueres für die reihenfolge der strittigen werke lernt
man also nicht. Immerhin bekommt man wider ein unverächt-
liches Zeugnis für das alter von I. büchlein und Erec (vgl.
oben s. 27). —
Es ergibt sich also aus den vorstehenden erörterungen:
von den zwei gründen die ich für die Chronologie des H. büch-
leins geltend gemacht, hat den ersten niemand angefochten oder
gar widerlegt; der zweite ist zwar angegriffen worden, aber
ohne ausreichende gründe. Vielmehr ist gerade meine Chrono-
logie der echten reimpaardichtungen Hartmanns von Schönbach
angenommen. Das büchlein ist also tatsächlich nach sämmt-
lichen werken des Auers geschrieben. Es fällt an das ende
der reihe, nicht in die mitte, wie Schönbach annimmt, ohne es
zu beweisen. Dann kann es aber auf keinen fall ein werk Hart-
manns sein, wie ich H. v. A. s. 57 f. zeige, in einer auseinander-
setzung der ich auch jetzt nichts weiter hinzuzufügen habe.
UEBEB HABTMANN VOK AüE. 59
Welche neuen positiven gründe führt nun Schönbach an,
um Haupts annähme aufrecht zu erhalten? Er behauptet zu-
nächst s. 361, das zweite (und vor allem erste) büchlein hingen
mit Hartmanns liebeslyrik aufs engste zusammen. Das erste
büchlein gehöre zum ersten, das andere zu einem zweiten
minneverhältnis. Diese behauptung lässt sich nur dann recht-
fertigen, wenn das U. büchlein spätestens mit dem Iwein gleich-
zeitig ist. Es muss aber weit hinter alle werke des Auers
fallen, wie oben gezeigt. Also braucht man mit dieser annähme
Schönbachs nicht weiter zu rechnen.
Femer sagt Schönbach s. 368: *dass der Verfasser dieses
ganz vorzüglichen [?] gedichtes nicht wol jemand anders sein
kann als Hartmann von Aue, lässt sich meiner ansieht nach
mit Sicherheit erweisen. Meine analyse hat ihren zweck voll-
ständig verfehlt, wenn es ihr nicht gelungen ist zu zeigen,
dass die beiden stellen 121—136. 145—153, die mit MF. 214,
12 ff. 27 ff. wörtlich [?] übereinstimmen, in organischem zu-
sammenhange mit dem vorausgehenden und nachfolgenden
stehen. Kein ausschreiber und nachahmer ist so geschickt,
dass er andere in dieser weise zu citieren vermöchte; ganz
abgesehen davon, dass der dichter des ü. büchleins es wirklich
nicht nötig hatte, von fremden zu borgen. Nur wer sich selbst
anführt, verfügt so souverain über das angeführte'.
Ob es der dichter des IL. büchleins nötig hatte zu borgen
oder nicht, darüber unten. Tatsache ist jedenfalls, dass er
überaus häufig aussprüche von gewährsmännern heranzieht,
um seine erörterungen daran zu knüpfen oder um sie zur
Widerlegung zu brauchen. Autoren zu citieren ist der Ver-
fasser, vermutlich als kenner der rhetorik und dialektik, ge-
wöhnt; war es doch auch in den lateinischen versen und der
lateinischen prosa ganz üblich, phrasen und stellen berühmter
dichter nachzuahmen oder einzuflechten. Der Schreiber des
büchleins hat mit diesen stellen aus Hartmann gewis nur einen
beweis seiner kennerschaft liefern wollen und darin einen
Vorzug seines werkes gesehen. Warum soll ein nachahmer
werke seiner Vorgänger nicht auch einmal mit geschick be-
nutzen, was hier entschieden der fall ist? Jenen allgemeinen
erwägungen Schönbachs vermag ich keinen besonderen wert
beizulegen.
60 SABAN
Sind nun weiter die fraglichen stellen wirklich so orga-
nisch und unlösbar mit dem Inhalt des n. büchleins ver-
bunden ?
Zunächst 121—136 = MF. 214, 12—22. Schon oben ist
angemerkt worden, dass Schönbach den gedankengang des
liebesbriefes nicht immer richtig darstellt und namentlich darin
fehlt, dass er eine fortlaufende dialektische gedankenentwick-
lung durch das ganze gedieht hin annimmt. Meine disposition
auf s. 5 ff. zeigt das. Auf jeden fall beginnt mit v. 137 ein
neuer unterteil ( A 1 2), der dem gleichgestellt ist, der vorausgeht
(A 1 1) und dessen gedanke nicht aus dem vorhergehenden
folgt. Die bemerkung Schönbachs s. 363 oben, mit v. 137 be-
ginne die darstellung eines einzelfalles [zur begründung dessen
was vorausgeht?] ist darum nicht zu billigen. Dort in A 1 1
(v. 53 — 136) sagt der dichter, sein glückliches minneverhältnis
habe ihm doch Unglück gebracht; hier in A 1 2 sagt er weiter,
ebenso bringe ihm die treue nicht freude sondern gerade pein.
Also ist keine causale Verbindung der teile 1 1 und 2 vorhanden.
Beide sind coordiniert.
Aber auch mit dem vorausgehenden sind die verse 121 — 136
nicht so organisch und unlösbar verbunden, dass sie nicht ent-
lehnt sein könnten. Auch hier hat Schönbach den logischen
Zusammenhang nicht erkannt (s. 362 ff.). Er scheint mit v. 121
einen neuen gedankengang anzusetzen: ouch (v. 121) sei ad-
versativ ^andererseits', eine entgegnung dialektisch einleitend.
Aber das ist unmöglich. V. 121 ff. beginnt nicht einen neuen
teil (ein solcher beginnt erst v. 137), sondern schliesst effect-
voU den ersten. All hebt v. 53 (hinter der einleitung) nach
gewohnheit des dichters mit einem allgemeinen erf ahrungssatz
an, den auch er anerkennen muss: 4ch höre, dass eine liebe
die zum ziel gelangt, das schönste ist. Ferner {ouch v. 60)
sehe ich selbst, dass glückliche liebe die herzen froh macht
und zwar mit recht. Wenn man nämlich (v. 65) das los derer
betrachtet, die da glücklich sind, dann ist in der tat nicht zu
leugnen, dass ein glückliches minneverhältnis das beste leben
ist, das gott geben kann'. V. 79 wird nun angedeutet, dass
der dichter jener erfahrung entsprechend ein minneverhältnis
und zwar ein ^vollkommenes' eingegangen ist. Aber (v.90 — 102)
jenes glück ist gerade sein Unglück geworden. Es ergibt sich
UEBEB HABTMAKN VON AUE. 61
also, dass jener allgemeine satz falsch ist: vielmehr muss er
sagen, sein glück bringe ihm unglück.
Dieser gedanke, der zwischen v. 102 und 103 zu ergänzen
ist, wird nun von v. 103 — 120 in emphatischer weise immer
wider ausgesprochen. Das ich in v. 103, mich in v. 104 u.s.w.
sind zu betonen. Die mannigfachsten antithesen müssen dazu
herhalten, ihn einzuschärfen. V. 121 — 136 setzt dieser leiden-
schaftlichen rede die kröne auf. * Darum {puch v. 121) schreibe
ich das auch als eine Wahrheit nieder, glücklich ist nur der,
dem nie glück zu teil geworden'. Damit wird, wie man sieht,
das gegenteil der allgemeinen behauptung zu anfang von teil
All (v. 53 ff.) aufgestellt. Das ouch von v. 121 ist also keines-
wegs adversativ, sondern folgert bez. bekräftigt (vgl. Mhd. wb.
2,1,450 c).
Ohne zweifei ist das ganze sehr geschickt aufgebaut, und
der paradoxe gedanke der die pointe bildet, sehr gut vor-
bereitet. Aber dass diese verse 121 — 136 so organisch und
unlösbar in dem ganzen stünden, dass ein nachahmer sie nicht
hätte anbringen können, finde ich nicht. An sich reichte es
hin, wenn der dichter mit dem trumpf von v. 117 — 120 schlösse,
der schon kräftig genug ist.
Ausserdem sieht man klar, wie der Verfasser den abschluss
dieses teiles, in dem er seine verzweifelte Stimmung schildert,
aus lauter nur leicht veränderten citaten zusammengebaut hat:
V. 103—113 vgl. Iw. 7066—7074,
V. 116 „ A. Heinr. 712,
V. 117— 120 „ Greg. 505— 507,
V. 121— 136 „ MF. 214, 12— 22.
Die mittel um seine gefühle auszudrücken, borgt er; die stelle
des liebesbriefes, wo der giösste schwung gefühlt wird, ist nicht
selbständig!
Gerade die verse also, die Schönbach zum beweis dafür
verwendet, dass sie originell seien, beweisen evident, dass
wir es mit einem nachahmer zu tun haben.
Auch die andere stelle büchl. 146—153 = MF. 214, 27—33
beweist nichts für Schönbach. Teil A I 2 beginnt wie 1 mit
einer allgemeinen erfahrung (137 — 144): treue und beständig-
keit soll für leib und seele von allem was glück ist, das beste
sein. y. 145 wird die entgegengesetzte erfahrung gemacht und
62 SARAH
zur darstellung die bekannte Strophe Hartmanns benutzt. Ver-
mutlich ist der ganze teil erst aus der antithese Hartmanns
herausgewachsen: darum passt die stelle auch so gut hinein.
— Aber warum soll ein nachahmer diesen teil nicht haben
schreiben können?
Die verse 157—159 sind nach Schönbach s. 363. 369 citat
aus einer liebesbotschaft der frau. Warum? Derartiges deutet
der text nirgends an. Wenn ein dichter eben zwei Strophen
Hartmanns benutzt hat, dann liegt doch wol am nächsten zu
glauben, dass er auch die andern lieder seines lieblingsdichters
kennt und ausschreibt. Uebrigens sind die dort stehenden
Wendungen und die zu gründe liegende Situation im minne-
sang so beliebt, dass sie der dichter des büchleins auch anders-
woher als aus Hartmann haben könnte. Vgl. Reinmar MF.
192, 38 (v. 31 steht das angestUchen von bücMein 154, das bei
Hartmann fehlt); Hausen ebda. 54, 1 dieselbe Situation (vgl.
bes. 55, 5).
Das MF. 212, 37 als Hartmannisch bezeichnete lied soll
nach Schönbach s. 370 von einer dame gedichtet sein. Das
n. büchlein sei die antwort Hartmanns darauf. Wo aber sind
die gründe für diese behauptung?
Alle diese constructionen Schönbachs haben die vorgef asste,
doch nirgends bewiesene annähme zur Voraussetzung, das zweite
büchlein und die dailn benutzten lieder Hartmanns gehörten
ihrer entstehung nach zusammen. Dass an eine solche beziehung
nicht zu denken ist, habe ich oben nachgewiesen. Schönbachs
darlegungen entbehren also der realen grundlage.
Meine ansieht, dass das sog. II. büchlein Hartmann nicht
gehört, halte ich demnach als völlig unwiderlegt fest. Es ist
also eine etwas verfrühte behauptung Helms, wenn er Lit.-bl.
1898, s. 264 seinen lesem versichert: ^das sog. zweite büchlein
kann jetzt, nachdem Schönbach und Vos auf ganz verschiedenen
wegen zum gleichen resultat gelangt sind, mit bestimmtheit
als ein werk Hartmanns betrachtet werden'.
Wer ist nun der Verfasser des liebesbriefes? Es finden
sich darin stellen aus sämmtlichen werken Hartmanns, auch
parallelen zu Wigalois, Freidank, Ki'one. Wörtlich benutzt
ist eine Strophe Burkards von Hohenfels. Wer Hartmanns
Verfasserschaft retten will, muss annehmen, dass die büchlein-
UEBEB HARTMAKN VON AÜE. 63
stellen original, die parallelen in den andern mM. werken
abgeleitet seien. Das wäre eine ausflucht die ein unbefangener
von vom herein ablehnen wird. Das büchlein rückt also
mindestens in das zweite viertel des 13. jh.'s. Die Untersuchung
der metrischen technik, insbesondere der reimbrechung würde
gewis ermöglichen, die Chronologie noch genauer zu bestimmen.
Auf eins kann ich aber noch hinweisen. Wenn auch der
Verfasser als meister Hartmann verehrt, so kennt er doch auch
Gottfried und ahmt ihm nach: vgl. v. 33 — 36 mit Trist, v. 1863 ff.
Auch vierreim an prägnanter stelle wie büchl. 99 — 102 liebt
Gottfried; vgl. Trist. 131— 134. 233— 236 ff. 11875 ff. Ja —
und das scheint mir ausschlaggebend — ohne Gottfrieds Tristan
wäre das ganze büchlein wie ich glaube, nicht geschrieben.
Die Situation des ritters im büchlein ist nämlich derjenigen
ziemlich gleich, in der sich Tristan am ende von Gottfrieds
dichtung befindet. Wie der dichter durch huote von seiner
geliebten getrennt in der ferne weilt oder schweift, so ist auch
Tristan fern von der blonden Isot in Arundel. Auch ihm ist
ein glückliches * vollkommenes' minne Verhältnis zum Unglück
geworden. Die Stimmung beider liebenden ist ganz ähnlich.
Dazu kommen einzelne beziehungen des Inhalts.
Der Verfasser des büchleins kennt als sicheres mittel gegen
senedez leit daz man liebes müge
mit liebe vergezzen.
Das mittel versucht er. So denkt auch Tristan:
V. 19430 iemer gesenftet werden,
diz liep, daz mir sos wirret, daz muoz mit fremedem liebe wesen.
daz mir benimet lip unde sin, Ich hän doch dicke daz gelesen
d& von ich sus beswaeret bin, und weiz wol daz ein trütschaft
sei mir daz üf der erden benimet der anderen ir kraft.
V. 19465 ich wirde lihte dervan
gewende ich mine sinne ein triureloser Tristan.
m§ danne an eine minne, nü sol ich ez versnochen.
(Vgl. Büchl. 515.)
Bei Ulr. v. Türheim (Massmann s. 498) heisst es dann übrigens
weiter Tristan 1& den unsin
unt tuo die gedanke hin
die dir din heil yerk^rent
und gar din dre un^rent.
(Vgl. Büchl. 550—553.)
64 SARAK
Die zweite Isot heisst juncfrouwe 502, 19. Tristan und Isöt
Weisshand vermählen sich. Vgl. nun die erzählung von der
hochzeitsnacht und was folgt bei Ulrich: Massm. 503, 6. 7
Is6t, der er sich häte yerzigen,
diu kom im wider in den sin.
(Vgl. Büchl. 533. 534.)
Ebda. 33 ff. denkt Tristan den namen der fernen Isot, während
er eine andere Isot triutet (vgl. Büchl. 532. 535). Dann Isötes
vorwürfe 506, 20 ff.
din herze mich niht meinet,
ez ist diu blnnde Isolde
diu diz gebot geboten hat.
ich hftn diz nein und lige da
so ist si yerre und hat diz ja.
(Vgl. Büchl. 536 ff.)
Die zweifei an der beständigkeit der dame, die büchl. v. 644
bringt, lassen sich wenigstens mit Tristans zweifeln Gottfr.
19469 ff. einigermassen vergleichen, obgleich sie im übrigen
anderer art sind. Auch das motiv der narrheit büchl. 171 ft
könnte mit dem Tristanstoff zusammenhängen.
Dass den büchleinstellen die herangezogenen verse der
beiden dichtungen unmittelbar zu gründe lägen, soll hiermit
nicht behauptet werden. Nur so viel scheint mir gewis, dass
der dichter des büchleins motive dem Tristanstoff in der
psychologischen Vertiefung entnahm, wie ihn Gottfried in
Deutschland zuerst bekannt gemacht hat. Das büchlein fällt
offenbar in eine zeit, der die Situationen des Tristan, und zwar
ihrem seelischen gehalt nach, lieb und bekannt waren. Vor
dem erscheinen des Werkes Gottfrieds, also rund vor 1210, ist
ein werk wie das büchlein nicht wol denkbar. Auch dies
passt völlig zu der oben ermittelten zeit. Ich halte daher an
meiner H. v.A. s.60 gegebenen datierung *um 1230' fest bis
eine bessere nachgewiesen ist.
HALLE a. S., august 1898.
NACHTRAG.
Nach abschluss meiner Untersuchung ist erschienen: Carl
Kraus, Das sog. 11. büchlein und Hartmanns werke (Abhand-
lungen zur german. philol., festgabe für R. Heinzel Halle 1898).
UBBBR HARTMANN VON AUE. 65
Ein hinweis auf diese sorgfältige und wertvolle arbeit möge
hier noch platz finden.
Auch Kraus kommt zu dem ergebnis, dass das büchlein
nicht von Hartmann verfasst sein kann. Bedeutsam ist, dass
er auf ganz anderem wege dazu gelangt als meine arbeit.
Weder literarhistorische noch metrische gründe führt er an,
sondern rein technische: Sprachgebrauch und reimgewohnheit.
Er weist auf grund seines vollständigen materiales nach, dass
die reime
n. büchl. 17 zerunne : sunne II. büchl. 259 sinne : inne
822 here : m^re u.s.w. 519 jagende : tagende
409 daz ein : zwein 337 klagenne : tragenne
für Hartmann unmöglich sind; ferner dass v. 653 swirt, v. 30
snellen list, 402 dol gegen seinen Sprachgebrauch Verstössen*
Endlich dass das büchlein, die echtheit vorausgesetzt, nicht in
die Chronologie der Hartmannschen werke passe und zwar aus
gründen des Sprachgebrauchs.
Wer sich gegen die kraft der gründe verschliesst, die ich
aus der Stilisierung der entlehnungen, aus der metrik und aus
andern tatsachen hergenommen habe, wird für diese rein
sprachlichen beobachtungen von Kraus vielleicht empfäng-
licher sein, obwol meiner meinung nach die von mir Hartm.
V. Aue s. 43 — 45 festgestellte und oben s. 26 nochmals betonte
tendenz allein schon die unechtheit sicher stellt. Diesen haupt-
teil meiner beweisführung hat man — Piquet ausgenommen
— leider nicht genügend beachtet, und das dürfte nicht zum
wenigsten der grund gewesen sein, dass die Überzeugung von
der unechtheit so wenig an boden gewonnen hat. Selbst
Kraus erwähnt jene meine ausführungen nicht, scheint ihnen
also auch seine aufmerksamkeit nicht zugewendet zu haben.
Mit Zuversicht meint der verf . andrerseits (s. 40), dass die
werke Hartmanns die reihe bilden: I. büchlein (und lieder),
Erec, Gregor, A. Heinr., Iwein. Das ist die folge der reim-
versdichtungen Hartmanns, die Lachmann und Haupt an-
nehmen und zwar auf grund von reim- und Sprachgebrauch.
Auch K. Zwierzina hat sich dieser ansieht angeschlossen und
sie, wenigstens für die reimpaardichtungen, in derselben fest-
gabe für R. Heinzel mit sehr grosser Sicherheit vorgetragen.
Der titel seiner reichhaltigen und namentlich für das problem
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 5
66 SABAN
der mhd. dichtersprache wichtigen abhandlung ist: Beobach-
tungen zum reimgebrauch Hartmanns und Wolframs (s. 437
—511). Ueber die Stellung der lieder äussert er sich hier
nicht. Kraus hat sie im anschluss an meine beweisftthrung
Beitr. 23 alle in die nähe des I. büchleins gesetzt: Zwierzina
ist meiner argumentation minder geneigt (vgl. seine kritik
s. 451 und 452 am schluss der fussnote). Es ist nicht nötig, des-
halb auf die sache zurückzukommen.
Kraus und Zwierzina billigen die Chronologie Lachmanns
und Haupts. Das ist begreiflich, da sie dasselbe kriterium
benutzen wie jene: den Wechsel im Sprachgebrauch, wie ihn
die reimstatistik erkennen lehrt. Es ist nun nicht zu be-
zweifeln, dass dies kriterium von hohem wert ist. Aber die
grundlagen der ansieht beider gelehrten kann man erst dann
wirklich prüfen, wenn das ganze material in übersichtlicher
form mitgeteilt ist, auf das 3ie ihre annähme stützen. Was
in den beiden oben citierten auf Sätzen beigebracht wird, ge-
nügt m. e., so anregend es ist, keineswegs, die Ordnung der
dichtungen zu sichern. Namentlich wäre es erwünscht, genauer
die grundsätze zu wissen, nach denen der gesammelte Stoff
benutzt ist. Es scheint mir, als ob Zwierzina den gemachten
beobachtungen gelegentlich etwas zu viel gewicht beilege.
Und wenn er mir s. 451 fussnote vorwirft, ich hätte in meinem
buch die interessantesten beobachtungen der altmeister unter-
schätzt, so will ich das für die zeit jener erstlingsarbeit (disser-
tation von 1889) nicht leugnen. Aber ich möchte doch darauf
hinweisen, dass eben jene beobachtungen selbst die altmeister
nicht gehindert haben, das 11. büchlein für zweifellos echt zu
halten, ein werk, dessen unechtheit nun auch für Zwierzina
völlig feststeht.
Es handelt sich bei der chronologischen frage um die
Stellung des Iwein. Ich setze ihn — wie nun auch Schönbach
— genau in die mitte der fünf fraglichen dichtungen. Kraus
und Zwierzina nach Lachmann und Haupt ans ende. Für
meine Ordnung ^L büchlein, Erec, Iwein, Gregor, A. Heinrich'
sprechen vor allem die einleitung des Gregor, die psychologische
Wahrscheinlichkeit und die entwicklung der metrik. Die ersten
beiden momente sind an und für sich nicht ausschlaggebend,
die metrische Statistik aber fällt sehr in die wagschale. Durch
UEBER HARTMANN VON AUE. 67
Übereinstimmung mit deren ergebnis gewinnen dann auch die
beiden ersten gründe bedeutend an wert. Für die reihe *I.büch-
lein, Gregor, A. Heinr., Iwein' werden besonders von Zwierzina
Wortwahl und reimgebrauch angeführt.
Ist die reihenfolge Lachmanns richtig, so haben wir im
Iw. eine metrische entwicklung bergab bei zunehmender *ver-
besserung' der sprachform. Jene versstatistik aber bleibt,
so lange sie nicht als verfehlt erwiesen ist, ein beweismoment,
das nicht vernachlässigt werden darf. Wenn die anerkannte
reihe *I. büchlein, Erec — Gregor, A. Heinr.' und die unecht-
heit des ILbüchleins durch sie bestätigt wird, so darf man
den Iwein nicht ohne zwingenden grund ihrem bereich ent-
ziehen.
Nimmt man meine Chronologie als richtig an, so muss
man fragen: wie weit sind beobachtungen über Wortwahl und
reimtechnik für die Zeitfolge zwingend? Mir scheint, dass
Zwierzinas Sammlungen in diesem pimkt noch eine methodische
bearbeitung vertragen.
Zunächst können jene Sprachbeobachtungen nicht so bequem
und einfach statistisch aufgenommen werden, wie metrische.
Zahlen beweisen bei ihnen nur dann etwas, wenn sie relativ
bedeutend sind.
Beobachtet man die glättung des verses, so kann i. a.
rücksicht auf den Inhalt bei seite bleiben. Für den Sprach-
gebrauch und die reimtechnik ist der erzählte stoff aber von
grosser bedeutung. Viele Wörter die im Erec und Iwein zu
brauchen sind, passen für den A. Heinr. nicht. Zwierzina
deutet selbst s. 502 an, dass der reichliche gebrauch von dagen
und verdagen im anfang des Iwein mit der Situation zusammen-
hängt. Kommt also ein wort im Erec 30 mal, im Gregor 3 mal,
im Iwein 1 oder 2 mal vor, so wird i. a. der unterschied von
Erec und andererseits Gregor und Iwein für die Chronologie
bedeutung haben. Der unterschied zwischen Gregor und Iwein
aber kann auf zufall beruhen. Trotz des Verhältnisses 6 : 1
(bez. 3 : 1) ist er nicht bedeutend genug gegenüber dem Ver-
hältnis des Erec : Iwein (16 : 1 oder 18 : 1).
Die beobachtungen bei Zwierzina liefern, so weit ich sehe,
fast durchweg grosse differenzen zwischen Erec einer- und
Gregor, A. Heinr., Iwein andererseits. Aber das Verhältnis
5*
68 SARAN
von Iwein : Gregor ist nicht so evident. Es bewegt sich zu-
meist in Zahlenverhältnissen die nicht von der priorität des
Gregor überzeugen.
Aber nehmen wir auch einmal an, der Gregor stehe
zweifellos tiefer als der Iwein: was bedeutet das? Zwierzina
weist selbst auf die ^rückfälle' hin (s. 447. 455. 458. 644).
Wörter die der dichter meiden will, kommen ihm doch in die
feder, weil er einmal unachtsam oder durch lange arbeitspause
aus der Übung gekommen ist. Damit liesse sich schon viel
entschuldigen. Nun aber: man nehme an, der Iwein falle vor
den kreuzzug, der Gregor danach, wie ich oben vermutet habe.
Dann muss eigentlich der Gregor tiefer stehen als der Iwein,
und zwar merklich. Einerseits wegen der rückfälle. Dann
wegen der doch wol erheblichen arbeitspause und der ablenkung
auf praktische dinge : das literarische leben und arbeiten hörte
für eine zeit lang völlig auf. Weiter wegen des Übergangs
vom Artusroman zur legende. Der setzt einen Wechsel auch
in der lectüre voraus, einen Wechsel der nicht wol ohne folgen
auf den stil sein konnte. Zugleich ändert sich der kunstwert
der quellen: dort Chrestiens meisterwerk, hier eine massige
Gregordichtung. Dort ist Hartmann fast nur Übersetzer, hier
mehr bearbeiter.
Dass ferner die form des Iwein, dieses der tendenz nach
rein höfischen gedichtes, auch möglichst dem empfindlichen
geschmack eines höfischen publicums angepasst wurde, ist
wenigstens zu vermuten. Die tendenz des Gregor und A. Heinr.
richtet sich gegen das höfische ideal: es ist daher gewis nicht
unwahrscheinlich, dass sich der dichter im formellen nun freier
bewegt. Um so mehr, da er nach dem erfolg des Iwein
autorität wurde und mit seiner technik auch gesetze gab, nicht
mehr bloss empfieng. Zwierzina führt aus Wolframs und
Wirnts reimgebrauch interessante einzelheiten dafür an (vgl.
s. 501 fussn.).
Wenn also die beobachtung der spräche ergeben sollte,
dass vom Erec zum Iwein ein grosser f ortschritt, vom Iwein
zum Gregor ein merkliches sinken, dann bis zum A. Heinr.
wider ein steigen zu beobachten sei, so würde das, meine ich,
nur sein, was nach läge der dinge zu erwarten wäre.
Man kann auch fragen, ob nach dem tode von Hartmanns
ÜEBBB HARTMANN VON AUE. 69
herrn und nach dem kreuzzug je wider ein so lebhafter ge-
dankenaustausch zwischen dichter und hörerkreis statt fand,
ob Hartmann seit der zeit nicht mehr an leser als an hörer
dachte, u.dgl.
Beachtenswert scheint mir sodann, was Zwierzina selbst
zugibt, dass nicht der ganze Iwein auf der höhe der Vollendung
stehe. In den letzten 500 versen finden sich, wie es s. 481
heisst, ^zahlreiche nachlässigkeiten'. Ebenso s. 484: ^ gesät steht
in jener partie, in der wir bereits zu widerholten malen reime
erscheinen sahen, die der dichter sonst im Iwein mied'. Ist
das ein hinweis auf das nachlassen in der arbeit am ausdruck,
das der Gregor zeigt? Offenbar wurde der schluss des Iwein
wol etwas eilig ausgeführt. Auch die ersten 1000 verse sind
nicht gleich sauber wie die mitte; vgl. s. 502 f.
Der Iwein ist also darum so vollkommen in der spräche,
weil der dichter darin mit höchster anspannung die regeln
beobachtete, die er sich gegeben. Sobald er weniger sorgsam
sein kann oder will, treten formen wider ein, die er eigentlich
verbannt hat.
Ferner muss man bedenken, dass jene Verbesserungen des
ausdrucks mit vollem bewusstsein, mit rücksicht aufs vorlesen
in andern dialekten gemacht wurden. Es sind darum zum
grossen teil nur vorsichtsmassregeln, aber nicht allmähliche
technische fortschritte wie jene glättung der verse. Was aber
bewusst, auf grund deutlicher regeln (zuweilen, wie Zwierzina
meint, auch auf grund unrichtiger anschauungen, vgl. Kraus
s. 41) geschieht, kann jederzeit laxer ausgeführt oder nach
belieben unterlassen werden. Eine Statistik muss darum solche
dinge individuell behandeln. Metrische fortschritte geschehen
i. a. aus dem gefühl heraus; continuität ist darum als das princip
anzunehmen, nach der ihre Statistik zunächst beurteilt werden
muss. Continuirliche Zahlenreihen bei Wortwahl und reim-
gebrauch darf man, glaube ich, schon theoretisch nicht ver-
langen.
Wichtig ist auch bei der beurteilung von ^rückf allen' zu
scheiden, ob sie formen und Wörter betreffen, die dem dichter
als seinem dialekt zugehörig geläufig waren oder andere dinge.
Hartmanns dialekt eignet harn, kämen. Es steht im Erec
86 mal (8 : 1000), im Iwein 7 mal (ca. 1 : 1000), im Gregor
70 8ARAN
21 mal (5 : 1000), im A. Heinr. Imal (ca. 1 : 1000). Von den
7 fällen des Iwein finden sich 6 in v. 1—1000. Der siebente
(v. 3143) ist also ^rückfair. Was bedeuten diese zahlen?
Man könnte sagen, Iwein und A. Heinr. stehen ungefähr gleich:
also haben wir hier einen beweis für die späte abfassung des
Iwein. Das wäre aber uniichtig.
Zunächst ist klar, dass der dichter nach dem Erec meiden
will, die genannten formen zu reimen. Grund ist nach Zwier-
zinas einleuchtender Vermutung s. 503, dass er erfuhr, jene
formen seien dialektisch und würden anderswo durch Tcom,
hörnen ersetzt. Aber seit wann meidet sie Hartmann wirk-
lich. Wann hat er also jene sprachliche beobachtung gemacht?
Zwierzina bemerkt wider ganz richtig: um v. 1000 des Iwein.
Wie soll man nun aber die Chronologie damit vereinigen ?
Ist Iwein das letzte der werke, dann haben wir die auffallende
tatsache: v. 1 — 1000 steht fast ganz auf dem Standpunkt des
Erec (6 : 1000). Aber sowol der Gregor (5 : 1000) wie beson-
ders der A. Heinr. (1 : 1000) stehen erheblich besser. Wenn
Zwierzina s. 503 oben meint, Iw. 1 — 1000 stehe noch ganz auf
der stufe des Erec und Gregor, so ist das etwas viel behauptet,
mindestens beurteilt er die differenz von 3 pro mille in diesem
falle etwas zu gelinde.
Bleibt also nur die annähme: Iw. 1 — 1000 ist ein rückfall
in die technik des Erec. Das meint auch Zwierzina s. 503.
Er fügt hinzu: * solche rückfälle zu anfang neuer, sonst sorg-
fältiger gereimter gedichte sind uns ja nun schon etwas alt-
bekanntes'. Ueber das einmalige Mm des A. Heinr. äussert
er: ^wenn es nicht zufall ist'. Ich will ihm hier nicht vor-
rücken, was er s. 458 fussn. 2 andern vorhält. Aber sehr über-
zeugend für die Chronologie Lachmanns ist die Verteilung der
ham, kämen doch schwerlich. Der fall wiegt besonders schwer,
weil es sich um ein unentbehrliches, alltägliches wort handelt.
Nehmen wir meine Chronologie an, so deutet sich die sache
leicht, wie mii* scheint.
Erec und Iwein 1—1000 stehen gleich, weil sie auch
zeitlich einander folgen. Um v. 1000 macht Hartmann jene
beobachtung und meidet nun die formen bis auf einen zufälligen
rückfall im Iwein ganz, mit vollem bewusstsein.
Zwischen Iwein und Gregor liegt eine lange arbeitspause,
ÜEBER HARTMANN VON AUE. 71
vielleicht der kreuzzug, der tod des herrn u. a. Darum im
Gregor wider die seit Iwein 1000 verpönten formen, aber doch
nicht so zahlreich wie Iw. 1—1000. Der rückfall ist um so
leichter zu verstehen, als die formen dem dialekt Hartmanns
angehören, ihm also von selbst in die feder flössen. Erst im
A. Heinr. sind sie wider ausgemerzt, der darum dem Iwein in
dieser beziehung nahe steht, streng genommen ihn an Sorgfalt
in diesem punkt übertrifft.
Endlich macht der versbau vom Iwein zum Gregor einen
merklichen fortschritt. Hat die arbeit am rhythmus die auf-
merksamkeit des dichters vom sprachlichen abgelenkt? Vgl.
Zwierzinas erörterung s. 455 unten.
Diese erwägungen und bedenken die ich mir erlaubt habe
hier noch vorzubringen, machen es mir unmöglich, meine
Chronologie der werke Hartmanns für unrichtig zu halten.
Wenn ich auch das problem durch meine darlegungen oben
s. 27 ff. noch keineswegs für erledigt erachte, so sehe ich doch
bis jetzt gar keinen grund, einen rückzug anzutreten. Es
wäre im Interesse der sache zu wünschen, dass Zwierzina den
s. 451 verheissenen stringenten beweis in umfassender weise
wirklich in angriff nähme. Falls er gelingt, werde ich gern
meine ansieht mit der richtigeren vertauschen.
[Berichtigung. In der disposition auf s. 5 ist die stelle z. 20. 21
v.u. nicht eine clausel, sondern sie gehört, wie s. 61 zeigt, zur beweis-
führung selbst. Sie ist also an die vorausgehenden worte ^ durch die huote
(90 — 102)' in corpusschrift angeschlossen zu denken. — S. 8, z. 9 tilge *in'
und *fast', z. 15 *in* und z. 17 ff. die worte *Ein besonderer schluss —
wirken'.]
HALLE a. S., 24. october 1898. FRANZ SARAN.
ZUR ROMANISCHEN UND DEUTSCHEN
RHYTHMIK.
ßeitr. 23, 66 ff. habe ich versucht nachzuweisen, dass der
begriff ^zehnsilbler' in der romanischen rhytbmik mehrdeutig
sei. Hinter einem vers der im text 10 silben aufweist, können
die rhythmischen formen des Sechsers und des Vierers — dieser
in gepresster art — stehen. Es handelt sich nun darum, den
wichtigen rhythmischen unterschied schon aus dem text zu
erkennen. Auf s. 79 ist gezeigt, wie dazu die sogenannte
^cäsur' — nach genauer terminologie vielmehr ^binnencäsur' zu
nennen (vgl. a. a. o. s. 47, § 8. s. 49, § 10) — und ihre behandlung
dienen kann.
Der Sechser _1_-^; _i!_^_i.^ (bez. La) ist eine
weit verbreitete und sehr einfache form. Er hat als primäre
reihe einen verhältnismässig schwachen einschnitt. Im text
braucht derselbe nur leicht (durch wortschluss) angedeutet zu
sein; zuweilen wird er völlig übergangen, so dass nur die
modulation der ganzen reihe die grundteilung erkennen lässt.
Man spricht im letzten fall von ^versen ohne (binnen-)cäsur';
nicht ganz richtig, man müsste denn ^cäsur' geradezu als * ein-
schnitt' verstehen. Der vierer, das dekasy Ilabon (s. 75ff.),
hat als secundäre reihe eine viel stärkere binnencäsur: sie ist
unter allen umständen ein einschnitt und darum im text
stets zu sehen. Denn sie ist, wie s. 77 zeigt, aus einer früheren
^cäsur' entstanden dadurch, dass die periode von 2 gliedern,
jedes zu 4 takten (bez. füssen) in ein viertaktiges glied von
2 abschnitten umgewandelt ist. Die grenze zwischen den
gliedern, d. h. die ^cäsur', wurde somit zu einer grenze zwischen
abschnitten (vgl. s. 47, § 8), d.h. einer * binnencäsur'. Diese
Umwandlung heisst ^pressung' und ist ein Vorgang, aus dem
ZUR ROMAN. UND DEUTSCHEN RHYTHMIK. 73
allein sich die eigentümlichen formen erklären, die die moderne
Instrumentalmusik vorzugsweise benutzt und die der antiken
rhythmik ganz fremd sind. Die hauptform des dekasyllabons
ist im französischen 1 > ,L\ ^ ^U^..^ L _ (bez. L. /\),
Der anschaulichkeit wegen mögen hier einige analysen
dekasyllabischer Strophen folgen. Durch ligaturen (im schema
durch -^ angedeutet) und einmischung anderer verstypen wird
das bild gelegentlich ein wenig verdunkelt.
B6ranger, Le coin de l'amitie, in Musique des chansons
de Beranger, Paris, Garnier freres, s. 14:
L'amour, Thymen, l'int^ret, la folie,
aux quatre coins se disputent nos jours:
L'amitie vient completer la partie;
mais qu'on lui fait de mauvais tours!
Lors qu'aux plaisirs l'äme se livre entiere,
notre raison ne brille qu'ä moitie,
Et la Folie attaque la premiere
le coin de l'amitie, le coin de l'amitie,
le coin de Tamitie.
v^yv^» ^^-A^ v^v^ v-'v^ v^>^^ \.^\^
L (achtsilbler!)
' A I ' ' •
Rh. Schema: 1 a — b Reimschema: a — b
2 a — b . a — b .
3 a — b c — d
4:a — b — b' c — rf + d — d
Das dekasy Ilabon ist rein oder fast rein in zeile la, Ib, 2a,
3 b, 4 a des rhythmischen Schemas zu sehen. 3 a ist der zehn-
silbler auf einen andern gepressten rhythmus componiert: in 2 b
ist ein achtsilbler mit vielen ligaturen so weit gestreckt, dass
er für einen gepressten vierer ausreicht. Der primäre vierer
würde in der Umgebung von pressrhythmen stören. Derartige
freiheiten sind erst neueren Stiles: einfluss der Instrumental-
musik liegt darin vor. — Die vierte periode ist dreigliedrig.
Aus der melodie folgt, dass der letzte sechssilbler ein b ' , d. h.
eine schlusswiderholung ist. Vgl. Rhythm. § 10 (s. 49). Auch
diese zeile ist hier auf einen gepressten rhythmus gezogen
und tritt daher in 4b als gepresster abschnitt, in 4b' als ge-
i 4 . SARAK
l;re)iibt4^ dij[K)diHclie reihe auf. Die primäre form des Sechsers
*_!__ __ly\^' scheint noch aus der pressform heraus.
Andere modificationen des dekasyllabons zeigt ebda. s. 173 :
Treize ä table:
Dieu, mes amis, nous soinmes treize k table,
et devant moi le sei est repandu.
Nombre fatal! presage epouvantable!
la mort accourt: je frissonne 6perdu,
la mort accourt: je frissonne 6perdu.
Elle apparait, esprit, fee ou döesse;
mais, belle et jeune, eile sourit d'abord,
mais, belle et jeune, eile sourit d'abord.
De vos Chansons ranimez Tallegresse;
non, mes amis, je ne crains plus la mort,
De vos Chansons ranimez l'aU^gresse
non mes amis, je ne crains plus la mort.
f •
3. A.V^.V ±; v^v^^v^w^-!-- I Ä.V^.V 1a; ww. V^. Vi
_1_^; ^l.Vw.V.'.^ (+ 4mal L als dehnung!)
4 ' V ' • '
i*efi\ 5. 1 ww ^ • w Iwww - — I IC^w ti * v^ Iwww 1 Ä
Kh. Schema: 1 a — b Reimschema: a — b
2a — b— b'. a — b — b.
3 a — b — b' c — d — d
4 a — b c — d
refr. 5 a — b refr. c — d
Zui' erläuterung des rhythmischen Schemas vgl. verf., Zur
metrik Otfrieds v. Weissenburg (Festschrift für Sievers, 1896)
s. 183. ^ = kürze, v = i/^ ^ == halbkürze, v^* = 1 kürze +
V2 kürze; a = pause vom wert ^, a * = pause vom wert ^ • .
: bezeichnet die cäsur, wenn die zusammenstossenden reihen
des taktes wegen Verkürzungen oder Verlängerungen über ihren
ursprünglichen wert erlitten haben. — In reihe 3a.b habe
ich der Übersicht wegen die pausen an den anfang gestellt.
Streng genommen muss man sie an das anhängen, was ihnen
vorausgeht. Doch kommt darauf hier nichts an. Im noten-
text wird ^ durch ^ , v also durch ^ , ^ ' durch J^. vertreten.
ZUR ROMAN. UND DEUTSCHEN RHYTHMIK. 75
Interessant ist dies lied, weil hier die melodie öfters die
früher s. 79 oben besprochene form des dekasyllabons zeigt,
^ * ' • ' 7v I ' ' I
wenn auch ein wenig modificiert. So in reihe la, 2b', 3b'.
Die form 3 a, 3 b ist in der heutigen musik sehr beliebt.
Sie ist secundär entwickelt.
Die binnencäsur des dekasyllabons ist schon ihrer ent-
stehung wegen rhythmisch unvergleichlich schärfer als die des
einfachen sechsers, der eine primäre bildung ist. Man erwartet,
dass sich auch im romanischen worttext der unterschied der
rhythmischen grenzen bemerklich macht. Das ist, wie es
scheint, wirklich der fall. Darauf möchte ich eben hier hin-
weisen.
Ich habe schon a. a. o. s. 79 die sog. epische cäsur des zehn-
silblers herangezogen. Die scheinbar überschlagende silbe er-
klärt sich nur aus dem dekasyllabon (vgl. s. 78), zeugt also für
dieses, wo sie sich findet. Im sechser würde sie zwingen an-
zunehmen, dass die dritte Senkung aufgelöst sei und das ist
unmöglich. Denn ^auflösung' oder genauer die besetzung zweier
aufeinander folgender kürzen der melodie (in der function von
masszeiten; ^^) mit je einer sprachsilbe kennt die mittelalter-
liche romanische verskunst nicht. Sie braucht nur die ligatur,
d.h. zwei*) kürzen der melodie auf eine silbe des textes.
A. a. 0. s. 79 habe ich auch angenommen, es gäbe deka-
syllaben mit überschlagender weiblicher silbe hinter der dritten.
Ein vers wie et a Lengres seroie malbaillis wurde rhythmisiert:
* "Ä" ' • ' • I ' • ' A II
/\i_)UJu- 1 — I I— 1/\ II
>A ' ' . ' ' Ä
Nun würde sich ein contrapunktiker oder ein moderner opern-
componist gewis nicht scheuen verse mit jener sog. lyrischen
binnencäsur so zu componieren. Denn das alte romanische
rhythmische System ist durch die polyphonie und jetzt durch
den einfluss des instrumentalen Stiles sehr verändert worden.
Aber für die ältere zeit, d. h. die zeit der herschaft des homo-
^) Auch mehr als zwei töne werden liiert, namentlich wenn sie den
Charakter von Verzierungen tragen.
76 SARAN
plioneu vocaleii stiles solche formen auzunehmeu ist nicht zu-
lässig, weil dies dem princip der silbenzählung widerspricht.
Die Silbe -gres schiesst tatsächlich nicht über, sondern zählt
mit, sie ist zwar dem sprachaccent nach unbetont, aber dennoch
rhythmisch eine ^tonsilbe'; vgl. Tobler^ s. 85. Stengel, Gröbers
Grundr. 2, 1, 1, s. 51 f.
Nun ist klar, dass eine binnencäsur sehr schwach sein
muss, wenn man unmittelbar vor sie eine unbetonte sprach-
silbe stellen darf. Denn starke rhythmische einschnitte, also
diäresen, cäsuren, binnencäsuren von pressreihen haben immer
eine auch sprachlich betonte tonsilbe vor sich. Ist nun in
einem textzehnsilbler die binnencäsur sehr schwach, so liegt
nahe, hinter ihm nicht das dekasyllabon, sondern den sechser
zu suchen. Somit wäre die sog. lyiische binnencäsur des zehn-
silblers ein kriterium für den sechser, wie es die epische für
das dekasyllabon ist.
Das scheint nach den angaben die von Tobler und Stengel
gemacht werden, wirklich der fall zu sein. Das dekasyllabon
ist der rhythmus der chansons de geste. Daher ist in der
epik und überhaupt der erzählenden afrz. dichtung die epische
binnencäsur beliebt (Stengel s. 50). Diese wird dagegen und,
wie Stengel sagt, von anfang an in der nord- und südfranzö-
sischen lyrik gemieden. Nicht ^weil in folge des einheitlich
gestalteten tonsatzes der versmelodie die pause im innern der
einzelnen verse nicht mehr zur geltung kam, zehnsilbler also
auch dem baue nach wie einreihige verse behandelt werden
mussten' (Stengel s. 50). Denn der zehnsilbler ist in jeder form
eine reihe wie der achtsilbler und andere verse. Sondern der
lyrische zehnsilbler wird eben in weitaus den meisten fällen
rhythmisch etwas anderes gewesen sein als der epische: dieser
das dekasyllabon, jener der sechser.
Dass das ursprünglich gewis französische dekasyllabon
zunächst in die französische, dann auch in die provenzalische
lyrik eingedrungen sei, ist wahrscheinlich. Umgekehrt kann
man den erzählervers gelegentlich nach dem Schema des lyri-
schen gebaut haben, um so leichter, wenn es sich dabei um
Sprechpoesie handelte; vgl. Stengel § 108.
Einen sicheren beweis für den sechser darf man in der
ZÜE ROMAN. UND DEUTSCHEN RHYTHMIK. 77
binnencäsur sehen, die Stengel § 109 'die schwache' nennt.
Ihr Schema ist
-J-_^_; - l^Ljl (bez. ^ä)
qui de s'amie respite sa joie
qu'elle te face bien sovent chanteir
(Tobl. s. 86) ; vgl. auch meine abhandlung s. 79 f. Es handelt
sich da lediglich um den sechser mit * verschobener' binnen-
cäsur (ebda. s. 52. Rhythm. § 20). Diese binnencäsur brauchen
die Griechen z. b. im iambischen trimeter, der bekanntlich ein
(freilich akatalektischer) sechser ist:
. ff
j —
Aesch. Prometh. ro odv yag avd-og, jtavrixvov jtvgog ösjiag.
Es ist sehr bezeichnend, dass diese 'schwache' binnen-
cäsur nicht in der epik, sondern nur in der lyrik vorkommt
(Tobl. s. 86). Wenn sie auch selten ist, so beweist sie doch
für den rhythmus der zehnsilbler, unter denen sie sich findet,
sehr viel. Dass Stengel s. 53 solche verse nicht cäsurlos nennen
will, ist durchaus berechtigt. Wenigstens haben die von Tobler
s. 86 mitgeteilten verse alle einen wenn auch schwachen ein-
schnitt. Man darf dessen stärke aber nicht an der binnen-
cäsur des dekasyllabons messen.
Zehnsilbler ohne binnencäsur, die Tobler s. 87 f. mit recht
annimmt, können nur sechser sein, wie ich schon betont habe
(s. 80). Die binnencäsur einer pressreihe fällt, so weit ich
sehe, nicht einmal in der sehr fi-eien modernen Instrumental-
musik weg. Dagegen haben sechser ohne einen im text aus-
geprägten einschnitt rhythmisch nichts ungewöhnliches. Tobler
rechnet mit recht dazu auch die fälle, wo in liedern (nicht
im epos) der zehnsilbler hinter der sechsten betonten einen
einschnitt hat. Man vergleiche hierzu fälle wie Aeschylos
Prom. 6: aöaiiavTiViDV ötOficov tv aQQ7jxxoig jitöaig.
Im epos, auch den romanzen 1, 5 und 1, 16 (Bartsch) sind
solche verse ganz anders zu beurteilen (Tobler s. 87. Stengel
§ 110). Dort gibt es einen typus, in dem sich die silben in
6 + 4 gruppieren. Dabei ist die sechste sprachlich und rhyth-
misch eine tonsilbe und dahinter liegt eine auch im text scharf
ausgeprägte binnencäsur. Z. b. Rom. und past. 1, 5 Lou samedi
78 SARAN
d soir, fat la semainne. Hinter der betonten sechsten findet
sich oft eine ^tiberschiessende' silbe, wie im dekasyllabon hinter
der betonten vierten.
Z. b. ebda. v. 12 reva toi an arriere, bien seis la vile. Eben
dies beweist schlagend, dass wir es hier nicht mit einer penta-
podie oder einem zweigliedrigen langvers zu tun haben, son-
dern, wie Stengel s. 53 richtig erkennt, mit einer versform, die
man als eine andere combination der teile (abschnitte) des
gewöhnlichen epischen zehnsilblers auffassen muss. In diesem
gruppieren sich die silben wie 4 + 6
z. b. Charles li reis nostre emperere tnagnes;
in jenem umgekehrt 6 + 4
z. b. L'anfes Gerairs et Gaie s'an sont tomeit.
Diese gebilde sind also pressrhythmen und abarten des deka-
syllabons, d.h. gepresste vierer.
Ihr zweiter abschnitt ist im rhythmus
*A^---1A >a1v^-!-A,
vielleicht auch
eine form die auch heute noch in liedem vorkommt.
Ein beispiel wird es veranschaulichen, nämlich die schluss-
zeile des bekannten liedes ^Hinaus in die ferne mit lautem
hömerklang'. Lahrer commersbuch no. 52 (s. 57). Ich analysiere
die erste Strophe ganz.
1 ' ' • ' V ' A I ' ' • ' V ' A
2. ^L^L ; ^:.ys^LA I ^U.^L^,] vL^La
refr.3. ^1_jl ; ^.w.v^^Ia | wv^^^^wl^.; y---.i.A
Rliythm. Schema 1 a — b
2 a — b
3 a — b.
Der rhythmus ist zweifellos eine Weiterbildung des französischen
dekasyllabons. 2 a, 3 a sind zehnsilbig und haben die früher
s. 79 oben erläuterte form , nur mit gelegentlich punktierten
werten. 1 a. b haben vom französischen Standpunkt aus gesehen
die ^epische binnencäsur'; nämlich die kürze hinter der zweiten
thesis (1) ist * weiblich'. Ausserdem haben sie nach deutschem
Zu» ROMAN. UND DEUTSCHEN RHYTHMIK. 79
brauch 'auftakt', d.h. die erste arsis bleibt. Denkt man die
reihenauftakte weg, dann hat man genau den rhythmus des
epischen dekasyllabons mit ^epischer' binnencäsur.
2 b. 3 b sind nun dekasyllaben der gruppierung 6 + 4 mit
^epischer' binnencäsur; der wert der ^überschiessenden' silbe
tritt hier zufällig punktiert (w) auf.
Im hinblick auf diese Schlusszeile könnte man die romanze
1,5 bei Bartsch sehr wol so analysieren:
Lou samedi a soir, fat la semainne
Gaiete et Oriour, serors germainnes,
main et main vout bagnier a la fontaiuhe.
Vante Tore et li raim croUent:
ni s'antraiminent soweif donnent.
1.
' t > ' ' i ' f »
2. 1_^_
J
-1-1- A
Schema 1 a — a' — b .
2 a — b.
Die form ist gewis alt, aber dass sie älter als der normale
zehnsilbler (4 + 6), ja ihm gegenüber ursprünglich sei, wie
Stengel will (§ 110), halte ich für unwahrscheinlich. Jeden-
falls reichen die beweise Stengels nicht aus, seine annähme zu
sichern. Mit dem endecasillabo der Italiener hat der rhythmus
nichts zu tun, denn der italienische vers ist ein sechser, was
seine binnencäsur beweist.
Nach alledem scheint es, als ob wir für die älteste zeit
zu scheiden hätten den epischen zehnsilbler (4 + 6, 6 + 4) und
den lyrischen. Ersterer ist ein gepresster vierer (dekasyllabon),
letzterer ein sechser primärer bildung. Erst allmählich dringt
das dekasyllabon in die französische und provenzalische lyrik
ein und beeinflusst umgekehrt der sechser hier und da den
epischen versbau. Entscheiden kann im einzelnen fall nur eine
umfassende Untersuchung.
Für die entscheidung dürfte ausser der beobachtung der
formen der binnencäsur von Wichtigkeit sein zu ermitteln, wie
die einschnitte im text syntaktisch hergestellt werden. Denn
sowol das dekasyllabon wie der sechser haben im romanischen
der regel nach hinter der vierten betonten silbe einen deutlichen
80 SARAN
einschnitt. Sie unterscheiden sich also fürs äuge nicht gerade
sehr. Stengel stellt s. 54 ff. darüber mancherlei zusammen.
Von vom herein ist zu erwarten, dass die binnencäsur des
dekasyllabons durch syntaktisch stärkere einschnitte festgelegt
wird, dass dagegen die binnencäsur des Sechsers i. a. schwächer
ist. Demnach müsste im allgemeinen das epos relativ starke,
die lyrik dagegen relativ schwache syntaktische einschnitte
vorziehen. Denn sie liebt ja den sechser, wenn die obigen
erwägungen richtig sind.
Die beobachtungen die man bisher gemacht, stimmen dazu.
Stengel § 113 teilt mit, dass schon in der altfranzösischen lyrik
die binnencäsur rhythmisch und syntaktisch nachlässig behan-
delt, ja mehrfach geradezu verwischt werde. Noch schwächer
als die gleichzeitigen altfranzösischen dichter markierten die
Provenzalen die binnencäsur (Stengel § 116). Bei den Italienern
könne von syntaktischer ausprägung der binnencäsur überhaupt
keine rede sein (§ 117). Alles das weist auf den sechser.
Ich füge noch einige nachtrage und Verbesserungen zu
meiner früheren abhandlung hinzu.
S. 44 zeile 11 v. o. lies Aristoxenos' bd. 2.
Zu s. 48, § 9. Es ist ein hauptfehler in Westphals Ana-
lysen von minneliedern, dass er glaubt, eine reihe könne in
ihnen isoliert stehen. So in dem liede Walthers, das er All-
gemeine theorie s. 251 analysiert. Auch in seinen arbeiten
über antike rhythmik ist dieser punkt vernachlässigt. Die
theorie der periode leidet sogar in Rossbachs darstellung der
antiken strophenformen (bd. 3 der Theorie der musischen künste
der Hellenen) aus eben demselben gründe an Unklarheit. Iso-
lierte reihen sind in aller strophik, überhaupt den sog. geschlos-
senen formen nur in wenigen, als solche zudem leicht verständ-
lichen fällen zuzulassen. Namentlich kommen instrumentale
vor- und Zwischenspiele, auch clausein in betracht. Im griech.
chorlied halte ich alleinstehende kola für ausgeschlossen,
wenigstens im vocalen teil, von dem wir allein wissen.
Die anm. 2 auf s. 50 gehört zu § 16.
Zu s. 69 unten kann ich jetzt auf den sehr wichtigen
aufsatz von H.Riemann, Die melodik d. minnesinger, Fritzsches
Musik, wochenbl. 28, s. 449 ff. verweisen (besprochen im Jahresber.
ZUR EOMAN. UND DEUTSCHEN EHYTHMIK. 81
für german. philol. 19, 235 f.). Riemann hat dort nachgewiesen,
dass die melodien der romanischen und deutschen minnesinger
nicht mensural, sondern Choral notiert sind. Die notenzeichen
der hss. geben also keine Zeitwerte (longae, breves u. s. w.), son-
dern bloss tonhöhen wie die griechischen notenbuchstaben.
Es kann darum aus den melodien kaum etwas über den
rhythmus der lieder entnommen werden. Der rhythmiker ist
auf betrachtung des textes angewiesen und muss so vorgehen,
wie es in den abschnitten in — v dieser Untersuchung geschieht.
Dennoch ist es gerade für romanische lieder wichtig, die me-
lodien zu kennen. Denn wie Riemann gefunden (s. 450), bestätigt
eben die melodieführung die vor Quicherat und seinen an-
hängern herschende ansieht der metriker, dass die alten roma-
nischen verse alternierenden rhythmus hätten, eine ansieht
der ich oben s. 69 aus allgemeinen gründen und auf grund
mhd. nachahmungen romanischer formen beigetreten bin (s. 71
—73). Man wird nun wol aufhören, die einfachen und doch
gefälligen rhythmen der alten lieder mensural zu verderben.
Die rhythmisierung altfranzösischer und provenzalischer Stro-
phen, die oben versucht ist, hat so von ganz anderer seite her
willkommene bestätigung empfangen.
Ebenso hat Riemann unabhängig von Eickhoff und mir
(vgl. oben s. 75 ff.) die eigentümliche form entdeckt, die ich der
kürze wegen dekasyllabon genannt habe, einen rhythmus der
eben deshalb merkwürdig ist, weil er gegen den gebrauch der
übrigen romanischen verse nicht immer alterniert. Warum er
das nicht tut, ist s. 77 erklärt. Ueber die mängel der Riemann-
schen arbeit vgl. Jahresber. s. 236.
Uebrigens sei hier angemerkt, dass dasselbe was Riemann
für die minnelieder nachweist, erst recht für die homophonen
melodien gilt, die der früheren zeit angehören. Es ist nicht
zulässig z. b. Ratperts lobgesang mit MSD^ s. 84 in ^utakt
zu bringen. Auch diese melodie ist Choral notiert (neumiert)
und die spätere mensurale Zeitteilung, deren regeln Jacobsthal
ermittelt, auf sie anzuwenden, ist eben darum nicht statthaft.
Neumen haben keine mensur. Tripeltakt ist später freilich
von den mensuralisten stark bevorzugt, ja als der einzig mög-
liche angesehen worden. Für die ältere zeit beweist das nichts.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. ß
82 dA&AK
Der lateinische text ist vermutlich folgendermassen zu analy-
sieren, wobei die taktart unsicher bleibt i):
1. Äl
2. Ä
3. Ä
4. Ä- 1
5. Ä -1-
t
A -
[_ j_
f f
f
f
Alle verse schliessen thetisch, wie bis zum minnesang die ahd.
mhd. reihen überhaupt. Die Vorderglieder entbehren meist des
auftakts.
Ebensowenig ist das Petruslied mensuriert; anders, wie
es scheint, bei Scherer s. 63. Das Schema ist wol'):
MSD.IX
1. 7iL.l^L^!L I 1\L^2LL^L
2. Äl-1-^ I Äl-^'l-I.
3. Ä^-l-i^-l I AdLL^lL^L
Die ictenabstufung nach Sievers' typen. Die glieder entbehren
meist des auftakts.
Hierher gehören auch die sequenzenformen no.xix-xxnr,
die gleichsam ^ freie rhythmen' sind. Man vergleiche hierzu die
darstellung der byzantinischen rhythmik bei Christ, Anthologia
graeca. Dass die rhythmische prosa dieser Sequenzen öfters
versmässig, metrisch gesteigert wird, fällt nicht auf. Es ist das
eine natürliche entwicklung der ^freien rhythmen', welche die
nhd. poesie auch kennt. Der rhythmus dieser *modi' ist natür-
lich der gregorianische, der sich an den sprachlichen anschliesst.
Vgl. X. Haberl, Magister choralis lO^ (1893), s. 1 und s. 186 f.
197 ff. Ich werde anderswo genauer auf diese rhythmen zu-
rückkommen.
Zu s. 78. Bei der ableitung der dekasyllaben wäre es
klarer gewesen, statt der formen die aus dem wechselnden
Zusammenhang der compositionen genommen sind, zunächst
^) Da man es hier mit geistlichen werken, nicht solchen weltlichen
Ursprungs zu tun hat, so bleibt auch die rhythmusart unsicher. Denn diese
geistliche yocalmusik kann immer von dem freien gregorianischen rhythmus
beeinflusst sein. Dann hat die frage nach der taktart überhaupt keinen sinn.
ZÜB ROMAN. UND DEUTSCHEN BHYTHMÄ. 83
die historisch genau entsprechenden zu gründe zu legen. Man
lese also:
> A ' ' . ' 'I
d. i. —s^ JL w; w J Iw A , wenn man die reihe
dann als neuen verstypus schematisch ansetzen will.
>Ä ' ' A • ' ' TT I
d. i. 1 ^ 1 A ; w sl^ s. 1 Ä als neuer verstypus.
Ebenso unten:
>Ä ' ' • ' ' "TT I
d i f f , f f ^
und auf s. 79 oben:
> ' ' A • ' ' A
UU.\3X . \^ — . — — _ /\ • N^ ^^^y^^V^ /\ •
S. 80 sind in der analyse der pastourelle die pausensymbole
der Vordersätze umzustellen: ä X • Tripodien nimmt man
besser nicht an.
Auf s. 82 ist vor dem Schema des dekasyllabons die zwei-
zeitige pause natürlich zu streichen.
S. 84. Zu den rhythmen der gruppe A gehört, wie ich
glaube, auch Walther, Lachm. 39, 11:
1. Ä^^-i-' ' '
9 ' '
3. Äl_l
f f
f t t f
,, w
t t t 9
' ' ' ' ' Äl_l-1
Schema a + b — c
a + b — c
d — w — d
V. 20 ich Jcdm; 23 wart ich en-; 40, 4 wirt noch g^-;
40, 10 däz er bt; 40, 13 w^ er mit — In dem liede werden
absichtlich die freiheiten einer älteren technik nachgeahmt.
Vgl. auch Beitr. 23, 95. Der Inhalt der mit höfischer minne
nichts zu tun hat, stimmt genau dazu.
6*
84 SARAN, ZUB ROMAN. UND DEUTSCHEN RHYTHMIK.
S. 85. Zu B gehören lieder wie folgendes sehr künstliche
von Konrad von Würzburg, Bartsch 360, no. 9:
Meie den grüenen walt hat bekleit
gar mit siner güete, daz ist wol schin.
Zweie sich jung nnd alt! äne leit
üz der boome blüete diu yogeUin
Singent süezen sumersanc;
d& bi sibt man wunne m§,
Binomen rot, gel nnde blanc
dringent in touwe darb den grüenen kl§.
Der meie machet bdhen muot;
da bi trüren swachet diu minne guot.
1. J.-; -.i:_^, L Ä I L ^'_; _1-_Ä
2. ^-; ^!L^^, L Ä I 1 ^'_; ^1 Ä
3. L 1—Ä I 1 ^--Ä
4. L 1__Ä I ^-; -1 L
refr. 5. _1 ; L Ä | L ii»; .1 A
Ebenso Nithart 14, 14:
Willekomen si des meien schoene.
ich hän yemomen, manegem senedem herzen
trüren ist benomen.
Sorge lät, junge mägde, deist min rät.
uns nähet ein sumer; den enphähet.
1a' t: • " ' I ' Ä • " ' =
--A
a, /\ b_i, — — I — I— I — , — — U.J — •
Man sieht wie der reim oft benutzt wird, die stellen der
zusammenziehung anzudeuten.
S. 86. Zu MF. 127, 1. Wenn man in Strophe 2, v. 1, 6 und
Str. 3, V. 6 vil streicht, stimmen die drei Strophen hinsichtlich
der auftaktverhältnisse genau überein. Str. 2 wäre dann zu
lesen der also und Nu ist, Vil konnte leicht zugesetzt werden.
S. 90 lies in str. 1 alsdm min selbes.
HALLE a. S., october 1898. F. SARAN.
UNTERSUCHUNGEN
UEBER
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEML
I. Die Oberlieferung.
1. Die einzelnen handsohriften.
Das sogenannte Evangelium Nicodemi des Heinrich Hesler*)
ist uns erhalten in den hss. zu Schwerin (S), Görlitz (6), Stutt-
gart (s) und Heidelberg (p). Von diesen ist jedoch nur S von
absichtlichen kürzungen frei, hat aber durch Verlust mehrerer
blätter nahezu 1000 verse eingebüsst. Zu diesen mehr oder
weniger vollständigen hss. treten folgende fi-agmente: zu Wien
(W), Erlangen-Berlin-Retz (Mner hs. E angehörend), München
(M), Karlsruhe (K) und Görlitz (F). Endlich sind stücke unseres
gedichts in der Weltchronik Heinrichs von München erhalten (m).
S. Perg.-hs. des 14. jh.'s auf der grossberzogl. regierungs-
bibliothek zu Schwerin, früher auf dem dortigen Staatsarchiv.
In stark wurmstichigem holzband; 16, 5 x 23. 67 bll. Der
text ist zwischen vorgezeichneten Knien geschrieben in zwei
spalten zu je 34 zeilen auf der seite. Jeder zweite vers ist
eingerückt, abschnitte werden durch rote und grüne initialen
gekennzeichnet.
Die blätter 1 — 30 enthalten das Ev. Nie. Von diesen bilden
bl. 2—30 drei lagen von je 4 und eine von 3 doppelblättern.
Von der letzten ist die zweite hälfte des zweiten blattes vor
dem beschreiben ausgeschnitten worden. Bl. 1 ist der rest einer
0 Vgl. im aUgemeinen: P.Piper, Die geistliche dichtung des mittel-
alters 2, 141. K.Amersbach, Ueber die Identität des Verfassers des gereimten
Ey. Nicodemi mit Heinrich Hesler (heilage zum Konstanzer gymnasiumsprogr.
1882/83 und 1883/84). F. Pfeiffer, Altdeutsches Übungsbuch s. 1 if. R. P.
Wülcker, Pas £v. ^ic. in der abendländische4 literatur s. 44 ffr
86 HELM
läge die verloren ist ; das gedieht ist deshalb im anf ang def ect
überliefert. Vorhanden sind vers 437—572 und 1413 ff. Es
fehlen also nach der Zählung von G 840 vei-se; wir können
darnach auf einen vertust von 6 blättern schliessen, die aller-
dings, falls sie nicht zum teil enger beschrieben waren (etwa
wie bl. 30), nur 816 verse enthalten haben. Vor bl. 1 ist jeden-
falls nui' 6in blatt verloren gegangen: denn es ist nicht an-
zunehmen, dass die erste läge ui^sprünglich 5 doppelblätter
enthalten hätte, da sie selbst dann für die fehlenden 436 verse
zu klein gewesen wäre; vgl. auch Lisch, Heinrich von Krole-
witz s. 3. War dagegen am anfang nur 6in blatt weiter da,
und war dieses wie beim Vaterunser des Heinr. v. Krolewitz
in derselben hs. nur auf der rückseite beschrieben, so konnte
es gerade die 68 fehlenden verse des eigentlichen gedichtes
enthalten. Darnach hätte die hs. also den prolog nicht gehabt.
Auf bl. 30 7 und 6 sind , offenbar um den räum auszunutzen,
öfters zwei verse in eine zeile geschrieben. Custoden finden
sich auf bl. 9 sprach nyco und bl. 17 wid'' ante.
Die hs. enthält einige rasuren und von späterer hand
einige correcturen. Auf dem rand neben 2y findet sich von
späterer hand der eintrag gens tua et plebs tua cöprohavit te
regem. Ideo praecepi te flagellari secundum statuta principum
et post modum in cruce levari.
Bl. 31a ist leer, 31b — 67 a enthalten das Paternoster des
Heinrich von Krolewitz, hg. v. Lisch 1839.
Stücke dieser hs. sind abgedruckt von Lisch, Jahrbuch
für mecklenburgische geschichte 2, 156 ff.: v. 1413—1460. 1605
—1634. 4837—4905. 5339 bis schluss, von Pfeiffer a.a.O. v.2327
—3786 und von H. Haupt, WSB. 68,201: v. 1425 f.
S ist die einzige der grösseren hss., welche den md. Cha-
rakter des Originals bewahrt hat. Sie hat deshalb anspruch
auf eine eingehendere betrachtung.
L Vocale. Umlaut von a finden wir in: geweidig 3155.
3189, heldes 3365, anmehte 3897; einzeln steht freilich auch a
einem e in G gegenüber: sanften 4448, vaterlich 3441, na(h)sten
4200; offenbare 1849, das sicher unursprünglich ist, da es stets
nur mit ce reimt.
Der Umlaut anderer vocale ist nicht bezeichnet, vgl ro-
mesch 4:72b, geloset 494ß, bösen 3713. 4793; ou in drowe 5140,
HEINBICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 87
gelouhic 4572, couflinge 4724, vroude 2917. 4442; u in lutzel
5232, gekündet 1549; ü in huschheit 4274, tio in ^ruo&e 3383,
pruwen 3263.
Einzelne vocale:
a. S hat stets ^aZ^ fast ausnahmslos van und einmal var
(statt vor) 1746. Ob in gelart : sfeiar^ 3901. 5049, hart 2992.
4197. 4227 kurzes oder langes a anzusetzen ist, lässt sich nicht
entscheiden.
e. Die verschiedenen e- laute werden in der hs. nicht
unterschieden. Ausserordentlich zahlreich sind die belege für
e statt i: vorlegen : gestegen 4869, gedegen 5113, meist bei diser:
desen : resen 5081, geneses 4487, werdes 5047, gebet 2524. 3743.
5226, vortelgen h243t^ rechet 3413, besmedet 3177, gescrebenl924:,
negen 3325, werden (zu w?ir^) 3072, selber 3964. 4669, hemelisch
37 U. en 2460, segenunft 1634. 2072. 2593. 3502; mer (= mir)
2690, wer 1700. 1865. 1953. 2394. 2661. 2698. 2720, en (acc. sg.)
1424. 1449. 1502. 1926. 8924. (dat. pl.) 1438. 5036 in der enklise
oder proklise.
Seltener ist der umgekehrte fall i für e: sprichet (2 pl.)
1596, nche (conj.) 4206, pkhes 3328, anbiten 3626; für e: willet
(2 pl.) 4718. 4778. 5056. 5104, hütete (zu hetzen, statt regel-
rechtem hatzte mit rückumlaut) 3134, wilh 5343.
Nur vereinzelt erscheint für i, e und e' auch ie: wieldet :
Meldet 5065, swiegen 2499, und ei: heilt : steilt 5069, weige 3780.
In den nebensilben ist i häufig: obi0 2010, undirste 3226,
rechtiis 4169, praefix ir- und m^ stets statt er- und 6»^, auch
dir (aus dar geschwächt) 1635.
Der entsprechende Wechsel zwischen o und u stellt sich
in S so dar, dass o vor r, u dagegen vor », m vorherseht,
vgl. zornete 4583, wormig 4885, worfes 570, storme 3910, w?ord6W
(pl. praet.) 1734. 3782, Äorew (praet.) 4144, or^eiZ 2118. 3604.
4741, kort : ^feftor^ 1735, dagegen kuninc 537. 1480. 3167, be-
numen 3149, aber auch vernommen 4731. 4905.
Auch sonst erscheint einzelnes o: wocher 4933, vohse 1909,
beslojsfzen (praet.) 3568.
Für alten diphthong iu steht stets ü: hüte 1563, nuwet
1593, MCÄ 472. 522. 1549. 2380. 2783, uwer 481. 1594. 1924.
2396, von du 1488, tufel 1789. 3035. 3305. 3475. 4187. 5333.
gejsuc : lue (imp.) 2489, vorbutet 5284.
88 HELM
ie ist oft geschrieben; sehr häufig begegnet dafür aber
auch e: nergen 4696. 4906, hesen 3094, vlen 5239, schere 2434,
mete 3836, ne 1598, swe 2164. 2530. 4717. 4818, we 2140. 4622.
5052, verlieh 1642. 2637; auch ei findet sich dafür: keiset : vor-
leiset 5109 f., 6e5cM^ 4883, deit 1668.
Umgekehrt erscheint ie für 6 in Zißw (lehen) 4827; «icfe
4158 geht zurück auf seola, vgl. Leidener Williram (Beitr.
20, 508. 22, 464).
Einige male steht für altes ei ein 6: hegref 2601, ^re/*4662,
vlesch 1673, egen 4695, und auch für dieses e tritt öfters ie
ein: tielten 2126, trieft 3909. 3932, hiesset (= heisst) 3112, fiel-
haft 4824, ^iecAew 3111. 3650, hlieket (bleichet) 3203.
uOj üe wird meist durch u widergegeben; o erscheint da-
gegen regelmässig vor r: vorte 2617, vorten 1424. 1440, vortes :
rortes 3535, ^wvor^ : gerort 1685, sonst nur vereinzelt verdomet
5208, mo5^en 2015.
ö für Ä steht in troric 509. 1897. 2670, vgl. Behaghel, Lit.-
bl. 1, 437.
ou für uo (*ö) in touken (tuochen) 3205 kann nd. einfluss
zuzuschreiben sein; u fwc ou (Weinhold, Mhd. gr.) findet sich
in tugender, tugentlich 3235.
Für die nebensilben ist abgesehen von dem oben schon
gesagten noch zu erwähnen, dass stets vor- als praefix erscheint
statt ver-: vorreters 484, vornam 1415, vorhat 1673.
n. Consonanten. mb ist zu mm geworden, doch verein-
zelt als mb erhalten: kumber 3851, tumbe 1486. 1810; umgekehrt
einmal imber (vgl. Werner v. Niederrhein).
Sonst ist b Spirant (vgl. Pauls Grundr. 2^, 722), für den im
Silbenauslaut oft /"geschrieben wird: huofiQi, touf: row/* 4545 f.,
lof 3534. 3539, of 513, dar af 2058, afteüig 3542, afgot 4564,
«tor/* 4016. 4601, ^crei/* 2781. 5257, vorderfnisse SS77 ; inlautend
oft V, w: gewelve 2326, geweveten 1608, worwen 4246, da/rwes
442; ebenso anlautend in vewal 3884.
Umgekehrt wird für inlautendes f auch b geschrieben in
höbe 4584, höbe : bischobe 2513 f., tubel 1789. Häufig ist /" wider-
gegeben durch ph: couph 528, ruphes 1416, elph 558, semphtes
1532, scripht 1587. 1640, bigrapht 1562; so auch das für 6 ein-
getretene: trieph 3932, ^repÄ 4662, loph
Für /? ist einige male ht eingetreten: luht 3679. 3781.
HEINBICH HESLEBS EVANGELIUH NIGODEMI. 89
p ist inlautend verschoben, dagegen anlautend nicht plegen
2355. 2381, paffen 5142, perde 4250.
g ist Spirant wie b. Im silbenauslaut geht es in ch über:
geluchnisse ill, verluchnen 514, lach 2370. 2595, sweich : neich
1469, : seich 1905. 3071, mach 2016. 2393. 3109. 4440.
Dazu sind zu vergleichen die formen hoge {= hohe) 3521.
4870 und sagen {= sähen) 1623. 1894. 2062. 2653. 2662. 2666.
2790. 3635, deren erscheinen durch den spirantischen wert des
g wesentlich erleichtert wird, mag der Vorgang nun auf altem
grammatischen Wechsel beruhen oder jüngerer herkunft sein
(vgl. Wilmanns 1 § 79 anm. 2. § 88 anm. 2).
g und j vertreten sich wechselseitig; g für j steht z. b. in
ge, gamers^ gamerliche 3306, meigen 3303, j für g in iahen 2246,
iegene 2503, heiegenten 3471.
h ist verklungen in denselben fällen, die im reim zu be-
legen sind (s. u.), ausserdem ist es assimiliert an s: was (tvahs)
2402, wassen (aus wachs) 2420, wos (wuohs) 2998, wesles (wehsles)
5012; nur einmal vocse 1909.
Unverschobenes t steht in dit, das auch durch den reim
gesichert ist, und einmal in wurte (= wurzeln) 2263; Jcurt kann
auf jüngerer entlehnung beruhen.
Metathesis von r ist ziemlich häufig: verwrohten 1945. 4091.
4459. 4816. Im auslaut schwerer einsilbiger Wörter ist r meist
erhalten: er 448. 518. 488. 1993. 3198 u. a.
Contractionen kommen ausser den im reim verwendeten
nur noch vor zwischen praeposition und artikel oder pronomen:
0ume = zu deme 2337, inme = in deme 1545, zun = zu den
1504. 1602. 1923.
III. Flexion. 1. In der nominalflexion ist bemerkenswert
die erhaltung der endung in den nomm. pl. wie rittere 1494.
2286. 2354. 2440, priestere 2453, engele 3275, tohtere 1593.
Reimbelege dafür sind natürlich nicht vorhanden.
2. Pronomen. Beim Personalpronomen der 3. pers. über-
wiegt weitaus er, daneben steht her (1697. 1928. 2255. 3060)
und hie 562. 1455. 2516. 3844; dagegen herscht beim artikel
im nom. sg. m. die unbedingt vor (444. 486. 1752. 2200. 2468.
3099. 3364), selten ist de 1632. 1735. 4276. — Neben frage-
pronomen wer steht vereinzelt we 3237 und wie 3264. 3636.
4575. Ueber die ^-formen für mir, wir, in, diser s. o. s. 87.
90 HELM
Mir statt mich steht 1656. 3941, mich statt mir 2915.
Das pron. poss. der 1. pers. pl. heisst stets unse 1615. 2313.
2587. 3044. 4023. 3675. 4324.
3. Verbum. In der 1. pers. sg. einmal die endung -n:
gelicchnen 515'; die 2. pers. geht nur ausnahmsweise auf -t aus.
Die 1. pers. pl. hat meist, wenn das pron. wir nachsteht, immer
das -n der endung eingebüsst: sähe mr 2850, laee wir 2180,
werde wir 3063, heswer wir 2783; wir gelouhe 1846. In der
2. pers. pl. erscheint häufig neben -et die endung -ent (454.
1604. 2299. 2401. 2521. 2746. 4979), aber auch -en: 569. 2471.
2472 — 74. Die 3. pers., für die durch den reim -en gesichert
ist (in der Apokalypse aber auch -ent) endigt in S auf -en,
-ent, -et
Die 2. pers. sg. des starken praeteritums hat, entgegen den
reimbelegen, bereits die endung -e^: gehes 2011, spraeches 3320,
4241, quaemes 3642. Der stamm zeigt noch den alten vocal.
Die flectierten Infinitive entsprechen dem reimgebrauch.
G. Perg.-hs. des 14. jh.'s, 4®, auf der bibliothek der Ober-
lausitzischen gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz. Sign.
A in. 1. 10. 56 bll., zweispaltig mit je 40 Zeilen beschrieben.
Jeder zweite vers ist eingerückt. Grössere und kleinere farbige
initialen.
Ueber die geschichte der hs. gibt Hoffmann in einem vom
eingeklebten brief vom 20. 2. 1825 auskunft. Sie war einst im
besitz des prol Schwarz in Altdorf (nach dessen bibliotheks-
katalog). Aus seinem nachlass kaufte sie J. A. Will, dessen
bücherzettel ex biUiotheca Williana noch in der Innenseite
des deckeis klebt. Will beschrieb sie noch während Schwarz
lebte in einzelnen Studien : Beschreibung eines alten deutschen
evangelischen codicis, Altdorf 1763. Fortsetzungen 1763 — 65.
Damach die ungenaue notiz von der Hagens im Liter. Grund-
riss s. 464. Zu vergleichen ist über die hs. noch Hoffmann^
Fundgmben 1, 127 ff. J. Haupt, WSB. 70, 101 ff.
Sie enthält auf bl. la — 24b die gedichte der Ava (ab-
gedruckt von Hoffmann a.a.O., von Piper nach der Vorauer
und unserer hs. Zs. fdph. 19, 129 ff.).
Bl. 24 c — 56 c enthält das Ev. Nie. Dasselbe ist nach dieser
hs. vollständig abgedruckt von P.Piper, Geistliche dichtung
HEINRICH HESLERS EVAK6ELIUM NICODEMI. 91
des mittelalters 2, 141 ff. Bei Hof f mann finden sich abgedruckt
die verse 1 — 10, 369 — 392, sowie die letzten 28 (über den
schluss vgl. unten). Eine abschrift von G von Hoffmann be-
findet sich auf der kgl. bibl. zu Berlin, Cod. germ., 4^, no. 564.
6 hat oberdeutschen Charakter, vgl. anlautendes p in
plut 1241, perch 585, erhaltung von h nach l in bevalh, von
mh in umb, schimbel, kumber, die endungen -est, -ent in der
2. sg. und 3. pl., sol für md. sal i und ü sind nicht diphthon-
giert, bei iu herscht schwanken: aitiget 1013, iuch 1142. 1343,
daneben meist eu, euer, leut 1094. 1266, deu 1182. Da ausser
i, ü jegliches merkzeichen alemannischer herkunft fehlt (z. b.
2. pl. -ent), so ist wol anzunehmen, dass die hs. von einem
Baiem geschrieben ist, der die in der vorläge stehenden i, ü
respectierte; nur vereinzelt ist ihm ein ei entschlüpft. Ein
bairischer Schreiber kann um 1360 — 1400 wol in consequentem
anschluss an seine vorläge alle neuen diphthongen unter-
drücken; ein schwanken zwischen monophthong und diphthong
ist bei ihm aber kaum anzunehmen; er wird vielmehr, sobald
er seine vorläge nicht als unbedingte autorität anerkennt, zur
durchführung des ihm eigenen vocalismus schreiten. Viel eher
könnte ein Mitteldeutscher oder Alemanne schwanken. Denn
diesem war der monophthong wol aus seiner eigenen mundart
bekannt, daneben aber im 14. jh. gewis auch der neue diphjjiong,
der ja im literarischen gebrauch früh durchdrang und auch in
gegenden fuss fasste, wo er nie gesprochen wurde. Es ist
dies auch wichtig für die beurteilung der hss. s und p (s. u.).
Dass neben t, ü meist eu steht, könnte vielleicht seine
erklärung darin finden, dass diese eu zum teil schon der vor-
läge angehörten, wenigstens ist eu ausserhalb Baierns früher
als ei und au durchgedrungen (vgl. Henneberger urkundenbuch
2,8 eine Urkunde von 1332, die bereits eu, aber noch kein ei
hat. Weinhold, Mhd. gr. § 108). Dies konnte den Schreiber wol
veranlassen, in diesem fall den seine mundart eigenen diphthong
einzuführen, während er ei und au, für die ihm die vorläge
kein beispiel bot, vermied.
Sonst tritt der bairische Charakter mehr hervor: ie wird
durch ie, uo durch ü widergegeben, das allerdings auch für ü
und u erscheint (Ms 2219); für altes ei erscheint nicht selten
ai: stain lZi8j lait SOOl, maister 3014, vorwaist 3016, menschait
92 HELM
3055, wai2 3087, wishait 4165, gemainen 5036, iswai 533. 555.
Charakteristisch für bairische herkunft ist eu gerade in deu.
Vereinzelte bairische eigenheiten sind : wier (= wir) 1283,
siichunde 1417, warden (pl. praet.) 3386. Auf dem gebiete des
consonantismus ist ch für k (chomen 1011, Magen 1009, chint
1117. 1206, tvolchen 2659) hervorzuheben. Vgl. auch Amers-
bach 1, 3.
s. Papierhs. der kgl. öffentl. bibl. zu Stuttgart aus dem
14. jh. Cod. theol. Q. 98. 15 x 20, 5. 80 blL, zwischen bl. 70
und 71 ist ein kleineres eingeheftet. Die Innenseite des deckeis,
sowie je ein pergamentblatt zu anfang und ende der hs. ent-
halten einen lat. text. Bl. 1 a Iste Über est fris Hermanni
ordinis theutonicor^ \ domus in Giengen, Darunter schreib-
proben: vrbani vita, hmd und ein fisch (häring) gezeichnet.
Unten findet sich ein a mit roter tinte, als bezeichnung der
läge, entsprechend ein c auf bl. 20 a, h fehlt.
Bl. Ib — 28 a enthält das Ev. Nie. Auf der seite stehen
30—42 Zeilen, je zwei verse enthaltend. Die schrift ist am
anfang grösser und wird gegen den schluss immer kleiner.
Die hs. ist nicht, wie Amersbach angibt, defect; sie bringt
nur das gedieht unvollständig, beginnt mit v. 369 und endigt
mit y. 4784, worauf ein besonderer schluss von 12 versen folgt,
Darimter explicit tyhery potestas und von jüngerer band der
hexameter finis adest v'e p^'dü wlt sc^ptor hfe.
Endlich folgen noch in einheitlicher schrift die folgenden
liedanfänge: 0 quam metuendus, 0 pastor eterne, 0 Margareta
celor' virgo secreta tarn (vgl. dazu Mone, Lat. hymnen des mittel-
alters s.403), 0 florens rosa. Der rest der hs. bL 28 b — 80 a
enthält Heinrich Susos Buch von der ewigen Weisheit. Auf 80 b
stehen wider schreibproben und einige geistliche verse. —
Abgedruckt sind nach dieser hs. die verse 369 — 392 sowie die
letzten 10 schluss verse bei Mone, Anz. 7, 281 f., vers 369—392
auch von Massmann, Kaiserchronik 3, 595.
s schreibt vorwiegend I, daneben ist ei nicht selten; statt
ü erscheint meist au: traurigen, läutert 3384. 3737. uf ist als
kurz zu betrachten. Noch mehr herscht eu statt iu: teure 722,
freunt 2177, neuwen 127b, 2261, Jceut S4:89, leuchtet ISQi, seuche
1217. 1221. 1249, eu, euch, ewer u.s.w. Der nom. sg. f. und nom.
HEINBICH HESLERS EVANGELIUM KICODEMI. 93
acc. pl. des adj. stets -eu (371. 460. 576 f. 4144). — ou wird
meist au geschrieben 385. 427. 1907. 3303, weniger häufig ist
ai für ei 941 f. 2910. 4165 f.
Für Je erscheint oft ch (483. 527. 1097. 2256. 2312. 2554.
2577), im anlaut häufig p (468. 472. 722. 4429). Stellt man
dazu das erhaltene -mb- (tumbe 181. 377. 503, lambes 1781.
1787), epenthetisches i) in dampnen 924, Icompt 754, den Wechsel
zwischen b und w in bas 1030, beidenthalwen 383, warrdbam
1295 und dem reim gelaubet : getrauwet 2379 (statt ursprüngl.
truwet : nuwet\ so ist der bairische grundcharakter der hs.
zweifellos. Es fragt sich aber doch, ob derselbe auf rechnung
des Schreibers oder der vorläge kommt. Ich glaube das letz-
tere. Beweisend dafür erscheint mir die inconsequenz in der
Schreibung der neuen diphthonge, namentlich bei ei Ebenso
erklärt sich das schwanken zwischen ei und ai, h und ch,
wobei der nichtbairische laut vorherseht.^) Weit schwerer
wiegt aber noch die tatsache, dass ie, uo stets durch i, u, und
ae durch e widergegeben wird, und im anlaut altes d meist
unverändert erscheint: dac 1595. 2637, drost, dauel 1361, dilget
1363, fast stets bei dun, gedan. Dem gegenüber stehen aller-
dings wol die der vorläge angehörenden formen mit t für
altes P: trien 2332, trittem 2335. Apokope ist selten, dagegen
ist umgekehrt ein unorganisches -e beim starken praet. häufig:
stunde 404, gäbe 1367, iahe 444, läse 1354, bevalhe 4661; sonst
selten: eine mensche 415.
Für alemannische heimat des Schreibers und zwar für das
Elsass könnte der häufige anlaut d sprechen, auch e für ce
würde hierher passen (vgl. Ehrismann, Beitr. 22, 290. Haendtke,
Dialektisches aus Strassburger Urkunden). Dagegen spricht
aber entschieden i, u für ie, uo, sowie die Seltenheit der apo-
kope. Weit nach Mitteldeutschland kann andererseits die hs.
aber gewis nicht gesetzt werden. Ich setze sie deshalb nach
Eheinfranken, wohin die angeführten merkmale, namentlich
auch anlautendes d sehr gut passen (vgl. O.Böhme, Zur kenntnis
des oberfränkischen im 13. 14, 15. jh.).
^) In der etwa zu derselben zeit geschriebenen streng bairischen hs.
der legende von Udo von Magdeburg, Cgm. 5 (vgl. Neue Heidelberger Jahr-
bücher 1897, s. 95 ff.) wird ei, au, eu für t, ü, tu, ai für ei, ch für k, ie, ue
für ie, uo aufs strengste durchgeführt.
94 HELM
p. Cod. pal. germ. 342 auf der Universitätsbibliothek zu
Heidelberg. Papier. 15. jh. 124 bll. Vgl. K. Bartsch, Heidel-
berger hss. no. 170.
Die hs. enthält das Buch der märtyrer. Zwischen der
legende der Maria aegyptiaca und dem evangelisten Marcos
steht unter dem titel der Passion auf bl. 41 cJ — 64 d das Evan-
gelium Nicodemi, und zwar die verse 369 — 3790, an die sich
6 Schlussverse anschliessen. Vgl. J. Haupt, Das mhd. buch
der märtyrer, WSB. 70, 101 ff. Daselbst sind auch die verse
369 f. und 3790, 3—6 abgedruckt.
Der vocalismus von p zeigt ein eigentümliches schwanken:
ei für t erscheint zwar häufig, eu für iu wenigstens im pron.
der 2. pers., aber trotzdem überwiegen % iu, und ü ist geradezu
regel. Der alte diphthong ei wird meist so, seltener ai ge-
schrieben. So viel ist klar, dass nach der entstehungszeit der
hs. dieser lautstand keinem der in betracht kommenden ober-
deutschen dialekte entspricht: im bairischen war die diphthon-
gierung damals schon ganz fest, ebenso war sie im schwäbischen
zwar noch nicht herschend, aber doch schon ziemlich heimisch
(vgl. Bohnenberger, Zur geschichte der schwäbischen mundart
im 15. jh. s. 62 ff. 91 ff.). Wir haben uns also eine dialekt-
mischung zu denken, die dadurch zu stände kam, dass ein Ale-
manne nach bairischer vorläge schrieb und deren ei, eu zum
teil acceptierte. Gegen die umgekehrte annähme sprechen die
schon bei G und s geltend gemachten erwägungen. Ueberdies
zeigt die hs. in wesentlichen punkten nichtbairischen Charakter:
es fehlt z. b. ch für i fast ganz. Auf keinen bestimmten dialekt
unter den oberd. weisen hin das fast stets erhaltene mb (tump
493, umh 1753), epenthese von p zwischen m und t: nempt 1449,
jsimpt 923, Jcompt 2872. 3060, dimpten (= dinten) 2832, und an-
lautendes ^: perg 1359, prot 468, erpidmet 2195. 2596. Bestimmt
alemannisch ist dagegen au tür ä: gewauffnet 854, slauffe 926;
dasselbe ist nicht nur schwäbisch, sondern in ganz Alemannien
beliebt (vgl. Weinhold, AI. gr. § 52. 96). Ebenso ist alemannisch
die endung -ent der 2. pers. pl. v. 569. 1121. 1451. 2756 u. a.
Enger begrenzen dürfen wir aber die heimat des Schreibers
wol auf das nördliche Elsass i) wol schon sehr nahe dem süd-
^) Dass ftir ä oft eintretende ö, das im elsässischen des 14. jh.'s fast
HEINBICH HESLEBS EVANGELIUM NICODEMI. 95
fränkischen gebiet. Zu diesem Schlüsse berechtigen uns mehrere
vocalische erscheinungen: 1) die Vertretung von altem ou, das
oft als ä, aber auch zu aü umgelautet erscheint, während
andererseits umgelautetes ou auch durch ä widergegeben wird;
vgl. hapt 897. 946. 1459. 1521. 1907. 1915, gelaben 898. 1007.
1652. 1846, urlabez 1202, verJcaf 528, verUgnen 814. 519, lauf
390, geUuft 391, frät (= freut) 3317, fräten 2750, fräden 3583.
Auf einem misverstehen eines in der vorläge stehenden neuen
diphthongen au{<ü) müssen formen beruhen wie Team (= Mm)
2554. 2577, lauern 1347, lassen (= lüsen) 3255. Dies äu, ä
ist Vorläufer eines e, das heute im südlichsten teile der links-
rheinischen Pfalz bis zu einer linie Sondemheim - Freisbach-
Edenkoben allgemein gilt (weiter nördlich herscht ä) und ebenso
an der elsässischen grenze um Lauterburg (vgl. Heger, Dialekt
der Südostpfalz, Landauer programm 1896, § 54 und karte).
In dieses zweite gebiet könnte unsere hs. fallen. Dazu würde
auch passen: 2) die erhaltung von 6 als monophthong und die
Schreibung « für ce in ze hende (hoßnede). Beides liesse nach
den heutigen Verhältnissen auf die gegend südlich einer linie
Jochgrim-Bergzabern schliessen, da nördlich von dieser 6 zu ou
und ce zu ei geworden ist (vgl. Heger § 11).
Ferner wird im norden die heimat begrenzt durch die
linie pf/p, da unserer hs. sicher pf zukommt; p ist Siutporten
beschränkt. Diese linie zieht nach Heger § 55 etwa von
Neuburgweier nördlich an Weissenburg vorbei nach Bitsch
(vgl. Wrede, Anz. fda. 19, 103). Doch ist darauf bei dem con-
ventioneilen schreibgebrauch von pf auch in gegenden wo p
herscht, kein besonderes gewicht zu legen (vgl. auch Böhme
a. a. 0. ).
Dem so gewonnenen gebiet entspricht es auch, wenn
neben -ent als endung der 2. pers. pl. auch -en erscheint:
ketten 1336. Das dem elsässischen sonst eigene anlautende d
(== germ. d) fehlt der hs. allerdings; das ist wol auf rechnung
der vorläge zu setzen.
ansschliesslich herscht, ist auch in anderen dialekten häufig, also zu irgend
welcher localisierung nicht brauchbar.
96 HELM
W. Perg.-hs. der Wiener hofbibliothek no. 19681 (suppL
2560). 14. jh. 14, 3 x 24, 1, aber grossenteils oben oder unten
beschnitten. Auch der rand ist vielfach beschädigt, wodurch
viele versanfänge und Schlüsse verloren gegangen sind. Er-
halten sind uns nur 16 blätter, die in zwei columnen zu je
35 linien beschrieben sind. Die anfangsbuchstaben der verse
sind über die ganze seite rot dui'chstrichen. Mittelgrosse rote
und grüne initialen. Rote Überschriften.
Die hs. enthält eine compilation des Ev. Nie. mit bruder
Philipps Marienleben. Das uns erhaltene stück enthielt ur-
sprünglich folgende partien des Ev., die in [ ] eingeschlossenen
verse sind durch beschneiden verloren gegangen. Zur ergän-
zung füge ich auch die verse des Marienlebens (M) hinzu.
M 6577—6697. — EN 679—698. 701—714. 721—732.
735—1151 [986—993. 1021—28. 1056—62. 1091—97. 1126—
1133]. — EN 1153—1414 [1162—69. 1197—1204. 1232—39].
— M 6738—39. — EN 1415—1424. — M 6748—49. — EN
1425—1444. — M 6768—6783. 6804- 6927. — EN 1464—66.
M 6930—6947. — EN 1522—1570 [1529—31. 1564—66]. —
M 6976—7112. — EN 643—652. — M 7116—17. 7120—7137.
7844—7949 mit lücken. — EN 2269—2334 [2293—96. 2329—
2331]. — M 7950—7975. — EN 3132—3330 [3166. 3201. 3237].
3334—3412. 3563—3713 [3634. 3671. 3706]. 3715—3790 [3775].
3791—3819. 3821—3846. 3987—4258 [4103. 4123—24. 4157—
4158. 4193]. Vgl. J. Haupt, Bruder Philipps Marienleben, WSB.
68, 198 f. Daselbst ist abgedruckt ein stück von M 6694 bis
EN 760, vom Ev. Nie. dann noch 1413—1416. Die Zugehörig-
keit von 2269—2334 zum Ev. Nie. hat Haupt, wie es scheint,
nicht erkannt (vgl. a.a.O. s.201).
Der dialekt von W ist durchaus bairisch. Zwar erscheint
i, u für ie, uo, dagegen ist die diphthongierung von i, ü, iu
streng durchgeführt, uf ist als kurz zu betrachten, ebenso
die adjectivendung nom, sg. f. und nom. pl. n., obwol die hs. die
alte Schreibung beibehält (v. 1016. 1183. 1395). Altes ei wird
stets als ai von dem neuen ei scharf geschieden {zaichen : waichen
1175 u. a.).
Anlautend erscheint fast durchweg p, seltener t und ch
(jplint 1224, pischof Marienleb. 6645, paten 1442, chomen 1230).
— w; für 6 findet sich z. b. in walthasar 1388, weUelmb 3187,
HEINRICH HESLEBS EVANGELIUM NICODEMI. 97
warrdbam 1295, erwolgen 1190, praeflx we- 1013. 1259. 1271.
2298; umgekehrt b für w in gebarnet 1401, boldest 3572, ge-
baschen 3725, erberben 4202 (vgl. Weinhold, Bair. gr. § 124).
Einzeln zu belegen ist a für o (Weinhold § 21): bevar 3571,
wart 705, verwarht 4092. 6 für a etwas öfter 1088. 1184. 1191.
3371. Suffix -nuss wird vorgezogen (3329. 3336. 3377), ebenso
praet. weste 757. 774 (Weinhold § 333). Bairisch ist auch der
svarabhaktivocal in tüigen, Leist {lazest) 1304. 1317. 3685 wird
wie treist, seist nicht als dialektisch gelten dürfen (Fischer,
Zur gesch. d. mhd.).
E. Ich bezeichne mit E die Erlanger, Hetzer und Berliner
fragmente zusammen.
Die Erlanger bruchstücke, sechs pergamentstreifen des
14. jh.'s, wurden gefunden von G. Wolff und beschrieben und ab-
gedruckt von demselben Zs. fda. 33, 115 — 123. Die Hetzer
bruchstücke wurden gefunden 1878 von A. Schönbach und be-
schrieben und abgedruckt von demselben Zs. fda. 24, 83. Dass
sie zum Ev. Nie. gehören, hat erst Wolff (a. a. o.) erkannt.
Die von Seh. vorgenommenen ergänzungen werden durch ver-
gleich mit dem bekannten text zum teil berichtigt. Die
Berliner fragmente bestehen aus drei perg.-streifen, sie be-
finden sich auf der kgl. bibl. und tragen die Signatur Cod. germ.
4«. 641. Nach einer vorgehefteten notiz Massmanns, die auch
abgedruckt ist in v. d. Hagens Germania 10, 104, hat dieser sie
als zum Ev. Nie. gehörig erkannt auf grund von vergleichung
mit der zu Berlin befindlichen abschrift (Ms. germ. 4«. 564), die
Hoffmann nach der Görlitzer hs. angefertigt hatte. Die von
M. angegebenen verszahlen sind zum teil falsch.
Die drei fragmente sind zum teil stillschweigend als reste
verschiedener hss. angesehen worden, von Wolff (a. a. o.) wurde
überdies auch ausdrücklich betont, die von ihm gefundenen
stücke (E) stimmten zu keiner anderen hs., auch nicht zu R,
womit sie in äusserer ausstattung, Orthographie und text viel
verwantschaft hätten. Trotzdem hat sich mir das resultat
ergeben, dass ERB zu einer einzigen hs. gehören. Dadurch
fällt ein interessantes licht auf die merkwürdigen Schicksale,
die einer hs. zu teil werden konnten.
Die Berliner fragmente gehörten zu einer hs., in welcher
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 7
98 HELM
die verse in zwei columnen standen und zwischen linien ge-
schrieben waren. Beides, auch das System der linien, so weit
es noch zu erkennen ist, stimmt vollständig mit E. Hier wie
dort ergibt ein vergleich der auf gleicher linie stehenden
verse, dass jede columne 41 zeilen enthielt. Ebenso ist der
Schriftcharakter durchaus derselbe. Diese äusserlichkeiten
werden nun aufs glücklichste gestützt und bestätigt durch
einen merkwürdigen zufall. Zwischen den von Wolff als 1.
und 2. bezeichneten teilen des Erlanger doppelblattes fehlt
ein streifen von (je nach breite des Schnittes) 4 — 5 versen.
In diese lücke fügt sich nun das dritte der Berliner fragmente,
allerdings sie nicht ganz ausfüllend, aber in directem anschluss
an den unteren teil des Erlanger blattes; und dieser anschluss
ist so eng, dass an verschiedenen stellen, z. b. v. 3385. 8509.
4576 mit hilfe des schon bekannten textes sowol aus den zu
B wie aus den zu E gefallenen buchstabenenden der Wortlaut
zu erkennen ist. Interessant ist auch, dass das blatt am rande
beschnitten wurde, ehe der Berliner streifen abgeschnitten
wurde. Dass dieses blatt das äusserste einer quaternio war,
hat Wolff bereits erkannt; die drei inneren blätter müssen
984 verse enthalten haben, zeigen also den ursprünglichen
bestand, während S die verse 3563 — 64 auslässt, G die verse
3643—44 (nach G 3427). 3859. 60 (G 3642 ab). 3981. 82
(G3762ab), dagegen vier andere, 3790ab (3573.74), 4238ab
(4019. 20) einschiebt (vgl. unten). Die beiden ersten Berliner
streifen gehören zu dem äussersten blatt der gerade vorher-
gehenden läge, da zwischen ihnen und dem ersten der Erlanger
blätter nur 21 verse fehlen. Auf den inneren blättern dieser
läge müssten nach der Zählung von G 1144 verse untergebracht
werden; dies sind für 3 doppelblätter 160 zu viel, für 4 aber
168 zu wenig. Das richtige zeigt uns die hs. S, die in dieser
Partie 206 verse mehr hat. Wenn wir diese auch für unsere
hs. in anspruch nehmen, so erhalten wir für deren innere
blätter allerdings 1350 statt 1312 versen, es müssen also
38 verse ausgefallen sein. Dies sind ohne zweifei die verse
welche die episode von den schachern am kreuz und Longinus
erzählen, die auch in S an falsche stelle geraten sind. Es ist
andererseits daraus wider zu schliessen, dass E die in S in
dieser partie fehlenden verse besass (vgl. unten).
HEINRICH HESLERS EVAKGELIÜM NICODEMI. 99
Für die erste läge der ursprünglichen hs. bleiben, falls
wir annehmen, dass sie auch hier den alten bestand gut be-
wahrt hat, 1665 verse übrig mit einschluss oder 1297 mit aus-
schhiss des prologs. Ersteres sind 15 verse zu viel für fünf,
letzteres 15 verse zu wenig für vier lagen. Zwischen beiden
möglichkeiten ist eine entscheidung kaum zu finden.
Betreffs der Ketzer stücke ist nun zunächst Wolffs angäbe
zu berichtigen, wonach bei diesen nur 39 verse in der columne
gestanden hätten. Es ergibt sich vielmehr auch hier aus den
auf gleicher zeile stehenden versen die zahl 41 ; es correspon-
dieren z.b. 1679 und 1720, 1720 und 1761, 3197 und 3238, 3238
und 3279, 3279 und 3320. Nur ein fall passt nicht in das
Schema, 1761 — 1800: wir müssen also hier zwei sonst nirgends
widerkehrende plusverse annehmen.
Ihrem versgehalt nach sind die Ketzer fragmente dem
gleichen doppelblatte zuzuweisen wie die ersten zwei Berliner.
Sie standen über denselben, nur durch einen streifen von zwei
versen von ihnen getrennt, ebenso wie die beiden Berliner und
die beiden Ketzer streifen auch unter sich durch je einen solchen
verloren gegangenen getrennt sind. Evident bewiesen wird dies
dadurch, dass in derselben columne in R wie auch in B auf zwei
plusverse hingewiesen wird, die wir nun auf grund beider hs.-
stücke zwischen 1777 und 1800 anzusetzen im stände sind.
Die fragmente enthalten zusammen 351 verse, nämlich ^):
1679—81. 1684—86 (1689—91. 1693—95). 1720—22. 1725—27.
(1730—32. 1735—36). 1761—63. 1766—68 (1771. 72. 1776. 77.)
1800—2. 1805—7 (1810. 11. 1814—16). 3197—99. 3202. 3 (3207
—3208. 3211—13). 3238—40. 3242—44 (3248.49. 3253.54).
8279—82. 3285—88 (3289. 90. 3294. 95). 3320—22. 3325—28
(3830. 31. 3335—37). [3358—80]. (3383—85). [3385—94. 3400
—3420]. (3423—25). [3426—35. 3442—50. 3454—62]. (3465—
3466). [3467—76. 3483—3504]. (3507—9). [3509—18. 4508—30].
(4533—35). [4535—43. 4549—71]. (4574—76). [4576—84. 4591
—4612]. (4615—19). [4618—25. 4631—53]. (4656—58). [4658
—4666].
E bezeichnet nur den umlaut von a, ä, ausserdem steht
dreimal geloyben 4560. 4562, dagegen vroude 4617. i, ü werden
^) Davon die nicht eingeklammerten in R, die in () in B, die in
[1 in E.
7*
100 HELM
nicht diphthongiert, iu meist zu ü reduciert (3197. 3322. 3475.
8495), doch auch iuch 1768. 3518. In den unbetonten end-
silben ist i sehr häufig (1802. 1811. 3202. 3406. 3470. 4637),
ebenso in ir- 3233. 3514. 4631. 4645. In betonten silben er-
scheint dagegen umgekehrt gern e f&r i: acc. des pron. en 3229.
3240, dat. pl. en 3408. 4537, aber auch oft ie : wier 3451, hien
3335, Memele 3211. 3364 (Weinhold, Mhd. gr. § 115).
Ebenfalls md. ist der consonantismus und die flexion.
h fällt im auslaut ab: wa 3376. Das pron. der 3. pers. heisst
her, seltener he (4537) und hie (4513); der artikel dagegen
stets der. Das Possessivpronomen der 2. pers. plur. ist stets
unse : unsis 3392. 3454. — Die 2. pers. sg. praes. endet auf
-es 4544.
Eine genauere localisierung der hs. innerhalb des md.
gebietes ist darnach nicht möglich, wahrscheinlich gehört sie
dem östlichen Deutschland an.
M. 4 zerschnittene perg.-bll. zu München. Cgm 5249, 55 b.
Die fragmente wurden nach angäbe Roths (Denkmähler der
deutschen spräche vom 8. bis zum 14. Jh., München 1840, s. xv)
im jähre 1838 von dr. Reuss zu Heidingsfeld (vgl Bavaria i,
1,427) entdeckt und durch bibliothekar Maier nach München
gesant. Die hs. ist zweispaltig geschrieben, die verse sind
nicht abgesetzt, aber durch punkte abgeteilt.
Roth glaubte ein stück einer Veronicalegende, eventuell
auch einer Pilatuslegende oder eines Passionais vor sich zu
haben. Er setzte die fragmente ins 12. statt ins 14. jh. Ab-
gedruckt sind sie von ihm ebda. s. 103 — 105, aber weder diplo-
matisch getreu, noch fehlerlos, ausserdem in falscher reihen-
folge. Die richtige folge ist: Ib (4035—59), la (4109—35),
4a (4238b— 4840), 3a (4261—65), 4b (4265—71), 3b (4289—
4294), 4c (4294—4300), 3c (4315—19), 4d (4319—25), 3d
(4339—43), 2a (4343—68), 2b (4521—48). Stück 3 und 4
gehören zu ein und demselben blatt, das direct vor 2 lag.
Eine der hs. beiliegende abschrift, überschrieben Hettinges-
velt 1838, also wol von der hand des dr. Reuss, hat das bestreben
diplomatisch getreu zu sein, aber ohne erfolg. Auch die er-
gänzungsversuche sind zum teil nicht geglückt, die reihenfolge
ist auch hier falsch. Der abschreiber vermutet Zugehörigkeit
HEINBICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 101
zum Passional und verweist auf das bei Mone, Anz. 6, 400
abgedruckte stück als eine verwante dichtung.
Der dialekt ist md. Es fehlt der umlaut von ö, uo, ou:
storit 4154, horinde 4269, vroude 4242, vuomn 4435; für iu er-
scheint u in ruwen 4055, getruwen 4322; einmal e für ei: vresches
4036; dagegen stets ie, uo. — i ist regel in den praeflxen ir-
4045. 4050. 4290 f. und vir- 4046. 4049. 4345 und in den endungen
wandir 4038, werhin 4039, sterbin 4040, widir 4113, achirs 4239,
lazine 4129. Das pron. poss. der 2. pers. heisst unse, unsis 4127.
4324, dagegen steht stets er, nie her, he, Localen Charakter
hat keiner dieser punkte; zweifelhaft ist dies auch für ui in
virtruic 4325, das von der Wetterau bis Thüringen, aber auch
in Mittelfranken belegt ist (Weinhold, Mhd. gr. § 127). — Auf-
fallende Schreibungen sind: geh'n 4135, seh'n 4110, steh'n 4267.
K. In einer papierhs. aus dem kloster Thennenbach, jetzt
auf der hof- und landiesbibliothek zu Karlsruhe (sign. Th. 10),
vgl. Läng in, Deutsche hss. der hof- und landesbibliothek zu
Karlsruhe s. 102, no. 180.
1*. 2*. 180 bll. Auf la von späterer band Vocahularia
magistri Engelhusen, darunter mit bleistift sunt quattuor lati-
num, graecum, hehraicum, teutonicum 1462, Am Schlüsse der
hs. ist ein pergamentblatt mit unserem fragment verkehrt ein-
geheftet. Es enthält die verse 1572 — 1692 und gehört in den
anfang des 14. jh.'s. Die verse sind durch punkte abgeteilt,
aber nicht abgesetzt. 25 zeilen stehen auf der seite. Das
fragment ist abgedruckt von Mone, Anz. 4, 326. Derselbe setzte
es irrtümlich ins 12. jh.
Der dialekt der fragmente ist durchaus md. Wir finden
keine diphthongierung, ü für iu {cruce 1578), dixar uo : so 1573.
1592. 1606. 1629, gode 1631, vort 1644 {uo nur in huoben: gruoben
1617), e für ie in neman 1586, sonst ie] o erscheint für u vor r:
dorch 1660, worphen 1612, worde : borde 1661. i für e in neben-
silben ist selten; abgesehen von praefix ir- 1649. 1652 steht es
nur in nichdn 1598; e für i in mer 1640. Der artikel hat stets
die form die 1583. 1635. 1688 oder de 1574. 1606. 1688 f. 1691,
nie der\ das pron. der 3. pers. ist her 1575. 1591. 1664. Stets
steht sal, aber von 1600. 1615.
Besondere beachtung verdienen folgende erscbeinungen: ou
102 HELM
für 0 in voulc 1581, für uo in Uoudig 1664; uo für 6 (< *au)
in ö^rwö^ 1622 (Weinhold, Mhd. gr. § 131), ei für te in veirjsic
1644, Zm : Äei^ 1666, deit 1651, ei für e in steit 1650 (ebda. § 335),
e für ei in swe^ 1666. Alle diese fälle, die vereinzelt freilich
im ganzen md. gebiet vorkommen (ausser gruo^^, vgl. Anz. fda.
19, 348) weisen zusammengenommen mit bestimmtheit auf Mittel-
franken als heimat des fragmentes hin. Auch heven 1665, ge-
weven 1608 stimmen dazu. Einen weiteren anhaltspunkt kann
dich statt dir 1645 gewähren. Zu dem von Behaghel, Germ.
24, 28 in seinen grenzen fixierten mich-lSLnA gehört von Mittel-
franken nur ein sehr kleiner teil, nämlich der schmale streifen
der eingeschlossen wird durch die hd.-nd. grenze einerseits und
die linie München-Gladbach- Jülich- Aachen-Eupen andererseits.
Hier könnte also K wol entstanden sein. Auch ein to (= jsiio)
das dem Schreiber v. 1576 entschlüpfte, hätte hier so nahe dem
nd. wenig auffallendes. Ebensogut kann man aber annehmen,
der Schreiber sei — wenn er sich hier* auch der mittelfränk.
mundart bediente — seiner heimat nach doch selbst ein Nieder-
deutscher gewesen.
r. Mehrere pergamentstreifen des 14. jh.'s, von Piper ab-
gedruckt Zs. fdph. 19, 318—321. Sie enthalten die verse 3689
—3697 (doch vgl. unten). 3718—26. 3745—53. 3775—83. 4043
—4051. 4072—80. 4101—9. 4130—38. Nach einer mitteilung
herrn prof. Pipers lagen sie einst ohne bibliotheksbezeichnung
lose in der hs. G. Da sie dort nicht mehr sind und auch die
Verwaltung der bibliothek der Oberlausitzer gesellschaft keine
kenntnis von ihrem verbleib hat, so dürften sie wol nicht mehr
aufzufinden sein.
Die fragmente sind md. t ist nicht diphthongiert, für iu
steht ü (3749. 3777), einmal ie für t (Weinhold, Mhd. gr. § 115):
siet : met 3752 ; vgl. auch K. v. Bahder, Ueber ein vocalisches
Problem des md. s. 41. Dazu ist noch zu beachten: sal 3690,
bevoln 3778, gekart : gelart 3749, her 4133. 4135, unsem 4137,
praefix ir- 3777. Enger begrenzen lässt sich nach diesen spär-
lichen resten die heimat natürlich nicht.
m, Heinrich von München hat in seiner fortsetzung von
Rudolfs von Ems Weltchronik auch partien unseres gedichtes
wörtlich übernommen. Die verse desselben sind untermischt
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 103
mit solchen aus dem Passional. Sie finden sich gedruckt bei
Massmann, Kaiserchronik 3, 611 ff. v. 193 f. = Ev. Nie. 4619 f.
(G 4401 f.), 215—228. 233—236 = Ev. Nie. 4631—48 (G 4413
—4431), 293—322 = Ev. Nie. 4651—74 (G 4433— 56), aber in
der letzten partie in v. 297 f. 310—12. 316—18 stark geändert.
2. Das handsohriftenverhältnis.
Die sämmtlichen hss. zerfallen in zwei gruppen y und z.
Zu y gehören KES, zu z dagegen MGpsWrto. Innerhalb
dieser gruppe gehören zunächst p und s und dann diese mit G
wider enger zusammen. W und r nehmen eine Sonderstellung
ein, indem sie auf zwei verschiedene hss. zurückgehen. Die
hss. der gruppe y stehen wol auf gleicher stufe; vielleicht sind
noch weitere Zwischenglieder einzuschieben, die wir jedoch nicht
erschliessen können. Wir erhalten demnach folgendes Schema:
y z
ES M ^ z*
s p
w f
A. Die hauptgruppe z.
I. Die gruppe z^
1. Plusverse. Durch solche lässt sich diese gruppe nicht
sicher begründen, wenn auch gegen die verse 2803 f.*) (2595 f.)
(dine tougen zu sagene,)
die du in der helle hast getan
vnd uf der erde hast began
wol bedenken entstehen könnten. Sie könnten als einfügung
zur erklärung des Wortes tougen aufgefasst werden; denn
dass dieses der gruppe z^ nicht geläufig ist, zeigt v. 3095
(2881), wo taugender in m gender geändert wurde. Diese auf-
fassung Hesse sich damit begründen, dass der Inhalt der verse
^) Die yerszahlen beziehen sich auf den nach sämmtlichen hss. her-
gestellten text. Die Zählung von G (Piper, Geistl. dichtung 2), die erheblich
abweicht, ist in klammer daneben gesetzt, wo es der Orientierung wegen
geboten schien.
104 HELM
sich mit dem bericht der kinder nicht deckt; denn diese er-
zählen nur von Christi taten in der höUe. Derartige ungenauig-
keiten sind aber in der ganzen mhd. literatur zu häufig, als
dass besonderes gewicht darauf gelegt werden dürfte. Anderer-
seits entspricht der parallelismus im ausdruck der verse ganz
der Schreibart des Verfassers.
Schwerer wiegen die bedenken gegen v. 787 f. Pilatm
was uf gestan und von dem gerichte gan. Diese zerreissen den
ganzen Zusammenhang und werden nur durch die von G vor-
genommene änderung in v. 795 f. da^ chlagtm sie dem bischofe
und dem richtere statt dajs clagten die bischove Pilato dem rihtere
einigermassen verständlich. Gewisheit ist leider nicht zu er-
langen, da ausser Gsp in keiner hs. die partie erhalten ist.
Da aber der ganze bericht über Christi gefangennähme aus
der bibel und den angaben des Ev. Nie. contaminiert ist und
dadurch an grosser Unklarheit leidet, so ist es immerhin mög-
lich, dass auch diese beiden verse im original standen. Sie
sind deshalb im text beibehalten worden.
2. Aenderungen von z^ Sie bestehen zum teil in be-
seitigung dialektischer ausdrücke; z^ hatte offenbar wie die
hss. Gps bereits mehr oberdeutsches gepräge. Ausserdem sind
ungewöhnliche ausdrücke und misverstandene Wendungen ge-
ändert.
V. 552 f. in dem abschnitt über das geistliche schwert
schreibt S ganz sinngemäss daz han nieman gesalben swaz daz
swert vorseretj woran sich dann v. 554 — 56 ganz logisch an-
schliesst, gegen wen sich diese fürchterliche waffe wenden
soll, z^ ändert v. 552 so lat die zungen salben . . . , wodurch
die beschreibung der f urchtbarkeit des Schwertes gänzlich ab-
geschwächt wird. G gelangt durch Umstellung von v. 553 f.
dann zu völligem unsinn. — V. 1486 z^ ändert bekorn in be-
tören. — V. 1808 (1806) ändert z» das sonst nicht belegte un-
derben (untüchtig machen) in das gewöhnliche verderben, ebenso
V. 1949 (1947) ziU in smertzen. — V. 2280 (2072) hat z' bewart
in behütet geändert. Dass bewart ursprünglich ist, wird durch
S erwiesen, das zuerst nur wart schrieb und dann nachträglich
be- einflickte; es stand also gewis so in y. — V. 2441 f. (2233 t)
und gaben in Schatzes also vil und buten in bi des todes zil . . . ;
z^ beseitigt in 2442 den ungewöhnlichen ausdruck und schreibt
HEINEICH HESLEES EVANGELIUM NICODEMI. 105
dai3 si des nemen one dl. — V. 2603 (2395) ich versuch mich
daz ez Crist was; sich versehen in der bedeutung ^übersehen',
die aus Jeroschin und Ludwigs kreuzfahrt zu belegen ist (Mhd.
wb. 2, 279b). Dafür setzt z^ ich versan mich, — V. 2727 (2519).
Hier schreibt z* ruoret statt höret, das sicher dem original zu-
kommt. Der Widerspruch zwischen diesem vers und dem fol-
genden si ensprechen aber niet, der S zur tilgung von man in
V. 2727 veranlasst hat, scheint ja allerdings sehr gross, er kommt
aber nur auf rechnung einer ungenauen widergabe der quelle,
wo ausdrücklich steht (Descensus 1, vgl. unten): et quidem
audiuntur clamantes, cum nemine autem loquentes. Der
unterschied zwischen schreien und sprechen kommt im deutschen
text nicht zum ausdruck. — V. 2768 (2560) bekorn durch ruoren
ersetzt, vgl. v. 1486. — V. 2846 (2636). Hier und an allen
anderen stellen ersetzt z^ das md. dusternisse durch vinsternisse,
vgl. 3156. 3194. 3291. — V. 3041 (2829) claffen in clagen ge-
ändert. — V. 3095 (2881) js^u gender statt tougender, vgl. oben.
— V. 3460 (3244) von Jesus Cristi zorne\ die lesart in z^ von
unses herren zorne passt nicht in den mund des teufeis. —
V. 3519 f. (3303 f.). Der psalmtext ist in z^ verdorben; S hat
den richtigen Wortlaut = Desc. 8, 1. — V. 4167 (3947) S wie
er des menschen arbeit in der helle also bedechte; z^ schreibt
in der weit. — V. 4483 (4265) S schreibt gewis ursprünglich
(du bist) so riche und also creftic | und dar zu also mehtic; z^
ändert wol des reimes wegen so riche und also mehtic \ din
land ist so trehtic \ an heleden ... — V. 4651 f. (4433 f.) und
liez in Syrien \ grafen, vorsten, vrien\ z* schrieb, da es die
stelle nicht verstand und liez vaste schrien \ nach grafen . . .
— V. 4742 (4524) ersetzt z^ den ausdruck ze der cristenheit
vahend durch ze der er. gahend.
3. In z^ fehlende verse. Wenn auch im allgemeinen
das fehlen von versen nicht dieselbe unbedingte beweiskraft
a priori hat wie ihre zufügung, so lässt sich doch bei einzelnen
versen nachweisen, dass sie schon in z» ausgefallen sind.
.- " V. 3644 f. S daz du bist worden als unser ein \ glich luter
sam ein Spiegelglas fehlen in z'Gps. Um den reim auf v. 3643
herzustellen, ist aus v. 3647 der artikel vorausgenommen du
ha^st war, wan ich wa^ ein \ diep und . . . Ein solches aus-
einanderreissen von artikel und nomen ist sonst bei uns nirgends
106 HELM
ZU belegen. Die ander ung geht sicher auf z* zurück, da es
nicht denkbar ist, dass mehrere hss. selbständig eine so harte
construction gewählt hätten. — V. 3859 f. (zwischen G 3642 f.)
S nu ratet mir]
war mir nu schire werde ein man
die zn miner suche kan
[mir itteswaz geraten . . .
Die verse sind in z^ jedenfalls nur durch einen zufall aus-
gefallen, vielleicht wollte der Schreiber sie noch einfügen, ver-
gass es aber; anderenfalls hätte schon z' den vers 3861 (3643)
passend ändern müssen, während G und s selbständig ändern.
— V. 1635 f. (G zwischen 1634 und 1635). Die stelle 1633—36
ist = 2071 — 74. Wir haben keinen grund anzunehmen, dass
sich ursprünglich nur 2 verse widerholten. Anders läge der
fall, wenn die andere stelle vorausgienge; man könnte dann
annehmen, dass der Schreiber von S die vollständige stelle in
erinnerung hatte und sie deshalb nochmals ganz schrieb; dies
ist hier aber unmöglich, da er sie noch nicht geschrieben hatte.
— V. 3981 f. (G zwischen 3762 und 3763). Die lesart von S
r
(daz sie in viengen
und an ein cruce hingen)
3981 und giengen an Pylaten
scheint einen Verstoss gegen die logische reihenf olge zu enthalten.
Doch ist dies für das original keineswegs undenkbar. Ausserdem
enthält v. 3982 vil iure si in baten eine im gedieht sehr häufige
Phrase (vgl. v. 1441). — V. 1959—2164 (G zwischen 1956 und
1957) sind sicher auslassung von z*, da sie durchaus den Cha-
rakter der Heslerschen darstellungsweise tragen. Man ver-
gleiche die folgenden verse: 2037 = 1613. 2071—74 = 1633
—1636. 2156 = 1149. 4255. 4979. Zu v. 2047 vgl. auch verse
der Apokalypse, Danziger hs. blatt 76 d. 85 a. 115 c.
4. Weitere gliederung der gruppe zK — Die hss. s
und p gehen innerhalb der gruppe z' wider auf eine nähere
gemeinsame vorläge zurück: z\ Dieser gehört z. b. der schluss
der episode von Lucius und Karin an, wie er hier lautet:
dir sol al menschlich kunne wen du bist lobebsere;
dienen immer mere; hie endet sich daz msere
dir si lop und ere (vgl. unten).
Ohne beweiskraft, aber immerhin bemerkenswert, sind folgende
in beiden hss. fehlenden verse:
HEINEICH HESLEES EVANGELIUM NICODEMI. 107
559 f. (er gienc)
au sin heimlich geberc
zu Olivete uf den berc.
V. 583 f. mit blutigem swaizse do gieng er ageleize fehlen an der
ihnen zukommenden stelle in p und s. Sie scheinen in z^ etwa
am rande, und zwar entstellt, gestanden zu haben. Unter diesen
umständen kann man wenigstens die von s nach v. 598 ein-
geschobenen verse er was betrübet in angsten heiz \ er switzet
blutigen siveiz als einen niederschlag der ursprünglichen lesart
betrachten.
Gemeinsame änderungen von p und s, also von z^ sind:
V. 1766 (1764) ich werde noch din inbisse; v. 2363 (2155) lieht
statt liuhtnisse, das noch in z^ stand; denn G ändert selbständig
in glast] v. 3072 (2858) ist hellewirten (GS) in helle fursten
geändert; v. 1946 (1944) das ebenfalls durch GS bestätigte
envorhten in gehorhten.
Abgesehen davon ändern p und s noch sehr viel einzeln.
Wii' sehen von den vielen verdorbenen und willkürlich ge-
änderten stellen ab und beschränken uns auf die differenzen
im versbestand. Es fehlen in p noch die verse 1609. 1835.
2370 f. 2958. 3379— 82. 33951 3423 f.; in s 461 f. 2743 f. 3429
—3432. 3726. 3757. 3836. 4033 f. 4371 f. 4451 f. 4461 f. 4546.
4685 f. Plusverse in s sind 3744ab. 4228ab. 4254ab.
Die hs. G kann direct oder indirect auf z* zurückgehen;
sie hat ebenfalls für sich noch eine beträchtliche zahl von
änderungen eintreten lassen, wo z^ das ursprüngliche bewahrt
hat; dazu gehören die Umstellungen 5531 28131 34351, die
plusverse3790ab, die fehlenden verse 1721. 28251 30591 33531
50631 5085—5132. 5151—5240. 5271. Inwieweit die grossen
auslassungen am schluss, über die unten noch gehandelt werden
soll, G oder schon z^ angehören, ist nicht zu entscheiden.
Die Zugehörigkeit der hs. W zu z^ wird erwiesen durch
die lesarten in v. 2280. 3156. 3194. 3291. 4167. Dazu stimmt
auch das fehlen der verse 36441 Auch die fi-aglichen verse
28031 hat W mit z^ gemein. — Selbständige wichtige ände-
rungen hat W nicht viel; nur die plusverse 1414ab. Durch
ein versehen des Schreibers sind ausgefallen die verse 3230.
3331 1 4182 1 V. 4205 — 7 sind in einen vers zusammen-
gezogen. — Innerhalb der gruppe z* nimmt W eine ganz
108 HELM
eigenartige Stellung ein. Es teilt mehrere bedeutende ände-
rungen mit s gegen alle anderen hss. (auch gegen p), z. b.
die Umstellung der verse 777 und 778, 4035 und 4036, 4047
und 4050, und die plusverse 3744ab. 4228 ab. 4254ab. — Da-
gegen steht W in anderen punkten entschieden zu G gegen s.
So V. 3694 (3476) ieweder die schrift sine \ gäben den iuden do \
Josepn und Nicodemo, Gegen Ssp . . . gab die sine \ schrift ir
ein Nicodemo \ der ander Josepe do. Ebenso stimmt W mit G
in V. 3726 (3508), der in s fehlt, und in einer reihe von anderen
stellen, die in s verdorben sind.
Der einzige ausweg ist hier die annähme, dass W nach
mehreren hss. gearbeitet ist, jedenfalls nach zwei die den hss.
G und s sehr nahe standen. Gegen diese annähme ist prin-
cipiell nichts einzuwenden, da solche fälle auch sonst nachzu-
weisen sind. 9 Umsomehr ist dies jedoch glaubhaft bei einer
hs. die nicht schlechthin eine abschrift ist, sondern das resultat
einer contamination (vgl. oben) mit einem anderen und vielleicht
noch einem dritten gedieht (vgl. die verse 9rf. 11 — 12 der hs.,
die weder dem Ev. Nie. noch dem Marienleben angehören).
Gerade ein compilator kann am ehesten mehrere hss. zu rate
gezogen haben. Vielleicht ergibt sich für die dem Marienleben
angehörenden partien ähnliches.
Einiges licht auf die arbeitsweise des compilators kann
vielleicht die fassung des oben schon kurz berührten Schlusses
der Luciusepisode werfen. Gegen die vier in z^ stehenden
verse hat S hier nur dienen immer mere \ hir endet sich daz
mcere; G dagegen dienen immer mere \ lop dir vater herre.
Für das original wird durch alle hss. nur der erste vers 3691
(3473) gesichert, durch S und z^ aber der zweite in S stehende;
er muss also auch in der vorläge von G (z^) gestanden haben.
In z^ wird aber auch die vorläge für den vers G 3474 gesucht
werden müssen, denn der anklang zwischen diesem und dem
zweiten vers in z^ ist evident. Die differenz zwischen den
einzelnen hss. erklärt sich nun leicht, wenn wir annehmen,
dass der vers hie endet sich dais mcere in z' als randbemerkung
stehen blieb. G übernahm dann einfach die stelle aus z\
0 Vgl. den Nibelungentext Db , die Tristanhs. B (vgl. Paul, Beitr. 1,
309), die prosafassung der Minneburg (vgl. Ehrismann, Beitr. 22, 280).
HEINRICH HE8LEBS EVANGELIUM NICODEMI. 109
indem es den vers am rande wegfallen Hess; z^ aber nahjn
diesen wider in den text auf und ergänzte das zweite reim-
paar. Die lesart in W dienen immer mere \ den du bist lobe-
beere kann nun freilich direct durch Streichung aus s hervor-
gehen. Es entspricht aber nicht der strenge, mit der sonst
W sich an seine vorläge hält, eigenmächtig eine solche ände-
rung vorzunehmen. Den ausschlag gab wol doch erst das
beispiel von G, wo der vers hie endet sich dae mcere, der ja
wol in erster linie anstoss erregte, ebenfalls beseitigt war.
Die Görlitzer fragmente r stimmen im einzelnen teils
zu s gegen G, so v. 4049 1 (3829 f.), teils zu G gegen s v. 3694.
8726 (3476. 3508); aber stets gehen sie dabei hand in hand
mit W, so auch im schluss von Lucius und Karins bericht.
Sie können deshalb vielleicht als reste eines zweiten exemplars
des compilationswerks betrachtet werden. Vielleicht liegt die
Sache aber auch so, dass der compilator von W gar nicht
zwei hss. des Ev. Nie. vor sich hatte, sondern eben die hs.,
deren Überreste r darstellen. Bei dem geringen umfang der
fragmente ist dies nicht zu entscheiden. Sicherheit könnten
wir aber, auch wenn von F mehr erhalten wäre, nur be-
komme^, wenn wir uns durch den augenschein überzeugen
könnten, ob nicht F jünger als W ist. Diese möglichkeit ist
uns durch den vertust von F benommen.
Die hs. welche Heinrich von München (m) benutzte, ge-
hörte ebenfalls zu zK Dies ist dadurch erwiesen, dass in
V. 4651 (4433) der fehler da hiez er vaste schrien mit ab-
geschrieben ist.
Dass Heinrich von München und nicht Hesler das plagiat
begangen, bedarf keines weiteren nachweises.
n. z^ und M.
Die Münchener fragmente zeigen mit G eine reihe gemein-
samer lesarten, vor allem aber haben sie mit Gs die plusverse
nach 4238 (4018) gemeinsam. Das original hatte dort 4237 f.
er tete daz in der Jcaiser hies \ der wind in über mere stiez.
Diesen ungewöhnlichen ausdruck umschreibt GMs breiter an
dass mer er sich geliez \ der wind in über fuorte; \ alz er daz
stat ruorte \ ze Ackirs . . . (vgl. auch Amersbach 1, 5). Als eine
hs. der gruppe z^ ist aber deshalb M doch nicht zu betrachten;
110 HELM
dem widerspricht, dass sie doch in manchen einzelheiten dem
original näher steht; v. 4351 (4133) hat sie wol (als einzige
hs.) die ursprüngliche lesart verchviant beibehalten (G verch-
hunt : S rechte viant). Ausserdem ist ihr Charakter nicht wie
der aller anderen hss. der gruppe z^ oberdeutsch, sondern md.
Ich setze sie deshalb mit z» auf gleiche stufe und nehme an,
dass sie eine abschrift (und zwar die bessere) einer auch z*
zu gründe liegenden hs. z ist. Es ist natürlich möglich, dass
die eine oder andere der für z* festgestellten änderungen be-
reits in z stand, doch lässt sich dies des geringen umfanges
von M wegen nicht feststellen. Im allgemeinen ist übrigens
gewis z von änderungen noch frei geblieben.
B. Die hauptgruppe y.
Hierher gehören SEK. Von der grössten bedeutung für
die begründung dieser Zusammengehörigkeit sind die verse 1847
—1884 (1845—82), die in S nach v. 2242 (2034) stehen.t) Was
Wülcker (a.a.O. s. 47anm. 118) hierüber sagt, ist unrichtig;
denn erstens ändert nicht s gegen G und S, wie dort angegeben
ist, sondern GspW stimmen gegen S überein. Zweitens steht
nirgends die erzählung von Longinus nach der von den
beiden schachern, sondern in allen hss. unmittelbar davor, wie
in der quelle Gesta gruppe D cap. 10 (s. unten), abweichend
von der biblischen reihenfolge. Die änderung in S besteht
nun darin, dass die ganze partie (also beide episoden) aus dem
Zusammenhang gerissen und später eingefügt werden, nachdem
schon vorher v. 2191 (1983) Christi tod berichtet wui-de. Der
grund der Umstellung ist klar: dem Schreiber fiel ein, dass in
der bibel die Longinusepisode erst nach Christi tod steht: diese
reihenfolge wollte er herstellen, und dabei geriet auch die
episode von den beiden schachern am kreuze an die falsche
stelle. Dass der Verfasser aber mit absieht Longinus bereits
vor Christi tod einführt, beweist v. 1848 (1846) sines todes was
im ger. In diesem sinne fasste das mittelalter den sperstich
überhaupt oft auf, so auch der dichter der Erlösung, der ihn
zwar nach Christi tod berichtet, aber ihn glaubt dadurch er-
klären zu müssen, dass er sagt (v. 4920 ff.), Longinus habe
^) Enthaltend die episode von Longinus und von den beiden schächenu
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 111
geglaubt Christus lebe noch und habe seinen tod beschleunigen
wollen (vgl. Walther von der Vogelweide 37, 14). Man war also
weit entfernt von irgend einer symbolischen auffassung der
handlung.
Dieser Umstellung gegenüber erhebt sich nun die frage, ob
sie auf rechnung von S selbst oder einer vorläge kommt ; und
im engsten Zusammenhang damit steht die frage nach der
Stellung der hs. E. Wir haben oben gesehen, dass dieser
zwischen v. 1816 (1814) und 3195 (2983) gegen den bestand
von S 38 verse fehlen, d. h. gerade so viel als in S umgestellt
sind. Es ist kaum anders denkbar, als dass dies dieselben
verse sind.^)
Dann ist aber ein Zusammenhang zwischen ihrem fehlen
in E und der Umstellung in S kaum von der band zu weisen ;
namentlich da in beiden hss. die episode von den schachern
mit der Longinusepisode das gleiche Schicksal hat, obwol eine
innere beziehung zwischen beiden nicht besteht. Man wird
sich die sache wol so vorstellen können, dass die vorläge y,
auf die also auch E zurückgehen muss, die verse noch an der
richtigen stelle hatte, aber mit einem verweis, dass sie an
eine spätere zu setzen seien; dies führte S aus, E hatte die-
selbe absieht, übersah aber später die stelle, auf die hin-
gewiesen war.
Amersbach aber hat E, das er allerdings nur nach den
Berliner fragmenten kannte, eine andere stelle angewiesen auf
grund von plusversen die es mit GSt gemeinsam habe. Es
sind dies die verse 3213 f. (2999 f.). Die stelle lautet:
also wurden die sele von dem alten schimele
adam vnde abele der hitze und des vrostes
ynd al den sunden meligen des swartzen beches rostes
gelich den vil seligen gewaschen und gereinet,
heiligen da zehimele
*) Eine andere geschlossene partie von 38 versen ist v. 2205 — ^2242
(1997 — 2034), wo zwischen tod und begräbnis Jesu eingeschoben wird, wie
der teufel sich als tiberwunden erkennt und in der hölle verbirgt. Dies
gehört scheinbar nicht hierher, ist aber in v. 2214 — 16 (2006 — 8) doch so
gut motiviert, dass einem Schreiber, der nicht ganz willkürlich verfuhr,
kein grund gegeben war, die partie zu streichen. Bei der gute der hs. E
ist übrigens gar nicht daran zu denken, dass deren Schreiber selbst verse
absichtlich zugesetzt oder ausgelassen hätte.
112 HELM
Es ist klar, dass unter dem alten schimmel zunächst jedenfalls
die Sündenflecke verstanden werden können, und es lag deshalb
nahe, die beiden verse als misglückten erklärungsversuch eines
Schreibers anzusehen, der das nicht mehr verstand. Dem wider-
spricht aber, dass die verse ganz den stil Heslers verraten, und
zwar einen der markantesten züge: die Zusammenstellung von
gegensätzen in einen vers, vgl. 3355 (3139) an vrost und an
hiUe, Auch die fortführung der aufzählung in einem zweiten
vers ist ganz der diction Heslers angemessen, der eine gewisse
fülle des ausdrucks liebt. Der dichter hat also offenbar selbst
schimel als den schmutz der hölle gefasst, der denjenigen an-
haftet, die so lange sich dort gehdmet haben.
Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei zwei anderen
versen, die in E zwar nicht überliefert sind, aber auf grund
des umf anges ^) der spalten ihm zugeschrieben werden müssen,
und die in S fehlen; v. 3301 f. (3087 f.) in folgender stelle:
der arge rouk des nebeles da warp ein wint enzvschen
des piches vnd des swebeles den seien vnd den geisten
zu gienc die für irluschen, den minsteu vnd den meisten.
Auch hier ist ganz durchsichtig, wie S dazu kommen konnte,
die beiden verse auszulassen. Auch ohne sie geben die vorher-
gehenden einen klaren sinn: ein wind erhob sich inmitten des
rauches und nebeis und vertreibt sie; ja es konnte so scheinen,
als brächten die letzten beiden verse ein gar nicht hierher-
gehöriges motiv: die Scheidung der seelen in zwei gruppen
gewaltsam und störend hinzu. Dies war wol die Überlegung
des Schreibers von S. Damit ist aber in die verse ein sinn
hineingedeutet worden, der ihnen sicher nicht zukommt; es
soll nicht eine Scheidung der seelen angedeutet, sondern
nur gesagt werden, dass sich nun an stelle der hitze und des
rauches ein frischer wind mitten unter allen seelen und geistern
ohne unterschied woltätig erhob. Den ausschlag dafür gibt
auch hier wider die schon oben besprochene für Hesler cha-
rakteristische ausdrucksweise. Man vergleiche zu dieser stelle
noch speciell aus der Apokalypse (Danziger hs.) folgende verse:
auf 85 c den besseren noch den hosten \ den nidersten noch den
hosten, 86 b der liberen und der unmersten, 93 c die minneren
^) Die betr. spalte hätte sonst nur 39 verse.
HBIINBICB HESLEBS £VAKGELIUM NICODEML 113
und die meren, 1 a (v. 19) du wurde nie minner noch merer,
echtiger, wiser noch herer, \ nie zorniger, nie haz gemut, \ wen
du hist immer gliche gut (weiteres über parallelen zwischen
Ev. Nie. und der Apokalypse s. unten).
Die abweichungen die S vom originale zeigt, sind nament-
lich eine reihe fehlender verse. V. 1581 f. als ursprünglich er-
wiesen durch K und z». — V. 3213 f. als ursprünglich erwiesen
durch E und z«, dazu treten noch folgende verse, die wir dem
versbestand nach für E ansetzen müssen (vgl. oben) und die
dann ebenfalls gesichert sind: 1875 f. (1873 f.). 1891 f. (18891).
2329 f. (2221 f.). 2649 f. (2441 f.). 2797—2800 (2589—2593).
3301 f. (3087 f.). 3563 f. (3347 f.). Bei allen diesen (vgl. spe-
ciell V. 3301 f.) kommt hinzu, dass sie inhaltlich und formell
keinen grund zu bedenken geben; dasselbe gilt von v. 4887 f.
(4669 f.), der durch E nicht gestützt werden kann, da dieses
nicht so weit reicht. V. 4751 f. (4533 f.) ist deshalb unbedingt
nötig, weil sich sie in v. 4753 auf v. 4751 bezieht. Directer ist
die ui-sprünglichkeit folgender verse zu erweisen. V. 3543 f.
(3327 f.) du nimest unser missetat und tust unser sunden rat
Sie sind gesichert durch die quelle Desc. 8 Quis deus sicut tu,
auferens iniquitates et transgrediens peccata . . , absolvis
omnes iniquitates nostras et omnia peccata nostra demer-
sisti. V. 4947 f. (4729 f.) (hat uch erloset Jesus Crist) von den
geisten bösen, so soldet ir in ouch losen (von disen unreinen
geisten). Das überspringen der verse wird durch die grosse
ähnlichkeit zwischen v. 4947 und 4949 leicht erklärt.
Aenderungen im ausdruck in S sind sicher folgende.
V. 1796 (1794) Sit sazte dar an Pilate \ den virten ort mit rate,
S schreibt so drate. Der sinn ist aber: Pilatus setzte an das
wie ein T gebildete kreuz das vierte ende mit rate, d.h. mit
der absieht die Inschrift anzubringen. — V. 2983 (2771) ist in
S verdorben. — V. 3368 (3152) steht das wort disem ^Sauerteig'
in GW und ausserdem in E (s. unten); es gehörte jedenfalls
dem original an und wurde von S nicht verstanden. — V. 4494
(4276) ein hild und eine frouwen von S geändert in da von
din suche sal ruowen. Der folgende vers daz also Jesus ist
gestalt schwebt aber in der luft, wenn nicht wirklich das bild
vorher erwähnt wird.
Endlich ist die aufzählung der kaiser v. 4598 (4380 ff.) zu
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 3
114 fiELM
beachten. S hat hier die historische reihenfolge, z* und E
nicht. Letzteres ist gewis das richtige. Verleitet wurde der
Verfasser zu der falschen aufzählung durch seine quelle, die
Veronicalegende in der Version D (s. unten), wo Claudius als
directer nachf olger des Tiberius erscheint : Tiberius cum guter-
naret imperium et Claudium in successipnem reipublicae elegisset;
auch später wird Claudius als nachf olger des Tiberius genannt;
auf ihn folgt dann direct Nero. Der Schreiber von S kannte
die geschichtlichen tatsachen und wollte den text bessern. Er
kommt dabei übrigens zu einem bedenklichen flickvers und
einem reim der bei unserem dichter ganz undenkbar ist: Gaius
wart do \ kaiser der auch hiez \ Galigola daz man wol weiz,
endlich zu dem ebenso unmöglichen versungeheuer nach im
wart Galha Otho, Vitellius.
Zur gruppe y stelle ich sodann noch das fragment K, das
mit S fast genau wörtlich übereinstimmt. Es wäre darnach
wol denkbar, wenn auch nicht wahrscheinlich, dass S eine
abschrift von K wäre.
Schwer zu entscheiden ist die frage, ob v. 1603 als beleg
für Zusammengehörigkeit von S und K geltend gemacht werden
kann. Beide hss. schreiben hier daz ir zu den bergen sprechet
vnd zu den houmen allen, während Gsp buheln statt houmen
lesen. Zu gründe liegt Luc. 23, 30 *dann werden sie anfangen
und sagen zu den bergen: fallet über uns! und zu den hügeln:
decket uns' (vgl. Hosea 10, 8). Es erscheint darnach zunächst
als die selbstverständliche lösung die annähme, dass y den
ausdruck buhel, den es nicht verstand, änderte. Dem gegen-
über ist nun aber wichtig, dass in der Apokalypse *) dieselben
verse stehen, wo erzählt ^ird, wie die menschen vor gottes
räche fliehen und zu den bergen sprechen und zu den bäumen
allen : \ mugit ir uns bevdllen nach Off enb. Joh. 6, 16. Für die
Apokalypse ist eine andere lesart nicht überliefert. Dies zu-
sammentreffen ist äusserst merkwürdig. Fänden wir in S
irgend ein anderes wort für hügel und dasselbe auch in der
Apokalypse, so brauchten wir an einen Zusammenhang gar
nicht zu denken. Aber die änderung boumen ist gegenüber
dem jedermann geläufigen bibeltext so auffallend, dass wir
1) Danz. hs. bl. 93 b.
HEnmiCH HEHLERS EVAKGELIÜM KtCODEMl. 115
nicht annehmen können, zwei leute hätten dieselbe unabhängig
von einander getroffen. Wir könnten boumen also als un ur-
sprünglich nur dann ansehen, wenn wir annehmen wollten,
dass die hss. der Apokalypse auf eine gemeinsame vorläge
zurückgehen, die von demselben Schreiber herrühre wie y.
Möglich ist dies ja sehr wol, aber doch immer zweifelhaft.
Man wird darnach die lesart boumen doch eher dem original
zuerkennen. Die auffallende differenz gegen die quelle kann
ihren grund darin haben, dass den dichter der pleonasmus
der sich dort findet, störte, während z» dann in erinnerung an
die bibel die stelle änderte. Diese auffassung empfiehlt sich
auch deshalb, weil buhel, wie z* liest, gewis in keinem fall
ursprünglich sein kann, da es wesentlich auf Oberdeutschland
beschränkt ist; nur im hessischen wird es noch von Vilmar
belegt.
Am Verhältnis zwischen S und K wird dadui'ch nichts
geändert.
Die gruppe y verdient vor der gruppe z, jedenfalls aber
vor 'der gruppe z* weitaus den vorzug; Gps sind reich an
änderungen und entstellungen jeder art. M steht dagegen im
werte den hss. der gruppe y wol gleich. Unter diesen sind
wider die besten K und E, während bei S die kritik, mit der
der Schreiber seiner arbeit gegenüber steht (vgl. die kaiser-
aufzählung u. a.), die getreue widergabe da und dort beeinträch-
tigt hat. Unter den nicht fragmentarischen hss. bleibt S aber
durchaus die beste, auch sprachlich ist sie die wichtigste
(s. oben). Für die textkritik gilt demnach: 1) differieren y
und z ganz, so ist in der regel die lesart von y die richtige;
— 2) stimmt irgend eine hs. von z zu y, oder irgend eine hs.
von y zu z, so ist die lesart dadurch gesichert; — 3) stimmt
je eine hs. von z und eine von y zusammen, während die
übrigen hss. alle differieren, so ist ebenfalls dadurch die lesart
gesichert (hier sind fälle zufälligen Zusammentreffens jedoch
leicht mögUch); — 4) für die partien bis 436 und 573—1412,
welche in S fehlen, hat G so viel gewicht als p und s zusammen.
Aber auch wenn p oder s zu G stimmt, ist der Wortlaut des
Originals nicht mit voller Sicherheit gegeben. Es kann hier
nötig sein, gegen die erhaltene Überlieferung zu conjicieren.
W und T entbehren textkritisch jeglicher bedeutung.
8*
116 HELM
Zu den willkürlichen änderungen von G (z^?) gehört auch
die kürzung der schlusspartie, die in dieser fassung nicht be-
friedigt; es ist nicht anzunehmen, dass der dichter mit einem
so nebensächlichen motiv plötzlich sollte abgebrochen haben :
von got han sie {die Juden) sich gevirret
und sind im gar nnmsere;
SOS endet sich daz msere.
Dagegen erscheint der schluss in S, der sich an die leser selbst
wendet, ganz angemessen, und die ganze partie ist in S präciser
und logischer. Ausserdem haben die nur in S stehenden partien
gerade so bestimmt den Charakter des Heslerschen stils, dass
sie nicht als zusätze aufgefasst werden können. Man vgl. den
reim 5127 tusent : u sint mit Apokalypse 77b v. 5219 mit 3755.
4741; V. 5302 mit 1951. Endlich beachte man v. 5382 an der
wite und an der lenge, an der hohe und an der nidere und 5386
an der smele und an der tufe, an der lenge und an der hurte.
Die änderung geschah wol so, dass in G ebenso wie die
schwierige partie 1959 — 2164, so hier v. 5085 — 5132 und 5151
— 5240 gestrichen wurden und im anschluss daran dann erst
die Umstellung der partien 5065—84 (4863—82) und 5133—50
(4845 — 62) vorgenommen wurde.
Schwieriger könnte die frage erscheinen, ob der prolog
V. 1 — 368 dem original angehört. Ueberliefert ist er nur in G,
dagegen fehlte er aller Wahrscheinlichkeit nach in S. Ob E
ihn enthielt, konnten wir nicht entscheiden. Es ist jedoch
kein zweifei, dass er ursprünglich ist; denn abgesehen davon
dass diese einführungsweise weit eher der gepflogenheit der
mhd. dichter, und auch Heslers, entspricht, als die unmittelbare
aufnähme des themas, so verleugnet sich auch hier die für
Hesler charakteristische diction nicht, die uns schon zur ent-
scheidung über andere fragliche stellen verholfen hat. Man
vgl. folgende parallelen: v. 1. 5 = 1699. 4125. 4135 do got der
werlde hegan\ v. 143 an siner hohen maiestat, \ daz was ein vor
vorborgen rat entspr. 3375 . . . siner hohen maiestat, \ daz was
ein nach geraten rat; 359 und geruch mich begnaden \ in dinen
hohen graden entspr. 3399 u. a.
In G, das mit v. 5270 (4912) schliesst, folgt endlich im
umfang von 212 versen noch das gleichnis von Lazarus und
dem reichen mann. Dass dies unursprünglich ist, bedarf keines
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 117
beweisest inhaltlich passt es nicht hierher und formell hat es
einen wesentlich anderen Charakter. Dass dieser zusatz aber
nicht erst in G antrat, sondern schon in der vorläge stand,
hat bereits Amersbach mit recht aus der spräche gefolgert.
Es ist aber nicht nötig, mit ihm anzunehmen, dass dieser
vorläge wider eine andere zu gründe lag, welche bereits mit
4270 schloss, aber die legende noch nicht enthielt. Ich glaube
bestimmt, dass in z der schluss noch intact war, und möchte
zwischen z und z» kein weiteres glied einfügen; die verhältnis-
mässig kurze zeit, welche zwischen dem original und G liegt,
scheint mir dies zu verbieten. Es ist aber sehr wol denkbar,
dass der Schreiber von z^ mit 5270 schloss — einerlei aus
welchem gründe — und dann das gedieht von Lazarus, das
vielleicht schon in z als selbständiges gedieht stand, daran
anschloss, indem er wol glaubte, damit einen wirkungsvollen
schluss zu erzielen.
II. Die quellen.
1. Die kanonischen evangelien und das Ev. Nioodemi.
In V. 369— 372 nennt der dichter selbst als seine gewährs-
männer die vier evangelisten und Nicodemus, der den unvoll-
ständigen bericht jener ergänzt habe, und erzählt dessen
bekehrung kurz nach Joh. 3, 1 ff.
Diese gleichzeitige benutzung der kanonischen und apo-
kryphischen quelle teilt unser gedieht mit den meisten mittel-
alterlichen werken, die sich an Nie. anschliessen; vgl. R. P.
Wülcker a.a.O. s. 4 und passim.
Wir müssen und können natürlich für unseren zweck
vollkommen absehen von all den controversen, die sich erhoben
haben in der beantwortung der frage, wann und wie die unter
dem namen eines Ev. Nie. bekannte schrift entstanden ist; zur
Orientierung sei verwiesen auf C. Tischendorf, Evangelia
apocrypha^, Leipz. 1876, R. A. Lipsius, Die Pilatusakten kri-
tisch untersucht, und auf die Zusammenstellung bei Wülcker
s. 1 ff. Für uns wichtig ist folgendes. Das Ev. Nie. zerfällt
in zwei teile: I. Gesta Pilati von der klage der Juden gegen
Jesus bis zur auferstehung, und IL Descensus Christi ad
inferos, den bericht über die höllenfahrt Christi.
118 HELM
Die Gesta sind in ihrer lat. fassung im wesentlichen nur
in einer recension überliefert (= der griech. recension A); nur
eine gruppe von hss., D, wozu sich auch der älteste druck
(Hain, Repertorium bibliographicum no. 11749) stellt, weicht
in einigen nicht unwesentlichen punkten davon ab. Dieser
gruppe D gehörte das unserm dichter vorliegende exemplar
der Gesta an. Der text findet sich bei Tischendorf s. 333 ff.,
die abweichungen von D in den anmerkungen.
Der Descensus ist in zwei lat. bearbeitungen, A und B,
erhalten,*) unserem gedichte liegt A zu gründe. Den text s.
bei Tischendorf s. 389 ff.
In den anfangspartien wiegen die kanonischen evangelien
als quelle weitaus vor. Nur ganz kurz wird v. 393 — 425 nach
Gesta 1, 1 die klage der pharisäer vor Pilatus, aber ohne den
klagegrund, berichtet; schon hier ist v. 414 — 416 = Joh. 18, 14,
und im folgenden schliesst sich der dichter ganz an die bib-
lische erzählung an, wobei es im einzelnen oft unmöglich ist,
anzugeben, welchem evangelium er folgt.
V.426 — 456 die fusswaschung nach Joh. 13, 4 — 9 und 12 — 15.
— V. 457 — 486 einsetzung des abendmahls und hinweis auf den
verrat in anderer reihenfolge als in Matth. (26, 21 und 26) und
Marc. (14, 18. 22) nach Lucas 22, 19. 21. — V. 487—505 Judas
bietet sich den Juden als Verräter an nach Matth. 26, 14 f. —
V. 506 — 519 Prophezeiung von Petri Verleugnung.
V. 520 — 556 anschliessend an Luc. 22, 35 ff. ein excurs über
das geistliche und weltliche schwert. Was darüber ausgeführt
wird, entspricht im wesentlichen dem wie die kaiserliche partei
im mittelalter den satz auffasste, wonach beide Schwerter direct
von gott gegeben und gleichberechtigt seien, wie die frage
auch im Sachsenspiegel und in der glosse dazu dargestellt wird
(vgl. W. Grimm, Vridankes bescheidenheit s. Lvn, wo sich auch
die weitere literatur über diesen punkt findet). Eine eigene
Stellung scheint jedoch der Verfasser, soweit aus seiner nicht
ganz klaren ausdrucksweise hervorgeht, darin einzunehmen,
dass er das weltliche schwert dem Petrus, das geistliche dem
Johannes zuteilt: eine auffassung welche durch das verhalten
*) Vgl. die gegenübersteUung bei Wülcker a. a. o. s. 4 ff.
HEIKBICH HESLEB8 EVANGELIUM NICODEMI. 119
Petri bei der gefangennähme wol gestützt werden konnte, aber
anderweitig nicht belegt ist.
V. 557 — 599 Christi gebet in Gethsemane. Mehrere einzel-
heiten nach Luc. (22, 39 — 46), spec. 570 eines wurfes vort =
Luc. V. 41. V. 583 der blutige schweiss nach Luc. v. 44. Da-
gegen berichten von einem dreimaligen gebet nur Matthaeus
und Marcus. — V. 600 — 608 die gefangennähme nach den
Synoptikern.
V. 609 — 623 Petrus und Malchus. Contaminiert nach den
vier evangelien. Die namen stehen nur bei Joh., die heilung
des Ohres nui* bei Luc, die aufforderung, das schwert einzu-
stecken, bei Matth. und Joh., die zwölf legionen der engel nur
bei Matth. — V. 624—627 und 654—680 die Verleugnung Petri
wie in Matth. und Luc. Dazwischen steht v. 628 — 642 Christi
Schmähung durch die kriegsknechte, und v. 643 — 653 ein hin-
weis auf die durch Christi leiden erfüllte Weissagung Jes. 53, 7,
vielleicht geschrieben in erinnerung an Act. 8, 30.
Die art wie der dichter die evangelien benutzt, zeigt dass
er nach möglichster Vollständigkeit strebte. Da nicht biblisches
abgesehen von dem excurs über die zwei Schwerter nicht vor-
kommt, und ausserdem seine eigenen worte direct die evange-
lien als quelle nennen, so ist ausgeschlossen, dass der Verfasser
hier irgend welche weiteren quellen benutzte. In einzelnen
Partien schliesst er sich — das geschieht aber auch im folgen-
den — wol oft an bestimmte formein an, in denen damals die
heilsgeschichte offenbar ziemlich genau fixiert war. ») Aus dem
zusammentreffen im Wortlaut einzelner verse mit solchen ver-
wanter dichtungen kann deshalb durchaus nicht auf directe
beeinflussung geschlossen werden.
V. 681 — 726. Gegen den bericht der evangelien wird nun
der des Nicodemus gestellt, damit die darstellung der Gesta
aufgenommen und die klage der Juden vor Pilatus nochmals
gebracht. Es ergibt sich dadurch ein Widerspruch mit der
bisherigen darstellung, da die Vorladung Jesu, wie sie in den
Gesta steht, doch voraussetzt, dass dieser noch frei ist.
V. 727—768 ausführung der klage nach Gesta 1, 1—2. Die
*) Für ähnliche Verhältnisse des prosaischen bibeltextes des 15.jli-*s
vgl. auch Merzdorf, Die deutschen historienbibeln des mittelalters s. 4.
120 HELM
dort stehende einwendung des Pilatus, wie er denn als praeses
einen rex vorladen könne, ist ausgelassen. Jesus heisst hier
der son des smides = filius fabri, der zusatz lignarii konnte
also nicht in der vorläge stehen.
V. 769 — 920 zweimalige ladung Christi und das fahnen-
wunder = Gesta 1, 2 — 6. V. 837 — 857 ist eine ausführliche
motivierung der anwesenheit der fahnen eingeschoben. —
V. 921 — 940 Procula spricht für Jesus = Gesta 2, 1. Der name
nur in D (vgl. Wülcker s. 47). — V. 952—1004 die Juden be-
zweifeln Christi eheliche geburt, die von den zwölf männem
bezeugt wird, = Gesta 2, 3. 4. Ein name (Jacobus) fehlt
bei uns.
Während nun im Gesta 2, 5 Caiphas sich darauf beschränkt,
die Ungerechtigkeit hervorzuheben, dass man zwölf männem
glaube, aber der aussage des ganzen Volkes nicht, bringen bei
uns die Juden neue anklagepunkte vor (v. 1005 — 1019).
V. 1020 — 1156 Pilatus bespricht sich mit den zwölf männem,
weigert sich Christus zu töten, verhört ihn unter vier äugen.
Erneute Weigerung und erneute klage der Juden. Pilatus ver-
sucht vergeblich die ältesten der Juden umzustimmen; Jesus
weist auf die propheten hin, die seine marter geweissagt hätten;
Pilatus will die Juden bewegen, selbst zu richten, und erblickt
die weinenden unter der menge, = Gesta 2, 5 bis 4, 5 (der schluss
von 4,5 ist ausgelassen).
V. 1157 — 1267 Nicodemus verteidigt Christus, weshalb die
Juden ihm zürnen (Gesta 5, 1. 2), weitere zeugen treten auf =
Gesta 6, 1. 2 und 7. 8, doch fehlen dort der taube und der stumme
und auch Lazarus tritt nicht selbst auf, sondern es wird nur
von ihm berichtet.
V. 1268 — 76 die Juden sinnen auf neue anschlage. Frei.
V. 1277 — 1414 Pilatus bespricht sich mit Nicodemus und
den zwölf männern, stellt den Juden die wähl zwischen Jesus
und Barrabas frei; diese drohen ihm, er sei nicht des kaisers
freund (nach Joh. 19). Pilatus tadelt die Juden scharf; Caiphas
erzählt von den drei königen und dem kindermord (Gesta
9, 1—3).
V. 1415 — 20 Pilatus schickt Jesus zu Herodes (Gesta 9, 4,
aber nur in D). — V. 1421 — 39 Herodes versucht vergeblich
Jesus zu verhören, = Luc. 23, 8—12. — V. 1440—92 letztes
HEINBIGH HESLEBS EVANGELroM NICODEMI. 121
verhör vor Pilatus und urteil nach den verschiedenen evan-
gelien (Joh. 19, 9 — 11. Luc. 23, 22 u. a.), das urteil selbst auch
Gesta 9, 5. — V. 1493 — 1521 Christi krönung nach den evan-
gelien. — V. 1522 — 31 Pilatus wäscht seine hände; die Juden
nehmen alle schuld auf sich, = Gesta 9, 4 (auch Math. 27, 24 f.).
— V. 1532 — 39 verweis auf die worte Jesaias 'sie hassen mich
ohne schuld'. — V. 1540 — 70 Judas' tod und kauf der begräbnis-
stätte, Matth. 27, 3—9. — V. 1571—1604 gang nach Golgatha
nach den Synoptikern, die weinenden frauen nur bei Luc.
(23, 28—30).
V. 1605 — 29 die kriegsknechte werfen das los um den rock;
im engen anschluss an Joh. 19, 23. 24 mit beziehung auf Psalm
22, 19. Die losung steht jedoch bei uns vor, in der bibel nach
der kreuzigung.
V. 1630 — 1768 eine hinweisung auf die Prophezeiung Micha
6, 3 f. und ausführliche betrachtung über die Sendung Christi.
V. 1769—1802 (1767—1800) die kreuzigung, die Inschrift
am kreuze, letztere Gesta 10, 1 schluss, aber auch Luc. 23, 38.
Joh. 19, 19 f. Bei Matth. und Marc, findet sich von der drei-
sprachigkeit nichts. Das kreuz ist nach der ansieht unseres
dichters der bäum des lebens, der in gestalt eines griechischen T
gewachsen war, die sogenannte crux commissa (oder Antonius-
kreuz), dasselbe schrieben die Juden in Aegypten an ihre türen.
In dieser gestalt erscheint das kreuz bereits in den alten kirch-
lichen Schriften (z. b. Barrabas, Ep. c. 9. TertuUian, Adv. Marc.
3, 22). Es handelt sich dabei auch nicht nur um eine ungefähre
ähnlichkeit, wie übereinstimmend Wetzer- Weites Kirchenlexikon
und die Realencyklopädie für protestantische theologie angeben.
Petrus Comestor (Migne, Patrol. lat. 198, 1630) sagt vielmehr
ausdrücklich crux autem non hdbebat super lignum transversum
aliquid, hahens formam Tau. Pilatus setzt mit der Inschrift
erst das vierte ende an. Die darstellung Comestors war wol
für die weite Verbreitung dieser annähme ausschlaggebend (vgl.
auch Frauenlob spruch 234, 16 und im kreuzesleich 8, 15).
V. 1803—33 (1801—31) die kreuzigung der Schacher deren
namen aus Gesta 10, 1 stammen. — V. 1833 — 46 (1831 — 44) die
Juden reichen Jesus wein mit myrrhen (Marc. 15, 23) und ver-
spotten ihn (Matth. 27, 40. 42), letzteres auch Gesta 10, 1. —
V. J 847— 84 (1845—82) die episode von Longinus und die reden
122 HELM
der beiden scMcher in der reihenfolge wie sie GtestalO,! gruppeD
enthält (vgl. oben).») — V. 1885— 1904 (1883—1902) Johannes
und die frauen am kreuze (Joh. 19, 25 -27). — V. 1905—1915
(1903 — 13) Jesus senkt sein haupt nieder; dabei verweis auf
Matth.8, 20 *des menschen söhn hat nicht da er sein haupt
hinlege'.
V. 1916—25 (1914—23) nach Joh. 19, 28—30 die beiden
Worte *mich dürstet' und *es ist vollbracht', darnach aber noch
nicht der tod, sondern noch weitere worte, nämlich — : V. 1925
—1932 (1924 -30) wol nach Gesta 10, 1, wo die gruppe D mit
Matth. 27, 46 und Marc. 15, 34 übereinstimmt, die worte eli, eli
lama, woran sich in v. 1933 — 2167 ein grosser excurs über deren
bedeutung anknüpft (vgl. unten).
V. 2167— 80 (1960—72) folgt nun eine bemerkung über
das Verhältnis der evangelisten unter einander:
daz hat gesprochen Marke die sprechen beidesamt enein,
und sin genoz Mattheus, sie zwei gegen disen zwein.
Lucas und Nicodemus
Man darf diese worte nicht nur auf die gerade vorhergehende
stelle beziehen, sondern auf das vorhergehende und nachfolgende
2181 — 2191. Während nämlich Matth. und Marcus nur die bis
V. 1930 erzählten worte berichten, folgt bei Lucas und Nicodemus
das wort Water in deine bände' u.s.w., das sich bei uns im
hebräischen Wortlaut nach Gesta 11, 1 gruppe D (Tischendorf
s. 363 via alabi hoc fricole) und dann übertragen nach Luc. 23, 46
findet (v. 2187 — 90); Johannes aber sagt der dichter hat dise
rede verswigen, d. h. sowol dieses wie die vorhergehenden worte.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die differenzen der evan-
gelien und die auch sonst oft hervortretende Übereinstimmung
zwischen Lucas und Nicodemus richtig erkannt ist.
V. 2192—2207 (1984—99) die zeichen bei Jesu tod nach
Matth., während die anderen evangelien sie nur zum teü
melden. Gesta 11, 1 stehen alle ausser dem erdbeben, zum teil
nur in D, jedoch vor dem tod.
V. 2208— 42 (2000—34) nehmen aus dem späteren hier
den schreck des Satans voraus, der sich in der hölle verbirgt.
0 Davon dass Longinus durch das blut von der blindheit geheilt wird,
steht bei uns so wenig etwas als in den Gesta. Wülckers gegenteilige an-
gäbe (a. a. 0. s. 47) ist irrig.
HEINRICH HESLEBS EVANGELIUM NICODEMI. 123
Ausgelassen ist bei uns die Wirkung dieser zeichen und
die erklärung der Juden, es handle sich um eine ganz ordnungs-
gemässe Sonnenfinsternis (Gesta 11, 1. 2).
