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MIT EINLEITUNG UND ANMERKUNGEN
VON
HERMANN MUNK
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT UND DER "^lERARZNEISCHüLE ZU BERLIN.
MIT HOLZSCHNITTEN UND EINER LITH
iDf, 1881.
VERLAG VON AUGUST HLRSCHWALD,
NW. UNTER DEN UNDEN 68.
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x\lle Rechte vorbehalten.
DEN HERREN
EMIL DU BOIS-EETMOND
UND
RUDOLF VIRCHOW
IN VEREHRUNG UND DANKBARKEIT
GEWIDMET.
Yorwoit.
Indem ich meine Veröffentlichungen über die Functionen der
Grosshirnrinde aus den Jahren 1877 — 80 hier gesammelt vor-
lege, will ich die durch verschiedene Zeitschriften zerstreuten
Mittheilungen leichter zugänglich machen, insbesondere einem
grösseren ärztlichen Kreise, der bisher auf unvollkommene und
öfters missverständliche Referate angewiesen war. Ich ver-
spreche mir davon einen wesentlichen Nutzen für das Gebiet,
in welchem das rechte Ineinandergreifen von physiologischem
Versuche und pathologischer Beobachtung zu raschen und
schönen Fortschritten verhelfen kann.
Auf eine Einleitung, welche den Stand der Dinge, von dem
ich auszugehen hatte, darlegt, folgen — nur mit ganz unwesent-
lichen redactionellen Aenderungen — die Mittheilungen, wie sie
zuerst zum Druck gelangt sind und ein getreues Bild der Fort-
schritte der Untersuchung und der Erkenntniss gewähren. In
den Anmerkungen, welche den einzelnen Mittheilungen nach-
folgen, habe ich Citate, Erläuterungen und kritische Bemerkungen
hinzugefügt.
Berlin, November 1880.
Hermann Miink.
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
Flourens 1823. — Fritsch und Hitzig 1870. —
Weitere Untersuchungen bis 1876. insbesondere von Hitzig,
Nothnagel, Schiff, Ferrier und Goltz.
Erste Mittheilung (23. März 1877) 10
Goltz' Versuche gegen die Localisation der Functionen in
der Grosshirnrinde nicht verwerthbar. Hitzig's Angaben über
die Folgen von Verletzungen des Hinterhirns.
Vordere motorische und hintere sensorielle Sphäre der Gross-
hirnrinde des Hundes. Bewegungsstörungen und „Defect der
Willensenergie" ausschliesslich durch Exstirpationen in der moto-
rischen Sphäre bedingt. Seelenblindheit und Seelentaubheit —
Verlust der Gesichts-, bez. der Gehörs-Erinnerungsbilder — als
Folgen bestimmter Exstirpationen (der Stellen A^ und /i,) in der
sensoriellen Sphäre. Spurweise Restitution von der Seelentaub-
heit. Vollkommene Restitution von der Seelenblindheit; die Thiere
lernen wieder sehen. Was für die Sehsphäre und die Hörsphäre
der Grosshirnrinde daraus zu schliessen ist, desgleichen für die
Restitution.
Weshalb Goltz Seh- und Bewegungsstörungen nie gesondert
und nie deren völlige Restitution, ferner nie Hörstörungen beob-
achtet bat. Goltz' Annahme, dass Hemmungsvorgänge die nicht
bleibenden Störungen bedingen, durch die Erfahrung widerlegt;
Folgen der reactiven Entzündung.
Versuche an der Grosshirnrinde des Pferdes.
Nachtrag. Kritik von Ferrier's Exstirpations-Untersuchung.
Zweite Mittheiiung (27. Juli 1877) 21
Unvollkommene Ausbildung (Atrophie) des Hinterhaupts-
lappens nach Zerstörung des Auges, des Schläfenlappens nach
Zerstörung des Ohres an ganz jungen Hunden. Erklärung von
V. Gudden's Misserfolg.
Fortbestehen einzelner Gesichts -Erinnerungsbilder nach Ex-
stirpation der Stelle A^. Erste Wahrnehmung von Sehstörungen
Vm Inhalt.
Seite
nach Exstirpationen in der Umgebung von A^ , auch an der inneren
Seite der Hemisphäre.
Vollkommene Restitution von der Seelentaubheit; das Thier
lernt wieder hören.
Erfahrungen an seelenblind gemachten und restituirten
Hunden, die von der Encephalomeningitis befallen. Die Rinde des
Hinterhauptslappens Ort der Gesichtswahrnehmung, und hier Ein-
fluss der Gesichtsempfindungen auf die Bewegungen.
Dritte Mittheilung (15. März 1878) \ 28
Volle Seelenblindheit des Hundes; Restitution. Einseitige
Seelenblindheit; Restitution. Störungen der Gesichtswahrnehmung.
Ausdehnung der Sehsphäre. Regelmässige Anordnung der wahr-
nehmenden Elemente der Sehsphäre (Localzeichen der Gesichts-
empfindungen). Stelle A^ coordinirt der Stelle des deutlichen
Sehens der Retina. Sehr ausgedehnte Exstirpation am Hinterhaupts-
lappen: volle Blindheit (Rinden blindheit); geringe Restitution. Zu-
sammenfassung der Ergebnisse über Seelenblindheit und Rinden-
blindheit.
Ferrier's Exstirpations- Untersuchung am Affen werthlos
und falsch. Sehsphäre des AfTen. Störungen der Gesichtswahr-
nehmung und Fehlen einzelner Gesichtsvorstellungen nach beider-
seits gleichen kleinen Exstirpationen am Hinterhauptslappen. An-
dauernde beiderseitige Hemiopie nach Exstirpation dey Rinde
eines Hinterhauptslappens. Volle Rindenblindheit nach Exstirpation
der Rinde beider Hinterhauptslappen; höchst unbedeutende Resti-
tution. Grössere Restitution nach unvollkommenerer Exstirpation.
Seelentaubheit des Hundes; Restitution. Rindentaubheit.
Ausdehnung der Hörsphäre.
Die vermeintliche motorische Sphäre des Hundes ist die Fühl-
sphäre. Wahrnehmungen und Vorstellungen, welche dem Gefühls-
sinne des Körpers zugehören. Kopf-, Vorderbein- und Hinterbein-
. region der Fühlspharo. Die sogenannten Motilitäts- und Sensibili-
tätsstörungen nach Exstirpationen am Scheitellappen sind Verlust
1) der Berührungs- oder Druckvorstellungen, 2) der Lage Vor-
stellungen. 3) der Bewegungsvorstellungen, 4) der Tastvorstel-
lungen. Restitution mit Wiederkehr erst der einfacheren, dann
der verwickeiteren Gefühls Vorstellungen. Abhängigkeit der Grösse
des Verlustes und der Restitution von der Grösse der Exstirpations-
stelle in der Region. Zusammenfassung der Ergebnisse für die
Fühlsphäre. Vergleich mit Sehsphäre. Genauere Definition der
Innervationsgefühle. Wille, willkürliche Bewegung, Bewegungs-
vorstellung, Innervationsgefühl.
Fühlsphäre de^ Affen. Grenzen der verschiedenen Sphären
und Regionen.
Inhalt. IX
Seite
Vierte Mittheiluag (29. November 1878) 58
Vervollkommnung der Versuchsreihen über die Fühlsphäre
des Rundes. Total exstirpation einer Region: andauernde Rinden-
lähmung (Rindenbewegungs- und Rindengefühilosigkeit) des Kör-
pertheiles. Nichtvorhandensein von motorischen oder psychomo-
torischen Centren in der Grosshirnrinde; nur die Bewegungsvor-
stellungen sind die Ursache der sogenannten willkürlichen Bewe-
gungen. Was von pathologischer Seite Beachtung verdient.
Zugehörigkeit auch der Rinde des Stirnlappens zur Fühl-
sphäre.
Regionen der Fühlsphäre des Hundes und des Affen: Augon-
region. Ohrregion. Hinterbein-, Vorderbein- und Kopfregion.
Nackenregion des Hundes. Rumpfregion des Hundes. Nacken-
und Rumpfregion des Affen.
Wesen und Sitz der Intelligenz. Ihre Schädigung abhängig
hinsichts der Grösse und der Dauer von der Ausdehnung, hinsichts
der Art vom Orte der Läsion. Partielle Beschränkung der Intelli-
genz. Blödsinn. Besondere Bedeutung der Fühlsphäre. Blöd-
sinnige Hunde von Goltz; Blödsinn durch Encephalomeningitis.
Bewusstlosigkeit. Besondere Bedeutung der Fühlsphäre. Be-
wusstlosigkeit nach Durchbruch eines Hirnabscesses in den Ventrikel.
Fünfte Mittheilung (4. Juli 1879) 76
Neueste Versuche von Nicati. Luciani und Tamburini,
Goltz über die Verbindung jeder Hemisphäre des Hundes mit
beiden Augen.
Totalexstlrpation einer Sehsphäre des Hundes. Die äusserste
laterale Partie der Retina zugeordnet der äussersten lateralen Partie
der gleichseitigen Sehsphäre. Grösse jener Retinapartie bei ver-
schiedenen Hunderacen.
Exstirpation der medialen Hälfte der Sehsphäre des Hundes;
des innersten Drittels; der lateralen Hälfte; des äussersten Drittels;
der vorderen Hälfte; der hinteren Hälfte. Projection der Retinae
auf die Sehsphären. Retinastelle des deutlichsten Sehens und Um-
gebung zugehörig der Stelle A^ der Sehsphäre.
Umsetzung der Fasern des gekreuzten Bündels des Nervus
opticus auf ihrem Verlaufe vom Grosshirn zur Retina; eigenthüm-
liche mattenartige Verflechtung der Fasern der gekreuzten Bündel
im Ghiasma.
Partielle Sehsphären-Exstirpatiouen am Affen.
Sechste Mittheiiung (3. Juni 1880) 9G
Totalexstlrpation beider Sehsphären des Hundes. Auch die
nicht vollkommen gelungenen Falle von In'ftresse. Lichtümpfm-
dung, Gesichtswahrnehmung ausschliesslich in den Sehsphäron.
b
X Inhalt.
Seite
Projection der Retinae auf die Sehsphären von neuem controlirt.
Die verschiedenen Abschnitte der Retina höchstwahrscheinlich un-
gleichartig projicirt. Stelle des directen Sehens besonders gut in
der Hirnrinde repräsentirt.
Voile Seelenblindheit des Hundes verbunden mit Rinden-
blindheit für die Stellen des directen Sehens und deren Umgebung.
Gesichtsvorstellungen; Anschauungs- und Erinnerungsbilder;
Kennen oder Erkennen. Vorübergehende Functionsunfähigkeit von
Rindenelementen als Ursache der Seelenblindheit ausgeschlossen
durch die mögliche Beeinflussung der Restitution. Einseitige
Seelenblindheit; ihre Restitution abhängig von der Benutzung dos
gegenseitigen Auges. Wirklicher Verlust der mit Erinnerungsbil-
dern besetzten Vorstellungselemente durch die Exstirpation von
A^. Die Sammlung der Erinnerungsbilder in A^ verständlich durch
die Bedeutung der Aufmerksamkeit für die Gesichtsvorstellungen;
Bürgschaften für die Richtigkeit des Verständnisses. Restitution
von der Seelenblindheit abhängig von der Ausdehnung der Rinden-
blindheit. Zusammenfassung der Ergebnisse für die Gesichtsvor-
stellungen. Theilweiser Verlust der Gesichtsvorstellungen durch
Partialexstirpationen von A^.
Siebente Mittheilung (2. Juli 1880) 121
Bemerkung über den Geruchssinn des Hundes in Bezug auf
den Seelenblindheitsversuch. Dem Versuche, die Erscheinungen
der Seelenblindheit auf das excentrische Sehen zurückzuführen,
liegt ein Gedankenfehler zu Grunde.
Sehsphäre des Affen. Beiderseitige Hemiopie nach einseitiger
Sehsphären-Exstirpation; Versuche von Luciani und Tambu-
rini. Volle Rindenblindheit und höchst unbedeutende Restitution
nach nicht ganz vollkommener Exstirpation der Rinde beider Ilinter-
hauptslappen. Linksseitige temporale Hemiopie nach Exstirpation
der linken Hälfte, rechtsseitige nasale Hemiopie nach Exstirpation
der rechten Hälfte der Rinde des linken Hiuterhauptslappens ; volle
linksseitige Rindenblindheit nach Exstirpation der temporalen
Hälfte am linken und der nasalen Hälfte am rechten Hinterhaupts-
lappen. Rindenblindheit in allen Fällen andauernd. Projection
der Retinae auf die Sehsphären; die Macula lutea zugeordnet der
Mitte der Convexität beider Hinterhauptslappen. Hier auch höchst-
wahrscheinlich Sitz der mit Erinneruagsbildern besetzten Vor-
stellungselemente.
Riechsphäre des Hundes. Anatomisches. Hund mit fast voll-
kommenem Fehlen des Geruchssinnes; Sectionsbefund. Was in
der Rinde der Gyri hippocampi die Riechsphären erkennen lässt.
Eialeitmig.
JL/er erste grosse Erfolg, welchen die Physiologie des Grosshirns
mit Flourens' Versuchen zu verzeichnen hatte, wurde zugleich
verhängnissvoll für ihren Fortschritt. Als Flourens* die
Grosshirnhemisphären als den Sitz des Willens und der Wahr-
nehmungen nachwies, lehrte er zugleich als Ergebniss der Ver-
suche, dass alle Theile des Grosshirns in gleicher Weise mit
dessen Functionen betraut wären, eine functionelle Differenz ein-
zelner Abschnitte des Grosshirns nicht weiter bestände. Gleich-
viel wo und wie das Grosshirn fortschreitend abgetragen würde,
immer sollten alle Wahrnehmungen und alles Wollen gleich-
massig abnehmen und schliesslich zugleich erlöschen; und wenn
die Verstümmelung, welche den Verlust aller Functionen mit
sich gebracht hatte, nicht gar zu gross gewesen, sollte der Rest
des Grosshirns nach einiger Zeit unvollkommen oder sogar voll-
kommen die Functionen des ganzen Grosshirns wiedergewinnen,
indem alle Wahrnehmungen und alles Wollen wiederum gleich-
massig sich wieder einstellten. Da nun überdies, wie es schon
Lorry** gefunden hatte und Flourens bestätigte, keinerlei
Angriff des Grosshirns irgend eine Reaction, weder Bewegung
noch Empfindung, herbeiführen sollte, so konnte mit der soweit
gewonnenen Einsicht die experinaentelle Forschung am Gross-
hirn sogleich auch abgeschlossen scheinen.
* Archives gdnerales de Medecine. 1. ann. T. 2. 1823. p. 321. —
Rechorches expdrim. sur les proprietös et les fonctions du systöme nerveux.
Paris. 1. edit. 1824; 2. ^dit. 1842.
** Mdmoires presentes ä l'Acad^mie d. sc. par divers savans. T. 3.
1760. p. 352.
H. Munk, Functionen der Grosshirnrinde. \
2 Einleitung.
Fast ein halbes Jahrhundert blieb Flourens' Lehre be-
stehen. Verwundert muss man sich jetzt fragen, wie das mög-
lich war, da doch einerseits schon die Durchsicht von Flou-
rens' Mittheilungen unschwer seine Versuche als unzureichend,
seine Beobachtungen als zu wenig genau, seine Schlüsse als zu
weit gehend erkennen lässt, andererseits die pathologischen Er-
fahrungen, insbesondere betreffs der Aphasie, und nicht minder
die anatomischen Ergebnisse mittlerweile Anlass genug geboten
hatten, an Flourens' Lehre irre werden zu lassen. Gewiss
mit Recht hat man viele Schuld dem Missgeschicke zugeschrie-
ben, dass bei den wiederholten, selbst elektrischen Reizungen
des Grosshims dieses immer und immer wieder durchaus unerregbar
sich erwies. Aber noch mehr doch hat, wie ich meine, ein anderer
Umstand dazu beigetragen, dass in dem langen Zeiträume, in
welchem sonst überall die Physiologie so mächtig fortschritt,
die Lehre vom Grosshirn so ganz stagnirte. Ausser der einen
Methode der Reizung, welche versagt hatte, bot sich nur noch
die zweite Methode der Exstirpation in der einen oder der an-
deren Form dar, und diese Methode erschien gar zu grob und
gar zu aussichtslos gegenüber der Feinheit und der Verwickelung
des zu prüfenden Gebildes; trotz Flourens' grundlegenden Ver-
suchen und vielleicht eben wegen seiner eigenen weiteren Ver-
suche wurde das „Hirnschneiden" oder „Hirnbohren" mehr als
ein grausames, denn als ein wissenschaftliches Vorgehen ange-
sehen. Dass wir heute gerade dieser Methode unsere so sehr
vervollkommnete Kenntniss vom Grosshirn verdanken, liefert
einen neuen schätzbaren Beleg, wie der Entwickelung der Wissen-
schaft die Bahnen sich nicht vorzeichnen lassen.
Erst im Jahre 1870 wurde durch die Untersuchung von
Fritsch und Hitzig* der Bann, unter welchem das Grosshirn
so lange sich befunden hatte, gelöst. Entgegen den früheren
Angaben wiesen Fritsch und* Hitzig nach, dass auf elektrische
Reizung gewisser Stellen an einer vorderen Partie der Convexi-
tät des Grosshirns bestimmte combinirte Muskelcontractionen
der gegenüberliegenden Körperhälfte erfolgen. Und da hier auf
* lieber die elektrische Erregbarkeit des Grosshirns. Reichert's
u. du Bois-Reymond's Archiv, 1870. S. 300.
Einleitung. 3
die Reizung der verschiedenen Rindenstellen verschiedene Muskel-
kelgruppen in Thätigkeit traten, da ferner durch die Reizung
der übrigen Convexität keine Muskelbewegung herbeigeführt
wurde, und da endlich auch nach Exstirpation einer jener
Rindenstellen gewisse Bewegungsstörungen an demjenigen Kör-
pertheile zu beobachten waren, dessen Muskeln auf Reizung
derselben Rindenstelle in Bewegung gerathen waren, so schlössen
Fritsch und Hitzig: dass Flourens' Meinung irrig, und dass
„sicher einzelne seelische Functionen, wahrscheinlich alle, zu ihrem
Eintritt in die Materie oder zur Entstehung aus derselben auf
circumscripte Centra der Grosshirnrinde angewiesen sind".
Dieser bahnbrechenden Untersuchung . reihten sich dann in
rascher Folge zahlreiche weitere Bestrebungen an, und als ich
im Jahre 1876 an die Untersuchung des Grosshirns herantrat,
hatte das neuentstandene physiologische Gebiet bereits eine
grosse Litteratur aufzuweisen. Aber zu durchgreifenden Er-
folgen hatten alle die vielen Untersuchungen doch so wenig ge-
führt, dass selbst die functionelle üngleichwerthigkeit der ver-
schiedenen Theile der Grosshirnrinde noch durchaus bestritten
war, geschweige denn dass die Functionen eben dieser Theile
sichergestellt gewesen wären. Im grossen und ganzen war der
Stand der Dinge damals folgender.
Allgemein anerkannt war, dass auf elektrische Reizung,
wenn der Angriff innerhalb einer gewissen Strecke an der Con-
vexität des Grosshirns erfolgt, Bewegungen eintreten und zwar
bestimmte, verschiedenen Stellen jener Strecke entsprechend
verschiedene Bewegungen, dass dagegen jede Bewegung ausbleibt,
wenn ein anderer Theil der Convexität von der Reizung be-
troffen ist. Die reizbaren Stellen der Grosshirn-Oberfläche und
die Reizerfolge waren bei einer ganzen Anzahl von Thierspecies
untersucht. Auch war der Einfluss verschiedener Umstände,
wie des Aethers, des Morphiums, des Curare, der Apnoe, der
Verblutung u. s. w. auf die Reizbarkeit verfolgt, und es war er
mittelt*, dass diese Reizbarkeit im frühesten Lebensalter fehlt
* Soltmann, Experimentelle Studien über die Functionen des
Grosshirns der Neugeborenen. Jahrbuch für Kinderheilkunde, Neue Folge,
Bd. 9. 1875. S. 106.
4 Einleitang.
und mit der Zeit erst sich einstellt. Woher der Reizerfolg
rührt, ob von der Erregung der grauen Rinde selbst oder von
der Erregung der darunter befindlichen weissen Substanz, war
nicht entschieden. Schliesslich war darüber alles einig, dass
die Reizversuche für sich allein es nicht sicher zu beweisen ver-
mögen, dass motorische oder psychomotorische Functionen in
dem der reizbaren Strecke zugehörigen Abschnitte der Gross-
himrinde ihren Sitz haben, dass vielmehr für einen solchen Be-
weis wesentlich die Erfolge der Exstirpationsversuche als mit
massgebend oder sogar als entscheidend anzuerkennen seien.
Die Versuche mit beschränkter Exstirpation der Rinde oder
auch der Rinde und der benachbarten weissen Substanz inner-
halb der reizbaren Strecke der Grosshirn-Oberfläche hatten in-
dess die erwartete Entscheidung nicht geliefert.
Es waren nicht eigentliche Lähmungen (Paralysen), welche
als Folgen der Exstirpationen zur Beobachtung kamen, sondern
Störungen der Art, dass z. B. das betroffene Bein ausrutschte,
sich beliebig verschieben liess, beim Gehen falsch aufgesetzt
wurde u. dgl. m. Darin hatte Hitzig* eigenthümliche Motili-
tätsstörungen, Störungen des Muskelbewusstseins , Unfähigkeit
sich vollkommene Vorstellungen über den Körpertheil zu bilden,
gesehen und die motorische Function der reizbaren Rindenstrecke
damit erwiesen geglaubt; ja, unter denen, welche ihm folgten,
hatten sogar Carville und Duret die Störungen, welche ihnen
als „un manque de spontaneite et de direction dans le mouve-
ment partiel" erschienen, geradezu als eine eigenartige Paralyse
aufgefasst, welcher sie den Namen „paralysie de la motricit6
volontaire corticale" gaben**. Allein auf der anderen Seite
waren dieselben Störungen mehrfach als Sensibilitätsstörungen
angesprochen worden, so von Nothnagel*** als Störungen des
Muskelsinns, von Schifft als Störungen der Hautsensibilität,
* S. 0. S. 2. — Untersuchungen über das Gehirn. Berlin 1874.
— ReichTert's u. du Bois-Reymond's Archiv, 1874. S. 392.
• ** Arch. de Physiologie norm, et pathol. 2. sdrie. T. 2. 1875.
p. 352.
*** Vir oho w 's Archiv, Bd. 57. 1873. S. 184.
+ Lezione sopra 11 systema nervoso encephalico. Firenze 1874.
p. 529. — Archiv für experimentelle Pathologie, Bd. 3. 1875. S. 171.
Einleitung. 5
welche er zuerst bei diesen Tiiieren geschädigt gefunden hatte;
und auf Grund dessen war die motorische Function der reiz-
baren Rindenstrecke durchaus in Abrede gestellt worden.
Dazu iam noch als erschwerender Umstand, dass die durch
die Exstirpationen gesetzten Störungen, wie es Nothnagel
zuerst bemerkt hatte, mit der Zeit sich wieder ausglichen, manch-
mal schon in einem oder wenigen Tagen, manchmal erst in
längerer Zeit. Infolge dessen hatten die Vertreter der Loca-
lisation der Functionen in der Grosshirnrinde nach dem Ersätze
für die verlorene Rindenpartie zu suchen gehabt; und wenn auch
Carville undDuret einen beliebigen Rindenabschnitt derselben
Hemisphäre, Soltmann den symmetrischen Abschnitt der zweiten
Hemisphäre dafür in Anspruch genommen hatten, so war doch
zur selben Zeit schon von jeder der beiden Parteien die Annahme
der anderen widerlegt. Hitzig selber auch hatte hier bloss
auf verschiedene Möglichkeiten hinzuweisen vermocht, wie eine
solche Restitution trotz der üngleichwerthigkeit der verschiedenen
Rindenabschnitte denkbar wäre. Nichts thatsächliches stand
daher entgegen dem Schlüsse, welchen Nothnagel, Hermann*
u. A. aus der Restitution gezogen hatten, dass eine strenge Lo-
calisation der geistigen Functionen auf bestimmte Centren der
Grosshirnrinde nicht vorhanden oder wenigstens noch nicht nach-
gewiesen wäre.
Noch schlimmer stand es um die Ergebnisse derjenigen
Untersuchungen, bei welchen ausserhalb des Bereiches der reiz-
baren Strecke der Grosshirn -Oberfläche oder doch über diesen
Bereich hinausgehend Rindenexstirpationen vorgenommen worden
waren.
Allerdings hatte Ferrier**. eine Fülle der wichtigsten
Ermittelungen gemeldet. Für jeden Abschnitt der Gros^irn-
rinde des Affen hatte er dessen besondere Functionen anzuzeigen
* Pflüg er 's Archiv, Bd. 10. 1875. S. 77.
*• Proceedings of the R. Soc. of London, Vol. 22. p. 229 (March 5,
1874); Vol. 23. p. 431 (May 13, 1875). — Experiments on the brain
of monl<eys: second series. Philosoph. Transact. Vol. 165. 1875. Part
II. p. 433. (Diese ausführliche Mittheilung der vorher nur kurz mit ihren
Resultaten angezeigten Untersuchung ist auch in besonderem Abdrucke
erschienen.)
G Einleitung.
vermocht. Im Gyrus angularis hatte er das Sehcentrum, dicht
darunter im Gyrus teraporo-sphenoidalis superior das Hörcentrum,
in der tieferen Partie des Schläfenlappens das Centrum des Ge-
schmacks und (im Uncus*) das Centrum des Geruchs, im Gyrus
hippocampi* und Hippocampus major das Tastcentruin, in
der Umgebung der Fissura Rolandi die Centren der willkürlichen
Bewegung, in den Hinterhauptslappen das Hungercentrum
(Centrum für die Visceralgefühle) gefunden; die Abtragung der
Frontalregionen endlich hatte er deutlich die Intelligenz schä-
digen sehen und die Fähigkeit aufzumerken. Sehcentrum, Hör-
centrum, Geschmackscentrum und die motorischen Centren standen
zu der entgegengesetzten, das Geruchscentrum aber zu derselben
Körperhälfte in Beziehung. Die Lähmungen nach Zerstörung
motorischer Centren waren andauernd ; dagegen war die einseitige
Blindheit nach Zerstörung eines Gyrus angularis, so lange der
gleichnamige Gyrus der anderen Seite noch unversehrt war, nur
vorübergehend und verlor sich äusserst rasch, und erst durch
Zerstörung beider Gyri angulares trat beiderseitige Blindheit für
die Dauer ein. Alles dies hatten dem beispiellos glücklichen
Experimentator 24, sage vierundzwanzig Exstirpationsversuche
an 21 Affen ergeben**. Aber gerade so wie Ferrier selber
nicht der mindeste Zweifel an seinen Ermittelungen geblieben
war, .gerade so konnte, wer seine Versuche musterte, auch nicht
den mindesten Glauben allen jenen Ergebnissen beimessen. Nur
ein einziges Mal war es bei Ferrier's Versuchen zur Verheilung
der Wunde gekommen; sonst hatten die Thiere bloss einige
Stunden oder höchstens einige Tage die Operation überlebt, und
dann hatten sie noch sehr bald nach der Operation sich in der
übelsten Verfassung befunden, da gewöhnlich in 24-^36 Stunden,
* Ich wende immer die bei uns gebräuchlichen Benennungen an,
durch welche auch in der Obersteiner'schen Uebersetzung (Braunschweig
1879) von Ferrier's „The functions of the brain" (London 1876) die
englischen Benennungen ersetzt sind.
** 5 Versuche betrafen die Hinterhauptslappen, 4 die Gyri angulares,
3 die motorischen Gyri, 4 die Stirnlappen, 3 die Hippocampalregion, end-
lich 5 die Schläfenlappen. — Die Mittheilung enthält noch einen Versuch
an den Thalami optici, der, im Verein mit einer gelegentlichen Wahrneh-
mung bei einem der anderen Versuche, Ferrier auch die Functionen der
Thalami optici entschleiert hat. Dieser Versuch bleibt hier ausser Betracht.
Einleitung. 7
öfters aber schon viel früher Prostration, Krämpfe, Coma ein-
getreten waren. Auch war von einer eigentlichen Untersuchung,
von einer Contrölirung der Resultate, ja selbst nur von einer
sorgsamen Prüfung der Thiere gar keine Rede gewesen: roh
war operirt, roh beobachtet, roh geschlossen. Ganz willkürlich
waren vielfach die Folgen der Operationen aufgefasst, indem
weder Blindheit, noch Taubheit, noch Unfähigkeit zu schmecken
oder zu riechen u. s. w. wirklich aus den Beobachtungen hervor-
ging; und ebenso willkürlich waren die Folgen der Exstirpation
von den Folgen der Nebenverletzungen, der Erschöpfung, der
Entzimdung getrennt. So stellten sich die Versuche als nichts
anderes dar, denn als schlecht zurechtgemachte Belege vorge-
fasster Meinungen: weil Ferrier bei seinen Reiz versuchen Be-
wegungen an den Augen, den Ohren, der Nase u. s. w., welche
auf die Reizung gewisser Abschnitte der Grosshirnrinde einge-
treten waren, für Erscheinungen der Reizung von Sinnescentren
genommen hatte, mussten die Exstirpationen eben dieser Ab-
schnitte Blindheit, bez. Taubheit u. s. w. mit sich bringen;
weil das die althergebrachte und anscheinend gut begründete
Meinung war, mussten die Stirnlappen als Sitz der Intelligenz
sich herausstellen ; und dgl. mehr. Durchaus entsprechend ihrem
Werthe hatten darum die Ferrier 'sehen Versuche in dem schwe-
benden Streite, bei Freund wie Feind der Localisation, gar keine
Beachtung weiter gefunden.
Etwa gleichzeitig mit Ferrier hatte dann auch Hitzig
hier angegriffen, doch war er nicht so glücklich wie früher ge-
wesen. Er hatte im Juli 1874 folgendes veröffentlicht*: „Man
kann durch Abtragungen im Bereiche des Hinterlappens (Gyri
n. 0. Fig. 3 meines Buches „„Untersuchungen über das Gehirn"")
Blindheit des gegenüberliegenden Auges und paralytische Dila-
tation der entsprechenden Pupille hervorbringen. Die Erschei-
nungen der halbseitigen Blindheit sind so charakteristisch, dass
ein Irrthum darüber unmöglich ist. Andererseits entstehen bei
dieser Methode leicht Nebenverletzungen, deren Einfluss ich noch
nicht hinreichend habe feststellen können. Jedoch wird die An-
nahme, dass es sich hierbei um die Grosshirnhemisphäre selbst
♦ Centralblatt f. d. medicin. Wiss. 1874.. S. 548.