V. 2243—68 (2035—60) begräbnis nach den evangelien
und Gest. 11, 3. Von da ab ist die reihenfolge der erzählung
bei uns wesentlich geändert. Es folgt zunächst 2269—92 (2061
— 2084) die bewachung des grabes nach Matth. 27, 63—66 (in
den Gesta anders dargestellt), dann 2293—2334 (2085—2126)
Josephs von Arimathia gefangennähme nach Gesta 12, 1.
Gesta 12, 2 und 13, 1 folgt jetzt die beratung über Josephs
tod; als derselbe vorgeführt werden soll, findet sich das ge-
fängnis leer; gleichzeitig melden die Wächter Christi auf-
erstehung. Bei uns gehen die Juden am dritten tag zum
grab, finden es leer, und die Wächter erzählen nach Gesta 13,
1. 2 den hergang v. 2335—79 (2127—71); der gang der frauen
zum grabe fehlt.
V. 2380— 2415 (2172—2207) Wortwechsel der Juden und
der Wächter nach Gesta 13, 2. Jetzt erst suchen die Juden, die
doch schon behauptet haben, Joseph sei in Arimathia, diesen,
V. 2416—33 (2208—25).
V. 2434—51 (2226—43) die Wächter werden bestochen aus-
zusagen, Christus sei ihnen gestohlen worden, = Gesta 13, 3
(vgl. Matth. 28, 12—15).
V. 2452— 75 (2244—2267) Abda, Finees und Levi be-
richten von Jesus und werden von sieben männern in die
ferne (Gesta: nach Galiläa) geführt (Gesta 14, 1. 2); diese sollen
Jesus suchen. Nicodemus rät Joseph zu holen, der in den
Gestis 15, 1 bei der suche nach Jesus zufällig gefunden wird.
Die Juden schicken einen brief an Joseph (Gesta 15, 2. 3), wel-
cher kommt und von Nicodemus beherbergt wird (Gesta 15, 4).
V. 2476— 2703 (2268—2495) Joseph wird nach Jesus befragt
(in den Gesta 15, 4 nur nach seinen eigenen Schicksalen), be-
richtet seine befreiung (Gesta 15, 5), dann mit erheblicher ab-
weichung von dem Inhalt der Gesta die himmelf ahrt (Act. Apost.
cap. 1); Finees, Levi und Abda, von denen wir annehmen müssen,
sie seien mit Joseph zurückgekehrt (Gesta 16, 2 werden sie erst
selbst wider um geholt), bestätigen seine angaben. Die Juden
äussern bedenken, die mit hinweis auf Elias und Enoch be-
kämpft werden, dies anschliessend an die viel breitere aus-
124 HELM
führung Gesta 16, 3. 4. Der name Elias steht widerum nur in D,
daneben erscheint dort als dritter noch Moses.
V. 2704— 49 (2496-2541) mit Josephs erzählung von Leucius
und Karin wird der Desc. (1, 1) quelle.
V. 2750—2844 (2542—2634) die Juden lassen die beiden
holen (Desc. 1, 2), bitten sie um auskunft über Christus (1, 2),
worauf sie Christus um erlaubnis bitten zu reden und sich
tinte und pergament geben lassen (Desc. 2, 1 und 1, 3, also mit
veränderter reihenfolge).
V. 2845 (2635) ff. der bericht der kinder.
V. 2845—3012 (2635—2800) das Ucht das in die hölle
dringt, wird von Adam, Jesaia,i) Symeon und Johannes dem
tauf er begrüsst und erklärt (Desc. 2, 1 — 3); Seth berichtet von
seiner sendung zum paradies, = Desc. 3, doch sind einige ab-
weichungen zu bemerken. Im Desc. ist nur von dem öle die
rede; bei uns liegt dagegen eine contamination mit der legende
vom kreuzesholz vor, wie sie in der mittelalterlichen literatur
vorherseht. Unser gedieht stellt sich in dieser partie zu der
ersten der beiden von Mussafia (Sulla legenda del legno della
croce, WSB. 63, 165 ff.) unterschiedenen gruppen, in der von
einem zweige die rede ist, an dessen stelle die andere recension
drei Samenkörner treten lässt. Ueber die weiteren Schicksale
des holzes wird bei uns nichts angegeben, so dass von einer
weiteren rubricierung unter die von Mussafia aufgestellten
fassungen abgesehen werden muss. Doch gestatten andere
gesichtspunkte eine nähere bestimmung des Verhältnisses zu
anderen dichtungen. Wesentlich anders sind die diese episode
enthaltenden zusätze der Vita Adae et Evae (hg. von W. Meyer,
Münchner SB. 14, 3, 186) und noch grösser ist die Verschiedenheit
von Lutwins Adam und Eva (hg. von K. Hoffmann und W. Meyer,
Bibl. d. lit. ver. 153). Ausschlaggebend ist eines: in den meisten
fassungen stirbt Adam kurz nach Seths ankunft, der dann den
bäum einpflanzt (so im Floridus des canonicus Lambert von S.
Omer, Mussafia a.a.O. s. 172), oder Seth trifft Adam schon nicht
mehr am leben, so in der Legenda aurea, im Passional, bei
Frauenlob (kreuzesleich str. 15, 9 er starp e danne im Mm ee
vromen der hohen, riehen helfebernden Scelden höh), in den
0 Vgl. Jes. 9, 1. 2. Matth. 4, 15.
HEIKBICH HESLEBS EVANGELIUM NICODEMI. 125
Sibyll. Weissagungen (vgl. Vogt, Beitr. 4, 91), auch bei Enikel
V. 1632 (Strauch). Bei uns lebt aber Adam noch und pflanzt
den zweig selbst: eine version die sich noch in Johann Beleths
Rationale divinorum of ficiorum ^ und im Hortus deliciarum der
Herrad von Landsberg (Engelhardt s. 41) findet, also im 12. und
13. jh. wolbekannt war. Vgl. auch W. Meyer, Die geschichte
des kreuzesholzes vor Christus, Abh. d. Münchner ak. 16, 2.
V. 3013 (2801) ff. Christi ankunft vor der höUe und die
wechselreden Satans mit der hölle sind im einzelnen anders
geordnet als im Desc.
V. 3013—63 (2801—49) Satan befiehlt der hölle, sich zum
empfang Christi zu rüsten (Desc. 4, 1.2); dann folgt der erste
ruf Christi vor dem tore v. 3064—82 (2850—68), die hölle be-
tont V. 3083—3151 (2869—2937) Christi macht, deshalb soll ihn
der Satan nicht einlassen (Desc. 4, 2 und 4, 3) ; dieser sucht sie zu
trösten, er selbst habe den tod Christi veranlasst (D. 4, 2 schluss).
V. 3152—60 (2937—46) Christus ruft zum zweiten mal, im
Desc. zum ersten mal (5, 1), erst 5, 3 kommt hier der zweite
ruf, an den sich dann die frage der hölle quis est rex gloriae
und die antwort Davids (vgl. dazu Ps. 24, 8) anschliesst wie in
V. 3161—86 (2947—72).
V. 3187—3247 (2973—3033) Satan befiehlt jetzt die tore
zu schliessen (5, 1) und klagt über seine Verblendung, dass er
Christus nicht erkannt habe.
V. 3248—3311 (3034—97) die hölle verwünscht ihn (Desc.
7, 1), Christus ruft zum dritten mal, die tore zerbrechen (schon
Desc. 5, 3, aber ohne einen dritten ruf), die quälen der seelen
hören auf.
V. 3312—3465 (3098—3249) Adam und die seelen begrüssen
Christus, zum teil nach Desc. 8, 1, aber Adams worte unab-
hängig (vgl. unten). Der Satan gibt sich besiegt (Desc. 6, 1),
und erntet erneute vorwürfe der hölle (ohne vorbild im Desc).
V. 3466—3515 (3250—99) Christus verkündet den seelen
die erlösung (Desc. 8, 1), verdammt den Beelzebub (Desc. 7, 2)
*) Rationale divinorum officiorum, Joanne Beletho theologo parisiensi
authore. Dilingae 1572. Daselbst cap. 151 fenmt ab Adamo Seih fUms eins
missum fuisse in paradisum, gut ramum inde sihi datum ab angelo rettUit,
at patrem, qui stattm illiics arboris mysterium cognoscens, eam terrae
inseruisse.
126 HELM
und tötet den tod (6, 2). Die seelen bitten ilin ein merkzeichen
über die höUe zu setzen (Desc. 8, 1 scMuss).
V. 3516—78 (3300—62) Adam, David, Habakuk, Micheas
und die übrigen seelen preisen Christus, = Desc. 8, 1 — 3. Die
bibelstellen, auf die sich deren worte beziehen, sind Ps. 30, 2
{exaltdbo te . . .), Ps. 96 oder 98 (singet dem herm ein neues
lied), Hab. 4, 13 und Micha 7, 18. Unserem dichter waren sie
offenbar nicht gegenwärtig, im lat. original sind sie ziemlich
klar erhalten.
V. 3579—3634 (3363—3418) der weg zum himmel, Enoch
und Elias nach Desc. 9, aber namentlich in dem was vom Anti-
christ erzählt wird, viel ausführlicher, auf die legendarische
quelle zurückgehend (vgl. Wülcker a. a. o. s. 50).
V. 3635—63 (3419—45) der Schacher vor der himmelstüre,
= Desc. 10, aber die erzählung von seiner ankunft im paradis
ist ausgelassen.
V. 3664— 92 (3446—74) lobpreisung bedeutend erweitert
aus Desc. 10 schluss.
V. 3693—3705 (3475—3589) Leucius und Karin geben ihre
berichte ab (Desc. 11, 3). Ihre abschiedsworte sind frei zu einer
busspredigt entwickelt, während im Desc. eine ausführliche
begründung folgt, warum sie aufhören müssen zu reden. Die
Juden klagen über das geschehene (Desc. 11, 4), Joseph und
Nicodemus melden alles Pilatus, der es aufschreiben lässt
(= Desc. 11 schluss).
V. 3706—11 (3589—95) Püatus schickt den bericht an die
consuln Claudius und Vellio. Im Desc. (13) ist der brief an
den kaiser Claudius gerichtet. Bei uns ist aber Tiberius noch
kaiser, deshalb muss Claudius als consul erscheinen. Der
zweite name ist dem prolog der Gesta entnommen, wo die
gruppe D in der ed. prima schreibt consulatu Büß Vellionis.
Das 12. cap. des Desc. enthält eine disputation zwischen
Pilatus und den Juden über die zeit, in der sie Christus er-
wartet hätten. Es ist bei uns ausgelassen und der dichter
wendet sich nun zur geschichte von der krankheit des Tiberius.
2. Die legenden von Tiberius, Vespasian und Veronica.
Die entwickelung der apokryphischen erzählungen und
legenden von Tiberius, Vespasian und Veronica hat A. Schön-
HEINBICH HESLEES EVANGEUüM NICODEMI.
127
bach, Anz. fda. 2, 149 in seiner besprechung der ersten ausgäbe
von Tischendorfs Evangelia apocrypha dargestellt. Es sind
darnach zwei recensionen der Pilatus- Veronicalegende zu unter-
scheiden, deren erste ich nach ihrem vorzüglichsten repräsen-
tanten mit D (Grazer hs. 38/47. 4^. fol. 41 äff.), die zweite mit
LM (L = lat. Pilatusprosa, Mones Anz. 1838, 526; M = Grazer
hs. 37/45. 40. fol. 157 b ff.) bezeichnen will. Eine ergänzung
bedürfen nur Schönbachs angaben über das Verhältnis beider
Versionen zu den beiden lateinischen Urformen A (Mors Pilati
qui Jesum condemnavit, Tischendorf s. 456) und K (Vindicta
Salvatoris, Tischendorf s.471).
Im wesentlichen ist nämlich die recension D eine f ortsetzung
von A, LM von K. Aber wir müssen daneben doch auch be-
kanntschaft von D mit K und von LM mit A annehmen. Er-
kannt hat dies Schönbach (a. a. 0. s. 193) nur für den bericht
über die Pilatusleiche in LM, der aus A stammt. Dies hat seinen
grund darin, dass Schönbach einen wichtigen unterschied der
Veronicalegende in A und K nicht gebührend würdigt.
In D erfährt Volusian von dem bilde das Veronica besitze;
diese leugnet, es wird ihr entrissen und sie entschliesst sich,
mit nach Rom zu fahren. Dies entspricht ganz der version K
Anders aber ist dies in LM. Hier erfahren die Römer Christi
tod durch Veronica selbst, wie in A, und auch das folgende
entspricht sich fast wörtlich:
LM
Vehementer doleo, quodlega-
tionem domini mei nullatenus
expleo. Veronica: dominus et
magister mens ante passionem suam
verbum veritatis longe lateqiie pre-
dicavit; unde dum ärequentius licet
invita ipsius carerem praesen-
tia, ipsius similitudinis suae ima-
ginem et ad solacium saltem mihi
disposui pingendam, ut dum eins
priyarer adspectibus, solacium
prestaret figura imaginis hu-
ins. Dum autem lintheum pic-
tori defero ad pingendum, do-
minus mens occurrit mihi in via
et requirenti a me causam ape-
Vehementer doleo, quia id pro
quo dominus mens me miserat
explere non valeo. Cui Vero-
nica: dominus mens cum prae-
dicando circuiret,
et ego eins praesentia nimis in-
vita carerem, volui mihi depingi
imaginem,
ut dum eins privarer praesentia,
saltem mihi praestaret solacium
imaginis suae figurae.
Cumque linteum pictori defer-
rem pingendum, dominus mens
mihi obviavit et quo tenderem re-
quisiyit. Cui cum viae causam
128
HELM
LM
rui. Ipse vero suscipiens pannum
venerabili facie sua reddidit
mihi signatum. Igitur imaginis
huius aspectum si dominus
tuus devote intuetur, procul
dubio postremo sanitati reddetur.
Albanus: estne imago talis ar-
gento vel auro comparabilis?
Veronica dixit: non, sed piae de-
votionis affectu. Albanus: quid
ergo faciam? Veronica: tecum si
placet proficiscar et medendam
Caesari deferam imaginem et
revertar.
A
aperuissem, a me petiit pannnm
et ipsum mihi venerabili suae
faciei reddidit signatum ima-
gine. Ergo huius aspectum si
dominus tuus devote intnebi-
tur, continuo sanitatis beneficio po-
tietur. Cui ille: est huiusmodi
imago auro et argento compa-
rabilis? Cui illa: non, sed pio
affectu devotionis. Tecum igi-
tur proficiscar, et videndam Cae-
sari imaginem deferam et re-
vertar.
Es ist demnach klar, dass sich die beiden recensionen weit
weniger als Schönbach meint nach A und K scheiden. Ihre
hauptsächlichsten unterschiede sind folgende:
D, das an den Desc. 13 enthaltenen brief des Pilatus an-
knüpft, verlässt sofort diesen punkt und geht zum bericht von
der krankheit des kaisers über. LM bringt zunächst die lebens-
geschichte des Pilatus, berichtet die entsendung eines boten
an den kaiser, dessen fahrt, Vespasians krankheit, und geht
dann über zu der entsendung des boten, der hier Albanus heisst,
an Pilatus. In D wie in LM ist Voraussetzung, dass der kaiser
von Christi tod nichts weiss; über die fassung der Veronica-
legende ist bereits gehandelt.
Die heilung des kaisers ist in D ziemlich ausführlich be-
handelt bis zu seinem versuch, die Eömer zu bekehren. In
LM ist dagegen die heilungsgeschichte sehr kurz (nicht aus-
gefallen wie Schönbach s. 189 angibt): Caesar igitur iubet afferri
imaginem . . . cuius viso aspectu consecutus est gradam sanitatis.
In D folgt nun noch die erzählung von Petrus, Paulus und
Simon Magus, in LM wird kurz der beschluss, Jerusalem zu
zerstören, mitgeteilt, dann wird des Pilatus Selbstmord und die
beseitigung seiner leiche geschildert, und daran schliesst sich
— was aus Schönbachs angaben nicht ganz klar wird — die
Zerstörung Jerusalems im anschluss an die Vindicta mit dem
unterschied, dass hier natürlich Vespasian, nicht Titus, den zug
unternimmt und die ganze partie viel später steht als dort,
wo der zug gleich unternommen wird und dann die Schilderung
HEIKBICH HESLERS EVAKGELIUM NICODEMI. I2d
der ereignisse durch die erzählung von Veronica und Tiberius
nicht eben geschickt unterbrochen wird.
Im diagramm (a. a. o. s.170) hat Schönbach unser gedieht
der gruppe LM zugezählt, s. 206 verzichtet er jedoch selbst
darauf, sicheres zu geben. Dies war ihm auch nicht möglich,
da er nur die fragmente M kannte, aus denen ihm das Ver-
hältnis der namen Volusian und Alban nicht klar werden
konnte. Er fasste, da in keiner der anderen recensionen von
zwei boten des kaisers die rede ist, den letzteren als boten des
Pilatus auf, und vermutete als quelle eine mittelstuf e zwischen
K und LM. In der tat liegen die Verhältnisse womöglich noch
verwickelter als er glaubte, da sich bei uns ganz ausgesprochene
Züge von D und LM begegnen, wie die vergleichung im ein-
zelnen erweisen wird.
Gleich im anfang v. 3712 ff. bei der entsendung des Vo-
lusian finden sich spuren beider recensionen. Mit v. 3867 f.
(3649 f.) und sprach 0u Volusiane, einem sineme caplane ver-
gleiche LM diMt Volusiano, cuidam suo privato, der auftrag
V. 3870 (3652) undvar nach im über mer = LM vadas trans
partes marinas. Dagegen ist für das weitere D als grundlage
zu erkennen: v. 38821 (3664 f.) sin hus und sin urbor beschiet
er sinen Jcinden = tunc Volusianus secundum veterem legem et
ordinationem fecit testamentum domui suae. Ebenso wird über-
einstimmend mit D die Überfahrtszeit auf ein jähr und drei
monate angegeben.^)
Damit bricht aber der dichter diese erzählung vorläufig
ab und geht über zu der Sendung des boten von Pilatus nach
LM V. 3892—4227 (3674—4007). Dieser böte heisst wie in M
Adrianus (L Adanus); es folgt dann die krankheit und heilung
des Vespasian, ausgeschmückt mit reichlichen erörterungen
über das erlösungswerk. Abweichend von LM besteht die
krankheit des Vespasian nicht in wespen, sondern in wünnern
in der nase.^)
^) LM gibt gar keine zeit, K ein jähr und sieben tage an.
^) An wespen ist Yesp. krank noch in der Sachs, weltchronik; Enenkel
y. 22241 wand im waren huma^z a/ne zal in den nasen überal. Dagegen
sind Würmer die krankheitsursache im Chronicon S. Aegidii (Massmann,
Kehr. 3, 577): Vespasiamis, quoddam genus vermium hahens in narihus\
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche, XXIV. ^
13Ö fiELM
Während man nun v. 4228 (4008) ff. die fortsetznng der
Sendung des Volusian erwartet, berichtet unser gedieht von
einem zweiten boten, der Albanus») heisst. Motivieren liess
sich diese zweite Sendung sehr gut mit dem langen ausbleiben
Volusians; der directe anlass dazu war aber, dass eben in LM
und D die boten verschieden heissen, der name Alban stammt
aus LM. Den scheinbaren Widerspruch löste der dichter auf
diese originelle weise.
Ganz neu, durch die zweiheit der boten begründet, ist
natürlich deren zusammentreffen zu Akkers, v. 4239 (4021), wo-
rauf sie sich gemeinsam ihres auftrags bei Pilatus entledigen
(v. 4246 ff.). Dies selbst, Pilatus' und der Juden schreck, des
Pilatus versuch sich zu verteidigen sind durchaus nach D,
namentlich auch Symeons entgegnung v. 4328 (4110) ff.
warumb sprseche du do sns daz ich dich wol mac lazen gan
ich han gewalt din Jesus oder an daz crnce han
== D Pilate, dicebas ei: potestatem habeo dimittendi te et pote-
statem occidendi te. Ausgelassen ist bei uns jedoch die Unter-
redung mit Joseph von Arimathia und Nicodemus. Pilatus'
bitte um vierzehntägigen aufschub, die in LM steht, kennt
unser gedieht nicht.
V. 4368 — 92 (4150 — 74) weiber und männer, die von
Christus geheilt waren, kommen und klagen gegen Pilatus,
unter ihnen auch Lazarus. Vorbild für diese partie, die sich
weder in LM noch D findet, mögen wol wider cap. 6 — 8 der
Gesta gewesen sein (vgl. oben).
V. 4393 (4175) ff. die Veronicageschichte Die Römer fragen
nach einem bild Christi wie in D; die nachricht von demselben
erhalten sie durch drei Juden, in D durch einen namens
Marcus, in LM durch Veronica selbst. Die aussagen über die
entstehung des bildes stammen aus LM, abgesehen davon, dass
sie dort der Veronica selbst in den mund gelegt werden.
ebenso im Vesp. des Wilden mannes v. 192. Das Pass. spricht 269, 38 von
Wespen, 270, 10 von wtirmern.
^) lieber das eindringen dieses namens in die legende, ebenso über
den namen Adrian vgl. Schönbach s. 193. — Beide namen, Yolnsian und
Alban, finden sich vereinigt in der hs. M, jedoch ohne absieht nur aus einem
versehen, vgl. Schönbach, ebda. anm. 1.
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 131
V. 4423—61 (4205—43) Veronica gibt das bild nicht von
sich, sondern fährt mit nach Rom, und zwar geht abweichend
von D und LM der verschlag von ihr selbst aus. Pilatus wird
in ketten mitgeffihrt, wie in D. In LM wird er erst später
auf besonderen befehl des kaisers gefangen.^
V. 4462—4531 (4244—4313) Volusian berichtet dem kaiser
ganz kurz von Christus. Tiberius voll zom (mit D verwant)
droht den Juden räche an. Dies ist wol aus der Vespasian-
legende hier übernommen. Der weg über den das bild gebracht
werden soll, wird mit kostbaren teppichen belegt (M stratis
palliis in viam purpureis), darauf erfolgt die heilung, ausführ-
licher als in M, aber ohne directen anschluss an D, woraus
der lohn den Veronica erhält und das ausschmücken des bildes
entnommen ist. In directem Widerspruch mit dem vorher
berichteten steht nun die angäbe, dass dieses bild noch in
Rom zu sehen sei. Hier hat sich also ganz unabhängig die
jüngere tradition über das bild eingeschlichen, die in der vor-
läge unseres dichters noch nicht zum worte gekommen war
(vgl. über deren entstehen Schönbach s. 165 f.). Ueber die
quelle, woher dies möglicherweise stammt s. unten, jedenfalls
war schon im 10. jh. diese anschauung ausgebildet: 1011 weihte
papst Sergius IV. dem tuche in Rom einen altar (Massmann,
Kaiserchronik 3, 576).
Die sich v. 4532—60 (4314 — 42) anschliessende aufforde-
rung des kaisers, Volusian und Alban sollten einen wünsch
äussern, und deren bitte, er möge sich taufen lassen, ist eine
eigentümliche modification der in D stehenden frage des kaisers
und antwort Volusians.^)
V. 4561—85 (4343—67) Tiberius lässt sich taufen, zerstört
*) Auch hierin folgt D der Vindicta (K). Wenigstens müssen wir
nach abschnitt 25 annehmen, dass Pilatus gefangen mitgeführt wurde:
Jvdeae optimi apprehendenmt Filatum ut diicerent ad portummaris. Dem
widerspricht allerdings Volusians bericht vor Tiberius: Filatum autem in
Damasco dimisi ligatum et in carcere positum swft fida custodia. — LM
folgt umgekehrt wider A, wo auch Pilatus später erst ergriffen wird.
') Es wäre gar nicht ausgeschlossen, dass der Verfasser glaubte ^ den
sinn des lat. textes widerzugeben, indem er petitio falsch als 'bitte' inter-
pretierte und domini mei nicht auf Christus, sondern auf den angeredeten
Volusian bezog.
9*
132 HELM
den Isistempel,') versucht die Römer vergeblich zu bekehren
(nach D).
lieber den tod des Tiberius v. 4586—97 (4368—79), den
LM in der fassung unseres dichters nicht kennt, obwol die
etymologie ganz im Stile dieser recension ist (Schönbach
s. 193).
Mit V. 4598 (4380) bereitet der dichter den Übergang zur
Zerstörung Jerusalems vor. Er wusste, dass diese nicht unter
Tiberius stattfand, deshalb werden v. 4598—4605 (4380—87)
mit einer aufzählung der römischen kaiser eingeschoben. Ueber
die differenz der gruppen y und z in dieser stelle und den
einfluss von D der hier zu constatieren ist, wurde bereits ge-
handelt.
Auffallend ist, dass als nachf olger des Nero ein kaiser
Anastasius erscheint, unter welchem Vespasian nach Jerusa-
lem fährt.
V. 4606—4714 (4388—4496) der feldzug der in zwei teile
zerfällt. Der erste bis zur wähl Vespasians zum kaiser hat
in LM und D seine quelle nicht (vgl. unten), erst der zweite
ist auch in LM, wird aber bei uns ziemlich selbständig be-
handelt; die Zerstörung Jerusalems selbst ist kurz berichtet,
dagegen das Strafgericht über die Juden weiter ausgeführt.
Fragen wir, auf welchem wege in unserem gedieht die
eigentümliche vermengung der beiden recensionen zu stände
gekommen sein mag, so haben wir zwei möglichkeiten ins äuge
zu fassen. Entweder sind beide nebeneinander oder bereits
eine contamination derselben benutzt. Gegen die zweite an-
nähme spricht zunächst, dass uns nirgends eine spur einer
solchen contamination vorliegt, weder lat. noch deutsch; einzig
die hs. M zeigt einen unfreiwilligen ansatz dazu in der doppel-
heit der namen Volusianus und Albanus für den boten des
kaisers (vgl. oben s. 129). Wenn wir auch zugeben müssen,
dass eine contamination beider recensionen vorhanden sein
und verloren gehen konnte, so ist der ansatz einer solchen
als quelle für uns doch auch deshalb sehr zweifelhaft, weil
bei uns der lat. text der alten recensionen, wie wir sahen,
^) Vgl. auch Gottfr. V. Viterbo s. 153, dessen darstellung sonst nicht
verwant ist.
HEINRIGH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 133
Überall durchschimmert. Dies wäre aber kaum mehr der fall,
wenn zwischen diesem und unserem gedieht ein vermittelndes
glied läge. Eine deutsche bearbeitung ist dadurch in aller-
erster linie ausgeschlossen, eine lat. wäre eher denkbar, ist aber
doch auch unwahrscheinlich. Wir müssen also annehmen, dass
unser dichter die alten recensionen selbst beide vor sich gehabt
hat, und zwar die rec. LM in einem codex der M jedenfalls
sehr nahe gestanden hat, z. b. den von Pilatus entsanten
boten ebenfalls Adrian nennt. Falls wir annehmen dürften,
M selbst oder eine bis auf die fehler getreue abschrift davon
habe ihm vorgelegen, so könnte das dort zu constatierende
versehen in der benennung des kaiserlichen boten mitgewirkt
haben bei der von Hesler eingeführten zweifachen Sendung.
3. Quellen zweiter Ordnung.
Ausser diesen Schriften, an die unser gedieht in erster
linie anknüpft, sind aber noch eine ganze reihe von quellen
zweiten grades sicher für einzelheiten von bedeutung gewesen.
Eigene erflndung kann dem Verfasser mit Sicherheit nur in den
änderungen in der anordnung einzelner partien zugesprochen
werden, z. b. bei Christi ankunft in der hölle, die dadurch
dramatischer geworden ist, freilich auf kosten der klarheit.
Diese quellen zweiter Ordnung näher zu bestimmen, ist
aber in den meisten fällen so gut wie unmöglich. Die ganze
ausgedehnte kirchliche literatur, legenden und predigten können
in betracht kommen, und dabei muss im äuge behalten werden,
dass in vielen fällen eine geschriebene quelle gar nicht vor-
zuliegen braucht, da das meiste wohl als geistiges eigentum
jedes gebildeten des 13. und 14. jh.'s betrachtet werden muss,
entwachsen 'dem boden weitverzweigter tradition' (SeemüUer,
Seifried Helbling s. x).
Doch wird auf einiges noch näher einzugehen sein.
a) Legendarisches. Auf sonstige legenden, abgesehen
von denen von Vespasian, Tiberius und Veronica, weisen hin
die namen der heiligen drei könige: Kaspar, Melchior, Balthasar
(v. 1387 f.), die kurze beschreibung der herschaft des Antichrists
V. 3602—31 (3386—3415), vgl. Wülcker s. 50 anm. 126, endUch
der bericht Seths über den zweig vom bäum des lebens, wo-
rüber schon gehandelt wurde.
134 HELM
b) Theologisches. Theologische gelehrsamkeit spielt
sodann eine grosse rolle in unserem gedieht. Sie zeigt sich
zum teil in der neigung auf bibelstellen hinzuweisen, auch wo
die quellen dies nicht tun. Es sind dies die folgenden, die
teilweise schon berührt sind: v. 233: Hieb cap. 40; — v. 1631:
Micha 6, 3. 4; — v. 1914: Matth. 8, 20; — v. 1760: Hosea 13, 14;
— V.4754 (4536): Sacharja 12, 10, vielleicht angeregt durch
Joh. 19,37 oder Apok.1,7; — v.5047 (4829): Ps. 18, 26 ff.; —
V.5016 (4798): Mar. 8. 36 f.
Ausserdem finden sich aber auch grössere theologische
erörterungen, für die die vorlagen keine oder doch nur sehr
dürftige grundlage boten. An erster stelle steht der grosse,
von z^ zum grössten teil gestrichene excurs über die worte
eli, eli lama. Die meisten commentatoren zu Marcus und
Matthaeus, z. b. Paschasius Radbertus, Expositio in Mat-
thaeum (Migne, Patrol. lat. 120,956) und Anseimus Laudu-
nensis, Enarrationes in Matthaeum (Migne 162, 1488) gehen
über die stelle rasch hinweg, sich meist auf den hinweis auf
Ps.22,2 beschränkend. Einen speciell dem 27.capitel des Matth.
gewidmeten commentar gibt es nicht (vgl. Migne, Index 2, 116 ft).
Ausführlicheres über dieses wort findet sich nur in Alvari
Cordubensis Epistola I ad Aurelium Flavium Johannem
(Migne 121, 414), bei Beda Venerabilis, In Marci evangelium
liber IV (Migne 92, 290) und bei Ernaldus, Tractatus de Sep-
tem verbis domini in cruce (Migne 189, 1677). Bestimmte an-
klänge an einen von diesen sind jedoch nicht vorhanden. Wir
haben bei dieser partie vielleicht am meisten an einfluss der
predigt zu denken.
Biblisches, theologisches und legendarisches findet sich
gemeinsam verarbeitet namentlich auch im prolog. Gleich im
anfang begegnen wir der wichtigen theologischen erörterung,
dass gott der gleichzeitig den bäum mit der verbotenen frucht
und den menschen geschaffen, dessen faU vorher wusste (v. 1
— 78). Jener bäum trug beides: tod und leben. Wie der
mensch durch ihn schuldig ward, so wird er erlöst durch
Christi tod an demselben holze. Es begegnet uns also hier ein
geläufiger zug der legende vom kreuzesholz, *) der aber hier
^) Vgl. auch Alcuin, Cann.190:
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 135
auch direet auf Descensus cap. 8 zurückgehen kann: qui per
lignum et didbolum et mortem damnati fuistis, modo videte per
lignum damnatum didbolum et mortem (vgl. Wülcker s. 45).
Wider wird gottes allmacht betont: es wäre ihm wol möglich
gewesen, den menschen so zu schaffen, dass er nicht schuldig
geworden wäre. Deshalb erlöst er ihn auch wider; der teufel
aber, der nicht aus erde geschaffen ist, sondern aus lüterer
masse, und der durch seine hoffahrt fiel, findet keine gnade.
Auch dies entspricht der anerkannten lehre der kirche, wie sie
auch bei Honorius Augustodunensis ausgesprochen wird.') Mit
einer bitte an den heiligen geist um beistand bei seinem werk 2)
geht der dichter zum eigentlichen thema über.
c) Stellung zu verwanten deutschen dichtungen
geistlichen Inhalts. Als quelle hat keines derselben unserem
dichter vorgelegen; andererseits kann mit bestimmtheit an-
Per tactum ligni paradisnm clauserat Adam,
perque crucis lignum Christus reseravit Olympum.
*) Sie steht auch in der Sächsischen weltchronik (vgl. unten) und sonst
an vielen steUen der geistlichen und weltlichen literatur, vgl. Augusti-
nus, Contra Judaeos, Paganos et Arianos (Migne 42, 1117) cap. 2: Quid est
diabolus? Angelus per superbiam separatus a deo, qui non stetit in veri-
tate, auctor mendacii, et a semet ipso deceptus, qui alterum decipere concur
pivit Iste adversarius effectus humani generis, inventor mortis, superbiae
institutor, radix malitiae, scelerum caput, princeps omnium vitiorum (vgl.
V. 3255 [3041 ff.] du vindere der lugene, ein urhab der trugene, anegenge
aUer ruwen, ein meister der u/ntruwen, des ewigen todes begin). Aus der
deutschen literatur vgl. Millstädter Sündenklage (Zs. fda. 25) v. 452:
ubirmuot diust so getan, diu verliuset manegen man. diu välte von himele
iMcifer mit menege ; Kaiserchronik v. 8822 ff. : der herest engel der under
in was, sin name hiez liehtvaz; durch sinen ubirmuot muose er fallen v/nde
die sine alle, die der ubirmuote waren gesellen, die buwent mit im die helle;
Wolfram geht Parz. 463 darauf ein und noch deutlicher Willehalm 308, 14:
sich heten mensch und engel bräht beidiu in den gotes haz: wie Tcumt daz
nu daz mevmisch baz dan der engel gedinget? min munt daz meiere bringet,
daz m^ennisch wart durch rät verlorn, der engel hat sich selb erJcom zer
ewigen flüste mit siner äJcüste; vgl. auch W. Grimm, anm. zu Freidanke, 3;
Roethe, anm. zu Reinmar v. Zweter 192, 7 und die reichlichen zusammen-
steUungen Singers in der Festgabe für Heinzel s. 381.
*) Derartiges auch sonst häufig, z. b. in Heslers Apokalypse v. 1 ff.
Jierre got, schepfer, du were ie; der din begin begunde nie, din ende vorendet
nimmer . . . ; v. 136 seliger vater sende mir dinen heiligen geist . . . ; vgl. auch
Passional v. 1 ff. Urstende v. 1—52.
136 HELM
genommen werden, dass er der selbst drei umfangreiche werke
schrieb, auch mit der deutschen dichtung seiner zeit bekannt
war. Es ist demnach natürlich, dass er unbeschadet seiner
durchaus originellen Schreibweise doch in darstellungsart und
zum teil auch im formelschatz auf gleichem boden steht mit
der gesammten geistlichen dichtung des mittelalters. Welches
oder wie wenig gewicht anklängen an diese deshalb zugemessen
werden darf, darüber wurde schon oben gesprochen. Trotzdem
müssen wenigstens einige der nächstliegenden erzeugnisse
daraufhin betrachtet werden, ob nicht kenntnis derselben in
reminiscenzen, vielleicht halb unbewusst, bei unserem dichter
zu tage tritt.
Es handelt sich vor allem um die drei die inhaltlich am
nächsten stehen: die Urstende, die Erlösung und das Passional.
Das Passional,*) dessen kenntnis am ehesten vorauszusetzen
wäre, zeigt keine züge von irgend welcher beweiskraft, geht
dagegen in allem wesentlichen andere wege im engen anschluss
an die Legenda aurea (vgl. Schönbach, Anz. 2, 196). Es hat
zwar die Weissagung des Josephus wie bei uns, aber bereits
die frage des kaisers, weshalb er den Untergang der stadt
nicht vorher gesagt habe, fehlt, ebenso auch der name Jotaphat,
für den irgend eine spätere quelle als Josephus selbst (Ant.
Jud. ^Iwxanaxa) mir nicht bekannt ist. Sämmtliche deutsche
bearbeitungen, welche diese episode haben, nennen die Stadt
Joppe oder Jerusalem.
In zweiter linie kommt die Urstende von Konrad von
Heimesfurt in betracht, die nächst unserem gedieht den stoff
des Ev. Nie. am ausführlichsten verarbeitet hat (K. A. Hahn,
Deutsche gedichte; vgl. auch Wülcker a.a.O. s. 34).
Auch hier erscheinen wesentliche unterschiede: Nicodemus
tritt vor gericht als bestellter anwalt für Christus auf, die
kreuzigung wird möglichst kurz, die himmelfahrt ausführlich
erzählt. Aber andererseits erscheinen auch anklänge, die nicht
für rein zufällig erklärt werden können. Dass die Juden erst
nach Jesu auferstehung das verschwinden Josephs von Ari-
mathia erfahren, haben beide gedichte gemeinsam gegen
Gesta 12, 1. 18, 1 ; ebenso wörtlich den gruss Adams bei
1) Hahns ausgäbe 85, 35 — 102, 51. 266, 16 — 277, 3.
HEINBICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 137
Christi ankunft in der hölle: Urst. 127, 124 ») = EN 3316 (3102):
ich sih die hant die mich geschuof, wofür der Descensus keinen
anhält bietet.
Unter diesen umständen gewinnen natürlich auch andere
an sich weniger markante parallelstellen an bedeutung, nament-
lich wenn sie in gewisser menge auftreten. Ich stelle die
folgenden deshalb hier zusammen 2):
U 106, 12 EN 641
Crist (In solt uns sagen, Sie sprachen: Criste, du solt sagen,
wer ist der dich hat geslagen. wer ist der dich hat geslagen.
U 123, 5 EN 1839 (2629)
do waren huchstab unde sin unde schriben beide einen sin,
so gar gelich daz ine noch min . . . weder mer noch min.
U 125, 6 EN 3069 (2855)
tut uf ir forsten iwer tor, tut uf iwer helle tor,
der eren chunic ist hie vor. hie ist der eren kuninc for.
Die Worte des Schachers finden sich bei uns an der zweiten
stelle V. 3659 (3441) mit ausnähme von so statt nu wörtlich gleich
U 127, 64 herre, nu gedenche min,
so du chomest in daz rieh din.
Zu U 104, 19 mit lobe und auch mit sänge,
mit suzem antfange,
vergleiche EN 2628 (2420) ff.
sie vielen im ze fuzzen mit so heiligem antfange
mit lobe und mit gesange. ward nie kuniges kint . . .
Aus der Erlösung (hg. v. K. Bartsch), die im grossen und
ganzen viel verwantschaft mit unserem gedieht zeigt, wüsste
ich jedoch nur eine stelle anzugeben, die auf engeren Zusammen-
hang schliessen liesse, nämlich den hinweis auf Hosea 13, 14.
Erl. 1617 EN 1762
oy dot, ich werden noch din tot, 0 tot, ich werde din tot,
du helle solt ouch wizzen diz, und du heUe daz wizze,
daz ich sol werden noch din biz. ich werde noch din bizze.
Es kommt dabei namentlich auf den mittleren vers an, für
^) Auf diese stelle der ürstende ist wol auch zurückzuführen Erlösung
V. 5047 — 49 wan ich sehe die seihen hant \ die mich und all die werlt ge-
schuf I aMa huop sich ein freuden ruof; vgl. auch Urst. 127, 27 do huop
»ich ein gemeiner ruof,
*) ParaUelen wie U 105, 51 = EN 615 stoz din swert mder in sind
natürlich ohne bedeutung (vgl. Pass. 59, 81 stoz in din. swert, lä den strit).
138 HELM
den in der bibel sich keine entsprechung findet. Der stelle
Erl. 4782 = EN 1593 gewicht beizulegen, wage ich nicht.
d) Wichtige ausblicke eröffnet zum Schlüsse die Stellung,
die unser dichter den Juden gegenüber einnimmt. Es kommt
darin ausserordentlich klar der gegensatz zum ausdruck, der
die sociale läge der Juden im mittelalter beherscht. Seit dem
zweiten kreuzzuge gelten sie grundsätzlich als kammerknechte
des kaisers (vgl. Graetz, Geschichte der Juden 6, 183. 268 fi),
und zwar wird diese anschauung in allem ernste durch die
erzählung von des Vespasian Strafgericht über sie begründet;
sogar die rechtsbücher, der Schwabenspiegel an der spitze,
haben sich diese begründung angeeignet. Fürsten und Städte
erhielten durch kaiserliches privileg das recht, Juden zu halten,
die ihnen eine bedeutende einnahmequelle waren und deshalb
ihren schütz genossen. Namentlich erfreuten sie sich einer
günstigen läge in Oesterreich, 9 wo herzog Friedrich der streit-
bare sogar seine finanzen durch Juden verwalten liess und im
jähre 1244 ein besonderes rechtsstatut gab, 2) das ihnen einen
seltenen grad von freiheit in handel und wandel und sicher-
stellung ihrer person durch eigene gerichtsbarkeit zusicherte.
Dieses Statut wurde von anderen fürsten mit geringeren
oder grösseren änderungen übernommen, so von herzog Boleslav
von Polen 1264, von Heinrich dem erlauchten von Meissen 1265
(vgl. Graetz a. a. 0. 7, 207, anm. 2).
Das Volk sah die Juden mit anderen äugen an, denn ihm
waren sie nur die bedränger. Und der Zusammenhang ist
nicht zu verkennen. Je mehr die geistlichen und weltlichen
fürsten die Juden hegten, desto mehr wurden sie zur plage des
Volkes, denen sie durch unerhörten wucher das geld abnahmen,
das die fürsten wider von ihnen erpressten. Volk und her-
schende stehen sich deshalb nicht selten in diesem punkte
schroff gegenüber, wie sich z. b. 1283 der erzbischof Werner
von Mainz energisch seiner Juden gegen die ausschreitung des
Volkes annahm (Graetz 7, 200). Gegen die mitte des 14. jL's
schwenken die fürsten in das lager des volkes, wenn auch
*) Schon herzog Leopold von Oesterreich hatte durch Friedrich I. ein
Privilegium erhalten, Juden zu halten (vgl. Wertheimer, Die Juden in Oester-
reich S.34).
2) Eauch, Script, rer. Austr. 1, 201.
HEIKBICH HBSLERS EVANGELIUM NICODBMI. 139
Xarl IV. bei seinem regierungsantritt noch einmal energisch
sein wort für seine kammerknechte erhob. Namentlich 1348 f.
war ganz Deutschland der Schauplatz der grauenhaftesten
Judenverfolgungen, bei denen jetzt schon einige fürsten voran-
giengen, namentlich die söhne Ludwigs des Baiem, von denen
Ludwig (markgraf von Brandenburg) alle Juden in Königsberg
in der Neumark verbrennen liess. Im benachbarten Polen war
die läge der Juden besser.
Unser dichter steht vor der zeit, da die fürsten zu be-
drängen! der Juden wurden. In dem Schlussabschnitt wendet
er sich mit heftigen worten gegen die nachsieht, mit der die
fürsten die Juden behandeln, und tadelt ihre giericheit nach
dem schätz der Juden, aus der diese nachsieht entspringt:
V. 5190 (in G fehlend)
durch got uch vorsinnet, lazet uch sus niht dorsten
ir edelen dutschen vorsten: ires Schatzes.
Schon vorher hat er die strafe dieser gesinnung bezeichnet:
V. 4822 (4604)
da von werdet ir ires meines teilhaft in jeneme lebene,
— daz solt ir merken ebene — als ir tuot ires Schatzes hie.
Er erkennt auch, woher das geld in Wahrheit kommt, das die
Juden den fürsten bezahlen müssen:
V. 5125—30 (nicht in G)
sie sint so listeclichen karc: uweren luten, die u sint
e sie u g^eben tusent marc, uf uwer sele bevoln,
so han sie zwenzig tnsint mit irme wocher abe gestoln.
Zweierlei verlangt der dichter von den Juden als grundbedingung
für den frieden: aufgeben des wuchers und des Unglaubens;
denn nicht weniger als der sociale wiegt bei ihm der kirch-
liche gegensatz. Der Unglaube der Juden erscheint aber als
ein doppelter: denn erstens haben sie Christus verworfen, dann
aber auch die alte e aufgegeben:
V. 5267 (4909)
nu hat ir ungetruwen
die alten e gelazen
und die nuwen vorwazen.*)
') Der hass der Christen gegen die Juden wendet sich auf kirchlichem
gebiet yomehmlich gegen den Talmud (vgl. die verbrennungsedicte Graetz
7, 100 ff.).
140 HELM
Die Verblendung der Juden dem Christentum gegenüber (vgL
die häufige redensart sie sprachen sender ougen blint) und ihre
endliche bekehrung, wenn das jüngste gericht naht, 9 sind be-
liebte themata. Endlich vertritt der dichter die bekehrung
der Juden durch gewalt, wie sie alltäglich praktisch betrieben
wurde, wenn auch im gegensatz zu den edicten der kirche,
die theoretisch wenigstens die erzwungene taufe misbilligte'):
V. 5140 (4852) die pfaffen sulen sie leren,
schalt, bitte, drowe, vle die leien sulen sie triben —
wen biz sie sich bekeren. daxnmme segent man u die swert!
So wird das compelle intrare erläutert. Aber die anwendung
von gewalt soll doch keineswegs so weit gehen, dass man sie
ganz vertilge, vgl. v. 5242 (4884); sondern nur dass man sie
in stetiger bedrückung halte, ein satz, den die kirchliche lehre
im anschluss an Ps. 59, 12 'erwürge sie nicht, dass es mein volk
nicht vergesse; zerstreue sie aber mit deiner macht, herr unser
Schild, und stosse sie hinunter' ausgebildet hat.^)
Die annähme, dass unserem dichter bei abfassung dieser
Partien irgend einer der vielen älteren und neueren tractate
gegen die Juden, vielleicht auch mehrere derselben, vorgelegen
habe,*) dürfte kaum discutierbar sein. Möglich ist es immerhin,
*) Diese auffassung geht zurück auf Jes. 10, 22, worauf sich die stelle
Rom. 9, 27. 11,5 bezieht. lieber ihre Verbreitung in der kirchlichen wie
in der deutschen literatur vgl. Kraus, Anz. fda. 19, 59.
*) So in erlassen Innocenz' m., Gregors X. (Graetz 7, 199); auch bei
Thomas von Aquino, Summa theologiae.
8) Vgl. z. b. auch Augustinus, De fide eorum qui non videntur cap.6
(Migne 40, 178) und Augustinus, De civitate dei 18, cap. 46 (Mlgne
41, 608).
*) Vgl. Cyprianus, Testimoniorum libri tres adv. Judaeos (Migne,
Patr. lat. 4, 675); Severus, Epistola de Judaeis (Migne20, 731); Augus-
tinus, Tractatus adv. Judaeos (42,51); id., Sermo de symbolo contra
Judaeos, paganos et Arianos (M. 42, 1117); id.. De altercatione ecclesiae et
synagogae (M. 42, 1131); Leo Magnus, Sermo 35, cap. 1 (M. 54,250);
Maximus Taurinensis, Tractatus V contra Judaeos (M. 57, 793); Ago-
bardus, De insolentia Judaeorum (M. 104,69); id., De iudaicis supersti-
tionibus (M. 104, 77); id., De cavenda societate iudaica (M. 104, 107); id.,
De baptismo Judaeorum mancipionim (M. 104, 99); Amulo, Liber contra
Judaeos ad Carolum regem (M. 116, 141); Fulbertus, Tractatus contra Ju-
daeos (M. 141, 305 und 827); Petrus D ami an us, Antilogus contra Judaeos
(M. 145, 41); id., Dialogus inter Judaeum et Christianum (M. 145,57);
HEINRICH HE8LEBS EVANGELIUM NICODEMI. 141
es ZU beweisen oder zu widerlegen ist gleich undurchführbar.
Notwendig ist jedoch keineswegs, directe vorlagen für diese
Partien unseres gedichtes anzunehmen. Die betrachtung der
Zeitumstände, welche ihren hintergrund bilden, lehrt wie nahe
es lag, die ja doch in der luft liegende und allerorts vielfach
ventilierte frage zu berühren. Indessen muss hier doch wenig-
stens auf ein verwantes deutsches erzeugnis hingewiesen werden;
es ist dies das zweite gedieht des sog. Seifried Helbling
(hg. von Seemüller, Halle 1886), das v. 1079—1193 ebenfalls
eine rede gegen die Juden enthält mit ähnlicher schärfe gegen
die nachsieht der fürsten: v. 1159 wmr ich ein fürst ze nennen,
ich hiez euch alle brennen; v. 1181 die fursten tuont ze trage
unib iuwer Synagoge die ir ufrichtet ... er wcer vil wol der in
verhut ir ketzerlichez talmut Gegen eine bekanntschaft unseres
dichters mit dieser stelle scheint ja von vornherein alles zu
sprechen. S. H. hat nur eine sehr beschränkte Verbreitung
gefunden, schon der Inhalt der gedichte brachte es vielleicht
zum teil mit sich, dass sie nur im engsten kreise der standes-
und gesinnungsgenossen bekannt gegeben wurden. Wir be-
sitzen denn auch keine einzige md. hs. der gedichte. Aber
andererseits wissen wir, dass hss. verloren sind (Seemüller
s. cvn), und zwar mit ausnähme von A alle die einzelabschriften
der gedichte, deren doch gewis von jedem mehrere vorhanden
waren. Eine solche einzelabschrift konnte aber unser dichter
sehr wol zu gesicht bekommen haben, und durch sie konnte
er zu der Judenpredigt angeregt worden sein.
Auf Seifr. Helbling weist uns aber auch noch eine weitere,
aUerdings ebenfalls unsichere spur. Beim verkauf der Juden
durch Vespasian finden sich dort die verse 1171 ff. die (die
Juden) fuort man an den seilen und liez iuch hin veilen umh
Guibertus, De incamatione contra Judaeos (M. 156, 489); Rupertus,
Annulus, sive dialogus inter Christianum et Judaeum (M. 170, 559); Gisle-
bertus, Dispntatio Judaei cum Christiano (M. 169, 1005); Odo, Dispntatio
contra Jndaeos (M. 160,1105); Rabbi Samuel, De adventu Messiae prae-
terito (M. 149, 338); Petrus Abaelardus, Dialogus inter philosophum
Judaeum et Christianum (M. 178, 1609); Petrus Venerabilis, Tractatus
adv. Judaeos (M. 189, 355) ; PetrusBlesensis, Opusculum contra perfidiam
Judaeorum (M. 207, 825); S. Martinus, Contra Judaeos (M. 209, 423);
Anonymus (12. saec), Tractatus adv. Judaeos (M. 213, 749); vgl. dazu Migne
220, 98^—1006, Index de Judaeis).
142 HELM
ein kleinem dinc, drUic Juden umb ein phenninc, Dass v. 1174
= V. 4710 (4492) unseres gedichtes ist, hat keine bedeutung,
die Wendung lag zu nahe: auch dass der reim {dinc: phen-
ninc) der gleiche ist, ist belanglos, er findet sich ebenso bei
Enenkel v. 24349 man sagt er schuf so wol sin dinc daz er
umb einen phenninc . . . Dagegen verdient es beachtung, dass
V. 1172 fast wörtlich bei uns widerkehrt in v. 4694 (4476)
m^n fuort sie vor an seilen. Dieser zug ist nämlich ausser-
ordentlich selten, er findet sich, so viel ich sehe, nur noch in
der Kaiserchronik v. 1117 an Jcettenen und an snuoren hiez man
si veile vuoren.
Nun gibt unser dichter v. 4718 (4500) auskunft über eine
weitere quelle: wellen sie mir folgen und die rechte warheit
suochen in der kuninge buochen, da bring ich ze geziuge die
Schrift Unter der könige buch kann nun wol die Kaiserchronik
verstanden werden, allerdings auch andere Chroniken, nament-
lich noch die Sächsische weltchronik (hg. von Weiland, MG.
Deutsche chron. 2, 1). Beide gehören nicht der recension LM
an, sie enthalten die einfache erzählung von Tiberius' heilung,
der böte des kaisers heisst Volusian. Die Kaiserchronik ist
aber überdies in allem wesentlichen grundverschieden von
unserem gedieht, namentlich in der ganzen erzählung von Jo-
sephus, dessen Weissagung fehlt, während die heilung des Titus
hinzugefügt wird. Der zug, dass die gefangenen Juden an
seilen vorgeführt werden, wäre der einzige gemeinsame.
Aber der dichter beruft sich gar nicht gerade für diesen einen
zug auf der könige buch, sondern für seinen ganzen bericht
von dem verkauf der Juden; wir werden demnach bei dem
mangel jeglicher sonstigen Übereinstimmung von bedeutung
schliessen müssen, dass der dichter mit der könige buch die
Kaiserchronik nicht gemeint hat. So würden wir also doch
wider auf S. Helbling als quelle für v. 4694 f. zurückgewiesen.*)
Dürften wir das resultat als gewis annehmen, so gewännen
wir für die Chronologie unseres gedichtes einen terminus post
quem, da das zweite gedieht S. Helblings zwischen 1292 und
1294 geschrieben ist (vgl. Seemüller zu v. 830 und 874).
^) Eäumliche entfernimg dürfte als hindern is nicht geltend gemacht
werden, haben doch auch Wemher vom Niederrhein nnd Heinrich von Vel-
deke den Heinrich von Melk gekannt; vgl. Behaghel, Eneit s. xlxxz.
HEINBICH HESLEES EVANGELIUM NICODEMI. 143
Als das von dem dichter gemeinte buch der könige käme
dann die Sächsische weltchronik in betracht, und diese war
ihm, wie mehrere einzelheiten dartun, in der tat bekannt.
Während bei uns Tiberius erschlagen und in die Tiber geworfen
wird, findet er sonst fast stets, auch in der Kehr. v. 1134 und
in der Sachs, weltchr. sein ende durch gift. Aber in der letz-
teren findet sich in der Gothaer hs. der zusatz vn wart ge-
worpen in den tyber de da vore het alban vn het nu tyU na
tyberius de darinne wart gevunden,^) Die durch die Gothaer
hs. repräsentierte recension wird daduixh als vorläge unseres
dichters erwiesen. Dass das bild der Veronica in Eom zu
sehen sei, findet sich ebenfalls in der chronik; dadurch kann
die angäbe unseres gedichtes mit beeinflusst sein. Endlich
findet sich hier auch die erzählung vom jüdischen krieg wie
bei uns, Josephus' gefangennähme und Weissagung, wenn auch
natürlich weit kürzer, aber doch wie auch das folgende Straf-
gericht mit ganz directen parallelen: vgl. v. 4639 (4421) si
des niht so tote mich = Chron. ne ist it nicht so dode mich.
Die Unfreiheit der Juden namentlich, wofür gerade die Chronik
als beleg angerufen wird, ist nachdrücklich hervorgehoben,
und auch hier ist verwantschaft in den ausdrücken mit unserem
Ev. nicht zu leugnen: in wart verdelt echt und reht, erve und
eigen, dat se oc eigen solden wesen immer mer, vgl. v. 4695 —
4699 (4477—4481).
Von dem Strafgericht gegen die Juden sind nach unserem
gedieht zwei geschlechter, Gog und Magog, ausgenommen, die
von Alexander eingeschlossen wurden und deshalb die botschaft
von Christus nicht vernommen hatten.
Die zu gründe liegende sage erscheint in verschiedener
gestalt. Anknüpfend an die existenz einer wol von den per-
sischen königen erbauten grossen mauer bei Derbend gewinnt
*) Diese erklärung des namens findet sich auch bei Enenkel (Strauch
s. 385) V. 20184, aber ohne bestimmte angäbe des gewaltsamen todes v. 20191 :
wan er zwar dar inne ertranc, ich wetz nicht ob ez an sinen danc geschach
oder mit dem wiUen sin; daz ist mir noch nicht worden schin. Die ety-
mologie beruht auf einer Verwechslung des Tiberius mit Tiberinus Sylvius,
dem alten Albanerkönig, von dem Honorius Augustodunensis dies erzählt
(vgl. Strauch s. 384). In richtiger beziehung findet sich die notiz noch in
Gottfrieds von Viterbo Speculum regum (MG. 22, 51).
144 HELM
sie anschluss an den bericht Ezechiels (38, 39) von dem heeres-
zug des königs Gog aus dem lande Magog (so genannt nach
Japhets gleichnamigem söhn, Gen. 10, 2) gegen Israel und seiner
niederlage. Die sage nennt neben ihm noch bis zu dreissig
heidnische geschlechter, und erzählt wie sie sich wider erholen
und von Alexander zwischen hohen bergen eingeschlossen
werden. In dieser form ist sie enthalten in den Eevelationes
Methodii, von wo sie teils direct wie bei Eudolf von Ems (vgl.
Zingerle, Quellen zum Alexander des E. v. E. s. 196 ff.), teils
indirect durch die von der Seitenstetter hs. repräsentierte f assung
des Liber de proeliis in die meisten Alexanderdichtungen über-
gegangen ist. 9
In einer anderen fassung haben nun die stelle der ge-
fangenen beiden die in der gefangenschaft befindlichen zehn
Stämme der Juden eingenommen, die von Alexander vergeblich
ihre freiheit erhoffen, aber von demselben ihrer frevel wegen für
ewig eingemauert werden. 2) Wann diese umdeutung geschah,
entzieht sich unserer kenntnis; schon Petrus Comestor (Migne
198, 1407) kennt sie offenbar, wenn er sagt: adhuc decem trUms
ultra montes Caspios captivae tenentur.
Bei Quilichinus von Spoleto (1236) finden wir beide, heiden
und Juden, genannt, 3) wovon dessen quelle Julius Valerius noch
nichts hat. Ebenso erzählt Eudolf von Ems einmal die ein-
schliessung der heiden Gog und Magog, an einer anderen stelle
der Juden, während die Sächsische weltchronik nur die Juden
nennt. Mit einem weiteren schritt gelangte man zur identi-
ficierung der Juden mit Gog und Magog. Dies geschieht z.b.
im Compendium theologiae veritatis, lib. 7, cap. 11.*) Ihm folgt
Hugo von Langensteins Martina 192, 31 (vgl. Köhler, Germ. 8,
23 ff.) ; auch in Seifrieds Alexander erscheinen Gog und Magog
^) Eine ausnähme bildet Lamprecht, der die episode nicht kennt.
*) Wir tibergehen hier die rolle, die die eingeschlossenen zur zeit des
Antichrist spielen.
®) Praeterea inclmit decem tribus fiUorum Israel, sed Judam et Ben-
jamin non inclusü, Wiener jahrbticher 57, anzeiger 61.
*) So muss wenigstens der Wortlaut aufgefasst werden. De Gog et
Magog dicunt quidam quod sint decem tribus intra montes Caspios
clausae, wenn auch in scheinbarem gegensatz zu dem späteren has dicu/r^
Judaei in fine exituras et venturas in Jerusalem et cum suo messia ecclesias
destructuras.
Heinrich heslers evangeltum nicodemi. 145
als Juden. Die weite Verbreitung dieser Version beweist ihr
auftreten im Poema de Alejandro des Joan Lorenzo Segura de
Astorga, der um 1260 schrieb (vgl. Wiener jahrbb. 57, 181).
Hesler hat nun jedenfalls die ursprüngliche version aus
irgend einer der Alexanderdichtungen gekannt, die version
welche die Juden einsetzt, sicher wenigstens aus der Sächsischen
Chronik. Auch die contamination war ihm wol schon bekannt;
denn das Compendium war ein ausserordentlich viel gelesenes
buch; vielleicht kannte er aber auch die (nach 1293) geschrie-
bene Martina. Einen weiteren schritt tut er aber, wenn er
an stelle der zehn israelitischen stamme nur zwei setzt, da
er nur für so viele namen hat. Dann ist aber auch der Inhalt
der sage ein ganz anderer geworden; die einschliessung, die
ursprünglich doch eine strafe ist, erscheint bei uns als eine
besondere gnade.') Ihren grund findet diese ganz vereinzelt
dastehende lesart vielleicht in folgendem. In einzelnen juden-
gemeinden sehr hohen alters (z. b. Worms) besteht zum teil
heute noch die tradition, dass sie schon vor Christus be-
standen hätten, mithin ihre mitglieder an Christi tod nicht
mitschuldig seien. Solche anschauungen traten vielleicht
Hesler entgegen und gaben ihm die idee ein; war dies der
fall, dann ist seine darstellung jedenfalls polemisch zu fassen :
er tritt jenen seiner meinung nach unberechtigten äusserungen
entgegen mit dem satze: alle Juden trifft das gericht mit
ausnähme jener von Alexander zwischen den bergen ein-
geschlossenen.
lil. Sprache und heimat des gedichtes.
A. Die spräche.
Ueber die spräche des Ev. Nie. hat abgesehen von den
kurzen bemerkungen K. v. Bahders (Ueber ein vocal. problem
des md. s. 42) ausführlicher gehandelt K. Amersbach (1, 11 und
*) Im Vespasian des Wilden mannes erscheint widenun eine andere
fassung, die nichts weiter ist als eine sehr verblasste reminiscenz der ganzen
sage. Es heisst dort nach dem verkauf der Juden y. 255: zen geslehte man
ir virsande, diu quamen an ein gebirge zu lande, diu andirin vm/rdin
virleidit und ovir alli di werlt verspreidet (vgl. Köhn, Gedichte des Wilden
mannes s. 41). Eingehenderes über die ganze sage hoffe ich in bälde vor-
legen zu können.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. j[Q
146 ÄELÄt
2, 3 ff.). Seine darstellung bedarf jedoch sehr der ergänzung,
da sie, ohne abschliessendes zu bieten, sich darauf beschränkt,
die identität der spräche mit der von Heslers Apokalypse nach-
zuweisen. Ausserdem ist sie aber auch nicht einwandfrei, da
sie zum teil mit zweifelhaftem material arbeitet und belegen
aus dem versinnern zu viel gewicht zugesteht. Wir beschränken
uns zunächst auf die ausbeute der reime, wobei als norm zu
gelten hat, dass im zweif eisfalle jeder reim als dialektisch
rein zu betrachten ist. Betreffs der spräche der Apokalypse
beschränken wir uns auf angäbe etwaiger abweichungen.
I. Vocale.
Der Umlaut ist nur durchgeführt bei a, ä, wo er regel
ist. Hervorzuheben ist besonders ') tregis (: hegis) 3346 und ehte
(8) : rehte.
Der Umlaut von ä ist gesichert durch reime wie mere :
were 2566, emphet : set (sehet) 2671, nete (zu nähen) : ve(he)te
1967. offenbare reimt auf -ere (= -cere) 1647. 4766. 4978, was
allerdings nichts beweist; in der Apokalypse sind auch reime
auf -are belegt (Amersbach 2, 1). In einzelnen fällen unter-
bleibt dagegen der umlaut von a, vgl. häte (conj. praet.) : rate
2507. Der reim swär (: war) 998, swaren (: waren) 1217 be-
gegnet auch sonst oft in md. denkmälern, vgl. Katharinen marter
V. 306 (Germ. 8, 129). Ebernand v. Erfurt 847. 1283. 3671. Her-
bort V. Fritzlar 9596. Ludwigs kreuzfahrt 1928. Der Sünden
widerstreit 2200, sehr oft bei Jeroschin (Pfeiffer s. lvii). Mit
dem umlaut hat dies nichts zu tun, vielmehr liegt die alte
lautgesetzliche form alter i- stamme vor; vgl. Behaghel, Germ.
23,275. beswäret {: wäret) ist dann auf grund von analogie
zu erklären.
Umlaut unter einfluss der sufflxe -lieh, -ic wird durch keinen
reim erwiesen. Rückumlaut ist regel: vorant : hant 2633. 3579,
vorJianete (: crancte) 2929, haften (: caften) 1807, sante (: mante)
2964, genant (: want) 4611, (: Äan^ 2601, gesant (: lant) 2923.
4055, (ihailant) 4259, gestracket (: entnacket) 1655, vorwände
( : mände) 3887.
*) wennen ( : irkennen) 3264 ist nebenfonn zu wamien, nicht mit V^ein-
hold § 28 als umlaut zu erklären
fiBlKBICH OSLERS EYANGELIUM NICODEMI. 147
Der Umlaut sämmtlicher anderer vocale ist nach gemein-
md. weise wenig ausgeprägt; demgemäss erscheinen unbedenk-
lich umgelauteter und unumgelauteter vocal im reim gebunden ;9
vgl. Behaghel, Pauls Grundr. 1, § 40, Weinhold, Mhd. gr. § 54.
82. 102. 118. 132. Beispiele: d: bröde (: töde) 3248. 3342. 4027,
hören ( : ören) 1293, /se honden ( : schonden) 4711, verbosen
(: lasterlosen) 4801, losen : vro sin 3011, stören : beJcoren 1415.
— ou : frouwen (inf .) ( : frouwen dat. sg.) 4494 ist die alte
regelrechte form mit geminiertem w, *frawwjan, wo nie Um-
laut eintritt. — u: geturstic (: durstic) 329, sunden {: wunden)
3771, sunde : rnunde 3573, urJcunde : munde 617, twunge (2 p.) :
lösunge 150, runge : wustenunge 1645, wunne : sunne 2623, er-
vult : sult 1825, : gedult 1910. 2027, gründen (: schunden) 3099,
turen ( : beJcuren) 3283, stucken ( : erschrucken) 3293, 6w^e
(lÄCÄu^^e-^)) 2925. — i*ö: guote (ibluote) ISllj ruogen {: sluogen)
1815, mwön (: müejen) : ^efow 1281. 3077. 4937, gescuofe (iruofe)
345. 4907, pruofen (: huofen) 5121, 5«*öwe (: ^wowe) 2099. Nicht
beweisend — da die alte regelrechte form ohne umlaut vor-
liegen kann bez. muss — sind: fuosen {:muozen) 434. 907. 4511,
kuol (: stuoT) 625.
a.
a, a =^ gemeinmhd. a, a. Insbesondere ist a erhalten in
vianden {: anden) 4995. Im sg. praes. des verbums ^sollen'
ist die a-form durch die reime auf al, gewalt, gestalt gesichert;
vgl. V. 998. 2968. 3082. 3352. 3934. Darnach wird wol auch
sal : wal 1281. 2607 zu lesen sein, obwol auch sol : wol mög-
lich ist. Der gebrauch von sol neben sal wäre ganz unbedenk-
lich. Die a-formen entsprechen dem dialekt des dichters, die
ö-formen konnten als bequeme conventionelle reimwörter Ver-
wendung finden. Dem entspricht auch die ausschliessliche
herschaft der o- formen in den reimen der Apokalypse, die
sicher nicht als dialektisch erklärt werden kann. Auch die
*) Ebenso bei Jeroschin (Pfeiffer s. lx), Erlösung (anm. zu v. 154. 275.
523). Im buch Hiob wird ausser a, d nur ou umgelautet (vgl. W. Müller,
Das md. buch Hiob s. 14). Im Md. schachbuch ist der umlaut aber, wenn
auch nicht ausnahmslos (gunne : brunne 241, 11), doch im allgemeinen durch-
gedrungen (vgl. Sievers, Zs. fda. 17, 387).
*) = *das schütteln'; Jeroschin v. 22742 die dries gab so harten stöz
mit schütte dem gebuide.
10*
14d fiELM
meisten anderen md. dichtungen zeigen sal und sol neben-
einander im reim.
Md. van ist durch den reim nicht zu belegen, dagegen
von (: ßymeon) 2879, (: gewon) 4054. 5177, (: ungewon) 3037.
Ebenso entbehrt a für e in larte, harte, welches Amersbach
als zweifellos annimmt, eines beweisenden reimes,») da beide
Worte nie mit echtem a reimen; wol aber ist e belegt in Teerte :
erte 1589.
Belege für vocaldehnung sind im gegensatz zu anderen
md. denkmälem (Schachbuch, vgl. Sievers a.a.O. s. 385, buch
Hiob, vgl. W. Müller s. 11) noch selten, für a nur vor r zu be-
legen : gar : war 2073. 5241, schar : ^tvär 617 (vgl. A. Eitzert,
Beitr. 23, 220); dazu käme noch began : wän 5094:, wenn man
diesen reim nicht lieber als ungenau betrachten will. In
brdhten : ahten 2755 ist umgekehrt wol ein Zeugnis für kürzung
vor doppelconsonanz zu erblicken (vgl. Erlösung 5776). Alle
anderen in einzelnen hss. stehenden und von Amersbach
citierten fälle sind unursprünglich und corrigieren sich leicht.
Ueber contractions-a siehe unten.
Eigennamen auf -at, -an, -am reimen in ihren flectierten
formen nur auf ä: Pilaten : bäten 721. 763. 1441. 2449, Pilate :
dräte 1137. 1319, Adriane : äne 4221, Adame : bräme 171, Ada-
men : nämen 2009. 3405 : quämen 27. 2225, Albane : undertäne
4591. Nur scheinbar sind die ausnahmen Adamen : lichamen
4085. 4901, wofür lichnämen zu lesen; vgl. Germ. 9, 215. Zs. fda.
6, 299.
In der unflectierten form reimen namen auf -am nur mit a:
Adam : nam 917, : quam 2855, : 0am 4057. 3588, was allerdings
bei der Seltenheit der endung -am nichts bedeutet. Namen
auf -an reimen dagegen auf a und ä : Jordan : an 2867, Volti-
sian : an 4445, : hän 4491, : san 4435. Solche namen hat der
dichter also offenbar nach bedürfnis verwendet.
Elyas 2603. 3597, Jesaias 2861, Micheas 3559, Satanas
3013 reimen auf was, gegen einmal Satanas : gas der Apoka-
lypse. Filat ist belegt im reim auf stät 1085, tat 755. 4329.
^) Wie z. b. bei Jeroscbm, Pfeiffer s. lvi.
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 149
Die e- laute.
Im bestand der vier e-laute: e, e, e, m ist natürlich manche
Verschiebung eingetreten; dass dieselben jedoch, wie Amersbach
angibt, principiell gar nicht mehr auseinander gehalten würden,
ist ein irrtum. Im gegenteil: die durchaus reinen reime sind
in so erdrückender majorität (ca. 80 6 : e, 160 e : e, 4tb ce : ce,
60 e : e), dass die anderen dagegen völlig verschwinden.
Zu den reinen e- reimen sind natürlich alle die zwischen e
und dem jüngeren umlauts-e zu stellen (vgl. Wilmanns, Deutsche
gramm. 1, § 198 und die dort verzeichnete literatur): ehte (8) :
rehte 729, geslehte : ehte 4725, : rehte 1311. 1936. 4083. 4297.
5295, pfert : wert 5039 ; auch erge : berge 547, vgl. Ehrismann,
Beitr. 22, 291. Daran schliessen sich an Schemen ( : nemen),
das auch sonst oft auf e reimt (vgl. Lexer 2, 299 und v. Bahder,
Grundlagen des nhd. lautsystems s. 107), und stete ( : tete) 79.
279. 1181, steten {: treten) 4851; vgl. Ehrismann a. a. o. s. 298 f.
Umgekehrt liegen ebenfalls reine reime vor in den fällen,
in welchen e vor g und st bereits gemeinmhd. geschlossen ge-
sprochen wurde (vgl. Wilmanns 1, § 197 anm.2): gegene : we'gene
2503, begegenten : segenten 3471, best : nest 1911, weste : beste
4707, besten : westen 21. 3171. In venie : menige 2373. 3575
kann wol Übergang von e> e vor i vorliegen ^ (vgl. Kauff-
mann, Beitr. 13, 393, weitere literatui» bei Wilmanns § 197);
doch ist diese annähme nicht nötig. Da es für v&nie ein reim-
wort mit e nicht gibt, so ist dieser reim eben traditionell ge-
worden, wie er denn oft den Charakter eines flickreims hat.
Er steht z. b. Erlösung 1129. 3351. Lohengrin 6564. Raben-
schlacht (Martin, Heldenbuch 2) 513. Elisabeth 599. 716. 736.
Ebernand von Erfurt 2841. Heslers Apokalypse 113 a. Nur aus
dem Md. schachbuch 207, 17 ist mir eine andere reimbindung
venjen : imdertenjen bekannt.
Darnach bleiben von reimen von e : e nur noch übrig:
gewerp : derp 3367, gewerhe : erbe 4169, bert : beschert 2033,
merken : werken 763. 1709, smern : nern 4703. In all diesen
*) Schwerlich menige mit offenem e, wie in der Vorauer hs. der Kehr,
anzusetzen ist, vgl. v. Bahder, Grundlagen s. 106. Ueber den reim i : g vgl.
Ehrismann a. a. o. s. 295 und Weinhold, Mhd. gr. § 222. Aus der Apokalypse
sind zu vergleichen die reime vortügen ; conciUen hl, 145, : evangelien bl. 148.
150 HELM
folgt dem e ein r + cons., vor dieser lautverbindung findet ein
ausgedehnter Übergang vom geschlossenen zum offenen e-laut
statt (vgl. Wilmanns 1, § 199).
Fremdes kurzes e erscheint nur selten im reim, teils auf
geschlossenes e: Egestin : westin (s. oben) 1823, : besten 1509,
teils auf offenes: Herodes : des 1397.
Sehr selten sind die reime von e : e (= ce)^): mere : mere
3691, serde : swerde (ce) 3307, veie : nete (ce) 1967, entßt : set
2671. In V. 2565 ist wol mere = mcere zu lesen. Der conj.
praet. von hän reimt auf e (= ce) : stete 62. 4133, crete 675,
trete, daneben auch auf kurzes e: tete 2399. 3801. 5095.
Diese Seltenheit lässt erkennen, dass für unseren dichter
der Umlaut von ä sich mit altem e nicht deckt, wenn beide
laute sich auch ziemlich nahe standen. In weit grösserem
umfang werden e : ce gebunden im md. buch Hiob (vgl. W. Müller
s. 13), schon seltener bei Jeroschin, der die quantität, wie es
scheint, strenger scheidet als die qualität (vgl. Pfeiffer s. lvii).
Bei Ebemand von Erfurt (Bechstein s. xx) und Heinrich von
Krolewitz sind diese reime ebenfalls ziemlich häufig. Urnen
stehen aber andere dichter aus dem ganzen md. gebiet gegen-
über, welche gleich Hesler eine abneigung gegen diese reim-
bindungen haben; vgl. auch v. Bahder, Grundlagen s. 110 und
Ehrismann, Beitr. 22, 290. Es ist nicht notwendigerweise darin
ein dialektisches Charakteristikum zu erkennen, vielmehr wird
oft nur der grad des gefühls für reimreinheit darin zum aus-
druck kommen.
Einzelne md. mundarten haben heute den unterschied
zwischen e und ce ganz auf gegeben, 2) so das obersächsische,
vgl. W. Braune, Beitr. 13, 584. Bei Heinrich von Krolewitz
kann deshalb wol auch schon sehr weitgehende annäherung
zwischen e und ce angesetzt werden. Andere md. dialekte
dagegen scheiden e und ce auch heute noch streng: e als
*) So nach md. Orthographie.
2) Hierzu sind auch die mundarten zu stellen, die e und ce vermengen
und für heide je nach der nachharschaft, in der sie sich hefinden, offenen
oder geschlossenen laut sprechen, so das ruhlaische, das für e den geschlos-
senen laut vor r, l, m, n erhält und in derselben Stellung auch (b in e
wandelt (näheres bei Regel, Ruhl. mundart s. 8). Aehnlich verhält sich
die Stieger mundart, vgl. Liesenberg, Stieger mundart s. 21 und 26.
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 151
geschlosseneu und m als offenen laut; das schlesische hat ce
zu geschlossenem e gewandelt, aber gleichzeitig altes e (und oe)
völlig zu i verengt, vgl. Braune a. a. o. s. 574.
Langes fremdes e reimt auf e und e{(B): Michahele : sele
2581, Neren : eren 4603, sene : Nasarene 1799, : Cyrene 1571.
Olivete und prophete reimen auf hete 2228. 2653. 2883. Das
aus -ehe-, -ehe-, -ehe- contrahierte e wird wie altes e behandelt
und reimt wie dies einzeln auf e (= ce).
Ursprünglich lange und kurze 6 -laute, die bei Jeroschin
sich im reim oft begegnen, werden bei uns selten gebunden.
Gar nicht belegt ist e : e; — e:e erscheint in er : mer 379, worin
wir ein zeugnis der früh beginnenden dehnung des pron. er-
blicken müssen (Wilmanns 1, § 246. Weinhold § 458). Auch
V. 4913 fasse ich als her : mer (nicht her)-, herre reimt auf
verre 1541, wie auf ere 4447, der zweite reim ist der specifisch
mitteldeutsche (vgl. Germ. 1 1, 150). — e:e (= ce) : gezeme : vorleme
353. Hier ist im zweiten wort gleichzeitig dehnung (vor m,
Wilmanns § 243) und Verdrängung des geschlossenen lautes
dui'ch den offenen in anlehnung an ^lahm' anzusetzen. — e: e
(==ce): ledic : stcetic. Der reim erklärt sich auf grund von
dehnung. Wenn ledic unter dem einfluss des Suffixes geschlos-
senes e erhalten hat (Kauffmann, Beitr. 13, 392), so wird man
denselben wandel auch für stcetic als möglich anerkennen
müssen.
In V. 2663 ist gegen Weinhold § 51 geberde ( : erde), nicht
geberde zu lesen.
i.
Langes i ist natürlich monophthong. Eeime von urspr.
i : i sind sin : sin 619 und gezihte : Ithte 2275. Der erste reim
kann nur als unrein betrachtet werden, jedenfalls kann die
dehnung, die Weinhold § 72 annimmt, nicht fest gewesen sein,
da sonst sin stets auf kurzes i reimt. Im zweiten reim nehme
ich trotz bthte : Ithte 1877. 4935 lihte mit kurzem i an, das
wol auf nd. einfluss zurückzuführen ist; vgl. nd. lihten.
Sicher als kurz hat ursprüngliches i zu gelten in den
zweiten compositionsgliedem von esterich : dich 781 und itewis
(: iz) 1081, itewizzen : bizzen 1963, : vlizzen 1815. 4793. Ebenso
reimt stets auf kurzes i die unflectierte form des Suffixes -lieh :
mich 575. 1055. 3097, : sich 199. 225. 271. — -liehe und -liehen
152 HELM
werden dagegen nur mit i gebunden, vgl. v. 837. 1481. 3477.
4191. 4219.0
Fremdes i reimt auf i (im buch Hiob nur auf ie, W. Müller
s. 17): dri : Levi 2681, : Herodi 1419, vrie : AromatUe 2249, Ma-
rien : vrien 1885. 4997, : zihen 989, sin : karin 2753. 2715. 3693,
schinen : karinen 2731, paradis : 5I5 3663, : rfe 11. 119. 4061,
: wts 87, : prts 57. 1873.
2)at;t^ : quU 1615. 2037. 2303, : strit 3163, : m^ 5043, stnten :
Ty^en 4653.
e und i.
Die speciell md. berührung zwischen e und i ist in unserem
gedieht im reim nicht häufig zu belegen. Der grund dafür
kann ein doppelter sein. Entweder empfand der dichter solche
reime entschieden als dialektisch und suchte sie deshalb zu
vermeiden, oder die beiden laute hatten sich doch nur bis zu
einem gewissen grad genähert, ohne aber zusammengefallen
zu sein. Zwischen beiden annahmen zu entscheiden ist un-
möglich, wahrscheinlicher scheint mir die zweite.
e : i liegt vor in belegen : besigen 2347, e : i in pferden :
wirden 4855, beschert : birt 2033. Nicht beweiskräftig ist her-
men : schirmen 541. 4927. In seht : geschiht kann contractions-
vocal ie vorliegen (Weinh. § 1 13). vorjigen : swigen 2683 erklärt
sich durch berührung zwischen e- und i- reihe in iehen, vgl.
V. Bahder, Germ. 30, 400. Behaghel, Pauls Grundr. 1, § 141, 4.
werken (inf.) {: merken) 735 ist altes werkan statt wirkian\
einem as. brengian kann brengen entsprechen in brengen : vor-
hengen 3871, brenge : lenge 2163, brenget : vorhenget 4811
(Amersbach 1, 12. Wülcker, Vocalschwächung s. 25. W. Grimm,
Kl. Schriften 3, 224). Daneben stehen jedoch auch die reime
bring : ging (imperativ) 771, bringen : dingen 303. 841. 4635,
bringet : twinget 761. 5085.
Während in den Stammsilben der laut sich mehr zum e
^) Vgl. ^emhold, Mhd. gr. § 16. Der dort gegebenen zusammensteUnng
ist nachzutragen: bei Ebemand v. Erfurt finden sich reimbelege nur für %
(s. xxiv), ebenso reimt das Passional (vgl. 41, 26. 42, 62. 131, 193), das buch
Hiob (W. MüUer s. 12), Ludwigs kreuzfahrt (4932. 4948. 4966. 4996. 5232.
5368), die Erlösung, das Md. schachbuch (Zs. fda. 17, 386). Im Marienleben
bruder Philipps sind auch reime auf i häufig; doch reimen dort ebenso wie
in der Erlösung auch himelrich 294. 2514, kumgrich u. s. w. auf kurzes ».
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 153
neigte (vgl. auch die heutige ausspräche des i in Norddeutsch-
land, Wilmanns 1, § 222), herscht in den flexionssilben offenbar
die i-qualität vor, wie der reim losen :vr6 sin zeigt; ebenso
kint : pergament 2831, sint : tusent 5127, vrides : Isidis 4567,
Cruzes : lucis 3487, Westen : iestin 1825; — hat in : staten 2563,
twang in : gangen 1927 geben über die lautqualität keinen auf-
schluss. Vgl. auch Ebernand von Erfurt, akrostichon v. 3421
und s. XI. Germ. 5, 489 ff. 6, 424 ff.
0 und 6 sind meist = gemeinmhd. o, 6. Dehnung von o
ist öfter anzusetzen vor r + t; vgl. Weinhold § 79. Wilmanns
§ 247. Ritzert, Beitr. 23, 221 und die dort citierten paragraphen.
gehört : wort 1139. 3747, : dort 929, hörte : worte 2913, : vorQi)te
695, hörten : pforten 3075. In offener silbe stören : bekoren 1485.
In V. 2415 boten: roten ('rot werden' 0) ist im zweiten wort
kürze anzusetzen, die auch sonst im reim häufig belegt ist,
vgl. Lexer 2, 506. Fremdes o vor n reimt mit ausnähme von
Symeon (:von) 2879 stets auf ö: Salomon : lön 1109, Veronen :
lönen 4523, Pharaöne : schöne 1175. 1327. Der dativ auf -o ist
nur im reim auf dö belegt 1189. 4597. 3805. behemot reimt
auf got 253, Enoch auf noch 2687.
lieber ö = w und ö = uo s. unten.
ü ist natürlich monophthong. Nur scheinbar sind aus-
nahmen hüf: besouf 8511, : touf 3003. 5263, da neben hüf ein
altes houf einhergeht, das damit im ablaut steht; vgl. auch
Passional 115,78. 266,5 und weitere belege bei Lexer 1, 1376.
Die reime süft : guft 3305, : luft 3679 erklären sich wol am
einfachsten durch eintretende kürze, ebenso auch lüter : geluter
267. Als beleg für die kürze darf bei luter vielleicht auch
die Orthographie gelten, da die hss. S und G übereinstimmend
stets lutter mit zwei t schreiben, während sie sonst doppel-
consonanz nach langem vocal streng vermeiden. Luter reimt
ausserdem nur noch auf gekluter 3381, gelutert : geklütert 4157,
das im Wb. mit langem ü angesetzt wird. Der einzige beleg
*) Ein intr. roten = ^sich zusammenrotten', an das man an dieser
stelle zur not auch denken könnte, ist mhd. nicht belegt.
154 HELM
für langes ü sind aber die reime eben auf kfer, und solche
sind nur in md. gedichten anzutreffen, wo mit der kürze von
luter zu rechnen ist. Ich glaube deshalb, dass auch in geJcluter
besser kurzes u angesetzt wird.
Zu suß mit kurzem u vgl. auch süffzen bei Luther, Franke
§ 54. Ohne bedeutung sind neben sus : Tiherius 4472, : Jesus
3083. 3467. 4341, hus : Jesus 2605, die reime hüs : Tiherius 4583,
: Nicodemus 3791. Ihretwegen die endung -us (und consequenter-
weise dann auch Jeus) als länge anzusetzen, wie Amersbach
tut, ist natürlich falsch. Die vei-schiedenheit erklärt sich da-
raus, dass der dichter die fremde endung je nach bedürfnis
braucht.
0 und u.
Dem Übergang zwischen e und i entspricht ein solcher
zwischen o und u, wobei im einzelnen nicht leicht festzustellen
ist, ob der lautwert o oder u anzusetzen ist. Amersbach setzt
1, 13 vor nasal u, vor r dagegen o an. Zweifellos ist davon
jedoch nur der zweite ansatz. Mundartlich ist gerade vor r
das 0 viel weiter verbreitet als die Schriftsprache es anerkannt
hat. Auch Luther setzte in früherer zeit vor r + cons. stets o,
während er sich allerdings später auf die fälle beschränkt, in
denen es auch im nhd. geblieben ist ; vgl. v. Bahder, Grundlagen
s. 193. Reimbelege sind vorsten : getorsien 703; in antwurte :
gekörte 1431 kann analogie an wort den lautlichen Vorgang
gestützt haben.
Anders steht es aber mit dem ansatz von u vor nasal.
Vor n,m + cons. ist allerdings auf dem grössten teil des mittel-
deutschen u fest; nur das rhein- und mittelfränkische haben
auch hier o. Vor n, nn dagegen überwiegt o durchaus im
ganzen md. gebiet, während vor m, mm auch öfter u geblieben
ist, vgl. V. Bahder, Grundlagen s. 187. Wilmanns 1, § 225.
In unserem gedieht haben wir nur einen einzigen hierher-
gehörigen reim: kone : sune 733. 1313. 1483. 2105. 2693. 4805.
Kone ist im reim auf ein anderes wort bei uns nicht belegt,
sun nur noch auf berun 3023 und tuon 5321. Keiner dieser
reime kann eine entscheidung bringen. Namentlich entbehrt
sun : tuon jeder beweiskraft, da er in der ganzen mhd. literatur
als literarischer reim weit verbreitet ist (vgl. Wolfram).
HEINRICH HBSLERS EVANGELIUM NICODEMI. 155
ei,
ei ist nie neuer diphthong = altem i. Es steht in beide :
leide 1811. 3557. 4847. 4359, : weide 3. 1619, beiden : leiden 1599.
2123, : bescheiden 2763, beider : cleider 811; ebenso in js^wein :
ein 1437. 2171. 2492.
Dazu tritt ein neues ei aus contraction von -ege-, -age-.
Da es sich auf die formen geseit (: -heit) 3417. 4007. 4631 und
leiten (: bereiten) 2437 beschränkt, so ist es wol als rein lite-
rarisch zu betrachten; vgl. H. Fischer, Zur geschichte des mhd.,
Tübingen 1889.
Ursprünglicher diphthong iu ist stets durch ü vertreten;
eine Scheidung in ü und u ist nicht zu belegen (Behaghel, Pauls
Grundr. 1, § 59, 2); suchen (: brüchen) 3029, tüffe (: üife) 5385,
für (: sür) 2021. 3197, rüwen (: büwen) 3495, (: trüwen) 2521,
nüwen (: büwen) 3767, nüwet (: büwet) 5214. 5289, (: trüwet)
891. 2379. 5307.
Zu kurzem w wird dieses ü = in reduciert in frunt
(: gesunt) 1305. 2511, (iJcunt) 2177, frunden (: sunden) 2531,
(: ÄMwdew) 3807, (: Urkunden) 4081.
(Vgl. V. Bahder, Ein vocalisches problem des md.). Als laut-
wert für mhd. ie kann dreierlei in betracht kommen: % e und
diphthong.
1) t kann im Ev. Nie. durch keinen reim belegt werden.
Namentlich ist nicht beizuziehen v. 2293 tiere : vtre, da hier
dem vocal ein r folgt. In v. 3093 ist wol wiesen : biesen,
nicht btsen zu lesen; vgl. dagegen Amersbach 1, 15.
V. 5179 tiefel : zwivel kann nicht zum beweis herangezogen
werden, da der reim als literarisch betrachtet werden muss^
und als solcher auch in gedichten vorkommt, deren dialekt ie
und i sicher trennt, z. b. Martina 179, 60.
>) Eine andere möglichkeit liegt indessen hier doch noch vor, dass
wir nämlich tuvel lesen müssen, wie auch S stets schreibt. Wir müssten
dann in zwivel Verdunkelung des vocals unter einfluss des w annehmen, wie
sie für kurz i in v. 3299 zusehen : erliischen belegt ist. Für i ist diese er-
scheinung freilich nirgends zu stützen, ausser durch das auch nicht streng
beweisende kut (= guidit), vgl. Weinhold § 227, das aber bei uns nicht
156 HELM
In der Apokalypse findet sich in den ersten 13400 versen
nur 6in reim ie :i: 0 6472 sis : verlies, der bei dem grossen um-
fang des gedichtes natürlich nicht ins gewicht fällt.
2) Für e kann nur ein sehr zweifelhafter reim angeführt
werden: 1369 knete (^kniete') : vlete. Die Apokalypse bietet
keinen beleg für diesen fall.
3) In weitaus den meisten fällen wird dagegen ie mit sich
selbst gebunden: im Ev. Nie. 110 mal gegen drei. Die laut-
liche Sonderstellung kann dadurch als gesichert gelten. Ein
directer beweis, dass tatsächlich noch diphthong anzusetzen
ist, ist jedoch nicht zu erbringen. Die reime auf i, i vor r
sind unbrauchbar. Ebenso ist diet : geschiet 2309 nicht zwin-
gend, da nicht unbedingt ie angesetzt werden muss. Bemerkens-
wert sind jedoch einige reime der Apokalypse. Während z. b.
im Ev. Nie. spielen auf ziten 4965 und siten 1517 reimt, ist
in der Apokalypse bei wthen im praet. die synkope unter-
blieben; die betreffenden formen reimen nie auf 4t, dagegen
auf diet (: gewiet D 77 a) und diete (: wiete) D 68 a.
uo.
Auch hier sind dreierlei lautwerte denkbar: ü, 6 und
diphthong.
1) Für ü bietet das Ev. Nie. keinen beleg; ü : uo reimen
nur im auslaut (vgl. v. Bahder a. a. o. s. 35. 42) : nu : vruo 2335.
2571, : zuo 1229. Der reim sun : tuon beweist nichts (vgl. oben).
Die Apokalypse hat dagegen fxiv ü\uo ebenso wie für t : ie
einen reim in lüten (= Hüten) : hüten {=^huoten) D 92 b. Die
von V. Bahder angeführten reime brütegum : ruom, wtstuom sind
anders zu beurteilen, da in ihnen kurzes u vorliegt. Zweifel-
haft ist die erklärung des in der Apokalypse sehr häufigen
reimes mhit {isiuhit) : bluot 83 b. 92 b, : guot 87 a, tuot 74 c. Man
kann hier mt lesen oder entsprechend dem obengenannten
gewiet auch mit. Im reim auf -üt ist die form nicht belegt.
2) An reimen von uo auf 6 zeigt das Ev. Nie. nur einen:
ruoren : stören 1837; ausserdem drei auf o (kurz): vuorten : be-
kommt; vgl. quit : Davit v. 1615 u.a. Nur einen reim aus unserem gedieht
wtisste ich anzuführen, der für unsere auffassung sprechen kann: v. 5283 be-
swich : böchj wenn die lesart richtig ist. Danehen steht freilich ein reim be-
swich : gelich 3419. — Zu tüvel vgl. Heinrich v. Krolewitz 4053 duJ>el : w6e/.
HEINRICH HESLER8 EVANGELIUM NICODEMI. 157
horten 2765, fuor : urbor 3881, mochte : wrohte 3245. Im reim
auf fruo kann v. 2647 duo gelesen werden, wenn auch die
übliche form im Ev. sonst do ist, vgl. die reime auf den dat.
lateinischer Wörter v. 673. 2551, ausserdem dö : frö (adj.). Die
Apokalypse zeigt ebenfalls einige reime auf 6, nämlich vuor :
urhor, zuo : 16, sehr häufig tuon : Ion, und armuot : not, : vorböt.
Unter diesen reimen müssen die gesondert betrachtet werden,
in welchen dem vocal ein r folgt. In dieser Stellung wird 6
in einzelnen mitteldeutschen gegenden zu ü verengt, vgl.
Weinhold § 114; für Veldeke Behaghel s. lv; für den hessischen
dialekt Behaghel, Lit.-bl. 1880, 437.
Dieser Vorgang war gewis nicht nur auf den westen be-
schränkt, sondern erstreckte sich auf weitere strecken Mittel-
deutschlands, wenn auch der resultierende laut nicht überall
der gleiche gewesen sein muss. Jedenfalls müssen wir für
unser gedieht die möglichkeit der Verengung anerkennen.
Ebenso dürften die reime auf -ön aufzufassen sein. Es
bliebe also dann nur noch übrig armöt ( : not), wo das ö wol
der Stellung in nebentoniger silbe zuzuschreiben ist und 00
( : lö), das im ganzen md. gebiet abgesehen vom thüringischen
einzeln neben zuo zu belegen ist, das auch bei uns in erster
linie steht. Vielleicht ist hier im vocal einfluss einer benach-
barten nd. mundart zu erkennen.
3) Diphthongische ausspräche des uo ist aus dem Ev. Nie.
nirgends zu erweisen, wenn es auch vorwiegend mit sich selbst
gebunden wird. In der Apokalypse sind es die erwähnten
reime auf züit, die diphthongisch gefasst werden können.
Wir erhalten also weder für ie noch für uo ein völlig
einheitliches bild; bei beiden zeigen sich nebeneinander ver-
schiedenartige sprachformen. Als grundcharakter des dialekts
kann aber doch die lautliche Sonderstellung von ie, uo be-
trachtet werden, die durch die überwiegende zahl von reimen
gesichert ist.
n. Consonanten.
Die consonanten stehen im wesentlichen auf gemeinmhd-
stufe. Im einzelnen ist zu bemerken:
a) Labiale. m6 ist zu mm assimiliert: dumme: stumme
335, krummen : stummen 745. 1231. 3117, wammen : flamme^
158 HELM
4180J) — Intervocalisches fmit b im reim gebunden: huoben :
pruofen 5121; vgl. Apok. 0 8356 biever : lieber. Dazu stimmt
auch die Orthographie in S: höbe : bischobe. — Verschiebung
von p nach r zu f ist gesichert durch scharf : darf 283, warf :
darf 4589. — ft> ht in mehtic : creftic.
b) Gutturale. Ob die aus -ege-, -age- contrahierten ei
(s. oben) lautlich von bedeutung oder rein literarisch sind, muss
dahingestellt bleiben.
Im auslaut reimt g : c\ tac : smac 1961, : erschrac 4001,
lac : smac 7. 123, : strac 1215, : schra^i 2369. 2595, sJac : erschrac
3065, wec : flec 2209, dranc : stanc 1245, danc : sanc 3545.
In der ableitungssilbe -ic ist wie schon teilweise im ahd.
(Jellinek, Beitr. 15, 268 ff.) spirans anzusetzen: unvellic : sich
225, vellic : sich 271, Tcundic : sich 2511. Ueber die erklärung
dieser in den heutigen md. mundarten weit verbreiteten er-
scheinung vgl. Behaghel, Pauls Grundr. 1, § 103. V. 235 ist zu
lesen dahte (zu decken) : mähte. Der reim patriarche : starke
3165 ist literarisch. Grammatischer Wechsel h : g ist zu be-
legen durch gestigen : vorligen 4869, sluog : genuog 4585, : truog
533, twuog : genuog 449 (vgl. Braune, Ahd. gr. § 346, anm. 2).
h verstummt nach gemeinmd. regel 1) im auslaut: hö :
unvrö 3781, sä : entwäQi) 444; vgl. Apokalypse llld bläsin :
nä sin; — 2) nach liquida: bevolen : vorstolen 2281. 2359. 2445.
5129, : erholen 3777, : dolen 621, enpfolen : kolen 627, bevelen :
Stelen 2273, vorte (vorhte) : horte 695; — 3) zwischen vocalen:
sten : len 4695, : ien 2179, Cyrene : ze sene 1570, 5^aw : slän
3613, : 5an (= sähen) 2661. 4013. 4303, ^raw : hän (hähen) 1465.
4343, äs : gäkes 4885, awß : jse entfäne 3021, ^a^ : slät 1064,
w;ar : när (näher) 2175. 2703, W^^e : hoste 151. 1737, JfaHen :
jsten 989; — 4) meist fällt h endlich in niet (: diet) 395. 1651.
1661. 2805. 5035, (: riet) 1588. 2007; vgl. Hertel, Thüringischer
Sprachschatz s. 16.
c) Dentale. Un verschobenes t findet sich in dit : trit 2220 ^
in der Apokalypse findet sich auch der reim di^i : vorgiis bl.97b;
kurt (: geburt) 1003. 1735. 3386. 4911. 5387 kann anders erklärt
werden. Ueber die 3 pl. praes. ohne t s. unten.
1) Die von Amersbach gegebenen belege zum teil nicht beweisend,
z. b. umme : krumme.
HBiKßlCH HBSLERS EVANGELIUM NICODEMI. 15Ö
Eeime zwischen germanisch j^ (d) und d (t) sind sehr selten:
ledic : stcetic 5099, sntden : zUen 4739. Auch in fremdwörtem
sind d und t scharf geschieden: frides : Isidis 4567, striten :
Tyten 4653.
Im inlaut nach l und n ist stets d anzusetzen: golde :
wolde 3963. 4251. 4527, schulde : dulde 133. 1713. 4345 (vgl.
W. Braune, Ahd. gr. § 163, anm. 6), schuldic : geduldic 261. 1113.
1369. 3655. 4313. 5082, ander : wander 2611. 4037, munde :
sunde 3573, geJcundet : gesundet 1549. Im auslaut dagegen
herscht t, auch nach l und n: schult : sult 727. 1039. 1165,
: erfult 1537. 1977. 4749, nit : strtt 1351, : zU 319. 393. 3601,
leit (praet.) : arbeit 3825, : 6ßmY 4429, : -hat 1675. 1791. 2495.
5291 U.S.W.
nd : nn reimt in binnen : vinden 1914; dagegen ist ein reim
ng : nd, der dem grössten teil der md. mundarten entspräche
(von Hessen bis Schlesien, vgl. Behaghel, Pauls Grundr. 1, § 131.
Hertel, Thiir. Sprachschatz s. 18) weder im Ev. Nie. noch in der
Apokalypse belegt.
Spirans ^ : s reimen in neigen : weisen 4931.
Auffallend ist der reim hajs : schat^s 501. 2447. Ganz aus-
geschlossen ist hier natürlich die annähme von spirans in
schätz; ebensowenig glaube ich, dass wir in diesem reim einen
beleg für die ansieht erblicken dürfen, lautgesetzlich sei die
Verschiebung im auslaut nur bis zur affricata durchgedrungen.
Zwei möglichkeiten bleiben aber noch übrig. Der reim könnte
als consonantisch ungenau gelten, wogegen an sich nichts ein-
zuwenden wäre, als das bei Hesler direct ausgesprochene be-
streben, reine reime zu bilden (s. anh.). Endlich wäre aber
auch möglich, dass wir auch hier wider nd. elemente vor uns
haben und demgemäss hat : sJcat ansetzen^üssen.
Synkopierung tritt ein in län : getan 4835, : stän 5059, last':
hast 3569, dazu lie : hie 2669.
d) Liquidae und nasale. Metathesis des r wird ge-
sichert durch wrohte : ruochte 3245. Abfall des r im auslaut
schwerer einsilbiger worte : sä : entwä 443, e (adv.) : e (subst.)
893, da : Äbda 2457, : Juda 609, me : sne 2665. 3697, : i 737.
1053. 2679. 3763. 5252. 5279. Umgekehrt ist mer belegt im
reim auf her 4481. 4579. 4913, und wol auch v. 379 auf er.
Verklingen von n ist durch einige reime belegt: urJcunde
160 HELM
(gen. sg.) : frunden 2081, were (3. sg.) : vorheren (3. pl.) 4255,
veme : nemen 5067. Fraglich sind v. 369. 821. 2051. 4387 u. a.
n : m werden gebunden in gereinet : geheimet 3215.
III. Flexion.
1) Substantivum. Apokope des e im dat. sg. der starken
masc. und neutra ist nur in gehorsam : stam 2025 anzutreffen.
Dagegen ist das e gesichert durch schalke : Malke 611. Nicht
streng beweisend sind Mnde : ich finde 341. 1045, jsorne : der
verlorne 3247. 3381. 3459. Wol aber muss einer beträchtlichen
zahl von reimen ohne beweiskraft aus metrischen gründen
das e zuerkannt werden.
Amersbach führt als beleg noch an jse hüs : clus (dat).
Wenn nun aber auch hüts das ursprüngliche ist (Braune, Ahd.
gr. § 192, anm. 7) und auch im mhd. im allgemeinen vorwiegt,
so ist doch auch hüse häufig. Man könnte deshalb an unserer
stelle unbedenklich hüse : clüse lesen.
Die pluralendung -er ist selten; im reim nur belegt in
kinder : hinder 2835, cleider : leider 1625. 4249, meist aber reimt
kint : wint 1711. 3043. 3177, kinden : winden 3883, dorfen : ent-
worfen 4395, swert : wert 5145, landen : anden 961. 1337. 4671,
geisten : meisten 5301, : leisten 3009. 4950.
Von hand ist sowol die ältere form der w-declination wie
die jüngere der i-declination zu belegen: handen : landen 3919.
4959, : erstanden 2537, : schänden 3993, henden : wenden 3313.
2) Adjectivum. Die stark flectierte form nach dem
bestimmten artikel ist gesichert in v. 1902 möter : der wol goter.
Selbstverständlich ist sie beim pron. poss. die sine (pl.) : Ka-
rine 2753. ^
3) Pronomen. Für das Personalpronomen der 2. p. pl. ist
dat. ü gesichert durch ü : 0e du 877 und ü sint : tüsent 5127
(derselbe reim auch Apokalypse D 77 b). Die 3. pers. er (: mer)
ist nicht streng gesichert, da auch he : me gelesen werden
könnte. Vom demonstrativum ist nom. sg. der belegt im reim
auf her 1471.
4) Verbum. Praesens: 1. pers. sg.: vernimeiime 1477,
vreische : fleische 3233, sende : ende 361, sage : tage 1871. Formen
auf -n sind nicht zu belegen ausser hän (: gän) 3935, (: sän) 713.
HEINRICH HESLEÄS EVANGELIUM NICODEMI. l6l
2.pers. sg.: vrdsches : vleisches 282. 1985. 4035, gehütes : lütes
3877, Vorteiles : heiles (gen.sg.) 2051, entwahes : gahes 439. Ebenso
im conj. sts : wis 831. 2530. 2906 und die 2. pers. des schwachen
praeteritums hätes : rätes 2799. Auf -t enden natürlich die
praeteritopraesentia: weist : geist 2643, ebenso tuost (imuost)
3667. Auch bist und 3. pers. ist sind bei uns nur mit t belegt.
Die Apokalypse hat neben ist : vrist 100 a auch vegefüris : sür
is 99 a.
1. pers. pl. Für den abfall des -n, -en sind keine reim-
belege anzuführen.
2. pers. pl.: gelouhet : houhet 2771. 4967, stt : 0it 4781. In der
Apokalypse daneben auch mugent : tugent 66 a und öfter.
3. pers. pl. Durch reime ist bei uns nur die endung -en
zu belegen: sprechen : durchstechen (int) 4814, wizzen \gevli1s2en
2739, scheiden : velden 4791, : selten 4963, leisten : geisten 2949,
wollen : envollen 1083, neigen : weisen 4931. Nur tuon bildet
auch hier eine ausnähme: tuont : stuont 3703. In der Apoka-
lypse findet sich auch tuon (Amersbach 1, 20), aber auch bei
anderen verben die endung -ent: reichent : gezeichent 71a.
Praeteritum: 2. pers. sg. gienge : vienge (3. pers. conj.) 662,
were : Romere 4347, trete : hete 3. sg. ind. 2825, runge : wustenunge
1462, fände : sunde 2829, betrüge : luge 3415.
Infinitiv. Abfall des -n ist nur in «;eme : genemen 5067
belegt. Dagegen finden sich viele reime zwischen inf . und 3. pl.,
wodurch ein absolut zwingender beweis für erhaltung des -n
allerdings nicht erbracht wird.
Die flectierte form des Infinitivs auf -ene lässt sich eben-
falls im reim nachweisen: Cyrene : ze sene 1572, ttione : suone
2099. 4129. 5321, äne : ze entfäne 3021, vorgebene (adv.) : ze lebene
3969; beginninne : minne 313 (wahrscheinlich synkope beginne
anzusetzen).
Für den vocalismus des Stammes gilt folgendes:
Im praet. und part. der sw. v. ist rückumlaut regel (vgl.
oben). Die 1. pers. praes. der starken verba 11. klasse ist nur
mit ü (iu) zu belegen: ich lüge : ze gezüge 1043. 4721. In der
Apokalypse dagegen sind auclv formen mit dem aus dem pl.
und inf. eingedrungenen ie gesichert, vgl. Amersbach 1, 21.
Kiese v. 1062 ist als conj. aufzufassen.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. W
162 kELM
Die 2. und 3. person dieser verba zeigt auch in der Apo-
kalypse nie den gebrochenen vocal, vgl. mit : bluot u. a.
Erschrecken st. v., das zur 4. klasse gestellt wird, bildet
einen pl. praet. nach der 3.: erschrucken : stucken 3293. Ebenso
findet sich von irleschen die bisher weder ahd. noch mhd. be-
legte form nach der 3. klasse: irluschen : zusehen 3299.
Einzelne verba: sol. Ueber die a- und ö-formen s. oben.
2. pl. sult : erfult 1823.
Wizizen. Das praet. ist durch den reim in dreierlei form
belegt: weste \ heste 21^ :veste4707, westeniJesten 1825] wiste:
Criste 417. 773. 3231. 4229, ipsalmiste 5045, : geniste 3815; wisse:
gelichnisse 1702, : dusternisse 2879, : vorderhnisse 3377, wissen :
gewissen 5079; — conj. praet. wisse : abisse.
Wil. ß- formen: welle : helle 1255, wellet : stellet 4865;
ö -formen: wollen : vollen 1083. 1285.
Gän und stän. e- und a- formen wechseln: gän : hän 1465.
3925, : getan 1451, : wän 5093; gast : hast 2897, gät : tat 1527,
: hat 3185; stän : ^e^aw 65. 979. 1703. 3775. 5055; stdt : Pilat
1085, : hat 1127. 2173. 4629. 4863; gen : len 5119, gre^ : Set 2919,
sten : len 4695, :jen 2179; 5/e : ^ 2735, vorstend : 5^nd 3758. —
Part. perf. gegän : gestän 787, sonst die lange form: erstanden :
Zawdew 2475. 2713, : banden 2707. 4009, : handen 2537, : grew;«»»-
den 2725, : awdew 2587; gegangen : gefangen 4665 ist nicht be-
weisend.
Haben. Praes. 1. sg. hän : gän 3935, : getan 3027. 4473.
: Volusian 4491; 3. pers. sg. stets hat; 3. pl. hän : gän 2895, : ge-
tan 875. — Inf. hän : vän 3129, aber auch die lange form, z. b.
haben : graben 2251. 2291. 5091, : entsaben 1363; ebenso 1. pl.
Äatm : begraben (part.) 3673. — Praet. häte : rate 1683. 4163,
häten : m^m 3851 und hete : trete 2825, : Olivete 2653, %^^ :
Propheten 569. 2227; daneben Äe^e : tete 2399, Ae^ew : ^ei^e» 5095.
In der bedeutung ^festhalten' einmal gehabtes (: labtes) 2995.
Sin, Wesen, Im inf. stehen beide formen nebeneinander:
sin : drin 567, w^e^ew : genesen 2387. 3761. 4331. 5031, : lesen
2477, : ^ßZe^ew 5337. — 3. pl. ind. sint : kint 3177. 3043. 3715.
4563: 4723. 5061. 5201, : bint 4033; aber auch sin : in 807.
3159, : min 3319, : schin 4767, : drin 2981. 3721.
fifüNUlCfi H£SLEttS EVANGELIUM ^ICÖD£MI. 16^
IV. Apokope und synkope
sind auf die allgemein mhd. fälle beschränkt; nach Z, r mit
voraufgehendem kurzen vocal: gehorn : zorn 1224, : dorn 2885,
dar : gar 693. 2452, zwischen zwei t in der verbalflexion: ge-
Stift : Schrift 337, hereit(et)en : leiten 2437. Sonst ist sie sehr
selten; vgl. oben über den dat. Der dialekt des dichters stand
offenbar der apokope und synkope sehr ablehnend gegenüber;
dieselben dürfen deshalb nirgends angesetzt werden, wo sie
nicht direct sichergestellt sind. So wird man auch ahe lesen
müssen, das bei uns nur auf oblique casus und den imperativ
enthöbe reimt (2259. 2569. 2337. 4955); ein reim wie gap : ab
(Apokal^67a) findet sich bei uns nicht. Ebenso ist wol auch
mite (vgl. V. 1853. 2821. 3723) anzusetzen.
Epithetisches e ist nicht zu belegen.
Wir müssen an dieser stelle einen augenblick halt machen
und uns mit der frage beschäftigen, ob in der tat der Verfasser
unseres gedichtes mit Heinrich Hesler identisch ist. Einstweilen
wurde dies stillschweigend vorausgesetzt, da die allgemein an-
genommene theorie m. e. durch Amersbach völlig sichergestellt
ist. Als das ausschlaggebende seiner argumente — und zwar
das einzig ausschlaggebende; denn Übereinstimmung in technik
und spräche bedingen nicht die einheit der person — hat er
selbst (2,21) mit recht die zahlreichen stellen bezeichnet, in
welchen beide gedichte übereinstimmen. Nun ist freilich der
fall, dass ein nachahmer seinem vorbild ganze stellen entnimmt,
in der mhd. literatur nicht so selten, wie Amersbach anzu-
nehmen geneigt ist. So hat Heinrich von München sich ja
nur mit fremden federn geschmückt, der Verfasser des ritter-
romans von Friedrich von Schwaben hat aus der Heidin, Laurin
und Walberan und namentlich aus Wolframs Willehalm grosse
Partien übernommen (vgl. L. Voss, Ueberlieferung und Verfasser-
schaft des mhd. ritterromans Fr. v. Schwaben s. 41. 48. 51 ff.).
Bei uns sind aber die Übereinstimmungen ganz anderer art.
Es handelt sich nicht um einige grössere stellen, die mehr oder
weniger genau aus der Apokalypse herübergenommen worden
wären. Es sind vielmehr lauter kleinere Übereinstimmungen,
zerstreut durch das ganze gedieht. Und diese haben nicht
11*
164
ii£LM
etwa besonders markanten Inhalt, im gegenteil, derselbe ist
durchaus nicht so geartet, dass er eine so ausgedehnte wört-
liche entlehnung durch einen anderen dichter begünstigt hätte.
Dieselbe wäre nur denkbar bei einem nachahmer der die aus-
gesprochene absieht gehabt hätte, den leser glauben zu machen,
dass Hesler der Verfasser seines gedichtes sei, — und der es
zugleich verstanden hätte, seinem vorbild diction *) und methode
bis in ihre kleinsten einzelheiten abzulauschen.
Ich verweise für die Übereinstimmungen auf Amersbachs
Zusammenstellungen (2, 21 — 27) und beschränke mich auf einige
ergänzungen aus dem teil der Apokalypse der Amersbach un-
bekannt blieb.
EN 369
die vier evangelisten
schriben uns von Criste
3913 (3695)
des gedachte er im vil angen
4931 (4713)
und die witewen und weisen
und die gotes hus hie neizen
5065 (4863)
swer der sinne weidet
daz er den dieb heldet
2047
vgl. Amersbach s. 26 unten.
2877 (2667)
von got Jesu Criste
den ich her kunftic wiste
3198 (2984)
da e die wonunge sur
3822 (3606)
do enhet er niht wan den tot
gewis an sineme tröste
Apok. (Danziger hs.) 67 c
die vier evangeUsten
schriben von Jesu Criste
64b
des gedenke dir niht angen
81a
und die cristenheit hie neizen
und die witewen und die weisen
und goteshus berouben.
71a
swelich man des sinnes weidet
daz er die zwei wol heldet.
76 a
dise wort muz ich duten
unvernunftigen luten
85a
diz muz ich baz beduten
unvomunftigen luten.
87a
Patriarchen und wissagen
die got hier kunftic wisten.
98 b
wen die wonunge ist da sur
108d
sie enhan dort niht so gewisses
kuninges als den engel.
*) Welchen wert dieser ausgesprochene stil für die entscheidung über
die echtheit fraglicher partien hat, zeigte sich schon öfters.
J
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 165
EN 4917 (4699) Apok. 85 c
die nideren und die hosten, den besseren noch den hosten
die besten und die hosten. den nidersten noch den hosten.
Zu den redewendungen, mit denen einzelne abschnitte ab-
geschlossen werden, vgl. noch Apok. 73c hie mujs ich wider
wandern, 79 c da laz ich die rede wesen, 112 c da mite si daz
hingeleity 114 c da mite si daz verant
Die anderen argumente sind erst secundärer art, sie be-
weisen an sich nichts, sind aber allerdings unerlässliche Voraus-
setzungen. Fänden sich zwischen der spräche der Apokalypse
und des Ev. unlösbare Widersprüche, so fiele damit trotz allem
die ganze theorie. Nun bestehen ja allerdings einige differenzen,
die an den betreffenden stellen bereits angegeben wurden.
Ihre erklärung finden diese aber ungezwungen auf dieselbe
weise, wie die schon besprochene doppelheit sal — sol\ sie be-
ruhen auf einem verschieden starken hervortreten des dialek-
tischen Clements, neben dem der dichter auch reichlich andere
formen anwendete, die seinem dialekt zwar nicht angehören,
ihm aber durch die literarische production geläufig waren.
Der sichere beleg einer dialektischen form in nur einem
der gedichte Heslers ist deshalb nicht minder wertvoll für die
fixierung des dialektes. Wir können darnach die ergebnisse,
die wir aus dem Ev. Nie. gewonnen haben, aus der Apokalypse
in einigen punkten ergänzen.
1. Vereinzelt findet sich e für ei (Amersbach 1, 14), z. b.
wenig : enig,
2. Contractionsvocale d aus äwe in län = läwen, Amersb.
1, 14, und i aus ihi in git : zit, Amersb. 1, 15.
3. Die in S im versinnern belegte form hogen zeigt die
Apokalypse auch im reim.
4. Assimilation hs > ss: 71 d von des heiligen geistes wamsen :
geworden zu einer massen.
5. Epenthetisches d beim Infinitiv, vgl. Amersb. 1, 21.
B. Heimat des gediohtes.
Versuchen wir zunächst die heimat unseres gedichtes zu
ergründen an der band dessen was wir über den Verfasser
wissen. Bekannt ist von diesem nur der name. Er nennt
sich Apok. 154 Heinrich heiz ich mines rehten namen Hesler
166 HELM
ist min hus genant, und ebenso in dem dritten seiner werke,
dessen reste Heinemann Zs. fda. 32, 111 ff. und Steinmayer ebda.
s. 446 ff. veröffentlichten: v. 60 ... die werden irkennen mich \
unde wiesen daz ich Heinrich \ von Hasiliere bin genant. Auf
grund dieser angäbe hat zuerst K. Eoth in seinen Beiträgen
zur deutschen spräche 1 — 10 s. lvi auf Burghäsler westlich von
Naumburg als die heimat Heslers hingewiesen, und dies ist
allgemein, auch von Amersbach, acceptiert worden; vgl. auch
Behaghel, Zs. fda. 22, 136. Aber die annähme ist nicht zwin-
gend. Adlige familien des namens Hesler, Heseler begegnen
uns im laufe der zeit mehrere.
Eine familie Heseler findet sich unter dem schlesischen
adel des fürstentums Liegnitz (Siebmacher 6^, tat 32). Wir sind
über sie leider nur sehr schlecht unterrichtet, da wir erst
aus der zweiten hälfte des 14. jh.'s glieder derselben kennen.
Ueber ihren Ursprung und herkunft wissen wir nichts, es ist
nicht unmöglich, dass sie ein erst im 14. jh. nach Schlesien
eingewanderter zweig einer der noch zu nennenden geschlech-
ter ist.
Eines derselben, ebenfalls Heseler genannt (vgl. Siebmacher
6«, taf. 44) war im stifte Merseburg ansässig, mit dem Stamm-
sitz Oberwünsch. Dasselbe erlosch im 16. jh., kann aber mit
Sicherheit nicht weiter als ins 14. jh. zurück verfolgt werden.
Die dritte familie ist die von Roth gemeinte. Sie hat
aber mit den jetzigen grafen Häseler nichts zu tun. Diese
stammen vielmehr von zwei brüdern ab, welche aus dem mag-
deburgischen einwandernd das kloster Hesler erwarben und
im jähre 1733 den adel erhielten,^) da das alte geschlecht
längst erloschen war (Siebmacher 3 *, taf. 11). Dieses selbst
stammte von Heinrich von Burkersroda, der 1239 bürg und
kloster Hesler im heutigen kreis Eckartsberga bei Naumburg
erwarb. Seine söhne nannten sich zueilst Hessler (Siebm. 3*^,
taf. 216). Nachrichten über die familie finden sich namentlich
in Val. Königs Genealogischer adelshistorie oder geschlechts-
beschreibung der adeligen geschlechter in Chursachsen (1727—
1736). Daraus sind auch die angaben in Zedlers Universal-
lexikon geschöpft. Die dort gegebene genealogie lässt sich
^) Der grafentitel stammt aus dem jähre 1790.
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 167
freilich nicht halten, da nach ihr je drei generationen zwei
Jahrhunderte umfassen. Belegt ist ausser dem gründer Heinrich
von B., der natürlich als Verfasser unseres gedichts gar nicht
in betracht kommen kann, noch ein Heinrich Hesler als iudex
et assessor zu Gosserstädt 1264, der wol ein söhn des gründers
der familie war. Seiner lebenszeit nach könnte er als Ver-
fasser unseres gedichts eventuell in betracht kommen. Er
müsste es dann in höherem alter verfasst haben.
Ein Heinrich Hesler wird nach Zedlers angäbe als mini-
steriale des landgrafen Hermann von Thüringen erwähnt. Da
die familie seit 1239 die bürg Hesler besass und landgraf
Hermann erst 1241 starb, so kann dieser Hesler mit dem vor-
genannten identisch sein. Als Verfasser wäre derselbe dann
aber auszuschliessen. Leider ist es unmöglich, Zedlers notiz
zu prüfen oder festzustellen auf welches jähr sie sich bezieht;
es ist jedenfalls aber die möglichkeit im äuge zu behalten,
dass der ministeriale Heinr. Hesler noch gar nicht dieser
familie angehört, sondern vielleicht einer älteren, nach deren
erlöschen H. von Burkersroda erst Burghesler erwarb.
Zwei weitere Heinrich v. Hesler sind endlich 1391 erwähnt,
davon der eine als clericus in einem briefe des klosters Peters-
berg bei Eisenberg. Beide sind ihrer lebenszeit nach schon
ausgeschlossen, der eine übrigens auch als geistlicher; vgl.
Amersbach 2, 28 f.
Nicht in betracht kommen die Haseler von Huttenpfühl
(Siebmacher 6*, taf. 19), die im 17. jh. in Brandenburg sind und
1745 erloschen. Sie können nicht in so alte zeit zurückverfolgt
werden, und waren überdies eine süddeutsche familie.
Gelingt es also nicht, einen Heinrich v. Hesler historisch
sicher nachzuweisen, der der Verfasser unseres gedichts sein
könnte, so steht es andererseits auch gar nicht fest, dass H.
wirklich adligen Standes gewesen ist. Weder seine ausdrucks-
weise in der Apokalypse noch in den fragmenten nötigt dazu;
die folgenden äusserungen gegen fürsten und hen-^n im Ev.
Nie. sprechen dagegen entschieden für bürgerlichen stand.
V. 4868 (4650)
dajs merket an üwerem mote daz ir so böge sit gestegen
durch waz dese ere ü si vorlegen, über üwer sippeteile.
168 HELM
V. 4831 (4663)
wint ir daz von adele und ein also wormich äs
dese §re an ü wadele nnd irsterbet also gia,
oder von angebornen werden! also die bittende armen,
ja Sit ir also vül erden
V. 4898 (4680)
wir beten doch al einen vater alle glich eben her,
und eine mdter allentsam oder der vater der was m^r
da die menscheit abe quam: ein höe und ein nidere.
vrowen Even und Adamen. da von 0
von der zweier Itchn&men die nideren und die hosten,
so si wir al geliche, die besten und die hosten,
arme unde riebe, die werden und die unwerden
ze der werlde gekomen. sin komen zuo der erden,
ich hän daz niergen vomomeu, oder uns ist gewalt gesehen.
— man ruofe daz man ruofe — daz soldet ir herren ane s^n
daz got ie m^r gescuofe und soldet gote des sagen danc,
wen Even und Adamen, daz wir sin under ü so cranc
da, von wir alle quämen. daz wir ü ze den vuozen ligen
daz ist lanc oder kort: und ir sit über uns gestigen.*)
wer sin an der gebort
Gehörte aber Hesler einem bürgerlichen geschlechte 2) an,
so schwindet jede hoffnung, ihn auf grund seines namens
localisieren zu können, vollständig. Die möglichkeit des Vor-
kommens des namens Heseler, Hesler ist unbegrenzt. In
ganz Deutschland gibt es Ortsnamen, die von Hasel abgeleitet
sind; es ist nicht abzusehen, weshalb die familiennamen gleicher
herkunft auf ein kleines gebiet beschränkt sein sollten. In
Mecklenburg ist z. b. eine familie Hesler bezeugt durch Ger-
hard H., bürger in Rostock 1275. 1283, Alexander H. capitanus
in Warnemünde 1302 und Hermann H., bürger in Rostock 1338.
1348. 1350; vgl. Mecklenburgisches urkundenbuch, index 1 — L
5—12.
Wir werden demnach darauf zurückgewiesen, zu versuchen,
ob sich aus der spräche allein merkmale für die heimat des
gedichtes ergeben.
*) Der vers in G ganz verdorben : so bin ich tcorden irre. S schreibt
da von der wnde genere; doch halte ich dies nur für einen versuch, die
stelle, die der Schreiber schon nicht verstand, verständlich zu machen. Ich
vermute im original ein iedewedere.
2) Dass Hesler nicht ein geistlicher, sondern ein laie war, hat Amers-
bach 2, 30 ff. auf grund einiger stellen der Apokalypse nachgewiesen.
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 169
Die weitaus überwiegende mehrheit der aus den reimen
zu erschliessenden sprachlichen tatsachen sind gemeinmittel-
deutsch und können zu einer engeren localisierung nichts bei-
tragen. Wechsel zwischen e und i, o und u, vereinzeltes un-
verschobenes t in dity die contrahierten verbalformen fan, sen,
doppelformen wie gän,gen, stän,sten, weste — wiste — wisse u. a.
sind an keine bestimmte gegend gebunden. Ausserdem muss
stets mit dem eindringen literarischer formen gerechnet werden.
Einige enger zu begrenzende dialektische eigenheiten sind
aber doch zu finden, und es fragt sich nun: kann darnach die
bisher angenommene thüringische heimat des dichters als mög-
lich oder wahrscheinlich erwiesen werden? Amersbach bejaht
die frage, indem er sich auf die reime engrame : namen (Apok.)
und veme : nemen Ev. Nie. 5067 beruft. Beide reime sind aber
ganz verschiedener natur. Charakteristisch für Thüringen wäre
nur der zweite mit verklingen des n im inf . Aber auch dieser
nur, wenn er nicht der einzige seiner art wäre; in sämmtlichen
nach Thüringen gehörenden denkmälern zeigen sich die apo-
kopierten Infinitive in grosser zahl.*) Ebernands von Erfurt
Heinrich und Kunigunde hat auf 2375 reimpaaren 79 mit In-
finitiv auf -e (zum teil zusammengestellt von Bechstein in der
ausgäbe s. xxi f.). *Daz brechen leit' (Bartsch, Md. gedichte
no. 3) hat unter 134 reimpaaren 8 solcher. Des alten weibes
list unter 228 sogar 26 (ebda. no. 4). Die Pommersfelder hs.,
die auch die beiden letztgenannten gedichte enthält, schreibt
auch im versinnern sehr häufig die apokopierten infinitive, so
in der Heidin v. 45. 315. 545. 548. 584. 701. 749. 809. 856. 925.
1084. 1097. In Joh. Rothes werken sind die infinitive ohne -n
ebenfalls sehr zahlreich. Im gedieht Von der stete ampten
und der fursten ratgeben stehen 69 solcher reime auf 646
reimpaare. Im Ritterspiegel stehen 705 infinitive im reim.
Von diesen reimen 242 untereinander, von den übrigen 463
reimen rund 100 mit -e, die übrigen auf -n oder sind zweifel-
haft (z. b. ich schenke : gedenken v. 4050). Noch mehr über-
wiegen die apokopierten infinitive in StoUes Thür. chronik (hg.
von Hesse). Dort finden sich auf den selten l — 24. 101 — 108.
^) Es handelt sich natürlich nur um den nominativ des Infinitivs. Die
flectierte form {ze sehene > ze sehen) hat natürlich das -n erhalten.
170 HELM
141 — 150. 210 bis schluss ca. 250 inflnitive ohne -n gegen ca.
200 mit -w; von letzteren ist aber etwa die hälfte in abrech-
nung zu bringen, da sie nach dem syntaktischen Zusammen-
hang die flectierte form des infinitivs repräsentieren (s. oben
anmerk.).
Die Urkunden sind in diesem punkte sehr verschieden. Die
der Vögte zu Plauen, Gera und Weida (Thüringische geschichts-
quellen bd. 5) zeigen nur wenige fälle. Die landgräflichen
halten sich von diesen dialektformen ebenfalls fast ganz frei
mit ausnähme einiger der verwitweten landgräfln Elisabeth,
datiert Gotha 15. 10. 1331 und 24. 4. 1332 (im Urkundenbuch
der Stadt Jena, Thür. geschieh tsquellen 6, no. 146 und 150), die
je 7 apokopierte Infinitive aufweisen.
Andere Urkunden, die mehr local gefärbt sind, bieten da-
gegen eine reiche auswahl dieser formen. Die städtischen
Urkunden wiegen unter diesen naturgemäss vor, doch sind
auch andere in ziemlicher zahl darunter. Einige beispiele aus
dem Urkundenbuch von Arnstadt (Thüring. geschichtsquellen
bd. 4) mögen dies bestätigen. No. 87 vom 12. 1. 1322 (ver-
gleich zwischen Arnstadt und Erfurt wegen der über die Juden
obwaltenden Streitigkeiten) hat 7 infinitive ohne -n, no. 118.
119 vom 14. 2. 1332 (vertrag zwischen dem abt von Hersfeld
und den grafen von Schwarzburg über den verkauf der Stadt
Arnstadt hersfeldischen teils) haben zusammen 12, no. 142 vom
17. 3. 1343 (vertrag zwischen dem grafen von Schwarzburg und
denen von Orlamünde wegen Zusammenlegung ihrer herschaften)
15, no. 147 vom 11. 5. 1347 (vertrag zwischen den grafen von
Schwarzburg über die teilung von Arnstadt) ebenfalls 15, no.l52
vom 13. 5. 1350 dat. Erfurt (vertrag wegen des nachlasses des
verstorbenen königs Günther von Schwarzburg) 30, no. 156 vom
26. 2. 1352 (innungsordnung des schmiedehandwerks zu Arn-
stadt) 14, no. 241 vom 9. 2. 1395 (vertrag zwischen Bertold
Alkersleben und Kunne Meydel) trotz des geringen umfangs 7.
Im allgemeinen werden die apokopierten infinitive seltener,
je jünger die Urkunde ist, doch hat z. b. no. 812 vom 16. 7.
1487 (innungsartikel des böttcherhandwerks) noch 20 derselben.
Die heutigen Verhältnisse bestätigen aufs beste das aus den
alten denkmälern gewonnene resultat. Im ruhlaischen z. b.
begegnen uns zwei inflnitivf ormen (vgl. Eegel, Euhlasche mundart
HEINRICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 171
s. 100 ff.): eine endungslose und eine mit erhaltener endung.
Erstere, die nach den hilfsverben wollen, sollen, müssen, dürfen
steht und durch praefix ge- verstärkt ') auch nach können und
mögen, ist die normale form des infinitivs. Die zweite steht
in Verbindung mit 0u, nach den verben bleiben und werden
und bei den verben der sinnlichen Wahrnehmung wie sehen,
hören, wenn sie nachstehen. Diese zweite form repräsentiert
also teils die alte flectierte infinitivform (nach ^u), teils ein
ursprüngliches part. praes. (er wirt weinende u. dgl.). Ganz die-
selbe Verteilung findet sich bei Joh. Eothe. Und wie im ruhla-
ischen, so verhält es sich auch in den übrigen thüringischen
mundarten. Für Nordthüringen vergleiche man Mart. Schnitze,
Idiotikon der nordthür. mundart s. 12 f. E. Pasch, Altenburger
bauemdeutsch s.41 gibt nur den abfall des inf. -w an, doch
werden seine angaben kaum als erschöpfend betrachtet werden
dürfen: s. 44 bemerkt er wenigstens, dass der substantivierte
infinitiv das -n behält. K. Schöppe, Naumburgs mundart, gibt
ebenfalls s. 10 nur die kurze regel, der naumburgische infinitiv
habe kein -n. Aber in der textprobe s. 55 ff. finden sich neben
ässe (essen), du (tun) u. a. gerade wie im ruhlaischen: gäbbt
dachch emal mein sone e bar ganze schdiweln ahnzezihn] ich
hadde gedacht ich wärrdn nich widder ze sän grihche. Für
das übrige Thüringen vergleiche man Hertel, Thüringischer
Sprachschatz; z. b. Ebeleben (s. 40ff.) ha wul ufgd (er wolle
aufgeben), aber nischt zum lachen; Erfurt (s. 42) kome, aber
lijis ze waren (los zu werden); Nordhausen (s. 43) ich wils
dich ängeSdriche, ene kü ufzu fressen! Eudolstadt (s. 46) wolde
name (nehmen), aber ze machen,
Ueber die grenze -enj-e sind zu vergleichen Wredes be-
richte Anz. fda. 19 und 20 unter sitzen und machen (zum teil
ist sie auch angegeben auf der karte Zs. fda. 39, 280), Je cht,
Die grenzen der Mansfelder mundart, Zs. des Harzvereins 20, 96.
Behaghel, Pauls Grundr. 1, § 100. Weitere angaben siehe bei
*) Diesen verstärkten inf. als eine dritte form den beiden anderen
gleichwertig zur seite zu stellen, wie Regel tut, halte ich nicht für
glücklich. Folgerichtig müsste er dann auch beim inf. mit endung die
zwei aUerdings lautlich zusammenfallenden, aber ihrem Ursprung nach ver-
schiedenen formen als zweierlei kategorien auseinander halten.
172 HELM
C. Franke, Veterbuch s. 73. Braune, Ahd. gr. § 126, anm. 2, und
speciell fürs ostfränkische Ehrismann, Beitr. 22, 297.
Allerdings sind Infinitive ohne n auch in anderen gegenden
zu finden, in Oesterreich (Seifr. Helbl., hg. v. Seemüller s. xxn),
in Hessen, vgl. Bartsch zu Erlösung v. 2768, im Passional und
im Veterbuch (a. a. o. s. 74). Für Oberdeutschland vgl. belege
bei Weinhold, Mhd. gr. § 372. AI. gr. § 30. Bair. gr. § 288. Aber
hier überall wird das -n auch sonst abgeworfen, und der all-
gemeine Verlust des -n zeigt sich dann eben auch im inf., im
thüringischen und ostfränkischen dagegen bleibt der abfall im
wesentlichen auf den inf. beschränkt, ist also ganz anderer
natur. Ein rein lautlicher Vorgang kann es nicht sein, es
wäre sonst nicht abzusehen, warum er auf eine eng geschlos-
sene syntaktische kategorie beschränkt blieb. Aus diesem
gründe kann ich mich der von Behaghel, Pauls Grundr. 1, § 100
aufgestellten ansieht nicht anschliessen, dass nämlich der abfall
des -w lautgesetzlich bei stammen die mit nasal schliessen,
begonnen und sich von hier aus verallgemeinert hätte. Eine
andere erklärung gibt Ehrismann, Beitr. 22, 297 f., vgl. auch
0. Brenner, Lit.-bl. 1898, s. 124.
Auch im Ev. Nie. ist der abfall des -n nicht speciell dem
inf. eigen, findet sich vielmehr weit häufiger in anderen fällen.
Diese, zu denen auch der von Amersbach aus der Apokalypse
angeführte reim gehört, heben die beweiskraft des einen reimes
veme : nemen direct auf. Wir müssen also gegen Amersbach
gerade in dem fehlen häufiger belege für apokopierten inf.
einen beweis gegen thüringische heimat des dichters erblicken.
Auch weiter östlich im obersächsischen sind die Infinitive
ohne -n häufig, z. b. bei Heinrich von Krolewitz 146 unter 2444
reimpaaren (z. t. bei Lisch s. 11 aufgezählt).
In Schlesien ist heute nach Weinhold, Dialektforschung
s. 126 und Rückert, Zs. für geschichte und altertum Schlesiens
11, 340 der apokopierte inf. regel. In dieser allgemeinen fassung
dürfte die angäbe kaum stichhaltig sein (vgl. Pauls Grundr. 1,
§ 100, 4). Ausserdem ist die erscheinung ganz bedeutungslos
in den teilen Schlesiens, in welchen -n auch sonst verklingt.
Alte belege für apokopierten inf. fehlen. Es ist dies um so
auffälliger, als die grosse masse der schlesischen colonisten aus
Ostfranken kam, ihrem dialekt also gerade die Unterdrückung
HEINBICH HESLEBS EVANGELIUM NICODEMI. 173
des infinitiv-w ursprünglich angehörte; vgl. Rückert, Charak-
teristik der schlesischen mundart, Zs. fdph. 1 und 4. J. Partsch,
Schlesien 1, 373 ff.
Ein weiteres wichtiges kriterium für den dialekt unseres
gedichts ist die Vertretung von ie, uo. Dieselben sind heut-
zutage, abgesehen vom bairischen, alemannischen und einem
teil des ostfränkischen, wo sie diphthonge blieben, in zweierlei
weise monophthongiert, teils zu e, 6, teils zu i, ü. Das erste
gebiet umfasst den grössten teil Mittelfrankens, das t, ^e-gebiet
das ganze übrige Mitteldeutschland (vgl. Behaghel, Pauls Grundr.
1, § 52). Der wandel zu e, 6 tritt ziemlich frühe ein; da nun
unser gedieht deutlich die Sonderstellung der laute ie, uo zeigt,
so kann es dem e, ö- gebiet nicht angehören. Ob man in den
einzelnen reimen i : ie, ü : uo einen beleg dafür erblicken darf,
dass diese laute sich damals schon nahe standen, muss dahin-
gestellt bleiben.
Unser gedieht gehört also jedenfalls in das t, w- gebiet,
von dem aber der teil, in welchem der inf. apokopiert wurde,
also Thüringen, noch auszuschliessen ist. Damit ist aus-
gesprochen, dass die heimat unseres gedichts nicht mehr im
md. Stammland, sondern schon im colonisationsgebiet, eventuell
also in Preussen, zu suchen ist.
Die allgemeine annähme, Hesler habe im ordenslande ge-
schrieben, geht zurück auf G. Chr. Pisanskis Entwurf der
preussischen literärgeschichte (hg. von L. E. Borowski, Königs-
berg 1791) s. 85; sie gründet sich vornehmlich darauf, dass die
drei haupthss. der Apokalypse sich in Preussen (Danzig und
Königsberg) befinden und wol auch dort geschrieben sind.
Dies beweist natürlich nichts: es sind auch fragmente vor-
handen, die nach Ostfranken (vgl. M. Eieger, Germ. 15, 205 ff.)
und nach Baiern (Eegensburger und Augsburger fragmente)
gehören. Vom Ev. Nie. ist keine hs. in Preussen selbst. Amers-
bach versuchte auch sachliches zum beweise beizusteuern, je-
doch ohne besonderes glück. So glaubte er in den versen der
Apokalypse v. 6364 f. gegen die habsucht der geistlichkeit:
nach im girischen die bischove, tempel, spitäl, der dütschen Ms
speciell eine anspielung auf den Deutschen orden erblicken zu
dürfen; da nun andere orden gerade in beziehung auf welt-
lichkeit und habsucht viel mehr gelegenheit zum tadel geboten
174 HELM
hätten, so erklärt er sich diesen ausschliesslichen hinweis auf
den Deutschen orden mit Heslers genauer kenntnis desselben.
Er hat aber übersehen, dass in den worten tempel, spitäl ja
auch der hinweis auf Templer und Johanniter (vgl. spitalcere
Gudr. 916,3 spitalbruoder Ludw. kreuzfahrt 7882) liegt, also alle
drei orden namhaft gemacht werden. Ebenfalls ganz allgemein
auf die ritterorden, aber nicht auf einen bestimmten, kann
V. 5145 des Ev. Nie. bezogen werden: darumme segent man ü
die swert^) Nur so viel ist aus beiden stellen wol zu schliessen:
da der dichter offenbar sein augenmerk auf die geistlichen
ritterorden richtet, so ist es in anbetracht unserer deutschen
Verhältnisse wol am wahrscheinlichsten, dass er zunächst an
den Deutschen orden denkt. Damit darf vielleicht verknüpft
werden, dass er als landungsort des Volusian gerade Akkon
nennt. Vielleicht spricht ebenfalls für beziehungen Heslers
zum Deutschen orden der umstand, dass die hs. s nach einem
eintrag auf bl. la im besitz eines fratris Hermanni ordinis
theutonicorum domus in Giengen war.
Auf grund des dialektes diese frage zu entscheiden ist
kaum möglich, da strenge dialektgrenzen für jene zeit in Ost-
deutschland überhaupt nicht gezogen werden können. Ausser
dem Ordensland könnte also auch Schlesien in betracht kommen.
Literarhistorisch wäre dies sehr wol denkbar: um dieselbe zeit
etwa entstand dort das gedieht von Ludwigs kreuzfahrt und der
Kreuziger Johanns von Frankensteins. Auch der name Hesler
ist in Schlesien wenigstens wenig später nachgewiesen.
Einige wenige punkte können nun aber doch auch auf
sprachlichem gebiet gegen Schlesien geltend gemacht werden.
Ohne besonderes gewicht darauf zu legen, mag doch darauf
hingewiesen werden, dass das schlesische die monophthongie-
rung von ie, uo ziemlich frühe durchgeführt zu haben scheint; 2)
auch das im schlesischen sehr stark ausgeprägte 6 für a^) fehlt
bei uns wie es scheint. Stricte lässt es sich freilich nicht
erweisen, auch nicht durch vers 1125—28 tot : not, stät : hat,
*) Aber auch dies ist nicht unbedingt nötig, da die Schwerter bei der
erteilung der ritterwürde überhaupt stets geweiht werden.
2) Vgl. Ludwigs kreuzfahrt v. 2962. 3451 u. a.
^) Z. b. im Psalterium per hebdom. cum yersione germanica (Breslau
Cod. I Q 237).
fiCBmEICH HESLERS EVAlfGELIÜM NICÖDEMI. 175
da es nicht feststeht, dass H. viererreime streng gemieden
habe. Es wäre denkbar, dass er damit zufrieden gewesen,
dass die reime ihrem sonstigen literarischen gebrauch nach
verschieden sind. Sichere viererreime kommen bei ihm aller-
dings nicht vor.
Von den verben sten und gen kennt das schlesische nur
die e-formen, wähi'end bei uns die a-form im reim mit 75 proc.
stark überwiegt. Ebenso kennt das schlesische die assimilation
lis > SS nicht, die für Hesler durch die Apokalypse belegt ist
(vgl. Eückert 9, 61), allerdings ist diese auch im hd. dialekt des
Ordenslandes heute nicht anzutreffen (vgl. Anz. fda. 21, 261).
Aber dort wäre sie doch weit eher als vereinzelte erscheinung
denkbar unter einfluss des nd. dialekts, wie wir ihn schon bei
z6 (als contamination von to und isuo\ lihte und hat : sTcat
vermutet haben.
So glaube ich denn, dass wir das ordensland sehr wol als
heimat unseres gedichts annehmen dürfen, wenn auch bestimmte
belege aus dem dialekt nicht dafür zu erbringen sind, dass es
dorthin gehören müsse. Der grund, weshalb es an solchen
directen beweismomenten fehlt, ist sehr einfach.
Die sprachlichen Verhältnisse des Ordenslandes sind damals
noch durchaus schwankend und unstät. Von einer xotvrj kann
noch keine rede sein, wenn auch die Urkunden ^ viel gemein-
sames zeigen. Aber die kanzleien sind ja in der fixierung der
sprachform stets weit voraus; ausserdem gibt es deutsche Ur-
kunden aus den ersten Jahrzehnten des 14. jh.'s nur wenige;
weitaus die mehrzahl ist lateinisch.
Wie wenig aber für den literarischen gebrauch eine ein-
heitliche sprachform anzusetzen ist, zeigt ein vergleich zwischen
dem buch Hiob und Jeroschins Chronik, die beide ziemlich
gleichzeitig unter Dietrich von Altenburg entstanden. Unter
einander stehen sie sich freilich noch näher als ihnen Heslers
spräche kommt, namentlich ist der gebrauch von ie, uo im reim
ein anderer (vgl. Bahder s. 41. W. Müller s. 17).
Diese differenzen können gleichzeitig verschiedene Ursache
• *) J^ Voigt, Codex diplomaticus prussicus. Urkundensammlung zur
ältesten geschichte Preussens aus dem kgl. geh. archiv zu Königsberg nebst
regesten herausgegeben, Kgsbg. 1845—1861, bd. 2—6.
176 HELM
haben. Erstens ist die in Preussen damals in der aasbildnng
begriffene mundart ein mischdialekt, der naturgemäss hier
mehr diese, dort mehr jene färbung annehmen musste. Dann
konnte aber in jedem einzelnen individuum je nach den mn-
ständen weitere Verschiebung und mischung eintreten. Je
nachdem ob seine eitern bereits im ordensland lebten oder
nicht, ob der Verfasser als kind oder erst als erwachsener
einwanderte, musste das resultat ein anderes sein. Dazu kann
kommen, dass er mehrmals seinen auf enthalt wechselte und
jedesmal mit anders gearteten Sprechgemeinschaften in berüh-
rung kam, endlich konnte er vermöge seiner Stellung der spräche
des urkundlichen Verkehrs näher treten. Alle diese möglich-
keiten gelten für Hesler unbeschränkt. Es ist darnach nur
natürlich, dass wir aus seiner spräche nicht mehr entscheiden
können, aus welcher gegend er oder seine familie herstammte,
da wir nicht entscheiden können, wie viel und was in seiner
spräche aus dem dialekt der ursprünglichen heimat zurück-
geblieben und was neu hinzugekommen ist. Vgl. über die
bedeutung von ortsveränderung für die gestaltung des dialektes
namentlich jetzt Behaghel, Schriftsprache und mundart (Gies-
sener rectoratsrede 1896) s. 8 und anm. 11 f.
Kehren wir nun noch einmal zur hs. S zurück. Wie wir
gesehen haben, stimmt die spräche derselben in allem wesent-
lichen mit dem aus den reimen zu erschliessenden dialekt
überein. Ganz naturgemäss ist es nur, wenn dialektische
eigenheiten wie e für i, o für w, r-metathesis, ht für ft stärker
als in den reimen hervortreten. Das von S durchgeführte hs
> SS wird durch Apokal. wassen : massen (s. oben) gesichert.
Directe Widersprüche zwischen S und dem reimgebrauch
sind nicht zu constatieren; auch die 2. pl. auf -ent, die in S
sehr häufig ist, wurde in der Apokalypse wenigstens einmal
im reim (tugent : mugent) angetroffen.
Ausserdem zeigt S bestimmt ostdeutschen Charakter in
der regelmässigkeit, mit der formen wie rittere, engele erscheinen,
für die ein beweisender reim ja kaum denkbar ist. Auch an
nd. spuren fehlt es nicht, so wird statt bis stets das ans
nd. wente verhochdeutschte wen^ geschrieben. Dass in *der
2. und 3.pl. die endungen -en, -ent, -et nebeneinander vorkonmien,
HEIKBICH HESLERS EVAKGELIUM KtCODEMt. 177
verrät vielleicht auch nd. einfluss, unter welchem sich die grenz-
linien der einzelnen personen des pl. sehr leicht verwischen
konnten.
Es unterliegt darnach m. e. keinem zweifei, dass S der
gleichen gegend entstammt wie das original und auch die
spräche desselben im allgemeinen treu bewahrt hat. Für die
textherstellung folgt daraus, dass die sprachform von S auf-
zunehmen ist, so lange kein directer grund dagegen vorliegt.
Zweifelhaft kann dies sein bei nd. nicht durch den reim ge-
sicherten formen ausser dem weit verbreiteten wenz\ solche
sind für das original ebenfalls keineswegs unwahrscheinlich,
werden jedoch der einheitlichkeit wegen besser getilgt, da sie,
auch wenn sie im original standen, wol eher als lapsus des
Verfassers aufzufassen sind.
rv. Zeit der abflässung.
Dass das Ev. Nie. um oder kurz nach 1300 geschrieben
wurde, bedarf kaum eines beweises. Es ist die zeit in der
überhaupt die sog. deutschordensdichtung blüht. *) Eine engere
begrenzung zu gewinnen, fehlen uns die anhaltspunkte. Dürfte
die bekanntschaft mit Seifried Helbling als völlig gesichert
gelten, so erhielten wir als terminus post quem etwa das
jähr 1294 (s. oben), früher hätten wir das gedieht ohnedies
kaum angesetzt. Die beziehungen zur ürstende, der Sachs,
weltchronik und vielleicht der Erlösung sind für unsere frage
iiTelevant. Andererseits benutzte Heinrich von München ca.
1350 bereits unser gedieht (s. oben) in einer hs. der gruppe z».
Zwanzig jähre früher werden wir darnach das original schon
ansetzen müssen, erhielten also als terminus ante quem etwa
das jähr 1330.
Schönbach vermutete Anz. f da. 2, 206, die erwähnung von
Akkon (v. 4239) als hafenstadt für den nach Jerusalem reisen-
den Volusian könne zur datierung des gedichts verhelfen. Diese
^) Wülcker a. a. o. setzt ohne angäbe von gründen das gedieht um 1250,
was keiner weiteren Widerlegung bedarf. Hervorgehoben mag nur werden,
dass überhaupt erst um 1280 im ordensland einigermassen friedliche zu-
stände eintraten. Auch dass selbst die besten erhaltenen hss. SEK erst
aus der zweiten hälfte des 14. jh.'s stammen, widerspricht einem so frühen
ansatz.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 12
178 HfiLM
angäbe beruht aber nur darauf, dass Akkon eben lange zeit
der einzige den Christen noch zugängliche hafen Palästinas
war, so dass man sich gewöhnte, zunächst an ihn zu denken,
wenn von einer fahrt nach Jerusalem die rede war. Zur zeit,
als H. das Ev. schrieb, war Akkon dagegen wol schon in den
händen der Türken, es fiel 1291.
ANHANG.
Zu Heslers und Jeroschins metrischen regeln.
H. gehört zu den wenigen mhd. dichtem, die über die
metrischen regeln die ihnen zur richtschnur dienten und nach
denen sie gemessen werden müssen, sich selbst geäussert haben.
Seine bemerkungen stehen Apok. v. 1317 — 1482 und sind ab-
gedruckt von Köpke in v. d. Hagens Germ. 10, 88 f. und von
Bartsch, Germ. 1, 192. Aehnliche äusserungen finden sich be-
kanntlich bei dem wenig jüngeren Nie. von Jeroschin in dessen
Kronike von Pruzinlant v. 236 — 255 und 294 — 301, gedruckt
von Mone, Anz. 1836, s. 82 f. Piper, Geistl. dichtung 2, 137 und
in den ausgaben von Pfeiffer und Strehlke. Beide stellen sind
vielfach besprochen worden, zuerst von Pisansky, Preussische
literärgeschichte s. 77. 85, später von. Pfeiffer a. a. o. s. xxxvii.
Strehlke s. 296 ff. Bartsch a.a.O. ßech, Germ. 7, 75 ff., zuletzt von
Amersbachl,21ff.; die verschiedenen erklärungsversuche stehen
sich zum teil schroff gegenüber. Seinen grund hat dies darin,
dass beiden dichtem die notwendigen termini technici fehlten
und ihre ausdrucksweise deshalb zum teil sehr dunkel ist. So
kommt es, dass weniger diese directen äusserungen zur be-
leuchtung der technik beitragen, als umgekehrt das vorhandene
material an versen herbeigezogen werden muss, um eine er-
klärung jener zu ermöglichen.
Zu einer haltbaren erklärung ist nur zu gelangen, wenn
man beide stellen neben einander betrachtet, da es zweifellos
ist, dass sie im wesentlichen das gleiche aussagen wollen. Es
war deshalb auch kaum anders denkbar, als dass Pfeiffer, der
nur Jeroschin kannte, in seiner deutung fast durchweg fehl-
griff ; allerdings trug dazu noch viel die falsche Interpretation
rim = ^endreim' bei, wodurch Pf. veranlasst wurde, alles was
Jeroschin sagt mit ausnähme von v. 249 — 255 als reimregeln
HEINBICH HESLEBS EVANGELIUM NICODEMI. 179
ZU betrachten. Dass aber rim auch bei Jeroschin die bedeu-
tung ^verse' hat, erhellt klar aus v. 2991 und mtn rim werdin
gehuit an dem ende üf glichin luit, wo streng zwischen Hm
und dem glichin luit am ende unterschieden wird. Zweitens
ist für die erklärung der stellen wichtig, dass Jeroschin in
V. 294— 301 nichts neues hinzusetzt, sondern nur das v. 236 —
255 gesagte kurz recapituliert.
Vollständig unbestritten ist bei beiden dichtem nur ein
punkt : die f orderung fest begrenzter silbenzahl. Jeroschin gibt
6 und 9 als die äussersten grenzen an: v. 248 dajsf vumf silben
sin ssu kurz, zene Mn zu langen schürz und v. 295 ebenso klar,
so dass die von Strehlke einzeln angesetzten fünf- und zehn-
silbigen verse unbedingt zu verwerfen sind. Hesler setzt als
norm 6-8 silben, v. 1453 swen ichs mochte gachten mit sechsen,
sibenen, achten, daz tet ich unde lutzel mer. Neun- und zehn-
silbige verse gestattet er sich nur ausnahmsweise.
Desto schwieriger ist nun aber die erklärung der anderen
punkte, doch scheint mir im allgemeinen jetzt auch hier durch
Bech und Amersbach das richtige gegeben zu sein.
Als zweite f orderung beider dichter hat darnach zu gelten:
die gleiche silbenzahl der durch den reim gebundenen verse,
eine f orderung die nichts weiter enthält, als was bei Konrad
von Würzburg schon in der hauptsache durchgeführt ist. Sie
ist ausgesprochen bei Jeroschin v. 236 ff.^), bei Hesler v. 1442 f.
1) Zu Pfeiffers eigentümlicher interpretation von v. 247 die lenge hell
der Silben zal *das heisst, jedes zweisilbige wort ohne rücksicht auf ur-
sprüngliche quantität ist lang', die mit der richtigen erklärung von rim
hinfällig wird, ist doch noch zu bemerken, dass ihr auch die tatsachen
widersprechen. Pfeiffers auffassung müsste zur Voraussetzung haben, dass
die dehnung des kurzen stammvocals in offener silbe schon vollständig
durchgedrungen wäre. Dann müssen aber reime zwischen Wörtern der
mhd. formen i. x nnd w x ganz unbedenklich und demgemäss weit
häufiger sein, als sie in der tat sind; nach Pfeiffers zusammensteUung
s. xLiv sind es aber im ganzen nur 70 auf 18969 reimpaare, also 0,37 *>/o;
damit vgl. man das etwa zwölf jähre jüngere Schachbuch, das derartige
reime auf ca. 7800 reimpaare gegen 100 hat (Zs. fda. 17, 384) = 1, 25 ^/o,
d.h. nahezu vier mal so viel! Dass die dehnung der Stammsilben bei
Jer. wol schon ziemlichen umfang angenommen hat ist ja klar, aber ein
unterschied gegen die alten längen muss Jeroschin doch noch empfunden
haben.
12*
180 fifiLM
wand ich hän die rime gewegen mit ehenglichen vüzen und v. 1446
wand ich hän sie gar durchmessen und ebengliche gewegen.
Für Jeroschin hat Bartsch die richtige auffassung schon
gehabt oder wenigstens als möglich anerkannt (a.a.O. s. 199),
nicht aber für Hesler, dessen worte er auch auf den endreim
bezog und als die f orderung ansah, klingende reime müssten
stets gleiche quantität haben. Nun hat H. diese regel aller-
dings streng beachtet, aber deshalb muss er sie doch nicht un-
bedingt ausgesprochen haben, da er ebensowenig als Jeroschin
Vollständigkeit in der aufzählung seiner metrischen regeln
beabsichtigt. So fehlt beiden jegliche angäbe über zahl und
anordnung der hebungen, und es ist deshalb doch keinem er-
klärer eingefallen, behaupten zu wollen, diese seien bei ihnen
ganz beliebig. Als bestimmt unrichtig wird Bartschs auffassung
dadurch erwiesen, dass direct ein beispiel folgt, wann die aus-
gesprochene regel umgangen werden darf: v. 1448 swa der sin
was so gelegen das ich in nicht mochte üs brengen, ich enmüste
den rim lengen (= wo der sinn so war, dass ich ihn nicht
zu ende \us\ hätte bringen können, wenn ich nicht den vers
hätte längen dürfen!).
An den reim stellen beide dichter die anforderung der
reinheit, Jeroschin in den oben citierten versen 299 f., Hesler
in einer schwerfälligen erörterung (v. 1364 ff.), die aber doch
nicht miszuverstehen ist; nur Pisansky ist in einem Irrtum
befangen, wenn er in den Worten deme ä begegene nicht das e,
deme e das t, deme 6 das ü ein verbot des hiatus erblickt.
Zweifelhaft bleiben hier nur die verse Jeroschins 243 f. vil
wort man gliche schribit, der luit ungltch sich trtbit. Pfeiffer
verstand sie nicht, Bartsch, dem Bech folgt, erklärt sie dahin,
es sollen keine betonten und unbetonten silben, wenn sie auch
gleichen vocal haben, gereimt werden. Eine weitere auffassung
deutet Bech s. 86 als möglich an: vielleicht wende sich die
stelle gegen reimpaare, die äusserlich der zahl ihrer silben
nach aus gleich grossen zeilen bestehen, denen aber die gleich-
massige abwechslung von hebuiig und Senkung fehle. Gegen
diese ansieht spricht zweierlei. Die verse 243 ff. werden durch
242 das ich alsus bedüte einfach als ausführung von v. 240 f.
charakterisiert: dass man glich su glichin Urnen solle an lenge,
sinne, lute. Bezöge man nun v. 243 f. auf den rhythmus, so
HEINBIGH HESLEB8 EVANGELIUM NICODEMI. 181
fielen sie mit einem neuen gedanken ganz aus der disposition
heraus, während eine erläuterung des Wortes lüte fehlen würde.*)
Zweitens aber wäre in diesen versen, wenn ihnen diese auf-
fassung zukäme, eine regel ausgesprochen, die in praxi von
Jeroschin doch zu oft umgangen wurde. Es finden sich reich-
lich verse, die an silbenzahl gleich sind, aber eine verschiedene
anordnung der hebungen zeigen, 2) vgl. v. 20294 f. (Pfeiffer s. 76
V. 164 f.) von Littoüwen und gehdft \ im dinste siner herschäft,
V. 6433 f. (Pfeiffer s. 80 v. 157 f.) von der seihen mdgit zart \ der
herzöge Uchtir art, v. 8122 f. (Pfeiffer s. 13,4 v.6f.) von übene wl-
rünge breit \ und minrünge von Idzheit u. a.
Aber auch Bartschs erklärung, die ja wol denkbar wäre,
kann mich nicht befriedigen. Da die verse ganz zweifellos
eine einfache erläuterung des wortes lüte in 241 bieten wollen,
so glaube ich, dass Jeroschin auch wirklich darin nur an den
lautwert, nicht an die tonstärke der silben gedacht hat, und
durchaus nichts anderes damit betonen will als in den ent-
sprechenden versen 299 f. : dass die verse eben rein sein sollen.
Inwieweit reime von betonten und unbetonten silben erlaubt
sind, ist aber im gründe genommen gar keine frage der reim-
technik; es handelt sich dabei einzig darum, ob und in welchem
grade unbetonte silben noch hebungsfähig sind oder nicht.
Urspiünglich nebentonige silben reimen z. b. Jeroschin und
Hesler ganz unbedenklich, vgl. schepfer : ger Jer. 8751, tüsunt :
stund Jer. 10717, tüsint : ü sint Ev. Nie. 5127, fittich : trit ich
Apok. 67 c.
Nehmen wir also die verse ganz ungezwungen wörtlich,
und sie werden sich auch am ungezwungensten erklären: es
wird gewarnt vor reimbindungen, die nur fürs äuge bestehen
wegen ihrer Orthographie, die aber fürs ohr doch verschieden
sind durch ihren laut (nicht durch accent oder quantität). Diese
Warnung ist gerade bei einem md. dichter von bedeutung, da
gerade nach md. Orthographie die vocale weniger auseinander
gehalten werden als nach oberdeutscher; ie und i, uo und w, e
*) Die verse 243 ff. entsprechen den ausdrücken in v. 241 chiastisch:
zu hnge gehört 247 ff., zu sinne 246, zu lüte 243 f.
*) Die von Bech s. 82f. aufgeführten yerse gehören nicht hierher, da
sie verschiedene silbenzahl aufweisen. Sie bilden einen fall, in welchem
ausnähme von der geforderten gleichen silbenzahl gestattet ist.
182 HELM
und ce haben in den meisten hss. nur je ein gemeinsames zeichen.
Zusammengefallen sind sie deshalb aber doch nicht, und sie
werden, wie wir gesehen haben, auch im reim meist geschieden.
Ebenso verhält es sich mit den kurzen e- lauten e und e)
vgl oben.
Die von Hesler und Jeroschin aufgestellten regeln sind
also die folgenden drei: 1) fest begrenzte silbenzahl; — 2) gleiche
Silbenzahl der verse eines reimpaares; — 3) reine reime. —
Jedoch sind verschiedene ausnahmen gestattet. Jeroschin nennt
nur eine für die zweite regel v. 297 f. biwilen ich swü kurze
üf eine lange sturze\ dem entspricht bei Hesler
y. 1472
doch ding ich ouch üz diz eine und üz zwein Worten müz ein kort
daz ich dicke zw^ne kurze müz machen oder ein halb nnderzin,
dar setzen vor einen langen yüz daz ander teil da läzen sin.
Pfeiffer, der wider nur an den reim denkt, sieht in Jeroschins
versen eine erklärung für reime wie vater : hat er. Es ist aber
aus dem Zusammenhang klar, dass nicht von zwei kurzen und
einem langen (= zweisilbigen nach Pfeiffer) worte die rede
ist, sondern von zwei kurzen und einer langen silbe, die im
verse sich als gleichwertig entsprechen. In solchem fall darf
also die regel der Silbengleichheit der verse eines reimpaares
durchbrochen werden.
Ebenso sind Heslers worte zu verstehen. Die fälle die er
im äuge hat, sind vollkommen richtig nach meiner ansieht von
Amersbach s. 22 specificiert. Eichtig erkannt hat auch schon
Bech s. 83 Heslers worte, während Bartsch nur ein zeugnis
für erlaubte silbenverschleif ung auf der Senkung darin erblicken
will, die häufig nötig sei, um die vorgeschriebene höchstzahl
der Silben nicht zu überschreiten. Eine solche notwendigkeit
liegt aber nirgends vor.
Den grund der gestatteten ausnahmen gibt Hesler deut-
lich genug an, v. 1475 swä mir der sin also geburt und v. 1479
nach deme der sin gevellet Hesler betrachtet also nicht scla-
vische befolgung der technischen regeln als den inbegriff dich-
terischer Vollkommenheit, sondern die verständige berücksich-
tigung des sinnes.
Des Sinnes halber gestattet er auch noch eine weitere
HEINBIGH HESLERS EVANGELIUM NIGODEMI. 183
ausnähme seiner regeln: ein überschreiten der höchstzahl der
Silben um zwei und gleichzeitig damit verschiedene silbenzahl
der gereimten verse:
V.1448
swä der sin was s5 gelegen s5 was bezzer gesprochen
daz ich in nicht mochte üz brengen, lanc rtm den sin zubrochen.
ich enmüste den rim lengen,
und 1456
nüne sazte ich aber ^r, (die selben sint selts^ne),
oder zum meisten z§ne dan ich zubr^che den sin.
Auch 1410 wurde schon die bedeutung des sinnes hervorgehoben:
da Yon müz man mit gelegenen den sin also berüchen
werten die rime suchen, daz wir nicht valsches sprechen.
Auch für Jeroschin steht der sinn über der äusseren technik.
Mehrmals spricht er das aus, der dichter sol (v. 245) den sin
niht versntden und die verse will er reimen: niht velschinde
der rede sin (v. 301). Es ist nicht nötig anzunehmen, Jeroschin
habe hierbei an einen speciellen fall, etwa enjambement (wie
Gervinus 2, 1 meint) gedacht.
Noch bleibt für Hesler eine wichtige stelle übrig. An
die citierten verse 1410 ff. schliesst v. 1414 folgendermassen an
(wir müssen die oft gedruckte stelle noch einmal anführen)
(nach Bartsch):
doch müz manz wllen brechen, daz yrien, stund iz anderswar,
des endarf sich aber nieman schämen, daz were yalsch, und ist ganz dar,
iz machet dürft der lüte namen, wand sich da rimet der name.
die nieman kan bekennen den landen, steinen ist alsame,
anders, die müz man nennen, den steten, bürgen, bergen,
also sie genamet sin, die nieman kan vorbergen,
und müz rime zien dar in, noch wort die mit uns wanderen
die sich den namen glichen. die nieman kan yoranderen,
wir setzen wol: der riehen, die müze wir wol setzen
der edelen und der vrien an geyellichen vletzen,
namen sante Marien. mit loube die buch machen.
Es ist klar, dass H. von einer ausnähme seiner regeln
spricht, die erlaubt ist, wenn eigennamen von menschen, ländern,
bergen u.s.w. oder ein fremdwort im reim steht. Worin be-
steht nun aber diese ausnähme?
Bartsch denkt an erlaubte ungenauigkeit im reim, und
da vrten : Marien nach Heslers werten doch ein beispiel dafür
sein müsste, so vermutet er, H. habe eigentlich vrt : vriges
184 HELM
flectiert. Einen anhaltspunkt dafür gibt es nicht, und selbst
wenn wirklich vrigen zu lesen wäre, so wäre es wahrschein-
lich, dass derselbe übergangslaut auch in Marien sich ein-
gestellt hätte.
Bech sucht die stelle anders zu erklären. Er ändert
V. 1424 namen in manne und sieht das ungewöhnliche in der
Stellung vrien manne statt manne vrien. Gegen diese erklä-
rung hat sich schon Amersbach mit recht gewendet. Eine
conjectur, mag sie wie hier bei uns auch noch so natürlich
erscheinen und bestechend sein, zur erklärung einer dunklen
stelle zu hilfe zu nehmen, ist principiell stets unstatthaft, so
lange man ohne sie noch zu einem annehmbaren resultat kommt.
Ein solches bietet Amersbachs erklärung: wenn man auf einen
namen u. s.w. ein reimwort bedarf, so ist es erlaubt den sinn
zu brechen, d.h. in diesem falle muss man eben ein passen-
des reimwort suchen, wenn es auch dem sinn der entsprechen-
den stelle nicht ganz entspricht. Dafür ist nun Heslers bei-
spiel nach Amersbach ganz zutreffend. Er zeigt (s. 31 f.), dass
vrie überhaupt als flickreim auf fremdworte (wie massenie,
arzenie) sehr beliebt ist, dass es als epitheton der Maria nur
im reim und auch hier selten vorkommt. Composita wie wan-
delsvrte, sundenvrie sind dagegen sehr häufig.
Ich ergänze Amersbachs angaben darüber durch die folgen-
den Zusammenstellungen.