8 Einleitung.
handelt, durch die Beobachtung unterstützt, dass Reizung der
gleichen Stelle eine starke und anhaltende Verengerung der Pu-
pille nach sich zieht." Da aber hier die Neben Verletzungen
sogar das noch in Frage stellten, ob es sich um die Grosshirn-
hemisphäre selbst bei der Blindheit handelte, so war ein sicherer
Nachweis, wie er ^u erstreben, war, dass die Exstirpation einer
bestimmten und zwar nicht motorischen Rindenpartie Blindheit
zur Folge hat, natürlich nicht erzielt. Und noch mehr an Werth
verringert war die Mittheilung dadurch, dass einige Monate
später Hitzig selber weiter angegeben hatte*, dass grössere
Verletzungen des Hinterhirns dieselbe Störung — den von ihm
so genannten „Defect der Willensenergie^', d. h. einen Mangel
des Widerstandes gegen passive Bewegungen der Extremitäten —
nach sich zögen, wie gewisse Verletzungen des Vorderhirns.
Endlich war Goltz** durch ausgedehnte Zerstörungen der
Grosshirnrinde, welche er in grosser Zahl vorgenommen hatte,
wiederum zu ganz anderen Ergebnissen gelangt. Gleichviel wo
die Rinde zerstört war^ ob vorn oder hinten, stets waren die-
selben Störungen der Bewegung, der Empfindung und des Seh-
vermögens zur Beobachtung gekommen, nur um so hochgradiger,
je ausgedehnter die Verletzung war; und der grössere Theil
dieser Störungen war mit der Zeit wieder verschwunden, ein
kleiner Theil war für immer zurückgeblieben. In diesen Er-
fahrungen hatte Goltz die Widerlegung der Flourens'schen
Lehre gesehen, dass nach grossen Verstümmelungen des Gross-
hirns der erhaltene Rest desselben die Functionen des ganzen
Grosshirns wiedergewinnen sollte; zugleich aber hatte er die Er-
fahrungen unvereinbar gefunden mit der Auffassung, nach welcher
die verschiedenen Abschnitte der Grosshirnrinde verschiedenen
Verrichtungen dienen sollten. Nur die bleibenden 'Störungen
hatte er als Ausfallserscheinungen, als Folgen der Vernichtung
' der Grosshirnsubstanz gelten lassen; die vergänglichen Störungen
dagegen hatte er als Hemmungserscheinungen aufgefasst, als
bedingt durch eine Hemmung, welche von der verletzten Hirn-
stelle aus auf Nervenbahnen für niedere Centren herbeigeführt wird.
* Reichert's u. du Bois-Reymond's Archiv, 1874. S. 439.
** Pflüger'sArch. Bd. 13. 1876. S. 1; Bd. 14. 1876— 77. S. 412.
Einleitung. 9
Das war die Sachlage, als ich, nach der Einrichtung des
physiologischen Laboratoriums der hiesigen Thierarzueischule im
October 1876, endlich den längst gehegten Wunsch erfüllen
konnte, selber an die schwebenden Grosshirn -Fragen mit dem
Versuche heranzutreten. So grossen Eindruck auch im allge-
meinen die jüngsten Veröffentlichungen von Goltz gemacht
hatten, ich vermochte nicht zu glauben, dass, wo in den nie-:
deren Centralorganen die grösste Ordnung herrscht, in den oberen
alle Fäden bunt durcheinandergewürfelt seien, und die Locali-
sation der Functionen in der Grosshirnrinde war demgemäss
für mich ein physiologisches Postulat. Wenn diese Localisation
sich noch nicht streng hatte erweisen lassen, es konnte, meinte
ich, nur daran liegen, dass die Exstirpationsversuche , welche
den gewünschten Aufschluss geben mussten, in Bezug auf Ort
und Grösse der Exstirpation noch nicht genügend variirt worden
waren und besonders die nicht reizbare Partie der Grosshirnrinde,
welche vielleicht die günstigere Einbruchsstelle abgab, ganz auf-
fällig vernachlässigt war. Etliches Tasten belehrte mich auch
bald, dass ich mich nicht getäuscht hatte; und indem ich mich
im übrigen ganz vorurtheilslos von den Beobachtungen leiten
liess und immer die einfachsten Annahmen für das Verstandniss
und die weiteren Versuche heranzog, sind die Untersuchungen
entstanden, über welche die nachfolgenden Veröffentlichungen
berichten.
Erste Mittheilung.
(Auszug aus einem in der Sitzung der Physiologischen Gesellschaft zu
Berlin am 23. März 1877 gehaltenen Vortrage.) *
JJie Localisation der Punctionea in der Grosshirnrinde ist für
den Vortragenden ein physiologisches Postulat, und er hat
Versuche unternommen, die durch Fritsch und Hitzig^ so
glücklich angebahnte Kenntniss zu vervollkommnen. Obschon
er die Untersuchung noch fortzuführen gedenkt, sieht er sich
doch zu der folgenden Mittheilung veranlasst, um den jüngsten
Veröffentlichungen von Goltz ^ möglichst bald entgegenzutreten.
Goltz' Erfahrungen zeigen wohl im allgemeinen, dass nach er-
heblichen Verstümmelungen des Grosshirns gewisse bedeutsame
Störungen für immer zurückbleiben, aber im besonderen lehren
sie nichts und können auch nichts darüber lehren, ob und welche
Leistungen den einzelnen Abtheilijngen des Grosshirns zukommen.
Hierfür war die Methode der Ausspülung der Gehirnmasse durch
Brunnenwasser unbrauchbar. Denn ausser dass gewisse grosse
Gehimpartieen geradezu fortgenommen wurden, mussten durch
den Druck, der sogar häufig die Athmung und den Herzschlag
zum Stillstande brachte und zu tagelanger Bewusstlosigkeit
führte, wie nicht minder durch das den thierischen Theilen so
schädliche Wasser auch noch andere Hirnpartieen, und zwar in
ganz unbestimmbarer Lage und Ausdehnung, für kürzere oder
längere Zeit functionsunfähig werden. Indem so aber durch
die Operation eine noch viel umfangreichere Zerstörung ange-
* Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin, 1876/77.
No. 16 (ausgegeben am 30. März 1877). — Deutsche medicin. Wochen-
schrift, 3. Jahrg. No. 13 (31. März 1877). — du Bois-Reymond's
Archiv, 1878. S. 599.
Erste Mittheilung. 1 1
richtet wurde, als schon von vorneherein beabsichtigt war und
durch die Section zur Feststellung kommen konnte, lässt es
sich einerseits nur zu gut begreifen, wie Goltz, mochte er vorn
oder hinten die Convexität angreifen, immer gleichartige und
höchstens dem Grade nach verschiedene Störungen beobachtete,
und ist es andererseits selbstverständlich, dass Goltz' Erfahrungen
gegen die Localisation der Functionen in der Grosshirnrinde
nicht zu verwerthen sind.
Der Vortragende hat sich auf die Untersuchung der Con-
vexität des Scheitellappens, des Hinterhauptslappens und des
Schläfenlappens des Hundehirns beschränkt und stets an mittel-
grossen Thieren ungefähr kreisrunde Stücke der Grosshirnrinde
von ca. 15 mm. Durchmesser und ca. 2 mm. Dicke exstirpirt,
theils an einer Hemisphäre und später symmetrisch an der
zweiten, theils symmetrisch an beiden Hemisphären zugleich.
Den Exstirpationen am Scheitellappen hatten bekanntlich zuerst
Fritsch und Hitzig Bewegungsstörungen folgen sehen; „durch
Abtragungen im Bereiche des Hinterlappens" hatte Hitzig,
und zwar, wie er glaubte, nicht durch Neben Verletzungen ge-
täuscht, deren Einfluss er noch nicht hinreichend hatte feststellen
können, „Blindheit des gegenüberliegenden Auges und paralytische
Dilatation der entsprechenden Pupille" hervorgebracht ^ ; nach
grösseren Verletzungen des Hinterhirns endlich hatte Hitzig
seinen sogenannten „Defect der Willensenergie", d. h. einen
Mangel des Widerstandes gegen passive Bewegungen der Extre-
mitäten, beobachtet^. Die Ergebnisse des Vortragenden waren
folgende :
Denkt man sich eine Linie von dem Endpunkte der Fissura
Sylvii vertical gegen die Falx gezogen, so giebt diese Linie un-
gefähr die Grenze ab von zwei scharf getrennten Sphären des
untersuchten Grosshirnrinden- Abschnittes — einer vorderen mo-
torischen und einer hinteren sensoriellen Sphäre. Exstirpationen
vor der Linie bedingen immer Bewegungsstörungen, Exstirpationen
hinter der Linie haben nie, auch nicht spurweise, Bewegungs-
störungen zur Folge. Ebenso ziehen den sogenannten „Defect
der Willensenergie" nur Exstirpationen vor der Linie nach sich,
nicht Exstirpationen hinter der Linie. Im Bereiche der senso-
riellen Sphäre wird regelmässig volle Seelenblindheit — ohne
12 Erste Mittheilung.
jede Veränderung der Pupille — erzeugt, wenn die Exstirpation
den Hinterhauptslappen nahe seiner hinteren oberen Spitze trifft
(Stelle ^i) ^; volle Seelentaubheit, wenn die Exstirpation den
Schläfenlappen nahe seiner unteren Spitze angreift (Stelle ßj):
das Thier hat im ersteren Falle die Erinnerungsbilder der Ge-
sichtsempfindungen, im letzteren Falle die Erinnerungsbilder der
Gehörsempfindungen verloren. Nach Exstirpation vor der Stelle A^
oder unterhalb der Stelle A^, zwischen dieser und der Stelle J5i,
haben sich gar keine Veränderungen an den operirten Thieren
wahrnehmen lassen.
Die beiderseitige Exstirpation der Stelle B^ — die einseitige
Exstirpation führt hier nicht zu sicheren Beobachtungen — ist
eine so eingreifende Operation, dass derartig verletzte Thiere
noch nicht länger als 15 Tage am Leben erhalten worden sind.
Innerhalb dieser Zeit hat nur eine spurweise Restitution der
Gehörswahrnehmung constatirt werden können. Dagegen hat
der Vortragende die Bewegungsstörungen sowohl wie die Seelen-
blindheit ganz allmählich innerhalb 4 — 6 Wochen, und zwar
stets vollständig, bis auf die letzte Spur, sich verlieren seilen,
so dass die operirten Thiere schliesslich sich in nichts mehr
«von normalen Thieren unterschieden. Die genaue Beobachtung / .
besonders der auf beiden Seiten zugleich operirten Thiere ergab, lij
[ dass die Thiere von neuem sehen lernten, gerade so wie in der ^'
\ frühesten Jugend.
) Danach hält der Vortragende dafür, dass die Grosshirnrinde
wirklich, so undenkbar und so wenig einer ernsthaften Behand-
lung werth auch Goltz eine solche Anschauung erscheint, doch
„in verschwenderischem üeberschuss" angelegt ist, und es kann
nach seiner Meinung auch schon deshalb gar nicht anders sein,
weil immer neue Vorstellungen, neue Erinnerungsbilder gewonnen
werden können. Dass die Grosshirnrinde erst in der Jugend
mit Erinnerungsbildern besetzt wird, hat Soltmann's schöne
Untersuchung gezeigt ^. Nun ist es aber nicht anzunehmen,
dass gerade die Stelle A^ die ganze Sehsphäre, die Stelle B^
die ganze Hörsphäre repräsentirt. Vielmehr glaubt der Vor-
tragende, dass sowohl die Seh- wie die Hörsphäre der Grosshirn-
rinde ausgedehnter sind, dass in dieser Seh-, bez. Hörsphäre die
Erinnerungsbilder in der Reihenfolge etwa, wie die Wahrnehmungen
Erste Mittheilung. 1 3
dem Bewusstsein zuströmen, gewissermassen von einem centralen
Punkte aus in immer grösserem Umkreise deponirt werden, und
dass nach Exstirpation der zur Zeit alle oder die meisten Er-
innerungsbilder beherbergenden Stelle A^, bez. B^ der Rest der
Seh-, bez. Hörsphäre in der Umgebung von A^, bez. B^ mit
neuen Erinnerungsbildern besetzt wird, Weder ein beliebiger
Abschnitt derselben Hemisphäre, noch der symmetrische Ab-
schnitt der anderen Hemisphäre, noch endlich auch bereits be-
setzte und mit anderen, nur gleichartigen Functionen betraute
Nachbarpartieen würden also den Ersatz der verlorenen Gross-
hirnrindenstelle übernehmen, sondern bis dahin unbesetzte Par-
tieen der vom Verluste betroffenen motorischen, bezT'Seh- oder
Hörsphäre. Die experimentelle Prüfung dieser Vorstellung durch
nachfolgende Exstirpationen der Stellen vor und unterhalb A^
hat der Vortragende bereits begonnen, doch sind die schwierigen
Versuche bisher noch nicht gelungen.
Offenbar hat Goltz infolge der grossen Ausdehnung seiner
Zerstörungen der Grosshirnrinde immer die Bewegungs- mit den
Sehstörungen verbunden gesehen und, weil zu wenig von der
Sehsphäre oder motorischen Sphäre erhalten geblieben war, nie
eine völlige Restitution beobachtet; die Hörstörungen sind ihm
vermuthlich deshalb entgangen, weil er die Grosshirnrinde nicht
tief genug angegriffen und auch nicht an beiden Hemisphären
gleichzeitig operirt hat. Seine Annahme, dass durch den
Reizungszustand Hemmungsvorgänge von der Grosshirnwunde
aus gesetzt seien, welche durch Lähmung gewisser in dem
Kleinhirn und seinen Verbindungen gelegenen Centren alle die
Störungen veranlassen, welche nicht bleibender Natur sind, ist
unzulässig. Nicht bloss sprechen gegen sie die schon von
Hitzig "^ vorgebrachten Gründe, sondern es widerlegt sie auch
geradezu die Erfahrung. Häufig ist die entzündliche Reaction,
welche am 2. — 3. Tage nach der Operation eintritt, nur gering
und bedingt keine besonderen Erscheinungen. Hin und wieder
aber, wenn sie stärker ist, tritt z. B. nach Exstirpation der
Stelle vor Ai , an dem bis dahin vom normalen gar nicht ab-
weichenden Thiere nunmehr eine rasch zunehmende Seelenblind-
heit ein, die nach 1 — 2 Tagen wieder ganz verschwunden ist.
Ist die Reaction noch stärker, dann gesellen sich zur Seelen-
14 Erste Mittbeilang.
blindheit in wachsender Starke anch Bewegungsstörungen hinzu,
die aber gleichfalls ebenso rasch wie sie entstanden sind, sich
wieder zurückbilden. Das thut klar dar, was allein der Reizungs-
zustand der Himwunde nach sich zieht: mit der zuerst um sich
greifenden und dann sich zuriickbildenden Entzündung eine rasch
vorübergehende Functionsstörung in der Umgebung der exstir-
pirten Partie.
Auch am Pferde hat der Vortragende durch die Exstir-
pation kreisrunder Stellen der Grosshimrinde von ca. 20 mm.
Durchmesser und 2 mm. Dicke das eine Mal, wo er nahe der
hinteren oberen Spitze des Hinterhauptslappens operirte, Seelen-
blindheit, das andere Mal, wo eine Stelle des Scheitellappens
angegriffen wurde, Bewegungsstörungen des Vorderbeins, beide
Male an der entgegengesetzten Körperhälfte herbeigeführt. Die
hier stets eintretenden heftigen Entzündungen haben ihn aber
von weiteren Versuchen am Pferde abstehen lassen und um so
eher, als die Pferde für die Beobachtung durchaus keine Vor-
züge vor den Hunden darboten.
Nachtrag*.
An der Grosshirnrinde des Affen will Ferrier* im Gyrus
angularis das Sehcentrum, dicht darunter im Gyrus temporo-
sphenoidalis superior das Hörcentrum, in der tieferen Partie des
Schläfenlappens die Centren des Geruchs und des Geschmacks,
im Gyrus hippocampi (und Hippocampus major) das Tastcentrum,
endlich in den Hinterhauptslappen das Hungercentrum (!) ge-
funden haben. Indess lehrt die einfache Durchsicht von
Ferrier's Versuchen, dass überall die Prüfungen der operirten
Thiere in ganz unzureichender Weise vorgenommen worden sind
und vielfach die allgemeine Depression der Hirnfunctionen,
welche beträchtlicheren Grosshirnverletzungen in der Regel nach-
folgt, Täuschungen veranlasst hat. Die angeführten Aufstel-
* Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin, 1876/77.
No. 17 (ausgegeben am 13. April 1877). — Deutsche medicin. Wochen-
schrift, 3. Jahrg. No. 15 (14. April 1877). — du Bois-Reymond's
Archiv, 1878. S. 602.
Erste Mittbeilnng. 1 5
lungen Ferrier's unterscheiden sich deshalb in nichts von einer
ganz willkürlichen Construction, und ebenso werthlos sind
Ferrier's weitere Angaben über den zeitweiligen oder dauern-
den Charakter der durch die Operation gesetzten Störungen, wie
über den functionellen Ersatz der Rindenpartie der einen Hemi-
sphäre, durch die gleichwerthige Partie der anderen Hemisphäre.
Gerade auf Grund von Ferrier's Versuchen glaubt übrigens der
Vortragende annehmen zu dürfen, dass die Seh- und Hörsphäre
auch beim Affen dort in dem Hinterhaupts-, bez. Schläfenlappen
gelegen sind, wo er sie beim Hunde gefunden hat.^
Anmerkungen.
1 S. 0. S. 2.
2 S. 0. S. 8.
3 S. 0. S. 7. Der Vollständigkeit wegen mag auch noch wörtlich
angeführt sein, was Hitzig in du Bois-Reymond's Archiv 1876 (die
Abhandlung ist mir durch die Güte des Verfassers am 22. Februar 1877
vor der Ausgabe des betr. Heftes zugegangen) hierhergehöriges sagt:
Einem Hunde wurden „zwei Kronen von 1 1 mm. mit einer stehenbleiben-
den intermediären Knochenbrücke über Hinter- und Schläfenlappen rechter-
seits aufgesetzt, und sowohl die freiliegende Substanz, als die unter der
Brücke liegenden Partieen auf mindestens 4 mm. Tiefe gänzlich entfernt.
Der lange Durchmesser der Himwunde betrug ca. 30 mm. . . . Der Hund
wurde auf dem linken Auge blind . . ." (S. 697). „Hunde, die in Folge
einer grossen Läsion des Hinterlappens blind geworden sind, . . stossen
mit der Schnauze statt mit der Pfote an diejenigen Dinge an, welche sie
nicht sehen, und treten nicht in^s Leere, sondern orientiren sich mit dem
gesunden Auge" (S. 702).
* S. 0. S. 8. — du Bois-Reymond's Archiv, 1876. S. 696.
^ Die zwei Stellen waren ursprünglich in meinen beiden ersten
Mittheilungen als A n. B unterschieden. Da ich aber in der dritten Mit-
theilung mit Bezug auf die dort gegebene Abbildung dieselben Stellen als
A^ u. B^ bezeichnet und diese Bezeichnungen auch in der Folge überall
beibehalten habe, so sind hier bei der Sammlung der Mittheilungen die
Benennungen A^ und jB, von Anfang an eingeführt worden.
6 S. 0. S. 3.
' du Bois-Reymond's Archiv, 1876. S. 708.
» S. 0. S. 5.
^ Den Anlass zu diesem Nachtrage gab mir die Discussion, welche
sich an meinen Vortrag in der Physiologischen Gesellschaft knüpfte, da
eine Frage mich belehrte, wie Ferrier's Aufstellungen diejenigen, welche
seine Untersuchung nur aus Referaten kannten, völlig irrezuleiten im Stande
waren. Ich gab mich der Hoffnung hin, dass, wer fernerhin für die Sache
16 Erste Mittheilnng.
sich interessirte, nach solcher Kritik die Untersuchung von Ferrier im
Original einsehen würde. Indess habe ich in dieser Hoffnung mich ge-
täuscht, und höchstens Ferrier's „Functions of the brain", ein Buch,
in welchem der Verfasser die Haltlosigkeit seiner Aufstellungen vielfach
geschickt verdeckt hat, ist bisher die Quelle der Meisten geblieben, welche
mit der Grosshirn - Physiologie sich beschäftigt oder dieselbe für patholo-
gische Zwecke verwerthet haben. Unter diesen Umständen glaube ich hier
durch den Abdruck der besten Versuche Ferrier's, seiner Versuche über
den Gyrus angularis, an einer Probe die Berechtigung meiner Kritik nach-
weisen zu sollen. Jeder Zusatz meinerseits wäre überflüssig. Und wie
es hier klar zu Tage tritt, dass dem Autor alle Vorbedingungen für die
Ausführung von derlei Untersuchungen abgingen, so werden meine folgen-
den Mittheilungen lehren, dass auch nicht eine einzige von Ferrier's
Aufstellungen in der Wirklichkeit begründet ist.
Ferrier's Versuche über den Gyrus angularis.
(Phil. Transact. 1875. Part H. p. 445— 51. Die Versuche sind mit äusserster
Gewissenhaftigkeit," sowohl hinsichts der Uebersetzung , wie hinsichts der
Vollständigkeit der Prüfungen, wiedergegeben. Es sind nur die bedeutungs-
losen Sectionsbefunde , die mehrfachen Wiederholungen der Schlüsse und
unwesentliche Angaben in den Einleitungen fortgeblieben.)
Versuch VII.
18. November. Linker Gyrus angularis mit Galvanokauter gebrannt
und zerstört. Linkes Auge sicher mit Pflaster vergebt. Man lässt das
Thier sich von der Chloroformnarkose erholen.
Nach einigen Minuten beginnt es Anstrengungen zu machen, wie
wenn es aufstehen wollte , kann aber nicht auf die Beine kommen. Eine
halbe Stunde darauf sitzt es auf und beginnt vorsichtig herurazutappen,
setzt aber nicht zum Gehen an. Thut nichts, wenn man ein Licht seinem
Auge nähert. Weicht nicht zurück, wenn man es aufhebt und sein Gesicht
nahe an das Licht heranbringt. Gehörs- und Gefühlssinn sind erhalten,
da es auf Geräusch auffährt und auf Kneipen unwillig wird. In seinen
Käfig zu zwei anderen Affen gesetzt, hängt es sich an die Gitterstäbe und
nimmt keine Notiz von seinen Genossen. Will sich nicht aus der- ange-
nommenen Position rühren. Etwas später setzt es sich im Käfig hin und
bedeckt den Kopf mit den Händen.
Nach einer Stunde wird es aus dem Käfig genommen und die Ban-
dage vom linken Auge entfernt.
Sofort schaut es um sich, und da es die Thür des Käfigs offen sieht,
rennt es flink und nimmt seinen Weg zu seinen Genossen. Nachdem es
wieder herausgenommen und die Thür geschlossen, rennt es zurück, sieht
nach seinen Genossen und sucht Einlass. An's Licht gehalten, fährt es
zurück und wendet den Kopf ab. Der Wechsel nach der Entfernung der
Bandage ist auffallend und zeigt evident das Wiedervorhandensein des
Sehens au, das verloren gewesen war.
Erste UitÜteilang.
17
19. November. Vollhomnien wohl. Läuft herQui. Isst und tiiokt
B gewolinlicli. Linkes Äuge wieder wie gestern verklebt. Thier auf den
Fnssboden gesetzt. Sofort läuft es zum Käfig, steckt seine Hand dnrch
das Gitter in eine Schale Wasser und beginnt zu lecken. Das Sehver-
mögea war also zurückgebehrt trotz der Zerstörung des linken Gyrns
angularis.
24. November. Das Thier stirbt an Vereiterung and Nekrose des
Schädels, nachdem es an der rechten Hand gelähmt geworden war.
Versuch VIIL
5. Januar. An grossem Affen unter Chloroform die linlien motorischen
Gyri freigelegt und elektrische Reizversuche an ihnen gemacht (Vers. V.).
5 h. Tiiier vollkommen bei Bewusstsein. Ist zwei Stunden lang
allem Anscheine nach so wohl wie vorher.
7 h. Die Oberfläche der motorischen Gjri kauterisirt.
8 h. Thier wohlauf, isst und trinkt wie zuvor.
9 h. Unter Chloroform linker Oyrus angularis aufgedeckt. Linkes
Auge mit Pilaster verschlossen. Man lässl das Thier zu sich kommen.
Sobald das Bewusstsein zurückgekehrt, folgt es meinen Bewegungen mit
seinem rechten Auge und dreht den Kopf und schaut hin, wenu es angerufen
wird. Nimmt etwas Obst in seine linke Hand und sitzt ruhig essend da,
Es scheint abgeneigt sich zu bewegen, aus Anlass der motorischen Läh-
mung seiner rechten Seite. Es sitzt mit seinem rechten Beine unterge-
schlagen, so dass der Malleolus internus auf dem Fussboden. Manchmal
stützt es die rechte Hand mit der linken. Auf Kneipen wird es unwillig.
Da das Thier sich so von der Freilogung des Hirns erhalt hat, wird der
Gyrus angularis sorgfältig mit dem Kauter zerstört. Es sind nicht mehr
als zwei Stunden seit der ersten Operation verilossen.
Losgelassen bewegt es sich ein wenig herum, wenn man es neckt,
will sich aber nicht von freien Stücken bewegen. Zwingt man es sich zu
bewegen, so vermeidet es Hindernisse, wie wenn es noch sähe. Bei Prüfung
findet man, dass die Bandage sieb gelöst hat und das linke Auge zum Theil
offen ist. Nachdem dieser Fehler verbessert, hebt es seine linke Hand
und sucht die Bandage vom Auge zu reissen. Daran verhindert, sitzt es
still und wiü sich nicht bewegen. Gestossen und gezwungen sich fortzu-
bewegen, rennt es mit dem Kopfe gegen jeden Gegenstand auf seinem
Wege. In ein anderes Zimmer gebracht, sitzt es still mit gesenktem Kopfe
und wiü sich nicht bewegen. Angerufen will es nicht kommen. Zurück-
gebracht und zur Seite seines Käligs gesetzt, weigert es weiter sich zu
bewegen and wird unwillig, wenn man es aufstört, oder rennt mit seinem
Kopfe gegen Gegenstände auf seinem Wege.
Nachdem es eine Stunde in dieser Situation geblieben, wird die Ban-
dage vom linken Auge entfernt. Sogleich beginnt das Thier sich umzu-
schauen, und beim Namen gerufen, rennt es auf mich zu und sucht in ge-
wohnter Weise auf meine Kniee zu klettern. Dies thut es drei verschiedene
Haie. Der Wechsel in seinem Verhalten nach der Entfernung d
.H. Unnk, FuuBÜSBeD du Oreiimrnclude.
18 Erste Mittheilung.
ist so auffallend wie im Versuch VIT. und zeigt das Wiedervorhandensein
des Sehens an.
6. Januar. Wegen der Lähmung der rechten Seite und der Vereite-
rung der Wunde zu Tode chloroformirt.
Versuch IX.
7. April. 3 h. 30 m. Linker Gyrus angularis genau kauterisirt.
Linkes Auge sicher mit Pflaster verschlossen. Thier auf den Fussboden
gesetzt.
Nach einigen Minuten beginnt das Thier sich herumzubewegen. Die
Bewegungen sind ganz unregelmässig, indem es manchmal rückwärts geht
und gelegentlich sich rund herum "dreht.
4 h. 20 m. Das Thier ist lebhafter, kriecht aber auf dem Fussboden
herum und macht keine reguläre Progressivbewegung. Trinkt etwas Thee,
den man an seine Lippen bringt.
4 h. 55 m. Grunzt oder schilt, wenn man es anruft. Kriecht auf
dem Boden herum oder geht rückwärts. Dicht an die Thür seines Käfigs
gesetzt, macht es keinen Versuch hineinzugehen oder seinen Genossen zu
suchen, der es ängstlich ruft. Gedrängt zu Bewegungen, rennt es gegen
Hindernisse auf seinem Wege. Man urtheilt, dass es blind ist.
5 h. Bandage vom linken Auge entfernt. Nach einigen Minuten
sichtlichen Staunens und Widerwillens, sich zu bewegen, rennt es auf Be-
rührung, vermeidet Hindernisse, gegen welche es vorher gelaufen, nimmt
seinen Weg zu seinem Käfig und springt hinauf an die Seite seines Ge-
nossen. Das Thier sieht offenbar wieder.
Jetzt wird der Gyrus tempore- sphenoidalis superior beiderseits kau-
terisirt (Vers. XV.).
8. April. 12 h. Thier aus dem Käfig genommen und linkes Auge
wie zuvor verbunden, sehr wider seinen Willen.' Losgelassen, springt es
auf mich zu und galoppirt dann fort in das andere Zimmer und zu seinem
Käfig. Kurz nachher folgt es seinem Genossen aus dem Käfig heraus und
findet seinen Weg wieder hinein und springt auf die Stange. Kommt von
der Stange herunter, wenn ich mich nähere, und macht Schelte. Das Seh-
vermögen ist also zurückgekehrt am rechten Auge.
9. April. Krank am Boden liegend gefunden und mit Chloroform
getödtet.
Versuch X.
8. Januar. Beide Gyri angulares freigelegt. Man lässt das Thier
sich vom Chloroform-Rausche erholen.
3 h. Hat sich fast erholt, schwankt nur etwas. Schaut um sich und
wendet seinen Kopf, wenn man es anruft, und schilt wie zuvor.
3 h. 30 m. Vom Feuer fortgenommen, vor welchem es sass, rennt es
dorthin zurück, indem es nach mir rückwärts schaut und Grimassen und
Schelte macht. Trinkt gierig etwas süssen Thee, den es immer sehr liebte.
Bringt man die Schale vom Feuer fort nach der anderen Seite des Zimmers,
so rennt es zu ihr hin und trinkt sie aus. Bringt man plötzlich ein Licht
£rste Mittheilung. 19
vor seine Augen, so wendet es den Kopf weg und sucht sein Gesicht in
seinen Händen zu verbergen.
4 h. Thier vollkommen erholt und im Vollbesitz aller Fähigkeiten.
Beide Gy ri angulares mittels Kanters zerstört.
4 h. 35 m. Operation beendet. Auf den Fussboden gesetzt, stösst
das Thier einen Schrei aus und schaut erschreckt um sich. Angerufen
spitzt es die Ohren und schreit. Sitzt ganz fest, will sich aber nicht be-
wegen. Die Pupillen reagiren auf Licht.
4 h. 55 m. Ein Licht plötzlich vor die Augen gebracht, veranlasst
es zu blinzeln und den Kopf aufzurichten. An das Feuer gebracht, setzt
es sich auf und freut sich über die Wärme. Vom Feuer entfernt, legt
es sich nieder und will sich nicht aus seiner Position bewegen, selbst wenn
man es neckt. Beim Namen gerufen, dreht es rasch seinen Kopf. Auf-
genommen, klammert es sich gewaltsam an mich, in Angst, wieder herunter-
gesetzt zu werden. An das Feuer gesetzt, sitzt es ruhig, erfreut über die
"Wärme. Giebt kein Zeichen einer Wahrnehmung, wenn das Zimmer plötz-
lich verfinstert und erhellt wird.
5 h. 30 m. Sitzt ruhig am Feuer. Lässt man ein Stück Apfel an
seine Hand herunterfallen, so nimmt es dasselbe an sich, beriecht es und
isst es. Vom Feuer fortgenommen und auf einen Stuhl gesetzt, legt es
sich hin und verweigert ei^ sich zu bewegen. Es ist keine Paralyse der
Bewegung oder Empfindung vorhanden mit Ausnahme des Sehens; und
dessen ist es schwer sich über allen Zweifel zu vergewissern, da keine be-
weisende Probe sich machen zu lassen scheint.