In den Marienlegenden, hg. von Pfeiffer, findet sich
neben zahlreichen wandelsvrie u. a. nur zweimal das ein-
fache vrie,
1,1—4
Nu höret aUe die hie sin, die edele imd die vrie
üf daz ü die kuningin gotes muter Marie . . .
2,22
daz si wolt aUe tage haben die edelen und die vrien
eine messe von Marien. lobete si alsus da mite.
Aus den gedichten der Ava führt Langguth (Unter-
suchungen über die gedichte der Ava, Budapest 1880, s. 201)
beispiele für vrie als flickreim an, indem er gleichzeitig (also
vor Amersbach) auch die Heslersche stelle von diesem gesichts-
punkt aus betrachtete. Aus Ava selbst gehören hierher die verse
siner trüt muoter, \ Bande Marien der guoten, welche die jüngere
HEINRICH HESLEBS EVAKGELIX7M NICODEin. 185
hs., um die assonanz zu beseitigen, änderte in siner muoter
sande Marien der heren und der vrten. — Marienlieder hg.
von W.Grimm, Zs.fda. 10,47, v.l3 vrowe dich, vrowe reine Marie, :
edele vrowe maget vrie. — Mnl. Osterspiel hg. von Zacher,
Zs. fda. 2, V. 460 Mntndnne Marie, \ edel ende vrie. — Pas-
sional 96,44 dieseligen vnde dievrien, \ gotes müter Marien;
367, 39 der edelen vnde der vrien \ von Magdalo Marien, —
Orendel v. 23 dar isuo span in diu edel inde diu frie \ selber
diu Jeuninginne sant Marie,
Dagegen fand ich nur einen einzigen beleg für vrie als
epitheton der Maria, ohne dass es auf Marie selbst reimt:
Mariengrüsse hg. von F. Pfeiffer, Zs. fda. 8, v. 157 wis ge-
grüezet, edel vrie, \ dich bezeichent wol diu bie,
Dass es in der tat wenig reime auf Marie (-en) gibt, können
folgende stellen zeigen.
Marienlieder, Zs. fda. 10, 29 v. 34 helpet mir schrien, \
der armer Marien; Christi ritterschaft hg. von J. Zacher,
Zs. fda. 13, 330 ff. ave Maria \ und böige dar sine knie; Bordes-
holmer Marienklage hg. von MüUenhoff, Zs. fda. 13, 288 ff.
V. 86 do he syne werden moder Marien \ horde bytterlyhen sere
wenen unde scrygen (derselbe reim v. 495. 754); v. 420 wente yJc
arme moder Marie \ eynen anderen doch wedder lye; v. 885
ih bevele juw gode unde sunte Marien, \ damede wylle wy unse
Jclagent vortygen; Mariengrüsse 1, 655 hilf uns, vrouwe, durch
daz schrien \ da^ durch Märten und Marien; Maria himmel-
fahr t hg. von Weigand, Zs.fda. 5, 515ff., v.311 {sich) mich armen
Marien, \ dine müter, schrien; v. 1594 bit lobelicher crie: \ sis
willehumen Marie; Unser frauen klage hg. von W. Grimm,
Zs.fda. 1,34 ff., V. 130 dochter e von Syon, \ wol ir nu schrien \ mit
mir vil armin Marien; Marienlegende von Heinrich dem
klausner, Bartsch, Md. gedichte s. 1, v. 1022 daz die suze vrie :
. . . Marie: v. 157 sunden vrie : Marie (sonst stets Mar ja : da 96.
231. 284. 428. 465. 577. 593. 882. 1216, : sä 585, : gä 421, : gra
440); Mariengrüsse (Zs. fda. 8) v. 275 miner sünden masse-
nie, \ als von Egypten tet Marie; v. 375 hilf uns durch die
namen drie, \ muoter unte maget Marie,
Deshalb wird oft auch statt Marie : Maria oder Marjä
gereimt; vgl. Amersbach 1, 31. Weitere belege sind:
186 HELM
Erlösung v. 2587 aldä : Marjä, v. 5698 iesd : Marjä]
Grazer Marienleben hg. von Schönbach, Zs. fda. 17, v. 289
da : Marjä neben v. 611 Marie : dornes vrte\ Mariengrüsse 1,
V. 133 Mllet, schulet, Mä, hiä, hilf uns, hilf uns, guot Maria]
V. 741 . . . weinten gegen dem trüte, owi, da \ leit din herze not,
Maria!] v. 779 hilf uns, hilf uns, wir sin din: ja, \ du bist guot,
vil guot, Maria; Gedicht auf Maria hg. von F. Pfeiffer, Zs.
fda. 8, V. 111 ff. 0 wol, du senftigiu,jä \ hast du vil tugent, Marjä]
6 wol, du reine guote, ja \ histu des mers stern, Marjä] 6 wol,
du süemu muoter, ja \ bistü gnaden vol, Marjä] Marienlied er ^
Zs. fda. 10, 132, 23 o clemens, o pia, o dulcis Maria!]' Buch der
rügen hg. von Karajan, Zs. fda. 2, v. 507 (der ez tuon wil) umh
äve Marjä, \ daz lät ir underwilen da] Leben Christi hg. von
F. Pfeiffer, Zs. fda. 5, v. 119 si waz geheizzen Maria, \ er sprach
plena gratia] Bonus hg. von Haupt, Zs. fda. 2, v. 162 dd wart
diu Tcünegin Marjä, also schiere diu ober hrä (die nideren ge-
rüeret..,)] Marienlied hg. von Th. Jacobi, Zs. fda. 3, v. 92
selich, selich, suze, pia, reine, milde, o Maria, v. 125 di aUe
sunder lident da, \ da hilp mir, o Maria] Frauentrost hg. von
Pfeiffer, Zs. fda. 7, v. 317 si sprach: ich binz Maria, \ gotes müter,
die vil nä ( . . . stät). ^
Fraglich kann in dieser sache nur sein, welche bedeutung
man dem epitheton vrie zukommen lassen will. Ans. Salzer
(Die Sinnbilder und beiworte Mariens in der literatur. Pro-
gramme des gymnasiums zu Seitenstetten 1886 — 93) fasst offen-
bar vrie als gleichbedeutend mit sunden vrie auf (vgl. seine
Zusammenstellungen s. 366). Nähmen wir dies für Hesler an,
so müssten wir dessen worte etwa so interpretieren: des reimes
willen darf ein wort in einer ihm nicht ursprünglich eigenen
prägnanten bedeutung gebraucht werden. Aber diese präg-
nante bedeutung steht doch sehr in frage. Sie würde wol
passen in die Zusammenstellung mit guote (Wemhers Marien-
leben, Fundgr. 2, 172, 26), aber für unsere stelle ebenso für die
meisten andern, wo vrie neben edele, riche u. ä. steht (vgl. auch
Fundgr. 2, 163, 25), passt doch eigentlich nur der sinn 'die vor-
^) Gewis ist es anch kein zufall, dass im Alsfelder passionsspiel
(Zs. fda. 3) eine der wenigen waisen gerade der yers 2, 124 ist; nu höre
auch mer, Maria,
HEINBICH HESLERS EVANGELIUM NICODEMI. 187
nehme, die hohe', wobei nur auffallend bleibt, dass eben ein
wort in dieser bedeutung als gelegenem epitheton der Maria,
wozu es doch durchaus zu passen scheint (vgl. bezeichnungen
wie ^himmelskaiserin' u. ä.), nicht galt.
Dass der grund, weshalb Hesler und Jeroschin ihre metri-
schen regeln niederschrieben, nicht darin zu suchen ist, dass
sie irgend etwas neues angestrebt hätten, ist von anderen schon
zur genüge hervorgehoben worden (vgl.Amersbachl,24. Bartsch
und Bech a. a. o.).
Das neue liegt allein darin, dass sie die flxierung der regeln
für nötig hielten. Dass sie dabei die fest begrenzte silbenzahl,
die sich z. b. bei Konrad von Würzburg ungesucht aus dem
bestreben möglichst rhythmisch gleichmässige verse zu bilden
ergab, zum künstlerischen princip erhoben, also vornehmlich
die äusserliche gesetzmässigkeit betonten, ist sehr bezeichnend.
Sie zeigen sich darin als echte kinder einer zeit, wo in folge
einer beginnenden sprachlichen revolution, die alle quantitäts-
unterschiede verschob, das mit dem älteren sprachstand eng
verknüpfte rhythmische gefühl zu erlöschen beginnt. Sie haben
die erkenntnis, dass die technik im sinken begriffen ist, aber
sich selbst erhaben fühlend über den beginnenden verfall klam-
mem sie sich ängstlich an die Vorbilder der alten meister und
stellen äusserliche regeln auf, die im laufe der zeit zur völligen
erstarrung kamen in der traurigen periode des blossen silben-
zählens im 15./16. Jahrhundert.
HEIDELBEEG. K. HELM.
zu WOLFRAMS PARZIVAL.
Im anschluss an eine erklärung des dritten buchs von
Wolframs Parzival sind die nachfolgenden besprechungen ein-
zelner stellen entstanden, welche noch der aufhellung oder
schärferen betrachtung zu bedürfen schienen. Denn die mangel-
haften auslegungen dieser stellen in der ausgäbe von Bartsch
sind meist von späteren aufgenommen worden, so dass eine
correctur erspriesslich sein dürfte. Der fortlaufende commentar
in der ausgäbe von Piper bedeutet gegen Bartsch kaum einen
fortschritt. Er ist nützlich durch verweise auf die erklärungs-
literatur, deren resultate verwertet werden. Sonst aber kehren
schiefe auffassungen von Bartsch ziemlich regelmässig wider.
Bereicherungen der erkenntnis, welche nicht in der eigentlichen
Wolframliteratur niedergelegt sind, sind ungenügend ver-
wertet ^ und auch in grammatischer hinsieht fehlt es an ge-
nauigkeit.2) Ein strengeren anf orderungen genügender com-
mentar zum Parzival bleibt immer noch ein desideratum.
Ausser den commentaren von Bartsch und Piper habe ich
von den Übersetzungen im wesentlichen nur die beiden neueren
benutzt, welche auf gründlicher kenntnis des Originals beruhen:
die freilich nicht ganz vollständigen Übersetzungen von Bötticher,
Berlin 1885 (2. aufl. 1893) und von W.Hertz, 2.aufl., Stuttg. 1898.
^) Z. b. 155,23 wird Bartschens falsche Übersetzung von schinndier
durch * annschiene', die durch die ratlosigkeit der Wörterbücher zu ent-
schuldigen war, von P. widerholt, obwol inzwischen aus Schultz, Höf. leben
s. 31 (2. aufl. s. 37) zu lernen war, dass schinmlier (= afrz. genouiUüres)
die das knie schützenden panzerscheiben sind. — Ich erinnere bei der
gelegenheit auch an meine Zs. fda. 16, 425 gegebene correctur von P. 35, 20,
die Piper entgangen ist.
*) So z. b. wird 158, 26 das falsche praesens gewahen statt gesehenen
zu gewuoc Bartsch nachgeschrieben.
zu WOLFRAMS PARZIVAL. 189
122, 2. Ufern touwe der wäpenroc erwant Bartsch erklärt:
^erwinden sich umwenden, zurückgeworfen werden: der wappen-
rock spiegelte sich im tau'. Ebenso Piper. Dagegen übersetzt
Bötticher: *wie tau erstrahlt sein wappenrock' und bemerkt
dazu in der anm. (1. aufl.): nicht * spiegelte sich im tau', sondern
* kehrte am tau um', d. h. fand erst in dem glänze des taues
seine grenze. Alles falsch, denn erwinden heisst einfach * reichen
bis', vgl. z. b. 130, 17 ir dechelachen zdbelin erwant an ir hüf-
felin * reichte ihr bis an die hüfte'. An unserer stelle ist also
der sinn: *der waffenrock war so lang, dass er bis ans tauige
gras reichte'. Erst in den 'berichtigungen' der 2. aufl. (s. 408)
corrigiert Bötticher seine Übersetzung in: *sein wappenrock
streift an den tau' und danach W. Hertz: 4ang fiel der wappen-
rock hernieder, dass er den tau vom grase strich'.
122, 13. Aller manne schcene ein hluomenkranz umschreibt
Bartsch: 4hn der ein blumenkranz war: der alle mannesschön-
heit wie blumen zu einem kränze in sich vereinigte'. Aber
diese auslegung des bildes trifft wol nicht Wolframs sinn. W.
braucht das einfache hluome sehr gewöhnlich metaphorisch zur
bezeichnung des vollkommensten, höchsten, z. b. 39, 22 er hluome
an mannes schcene, 109, 11 der aller ritter hluome wirt etc.^)
Ganz in der gleichen anwendung braucht er aber auch das
wort TcranZy bei welchem der ausgangspunkt der bedeutung
ein anderer ist, indem der kränz auf dem haupte wirklich
das höchste am menschen ist, also ganz gleichbedeutend mit
kröne (z. b. 781, 14 du kröne menschen heiles). Während also
bei hluome der begriff des * höchsten' erst indirect aus dem
begriffe der Schönheit und Vollkommenheit abgeleitet ist, geht
er bei kram (kröne) direct aus der anschauung hervor und
tritt von da aus auch in den begriff der Vollkommenheit über.
Ueberall braucht W. kränz nur in dieser geltung (260, 8. 394, 12.
632, 18. W. 86, 3. 292, 11), ja sogar er treit der unfuoge kränz
P. 343, 25 ^das höchste der unsitte'; vgl. Ludwig a.a.O. Man
wird daher auch in unserer stelle kränz in dieser bedeutung
verstehen müssen und nicht wie Bartsch den dabei stehenden
gen. hluomen zu einer Verschiebung des bildes benutzen dürfen.
*) Weitere zahlreiche steUen verzeichnet Ludwig, Der bildliche aus-
druck bei W. (1889) s. 17.
190 BRAUNE
Bluomenlcranz besagt hier nichts wesentlich anderes als das
einfache kranzy also *das höchste der mannesschönheit'. Auch
aller manne schoene ein bluome würde dasselbe besagen.
128, 17. Der werelde riuwe aldä geschach. Bartsch er-
klärt: ^der werelde dient hier zur Verstärkung, wie sonst in
Zusammensetzungen (werlttöre, werltwtse) grosses, das grösste
leid'. Bartsch vergisst aber beispiele dafür beizubringen, dass
auch eine genetivverbindung statt der sonst allein in diesem
sinne belegten composita (vgl. noch werltschande, werltzage)
gebraucht worden sei. Es ist der werelde als dativ zu fassen
und zu übersetzen: * der weit wurde da schmerz zu teil', d.h.
die weit erlitt durch Herzeloydens tod einen schweren Verlust.
— Die erklärung von Bartsch wird von Piper weitergeführt,
trotzdem Bötticher die richtige Übersetzung bot. Auch W. Hertz
bringt jetzt wider den fehler (^o weit von leid, was da geschah'),
so dass dessen ausmerzung geboten erscheint.
136, 25. Frouwe, ir wert mir gar ze her: des sol ich an
iu mäzen, Bartsch verbindet hier des mit mäzen: ^mäzen sw. v.
mass halten; mit gen. in etwas. Das werde ich euch beschränken'.
Piper erklärt geradezu mäzen mit * massigen, einhält tun'. Auch
die Übersetzer geben dieselbe auff assung wider. So Bötticher :
^frau, ihr werdet mir zu stolz, des will ich mass euch lehren'.
W. Hertz: 4hr führet noch das grosse wort. Ich lehr euch wol
bescheidenheit'. Nun würde aber ein transitives mäzen einen
objectsaccusativ erfordern, also des sol ich iuch mäzen. Viel-
mehr hat hier m^zen die gewöhnliche intransitive bedeutung
*mass halten', wie Bartsch auch zuerst richtig angibt. Das
des bezieht sich aber nicht auf den inhalt des vorhergehenden
Satzes, sondern ist causal und mäzen weist auf das folgende.
Der sinn ist also: 4hr werdet mir gar zu vornehm. Deshalb
will ich an euch mass halten, d.h. enthaltsamkeit üben'. Diese
enthaltsamkeit wird dann im folgenden specialisiert. Ich würde
lieber hinter her einen punkt, hinter mäzen doppelpunkt setzen.
137, 29. Wasr mir aller wibe haz bereit, mich müet doch
froun Jeschüten leit Bartsch übersetzt: 'wenn ich mir auch
den hass aller weiber dadurch zuzöge'; Piper ähnlich: 'wenn
aller frauen hass mir drohte, so täte mir doch Jeschutens
kummer weh'. Es wäre seltsam, wenn Wolfram fürchtete, sich
durch das mitleid mit Jeschute den hass der übrigen frauen
zu WOLFRAMS PAEZIVAL. 191
zuzuziehen. Der fehler liegt darin, dass das wcer bereit auf
die Zukunft bezogen wird, während es heisst 'zur hand sein,
gegenwärtig vorliegen'. Der sinn ist: selbst wenn alle frauen
mir gehässig gesinnt wären (mich hassten), so würde ich doch
Jeschuten bemitleiden', d.h. auch wenn er durch die von den
frauen bisher ihm zu teil gewordene behandlung grund hätte,
nun auch seinerseits ein prinzipieller weiberfeind zu sein, so
würde ihn trotzdem Jeschutens Unglück rühren'. — Von den
Übersetzern könnte vielleicht W. Hertz ('und wären alle frauen
mir feind, mich rührte wie Jeschute weint') das richtige meinen,
während die Übersetzung Böttichers ('war frauenhass mir auch
bereit, mich härmten doch Jeschutens leiden') die auffassung
von Bartsch widerzugeben scheint. [Vgl. jetzt S. Singer, Bemer-
kungen zu Wolframs Parzival (1898), s. 68f.]
189, 15 ff. Het er gelernt stns vater site, die werdeeltche
im wonten mite, diu buJcel wcere gehurtet hag, da diu herzoginne
aleine saz, diu sit vil kumbers durch in leit Das bild diu buhel
wcere gehurtet baz scheint allgemein in unschöner weise mis-
verstanden zu werden. Bartsch drückt das folgendermassen
aus: 'der schildbuckel hätte bessere stösse empfangen, d. h.
Gahmuret hätte sich mit dem, was Parzival ihr nahm, nicht
begnügt, sondern mehr geraubt'. Auch Piper erklärt: 'der un-
erfahrene wäre kühner vorgegangen', hier in engem anschluss
an Kant, Scherz und humor s.'lO, der noch dazusetzt: 'wol
nicht ganz ohne eine kleine obscönität im bilde'. Aus der
gleichen auffassung heraus lassen wol Bötticher und W. Hertz
in ihren Übersetzungen diese Zwischenbemerkung Wolframs
ganz aus. Ich meine aber, damit tut man dem dichter schwer
unrecht. Wolfram nimmt in der ganzen erzählung so innig
und zartfühlend anteil an dem unverdienten misgeschick der
Jeschute (vgl. z. b. die vorige stelle 137, 29), dass es damit
seltsam contrastieren würde, wenn er hier meinen sollte, Par-
zival hätte eigentlich die gelegenheit besser ausnutzen und
die Jeschute vergewaltigen müssen. Man vergegenwärtige
sich, wie Wolfram sonst derartiges mit absehen verurteilt, so
besonders in der kräftigen stelle gegen Meljacanz 343,23 —
344, 10. Der Schlüssel zum Verständnis der stelle liegt viel-
mehr in dem worte tumpheit, welches im vorhergehenden verse
steht: unde ein tumpheit da geschach. Parzival hat sich bei
192 BBAUKE
der Jeschute ungefuogc, unhöfisch, unritterlich benommen: er
war r*w tumbe. Sein vater Gahmuret würde sich bei einem
solchen zusammentreffen ritterlicher betragen haben, mehr
ritterliche mht bewiesen haben. Nur das soll m. e. durch das
vom kämpfe hergenommene bild ausgedrückt werden. Ein
ritter von der feinen höfischen bildung des Gahmuret hätte
nach Wolframs meinung sicher nicht das zusammentreffen mit
der einsamen dame zu ungebührlichkeiten benutzt. Es liegt
in dem bilde nicht einmal so viel, dass er etwa die läge be-
nutzt haben würde, um in höfisch sittiger weise um minne zu
werben. Sondern eben nur die tumpheit des Parzival ist es,
der Wolfram hier die mht des vollkommenen ritters entgegen-
setzen will. Also *wenn Parzival wie sein vater gehandelt
hätte, so würde er sich ritterlicher, taktvoller aufgeführt haben'.
Wer mehr herauslesen will, bürdet Wolfram eine roheit der
gesinnung auf, die seinem wesen fremd ist. Zwar ist W.
nicht prüde und vermeidet es durchaus nicht, sexuelle Verhält-
nisse gelegentlich humoristisch zu behandeln. Aber in unserem
zusammenhange würde eine ^obscönität' seiner ganzen art nach
undenkbar sein.
141, 8. Disen ritter und den vetern din ze tjostiem sluoc
Orilus. Die fehlerhafte erklärung von Bartsch : und den vetern
din = *der zugleich dein vetter war' hat seltsamer weise bis
in die neueste zeit immer wider nachfolger gefunden. Piper
erklärt: *der ritter und vetter sind dieselbe person, Schiona-
tulander'. Ebenso geben Bötticher und noch jüngst W. Hertz
in ihren Übersetzungen diesen fehler wider. Wer mittelhoch-
deutsch versteht weiss, dass veter e *vatersbruder' heisst. Par-
zivals Vatersbruder ist aber Galoes. Und kurz vorher (134, 24)
hat Orilus selbst erzählt, dass er den Galoes im kämpfe ge-
tötet habe. Schon die sprachliche fassung unserer stelle hätte
zeigen können, dass von zwei verschiedenen personen die rede
ist. Auch inhaltlich wird die gegenüberstellung wirksamer,
wenn Sigune sagt: 'die beiden brüder haben dir viel zu leide
getan. Zwei länder raubte dir Lähelin, zwei dir nahe stehende
personen, den Schionatulander und den Galoes, erschlug Orilus'.
Dass Schionatulander mit Parzival überhaupt nicht blutsver-
want war konmit noch hinzu, um selbst die nhd. bedeutung
von 'vetter' hier unzulässig erscheinen zu lassen.
Zu WOLFBAMS PABZIVAL. 193
143^4. Statt derlachte sollte man nach DG und den
meisten andern hss. do lachte schreiben. Lachmanns derlachte
ist nur durch erlachte d und der lachte g gestützt; in letzterer
hs. hat der Schreiber wol der als pronomen für do eingesetzt.
Ueberhaupt halte ich es für gewagt, Wolframs originale schon
die praeflxform der- statt er- zuzuschreiben. Dieselbe tritt in
hss. des 14. und 15. jh.'s sehr häufig in ostfränkischen und bairi-
schen quellen auf (vgl. nachweise bei Schmeller 1^,531 ff. Grimm,
Wb.2,1011 und bei Weinhold, Bair.gr. s. 235 und Mhd.gr.2s. 301);
sie ist in neueren mundarten weiter verbreitet, z. b. auch ober-
sächsisch. Die entstehung dieses der- aus er- ist durch den
Satzzusammenhang zu erklären. ^) Ehrismann, Beitr. 22, 259 will
nur vorhergehendes t verantwortlich machen (er hat^erslagen
> er häPderslagen)y also durch teilung des t zwischen zwei
Silben das der- entstanden sein lassen. Mir ist es wahrschein-
licher, dass wir es mit einem Übergangsverschlusslaut zu tun
haben, wie er so häufig zwischen dentalen consonanten, beson-
ders bei r, l entsteht, vgl. gr. dvögog, franz. viendrai, deutsch
minder aus minner, quendel aus quenel, composita wie ordent-
lich, öffentlich, die bairischen diminutiva wie mandl zu mann,
hähndl zu hahn. Voraussetzung für diese erklärung ist natür-
lich, dass das praefix er- in der ausspräche schon zu r geworden
war, so dass die r-articulation eng auf den vorhergehenden
dental folgte. Bei der grossen häufigkeit der wortausgänge auf
dentale (r, Z, n, s, t) im deutschen sind die phonetischen Ver-
hältnisse sehr günstig für die entstehung eines solchen spross-
lautes, der dann schliesslich fest wurde, so dass der- überall
für er- eintreten konnte. Da die Vorbedingung die ausspräche
des praefixes als f war, so wird man vor dem 12. jh. keines-
falls der- erwarten dürfen. Die ältesten sichern literarischen
belege hat Weinhold aus der Grazer litanei (bairische hs. vom
ende des 12. jh.'s) nachgewiesen, beide fälle (220, 16 glasvenster
derliuhtet, 223, 14 aller derhräht) nach dentalen consonanten.^)
^) Die früheren versuche, er- und der- etymologisch zu trennen und
sie auf verschiedene germ. oder indog. grundformen zurückzuführen, sind
natürlich ahzuweisen.
>) Sehr, zweifelhaft ist ein heispiel in einer interlinearglosse (12. jh.)
des S. QaUer Notker, Ps. 67, 28 (Hatt. 2, 231a), wo üher do er raptm mia/rd
übergeschrieben ist der eücchit Schon Graff 5,203 hegt zweifei und ver-
Beiträge zur geschichte d«r deutschen spräche. XXIV. j^3
194 BRAUNE
Die darauf folgenden vereinzelten belege gehören erst der
zweiten hälfte des 13. jL's an (Nib.-hss. B und A, vgl. Mhd. wb.
1,312). Für Wolfram könnte man es allenfalls als möglich
annehmen, dass er seiner heimat nach in seiner gesprochenen
spräche schon der- angewant hätte. Aber in der geschriebenen
spräche hat es um diese zeit noch kein legales dasein gehabt.
Höchstens durch versehen könnten dem Schreiber des Originals
einige der- entschlüpft sein, während man annehmen darf, dass
Schreiber jüngerer Wolframhss. des bairisch-ostfränkischen ge-
biets die ihnen geläufigen der- werden haben einfliessen lassen.
Ich meine also, dass eine der-iorm in jüngeren hss. nie in den
text aufgenommen werden dürfte. Nur ganz alte hss. mit der-
könnten allenfalls für die originalhs. beweisen. So könnte
man sich vielleicht derzuct 64, 6 gefallen lassen, da hier wenig-
stens G dafür zeugt, auch ein n {erschein) vorausgeht. Auch
82,4 könnte vielleicht das da erworben von D die conjectur
derworhen zulassen (nach pris). Die meisten von Lachmanns
der- sind jedoch ohne sicheren halt in der Überlieferung. So
z.b. 170,4 ist allein ersiufte und erbarmte überliefert. Sehr
unsicher scheint mir auch er dersach 161, 23, wo man nach D
er ersach oder nach G er dö sach schreiben sollte. Femer ist
147, 18 sicher nach D zu lesen Der bot oder nach G TJnde bötA)
Für {d)erböt liegt hier gar keine veranlassung vor, zumal
Wolfram in ähnlichen formein wie gruo/s bieten, ere bieten,
minne bieten nach ausweis des Mhd. wb. (1, 181 f.) das simplex
bieten anzuwenden pflegt. — Im ganzen genommen stehe ich
dem der- im Wolframtexte skeptisch gegenüber und möchte
mutet Schreibfehler für do erzucchit Als fehlerhaft wird man dies haupt-
sächlich deshalb auffassen, weil der- für er- im ganzen dem alemannischen
fremd ist. Einige spätere beispiele s. bei Weinhold, AI. gr. s. 279. Das
Schweiz. Idiotikon 1, 401 kennt kein der-, — Auf conjectur Haupts beruht
im Bamberger Himmel und höUe (Denkm. 30, 6) dl derliuhtet Die hs. hat
aldkMet. Die coiijectur ist bestechend, auch die Stellung hinter l würde
stimmen und im ostfränk. kann man der- erwarten. Immerhin kann auch
ein sonstiger Schreibfehler vorliegen und man wird doch bedenken tragen,
den ältesten beleg der erscheinung einer coi\jectur zu verdanken.
^) Interpungiert wird diese stelle besser so, dass nach sprcmc komma,
nach vrie doppelpunkt gesetzt wird, so dass y. 17 apposition zu Iwanet ist.
Auch D hat die construction so gefasst, wie das ein statt der y. 17 zeigt,
das man yieUeicht beibehalten könnte.
zu W0LFBAM8 PABZIVAL. 195
von den lesarten der alten hss. zu gnnsten des der- abzuweichen
bedenken tragen. Selbst wenn Wolfram der- gesprochen
hätte, so kann es doch nur das ziel der kritischen ausgäbe
sein, die schriftsprachliche form des Originals herzustellen.
145, 28. AI röt nach des heldes ger was im sin swert ge-
rottet, nach der scherpfe idoch gelobtet Die Schwierigkeit der
sachlichen erklärung des gelcetet wird, wie es scheint, über-
sehen. Das Mhd. wb. 1, 1043 b, von der abgeleiteten bedeutung
16t = 'gewicht' ausgehend, übersetzt Iceten mit 'vollwichtig
machen, fest machen', Lexer 1, 1961, der lot richtiger erklärt,
gibt für Iceten die Übersetzung 'mit lot, mit übergegossenem
metall fest machen'. Ebenso erklärt Bartsch unsere stelle.
Piper sagt nur 'der schärfe entsprechend festgemacht'. Aber
diese erklärung schwebt in der luft. Lceten heisst nicht
schlechthin 'durch metall festmachen', sondern nur zwei vorher
getrennte metallstücke durch eine metalllegierung verbinden,
wie dies auch der heutige Sprachgebrauch besagt, der darin
die ursprüngliche bedeutung festhält. Und zwar ist das eigent-
liche löten die bleilötung, denn lot heisst im altdeutschen 'blei
in technischer Verwendung' (vgl. DWb. und Lexer s.v.), die
daraus abgeleitete Verwendung für 'bleigewicht' und dann
'gewicht' überhaupt war allerdings mhd. sehr verbreitet, ist
aber jetzt in den hintergrund getreten. Die Urbedeutung des
Wortes I6t ist 'blei' schlechthin ^ und wenn Iceten im technischen
^) Als bezeichnung für das bleimetaU ist ags. Uctd, ne. lead, nnl. lood
allein im gebrauch. Doch scheint mir ahd. bli, das durch an. bl'^ gestützt
wird, das eigentliche germanische wort zu sein, dessen von J. Grimm, DWb.
2 s.v. vertretene zusammensteUung mit *blau* doch wol durch die Schwierig-
keiten des vocalismus nicht beseitigt werden kann. Vgl. auch Noreen,
Urgerm. lantl. s. 214. Mit Much, Zs. fda. 42, 164 den vocal von blt durch
entiehnung aus dem keltischen zu erklären, halte ich auch deshalb für ge-
wagt, weil ein entsprechendes keltisches wort nicht vorhanden ist. Dagegen
hat lot seine entsprechung auf kelt. gebiete, vgl. air. luaide plumbum.
Dieses wird von Stokes - Bezzenberger bei Fick 2*, 254 als urverwant mit
ags. Uadf mhd. lot angesehen. Doch halte ich es für wahrscheinlicher, dass
agerm. lauäa- eine alte culturentlehnung der Germanen von den Kelten
sei zur bezeichnung des technisch verwanten bleis. Nur diese specieUe
bedeutung liegt dem hochdeutschen gebrauche zu gründe. Dass dann
dieses technische blei bei einzelnen germanischen stammen das germ. bli
ganz verdrängen konnte, zeigt uns das niederländische, welches heute nur
Ipod kennt, zur mnl. zeit daneben aber auch noch vereinzelt bU besass
13*
196 BRAUNE
sinne auch für Verbindung edler metalle durch andere lötmassen
gebraucht wird, so ist doch die bleilötung der ausgangspunkt
dieses gebrauchs. Sehen wir die in den mhd. Wörterbüchern
und DWb. 6 unter loeten gesammelten beispiele durch, so be-
zeugen sie sämmtlich den uns noch jetzt geläufigen sinn des
Wortes als eines ^zusammenfügens', zunächst im eigentlichen
sinne von metallen, dann aber besonders mhd. auch übertragen,
wie min manheit ist gelcetet mit eines zagen muot; ist last üf
mich gelcetet; ir triuwe also gelcetet was zesamsn (Lexer) etc.
Immer handelt es sich um die Verbindung zweier gegenstände,
weshalb auch regelmässig eine praep. wie üfy mit, in oder
sonst eine sprachliche bezeichnung der Verbindung bei Iceten
steht. Mit diesem sonst allein giltigen gebrauch unseres ver-
bums steht aber nun in schroffen Widerspruch das absolut ge-
brauchte Iceten an unserer Parzivalstelle, der sich noch die
zweite stelle P. 482, 9 anschliesst, in welcher mit beziehung
auf die wunde des Amfortas gesagt wird: oh daz sper unge-
Mure in dem heischen fiure woer gelüppet oder gelcetet, dost uns
an fröuden tcetet Hierzu bemerkt Bartsch : ^ Iceten festmachen,
mit dem nebenbegriff des zauberischen'. W. Hertz (s. 252)
übersetzt einfach: *ob nicht das fürchterliche eisen imhöUen-
feuer sei gelötet'. Ausser bei Wolfram fljidet sich dieser ge-
brauch von Iceten in beziehung auf ein schwort oder einen
sper nur noch in zwei von Lexer nachgewiesenen stellen des
jüngeren Titurel. Die erste j. Tit. 1232 in beziehung auf einen
sper: von hitze noch von nceten sach ez nieman wichen, dafür
Jcund ez wol Iceten der ez mit flizze worhte meisterlichen. So-
dann von einem Schwerte 5814: daz swert daz bi Barnant da
wart gelcetet mit Lak dem edelen brunnen daz wcen ich den
trachen hie vil humhers ncetet. Also hier ein schwert, das durch
einen edelen brunnen 'gehärtet' wird, ebenso wie für die vorige
stelle ^härten' die durch den Zusammenhang geforderte bedeu-
(s. Verdam-Verwijs Mnl. wb. s. v.). Ebenso könnte schon ags. lead ver-
allgemeinert worden sein. Auch mnd. war nach den belegen bei SchiUer-
Lübben zu schliessen löd als name des metaUs sehr viel gebräuchlicher als
bU, bUg. Entlehnung von löt anzunehmen ist auch Much, Zs. fda. 42, 164
geneigt, der es zu indog. pltid, nhd. fliessen steUen möchte (vgl. Fick
2*f 253). [Zur etymologie von bli und löt vgl. jetzt noch Hirt, Beitr. 23,
354 f. und Kluge, Et. wb.® s. v. blel]
Zu WOLFRAMS PARZIVAL. 197
tung ist. Es ist wahrscheinlich, dass Albrecht diesen gebrauch
von ein swert, sper Iceten Wolfram nachgeahmt hat und dass
wir darin einen individuellen sonst nirgends bisher nach-
gewiesenen Sprachgebrauch Wolframs haben. Wir werden
hiernach auch für die beiden Wolfi^amstellen die Übersetzung
'härten, hart machen' anzunehmen haben. Für die zweite
stelle 482, 9 ist dieser sinn zweifellos. Für die stelle 145, 28
könnte dem zusammenhange nach ein anderes in frage kommen.
Es wird da gesagt, dass Ithers schwert rot gefärbt war, nach
der scherpfe idoch geloetet Das will dem einwurf begegnen,
ob ein solch rot gefärbtes schwert auch gut schneide. Man
sollte erwarten 'zum zwecke der schärfe jedoch stahlglänzend
gemacht', d.h. die eigentliche schneide des Schwertes war von
der roten färbe frei. Aus dieser erwägung heraus übersetzt
Bötticher: 'nach seinem willen war auch das schwert gerötet,
nur das stahl der schneide blitzte hell' und W.Hertz (s. 60):
'auch war sein schwert auf sein begehr vom schmiede ganz
mit rot bemalt, dass nur die schneide stählern strahlt'. Aber
die andere stelle Wolframs und die auffassung des Titurel-
dichters erlauben doch nicht loeten einfach auf die färbe zu
beziehen. Wolfram muss es ganz allgemein auf diejenige tätig-
keit des Waffenschmieds bezogen haben, durch welche die
schneide einer waffe hart, stahlhart gemacht wurde, so dass
sie gegen scharten standhaft war. Damit war für unsere stelle
von selbst gegeben, dass die schneide nicht rot gefärbt sein
konnte. Wie nun freilich diese manipulation des Waffenschmieds
zu der bezeichnung loeten kommt, das ist mir dunkel. Das
löten im gewöhnUchen technischen sinne kann damit nichts zu
tun haben, denn stücke einer waffe durch löten zu verbinden
wäre wol die ungeeignetste art, sie dauerhaft zu machen.
Aber auch die Übersetzung: 'durch übergossenes metall fest
machen' ist doch nur eine Verlegenheitserklärung, um irgend-
wie das technische 'löten' für die erklärung der Wolframstelle
herbeizuziehen. Dass stahl durch flüssiges metall gehärtet
werde, wäre wunderbar, vielmehr wird seit alter zeit stahl
dadurch gehärtet, dass er glühend in kaltes wasser gehalten
wird, wofür jetzt 'ablöschen' der terminus technicus ist. Und
so scheint es auch der Titureldichter zu verstehen, wenn er
5814 das schwert drachenfest werden lässt dadurch, dass es
198 BRAUNE
mit dem 'edeln brunnen Lac' gelcetet, d. L 'abgelöscht' wird.
Man muss daher wol annehmen, dass Wolfram Iceten als
Schmiedeausdruck in dem sinne unseres 'ablöschen' gekannt
und verwertet habe. Die herkunft dieser bedeutung vermag
ich jedoch nicht zu erklären. 0
146, 21 ff. Jacob Grimm, D. rechtsalt. s. 192. 196 hatte
diese stelle benutzt, um allein aus ihr zwei verschiedene Symbole
der besitznahme eines landes zu construieren: 1) ausschütten
von wein, 2) aufstecken eines umgekehrten angebrannten Stroh-
wisches. Das ist aber unzulässig. M. Haupt hat Zs. fda. 15, 263
bereits das erstere als irrig bezeichnet, da Ither selbst sage,
dass er den wein unabsichtlich vergossen habe, 'nicht einmal
das wegnehmen des bechers ist als ein übliches rechtssymbol
hierdurch erwiesen'. Schon vor Haupt hatte Bartsch in seiner
ausgäbe in bezug auf den becher ganz allgemein gesagt: 'die
besitzergreifung geschah symbolisch dadurch, dass man von
dem eigentum, auf welches man anspruch erhob, etwas nahm:
wie hier den becher'. Wenn auch eine solche allgemeine fassung
einer rechtsregel nicht durch belege gestützt ist, so ist die auf-
fassung selbst gewis richtig. Ither begieng eine symbolische
handlung, die an sich verständlich war, auch wenn sie sich
nicht auf festen brauch gründete. Dagegen meinen alle aus-
leger, dass durch die folgenden verse ob ich schoube umbekerte,
so wurde ruozec mir min, vel in der tat ein stehendes rechts-
symbol erwiesen werde. Aber welches? J. Grimm konnte aus
deutschem rechte dafür absolut nichts beibringen: der auf-
^) Nicht zu verwerten ist ein von Lexer angesetztes fem. löt, gen.
Icßte, löt, zu dem er die bedeutungen angibt: ^reinigung, brand des edeln
metalls, vollwichtigkeit desselben'. Der ganze ansatz ist sehr zweifelhaft.
Lexer hat dafür nur zwei belege: der erste Itehtez goU in vtures löt ist
nicht dativ eines femininums, sondern des gewöhnlichen neutrums löt, da
in dem gedichte ^&au ehrenkranz' Liedersaal 1, 375 die apokope herscht,
speciell der dat. neutr. hat das e verloren, es reimt z. b. in dem gras auf
gehaz (v. 77). An dieser stelle hat löt die gewöhnliche bedeutung: der
glänz der sonne wird verglichen mit dem glänze des goldes in viures löt;
also wie das gold im feuer glänzt, wenn es zum zwecke des lötens heiss
gemacht wird. — Die zweite stelle jung. Tit. 5467: gel, swa/rz, in rekter
loste würde zwar ein fem. beweisen, das aber wol dann besser als nom. loste
anzusetzen wäre. Aber der ganze vers ist in dem Hahnschen abdruck
kaum verständlich, so dass es nicht rätlich ist, ohne kritischen text damit
zu operieren.
ZV WOLFRAMS PABZIYAL. 199
gesteckte Strohwisch lässt sich in Deutschland nur nachweisen
entweder als zeichen der verkäuflichkeit einer sache, oder als
zeichen des verbotenen betretens eines grundstücks oder wegs.
Er klammerte sich deshalb an die aus Frankreich bezeugte
rechtsgewohnheit der saisie f Nodale: 4e seigneur se transpor-
toit sur le fief, y posoit la main et y plantoit un bäton gami
de paille ou d'un morceau de drap'. Schon Haupt a.a.O. hat
die vergleichbarkeit dieses brauches bezweifelt. Mit recht.
Denn erstens handelt es sich in unserer stelle um kein lehen,
zweitens ist das symbol ein ganz anderes, denn im afranz. ist
die hauptsache der aufgepflanzte stab, welcher mit stroh oder
mit einem stück tuch besteckt ist, es spielt also das stroh
dabei durchaus die nebenrolle, ganz abgesehen davon, dass es
nicht angebrannt und umgekehrt ist. Es ist klar, dass die
verquickung des altfranzösischen brauchs mit den angaben
unserer stelle ganz unzulässig ist. Wir sind also auf letztere
allein angewiesen, wonach es sich handelt um das umdrehen
einer angebrannt gewesenen strohfackel; von einem aufstecken
derselben auf einen stab ist nicht im mindesten die rede. Soll
man das nun wirklich für ein stehendes deutsches symbol der
besitzergreifung halten? >) Dann würde davon doch wol sonst
irgendwo eine spur sich finden, wie denn J. Grimm andere
Symbole derart gesammelt und stichhaltig belegt hat. Aber
trotzdem hielt man im allgemeinen daran fest. So auch Böt-
ticher, der zwar in seinem excurs zu der stelle (übers, s. 343,
2. aufl. s. 123) die Schwierigkeit bemerkt, weshalb er auch die
beiden verse 26. 27 in seiner Übersetzung unterdrückt hat.
Kant (Scherz und humor s. 55) erklärt: 'über die altertümliche
sitte der besitzergreifung oder der erhebung eines rechts-
anspruches mittels eines umgekehrten brennenden Strohwisches
macht sich könig Ither lustig, indem er sie verschmäht'. Er
weiss also sogar, dass diese sitte früher existierte, zu Wolf-
rams Zeiten aber unmodern war. Das ist natürlich phantasie.
Nach meiner auf fassung ist das ganze nur ein etwas grotesker
scherz Wolframs, der ihm in den sinn kam im anschluss an
^) Dass es sich auch nicht etwa um ein französisches der quelle ent-
lehntes Symbol handeln kann, geht daraus hervor, dass bei Chrestiens die
verse P. 146, 26—30 keine entsprechung haben, vgl. Lichtenstein, Beitr. 22, 16
(die ausgäbe von Fotvin ist mir hier leider nicht zugänglich).
200 BBAUNE
das umdrehen des bechers. Derartiges findet sich ja bei
Wolfram oft: z. b. 151,26 er spancte se äne türhant und die
gleich darauf folgende combination des eidstabs mit dem stabe
Keyes (vgl. dazu John Meier, Anz. fda. 15, 220) Der gedanken-
gang Ithers ist einfach der: er hat den becher weggenommen,
um damit seinen anspruch auf das land anzumelden und die
ritter des Artus zu zwingen, mit ihm um den becher zu kämpfen.
Dabei drehte er unversehens den becher um, so dass die königin
begossen wurde. Das war freilich für die königin unangenehm.
Er hätte ja am ende auch — wenn doch einmal etwas um-
gedreht werden sollte — eine Strohfackel (dies die vorwiegende
bedeutung von schoup) wegnehmen und umdrehen können.
Aber dabei hätte er sich selbst russig gemacht und da ist es
ihm schon lieber, dass die königin unter dem becherguss hat
leiden müssen. Mit einem rechtssymbol hat also dieser scherz
nicht das mindeste zu tun.
147, 18. S. oben s. 194 (zu 143, 4).
149, 30. Ine ruoch wer küneges gäbe giht erklärt Bartsch :
giht zuerkennt, gewährt. So frage ich nichts nach den mir
zugedachten geschenken'. Ebenso Piper. Aber jehen kann
wol insofern mit zuerkennen übersetzt werden, als es heisst
'anerkennen dass jemand etwas hat', 'jemandem etwas zu-
gestehen', dagegen nicht in dem zweiten sinne des nhd. zu-
erkennen = 'jemandem durch urteil etwas verleihen, gewähren'.
Es muss hier heissen 'ich kümmere mich nicht darum, wer
königsgabe eingesteht' d. h. 'bekennt empfangen zu haben'.
Es bezieht sich also wer in ine ruoch wer nicht auf den könig,
sondern auf andere gabenempfänger. Der Zusammenhang ist
der, dass Parzival sagt (v. 27 in wil hie nihtes Uten): 'ich
will hier drin am hofe nichts erbitten, sondern den hämisch
des ritters draussen will ich haben. Wenn ich den nicht
bekomme, so mögen andere {ine ruoch wer) empfänger von
königsgaben sein: das habe ich nicht nötig, der ich gewöhn-
liche königsgaben jeder zeit von meiner mutter haben kann,
die ja selbst eine königin ist'.
154, 21. Gip her und laz dtn lantreht ist zwar von Lexer
s.v. lantreht mit beziehung auf 146,23 richtig erklärt: es ist
der becher^ durch den It}ier §ßin recjit auf das land in anspruch
zu WOLFRAMS PARZIVAL. 201
genommen hat. Aber die vom Mhd. wb. 2, 1, 625 gegebene ganz
unmögliche erklärung *höre auf zu streiten', welcher Bartsch
gefolgt war (^lantreht gerichtsverfahren, process: dein proces-
sieren und streiten') wird von den neueren immer wider nach-
geschrieben. So von Piper, und auch W. Hertz übersetzt ^gib
her und lass dein rechten', weshalb der hinweis auf Lexer
nicht überflüssig sein dürfte. Lantreht kann wol ^gerichts-
verfahren nach landrecht' heissen, aber nie auf ein beliebiges
Wortgefecht bezogen werden.
155, 18. Bartsch und nach ihm Piper setzen die lesart
der gruppe D riuhe * rauher weg' ein statt riuwe der gruppe Gr.
Letzteres hat Lachmann aber mit recht bevorzugt, weil riuwe
hier als gegensatz zu schimpf steht, auch riuhe ein sonst von
Wolfram nicht gebrauchtes wort ist.
164, 14. Der scelden spehe. Die falsche vom Mhd. wb. 2, 1
496 nur aus unserer stelle gefolgerte bedeutung *was geschaut
wird' ist nach Bartsch von Piper weiter geführt, obgleich
schon Bötticher richtig übersetzt hat 'auf ihm ruht des glückes
äuge'. Denn spehe ist nur activ 'das prüfende anblicken, das
schauen'.
167,8. Gegenüber der von Piper Bartsch nachgeschrie-
benen falschen erklärung des Mhd. wb. ist einfach auf Lexer
s. V. eilenden zu verweisen. Richtig Bötticher.
170, 30. Der kumberhafte werde man wol mit schäme
ringen kan. Die stelle erklärt Kinzel, Zs. fda. 30, 355 falsch: 'der
bedrückte würdige mann, der vor einer unrechten handlung
zurückschreckt'. Aehnlich Bötticher (D. hohe lied v. rittertum
s. 38): 'der mit seiner sittlichen empfindung ringt, also in gefahr
ist, die schäm zu verlieren'. Hier heisst aber ringen, wie öfter
bei Wolfram, nicht 'gegen etwas ankämpfen' sondern übertragen
'sich mit etwas einlassen, mit etwas im verkehr sein, etwas
ausüben, an sich haben'. So 30, 21 si ringent mit zorne 'sie
sind sehr zornig' (nicht etwa 'sie suchen ihren zorn zu be-
kämpfen'), 122, 18 sie ringent mit der notnunft 'sie üben ent-
führung aus'. Es heisst also hier 'der treffliche mann, der in
not ist, weiss wol mit der schäm umzugehen', 'er befindet sich
in schäm', d. h. er ist ein verschämter armer, dem beizuspringen
der ritter besonders bereit sein soll. Piper schliesst sich an
202 BRAÜKE
Einzels falsche auffassung an, während Bartsch dem richtigen
näher war. Auch Wallner, Zs. fda. 40, 62 scheint die richtige
auffassung der stelle zu haben.
171, 13. Kinzel, Zs. fda. 30, 355 will den vers gebt rehter
mä^e ir orden zum vorhergehenden abschnitte ziehen und da-
nach den reim brechen, so dass mit 171, 14 ein neuer gedanken-
gang begönne. Auch Bötticher in seiner besprechung von
Gurnemanzens lehre (D. hohe lied v. rittertum s. 34 ff.) teilt
ebenso ab und Piper hat dies aufgenommen. Diese abteilung
ist aber schon deshalb unrätlich, weil sie gegen die art Wolf-
rams ist, welcher bei stärkeren sinnabschnitten keine reim-
brechung hat.*) Es wird also Lachmanns abteilung beizu-
behalten sein, üeberhaupt aber kann ich Einzels analyse des
gedankenganges der lehre des Gumemanz nur zum teile billigen.
Für mich zerfällt dieselbe in engem anschluss an Lachmanns
einteilung in folgende hauptgedanken. Abschnitt 1 — 3 (170, 15
— 171, 12) bilden einen allgemeinen teil Für jeden ritter ist
die schäm grundbedingung der werdekeit. Für einen ritter,
der fürstlichen geschlechts ist, wie Parzival dem Gurnemanz
zu sein scheint, kommen aber besondere pflichten hinzu. Er
soll den unterdrückten und in not befindlichen helfen (ab-
schnitt 2). Ein fürst soll aber ferner weder geizig noch ver-
schwenderisch sein, sondern von seinen mittein den richtigen
gebrauch machen (abschnitt 3).
In dem kurzen abschnitte 4 (171, 13 — 16) wendet er sich
von den grundlegenden tugenden eines fürstlichen ritters zum
speciellen falle, zu Parzival, welchem er zunächst im allgemeinen
mä^e und fuoge, weise mässigung und zuchtgemässes benehmen
anempfiehlt, da er sieht, dass es gerade an diesen erf ordemissen
der äusseren sitte dem Parzival am meisten fehlt: er ist rätes
dürftic. Einzel will v. 16 statt des überlieferten nu durch
conjectur und einsetzen. Seiner argumentation kann ich nicht
folgen. Einzel meint der unfuoge ir strit län müsse heissen
der u, nachgeben, unfuoge üben. Nun ist es richtig, dass einem
den strit län heisst: * einem das feld räumen' und das kann
die folge haben, dass man ihm unterworfen ist, ihm nachgibt.
*) Hierin folgt Wolfram seinem 'meister' Veldeke, s. Behaghel, einl.
zur Eneide s. 120 (vgl. auch Glöde, Germ. 33, 359).
Zu WOLFRAMS PARZIVAL. 203
Es kann aber auch bloss heissen, sich von ihm trennen, ihn
schalten lassen nnd selbst freiledig davon gehen. So z. b.
Walther 69, 18. Der dichter sagt zur dame, wenn sie ihn nicht
erhören wolle, solle sie es bald sagen: so loa ich den strit und
unrde ein ledic man ^dann höre ich auf zu kämpfen, verlasse
sie und gehe davon' oder Walther 64, 6 nü muois ich von in
(sc. den schamelosen) gän, also diu isuht gebot: ich läjse in laster
unde strit Es heisst also v. 14: 'jetzt zieht euch von der un-
fuoge zurück, weriet gefüege^ und ^geht rehter mäee ir orden\
Kinzels conjectur gegen aUe hss. ist also zu verwerfen. 0
Dieser allgemeinen aufforderung zu einer der ritterlichen
Sitte gemässen äusseren lebensführung lässt nun Gumemanz
vier speciellere lehren der höfischen mht folgen, welche alle
motiviert sind durch besondere mängel, die er an Parzival
bemerkt hatte. Parzival war ungeschickt in seinen reden ge-
wesen: deshalb belehrt ihn Gt. in abschnitt 5 (171, 17 — 24) über
verständiges fragen und antworten. Im anschluss daran, dass
Parzival seine begegnung mit Ither erzählt hatte (170, 2), em-
pfängt er in abschnitt 6 (171, 25 — 30) eine belehrung darüber,
wie der ritter mit einem überwundenen gegner zu verfahren
habe. Die anfängliche Weigerung Parzivals bei seiner ankunft,
sich entwaffnen zu lassen (163, 21 ff.), hat die lehre des ab-
schnitt 7 (172, 1 — 6) zur folge, dass der ritter nach ablegung
der Waffen sich durch Säuberung für die höfische gesellschaft
zurichten müsse. Endlich hatte Parzival dem Gurnemanz auch
sein täppisches verfahren mit der Jeschute erzählt (170,1),
weshalb ihm Gurnemanz eine eingehende belehrung über das
verhalten des ritters zu den frauen und zur minne zu teil
werden lässt: abschnitt 8 (172, 7 — 173, 6). Hiermit ist die
belehrung abgeschlossen, für welche Parzival dankt (173, 7 — 10).
Es folgt die praktische Unterweisung in den kämpf sitten (173,
13 ff.), die freilich auch noch zum capitel der fuoge gehört
(unfuoger im sus werte 174, 7).
Näher berührt sich die hier gegebene disposition mit der
analyse von Bötticher (D. hohe lied v. rittertum), welcher ins-
besondere den gegensatz des allgemeinen teils, der sittlichen
^) Bötticher hat in der zweiten auflade seiner tlbersetzon^ nach Kinzels
coigectur geändert.
204 BRAUNE
grundlage, zu dem zweiten hauptteile, der lehre vom benehmen,
gut hervorhebt.
174,2. Mit schenkelen fliegens schine übersetzt Bartsch
'mit schenkein, die wie fliegend aussehen' und Piper 'indem
die Schenkel zu fliegen scheinen'. Aber mhd. bezeichnet scMn
(scMnen) noch nicht wie im nhd. den schein im gegensatz zur
Wirklichkeit, sondern glänz, erscheinung, gestalt etc., also
immer etwas wirkliches, nichts bloss angenommenes, so wie
ja auch Bartsch 146, 16 ine süle niht flühtic scMnen richtig
nicht mit 'zu fliehen scheinen' übersetzt, sondern 'man wird
mich nicht fliehen sehen'. Auch kann es sich nach allgemein
mhd. Sprachgebrauch hier gar nicht um einen vergleich han-
deln, sondern die Schenkel des reiters flogen wirklich (vgl.
Hartmanns Greg, so liez ich schenJcel vliegen und viele andere
stellen). Es kann also hier nur von dem 'in die erscheinung
treten des schenkelfliegens' die rede sein.^) — Schwieriger
aber ist die Wortverbindung zu beurteilen, die Bartsch (Piper)
gar nicht berührt. Wie erklärt sich der dativ schenkelen, da
doch mit zum dativ schine gehören muss? Das nächstliegende
wäre schenkelen als gen. plur. zu fassen 'mit dem zur erschei-
nung treten des fliegens der Schenkel'. Aber schen^kel ist sonst
nie schwach flectiert. Lachmann verweist in der anm. auf Wh.
408, 17: dö kerte gein dem alten mit sparen getribener hurte
CernuUlL Doch liegt dieser fall anders. Man könnte hier
an 'sporengetrieben' denken und mit zu hurte construieren,
wenn solche im nhd. beliebten participialcomposita dem mhd.
sprachgebrauche nicht fremd wären (vgl. Grimm, Gr. 4, 592 f.).
Da Wolfram auch sonst dais ors mit sporen triben braucht
(Parz. 387, 11. 611,12), so ist hier getribener hurte als adver-
bialer genitiv zu fassen. Für unsere Parzivalstelle weiss ich
keine andere erklärung, als entweder statt schenkelen gradezu
den starken gen. schenkel{e) zu conjicieren, oder was mir fast
wahrscheinlicher ist, eine äusserliche angleichung dieses verses
^) In der zweiten aufläge hat Bötticher seine Übersetzung der stelle
zum schlimmeren geändert: ^wie er das ross ... mit dem spitzen sporen-
grusse und Schenkeldruck, als ob es flöge, zum anlauf müsste lenken'. Zu
dem fehler von Bartsch ist hier noch die falsche beziehung des * fliegens'
auf das ross gekommen, während in der ersten aufläge richtiger stand: ^mit
... sporengrusse und fliegender Schenkel druck'.
zu WOLFRAMS PABZIVAL. 205
an den vorhergehenden parallelen mit sporen gruozes pine
anzunehmen, in welchem zwar sporen gen. pl. ist, aber doch
der form nach auch als dativ zu mit misverstanden werden
konnte. In Lachmanns texte steht die lesart von D; die
einzige hier vorhandene weitere hs. dieser gruppe d hat den
richtigen gen. plur. Schenkel, Die gruppe G liest nach sehen-
Jcelen ßegens schtne, wobei schenkelen notwendig genetivisch
gefasst ssin muss, wie auch die Schreibungen jüngerer hss.
(schencJcelns, schenJceh) andeuten.
HEIDELBERG, 29. sept. 1898. W. BRAUNE.
zu HARTMANNS REDE VOM GLAUBEN.
Hartmanns Credo, das erste stück der untergegangenen
Strassburg-Molsheimischen hs., ist seit Massmanns zu mannig-
faltigem tadel herausfordernder edition immer ein Stiefkind
der forschung gewesen. Auch Reissenbergers dankenswerte
arbeit (Hermannstadt 1871), die vor allem für die heimatsfrage
wesentlich wurde, nimmt von einer genauen revision des textes
abstand. Die so wünschenswerte neuausgabe hat das gedieht
erst jetzt durch von der Leyen (Breslau 1897) erhalten. Auf
die von ihm hergestellte textform beziehen sich die folgenden
bemerkungen. Sie machen es sich nicht zur aufgäbe, alle das
gedieht angehenden formellen und sachlichen probleme und
insbesondere die über sie vom herausgeber ausgeführten
ansichten einer erneuten prüfung zu unterziehen, so strittig
mir die letzteren in manchen punkten scheinen (ich nenne
nur den versuchten nachweis dreier über einander lagernder
sprachlicher schichten, die eine unerlässliche statistische analyse
der rhythmik ganz bei seite lassende metrik, die sicher in
wesentlichen punkten zu modiflcierende darstellung der f ormel-
technik). Ich beschränke mich auf eine behandlung der von
von der Leyen angesetzten interpolationen und schliesse ein-
zelne bemerkungen zum text des gedichtes an, der an vielen
stellen noch immer der besserung bedarf.
1. Wenn man von Reissenbergers debattierung der frage
absieht, ob die ganze partie 1680 — 3224 als ein besonderes
gedieht *Des heiligen geistes rat' auszuscheiden sei, die er
übrigens im sinne der einheitlichkeit entscheidet, ist Schröder
der einzige gewesen, der (Zs.fda.33,104anm.) interpolationen
und zwar in sehr massigem umfange in Hartmanns Credo an-
genommen hat. Nach dem neuesten herausgeber (s. 33) sollen
nicht weniger als 116 verse, wenn ich recht gezählt habe.
Zu HABTMANlffl BEDE VOM GLAUBEN. 207
von einem 'prahlerisch auftretenden', täppischen anfänger' in
den ' Schwung' von Hartmanns perioden eingeflickt sein. In
diesen nach meinem gefühl übertriebenen allgemeinen bezeich-
nungen scheint mir gleich ein hauptfehler in von der Leyens
betrachtungsweise klar vorzuliegen. Er hat durch die lange
beschäftigung mit seinem dichter mehr und mehr sich ein
Idealbild von seiner individualität construiert und diese con-
struction ist, wie sich in seiner ganzen einleitung klar zeigt
und wie es ja auch zu erwarten war, zu vollkommen, zu
idealistisch geraten, als dass sie wahr sein könnte. Gewis
war Hartmann nicht nur kein ungeschickter, sondern ein treff-
licher, vom ernst seiner aufgäbe innerlich durchdrungener,
viele seiner dichtenden Zeitgenossen vielleicht an darstellungs-
gabe überragender poet; aber ebenso gewis ist es übertrieben,
ihn, den einfachen laienbruder, mit solchen lobesattributen
auszustatten, wie sie ihm von der Leyen nicht gar sparsam
zuteilt, und ihn dadurch geradezu zu einer phänomenalen
erscheinung innerhalb einer zeit zu machen, die so hervor-
ragende dichter sonst nicht gezeitigt hat und überhaupt einem
so ausgeprägten Individualismus wenig räum zur ausbildung
gewährte. In einer solchen sonne findet man natürKch nun
flecken: ' Widersprüche', 'stilistisches und metrisches Ungeschick',
'tautologien', 'not- und flickverse' oder wie man sie sonst
nennen mag. Ich greife nur z. b. die tautologien heraus, die
von der Leyen bei weitem nicht vollzählig in sein Verzeichnis
'gleichlautender Wendungen' (s. 59) aufgenommen hat: sie sind
ein charakteristicum der ganzen frühmittelhochdeutschen dich-
tung, und ihr massenhaftes auftreten bei Hartmann, einerlei
ob nach unserem modernen gefühl an passenden oder unpassen-
den stellen, nötigt nicht nur nicht zur annähme störender,
ungeschickter einschiebsei, sondern beweist vielmehr gerade,
dass Hartmann durchaus ein kind seiner zeit und keine aus-
nahmepersönlichkeit war. Jenes verzeichnete Idealbild von
Hartmanns dichterischer eigenart ist der psychologische grund
für die annähme von Interpolationen, die man immer findet,
wenn man sie sucht, und auf deren entdeckung und nach-
weisung gerade in unserer Wissenschaft schon viel Scharfsinn
nutzlos verbraucht worden ist. Geben wir jene ideale construc-
tion auf, so fällt auch die notwendigkeit dieser annähme.
208 LETTZMANN
Das ist, wie ich glaube, bei unserem gedichte der fall
Ich gehe nun die von von der Leyen beanstandeten stellen
einzeln durch und versuche die von ihm für die ausscheidung
geltend gemachten gründe zu entkräften, sowie gegengrände
für die unentbehrlichkeit mancher stelle innerhalb des gedank-
lichen Zusammenhangs darzulegen. Ich lege dabei die reihen-
folge der verse, nicht die vom herausgeber in der einleitung
beliebte anordnung der stellen zu gründe.
25 — 34 (s. 34). von der Leyen sagt: 'vers 25 und 34 be-
sagen ganz dasselbe . . . Der Inhalt von vers 25—34 ist daher:
ich will anfangen und gott um hilfe bitten; und da mir gott
verheissen hat, er wolle mein gebet erhören, so will ich eben
anfangen. Einen solchen zirkel macht Hartmann niemals'.
Er hat also den Zusammenhang der gedanken nicht erkannt
Dass 25 und 34 nicht dasselbe besagen, zeigen schon die ein-
leitenden Partikeln iedoh und so. Der ganze passus scheint
mir inhaltlich unentbehrlich. Hartmann sagt: * hätte ich die
nötige Weisheit (18), so wollte ich den glauben, an den
sich viele wertvolle erwägungen anknüpfen lassen (23), in
angemessener weise (bescheidenltche 20, vgl. 1629) auslegen'.
Der bescheidene laienbruder subintelligiert dabei: 'im besitz
dieser Weisheit bin ich aber nicht'. 'Trotzdem (iedoh) will ich
die rede beginnen; gott wird, wie er selbst verheissen hat, mir
helfen; in dieser hoffnung will ich denn (so) getrost ans werk
gehen' (ich glaube in understän einen rest der sinnlichen
grundbedeutung zu fühlen). Inhaltlich ist also alles in bester
Ordnung; denn dass Hartmann den so wichtigen gedanken seiner
Unzulänglichkeit, göttliche probleme würdig zu behandeln, ein
paar mal hin- und herwendet, darf uns nicht wunder nehmen;
von der Leyen freilich sieht darin eine 'Wichtigtuer ei'. Seine
Schlussbemerkung verstehe ich nicht, wenn sie sich nicht auf
das glossierende da^ sprichit (29) beziehen soll; doch vgl. 751.
1109. 2368. 2908. 2954. 3014. — Die äusserlichen gründe
von der Leyens fallen auf anhieb. Wände steht sonst immer
zur erläuterung des Vordersatzes, hier (33) zur begründung
des nachsatzes; daraufhin zu athetieren heisst einen starren
Schematismus in eine lebendige, von grammatikergesetzen noch
unbeeinflusste spräche hineintragen, was auch in der text-
behandlung vielfach geschehen ist; der herausgeber unterbindet
zu HARTMAKKS RED£ VOM GLAUBEN. 209
dem dichter jede freiere beweglichkeit und varietät des aus-
drucks. Eeiche belege für wände im Vordersatz stehen im Mhd.
wb. 3, 501a, wo auch die an unserer stelle vorliegende Satzver-
bindung wände — so mehrfach bezeugt ist. — Das vorkommen
von hoffen war einer der lexikalischen beweise für Hartmanns
mitteldeutsche heimat (ßeissenberger s. 31). An unserer stelle
(26) soll nun das oberdeutsche gedingen (wie auch 1511 dingen)
in diesem sinne stehen. Das wort an sich ist nun weder dem
mitteldeutschen überhaupt noch Hartmann im besondern fremd
(vgl. s. 33 anm. 1 ; hier sind die Übersetzungen zum teil recht
sonderbar; z.b. war für 3128 auf grund von Mhd. wb. 1, 338 a
eine andere bedeutung anzusetzen). Warum soll es gerade
hier * hoffen' bedeuten? Kann man diese einzelne bedeutungs-
nüance überhaupt so isolieren, dass man einem dichter den
stamm in verschiedenen bedeutungsvarietäten zugesteht, diese
eine aber abspaltet? Wer hat endlich bewiesen, dass {ge)dingen
und hoffen im gleichen sinne mitteldeutsch nicht neben einander
bestehen konnten? 26. 27 können ganz gut 'an den himm-
lischen gott will ich wegen hilfe appellieren' oder 'hilfe will
ich mir vom himmlischen gott ausbedingen' übersetzt werden.
77 — 80 (s. 41). Hier nimmt der herausgeber ausser der
nicht weiter auffallenden widerholung (79 — 83) daran anstoss,
dass tut (79) auf zestunt (78) sich zurückbezieht und daher
'angeflickt' sei, während er tut (83) wegen des vorhergehenden
getete für 'berechtigt' erklärt. Er hat also nicht an die syn-
taktische regel gedacht, dass tuon ein vorangegangenes verbum
ersetzen kann und dann die construction dieses verbums an-
nimmt (Paul, Mhd. gr.* § 386). Consequenterweise müsste er
dann auch die beiden andern bei Hartmann noch vorkommenden
fälle dieses gebrauchs, wo tuon ein vorhergehendes geschehen
aufnimmt (725. 954), für Interpolationen ansehen.
99 — 104 (s. 38) sollen wegen der anaphorischen widerholung
der anfangsworte vil michil ist (89. 104) unecht sein und 'sind
ohnehin noch vers 98 und 84 allzu ähnlich'. Diese widerholung
aber ist, zumal sie auch 312 sich findet, nicht nur zweifellos
beabsichtigt, sondern geradezu formelhaft (vgl. Kraus zu Baumg.
Joh. 55). Die formel fehlt in von der Leyens f ormelverzeichnis
wie so manche wendung, die hineingehörte, während eine ganze
zahl von andern Verbindungen sich zu unrecht darin findet.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. j[4
210 tiElTÄMANK
105. 106 (s. 40) ^unterbrechen störend die vielen paralle-
lismen und anaphern, die Hartmann in dieser partie absichtlich
häuft'. Kurz vorher war die anapher ein grund zur athetese,
hier wird das princip plötzlich umgekehrt. Die verse sind schon
deshalb unentbehrlich, weil 105 eine zweifellos absichtliche paral-
lele zu 125 enthält, was schon Eeissenberger (s. 10) gesehen hat.
201. 202 (s. 40) sollen wegen des anklangs an 105. 106
fallen und * verwischen die juristische färbung, die 200 und 203
ohne einschiebsei haben'. Der erste grund erledigt sich von
selbst; auf die * juristische färbung' muss ich mit ein paar
Worten eingehen. Von der Leyen hat (s. 5) herausgefunden,
dass sich Hartmann mehrfach in Wendungen bewegt, 'die nach
dem ausweis der Wörterbücher in der weltlichen rechtssprache
beliebt sind'. Beweisen sollen das die acht Wörter (nicht
Wendungen) eichenen, termenunge, getelinc, missehellen, veichen,
reiten, verplegen und ingetüme. Die belege der lexica stammen
allerdings zum teil aus rechtsquellen, geben uns aber keinerlei
berechtigung, in diesen Wörtern sozusagen juristische termini
zu sehen, die ein dichter wie Hartmann der rechtssprache
entlehnt haben müsste. Eichenen kommt nur in der Wiener
Genesis vor, die kein rechtsbuch ist; veichen kennen in Hart-
manns sinne nur die Hohenfurter Benedictinerregel und der
Williram, wider um keine rechtsbücher; ingetüme hat auch
Wernher von Elmendorf; einzig termenunge ist nur aus dem
Kaiserrecht belegt; die übrigen Wörter sind überall zu finden.
Wenn es nun aber mit der 'juristischen färbung' von Hart-
manns spräche so steht, dann erledigt sich auch der zweite
einwand gegen unsere verse leicht.
229 — 234 (s. 39). Der herausgeber nimmt daran anstoss,
dass das zweimalige er (229. 230) im nebensatze (232) durch
das Substantiv got aufgenommen wird. Schon die parallele 1486
zeigt, dass wir es hier mit einer formelhaft stereotypierten
Wendung zu tun haben, bei deren anwendung der dichter sich
nicht erinnerte, dass das viele zeilen vorher stehende subject
vater (222) ebenfalls auf gott geht. Warum die aufzählung
von himmel und erde, meer und höUengrund 'ungeschickt' sein
soll, vermag ich nicht einzusehen. Zudem wird der gedank-
liche fortschritt durch die athetese bedenklich gestört. Ohne
sie ist alles in Ordnung: gott hat seinem söhne die gewalt
ZV HARTMANNS ftEDEl VOM GLAUBEN. 21 1
Über alles erschaffene gegeben; meer und hölle (also zwei der
unergründlichsten dinge) kennt er genau, da er sie ja in seiner
Weisheit im anfang erschaffen hat. Dieser letzte causalsatz
schwebt ohne 234 gänzlich in der luft.
299. 300 (s. 41). Warum gerade diese antithese interpoliert
sein soll, die im zusammenhange nicht mehr und nicht weniger
geschmackvoll ist als alle andern, ist nicht ersichtlich; denn
das motiv des anklingens von UM (299) an lieht (297) ist doch
nicht ernst zu nehmen. Der flickvers 300 scheint mir zwischen
den gepaarten begriffen nicht schlechter als 298.
617 — 622 (s. 39). Auf von der Leyens metrische kriterien
kann ich ein für allemal nicht eingehen, da seine behandlung
dieser dinge (s. 45) den an eine rhythmische Statistik zu stellen-
den ansprüchen nicht genügt. Von den metrischen tendenzen
des gedichts hat er sich offenbar selbst kein klares bild ge-
macht, vielmehr bietet er an stelle einer nüchternen Unter-
suchung phrasen (wie z. b. s. 52). Dass der Inhalt dieser verse
in einen streng logischen gedankenzusammenhang nicht ganz
hineinpasst, kann man zugeben, ohne an Interpolation zu
denken: warum sollen wir dem dichter jedes abspringen des
gedankens oder der empfindung vom geraden wege verübeln?
So bleibt nur das zweimalige tübel (617. 619) als stein des
anstosses: 619 könnte wider wie oben bei 232 eine stereotypierte
Wendung vorliegen (belege gibt Kraus zu Makkab. 101), doch
hilft schon die annähme einer emphatischen anapher (ähnlich
z. b. 1928. 1932. 1935. 1940) über die Schwierigkeit hinweg,
wenn es überhaupt eine gibt.
705 — 710 (s. 36). Hier wird dem dichter wider ein ge-
dankensprung zum Vorwurf gemacht. Aber lag es denn wirk-
lich so fern, beim preise der Maria an den glänz zu erinnern,
der von dem göttlichen söhne auf die mutter zurückstrahlte?
Ist eine gedankenentwicklung wie diese: Maria war aus Davids
geschlecht, nie hatte eine mutter einen mächtigeren söhn, diesen
söhn gebar sie als Jungfrau — wirklich so ^unpassend'? Wenn
die widerholung des reimworts ist (704. 710) athetesen be-
gründen kann, dann müssen noch viel mehr zeilen des Credo
verdammt werden. Welcher luftige türm endlich auf das wort
werlthuning (706) gebaut worden ist, mag man bei dem heraus-
geber selber nachlesen.
14*
212 tiEItZMAim
714. 715 (s. 41) soll ein gelehrter zusatz sein, der aber doch
nicht gelehrter ist als alle andern lateinischen verse innerhalb
des deutschen contextes. Der gute reim lilium 713 : filium 716,
der nach dem herausgeber hier durch den interpolator zerstört
sein soll, sollte durch seinen genauen gleichklang eher ver-
dächtig wirken.
805 — 808 (s. 40) sind nur durch gedankenvariation an-
stössig, also in Wahrheit unverdächtig. Wie man den zeilen
807. 808 und 799. 800 denselben Inhalt zuschreiben kann, weiss
ich nicht.
982 — 985 (s. 40) werden aus dem nichtigen gründe be-
anstandet, dass der bericht des Marcus cap. 14 durch eine
Lucasstelle (denn statt Marc. 9, 16 ist hier und s. 178 Luc. 9, 16
zu lesen) und eine stelle der Apostelgeschichte unterbrochen
werde. Das erledigt sich ohne weiteres, da ja eine derartige
contamination von verschiedenen bibelstellen doch wol dem
dichter zuzutrauen ist. In der widerholung (982. 985) sehe
ich nicht ein ^ nicht weiter können', sondern emphase, wie schon
oben in einem ähnlichen falle. Will man nicht absichtliche
verquickung jener beiden motive annehmen, so könnten im
gedächtnis des dichters die ähnlichen Situationen auch ganz
unbewusst in einander geflossen sein. Trotzdem aber könnte
von der Leyen von rechts wegen nur 983. 984 ausscheiden,
da ja auch Marcus benedicens hat; dann gerieten aber die
beiden dankverse unmittelbar hinter einander, wodurch klar
wird, dass es mit der ganzen athetese nichts ist.
In der partie 1085 — 1124 (s. 42) bleibt absolut unverständ-
lich, welche absiebten der urheber derartiger Umstellungen
und Interpolationen bei seiner vandalischen tätigkeit gehabt
haben soll. Wo solche kunststücke nötig sind, um den ver-
meintlich echten text widerherzustellen, liegt die mangelhaftig-
keit der begründung der athetesen auf der band. Aber wider
lassen sich ausserdem die einwände des herausgebers unschwer
entkräften. Die widerholungen (1095. 1096, 1103. 1104 und
1123. 1124, 931. 932) stören uns natürlich nicht, denn sie sind
nicht ungeschickter als manche andern, die doch ruhig passieren
dürfen. Der gedankengang ist freilich nicht der einer logisch-
dialektischen entwicklung, aber doch keineswegs * unklar'.
Sicher ist 1097 ein flickvers, aber warum gleich ein * sinnloser'?
\
zu HAÄTMANNS BEDE VOM GLAUBEN. 213
Der dichter benötigte einen reim auf gedenket, und ihm fiel
nichts besseres ein als daran zu erinnern, dass der teufel uns
gern zu falle bringt, also aus reiner bosheit und dem gefallen
daran böses tut im schroffsten gegensatz zu Christus, der
sogar für die betete, die ihm das leben nahmen (1109); diese
antithese scheint mir in den versen wenn auch unvollkommen
zum ausdruck gebracht werden zu sollen. Gegen die zeilen
1098. 1101. 1102 vermag von der Leyen selbst nichts anzu-
führen.
1401 — 1403. 1405 (s. 41). Hier stösst sich der herausgeber
an der reimfolge 1401 — 1406 (die er übrigens auch noch un-
richtig ausschreibt) verJcerten : lerten, keren : lugeneren, gouke-
leren : geleren; 'kann es etwas ärmlicheres geben?' Aber Hart-
mann hat derartige häufung ähnlicher reime noch öfter: 637
— 640 Crist : ist, liste : wiste; 741 — 746 rüte : gute, veltblüme :
rüme, getrüc : gut; 753 — 756 gewunnen : sunnen, untrunnen :
gerunnen; 1361 — 1364 glich : sih, glich : glich Der letztgenannte
fall z. b. ist weit härter als der obige. Auch der Inhalt der
verse ist, wenn man richtig übersetzt und interpungiert, nicht
'blödsinn', wie von der Leyen findet. Ich setze nach 1399
eine stärkere inteiTpunction, später gehören je zwei verse dem
sinne nach zusammen. So hat der passus vernünftigen Zu-
sammenhang: die Juden sprachen, Christi jünger seien unrein;
niemand solle mit ihnen gemeinschaft haben, da sie die weit
auf den köpf stellten; um ihre lügenhafte predigt solle sich
niemand kümmern; sie seien lügner und gaukler und zwar
nach dem vorbilde ihres lehrers Christus. 'Ein satz wider-
spricht immer dem andern' sagt von der Leyen!
1481—1492 (s. 38). Ich sehe nicht ein, warum der Inhalt
dieser verse, den der herausgeber ganz richtig angibt, 'unsinn'
sein soll. Dass von den geschöpfen gerade die fische heraus-
gegriffen und besonders namhaft gemacht werden, mag uns ja
sonderbar erscheinen, berechtigt aber noch lange nicht zu
einer athetese oder doch höchstens zur beanstandung von
1488. 1489, nicht aber der ganzen umliegenden partie. 1489
übrigens enthält keine tautologie: der dichter unterscheidet
fluss- und Seefische als verschiedene (manicvalt) arten. Die
weiterhin gerügten stilwiderholungen finden sich sonst bei
214 LEITZMANN
Hartmann so massenhaft, dass ich mir belege ersparen kann.
Wo bleibt die Impotenz' des interpolators?
1501 — 1512 (s. 35). Von der Leyens ei-ster einwand, dass
hier die engelchöre in anderer reihenfolge als im späteren
gedieht genannt werden, ist wol kaum ernst zu nehmen;
Hartmann schrieb ja nicht ein logisches compendium über die
himmelsbewohner, und die vorliegende stelle ist auch nicht
excurs oder Inhaltsverzeichnis zu der späteren breiteren aus-
führung. Auch das zweite motiv zur athetese, an 1500 müsse
sich der inhalt des lobes sofort anschliessen , hält einer rich-
tigen Interpretation nicht stand. Ich bleibe 1500 bei der
handschriftlichen lesart, die si nicht hat, und verstehe die
ganze stelle: loben soll dich all deine Schöpfung, wie eines
jeden art es ihm durch deine gnade vorschreibt, die das lob
(ich fasse dijs als di daz\ vgl. 1189. 1335) auf dich hin richtet;
id. h. gottes gnade lehrt die creaturen, dass sie jede auf ihre
weise gott zu loben haben. Wenn man diese auffassung von
di^ sprachlich für Hartmann untunlich hält, kann man auch
mit von der Leyen si einsetzen und diz auf 1495 zui-ück-
beziehen, also * dieses lob' als das, von dem der dichter soeben
gesagt hat, dass es gott dargebracht werden solle, verstehen.
Ueber dingen endlich vgl. oben zu 25.
1531. 1532 (s. 40) widerholen 105. 106, brauchten also
darum nach meiner auffassung nicht unecht zu sein; dass sie
'der diction zum nachteil gereichen', ist ebenfalls kein genügen-
der grund zur athetese. Aber im gegenteil ist die diction nur
dann in schönster harmonie, wenn die verse stehen bleiben,
da dann jeder der drei mit in beginnenden verse (1530. 1533.
1535) einen nachsatz hat und 1531. 1532 z. b. ganz parallel
1534 stehen.
1610 — 1613 (s. 34). Gegen diese verse erhebt von der Leyen
fast nur aus gründen Widerspruch, die ich schon anderweitig
als nicht stichhaltig nachgewiesen habe: zwei der incriminierten
Zeilen stehen auch an einer anderen stelle des Credo; zwei
andere werden Hartmann abgesprochen, weil sie einem neben-
gedanken ausdruck verleihen und dadurch die stelle ihren
parallelismus gegen zwei andere einbüsst, die diesen neben-
gedanken nicht enthalten. So schematisch lässt von der Leyen
seinen begabten dichter arbeiten, wenn es gilt Interpolationen
zu HARTMAKNS REDE VOM GLAUBEN. 215
ZU finden. — 1612 steht das wort riezen wie 1911 beriefen,
die nach dem herausgeber (s. 32. 33) bairisch oder doch ober-
deutsch sein sollen. Das ist einmal nicht ganz richtig, denn
auch das Rolandslied hat rieben. Ferner aber dürfte es rein
zufällig sein, dass fast alle mhd. (aber nicht ahd.) belege aus
Oberdeutschland stammen; denn das wort ist auch im mnd. als
reten vorhanden (vgl. Mnd. wb. 3, 469 a).
1910 — 1913 (s. 33). Ueber leriezen habe ich eben ge-
sprochen. Hier muss ein neuer Schematismus herhalten: inner-
halb der geschichte des Schachers am kreuz enthalten unsere
verse eine ganz persönliche bitte des dichters um erlösung, und
Hartmann * unterbricht seine geschichten nie durch solche
bitten oder ähnliche deliberationen'. Nun, dann hat er es
eben in diesem einen falle doch getan. Mit recht wies zudem
schon Scherer (Gesch. d. d. dicht, im 11. u. 12. jh. s. 36) auf eine
'ängstliche sorge um die ewige Seligkeit und ein starkes in-
dividuelles schuldgeführ als für unsern Hartmann charakte-
ristische eigenschaften hin.
Die bedenken gegen die verse 2674 — 2683 (s. 37), die
widerum einen kleinen gedankensprung enthalten, wie ihn ein
dichter wie Hartmann nicht machen darf, sind wesentlich
metrischer natur, also, wie ich schon oben hervorhob, für mich
undiscutierbar.
2850. 2851 (s. 42) enthalten 'ohne grund' (!) einen rührenden
reim, machen die absieht des dichters 'unkenntlich' das wort
helle in den versen der Umgebung möglichst oft zu nennen
und widerholen 'ungeschickt' den dichter; 'wenn er sich wider-
holen wollte, würde er doch gesagt haben ' Ich brauche
nichts zur Widerlegung hinzuzufügen.
2880—2883 (s. 37) endlich sind nur deshalb anstössig,
weil sie die quelle 'so correct, so bestimmt' nennen 'wie der
dichter niemals', ein argument, dessen tragweite ich schon
oben zu 1910 beleuchtet habe.
An keiner einzigen stelle also hat sich von der Leyens
auffassung halten lassen. Wir besitzen, wenn man meinen
darlegungen beistimmt, Hartmanns Credo durchaus in reiner,
uninterpolierter gestalt. Jeder nicht voreingenommene leser
des gedichts wird, glaube ich, bei eingehender lectüre von
selbst auf dieses resultat kommen. Indessen hat dieser neueste
J^^^ LErrzMAKX
>Ui. (fii^um "mw im texte zu belassen; 800 zwingt nicht
^ oU^i! ;«tt»iikHWir Ud dem,
^v X^Wfcacht ist hier das handschriftliche leben doch
>i^;<)rHiM)k9^ttf. jedenfalls aber sulen nicht zu eliminieren.
l^X^ ftisse ich als zweiten, 1067 parallel stehenden relativ-
tsMä ttJüwi streiche daher die gedankenstriche; anders Kraus zu
Kfe^iit Paul. 107, 3, 1 ba.
1082. Wenn ich Massmanns anmerkung recht verstehe,
Ä> hat die hs. gehucnisse ein ein war urchunde und die zeichen
a und b über den beiden ersten Wörtern deuten Umstellung
an. Dann haben wir also kein an in dem ganzen satze, das
Massmann misverständlich aus ein mit darüber stehendem a
entnahm. Ich lese also demnach: ein gehucnisse, ein war ur-
chunde,
1287 lese ich mit der hs. daj^ erz selbe wer£, er lebete.
Die wichtigste mitteilung ist zweifellos 'dass er selbst es wäre';
*und zwar ein lebendiger' kommt erst in zweiter linie. Dae
er selbe wol lebete scheint mir hier ganz unpassend; 2224 heisst
es ^dass es ihm gut gienge', was hier schon wegen des selbe
nicht angeht. Dass es zunächst auf die Identification der
erscheinung mit Christus ankommt, lehrt deutlich 1290. 1292.
1592 war rüwent, das die hs. hat, beizubehalten. Die er-
gänzung 1593a ist zu streichen; es liegt ein dreireim vor.
1908 ist da:s nicht zu ändern, 1909 ein komma zu setzen.
Ich verstehe: 'dass sein glaube so gut war, dass er ihm die
ewige Seligkeit erwarb, derselben gnade lass auch mich teil-
haftig werden'.
2055 ist lerist aus der hs. beizubehalten, am Schlüsse ein
punkt, 2053 aber ein komma zu setzen: 'selten hat das jemand
auf den rat eines andern hin getan, wenn du ihm nicht diesen
guten rat gibst'.
2160. Dürftigen ist nicht auszuscheiden.
2171 lese man mit der hs. dinen Üb.
2210. Für si hat Massmann f , das wol abkürzung für ind
sein soll.
2212. Die hs. hat des statt von der Leyens der.
2287. Huor ist sonst niemals masculinum, sondern stets
neutrum; unsere stelle ist bei Lexer 1,1392 das einzige bei-
spiel. Sonst hat Hartmann das f emininum huore (2286. 2492).
zu HARTMANNS REDE VOM GLAUBEN. 217
146 ist die handschriftliche lesart sine im texte zu be-
lassen. Trakten hat in diesem sinne stets den accusativ bei
sich (Mhd.wb.3,82a).
206. 207. In einem dieser verse scheint eine dittographie
vorzuliegen. Ich schlage vor, nach dem muster von 70 einmal
ebenJcreftic zu lesen.
324 lese ich ^o gesihte; vgl. 262. 1636. 2096. Milst. Gen.
63, 32. 91, 7. 30. Heinr. v. Melk 1, 208. Bruinier, Krit. stud. z.
Wemh. Mar. s. 180 anm. 2.
444 lag kein grund vor das handschriftliche tuon in tuo
zu ändern.
530. Mir ist sehr zweifelhaft, ob getwäs hier 'gespenst'
bedeutet, wie von der Leyen (s. 32) nach den Wörterbüchern
annimmt, zumal Hartmann an einer andern stelle (1292) für
diesen begriff getustemisse braucht. Die bedeutung 'bösewicht,
tor', die das wort sonst meist in mittelfränkischen dichtungen
hat (Bartsch, Ueb. Karlm. s. 278) und die auch niederdeutsch
die bei weitem bevorzugte ist (viele belege in meiner anmer-
kung zu Gerh. v. Mind. 66, 58), passt an unserer stelle ebenso
wie an den meisten andern, die in den Wörterbüchern ver-
zeichnet sind, so gut, dass eine andere auffassung gänzlich
unnötig erscheint.
559 ist ime im texte zu belassen.
636. Die hs. hat bechudit, wofür von der Lej'^en bedechit,
Vogt belmlit lesen will; beides ist dem sinne nach richtig,
steht aber graphisch recht fern. Glaublicher ist mir, dass
Massmann bechudit aus becleidit verlesen hat. cl für hl steht
auch sonst im Credo mehrfach (z. b. 289. 1439. 2818).
758. Ist ist der hs. gemäss im texte zu belassen, 757
punkt oder Semikolon zu setzen.
766. Der reim verlangt ein dem ahd. s^indun entsprechen-
des sinden, wie schon, was von der Leyen übersehen hat, zu
Denkm. 56, 16 bemerkt ist.
783. Den war nicht zu ändern; es ist dem sinne nach
construiert, da teil (780) ein coUectivum ist.
795. Das handschriftliche Pilatis ändert von der Leyen
ohne grund in Pilati; es ist aber kein Sprachfehler, sondern ein
deutscher genetiv Pilates, Mit demselben rechte hätte dann
auch Cristis (972. 1086. 2897. 3638) geändert werden müssen.
218 LEITZMANN
801. Einem war im texte zu belassen; 800 zwingt nicht
zu einer änderung in dem.
925. Vielleicht ist hier das handschriftliche leben doch
beizubehalten, jedenfalls aber sulen nicht zu eliminieren.
1068 fasse ich als zweiten, 1067 parallel stehenden relativ-
satz und streiche daher die gedankenstriche; anders Erans zu
Rhein. Paul. 107, 3, 1 ba.
1082. Wenn ich Massmanns anmerkung recht verstehe,
so hat die hs. gehucnisse ein ein war urchunde und die zeichen
a und h über den beiden ersten Wörtern deuten Umstellung
an. Dann haben wir also kein an in dem ganzen satze, das
Massmann misverständlich aus ein mit darüber stehendem a
entnahm. Ich lese also demnach: ein gehucnisse, ein war ur-
chunde.
1287 lese ich mit der hs. dajs erz selbe were, er lebete.
Die wichtigste mitteilung ist zweifellos *dass er selbst es wäre';
*und zwar ein lebendiger' kommt erst in zweiter linie. Dae
er selbe wol lebete scheint mir hier ganz unpassend; 2224 heisst
es *dass es ihm gut gienge', was hier schon wegen des selbe
nicht angeht. Dass es zunächst auf die identification der
erscheinung mit Christus ankommt, lehrt deutlich 1290. 1292.
1592 war rüwent, das die hs. hat, beizubehalten. Die er-
gänzung 1593a ist zu streichen; es liegt ein dreireim vor.
1908 ist daz nicht zu ändern, 1909 ein komma zu setzen.
Ich verstehe: *dass sein glaube so gut war, dass er ihm die
ewige Seligkeit erwarb, derselben gnade lass auch mich teil-
haftig werden'.
2055 ist lerist aus der hs. beizubehalten, am Schlüsse ein
punkt, 2053 aber ein komma zu setzen: 'selten hat das jemand
auf den rat eines andern hin getan, wenn du ihm nicht diesen
guten rat gibst'.
2160. Dürftigen ist nicht auszuscheiden.
2171 lese man mit der hs. dinen Üb.
2210. Für si hat Massmann f , das wol abkürzung für ind
sein soll.
2212. Die hs, hat des statt von der Leyens der.
2287. lluor ist sonst niemals masculinum, sondern stets
neutrum; unsere stelle ist bei Lexer 1, 1392 das einzige bei-
spiel. Sonst hat Hartmann das femininum huore (2286. 2492).
zu HABTMANNS REDE VOM GLAUBEN. 219
Dieses wird auch für diese stelle anzusetzen sein, und das
handschriftliche der ist aus einem die der vorläge falsch
übertragen.
2307. Für das in allen den gebäre der hs. lese ich gebären;
auch sonst ist der plural in dieser formel das gewöhnliche.
2413. Was soll man sich in dieser beschreibung eines ritter-
lichen hausrats unter daisi türe gebeine vorstellen? Lexer 1, 749
setzt die bedeutung 'gerippe' an, was natürlich unmöglich ist,
und scheint ausserdem dürre lesen zu wollen. Die lesart ist
zweifellos fehlerhaft, da es sich um eine coUectivbezeichnung
für ausrüstungsgegenstände handeln muss, wie der Zusammen-
hang deutlich zeigt. Ich schlage vor gereide oder gehleide zu
lesen. Das letztere wort, das zweimal in der Elisabeth belegt
ist (Lexer 1, 803) würde zu Meiers annähme (Beitr. 16, 99)
stimmen, dass der dichter des Credo nach Hessen gehört.^)
2469 hat die hs. dir für der, was beizubehalten war.
2523 liegt durchaus kein grund zur Umstellung von rüchent
si vor.
2528 passt dm, wie Massmann hat, weit besser in den
context der ganzen stelle als Wackernagels diu, das übrigens
in der mir hier allein vorliegenden fünften aufläge des lese-
buchs (427,20) nicht steht; danach durfte es, wenn es in einer
der älteren auflagen wirklich sich findet, wol druckfehler sein.
2534 ist das fragezeichen zu streichen; die folgende zeile
ist nicht die antwort, sondern gehört noch mit zur frage, die
erst 2537 endigt.
2547 dürfte doch wol mit Massmann ausfall eines verses
anzunehmen sein, da ein dreireim so innerhalb eines sinnes-
abschnittes doch sehr auffällig wäre und sonst ohne paral-
lelen ist.
2564 lese ich lieber mit Massmann dem tübele.
[0 Näher scheint mir die annähme zu liegen, es habe ursprünglich
gezeine geheissen. Das wort ist zwar, wie es scheint, im mhd. bisher nicht
belegt, aber eine solche coUectivbildung konnte ja leicht jeden augenblick
neu geschaffen und verstanden werden. Goldene etc. zeine als schmuck
sind ja bekannt, und wie hier — daz edele gesteine, daz iure gezeine, di
manige goltborten — sind auch in der bei Lexer s. v. zetn citierten stelle
GA. 1, 462, 282 edele steine, borte und zein mit einander verbunden: ich hdn
einen borten, der ist an beiden orten geziert mit edelen steinen-, mit gvldmen
zeinen ist er wol imderslagen. E. S.]
^> LBimUNN, lU HARTMANNS REDE VOM GLAUBEN.
2829 tL ist die interpunction verfehlt. Ich setze 2829
punkte 2834 komma, 2835 punkt, 2841 komma. Der gedank-
liche lusammenhang gewinnt dabei an klarheit.
2974. Beredeten in bredigeten zu ändern ist trotz s. 78
anm. 1 ein unberechtigter einfall. Es ist an unserer stelle von
nichts weniger als vom predigen die rede. ^Ktthn', sagt Hart-
mann^ Hraten sie den irrlehrem entgegen; selbst vor königen
und fürsten bewiesen, verteidigten sie die Wahrheit ihres
glaubens.' Das ist der specifische sinn von bereden (reichliche
belege im Mhd. wb. 2, 1, 603 b), das in diesem sinne geradezu
juristischer terminus geworden ist. Wie merkwürdig, dass
von der Leyen gerade die einzige sichere spur * juristischer
färbung' durch conjectur beseitigt hat!
3135 behält von der Leyen das unverständliche lU Mass-
manns ohne weiteres bei; ist git zu lesen?
3207 war sin im texte zu belassen; dienist ist neutrum
wie drei verse vorher (3204).
3699. Die lesung der hs. der ist trotz der beiden di
3698. 3700) nicht anzutasten, da Hartmann auch sonst (2514)
zegän mit dem genetiv braucht.
JENA, 23. mai 1898. ALBERT LEITZMANN.
KRIEMHILT.
Der name der Wormser königstochter zeigt gegenüber
der menge der namen mit Grim- zwei laute in auffallender
form. Der anlautende guttural erscheint in weiter räumlicher
ausdehnung wie germ. k behandelt und als vocal der tonsilbe
treten neben i die Varianten mhd. ie, nhd. ei, auch e auf.
Belege dafür sind mehrfach zusammengestellt, am eingehendsten
von Müllenhoff in seinen Zeugnissen und excursen zur deutschen
heldensage no.l2. 66. 72. 84 (Zs.fda.12,299. 413. 15,313), vor ihm
von Mone (Untersuchungen zur gesch. der teutschen heldensage
s. 67). Eine reihe von belegen gibt Förstemanns Namenbuch,
einige alte auch J. Leichtlen, Forschungen im geb. der geschichte
Deutschlands (1820), 1, 2, s. 46. 54. Endlich enthält Grimms
Heldensage (ich eitlere nach der dritten aufläge) solche in
beträchtlicher anzahl. Müllenhoff hat zugleich die auffallenden
lautverhältnisse besprochen. Heute lassen sich die belege
vermehren und die lautverhältnisse genauer bestimmen.
Ich behandle zunächst die frage nach dem vocal der
tonsilbe. Unter meinen belegen sind die an den genannten
stellen gesammelten widerholt.
Die ältesten belege für ie geben Urkunden, eine aus
dem 8., zwei aus dem 9. jh., aber sämmtlich noch ohne controle
durch das original. 785 Worms /Fulda: Criemhilt, neben
Cremhilte der Unterschrift, aus der chartulariencopie des mo-
nachus Eberhardus von Fulda (Dronke, Cod. dipl. Fuld. [1850],
s, 49). Da Eberhard in seinen Summarien an der entsprechenden
stelle CrimhiU schi'eibt (Dronke, Trad. Fuld. [1844], s. 10), werden
die namensformen der Urkunde dem original entnommen sein.
Auch die übrigen namen der Urkunde zeigen alte formen. —
881 Luzern: Chriemhilt (Neugart, Cod. dipl. Alem. 1,428). —
222 BOHNBNBERGER
890 Fulda (?): Crienihilterot in provinda Turingtorum, eben-
falls aus dem Codex Eberhard! (Dronke, Trad. Fuld. s. 79). Aus
dem 10. jh. ist ie in einer Originalurkunde erhalten: 927 Ursula-
kloster Köln, actum Worms, scripta ah Heriherto canceUario:
Criemilt (Nassauisches urkundenbuch, bearb.v. Sauer [1886] 1,40).
Aus dem 11. 12. jh. habe ich keine belege mit ie, im 13. — 15. jh.
treten zu den urkundlichen Zeugnissen solche aus poetischen
denkmälern. 1228, markgraf v. Istrien für Benedict-
beuern: Chriemhilt (Mon. Boica 7, 115). — Marner v. 266:
Kriemhilt (Strauch gibt keine abweichende lesart). — Enenkel,
Weltchronik v. 23372: Chriemhielten neben lesarten Krimhild,
Kreimhild. — Ulrich v. Türlein, Willehalm: KriemJiilde (hg.
V. Singer, 0111,5). — Hugo v. Trimberg: Kriemilde und Kri-
milden (nach Grimm s. 191). — Feldbauer in Cod. pal. 341:
Kriemhilt (nach Grimm s. 185) neben Krimhilt in Pfeiffers aus-
gäbe V. 344 (Germ. 1, 346). — Wachtelmärchen: Chriemhilt
(nach der Wiener hs. 119. Denkmäler deutscher spräche und
lit., hg. V. Massmann 1, s. 112). — Zornbraten: Chriemhilt,
Krienhilt (Lassbergs Liedersaal 2, 508 und Dresdener hs. nach
V. d. Hagen, GA. 1, 487) gegen Crimilt der Königsberger hs. —
Nibelungenlied und Klage, in den alten hss. vorwiegend ie
und i, näheres unten. — Rosengarten: ie und i, vereinzelt e;
Holz druckt ie, z. t. führt er die Varianten mit i, e auf. Grimm
druckt Krimhilt und so schreibt nach den noten auch die hs. C.
D (v. d. Hagen) hat ie, das fragment Zs. fda. 11, 536 i, dasjenige
Zs. fda. 11, 243 ie und i, dasjenige Germ. 8, 196 Cremilt und Cri-
milt neben Ditrich, bruder, hroder, Nodung, die hs. P (Germ.
4, 1 ff.) nach Bartschs druck i wie in Crichen, Diterich. — 1354
Thol, Karl IV für Saarbrücken: Criemildespil (Kremer, 6e-
neal. geschichte d. ardenn. geschlechts, Cod. dipl. s. 484. Bonner
Jahrbücher 20, 128). — Maria Magdalena: Criemehilt (Wiener
sitz.-ber. 34, 290). — Hugo von Montfort: Kriemhilt (hg. v.
Wackerneil s. 70, Cod. pal. 329). — Bericht von den sieben
hauptkirchen Roms in deutscher hs. von 1448: Cryenhüt,
Crenhild (v. d. Hagens Germania 7, 240. = GA. 3, cxLn) gegen
Crinhilt in deutscher hs. von 1454 (Zs. fda. 12, 360). — Se-
bastian Brant: Kryemhild (hg. v. Zarncke); Kriemhild (hg. v.
Gödeke s. 80). — Murner, Mühle von Schwindelsheim 71. 1082:
Kriemhilt — Borsikon bei Affoltern: Kriemhilten graben
KBIEMHILT. 223
(Grimm, Weistttmer 1, 48. 49). — 1476 Korker waldspruch
(Ortenau): Kriemhildenstein (Leichtlen 1, 2, 54, nach mitteilung
aus Kehl heute unbekannt). — St. Gallen: Criemhilt (Mon.
Germ., Libri confrat. 1, 299, 25).
An belegen für, ei als stammsilbenvocal, also Kreimhilt,
habe ich ausser der schon genannten lesart in Enenkels Welt-
chronik noch folgende: Nibelungen, hs. H: Chreimhüt —
Heinrich von München, v. 372 ff.: Chreimhild (Dresdener hs.,
Grimm, Altdeutsche wälder 2, 130). — Ladislaus Suntheim:
Kreimhilt (Grimm s. 479). — Aventin, Ann. Boi.: Greimhyld,
Grimylda, canitur apud nos] Bair. chron.: Greimhild, andere
lesart Grimhilt (Werke, hg. v. d. Bayr. akad. 2, 19. 4, 1137).
Von diesen formen mit ei aus sind die älteren belege mit i
darauf zu untersuchen, wie weit unter ihnen solche mit l voraus-
zusetzen sind. Wie zu erwarten, sind die Schreibungen mit i
die häufigsten. Die reihe eröffnen wider belege aus Urkunden,
deren original nicht mehr vorliegt oder in der ausgäbe nicht
ausdrücklich berücksichtigt ist. 743 We issenburg: Grimhildis
(Zeuss, Trad. Wiz. s. 11). — 763 Cod. Lauresh: 6frmMd iw
pago Worm. in MerstaU (Cod. Laur. 2, 217). — 806 Freising:
Chrimhilt (Meichelbeck, Hist. Frisingensis 1724. 1, 2, 103). —
Verbrüderungsbücher von St. Peter in Salzburg (hg. v. Karajan,
1852), vor 781: Grimhilt (sp.77,31), um 800 und um 850:
Crimhilt (Il0,i2. 40,37). — 975—1101 Regensburg: Grim-
hilt (Trad. Emm. in Pez, Thes. anecdot. 1, 3, 89). — 996Brixen:
Chrimehildae in Prixina (J. Resch, Ann. eccl. Sab. 1767. 2, 675).
— 1180 Falkenstein, Weyarn bei Miesbach, Crimhiltiperc
(Mon. Boic. 7, 498). — 1211 Windisch Graz, markgraf von
Istrien und bischof von Gurk, original, Grimhilt (Zahn, ÜB.
V. Steiermark 2, 171). — 1228 patriarch v. Aquileia: Grimhilt
(Duellius, Hist. ordinis equitum teutonicorum 1727. s.113). — In
den Libri confrat. von St. Gallen und Reichenau viele
Chrimhilt, datierbar St. Gallen um 890: Crimh^l\t, Grimhilt
(Mon. Genn., L. confr. 1, 180, 2. 1, 130, 7); Reichenau um 826.
830 Grimhilt, Chrimhilt (2, 24, 15. 2, 294, 12). Ueber die wei-
teren formen vgl. den index in MG., L. confr.*) — Biterolf,
^) Die Libri confr. meint auch Mone mit seinen belegen aus * Necrolog.
Aug.' Die necrologien von St. Güllen undEeichenau entiialten den namen
nicht. Die übrigen necrologien in den Mon. Germ, habe ich nicht durch-
224 BOHKENBEKGER
Hürnen Seyfrid, poetisches heldenbuch, prosaisches
heldenb.: Krimhilde, Crimhilt, Crymhilt, Grimhild, Grymhilde,
— Berthold von Regensburg in der Leipziger hs. 496:
Crimhilt (Grimm s. 181. Müllenhoff, ZE. 72). — Wiener meer-
fahrt nach der Heidelberger hs.: Krimhilden (von der Hagen,
GA.no. 51, V. 629). — Ottokar, Oesterr. reimchronik v. 8162:
Krimhilten (MG., Deutsche ehr. 5, 1). — Minneburg: Krim-
hilde (Grimm s. 315). — Johann von Neumark: Chrimhildis
s. 314). — Simon V. Keza, Gesta Hung. (moderne abschritten):
prelio Crimildino neben Cremildi (MG., Script. 29, 531. 533). —
1438. 1484 Lübeck: Crimolt (Grimm s. 477).
Aus Neustrien nennt Förstemann: Grimhildis, Grimildis,
Grimoildis (Irminon, Polypt. de St. Germain-des-Pr6s, um 800,
p. p. Guörard 1844, 2, 88. 92. 71. 26. 89 und Polypt. de l'abb.
de St. Remi, moderne copie des Originals von ca. 850, p. p. Gu6-
rard 1853, p. 79). Aus einem cod. Remigianus stammt die Gri-
milt zum j. 853, welche Müllenhoff, Zs. fda. 12, 413 aufführt.
Hierzu kommen die oben bei Kriemhilt gegebenen belege
für Krimhilt
Weniger häufig erscheint e. Ausser den schon genannten
belegen sind es noch folgende. 766 Cod. Lauresh: Cremhilt
in Gardachgowe (C. Laur. 2, 560). — 787 Cod. Lauresh: Cre-
nihildam inpago Lobodun (Cod. Laur. 1, 546). — 796 Schenkung
an Murbach: Cremhildis (Schöpflin, Alsatia diplom. 1,59). -r-
1385 ff. Schaffhausen: Kremhilten weg (Stadtbuch v. Seh.,
Alemannia 6, 274). — Hvenische chronik: Gremild (Grimm
s. 345). — Dänisch: fru Kremol (Grimm s. 477).
Von diesen formen mit e sind die aus dem 8. jh. Vor-
läufer derer mit ie, sie enthalten also e\ Im Schaffhauser
stadtbuch wird ein Schreibfehler für ie oder i vorliegen. Die
niederdeutschen iind dänischen formen lasse ich ausser be-
tracht. So bleiben für das hd. gebiet an auffallenden formen
die mit ie, e und die mit ei und vorauszusetzendem f. Für
sie lässt sich eine räumliche teilung wahrscheinlich machen.
Geht man davon aus, dass Murner, S. Brant, Maria Magdalena,
Borsikon, Hugo v. Montf ort und der Korker waldspruch ie haben,
gesucht. Leider enthält hd. 1 kein genügendes register. Es ist sehr za
wünschen, dass dies hei hd. 2 nachgeholt wird.
KBIEMHILT. 225
Aventin und Suntheim dagegen ei, so ist man veranlasst,
letztere form dem SO, erstere dem SW zuzuweisen. Und
dieser annähme steht m. e. auch kein ernstlicher gegengrund
gegenüber, sie lässt sich vielmehr noch durch weiteres stützen.
Auch ohne zunächst zur frage nach der entstehung der ab-
geänderten namensformen Stellung zu nehmen, kann man als
stütze ihrer räumlichen Scheidung beiziehen, dass im osten paral-
lele formen wie GreimoUshusen (c. 1223, Mon. Geisenfeldensia in
den MB. 14, 240. Geisenfeld, Oberbayern a. d. lim) und Greimold
(z. b. 1398 Ingolstadt, Chron. d. Städte 15, 572. Aventin 2, 19)
auftreten und im westen entsprechend: Griemaldus (1320, Ebers-
heim i. Eis., Chron. Eberh. in den Mon. Germ., Scr. 23, 438). Dann
erscheint der name Kriemilt auch in den übrigen quellen des
SO häufiger mit i als mit ie, während im SW die formen mit i
seltener sind als im SO. Zu den ie-f ormen des S W sind auch
die alten e-formen zu rechnen, ferner die belege aus Luzem,
dem Murner und Worms (927, or.!), mit Wahrscheinlichkeit auch
die Ortsbestimmung der Urkunde Karls IV. Ganz reinlich geht
die teilung nicht auf. Wie es scheint, findet sich ie vereinzelt
auch im SO (Benedictbeuren / Istrien. Ulrich v. d. Türlin, Hugo
V. Trimberg) und jedenfalls geht überall neben ie und i auch
i her. Wie i im SW nicht gar selten auftritt, darf man auch
nicht alle i des SO als t deuten. Diese mischung kann aber
nicht weiter auffallen. Nach der natur der sache mussten
durch die spielleute und ihre quellen, durch literarische vor-
lagen und anderes immer wider fremde formen unter die volks-
tümlichen hineingetragen werden. Auch lag es überall nahe
genug, den namen Kriemhilt nach analogie der übrigen mit
Grim- umzubilden. Ob die südöstliche form geradezu als bai-
rische bezeichnet werden darf, ist auf grund des mir vor-
liegenden materials nicht zu entscheiden. Im bejahungsfalle
wäre damit auch noch nicht gesagt, dass nicht ein westliches
stück des bairisch-österreichischen mundartgebietes in der be-
handlung des namens mit dem westlichen nachbar gehen
könnte. Die form mit ie gilt jedenfalls über das alemannische
gebiet hinaus. Nach den urkundlichen belegen aus dem 8. und
10. jh. erstreckt sie sich auch ins rheinfränkische (Lorsch oder
Gardach- und Lobdengau, Worms) hinein. Ob es in der mund-
art seinen grund hat, dass der Monachus Eberhardus in Fulda
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. ^5
226 BOHNENBERGEB
Crimhilt schreibt? Ueber die form Cremildi bei Simon v. Keza
ist kein urteil möglich, ebensowenig über den Gremboldus
miles, der in der geschichte des erzbischofs Robert von Trier
zum jähr 956 genannt wird (Gallia christiana 13, 397).
Wesentlich einfacher liegt die sache bei dem anlauten-
den guttural. Die gegebenen belege erweisen ihn auf rhein-
fränkischem, alemannischem und bairischem boden als germ. Je.
Wenn auch die Lübecker notiz von 1484 und das dänische
citat bei Grimm fortis haben, so fragt es sich, wie weit diese
neben Grimilde bei Saxo und dem sonstigen verfahren der
skandinavischen denkmäler als alt und echt anzusehen ist.
Auf hochdeutschem boden gehören meine belege für die lenis,
abgesehen von den vereinzelten g- beim Patriarchen v. Aquileia
1228 und in den Trad. Emm. von 1100, der ältesten und dann
wider der jüngsten zeit an. Zu der form mit Grim- aus den
Trad. Wiz., dem Cod. Lauresh. und den Salzburger verbrüde-
rungsbüchern von 743, 763, 781 kommt ein Grimhüt in den
Libri confr. aus St. Gallen c. 890 und dann wider g- bei Aventin,
Fischart.
Die vereinzelten und die jungen formen mit g- fallen so
wenig auf als die vocalformen, die sich der räumlichen Schei-
dung nicht fügten. Mit ende des 8. jh.'s weist h schon eine
weite Verbreitung auf: 766. 787 Lorsch, 796 Murbach, 800 Salz-
burg, 806 Freising.
Wenig befriedigend ist, was sich zur erklärung der
dargelegten Verhältnisse vorbringen lässt. Es ist nicht einmal
mit Sicherheit zu sagen, was als ursprüngliche form anzusetzen
ist. Dass der anlautende guttural ursprünglich lenis
ist, steht zwar ausser frage, und als stammsilbenvocal ist e
zweifellos secundär, aber zwischen i und i ist keine
völlig sichere entscheidung zu treffen. Die namen mit
Ortm- lassen sich auf deutschem boden nicht reinlich von denen
mit Grim- scheiden, aber es scheint mir zweifellos, dass letz-
tere stark in der mehrheit sind. Demnach ist es wahrschein-
licher, dass auf deutschem boden Grim- zu Grim- umgebildet
wird, als dass die entgegengesetzte Umbildung eintritt. Auf
nordischem boden wäre die Umbildung von Grimhild zu Grim-
hildr weniger unwahrscheinlich, setzt man aber Grimhild als
KRIEMHILT. 227
das ursprüngliche an, so erspart man für die an. form die an-
nähme der Umbildung. Aus der bedeutung der Wörter lässt
sich gegen keine von beiden formen etwas entnehmen. Da-
gegen spricht der name mit umgekehrten bestandteilen Hilde-
grim, Hildegrtn in gewissem masse für Grtmhild (s. Grimm,
Myth. 14, 197). Es bleiben aber immer nur gründe der Wahr-
scheinlichkeit, die für Grtmhild entscheiden.
Von den Umbildungen g > Je und i > e wird erstere
die ältere sein, da sie auch das gebiet mit unverändertem t
getroffen hat. Wäre erst grim- zu grem- geworden und hätte
daraufhin das östliche oder westliche gebiet Je angenommen,
so wäre wenig wahrscheinlich, dass das andere gebiet wol
die Veränderung des consonanten übernommen hätte, im vocal
aber bei der bisherigen form geblieben wäre. Wo und aus
welchen gründen g zu Je wurde, ist nicht zu sagen. Gegen
Müllenhoffs hinweis auf das Wortspiel mit erJerummen im träum
der Kriemhilt (Zs. fda. 12, 303) sprechen zu starke sachliche
wie sprachUche bedenken.
Eine naheliegende parallele für das Je von Kriemhilt
bildet der anlaut von Kütrün, Küdrün, wo die formen mit
Je (eh) nicht etwa nur der jungen Ambraser hs. angehören,
sondern auch ausserhalb des gedichtes bezeugt sind. Bei
Kütrün lässt sich vermuten, das wort sei bei seiner Wande-
rung durch verschiedene mundarten irgendwo beim Übergang
von einer mundart in die andere als fremdwort entstellt worden.
Und da bieten sich die grenzen von anlautender gutturaler
Spirans gegen anlautende tönende lenis explosiva, von letzterer
gegen stumme lenis und von dieser gegen fortis. Von diesen
drei grenzen kann aber für Kriemhilt jedenfalls die erste nicht
in betracht kommen. Sollen also beide namen an derselben
stelle geändert worden sein sein, so wäre allein mit den grenzen
der explosiven gegen einander zu rechnen. Und gegen die
annähme, die entstellung sei an der grenze von lenis gegen
fortis, also der mitteld.-oberd. grenze vollzogen worden, spricht,
dass Kriemhilt zum mindesten auch auf rheinfränkischem boden
mit Je erscheint. Man müsste also, um mit ihr zu rechnen,
zu der annähme weiter gehen, es sei schon im 8. jh. die oberd.
form ins rheinfränk. gebiet eingerückt gewesen. Die grenze
von tönender gegen stumme lenis endlich bleibt ganz im
15*
228 BOHNENBERGER
unsicheren. So bringt also auch die beiziehung dieser parallele
kein licht in die sache. Sieht man von Küdrün ab, so lässt
sich daran denken, dass heute g und Tc vor consonant in weiter
ausdehnung zusammenfallen. Aber wie alt ist dieser zu-
sammenfall?
Auch für den Übergang von i zvl e weiss ich keinen
anhält zu geben. Noreens Zusammenstellung von Kriemhilt :
Krimhilt mit den bekannten beispielen, in denen 6 in der
ei-reihe auftritt (Urgerm. lautlehre s. 31), fürt zu Ungeheuer-
lichkeiten, denn auf indog. ablautsverhältnisse ist immer
zurückzugreifen, ob man Sievers' erklärung von e^ annehmen
will oder nicht.
Ich komme noch im besonderen auf die behandlung des
namens Kriemhilt in den Nibelungendichtungen. Von den
drei haupthandschriften scheint B im text des liedes ie und i
zu mischen. Das stück im facsimile bei Laistner hat zu-
nächst ie, dann str. 46 i Letzteres ist nach Bartschs apparat
häufig, Bartsch bezeugt dasselbe auch bei den nächsten stellen
ausdrücklich. Die Klage hat in der kurzen anfangsstelle bei
Laistner ebenfalls ie, und Bartschs ausgäbe setzt den diphthong
auch weiterhin. C hat nach Lassbergs druck, auf den man
sich hierin allem anschein nach verlassen kann, im Lied, in
den aventiurenüberschriften und in der Klage ie. Für die
kurzen dort gegebenen stellen bestätigt dies Laistners nach-
bildung. A hat nach letzterer im Lied in der regel ie, ein-
mal i (str. 687, — nicht 961, wo Lachmann ebenfalls Krimhilde
druckt), und in einer reihe aufeinander folgender stellen e
(1784 91. 98. 1806. 7. 17. 27. 49. 54. 62), in den aventiuren-
überschriften durchweg i, ebenso in der Klage mit einer
ausnähme {ie 381). Bei D steht nach Bartschs apparat im
text des Liedes i und ie gemischt, in der Klage scheint i die
regel zu sein, und in den aventiurenüberschriften des Liedes
steht es durchweg mit der einen ausnähme von av. 13, Völliger
verlass ist in dieser frage auf Bartschs apparat nicht. Die
controlierbaren lesarten aus A stimmen nicht immer zum fac-
simile. Die bruchstücke auf pergament haben teils ie (J K Q)
teils i (N P R S U und mit ei H) teils ie und i gemischt (L
[mitteldeutsch], und 0).
Vergleicht man ABC, so ergibt sich, dass A einen be-
KBIEMHILT. 229
stand darstellt, der nicht auf zufall beruhen kann und der
ursprünglicher sein muss, als der von B und C. Der bestand
von B und C lässt sich aus dem von A ableiten, letzterer nicht
aus ersteren. Hatten ursprünglich der text des Liedes ie, der
text der Klage i, und die aventiurenüberschriften des Liedes,
falls man diese als der vorläge von ABC zugehörig anerkennen
will, ebenfalls i, so konnte einerseits zu gunsten von ie aus-
geglichen werden (so C), oder es konnten abschreiber, die dem
l-gebiet angehörten, letzteres mehr oder weniger stark unter
das ie der vorläge einmengen und andererseits, nachdem sie
einmal mit gemischter Verwendung begonnen hatten, auch ein-
mal ie setzen, wo die vorläge i gab (so B). Nach den gleichen
gesichtspunkten erklären sich bei A das eine i des Liedtextes
und das eine ie der Klage. Diese Vermischung ist aber bei A
nur die verschwindende ausnähme gegenüber der regel: ie im
Liedtext, i in aventiurenüberschriften und Klage. Und diese
regel fordert ihre erklärung. Wenn ie im alten bestandteil,
i im jüngeren vorliegt, muss ersteres in der geschichte des
Liedes und seiner hss. eine ältere schiebt darstellen. Dass
ie dem original selbst angehörte, ist damit nicht gesagt.
Aber diese Schreibung wird dem original sehr nahe gerückt,
und da man suchen muss, zwischen diesem und den ältesten
vorliegenden hss. möglichst wenig abschriften einzuschieben,
und da die Schreibung sehr gleichmässig auftritt, so ist es
immerhin sehr wahrscheinlich, dass sie aus dem original
selbst stammt. Die Schreibung i hat dem exemplar der Klage
angehört, welches mit dem Lied verbunden wurde. Ob dies
die erste niederschrift der Klage war, bleibt damit offen.
Endlich hat der Verfasser der Aventiurenüberschriften, welche
in A vorliegen, i geschrieben. Ob dieser der hinzufügung der
Klage vorangeht oder nachfolgt, oder ob er mit dem schi^eiber
der Klage identisch ist, bleibt dabei ebenfalls unentschieden.
Nahe liegt es, die i-formen derselben band zuzuschreiben, und
das fehlen der aventiurenüberschriften in B beweist noch nicht,
dass diese der Klage erst nachfolgten. Wenn aber die hinzu-
fügung der Klage wie der aventiurenüberschriften einer gegend
angehört, welche i gesprochen hat, so können auch verschiedene
Personen i geschieben haben, lieber das gegenseitige Verhältnis
der abänderungen, welche in B und C vorliegen, lässt sich
230 BOHNENBERGEB
von der vorliegenden frage aus nichts entscheiden. Beide
können selbständig von der Schreibung von A ausgehen, es
kann aber auch die eine aus der anderen hervorgegangen sein,
nur die von B aus der von C allein bei einem Schreiber, der
die i-form seinerseits mitbrachte, lieber die herkunft der
e-formen in A weiss ich keine entscheidung zu treffen. Dem
Schreiber von A, der gelegentlich das r auslassend Kiemhilt
(721. 929. 1760), oder das l auslassend Kriemhit (1334) oder
das h auslassend Kriemilde (1774 und mit nachträglicher cor-
rectur 1775) schreibt, wäre wol zuzutrauen, dass er auch aus
flüchtigkeit mehrfach e statt ie schreibt, aber die reihe der e
ist doch zu geschlossen und ausgedehnt, als dass diese annähme
genügen würde. Soll der Schreiber von A oder ein ihm voraus-
gehender abschreiber die e-formen irgendwo anders hergekannt
und eingemengt haben? Aber es lässt nicht vorstellen, wo
man damals e geschrieben oder gesprochen haben sollte. Ebenso
rätselhaft bleiben die e-formen, wenn man sie dem original
zuweisen wollte. Auch die annähme, sie seien in quellen des
liedes vom 8. jh. an mitgeführt worden und hätten sich nun
gerade in den str. 1784 ff. bis in unsere hs. hinein erhalten,
erscheint mir wenig glaublich. Hervorheben möchte ich aber
immerhin, dass dieselben erst in der geschichte vom Untergang
der Hunnen auftreten. An dem Verhältnis der i- und ie-schrei-
bungen wird jedenfalls durch die entscheidung über die e-f ormen
nichts geändert.
Die einzelfrage zeigt, wie A bei aller flüchtigkeit doch an
bestimmten punkten altes gut erhalten hat. Es mag gerade
seine flüchtigkeit sein, die den Schreiber an ausgleichungen
gehindert hat.
Ist die form Kriemhilt mit Wahrscheinlichkeit dem original
zuzuweisen, so wird dadurch auch die frage nach dessen heimat
berührt. Von dieser namensform aus ist die heimat des Origi-
nals in erster linie in dem gebiete zu suchen, wo die form
Kriemhilt zu hause ist. Es kann ja wol zufall im spiel sein,
wie unter den räumlich bestimmbaren belegen aus dem SO
sich auch einzelne mit ie finden, und gewisheit ist um so
weniger zu erreichen, als schon die Voraussetzung, die Zu-
weisung der form Kriemhilt an das original, nur als wahr-
scheinlich gelten kann. Aber immerhin liegt ein in betracht
KBIEMHILT. 231
ZU ziehendes moment vor. Dass mit der heimatsbestimmung
des Originals des Liedes nicht über die bairisch-alemannischen
grenzgebiete nach westen gegangen werden darf, steht durch
das sonstige sprachliche verhalten der hss. fest.^) Eine genauere
grenze für die ausdehnung der te-formen nach 0 ist nicht zu
geben, aber das westliche gebiet Baierns sowie Tirol scheinen
mir nicht ausgeschlossen. Jedenfalls ist da die regelmässige
Verwendung der form Kriemhilt weniger auffallend als weiter
östlich. So weist die namensform in die gebiete, auf welche
Zamckes darlegungen in den Ber. üb. d. verh. d. sächs. ges. d.
wiss. 8, 211 hinführten. Letztere haben nicht viel anklang ge-
funden, weil man glaubte, andere durchschlagendere gesichts-
punkte wiesen auf Oesterreich. Von diesen letzteren bleibt
aber heute nicht viel übrig. Dass die reiseberichte der haupt-
sache nach der quelle des Liedes angehören, ist m. e. durch
die erneuerte gründliche Untersuchung H. Neuferts (Der weg
der Nibelungen, 1892, progr.) ausser zweifei gestellt, mag Neu-
fert auch im einzelnen zu weit gehen und unerklärbares
erklären wollen. Die sprachlichen gesichtspunkte aber, die
man für die österreichische heimat anzuführen pflegt, sind nach
unserem heutigen wissen über eine recht bescheidene Wahr-
scheinlichkeit nicht hinauszubringen. So sind wir heute jeden-
falls verpflichtet ein moment, das mit Zamckes gründen zu-
sammentreffend mehr nach westen zeigt, ernstlich in betracht
zu ziehen.
*) Manche sprachliche frage, die durch vergleichung von Lasshergs
und Laistners text nahe gelegt wird, muss offen bleihen, so lange nicht ein
diplomatisch genauer abdruck von B vorliegt. Ein solcher ist ein grosses
bedürfnis.
TÜBINGEN, aprü 1898. K. BOHNENBERGER.
UEBER DEN CONJUNCTIV PRAETERITI IM
B AIRISCH - OESTERREICHISCHEN.
Zu den auffälligsten kennzeichen der groben mundart in
Oberbaiem und den angrenzenden provinzen Oesterreichs (Ober-,
Nieder-, Innerösterreich) gehört der conj. praet. schwacher verba
auf -ad, der dann auch die starke conjugation ergriffen hat,
die nunmehr aus dem praesensstamme (nicht immer: neben
Ißengad lebt giengad) die neue hybride form entwickelt, lieber
das historische aufkommen dieser bildungen herscht, so weit
ich sehe, noch keine klare anschauung. H. W. Nagl handelt in
seinem reichhaltigen buche ' Grammatische analyse des nieder-
österreichischen dialektes' (1886) mehrmals einlässlich (z. b.
s. 376 ff. 389 ff.) über diese erscheinung, ohne sie jedoch an den
älteren sprachstand anzuknüpfen. Daraus schöpfe ich den mut,
eine beobachtung vorzulegen, die vielleicht etwas zur erklärung
dieser merkwürdigen formen beiträgt.
Die ausarbeitung des zweiten teiles meiner 'Miscellen aus
Grazer handschriften', der sich mit den deutschen Übersetzungen
biblischer Schriften auf unserer bibliothek beschäftigt, ver-
anlasste mich, den codex no. 1631, der einen deutschen psalter
enthält, genauer zu analysieren. Es gelang der erweis, dass
diese aufzeichnung (nach einer ursprünglich mitteldeutschen
Vorlage) von einem oberbairischen priester, namens Konrad,
für die nonnen von Altomünster (diöc. Freising) im jähre 1407
liergestellt worden ist. Die hs. enthält eine ganz naive und
grobe lautbezeichnung und formengebung, weshalb ich sie auch
der achtsamkeit aller forscher auf dem gebiete der bairisch-
österreichischen mundart dringend empfehle. Besonders fielen
mir eine anzahl von verbalformen auf, die ich hier gesammelt
und geordnet vorlege. Ueberall setze ich den deutschen bei-
'
UEBER DEN CONJ. PRAET. IM BAIR.-Ö8TERR. 233
spielen den text der lateinischen vulgata zur seite, um über
die auffassung der worte keinen zweifei zu lassen.
Praet. ind. 1. pers. sing.: ich hazzacht di chirchen der
ubeln 38 a, odivi ecclesiam malignantium Ps. 25, 5; ich chundacht
dein rechtichait 57 b, annuntiavi justitiam tuam Ps. 39, 10; do
ich an hoffnaht 59 a, in quo speravi Ps. 40, 10; ich wartacht
sein 73 a, expectabam eum Ps. 54, 9; ich chundacht 75 a, annun-
tiavi Ps. 55, 9; ich richtacht mich 77b, direxi Ps. 58, 5; ich
trahtacht 94 b, existimabam Ps. 72, 16; ich vestnaht 98 a, con-
flrmavi Ps. 74,4; ich cheraht 100 a, scopebam Ps. 76, 7; ich
hoffnaht 156a ff., speravi Ps. 118, 42. 43. 81. 114; ich suehacht
159a, exquisivi Ps. 118, 94; ich hazmht 159b, odivi Ps. 118,
104; ich irraht 159b. 165a, erravi Ps. 118, 110. 176; ich atmit-
zaht 161 a^ attraxi spiritum Ps. 118, 131; ich verwideraht IGSb,,
abominatus sum Ps. 118, 163. — 2. pers. wand du hailachtest
uns 61b, salvasti enim nos Ps.43, 8; set^achtestu 69 s,, ponebas
Ps. 49, 18; du trachtacht bosleich 69 a, existimasti inique Ps. 49,
21; du zufürahtest uns 78 b, destruxisti nos Ps. 59, 3; du zur-
nahtzt uns 79 a, iratus es Ps. 59, 3; du zaichnecht 79 a, osten-
disti Ps. 59, 3; du hohceht 79 b, exaltasti Ps. 60, 3; du helaiteht
mich 80 a, deduxisti me Ps. 60, 3; du erlceutrahtest 84b, exami-
nasti Ps. 65. 10; du laitaht zweimal 84 b, induxisti — eduxisti
Ps. 65, 11; du lerceht mich 92h, docuisti me Ps. 70, 17; du helai-
tahstmich 95 a, deduxisti me Ps. 72, 24; du mohdht 97 b, fabri-
catus es Ps. 73, 16; du laidaht 101a, deduxisti Ps. 76, 21; du
peltzahtest 108 a, plantasti Ps. 79, 9; du plantzicht 108 a, plan-
tasti Ps. 79, 10; du rüffeht 109 a, invocasti Ps. 80, 8; du m^hcedt
senft 112b, mitigasti Ps.84, 4; du iecherceht dich 112b, avertisti
Ps. 84, 4; du laittceht 115 a, induxisti Ps. 87, 8; du versmcehceht
118b, despexisti Ps. 88, 39 ; dti vercherwht 118b. 119a, evertisti
— avertisti Ps. 88, 40. 44; du hohceht 119a, exaltasti Ps. 88, 43;
du zefurceht 119 a, destruxisti Ps. 88, 45; du vercheusceht 119 a,
coUisisti Ps. 88,45; du satzceht IMh, posuisti Ps. 103, 20; du
straffceht 154 b, increpasti Ps. 118, 21; du braittceht 155 b, dila-
tasti Ps. 118, 32; du vestnceht 159a, fundasti Ps. 118, 90; du
machceht 159 a, fecisti Ps. 118, 98; du versmcehceht 160 b, sprevisti
Ps. 118, 118; dM höcheht 174a, magniflcasti Ps. 137, 2; du vor-
schceht 174b, investigasti Ps. 138,3; du losceht 186a, eruisti
Isai. 38, 17; du verfluchahtest 190 a, maledixisti Habac. 3, 14;
234 SCHÖNBACH
du machceht 190a, fecisti Habac. 3, 15. — 3. pers. der michlacht
59a, magniflcavit Ps. 40, 10; er hoffnaht llh, speravit Ps. 51,9;
er ertrenchacht 88 b, demersit Ps. 68, 3; er itweizzaht 97 b, im-
properavitPs.73, 18; er raitmht 97]), incitavit Ps. 73, 18; di erd
hidmaht 99 a, terra tremuit Ps. 75, 9; er stellaht 102 a, statuit
Ps. 77, 14; irraht er 103a, impedivit Ps. 77, 31; er laitdht 104b.
106 a, induxit Ps. 77, 54. 72; er wanaht 105 a, habitavit Ps. 77,
60; er sattaht 109 b, saturavit Ps. 80, 17; er mnraht (?) 131a,
aediflcavit Ps. 101, 17; er scher faht 137 a, exacerbavit Ps. 104,
28; er tötaht 137a, occidit Ps.104,29; er haiiaht 138b. 139b,
salvavit Ps. 105,8. 21; er straffaht 138b, increpuit Ps. 105,9;
er dechceht 138 a. 139 a, operuit Ps. 105, 11. 17; er erUsaht 141a,
redemit Ps. 106, 2; er sammaht 141a, congregavit Ps. 106,2; er
sattaht zweimal 141b, satiavit Ps. 106,9; er haiiaht 142 b, sanavit
Ps. 106,20; er ahfwht 145b, persecutus est Ps. 108, 17; er min-
naht 145b— 165b, dilexit Ps.108,18. 118,113. 159. 163. 167;
chestigund chestigaht mich unser herr 152 b, castigans castigavit
me dominus Ps. 117, 18; M haftaht 155a, adhaesit Ps. 118, 25;
er erchuTchceht 156b, viviflcavit Ps. 118, 50; er habaht 156b,
tenuit Ps. 118, 53; er erwelaht 170a, elegit Ps. 131, 13; er
töttacht 171b. 172b, occidit Ps.134,10; percussit Ps. 135, 17;
er mahaht 142 b, fecit Ps. 135, 7; er haiiaht 174 a, salvum fecit
Ps. 137, 7; er achtaht 178 a, persecutus est Ps. 142, 3; er vestnaht
186 a, confortavit Ps. 147, 13; er tailaht 191a, dividebat Deuter.
32, 8; er hoffnaht 191a, separabat Deuter. 32, 8 (vom Übersetzer
für sperabat gehalten); er schawaht 196a, visitavit Luc. 1,78.
— Plur. 3. pers. (1. und 2. kommen nicht vor) da hidmachten
si mit vorhten 24 a, illic trepidaverunt timore Ps. 13, 5; unser
vceter trauochten dir 33 b, in te speraverunt patres nostri Ps.
21,5; si spottachten mein 33b, deriserunt me Ps. 21, 8; si ach-
tachten mich 34 b, consideraverunt me Ps. 21, 18; si braittachten
49 b, dilataverunt Ps. 34, 21; unser vdter chundachten uns 61a,
patres nostri annuntiaverunt nobis Ps. 43, 2; da zid/rahten si
von den vorhten 72 a, illic trepidaverunt timore Ps. 52, 6; si
gesegnähten 80 b, benedicebant Ps. 61, 5; si uberahten 82 a,
praevaluerunt Ps. 64, 4; si wetzahten 83 b, exacuerunt Ps. 63, 4
(die psalmen 63 und 64 sind in der hs. versetzt); si vestnahten
83 b, firmaverunt Ps. 63, 6; si chundahten 83 b, annuntiaverunt
Ps.63, 10; si cehtuhten 88 b, persecuti sunt Ps.68, 5; si hoffnahten
ÜEBER DEN CONJ. PRAET. IM BAIR.-ÖSTERR. 235
102 b, speravemnt Ps. 77,22; si suntahten 103 a., peccaverunt
Ps. 77, 32; si erscher(f)hten 103b. 104a. 142a, exacerbaverunt
Ps. 77, 40. 41. 106,11; si verwüstahten 106b, desolaverunt Ps.
78,7; si erfullahten 108 a, implevit (frei nach dem sinne tiber-
setzt) Ps. 79, 10; si raitzahten 142 a, irritaverunt Ps. 106, 11; si
hoffnahten IbOhj speraverunt Ps. 113, 11; si helaittcehten 161b,
deduxerunt Ps. 118, 136; si ahtahten 163 a, persecuti sunt Ps.
118,161; si suntahten 191a, peccaverunt Deuter. 32, 5.
Praet. conj. 1. pers. sing.: ich iehuettacht 159b, custodiam
Ps. 118, 101 (doch gemäss der deutschen Zeitfolge, nach dem
perfectum im hauptsatz, als conj. praet. aufzufassen). — 3. pers.
der seu haileicht 29 b, qui salvos faceret Ps. 17,42; er lösicht
131b, solveretPs.101,21; er lernaht 136 b, doceret Ps. 104,22;
er Iceuchtaht 137 b, luceret Ps.l04, 39; er saugceht 191b, sugeret
Deuter. 32, 14. — Plur. 3. pers. 5i hochvertcehten 193 a, super-
birent Deuter. 32, 27.
Es finden sich noch ein paar fälle von praesens, und zwar
ind. er wonaht 130 a, habitabit Ps. 100, 7; er redäht 130 a, lo-
quitur Ps. 100, 7; er reichsnaht 188b, regnabit Exod. 15, 18. —
Conj. er ahtaht 193 a, persequatur Deuter. 32, 30. — Die mög-
lichkeit, dass der tibersetzer (und der corrector) habitabit und
regnabit mit habitavit und regnavit verwechselt hätte, muss
ich zugeben; für wahrscheinlich halte ich das im zusammen-
hange nicht. — Den fall er ßraht 106 a, pavit Ps. 77, 72 habe
ich ausgeschlossen, weil hier eine andere auffassung (a zwischen
r + h) sehr wol zulässig ist.
Nun ist ja diese ganze erscheinung an sich durchaus nicht
unbekannt: Weinhold widmet ihr in seiner Bair. gr. den § 305
(part. praet. § 317) und bringt dort aus einer hs. der Gesta
Eomanorum, aus einer Grazer hs. (leben des h. Ludwig von
Toulouse, vgl. Germ. 32, 99 ff. und Zs. fda. 34, 235 ff.) und aus
etlichen Urkunden eine reihe von beispielen (sie betreffen zum
teil dieselben verba, die meine Sammlung enthält), tiber die er
zusammenfassend bemerkt: *eine eigentümliche Verstärkung der
bindesilbe im perfect erfolgt durch einschiebung eines aspirierten
gutturallautes'.
Das von mir aus der Grazer hs. 1631 vorgelegte material
umfasst im ganzen 137 fälle. Davon betreffen 105 sicher verba
236 SCHÖNBACH
der zweiten schwachen conjugation, 19 verba schwanken
zwischen erster und zweiter, dritter und zweiter klasse,
10 fallen gewis in den bereich der ersten klasse, nur ein fall
gehört bestimmt einem verbum auf e an, zwei bleiben über-
haupt unbestimmbar. Diese Zuweisung ist vermittelst der
Wörterbücher unternommen worden; dabei erübrigt jedesfalls
manches unsichere, weil erstens die überlieferten denkmäler
nicht alle möglichkeiten erschöpfen, zweitens die bezeugten
formen verschiedene deutung zulassen. Immerhin, das zahlen-
verhältnis zwischen der gesammtmenge der fälle und denen,
welche verbis der o-klasse angehören, scheint mir den schluss
zu erlauben, dass diese bildungen auf -acht, -aht nur reflexe
des alten praeteritums auf '6t(a) bezeichnen.
Will man sich die erscheinung verständlich machen, so
wird man sich zunächst daran erinnern dürfen, dass die ahd.
verba auf ö ihren charaktervocal mit besonderer Zähigkeit
weit ins mhd. hinein festgehalten haben. Vielleicht wird aber,
da diese bildungen auf -acht, -aht nur im bereiche der groben
bairisch-österreichischen mundart zu treffen sind, auch an die
Wirkung der diesem dialekte eigentümlichen starken apokope
gedacht werden dürfen, in folge dessen (wie sonst bei der
längung kurzer Wurzelsilben nach Wrede) eine Verstärkung
des lautgehaltes der vorhergehenden silbe (oder hier vielmehr
bewahrung des älteren lautgehaltes) eingetreten wäre. Die
praeterita der übrigen Massen schwacher verba wären dann
durch analogie nachgezogen worden. Auch die starken verba
mögen später gefolgt sein; fälle, wo schwache und starke
verba derselben klasse neben einander standen (z. b. rüffeht),
können den Übergang erleichtert haben. Dazu kommt, wie
ich glaube, noch ein anderer umstand in betracht. Es wird
dem leser nicht entgangen sein, dass von den beispielen der
2. pers. sing. ind. sehr viele nur f, nicht st besitzen: unter
allen 37 fällen gehen nur 8 auf st aus; vgl. über diese aus-
stossung des s Weinhold § 314. An dieses t tritt e schon im
12. Jh., Weinhold ebenda. Durch diese Veränderung fiel nun
die 2. pers. sing, praet. der schwachen verba ganz mit der
entsprechenden der starken verba zusammen, denn diese bildete
im grob bairisch-österreichischen die 2. pers. sing, praet. bei
starken verbis aus dem conjunctivstamme des praeteritums
UEBER DEN CONJ. PRAET. IM BAIR.-ÖSTERR. 237
(also aus der mhd. normalen form) durch anhängung von t
oder d, Weinhold § 291. Unsere hs. zeigt diese formen sehr
reichlich, ja fast ausschliesslich, z. b. du gcehd 29 a, du ^eprceht
151b, du sprcecJid 116a. 117b, du hulft 119a, du vertrzbd 78\),
du stigd 87 a, du fhcJit 20 b, du sluegd 14 b, du empJiiengd 59 a,
lieftu 69 a. Die Identität dieser besonders charakteristischen
form musste das zusammenfallen der endung schwacher und
starker conjugation im praeteritum ungemein erleichtern.
Das aber ist es, was angenommen werden muss, wenn
man den heutigen conj. praet. (auch ind., vgl. Nagl s. 369 ff.)
als eine fortsetzung dieser alten mundartlichen reflexe der
schwachen praeterita auf 6 verstehen will. Besondere
Schwierigkeiten sehe ich dabei nicht. Der inhärierende gut-
tural ist verflüchtigt, ganz wie die endung der adjectiva auf
ht (Wilmanns, D. gramm. 2, 464 ff) in dem heutigen bair.-österr.
dialekte nur als -(a)d erscheint. Wenn aber die bildung -ad
jetzt auf den conjunctiv praeteriti beschränkt ist, so erklärt
sich das einmal daraus, dass der ind. praet. von der mundart
überhaupt gänzlich fallen gelassen wurde (vgl. NagJ a. a. o. —
unsere hs. gibt noch lat. perf. meistens durch das praet.
wider und kann somit, da sie fest datiert ist, als ein zeit-
licher fixpunkt für die eliminierung des praeteritums dienen),
ein zusammengesetzter conj. perf. aber zu schwierig ge-
wesen wäre.
Die Identität der heutigen endung -ad mit den -acht, -aht
der Grazer hs. wird dadurch nicht zweifelhaft, dass ich für
den guttural der alten formen keine sichere erklärung weiss.
Ist das ch, h nicht etwa überhaupt nur ein dehnungszeichen ?
Bei ch ist das schwer zu glauben, aber in unserer hs. über-
wiegen von quinio zu quinio die h immer mehr. Sollte sich
der Schreiber allmählich überzeugt haben, dass er dem Cha-
rakter des lautes gemäss besser h als ch zu setzen habe?
h zur dehnung ist in alten aufzeichnungen dieser mundart
nicht selten. Weinhold § 197. Und die vorkommenden praesens-
formen auf -aht sprechen gleichfalls für die blosse länge des
vocals der endung. Nur die berufung auf sonstige alte Zeug-
nisse oder auf den lebenden dialekt kann meines erachtens die
frage entscheiden.
238 SCHÖNBACH, ÜEBER DEN CONJ. PBAET. IM BAIB.-ÖSTEBB.
Zum Schlüsse will ich nicht unbemerkt lassen, dass die
vorgeführten beispiele der Grazer hs. auch verschiedene
färbungen der vocale vor ht aufweisen. Ich habe vergebens
gestrebt, sie unter einheitliche gesichtspunkte zu bringen.
Einfluss des wurzelvocals lässt sich vermuten, aber nicht
erweisen, ebensowenig einfluss der function, an den man sonst
am ehesten denken möchte. Auch diesen punkt muss ich also
vorläufig im dunkeln lassen.
GRAZ. ANTON E. SCHÖNBACH.
EBER.
Vor kurzem hat Berneker (IF. 8, 283 f.) eine neue erklärung
von ahd. ebur zu geben versucht, indem er sich berechtigt fand,
das wort von lat. aper und slav. veprt zu trennen. Er macht
übrigens wenig umstände, denn — lautet seine argumentation
— 'während bei ersterem vergleich der vocalismus Schwierig-
keiten macht, verbietet den letzteren einfach das v\
An erster stelle werde ich auf das slavische wort ein-
gehen, über dessen v Meillet (IF. 5, 332f.) eine scharfsinnige
Vermutung aufgestellt hat. Er hebt mit recht hervor, dass ein
w-vorschlag im slavischen vor dunkeln vocalen keineswegs
unerhört ist, und erklärt veprl als eine contamination von
"^wopn aus "^opri (vgl. lat. aper) und "^jepri aus *epn (vgl.
ahd. elur). Bei dieser auffassung wäre lett. vepris natürlich
als ein lehnwort aus dem slav. zu betrachten. Der «c;- Vorschlag
vor 0 (d. i. indog. a, ö, 9) scheint aber eine jüngere und einzel-
dialektische erscheinung zu sein, welche im allgemeinen auf
westslav. und russ. mundarten beschränkt ist. Aus Miklosich
habe ich mir die folgenden beispiele verzeichnet:
osorb. vdbli, klruss. voblyj : aksl. öblü 'rund' (aus *obvlu,
vgl. lit. ap'Valüs)]
wruss. vocet : aksl. ocXtü 'essig' (got. aJceit);
osorb. vorcl : aksl. ocelt 'stahl' (ahd. ecchil?);
czech. vodr : odr 'vorscheune'.
osorb. vopor : nsorb. hopor 'opfer' (ahd. opfar);
polab. vü^in, vü^ün, osorb. vohen, nsorb. vogen : hogen, aksl.
ogn^ 'feuer' (vgl. lit. ugnls, lat. ignis, aind. agni-);
osorb. nsorb. vojo, klruss. voje, czech. vüje : oje, südslav. oje
Cojes-, vgl. gr. o?ä§ und aind. tshä, Liden, s. Brugmann, Grundr.
12,1091);
240 ÜHLENBECK
polab. vätcüy osorb. voko, nsorb. voho : JioJco, aksl. oJco ^auge'
(vgl. lat. oculus)]
polab. vülüv, välüv, osorb. nsorb. voloj, wi'uss. volovo : polab.
äVäv, aksl. olovo 'blei' (in den jungem dialekten auch 'zinn' :
vgl. über die etymologie Beitr. 22, 537);
osorb. voltar, klruss. völtar : oUar, aksl. ofö^an' altar' (ahd.
aliäri)]
osorb. vornan : russ. u.s.w. oman 'inula helenium' (wol ein
f remdwort) ;
polab. voböräh, poln. w^bor, wqhoreh (apr. lehnwort wumba-
ris) : aksl. "^qhorüQcü), aruss. uborüJcü ^eimer' (ahd. eimbar);
czech. vomej : ome)*, slov. omej ^aconitum napellus' (vgl. poln.
omi^g, rum. lehnwort omeag, welche auf *om^gü hinweisen) ;
osorb. vuda, poln. tv^da, klruss. vudka, wruss. vuda : aksl.
g,da ^hamus';
nsorb. vui, poln. wg,z, ka§. vo^, wruss. vuä : russ. ui, aksl.
*g,Si 'schlänge' (vgl. lit. angis);
polab. vo^ör, osorb. vuhor, nsorb. vugor, poln. w^gom : russ.
wgfo>% aksl. *q,gori: 'aal' (vgl. apr. angurjis);
poln. wagtet, klruss. wruss. vwäö? : aksl. a^^Zw 'winkel' (dazu
stelle ich aind. dgra-, avest. ayra- * spitze', das auf *wgfZo zurück-
gehen kann);
polab. vo^il, osorb. vuhl, poln. w^giel, klruss. vuhoY : aksl.
^gfZ^ * kohle' (vgl. lit. angüs und aind. dngära-)]
osorb. vMÄrö, poln. pl. wq,gry, w^gry, klruss. vuhor : russ.
ugon, aksl. *(3t5^rw, *q,gn 'beule' u. dgl.;
polab. vös, poln. wq,s (apr. lehnwort wanso), klruss. wruss.
vus, czech. vous : aksl. ^5m 'flaum, hart' u. dgl. (ich vergleiche
aind. amgü- 'faser, Stengel', av. g,su- 'schoss, Stengel);
poln. tvg>tly 'nicht dauerhaft' : aksl. g,tlü 'durchlöchert';
nsorb. vuh 'junge ente', klruss. vut'a : aksl. q,ty 'ente' (vgl.
lit. dntis);
polab. vän, osorb. nsorb. von, klruss. von : aksl. onü 'jener,
der' (vgl. lit. afts);
osorb. vopica : aruss. opica 'äffe' (an. ape, ahd. a^o);
osorb. nsorb. vopak : aksl. ö/^aÄö, opaky 'retrorsum' (vgl. aind.
dpäka);
polab. värat, osorb. vorac , nsorb. vora^ : aksl. öm^i 'pflügen'
(vgl. lit. drti)\
EBER. 241
polab. vüräl, osorb. vorol : aksl. orilü 'adler' (vgl. lit.
ar^lis) ;
polab. vüs, osorb. vosica, klruss. voS : aksl. o^ (vgl. lit.
asz\s)\
osorb. vosTcrot : aksl. oskrüdü ^haue, hammer' u. dgl. (vgl.
apr. scurdis)]
osorb. vosom, nsorb. vosym, russ. vosemt : aksl. osm^ 'acht'
(vgl. lit. äszmas)\
osorb. nsorb. vö5a : poln. 05a, russ. osma 'espe' (vgl.
apr. dbse)\
osorb. vö5^, nsorb. voset 'disteP, russ. vostryj : ostryj, aksl.
ö5^r«* 'scharf' (vgl. lit. asjstrüs);
osorb. nsorb. vosol : aksl. öä^w 'esel' (got. asüus)\
osorb. nsorb. t;ö^ai;a : russ. u.s.w. otava 'grummet'.
osorb. votruby, nsorb. votsuhy,] wruss. votrubi : aksl. otrqhi
'furfur';
polab. vüt, klruss. v6d : aksl. otu 'von' (vgl. lit. at-)\
osorb. votCy nsorb. i;oÄ 'vater', russ. votcina 'erbgut', votcim
'Schwiegervater' : aksl. otM 'vater';
polab. vüca, osorb. vovca, nsorb. vejca, klruss. vövca : aksl.
ov^ca 'schaf (vgl. lit. avls);
polab. vüväs, vüjäs, osorb. vovs, klruss. vövSuch : aksl. ovtsü
'hafer' (vgl. lat. avma)\
klruss. voznyca 'darrhaus', czech. vozditi : oisditi 'darren'.
Im südslav. fehlt der «c;-vorschlag vor einfachem 0 (slov.
vol : ol 'bier' steht vereinzelt da) und nur in einem beson-
deren falle, nämlich vor q^ (aus on) hat das slovenische (und
zum teil auch das bulgarische) ein anlautendes w entwickelt,
vgl. slov. vodica (ödica, aksl. adica), voz (aksl. *(^i^), vugor {ögor,
aksl. "^Qgori), vögel (aksl. q^glü\ vögel (aksl. q^glf), vögrc (aksl.
*q,grM\ vds (aksl. qsü\ vötel (aksl. q,tlü). Für altslav. «c;-pro-
these vor 0 ist kaum etwas anzuführen, denn auf vq,grinü neben
qgrinü darf man sich nicht berufen, weil es sein v von vügrinü
herübergenommen haben wird, und ebensowenig auf vq,m (v§zati),
dessen v (w) wol nur in der Zusammensetzung mit sür, u- laut-
gesetzlich entstanden ist (Brugmann, Grundr. I2, 943). Es bleibt,
soviel ich sehe, nur gemeinslav. vonja 'geruch' (vgl. aind. dniti)
übrig, das aber ohne weitere stütze die annähme einer alt-
oder gemeinslav. «c;-prothese vor 0 nicht rechtfertigen kann
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. -^ß
242 ÜHLENBECR
(vielleicht ist vonja aus "^vü-onja entstanden und hat es ur-
sprünglich 'einatmung' bedeutet). Im gegenteil: aksl. serb. russ.
poln. osa 'wespe' beweist uns, dass das urslavische, weit davon
entfernt vor o einen m? -Vorschlag anzunehmen, vielmehr das
indog. w vor o verlieren konnte, vgl. lit. vapsä, ahd. wefsa, lat.
vespa, bal. gvdbs. Ob polab. vöLsa, osorb. vosa, nsorb. vos das
alte w erhalten haben (vgl. aksl. voda, vosM u. s. w.), oder ihr w
erst der einzeldialektischen prothese verdanken, ist nicht zu
entscheiden.
Wenn aber das anlautende o (d. i. indog. a, o, 9) im alt-
slav. unverändert blieb, so fällt die an sich wahrscheinliche
hypothese Meillets, dass veprt durch eine contamination von
"^voprt und "^jeprt entstanden sei, denn "^opri (*aprio-) hätte
kein gemeinslav. *vopfi ergeben können. Wir werden mit
Bemeker das w in vepr^ für indogermanisch halten müssen
und brauchen dann lett. vepris nicht mehr als ein lehnwort
aus dem slavischen zu betrachten. Dennoch trifft Bernekers
etymologie aksl. vepri ^eber' : aind. vdpati * wirft hin, streut
aus, sät' kaum das richtige, denn vap- ist doch eigentlich
* werfen', wie aus den bei Böhtlingk und Eoth verzeichneten
stellen leicht zu ersehen ist (z. b. Rv. 2, 14, 6. 7, wo vap- für das
niederwerfen der feinde gebraucht wird). Der technische aus-
druck ahshän vapati heisst doch nicht etwa ^er sät die Würfel'!
Und das offenbar zu vap- gehörige väpra- 'aufwurf, erdwall'
lässt sich ebenfalls nur begreifen, wenn man von der grund-
bedeutung 'werfen' ausgeht. Allem anschein nach ist vap-
erst im sonderleben des indischen ein wort für 'säen' geworden.
Nebenbei sei bemerkt, dass Bernekers ähnliche erklärung von
lit. sisefnas 'wilder eher' ebenso verfehlt ist: das wort kann
nicht zu aind. kshdrati gehören, weil dieses nach ausweis von
mind. jharati, avest. yiaraiti, gr. ^d^elQO) auf eine grundform
mit anlautendem ^Sh hinweist und wir also lit. z (gz), nicht sjs
zu erwarten hätten. Auch ahd. haran und ags. scearn, an.
skarn, gr. öxcig (genit. öxatog) dürfen nicht mit kshdrati ver-
bunden werden.
Auch sonst weiss ich keine indog. wurzel, wovon vepH
abgeleitet sein kann — denn an aind. vdpati 'scheert' ist
natürlich nicht zu denken — und so werden wir uns vorläufig
damit zufrieden geben müssen, dass vepri 'eher' bedeutet, also
EBER. 243
gerade dasselbe wie ahd. ehur. Möglicherweise verhält vepri
sich zu ehur wie aind. vrshdbhd' zu rsliabhä- (s. Et. wb. der got.
Sprache s. v. wargipa), d. h. wir haben mit indog. doppelformen
zu tun, welche sich wol am besten durch sandhi erklären lassen.
Aehnlicherweise gibt es Wörter mit und ohne inlautendes w
(vgl. Feist, Beitr, 15, 548 ff.), welche man doch auch nicht gerne
von einander trennen wird.
Gehen wir zur besprechung des lat. wortes über, das nach
Berneker nicht mit ebur, sondern vielleicht mit aind. äp-
* Wasser' zu verbinden wäre (eine Vermutung, welche wir gerne
auf sich beruhen lassen). Steht aper dann nicht mit ebur in
einem gut beglaubigten ablautsverhältnis? Oder ist etwa lat.
pateo von gr. jtatavvvfii, lat. saxum von secäre, lat. gradior
von got. grids, lat. labrum von ags. lepor zu trennen? Wir
bedürfen der Vermutung, dass aper sein a erst von caper be-
kommen habe (Fick 1^, 362), nicht im mindesten und können
getrost das Verhältnis von aper zu Sbur als ein rein-lautliches
betrachten. Das verwerfen einer evidenten gleichung wie ahd.
ebur : lat. aper ist ein methodologischer fehler und wider-
streitet den principien einer Wissenschaft, welche ausschliess-
lich auf evidenten gleichungen beruht.
Und jetzt ebur selbst. Nach den vorhergehenden aus-
führungen stehe ich nicht an, jede etymologie, welche ebur
auf eine i-wurzel zurückführen will, von vornherein als ver-
fehlt zu betrachten, weil sie der unleugbaren verwantschaft
mit lat. aper und dem wahrscheinlichen Zusammenhang mit
aksL veprt keine rechnung trägt. Darum ist Bernekers er-
klärung von ebur aus indog. Hhhoro- zu aind. ydbh-, slav. je6-
* begatten' unbedingt abzuweisen, und das um so eher, wenn
die letztgenannte wurzel in der Ursprache ein spirantisches j
gehabt hat, was mir auf grund von gr. ^£g)VQog, dem namen
des feuchten und befruchtenden Westwindes, in hohem grade
wahrscheinlich ist (Odyss. 7, 118 f. dZXä /laZ^ alsl ZsipvQlrj
jcvelovöa rä fiev g)V6i, aXXa de jtsöösi). Also ^iqrvQOg : ydbhati
= ^vyov : yugdm. Natürlich ist bei dieser auffassung von
yabh' das synonyme gr. olqxo, olg)e(o ferne zu halten.
Eine etymologie von ahd. ebur, ags. eofor (an. jgfurr) :
lat. aper, umbr. abro- : aksl. vepri, lett. vepris zu geben, bin
ich nicht im stände. Schade 123 denkt an die wurzel *^-
244 UHLEKBEGK, EBER.
in an. afl u. s. w., welche aber nirgends ein w im anlaut zeigt
und uns deshalb bei der erklärung von aksl. vepr(, lett. vepris
und von ahd. ebur im stich lässt. Wahrscheinlich haben wir
bei ebur, aper, vepri von *«c;ejp- auszugehen, denn dass die formen
ohne anlautendes w erst dui'ch indog. sandhi aus den mit w
anlautenden hervorgegangen sind, bedarf kaum des beweises.
Zum Schlüsse noch einige fragen über ein anderes wort,
das lautliche Schwierigkeiten macht. Steht got. stiur, avest.
staora- nicht in demselben Verhältnis zu an. J^jorr wie got.
stautan zu aind. tuddti, an deren Zusammengehörigkeit niemand
zweifelt? Führt ]>j6rr uns nicht zu gr. ravQog, lat. taurus
u. s. w. hinüber, wenn wir nur annehmen wollen, dass germ. eu
und gr. lat. au mit einander ablauten wie in got. stiurjan :
gr. öravQog, lat. re-stauräre. Und wird am ende gall. tarvos
nicht irgendwie mit stiur und staora-, mit pjörr und ravQog
verwant sein? Wörter wie stier und eber lehren uns, wie
wenig wir noch von der indog. lautlehre wissen.
AMSTERDAM, februar 1898. C. C. UHLENBECK.
ZUM ALTENGLISCHEN BOETIUS.
Bei Bosworth- Toller findet man s. 1086 ein ^ys 'storm'
angesetzt, das Toller mit an. ^yss 'uproar, tumult' vergleicht.
Er bringt dafür nur einen einzigen beleg und zwar aus dem
20. cap. der aengl. Boetiusübersetzung. Die stelle lautet bei
Fox s. 72, 4: Ac seo orsorhnes ^cep scyrmcelum swa pces windes
yst, ^) doch aus der anmerkung erfahren wir, dass yst in keiner
hs. steht, sondern nur eine conjectur von Cardale ist, indem
Ms. Cotton^) swaj^cer windes ]>ys und Ms. Bodl. swce]>er windes
pys hätten. Ein blick in Ms. Bodley 180 zeigte mir indessen,
dass diese hs. nicht pys, sondern ganz deutlich öyf hat. Die
Juniussche abschritt hat natürlich ebenfalls ffyf. Da nun Ju-
nius die abweichenden lesarten der Cottonhs. am rande notiert,
zu dieser stelle aber nichts bemerkt, so ist anzunehmen, dass
auch Otho A. VI ffyf hatte. Leider fehlt das wort jetzt in der
Cottonhs., indem an dieser stelle der rand abgebröckelt ist. 3)
Jedenfalls aber entbehrt die Fox'sche lesart J>ys jeder hand-
schriftlichen autorität, und dieses wort ist demnach aus den
lexicis zu streichen.
Bei der erklärung unserer stelle haben wir nunmehr von
dyf auszugehen, und ich meine, sie lässt sich am ungezwungen-
sten erklären, wenn man annimmt, dass in der urhs. pyf
^) Das lat. original lautet: iUam (d. h. prosperam forUmam) videas
ventosam fluentem.
2) Von der aengl. Boetiusübersetzung gibt es bekanntlich zwei alte
hss. : 1. die Cottonsche hs. Otho A. VI, die durch den brand der Cottoniana
stark gelitten hat, 2. Ms. Bodley 180. Diese letztere hs. schrieb Jimius ab,
gab aber auch die yarianten aus der Cottonhs. Seine abschrift wird als
ms. Junius 12 in der Bodleiana aufbewahrt.
8) Nach einer freundlichen mitteilung des herm W. J. Sedgefield, von
dem wir bald eine ausgäbe d^r aengl. Boetiusübersetzung erwarten dürfen.
246 NAPIEB, ZUM AENGL. BOBTIÜS.
(r=pyff, l^Kpuff) gestanden habe: aus diesem konnte leicht
ein nachlässiger abschreiber pyf machen, das unter der band
eines zweiten abschreibers leicht zu ffyf werden konnte. Ich
bin zwar nicht im stände ein aengl. Substantiv pyff anderswo
zu belegen, doch war es nachweislich frühmengl. im gebrauch:
vgl. Ancren Riwle s. 122, 17 a windes puf\ und auf das Vor-
handensein eines aengl. verbums pyffan habe ich bereits in
der Academy, 7. mai 1892, s. 447 hingewiesen. ') Ein windes
pyff passt für diese stelle vorzüglich.
OXFOED, 13. juli 1898. AETHUE S. NAPIEE.
AENGL. SET^L, 5ETEL ^ZAHL'.
Neben westsächs. ^etceP) (g. ^etceles u.s.w., pl. n. b^cc, ^etalu)
muss es im spätwestsächs. eine form ^etel mit durchgehendem e
(g. ^eteles u.s. w., pl. n. acc. ^etel ohne endung) gegeben haben.
Den beweis dafür dürften die folgenden beispiele liefern, aus
denen auch hervorgeht, dass namentlich iElfric die e- formen
gebraucht hat.
1. Belege für cp(a)- formen:
Nom. acc. sg. ^etcel Wright-Wülker 43, 39 (Corp. GH.). G^n.
1420. Exod. 229. 234. Beda ed. MiUer 344, 34. 454, 24. Matth.
14,21. Anglia 8, 302, 34 u.s.w. (ich habe aus dem dort mit-
geteilten stück 22 beispiele notiert). WW. 366, 10. 11.
g. ^etceles Cockayne, Narratiunculae s.33 ff. (11 mal). Anglia
8, 302, 42. Ae. Chronik z. j. 973 (Ms.C); getales Sal. 38. Leech-
doms 2, 284, 22. Cockayne, Narrat. 36, 28.
^) Zu dem einzigen ans Techmers Internationaler zs. 2, 121 dort an-
geführten beleg kann ich jetzt aus meinem demnächst erscheinenden bände
aengl. glossen folgende hinzufügen : 1, 1886 spirantis = piffendes (vgl. Zs.
fda. 9, 450). 1, 4931 exalauit = ut apyfte (vgl. Zs. fda. 9, 519). 18, 42 efflauä
= pyft€.
^) Im nordh. galt die form t<ü (Lindisf. und Bushw. Gospels, Durham
Bitual), das sein a wol dem verbum {j^e)t(üi$a oder dem an. toi verdankt«
AE. GET^L, GETEL. 247
d. ^eteZe Anglia 8, 304, 40 u.s.w. (6 mal). Deut. 32, 8. WW.
418,36; fetale Beut 1, 11. Thorpe, Ancient Laws 1, 86, 1. Cod.
Dipl. 4, 116. Menologium 63.
Nom. acc. pl. getalu 0 WW. 176, 25. 429, 27.
d. ^etalum Gen. 1688. WW. 431, 18.
2. Belege für e -formen:
Nom. accsg. ^etel Gen. 2755. WW. 250, 42. Exod. 5, 18. Ass-
mann, Ags.liomilien 43, 477 (iElfric). iElfrics Grammatik 2) 9,21.
25,16 U.S.W. (ich habe ca. 45 fälle notiert). iElfi\ Hom. ed.
Thorpe 1, 32, 26. 188,35. 190, 11. 338,27. 536 (5 mal). Ae. Chron.
z. j. 1014 (Mss. C, D).
g. geteles Mite. Gr. 13, 8. 83, 9. 108, 19. 110, 3. 5. 135, 14.
Assmann 45, 528 (iElfr.). Ae. Chron. z. j. 973 (Mss. Parker und B).
d. ^etele Mite. Hom. 1, 102, 33. 190, 1. 2, 222, 3. 586, 32.
iElfr. Gramm. 13, 10 u.s.w. (26 mal). Num. 15, 34, Anglia 8, 299,13.
318, 23. WW. 251, 1.
Nom. acc. pl. ^etel M\ir. Gr. 83, 7. 126, 13. 283, 8. 286, 16.
296, 13 und vielleicht 13, 19. 232, 6. 280, 18 (die letztgenannten
können aber auch sing. sein).
d. ^etelum Mlfr. Gr. 134, 3. 286, 12.
Da die hss., welche 6-formen aufweisen, das e und ce sonst
nicht verwechseln, so setzen die angeführten beispiele die exi-
stenz eines ^etel neben dem normalem ^etcel für das spätere
westsächs. ganz ausser zweifei.
Abgesehen aber von dem wurzelvocal unterscheiden sich
die beiden formen auch ferner dadurch, dass erstere im nom.
acc. pl. ^etel (ohne endung),^) letztere das regelrechte ^etalu
hat. Da nun aber iElfric kurz- und langstämmige neutra sonst
nie verwechselt, 4) sondern bei ersteren den pl. auf -u bildet,
^) Nom. acc. pl. lautet im nordh. tcUo,, vgl. Cook, Glossary of the Cid
North. Gospels.
') Was die beispiele aus iElfrics Grammatik anbelangt, so muss er-
wähnt werden, dass, während die grosse mehrzahl der hss. stets e schreiben,
ein paar hss., F, I und gegen den schluss des werkes H, dieses e consequent
durch cB ersetzen. Doch ist es klar, dass MlMc selbst die e -formen
brauchte.
*) Sämmtliche hss. der Grammatik stimmen in der endungslosen form
tiberein.
*) Auch wo die ganz späte Verwechselung stattfand, ergab sie formen
wie wordu (mit -w), nicht umgekehrt pluralformen wie *hof.