8 h. Die Frage betreffs des Sehens wird folgendermass^n ent-
schieden. Eine Schale süssen Thees, für welchen es sehr eingenommen
war, wird an seine Lippen gebracht: es trinkt gierig und hält seinen Mund
in der Schale, während man sie senkt; sowie man aber die Schale seiner
unmittelbaren Berührung entzieht und dicht unter seiner Nase auf den
Fussboden setzt, ist das Thier unfähig, sie zu finden, obwohl es das Ver-
langen danach zu erkennen giebt. Dies wird mehrmals mit demselben Er-
folge wiederholt. Bringt man die Schale an seine Lippen, trinkt es eifrig,
und es folgt ihr, den Mund eingetaucht, bis jeder Tropfen ausgetrunken
ist, wenn man die Schale auf dem Fussboden einige Fuss fortzieht.
9. Januar. 11h. Wohl und munter, im Besitz seiner Muskelkraft
und Sinne, das Gesicht ausgenommen. Isst und trinkt gierig, was man an
seinen Mund bringt; ist aber unfähig, seine Nahrung zu finden, wenn sie
dem unmittelbaren Contact entzogen ist. Will sich nicht von der Stelle
bewegen, sondern sitzt ganz still mit offenen Augen. Die Pupillen sind
gleich und reagiren. Ein Gegenstand vor seinen Augen bewegt, veranlasst
Blinzeln bloss dann, wenn er nahe an die Augen herangebracht wird. Ein
Schlag mit dem Stocke angedroht, verursacht keine Reaction, wenn man
nicht den Stock fast in Contact mit den Augen bringt. Die linke Hand
scheint etwas herabzuhängen und nicht wie die andere gebraucht zu werden.
Davon abgesehen, sind alle willkürlichen Bewegungen ungeschädigt.
2*
20 Erste Mitihenang.
12 h. Um die Verwickelung der Aosdehnang der Erweichung aaf
andere Regionen za vermeiden, Thier mit Chloroform getödtet.
..Diese vier Versache beweisen es entscheidend, dass einseitige and
zwar vollkommene Blindheit die Folge der Zerstörung des Gjrus angularis
der gegenseitigen Hemisphäre ist, und dass diese einseitige Blindheit nur
von zeitweiliger Dauer ist. wofern der Gyrus angularis der anderen Hemi-
sphäre unversehrt bleibt; während permanente Blindheit die Folge der
Zerstörung des Gyrus angularis an beiden Hemisphären ist . . . Der Ver-
lust der Gesichtswahrnehmung ist die einzige Folge dieser Läsion . . . Mit
dem Ausdruck Gesichts Wahrnehmung wünsche ich anzuzeigen das Bewusst-
werden der Gesichtseindrücke und dieses zu unterscheiden von blossen Ein-
drücken auf den optischen Apparat und Reactionen, welche nur refiec-
torischer Natur sind, wie dem plötzlichen Zurückfahren, welches ein Thier,
das wirklich blind ist in dem Sinne, in dem ich den Ausdruck brauche,
zeigen kann, wenn ein Licht plötzlich vor seine Augen gebracht wird.''
Den ersten und den vierten dieser Versuche führt Ferrier auch in
seinen „Functions of the brain^' an, und es heisst dann zum Schlüsse im
Original: ,,The results of several other similar experiments*' (p. 166)
und in der Uebersetzung (S. 181): .,die Resultate zahlreicher (!!!) an-
derer Versuche führten zu denselben Schlüssen". Ebendort beschreibt
Ferrier noch einen Versuch, den er an d^ Katze angestellt hat, und
der, wie er meint, die Versuche am Affen bestätigt, folgendermassen : „Ich
habe bei einer Katze mit dem Cauterium jene Stelle der Hirnrinde linker-
seits zerstört (13, Fig. 35), welche nach den Reizerfolgen dem Sehcentrnm
des Affen zu entsprechen schien; die Läsion erstreckte sich ein wenig so-
wohl gegen die dritte, als gegen die obere äussere Windung hin. Nachdem
das linke Auge vorher sorgfältig verbunden worden war und das Thier
sich aus der Narkose erholt hatte, begann es, mit offenem rechten Auge
umherzutappen und bald darauf auch im Zimmer umherzugehen, stiess
aber immer mit seinem Kopfe gegen die Hindemisse, welche ihm im Wege
standen. Nach zwei Stunden wurde das linke Auge geöffnet. Nun konnte
sich das Thier mit weit grösserer Freiheit bewegen und vermied in der
Regel die Hindernisse; allerdings stiess es sich noch manchmal an, dies
war aber meiner Meinung nach durch die Blindheit des rechten Auges zu
erklären.-' (Funct. of the brain, p. 170; Uebersetzung, S. 185.)
Zweite Mittheilung.
(Nach einem in der Sitzung der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin am
27. Juli 1877 gehaltenen Vortrage.)*
V or einigen Monaten habe ich der Physiologischen Gesellschaft
eine erste Mittheilung gemacht von einer Untersuchung, welche
die Erweiterung unserer Kenntniss von den Functionen* der Gross-
hirnrinde bezweckte.
Mittelgrossen Hunden hatte ich an der Convexität des
Scheitellappens, des Hinterhauptslappens und des Schläfenlappens
ungefähr kreisrunde Stücke der Grosshirnrinde von ca. 15 mm.
Durchmesser und ca. 2 mm. Dicke exstirpirt, theils an einer
Hemisphäre und später symmetrisch an der zweiten, theils sym-
metrisch an beiden Hemisphären zugleich. Es hatte sich ergeben,
dass der untersuchte Grosshirnrindenabschnitt eine vordere rein
motorische und eine hintere rein sensorielle Sphäre enthält,
deren Grenze etwa durch eine Linie gegeben ist, welche man
vom Endpunkte der Fissura Sylvii vertical gegen die Falx
gezogen denkt. Exstirpationen vor dieser Linie bedingen immer
Bewegungsstörungen, wie sie zuerst Fritsch und Hitzig sahen,
Exstirpationen hinter dieser Linie haben nie, auch nicht spur-
weise, Bewegungsstörungen zur Folge. Dafür wird im Bereiche
der hinteren, sensoriellen Sphäre regelmässig Seelenblindheit er-
zeugt, wenn die Exstirpation den Hinterhauptslappen nahe seiner
hinteren oberen Spitze trifft (Stelle A^); Seelentaubheit, wenn
die Exstirpation den Schläfenlappen nahe seiner unteren Spitze
angreift (Stelle B^): das Thier hat im ersteren Falle die Er-
innerungsbilder der Gesichtsempfindungen, im letzteren Falle die
♦ Berliner klin. Wochenschr., 14. Jahrg. No. 35 (27. Augast 1877).
22 Zweite Mlttheilang.
Erinnerungsbilder der Gehörsenapfindangen verloren. Nach Ex-
stirpation vor der Stelle Ai oder unterhalb der Stelle Ai,
zwischen dieser und der Stelle ßj, hatten sich gar keine Ver-
änderungen an den operirten Thieren wahrnehmen lassen.
Es hatte sich ferner gezeigt, dass die Bewegungsstörungen
sowohl wie die Seelenblindheit ganz allmählich innerhalb 4 — 6
Wochen, und zwar stets vollständig, bis auf die letzte Spur,
sich verloren, so dass die operirten Thiere sich in nichts mehr
von normalen Thieren unterschieden. An den seelenblinden
Thieren hatte sich dabei auf das genaueste verfolgen lassen,
wie die Thiere von neuem sehen lernten, gerade so wie in der
frühesten Jugend. Dies hatte zu der Vorstellung geführt, dass
sowohl die Seh- wie die Hörsphäre der Grosshirnrinde weit über
den Hinterhaupts-, bez. Schläfenlappen ausgedehnt sind, dass in
dieser Seh-, bez. Hörsphäre die Erinnerungsbilder in der Reihen-
folge etwa, wie die Wahrnehmungen dem Bewusstsein zuströmen,
gewissermassen von einem centralen Punkte aus in immer
grösserem Umkreise deponirt werden, und dass nach Exstirpation
der zur Zeit alle oder die meisten Erinnerungsbilder beher-
bergenden Stelle u4j, bez. B^ der Rest der Seh-, bez. Hörsphäre
in der Umgebung von ^j, bez. ß^ mit neuen Erinnerungsbildern
besetzt wird.
Ich bin jetzt im Stande, weitere bemerkenswerthe Ergeb-
nisse mitzutlieilen , indem ich über die Fortsetzung der Unter-
suchung berichte.
So sehr auch das Grosshim unabhängig von den peripheren
Nerven sich entwickelt, so war doch nicht anzunehmen, dass
der völlige Ausfall der Gesichts- oder Gehörsempfindungen ohne
allen Einfluss sein würde auf die Ausbildung der Grosshirnrinde.
Wiederholt wurde deshalb mit Hunden desselben Wurfes so
verfahren, dass am 4. — 6. Tage nach der Geburt einem Drittel
das Auge und einem ^weiten Drittel das Ohr theils ein-, theils
beiderseitig zerstört wurde, während das letzte Drittel unversehrt
blieb. Nur wenige der verstümmelten Hunde blieben im ganzen
in ihrem Wachsthum zurück, die meisten entwickelten sich
ebenso gut oder sogar noch etwas besser als die normalen
Hunde. Als nach Ablauf von 8 — 14 Wochen die gleich ent-
wickelten unversehrten nnd verstümmelten Hunde desselben
theünng.
Wurfes getödtet wurrlen, lehrte die Sectioii, dass wirklich bei
den geblendeten Hunden der früher als Sehspbäre erkannte
Hinterhauptslappen, bei den tauben (taubstummen) Hunden der
früher als Hörsphäre erkannte Schläfenlappen des Grosshirns
in der Ausbildung gegen die Norm zurückstand. Dafür war,
offenbar compensatorisch, bei den blinden Hunden der Schläfen-
lappon, bei den tauben Hunden der Hinterhauptslappen über
die Norm ausgebildet, so dass das Volumen der Hemisphäre
nicht betrachilich vefEIeinert war, Besonders auffällig bei dem
Vergleiche der blinden mit den tauben Hunden zeigte sich an
den blinden Hunden der Schläfenlappen gegen die Palx, an
den tauben Hunden der Hinterhauptslappen gegen die Schläfe
vorgescliüben. Wenn v- Guddon^" bei seinen ähnlichen ßlen-
dungsversuchen keine Rückwirkung auf das Grosshirn hat consta-
tiren können, so wird der Misserfolg nur daraus sich erklären
lassen, dass seine Versuche fast ausschliesslich an Kaninchen
und Tauben und besonders immer vereinzelt, ohne die Beschaf-
fung des nöthigen Vergleichsmaterials, angestellt waren, "
Die Erfolge der fortgesetzten Exstirpations versuche betref-
fend glaube ich zunächst hervorheben zu müssen, dass auch bei
allen weiteren Versuchen ohne jede Ausnahme die Eingriffe am
Hinterhauptslappen (Stelle Ai) ausschliesslich Seelenblindheit, am
Schläfenlappen (Stelle B^) ausschliesslich Seclentaubheit, am
ScIioitcJlappen ausschliesslich Bewegungsstörungen nach sich
zogen. Wie aber nicht bloss die Sehfunction, die Hörfunction
u. s. w. im grossen und ganzen in der Grosshirnrinde locallsirt
sind, sondern auch die einzelnen Erinnerungsbilder ihren be-
stimmten Sitz in der Grosshirnrindo haben, hat sich neuerdings
sehr schön in zwei Versuchen gezeigt, bei welchen nach Exstir-
patiou der Stelle A, , unter Verlust aller anderen Erinnerungs-
bilder der Gesichtsem piindungeu, ein einzelnes solches Erinne-
rungsbild unversehrt erhalten gefunden wurde: in dem einen
Falle das Bild des Eimers, aus welchem der Hund zu trinken
gewohnt war, in dem" anderen Falle das der Handbewegung,
auf welche die Pfoto zu reichen der Hund vor der Operation
eingeübt worden war. Nach Exstirpation vor der Stelle -4,
oder unterhalb der Stelle A^ haben sich meist auch hei den
neueren Versuchen gar keine Veränderungen an den operirten
24 Zweite Mitthenimg.
Thieren wahrnehmen lassen; manchmal aber war eine leichte
Sehstörnng der Art, und zwar bloss der Art zu erkennen, dass
der Hond geworfenen Fleischstücken mit dem Auge der unver-
sehrten Seite weniger gut zu folgen im Stande war, als mit
dem Auge der operirten Seite.
Indem die Verletzung des Sinus longitudinalis keine übelen
Folgen und keine Verwickelungen mit sich bringt, hat sich auch
die Grosshirnrinde an der inneren Seite der Hemisphäre der
Prüfung unterziehen lassen. Es haben hier die Exstirpationen
am Hinterhauptslappen dieselben Ergebnisse geliefert, wie die
Exstirpationen vor oder unterhalb der Stelle ^.
Die Wiederkehr der Gehörswahmehmungen zu beobachten,
war früher nicht geglückt, und ich habe mich auch neuerdings
lange vergebens darum bemüht. Da sich kein Mittel fand, ein-
seitige Hörstörungen mit ausreichender Sicherheit festzustellen,
musste die Stelle B^ immer beiderseitig cxstirpirt werden, und
es gingen dann die Hunde, welche die grossen unmitteümren
Gefahren der Operationen überstanden hatten, immer doch noch
in den ersten Wochen zu Grunde, indem auf der einen oder dei
anderen Seite ein Himabscess in den sehr nahen Ventrikel
durchbrach. Jetzt ist es mir aber endlich gelungen, auch die
allmähliche Restitution von der Seelentaubheit zu constatiren;
\ an dem betreffenden Hunde Hess sich von Tag zu Tag verfolgen,
wie er von neuem, und zwar nicht anders wie in der frühesten
Jugend, hören lernte, bis er sich nach etwa einem Monate in
\\ nichts mehr vom normalen Hunde unterschied.
• \ Um die Vorstellung zu prüfen, dass nach Exstirpation der
Stelle A^ die Umgebung dieser Stelle mit den neuen Erinnerungs-
bildewi der Gesichtserapfindungen besetzt wird, wurden Ver-
suche mit secundärer Exstirpation der Stellen vor und unterhalb
A^ an seelenblind geraachten und restituirten Hunden zahlreich
ausgeführt. Aber diese Versuche sind säraratlich unglücklich
verlaufen; die einmal verletzte Grosshirnhemisphäre ist so
empfindlich geworden, dass jeder neue Angriff derselben eine
heftige Meningitis mit tödtlichem Ausgange nach sich zieht.
Ebenso erfolglos war eine andere Reihe von Versuchen, bei
welchen durch eine sehr ausgedehnte Exstirpation von vorne-
herein die ganze Sehsphäre zu entfernen beabsichtigt war, um
Zweite Mittheilung. 25
das diesmalige Ausbleiben der Restitution zu coostatiren; denn
die Exstirpation kreisrunder Stellen von mehr als 20 mm.
Durchmesser überlebten die Thiere immer nur kurze Zeit, und
bei kleineren Exstirpationen verlor sieh die Seelen blindheit
i m rirer"^ e3ef~ TOtlstitn dig. Inzwischen ergab sich die Lösung
5er Aufgabe, um welcTie es sich hier handelte, ohne jeden be-
sonderea Eingriff. Die einmal verletzte Grosshirohemisphäre
erweist sich nämlich auch in der Weise ausserordentlich empfind-
lich, dass heftiger Schrecken, Indigestion, Puerperium u. dergl.
Hirnerscheinungen im Gefolge haben, als deren Ursache die
SectioD regelmässig eine von der verletzten Stelle ausgegangene
und mehr oder weniger ausgebreitete Meningitis mit oberfläch-
licher Encephalitis aufdeckt. Solcher Krankheit verfielen viel-
fach die seelenblind gemachten Hunde früher oder später, oft
erst nach Monaten, wenn die Hunde wieder vollkommen sehen
gelernt und viele Wochen lang durchaus normal sich verhalten
hatten. Man beobachtete dann in den leichteren Fällen aus-
schliesslich eine Sehstörung, aber eine Sehstörung, hei welcher
der Hund nicht bloss wiederum seelenblind war, nicht bloss die
neugewonnenen Erinnerungsbilder der Gesichtserapfindungen zum
zweiten Male verloren hatte, sondern vollkommen blind sich er-
wies, indem er nur sehr schwer zum Gehen zu bewegen war,
die Hindernisse auf seinem Wege nicht umging, überall anstiess
u. s, w. lo den schwereren Fällen gesellten sieh zu dieser
Blindheit klonische Krämpfe und Ätaxieen, in den schwersten
Fällen auch noch Coma hinzu. Nur in den schwersten Fällen
trat der Tod ein, und es fand sich eine über das ganze Gross-
hirn, auch die Yorderlappen , ausgebreitete starke Meningitis.
In den anderen Fällen bildeten sich die Störungen allmählich
zurück, und zwar gewann in den leichteren Fällen der Hund
völlig sein früheres Befinden wieder, während in den schwereren
Fällen nur die Bewegungsstörungen sich verloren, die Blindheit
aber bestehen blieb. Die Scction ergab in jenen leichteren
Fällen eine massige Meningitis des Hinterhauptslappens, in diesen
schwereren Fällen eine starke Meningitis des Hinterhauptslappena
und eine schwächere des Scheitellappens. Offenbar hatte hier
der pathologische Process die Umgebung der Stelle vi, theils
vorübergehend, theils dauernd functionsunfähig gemacht. Es ist
26 Zweite Mittheilung.
also der Hirntheil, in welchem der unmittelbare Einfluss der
Gesichtsempfindungen auf die Bewegungen statthat, bei dem Hunde
die Grosshirnrinde, während derselbe bei dem Frosche nach
Goltz^^ hinter den Grosshirnhemisphären gelegen ist. Und wie
es schon früher erschlossen worden war, ist der Ort der Ge-
sichtswahrnehmung die Rinde des Hinterhauptslappens in weiter
Ausdehnung, während nur ein Theil dieser Rindenpartie mit den
Erinnerungsbildern der Gesichtsempfiiidungen besetzt ist.
Anmerkungen.
10 Archiv für Psychiatrie, Bd. 2. 1870. S. 713.
11 Auf diese Untersuchung, welche mich noch weiter viel beschäftigt
hat, komme ich in meinen späteren Mittheilungen nicht zurück, weil ein
Fortschritt über den hier angegebenen Erfolg hinaus mir nicht gelungen ist.
Auch wenn ich die Hunde bis 8 Monate hatte leben lassen, wurden die
Abnormitäten kaum grösser gefunden, als nach 2 — 3 Monaten; und so
überzeugend der Totaleindruck war, so Hessen sich doch weder genaue
Bestimmungen in den Einzelheiten noch vollends Messungen machen. Den
Veränderungen des Hirns sah ich noch Veränderungen des Schädels ent-
sprechen : an den beiderseits geblendeten Hunden war das Schädeldach vor
dem Tentorium abnorm abgeplattet, an den einseitig blinden Hunden war
es dort schief und zwar nach der der Verletzung entgegengesetzten Seite
verzogen; mehrfach habe ich auch, nur nicht regelmässig, Verdickungen
des Schädels an den Stellen, welchen die atrophischen Gehirnpartieen an-
lagen, constatirt (vgl. v. Gudden, Archi^v für Psychiatrie, Bd. 2. 1870.
S. 710). Alles in allem ergab sich keine durchweg brauchbare Handhabe,
um die Untersuchung auf bloss makroskopischem Wege zu besserem Ende
zu führen, und die mikroskopische Verfolgung glaubte ich geübteren und
erfahreneren Händen überlassen zu müssen. Auch diese sind, wenngleich
Atrophieen bestimmter Theile der Corona radiata, sowie zugehöriger Rin-
denpartieen nicht zu verkennen waren, auf besondere Schwierigkeiten ge-
stossen. Hoffentlich wird Hr. Fritsch, der selber eine Anzahl dieser
Gehirne in verschiedenen Flüssigkeiten zu conserviren die Güte hatte,
bald bessere und genauere Auskunft geben können.
In dem jüngst erschienenen Buche von Albert Robin: Des troubles
oculaires dans les maladies de Tencephale. Paris 1880. p. 240 — 247
sind den meinigen entsprechende Versuche von Vulpian, „dont le resul-
tat, quoique ancien däjä, est encore inedit", nach Vulpian 's eigener Auf-
zeichnung mitgetheilt. Am 12. Mai 1878 wurden fünf ganz jungen
(12 Tage alten) Hunden desselben Wurfes jedesmal das rechte Auge zer-
stört: in vier Fällen — nach 18, 46, 79, 86 Tagen — wurden der rechte
Nervus opticus und der linke Hinterhauptslappen atrophisch gefunden (die
Gehirne sind abgebildet); in einem Falle — nach 69 Tagen — war das
Zweite Mittheilung. 27
Auge restituirt, und rechter Nervus opticus wie linker Hinterhauptslappen
boten keine bemerkbaren Anomalieen dar. „Cette särie d'experiences",
schliesst Vulpian's Aufzeichnung, „est la seule qui puisse etre uti-
lisee parmi les diverses recherches que j'ai faites sur le meme sujet. Si
d'autres experiences donnaient des resultats semblables ou analogues ä
ceux que j'ai obtenus, on pourrait en conclure que la perte unilaterale de
la vue , eprouvee par un chien peu de temps aprös sa naissance, a pour
consequence, lorsque le nerf optique correspondant s'atrophie, un defaut
plus ou moins marque du däveloppement de la partie posterieure des cir-
convolutions cerebrales du cote oppose , surtout de la seconde circonvolu-
tion; et, comme corollaire, qu'il y a une relation anatomo - physiologique
croisee entre la partie posterieure de cette circonvolution et Tappareil de
la Vision." Warum Vulpian, der, wenn nicht schon früher, so doch
nachweislich im April 1878 in den Besitz meiner obigen Mittheilung vom
27. Juli 1877 gelangt war, meiner Versuche gar nicht gedenkt, weiss ich
nicht. Besonders bemerkenswerth ist es aber gewiss, dass Robin nach
der Vulpian 'sehen Mittheilung folgendermassen fortfährt: „Ces in-
teressantes experiences ont 6i6 confirmees (!!) par Celles de
Munk et par les autopsies d'Huguenin". (Huguenin hat im Corre-
spondenzblatt für Schweizer Aerzte, 8. Jahrg. 1878. No. 22 [15. Novbr.],
S. 665 — 68, unter Bezugnahme auf meine Versuche zwei Fälle^ mitge-
theilt, in welchen nach vieljähriger Blindheit Rindenatrophieen am Occipi-
talhirn des Menschen zur Beobachtung gekommen waren.)
^^ Beiträge zur Lehre von den Functionen der Nervencentren des
Frosches. Berlin 1869. S. 64. — Wie ich finde, hat Goltz seine am
Frosche gewonnenen Erfahrungen auf die höheren Thiere übertragen zu
können gemeint (s. Pflüger 's Archiv, Bd. 13. 1876. S. 25; 15). Es
hätten daher auch oben im Texte die Worte „bei dem Frosche" wegfallen
können.
Dritte ffitthefluiig.
(Vorgetragen in der Sitzung der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin am
15. März 1878.)*
M
eine Herren! Was ich Ihnen heute Neues zu hieten habe zur
Kenntniss der Functionen der Grosshirnrinde, schliesst sich so
unmittelbar an meine Mittheilungen vom März und Juli v. J. an,
dass Sie mir gestatten wollen, von Erfahrungen auszugehen,
über welche ich Ihnen bereits berichtet habe.
Hat man einem Hunde beiderseits die Grosshirnrinde der
Stelle Ai Fig. 1** exstirpirt, so bieten, wenn am 3. — 5. Tage
nach der Verletzung die entzündliche Reaction vorüber. Gehör,
Geruch, Geschmack, Bewegung, Empfindung u. s. w. des Thieres
keinerlei Abnormität dar, nur im Gebiete des Gesichtssinnes fallt
eine eigenthümliche Störung auf. Ganz frei und ungenirt be-
wegt sich der Hund im Zimmer wie im Garten, ohne je an
einen Gegenstand anzustossen; und häuft man die Hindernisse
auf seinem Wege, so umgeht er sie doch regelmässig, oder lassen
sie sich nicht umgehen, so überwindet er sie geschickt, indem
er z. B. unter dem Schemel durchkriecht, über den Fuss des
Menschen oder den Körper des Thieres, die den Weg versperren,
vorsichtig hinwegsteigt u. dgl. m. Allein kalt lässt ihn jetzt
der Anblick der Menschen, die er sonst immer freudig begrüsst,
kalt die Gesellschaft der Hunde, mit welchen er früher jedes-
mal gespielt hat. So hungrig und durstig er auch ist — das
* Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin, 1877/78.
No. 9 u. 10 (ausgegeben am 12. April 1878). — du Bois-Reymond*s
Archiv, 1878. S. 162.
** Die Holzschnitte sind nach den bei dem Vortrage benutzten Wand-
tafeln angefertigt.
Dritte Mittheil nng.
29
'pgt ihn zu 'jpinpn \ lelen und raschen Bewegungen an — , er sucht
jetzt nicht mehr m der fruiieren Weise an den Stellen ties Zim-
mers narh, an weLhen er sein Futter fand; und setzt man ihm
^ selbtit Futternapf und Wds&ereinaer mitten in den Weg hioein,
»er geht oft und immer wieder um sie herum, ohne ihrer zu
iLhten Nahrungsmittel vor die Augen gehalten lassen ihn un-
bewegt, so Unge er sie nicht riecht. Finger und Feuer dem
Auge genähert machen ihn nicht mehr blinzeln. Der Anblick
der Peitsclie, der ihn sonst regelmässig in die Kcke trieb, schreckt
ihn nicht mehr im mindpsten. Er war abgerichtet, wenn man
die Hand au seinem Auge yorbei bewegte, die gleichseitige Pfote
zu geben, jetzt kann man die Hand bewegen so viel man will,
k
Fig. 1.
die Pfote bleibt in Ruhe, bis man „Pfote" ruft. Und der Art sind
der Beobachtungen mehr. Ueber ihre Deutung kann kein Zweifel
sein. Durch die Exstirpation ist der Hund seelenhlind geworden,
d. h, er hat die Gesichtsvorstellungen, welche er besass, seine Er-
innerungsbilder der früheren Gesichtswahrnehmungen, verloren, so
dass er nichts kennt oder erkennt, das er sieht; aber der Hund
sieht, die Gesiehtserapfindungen kommen ihm zum Bewusst-
sein, kommen zur Wahrnehmung, und sie lassen Vorstellungen
über die Existenz, die Form, die Lage der äusseren Objecte
entstehen, so dass von neuem Gesichtsvorstellungen, von neuem
Erinnerungsbilder der Gcsichtswahrnehmuiigcn gewonnen werden.
30 Dritte Mittheilang.
Man kann sagen, dass der Hund durch unseren Eingriff
hinsichts seines Gesichtssinnes in den Zustand der fi^hesten
Jugend zurückversetzt worden ist, in den Zustand, in welchem
sich das Hündchen befindet, dessen Augen sich jüngst geöffiiet
haben. Wie dieses sehen, d. h. das Gesehene kennen lernt,
so muss unser Hund von neuem sehen lernen, nur dass seine
ausgebildete Bewegungsfähigkeit, seine vorgerückte Entwickelang
der übrigen Sinne u. s. w. die Lehrzeit abkürzen können. Und so
zeigt es sich in der Thai Mit Glotzaugen in vorgestrecktem und in
steter Hin- und Herbewegung begriffenem Kopfe sieht man un-
seren Hund, sobald nur das Fieber vorüber, alles um sich herum
anstieren und prüfend von allen Seiten betrachten, im Liegen
wie im Gehen, welches letztere er bevorzugt, lieber die für
seine Existenz wichtigsten Dinge ist er zu allererst und sehr bald
orientirt. Man braucht nur 1 — 2 mal seinen Kopf in den Eimer
hineingedrückt zu haben, «bis das Wasser die Schnauze berührte,
und er sucht fortan stets den Eimer selber auf, wenn er durstig
ist. Ebenso geht es mit dem Futternapfe. Dann lernt er all-
mählich die Menschen kennen und die Gegenstande seiner Um-
gebung, die grösseren eher, die kleineren später. Je mehr er
wieder sehen gelernt hat, desto geringer ist seine Unruhe, desto
gemässigter seine Neugier. Worüber er nicht von neuem Er-
fahrungen sammelt, das bleibt ihm unbekannt: er stutzt vor der
Treppe nach Wochen ebenso wie nach Tagen, sobald er zum ersten
Male einer solchen ansichtig wird; er scheut vor der Peitsche
nach Tagen schon oder erst nach Wochen, je nachdem er sie
früher oder später auf seinem Rücken gefühlt hat. Blieb nichts,
das der Prüfung unterliegt, seiner Kenntnissnahme vorenthalten,
so ist unser Hund 3 bis längstens 5 Wochen nach der Operation
im Gebiete des Gesichtssinnes restituirt und von unversehrten
Hunden nicht mehr zu unterscheiden.
Hat man die Stelle -4^ nur an einer Hemisphäre exstirpirt,
/ 1 so gilt alles, was ich eben für das Sehen im allgemeinen schil-
derte, bloss für das Sehen mit dem Auge der der Verletzung
entgegengesetzten Seite. Nach der rechtsseitigen Exstirpation
z. B. erkennt der Hund alles in der alten Weise weiter mit
dem rechten Auge, wenn man ihm das linke verbunden hat,
während er bei verbundenem rechten Auge wohl sieht, aber zu-
Dritte Mittheilung. 31
nächst nichts erkennt und erst mit der Zeit alles wieder kennen
lernt. Die Gesichtsvorstellungen haben danach gleichmässig in
jeder Hemisphäre für sich ihren Sitz, und die Functionen unserer
Rindenpartie sind an beiden Hemisphären so gesondert, dass es
der einen Hemisphäre nicht im mindesten zustattenkommt, dass
die ihr fehlenden Erinnerungsbilder der Gesichts Wahrnehmungen
in der anderen Hemisphäre noch unversehrt vorhanden sind.
Nur die Restitution habe ich bei einseitiger Exstirpation rascher
sich vollziehen sehen als bei beiderseitiger Exstirpation, was
durch die Hülfe, welche das wohlerhaltene Sehen mit dem einen
Auge für die Kenntnissnahme von den Objecten gewähren muss,
leicht verständlich ist.
Für denjenigen, der mit mir die Localisation der Functionen
in der Grosshirnrinde von vorneherein als ein physiologisches
Postulat und weiter als das erste und oberste Ergebniss der
Grosshirnrinden-Versuche erkannte, musste aus diesen Erfahrun-
gen die Vorstellung fliessen, die ich vor einem Jahre Ihnen ent-
wickelte^^: dass eine „Sehsphäre" von grösserer Ausdehnung
als die Stelle A^ an der Grosshirnrinde' existire, dass in dieser
Sehsphäre die Erinnerungsbilder der Gesichtswahrnehmungen in
der Reihenfolge etwa, wie die Wahrnehmungen dem Bewusstsein
zuströmen, gewissermassen von einem centralen Punkte aus in
immer grösserem Umkreise deponirt werden, und dass nach Ex-
stirpation der zur Zeit alle oder die meisten Erinnerungsbilder
beherbergenden Stelle Ai der Rest der Sehsphäre in der Um-
gebung von Ai mit neuen Erinnerungsbildern besetzt werde.
Indess vermochte ich damals noch nicht dieser Vorstellung eine
weitere Stütze zu verleihen. Um so mehr freue ich mich heute
in der Lage zu sein, mit experimentellen Belegen für die Rich-
tigkeit der Vorstellung eintreten zu können.
Es handelt sich in erster Linie um die Folgen der in der
Umgebung von Ai ausgeführten Exstirpationen. Nach solchen
Exstirpationen hatte ich bis zum März v. J., wie ich Ihnen da-
mals sagte ^*, keinerlei Veränderung an den operirten Thieren
wahrgenommen; aber schon im Juli v. J. theilte ich Ihnen
mit^^, dass manchmal eine kleine Sehstörung sich hatte er-
kennen lassen. Seitdem habe ich gefunden, dass diese Exstir-
pationen ganz regelmässig Sehstörungen geringeren Grades nach
32 Dritte Mittheüang.
sich ziehen, so lange sie die Rinde an der Strecke A Fig. 1
vor oder unterhalb A^ oder auch die Rinde an der inneren, der
Falx zugekehrten Seite des Hinterhauptslappens, die, wie
Sie bereits wissen ^^, sehr wohl der Untersuchung zugänglich ist,
betreffen.
Ein Hund, an dessen einer Hemisphäre eine derartige Ex-
stirpation ausgeführt ist, bietet, wenn man ihm das Auge der
der Verletzung entgegengesetzten Seite verbunden hat, gar keine
Abweichung von der Norm dar. Wird ihm dann das gleich-
seitige Auge verbunden, so scheint zunächst gleichfalls nicht die
mindeste Störung, auch nicht im Gebiete des Gesichtssinnes, zu
bestehen; denn nicht nur sieht der Hund jetzt offenbar, sondern
er erkennt auch alles vortrefflich, so dass selbst die eingehende
Prüfung keinen Verlust von Gesichtsvorstellungen herausstellt.
Aber wenn man nun den hungrigen Hund an Fleischstücke
heranlässt, die man in grösserer Zahl nahe bei einander auf
den Boden geworfen hat, so zeigt sich, dass der Hund einzelne
bequem und gerade vor seinem Auge befindliche Fleischstücke
liegen lässt, während er andere entferntere und schwerer zugäng-
liche Fleischstücke aufnimmt. Bis man von der Regelmässigkeit
der Erscheinung und von ihrem Auftreten nur unter den ange-
führten Umständen sich überzeugt hat, glaubt man natürlich
bloss mit einer Folge der Unaufmerksamkeit es zu thun zu
haben ; und so bin auch ich auf die Beachtung der Erscheinung
erst geführt worden, nachdem ich längst die folgenden auffälli-
geren Beobachtungen gemacht hatte. Lässt man nämlich weiter
dem Hunde beide Augen frei und führt, gerade vor ihm stehend,
ein Fleischstück massig rasch vor dem gleichseitigen Auge vorhei,
so folgt der Hund mit diesem Auge ausnahmslos gut dem Fleisch-
stücke; wogegen er, wenn man ebenso vor dem gegenseitigen
Auge verfährt, ganz regelmässig, und zwar bald etwas früher,
bald etwas später, plötzlich das Fleischstück aus dem Auge
verliert und sich verwundert umschaut, sichtlich überrascht, dass
das Fleischstück in unerklärlicher Weise verschwunden. Dem-
gemäss jagt auch der Hund dem geworfenen Fleischstücke jetzt
nur dann nach, wenn der Wurf an dem gleichseitigen Auge
vorbei erfolgt Aber dabei tritt noch die dritte Absonderheit
auf, dass unser Hund nicht mehr, wie vor der Operation, gerade
Dritte Mittheilung. 33
unmittelbar am Fleischstücke anlangt, sondern zu Ende des
Laufes etwas zu weit nach rechts oder nach links, nach vorn
oder nach hinten vom Fleischstücke sich befindet und das Fleisch-
stück erst noch einen Moment zu suchen hat, ehe er es aufnimmt.
Recht deutlich am 3. — 5. Tage nach der Operation, ver-
lieren sich diese Abnormitäten, mit. Ausnahme der ersten,
weiterhin rasch, am raschesten die letzte Abnormität, welche
schon in der zweiten Woche nach der Operation nur selten noch
zu bemerken ist. Offenbare Sehstörungen und bloss auftretend,
wenn die bezeichnete Partie der Grosshirnrinde angegriffen ist,
thun sie ohne Weiteres die Ausdehnung dar, welche der der
Gesichtswahrnehmung dienenden Grosshirnrinde, der Sehsphäre,
zukommt. Doch führt ihre Zergliederung noch zu einem anderen
bemerkenswerthen Aufschlüsse. Sie sind nämlich nur verstand-
lieh, wenn durch die Exstirpation gewissermassen ein zweiter
blinder Fleck an der Retina des Hundes gesetzt ist, ein Fleck,
dieses Mal natürlich blind nicht durch den Mangel der licht-
empfindlichen Netzhautelemente, sondern durch den Verlust der
zugehörigen wahrnehmenden Hirnelemente. Ein Fleichstück,
dessen Bild auf den neuen blinden Fleck fällt, kann der Hund
nicht sehen, und ist das Bild in Bewegung dorthin gerathen, so
wird das Fleischstück dem Hunde räthselhaft verschwunden
scheinen; auch wird, wo die Innervationsgefühle der Augen-
muskeln für die Bestimmung der Lage des Meischstückes zu
Hülfe zu kommen haben, die neue Lücke im Gesichtsfelde an-
fangs zu Täuschungen Veranlassung geben, bis mit der Zeit
durch Erfahrung und Uebung diese Lücke wird ebenso über-
wunden sein, wie die normale Lücke des blinden Flecks. Fällt
aber danach mit der Exstirpation einer zusammenhängenden
Rindenpartie immer die Wahrnehmung für eine zusammen-
hängende Partie der lichtempfindlichen Netzhautelemente aus,
so kann es nicht anders sein, als dass die centralen Elemente
der Sehsphäre, in welchen die Opticusfasern enden und die Ge-
sichtswahrnehmung statthat, regelmässig und continuirlich an-
geordnet sind wie die lichtempfindlichen Netzhauteleraente, von
welchen die Opticusfasern entspringen, derart dass benach-
barten Netzhautelementen immer benachbarte wahrnehmende
Rindenelemente entsprechen.
H. Munk, Functionen der Grosshirnrinde. 3
34 Dritte Mittheilung.
Für die Localzcichcn der Gesichtsempfindungen ist hiermit,
wie Sie sogleich übersehen, der Nachweis des anatomischen Sub-
strates geliefert, und ich bin nur leider zu spät zu der eben
vorgetragenen Einsicht in die Dinge gelangt, als dass ich bereits
auf Grund der bisherigen Versuche die relative Lage der licht-
empfindlichen Netzhautschicht einerseits, der wahrnehmenden
Rindenschicht andererseits genauer anzugeben vermöchte. Doch
über eines, das hierhergehört, glaube ich Sie noch unterrichten
zu können. Unter den vielen Räthseln, deren Lösung es zu
unternehmen gab, hat mich mit am längsten das beschäftigt,
dass trotz der grossen Ausdehnung der Sehsphäre die Erinne-
rungsbilder der Gesichtswahrnehmungen, so viele ich ihrer auch
prüfte, stets so gesammelt in der Stelle A^ sich fanden; denn,
wie Sie schon von früher her wissen", habe ich nur in zwei
Versuchen nach Exstirpation der Stelle A^ ein einzelnes Er-
innerungsbild erhalten gesehen, das eine Mal das Bild des Eimers,
aus welchem der Hund zu trinken gewohnt war, das andere
Mal das Bild der Handbewegung, auf welche die Pfote zu reichen
der Hund vor der Operation eingeübt worden war. Nun, meine
ich, findet das Räthsel einfach dadurch seine Lösung, dass die
Stelle A^ der Sehsphäre coordinirt ist der Stelle des deutlichsten
Sehens der Retina, welche beim Hunde an der äusseren Hälfte
der Retina gelegen ist. Immer diese selbe Stelle der Retina
wird für deutliches Sehen in Anspruch genommen; darum wird
die deutliche Wahrnehmung der Objecto immer der zugehörigen
Stelle Ay der Sehsphäre zufallen, und darum werden hier —
wie ich ohne alle Ahnung des Zusammenhanges bereits vor
einem Jahre es Ihnen aussprach — „die Erinnerungsbilder der
Gesichtswahrnehmungen in der Reihenfolge etwa, wie die Wahr-
nehmungen dem Bewusstsein zuströmen, gewissermassen von
einem centralen Punkte aus in immer grösserem Umkreise de-
ponirt werden".
Wie meine Bemühungen, für die nach Exstirpation der Stelle
Ai neugewonnenen Gesichtsvorstellungen den Sitz in der Um-
gebung von A^ dadurch nachzuweisen, dass ich an seelenblind
gemachten und restituirten Hunden secundäre Exstirpationen der
Stellen vor und unterhalb Ai vornahm, sämmtlich unglücklich
verlaufen sind, davon habe ich Sie schon im Juli v. J. unter-
Dritte Mittheilung. 35
halten ^^. Derartige Versuche habe ich in der Folge nicht raehr
unternommen, weil sie gar zu wenig Aussicht auf Erfolg boten.
Ich habe Ihnen aber damals auch von Versuchen berichtet,
bei welchen ich von vorneherein Exstirpationen ausgeführt liatte,
welche die Umgebung der Stelle Äi mit umfassten; nach kreis-
runden Exstirpationen von etwa 20 mm. Durchmesser hatte sich
die Seelenblindheit immer wieder vollständig verloren, grössere
Exstirpationen hatten die Hunde nur kurze Zeit überlebt. Hier
habe ich durch den Misserfolg mich nicht abschrecken lassen,
die Versuche fortzusetzen, und ich bin jetzt wirklich zweimal
bei sehr ausgedehnter Exstirpation der Sehsphäre zu guten Re-
sultaten gelangt. Beiden Hunden war an der linken Hemisphäre
die Rinde in der ganzen Ausdehnung von AA^A Fig. 1 exstir-
pirt, nur am inneren und am hinteren Rande waren schmale
Streifen stehengeblieben. Nachdem die entzündliche Reaction
vorüber, boten die Hunde bei verbundenem rechten Auge keine
Abweichung von der Norm dar; bei verbundenem linken Auge
aber erwiesen sie sich blind und zwar nicht bloss seelenblind,
sondern vollkommen blind, indem sie nur äusserst schwer zum
Gellen zu bewegen waren und dann die Hindernisse auf dem
Wege nicht umgingen, sondern überall anstiessen. Durch Wochen
änderte sich das Verhalten der Hunde nur so weit, dass sie
mit der Zeit. immer besser und schliesslich sogar beim lang-
samen Gehen recht gut die Hindernisse vermieden. Aber noch
in der vierten Woche liess sich bei verbundenem linken Auge
das Vorhandensein von Erinnerungsbildern nicht constatiren;
höchstens die geschwungene Peitsche schien der eine der Hunde
zu erkennen. Als danach die gleiche Exstirpation auch an der
rechten Hemisphäre ausgeführt worden war, gingen beide Hunde
bald zu Grunde.
Erinnern wir uns dazu noch der Versuche, welche, wie ich
Ihnen früher schilderte^®, hin und wieder die Encephalomenin-
gitis für uns anstellt, indem sie an seelenblind gemachten und
restituirten Hunden von der verletzten Stelle aus über die ganze
Rinde des Hinterhauptslappens sich verbreitet, so liegt eine in
sich geschlossene Reihe von Erfahrungen vor uns, welche die
Richtigkeit des gewonnenen Verständnisses der Sehsphäre er-
härtet. Die Exstirpation der Stelle A^ bringt Seelenblind-
3*
36
Dritte Mittheilung.
V
f
heit^^ des Thieres, d.h. den Verlust seiner Gesichtsvorstellun-
gen mit sich und hebt zugleich für die Stelle des deutlichsten
Sehens der Retina die Gesichtswahrnehmung auf, setzt für diese
Stelle der Retina, wie ich es bezeichnen möchte, Rindenblind-
heit; aber die Gesichtswahrnehmung von der übrigen Retina
her ist erhalten, und die Gesichtsvorstellungen können im Reste
der Sehsphäre sich von neuem bilden. Lassen wir die exstir-
pirte Stelle von A^ aus wachsen, so bleibt zunächst bis zu einer
gewissen Grenze alles im wesentlichen ebenso; denn es wächst
zwar die Strecke der Retina, für welche Rindenblindheit besteht,
aber die übrige Retina und der Rest der Sehsphäre sind immer
noch gross genug, um, wenn auch erschwert, volle Restitution
zu ermöglichen. Von einer gewissen Grenze an jedoch, die vor
der Hand durch die vorhin angeführten beiden Versuche gegeben
sein mag, tritt eine Aenderung ein: was an der inneren und
an der hinteren* Seite des Hinterhauptslappens und etwa noch
in der Tiefe der Furchen an Rinde übrig ist, lässt anfangs bloss
höchst undeutliche, später, wenn das Thier den brauchbaren
Rest seines Auges bestens zu verwenden gelernt hat, wohl deut-
lichere Gesichtswahrnehmungen zu; allein die Gesichtsvorstel-
lungen vermögen, wenn überhaupt, nur sehr unvollkommen sich
wiederzubilden. Endlich wenn durch die Encephalomeningitis
die ganze Rinde des Hinterhauptslappens vernichtet ist, so
gründlich wie wir mit dem Messer es nicht zu leisten im Stande
sind, ohne dass die Nebenverletzungen zum Tode führen, haben
alle Gesichtswahrnehmungen und alle Gesichts Vorstellungen für
immer aufgehört, ist volle Rindenblindheit für immer eingetreten.
Was ich so für den Hinterhauptslappen des Hundes ent-
wickelt habe, das gilt nun im grossen und ganzen ebenso füi*
den Hinterhauptslappen des Affen.
Das Affenhirn zu untersuchen, war mir nicht bloss durch
die Frage nahegelegt, wie weit die gewonnene Einsicht für das
Hirn des Menschen Geltung haben dürfte; ich hatte dazu noch
einen besonderen Anlass. In meiner ersten Mittheilung zur
Physiologie der Grosshirnrinde, welche ich Ihnen im März v. J.
machte, hatte ich von Hrn. Perrier's einschlägigen ünter-
sucliungen am Affen geschwiegen, weil ich nichts gutes über
dieselben zu sagen hatte. Aber in der folgenden Sitzung inter-
Dritte Mlttheilung. 37
pellirt, hatte ich mich zu der Erklärung genöthigt gesehen, dass
Hrn. Ferrier's Angaben, im Gyrus angularis des Affen (ag
Fig. 2) sei das Sehcentrum, dicht darunter im Gyrus temporo-
sphenoidalis superior (tp) das Hörcentram, in der tieferen Partie
des Schläfenlappens ((() das Centrum des Geruchs und das des
Geschmacks, im Gyrus hippocampi und Hlppocampus major
(nach innen von u) das Tastcentrum, eudlieh in den Hinter-
hauptslappen (Ä) das Hungercentrum (!) gelegen, dass alle diese
Angaben und was weiter sich daran knüpfte hinsichts des Cha-
rakters und der Restitution der durch die Operationen gesetzten
Störungen, werthlose willkürliche Constructionen wären, da die
operirten Thiere von Hrn. Ferrier in ganz unzureichender Weise
und kaum anders als zur Zeit der allgemeinen Depression der
HirnfunctioDen geprüft worden wären***. War ich mit dieser
Erklärung, welche auf der Durchsieht von Hrn. Ferrier's Ver-
suchen fusste, zu weit gegangen, so hatte ich das Unrecht je
eher je lieber wieder gutzumachen. Indess habe ich, wie jetzt
die Versuche ergeben haben, Ihnen damals eher zu wenig als zu
viel gesagt; denn Hr. Ferrier ist selbst nicht so glücklich ge-
wesen, beim Rathen einmal das richtige zu treffen, und alle
seine Angaben haben sich als falsch herausgestellt.
Die Sehsphäre des Affen ist die Rinde seines Hinterhaupts-
lappens (A Fig. 2). Bloss Verletzungen dieser Rinde bringen
Störungen im Gebiete des Gesichtssinnes mit sich, und bloss
derartige Störungen treten durch Verletzung dieser Rinde ein.
1
38 Dritte Mittheilung.
Nach beiderseits gleicher kreisrunder Exstirpatioa von 10
bis 15mm. Durchmesser sind die Störungen regelmässig, wenn
auch nicht leicht, zu constatiren. Die entzündliche Reaction
nach der Hirnverletzung ist beim Afifen viel unbedeutender als
beim Hunde, so dass der Affe gewöhnlich schon nach 24 — 36
Stunden fieberfrei erscheint und wohlauf wie zuvor. Die so
schnell wiederkehrende grosse Beweglichkeit und die nicht min-
der grosse Neugier, die den Afifen alles betasten lässt, erschweren
dann aber ungemein die Sehprüfungen und um so mehr, als das
ausserordentlich kluge Thier sofort alles kennt, worüber es sich
nur in irgendeiner Weise einmal instruirt hat. Trotzdem über-
zeugt man sich von der Störung der Gesichtswalirnehmung, so-
bald man dem Afifen z. B. von seinem Leibgerichte, Mohrrüben,
eine Anzahl kleiner Stücke vorlegt. Der Affe lässt alsdann
einzelne von den Stücken zunächst liegen und nimmt sie erst
auf, wenn eine wesentlich veränderte Kopfstellung aus anderen
Gründen herbeigeführt ist, oder er verfehlt gewisse Stücke beim
Greifen, was nie vorkommt, wenn der Aflfe unversehrt ist. Auch
habe ich in dreien der fünf gut gelungenen Versuche einzelne
Gesichtsvorstellungen fehlen sehen, während andere (darunter
immer das Erinnerungsbild der Mohrrübe) noch vorhanden waren.
Doch nur am 2. und 3. Tage nach der Operation lassen sich
diese Beobachtungen machen; später ist auch im Gebiete des
Gesichtssinnes keine Abweichung von der Norm melir zu er-
mitteln. Höchst charakteristisch ist es dabei, dass an jenen
ersten Tagen regelmässig die Erscheinung auftritt, dass der
Aflfe sehr oft und besonders dann, wenn es ihm auf scharfes
Sehen kleiner Gegenstände ankommt, mit der Hand über die
Augen fährt oder die Augen reibt, gerade wie ein Mensch, der,
weil er nicht deutlich sieht, etwas das das Selien stört, am
Auge vermuthet und es fortzuschaflfen sucht.
' Hat man dem Afifen die ganze Rinde an der convexen
Fläche eines Hinterhauptslappens exstirpirt, so ist der Aflfe
hemiopisch: er ist blind und zwar rindenblind für die der
Verletzung gleichseitigen Hälften beider Retinae. Ist z. B. die
linke Hemisphäre angegriflfen, so erkennt nicht nur nicht, son-
dern sieht auch nicht der Afife irgendein Object, dessen Bild
^ I auf den linken Hälften seiner Retinae entworfen wird; während
Dritte Mittheilung. 39
er alles in normaler Weise sieht und erkennt, was auf den
rechten Hälften seiner Retinae sich abbildet. Wie das Ver-
nähen ^^ des einen und dann des anderen Auges unzweifelhaft
lehrt, ist die Störung für beide Augen die gleiche, und unver-
ändert bleibt diese Hemiopie durch Wochen und durch Monate
bestehen; nur lernt es der Afife sehr bald, durch die Bewegung
des Kopfes und der Augen die hemiopische Beschränkung des
Gesichtsfeldes für seine Kenntnissnahme von der Aussen weit zu
corrigiren.
Ist endlich die gleiche Exstirpation an beiden Hinterhaupts-
lappen ausgeführt, so ist der Affe ganz rindenblind: er sieht
nichts. Von Natur ein so munteres und bewegliches Thier,
sitzt fortan der Affe ganz apathisch und wie träumend in seinem
Käfig, stundenlang ohne sich zu bewegen, bis ihn ein Geräusch
aufschreckt. Hat man ihn aus dem Käfig herausgenommen,
so rührt er sich nicht von der Stelle; und bringt man ihn durch
Prügel zum Gehen, so stösst er an alle Hindernisse auf seinem
Wege an, fällt vom Tische u. s. w. Mit der Zeit und ganz
allmählich bessert sich sein Sehen etwas, doch nur so weit,
dass er beim langsamen Gehen nicht mehr anstösst. Eine noch
weiter gehende Restitution kommt nur dann vor, wenn, wie die
Section lehrt, ausser der unzugänglichen Rinde an der unteren
Fläche des Hinterhauptslappens auch noch ansehnliche Rinden-
partieen an den Rändern der oberen Fläche eines Lappens zu-
rückgeblieben sind. In solchem Falle habe ich den Affen inner-
halb zweier Monate dahin kommen sehen, dass er kleine ihm
vorgeworfene Objecto leidlich gut sah und nach vieler Uebung
auch richtig griff; war die Uebung mehrere Tage unterblieben,
so verfehlte er die Objecto wieder. Sehr interessant war es,
dass auch hier noch eine Hemiopie sich erkennen liess; denn
der Affe benutzte zum Sehen stets die Hälften seiner Retinae,
welche dem Hinterhauptslappen zugehörten, der, wie sich später
herausstellte, der besser erhaltene war. Das Wiedervorhanden-
sein deutlicher Gesichtsvorstellungen hat sich aber auch in die-
sem Falle nicht ergeben.
Darin also weicht der Affe vom Hunde ab, dass, während
beim letzteren jeder Sehsphäre die ganze Retina der entgegen-
gesetzten Seite zugeordnet ist — ich habe wenigstens trotz aller
40. Dritte Mittiieilung.
Mühe von einer der Verletzung gleichseitigen Sehstörung nie
beim Hunde mich überzeugen können — , beim ersteren jeder
Sehsphäre die gleichseitigen Hälften beider Retinae zugehören.
Ob ausserdem noch beim Affen die Gesichtsvorstellungea nicht
so gesammelt ihren Sitz haben wie beim Hunde, muss dahin-
gestellt bleiben; denn ich habe von den 11 Affen, welche bisher
mir zu Gebote standen, bloss 5 für die erst beschriebenen Exstir-
pationsversuche verwenden können, und es ist sehr wohl mög-
lich, dass ich nicht die riclitigen Stellen getroffen habe. Im
übrigen aber verhält es sich, wie Sie sehen, mit der Sehsphäre
des Affen gerade so wie mit der Sehsphäre des Hundes.
Ueber einen zweiten Abschnitt der Grosshirnrinde des Hundes,
die Ihnen bereits bekannte Hörsphäre, habe ich nur wenig meinen
früheren Mittheilungen ^^ hinzuzufügen.
Es ist die Stelle B^ Fig. 1, deren beiderseitige Exstirpation
Seelentaubheit mit sich bringt. Wenn die entzündliche Re-
action vorüber, findet man Störungen ausschliesslich im Gebiete
des Gehörssinnes bestehen: der Hund hört noch — jedes unge-
wöhnliche Geräusch zieht ein gleichmässiges Spitzen der Ohren
nach sich — , allein er versteht nicht mehr, was er hört; die
Bedeutung des „pst", „komm", „hoch", „schön", „Pfote" und
worauf sonst noch er früher eingeübt worden war, ist ihm voll-
kommen verloren gegangen, so dass nunmehr die Bewegungen
ausbleiben, welche er vorher fast maschinenmässig danach voll-
führte. Ganz allmählich lernt aber der Hund wieder hören.
Zunächst werden die Ohrmuscheln und dann auch der Kopf
immer besser und richtiger der Schallquelle zugewandt, so dass
die Richtung des Schalles aufgefasst wird; später wird die Ver-
schiedenheit der Geräusche immer vollkommener erkannt; und
endlich wird, wenn man den Hund in der gewohnten Weise er-
zieht, auch die Verbindung der verschiedenen Geräusche mit den
Bewegungen wiederhergestellt. So dass der Hund 4 —5 Wochen
nach der Operation gerade so wieder wie vor der Operation sich
darstellt.
Wie die Stelle A^ Fig. 1 die Gesichtsvorstellungen, so ent-
hält also die Stelle B^ die Gehörsvorstellungen des Hundes.
Und wie die Stelle A^ innerhalb der grösseren der Gesichtswahr-
nehmung dienenden Sehsphäre gelegen ist, so muss die Stelle B^
Dritte Mittheilung. 41
in einer grösseren der Gehörswahmehraung dienenden Hör-
sphäre sich befinden, deren völlige Zerstörung, entsprechend
der Rindenblindheit dort, Rindentaubheit zur Folge haben
muss. Die Ausdehnung dieser Hörsphäre habe ich in BB Fig. 1
danach angegeben, wie weit ich bei den besprochenen Versuchen
die eine oder die andere Exstirpationsstelle über B^ hinaus in
dieser oder jener Richtung weiter ausgedehnt gefunden habe,
ohne dass das Versuchsergebniss beeinträchtigt oder irgend welche
andere Störung noch gesetzt gewesen wäre. Auf diese Weise
stellt sich die Rinde des Schläfenlappens als die Hörsphäre
heraus. Und damit stimmt sehr gut die Beobachtung, welche
'jedesmal, dass man die Stelle B^ beiderseits exstirpirt hat, in
den ersten Tagen nach der Operation zu machen ist. Das ist
die Zeit, zu welcher nach allem, was man bei den sonstigen
Exstirpationsversuchen sieht, die Umgebung der Exstirpations-
stellen in einiger Ausdehnung infolge des mechanischen Angriffs
und der Entzündung functionsunfähig ist; und da findet man
unseren Hund, auch dann wenn die Störungen durchaus auf das
Gebiet des Gehörssinnes beschränkt sind, nicht bloss seelentaub,
sondern ganz rindentaub, indem er auf kein Geräusch, es sei
noch so nahe und noch so laut, selbst nur durch das leiseste
Spitzen der Ohren reagirt. Einigemal habe ich auch, nachdem
ich die ganze Rinde an der oberen Fläche der beiden Schläfen-
lappen exstirpirt hatte, andauernde Rindentaubheit beobachtet;
aber da die Hunde höchstens acht Tage und noch dazu in
übeler Verfassung die Operation überlebten, wird auf diese Er-
fahrungen nicht viel zu geben sein. Erinnern Sie sich meiner
früheren Schilderungen, wie eingreifend hier schon die einfacheren
Exstirpationsversuche sind, so wird es Sie gewiss nicht verwun-
dern, dass ich die Versuche der letzten Art nicht öfter wieder-
holt habe.
Ich habe nun noch heute Ihre Aufmerksamkeit mir zu er-
bitten für einen dritten Abschnitt der Grosshirnrinde des Hundes,
den Abschnitt CDE Fig. 1. Sie erkennen sofort, dass es die
Partie der Rinde ist, über welche in den letzten 8 Jahren, seit
den ersten Untersuchungen der Hrn. Fritsch und Hitzig, so
viel verhandelt worden ist. Wenn es trotzdem hinsichts der
Functionen dieses Rindenabschnittes nicht zur Klarheit gekommen
42 Dritte Mittheilung.
war, so war der Grund vornehmlich darin gelegen, dass noch
die leitenden Gesichtspunkte fiir die richtige Beurtheilung der
Versuchsergebnisse fehlten. Je mehr ich in der Kenntniss der
Hörsphäre und besonders der Sehsphäre fortschritt, desto mehr
ordneten sich auch hier die Versuchsergebnisse, die anfangs un-
vereinbar erschienen, zusammen; und wenn ich im vorigen Jahre
mich darauf hatte beschränken müssen, Ihnen unseren Rinden-
absclinitt als die motorische Sphäre den hinteren sensoriellen
Sphären gegenüberzustellen-**, so glaube ich Sie heute zu einem
tieferen Verständnisse auch dieses Rindenabschnittes fuhren zu
können.
Um es sogleich mit einem Worte zu sagen: unser Rinden-
abschnitt CDE ist die Fühlsphäre des Hundes. Wie die
Rinde im Hinterhauptslappen zum Gesichtssinno und im Schläfen-
lappen zum Gehörssinne, so steht sie im Scheitellappen in Be-
ziehung zum Gefühlssinne; und wie dort, so ist sie auch hier
der Ort, wo die Wahrnehmung statthat und die Vorstellungen,
die Erinnerungsbilder der Wahrnehmungen, ihren Sitz haben.
Nur ist es, wohlbemerkt, nicht der Gefühlssinn der Haut allein,
um welchen es sich hier handelt, sondern der Gefühlssinn im
weiteren Sinne, der Gefühlssinn des Körpers.
Sehen wir zu, welche Wahrnehmungen diesem Gefühlssinne
zukommen und welche Vorstellungen hier aus den Wahr-
nehmungen fliessen.
Indem die Hautempfindungen zum Bewusstsein kommen,
fuhren sie zu zweierlei Wahrnehmungen oder, wie wir in diesem
Gebiete die Wahrnehmungen gut bezeichnen, Gefühlen: dem Be-
rührungs- oder Druckgefühlo und dem Temperaturgefühle. Von
dem letzteren, das sich bei den Thicrcn nicht untersuchen lässt,
dürfen wir hier absehen. Aus dem ersteren, das mit Local-
zeichen ausgestattet ist, gehen die Berührungs- oder Druck-
vorstellungen hervor, die Vorstellungen über die Existenz und
die Lage der die Haut berührenden Objecto, wie über die Aus-
dehnung, in welcher, und die Kraft, mit welcher die Objecte
auf die Haut wirken. Dazu kommen durch die Muskelempfin-
dungen die Muskelgefühle, die mit weniger entwickelten Local-
zeichen versehenen Wahrnehmungen vom Zustande der Muskeln,
ihrer Contraction, ihrer Dehnung, ihrer Spannung u. s. w. Aus
Dritte Mittheilung. 43
den Muskelgefühlen allein resultiren Vorstellungen nicht; aber
die Muskelgefühle können mit den Berührungs- oder Druck-
gefühlen für die Berührungs- oder Druckvorstellungen zusammen-
treten, und ausserdem liefern beiderlei Gefühle vereint die recht
scharfen Vorstellungen über die jeweilige Lage der Körpertheile,
wie über die Lageveränderung der Körpertheile bei passiver Be-
wegung derselben. Endlich bilden eine letzte Gruppe von Ge-
fühlen die Innervationsgefühle , die Wahrnehmungen der Be-
wegungsanregung bei der activen Bewegung der Körpertheile:
Gefühle, welche nie isolirt, sondern immer in Verbindung mit
Druck- und Muskelgefühlen vorkommen. Für jede geordnete
und dem Zwecke angepasste Bewegung stehen die dreierlei Ge-
fühle in einer bestimmten festen Beziehung; und sie lassen ver-
eint entstehen einmal die Bewegungs vor Stellungen, die Vor-
stellungen von den activen Bewegungen der Körpertheile, und
zweitens die Tast Vorstellungen, die Vorstellungen von der Form,
der Ausdehnung u. s. w. der Objecte, welche die in Bewegung
begriffenen Körpertheile berühren. Weitere Gefühle hat das
normale Thier nicht. Wollte man noch ganz undeutliche Ge-
lenkgefühle annehmen, vermittelt durch die sensiblen Nerven
der an den Gelenken befindlichen Theile, so würden diese doch
eine besondere Beachtung nicht erfordern, weil sie immer nur
bei der Bildung der Vorstellungen über die Lage und die Be-
wegungen der Körpertheile mit den anderen Gefühlen zusammen-
wirken würden.