248 NAPIEB, AE. GETiEL, GETEL.
bei letzteren die endungslose form hat, so folgt daraus, dass
zu ^Ifrics zeit der wurzelvocal von getel lang war. Da man
^ aber femer angesichts des relativ späten Vorkommens der
e-formen wol kaum berechtigt ist, eine ablautsform ^etel =
*gatöli anzusetzen, so bleibt als einzige möglichkeit die an-
nähme einer aengl. dehnung. Geht man von einem ge0 (mit
^ ») statt ä durch einfluss des vb. tellan) aus, so bekommt man
mit dehnung im nom. acc. sg. getel — ebenso wie wel aus wH
(vgl. Sweet, Hist. of Engl. Sounds §§ 388. 389). Das lange e
drang dann in die obliquen casus ein, daher geteles u.s.w.
statt des zu erwartenden geteles; dazu bildete man ganz
natürlich den nom. acc. pl. getel statt *geMu. Bei hof, lof
U.S.W. dagegen, wo eine ähnliche dehnung im nom. acc. sg.
stattgefunden zu haben scheint, blieb die länge auf diese casus
beschränkt und erstreckte sich nicht auf die anderen casus:
daher höfes, pl. höfu.
Sollte diese erklärung das richtige getroffen haben, so
liefert sie eine ganz unabhängige bestätigung der aengl. deh-
nung einsilbiger Wörter auf einfachen consonanten.
^) Dieses e kann nicht direct im subst. durch umlaut hervorgebracht
worden sein, da man dann *^etele (e-stamm) oder *^etell (ja-st) erwarten
müsste.
OXFOED, 13. juli 1898. AETHUE S. NAPIEE.
UEBER DIE VOM DICHTER DES ANEGENGE
BENUETZTEN QUELLEN.
Mit einem kleinen bruchstücke des Anegenge, mit dem
* streite der vier töchter gottes' — s. unten — hat sich E.
Heinzel, Zs. fda. 17, 1 ff. beschäftigt. Er sucht nachzuweisen,
dass diese partie in einer predigt des hl. Bernard ihre quelle
habe. Ausführlicher beschäftigt sich mit den quellen des
gedichtes E. Schröder in seiner schrift: Das Anegenge. Eine
litterarhistorische Untersuchung (QF. 44), Strassburg 1881. Er
hat das Verhältnis desselben zur Bibel und zu den verschie-
denen commentaren der hl. schrift behandelt. Auch auf die
apokryphe literatur, welche der Verfasser des Anegenge benützt
haben könnte, weist er hin, ohne jedoch ein bestimmtes buch
als directe quelle namhaft zu machen. Dass Honorius Augusto-
dunensis dem gedichte den Stempel seines geistes aufgedrückt
habe, ist ein iiTtum: das deutsche gedieht erinnert nur des-
halb manchmal an die werke dieses abschreibers, weil er die-
selben quellen benützt hat, die auch dem Verfasser des Ane-
genge vorlagen. Uebereinstimmungen mit anderen deutschen
gedichten sind gleichfalls auf eine gemeinsame lateinische
quelle zurückzuführen. Kelle, der in seiner Geschichte der
deutschen litteratur von der ältesten zeit bis zum 13. jh. bd. 2
(Berlin 1896) s. 141 ff. eingehend von den quellen des Anegenge
handelt und zeigt, dass das deutsche gedieht nach Inhalt und
form von Hugo von St. Victor — Summa sententiarum und
De sacramentis — abhängig ist, bemerkt s. 353 in einer
anmerkung zu s. 151, dass es der räum nicht gestatte, diese
abhängigkeit im einzelnen darzulegen. Diese ins einzelne
gehende darlegung soll nun auf den folgenden blättern geliefert
werden.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIY. 17
250 TEUBER
Wie der priester sein gebet, in welchem er die geheim-
nisse der hl. religion feiert, mit den worten des Psalmes 50, 16
domine lahia mea aperies beginnt, so auch unser dichter, der
ja in seinem gedichte auch die grössten geheimnisse des christ-
lichen glaubens feiern will. 1, 2 — 8 ') bittet er gott um seinen
beistand zu der schwierigen aufgäbe, die er unternehmen will.
1,9 — 16 bedient er sich eines biblischen Vergleiches im an-
schluss an Num. 22, 28: aperuitque dominus os asinae et locuta
est: quid feci tibi? cur per cutis me? ecce iam tertio. Wenn der
dichter sagt: daz si ir mceister tcete chunt, dcus er nicht furhcus
solde, so stimmt das mit der bibel nicht überein; denn die
eselin gibt durch ihr abweichen vom wege (ib. v. 23 avertit
sc de itinere), durch ihr andrücken an die mauer (v. 25 iunxit
se parieti) u.s.w. kund, dass sie den weg nicht gehen will;
die eigentliche belehrung des propheten Balaam geschieht erst
durch den engel, den er früher nicht gesehen hat. Die stelle
ist also frei citiert und frei angewendet. Warum der dichter
so innig um beistand fleht, sagt er im folgenden 1, 17 — 26, wo
er einen kleinen, keineswegs erschöpfenden überblick über die
folgende darstellung gibt, um 1, 27 ö. speciell auf die erlösung
als das vorzüglichste werk der gottheit hinzuweisen. Doch
bevor er beginnt, ruft er gott nochmals um seinen beistand
an und bedient sich hierbei abermals eines biblischen Ver-
gleiches: 1, 37 ff. Für V. 40 — 42 ist Lev. 9, 14 heranzuziehen:
non maledices surdo, nee coram caeco pones offendiculum; v. 43:
daz in der vasten solde ist dem sinne nach aus der stelle ent-
lehnt, welche zu v. 44 — 47 als quelle gedient hat : si quis aper-
uerit cisternam, et foderit, et non operuerit eam, cedderitque
hos aut asinus in eam. Beddet dominus cisternae pretium iumen-
torum (Ex. 21, 33. 34). Der sinn dieses letzten verses ist auf
den beschädigten blinden mit den worten: v. 43 daz in der
vasten solde angewendet. Im folgenden (1, 48 — 69 und 2, 1 — 19)
richtet sich der dichter gegen die tumben und ermahnt sie
nicht ze tieff'e nachzudenken; 2) er bringt eine ziemlich grosse
anzahl von punkten, über welche die tumhen nicht nachdenken
') Ich eitlere nach Hahn, Gedichte des 12. und 13. jh.'s, 1840.
*) Es wäre möglich, dass der dichter hierbei Ecclus. 3, 22 ff. im äuge
hatte : cUtiora te ne quaesieris, et fortiora te ne scruteris . . . Non est
enim tibi necessarium ea, quae abscondita sunt, videre oculis.
QUELLEN D£S ANEGENGE. 251
sollen, um sich nicht zu 'ertränken', gibt aber damit zugleich
die wichtigsten punkte an, die er in seiner späteren darstellung
ausführlich behandelt: ja man könnte sagen von 1, 60 — 69 bis
2, 1 — 19 ist der hauptinhalt des ganzen gedichtes niedergelegt.
Die gedanken welche hier ausgesprochen sind, sind ganz all-
gemeine Sätze, welche dem dichter aus seinem theologischen
wissen in die feder flössen, gedanken über gott, über die
Schöpfung, über den fall der engel und des menschen, über
die erlösung und heiligung des menschen, über die ungetauften
kinder — die übrigens chronologisch sehr gut geordnet sind
— : gedanken, wie sie dem dichter aus der hl. schrift und den
Vätern bekannt sein mussten.
Wo der dichter endlich nach einer ziemlich langen ein-
leitung mit der eigentlichen behandlung seines themas beginnt,
können wir sofort eine für ihn sehr ausgiebige quelle nach-
weisen: Hugo von St. Victor, De sacramentis und Summa sen-
tentiarum (Migne, Patrologia latina 1. 176). 2, 20 — 22 ist näm-
lich entnommen aus Hugos Dialogus de sacramentis legis
naturalis et scriptae, wo gleichfalls mit der frage begonnen
wird. D. ; quid fuit priusquam mundus fieret? M,: solus deus.
D. ; ubi fuit cum nihil esset praeter ipsum? M,: ubi modo;
nur dass der dichter die doppelfrage zusammenzieht und nun
2,23 — 26 direct antwortet. Dazu stimmt Hugo t. 2, 18: D.;
ubi est modo? M,: in semetipso est, et omnia in ipso sunt et
ipse est in omnibus.
Die verse 2, 27 ff.: owe wie sanfte er enbceit dirre werlde
gruntveste geben den inhalt einer stelle bei Hugo t. 2, c. 21. 22
wider: deus ita ab aeterno in se et per se beatus fuit, ut eius
gloria et beatitudo, quia aeterna et incommutabilis erat, non
posset minui, et quia plena et perfecta fuit, non posset augeri
Nullo igitur indigens . . .
In den folgenden versen 2, 29 f.: ob dem abgrunde was sein
reste, der gotes geeist da swebte denkt der dichter wol zu-
nächst an Gen. 1,2: terra autem inanis et vacua, et tenebra^
erant super fadem terrae: et spiritus dei ferebatur super aquas,
wenn ihn nicht Augustinus, De genesi contra Manich. c. 5 be-
einflusst hat, der da sagt: non enim per spatia locorum super-
ferebatur aquae ille spiritus . . . sed per potentiam invisibilis
sublimitatis suae,
17*
252 TEUBER
2,31—41 ist, wenn auch nicht wörtlich, doch inhaltlich
aus Hugo t. 2, c. 21. 22 entnommen: Jf.; deus, qui summum et
verum perfedumque bonum est, ita ab aeterno in se et per se
beatus fuit, ut eins gloria et beatitudOj quia aeterna in incom-
mutabilis erat, non passet ^minuV et quia plena et perfecta
fuerat, non passet 'augeri'. Nulla igitur indigens, sed bonum,
quod ipse erat et quo beatus erat, cum aliis partidpare et alias
in illo et per illud beatificare volens, nulla necessitate, sed sola
charitate creavit rationalem creaturam . . . Dieser passus nullo
igitur indigens führte den dichter dazu, die abhängigkeit der
Schöpfung von gott und die Unabhängigkeit des Schöpfers von
den geschöpfen zu betonen. Für v. 40 und 41 ist Hugo t. 2,
c. 20, c heranzuziehen: D.: quarc novissime f actus est homo?
M.: quia homo universae creaturae prasficiendus fuit, congruum
erat, ut prius mansio eius praepararetur, postmodum ipse or-
dinatis Omnibus qtiasi possessor et rector introduceretur in orbem
terrarum.
2, 42 — 44. Hugo spricht t. 2, c. 19 auch von der erschaf-
fung des lichtes: D.: quae formatio fa^ta est prima die? M,:
lux facta est prima die, natürlich im anschluss an Gen. 1, 3:
dixitque deus: fiat hex. Et facta est lux. Der ansieht, dajs er
ie vinster gewunne entgegenzutreten, darüber belelirte den Ver-
fasser des Anegenge Augustinus, der schreibt: et vidit deus
lucem, quia bona est. Dicunt enim: 'ergo non noverat deus
lucem, aut non noverat bonum'.
2,45 — 48. Dazu stimmt wider Hugo (De sacram., Migne
1. c. s. 20) D.; quae formatio facta est die quartaf M.: lumi-
naria condita sunt in coelo, i. e. sol et luna et stellae, ut lucerent
super terram et illuminarent illam.
Wife der dichter schon 2, 43 f. der irrigen meinung ent-
gegengetreten war, es könnte für gott je eine finsternis existiert
haben, so tritt er im folgenden abermals einer irrigen meinung,
diesmal über den beweggrund der Schöpfung und über die
erhaltung derselben entgegen. Und wie er dort durch Augu-
stinus angeregt wurde, so geschah es auch hier: 2,49 — 56.
Augustinus, De Genesi ad literam c. 7, no. 13, s. 151 sagt, aller-
dings nur vom hl. geiste redend: an quoniam egenus atque in-
dignus amor ita diligit, subidatur; propterea cum commemoratur
Spiritus dei, in quo sancta eius benevolentia dilectioque intelli-
QUELLEN DES ANEGENGE. 253
gitur, superferri dictus est, ne facienda opera sua 'per indigen-
tiae necessitatem' potius quam per ahmdantiam heneficentia^
deiis amare putaretur? . . . Cum ergo sie oporteret insinuari
spiritum dei, ut superferri diceretur, commodius factum est, ut
prius insinuaretur aliquid inchoatum, cui superferri diceretur;
non enim loco, *sed omnia super ante et praecellente potentia'.
Die verse 2, 57 — 59 bilden den Übergang zu der folgenden
darstellung von der erschaffung und dem falle der engel, was
Hugo t. 2, 22 andeutet und s. 83 ff. weiter ausführt. Aber bei
seiner nicht zu verkennenden Weitläufigkeit kann der dichter
es sich nicht vei'sagen (2, 60 — 68) nochmals an die gewalt und
chrafft gottes, die er schon vor der Schöpfung besessen, zu er-
innern, allerdings auch hier im anschlusse an die bereits citierte
stelle aus Hugo, De sacram., t. 2, 21 f.
Nun kommt er zur erschaffung der engel selbst, 2, 69 — 78.
Dazu hat Hugo die gedanken hergegeben; denn De sacram. c.22
schreibt er: nullo igitur indigens, sed bonum quod ipse erat
et quo beatus erat, cum aliis participare et alios in illo et per
illud beatißcare volens, nulla necessitate, sed sola charitate creavit
rationalem creaturam, id est Spiritus rationales, iussitque ut ipsi
partim in sua puritate persisterent , und unter diesen Spiritus
rationales meint eben Hugo, wie der context ergibt, die engel.
2, 79 — 3, 1 folgt der dichter seinem gewährsmann Hugo
an derselben stelle weiter: Ulis vero, qui in sua puritate per-
mansuri fuerant, mansionem in coelo collocavit .,, et ilhs per
oboedientiam in summo confirmaret ... Et sicut excellentiam
Spiritus infirmitate corporalis naturae coniunxerat una creationis
condido, ita 'humilitatem' creaturae spiritualis, excellentiae crea-
toris sodare debuerat una pietatis dignatio. Für die verse 79
und 80 ist der Tractatus de creatione et statu angelicae naturae
c. 2 heranzuziehen, wo gefragt wird, ob die engel im anfang
gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht u. s. w. gewesen seien,
und schliesslich gesagt ist: est enim omnis virtus meritum, et
omne meritum ex 'libero arbitrio' und das ist das frei ir gemute,
wie unser dichter es widergibt.
Im folgenden geht nun der dichter auf die sache näher
ein und sucht uns das frei gemute und den grund, warum der
Schöpfer den engein ein solches verliehen habe, näher zu er-
klären: 3,2—25: Hugo von St. Victor hat den in der patris-
254 TEÜBER
tischen literatur namentlich von Augustinus sehr ausführlich
besprochenen passus über das liberum arUtrium (vgl. Augustinus,
De gratia et libero arbitrio) nicht übergangen und auch bei
der lehre von den engein darüber gehandelt. T. 2, 85 A heisst
es: et honi (sc. angeli) non necessitate cogente, sed libera volun-
täte a malo abstinent; similiter et mali a bono . . . Boni angeli
possunt peccare ex sua natura, i., e, eorum natura ad hoc non
repugnat, nee tarnen concedendum est, boni angeli possunt pec-
care, id est gratia, per quam sunt confirmati, ad hoc repugnat
Augustinus sagt hierüber De civitate dei lib. 22, c. 1, no. 2: qui
liberum arbitrium eidem intellectuali naturae tribuit tale, ut si
vellet desereret deum, beatitudinem scilicet suam continuo miseria
secutura, Qui cum 'praesciref angelos quosdam per elationem,
qua ipsi sibi ad beatam vitam sufficere vellent, tanti boni de-
sertores futuros, non eis ademit hanc potestatem, potentius et
melius iudicans etiam de malis bene fa^cere, quam mala esse non
sinere . . . qui casum angelorum voluntarium iu^tissima poena
sempiterna infelicitatis obstrinxit, atque in eo summo bono per-
manentibus caeteris, ut de su>a sine fine permansione certi essent,
tamquam ipsius praemium permansionis dedit. Nimmt man nach
Augustinus De vera religione c.l4, no.27 hinzu: tales enim servos
suos meliores esse deus iudicavit, si ei servirent ^liberaliter\'
quod nullo modo fieri possent, si non voluntate, sed necessitate
servirent, so wird man sagen müssen, dass für diese stelle
unseres gedichtes, die wol durch Hugo veranlasst ist, Augu-
stinus als quelle gedient habe.
Für seine darstellung bringt nun der dichter ein praktisches
beispiel: 3,26 — 34. So originell dasselbe zu sein scheint, so
sehr man versucht ist zu glauben, der dichter hätte es aus
der unmittelbaren anschauung des praktischen lebens heraus-
gegriffen und poetisch verwertet; es ist doch nicht des dichters
eigentum, sondern im Ecclus. 7. 22 f. vorgebildet, wo es heisst:
non laedas servum in veritate operantem, neque mercenarium
dantem animam suam, Servus sensatus sit tibi dilectus, qu,asi
anima tua, non defraudes illum libertate neque inopem dere-
linqua^ illum.
Nachdem der dichter bereits 2, 40 ff. von der Schöpfung
gesprochen, geht er in der folgenden partie seines gedichtes
auf dieselbe etwas näher ein, ohne die sache jedoch ganz zu
QUELLEN DES ANEGENGE. 255
erledigen: 3, 35 — 45. An dieser stelle hat der dichter mehrere
quellen benützt. Zunächst wider Hugo, der sie veranlasst und
auch einen teil des materials geboten hat. T. 2, 79C heisst
es; fides catholica unum pnndpium credit esse omnium rerum,
deum scilicet cuius 'honitas' omnium rerum causa fuit Bei der
auf Zählung der geschaffenen dinge fällt ihm Gen. 1, 1 ein: in
principio creavit deus 'coelum et terram' ... 3: diooitqus deus:
'fiat lux, et facta est lux'. Ganz treffend sagt der dichter
V. 44f.: das was sein erste stimme, die got ie gesprach. Denn
soweit unsere biblischen Offenbarungsberichte reichen, wird
gott tatsächlich der zeit nach hier das erstemal redend ein-
geführt. Dass gott daz Hecht werden hiez und die enget darinne
berichtet unserem dichter Hugo (t. 2, 81 C) aus Augustinus: unde
Augustinus exponit ita locum illum: Hn principio creavit deus
coelum et terram; coelum i. e. angelos' (frei citiert nach Aug.,
De Genesi ad lit. c. 9, no. 15, s. 252). Hier ist aber vom coelum,
nicht vom Hecht die rede, wenn auch die auff assung des dichters
sich sehr leicht daraus ergeben konnte; die für unsem dichter
massgebende stelle steht wol bei Augustinus, De Genesi ad lit.
lib. 1 imperf., c. 5, no. 21: et fortasse quod quaerunt homines,
quando angeli facti sunt, ipsi significantur hac luce, brevissime
quidem, sed tam convenientissime et decentissime; und an einer
zweiten stelle heisst es: et facta est lux, id est angelica et
coeUstis substantia in se temporaliter ; sicut erat in sapientia,
quantum ad eius incommutdbilitatem aeternaliter
Zu 3,46—53 hat Hugo t. 2, 79C die gedanken geboten:
cum esset summe honus et perfecte heatus aeternaliter esset,
voluit aliquos esse participes suae beatitudinis. Et quia non
potest eius beatitudo participari nisi per intellectum, et quanto
magis intelligitur tanto magis habetur; fecit rationalem creaturam
ut intelligeret, inteUigendo amaret, amando possideret, possidendo
frueretur.
Für V. 51 — 53 ist Gen. 1, 1—23 {das buch, wie der dichter
es nennt) die quelle gewesen, deren Inhalt er in diese drei
verse zusammendrängt. Dass er sagt der heilige Christ habe
alles geschaffen, darf uns nicht wunder nehmen, denn der
Scholastiker kannte wol die worte des Johannes (Ev. 1, 1 ff.)
in principio erat verbum, et verbum erat apud deum; . . . omnia
per ipsum facta sunt, und unter diesem verbum versteht ja
256 TEUBER
der evangelist niemand anderen als Chiistus. Zweitens be-
tonen die Väter und an ihrer spitze Augnstinus, *) dem auch
Hugo folgt, immer und immer wider, dass der vater allesr
durch den söhn wirke. Drittens ist es für den in der mittel-
hochdeutschen literatur nur halbwegs bewanderten gar mchts
besonderes, der hceilige Christ für got überhaupt geschrieben
zu finden.
Auffallend mag uns erscheinen, dass der dichter sagt, der
hceilige Christ habe alles in fünf tagen geschaffen, und dass er
sich dabei noch auf die hl. schrift als quelle beruft, wo doch
(Gen. 1, 24) erzählt wird, dass gott auch am sechsten tage
noch verschiedene tiere geschaffen habe. Ein lapsus memoriae
kann das wol kaum sein, also muss ein anderer grund vor-
liegen, und dieser dürfte der sein: wenn der dichter den
sechsten schöpfungstag für die Schöpfung des menschen ganz
in anspruch nahm, so wollte er dadurch die hohe würde des
menschen, gegenüber welcher der später geschilderte fall des-
selben um so bedauerlicher und erschütternder hervortreten
sollte, ganz besonders betonen. Daher sagt er 3, 54 f. : an dem
sehsten er den man geschüf unt ouch sumlichiu tyer. Und wenn
er auch hier die tyer erwähnt, so erscheint unsere behauptung
gegenüber jenen fünf tagen trotzdem gerechtfertigt; es scheint
ihm dieser vers 55 mehr unbewusst in die feder geflossen zu
sein; denn sonst müssten wii* einen Widerspruch mit v. 52 f.
annehmen. Dieselbe stelle findet sich auch bei Hugo (t. 2, 20).
D,: quae formatio facta est die sexta? M.: iestiae et cetera
animantia, quae vivunt super terram, de terra creata sunt
Consummatio autem et praeparatio omnium, postremo (eadem
tarnen sexta die) factus est homo (vgl. Gen. 1, 25 f.). Der dichter
stellt die Sachen um.
Etwas voreilig schiebt der dichter 3, 56—58 den fall Lu-
cifers jetzt schon ein, ob wol er 3, 79 ff. ausführlicher darauf
zu sprechen kommt Die stelle beruht auf Luc. 10, 18: ecce
vidi Satana/ni sicut fulgur de coelo cadentem. Wenn sie, was
wol nicht anzunehmen ist, der dichter nicht selbst gewusst
hat, so hätte ihn Hugo (t. 2, 81C) darauf führen müssen, der
sie bei demselben umstände citiert.
*) Um nur einige naheliegende stellen zu eitleren: De Genesi ad lit.
lib. 1, c. 1. 2. 8. 4. 6. In De trinitate widerholt.
QUELLEN DES ANEGENGE. 257
Teils au Hugo, teils au die hl. schrift schliesst sich der
dichter iu deu folgeudeu verseu an: 3, 59 — 66. Die betreff eudeu
fragen werden von Hugo (t. 2, 19 B) ziemlich ausführlich be-
handelt. Aber der Verfasser des Anegenge hält sich hier zu-
nächst an die hl. schrift. Gen. 1, 4 f.: et vidit deus lucem, qtiod
esset bona, et divisit lucem a tenehris. Äppellavitque lucem diem
et tenebras noctem (Aneg. 59 — 61).
In V. 62 fasst der dichter Gen. 1,9: dixit vero deus: eon-
gregentur aquas, quae sub coelo sunt, in locum unum et appareat
arida sehr geschickt zusammen. V. 63 — 66 endlich ist Hugo
(t. 2, 20 B) verwertet, wo es heisst : luminaria condita sunt in
coelo, i, e, sol et luna et stellae; ut lucerent super terram, et
illuminarent illam 'et tempora, cursu suo distingueret'. Freilich
könnte zu jenen versen auch Gen. 1, 14 ausgereicht haben:
dimt autem deus: fiant luminaria in firmamento coeli, et divi-
dant diem ac noctem et sint in signa, et tempora, et dies, et
annos. V. 64 ist subjectiver herzenserguss des dichters.
Es heisst weiter 3, 67 ff.: wie chlceine er ez do ordenot, des
ist dehcein not, dais wir das: allez gesagen, wan wir der ceit nicht
enhaben, duz wir so verre chomen dar in. An derselben stelle,
wo Hugo die Schöpfungsgeschichte abbricht und zur erschaffung
der engel übergeht; bricht auch unser dichter ab, um aller-
dings nicht auf die erschaffung — denn diese hat er schon
behandelt, — sondern auf den fall der engel überzugehen.
T. 2, 21 sagt Hugo: et ut 'breviter' id quod mihi dicendum inde
videtur tibi absolvam, universa tunc facta sunt, ut nihil post-
modum fieret, quod prius vel in materia vel in similitudine
creatum non fuisset
Mit den versen 3, 72 — 78 hat sich der dichter einen Über-
gang zur folgenden Schilderung von Lucifers falle geschaffen,
einen Übergang, der insofern bei Hugo vorgebildet ist, als der-
selbe t. 2, 82 ebenfalls nach der allgemeinen darstellung von
der erschaffung der engel zur Schilderung des faUes der bösen
engel übergeht. Aber auch die gedanken, die in den versen
76 — 78 ausgedrückt sind, finden sich bei Hugo (t. 2, 84B): et
quia contra creatorem suum in tantum superbivit, deiectus est
in istum locum caliginosum ,,, et 'hoc ad nostri probationem,
ut sit nohis adminiculum eoc€rcitationis\ Aber unser dichter
beliebt hie und da etwas breit zu sein, so auch hier. Es
258 TEUBER
handelte sich um einen engel, der fällt (Lucifer), und das be-
wog ihn, was übrigens nicht ganz ungeschickt war, nochmals
auf die erschaffung und den zweck der engel, wovon er bereits
2, 70 — 83 gesprochen hatte, zurückzugreifen. Allerdings ist
er hier viel kürzer als dort, wenn er sagt v. 79 : die engel he-
schüff der gotes giwalt durch seiner gute einvalt, (4, 1) dcus st
in loben solden.
Was er dann 4,2*) — 15 anführt, finden wir ebenso bei
Hugo, nur dass für 6 und 7 eine später zu citierende stelle
massgebend war. T. 2, 83 ff. heisst es : inter eos qui cedderunt
fuit excellentior omnibus aliis non solum iis, qui cedderunt,
sed et aliis omnibus cum fuisse excellentiorem videntur auctores
velle ... Et in Ezechiele (c. 28, 12 ff. heisst es wörtlich: tu
signaculum similitudinis, et perfectus decore, in delidis paradisi
dei fuisti . . . Hugo hat frei citiert): tu signaculum similitudinis
plenus sdentia et perfectione decoris in delidis paradisi, Quod
sie exponit Gregorius : quanto in eo subtilior erat natura, tanto
in illo imago dd similius 'expressa\ Dieser letzte satz führte
unsern dichter dazu, das gleichnis vom wachsabdruck zu bringen,
das ihm ja aus dem damals allgemein üblichen gebrauch von
wachssiegeln geläufig sein musste.
Zu 4, 16 — 19 stimmt Hugo (t. 2, 84 AB): quia ut Isidorus,
postquam creatus est absque aliquo intervallo profunditatem suae
sdentiae perpendens (er douchte sich so wol gitan, da er sich
selben ane sa^h) in suum creatorem superbivit et, ut didtur in
Isaia, deo aequari voluit (er wolde dem obristen sdn geleich)
dicens: in coelum ascendam, super astra coeli exaltabo solium
meum, et ero similis altissimo (der obriste). Is. 14, 13 f. ist frei
citiert. Der letzte satz ist die quelle für Anegenge 4, 6 f.
gewesen.
Im folgenden (4, 20 — 33) geht der dichter, wie wir das
im verlaufe der darstellung auch an anderen stellen finden
werden, von seinem viel benützten Hugo von St. Victor ab,
weil er ihm nicht ausreicht; er ist aber zweifelsohne gerade
durch ihn auf die neue quelle geführt worden.
^) Diese stelle mnss comimpiert sein. Entweder muss es heissen: das
wollten sie jedoch nicht — nämlich gott loben — : dann ist aber der Zu-
sammenhang mit y. 3 unklar, wenn es auch dem sinne nach zu y. 1 stimmt.
Ich meine es sollte heissen : des doch nicht enwolde — Lucifem dimchen genuc.
QUELLEN DES ANEGENGE. 259
4, 20—33. Bei Hugo (t. 2, 83 C) wird Augustinus citiert.
Hugo citiert frei und bei weitem nicht alles, was bei Augu-
stinus steht. Hugo sagt: item didt Augustinus super Genesim,
und unser dichter, dem das was Hugo aus Augustinus repro-
duciert hat, nicht genügte, schlug den kirchenvater nach und
fand bei ihm, was er uns in der citierten stelle sagt. Denn
bei Augustinus (De genesi ad lit. lib. 11, c. 23, no. 50) heisst
es von Lucifer: sed f actus continuo se a luce veritatis avertit,
superbia tumidus et propriae potestatis delectatione corruptus,
Unde beatae et angelicae vitae dulcedinem non gustavit (ganz
wörtlich sagt unser dichter v. 32 ff. dajs^ er der gotes gute
ie 'gesmachte' dehcein tceil), quam non utique acceptam fasti-
divit, sed nolendo acdpere deseruit et amisit . . . Ille autem
continuo impius, consequenter (swie ez im ergienge) et mente
ca£cus non ex eo quod acceperat ceddit, sed ex eo quod acd-
peret, si subdi voluisset deo ... et potestatem illius, sub quo
esse voluit, non evasit (vgl. v. 21 — 23); factumque est pondere
meritorum, ut nee iustitia£ possit lumine delectari nee ab dus
sententia liberari (v. 21 ff.). Die gedanken sind beim Verfasser
des Anegenge dieselben wie bei Augustinus, ja mitunter wört-
lich herübergenommen, wenn man auch sagen muss, dass die
reihenfolge eine andere ist.
Im folgenden geht der dichter wider auf Hugo zurück.
Vergleicht man mit 4,34 — 44 Hugo, t. 2, 84B, so ist der Zu-
sammenhang unverkennbar. Dort heisst es: et qui contra
creatorem in tantum superbivit, deiectus est in istum caliginosum
aerem cum omnibus, qui d consuerant (sehr gut gegeben durch
unt alle die iu der sunde wolden gehelen unt bd gestan)\ sed
in aifre caliginoso, qui est carcer iis usque in diem iudidi,
Tunc enim detrudetur in barathrum inferni secundum illud:
ite maledicti in ignem aeternum, qui praeparatus est diaholo
et angelis dus (Matth. 25, 41).
Li V. 42 denkt der dichter wol ausserdem an die bekannten
biblischen stellen: ibi erit f,etus et Stridor dentium und vermis
eorum non m^ritur (Matth. 8, 12).
In den versen 4, 45 ff. : durch so getane sunde hat daz ab-
gründe der tivel besetzen widerholt der dichter eigentlich das
in V.34 — 37 gesagte, schliesst aber zugleich die darstellung
von Lucifers fall und strafe ganz geschickt ab, um zu einem
260 TEÜBER
neuen thema überzugehen, das er mit den worten v. 48 f.: tvir
sulen nicht vergezzen, wirn sagen waz sei die dri genende an-
kündigt. Man wird gern bereit sein, dem dichter diesen tiber-
gang als selbständige erfindung zuzuschreiben, aber unerwähnt
darf nicht bleiben, dass bei Hugo (t. 2, 50D) fast dieselben
Worte stehen: his consideratis restat de iis videre quae pertinent
ad distinctionem personarum trinitatis.
Ganz entsprechend der grosse des geheimnisses und der
Schwierigkeit der darstellung desselben beginnt der dichter
abermals mit einem gebete um gottes beistand, 4, 50 — 70. Wie
wir schon früher bemerkt haben, gentigte unserem dichter Hugo
ftir manche partien seines werkes nicht. Er war aber ver-
ständig genug, die von Hugo citierten vätersteilen nachzu-
schlagen und selbständig zu verarbeiten. Hugo citiert in seiner
Summa sententiarum und speciell in der abhandlung tiber die
trinität widerholt den hl. Augustinus und ganz besonders
dessen werk De trinitate. Augustinus sagt (De trin. 1. 1, c. 1,
no. 3, Migne t. 42, 821): proinde substantiam dei sine ulla
siii commutatione mutabilia facientem, et sine ullo temporali
motu temporalia creantem intueri et plene nosse difßciU est
Also die Schwierigkeit der aufgäbe gibt er zu, und unser
dichter schliesst sich darin an, indem er sich auf 1. Tim. 6, 16
sttitzt: qui sol/us Jmbet immortalitatem et lucem inhahitat in-
accessibilem: quem nullus hominum vidit, nee videre potest
(v. 50. 51). Augustinus fährt fort (a. a. o. s. 821): ,,, et ideo
est necessaria purgatio mentis nostrae, qua illud ineffdbile in-
effahiliter videri possit . . . Unde: apostolus in ^Christo' quident
dicit esse omnes thesauros sapientiae et sdentiae ahsconditos.
Unser dichter erinnert sich dabei an jenes wort, das der herr
selbst gesprochen: ponite in cordibus vestris non praemeditari,
quemadmodum respondeatis, Ego enim dabo vobis os et sapien-
tiam, cui non poterunt resistere et contradicere omnes adversarii
vestri (Luc. 21, 14. 15; vgl. Aneg. 4, 56—63).
Bis jetzt möchte man glauben, unser dichter habe Augu-
stinus gar nicht gebraucht, sondern er habe an den citierten
schriftstellen stoff genug ftir seine einleitung zui' darstellung
der hl. dreifaltigkeit gehabt. Dass er aber des Augustinus
De trinitate gekannt und wenigstens dessen Inhalt im ge-
dächtnisse gehabt hat — wenn er ihn auch nicht gerade vor
QUELLEN DES ANEGEKGE. 261
sich hatte — beweist die folgende stelle (s. Augustinus a. a. o.
p. 822): qtmpropter adnivante domino deo nostro suscipiemus
et eam ipsam quam flagitanf, quantum possumuSj reddere ra-
tionem, quod trinitas sit unus et solus et verus deus, et quam
recte pater et filius et spiritus sanctus unius eiusdemque sub-
stantias vel essentiae dicatur . . . Dazu kommt noch eine zweite
stelle, wo Augustinus ebenso wie unser dichter auf die zuhörer
oder leser rücksicht nimmt, nämlich (a.a.O. s. 825, c. 5, no. 8):
oportet autem et dondbit deus, ut eis ministrando quae legant,
ipse quoque proficiam; et eis eupiens respondere quaerentihus,
ipse quoque inveniam quod quaereham. Ergo suscepi haec tu-
hente atque adiuvante domino deo nostro (vgl. v. 65 — 70).
Auch im folgenden 4, 71 ») — 5, 2 schliesst sich der dichter
an Augustinus an. August. (De trin. lib. 1, c. 6, no. 10, s. 826)
citiert 1. Tim. 6, 14 — 16 und knüpft daran die worte: in
quibus verbis nee pater proprie nominatus est, nee filius^ nee
Spiritus sanctus; sed beatus et solus potens, rex regum et do-
minus dominantium, quod est unus et solus et verus deus ipsa
trinitas. Dieses unus et solus potens erinnerte den dichter an
jene zeit, wo gott wii*klich unus et solus war, und die trinität
noch nicht geoffenbart war. Daher ist er in v. 71 — 73 auf
diesen Zeitpunkt zurückgegangen, wobei ihm allerdings Gen. 1,2
et Spiritus dei ferebatur super aquas vorschwebte.
5, 3 — 7 scheint auch durch Augustinus (De trin. 1. 1, c. 2,
no. 4, s. 822) veranlasst zu sein: ,., et esse illud summum
bonum (sc. trinitatem) quod purgatissimis mentibus cernitur, et
a se propterea cerni comprehendique non posse, quia 'humanae
mentis acies invalida' in tarn exeellenti luee non figitur, nisi
per iustitiam fidei nutrita vegetetur.
Zuletzt wendet sich der dichter an seine zuhörer, als ob
er von der kanzel herab zu ihnen redete, für ihn um erleuch-
tung zu bitten: 5, 8 — 10. Diese verse, welche wol selbständige
erflndung des dichters sind, bilden den schluss seiner einleitung
zu der darstellung von der hl. dreifaltigkeit.
Der dichter beginnt mit einer allgemeinen Charakteristik
des Vaters 5, 11 — 15. Dass dem vater hier die 'gewalt' zu-
geschrieben wird, ist eine alte patristische tradition, die in der
^) S. 4, 72 gibt nur die lesart saz einen sinn.
262 TEUBER
hl. Schrift selbst ihre grundlagen hat. Auch Hugo widerholt
an vielen stellen seines werkes, dass per potentiam pater in-
telligitur. Weiter ist für diese stelle Hugo heranzuziehen, wo
gesagt wird: coelum et terram ego impleo (Jer. 23, 24); item
sapientia: quae attingit a ßne usque ad finem fortiter, i. e. a
minima creatura usque od maximam und ita deus sine labore
regenSj sine onere continens mundum in coelo totus, in terra
totus et in utroque totus.
Nun geht der dichter auf den söhn über, um dessen ewige
geburt vom vater und dessen haupteigenschaften kurz hervor-
zuheben: 5, 16 — 22. Hugo (Migne 1. 176, 57 C) sagt: per sapien-
tiam filius . . . intelligitur. S. 54 bringt er dasselbe was unser
dichter sagt: dominus Jesus Christus in eo quod virtus et sa-
pientia dei est, de patre ante tempora natus est. Wenn unser
dichter sagt in einer churzen vrist gebar er den sun und damit
eigentlich aussagt, es sei zwischen der existenz des vaters und
des sohnes ein Zwischenraum gewesen, so ist das ein dogma-
tischer Irrtum, denn nach der lehre der kirche sind vater und
söhn gleich ewig, der söhn von dem vater von ewigkeit her
gezeugt. V. 20 ff. ist im anschluss an Phil. 2, 8: humiliavit
semetipsum f actus ^ohoediens' usque ad mortem verfasst. Dazu
ist noch heranzuziehen Joh. 6, 38: descendi de coelo, non ut
faciam voluntatem meam, sed voluntatem eius qui me misit.
Nun kommt der dichter auf die dritte göttliche person,
die er ebenfalls kurz charakterisiert: 5, 23 — 25. Auch hierfür
hat Hugo dem Verfasser den stoff geliefert; dort (Migne s.57C)
heisst es: ... per bonitatem Spiritus sanctus intelligitur. T. 2,
120 erklärt Hugo die drei ausdrücke potestas, sapientia und
bonitas, und zwar wie gott mit diesen eigenschaften wirkt.
Nur sagt er an derselben stelle: et bonitate voluit. Unter der
bonitas ist aber der hl. geist zu verstehen, also konnte unser
dichter darauf gestützt mit recht schreiben: e er ie icht getcete,
diu het sein alles ermant.^)
5, 26 heisst es weiter: die dri tugende waren ensamt an
der einen gothceit ie, von diu wart er an die namen nie. Darüber
0 Man könnte bei dieser stelle auf die Vermutung kommen, dass
Hugo sogar der lehrer unseres dichters gewesen sei; er könnte beim vor-
trage jener stellen : per bonitatem spiritics sanctus tnteUigitu/r gleich erklärt
liaben, wie das zu verstehen sei, nämlich et bonitate voluit
QUELLEN DES ANEGBNGE. 263
spricht sich Hugo (t. 2, 51) folgendennassen aus: et ideo unitas
manet in trinitate. Et Jmec trinitas est pater, quia a nullo est
(von dem er früher gesagt hatte per potentiam pater intelligitur),
et sapientia patris quae a patre genita est (fiUus wie er oben
sagt), et Spiritus sanctus . . . qui saepissime in scripturts amor
patris et filii appellatur (an anderen stellen nennt er ihn bo-
nita^). Die potentia, sapientia und bonitas sind die dri tugende,
welche unser dichter hier im äuge hat.
Im folgenden versucht er eine erklär ung, warum gerade
diese drei namen ausgesucht und beibehalten wurden: 5, 29 — 40.
Auch diese stelle ist in ihrem ganzen umfange aus Hugo ent-
nommen; denn dort (Migne s. 52) heisst es: his praemissis vi-
dendum est, quod in sancta trinitate sunt quaedam nomina
distinguentia persona^, sunt et alia unitatem naturae vel sub-
stantiae significantia, ut haec nomina, deus, omnipotens, aetemu^,
immensus; et haec dicuntur secundum substantiam. Non enim
aliud est Uli naturae esse quam deum esse, omnipotentem esse,
aeternum, imrmnsum, iustum, sapientem et similia, et ideo sicut
una essentia et non tres. Hugo citiert nun Augustinus, De trin.
1. 7 und fährt s. 53 fort: ... sunt et alia nomina quibus dis-
tinguitur trinitas. Pater ingenitus, genitor; et haec conveniunt
patri tantum, Filio soli conveniunt haec alia (tantum): filius
genitus, natus, verbum et alia. Spiritui sancto haec, Spiritus
sanctus, donum, procedens a patre et filio; et haec nomina sig-
nificant proprietates quibus personale distinguuntur. Unser
dichter gibt natürlich nur den Inhalt von dem was Hugo hier
sagt, und zieht aus dem letzten satze nur den schluss: wenn
die angefühi1;en bezeichnungen, die fremden namen unt die
chunden, den drei göttlichen personen zukommen, so sind sie
natürlich schon in dem namen derselben mit einbegriffen {be-
vangen).
Nachdem der dichter (5, 29 — 40) im allgemeinen auf die
namen, welche den drei göttlichen personen zukommen, hin-
gewiesen hat, zählt er die fremden namen unt die chunden
auf (5, 41 — 79), wobei er eine grosse kenntnis der hl. schrift
verrät. Es wird sich zwar nicht leugnen lassen, dass unser
dichter durch Hugo (an der citierten stelle schon und noch
mehr t. 2, 57f., wo eine grosse anzahl von attributen, welche
den drei göttlichen personen zugeschrieben werden, angegeben
264 TEUBER
ist), angeregt wurde, auch das in sein gedieht einzufügen.
Vielleicht hat er §ogar manches attribut von Hugo geborgt.
Aber weder Hugo noch der von Hugo so oft citierte Augustinus
sind für den Verfasser des Anegenge in den folgenden versen
die quelle gewesen, sondern die hl. schrift selbst hat ihm das
material an die band gegeben. Beweis dafür ist, dass diese
attribute bei unserm dichter erstens zahlreicher, zweitens in
anderer reihenfolge, drittens in anderer Zuteilung an die ver-
schiedenen göttlichen personen aufgeführt werden, als dies bei
Hugo und Augustinus der fall ist. Die wichtigsten belegstellen
beizubringen erscheint notwendig.
Der dichter sagt 5, 41 er hmzzei here unt gebietcere. Diese
ausdrücke, denen die lateinischen dominus und dominator
entsprechen, kann man fast auf jeder seite der hl. schrift
finden. — 5, 42 er hceizzet reicher unt vorchtigoere. Dazu
vgl. z. b. Rom. 10, 12 nam idem dominus omnium 'dives' in
omnes. Eph. 2, 4, weiter Ps. 75, 7 tu 'terrihilis' es ,.. Deut. 7, 21
deus magnus et 'terrihilis\ Ebenso Ps. 64, 3. 65, 5. -88, 8. 95, 4.
Eccl. 41, 31. Dan. 9, 4. — 5, 43 er hmzzet unwandeliger; dazu
ist Mal. 3, 6 ego enim dominus et ^non mutor' heranzuziehen.
— 5,44 unt starcher unt chre/ftiger. Diese beiden ausdrücke
kommen sehr häufig in den büchern des Alten testam. vor, so
z. b. Ps. 23, 8 dominus 'fortis et potens\ dominus ^potens' in
proelio. Oder Gen. 46, 3 ego sum ^ fortissimus' deus u.s.w. —
5, 45 — 50 sind, wie sich unten zeigen wird, nach Hugo gedichtet.
— 5, 51 er hmzzet schephoere. Auch dieser ausdruck ist in
der hl. schrift nicht selten: Eccl. 24, 12 et praecepit et dixit
mihi ^Creator' omnium. Ebenso Deut. 32, 18. Judith 9, 17. Eccl.
12, 1. Sap. 13, 5. Rom. 1, 25. 1. Petr. 4, 19. — 5, 52 tmt got der
gewcere. Schon Ps. 85, 15 können wir lesen et tu domine deus
. . . multae misericordiae et ^verax\ Joh. 14, 6 ego sum via et
'veritas' et vita. Aehnliche stellen Matth. 23, 16. Marc. 12, 14.
Joh. 3, 33. Rom. 3, 4. — 5, 53 er hcßizzet rechter unt chumftigcere.
Dazu wäre heranzuziehen Ps. 91, 16 quoniam Wectus' dominus.
Deut. 32, 4 deus iustus et Wectus' und Hebr. 10, 37 . . . qui 'ven-
turus est' et veniet Apoc.il, 17 qui ^venturus' es ... — 5,54
richtcere unt furnunftigcere. Parallelstellen dazu bietet Ps. 7, 12
deus Hudex\ iustus, fortis et patiens. Hebr. 12, 23 ... et Hudi-
cem' omnium deum. Der ausdruck furnunftigcere ist aus den
QUELLEN DES ANEGENGE. 265
stellen der hl. schrift abgeleitet, wo von dem einflusse gottes
auf verstand und herz des menschen die rede ist; so z. b. in
Ps. 22, 1 dominus regit nie, et nihil mihi deerit Ps. 118, 105
Interna pedibus meis verbum tuum u. s. w. — 5, 55 hceilant unt
wunderlich entsprechend dem lateinischen salvator und mirabilis
wie in Gen. 41, 45. Reg. 14, 39. Is. 12, 2, wo der ausdruck sal-
vator für hcBilant gebraucht ist. Bezüglich Jesus Christus ist
besonders Luc. 2, 1. Joh. 4, 42. 1. Tim. 1, 1, 2, 3. 4, 10 heranzu-
ziehen. — Mirabilis wird gott genannt Ps. 67, 36. Ps. 62, 4
und widerholt ist namentlich in den Psalmen hervorgehoben,
dass er mirabilia wirke. — 5, 56 — 60 sind durch Hugo ver-
anlasst; davon später. — 5, 61. 62 er hosisisiet senfter und guter
unt diemuter; wo man zunächst an Matth. 11, 29 sich erinnert:
disdte a me, quia ^mitis' sum et 'humilis' corde. Ps. 85, 5 tu
domine ^suavis' et ^mitis\ Ps. 71, 1 quam ^bonus' Israel deus.
Ebenso Ps. 117, 1. 118, 61. Luc. 18, 18 magister 'bone\ — 5, 63 f.
milter unt erbarmiger, gedultiger und genosdiger. Milter =
Clemens wird gott genannt Ex. 34. 6. 2. Par. 30, 9. 2. Esdr. 9, 31.
4, 2. Dazu in Ps. 85, 5 tu domine 'suavis' et 'mitis', ibid. 14
et du domine 'miserator et misericors, patiens et multae miseri-
cordiae\ — 5, 65 unt diu wäre minne. So wird gott genannt
1. Joh. 4, 16 deus charitas est. Aehnlich 1. Joh. 3, 17. Rom. 5, 5.
— 5, 68 ff. nu sult ir ouch wiisisen: so hosizet der hmlige geeist
alles gutes schuntosre ufl vollceist Diese stelle beruht auf 1. Cor.
12, 11 omnia haec operatur unus atque idem Spiritus dividens
propria unicuique prout vult. Heranzuziehen wäre noch Rom.
8, 26 similiter autem et Spiritus adiuvat infirmitatem nostram . . .
— 5, 71 f. beruhen auf Hugo. — 5, 74 heisst es weiter im
möcht ouch nicht minner sin, wan so gebrcest des vollen da.
Das ist eine reminiscenz aus August., De trin. 1. 15, c. 7, s. 1065,
der sagt nee aliquid ad naturam dei pertinet, quod ad illam
non pertineat trinitatem. Und wenn der dichter 76 ff. weiter
sagt: ez hat ouch anderswa michel bezmchnunge, die man mit
tiuscher zunge nicht mag errechen, so scheint er auch hier eine
ganz merkwürdig übereinstimmende stelle des Augustinus, De
trin. 1. 5, c. 12, no. 13, s.919 vor äugen gehabt zu haben: in multis
enim relativis (bezeichnungen der drei göttlichen personen sind
gemeint) hoc contingit, ^ut non inveniatur vocahulum', quo sibi
vidssim respondeant, quae ad se referuntur.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. j[3
266 TEUBEB
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass unser dichter
durch Hugo zur aufzählung der genannten eigenschaften der
göttlichen personen angeregt worden sei und auch zugegeben,
dass er manches von ihm geborgt habe. Um das was der
dichter in der genannten partie seines werkes dem Hugo ver-
dankt, nachzutragen, muss auch die betreffende stelle hier
ihren platz finden (t. 2, 57 f.): unde dicitur: credo in unum
deum, patrem omnipotentem. Spiritus etiam solet poni ad rigorem
significandum et crudelem (vielleicht jenes vorchtigcere) solet
denotare; sed ideo bonitas vel benignitas (v. 71 gotes gut hceizzet
er ouch da bei) frequentius appellatur. Hie oritur quaestio
difßdlis, si in deo tres personae dicuntur esse, quia potens, sa-
piens, benignus est (hier und im folgenden liegt für den dichter
die veranlassung zur aufzählung der namen), quare non potius
quatuor vel quinque vel multo plures, cum sit fortis, iustus,
misericors, pius etc. ? Ad quod dici potest, quod quaecunque
dicuntur de deo et creduntur verölter in deo, ad haec tria
referuntur (dazu stimmen 5, 72 — 75, wenn nicht die letzten
zwei verse, wie angegeben, auf Augustinus zurückzuführen
sind). Si enim fortis dicitur, incorruptus, immutahilis (5, 43
unwandeliger ?) et similia (dieses et similia war die eigentliche
veranlassung für den dichter, andere namen aus dem Sprach-
schätze der hl. schrift hervorzusuchen), totum hoc potentiae est
(dazu stimmt aus dem gedichte 5, 45 — 48 ; beachte speciell die
ich den geleichen wil = et similia). Si providus, inspector, in-
telligens, hoc totum sapientiae est (dazu 5, 56 — 58: alle namen
di den sint gelich die hörent an den weistüm der da genant
ist der sun; bringt der dichter für den söhn auch andere namen
als Hugo, so stimmt doch die Zuteilung an den weistüm, sa-
pientia überein). Si pius^ mansuetus, misericors, totum hoc
bonitas est (vgl. 5, 69 — 71). Et in his tribus summa perfectio
est übi enim concurrunt ista tria, posse scire velle, nihil deest
(ganz so unser dichter 5, 72 f.: ez ist niht dürft, daz er baz
genennet sei: ir ist genuc an disen drin).
Nachdem der dichter diese ziemlich subtile frage abgetan,
greift er noch einmal auf 5, 11 ff. zurück, um den grund an-
zugeben, warum dem vater der gewalt, dem söhne der weistüm,
dem hl. geiste diu gute zugeschrieben werden: 5,80») — 6,3.
') 5,82 steht im texte rat, was aber absolut keinen sinn gibt; der
Zusammenhang verlangt yielmehr die lesart vater.
QUELLEN DES AKEGENGE. 267
Zu diesen versen hat abermals die aus Hugo (Migne t. 2, 57 C)
citierte stelle als quelle gedient: et tarnen saepissime in sacra
scriptura per potentiam pater, per sapientiam fiUus, per honi-
totem Spiritus sanctus intelligitur. Freilich fügt der dichter
etwas selbstbewusst hinzu: 6, 4 ich wil dirz sagen: du sein niht
enweist, wenn er auch im folgenden den Urheber jener gedanken
lobt: 6, 5 — 11 owe, wie rechte er sprach, der da>ss von erste ane
sa^h, daz der gotes gewalt an den vater ist geisalt; wan er nie
nicht geworchte durch liehe noch durch vorchte, wan durch den
sun hat erz getan. Nach dem bereits gesagten ist wol kein
zweifei, dass Hugo mit dem gemeint ist der rechte sprach, daz
der gotes gewalt an den vdter ist gezalt. V. 9 — 11 könnten
ebenfalls durch Hugo (t. 2,375 C) veranlasst sein: quia omne
quod pater facit, per filium facit. Diese stelle beruht ihrer-
seits wider auf mehreren schriftstellen, so Hebr. 1, 2 novissime
diebus istis locutus est nobis in filio, quem constituit haeredem
universorum, 'per quem fecit et saecula' und von diesem filius
sagt der apostel 1, 10: et tu in prindpio terram fundasti: et
opera tnanuum tuarum sunt coeli. Nimmt man hinzu Joh. 5, 22
neque enim pater iudicat quemquam, sed omne iudidum dedit
ßio, so würde man erklären können, warum der dichter sagt :
er nie nicht geworchte durch liebe noch durch vorchte. Denn
die Schöpfung überhaupt geschah aus liebe, das gericht aber
ist etwas furchtbares.
6,12 — 19. Dazu stimmt abermals Hugo (t. 2,373 A): sed
hie pnrno considerandum est, quod cum didtur filius facere
omne quod pater fadt, de illa nimirum operatione intelligendum
est, qua creaturam condit et regit et disponit conditor et artifex
deus . . . ; ib. C hie ergo omnia quae fedt pater et filius fadt
similiter. Und weiter t. 2, 58: patet itaque quod deus a tempore
est dominus et creator; et tamen verum est, dominus omnium
est ab aeterno et creator ab asterno.
6,20 — 26 hat der dichter folgende gedanken Hugos ein-
fach umgestellt (t. 2, 57): attribuitur ergo patri potentia, ne
videatur prior filio et ideo impotentior; filio sapientia {'sinne') ne
videatur posterior et inde minus sapiens patre vel inferior.
6, 27 — 29. Mit diesen versen will der dichter nichts
anderes sagen als in Joh. 1,3 gesagt wird: omnia per ipsum
facta sunt, et sine ipso factum est nihil, quod factum est.
18*
268 I^EUBER
Etwas dunkel scheint 6, 30 ff. zu sein. Die frage ist, was
der dichter unter dem orden versteht, den der gottessohn ver-
loren hätte, wenn uns der vater nicht geschaffen hätte? Er
kann, so weit uns wenigstens das belehrt was er später vom
sun erzählt, unter dem orden wol nichts anderes verstehen,
als die Stellung welche dem gottessohn nach der erschaffung
bez. nach dem falle des menschengeschlechtes angewiesen
wurde. Hugo deutet die Sache wol an (t. 2, 70): est igitur
persona filii incarnata, ut idem qui erat filius in divinitate,
esset filius in humanitate. Erat et decens, ut sicuti per sapien-
tiam suam pater mundum fecit, ita per eamdem redimeret. Deut-
licher sprechen darüber andere väter, so Ambrosius (De incar-
nationis dominicae sacramento c. 6, no. 56): quae erat causa
incarnationis nisi ut caro, quae peccaverit per se (i. e. verhum)
redimeretur] Augustinus (Sermo 175, no. 1): nulla causa fuit
veniendi Christo domino, nisi peccatores salvos fasere. Am
massgebendsten erscheint mir jedoch für diesen punkt eine
stelle bei Athanasius zu sein, welcher (De incamatione no. 4)
sehreibt: quia enim sermonem habemus de salvatoris nostri ad
nos adventu (das ist sein orden), necesse est etiam de hominum
primordiis loqui, quo plane perspicias nostram causam eius
adventu^ fuisse occasionem nostroque peccato verbi henignitatem
excitatam fuisse, ut ad nos accederet et inter homines dominus
appareretA) Es ist wol möglich, dass dem Verfasser des Ane-
genge diese ansieht aus der theologischen literatur im voraus
bekannt gewesen ist; aber ihren Ursprung dargetan zu haben,
scheint mir nicht ohne nutzen zu sein.
Nachdem der dichter gesagt, dass dem vater der gewalt,
dem söhne weist&m, dem hl. geiste diu gute zukommen, sucht
er 6, 33 — 42 die sache weiter auszuführen. Diese verse geben
den Inhalt von dem wider, was Hugo t. 2, 210, c. 10 sagt:
secundum voluntatem quippe disposuit quod voluntate facturus
fuit; et volunta>s aeterna fuit, et opus voluntatis aeternum non
fuit. Semper enim voluit ut faceret; sed ut aliquando faceret,
quod semper voluit ut aliquando faceret. Sic voluntas aeterna
fuit, qtmndo fieret quod futurum fuit. Duo itaque haec in
*) Dazu ist zu vergleichen jene stelle des Symbol. Athanas.: quipropter
nos hommes et propter nostram scUutem descendit de coelis. Et incamatm
^st de spiritu sancto ,., et homo (actus est
QUELLEN DES ANEGENGE. 269
Creatore pariter erant bonitas et sapientia, et haec aeterna
erant; et aderat simul potestas coaeterna, et bonitate voluit,
sapientia disposuit, potestate fecit. Et videtur quasi quaedam
esse distinctio et successio temporalis; et demonstrat se eonsi-
derationi prima bonitas, quia per eam voluit deus (die consequenz
daraus zieht der dichter m v. 39 — 42), deinde sapientia, quia
per eam disposuit novissima potestas, quia per eam fecit; quo-
niam ordo videtur esse, et fuisse voluntas prima, et post eam
dispositio et novissime operatio subsecuta. Nisi enim voluisset,
non disposuisset, et si non disposuisset, non fedsset
Im folgenden wird unser dichter dramatisch; er lässt die
personiflcationen der drei göttlichen personen, den gewalt, den
weistüm und die gute redend auftreten und den plan der Schöpfung
entwerfen. Das findet sich bei Hugo nicht. Die ganze aus-
führung von 6, 43 — 7, 82 erscheint als selbständige arbeit des
dichters, wenn auch gesagt werden muss, dass gedanken dazu
sowol aus Hugo, als auch der hl. schrift herangezogen wurden.
So wird man, wenn man von der dialogform absieht, Hugo
gleich widererkennen: 6, 48 — 51, zu denen Hugo t. 2, 21 f. heran-
zuziehen ist: deus, qui summum et verum perfectumque bonum
est, ita ab aeterno in se et per se beatus fuit, ut eius gloria
et beatitudo . . . non posset minui, et quia plena et perfecta
fuerat, non posset augeri. Nulh igitur indigens, sed bonum,
quod ipse erat et quo beatus erat, cum aliis partidpare et alios
in illo et per illud beatificare volens nulla necessitate, sed sola
'charitate' creavit rationalem creaturam. Ebenso 6, 52^ — 71
verglichen mit Hugo t. 2, 205: ergo deus erat et mundus non
erat; et factus est propter deum homo {'sein stat tuon') qui
non erat et mundus qui necdum erat . . . Nam et homo factus
est ut deo serviret propter quem factus est; et mundus factus
est, ut serviret homini propter quem factus est . ,. Deus per-
fectus erat et plenus bono consummato; neque opus habuit
aliunde iuvari, quoniam nee minui potuit asternus, nee immensus
augeri. Homo vero natura 'egens erat alieni auxilii\ quo vel
conservaret quod mutabile acceperat, vel augeret quod non con-
summatum habebat . . . Voluit enim deus ut (s. 206) ab homine
') Unter dem ausdrucke stat 6, 56. 58 scheint derselbe sinn verborgen
zu sein, wie 6,30 unter dem worte orden, das oben erklärt wurde.
270 TEÜBER
sibi serviretur; sie tarnen ut ea Servitute non deiis sed homo
ipse serviens iuvaretur\
Etwas unklar sind die verse 6, 72 *) — 82. Hier muss dem
dichter Matth. 12, 31 f. vorgeschwebt haben: ideo dieo vobis:
omne peeeatum et ilasphemia remittetur hominihuSj Spiritus
autem hlasphemia non remittetur. Et quicunque dixerit verbum
contra filium hominis, remittetur ei: qui autem dixerit contra
spiritum sanctum, non remittetur ei, neque in hoc saeculo, neque
in futuro. Freilich spricht der dichter nicht direct von der
Sünde gegen den hl. geist, aber er kann v. 77 f. wol kaum eine
andere schuld meinen.
In den nächstfolgenden versen (7, 1 — 8) kommt er noch
einmal auf 6, 63 der deiner hilfe muze dürft sein zurück und
erklärt es näher. 2) Nach Hugo (t. 2,205 D): voluit enim deus
ut (s. 206) ab homine sibi serviretur; sie tamen ut ea Servitute
'non deus sed homo ipse serviens iuvaretur, et voluit ut mundus
serviret homini, et eodnde similiter iuvaretur homö, et totum
hominis esset bonum\
Die folgenden verse (7, 9 ff.) sind im ganzen und grossen
der erfindungsgabe des dichters zuzuschreiben, wenigstens in
ihrer anwendung auf die drei göttlichen personen. Bei 7, 9 — 17
dürfte Ez. 44, 28 vorgeschwebt haben : non erit autem eis hasre-
ditas eorum: et possessionem non dabitis eis in Israel, ego enim
possessio eorum. Im folgenden sind es zumeist praktische an-
wendungen biblischer stellen:
V. 42 f. als er des tages tet do er elliu dinc werden hiez
sind eine reminiscenz an Gen. 1, 1 ff. In v. 44 f. erinnert sich der
dichter an Hugo t. 2, 84 B oder Ez. 28. In v. 47 an Gen. 7; in
V. 53 an die totenerweckungen, wie sie in der hl. schrift erzählt
werden. In v. 54f. denkt er an Matth. 25, 33 et statuet oves
quidem a dextris suis, hoedos autem a sinistris.
Wenn der dichter 7, 76 f. schreibt: daz er sein chint geerbet
hat mit Hüten unt mit lande, so ist das wol in hinsieht auf
0 6,72 soll wol sie statt wir stehen? 6,74 bezieht sich si auf die
güle. 6, 76 ff. kann der sinn wol nur der sein: wenn sie, die menschen,
etwas tun, was keine gnade verdient, so sollen sie dvHten deinen slac, im
anderen falle aber Verzeihung erhalten.
^) 7jS sie = der vater und der sehn, die eben untereinander sich be-
sprechen.
QUELLEN DES ANEGENGE. 271
Ps. 2, 8 eingefügt worden: dabo tibi gentes haereditatem tuam
et possessionem tuam terminos terrae. Dieser psalm wurde
von den ältesten Zeiten ab stets für messianisch gehalten und
speciell jene stelle auf das weitreich des kommenden erlösers
gedeutet.
7, 78—82. Diese stelle ist bei Hugo t. 2, 70 C vorgebildet:
erat et decens ut sicuti per sapientiam (d.i. *der söhn') pater
mundum fecit, ita per eandeni redimeret.
Nun schliesst der dichter den ersten teil seiner darstellung
über die trinität mit folgenden Sätzen ab: 8,1 — 7 (warten y.1
steht für worten). Dazu hat Hugo t. 2,377 A den gedanken
hergegeben: in trinitate ergo, quae deus est, pater est deus, et
filius est deu^, et Spiritus sanctus est deus, et simul hi tres unus
deus, V. 6 f. sind eine consequenz, die wir dem dichter wol
zutrauen dürfen.
8, 8 f. finden wir ebenfalls bei Hugo t. 2,376 D): idem (er
citiert den Augustinus) contra Maximum: nulla sit partium
'divisio' in unitate deitatis; unus est deus pater et filius et
Spiritus sanctus, hoc est ipsa trinitas unus deus. Auf die be-
merkung swie doch diu buch iehen kam unser dichter durch
diese stelle bei Hugo, der (ib.B) ausserdem noch Augustinus'
Adversus impietatem Arii citiert. Die Schriften des Maximus
und Arius sind also diese buch, die unser dichter meint.
Nun sagt uns der dichter, was diu buch meinen, 8, 10 — 15.
Auch diese stelle ist durch Hugo (t. 2, 60C) veranlasst: oppo-
nitur: soli filio convenit assumpsisse carnem . . . igitur aliquid
operatur filius quod non pater, quod non Spiritus sanctus.
Freilich gibt Hugo die von unserm dichter angedeuteten buch
erst t.2,376 an, wo er über dasselbe thema ausführlicher redet, i)
Dabei erinnert sich aber der dichter an die erzählung der evan-
gelisten und hebt auf Hugo gestützt die taufe Christi hervor,
wo in der tat die hl. dreif altigkeit scheinbar getrennt erschien.
Man wird sich hier zunächst an Matth. 3, 13 erinnern müssen :
tunc venit Jesus a Galilaea in Jordanem ad Johannem, ut
baptizaretur ab eo (^do der gotes sun was chomen, do man in
solte touffen'). Zu v. 14 f. haben dem dichter die stellen des
') Wider eine stelle, aus der man schliessen könnte, dass Hugo der
lebrer des dichters gewesen sei.
272 TEUBEE
evangeliums beigetragen, welche davon reden, dass der herr
mit Sündern umgieng: so Luc. 5,32 non veni vocare iustos, sed
peccatores ad poenitentiam. Dazu wäre noch Marc. 2, 16. Luc.
5,30. 19,7 u.a. heranzuziehen, wo dem heiland der Vorwurf
gemacht wird, dass er mit Sündern umgehe.
Im anschluss an die evangelien fährt der dichter fort:
8,16 — 23.9 Unter denen, die icht davon gelwren, meint er
wol zunächst die evangelisten, denen er sich tatsächlich in
den folgenden versen anschliesst. Will er aber auch das
weitere mit inbegriffen wissen, so kann er an erster stelle
wol nur Hugo (t. 2, 61 und 376) gemeint haben, möglich auch,
dass er an Ambrosius (De trinitato tractatus, t. 4, 518) gedacht
hat, der dasselbe thema behandelt. Die evangelisten behandeln
die citierte tatsache an folgenden stellen: Matth. 3, 16. Marc.
1, 10 ff. Luc. 3, 21 ff. Joh. 1, 32 (letzterer spricht nur von der
erscheinung des hl. geistes in taubengestalt). Luc. 3, 21 heisst
es: apertum est coelum: et descendit spiritus sanctus corporali
spede sicut colurnba in ipsum, et vox de coelo facta est: tu es
ftlius mens düectus, in te complacui mihi. Diese stelle stimmt
voll und ganz zu den oben citierten versen.
Nachdem der dichter wider einmal seine bibelkenntnis
gezeigt, geht er im folgenden mit 8,24 — 41 wider auf seinen
gewährsmann Hugo (t. 2, 61 AB) zurück: tota enim trinitas
operata est, ut homo ille esset et ut verbo uniretur; sed non ut
toti trinitati uniretur. Ergo illa operatio non magis filii quam
patris; sed unio filii et non patris, sicut solius patris vox de
nuhe audita est: hie est filius meu^ dilectus, in quo mihi com-
placui etc. Si enim esset vox filii vel spiritus sancti falsum
esset: hie est filius meus. Non est enim filius sui ipsius vel
Spiritus sancti filius. Et tamen tota trinitas operata est vocem
illam, sed soli patri convenit, quia solus pater per eam signi-
ficatus est. Sicut etiam solus spiritus sanctus in colurnba
apparuit, cum tota trinitas operata sit. Sed solus spiritus
sanctus in ea apparuit, quia ipse solus per eam significatus
est (dasselbe bei Hugo t. 2,375 C. Für diesen ist Augustinus
[t. 8, 692, c. 13 und 694, c. 15 in libro De trinitate] die quelle
gewesen. Freilich muss bemerkt werden, dass der dichter
^) 8, 17 würde ich statt des zweiten die lieber des lesen.
QUELLEN DES ANEGENGE. 273
nicht den ^vater' sondern den 'söhn' als hauptperson hinstellt.
Das hat aber für den theologen, dem jenes wort des heilandes :
ego et pater untim sumus^) und qui me vidit, videt etpatrem^)
bekannt ist, keine Schwierigkeit. Die leitenden gedanken hat
doch Hugo geboten.
Die verse 8, 38 — 41 sind eigene erfindung des dichters und
bilden einen ganz guten Übergang zu
8, 42 —50. Diese stelle stimmt mit einer anderen, welche
Hugo (t. 2, 49A) und Augustinus (Ad Dardanum) citiert, nur
dass sie hier von unserm dichter speciell auf den 'söhn' an-
gewendet erscheint: ita et deus sine labore regens, sine onere
continens mundum, in coelo totus, in terra totus, et in utroque
totus; et nullo eontentus loco, sed in seipso uhique totus. Mit
V. 50 ff. geht der dichter wider zurück auf das was er bereits
6, 12 — 19 im anschlusse an Hugo gesagt hatte, es scheint aber,
dass ihm von 8, 60 ff. eine stelle aus dem tractat des Ambrosius
De trinitate vorgeschwebt habe. Dort heisst es (t. 4, 520): ipse
est ergo semper in patre filiiis . . . Ipse est (nämlich filius),
cui perfecto orie eongaudebat pater, quia tantam molem terrae
funda^set (vgl. namentlich 67 — 69) super maria, et super fiumina
collocasset ea .,, In stabilitate ergo orbis terra/rum, quando
illius fundamenta pater firmabat, nullus erat cum eo praeter
eos, qui erant in eo, id est filius et Spiritus sanctus. Eben-
daselbst (t. 4, 522, c. 11) heisst es weiter: et iddrco filius de
hoe genitus, cuius generationem humanus sermo edicere non
valet, inferior ab eo esse non potest, quia ut dictum est, verbum,
virtus et sapientia eius est (vgl. 8, 71 — 80).
Für 8, 81 f. bietet wider Hugo (t.2,70C) einen anhalts-
punkt: et quia in homine utroque corrupta erat natura, sc.
anima et corpus; utramque suscepit, ut utramque liberaret
9, 1 kommt der dichter endlich dazu, zu erklären, was er
8,27 — 36 angedeutet und 8,38—41 zu erklären versprochen
hat. Hierbei stützt er sich auf die aus Hugo (t. 2, 61 AB) be-
reits citierte stelle; doch spielen auch andere reminiscenzen
mit herein.
9, 1 — 8 ist nach Hugo (t. 2, 61) widergegeben (v. 1 knüpft
an das vorausgehende an und leitet zum folgenden hinüber):
0 Job. 10, 30. «) Job. 14, 9.
274 TBUBER
et tarnen tota trinitds operata est vocem iUam, sed sali ptUri
convenit, quia solits pater per eam significatus est
Auch die folgenden verse 9,9 — 20 sind durch Hugo ver-
anlasst. Was zunächst v. 9 f. anbelangt, so bot Hugo (t. 2, 395 A)
den Stoff dazu; dort heisst es von Christus: utrobique enim erat.
In, terra per humanitatem, in coelo per dtvinitatem. Idem qui
in coelo erat in terra erat . . . per divinitatem in coelo et in
terra. Von v. 10 — 20 setzt er mit jener stelle Hugos (t. 2, 61,
s. oben) fort: sicut etiam soltis Spiritus sancttis in columba
apparuit, cum tota trinitas eam operata est, ,. Quaeritii/r an
aliter Spiritus sanctus fuerit in columba illa quam in aliis
creaturis. Bespondetur: non aliter, quantum ad praesentiam
vel essentiam divinitatis . . . , qua^ est in omnibus crea/turis
aequaliter.^) Doch scheint dem dichter bei v. 18 — 20 eine
andere stelle der hl. schrift vorgeschwebt zu haben, nämlich
Sap. 1, 7: Spiritus domini replevit orhem terrarum: et hoc, quod
continet omnia, sdentiam habet vods.
Bei 9,21 — 252) stützt sich der dichter gleichfalls auf die
bereits citierte stelle von Hugo, zieht gewissermassen das
resultat aus seiner bisherigen darstellung (wozu allerdings
noch die folgenden verse 26 — 29 gehören), und schliesst mit den
folgenden versen, 9, 26 — 45, wider einen teil seiner darstellung
über die trinität ab.
In den versen 9,26—29 schliesst er sich sodann wol
an Hugos ausspruch an: sicut etiam solus spiritus sanctus in
columba apparuit, cum tota trinitas eam operata est (t. 2, 61),
bringt aber im folgenden ein beispiel, dass auch über einen
diener gottes bei dessen taufe der hl. geist herabkam, und
zeigt dadurch, dass derselbe hl. geist mit um so grösserem
rechte über den gottessohn herabkommen musste. Er sagt
V.30 — 33: wan da man seit seinen chnecht sande Basilium toufte
und in dem wazzer hesoufte (flickvers), alda wart er auch gi-
sehen. Diese erzählung könnte der dichter wol aus mündlicher
') Ebenso Augustinus, Senno 52, t. 5S 354 ff. August., De trin. 1. 1, c. 5,
t. 8, 824. Ambrosius, De trinit. tractat. c. 9, t. 4, 518. Das sind die qneUen
Hugos.
2) Der sinn dieser stelle kann nur der sein: es möge die tatsache,
dass man die stimme des vaters hörte und den söhn wirklich sah, niemand
für einen urdanc (= erfindung) ansehen.
QUELLEN DES ANEQEKGE. 275
mitteilung haben keimen lernen; denn wie heute, so liefen
auch in jener zeit verschiedene fromme erzählungen aus dem
leben der heiligen im volksmunde um.
Wenn der dichter dann 9, 34 f. weiter sagt: unt ist vil diche
geschehen daz man in iemer touben bilde sach, so weist er da-
mit entweder auf ähnliche begebenheiten hin, die wir nicht
kennen, oder, was das wahrscheinlichere ist, er deutet damit
auf die abbildungen des hl. geistes in taubengestalt hin, wie
wir solche seit den ersten christlichen Jahrhunderten in menge
vorfinden.
In den folgenden zwei versen 9, 36 f. hatte der dichter
wol 1. Cor. 12, 3 ff. vor äugen: ideo natum vobis facio, quod
nemo in spiritu dei loquens dicit anathema Jesu, Et nemo
potest dicere: dominits Jesits, nisi in spiritu sancto, Divisiones
vero gratiarum sunt, idem autem Spiritus.
Aber sofort verwahrt er sich gegen eine solche auffassung
9, 38—40. In v. 39 f. kann der dichter nur den 'söhn gottes'
meinen, den der hl. geist nicht enmocht bigeben. Rom. 8, 9 aber
wird der hl. geist geradezu der 'geist Christi' genannt: si quis
autem spiritum Christi non habet, hie non est eius\ daher dürfte
wol diese stelle hier für unsern dichter massgebend ge-
wesen sein.
9, 41 — 44 fasst der dichter das bisher gesagte zusammen.
Dabei könnte ihm wol Hugo t. 2, 59B zu statten gekommen
sein; fateamur igitur tres persona^, vel tres illarum proprietates
unum deum, unam essentiam et unam divinam substantiam.
Es ist aber auch möglich, dass er selbstschöpferisch das was
er über die einheit der drei göttlichen personen wusste, kui'z
zusammenfasste. Und in der tat selbsttätig, wenn auch nicht
im Stoffe, so doch in der composition und in der Verwendung
des Stoffes tritt uns der dichter in dem folgenden entgegen:
9, 45—47. Dass dem vater die 'alimacht', dem söhne die
'Weisheit', dem hl.geiste die 'gute' zukomme, das sind gedanken,
die unser dichter, wie gezeigt wurde, aus Hugo entlehnt hat.
Dass aber jeder der drei göttlichen personen alle diese eigen-
schaften zukommen und den beweis dafür, den der dichter zu-
meist aus der hl. schrift erbringt, davon sagt Hugo nichts,
davon konnte ich auch bei den alten kirchenvätern nichts
vorfinden. Die schriftstellen jedoch, welche unserm dichter
276 TBÜBER
bei seiner darstellung zu gute kamen, sollen nicht unerwähnt
bleiben.
In 9, 48 ff. denkt der dichter an Luc. 1, 31 ff. und macht
die anwendung auf den vater.
9, 55 — 81 und 10, 1 — 3 hat der dichter die passionsgeschichte
(davon einzelne hierher passende stellen zu eitleren scheint mir
überflüssig, da sie zu bekannt sind), wie sie von den evan-
gelisten (Matth. 27. Marc. 14 und 15. Luc. 22 und 23. Joh. 18
und 19) erzählt wird, vor äugen und wendet einzelnes daraus
zur durchführung seines beweises sehr geschickt an, so dass
man diese partie unseres gedichtes wol für eine der gelungensten
wird erklären dürfen.
10,4 — 11. Im engeren anschluss an die bibel fährt der
dichter weiter fort, uns die fügende an dem gottessohne zu
zeigen. In v. 8 hat er uns auf eine quelle hingewiesen, und
diese ist Joh. 21, 25: sunt autem et alia multa, quae fecit Jesus:
qude si scribantur per singula, nee ipsum arbitror mundum ca-
pere posse eos qui scribendi sunt libros. Der dichter hat die
stelle frei und dem zwecke seiner darstellung gemäss wider-
gegeben.
10, 12 heisst es den gedanchen er widersprach. Dieser vers
beruht auf Matth. 9, 4 et cum vidisset Jesus cogitationes eorum,
diocit : ut quid cogitatis mala in cordibus vestris (ähnlich Matth.
12,25. Luc. 5, 22. 6,8. 9,47. 11,17). Und er fügt hinzu, was
eigentlich damit zusammenhängt: 10, 13 in elliu herce er wol
sack, wobei man sich neben den citierten stellen auch an
Ps. 7, 10 scrutans corda et renes deus erinnert. Wenn der dichter
dann selbsterfinderisch daraus den schluss zieht: 10, 14 daz wa^
ein michel weistüm, so werden wir ihm nicht nur beistimmen,
sondern ihn auch ob seiner geschicklichkeit loben. Ebenso
trefflich ist die folgende anwendung einer biblischen stelle auf
den gottessohn: 10, 15 — 19. Diese stelle ist aus der passions-
geschichte bekannt. Ich eitlere hier nur Matth. 27, 30. 31:
illudebant ei dicentes : ave rex Judaeorum ,.. et percutiebant
Caput eius. Für v. 19 ist Matth. 26, 53 heranzuziehen: anputas
quia non possum rogare patrem meum, et exhibebit mihi modo
plus qu^m duodecim legiones angelorum.
Zu 10,20 — 22 veranlasste den dichter Matth. 9, 5: caeci
vident, claudi ambulant, leprosi mundantur, surdi audiunt,
QUELLEN DES ANEaENGE. 277
mortui resurgunt, pauperes evangelimntur {er weiste die tumben)
(ähnlich Matth. 15, 31. Luc. 7, 12. Joh.7,22). Freüich ist die
stelle nicht vollinhaltlich widergegeben, was jedoch keineswegs
gegen deren benützung spricht.
Ein merkwürdiger lapsus memoriae ist dem dichter im
folgenden v.10, 23 passiert: do er sibentousent sat Die Sät-
tigung vieler durch das allmächtige wirken Christi war dem
dichter aus den evangelien bekannt. Es wird dort wol von
der Sättigung von fünftausend (Matth. 14, 21 ff. Marc. 6, 44. Joh.
6, 10) und von der Sättigung von viertausend mann gesprochen
(Matth. 15, 38. Marc. 8, 9), aber nirgends lesen wir, dass sieben-
tausend gesättigt worden seien.
Auf Matth. 4, 2 et cum ieiunasset quadraginta diebus et
quadraginta noctibus , . . (Luc. 4, 2) beruht endlich 10, 24. V. 25
— 27 sind wider eine specielle anwendung der citierten stellen
aus der hl. schrift auf den söhn gottes.
Mit 10, 29 f. beruft sich der dichter auf eine mündliche
mitteilung der eben ausgesprochenen ansichten. Man denkt
dabei zuerst an den lehrer des dichters. Und wider greift,
wie es schon an anderen stellen der fall war, die Vermutung
platz, dass Hugo selbst dieser lehrer war, der beim mündlichen
Vortrag zu jener bekannten stelle per patrem potentia, per filium
sapientia, per spiritum sanctum bonitas intelligitur die von
unserm dichter poetisch widergegebenen erklärungen geboten
haben könnte.
Die verse 10, 31—67 dürfen wir wol als freie erfindung
des dichters ansehen.
Im folgenden kommt er wider auf seine alte quelle zurück.
Mit 10, 68 — 81 1) gibt er den Inhalt von mehreren stellen, die
sich bei Hugo finden, wider. T. 2, 390 D heisst es: si Christus
in cruce dolorem passus non fuit, qu^re tantopere calicem pas-
sionis a se transferre postulavit? Quid sibi voluit sanguis
desudans angustiam imminentis mortis contestatus? Quid sibi
voluit quod ipse Christus infirmitatem secundum quam caro
pdssionem timuit, et voluntatem secundum qu^m spiritus promp-
tus fuit? Weiter t. 2,399 C: quidam putßverunt inmorte divi-
nitatem a Christo homine discessisse. Citiert Ambrosius, Sup.
0 10, 81 erfordert der sinn hete statt hcete.
278 TEUBEB
ps. 21 : clamat homo separatione divinitatis moriturus . . . deus
meuSy ut quid dereliquisti me? S. 400D: dereliquit quia 'auxi-
lium' non contulit, sed non dereliquit, quia praesentiam non
dbstulit.
Ebenfalls auf Hugo stützt sich 11, 1—6. 0 T. 2, 390C heisst
es nämlich: de sensu autem passionis quidem 'male sensisse
videntur\ Asserentes 'carnem' illam in omnibus iis, qua^e in
ea et drca eam exhibita sunt passionis genera, simiUtudinem
quidem passionis et doloris suscepisse, sed nullum omnino do-
lorem aut passionem sensisse . . . Quomodo stabit, quod didt
propheta: vere languores nostros ipse tulit, et dolores nostros
ipse portavit? (Is. 53).
Zu 11, 7— 12^) stimmt inhaltlich Hugo t. 2, 400A: quam
tamen mortem quia non pro sua iniquitate, sed pro nostra
redemptione sustinuit in cruce pendens; quare sit derelicta
requirit, non quasi adversus deum de poena murmurans, sed
nobis innocentiam suam in poena demonstrans, causam quaerebat,
qui peccatum nesciebat
11, 13 — 21. Die stelle, welche der dichter hier aus Salomo
citiert, steht im Ecclesiastes 5, 1 : ne temere quid loquaris neque
cor tuum sit velox ad profuendum sermonem de deo. Dazu ist
noch heranzuziehen Eccles. 8, 17: et intellexi, quod omnium
operum dei nullam possit homo invenire rationem eorum, quae
fiunt sub sole: et quanto plus laboraverit ad quaerendum, tanto
minus inveniat.
11,22 — 32 sind widerum selbständige zutat des dichters,
verse, in denen er das eigentlich schon gesagte widerholt: *es
ist unmöglich, die geheimnisse gottes zu schildern'. Aber er
erinnert sich noch an einen vergleich über die trinität, den er
bei Hugo (t. 2, 61) gelesen: quod per simiUtudinem ostendunt
sancti (so nämlich die trinität). In radio namque solis sicut
inseparabiliter adiunguntur splendor et calor; tarnen splendor
illuminat, calor exsiccat, nee calor illuminat, nee splendor ex-
siccat Similiter in sancta trinitate tota trinitas operata est
incarnationem ßii. Diesen vergleich führt er 11, 35 ff. durch.
0 11, 6 ist we wol die richtige lesart. Hahn schreibt wer, was keinen
sinn gibt.
*) 11, 8 wäre die statt der sinngemäss, v. 10 er richtiger als ez, v. 11
verlangt der context in statt ez.
QUELLEN DES ANEGEKGE. 27d
wobei er aber schliesslich ganz aus dem vergleiche der trinität
(den er nach dem ganzen zusammenhange beabsichtigt haben
muss), mit der sonne herausfällt und die mannigfachen Wir-
kungen gottes mit den mannigfachen Wirkungen der sonne
vergleicht (v. 54 f. so gitaner wunder hat er geschaffen also vil).
11, 60 ff. entwirft er neuerdings ein programm alles dessen
was er noch im verlaufe seines gedichtes schildern will. Der
erste punkt ist 11, 74 — 78. Die frage über das los der un-
getauft dahingeschiedenen kinder behandelt Hugo (t. 2, 132 f. D,
c. 6) sehr kurz, und das was er darüber sagt, ist eigentlich
aus Augustinus, der in seinem werke De peccatorum meritis
et remissione, et de baptismo parvulorum ad Marcellinum
libri tres (Migne t.44, der werke 1. 10", 109 ff.) sehr ausführ-
lich darüber gehandelt hat. Da unserm dichter von Hugo
sehr wenig geboten wurde, was er über das Schicksal der
ungetauften kinder hätte sagen können, so suchte er bei
Augustinus sein wissen zu bereichem, und zwar wie wahr-
scheinlich durch Hugo angeregt, der jenen als autorität in
dieser sache citiert.
Gleichsam als entferntere einleitung zu der folgenden
darstellung dienen 12, 1 — 10. Die ersten drei verse dieses
Stückes scheinen eine Schlussfolgerung aus einer stelle des
Augustinus zu sein; De genesi ad literam lib. 11, c. 9, no. 12,
t. 3^,434 heisst es: cur ergo eos creavit, quos tales futuros (sc.
malos) esse praesciebat? Quia sicut praevidit quid mali essent
facturi, sie etiam praevidit de malis factis eorum, quid honi
esset ipse facturus. Sic enim eos fecit, ut eis relinqueret unde
et ipsi aliquid facerent, quo quidquid etiam culpabiliter eligerent,
illum de se laudabiliter operantem invenirent. Die verse 4 — 10
dagegen sind sicher aus Hugo entlehnt, welcher sagt (t. 2, 260):
non enim ut quidam putant conditio hominis ita ad restaura-
tionem angelorum provisa est, quasi homo non fuisset factus,
nisi angelus cecidisset; sed idcirco ad restaurandum et supplen-
dum lapsorum angelorum numerum factus homo dicitur; quia
cum homo postmodum creatus illuc unde Uli cedderunt ductus
est, illius societatis numerus qui in cadentihus diminutus fuerat,
per hominem reparatur. Und t. 2, 287: et ille dedmus ordo
{'der ohriste chor*\ ut scriptura didt, de hominibus restauratur.
Die verse nun 12, 11— 14 dienen als nächste einleitung zu
280 TEÜBER
diesem thema: 12, 15 ff. si heten mit ir missetceten, ob siz gelebt
heten, gechouffet doch die hellen. Schon diese verse beruhen
auf Augustinus (vorausgeschickt muss werden, dass der dichter
in der ganzen darstellung die indirecte rede gebraucht, wodurch
er anzeigen will, dass er hier nicht seine, sondern die meinung
eines andern bringt). Dort (De peccatorum meritis et remis-
sione c. 21, no.30, 1. 10^, 126) heisst es: ex ipsis deinde baptizatis
parvulis dicatur mihi, cur alius rapitur, ne malitia mutet in-
tellectum eius; et alius vivit, impius futurus? Der dichter
hat in den citierten versen den schluss aus dieser stelle ge-
zogen.
Der grundstock zu den ausführungen 12, 18 — 35 findet sich
bei Augustinus 1. c. 126, c. 22, no. 31: an forte illud tarn explosum
repudiatumque sentiendum est, quod animae prius in coelesti
habitatione peccantes, gradatim atque paullatim ad suorum me-
ritorum corpora perveniant, ac pro ante gesta vita magis minusve
corporis pestibus afßigantur? Ibid. 128, no.33: cedamus igitur
et consentiamus auctoritati sanctae scripturae, quae nesdt falli
nee f allere; et 'sicut nondum natos ad discernenda merita eorum
aliquid boni vel mali egisse' non credimus; ita omnes sub pec-
cato esse . . . minime dubitemus. In der ersten eben citierten
stelle bezieht sich Augustinus auf die seelen überhaupt, welche
wegen der in ihrer praeexistenz begangenen Sünden in die
körper gebannt und in denselben mehr oder weniger gepeinigt
werden. Die zweite stelle könnte man füglich für die parvuli
allein in anspruch nehmen, was auch unser dichter tut. Was
lag aber für ihn näher bei dem allerdings von Augustinus als
irrig bezeichneten gedanken, die seelen könnten vor ihrem
eintritt in den körper bereits gesündigt haben, — als anzu-
nehmen, dass sie sich mit den bösen engein in Verbindung
gesetzt und gegen gott erhoben hätten, da er sich ja so ein-
gehend auch mit diesen befasst hatte (4, 1 ff.). Wie er zu den
zwelf potentaten gekommen, bleibt allerdings vor der hand ein
rätsei. Was der dichter als einleitung zu dieser partie sagt:
daz diu armen chindelein die not habent erarnet daz sich got
über siu nicht erbarmet, ist ebenfalls aus Augustinus, nur dass
dieser seine ansieht erst am ende seiner Untersuchung als
Schlussfolgerung beibringt (1. c. s. 120): potest proinde recte
did parvulos sine bap, de corpore exeuntes in damnatione
QUELLEN DBS AKEGENGE. 281
omnium mitissima futuros und (ib. s. 140 f.): parvulos non bap-
tizatos fore cum diaholo.
Auch für 12, 36 — 47 hat Augustinus die leitenden gedanken
hergeben müssen. Er sagt (De Genesi ad liter. lib. 11, c.8, no.lO,
t. 3*, 434): quodsi inerudite atque insapienfer didtur^ cur ergo
non crearet deus etiam quos malos futuros esse praesdebat,
volens ostendere iram et demonstrare potentiam suam, 'et ob
hoc sustinens in multa patientia vasa ir<ie, quae perfecta sunt
in perditionem' {'volliu ^aV), ut notas faceret divitias gloriae
suae in vasa misericordiae, quae praeparavit in gloriam? Und
weiter (ib. c.9, no.l2, s.434) heisst es: sed praesdebat, quod eorum
futura voluntas mala . . . Cur ergo eos creavit, quos tales esse
praesdvit? Quia sicut praevidit, quid mali essent facturi, 'sie
etiam praevidit de malis factis eorum, quid boni esset ipse fac-
turus'. Der dichter zieht also aus diesem satze in v. 45 — 47
den schluss: dajs was michel groiser recht, denne daz diu gute
vorbesicht da gelukJcet wcere.
Was der dichter 12,48 — 54 sagt, scheint auf eine andere
stelle bei Augustinus (De natura et gratia, 1. 10, 250, c. 5, no. 5)
zurückzugehen: qui ergo inde per gratiam liberaretur, non
vasa meritorum suorum, sed vasa misericordiae nominantur.
Cuius misericordia, nisi illius, qui Christum Jesum {'wdstüm')
misit in hunc mundum peccatores salvos facere, quos praesdvit
et praedestinavit . . .
12,55 — 84 dürfen wir als eigene erfindung des dichters
bezeichnen, wenn auch in v. 55 — 63 anklänge an Augustinus
(De Genesi ad lit. c. 10, s.434) und in v. 66 — 73 anklänge an Ps.
103, 2 — 6 und Ps. 148, 8 vorhanden sind; mit Sicherheit lassen
sich die angegebenen stellen nicht als quellen bezeichnen.
Dagegen scheint es kaum zu bezweifeln zu sein, dass der
dichter 13, 1-— 9 auf einer stelle fusse, welche sich bei Eupert
V. Deutz findet (Migne 1. 170, 73): cum praevaricatio nulla sit,
si praeceptum aut lex non fuerit cur deus homini praeceptum
dedit, quod non servandum praesdvit VideUcet, quia 'creator
erat ille', iste creatura, et a Creatore creaturam erudiri opor-
tuerat, 'quippe quae ita creari non potuerat^ ut suapte natura
perfecta essef quod solius divinae natura^ est, neque uri posset
quia deus mitis et humilis corde est, ..
Jetzt kommt der dichter mit 13, 13 — 18 abermals auf die
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 19
282 TEUBBB
Sache zurück, die er bereits 12, 7 — 10 fast mit denselben Worten
ausgesprochen hatte. Diese stelle beruht auf Hugo t. 2,260 D:
. . . sed idcirco ad restaurandwm et supplendum lapsorum ange-
lorum numerum factus homo dicitur, quia homo postmodum
creatus illuc unde cedderunt ductus est, illius sodetatis numerus,
qui in cadentihus ddminutus fuerat, per hominem reparatur.
Wenn der dichter vom 'falle' Adams spricht, so tut er das
deswegen, weil er damit betonen will, dass er das liberum
arUtrium ebenso hatte wie die engel, seien es nun die guten
oder die gefallenen, setzt aber notwendigerweise die bekehrung
Adams und dessen erlösung voraus.
Zu 13, 19 — 37 dienten als quellen neben Hugo von St. Victor
auch Ephes. 1, 11. Hugo (t. 2, 84C) sagt: et quia contra creor
torem suum in tantum superbivit, deiectus est in locum caligino-
sunt 'cum omnihus Ulis, qui ei consenserunf . . . Non est eis
concessum hdbita/re in coelo, quae est clara patria (13, 19 — 22).
Weiter heisst es t. 2, 87A: legimus quod 'decimus ordo ab ho-
minibus impleri debeaf. Mali enim angeli cum de singulis
ordinibus cader ent, fecerunt unum ordinem ... Et ille 'dedmus
ordo\ ut scriptura didt, ab hominibus restau/ratu/r (13, 23).
Weiter ist heranzuziehen Hugo t. 2, 87: et quamvis de hominibus
restauratur {dedmus sc. ordo), quod lapsum est in angeUs (propter
quod ait apostolus: proposuit instaura/re omnia in Christo, quas
sunt in coelo et qu^ae in terris (Eph. 1, 10). Durch Hugo, der
den Epheserbrief citiert, wurde der dichter auf Eph. 1, 11 ge-
führt, wo er das fand, was er noch brauchte. Dort heisst es:
in quo etiam et nos sorte vocati sumurS praedestinati secundum
propositum dus, qui operatur omnia secundum consilium volun-
tatis suae, und Hugo fährt fort: non tarnen intelligendum est,
quod solum propter illos qui cedderant factum sit homo. Licet
enim angelus non ceddisset, homo non minus factus esset.
Erst jetzt kommt der dichter 13 ff. auf die Schöpfung des
menschen ausführlich zu sprechen. Den 13, 38 — 43 ausgespro-
chenen gedanken finden wir bei Hugo (t. 2,22): fedt ergo, ut
dictum est, corpus de limo terrae et inspiravit d cmimam ratio-
nalem, quam creavit de nihilo, 'ut in corpore obedienter viventem
ad consortium illorum spirituum qui sine corpore vivebanf . . .
quandoque simul cum corpore elevaret.
Zu 13,44 — 53 stimmt widerum Hugo (t.2,24B): si igitur
QUELLEN BBS ANEGENGE. 283
homo in hac oboedientia perstitisset, post tempus definitum a
deo ad illud sunmiidm honum quod in coelis ei prmpa/ratum
fuerat, sine mortis dolore Hransferri debuerat cum omni prole
sua! in consortio beatorum angelorum aeternaliter victums,
13,54—61. Ganz ähnlich sagt Hugo (t. 2, 23 M): faetos
igitur extra pa/radisum in paradiso posuit informans praeceptis
vitae et disdplinae. Und weiter (t. 2, 95) : ad illud quod pro-
posuerat promerendum 'praeceptum dedit oboedientia^^ dicens:
de ligno scientiae boni et m^li ne comedas {'nichtes er in bcete,
wan daz er wcere gehorsam').
13,62 — 14,9. Diese stelle, deren einzelne Sätze aufs innigste
zusammenhängen, ist aus mehreren stellen zusammengesetzt,
die sich bei Hugo getrennt vorfinden. Auf den unterschied
der einzelnen engelchöre macht Hugo (t. 2, 86D) aufmerksam
(vgl. 13, 63 — 65): sie et in Ulis spiritualibus naturis convenientes
eorum puritati et excellentiae et in essentia et in forma diffe-
rentiae gradus in ipso condidonis exordio potuerunt esse, quibus
diu superioreSy alii inferiores. Und dass der dichter gerade
den obristen und den nidristen gegenüberstellt (v. 63. 65), ist
ebenfalls durch Hugo (t. 2, 86 f.) veranlasst; er sagt: quaeritur
OM omnes eiusdem ordinis pa/res sunt et aequales, Quod qui-
busdam visum est Sed illud non potest stare, cum scriptura
dicat Ludferum cunctis aliis excellentiorem; quem constat fuisse
de ordine 'supremo' (obriste), Dass der dichter darauf kam
zu sagen: hete got des nicht gitan, so het er den obristen chöre
geminneret sein ere, u.s.w., dazu mochte ihn ebenfalls Hugo
bestimmen, der widerholt vom liberum arbitrium des menschen
und der engel spricht, das sich durch den freien gehorsam für
und durch den freien ungehorsam gegen gott entscheidet
(t. 2, 82) ; der dichter nimmt aber dabei (auf Hugo gestützt)
an, dass den engein ebenso wie den menschen von gott der
gehorsam geboten wurde. Die folgenden verse (13, 66 — 84 und
14, 1 — 9) beruhen auf einer bei Hugo ganz klaren stelle, welche
der dichter dadurch dass er die geschichte mit dem zehnten
chor einfügt, die er ebenfalls bei Hugo vorfand, etwas unklar
gemacht hat; dort (t. 2, 22B) heisst es: illos {angelos) quidem
per dispensationem in imo disponens ut et istos quandoque 'per
oboedientiam' ab imo ad summa proveheret\ darin liegt die
veranlassung für unsem dichter, jene andere stelle bei Hugo
19*
284 TEÜBBB
(t. 2, 260 D) mit hereinzuziehen: quia cum homo posimodum
creatus illuc unde Uli ceciderunt ductus est, illius sodetatis nu-
merus, qui in cadentibus diminutus fuerat (v. 68 ist daher zu
beziehen), per hominem reparatur (vgl. v. 66—75). Hugo fährt
a.a.O. fort: etillos per ^ oboedientiam^ summo confirmaret Das
war wider für unsern dichter die veranlassung zu v. 62ff.:
hete got des nicht gitan, so het er den Christen chöre geminneret
sein ere. Denn wie die menftchen durch * gehorsam' zu gott
geführt werden sollen, so auch die engel, und in diesem ge-
horsam liegt die ere, welche der dichter hier verstanden wissen
will. Bei Hugo (t. 2, 22 C) heisst es weiter: fedt ergo, ut dictum
est, corpus hominis de limo terrae et inspiravit ei cmimam
rationalem ... ut in corpore ' ohoedienter^ (dasselbe setzt der
dichter von den engein voraus v. 83: si enwolden gotes willen
tun) ad consortium illorum spintuum qui sine corpore vivebant,
i. e. angelorum, quando simul cum corpore elevaret; et pariter
utrosque ad participationem gloriae attoUeret (v. 78 f. daz wir da
solden immer leben den engein geleiche); et quantumprius summa
per dispensationem inclinavit dum conderet, tantum nunc ima
per dignationem exaltaret.
Und t. 2, 80, wo Hugo ausführlich auf die erschaff ung der
engel zu sprechen kommt, heisst es: ideo etiam animae sunt
associatae corporibus; ut in eis domino famulentur, et verum
et summum bonum promereantur (14, 1 — 3). Die folgenden
verse 14, 4 — 6 ständen besser und dem Zusammenhang ent-
sprechender nach 13,65. Wenn sie der dichter erst hier ein-
gefügt hat, so ist ihm wol eingefallen, was Hugo t.2, 84C
sagt : sciendum quoque est quod boni angeli ita sunt conßrmati
per gratiam, quod peccare non possunt Darin lag für unsern
dichter der ganz richtige schluss: 4st das der fall, dann waren
die engel gott dank dafür schuldig; und diesen dank konnten
sie nicht besser abstatten als durch gehorsam. Hätte nun
gott den gehorsam von ihnen nicht verlangt, so wäre ihnen
keine gelegenheit geboten gewesen, ihren dank abzustatten';
also got hete wider die engel gitan, die in danches wolden
bistan.
14, 7 — 9 sind mit beziehung auf das was der dichter früher
gesagt hat, dass die menschen den obristen chor inne haben
werden, eigentlich der inhalt von einer stelle bei Hugo 1 2, 88 A:
QUELLEN DES AKEGENGE. 285
Ghegorius etiam dicit quod quisque habet unum honum angelum
ad custodiam deputatum,
Schwierigkeit bietet der weitere satz 14, 10 — 12 daz sant
Peter dar in für, dojs endoucht sant Michhel niht umbiUich;
wan ir ^wceier arhceit waren ungelich. Bei Hugo wird t. 2, 88 A
wol gesagt: unde videtur, quod 'MichaeV Gabriel Baphael 'de
superiore ordine sint'; auch wird de angelo 'Petri' in actibus
apostolorum (s. 88 B) gesprochen. Aber eine solche combination,
wie sie der dichter in den citierten versen gemacht hat, findet
sich nirgends. Es scheint also diese stelle wol durch Hugo
veranlasst, aber vom dichter selbst in dieser eigentümlichen
weise combiniert zu sein.
14, 13 — 22. Diese verse haben für unser gedieht eine
doppelte bedeutung: einmal fassen sie das bisher gesagte zu-
sammen, das andere mal aber leiten sie ganz treffend zu der
darstellung von der Schöpfung des menschen hinüber. Dass
er mit v. 21 als er den ehor leren sach unmittelbar an das
vorangehende anschliesst und die erschaffung des menschen in
unmittelbaren Zusammenhang mit dem falle und der verstossung
der bösen engel bringt, werden wir als ein meisterstück dich-
terischer Verknüpfung ansehen, wenn wir auch zugeben müssen,
dass er durch Hugo (t. 2, 260) hat darauf geführt werden
müssen. Dass der dichter, wie sich bald zeigen wird, unmittel-
bar an die Genesis anknüpft wie Hugo, aber auch Hugo punkt
für punkt im folgenden als quelle benutzt, macht es sehr
wahrscheinlich, dass dieser jenem hierin Vorbild war. Denn
Hugo sagt an derselben stelle, wo er zur Schöpfung des menschen
übergeht (t. 2, 91, c. 2 de creatione hominis) : his excussis restat
agere de creatione hominis, de lapsu eins et de reparatione. In
Genesi didtur: 'fadamus hominem* und unser dichter: willich-
liehen er do sprach: einen menschen sul wir schephen,
14, 23 — 26.*) Hugo t. 2, 91: fadamus hominem ad imaginem
et similitudinem nostram (Gen. 1, 26). Aber unser dichter folgt
in der directen rede seinem gewährsmann Hugo (bez. der
Genesis) nur in den ersten zwei worten, da erinnert er sich
schon wider daran, dass er v. 21 gesagt hat als er den chor
0 Hahn schreibt 14, 24 ersetzet] der reim und der sinn verlangen aber
ersetzen.
• • 1
286 TEITB^
leren such, und gibt, sobald er den plan gottes einen menschen
zu schaffen, ohne weiter auf dessen eigenschaften einzugehen,
berichtet, sofort den grund an warum: einen grund, den er
eben ganz geschickt von Hugo darauf geführt, hier einflicht.
14, 27 — 29. Dass v. 23 mit der directen rede begonnen,
hat er nach einschaltung jenes grundes für die Schöpfung des
menschen wider vergessen und geht in die erzählungsform
über. Dazu stimmt Hugo a.a.O.: fadamus hominem ad ima-
ginem et similitudinem nostram. Ad imaginem dei factus est
homo secundum animam.
14, 30 — 34. Wenn wir v. 30 f. der erfindung des dichters
zuschreiben, so tun wir damit wol nicht unrecht. Dagegen
beruhen die weiteren verse auf Hugo, bez. der hl. schrift. Bei
ersterem heisst es (t. 2, 92A): corpus vero formavit de limo
terrae, cui animam inspiravit (Gen. 2, 7). ünde in Genesi: in-
sufßavit in fadem eius spiraculum vitae. Wenn der dichter
V. 34 dajs er ewic solde sein sagt, so gibt er damit den gedanken
wider, den Hugo (t. 2, 92A) ausspricht: in hoc etiam potest
anim^a ad similitudinem dei, 'quia immortalis'\ denn was un-
sterblich ist, ist auch ewig. Doch scheint der dichter hier
vielmehr die ewigkeit des ganzen menschen (der seele nicht
nur, sondern auch des leibes) betonen zu wollen; auch dafür
war bei Hugo vorgesorgt (t. 2, 94D): sed completo oboedientiae
numero transferretur ad illum statum, in quo nee mori passet
nee peccare. Erat igitur ante peccatum Hmmortalis' . . .
Wie gerne sich der dichter mit den subtilsten fragen der
Scholastik beschäftigt hat, sahen wir in ganz hervorragendem
masse bei seiner darstellung der drei göttlichen personen; das
folgende ist ein neuer beweis dafür.
14, 35 — 58.9 V- 36 ist zugäbe des dichters, womit er übri-
gens ganz geschickt an v. 33 f. anknüpft; dort hat er von der
seele gesprochen, mit den fumf sinnen charakterisiert er ganz
gut den sterblichen teil des menschen.*) In v. 36 widerholt
^) Nach 14,37 fehlt ein reim und ein nachsatz. Es dürfte wol das
richtige sein zu schreiben wan daz er gerne toste, swes er in hoste. V. 43
lies dlrerste für Hahns cUre ste,
') Möglich wäre es freilich, dass er Angastinus (De Genesi ad lit.
lib. 3, c. 4, no. 67, t. 8^, 281 f.) gekannt hat, der sich ex professo nut den
fünf sinnen beschäftigt.
QUELLEN DES AKEGENGE. 287
er, was er bereits 13, 60 f. gesagt und aus Hugo 1 2, 95 genommen
hat. Von v. 38—58 schliesst sich der dichter an eine stelle bei
Hugo an, die er etwas breitspurig, aber inhaltsgetreu widergibt.
Es heisst dort (t. 2, 94C): Mit deushominem, et posuit in pa-
radisum voluptatis (Gen. 2, 8). Quibus verbis plane ostendit
Moyses, quod extra para4isum creatris sit, et postmodum in
pa/radisum positus, Quod ideo factum dicitur, quia non erat
in eo permansuruSy vel ne benefidum dei imputaret naturae,
sed gratiae.
Wenn der dichter v. 57 f. sagt des wcer mr doch verlorn,
het Adam daz obez gar verborn, so ist das ein einfacher schluss
aus den letzten worten Hugos: * hätte der mensch die woltat
gottes seiner eigenen natur zugeschrieben, so hätte er ebenso
gesündigt, als wie er dadurch sündigte, dass er von dem ver-
botenen bäume ass; aber seine nachkommenschaft hätte er in
jedem falle in sein verderben mit hineingezogen'. Alles was
der dichter hier sagt, steht in der Genesis. In v. 59 — 62 hat
der dichter die zwei verse Gen. 1, 28. 29 zusammengefasst:
benedixit que Ulis deus et ait: cresdte et multiplicamini et
replete terram et ^suhicite* eam et 'dominamini* pisdbus maris
et volatilibus coeli et universis animantibus, quae moventur
super terram (was hier aufgezählt ist, hat der dichter in den
V. 61 zusammengefasst: alles des ufder erde ist). Dazu kommt
Gen. 2, 19: formatis igitur dominum deus de humo cunctis
animantibus terrae et universis volatilibus coeli, 'adduxit ea
ad Adam* ('zceigt imz% ut videret, quid vocaret ea. In v. 63 ff.
geht er im anschluss an Gen. 2, 16 ff. in die directe rede über
und benutzt die citierte stelle fast wörtlich; dort heisst es
(Gen. 2, 16 f.): praecepitque ei dicens: ex ligno autem scientiae
boni et mali ne comedas; in qtmcumque enim die comederis ex
eo, morte morieris,
14,68 — 15,1. Hugo spricht über die hier vorgebrachten
dinge an mehreren stellen (t. 2, 23 ff. 93 ff. 281 f.). Mit v. 68
knüpft der dichter ganz gut an das vorausgehende an, und
zwar wie mir scheint, ganz selbständig, während er in v. 69 f.
an folgende stelle Hugos anknüpft, die er allerdings nur dem
inhalte nach widergibt. Hugo sagt nämlich (t. 2, 95D): sicut
enim duae naturale sunt in homine, corporalis et spiritualis;
ita duo bona homini praeparaverat deus, temporale et aetemum
288 TEÜBEB
. . . temporale prius datum fuit Alterum, i. e, aetemum, non
tunc datum, sed propositum fuit Die verse 71 — 77 sind in
der einkleidung, wie sie unser dichter gibt, selbständige erfin-
dung. 14, 78 — 15, 1 beruhen wider auf Hugo, t. 2, 282 C: prop-
terea hominem ad experiendam experientiam mandato informans
multa concessit et 'poMca prohibuit* {'mit dem wenigem gebof),
ut ipsa ohoedientia esset libera, et quas prohibuit iddrco potius
prohibuit quam praecepit, ut oboedientia ipsa esset pura. De
omni, inquit, paradisi ligno comede etc, Si ergo homo in hac
oboedientia perstitisset, post tempus deßnitum a deo ad illud
bonum quod ei in coelis praeparatum fuerat sine mortis dolore
transferri debuisset cum omni prole sua post ipsum subsequente
in consortio bonorum angelorum vita coelesti sine fine victurus.
In V. 82 erinnert sich der dichter wider daran, was er im
früheren, auf Hugo t. 2, 87 gestützt, gesagt hat: et ille dedmus
ordo ...de hominibus restauraiur,
15, 2 — 38. Was der dichter hier sagt, hat er grösstenteils
bei Hugo gefunden. V. 2—17 stimmen wol inhaltlich mit fol-
gender stelle bei Hugo überein (t. 2, 23): si igitur homo per
naturale praeceptum imbutus negligentiam cavisset divina Pro-
videntia nulla eum violentia opprimi permitteret (der dichter
schliesst: 'nun hat er es aber übertreten, was gott voraus
wusste, also violentia opprimi permissus est, v. 5 — 7. 14 — 16).
Aber eine stelle, welche sich bei Augustinus, De Gen. ad lit.,
lib.ll, C.4, no.6, tS\ 431 f. vorfindet, spielt hier mit herein; sie
muss der dichter gekannt haben. Dort heisst es: si ergo quue-
ritur, cur deus tentari permiserit hominem, quem tentatori con-
sensurum esse praesciebat; altitudinem quidem consilii eius
penetrare non possumus . . . sed tamen quantum vel donat
sapere, vel sinit dicere, 'non mihi videtur magnae laudis futurum
fuisse hominem, — si propterea posset bene vivere, quia nemo
male vivere suaderef (v. 12 — 17). V. 18—20 widerholt der
dichter dasselbe, was er bereits 14, 78 — 82 und 15, 1 gesagt
hatte. Für 15, 8 — 27 ist auch Hugo, t. 2, 24D heranzuziehen:
quomodo praevaricatus est homo? M.: videns diabolus, quod
homo per obedientiam illuc ascenderet (v. 18 — 20), unde ipse
per superbiam ceciderat (v.21f.), invidit ei, et quia per violentiam
ei nocere non poterat, ad fraudem se convertit (v. 23 — 25). Ne
OMtem fraus illius, si minus ocmlta/retur^ cßveri omnino non
QUELLEN DES ANEGENGE. 289
posset, non permissus est per aliud animal tentare nisi per
serpentem, ut naturalis astutia serpentis proderet tentatoris {^oh
wir in wider sten walten' ...)-0 Weiter sagt Hugo t. 2, 25A:
propterea diaholus veniam non meruit, quia nulla tentatione
peccavit (v. 34 — 38) ; homo vero qui exteriori tentatione pulsatus
ceddit, tanto gravius plectendus erat, quanto leviori impulsus
fuerat prostratus. Et tarnen, quia aliquam in cadendo, ut ita
dicam, violentiam sensit (v. 29 — 31); dagegen sind v. 32 f. eine
consequenz aus dem satze Hugos diaholus veniam . . . tentatione
peccavit^), iddrco hunc tandem dei gratia ad veniam erexit
(v. 26—28). Wir sehen, unser dichter hat die gedanken welche
sich in den citierten stellen vorfinden, sämmtlich verwertet,
aber selbständig, und man muss sagen, geschickt umgestellt
und verarbeitet.
Was die folgende darstellung über die Schöpfung des
ersten weibes anbelangt, so findet sich davon bei Hugo (t. 2,
92 ff.) genugsam gehandelt; er stellt aber die sache mehr
philosophisch -theologisch dar. Das mochte dem Verfasser des
Anegenge nicht anstehen (obwol auch er solche theologisch-
philosophische bemerkungen nicht unterlässt), weshalb er es
vorzog, sich zunächst an den schlichten und einfachen histo-
rischen bericht der Genesis zu halten. Dass ihm Hugo aber
hierin führer gewesen ist, beweist uns der umstand, dass er
die einzelnen teile seiner darstellung fast in derselben reihen-
folge anordnet wie Hugo.
15, 39 — 45. Dazu stimmt Gen. 2, 19: formatis igitur dominus
deus de humo cunctis animantibus terrae et universis volatilihus
coeli, adduxit ea ad Adam, ut videret, quid vocaret ea. Diese
stelle ist ihrem Inhalte nach in v. 39 — 41 widergegeben, und
daran Gen. 2, 20 ganz geschickt verknüpft: . . . Ädae vero non
inveniebatur adiutor similis eius,
15, 47 — 50 stimmen fast wörtlich mit Gen. 2, 21 : immisit
ergo dominus deus soporem in Adam ... 22 Et aedificavit do-
minus deus costam quam tulerat de Adam in mulierem . . .
24 ... et erunt duo in carne una,
15, 51 — 53 sind eine recht naive zugäbe des dichters, der
sich in die läge Adams hineinzudenken versucht.
*) Diese ansieht hat Hugo fast wörtlich aus Augnstinus, De Gen. ad
Ut. üb. 11, C.3, no.5, t» 3^431 berübergenommen.
290 TBtJBBR
Zu 15, 54 — 59 benutzte der dichter Gen. 2, 23: dixitque
Adam : hoc nunc os ex ossibus meis, et caro de came mea
(v. 56 f.). In V. 59 anticipiert er, was erst später wäre zu
sagen gewesen, Gen. 3, 20 : et vocavit Adam nomen itxoris sutie
Heva, Wo Adam die vom dichter ihm in den mund gelegten
Worte spricht, nennt er sein weih virago\ Heva heisst sie erst
nach dem Sündenfalle. Wenn der dichter v. 58 sagt: ungerne
was ich (Bine, so hat er dabei Gen. 2, 18 non est bonum esse
hominem solum vor äugen und legt diese worte gottes dem
Adam in den mund.
Bei 15, 60 — 62 hat der dichter 1. Tim. 2, 14 vor äugen: et
Adam non est seductus: mulier autem seducta in praevarica-
tione fuit.
15, 63 — 75. Derjenige welchen der dichter in v. 65 meint,
ist niemand anders als Beda Venerabilis, der in der tat in
seinem Hexaemeron (Migne t. 91) zu Gen. 5, 1. 2 ganz dasselbe
bemerkt. Was unser dichter in der citierten stelle als eine
Sache angibt (da^ git dirre rede einen michel archwän), die
man bezweifeln könnte, ist natürlich die ansieht, die er
15,39 — 62 ausgesprochen hat. Dort heisst es: Adamvero ita,
ut utrique sexui possit aptari, unde rede dicitur : quia vocavit
nomina eorum Adam, i. e. homo. Quod autem dicit: et vocavit
nomina eorum Adam, et addidit: in die, quo creati sunt, patenter
insinuit quod uno eodemque die, i e. sexto mundi nascentis,
Adam et Eva facti sunt, et non uxor de latere eius post sexium
aut post septimum diem seorsum creata. Das ist es was der
dichter v. 70 f. zunächst als tadelnswert hervorhebt. Auch das
was er in v. 72 f. sagt, bezieht sich auf Beda. A. a. o. sagt er:
in qua videlicet sententia vitanda est paupertas sensus carnaUs,
ne forte putemus deum vel manibus corporeis de limo formasse
corpus hominis, vel faucibus labiisve inspirasse in fadem, ut
vivere posset et spiraculum vitae habere.
Mit 15,76 — 16,2 geht der dichter zur Widerlegung jener
ansieht und zur bekräftigung seiner eigenen über. Er beruft
sich mit v. 77 unverkennbar auf die autorität der hl. schrift,
wol wissend, dass dieser nicht so leicht zu widersprechen ist.
In V. 79 f. bezieht er sich auf die schon citierte stelle aus
Gen. 2, 21 f. et aedificavit dominus deus costam, quam tulerat
de Adam, in mulierem. In den versen 15, 81—83 und 16, 1 i
QUELLEN DES ANEGENGE. 291
schweben ihm Gen. 2, 20. 23. 3, 20 vor. Gen. 2, 20 heisst es:
appellavitque Adam nominibus suis cuncta animcmtia et universa
volatüia coeli et onrnes hestias terrae; 2, 23 haec vocahitur vi-
rago; 3, 20 et vocavit Adam nomen uxoris suae Heva,
16, 3 — 18.1) Der dichter beruft sich in v. 3—7 auf schul-
meinungen seiner zeit und speciell in v. 7 auf seinen lehrer.
Die stelle hat aber zugleich den zweck, jene oben aus Beda
entnommene ansieht zu widerlegen. Und merkwürdig, wenn
auch nicht dem Wortlaute, so doch der sache nach, dieselbe
Widerlegung findet sich ebenfalls bei Beda, Hexaemeron s. 42:
Mc itaque latiüs hominis factura describitur, qui in die quidem
sexto facttts est; sed ibi^) breviter eins est commemorata creatio,
quae hie plenius exponitur, quia videlicet in corporis et animae
substantiam factus sit, e quibus corpus de limo terrae formatum,
anima vero de nihilo sit deo inspirante creata, sed et femina
de eius latere dormientis condita. Wenn nun der dichter Beda
selbst gelesen hätte, so hätte es ihm wol nicht einfallen können,
gegen jene stelle zu polemisieren; er hat sie also in der schule
gehört und ist schlecht berichtet worden; denn diese und die
oben citierte stelle zusammengehalten ergänzen einander sehr
gut und stehen mit der hl. schrift keineswegs im Widerspruch.
Dass sich überhaupt eine solche schulmeinung bilden konnte
ist begreiflich; denn man fasste die Schöpfung der erde mit den
unvernünftigen wesen als einen schöpfungsact für sich auf.
Die Schöpfung des mannes war dann natürlich ein zweiter,
die erschaffung des weibes ein dritter schöpfungsact. Falls
also der dichter, was sich ja weder bejahen noch verneinen
lässt, jene zweite stelle aus Beda nicht gelesen oder gehört
hätte, so ist für diese schulmeinung eine andere erklärung,
die viel Wahrscheinlichkeit für sich hat, möglich. In der Genesis
wird c. 1 summarisch die Schöpfung der weit und aller unver-
nünftigen wesen auf und über ihr erzählt. In c. 2 wird die Schö-
pfung des menschen und dessen Stellung zu den übrigen dingen
getrennt von der übrigen Schöpfung, welche als bereits fertig
gekennzeichnet wird, berichtet. Und nachdem die Stellung des
0 16, 12 schreibt Hahn tms, was offenbar falsch ist. Der sinn ver-
langt uz,
») Gen. 5, 1. 8.
292 TBUBEB
menschen als beherscher der weit dargetan ist, heisst es weiter
2,20: Adae vero non inveniebatur adiutor similis eius. Und
nun wird von v. 21 an die Schöpfung des weibes erzählt Diese
in der bibel ganz unverkennbare trennung der genannten drei
schöpfungsacte und deren aufeinanderfolge: weit, mann, weib,
konnte eine ansieht, wie sie der dichter bringt, ganz leicht
erzeugen. In der älteren patristik ist sie nicht belegt. Uebri-
gens entspricht ja v. 9 — 11 Gen. 1, 1 in principio creavit deus
coelum et terram, v. 12 aber Gen. 2, 7 formavit igitur dominus
deus hominem de limo terrae, V. 13 f. sind die consequenz aus
dem vorhergehenden; die ^erde' und der ^mann' sind eben
zwmi geschefte, und *Eva' natürlich das dritte geschöpf. V. 15 f.
steht parallel zu Gen. 2, 21 f. tulit unam de costis eius . . . ; et
aedificavit dominus deus costam, quam tulerat de Adam, in
mulier em, V. 17 f. entspricht dagegen Gen. 2, 23 haec vocabitur
virago, quia de viro sumpta est. Unter dem buch kann der
dichter nur die Genesis meinen.
16, 20 — 30. Hier kommt der dichter wider auf den in dem
früheren so oft benutzten Hugo zurück, der t. 2, 96 sagt: videns
ergo diaholus, quod homo per oboedientiam illuc ascenderet,
unde iste per superbiam ceciderat, invidit ei (v. 20 — 23). Unde
et mulierem tentavit, in qua minus quam in viro rationem
vigere sdebat Und t. 2, 25: diabolus, quia vidit mulierem infir-
miorem et minus ratione egentem, faxMius fraude eam circum-
veniri posse, primum eam aggressus est . . , Diese letzten worte
und der umstand, dass in der Genesis (2, 21 ff.) bei der erschaf-
fung des weibes nichts davon geredet wird, dass sie nach dem
ebenbilde gottes geschaffen worden sei (erst Gen. 5, 12 wird
davon gesprochen), mögen den dichter zu v. 25 — 30 veranlasst
haben.»)
16, 31—37. In V. 31 f. ist die oben citierte stelle von
Hugo benutzt. Die übrigen verse (33 — 37) sind wol mehr oder
weniger theologische Spitzfindigkeit, die wol eine stelle bei
Hugo (t. 2, 98B) veranlasst haben könnte: ignorantia peccavit
Eva, Der dichter könnte dabei an die ignorantia des gebotes
gottes gedacht haben. Aber die erklärung welche Hugo dazu
*) Möglich, dass die steUe bei Ambroslus (femina non est facta ad
imaginem det) hier ihren einfluss geltend gemacht hat.
QUELLEN DES ANEGENGE. 293
gibt: quia, ut ait apostolus, seduda fuit, scheint dem zu wider-
sprechen; denn diese erklärung hätte unsern dichter und uns
selbst nicht auf jenen gedanken führen können. Der dichter
gieng bei dieser stelle vielmehr, wie sich bald zeigen wird,
auf die hauptsächlichste quelle Hugos, Augustinus, zurück.
Dieser handelt über diesen punkt in seinem werke De Genesi
ad literam (lib.8, c.l7, no.36, t. 3^ 387) wo er sagt: merito sane
quaeritur, utrum hoc praeceptum viro tantum dederit deus, an
etiam feminae? Sed nondum narratum est, quemadmodum
facta Sit femina, Augustinus entscheidet die sache nicht ganz,
sondern schliesst mit der frage: an sdens quod ei facturus
erat mulierem, ita praecepit ordinatissime, ut per virum prae-
ceptum domini ad feminam perveniret? Diese stelle hat unser
dichter sicher gekannt. Freilich muss man sagen, dass die
behauptung, das weib habe das gebot nicht vernommen. Gen.
3, 3, ganz entschieden widerspricht, wenn dort gesagt wird:
de fructu vero ligni quod est in medio paradisi, praecepit nohis
deus, ne comederemus,
16,38 — 50.1) Die stelle ist, wie sie liegt, ihrem ganzen
Inhalte nach — auch die polemischen seitenhiebe nicht aus-
genommen — aus Ambrosius herübergenommen. Derselbe be-
schäftigt sich mit der frage, ob der teufel im paradiese war
oder nicht, ganz eingehend in seinem werke De paradiso (c. 2,
no. 9, Migne 1. 14, 278). Dort heisst es auch: deinde serpentem
in paradiso invenis, utique non sine dei voluntate generatum.
In serpentis autem figura didbolus est Fuisse enim diabolum
in paradiso etiam Ezechiel propheta docet (Ez. 28, 13). Ibid.
no. 10: itaque neque duhitandum neque reprehendendum, quod
in paradiso diabolum non fuisse . . . secundum suam accipiant
voluntatem interpretationem istius lectionis. Vergleicht man
diese stelle des Ambrosius mit jener des Anegenge, so sieht
man vor allem andern, dass es nur mehr gelehrter anstrich
ist, wenn es sagt: nu sten ich an einem dinge, da^ ich enwcei/s
wie ich für bringe einen streit ^e einer warhceit Wir ver-
stehen auch, wer die phaffen sind, denen es leid ist, wenn
jemand behauptet, dass der teufel im paradise gewesen sei.
^) Der smn von 16, 38 ff. kann nur der sein: 'ich weiss nicht, wie ich
diese Streitsache richtig steUen soU'.
294 TEÜBBB
Es sind dieselben, die Ambrosius im äuge hat, wenn er sagt:
plerique tarnen, qui volunt in paradiso diaholum non fuisse . . . ;
wenn man auch nicht wird leugnen können, dass jene leute,
welche Ambrosius meint, auch zu lebzeiten unsers dichters
ihre nachf olger hatten. Und wenn er sagt: die nu sein so
Mchweise, die Widerreden ez, ob si megen, so klingt es ganz so
wie bei Ambrosius, der sagt: secundum suam acdpiant vohm-
tatem interpretationem istim lectionis. Sein mceister, auf den
er sich in v. 47 beruft, hat ihm die ganz richtige ansieht bei-
gebracht, eine ansieht die wir zunächst auch bei Hugo finden
(t. 2, 96A), der aber seinerseits wider auf Augustinus (De Ge-
nesi ad lit. lib. 11, c. 27, no. 34, t. 3*, 443) fusst, wo es heisst:
non est permissus (sc. didbolus) tentare feminam nisi per ser-
pentem (v.48 — 50).
16, 51—57. V. 51 f. ist auf die bereits citierte stelle des
Augustinus zurückzuführen, der ebendort sagt: sed in serpente
ipse (sc. diaboltis) locutus est Auch Hugo spricht ähnlich,
aber nicht so deutlich (t. 2, 96B): hoc modo tentatio facta est
Primum interrogatione (was wol das sprechen voraussetzt)
aggressus est ... Cur non comeditis de ligno sdentiae boni et
mali? Ad quem mulier: ne forte moriamur. Unser dichter
stimmt aber nicht so sehr mit Hugo, als vielmehr mit der hL
Schrift überein; denn Gen. 3,1 — 3 heisst es: qui dixit: cur
praecepit vobis deus, ut non commederetis de omni ligno para-
disi (zu V. 52 — 54). . . . Cui respondit mulier , ,. de fructu vero
ligni, quod est in medio paradisi, praecepit nobis deus, ne com-
ederemus (zu v. 55 — 57). Nun kommt der dichter wider auf
das zurück, was er schon 16, 35 f. ausgesprochen hatte, nämlich
dass Eva von dem geböte nichts gewusst haben könnte.
16, 58—73. V. 58—62 beziehen sich auf 16, v. 35 fi und
widerholen eigentlich das dort gesagte. Der dichter scheint
verlegen zu sein und einen ausweg aus der Schwierigkeit, in
die er sich 16, 35 ff. hineingewagt, zu suchen. Allein es stellt
sich heraus, dass für die ganze stelle Hugo von St. Victor dem
dichter als quelle diente. Dadurch erscheinen jene verse nicht
mehr als ein ausfluss selbständigen denkens und forschens,
sondern lediglich als gelehrter und poetischer aufputz. Bei
Hugo t. 2, 288 f. (c.5) heisst es nämlich: sane hie cormderandum,
quod non quemadmodum superiu^s videtur soli viro praecq^tum
QUELLEN DES AKEGENaE. 295
datum Sit (wie genau stimmt doch das zu v. 58 — 62). Ipsa
enim mulier hie testatur (zu v. 55 — 57 passt das ebenso wie
zu V. 63 f.) siii quoque mandatum, ut lignum scientiae honi et
mali non tangeret (^unt daz si sich selbe an not hat doch so
vaste an gezogen'). Sdlicet voluit scriptura ostendere, quod
mulier, quae viro subiecta fuit, divinum mandatum non nisi
mediante viro acdpere dehuit, ut sermo dei primum quasi im-
mediale ad virum fieret, deinde mediante viro ad mulierem
quoque (^ir möcht ez der man haben gesagt') quae subjecta
viro fuit et consüio viri instituenda pervenirel. In v. 73 ist
Gen. 2, 24 benutzt: et erunt duo in carne una.
16,74 — 79.*) Veranlasst sind diese verse wol durch Hugo
(t. 2, 287 C): venit ergo ad hominem in serpente 'callidus' hostis;
(s. 288C) nequaqu^am amtem diäbolus cor am mulier e verba dei
negare praesumpsisset, si non prius ipsam mulierem dubitantem
invenisset. Und noch deutlicher spricht Hugo t. 2, 97: audiens
enim mulier: eritis sicut di% 'elata est in superbiam' (^daz ir
herce was böse'). Ebenso t. 2, 96B: in quo verbo dedit locum
tentanti cum dixit: 'ne forte' {'daz er wol horte an dem ir gi-
chöse). Nicht zu übersehen ist eine diesbezügliche stelle bei
Augustinus, auf welcher Hugo fusst. Dort heisst es (De Gen.
ad lit. lib. 11, c. 30, no. 38, t. 3^, 445): ideo prius interrogavit
serpens et respondit hoc mulier (das ist das gichöse, wie es
der dichter etwas derb nennt), ut praevaricatio esset inex-
cusabilis,
16,80 — 17,6. Mit V. 81 steht der dichter im Widerspruche
mit der bibel ; denn Gen. 3, 1 ff. spricht der teufel nur zu dem
weibe allein. Wenn aber der dichter einmal v. 81 schrieb:
dir unt deinem m^xnne, wobei er also annimmt, dass die schlänge
zu beiden gesprochen, so hätte er in 17,2 auch den plural
beibehalten und er verbot ez iu umbe daz u.s.w. schreiben
sollen. Die stelle selbst beruht auf Gen. 3, 4 f., wo fast die-
selben Worte stehen: diadt serpens ad mulierem: nequaquam
morte moriemini. Seit enim deus, quod in quocunque die com-
ederitis ex eo, aperientur oculi vestri (et eritis sicut dii\
sdentes bonum et malum, 16, 80 beruht auf der bereits aus
*) Hahn schreibt 16, 76 tote, was offenbar in der hs. verschrieben war.
Es kann nur wtp heissen.
296 TEUBER
Augustinus (lib. 2, c. 27, s. 443) citierten stelle: non est per-
missus (sc. diaholus) tentare feminam nisi per serpentem . . .
'sed in serpente ipse locutiis est\
17, 7 — 13. Auch diese stelle ist dem inhalte nach aus
Hugo entnommen. T. 2, 288 sagt er: quae ergo dubitavit ah
afßrmante (deo) recessit, et neganti (diäbolo) appropinquavit
Ipsa igitur secundum aliquid inchoavit malitiam, quae tenta-
toris iniqui persuasionis dedit audadam. Dazukommt t.2,290D:
et ideirco non solum inordinate similitudinem dei cum sdentia
honi et mali appetiit {'michel wunder sei des nam, was da^ übel
woere') . . . Voluntaria ergo malitia se contra creatorem suum
ereodt.^) 17, 11 — 13 sind eine consequenz, die der dichter aus
dem letzten satze Hugos zieht.
17, 14 — 18 sind eine widerholung des bereits 16, 55 — 57
gesagten, nur in etwas anderer einkleidung. Die quelle dazu
ist Gen. 3, 2 f.: cui respondit mulier: de fructu vero ligni . . .
praecepit deus, ne comederemus, et ne tangeremus illud, ne forte
moriamur.
Ebenfalls eine widerholung des schon 17, 1 ff. gesagten ist
17,19 — 26. Dazu stimmt Gen. 3, 41: nequaquam {'da0 la dir
sein ummcere') morte moriemini. Sdt enim deus, quod in quo-
cunque die comederitis ex eo, aperientur oculi vestri, et eritis
sicut dii sdentes honum et malum. V. 26 fasst der dichter
unter dem ausdruck elliu dinc das ionum et malum der bibel
zusammen.
17, 27 — 29. Während in der Genesis der teufel nur dem
weibe rät, das obst zu essen, so lässt unser dichter die schlänge
in weiterer activität, indem sie Eva noch zum bäume der er-
kenntnis lockt und sie von der frucht nehmen heisst. Die
stelle selbst stimmt daher wol in der sache, aber nicht im
Wortlaute mit Gen. 3, 6: vidit igitur mulier, quod honum esset
lignum ad vescendum et pulchrum oculis aspectuque delectdbile:
et tulit de fructu illius et comedit,
17, 30—45. Gerade so wie Hugo (t. 2, 97 f. und 289 ff.) sich
ganz besonders mit dem ersten weibe und dessen falle beschäf-
tigt, so auch unser dichter. Aber nicht Hugo allein ist es,
0 T. 2, 290: nam cum amore permissionis prius mens strdta *flecteretur'
= des weibes geüoser müt sich sa 'wandelen^ bigan.
QUELLEN DER ANEGENGE. 297
welcher ihm den stoff für diese stelle lieferte. Zunächst kommt
die hl. Schrift in betracht, denn an diese knüpft der dichter
mit V. 30 zuerst an. Gen. 3, 6 f. heisst es: et tulit de fructu
illius et comedit Et aperti sunt oculi amborum: cumque co-
gnovissent se esse nudos, consuerunt folia ficus, et fecerunt sibi
perizomata (v. 32 — 34 nudos). Für v. 37 — 45 ist Hugo (t. 2,
290 D) heranzuziehen. Dieser sagt übereinstimmend mit unserm
dichter: et iddrco non solum inordinate simüitudinem dei ...
appetiit, sed in tantam prolapsa perversitatem verisimiliter
putatur, ut deum ex invidia lignum sdentiae honi et mali ho-
mini vetuisse crederet, ne ipse homo ex eo gustando ad aequor
litatem ipsius proficere potuisset, Voluntaria ergo malitia se
contra creatorem suum erexit Weiter t. 2, 98A: mulier quoque
peccavit in deum et proximum . . . Item mulier magis punita
fuit, cui dictum est: in dolore paries filios (Gen. 3, 16), unde
apparet quod plus peccavit. In v. 45 scheint sich der dichter
auf Eom. 5, 12 zu beziehen: propterea sicut per unum hominem
peccatum in hunc mundum intravit, et per peccatum mors, et
'ita in omnes homines mors pertransiit', in quo omnes pecca-
verunt,
17, 46 — 71. Hugo hat von dem was unser dichter in diesen
versen sagt, nichts. Möglich allerdings ist es, dass ihn eine
stelle bei Hugo (t. 2,291 A) veranlasst hat nach dem gründe
zu fragen, warum Eva den Adam in ihr verderben mit hinein-
ziehen wollte; denn Hugo fragt sich an der citierten stelle
nach dem gründe, warum Adam der Eva gefolgt habe: sed
tantum, so antwortet er auf die frage, warum Adam mit-
gesündigt habe, ne mulieris animum, quae sibi per affectum
dilectionis sodata fuerat, eius petitioni et voluntati resistendo
contristaret. Maxime quia putavit se et mulieri morem gerere.
Das wie gesagt könnte unsem dichter veranlasst haben, sich
jene frage zu stellen; aber die antwort darauf fand er bei
Hugo nicht, wol aber bei Ambrosius und Augustinus. Ersterer
schreibt in seinem werke De paradiso (t. 1,289): sine dubio
ubi gustavit mulier (erinnert an v. 30 alz si ez in den munt
ginam) de ligno sdentiae boni et mali, peccavit et se peccasse
cognosdt Quae igitur se peccasse cognoverat, vel virum ad
peccati communionem invitare non debuit Ulidendo autem
virum et dando ei quod ipsa gustaverat, non vitavit, sed iteravit
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche, XXIV. 20
298 TEÜBER
peccatum . . . quamvis videatur haec mulier sciens quod post
culpam in paradiso esse non posset, metuisse ne sola de para-
diso eiceretur . . . Excludendam igitur se esse cognoscens, eon-
sortio viri, quem diligebat, noluit defraudari. Diese stelle
stimmt inhaltlich, was die motive der handlungsweise Evas
anbelangt, ganz genau zu der citierten stelle 17,46 — 56.
Warum Adam in die Sünde Evas eingewilligt (v. 57 — 66), dar-
über belehrte den Verfasser des Anegenge Augustinus, der
De Gen. ad lit. lib. 11, c. 30, no. 39, t. 3 *, 445 sagt: et non cre-
dens posse inde se mori, arbitror quod putaverü deum alicuius
significationis causa dixisse: si manducaveritis, morte moriemini;
atque inde sumpsit de fructu eius, et manducavit, et dedit etiam
viro suo secum: fortassis etiam cum verbo suasorio (vgl. die
citierte stelle aus Ambrosius, auf die sich Augustinus hier stützt),
quod scripiura tacens intelligendum relinquit. An forte nee
suaderi iam opus erat viro, quando illam eo ciho mortuam non
esse cernelat? Diese stelle hat der dichter in v. 57 — 66 weiter
ausgeführt, indem er in v. 59 f. und 63 die stelle aus Gen. 2, 7:
in quocumque enim die comederitis ex eo, morte moriemini mit
einfliessen lässt. Für die schlussverse 67 — 71 mag Hugo (t. 2,
291 B) den stoff gegeben haben: et hoc quidem modo prius
homo a diabolo seductus est ut peccaret, und weiter von der
Sünde: tollit pulchritudinem et integritatem illius.
17, 72 — 83. Auch in diesen versen hat der dichter Augu-
stinus (De Gen. ad lit. lib. 11, c. 31, no. 40, t. 3^, 445) benutzt:
ergo ederunt et aperti sunt oculi amborum. Quo nisi ad invicem
concupiscendum ad peccati poenam carnis ipsius morte concep-
tarn ('do musen si laz^en die wat der unschulde^). Und ibid.
(c. 32, no. 42, s. 447): hoc ergo amisso statu, corpus eorum duxit
morbidam et mortiferam qualitatem, quae inest etiam pecorum
carni, ac per hoc etiam eumdem motum quo fit in pecoribus
concumbendi appetitus, ut succedant nascentia morientibus . . .
(ir affter chomen alle von dem selbem volle sagt unser dichter
etwas zarter). In den versen 75 — 79 nimmt der dichter voraus,
was er später ausführlich schildert (s. 18ff.); es ist darin das
kurz zusammengefasst, was Gen. 3, 7. 16. 19 ausführlicher erzählt
wird. Er kommt nun an der band der Genesis dazu, uns die
unmittelbaren folgen der ersten sünde vor äugen zu stellen.
17,84—18,9. Die verse 17,84—18,1 beruhen auf Gen. 3,8:
QUELLEN DES ANEGENGE. 299
et cum audissent vocem domini dei deambulantis ad auram post
meridiem, dbscondit se Adam et uxor eins a fade domini dei
in medio paradisi. Und eben weil sie sich verborgen hatten,
sagt der dichter 18,1: unt suchte den man. Die folgenden
verse beruhen teils auf Augustinus, teils auf Hugo. Augustinus
(lib. 11, c. 33, no. 43, t. 3*, 447) sagt: ea quippe hora tales iam
convenerat visitare, qui 'defecerant a luce veritatis' (an dem
was gevallen san diu sunne des rechtes) , , . und an einer an-
deren stelle (ib. c. 34, no. 45, s. 448) spricht er von derselben
Sache folgendermassen: increpantis vox est, non ignorantis
(v. 41). Von einer erbarmung spricht Augustinus nicht, wie
unser dichter in v. 6: im erbarmte, da^ in der übel hunt hete
betöret] dagegen aber Hugo (t. 1, 42) in seinen Adnotationes
elucidatoriae in Pentateuchon: vocem domini ambulantis. Ucee
quanta est misericordia dei? non vult cos subito convenire de
culpa sua . . . Die Ursache dieser schuld und worin sie bestand
sagt der dichter in v. 6 — 9.
18, 10 — 12. Woher der dichter weiss, dass gott den Adam
gerade dreimal gerufen hat, lässt sich nicht sagen; vielleicht
ist es eigene erflndung; die stelle selbst beruht ihrem Inhalte
nach auf Gen. 3, 9: vocavitque dominus deus Adam, et dixit ei:
ubi es?
18, 13 — 18. Zunächst ist hier Augustinus heranzuziehen
(lib. 11, c. 34, no. 46, t. 3', 448), der über dasselbe thema handelt
und sagt: quod enim iam ipsos pendebat erga seipsos, unde
sibi et sucdnctoria fecerunt, multo vehementius ab illo etiam
sie succincti videri verebantur, Dass der dichter auch von
Adam sagt (wie von Eva 17,32) dass er ein hup für sich
brach, mag die stelle aus der Gen. 3, 7 veranlasst haben: con-
suerunt folia ficus et fecerunt sibi perizomata, wozu noch der
umstand hinzukommt, dass Gen. 3, 10 gesagt wird et timui, eo
quod nudus essem, et abscondi me. Das hup aber, das Adam
für sich brach, war aber merkwürdiger weise nach unserem
dichter das eines dlboumes. Davon ist in der hl. schrift nir-
gends die rede. Ists ein lapsus memoriae? Das ist wol nicht
anzunehmen. Dagegen findet sich in der Vita Adae et Evae i)
1) Vita Adae et Evae, hg. und erläutert von W. Meyer, Abh. der kgl.
bair. akademie der wiss. 1. kl., 14. bd., 3. abt. München 1879.
20*
300 TEÜBEB
(die im mittelalter sich einer grossen Verbreitung und beliebtheit
erfreute) s. 49 folgende bemerkenswerte stelle: et dixit Adam
(derselbe hat zuvor mit seinen söhnen über den aufenthalt im
paradiese gesprochen) ad Evam: exurge et vade cum filio meo
Seth ad proximum paradisi et mittue pulverem in capita vestra
et prosternite vos in terram et plangite in conspectu dei, For-
sitan miserebitur et transmittet angelum suum ad arborem mi-
sericordiae suae, de qua currit oleum vitae . . . Das kann natür-
lich nur ein Ölbaum sein, der sich im paradiese befunden haben
muss, und das ists was den dichter veranlasst hat zu schreiben
dajs eines Ölbaumes was,
18, 19—22. Diese stelle ist vom dichter lebendig und an-
schaulich nach Gen. 3, 10 widergegeben: qui ait: vocem tuam
audivi in paradiso, et timui, eo quod nudus essem, et abscondi
me. Desgleichen beruhen die folgenden verse auf der Genesis.
Zu 18,23 — 25 stimmt Gen. 3, 11: cui dixit: quis enim in-
dicavit tibi, quod nudus esses, nisi quod de ligno . . . comedisti?
Der dichter behält hier sogar die directe frage seiner quelle bei.
18,26—30. Dazu stimmt wider Hugo (t. 1, 42B), der zu
diesem passus der Genesis bemerkt: ecce quanta misericordia
dei? non vult eos subito convenire de culpa sua . . . sed dat
locum 'poenitentiae' et consilii, unde deambuläbat ut audiant
et sie fiant memores ipsius dei. Und weiter (ib. s. 42C) heisst
es ganz ähnlich: de homine peccante non statim dedit senten-
tiam, sed 'proposita quaestione dedit ei spatium, ut cogitaret de
causa sua et poeniteret\
18, 31 — 41. Auch für diese stelle hat Hugo die gedanken
hergegeben, die jedoch der dichter nur dem Inhalte nach und
etwas breiter widergibt, als er sie in seiner quelle vorfand.
Bei Hugo lesen wir (t. 1, 42B) zu der stelle eo quod nudus
essem (Gen. 3, 10) folgende bemerkung: nota quod stulte agit,
inducens se ad excusandum (der arme begunde sich entsagen,
den schilt er für sich bot sagt ganz schön unser dichter), quod
potius vertitur in eius accusationem, ut potius per hoc convin-
catur peccasse in pomo (in diesem satze liegt wol die ver-
anlassung zu V. 33 f.) ... Mulier quam dedisti mihi . . . (Gen.
3, 12). Convictus de facto, 'removeV crimen in mulierem et
mulier in serpentem, et per hoc uterque 'retorquet culpam in
creatorem deum\ Dieser letzte satz bot ihm den Stoff für
QUELLEN DES ANEGENGE. 301
V. 35— 41. Der dichter führt die sache weiter aus und wird
durch die ausdehnung der rede Adams dramatisch lebendig.
18, 42 — 46. lieber diesen punkt handelt Hugo nicht; aber
Gen. 3, 13 ist davon die rede: et dixit dominus deus ad mu-
lierem: quare hoc fedsti? Qtiae respondit: serpens decepit me,
et comedi Das stimmt inhaltlich zu dieser stelle. Dass aber
der dichter gott sagen lässt wes riet du dass dem manne ? darf
uns nicht wundem; denn er erinnerte sich, als er dieses nieder-
schrieb, an die vorher benutzte stelle des Augustinus: fortassis
etiam cum verbo suasorio (t. 3^, 445).
18,47 — 63. Die stelle ist ihrem hauptinhalte nach auf
Gren. 3, 14 f. aufgebaut: et ait dominus ad serpentem: quia fedsti
hoc, maledictus es inter omnia animantia et hestias terrae;
super pectus tuum gradieris et Herram^ comedes cunctis diebus
vitae tuae (v. 47 — 50). Diese letzten worte hat der dichter
nicht übel mit /se unlusten widergegeben. Inimidtias ponam
inter te et mulier em, et semen tuum et semen illius: ipsa con-
teret caput tuum, et tu insidiäberis calcaneo dus. Dieser stelle
entsprechen inhaltlich v. 51 — 63. Doch der dichter gebraucht
abweichend von der bibel in v. 52 den plural: under wdhen
unt under slangen und sagt ausserdem v. 53 f. von dieser
feindschaft: unt muz ouch vil lange under in iswoein gesten.
Diese dinge hat der dichter wider aus Hugo (t. 1, 43 A): semen
diaboli vocat alios daemones (slangen). Mulieris semen alios
homines (weihen), 'Et tu insidiäberis calcaneo dus' i. e. 'semper'
persequeris Qvil lange') ut dedpias.
18, 64 — 71. Die ansieht, dass die schlänge ein herrliches
geschöpf war und aufrecht gieng, findet sich bei den grossen
lateinischen kirchenvätern wie Hieronymus, Ambrosius, Augu-
stinus und Gregorius nicht. Eine andeutung davon macht aber
Chrysostomus, Homiliae in Genesim s. 142 f.: sicut igitur dia-
bolus, qui per te operatus est et te instrumento usus est, e
coelis deorsum depulsus est, quia plus quam dignitatis suae
erat, sapere volebat: ita similiter impero, ut et tu aliam for-
mationis figuram habeas, et super terram repas atque adeo ne
liceat tibi suspicere, sed semper in hoc manea^ statu. Daraus
ergibt sich also, dass die schlänge gleich wie der teufel einst
ein herrliches geschöpf war, und dass sie aufrecht gegangen
ist; ne liceat tibi suspicere, Direct ausgesprochen hat diese
302 TEÜBEB
ansieht Petrus Comestor in seiner Historia scholastica c. 21
(Migne 1. 198): et hoc per serpentem, quia tunc serpens erectus
est ut homo,
18, 72 — 78. Hier und im folgenden hält sich der dichter
wider genau an den biblischen bericht, Gen. 3, 16: mulieri
quoque diant: muUiplicäbo aerumnas tuas et conceptus tuos:
in dolore partes filios, et sub viri potestate eris, et ipse domi-
näbitur tut.
18, 79—19, 8. Fast wörtlich so heisst es in Gen. 3, 17—19:
Ädae vero dixit: quia audisti vocem uxoris tui (vgl. 18, 79 und
9, 2 1) ... maledicta terra in opere tuo (18, 80 f.). Spinae et tri-
hulos germinabit tibi^ et comedes herham terrae (18, 83 f.). In
sudore vultus tui vesceris pane (sehr gut übersetzt in v. 18, 84 f.
und 19, 1), donec revertaris in terram de qua sumptus es: quia
pulvis es, et in pulverem reverteris (19, 5 — 8). Man sieht, der
dichter hat keinen gedanken mehr und keinen weniger als
die bibel; nur ist die anordnung derselben bei ihm etwas
anders als dort.
19,9 — 19. Diese stelle beruht zunächst auf Gen. 3, 22: et
ait: ecce Adam quasi unus ex nohis factus est, sdens ionum
et malum. Den grund dafür, warum gott diese worte sprach,
fand der dichter bei Hugo (t. 1, 43C): ecce Adam factus est
quasi unus ex noiis. Irrisio est, quae respidt ad stultam cre-
dulitatem eius de verhis serpentis: eritis sicut dii sdentes honum
et malum; et quamvis sola Eva, non Adam, hoc crederet, tarnen
Uli quasi praelato et doctori imputatur. Talis autem irrisio
aliquando fit merito patientis (^ze Iceide') et iuste. Diese ansieht
ist übrigens sehr alt und zieht sich durch die ganze patristi-
sche literatur hindurch (Beda, Aleuin, Rupert v. Deutz 1, 315 ff.
3, 83 f. etc.). Schon Augustinus (De Gen. ad lit. lib. 11, c. 39,
no. 53, t. 3^, 451) sagt: replicatum est igitur in caput superbi,
quo exitu concupiverat, quod a serpente suggestum est. 'Eritis
sicut dii' . . . Verha enim haec sunt dei, non tam huic insulr
tantis, quam caeteros ne ita superbiant deterrentis . . .
19, 20 — 25 entnahm der deutsehe dichter aus Gen. 3, 24:
eiedtque Adam; et collocavit ante paradisum voluptatis Cheru-
bim [et flammsum gladium atque versatilem] ad custodiendam
viam ligni vitae,
19^26—29 stimmt abermals zu Gen. 3, 22: nunc ergo ne
QUELLEN DES ANEGENGE. 303
forte mittat manum suam, et sumat etiam de ligno vitae et
comedat, et vivat in aeternum. V. 29 scheint mir überdies auf
eine bekanntschaft mit Hugo (t. 1, 43 C) hinzudeuten, wo es
heisst: nunc ergo ne forte mittat manum , . . Hie innuitur,
quod etiam post peccatum si comederet homo de ligno vitae,
fieret immortalis. Dieses immortalis entspricht ganz dem un-
tödlich in v. 29.
19,30—40. Wider eine ganz tiefsinnige scholastische an-
sieht, die unser dichter aus Hugo entnommen hat, der den-
selben gedanken in seiner Summa sententiarum (t. 2, lOOD und
101 A) ausspricht: quomodo igitur peccato remanente non more-
retur? Ad quod didtur, si non puniretur ista poena, scilicet
morte, puniretur graviori; quia nunquam finirentur miseriae,
quae modo finiuntur morte. B Ad esum itaque ligni vitae per
tribulationes multas, et per charitatem, quae estplenitudo seien-
tiae post peccatum redire fuit necesse est Der erste teil dieser
stelle ist fast wörtlich in v. 30 — 37, der zweite (B) teil inhalt-
lich in V. 38 — 40 widergegeben.
Nachdem der dichter diese ansieht eingeflochten, kommt
er mit 19, 41 f. wider auf den biblischen bericht zurück, womit
er Gen. 3, 24 allerdings nur dem hauptgedanken nach wider-
gibt: eiecitque Adam: et collocavit ante paradisum voluptatis
Cherubim, et flammeum gladium atque versatilem, ad custodi-
endam viam ligni vitae.
19, 43 — 56. Die ansieht, dass der Schacher der erste ge-
wesen sei, welcher das feurige schwert, das vor dem paradiese
war, aufgehoben habe und folglieh auch der erste glückliche
gewesen sei, der das paradies nach so langer zeit der Ver-
bannung des menschen aus demselben wider betreten habe,
findet sich am ausführlichsten bei Chrysostomus in dessen
homilien De eruce et latrone vertreten. Speciell in der homilie
welche wir in t. 2 (Migne t. 49), 401 finden, heisst es: hodie
mecum eris in paradiso. Atqui Cherubim paradisum servabat;
verum hie cherubinorum etiam dominus est: et flammeus gladius
ibi volvitu/r; verum ipse et flammae et gehennae et vitae et mortis
potestatem habet . . . Vis dicere aliud eius insigne opus. Para-
disum a quinque mille et amplius annis clausum hodie nobis
aperuit Hoc quippe die, hac ipsa hora latronem etintroduxit
deuSj duo praeclara praesignans opera . , . hodie patriam nobis
304 TEÜBEB
reddidit, hodie in patriam civitatem nos reduxit, et cornmuni
hominum donum dedit, Aehnliches, aber kürzer gefasst finden
wir bei Leo Magnus (t. 1, 317), bei S. Maximus (Hom. 52, Migne
t. 57), bei Ehab. Maurus (Hom. 17, Migne 1. 110, der werke
t. 4, 35), bei Eupert v. Deutz (t. 1, 520). Letzterer sagt: porro
ante eamdem domini nostri passionem nulU omnino filiorum
Adam pervius fuit (sc. paradisus) . . . Secutus est confestim
latro nie veneräbilis, quem confessum in cruce continuo muni-
erat fides sanguinis Christi contra illum ignem, ne obsisteret
Uli. Es ist wol das wahrscheinlichere, dass unser dichter die
hier ausgesprochene ansieht aus Eupert v. Deutz schöpfte, da
er ihn, wie wir sehen werden, auch an anderen stellen seines
gedichtes benutzt hat. Die folgenden verse 47 — 56 scheinen
teils selbständige erfindung des dichters, teils eine reminiscenz
an die bekannte stelle des evangeliums zu sein: si quis vult
post me venire, ahneget semetipsum et tollat crucem suam, et
sequatur me (Matth. 16, 24. Luc. 9, 23), namentlich v. 52 — 56.
Nachdem der dichter den fall der ersten menschen und
dessen nächste folgen geschildert hat, geht er an der band
der Genesis weiter vorwärts und gibt eine ziemlich ausführ-
liche geschichte der nachkommen Adams bis zu Noe und dessen
söhnen hinauf (19,72 — 25,63).
Als anschluss an das vorhergehende und Übergang zum
folgenden dienen die verse 19, 57 — 71. Hier beruhen die verse
57 — 65 auf zwei stellen der Genesis, die der dichter, obwol
sie schon in anderem Zusammenhang verwendet wurden, hier
ganz trefflich zusammengefügt. Gen. 1,29: dixitque deus : ecce
dedi vobis ^omnem' herbam afferentem semen super terram, et
'universa' ligna, quae habent in semetipsis sementem generis
suij ut sint vobis in escam, V. 62 — 65 erinnern an Gen. 3, 19:
in sudore vultis tui vesceris pane. Ob v. 66 — 71 selbständige
erfindung des dichters sind oder ob sie nicht eine Zusammen-
fassung dessen sind, was im Christlichen Adamsbuche des
morgenlandes widerholt ausgesprochen wird, dass Adam vom
teufel sehr geplagt wurde — in der bibel steht nichts davon
— lässt sich mit Sicherheit nicht sagen.^
^) Das Christliche Adamshuch des morgenlandes ist von A. Dillmann
aus dem äthiopischen tihersetzt und 1853 (Göttingen) herausgegeben worden.
QUELLEN DES ANEGENGE. 305
19, 72 — 77 ist der Inhalt von Gen. 4, 1 : Adam vero cognovit
uxorem suam Hevam; quae concepit et peperit Cain, dicens:
possedi hominem per deum. Dieser letzte satz possedi hominem
per deum mag unsem dichter zu v. 74 f. 77 angeregt' haben.
V. 76 fasst summarisch zusammen, was der dichter später von
ihm erzählt und übrigens auch in Gen. 4 gesagt wird. Möglich
ist es aber auch, dass ihm eine stelle des Christi. Adamsbuches
vorschwebte; denn dort heisst es s. 67: und Adam freute sich
über die rettung der Eva, sowie über die kinder die ihm ge-
boren wurden.
Mit 19, 78 f. sagt dQr dichter eigentlich dasselbe was Gen.
4,2 steht: rursumque peperit fratrem dus Abel,
19,80 — 20,8. Die tatsachen welche der dichter hier be-
richtet, finden sich wol in der Gen. So wird man für 19,84
und 20, 1 — 3 Gen. 4, 4 heranziehen müssen: Abel quoque obtulit
de primogenitis gregis sui^ et de adipibus eorum. Ebenso wird
man sagen müssen, dass 19, 80 — 82 und 20, 6 f. schliesslich auf
Gen. 4, 3 fussen, wo es heisst: factum est autem post multos
dies, ut offerret Cain de fructibus terrae munera domino.
In der bibel wird keinem von beiden ein attribut bei-
gelegt, höchstens dass Gen. 4, 5 gesagt wird iratusque est Cain
vehementer. Dagegen gibt das Christi. Adamsbuch eine ganz
gute Charakteristik beider: und die kinder fiengen an zu
wachsen und gross isu werden an Mbesgrösse, Und Kain war
ha/rthermg und herschsüchtig . . . und oftm>als wenn sein vater
zum opfer hinaufgieng, blieb er zurück und gieng nicht mit,
um am opfer teil zu nehmen, Abel aber hatte ein sanftes herz
und war seinen eitern Untertan, und er trieb sie oftm^xls an
wegen des opfers; denn er liebte das opfer und betete und
fastete viel. Was hier nebst der Charakterisierung Kains und
Abels vom opfern gesagt wird, scheint der dichter in 19, 80 — 82
vor äugen zu haben; denn soweit ich diese stelle auszulegen
Dülmann leugnet, dass dieses buch im abendlande bekannt gewesen sei.
W. Meyer, Vita Adae et Evae steUt viele stellen aus jenem zusammen,
welche zu diesem passen. Nun hat aber der dichter des Anegenge im fol-
genden viele gedanken, welche sich in der uns bekannten literatur nirgends
wo anders vorfinden, als gerade im Christi. Adamsbuche. Folglich muss
er eine Version derselben und zwar eine lateinische gekannt haben. Woher
diese kam, wohin sie gekommen, wissen wir freilich nicht zu sagen.
306 TEUBEE
im Stande bin, meint der dichter, dass sie * öfters' geopfert
haben; in der Gen. lesen wir 4,3 nur von einem solchen opfer.
20, 9 — 16. Für v. 9 ist dem dichter wol Hugo massgebend
gewesen, wenn er den satz nicht selbst aus dem texte der
bibel, was ja nicht schwer war, erschlossen hat. T. 2, 44 AB
sagt Hugo: quod autem munera non ex se, sed ex merito offe-
rentis ei placebant, per hoc innuitur, quod ad Abel afferentem
prius quam ad munus didtur respexisse, V. 10 — 16 geben den
inhalt von Gen. 4, 6 f., auf die sich der dichter in v. 11 beruft:
dixitque dominus ad eum (nämlich Kain): quare iratus es, et
cur conddit fades tua? Nonne si bene egeris, recipies; sin vero
male, statim in foribus peccatum aderit? Sed sub te erit appe-
titus eius, et tu dominaberis illiusA) Gen. 4, 4: et respexit do-
minus ad Abel et ad munera eius (v. 14 — 16).
20, 17 — 19 gibt Gen. 4, 5 wider: ad Cain vero et ad munera
illius non respexit; iratusque est Cain vehementer, et conddit
vultus eius, allerdings nur dem Inhalte nach. Ebenso 20, 20 f.
= Gen. 4, 8 cumque essent in agro, consurrexit Cain adversus
fratrem suum Abel, et interfedt eum.
20,22 — 26. Die bezeichnung der erde als virgo (magetrceine)
findet sich bei Augustinus an zwei stellen; Sermo 125 (a) In
natali domini 9(b), t. 5^, 1993 heisst es: quoniam sicut Adam ex
'terra virgine' figuratus est, ita et Christus ex virgine natus
agnoscitur. Und ib. Sermo 147 (a) In quadrages. 8 (b), s. 2031 :
Adam enim 'de terra virgine' natus est. Die übrigen verse
beruhen auf Gen. 4, 11: [nunc ergo maledictus eris super] ter-
ram, quae aperuit os suum, et suscepit sanguinem fratris tui
de manu tua.
20, 27 — 37. V. 27 — 29 schliessen an das vorhergehende an
und führen ganz gut zum folgenden über, das aus Gen. 4, 9
entnommen ist: et ait dominus ad Cain: ubi est Abel frater
tuus? Qui respondit: nescio: num custos fratris mei sum ego?
Der dichter hat die directe rede der bibel in die indirecte
verwandelt.
20, 38—43 gibt mit beibehaltung der directen rede Gen. 4, 10
*) Nach 20,13 muss etwas fehlen, und zwar einer oder zwei verse,
welche sich auf Gen. 4, 7 beziehen : sed sub te erit appetitus eius et tu
dominaberis iUius ('gistillen').
QUELLEN DES ANEGENGE. 307
wider: dixitque ad cum: quid fecisti: vox sanguinis fratris tui
clamat ad me de terra,
20,44 — 49. V.44f. widerholen aus Gen. 4, 10 das quid fecisti?
und bestimmen den ausdruck näher. V. 46 — 49 geben eigent-
lich Gen. 4, 11 wider: nunc igitur maledictus eris super terram,
quae aperuit os suum et suscepit sanguinem fratris tui de manu
tua. Von der Verfluchung der erde, wie sie der dichter dar-
stellt, ist in der bibel direct nichts gesagt; aber sie ist in den
Worten Gen. 4, 12 cum operatus fueris eam, non ddbit tibi fructus
suos indirect mit ausgesprochen.^)
20, 50 — 55. Die quelle unsers dichters ist auch hier die
Genesis; nur gibt er etwas breiter wider, was sich Gen. 4, 13
vorfindet: dixitque Cain ad dominum: maior est iniquitas mea,
quam ut veniam merear.
Zu 20,56 — 63 stimmt Gen. 4, 14: ecce eicies me hodie a
fade terrae, et a fade tua dbscondar, et ero vagus et profugus
in terra: omnis igitur, qui invenerit me, occidet me. Merkwürdig
erscheint der ausspruch da ersiecht mich mein eigen chunne.
Dachte der dichter, als er das niederschrieb, vielleicht daran,
dass Kain, was ja ganz richtig ist, keine anderen leute als
seine eigenen verwanten, dais dgen chunne, um sich hatte, oder
dachte er an die stelle des Christlichen Adamsbuches, wo es
lieisst: so wird mich Adam töten (s. 73)? Sehr schön gibt der
dichter das vagus et profugus der hl. schritt durch swa ich
nu gen ceine uf der wilden hande; recht anschaulich und lebendig
weiss er sich in die läge des Kain liineinzudenken.
20,64 — 72. Alle gedanken die hier ausgesprochen sind,
finden sich auch in der Genesis, aber nicht in derselben an-
ordnung. Der dichter hat, was dort getrennt ist, zusammen-
gerückt und trefflich ineinander verwoben. So entspricht
V. 64 f. Gen. 4, 15: dixitque ei dominus: nequaquam ita fiet
(recht schön widergegeben durch da/s wcere mir nicht liep);
V. 66 — 68 geben den inhalt von Gen. 4, 12 wider: cum operatus
fueris eam (sc. terram), non ddbit tibi fructus suos: vagus et
^) Direct ausgesprochen findet sich, was unser dichter in den versen
46—49 sagt, im Christi. Adamsbuche s. 73: wid gott sprach zu Kain: ver-
flucht sei die erde, die das blut deines hruders Abel trank. Vielleicht
schwebte ihm diese stelle vor.
308 TEÜBEB
profugus eris super terram, V. 68 f. stimmt zu Gen. 4, 11: quae
aperuit os suum, et suscepit sanguinem fratris tui de manu tu,a.
V. 70 — 72 endlich übersetzen Gen. 4, 15: sed omnis qui occiderit
Cain, septuplum punietur. Zu bemerken wäre noch, dass der
dichter auch hier die directe rede der hl. schritt beibehalten hat.
20, 73 — 86. Diese verse geben inhaltlich wider, was Hugo
(t. 1, 44C) sagt: malo suo (sc.punietur, qui Cain interfecerit),
quia volo ut septuplum puniatur, i, e, temporaliter de te punitio
fiat, vel interfector Cain multipliciter puniatur. Plus etiam quam
Cain propter ' prohibitionem homiddii factam a deo, quae non
erat facta Cain\
21, 1 — 7. Diese verse stimmen teilweise mit Gen. 4, 16:
egressusque Cain a fade domini habitavit profugus in terra ad
orientalem plagam Eden. Gen. 4, 17: cognovit autem Cain
uxorem suam, quae concepit et peperit Henoch. Weit mehr
aber nähern sich die verse dem Christlichen Adamsbuche, wo
es s. 74 heisst: Kain aber, nachdem er seinen hruder getötet
hatte, hatte keine ruhe mehr, und weiter: und Kain nahm seine
Schwester und heiratete sie ohne hefehl von seinen eitern . . .
und er bekam viele kinder von seiner Schwester.
21, 8 — 24. Was der dichter des Anegenge hier erzählt,
findet sich weder in der M. schritt noch in irgend einem
kirchenvater oder -schriftsteiler. Aber im Christlichen Adams-
buch findet sich das meiste davon. Zu v. 9 ist zu bemerken,
dass unter dem wip dem zusammenhange nach nur Eva ver-
standen werden kann. Zu v. 10 — 13 muss vor allem das Adams-
buch als quelle gedient haben. Dort heisst es s. 68: so lebten
Adam und Eva (ohne sich zu nähern), bis sie die kinder ent-
wöhnt hatten; und als sie sie entwöhnt hatten, ward Eva
schwanger, und sie vollendete ihre tage und sie gebar widerum
einen söhn und eine tochter, und er nannte den söhn Abel und
die tochter Aklejam. Doch diese zeit, welche im Adamsbuche
als zwischen der geburt Abels und Kains liegend angegeben
wird, ist zu kurz, als dass unser dichter hätte sagen können:
da was ez ein vil lange ceit von Cayns geburte, e von im wurte
sein bruder Abel geborn. Es hat der dichter noch eine andere
stelle aus dem Adamsbuche gekannt, welche er mit der eben
citierten confundiert. Im Christlichen Adamsbuche heisst es
z. b. (s. 74): dass Adam und Eva durch zweihundert und
QUELLEN DES ANEGENGE. 309
zehn ... 1) enthaltsamkeit geübt haben, innerhalb welcher zeit
allerdings das geschehen konnte, was der dichter v. 14 f. sagt.