Nichts anderes aber ist es nun, das nach Exstirpationen im
Bereiche unseres Rindenabschnittes CDE zur Beobachtung kommt,
als der Verlust und die allmähliche Restitution derjenigen Vor-
stellungen, in den schwereren Fällen auch der Verlust derjenigen
Wahrnehmungen, von welchen eben die Rede war.
Hat man einem Hunde eine Stelle der Rinde im Bereiche
von CDE an einer Hemisphäre exstirpirt, so bestehen, wenn
die entzündliche Reaction vorüber, ausschliesslich, aber auch
regelmässig Störungen der Motilität und der Sensibilität an der
gegenseitigen Körperhälfte, und zwar je nach der Lage der Ex-
stirpationsstelle an dem einen oder dem anderen Körpertheile.
Mit der Zeit bilden sich dann die Störungen allmählich zurück,
bald nur unvollkommen, bald vollkommener, so dass im günstigsten
44 Dritte Mittheilung.
Falle unser Hund schliesslich das Verhalten des normalen Hundes
wiedergewinnt.
Sieht man von allen feineren Unterscheidungen vorerst ab,
so kann man im Bereiche von CDE von einer Kopfregion E^
einer Vorderbeinregion D und einer Hinterbeinregion C sprechen,
indem immer Verletzungen innerhalb der Strecke E Störungen
am Kopfe, Verletzungen innerhalb der Strecke D Störungen am
Vorderbein und Vorderrumpf, endlich Verletzungen innerhalb der
Strecke C Störungen am Hinterbein and Hinterrumpf mit sich
bringen. Je ausgedehnter die Exstirpationsstelle innerhalb einer
und derselben Region ist, desto hochgradiger sind von vorne-
herein die entsprechenden Störungen, und desto langsamer und
desto unvollkommener bilden sie sich zurück. Dagegen ist es
ohne Einfluss sowohl auf die anfängliche Grösse dieser Störungen,
wie auch die Restitution, ob und wie weit die Exstirpation noch
eine andere Region betroffen hat. Es sind nur natürlich die
Störungen überhaupt desto weiter über die Körperhälfte ausge-
breitet, je mehr Regionen zugleich verletzt sind.
Dass die Störungen die Motilität betreffen, darüber ist seit
den Versuchen der Hrn. Fritsch und Hitzig, die hier die
Bahn eröffneten, alles einig. ^^ Allein die Störungen der Sensi-
bilität, welche Hr. Schiff zuerst erkannte ^^ hat Hr. Hitzig
noch neuerdings ^^ bloss für ausgedehntere oder tiefere Läsionen
zugeben mögen. Nun stehen mir allerdings für den Fall „ganz
geringfügiger" Läsionen der Rinde keine Erfahrungeft zu Gebote;
und es will mir nur, wenn ich unsere groben Methoden der
Sensibilitätsprüfung der Thiere erwäge, nichts natürlicher scheinen,
als dass unter diesen Umständen an der so gegliederten und
beweglichen Extremität eine sehr beschränkte Sensibilitätsstörung
unserer Beobachtung sich noch entzieht, wo doch schon bei
einer der mannigfachen Bewegungsformen eine leichte Motilitäts-
störung sich uns offenbart. Ganz gewiss aber ist Hr. Hitzig
nicht im Rechte, wenn, um was allein es sich hier handelt,
nicht gerade ganz geringfügige, aber auch nicht tief eindringende
Läsionen gesetzt sind. Denn nach Exstirpationen von wenigen
Millimetern Ausdehnung in Länge und Breite und von der ge-
wöhnlichen Tiefe von etwa 2 mm. habe ich regelmässig Sensi-
bilitätsstörungen constatirt; ja, ich habe sogar mehrfach, wenn
►
Dntte HittlieilaTi^.
45
k
die Läyionen in der Kopfregion J? gesetzt waren, diese Störungen
viel leicliter nacliweisbar gefunden als die Motilitätsstörungen.
Doch sind die Störungen als Motilitäts- und Sensibilitäts-
störungea überhaupt nur schlecht uharakterisirt, und gerade auf
eine bessere Auffassung und Würdigung derselben kommt es an.
Dafür wollen wir. um nicht gar zu weit in Einzelheiten uns zu
verlieren, an die Exstirpationen innerhalb einer einzigen Region
uns heften, und wir wählen die Vorderbeinregion ö, weil das
Vorderbein mit seiner Beweglichkeit und Empfindlichkeit ge-
wisserraassen die Mitte hält zwischen dem Kopfe, an welchem
die Beweglichkeit, und dem Hinterbeine, an welchem die Empfind-
lichkeit mehr zurücktritt. Es sind aber nach Verletzungen der
Regionen E und C wesentlich dieselben Störungen, nur theilweise
umständlicher, am Kopfe und am Hinterbeine wahrzunehmen.
Lassen Sie uns einen Hund betrachten, welchem eine grössere
Partie der Rinde innerhalb der Strecke D an der einen, sagen
wir der linken Hemisphäre exstirpirt ist. Die Absonderheiten,
welche sich darbieten, sind Ihnen im bunten Durcheinander wohl
schon alle bekannt geworden durch die vielen Schilderungen,
welche die letzten Jahre gebracht haben: ich führe sie Ihnen
sogleich gruppirt vor, wie sie zusammengehören. AVenn das
Fieber vorüber, am 3. — 5. Tage nach der Operation constatiren
wir folgendes:
1) den Verlust der Berührungs- oder Druckvorstellungen
für das rechte Vorderbein. ^ Beruhren wir eines der drei an-
deren Beine mit dem Finger oder ganz leicht mit der Nadel-
spitze, so sieht der Hund sofort hin oder beisst sogar, wenn er
bösartig ist, sofort zu; und sobald wir nur ein wenig drücken
oder stechen, liebt der Hund auch das Bein und sucht es uns
zu entziehen. Verfahren wir ebenso am rechten Vorderbeine, so
bleibt der Hund, selbst wenn wir viel stärker drücken und
stechen, ganz theilnahmlos; und erst nach sehr starkem Drucke
oder nach tiefem Einstiche tritt ein Heben des Beines ein, doch
ohne dass der Hund hinsieht oder zubeisst. Beim Angriffe
dieses Beines sehen wir also nichts weiter als den einfachen
Reflexvorgang, wie er sieh auch nach Exstirpation oder encepha-
litischer Zerstörung des ganzen Grosshirns zeigt.
2) den Verlust der Lagevorstellungon für das rechte Vorder-
46 Dritte Mittheilung.
bein. — Wir können dieses Bein adduciren und abduciren, nach
vorn und nach hinten schieben, in den Gelenken beugen und
strecken, mit dem Fussrücken auf den Boden setzen und so
weiter mit ihm machen was wir wollen, der Hund widerstrebt
nicht im mindesten der Lageveränderung und lässt das Bein in
jeder beliebigen Lage verharren, bis er Gehbewegungen macht.
Jeder Lageveränderung eines anderen Beines hingegen setzt der
Hund von vorneherein und ohne ünterlass durch Oontraction
der Muskeln dieses Beines Widerstand entgegen, und er führt
das Bein, vom Zwange befreit, sofort in die ihm bequeme Lage
zurück.
3) den Verlust der Bewegungsvorstellungen für das rechte
Vorderbein. — Dass dieses Bein reflectorisch bewegt wird, haben
wir schon vorhin gesehen. Auch bleiben seine Bewegungen da
nicht aus, wo sie zugleich oder in regelmässigem Wechsel mit
den Bewegungen der anderen Beine zu erfolgen haben, beim
Gehen, Laufen, Springen. Aber anderweitig ist dieses Bein
durchaus bewegungslos, kommt eine active Bewegung dieses
Beines allein nie zustande. Der Hund war darauf eingeübt,
wenn man die Hand an seinem Auge vorbeibewegte, die gleich-
seitige Pfote, ebenso auf den Ruf „Pfote** die eine Pfote, auf
den Ruf „andere Pfote" die zweite Pfote zu geben; jetzt giebt
er die linke Pfote gerade wie zuvor, aber eben diese Pfote auch
dann, wenn er die rechte geben sollte. Nach Fleisch, Knochen
u. a. Nahrungsmitteln, die er heranholen oder, wenn man sie
fortzieht, in seinem Bereiche zurückhalten will, greift der Hund
immer mit dem linken, nie mit dem rechten Vorderbeine. Juckt
es ihn an der Wunde, er führt immer nur das linke, nie das
rechte Vorderbein an sie heran, und er kratzt auch sonst immer
nur mit dem linken Vorderbeine. Hebt man ihn an dem linken
Vorderbeine in die Höhe, oder bringt man ihn irgendwie anders
in eine Lage, in welcher er einer weiteren Unterstützung durch
das rechte Vorderbein bedarf, und in welcher der normale Hund
dieses Vorderbein auch jedesmal sofort zur Stütze heranzieht,
so bleibt doch hier dieses Bein unbewegt. Stellt man den Hund
auf dpn Tisch und zieht das rechte Vorderbein über den Tisch-
rand hinaus, so dass es frei herunterhängt, so führt der Hund
es nicht zurück; und doch ist kein Zweifel, dass er die gefähr-
Dritte Mittheilung. 47
liehe Lage des Beines sehr wohl sieht, da er später, zum Gehen
angeregt, nicht herunterfällt, sondern zunächst so lange mit
dem Rumpfe und den ungeschädigten Beinen arbeitet, bis das
rechte Vorderbein wieder auf den Tisch zu stehen gekommen ist.
4) den Verlust der Tastvorstellungen für das rechte
Vorderbein. — Ich erwähnte schon, dass dieses Bein beim Gehen
und Laufen des Hundes sich noch mitbewegt. Es steht also
die Region D in keiner Beziehung zu dem Centrum für die
Gehbewegungen, das unterhalb des Grosshirns gelegen ist, durch
dessen reflectorische Erregung auch nach encephalitischer Zer-
störung des ganzen Grosshirns auf starke Reizung des Schwanzes
öder des Beines die Gehbewegungen auftreten. Doch ist es
nur, so zu sagen, die grobe Mechanik des Gehens, welche wir
in diesem Falle beobachten, die gesetzmässige Folge der Thätig-
keit der Beine mit der wechselnden Beugung und Streckung
eines jeden Beines; und diese grobe Mechanik reicht für das
wirkliche Gehen des Lebens nicht aus. Dafür müssen die Geh-
bewegungen noch besonders den jedesmaligen äusseren Bedin-
gungen des Gehens angepasst sein, vornehmlich der Beschaffen-
heit des Bodens, seiner Härte, seiner Unebenheit, seiner Glätte
u. s. f. ; dafür muss noch eine Regulation der groben Mechanik
erfolgen, eine Regulation, welche die durch die Bewegungen der
Beine entstandenen Tastvorstellungen vermitteln, indem sie die
erforderliche Abänderung der Muskelthätigkeit herbeiführen. Es
wird demnach, sobald die Tastvorstellungen von Seiten eines
Beines fortgefallen sind, für dieses Bein die grobe Mechanik
des Gehens nicht mehr regulirt, und das Bein muss sich, vollends
wenn zugleich die Bewegungsvorstellungen des Beines fehlen,
durch die Ungeschicktheit und die ünzweckmässigkeit seiner
Bewegungen vor den anderen Beinen auszeichnen. Das ist es
aber gerade, was für das rechte Vorderbein unseres Hundes sich
ergiebt. Unser Hund geht zwar mit diesem Beine, aber er geht
mit ihm nicht gut: er hebt es bald zu hoch, bald zu wenig
hoch, bringt es bald zu weit, bald zu wenig weit nach vorn,
setzt es bald mit der Sohle, bald mit dem Fussrücken auf,
gleitet mit dem Beine aus u. s. f. Auf freiem, ebenem, festem
Boden inmitten des Gehens oder Laufens tritt die Ungeschickt-
heit des Beines am wenigsten hervor; sie macht sich am auf-
48 Dritte Mittheilang.
iallipstcn bemorklich, wo es besondere Terrainschwierigkeiten zu
überwinden gilt, z. B. beim Passiren der Treppe, deren Stufen
das Bein häußg verfehlt, beim Gehen auf dem Tische, dessen
Rand das Bein leicht überschreitet.
Derart also ist der Befund bei unserem Hunde am 3. bis
5. Tage nach der Operation. Wir beobachten ihn weiter. Von
Tag zu Tag mindert sich die Druckgrösse, die erforderlich ist,
die Hebung des rechten Vorderbeines zu veranlassen; aber der
Hund sieht zunächst noch immer nicht hin. Erst im Laufe der
zweiten Woche tritt dieses Hinsehen ein. Ist der Hund bös-
artig, so sind seine Beissversuche anfangs noch ungefährlich, da
sein Kopf nur ungefähr in der Richtung nach der Druckstelle
hin sich bewegt; doch schon nach einigen Tagen trifft der Hund
die Druckstelle genau. Auch das Gehen mit dem rechten
Vorderbeine hat sich inzwischen etwas gebessert, so dass die
Ungeschicktheit der Bewegungen nicht mehr so auffällig wie zu
Anfang ist: das Bein gleitet seltener aus, kommt seltener mit
dem Fussrücken auf den Boden zu stehen, schlägt seltener gegen
die Treppenstufen, verfehlt dieselben seltener u. s. w. Aber
im übrigen sind die Abnormitäten noch vorhanden. Etwas
später erscheint bei den passiven Bewegungen des rechten
Vorderbeines ein Zucken im Beine, das Zucken nimmt von Tag
zu Tag zu, immer fühlbarer wird von Seiten des Hundes Wider-
stand geleistet, endlich macht sich auch ein Bestreben bemerk-
bar, das verstellte Bein zurückzuführen. Den Zweck wirklich
erreichen zu lassen, dafür sind die Muskelbewegungen vorerst
allerdings noch viel zu schwach, aber sie werden immer stärker
und stärker, bis, wenn etwa 4 Wochen nach der Operation ver-
flossen sind, die Reposition wirklich gut zustandekommt. Wiederum
hat mittlerweile die Ungeschicktheit des rechten Vorderbeines beim
Gehen abgenommen. Aber wenn auch noch seltener als vorher, .
hin und wieder gleitet doch immer noch das Bein aus, tritt
über den Tischrand hinaus, schlägt gegen die Treppenstufen,
bleibt zum Schlüsse des Gehens auf dem Fussrücken stehen,
u. s. f.; und immer noch fehlt jede Spur einer anderweitigen
activen Bewegung des Beines. Für die Beseitigung dieser letzten
Abnormitäten bedarf es noch mehrerer Wochen, und erst 8 bis
Dritte Mittheilung. 49
10 Wochen nach der Operation ist unser Hund vom unversehrten
Thiere nicht mehr zu unterscheiden.
Ich habe Ihnen diesen Hund gewissermassen als Paradigma
vorgeführt, weil hier sowohl der Verlust aller Gefühlsvorstel-
lungen durch die Exstirpation, als auch die Neubildung aller Ge-
fühlsvorstellungen nach der Exstirpation zur Beobachtung kommt.
Dass die Neubildung gerade so vorschreitet, wie ich Ihnen vorhin
die Entstehung aller Gefühlsvorstellungen zergliedert habe, dass
nämlich erst die einfacheren, dann die verwickeiteren Vorstel-
lungen sich wieder einfinden, das ist Ihrer Aufmerksamkeit
sicher nicht entgangen. Nunmehr reichen wenige Worte hin,
um Sie die Folgen der Läsionen der Region D auch ganz im
allgemeinen übersehen zu lassen.
Nach den kleinsten Exstirpationen von nur wenigen Mm.
Ausdehnung in Länge und Breite habe ich manchmal den völligen
Verlust der Tast- und Bewegungsvorstellungen beobachtet, manch-
mal jedoch bloss den theil weisen Verlust derselben. In den
letzteren Fällen sah man den Hund, so schlecht er auch mit
dem in Frage kommenden Beine ging, dieses Bein doch gut an
seine Kopfwunde führen oder gut mit ihm die Pfote geben
u. dgl. m. Die Druck- und Lagevorstellungen waren immer er-
halten und nur etwas unvollkommener als normal: es bedurfte
eines stärkeren Druckes, dass der Hund aufmerksam wurde und
das Bein hob, auch wurde der Lageveränderung des Beines ein
kleinerer Widerstand entgegengesetzt. Die Restitution war hier
immer eine vollständige und öfters schon in 2, längstens aber
in 4 Wochen beendet. Nach grösseren Exstirpationen waren
entweder alle Gefühlsvorstellungen fortgefallen, oder es war
höchstens noch ein Rest der Druckvorstellungen übrig geblieben,
indem zwar erst auf sehr starken Druck, aber doch noch unter
Hinsehen des Hundes das Bein sich hob. Dieser Gruppe von
Fällen gehört unser Paradigma an. Auch hier trat regelmässig
innerhalb 6 — 10 Wochen eine völlige Restitution ein. Nach
wieder grösseren Exstirpationen war die Restitution immer eine
unvollkommene: wohl die Druckvorstellungen und allmählich
auch die Lage Vorstellungen kehrten wieder, nicht aber die Tast-
und Bewegungsvorstellungen; das äusserste, das erreicht wurde,
H. Munk, Functionen der Grosshirnrinde. 4
^ ^ u w
«V J J u o
50 Dritte Mittheilang.
war, dass das passiv bewegte Bein annähernd in seine ursprQng-
liehe Lage zurückgeführt wurde, und darüber hinaus war durch
viele Wochen hindurch nicht der mindeste Fortschritt bemerkbar.
Endlich nach den grössten Exstirpationen , die ich ausgeführt
habe, war die Restitution noch unbedeutender, indem nur die
Druckvorstellungen sich in einigen Wochen wiederherstellten und
in eben dieser Zeit das Gehen mit dem Beine sich etwas
besserte, dabei es dann aber auch durch Monate verblieb. In
diesen letzten Fällen war fast die ganze Strecke D Fig. 1 ex-
stirpirt; bloss ein Streifen an der Falx und ein schmaler Streifen
an der Grenze des Gyrus supersylvius waren erhalten.
Nach alledem ist die Sachlage so klar, wie es fur's erste
nur gewünscht werden kann. Die Rinde des Scheitellappens des
Hundes ist die Fühlsphäre der gegenseitigen Körperhälfte,
und sie zerfallt in eine Anzahl Regionen, deren jede zu einem
besonderen Theile dieser Körperhälfte in Beziehung gesetzt ist.
In den wahrnehmenden centralen Elementen einer Region enden
bei einander die Fasern, welche die Haut-, die Muskel- und die
Innervationsgefühle des zugehörigen Körpertheiles vermitteln,
und innerhalb der Region haben auch die Gefühlsvorstellungen
eben dieses Körpertheiles ihren Sitz, so dass die Region die
selbständige Fühlsphäre des zugehörigen Körper-
theiles, z. B. des Vorderbeines oder des Hinterbeines, vor-
stellt. Im Bereiche jeder solchen Fühlsphäre eines Körpertheiles
bringen kleine Exstirpationen den theilweisen Verlust der Ge-
fühlsvorstellungen des Körpertheiles, grössere Exstirpationen den
völligen Verlust der Gefühlsvorstellungen des Körpertheiles —
Seelenlähmung (Seelenbewegungs- und Seelengefühl-
losigkeit) des Körpertheiles — mit sich; doch können in
dem Reste dieser Fühlsphäre die Gefühlsvorstellungen sich von
neuem bilden. Durch noch grössere Exstirpationen erscheinen
auch die Gefühle selbst geschädigt, und nur ein Theil der Ge-
fühlsvorstellungen vermag sich wiederherzustellen; jene Schädi-
gung und diese ünvoUkommenheit der Restitution sind dabei
desto grösser, je weniger von der Fühlsphäre noch erhalten
blieb. Die völlige Zerstörung der Fühlsphäre eines Körper-
theiles muss den bleibenden Verlust aller Gefühle und Gefühls-
Dritte Mittheilung. 51
Vorstellungen des Körpertheiles — Rindenlähmung (Rinden-
bewegungs- und Rindengefühllosigkeit) des Körper-
theiles — zur Folge haben.
Es kommen also in jeder Grosshirnhemisphäre der Fühl-
sphäre dieselben Functionen für den Gefühlssinn der gegen-
seitigen Körperhälfte zu, wie der Sehsphäre für deren Gesichts-
sinn, nur sind die Theile der Fühlsphäre weniger gleichwerthig
als die der Sehsphäre. Wohl können dieselben Gesichtsvorstel-
lungen in den verschiedensten Partieen der Sehsphäre entstehen,
aber in den verschiedenen Regionen der Fühlsphäre können die-
selben Gefühls Vorstellungen nur insoweit sich bilden, als sie so
objectiv sind wie die Gesichts Vorstellungen, also Berührungs-
oder Tastvorstellungen sind, bei welchen von dem berührenden
oder tastenden Körpertheile abstrahirt ist. Alle anderen Ge-
fühlsvorstellungen sind, eben wegen ihrer Subjectivität, örtlich
geknüpft an eine bestimmte Region der Fühlsphäre, an die Re-
gion, welche dem Gefühlssinne des betreffenden Körpertheiles
zugehört, in welcher die Endigungen anzunehmen sind der die
Gefühle vermittelnden Fasern der Haut des betreffenden Körper-
theiles, seiner Muskeln und auch der Ganglien oder Oentren,
welche die Bewegungen des Körpertheiles anregen.
Mit den letzten Worten habe ich eine Lücke ausgefüllt,
welche ich vorher übrig liess. Die Wahrnehmungen und die
Vorstellungen im Gebiete des Gefühlssinnes sind von den ver-
schiedenen Gelehrten so verschieden bezeichnet und so ver-
schieden definirt worden, dass ohne eine besondere feste Grund-
lage unser Studium der Fühlsphäre geradezu unfruchtbar ge-
wesen wäre. Deshalb habe ich Ihnen vorhin, als wir in die
Betrachtung der Fühlsphäre eintraten, eine üebersicht der Ge-
fühlswahrnehmungen gegeben, indem ich die Organe des Körpers
durchging, deren Nerven Gefühls Wahrnehmungen vermitteln, und
aus den Gefühlswahrnehmungen die Gefühlsvorstellungen ent-
wickelt. Doch bei den Innerv^ationsgefühlen habe ich mich dort
darauf beschränkt, sie als die Wahrnehmungen der Bewegungs-
anregung bei der activen Bewegung der Körpertheile zu definiren,
und so blieb mir nachzuholen, welche Organe des Körpers es
sind, deren Veränderungen als Innerv^ationsgefühle zum Bewusst-
52 Dritte Mittheilang.
sein kommen. Diese Organe sind, wie ich es schon eben za
erkennen gab, die unterhalb der Grosshirnrinde im Hirn und
Rückenmark befindlichen Ganglien oder Centren, welche die Be-
wegungen der Körpertheile anregen. Da in der frühesten Jugend
des Thieres aus den ersten, bloss reflectorischen Bewegungen die
Bcwegungsvorstellungen in der Fühlsphäre sich entwickeln; da
bei dem erwachsenen Thiere die Bcwegungsvorstellungen eines
Körpertheiles in dessen Fühlsphäre auch dann entstehen, wenn,
wie bei den Gehbewegungen, diese Fuhlsphäre an der Herbei-
führung der Bewegungen unbetheiligt ist; da endlich bei dem-
selben Thiere, nach der Exstirpation der Rinde in einer Region
der Fühlsphäre, die verlorenen Bewegungsvorstellungen des
Körpertheiles aus den reflectorischen und Gehbewegungen des
Körpertheiles sich von neuem bilden: so kann es nicht anders
sein, als dass, wie von der Haut und von den Muskeln, so auch
von den Bewegungscentren oder Ganglien unterhalb der Gross-
himrinde Fasern zu dieser hinaufsteigen, welche die Wahr-
nehmung von der Thätigkeit der Centren vermitteln.
unsere Innervationsgefühle sind aber vorläufig wohl zu
unterscheiden von dem, was man sonst vielfach auch „Inner-
vationsgefühl'' genannt hat 2', von der „Wahrnehmung der Inten-
sität der Willensanstrengung bei der willkürlichen Bewegung*.
„Wille" und „willkürliche Bewegung" mit Sitz und Ursprung in
der Grosshirnrinde sind zwar recht bequeme und mögen darum
auch gute Bezeichnungen sein, aber eine thatsächliche physiolo-
gische Unterlage haben sie nicht. Was wir von der Grosshirn-
rinde wissen, ist, dass sie der Ort der Wahrnehmungen und der
Sitz der Vorstellungen ist. Danach ist bloss die Annahme zu-
lässig, welche mit etwas anderem Inhalte schon Hr. Meynert^*
und unter uns Hr. Wernicke^^ ausgesprochen haben, dass die
Bewegungsvorstellungen die Ursachen der sogenannten willkür-
lichen Bewegungen sind, dass mit dem Entstehen einer Be-
wegungsvorstellung in einer gewissen Grösse — und zwar mit
ihrem Entstehen auf dem Wege der Association, nicht der sie
constituirenden Gefühle — eo ipso die betreffende Bewegung
gesetzt ist, wenn nicht anderswoher eine Hemmung erfolgt, und
dass die Bewegung desto grösser ist, je grösser die ihr zu Grunde
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» »V V * ^ • ^
Dritte Mittheilung. 53
liegende Bewegungsvorstellung ist. Mithin könnte jene „Wahr-
nehmung der Intensität der Willensanstrengung bei der will-
kürlichen Bewegung" das Attribut einer Bewegungsvorstellung
sein; eine wirkliche Wahrnehmung könnte immer nur mittelbar,
vom „Willen** ganz losgelöst, statthaben, und sie würde alsdann
nichts anderes sein als unser Innervationsgefühl.
Ich komme auf die eben berührte Frage vielleicht das
nächste Mal zurück, wenn ich von der Fühlsphäre des Affen
handele, welche die nämliche Lage hat wie die des Hundes und
unmittelbar vor der Sehsphäre sich befindet. Für heute will
loh schliessen, indem ich betone, dass die verschiedenen Sphären
der Grosshirnrinde, welche ich besprach, ein zusammenhängendes
Ganzes bilden. Wenn ich in Fig. 1 zwischen A und B einer-
seits, CDE andererseits eine Lücke liess, so wollte ich damit
nur sogleich beim Anblick der Figur die Aufmerksamkeit darauf
lenken, dass die Grenzen der verschiedenen Sphären, ebenso auch
die Grenzen der verschiedenen Regionen in der Fühlsphäre,
noch nicht genau sich haben bestimmen lassen, und dass gerade
die verschiedenen Grenzgebiete noch eine besondere Untersuchung
verdienen.
Anmerkungen.
13 s. 0. S. 13—13.
1* S. 0. S. 12.
15 S. 0. S. 23—24.
1« S. 0. S. 24.
1' S. 0. S. 23.
18 S. 0. S. 25.
1^ Ich habe diese Bezeichnung im Jahre 1877 nach vieler Ueber-
legung gewählt und ihr vor „Vorstellungsblindheit" oder „Erinnerungs-
blindbeit", die am nächsten lagen, aus guten Gründen den Vorzug geben
zu müssen geglaubt. Indem ich wiederholt definirte : Seelenblindheit =
Fehlen der Gesichtsvorstellungen, der Erinnerungsbilder der Gesichtswahr-
nehmungen (s. 0. S. 12, 21, 29), durfte ich die Benutzung von „Seele"
für gerade so unbedenklich halten, wie wenn ich aBlindheit oder /JBlind-
heit gesagt hätte. Dass trotzdem Missverständnisse von Seiten flüchtiger
Leser nicht ausgeblieben sind, kann mich um so weniger veranlassen die
Bezeichnung aufzugeben, als ich eine bessere noch bis heute nicht gefun-
den habe. Vielleicht söhnt es übrigens Manchen mit dem Ausdruck aus,
dass derselbe sich als von sehr hohem Alter herausgestellt hat. Hr. Helm-
54 Dritle Mittbeilang.
holtz war so freundlich, mich darauf aufmerksam zu machen, dass Oedi-
pus zu Teiresias sagt:
CdXTjf9etag trßivoq) . . . „<ro« dh tout obx Iöt , htel
TO^Xöq rd z&za tow re vouv rä rofifiar e?."
(Sophoclis Oedipus Tyrannus, Edit. Nauck, 370.)
20 S. 0. S. 15 Anm. 9.
21 Die Wildheit der Aflfen Hess eine einfachere Ausschaltung des
Auges nicht zu. Erst in den letzten Jahren haben wir einige Afifen so weit
zu zähmen vermocht, dass das Auge durch ein gutes Klebepflaster
verschlossen gehalten werden konnte. — Ich bemerke bei der Ge-
legenheit, dass von den verschiedenen Affenarten, welche ich benutzte,
Macacus cynomolgus am passendsten für die Versuche sich erwies; Cyno-
cephalus war zu gross, Inuus Rhesus zu wild, Cercocebus sinicus zu wenig
resistent.
23 S. 0. S. 12, 24.
23 S. 0. S. 11.
2* Der Widerspruch, in welchem ich mich hier dem Wortlaute nach
mit dem oben in der Einleitung S. 4 Gesagten befinde, ist nur ein schein-
barer und durch den Doppelsinn von „Motilitätsstörung", bez. „ Sensibili-
tätsstörung " bedingt. Hier handelt es sich immer um Bewegungsstörun-
gen oder Abnormitäten in den Bewegungen, wie sie als Folgen der in Rede
stehenden Exstirpationen allgemein anerkannt sind, und Empfindungsstö-
rungen oder Abnormitäten in den Empfindungen. Dort in der Einleitung
hingegen war in Frage, ob motorische Störungen, d. h. Störungen des be-
wegenden Apparates oder sensible Störungen, d. h. Störungen des empfin-
denden Apparates den beobachteten Bewegungsstörungen zu Grunde liegen.
Man sieht, schon die möglichen Zweideutigkeiten hätten die Worte „Moti-
litätsstörung** und „Sensibilitätsstörung" ganz verbannen lassen müssen,
auch wenn die Folge oben im Text nicht noch ganz andere Gründe dafür
lieferte.
2^ S.o.S. 4. — Nothnagel hatte Störungen des Muskelsinns nur ver-
muthet, während Schiff Störungen der Hauterapfindungen, nachdem sie
vorher immer in Abrede gestellt worden waren, constatirt hatte.
2^ R. Volkmann 's Sammlung klinischer Vorträge. No. 112 (aus-
gegeben am 6. Juni 1877). S. 971, 972.
2' Andere Bezeichnungen waren: „ Muskelgefühl ", „Bewegungsem-
pfindung". Der Text giebt die präciseste Definition nach Helmholtz
(Handbuch der physiologischen Optik. Leipzig 1867. S. 595, 797).
Nach Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874.
S. 316, 481, 485, 488, 584) hätte die Definition gelautet: „an die mo-
torische Innervation geknüpfte centrale Empfindung (Empfindung aus cen-
traler Reizung)". Die Existenz einer solchen Empfindung oder Wahr-
nehmung wird oben von mir bestritten. — In der neueren Rede von
Helmholtz (Die Thatsachen in der Wahrnehmung. Berlin 1879) würde
Dritte Mittheilung. 55
ich der hierhergehörigen Ausführung S. 14 nicht beistimmen können, wohl
aber den Schlusssätzen S. 15.
^® Sitzungsberichte der Wiener Academie der Wissensch. Mathem.-
naturw. Classe. Bd. 60. Abth. 2. 1869. S. 460. — Archiv für Psy-
chiatrie. Bd. 2. 1870. S. 638. — Wiener medicin. Jahrbücher, 1872.
S. 200. — Zur Mechanik des Gehirnbaues. Vortrag. Wien 1874. S. 8
bis 9, 18. .
^^ Der aphasische Symptomencomplex. Eine psychologische Studie
auf anatomischer Basis. Breslau 1874. S. 5, 7, 12.
Vierte Mittheilimg.
(Vorgetragen in der Sitzung der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin am
29. November 1878.)*
Jjleine Herren! Als ich das letzte Mal die Ehre hatte, von
den Functionen der Grosshirnrinde vor Ihnen zu handeln, haben
wir vor der Sehsphäre und der Hörsphäre des Hundes in der
Rinde des Scheitellappens die Fühlsphäre der gegenseitigen Kör-
perhälfte keunen gelernt, d. h. denjenigen Abschnitt der Gross-
hirnrinde, welcher der Ort der Gefühlswahrnehmungen — der
Hautgefühle, der Muskelgefuhle und der Innervationsgefühle —
ist, uud in welchem die Gefühlsvorstellungen ihren Sitz haben
— die einfachen Druckvorstellungen, die zusammengesetzteren
Lagevorstellungen und die noch mehr zusammengesetzten Tast-
und Bewegungsvorstellungen. Verschiedene Regionen dieser Fühl-
sphäre ergaben sich den verschiedenen Körpertheilen zugeordnet,
und wir unterschieden vorerst eine Kopfregion, eine Vorderbein-
region und eine Hinterbeinregion als die selbständigen Fühl-
sphären des Kopfes, des Vorderbeines und des Hinterbeines der
gegenseitigen Körperhälfte. „Im Bereiche jeder solchen Fühl-
sphäre eines Körpertheiles", führte ich Ihnen aus, „bringen kleine
Exstirpationen den theilweisen Verlust der Gefühlsvorstellungen
des Körpertheiles, grössere Exstirpationen den völligen Verlust
der Gefühlsvorstellungen des Körpertheiles — Seelenlähmung
(Seelenbewegungs- und Seelengefühllosigkeit) des Körpertheiles
mit sich; doch können in dem Reste dieser Fühlsphäre die Ge-
* Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin, 1878/79.
No. 4 u. 5 (ausgegeben am 20. December 1878). — du Bois-Rey-
mond's Archiv, 1878. S. 547.
Vierte Mittheilung. • 57
fühlsvorstellungen sich von neuem bilden. Durch noch grössere
Exstirpationen erscheinen die Gefühle selbst geschädigt, und nur
ein Theil der Gefühlsvorstellungen vermag sich wiederherzu-
stellen; jene Schädigung und diese UnvoUkommenheit der Resti-
tution sind dabei desto grösser, je weniger von der Fühlsphäre
noch erhalten blieb. Die völlige Zerstörung der Fühlsphäre
eines Körpertheiles," damit schloss ich die Ausführung, „muss
den bleibenden Verlust aller Gefühle und Gefühlsvorstellungen
des Körpertheiles — Rindenlähmung (Rindenbewegungs- und
Rindengefühllosigkeit) des Körpertheiles — zur Folge haben. " ^
Mit der Fassung des letzten Satzes habe ich es damals
klar zu erkennen gegeben, welcher Vervollkommnung meine Ver-
suchsreihen noch bedurften. Es ist mir mit der Fühlsphäre
gerade so ergangen, wie das Jahr zuvor mit der Sehsphäre. Wie
Sie sich erinnern, war es mir erst nach einer grossen Zahl ver-
geblicher Versuche zweimal beim Hunde, zweimal, und zwar
hier beiderseitig, beim Affen gelungen, nach sehr ausgedehnter
Exstirpation der Sehsphäre die Gesichtsvorstellungen sich nicht
wiederbilden und die Gesichtswahrnehmung für die Dauer ge-
schädigt bleiben zu sehen. Die Seltenheit des Erfolges war nur
zu gut verständlich, da so grosse continuirliche Exstirpationen
der Rinde beträchtliche experimentelle Schwierigkeiten bieten,
überdies aber auch wohl das äusserste sind, was das Messer
am Grosshirn wagen darf, wenn es auf die Erhaltung der Ver-
suchsthiere ankommt. Es konnte deshalb nicht verwundern,
dass ich an der Fühlsphäre noch nicht das Höchste zu erzielen
vermocht hatte, dass ich nicht auch die einfachen Druck Vor-
stellungen durch die Exstirpationen hatte für die Dauer zum
Verschwinden bringen können; und in Anbetracht der Ergebnisse
der Versuchsreihen, welche ich Ihnen das letzte Mal mittheilte,
habe ich mich gewiss zunächst dabei beruhigen dürfen, dass ich
nach den grössten Exstirpationen nicht bloss die Tast- und Be-
wegungsvorstellungen, sondern auch die Lagevorstellungen nicht
hatte wiederkehren sehen. Indess hatte ich die Hoffnung nicht
aufgegeben, dass auch für die Fühlsphäre der Nachweis ihrer
Bedeutung gerade so vollkommen wie für die Sehsphäre sich
würde fuhren lassen, und ich habe meine Hoffnung nicht ge-
täuscht gesehen.
58 • Vierte Miubeilnn«?.
Die hierhergehörigeD Bemähangea habe ich sämmtlieh an
die Vorderbeinregion geknüpft, weil diese Region sehr gut zu-
gänglich ist und weil zugleich am Vorderbeine die Prüfung der
verschiedenartigen Gefuhlsvorstellungen am besten sich dur»:h-
fuhren lasst. So hatte ich im März d. J. einem grossen Hunde
die ganze Vorderbeinregion der linken Hemisphäre exstirpirt.
Als das Fieber vorüber war, boten sich neben Störunsren am
rechten Vorderbeine auch leichte atakrische Erscheinungen am
rechten Hinterbeine dar, doch bildeten sich die letzteren rasch
zurück tmd waren schon nach einigen Tagen ganz verschwunden.
Zehn Tage nach der Operation war die Wunde per primam ver-
heilt, und nun hätte man unseren Hund, besonders im Gehen
oder Laufen, bei flüchtiger Betrachtung leicht für unversehrt
halten können. Indess wies die genauere Untersuchung beträcht-
liche Störungen am rechten Vorderbeine nach, und diese Stö-
rungen bestanden nunmehr durch Wochen und Monate durchaus
imverändert in Qualität und Quantität fort, bis ich gegen Ende
Oetober den Hund, der von der Räude befallen war, musste
tödten lassen. Die Störungen waren folgende: Auf glattem
Boden glitt das rechte Vorderbein häufig aus, ebenso beim Trep-
penlaufen, wobei es auch öfters die Stufen verfehlte. Setzte
der Hund zum Gehen oder Laufen an, so bewegte sich das Bein
zunächst abnorm und wurde meist zu wenig gehoben, so dass
es scharrte. Auch inmitten des Gehens oder Laufens trat hin
und wieder solches Scharren ein, wenn der Hund die Richtung
der Bewegung änderte, und insbesondere, wenn er kurz umzu-
wenden suchte. Kam der Hund wieder zum Stehen, so wurde
dasselbe Bein in der Regel ungeschickt aufgesetzt, so dass es
bald schief mit der Fusssohle, bald gar mit dem Rücken der
2^hen oder des Fusses auf den Boden kam. Weiter führte das
rechte Vorderbein nie für sich allein eine Bewegung aus: es wurde
weder zum Greifen noch zum Eratzen benutzt, und war der Hund
durch Zuruf oder Handbewegung zum Pfotengeben veranlasst,
so wurde immer nur das linke, nie das rechte Vorderbein ge-
reicht. Hob man den Hund am linken Vorderbeine in die Höhe,
oder richtete sich der Hund selber am Tische auf, so wurde
das rechte Vorderbein nicht zur Unterstützung herangezogen;
und hatte man den Hund auf den Tisch gesetzt und das
Vierte Mittheilung, 59
rechte Vorderbein über den Tischrand gezogen, so dass es
frei herunterhing 5 so zog der Hund das Bein nicht zurück.
Dem Hunde fehlten mithin die Tast- und Bewegungsvorstellungen
für das rechte Vorderbein. Ebenso waren die Lagevorstellungen
fortgefallen; denn man konnte das rechte Vorderbein in den
Gelenken beugen und strecken oder nach vorn und nach hinten,
nach rechts und nach links verschieben, wie man wollte, man
stiess nie auf den mindesten Widerstand, und das Bein behielt
die gegebene Lage bei. Aber noch grösser war hier der Verlust.
Berührte man eines der drei anderen Beine ganz leicht mit dem
Finger oder mit dem Nadelknopfe, so sah der Hund sofort hin;
und drückte man nur ein wenig stärker, so hob sich das Bein,
und der Hund schickte sich zum Beissen an. Gleicher Druck
auf das rechte Vorderbein dagegen blieb ohne allen Erfolg, und
man musste sehr stark drücken und kräftig einstechen, ehe es
zum Heben des Beines kam; aber auch dann blieb der Hund
ganz theilnahmlos, und kein Muskel des Gesichtes oder des
Kopfes kam in Bewegung. Hier waren also durch die Exstir-
pation mit den zusammengesetzteren Gefühlsvorstellungen auch
die einfachen Druckvorstellungen oder, wie wir mit gleichem
Rechte sagen können, da Druckvorstellungen und Druckgefühle
bei dem Thiere experimentell sich nicht scheiden lassen, auch
die einfachen Druckgefühle für die Dauer erloschen.
Auf die Vollkommenheit, welche so meine Versuchsreihen
gewonnen haben, lege ich Gewicht. Der eigenthümliche Weg,
auf welchem wir zu unserer jetzigen Kenntniss von der Gross-
hirnrinde gelangt sind, hat auch einen eigenthümlichen Nach-
theil mit sich gebracht. Die Reizversuche, welchen wir die Er-
schliessung des früher unzugänglichen Gebietes verdanken, haben
den Glauben an motorische Centra oder, wie diejenigen sie
lieber nennen, welche den physiologisch unfassbaren „Willen"
dort angreifen lassen, an psychomotorische Centra in der Gross-
hirnrinde rasch so fest einwurzeln lassen, dass es eine schwere
Aufgabe geworden ist, den Glauben zu beseitigen. Und wenn
ich auch selber, seitdem das Verständniss der Fühlsphäre sich
mir eröffnet hat, mit der Annahfhe von Centren, wie sie sonst
der Bewegungsanregung dienen, innerhalb der Grosshirnrinde
gar nichts mehr anzufangen weiss, so habe ich es mir doch
60 Vierte Mittheilang.
nicht verhehlt, dass ein ganz umfassender Nachweis des Wesens
der Fühlsphäre verlangt werden könnte, um die Existenz eines
motorischen Abschnittes der Grosshirnrinde zu widerlegen. Jetzt
nun, nachdem durch geschlossene Versuchsreihen dargethan ist,
wie im Falle der Restitution in der Fühlsphäre immer erst die
einfacheren und dann die verwickeiteren Gefählsvorsteliungen
sich wieder einstellen, erst die Druckvorstellungen, dann die
Lage Vorstellungen, endlich die Tast- und Bewegungsvorstel-
lungen wiederkehren, und wie weiter durch grosse Exstirpationen
in der Fühlsphäre die Tast- und Bewegungsvorstellungen allein,
durch grössere Exstirpationen mit ihnen die Lagevorstellungen,
endlich durch noch grössere Exstirpationen auch die Drack-
vorstellungen für die Dauer zum Verschwinden gebracht werden:
jetzt, meine ich, wird man sich nicht mehr der Erkenntniss
verschliessen können, dass man es in dem als Fühlsphäre be-
zeichneten Abschnitte der Grosshirnrinde bloss mit Wahrneh-
mungen und Vorstellungen, die aus den Gefühlsempfindungen
fliessen, zu thun hat, und dass demgemäss nur die Bewegungs-
vorstellungen in der Fühlsphäre die Ursachen der sogenannten
willkürlichen Bewegungen sind.
Die Reihenfolge des Unterganges und der Restitution der
verschiedenartigen Gefühlsvorstellungen verdient auch von patho-
logischer Seite volle Beachtung. Bei der grossen und wahr-
haft aufreibenden Schwierigkeit, die es hat, von den Thieren
sicheren Aufschluss über ihr Wahrnehmen und ihr Vorstellen zu
erhalten, ist es schwer denkbar, dass die Experimentalphysio-
logie mehr als die Fundamente der Kenntniss der Grosshirn-
rinde sollte liefern können, und die weitere Einsicht zu ver-
schaflfen, wird der Pathologie vorbehalten bleiben. Dafür wird
aber auch in Krankheitsfällen viel genauer und umfassender
untersucht werden müssen, als es bisher geschehen ist; und
insbesondere hinsichts der Fühlsphäre wird, wo man bei Stö-
rungen der willkürlichen Bewegungen eine Rindenläsion ver-
muthet, mindestens auch auf die Druck-, die Lage- und die
Tastvorstellungen zu prüfen sein. Soweit ich die pathologische
Litteratur habe durchsehen können, ist in solchen Fällen wohl
manchmal das Fortbestehen der „Sensibilität" angemerkt, aber
kaum je habe ich es sichergestellt gefunden, dass wirklich noch
Vierte Mittheilung. 61
Rindensensibilität vorhanden war, die Berührungs- oder Druck-
gefuhle noch erhalten waren. Wo diese Gefühle unversehrt sich
finden sollten, werden entsprechend unseren kleineren Exstir-
pationen, deren Folgen ich Ihnen das vorige Mal schilderte,
immer nur kleinere Läsionen der Fühlsphäre anzunehmen sein.
Nach solchen Exstirpationen habe ich sogar, wie es vielleicht
gut ist hier beiläufig zu erwähnen, in den ersten Tagen nach
der Operation, in der Zeit also, welche für die Ihnen vorge-
legten Erfahrungen stets ausser Acht blieb, offenbar infolge
der Entzündung in der Umgebung der Exstirpationsstelle, die
Druckgefühle manchmal verstärkt, man kann sagen eine Rinden-
hyperästhesie gefunden. Wo man aber grössere Läsionen der
Fühl Sphäre vor sich haben wird, da werden, das lässt sich mit
Sicherheit voraussagen, gerade so wie nach unseren grösseren
Exstirpationen, neben den Bewegungsstörungen immer auch
Störungen im Bereiche der Tast-, der Lage- und der Druck-
vorstellungen zu finden sein.
Noch ein zweites allgemeines Resultat hinsichts der Fühl-
sphäre habe ich heute dem früher Mitgetheilten hinzuzufügen.
Die Fühlsphäre ist nicht auf die Rinde des Scheitellappens be-
schränkt, sondern sie hat eine wesentlich grössere Ausdehnung
und umfasst auch noch die Rinde des Stirnlappens. Ein Jahr
und darüber hat dieser Stirnlappen jedem Versuche, einen Ein-
blick in seine Functionen zu gewinnen, getrotzt, indem nach
seinem Fortfalle gar keine Störung an dem operirten Hunde
sich erkennen lassen wollte; aber endlich hat auch er sich ge-
fügt, und Sie werden nachher sehen, wie er nur einem schwerer
zu prüfenden Körpertheile zugeordnet ist.
Lassen Sie uns jetzt die einzelnen Regionen, in welche die
Fühlsphäre jeder Körperhälfte zerfällt, der Reihe nach be-
trachten. Diese Regionen sind, wie Sie sich erinnern, dadurch
charakterisirt, dass eine jede Region zu einem besonderen Theile
der Körperhälfte in Beziehung gesetzt ist, so dass Verletzungen
einer Region immer Störungen der Gefühle und Gefühlsvorstel-
lungen bloss für den zugehörigen Körpertheil zur Folge haben.
Solcher Regionen habe ich das vorige Mal drei unterschieden,
vorläufig, wie ich sagte: eine Kopfregion, eine Vorderbeinregion
und eine Hinterbeinregion. Heute kann ich Ihnen sieben Re-
Vierte Hittheilnng;.
giooen vorführen, und zwar nicht bloss heim Hunde, sondern
auch zugleich beim Affen, dessen Fühlsphäre bis auf unter-
geordnetere Momente, welche die Lage und die Ausdehnung der
verschiedenen Regionen betreffen , in allen Stücken mit der des
Hundes übereinstimmt.
Für die Versuche am Affen habe ich mir bisher 29 Thiere
verschaffen können. Von ihnen habe ich 8, theils durch
Fig. 3. Gros.'iliinirindB des Hundes,
A Sehsphäre. ß Hflrsphare. C—J Fühlsphfire,
D VordarboiLregion. C Hinterbairregion, K Kopfregion. /■' Augetiregion.
G Ohrregion. H Nackenregiuii. J Rumpfregiou,'
Krankheit, theils infoige der ersten Operation, ohne Ergebniss
verloren. An den übrigen 21 habe ich, da die meisten Thiere
2 — 3, einzelne sogar 4, endlich eines selbst 5 verschiedene, in
der Regel durch mehrmonatliche Zwischenräume von einander
getrennte Operationen überlebten, ca. 50 Versuche angestellt,
von welchen etwa '/j auf die Sehsphäre, % a,uf die Fühlsphäre
* Die Hölzsclinitte aind nach den bei dem Vortrage benutzten Wand-
tafeln augefertigt.
Vierte Mittheilnng.
63
\
entfallen. Ist nun auch die Zahl dieser Versuche nur klein
gegen die hunderte von Versuchen am Hunde, welche ich aus-
geführt habe, so kommt doch der kleineren Zahl eine wesentlich
erhöhte Bedeutung dadurch zu, dass ich die Versuche am Äffen
immer erst dann unternommen habe, wenn ich über die ana-
logen Verhältnisse beim Hunde schon genügend unterrichtet war,
so dass mir aus dem sonst unumgänglichen Tasten kein Ver-
Fig. 4. Grosshirnrinde des Alfeo.
A SeiBpiilire. C—J Fühkphara.
D Vorderbein regio n. V Hinterbeia regio □. J'^ Kupftegion. F Augenregion.
G OlirregioD. 11 NQckenregion. J Rumpfteginn,
Hit S ist die Ritideupurtie bezeicliuet. welctie nach den Erfahrungen am
Hunde als ESrsphSre anzuneliinon iaC*
lust beim Äffen erwachsen ist. Dass aber auch beim Affen,
- ebenso wie beim Hunde, alle meine Mittheilungen auf Erfahrungen
sich gründen, welche, nachdem die entzündliche Reaction vor-
, * Nach Fo rricr sollten in i^das Sehcantrutn. in (? das Höroentrum,
in B die Centren des Geruchs und des Geschmacks, im Ilippocampus ma-
jor und Oyrus hippocanipi (medial vom hinteren oberen Ende von ß) das
Taste e n tr u m , iif der Umgebung dar Pissura Rolandi die Cenlren der will-
kürlichen Bewegung, in A das Hunger centruiu (Centrum für die Visceral-
gefuhle) gelogen sein: Verlust beider Stirnlappea sollte eine deutliche
Schädigung der Intelligenz und der Aufmerlisamkoit mit sich bringen.^'
64 Vierte Mittheilong.
über, in wochen- und monatelanger Beobachtung des operirten
Thieres gemacht sind, das glaube ich hier, wenn auch vielleicht
zum üeberflusse, noch besonders hervorheben zu sollen.
Gehen wir von der Sehsphäre (A Fig. 3 und 4) aus nach
vom, so stossen wir zunächst und unmittelbar vor der Seh-
sphäre auf die Augenregion, die selbst^dige Fühlsphäre des
Auges (F), Sie nimmt beim AflFen den Gyrus angularis ein.
Beim Hunde ist sie weniger gut zu begrenzen; nur die Knickung
des Gyrus medialis, sein Uebergang in den Gyrus postfrontalis,
giebt einen Anhaltspunkt für ihr vorderes Ende ab, und an
der medialen Fläche der Hemisphäre, auf welche sie sich fort-
setzt, reicht sie bis zum Gyrus fornicatus. Exstirpationen dieser
Region, welche sich zu weit nach hinten erstrecken, bedingen
Störungen der Gesichtswahrnehmungen und Gesichtsvorstellungen
mit; greifen die Exstirpationen zu weit nach vom, so treten
nebenbei Störungen der Gefühle nnd Gefühlsvorstellungen fär
die Extremitäten und den Kopf auf. Wo rein die Augenregion,
sagen wir auf der linken Seite exstirpirt ist, findet sich folgen-
des. Zieht man am linken Auge die Lider mit den Fingern
von einander und vom Augapfel ab, und berührt man dann
leicht mit der Nadel den Bulbus oder die Conjunctiva palpe-
brae, so tritt sogleich Blinzeln und ein reiches Spielen der
Kopf- und Gesichtsmuskeln ein, das Thier sucht unter dem
Ausdrucke der Angst oder des Zornes den Kopf zurückzuziehen
oder zu wenden, und fast regelmässig schlägt das Thier mit
der linken Vorderextremität nach der angreifenden Hand. Ver-
fährt man ebenso am rechten Auge, so sieht man nichts als
Blinzeln, und man kann drücken und stechen, so lange man
will, das Thier bleibt durchaus mhig. Nähert man weiter den
Finger oder die Faust rasch dem linken Auge, so erfolgt jedes-
mal Blinzeln; dagegen bleibt dasselbe immer aus, wenn man
ebenso vor dem rechten Auge handthiert, und tritt hier erst
dann ein, wenn es zur unmittelbaren Berührung der Wimpern
oder der Lider gekommen ist. Solches Ausbleiben des Blin-
zeins hatten wir schon früher beobachtet 3^, wo durch Läsionen
der Sehsphäre Seelen- oder gar Rindenblihdheit herbeigeführt
war, das Thier somit die Gefahr, die seinem Auge drohte, nicht
sah; jetzt, da die * Gesichts Wahrnehmungen und die Gesichts-
Vierte Mittheilung. 65
Vorstellungen des Thieres nachweislich* ganz unversehrt sind,
kann das Ausbleiben nur darauf beruhen, dass die Grosshirn-
rinde den Sphincter palpebrarum nicht mehr in Thätigkeit zu
setzen vermag. Führt man bei fixirtem Kopfe des Thieres seine
Lieblingsspeise horizontal vor seinen Augen vorbei, so vollzieht
sich die Seitenwendung der Augen nach rechts nur unvollkom-
men und nimmt beträchtlich früher ein Ende als normal und
als die Seitenwendung nach links. Auch andere Augenbewegun-
gen erscheinen geschädigt, doch habe ich sie nicht einer ge-
nauen Untersuchung unterwerfen können. Hat man das linke
Auge dem Hunde verbunden oder dem Affen vernäht, so ver-
fehlt das Thier, beim Zugreifen mit dem Maule bez. der Hand,
die vorgeworfenen oder vorgehaltenen Nahrungsstücke, desto
öfter und desto auffälliger, je kleiner die Stücke sind. Affen,
welchen die Augenregion beiderseits exstirpirt war, habe ich
nach der unvollkommenen Restitution für die Dauer die Ge-
wohnheit beibehalten sehen, statt mit den Fingerspitzen, wie
es der normale Affe thut, immer mit der ganzen flachen Hand
die Haferkörner oder Mohrrübenstückchen zu ergreifen. End-
lich habe ich manchmal, nicht regelmässig, eine leichte Ptosis
und, beim Affen öfter als beim Hunde, ein mehr oder weniger
starkes Thränen des betroffenen Auges beobachtet; die Ptosis
war in der Regel nach 1 — 2 Wochen, das Thränen nach 1 bis
2 Monaten verschwunden. Eine Veränderung an der Pupille
habe ich nie als Folgeerscheinung der Exstirpation constatiren
können.
Unterhalb der Augenregion (F) und vor der Hörsphäre (B)^
in der Umgebung des Endstückes der Fossa Sylvii, liegt die
Ohrregion, die selbständige Fühlsphäre des Ohres (G). Für
die methodische Untersuchung dieser Region setzen die Gefässe
der Fossa Sylvii mit ihren zahlreichen und grossen die Region
überspinnenden Aesten ausserordentliche experimentelle Schwie-
rigkeiten. Nach continuirlichen Exstirpationen bin ich zwar
der Blutungen gut Herr geworden, aber die Thiere haben doch,
offenbar infolge der Circulationsstörungen, nie länger als 3 bis
4 Tage die Operation überlebt. Nur bei stückweisen Exstirpa-
tionen, wenn ich unter Vermeidung der grösseren Gefässe bloss
die zwischen ihnen befindliche Rinde heraushob, hatte ich Er-
H. Muuk, Fuuctioueu der Grosshiruriude. 5
66 Vierte Mittbeilnng;.
folg. In den nächsten Wochen war dann entweder gar keine
Vor- und Rückwärtsdrehung der gegenseitigen Ohrmaschel sicht-
bar, oder dieselbe erfolgte unvollkommener als die Drehung der
gleichseitigen Ohrmuschel; beim Hunde war zugleich eine Ge-
fühllosigkeit der gegenseitigen Ohrmuschel nachweisbar, beson-
ders regelmässig an deren convexer Fläche. Natürlich können
diese Erfahrungen nur als erste Wahrnehmungen der Bedeutung
dieser Region gelten; aber ich habe mich bisher mit ihnen be-
gnügen müssen und auch die untere und die hintere Grenze
dieser Region nicht genauer bestimmen können.
Weiter nach vorn folgen die drei Regionen, welche am
Hundehirn uns schon von früher her bekannt sind : die Hinter-
beinregion (C)y die Vorderbeinregion (D) und die Kopf-
region (E).
Nach Exstirpation der Kopfregion habe ich Seelenbewegungs-
losigkeit der gegenseitigen Zungenhälfte und der dort um den
Mund herum gelegenen Muskeln bestehen sehen; ausserdem
waren beim Hunde die Druckgefühle der gegenseitigen Gesichts-
hälfte verschwunden. Die Zungenlähmung habe ich immer nur
bei weit nach unten reichender Exstirpation gefunden. Ich
möchte glauben, dass die weitere Untersuchung diese Kopfregion
noch in mehrere Regionen wird zerfallen lassen.
Die Vorderbein- und die Hinterbeinregion habe ich so um-
fassend, wie beim Hunde, auch beim AflFen auf das Verhalten
aller Gefühls Vorstellungen je nach der Grösse der Exstirpation
untersucht und mit demselben Erfolge. Nur über das Verhalten
der Druckvorstellungen oder Druckgefiihle habe ich beim AflFen
keine sichere Auskunft mir verschaffen können. Obwohl wir
mit den meisten Affen monatelang uns beschäftigt haben, sind
wir doch nicht im Stande gewesen, eines dieser Thiere abzu-
richten, ja selbst nur einigermassen zu zähmen; und die un-
überwindliche Scheu der Thiere vereitelte jede Untersuchung der
Druckgefühle, indem die Thiere entweder ganz ungeberdig sich
verhielten oder aber, gewaltsam niedergehalten, jeden AngriflF
der Haut mit voller Apathie über sich ergehen liessen. Die
dadurch bedingte Unvollkommenheit der Untersuchung ist ge-
wiss bedauerlich, und sie wäre auch von Bedeutung gewesen,
wenn wir den Affen als erstes und alleiniges Versuchsthier ge-
Vierte Mittheilung. 67
habt hätten; sie ist aber nunmehr unwesentlich, da wir beim
Hunde mit den übrigen Gefühlen und Gefühlsvorstellungen auch
die Druckgefühle oder Druck Vorstellungen genau haben verfolgen
können. Die Schädigung und der Verlust der Lagevorstellun-
gen, wie der Tast- und Bewegungsvorstellungen treten bei dem
Reichthum an Bewegungsarten, der den Affen vor dem Hunde
auszeichnet, bei dem ersteren noch viel deutlicher und über-
raschender hervor, als bei dem letzteren.
Als ich das vorige Mal vorerst die drei in Rede stehenden
Regionen an der Fühlsphäre des Hundes unterschied, sagte ich,
dass „Verletzungen innerhalb der Strecke D Störungen am
Vorderbein und Vorderrumpf, Verletzungen innerhalb der Strecke C
Störungen am Hinterbein und Hinterrumpf mit sich bringen". ^^
Die Rumpftheile so mit den Extremitäten zusammenzulegen, war
ich damals dadurch veranlasst, dass ich nach Exstirpationen
innerhalb der als Vorderbeinregion bezeichneten Strecke auch
Störungen am Nacken hatte eintreten sehen. Indess hat jetzt
die eingehendere Untersuchung ergeben, dass für den Nacken
und den Rumpf eigene Regionen der Fühlsphäre existiren. Was
ich heute Hinterbeinregion (C) nenne, ist also die selbständige
Fühlsphäre ausschliesslich des Hinterbeines, und was ich heute
Vorderbeinregion (D) nenne, ist die selbständige Fühlsphäre
ausschliesslich des Vorderbeines. Die Hinterbeinregion erstreckt
sich beim Affen wie beim Hunde auch über die mediale Fläche
der Hemisphäi-e bis zum Gyrus fornicatus. Ob das gleiche für
das vorderste Stück der Hinter beinregion des Affen gilt, weiss
ich nicht; sicher aber gilt es nicht für die Vorderbeinregion
des Hundes; Diese Region erstreckt sich nicht einmal so weit,
wie ich es früher anzeigte ^^, bis zur Fissura longitudinalis, son-
dern zwischen dem medialen Ende ihrer vorderen Hälfte und
dem Gyrus fornicatus liegt an der oberen und medialen Fläche
der Hemisphäre die sechste Region der Fühlsphäre des Hundes,
die Nackenregion (H Fig. 3).