Auch eine zweite stelle desselben buches ist hier hereinzuziehen.
S. 75 heisst es: nachdem nun unser vater Adam sich sieben jähre
lang von seinem weibe Eva abgesondert gehalten hatte, ward
Satan neidisch auf ihn . . . und er bestritt ihn, dass er bei ihr
schlafen sollte. Der teufel erscheint dem Adam in gestalt eines
schönen weibes und sucht ihn zu berücken; gott befreit den
Adam aus dieser Versuchung und befiehlt ihm, die eheliche ge-
meinschaf t mit seinem weibe Eva wider aufzunehmen (s. 76 ff.).
Das sind die beiden stellen, auf die sich der dichter in v. 10 — 13
beziehen muss. Wenn der dichter weiter sagt: wand Adam driu
unt sechzig chint gewan, der waren driu unt dricic man, dais
ander waren alUis wip, so hat er auch hierfür eine apokryphe
quelle benutzt, nämlich die Vita Adae et Evae, wo es s. 45
also heisst: et post haec cognovit. Adam uxorem suam et genuit
filium et vocavit nomen eins Seth, et dixit Adam ad Evam: ecce
genui filium pro Abel, quem occidit Cain, et postquam genuit
Adam Seth, vixit annos DCCC et genuit filios XXX et filias
triginta, simul 'LXIIF et multiplicati sunt super terram.^)
Zu V. 21 — 25 wäre noch folgendes zu bemerken: der dichter
hat recht, wenn er sagt, dass andere bücher diese zahl nicht
haben; denn die Vita Adae et Evae hat sie allein. Die U.
Schrift und alle erklärungen derselben (Petrus Comestor aus-
genommen) sagen im gründe genommen dasselbe was die Gen.
5,4 sagt: et fa^ti sunt dies Adam, postquam genuit Seth, oct-
ingenti anni: genuitque filios et filias ] und auf diesen letzten
satz scheint 21,20 zu beziehen zu sein: die gewan er e unt
ouch seit, so diu schrift in genügen steten wil, womit der dichter
im allgemeinen sagen will, dass Adam früher und später kinder
zeugte, die eben nach seiner quelle (dirre buchstab) bis auf
die zahl 63 anwuchsen.
^) Ob das Jahre oder tage sind, wird dort nicht gesagt. Unser dichter
fasst die 210 als jähre auf.
') Da unser dichter in der citierten stelle dinge zusammenstellt, welche
im Christi. Adamsbuche und in der Vita Adae et Evae vorkommen, ja diese
dinge unmittelbar verbindet, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass unser
dichter eine erweiterte version des Christi. Adamsbuches vor sich hatte, in
welches die Vita Adae et Evae mit eingeflochten war.
o
10 TEÜBER
21,25—34. Auch die meinung welche der dichter hier
ausspricht, findet sich im Christlichen Adamsbuche. S. 74 heisst
es: und Adam trug iAw (Abel), während ihm die tränen über
die Wangen rollten, isu der schatzhöhle . . . Und Adam und JEva
blieben in der trauer und vielem weinen WO tage lang . . . Adam
und Eva aber warteten nach der bestattung Abels, ohne sich
einander zu nähern (vgl. v. 31) 210 (jähre?) % und nach dieser
zeit ernannte Adam die Eva und sie ward schwanger. Das ist
inhaltlich dasselbe was der dichter in den citierten versen
sagt. V. 34 beruht auf Adamsbuch s. 77: und gott ... sagte
zu ihm: geh hinab in die schatzhöhle und halte dich nicht ge-
trennt von Eva, ich will in dir und in ihr der tierischen lust
die hraft nehmen.
21, 35 — 50. Auch in diesen versen stimmt unser dichter
teilweise mit dem Christlichen Adamsbuche zusammen, nament-
lich in V. 35 — 39. Dort heisst es s. 75 : und Eva gebar einen
schönen von natur aus vollkommenen söhn; . . . und Eva ward
getröstet von der stunde an, da sie ihn sah; . . . und als Adam
Jcam, und des hindes Schönheit, gestalt und vollkommene natur
sah, freute er sich über es und ward getröstet für Abel (v. 35
— 38) und nannte das kind Seth (v. 45). Dass der dichter sagt
do gewan er daz beste chint, dürfte wol auf die stelle des
Adamsbuches zurückgehen, wo alle tugenden und Vorzüge des
Seth aufgezählt werden (s. 77 ff.). Die ansieht, dass von Seth
der gottessohn abstammen sollte, und welche der dichter v. 40 ff.
ausspricht, fusst eigentlich auf Lucas, der 3, 23 ff. die Stamm-
tafel Christi angibt. Er beginnt v. 23: et ipse Jesus erat in-
cipiens quasi annorum triginta, ut putabatur filius Joseph, qui
fuit Heli etc., bis er in v. 38 sagt: qui fuit Henos, qui fuit
Seth, qui fuit Adam, qui fuit dei. Diese stelle legte zuerst
Augustinus seiner darstellung über die nachkommen Adams
(De civitate dei c. 18, t. 7, 461 nur vorübergehend, c. 20, s. 463
ausführlicher) zu gründe. S. 463 sagt er: nam si non inten-
debat auctor libri huius aliquem, ad quem necessario produceret
seriem generationum, sicut in Ulis quae veniunt de 'semine Seth'
intendebat pervenire ad Noe, a quo rursus ordo necessarius
sequeretur; . . . quasi esset aliquid deinceps connectendum, unde
*) Der context verlangt tage. Vgl. s. 309, anm. 1.
QUELLEN DES ANEGENGE. 311
pervenirettir ad Israeliticum populum, in quo coelesti civitati
etiam terrena Jerusalem figuram propheticam praebuit, vel 'ad
Christum secundum carnem\ qui est super omnia deus benedictus
in saecula, S. 461: ex duobus namque ilUs hominibus, Abel,
quod interpretatur luctus, et eius fratre Seth, quod interpre-
tatur resurrectio, mors Christi et vita eius figuraturJ) Diese
beiden stellen waren für unsern dichter die qaelle zu den
versen 40 — 43. V. 36 ff. heisst es: do er 'hundert iar^ alt wart,
do gewan er daz beste chint; womit eben nach v. 45 Seth ge-
meint ist. Das ist ein Verstoss gegen Gen. 5, 3, wo es heisst:
vixit autem Adam 'centum triginta' annis et genuit ad imaginem
et similitudinem suam, vocavitque nomen eius 'Seth\ Da sich
nun weder in den apokryphen noch in irgend welchem com-
mentare die angäbe findet, dass Adam im alter von 100 jähren
den Seth gezeugt habe, so werden wir an dieser stelle unserm
dichter einen lapsus memoriae vorwerfen müssen. Dagegen
stimmen v. 47 — 50 mit Gen. 5, 4: et facti sunt dies Adam, post-
quam genuit Seth, 'octingenti anni\
21,51 — 71. In V. 52 ist, wie wir aus v. 62 f. ganz genau
erfahren, unter dem verworchten man niemand anders zu ver-
stehen als Kain. Sachlich stimmen v. 51 — 58 mit Gen. 4, 17:
cognovit autem Cain uxorem suam, quae concepit et peperit
'HenocW; et aedificavit civitatem, vocavitque nomen eius ex no-
mine filii sui 'Henoch\ Bei unserm dichter heisst der söhn
des Kain aber Enos, der nach Gen. 5, 6 der söhn des Seth war.
Für diese Verwechslung können wir eine quelle nicht auffinden.
Auch das Adamsbuch bietet hiefür nichts; denn dort erscheint
Henoch als söhn des Jared (s. 96), Enos aber als ^hn des Seth,
wie in der bibel (s. 83). Einen weiteren fehler begeht der
dichter, wenn er v. 62 ff. sagt darnach lebt er manigen tac Cayn,
der verworchte man, untz er einen sun gewan, der hiez Girat
In der bibel wird nur an der citierten stelle Gen. 4, 17 von
einer nachkommenschaft Kains gesprochen, sonst nirgends.
Weiter heisst es Gen. 4, 18: porro genuit Henoch (nicht Cain)
Irad, et Irad genuit Maviael, et Maviael genuit Mathusael, et
*) Die andern auctoren welche sich mit dieser frage befassen, wie
Isidor. Hispal. (Migne t. 73, 101), Rhaban. Maurus (Migne 1. 111, 32), Hugo
(Migne 1. 175, 640), Petrus Comestor (Migne 1. 198, 1080) haben ihre Wissen-
schaft, wie ich mich genau überzeugt habe, aus Augustinus geschöpft.
312 TEÜBEB
Mafhusael genuit Lantech. Es hat demnach unser dichter den
enkel Kains zu einem söhne desselben gemacht, wenn anders
Girat und Irad dieselben namen sind, so sehr er sich auch auf
die richtigkeit seiner ansieht mit berufung auf seine quelle
(v. 66 so ez der huchstabe hat) stemmen mag. Lamech ist zwar
ein nachkomme Kains, aber wenn der dichter sagt von des
chindes chinde, so stimmt das abermals nicht mit der bibel;
wenn er mit diesem ausdrucke nichts anderes sagen will als:
'durch einen seiner nachkommen', so können wir damit ein-
verstanden sein. Was der dichter endlich in v. 68 — 71 sagt,
steht in der bibel nur andeutungsweise: Gen. 4, 23 qiwniam
occidi virum in vulnus meum,
21,72 — 22,10. Was der dichter 21,72—80 sagt, ist bib-
lisch nicht belegt. Dagegen findet sich im ChristUchen Adams-
buche s. 85 die geschichte von der ermordung Kains durch
Lamech sehr ausfuhrlich geschildert. Es heisst dort: und in
jenen tagen wa/rd Lamech, einer von den nachkommen Kains,
blind (v. 75). . . . Da stand Lamech auf und nahm einen bogen,
den er früher in seiner jünglingszeit zu tragen pflegte (v. 72. 73),
und nahm grosse pfeile und glatte steine und eine Schleuder,
die er hatte. Und er gieng mit dem jungen hirten auf das
feld und blieb hinter dem vieh, während der junge hi/rte das
vieh hütete; so hielt er es etliche tage lang. Kain aber, seit
ihn der herr verabscheut und mit dem zittern und der erschrocken-
heit verflacht hatte, hatte an keinem orte ruhe (in diesem satze
liegt für unsern dichter die veranlassung, noch einmal 21, 81
— 85 und 22, 1 — 3 auf die erbauung der Stadt durch Kain
und auf den fluch der auf ihm lastete, zurückzukommen; für
22, 4 — 9 speciell ist Adamsbuch s. 74 heranzuziehen, wo gesagt
wird: und er gieng hinab in die gegend, unterhalb des berges,
des gartens, an einen nahen ort, wo es ^ viele bäume und wälder'
hatte; und er bekam 'viele kinder' von seiner Schwester). So
kam er zu den weibern des Lamech und fragte sie (nach ihm);
da sagten sie ihm, dass er auf dem felde bei dem vieh sei. Und
Kain gieng hinaus, um Lamech aufzusuchen und kam auf das
feld. Und der junge hirte hörte das geräusch von ihm, das er
durch das gehen hervorbrachte, und sagte zu Lamech: ist es
ein ^wildes tier' oder ein räuberf ... Und Lamech spa/nnte
seinen bogen . . . Und als nun Kain auf dem felde hervortrat,
QUELLEN DES ANEGENGE. 313
sagte der hirte zu Lantech: schiesse, siehe, da kommt er. Und
er schoss ihn mit dem pfeil . . . und er stürzte alsbald nieder
und starb.
Mit 22, 11 f. sagt der dichter eben nur, dass er noch mehr
zu erzählen wüsste, und bricht die geschichte ab, um in seiner
weitern darstellung mit Gen. 6 einzusetzen.
22, 13 — 21 geben den inhalt von Gen. 6, 5. 6 wider: videns
autem deus, quod multa malitia hominum esset in terra et
cuncta cogitatio cordis intenta esset ad mal/um omni tempore,
poenituit cum, quod hominem fedsset in terra. In v. 16 nimmt
der dichter voraus, was erst Gen. 6, 17 erzählt wird: ecce ego
adducam aquas diluvii super terram, ut interfidam omnem
carnem.
22,22 — 29 schliesst zunächst an Gen. 6,8 an: Noe vero
invenit gratiam coram domino. Dass er aus Setes geslcechte
war, ergab sich aus der genealogie Seths, wie sie Gen. 5, 6 — 29
erzählt wird. In v. 26 — 28 scheint aber unser dichter widerum
auf das Adamsbuch zurückzugehen, wo s. 98 gesagt wird: und
so lange er auf dem berge war, lud er auch nicht durch eine
Übertretung eine schuld vor gott auf sich . . . Und es geschahen
unter ihm viele wunderzeichen m^ehr als zu den Zeiten der Vor-
väter, gegen die tage der fiut hin.
Mit 22, 30 — 33 ist der inhalt dessen kurz angegeben, was
Gen. 7 und 8 erzählt wird.
22, 34—44. In v. 34—39 übersetzt der dichter Gen. 5, 31 :
Noe vero cum quingentorum esset annorum genuit Sem, Cham
et Japhet. Wenn der dichter weiter in v. 40 — 44 nicht eine
Zusammenfassung dessen im äuge hat, was über die errettung
dieser söhne in Gen. 7 und 8 berichtet wird, ähnlich wie oben
V. 30 — 33 bezüglich des Noe, so könnte man vermuten, dass
er hier abermals das Adamsbuch vor äugen hatte, wo die
Sündflut ebenfalls s. 105 f. ausführlich geschildert wird.
22, 45—53. Was der dichter schon 22, 13 ff. gesagt hat,
widerholt er hier als einleitung zu dem mer, das er darüber
berichten will. Die stelle selbst fusst auf Gen. 7, 21 ff.: consum-
taque est omnis caro quae movebatur super terram ... Et cuncta
in quibus spiraculum vitae est in terra mortua sunt (v. 47 — 49).
Gen. 7,1: dixitque dominum ad eum (sc. Noe): ingredere tu, et
omnis donms tua in arcam: te enim vidi iustum coram me in
Beiträge rar geschichte der deutschen spräche. XXIV. 21
314 TAUBER
generatione hac (v. 50 f.). In v. 52 f. wird der sündflutbericht
der bibel (Gen. 7) zusammengefasst.
22,54 — 79 J) Die grundlage dieser ausftihrungen bildet
unverkennbar Gen. 6,2: videntes filii dei filias hominum, quod
essent pulchrae, acceperunt sibi uxores ex omnihus quas eUgerant
Aber die weitere ausführung, die genaue Schilderung des landes
der Sünde kennt weder die bibel, noch irgend ein bibel-
commentar ; wol aber hat sie das Adamsbuch, das sich gerade
an dieser stelle am allerauffälligsten als quelle des Anegenge
erweist. Vor allem wird im Adamsbuche widerholt auf die
kinder gottes und die kinder der menschen, oder wie es s. 95
heisst söhne des teuf eis, hingewiesen (unser dichter in v. 55.
58 f.). Auch wird weiter ebendaselbst von s. 94 f. von dem
allmählichen abfall der kinder gottes gesprochen. S. 95: und
darnach sammelten sich andere scharen und giengen hinab,
ihre hrüder aufzusuchen^ und stürzten sich allesammt ins ver-
derben. Und so machte es eine schar nach der andern, bis nur
noch tvenige nach ihnen übrig waren (unser dichter spricht
ganz in demselben sinne v. 56 f.). Das Adamsbuch erählt weiter
s. 95: und als sie die Kainstöchter sahen, dass sie schön wären,
und an ihren händen und füssen die färbstoffe zum schmucke
und ... in den gesichtern, entbrannte in ihnen das feuer der
Sünde, Und der Satan verlieh ihnen vor den hindern Seths
grosse Schönheit und ebenso machte der Satan die Jcinder Seths
sehr schön in den äugen der Kainitinnen; und die Kainitinnen
sprangen auf die Sethiten los wie raubtiere, und ebenso die
Sethiten auf die Kainitinnen, und sie verunreinigten sich mit
ihnen (den weibem). Das stimmt mit dem was unser dichter
kürzer in v. 60 — 67 gesagt hat, inhaltlich ganz trefflich zu-
sammen, mitunter sogar wörtlich. Dass das Anegenge v. 63
schreibt daz ander chom von Cham, scheint nicht dem dichter,
sondern einem späteren abschreiber zu gehören; denn eine
solche Verwechslung darf man unserm dichter doch nicht zu-
trauen: es muss heissen daz ander chom von Cayn, Von dem
unterschiede zwischen den Sethiten und Kainiten, welchen unser
>) Der sinn von v. 56 f. ist: die woltat, kinder gottes zu heissen, liessen
sie gott sehr übel entgelten, indem sie, wie später gesagt wird, ahfielen.
22; 67 möchte man erwarten uz dem veno, chunne.
Quellen des anegexge. 315
dichter v. 62 f. aufstellt, war in der aus dem Adamsbuche
citierten stelle schon die rede; derselbe wird im Adamsbuche
widerholt und scharf betont (vgl. s. 93 f.). In dem folgenden
verse (22,68) knüpft der dichter die aus dem Adamsbuche
benutzte und eben citierte stelle an eine andere desselben
buches an, welch letztere aber in ganz anderem zusammen-
hange steht als bei unserm dichter. Im Adamsbuche wird
s. 78 erzählt, wie der teufel den Seth zum abfalle von gott zu
vei'führen sucht; damit ihm das besser gelinge, schildert er
dem knaben die herrlichkeiten seines reiches, wo es neben
vielen schönen weibern noch folgende dinge gibt: s. 78: und
nun wünsche ich dich dorthin ^u bringen, damit du meine ver-
Wanten sehest; und ich will dich verheiraten mit welcher du
willst . . . und du wirst kein opfer mehr bringen und keine
harmherzigkeit mehr zu erflehen haben (v. 70 — 72) und keine
Sünde tun und keine tierische last empfinden. Und wenn du
mich da sagen hörst, dass ich dich mit einer von meinen töchtern
vermählen wolle, — so ist das hei uns keine sünde und keine
tierische lusit (v. 73 f.). Und wir in unserer weit haben keine
götter, sondern wir alle sind selbst götter (75 unt ouch got ver-
manden), — Das stimmt also inhaltlich zum Anegenge. Und
es ist nur eine für den dichter aus dem vorhergehenden leicht
zu ziehende consequenz, wenn er 22, 76 — 80 schliesst: in allen
den landen wart daz unrecht so groz, dajs si got von recht
verlos, wand er vil m>anic mml sach; durch ^nof er do sprach.
Nun kommt der dichter wider auf den biblischen bericht
zurück. 22, 81 — 83 übersetzt Gen. 6, 3: dixitque deus: nonper-
manebit spiritus meus in homine in a^eternum, nur dass die
directe rede der bibel hier in die indirecte rede übertragen
wurde. Ganz ähnlich ist es im folgenden
22,84 — 23,4. Dazu stimmt Gen. 6, 6: poenituit eum, quod
hominem fecisset in terra; et tactus dolore cordis intrinsecus
(22,84—23,1, wobei 22, 86 und 23, 1 durch den letzten satz der
bibel angeregt sind). Weiter Gen. 6, 7 : deUbo, inquit, hominem,
quem creavi, a fade terrae, ab homine usque ad animantia, a
reptili usque ad volucres coeli: poenitet enim me fecisse eos.
Und Gen. 6, 17: ecce ego odducam aquas diluvii super terram,
ut interfidam omnem ca/tnem; in qua spiritus vitae est subter
coelum: universa, quae in terra sunt, consumentur. Diese
21*
316 TEUBEB
zweite stelle, welche mit jener aus Gen. 6, 7 fast wörtlich über-
einstimmt, musste citiert werden, weil der dichter 23,5 sagt:
diu wort sprach er Noe 0Ü, was nur für den zweiten teil der
Worte gottes gilt; denn dass gott dem Noe gesagt hatte, es
reue ihn den menschen geschaffen zu haben, davon weiss die
bibel nichts. Es ist das eine poetische licenz, die wir ihm
gerne nachsehen.
23, 5 — 10 stützt sich auf Gen. 6, 14 : fac tibi arcam de lignis
laevigatis, wobei aber in v. 8 zugleich an Gen. 6, 19 — 21 gedacht
wurde, wo erzählt wird, was alles in die arche hineinkommen
sollte; deshalb musste sie michel unt starch sein. Ebenso
schwebte bei v. 10 Gen. 7, 1 ff. vor, wo von der rettung Noes
in der arche die rede ist.
23, 11 — 29. In der hauptsache stimmen die verse mit der
Genesis tiberein, nämlich im berichte der tatsache, dass gott
dem Noe befohlen hat, eine arche zu bauen. Mit dem verse
er gab im die mazze ist Gen. 6, 15 et sie fades eam übersetzt,
und wenn es dort weiter heisst: trecentorum cubitorum erit
longitudo arcae, so müssen wir uns schon fragen, wie der
dichter zu seinem fumf hundert chlaffter lanc kommt. Gen. 6, 15
setzt fort: quinquaginta cubitorum latitudo, et triginta cubitorum
altiiudo illius; die zahlen stimmen hier mit unserm gedichte
überein, aber die nähere bestimmung der breite und höhe
stimmen widerum nicht; v. 17: fumfzic chlaffter ^tieff' kann
nur die höhe und dreicecher . . . 'vollechleiche' nur die breite be-
deuten. Zur not stimmen v. 14f.: an der hindern want hiez
er lazzen diu tur dar in zu Gen. 6,16: ostium autem arcae
pones ex latere, wobei wir uns aber immer noch wundern
müssen, wie der dichter zu der bestimmung an der hindern
want, was ja doch nicht gleich ex latere ist, gekommen
sein mag.
23, 20 — 23 gibt Gen. 6, 14: mansiunculas in arca fades
und Gen. 6, 16: deorsum coenacula et tristega fades in ea wider.
Die mansiunculae und coenacula sind es, welche der dichter
unter dem ausdrucke chemnate versteht. Unter stiege kann
nur sinngemäss stige stswf. = 'stall für kleinvieh' verstanden
werden; oder wollte der dichter das lateinische tristega damit
widergeben?
23, 24—29 ist etwas unklar und gedanken welche in der
QUELLEN DES ANEGENGE. 317
bibel in ganz anderem zusammenhange stehen, sind hier mit-
einander zu einem schwer entwirrbaren knäul zusammen-
gedreht. V. 24 f. beziehen sich auf Gen. 6, 16: fenestram in
arca fades, v. 28 f. auf die f ortsetzung dieses verses : et in cu-
hito consummdbis summitatem eius. Woher aber der vierst
kommt, lässt sich nicht sagen; hat der dichter ihn aus dem
ausdrucke summitatem, der sich in der bibel auf fenestram
bezieht, herausconstruiert? Dann bleibt aber immer noch un-
klar, wie das zu verstehen ist, dass er einer chlafftern hrceit
war. V. 26 endlich si bestriche mit chlenster bezieht sich bei
unserm dichter auf venster\ in der bibel dagegen auf die ganze
arche. Gen. 6, 14: fac tibi arcam de lignis laevigatis; mansiun-
culas in arca fades, et bitumine lines intrinsecus et extrinsecus.
Es fragt sich nun, ob wir alle diese Irrtümer auf rechnung
des dichters oder auf rechnung irgend einer apokryphen quelle
zu setzen haben. Es kommt noch ein weiteres, wovon die
bibel nichts weiss, nämlich 23, 30 — 34. Dafür bietet die bibel
eigentlich nur den schlichten satz Gen. 6, 22 : fedt igitur Noe
omnia quae praeceperat deus. Eine Zeitangabe, aus der wir
schliessen können, wie lange Noe an der arche gebaut haben
kann, findet sich Gen. 6, 3 : nachdem gott beschlossen hatte, alles
lebende zu vertilgen, sagt er: eruntque dies illius centum viginti
annorum, d. h. bis zur zeit der sündflut sollen noch 120 jähre
sein. Und gleich darauf erhält Noe den auftrag die arche zu
bauen; also hat er wol 120 jähre dazu gebraucht. Wie ver-
schieden ist diese angäbe von der unsers dichters! Eine Ver-
mutung lässt sich jedoch aussprechen: wäre es nicht möglich,
dass der dichter diesen bericht über die erbauung der arche
Noes in der fassung des Adamsbuches welche ihm vorlag, ge-
funden hat, während er in der fassung fehlt welche wir kennen?
23, 35 — 41 entspricht inhaltlich Gen. 6, 21 : tolles igitur
tecum ex omnibus esds, quae mandi possunt, et comportabis
apud te; et erunt tam tibi quam Ulis in dbum.
23,42 — 44 übersetzt Gen. 6, 18: et ingredieris arcam tu et
filii tui, uxor tua et u^cores filiorum tuorum tecum,
23,45—51 sind eine getreue Übersetzung von Gen. 7, 2:
ex omnibus animantibus mundis tolle septena et septena, mas-
culum et feminam; de animantibus vero immundis duo et duo^
masculum et feminam.
818 TEUBEB
23, 52 — 55. Dem entspricht Gen. 7, 4: adhuc mim, et post
'dies Septem' ego phmm super terram ...et delebo omnem sub-
stantiam quam fed de superfacie terrae.
23,56 — 76. Diese ganze stelle ist nur eine weitere aus-
führung dessen was wir im Adamsbuche s. 105 finden: und
gott sprach su Noah: steige hinauf oben auf die arche und
blase mit der trompete dreimal, damit die tiere und die vögel
sich versammeln. Und gott sagte zu Noah: der schall dieser
trompete geht nicht allein aus ihr hervor, sondern 'meine TcrafV
geht mit ihrem schalle aus, damit er in die ohren der tiere und
vögel dringe. Und wenn du diese trompete blasen wirst, werde
ich meinem enget befehlen, dass er vom himmel herab in ein
hörn stosse, und es werden sich alle tiere zu dir versammeln.
Und alsbald blies Noah die trompete, me gott ihm gesagt hatte,
und der engel stiess in das hörn vom himmel herab, also dass
die erde erbebte und alle geschöpfe auf ihr erschüttert wurden.
Und es versammelten sich die tiere und die vögel und alles was
sich regt.
23, 77 got selbe zu sloz entspricht Gen. 7, 16: et inchsit eum
dominus deforis (auch Adamsbuch s. 106).
23, 78—83 gibt inhaltlich Gen. 7, 10—12 wider: aquae di-
luvii inundaverunt super terram (das ist der allgemeine aus-
druck, der später näher bestimmt wird, und unser dichter hatte
nicht unrecht, wenn er dafür im kräftigen deutsch sagte do
wart ein weter vil groz), rupti sunt omnes fontes abyssi magnae,
et cataractae coeli apertae sunt (v. 79 — 81). Et facta estpluvia
super terram quadraginta diebus et quadraginta noctibus (v.82f.).
23,84 — 24,5 ist zum teile wörtlich genau dasselbe, was
in der Gen. 7, 19 f. gesagt wird: et aquae praevaluerunt nimis
super terram, opertique sunt omnes montes excelsi sub universo
coelo. Quindecim cubitis altior fuit aqua super montes, quos
operuerat
24,6 — 14. Zurückgreifend (v.6) auf das, was er b^eits
22, 80 ff. und 23, 1 — 4 gesagt hatte, schliesst der dichter im
übrigen wider an Gen. 7, 21 ff. 8,4 an: 'universi homines" et
cuncta, in quibus spiraculum vitae est in terra, mortua sunt
(24, 7 — 9). Bemansit autem solus Noe et qui cum eo era/nt in
arca (24, 10). Bequievit arca mense septimo . . . super montes
Armeniae (24, 11. 13).
QUELLE!^ DES ANEGENGE. 319
24,15—18. V. 15 übersetzt zunächst G^n. 8, 1 : et immi-
nutae sunt aquae. V. 16 — 18 sind selbständige erflndung des
dichters mit anscUuss an Gen. 7, 23.
24, 19 — 25 enthält ganz dieselben gedanken wie Gen. 8, 6 f.:
cumque transissent quaä/raginta dies, aperiens Noe fenestram
arcae quam fecerat ^dimisit corvunC, Qui egrediebatur et non
revertehatur (v. 19. 21. 24 f.). V. 20. 22 f. beruhen auf Gen. 8, 8:
emisit quoque columbam post eum (vom dichter allerdings auf
den raben angewendet, was ja der context der bibel zulässt),
ut videret, si iam cessassent aquae super fadem terrae,
24,26 — 34. V. 26f. übersetzt Gen. 8, 8: emisit quoque co-
lumbam. V. 28 ist selbständige zugäbe des dichters (übrigens
an allen stellen der patristischen literatur, wo von dem er-
scheinen des U. geistes die rede ist, wird von den vorzüglichen
eigenschaften der taube gesprochen, und es ist nicht unmöglich,
dass der dichter beim niederschreiben dieses verses daran ge-
dacht hat). V. 29—34 geben den Inhalt von Gen. 8, 9 etwas
subjectiv gehalten wider: quae (sc.columba) cum non invenisset,
ubi requiesceret pes eius, reversa est ad eum in arcam: aquae
enim erant super universam terram,
24, 35 — 39 stimmt zu Gen. 8, 10: expectatis autem ultra
Septem diebus aliis rursum dimisit columbam ex arca.
24,40 — 47 ist frei nach Gen. 8, 11 gearbeitet: at illa venit
ad eum ad vesperam, portans ramum olivae virentibus foliis in
ore suo (was notwendig vorausgegangen sein muss, sagt der
dichter v. 40 — 43). Intelleodt ergo Noe, quod cessassent aquae
super terram. Diesen letzten satz hat der dichter in v. 44 — 47
ganz schön auszuschmücken verstanden.
24, 48—59. V. 48—54 gibt den Inhalt von Gen. 8, 12: ex-
pectavit nihilominus Septem alios dies, et emisit columbam, quae
non est reversa ultra ad eum, V. 55 — 57 sind, wie der dichter
selbst in v.58 f. zugibt, subjective selbsterfundene Vermutungen;
ein übrigens nicht ungeschickter versuch, das wegbleiben der
taube zu erklären.
24, 60 — 65 gibt abgesehen von der poetischen einkleidung
denselben gedanken wider wie Gen. 8, 13: igitur , , , imminutae
sunt aquae super terram; et aperiens Noe tectum arcae aspexit,
viditque quod exsiccata esset superficies terrae,
24, 66—74. Mit v. 66 f. sagt der dichter dasselbe, was er
320 TEUBBB
bereits 22, 29. 32 f., gestützt auf Gen. 6, 9 und Gen. 7 und 8 zu-
sammenfassend, gesagt hatte. V. 72 f. übersetzen Gen. 8, 14:
arefacta (st terra. In v. 68 — 70 gibt der dichter recht poetisch
den gedanken wider, den Gen. 8, 15 — 17 enthalten: locutus est
autem deus ad Noe, dicens: egredere de arca, tu et uxor tua,
filii tui et uxores filiorum tuorum tecum, Cuncta animantia,
quae sunt apud te, ex omni came, tarn in volatilibus, quam in
hestiis, et universis reptilihus, quae reptant super terram, educ
tecum (alles das fasst der dichter in dem verse do gie uz unt
chras allez daz dar inne was sehr gut zusammen), et egredimini
super terram {an die suzzen wmde).
24, 75—78 erinnert an Adamsbuch s. 108, ist aber auch
Gen. 9, 3 enthalten: et omne quod movetur et vivit, erit vohis
in cihum. Die stelle ist wol auf die Genesis zurückzuführen;
denn im Adamsbuche wird nur gesagt, dass gott speise für die
tiere geschaffen habe.
24, 79 — 81 fusst auf Gen. 9, 1 : lenedixitque deus Noe et
filiis eius. Et dixit ad eos: cresdte et muUipUcamini etreplete
terram. Das henedixit, der segen gottes, war notwendig, dass
die erde dem Noe genuchtsam allez gutes brachte.
24, 82—25, 1. V. 82 f. übersetzt wörtlich Gen. 9, 4: excepto
quod camem cum sanguine non comedetis. Die verse 84 — 87
entsprechen der gleich folgenden stelle der bibel, allerdings
nur dem Inhalte nach; denn Gen. 9, 5 heisst es: sanguinem
enim animarum vestrarum requiram de manu cuncta/rum bestia-
rum: et de manu hominis, et manu viri, et fratris eius requiram
animam hominis. Direct ist das was unser dichter sagt, Lev.
17, 14 ausgesprochen: anima enim omnis carnis in sanguine
est; unde diad filiis Israel: sanguinem universae carnis non
comedetis, quia anim^ carnis in sanguine est: et quicumque
comederit illum, interihit^)
25, 2—19. Die verse 9—19 sind im wesentlichen dasselbe,
was Gen. 9, 9 — 15 gesagt wird: ecce ego statuam pactum meum
vohiscum, et cum semine vestro post vos . . . Statuam pactum
* Mit dieser frage beschäftigt sich Ambrosius in seinem werke De Noe
et arca lib. unus (t. 1, 404 f.) ausführlich. Nicht minder Rupert v. Deutz,
1. 1, 356. Es ist wol nicht notwendig, in einem dieser beiden Schriftsteller
die quelle unsers dichters zu vermuten, da ihm ja die hl. schrift doch viel
näher gelegen,
Quellen des anegenge. 321
meum voUscum, et nequaquam ultra interfidetur omnis caro
aquis diluvii, neque erit deinceps diluvium dissipans terram
(v. 9. 10. 13. 14). Diadtque deus: hoc Signum foederis, quod do
inter me et vos, et ad omnem animam viventem, quae est vo-
hiscum in generationes sempiternas, Ärcum meum ponam in
nuhibus, et erit Signum foederis inter me et inter terram (v. 11 f.).
Cumque obduxero nubibus coelum, apparebit arcus meus in
nuhibus, et recordabor foederis mei vobiscum, et cum omni
anima vivente quas carnem vegetat: et non erunt ultra aquae
diluvii ad delendum universam carnem (v. 15 — 19). Auch hier
hat der dichter, wie wir schon öfters zu bemerken gelegenheit
hatten, die directe rede der bibel in die indirecte übertragen.
Schwierigkeit machen die verse 2 — 8; denn davon, dass Noe
die erde nicht bebauen wollte, weil er fürchtete, es könnte
neuerdings eine Wasserflut hereinbrechen, die seine ganze
arbeit unnütz machen würde, steht in der bibel nichts, noch
ist es mir gelungen in irgend einem commentare oder einer
apokryphen schritt etwas derartiges aufzufinden. Es scheint
demnach diese ansieht erfindung des dichters zu sein; ja ich
halte es nicht für ganz schwierig, eine erklärung dafür zu
geben, wie in unserm dichter diese ansieht entstanden ist.
Hält man sich nämlich vor äugen, mit welcher feierlichkeit
Gen. 9, 8 — 17 gott der herr den bund mit Noe eingeht, nachdem
er kurz zuvor gesagt et egredimini super terram, et implete eam
(v. 7), was doch schliesslich auf das 'bebauen' der erde hinaus-
geht; denkt man weiter daran, dass zweimal gesagt wird sta-
tuam pactum meum vobiscum (9. 11) und gewissermassen mit dem
erscheinen des regenbogens von seite gottes eine schriftliche
Urkunde dieses Vertrages ausgestellt wird; erinnert man sich
endlich daran, wie gott immer wider betont, er werde des
bundes den er mit Noe geschlossen, stets eingedenk sein, so
liegt die frage nach dem warum? sehr nahe. Diese frage
mag sich auch unser dichter gestellt haben, und er kam zu dem
resultate, dass das alles nur geschehen sei, weil Noe vom
herrn eine ausdrückliche Versicherung, ein förmliches ver-
sprechen verlangt habe, dass er die erde nie wider durch eine
Wasserflut heimsuchen werde; denn wäre er dessen nicht ver-
sichert worden, so hätte er sich aus furcht vor einem ähnlichen
ereignisse nicht dazu herangemacht, die erde z\i bebauen.
322 TEüBEB
25,20 — 22 fassen die rettung des Noe aus der sttndflnt
kurz zusammen und dürfen als des dichters eigentum bezeichnet
werden.
25, 23 — 30. Gen. 8, 20 heisst es: aedificavit autem Noe
altare domino; et tollens de cunctis pecorihus et volucribus
mundis, dbtulit holocausta super altare. Das geschieht nach
der bibel vor abschliessung des bundes mit Noe; unser dichter
setzt die darbringung des opfers aber nach der bundes-
schliessung. Weiter bringt nach dem berichte der bibel Noe
freiwillig ein opfer dar, ohne geheissen zu sein, nachdem er
zuvor aus eigenem antrieb, ohne befehl gottes, einen altar
erbaut hat; bei unserm dichter wird Noe von gott dazu auf-
gefordert. Und das ist wider ein gedanke, der dem Adams-
buche angehört, wo es s. 108 heisst: und gott sante sein wort
^u Nodh, indem er sagte: Noah, nimm von der reinen gattung
und bringe von ihnen auf dem altar vor mir ein opfer dar
und entlasse die tiere aus dem Jcasten, Und Noah gieng hinein
in den kästen und nahm von den reinen vögeln . . . und fieng
an, wie ihm gott befohlen hatte, und brachte opfer dar auf dem
altare vor gott Die letzten worte und fieng an u.s.w. scheinen
die verse 27 f. veranlasst zu haben. Uebrigens sieht man aus
V. 25f., dass dem dichter auch der oben citierte vers der Ge-
nesis 8, 20 et tollens ex 'cunctis' pecoribus etc. vorschwebte.
25, 31 f. übersetzt Gen. 9, 20: coepitque Noe vir agricola
exercere terram, et plantavit vineam.
25, 33—42. Die grundlage für diese stelle bildet Gen. 9,21:
bibensque vinum inebriatus est, et nudatus in tabernaculo suo.
Alles andere ist ausmalung des dichters. Wenn er sich auf
diu schrifft beruft, so citiert er wol eine quelle an einer stelle,
wo er gar keine benutzte.
25,43 — 52 stimmt inhaltlich mit Gen. 9, 22: quod cum vi-
disset Cham, pater Chanaan, verenda sdlicet patris sui esse
nudata, nuntiavit duobus fratribus suis foras. V. 52 bezieht
sich auf den fluch des vaters, der später (25, 59 f., vgl. Gen.
9,25) über ihn ergeht.
25, 53 f. f asst der dichter zusammen, was G^n. 9, 23 steht :
at vero Sem et Japhet pallium imposuerunt humeris suis, et
incedentes retrorsum, operuerunt reverenda patris sui,
25,55—57 ^bt Gen. 9,24 wider: evigilans autem Noe ex
QUELLEN DES ANEGENGE. 323
vino, cum dddicisset, quae fecerat ei filius suus minor. —
25, 58 — 62 übersetzt und erklärt Gren. 9,25: m^ledictus Chanaan,
servtis servorum erit fratrihus suis.
Damit hat der dichter einen grossen teil seines gedichtes
vollendet. Bevor er zu dem anderen hauptteile seines werkes,
den wir wol am besten 'erlösungsgeschichte' betiteln, übergeht,
schiebt er eine partie (25,64 — 27,2) ein, in welcher er dar-
zutun sucht, ob und inwieweit es möglich sei *gott zu sehen',
oder, um den patristisch-scholastischen ausdruck beizubehalten:
der dichter handelt de visione dei Wir hatten bereits in
früheren abschnitten des Anegenge bemerken können, wie
unserm dichter Hugo von St. Victor als quelle für viele theo-
logisch-philosophische ansichten, als führer durch manch schwie-
rige frage diente. Wir sahen auch, wie der Verfasser des
Anegenge durch Hugo auf andere quellen geführt wurde, und
zwar dadurch, dass sie bei Hugo citiert waren. Das letztere
scheint auch bei der folgenden partie unsers gedichtes der
fall zu sein. Hugo von St. Victor behandelt nämlich in seiner
Schrift De sacramentis lib.2, pars 18, c. 16 ff. (Migne 1. 176, 613 ff.)
ebenfalls die frage de visione dei. Diese abhandlung Hugos
hat unser dichter wol gekannt, und durch sie kann er auf die
Schrift De videndo deo des Augustinus (Migne t. 33, 596 ff.) auf-
merksam gemacht worden sein.
Anschliessend an die vorhergehende erzählung von Noe
und dem bündnisse, das der herr mit ihm geschlossen, kommt
der dichter auf die frage, ob wir mit * fleischlichen äugen' wol
im Stande seien, gott zu sehen: 25,64 — 72. V. 64— 68 sind
hier selbständige einleitung des dichters; v. 69 — 72 stellen das
thema füi- die folgende darstellung (bis 28, 2) fest. Der dichter
wül aber mit manigen urchunden her wider reden, d.h. nicht
aus dem eigenen anschauungskreise will er die sache darstellen,
sondern mit manigen urchunden, worunter die Zeugnisse der
hl. Schrift und der kirchenväter, auf die sich der dichter in
seiner darstellung entweder direct beruft, oder die er, ohne
sich speciell darauf zu berufen, doch benutzt und ausbeutet.
Ganz ähnliche gedanken finden wir auch bei Augustinus aus-
gesprochen. Nachdem er sich über das schauen des leiblichen
und geistigen auges verbreitet hat, nachdem er den unterschied
824 TEÜBER
zwischen glauben und schauen klar gelegt, kommt er auf die
scheinbar einander widersprechenden schriftstellen Joh. 4, 9:
qui me vidit, videt et patrem und Joh. 1,18: deum nemo mdü
unquam zu sprechen (Ep. 147, c. 5, no. 16, t. 2, 603) und fährt
fort: profecto quoniam deum nemo hominum vidit unquam, nee
patrem quisquam putandus est vidisse, nee filium secundum
quod deus est et cum patre unus deus, Nam secundum id
quod hämo est, utique in terra visus est et cum hominibus con-
versatus est (die stelle nee filium secundum quod est deus hat
unser dichter, das sei hier im voraus bemerkt, scharf hervor-
gehoben s. 26). De trinitate (lib. 2, c. 9, no. 16, t. 8, 855) sagt
Augustinus: nos qui nunquam corporis apparuisse oculis deum
nee patrem nee filium nee spiritum sanctum dicimus, nisi per
subiectam suae potestati corpoream creaturam,
25, 73 — 80. Dass der dichter unter den männem des
alten bundes, von denen erzählt wird, dass gott mit ihnen
geredet habe, dass sie aber gott, theologisch zu sprechen,
naturaliter sicut est nicht gesehen haben, Noe zuerst anführt,
ist begreiflich; denn er hat uns ja kurz zuvor dessen geschichte
erzählt. Von Noe ist bei Augustinus nicht die rede, ebenso
von Adam nicht; wol aber von Kain. Ep. 147, c. 11, no.26
heisst es: quando non solum cum Abraham aliisque iustis
verum etiam cum Cain fratridda locutus est. Die worte aliis-
que iustis mögen unsern dichter veranlasst haben sowol jene
zu nennen, welche Augustinus nicht nennt, als auch mögen
sie ihm den ganz richtigen gedanken eingegeben haben, eine
gewisse chronologische Ordnung in die aufführung der gerechten
des alten bundes hineinzubringen; daher die verse 26, 1 ff., wo
er der reihe nach Enoch, Elias, Abraham, David, Moyses auf-
führt. Wenn der dichter 25, 79 f. sagt da^s; was nicht mere,
wan daz ein enget im erschcein, so beruht das auf Augustinus'
De trinitate 1.3, c. 11, no. 22, s. 822: omnia quae patribus visa
sunt, cum deus Ulis praesentaretur, per creaturam facta esse
manifestum est Etsi nos tatet, quomodo ea ministris angelis
fecerit, 'per angelos tamen esse dicimus facta',
26, 1 — 10. Damit gibt der dichter nur einen historischen
aus der hl. schrift entnommenen beleg für die behauptung des
Augustinus (Ep. 147, c. 7, no. 19, t. 2, 604) : qui (sc. deus) cui
voluerit sicut voluerit apparet ea spede, quam voluntas elegerit
QUELLEN DES ANEGENGE. 325
etiam latente natura, Elyas und Enoch wären vom dichter
eigentlich in umgekehrter reihenfolge aufzuführen gewesen,
wenn der dichter anders die Chronologie bewahren wollte.
Allein Enoch reimt sich mit /sfoch (so wird die form im original
geheissen haben), und das ist wol der grund für diese Umstel-
lung gewesen. Die belegstellen aus der hl. schrift für Enoch
finden sich Gen. 5, 24: ambulavitque (sc. Henoch) coram deo, et
non apparuit, quia tulit eum deus; für Elias ist 4. Reg. 2, 11
heranzuziehen: et ascendit Elias per turhinem in coelum. Ganz
consequent sagt der dichter dais er siu noch hede mit leihe unt
mit sele hat Inhalten 'swa er wiV : denn nirgends wird über den
auf enthalt dieser beiden männer gottes etwas näheres erzählt.
Was der dichter in v. 9 von Abraham sagt, bezieht sich auf
Gen. 18, 1: apparuit autem ei dominus in convalle Mambre;
und was er ebenda von David sagt, bezieht sich auf 2. Reg.
23, 3 : dixit deus Israel mihi (David spricht von sich selbst),
locutus est fortis Israel. Vielfach ist in der patristischen
literatur die frage behandelt worden, ob denn Moses, als er
auf dem berge Sinai von gott die gesetztafeln empfieng, auch
gott wirklich gesehen habe, wie er (natura sua) ist, da er ja
facie ad fadem mit ihm sprach. Dieses thema behandelten
Athanasius von Alexandrien, Gregorius (wahrscheinlich Nazian-
zenus), Ambrosius und nach ihm Augustinus, der unserm dichter
auch die gedanken geliehen hat, welche er über Moyses aus-
spricht (26,12-32). Augustinus sagt (Ep.l47, c.8, no.20, t.2,605):
desiderium autem veraciter piorum, quo videre deum cupiunt et
inhianter ardescunt, non, opinor, in eam spedem contuendam
flagrat, qua ut vult apparet, quod ipse non est; sed in eam
substantiam qua ipse est quod est, Huius enim desiderii sui
flammam sanctus Moyses, fidelis famulus eius, ostendit, uhi ait
deo, cum quo ut amiüus fade ad fadem loquehatur: si inveni
gratiam ante te, ostende mihi tdpsum (Ex. 33, 13 frei citiert).
Quid ergo? ille non erat ipse? si non esset ipse, non d diceret:
ostende mihi tdpsum, sed ostende mihi deum: et tamen si dus
natu/r am suhstantiamque conspiceret, multo minus diceret: ostende
mihi tdpsum. Ipse ergo erat in ea spede, qua apparere vo-
luerat; non autem ipse appa/rebat in natura propria, quam
Moyses videre cupiehat . , . Unde quod responsum est Moysi
verum est, quia nemo potest fadem dd videre et vivere.
326 TSUBEB
Anegenge 26, 11—36 mit der stelle des Augustinus zu-
sammengehalten lässt ein abhängigkeitsverhältnis zwischen
beiden nicht verkennen. Wir werden sagen, der dichter ist
durch jene stelle angeregt worden, die frage ob gott von
Moyses {natura sicuti est) gesehen worden sei, ausführlicher
zu behandeln, als wie er das bezüglich der übrigen gerechten
des alten bundes tut. Er hält dabei ganz das verfahren des
Augustinus bei. Jedoch näher zugesehen stellt sich heraus,
dass der dichter die frage nicht wie Augustinus philosophisch
zu erläutern, sondern einfach historisch darzustellen versucht.
Die ganze darstellung des Augustinus beruht auf Ex. 33, 13,
ja er citiert stellen daraus, und das war es, was unsem dichter
wider veranlasste, auf den biblischen bericht zurückzugehen.
So ergibt sich denn für 26, 11 — 16 folgendes quellenverhältnis:
die stelle beruht teils auf der oben citierten stelle des Augu-
stinus, teils auf Ex. 33, 13. 18: si ergo inveni gratiam in con-
spectu tuo, ostende mihi fadem tuam, Qui ait: ostende mihi
gloriam tuam. Und schon v. 17 nennt der dichter uns seine
quelle: nu sprichet daz buch, worunter er kein anderes buch
als die Exodus verstehen kann, die er übrigens füglich schon
V.13 hätte eitleren können. — V. 17. 18 geben Ex. 33, 22 inhalt-
lich wider: et iterum: ecce, inquit, est locus apud me, et stabis
supra petram. Der dichter weicht insofern von seiner quelle
ab, als er sagt: hinder einen stcein, statt uff einen stasin, —
V. 19 stimmt zu Ex. 33, 22: cumque transibit gloria mea. —
Ebenso v. 20 zu Ex. 33, 23: tollamque manum meam et videhis
'posteriora' mea, — V. 21—23 gibt Ex. 33, 20 (denn das ist das
buch, welches der dichter hier meint) wider: rursumqus ait:
non poteris vtdere fadem meam, Non enim videbit me hämo
et vivet, — V. 24 — 29 geben inhaltlich Ex. 34, 29 wider: cum-
que descenderet Moyses de monte Sinai, tenebat dtms tabulas
testimonii, et ignoräbat, quod cornuta esset fades sua ex con-
sortio sermonis domini, — Die verse 30 — 36 sind subjective
reflexionen des dichters.
Nun hat uns der dichter die grossen männer des alten
testamentes vorgeführt und gezeigt, dass sie den herm (natu/ra
proprio) nicht gesehen haben; im folgenden geht er zu den
heiligen des neuen testamentes über, legt sich auch hier die
frage vor, ob sie gott gesehen haben, und beginnt nicht
Quellen des anegenge. 327
ungeschickt mit Petrus. Auch von ihm behauptet er 26, 37—39:
wosrlich die (gotes magenchrafft nämlich) engisach sant Peter
noch nie weder dort noch hie. Auch diese stelle ist durch
Augustinus (Ep. 147, c. 12, no. 30, t. 2, 610) angeregt: Petrus hat
Christum, so heisst es dort, als den söhn gottes bekannt mit
den Worten: tu es ChristuSj filius dei vivi Augustinus knüpft
daran die bemerkung: quamvis illa revelatio utrum per fidem
tantae rei creditae, an 'per visionem' conspectae facta in eius
mente fuerit, mon mihi videtur elucere, cum et ipse Petrus tarn
parvulum se adhuc Uli ostenderit, ut timeret, ne amitteret mo-
rientem, quem filium dei vivi . . . paulo ante confessus fuerit.
Damit will Augustinus sagen, dass Petrus, obwol er Christum
als söhn gottes bekannt hat, ihn nur deswegen als solchen
bekannte, weil er entweder glaubte, dass er es sei, oder weil
er eine Offenbarung erhalten habe; dass er ihn aber deswegen
nicht als söhn gottes bekannte, weil er die gottheit in Christus
von angesicht zu angesicht sah. Diesen sinn hat der dichter
in den citierten versen widergegeben und die sache auch gleich
aufe jenseits ausgedehnt.
Zu 26, 40 — 46 ist ein citat heranzuziehen, das Augustinus
(Ep. 148, C.2, no. 7, t. 2, 625) aus Hieronymus bringt: videre deum
sicut est in natura sua oculus hominis non potest: non solum
homo, nee angeli, nee throni, nee potestates, nee dominationes
nee omne nomen quod nominatur, neque enim creatura potest
aspicere creatorem suum. Den sinn dieser worte gibt der
dichter in v. 40 — 44 wider und wendet sie in v. 39 auch auf
Petrus an. Dass er auch die uheln (enge!) mit herein zieht,
mag Augustinus (Ep. 147, c. 5, no. 15, t. 2, 602) ebenfalls ver-
anlasst haben, der ausdrücklich Verwahrung dagegen einlegt,
dass auch die bösen engel gott schauen: multum enim miror,
si eo usque progrediuntur, qui existimant impios visuros deum
et a didbolo visum deum, ut eos et mundo corde esse, et pacem
et sanctificationem cum omnihus a^ssectari perseverent,
26,47 — 50. Damit sucht der dichter einer naiven frage
zu begegnen; er verweist aber den fragenden sofort mit 26, 51
— 56 auf Paulus. Die stelle ist tatsächlich auf 2. Cor. 12, 1 — 4
zurückzuführen, speciell heisst es v. 2: scio hominem in Christo
natum . . . raptum huiusmodi usque ad tertium coelum. Unter
dOTi Worte hominem versteht Paulus, wie der context erkennen
328 TEUBEB
lässt, niemand anderen als seine eigene person. Weil er nun
seinen namen nicht nennt, sondern nur sagt: scio hominem,
deshalb schrieb unser dichter: der grozze lercere, daz er ez selbe
wcere, daz zöch er sich nicht an, Paulus und dessen aus-
spruch in diese abhandlung hineinzuziehen, veranlasste unsem
dichter aber Augustinus, der (Ep. 147, c.l3, no.31) sagt: deinde
potest moveri quomodo ipsa dei suhstantia videri potuerit a
quihusdam in hoc vita positis . . . nisi quia humana mens divi-
nitus rapi ex ha^c vita ad angelicam vitam ... Si enim raptus
est, qui audivit illic ineffabilia verha, qua£ non licet hominibus
loqul Diese letzten worte sind worte des Paulus, und es
kann kein zweifei sein, dass Augustinus unter demjenigen qui
raptus est auch Paulus verstanden wissen will. Und das ver-
anlasste eben den dichter auf jene stelle selbst zurückzugehen,
wo Paulus diese sache erzählt, d. h. 2. Cor. 12, 2 — 4. Und diese
stelle hat der dichter durch 26,57 — 62 widergegeben. Augu-
stinus ist a.a.O. nicht geneigt zu glauben, dass Paulus wirk-
lich gott gesehen habe wie er ist, und da Paulus selbst sagt,
dass er in den dritten himmel entrückt wurde, aber gänzlich
davon schweigt, dass er gott gesehen habe, so finden wir auch
die verse 26, 63—68 ganz begreiflich.
26, 69 — 81. Wenn der dichter in diesen versen die mög-
lichkeit, gott zu sehen, mit aller entschiedenheit in abrede
stellt, so fusst er auch hierin auf Augustinus, der seinerseits
wider dem ansehen des Hieronymus weicht. Augustinus (Ep. 148,
c. 2, no. 7, t. 2, 625) sagt: sanctus autem Hieronymus ait: videre
deum sicuti est in natura sua, oculus hominis non potest. Zu
diesem citat gibt Augustinus folgende erklärung: his verhis vir
doctissimus satis ostendit, quid etiam de futuro saeculo senserit,
quod ad hanc rem attinet Quantumlihet enim oculi corporis
nostri mutentur in melius, angelorum oculis aequabuntur. Hie
autem et ipsis et universae omnino coelesti creaturae invisibilem
naturam didt esse creatoris. Und auf diese stelle scheint
sich Gregorius (Migne t. 76, 90) zu beziehen: sciendum vero
est, quod fuere nonnulli, qui deum dicerent etiam in illa regione
beatitudinis in claritate quidem sua conspici, sed in natura
minime videri. Auch diese stelle muss der dichter gekannt
haben; wenigstens lassen das die verse 73 — 76 erschliessen.
Dunkel, zum teil schwer verständlich und vielleicht schlecht
QUELLEN DES ANEGENGfi. 329
Überliefert sind 26, 82 — 27, 19. Diese stelle könnte ganz gut,
ohne dass im geringsten eine Störung verursacht würde, aus
dem texte fortgelassen werden. Denn 27,20 — 23 iedoch wil
ich nü zestunde tu des ein tcetl sagen, wie daz chumt dcus si
nicht enmegen gesehen den hceiligen Christ schliesst ganz gut
an 26,81 an, wo der dichter die frage, ob man gott sehen
könne — und hier versteht der dichter vorzugsweise gott den
vater — abgeschlossen hat.
Weiter fragt es sich sehr, auf wen sich die verse 27, 14 — 19
beziehen. Auf Gregorius können sie sich nicht beziehen; denn
das gäbe keinen sinn. Sie scheinen sich auf den dichter des
Anegenge selbst zu beziehen, speciell auf 26,79 — 81; und es
soll damit gesagt werden: derjenige der dieses lied gedichtet,
der speciell darüber gesprochen hat, dass man gott mit fleisch-
lichen äugen nicht sehen könne, hat nach den besten quellen
gearbeitet, unter anderen auch nach Gregorius, der ebenfalls
von dieser sache spricht; und deswegen möget ihr leicht er-
kennen, dass dieser mann auch leicht den streit in dieser sache
aufnehmen könnte mit demjenigen der ihm etwa widerspräche,
wie er 26, 79 — 81 gesagt hat: swer icht anders dar unibe wil
jehen, des antwurt wir enceit, so wir vernemen seinen streit
Hätte der Verfasser des Anegenge in dieser stelle aber von
sich selbst gesprochen, so hätte er wol die 1. pers. sing, oder
höchstens die l.pers. pl. gebraucht und gesagt: da bi ir wol
meget die warhceit erchennen, da0 wir (ich) denne vil wol vinden
(vinde). Das alles zusammengenommen ergibt, dass diese stelle
sehr wahrscheinlich nicht von dem Verfasser des Anegenge her-
rührt, sondern von einem späteren abschreiber dieses gedichtes,
der dem dichter einen denkstein in dessen eigenem gedichte
setzen wollte, wobei er es nicht übel verstand, 26, 81 mit 27, 20
zu verbinden.
Man könnte einwenden: der dichter musste in v. 16. 17
schreiben: daz er (nicht wir oder ich) denne vil wol vindet;
denn sonst hätte er keinen reim auf under windet in v. 18 ge-
habt. Darauf lässt sich vor allem antworten, dass man nicht
einsehen könnte, warum der dichter nicht auch hier mit einer
blossen assonanz hätte zufrieden sein können, da er es an
vielen anderen stellen auch ist. Wollte man aber diese stelle
als eigentum des Verfassers des Anegenge ansehen mit rücksicht
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 22
330 1?EÜBE&
darauf dass sich ja sonst nirgends in dem so langen gedichte
eine fremde band bemerken lasse, so wäre wol eine andere
conjectur möglich: Augustinus, der, wie wir gesehen haben, für
diese so schwierige frage die quelle unsers dichters ist, führt
(Ep. 148, no. 10, t. 2, 626) unter den schriftsteilem welche über
die visio dei gehandelt haben, neben Hieronymus, Ambrosius,
Athanasius auch einen Gregorius an, den er sanctus episcopus
Orientalis nennt. Und tatsächlich findet sich unter den Schriften
des Gregor von Nazianz eine rede (no. 49), welche denselben
Stoff de visione dei behandelt; diesen also könnte Augustinus
genannt haben. Die späteren gelehrten schreiben allerdings
die rede dem Gregorius Eliberitanus, einem spanischen bischofe
zu. Mag sie nun gehören wem sie will: Augustinus citiert die
meinung dieses Gregorius zweimal (a. a. o. und ib. c. 4, no. 15,
s. 625). Sollte das unserm dichter veranlassung gegeben haben,
sich hier speciell auf Gregorius zu berufen? Es wäre dann
derjenige von dem der dichter sagt: er hat eine tieffe rede gi-
tan, ze diu d^iz er uns benne den man der da ticktet dajs liet
(also de visione dei?), Augustinus; der mann den er benennt,
wäre jener Gregorius und der vers ern tmte sein für namens
nicht bezöge sich darauf, dass ihn Augustinus einfach als epi-
scopus Orientalis bezeichnet. Und die verse 3 — 7 wären dann
ein lob auf Augustinus (während sie im anderen falle, dass
diese stelle ein einschiebsei wäre, sich auf den dichter des
Anegenge bezögen). Femer bezögen sich v. 8 ff. auf eine stelle
desselben (Ep. 148, c. 2, no. 10, t. 2, 626), wo es heisst: ut et illud
verum sit quod deum nemo vidit unquam, quae vox ipsius domini
Christi est, was ja mit Aneg. 27, 8. 9: da^ der wäre gotes sun
von dem selben dinge sprach stimmen würde. So viel ist bei
der ganzen sache aber sicher, dass unser dichter jene rede
des Gregorius höchstens aus dem citate des Augustinus ge-
kannt hat, und es scheint daher nur gelehrter anstrich zu
sein, wenn er sich auf jenen Gregorius bemft. Wie wir aber
sehen werden, hat unser dichter in der späteren partie seines
gedichtes Gregorius den grossen benutzt. Wäre es dann nicht
möglich, dass er in jenem citat (v. 13) Gregorius dervon ge-
redet diesen meint, allerdings an einer stelle wo es nicht an-
gezeigt war? So viel lässt sich hier conjecturieren: ganz
aufhellen lässt sich die sache nicht.
QtTELLEN Dm ANfiGENGS!. 331
27, 20 — 38. Diese stelle fusst auf Augustinus, Ep. 147, c. 19,
no.46, t.2,617: et quod corruptibüe hoc et mortale corpus nostrum
in resurrectione commutabitur et induet incorruptionem et im-
mortalitatem; et quia seminatur corpus animale, resurget corpus
spirituale transfigurante domino corpus humilitatis nostrde. Das
drückt der dichter sehr schön aus in den versen 25 — 29.
Bei Augustinus heisst es weiter Ep. 148, c. -2, no. 8, s. 626 :
quando visus est (sc. Jesus Christus) ah hominihus per oculos
corporis tamqiMm ipse corporeus, non cum secundum naturae
proprietatem fuisse visum, in qua tunc mente cernitur, quando
invisibilis cernitur. Quibus invisibilis, nisi aspectibus corpora-
libus etiam coelestihus, sicut supra de angelis et potestatibus
et dominationibus dixit? (gemeint ist Hieronymus). Diese stelle
gibt der dichter wider durch die verse 22 — 24 und 30 — 33.
Auch den letzten satz, den der dichter in v. 34 — 37 aus-
spricht, finden wir bei Augustinus vorgebildet, a.a.O. no. 7,
s. 625: nos autem omnes revelata fade gloriam domini specu-
lantes, in eamdem imaginem transformamur a gloria in gloriam,
tamquam a domini spiritu, licet fadem ad fadem dei iusta
naturae proprietatem nulla videat creatura, et tunc mente cer-
natur, quando invisibilis creditur.
27, 39 — 47. Diese stelle hat ihre grundlage zunächst bei
Matth. 27, 52: et monumenta aperta sunt; et multa sanctorum
Corpora, qui dormierant, surrexerunt. Was der dichter sagt,
ist nur eine anwendung dieser stelle zu seinem zwecke, näm-
lich darzutun, dass auch Christus als gott nicht gesehen worden
sei, und damit fusst er auf der oben citierten stelle des Augu-
stinus (s. 626) quando visus est u. s. w. Und wenn er sagt wan
scehen in die wol, so wcds ich zwiu das buch sol da man uns
abe hat gelemet, so meint er wol unter diesem buch kein
anderes als jene abhandlung des Augustinus, De visione dei
und versteht das 'sehen des gottessohnes durch jene gerechten,
welche mit ihm auferstanden sind' ebenso wie jenes buch über-
haupt das schauen des gottessohnes versteht, nämlich non
secundum naturale proprietatem,^)
*) Diese frage ist von den vätem des öfteren erörtert worden, so von
Ambrosius, Sermo in natali martyrum, Hieronymus, Super Matth., Augu-
stinus, Supra Joann. (21, 22), Chrysostomus, Hom. 28 De expositione symboli
Beda, Super canticum (5, 1) lib. 3 (vgl. Abseiard s. 1472 ff.)*
22*
332 TEUBEB
27,48—61. Die ansieht dass selbst die engel, obwol sie
im himmel verweilen, gott nicht sehen, nämlich wie er ist,
haben wir bei Augustinus wenn auch nicht eingehend behan-
delt, so doch unverkennbar angedeutet gefunden. Ausffihrlich
handelt darüber Gregorius (Moralia in Job lib. 18, t. 2, 94). Er
sagt: sed quia de deo primum ecclesiae praedicatorem didtur:
in quem desiderant angelt prospicere (1. Petr. 1, 12), sunt non-
nulli qui nequaquam deum videre vel angelos suspicantur, et
tarnen dictum per veritatis sententiam sdmus: angeli eorum in
coelis semper vident faciem patris mei qui in coelis est (Matth.
18, 10) . . . Deum quippe angeli et vident, et videre desiderant;
et sitiunt intueri et intuentur, Si enim sie videre desiderant,
ut affectu sui desiderii minime perfruantur, desiderium sine
fructu anxietatem habet et anxietas poenam (diese stelle hat
ßhabanus Maurus t. 6, 1282 ff. aufgenommen). Beati vero angeli
ah omni poena anxietatis longe sunt, quia nunquam simulpoena
et beatitudo conveniunt Rursum cum eos didmus dei visione
satiari, quia psalmista ait: satiabor dum manifestabitur gloria
tua (Ps. 16, 15), considerandum nobis est, quoniam satietatem
solet fastidium subsequi, Ut ergo recte sibi utraque conveniant
dicat veritas: quia semper vident: dicat praedicator egregius:
quia semper videre desiderant, Ne enim sit in desiderio an-
xietas, desiderantes satiantur, ne autem sit in satietate fastidium,
satiati desiderant Den inhalt dieser stelle gibt der dichter
in V. 48 — 56 wider. Dass er Michael mit hineinbringt, ist wol
seine eigene erflndung; er wollte eben von den engein, welche
gott sehen und nicht sehen, ein beispiel anführen. Aber für
diese und für die folgenden verse muss noch das weitere
herangezogen werden, was Gregorius über diesen punkt sagt
(a. a. 0. s. 95 f.): nee tamen videbimus sicut videt seipsum. Longe
quippe dispariliter videt creator se quam videt creatorem, Nam
quantum ad immensitatem dei quidem nobis modus figitur con-
templationis, quia eo ipso pondere circumscribimur ('der e in
einem gaden sajs'), quo creatura sumus. Sed profecto non ita
conspidmus deum sicut ipse se conspidt, sicut non ita requies-
drnus in deo, quemadmodum requiesdt in se,
27, 62 — 65 bezieht sich auf die bereits aus Augustinus
citierte stelle (Ep. 148, c. 2, no. 7, t. 2, 625): hie autem et ipsis
et universal omnino coelesti creaturae invisibilem naturam dixit
QUELLEN DBS ANEGENGE. 333
esse creatoris. Den grund welchen der dichter 27, 66 — 69 dafür
anführt, scheint er aus der oben citierten stelle des Gregorius
entnommen zu haben: nam quantum ad immensitatem . . . qum
eo ipso pondere 'circumscrihitur^.
27, 70 — 80. Den Johannes als zeugen für seine behaup-
tung aufzuführen, dass gott noch niemand gesehen habe, dazu
veranlasste den dichter ebenfalls Augustinus, der in der wider-
holt citierten schrif t De visione dei immer wider auf Johannes
hinweist, namentlich s. 601, wo er Joh. 1, 18 und 1. Joh. 4, 12:
deum nemo vidit umquam citiert; daher sagt unser dichter
V. 79 f. der wil des vaste jehen daz er noch sei ungesehen, Dass
Johannes an der brüst des herm gelegen sei, sagt er selbst:
Joh. 21, 20: qui et recubuit in coena super pectus eins (sc. Jesu).
Was die folge dieses innigen Verhältnisses zwischen schüler
und meister war, liesse sich zwar aus den Schriften des evan-
gelisten selbst herauslesen, und auch unser dichter konnte es
wol treffen. Aber wir finden in den patristischen Schriften
stellen, welche stark an die ausführungen unsers dichters in
V. 72 — 78 anklingen. So sagt z. b. Beda in seiner homilie In
natali domini (t. 5, 8D): neque enim frustra in coena super
pectus domini Jesu recubuisse perhihetur, sed per hoc typice
docetur, quia coelestis haustum sapientias caeteris excellentius
de sanctissimo eiusdem pectoris fönte potavit. Aehnlich W. Strabo
(t. 2, 426): super pectus: in pectore Jesu omnes thesauri sapien-
tiae et scientiae äbsconditi, super quod recubuit, quem maiori
caeteris sapientiae et scientiae singularis munere donat, in quo
figurabatur, quanta arcana de divinitate prae caeteris esset scrip-
turus. Eine dieser beiden stellen, welche lässt sich schwer
entscheiden, muss unser dichter gekannt haben.
27, 84 — 28, 2. Der dichter schliesst hiermit seine abhand-
lung über die visio dei und zwar merkwürdiger weise mit
demselben gedanken, den Augustinus in seiner abhandlung
über dasselbe thema ausgesprochen hat (Ep. 147, c. 4, no. 11,
t. 2, 601): quod quidem fit mente et videtur mente . . . sicut äbest
a conspectu mentis meae fides tua, quamvis eam esse in te
credam, cum eam non videam corpore, quod nee tu potes; nee
mente, quod tu potes. Nemo enim seit quid (watur in homine,
nisi Spiritus hominis qui in ipso est.
334 TEUBER
28, 3 — 22. Woher der dichter weiss, dass von Adam sehs
unt dricic geslcechte chomen waren (28, 12), lässt sich nicht
eruieren; biblisch ist es nicht, und in der patiistischen literatur
lässt sich davon auch nichts entdecken. Die ansieht, dass alle
menschen bis auf Christi ankunft in die hölle gekommen seien,
ist ebenfalls weder biblisch noch in den kirchenschriftstellem
belegt. Die anschauungen über die hölle selbst beruhen auf
Apoc. 14. 17. 20, 9. 14. 21, 8.
Nachdem der dichter auf diese weise die ganze geschichte
des menschengeschlechts behandelt und in v. 15 do^ got mensch
wart auf die erlösung hingewiesen hat, geht er in der tat auch
auf die erlösungsgeschichte über: da^ wir iu da wellen sagen,
da Jiöret vlodzechlichen 8% wie der wäre got du uns dem tivel
angewunne, 28j 24 — 26. Aber noch immer nicht kommt unser
dichter auf das historische der erlösung: menschwerdung gottes,
tod, auferstehung und himmelfahrt, sondern er bringt uns erst
(von 28,27 — 29,85) die vorberatungen, wie sie im himmel
zwischen gott und den vier töchtern gottes: misericordia, verüas,
iiistitia, pax (erbarmde, warhce^it, recht, fride) über die mensch-
werdung und erlösung des menschengeschlechtes abgehalten
werden. .
Der erste welcher die vier töchter gottes, wie man sie
nun einmal zu benennen beliebt, in die literatur, wenn man
so sagen darf, eingeführt hat, ist der Verfasser des 84. psaJms,
wo uns dieselben kurz gezeichnet werden mit den Worten
(v. 11. 12. 14): misericordia et veritas ohviaverunt sihi: iustitia
et pa^ osculatas sunt, Verität de terra orta est, et iustitia de
coelo prospexit Iustitia ante eum ambuläbit et ponet in via
gressus suos. Im neuen testamente fehlte es natürlich nicht
an commentatoren zu dieser stelle, die wegen ihres prophe-
tischen Charakters von ganz besonderer bedeutung ist. Einen
commentar gab zuerst Hieronymus (t. 7, 1077), der aber die
sog. Höchter gottes' als tugenden auslegt, welche der mensch
vor der Sünde besessen habe. Ihm folgte Augustinus in seiner
Enarratio in psalmos (t. 4^, Migne t. 37, 1078); er geht aber
bereits weiter, indem er sagt, dass diese vier die tugenden des
menschen vor der sünde gewesen seien, aber auch die tugenden
seien, welche dei* mensch, wenn er gesündigt, sich anzueignen
habe. Dasselbe widerholt er an anderen stellen (wie Sermo 185,
QUELLEN DES ANEGENGE. 335
s. 998. Seimo 192, s. 1013). Der im jähre 1126 verstorbene
Wemerus, abbas S. Blasii Silvae Nigrae hat nun in seinen
Deflorationes ss. patrum (Migne 1. 157, 1039) diese vier tagenden
misericordia, veritas, iustitia, pax erst zu t^chtem gottes, zu
beraterinnen des allerhöchsten gemacht. Woher diese steUe
von Wernerus genommen ist, lässt sich nicht ermitteln; denn
er selbst gibt hier keine quelle an; da er aber solche bei
anderen stellen regelmässig angibt, so könnte man den schluss
ziehen, dass die ganze darstellung von Wernerus selbst erfunden
sei. Die hauptsache dabei bleibt der umstand, dass Hugo von
St. Victor diese stelle seinen Miscellanea (lib. 2, t. 3, 623) wört-
lich einverleibt, d. h. sie wörtlich aus Wernerus abgeschrieben
hat. Und von da aus dürfte sie unserm dichter bekannt ge-
worden sein. Dass er sie gekannt hat, wird die spätere aus-
einandersetzung zeigen. Der hl. Bernard endlich behandelt
dasselbe thema (S. Bernardi opera, Parisiis 1719, s. 977 ff.) im
Sermo primus in festo annuntiationis B. M. Virginis; aber wäh-
rend bei Wernerus nur die Misericordia und die Veritas redend
auftreten — daher der titel De altercatione Misericordiae et
Veritatis, hinc inde se accusantis et defendentis — lässt der
hl. Bernard alle vier töchter gottes zu worte kommen. Die
beiden letzteren erscheinen bei Wernerus erst auf dem schau-
platze, als der streit zwischen der Veritds und der Misericordia
bereits geschlichtet ist. Derselbe Stoff findet sich auch bei
Beda in Homiliae subditae (no. 104, t. 5, 505 ff.). Unser dichter
nun hat sowol die darstellung des Wernerus, bez. die abschrift
Hugos, als auch die rede des hl. Bernard über diesen gegen-
ständ gekannt, beide mit einander geschickt verflochten und
ein abgerundetes poetisch schönes ganze geschaffen.^)
Gleich mit 28, 27 — 32 setzt der dichter mit dem hl. Ber-
nard ein (vgl. die einleitung zu derselben erzählung bei Bernard
s. 981 B). Misericordia und Pax bitten gott für den menschen,
Veritas und Iustitia verlangen dessen bestrafung. Gott hört
die bitten der ersteren und das drängen der letzteren und
spricht: vocentur, et super hoc verho pariter conferamus, Medius
oMtem pater luminum residebat et utraque pro parte Siia utilius
^) Möglich wäre es natürlich anch, dass bereiti^ zu lebzeiten unsers
dichters eine yerbindung beider stattgefanden hätte nnd dass diese dem
dichter bei seiner arbeit vorgelegen. Wir allerdings kennen keine solche.
336 TEUBER
quod hahehat loquehatur. Das ist die samnunge, von welcher
unser dichter spricht, die im Anegenge allerdings von der
erha/rmde, hier von gott selbst berufen wird, was ja sachlich
keinen grossen un^rschied macht. Dass aber der dichter die
erbarmde eine solche samnunge sprechen lässt, veranlasste wol
der umstand, dass die Misericordia in diesem rate als die erste
spricht: s. Bernard S.981D: eget miseratione creatura rationalis,
ait Misericordia, quoniam misera facta est et miseroMlis valde.
Econtra Verität: das stimmt ja mehr als inhaltlich zu den
versen 28 ff.
28, 33—36. V. 33 gibt die folge dessen an, was in v. 27 f.
angedeutet wurde. V. 34 — 36 beziehen sich wol ebenfalls auf
Bernard s. 981 B : et quamvis diu multumque visus sit dissimulare
pater miserationum, ut interim satisfaceret selo iustitiae et veri-
tatis: non tarnen infructuosa fuit supplicantium importunitas,
sed exaudita est in tempore opportuno. Dazu kommt noch, dass
nach der darstellung Bernards (ib.) gott auf das drängen der
Misericordia und der Fax hin etwas unwillig zu sein scheint:
forte etiam interpellantihus tale dicatur dedisse responsum: us-
quequo preces vestrae? Debitor sunt et sororibus vestris, quas
acdnctas videtis ad faciendam vindictam in nationibus, Iustitiae
et Veritati
28, 37 — 46. Auch diese gedanken finden sich in der
citierten predigt Bernards (s. 981): eget miseratione creatura
rationalis, quoniam misera facta est et miseroMlis valde . . .
Ut quid ergo, ait Misericordia, ut quid me genuisti, pater, dtiu^s
perituram? Seit enim Verität, quoniam Misericordia tua periit,
et nulla est, si non aliquando miserearis.
28, 47 — 54 enthalten gedanken die auch Bernard ausspricht
(a.a.O.): econtra Veritas: totus m^riatur Adam necesse est cum
Omnibus qui in eo erant, qua die vetitum pomum in praevari-
catione gustavit\ und kurz zuvor: oportet inquit (Veritas), im-
pleri sermonem quem locutus es, domine; und ib. F: cumque
adiceret Verität in ipsum quoque iudicem partis suae iniuriam
retorqueri, dicens, cavendum omnino, ne fieret irritum verbum
patris, ne sermo vivus et efficax qualibet occasione evacaaretur
(vgl. V. 54).
28,55 — 62. Davon findet sich bei Bemard nur eine an-
deutung, welche den dichter zu dieser stelle und zum folgenden
QUELLEN DES ANEGENGE. 837
veranlasst haben könnte, s. 982 A: haec didt: perii si Adam non
nioriatur; et haec diodt: perii nisi misericordiam consequatur;
und ib. C: sed übi potent ille innocens inveniri? Der gedanke
selbst, den der dichter hier ausspricht, findet sich bei Hugo
von St. Victor (t. 2, 308 und t. 2, 29 f.) ausgesprochen, nur dass
ihn der dichter der Veritas in den mund legt. S. 308 D heisst
es: dedit igitur homini hominem quem homo pro homine redderet.
Was hier als schon geschehen ausgesprochen wird, deutet der
dichter als etwas erst kommendes an.
28, 63 — 72. Diese verse stützen sich ebenfalls auf Hugo,
t. 2, 308: sed nee hominem pro homine reddere potuit, quia
iustum et innoeentem ahstulerat, et neminem nisi peccatorem
invenit Der dichter hat diesen gedanken wider dramatisiert,
indem er ihn der Veritas in den mund legt, er hat ihn aber
auch mit Zuhilfenahme der hl. schrift Gen. 3, namentlich v. 17:
m^ledicta terra in opere tuo (vgl. 65 — 67) weiter ausgebaut.
28,73 — 29,4. In v. 75— 77 widerholt der dichter das be-
reits in V. 66 f. gesagte. Es ist aber eine schöne Verknüpfung
mit den folgenden versen dadurch erzielt worden. Die stelle
selbst beruht, wie es scheint, auf der schon genannten predigt
Bemards. Dort wird (no. 13D, s.982) erzählt, wie die Miseri-
cordia und Veritas ausgehen, um ein wesen zu suchen, welches
fähig wäre die menschheit zu erlösen. Sie finden kein solches
und kehren betrübt zurück. Da tröstet sie der * Friede' und
sagt (ib. D): qui consilium dedit, ferat auxilium. Intelleodt rex
quid loqueretur, et ait: ... : ecce venio ...Et accersito protinus
Gabriele: vade, inquit, die filia^ Sion: adorna thalamum tuum
Sion et suscipe regem. Die tochter Sions welche hier gemeint
ist, ist eben Maria, welche der dichter in v. 3 da mit wart diu
maget gem^ßinet vor äugen hat; der könig den sie empfangen
soll, ist Christus; daher sagt unser dichter v. 4 diu uns das
hceil brachte. In den versen 5 — 35 kommen zwar anklänge an
Hugo, namentlich t. 2, 22 vor; manches stimmt zu Augustinus,
namentlich zu den stellen welche der dichter 3, 2 — 34 benutzt
hat; aber ich möchte weder den einen noch den andern als
directe quelle für diese stelle bezeichnen.
29,36 — 47.9 Die gedanken welche der dichter hier aus-
^) Hahn schreibt 29, 43 stmne, was keinen sinn gibt. Ich würde sunde
schreiben, was zum inhalte der stelle ganz gut passt.
388 TEUBER
spricht, finden sich bei Hugo von St. Victor 1 2, 389BC: de carne
verbi hoc primum commemorare oportet, quod iUam ah ipsa con-
ceptione Spiritus sancti operatione ita mundatam credemus, ut
eam verbum ipsum liberam prorst^s et immunem ab omni pec-
cato assumeret (vgl. v. 36 — 44); poena tamen peccati voluntate
non necessitate assumentis remanente, ut dum ista in salvatore
sine culpa pateretur, illa, quae in salvandis pro culpa poenae
obnoxia fuerat, liberaretur (v. 45 — 47). Der dichter hat aller-
dings nur den inhalt dieser stelle widergegeben und noch dazu
die Sache dramatisch eingekleidet, indem er die gedanken der
bwrmde in den mund legte.
29, 48 — 56. Diese stelle ist unklar; nach v. 51 scheint
etwas zu fehlen; man müsste höchstens, um nur irgend einen
sinn hineinzubringen, v. 52 so schreiben unt elliu dinc ze bi-
waren. Der hauptgedanke dieser stelle scheint Bemard ent-
nommen zu sein, bei dem es s. 982 heisst: poena, inquit, me
tenet, mihi incumMt sustinere poenam, poenitentiam agere pro
homine quem creavi, Tunc ergo dixit: ecce venio. Non enm
potest hie calix transire, nisi bibam.
29, 57—72. Eine stelle voll tiefer speculation! Aber die
gedanken welche der dichter hier ausspricht, sind nicht sein
eigentum, wenn wir ihm auch ihre einkleidung als selbständige
arbeit zuschreiben müssen. Hugo handelt t. 2, 30 ff. über die-
selbe Sache. Er sagt s. 30 C: Christus igitur et nascendo debitum
patri sohit, et moriendo reatum hominis expiavit; ut cum ipse
mortem pro homine (quam non debebat) sustineret, Hustet hämo
pro ipso mortem, quam debebat, evaderet, ^et iam locum calum-
niandi diabolus non inveniret' (vgL v. 64 — 67); quia et ipse
homini dominari non debuit et homo liberari dignus fuit. Dazu
ist noch heranzuziehen Hugo, t.2, 32 f.: postquam primus parens
generis humani propter inoboedientiae culpam a paradiso in hunc
mundum venit, diabolus ius tyrannicum in illo exercens, sicwt
prius fraudulenter seduxerat, ita postmodum violenter possidebai
Sed dei Providentia^ quae hunc ad salutem disponebat, sie iusti-
tiae rigorem per mdsericordiam temperavit, ut cum ad tempitö
quidem ab illo premi permitteret (vgl. v. 68 — 70). V. 71 1 gibt
Ps. 44, 7 wider: virga diredionis, virga regni tui
29, 73—78. Dazu stimmt Bernard S.982F: sed tunc iustitia
et pax osculatae sunt, quae non modice videbantur hactenus
QUELLEN DES ANEGENGE. 339
dissidcre. Dieses dissidere scheint wol von allen anderen ähn-
lich lautenden stellen am ehesten die verse veranlasst zu haben:
e diu stunt vil vrömdeleiche der fride hin dane. V. 76 — 78 ent-
sprechen übrigens auch Ps. 84, 11: iitstitia etpax osculatae sunt
29, 79 — 82. Dieses stimmt inhaltlich ganz genau zu Wer-
nerus, Deflor. s. 1041 B (Hugo t. 3, 625 B): Misericordia vero non
desistehat in coelo dominum orare pro homine postulans ...et
Misericordia predhus suis dominum ad iustificationem hominis
compellebat.
29, 83 — 85. Auch dieser gedanke findet sich bei Wernerus,
Deflor. s. 1041 C (Hugo t. 3, 625): et ascendit iustitia ad deum ab
homine pacem postulans.
30, 1—8. Wernerus sagt s. 1041 (Hugo t. 3, 625D), nach-
dem der streit der gottestöchter zu ende ist: et audiens iustitia
praecurrens reversa est ad hominem, ut ab eo non discedat,
donec dominus ponat in via gressus suos, et veniat. In den
letzten worten wird wol auf die ankunft des erlösers hin-
gedeutet, aber nicht direct gesagt, dass gott seine ankunft
auf erden verkündet habe. Das hat aber der hl. Bemard
getan. Nachdem die beratung der töchter gottes zu ende ist,
heisst es: et accersito protinus Gabriele, vade, inquit (sc. deus),
die filiae Sion: adorna thalamum tuum et suscipe regem (s.982).
Also hier kündet gott sofort, nachdem die beratung geschehen
ist, seine ankunft an. Das lässt ihn auch unser dichter tun.
Daraus folgt, dass sich unser dichter in dieser stelle widerum
auf Bernard gestützt hat.
30, 9 — 14. Die verse 9 f. sind eine erinnerung von selten
des dichters daran, dass der herr den propheten auftrage er-
teilte, die Weissagungen dem volke zu verkünden. Und diese
auftrage, ja den Wortlaut derselben haben die propheten in
ihre Schriften mit aufgenonmien. Daran erinnert sich also der
dichter hier.
30, 15 — 28. Man möchte meinen, der dichter habe hier
alle propheten, auch die zwölf kleinen, vor äugen. Betrachtet
man jedoch das was er hier als Weissagungen der propheten
voiiührt näher, so findet man, dass er mit allem und jedem
was er hier sagt, auch v. 5 — 8 mit eingeschlossen, nur auf
einen hinweist und nur auf einem fusst, nämlich auf Isaias,
speciell auf Is. 53, 4 — 6: vere languores nostros ipse tulit, et
340 TBUBEB
dolores nostros ipse portavit . . . ipse vulneratus est propter
iniquitates nostras, attritus propter scelera nostra . . . Omnes
nos quasi oves erravimus, unusquisque in viam suam dedinavit,
et posuit domintAS in eo iniquitatem omnium nostrum etc.
Wörtlich hat der dichter diese stellen freilich nicht wider-
gegeben, aber deren Inhalt in den angezogenen versen kurz
zusammengefasst. Uebrigens spricht auch gar kein anderer
prophet so deutlich über das leiden des künftigen erlösers als
gerade Isaias, und wir begreifen bei nur einiger kenntnis
dieses propheten, die wir dem dichter nicht werden absprechen
können, dass er sagt: daz taten si zeware vil unheJbcßre. Wie
er mensch wolde werden (v. 17) erinnert an Is. 9, 6: parvultfs
enim natus est nobis, et filias datus est nobis, V. 18 setzt das
in V. 5 — 8 begonnene fort und beruht auf denselben Isaias-
stellen. Bei v. 19 — 21 denkt man unwillkürlich an Is. 55, 3:
Inclinate aurem vestram et venite ad me: audite et vivet anima
vestra. In v. 24 ist Is. 44, 1: utinam dirumperes coelos et de-
scenderes widergegeben. V. 25 — 28 übersetzt die bekannte stelle
Is. 45, 8: rorate codi desuper, et nubes pluant iustum, aperiatur
terra et germinet salvatorem.
Nachdem der dichter die erlösung des menschengeschlechts
durch die propheten hat vorherverkünden lassen, geht er nun
auf das historische der menschwerdung und erlösung selbst ein.
Mit den versen 30, 29 — 33 schafft er sich einen recht pas-
senden Übergang vom vorausgegangenem zu dem folgenden,
wo er nun direct an das evangelium anknüpft.
30, 34—42. Die verse 34. 39—42 übersetzen Luc. 1, 26 f.:
missus est angdm Gabriel a deo in dvitatem Galilasae, cui
nomen Nazareth, ad virginem, . . Der ausdruck virgo veranlasste
den dichter einige epitheta ornantia hinzuzufügen, die sich
eigentlich von selbst verstehen, weil sie in dem begriffe virgo
enthalten sind.
30, 43—50. Die verse 43 — 48 entsprechen Luc. 1, 28: et
ingressus angelus ad eam dixit: ave (dieses ave gibt der dichter
einmal wider mit er gehiez ir hadl von got, das andere mal
mit: hadlic wis du frowe Maria; was der dichter hinzugefügt
hat ist dieses frouwe Maria) gratia plena: dominiis tecum.
Benedicta tu in mulieribu^. V. 50 ist aus der begrüssung
Marias durch Elisabeth Luc. 1, 42 herübergenommen {benedida
QUELLEN DER ANEGENGE. 341
tu inter umUeres), et henedictus fructus ventris tui Der engel
spricht davon Maria gegenüber nichts.
30, 51 f. gibt wörtlich Luc. 1, 31. 33 wider: ecce condpies
in utero et partes filium ... JSt regni eius non erit finis.
30, 53 f. schliesst sich anLuc. 1, 29 an: quae cumaudisset,
turhata est in sermone eius, et cogitabat, qualis esset ista sal/u-
tatio, wobei der dichter die ausdrücke der bibel turbata est
und cogitabat in einem ausdrucke erchom si vil harte vereinigt.
30, 55 — 59. Diese verse sind eine etwas erweiterte wider-
gabe von Luc. 1, 34: diocit autem Maria ad angelum. Quomodo
fiet istud, quoniam virum non cognosco?
Die verse 30, 60 — 63 sind eine etwas freie widergabe zu-
nächst von Luc. 1,35: et respondens angelus dixit ei: Spiritus
sanctus superveniet in te, et virtus altissimi obunibrdbit tibi.
Ideoque et quod nascetur ex te sanctum, vocabitur filius dei.
Der dichter der früher nicht gesagt hat, wie der erlöser heissen
sollte, fügt jetzt erst in v. 63 den namen hinzu, der nach Luc.
1,31 früher genannt wird: et vocabis nomen eius Jesus. Wir
sehen hier abermals, was wir schon in früheren partien unsers
gedichtes bemerkten, wie einander mitunter fernstehende bibel-
stellen geschickt mit einander verbunden werden, ohne dass
der sinn gestört oder der dogmatischen auffassung eintrag
getan würde.
30,64 — 68. Die grundlage zu diesen versen bildet Luc.
1,38: dixit autem Maria: ecce andlla domini, fiat mihi secun-
dum verbum tuum. Das wort andlla hat den dichter zu v. 66
veranlasst, in welchen er Maria wie eine untergeordnete dienerin
sprechen lässt.
30, 69 — 71 übersetzt mit auslassung der eigennamen Matth.
1, 18: cum esset desponsata mater dus Maria Joseph, antequam
convenirent, inventa est in utero habens de spiritu sancto.
Mit 30, 72 f. fährt der dichter mit Matth. 1, 19 fort: Joseph
autem vir dus . . . voluit occulte dimittere eam, während 30, 74
—77 kurz den Inhalt von Matth. 1, 20 — 24 angeben, wo erzählt
wird, dass Joseph, während er eben noch überlegte, wie er
sich Mariens entledigen sollte, ein engel erschien und ihm das
geheimnis der menschwerdung gottes verkündigte, worauf sich
Joseph einverstanden erklärte und sie als gattin annahm. Zu
V. 76f. ist ferner Matth. 1,22 heranzuziehen: hoc autem totum
342 TBUBEB
factum est, ut 'adimpleretur^, quod dictum est a domino per
prophetam.
30,78 — 31,18. Die ganze stelle stützt sich zunächst auf
ein dem Hieronymus unterschobenes werk, Expositio in quattuor
evangelia (Migne 1 30, 535 B), wo zu der betreffenden stelle aus
Matthäus die notiz gemacht wird: desponsata mater eius, l e.
pro quattuor causis (vgl. 30, 78 — 81), ut non lapidaretur ut
aduUera (31, 2 — 12), et ut in fugam haberet solatium (13 — 18)
et genealogia Christi per Joseph (lässt der dichter aus), ut
partus celaretur diabolo (30, 82. 31, 1). Die verse sind durch
den satz des Hieronymus ut non lapidaretur ut adultera inso-
fern veranlasst, als sich der dichter durch denselben bewogen
fühlte, auf das betreffende gesetz bezüglich der adulterae et
fornicariae, wie es im alten bunde gehandhabt wurde und dem
ja die Zeitgenossen Josephs und Mariae noch anhiengen, zurück-
zugehen.
In den folgenden versen 31, 19 — 23 fasst der dichter das
in den unmittelbar vorausgehenden versen bereits gesagte noch
einmal zusammen, um dann 31, 24 — 29 an der band des evan-
geliums weiter fortzufahren. In v. 24 anticipiert der dichter
die engelerscheinung, von der er in v. 27 spricht; das ist ja
auch richtig; denn bevor der engel erscheint, befasst sich
Joseph mit dem plane, Maria zu entlassen, wie es Matth. 1, 19
heisst: voluit occulte dimittere eam. V. 27 — 29 und weiter
31,30 — 33 entspricht Matth. 1,20: haec autem eo cogitante, ecce
angelus domini apparuit in somnis ei, dicens: Joseph, fili David,
noli timere acdpere Mariam coniugem tuam, quod enim etc.
Zu 31,34 — 38 stimmt Matth. 1, 21: et vocaMs nomen eius
Jesum (aus dem werte vocabis hat der dichter noch den satz
herausgezogen mein gebot du da/r an hmte) : ipse enim salvum
fadet populum suum a peccatis eorum. Wenn der dichter sagt
dais chiut in diutscher isunge hmlant, so scheint ihn entweder
das wort salvum oder eine andere stelle bei Matth. 1, 23 dazu
veranlasst zu haben; dort wird nämlich gesagt: et vocabitur
nomen eius Emmanuel, quod est Hnterpretatum' : nobiscum deus.
Wie also der evangelist 'interpretiert', so auch unser dichter.
31, 39—43. V. 39—41 beruhen auf Matth. 1, 24: exurgens
autem Joseph ä somno, fecit sicut praecepit ei angelus domini,
et accepit coniugem suam. Dagegen nimmt der dichter in
QUELLEN DES ANEGEKGE. 343
V. 42f. bereits voraus, was Luc. 2, 6 steht: factum est autem,
cum essent ibi, impleti sunt dies, ut pareret
31, 44 — 49. Da sich Matthäus und Lucas in dem berichte
über die menschwerdung ergänzen, so ist es begreiflich, dass
der dichter für die partie die er bei Matthäus nicht fand —
denn dieser übergeht die näheren umstände der geburt und
kommt gleich auf die ankunft der drei weisen aus dem morgen-
lande zu sprechen — wider zu dem berichte des Lucas zurück-
kehrte. Dort heisst es 2, 6. 7: factum est autem, cum essent ibi,
impleti sunt dies, ut pareret. Et peperit filium suum primo-
genitum, et pannis cum involvit, et reclinavit cum in praesepio,
quia non erat eis locus in diversorio. Die umstände unter
denen der heiland geboren wurde, sind in der tat sehr ärmlich,
was ja auch der evangelist in den letzten worten quia non
erat eis locus in diversorio unverkennbar andeuten will. Und
so begreifen wir denn auch die worte des dichters, die er
V. 44 f. vorausschickt, vollkommen. Dass dieses praesepium
gerade ein cMharen oder wie der dichter — wahrscheinlich
hat er das früher gesagte schon vergessen — in v. 52 will
der sweine hackt war, finden wir nirgends angedeutet; es
scheinen demnach diese erklärungen des biblischen praesepium
auf rechnung des naiven dichters zu schreiben zu sein.
31,50 — 57 sind wol selbständige erfindung des dichters.
Es könnte dieser passus aber wol auch ein einschiebsei sein;
denn v.56 knüpft ganz gut an v. 48 an.
31, 58 — 61 gibt wörtlich wider was bei Luc. 2, 8—11 steht,
aber nicht alles was wir dort finden: et pastores erant in re-
gione eadem (v. 58) ... Et dvdt Ulis angelus (v. 59) . . . quia
natus est vohis salvator, qui est Christus dominus, in civitate
David (v. 60 f.).
Von 31, 62 er hiez siu drate dar gen steht bei Lucas nichts.
Allerdings ist die Verkündigung des engeis an die hirten schon
an und für sich eine auff orderung, den neugeborenen erlöser
aufzusuchen. Vielleicht dachte der dichter an Luc. 2, 16: et
venerunt 'festinantes^, nachdem die hirten unter einander be-
schlossen hatten, nach Bethlehem zu gehen.
31,63 — 66 ist dem Inhalte nach abermals aus Lucas ent-
nommen. Dort heisst es 2, 16: et venerunt festinantes, et in-
venerunt Mariam et Joseph et infantem positum in praesepio
344 TEUBER
(v. 63. 65); und Luc. 2, 12 wurde, obwol es dort in anderem zu-
sammenhange steht, nicht ungeschickt in v. 64. 66 widergegeben:
invenietis infantem 'pannis involutunC et positum in praesepio,
31, 67 — 72 stinmit zu Luc. 2,17: et subito facta est cum
angelo multitudo militiae coelestis laudantium dominum et di-
centium: gloria in excelsis deo et in terra pax (gibt der dichter
durch dojs ewige hml ganz sinngemäss wider) hominilms bonae
voluntatis,
31,73 — 32,1. Die gedanken welche hier ausgesprochen
sind, scheinen mir nicht vom dichter selbst herzurühren, son-
dern aus einem sermon geschöpft zu sein, welcher dem Ambro-
sius zugeschrieben wird. Ambrosius, Sermo 5 (Migne 1. 17,
613. 3) heisst es nämlich folgendermassen: hac persultarunt
angeli in illa nocte, qua pastores nascentem dominum super
gregem suum vigilias observantes, pras omnibus primi didicerunt;
ipsi enim primi ortum salvatoris ante omnes homines nuntian-
tibus angelis agnoverunt. Unde non mirum est, quod redemp-
tionem saeculi ante pastores saeculi potuerunt scire, quam prin-
dpes; non enim angeli nuntiaverunt regibus, non iudicibus sed
hominibus rusticanis (das ist die ehre, von welcher der dichter
in V. 80 spricht) . . . Ergo in nativitate domini angeli pariter
cum pastoribus sunt laetati, excelsam deo dicentes gloriam; nam
'vicinis' (das sind die Juden, vgl. v. 76) quodammodo et iunctis
'choris dd' gloriam nuntiaverunt
32,2 — 16. Auch dieser gedanke ist nicht des dichters
eigentum, sondern aus Augustinus entlehnt, der Sermo 202,
In epiphania domini 4, t. 5, 1035) sagt: haec prima puer spolia
idololatriae dominationi detra^t (v. 10 f.), ut ad se adorandum
magos conversus a peste illius superstitionis averteret (v. 10 f.)
et in hac terra nondum loquens per linguam loqueretur dt
coelo per stellam. Dieser stern ist der unredhafte böte, das
vil unredliche dinc, daz nicht hete stimme, unt was ouch unver-
stenlich. Heranzuziehen ist noch Augustinus, Sermo 203, s.1035:
iustum enim visum est, quod et vere iustum est, ut quoniam Uli
magi primi ex gentibus Christum dominum cognoverunt, et
nondum eius sermone commoti stellam sibi apparentem et pro
infante verbo visibiliter loquentem velut linguam coeli secuti
sunt (dasselbe ist widerholt in Sermo 185, s.998 und Sermo 192,
s. 1013). Der ausdruck ut ..,a peste illius superstitionis averteret
QUELLEN DES AltEGENGE. 545
hätte wol den dichter vielleicht auch auf den v. 10 führen und
ihn schliessen ^lassen können v. 13: do si nicht sinnes haben
wolden; aber es ist wol das wahrscheinlichere, dass er hier
eine notiz des Strabo vor äugen hat, der in seiner Glossa
ordinaria (Migne 1. 114, 73) sagt: magos vero primüias gentium
nondum ratione utentium irrationalis i. e. Stella perduxit
32, 17 — 23. Ehe der dichter noch seine quelle nennt, hat
er sie schon benutzt; denn was er in v. 17 — 20 in eine in-
directe frage kleidet, steht bei Matth. 2, 2.
32, 24—28. Das sagt nun Matthäus gerade nicht so; wir
müssen es der poetischen licenz zu gute schreiben. Die ge-
danken welche der dichter hier ausspricht, sind allerdings aus
Matth. genommen. 2, 1. 2 heisst es: cum ergo natus esset Jesus
(24 f.; V. 26 ist eine reminiscenz aus Luc. 1, 33: et regni eius
non erit finis) in Bethlehem Juda Hn diehus (Hn den tagen')
Herodis regis, ecce magi ab Oriente' (Hn dem ostem reiche verre')
venerunt Jerosolymam, dicentes: ubi est qui natus est rex Ju-
daeorumf ^Vidimus enim stellam eius in Oriente' (Röstern reichet)
et venimus adorare eum.
32, 30 — 46. Die erzählung, dass die drei weisen aus dem
morgenlande entweder astronomen waren, oder sich doch
wenigstens einigermassen auf die Sternkunde verstanden, ist
sehr alt und stützt sich einzig und allein auf die bekannte
prophetie des Balaam, Num. 24, 17: orietur Stella ex Jacob,
Dass diese stelle schon vor dem erscheinen des erlösers beachtet,
dass namentlich von den sternkundigen Chaldäem bezüglich
dieses Sternes, der aus Israel aufgehen sollte, häufige astrono-
mische Untersuchungen gepflogen wurden, ist bekannt. Als
nun der erlöser geboren worden war, und die magier Stella
duce zu seiner geburtsstätte geführt worden waren, fragte man
sich, woher denn die magier wussten, dass gerade dieser der
verheissene stem war. Und was lag da näher als die antwort:
sie waren eben astronomen, sternkundige leute. Freilich die
streng kirchliche Wissenschaft sagte einfach: deo inspirante
sind sie dem steme gefolgt. Es fragt sich: woher hat der
Verfasser des Anegenge seine ansieht über diesen punkt ge-
schöpft? Aus der tradition? Vielleicht. Aus einer apokryphen
quelle? Auch möglich. Aus der uns bekannten literatur tritt
uns zunächst Abaelard entgegen, der diese ansieht zwar nicht
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV 28
r
346 l^tJBäft
selbst vertritt, aber als zuverlässiger berichterstatter mitteilt.
Derselbe sagt (Migne 1. 178, 413): sunt qui praedictos magos
sie appellari autumnant (Isidor. Et. 1. 9) sed quod astrorum
periti, qucLsi astronomid vel quacunque aüa de eausa sie voeati.
Dann bringt Abaelard wörtlich was Chrysostomus gelegentlich
der Interpretation des MatthäusevangeÜums sagt: legi apud
aliquem (damit kann nur eine apokryphe schrift gemeint sein)
magos istos ex libris Balaam divinatoris appariturae ülius
stellae scientiam aceepisse, cuitis divinatio posita est in veteri
testamento: ^orietur Stella ex JaeoV. Et audivi aliquos referentes
de quadam scriptura, etsi non certa . . . quoniam erat qua,edam
gens . . . apud quos ferebatur quaedam scriptura inscripta no-
mine Seth de apparitura huc Stella et de munerihus eitismodi
offerendis quae per generationes studiosorum hominum patribus
referentibus filiis suis habehatur deducta. Itaque elegerunt inter
seipsos duodedm quosdam ex ipsis studiosiores et amatores
mysteriorum eoelestium et posuerunt seipsos od exspeetationem
stellae illius. Einige gedanken welche hier nicht ausgesprochen
sind, stimmen wol zu der oben citierten stelle des Anegenge;
aber eine quelle für alles das was der dichter dort sagt, kann
sie nicht gewesen sein. Interessant ist jedoch der umstand,
dass Chrysostomus eine schrift inscripta nomine Seth nennt,
worunter er nur eine apokryphe schrift verstehen kann. Nun
ist es aber sehr wahrscheinlich, dass das früher genannte
Adamsbuch aus einem grösseren werke welches den titel Vita
Adami oder Apocalypsis Sethi hatte, entnommen ist (Dillmann,
Das christliche Adamsbuch einl. s. 12) ; also meint Chrysostomus
wol kein anderes buch als das Adamsbuch in seiner damaligen
fassung. Dass unser dichter etwa durch Chrysostomus auf
jenes buch geführt worden sei, ist nicht anzunehmen. Dagegen
lehrt ein vergleich mit dem uns vorliegenden texte des Adams-
buches, dass er für diese stelle dieses und kein anderes buch
benutzt hat. Dort heisst es s. 135 ff.: und als er in BetTüehem
im lande Juda geboren wurde, erschien sein stern im osten
(vgl. V. 25 — 29), und die magier sahen ihn, wie er am himmel
mitten unter allen Sternen glänzte und flimmerte (vgl. v. 30 f.).
S. 137 heisst es weiter: und sie forschten in den wahrsage-
büchern und den phtlosophenbüchern; denn sie hatten festgestellt
und erJcundet, dass ein Jcönig in Israel geboren werde. Und
Quellen des akegüiTge. MI
diese Sternkunde scigt die hedeutung von allem was geschehen
wird, ehe es geschieht (und unser dichter sagt, wie sinn- ja
wie wortverwant, v. 32 — 35). Das buch sagt weiter: und so
erkannten die magier, als sie in ihren Schriften nachladen, dass
Christus im lande Juda geboren sei. Da stiegen die magier
auf das hohe gehirge im osten, indem sie nach Westen zu giengen,
und nahmen mit sich jene geschenke^ die sie sich vor ihrer ab-
reise zugerichtet hatten, nämlich das gold, den Weihrauch und
die myrrhen . . . Die magier aber, die auf der reise waren,
sagten: ^dieser stern ist nicht ohne grund aufgegangen/ Und
die magier isogen weiter, bis sie nach Jerusalem kämmen. Auch
dazu stimmt unser dichter v. 36 — 46.
32, 47 — 49. Davon steht im evangelium direct nichts, aber
indirect ist der vom dichter hier ausgesprochene gedanke
schon angedeutet in Matth. 2, 10. Dort heisst es von den
magiern: videntes autem stellam (nachdem sie den Herodes
verlassen hatten) gavisi sunt gaudio magno valde, was voraus-
setzt, dass der stern ihnen für einige zeit unsichtbar gewesen
ist; denn es hätte keinen sinn zu sagen, dass sie sich über
den anblick des stemes ungemein freuten, wenn er nie aus
ihren äugen entschwunden wäre.
32, 50 — 57 übersetzt wörtlich Matth. 2, 2: ubi est qui natus
est rex Judaeorum? Vidimus enim stellam eius in Oriente, et
venimus adorare cum. Der dichter hat auch hier, wie er sonst
schon oft getan, die directe rede der bibel in indirecte über-
tragen.
Mit 32, 58—66 gibt der dichter etwas breit Matth. 2, 3
wider: audiens autem Herodes rex turbatus est, et omnis Jero-
solyma cum illo\ 32,67 — 71 entspricht Matth. 2,7: tunc Herodes
dam vocatis magis diligenter didicit ab eis tempus stellae, quae
apparuit eis; v. 71 ist eine Voraussetzung, die aus diesem verse
sehr leicht zu erschliessen war.
32, 72—85. Die verse 72—79 geben Matth. 2, 4 wider: et
congregans omnes prindpes sacerdotum et scribas populi scisci-
tabatur ab eis, ubi Christum natus esset V. 77 f. nehmen bereits
voraus was in Matth. 2, 5 steht: sie enim scriptum est per pro-
phetam. In den versen 80 — 85 schliesst sich der dichter aber-
mals an Matth. 2, 5 an: at ilU dixerunt in Bethlehem: sie enim
scriptum est per prophetam. Die Weissagung des propheten
23*
348 MüBtiÄ
(Matth. 2, 6): et tu Bethlehem terra Juda, neqiMqaam minima
es in principibus Juda: ex te enim exiet dux, qui regatpopulum
meum Israel, gibt der dichter nur verhüllt wider, indem er
sagt, dass der Stadt Bethlehem dinge zugesprochen gewesen
seien, da>z wir alle nine mugen mit Worten vervdhen, wodurch
aber gerade die grossai-tigkeit und bedeutung jener worte
keineswegs herabgemindert, sondern viel mehr erhöht wird,
als wenn sie direct angeführt wären.
32,86 — 33,6. V. 86f. sind Übergangs verse, die sich aus
der zwischen Herodes und den drei weisen gepflogenen Unter-
redung (Matth. 2, 7) von selbst ergaben. Die übrigen verse
33, 1 —6 knüpfen unmittelbar, ja zum teil wörtlich an Matth.
2, 8 an: et mittens illos in Bethlehem dixit: ite, interrogate
diligenter de puero; et cum inveneritis, renuntiate mihi, ut et
ego veniens adorem eum,
33, 7 — 9. Hier fasst der dichter kurz den bethlemitischen
kindermord, der Matth. 2, 13 — 18 berichtet wird, zusammen.
33, 10 — 19. Dass Jesus mit dreissig jähren sein lehramt
antrat, finden wir bei Luc. 3,23: et ipse Jesus erat incipiens
quasi annorum triginta, ut putdbatur filius Joseph, Dass seine
öffentliche lehrtätigkeit drei jähre und im vierten jähre bis
zu Ostern dauerte, ist allgemeine tradition der kirche, die in
den evangelien ihre begründung hat. Woher aber hat der
dichter die 26 wochen? Der dichter hat vom geburtstage des
33. Jahres Jesu bis ascensio domini gerechnet und brachte so
26 Wochen heraus, eine rechnung die aber falsch ist; denn
dann müsste in dem jähre, in welchem unser dichter schrieb,
ostem in die mitte des monats mai gefallen sein, was unmög-
lich ist. Die verse 17 — 19 beziehen sich auf den in den
evangelien so oft widerholten aussprach: factum est hoc ut
adimpleretur, quod dictum est per prophetam dicentem,
33,20 — 22 bezieht sich auf Joh. 10, 14 f.: ego sum pastor
honus ... Et alias oves häbeo, quae non sunt ex hoc ovili; et
illas oportet me adducere, et vocem meam audient, et fiet unum
onile et unus pastor,
33, 23 — 34. Beim angedenken an das leiden des herra,
das der dichter in v. 23 f. hier vorbereitend andeutet und s. 38
dann ausführlicher schildert, kommt er wider auf die Ursache
dieses leidens, auf die sünde der ersten menschen zurück. Dabei
QUELLEN DES ANEGENGE. 349
ist es ganz natürlich, dass ihm hier wider zunächst die Genesis
die nötigen gedanken liefert. So entsprechen denn auch v. 27
— 34 Gen. 3, 45: diadt autem serpens ad mulierem . . . Seit enim
deus, quod in quocunque die eomederitis ex eo, aperientur oculi
vestri, et eritis sicut dii, scientes bonum et mal/am (vielleicht
schwebt ihm auch 17,37 — 45 aus Hugo t. 2, 290 ff. benutzte
stelle vor).
Auf Hugo von St. Victor kommt unser dichter in dem fol-
genden mit 33,35 — 40 wider zurück (t. 2, 26B): volait aliquid
extra mensuram (v. 35 — 37) und weiter (s. 29 B): homo iniuriam
fecisse convindtur deo, quia prasceptum eins contempsit (hier
lag wol für unsem dichter die veranlassung, überhaupt noch
einmal auf die Sünde des ersten menschen zurückzugreifen) et
sub manum alienam ponens suae servitutis damnum Uli intulit
Item diabolus homini iniuriam fecisse convindtur, quia illum
et bona promittendo decepit (vgl. v. 28 f.) et post mala infe-
rendo laesit
33,41 — 48. Diese stelle stützt sich zunächst auf Hugo
t. 2, 25B: per tria tentavit, per gulam, per vanam gloriam, per
avaritiam. Die übrigen Sünden welche der dichter aufzählt,
sind aus Wemerus genommen, welcher seinerseits wider auf
Augustinus aufbaut.
33, 49 — 53. Auch dafür hat Hugo die leitenden gedanken
hergegeben, t. 2, 22B: D.; quare voluit deus spiritus sodare
corporibus cum maioris excellentiae fuissent in sua puritate
persistentes? M,: ... quia enim in rebus creatis nihil excellen-
tius est spiritu Qden engein in der h6he% nihil terra inßmius
atque corruptibilius {'unt der menschlichen br6d^\ vgl. v.51 — 54),
dum corpori de terra facto et corruptibilem materiam habenti
rationalem spiritum, i, e, animam rationalem tribuit (v. 56 — 58),
in unum quoddam consortium et societatem summis ima con-
iunxit ostendens quia, quod erat corpus spiritui, hoc quodam-
modo Spiritus erat sibi (v. 59f.). Fedt ergo, ut dictum est,
corpus hominis de limo terrae et inspiravit d animam ratio-
nalem quam creavit de nihilo, V. 61 — 63 sind eine Zusammen-
fassung des vorausgehenden.
33, 64 — 84. Hier schliesst der dichter wider an Wernerus
(Migne 1. 167) an. Derselbe sagt in einem Sermo de nativitate
domini s. 788 f.: acquisiverat sibi fratres charissimi genus huma-
350 TEUBEB
num astutia diabolicae fraudis, suhdiderat eos suae conditioni
per peccata primi parentis . . . Quäle autem peccatum Adam
commisit? Tale utique peccatum, quod malus mundo erat Sex
enim criminalia fkigitia in uno crimine admisit (vgl. v.68 f. 50 f.;
was Wernerus von Adam speciell sagt, wendet der dichter
zunächst allgemein an, um dann auf die Sünden der ersten
menschen wider zurückzukommen), quibus sex aetates su,ae
posteritatis involvit. Primum namque superbia fuit, cui dei
asqualis esse voluit, et ideo factus est omnium inßmus, qui fuit
Omnibus pra^latus, Secundum inoboedientia exstitit, cum man-
datum pra^terivit, et ideo facta sunt ei omnia inoboedientia
quae priu,s erant subiecta (vgl. v. 76 — 84).
34,1 — 20. Auch für diese stelle hat Wernerus (Migne
1. 167, 789) die gedanken geboten: quartum erat sacrilegium . . .
(v. 1), quintum spiritalis fornicatio. Anima enim illius erat
deo coniuncta (v. 4 — 9). Sed cum spreto deo diabolum admisit,
quasi cum extraneo adulterium commisit, et ideo veri sponsi
amidtiam amisit (v. 10 — 20). Sexto homiddium perpetravit,
quo se et omne genus humanum in mortem prasdpitavit (v. 2 f.).
Speciell zu v. 17 — 19 möchte ich auf Augustinus, De Genesi
ad literam, lib. 11, c. 31. 32, t. 3*, 445 ff. und De nuptiis et con-
cupiscentia c. 6, 1. 10^, 417 hinweisen, der über diese folge der
erbsünde sehr treffliche bemerkungen macht. So sagt er am
letztangeführten orte: iU homo primitus dei lege transgressa,
aliam legem repugnantem suas menti habere coepit in membris,
et inoboedientiae malum sensit, quando sibi dignissim^ retributam
inoboedientiam suae carnis invenit
34, 21—26. Hier schliesst der dichter wider an Gen. 2, 17
an: de ligno autem sdentiae boni et mali ne comedas: quo-
cumque enim die comederis ex eo, morte morieris. Der dichter
setzt nun voraus, dass Adam gott dem herm ausdrücklich
versprochen, ja geschworen habe, das gebot zu erfüllen, und
findet dann ganz natürlich in der nichterfüllung des gebotes
einen meineid.
34, 27 — 43. Die gedanken welche hier als ein abgeschlos-
senes ganze erscheinen, sind aus mehreren schriftstellen zu-
sammengesetzt und frei verarbeitet. Zunächst ist hier Ps. 93
heranzuziehen, wo es v. 9. 11 heisst: qui plantavit aurem non
audiet? aut qui finxit oculum, non considerat? . . . Dominus
QUELLEN DES ANEGENGE. 351
sdt cogitationes hominum, quoniam vanae sunt (v. 27 — 34).
Prov. 16, 1 f.: hominis est animam praeparare, et domini guher-
nare linguam, Omnes viae hominis patent oculis eins: spiritum
ponderator est dominum (v. 351). Eccles. 5, 3f.: si quid vovisti
deo, ne m^reris reddere; displicet enim ei infidelis et stulta
promissio: sed quodcunque voveris, redde; multoque melius est
non vovere, quam post votum promissa non reddere (v. 37 f.).
Auch die folgenden verse 39 — 43 fussen auf dieser letzten
stelle, nur dass sie von unserm dichter polemisch gewendet wurde.
34, 44 — 50 stimmt inhaltlich ganz genau zu dem was Wer-
nerus a.a.O. s.789 sagt: quartum (scpeccatum) erat sacrilegium,
cum vetitum in sacro loco quasi per furtum subripuit, et ideo
de sacrario excludi meruit
Die folgenden verse 34, 51 — 65 scheinen mir nicht eine
polemik etwa gegen einen Zeitgenossen zu enthalten, sondern
auf Pelagius und dessen anhänger zu zielen, welche, wie be-
kannt, die Sünde Adams namentlich in bezug auf ihre folgen
für dessen nachkommen gar nicht hoch anschlugen (vgl. die
Schriften des Augustinus gegen Pelagius, 1. 10^).
Im folgenden kehrt der dichter wider zu Wernerus zurück:
34, 56 — 62 = Wernerus a. a. o. s. 788: dominus vero iustus iudex,
qui nee adversario suo aliquid iniustum vult irrogare, sed omnia
sive per misericordiam sive per iustitiam facere, sie voluit genus
humanum per gratiam redimere, ut nee iniustitiam videretur
inferre dicibolo: nur hat der dichter warhasit statt misericordia
gesetzt.
34, 63 — 82. Die stelle welche unserm dichter die gedanken
bot, die er hier ausspricht, findet sich bei Eupert von Deutz,
De gloriflcatione trinitatis et processione s. Spiritus I.e. c. 7C
(Migne 1. 169, 188): astando ante trihunal Christi et parata ibi
statera (v. 63 f.) quam heatus Job suis temporibus nor^um pa-
ratam susjnrans dicebat: utinam appenderentur peccata mea
quibus iram merui et calamitas quampatior in statera (Job 6,2;
vgl. Aneg. 34, 65 — 67)/ Quasi arena maris haec gravior appa-
reret Statera ista tunc parata est, quando misericordia et veri-
täte , . . obviantibus sibi immortalis deus mortalis homo factus
est,, . appenduntur peccata unius tantum in statera iudidi (v. 68
— 72), appendilmr calamitas duorum in statera misericordia^
et calamitas mortis eius qui peccavit, verbi gratia Job aut
352 TEÜBEK
alterius viri fidelis (v. 73 — 76), et calamitas mortis eius qui non
peccatnt, sdlicet Jesu Christi (v. 77 ff.). Nonne itaque calamitas
in lance misericordiae gravior appareret quam peccata in lance
iudicii? Plane gravior. Aus dem letzten satze hat der dichter
den schluss gezogen: also waren, ohne dass gott selbst sich
auf die wage legte, die Sünden so schwer, dass sie selbst die
werke der gerechten nicht emporheben konnten.
35, 1 — 6. Diese und die zunächst folgenden verse gehen
ilirem Inhalte nach wider auf Hugo als quelle zurück, t. 2, 96C:
in hoc loco videtur inquirendum, quae fuit origo et radix illius
peccati (v. 2). Dass dieser fall ch^om von einem weibCy wusste
der dichter aus Gen. 3, 1 ff. ebensogut wie aus Hugo, der sich
an verschiedenen stellen (so t. 2, 24. 96. 289 ff.) über diese sache
äussert. Dass das weib mit neide von dem tivel bistanden wurde,
finden wir bei Hugo widerholt ausgesprochen, so namentlich
t. 2, 24: videns diäboluSy quod hom^ per ohoedientiam iUuc
ascenderet, unde ipse per superhiam cedderat, 'invidit ei\
35,8 — 16. Dass die teufel einen rat abhielten, das weib
zum falle zu bringen, steht weder in der bibel noch sonst in
einem commentare. Veranlasst könnte der dichter dazu durch
Hugo sein: t. 2, 24: et quia per violentiam ei nocere nonpoterat,
ad fraudem sc convertit, wobei der dichter sich vorstellte, dass
die art und weise des 'betrugs' durch beratung beschlossen
worden sei. Dass das weib zum Übermut, der obersten Sünde,
verleitet wurde, sagt abermals Hugo t. 2, 96 A: est enim superbia
radix omnis peccati, Audiens enim mulier: eritis sicut dii,
elata est in superhiam. Die verse 13 — 16 sind parenthese; der
dichter weist auf die folgen der sünde hin, um dann mit 35, 17
— 25 wider an v. 12 anzuknüpfen. Diese stelle schliesst zu-
nächst an Gen. 3,1 ff. an, wo die Versuchung des weibes und
deren fall erzählt wird. Dann ist aber für v. 22 — 25 Hugo
t.2,97A heranzuziehen :^o^^ etiam did quod non erat homincm
deiecturus in actum illius peccati, ut sdlicet pomum veütum
comederet, nisi elatio praecessisset . . . Audiens enim mulier:
eritis sicut dii, elata est in superhiam; quae superhia erat com-
primenda per poenas illud peccatum secuturas. Der vergleich
zwischen dem guten engel, welcher die ankunft Christi ver-
kündigte, und dem teufel, welcher das erste weib verführte,
und der vergleich zwischen Eva, welche die süude in die weit
QUELLEN DES ANEGENGE. 853
gebracht, und Maria, welche das heil der weit geboren und
für die Sünde Evas gebüsst, ist 35,26 — 36,44 durchgeführt
worden. Obwol namentlich in den Sermones des Augustinus
und anderer kirchenschriftsteller andeutungen über diese dinge
vorkommen, so lässt sich dennoch eine bestimmte quelle für
diese partie nicht nachweisen, und wir müssen dieselbe als
erfindung des dichters bezeichnen. Die schriftstellen, auf welche
sich der dichter in diesem abschnitte seines werkes bezieht,
haben wir bereits citiert, nämlich Gen. 3, 1 ff. und Luc. 1, 26 ff.
Undogmatisch ist was der dichter 36, 5 — 8 sagt: do diu
maget unbewollen von dem chinde hegunde grojsjsen, do macht
diu natover nicht verla^zen, im wurde etwenne we. Etwas
ähnliches findet sich bei keinem kirchenschriftsteller. Eine
erklärung für die annähme des dichters, Maria habe ihr kind
unter schmerzen geboren, lässt sich nur dahin abgeben, dass
er alles mögliche zusammensuchte, um seinen lesem recht klar
zu zeigen, dass Maria für die Sünde Evas gebüsst habe.
Was der dichter 36, 29 — 31 sagt, scheint aus Beda, Hom.
in puriflc. B. M. V., t. 5, 81 ff. genommen zu sein: dominicae pas-
sionis et mortis in cruce, qui Marias anim^m pertransivit: quia
non sine acerho dolore potuit sacrificium morientemque videre.
Ganz ähnlich Beda t. 3, 346.
36,45—51. Mit diesen worten kehrt der dichter wider
zu Hugo zurück, t. 2, 29: diäbolu^ deo iniuriam fecisse convin-
citur . . . Item didbolus homini iniuriam fecisse convindtur . . .
Iniuste ergo tenet diaholus hominem, 'sed homo iuste tenetur^,
quia diaholus numquam meruit, ut hominem sibi subiectum pre-
meret, sed 'homo meruit per culpam suam, ut ab eo premi per-
mitteretur . . . lu^te ergo homo subiectus est diaholo quantum
pertinet ad culpam suam\ Für v. 51 war ebenfalls Hugo (t. 2, 30)
massgebend: causam nostram fedt qui debitum patri pro nobis
solvit et moriendo reatum expiavit
36, 52—59 beruht ebenfalls auf Hugo, der an der citierten
stelle weiter sagt: sed deus causam hominis suscipere noluit,
quia homini adhuc pro culpa sua iratus fuit Oportuit ergo,
ut prius homo deum placeret, et sie deinde fidudaliter deo pa-
trodnante cum diabolo causam iniret, Sed deum rationcibiliter
placare non poterat, nisi damnum quod intulerat restitueret et
de contemptu satisfaceret
o
354 TEUBEB
o
36,60 — 62 stimmt inhaltlich zu Hugos ansieht (t. 2,29):
homo vero nihil habuit^ qtwd digne deo pro ablato damno recam-
pensaret . . . Sed nee hominem pro homine reddere potuit; quia
itistum et innoeentem ahstulerat (^nicht so vil rmnef^, et nemi-
nem nisi peccatorem invenit. Nihil ergo homo invenit (vgl.
V. 62), unde deum sibi plaeare posset . . .
36,63 — 80. Auch diese gedanken hat der dichter Hugo
von St. Victor entlehnt (t. 2, 30): ut ergo detts ab homine pla-
cari posset, dedit deus gratis homini quod homo ex debito deo
redderet Dedit ergo homini hominem (v. 63 — 66), qui priori
non solum aequalis sed maior esset . . . f actus est det*5 homo
pro homine . . . Sed hoc convenientitts fieri non poterat, nisi
ut poenam quam non debebat sponte et oboedienter susciperet
(v. 67 — 71), ut de poena quam per inoboedientiam meruerat,
eripi dignus fieret (v. 72 — 75) ... üt ergo homo iuste poenam
debitam evaderet, necesse fuit ut talis homo pro homine poenam
susciperet, qui nihil poenae debuisset. Sed talis nullus inveniri
poterat nisi Christus. Mit v. 79 bricht der dichter mit der
weiteren darstellung, wie er sie bei Hugo vorfand, ab und
geht wider auf den bericht der evangelien zurück, um an der
band derselben zu zeigen, wie Christus den teufel überwunden,
durch sein leiden die Sünden der ersten menschen gebüsst und
endlich durch seine auf erstehung und himmelf ahrt (die höllen-
fahrt wird eingeschoben) dem erlösungswerke die kröne auf-
gesetzt habe. V. 79 f. schliessen an Luc. 2, 7 an: et reclinavit
cum in praesepio.
Mit 36, 81 f. widerholt der dichter etwas anders gewendet
was er bereits 34,63 — 82 ausführlich geschildert hat.
37, 1—17. In V. 1—7 fasst der dichter die erzählung von
der Versuchung Jesu, wie sie Matth. 4, 1 ff. berichtet wird, kurz
zusammen, um sie dann von v. 34 an ausführlicher zu geben.
Die gründe jedoch, welche er für die Versuchung und für das
fasten des herm angibt, hat er aus Augustinus geschöpft
oder vielmehr aus einem sermon welcher diesem zugeschrieben
wird, Sermo 144, In quadragesima 8, t. 5^, 2031, 2: arbiträr itaque
causam hanc esse ieiunii, ut quia primus Adam in paradiso
constitutum per intemperantiam gulae gloriam immortaiitatis
amiserat. Et quia contra m^ndatum dei gumtans de interdicta
arbore peccatum mortis indderat (das nehmen der fiticht im
QUELLEN DES ANEGENGE. 855
paradiese ist das s<icrüegium, von dem der dichter schon 34, 44
gesprochen); ... vel quia epulando mulier em dognoverat . . .
Adam enim Evam nonnisi intemperantia provocante cognovit
(das ist uherMr, wie es der dichter in anderer Verbindung
schon 34, 20 gebraucht hatte). Hoc enim agit sälvator, ut eis-
dem vestigiis, quibus admissa fuerant delicta, purgentur: hoc
est, ut quia homo manducando deliquerat, corrigat abstinendo,
— Ibid. s. 2032, 4: formmn igitur dedit nobis deus in hoc facto,
ut ieiuniorum tempore tamquam ^desertum habitantes', abstinea-
mus Qwie wir uns da vor tempern solten^ epulis, voluptate,
muliere,
37, 18 — 33. Auch für diese stelle holte sich der Verfasser
des Anegenge die leitenden gedanken aus Augustinus: Quae-
stiones ex novo testamento, pars 2, qu. 9, s. 2394: similiter et
quod esuriit, non sua causa, sed nostra est leiuniis enim cum
superatae fuissent ientationes diaboli; . . . postea i, e. post qua-
draginta dies permisit, ut (quod hominis erat) pateretur famem
('so sich der gotes sun hungern lie*); ut videns diabolus, qui
iam fuerat superatus infirmitatem in eo famis, indtaretur rur-
sum ad tentandum, videns hominem esse a quo vincebatur . . .
Mirabatur enim stupore hebetatus, quod mysterium inesset, quod
se lateret; ut potesta>s esset a^cedendi, circumveniendi non esset,
Duabus enim ex coAisis torquebatur, Videns enim infirmitatem
(v. 21 — 30 sind durch diese stelle veranlasst) accedebat et in-
veniebat virtutem; ut cernens hominem suspectus esset de dei
mrtute. Ad hoc ergo esuriit, ut illuderet a^tutiam Satanae (vgl.
V. 31—33).
37, 34 — 44. Diese verse sind nichts anderes als eine etwas
langatmige ausführung dessen was bei Matth. 4, 2. 3 steht:
postea esuriit. Et a^ccedens tentator dixit ei: si filius dei es,
die, ut lapides isti pa/nes fiant Dass der dichter sagt (43 f.),
der teufel hätte den herrn gerne zu der chelgitichmt getrieben,
beruht auf der früher citierten stelle aus Augustinus, Sermo 147
in quadrag. 8, t. 5«, 2031, 2.
37, 45—51. In v. 45—48 übersetzt der dichter wörtUch
Matth. 4, 4: qui respondens dixit: scriptum est: non in solo
pane vivit homo, sed in omni verbo, quod procedit de ore dei.
In V. 49 — 51 greift er abermals auf die oben citierte stelle des
Augustinus zurück.
356 TEUBEB
Mit den versen 37, 52 f. leitet der dichter zur zweiten Ver-
suchung über, die er 37, 54 — 63 im engen anschluss an Matth.
4, 5 f. schildert: tunc assumpsit eum diabolus in sanctam civi-
tatem, et statuit eum super pinnaculum templi. Et dixit ei:
si fHius dei es, mitte te deorsum. Scriptum est enim: quia
angelis suis mandavit de te, et in manihus tollent te, ne forte
offendas ad lapidem pedem tuum (vgl. Ps. 90, 11). Dass der
dichter sagt unt hiez in den liuten zelobene, also aus ruhm-
sucht solle er sich hinabstürzen, dürfen wir uns nicht wundem;
denn das ist eine alte ansieht der exegeten. Schon Hieronymus
(Commentariorum in ev. Matthaei lib. 1, c. 4, t. 7, Migne t. 26, 32)
bemerkt zu der stelle Matth. 4, 5 : ut quem fame tentaverat,
tentaret et ^vana gloria'. Diese ansieht pflanzt sich dann durch
die exegesen der kirchenschriftsteller fort; bis auf den heutigen
tag ist sie beibehalten worden. Wenn sie der dichter nicht
aus Hieronymus direct entnommen hat, so hat er sie wol in
einem späteren commentare gelesen, der sich nicht eruieren
lässt, da dieselben übereinstimmen.
37,64 — 69 stimmt zu Matth. 4, 7: ait Uli Jesus: rursum
scriptum est: non tentdbis dominum deum tuum. Woher der
dichter die ansieht hat, dass der herr durch demut die ruhm-
sucht der ersten menschen, die von den leuten gelobt werden
wollten, wider gut gemacht habe, lässt sich schwer sagen. In
den commentaren konnte ich davon nichts entdecken. Vielleicht
ist es eine erfindung des dichters.
37,77 — 38,5. Diese verse übersetzen zum teil wörtlich
Matth. 4, 8 — 10: iterum assumpsit eum diabolus in montem ex-
celsum valde, et ostendit ei regna mundi et gloriam eorum;
et dixit ei: haec omnia tibi dabo, si cadens (nider vollende:
man beachte das part.) adoraveris me (v. 77 — 83). Tunc dicit
ei Jesus: vade, Satana, scriptum est enim: dominum deum
adorahis et Uli soli servies.
38, 6 — 9. Der dichter scheint hier eine stelle aus Hugo
(t. 2, 289) vor äugen gehabt zu haben: in promissione divinv-
tatis et cognitionis vana gloria et avaritia. Das eingehen auf
dieses versprechen von seite der ersten eitern war die Sünde,
welche der dichter hier kennzeichnet.
Nachdem der dichter gezeigt, welche Sünden der gottes-
sohn durch sein fasten und seine Versuchung gesühnt habe,
QUELLEN DES AKEGEKGE. 357
geht er auf das leiden des heim, auf seinen tod und seine
grablegung über, um hier in ganz ähnlicher weise darzutun,
wie der herr das alles nur aus dem einen gründe über sich
habe ergehen lassen, weil er dadurch die Sünden des ersten
menschenpaares büssen wollte. Der dichter versteht es, die
einzelnen leidensphasen bestimmten Sünden, zu deren busse
sie erduldet wurden, gegenüberzustellen. Die darstellung des
leidens selbst knüpft an den bericht der hl. schrift (Matth. 27.
Marc. 15. Luc. 23. Joh. 19) nicht selten in wörtlicher Überein-
stimmung an.
Noch ist hinzuzufügen, dass der dichter 38, 23 ff. auf eine
rechtspraxis seiner zeit hinweist.
38, 63 — 68. Hier bezieht sich der dichter auf den brief
des Paulus an Titus 3, 4. 5. 7 : cum autem lenignitas et huma-
nitas apparuit salvatoris nostri dei, non ex operibus iustitiae,
quae fedmus nos, sed secundum suam misericordiam salvos nos
fedt ,., ut iustificati gratia ipsius, haeredes simus secundum
spem vitae aeternae. Der dichter scheint aber erst durch
Wemerus, den er in den unmittelbar folgenden versen benutzt
hat, auf diese stelle geführt worden zu sein; denn dieser citiert
von derselben allerdings nur den ersten vers, was ja schliess-
lich jenem genügte, um das übrige leicht finden zu können.
38,69 — 81. Diese verse fussen abermals auf Wernerus
Peflor. SS. PR, Migne 1. 167, 788 CD), der ganz dieselben ge-
danken wie unser dichter ausspricht, nur in anderer reihen-
folge, aber nicht in anderem zusammenhange: acquisiverat sihi,
fratres charissimi, genus hum^num astutia diabolicae fraudis . . .
Cum ergo Satanas contra hominem astute egisset per falladam
(v. 73 — 75), voluit dominus contra Satan propter hominem pru-
denter agere per sapientiam, Tali igitur dominus egit consilio
de humana reparatione, necessarium erat ut contra diäbolum
pugnaturus talis mitteretur, qui nee succumheret, sed rationaM-
liter ageret. Adam purus homo erat (v. 72) et ideo ex humana
fragilitate tentationibus diäboli succübuit (v. 73—75), et propterea
purus homo ad redemptionem nostram mittendus non erat, qui
vel per se cum tentaretur peccaret Ib. s. 790: in ea OMtem
natura qua homo erat pro iniuria, maius nmndo solvit, quod
solus homo debuit (v. 76 — 81).
38, 82 — 85. Denselben gedanken finden wir bei Wemerus
358 TEUBER
s. 789B: vaMe enim iustum est, ut, qui alii sua abstulerit, et
dblata restituat et pro iniuria satisfaciat
39, 1 — 3 sind selbständige zugäbe des dichters. Dagegen
ist die folgende darstellung von der höllenfahrt Christi einer
pseudo-augustinischen rede Sermo 160, t. 5*, 2059 ff.) entnommen,
welche eine compilation von stellen aus einer homilie Gregors
des grossen und aus mehreren homilien des Eusebius ist. Der
Verfasser des Anegenge nimmt aber von dort nur die gedanken ;
herüber und gibt ihnen teilweise eine andere einkleidung. '
39,4 — 9. In jener rede haben wir die form des dialogs; \
es sprechen die verdammten untereinander (no.2, s. 2060); es \
sprechen die verdammten zu ihrem herscher (no. 3, s.2060); es ,
sprechen endlich die gerechten zu Christus (no. 4, s. 2061). i
Was unser dichter hier sagt, machen dort die verdammten
ihrem herscher zum vorwürfe (s. 2061): si attenderes cwusam, \
requireres culpam. In quo nihil mali cognoveras, quare cum \
ad nostram patriam perducebas? Istum liberum adduodsü; et \
totos obnoxios perdidisti (das ists was der dichter mit dem
Worte gischande sagen will).
39, 10 — 22. Auch diesen gedanken hat der dichter aus der
anspräche der höllischen geister an ihren fürsten übertragen,
dem sie die torheit und nichtigkeit seiner Versprechungen vor-
halten, woraus wir ja indirect erfahren, was der teufel seinen
genossen versprochen hat. Und das letztere gibt unser dichter
dem Inhalte nach wider. In jener rede heisst es (no.3, s.2060):
an forte ipse est ille de quo princeps noster paulo ante dicebat
(daraus ergab sich für unsern dichter ein anlass, den teufel
sprechen zu lassen), quod per eius mortem totius mundi acci-
peret potestatem (daher die aufforderung v. 19 die hölle solle
sich frölichen uftün)? Sed si iste est in contrarium est nostri
proeliatoris versa sententia: et dum sibi vincere visus est, ipse
potius victus atque prostratus est (vgl. oben v. 5). 0 princeps
noster, hicne ille de cuius tibi semper futura morte plaudebas?
ipsene est in cuius cruce omnem mundum tibi subiugandum esse
credebas (v. 10 — 12; durch die worte plaudebas, credebas und
dem folgenden promittebas wurde der dichter auf das geführt
was er in v. 13 — 22 sagt); ipsene est in cuiu^s exitu nobis tanta
spolia permittebas ?
39^ 23—35. Hier schliesst sich unser dichter insofern mehr
QUELLEN DES ANEGENGE. 359
an seine quelle an, als er die directe rede der verdammten
teilweise beibehält. In dem citierten sermo lieisst es (no. 2,
s. 2060): postquam enim exältatus, i. e. a Judaeis in cruce sus-
pensus est, mox ut spiritum reddidit, unita suae divinitati
anima ad inferorum profunda descendü. Cumque tenebra/rum
terminum qua^si quidam depraedator splendidus ac terribilis
attigisset, aspicientes eum impiae ac tartareae legiones territae
ac trementes inquirere coeperunt dicentes. Quisnam est iste
terribilis niveo splendore coruscus? Numquam noster talem
excepit tartarus, nunquam in nostram cavernam talem evomuit
mundus . . . insuper et de nostro interitu formidamus (v. 23 — 28).
Ib. s. 2061 heisst es weiter: ecce ipsi qui sub nostris solebant
suspirare tormentis, insultant nobis de perceptione salutis . . .
Numquam hie ita superbierunt mortui nee aliquando sie potu-
erunt laeti esse captivi. Utquid huc istum adducere voluisti,
quo veniente omnes sunt laetitiae restituti, qui ante fuerant
desperati (v. 29 — 35).
39,36 — 51. Die gedanken welche der dichter hier vor-
bringt, sind, abgesehen davon dass er die ganze hl. dreif altig-
keit in die unterweit hinabsteigen lässt, was wol seine eigene
erfindung ist, wider aus dem citierten pseudo-augustinischen
sermo genommen. Denn dort heisst es (no. 4, s. 2061): post
ista>s crudelium ministrorum infernalium voces sine aliqua mora
ad imperium domini ac salvatoris nostri omnes ferrei confra^ti
sunt vectes (v. 36 — 42); ib. no. 2, s. 2060: nunqu^am huic coeno-
lento loco et nigra semper caligine caecato iucundum lumen
apparuit (v. 43f.); ib. s. 2061, 4: et ecce subito innumeroMles
sanctorum populi, qui tenebantur in morte captivi (v. 39 f.)
In tyranno catena nectitur, et tortor noster poena torquetur
(v. 45f.); ib. s. 2061, 5 heisst es weiter: statim a domini iussu
omnes antiqui iusti iura potestatis acdpiunt . . . lucundentur
in ascensu tuo fideUs, aspicientes dcatrices corporis tui (v. 47
— 49), Fedt hoc Christus, sicut iam superius dictum est. Fa>cta
praeda in inferno, vivus exit de sepulchro (v. 50f.).
39, 52—63. In v. 52—62 scheint der dichter Wernerus,
Migne 1. 167, 926 A vor äugen gehabt zu haben; denn dort
wird gesagt: quidam sentiunt, quod ab hora mortis usque ad
horam resurrectionis in inferno cum electis fuerit, et inde cum
eis abiens resurrexerit Wernerus gibt zwar eine bestimmte
360 TEUBEB, QUELLEN DES ANEGEKGE.
antwort, aber unser dichter hält damit zurück (zu v. 57 — 63
vgl. s. 124 ff.).
39,64 — 40,2. Die grundstelle zu diesen gedanken findet
sich in Ps. 23, 7 — 10, welcher seit den ältesten zeiten prophe-
tisch gedeutet wurde. Aber gerade die prophetische deutung
dieses psalmes ist es, welche der dichter in den citierten
versen widergibt. Die erste auslegung desselben mit beziehung
auf die himmelfahrt Christi findet sich bei Ambrosius, De
mysterüs c. 7: duhitaverunt enim etiam angelt, cum resurgeret
Christus; duhitaverunt coelorum potestates videntes quod caro
in coelum ascenderet, quia dicehant: quis est iste rex gloriae?
Dieselbe auslegung dieser verse des Ps. 23 finden wir bei
Augustinus, Sermo 179, t. 5^, 2085. Am ausführlichsten erklärt
die stelle jedoch Eupert von Deutz im anschlusse an Ambrosius
und Augustinus, De trinitate et operibus eins. In Isaiam lib. 2,
1. 1, 1375, wo es heisst: interrogant igitur occurrentes angeli et
dicunt: quis est iste, quis est iste, rei novitate perterriti (v. 64
— 74, wobei wir allerdings v. 64 — 67 als selbständig hinzu-
gefügte Übergangsverse anzusehen haben). Mysterium enim
passionis et resurrectionis Christi cunctis retro generationibus
fuerat ignotum . . . Rursus angeli sdscitantur, et dicunt: qum'e
ergo rubrum est indumentum tuum, et vestimenta tua sicut cal-
cantium in torculari (v.75)? . . . Respondet ergo percunctantibus :
torcular calcavi solus, et de gentibus non erat vir mecum . . .
Calcavi autem solus, nullum quippe habui adiutorem (v.76 — 78;
vgl. Is. 63). Die verse 39, 79 — 40, 1 scheinen selbständige er-
findung zu sein.
Mit einer aufforderung an seine leser, Christo dem herrn
für die woltat der erlösung durch ein wahrhaft gutes leben
zu danken, weil es sonst besser wäre da^ derselben verte nie
gedacht wurde, schliesst der dichter sein werk, das unter allen
mittelhochdeutschen geistlichen gedichten das dunkelste, aber
auch an gedankentiefe und reichtum des Inhaltes das bedeu-
tendste ist.
KOMOTAU. P. VALENTIN TEUBEE, 0. Cist
DAS VERHÄLTNIS
DER FRAUENMONOLOGE IN DEN LYRISCHEN
UND EPISCHEN DEUTSCHEN DICHTUNGEN DES
12. UND ANGEHENDEN 13. JAHRHUNDERTS.
Burdach hat in seinem buche Eeinmar der alte und Walther
von der Vogelweide s. 69. 74 120 auf einen Zusammenhang der
epik und lyrik des 12. und angehenden 13. jh.'s hingewiesen.
Die grossen Selbstgespräche der Isalde im Tristrant Eilharts
von Oberge und der Lavinia in der Eneide Veldekes erscheinen
ihm als die Vorbilder Hausens und Eeinmars. Ich habe dieses
Problem weiter verfolgt und hoffe einige neue stützen für
Burdachs hypothese gefunden zu haben.
Die Chronologie der dichter würde dieser annähme nichts
in den weg legen: Eilharts Tristrant wird von seinem heraus-
geber Lichtenstein (s. l und cliv) mit grosser Wahrscheinlich-
keit in die siebziger jähre des 12.jh.'s gesetzt. 0 Die Eneide
ist zum grössten teile um 1175 verfasst, vollendet und bekannt
wurde sie nach Behaghels Untersuchungen (ausg. s. clxiii) erst
um 1186. Hausens monolog (MF. 54, 1) wird, wenn er von
ihm gedichtet ist, wol mit recht von Becker (Der altheimische
minnesang, Halle 1882, s. 135 ff.) wegen seiner Vollendung unter
die letzten gedichte gerechnet, d.h. er ist ungefähr 1189 ent-
standen. An Hausen schliessen sich dann Eeinmar 2) und spä-
tere^) an.
») Auch Schröder (Zs. fda. 42, 79) gesteht zu, dass entscheidende beweis-
momente gegen diese datierung sich nicht vorbringen lassen.
^) Becker a. a. o. s. 136 nimmt umgekehrt Hausen als den entlehnenden
an, dagegen Burdach, Anz. fda. 10, 27.
8) Ich habe in den kreis meiner betrachtung folgende monologe ge-
zogen: Eilharts Tristrant 1212. 1874—1880. 2398—2598. 3516—3522.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 24
362 LESSER
Bevor ich aber an eine vergleichende betrachtung dieser
epischen und lyrischen frauenlieder herangehe, muss ich zu-
nächst den Eilhartischen liebesmonolog, der ja das vorbild für
die späteren wurde, einer kritischen Untersuchung in bezug auf
echtheit und interpolation unterwerfen. Denn da das gedieht
Eilharts vollständig nur in einer bearbeitung des 13. jh.'s vor-
liegt, so konnte die annähme nahe liegen, dass viele Überein-
stimmungen mit der späteren höfischen dichtung auf rechnung
des bearbeiters zu setzen seien. Diese etwaigen interpolationen
müssten natürlich für die Untersuchung über die abhängigkeit
der lyrik von der vorausgegangenen epik durchaus unberück-
sichtigt bleiben.
Wir haben für die herstellung des textes drei quellen: 1) die
jüngere gereimte bearbeitung aus dem 13. jh., D und H = X
(Lichtenstein). Aeltere, dem originale näher stehende f assungen
aber bieten 2) die prosaauflösung P aus dem 15. jh. und 3) die
czechische Übersetzung Ö aus dem 13. jh. (vgl. Feifalik, WSB.
32,300). Doch man darf 2) und 3) nicht überschätzen; denn
2) enthält eine reihe von misverständnissen (Lichtenstein, Zur
kritik des prosaromans s. 19 ff.), und was schwerwiegender ist,
es setzt moderne Wörter für antiquierte ein (Lichtenstein a. a. o.
s.23ff.) und kürzt die dialoge (X 457— 495 ist in P8,8ff.
stark gekürzt im gegensatz zu Ö 14, 12 — 15, 23, das hier auf
Seiten von X steht; ähnlich X 646—668 = Ö 22, 6 — 23, 1 :
P 12, 5—20; X 729—736 = 6 24, 17 — 25, 5 : P 13, 17—19).
3) ist ebensowenig eine einwandsfreie quelle. Denn sie ent-
hält eigene zusätze, die nur eine widerholung früherer gedanken
oder eine notdürftige herstellung eines anschlusses sind (Knie-
schek a.a.O. s. 348), misverständnisse des deutschen Originals
(Knieschek s. 351), abweichungen und änderungen (Ö 92, 19 :
X 2558). Wichtiger sind aber die unstatthaften auslas-
3525—3527; VeldekesEneide 1362-1408. 2442—2447 (Dido), 10064—
10388. 10400—10435. 10476-10495. 10726-10784. 11383-11422. 11428—
11465. 11504— 11552. 12215— 12300. 12672— 12688 (Lavinia). Hausen, MF.
54, 1. Veldeke 57, 10. 67, 17. Johannsdorf 94, 35. Rugge 106, 15.
Morungen 142,26. Reinmar 151, 1. 167, 31. 178, 1. 186, 19. 192, 25
(199, 25 und 203, 10 werden mit recht von Er. Schmidt, QF. 4, 76 und 74 für
unecht erklärt); Hartmann 212,37. 217, 14. 216, 1. Walt her 113, 31.
39,11. Otto von Botenlauben MSH. 28,8.
MHD. FRAUENMONOLOGE; 363
sungen (Lichtenstein a.a.O. s. 10, 8). In der grossen kampf-
schilderung X 6022—6072 hat C offenbar stark gekürzt. Dass
aber P nur drei Zeilen (130, 10 — 12) dafür verwende, wie Knie-
schek meint, ist falsch, denn nur die anordnung der gedanken
weicht in P von der in X ab; man vergleiche X 6035 ff. mit
P 130, 24; X 6048 mit P 130, 21.
Wie alle jüngeren Überarbeitungen älterer gedichte hat
auch X das bestreben, das gedieht nach inhalt und form der
neuen kunstentwickelung anzupassen. So finden sich denn in
der tat neben der beseitigung der alten assonanzen auch tiefer
gehende erweiterungen (Lichtenstein a. a. o. s. 17). Manchmal
aber stimmt X mit Ö und P gegen die alten fragmente (A)
überein, so dass selbst Knieschek (a.a.O. s. 339 ff.) zu der an-
sieht kommt, dass X an einigen stellen das ursprüngliche
widergebe. Jedenfalls aber muss ich mit Lichtenstein (ausg.
s. xx) übereinstimmen, dass X sehr wenig sachliche Verschieden-
heiten aufweist. Ueberhaupt glaube ich, dass aus der ganzen,
mit grosser heftigkeit geführten Untersuchung nur das heraus-
gekommen ist, dass P und C für die reconstruction der alten
reime nach wie vor eine vorzügliche handhabe bieten, dass
aber sonst im grossen und ganzen alle drei von einander un-
abhängige und gleich gute oder gleich schlechte recensionen
sind. Denn das resignierende Schlussurteil Ejiiescheks wird
bestehen bleibon, dass wir wol nie im stände sein werden, das
original Eilharts überall herzustellen, wenn uns nicht neues
handschriftliches material zufliesst. Nur wo zwei quellen gegen
die eine stimmen, da ist freilich wahrscheinlich, dass diese das
ursprüngliche bewahrt haben.
Gehen wir nun unter diesen ungünstigen anspielen an die
kritik unseres monologes, so ist sogleich die sehr energische
f orderung Kniescheks, 115 verse (X 2436 — 2551) zu streichen,
die in C fehlen, auf ein sehr bescheidenes mass herabzustimmen.
Nur an folgenden stellen gehen P und Ö in der auslassung
zusammen: X 2436—2438. X 2444— 2457.0 X 2464—2466
(frauwe Amur), X 2539—2551. X 2480 ff. setzt die bearbeitung
mit der anrufung der frauwe Minne ein. Es ist nun auffällig,
*) X 2458— 24C3 ist gegen den verdacht der Interpolation durch P 48.
14—16 geschützt.
24*
364 ' LES8EB
dass C und P eine personification der liebe nicht kennen.
P hat nur den liebesgott Cupido. Auch in X 2714, der ein-
zigen stelle, in welcher diese personification in X noch be-
gegnet, fehlt sie in P und Ö. In den fragmenten des franzö-
sischen Originals (Michel, Tristan, London 1835 — 39, bd. 1)
findet sich niemals V Amors. Wol aber erscheinen diese namen
Amor und Cupido in dem fi'anzösischen Eneas: Amor v. 8655,
Cupido V. 8630 (ausg. v. J. Salverda de Grave, Halle 1891). Ich
glaube nun mit Lichtenstein (s. cxxxix), dass Eilhart diese
namen dem Eneas entnommen und überhaupt das ganze Selbst-
gespräch dem dichter dieses epos nachgebildet hat. Durch
diese annähme würden sich auch am leichtesten die vielen
oft wörtlichen anlehnungen an die Eneide Heinrichs von Vel-
deke erklären, die ja eine bearbeitung des französischen Eneas
ist. — Dass nun die czechische Übersetzung des Eilhartischen
Tristrant diese namen Amor, Cupido fallen gelassen hat, kann
nicht sehr wunder nehmen, da überhaupt die czechischen
bearbeiter die Zieraten ihrer romanischen originale abstreifen
(Lichtenstein, Anz. fda. 10, 8). Die deutsche prosaauflösung aus
dem 15. jh. aber hat vielleicht deshalb frautve Minne ver-
schmäht, weil das wort mtnne mehr und mehr die vergröberte
bedeutung annahm und aus dem schriftdeutschen verschwand
(DWb. 6, 2241). Ueberhaupt aber möchte ich auch den son-
stigen auslassungen von P und C bei ihrem durchgehenden
bestreben, gespräche zu kürzen, nicht den wert beilegen, dass
ich glaubte, den echten text des monologes durch beseitigung
dieser stellen widerhergestellt zu haben, vielmehr werde ich
in der folgenden arbeit das ganze Selbstgespräch berücksich-
tigen und nur an die betreffenden stellen das zeichen ? setzen.
Ich gehe nunmehr an die vergleichung der epischen und
lyrischen monologe heran. Es finden sich zuerst wörtliche
Übereinstimmungen der lyriker mit
a) Eilhart und Veldeke: Eüh. 2400* >) : Veld. En. 2294 :
Eeinm. 187, 11* (Burdach a.a.O. s. 120), dazu kommt Eüh. 2591*
der lip ist mir so Up, so ist er mir auch Up (s. P 49, 6), vgl.
V. 7564. 8825. 9036 = Veld. 2262 de mir liever was danne mines
^) Die mit einem * versehenen zahlen beziehen sich auf steUen aus
den liebesmonologen selbst.
MHD. FRAÜENMONOLOGE. 365
selves Zi/'^ Haus. 54, 18* der mir ist alsam der lip\ Eilh.8839 sie
ist mir vor al die werld lip = Veld. 12720 die mir es vor alle
wif = Haus. 54, 34* ich solle im sin immer liep für alliu wip\
vgl. 43, 14 (solche Wendungen treten im minnesange zuerst mit
Hausen auf, vgl. E.M. Meyer, Zs. fda. 29, 157). Eilh. 2361 si wor-
din . . . heide bleich unde rot = Veld. 10057 si wart bleich ende
rot (10509 ff.) = Eeinm. 178, 31* bleich und eteswenne rot, also
verwet ez diu wipA) Eilh. 2490*. Veld. 10295*. Eeinm. 161, 31.
Mor. 133, 12. Walth. 116, 35. 99, 1 wird vom nahen der liebe das
verbum bestän gebraucht, das sonst im minnesange nicht weiter
vorkommt.
b) mit Eilhart: v.2528* 2586 = Eeinm. 192, 38* (Bur-
dach s. 120). Dazu kommt v. 609 swes her zem rehte begert,
des wird er alles gewert = Haus., MF. 55, 3* des ist er von mir
geivert alles swes sin herze gert, vgl. 44, 8; ähnlich Hartmann
im frauenmonolog 216,22* er ist alles des wol wert des ein
man ze wihe gert; Walth. 44, 8 der mac erwerben swes er gert;
Eilh. 9159 daz sie gerne toste swes sie der hell bcete = Walth.
113, 34* dem enmag ich nicht versagen me des er mich gebeten
hat Eilh. 8841 : ich gan doch ntman gütis baz = Haus. 49, 26
der man . . . der ir baz heiles gan.
c) mit Veldeke: v. 10108* = Haus. 54, 23* = Eeinm.
187,11. Veld. En. 271, 10 (ausg. von Ettmüller: Behaghel tilgt
den vers) = Haus. 54, 3* (Burdach s. 120). Dazu kommt Veld.
10071* we hat mir sus gebonden min herte in körten stonden
= Haus. 52, 14 min stcete mir nu hat da^ herze also gebunden:
diese Verbindung findet sich im minnesange überhaupt nur bei
Hausen. Veld. En. 10233* des es min herte vele swär = Haus.
51, 3 dest minem herzen swwre; Veld. En. 10322* ich weit wale
dat mir wäre vele beter gedän . . . dan ich min herte skeide van
Turnö so verre = Haus. 54, 32* und ich daz herze min von im
gescheiden niht enkan. Diese phrase kommt nur noch vor Guten-
b. 72, 34 und Fenis 83, 10.
Veld. En. 10185* minde ich me dan einen, so enminde ich
enlieinen (vgl. 10222 ff.) = Johannsd. 86, 5 solde ich minnen mer
1) Aehnlich schon Kaiserchron. 2799 (Edw. Schröder). Nib. 284, 4 (vgl.
Uhland, Schriften* 403); die rote färbe ist es aUein bei dem Kümb. MF. 8, 21.
Mor. 134, 10. Reinm. 176, 32 ; die kranke färbe bei Veld. En. 9836 und MF.
67,23.
366 LESSER
den eine daz emvcere mir niht guot, söne minnet ich d^heifie.
AehnUch bei Walth.86,19. 51,11 (Burdach s. 149). Veld. En.
10096* wan sint . . . ich den helet lussam alre erste gesach, des
ich vergeten niet enmach = Rugge 106, 19* sU ich sin Jcunde
dir erst gewan, son sach ich u. s.w. Veld. En. 10855 nu doe dorch
den willen min = Reinm. 178, 5* nu sage im durch den willen
min. Veld. En. 10858 lieve friunt = Reinm. 178, 1* lieber böte,
Veld. En. 10856 des ich dir iemer holt wel sin = Reinm. 178, 23*
daz ichs immer löne dir,^)
Veld. En. 10173* wat luste mich deich hen gesach, dat ich
nu wale spreken mach, wan et moeste also geskien = Reinm.
193, 18* ja zürne ich äne not: ez solte cht sin.
Zur Syntax (Burdach s. 56 ff.).
Die beiden epen Eilharts und Veldekes zeigen gerade in
den frauenmonologen schon eine entwickelte syntax.
1) Causalsätze. In dem Selbstgespräch der Lavinia
kommt diese satzform 11 mal vor (10092.* 10096.* 10107.*
10143.* 10148.* 10162.* 10175.* 10270.* 10294.* 10316.
10359*). Im monologe der Isalde begegnen uns deren 8:
V. 2432.* 2515.* 2519.* 2523.* 2566.* 2573.* 2574.* 2591.* In
den lyrischen monologen finden sich an folgenden stellen causal-
sätze: Haus. 54, 30.* Reinm. 168, 1.* 193, 3.* Hartm. 216, 17.*
19. 217, 35.* Walth. 114, 17.*
2) Consecutivsätze. Eilhart wendet diese form oft an:
V. 2409.* 2441.* 2449* (?). 2457.* 2491.* 2500.* 2503.* 2508.*
2553.* 2562.* 2569.* 2579.* Dagegen gebraucht Veldeke diese
satzform in einem 128 verse mehr zählenden abschnitte nur
einhalbmal so viel: v. 10174.* 10189.* 10190.* 10192.* 10218.*
10229.* In seinen beiden lyrischen monologen überwiegen
freilich noch diese Sätze: MF. 57, 15. 16. 20. 23. 31. 58,9. 10.
67,20. Im frauenliede Hausens begegnet nur 54,38* ein sol-
cher (im übrigen vgl. Burdach s. 57).
^) Diese letzten stellen aus Eeinmar gehören alle dem längeren frauen-
liede an, welches an einen boten gerichtet ist und womit Reinmar im minne-
sange eine besondere Stellung einnimmt. Aber es scheint doch, dass er
eine ähnliche Situation in Veldekes Eneide zum vorbilde nahm. Auch in
Eilhart« Tristrant v. 7161—7187 haben wir gewissermassen ein solches boten-
lied, doch habe ich keine ähnlichkeiten mit Eeinmar entdecken können.
MHD. FRAÜENMONOLOGE. 367
3) Conditionalsätze. Eilharts frauenmonolog weist 11
solcher sätze auf (v. 2405*. 2468*. 2476.* 2497.* 2504.*
2540* (?). 2541* (?). 2548* (?). 2571.* 2574.* 2582*), aber
darunter ist kein irrationaler, sondern alle sind von der ein-
fachen natur, wie sie uns im älteren minnesange entgegen-
tritt. Schon dem inhalte nach erinnert z. b. 2476* du engibest
mir din htdde, so enmag ich niJit genesin an MF. 16, 21 e^n
heile mir ein frouwe mit ir mmne, ez enwirdet niemer me ge-
sunt Ganz anders bei Veldeke. Er hat nicht weniger als
25 conditionalsätze: 10058.*') 10131.* 10139.* 10141.* 10151.*
10164.* 10166.* 10168.* 10181.* 10185.* 10216.* 10227.*
10253.* 10267.* 10271.* 10281.* 10290.* 10297.* 10300.*
10302.* 10317.* 10346.* 10357.* 10368.* 10380*). In diesen
Sätzen erscheinen schon die complicierten typen, die mit dem
auftreten Hausens in den minnesang eingeführt werden (Bur-
dach s. 69). 1) Wäre das so und so, so würde ... es ist
aber nicht so, also' begegnet uns bei Veld. En. 10210*:
mochte ich die (salwe) gewinnen, dat iväre gröt richeit: ich
vorcht aver, si st vel ungereit. so wart ich onheiles geboren.
lieber die beispiele bei den lyrikern s. Burdach s. 65 ff. —
2) Asyndetische aneinanderfügung zweier conditional-
sätze: Veld. En. v. 4316: woldt ir üch gemäten soliker ontochte,
of et üch goet dochte, et dochte mich vele goet; v. 11161.
V. 12677* des engetroude ich hem niet, of sin dinc wale quäme,
dat he min niet wäre näme, of hem got genäde, dat he mich
versmäde. Die beispiele aus den lyrikern bei Burdach s. 65;
im übrigen vgl. auch Behaghels En. s. cvi. — 3) Die form
der einschränkung: Veld. En. 10168* des endede ich aver
niet, wan dat mir min herte riet, dat ich mich her wolde ernern,
vgl. Haus. 54, 4.* 54, 15.* Eeinm. 167, 26. Walth. 114, 10.*
lieber periodenbau (Burdach s. 64ff.).
Im minnesange kommen zuerst complicierte Satzgefüge bei
Hausen auf. MF. 45, 1 besteht aus einem conditionalen
Vordersatz mit consecutiv- und eingeschobenem
relativsatz, dann folgt der nachsatz. Auch bei Veld. En.
10215* ff. findet sich in ähnlicher weise ein conditionaler
Vordersatz mit consecutiv- und eingeschobenem
^) Die gesperrten zahlen bedeuten irrationale fälle.
368 LESSER
Kelativsatz, woran sich allerdings vor dem nachsatz noch
ein zweiter consecutivsatz anschliesst.
Veld. En. 10380* ff.: Waltli. 72, 1 ff., d. i. condit.-s., object-
satz mit daz^ relativs., nachsatz mit antiphasis, bez. con-
dit.-s., nachsatz mit antiphasis, relativsatz mit ein-
schränkung.
Veld. En. 10290* ff.: Reinm. 172, 30, d.i. conditionalsatz
mit relativs., nachs. mit causalsatz.
Eine kunstvoll verschlungene periode findet sich Veld. En.
10297*: conditionals., relativs., nachs. mit einem zweiten
conditionals. und vergleichungssatz.
Endlich findet sich in Veldekes monologe auch das stil-
princip der trennung (Burdach s. 65), d. h. die trennung
zusammengehöriger Satzteile durch einschiebung anderer: Veld.
En. 10164* hedd ich joch me gesproJcen . . . , end of ich st hede
besJcolden; v. 10177* mcnegen wale gedänen man . . . end menegen
sJconen jongelinc.^)
Poetische technik.
Antithese und oxymorou.
I. Antithesen. 1) Die bei den minnesängern so beliebte
gegenüberstellung der eigenen liebe und der anderer ist in
antithetischer form auch in den beiden epen zum ausdruck
gebracht. Eilh. Tristr. 2480* ff. Minne, nü senfte mir ein teil,
daz ich dich möge irltden! Du bist niht allen wthen als un-
genedig als mir, Aehnliches liegt v. 2485* zu gründe. Nicht
so deutlich bei Veld. En. 10492* ff. owd wat ich al weit des
ovelen des van dir geshiet des goeden enweit ich niet, dat hästu
mich noch verholen. Denselben gedanken, nur der allegorischen
form entkleidet, haben wir bei Haus. 44, 5. Reinm. 153, 16.
155, 5 ff. Walth. 95, 29 ff.
2) Der gedanke: 4ch bin ihr so treu, sie aber will nichts
von mir wissen' (Lehfeld, Beitr. 2,401. Burdach s. 105) findet
^) Es ist auffäUig, dass diese eigentümlichkeiten einer höheren kunst-
form des Stiles in Veldekes liedem, insbesondere in seinen frauenmonologen,
noch nicht erscheinen, offenbar weil diese vor dem epischen monologe ge-
dichtet waren. Ebenso möchte ich diesen syntaktischen unterschied als ein
kriterinm für die priorität Eilharts vor Veldeke ansehen, eine ansieht, welche
noch andere sachliche momente stützen, s. s. 380, anm. 1.
MHD. FRAUENMONOLOGE. 369
sich bei Eilh. Tristr. 2552* wie ist mir gesehen so, daz ich minne
den 'tnan der des ni Jceinen müd gewan daz her mich minnen
wolde? V. 2519* ... wan ich in lip hän und he mich nicht
Veld. Ell. 10400* nu enweit ich leider wat ich sdl, dat ich den
man moet minnen de alsus vert hinnen dat he mich niet ane
siet, vgl. Haus. 52, 17. Fenis 81, 9. Mor. 130, 11 ff. Reinm. 166, 31.
Hartm. 208, 14. Walth. 64, 21.
3) Auch der zeitlich gefasste gegensatz zwischen der
jetzigen und der früheren läge hat bei Veldeke schon etwas
vergleichbares: Veld. En. 10071* we hat mir siis gebonden min
horte in körten stonden, dat e was ledeliJce fri, vgl. Haus. 43, 27.
Reinm. 192, 29.* Walth. 113, 37 ff.
4) Die gegensätze der liebesempfindung werden bei den
epischen dichtem vorzugsweise durch Schilderung der körper-
lichen Veränderungen anschaulich gemacht: Eilh. 2497* was
ich bevorn an hitze halt, ich tverde nü als ein is kalt und dar
nä also sere heiz daz mir rinnet der sweiz uz allen minen
geledin, vgl. 2377 ff. 2534.* Veld. En. 10046* want st brande
end st fros in vele körten stonden. Von den lyrikern kennt
nur Reinm. 178, 31* die Veränderung der färbe (vgl. Eilh. 2363.