Hat man einem Hunde die ganze Nackenregion, sagen wir
linkerseits exstirpirt, so trägt der Hund, wenn nach einigen
T^gen das Fieber vorüber, den Kopf stets nach links gedreht,
und er hat die Fähigkeit verloren, den Kopf und sich im ganzen
rechtsherum zu drehen, während er alle Drehungen linksherum,
5*
68 Vierte Mittbeilung.
sowohl die des Kopfes wie die hakenförmigen oder die zeiger-
förmigen oder die reitbahnartigen des ganzen Körpers, ebenso
leicht und gut ausführt wie der unversehrte Hund. Zugleich
ist der Verlust der Druckgefiihle für die rechte Seite des Nackens
zu constatiren: auf jede Berührung der linken Seite antwortet
der Hund mit Hinsehen oder gar Beissenwollen ; dagegen muss
man ihn rechts sehr stark drücken oder stechen, ehe überhaupt
eine Reaction erfolgt, und auch dann treten nur unregelmässige
Bewegungen der Extremitäten ein, bei voller Ruhe der Kopf-
und Gesichtsmuskeln. Wirft man dem Hunde Fleischstücke
vor, so geht er an die zu seiner Linken in normaler Weise
heran; um aber die zu seiner Rechten aufzunehmen, dreht er
sich jedesmal zunächst linksherum, selbst dann, wenn man dicht
an seinem rechten Auge vorbei das Fleischstück hat herabfallen
lassen. Geht oder läuft der Hund ruhig vor sich hin, ohne
dass seine Aufmerksamkeit einem bestimmten Gegenstande zu-
gewendet ist, so dreht er sich immer und immer wieder in
grösseren oder kleineren Bögen linksherum. Das ist nicht im
mindesten eine Zwangsbewegung, ebensowenig wie die ähnlichen
Linksdrehungen, welche an Hunden, die auf dem rechten Auge
Seelen- oder rindenblind gemacht sind, in der ersten Zeit nach der
Operation zur Beobachtung kommen; vielmehr beruhen beide Male
die Drehungen darauf, dass gerade die Absicht, in alter Weise
geradeaus zu gehen, den Hund nunmehr naturgemäss zur Links-
drehung führt, im ersteren Falle infolge der ihm unbewussten
falschen Kopfstellung, im letzteren Falle infolge der ihm unbe-
wussten Einschränkung des Gesichtsfeldes. Diese Linksdrehun-
gen beim Gehen und Laufen werden denn auch mit der Zeit
immer seltener von unserem Hunde ausgeführt und kommen
nach einigen Wochen fast^ gar nicht mehr vor. Später lernt
auch noch allmählich der Hund sich nach rechts bewegen, in-
dem er mit nach links gedrehtem Kopfe die Rücken- und Len-
denwirbelsäule so krümmt, dass ihre Concavität nach rechts
und hinten sieht, oder auch sich ganz im Becken dreht, und er
nähert sich nunmehr den rechts von ihm befindlichen Gegen-
ständen in einem grossen, nach vorn und rechts beschriebenen
Bogen. Der Bewegung der rechtsseitigen Nackenmuskeln,
wie der Rechtsdrehung bleibt der Hund dauernd unfähig,
Vierte Mittheilung. 69
und auch die übrigen geschilderten Störungen bestehen unverän-
r
dert fort.
Nach unvollkommenen, doch grossen Exstirpationen inner-
halb der Nackenregion ist zunächst alles ebenso, und es kommt
nur in den folgenden Wochen zu einer mehr oder weniger voll-
ständigen Restitution. Nach kleinen Exstirpationen aber beob-
achtet man die geschilderten Störungen nicht; hier finden sich
nur die Druckgefühle an der der Läsion entgegengesetzten Seite
des Nackens und die Fähigkeit, den Kopf nach eben dieser
Seite zu drehen, in höherem oder geringerem Grade geschädigt.
Am deutlichsten tritt die Bewegungsstörung hervor, wenn der
Hund bei feststehendem Rumpfe mit dem Kopfe dem vorgehalte-
nen Fleischstücke folgt, während man das Fleischstück bald an
dem einen, bald an dem anderen Auge vorbei im Bogen nach
den Rückenwirbeln hin bewegt: linksherum dreht der Hund den
Kopf ganz normal, so dass er das Fleischstück über den Wir-
beln mit der Schnauze erfasst, während die Drehung rechts-
herum stets früher ein Ende nimmt und nun erst eine Bewe-
gung des Rumpfes und der Extremitäten zur Hülfe kommen
muss, wenn der Hund das Fleischstück über den Wirbeln soll
erhaschen können.
Die siebente Region endlich der Fühlsphäre des Hundes,
die Rumpf region (J Fig. 3), nimmt den Stirnlappen ein.
Für die Untersuchung dieses Lappens empfiehlt sich ein
eigenes operatives Verfahren. Sonst habe ich regelmässig mit
Trepan und Knochenzange den Knochen über der für den An-
griff ausersehenen Hirnstelle entfernt, die bis dahin unversehrte
Duradecke passend gespalten und zurückgeschlagen oder auch
abgetragen, endlich die zu exstirpirende Rindenpartie mit dem
Messer erst umschnitten und darauf herausgeschnitten. So habe
ich im letzten Jahre auch ohne die Verletzung des Sinus longi-
tudinalis, welche ich früher für unvermeidlich hielt 3^, die me-
diale Fläche der Hemisphäre untersuchen können, indem sich
von einer seitlichen Trepanöfifnung her das knöcherne Dach über
dem Sinus, ohne dass dieser Schaden nimmt, wegbrechen und
darauf der Sinus gut beiseiteschieben lässt. Für die Freilegung
des Stirnlappens aber bietet der Trepan gar keinen Vortheil;
und da sowohl die tiefe Lage des Lappens wie seine grosse
70 Vierte Mittheilung.
Oberfläche bei geringer Dicke nur schwer und uflzureichend die
Exstirpation der Rinde zulassen, trennt man hier auch besser
den ganzen Lappen vom übrigen Grosshirn ab. Wollte ich
beide Stirnlappen entfernen, so verfuhr ich folgendermassen:
Mit einer kleinen convexen Säge sägte ich das Schädeldach zu
beiden Seiten der Mittellinie und senkrecht zu dieser durch,
einmal nahe hinter der Rückwärtsbiegung des Stirnbeins und
zweitens 5 — 8 mm. davor; dann stemmte ich mit dem Meissel
zwischen den Sägeschnitten jeder Seite den Knochen soweit fort,
dass ich bequem die Zange zur Verwendung bringen konnte,
und ging nunmehr mit der Zange so vor, dass ich die beider-
seitigen Oeffnungen sowohl über den Sinus hinweg mit einander
in Verbindung setzte, als auch beträchtlich nach vorn und nach
der Seite hin erweiterte, bis ich durch den Rest der Stirnhöhlen
in die Nasenhöhlen sah und die ganze obere Fläche der Stirn-
lappen, bedeckt von der unverletzten Dura, überblickte. Danach
spaltete ich jederseits die Dura an der hinteren Grenze des
Stirnlappens, dieser Grenze parallel, von oben nach unten, in-
dem ich nur den Sinus schonte, stach ebendort dicht unter dem
Sinus ein spitzes Messer mit sehr stumpfem Rücken, die Schneide
nach abwärts, quer durch beide Stirnlappen mitsammt der Falx
hindurch und führte das Messer möglichst weit nach unten.
Wie die Sectionen ergaben, reichte der Schnitt meist dicht an
den Riechlappen heran, der selber jedoch nie getroffen wurde.
Wollte ich nur den einen der beiden Stirnlappen entfernen, so
verfuhr ich ebenso bloss auf der betreffenden Seite, aber auch
da legte ich den Sinus frei; indem ich das Messer langsamer
und vorsichtiger an der hinteren Grenze des Stirnlappens ein-
führte, liess sich an dem grösseren Widerstände, den die Falx
der Durchschneidung entgegensetzt, recht gut erkennen, wann
die Spitze des Messers die Falx erreicht hatte. Wunderbar ge-
nug, so sehr ich sonst nach den Operationen aller Art Verluste
zu beklagen hatte, nach den in der geschilderten Weise ausge-
führten Trennungen der Stirnlappen habe ich bisher noch kein
einziges Thier verloren ; die Verletzung heilte immer durch Eite-
rung und in den günstigen Fällen schon in 2 — 3 Wochen, es
schloss sich dann die Schädelwunde sehr rasch, und der Eiter
floss durch die Nase ab.
Vierte Mittheilung. 7 I
Nach der Abtragung beider Stirnlappen erscheint die Rücke n-
und Lenden Wirbelsäule des Hundes katzenbuckelartig gekrümrat,
so dass die hinteren Extremitäten über die Norm den vorderen
genähert sind, und der Hund hat vollkommen die Fähigkeit
verloren, die Rücken- und Lendenwirbel zu bewegen und gegen
einander zu verschieben. Die Bewegungen der Nackenwirbel
und die Drehungen des Kopfes führt dieser Hund alle in ganz
normaler Weise aus, auch sind die Rücken- und Lendenwirbel
passiv gerade so, wie früher, gegen einander beweglich, aber
die active Beweglichkeit der letzteren Wirbel ist erloschen, so
dass die Rücken- und Lendenwirbelsäule jetzt für den Hund
den Vortheil der Gliederung fast verloren hat. Führt man ein
vorgehaltenes Fleischstück im Bogen von dem Auge nach der
Schwanz Wurzel hin, so krümmt sich der normale Hund all-
mählich mit seiner ganzen Wirbelsäule hakenförmig, ohne die
Extremitäten zu bewegen, und erreicht das Fleischstück gut
mit der Schnauze über der Schwanzwurzel; unser Hund indess
dreht bloss Nacken und Kopf, der Rücken bleibt ganz gerade,
und es bedarf erst einer Verschiebung der Extremitäten und
einer Drehung im Becken, dass er das Fleischstück erhascht.
Auch die Drehungen beim Gehen- und Laufen führt der ver-
stümmelte Hund nur im Becken aus, so dass sie auffallend un-
geschickt und bloss in grossem Bogen erfolgen; ist er durch
Zuruf inmitten des Laufens plötzlich zu wenden veranlasst, so
stolpert er und bewahrt sich nur mühsam vor dem Fallen. Ist
bloss ein Stirnlappen, z. B. der linke, abgeschnitten, so kann
sich der Hund in normaler Weise linksherum drehen, und er
macht auch beim Gehen und Laufen die freiwilligen Wendungen
immer linksherum ; dagegen bleiben alle Bewegungen der Rücken-
und Lendenwirbel, welche die Thätigkeit der rechtsseitigen
Rückenmuskeln erfordern, bei ihm gerade so aus, wie bei dem
beiderseitig operirten Hunde. Führt man bei demselben Hunde
den vorhin angegebenen Versuch derart aus, dass man das
Fleischstück vom Auge zur Schwanzwurzel das eine Mal an der
rechten, das andere Mal an der linken Seite des Hundes im
Bogen herumführt, so tritt die ünbeweglichkeit der rechten
Rumpfhälfte gegenüber der linken äusserst schlagend hervor,
üeber das Verhalten der Druckgefühle am Rücken habe ich
7 2 Vierte Mittheilung.
nichts mit Sicherheit ausmachen können, weil schon der unver-
sehrte Hund gegen Eingriffe, welche seine Rückenhaut treffen,
sich äusserst indolent verhält.
Beim Affen nehmen die Nackenregion (fl) und die
Rumpfregion (./ Fig. 4) den Stirnlappen vor dem Sulcus
parietalis anterior ein. Aus Mangel an Material habe ich hier
die beiden Regionen örtlich noch nicht scharf getrennt; doch
lässt sich aus den Erfolgen der unvollkommenen Exstirpationen,
nach welchen ich eine gewisse Beweglichkeit die einen Male
der Nackenwirbel, die anderen Male der Rücken- und Lenden-
wirbel erhalten sah, entnehmen, dass die Nackenregion zu
hinterst, dicht vor dem Sulcus parietalis anterior, und die
Rumpfregion weiter nach vorn gelegen ist. Hat man dem
Affen die Rinde an der ganzen oberen Fläche und an dem vor-
deren Stücke der unteren Fläche eines Stirnlappens exstirpirt,
so beobachtet man genau dasselbe, wie wenn man einem Hunde
Nacken- und Rumpfregion einer Seite zusammen fortgenommen
hätte; die geschilderten Bewegungsstörungen treten nur bei dem
beweglicheren Affen noch deutlicher hervor als bei dem Hunde.
Ist linkerseits exstirpirt, so hält der Affe ständig den Kopf
nach links gedreht, und seihe Rücken- und Lendenvvirbelsäule
ist abnorm nach rechts gekrümmt; alle Drehungen werden links-
herum ausgeführt, jede Drehung rechtsherum ist unmöglich, ja
sogar jede Bewegung nach rechts fehlt in den ersten Wochen.
Ein reizendes Schauspiel bietet sich jetzt dar, wenn man vor
dem ruhig dasitzenden Affen Mohrrübenstücke ausstreut: der
Affe bringt die zur Linken seines Kopfes befindlichen Stücke an
sich, macht dann eine fast volle Umdrehung linksherum und
ergreift das früher zunächst nach rechts gelegene, jetzt zu
äusserst links befindliche Stück, macht von neuem eine solche
Umdrehung wie vorhin und ergreift das nunmehr zu äusserst
links gelegene Stück, die Umdrehung wiederholt sich, und so-
geht es fort, bis der Reihe nach von links nach rechts alle
Stücke aufgenommen sind. Führt man an einem solchen Affen
später die gleiche Exstirpation auch rechterseits aus, so ist die
schiefe Kopfstellung beseitigt, der Kopf wird in alter Weise
gerade und nur etwas gesenkt gehalten, die abnorme Krüm-
mung der Wirbelsäule ist verschwunden , und jede Drehung,
Vierte Mittheilung. 73
linksherum wie rechtsherum, ist unmöglich. Während der ein-
seitig operirte Affe, der die Fähigkeit der Linksdrehung noch
besitzt, erst nach Wochen es lernt, mittels der Drehung des
Rumpfes im Hüftgelenk sich nach rechts zu bewegen, führt der
beiderseitig operirte Affe, offenbar durch die Noth erfinderischer,
schon in den ersten Tagen die Drehungen im Becken aus. Aber
natürlich ist trotzdem der früher so gelenkige Affe nunmehr
ein höchst unbeholfenes Thier. Geradeaus gehen, laufen, klet-
tern kann er ebenso gut wie zuvor; aber in die Noth wendigkeit
versetzt, sich zu wenden, weiss er allenfalls noch beim Gehen
und Laufen mit dem Reste seiner Mittel sich zu helfen, doch
beim Klettern geräth er immer sehr bald in Schwierigkeiten,
die er nur höchst mühsam und ungeschickt, ja manchmal auch
gar nicht zu überwinden vermag, und ein jäher Sturz aus der
Höhe ist hier oft der Abschluss des zu kühnen Unternehmens.
So haben wir nun die Kenntniss erworben oder, richtiger
gesagt, die erste Bekanntschaft gemacht fast der ganzen grauen
Grosshirn-Oberfläche. Nur der Gyrus fornicatus an der medialen
Fläche und eine nicht grosse Partie an der unteren Fläche der
Hemisphäre haben sich uns noch entzogen. Von der letzteren
Partie ist guter Anlass Vorhanden zu glauben, dass sie die
Riechsphäre und die Schmecksphäre enthalte, welchen beiden
wir noch nicht begegnet sind.
Wo ist denn aber, höre ich fragen, der Sitz der Intelligenz,
da ich doch von deren Verlust noch nie gesprochen habe, selbst
nicht nach der Exstirpation der Stirnlappen, die stets in bedeut-
same Verbindung mit ihr gebracht worden sind^^? Die Intelli-
genz, so muss die Antwort lauten, hat überall in der Gross-
hirnrinde ihren Sitz und nirgend im besonderen; denn sie ist
der Inbegriff und die Resultirende ^^ aller aus den Sinneswahr-
nehmungen stammenden Vorstellungen. Jede Läsion der Gross-
hirnrinde schädigt die Intelligenz, desto mehr, je ausgedehnter
die Läsion ist, und zwar immer durch den Ausfall derjenigen
Gruppe einfacherer und verwickelterer Vorstellungen, welche die
Sinneswahrnehmung der betroffenen Strecke zur Grundlage
haben; die Schädigung besteht für die Dauer fort, wenn ent-
weder die wahrnehmenden Elemente selbst mit fortgefallen
sind, oder wenn auch bloss nicht Substanz übrig geblieben ist,
74 Vierte Mittheilung.
welche von neuem der Sitz der verlorenen Sinnesvorstellungen
werden könnte. Seelenblindheit, Seelentaubheit, Seelenlähmung
des einen und des anderen Körpertheiles schliessen, ob sie voll-
kommen oder unvollkommen ausgebildet sind, jede für sich eine
eigenartige Beschränkung der Intelligenz ein; und je mehr sie
sich combiniren, desto mehr wird die Intelligenz an Umfang
abnehmen, desto mehr wird, bei erhaltener Wahrnehmung, der
Kreis der vorhandenen Vorstellungen eingeengt und die Bildung
neuer Vorstellungen verhindert Sein, so dass früher oder später
das Thier abnorm geistig beschränkt, blödsinnig uns erscheinen
wird. Für die Schätzung der Intelligenz wird dann aber noch
die Beschaffenheit gerade der Fühlsphäre von hervorragender
Bedeutung sein, weil von dieser die Grosshirnrinden- Bewegun-
gen, die sogenannten willkürlichen Bewegungen, abhängig sind,
nach welchen allein wir den Vorstellungskreis eines anderen
Individuums zu beurtheilen vermögen.
Mit der Seelenblindheit, der Seelentaubheit, der Seelen-
lähmung habe ich Ihnen also auch jedesmal den theil weisen
Verlust der Intelligenz vorgeführt. Und wenn wir den seelen-
blinden oder den seelentauben Hund, wenn wir den Affen, der,
seelengelähmt an einer Vorderextremität, die Hand nicht mehr
zum Munde zu führen versteht, so gross auch seine Gier nach
dem in die Hand gesteckten Leckerbissen ist, oder den anderen
Affen, der eine oder beide Stirnlappen verloren hat und so
wunderlich sich verhält, nicht als blödsinnig ausgegeben haben,
so hatte das nur darin seinen Grund, dass wir eben, was ober-
flächlich den Namen Blödsinn führt, tiefer zu zergliedern ver-
mochten. Käme es darauf an, ohne den Zweck solcher Zer-
gliederung einfach Blödsinn experimentell zu erzeugen, ich
wüsste keine bessere Methode, als die von Hrn. Goltz geübte
des Ausspülens der Grosshirnrinde 3®; wie denn in der That
Hrn. Goltz' Hunde nach ausgedehnter Verstümmelung beider
Hemisphären „im Aussehen wie im Handeln den Eindruck von
Blödsinnigen machten** 3^. Oft genug sieht man auch bei den
Exstirpations versuchen die Natur das Experiment ersetzen, indem
jedesmal Blödsinn allmählich sich ausbildet und sich steigert,
wenn eine Meningitis mit oberflächlicher Encephalitis von der
Hirnwunde aus über beide Hemisphären sich verbreitet.
Vierte Mittheilung. 75
Sobald solche Meningitis sehr weit über beide Hemisphären
sich erstreckt, finden wir Bewusstlosigkeit. Dafür scheint es
erforderlich zu sein, dass die ganze oder fast die ganze Rinde
ausser Function kommt. Nur ist wiederum zu bedenken, dass
wir bloss durch die Grosshirnrinden -Bewegungen des Thieres,
bloss also mittels seiner Fühlsphäre Aufschluss über sein Be-
wusstsein erhalten, und dass daher die völlige Vernichtung
beiderseits der Fühlsphäre allein uns ein Thier wird bewusstlos
erscheinen lassen können, das in der Wirklichkeit noch nicht
bewusstlos ist. Vielleicht hängt damit die auffällige Erfahrung
zusammen, welche ich gemacht habe, dass, sobald ein Hirn-
abscess in den Ventrikel durchgebrochen war, gleichviel wo der
Durchbruch erfolgt und wie gross die Oeffnung war, nach einigen
Stunden — eher kamen die Fälle nicht zur Beobachtung —
regelmässig Bew.usstlosigkeit gefunden wurde.
Anmerkungen.
30 S. 0. S. 50.
31 S. 0. S. 14, 37.
33 S. 0. S. 29.
33 S. 0. S. 44.
34 s. 0. Fig. 12), S. 29.
35 S. 0. S. 24, 32.
3* Es ist das seit dieser Mittheilung so rasch vergessen worden, dass
ich einige Citate geben muss. Ich werde mich auf zwei Autoren aus der
unmittelbar vorhergegangenen Zeit beschränken können: Hitzig, Unter-
suchungen über das Gehirn. Berlin 1874. S. 127 — 28. — Ferrier,
The functions of the brain. London 1876. p. 287 — 88. (Die Functionen
des Gehirns, üebersetzt von Obersteiner. Braunschweig 1879. S. 324
bis 325.)
3' Ich glaube auf die Worte „und die Resultirende** noch besonders
aufmerksam machen zu sollen. Es handelt sich danach nicht bloss um die
Vorstellungen, sondern auch um das, wofür dieselben Verwendung finden,
wozu sie weiter dienen.
38 Pflüger'sArch. Bd. 13. 1876. S. 3; Bd. 14. 1877. S. 413. —
Eine spätere Abänderung des Verfahrens s. noch ebenda, Bd. 20. 1879.S. 8.
39 Pflüger's Archiv, Bd. 14. 1877. S. 29.
74 Vierte Mittheilung.
welche von neuem der Sitz der verlorenen Sinnesvorstellangen
werden könnte. Seelenblindheit, Seelentaubheit, Seelenlähraung
des einen und des anderen Körpertheiles schliessen, ob sie voll-
kommen oder unvollkommen ausgebildet sind, jede für sich eine
eigenartige Beschränkung der Intelligenz ein; und je mehr sie
sich combiniren, desto mehr wird die Intelligenz an Umfang
abnehmen, desto mehr wird, bei erhaltener Wahrnehmung, der
Kreis der vorhandenen Vorstellungen eingeengt und die Bildung
neuer Vorstellungen verhindert sein, so dass früher oder später
das Thier abnorm geistig beschränkt, blödsinnig uns erscheinen
wird. Für die Schätzung der Intelligenz wird dann aber noch
die Beschaffenheit gerade der Fühlsphäre von hervorragender
Bedeutung sein, weil von dieser die Grosshirnrinden- Bewegun-
gen, die sogenannten willkürlichen Bewegungen, abhängig sind,
nach welchen allein wir den Vorstellungskreis eines anderen
Individuums zu beurtheilen vermögen.
Mit der Seelenblindheit, der Seelentaubheit, der Seelen-
lähmung habe ich Ihnen also auch jedesmal den theilweisen
Verlust der Intelligenz vorgeführt. Und wenn wir den seelen-
blinden oder den seelentauben Hund, wenn wir den Affen, der,
seelengelähmt an einer Vorderextremität, die Hand nicht mehr
zum Munde zu führen versteht, so gross auch seine Gier nach
dem in die Hand gesteckten Leckerbissen ist, oder den anderen
Affen, der eine oder beide Stirnlappen verloren hat und so
wunderlich sich verhält, nicht als blödsinnig ausgegeben haben,
so hatte das nur darin seinen Grund, dass wir eben, was ober-
flächlich den Namen Blödsinn führt, tiefer zu zergliedern ver-
mochten. Käme es darauf an, ohne den Zweck solcher Zer-
gliederung einfach Blödsinn experimentell zu erzeugen, ich
wüsste keine bessere Methode, als die von Hrn. Goltz geübte
des Ausspülens der Grosshirnrinde ^^ ; wie denn in der That
Hrn. Goltz' Hunde nach ausgedehnter Verstümmelung beider
Hemisphären „im Aussehen wie im Handeln den Eindruck von
Blödsinnigen machten" ^^ Oft genug sieht man auch bei den
Exstirpationsversuchen die Natur das Experiment ersetzen, indem
jedesmal Blödsinn allmählich sich ausbildet und sich steigert,
wenn eine Meningitis mit oberflächlicher Encephalitis von der
Hirnwunde aus über beide Hemisphären sich verbreitet.
Vierte Mittheilung. 75
Sobald solche Meningitis sehr weit über beide Hemisphären
sich erstreckt, finden wir Bewusstlosigkeit. Dafür scheint es
erforderlich zu sein, dass die ganze oder fast die ganze Rinde
ausser Function kommt. Nur ist wiederum zu bedenken, dass
wir bloss durch die Grosshirnrinden -Bewegungen des Thieres,
bloss also mittels seiner Fühlsphäre Aufschluss über sein Be-
wusstsein erhalten, und dass daher die völlige Vernichtung
beiderseits der Fühlsphäre allein uns ein Thier wird bewusstlos
erscheinen lassen können, das in der Wirklichkeit noch nicht
bewusstlos ist. Vielleicht hängt damit die auffällige Erfahrung
zusammen, welche ich gemacht habe, dass, sobald ein Hirn-
abscess in den Ventrikel durchgebrochen war, gleichviel wo der
Durchbruch erfolgt und wie gross die Oeffnung war, nach einigen
Stunden — eher kamen die Fälle nicht zur Beobachtung —
regelmässig Bew.usstlosigkeit gefunden wurde.
Anmerkungen.
30 S. 0. S. 50.
31 S. 0. S. 14, 37.
33 S. 0. S. 29.
33 S. 0. S. 44.
34 s. 0. Fig. 1 A S. 29.
35 S. 0. S. 24, 32.
3* Es ist das seit dieser Mittheilung so rasch vergessen worden, dass
ich einige Citate geben muss. Ich werde mich auf zwei Autoren aus der
unmittelbar vorhergegangenen Zeit beschränken können: Hitzig, Unter-
suchungen über das Gehirn. Berlin 1874. S. 127 — 28. — Ferrier,
The functions of the brain. London 1876. p. 287 — 88. (Die Functionen
des Gehirns, üebersetzt von Obersteiner. Braunschweig 1879. S. 324
bis 325.)
3' Ich glaube auf die Worte „und die Resultirende" noch besonders
aufmerksam machen zu sollen. Es handelt sich danach nicht bloss um die
Vorstellungen, sondern auch um das, wofür dieselben Verwendung finden,
wozu sie weiter dienen.
38 Pflüger'sArch. Bd. 13. 1876. S. 3; Bd. 14. 1877. S. 413. —
Eine spätere Abänderung des Verfahrens s. noch ebenda, Bd. 20. 1879.S. 8.
> 39 pfiüger's Archiv, Bd. 14. 1877. S. 29.
Fünfte Hittheilimg.
(Vorgetragen in der Sitzong der Physiologischen Gesellschaft za Berlin am
4. Juli 1879.)*
JxLeine Herren! Der Fortschritt in der Kenntniss der Grosshirn-
rinde, über welchen ich Ihnen heute zu berichten vorhabe, be-
trifft die Sehsphäre und insbesondere die Sehspbäre des Hundes.
Wie Sie sich von meiner ersten Mittheilung vom März 1877
her erinnern, ist der Ausgangspunkt meiner Untersuchungen die
Erfahrung gewesen, dass nach beiderseitiger Exstirpation einer
nahe der hinteren oberen Spitze des Hinterhauptslappens ge-
legenen Rindenstelle A^ — selbstverständlich hier und in der
Folge immer, wenn nach einigen Tagen die entzündliche Reaction
und damit die Functionsstörung in der Umgebung der Exstir-
pationsstellen vorüber — der Hund seelenblind ist, d. h. wohl
noch Gesichts Wahrnehmungen hat und alles sieht, aber die Ge-
sichtsvorstellungen, welche er besass, seine Erinnerungsbilder
der früheren Gesichtswahrnehmungen, verloren hat, so dass er
nichts kennt oder erkennt, das er sieht. Es ergab sich weiter,
dass diese Seelenblindheit mit der Zeit sich verliert, und zwar
dadurch, dass der Hund mittels seiner neuen Gesichtswahr-
nehmungen von neuem Gesichtsvorstellungen gewinnt; da es
ganz in die Hand des Experimentators gelegt ist, ob der Hund
gewisse Gesichtsvorstellungen überhaupt wiedergewinnt, und ob
dieselben früher oder später sich wieder einstellen, unterliegt
es keinem Zweifel, dass der Hund wirklich von neuem sehen
* Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin, 1878/79.
No. 18 (ausgegeben am 20. Juli 1879). — du Bois-Reymond's Archiv,
1879. S. 581.
Fünfte Mittbeilung. 77
lernt, d. h. das Gesehene kennen lernt. Ich schloss damals
aus diesen Erfahrungen, dass an der Grosshirnrinde „ein der
Gesichtswahrnehraung dienender Abschnitt, eine Sehsphäre, von
grösserer Ausdehnung als die Stelle Ai existire, dass in dieser
Sehsphäre die Erinnerungsbilder der Gesichtswahrnehmungen in
der Reihenfolge etwa, wie die Wahrnehmungen dem Bewusstsein
zuströmen, gewissermassen von einem centralen Punkte aus in
immer grösserem Umkreise deponirt werden, und dass nach Ex-
stirpation der zur Zeit alle oder die meisten Erinnerungsbilder
beherbergenden Stelle A^ der Rest der Sehsphäre in der Um-
gebung von Ai mit neuen Erinnerungsbildern besetzt werde".
Indess vermochte ich diesen Schluss zunächst gar nicht weiter
zu stützen, und auch noch in meiner zweiten Mittheilung vom
Juli 1877 konnte ich nur entzündliche Erscheinungen, welche
unter Umständen an seelenblind gemachten und restituirten
Hunden auftreten, dafür geltend machen. Aber in meiner
dritten Mittheilung vom März 1878 war ich im Stande, Ihnen
gewisse Sehstörungen als regelmässige Folgen der in der Um-
gebung von ^1 ausgeführten Exstirpationen vorzuführen, Seh-
störungen, welche keine andere Deutung zuliessen, als dass mit
jeder solchen Exstirpation gewissermassen ein zweiter blinder
Fleck an der Retina des Hundes gesetzt war, jedesmal die Ge-
sichtswahrnehmung für eine circumscripte Stelle der Retina er-
loschen, der Hund für diese Stelle, wie ich es nannte, rinden-
blind war. So Hess sich die Ausdehnung der Sehsphäre (^4)
über den ganzen Hinterhauptslappen, die der Falx zugekehrte
Seite des Gyrus medialis eingeschlossen, nachweisen. Auch war
es mir zweimal gelungen, Hunde, welchen ungefähr in dieser
Ausdehnung die Rinde einer Hemisphäre exstirpirt war, längere
Zeit am Leben zu erhalten: beide Hunde waren anfangs auf
dem gegenseitigen Auge nicht bloss seelenblind, sondern ganz
rindenblind, und die Restitution innerhalb vier Wochen ging nur
so weit, dass die Thiere beim langsamen Gehen die Hindernisse
vermieden, während die Wiederkehr von Erinnerungsbildern sich
nicht constatiren liess.
In derselben dritten Mittheilung konnte ich auch für den
Afifen die Rinde des hier scharf abgegrenzten Hinterhauptslappens
als die Sehsphäre nachweisen. Beiderseitige gleiche partielle
78 Fünfte MittheUung.
Exstirpationen hatten regelmässig Störungen der Gesichtswahr-
nehraung, manchmal auch den Verlust einzelner Gesichtsvor-
stellungen zur Folge. Einseitige totale Exstirpation der Rinde
an der convexen Fläche machte den Affen für die Dauer he-
miopisch, rindenblind für die der Verletzung gleichseitigen
Hälften beider Retinae. Endlich durch beiderseitige ebensolche
Exstirpation wurde der AflFe ganz rindenblind, und selbst in
Monaten besserte sich sein Sehen nicht weiter, als dass er beim
langsamen Gehen nicht mehr anstiess.
Bin ich auch in meiner vierten Mittheilung vom November
V. J. auf die Sehsphäre nicht zurückgekommen, so habe ich
dieselbe doch keinen Augenblick aus den Augen verloren. Ihre
weitere Verfolgung, mochte sie auch zur Zeit nicht gerade die
dringendste Aufgabe in Betreff der Grosshirnrinde sein, bot doch
den besonderen Vortheil, dass sie in mehrfacher Hinsicht ge-
wissermassen die Probe auf das Exempel zu machen gestattete,
dass sie die Richtigkeit des Vorgehens, welches zu den eben
flüchtig skizzirten Ergebnissen geführt hatte, und die Richtigkeit
dieser Ergebnisse selbst prüfen liess durch die Lösung der sich
unmittelbar anschliessenden Aufgaben, wie ich sie in nieiner
dritten Mittheilung bereits angedeutet hatte.