Veld. 10057).
IL Oxymoron. Die alte epische formel liep — leit^) findet
sich bei Eilh. 2402.* Veld. 2295 und im minnesange bei Veld.
MF. 58, 24. Johannsd. 94, 36.* Hartm. 217, 35.* Reinm. 187, 11.*
Walth. 116, 28. Oefter erscheint sie kunstvoller mit geringer
Variation in antithetische Verbindung gebracht (Haus. 54, 10. 13.*
50, 38. 49, 29. Hartm. 217, 35.* Reinm. 166, 26* u. ö.).
Aehnliche oxymora finden sich Veld. En. 11435 der sköne
ovel Eneas, v. 11463 holt ende gram, v. 1876 rouwich ende frö,
V. 10390 wonne end ongemac, v. 9865 ongemac — soete; Reinm.
159,24.* Walth. 92,30 u.ö. süeze arebeit; Walth. 119, 25 (vgl.
Mor. 125, 35. 147, 4) senfte unsenftekeit
Kevocatio (Burdach 8.71).
In kunstvoller und ergreifender weise ist in dem Tristrant
Eilharts diese figur durchgeführt. 2403.* 2413.* 2568.* 2579.*
2589: 'ich liebe ihn — und darfs doch nicht wagen; ich will
ihn vergessen — das kann ich nicht; ich will ihm die liebe
*) Kettner, Die österreictisolie Nibelungendichtung s.29.
370 LESSER
gestehn — und ich schäme mich doch — so will ich sterben
— doch nein — ich werde es ihm sagen', vgl. Veld. En. 10084 *
10104.* 10306.* Auffälligerweise kennt widerum Veldeke in
seinen liedern diese redefigur nicht, wie denn auch die älteren
minnesänger kein beispiel aufweisen. Die revocatio scheint
erst bei Hausen aufzutreten (54,27.* 28*). Freilich fällt bei
diesem beispiel zwischen satz und gegensatz die pause des
Strophenendes,») ßeinm. 187, 24.* 187, 27.* 193, 17* u. ö. Hartm.
213, 21.* Walther (Wilmanns s. 67). 69, 27 u. ö.
Fragen (bei Burdach s. 120, 72).
Synonyma und synonymer parallelismus
(s. Burdach s. 85. Wilmanns' ausg. s. 71 ff.).
Das ausserordentlich häufige vorkommen der figur der
Variation in den epen Eilharts und Veldekes zeigt die bewusste
absieht des dichters.
a) Substantiva. Tristr. 2485* ungemach und schaden.
2442* her^se iinde müd, 2600* mit sorgen und mit rüwe\ Veld.
En. 10360* hopeninge end goet wan u. ö., vgl. besonders 8057 ff.
und 12615 ff. — b) Adjectiva und adverbia. Trist. 2414*
gehaz oder gram, 2438.* 2458.* 2461* u. ö. Veld. En. 12617*
getroiiwe ende wärhacht u. ö. — c) Verbale Verbindungen.
Tristr. 2489* bestän — ane gän, 2545 (?).* 2558.* Veld. 10126*
derren — vale maken, 10196.* 10247.* 10374.* — Ueber die
minnesänger vgl. Burdach s. 88 f. 94. 97. Wilmanns, Walth. s. 71.
Anhang. Zur Synonymik der worte für freude und leid^):
1) soslic findet sich in den höfischen epen zuerst bei Veldeke
(En. 1511. 6535. 10024), noch nicht bei Eilhart. Im minne-
sange kommt dieser ausdruck zuerst 3) auch bei Veldeke vor
(61,36), öfter bei Hausen (44,6. 45,24. 54,1.* 4.* 55,2*) und
wird dann stehender ausdruck (Burdach s. 68. 103).*) — 2) Un-
0 Doch s. Lehfeld Beitr. 2, 363 und Becker a. a. o. s. 134.
*) Ueber den älteren minnesang vgl. Scherer, Deutsche stud. 2, 33. 66,
über den ganzen minnesang bis Walther s. E. Schmidt a. a. o. s. 102, über
Hausen s. Lehfeld, Beitr. 2, über Walther s. Wilmanns, Leb. W. s. 192.
3) MF. 6, 17 scelic si daz beste wip : dieses gedieht aber weisen die
überschlagenden reime und die mehrstrophigkeit in die zeit nach 1180.
Ausserdem bedeutet sadic hier wol nur * gesegnet'.
*) Die Wendung scelic man u. a. für einen niederschlag alter deutscher
Tolksliedchen zu halten, wie es E. M. Meyer, Zs. fda. 29, 144 tut, halte ich
MHD. FRAUENMONOLOGE. 371
gleich wichtiger und zahlreicher sind die worte für liebesleid :
es zeigt sich, dass manche Synonyma, welche erst durch Hausen
und spätere eingeführt werden, schon in den epen Eilharts und
Veldekes vorkommen, a) Substantiva: rouwe (= rmwe), das
wort für empfindsamen liebesschmerz (s. Bock, Wolframs bilder
und Wörter, QF. 44, 55) findet sich bei Eilh. Tristr. 2400.* Veld.
En. 9877, im minnesange zuerst bei Haus. 45, 7. 49, 33 und wird
nun allgemein üblich. Hausen hat den ausdruck kumber, der
später so viel gebraucht und typisch geworden ist, zuerst^)
in den minnesang eingeführt, aber Eilhart wendet ihn schon
in seinem epos an v. 7166 so saltu . . . minen kumber clagin
den ich nach im Ude\ — Tristr. 2390 herzeser = Haus. 53, 21;
— Tristr. 2485* schaden = Haus. 47, 1 ; — Tristr. 2532* smer^e
= Fenis85,24. Mor.146,7.2) Veld. En. 9880 wendet das im
minnesange widerum bei Hausen zuerst auftretende wort angest
bereits im epos an (s. Haus. 44, 17. 44,33). — b) Adjectiva:
Eilh. 2462*. Veld. En. 10233* swere, vgl. Haus. 45, 9 ; — Veld.
En. 10196* wunt, vgl. Haus. 49, 13. — c) Das adver bium leider
Veld. En. 10404*, vgl. Haus. 44, 3. — d) Das verbum Itden hat
Eilh. 2395*, im minnesange zuerst bei Haus. 43, 39; klagen Eilh.
2486.* Haus. 43, 34; verwüeten Eüh. 2539* (?). Haus. 51, 13; be-
trüeben Veld. En. 9834. 10355.* Haus. 55, 2*; mich twingeP)
Veld. En. 10152.* 10467.* Haus. 43, 1. — Natürlich haben die
epischen und lyrischen dichter noch manche Synonyma, die auf
sie selbst beschränkt geblieben sind. Eilh. 2479* unheil, 2496*
wankelmüd u. a. Haus. 44, 38 daz seren, 44, 37 dajs klagen, 49, 3
dajs tve unde ach. Reinm. 152, 13 erliden. Walther 118, 17
imgelilcke.
Synonymer parallelismus.
Eilh. 2468* = 2470* liabe ich ergin dtn gebot mit ichte i
missehaldin und habe ich . . . icht wedir dich getan, V. 2476 f.
zum mindesten für bedenklich, da die beispiele erst spät bei dichtem, welche
Ton höfischer manier beeinflusst sind, vorkommen!
*) Schon MF. 5,27 sender kumher, doch dieses gedieht gehört wahr-
scheinlich kaiser Heinrich an (s. Er. Schmidt a. a. o. s. 102).
-) Scherer, Deutsche stud. 2, 61. Das wort smerze ist fast nur auf das
epos beschränkt (vgl E. Schmidt a. a. o. s. 108).
^) Schon Graf Rudolf, Grimm 17, 13. Später im minnesange sehr zahl-
reich, vgl. R. M. Meyer, Zs. fda. 29, 138. Lehf eld, Beitr. 2, 404.
372 LESSEB
= 2478* f. Veld. Eu. 10112* des nioet ich queleu sere efid nwet
ei koupen düre\ 10288*. 10164* liedd ich joch me gesprohen —
end of ich si hede heskolden: brechung des synonymen
parallelismus wie bei Joliannsdorf 92, 31. Eeinm. 158, 23.
150, 10 11. ö. Im übrigen vgl Burdach s. 84 ff. Wilmanns, Leben
Walthers s.44ff.
Antithetischer parallelismns.
a) Eilh. 2497* was ich bevorn an hitze halt, ich werde nü
als ein ts halt Veld. En. 10185* minde ich me dan einen, so
enminde ich dehdnen. Dieser parallelismns mit conditionalem
Vordersatz hat viele analoga bei Walther (Wilmanns s. 80).
— b) Mit der conjunction und verbunden: Veld. En. 10068*
nu was ich ietoe al gesont ende hin nu vele na döt = Joh. 88, 37.
Walth. 35, 10 u. a. — c) Parallelismus in relativer Verbindung:
Veld. En. 10191* wan komet mir der sin dat ich sus wise worden
hin des ich e so domp was, ebenso 10246*; vgl. Walth. 64, 21.
— d) Ohne conjunction: Veld. En. 10248* Minne, du bist noch
galle, Minne, nu wert soete, vgl. Walth. 110, 36, parallelismns mit
anaphora auch bei Haus. 50, 23. 27. — e) Widerholung des prädi-
cats mit verschiedenem tempus: Veld. En. 10231* f. ich konde es
luttel hüde froe end kan et so wale ietoe, vgl. Walther 117, 15
ich hän ir gedienet vil und wolle ir gerne dienen me,
Widerholung derselben worte.
Eilh. 2412* (Äö^O; 2436* (?). 2438* (?;Ki?); 2hhh* (minnen)
U.Ö. Veld. En. 10064* (mM;eiO; 10185* (mmde «cä) u.ö. Veldeke
ist überhaupt für die widerholung eines und desselben wortes
innerhalb des kleinsten raumes völlig unempfindlich (vgl. Be-
haghel, En. s. cxxiii — cxxv. Burdach s. 87 f.). lieber die lyriker
vergleiche man Burdach s. 96 und Wilmanns s. 84.
Anaphora.
Die anapher ist in den epen Eilharts und Veldekes auf
die anrufung der Minne beschränkt: Eilh. 2512*f. 2517*f. 2519.*
Veld. En. 10246* steht das wort minne fünf mal am anfang,
V. 10256 f. steht es sieben mal immer am Schlüsse. Eine ähn-
liche Spielerei findet sich von v. 1 1098 an, wo zehn mal minne
am anfang eines verses gesetzt ist, so zwar, dass der betreffende
vers immer durch einen schaltvers getrennt wird. Ueber die
lyriker vgl. Burdach s. 89. 94. 96. 103 und Wilmanns s. 76-
MHT>. FBAUENMONOLOGE. 373
Widerholung ähnlicher gedanken.
Zu den charakteristischen eigentümlichkeiten der beiden
liebesmonologe in den epen Eilharts und Veldekes gehört die
widerholung wichtiger gedanken an ganz verschiedenen stellen.
Das kann mit mass und ziel verwant ein bedeutsames kunst-
mittel sein, weil es auf der feinen psychologischen beobachtung
beruht, dass bei heftigem seelenkampfe dieselben gedanken,
gleichsam die central- und brennpunkte der ganzen betrach-
tungen, immer wider gebieterisch ins bewusstsein zurück-
kehren. Von dem gedanken 4ch habe die huld der minne ver-
loren' kann sich Isalde nicht losreissen (v. 2476.* 2478.* 2482.*
2507*). 'Die minne bereitet mir schmerzen' (v. 2453* [?]. 2462.*
2473*. 2489.* 2493* f. 2510.* 2532*). 'Minne sei mir gnädig'
(v. 2516.* 2522.* 2536.* 2543* [?] ). 'Ich werde kalt und heiss'
(v. 2497*. 2534*). 'Ich liebe Tristrant, er mich nicht (v.2519.*
2554.*). 'Ich will ihm die liebe gestehn' (v. 2582.* 2598*). Bei
Veldeke kehrt drei mal der gedanke wider: 'ich werde kalt
und heiss' (v. 10092.* 10122.* 10132*). 'Einen andern kann
ich nicht lieben' (v. 10178. 10182. 10185). Drei mal begegnet
auch der ähnliche, in originellem ausdruck gefasste gedanke:
'liebe kann ich nicht in zwei teile teilen' (v. 10189. 10350.
10372). 'Käme doch die heilende salbe der liebe' (v. 10202.
10210). 'Die liebe hat mich plötzlich weise gemacht' (v. 10192.
10229). *) Bei den miunesängern begegnet zuerst bei Meinloh
eine ähnliche widerholung der gedanken, worauf Scherer,
Deutsche stud. 2, 458 (24) aufmerksam gemacht hat. So findet
sich MF. 15, 9 und 13 derselbe gedanke: 'ich sah keine schönere
frau'; 12, 1 f. 9 f. 'eine edle dame fordert edlen dienst' u.s.w.
Ob freilich schon bewusste künstlerische absieht vorliegt, wie
Scherer für wahrscheinlich hält, ist mir fraglich. Bei der
kürze der lieder wirken die widerholungen zu ärmlich, und
sie sind wol auch nur folgen einer gedankenarmut (Burdach
s. 87). Sicher ist aber bei Veldeke die absieht nicht zu ver-
kennen. 56, 1 ff. kehrt in allen vier Strophen der gedanke an
seine torheit wider. Sein grösserer frauenmonolog gar besteht
*) Auch im monologe der Medea in Herbort v. Fritzlars Trojanerkrieg
findet der gedanke, dass seele und leib durch die liebe getrennt sind, zwei-
maligen ausdruck (v. 8057. 8063 f.)? ebenfaUs im monologe der Briseis der
gedanke an den geliebten mann (v. 8355. 8384).
374 LESSEB
nur aus den zwei Sätzen (57, 26 ff.): ez harn von tumbes herzen
rate, ez sal ze tumpheit och ergän. Bei Hausen wird die wider-
holung öfter zur kunstvollen responsion an gleichen versstellen
(Burdach s. 89). In dem frauenmonologe 54, 1 ff. drängt das
überwältigende gefühl der liebe zu dem geliebten immer wider
zum ausdruck (54,* 4. 10 f. 13. 18. 22. 24 f. 30. 32. 36. 38 f.).
Der entschluss der liebesgewährung aber (54,* 5. 14. 19. 28. 37.
55,* 3) wird immer wider durchkreuzt durch den dazwischen
klingenden gedanken der scheu vor der weit (54,* 7 f. 15 f. 20.
26. 29. 55,* 5). — Ganz ähnlich in dem grossen frauenliede Eein-
mars (178,* 1 f.): 1) innige liebe: 178,* 2 f. (12).») 16. 23. (36) f.;
— 2) die gewährung mass voller liebe aus rücksicht auf die weit:
178,* 6 (11). 25. 27. 29 f. MF. 186,* 19 ff. Das bild des glühend
werbenden ritters tritt immer wider vor die seele der frau:
186,* 35. 187,1 f. 141; sie liebt ihn von herzen: 186,* 25. 32.
37. 187,* 6. 9 f. 11. 27 f., aber der resignierende entschluss ihn
aufzugeben, behält doch die Oberhand: 186,* 26. 187,* 14. 20.
25. 29 f. — MF. 192,* 25: hier gewinnt die Hebe (193,* 2. 4 f.
18 f.) den sieg über die furcht vor der weit, die in immer
wider hervorbrechenden klagen sich luft macht: 192,* 25. 31.
37. 193,* 13. In der totenklage der gattin Leopolds über den
Verlust des gemahls kehrt das wort tot und damit der ge-
danke in allen drei Strophen wider (167,* 35. 168,* 15. 19) und
sogleich wird die erinnerung an die lebenswarme, liebespendende
gestalt des gatten rege: 168,* 1 f. 6 f. 12. 13. 25. Auch in dem
unter Eeinmars namen überlieferten gedichte MF. 199,* 25 ff.
klingt immer wider der gedanke an das scheiden und meiden
an: 199,* 32. 200,* 10. 24. 33. 201,* 1 und ruft seinerseits das
bild des glänzenden ritters hervor: 199,* 29. 39. 200,* 1. 3 f. 19 f.
201,* 10. In dem frauenmonolog Hartmanns (MF. 212,* 37),
welcher die erbitterten klagen über getäuschte liebe enthält,
herscht ein einheitlicher ton, nur ist bemerkenswert, dass die
gleisnerischen reden des mannes der frau nicht aus dem sinne
wollen: 212,* 37 ff. 213,* 15 ff. In dem zweiten frauenliede
(MF. 216,* 1 f.), welches sonst ganz das von den epikern an-
geschlagene motiv des conflicts zwischen pflicht und liebe
1) Die klammem beziehen sich auf die durch die kritik Burdachs
(s. 219) in wegfaU kommenden steUen.
MHD. FRAÜENMONOLOGE. 375
durchführt, wird man wol schwerlich eine widerholung der
gedanken nachweisen können. Der inhalt ist mit einer ge-
wissen logischen genauigkeit dispositionsartig abgehandelt.
Str. 1: ich liebe. Str. 2: ich hatte die wähl zwischen freund-
schaft und liebe gehabt. Str. 3: aber die letztere habe ich
gewählt, denn str. 4: mein geliebter verdient es. In dem
dritten frauenliede (MF. 217,* 14 ff.), der wehmütigen klage
über den verlorenen geliebten, herscht wider ein bunter
Wechsel der gedanken: 1) der vertust des geliebten mannes
(217,* 19. 28); — 2) die trauer darüber (217,* 16. 31. 38); —
3) preis des geliebten (217,* 20. 26. 218,* 4); — 4) erinnerung
an die frühere, schöne zeit der liebe (217,* 22. 218,* 2).
Vielleicht am kunstvollsten ist diese widerholung der ge-
danken in Walthers frauenlied 113,* 31 ff. durchgeführt. Das
ganze gedieht besteht aus zwei strophenweise sich abwechseln-
den gedanken: der entschluss der liebesge Währung (str. 1. 3. 5)
kämpft mit dem hangen und bangen vor demselben (str. 2. 4).
Parenthese.
Ueber Eilhart s. Lichtenstein s. clxxx, über Veldeke s.
Behaghel s. cxxx, über den minnesang s. Burdach s. 104 f. 116.
123, über Walther ausser Burdach noch Wilmanns ausg. s. 67.
Eine anticipierende parenthese, die im minnesange vor
Reinmar ohne beispiel ist, findet sich schon bei Eilhart v. 4562*
swer nu sulchin hunger ein jär solde Uden — ich kan des nicht
vorswtgcn — he muste wesin hungers töd, vgl. Reinm. 109, 11:
dö rieten niine sinne daz (des ich enkeinen tröst mir Jean ge-
geben) daz ich die sorge gar verhcere\ 170, 13. 181, 33. 192, 37*.
Walther 95, 32.
Personification.
Eilhart scheint der erste gewesen zu sein, der frauwe
Amur (2464?), Cttpido (2467) und frautve Minne (?) in die
literatui' eingeführt hat (Lichtenstein s. xlxvii). Bei Veldeke
erscheint noch Venus und statt frauwe Amur in strengerer
anlehnung an das franz. original Amor.^) Im minnesange
findet sich die personification der minne zuerst bei Hausen
(52, 37 u. ö.), wenigstens schreiben Lachmann und Haupt zuerst
*) Misverstanden bei Veld.En. 1015G: der minnen got Cwpido end Amor
sin broeder.
376 LESSEB
das wort gross.») Freilich lieben die lyriker die fremden
namen Venus, Amor, Cupido nicht. So viel ich sehe, kommt
Amor zuerst bei dem Tanhauser (MSH. 1, 886) und dem Wilden
Alexander (MSH. 1,365 a), Venus und Amor bei Konrad von
Kirchberg (MSH. 1,24 a) und Rudolf von Rotenburg (MSE
78 b) vor. Wilmanns (Leben Walthers s. 328) erklärt das
fehlen der fremdwörter überhaupt wol mit recht daraus, dass
die Sänger einen grösseren zuhörerkreis hatten als der Vorleser
der epen, die für ein auserleseneres publicum gedichtet waren,
an das höhere anforderungen gestellt werden konnten. Dennoch
aber stehen die lyriker hinter den epikern an lebendiger aus-
raalung der allegorie keineswegs zurück: 1) die Minne herscht
gleichsam als königin über die ganze weit 2): Eilh. 2514* 2537.*
Veld. En. 10285.* 11160.* Walther 56, 12, vgl. 41, 1. — 2) Sie
erscheint als kriegerin mit pfeil und bogen: Veld. En. 10036.*
11198.* Walth. 40, 35 f., vgl. 40, 32. — 3) Sie verwundet: Veld.
En. 10159.* 11201.* Walth. 41, 2. Fenis 82, 3. — 4) Sie heüt
aber auch: Veld. En. 10266.* Walth. 41, 2, vgl. Hartm., 1. büchl.
1269 und Reinm. 185, 16. — 5) Sie benimmt den sinn: Eilh.
2491.* 2539?* Veld. En. 10154.* Johannsdorf 94, 25. — 6) Sie
bestürmt das herz wie eine bürg: Eilh. 2489.* Reinm. 161,31.
Walth. 55, 10. — 7) Man begibt sich in ihren dienst: EilL
2521.* Veld. En. 10252.* Walth. 58, 18. — 8) Der liebende ruft
sie 3) an und klagt ihr seine not 4): EUh. 2516.* vgl 2530. 2536.*
2543* (?). 2547* (?). Veld. En. 10262*, vgl. Herb. v. Fritzlar 874.*
Veld. MF. 66, 9. Fenis 82, 2. Walth. 14, 11. 41, 5. 55, 15. 109, 25.
27. — 9) Wenn aber die hilfe ausbleibt, beschwert man sich
über sie: Eüh.2488.* 2510. Veld. En. 10258.* 10290. Haus. 49,35.
53, 23. Walth. 41, 10.
*) Dietin. 32, 7: owe minne, der dm äne möhte sm, daz wceren sinne:
hier läge es allerdings wegen der anrede nahe, an eine personification zu
denken.
2) Die Vorstellung ist schon angedeutet Kaiserchron. 141, 21 umbe die
minne ist ez aber so getan, da ne mac niht lebendiges gestän, vgl. Hansen
52, 37 f. 53, 30.
8) Gott wird um hilfe angerufen Eilh. 2398*. 2439*. Veld. MF. 63, 20.
Johannsdorf 92, 14. Hartm. 116, 5.
*) Walther gestaltet diesen zug zu einem anschaulichen bilde, indem
er frau Minne als richterin einführt, vor deren richterstuhl der dichter sein
recht sucht, vgl. 40, 27 ff.
BIHD. FBAÜENHONOLOaE. 377
Reinmar und Hausen bieten fast gar nichts, und das hängt
wol mit ihrem sonstigen mangel an bildern zusammen. Auf-
fälliger aber ist, dass Morungen auch die personificationen der
liebe verschmäht: freilich überträgt seine kühnere spräche die
anschaulichen Wendungen auf die geliebte selbst.
Zerlegung der Persönlichkeit.
üeber die anrede an herz und mut vgl. Burdach s. 120.
Das herz wird der torheit und der verräterei bezichtigt: Veld.
En. 2198 ff. Eietb. 19, 33. Haus. 49, 15; vgl. Veld. MF. 56, 7.
Fenis 82, 23. Eugge 101, 31. Bemger 114, 3. Mor. 125, 3. 134, 6.
147, 5 ff. Hartm. 205, 10 ff. Das herz weilt bei' dem geliebten:
Yeld. En. 10378.* Haus. 51, 29 ff. 54, 32.* Johannsd. 87, 15 ff.
Eeinm. 159, 19. Bernger 114, 35. Hartm. 215, 30. Walth. 44, 17.
98, 9. 44, 15.0
Bilder, vergleiche, metaphern.
Bilder, vergleiche und metaphern findet man in den epen
Eilharts und Veldekes nicht sehr viele (s. Lichtenstein s. CLvin f.
Behaghel s. cxxxix). Im Eilhartischen liebesmonolog kommen
zwei vergleiche vor, welche im minnesange keine parallelen
haben. Eilh. 2434* he ist lüter . . . alse daz golt ist vor daz hli,
ähnlich in volkstümlichen epen Ortnit 1, 15. Eol. 148, 15. Eilh.
2462* nu is sie (die Minne) mir leider wordin sw^re unde als
ein ezzich sür = Veld. En. 10248.* Aber Eüh. 6462 und 6514
wird die geliebte mit der sonne verglichen. Dieser vergleich,
der allerdings volkstümlich ist (Spervogel 24, 4. Nib. 280, 1) und
in der geistlichen poesie (V. d. hochzeit, s. QF. 12, 52) nicht
selten vorkommt,^) begegnet auch bei den minnesängern: Dietm.
40,93. Mor. 138, 38; vgl. 123,1. 144,27 u.ö. Walth. 46, 15.
Veld. En. 10279*5): sint dat ich dir dienen sal, sömoetich
swäre bor de dragen, vgl. v. 11110. Dieses bild findet- sich im
minnesange nicht selten: Veld. MF. 56. 8. Eugge, 107, 7. Eeinm.
201, 16. Bemger 113, 8. Walth. 69, 15.
>) Die gesonderte existenz des herzens ist schon deutlich bei Dietmar
V. Eist 34, 6 ausgesprochen: dö huop sich aber daz herze mm a/n eine stat
daz e da was.
2) Schon bei Plautus Menaechmil, 2, 66: eapse eccam emit: ah solem
vides salin ut occaecatust prae huius corporis candorihus.
8) VieUeicht schon bei Eilh. nach X 2505*, auf grund von P. 48, 7.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 25
378 LESSEB
Die in der modernen liebesdichtung so beliebte und häufige
metapher von dem feuer der liebe begegnet auffälligerweise
in der mittelalterlichen minnepoesie äusserst selten. Zuerst
erscheint sie im epos bei Veld. En. 10114*: met den heiten füre
brennet mich frouwe Venus, und zu diesem bildlichen ausdruck
gehört auch das verbum derren (v. 10126*) und switten (v. 10257*
u. ö.). Moritz V. Cräon (v. 322) und Herb. v. Fritzlar (v. 646.
672) haben diese metapher von Veldeke übernommen. Im
ganzen minnesange aber existiert, so viel ich sehe, nur bei
Rietenb. 19, 19 etwas ähnliches.
Epische züge.
Die Unterbrechung der rede durch eine epische formel
findet sich sehr häufig in den epischen frauenmonologen : Eilh.
2467.* 2551.* 2587.* Veld. En. 10117.* 10191.* 10271.* 10395.*
10775* u. ö. Es ist, als ob diese einschnitte in die langen
Selbstgespräche uns eine pause in dem sprach- und denkver-
laufe der redenden veranschaulichen. Aufgeregt schreiten sie
wortlos auf und nieder, bis endlich wider allgewaltig der
gedankenstrom hervorbricht. — Die grossen lyrischen frauen-
monologe teilen diese epische eigentümlichkeit nicht, nur Vel-
deke, MF. 57, 12. Joh. 94, 35. Reinm. (?) 203, 11 haben diese
formel beibehalten, welche in der älteren lyrik sich häufiger
findet (Kürenb. 8, 16. Dietm. 32, 3. 39, 7 u. ö.). Ein epischer
zug im altheimischen minnesang ist ferner das vorhersehen
der erzählung (MF. 34, 4. 8, 9. 33), nur selten enthält ein ge-
dieht reine empfindung, sondern gewöhnlich wird sie erst
durch einen äusseren Vorgang hervorgerufen, und der gegen-
satz zwischen der scheinbar ruhigen erzählung und dem hervor-
brechen des glühenden, warmen gefühls gibt diesen gedichten
einen so eigentümlichen, unvergänglichen reiz. In einem
schroffen gegensatz zu den frauenmonologen dieser zeit stehen
die epischen monologe Eilhai-ts, Veldekes und die der späteren
lyrik. Es fehlt in ihnen zwar nicht an erzählenden momenten,
aber sie betreffen vorzugsweise Vorgänge im Individuum selbst,
und diese werden einer beobachtung unterzogen, eine rationa-
listische deutung und erklärung wird versucht. Viel öfter
aber verlässt man den boden der Wirklichkeit und beschäftigt
sich lieber mit dem gedachten, möglichen, fraglichen. Walther
MHD. FRAÜENMONOLOGE. 379
ist es erst wider, der in seinem frauenmonologe (39, 11) mit
anschaulicher Situationsmalerei die begebenheit ruhig erzählt.
Damit verbindet er freilich in wunderbar kunstvoller weise
die errungenschaft der späteren lyrik, die entwickelung des
gefühls, wie sich es bald mächtig erhebt, bald wider sich be-
schwichtigend in ruhige bahnen zurücklenkt. — Ist nun auf
grund jener kriterien eine anlehnung des altheimischen minne-
sanges an die epik nicht zu verkennen, so geht doch Brach-
mann a.a.O. s. 451 zu weit, wenn er sagt: 'so betrachten wir
also die frauenstrophen als eine dem epos glücklich entlehnte
form'. Denn das Selbstgespräch lässt sich durchaus nicht, so
viel ich sehe, aus vorangegangenen epischen monologen ableiten.
Aber wenn sich auch wirklich solche in den epen fänden, so
wäre das nur ein neues argument für die behauptung der
Priorität der lyrik vor der epik. Denn das Selbstgespräch ist
doch nur in einem lyrisch gehaltenen gedichte denkbar. Natür-
lich kann diese art der lyrik von der epik beeinflusst werden,
zumal da die epik zuerst schriftliche fixierung fand. Anders
steht es mit den sogenannten wechseln in der lyrik. Diese
veranschaulichen einen auftrag und gegenauftrag an den boten,
welcher den vermittler zwischen den beiden liebenden spielt,
und das ist ein motiv, das schon in den alten epischen dich-
tungen sich findet (z. b. Rother v. 1926 ff.).
Aehnliche anschauungen und gedanken
im liebesieben.
1) Die liebe ist etwas seltsam -wunderbares: Eilh. 2495.*
Veld. En. 10065,* vgl. Herb. v. Fritzlar 856.* Haus. 53, 15.
52,17. Walth. 83, 3 u. ö.; — 2) man hat vorher ähnliches nie
kennen gelernt: EUh. 2493,* vgl. 2458.* Veld. En. 10067* u. ö.
Haus. 54, 3.* 42, 12 u. ö. Rugge 102, 1. Reinm. 192,* 29 u. ö.
Walth. 109, 12; — 3) man ist immer in gedanken mit dem ge-
liebten gegenständ beschäftigt: Eilh. 2568.* 2606. Veld. En.
1344. Haus. 46, 15 u. ö. Rugge 99, 36. Joh.88,4; — 4) auf die
Umgebung achtet man nicht: Veld. En. 10459.* Reinm. 163, 19.
Walth. 41, 37; — 5) man fragt nach dem natürlichen gründe
der liebe: EUh. 2412.* 2439.* 2456* (?). 2552.* Veld. En. 10173.*
10129.* 10228.* Haus. 46, 18. Reinm. 163, 32. Mor. 136,1; —
6) man hat den mut nicht, die liebe zu gestehen: Eilh. 2588.*
25*
380 LESSEB
Veld. En. 10413 * Reinm. 153, 25 ff. 164, 21. Mor. 136, 14.
135,32; — 7) und doch ist die liebe zum geliebten einzig in
ihrer art: Eilh.2523*. Veld. En. 10104.* Haus. 54, 30.* Reinm.
190,34. Walth.49, 29; — 8) das bekennen der Uebe steigert
sich zur liebesversicherung und zum schwur*): Eilh. 1416. Walth.
74,4. Joh. 87, 35; — 9) der einfluss anderer kann nicht die
Uebe mindern: Eilh. 5280. 1394. Haus. 54, 28.* Hartm. 216, 8.*
Walth. 119, 5; — 10) oft liebt man aber unglücklich: Eilh.
2552.* Veld. En. 10400.* 10735. Haus. 52, 19.^) 53,12. Gutb.
77, 4. Fenis 81, 9. Reinm. 153, 1. Hartm. 207, 5. Mor. 130, 1.
Walth. 50, 19. 71,31. 57, 17; — 11) die pein fiberschreitet jedes
mass: Eilh. 2510.*. Reinm. 186, 20*; — 12) man liebt eigentlich
wider seinen willen, ist aber doch auch wider zufrieden: Eilh
2564* ff. 2572.* Veld. En. 10168.* 10240.* 10174.* Haus. 54, 23.*
51, 3. Reinm. 187, 11.* 186, 37*; — 13) die hoffnung auf end-
liche gewährung beseelt den liebenden: Eilh. 2593*. Veld. En.
10360.* Haus. 45, 32. Gutb. 76, 34. Rugge 104, 33. Hartm.
208,33. Mor. 125,30. Walth. 92, 9; — 14) denn der dienst for-
dert lohn: Eilh. 2522*. Joh. 86, 9. Horb. 114,18. Haus. 45, 23.
54, 21.* Bligger 118, 24. Rugge 104, 19. Walth. 120, 22; —
15) oft setzt der liebende seine ehre aufs spiel 3): Eilh. 2528.*
2586. Veld. En. 10425.* Haus. 54, 15.* Reinm. 186, 26.* 192, 38.*
Hartm. 216, 19.* 205,25. Walth. 114, 10*; — 16) weltliche ehre
aber und guter ruf gelten viel und rufen die erste liebesregung
hervor: Eilh. 2427.* Haus. 54, 37* ff. 44,1. Reinm. 200, 7*.
200, 13. Walth. 114, 17* (vgl. Lehfeld a.a.O. s.389). Die Deut-
schen legten auf dieses zeugnis grösseres gewicht als die Romanen
(Wilmanns, Leben Walthers s. 103*)).
*) Wenngleich liebesschwüre im ganzen minnesange vorkommen (s.
Wilmanns, Leben Walthers s. 356. 152), so findet man doch keine, die so
ähnlich wären: e wolde ich die helle hüwen etcigliche: die helle müeze mir
gezemen: got vor der helle niemer mich bewar.
*) Es ist bemerkenswert, dass dieses motiv der unglücklichen liebe
erst mit Hausen in den minnesang eintritt. Die epen waren aber schon
darin vorangegangen.
3) In diesem conflict zwischen liebe und ehre siegt in den monologen
Eilharts, Veldekes, Hausens, Hartmanns (216, 9), Walthers (114,* 23) die
liebe, dagegen behält in den frauenliedern Reinmars die rticksicht auf die
ehre die oberhand, vgl. 178,* 28. 187,* 29.
*) Sonst stimmen in dem preise des geliebten die epischen mid lyri-
MHD. FBAÜEKMONOLOGE. 381
Ich stehe am Schlüsse. Eine beeinflussung der späteren
lyiiker durch die ersten höfischen epen Eüharts und Veldekes
und namentlich eine nachahmung der epischen frauenmonologe
Isaldens und Lavinias von Seiten Hausens, Reinmars, Hart-
manns, Walthers scheint mir sicher zu stehen. Denn die
Übereinstimmungen nach inhalt und form sind zu gross und
zu zahlreich, als dass sie lediglich durch die gleiche Situation
hätten hervorgerufen werden können.
Freilich ist aber auch andererseits eine tiefgehende Ver-
schiedenheit in den monologen nicht zu verkennen, welche der
ähnlichkeit denn doch gewisse grenzen steckt. Denn in den
epen sind es die frauen, welche liebe heischen von dem zurück-
haltenden, oft gleichgültigen mann, und das ist ein zug der
an die ältere lyrik erinnert.-)
sehen dichter nicht überein. Bei EiUiart ist es die bewährung Tristrants
im kämpfe, welche Isalde vor allen anderen Vorzügen hervorhebt (v. 2418 :
he ist ein vil Mner degin, daz hat he dicke schin getan, he tar wol eine
bestän swaz ein helt tun sol). Die czechische Übersetzung und die prosa-
auflösung gehen in der ausmalung der kampftüchtigkeit noch weiter: das
ist also sicherlich ein ursprünglicher zug in der fassung des gedichtes und
zeigt noch die verwantschaft mit den anschauungen des älteren volkstüm-
lichen epos. Darauf deuten schon die ausdrücke für den geliebten: helt,
Mner degen, guoter kneht hin (vgl. Lichtenstein s. OL — CLxxrv. Kettner, Die
österreichische Nibelungendichtung s. 19 ff.). Schon bei Veldeke aber schwin-
det die vorsteUung von einem streitbaren beiden, obgleich sie doch bei dem
Stoffe der Eneide viel eher erwartet werden konnte als in dem liebesepos
Tristrant. In der Eneide wird immer nur auf die stattlichkeit und Schön-
heit des mannes gewicht gelegt : v. 10102* toie wart er ie so wale gedän,
sin houvet end al sin lif. Aeneas selbst wird here, rike, lussam, edel ge-
nannt, nur selten noch Mit und degen, jedenfalls gedenkt die geliebte nie-
mals seiner waffentaten (vgl. die lobpreisungen Didos v. 1544 ff.). Aeneas
tritt auch in Veldekes dichtung * überall als breiter redner auf, andere lässt
er für sich handeln* (Goedeke, Grundriss s. 80). In den minneliedem end-
lich wird häufiger der bezaubernden rede des ritters gedacht. Das wird
wol mit der gesellschaftlichen Vorschrift in Verbindung gebracht werden
müssen, wonach kein böses wort gegen die frauen über die lippen gebracht
werden durfte, sondern es sitte war, in zierlichen worten der frauen loblied
zu singen, vgl. Haus. 55, 21.* Reinm. 187, 15. 187,21. 25. 193,* 5. Hartm.
213,* 15. Walth. 44, 1.
^) Auch sonst finden sich in den epen anlehnungen an die alte lyrik.
Eilh. 6610 f. scheint eine etwas scherzhaft gewendete paraphrase des unter
Dietmar von Eist stehenden ältesten frauenliedes zu sein (37,4): dö sprach
die vramoe äne nit \ zu den vogelin die da stmgin: \ ir hat michel wimne
882 LESSBB
In den frauenliedern des höfischen minnesanges dagegen
finden wir das Verhältnis der geschlechter umgekehrt: schon Vel-
deke, der sonst durch die einstrophigkeit seines monologes und
durch die epische formel an die altheimische dichtung sich an-
lehnt, zeigt einen ganz neuen Inhalt: denn hier tritt uns zum
ersten male eine spröde dame entgegen, welche dem ritter auf
sein werben erwidert, er könne mit ihrem blick zufrieden sein,
oder einen Verstoss gegen die höfische sitte mit einer langen
Ungnade vergilt J) Und vollends in den frauenliedern Hausens
und der übrigen erscheint die frau vorsichtig und zurückhaltend
gegenüber dem drängen des liebeglühenden mannes. Daher
erklären sich auch die anklänge unter den lyrikem selbst, die
in den epen keine parallelen aufweisen, weil das Verhältnis
fehlt, welches jene voraussetzen, vgl. Haus. 54,* 21 läjse ab ich
in ungewert, dag ist ein Ion, der guotem manne nie gescJmch
= Walth. 113,* 34. Reinm. 193,* 19. Haus. 54,* 19 owe teste ich
des er gert = Joh. 94,* 8.
Aber noch eine dritte seite dieses literarhistorischen Pro-
blems ist einer Untersuchung wert. Das ist die abhängigkeit
der frauenlieder der späteren epik von denen der höfischen
lyrik. In dem Moritz v. Cräon erinnert der monolog der gräfin
(v. 1270) solt ich in des ungelönet län u. s. w. an die worte
Hausens 54, 21 lä^ ab ich in ungewert, da^ ist ein Ion, der
guotem manne nie geschach. In dem monologe der Blanscheflur
in dem Tristan Gottfrieds v. Strassburg muss z. b. die Wendung
(v. 989) da von ichhän erworben nähe gendiu leit unzweifel-
haft von den lyrikern übernommen sein, denn bei diesen tritt
sie zuerst auf; v. 972 seneliche arbeit weist auf Hausens senede
mit manchir hande stimmen: | ich gebe üch dorch minne \ zwelf giddin böige
gut I daz ir mir zu Übe tut \ und vliget mit mir hinnen. Hier wie dort die
anrede an einen vogel, hier wie dort der vergleich zwischen der eigenen
Unfreiheit und der fröhlichen ungebundenheit der leichtbeschwingten be-
wohner der luft. Veld. En. 11082 : of dl die werelt wäre min, so engewonne
ich niemer ander wif = MF. 3, 7 : wobt diu werelt aUiu min. üebrigens
auch Mor. v. Cräon 592 : du bist min umde ich bin din = MF. 3, 3.
1) Freilich findet sich auch für dieses auftreten der frau eine auf-
faUende parallele bei Eilhart: Gymele weist den rohen, stürmisch begehren-
den Kehenis mit einem Vorwurf zurück : v. 6680 ff. ja sei ir wol daz ich
nicht bin eine gebürinne, der an Veld. MF. 57, 30 erinnert.
MHD. FRAÜENMONOLOGE. — SIEVEBS, AGS. HNESCE, 383
arheit (54,* 2), v. 1015 waz wize ich aber dem guoten man, er
ist hie lihte unschuldec an enthält den gleichen gedanken wie
Hartm. 213,* 19. Die verse 1043 ff. min tumber meisterlöser
muot der ist der mir da leide tuot rufen uns das erste lied
Veldekes (MF. 56, 1) und ähnliche aussprüche der lyriker ins
gedächtnis.
LANGENSALZA, october 1898. ERNST LESSER.
AGS. HNESCE.
Während der i-umlaut von a vor sc im ags. sonst stets
(B ist {odsc esche, rodsc blitz, du-cescan ersticken, vgl. meine Ags.
gr.^ § 89, 2), wird hnesce, dem man auch gemeinhin ein umlauts-e
zuschreibt, ebenso consequent mit e geschrieben (auch Sal. und
Sat. 286 hat die Überlieferung hnesce, nicht hncesce). Schon hier-
an dürfte die beliebte directe gleichsetzung mit got. hnasqus
scheitern. Erwägt man dazu die formen north, nom. {h)nesc
L Mt. 24, 32. Mc. 13, 28, hnisca W- Mc. 13, 28, dazu ^ehnis{c)tun
moUierunt Vesp. Ps. 54, 22 (spätws. hnysce in glossen ist dagegen
vielleicht kenticismus), so wird man gezwungen sein, jenes
hnesce vielmehr als eine mischform von hnesc und %nisce zu
einem mit got. hnasqus im ablaut stehenden st. Vinesqu- auf-
zufassen.
LEIPZIG-GOHLIS, 20. märz 1899. E. SIEVERS.
TEXTKRITISCHE BEMERKUNGEN.
1. Zum Erec.
V. 2079. Hs. der höret alter zehn, Haupt und Bech der
alter hceret /seilen. Der fehler der hs. ist eher erklärUch aus
ursprünglichem da hceret alter wellen! 'da hört von alter er-
zählen!'
V. 2302. Hs. vnd nyeman dem erennen geleich, Haupt und
Bech %ind niender dem erren glich. Beim ersten und dritten
Schilde wird die färbe des äussern, der mouwe und des innern
(innen v. 2295 und 2305) beschrieben. Demnach ist statt nyeman
V.2302 ebenfalls innen zu lesen und die interpunction zu ändern:
V. 2296 der ander von zinober röt —
dar üf er slahen gebot
ein mouwen von silber wiz
(diu was geworht in solhen vliz
daz man sie so kurzer stunde
niht baz erziugen künde) —
und innen dem erren glich.
Nach der lesung von Haupt und Bech fehlt hier, bei der be-
schreibung des zweiten Schildes, eine angäbe über die färbe
der Innenseite ganz.
V. 6231. Hs. für schaden der euch wenig frunib ist Die
bisherigen besserungs versuche verzeichnet Bechstein, Grerm.
25,319 (nachzutragen ist Bechs Vorschlag in der anmerkung
seiner ersten und zweiten aufläge der wcene ich frum für schaden
ist) und fügt noch einen eigenen hinzu. Die einfachste ändeiOQig
ist: ditz ist der schoeniste list
für schaden — der iu wasn ich
(oder wsen) frum ist —
daz man sichs getroeste enzit
'das ist die schönste kunst gegen einen schaden — der euch
(nebenbei gesagt), wie ich meine, zu nutzen kommt — dass
TEXTKRITISCHE BEMERKUNGEN. 385
man's bei zeiten verschmerzt'. Der tod Erecs sei für Enite
ein glück, denn nun will er, der mächtige graf Oringles, sie
heiraten! — Die vorläge der hs. mochte wenih gehabt haben,
vgl. die lesarten zu Iwein v. 8157.
V. 6570. Hs. sy stund im vil verre, Haupt si stuont von
im unverre, Bech st schunt in vil verre, Bechstein nimmt Germ.
25, 325 die lesart der hs. wider auf und übersetzt 'sie leistete
ihm energischen (vil verre) widerstand'. Die lesart der hs.
gibt allerdings einen guten sinn, aber einen andern als Bech-
stein übersetzt. Verre stän heisst 'hoch im werte stehen, teuer
sein, teuer zu stehen kommen' = tiure, höhe stän. Hartmann
gebraucht es selbst Iwein 4316 so stüendez iuch ze verre, vgl.
dazu Beneckes anmerkung und sein wb. zum Iwein unter verre.
Ausserdem begegnet verre stän mehrfach in dem gedieht von
der hochzeit, vgl. Kraus, Vom rechte und die hochzeit s. 120.
Der sinn ist also 'sie kam ihm teuer zu stehen, sie gieng nicht
so leichten kaufs auf sein verlangen ein'. Das gegenteil von
verre stän ist nähe stän 'wolfeil sein'. Nähe = ' billig, wolfeil'
hat Bech, Germ. 17, 296 in vielen belegen nachgewiesen, vgl.
ferner für Hartmanns Sprachgebrauch die im Mhd. wb. 2 2, 574b
verzeichneten stellen Erec 968 f. so stüende iuch ze ringe iuwer
fUrgedinge, 6108 ez sol dich niht so ringe stän, I. büchl. 438 f.
ob dich min smerze iedoch so gar vergebene ste. Die person
der etwas billig oder teuer zu stehen kommt, steht im acc.
oder im dat. — verre und tiure sind ausser in diesem falle
auch sonst Synonyma, z. b. verre Uten Erec 3524. 4757. 4943.
Iwein 5128. 5459. 8131 var., und tiure Uten Iwein 6859; verre
beswern A.Heinr.l073, und tiure beswern ebda. 1104, tiure swern
Iwein 5740; verre manen Erec 4558. Iwein 4853. 6050. 6836.
8131, und diu tiure manunge Iwein 4862; verre begrifen Erec
9490 und Iwein lesarten 8131 = 'hoch und teuer beschwören';
verre bevelhen Tristan 1894 und tiure bevelhen ebda. 11474.
V. 6652. Haupt und Bech folgen im texte der hs., indem
sie dicke fliuhet grozen schal aufnehmen, in der anmerkung
stellt Bech die feinsinnige conjectur gruozesal für grozen schal
auf und Haupt (2. ausgäbe) hält diese Vermutung für nicht
unwahrscheinlich. Trotzdem hat die hs. diesmal das richtige
bewahrt, denn v. 6862 ff. wird eine ähnliche Situation, wie die
hier vorausgesetzte, geschildert: Erec, mit. Enite im wald
386 KHRTRMANN
reitend, hört von ferne eine schar gewappneter, denn der schal
und der doz weis von den schellen groe (6876 t), und findet
selbst die läge füi' gefahrvoll (6879 ff.). Eine solche wider-
holung gleicher gedanken und gleicher worte in kurzem ab-
stände ist ja eine stilistische ungewantheit Hartmanns.
V. 6931 f. ouch wsere es der werde
yil wol erlän da ze stont
Haupt; die hs. hat worden statt erlän, weshalb Bechs her-
stellung (3. auf.) vil wol worden äne da ze stunt sich durch
engeren anschluss an die Überlieferung mehr empfiehlt. Da-
neben kann auch folgende in betracht gezogen werden: wol
über worden da ze stunt,
V. 7138 ff. Nach Lachmanns correctur von v. 7140 f. geben
Haupt und Bech folgenden text:
mit müre was der selbe kreiz,
als ich iu ze sagen weiz,
gliche endriu gescheiden hin.
daz dritte teil von den drin
häte rotwildes gnuoc:
swarzwilt daz ander teil truoc.
in dem dritten teile d& bi,
fragt ir waz dar inne si?
U.S.W. Die hs. hat als reim Wörter von v. 7140 f. gescheiden :
den beiden, wof üi* Lachmann gescheiden hin : den drin einführte.
Ich vermute folgende ursprüngliche fassung von v. 7140 — 42
gliche endriu gescheiden,
daz dritte teil von den beiden.
einez häte rotwildes gnuoc
U.S.W.; d.h. ^ mit mauern war dieser kreis in drei gleiche teile
geschieden, je der dritte teil von den beiden andern'. Dann
folgt die aufzählung der drei teile und ihres wildbestandes,
^ein teil (einez) hatte genug rotwild, der andere teil schwarz-
wild, in dem diitten teil u.s.w. waren fuchse, hasen und der-
gleichen'. Der fehler der hs. erklärt sich aus solcher gestalt
des ursprünglichen textes leicht: der Schreiber zog den vers
einez häte rotwildes gnuoc zum vorhergehenden satze statt zum
folgenden, gerade wie Lachmann, dabei war einez sinnlos und
wurde von ihm weggelassen. Lachmanns änderung der reime
setzt eine viel stärkere abweichung des Schreibers von seinem
originale voraus, deren grund zudem nicht ersichtlich ist.
TBXTKRITISCHE BEMERKUNGEN. 387
3. Zum Iwein.
V. 3225 f. Das eigentümliche handschriftenverhältnis, wo-
nach B allein ern Imzte, die übrigen hss. ern ahte , .. üf haben
oder doch voraussetzen, erklärt sich aus der Schreibung der
urhandschrift bez. einer der frühesten vorlagen: für ^ war
die dem Ji ähnliche über die zeile aufsteigende form gesetzt,
und aus einem solchen ha^te konnte leicht hahte > ahte ver-
lesen werden. Die Verwechslung des langen ^ und h kommt
ja in mhd. hss. häufig genug vor, und es ist deshalb auch nicht
auffallend, wenn mehrere Schreiber von Iweinhss. unabhängig
von einander den fehler begiengen. Pauls annähme (Beitr.
1,374), Hartm. V. 3225 f. ern hazte u.s.w. sei eine Übersetzung
von ehrest, v. 2790 ne het tant rien u. s. w., wird von Zwierzina
in seiner gründlichen erörterung dieser stelle in der Zs. f da. 40,
230 ff. bekämpft. Zwierzina tritt wider für Lachmanns lesung
ern ahte ... üf u. s. w. ein, denn Hartmann folge in dieser
ganzen partie schritt für schritt seiner quelle Chrest. V. 2790
ne het tant rien u. s. w. sei also durch Hartm. v. 3221 er verlos
sin selbes hulde widergegeben. Indessen entspricht selbst hier
auch nach Zwierzinas vergleichung der text Hartmanns nicht
zeile für zeile dem von Chrestien. Denn v. 32 2 7 er stal sich
swtgende dan ersetzt doch jedenfalls Chrest. v. 2796 d'antre les
harons se remue und der folgende vers Hartmanns 3228 dajs
ersach da nieman den übernächsten Chrestiens, v. 2798 et de
ce ne se gardoit Van, erst darauf folgen dann Chrestiens verse
2800 f. Uen sevent u.s.w., die aber Z. schon den in frage
stehenden versen Hartmanns 3225 f. gleich setzt. Es fällt also
dieser grund gegen Pauls parallelstellung von Hartm. v. 3225 f.
ern hazte mit Chrest. 2790 ne het tant rien u. s. w. weg.
Bleibt man umgekehrt bei dieser: der gedankengehalt bei
beiden stellen deckt sich vollständig, Hartmann sagt nicht
mehr und nicht weniger als Chrestien und hazte ist zudem so
gut wie wörtliche Übersetzung von het Dagegen bei Zwier-
zinas parallele, wo Hartmann er verlos sin selbes hulde =
Chrest. ne het tant rien com lui meisme und Hartmanns ern
ahte weder man noch wip niuwan üf sin selbes lip = Chrest.
bien sevent que de lor parier ne de lor siegle n'a il soing,
berühren sich die gedanken nur.
388 EHBISlffANN \
Eine andere erwägung spricht direct gegen Lachmanns
text: V. 3201 ff. wird die Stimmung Iweins geschildert, er schämt
sich vor den leuten (vgl. v. 3204 der slac siner eren, 3207 da^i
schemeliche ungemach\ sie sind ihm lästig, er will sich vor
ihnen verbergen. Die gegenwart der menschen ist ihm also
keineswegs gleichgültig, sondern sie übt einen höchst be-
drückenden einfluss auf ihn aus; dann kann aber nicht wol
fünf bis zehn zeilen später gesagt werden ern ahte weder man
noch wip.
Demnach, da rein graphisch betrachtet B mit heulte immer-
hin das ursprüngliche bewahrt haben kann, die wörtliche Über-
einstimmung mit Chrestien aber und der sinn eher für hazte
als für ahte sprechen, so wird man doch der lesung von Pfeiffer,
Paul, Bech und Heniici den vorzug geben müssen.
3. Zum Armen Heinrich.
V. 225 und 447. Die in beiden hss. A und B (= Ba und Bb)
auseinandergehenden lesarten sind erhcere A, vriehere B in v. 225
bez. maniere A, verhere B in v. 447. Haupt und Bech (3. aufl.)
setzen dafür beide male erbcere, Wackernagel hibcere, Scherer
schlug vor vnehcere * heiratsfähig, reif zum freien' (Wacker-
nagel-Toischer, anm. zu v. 225), dafür Burdach vribcere 'von
freier geburt' (Anz. fda. 12, 196f.); letzterem folgen Paul in
seiner zweiten aufläge des A. Heinrich, Schönbach, Ueber Hart-
mann V. Aue s. 140 f., Schulte, Zs. fda. 41, 267. Doch scheint mir
auch gegen vribcere ein anderes wort, nämlich werbcere, den
Vorzug zu verdienen. In technischer hinsieht lassen sich die
entstellungen der hss. aus werbcere nicht schwerer begreifen
als aus vribcere, im gegenteil, die eine lesart von A, erbcere,
lässt sich leichter mit werbcere vereinigen als mit vribcere.
Werbcere ist zusammengesetzt mit diu were 'besitz, gewalt' =
dm gewere. Es ist speciell die gewalt des vaters über die
unmündigen kinder, des mannes über die frau; auch die hörigen
und eigenleute stehen unter dem verfügungsrecht, nämlich
ihres herrn. Werbcere heisst demnach, wer der väterlichen
gewalt oder der eines herren nicht bez. nicht mehr unterworfen
ist, der freie handlungsfähigkeit besitzt (zu der rechtsgeschicht-
lichen bedeutung vgl. Schröder, D. rechtsgesch.* bes. s. 667 ff.
693 ff. und die daselbst angebene literatur; über Hartmanns
TEXTKRinSCHB BEMERKUNGEN. 389
rechtskenntnisse s. Schönbach s. 228 ff.). Werbcere ist also in
der bedeutung und hinsichtlich der Zusammensetzung mit -beere
zu vergleichen mit vogtbeere und muntbar (Schmeller-Fr. 1, 1624
^ mundbar, wie vogtbar, d.h. im stände sich selbst zu vertreten;
keiner tutela oder schutzherschaft unterworfen').
Der mündigkeitstermin im mittelalter ist sehr häufig das
alter von zwölf jähren (vgl. Wackemagel a.a.O. Kraut, Die
Vormundschaft 1, 110 ff. u. a.). Als alter des mädchens im Arm.
Heinr. kommen bei der berechnung von v. 303 und 351 nur elf
jähre heraus als sie den entschluss fasst für ihren herrn zu
sterben, aber ein gewisser Spielraum in der Zeitbestimmung
des gedichtes muss immerhin zugegeben werden (vgl. Wacker-
nagel und Schönbach a.a.O.). Im falle dass Hartmann unter
werbcere 'frei von dem verfügungsrecht des herren' verstand,
kommt die altersfrage überhaupt nicht in betracht, das mädchen
musste nur freien Standes sein, und der begriff von werbcere
ist dann inbegriffen in dem des fraglichen vribcere 'von freier
geburt'.
Zu der auffassung die das gedieht von dem opfer der
Jungfrau hat, passt werbcere 'fähig zu freiem handeln' besser
als vribcere: ihre tat muss eine freiwillige sein, überall wird
hervorgehoben, dass sie aus freien stücken und ungezwungen
für ihren herrn in den tod gehen muss, so an den obigen
stellen, so ferner v. 923 und besonders v. 1064 — 83; von freiem
Stande ist gerade bei der letzten ausführlichen gewissensfrage,
die der arzt an sie richtet, nicht die rede.
Belegt ist werbcere nicht, ein werbcere 'im stände bürg-
schaft zu leisten' führt Lexer an, also zu were 'bürgschaft'.
Auch vribcere ist nicht nachgewiesen. Auf die Seltenheit der
Zusammensetzungen von -beere mit adjectiven, also wie vribcere,
macht auch Burdach aufmerksam. Sie sind dem Sprachgefühl
ganz zuwider. Unter den von Weinhold, Mhd. gr. § 295 und
Wilmanns, D. gr. 2, § 374 ff. angeführten mhd. compositen ist
nur ein einziges alt ererbt, offenbeere, schon ahd. offanbäri,
aber -beere hatte hier, als das wort gebildet wurde, noch sub-
stanziellen gehalt und war noch nicht zum suffix verblasst,
= 'sich offenbar darbringend', vgl. Wilmanns a.a.O. Die
übrigen Zusammensetzungen mit -beere und einem adjectiv sind
individuelle bildungen: verholnbeere von Wolfram, der gegensatz
390 EHBISMAKN
ZU offenbeere; wärbeere, verb. wärbeeren von Gk)tfrid; UhÜxjere
und lüterbcere von Konrad von Würzburg; auch irrebeere ist
nur aus Gotfrids und Konrads werken belegt, ausserdem hat
hier sicher das verbum irren vorgeschwebt; lüfbeere ist um-
gebildet aus liufbeere (s. Wilmanns a. a. o.), also keine adjec-
tivische Zusammensetzung. Das von Weinhold noch angegebene
trütbeere fehlt bei Wilmanns und Lexer, dafür bei letzterem
triutebeere, das also zum verbum triuten gebildet ist. Aus
dieser musterung ergibt sich, dass adjectivcomposita mit -beere
nur von einigen sprachkünstlem gebildet wurden, aber nicht
dem allgemeinen sprachgebrauche geläufig waren. Auch dies
spricht gegen vribcere, man müsste es denn als originelle Wort-
bildung Hartmanns auffassen, wozu man ohne weitere ein-
schlägige Zeugnisse gerade bei ihm nicht geneigt sein wird.
V. 391 wan ich enhete nüt vil gar A, minen willen hatte
(hat B a) ich mit vrowen gar B. Ueber die lesung der neueren
ausgaben seit Wackernagel wan ich enhete niht gar (mit aus-
lassung von vil in A) kommt man ohne mistrauen nicht weg
trotz der deutungen von Wackernagel (in Toischers ausg.),
von Bech (in der anmerkung seiner ausgaben) und von Schön-
bach (Ueb. Hartmann s. 143). Zwei andere besserungsvorschläge
machte Bech in der anmerkung zur 2.aufl.: da^ ich in hete vil
gar oder ich hete muotwillen gar. Sprenger führte Germ. 37, 172,
ohne letztere conjectur Bechs zu kennen, ebenfalls muotwillen
ein (wan ich hete muottvillen gar) 'weil ich gänzlich bösen
willen hatte'. Aber muotwille ist nicht ohne weiteres 'böser
Wille' und ausserdem läge darin eine zu harte selbstanklage
Heinrichs. Eine andere conjectur, die graphisch keinerlei
Schwierigkeiten bietet und auch der sonstigen beschaffenheit
der hss. nicht widerspricht, gründet sich auf eine auch ander-
wärts von Hartmann niedergelegte ethische anschauung, näm-
lich statt vil in A witze zu lesen, ohne weitere änderungen:
V. 390 und was daz doch unmügelich
wan ich enhete niht witze gar:
da nam ich sin vil kleine war
U.S.W. 'und das war doch ohnmächtig, denn ich hatte nicht
ganze Weisheit: ich habe mich nämlich sehr wenig um ihn
bekümmert, der mir jenes wimschleben von sinen gnaden hete
gegeben\ Dann die folgenden verse bis 408: daz herze mir do
TEXTKRITISCHE BEMERKUNGEN. 391
also stuont als alle werlttoren tuont, den daz saget ir muot daz
sie ere unde guot äne got mügen hän. Sus troug ouch mich
min tumber wän, wan ich in lützel ane sach von des genäden
mir geschach vil eren unde guotes. Also der gegensatz der
torheit der weit, in der er lebte, gegen dm witze, die ihm
fehlte. Er hatte nicht witze gar, nicht die volle Weisheit.
V. 74 wird er hübesch und dar zuo wis genannt, aber das ist
die Weisheit der weit — hövesch unde wis ist formelhaft (vgl.
Mhd. wb. 3, 751b. Schönbach s. 133) und wird öfter in bezug auf
Iwein gebraucht Iw. v. 3356. 3521. 3752. 6055 — die volle
Weisheit (witze gar) aber ist die gottesfurcht, die demut vor
gott, welche weiss dass alles gute von gott kommt und nicht
aus eigener macht erworben werden kann. Es ist derselbe
religiöse grundsatz, dem Hartmann am Schlüsse des Erec zum
teil in ganz ähnlicher sprachlicher fassung ausdruck verleiht,
V. 10085 ff. (vgl. auch v. 2491 ff. 8633 ff., dazu Schönbach s. 173 1):
er (Erec) tete sam die wisen tuont die des gote genäde sagent
stvaz sie eren b^agent und ez von im wellent hän. So triuget
manegen ein wän ... ob im iht guotes widervert daz im da£
si beschert niuwan von siner frümeJceit und es gote dehein gnäde
seit. Vil lihte ein ende des geschiht. Also entete der Jcünec
niht, aber Heinrich hat so getan und deshalb war das ende
die strafe die gott an ihn legte (A. H. v. 409).
Die parallele zwischen beiden stellen ist deutlich: Erec
tete sam die wisen tuont, der arme Heinrich enhete niht
witze gar.
HEIDELBERG. GUSTAV EHRISMANN.
BEITRÄGE ZUM MHD. WORTSCHATZ.
Ein grosser teil des gedichtes von der Minneburg ist in
der sogenannten 'geblümten rede' abgefasst (s. Beitr. 22, 313 tt
[über sie vgl. jetzt auch Ernst Meyer, Die gereimten liebes-
briefe des deutschen mittelalters, Marburg 1898]). Einen be-
sonderen schmuck derselben bilden seltene und auffallende
Wörter. In folge dessen finden sich in den gedichten, welche
in jener Stuart prangen, viele in der sonstigen literatur gar
nicht oder nur selten vorkommende Wörter. So auch in der
Minneburg. Ich führe im folgenden zunächst solche an, die
im Mhd. wb. und bei Lexer nicht belegt sind. Die liste liesse
sich vermehren, aber ich habe nur dasjenige material bieten
wollen, welches sich auf gesicherte handschriftliche Über-
lieferung gründet. Ganz weggelassen sind die sprachlichen
Ungeheuerlichkeiten der Überarbeitung (ß), welche nur der
ungewantheit des Verfassers ihr dasein verdanken.
oberer n. 'abfall von der speise' 5240.
anglaffen 'anstarren': ich hän sie an geglaffet lang mit miner
ougen zwirlel (2322); s. verglaffen DWB. 12, 446. Schmeller-
Fr. 1,971. Schweiz, id. 2, 607, erglaffen verglaben verglaveren
Lexer 1,631. 3,118.
anJcünten ^anzünden' 1570, belegt bei Schmeller-Fr.1,1260. DWB.
5, 554 f.
astroldbium 509, vgl. Diefenbach, Gloss. 56 c. Nov. gloss. 39.
attravers attrafers 2430. 2908. 2953 = treviers, s. Lexer 2, 1508.
Rückert, anm. zu Lohengrin v. 4861.
ati^eln * törichtes zeug schwatzen': dojs; ez (das herz) vor leide
würde brotzeln und also törlich atzein reht sam ein teil
diu atzel tuet so sie verrert ir zungen hluot 1628 'das herz
würde so töricht dummes zeug schwatzen wie die atzel,
wenn sie das blut ihrer zunge vergiesst', d.h. wenn sie
schwätzt; vgl. Schmeller-Fr. 1, 180 aizeln * vergebliches,
BEITRlaE Zütt MHD. WOETSCHATZ. 393
läppisches zeug vornehmen' (aus Nordfranken). Vilmar,
Id. s.18. DWB. 1, 596 atzelwerk 'geschwätz, geplauder' (bei
Lexer nachtrag s. 36 fälschlich hrasseln : azzeln nach der
hs.W).
halsamstüde 4974.
banieren 2691 in der bedeutung 'ein banner beschreiben' =
hlasenieren, visieren.
hehüchen 'behauchen' 1973.
sich heTcnüdeln 'sich in einer schlinge verfangen': ich hän ouch
mich heknüdelt und lang darüf gestüdelt 2351 'ich habe
mich ganz in den gedanken verfangen', zu Tmode 'knoten,
schlinge'. Verschieden davon ist lehnudeln 'beschmutzen'
DWB. 1, 1424. 5, 1514.
heknüseln 'beschmutzen': sie hat ouch mich hemüselt mit irre
minne ilsein und tuot mich ouch heknüseln daz ich vor
leide hin worden swarz 2372. DWB. 1, 1425 heknüseln
maculare; 5,1526 (unter knüseT) 'besudeln'; Schmeller-Fr.
1, 1355 knusig, knuselig 'unsauber, schmutzig'.
hillungs adv. kunstausdruck der Wappenkunde: dar ohe (über
dem mund) so stet von diamant hillungs ein winic ver-
renket gar m^eisterlich gesenket zwo kleine winhräwen 2436 ff.,
und was von spehen sinnen verworht zwar darinnen (in
dem banner) von ruhin ein leharte der sich in hillungs
harte zu Sprunge hete gestrecket 2777 tt Billungs kann
adverbiale bildung sein zu hille = franz. hille 'ball, kugel',
das in der heraldischen spräche gebraucht wird für runde
flächen (kreislinien) oder für kugeln etc., vgl. Bernd, Die
hauptstücke der Wappenwissenschaft 2, 282 ff.; also hillungs
hier so viel wie (halb)kreisf örmig gebogen, was sowol auf
die Wimpern als auch auf die gestalt des gekrümmt sich
niederduckenden (in der heraldik 'gekrüpft', treiiiz.accroupt)
leoparden passen würde. — Stehen in Zusammenhang da-
mit helle, hellunge Lexer 1, 174, und heldung bei Martin,
Hermann v. Sachsenheim, Mörin, anm. zu v. 511 und Gold,
tempel v. 1238?
hizze 'bissen', als Verstärkung der Verneinung (DWB. 2, 47):
du tuost im niergen hizzen wi 2139, und nimst sin nin-
dert hizzen goum 2229, du hist nindert hizzen wunt 4424.
Die gruppe x hat dafür den fehler niergen hintzen we
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 26
394 EHRISMANK
2139, nit ein hintzen goum 2229 (4424 feMt B), daher
stammt das citat in Grimms Gr^ n.'abdr. 3, 703 und nimpst
si niht ein hinsen (lies himen) goum,
Uotschen ( : rotschen *fels') 34 = platzen 'mit schall hinfallen'.
cylindrium 510, vgl. Diefenbach, Gloss. 118 c. Nov. gloss. 89.
diu diptonge fj 6lg)9^oyyoq 2388.
durch. Ausserordentlich häufig sind Verbalzusammensetzungen
mit durch\ folgende sind im Mhd. wb. und bei Lexer nicht
belegt: durchcedem 2454, durchbalsmen 1710. 4267, durdi-
bismen 1710, durchgemen 2975, durchhecheln 3276, durch-
kirnen 4400. 5430, durchkrispen 4452, durchkrüUen 4456,
durchliden 266, durchlüchen ( : Sprüchen) 2012 ('durch-
löchern', Lexers durchlüchen nachtr. 130 ist in durchlüchen
zu ändern), durchlühtieren 6, durchmeistern 2994, durch-
obern 1642, durchpinsen ('durchpinseln') 2964, durchrcezen
(durchrcezt : Icezt, das citat bei Lexer nachtr. 130 durch-
retzen beruht auf falscher lesart der hs. W), durchrisen
3288, durchrcesen 2658, durchrüemen 2660, durchsaffen
459, durchschimmern 2405, durchsmiden 265, dMrchspisen
3287, durchsticken 2^&1 ^ durchstachen 1755,^) durchstüpfen
3278, durchtemmern 3316, durchvioln 2659, dwrcÄwrwe»
5429, durchweifen (^durchhaspeln') 4276, durchwifeln
('durchsticken mit der nadel') 4276, durchwirden 2660,
durchzuckern 2658.
durfm,? 'bedürfnis, notwendigkeit', Verbalsubstantiv zu dürfen;
durch der sinnen durf 'weil es der sinn verlangt'.
ebichhalp {ewichhälb P) 'verkehrt' 1607, dazu auwich: mir ist
daz auwich üz gekert 5Ö45. Äuwich ist = awech, abech
DWB. 1, 58. Schmeller-Fr. 1, 11. 13. 2, 834: ahd. abuh. In
ebich ist offenes e anzusetzen, gemäss äbich u. s. w. im DWB.
*) Nach Bemd, Hauptstücke der wappen Wissenschaft 2, 125 besteht
folgender unterschied in der heraldik : gestickt wird gesagt, wenn die ober-
flache 'mit verschiedenen widerholten Verzierungen etc. gestickt, gemustert
oder durchwebt erscheint' — so hier in der Mbg.: der dritte strich der ist
durchsticket hinden und vorn mit meisterlichen Steinbocks harn; gestückt
wird gebraucht, wenn sie 'aus gleich grossen viereckigen stücken von ver-
schiedener färbe zusammengesetzt erscheinet' — dem ebenfalls entsprechend
hier in der Mbg.: ein haniere, diu was von 7'uhin glänzen und smaragden
wol durchstücket
BEITRAGE «UM MHD. WORTSCHATZ. 395
und bei Schmeller a. a. o. Lexer, Kämt. wb. sp. 2, u. a.;
e ist also jüngerer umlaut, -ich demnach später für älteres
'uch eingetreten, wie denn im früheren ahd. nur dbuh be-
legt ist (Graff 1, 90 f., erst in den Augsburger glossen mit
hahihemo, Ahd. gU. 2, 206, 6), vgl. aisl. ofogr und Qfegr (afegr)
Noreen, Aisl. gr.^ § 150, 4. — (Daz) ehich leeren ist formel-
haft, vgl. Freid. 21, 22. Renner 5522. Nie. v. Jeroschin 28 d
V. 167; ahd. in ahuh Mran Graff 1, 91. — Auch eUchltchen
bei Suchenwirt 21, 163 fehlt bei Lexer und im Mhd. wb.
eifeHe 'äfferei' 3958.
ergälmen 'ertönen' 31.
ergitzen 1174. 4103. 4933, s. Beitr. 22, 341.
erJclumpen 'zusammenschrumpfen' 2099. 4852 {erklumpt : erstumpt),
vgl. klumpen DWB. 5, 1292. Lexer 1, 1636.
erluckern 'locker machen' 2383 (erluckert : durchzuckert)\ lückern,
luckern DWB. 6, 1113. Lexer 1, 1975.
sich erluodern: min ougen künden nie derluoder(n) sich der
zarten frouwen guot 1866 'meine äugen konnten nie genug
in ihrem anblick schwelgen'.
sich erwandelieren 2726, bei Lexer unter wandelieren 3, 672
fälschlich sich her wandelieren nach der hs. W.
galanderisch ad].: galanderischer engel 3380.
sich gemildern 'sich mildem' 2350.
gequecklich adv. 5018, zu quec, s. unten zecklich,
gesperge n. 461. 1631: nu wil ich aber kumen mder mitmines
Sinnes gesperge üf des buoches rehte materge, und doch e
ich duz gesperge rüere der rehten materge, = gesperre
'sparrenwerk, gebälke'; gesperge in der bedeutung 'schar'
bei Lexer 1, 923.
gestrange adv. 5024.
gevlcezen 4100 = vlcezen.
glohzen = gelohzen 1955, einfaches lohzen 1956. 4495.
gloyren = geloschieren c. acc: die (die färben) wil ich hie vi-
sieren, gar wepenlich gloyren reht in dines antlützes schilt
2412 'die färben will ich in den schild deines antlitzes
einlogieren, ihnen ihre statte darin anweisen'; bei Lexer
intrans. und mit dat. d. pers. 1, 822. 1957.
gränätkisel 1507.
hegein: holz üf einander gehegelt 89, zu hac, welches nach
26*
396 EHBISMANN
Schmeller-Fr. 1, 1067 'bes. eine kunstlose, leichtere' ein-
friedigung von Stangen ist 'und als solche dem dichtern,
festern zäun wie der hecke entgegengesetzt'; also hier
etwa = leicht auf einander geschichtet.
honechrunne 4972.
JctrJcel 'das röcheln': mit heiserer stimme kirJcel 1827. Schweiz,
id. 3, 457 chirchel, charchlen, chürcMen XL a. DWB. 5, 208
karcheln. Lexer 1, 1551 Jcerchen,
Tcridenwtz 1946.
Jcrinnel 'strähne': ez (das haar) hat sulich krinnel als ee von
einer spinnel st hübsch herab gezogen 4453, zu Tcrinne 'ein-
schnitt', s. auch Schmeller-Fr. 1, 1372 krir^el = hrinnel,
krüseln 'kitzeln' 2369 (krüselt : gemüselt). DWB. 5, 2100 und
2478; im ablaut zu hriuseln 'jucken'. Lexer 1,1739.
lerzic 'linkisch, ungelenk' 2619, zu lerg 'link'.
lippen- läppen verb.: klaffer, die üe irem munde manic rede
lippen-lappen 559, s. lippen-lappe sb. Lexer 1, 1934. DWB.
6, 1059.
lunder 'brand' 2472. 3274. 3330, lundern 'brennen' 5358. DWB.
6, 1308 : fränk.-henneberg. lunnem 'lodern, hell aufbrennen,
lohen', s. auch Fromm., Mundarten 2, 79, 15. 3,133. 3,404,12;
vgl. Lexer 1, 1983 lünden 'brennen, glimmen'.
lürpen 'mit der zunge anstossen': ein lürpent zunge 1275. Schweiz,
id. 2, 1385 lurpen, nebenform zu lurggen, lorggen (ebda.
3, 1381 f.) 'mit schwerer zunge, undeutlich und unverständ-
lich sprechen, lallen, stammeln'. Schmeller-Fr. 1, 1500 lorbsen
(Aschaff.) 'mit der zunge anstossen'; ebda. 1, 1501 und Lexer
1, 1885 lerken, lirken, lurken 'stottern'. Schmid, Schwab, wb.
lurken, lorken 'im sprechen die worte verschlingen, schwer
sprechen' u. s.w. Spiess, Beitr. zu e. Henneberg. id. 156 lurksen
'schwer, mit anstrengung sprechen'.
margramepfelwazzer 'aus malum granatum destilliertes wasser'
2520.
melissenwazzer 'aus melissen destilliertes wasser' 3502. DWB.
6, 1996.
murzeln 1776 und
murzen 2362 'zerreiben'. DWB. 6, 2728.
müseln 'beflecken' 2370, s. oben unter beknüseln, bemüseln Lexer
1,177. DWB. 1,1463. Schweiz, id. 4, 484. Grimm, Gr., n.abdr.
BEITRXGE zum med. WORTSCHATZ. 397
1, 984; vermüseln var. zur Halben bir v. 149. Dazu die
umdeutung müselsuht für miselsuht, vgl. DWB. 6, 2257.
Müseln stellt im ablaut zu mhd. mase ^entstellender flecken',
masel 'blutgeschwulst' (auch maselsuht = miselsuht), nhd.
masem,
nacta platonis kunst: ich hän gemacht ... ein salben riche mit
guoter gunst diu heilet na^ta platonis hunst 506; nacta
für napta vgl. Diefenbacli,Gloss. 374b. Nov.gloss. 260, napta
Dief., Gloss. 375 a = resina (Harz) olitrestir peterol. Nov.
gloss.261. 'Naphta'.
nuofer (: uofer) 'tätig, munter' 72 = uoher. Lexer, nachtr. 388,
vgl. Schmeller-Fr. 1, 19. 1714. 1731. Das vorgeschlagene n
ist aus sandhi entstanden; zu beachten ist auch der gram-
matische Wechsel zwischen f und 6, s. auch unten ver-
ziben, zifen,
ochzen (ilohzen) ^och schreien' 4496, zu der interjection och
gebildet wie ächzen zu ach.
papelrose 'herbstrose, herbstpappel' u.s.w., 3401. DWB. 7, 1445
parisvarwe 3408. 4477, vgl. parisrot Schmeller-Fr. 1, 402.
pfimpfen (: dimpfen) ^vor hitze dampfen' 2341, vgl. Schmeller-
Fr. 1, 427 pfimpfet adj. Das citat bei Lexer 3, 352 vimpen
( : dimpen) ist nach der hs. W und fehlerhaft.
pionienwurz 3571, s. peonia, pionia }i.s.w. Dief enbach, Gloss.
424 a. Nov. gloss» 286.
quadrante schw.m. 'ein messinstrument' 511. DWB. 7, 2296. Germ.
28, 397. 29, 391.
quic m. 'erquickung' 3464. 4603.
rampant 'aufrecht, aufgerichtet' (von löwen etc.), kunstausdruck
der Wappenkunde: alumb an des Schildes rant sehs lewen
ligen rampant 2928. Rapante in barellen unde berlin wiz
rapante durchflorieret 2419 ist wol das nämliche.
raspe f.: dö nu der minnen ra^spe mich so genzlich überwuohs
3284; raspe und rispe 'taubhafer' DWB. 8, 141; raspelein
und rispelein 'isländische flechte' Schmeller-Fr. 2, 159.
schedic 2607. 4513 = schadec.
Schimmer sb. 4794, schimmern 3466, durchschimmern 2405.
Schimmern ist zuerst bei Luther belegt (DWb. 9, 162),
Schimmer noch später (DWB. 9, 159). Die beispiele aus
der Mbg. sind für die geschichte dieser Wörter von wichtig-
308 EHKISMANN
keit: sie waren längst volkstümlich, ehe sie in der literatur-
sprache aufnähme fanden.
schregeln: höh geschregelt 400 * schräg über einander gelegtes
holz' (bei einem floss), vgl. waldschragen 'bretterfloss',
Schmeller-Fr. 2, 600.
schuofen oder schüefen? 1678 ( : ruofen oier rüefen) 'mit einer
schuofe, einem wassereimer, schöpfen'.
selplich adv. zu selp 553.
selwe f. 'schmutz' 2408. 2475.
sendic = ^senendic 5014.
serf oder serfe ein edelstein, Serpentin? von serfen golde topasion
gemusieret 2980; vgl. seravin Lexer2, 887.
sich sihtern * seichter werden' (von einer fürt) 664.
spcenisch grüen 'viride hispanicum' 2958 = spängrüen, spens-
grüen, grüenspän Lexer 2, 1068.
sprüzgeltn 1498, deminutiv zu sprüzzel Leitersprosse'.
stahelfiurisen (1564) * feuerstahl, stahl um feuer zu schlagen am
fiurstein' (1562), vgl. Lexer 3, 379 viunsen. Die stelle 1562 ff.
schildert den Vorgang des feuerschlagens: mins armen herzen
fiurstein rüert hart an alle zerte dtn stahelfiurisen
herte, da zwischen hat gestözen zun der ein zartez wip . . .
dar an mins leides swe feiherzen fürwär sin enzündet
Aelteste erwähnung der swefelkerze bez. des schwefelholzes
(swebelhölzUn bei Lexer 2, 1347 erst aus der Zimm. Chron.,
s. auch Alem. 16, 188 f.).
stolzen trans. 'stolz machen' 3626.
stüdeln üf 'darauf bauen, sich auf etwas verlassen' 2352, zu
studel 'unterläge', s. oben sicli heknüdeln,
timmern intr. 'dunkel sein' 3465.
üf, Verbalzusammensetzungen: üf rifeln 4275; üf wimeln 533;
üf zipfen 2382.
unervirnet 'nicht alt geworden' 3364.
unloben 'tadeln' 3475.
sich unseiden 'sich unselig machen' 1274.
vertumpfen 'dumpf werden', in übertragener bedeutung: getihtes,
geist , .. ist in mir vertumpfet 4669.
verziben 'verkümmern, absterben': ich wil ouch gar verziben
( : geschriben), Schmeller-Fr. 2, 1087 zifen, zifeln (Franken)
'im Wachstum zurückbleiben', verwiesen auf Graff 5, 578
BEITRÄGE ZUM MHD. WORTSCHATZ. 399
arjsihvta residem, dpun ignauos (AM. gl. 2, 422, 34. 2, 453, 1).
Schmeller-Fr. 2, 1144 zipfen * schlapp, kränklich, nieder-
geschlagen sein', verzipfen (Würzb.) * verschmachten'. Spiess,
Henneberg. id. unter mpfen, verzipfen.
visür (ilasür) = visier in der bedeutung 'aufriss, plan' 2923,
s. Lexer 3, 374. Schmeller-Fr. 1, 848.
ja vix! 5193, vix DWB. 3, 1697: mhi ist vix noch einmal belegt
aus Hätzl. 2, 69, 38 = Keller, Erzähl. 666, 18.
vlindern * flimmern' 4882, s. Lexer 3, 288 vervlindern,
wdfnöt: wäfnöt ie und wäfen! 4341, aus wäfenö umgedeutet.
wcenic sin in der bedeutung ^w€enen\ gegensatz zu wisszen: sie
sol wizzen und niht sin wenic 1877.
wint und ach 4943 = wint und we, wozu vgl. Schmeller-Fr.
2, 949.
zecklich 4n aufreizender, herausfordernder weise': icie malitu
also zecklich und also gar gequecklich mich mit sulhem leide
gederren? 5017; zu zecken * reizen, necken'.
zerströufen 697.
zimme (igimme) 3370; diese form für *zimmt' fehlt bei Lexer
3, 1123.
Zuckerstengel 4974.
Daran reihen sich folgende Wörter, die bei Lexer nur
einmal belegt sind: belesten 1997, berillin (adj.) 588, betterisic
4892, durchpolieren 237 (s. J. Meier, anm. zu lolande v. 5784),
durchvrischen 212. 247, erkirren 2336, finieren (gefinieret golt)
911, harnen 3731, kengel (kopfputz) 4448, krasteln 3292, krülle
sb. 3444, malvasin (:wtn) 2522, österwunne 4971, pillele 5449,
remedige 5386, spünic 3326 (eigentlich ^spüne, muttermilch ha-
bend', mit linden Worten honges spünic ist also etwa 'von
honig träufelnd'), trindel (: swindeT) 60, violisch 1711.
Etwa 35 Wörter sind bei Lexer nur aus der Minneburg,
ungefähr ein dutzend ausser aus der Minneburg nur noch in
6inem anderen mhd. text belegt.
Als Varianten zu belegten Wörtern seien aus der Minne-
burg verzeichnet:
timlitze 1806 = timenize Lexer 2, 1439; das von Lexer 3, 1120
angeführte zimelitze ist eine durch Verschiebung von an-
lautendem t>z falsch verhochdeutschte form aus der hs. W.
400 EHBISMANN
visonomie 430 (visomonye P, visanye W, visamie H), bei Lexer
3,369 visamei (Vintler).
lonker *ein belagerungswerkzeug': triböcke hnJcer katzen 111
= Icedingcere Lexer 1, 1951.
Einige aus der hs. W bei Lexer aufgenommene citate sind
zu ändern, so u.a.: statt brässeln: asseln, nachtr.lOl, ist zu lesen
hratiseln: aUeln 1627 (s. oben atzeln)\ bei lürsse, fem. abstr. zu
lurgy nachtr. 306, ist das zweite citat zu streichen (1993 lurz
in W fälschlich für guft)\ ougen gapfei 1966, Lexer 2, 182, ist
eine vom dichter beabsichtigte etymologische deutung von aug-
apfel und nicht in ougen apfel umzuschreiben; statt mit stillen
tritten tucken Lexer 2. 1557 (unter tticken verb.) lies mit stillen
trittes tücken, zu tue sb. *tücke' (v. 143); überhiusen 2448, Lexer
2, 1629: die citierte stelle befindet sich in dem der Minneburg
entnommenen stücke Hätzl. 2, 25, 48, lautet aber im ursprüng-
lichen text den schilt den üherhiuset ir här, nicht der schilt
überhiuset . . . ; üis knüpfen 1963 statt üz knöpfen bei Lexer
2, 2024. Femer noch
zerpfnürschen 2328; die bei Lexer 3, 1075 aus W angezogene
stelle lautet im urtext nu hoert wie sie mich zermürschet, zer-
sluoc und ouch zerpfnürschet Zerpfnürschen bedeutet wol
'zerbeissen, zermalmen' \mi pfnürschen ist so viel wie knür sehen
DWB. 5,1525 = knirschen im sinne von * knirschend zerbeissen'.
Wechsel zwischen anlautendem pfn und kn, also germ. pn
und kn, wie in pfnüsel und knüsel * schnupfen' (DWB. 5, 1526),
pfnischen und knischen 'niesen' (Vilmar, Id. 300), pfnurren und
knurren (Schmeller-Fr. 1, 451), vgl. auch pfneisten und gneisten
'funkeln' (Stalder 163) und Johansson, Beitr. 14, 329 fi
Vltern 2561; verultern im Mhd. wb. 3, 178 b und bei Lexer
3, 280 aus dem liederbuche der Hätzlerin (= Minneburg 2561)
ist fehlerhaft für einfaches ultem. Uliern scheint fremdwort
zu sein, aus mlat. ultrare 'stossen', 'contumeliam facere, injurüs
afficere' Du Gange 8, 364 b, in dem citat bei Lexer 2, 1721 aufe
obscöne übertragen. Die ganze stelle dürfte übrigens auf die
etymologie von foltern (fultern, s. DWB. 3, 1885. 4, 1, 525) licht
werfen, das an dieser stelle der Minneburg am frühesten be-
legt ist. Sie lautet 2558 ff. (s. auch Hätzl. 2, 25, 156 ff.) nie
gevangener wart gederret in gevenknisse so swinde als ich an
BEITBAGE ZUM MHD. WORTSCHATZ. 401
alle linde: man mich ga/r dicke ultert, ich wird ouch dicke
gefultert zwar über spottes balken, mtns herzen gelider walken
werden üz ir rehten seze. Diese beschreibung und die Zu-
sammenstellung von fultern mit walken lässt vermuten, dass
fultern ebenfalls ursprünglich ein ausdruck des walkergewerbes
war. Nun bestehen neben mlat. feltrum, filtrum *filz, hären
tuch' formen mit o und u, foltrum, fultrum Diefenbach, Gloss.
250 b (es fand dann Verwirrung statt mit fulcrum, fultrum
* bettsteile und bettdecke' Diefenbach, Gloss. 250 b), fultrum Du
Gange 3,429 c. 624 b, fultrarius 'filzmacher, walker' für feltrarius
Du Gange 3, 428 c. Dementsprechend lässt sich auch ein */w'"
trare voraussetzen neben ßtrare * filzen', * filtrum seu lanam
coactam operari, feutrer' Du Gange 3, 500 a; somit wäre fultern,
foltern = walken, — Das obige fultrum, germ. Ursprungs wie
feltrum, filtrum 'filz', wurde wider als lehnwort ins deutsche
aufgenommen, es ist das ahd. mhd. Substantiv fulter (nie ad-
jectiv, wie in den Wörterbüchern, wol zufolge der anmerk. zu
Engelhard 6294, angegeben wird). Der älteste beleg findet
sich bei Otfrid 4, 29, 39 joh thär (an dem gewand) wiht fulteres
ni wäri 'es sollte an dem gewand nichts von filz, keine filzige,
rauhe stelle sein. Im mhd. erscheint vulter dreimal bei Konrad
von Würzburg: Part. 1133 ff. ein deckelachen lac dar obe er-
ziuget äne fulter 'ohne filzige, rauhe stelle, ohne makel', dann
in übertragenem sinne ebda. 7840 f. er hete sich dar an gestoln
durch sine valsche fulter und Engelhard 6294 (s. besonders die
anmerkung) sin herze an allez fulter lac in der Triuwen Muse,
Weitere beispiele gibt Bech, Germ. 35, 195 aus der lolande (es
sind nach J. Meiers ausgäbe die verse 356. 5785, dazu folterlos
1988; vgl. auch J. Meiers anm. zu v. 5032) und Zs. fdph. 29, 338.
Das mlat., ursprünglich germ. fultrum, ahd. mhd. fulter steht
im ablaut zu feltrum, filtrum = ags. feit, ahd. filz und ist aus
der Wurzel peld- mit r-suffix gebildet; zur etymologie von filz
s. bes. A. Erdmann, Kleid und filz, Skrifter utg. af hum. veten-
skapssamfundet i Upsala 1, 3. — Eine ähnliche bedeutungs-
entwicklung wie die oben bei fulter dargelegte ist die von
fleck = 'flicken, läppen' zu 'makel in sittlicher hinsieht,
Schandfleck'.
Ihrer herkunft nach lassen sich die von dem dichter mit
einer bestimmten stilistischen absieht gebrauchten Wörter, zu
404 HOBN
I
gang von }>> f im germ. nichts unerhörtes, vgl. pliuhan >
fliehen und th > f in englischen mundarten (Storm, Engl. phil.
V, 825. Engl. stud. 12, 209). Das nord. kennt übrigens auch
einen dissimilatorischen Übergang von r = d (Noreen § 203).
Das von Grimm a. a. o. herangezogene oberhessische ertlich =
ettich (ahd. ettesUch) ist anders zu beurteilen als erdo. Die
heute, wie es scheint, selten gewordene form findet sich als
^atlix in mundarten, die auch h'^al = 'kehle', sn^l = * schnell',
tow = 'kind(er)' u.s.w. sprechen mit dem nachlaut a hinter
vocalen;*) dieses a lautet einem r ähnlich.
Neuerdings hat F. Hartmann in Dieters oben citiertem buch
s. 308 eine erklärung von ahd. erdo vorgetragen. Er sagt:
* eigentümlich ist eine art von r-epenthese in kurzer Stamm-
silbe vor p bei folgendem r: wirthar, wirdar, wer dar findet
sich mehrfach. Nach werdar scheint dann auch in disjunctiven
fragen und Sätzen erdo (got. aippau) statt eddo, edo sein r
bekommen zu haben, wie jedenfalls nhd. oder sein schliessendes
r dem weder , entweder verdankt'. Diese erklärung halte ich
für unwahrscheinlich, da ich mich der ansieht derer nicht
anschliessen kann, die glauben, oder habe sein r von (ent)weder
bezogen (s. unten).
Eine andere eigentümliche form für oder verzeichnet Ph.
Lenz, Der Handschuhsheimer dialekt, progr. von Konstanz 1887,
s. 10, aus dem pfälzischen; ^wer von 'unbekannter herkunft'
ist dort seltene nebenform von orer = 'oder'. In Eemscheid
(Beitr. 10, 416. 599) kommt dieselbe form vor (^r), auch in
Greiz (ebher, Mitteilungen der geograph. gesellschaft zu Jena
5, 155), jedoch in der bedeutung 'aber'. Und im mittleren
Odenwald begegnet ^wer als entsprechung von 'aber' und
'oder'. Holthausens erklärung, wonach ^ in ^vr Schwächung
von a in folge der unbetontheit ist, kann nicht auf das pfäl-
zische und odenwäldische anwendung finden. Es ist also eine
andere erklärung zu suchen.
Aber und oder haben sich bekanntlich in den verschieden-
sten mundarten in ihrer bedeutung beeinflusst, manchmal sogar
ihre function geradezu vertauscht.^) Diese erscheinung erklärt
^) Nach den ennittelungen meines freundes Alles in Friedberg i. H. —
Ueber a vgl. auch David, Germ. 37, 379.
^) Oder für aber, ower für oder in bayreuth.-fräuk. ma. (Bay. maa. 2, 266).
ZUR GESCHICHTE VON ODER.
Im oberdeutschen des 13. bis 15. jh.'s begegnen für ode/r
die formen cMer, alde,^) von denen sich letztere als oU, ol
erhalten hat (Weinhold, AI. gr. § 25. Deutsche ma. 6, 409). Die
Wörter sind verschiedentlich zu al,alja * ander' gestellt worden
(so von Benecke-Müller, Lexer, Weinhold a. a. o.). Dabei bleibt
aber die tatsache unbegreiflich, dass dlde{r) erst so spät in
der literatur auftritt, wol nie vor dem 13. jh. Sollten diese
formen nicht vielmehr in Zusammenhang stehen mit ahd. erdo?'^)
Älder wäre aus erder ( : erdo = oder : edo, odo) entstanden mit
dissimilation des ersten r > ü; aide wäre aus erdo dissimiliert,
wenn ein r im Satzzusammenhang in der nähe stand. Das a
vor alde(r) lässt sich leicht mit e von erdo in einklang bringen:
a für e in nebentonigen silben ist nichts seltenes; und dass die
Stellung unter dem nebenton die lautform unseres wertes be-
einflusst hat, zeigt ja auch die Vereinfachung der geminata in
ahd. edo, an. eäii. Auch das o in ol(t) ist dem unbetonten ge-
brauch des Wortes zuzuschreiben: unbetontes 3) a vor l Avird auch
sonst zu o: ygl, her old neben heralt (afranz. ÄeraZ^), Schweiz, «oürfn
= salaire, obersächs. soldd = salat u.s.w. [vgl. Lit.-bl. 20, 10],
Ist in ahd. erdo rd aus Jiji auch durch dissimilation ent-
standen? Vgl. auch an. eär, auch etpa (das nach Noreen, An.
gr. § 186 contamination aus betontem ^etta [< e])pa] und un-
betontem eda ist). Freilich kann ich parallele fälle ebenso-
wenig beibringen, wie man dies für die erklärung von as.
eßo < aippau vermocht hat;*) doch ist ja immerhin der über-
*) Eauffmann, Geschichte der schwäb. ma. § 184 b. Weinhold, AI. gr.
§317. Mhd.wb. 1,22. 2,1,437. Lexer 1,35. Schweiz, id. 1, 40 (aMaher, alaher
= oder aber in der älteren spräche).
3) Braune, Ahd. gr.« § 167 anm.ll. Grimm, Gr. 3», 54 («60).
^) Nicht aber betontes a. Holön z. b. ist nicht als hcUön entstanden,
so dass das l das a zu o gewandelt hätte, wie neuerdings wider F. Hart-
mann in Dieters Laut- u. formenlehre der altgerm. diall. s. 145 annimmt;
warum nicht boMo > *boUo? Vgl. Braune« §25 anm.l.
*) Singer, Beitr. 12, 211, dagegen Siebs, Pauls Grundr. 1^, 744.
404 HOBN
I
gang von p> f im germ. nichts unerhörtes, vgl. pliuhan >
ftiehen und {h> f m englischen mundarten (Storm, Engl. phil.
1\ 825. Engl. stud. 12, 209). Das nord. kennt übrigens auch
einen dissimilatorischen Übergang von r = ä (Noreen § 203).
Das von Grimm a. a. o. herangezogene oberhessische erüich =
eilich (ahd. ettesUch) ist anders zu beurteilen als erdo. Die
heute, wie es scheint, selten gewordene form findet sich als
^atlix ^ mundarten, die auch Jc^al = 'kehle', Sn^al = 'schnell',
tow = 'kind(er)' u.s.w. sprechen mit dem nachlaut a hinter
vocalen;*) dieses a lautet einem r ähnlich.
Neuerdings hat F. Hartmann in Dieters oben citiertem buch
s. 308 eine erklärung von ahd. erdo vorgetragen. Er sagt:
'eigentümlich ist eine art von r-epenthese in kurzer Stamm-
silbe vor p bei folgendem r: wirthar, wir dar ^ werdar findet
sich mehrfach. Nach werdar scheint dann auch in disjunctiven
fragen und Sätzen erdo (got. aippau) statt eddo, edo sein r
bekommen zu haben, wie jedenfalls nhd. oder sein schliessendes
r dem weder, entweder verdankt'. Diese erklärung halte ich
für unwahrscheinlich, da ich mich der ansieht derer nicht
anschliessen kann, die glauben, oder habe sein r von (ent)weder
bezogen (s. unten).
Eine andere eigentümliche form für oder verzeichnet Ph.
Lenz, Der Handschuhsheimer dialekt, progr. von Konstanz 1887,
s. 10, aus dem pfälzischen; ^wer von 'unbekannter herkunft'
ist dort seltene nebenform von orer = 'oder'. In Remscheid
(Beitr. 10, 416. 599) kommt dieselbe form vor (^vr), auch in
Greiz (ebber, Mitteilungen der geograph. gesellschaft zu Jena
5, 155), jedoch in der bedeutung 'aber'. Und im mittleren
Odenwald begegnet ^wer als entsprechung von 'aber' und
'oder'. Holthausens erklärung, wonach § in §vr Schwächung
von a in folge der unbetontheit ist, kann nicht auf das pfäl-
zische und odenwäldische anwendung finden. Es ist also eine
andere erklärung zu suchen.
Aber und oder haben sich bekanntlich in den verschieden-
sten mundarten in ihrer bedeutung beeinflusst, manchmal sogar
ihre function geradezu vertauscht.^) Diese erscheinung erklärt
^) Nach den ermittelungen meines freundes Alles in Friedberg i. H. —
Ueber a vgl. auch David, Germ. 37, 379.
^) Oder für aber, ower für oder in bayreuth.-fräiik. ma. (Bay. maa. 2, 266).
ZÜB GESCHICHTE VON ODEB, 405
sich nach Behaghel, Deutsche spr. s. 100 daraus, dass die beiden
conjunctionen zur bezeichnung des gegensatzes dienen. Zahl-
reiche nachweise der Vermischung bietet Lexer im DWb.\)
Die mundarten nun, die §wer für 'aber', für 'oder', für
'aber + oder' aufweisen, sind noch weiter gegangen: sie haben
ed{c[)o (mhd. vereinzelt ede, md. [Lexer 2, 140J nd. eder) und
aber contaminiert. Das e von edo ist also in ^wer, eher
U.S.W. erhalten wie in nni. edder (Tümpel, Niederd. Studien s.l8).
Als mischung von aber und oder ist wol auch das in der
älteren spräche und auch heute noch hie und da begegnende
md. ader^) (teils = 'aber', teils = 'oder') zu betrachten; auch
ado in der Exhortatio ad plebem christianam, MSD.^ 54, 13,
afhe = 'oder' im Trierer capitulare. Kaum zu bejahen ist
die frage, die ein zusatz im neudruck von Grimms Grammatik
(3, 264) stellt: 'erklärt sich aus oder aber das provinzielle mhd.
ader (= aber)?'
Ahd. abo, äbe (vgl. Seemüllers glossar zu Williram), mhd.
abe (Lexer 1, 11, dazu J. Meier, lolande 18, fussn.) verdankt wol
den endvocal dem einfluss von edo, odo, ode, Obir, ober, obe,
ob = 'oder' (vgl. J.Meier und Sievers a.a.O.) zeigen beeinflus-
sung durch aber.
Und schliesslich hat nhd. oder sein r von aber erhalten.^)
Die Wörterbücher pflegen die wähl zu lassen zwischen 'com-
parativischer Weiterbildung' und einfluss von weder. Die erste
erklärung erscheint mir unmöglich, unter einer comparativi-
schen Weiterbildung von odo kann ich mir nichts denken. Die
zweite ist unwahrscheinlich: oder wird doch gewis öfter in
Verbindungen wie er oder du gebraucht als mit {ent)weder,
*) Vgl. noch besonders die formen in der lolande (worauf mich herr
geheimrat Behaghel hinweist) bei J. Meier, einl. s. 17 ff., und E. Sievers,
Oxforder benedictinerregel, Tübinger decanatsprogr. 1887, einl. s. 9.
1) Damköhler, Germ. 33, 480. Grimm, Gr. 3«, 264. Lexer 1, 21. Schweiz,
id. 1, 89. 97. J. Meier, lol. 18.
8) Od noch im jähre 1588 in der Schweiz (Schweiz, id. 1, 97).
DAEMSTADT, 3. dec. 1898. WILHELM HOHN.
MISCELLEN.
L Zu Wolfram.
1. Bei Wolfram finden sich bekanntlich reime wie (ge)-
stuont : hunt, stuonden : künden, sun : tiwn, stüende : künde in
grosser zahl (s. San Hartes Reimregister s. 108. 110 f.). Lach-
mann schreibt sie, um reine reime herzustellen stuont : kuont,
suon : tuon u. s. w. Ob mit recht soll unten erörtert werden.
Reime wie z. b. hurte : fuorte 600, 3 oder gefuart : hurt
444, 13 können zur erklärung nichts beitragen, da sie unter
die lautregel fallen, dass i und u vor r diphthongiert werden,
so dass tatsächlich in vielen teilen Deutschlands z.b. gesprochen
wird nü9r, üdr Qmii\ ^uhr'). Das gleiche ist bei i der fall,
z. b. *wir' gespr. wt9r, wie denn auch Wolfram bekanntlich oft
ir : ier reimt.
Es bleiben somit, abgesehen von den reimen wie nü : suo
(San Harte s. 109) und vereinzelten andern beispielen nur solche
fälle übrig, in denen auf den vocal u bez. uo in der gleichen
Silbe ein n folgt, und zwar sind diese reime auf alle bücher
des Parzival verteilt, können also nicht mit Behaghel, Germ.
34, 487 f. als mittel zur entscheidung darüber dienen, ob die
bücher in denen sie sich finden, vor, während oder nach dem
aufenthalte Wolframs in Thüringen entstanden sind, wie schon
W. Hoffmann, Der einfluss des reimes auf die spräche Wolf-
rams, Strassb. 1894, s. 26 und L. Grimm, Wolfram von Eschen-
bach und die Zeitgenossen, Leipzig 1897, s. 60 ausgesprochen
haben.
Ist aber Behaghels annähme, dass jene reime auf thürin-
gischen einfluss zurückzuführen sind, überhaupt richtig? Und
ist es andrerseits gerechtfertigt, die reinheit der reime dadurch
herzustellen, dass man die w-formen durch solche mit uo ersetzt?
MISCELLEN. 407
Wenn wir die zeitgenössischen werke aus Wolframs näherer
heimat betrachten, so finden wir, dass auch der mit Wolfram
am nächsten benachbarte mhd. dichter, der Winsbeke, das
reimpaar sun : tuon hat, und zwar gleich im eingang (1, 1 und 3),
während der andere mhd. dichter den wir einen engeren lands-
mann Walthers nennen können, Wirnt, solche reime nicht
kennt. Er reimt derartige formen immer rein, z. b. Wigalois
(Pf.) 14, 27. 39, 40 stuont : tuont^ 81, 20 bestuont : tuont Da
nun aber Wirnts heimat Gräfenberg fränkisch ist, diejenige
Wolframs dagegen ebenso wie Windsbach in dem gebiete
desjenigen dialektes liegt, der als eine tibergangsstufe zwischen
bairisch und fränkisch zu betrachten ist, so mag es gestattet
sein, die erklärung durch ein analogen in einer neueren mund-
art zu suchen, und zwar in der meiner Vaterstadt Nürnberg,
welche ja das typische beispiel einer Übergangsmundart zwi-
schen bairisch (speciell oberpfälzisch) und ostfränkisch darstellt,
indem ihr vocalismus noch heute rein oberpfälzisch ist, wäh-
rend der consonantismus (der noch zu Grübeis zeiten ein stark
bairisches gepräge gehabt zu haben scheint) heute schon fast
rein fränkisch zu nennen ist. In der Nürnberger mundart
findet sich nun eine fast vereinzelte form, die den Schlüssel
zur lösung unserer frage gibt, der infinitiv t^ (mit nasalem ü)
und daneben die seltene flectierte form ^tyna (mhd. ^e tuonne),
für die allerdings, namentlich bei jüngeren, fast stets schon
zt^ gesagt wird. Vereinzelt steht die form deshalb, weil die
anderen hier in betracht kommenden formen fast lauter prae-
terita sind — mhd. stuont, stüende — und das einfache prae-
teritum ind. in der mundart überhaupt nicht gebraucht wird,
der Optativ aber durch eine -^-neubildung ersetzt ist: stedt
(auch St^n9t nach 1. 3. pl. praes. st^nd). Das wort mhd. huon
ist in der ma. durch putla ersetzt. Die unflectierte form grof
mit nasalem oi kommt nicht in frage, weil zu der zeit von
der die rede ist, das -e von grüene noch nicht gefallen war,
also n nicht zur gleichen silbe gehörte (es wurde grüene also
erst > greind, dann erst > grein > gre^). Neben inf. ty, flec-
tiert ztyna haben wir 1. 2. 3. sg. i tou, du tou^t, er tout, wäh-
rend der plural nach analogie von * stehen' lautet mir {nwr)
t^a, ir tu, ^ t^na. Ueber die zeit, wann im oberpfälzischen
uo zu oii, üe und ie zu ei geworden sind, vermag ich nichts
408 GEBHARDT
ZU sagen, auch sind in Wolframs heimat heute tw, üe und ie
zu u, ü, t monophthongiert, wie denn diese mundart heute ein
durchaus fränkisches äussere hat. Da sich aber Wolfram selbst
Parz. 121, 7 einen Beier nennt, so können wir gewis annehmen,
dass die mundart seiner heimat damals in der hauptsache
bairisch war. Und wenn wir annehmen, dass sie etwa damals
schon auf dem wege war, fränkisch zu werden, so können wir
um so mehr einen Vorgang auf sie übertragen, der sich heute
in einer mundart abspielt, welche eben heute auf dem wege
ist, aus einer bairischen zu einer fränkischen zu werden. Die
reime sind also, wenn wir nicht die lesart der hss. beibehalten
oder nach dem mustermhd. normalisieren wollen, nicht mit
Lachmann suon : tuon u. s. w., sondern vielmehr sun : tun zu
schreiben, und zwar mit kurzem u, nicht mit ü, denn *tün
wäre ja heute nicht zu ty, sondern zu ta\i geworden. Weit
entfernt, spuren thüringischen einflusses auf Wolfi'ams spräche
darzustellen, zeigen diese reime vielmehr, dass er, auch fem
von der heimat, diese freiheit der heimischen mundart in seine
dichtersprache herüberzunehmen sich nicht gescheut hat, wo
es ihm um des reimes willen angenehm schien.
2. Parz. 702, 18 f. liest Lachmann: der sin (sc. schilt) was
üjse unt innen zerhurtiert unt ouch zerslagen, obwol sämmt-
liche hss. w5e» — oder eine nur graphisch davon verschiedene
form, z. b. G ujsjsen, D uozen — haben. Der grund zu seiner
abänderung der lesart liegt auf der hand: durch einsetzung
des elidierbaren üjse für das überlieferte üisen sollte die Senkung
auf 6ine silbe gebracht werden. Aber abgesehen von der Über-
lieferung ist auch sprachlich uzen die einzig richtige form.
Der Schild wird doch nicht üjsie ^draussen' zerstossen und zer-
schlagen, sondern uzen 'von aussen her'. Die participia haben
doch stets den gleichen casus wie das verbum finitum, es steht
also ebenso wie Parz. 560, 17 f. von fuoss üf wäpent in do gar
diu süeze niaget wol gevar, wo wir gleichsam sehen, wie vor
uns die wappnung des ritters vor sich geht, indem er zunächst
mit den füssen in die kettenhosen steigt und nach oben zu
ein stück dem anderen folgt, bis ihm zuletzt der heim aufe
haupt gesetzt wird, ebenso auch Parz. 120, 24 f. mit part. praet.
pass. nu seht: dort hom geschuftet her dr% riter nach wünsche
var, von fuoze üf gewäpent gar.
IfXSCELLKK. 409
Es spricht also in sprachlicher beziehung nichts gegen,
alles für beibehaltung der handschriftlichen lesart, und zwar
nicht zum mindesten auch der parallelismus mit dem folgenden
innen, das ausser der Überlieferung auch noch durch den reim
(gewinnen : innen) gesichert ist.
3. Parz. 230, 13. Wildenberc wird als Wolframs Wohn-
sitz bezeichnet und für das jetzige Wehlenberg erklärt. Es
ist dies ein weiler, aus zwei wohnstätten bestehend, 49^ 9' 50"
n. b., 52' 20" westlich von München (nach der bairischen general-
stabskarte). Doch halte ich für das richtigste, Wildenberc an
der betreffenden stelle für nichts anderes aufzufassen als für
ein Wortspiel. Es ist vorher von der pracht und dem aufwände
zu Munsalvaesche die rede gewesen. Nun ist aber doch wol
anzunehmen, dass Wolframs kenntnisse des französischen ihn
wol haben verstehen lassen, was sein Munsalvcesche, Moni
sauvage auf deutsch heisst. Die worte hie ee Wildenberc u. s. w.
sind m. e. so zu erklären: 'hier, auf meinem »Munsalvaesche«,
meinem »Wilden berg« geht es bescheidener her'. Er benennt
seinen wohnsitz in selbstii^onie wie die gralsburg, um so den
gegensatz noch mehr hervorzuheben. Ich glaube nicht, dass
zwingende gründe dafür vorhanden sind, Wolfram als auf
einem 'Wildenberg' wohnend anzunehmen.
II. firausch.
In Nürnberg und seiner Umgebung ist ein adjectiv gebräuch-
lich, welches brausch lautet und von denjenigen personen, deren
beschäftigung den öfteren gebrauch des wortes mit sich bringt,
durchaus nicht als mundartlich gefühlt wird. Es kommt meines
Wissens nur beim hopf en und beim holze vor. Hopfen ist brausch,
wenn er zu rasch gedörrt ist, so dass die blättchen der einzelnen
dolden nicht aufeinander liegen, sondern sich sträuben. Brausches
holz ist nach der erklärung eines Zimmermanns in Nürnberg des
wou recht frech gwachsn is, dau sen sU groussi mx drin, des
Spalt, si über zw er ch, während es ein schreiner in Lauf an der
Pegnitz erklärt hat: des wou recht frech gwachsn is. dau sen
recht bräti gauom drin, des bricht nauch der läng. Die 'grossen
Züge' und 'die breiten jähren' sind selbstverständlich das gleiche:
recht grosse Jahrestriebe, die in folge ihres raschen Wachstums
nicht kernig, sondern locker sind und deshalb, wenn sie zu
Beiträge zur gescbichte der deutschen spräche. XXIV. 27
410 OEBHABDT
brettern geschnitten sind, leicht brechen, die aber auch eine
menge von ansätzen zu ästen überwachsen und in sich ein-
geschlossen haben, woher es denn kommt, dass sich das T)rausche'
holz ^überzwerch' spaltet.
Zu diesem worte ist mir bis jetzt noch nicht gelungen,
irgend etwas in einem Wörterbuche zu finden ausser dem
artikel 'brauschholz' im DWb., wo aber die erklärung; *b.
nennen die bötticher weiches holz, das sich leicht verarbeiten
lässt' weder erschöpfend noch unzweideutig verständlich ist.
Das subst. brauschef. tuber (mhd. stf. brüsche), das adj. b rau-
sch ig turgiduSj tumidus führen die wbb. an, das einfachere
b rausch dagegen nicht.
Was das Verbreitungsgebiet des Wortes betrifft, so habe
ich es, soweit es sich auf holz bezieht, bekannt gefunden bei
Personen aus Nürnberg, Lauf, Dinkelsbühl, Marktbreit, während
es mit beziehung auf den hopfen unter hopfenhändlem und
bierbrauern im ganzen hochdeutschen Sprachgebiete gebräuch-
lich sein soll, und zwar überall in der lautform brausch.
Sprachgeschichtlich muss es mit dem fem. brausche, mhd.
stf. brüsche zusammenhängen, denn der vocal weist ausschliess-
lich auf mhd. ü zurück, indem ou vor dental ja schon ahd. zu
ö geworden sein müsste, während mhd. ä zwar im oberpfälzi-
schen zu au (Lauf, Nürnberg), im fränkischen aber zu ä ge-
worden ist (Dinkelsbühl, Marktbreit), und selbst bei oberpfälzi-
schem vocalismus wird wenigstens in Nürnberg von den gebil-
deten in ihrer Umgangssprache mhd. ä als ä gesprochen. Das
wort lautet aber im munde aller gesellschaftskreise brausch,
soweit es überhaupt bekannt ist.
Es ist also nur noch die frage zu beantworten, ob es sich
der bedeutung nach mit brausche * beule' vereinigen lässt. Diese
frage lässt sich m. e. sehr wol bejahen. Es ist stets ein
rasches anschwellen vorhanden sowol bei der beule als beim
brauschen hopfen wie beim brauschen holz. Oder sollte mit
Kluge (Et. wb. unter brausche) die grundbedeutung die
* rundliche erhöhung' sein? Dann wäre das brausche holz im
gründe solches holz, das in rundlichen zügen rasch um die
alten äste gewachsen ist, so dass die ganze faserrichtung in
Wellenlinien verläuft, daher es sich denn auch schief spaltet.
Hiermit würde sich auch am ehesten vertragen, dass man z. b.
MISCELLEN. 411
von gestärkten Stoffen, wenn sie sich nicht schön flach auf-
einanderlegen, sagt 'sie brauschen sich'.
In verwanten sprachen habe ich nichts gefunden, das sich
mit 'brausch' zusammenbringen liesse. Oder etwa aind. bhrü
* braue', so dass damit ursprünglich die wulstige erhöhung des
Stirnknochens gemeint wäre, und das wort erst später die auf
dieser wachsenden haare bezeichnet hätte? Und könnte man
nicht franz. brusque als aus deutschem '^brüsc entlehnt ansehen?
Diez, Et. wb. stellt nur Vermutungen über die herkunft von
brusque auf. Sowohl das rasche, 'freche' — vgl. oben — als
auch das rauhe hat franz. brusque mit deutsch 'brausch' gemein.
Vielleicht veranlassen diese andeutungen zu weiteren nach-
forschungen über die herkunft dieses zwar nicht in allen
schichten der bevölkerung, wol aber in gewissen berufskreisen
auf grösserem gebiete gebräuchlichen Wortes.
III. An. vffiringjar.
Dass in dem worte vceringjar die endung -ingjar nicht die
bezeichnung der herkunft ist, ist seit Bugges ausführungen
Arkiv 2, 225 wol allgemein anerkannt. Bugge erklärt voeringi
für identisch mit Sigs, wcer^en^a 'fremder'. Beide formen, die
nordische und die ags., hat man bisher mit einem veralteten
wort vdr 'foedus' zusammengebracht, so dass vceringjar heisse
'foederati', wie sie ja in alten griech. und lat. quellen auch
genannt werden. Ein gegenbeweis gegen diese auffassung
lässt sich wol kaum erbringen. Aber m. e. lässt sich auch
eine andere erklärung geben. Njäla 81, 14 — 21 heisst es:
Kolsheggr tök skirn i Danmgrlcu, en nam par ]>ö eigi yndi, oJc
för austr i Oardariki oh var par einn vetr, pd for liannpaöan
üt i Mihlagarö ok gekk par d mala, Spurffisk pat til hans, at
kann kvdngadisk par ok var hgfdingi fyri Vceringjaliöi ok var
Par tu dauöadags. Kann die conjunction pd unmittelbar nach
einn vetr anders gefasst werden als 'im darauf folgenden früh-
jahr'? Und kann man sich denken, dass die alten nordleute,
die bekanntlich Konstantinopel auf dem landwege durch Russ-
land aufzusuchen pflegten und zwar meist zu schiffe auf den
flüssen, indem sie ihre fahrzeuge über die Wasserscheide
schleppten, eine andere Jahreszeit zu dieser beschwerlichen
reise wählten als den frühling, wo die steppe vom schnee, die
27*
412 GEBHABDT
flüsse vom eise frei wurden, nachdem sie während der aus den
sQgur männiglich bekannten nordischen winterruhe lust und
kräfte für neue abenteuer gesammelt hatten? Dem entsprechend
fasse ich vceringjar als vdrgengjar 'früh Jahrswanderer' von an.
vdr = lat. ver.
lY. Yöluspä 5, 1—4.
Zu den bisherigen deutungen dieser vier kurzzeilen
S61 varp sunnan
sinni Mäna
hendi inni Ugri
um himinlQÖur
hat vor einigen tagen Wadstein eine neue gefügt. Er erklärt
Arkiv 15 (n. f. 11) s. 158 ff.: *solen kastades fram söderifrän
pä högra sidan över himlaranden i mänens sällskap', worin
ich die (hier von mir) gesperrten neuerungen ohne weiteres
annehme. Dagegen erkläre ich sunnan und sinni Mdna anders.
Sunnan muss m. e. mit hendi inni hägri zusammengefasst
und so erklärt werden, wie ich in meinen Beiträgen zur be-
deutungslehre der altwestnordischen präpositionen, Halle 1896,
s. 60 f. Verbindungen wie fyrir — neöan u. s. w. erklärt habe.
Die sonne sieht man zur eigenen rechten aufgehen, wenn man
sich nach norden wendet, also den Vorgang von Süden aus
betrachtet. Sol varp sunnan — hendi inni liägri heisst also
'die sonne warf sich, d.h. sie erschien, rechterhand, von Süden
gesehen'. Ebenso wie die sonne alltäglich im osten über den
himmelsrand, den horizont, heraufkommt, ebenso dachte man
sich ihr erstes erscheinen nach ihrer erschaffung.
Sinni Mdna kann m. e. mit 4 mänens sällskap' nicht
richtig übersetzt sein. Ebensowenig wie man täglich sonne
und mond mit einander, das eine in des anderen gesellschaft,
ihren scheinbaren lauf um die erde vollbringen sieht, ebenso-
wenig wird sich der dichter der eddischen kosmogonie das
erste auftreten der sonne und des mondes gemeinsam gedacht
haben. Sinni > *^a-sinpa ist 'wer den gleichen weg macht
wie jemand anders', ob selbander oder zu verschiedener zeit
kommt etymologisch nicht in betracht: sonne und mond be-
schreiben täglich eine scheinbare bahn um die erde, welche,
wenn auch nicht für den astronomen, so doch für den gewöhn-
MISCELLEN. 413
liehen menschen eine und dieselbe ist. Wenn Gylf. cap. 11. 12.
SE. 1, 56, 58 gesagt wird, dass S61 auf ihrer täglichen fahrt
um die erde in der weise zwischen zwei Wolfen dahinfährt,
dass der sie verfolgende wolf SkpU sie, der vor ihr her-
laufende wolf Hati HroÖvitnisson dagegen den Mäni ver-
schlingen will, so ist dies doch nur so zu denken möglich,
dass beide zwar die gleiche bahn beschreiben, aber nicht
mit, sondern hinter einander.
Daher erkläre ich die vier kurzzeilen so: zu unserer
rechten hand, wenn wirs von sttden aus betrachten,
kam um den himmelsrand herauf (erschien über dem h.)
die sonne, welche die nämliche bahn beschreibt wie
der mond.
NÜRNBERG, 9. dec. 1898. AUGUST GERHARDT.
EIN SCHLUSSWORT
ZU CEDERSCHIÖLDS AUSGABE DER
BEVIS SAGA.
Zu Cederschiölds aufsatz ^lieber die ausgäbe der Bevis
saga' Beitr. 23, 257 ff. gestatte ich mir folgende erwiderung,
indem ich dabei gleich bemerke, dass ich mich bemühen werde,
einen weniger hochfahrenden ton anzuschlagen als C; ausdrücke
wie lächerlich' und * Unwissenheit' werden in meinen dar-
legungen z.b. nicht vorkommen.
Recapitulieren wir zunächst kurz die Sachlage. C. legt
seiner ausgäbe der Bevis saga den cod. Holm, membr. 6, 4<> (B)
zu gründe, soweit er vollständig, und ergänzt die lücken durch
cod. Holm. 7 fol. (C) bez. durch zwei demselben nahe stehende
papierhss. (/d). Bezüglich der Verwertung dieser letzteren hss.
für die teile der saga, welche in beiden fassungen vorliegen,
erklärt er s. lxiv seiner FSS., er habe aus ihnen *alle von
unserem texte abweichenden lesarten aufgenommen, so dass
nur die so gut wie wertlosen abweichungen nicht angemerkt
worden' seien. Diese äussening liegt gedruckt vor; der Zu-
sammenhang, in dem sie vorgebracht wird, ändert an ihrem
sinne nicht das mindeste (vgl. C. s. 262). Wenn er (abgesehen
von einer späteren stelle der einleitung s. ccxl) jetzt (s. 262)
diese in denkbar klarster form abgegebene zusage in merk-
würdig verclausulierter weise dahin abgeschwächt, er habe
'eine hauptsächlich vom nordisch-philologischen Standpunkte
aus einigermassen vollständige Sammlung der abweichenden
lesarten ... zu geben versucht', so muss ihm die, wie mir
scheint nicht ganz leicht zu tragende Verantwortung dafür
zugeschoben werden.
ZUR BEVIS SAGA. 415
Er hat ferner weder die franz. hss., deren eine ihm aus
meinen Beiträgen (1876) s. 136 bekannt sein musste,*) benutzt,
noch auch die englische, 1838 erschienene, oder die gälische
fassung, mit englischer Übersetzung gedruckt 1880, zur ver-
gleichung herangezogen. Und hätte er wenigstens noch seine
zusage erfüllt, alle inhaltlichen ('sachlich' verstehe ich in
meinem aufsatze ebenso wie Elis s. s. xxxvii im gegensatz zu
'graphisch', wodurch C.'s darauf bezügliche auslassungen
s. 265 ff. gegenstandslos werden) Varianten von Cyö zu notieren,
so träfe ihn zwar immer noch der Vorwurf, eine minderwertige
hs. zu gründe gelegt zu haben, aber er hätte doch dankens-
wertes, vollständiges material geliefert; dass das nicht ge-
schehen, lehrt ein blick auf meine nachtrage. Ja nicht einmal
die recht bescheidene aussieht, eine 'hauptsächlich vom nordisch-
philologischen Standpunkte aus einigermassen vollständige
Sammlung der abweichenden lesarten' zu erhalten, hat C. ver-
wirklicht; an einer ganzen anzahl von stellen, wo die lesung
von B sich auch ohne die hinzunahme fremder redactionen
als mangelhaft erwies, hat der herausgeber die wichtigen
Varianten der anderen hss. anzuführen unterlassen; vgl. meine
note zu s. 216 z. 25, aus der er sehen kann, dass die frage,
ob Bevis von elf oder zwölf rittern angegriffen wird, doch
nicht so bedeutungslos ist wie er glaubt (s. 280); femer meine
anmerkungen zu s. 216, 38 (vgl. auch Beitr. s. 42 no. 40). 232, 6
(Beitr. s. 46 no. 118). 248, 34 f. 251, 15 f. 57. 251, 16. 253, 33 f.
46 f. 256, 50 f. 265, 40 f.
Alle diese punkte stehen fest, und weder die früheren
noch etwaige zukünftige argumentationen C.'s werden im stände
sein, sie zu beseitigen.
C. behauptet, ich hätte ihm unrecht getan durch die ver-
schweigung des umstandes, dass er von jeder saga nur eine
redaction mitzuteilen beabsichtigt habe. Nun, ich habe keines-
wegs 'ausser betracht gelassen, dass auch von romantischen
SQgur verschiedene redactionen existieren können' (s. 261); ich
verstehe darunter aber nur solche fälle, wo, um mich etwas
*) Wenn Finnin Didot mir, dem Deutschen, 1876, also wenige jähre
nach dem kriege, ausdrücklich die erlaubnis verweigerte, eine copie von der
hs. zu nehmen, so ist das wol erklärlich; ein Schwede hätte gewis einen
besseren erfolg erzielt.
416 KÖLBING
äusserlich auszudrücken, die differenzen so stark sind, dass es
unmöglich wird, dieselben in variantenform darzustellen, wie
das z. b. bei hs. D der Elis saga im Verhältnis zum Upsalaer
codex und bei cod. Holm. 6, 4® der pjalar Jons saga, verglichen
mit pöröarsons text, der fall ist. Die verschiedenen mss. der
Bevis saga repräsentieren dagegen nur zwei hss.-klassen; das
besagt schon die von C. s. 265 ausgehobene bemerkung in
meinem ersten aufsatze. Und dazu kommt die früher be-
sprochene erklärung des herausgebers selbst, dass er in diesem
falle anders verfahren wolle. Ich fühle mich also von dem
Vorwurf durchaus frei, in tendenziöser absieht mich einer ver-
schweigung schuldig gemacht zu haben. Im übrigen aber
haben wir es gerade hier mit einem grundirrtum C.'s zu tun.
Es ist nicht richtig, dass jeder herausgeber, wie er vorauszu-
setzen scheint, das recht hat, sich selbst eine eigene kritische
methode zu construieren und dann zu verlangen, dass seine
leistung bloss von diesem Standpunkte aus, als einem ge-
gebenen, beurteilt werde. Ein text der nur auf einen eng
beschränkten kreis von Interessenten zu rechnen hat, muss
gleich das erste mal in einer form geboten werden, die für
alle weitere arbeit eine feste grundlage liefert — eine forde-
rung deren berechtigung gewis alle einsichtigen anerkennen
werden. Ist das nicht der fall, so halst der herausgeber dem
benutzer weitere arbeit auf und erschwert zugleich buch-
händlerisch die Veröffentlichung einer vollständigeren ausgäbe.
C. erkennt dies princip nicht an: ^das ganze material zu bieten,
das möglicherweise zur vergleichung mit den franz. texten
nötig werden könnte, hatte ich weder beabsichtigt noch ver-
sprochen', bemerkt er (s. 263*)) und gibt damit das selbst zu,
was ich hauptsächlich hatte nachweisen wollen.
Eine ganz andere frage ist die nach der aufnähme
'formeller' Varianten, wie sie C. nennt; hier können die
meinungen in der tat auseinander gehen, wie ich das vor
erscheinen von C.'s artikel selbst (Publ. of the Mod. Lang.
Assoc. of America, vol. 13, Baltimore 1898, s. 554) offen aus-
gesprochen habe. Indessen hat kein recensent meiner Elis
saga, auch C. nicht, mir einen Vorwurf daraus gemacht, dass
ich in dieser ausgäbe selbst in der anführung dieser gruppe
von Varianten Vollständigkeit angestrebt habe.
ZÜB BEVIS SAGA. 417
C. meint feiner, das factum, dass prof. Stimming mii' seine
copien der zwei hss. des ältesten franz. textes geliehen habe,
hätte stärker betont werden sollen als ich es getan; er glaubt
nicht fehlzugreifen, wenn er gerade in dem entleihen dieser
copien den eigentlichen entstehungsgrund von meiner strengen
kritik seiner ausgäbe erblicke. *Und ich kann nicht umhin,
seine art, sich über meine ausgäbe zu äussern, mit der über-
mütigen kritik zu vergleichen, die ein schüler mit hilfe des in
seine hände gelangten schlüsseis des lehrers an der von einem
mitschüler ohne dieses unschätzbare hilfsmittel angefertigten
Übersetzung übt' (s. 259). C. irrt sich. Mir standen die Pariser
hss. in derselben weise zur Verfügung wie Stimming; hätte
dieser die abschrift nicht schon genommen und die liebens-
würdigkeit gehabt sie mir zu leihen, so würde ich, ehe ich
an die herausgäbe des Sir Beves und an die nähere betrach-
tung der saga gieng, die nochmalige 9 reise nach Paris für
diesen zweck ebensowenig gescheut haben, wie ich versäumt
habe, vor abfassung meiner abhandlung über die Elis saga
den damals noch nicht gedruckten Elie de St. Gille derselben
bibliothek zu studieren, oder zum zweck der herstellung eines
kritischen textes der me. Ipomandonromanze von den beiden
afranz. hss. der — beiläufig ca. 10,000 verse langen — quelle
im Brit. museum copien zu nehmen. Beides erachtete ich für
ganz selbstverständlich, und so erschien es mir auch als ziem-
lich irrelevant für die sache, wo ich mein unentbehrliches
kritisches material im vorliegenden falle herbekommen hatte;
nur die schuldige danksagung gab zur andeutung dieser Ver-
hältnisse veranlassung. Dass übrigens der für mich nicht
sonderlich schmeichelhafte vergleich mit dem * schlüsser herz-
lich schlecht passt, bedarf keiner ausführung.
Ich habe C. immer für einen sehr sorgsamen und gewissen-
haften handschriftenleser gehalten, 2) und darin macht mich
*) Vgl. oben s. 415 anm 1.
') Dieser selben meinong hatte ich Beitr. 19,64') folgenden ansdruck
geliehen: ^C.'s textabdrücke werden im aUgemeinen mit recht wegen ihrer
ausserordentlichen akribie gerühmt'. Ich weiss nicht, wie C. dazu kommt,
darin etwas wie spott zu wittern (s. 276): ich habe nichts dergleichen be-
absichtigt und muss mich gegen eine solche wiUkürliche Unterstellung
verwahren.
418 KÖLBINO
auch der umstand nicht irre, dass sein abdruck einer kurzen
handschriftlichen notiz aus dem 17. jh. vier lesefehler enthält
(vgl. Publ. a. a. o. s. 544) und er in den Varianten zur Clarus
saga zweimal ohne erklärung den casus abgeändert hat (vgl.
das. s. 5572)). Sein urteil über mich ist freilich weniger
freundlich: er spricht meinem ergänzenden Variantenapparate
Zuverlässigkeit und genauigkeit ab (s. 276). Die sache liegt
so. Als ich für die An. sagabibliothek die herausgäbe der
Flöres saga übernommen und zugleich beschlossen hatte, der
Bevis saga ein eingehenderes Studium zuzuwenden, nahm ich
im herbst 1892 zunächst einen kurzen aufenthalt in Kopen-
hagen, um über das handschriftliche material einen vorläufigen
überblick zu gewinnen. Bei dieser gelegenheit coUationierte
ich u. a. unter ungünstigen beleuchtungsverhältnissen die frag-
mente A und D der Bevis saga, und hielt dann bei ausarbei-
tung des apparates meine coUation derselben für genügend,
zumal C. gerade von A besonders reichliche Varianten mit-
geteilt hatte; doch stiegen mir schon bald nach dem druck
des auf Satzes bedenken auf, ob ich darin recht getan hätte.
Die hss. Cyrf, also das hauptsächlichste material für
meine arbeit, dagegen habe ich lange zeit hier benutzen
dürfen und dabei namentlich gelegenheit gehabt, der oft recht
schwer lesbaren hs. C das eingehendste Studium zu widmen;
ich war in der läge, die correctur in aller müsse mit den
mss. zur seite zu lesen, und ich bin mir bewusst, den apparat
mit der denkbar grössten gewissenhaftigkeit zusammengestellt
zu haben. Höchstens könnte — um ja nichts zu verschweigen
— das misgeschick, dass zu einer zeit, wo die eine der papier-
hss. bereits wider weggeschickt war, auf dem wege von Leipzig
nach Halle ein revisionsbogen durch die post in Verlust geraten
ist, vielleicht ein paar kleine ungenauigkeiten verschuldet
haben. Die hss. sind allgemein zugänglich: jeder Interessent,
vor allem C. selbst, kann sich mit leichtigkeit überzeugen, ob
ich zu viel behaupte. Ja vielleicht ist eine erneute einsieht
in die hss. zur beurteilung der Sachlage nicht einmal nötig;
fast sämmtliche correcturen meines apparates durch C. (s. 277 f.)
beziehen sich auf die fragmente D und A; nur zwei gesicherte
berühren yd, und zwar handelt es sich das erste mal s. 209,4
um ein druckversehen, indem vor 'unnit ok /d' add. ausgefallen
ZUR BEVIS SAGA. 419
ist: es war von vornherein unwahrscheinlich, dass beide hss.
kann haßi undir unnit oh lag \ lesen sollten; unmittelbar darauf
liegt eine Unterlassungssünde vor, indem das fehlen von riddari
in yö nicht angemerkt worden ist. C. hat etwa ein zehntel
meiner liste verglichen: wenn, wie ich zu hoffen wage, das
Verhältnis für die übrigen neun zehntel der saga dasselbe ist,
dass also in den ca. 3000 einzelangaben sich, was die haupthss.
anlangt, nur etwa zehn druckversehen und zehn auslassungen
sollten entdecken lassen, so darf ich wol behaupten, dass sich
schwerlich jemand finden wird, der eine solche minutiöse arbeit
genauer macht. C. müsste diese Sachlage ja wol eigentlich
auch bemerkt haben; sein überaus schroffes urteil über meine
coUation, das er dann scrupellos auf alle meine bisherigen
publicationen ausdehnt (s. 276), scheint eine solche Voraus-
setzung jedoch völlig auszuschliessen.
Dass ich A und D nicht zur nochmaligen einsieht für die
correctur hierher erbeten habe, wodurch auch diese versehen
vermieden worden wären, bedaure ich jetzt selbst sehr.
Die zwölf Zeilen lexicalischer bemerkungen, über welche
C. sich behaglich auf fast drei selten verbreitet, gebe ich ihm
gern preis, und bemerke nur, dass den ausdruck axag Xsyofievov
ausser ihm schwerlich jemand absolut auffassen wird; er meint
natürlich: nach ausweis unserer bisherigen, natürlich nicht
vollständigen Wörterbücher.
So viel für diesmal. Auf andere punkte werde ich gelegen-
heit haben, in meiner kritischen ausgäbe der Bevis saga zurück-
zukommen, die ich erst dann zu veröffentlichen gedenke, wenn
Stimmings lang ersehnter text des ältesten Beuve erschienen
und damit für diesen sagenstoff ein neues, unmittelbares Inter-
esse wachgerufen sein wird.
Nur noch eine bemerkung zum schluss. C. möchte gern
(s. 260) einen Widerspruch construieren zwischen meiner recen-
sion der FSS. in der Literaturzeitung 1885 und dem in meinem
aufsatz von 1894 niedergelegten urteil. Auch darin ist er im
unrecht' Wenn meine ansieht über seine Bevis saga jetzt,
wo ich die hss. selbst eingesehen habe, ungünstiger geworden
ist, so kann ihn das nach meinen ausführungen kaum wundern.
Im übrigen aber halte ich sein buch auch jetzt noch für wert-
voll, wenn auch nicht als abschliessende leistung, so doch als
420 KÖLBING, ZUB BEVIS SAOA.
sehr wichtige materialiensammlung; ihr habe ich in meinen
anmerkiingen zur Flöres saga und zur Ivens saga viele inter-
essante parallelstellen entnommen und femer in meinen notizen
zur Konrads saga (Publ. a. a. o. s. 547 ff.) das von C. gebotene
mit gutem willen nach 6iner seite hin zu ergänzen versucht
— wol die wirksamste art, wie man seine achtung vor der
literarischen leistung eines anderen bekunden kann.
BRESLAU, nov. 1898. E. KÖLBING.
ERWIDERUNG.
Durch die gute der redaction bin ich im stände, gleich-
zeitig mit dem erscheinen des obigen 'Schluss Wortes' von prof.
Kölbing meinerseits auf den erneuten angriff zu erwidern. Ich
werde mich jedoch, um die gute der redaction und die geduld
des lesers nicht zu misbrauchen, sehr kurz fassen.
Betreffend den von K. gerügten ton meines aufsatzes
(^Ueber die ausgäbe der Bevers saga') mögen wol andere
unbefangener urteilen, ob dieser ton schärfer war, als die art
des von K. (in seinen 'Studien zur Bevis saga') gegen mich
gerichteten angriffs es berechtigte.
Das ^Schlusswort' K.'s besteht hauptsächlich in der wider-
holung einiger der beschuldigungen, die er bereits in seinen
Studien gegen mich gerichtet hatte. Da ich auf diese beschul-
digungen schon hinlänglich in meinem früheren aufeatz (* Ueber
die ausgäbe' etc.) geantwortet zu haben glaube, genügt es mir
jetzt auf diesen aufsatz hinzuweisen. Uebrigens wird der
kundige leser wahrscheinlich ohne fingerzeige finden, dass K
im Schlussworte nichts neues zur hauptfrage — über die be-
grenzung des Variantenapparats — beigesteuert hat, und dass
er keinen ernstlichen versuch gemacht hat, zwischen entbehr-
lichen und unentbehrlichen Varianten eine sicherere grenze
zu ziehen.
Wesentlich neu ist aber die behauptung: *an einer ganzen
CEDEBSCmÖLD, EBWIDERUNG. 421
anzahlO von stellen, wo die lesung von B sich auch ohne die
hinzunahme fremder redactionen als mangelhaft*) erwies,
hat der herausgeber die wichtigen Varianten der anderen hss.
anzuführen unterlassen'. Den beweis sollen, nach K, zehn
stellen liefern — was wol für eine ^ganze anzahl' nicht allzu
erheblich, wenn es 56 textseiten in quarto gilt. Und diese zehn
beweisstellen, stehen sie wirklich fest? Wir werden sehen.
S. 216, 25 und 216,38 erzählt die saga, hs. B, dass der
held von elf feinden angegriffen wurde, und dass er sieben
von diesen erschlug; die hss. C und D reden von zwölf und
acht. Aber wie sollte man ohne hinzunahme fremder redac-
tionen ersehen, dass die zahlangaben in B mangelhaft sind?
Auch s. 253, 33 f. würde ich wol die schroffe und hochfahrende
behandlung K.'s (Studien s. 112) schwerlich verdient haben;
denn s. 253, 33 f. stimmt inhaltlich mit s. 253, 24— 25 (Bdy)
über ein. Es ist wahr, dass nach der saga, s. 255, 17 f., Terri
später aufgefordert wird, aus Civile zu ziehen. Aber wie sollte
man wider ohne fremde redactionen wissen können, dass die
notiz s. 253, 24 — 25 ein nordischer zusatz ist? War es nicht
einfacher, anzunehmen, der sagaschreiber habe die rückreise
Terris vom hofe Erminriks nach Civile als selbstverständlich
betrachtet (vgl. s. 254, 17 — 18) und folglich die notiz von dieser
rückreise ausgelassen? — In der reihe kommen ferner drei
stellen wider, s. 248, 34 f. s. 256, 50 f. s. 265, 40, bei denen K.
schon Studien s. 64 'merkwürdige satzfügungen' gefunden hatte,
imd über die ich mich Beitr. 23, 285 f.^) schon geäussert habe.
K. scheint also das für die kritik altnord. texte grundfalsche
princip 'je logischer, je ursprünglicher' festhalten zu wollen. Es
muss wol dasselbe princip sein, das K. bewogen hat, unter die
zehn beweissteilen auch s. 232, 6 f. und s. 252, 16 mitzurechnen;
denn B bietet an diesen beiden stellen nichts, das von alt-
nordischem stilistisch-sprachlichen Standpunkte aus mangelhaft
genannt werden kann; bemerkenswert ist es, dass s. 232, 6 f.
die von B gegebene fassung der rede der heldin die scham-
haftere ist. Auch s. 253, 46 f. ist, scheint es mir, die lesung
von B gar nicht verdächtig, und zwar um so weniger, als die
») Von mir gesperrt.
*) Vgl. daselbst auch über j&e/r [IUI, er epttr liföu].
422 CEDEBSCHIÖLD
lesarten der hss. yd (wie es aus der ganzen darstellung hervor-
geht) schwerlich eine inhaltlich verschiedene bedeutung geben
können. Bei s. 251, 57 (und wol zum teil auch s. 256, 50) zielt
K. auf die Verwendung von hverr als relativum; wie kann
aber K. behaupten, B sei wegen dieses Sprachgebrauchs ^mangel-
haft'? Für einen verhältnismässig jungen und (wahrscheinlich
ins norwegische) übersetzten text ist doch das relativum
hverr nicht befremdend; vgl. Fritzner 2. — Von jenen zehn
stellen bleibt jetzt nur eine übrig, s. 251, 15 f. Hier ist wirk-
lich B ^mangelhaft', wie ich auch in einer note zum texte an-
gedeutet hatte; es scheint mir aber fraglich, ob die ziemlich
abweichende fassung von C hier ursprünglicher ist; das ein-
fachste wäre wol anzunehmen, dass Nu in B ein Schreibfehler
für En sei.
Neu ist endlich K.'s behauptung — die mit der kritik von
Bev. s. nicht viel zu schaffen hat — , ich habe in einer FSS.
s. Lvin f. abgedruckten notiz vier lesef ehler gemacht, und dass
ich in den Varianten zur Clarus saga zweimal ohne bemerkung
geändert habe; so fasst K. einige annotationen zusammen, die
von ihm in den Publications of the Modern Language Associa-
tion of America vol. 13, 544 (mitte) und 557 (letzte zeile und
note 2) mitgeteilt sind, womit ferner das entsprechende s. 558
(mitte) zu vergleichen ist. Da die hs. mir jetzt nicht zugäng-
lich ist, so muss ich es dahingestellt sein lassen, inwiefern
diese angäbe richtig ist. Dass sie tendenziös gefärbt ist,
kann ein jeder finden, der meinen abdruck in den FSS. s. lviii f.
nachschlägt und sieht, wie K. Publ. s. 544 denselben wider-
gegeben hat, oder der Publ. s. 557. 58 (vgl. Clarus saga s. 14,
note 19) prüft, wie es sich mit der 'änderung' verhält.*)
Betreffend seine eigenen von mir bemerkten lesefehler
und sonstigen ungenauigkeiten in den 'Studien' tröstet sich K.
mit einem optimistischen rechenexempel. Er verlangt jedoch
etwas zu viel von mir, wenn er meint, ich habe merken müssen,
*) Dass ich das ende des (mit roter tinte geschriebenen) Wortes nicht
deutlich lesen könnte, hatte ich durch die Schreibung jimgfrudo(ms) an-
gedeutet; wenn auch K., von besserer beleuchtung u. dgl. begünstigt,
sicherere lesung ermittelt hat, so hat er doch wol nicht das recht zu be-
haupten, ich habe das handschriftliche -ciow in -doms ohne bemerkung
geändert.
ERWIDBEUKG. 423
dass er die membranfragmente A und D nur unter ungünstigen
umständen habe benutzen können. Dass ich zufällig gerade
das schwächste zehntel seiner arbeit nachverglich, konnte ich
nicht wissen. Und aus den früheren publicationen K.'s hatte
ich nicht den eindruck gewonnen, K. nähme es so überaus
genau mit der behandlung altisländischer texte; vgl. Germ. 20,
306 ff. (über K.'s Riddarasögur), Lit.-bl. 1880, 93 ff. (über seine
Tristramssaga). Zu einigen anderen von seinen publicationen
hatte ich vor jähren kritische Sammlungen angelegt, die ich,
wenn zeit, gesundheit und gelegenheit es gestatten, vielleicht
einmal completieren und veröffentlichen werde.')
[^) Für die Beiträge muss dieser streit hiermit für abgeschlossen erklärt
werden. E. S.J
GÖTEBORG, februar 1899. G. CEDERSCHIÖLD.
EINE BERICHTIGUNG.
Immer hoffte ich noch ein paar falsche angaben, die mir
in meinem aufsatz über ^Eine populäre sjmonymik des 16. Jahr-
hunderts' (Philolog. Studien, festgabe für Sievers s. 401 ff.) aus
der f eder geflossen sind, bei gelegenheit einer andern, das gleiche
thema streifenden arbeit richtig stellen zu können. Nachdem
aber sich mir dieser Zeitpunkt weiter, als ich wünschte, hinaus-
geschoben hat, ist es mir wol gestattet, an diesem platze von
zwei freundlichen berichtigungen gebrauch zu machen, die ich
gleich nach erscheinen des aufsatzes Schnorr von Carolsfeld
und Edward Schröder verdankte.
Unrichtig hatte ich (1. c. s. 433 anm. 3) aus Schnorrsvon
Carolsfeld beschreibung des autographon Melbers heraus-
gelesen, dass Schnorr v. C. zwei schi-eiber für die hs. annehme.
Auch der Dresdner handschriftenkatalog spricht nur von
einer hand.
Weiter hat Edward Schröder die ihm in seiner ab-
handlung über Jacob Schöpper in der Identification Melbers
von Geroltzhofen (darüber meine abhandlung s. 433 anm. 3)
begegneten Irrtümer schon selbst nach dem erscheinen von
Töpke's register zur Heidelberger matrikel im Anz. fda. 17, 344
berichtigt.
HALLE a. S. im Januar 1899. JOHN MEIER.
BEITRÄGE ZUR VORGERMANISCHEN
LAUTGESCHICHTE.
L
Zur erlänternng des germanischen ai.
Man hat längst beobachtet, dass nicht wenige germ. Wörter
in der ersten silbe, namentlich in der nähe der liquidae oder
der nasale, einen vocal haben, der urgerm. ai (oi), ei oder l
voraussetzt, während germ. Wörter, die mit jenen anscheinend
nahe verwant sind, oder Wörter anderer indog. sprachen, die
jenen, wie es scheint, wenigstens zum teil entsprechen, einen
kurzen oder langen a-, o- oder 6 -vocal zeigen, z. b. ahd. feili
neben dem gleichbedeutenden fäli, an. fair. Diese erscheinung
ist namentlich von Joh. Schmidt in seiner schrift ^Zur ge-
schichte des indog. vocalismus' eingehend und anregend behan-
delt und durch ein reichhaltiges material erläutert worden.
Manches haben Herm. Möller in Kuhns zs. 24, 427. ff. Scherer,
Amelung u. a. besprochen. Noreen (Abriss d. urgerm. lautl.
s. 211 — 215) hat die erscheinung durch viele beispiele be-
leuchtet.
Man hat dies germ. ai mehrfach aus der epenthese eines
y (i) erklären wollen. Allein die hierauf bezüglichen Unter-
suchungen haben zu keinem überzeugenden oder allgemein
anerkannten ergebnisse geführt. Kluge in seiner trefflichen
* Vorgeschichte der altgerm. dialekte' hat an der epenthese
festgehalten (Pauls Grundr. 1*, 355); allein in der zweiten be-
arbeitung (12,411) schiebt er ein zweifelndes ^woP ein. Er
muss einräumen: ^die stricte regel für die germ. epenthese ist
noch nicht gefunden'. Brugmann (Grundr. 1^, 834) sagt: *für
i- epenthese im germanischen ... gibt es kein irgend zuver-
lässiges beispier. Ahd. reihhen, das längst mit recchen, got.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 28
426 BÜGGE
uf-rakjan zusammengestellt worden ist und worin Amelung
und Möller, obgleich nicht in derselben weise, epenthese an-
nahmen, vermittelt Brugmann durch ein ursprüngliches *m^-
{V, 504) mit rdkjan\ allein sonst geht er auf die frage
nicht ein.
Solmsen (Kuhns zs. 29, 108 anm. 1) leugnet ebenfalls im
urgerm. * epenthese, von der weder das urslav. noch das ur-
germ. etwas weiss'.
Auch Fick in seinem Vergleichenden wb. hat das problem
nicht gelöst. Streitberg in seiner Urgerm. gramm. bespricht
die frage fast nicht. Ich werde im folgenden eine neue er-
klärung einiger hierher gehörigen erscheinungen versuchen.
Das vorgermanische hat nach meiner Vermutung ein
reduciertes, vielleicht gemurmeltes i (einen schwa-laut mit
i-timbre) gehabt. Obgleich ich diesen laut im folgenden
reduciertes i nenne, behaupte ich damit nicht, dass derselbe
überall aus einem vollen i duixh reduction entstanden sei.
Vielmehr scheint mir das reducierte i regelmässig aus 9 ent-
standen. Ich bezeichne den laut graphisch durch ein kleines
i unter der zeile. Als die bezeichnung einer älteren form
desselben lautes wende ich daneben oft 9 an. Ich vermute,
dass das vorgerm. daneben andere schwa-vocale hatte.
Nicht selten setzt germ. ai nach meiner Vermutung eine
zweisilbige form des vorgerm. mit zwei vocalen voraus, die
durch einen consonanten getrennt waren. Der erste war
ein kurzes indog. o oder a; der zweite war das aus 9 ent-
standene reducierte i, dem in mehreren Wörtern aind. i, gr. «
entspricht.
Ich werde zuerst die einzelnen Wörter, in welchen ai nach
meiner Vermutung aus vorgerm. ö oder ä und dem reducierten
i entstanden ist, anführen und die Urformen derselben annähe-
rungsweise zu bestimmen suchen. Sodann werde ich die be-
dingungen und die Voraussetzungen des lautüberganges im
allgemeinen besprechen.
Die Sammlung der belege ist nicht vollständig. Mehrere
Wörter, in denen ich den genannten lautübergang vermute,
bespreche ich hier nicht, weil ich bei ihnen in anderen be-
ziehungen zweifei hege, die ich nicht entfernen kann.
BEITRÄGE ZÜE VORGERMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 427
1. Got. %raiw in hraiwa-duho Hurteltaube'; an. hrce n.
(dat. hrcevi) deiche, aas (eines tieres oder eines menschen)'.
Es bezeichnet die leiche namentlich als das fleisch eines toten
körpers, das die raubtiere und raubvögel lockt. Es wird oft
im pl. angewendet, wo von einem menschen die rede ist, und
kann im pl. das lat. carnes widergeben. Ags. hrdj hrdw, hrce,
hrcew, hreaw n. m. deiche, aas'; selten und uneigentlich von
einem lebenden körper angewendet. As. ahd. hreo n., mhd. re
n. m. deiche' (auch in abgeleiteten bedeutungen: grab, toten-
bahre u.s.w.).
Mit ir. cri 4eib, köi^per' (des menschgewordenen Christus)
hat germ. hraiw- gewis nichts zu tun. Die bedeutung des ir.
cri weicht von der ursprünglichen bedeutung des germ. hraiw-
ab. Der vocal des ir. cri ist mit dem des germ. hraiw- jeden-
falls nicht identisch. Ir. cri lässt sich dagegen wol mit lat.
corpus verbinden (Stokes, Kuhns zs. 36, 275).
Auch ksl. örevo intestinum', aus "^öervo, ist vom germ.
hraiw-, wie bereits J. Schmidt bewiesen hat, verschieden.
Man hat germ. hraiw- oft mit dem aind. kravya-m * rohes
fleisch, aas' zusammengestellt; so z.b. J. Schmidt, Vocal. 2, 475.
Dies passt der bedeutung nach trefflich. Allein ein mit aind.
Tcravya-m identisches wort "^krow-yo-m müsste got. "^hrawi, gen.
"^hraujis, an. *hrey, ags. *hre^, *hri^, ahd. %rewi, *hrouwi ge-
lautet haben; vgl. z. b. got. hawi, an. hey, ags. he^, hi^, ahd.
hewi, houwi, Indog. "^hrewyo-m hätte got. "^hriwi lauten müssen.
In der vedensprache heisst hravis- n. 'rohes fleisch, aas';
diesem entspricht gr. xgeag, jedoch mit verschiedener betonung.
Neben aind. hravis- erscheint ein stamm hravi- in dkravihasta-s
'nicht mit blutigen bänden versehen'. Dem aind. kravi- ent-
spricht gr. xQia (J. Schmidt, Plur. der neutra 337 f.).
Nach meiner Vermutung wurden vorgerm. or, (und ari), oli
(ali), ofHi (anii), oui (ani), owt (awi) im germ. zu air (vor conso-
nanten öfter rai), ail (lai), aim (mai), ain (nat), aiw (wai).
Hiernach erkläre ich germ. hraiw- aus vorgerm. "^krowr, *krow9-,
vgl. aind. kravi-, gr. xQsa,
Stokes führt cymr. er au 'blut' auf einen st. krowo- zurück.
kravi- steht zu aind. krürd- 'roh' im ablautsverhältnisse. kravi-
gehört zu den von de Saussure erläuterten zweisilbigen aind.
wurzelformen, in denen das -i der zweiten silbe, wie man an-
28*
428 BÜGGE
nimmt, einem indog. d entspricht; z. b. tdri-tum, vdmi-tum u.s.w.
Manche solche zweisilbige wurzelformen haben im gr. und lat. ö
in der ersten silbe: eorogsoa (neben lat. sterno), xofiico, XQO-
f/aöog neben XQ^(^^'^^5^> öoXixog; lat. domitum, molitum.
Daher ist eine vorgerm. zweisilbige Stammform "^krowr,
*krow9- unbedenklich.
Vcrowr gieng, wie ich voraussetze, in ^kroiw-, germ. hraiw-
ohne folgenden vocal über. Dies hraiw- gieng im germ. in die
flexion teils der -0- (ä-) stamme, teils der -i-stämme über: got.
hraiwa-duho, allein u. a. an. hrce aus *hraiwi.
Im ahd. findet sich der nom. acc. pl. rewir: hierin erscheint
ein -5-stamm wie in aind. Jcravis-, gr. xgeag. Vorgerm. "^kroWiS-
müsste im germ. zu ^hraiivs-, *hraiw^- werden. Ahd. rewir,
aus urgerm. "^hraiwizö, hat daher das i in der zweiten silbe
durch den einfluss der -e5/o5-stämme erhalten. Vgl. gr. degog
neben 6iQaq\ aind. tamas neben tamisra-^ aind. tydjas neben
gr. Obßag u. s. w.
Der bedeutung wegen beachte man anorw. hrcedyri, hrce-
kvikindi animal carnivorum, fuglar slita hrce oh eta, vgl. aind.
kravyäd' * fleisch-, cadaver verzehrend'.
Verwant mit germ. hraiw- ist also ahd. ro (räwer) 'roh
(crudus)', as. hrä, nl. raauw, ags. hreaw, an. hrdr; st. hräwa-
und hräwa- (an. acc. hrdn aus *hräwand).
Im anorw. findet sich hrer, hrer n. deiche'. Dies wird
GuÖr. 1, 5 und 1, 11 hr§r, 1, 12 hrgr geschrieben; in einer hs.
der Ynglinga saga hrer, in anderen hreyr, s. die ausgäbe von
F. Jonsson cap. 16. 17. 23.')
hrer erkläre ich nicht aus *hrewu^, sondern aus *hroj3a,
%rujsa. Das wort ist nach dieser erklärung von einem dem
ags. hreosan ^fallen' entsprechenden verbum abgeleitet. Vgl.
z. b. frer, fr er von frjösa und in betreff der bedeutung * cada-
ver', jcTCQfia 'leichnam', nord. fall 'körper eines geschlachteten
tieres'. Für diese auffassung spricht ags. ^eÄrör 'ruin (exter-
minium)'; ferner anorw. hrerna und hreöask (aus *hrerask)
'hinfällig werden', hrerlegr 'hinfällig'.
*) In hreyr ist also ey bezeichnung des kurzen 0. Daher darf hreyr
nicht mit Noreen aus *hraiwiz erklärt werden.
BEITRÄaE ZUR VORaERMANISCHEN LAüTaESCHICHTE. 429
2. Ags. dr t ^ rüder'; an. ^r, dr f. (nom. pl. drar), davon
sexcerr ^sechsruderig', teincerr 'zehnruderig'; urnord. *ai>w, ur-
germ. *aiVö. Aus dem germ. entlehnt finn. airo, läpp, ajrro,
airo, airu, est. aer (Thomsen). Aus den läpp, nebenformen
arjo, arje ist nicht mit J.Schmidt eine ältere germ. form zu
folgern. Läpp, arjo ist vielmehr aus ajrro (ai'ro, wo ' die
länge des zweiten teiles des diphthongs bezeichnet) entstanden;
vgl. z. b. läpp, uv^ja ^daune' aus *ui'va = anorw. hy (Qvigstad).
Thomsen (Finske og halt, sprog s. 110) vermutet, dass lett.
airis * rüder', lit. vairas, vaira * grosses rüder' ebenfalls aus dem
germ. entlehnt sind. Liv. airas ist secundär vom lett. airis
beeinflusst.
Urgerm. *airö 'rüder' gehört der bedeutung nach natürlich
mit lit. iriü, yriau, trti 'rudern', preuss. artwes 'schiffreise',
gr. iQtrrjg, dfiq) - i^Qfjg, jcevTrjxovT-oQog, aind. aritra-m 'Steuer-
ruder', aritd 'rüderer' zusammen. Mit diesen Wörtern hat man
das germ. wort oft verbunden. Allein *airö kann nicht, wie
u. a. J. Schmidt (Vocal. 2, 479 f.) meint, aus *arjö entstanden
sein, denn dies hätte im an. zu *^r gen. *§rjar werden müssen.
Auch aus vorgerm. *eryä kann germ. *airu nicht entstanden
sein; vgl. z. b. ahd. märi und got. ferja.
Die indog. wurzel, wozu aind. aritra-m u. m. a. gehören,
war er9', Germ. *airö 'rüder' setzt nach meiner Vermutung
ein vorgerm. wurzelnomen or,-, ord- oder arr, ard- voraus.
Die indog. wurzelnomina, sowol die vocalisch als die con-
sonantisch auslautenden, sind häufig fem. gen. (ßrugmann,
Grundr. 2', 449ff.). Man nimmt auch zweisilbige vocalisch
auslautende wurzelnomina an, welche fem. gen. sein können.
'Die beispiele sind aber undeutlich geworden, da sie nach dem
Wandel von a zu i im indischen in die i-declination über-
getreten sind' (Hirt, IF. 7, 191). Vgl. aind.jam*-f. 'weib', lat.
indi-gena, zu aind. jam-^aV- u.s.w.; aind. vani- f. 'das ver-
langen' zu vdni-tar-; aind. khani- 'wühlend' zu khdni-tum;
u. m. a.
Das vorgerm. wurzelnomen *ari- f. oder *ori- wurde zu
germ. *mV-. Dies wurde in die ä-flexion herübergezogen. So
entstand nach meiner Vermutung germ. *airö.
Es scheint mir möglich, dass ein Werkzeug wie 'ein rüder'
in der Ursprache durch ein wurzelnomen bezeichnet werden
430 BuaGE
konnte. Vgl. z. b. ags. sulh f., pl. sylh ^pflug', ags. furh t, pl.
fyrh 'furche' neben lat. porca, got. baurgs *burg', lat. arx, gr.
xQoxa acc. 'einschlagfaden' neben xqoxt], Prot Torp, dem ich
meine deutung mitgeteilt habe, vermutet dagegen für germ.
*airö eine vorgerm. form *arirä.
In betreff des ersten vocals vergleiche man vorgerm. *an-
oder *ör,- mit preuss. artwes oder mit gr. -ogoq^ wobei Zu-
sammensetzungen wie anorw. sexcerr zu beachten sind.
Germ. *airö, an. ags. dr gehört also nach meiner ansieht
zu derselben wurzel wie ahd. ruodar und mhd. rüejen^ ags. ro-
wan, an. roa. Das germ. rö- entspricht dem kelt. rä- in air.
rdm, rdme * rüder'.
3. Got. airus m. ' Sendbote' {ayyeXoq^ jiQsößtla). Ags. dr
(wie ein a-stamm flectiert) 'legatus, nuntius, minister, apostolus,
angelus'. As. *er, nom. pl. eri. Anorw. ^rr, drr (w- stamm).
Aus dem germ. entlehnt finn. airut Uegatus, nuntius', läpp.
airas. Das got. wort haben einige forscher als ai-ru-s auf-
gefasst und von der wurzel ei- 'gehen' abgeleitet. Dagegen
spricht schon die bedeutung des Wortes. Anorw. drr ist nicht
nur ' Sendbote', sondern überhaupt 'ein untergeordneter mann,
der im auftrage seines herrn oder seiner herrin etwas aus-
richtet', 'minister'. Ein mann der im Ynglingatal Äsu drr
heisst, wird in der prosa (Yngl. s. cap. 48 F. J. 53 Unger)
slcosveinn Äsu drötningar genannt. Sigvatr nennt die hirdmenn
des königs Jconungs cerir (Magn. s. g. Heimskr. cap. 7 F. J. 9 Un-
ger). Die äsen werden Yggs cerir genannt; die zunge drr
ööar 'minister poeseos', u.s.w. Mit drr ist drmaör zusammen-
gesetzt: 'ein Verwalter, der im auf trag eines anderen einen
hof bestellt'; namentlich ein mann der einen grundbesitz des
königs verwaltet. Auch dies zeigt, dass die grundbedeutung
von drr nicht ' Sendbote' ist.
Dass got. airu'S, an. drr u.s.w. nicht von der wurzel ei-
abgeleitet ist, wird durch ein davon abgeleitetes wort end-
giltig bewiesen. Anorw. erendi n.; auch eorende (was nur
graphisch verschieden ist), eyrende, erendi geschrieben: 'auftrag
den man für einen anderen ausrichtet, botschaft (flytja guös
erendi), geschäft'; neugotl. arundi; ags. cerende; neuengl. errand;
as. ärundi; ahd. ärunti. Dies wort entspricht dem sinne nach
als nomen actionis genau dem nomen actoris airus. Das nomen
BEITRÄGE ZUR VORGEBMANISCHEN LAüTGESCHICHTE. 431
actionis hat in der ersten silbe sowol einen langen als einen
kurzen vocal gehabt. Einen kurzen anfangsvocal hat aisl.
erendi sicher in dem gedichte Lilja 24. Neuengl. errand setzt
wol kürze des ersten vocals voraus. Ebenso nach J. Schmidt
(Vocal. 2, 477) das aus dem germ. entlehnte ksl. orq^dije 'appa-
ratus, instrumentum, negotium, res'; vgl. poln. or^dzie 'nuntius',
orendowac 'auftrage verrichten'. Mhd. erende mit kurzem an-
lautenden e. Allein in den agerm. sprachen wurde das wort
vorwiegend mit langem vocal im anlaut ausgesprochen. Die
kürzung des vocals ist vielleicht daraus zu erklären, dass die
zweite silbe stark betont wurde.
Nach Sievers (Proben einer metr. herstell, der Eddalieder
s. 34) wird für an. erendi in dem verse oJc erendi prymskv. 10
sicher länge der Wurzelsilbe verlangt; ebenso in riäa erindi
Atlakv. 3 und in mehreren anderen versen der Eddalieder.
Freilich erkennt Sievers jetzt (Metrik s. 61) verse wie af Jco-
nungum GuÖr. 2, 4 als richtig an. Für länge des vocals spricht
namentlich der vers Sigvats: en eyrindi öru Öl. s. helga in
Fms. cap. 142. In dem von Wisen herausgegebenen Homilien-
buche wird das wort gewöhnlich eyrende mit ey, selten mit eo
oder e geschrieben. Da diese hs. nur sehr selten ^ ey für e
anwendet, spricht dies dafür, dass eine nebenform mit dem
langen diphthonge ey existiert hat.^)
Bei ags. cerende und as. ärundi verlangt das metrum länge
des ce, d.
Das nomen actionis beweist nach meiner ansieht, dass das
ai von airus nicht = indog. oi oder ai ist. Denn obgleich
aisl. eyrendi, wie es scheint, aus älterem '^airundl stammt, lassen
sich andere formen, z. b. as. ärundi, ahd. ärunti, daraus nicht
erklären.
Die älteste nachweisbare form der zwei letzten silben ist
'undi. Hiernach darf man vielleicht vermuten, dass der ur-
0 ßreyngva s. 165 z. 30.
*) J. Schmidt hat die anorw. form des Wortes nicht richtig behandelt.
Er führt eyrendi auf *arvjandi zurück und beruft sich dabei auf die von
Egilsson angeführte form örvendi. Allein diese form hat nicht existiert.
Die einzige dafür angeführte stelle ist ein vers der FostbrceÖra saga, aUein
dort bedeutet grvendi ' lef t-handedness ' (Vigfusson, Corp. poet. bor. 2, 175,
V.7).
432 BUGGE
sprünglichere stamm von airus nicht airu-, sondern vielmehr
"^airund- war. Wenn wir von dem vocal der ersten silbe ab-
sehen, kann as. ärundi von "^airund-, wie z. b. got. andbahti n.
* dienst' von andbahts 'diener', lat. praeconium von praecon-,
abgeleitet sein. Auch dies spricht gegen die auffassung, dass
got. airu'S von ei- 'gehen' abgeleitet sei.
Der urgerm. stanmi "^airund- bildete wol den nom. sg.
ohne die endung s, also *airund, woraus regelrecht *airun
entstehen sollte. Allein da ein nom. sg. m. ^airun, wenigstens
in der späteren spräche, isoliert dastand, wurde diese form
nach der analogie der te-flexion zu airus umgebildet. Dabei
wirkte der dat. pl. airum aus *airundm- mit. Aehnlich ist
geiin. *tegti'^ 'decade', anorw. tegr, wie es scheint, aus älterem
*tegunp entstanden. Brugmann hat bereits ausgesprochen
(Grundr. 2*,491), dass Hegu-z von einem stamme tegunp- ge-
bildet ist. Er nimmt an, dass nur der instr. pl. und eine
gleichartige dualform den ausgangspunkt der w-flexion bil-
deten. *)
Ich vermute, dass airus, aus älterem "^airund, mit "^airü
'rüder' verwant ist, denn zu gr. igitrig 'rüderer' gehört vjcfj-
Qirrjg 'diener, gehilfe'. Dies könnte in manchen Verbindungen
durch an. drr widergegeben werden; so wenn Hermes bei
Aischylos d^ecov vjtTjQiTtjg genannt wird, wenn die adjutanten
und Ordonnanzen des feldherrn vjtfiQsrai heissen, u.s.w. Vgl.
ferner das zu derselben wurzel gehörende aind. arati- m. 'ge-
hilfe, diener, Verwalter', und air. ara 'diener, f uhrmann', gen.
arad, st. arät- (Stokes, Sprachschatz s. 39).
Ich vermute hiernach, dass got. airus, urgerm. *airund
part. praes. von einem verbalst, air- 'rudern' ist. Ferner dass
air- 'rudern' aus vorgerm. *arr oder *on- entstanden ist und
dass dies zu indog. er9- im ablautsverhältnisse steht.
Eine frühere vorgerm. form des part. war wol *ar9nt-.
Ich finde es weniger wahrscheinlich, dass ^arQnt- zu *ariunt-
') Es ist verlockend, im finn. airut eine spur der vorausgesetzten älteren
germ. nominativform *airimd, wie im finn. olut 'hier' nach der andeutung
Thomsens eine spur von germ. *alup oder lit. *olut, zu finden. Vgl. Thom-
sen, Finske og halt, sprog s. 158. Finn. aüut * plage' könnte eine germ.
neutralform *aglut sein. Wegen des fehlens des n in airid könnte man
dann finn. tuhat neben tuhansi aus lit. tükstantis vergleichen.
BEITRÄGE ZUR VOBGEBMANISCHEN LAUTGESCHICHTE. 433
wurde wie gr. aya^iai zu ayao\iai. Ich möchte lieber vermuten,
dass vorgerm. an- in anderen verbalformen lautgesetzlich zu
germ. air- wurde und dass die form des part. praes. ^airunä-
darnach durch analogie gebildet wurde.
Dass as. ärundi einen anderen vocal als eri (pL), got. airus
hat, beruht darauf, dass die urgerm. form von ärundi zur zeit
der fi'eien betonung auf der dritten silbe betont war.
4. Ahd. feili, mhd. und mnd. veile, nhd. feil, nl. veil ist
offenbar mit dem gleichbedeutenden ahd. ßli und mit an. fair
'feil' verwant. Darum kann das ei von feili nicht einem indog.
oi entsprechen. Allein wie diese formen sich zu einander ver-
halten, ist bisher nicht erklärt worden. Man hat gr. jtwXsco
'verkaufe', Siini, pana-, 2^änate (s.us*palnate) 'einhandeln, kaufen,
tauschen', litpetnas 'erwerb, verdienst' verglichen.
Hierzu gehört ferner kelt. {p)elniö 'verdiene' in air. at-rö-
illi 'meret' (Stokes, Sprachsch. s. 42).
Für jccoXia), lit. petnas u.s.w. vermute ich eine wurzel
*peld-. Ahd. feili ist nach meiner Vermutung aus vorgerm.
^pobyO'S, ^pohyO'S entstanden. Ich lasse es unentschieden, ob
das ä von fäli mit dem ä des as. ärundi gleichartig ist oder
ob fäli vielmehr eine bildung wie mhd. gcebe^ got. unqeps, an-
danems u.s.w. ist.
An. fair kann nach der an. form einen stamm fala- oder
fali- enthalten. Ich vermute in *fali-js eine bildung wie die
der adjj. rQotptg, ögojtig und der substt. germ. mati-Sy halgi-z^
gr.jtoXig, fi6fig)ig u.s.w. (Osthoff, IF. 3,390).
5. Got. *mail Qvrlg (nur im gen. pl. maile erhalten), ahd.
meila f. macula, mhd. meil n. und meile f. 'fleck, mal', auch
bildlich 'sittliche befleckung, sünde' (dazu meilen 'beflecken'),
ags. mal n. 'fleck', neuengl. mole 'muttermal'. J. Schmidt u.a.
haben mit recht die folgenden Wörter verglichen: aind. mdla-m
n. 'schmutz, unrat (in der physischen und in der moralischen
weit)', malind-s 'schmutzig, unrein', später 'von unbestimmter
dunkler färbe'; ^,[iiXag\ lett. me?n5 'schwarz', melums 'schwärze,
Schmutzfleck', melt 'schwarz werden'. Zu diesen Wörtern ge-
hört u.a. cymr.melyn 'gelblich'.
Gr. fiiXag setzt eine indog. wurzelform ^meb- voraus; dazu
verhält sich gr. (leXav- in betreff des -v- wie raXav- zu der
wurzelform raXa-, Zu *mefo- steht vorgerm. *wafo, "^mali oder
434 BuaoE
*iwöfo im ablautsverhältnis. Aus vorgerm. *mäli, *mol9 erkläre
ich mail Vgl. in betreff des o gr. (loXvvm,
Der germ. neutrale substantivstamm mcBla-, meta- ist we-
nigstens in mehreren bedeutungen von got. mail * fleck' gänzlich
zu trennen. Von der wurzel me- 'messen' ist sicher an. mal
n. 'mass' gebildet. Hiermit identisch ist gewis got. mel n.
'zeit', an. mal 'zeit, Zeitpunkt', ahd. mhd. mal 'Zeitpunkt'.
Ferner mhd. mal 'grenzzeichen, grenzstein, Zielpunkt'. Von
'Zielpunkt' wäre ein Übergang zu mhd. mal 'zeichen, merkmal,
fleck' möglich. Jedoch finde ich es wahrscheinlicher, dass im
germ. m^la-, mela- zwei verschiedene Wörter verschmolzen sind
und dass mhd. mdl 'fleck' mit meil 'fleck' verwant ist und
mit an. mal 'mass' nicht zusammengehört. Mhd. äne mal
'ohne makel' ist mit äne meil, nhd. muttermal mit bair. mutter-
mailen, engl, mole synonym. Dem alt. nhd. anmal 'macula,
naevus, cicatrix', ahd. anamäli steht bair. onmail zur seite.
Got. mela neutr. pl. 'schrift', meljan 'schreiben', ahd. *mal in
anamäli 'fleck, narbe', mhd. mal 'fleck', und vor allem ahd.
mälon, malen 'malen, zeichnen', mhd. malen 'färben, schminken,
malen', anorw. mcela 'färben, malen' möchte ich von den fol-
genden halt. Wörtern nicht trennen: lit. melys pl. 'blauer färb-
stoff', melynas 'blau', melyne 'blauer fleck', lett. meles 'ein
zum blaufärben gebrauchtes kraut'. Vgl. Leskien, Ablaut s. 335.
Das B des got. meljan entspricht genau dem e des lit.
melys, Got. meljan kann sich in betreff des vocals der ei'sten
silbe zu mail verhalten wie ahd. fäli zu feilL
6. An. hreinn m. 'renntier' (n. pl. hreinar), ags. hrdn. Das
wort ist nicht lappisch. Thomsen hat gezeigt, dass ein wort
raingo sich im läpp, nicht findet. Die angäbe Gessners (1563),
dass reen lappisch sei, ist einfach fehlerhaft. Auch in den
mitteilungen Öhtheres bei iElfred findet die meinung, dass
hrdn lappisch sei, keine stütze, hreinn aus ^hraina-sf ist sicher
echt nordisch und gewis mit gr. xigag verwant. Das tier ist
etymologisch als 'der gehörnte' bezeichnet, wie bereits Jo-
hansson (Kuhns zs. 30, 349) angenommen hat. Jedoch finde ich
den von ihm angenommenen stamm *Jcrä-i- 'hom', der auch in
xQiog ' Widder' (xgi-fog) stecken soll, nicht hinlänglich gestützt.
Man könnte versucht sein, "^hraina-z aus *hra-ina-z, indog.
fcrd'ino'S erklären zu wollen. Allein ich finde das suffiz -ino-
BEITRÄGE ZUR VORGERMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 435
nicht in dieser weise angewendet. Ich ziehe eine andere er-
klärung vor.
Wie sich aind. Jcravt-, gr. xgea neben Jcravis-, xgiag findet,
so können wir neben gr. xigag eine indog. Stammform *kera-
voraussetzen. Davon kann man durch das secundärsufflx -no-
*ker9no-s ^gehörnt' gebildet haben. Formell entspricht das der
bedeutung nach abweichende xegavlgai 'sich kopfüber stürzen'
bei Hesych.
Germ. *hraina-0 'renntier' setzt nach meiner Vermutung
vorgerm. "^hor^o-s voraus. Dies steht zu *ker9no-s im ablauts-
verhältnis. Euss. serna 'reh' ist wol nahe verwant; vgl. auch
J. Schmidt, Sonant. s. 33 — 38. Weil im vorgerm. ^kort^no-s ein
n nach ,• folgte, wurde das wort im germ., wie ich vermute,
nicht zu *hairna-£f, sondern zu hraina-z.
Für das o des vorgerm. ^kort^no-s vgl. gr. xoQVfißog 'spitze'
und ir. com 'trinkhorn', wenn dies nicht entlehnt ist.
Mehrere andere indog. bezeichnungen verwanter tiere ent-
halten das Suffix -no-: gr. iXXog 'junger hirsch' aus *Uv6g,
vgl. lit. elnis aus ^ebnis BB. 17, 225; aind. harinä-s 'gazelle'.
Sowol in dem von mii* vorausgesetzten vorgerm. *kor9no-s
als im aind. harind-s ist das suffix -no- an eine zweisilbige
wurzelform gefügt, welche im auslaut einen nach einer liquida
folgenden reducierten vocal hat.
7. Got. fraisan (praet. faifrais) mit acc. 'versuchen', Jtsi-
Qa^eiv; fraistubni f. jreiQaöfiog; ahd. freisa f. 'tentatio, pericu-
lum', freisön 'periclitari', mhd. vreise f. m. 'gefährdung, gefahr,
verderben, schrecken', vr eisen 'in gefahr und schrecken bringen';
as. fresa f. 'gefahr', fresön (mit gen.) 'gefährden, versuchen';
ags. frdsian 'question, tempt'; an. freista (praet. freistand) mit
gen. 'versuchen'.
Eine deutung von fraisan als fra-isan oder fr(ayaisan
würde der bedeutung nicht genügen; vgl. aind. iS-, icchdti
'suchen, wünschen' (nicht mit pra); is-, isyati 'in rasche be-
wegung setzen', mit pra 'forttreiben, antreiben, (zur dar-
bringung oder zur recitation) auffordern'. Mit mhd. ver-eischen,
vr eischen 'vernehmen, erfahren, erfragen' ist das ältere verbum,
got. fraisan u. s. w., kaum verwant.
Mit dem germ. fraisan u. s. w. hat man längst gr. und lat.
Wörter, die zu jenem dem sinne nach trefflich passen, zusammen-
436 BUGGE
gestellt, ohne jedoch die germ. form erklären zu können. Gr.
:!taQa, ^oX.jttQQa (für jtiQJa) 'versuch, probe, erfahrung', jteiQaco
'versuche', mit gen. 'stelle auf die probe', später mit acc. 'ver-
suche'; lat. experior 'versuche', periculum 'versuch, gefahr',
peritus 'erfahren'. Hiemach deute ich das germ. verbe "^fraisö
aus vorgerm. "^pordsö von einer wurzel *perd-, wozu jtelga und
ex'perlri gehören. Vgl. wegen des s z. b. got. fra-liusa neben
gr. Xvco, ahd. hläsu neben bläu. Verwant sind got. ßrja 'nach-
steller', ahd. fära f. 'nachstellung, gefährdung, gefahr', as. fär,
ags. fcer f. 'nachstellung, unvorhergesehene gefahr, schrecken',
anorw. fdr n. 'gefahr, schaden, verderben, zorn'.
Germ. *fmisö verhält sich in betreff des ersten vocals zu
ahd. fära, wie ahd. faüi zu fäli, mhd. meil zu mal.
Das ö des vorgerm. *por9so- wird vielleicht durch das
subst. ahd. freisa erklärt, das vorgerm. *por9sa voraussetzt.
— Für die bildung dieses *por9sä vgl. aind. tavisd- von tu-,
tavUi.
8. Neunorw. dial. (besonders im östlichen Norwegen) adj.
eim, mm, emm, öm, öym, auch cemen, emmen, vielleicht eimen
'unschmackhaft, ekelhaft', besonders von dem allzu fetten und
allzu süssen. Vgl. Aasen und Eoss. In Telemarken mme f. ' ekel-
hafter geschmack'. Hiemach ist anorw. adj. "^eimr, urgerm.
'^aim{a^)'Z, und anorw. "^deminn, subst. '^'cem^a f. oder cemi f.
vorauszusetzen. Aus mmen neben eim folgere ich, dass ei
hier nicht aus indog. oi oder ai entstanden ist.
Im alban. bedeutet dm^Xd, dmhdVd 'süss'; davon tamXd
'galle, milch'. Dies gehört zu aind. amld-s (ambla-s) 'sauer,
säure, essig', amla-m 'buttermilch'. Für die bedeutungsent Wicke-
lung vergleicht man got. sali neben lit. saldiis 'süss', gr. ^öog
'essig' neben 7)övg 'süss', suUe 'jede zu gallert erstarrte brühe
oder saft, namentlich auch süss eingekochtes fruchtmuss'. Ind.
amld'S gehört mit lat. amärus 'bitter', nhd. ampfer zu aind.
ämd'S, ir. 6m, gr. cofiog 'roh', aind. amiti, amlti * plagt', ämdyati
'ist schadhaft, krank', dmlvä * plage, krankheit', anorw. am>a
'plagen'.
Hiernach vermute ich, dass germ. aim- im norw. eim aus
indog. '^am^-, vorgerm. *amr entstanden ist und dass das wort
zu aind. amlti 'plagt' gehört. Norw. eim 'ekelhaft süss' ist
hiernach mit alb. dm9V9 'süss' verwant.
BEITRÄGE ZUR VORQERHANISCHEN LAUTGESCHICHTE. 437
Neunorw. cemen, an. *ceminn verhält sich in betreff des
vocals zu eim, an. eimr, wie as. ärundi zu got. airu-s, Neunorw.
eimen ist analogiebildung nach eim, wie umgekehrt emm nach
emmen, cemen. Die Urformen der hier behandelten Wörter lassen
sich jedoch in betreff der sufflxe nicht sicher bestimmen, weil
sie nur in neueren mundarten erhalten sind.
9. Got. maitan, maimait * hauen', himaitan ^beschneiden';
anorw. meita (praet. meitta) 'schneiden, scheren' (davon meitill
'meissel'); ahd. mman, mM, meinen * hauen, schneiden'. Dieses
verbum ist etymologisch nicht befriedigend erklärt worden.
Einige haben es mit engl, mattock * hacke' verbinden wollen.
Allein dies ist aus dem cymr. matog entlehnt; das cymr. wort
gehört mit ksl. motylca, lit. matikas, ferner wol auch mit lat.
*matea, mateola, aind. matyä-m zusammen.
Persson und Brugmann führen maitan mit got. -smi^a
' Schmied' auf eine gemeinsame wurzel sm^ei- zurück. Allein
germ. *5m^- *in harten Stoffen arbeiten' liegt seiner bedeu-
tung nach so weit ab, dass ich dies bedenklich finde. Noch
weiter ab liegt das daneben verglichene gr. Ofi^ 'reibt ab, putzt'.
wmtan ist dagegen mit gr. tifiveiv wesentlich gleichbedeu-
tend. Got. himaitan gibt jcegizißveiv^ himait jteQirofii^ wider.
Mit astans maimaitun us hagmam vgl. sgireov . . . tafive veovq
oQjcTjxag; haubip afmaitan wie rafietv xaga xipog. Anorw.
meita m^nar ist 'die mahne der pferde scheren'; vgl. rifipers
jccoXovg q)6ßrjv Eurip. Mit ahd. steinmeiisiso, steinmezzo mhd.
steinmeize, -meizel vgl. Xarofiog,
Aus rifiaxog, rfirjzog, rtfiva) ist eine indog. wurzelform
"^temd- zu folgern. Indog. verba werden oft durch -do- erweitert,
z. b. anorw. vel-t (aus vorgerm. *wel-dö) und mit verschiedenem
vocal ahd. wal-isu.
Hiernach vermute ich vorgerm. *tom9dö, vgl. lat. tondere
'scheren' aus Hom-de-re, Vorgerm. Homodö wurde nach der
von mir begründeten regel zu *tmoidö, verschoben "^pmaitö.
Allein da pm im germ. anlaute nicht möglich war, entstand
daraus germ. *maitö.
Das erste ö eines vorgerm. Stammes ^tomsdo-, woraus germ.
maita-, lässt sich bei Substantiven am leichtesten erklären.
Vgl. got. limait n. jtsQirofii^, norw. dial. meit f. 'streifen, zeile,
kerbe', mhd. meiz m. 'einschnitt', mit gr.tofii^, ro/iog, ro/iog.
438 BÜGGB
Darauf dass das ai von maitan nicht = indog. ai oder oi
ist, deutet vielleicht ahd. steinmemzo neben dem einmaligen stein-
meizzOy mhd. steinnietze neben steinmeize, nhd. Steinmetz; mezzo
aus *matja, Oder ist mcezo aus dem einfluss des synonymen
roman. Wortes (franz. magon, prov. masso) zu erklären?
Für die metathesis germ. maitö für *j>maitö aus vorgerm.
Hoimdü vgl. u. a. no. 6 *hraina-z aus vorgerm. "^kordno-s,
10. Got. *aglaits * schändlich' in aglait-gastdlds aioxQo-
xiQÖTjg; ahd. agaleizi improbus (labor), sollers; adv. agaleizo,
mhd. ageleize 'emsig, eifrig', as. agaUto, agUto; got. aglaitei f.
und aglaiti n. doiXyeia^ mhd. ageleize f. 'eifer'. Dies wort
gehört sicher zu got. agffe aloxQog, dem nach meiner Vermutung
das urnord. agala n. auf dem Kragehuler lanzenschaft ent-
spricht.
Ferner ist es wahrscheinlich, dass aglaits mit den adjectiv-
bildungen zusammengehört, deren suffix ein germ. -t-, vorgerm.
-d- als den charakteristischen consonanten zeigen; z. b. ahd.
gremizzi 'erzürnt', einazzi, gr. fiomö-, yvfipaö' u.s.w. Allein
das ai von aglaits ist unerklärt.
Es scheint möglich, dass im vorgerm. eine form mit einem a
unmittelbar vor l bestand, obgleich ich hierfür in urnord. agala
und ahd. agaleizo keine stütze suche. Ferner scheint es mir
möglich, dass der unmittelbar vor dem -d- (germ. -t-) des Suf-
fixes stehende vocal im vorgerm. ein schwalaut war, der nach
dem vocal der folgenden silbe wechselte und als ein reduciertes
i erscheinen konnte.
Ich setze hiernach vorgerm. *aghalid- voraus. Daraus
entstand nach der von mir begründeten regel germ. "^aglait-.
Allein das a vor l in der vorausgesetzten vorgerm. form *aghalid-
kann mit dem a vor l im ahd. agaleizo keinen historischen Zu-
sammenhang haben.
11. Ahd. araweiz, arwiz f. 'erbse', mhd. areweiz, eriweiz,
erwiZj nl. erwt, ert, and. erit\ anorw. ertr f. pl., gen. ertra;
aschw. cert, non. pl. certer, gen. pl. certa. Das wort gehört mit
gr. iQißivd^og, oQoßog 'erbse', lat. ervum 'eine art wicke' (wie
ags. earfan) zusammen, allein dasselbe ist nicht aus dem gr.
oder lat. entlehnt. Als urgerm. stamme sind *arwait- und
arwit' fem. vorauszusetzen. Die suffixe dieser stamme sind
offenbar mit gr. -d-suffixen verwant; vgl. z. b. xeöglö- f. frucht
BEITRÄaE ZUR VORaERMANISCHEN LAUTGESCHICHTE. 439
der ceder, xortvad- t frucht des wilden Ölbaums. Nach der
von mir gegebenen regel kann germ. *arwait- aus vorgerm.
*oroWid' entstanden sein. Dieselbe form des Suffixes habe ich
im vorhergehenden bei got. aglaits vermutet.
Germ, "^arwlt- scheint auf eine vorgerm. nebenform *oriWid-
hinzuweisen. Siehe davon in dem folgenden artikel über das
germ. t. Im vorgerm. "^orowid-^ woraus germ. *arwait-, waren
die vocale o und das reducierte i, aus denen im germ. ai ent-
standen ist, wie im vorgerm. Jcrowr = germ. hraiw-, durch w
getrennt.
12. Got. arhaips (st. arhaidi-) f. 'bedrängnis, not'; ahd.
ar(a)beit f. * arbeit, mühsal, not'; as. arded f. und ardedi n.
'mühsal, beschwerde, leid'; nl. arbeid m.; ags. earbed, earfod,
erfede n.; aisl. erfiöi n.; aschw. arvope, -upe n., osrvop, -upe, -ape
^arbeit, landarbeit'. Ueber die form des deutschen wertes vgl.
Sievers, Beitr. 19, 551 f. Behaghel, ebda. 20, 344.
Es ist allgemein anerkannt, dass das wort mit kslav.
rabota f. ^knechtschaft, frohndienst, arbeit', rabü 'knecht', aus
*orbu, zusammengehört; vgl. armen, arbanedk ^diener, gehilf e'.
Allein unter der Voraussetzung, dass arbaips ein nicht zu-
sammengesetztes wort sei, hat man das ai desselben nicht er-
klären können. Man hat daher in arbaid{i)' notgedrungen
eine Zusammensetzung gesucht. Kluge (Et. wb.*) teilt arba-id(iy
und sucht in dem zweiten gliede ein mit anorw. iä f. 'werk,
Wirksamkeit' verwantes wort, während Thurneysen (IF. 8, 1.13)
an ein compositum mit baid- 'zwang' (zu baidjan) denkt.
Vielleicht ist jedoch germ. arbaid{i) aus vorgerm. *aräbit-
entstanden, und dies von einem mit dem ksl. subst. rabü zu-
sammengehörenden verbum abgeleitet, das 'arbeiten' bedeutet
hat. Darf man in betreff des vokals der letzten silbe aind.
sarit' f. 'bach' vergleichen? Zur erklärung davon, dass das
got. wort arbaid'y nicht, wie man nach der für den spiranten-
wechsel geltenden regel erwarten sollte, "^arbaip- lautet, be-
merkt Thurneysen: ^arbaid- kann sich, falls -aid- suffixal ist,
an das participialsuffix -aida- anlehnen'.
13. Ahd. mhd. öheim, nl. öm, ags. eam 'oheim', afries. em
'mutterbruder'. Man ist darüber einig, dass dies wort mit
lat. avonculus verwant ist, ferner mit cymr. ewythr 'onkel'
(aus *avonter Stokes), corn. euitor, bret. eontr; endlich mit
440 BUGGE
preuss. awis 'oheim', ksl. uß 'avunculus' und lit avynas 'der
mutter und des vaters bruder'. Alle diese bezeichnungen des
Oheims oder eigentlich des mutterbruders sind von der bezeich-
nung des grossvaters mütterlicherseits abgeleitet: lat. avos,
vgl. got. awö 1 *grossmutter'. Vgl. namentlich Kluge und
Osthoff, Beitr. 13, 447 ff. Das h von öheim hat man mit dem
c des lat. avonculus identiflciert.
Allein die bildung des deutschen öheim ist noch nicht
klar geworden. Ahd. öheim führt auf *auhaim^-z zurück; als
urgerm. form vermute ich *aunxaima-£f. Dies erkläre ich aus
vorgerm. ^awonkdmo-s. Das o der zweiten silbe wurde durch
den einfluss des folgenden 9 zu oi, ai und durch Versetzung
wurde -oinJc- zu -nxai-; vgl. hraina-z aus ^/corQno-s u.s.w.
Nach dieser Versetzung musste vor -nx- einsilbiges au ein-
treten. In dem vorausgesetztem vorgerm. *awonkdmO'S finde
ich das awon- des lat. avonculus und des britann. *awonter
wider. Das -kd- von *awon-kdmO'S ist deminutivsuffix; vgl.
lat. avon-cu'lu^. Endlich enthält das wort das suffix -mo-.
In indog. verwantschaftswörtern ist -no- ein häufig vor-
kommendes suffix, dagegen nicht -mo-. So namentlich in den
halt, sprachen: lit. avynas 'mutterbruder', tetenas 'mann der
tetä, der Schwester des vaters oder der mutter', laigönas 'bruder
der frau', u.v.a. Auch in anderen indog. sprachen, z.b. ksl.
Äwnni^ 'bruder der frau', corn. Ävigf er en' Schwiegervater'. Darum
liegt die Vermutung nicht fem, dass vorgerm. ^awonkamo-s
durch den einfluss des w aus *awonkdno-s entstanden sei; vgl.
ahd. piligrim aus lat. peregrinus, ahd, pflümo und pfruma
gegen lat. prunu^, prunum, u. a. ähnl. Allein gegen ^ie ge-
nannte auffassung des in oheim enthaltenen m spricht viel-
leicht ahd. eidum 'eidam', ags. döum.
Nach Osthoff ist mhd. ceheim eine compromissform zwischen
öheim und *(jßhim; das letztere findet er durch neund. ö^mo
bezeugt. Vgl. aber Behaghel, Beitr. 20, 344.
14. Ahd. meinen, meinan 'meinen, denken, sagen, erklären',
mhd. meinen 'sinnen, nachdenken, bezwecken, eine gesinnung
gegen oder für jemand haben'; as. menian, nl. meenen, ags.
mcenan; ahd. meina f., mhd. meine f. 'sinn, gesinnung, meinung,
liebe'. Man stellt diese Wörter gewöhnlich zu der indog. wurzel
men- 'denken', wozu u. a. gr. (ii/iova, /itvog, ahd. manön, manen
BEITRÄGE ZUR VORGERMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 441
gehören; allein man hat die lautform des westgerm. wortes
nicht überzeugend erklären können. Die nahe anklingenden
slav. Wörter ksl. menjq,, meniti * meinen', po-menü 'memoria',
pomenq,ti * gedenken' werden von slav. Standpunkte aus in ver-
schiedener weise erklärt; s. Zubaty, Arch. f. sl. phil. 15, 497 f.
Meillet, MEN s. 26. 36. Brugmann, Grundr. 12, 388. Ich gehe auf
die slav. Wörter nicht ein. Stokes (BB. 21, 131) führt air. mein
'sinn, meinung' auf eine urform meini- zurück und stellt dies
mit ahd. meinen, ksl. meniti zusammen. Der vocal des air.
Wortes ist mit dem des germ. etymologisch nicht identisch.
Ahd. meinen, urgerm. "^mainjan kann von meina, urgerm. *mainö
abgeleitet sein. Um das Verhältnis dieser Wörter zu gr. fisvog,
fiBfiova erläutern zu können, wende ich mich zum gr. (isvo).
Auch nach meiner ansieht gehört fisvco mit fiirog, fiifiova zu-
sammen, obgleich Meillet, MEN s. 7 dies leugnet. Curtius
(Grundzüge s. 103) sagt: 'es scheint unzweifelhaft, dass die
spräche den begriff des bleibens und beharrens erst aus dem
des sinnenden, zögernden denkens und bedenkens als dem gegen-
teil rascher tat, ableitete'.
Aind. man- in mamandhi, dmaman 'zögern, zuwarten, still
stehen' zeigt vielleicht die vermittelung der genannten bedeu-
tungen. Deutlicher ist dies im germanischen. Mhd. meinen
ist 'sinnen, nachdenken'. Davon trenne ich nicht vollständig
ostnorw. dial. meine, schw. dial. mena 'zögern, sich bedenken,
unentschlossen sein'. Z. b. norw. hä cer'e du stä/r ä meiner
etter ä kann itte hämmä a gale? (Eoss); schw. dial. han sto d
mena innan han hom sej före. Dies verbum (praes. meinar,
menar) wird formell meistens von dem aus dem deutschen
entlehnten meine (praes. meiner, mener) 'meinen' geschieden.
Hierher wol auch aschw. utan meen 'ohne Verzug'?
Diese ostnord. Wörter sind, wie es scheint, nicht aus dem
deutschen entlehnt. Sie gehören dem sinne nach natürlich zu
lat. maneo 'bleibe, warte'; gr. fievco 'bleibe, warte, harre', oft
mit dem nebenbegriffe von Untätigkeit; kelt. "^anmenjä 'geduld'
(ir. ainnme, cymr. amynedd) Stokes, Urkelt. sprachsch. s. 13 und
210; armen, mnam 'bleibe, erwarte'; apers. amänaya 'er er-
wartete; neupers. mänam 'bleibe'.
Gr. fitvsTog und ion. fut. fievico bezeugen wol eine zweisil-
bige wurzelform. Man kann hiernach indog. men9' voraussetzen.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 29
Arm. mncHn kann, wie Meillet (MEN s. 31) meint, ans *mnäye-
entstanden sein. Allein wie arm. cna- in cnatU 'genitor' =
aind. jani-, vgl. gr. Yevs-, ist, so kann mna- ans *mina- = indog.
*men9' entstanden sein. Zweifelhafter ist es, ob aind. mamSä
'andenken, andacht' und apers. -maniS (in namen) eine zwei-
silbige wurzelform *mew5- * denken' bezeugen.
Nach dem vorhergehenden betrachte ich mhd. meine f.
'sinn', urgerm. *mainö als mit an. dr 'rüder', urgerm. *airö,
aus einer vorgerm. wurzelform *arr oder *ön-, analog. Ich
setze für *mainö eine vorgerm. wurzelform *monr oder *man^-
(vgl. lat. maneo) voraus. Von *mainö ist *mainijan 'meinen',
wie anorw. cera 'rudern' von dr, abgeleitet.
15. Wenn man in den aisl. )?ulur unter den (poetischen)
namen des feuers eimi und eimr aufgeführt findet, so liegt
nichts näher als die Vermutung, dass eimi aus *eiämi ent-
standen sei und mit ahd. eit 'glut', gr. ald^co zusammen gehöre.
Jedoch trifft diese Vermutung kaum das richtige. Anorw.
eimr m. bedeutet 'damp^ weisser rauch' und findet sich so in
der alten prosaliteratur angewendet. Ebenso ist eimi in der
VQluspä als 'dampf aufzufassen. Nur die kunstdichter haben
eimi und eimr in der bedeutung 'feuer' angewendet.
Die grundbedeutung dieser Wörter erhellt aus den neu-
nord. mundarten. Norw. dial. eim m. 'dampf (von heissen
fiüssigkeiten)', 'brodem (dampf oder geruch von gebrannten
oder heissen gegenständen)'; allein auch 'schwaches lüftchen',
'schwache andeutung (schwacher geruch oder geschmack von
etw., fiüchtige ähnlichkeit)', 'empfindung eines Schmerzes, wie
eine Strömung im körper'. Daneben das verbum eima in ent-
sprechenden anwendungen. Siehe Aasen und Ross. Neuisl. eimur
m. 'dampf, feuer (dies nur poet.), schwacher undeutlicher laut
aus der ferne, resonanz, spur von etw.'; s. Thorkelsson, Supple-
ment, 3. Sammlung.
Auf den Färöern weicht die bedeutung des Wortes ab:
eimur 'wärme von glühenden kohlen', auch 'glühheisse asche'
(was anorw. eimyrja heisst); eimingur m. 'schwaches feuer, ein
kleiner angezündeter Scheiterhaufen'.
Gotl. aim m. 'dampf, schwaches lüftchen', aima 'dampfen,
ausdünsten'. Aschw. adän. ember, em m. 'dampf; noch jetzt
in Jütland eme 'dampfen'.
BEITRÄGE ZÜE VORGERMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 443
Hierher gehört wol auch estschw. aim n. * nördlich!', verb.
impers. aim, äim, das zugleich ^hitzen' bedeutet.
Nach dem angeführten scheint die grundbedeutung des an.
eimr dieselbe wie die des deutschen ateni gewesen zu sein, vgl.
gr. ccTfiog ^ dampf, brodem'. Dies passt nicht zu der Verbindung
mit aiB^co, Die urgerm. Stammform war aima-.
Dies folgere ich aus anorw. dmyrja f. 'glühheisse asche',
dän. emmer; ags. cemyrie, cemer^e f., engl, embers, schott. ammeris-^
nd. eemere, ämere; ahd. eimuria, mhd. eimere, alt. nhd. ammer.
Dies wort verhält sich zu anorw. dmiy stamm *mmaw-,
kaum wie aind. ^ft;an zu^^^^^aw-; ist auch nicht ungefähr wie
got. berusjös gebildet. Pott, Kluge und Noreen sehen in an.
eim-yrja eine Zusammensetzung mit ^ujsyö, das mit aisl. poet.
ysia 'feuer', mhd. usel, üsel ^ funke, aschenstäubchen' verwant
sein soll. Diese annähme wird dadurch bedenklich, dass norw.
dial. und aschw. eldmyrja, adän. ildmörie mit derselben bedeu-
tung wie anorw. eimyrja angewendet wird; auch neunorw. dial.
myrja, adän. mörrice, Neunorw. dial. myrja, schw. mörja be-
zeichnet zugleich * dicke, flüssige masse (z. b. von schlämm)'.
Daher ist an. eimyrja, ahd. eimuria eher aus ^eim-myrja,
"^eim-muria zusammengesetzt.
Man könnte freilich daran denken, dass man im germ.
zwei verschiedene substantivstämme aim{a-) hätte; notwendig
scheint diese annähme jedoch nicht. Sicher ist es jedenfalls,
dass neuisl. eimur, neunorw. eim in mehreren bedeutungen
(z. b. als ^schwaches lüftchen') nicht zu einer wurzel gehören
kann, die ursprünglich * brennen' bedeutet hat.
Im ablautsverhältnis zu eimr stehen: aisl. ima * dampf?'
(in der Verbindung eldz ima) Harmsöl 39; neunorw. dial. im m.
^geruch, Witterung' (nicht = anorw. ilmr)\ * schwacher Schim-
mer, wie von einer fernen f euersbrunst ' (ähnlich wird eim an-
gewendet); im n. *eine schwache andeutung von etwas (durch
Schimmer, bewegung, färbe), welche sich auf einer Oberfläche
zeigt'; ima ^dampfen, eine schwache andeutung geben'; wie
eima 4icht ausstrahlen', ^wie ein schmerz durchströmen'. Neu-
schw. im, imme m.; immu f. * dampf; schw. dial. immla * dam-
pfen'; südjüt. dial. ime * rauchen, zu brennen anfangen'.*)
^) Zu eimr, im wol mit dem praefix ga- norw. dial. geim, gim m.
* dampf ' Wadstein, IF. 5, 9.
29*
444 BUGGE
Mit an. eimr und den dazu gehörigen Wörtern wesentlich
gleichbedeutend ist ein anderer nord. wortstamm: schw. dial.
am m. * dampf, geruch' (in Finnland); dma, ämo t 'dampf,
Windhauch; stimme, ausspräche'; in anderen mundarten ämme
m. 'damp^ Windhauch'; vb. äma * dampfen, duften, schlimmen
geruch ausdünsten', anderswo ämma * wehen' (hierher schott.
oam * dampf'?). Durch den einfluss des m geht ä in das lange
geschlossene o über (Falk, Arkiv 6, 116). Daher gehören hierher
norw. dial. 6m m. 'schwacher geruch, z. b. von verdorbenem
kom'; ome m. 'geruch von etwas brennendem' (wie anderswo
eim); 'sonnenrauch, Strömung warmer und trockener luft'; vb.
6m^ 'schwach riechen; warm und trocken sein (von der luft)';
schw. dial. öma 'riechen, wärme ausstrahlen, schwach schmerzen'.
Shetl. a em & heat 'schwüle hitze'.
Got. dhma 'geist' (jtvavfia) würde zwar in an. form *aiwi
lauten müssen. Allein die verwantschaft desselben mit ahjan
'glauben', aha 'verstand' zeigt, dass seine grundbedeutung eine
andere ist als die des nord. dm. Eher könnte man geneigt sein,
dies am mit ahd. ätum zu verbinden; vgl. namentlich afries.
omma, om 'atem'. Allein man wird nord. am nicht gern von
dem gleichbedeutenden eim trennen wollen. Formell ist das
Verhältnis von dm zu eim mit dem von ahd. ärunti zu got.
airus oder von norw. cemen zu eim adj. zu vergleichen.
Namentlich ist hier hervorzuheben, dass eine neunorw.
mundart ämyrja in derselben bedeutung wie eimyrja hat. Hier
ist ä in stark nebentoniger silbe entstanden: vgl. Noreen, Aisl.
gr. 1, 37.
Nach dem vorhergehenden möchte ich vermuten, dass das
ei des an. eimr 'dampf nicht aus indog. oi oder ai entstanden
ist, sondern, wie in got. airus und dem norw. adj. eim, aus
vorgerm. a (oder 6) durch die epenthese eines reducierten i,
das einem aind. i entsprach.
Ich erkläre an. eimr, urgerm. ^aima-z aus vorgerm. *aw,-wo-;er
und vgl. gr. ävsfiog, lat. animus, von aind. dniti 'atmet', got.
an-, uz'ön 'hauchen'. Urgerm. "^aimaz ist hiernach aus "^ainma-z
entstanden, "^ainmaz wurde zu *aimmaz, wie ahd. hamma 'Schen-
kel', nd. hamm 'bergwald', aus *hanma entstanden sein soll,
vgl. gr. xvTif4Tj. xvrjfiog. "^aimmaz wurde zu *aimaz in Überein-
stimmung mit den von Brugmann, Grundr. 1^, 812 genannten
BEITRÄGE ZUR VORGERMAKISCHEN LAUTGESGHICHTE. 445
Übergängen, z. b. ahd. wis aus *wissa'. Die bedeutungen er-
klären sich durch diese deutung trefflich. Norw. dial. eim
* schwaches lüftchen', schw. dial. ämme m., äma t * Windhauch'
wie lat. anima Uuft, lufthauch, wind'. Das geschlecht wechselt
im nord. zwischen masc. und fem., wie bei ävefiog, animus,
anima, Nord, eim, dm bedeutet auch ^geruch', vgl. an. angi
*duft' und ksl. vonja. Wie bei eimr hat sich bei ags. ceäm
die bedeutung 'dampf aus 'hauch, atem' entwickelt.
Endlich ist bei meiner erklärung norw. dial. ama 'wärme
ausstrahlen (Boss) zu beachten. Dies erkläre ich aus urgerm.
*anmön. Das einfache m ist hier wie in anorw. hgm 'Schenkel'
neben ahd. hamma zu beurteilen.
Ueber im, im>a vgl. den folgenden artikel von germ. l.
Warum wurde vorgerm. "^andmo-s zu germ. "^ainmaz, "^aimaz,
nicht zu *naima0, während vorgerm. Hordno-s nach meiner
deutung zu germ. *hraina-z, vorgerm. Homedö zu germ. *pmaitö,
*maito wurde? Die Versetzung scheint in den hier behandelten
lautformen vor consonanten nicht in allen fällen notwendig,
sondern nur facultativ. Dass im vorgerm. andmo-s Versetzung
nicht eintrat und dass das germ. wort die form *ainmaz, nicht
*naima0, erhielt, wurde wahrscheinlich durch den einfluss ver-
wanter Wörter bewirkt; vgl. got. u/s-ön, an. gnd, andi, angi,
u. s. w.
16. Die Goten Ermanarichs und Theodorichs werden ags.
Hred^otan (Elene 20) genannt; dat. Hred^otum (WidsiÖ 52);
gen. Hreda Elene 58. Daneben Hrdeda gen. Wids. 52. Mit der
letzteren form stimmt in betreff des vocals anorw. Hreidgotum
VafJ?r. 12; aschw. hraipJcutum und hraipmaraR gen. (das gotische
meer) auf dem Rökstein. Derselbe stamm findet sich in Personen-
namen ahä, HreidJcer, Hreidperht, Hraitun u. m.; BXi. Hreidulfr
Hreidarr u. m.; ags. Hrcedel (der Beow. 454 gen. Hreälan, 1485
gen. HredUs genannt wird).
Dieser volksname ist besprochen u. a. von Müllenhoff, Zs.
fda. 12, 259 f. H. Kern, Taalkund. bijdr. 1, 29 f. S. Bugge, Ueber
die inschr. des Röksteins, erste abh. s. 35. 43; zweite abh. s. 16. 21.
Heinzel, Ostgoth. heldensage s. 26 (WSB. 119) ff. R. Much, Zs.
fda. 39, 152.
Hred^otan bedeutet 'die sieg- oder ruhmreichen Goten'.
Ags. hred- ist aus hröj^i- entstanden; vgl. u. a. got. hröpeigs,
446 BÜGGE
germ. hrö^- gehört mit aind. IcirU- f. * preis, rühm' zusammen.
Germ, hrö- aus vorgerm. *A;ra- steht zu *ÄeVa- * gedenken, rühmen'
im ablautsverhältnis.
Ags. Hrceda, mit an. Hreid- und mit ahd. Hreid-, Hrait-
verglichen, setzt dagegen die Stammformen *IIraipi- und *Hra0i'
(nicht, wie Much annimmt, Hraipa-) voraus. Ich nehme daher
den nom. pl. ags. Hrcede (nicht wie man gewöhnlich annimmt,
Hrdedas) an.
Man lehrt, dass Hrceda ursprünglich mit hreä, *hröpi- nichts
zu tun gehabt habe. Allein durch die von mir angenommene
regel wii*d es möglich, Hrceda und HreÖa als etymologisch gleich-
bedeutend zu erklären.
Germ, "^hraijbi- ist nach meiner Vermutung aus vorgerm.
*Jcariti' oder *lcoriti- entstanden. Dieser name der Goten be-
deutete also ebenso wol wie Hreäa 'die ruhmvollen'.
Hraijbi' ist wol u. a. als erstes glied der composita, welche
den hauptton auf dem zweiten gliede hatten, zu Hraidi- ge-
worden; vgl. got. fidurdögs neben ags. fyderfete.
Germ. *hrai]bi- verhält sich in betreff des wurzelvocals zu
hröj^i- wie *airö 'rüder' zu rö]>ra-.
17. Got. tains m. xX^fia 'schössling, zweig am weinstocke'
(nom. pl. tainös), ahd. mhd. mn 'reis, rute, röhr, 'Stäbchen,
metallstab', nd. teen, nl. teen, teene f. 'gerte, weidengerte', ags.
tan, an. teinn. Daraus entlehnt finn. taina 'planta' (Thomsen).
Fick (Vgl. wb. 1*, 459) vergleicht hiermit gr. öova^, dor.
öcova^ m. 'röhr, rute', lit. dü'nis 'binse', lett. döni pl. 'schuf.
Allein er hat die form des germ. Wortes nicht genügend er-
klärt. Ein anderer versuch bei Prellwitz, Et. wb. der gr. spr. >)
ist auch wenig sicher.
Ich erkläre germ. taina-is aus vorgerm. *dop9-. Mit don-
in 6aiva^, lett. döni-, neben *dön9-, ist dorn- (vgl. gr. dco, (Jc5//a,
armen, tun) neben di^a-q analog. Vgl. im folgenden (no. 23)
lakon. ^Qwva^ neben ags. dran. Für die bedeutung ist hervor-
zuheben, dass mhd. zein, neunorw. dial. tein wie 66va^ II. 11,
584 von einem pfeile angewendet wird. Die an. deminutiv-
ableitung teinungr, aschw. tenunger, entspricht wol in betreff
des Suffixes wesentlich dem gr. öovag, aus -^A;-.
*) Wurzel dB(t) : dö : deji^a : dai ' schwingen ' (Sovica, Slvog).
BEITRÄGE ZUR VORGERMANISCHEN LAUTGESGHICHTE. 447
An. teinungr verdankt sein ei (aus ai) dem stammworte
teinn; die lautgesetzliche form des abgeleiteten wortes wäre
*tänunga-, vgl. 66va§. Vgl. meine bemerkungen zu airus
(no. 3).
Die hier gegebene erklärung des got. tains erklärt das
unerklärte got. fauratani n. 'wunderzeichen' (rsQag), denn -tani
verhält sich in betreff des vocals zu tains wie an. fair zu ahd.
feili Germ, tan- in fauratani entspricht dem gr. öov- in 66va§,
Auch nach der bedeutung kann fauratani wol mit tains zu-
sammen gehören, denn ags. tan, an. teinn bezeichnet ja den
ramus sortilegus.
18. Ahd. (alem.) neinian (neimda) ^loquV, heneiman ^ iecer-
nere, statuere', mM.heneimen 'bestimmen, festsetzen, verheissen'.
Es ist wol sicher, dass dies verbum mit name, nennen zusammen
gehört; vgl. besonders mhd. benuomen 'namhaft machen, urkund-
lich verheissen'. Allein neiman kann nicht, wie J. Schmidt u. a.
angenommen haben, aus namnjan entstanden sein.
Ich erkläre germ. *nainüp aus vorgerm. "^nom^iyeti, "^no-
mdniyeti, vgl. gr. ovofialvco.
Diese erklärung wird durch germ. formen wie got. glit-
munjan 'glänzen' nicht widerlegt. Wenn die von mir voraus-
gesetzte form vorgerm. *nominiyeti ein reduciertes i hat, wäh-
rend got. glitmunjan vor n ein u hat, so darf man an ahd.
nebenf ormen wie wirtin neben wirtun, enit neben anut erinnern.
Ich nehme mit Bezzenberger (BB. 17, 221) an, dass in der vor-
germ. spräche mindestens zwei verschieden gefärbte schwas
(ein i-schwa und ein w-schwa) vorhanden waren. Der Wechsel
dieser laute war wahrscheinlich durch die umstehenden laute
bedingt, ohne dass wir die dabei geltenden gesetze jetzt im
einzelnen bestimmen können.
Auch der umstand, dass in got. glitmunjan ein vocal vor
n erhalten ist, während ahd. neiman den früheren Schwund
eines solchen voraussetzt, kann meine erklärung nicht wider-
legen. Denn bereits got. namnjan zeigt, dass wir kein recht
haben, hier einförmigkeit zu fordern. In 1) glitmunjan, 2) ahd.
neiman aus vorgerm. *nominiyo-, 3) namnjan sind drei ver-
schiedene stufen vertreten. Der Wechsel dieser stufen ist gewis
durch den Wechsel der betonungsverhältnisse in der vorgerm.
spräche bedingt.
448 BUGGE
19. Ahd. cheren, nhd.Z:cÄrcw 'vertere', zunächst aus *kairjan',
as. Jcerian und kerön; subst. ahd. chera t und eher m. Dieses
wort, das etymologisch noch nicht genügend erklärt ist, weicht
formell vom ags. cierran (praet. der de) 'kehren, wenden' (zu-
nächst aus ^karrjan), subst. eierr m. (aus *karri-) ab. Neben
m^d. keren findet sich in derselben bedeutung kerren, das wol
zu ags. cierran gehört. An. kayra (praet. Ä»yr (Ja) 'jagen, treiben',
das der bedeutung wegen nicht zu got. kausjan 'kosten, prüfen'
gehören kann, ist in mehreren anwendungen mit kehren synonym.
Es heisst 'vieh auf die weide, in einen wald kehren', d. h.
treiben; daz vihe eherten sie über dl 'Hessen es allenthalben
weiden'. Ebenso aschw. kör de sin swin Mit wthpa aallenskog.
Norddeutsch die hühner kehren, d.h. 'jagen, treiben, scheuchen';
ganz in derselben bedeutung mengl. charen away und an. keyra,
Nl. den vijand keeren, d.h. 'abtreiben', wie aschw. köra bort
'abtreiben, vertreiben'. Im deutschen dajs ros keren 'das ross
antreiben, in eine bestimmte richtung reiten', wie an. keyra,
Aschw. alle the thin viisdom hördhe, äff blygdh oc wnder fran
thegh körde, d. h. 'giengen fort', wie deutsch keren 'fortgehen';
hier ist das aschw. wort vielleicht vom deutschen beeinflusst.
Schweiz, heisst es diesen kehr 'dieses mal', einen andern
kehr. Ebenso in anderen deutschen mundarten, z. b. nnd. de
erste, twede ker. Dies stimmt mit der anwendung des ags.
cierr überein: cet dnum derre 'einmal', cet darum derre 'das
andere mal'. Mit Schweiz, es god i em eher 'es geht in einem
geschäf te (in einem hin) ' vgl. dän. i en kjöre, schw. dial. i ett
köre 'in einem zuge fort'.
Nach diesen Zusammenstellungen, die sich grösstenteils
bereits im DWb. finden, scheint es mir deutlich, dass ahd.
cheren (aus *kairjan), an. keyra (aus Vcaurjan) und ags. derran
(aus Vcarrjan), subst. derr (aus *karri-) zusammen gehören.
Sie können durch vorgerm. formen vermittelt werden.
Ags. derre kann aus "^karrjö, urgerm. *karzijö, vorgerm.
*garsiyö entstanden sein. Ahd. cheru aus *katrijö, *katrrijö,
urgerm. "^kairzijö, vorgerm. "^gartsiyö. An. keyri aus *kaurijö,
"^kaurrijö, urgerm. *kaurjgijö, vorgerm. *garusiyö. Vorgerm. formen
*garriyö, "^gaririyö, *garuriyö finde ich weniger wahrscheinlich.
Ueber an. keyri aus "^kaurzijö, vorgerm. ^gar^siyö vgl. einen
folgenden artikel, wo ich germ. au bespreche.
BEITBÄGE ZUR VOBGERMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 449
Ahd. cheren aus *kairja-, "^Jcaimja-, vorgerm. ^gausiyo- ver-
hält sich zu ags. derran aus Viardja-, vorgerm. ^garsiyo-, wie
ahd. neiman aus vorgerm. ^nom^iyo- zu got. namnjan. Der
Wechsel der reducierten vocale im vorgerm. "^garisiyo- neben
*garuSiyo- ist mit dem Wechsel in germ. wortformen wie ahd.
enit — anut 'ente', ags. reced — as. racud *gebäude', ags. hyrnet
— ahd. homuz ^hornisse' u. a. bei Noreen, Abriss d. urgerm. lautl.
s. 64—66 analog. Ahd. cheren aus *gariSiyo- stimmt in betreff
des reducierten i mit hraiw, aus *krowir, überein.
Vom fries. Jcera ^kehren' trennt Siebs (Zur gesch. d. fries.-
engl. spr. 1, 266) nordfries. kere 'fahren, treiben', das er auf eine
Urform "^körjan zurückführt. Allein dies kere ist wol aus dem
dän. kere entlehnt.
Die vorausgesetzten vorgerm. verba "^garisiyö, "^garusiyo,
*gar$iyö-, die unter sich wesentlich identisch sind, betrachte
ich als ableitungen von einem subst. *gariS', *garuS-, "^gars-,
üie wurzelform ist "^ga/r- oder wol älter gor-,
Zupitza (Die germ. gutturale s. 211) stellt ags. derran, ahd.
cheren mit cymr.gyrru 'treiben', gyrr o wartheg 'drove of cattle'
zusammen.
20. Got. aihy aigum; an. d, eigum\ ags. ah, d^on; ahd. dgun.
Mehrere gründe, die Möller (Kuhns zs. 24, 444 f.) gegen die jetzt
übliche Verbindung dieses praet-praes. zunächst mit aind. ige,
avest. ise vorgebracht hat, haben noch jetzt gewicht. Die ar.
formen, denen keine europ. formen entsprechen, bezeugen nicht
eine indog. wurzel *eik', perf. *oi/ca, und bei der genannten
Zusammenstellung ist die germ. form aigun, nicht *igun, höchst
auffallend. Möller und J.Schmidt haben die Verbindung des
germ. ath, aigun mit aind. änq^a, änagür versucht, allein ohne
erfolg. dn(jiga ist perf. zu agnömi ' erlange, komme in den besitz
einer sache' und passt somit der bedeutung nach trefflich zu
aih, Dass änq^a eine urindog. bildung ist, wird durch air.
t-anac 'kam' bezeugt; vgl. gr. eveyxslv. In den auf der endung
betonten formen wurde der vocal der Wurzelsilbe reduciert.
Als vorgerm. form der 3. pers. pl. ist daher *aninknt möglich
(vgl. wegen des reducierten i aind. präninat von an-). Daraus
konnte nach der von mir begründeten regel urgerm. "^ainxun
entstehen. Nach dem diphthong konnte sich das n vor x nicht
halten; germ. aigun, *aixün lässt sich hiernach aus "^ainxun
450 BÜGGE
erklären. Vielleicht sind jedoch die germ. formen eher aus
vorgerm. *ani/cünt zu erklären und näher an die nicht nasa-
lierten formen aind. änäga, gr. xar-Tjvoxa ' xarevi^voxct zu
knüpfen. Germ, formen wie ags. (^e)nti^on, frugnon, die in
der ersten silbe u haben, können dies nicht widerlegen.
Unter dem einfluss der germ. perfectformen mit ai in der
Wurzelsilbe {wait u. s. w.) wurde das ai aus den pluralformen
(aigun u.s.w.) in die singularformen übertragen.
Ahd. eigan, as. egan, ags. d$en, an. eiginn, urgerm. *ai-
gand- ist hiernach aus vorgerm. "^an^nkono- oder ^anikono- ent-
standen und mit aind. part. perf. änagänd- zusammen zu stellen.
Got. aihts f. (stamm aihti-) 'eigentum, besitz', ahd. eht, ags.
ceht (an. cett 'geschlecht') ist von derselben wurzel wie aind.
dsH- f. 'erreichung' durch dasselbe sufflx abgeleitet, allein das
germ. subst. schliesst sich in betreff des ersten vocals und der
bedeutung dem perfectstamm an.
21. Ags.wdsend, wcesend f. m. 'throat, gullet, ruminatinj
stomach'; neuengl. weasand Luftröhre'; afries. wäsende Luft-
röhre'; ahd. weisunt 'arteriae'; Schweiz, oberd. waisel, wasel,
wäsling m. ' Schlund widerkäuender tiere'. Vgl. Diefenbach,
Got. wb. 1, 246. 2, 748. Hertzberg und Zacher, Zs. f dph. 10, 383 ff.
Das wort ist etymologisch bisher nicht genügend erklärt. Isl.
voesa 'spirare', das man verglichen hat, ist in der alten lite-
ratur nicht nachgewiesen (vgl. neunorw. dial. vcesa ' erfrischen,
erwärmen' und isl. vas *aura refrigerans'). Der stamm "^wai-
sund- scheint ein altes participium. Nach meiner Vermutung
aus vorgerm. ^awdsnt-, zu gr. ärjfii, dsiq gen. divzog. Wegen
des s vgl. u. a. fraisan, got. fra-liusu neben gr. Xveo, ahd. hläsu
neben bläu u.s.w.
22. Mit ahd. weisunt, ags. wdsend parallel ist gotländ.
vajlunde m. * Speiseröhre', aisl. velendi n., neuisl. vwlindi Dies
wort hat in den neunord. mundarten vielfache nebenformen.
Von diesen führe ich die folgenden an: nordschw. valan, välan
m. (in bestimmter form); norw. dial. velende n., vcelende, vceland,
volende, välafun, vaolcende (aus *vdlende\ vailen m., im südöstl.
Norw. viljan. Das von norw. formen vorausgesetzte *vdlendi
verhält sich in betreff des ersten vocals zu gotl. vajlunde, wie
as. ärundi zu got. airus. Für den parallelismus des gotl. vaj-
lunde mit dem ags. wdsend ist es zu beachten, dass ags. wdsend,
BEITRÄGE ZUR VORGERMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 451
wie vajlmide, 'Speiseröhre' bedeuten kann. Dies macht es
wahrscheinlich, dass vajlunde nicht nur wesentlich wie wdsend
abgeleitet ist, sondern zugleich, dass germ. wai- in vajlunde
mit germ. wai- in wdsend identisch ist und dass das ai in
beiden denselben Ursprung hat. Daher vermute ich, dass vaj-
lunde, germ. ^waHund- aus vorgerm. *aw9lnt' entstanden ist.
Verwant ist wol cymr. awell t 'conduit, pipe'. Dies kann
wol aus älterem *awelnä entstanden sein und zu awel 'flatus,
aura, ventus', gr. aeXXa, äol. avsXXa gehören. Vgl. gr. avXog
'röhre, flöte', aind. vänd- m. 'röhre', väni- f. 'röhr', Persson,
Uppsalastudier 189.
Aisl. velendij aus *velyndi, scheint vorgerm. *dW9l- voraus-
zusetzen; s. den folgenden artikel über germ. t. Norw. viljan
gehört einem wenig ursprünglichen dialekte an; ich wage
daraus nichts sicheres zu folgern.
23. Bekannt ist die Zusammenstellung: ahd. treno 'dröhne',
mhd. trene, Iren, noch jetzt in Sachsen und Oesterreich trene; as.
dran, pl. dräni (wozu nhd. dröhne), das ein urgerm. "^dren-
voraussetzt; gr. rev-d^QijvTj 'eine art wespe oder hummel',
ard^Qrjvri 'waldbiene' (aus ^avd^o-d-QrivrjT), lakon. d^gmva^
'dröhne'. Unerklärt ist der vocal des ags. dran (pl. drdne)
neben drden, mengl. drane. Das ags. d setzt wol urgerm. ai
voraus.
Ich würde es nicht wahrscheinlich finden, wenn man germ.
drain-, drPn- und dren-, gr. d^Qrjr-, O^gcov- durch eine urwurzel
dhrein- verbinden wollte. Ich finde es wahrscheinlicher, dass
germ. "^drain- auf vorgerm. *dhrönd' zurückgeht (vgl. no. 17 got.
tains neben gr. 6c5va§), Dafür dass das wort mit got. drunjus
'schall' verwant ist, sprechen schw. dial. drönje m. 'wasser-
biene', wahrscheinlich, wie Tamm annimmt, ein lehnwort aus
dem nd., das durch anlehnung an drönja, an. drynja umgeän-
dert worden ist, und norw. dial. drumbe m. 'eine art grosse
wespe'. Wurzelformen *dhrend-, *dhrond' sind mit *dhwend-
(aind. ddhvanlt, dhväntd-) analog.
24. Der Ursprung des Wortes lerche ist dunkel geblieben.
Ahd. lerahha f., mhd. lerche und daneben lewerich, lewerech,
lewerch, nl. leeuwerik, ags. Idtvricce, Idwerce, Icewerce. Diese
formen erklären sich aus ^laiwraJcön-, ^laiwrikön-. Nordfries.
452 BUGGE
läsh deutet auf *laiwsaJcön- neben *laiw^aJcön- hin. Zwischen
w und 13 (s) kann einst ein vocal gestanden haben.
Anorw. 16 (pl. loßr) und loa, das man mit ags. Idwerce zu-
sammengestellt hat, bezeichnet den charadrius. Der umstand,
dass caradrius in ahd. glossen durch leraha übersetzt wird,
deutet darauf hin, dass jener vogel mit der lerche verwechselt
wurde, lö kann auf älteres Höw- hinweisen, und dies kann
aus vorgerm. *law- entstanden sein.
Wenn das urgerm. *tow- (in ags. Idwerce 'lerche') aus
vorgerm. *läw9' entstanden ist, kann Idwerce mit an. 16 ver-
want sein. Die wurzel dieser Wörter kann dieselbe sein wie
die des lat. laus, laudis.
Gall. alauda ist 'haubenlerche'. Damit verbindet d'Arbois
neubret. alchouez aus *alavidissa. Diese kelt. Wörter kann ich
mit der germ. bezeichnung der lerche nicht überzeugend ver-
mitteln.
25. Westgerm. *raikjan, ahd. reihhen 'darreichen, sich er-
strecken', Sigs.rcecan (i.h. rcecan), engl, to reach, afries. reJca,
retsia. ') Man hat dies verbum längst mit got. rakjan (nur in
compp.), ahd. recchen verbunden. Amelung und Möller haben
das ai ohne erfolg durch epenthese (raikjan aus rakjan) erklären
wollen.
Brugmann (Grundr. 1^,504) vergleicht mit dem germ. worte
lit. rdizyü-s 'sich recken', das mit rq,zyti-s gleichbedeutend ist,
und reizti'S 'sich brüsten'. Er legt eine wurzel reig- zu gründe
und fasst das i des gr. ogiyraofiai 'recke mich' als ursprach-
liches i auf, während man dies i gewöhnlich mit dem c von
jiiövQsq, xO^t^og U.S.W. zusammen stellt.
Nach Leskien, Ablaut s. 365 (103) setzen räztis und rdi-
zyti-s (das s.v.a. rg^zyti-s bedeutet) eine unbelegte lit. stufe mit i
neben a voraus. Wenn diese erklärung richtig ist, muss die
Übereinstimmung der lit. formen mit germ. *raikjan wol zu-
fällig sein.
Nach der von mir begründeten regel ist es lautlich mög-
lich, dass ^raikjan aus vorgerm. *or,^-, *ora^- entstanden sei.
Vgl. gr. oQcyvdofiai, vgeym, aind. Tjyafit-, rjyate. Allein viel-
leicht ist die intransitive anwendung von reichen die ursprüng-
*) Einen früheren versuch (Beitr. 13, 338) gebe ich auf.
BEITEAGE ZUR VOBGEBMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 453
liehe. Ich möchte darin einen der von Hirt erläuterten stamme
auf -ei vermuten. Wenn man zugleich aind. bildungen wie
Tjtsd, fjlsin- beachtet, so wird man es vielleicht nicht zu
dreist finden, dass ich eine vorgerm. wurzelform "^ragr, *ra^9-
annehme. Daraus entstand nach meiner Vermutung germ.
raik-. Die deutung des ahd. reihhen darf von der des anorw.
reik (no. 26) schwerlich ganz getrennt werden.
26. Wie germ. *raiJcjan, ahd. reihhen neben germ. rdkjan
steht (no. 25), so findet sich anorw. reih f. ^scheitellinie, welche
die haare trennt', neunorw. dial. reik, gotl. raik, schw. dial. rek,
allein in ganz derselben bedeutung nordschw. dial. räk f. Schw.
dial. räk auch von anderen furchen; dazu neuisl. räk (pl. räkir)
'streifen', norw. dial. räk f. 'streifen, furche' (z. b. in einem
berge). Neunorw. dial. reik f. ist überhaupt 'streifen, linie'
(vgl. Noreen, Svenska etymologier s. 62 f.).
Mit neuisl. rdk f., pl. rdkir 'streifen' vergleiche ich aind.
rdji- und räji- f. 'streifen'. Dies gehört mit aind. rdji- f. 'rich-
tung', rju' 'gerade', rj- 'sich strecken' zusammen. Neuisl. rdk
setzt urgerm. *rceki-, vorgerm. "^rce^-, '^re^i- voraus.
Das synonyme an. reik möchte ich aus vorgerm. ^ragr, ^ra^^-
erklären.
27. Germ, hraiöa-z 'breit' ist etymologisch noch nicht über-
zeugend erklärt worden. Sowol lit. brandiis 'körnig' und gr.
ßgl^w 'bin belastet' als aind. mrityati 'zerfällt, löst sich auf
stehen, wie mir scheint, der grundbedeutung nach dem germ.
hreit fern.
Ich erkläre germ. hraida-z aus vorgerm. *hhor9dhO'S. Für
die bedeutung hebe ich got. usbraidjan 'ausbreiten' hervor.
Im norw. breiffa u. a. 'heu (zum trocknen) ausbreiten'; nord-
fries. hriadan (praet. hriat\ oberdeutsch mist braten 'fimum in
agro expandere'. Ich vergleiche mit Bezzenberger, BB. 3, 81
lit. beriii, berti 'streuen', byrii, btrti 'sich verstreuen', lett. birdlt
caus, 'ausstreuen'. Norw. dial. engji breier seg wird gesagt,
wenn das gemähte gras über die ganze fläche ausgebreitet
liegt. Vgl. die anwendung des wortstammes in dem von Leskien
zu berti gestellten lit. bdrus 'in einem zuge gemähtes stück
feld', lett. baris 'Schwaden'.
Mit anorw. breidr verwant ist, wie schon Aasen vermutet
hat, anorw. bredi (in bredafgnn) 'Schneehaufen', neunorw. dial.
454 BUGGE
hrede, bride m., in anderen mundarten fem., *schneemasse',
namentlich der alte, nie schmelzende schnee des hochgebirges,
'Arn', auch 'gletscher'. Für die anwendung in bezug auf den
schnee vgl. lett. iirda ^feiner schnee'.
Mit ahd. breit verwant ist ahd. hreta * flache hand'. Dies
lässt sich von ahd. Iret 'brett', ags. ired und von bort, got.
baurd nicht gänzlich trennen. Die lautliche vermittelung mit
breit wird möglich, wenn man germ. braida-is aus vorgerm.
%hor9do-s erklärt.
Für die bei breit stattgefundene bedeutungsentwickelung
vergleicht Bezzenberger passend aind. ästtrna- 'hingestreut,
ausgebreitet'; auch 'bestreut, bedeckt' (wie nord. breiöa * über-
decken' bedeutet); aind. ästrta- 'hingestreut, ausgebreitet, breit'.
Für die von mir vorausgesetzte vorgerm. form ^bhorddho-s,
worin -dho- an eine zweisilbige wurzelform gefügt ist, vgl. gr.
28. Ahd. heimo m. 'hausgrille', nhd. Imme m. f., wovon
heimchen; ags. hdma 'hausgrille'. Gewöhnlich sieht man hierin
eine ableitung von heim, so dass das wort etymologisch 'haus-
be wohner' bedeuten sollte. Allein einige formen lassen sich
hiermit nicht leicht vereinigen. Für ahd. mühheimo 'cicada',
später mucheim, heimuch findet sich in der Schweiz hammemauch,
muchkam und für mhd. heimelmüs 'cicada' wird in der Wetterau
hammelmaus gesagt. Diese formen hammemauch, hammelmaus
lassen sich nicht aus heim erklären, hammelmaus gehört zu
hammein bei Fischart 'hüpfen, springen', das von hamme ab-
geleitet ist. In den hervorgehobenen formen nur umdeutungen
zu sehen, scheint mir nicht nötig. Ahd. hamma f. 'hinter-
schenkel, kniekehle', ags. hamm gehören mit gr. xv^^firj, air.
cndm 'bein, knochen' zusammen, und Fick, Vgl. wb. 1*, 389
nimmt eine urform "^qonämo-s an. Hiernach vermute ich, dass
ahd. heimo 'heimchen', urgerm. ^haiman- aus "^hainman, vor-
germ. ^karitmon- entstanden ist und zu ahd. hamma aus vor-
germ. *kanmä- gehört, so dass das wort etymologisch 'das
tierchen mit den grossen schenkein' bedeutet. Dass vorgerm.
*kondmon- zu germ. Viainman-, haiman-, nicht zu ^hnaiman-
wurde, erkläre ich aus dem einfluss der verwanten Wörter (ahd.
hamma u.s.w.).
BEITRAGE ZUE VOEGERMANISCHEN LAUTGESCHICHTE. 455
29. Germ, faigja- 'dem tode verfallen, dem tode nahe'; an.
feigr, aschw. acc. feeig jq,n\ ags. fdege] as. ßgi\ ahd. feigi, Fick
und Osthoff haben hiermit aind. paJcvd- von pac- verglichen.
Dies passt der bedeutung nach trefflich: paJcvd- ist 'gekocht,
reif, reif s. v. a. dem vergehen, dem tode nahe, — verfallen';
vgl. gr. jcBjcwv 'reif. Hierbei ist zu beachten, dass tirol. feig
'fast reif, vom obst das schwarze kerne hat', bedeutet (Kluge,
Et. wb.*). Nhd. feiges gestein 'das sich zu lösen beginnt'; feiges
mmmerwerk 'das schon fault' (DWb.); mhd. ain feiges höh
'biegsam, schlank'. Mhd. veige zugleich 'furchtsam, feige', wie
in der Hias co jrejtovsg 'ihr Weichlinge'.
Diese anwendungen machen die Verbindung des germ.
faigja- mit got. faihs 'bunt', urnord. faihidö 'schrieb' höchst
unwahrscheinlich. Allein nach germ. lautgesetzen kann faigja-
weder aus *fagja- noch aus *fBgja-, wie man gemeint hat, ent-
standen sein.
Zu aind. pdkvd- gehört zugleich nach meiner Vermutung
armen, pax (gen. pl. paxio) 'gekocht'. Ich erkläre die erhaltung
des p und das x ^^s dem einfluss des w, einer grundform
*pa}cwi-, was ich hier nicht begründen kann.
Nach dem vorhergehenden vermute ich, dass germ. faigja-
von derselben wurzel wie ind. paJcvd- gebildet ist und dass
das ai desselben nach der von mir begründeten regel sich aus
vorgerm. 0 + 9 entwickelt hat, welche vocale zwei verschie-
denen Silben angehörten. Prof. Torp, dem ich dies mitgeteilt
habe, vermutet für germ. faigja- eine vorgerm. form *poq9wyo-.
Ich kenne sonst keine form, die mit Sicherheit auf eine zwei-
silbige wurzelform *peq9- führt. Vorgerm. *poq9wyo- verhält
sich in betreff des a zu aind. pakvd-, wie avest. yemvt zu
aind. yahvt
30. Isl. smdri m. 'klee' (trifolium), smcerur f. pl. 'klee-
wurzel'; norw. dial. smcere m. und smcera f.; ebenso in schwed.
mundarten, dän. smcere und pl. smcerer, J. Grimm, Kl. sehr. 2,
121) bemerkt zu Marceil. Burdig. cap.3, s.40: 'trifolium herbam,
quae gallice dicitur uisumarus' folgendes: 'es ist deutlich das
ir. seamar, seamrog, gael. seamrag, woher das engl, shamroeh
und an. smdri^ jütische smwre\
Dass nord. smdri aus dem ir. worte entlehnt sein sollte,
ist unglaublich, dagegen kann smdri mit neuir. seamar, mittelir.
456 BüGGE
adj. semrach urverwant sein. Ir. semrach kann aus "^sembrako-
und dies wieder aus *semrako- entstanden sein.
Isl. smdri erkläre ich aus urgerm. '^smdirhon-, vorgerm.
*smar9Jcon-. Wenn dies richtig ist, steht smdri zu ir. seamrog
im ablautsverhältnis.
31. Anorw. hreistr n. collect, und hreistrar f. pl. 'schuppen',
norw. dial. reist n. Davon vb. isl. hreistra, norw. dial. reista
'die schuppen abschaben'. In einer anderen mundart sagt man
risp 'schuppen', was zugleich 'was man abstreift' bedeutet und
zu rispa 'abstreifen, abreissen' gehört. Nhd. schuppe, ahd.
scuoppa ist von schaben abgeleitet. Man erwartet hiernach,
dass anorw. hreistr von einem verbum abgeleitet ist, das
'schaben' bedeutet hat.
Ich deute germ. hraistra- aus vorgerm. ^karsdtro- und ver-
gleiche kslav. krasta 'Scabies' aus *korsta, lit. karssti 'flachs
riffeln, wolle kämmen, striegeln', aind. ka§-y ka§ati (aus "^kars-)
'reiben, schaben, kratzen', fut. kasiäyati. Oder aber aus *Z:a-
r9strO'.
In derselben bedeutung wie reist (anorw. hreistr) wird in
anderen neunorw. mundarten ras n. gesagt; davon vb. rasa
s.v.a. reista. Auch ras, aus *hrasa-, spricht dafür, dass das
ei von hreistr aus vorgerm. a + 9 entstanden ist. In betreff
des ra- von ras vgl. anorw. rass aus "^arss, ragr = argr, frata,
32. Ahd. gameit 'vanus, obtusus, stultus, contumax, jactans';
in gimeitun^ ungimeitun 'vane, incassum'; gameitheit 'insolentia';
gameitison 'luxuriare'. Im mhd. bedeutet gemeit 'lebensfroh,
keck, schön, lieblich, lieb', welche anwendung sich aus 'eitel,
mutwillig, ausgelassen' entwickelt hat (vgl. die bedeutungs-
entwickelung bei mhd. toi). As. gimed 'töricht, übermütig'.
Ags. gemdd 'vecors', einmal poet. mddmöd 'foUy'; neuengl. mad
aus dem ags. part. praet. ^emcedd. Abweichend ist die bedeu-
tung des goi, gamaids {8iCC j^l. gamaidans) 'verkrüppelt'. Der
bedeutungen wegen gehört gamaids, ahd. gameit u.s.w. nicht
sicher zu got. inmaidjan 'verwandeln', inmaideins 'vertauschung',
maidjan xajtTßivsiv, eig. 'vertauschen', welche mit lat. mutuus,
alat. moituos, lett. mitet 'verändern, unterlassen' und wol zu-
gleich mit ahd. mtdan, nhd. meiden verwant sind.
Ahd. gameit (wozu in gameitun) stimmt dem sinne nach
trefflich mit den folgenden Wörtern überein: gr.fidrrjv 'umsonst',
BEITRÄGE ZUR VOBGERMANISCHEN LAÜTGE8CHICHTE. 457
fiaraiog * eitel, nichtig, vergeblich; töricht, wahnsinnig; leicht-
fertig, ausgelassen, mutwillig'; air. in-madce *sine causa', madae
* vergeblich' (Stokes, Urkelt. sprachsch. s. 206). Die ir. Wörter
zeigen, dass gr. ^ax- nicht aus mr^t- entstanden ist.
Ich vermute, dass ahd. gameit, *gamaida-i3 aus *gd-maipa-z
entstanden ist, weil der hauptton früher auf der ersteh silbe
lag. Germ, -maida-, *maipa- ist nach meiner Vermutung aus
vorgerm. *matd' entstanden und gehört mit den angeführten
gr. und ir. Wörtern zusammen. Hier hat vorgerm. 9 oder
reduciertes i dem gr. a, wie in vorgerm. *krow9- (woraus germ.
hraiw-), entsprochen. Diese erklärung ist jedoch unsicher.
Der bedeutung des got. wortes näher steht anorw. meiöa
'verstümmeln; etwas so beschädigen, dass es unnütz wird'.
Neunorw. dial. meiffa (meie ausgesprochen) 'eine spur nach-
lassen', meidd f. 'streifen, spur' muss dagegen anders wohin
gehören.
33. Got. fraiw n., anorw. free, frjö n. (dat. frcevi) 'same
(der gewächse, menschen und tiere), nachkommenschaft'; schwed,
dän. fre 'same'. Eine scharfsinnige etymologische deutung hat
Osthoff, Beitr. 20, 95 f. gegeben. Früher hatte man das wort
mit Isit pario 'gebäre, zeuge, bringe hervor' (z. b. fruges et reliqua
quae terra pariat), \itperiü,pereti 'brüten' zusammengestellt.
Dies scheint mir noch jetzt möglich. Germ, fraiwa- kann aus
vorgerm. ^pariwo- entstanden sein.
Der Umlaut des anorw. free kann in verschiedener weise
erklärt werden. Das anorw. adj. frcer 'fruchtbringend' kann
auf einen stamm ^fraiwja- zurückgeführt werden. Auf ein
verbum *fraiwjan deutet schw. dial. frö (praet. frödd) säg
'reif werden'. Aus diesen formen kann das de auf free über-
tragen sein.
Allein auch eine andere erklärung ist möglich. Von vielen
germ. neutralen Wörtern finden sich nebenstämme 1) auf -a,
2) auf -s oder -cusj-iz, Z. b. an. egg neben ags. pl. desru. Daher
kann das de von free aus einem stamme yraiwü- auf den stamm
fraiwa- übertragen sein.
Für die bildung eines vorgerm. ^pariwo-m vgl. lat. vacuos,
nocuos, arvom, salvos\ anorw. adj. grr, st. arwa-^ aind. rhvd-,
eva-,
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV gO
458 BUGGE
34. Ueber das wort 'kleid' hat A. Erdmann in einer
umsichtigen und gründlichen abhandlung * Kleid und filz' (Up-
sala 1891) gehandelt. Mhd. (zuerst in der mitte des 12. jh.'s)
hleit n. (gen. hleides, nom. pl. Tdeit und Meider), mnd. klet, mnl.
cleet, afries. Jcleth, Math, ags. cldä (seit dem 8. jh.), selten clceff;
an. Mceäi n. Erdmann erklärt Meid als ^zusammengeklebtes
zeug' und stellt es zu Meister, yXoiog u.s.w. Dies kommt mir
der bedeutung wegen nicht wahrscheinlich vor. Eine anwen-
dung wie ags. hine mid cildclddum bewand 'pannis eum in-
volvit' deutet eher darauf hin, dass *kleid' als ^umwurf be-
zeichnet ist. Darauf deutet auch der umstand, dass aisl. Mceffi
speciell ^die Überkleider' bedeuten kann (Eyrb. cap. 45). Von
der Wurzel Mai-, gloi- * kleben' sind Wörter die mit Meid der
bedeutung nach verwant sind, sonst nicht gebildet.
Ich wage eine dreiste Vermutung. Aus ßeXefjvov, ßdXXo},
ßXijfia, ßeßoXrjfmi ist eine indog. wurzel geh- zu folgern. Ags.
cldff, cMÖ, urgerm. *Mai]>ijsf oder *Maipa könnte daher ein vor-
germ. *golitos oder ^golito-m mit dem hauptton auf der ersten
oder zweiten silbe voraussetzen. Der bedeutung wegen ver-
gleiche man ßäXXofiac mit dfi^l- oder jtsqU 'sich umtun, sich
anlegen' (z. b. jvsqI de fisya ßäXXtxo (paQog) von waffen und
kleidern; act. ßdXXeiv 'anlegen, umtun' (dfigA de (loi gdxog
aXXo xaxov ßdXov 7^61 ;^iT(JOi;a); ßX^fia (xolTi]g) 'decke', dfi-
(flßXfjiia 'umwurf, anzug, kleidung', dfitflßoXov 'gewand'. Man
beachte hierbei namentlich mhd. umbeMeit n., mnd. ummeMeit
'mantel'.
Ein gewisses kleid heisst aisl. und neuisl. hast^ dän. haste-
Mcede, norw. hasteplagg, von kasta 'werfen'.
An. Mceffi kann, wie u. a. Hellqvist vermutet hat, aus dem
ags. entlehnt sein. Dagegen spricht nicht das läpp, lehnwort
laffäe, denn läpp, a kann aus dem umgelauteten nord. ce ent-
standen sein; siehe Qvigstad, Nord, lehnwörter im läpp. Auch
die durch 4 abgeleitete form verbietet es nicht, in Mcedi ein
lehnwort zu sehen. Denn nach ags. dat. *clceffe, gen. *clceÖes
kann man im an. dat. Mcede, gen. Mdedes gesagt und nach
diesen formen einen nom. Mcede gebildet haben. Ebenso ist
anorw. dat. strebte, wie Zimmer zuerst gesehen hat, aus dem
ags. dat. strebte entlehnt, und nach dem dat. ist der anorw.
nom. strebte n. gebildet. Wenn dagegen MdbÖi ein echt nord.
BEITRÄGE ZUR VORGEEMANISCHEN LAÜTGESCHICHTE. 459
wort wäre, könnte es sich in betreff des vocals der Wurzel-
silbe zu ahd. hleit verhalten wie as. ärundi zu got. airus.
Der anorw. gen. pl. Mcedna ist, wie ich vermute, von der
flexion der schwachen feminina beeinflusst.
35. Ahd. mhd. hein n., and. Mn, ags. hdn, an. hein ^os (ossis)
knochen', später *bein, Unterschenkel'. Dafür, dass gerra. haina-
aus vorgerm. *5on9- entstanden ist, spricht ein nord. wort. In
vielen der altertümlichsten neunorw. mundarten huna t^knochen-
röhre', besonders von der tibia; pl. *arme oder Schienbeine'.
Auch überh. *knochenbau'. Nordschw. dial. bords-huner f. pl.
Fischbeine'. Björn Halldörssen erklärt isl. buna als ^pes ursi'.
Dies nord. bunön- f. kann mit bein m. verwant sein, wenn
dies aus vorgerm. dorn- entstanden ist.
Der von mir im vorhergehenden belegte lautübergang, dass
germ. ai aus vorgerm. ä (Ö) mit einem reducierten i entstanden
sein kann, wird wol in der folgenden weise aufzufassen sein.
Das reducierte i palatalisierte den in der vorgerm. form vor-
hergehenden consonanten. Das i-element, welches sich aus dem
palatalisierten consonanten entwickelte, verband sich mit dem
unmittelbar vorhergehenden vocal ä (ö) zu dem diphthong ai,
wonach das nach dem consonanten folgende reducierte i schwand.
Die in den germ. formen häufig eingetretene Versetzung
(z. b. no. 6 Viraina-z aus vorgerm. korifio-s) spricht kaum gegen
die annähme einer palatalisierung des früher unmittelbar vor
dem reducierten i stehenden consonanten. Denn die palatali-
sierung des consonanten und die einwirkung desselben auf den
vorhergehenden vocal hat nach meiner Voraussetzung, wenig-
stens zum teil, zu einer zeit stattgefunden, wo das reducierte i
noch nicht geschwunden und die metathesis noch nicht ein-
getreten war.
Der hier besprochene lautwandel ist mit dem späteren
germ. i-umlaut verwant, z. b. anorw. ferr aus *fariR, Der
umgelautete vocal (e) wird zuweilen sowol im ahd. (z. b. airin
= erin) als in nord. runeninschriften durch ai bezeichnet, allein
der durch i-umlaut geänderte vocal bleibt kurz und ist nicht
diphthong geworden (vgl. J. Schmidt, Voc. 2, 473 f.).
Der lautübergang, wodurch zweisilbige vorgerm. formen
wie *krowr zu einsilbigen (germ. hraiw-) wurden, hängt viel-
30*
460 BUOOE
leicht damit zusammen, dass ein mehr musikalischer accent
in einen mehr energischen exspiratorischen accent übergieng.
Die consonantischen vermittler bei dem Übergang von
vorgerm. ä (ö) + reduciertem i zu germ. ai waren namentlich
r, l, n, m, v. Im folgenden führe ich alle die von mir behan-
delten Wörter auf, obgleich die erklärung bei mehreren un-
sicher ist.
Der vermittler ist
1) r; s. no. 2. germ. *air^; 3. got. airw«; 6. an. Ämnn; 7. got.
fraisau] 16. a,gs, Hrceda; 19, Bhi. cheren] 27. got. fcraida-; 30. isl.
smdri; 31. got. fraiw. Im ganzen bei 9 wortformen.
2) l; s. no. 4. ahd. feili; 5. got. mail] 10. got. aglaits; 34. ahd.
kleit. Im ganzen bei 4 wortformen.
3) n; s. no. 14. ahd. meinen] 15. an. subst. eimr\ 17. got. tains;
20. got. aih; 23. ags. dran; 28. ahd. heimo] 35. ahd. bein. Im ganzen
bei 7 wortformen.
4) m; s. no. 8. norw. adj.etm; 9. got. waiton; 18. ahd. neiVwan.
Im ganzen bei 3 wortformen.
5) w] s. no. 1. gothraiwa-; 11. ahd. araweiz: 21,^g;&.wdsend\
22. gotl. vajlunde; 24. ags. Idwerce. Im ganzen bei 5 wortformen.
Mehr isoliert sind die folgenden fälle:
rs als vermittler: no. 31. an. hreistr?;
nk als vermittler: no. 13 ahd. oheim.
Ferner ist bei no. 29. germ. faigja- eine vorgerm. form *po-
qdwyo' vorausgesetzt, in welcher ein q das vor wy stehende d
mit dem vorhergehenden o vermittelte.
Endlich habe ich für no. 25. ahd. reihhen und für 26. anorw.
reik vorgerm. formen vermutet, in denen ein vorgerm. ^ ein ä
mit dem folgenden reducierten i vermittelte und wo das ä nach
einem r folgte. Für no. 12. got. arbaips f., ags. earfod n. habe
ich vorgerm. *aräb9t-, für no. 32 ahd. ga-meit vorgerm. *mat9' (?)
vermutet.
Auch sonst treten die consonanten r, l, n, m, w ähnlich als
vermittler auf. In aind. grathitd-, trsitd-, mrditd' ist das a
* hinter muta, media und spirans' als i geblieben. Dagegen ist
dasselbe * hinter nasal und liquida' nicht geblieben: gräntd-,
jätd-, dlrnd-, purnd-^ (Bechtel, Hauptprobleme s. 218). Auch
nach w nicht: dlmSi. pütd-. In diesen wortformen ist, wie in
BEITRAGE ZUR VORGERMANISCHEN LAUTGESOHICHTE. 461
den von mir behandelten germanischen, eine silbe aus zweien
entstanden; freilich unter anderen betonungsverhältnissen.
Nach den im vorhergehenden gegebenen belegen kann germ.
ai teils aus urspr. (indog.) ä mit einem reducierten i, teils aus
urspr. (indog.) ö mit einem reducierten i entstanden sein.
Aus * u. a. in no. 8. norw. eim adj., 15. an. dmr subst., 21.
22. 30. 32.
Häufiger aus o. So u. a. in 1. got. hraiw-, 11. ahd. araweiz,
13. ahd. oheim, 14. got. tains, 18. ahd. ndman, 27. got. braids, 29.
germ. faigja-, 34. ahd. kleit
Bei mehreren Wörtern vermag ich nicht zu entscheiden,
ob indog. ö oder ein vocal der dem ä des lat. pario, des umbr.
Jcumaltu entspricht, vorauszusetzen ist; z. b. bei 2. germ. *airö.
Brugmann nimmt in seinem Grundr. an, dass indog. a
hinter der ersten silbe (im auslaut der zweisilbigen wurzel-
formen, in flexionssilben und suffixen) im aind. und avest. durch
i, im armen, durch a, im gr. durch a, im kelt. durch a ver-
treten ist, und er belegt dies durch nicht wenige beispiele.
Dagegen hat er keine spur des in dieser Stellung vorauszu-
setzenden indog. 9 im germ. nachweisen können. Durch meine
begründung habe ich dieser auffassung der germ. lautverhält-
nisse im vorhergehenden eine andere entgegen zu stellen ver-
sucht. Das reducierte i der von mir vorausgesetzten vorgerm.
formen entspricht einem aind. i oder einem gr. a oder beiden.
S. 1. got. hraiw-; 2. germ. airö; 5. got. mail; 6. an. Amww; 8. norw.
eim adj.; 15. an. dmr subst.; 18. ahd. neiman; 32. ahd. gameit
Diese Zusammenstellungen geben keinen beweis für die aus-
spräche des 9 im urindog. Allein z.b. nach hraiw- aus vor-
germ. *krow9' neben aind. Jcravi-, gr. xQsa, finde ich es un-
wahrscheinlich, dass indog. a in dieser Stellung als ein ge-
murmeltes kurzes a ausgesprochen wurde.
Der gegensatz des germ. hraiw- aus vorgerm. *hrow9-,
vgl. xQsa, zu got. miluks aus vorgerm. meld^-, vgl. ydXa, setzt
voraus, dass die zweite silbe von '^krow9- schwächer als die
von meb^- betont war. Daher vermute ich, dass die form
miluh- lautgesetzlich in der zweisilbigen nominativform ent-
standen ist. Dagegen scheint *krow9- in dreisilbigen casus-
formen, wo die zweite silbe unbetont war, lautgesetzlich zu
462 BÜGGE
hraiw- geworden zu sein, wahrscheinlich wo in der dritten silbe
i, ei oder e folgte.
Besonders interessant ist das Verhältnis bei no. 19: ahd.
cheren aus ^kairjan, vorgerm. ^garisiyo-] ags. cierran aus Vcarr-
Jan, vorgerm. *garsiyO'\ sin,keyra aus ^kaurjan, vorgerm. *öra-
VuSiyo. — Hier setzt ein gerra. verbum eine vorgerm. form
mit reduciertem i voraus; ein anderes, das mit jenem wesent-
lich identisch ist, eine vorgerm. form, worin s unmittelbar
nach r folgte (eine vorgerm. form auf der ^ nullstufe'); ein
drittes germ. verbum, das sich von jenen nicht trennen lässt,
setzt eine vorgerm. form mit reduciertem u voraus. Wie diese
Verschiedenheiten erklärt werden sollen, lässt sich aus den
historischen formen dieser verba nicht nachweisen. Allein es
ist wahrscheinlich, dass der Wechsel des reducierten i und des
reducierten u in den vorgerm. formen dieser verba durch den
in der flexion stattfindenden Wechsel der vocale der folgenden
Silben bestimmt wui'de (vgl. ahd. neiman, aus vorgerm. *wom,-
niyo-, neben got. glitmunjan).
Die abweichung des ags. cierran von ahd. cheren und von
an. keyra hat wahrscheinlich in betonungsverhältnissen der
vorgerm. spräche ihren grund.
Wo in den vorgerm. formen der von mir behandelten
Wörter ein consonant auf das reducierte i folgte, ist in den
entsprechenden germ. formen gewöhnlich eine Versetzung ein-
getreten: germ. rai aus vorgerm. ar„ lai aus alt, nai aus aw„
mai aus am,, wai aus aWi. S. no. 6. 7. 9. 10. 11. 12. 13. 16.
21. 22. 27. 31. 33. 34.
Zuweilen ist eine Versetzung vor einem consonanten unter-
blieben, wie es scheint, wegen des einflusses verwanter Wörter.
S. no. 15. 19. 20. 28. Dass Versetzung bei no. 18 ahd. nehnan
aus vorgerm. *nominiyO' nicht eingetreten ist, hat darin seinen
hauptgrund, dass die lautverbindung nm- im germ. anlaute
nicht gestattet ist. Aehnlich ist bei no. 30 smdri zu beachten,
dass das germanische anlautendes smr- nicht duldet.
Das aus vorgerm. ä (ö) + reduciertem i entstandene germ.
ai steht mehrmals zu germ. ce (e) im ablautsverhältnis. So
got. mail neben meljan (no. 5), wo mir das e urindog. scheint.
Gleichartig scheint mir das Verhältnis des got. fraisan zu
ferja (no. 7), ags. dran zum as. dran (no. 23), an. reik zu rdk
BEITBÄGE ZUR VOBGEBMANISGHEN LAUTGESOHIGHTE. 463
(no. 26); am ehesten auch das des ahd. fäli zu fäli (no. 4).
Anders fasse ich das Verhältnis des got. airus zum as. ärundi
(no. 3) auf. Das ce welches von ä in ärundi vorausgesetzt
wird, scheint mir speciell germanisch, und ich erkläre mir die
entstehung dieses ce daraus, dass die erste silbe damals, als
dies cB entstand, nicht den hauptton trug. Gleichartig hiermit
scheint mir das vocalverhältnis bei eim adj. — cemen (no.8),
eimr — am (no. 15), vajlunde — välan (no. 22). Germ. *airö
(no. 2^ aus vorgerm. *ard- steht zu rö in an. röär im ablauts-
verhältnis; ebenso an. Hrei&gotar aus "^hraiöi- zu ags. hreö-
aus *hrö2>i'. Die formen rö-, hröpi- sind mit gr. xgcc-öefipov,
vtO'öfiärog in betreff des langen vocals gleichartig.
Da das hier behandelte germ. ai aus vorgerm. a (d) +
reduciertem i entstanden ist, kann es natürlich zu ä und zu
den verschiedenen vocalen der e- reihe im ablautsverhältnis
stehen.
Neben ahd. araweiz (no. 11) findet sich arawlz, dessen i
ich aus schwa-i + schwa-i erkläre. Diesen Übergang bespreche
ich im folgenden artikel näher. Die ablautstufe im- neben eim-
(no. 15) ist wahrscheinlich speciell germ. und zu eim- nach der
analogie ähnlicher ablautsreihen gebildet. Ueber anorw. velendi
no. 22 vgl. den folgenden artikel.
Das zusammenrücken der zwei Silben zu der germ. einen
(von ä + schwa-i zu at) hat zur zeit der vorgerm. freien be-
tonung stattgefunden. S. meine bemerkungen zu as. ärundi
(no. 3), norw. cemen (no. 8), schw. am (no. 15), schw. välan (no. 22).
Der lautwandel macht überhaupt den eindruck, dass er
auf einer weit zurückliegenden stufe der sprachentwickelung
eingetreten ist. Vgl. z. b. no. 30 an. smdri aus "^smairhan-,
vorgerm. ^sm^rskon- neben mittelir. semrcLch. Ich zweifle nicht,
dass derselbe älter ist als die germ. lautverschiebung.
Es ist meine absieht, zwei artikel folgen zu lassen: II. zur
erläuterung des germ. i\ in. zur erläuterung des germ. au, eu
und ü,
CHRISTIANIA, april 1899. SOPHUS BUGGE.
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA
AUF 'ISCH.
I.
Die entwicblung des bösen Sinnes.
1. Durch unsere spräche geht seit beginn der neuen zeit
ein starker zug vom objectiven zum subjectiven. Das individuum
hat gelernt, zu den dingen der aussenwelt Stellung zu nehmen
im grossen wie im kleinen, in reformation und revolutionen
haben sich die Völker der neuen zeit das recht der freien mei-
nung erkämpft, in dem namen den der moderne mensch den
dingen gibt, heftet er ihnen das urteil an, das er über sie hat.
Da er aber nicht lauter neue Wörter schafft, um diesem streben
zu genügen, so verschiebt sich ihm die bedeutung der vorhan-
denen: glück ist ihm nicht mehr die art, wie etwas ausschlägt,
sondern der ausschlag zum guten (der alte sinn noch bei Luther,
z. b. Vom auffrürischen geist 3 und Müntzer, Schutzrede 19 des
neudrucks,9 beide 1524), und wie glück sind viele voces mediae
des mittelalters behandelt worden, z. b. pris, das unserm 're-
nommee ' im guten wie im bösen sinne entspricht, oder schulde,
das so gut nhd. * verdienst' wie nhd. * schuld' umfasst. Das
erste beispiel zeigt uns zugleich, wie die durch die subjectivie-
rung entstandenen lücken des Wortschatzes gefüllt werden:
durch heranziehung von fremdworten. Höchst bezeichnend aber
für die entwicklung unsrer spräche und für das übergewicht
des subjectiven triebes ist es, dass diese fremden ersatzwörter,
sobald sie einwurzeln, gleichfalls subjectiv gefärbt werden: bei
renommee, interessant, qualität hat sich eine entwicklung zum
^) Die belege sind nur dann ausführlich angeführt — wo nichts anderes
angegeben ist, nach band und seite — wenn sie sich in den Wörterbüchern
noch nicht finden.
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 465
guten, bei mechanisch, Schablone, schematisch zum bösen sinne
vollzogen. Daneben geht die entwicklung innerhalb des alten
sprachgutes immer weiter: gesellschaft und stand treten seit
dem ende des vorigen jh.'s im prägnanten sinne auf, familie
und weit erst in diesem (Burdach scheint mir in ßeimars und
Walthers verse einen zu modernen sinn zu legen, wenn er,
ßeinmar der alte und Walther von der vogelweide s. 9, deren
werlt mit * gesellschaft' übersetzt: nirgends fordert das mhd.
coUective werlt diesen gefühlston). Wie sehr der zug zum
subjectiven die nhd. spräche beherscht, zeigt sich auch darin,
wie schwer es der Wissenschaft, die die dinge objectiv fasst,
fällt, deutsch zu sprechen, und wie unmöglich es der alltags-
sprache ist, wissenschaftliche ausdrücke unverändert aufzu-
nehmen. Man denke an bedeutungsverschiebungen, wie sie
absolut, ästhetisch, dilemma, exact, indifferent, kritisch, moralisch,
originell, religiös, speculation, wahlverwant erfahren haben, so-
bald sie in die gemeinsprache aufgenommen wurden. Noch
eine beobachtung möge die ausdehnung unserer bewegung
zeigen: von den beispielen, mit denen Bechstein, Germ. 8, 330 ff.
den pessimistischen zug in unserer spräche beweisen will, ist
mehr als die hälfte subjectiv gefärbt worden und hat bloss
dadurch ihren bösen sinn bekommen: tyrann, pfaffe, unverschämt
u. a. sind mit hass erfüllt worden, buhle, wollust, geil, demokrat,
aristokrat, komödiant, literat, Schulmeister, tölpel, bauer, knecht,
dirne, wicht, mensch, armselig, erbärmlich, elend, pobel, dumm,
naiv mit Verachtung.
So Hessen sich noch hunderte von beispielen für diese ent-
wicklung vom objectiven zum subjectiven anführen, sowol für
den fall dass die alte vox media zu einem lobe, wie dafür
dass sie zu einem tadel geworden ist. Einen pessimistischen
zug unserer spräche darf man darin nicht sehen wollen, wie
es Bechstein a. a. o. mit einseitiger hervorhebung der fälle der
letzten art getan hat, aber allerdings zeigt sich ein übergewicht
dieser fälle. Den grund dafür muss man wol in neigung und
bedürfnis der alltagssprache suchen, die eben zum tadel mehr
affect braucht als zum lobe, und auch daran darf man wol
denken, dass die höhezeit dieser entwicklung, das 16. jh., dui'ch
ein hinabsteigen der literatur, ein versenken in die tiefen eines
politisch und religiös bis zur leidenschaft erregten, im kämpfe
466 GOETZE
beredten, mit lob und Zustimmung kargen Volkslebens bezeich-
net wird.
2. Durch jenen umstui-z im sprachleben wurde ein ganz
neuer Wortschatz zu tage gefördert und (was für uns allein
controlierbar ist) zur literaturfähigkeit erhoben, der bisher tief
unter allem Schrifttum gestanden hatte: mit ihm eine klasse
von adjectiven, deren entwicklung uns hier näher beschäftigen
soll: die adjectiva auf -isch. Vielleicht gerade weil ihre bil-
dung zu jener zeit weit um sich gegriffen hat, haben sie, so-
weit ihnen ein gefühlswert beigelegt worden ist, durchweg
eine entwicklung zum bösen genommen. Freilich nicht aus-
nahmslos. Zwar zum lobe gewordene adjectiva wie deutsch
und hübsch sind nur scheinbare ausnahmen, denn sie wurden
zur zeit der subjectivierung vom Sprachgefühl nicht mehr als
adjectiva auf -isch erkannt, aber auch andre durchbrechen die
regel: zunächst fremde adjectiva, die schon mit einem lobe
ins deutsche aufgenommen sind, so ätherisch, franz. ethere, erst
zu ende des vorigen jh.'s ins deutsche aufgenommen oder doch
allgemeiner geworden, vgl. Hildebrand im DWb. unter genie 10 f.
Zachariae, Poet. Schriften 1765, 1, 130, 1754 von Schönaich im
Neologischen Wörterbuch verspottet, nach Klopstock und Schiller
bei Jean Paul, z. b. Werke, Berlin 1840, 3, 26. 42 und Seume,
Spaziergang nach Syrakus 1^, 150 (1803). — balsamisch, franz.
balsamiqxie, ebenfalls bei Schönaich, Seume und späteren, doch
auch schon in Stielers Wörterbuch (1691). So recht ein ana-
kreontisches wort, schon ironisch bei Zachariae, Poet. Schriften
1765, 1,250: ein balsamisches theer tränkt ietzt die durstigen
räder, — exemplarisch ^exemplaris'. Lobend bei Grimmeis-
hausen, Simpl. 663. ') Courage 14. Keuscher Joseph 11; vgl. Anz.
fda. 4, 173. — musikalisch ^musicalis', Anz. fda. 4, 176. Germ. 29,
387. — politisch ^politicus, politique', Germ. 28, 395. 29, 389.
Zs. fdu. 10, 777 ff. Anz. fda. 4, 181.
Diesen als adjectiva übernommenen fremdworten schliessen
sich solche an, die erst im deutschen zu fremden Substantiven
mit lobendem sinne gebildet worden worden sind, so gravitätisch
^) Der Simplicissimus wird nach selten der ausgäbe A angeführt, weil
danach die stellen bei Keller, Kögel und Kurz leicht zu finden sind, Grim-
welshausens andere werke nach buch und capitel
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH, 467
ZU gravitas, oft bei Christ. Weise und Grimmelshausen. Fischart
kann doch nicht umhin, in das wort einen tadel zu legen: im
Ausspruch des esels v. 26 entstellt er es zu gröbitetisch (s. auch
Hauffen, Caspar Scheidt 22). Auch bei Serz, Teutsche Idiotismen,
Provinzialismen, volksausdrücke u.s.w., Nürnberg 1797, wird das
wort tadelnd verwendet: er kommt ganz gravitätisch, magnifice
se infert Jetzt hat es wol immer ironischen klang.
Deutsche adjectiva auf -isch können ein lob erhalten
a) wenn sie Übersetzungen von solchen f remdworten sind ;
so das junge dichterisch zu poetisch; haushältisch und haus-
hälterisch zu ökonomisch; heldisch neuerdings zu heroisch;
malerisch zu pittoresque (nicht vor Stieler zu belegen); redne-
risch und schönrednerisch zu rhetorisch; reiterisch und ritterisch
zu cavalier und chevaleresque, beide bei Stieler, reuterisch mit lob
auch in Grimmeishausens Courage 3, wo das DWb. seltsamer-
weise tadelnde bedeutung annimmt, und in der Deutschen
grammatik des Laurentius Albertus 71 d. n., dagegen mit tadel:
eyn zornig, vnchristlich, bitter hertz, vnd gar eyn hitzig, reute-
risch gehlüt, Ickelschamer, Clag etlicher brüder 43 d. n. (Rothen-
burg 1525); ohne gefühlston: die andern zween machten (d. i.
statteten) sich reuterisch aus, allein der amptschreiber von Zossen
. . . konte nicht zu fasse gehn (also die beiden reuterisch aus-
gestatteten tun das), der setzt sich auff einen pawrwagen Barth.
Krüger, Hans Ciawerts werckliche historien 35 d.n. (Berlin 1587) ;
retterisch für sauveur bei Stieler; staatsmännisch für politique
und weltmännisch für cavalier-, wol nicht vor Goethes Dichtung
und Wahrheit 15. buch (1814);
b) als Verneinungen von tadelnden adjectiven auf -isch.
Die meisten bildungen dieser art sind künstlich und selten:
unmüssiggängerisch, unschlächterisch, untyrannisch und unzän-
kisch bei Stieler, unweidmännisch in Zachariaes Poet. Schriften
1765, 1, 284, vnpfäffisch in Fischarts Bienenkorb 204 a, und
manches mit un- beginnende adjectiv in Campes Wörterbuch.
Alt und verbreitet ist allein unparteiisch: Lexer, Mhd. wb.
DWb. unter kreppisch. Murner, An den adel 5. H. ß. Manuel,
Weinspiel (1548) V. 3511. Faustbuch des christlich meinenden,
vorr. (auch Scheible, Kloster 2, 76). Scheidt, Grobianus v. 1902.
Goldast, ßeichshändel (1614) titel, vorr. 2. Simpl. 350. 353. Der
schlesisch - lausitzische ausdruck der unparteiische für ^dieb'
468 GOETZE
gehört wol zu partei in dem sinne ' streif corps zum plündern
und fouragieren', bezeichnet also scherzhaft den der nimmt
ohne einer solchen partei anzugehören. Eine unhaltbare er-
klärung bringt K. G. Anton in seinem Verzeichnis oberlausitzi-
scher Wörter (Görlitz 1825—48) 14, 6, doch auch er fasst den
ausdruck als scherz auf. Beispiele genug von solchen die der
ausdruck nach unsrer auffassung zunächst getroffen hätte,
stehen im DWb. unter gart {garde, stipis coUectio sive potius
extorsio Frisch), garten {garden, exire praedatum Schottel) und
garthruder {gardebruder = miles vagabundus, praedo mendicus
Stieler);
c) wenn das wort von dem sie abgeleitet sind, nachträg-
lich seinen tadelnden sinn zum lobe wendet ; so neckisch, schel-
misch (in der bedeutung ^zu heiteren possen geneigt' zuerst
und hauptsächlich bei Mitteldeutschen, vgl. ausser den nach-
weisen des DWb. Gryphius, Peter Squenz 25. Horrib. 66. Hay-
neccius, Hans Pfriem v. 2360 [Leipzig 1582]. Weise, Erznarren
203. GrimmeLshausen, Simpl. 117. 205. 439. 507. 717. Keuscher
Joseph 15); schalUsch (nur md. zu belegen); närrisch s. unter 21.
3. Die geschichte unserer adjectiva hat bisher mehr die
lexikographen als die grammatiker beschäftigt, sie ist mehr
analytisch als synthetisch behandelt worden. Jakob Grimm
hat in der Deutschen grammatik 2, 375 fl über ihre lautliche
gestalt und ihre Verbreitung, Wilmanns in der Wortbildungs-
lehre 467 ff. über die gesetze ihrer bildung. Kluge in der
Nominalen Stammbildungslehre § 210 f. über ihre älteste ge-
schichte gehandelt-, aber die entwicklung ihrer bedeutung ist
noch nicht im Zusammenhang dargestellt worden. Einen ansatz
dazu enthält Bechsteins erwähnter aufsatz. Das material im
einzelnen findet sich in unseren älteren und neueren Wörter-
büchern, bei Schade, Müller und Zarncke, Lexer, Maaler, Stieler,
Frisch, Adelung, Grimm, Kluge und Paul, dann aber auch in
den Wörterbüchern der md. und nd. mundarten. Schliesslich
wurde, soweit es nötig und möglich war, auf die quellen selbst
zurückgegangen.
4. Im allgemeinen ist die entwicklung der adjectiva auf
4sch folgenden weg gegangen: von haus aus bezeichnen sie
die herkunft. Hatte das wort von dem sie abgeleitet wurden,
einen lobenden oder tadelnden sinn, so teilten sie ihn. So
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 460
entwickelte sich der zustand, dass ein teil unserer adjectiva
einen tadel bezeichnete. Zufällig waren das gerade die häufig-
sten, die also im sprachbewusstsein einen grösseren räum ein-
nahmen als die ohne tadel. Darum gewöhnte sich das Sprach-
gefühl, diesen gelegentlichen tadel als einen wesentlichen
bestandteil der bedeutung der gruppe aufzufassen: neue adjec-
tiva auf 'isch wurden vorwiegend von solchen worten abgeleitet
die einen tadel enthielten, ja zu adjectiven mit anderen
Suffixen wurden nebenformen auf -isch gebildet, so
widersinnisch von Kant zu widersinnig (ebenso auch schon
Fischart, Garg.163). — eigenwillisch von Fischart, Bienenk.l74a
und ßingwald zu eigenwillig, — grätisch schlesisch und ober-
laus, zu grätig, Weinhold, Beiträge zu einem schlesischen wb.
unter grätig, K. G. Anton 8, 14. — drecksch oberlaus, zu dreckig.
K. G. Anton 7, 16. — gallisch zu gallig, Stieler, Frank, Krämer,
Paracelsus. — gr entisch zu grandig 'mürrisch' bei Sachs, Fabeln
und schwanke 1, 206. 513, zu scheiden von einem wie es scheint
rotwelschen grandig 'gross' nach franz. grand, Simpl. 253. Teut-
scher Michel 13. Springinsfeld 23. Vgl. femer Murner, Narren-
beschwörung 16,41. Moscheroschs rotwelsches Wörterbuch. Weim.
jb. 4, 83. K. G. Anton unter grandig. Hörn, Soldatensprache 118.
— statisch zu stätig 'störrisch' von pf erden, denn nur das kann
stätig bedeuten (vgl. Lexer, Maaler, Frisch, Adelung, Campe,
das Bremisch-niedersächsische wb.), und nicht 'lammfromm', wie
Spanier, Zs. fdph. 29, 420 Mumers stettig rösser übersetzt
haben will.
Schliesslich wurde es auch möglich, dass die ableitungs-
silbe erst den tadel in ein wort hineinbrachte, indem sie eine
tadelnde Übertragung veranlasste, und schliesslich wurden
adjectiva lediglich dadurch dass sie auf -isch endeten, zum
tadel. Diese letzte entwicklung ist sehr selten; eins der
wenigen beispiele ist jägerisch, zu dem Frisch bemerkt: 'ist
etwas spöttisch wegen der endung -isch, jägerlich ist besser'.
Wenn man auch keinen anlass hat, Frischs angäbe zu be-
zweifeln, so kann doch der spöttische beigeschmack \on jäge-
risch nur geringe ausdehnung gehabt haben, denn weder bei
Sebitz 1580 noch bei Goethe 1816 noch im heutigen bairischen
(z. b. Fliegende blätter 2731. 1897) ist ein tadel darin zu ver-
spüren, und schon 1775 erhebt Adelung einsprach gegen Frischs
470 GOETZE
jägerlich. Jedenfalls ist die aufstellung einer gruppe von ad-
jectiven dieser art praktisch ohne wert.
5. Die wenigen adjectiva auf -isch die in germanische zeit
zui'tickreichen, bezeichnen die herkunft. Es sind
ahd. mennisc — an. menskr — got. mannisks
2ihd. himiUsc — B.n.himne8kr
ahd.heimisc — zji.heimskr
ahd. diutisc — got. fyiudiskö
ahd. heidanisc — got. haipimsks
ohd.judeisc — got. iudaiwisks
an. hernskr — got. bamisks.
Diese ältesten adjectiva unserer klasse haben sich in den
späteren sprachen alle erhalten: himmlisch, jüdisch, heimisch
bezeichnen noch heute die herkunft vom himmel, den Juden
und der heimat : aber auch schon an diesen ältesten beispielen
erkennt man, dass sie durch eine leichte bedeutungsverschiebung
zum tadel werden können: bei jüdisch hat sich diese entwick-
lung in dem zu gründe liegenden Substantiv, bei an. heimskr
^diotus' in dem adjectiv selbst vollzogen.
6. In ahd. zeit wächst die zahl der adjectiva auf -isch.
Sie sind bei Grimm, Kluge und Wilmanns angeführt, so dass
hier eine aufzählung unnötig ist. Natürlich wächst bei dem
anschwellen der ganzen bildung auch die zahl der adjectiva
mit bösem sinne. Von tadelnden nominibus abgeleitet und
daher, aber auch bloss daher, mit einem tadel behaftet sind:
ahd. bruttisc 'schrecklich', von brutti * schrecken'; gtrisc * gierig',
von ^m*gier'; mordisc ^m'6riensch\ von mord; ^i^fec * töricht',
von toi, vielleicht schon gemeingermanisch: aschw. dulsker,
dylsJcer 'träge, gleichgiltig' bei Tamm, Et. svensk ordbok. In
den später zu tadelndem sinne entwickelten adjectiven gawisk^
dorfisc, gipürisch, kindisc, unadalisc ist der tadel wol erst im
keime enthalten, heidanisc, irdisc, weraltisc mussten im munde
eifriger Christen zum Vorwurf werden; dass das aber nicht
auf rechnung der endung zu setzen ist, zeigen die ihnen ent-
gegengesetzten frönisc, himilisc, erwirdisc. Immerhin ist zu
bemerken, dass bei einer verhältnismässig grossen zahl ahd.
adjectiva möglichkeit und wol auch neigung zu einer Wen-
dung ins moralische vorhanden ist; es muss aber betont
werden, dass diese neigung noch keine bestimmte richtung
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 471
eingeschlagen hat, weder zum guten noch zum bösen sinne:
beide wege stehen noch offen. Wir erkennen aber in den
angeführten beispielen auch schon den grund dafür, dass der
erste weg beschritten worden ist: gerade die häufigsten der
aufgezählten Wörter, gtrisc, mordisc, gipürisch, kindisc waren
nur dieser entwicklung fähig, die entgegengesetzten, erwirdisc,
adalisc, fronisc waren leichter ersetzbar und sind denn auch
früh ausgestorben, denn adelisch bei Luther, Mumer (An den
adel 36) und Agricola ist eine junge neubildung und ohne
gefühlswert: dass es hier u. ö., z. b. auch in Scheidts Grobianus
s. 4 d. n. ironisch gebraucht wird, ist wol zufall.
Die grosse menge der ahd. adjectiva auf -isc bezeichnet
die herkunft, die meisten sind von Völker- und ländernamen
abgeleitet: arabisc, frenkisc, crehhisc, nazarenisc, punikish, sama-
ritanisg, sirisc, spanisc, walahisc u. v. a.
7. Auch im mhd. bleibt das die hauptsächlichste Verwen-
dung unsrer adjectiva, und noch heute können wir fast zu
jedem völkemamen ein adjectiv auf -isch bilden. Aber gerade
weil diese klasse unserer adjectiva immer neu gebildet wird,
entwickelt sie meist gar keine eigne bedeutung: für die be-
deutungsgeschichte kommen nur wenige fälle in betracht, in
denen eine Übertragung der bedeutung stattgefunden hat. Zwei
beispielen für diese entwicklung sind wir schon oben in jüdisch
und heimisch begegnet, weitere mögen hier folgen.
vlämisch, d.i. 'flamländisch', war im mittelalter *fein ge-
bildet', denn aus den Niederlanden kam die ritterliche cultur
nach Deutschland, und nach Stalder 1, 376 bedeutet es in der
Schweiz noch 'das feine, zarte'. Flämisch zu reden hält der
junge Helmbreht und nach Grimmeishausens Vogelnest 1, 18
im schwedischen kriege ein Schwabe für vornehm. Umgekehrt
redet in Paulis Schimpf und ernst no. 484 ein heraufgekom-
mener nit nie sein sprach, er nimpt sich an schwebisch zureden.
Als eine andere culturwelle viele flämische colonisten über
Mitteldeutschland nach dem osten führte, bekam flämisch
offenbar nach dem grossen wuchs, der ernsten art und den
trotzigen gesichtern der Flemminge die neue bedeutung 'gross,
grob, plump, rücksichtslos' (im Hennebergischen ist auch hol-
landsch 'sehr gross', Zs. fdm. 3, 134; die lausitzische bedeutung
'sehr' ist wol eine abschwächung aus der folgenden; K. G.Anton
472 GOETZE
17, 19 vergleicht unflätig), dann in der Altmark und in Nieder-
sachsen, Schlesien und Nordböhmen, Franken, Henneberg und
Hessen * mürrisch, verschlossen, tückisch', schliesslich im Bairi-
schen wald, Nordböhmen und Thüringen (Stieler 496) *böse,
zornig'. Auf eine dritte, vielleicht noch bevorstehende, ent-
wicklung deutet Knothe, Markersdorfer mundart 38, wenn er
für Nordböhmen flamända *vagabund, liederlicher mensch' an-
führt. Sie entspräche einer dritten Invasion der Flamen, der
als herumziehender händler. Dieses neueste flämisch hat aus-
sieht, entwickelt zu werden, denn es kann an redensarten an-
knüpfen wie er ist von Flandern, vagi sunt eius amores (Serz,
Teutsche idiotismen 43 a), er ist aus Flandern, ein Fländerer,
er fländert (J.G.Berndt, Versuch zu einem schlesischen idiotikon,
Stendal 1787), mädchen aus Flandern (Schmeller 1,792), die aus
volksetymologischer umdeutung von fländern * flattern' ent-
standen sind (vgl. auch fländern im DWb.). Umgekehrt hat
wol auf die entwicklung des volksnamens flämisch zu ^mürrisch'
das weitverbreitete flanschen *das gesicht verziehen' einfluss
gehabt, namentlich die Verbindung flämisches gesicht ist durch-
aus = flunsch, doch darf man nicht mit Adelung flämisch in
diesem sinne überhaupt als ableitung zu flennen u.s.w. an-
sehen.
Auf einem umwege vom volksnamen zum tadel geworden
ist mhd. hiunisch. Begreiflicherweise hatten die Hunnen in
Deutschland nicht den besten ruf hinterlassen, das zeigt schon
die 38. zeile des Hildebrandsliedes: du bist dir, alter Hün,
ummet späher . . . , wo der tadel noch rein occasionell in das
Substantiv gelegt zu sein scheint. Doch hat sich wol Althün
als scheltname festgesetzt, vgl. Förstemanns Namejibuch 1, 757
und Grimm, Deutsche mythologie 490. hiunisch aber und hart-
hiunisch wurde scheltname für eine schlechte weinsorte (s.
ausser Lexer und DWb. Schmids Schwab, wb. Anz. fda. 4, 138 ff.
Zs. fda. 23, 207 und Zs. fdm. 1, 257. 2, 250. Weistümer 3, 487.
Fischart, Garg. 310. 313 f. Bienenk. 243 a. Ist vielleicht hundz-
wein Sachs, Schwanke 1, 262 = hiunischer wein? Dann könnte
htmdssoff und hundstrunh im DWb. als rausch von hiunischem
weine aufgefasst werden, hundsvoll und hundstrunken (auch
bei Sachs, Schwanke 1, 262. 594) 'von hundswein trunken'
heissen. Eine andere erklärung im DWb. und den Generibus
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 473
ebriositatis, das. unter hundsvolT). Unabhängig von dieser in
den Weingegenden, also namentlich im obd. vorgenommenen ent-
wicklung, wandelte die norddeutsche sage mit dem mittelpunkt
in Westfalen (Grimm, Myth, 490) die Hunnen in riesen. Das
zugehörige hiunisch gieng aus der bedeutung * riesenhaft' mit
neuem tadel in die von * ungeschlacht, roh, unedel' oder
* grimmig' über, des letzte oft bei Sachs, z.b. Schwanke 1, 25.
Widerum abweichend ist das bairische hünsch aus 'ungeschlacht'
zu 'gierig, heisshungrig' verengert worden. Sollte hier das
Wortspiel Ungern — hungern eingewirkt haben, das z. b. Murner,
Narrenbeschw. 88, 15 verwendet (vgl. Spaniers anm. zu dieser
stelle und unter 17)? Ganz anderer herkunft ist das weit-
verbreitete hinsch als name einer pferdekrankheit, Spanier zur
Narrenbeschw. 95, 78. Staub -Tobler 2, 1475. Jung ist hünisch
= 'wie ein hüne' in Jordans Nibelungen 1,15 u. ö.
Wenn Fischart, Garg. 374 das Ungeziefer seines beiden
das vngarisch vihe nennt, so knüpft er ausser an die unrein-
lichkeit der Ungarn (vgl. Sachs, Schwanke 2,421) an den grossen
rühm an, den das ungarische rindvieh in Deutschland genoss
(Garg. 381. Podagr. trostbüchlein 28). Es ist schwer zu sagen,
ob diese bosheit ein witz Fischarts oder eine redensart ist.
Geschichtliche Verhältnisse dagegen spiegeln sich in der ent-
wicklung die die Wörter sklavisch und polnisch im deutschen
genommen haben. Sklavisch wird etwa zu Fischarts zeit zu
'servus' geworden sein: Garg. 161 meint auff türckisch vnd
sclavisch bloss die spräche, 163 den sclavischen Bömern die
denkart, Grimmeishausen nimmt lieber sclavonisch oder böh-
misch, wo er Volk und spräche meint, aber schon für Fischart
ist eine bildung wie übersklavisch möglich: vberschlavischer,
vberknechtischer dienst übersetzt er Bienenk. 187 a hyperdulia,
Polnisch ist in Schlesien und Sachsen, in dem lande das an
Polen grenzt und dem das lange mit ihm politisch verbunden
war (bei Bernd, Die deutsche spräche in dem grossherzogtum
Posen und einem teile des angrenzenden königreiches Polen,
fehlt es), ferner in Baiern zu 'liederlich' geworden in den
redensarten hier siehts polsch aus, heute manchen wir pohlsch,
es geht pohlsch über eck. Ein stück geschichte lebt in der in
den Sudeten üblichen wendung es sitt aus wie im pulschen
kriege (Albrecht, Leipziger mundart) und dem in Sachsen und
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 31
474 GOETZE
Franken üblichen hier siehts aus wie im bohlschen reichstag
(Albrecht und Serz). Mit unrecht zieht Schmeller das dänische
polisk hierher, denn das ist, wie die nebenf orm polidsk und die
bedeutung * verschmitzt' anzeigen, = politisch, das ja auch im
md. nd. vielfach in diesem sinne auftritt. Auch das schwedische
kennt ein politisk * schlau' neben polsk * polnisch'. Dass pokk
hier zum tadel würde, ist schon wegen der alten Waffenbrüder-
schaft der Polen und Schweden unwahrscheinlich. Von einem
verrückten kleiderschnitt heisst es Simpl. 137: die hosen waren
auf polnisch oder schwäbisch, und das wams noch wol auff eine
närrischere manier gemacht Die hosen waren, wie s. 207 lehrt,
sehr eng.
Häufig kommen adjectiva von völkernamen, weil sie eine
fremde, unverständliche spräche bezeichnen, zu der bedeutung
'unverständlich, seltsam, verkehrt'. Verbale ausdrücke dieser
art führt Hildebrand im DWb. unter kauderwelsch an; von
adjectiven auf -isch gehören hierher: hebräisch 'unverständlich'
Fischart, Bienenk. 55a. 79a; — lateinisch vielfach 'gelehrt- ver-
kehrt'; — winsch aus windisch 'unbeholfen, einfältig, verkehrt'
K. G. Anton 15, 12; — ucJcerwendsch, göttingisch und bremisch-
nieders. 'eigensinnig, albern', altmärkisch auch 'unordentlich,
verkehrt'; — krabatisch 'wunderlich' bei Fischart: crabatisch
verzunckt, von griechischen buchstaben, Bienenk. 228 a; welches
(Gargantuas mantel) mächtig lustig crabatisch sähe Garg. 180 ;
gut krabatisch geschirr 229; ein krabatischen verrenkten bossen
reissen 354; — böhmisch in den redensarten böhmische dörfer,
schon Simpl. 21, von Schmeller durch ein spottverschen auf die
czechischen dorfnamen erläutert, böhmischer ohrleffel Simpl. u. ö.
von einem starken knotenstock, böhmischer sträl Garg. u. ö.
'fünf zinkiger kämm', und in ausdrücken wie: mausen und der
pferdte warten, worzu die böhmische art, wie ich höre, die beste
seyn soll Courage 2; disz böhmisch handw&rck ebda., vom stehlen,
vgl. Sachs, Schwanke 2, 421. Die vorwürfe die hier den Böhmen
gemacht werden, sind also unverständliche spräche, gewalt-
tätigkeit, unsauberkeit und dieberei. Eine geschichtliche er-
innerung birgt dagegen der satz du (Luther in Woims) wür-
dest mit deinem predigen, beheymische geschenck geben, clöster
vnd stifft, welche du ytzt den fürsten verheyssest Th. Müntzer,
Schutzrede 38 d. n. Erklärt wird die stelle durch Mumer,
ZUR GESCHICHTE DEE ADJECTIVA AUF -ISCH. 475
Narrenbeschw. 35, 32. Dan du (Luther) . . . vnderstast vnsern
glauben zu schedigen, vnd höhemische meren zu verkünden Mumer,
An den adel 22 d. n. geht deutlich auf die Hussiten; — zigeu-
nerisch 'vagabundus et vage' Stieler. Auf die zigeuner als
marktschreier zielt der satz jnen das pludermusz vnd wurm-
samenhat auff zigeinerisch eingauckelen Garg. 302; — spanisch
noch fast im eigentlichen sinne bei Grimmeishausen: da satzte
es schmale hiszlein, so meinem magen, der nunmehr zu den
westphälischen tractamenten gewöhnet war, gantz spanisch vor-
kam Simpl. 371. Uebertragen schon ley diesem herrn kam mir
alles widerwertig und fast spanisch vor 174. Der herr ist ein
Kroate. Allmählich hat man die herkunft der wendung so
ganz vergessen, dass die gelahrtheit des magisters Serz und
CS. T.Bernds dabei an gr.cjtavcog gedacht hat, mit dem es
natürlich ausser durch diese gelehrte Volksetymologie nicht im
geringsten zusammenhängt. Eine spur schliesslich der Inqui-
sition sind die spanischen Stiefel und der spanische mantel; —
kauderwelsch, weitverbreitet in der älteren spräche: Fischart,
Praktik 11. Bienenk. Ib. Grimmeishausen, Teutscher Michel 5.
Simpl. 684. Gryphius, Peter Squenz 12. Stieler. Germ. 28, 371,
und in den neueren mundarten: Bernd. Zs. fdm. 1,286. 2,247.
6,292. Freier als der heutige Sprachgebrauch bewegt sich
Grimmeishausen, Vogelnest"2, 3 : so kauderwelsch . . . , dasz ich
keins verstehen kante, und Serz: kauderwälsch, verborum prae-
stigiae, mixobarbarum; kauderwälsches latein, cum faunis et
äboriginibus loqui; — krautwelsch, nach dem urteile des Tirolers
Schöpf, Zs. fdm. 6, 292 nur eine entstellung aus kauderwelsch ;
— kurwelsch, als churwallisch zuerst in einer Graubündner Ur-
kunde. Fischart, Garg. 31; — rotwelsch, zunächst und noch heute
die stark mit welschen brocken versetzte spräche der bettler
bezeichnend (der erste teil des wortes selbst ist welsch: rupta
> mhd. rote), aber früh verallgemeinert zu 'ungereimt' (Grim-
melshausen, Teutscher Michel 13) und 'unverständlich'. Ganz
allgemein in Holteis Schlesischen gedichten, ausgäbe letzter
hand 218: uflateinsch a brünkel ruthwälschen; — kinder-, klug-
welsch in Kluges wb. unter kauderwelsch; — rebsteckenwelsch
Grimmeishausen; — zeitungswelsch Grenzboten vom 5.6. 1897
(58,18) s. 213; — gotisch nahmen die Deutschen, vorurteilslos
genug, in der bedeutung 'mittelalterlich beschränkt' aus dem
31*
476 GOBTZE
französischen herüber, oft bei Goethe. Vgl. Zs. fdph. 30, 510.
J. Grimm, GDS. 454 *). Socin, Schriftsprache und dialekte 12.
Paul, DWb.
deutsch, Luther hat einmal, vielleicht an ein im yolke
lebendes Wortspiel denkend, ein gewundenes und gedehntes
deutsch wendisch oder denisch deudsch genannt. Natürlich
machen es unsere nachbam mit uns nicht besser, als wir mit
ihnen: im dänischen heisst, in unbewusstem Widerspruch zu
der etymologie des wortes deutsch, det er tydsh for mig 'das
sind mir böhmische dörfer'; von einem kinde das noch nicht
ordentlich sprechen kann, heisst es: harnet taler endnu tydsk:
eine bestätigung für Fr. PoUes ansieht von der volksmeinung
über fremde sprachen; auf die deutsche grobheit zielt der aus-
druck: hau hliver saa vred soni en tydsker. Noch gröber sind
unsere slavischen nachbam, die uns überhaupt die spräche ab-
sprechen und uns nevnM 'stumm' nennen. Im norditalischen
heisst todescare 'unverständlich sprechen', im übrigen ist den
Italienem an uns Deutschen der grosse durst das auffallendste
gewesen, so bei Scheffels trinkas wein alla tedesca (Gaudeamus,
Abschied von Olevano), aber auch schon in K. Scheidts vorwort
zum Grobianus 4 d.n. und in Basiles Pentamerone (l.tag, 7.mär-
chen. 2. tag, 7. märchen und Liebrechts anmerkungen in seiner
Übersetzung). Die Franzosen haften sich über die deutsche
Schwerfälligkeit auf, ein beispiel dafür steht im Simpl. 384, wo
ein französischer arzt zu Simplicius sagt: ihr redet von der
sacke wie ein teutscher, wan ihr aber einer andern nation wäret,
so wolte ich sagen, ihr hättet davon geredet tote ein narr (das
wolte verrät, dass der satz aus dem französischen übersetzt
ist). Umgekehrt ist im deutschen seit Brants, Luthers und
Huttens tagen deutsch zum lobe geworden; die ganze entwick-
lung lässt sich bei Grimmeishausen zeigen und wir führen
daher einige beispiele aus seinen Schriften hier an: zunächst
heisst deutsch deutlich von der spräche: sagte dieser mit teuischen
Worten Simpl. 87; meinen au^zdrücklichen teutschen Worten Keu-
scher Joseph 8 (von der Egypterin Selicha), femer vom inhalt
der rede: dasz sie mir endlich na>ch lang -gehabter mühe und
vergeblicher umschwaiffender wdtläuffigkeit nur aJlzu tewtseh
zuverstehen gab Simpl. 217; sie solte aber nicht so dunckd,
sondern fein teutsch mit der spra^che herause 340; teutscher eu
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 477
reden Simpl. 2 continuatio (Keller 1023) = Courage 22 = war-
haffter zu reden Teutscher Michel 4 (derselbe comparativ auch
in neuen mundarten: des muost mo deutscJiQ machn 'besser aus-
deutschen' Schmeller 1, 555); wan ich dir ausz brüderlicher liebe
teutsch herausz sage 489; der könig fing selbst an sein gut teutsch
mit mir zureden 'mir ohne Umschweife vorwürfe zu machen'
553 (in Kögels ausgäbe sind die Seitenzahlen 553 und 554 ver-
druckt). Schliesslich von der gesinnung: werde ich . . . mich so
gut teutsch erzeigen 274; ich muste schweigen, weil Spring-ins-
feld ausz einem teutschen auffrichtigen hertzen mir die warheit
so getreulich sagte 321; so vertraue ich meine person ihrer an-
gebornen teutschen redUchkeit 393. Ganz vergessen ist der
eigentliche sinn des wortes im Keuschen Joseph 11: Musai, der
allerdings nach der Elamiten art einen offenhertzigen teutschen
sinn hatte,
altdeutsch konnte erst zum lobe werden mit und nach der
ausbildung d«s Hermanncultus. Aus Fischart gehört hierher
die alt teutsch tugendmutsamJceyt Peter von Stauffenberg v. 79
(1588); vnd für alt teutsch standhafftigkeyt reiszt ein weibisch
leichtfertigkeyt Eikones 1,47 f.; aus Grimmeishausen: auff gut
alt-teutsch, ohn einzige bemäntelung und gleisznerey Simpl. 441;
bey christlicher treue und altteutschem bidermannsglauben 760.
Stieler kennt altteutsch nur als bezeichnung für verba obsoleta ;
ebenso altväterischteutsch 2277; undeutsch ist 'undeutlich' ge-
worden, so schon bei Luther: so ich nu nicht weis der stimme
deutunge, werde ich vndeudsch sein dem, der da redet, vnd der
da redet, wird mir vndeudsch sein. Bei Grimmeishausen ist es
widerholt 'nicht deutsch': ausz jedem unteutschen wort Simpl.
686; die unteutsche hinter Liffland 689; an einigen undeutschen
orten Vogelnest 2, 16. Mit tadel: dasz ein solcher phantast . . .
sich verlarven, mit allem fleisz zum unteutschen manchen und
seine redliche landsleut veraschten will Teutscher Michel 3;
seltzam, unteutsch und unverständlich Simpl. 660.
Während der name deutsch überall in Deutschland, wo er
einen gef ühlswert bekonmien hat, zum lobe geworden ist, sind
die namen der einzelnen stänmie mannichfach mit tadel be-
hängt worden, der meist harmlose neckerei zum ausgangspunkte
hat; pommerisch enthält den Vorwurf des bäurisch kräftigen
in der wendung pommrischer trunk bei Stieler und Schmeller;
478 GOBTZB
preussisch ist in den Zeiten des particularismus in Sachsen zum
Schreckenswort geworden: da gennte merja hreissch warn heisst
*das ist um aus der haut zu fahren'. In der Schweiz bedeutet
prüssisch 'grob, brutal'; schwäbisch hat an einer stelle bei
Fischart einen tadel: dann ich Tcan auch noch fünff sprachen
ahn schwätzenschwähisch, das ist die sechszt, heiszt lügen Garg.
459 (geschwätzigkeit wirft auch Sachs den Schwaben vor,
Schwanke 2, 421, ebenso Kümelant dem Marner: daz ander rat
dir swcebisch melt, din diutsch ist uns ze drcete MSH. 3, 56 b).
Ferner das häufige wort 'schwäbisch ist gäbisch'. fränkisch
wird in der Altmark gebraucht wie sonst spanisch: dat wärt
di fränJcsch ankaomn Danneil. Hiermit vergleiche man, dass
schon Luther in den Tischreden die spräche der Franken als
groh und vngehöflet bezeichnet, femer die Untugenden die un-
gefähr gleichzeitig der Schwabe Frank und der Baier Sachs
den Franken nachsagen: geldgier, räuberei und gotteslästerung,
raub und trank. Schliesslich gehört hierher altfränkisch, das
bei dem Franken Hugo von Trimberg natürlich ohne tadel
erscheint:
auch sol man noch besvnder danken er sei der alten f renkischen lente :
eins Sprichwortes aUen Franken. die waren einveltich getreu, gewere.
man sprichet gern, swen man lobt wolte got, daz ich alsam were
hevte, Renner 22264 ff.
Der Tiroler Vintler bezeichnet in seiner Blume der tugend um
1411 das wort als neumodisch. Im schlesischen hat es, schon
1640 bei Wencel Scherffer, den beigeschmack von 'einfältig'
angenommen, doch scheint dieser durchaus auf den osten be-
schränkt geblieben zu sein, denn sowol bei denen die vor und
mit Scherffer zugleich schrieben (Maaler. Fischart, Garg. 446.
Grimmeishausen, Simpl. 314. 657. Vogelnest 2, 1) wie auch in
den heutigen mundarten ist es durchaus nur 'altmodisch'. Ob
in bairisch eine neckerei liegt, wenn Grimmeishausen, Simpl.
195 sagt: unter den falschen würffein befanden sich Niderländer,
ivelche man schläiffend hinein rollen muste . . . , andere waren
oberländisch, denselben muste man die bayrische höhe geben,
wan man werffen wolte, ist nicht zu sagen: die beiden andern
ländernamen sind nur der äusseren anlehnung wegen eingesetzt.
Auch einzelnen Städten wird ein tadel angehängt, den
bedeutendsten zuerst, vor allen Köln. Kölnisches gewicht sind
ZÜB GESCHICHTE DBB ADJECTIVA AUF -ISCH, 479
'schlage', in Holland 'zu leichtes gewicht', Kölsche muff 'maul-
hänger' werden die Kölner im Kheinfränkischen gescholten
(Zs. fdm. 3, 555), am verbreitetsten ist die redensart vom Köll-
sehen hötchen, in der den Kölnern nachgesagt wird, dass sie
noch einmal so viel auf die wäre aufschlagen, als sie zu nehmen
vorhaben. Zu Hildebrands belegen im DWb. Woeste, Wb. der
westf. ma. 138. Mit dieser redensart fällt die vom niderlenschen
bieten (Murner, Schelmenzunft 2, 20) zusammen : der Alemanne
Murner meint mit Niderland eben Köln. In Oberdeutschland
spielt Nürnberg die rolle von Köln: vff Nürenbergerisch handien
(Zarncke zum Narrenschiff 48, 86) entspricht hier dem Koll-
sehen hötchen. Andre äusserungen des unmuts über Nürnberg
stehen bei Murner, Schelmenzunft 16, 27. 28, 40. Narrenbeschw.
79, 14. — sodomitisch, Sodomit war nach 1. Mos. 19, 4 ff. zuerst
in der theologischen und juristischen spräche zu 'knaben-
schänder ' geworden, aus dem Schwabenspiegel bringt Adelung
ein beispiel dafür, dazu sodomitisch Fischart, Bienenk. 146b.
Frisch 2,284 a. Adelung 4, 501. Campe 4, 463. — altwilisch Garg.
40 f. bringt J. Grimm im DWb. mit mhd. altvil 'hermaphroditus'
zusammen; da aber bei Fischart beide male der sinn ^altmodisch'
sein wird und gleich nach der ersten stelle Rastatt, Schilck-
haim und Henau (Schiltigheim und Hagenau) genannt werden,
so ist es wahrscheinlicher, dass Fischart an das dorf Altweiler
im kreise Zabem gedacht und dass ihm dabei doch mhd. wile
vorgeschwebt hat: das wäre ganz fischartisch. Diese erklärung
scheint mir näher zu liegen als die Grimms unter altwilisch
und auch unter antiquisch, wo er altwilisch für eine scherz-
hafte Verdrehung oder für einen druckf ehler für altwibisch hält.
Fast überall tragen hier adjectiva auf -isch einen tadel,
den ihre grundworte nicht oder doch nicht so scharf aus-
drücken ; man darf aber doch nicht den tadel schlechtweg auf
rechnung der endung setzen, wie es z. b. Albrecht, Leipziger
ma. s. 42 tut : gerade bei seinen beispielen Pegsche schuster und
de Zwickschen liegt die misachtung schon in den grundworten:
man denke bloss daran, dass Pegau hierzulande nicht anders
als Kuhpege heisst. Auch brauchen es nicht immer die adjec-
tiva auf 'isch zu sein, die den tadel tragen, so namentlich
wenn dieser seinen Ursprung nur einem zufälligen anklang
dankt^ wie bei der in Leipzig beliebten ZwenJcschen laune,
480 GOETZE
d. h. der neigung, mit den äugen zu zwinkern. Oft entwickelt
sich hier gar kein adjectiv, so in der gleichbedeutenden frage
an einen gähnenden was machen se denn in Jene? den schelt-
naraen Lappländer (* schlecht gekleideter mensch, um den die
läppen hängen' Albrecht. Bemdt, Versuch zu einem schlesischen
idiotikon), Nassauer, Potjsdamer, Cappadocier (Renner 3939
neben diep, trvgner, lugncr\ Schwetzinger (Fischart, Bienenk.
195b), Butzmaclier (lügner', butzhacherei ^aufschneiderei' Schmid,
Schwäbisches wb. 111), Hotteniott (^Centaurus est' Serz), Lappen-
hauser und Altenhauser (Sachs, Schwanke 1,588 ff. 2, 314). Dass
aber dennoch das adjectiv viel öfter einen tadel ausspricht als
das grundwort, liegt daran dass es einen vergleich und damit
ein Werturteil enthält: Kölsch ist nicht mehr bloss *aus Köln
stammend', sondern *wie in Köln', und femer daran dass in
dieser function viel eher eine Übertragung möglich ist.
8. Wie die Ortsnamen zu den ländemamen, so verhalten
sich zu den Völker- die personennamen und entsprechend
ihre ableitungen unter einander. Auch von ihnen sind einige
zum tadel geworden: gretisch 'weibisch' bei Mumer, Geuchmatt
V.157. 1791. 1797.1871. Maaler 144d. 192c. Stieler; zu Grete,
im allgemeinen sinne verächtlich 'mädchen', hierzu Wacker-
nagel, Kl. sehr. 3, 137. ^Gritte oder Grete, für Margarethe; doch
meist nur, wenn man tadeln und schelten will. Dumme, a(o)l'
berne Gritte s. auch Pimpelgrüte^ Bernd, Die deutsche spräche
in Posen. Auch ausserhalb Deutschlands: Margarethe heisst
hei den Siziliern durchaus ein gefälliges, feiles mädchen Seume,
Spaziergang 1^, 166. epikurisch hat seit Luther immer die be-
deutung * gottlos und genusssüchtig', so im Spiesschen Faust-
buch von 1587, s. 105 d. n. Simpl. 257. 261. 348. Ebenso das
grundwort: Epicurus ist bei Sachs, Schwanke 1, 139 haupt-
mann der schlauraffen, epicurer ist bei Fischart, Bienenk. 206 b.
208 b und Grimmeishausen, Simpl. 512. 643 schlechtweg ' Schlem-
mer'. — matthiasch 'gestreng' von einem herscher bei Luther,
von Matthias Corvinus; s. Zs. fdph. 26, 48 f. 430 f. — beelze-
bubisch, ludferisch, satanisch haben wie teuflisch tadelnden sinn
und lassen sich sämmtlich aus Fischart belegen: Bienenk. 217b.
Jesuiterhütlein v. 263 und 549, zu dem dritten s. Germ. 28, 400.
29, 393, zu dem zweiten lucif ersehe hoffart Luther, An den christ-
lichen adel 40.
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCR. 481
Diese ableitungen von personennamen führen uns schliess-
lich auf die namen der religiösen parteien des reformations-
zeitalters, die hier zusammengestellt werden mögen, lutherisch
hat jetzt in katholischen gegenden Baierns oft einen feind-
seligen, mistrauischen beigeschmack (Brenner, Zs. des allg. d.
Sprachvereins 12, 92); der bairische herzog Wilhelm IV. (1508
— 1550) sagte einst zu seinem hof Staat: saufft, frest, huret:
werdet nur nicht Lauterisch (der Chronist fügt hinzu: sie enim
dixit pro Lutherisch, denn er war ein Sewlair Schmeller 1, 1541.
Das geschichtchen auch bei Fischart, Garg. 142. Woher der
name sewpayren kommt, sucht Sachs, Schwanke 1, 317 zu er-
klären, vgl. 2, 303). Im Elsass werden die Protestanten luth-
rischi dickkepf gescholten (Zs. f dm. 3, 483), und wol von anf ang
an ist das wort feindselig gemeint, denn nach Luthers schrift
Wider Hans Worst 49 scheint es zuerst von erzbischof Al-
brecht von Magdeburg, also einem gegner Luthers, gebraucht
worden zu sein. Luther selbst wendet es nur an, wo er worte
seiner feinde anführt oder verspottet, und auch in der zeit
kurz nach ihm überwiegt durchaus der gebrauch im munde
der gegner ; bezeichnende beispiele stehen in der Zimmrischen
Chronik 2, 322 und 3, 630, bei Sachs, Fabeln 2, 408. 412 und in
Fischarts Bienenk. 107 b. Eine erinnerung an die geusen ent-
hält wol die nnl. scherzrede luthers wezen für *kein geld im
beutel haben' (Molema, wb. der groningenschen ma.; gösisch
Bienenk. 171a; das grundwort j^öä im Podagr. trostb. 16,30, wo
Haüffens erklärung wol nicht zutrifft), einen wortwitz das
bekenntnis des trinkers im Garg. : ich hin kaltwinisch (s. o. alt-
wilisch), wenn ich jn (den wein) kalt habe, und Lutherisch,
wenn er trüb ist (lüter). — Zu kalvinisch ist ausser diesem
beispiele noch die schweizerische redensart anzuführen en kal-
vinische mage ha 'alles vertragen können' (Staub-Tobler 3, 238).
Nach Kochlitzer gerichtsrechnungen ist ein dortiger pfarrer
1604 vor einen calvinischen hurentreiber gescholten worden
(Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde 5, 7). —
ketzerisch ist in einem ratsprotokoll von Ulm 1517 'sodomitisch',
ebenso im älteren dänisch. Unbeirrt davon kommt es z. b. bei
Luther und Fischart vor: An den christl. adel 12. 15. 18. 61. 65.
Wider Hans Worst 18. 20 u. ö. Bienenk. IIa. 16a u. ö. Garg. 5,
387, auch bei Sachs, Fastn. 5, 37. — täuferisch und wider-
482 GOETZE
täuferisch sind tadelnd, so oft sie vorkommen, bei Luther, aber
auch noch im Flöhhaz v. 1999 und Simpl. 491. 575, namentlich
der Vorwurf der Vielweiberei liegt ganz gewöhnlich darin, vgl.
Luther, Wider Hans Worst 58. — zwinglisch zuweilen mit
tadel: man sagt, das itzt ettUcJie papisten zwinglisch sind Luther,
Von der winckelmesse vnd pfaffen weihe 24 d. n.; das die gott-
selligen Stiftungen von den zwinglischen schwermem also jemer-
liehen sollen zerrissen und vernichtet werden Zimmrische chronik
1, 192. — katholisch zeigt von allen diesen worten die reichste
entwicklung. Am mildesten ist hier der tadel, wenn es in der
Schweiz 'sonderbar, fiemdartig' bedeutet, in Westfalen und
Nordböhmen ist es zu 'fügsam, willenlos', in der Schweiz weiter
zu 'dumm' geworden, diesen klang hat auch Fischarts häufiges
katholisch oder katzwollisch (das o war kurz : catollischen Zinmir.
Chronik 3, 377). In Posen, Pommern, der Altmark, Sachsen,
Thüringen und der Schweiz ist es in der redensart das ist ja
um katholisch zu werden = 'verrückt' (ohne tadel dagegen asz
me möcht katholisch werde in Hebels Alemannischen gedichten.
Die feldhüter). Dänisch catholsk ist geradezu 'toll', schwedisch
katolsk 'unrecht, verkehrt', und das Göttingische (Schambach
140) hat gar die Zusammensetzung muttenkatholsch, mit der
einem verdriesslichen menschen gleichsam nachgesagt wird,
er sei aus lauter ärger (mutten wie sonst mucken, grillen)
katholisch geworden. In Kaspar Stielers Geharnschter Venus
121 d.n. wird katolisch ein mädchen genannt, das es mit allen
männern hält: sollte dieser bedeutung die etymologie des
Wortes zu gründe liegen? Umgekehrt hat das wort in katho-
lischen gegenden den sinn von 'echt und recht, vernünftig'
angenommen, so (allerdings ironisch) gut catholisch Fischart,
Bienenk. 196b. 233a. 234a, gut vnd catholisch 36b. 51a, gleich-
bedeutend gut mönchisch Grimmeishausen, Immerwährender
calender (Kurz 4, 248) ; in der Schweiz heisst es bei recht-
schaffener kälte hüt is katholisch, in Baiem ists in der Wen-
dung da gehts nicht katholisch zu 'rechtmässig'; einen katholisch
machen heisst hier und in Nordböhmen 'ihn zur Vernunft
bringen' und so ganz geht in dieser wendung die grund-
bedeutung des wortes verloren, dass der Oberpfälzer seinem
störrischen ochsen zuruft: wart, i will di katolisch machng!
An die guten klosterweine denkt Fischart, wenn er Garg. 87
ZUR GESCHICHTE DES ADJECTIVA AUF -ISCH. 483
sagt: nur catholischen wein her, so sich cmff seine gute verlaszt,
das zeigen die gleichbedeutenden Wendungen neben eym kännlin
gutes reinischen weins, den man theologischen wein nennet Bienen-
k. 4b; vinum theologicum oder theologantenwein, noch vinum cos
oder kostwein, dag ist, wein ausz desz pfarrhers fäszlein 4b;
so nem man vom besten vino theologico, oder vom wein, den die
babilonisch hur (der papst) den fürsten vnd königen einzu
schencken pflegt 241b. Und noch heute in der Schweiz das
stg iez au wider emol es katolisches tröpfli
9. Die zuletzt besprochenen worte und ihre Synonyma
gehören einer klasse unserer adjectiva an, die die entwicklung
des bösen sinnes sehr anschaulich zeigt und die wir daher bei
dem schriftsteiler der sie in voller entwicklung zeigt, bei
Luther, an einigen beispielen im Zusammenhang betrachten
wollen: es sind die adjectiva auf -isch, die die Zugehörigkeit
zu einer partei bezeichnen. Johannes Clajus, der seine gram-
matik auf beispielen aus Luthers deutschen Schriften aufgebaut
hat, sagt s. 57 d.n.: in -isch desinentia possessionem significant,
aut proprietatem, aut gentem, aut patriam, aut sectam, zu den
adjectiven der letzten klasse rechnet er keiserisch, königisch,
churfürstisch, lutherisch, papistisch, caluinisch, fladanisch. Die
meisten dieser beispiele sind ohne tadel, und in der tat bedingt
die Verwendung unserer adjectiva zur bezeichnung der partei
keinen tadel: parteiisch und unparteiisch gebraucht Luther
regelmässig so, auch 1. Cor. 1, 12 ist ohne bösen sinn: ich sage
aber dauon, das vnter euch einer spricht ich bin paulisch, der
ander ich bin apollisch, der dritte ich bin kephisch, der vierde
ich bin christisch, ebenso 1. Cor. 3, 4: denn so einer saget, ich
bin paulisch, der ander aber, ich bin apollisch (ähnlich dasz ich
weder petrisch noch paulisch bin Simpl. 349; der bibelisch pau-
lisch vnd euangelisch luft möcht in ketzerisch machen Bienenk.
196b; vgl. 232a. Garg. 5; wörtlich an die Vulgata hält sich
dagegen Fischart oder sein niederländisches vorbild Bienenk.
29\): das in der gemein der Corinther etliche sich nanten Petri
jünger, die anderen Pauli discipeln, die driten apollisch etc.).
Dagegen stellt sich der tadel sofort ein, wenn Luther von den
angehörigen einer feindlichen partei redet, wenn er bekennt:
wir sind widder bepstisch noch carlstadisch, sondern frey und
christisch, oder wenn er klagt: viel ebräisten sind, die mehr
484 OOETZE
rabhinisch, denn christisch sifid; zum bittersten vorwarf steigert
sich der böse sinn in Luthers bepstisch und papistisch.
Beide Wörter sind in der reformationszeit und später überaus
häufig, natürlich nur auf protestantischer und calvinischer
Seite. Für Luther vgl. noch die papistischen Heintzen (Hein-
rich d. j. von Braunschweig) vnd heintzische papisten Wider
Hans Worst 29, femer Germ. 28, 393. 29, 388. Simpl. 751 wird
das wort ganz wie hatlwlisch gebraucht; ein papistischer böse-
wicht Alberus, Fabeln 37, 10; der teüfel, der den miszbrauch
des papistischen sacraments erfunden hat Val. Ickelschamer, Clag
etlicher brüder 54 d. n.; die papistischen alfentzereyen Weise,
Erznarren 183; die papistischen ceremonien mit dem kindischen
kinderwiegen 189. Aber nötig ist dieser tadel nicht, das zeigen
barfusstsch (Dietz, Wb. zu Luthers deutschen Schriften 1, Leipzig
1870; barfüserisch Fischart, Garg. 28. 176. Bienenk. 194b; bar-
fusserseylerisch Garg. 178), churfürstisch, herzogisch (Dietz unter
churfürstisch. Deutsche Städtechroniken 10, 355. 22, 60. 25, 210
[Nürnberg und Augsburg]), kaiserisch (Chroniken 3, 118, Nürn-
berg. Fischart, Bienenk. 130 b. Garg. 394. Helber, Syllabierbüch-
lein 1593, titel. Simpl. 265. 471. Courage 6. Springinsfeld 20.
Calender Kurz 4, 217 f.), kirchisch und thümisch, d. i 'domisch',
königisch, pfalzgräfisch (Sachs, Schwanke 2, 247). Zufällig für
Luther nicht belegt, dafür aber bei Melanchthon, ist land-
grafisch (Lexer unter melhüs. Garg. 84. Limburger Chronik cap.26),
grafisch und freiherrisch (Goldast, Keichshändel, vorrede). Diese
parteinamen zeigen uns so gut wie die vorher behandelten
ableitungen von orts- und personennamen einen weg, auf dem
adjectiva auf -isch aus der reinen bezeichnung der herkunft
zum tadel werden können.
10. Von den eigennamen aus hat sich eine Verwendungsart
unserer adjectiva zu ziemlicher Selbständigkeit entwickelt, die
construction von auf mit dem acc. eines adjectivs auf
-isch, die einer besondem betrachtung bedarf. Wir wollen
die entwicklung dieser construction an einigen beispielen aus
Fischart und Grimmeishausen verfolgen.
• Ausgegangen ist sie offenbar von der räumlichen bedeutung
der praep. auf, von fällen wo ein nachzubildendes neues auf
ein vorhandenes Vorbild gelegt wurde, wie ein kleid vom
Schneider auf ein modeil. Die Wendung kam allmählich zu
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH, 485
der weiteren bedeutung 'auf diese und jene weise'; in dieser
Verwendung verdrängt auf älteres in, dann bleibt wie beim
französischen ä la maniere das Substantiv weg, aus älterem
auf deutsche art wird auf deutsch. Da sich nun der volks-
mässigen Vorstellung die art eines Volkes vor allem und fast
nur in seiner spräche ausdrückt (viele beispiele bei Fr. PoUe,
Wie denkt das volk über die spräche. Vgl. Sachs, Schwanke
2, 302. Schmeller unter deutsch), so wird die wendung auf dieser
stufe ihrer entwicklung verengert zu der bedeutung 'auf die
und die spräche'. Diese Verwendungsart ist im frühnhd. die
normale, für sie führen wir zuerst beispiele an: aus Fischart
auffnider deutsch auffgutpreyt fräncJcisch hoch teutsch Bienenk.
Ib; auff teutsch oder frantzösisch 5b; auff niderländisch 114a;
auff frantzösisch 141b; auff welsch 194a; auf sein spanisch
121a; auff italiänisch vnd franteözisch 238b. f.; auff vnser
teutsch 242 b; auf dein latein Glückh. schiff, Kehrab v. 69; auf
gut teutsch vnd hain latein v. 85 u.a.m.; aus Grimmeishausen
auff sclavonisch Springinsfeld 12, auff böhmisch ebia,.; auf latei-
nisch Vogelnest 1, 7; auf hehreisch Keuscher Joseph 13; uff recht-
schaffen teutsch Kalender, Kurz 4, 243; auff gut alt-teutsch, ohn
eintzige bemäntelung und gleisznerey Simpl. 441. Die letzten
stellen beider Schriftsteller legen schon ein gefühl in die
Wendung.
Daneben findet sich die construction nicht selten von
Sitten und eigenschaften, bei Fischart auch von einzelnen vor-
fallen gebraucht; doch stellt sich diese Verwendung dem Sprach-
gefühl immer als kühner gebrauch der ersten dar, das zeigt
Fischarts den zweck mit den schönen zänen aus dem treck
müssen auf niderländisch trecken vnd schlecken (nnl. trekken)
Garg. 157. Hierher gehört ferner auff spartanisch Garg. 102;
auff getisch 102; auf cananeisch 151. Bienenk. 84a; brüstlein
nicht zu hoch auff schweitzerisch vnnd kölnisch, nicht zu nider auff
niderländisch . . . , sondern auff frantzösisch . . . oder auff gut
engellendisch Garg. 113; auff indianisch Bienenk. 58 b. Selten
sind beispiele dieser art bei Grimmeishausen: auf spa/rtanisch
Teutscher Michel 8 (wir sagen jetzt lakonisch); deszwegen hielt
er auch das versprochene quartier sehr ehrlich und auff hollän-
disch Simpl. 324. Oefter wird hier das Substantiv hinzugesetzt:
auf eine altfränckische oder holländische manier, da alles mit
486 GOETZE
guter ordre zugeht Springinsfeld 18; auf die böhmische manier
Springinsfeld 4; auch bei Fischart: cmfeuangelische weise Bienen-
k. 192 a. Diese ganze Verwendungsart steht sichtlich unter dem
einflusse des romanischen d Za, deutsches gepräge erhält sie
erst dadurch dass sich auch hier wider der böse sinn durch-
setzt. Zunächst kann auch hier das Substantiv dabei stehen:
auff die phariseische weisz Bienenk. 166 a; auff päpstische weisz
262 a; auff eine gantz fremde und hey nahe auff die alte anti-
quitätische manier Springinsfeld 2; wann man auff italienische
oder spannische manier gemein Walser unter den wein schüttet
Vogelnest 1, 4; die hosen waren, auff polnisch oder schwäbisch,
und das wams noch wol auff eine närrischere manier gemacht
Simpl. 137. Weit öfter aber fehlt es; auch bei dieser häufigsten
Verwendungsart ist es deutlich, wie sie von der spräche aus-
gegangen ist: aw/fw205Cöm^iscÄ Bienenk. 133b; auff sein römisch
oder cardinalisch 232 a; auff tratzisch, auff indisch Garg. 100;
auff zigeinerisch 302; auff jüdisch 372; auff dlidsch vnnd
fallensüchtisch (valencisch) 372; auf gut schweizrisch Glückh.
schiff, Kehrab v. 64; auf grob schweizerisch v.858; eiw . . . scheuer
... in deren wir auff türchisch auff der erden herum sassen und
gleichwol auff alt teutsch herum soffen Springinsfeld 22; auff
jüdisch oder türchisch . . . auff frantzösisch, spanisch oder croa-
tisch Teutscher Michel 3; auff böhmisch zu stehlen, auff cretisch
zu lügen, auff italianisch zu lefflen, auff spanisch zu schmeichlen
und zu betriegen, auff russisch zu prallen und auff gut frantzö-
sisch zu potzmartern wissen Teutscher Michel 3; auff frantzö-
sisch thun 11; ein weiter rock oder kittel auf frantzösisch, pol-
nisch oder crawatisch Simpl. 3. continuatio (Keller 1045); er
mästete uns auf schwädisch, und hielt gewaltig zurück Simpl.
371; auf catholisch, lutherisch, calvinisch Vogelnest 1, 3. Ein
in diesen und den folgenden belegen dem adjectivum beigefügtes
gut soll es nicht zum lobe erheben, es drückt nur aus, dass
sich der betreffende Vorgang vollkommen in der art des be-
griff es vollzogen hat, den das adjectiv ausdrückt. Einen
ironischen klang bringt ferner das gut in das folgende bei-
spiel: obgleich die reimen von schlechter kunst auff gut Hans
Sächsisch geschmiedet, so war doch der inhalt so vemunft-
mässig Vogelnest 2, 12. Das ist zugleich der einzige fall, dass
Grimmeishausen diese construction mit einem von einem eigen-
ZTJB GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 487
namen abgeleiteten adjeetiv auf -isch wagt; um so häufiger
sind solche fälle bei dem wortkühnen Fischart. Vergleichend
ohne tadel sind bei ihm: auff maximilianisch oder teurdanckisch
m
Garg. 281; auff saulisch 283; auff adamisch S06; auff janisch
335; auff alckestisch, senedsch, eneisch 102; auff gut michel-
angelisch, holbeinisch, stimmerisch, Älbrechtdurerisch, luxmale-
risch, hockspergerisch, Josz ammisch 446. Tadelnd sind dagegen
auff eulenspiglisch 25S u. ö.; auff diogenisch 80; auff diomedisch
371; auff müntzerisch vnnd münsterisch prophetisch 380; auff
machiauellisch 417; auf nmchometisch oder mässometisch Bienen-
k.81a; auff achitophelisch 127 b. Tadelnd sind schliesslich von
Fischarts hierher gehörigen fügungen die zu appellativen ge-
hörigen: der Übergang zu ihnen wurde Fischarts Sprachgefühl
erleichtert durch die vielen constructionen zu erdichteten, aus
appellativen zurechtgestutzten Ortsnamen, an die er gewöhnt
war, so: auff schlauraffisch Garg. 78; auf durstbergisch 4:2; auff
es0lingisch vnd leberauisch (Leberau nördlich von Kappoltsweiler)
340. Hierher gehören auch die alten durstallerischen panta-
gruelisten 115 (durst- thaler isch, unorganisch wie schweitzerisch
Garg. 89. 113. 122. 172 u.ö.; baselerisch 33. 176; barhüserisch
89 Vült parisisch; jochimsthalerisch 374; ^^roÄ^fewr^femcÄ Bienenk.
36 a; cartheuserisch 89 b; rockenstubnerisch 104 a).
Lobend ist von den ableitungen von appellativen nur auf
gut schreiberisch Glückh. schiff, Kehrab v. 71, bei Grimmeishausen
nui' auff gut änsidlerisch Sim^\,l&&j alle andern sind tadelnd: auff
chorherrisch Garg. 23; auf schiffmännisch 246; auff sein pfäffisch
Bienenk. 220b; auf edelmännisch Simpl. 471 und 6, 8 (Keller 822.
868); auff soldatisch 581; auf gut betierisch Springinsfeld 22;
auff rechtschaffen gut bulerisch Vogelnest 2, 7, auf gut bäurisch
Courage 23, ohne Werturteil auff stättisch gebauet Simpl. 246.
Bei Grimmeishausen spielt hier die ironische Verwendung
eine besonders grosse rolle, und überall fühlt man den gedanken
an die Verwendung unserer adjectiva für die spräche hindurch,
der die construction überhaupt ermöglicht hat.
11. Wir schliessen diesen abschnitt über die adjectiva auf
'isch von eigennamen u. ä. mit der bemerkung, dass diese auch
jetzt noch nicht aufgehört haben, gelegentlich einen tadel zu
entwickeln. Wenn Bismarck, Gedanken und erinnerungen 2, 228
von asiatischen auffassungen spricht oder eine Europäerin
488 GOETZE
gelegentlich aus Ceylon schreibt: die harke die uns ans land
bringen sollte, sah sehr asiatisch aiis, so gebrauchen sie rein
occasionell asiatisch in dem sinne von * barbarisch'; schon fester
scheint eine derartige Verwendung von schweizerisch ein-
gewurzelt zu sein: die neuen grossen ga^thäuser im Schwarz-
wald sind in ganz Deutschland die schweizerischsten im guten
und Übeln sinne Grenzboten 57, 1, 89.
12. Aufs engste sind den adjectiven von ländemamen die
von land, heim u.a. abgeleiteten verwant, wie mhd. lendisch
(* inländisch', Chroniken 15, 153; das baltische landsch in der
bedeutung ^vom lande stammend' ist junger, schon weil der
Umlaut fehlt, Wissensch. beihefte zur zs. des allg. d. Sprachvereins
3, 29), inlendisch (Bienenk. 192 b. Keuscher Joseph 15), üzlendisch
(mhd. Luther. Maaler. Helber, Syllabierbüchlein 15. 28. Grim-
melshausen,Teutscher Michel 1), mörlendisch, niderlendisch, ober-
lendisch (Geiler von Kaisersberg, Irrig schaf, Strassburg 1510,
Aa VI. Eck, Vorrede zur bibelübersetzung, Ingolstadt 1537 =
Kluge, Von Luther bis Lessing 30. Im Wortspiel Simpl. 195),
überlendisch, zu denen im nhd. noch viele andere gekommen
sind, wie altländisch, binnenländisch, fern-, fremd-, hier-, mit-
ländisch (Fischart, Garg. 349), mittel-, vaterländisch (erst in
neuester zeit für 'patriotisch' == 'vaterlandsliebend'; in diesem
sinne behält z. b. noch Seume das fremdwort immer bei:
Spaziergang 2^, 6. 19. 151. 203; ihm ist vaterländisch entweder
'das Vaterland betreffend': eine vaterländische neuigkeit 2, 70,
oder 'wie im vaterlande': weiter herab ist alles vaterländisch
160, öfter ist es geradezu 'deutsch' (vgl. engl, fatherland, father-
landers, schw. det stora fosterland = Deutschland): den vater-
ländischen bäum 10; grüne vaterländische eichen 54; hier bin
ich nun wieder unter vaterländischen freunden 152; vaterländische
gegend 1,145 könnte man mit ' Vaterland' widergeben', in das
andenken des vaterländischen flusses 2, 12 und den vaterländi-
schen boden 194 den genetiv 'des Vaterlandes' einsetzen, ebenso
in die meisten beispiele des DWb.); unter- und holländisch {die
holländische manier Weise, Erznarren 123 und holländisch durch-
zugehn im DWb. knüpft vielleicht an fländrer in dem dritten
oben besprochenen sinne an; vgl. auch Holländer im DWb.);
heimisch mit aus- und inheimisch, einheimisch (Spiessches Faust-
buch 134 d.n. Simpl. 585); unheimisch (Lexer im nachtrag. Seume,
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 48Ö
Spaziergang 2^, 75. 126 * unheimlich'); geheimisch (vgl. Kluge,
Von Luther bis Lessing 52") aus einem psalterium latinum
von Strassburg 1508) ; ferner bürgisch, Mrgisch, gehirgisch (un-
übertragen 'aus dem gebirge', so nach Adelung im gemeinen
leben. Seume, Spaziergang 1^, 9; recht gebürgisch reden 'grob wie
ein Tiroler', Zs. f . d. culturgeschichte 5, 55, aus Nürnberg 1765;
bei Sachs 'dumm'); irdisch mit über-, unter-, unirdisch (tvmme
priester vnd Schulerorden ist nv sogar vnerdisch worden, daz sie
wenent, sie sin die an künsten, die sie wurden nie: swen dvnJcet,
daz er weise sei, dem wont ein gauch vil nahen bei Renner
17885: der sinn ist 'hochmütig', also vielleicht gegensatz zu
einem irdisch 'demütig'?), seeisch mit über- und unterseeisch^
meerisch mit mittelmeerisch\ mittelweltisch; städtisch mit gross-
und Meinstädtisch (es ist ihm gangen wie jenem kleinstädtischen
bürgemeister 'jenem bürgemeister einer kleinen Stadt' Weise,
Erznarren 219; kleinstädtisch 'oppidanum' Serz, mit sehr starkem
tadel Adelung 2, 1626; vgl. 1401); reichisch (Wissensch. beihefte
zur zs. des allg. d. Sprachvereins 1, 25).
Jede erweiterung des horizonts hat zu diesen adjectiven
neue gebracht, die entdeckung von Amerika (oder Luthers
bibelübersetzung?) den gegensatz von morgen- und abendlän-
disch, die gründüng von colonien die adjectiva hinter-, mutter-,
tochterländisch.
13. Hierher gehören schliesslich die jungen ausdrücke der
Sprachwissenschaft, die sich nicht besinnen wird, ein adjectivum
ordensländisch oder neckarländisch oder nordisch zu bilden,
wenn sie von der spräche des Ordenslandes oder des Neckar-
gebietes oder des nordens spricht (als richtungsbezeichnung
hatte sich nordisch nicht durchgesetzt, so wenig wie südisch,
mitternächtisch [mittnächtisch Fischart, Garg. 354. Frisch 1, 40 b.
666 c] und mittägisch [Garg. 354]), so wenig sie sich am ende
des 16. jh.'s bedacht hatte, thonawisch (als bezeichnung der
herkunft 1572 in Fischarts Praktik 19), suntgewisch und höchst-
retnisch (alle in Helbers Syllabierbüchlein von 1593) zu er-
finden. Allein auf Otto Bremers karte der deutschen mund-
arten finden sich sechs derartige worte, die sich noch in keinem
Wörterbuche und kaum in volksmässigem gebrauche finden:
havelländisch, breisgauisch, ringgauisch, riesengebirgisch, itzgrün-
disch und taubergrundisch,
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 32
490 GOETZB
Wie leicht sich solche bildungen jetzt einbürgern, erkennt
man an diesrheinisch und überrheinisch, rechts- und linksrhei-
nisch, von denen die beiden ersten nicht älter als das 11. buch
von Goethes Dichtung und Wahrheit, die beiden andern nicht
älter als die entsprechenden eisenbahnen sein werden, dann
an der bildung reichsländisch, die sicher aus der zeit nach 1871
stammt, und endlich an ostelhisch, das sammt dem noch ge-
schmackloseren Ostelhien erst ein geschenk der agrarischen
bewegung der letzten jähre ist.
14. Für die bedeutungsentwicklung sind auch diese adjec-
tiva wichtig, weil sie aus der bedeutung der reinen herkunft
zu einem bösen sinne überleiten können. Die möglichkeit
dazu ist gegeben, wenn z. b. das adjectiv der herkunft von
einem teile eines Volkes, etwa von einem einzelnen stände, ab-
geleitet wird. Solche adjectiva erhalten dann im munde der
gegner dieses Standes oder auch schon der angehörigen andrer
stände fast mit notwendigkeit einen bösen klang. So ist bei
keiner bezeichnung der grossen Standesgegensätze Deutschlands
der böse sinn ausgeblieben: mhd. Uurisch, göuwisch, dörpisch
bedeuten im munde der ritter täppisch', ein ritterisch etwa in
dem sinne von * hochmütig' oder * habgierig' ist uns vielleicht
nur deshalb nicht überliefert, weil wir aus der ritterzeit keine
bauernliteratur haben; städtisch hat im munde unserer nord-
deutschen bauern noch heute einen bösen, argwöhnischen klang
(natürlich bei dem Glogauer Gryphius nicht, Palm, Lustspiele
287), und ebenso in dem fastnachtspiele Claws bür die wendung
up borgers leben.
Wie biurisch und seine verwanten sind dann auch nerrisch,
teerisch, risenisch, twergisch aufzufassen. Sie bedeuten ursprüng-
lich ^dem Stande, der klasse der narren, toren, risen, twerc
entstammend, ihr angehörend'. Da aber der begriff der her-
leitung neben dem der Zugehörigkeit mehr und mehr zurück-
tritt — ein ganz natürlicher Vorgang, denn der alltäglichen
rede sind die gegenwärtigen, tatsächlichen Verhältnisse wich-
tiger als die geschichtlichen und logischen zusammenhänge —
und da zugleich der attributive gebrauch in der apperceptiven
bedeutungsentwicklung eine gi'össere rolle spielt als der prä-
dicative, so gehen sie einfach in die bedeutung *wie ein narre,
tore, rise, twerc^ über, und diese grössere freiheit der bedeutung
ZUR aESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 491
ist der grund dafür geworden, dass sich diese adjectiva viel
weiter ausgedehnt haben, als die substantiva, von denen sie
abgeleitet sind: das wort du narr, das Luther im neuen testa-
ment zum Scheltwort macht, in das er also einen vergleich
legen will, hat sich dazu viel ungeeigneter gezeigt als das,
logisch genommen etwas mildere du närrscher kerl Ebenso
ist läppisch in vollem gebrauch, läppe fast ausgestorben. Ur-
sprünglich aber hat neben jedem dieser adjectiva ein gleich
lebendiges Substantiv gestanden, wie neben Uurisch in Hart-
manns Gregorius v. 1125 groze gebüre v. 2791. Die substantiva
bewahrten aber ihre grundbedeutung, blieben darum, einmal
angewendet, gröber als die vergleichenden adjectiva (du narr
Matth. 5, 22 ist die ärgste beleidigung, es heisst eben ^geistes-
kranker'), waren auch mehr auf den gebrauch in der anrede
beschränkt und fanden deshalb nicht so leicht eingang in die
bücher, wenn sie auch in der mundart häufiger sein mögen:
hier wird bauer noch jetzt als Scheltwort verwendet, so gut
wie bei Fritz Reuter demokratte und jesuwitter oder bei Johanna
Spyri gar aristokraten.
Nach dem muster dieser adjectiva, die rein vergleichend
gebraucht werden können, werden solche gebildet die nur so
zu verwenden sind, auf die der begriff der abstammung über-
haupt nicht mehr passt, so kindisch, weibisch, eselisch, herisch.
Auch bei diesen geht dann wider das bewusstsein verloren,
dass sie ursprünglich ^wie ein kind, weib, esel, herr' bedeuten.
Für die nun folgende bedeutungsverschiebung ist wol der ge-
brauch in prädicativer Stellung vorbildlich geworden, der oft
bei adjectiven, die daneben oft attributiv verwendet werden,
an der associativen bedeutungsentwicklung mitarbeitet und
gerade die grösseren Sprünge ermöglicht. Der satz er ist
kindisch, naidixoq iaziv, ist — wenn wir von der weiteren
entwicklung des griechischen verbs absehen — durchaus =
jtal^ei, das adjectiv auf -isch verhält sich zu seinem grundwort
wie das particip zum verbum, oder genauer zum substantivierten
Verbalinfinitiv. Diesem Verhältnis gemäss sind nur adjectiva
auf 'isch gebildet, die einen bösen sinn haben: die ohne tadel
sind entweder bei der bedeutung der reinen herkunft oder bei
der des Vergleichs stehen geblieben. Diese erscheinung hat
ihren grund darin, dass jede grammatische gruppe, in unserm
32*
492 GOETZE
falle also eine durch gleiches suffix verbundene gruppe von
adjectiven, auch eines inneren bandes, einer gleichheit in der
bedeutung bedarf. Bei jungen gruppen, z. b. unsern adjectiven
auf -haft, wird dieses band von dem noch bedeutungsvollen
Suffix geliefert. Erblasst die sinnliche bedeutung des Suffixes,
so wird sie durch eine geistige, oft durch eine bloss gramma-
tische function ersetzt; bei unseren adjectiven auf -isch, wie
wir gesehen haben, drückt das suffix auf der zweiten stufe
einen vergleich aus. Lockert sich aber auch dieses band, so
wird es nötig, die gruppe durch etwas gemeinsames zu binden,
das nicht mehr in der natur des Suffixes liegt, sondern in der
der stamme gesucht werden muss, und dazu bot sich in unserm
falle als das praktischste, weil von den meisten der vorhan-
denen bildungen dargebotene, der böse sinn, der darum von
allen adjectiven verlangt wird, die die participiale stufe, wie
wir sie nennen wollen, ersteigen. Trotzdem blieb die freiheit
der bedeutung so gross, dass zusammenstösse mit andern gruppen
eintreten, namentlich mit der der adjectiva auf -lichy die ja in
der entwicklung vom vergleich zu participialera sinne der unsern
parallel gegangen ist. Als beispiel mag Luthers^und Müntzers
(Schutzrede 20) huchstäbisch dienen, das genau unserm Imch-
Stählich entspricht (dies Bienenk.l08a), während wir für Luthers
drdhuchstahisch wol dreibuchstäbig oder -stabig sagen würden.
Bei jedem solchen zusammenstoss ist, zuerst gewis mit
bewusster absieht, dann nach analogie, zuletzt und hauptsäch-
lich aber unbewusst nach dem Sprachgefühl eine Scheidung
des gebiets nach dem grundsatz eingetreten: das adjectiv auf
'isch bekommt einen tadelnden sinn, das concurrierende auf
-lieh, -ig, -haß wird zum lobe. Die erste erscheinung haben
alle deutschen grammatiken, von J. Chr. A. Heyse bis Wilmanns
gebucht: neben bäurisch, dörfisch, abgöttisch, herrisch, kindisch,
launisch, schmeichlerisch, schulmeisterisch, widersinnisch, weibisch,
eigenwillisch und abergläubisch stehen bäuerlich, dörflich, gött-
lich, herrlich, kindlich, launig, schmeichelhaft, meisterlich, sinnig,
weiblich, willig und gläubig. Mhd. standen ausserdem neben
klef fisch, kriegisch, mordisch und nidisch: klaffic, kriegte, mordic
und nidic, neben hoenisch, tcerisch^ eselisch und tiufelisch: hönlich,
törltch, esellich, tiufelUch und neben girisch: giric und girltch.
Die andere erscheinung aber, die die grammatiker übersehen
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 493
haben, wie Bechstein oben die entwicklung zum guten sinne,
verdient auch beachtet zu werden: die concurrierenden adjec-
tiva auf -ig^ -lieh, -haft sind im gegensatz zu denen auf -isch
zum lobe geworden. Man denke nur an den häuerlichen Wohl-
stand, die dörfliche stille und das häusliche glück in unseren
romanen, an die Verallgemeinerung und verblassung des wortes
herrlich, an die fülle von gemüt und gefühl die in weiblich
oder kindlich liegen kann. Alle diese adjectiva übertreffen
ihre grundworte an gefühlsinhalt ; wo diese Steigerung zu gutem
sinne nicht möglich war, sind sie ausgestorben und haben denen
auf -isch das feld geräumt, so mhd. klaffte, kriegic, mordic und
nidie ; hönlich, törltch, esellich, tiufelUch und girltch. Dass aber
diese teilung des gebiets etwas junges ist, wird eben durch
die existenz dieser nun ausgestorbenen adjectiva bewiesen: bis
tief ins mittelalter hinein haben viele von ihnen bestanden,
und dass sie meist älter sind als die entsprechenden auf -isch,
das zeigen ahd. hönlihho, esillih, tiufalUh, nidig, girig und herlih,
denen noch keine adjectiva auf -isch zur seite stehen.
15. Vielleicht gelingt es, den Ursprung des bösen sinnes
zeitlich und örtlich näher zu bestimmen. Den ausgangspunkt
mag eine beobachtung Rudolf Hildebrands zum werte kindisch
(DWb. 5, 766) bilden. In Schillers Künstlern v. 62 f. hiess es
statt der anmuth gürtel umgewunden wird sie (die Schönheit)
gum kind, da^s kinder sie verstehn in der ersten fassung sieht
man sie kindisch uns entgegen gehn, was wir als Schönheit
hier empfunden, wird dort als Wahrheit vor uns stehn. Schiller
hat dieses ihm geläufige kindisch entfernt auf einen wink aus
Sachsen, auf den rat des Meissners Körner, der in seinem
briefe vom 16. jan. 1789 zweifelte, ob das wort edel genug
sei. So änderte der dichter, ^um dem worte kindisch auszu-
weichen ', wie er am 22. jan. an Körner schreibt. Also für den
Mitteldeutschen bietet das wort einen anstoss, für den Schwaben
nicht. Verfolgen wir es rückwärts, so finden wir es bei den
Oberdeutschen Sebastian Brant, Johann Pauli, Gottfried von
Strassburg, Heinrich von Witten weiler (andre beispiele in
Haupts anmerkung zu MF. 4, 10) ohne tadel, dagegen hat
kindisch schon im md. Passional des 13. jh.'s einen bösen sinn,
ohne den es später sehr selten anzutreffen ist: den wenigen
hierher gehörigen belegen des DWb. aus Luther wüsste ich
494 GOETZE
nur zuzufügen : alle meine heimlichkeiten, die zwar aujf nichts
anders, als aujf hindischer einfalt und frömmiglceit bestunden
Simpl. 100 (dagegen tadelnd über das kam er mir auch gantz
kindisch vor 509). Ebenso Weise, Erznarren 127. 189. Der
leyen disputa, zii dem leser (hg. von John Meier; wetterauisch
um 1530). Sachs, Fastn. 1, 151. 159. 6, 98. 113. Schwanke 1, 133.
381. 2, 132. 543. Fischart, Anweisung zum Ismenius v. 27. 45.
Gryphius, Geliebte dornrose, Palm 328); die kindischen jähre
Zachariae, Poet. Schriften 1765, 1, 227, und wie dass a halarde
und kindsch war * alert und jung' Holtei, Schlesische gedichte,
ausg. letzter band 219. Ebenso wird weibisch noch im 15. jh.
bei Heinrich von Wittenweiler und noch 1512 in einem obd.
glossar ohne tadel verwendet, während es in Mitteldeutschland
schon 1349 bei Konrad von Megenberg ^weichlich' bedeutet.
16. Auch bei den adjectiven auf -isch, die nicht bis ins
nhd. eins auf -lieh neben sich haben, stellt sich der böse sinn
zuerst in Mitteldeutschland ein. Betrachten wir zunächst einige
ableitungen von tiernamen: im mhd. werden sie ohne tadel
gebraucht : bärisch, kühisch, rehisch (sämmtlich im D Wb. unter
kühisch) und taubisch (im md. Leben Ludwigs) haben alle
keinen bösen sinn, ebenso die im ausgehenden mittelalter ge-
bildeten tierisch und viehisch (DWb. unter kühisch und eselisch).
Wenn sie aber einmal in tadelnder, d. h. hier übertragener,
bedeutung gebraucht werden, so ist das stets bei Mitteldeut-
schen: wölfisch gebraucht zuerst der Thüringer Köditz von
Saalfeld, nach ihm der Franke Melissus (DWb. unter laurisch)
in dem sinne von ^raubgierig', eselisch wendet zuerst Heinrich
von Mügeln, also ein Sachse, auf den menschen an (obd. mund-
arten ist der esel gar nicht immer Sinnbild der dummheit, da-
für dient z. b. im Elsässischen der stier, Martin und Lienhart,
Wb. der eis. maa. 73 b ; vgl. PoUe, Wie denkt das volk über
die spräche 2 23; für Baiern führt Schmeller 1,25 und 2, 778
^ ganzer ochs oder stisrax an), und auch von den späteren die
es haben, gebraucht es nur der Mitteldeutsche Luther schlecht-
weg als Schimpfwort, also mit völliger misachtung der bedeu-
tung der herkunft. viehisch bei Megenberg noch ohne tadel,
hat zuerst in der md. Griseldis des 15. jh.'s einen bösen sinn,
der dann bei den späteren Mitteldeutschen durchaus vorherseht,
vgl. Scheidt, Grobianus v.2246. Fischart, Garg.3. Bienenk. 120b,
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 495
204 b, kaum dass Luther cor ferae noch mit viehisch hertz über-
setzt. Allerdings ist der tadel dann auch früh ins hd. ge-
drungen, s. die beispiele aus Keisersberg, DWb. unter eselisch
und Mhischy aus Murner und Brant, Thesmophagia v. 28. Bei
Grimmeishausen ist es oft geradezu 'unkeusch', namentlich in
der häufigen Wendung viehische begierden Simpl. 222. 516. 525.
546. Courage 6. 12. Vögeln. 2, 12. 14. Keuscher Joseph 6. 8. 9. 10,
aber auch sonst: ein zärtlich weibisch, ja schier viehisches leben
Teutscher Michel 3 ; viehische geilheit Stolzer Melcher (Kurz 4,
329); irrdisch und viehisch Keuscher Joseph 13. Lebendiger ist
der vergleich noch in Wendungen wie viehische Unmenschen
Courage 12; viehischer Unwissenheit und bestialität Vogelnest
1,19; auch bei Fischart: so wird die lieb ein viehisch brunst
Anweisung zum Ismenius v. 61. — Luther schimpft über D.
Fabers vnd dergleichen lugenhafftige , lästerliche, eselische
schrifft, über das lesterliche, fressende, beerwölffische (d. i.
werwölfische; Sachs hat mit anderer anlehnung nerwoljf)
monstrum zu Born, das böckische weszen des doctor Emser,
die crocodilische rachgir des bischofs Albrecht von Magde-
burg, die falsche füchsische busse (Reinhart Fuchs) des ge-
fangen herzogs von Braunschweig, er spricht von aller mördi-
schen und wölfischen lerer art (DWb. unter mördisch) und
über das epicurische und sewische leben der bischöfe (Wider
Hans Worst 29).
17. Nicht so leicht zur hand, dafür aber mit schärferer
ausprägung hat Hans Sachs die adjectiva auf -isch von tier-
namen: alle die in seinen fastnachtspielen und schwanken
vorkommen, sind tadelnd; ohne bösen sinn nur einige aus den
fabeln: perische stim ^bärenstimme', fuechsisch geselschaft *ge-
sellschaft von fuchsen' 1, 269 (nach Götzes neudruck), räppisch
awg ^rabenauge', wölfisch rot * rotte von Wolfen' 2, 598, vgl. 336,
also überall das adjectiv an stelle des genetivs des grundworts.
Unübertragen wird 1,69 vom esel gesagt: vor frewden hüb er an
zu schreyen mit seiner eszlischen schalmeyen: ob diber eselisch
hier ganz ohne tadel ist, erscheint fraglich, wenn man ver-
gleicht, dass 1, 44 eselisch geschrey von der keifenden, groben
rede einer frau gebraucht wird.
Damit kommen wir zu der viel grösseren zahl der über-
tragenen tiernamen: füchsisch 'falsch' Schwanke 1, 200. 2,21;
496 OOETZE
kueisch vom trinken der menschen 2,615, vgl. Zarncke zum
Narrenschiff 16,53; rüdisch *wild wie ein hund' 1,78. Hürnen
Seufried v. 59; sewisch von unmässigem essen Schwanke 1, 440.
2,552 und von unordentlichem leben 2,553. 589. 611; tirisch
*wild' vom aussehen 1,11, vom blick 1,483, vom benehmen
Fastn. 2, 14; hündisch 'geizig' 1,57, 'cynicus' Fastn.4, 79 (ta-
delnd auch bei Frisch 1,475 c. Simpl. 89, doch ohne tadel in
Weises Erznarren 130, wo der laut r ein hündischer buchstabe
(= litera canina der römischen grammatiker) genannt wird.
Das tertium comparationis ist das knurren, hier wie in einem
beispiele des DWb. aus Scriver: der geizige ist hundisch und
mürrisch wenn er etwas ausgeben soll. Nur scheinbar liegt
ein adjectiv auf -isch vor, wenn in einem schwäbischen monats-
reim des 15. jh.'s die hundstage hundische tage genannt werden,
denn das ist wol unter dem zwange des verses aus hundstage
zerdehnt, das seit dem 15. jh. auch in Oberdeutschland nach-
zuweisen ist; man beachte auch den mangel des umlauts.
Ebenso ist das adjectiv anheimisch aus dem adverb anheims-^
räterisch (auch Simpl. 752) aus dem Substantiv räters; gelfisch
aus dem adjectiv gelfs entstanden (DWb. unter anheimisch,
räter seh, gelf), vielleicht auch linkisch, das nach den belegen
des DWb. nicht vor dem 18. jh. in attributiven gebrauch
tibergeht, aus prädicativem linksch, danach auch denkisch bei
Schmeller, tausiksch und fannerhandsch (Zs. fdm. 6, 530), alle
ein ausdruck des bedürfnisses, isolierte adverbien auch attributiv
zu verwenden. Hierher gehört wol auch hungerisch sterben
bei Murner, Narrenbeschwörung 88, 15, aus hungers sterben,
wobei das i, das überdies den vers zu lang macht, wol nur
auf rechnung des setzers, nicht Murners selbst, zu stellen ist,
der gedanke an ungerisch den Übergang gewis erleichtert hat.
Andrer ansieht ist freilich Spanier in seiner anmerkung zu
dieser stelle. Umgekehrt ist gewis in der Gäuchmatt v. 3687
statt tvo ist der leckers böszwicht her? leckersch zu lesen,
das Murner, Schelmenzunft 26, 20 hat. — Besonders gross
in der bildung unmöglicher adjectiva auf -isch ist Stieler:
er bildet zur erklärung von falsch, barsch, harsch, unwirsch:
ballisch sp. 86, barrisch 99, harrisch und hartisch 773 und wir-
risch 2517).
Zu hündisch gehört bei Sachs hündzfütisch (auch im neueren
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 497
bairisch: hundsfütisch 'res frivola'; hundsfütisch leben 'parum
liberal! fortuna est' Serz. * Erbärmlich' bedeutet das wort
jetzt auch im Breisgau: Zs. fdm. 5, 408, * betrügerisch' in Nord-
böhmen: Knothe, Markersdorfer ma. unter hundsfittsch] böckisch
Germ. 18,373 = Lexer im nachtrag 'widerspenstig' {beckisch
Garg. 37?); eglisch Schwanke 1, 381. 516. Fastn. 6, 3 (das adjectiv
bedeutet überall, wo es vorkommt, 'sonderbar', es ist wie egel
'seltsamer einfall' und egeln 'sich närrisch benehmen' nur bei
Sachs belegt, und schon deshalb scheint es bedenklich, die
Sippe zu trennen, wie es Grimm im DWb. tut, der die stark
flectierten formen des Substantivs egel zu egel m. 'igel', die
schwachen zu egel f. 'arista', ahd. agana, das adjectiv eglisch
wider zn egel m. stellt. Das schwanken zwischen starken
und schwachen formen im plural von masculinen auf -el ist
ja in nmd. mundarten nichts ungewöhnliches, zudem hat Sachs
schwache formen nur unter dem drucke des reims: Schwanke
2, 67 reimt egeln auf segeln, 465 auf pregeln, 508 auf schwegeln,
und damit hat er wol zugegeben, dass ihm die starke form
das normale ist. Auch erklären sich alle verwendungsweisen
des Wortes, wenn wir es von egel 'igel' ableiten. Eine be-
trachtung der bedeutung wird am besten von den verschiedenen
eigenschaften dieses tieres ausgehen, die zu einer Übertragung
auf menschliche zustände einluden. Das nächste sind natür-
lich die stacheln des igels; daher sagt Heinz Widerborst,
Schwanke 1, 120:
mein gwandt das ist ein igels palck. halt allenthalben widerpart,
damit deck ich mein alten schalck, wann ich stich mit spitzigen worten
bin stachlicht, gantz iglischer art, dückisch vmb mich an allen orten.
So wird igeln zu 'stechen, prickeln', auch übertragen auf
stechenden verdruss: das igelt mich 'ärgert mich' (Maaler. Stalder.
Thurneiszer). Die so verblassende bedeutung wird zu neuer
anschaulichkeit geweckt dadurch dass man die stechenden egel
wie die gleichfalls stechenden mucken, raupen, würmer, schnaken,
Späne, Sparren, oder die im köpfe oder ohr zirpenden, girrenden,
rumorenden grillen, tauben, ratten, mause (Scheidt, Grobianus
V. 1199. 3157) und flöhe in den köpf des geärgerten versetzt;
das bild ist freilich kühn, namentlich wenn die egel im plural
auftreten, aber die tauben finden ja auch zu mehreren platz
im köpfe. In dieser Verwendung steht egel bei Sachs oft neben
498 GOETZE
einem andern der genannten tiernamen, so sagt der Egelmair,
Schwanke 2, 611 vil egel trag ich in meim schopff, die hundz-
muckn schwirmen vmb mein kopff; von einem betrunkenen
heisst es 1, 383 er hob so selcisam tawbn vnd egel, ein anderer
treibt so seltzam egel vnd grillen; am geläufigsten ist aber die
Zusammenstellung mit schwancJc: mit schwencken vnd egeln
unterhält 2, 508 ein lustigmacher das volk; ein freyharts hndb
erzählt von sich: auch so treib ich gut schwench vnd egel 2, 275
(wo egel freilich auch 1. sing. ind. praes. vom verbum egeln sein
könnte, doch vgl.) vnd treibt ser selzam schwench vnd egeln
2,67 von einem betrunkenen. Dass die egel im köpfe sind
und dass unter dem schöpfe des Egelmairs nicht etwa der
äussere haarschopf zu verstehen ist, zeigt 2,465, wo es von
einem zänkischen weibe heisst wen si stechen ir zenchisch egeln,
und auch von dem nervösen mönche 1, 516 könnte Sachs nicht
sagen der so ein eglischen hopff ist hon, wenn die egel nicht
im köpfe gedacht wären. Auch auf sinn und wesen könnte
eglisch nicht so leicht übertragen werden, wie es an folgenden
stellen geschieht: mit dem eglischen wessen mein 1,516; mein
eglisch selczam weis ebda.; mein syn seltzam, eglisch vnd wunder-
lich, all mein gedancken die sind sunderlich 1, 119; der eglisch
wirt selzam vnd wunderlich 1,381; dw pist gar wunderlich vnd
entisch, zw selzam, eglisch vnd zv grentisch, vnferstanden, grob,
vnpescheiden Fastn. 6, 3. Aber auch abgesehen von seiner
stachlichkeit hat der igel zu vergleichen anlass gegeben: zu-
nächst hat sein familienleben anstoss erregt, denn Megenberg
sagt im Buche der natur von ungeordnetem eheleben der
menschen: der mensch würkt iglischen oder gensischen; man ist
versucht diese anwendung mit einer stelle des märchens Hans
mein igel in Verbindung zu bringen (Grimm, Kinder- und haus-
märchen 2'^, 118); ferner leitet sich von der unreinlichkeit des
igels die landesübliche Verwendung des namens Schweinigel
her, der aber seinen Ursprung der ähnlichkeit der igelphysiog-
nomie mit der des Schweines verdankt (vgl. Stachelschwein);
schliesslich aber hat, und das kommt wider für unser egeln
in betracht, der drollige gang und das planlose hin- und her-
fahren des lichtscheuen tieres zu Übertragungen herausgefordert.
Daher das märchen vom Swinegel: alles kunn he verdregen,
aver up siene been laet he nicks komen, eben weil se von natuhr
ZÜB GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCK 499
scheef wöören Märchen 2% 404. Daher auch bei Sachs egeln
Haumein' von trunkenen und schlaf trunknen, ganz deutlich
vom gang : er phantasirt vnd da her egelt vnd nur mit halbem
winde segelt 2, 92; als sie zv der stieg kumen was, gings hinauff
mit prumen vnd muncken vnd war noch wol halber schlaff
druncJcen vnd egelt also auf die stiegen 2, 197. Mit dem ge-
danken an egel 'schwank': den thuet man mit halbem wint
segeln, nach dem so fecht man an zv egeln mit selczamen possen
vnd schwencken, so nerrisch, als mans kan erdencken 2, 56;
fantasirest, wunderst vnd egelst gleich ainem thorn vor pider-
lewten 1,423.
Während eglisch von Sachs noch als ableitung zu einem
tiernamen empfunden worden sein mag, haben zwei andere
wol schon bei ihm den Zusammenhang mit ihrem grundwort
verloren: ewdrisch 'mürrisch', das Grimm zu ur stellt (ein beleg
aus Luther mit seltsamen deutungsversuchen Zs. fdph. 26, 57 ;
nach Sachs bei Hayneccius, Hans Pfriem v. 2238) und muckisch
(bloss md.: Schmid, Schwab, wb. 378. Schambach. Hennebergisch:
Zs. fdm. 3, 134. Obersächsisch: Albrecht. Schlesisch: Holtei475.
Posnisch: Bernd).
Nicht unter die tiernamen gehören entisch 'seltsam, ver-
drossen' Schwanke 1, 206. 513 (nach ausweis der nebenform
entrisch zu ahd. antisc — antrisc, dieses wol zu anti 'alt' und
danach 'seltsam, unheimlich, nicht geheuer'. In diesen be-
deutungen herscht es jetzt in md. mundarten: Schmeller. Knothe.
Holtei 239 und Weinhold im glossar zu Holteis Schlesischen
gedichten. P.Drechsler, Wencel Scherffer; vgl. entig 'seltsam'
Sachs, Schwanke 1, 30) und rebisch Fastn. 5, 74 'flott, schmuck
von der kleidung, nach Zs. fdm. 6, 65 und Schmeller 2, 5 sammt
den nebenformen röbisch und rdbisch nicht zu rabe, denn dazu
heisst bei Sachs das adjectivum räbbisch, sondern röubisch zu
raub 'gestohlenes kleid, robe', scharf geschieden von dem gleich-
falls vorkommenden rawbisch,
18. Auch bei Fischart sind die adjectiva auf -isch von tier-
namen fast alle tadelnd: äf fisch Bienenk. 148b, = 'närrisch'
auch bei Luther; duckmäusisch; Sachs denkt nachweisbar an
maus: er , . . daucht wie ein mausm Schwanke 1, 36; esilisch
Garg. 18; fledermäusisch Garg. 28; füchsisch Garg. 254; grillisch
Garg. 17. Praktik 16. Auch bei Gryphius, Peter Squenz 16, 20;
500 GOETZE
hetzhundisch Garg. 163, wol *hunde hetzend'; lugentisch Bienen-
k. 185 a, aus legendisch mit dem gedanken an lügen und ente
entstellt, vgl. Andresen, Deutsche Volksetymologie ^ 59; lugenden
auch bei Grimmeishausen, Vögeln. 2, 13; meusisch Garg. 254;
nachteulisch Garg. 28; nachtigallisch ohne tadel; predigkautzisch
Garg. 6. 159. 216, immer in Zusätzen der ausgäbe von 1582;
rosshäferisch Garg. 309 ; säuisch Podagr. trostb. 98, 12, auch bei
Fischarts lehrer Scheidt, Grobianus s. 7 d. n. und v. 485 ; vihisch
Garg. 3. 143.
19. Im 17. jh. hat die anwendung unserer adjectiva von
tiernamen merklich abgenommen; aus dem Simplicissimus ist
holtzböckisch * unbeholfen' und säuisch zu nennen, aus Weises
Erznarren schulfüchsisch 35, 81, bestialisch 151 (auch bei Grim-
melshausen von menschlichen zuständen: Simpl. 109. 116. 137).
Eine grössere menge dieser adjectiva lässt sich nur noch aus
Stieler belegen: ohne tadel einige ableitungen von vogelnamen,
wie adlerisch, falkisch und voglerisch, dann hiherisch neben
und gleichbedeutend mit hihern 'von biberfeil', und tigerisch
'getigert', weit mehr aber tadelnd: äffisch, beestisch, melius qu^m
bestialisch, böckisch, füchsisch, gauchisch (göuchisch 'ineptus' bei
Maaler, in Oberdeutschland bekannt aus Mumers Geuchmatt,
in der es das häufigste adjectiv auf -isch ist), geyerisch 'gierig',
volksetymologisch zu vultur gestellt, hündisch, schneckisch,
kühisch, schwälbisch 'unzuverlässig', seuisch, tierisch, viehisch,
wölfisch.
Der erwähnung bedarf schliesslich noch eine eigentümliche
Verwendung die diese adjectiva von tiernamen in nmd. mund-
arten gefunden haben: einige ableitungen von den namen
männlicher und weiblicher haustiere bezeichnen die brunst der
entsprechenden weibchen. Das älteste dieser adjectiva, mhd.
reinisch, bezeichnet die stute, die nach dem reine, dem hengste,
verlangt; gerade dieses wort ist nicht nur md.: sollte es auf
die bedeutung des nmd. reihisch (Zs. fdph. 8, 347. 9,472) ein-
gewirkt haben? Woeste verzeichnet in seinem Wb. der westf.
ma. bcersk 'brünstig' von sauen, zu bosr = diiLper, und m-
melsk von der katze, die nach dem r^el, dem kater, begehrt;
Danneil im Wb. der altmärk.-plattd. ma. bocksch von schafen
und ziegen 'nach dem bocke verlangend'. Zu scharfem Vor-
wurf werden diese adjectiva, wenn sie vom menschen gebraucht
ZUR GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH, 501
werden, so gut wie anders gebildete bezeichnungen der brunst,
wie läufisch, reiisch, westfälisch fleisch (von fasel ^f ortpflanzung')
und göttingisch bramsch (von brammen = hd. brummen).
In der modernen spräche endlich ist die anwendung der
adjectiva von tiernamen sehr eingeschränkt, ausser tierisch,
viehisch und einigen fremdworten sind eigentlich nur äffisch
und hündisch in lebendigem gebrauch; schweinisch, das wol
gelegentlich gebildet wird, ist zuerst aus dem Leipziger Sing-
spiele von Harlequins hochzeit - schmausz 1696 (neudruck von
Ellinger s. 67) zu belegen.
20. Die beispiele von no. 19 zeigen, dass die tadelnde Ver-
wendung der adjectiva von tiernamen, ihre Übertragung auf
menschen, wesentlich md. ist. Dasselbe wird die folgende be-
trachtung einiger besonders häufiger adjectiva auf -isch mit
bösem sinne lehren.
abgöttisch und abgötterisch sind in ältester zeit nur aus
Mitteldeutschland zu belegen; zuerst steht abgöttisch in des
Thüringers Ernst von Kirchberg Mecklenburgischer Chronik,
Zu weiterer Verbreitung ist das wort erst bei Luther und seit
ihm gelangt; in der art wie er es verwendet, offenbart sich
auch wie das seltsame wort aufzufassen ist: es bezeichnet die
Zugehörigkeit zur partei des abgottes: daher so oft die sub-
stantivierte form die abgöttischen Weish. Sal. 1, 5. 1. Cor. 5, 10.
11. 6, 9. Offenb. 22, 15. Ebenso noch im Spiesschen Faustbuch
von 1587, s. 9, und erst danach allgemein * falschgläubig', wie
Apostelgesch. 17, 16, und durchgängig bei Fischart, Bienenk.
38b. 57a. 83 b. 175b.
Auch manches andere der die augehörigkeit zu einer partei
bezeichnenden adjectiva zeigt md. Ursprung und ist auf Mittel-
deutschland beschränkt geblieben, s. no. 9 churfürstisch, kaise-
risch, hetzerisch, lutherisch, papistisch und päpstisch, pfalz- und
landgräfisch, marJcgräfisch Städtechroniken 11, 660 (Nürnberg).
Einen fiänkischen beleg bringt Lexer im nachtrag. Nicht zu-
fällig ist es der Mitteldeutsche Clajus, der diese gruppe unserer
adjectiva zuerst aufgestellt und aus dem Mitteldeutschen Luther
belegt hat. Hierher scheint auch elbisch zu gehören, wenig-
stens kommt es im Vocabular von 1482 als Substantiv *phan-
tasta' vor, so dass es zunächst den den elben anhangenden
bezeichnete. Die älteren belege gehören durchweg Mittel-
502 GOETZE
deutschen, Herbort von Fritzlar, Rüdiger von Münerstadt au
der Rhön, dem alten Passional an, jetzt ist es in der bedeutung
*von elben verwirrt' in md. mundarten weit verbreitet, vgl.
Grimm, Myth.* 412. Schambach. Zs. fdm. 5, 472, doch auch obd.
Zs. fdm. 4, 40. Staub-Tobler 1, 186.
21. Entschieden md. herkunft sind folgende adjectiva auf
-isch, die einen vergleich enthalten: bettlerisch und hettelisch
bei Lexer, Stieler, Luther, Fischart, Sachs, sammt den ablei-
tungen hettelsäckisch * dürftig' bei Weise, Erznarren 82, und
hettelschamisch 'sich des betteis schämend' Garg. 299, ohne
Umlaut und daher wol vom Substantiv. — diebisch verdrängte
von Mitteldeutschland aus das mhd. dieplich, das bei Luther
nur noch vereinzelt als adverb, als adjectiv überhaupt nicht
mehr vorkommt. Er hat das im 15. jh. gebildete diebisch —
älter wirds wegen des fehlens der brechung nicht sein — in
die Schriftsprache eingeführt, doch auch schon früh im obd.:
Murner, Schelmenzunft 26, 20. 29, 12 (1512). An den adel 42.
Dasypodius 1535. Maaler 1561, viel häufiger aber bei Mittel-
deutschen: Sachs, Fastn. 1, 130. 6,51. 7, 34. 95. Schwanke 1,
31. 364. 2,53. 516. 600, hier übertragen 'heimlich' 2,83 (zu
dieser Verwendung leitet die des unübertragnen adverbs über :
das ir mir wölt den enspan mein so diebisch tragen aus dem
haus 1,364) und diebischer Verräter 'böse wicht' 1,109 in ganz
allgemeiner bedeutung Fischart, Bienenk. 215 a. 238 b. M. Hay-
neccius, Hans Pfriem v. 1833. 1852. 2361. Grimmeishausen, Simpl.
117. 177. 675. Keuscher Joseph 2. Kalender Kurz 4, 252. Beson-
ders deutlich ist die vergleichung in der häufigen wendung
diebischer weis zu erkennen Simpl. 594. 717. Vögeln. 1, 12. 17.
2, Privilegia und 25. Participiale auffassung des Wortes ver-
raten hingegen Fischarts Zusammensetzungen blutdiebisch 'blut-
stehlend' Flöhhaz, Überschrift vor v. 893 und nachtdiebisch Garg.
91. — läppisch zeigt in seiner form nd. Ursprung; auf hd.
boden kommt es zuerst bei Heinrich von Wittenweiler vor,
mit starker erinnerung daran bei Sachs, Schwanke 1, 588,
beide male daneben der dorfname Lappenhausen. Seine Ver-
breitung verdankt das wort also wol der satirik des 15. 16. jh.'s;
ein bild von seiner Verbreitung in den mundarten ist schwer
zu gewinnen; jedenfalls gehört es im nmd. zu den häufigsten
adjectiven auf -isch. Einzelne belege: Spiessches Faustbuch
ZÜB GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 503
von 1587, 129. Fischart, ßienenk. 230 a. Praktik 18.31. Neithart
Fuchs (um 1500) v. 227. 2332. 23ß0. Grimmeishausen, Simpl.
495. Galgenmänlin Kurz 4, 293. Sachs, Fastn. 5, 140. 146.
Schwanke 2, 399, In Chr. Reuters lustspiel von der Ehrlichen
frau (1695) heisst ein hippen junge so. — närrisch steht zuerst
in Heinrichs von Freiberg Tristan. Von ihm gilt das über
läppisch gesagte fast noch mehr. Es ist gewis, dass das wort
im md. viel fester wurzelt als im obd., wo es mit narreht und
dessen nachkommen das gebiet teilen muss, aber dank dem
obd. Charakter der narrenliteratur lässt es sich in älterer zeit
für Oberdeutschland viel öfter belegen. Eine grössere be-
deutungsentwicklung hat es dagegen nur im md. erlebt. Zu-
nächst ist der sinn viel milder geworden, wie in der ganzen
Wortsippe. Femer ist, da oft der zornige narr seh genannt
wurde, unser wort in einigen gegenden Mitteldeutschlands zu-
nächst in prädicativer Stellung zu * reizbar' geworden, vgl. Zs.
fdm. 3, 267 und Woeste, Westf. wb.
22. Noch auffälliger als bei diesen vergleichenden adjec-
tiven ist die md. herkunft bei denen die bis zu partici pialer
bedeutung durchgedrungen sind. — argwöhnisch ist in md.
form und bedeutung schriftsprachlich geworden: schwäbisch
arcJcweinisch heisst z. b. in Augsburger Chroniken des 16. jh.'s
(Städtechroniken 23, 162. 165. 238) 'verdächtig, beargwöhnt',
ebenso bei Th. Platter und im Vocabularius von 1482, so dass
man zur erklärung des nhd. wortes einen starken druck von
Mitteldeutschland her annehmen muss. Vgl. Sachs, Fastn. 6,
146. Schwanke 2, 26. Grimmeishausen, Simpl. 223. Vogelnest
2,4. Keuscher Joseph 10. — grämisch * feindselig' in Kirch-
bergs Chronik, also aus der wendung * einem gram sein' ge-
bildet {sich ergrämsen 'sich erzürnen' K. G. Anton, Verzeich-
nis oberlaus. Wörter 8, 5), später 'grämlich' Sachs, Fastn. 1,
143. Simpl. 465. Vögeln. 2, 8. 21. sieben grümische, grämische
böhmische polnische beUelleut Dunger, Kinderlieder und kinder-
spiele aus dem Vogtlande ^ 132. Das wort ist nie über md.
gebiet hinausgekommen, ebensowenig die jüngere bildung gries-
grämisch, — hämisch ist nach Kluges Et. wb.<* ebenfalls md.,
wenn aber Kluge hier angibt, das wort trete zuerst im 15. jh.
in Mitteldeutschland auf, so wird er durch Lexer widerlegt,
der es für Heinrich von Freiberg (um 1300) und Nicolaus von
504 GOETZE
Jeroschin (nach 1355), zugleich aber auch für Oberdeutsche
wie Ottokar von Steier (um 1309; im steirischen des 15.jh.'s
auch hemischheit), den sog. Seifried Helbling (1290 — 98) und
Oswald von Wolkenstein (1367 — 1445) belegt. In den nd.
Wörterbüchern kommt es nirgends vor; für 'hinterlistig' gibt
es hier reichlich ersatz in den weitverbreiteten Wörtern fUnisch
und glupisch, nücksch und luurhaftig (Adelung 2, 731. 932. 1080.
Woeste 305. Schambach 65. 259. 283. Mi 21. 24. 27. Danneü
58. 65. Weinhold 28. Müllenhoff zu Klaus Groths Quickbom^i
284). Dagegen ist hämisch in obd. mundarten weit verbreitet :
für Baiem belegt es Schmeller von Sachs (auch Fastn. 1, 139.
2, 7. 3, 94. 7, 98. Schwanke 1, 25. 153. 482. 2, 32. 430. 622)
bis auf die gegenwart, noch früher ist es durch Oswald von
Wolkenstein für Tirol bezeugt, während es Zs. fdm. 5, 447 für
die jetzige Etschtalmundart belegt wird. Im Nordböhmischen
ist es jetzt gleichfalls geläufig, vgl. Knothe, Markersdorfer ma.,
und so steht eigentlich nichts als der beleg aus Jeroschin der
annähme im wege, dass hämisch ein altes bairisch-fränkisches
wort sei, das Luther (z. b. Fabeln 7 d. n.) adoptiert und in md.
form in die nhd. Schriftsprache eingeführt habe. Bei obd, Ur-
sprung ist es aber unwahrscheinlich, dass hämisch mit heimisch
zusammenfällt, wie Kluge und Paul in ihren Wörterbüchern
vermuten: bairisch hämisch fällt nicht mit hoamisch zusammen,
vielmehr wird hämisch, wie Lexer im mhd., Heyne im DWb.
und Wilmanns in seiner Grammatik annehmen, zum stamme
ham, spec. zu mhd. Jiem 'zu schaden beflissen, aufsässig' ge-
hören, in dem also der begriff des heimlichen schon von dem
des böswilligen zurückgedrängt war, als das adjectiv auf -isch
davon abgeleitet wurde. Wider eine andere bedeutungs-
entwicklung zeigt schw. hem^k * schauerlich, düster'. Später
ist dann freilich hämisch oft mit heimisch vermischt worden:
heimisch erscheint in der bedeutung von 'boshaft' bei dem
Thüringer Jonas (Nordhausen 1546), dem Sachsen Musculus
(Frankfurt an der Oder 1564), dem Franken Eyring (Witten-
berg 1725), sowie bei den Oberdeutschen Frank (Tübingen
1534) und Scheidenreiszer (Augsburg 1838), umgekehrt hämisch
bei Sachs in der bedeutung 'versteckt', Und gerade Sachs
kann uns zeigen, wie man dazu gekommen ist, hämisch zu
'heimlich boshaft' zu machen: zunächst braucht er das wort
ZÜB GESCHICHTE DBB ADJECTIVA AUF -ISCH. 505
für * boshaft' ganz ohne den begriff der heimlichkeit: pöcJcisch,
mutwillig, hösz vnd heunisch hemisch, muncket vnd wetterleunisch
Schwanke 1, 25; siehst nit, wie sieht dein man so heunisch,
tücTciseh, hemiseh vnd wetterleuniseh Fastn. 3, 94; darnach ver-
maint der hemisch dropff den poeJc gewislich ^v erdappen
Schwanke 2, 622 von einem wolfe. Oefter tritt dann neben
hämisch ein wort, das den begriff des heimlichen dazubringt:
den schmaichler, gleisner vnd den hewchler, den duechischen,
hemischen meuchler Fastn. 2, 7 ; auf das hemischt vnd duecMscht
wol Schwanke 2, 32, oft in der Verbindung hemische duck Fastn.
1, 139. Schwanke 1, 482. 2, 430. Und schliesslich kann dieses
wort auch fehlen, ohne dass der begriff des heimlichen mit
verschwände: wer prauchet vil hemischer stuecJc vnd fieisset sich
neidischer dueck Schwanke 1, 153. Hier ist wol nur des reimes
wegen die gewohnte Verbindung aufgegeben worden. Statt
hemischer duck steht bei anderen heimtücke, dazu haben die
Mitteldeutschen Fischart, Grimmeishausen (Simpl. 511) und
Stieler das adjectiv heimtückisch. Lessing und noch Adelung
2,1080 schreiben dafür hämtückisch, indem sie sich das wort
zu deuten versuchen. — hederisch 'zänkisch', von hader, ist
wenigstens vorwiegend md., zu den belegen des DWb. Müntzer,
von'ede zum neudruck der Schutzrede x. Sachs, Schwanke 1, 206.
2, 470. 538. In Kehreins Grammatik 2^, 86 aus Hugens Eetho-
rica, Tübingen 1528. — höhnisch ist sicher md. herkunft. Zu-
erst kommt es gegen 1290 bei einem Franken, Eüdeger dem
Hunchover, dann bei Luther vor, und Petri muss in seinem
Bibelglossar, Basel 1523, seinen obd. lesern honen mit spotten,
schmähen, sehenden erklären. Sachs hat das wort erst seit
1559: Schwanke 2, 127. 303. 380. 584. Fischart 1576 im Glück-
hafften schiff, Kehrab v.226 und 1581 im Bienenk. 126 a. Bei
Grimmeishausen z.b. Teutscher Michel 7. Springinsfeld 1. Simpl.
1. continuatio, bei Chr. Eeuter Schelmuffsky B 15. 25. 116 d. n.,
bei Zachariae, Poet. Schriften 1765, 1,60. 164. — klaffisch,
klefßsch von klaffe 'geschwätz' ist niemals im obd. fest ge-
worden, dagegen kleppisch im nd. sehr häufig. Zuerst tritt
das wort in Hugos Eenner auf, dann in Megenbergs Buch der
natur und im Königsberger Passional, öfters auch in alten
bibeln, vgl. Kehrein, Gramm. 2\ 86 und DWb. unter fUrnehmisch.
— kriegisch, zuerst im Eenner des Franken Hugo von Trim-
Beiträge zur geschichte der deutschen tprache, XXIV. g3
506 OOETZB
berg, hat schon hier die bedeutung der herkunft verloren,
denn es heisst 'trotzig, streitsüchtig'. Es kehrt dann bei Al-
brecht von Eyb wider, der in Eichstedt in Mittelfranken dom-
herr war, femer bei Luther und Opitz, aber früh ist es auch
ins obd. gedrungen: es steht in dem vor 1487 in Baiem ent-
standenen Salman und Markolf v. 264, bei Keisersberg, in einem
Berner fastnachtsspiel von 1522 sowie bei Frisius und Maaler.
Möglicherweise hat aber das wort keine selbständige bedeutungs-
geschichte, sondern ist zu hrieg gebildet wie bellkus zu bellum.
In der späteren spräche kommt es übrigens auch ohne tadel
vor, so bei Murner, Geuchmatt v. 2370. H. R. Manuel, Weinspiel
(1548) V.3331. Fischart, Bienenk. 255 a. Jesuiterhütlein v. 592.
Glückhafft schiff, Kehrab v. 420. — mördisch ist schon vor
1122 in der ad. Genesis bezeugt, dann im liederbuch der Hätz-
lerin, im Renner und in Kirchbergs chronik. 1360 findet es
sich in einer Nürnberger chronik, 1489 bei Heinrich von Mügeln,
nicht selten bei Luther und Sachs (ohne Übertragung Schwanke
1,466). Es ist also ganz md. und hier viel gebraucht, denn
es hat schon früh eine starke abblassung erfahren; schon im
Renner kann man es bisweilen für eine blosse Verstärkung
halten: dv machest vil mördisch vhel leut 4829, we weih ein
mordisch diep du bist 7015, so hiez der mördisch vbel man 14253.
Jetzt ist mordsch in diesem sinne weit verbreitet, vgl. Scham-
bach, Mi. Im nhd. ist mördisch in diesem sinne wie sonst
auch von mörderisch abgelöst worden, das gleichfalls zuerst
im md. auftritt. Der erste beleg ist eine Variante zu der eben
erwähnten Nürnberger chronik; Luther gebraucht in späteren
Jahren, etwa seit 1530, mörderisch, wo er früher mördisch ge-
setzt hatte, andre schon etwas früher: Mumer, An den adel
13 d. n. (1520). Müntzer, Schutzrede 30. 34 (1524). Ickelschamer,
Clag etlicher brüder 53 (1525). Ganz fest ist es bei den spä-
teren: Fischart, Bienenk. 238 a. Hayneccius, Hans Pfriem v.1457.
Grimmeishausen, Simpl. 490. Courage 3. Keuscher Joseph 4.
Musai 2. Ebenso als Verstärkung: Zs. fdm. 2, 192 (aus Nürnberg
und Koburg) und dän. morderisk Md. ist natürlich auch
meuchelmördisch und -mörderisch (dies bei Grimmeishausen,
Keuscher Joseph 1, zusatz und beim jungen Goethe 3, 428),
muss doch Petris bibelglossar, Basel 1523, Luthers meüchel-
mörder mit heimlich mörder, das Nürnberger glossar von 1526
ZUR GESCHICHTE DBB ADJECTIVA AUF -ISCH, 507
Luthers meucheln mit heymlieh tviegen erklären. — neidisch
kommt zuerst bei Eilhart von Oberge und Hugo von Trimberg
vor, es ist zugleich nnl., dänisch und schwedisch, und schon
Lexer macht im DWb. auf die md. herkunft aufmerksam.
Früh hat es sich über ganz Deutschland verbreitet: Brant,
Narrenschiff 57, 65. 64, 59. 69, 25. Sachs, Fastn. 1, 28. 104.
Schwanke 1, 153. 198. 264. 381. 2, 592. Frisius und Maaler.
Scheidt, Grobianus 137. Fischart, Bienenk. 254 a. Glückhaff t
schiff, Kehrab v. 581 und nach 858. Grimmeishausen, Simpl.
anhang (Kögel s. 590). Zachariae, Poet. Schriften 1765, 1,176.
184. 250. 264. — räubisch erscheint zuerst mit tadel im md.
Leben des heiligen Ludwig, in J.Rothes Ritterspiegel und in
Kirchbergs Chronik, auch später vorwiegend bei Mitteldeutschen:
Alberus, Fabeln 9, v. 25. Flöhhaz v. 1208. Ueber Sachs s. s. 499.
Ebenso sind die belege für räuberisch md., zu denen des DWb.
Grimmeishausen, Vögeln. 1, 2. Keuscher Joseph 8. — spöttisch
tritt zuerst bei Konrad von Megenberg auf, und zwar, wie
diese adjectiva mit participialer bedeutung oft, als adverb.
Nhd. belege: Th. Müntzer, Schutzrede 37. Agricola, Auslegung
vom 19. psalme (s. den neudruck von Luthers Auffrurischem
geyst 41, 1525). Sachs, Fastn. 7, 157. 159. Schwanke 2, 303. 312.
378. Fischart, Bienenk. 172 b. Peter von Stauffenberg v. 444.
Grimmeishausen, Simpl. 139. Springinsfeld 13. Vögeln. 2, 12.
Zachariae, Poet. Schriften 1765, 1, 33. 39. 62. 2, 92. Aus dem
nhd. ist das wort ins dänische und schwedische gedrungen. —
tämisch wird von den md. idiotiken für Posen, Schlesien, die
Oberlausitz, Böhmen, Baiem, Henneberg, den Westerwald,
Nordwürtemberg und die Pfalz bezeugt. Mitteldeutsche wie
Weise, Grimmeishausen (Keuscher Joseph 15), Gryphius (Ge-
liebte dornrose, Palm 257), Goethe und Musäus verwenden es.
Als tämisch ist es in Baiern altheimisch, sogar bei dem Tiroler
Oswald von Wolkenstein kommt es schon vor. Aus Schlesien
(Weinhold, Beiträge zu einem schles. wb. WSB. 1854 f. anhänge.
Zs. fdm. 4, 165. Zs. fdph. 26, 252) ist es nach Mähren und Nord-
böhmen gelangt (Knothe, Markersdorfer ma. Zs. fdm. 5, 465. 478);
von Baiern nach Kärnten (Lexer, Kämt. wb.). Ueberall be-
deutet es zuerst * schwindlig, betäubt', dann * närrisch, dumm',
und endlich ist es zur einfachen Verstärkung geworden, in
Sommers Bildern und klängen aus Rudolstadt (2^, 62 z. b.) wie
83*
508 GOBTZE
im bairischen, in Kärnten wie bei Fr. Reuter. Der Übergang
mag sich in Wendungen wie einen tämisch schlagen vollzogen
haben, wo tämisch ursprunglich acc. des resultats war, aber
als adverb aufgefasst wurde. Dem bairisch-österr. eigentum-
lich ist die entwicklung über 'närrisch' (s. das.) zu * aufbrausend,
zornig' Zs. fdm. 4, 340. 6, 272. Schmeller 1, 603. — tüchisch be-
legt Lexer vorwiegend aus Franken; zuerst freilich kommt es
in des Alemannen Anthonius von Phor Buch der gleichnisse
vor, dann auch bei Mumer, An den adel 41 d. n. Narrenbeschw.
16, y. 8 und Maaler. Die mehrzahl der belege ist aber doch
md., sowol für die mundarten, vgl. Schmeller. Zs. fdm. 3, 406.
Weinhold, Beiträge zu einem schles. wb. 101 a. Holtei, Schles.
gedichte, ausgäbe letzter hand 101. 246. 334 u. ö., als auch für
die Schriftsprache: Luther. Müntzer, Schutzrede 39. Sachs,
Hürnen Seufried v. 1140. Fastn. 1, 49. 106 u. o. Fischart, Jesu-
iterhütlein v. 9. Grimmeishausen, Simpl. 332. 619. Zachariae,
Poet. Schriften 1765, 1, 62. — hintertückisch, jetzt im sächsi-
schen gebräuchlich, ist wol eine contaminationsbildung aus
hinterlistig und heimtückisch. In einer Tiroler volkserzählung,
Der pfannenflicker, von Karl Wolf, Gartenlaube 1897, s. 700,
wird von hintertückischen Preussen gesprochen wegen der
hinterlader die sie im kriege von 1866 hatten (tücken also =
'stossen'), und auch das gegenstück vordertückisch gewagt.
Eine andere Zusammensetzung ist hlasztückisch 'betrüglich',
bei Luther 1522. — vorteilisch ist in der bedeutung 'auf un-
redlichen gewinn bedacht' nur aus Mitteldeutschland zu be-
legen, Luther hat es Maleachi 1, 14, Sachs, Schwanke 1, 335.
Auch das verbum vorteilen, Sachs, Fastn. 1, 89 und verforteilen
1,92 scheint nur md. zu sein, ebenso vorteilhaftig, z. b. bei
Grimmeishausen, Keuscher Joseph 2. — wucherisch, zuerst in
einer Nürnberger chronik vor 1488, erscheint bei Stieler ohne
tadel. Ausserhalb des md. ist das wort nicht zu belegen. —
ssänkisch, dessen grundwort Weigand in seinem Wörterbuch
für Mitteldeutschland in ansprach nimmt, tritt von anfang an
in participialem sinne auf. Zuerst steht es im cölnischen Voca-
bularius theutonista von 1475 und im Arnstädter rechtsbuch,
dann bei Luther, z. b. Eömer 2, 8. Sachs, Fastn. 4, 50. 112.
127. 6, 111. 7, 35. 135. Schwanke 1, 135. 136. 170. 201. 273.
2, 6. 7. 26 u. ö., bei dem Hessen Alberus und in der wetter-
ZUR GBSCHICHTB DBB ADJBCTIVA AUF -ISCH. 509
auischen Leyen disputa, sowie bei Fischart, Praktik 18 und
Hayneccius, Hans Pfriem s. 8 d. n.
23. So haben wir für einen teil der vergleichenden adjec-
tiva auf -isch und die wichtigsten von denen mit participialer
bedeutung den md. Ursprung im einzelnen gezeigt; für die
ältesten beispiele mag es die folgende Übersicht tun: Lexer
verzeichnet aus mhd. quellen, abgesehen von fremd Worten,
ableitungen von orts- und personennamen und Substantivierungen
aus ahd. zeit, 113 adjectiva auf -isch (-esch), die zu gleichen
teilen aus obd. und md. quellen stammen. Vergleichend sind 43,
davon enthalten 26 einen tadel, und von diesen 26 stammen
ausschliesslich aus md. oder von Mitteldeutschland her beein-
flussten quellen 11. Zu participialer bedeutung sind 34 durch-
gedrungen; diese sind bis auf 3, girisch, tcepisch und tückisch,
nur aus md. quellen belegt.
24. Schon in md. zeit sind auch die fremden adjectiva
auf 'isch mit tadel meist md. und umgekehrt die in Mittel-
deutschland Üblichen meist tadelnd, so auch fast alle die Luther
gebraucht, z.b. aZ/few^^'^cÄ täppisch'; bacchantisch * unverständig',
so auch bei Stieler; curtisanisch; epikurisch * ungläubig', s. no.8;
fantastisch, zugleich obd. : Petri benutzt in seinem Bibelglossar,
Basel 1523, fanteschtisch zur erklärung von Luthers alher\ Tcar-
dinälisch: mit solchen cardinelischen, wetterwendischen, meuchel
warten Wider Hans Worst 58 d. n.; auch bei Seume, Spazier-
gang 13, 154 hat kardinalisch nicht den besten sinn; launisch,
auch bei Sachs, Fastn. 1, 143. 7, 87. Schwanke 1, 381. 492,
danach bei Hayneccius, Hans Pfriem v. 823 als leunisch\ par-
teiisch, vor Luther nur im Nürnberger Vocabularius von 1482;
pestilenzisch, bald nach Luther auch bei Oberdeutschen wie
Maaler, vgl. auch Kluge, Von Luther bis Lessing 46. Germ.
28,395. 29,389, wo sich, wie auch in den übrigen beitragen
Gomberts zur altersbestimmung nhd. wortformen gerade für
fremdworte viele alte nachweise finden; phariseisch 'heuchle-
risch' Von dem auffrürischen geist 12. Müntzer, Schutzrede 20.
Ickelschamer, Clag45; sophistisch; tyrannisch, auchickelschamer,
Clag 47. 53. Sachs, Fastn. 1, 33. 4, 113. Schwanke 1, 399. 2, 128.
129. 629. Alberus, Fabeln no. 21, v. 36. 96. 132. Grimmeishausen,
Simpl. 44. 52. Springinsfeld 4; vgl. DWb. unter mördisch und
mordlich; altvetteUsch fabel, von Petri mit alter weyher märlin
510 GOETZE
erklärt, später bei Dasypodius und danach bei Frisch. Erst
aus altvettelisch hat wol Stieler sein vettelisch gebildet.
Ohne tadel sind von Luthers fremden adjectiven nur
wenige und nur solche die er nicht frei, sondern genau nach
lat. Vorbildern geschaffen hat; so das häufige evangelisch, das
schon 500 jähre früher Notker und der Wessobrunner prediger
dem lat. evangeltcus nachgebildet hatten, und apostolisch.
Diese häufigen Wörter haben dann wider anderen, wie evan-
gelistisch und new testamentisch (Dietz unter evangelisch) zum
Vorbild gedient, biblisch fehlt auffällig genug bei Luther,
offenbar weil er zu dieser bildung keinen anhält im lat. fand,
denn mlat. Ublicus war Substantiv und nur in Paris gebräuch-
lich, und weil sein Sprachgefühl eine bildung dieser art, rein
aus dem deutschen heraus, schon verlernt hatte. Dem Ober-
deutschen Ickelschamer war sie noch möglich, s. Clag 49. Wie
sehr aber der Mitteldeutsche jener zeit für solche bildungen
eines fremden Vorbilds bedurfte, zeigt Alberus, der in seinem
Dictionar zur rechtfertigung des seit 1520 gewagten endchris-
tisch ein antichristicus erfindet.
Md. sind ursprünglich auch einige andere tadelnde adjec-
tiva auf -isch: abenteurisch, als aventiurisch in einer Kölner
Chronik von 1499, als ebentheuwerisch in Kehreins Gramm. 2^, 86
aus Aventin belegt, als abenteurisch oft bei Sachs, Schwanke
1, 302. 379. 549. 552. 2, 489 und danach bei Hayneccius, Hans
Pfriem v. 693, durchweg in der bedeutung 'seltsam'. — rebel-
lisch, in schrift und mundarten nur md., und hier zu der be-
deutung 'unruhig' abgeschwächt: Albrecht, Leipziger ma. Grimms
Märchen no.82 (aus Weitra in Deutschböhmen). Grimmeishausen,
Courage 23. 28. Simpl. 107. 620. 713. Zachariae, Poet. Schriften
(1765) 1, 45. 235. — barbarisch, Lexer im nachtrag. Grimmels-
hausen, Teutscher Michel 1. Simpl. 1. continuatio (Keller 1012)
von Türken, Keuscher Joseph 6 und Musai 5 von Beduinen.
Stieler. — melancholisch Fischart, Praktik 8. 15. Spiessches
Faustbuch von 1587, 39. 113. Simpl. 202. 539. 642. Vögeln. 2, 1.
5. 8. Auch die entstellung maulhenkolisch ist vorwiegend md.
(zu den belegen des DWb. noch Courage 5. Vögeln. 2, vorr.), und
in Mitteldeutschland hat sie sich so festgesetzt, dass sie kaum
noch verstanden wurde; so sagt K. G. Anton im Verz. oberlaus.
Wörter 2, 11 (1826): maulhängolisch, s. v. a. verdrossen. Es ist
ZUR GBSCmCHTB DEB ADJBCTIVA AUF -ISCH. 511
entweder von maulhängen gebildet, oder wahrscheinlicher aus
melancholisch verderbt, aber 10,5 (1837): manJcolsch ist nur
verderbt aus melancholisch, was es auch heissen soll. Wencel
Scherffer hat dafür melampisch, s. Paul Drechsler, Wencel
Scherffer 180. — schmarot^erisch, ausser bei Keisersberg nur
bei Mitteldeutschen.
Andere sind ganz auf die mundart beschränkt geblieben,
so Ugottisch bei Albrecht; feninsch bei Schambach, Danneil,
Dähnert, Mi, und das daraus zusammengezogene fünsch, das.
und Zs. fdm. 2, 318; hassardisch von franz. haza/rd, aber mit dem
gedanken an hass und daher 'feindselig' Eeinwald. Vilmar.
Schmeller; JcraJceelisch Stieler. Dähnert, als JcrajoelsJc Zs. fdm.
6,217 aus Lippe; liberalisch Albrecht; bei Reinwald 'von frauen-
zimmem, freigebig mit ihrer gunst'; o65fma^i5c& Woeste. Dan-
neil. Mi. Albrecht. Zs. fdm. 5, 296; schawernacJcsch auch nd.:
Reuter, Franzosentid» 203.
Dann auch einige die zur blossen Verstärkung geworden
sind, wie kannibalisch, auch entstellt zu galvanisch Polle, Wie
denkt das volk über die spräche ^ 45, Jcalaboarsch Danneil,
calaberisch Zs. fdm. 6, 118 (dies obd.); Jcapitalisch, eine md. er-
weiterung zu dem weiter verbreiteten steigernden Jcapital, vgl.
Schmids Schwab, wb.; mordialisch Alhrecht Zs.fdm. 2, 192 aus
Nürnberg und Koburg, 3, 134 aus dem Hennebergischen, 5, 505
aus Pressburg, und namentlich die ableitungen von sacrament:
schlappermentsch Gryphius, saJcJcermentsch Holtei, Schlesische
ged. 463, aber auch die obd. sakrisch Zs. fdm. 3, 185. 5, 103. 252.
6, 197. 510 und sappermentisch Hebel, Alem. ged. (Werke 1834,
2, 13) und endlich malefi^fisch, bei Lexer und im DWb. aus
Oesterreich und Tirol, bei Schmeller aus Baiern belegt.
Die für die deutschen adjectiva auf -isch aufgestellten
bedeutungsklassen treffen für diese fremdworte nicht zu, denn
die sind den adjectiven auf lat. -icus nachgebildet und be-
zeichnen demnach die Zugehörigkeit überhaupt; doch sind
manche vergleichend, so bacchantisch, curtisanisch, pharisäisch,
sophistisch, andere participial geworden, so äbenteurisch, rebel-
lisch, krakeelisch, launisch, melancholisch und schmarotzerisch,
25. Die fremden adjectiva auf -isch mögen zu einer kurzen
betrachtung des bösen sinnes bei unsrer adjectivklasse in
anderen germanischen sprachen überleiten. Auf zwei arten
512 GOETZE
kommt hier ein böser sinn zu stände, selbständig vom deutschen
oder durch entlehnung. Als beispiel für die erste art der ent-
wicklung kann uns das englische dienen, für die zweite das
schwedische. Im engl, hat, widerum von den eigennamen ab-
gesehen, reichlich die hälfte aller adjectiva auf -ish einen
bösen sinn; von diesen fallen die wenigsten mit deutschen ad-
jectiven auf -isch zusammen, wie chüdish mit Tcindisch\ boorish
mit bäurisch] hellish mit höllisch] selfish mit selbstisch; thievish
mit diebisch, so dass man nicht genötigt ist, aus sprachverglei-
chenden gründen ein höheres alter des bösen Sinnes anzunehmen,
als wir oben, no. 6, zugegeben haben. Die geringe Überein-
stimmung beider sprachen erklärt sich vollkommen, wenn man
annimmt, dass eben nur keime dieser entwicklung, die un-
bewusste neigung gelegentlich einmal einen gefühlswert irgend
welcher art in ein adjectiv auf -isch zu legen, in der mutter-
sprache vorhanden waren. Ein tiefgehender unterschied ist
namentlich der, dass das engl, keine adjectiva auf -ish mit
participialer bedeutung kennt, mit einer ausnähme: snappish
^schnippisch', das schon deshalb der entlehnung aus dem nd.
(snappsJc) verdächtig ist. Die grosse masse der engl, adjectiva
auf -ish enthält einen vergleich und ist von Substantiven ab-
geleitet: von den tadelnden z. b. beastish 'viehisch' von beast;
brutish * tierisch, sinnlich, roh', von brüte; bearish * bärenhaft'
von bear; doggish 'hündisch' von dog; goatish 'geil wie eine .
ziege' von goat; snaJcish 'schlangenartig' von snake; churlish
'bäurisch' zu churl; clownisch 'bäurisch' zu clown,; fiendish 'bos-
haft zu fiend; foolish 'läppisch' zu fool; foppish 'geckenhaft'
zu fop; Jcnavish 'schelmisch' zu knave; monJcish 'mönchisch' zu
monk; rakish 'liederlich' zu rake; roguish 'schurkisch' zu rogue;
rompish 'ausgelassen' zu romp; womanish 'weibisch' zu woman.
Die stelle des nhd. -lieh vertritt -ish in ableitungen zu farben-
namen wie blueish, brownish, greenish, greyish, reddish und ist
hier ganz lebendig. Einem deutschen adjectiv auf -isch nach-
gebildet ist slavish, ausserdem stimmt thickish zu thick mit
dem bei Schmeller verzeichneten dickisch; bookish 'buchgelehrt'
mit mhd. buochisch überein, ohne dass man entlehnung an-
nehmen müsste.
26. Auf dem anderen wege ist in den neueren nord.
sprachen der böse sinn in die adjectiva auf -isk gekommen,
zun GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH. 513
durch entlehnung aus dem deutschen. Ich entnehme die belege
für diese behauptung dem neuschwedischen, weil es dem nhd.
femer steht als das dänische, und daher alles was in dieser
beziehung vom schwed. gilt, auch für das dän. angenommen
werden dar^ der umgekehrte schluss aber unrichtig wäre, und
führe dabei Fredrik Tamms abhandlung Om tyska ändelser
i svenskan (aus Upsala univ. ärsskrift 1880) ausführlicher an
als nötig wäre, wenn diese schrift in Deutschland so bekannt
wäre wie sie es verdient.
Im allgemeinen darf man im nordischen jedes adjectiv
auf 'isk für entlehnt halten, denn lautgesetzlich hat im nord.
das Suffix -iska- sein i verloren. In einigen adjectiven auf
-nisJcer ist die regel nicht durchbrochen, sondern das i ist
secundär aus sonantischem n entstanden, ebensowenig bedeutet
z.b. sundrisker eine ausnähme, denn hier gehört das i zum
stamme, das wort ist wahrscheinlich aus sundriksker zusammen-
gezogen. Somit ist jedes schw. adjectiv auf Ask entlehnt. Doch
nicht jedes auf consonant + sk ist altheimisch, denn etwas
später als im nord. fieng das synkopierungsgesetz auch im nd.
an zu wirken, im mnd. war die synkope nach r, l und n durch-
geführt, und. und nnl. ist sie allgemein durchgedrungen, also
können derartige adjectiva ebenso aus einer dieser sprachen
entlehnt sein. Hierher gehören z. b. djcevulsk, himmelsk, hätsk,
spetelsk aus mnd. düvelsch, hetsch, hemelsch, spetelsch] glupsk,
hundsk, luthersk, löpsk, spotsk aus nnd. glupsch, hundsch, lu-
thersch, löpsch, spöttsch; kcettersk, nidsk, skcelmsk, stursk aus
nnl. kettersch, nijdsch, schelmsch, stuursch.
Auch die schw. adjectiva die in dem i das kennzeichen
der entlehnung tragen, haben im übrigen schw. lautform an-
genommen. Eine der ältesten entlehnungen ist afgudisk (Tamm,
Et. svensk ordbok, Stockholm 1890 ff.); in aschw. zeit ist ^y-
]>isker und hövisker (dazu das jüngere ohöfvisk) entlehnt worden,
die grosse masse aber erst seit dem 15. jh., so djurisk, hednisk,
horisky jordisk, nitisk, partisk (im 15. jh. partijsk), sekterisk,
sjelfvisk, slafvisk. Selten sind entlehnungen aus dem nhd.; das
beste zeichen dafür ist, dass es ausser luthersk und den un-
deutschen kcettersk und sekterisk im schw. keine adjectiva auf
-ersk oder -erisk gibt: förförisk, förrädisk, inbilsk, krigisk,
mordisk, svärmisk, upprorisk entsprechen noch den älteren
514 GOETZE
verführisch, verrausch, einbUdisch, kriegisch, mördisch, schwär-
misch, aufrührisch, während das dän. hier und öfter die jüngeren
formen hat, vgl. ausser förförersh : holersh, forbrydersJc, hyhlersTc,
reversJc, trylUrisk. Schliesslich sind auch von echt schw. stam-
men adjectiva auf 4sh dem deutschen nachgebildet worden,
wie helvetisk und hädisJc,
Von wirklich schw. adjectiven auf -sJc bleiben mit tadel
nur sehr wenige übrig : aschw. dulsJcer, glömsker, ilzker, HömsJcer
= nschw. dolsJc, glömsJc, ilsh, lömsJc: ein neues zeichen für unsere
behauptung, dass der böse sinn im germ. erst im keime vor-
handen war.
IL
Zur bildongsgeschichte der adjectiva auf -dsch.
27. Eine neue bedeutungsgruppe pflegt im sprachbewusst-
sein einen so grossen räum einzunehmen, dass sie auch benach-
barte teile des Wortschatzes in ihre kreise zieht. So haben
auch die participialen adjectiva auf -isch einen teil der älteren,
die herkunft oder einen vergleich bezeichnenden adjectiva in
ihren kreis gezogen; beispiele genug für diese entwicklung
sind im ersten teile vorgekommen.
Diese neue art der betrachtung hat nun aber auch auf
die bildung der adjectiva auf -isch eingewirkt. Bei partici-
pialer bedeutung war es nicht mehr wie bei der der herkunft
oder des Vergleiches nötig, dass der bildung ein hauptwort zu
gründe lag, vielmehr lag es näher, sie zu einem verbum zu
stellen, und wir haben mannichfache belege dafür, dass adjec-
tiva auf -isch, die unzweifelhaft von Substantiven abgeleitet
sind, nachträglich zu verben bezogen worden sind, so aufrüh-
risch, regnerisch, stürmisch und zänkisch von Adelung im Lehr-
gebäude der deutschen spräche 2, 69, abergläubisch, argwöhnisch,
neidisch, spöttisch, tückisch, zänkisch von Heyse im Lehrbuch
der deutschen spräche 1, 565, höhnisch und zänkisch noch 1878
von Weigand in seinem Deutschen wb.
28. Eein äusserlich war diese ableitung noch viel öfter
möglich: auch bei arbeitisch (Albrecht, Leipziger ma.), balMerisch
(ausser bei Stieler auch bei Paracelsus, DWb. unter baderisch),
bettelisch, girisch, röubisch, rumorisch (Sachs, Schw. 2, 544. Scheidt,
Grobianus 112 d. n. Fischart, Podagr. trostb. 13), täppisch und
ZUR GESCHICHTE DER ADJBCTIVA AUF -ISCK 515
verrausch konnte man an o/rheiten, halbieren, betteln, gern,
rouhen, rumoren, tappen, verraten denken so gut wie an arbeit,
balbier, bettele gir, roup, rumor, tappe, verrat; hlapperisch,
Tcnauserisch, meuterisch, ölperisch, zauberisch (z. b. Fischart,
Bienenk.63b. 237 a. Spiessches Faustbuch 8. 13. 25. Grimmeis-
hausen, Simpl. 686. 757. Springinsfeld 6. Vögeln. 1, 1. 12. 2, 22.
25. Stieler. Zachariae, Poet, schritten 1765, 1, 133. 143 u. ö.)
konnten, so lange zwei congruente silben hinter einander
nicht geduldet wurden, sowol zu Substantiven auf -rer als zu
verben auf -em gehören; ganz zweifelhaft ist mistrauisch, das
entweder vom verbum oder vom substantivierten int abgeleitet
ist. Ott genug lag es auch formell näher, an das verbum zu
denken, z. b. wenn das zu gründe liegende subst. ausgestorben
war, wie bei lamrisch zu Iwuer 'spitzbube', oder bei abtrün-
nisch zu mhd. abetrünne 'abfair, oder wenn das verb mit dem
adjectiv den umlaut gemein hatte, wie a/rcwosnen mit arc-
wcenisch gegen arcwän; aufrühren mit aufruhrisch gegen auf-
ruhr (auch bei Fischart, Garg. 235. 349. Alberus, Fabeln 10,
V. 108); höhnen mit höhnisch gegen höhn; Jcleffen mit Jcleffisch
gegen klaffe; rühmen mit rühmisch gegen rühm-; stürmen mit
stürmisch gegen stürm (Grimmeishausen, Keuscher Joseph 4.
Stieler. Zachariae, Poet, schritten 1765, 1, 143. 280, stürmerisch
2, 33, dann ott im stürm und drang: Der junge Goethe 1, 91
U.O. Gerstenberg, Ugolino, Vorbemerkung (1768). KPh. Moritz,
Anton Reiser 293. 427. 432 d.n. [1786]. Seume, Spaziergang 2»,
54 u. 0. Ursprünglich scheint das wort dem französischen nach-
gebildet zu sein, es tritt zuerst in einer Übersetzung des 14. jh.'s
[Hagen, Gesammtab. 1, 26, 211] auf und zwar sofort in über-
tragener bedeutung wie das franz. orageux; auch bei Fischart,
Garg. 235 kann es nachbildung sein. Dazu bei Stieler wind-
stürmisch); wüten mit wütisch gegen wut (wütnisch im Peter
Leu V. 974 [1557], wittisch, wüttisch * aufgebracht' in Schmids
Schwab, wb. als bairisch. Das rotwelsche wittisch, wittsch ist
vielleicht durch einen gleichen bedeutungsttbergang zu 'sonder-
bar, albern ' geworden, wie wir ihn oben bei närrisch fanden).
Es traf sich, dass in Mitteldeutschland, wo der participiale
sinn früher als im obd. eingetreten war, auch diese neue ety-
mologie mehr nahrung fand, weil hier die verba viel öfter
umgelauteten stammvocal hatten; hier konnte sich auch aber-
1
516 GOETZB
gläubisch (nebst dbgläubisch bei Luther, femer in Maalers Wb
in Widmanns Faustbach, Überschrift zum 1. cap. = Scheibles
Kloster 2, 285 [Hamburg 1599], bei Grimmeishausen, Galgen-
männlin 1. 3. 6. Vögeln. 2, 12 ff. 26. Oehlinger führt in seiner
Gramm. 54 d. n. abergleuhisch als possessiuum an, der Strass-
burger kann eben mit dem participialen sinne nicht zurecht-
kommen, aftergläubisch Zs. fdph. 3, 365) zu glauben; mördisch
und meuchehnördisch zu morden; tückisch zu tücken; zenleisch
zu zenTcen stellen.
29. Die folge dieses Zusammentreffens war, dass seit mhd.
zeit neue adjectiva auf -isch nun auch wirklich zu verben ge-
bildet wurden. Diese bildung ist bis auf unsere tage lebendig
geblieben und ist stets auf Mitteldeutschland beschränkt ge-
wesen. Das ist nicht unwichtig für die wortbildungslehre,
denn nach diesem gesichtspunkte wird man in zweifelhaften
fällen entscheiden können, ob ein adjectivum auf -isch von
einem subst. oder einem verbum abgeleitet ist. Die ableitung
von verben hat übrigens ziemlich weiten umfang angenommen;
mir sind 158 sichere ableitungen von verben bekannt, das sind
— wenn meine zahlen auch gewis zu klein sind, werden die
Verhältnisse doch etwa stimmen — von den ableitungen zu
eigennamen abgesehen, 15,5 proc. aller adjectiva auf -isch.
39. Die ältesten verbalableitungen stehen im Renner des
Franken Hugo von Trimberg, es sind fümasmisch *sich heraus-
nehmend, vermessen' v. 300 und neckisch ^boshaft' 7087 (auch
bei Sachs noch nicht in dem milden sinne wie jetzt; s. Schwanke
1, 342. 2, 71. 378. 382, wo es 'zu derben possen aufgelegt' und
1, 258, wo es 'wunderlich' bedeutet. In dem zweiten sinne im
nmd. weit verbreitet: Bernd, Die deutsche spräche in Posen.
Berndt, Vers, zu einem schles. id. unter schnake. KG. Anton,
Verz. oberlaus. Wörter 2, 13. Albrecht. Adelung. Fulda. Campe.
Eeinwald. Schmid. In demselben sinne dohemeckisch, auch bei
Eeinwald, und kieferneckisch, dagegen schabernacMsch bei Weise,
Erznarren 106 und Reinwald von nack m.). Ein credisch 'aber-
gläubisch' wird durch das im Servatius vorkommende credischeit
verlangt; gebisch 'zu geben geneigt', das im nmd. auch in
gutem sinne vorliegt (Bernd. Reinwald. Albrecht. Adelung),
wird früher mit tadel verbunden gewesen sein, das zeigt tAber-
gebisch 'verschwenderisch' im md, Aristoteles des 15. jh.'s.
ZUR GBSCHICHTB DER ADJBCTIVA AUF -ISCH. 517
Oswald von Wolkenstein hat, wol ans dem md., rumblisch
(rumpeln gleichzeitig nnr noch bei Heinrich von Freiberg),
smielisch, tumbrisch, türmisch, der Nürnberger Voc. von 1482
u. a. betrübisch, der des Antonius Annaberger vom anfang des
15. jh.'s tobisch (vgl. döwesch 'wütend' von wetter und vieh bei
Schambach, diwisk 'verkehrt, verwirrt' von der schöpsdrehe
Zs. fdm. 6, 57, dagegen ist toben im obd. zu Luthers zeit un-
bekannt, Th. Wolfe bibelglossar, Basel 1523, gibt es mit grymmig,
'dornig sein wider, Zs. f dph. 22, 328).
31. Häufiger werden die verbalableitungen seit Luther. Mit
anklebisch übersetzt er Hebr. 12, 1 t^p svjtsQlöxaxov dfiagrlav,
er bringt heuchelisch, mürrisch (auch bei Hayneccius, Hans
Pfriem V. 334, Grimmeishausen, Simpl. 704. Zachariae, Poet.
Schriften 1765, 1,180. 232. 2,12. Moscherosch. DWb. 5, 582 o.),
störrisch (Sachs, Schwanke 2, 513. Hayneccius, Hans Pfriem
V. 2054. Zachariae, Poet. Schriften 1765, 1, 193, obd. dagegen
unbekannt, denn Petri erklärt Luthers störrig 1. Mos. 49, 7
u. ö. mit widerspennig, streytig), verführisch (Ickelschamer, Clag
47. Spiessches Faustbuch s. 7. Adelung 2, 1401) und wetter-
wendisch (daher bei Clajus, Deutsche gr. 57 d. n. und Helber,
Syllabierbüchlein 14, 27 ; dafür bei Petri unstet, vgl. Schambachs
wickenwendisch) in die Schriftsprache, seinem sprachkreise ge-
hören auch kreppisch von kreppen 'kröpfen, ärgern' und em-
pörisch an.
32. Hans Sachs hat crnfschnüppisch (Fastn.3, 13 auffschnüp-
pich wie kreppisch mit unverschobnem pp, in der bedeutung
* hochmütig'). Das wort zeigt zugleich den sinn des gleichbed.
schnippisch, wie aufschnüppisch von aufschnuppen, aufschnupfen
kommt, so wfrd schnippisch oder besser schnüppisch von hd.
schnupfen kommen, das heisst aber 'die luft heftig durch die
nase ziehen', in diesem falle aus hochmut, etwa mit zurück-
werfen des kopfes verbunden (dieselbe grundbedeutung hat
schnupfen oder schnuppen 'weinen', bei Sachs, Schwanke 1, 28.
430. 482. 535. 2,196, denn das heisst: 'die luft heftig durch
die nase ziehen', um das tränenwasser aufzuhalten). Etwas
anders bezeichnet Hayneccius dasselbe benehmen: vnd vnter-
steht sich noch, das er vns schnarchend vberpoch Hans Pfriem
V. 1470 f. Ganz hiervon zu trennen und immer nur von der
spräche gebraucht ist schnüppisch mit fürschnäppisch 'vorlaut',
518 aoETZE
bei Reinwald und Zs. fdm. 3, 140, die von schnappen ^laut werden'
kommen, vgl. Hans Pfriem s. 4 d.n. und v. 553; dagegen zeigt
schnuppisch * lecker im essen', bei Reinwald, eine dritte be-
deutungsentwicklung von schnupfen: hier heisst es 'die luft
über dem essen durch die nase einziehen, schnuppem'), gewd-
nisch * verschwenderisch' Schwanke 1, 381. 2, 312. 547. Fastn.
1, 92. 95. 138 (dazu bei Stieler vergeudisch), münchisch 'mürrisch',
prängisch 'prangend', schmarotzisch 'schmarotzend' Schwanke
2, 318, jsutäppisch Fastn. 5, 142 ('sich einschmeichelnd' auch bei
Fischart, Podagr. trostb. s. 22 bei Kürschner. Grimmeishausen,
Simpl. 212. 354. 451. 591. Courage 23. Springinsfeld 1. Keuscher
Joseph 8. Ad. Stifter, Studien 2, 15 [1844]. Schmid, Schwab, wb.
Anders bei K. G. Anton, Verz. oberlaus. Wörter 15, 23: ^ zutäppisch
wird ein plumper, grober, auch wol zudringlicher und unver-
schämter mensch genannt, weil er immer zutappt, mit der tappe
oder talpe überall hinzutritt oder zugreift. Campe.' Sollten die
beiden ersten bedeutungen bloss der etymologie zu liebe an-
gesetzt sein?).
33. Fischart wendet ausser den schon genannten heuch-
lisch, mürrisch und zutäppisch folgende Verbalableitungen auf
'isch an: balgisch, bübelisch (zu hübein, vgl. bübelieren Brant,
Narrenschiff 27, 6, vielleicht auch mit dem gedanken an biblisch
Garg. 117), diebraumisch 'hinwegräumend wie ein dieb', Ucht-
verbergisch im Wortspiel mit lichtenbergisch Garg. 24, schindisch
'geizig', schhmpampisch und schnippisch. Bei Grimmeishausen
kommen neu hinzu haushältisch und wurmisch ('verdriesslich',
von wurmen 'verdriessen', Vögeln. 2, Privilegia, später bei Gry-
phius, Peter Squenz 16 und Lessing), sowie vexirisch Calender,
Kurz 4, 255.
34. Die reichste ausbeute an verbalableitungen auf -isch
gibt Stielers Wb. Nur ein achtel von seinen beispielen ist frei
von tadel: lehnisch (wider bei Reinwald im anhang) mit an-
lehnisch, auslehnisch, entlehnisch und verlehnisch, die Stieler
sp. 1124 so schematisch hinter einander aufzählt, dass man
denken kann, er habe sie selbst erst zu lehnisch gebildet,
ferner flechtisch, flicJcisch, Jcaffisch, das Stieler = 'wachsam' setzt,
das wol aber entsprechend der bedeutung des nhd. gaffen und
dem westfäl. gcepsk, das nach Woeste 'unberufen, neugierig'
bedeutet, mindestens eine hinneigung zum bösen sinne gehabt
ZUE GESCHICHTE DER ADJECTIVA AUF -ISCH, 519
hat, linderisch, sinnisch (in beispielen auch bei Stieler nirgends)
und wehnisch 'wöhnisch'.
Im ganzen besser bezeugt, auch bei anderen Schriftstellern,
sind Stielers verbalableitungen mit tadel: ausäf fisch, hellisch,
empörisch, ergieMsch, gäkisch, geltwerfisch, greifi^sch, kasteyisch,
hlauhisch (= nd. glubsch), Jcletterisch, Griechisch, lermisch, lörisch
(= leirisch * langsam', wie lören = leiren, vgl. Lexers liererisch
aus einer md. hs. des 15. jh.'s), misdenkisch, misdünhisch, nach-
äffi^ch, plackisch, plapperisch, plünderisch (seiner bedeutung
gemäss zu plündern, nicht zu plunder, auch die hauptsächlich
md. Verbreitung macht die verbalableitung wahrscheinlich),
polterisch {^xmgestiim^; polderisch oder hüisch Ickelschamer, Clag
54), porrisch und aufporrisch, saufisch und seufi^sch (nd. supsch),
scheuchisch, schlägisch (auch bei Campe), schleuderisch, schien-
kerisch, schmähisch, schmälerisch, schmeichelisch, schmiegisch,
schnackisch, stolperisch, verdenkisch, verheerisch, verödisch, wer-
fi^sch und wirfisch, zauderisch, eechisch, zergisch und herrisch.
Dann einige von verben auf -ieren: banquetierisch, bossierisch,
brafirisch, feodrisch, flattirisch, haselirisch, hausirisch, partirisch,
schändirisch, schimpfirisch, sektirisch, skallirisch, spa^irisch,
spendirisch,
35. In grösserer zahl begegnen wir verbalableitungen auf
'isch wider in den nmd. mundarten. Am wenigsten werden wir
von dem bisher innegehaltenen chronologischen verfahren ab-
weichen, wenn wir zuerst die mehreren mundarten gemeinsamen
und dann die einzelnen eigentümlichen betrachten. Zwar nicht
alle finden sich in den Idiotiken, an die wir uns hier halten
müssen, bei Woeste, Schambach, Albrecht, Danneil, Mi, Wein-
hold verzeichnet; namentlich von denen, die kraft ihrer weiten
Verbreitung in die Schriftsprache gedrungen sind, wie mis-
trauisch, mürrisch, störrisch und wetterwendisch, fehlen manche.
Für das göttingische, westfälische, mecklenburgische und
altmärkische sind bezeugt: bitsch oder betsch 'bissig', löpsch
und snippsch oder snepsch; für Mecklenburg, die Altmark und
Leipzig angreifisch, anschlägisch und nachträgisch; für West-
falen, Göttingen und die Altmark glupisch und snacksch * ge-
schwätzig'; für Göttingen und Westfalen körisch * wählerisch'
(zu scheiden von nd. körisk, kürisch 'schreiend', z. b. Voss 2, 119)
520 OOBTZB
undprdYtecÄ o&er prötsch * maulend'; für Göttingen und Mecklen-
burg wederwensch.
Dem westfäl. aUein gehören an: argdenkesch, driewisJc,
iterbietsk, nieterhktsk, stubietsk, gcengesk, gäpsk oder geitaisk,
gcepsk, hürksk, nitsch, prängesk, slensk, smöksk, snaigesk, snü-
wesk und ni^entücksk; dem göttingisch-grubenliagisclien: änisch,
hramsch, brüüsch, döwesch, fälsch^ grepsch, lüsch, merksch,
melksch und maisemelksch, smetsch, schefmsch, bespreksch; stö-
ätsch, süpsch, twingelsch, unverlätsch, upscetsch und upstcetsch;
dem mecklenburgischen äwerögsch, krüdsch, schulsch, langtägsch
(oft auch in Reuters Stromtid), wetterdänsdi; dem altmärkischen
nur naotäögsch\ in Leipzig hört man anhängisch, riebisch 'rei-
bend, scheuernd' von kleidem, übelnehmiscJi (K. G. Anton ge-
braucht das wort selbst 1, 11 und 18, 13) und wäTdisch.
Mehr als dreiviertel dieser adjectiva haben einen bösen
sinn, und productiv ist die gruppe nur noch insoweit sie einen
bösen sinn hat, aber innerhalb dieser grenze ist die bildung
durchaus lebendig, z. b. wird in Leipzig jetzt bisweilen ruppsch
für ruppig gesagt, und ein hohes alter ist für keine der verbal-
ableitungen anzunehmen, die nur einer einzelnen mundart an-
gehört.
36. Es ist s. 514 gesagt worden, dass die participialen
adjectiva auf -isch den verwanten verben besonders nahe stehen.
Als eine bestätigung dieser annähme wird es aufzufassen sein,
wenn zu participial gewordenen adjectiven, neben denen kein
verbum steht, gern eins aus dem adjectiv abgeleitet wird.
Wir belegen im folgenden diese erscheinung aus Schriftsprache
und mundarten, schicken aber voraus, dass die md. und nd.
belege, trotz ihres absoluten Übergewichts, relativ in der
minderheit [sind, d. h. den vorhandenen sprachstoff weniger
erschöpfen, als die möglichst reichlich gegebenen obd. beispiele.
Die ältesten verba von adjectiven auf -isch bedeuten *die
spräche, die das adjectivum bezeichnet, sprechen', so welschen,
kauderwelschen bei Lessing, Thümmel, Campe und Stalder; rot-
welschen bei Holtei, Schlesische ged. 218; latinischen bei Mumer,
Luth. narr v. 1284 (vgl. latinvsare)\ polschen auch in übertra-
genem sinne = 'unverständlich sprechen' Bernd, Die deutsche
spräche in Posen. Holtei 357 und Weinhold im glossar dazu.
ZUR GESCHICHTE DES ADJECTIVA AUF -ISGH, 521
Intransitiv ist dann auch das von einem übertragenen
Völkernamen abgeleitete flämschen 'eine finstre miene machen'
K. G. Anton, Verz. oberlaus. Wörter. J. Petters, Andeutungen zur
Stoffsammlung in den deutschen maa. Böhmens. Fr. Knothe,
Markersdorfer ma.; anflämschen ist durch die präposition tran-
sitiv geworden. Anton. Petters. Knothe; galbschen 'zanken' zu
mhd. gelf 'übermütig' Schmeller aus Aschaffenburg; gir sehen
'erschleichen, subrepere' Lexer aus der Hohenfurter Benedic-
tinerregel des 13. jh.'s = Zs. fda. 16, 266; glubschen 'scheel, glu-
pisch ansehen' Anton; dazu das transitive anglupschen bei
Anton und Bernd; hämischen 'hämisch sein' und daher einen
'hämisch behandeln' Anton. Dagegen von hämsch 'reizbar,
empfindlich' das nordböhmische 'shot'n g'hämscht 'er hat sich
tüchtig verletzt' Knothe; hübschen, transitiv, namentlich in den
Wendungen sich hübschen Anton und Campe, und sich anhübschen
in Thüringen und Obersachsen, hübschen 'hübsch machen' im
DWb. auch aus Wirsung Calixtus und 'hübsch werden' aus
Stalder; mhd. höveschen 'den hof machen' ist offenbar franz.
courtiser nachgebildet; Tcindschen 'kindisch sein' im DWb. und
bei Holtei, Gedichte 364. Berndt, Versuch zu einem schles. id.
Anton; verMndschen 'kindisch werden' Adelung 2, 1580; läpp-
schen, das häufigste dieser verba, auch in Weinholds Beiträgen
zu einem schles. wb. Bernd und Albrecht; lünschen 'übellaunig
sein' Zs. fdm. 5, 155 aus Fallersleben, 6, 354 aus Lippe, im
Bremisch -ns. wb. aus Braunschweig, schliesslich in J. Fr.
Schützes Holst, id.; muckschen bei Anton und Holtei, Gedichte
336. 365; narr sehen bei Anton. Albrecht. Campe, aber auch in
Murners Luth. narren v. 2 (vielleicht nach fatuari?); neidschen
in den bedeutungen 'neidisch sein, einen neidisch behandeln,
ansehen' aus Westmitteldeutschland belegt; fälschen .'tälsch,
albern sprechen und handeln' bei Bernd. Holtei 228. 364. 437.
491. Anton (auch unter dälschen)\ teerischen 'närrische dinge
treiben' in Heinrichs von Freiberg Tristan; tückschen 'tückisch
tun, schmollen' Albrecht. Bismarck, Gedanken und erinnerungen
1, 189; unwirdischen 'unwirdisch werden, indignari' in Megen-
bergs Buch der natur.
Diese beispiele werden für sich selbst sprechen und zur
genüge zeigen, dass die bildung durchaus md. ist. Damit
ordnen sich die verba auf -ischen oder -sehen passend in das
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 34
522 VON DER LETEN
bild ein, das wir oben von der Verbreitung der participialen
adjectiva auf -isch gewonnen haben.
LEIPZIG. ALFRED GOETZE.
ZU HARTMANNS REDE VOM GLAUBEN.
Beitr. 24, 206 ff. beschäftigt sich Leitzmann mit meinem
buch: Des armen Hartmann rede vom glouven (Breslau 1897).
Er sucht nachzuweisen, dass die interpolationen , die ich in
diesem denkmal zu erkennen glaubte, als solche nicht gelten
dürfen, und macht dann einige bemerkungen zu dem von mir
hergestellten text. Da seine angriffe bei unbefangenen lesern
den eindruck hervorrufen müssen, als seien meine annahmen
recht leichtfertig, möchte ich um die erlaubnis bitten, hier
einige worte zu meiner Verteidigung zu sagen.
Als ich mich s. z. mit der 'Rede vom glouven' abgab, las
ich sie mir widerholt laut vor. Dabei fiel mir auf, dass ver-
schiedene versgruppen in rhythmus und diction sich sehr merk-
lich von dem tenor der anderen verse unterschieden. Als ich
daraufhin näher zusah, bemerkte ich in diesen versen auch
andere eigenheiten, in denen sie gegen H.'s verse überein-
stimmten.
Als solche erschienen mir und erscheinen mir noch heute:
1) Die verse mit fünf hebungen, die für jene zeit im all-
gemeinen gewis nichts ungewöhnliches sind, aber auffallen
müssen, wenn sie in einem gedieht von über 3000 versen nur
sechs mal begegnen (vgl. mein buch s. 34. 38). — Während
ferner H.'s verse durchaus schwungvoll und bewegt sind, kann
man diese fünfheber kaum als verse lesen: es ist baare prosa,
wie denn auch einer dieser verse (2675, vgl. mein buch s. 37)
tatsächlich als prosasatz vorkommt. Bei einem andern wäre
es ganz leicht gewesen, ihn nach dem muster von Hartmann-
schen in einen guten vers zu verwandeln (vgl. 1481 gelobet
zu HABTMANNS REDE VOM GLAUBEN. 523
ststu, Mrre, heüich Crist mit 1942. 2114. 2354 lob dir, Mrre,
heilich Crist),
2) Armut in ausdruck und worten, not- und flickverse,
äusserst ungeschickte widerholungen von versen die keines-
wegs formelwert besitzen und einander beinahe unmittelbar
folgen. Vgl. bes. 79 noh ouh niemer mer ne tut, 83 noh ouh
niemer mer ne tut; 982 da hegunder dem vater danke, 985 gote
begunder danken. Aehnlich 10951 = 1103 f. 1097 beinah =
1137. Derlei mag ich einem dichter nicht zutrauen, der über
einen für jene zeit fast ungewöhnlichen reichtum an worten
und synonymen Wendungen verfügt; der in der kunst, dasselbe
in immer andrer form zu sagen, ein meister ist (man vgl. die
verse 75—164. 199—220. 1225 f. 2404 f. und mein buch s. 70 f.).
3) Eine art, wissen und kenntnisse zur schau zu tragen,
die ich mit dem sehr bescheidnen, jeder prahlerei abholden
wesen H.'s auch nicht in einklang bringen kann. Der inter-
polator citiert genau (1510. 2881), H. beruhigt sich mit einem
einfachen hinweis auf die heilige schrift oder das neue testa-
ment (vgl. mein buch s. 68), der interpolator bringt bibel-
sprüche und -citate an unpassender stelle, bloss um zu zeigen
dass er sie kennt (vgl. v. 714 f. 2674—79. 2880—83), während
H.'s citate immer in den Zusammenhang passen (man vgl. mein
buch s. 94f.). Besonders charakteristisch für den interpolator
sind die verse 2674 — 79, die in fünf reihen zwei (von den
sechs) fünfhebigen versen und zwei unpassende bibelcitate
enthalten.
Diese eigenheiten des interpolators verbinden sich auch
psychologisch aufs beste: impotenz und unbescheidenheit gehen
doch oft genug zusammen.
Wenn ich auch sonst stilistische und metrische Ungeschick-
lichkeiten auf das conto des interpolators setzte, wird sich
niemand darüber wundern. Z. b. lauten 2850 f. (die zudem in
die umliegenden leidenschaftlichen mahnungen sehr unglücklich
eingeschoben sind) wole gedenke an daz, intrüwen rätich dir
daz, bringen also einen rührenden reim, wie ihn H. sonst ver-
meidet (vgl. mein buch s. 8), und den er in diesem fall doppelt
gut hätte vermeiden können, hätte er sich nur, wie das sonst
seine art ist, selbst (2404. 2512) widerholt: nü bedenke dih
34*
524 VON DER LEYEN
haZj intrüwen rätih dir daz. Darum erklärte ich die beiden
verse für unecht.
Die andern argumente die ich als solche ansah, besonders
die obd. worte in interpolierten versen, kommen jetzt nicht
mehr für mich in betracht.
Allerdings muss ich einräumen, dass meine kriterien im
grund ästhetische sind, und dass ihnen viel subjectives anhaftet.
Es ist darum eben so schwer, sie für jedermann einleuchtend
zu machen, wie ihre beweiskraft richtig abzuschätzen, ins-
besondere für einen anfänger, der des guten noch gern zu viel
tut, in philologischen Untersuchungen noch unerfahren ist, auch
beobachtungen die für sein empfinden gewis sind, leicht für
objectiv erwiesene hält.
Darum sehe ich heute, nachdem mein blick natürlich un-
befangener geworden, dass ich bisweilen ins tüfteln geriet,
unterschiede herausfühlte, die nicht existierten, auch von ärm-
lichkeit redete, wenn sie nicht vorhanden war. Ich lasse dem-
gemäss meine bedenken gegen 105 f. 201 f. 229—34 (vgl. auch
Ps. 134, 6 und Eeuschel, Lit.-bl. 20, 161). 805—8. 1401—3. 1405.
1531 f. 1610—13 fallen.
Ueber 25 — 34 bin ich mir noch nicht im klaren; ich gebe
aber, zumal wenn ich das von L. s. 216 gesagte in betracht
ziehe, zu, dass ich mich auch hier irrte. Freilich bleibt mir
der gebrauch von wände in v. 33 für H. auffällig; ebenso ver-
stehe ich, wenn die verse echt sind, nicht recht, warum H. gott
in 20 versen um hilfe bittet, nachdem er weiss und zuversicht-
lich hoffen darf, dass gott ihm diese hilfe gewähren wird.
Die andern verse halte ich nach wie vor für interpolator-
mache.
Ich komme nun zu Leitzmanns gegenargumenten. L. geht
auf meine metrischen kriterien 'ein für alle mal' nicht ein, da
meine behandlung dieser dinge 'den an eine rhythmische
ßtatistik zu stellenden ansprüchen nicht genügt', (s.211; vgl.
auch s. 215 und s. 206 'die eine unerlässliche statistische ana-
lyse der rhythmik ganz beiseite lassende metrik'). 'Von den
metrischen tendenzen des gedichts', fährt L. fort, 'hat er sich
offenbar selbst kein klares bild gemacht, vielmehr bietet er
an stelle einer nüchternen Untersuchung phrasen' (z. b. s.52).
Zu HABTMANKS BEDE VOM GLAUBEN. 525
Dass meine metrik in vielen punkten anfechtbar ist, weiss
auch ich. Darf man sie aber darum in bausch und bogen
verwerfen? Nebenbei habe ich s. z. für mich eine 'ausführliche
statistische analyse der rhythmik' hergestellt und sie absicht-
lich nicht abgedruckt, ebensowenig wie ein reimregister. Wa-
rum ich so verfuhr, kann ich hier nicht begründen. Meine
'phrasen' auf s. 52 mag jeder selbst nachlesen; ich habe
mich in den betr. Sätzen so gut ich konnte bemüht, die be-
sondere art von H.'s metrik und den eindruck, den sie mir
machte, zu schildern. Anscheinend also kennt L. meine metrik
nicht so genau, dass er sie mit solchen werten beiseite schieben
dürfte.
Meine stilistischen kriterien behandelt L. auch recht ge-
ringschätzig. Zu 28501 (mein buch s. 42): 4ch brauche nichts
zur Widerlegung hinzuzufügen'. — Zu 2880—83 (mein buch
s. 37: ich hatte gesagt, H. eitlere nie so genau, vgl. zu 1910 ff.):
'nun, dann hat er es in diesem einem fall doch getan'. — Zu
1481—92 (mein buch s. 38) : 'die weiterhin gerügten stilwider-
holungen finden sich bei H. so massenhaft, dass ich mir belege
ersparen kann' (wo finden sie sich? ich finde sie nirgends). —
Zu 299 f. (mein buch s. 41, 297 Hecht — 299 Uecht] 299 swär —
301 swarjs, ausserdem schliessen sich 301 wiz und swarz viel
besser an 297 vinster und Hecht an als 299 Hecht und swär)
'das motiv des anklingens von Uht an Hecht ist doch nicht
ernst zu nehmen'. — Zu 1501 — 12 (mein buch s. 35) findet L.
meine Interpretation von 1500 und den vorangehenden versen
falsch. Er will die 'richtige' Interpretation geben und erklärt
dann die verse: 'gottes gnade lehrt (!) die creaturen, dass sie
jede auf ihre weise gott zu loben haben' (eine merkwürdige
gnade!). Er gibt dann sofort eine zweite 'richtige' Interpreta-
tion und fasst di> lob in 1500 rückbezüglich als 'das lob, von
dem der dichter eben gesagt hat, dass es gott dargebracht
werden solle'. Aber dann hätte diz lob gar keinen Inhalt,
und grade diesen Inhalt bieten die folgenden echten verse, in
denen der rühm gottes sozusagen specificiert wird, eben weil
gott den verschiedenen dingen verschiedene gnadenbeweise zu
teil werden liess (1497—99). — Zu 1085—1124 (mein buch
s. 42): 'die widerholungen stören uns natürlich nicht, denn sie
sind nicht ungeschickter als manche andren, die doch ruhig
526 VON DER LEYBN
passieren dürfen' (bitte, welche? Nebenbei war meine behand-
lung von 1085 — 1124, wie ich auch ausdrücklich sagte, nur ein
Vorschlag; damit erledigen sich alle anderen ausfälle von L.)
— Zu 705—10 (mein buch s. 36) sagt L., ich hätte auf das
wort werltkuning einen * luftigen tui'm' (was ist das?) gebaut.
Auch sonst zieht er starke worte starken argumenten vor und
macht sich seine Widerlegung allzuleicht. In v. 714 f. (mein
buch s. 41) hatte ich festgestellt, dass der interpolator den
guten reim lüium : filiuni verderbe. L. sagt * dieser gute reim
sollte durch seinen gleichklang eher verdächtig wirken'. Nun
vgl. man 89 f. ineffdbilis : mirdbilis, 317 f. beatrix : creatrix, 343
eloquentia : sapientia, 367. 401 u. s. w. — Zu 1612 (mein buch
s. 34): ich hatte behauptet, riejs^en trans. sei bairisch (das ist
nicht zutreffend, vgl. Otfr. 1, 18, 11 und ßeuschel, Lit.-bl.20, 161).
L. sagt nun: ^das ist nicht einmal ganz richtig, denn auch das
Kolandslied hat rieben'. Ist denn das Eolandslied kein bai-
risches denkmal? Ferner sei das wort auch mnd. vorhanden
als reten. Ja, aber nur in 6inem beleg, aus dem jähre 1464
(Eedentiner osterspiel), und es ist noch nicht einmal sicher,
ob hier reten wirklich dem mhd. rieben entspricht.
Diese belege werden genügen, um L.'s Widerlegung zu
charakterisieren. Es wird nicht nötig sein, auch zu seinen
anderen angriffen Stellung zu nehmen, obwol ich manches auch
gegen sie vorbringen könnte. Ich erkenne gern an, dass mich
L. in manchen fällen eines bessern belehrt hat; im übrigen
halte ich seine starken worte für nicht so schlimm wie sie
vielleicht klingen. Etwas schmerzlich ist mir nur, dass er
mir eine * starr schematisierende' betrachtungsweise vorwirft,
während ich mich überall nach besten kräften bemühte, der
Individualität des Armen H. gerecht zu werden. Es liegt mir
hier auch nicht daran, L. zu überzeugen; er mag meinetwegen
die ganze Eede vom glouven für echt halten: ich wollte mich
nur rechtfertigen, indem ich meine motive für die annähme
von Interpolationen, die L. kaum oder gar nicht nennt, noch-
mals vorführte und zeigte, dass L. es mit seiner Widerlegung
doch bisweilen allzu leicht nimmt.
L.'s bemerkungen zu meinem text geben mir auch zu
kurzen erwiderungen anlass. L. macht, nachdem er mir, leider
mit recht, einige flüchtigkeiten vorgeworfen, 39 besserungs-
Zu HABTMANNS REDE VOM GLAUBEN. 527
vorschlage. In 25 davon beschränkt er sich darauf, den hsl.
text, den ich geändert, zu verteidigen; mit recht in 444. 795.
1287. 3207. 3699. In 2528. 2547. 2564 gibt L. gegen Wacker-
nagel und mich Massmann recht. 2171. 2469 halte ich meine
änderungen aufrecht, weil sie dem stil des dichters besser
gerecht werden als der überlieferte text; ich kann aber nicht
verlangen, dass sie einen andern durchaus überzeugen. — Zu
2974 (ich hatte beredeten in bredigeten geändert) gebe ich zu,
dass L.'s Interpretation viel für sich hat. — 1088 war ich
auf die von L. vorgeschlagene lesart selbst verfallen, zog sie
aber auf anraten von Vogt zurück. — 559. 801. 2160 bleibe
ich bei meiner lesart aus metrischen gründen. — 2212 habe
ich nicht gebessert, sondern es liegt ein druckfehler vor. —
146; wer sine im text lässt, muss auch goteheite in goteheit
ändern und den guten reim zu wisheite zerstören. Für trahten
mit dem acc. bringt das Mhd. wb. a.a.O. sehr wenig belege.
Ich bleibe also bei meiner lesart. — 758; wenn L. das ist
der hs. wider einfügt, zerstört er das ganze rhythmische und
syntaktische gefüge der umliegenden verse. — 782 muss den
in dem geändert werden wegen des da^ in 781. — 925; wel-
chen sinn L. aus dem vers herauslesen will, wenn er das
sulen nicht eliminiert, das weiss ich nicht. — 1592; rüwent,
das L. wider herstellt, kommt in der Verbindung mit clagen
nie und im absoluten sinn sehr selten vor. Seit wann ist
ferner geböte : volgen : verbolgen ein dreireim? — 1908 ver-
stehe ich L.'s interpretation nicht und finde sie ausserdem
syntaktisch höchst sonderlich. — 2055 änderte ich wegen 2056
liege, 2057 woldis, 2059 gebe. — 2210 hat Massmann % L. hält
es für abkürzung von ind. Dies wort kommt aber sonst bei
H. nie vor, obwol sich die gelegenheit dazu oft genug geboten
hätte. — 2528 stellte ich um wegen 2521. 2522. 2525, vgl.
auch mein buch s. 51, metrik § 8.
In andern fällen gibt L. eigne Vermutungen. Davon
scheinen mir zutreffend die zu 9. 29. 206 f. 324. 2287. 2307.
2413 (gemeine), unwahrscheinlich die zu 636. — 530; getwas
kann hier nicht, wie L. will, 'bösewicht, tor' heissen. Denn
erstens ist der teufel kein tor, zweitens wäre doch böse getwas
* böser bösewicht' eine arge tautologie. Den einwand, dass H.
1292 für 'gespenst' getüsternisse sage, hätte ich machen sollen!
528 VON DER LETEN, ZU HABTMANKS BEDE TOM GLAUBEN.
Da hätte ich schöne dinge über 'schematisierende betrachtungs-
weise' zu hören bekommen! — 755 sint (: Jcinden) ändere ich
trotz MSD. 56, 16 nicht in sinden, vgl. meine Metrik § 1 (s. 45).
— 3135 halte lit nicht für unverständlich, sondern für eine
md. contraction von ligit (vgl. Weinhold 2 § 52). — 1068. 2534.
2829 erklärt L. meine interpunction für verfehlt: ich kann
ihm keineswegs beipflichten; es mag jeder selbst darüber
urteilen.
MÜNCHEN. FEIEDRICH VON DER LEYEN.
ETYMOLOGISCHES.
1. Nhd. gaul aus mhd. gul *eber, männliches tier über-
haupt', zu welchem nl. guü 'eine noch nicht trächtig gewesene
Stute' eine femininbildung ist, geht auf vorgerm. ^ghulo-s zu-
rück. Dies lasse ich der indog. wz. ^heu- 'giessen' entstammen
und vergleiche damit gr.xvXog *saft'. Vgl. gotauhsa 'ochse',
aind. uJcädn 'stier' zu ukSati 'besprengt'; lat. verres 'eher' zu
Miii.varSati 'beregnet', u.s.w.
2. Mhd. Mt^, hütze 'kauz' erhielt wahrscheinlich den namen
wegen seines geschreies. So verhält es sich vielleicht auch
bei ags. oyta 'rohrdommel; weihe', engl. Ute. Die beiden Wörter
dürfen wir also zusammenstellen und weiter mit lit. gaudziü,
gaüsti 'in langgezogenen tönen heulen, dumpf heulen, weh-
klagen', gatidlmas 'geheul, wehklage', lett. gauda dass., gaudüt
'heulen, wehklagen' verbinden.
3. Mhd. ge-hiure 'sanft, anmutig, woran nichts unheim-
heimliches ist', ahd. as. un-Muri 'grausig, schrecklich', ags.
hyre 'freundlich, mild', aisl.Ä^rr 'mild' sind noch nicht genügend
erklärt. Sie sind vielleicht mit mhd. hüren 'kauern', behüren
'niederhalten, niedertreten' verwant und verhalten sich dazu,
wie ahd. hold 'gnädig, herablassend' zu hald 'sich vorwärts
senkend, geneigt'. Vgl. auch ahd. wwAiwn, im^fiÄmW schreck-
lich, unheimlich' : got. unhulj^üns 'unholdinnen'. Aus ahd. un-
gihiuri 'unheimlich' entwickelte sich wahrscheinlich bei mhd.
gehiure der begriff 'woran nichts unheimliches ist'.
Die grundbedeutung der germ. wz. hur- wäre also 'biegen,
beugen'. Hierher können weiter gehören: ags. hyran, engl.
hire, mnd. hüren 'mieten', mhd. iehuren 'mieten, kaufen', ver-
huren 'verkaufen'. Vgl. got. biugan 'biegen' : bugjan 'kaufen',
Verf., Am. journ. phil. 19, 42 f.; aind. namayati 'biegt, lenkt ab',
530 WOOD
gr. vofidcD 4enke, regiere' : lett. nömdt * mieten'; aind. ndmati
* beugt, beugt sich' : lat. emö'kaufe', got. niman 'nehmen'. Vgl.
Prellwitz, Et. wb. s. v. vi/io), vcD/ido). Uhlenbeck, Et. wb. s. v.
niman.
Die germ. wz. hur-, vorgerm. qü-ro-, scheint eine erweite-
rung der indog. wz. qu-, qau- zu sein. Vgl. got. hauns * niedrig,
demütig', lett. kduns *scham, schmach', gr.xavpog ' xaxog, xavQog •
xaxog, lit. kuvetis 'sich schämen' (s. Uhlenbeck, Et. wb. s.v. hauns).
Hier ist wol auch die grundbedeutung 'sich beugen, sich ducken'.
4. Aisl. kura 'untätig sein', schw. kura, dän. kure, mengl.
couren, engl, cower 'kauern' haben natürlich nichts mit mhd.
huren 'kauern' zu tun. Sie gehören mit kaufen zur selben
WZ. ku- (Kluge, Et. wb.*^ s. v. kamen) und lassen sich mit gr.
yvQog 'rund, gekrümmt, gebückt', yvQog 'kreis', yvQoo) 'biege,
krümme' vergleichen. Hierher wol auch mhd. küme 'gebrech-
lich, schwach, elend', ahd. kumlg 'gebrechlich, schwack, krank',
ursprünglich 'niedergebeugt, hinfällig' (vgl. engl, crank 'krüm-
mung' : d. krank, Kluge, Et. wb.*^), ahd. chumön 'trauern', as.
kümian 'beklagen' (vgl. got. driusan 'fallen' : ahd. truren
'trauern'), ags. cyme 'anmutig, schön', eigentlich 'biegsam,
schmuck' (vgl. schmiegen : schmuck). Weiteres über die wz.
gtt- bei Prellwitz, Et. wb. s. v. yvajiov.
5. Got. hnasqus 'weich, fein', ags. hnesce 'zart', ahd. na^cun
'naschen' können auf vorgerm. *qnod-sqo- oder *qndd-sqo- zu-
rückgehen. Vgl. lit. kdndu 'beisse', aind. khädati 'kaut, zer-
beisst', gr. xvdöcov 'zahn am jagdspiess' (Brugmann, Grundr.
V, 420).
6. Got. neh, neha 'nahe', aisl. när, ags. neah, as. ahd. näh
U.S.W. führe ich auf vorgerm. *nSk-uo- zurück und vergleiche
damit aind. ndgati 'erreicht, erlangt', lat. nandscor, got. ga-
nöhs 'genug' u.s.w.
7. Ahd. glsal, ags. ^isel, aisl. gisl 'kriegsgefangener, bürg-
schaftsgefangener' vergleicht man mit dem gleichbed. air. giall
Die grundform *gheislo-, worauf diese sippe beruht, bedeutete
vielleicht ursprünglich 'anhaftend, zurückbleibend' und lässt
sich dann in diesem falle mit lat. haereö vergleichen.
8. D. mahr 'alp', mhd. mar, mare, ahd. mara 'quälendes
nachtgespenst, nachtalp', ags. mara 'nightmare', aisl. mara
ETTMOLOaiSGHES. 531
'mahr' sind nicht genügend erklärt. Ausserhalb des germ.
vergleicht man russ. Jcikimora 'gespenst', poln. mora, böhm.
müra 'alp'.
Die germ. wz. mar-, zu welcher auch ags. ma-mor 'schlaf,
betäubung' gehört, ist identisch mit der indog. wz. mr-
* zermalmen, zerdrücken'. Vgl. aind. mrnäti 'zerschlägt, zer-
malmt', gr. fiagvafiai 'kämpfe', (lagaivw 'reibe auf, aisl. merja
'stossen' und auch aind. mdrate 'stirbt', lat. morior u. s. w.
(s. Prell witz. Et. wb.). Vgl. aind. svapiti 'schläft, schläft ein',
svapdyati 'schläfert ein, tötet', ags. swehban 'einschläfern,
töten'.
9. Got. sels 'gütig, mild', aisl. söell 'glücklich', ahd. sälig
'glücklich, selig', ags. söeli^ 'gut, glücklich', smlra 'besser'
U.S.W, vergleicht man mit ncymr. holl 'ganz', lat. sollus, osk.
sullus 'omnes', und weiter auch mit gr. oXoq, aind. sarvas
'ganz'. Vgl. Brugmann, Die ausdrücke für den begriff der
totalität 43 f. Kluge, Et. wb.*^ s. v. selig \ Schade, Wb. s. v. sels,
Uhlenbeck, Et. wb. s. v. sels will diese erklärung verwerfen,
schlägt aber keine andere vor.
Germ, "^se-la- leite ich von der wz. se- 'säen' ab. Morpho-
logisch ist es mit air. sil 'same' identisch. Vorgerm, se-lo-
bedeutete also 'das säen, die säezeit' und dann 'Jahreszeit,
zeit' überhaupt. Vgl. die ähnliche bedeutungsentwicklung bei
lat. satiOj franz. saison, engl, season, wz. se-. Als adj. be-
deutete es 'zeitgemäss, rechtzeitig, schicklich, passend' (wie
engl, seasonaile), woher 'tauglich, glücklich, gut' u.s.w. Vgl.
gr. wQa 'zeit, Jahreszeit, tageszeit, rechte zeit', cogatog 'recht-
zeitig, schicklich, schön'; lat. tempestlvus 'zeitgemäss, recht-
zeitig, schicklich, passend'.
Dass diese erklärung des germ. *se-la- das richtige trifft,
beweist die bedeutung von ags. scel: 'zeit, günstige zeit, ge-
legenheit, glücklicher umstand, glück'. Daraus erklärt sich
auch der begriff von ags. scelan: 'zufallen, zu teil werden'.
Vgl. ags. ttd 'zeit: : Man 'zufallen'. Ags. scel steht dem grund-
begriff 'das säen, die säezeit' am nächsten. Obwol dieses wort
weder von Kluge noch von Uhlenbeck bei der anführung von
Wörtern erwähnt wird, die mit got. sels verwant sind, darf es
nicht davon getrennt werden. Für germ. *sela- können wir
also folgenden bedeutungswandel constatieren: vorgerm. *selo-
532 WOOD
'das säen, die säezeit; zum säen, zur säezeit gehörig, recht-
zeitig' : ags. sml 'zeit, günstige zeit, glück'; aisl. smll 'glück-
lich' U.S.W. Vgl. lit. se-Mäy lett. se-hla 'same' : lat. sae-culum,
Brugmann, Grundr. 2, 115. Fick, Vgl. wb. 2*, 294.
10. Mhd. schrube, nl. schroef, aisl. skrufa 'schraube', worin
Kluge, Et. wb.s lehnwörter aus lat. scropha 'sau' sieht, sind
vielleicht echt germ. Sie lassen sich gut mit lat. scrupus
'spitzer stein', gr. axogjtlog 'stachlig' verbinden und vielleicht
auch mit aisl. pl. skurfor, as. scurf, ahd. scorf 'schorf' (vgl.
Noreen, Urg. lautlehre s. 205 f.). Diese beruhen auf der grund-
form *squerpo- mit den ablautsstufen ^squrp-, *squrp-, ^squfp-
(vgl. Brugmann, Grundr. 1^, 260).
Die grundform ^squerpo- kann man von der wz. squer-
herleiten, welche sich in com. bret. spern ' Spinae', lit. skverUi
'mit einem spitzen Werkzeug bohrend stechen' findet (vgl. Fick,
Vgl. wb. 2*, 311). Vielleicht ist mhd. schrube enger mit lit.
skverbti als mit lat. scrüpus zu verbinden. Dann repräsentiert
schrübe ein vorgerm. *squfbhä-,
11. Ags. strldan 'schreiten' : ahd. strttan 'streiten' ist eine
gleichung, an deren möglichkeit Kluge gar nicht gedacht zu
haben scheint (s. dessen Et. wb. s. v. streit). Phonetisch darf
sie allerdings nicht für ganz sicher gelten, da germ. str- auf
vorgerm. str- oder sr- zui'ück gehen kann. Begrifflich aber
ist diese Verbindung natürlich und ohne Schwierigkeit, wenn
man für die germ. wz. strtd- die ursprüngliche bedeutung 'aus-
strecken, wonach trachten, sich anstrengen' anninmit. Daraus
entwickelt sich leicht sowol 'schreiten' als 'streiten'.
Man vergleiche ähnliche bedeutungsentwicklung bei den
folgenden: gr. dpt/co 'ausstrecken' : 'schreiten' : 'angreifen, an-
fallen', oQBfna 'das ausstrecken' : 'schritt'; aind.5%Ä- 'schrei-
ten' : 'angreifen'; 2islo\, stignq>ti 'eilen' : gr.arelxco 'gehe, steige',
got. steigan 'steigen'; gr. jterdvvvfii 'strecke aus' : jciro/iai
'fliege' : lat.jpe^ö 'greife an'; ags. rcBsan 'stürzen' : 'anfallen' :
^e-rls 'wut' : rtsan 'steigen' : mhd. reise 'zug, reise'; ags. clacian
'eilen' : clacu 'streit'; ten^an 'eilen' : 'anfallen'.
12. Engl. ^Äröe 'schmerz', Sigs.pruwian, ahd. drwo^w 'leiden'
aus der germ. wz. pro- sind aus der indog. wz. tre- 'drehen'
entstanden, also mit ags. j^räwan, ahd. dräen verwant. Vgl.
für die bedeutung lat. torqueo 'drehe' : 'peinige'; engl, writhe
ETYMOLOGISCHES. 533
'drehen, winden' : 'sich winden, sich vor schmerz krümmen',
an Zuckungen leiden'.
18. Mhi. strafe 'tadel, strafe', strafen 'bestrafen, züchtigen'
sollen nach Kluge den übrigen germ. dialekten fehlen. Man
darf sie aber mit ags. }rafian 'antreiben; tadeln, züchtigen',
prafung 'verweis, Züchtigung' verbinden und auf die erweiterte
WZ. tr^-pO' zurückführen. ' Vgl. gr. tq^jvo) 'drehe, wende; treibe
zurück, schlage ab; treibe an, überrede', Iv-tqbjkd 'beschäme,
züchtige', aind. trapate 'schämt sich, wird verlegen', trapayati
'beschämt', lat. trepidus etc. Vgl. Prellwitz, Et.wb. s.v. rgsjcco.
Persson, Wurzelerweiterung s. 51. Diese sippe ist also mit der
vorhergehenden urverwant.
14. Ahi. ^idaläri, mhd. -s^^detere 'zeidler', ableitung zu ahd.
^idal-, mhd. mdel- in der Zusammensetzung zldalweida u. s. w.
(s. Kluge, Et. wb. s. v. iseidler) weisen auf ein germ. Hlpla-, vor-
germ. *dt4lO' hin, welches der wz. di-, dei- entstammt. Aus
derselben wz. sind entstanden lett. dejums 'gehöhlter bienen-
stock', dejele 'bäum, worin ein bienenstock ausgehöhlt ist oder
ausgehöhlt werden kann' (wegen weiterer beziehungen vgl.
Prellwitz, Et. wb. s. v. ölvoo),
Mt. VERNON, Iowa. FRANCIS A. WOOD.
UEBER DEN GOTISCBE^B AT. FLUR. JVABTAM
Nach der ansieht der meisten autoren haben wir bei den
consonantstämmen im got. die endung -um im dat. pl. zu er-
warten. Diese endung finden wir bewahrt in den verwant-
schaftswörtern auf -r, in menöpum, bajöpum uijd bei denjenigen
consonantstämmen welche dank diesem dativ auf -um und
anderen ein lautgesetzliches u enthaltenden endungen (acc.
sg. 'U ; acc. pl. -uns) zur w-declination tibergetreten sind. Solche
nomina sind bekanntlich fötus (gr. jtovg, lat. pes, aisl. fötr),
tunpus (gr. oöovq, lat. dens^ aisl. tgnn) und wol auch handus
(aisl. hgnd, pl. hendr). Baürgs, alhs, spaürds, brusts, dulps,
waihts, miluks, mitaps haben sich alle mehr oder weniger der
i-declination genähert und haben im dat. pl. -im,^) Die endung
-am, wol der a-declination entlehnt, haben die participia prae-
sentis und das masc. reiks, welches sich auch im gen. sg. mit
der form reiMs den mascc. auf -a anschliesst. Das wort ndlits
steht aber mit seiner dativendung -am unter den got. femi-
ninis absolut vereinzelt, und es wird deshalb vergeblich sein,
die betreffende form durch annähme von anlehnung an andere
Paradigmen erklären zu wollen.
Joh. Schmidt, meines Wissens der erste welcher diese
eigentümliche form zu erklären versuchte (KZ. 26, 18), findet in
got. ndhtam den rest eines alten w-stammes und betrachtet
das betreffende wort als ein beispiel des wechseis zwischen
-r- und -n- in verschiedenen indog. neutralen Substantiven.
') Die angaben der gi*ammatiker über die declination der zur letzt-
genannten gruppe gehörenden Substantive müssen jedoch mit einiger reserve
aufgenommen werden, weil ihre pluralformen bei Ulfilas sehr spärlich ver-
treten sind. Nach Schulzes Stellenverzeichnis sind nur von baürgs alle
pluralcasus überliefert, ausser baürgim ist spaürdim der einzige dat. pl.,
von miluks und diäps sind gar keine pluralformen da.
GOT. NÄHTÄM. 535
Den r-stamm haben wir sowol in gr. vvxtcjq, als auch in lat.
noctur-nu'S bewahrt; den neutralen n-stamm sucht Schmidt in
skr. naJctdbhis, got. nahtam und in der got. compositionsform
nahta- in nahta-mats.
Was zunächst die compositionsform nahta- betrifft, so ist
ihre beweiskraft so gut wie gar keine. Die von Braune in
seiner Got. gramm. s. 39 aufgeführten beispiele zeigen, dass in
den nominalcompositis der a-vocal in der compositionsfuge
keineswegs an stamme gebunden ist, wo er lautgesetzlich hin-
gehört. Nahta-mats muss wol in derselben weise beurteilt
werden, wie bröfra-lubö und garda-wdldands. Ich gebe aller-
dings zu, dass Schmidt nicht ganz unberechtigt war, für die
compositionsform nahta- eine Specialerklärung zu suchen, so
lange er in dem daneben gestellten nahtam eine uralte form
erblicken zu müssen glaubte. B. Kahle 9 hat indessen darauf
aufmerksam gemacht, dass die form nahtam sehr wol auf got.
boden entstanden sein kann, und zwar durch den einfluss des
sinnverwanten dagam. Bei erneuter behandlung der frage
hat J. Schmidt-) die meinung Kahles nicht einmal erwähnt;
seinem beispiele folgen Braune, Streitberg und Wrede, von
denen die beiden erstgenannten keine erklärung geben, wäh-
rend Wrede mit Schmidts darstellung einverstanden ist.
Die ungünstige aufnähme, welche Kahles Vermutung ge-
funden hat, beruht m. e. auf der knappheit seiner beweis-
führung. Kahle bringt allerdings mehrere schöne analogien
aus verwanten sprachen, wie z. b. ahd. gen. sg. nahtes und
dat. sg. nahte neben der regelmässigen gen. -dat. -form naht,
aber die beweise welche aus dem got. geschöpft werden können,
scheinen ihm entgangen zu sein.
In Schulzes Glossar finden wir als belegsteilen für die
form nahtam angegeben Marc. 5, 5. Luc. 2, 37. 1. Tim. 5, 5. Luc.
18, 7. Marc. 5, 5 steht nahtam jah dagam, gr. pvxrog xai i^fidgag;
Luc. 2, 37 nahtam jah dagam, gr. vvxra xal ^f/dgav] 1. Tim. 5, 5
nahtam jah dagam, gr. vvxroq xal ^fiigag; Luc. 18, 7 dagam jah
nahtam, gr.^fddgag xal vvxrog.
Die form nahtam ist also nur in der Verbindung nahtam
^) Ziir entwickelung der consonantischen declination im germ. s. 35.
^) Die plnralbildung der indog. neutra s. 212. 253 f.
536 PIPPING, GOT. NÄETAM.
jdh dagam bez. dagam jah nahtam überliefert. Die bedeutung
ist in allen fällen dieselbe und zwar = 'ohne Unterbrechung'.
An eine mechanische Übersetzung aus dem griech. ist nicht zu
denken, da wir im grundtexte ganz andere und dazu wechselnde
casusformen antreffen (bald den gen., bald den acc). Nur die
reihenfolge der beiden dative ist beweglich und richtet sich
nach dem griech. Vorbild.
Folglich haben wir es im got. nahtam jah dagam bez.
dagam jah nahtam mit einer stereotypen Wortfügung von
stereotyper adverbialer bedeutung zu tun. Wenn man auf
grund der genannten belegsteilen bisher erschlossen hat, dass
der dat. pl. von nahts nahtam gelautet habe, so ist diese schluss-
folgerung entschieden übereilt gewesen. Auf grund der ahd.
adverbialform nahtes hat niemand den gen. nahtes angesetzt,
weil der wirkliche gen. naht zufällig belegt ist. So lange wir
im got. die form nahtam nur in der oben genannten Verbin-
dung vorfinden, müssen wir den in das paradigma von nahts
gehörenden dat. pl. als unbelegt betrachten.
J. Schmidts ansetzung eines alten Stammes ndktan- hat
also nunmehr keine andere stütze als skr. nahtdbhis. Aber
auch diese stütze ist trüglich, denn wie mein freund Liden
bemerkt, erklärt sich diese form am einfachsten durch annähme
von beeinflussung durch das sinnverwante dhabhis,
UPSALA. HUGO PIPPING.
ZUR HEIMAT DER VOLCAE.
Müllenhoff hat bekanntlich im zweiten teile der Deutschen
altertumskunde aus den schon in M. W. Dunckers Origines Ger-
manicae vollständig gesammelten berichten über die Wohnsitze
der Volcae zu erweisen versucht, dass die heimat dieses Volkes
bis gegen das 4. jh. 'an der Weser abwärts' und dann im Main-
tale gelegen habe (2,279). Diese ansieht ist von Much als
unrichtig erwiesen, aber noch verfehlter scheint mir seine an
ihrer statt aufgestellte hypothese, dass Mähren die heimat der
Volcae gewesen sei.
An den zwei ersten Keltenzügen hatten die Volcae keinen
anteil; erst der dritte, der galatische, führte sie in den hori-
zont der Griechen und Römer hinein. Nach dessen ablauf
finden wir das volk zersplittert in drei oder vier weit aus-
einander liegenden gegenden wohnhaft. Erstens in Narbonensis
zwischen Rhone und Pyrenäen, wo sie zuerst bei Hannibals
Alpenzuge erwähnt werden, aber schon anfangs des 3. jh.'s
angekommen sein müssen (Duncker s. 33). Dann in Kleinasien,
wo ein teil des völkerschwarmes, der seit 281 die thrakisch-
griechische halbinsel durchzogen hatte, neue Wohnsitze gefunden
hatte. Und drittens an den Ost- Alpen und (oder) an der Her-
cynia silva.
Justin berichtet (32, 3) : Namque Galli hello adver sus Del-
phos infeliciter gesto, . . . pars in Asiam pars in Thradam ex-
torres fugerant Inde per eadem vestigia qua venerant antiquam
patriam repetivere. Ex Ms manus quaedam in confluente Da-
nubii et Savi consedit Scordiscosque se appellari voluit Tecto-
sages autem, cum in antiquam patriam Tolosam venissent.
Ex gente Tectosagorum non mediocris populus praedae dulce-
dine Ulyricum repetivit spoliatisque Istris in Pannonia consedit
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XXIV. 35
538 MÜLLER
Der letzte teil des berichtes steht vereinzelt da: kein anderer
autor weiss etwas von Tectosages in Pannonien. Aber die
notiz wird dadurch noch nicht verwerflich. Sowol der ge-
schichtsschreibung wie der sage galt das tolosanische als die
heimat des ganzen Volkes der Volcae, und zugleich leitete die
erstere das tolosanische gold vom Brennuszuge nach Delphi
her. Daraus erklärt sich die fassung des berichts Justins,
dass der in Pannonien angesiedelte teil erst von Narbonensis
nach Griechenland, dann zurück nach Tolosa und dann wider
nach Illyrien gezogen sei. Nach ausmerzung dieses augen-
scheinlichen von der tradition betreffend Tolosa veranlassten
irrtumes bleibt die an sich nicht unwahrscheinliche nachricht
übrig, dass die Tectosages ausser in Narbonensis und in Ga-
latien, auch zum teil in Pannonien in der nähe der Istri, d. h.
im obem Sautale, sich niedergelassen hatten.
Wir finden aber das volk bei Caesar noch an einer vierten
stelle, nämlich an der Hercynia silva, ansässig. Dieser sagt
(BG. 6, 24): Ac fuit antea tempus, cum Germanos Galli virtute
superarent, nitro bella inferrent, propter hominum multitudinem
agrique inopiam trans Rhenum colonias mitterent Itaque ea
quae fertilissima Germaniae sunt loca circa Hercyniam silvam,
quam Eratostheni et quihusdam Graecis fama notam esse video,
quam Uli Orcyniam appellant, Volcae Tectosages occupaverunt
atque ibi consederunt; quae gens ad hoc tempus his sedihus
sese continet summamque habet iustitiae et bellicae laudis opi-
nionem. Schon Ben. Niese hat diese nachricht mit der Justins
verbunden (Zs. fda. 42, 142), aber nur um beide gänzlich zu
verwerfen. Nach ihm soll dui^ch die Tectosages Caesars und
Justins * ursprünglich wol nur die herkunft der pannonischen
Kelten erklärt werden', und ^ diese Volcae am hercynischen
walde ganz und gar der fabel zuzuweisen sein'. Es ist aber
schwerlich einzusehen, wie ^die wanderungssage ' dazu kommen
konnte, in Pannonien die existenz eines zweiges der Volcae
Tectosages zu fingieren, mit dem zwecke, die herkunft anderer
pannonischer Keltenstämme zu erklären.
Müllenhoff meinte mit recht, Caesar habe, der sage und
der tradition folgend, die Tectosages an der Hercynia für eine
colonie ihrer stammesgenossen an der Cevenna gehalten (2, 276),
und habe die sage vom Sigovesuszuge im sinne gehabt (204),
ZUR HEIMAT DER VOLCAE. 539
wonach zur gleichen zeit, als die Gallier unter Bellovesus
über die Alpen in Italien eindrangen, ein anderer teil desselben
lieeres sich unter Sigovesus ostwärts gewant habe und in die
hercynischen Wälder ausgezogen sei (261). Aber unberechtigt
ist der daraus von MttUenhoff gezogene schluss, dass alles an
dem berichte verwerflich sei ausser dem Wohnsitze eines teiles
der Tectosages an der Hercynia. Beseitigt man Caesars
oratorische fassung des berichts, so besagt der kern nichts
anderes, als dass die Tectosages noch zu seiner zeit an der
Hercynia wohnten, aber da keine autochthonen waren, son-
dern aus dem alten Keltenlande stammten. Warum diese
offenbar auf gallischer tradition beruhende notiz fabelhaft sein
soll, ist nicht einzusehen. Im gegenteil stimmt sie zu allem,
was wir übrigens von den Wohnsitzen des volkes wissen und
zu den resultaten der Untersuchungen über die Keltenzüge
(Duncker, MüUenhoff, Hirschfeld, Niese u.s.w.).
Nach den Volcae an der Hercynia ist überall herumgesucht
worden: den meisten anklang fanden noch Müllenhoffs hypo-
these, sie hätten im Maintale gewohnt, und die Muchs, ihre
heimat sei Mähren. Beide hielten jene gegenden für die,
woraus die Volcae zu anfang des 3. jh.'s einerseits nach Nar-
bonensis, andererseits nach der thrakisch-griechischen halbinsel
abgezogen seien. Dem widersprechen aber Caesars worte quae
gens ad hoc tempus his sedibus sese continet, denn die Volcae
von Narbonensis und Galatien können unmöglich aus einem
ver sacrum hervorgegangen sein und nur aus dem auszuge
des ganzen volkes aus seiner vorigen heimat erklärt werden.
Der fehler liegt m. a. n. hierin, dass man bis jetzt nicht er-
wogen hat, was in Caesars notiz unter Hercynia silva zu ver-
stehen ist.
Die stelle Caesars lag Tacitus vor bei c. 28 der Germania:
Validiores olim Gallorum res fuisse summus auctor divus Julius
tradit, eoque credibile est etiam Gallos in Germaniam trans-
gressos. Worauf folgt: Igiiur inter Hercyniam silvam Rhenum-
que et Moenum amnes Helvetii, ulteriora Boii, Gallica utraque
gens, tenuere, Manet adhuc Boihaemi nomen significatque loci
veterem memoriam, quamvis mutatis cultoribus. An dieser
stelle ist Hercynia silva natürlich die Eauhe Alb, nicht wie
sonst bei Tacitus (Germ. 80. Ann. 2, 40) und den anderen nach-
85*
540 MULLER
caesarischen autoren, das deutsche mittelgebirge, was andeutet,
dass Tacitus die stelle einem altem autor entnommen, der die
gebirge nördlich vom Main noch nicht kannte. Ich vermute,
dass seine quelle eben dieselbe stelle Posidonius war, woraus
Strabo entnahm (Z293): (priöl de Tcal Bolovg rov ^Eqxvvlov
ÖQVfiov olxelv JCQOTSQOP, rovg dh Kl/ißgovg oQ/n^öavrag km
TOP roütov xovxov, djtoxQOVöd^evrag tJaro rcov Bolcov ijil rov
^iöTQOP xal Tovg UxoQÖlöxovg FaXarag xataß^vai, sir ijcl
Tevglövag xal Tavglöxovg, xal tovrovg rakdrag, eiz im ^EXov-
rjxxlovg. Daraus geht nur hervor, dass Posidonius die ge-
birge Böhmens Hercynia nannte, aber nicht ob er die Eauhe
Alb oder die gebirge nördlich vom Main unter dem namen
mitbegriff, und in anbetracht seines alters ist das erstere
wahrscheinlicher. Jedenfalls aber hatte Tacitus einen autor
vor sich, der ihn veranlasste die ihm ebenfalls vorliegende
stelle Caesars, welche als keltisches volk an der Hercynia
nur die Volcae Tectosages nannte, zu verwerfen, denn sonst
hätte er hier ohne zweifei auch diese miterwähnt.
Caesars notiz stammt augenscheinlich aus einer griechischen
quelle, aber nicht aus Posidonius, weil sonst Strabo die Tecto-
sages wol auch genannt haben würde. Erwägt man aber, dass
die angeführte stelle des Posidonius die älteste uns bekannte
ist, worin der name 'Egxvvia von den Alpen i) auf die Rauhe
Alb und die nordöstlich anschliessenden gebirge übertragen
war (DA. 1,432), und dass Caesar in seiner vorläge noch die
ältere form 'Ogxvvia vorfand, dann liegt die Vermutung nahe,
dass diese unter dem namen noch die Alpen verstand, was
Caesar natürlich entgehen musste. Und hält man nun die
stelle, so gedeutet, neben der von Justin aus Trogus aus-
gezogenen, so zeigt sich sofort, dass beide aus derselben quelle
^) Es scheint mir nicht üherflüssig hervorzuheben, dass die anwendung
des keltischen namens anf die Alpen natürlich nur von der geographischen
Unkenntnis der älteren Griechen herrührt. Im keltischen muss Perktmia
von anfang an das deutsche mittelgebirge zwischen Ehein und Weichsel
bezeichnet haben; denn nur so lässt sich die entlehnung von fairgvm im
gotischen mit der bedeutung des namens bei den nachcaesarischen autoren
vereinigen. Jedenfalls ist es unrichtig, den namen auf das Erzgebirge oder
die böhmischen randgebirge zu beschränken, und ist mithin auch der schluss
hinfällig, dass die Germanen den namen nur an der grenze Böhmens oder
Mährens aus dem keltischen entlehnen konnten.
ZUR HEIMAT DER VOLCAE. 541
geflossen sein müssen, welche etwa dieses enthielt, dass die
Tectosages sich von Gallien nach der Orcynia gewant und
sich dort nach besiegung der Istri niedergelassen hatten J)
Caesar hat dann die Istri weggelassen, weil er wusste, dass
diese nicht an (seiner) Hercynia wohnten, und überdies für
den zweck seines excerptes keinen wert hatten, während
Trogus umgekehrt die Orcynia ausmerzte, weil er wusste, dass
bei den Istri nur von den Alpen, nicht von (seiner) Hercynia
die rede sein konnte.
Ob Caesars worte quae gens ad hoc tempus his sedibus
sese continet von ihm selbst herrühren oder aus der gemein-
samen quelle stammen, lässt sich schwerlich entscheiden. Es
wäre möglich, dass das volk schon vor Caesar verschwunden
war, und z. b. das los der Boier, der Vernichtung durch die
Daker Boirebistas (Strabo J 213), geteilt hatte, aber ebenso
möglich und m. a. n. wahrscheinlicher ist, dass sie bei Ptole-
maeus widerkehren unter dem erst bei diesem vorkommenden
namen Latovici. Jedenfalls aber ist das fehlen der Tectosages
bei Strabo und Ptolemaeus kein grund, wie Niese will, um
die notizen Caesars und Justins ganz der fabel zuzuweisen.
Aus der gemeinsamen quelle Caesars und Justins muss
auch die enge Verbindung stammen, worin bei letzterm der
zug der Tectosages nach lUyrien zum Galaterzuge nach Delphi
stand, wobei es gleichgiltig ist, von wem die augenscheinliche
umkehrung der Zeitfolge der zwei züge herrührt. Die Ver-
bindung aber bestätigt die Vermutung Dunckers (28), dass die
grosse Keltenbewegung an den Alpen um 300, woran die er-
innerung bei Livius (10, 10) und Polybius (2, 19) erhalten blieb,
den stoss gab zum Galaterzuge. Ist die Vermutung richtig,
dann gehörte zum Gallorum ingens exerdtus, der nach Livius
in 299 in Etrurien eingefallen war, auch der non mediocris
populus ex gente Tectosagorum, der nach Justin nachher die
Istri besiegte und sich in Ulyrien niederliess. Von ihren
neuen dortigen Wohnsitzen muss dann in 281 der vorstoss zum
Galaterzuge ausgegangen sein, denn die Volcae bildeten omnium
^) Diese ursprüngliche qneUe muss also älter als Posidonius gewesen
sein, aber das hindert nicht die ansieht Gutschmids, dass die hauptqueUe
Justins Timagenes gewesen sei, noch die Nieses, dass Nepos die gemein-
schaftliche nächste quelle für diesen passus Justins und Livius^ war.
542 MULLEB
consensu den Schwerpunkt des zuges, und das zurdckbleiben
eines teils des Stammes in Ulyrien steht der annähme gar
nicht entgegen. Es ist begreiflich, dass die bei Callimachus
und Pausanias erhaltene sage (DA. 2, 272) die zwei kurz auf-
einander folgenden züge desselben volkes miteinander verband
und es aus dem äussersten westen Europas nach Griechenland
kommen liess. Und zugleich wird dadurch die scharfsinnige
Vermutung Dunckers (33) bestätigt, die Volcae an der Cevenna
seien da ums jähr 300 angekommen. Livius erzählt, dass die
Gallier mit der bestimmten absieht gekommen waren, neue
Wohnsitze zu erlangen, ut tandem aliqua sede certa consistcmt
Es ist mithin wahrscheinlich, dass die Volcae sich erst, nach-
dem die Etrusker sich ihren abzug erkauft hatten, in zwei
Züge geteilt haben, wovon der eine sich ostwärts nach Ulyrien
und der andere westwärts nach Narbonensis wandte, und es
scheint mir selbst nicht unmöglich, dass das zwei Jahrhunderte
später von Caepio geraubte aurum iolosanum grösstenteils aus
der ingens pecunia stammte, welche die Galli (Volcae) in 299
aus Etrurien über die Alpen mitgenommen hatten.
Den Wohnsitzen der Volcae im Maintale und in Böhmen
bei Mttllenhoff und in Mähren bei Much ist hiermit glaube ich
der boden geschwunden. Nach Griechenland kam das volk
aus Pannonien, und nach Pannonien und Narbonensis aus
Etrurien. Woher aber kam es, als es im jähre 299 in Etru-
rien einfiel? Hier müssen wir anknüpfen an MüUenhoffs
schöne und folgenreiche entdeckung (2,279): 'dass die Volcae
einst die unmittelbaren nachbarn der Germanen waren und
aus deren nächster nähe abgerückt sind, unterliegt mindestens
keinem zweifei, weil die Germanen nach ihnen den ganzen
keltischen volksstamm benannt haben'. Dabei muss man aber
im äuge behalten, dass der name Walxöz = 'Kelten' sich nui'
im westgermanischen findet, während er im ostgermanischen
fehlt. ^) Die Volcae waren also wahrscheinlich die ursprüng-
lichen keltischen nachbarn der Westgermanen.
^) Dass Wlahu im slavischen aus dem deutschen entlehnt ist, beweist
noch nicht, wie Müllenhoff will, dass die Slaven den namen von den Qoten
oder Ostgermanen entlehnt haben müssen. Die eutlehnung kann ebensogut
geschehen sein, nachdem die Slaven nach dem abzuge der Goten und an-
deren Ostgermanen zu nachbarn der Westgermaneu geworden waren, und
ZUR HEIMAT DER VOLCAB. 543
An den zwei ersten Keltenzügen hatten die Volcae keinen
anteil gehabt. Der erste, nach Müllenhoff im 6. jh. anzusetzen,
fügte dem alten Keltenlande das vorher nur von Iberiern und
Liguriern bewohnte gebiet zwischen Loire und Garonne hinzu,
und führte den stamm dann nach Iberien, wo er den Griechen
zuerst bekannt wurde unter dem namen Celtae.i) Er gieng
also vermutlich von der Loire aus. Der zweite zug gieng zu
anfang des 4.jh.'s über die Alpen nach Italien, und mag er
nun nach der bei Livius erhaltenen tradition ebenfalls von dem
mittleren Gallien, oder nach der modernen ansieht Bertrands,
d'Arbois de Jubainvilles und Nieses (a. a. o. s. 151) von den
Donauländern ausgegangen sein, jedenfalls wird die bei Justin
erhaltene tradition, der zug sei aus einem ver sacrum hervor-
gegangen, bestätigt durch den umstand, dass sich damals im
cisalpinischen Gallien eine anzahl Völker niederliess, wovon
mehrere namensvetter im transalpinischen zurückliessen. Für
sich allein berechtigen die zwei züge nur zu dem Schlüsse,
dass die ursprünglichen grenzen zwischen Germanen und
Kelten gegen den schluss des 5. jh.'s noch nicht verschoben
waren.2)
Ein Jahrhundert später aber kommen die ursprünglichen
keltischen nachbam der Westgermanen nach Italien, ut tandem
aliqua sede certa consistant. Sie sind aus ihrer Urheimat ver-
trieben, ohne zweifei durch die Germanen, denn nach dem
jähre 300 waren diese nie und nirgends ihre nachbarn, so
dass die entlehnung ihres namens nur vorher stattgefunden
haben kann, und ihre Vertreibung gegen den schluss des
4. jh.'s geschehen sein muss. Treffend stimmt hierzu das
resultat der Untersuchungen Kossinnas (Ueber den Ursprung
es wäre höchst auffallend, dass sich keine einzige spur des namens in den
ostgermanischen sprachresten erhalten hat, wenn er da wirklich exi-
stiert hätte.
1) In meiner abhandlung De civitates van Gallie, in den Verhh. der
k. akad. v. wetensch., afd. letterk., n. r. 2, no. 1 (Amst. 1898, s. 48) habe ich
gezeigt, dass der zweifei Kieperts und Mtillenhoffs an der Wahrheit der
äusserung Caesars, dass der keltische stamm des mittleren Gulliens ipsorum
lingua Celtae appellantur, unberechtigt ist.
*) Obiges beanstandet nicht die auch m. a. n. richtige hypothese, dass
die küsten zwischen Weser und Rhein schon damals von Ingväonen be-
siedelt waren.
544 Müller, zur heimat der volcae. — hörn, zu beitr. 24, 403.
des Gennanennamens, Beitr. 20, 297, und Die vorgeschichtliche
ausbreitung der Germanen in Deutschland in der Zs. d. ver. f.
volksk. 1896, s. 9), dass das gebiet zwischen Leine und Rhein
seit etwa 300 seine germanische bevölkerung erhalten hat,
und es scheint mir deshalb unmöglich, die Urheimat der Volcae
vor ihrem aufbruch nach dem Süden gegen 300 anderswohin
ZU verlegen als nach jenem gebiet, woraus sie durch die Istae-
vonen vertrieben wurden. *) An der Weser, Aller und Leine
lag Jahrhunderte hindurch die grenze zwischen Kelten und
Westgermanen: dort muss die benennung Wolköz, Wol^öz,
Walxöz'^) = * Kelten' entstanden sein.
ROTTERDAM, november 1899. S. MULLER.
ZU BEITR. 24, 403.
Nachträglich finde ich, dass bereits Scherer im jähre 1869
in der besprechung von Lexers Wörterbuch (Zs. f. österr. gymn.
20, 831 f. = Kleine schritten 1, 379) aide mit ahd. erdo zusammen-
gestellt hat. Er sagt: *Die zurttckführung von aide, alder
(nebenform von oder) auf al »ander« halte ich nicht für glück-
lich, das dd der hochdeutschen grundform eddö ist singulär
genug, um singulare lautvertretungen begreiflich zu machen.
Man mag hier zunächst an althochdeutsches erdo und das ver-
einzelte l für r denken.'
DARMSTADT, 1. aiigust 1899. WILHELM HÖRN.
^) Wenn die durch Timagenes bei Ammian (15, 9, 4) erhaltene druiden-
sage, dass die Kelten zum teil ab instdis extimls et tractibus transrhenanis
stammten, jenem in Narbonensis erzählt war, so könnte darin eine volks-
sage der Volcae stecken.
2) Für die Zeitbestimmung der lautverschiebung ist das gewonnene
datum unerheblich, da die Umbildung von Wolküz in Walxüz ebensogut
vor als nach dem abzuge der Volcae stattgefunden haben kann,
ALTE LESEZEICHEN IN EINER ORTNIT-
HANDSCHRIFT.
Beitr. 20, 349 ff. habe ich alte lesezeichen besprochen,
welche in der Nibelungenhandschrift k mit rötel am rande
angebracht sind. Der dritte teil der sammelhandschrift, zu
der k gehört (no. 15478 [suppl.3145J der Wiener hofbibliothek)
enthält eine bearbeitung des Ortnit, die in Müllenhoffs Deut-
schem heldenbuch 3 mit y bezeichnet ist. Auch diese weist
ähnliche vermerke auf, je drei im dreieck stehende punkte
mit einem darangesetzten Schnörkel. Die stellen, wo sie sich
finden, sollen im folgenden aufgezählt werden. Da für die
erkenntnis ihrer bedeutung der Zusammenhang entscheidend
ist, so füge ich in klammern jedesmal die Strophen und verse
der Ortnitausgabe im Deutschen heldenbuche an, die mit der
stelle der Wiener bearbeitung zu vergleichen sind.
Die lesezeichen stehen bei
4, 3 (6, 3) Er het zwelff mannes stercke der kaiser lobesam,
13, 4 (13, 4) Jerusalem im lande der her sein kröne treit
21, 1 (18, 4) Ich wil nach der junchfrawe hin faren über mer,
49, 3 (53, 3) wol achc^ig tusent schilde vil manges ritters fach.
100, 2 (106, 1) Er het czwelff mannes stercke ortnit der kune mä.
105, 1. 2 (111, 3. 4) So wil ich dir helt gehen dipesten sturmewat
als si auff diser erde kain kunig noch kaiser
hat.
176, 3 (188, 1) rot guldin was di schaide vnd auch der fesselt sin,
177,1.2 (188,3.4) Sin knopff der luchtet helle waz luter vnde
rain
Dar eyn so lag begraben ain licht karfunckel-
stain,
546 LUNZER
209. 2. 3 (225, 2. 3) [hier steht das zeichen doppelt]
die euch nu helffen sollen und di sin alle hie
mit lichten stahelringen sin si gar wol bewart
221. 2 (241, 2) Es mugen wol gar ferre die frunde vü dir sin.
221, 4 (241, 4) ich han uff mine Übe mer dann fir hundert jar.
224. 3. 4 (245, 3. 4) wann du den stain beslussest und nimst in
deinen munt
waz sprach sin in der weite das wirt dir
alles kunt,
246. 3 (275, 3) wann nie kein mä uff erde mich umb min tochter
bat.
249. 4 (282, 4) si stachen unde schlugen und wo dy styme wa^s.
257,4 (293,4) [hier steht das zeichen doppelt]
Der cristen achczig tusent di käme uff da^ lant
276,4 (317,4?) funff tusent guter helde di han ich hie verlorn.
297, 3. 4 (344, 3. 4) wefs bitest du so lange plas bald uff din
herhorn
Nun tusent guter helde di hmt du hie ver-
lorn.
335, 3. 4 (396, 3. 4) Er sprach er hat beschaffen himel und erterich
an den solt du gelauben sprach zu ir alberich.
340, 1. 2 (405, 1. 2) Da sprach zu ir ir muter vil gut ist mannes
lip
Du macht vil gerne werden des kuneJieldes
wip.
344, 3. 4 (409, 3. 4) Si sprach ner mir min fater und bis sin fride-
schilt
Daz er nit werd erschlagen so tun ich wa^s
du wilt.
356, 2. 3 (420, 2. 3) Da het er guter helde ain michel tail verlorn
wol achczig tusent helde bis uff czwelff tu-
sent mä.
403. 1. 2 (481, 4) Das zwerg nach cristem orden si in daz Walser
stis
vnd auch der kunig von reussen fraw libgart
mä si his.
404. 2. 3 (482, 3) daz si da vber käme follig in zwenzig tagn
Dar nach an ainem morgen si kamen gen
messin.
ALTE LESEZEICHEN IN EINER 0RTNITH8. — BEHAGHEL 547
Den mann der diese vermerke angebracht hat, interessierten
also angaben von zahlen (49, 3. 257, 4. 276, 4. 297, 3. 4. 356, 2. 3.
404,2), namen (13,4. 403,1.2. 404,3), vorausdeutungen (21,4.
105, 1. 2. 340, 2. 344, 3. 4), berichte über wunderbares, erstaun-
liche begebenheiten, prachtstücke u.dgl. (4,3. 100,2. 176,3.
177, 1. 2. 209, 2. 3. 221, 2. 4. 224, 3. 4. 246, 3. 249, 4. 335, 3. 4).
Nach allem war er derselbe, von dem die lesezeichen in der
Nibelungenhandschrift herrühren, und das hier mitgeteilte be-
stätigt und ergänzt die Charakteristik, die ich von ihm a. a. o.
s. 353 zu geben versuchte, um auf den geschmack des publicums
zu schliessen, das jene bearbeitungen fanden.
FELDKIKCH in Vorarlberg, 19. sept. 1899.
JUSTUS LUNZER.
DER ARTIKEL BEI PERSONENNAMEN.
Immer wider, zuletzt von Wunderlich, Zs. fdph. 31, 518,
wurden vergebliche versuche gemacht, die erscheinung zu
deuten, dass der deutsche personenname zu gewissen zeiten
und in gewissen gegenden mit dem artikel verbunden wird.
Es sei daher gestattet, mit wenigen Worten das lächerlich
einfache Sachverhältnis darzulegen.
Unter den altdeutschen beinamen, aus denen sich die
heutigen familiennamen entwickelt haben, lassen sich zwei
besonders wichtige gruppen unterscheiden. Die eine gruppe
enthält die bezeichnung der abstammung: Dieterich Bernhardes,
Dietrich, der söhn des Bernhard: hier wird der genitiv regel-
mässig ohne artikel angereiht. In einer zweiten gruppe werden
bezeichnungen von eigentümlichkeiten einem personennamen
als attributive nomina angefügt; dies geschieht regelmässig
mit hilfe des artikels: Hans der Bühelcere, Wernker der garte-
ncerCy Herman der rote. Wir sollten also erwarten, dass sich
daraus zwei arten von neuhochdeutschen eigennamen entwickelt
hätten: die eine ohne artikel: Bernhards, Biedrichs, Peters
548 BEHAaHEL, DER ARTIKEL BEI PEBSONENNAMEK.
u. s. w., die andere mit artikel : der Bühler, der Fries, der
Gärtner, der Bofhe, der Freund u. dgl. Ein solcher zustand
lässt sich tatsächlich in älterer zeit nachweisen. Es ist aber
sehr begreiflich, dass er nicht dauernd sich behauptet hat,
dass vielmehr ausgleichung eingetreten ist. Wenn nun im
norden die herkunftsbezeichnungen den sieg davon getragen
haben, im siiden die eigenschaftsbezeichnungen, so darf man
vermuten^ dass das kräfteverhältnis der beiden selten in den
verschiedenen gegenden ein verschiedenes gewesen sei. In
der tat wissen wir, dass im norden die eigennamen, die vom
vaternamen gebildet sind, viel häufiger erscheinen als im Süden.
Wie das zu erklären sei, das ist in letzter linie eine frage
der lebensverhältnisse, eine frage der Völkerpsychologie. Man
sieht, wie scheinbar ganz unbedeutende grammatische kleinig-
keiten mit recht tief greifenden fragen sachlicher art in be-
ziehung stehen können.
Von den familiennamen ist im süden der artikel dann auch
auf die vomamen tibertragen worden.
Ich behalte mir vor, auf die angelegenheit ausführlicher
zurtickzukommen.
GIESSEN, 18. october 1899. 0. BEHAGHEL.
,„«*.r'»**- '»v/xij^^ ^^
HEULIED.
Von dem in Uhlands Volksliedern 2, 604 als no. 232 nach
einem Baseler flugblatt von 1572 abgedruckten gedichte Vinum
foenum (vgl. auch Uhlands Schriften 4, 211 ff.) steht eine ab-
schrift auf den drei letzten selten des jetzt in der bibliothek
des deutschen seminars zu Leipzig befindlichen exemplars von
eTosua Maalers deutschem Wörterbuch (Zürich 1561). Diese
abschrift weicht von Uhlands texte mannichfach ab und bringt
eine siebente Strophe neu hinzu, durch die erst die zweite
rätselfrage (v. 55) gelöst wird.
Abgschribenn.
Ein lustig lied in eins
fründtlichem schlaftrunck
zegebruchenn. —
Wo wachßt h6uw vff der matten,
dem frag ich gar nichts nach,
Hab Sunnen oder Schatten
Ist mir ein ruwige sach,
5 Sonder das da komt von räben.
Das selbig wellt wir han.
Es kan vil fröuden gaben
das weißt doch wyb vn man,
das ist gut h6uw deß ich mich fröuw
10 vn blanget wenn es rjüen^) thüt
dan es macht alzyth fr6ud vn müt.
2 Man sol es trüwlich pflantzen
dan es vil wunder thüt,
macht krum vnd Lam zu tantzeü
15 Ist das von art nit gutt?
macht Jung vnd alt zu singen
ein trurigs Hertz erquickt,
0 ^l/ff iiiit abkürzungsschnörkel.
550 OOBTZE
daß es wirt gutter dingen,
zu allen sacliefi gschickt,
20 gitt crafiPt dem man daß er gat dran,
an stryt vnd an die fröuwlin fyn,
macht onch daß die thnnd hurtig syn.
3 Wo wachßt doch höuw so gutte,
daß mir min theil ouch werd,
25 Grotts hallts in siner hntte,
wo es ie wachßt vff erd
daß es m6cht wol geratten,
zu fröuden dient es fyn,
wir wellend sieden, hraaten,
30 da muß kein mangel syn
mit froud ynd müt das höuw ist gut
lond vns das suber f&ren yn,
es mag alzyth gutt höuwen syn.
4 Der vns das höuw thüt g&ben
35 Gott well sin Schirmer syn,
daß er blyb lang by l&ben,
yß höuw macht er gut wyn,
vnd kocht vns gutte bisslin,
darzü bastettenn gnüg
40 wir achten nit der Spisslin
räbhüner sind sin fug,
die wachtlen vnd die lerchen gsund,
die sind so lustenklich bereit
mit gsellschafft gut vü aller fröud,
45 5 Das höuw thüt in nit rüwen
gibt vns deß alzyth gnüg,
wer das nit wol mag küwen,
der selb ist nit sin füg,
vü in wolt ouch verdrießen,
50 bim gsang vn seitenspil,
der möcht deß höuws nit gnießen
vn wer sin gar zv vil,
wer fröud wil han, der selb gang dran,
das höuw mit vns v'^dempfe friy,
55 nun raath wer doch der höuwer siy.
6 Wil am besten das melden,
mä labt in solcher art
Im holtz vn vff den felden,
wo mä mit höuw vß fart,
60 es möcht ein ieds wanen,
das mäyen in dem graß.
HEÜLIED. — SIEVERS, ZUM SCHLÜTTERSCANDAL. 551
rä,chen mit den zänen,
yn laden mit dem glas,
das h5nw so gut das manchem thüt,
65 dschaben tryben wol vß dem gwand*)
das höuw ist iedem wol bekannt.
7 Der höuwer thüt selbst höuwen,
sin gartlin wol gestallt
Tn thüt ouch selber säyen,
70 darin was im gefallt,
es thünd im Blümlin tragen 2)
die sind so wol gformiert,
darab thüt in belangen,
sin gä-rtlin wol geziert,
75 das buwt er wol, darü er sol,
der frucht gemessen alle zyth,
die im sin Gartlin täglich gibt.
Ist gwüßlich war.
vnd er findts sich.
LEIPZIG. ALFRED GOETZE.
ZUM SCHLUTTERSCANDAL.
In den Modern language notes 14 (1899), 317 ff. misbraucht
0. B. Schlutter meinen namen, um für seine elaborate auf dem
gebiete der ags. glossographie Stimmung zu machen, indem er
u.a. sp. 318 schreibt: ^He (nämlich Prof. Sie vers) showed kind
interest in my work in that he wrote to Prof. Wölfflin of Munich,
to give me some friendly ad vice as to prudence, an act of
kindness which he certainly would not have done me, had he
thought me capable of the »moral obliquity« of which Prof.
Hart accuses me. Moreover, he and Prof. Kluge being the
>) Vgl. Sachs, Fastnachtsp. 7, 87 neudr. : Wer dem kerüein so schnewczen
kon, Des rock die schabn nit kumen on, sondern der verapielt seinen rock
(v. 32. 175 ff. 254 ff.). Aehnliche enphemismen bei Fischart, Garg. 133 f.
neudr., femer den Schimmel aus dem gelde treiben DWb. 9, 155 und Sachs,
Fabeln u. schwanke no. 127, 11. 212, 43.
^) trag mit abkürzungsschnörkel.
552 SIBVEBS, ZUM SGHLUTTER8CANDAL. — BEBICHTlGUlfaEir.
advisers of Prof. Goetz of Jena, as to tlie Old English part
of the Corpus Glossariorum Latinorum, whatever I have done
towards elucidating glosses or finding sources of them, has been
submitted to him.'
Das wahre an der sache ist, dass ich seinerzeit die herren
Wölfflin und Goetz, bei denen sich Schlutter wie an andern
orten eingedrängt hatte, direct und dringlich vor den in bezug
auf Unkenntnis und methodelosigkeit bisher unerreichten
ergüssen Schlutters auf einem gebiete gewarnt habe, dem sie
als klassische philologen fern standen. Wenn die beiden herren
daraufhin ihre absagen an Schlutter in freundliche form ge-
kleidet haben, so war das ihr gutes recht: ich muss mich
aber dagegen verwahren, dass Schlutter daraus nun mit der
ihm eigenen Unverfrorenheit für sich capital zu schlagen
versucht.
LKIPZIG-GOHLIS, 8. dec. 1899. E. SIEVERS.
Berichtigungen.
S. 25, 12 V. u. lies sicher statt nicht. — 31, 9 v.u, l der dichter 8t. er.
— 40, 1 tilfje also. — 56, 9 v. u. l wichtigsten jener Wörter. — 63, 9 Z. ihn
— 70, 17 /.' (8 : 1000). — 73,4 Z. 1 Ä. - 75, 10 v. u. Z. ^ Ä. — 78, 13 l
L'anfes Gerairs et Gaie 8*an ... — 80, 2 v. w. Z. Fritzschs. — 82, 10
V. 1/. /. clioralis, 10. aiiH.
Halle a. S. Druck von Khrhardt Karras.