Um das Nächstliegende zuerst zu nehmen, so war mit der
beiderseitigen Hemiopie des Affen als Folge der Exstirpation
der Rinde eines Hinterhauptslappens die Verbindung jeder
Hemisphäre mit beiden Retinae zum ersten Male durch den
Versuch erwiesen und die physiologische Bedeutung der par-
tiellen Sehnervenkreuzung im Chiasma der höheren Säugethiere,
wie sie auf Grund anatomischer und klinischer Erfahrungen
längst vielfach behauptet war*®, nunmehr durch den Versuch
aufgehellt Aber im Widerspruche damit stand, dass ich beim
Hunde jeder Sehsphäre die ganze Retina der entgegengesetzten
Seite zugehörig gefunden hatte, da doch Hrn. v. Gudden'3
Untersuchungen auch für den Hund eine unvollständige Kreuzung
der Sehnerven, nur mit beträchtlicherer Grösse der gekreuzten
Bündel ergeben hatten *^ Dieser Widerspruch, welcher mich
schon zur Zeit meiner dritten Mittheilung so beschäftigte, dass
ich, trotz der gedrängten Kürze dieser Mittheilung, dem Ver-
gleiche der Sehsphären des Affen und des Hundes die ße-
Fünfte Mittheüung. 79
merkung hinzuzufügen nicht unterliess: „ich habe wenigstens
trotz aller Mühe von einer der Verletzung gleichseitigen Seh-
störung nie beim Hunde mich überzeugen können''*^, — dieser
Widerspruch war also zu beseitigen.
Zweitens hatte ich in den Ergebnissen der Exstirpations-
versuche, welche die um A^ gelegenen Stellen betrafen, den
Nachweis des anatonoischen Substrates für die Localzeichen der
Gesichtsempfindungen gesehen. Denn wenn, sagte ich, „mit
der Exstirpation einer zusammenhängenden Rindenpartie immer
die Wahrnehmung für eine zusammenhängende Partie der licht-
empfindlichen Netzhautelemente ausfällt, so kann es nicht anders
sein, als dass die centralen Elemente der Sehsphäre, in welchen
die Opticusfasern enden und die Gesichtswahrnehmung statthat,
regelmässig und continuirlich angeordnet sind wie die licht-
empfindlichen Netzhautelemente, von welchen die Opticusfasern
entspringen, derart dass benachbarten Netzhautelementen immer
benachbarte wahrnehmende Rihdenelemente entsprechen" *^. Dem-
nach galt es nunmehr, die relative Lage der lichtempfindlichen
Netzhautschicht einerseits, der wahrnehmenden Rindenschicht
andererseits genauer festzustellen.
Was die erste Aufgabe betrifft, so sind mittlerweile ein-
schlägige Versuche schon von anderen Seiten beigebracht worden.
Hr. Nicati** hat an jungen Katzen — zwischen Katze
und Hund kann hinsichts der fraglichen Verhältnisse kein wesent-
licher Unterschied bestehen — die mediane Halbirung des
Chiasma ausgeführt und danach constatirt, dass die Thiere
sahen. Wie sie sahen, ist nicht ermittelt oder wenigstens nicht
angegeben.
Andere Versuche haben die Hrn. Luciani und Tambu-
rini** mitgetheilt. Dieselben nehmen, infolge nicht genügend
sorgsamer Untersuchung, das Sehcentrum des Hundes in der
zweiten äusseren Windung (d. i. im Gyrus supersylvius R.
Owen) gelegen an, und zwar in einer langen Rindenzone,
welche sich von der Frontalregion bis zur Occipitalregion er-
streckt. Einseitige Zerstörung dieser Zone oder auch nur ihres
parietalen Theiles (welcher in meine „Fühlsphäre des Auges"
und meine „Sehsphäre" fällt) sahen sie fast vollkommene Amau-
rose des gegenseitigen Auges und leichte Amblyopie des gleich-
80 Fünfte Mittheilung.
seitigen Auges mit sich bringen, von welchen die letztere rasch
verschwand, die erstere nur langsam sich besserte. Führten sie
die gleiche Operation auch auf der zweiten Seite aus, so fanden
sie, auch wenn die Sehstörungen infolge der ersten Operation
sich bereits ausgeglichen hatten, fast vollkommene beiderseitige
Blindheit; und diese Blindheit besserte sich nur sehr langsam,
so dass noch nach Wochen Sehstörungen bestanden.
Endlich hat hierhergehörige Versuche ganz neuerdings Hr.
Goltz** veröflfentlicht. Hr. Golt? eifert gegen die Angabe der
vorgenannten Herren, dass er gleich mir eine vollständige Kreu-
zung der Sehnerven beim Hunde angenommen haben sollte —
ich muss bemerken, dass bis heute von der Kreuzung der Seh-
nerven bei mir überhaupt gar nicht die Rede gewesen ist — ,
und er betont, dass er schon 1876 seine „Ueberzeugung" dahin
ausgesprochen hat*^, dass bei Hunden jede Grosshirnhälfte mit
beiden Augen in Verbindung steht. Jetzt nun bringt Hr. Goltz
zwei Versuche zum Beweise bei. Einem Hunde wurden 5 grm.
Rindensubstanz des linken Hinterhauptslappens herausgespült
und das linke Auge ausgeschält. Nach 5 Monaten waren die
Sehstörungen wesentlich zurückgebildet. Nun wurden \}/.^ grm.
des rechten Hinterhauptslappens fortgenommen. Danach war
es über 14 Tage hinaus überhaupt zweifelhaft, ob der Hund
sah, und erst nach 3 Wochen folgte er der Bewegung der Hand
mit dem Auge und dem Kopfe. Ein analoger Versuch an
einem zweiten Hunde lieferte ähnliche Ergebnisse.
Sie beachten vielleicht beiläufig, dass Hr. Goltz diese Ver-
suche, bei welchen die Exstirpationen immer am Hinterhaupts-
lappen vorgenommen sind, dort berichtet, wo er gerade die
Existenz insbesondere der Sehsphäre bekämpft und die ganze
Grosshirnrinde zu dem Sehen in Beziehung setzt. Doch thut
das hier nichts weiter zur Sache. Dass jede Hemisphäre des
Hundes mit beiden Augen in Verbindung steht, dafür kann die
linksseitige Amblyopie, welche die Hrn. Luciani und Tam-
burini als die Folge ihrer linksseitigen Exstirpation angeben,
als Nachweis nicht gelten; denn diese Amblyopie that sich ihnen
nur darin kund, dass die Hunde in der ersten Zeit nach der
Operation, mochten beide Augen offen oder das rechte Auge
verschlossen sein, langsam und vorsichtig gingen, und das sieht
Fünfte Mittheilung. 81
man bei jedem normalen Hunde, welchen man auf ein Auge
beschränkt, so lange er sich an diese Beschränkung noch nicht
gewöhnt hat. Dagegen ist durch die Versuche von Hrn. Ni-
cati, wie durch diejenigen Versuche einerseits der Hrn. Lu-
ciani und Tamburini, andererseits des Hrn. Goltz, bei
welchen der linksseitigen Exstirpation später die rechtsseitige
folgte und nunmehr neue Sehstörungen am rechten Auge be-
merklich waren, jener Nachweis wohl geführt.
Ich bin inzwischen in anderer Weise vorgegangen. Mir kam
es darauf an, wenn eine Beziehung jeder Sehsphäre zu beiden
Retinae auch beim Hunde bestand, diese Beziehung sogleich ge-
nauer zu bestimmen. Dazu bot die totale Exstirpation einer
Sehsphäre das Mittel dar, eine Operation allerdings, deren Miss-
lichkeit ich Ihnen schon wiederholt zu erwähnen gehabt habe.
Nicht nur ist die Exstirpation an sich schwierig, weil sie die
der Fak zugekehrte Rinde des Gyrus medialis und das ganze
hintere Ende der Hemisphäre mit umfassen muss, sondern es
gehen auch, wie bei der grossen Ausdehnung der Verletzung
und der Nachbarschaft der Sinus nicht zu verwundern, infolge
von Blutung, Entzündung, Eiterung, Durchbruch in den Ventrikel
u. s. w. die operirten Thiere sehr häufig in früher Zeit zu
Grunde. Trotz alledem bin ich durch Ausdauer und Uebung
der Operation gut Herr geworden, und ich habe nach wohl aus-
geführter Exstirpation, bei welcher ich sogar die Rinde auf eine
grössere Tiefe als sonst, in der Dicke von 3 mm. und darüber,
abgeschnitten hatte, 7 Hunde weit über die Zeit der Verheilung
hinaus, bis 13 "Wochen am Leben erhalten. Die Ergebnisse
aller Versuche stimmten überein und waren, immer unter der
Voraussetzung der linksseitigen Exstirpation, im wesentlichen
folgende.
Wenn nach 3 — 5 Tagen das Fieber vorüber, fällt an dem
sich freiwillig gut bewegenden Hunde bloss auf, dass er, vor
sich hingehend, häufig sich im Bogen linksum dreht; auf be-
sondere Veranlassung dreht er sich auch gut rechtsum, nur
stösst er bei solcher Drehung hin und wieder mit der rechten
Seite des Kopfes an einen Gegenstand an. Der Hund sieht und
erkennt alles, und, was bei meinen Versuchen immer schon von
selber sich versteht, Hören, Riechen, Schmecken, Empfinden,
H. M u n k , Functionen der Grosshirnrinde. Q
82 Fünfte Mittheilung.
endlich alle Bewegungen sind normal. Hat raan dem Hunde
das rechte Auge verbunden, so ist alles ebenso, und -von einer
Amblyopie ist nichts zu bemerken. Hat man ihm dagegen das
linke Auge verbunden, so bewegt sich der Hund nicht freiwillig,
und wenn er durch Hunger und Durst oder durch Lockung zum
Gehen veranlasst ist, so geht er langsam mit vorgestrecktem
Kopfe, dreht sich sehr häufig im Bogen linksum und stösst auch
häufig an Gegenstände mit der rechten Seite des Kopfes an;
dabei kennt oder erkennt er nichts, nicht die Fleischschüssel,
nicht den Eimer, nicht den Menschen u. s. £ So erscheint der
Hund, so lange man nicht auf besondere Prüfungen verfällt, wie
ich es früher von zwei ähnlichen Versuchen angab, linkerseits
normalsichtig, rechterseits vollkommen blind; und in den nächsten
Wochen ändert sich das Verhalten nur so weit, dass der Hund
bei verbundenem linken Auge mit der Zeit immer besser und
schliesslich sogar beim langsamen Gehen recht gut die Hinder-
nisse vermeidet, auch einzelne Objecto, z. B. die geschwungene
Peitsche, wohl erkennt. Indess verfeinert man die Prüfungen,
so zeigt sich sogleich bei der ersten Untersuchung, dass der
Hund mit verbundenem linken Auge vor seinem rechten Auge
und zu seiner rechten Seite allerdings gar nichts sieht, dass er
aber aufmerkt, sobald man vor seine Nase oder vor sein linkes
Auge die Finger, ein brennendes Streichholz, den Peitschenstock
und dergleichen bringt, und auch ein wenig das rechte Auge
dreht, wenn man die vorgehaltenen Objecte bewegt. Der Hund
sieht also mit der äussersten lateralen Partie der rechten Retina.
Doch erkennt er das Gesehene nicht; denn nicht bloss lassen
das Streichholz und der Stock ihn im übrigen unbewegt, er
greift auch nicht zu, so hungrig und durstig er ist, wenn man
hMoisch oder ein Wassergefäss ebendort vorhält. Führt man
dann ein fleischst ück und die Wasserschale, nachdem man sie
vor dorn linken Auge gehalten hat, an den Mund des Hundes
und h'isst ihn fressen und saufen, so schnappt der Hund fortan
zu, wenn man wiederum die Hand, ob mit oder ohne Fleisch,
dort vorhält, und drehl sich und schickt sich zum Saufen an,
wenn man wieder die Schale oder ein ähnliches Gefäss, ob mit
oder ohne Wasser, vor das linke Auge bringt. Das Streichholz
und der Slock lassen den Ilu!\d auch forner noch ganz kalt;
Fünfte Mittheilung. 83
aber brennt man ihn einnial mit dem ersteren an der Nase,
oder schlägt man ihn mit dem letzteren, so zuckt später der
Kopf zurück, wenn wieder ein Streichholz, bez. der Stock vor
das linke Auge gebracht wird. Wirft man, während man, in
der Fütterung des Hundes begriffen, gerade vor diesem steht,
ein Fleischstück, das man vor dem linken Auge des Hundes
gehalten, vor eben diesem Auge vorbei, so folgt der Hund aus-
nahmslos, indem er sich rasch dreht, dem Fleischstücke und
nimmt es gut auf, höchstens dass er es einen Moment zu suchen
hat. Wirft man dagegen das Fleischstück von derselben Anfangs-
stellung aus vor dem rechten Auge vorbei, so schaut der Hund
verdutzt darein, ohne sich zu rühren, oder sucht vor sich auf
dem Boden nach. Alles dies ändert sich dann durch Wochen
und durch Monate gar nicht weiter, als dass der Hund mit
Hülfe des rechten Auges allein immer freier sich bewegen und
desto mehr Objecto kennen lernt, je öfter und je länger man
sein linkes Auge verbunden hält und sich mit ihm beschäftigt.
Damit wäre dargethan, dass die äusserste laterale Partie
der Retina nicht der gegenseitigen Sehsphäre zugehört, bliebe
nicht das Bedenken, dass doch möglicherweise die volle Exstir-
pation dieser Sehsphäre nicht gelungen wäre. Das Bedenken zu
beseitigen, kann man die Exstirpation noch grösser, besonders
nach vorn und nach aussen und unten ausgedehnter vornehmen,
in welchem Falle man dasselbe Resultat erhält; oder man kann
spätrer noch eine einfache kleine Exstirpation hinzufügen, die der
lateralen Partie der rechtsseitigen Sehsphäre, eine Operation,
deren Bedeutung für die vorliegende Frage die Folge ergeben
wird. Indess ist überhaupt gar kein neuer Versuch nöthig;
denn die Widerlegung des Bedenkens übernimmt unser in Rede
stehender Versuch selber, wenn wir nur auch noch das linke
Auge so genau wie das rechte untersuchen. Da finden wir,
dass, so viel von der rechten Retina der linken Sehsphäre nicht
zugehört, gerade so viel von der linken Retina eben dieser Seh-
sphäre zugeordnet ist. So normalsichtig unser Hund auf dem
linken Auge anscheinend ist, er sieht, wenn ihm das rechte
Auge verbunden ist, keinen Gegenstand, den man vor seiner
Nase oder seinem rechten Auge hält oder dort bewegt, und er
merkt erst auf, wenn der Gegenstand vor das linke Auge ge-
6*
84 Fünfte Mittheilung.
kommen ist. Und wechselt man mit dem Verbinden des rechten
und des linken Auges ab, so ist es überraschend zu sehen, wie
genau der Defect des Gesichtsfeldes des linken Auges in Lage
und Ausdehnung dem Reste des Gesichtsfeldes des rechten
Auges entspricht. Auch giebt sich der linksseitige Defect
schon im groben darin kund, dass unser Hund mit verbundenem
rechten Auge, wenn man Fleischstücke wirft, die man vor seinem
linken Auge gehalten, diesen nur folgt, wenn sie an dem linken,
nicht aber, wenn sie an dem rechten Auge vorbeigegangen sind.
Durch Wochen und durch Monate erhält sich dann der Defect
des linken Auges ganz unverändert: während der Hund mit der
äussersten Partie seiner rechten Retina allmählich wieder die
Objecte kennen lernt, bleibt er unverändert rindenblind für die
äusserste Partie der linken Retina.
Es ist also jede Retina zum grössten Theile mit der gegen-
seitigen Sehsphäre und nur zu einem kleinen Theile, nämlich
mit ihrer äussersten lateralen Partie, mit der gleichseitigen
Sehsphäre in Verbindung. Die letztere Partie ist, nach dem
Gesichtsfelddefecte des einen und dem Gesichtsfeldreste des
anderen Auges zu schliessen, bei den verschiedenen Hunderacen
von etwas verschiedener Grösse und zwar, wie mir aufgefallen
ist, dort grösser, wo die Divergenz der Augen geringer ist ; aber
auch in den günstigsten Fällen dürfte sie nicht mehr als etwa
ein Viertel der Retina ausmachen.
An die Lösung der zweiten Aufgabe bin ich ganz systema-
tisch mit partiellen Exstirpationen der Sehsphäre gegangen, habe
— immer bei anderen Hunden — die einen Male die innere, die
anderen Male die äussere, weiter die vordere und dann wieder die
hintere Hälfte der Sehsphäre fortgenomraen, habe dazu kleinere
Exstirpationen im Bereiche der Sehsphäre gemacht und habe jedes-
mal die Sehstörung möglichst genau zu bestimmen mich bemüht.
Die Ergebnisse der gleichartigen Versuche kamen überein, und die
der ungleichartigen reihten sich gut aneinander; ich stelle die
wesentlichsten zusammen, indem ich immer die linke Hemisphäre
als von der Exstirpation betroffen annehme.
Ist die innere oder mediale Hälfte der Sehsphäre exstirpirt,
so bewegt sich der Hund, wenn das rechte Auge verbunden ist,
ganz ungenirt, er sieht und erkennt aller Orten alles in nor-
Fünfte Mittheilung, 85
maler Weise, und geworfenen Fleischstücken, sie mögen am
rechten oder am linken Auge vorbeigegangen sein, folgt er sehr
gut und gerade so gut wie ein unversehrter Hund. Hat man
dagegen das linke Auge verbunden, so bewegt sich der Hund
von freien Stücken nur wenig und immer nur langsam, auch
bevorzugt er auffällig die Linksdrehung, und manchmal, beson-
ders wenn er rechtsum sich zu drehen veranlasst ist, stösst er
mit der rechten Kopfseite an. Wirft man Pleischstücke, so
folgt der Hund bloss dann gut, wenn der Wurf am linken Auge
vorbei erfolgte, während er gar keine Bewegung macht oder
höchstens vor sich auf dem Boden nachsieht, wenn das Fleisch-
stück am rechten Auge vorüberging. Nähert man ein Fleisch-
stück dem rechten Auge von seiner rechten Seite her, so fällt
es auf, wie spät der Hund es erst bemerkt, aber er folgt danach
der Bewegung gut mit dem Auge und dem Kopfe, so dass er
das Fleischstück nicht aus dem Gesichte verliert. Nähert man
umgekehrt das Fleischstück von der linken Seite her, so be-
merkt es unser Hund so früh wie der .normale Hund, aber er
folgt dann der Bewegung nur eine Weile gut, und plötzlich ist
ihm das Fleischstück verschwunden. Nähert man ein brennendes
Streichholz oder die Peitsche von der linken Seite her, so merkt
der Hund auf und zuckt auch meist sofort zurück, sobald nur
überhaupt das Bild auf der Retina entsteht; dagegen kann man
dieselben Objecto von der rechten Seite her ganz nahe an das
Auge heran und sogar etwas vor das Auge bringen, und der
Hund bleibt unbewegt. Und so kann man weiter noch durch
Fleisch und andere Objecto, welche man vor dem ruhig lie-
genden Hunde an verschiedenen Orten niederlegt, sicherstellen,
dass der Hund kein Object sieht, dessen Bild auf der inneren
Hälfte seiner rechten Retina entsteht, während er alles sieht
und meist auch gut erkennt, was auf der äusseren Hälfte der-
selben Retina sich abbildet. In Monaten ändert sich nichts, als
dass der Hund mit verbundenem linken Auge mit der Zeit
immer freier sich bewegt.
Ist nicht die ganze innere oder mediale Hälfte der Sehsphäre
exstirpirt, sondern bloss etwa ihr innerstes Drittel — noch
nicht der ganze in den Gyrus medialis fallende Theil der Seh-
sphäre — , so ist alles nahezu ebenso. Nur bewegt sich der
86 Fünfte Mittheilung.
Hund mit verbundenem linken Auge von vorneherein sichtlich
freier, und er folgt auch dem Fleischstücke, das man am
rechten Auge vorbeiwirft, erst eine Weile mit dem Kopfe, ehe
er es verliert, oder dreht sich sogar ein wenig rechtsum und
fängt an seiner rechten Seite zu suchen an. Bei der genauen
Prüfung mittels vorgehaltenen oder vorgelegten Fleisches habe
ich mich hier wiederholt deutlich zu überzeugen vermocht, dass
die rindenblinde mediale Partie der Retina nicht bis zur Mitte
der Retina sich erstreckte.
Ganz anders sind die Beobachtungen, welche man macht,
wenn die äussere oder laterale Hälfte der linken Sehsphäre ex-
stirpirt ist. Zunächst ergiebt sich bei verbundenem rechten
Auge alles gerade so, wie wenn die ganze linke Sehsphäre ex-
stirpirt wäre : der Hund sieht keinen Gegenstand, der vor seiner
Nase oder seinem rechten Auge sich befindet, die äusserste la-
terale Partie der linken Retina ist rindenblind. Verbindet man
dann das linke Auge, so sieht der Hund die Objecto, welche
man vor seine Nase oder sein linkes Auge bringt, sehr wohl,
nur erkennt er sie nicht, und er sieht auch alles und erkennt
es meist, was an der /rechten Seite des rechten Auges sich be-
findet. Aber wenn man, während der Hund das rechte Auge
ruhig hält, diesem Auge von vorn und etwas von links her Ob-
jecto nähert oder die Objecto so vor dem Hunde hinlegt, dass
ihr Bild auf der inneren Partie der lateralen Hälfte der Retina
entsteht, so sieht der Hund die Objecto nicht. Die Lücke,
welche demnach unser Hund inmitten des Gesichtsfeldes seines
rechten Auges hat, und welche er für die Dauer behält, giebt
sich auch in der ersten Zeit ganz im groben kund, wenn das
linke Auge verbunden ist. Bewegt man nämlich ein Object,
nachdem der Hund aufgemerkt hat, massig rasch von rechts
nach links oder von links nach rechts, so folgt der Hund wohl
eine Weile gut mit dem Kopfe, hat dann aber plötzlich das Ob-
ject aus dem Gesichte verloren. Führt man ferner bei der
Fütterung des Hundes die Fleischstücke immer von seiner linken
Seite heran und lässt den Hund zuschnappen, so schnappt der
Hund regelmässig zu weit nach links, so dass das Fleischstück
an seiner rechten Seite bleibt. Wirft man endlich Fleisch bald
am rechten, bald am linken Auge vorbei, so folgt der Hund
Fünfte Mittheilung. 87
zwar jedesmal, aber ungleich gut: gehen die Fleischstücke am
linken^ Auge vorbei, so dreht sich der Hund rasch linksum, ist
sogleich an der richtigen Stelle, an welcher das Fleischstück zu
Boden gekommen, und hat dieses im nächsten Momente ge-
funden; gehen die Fleischstücke am rechten Auge vorbei, so er-
folgt die Rechtsdrehung langsam und unzureichend, und der
Hund fängt, noch weit von der richtigen Stelle entfernt, das
Fleisch zu suchen an. Schon in der zweiten Woche haben diese
Abnormitäten sich verloren; offenbar hat das Thier die neue
Lücke im Gesichtsfelde durch Erfahrung ebenso überwinden ge-
lernt, wie die normale Lücke des blinden Flecks.
Hat die Exstirpation nicht die ganze äussere oder laterale
Hälfte, sondern etwa nur das äusserste Drittel der linken Seh-
sphäre betroffen, so ist die äusserste laterale Partie der linken
Retina ebenso, wie vorhin, rindenblind, dagegen ist am rechten
Auge nunmehr gar keine Abnormität zu constatiren. Es ist
also die äusserste laterale Partie der Retina gerade der äussersten
lateralen Partie der gleichseitigen Sehsphäre zugeordnet, und das
an jene äusserste Partie nach innen anstossende Stück der la-
teralen Retinahälfte gehört dem an die äusserste Partie nach
innen angrenzenden Stücke der gegenseitigen Sehsphäre zu.
Hunde, welchen die vordere, und andere Hunde, welchen die
hintere Hälfte der linken Sehsphäre exstirpirt ist, bieten, wenn
man ihnen das linke Auge verbunden hat, aber auch schon
ohnedies, einen auffallenden Gegensatz in der Haltung und den
Bewegungen ihres Kopfes dar. Die ersteren tragen den Kopf
abnorm vorgestreckt und tief, manchmal fast am Boden, die
letzteren abnorm zurückgezogen und hoch. Den Menschen, der
vor ihnen steht, oder das Fleischstück, das etwas hoch ihnen
vorgehalten wird, fixiren die ersteren, indem sie nur wenig die
Schnauze heben, die letzteren, indem sie den Kopf ganz in
den Nacken zurückwerfen und oft dabei auch rückwärts gehen.
Um ein Fleischstück vom Boden aufzunehmen, schieben die
ersteren den Kopf langsam und nahezu horizontal, dem Boden
fast parallel, heran, die letzteren schiessen gewissermassen auf
das Fleischstück los, indem sie den Kopf steil von oben nach unten
führen. Ist das linke Auge verbunden, so finden die letzteren
Hunde vorgeworfenes Fleisch sofort, auch wenn sie es vorher nicht
88 Fünfte Mittbeilung.
gesehen haben; die ersteren Hunde dagegen finden es gar nicht
oder erst nach langem Suchen, auch wenn man sie vorher es fixiren
Hess. Und was dies alles schon erwarten lässt, das lehrt dann
auch die genaue Untersuchung: die Hunde, welchen die vordere
Hälfte der linken Sehsphäre exstirpirt ist, sehen keinen Gegen-
stand oder verlieren den Gegenstand aus dem Gesichte, sobald
sein Bild auf die obere Hälfte der rechten Retina mit Ausschluss
ihrer äussersten lateralen Partie oder auf die obere Hälfte der
äussersten lateralen Partie der linken Retina fällt, sie sind rinden-
blind für diese oberen Retinaabschnitte; den anderen Hunden, an
welchen die hintere Hälfte der linken Sehsphäre zerstört ist, geht
es ebenso mit den entsprechenden unteren Retinaabschnitten, —
nur von dem Verhalten der äussersten lateralen Partie der linken
Retina habe ich mich hier noch nicht sicher überzeugen können.
Alles zusammengenommen ergiebt sich also folgendes : Jede
Retina ist mit ihrer äussersten lateralen Partie zugeordnet dem
äussersten lateralen Stücke der gleichseitigen Sehsphäre. Der
viel grössere übrige Theil jeder Retina gehört dem viel grösseren
übrigen Theile der gegenseitigen Sehsphäre zu, und zwar so,
(lass man sich die Retina derart auf die Sehsphäre projicirt
(lenken kann, dass der laterale Rand des Retinarestes dem
lateralen Rande des Sehsphärenrestes, der innere Rand der Re-
lina dem medialen Rande der Sehsphäre, der obere Rand der
Hetina dem vorderen Rande der Sehsphäre, endlich der untere
Hand der R(»iina dem hinteren Rande der Sehsphäre entspricht.
|)i(^ Fi^g. 5 und 6 werden dies Ergebniss veranschaulichen.
In l^'i^. f) ist ein Frontalschnitt durch beide Sehsphären etwa
in <ler Mitle der Stelle A^ gelegt, und man sieht von vorn auf
(li(» liinirren Hälften der Sehsphären; die Augen sind horizontal
((iK^nlurcliscIinitten. In Fig. 6 sieht man auf beide Retinae
(<las (Vnlruni jeder ist mit <• bezeichnet) von hinten, auf beide
Sehsplu'iren von oben. Die rechte Sehsphäre (^4) ist punktirt,
die linke (/<) mit Linien ausgeführt, und die Stellen (^4iundai),
<l(^ren Kxstirpation Seelenblindheit zur Folge hat, sind dunkler
gehallen. Mbenso punklirl, bez. linirl sind dann die zugehörigen
Parlieen der beiden Itelinae (W r), und ausserdem sind die
correspondirenden Punkte von Sehsphäre und Retina durch
liinien verbunden, welche enl.sprechend punktirt, bez. ausgezogen
Fünfte Uittheilun^.
S9
sind. Mit B und h sind die an die SehspliiLren sicli anschliessen-
den Hörsphären bezeit^hnet.
Erinnern Sie sich nun, dass beim Hunde die Stelle des
deutlichsten Sehens au der äusseren Hälfte der Retina \
90
Fünfte HittheUnng.
ist und nach den Bestimmungen der Hrn. Grossmanu und
Mayerhausen** der Winkel zwischen der Gesichtsliuie and der
Hornhaulaxc nahe SO** beträgt, so gehört, wie Sie sehen, die
Stelle .1, der Sehsphäre demjCDigen Theile der Retina zn,
Vig. 6.
Fünfte MittheiluDg. 9 1
welcher die Stelle des deutlichsten Sehens enthält. Mit dieser
Erkenntniss ist.die thatsächliche Unterlage gewonnen für die im
März V. J. von mir versuchte Lösung des Räthsels, dass trotz
der grossen Ausdehnung der Sehsphäre die Erinnerungsbilder
der Gesichtswahrnehmungen so gesammelt in der Stelle A^ sich
finden. Nachdem ich für die Localzeichen der Gesichtsempfin-
dungen den Nachweis des anatomischen Substrates geliefert
hatte, meinte ich damals ^^, das Räthsel fände „ einfach dadurch
seine Lösung, dass die Stelle A^ der Sehsphäre coordinirt ist
der Stelle des deutlichsten Sehens der Retina, welche beim
Hunde an der äusseren Hälfte der Retina gelegen ist. Immer
diese selbe Stelle der Retina wird für deutliches Sehen in An-
spruch genommen ; darum wird die deutliche Wahrnehmung der
Objecto immer der zugehörigen Stelle A^ der Sehsphäre zu-
fallen, und darum werden hier — wie ich ohne Ahnung des
Zusammenhanges bereits in meiner ersten Mittheilung ^^ es aus-
sprach — die Erinnerungsbilder der Gesichtswahrnehmungen in
der Reihenfolge etwa, wie die Wahrnehmungen dem Bewusstsein
zuströmen, gewissermassen von einem centralen Punkte aus in
immer grösserem Umkreise deponirt werden". Nichts, scheint
mir, kann besser darthun, wie berechtigt das experimentelle
Vorgehen auf Grund der einfachsten Annahmen auch auf dem
Gebiete der Grosshirnphysiologie ist, als die Ent Wickelung,
welche jener erste Versuch über die Seelenblindheit so weit ge-
nommen hat.
Werfen wir schliesslich noch einen Blick auf die Seh-
nervenfasern, welche die correspondirenden Netzhaut- und Seh-
sphärenpunkte, die zusammengehörigen lichtempfindlichen Netz-
hautelemente und wahrnehmenden Rindenelemente verbinden.
Mit der beiderseitigen Hemiopie des Affen nach der ein-
seitigen Sehsphärenexstirpation und mit den Ihnen heute vor-
gelegten Ergebnissen am Hunde ist der Streit über die voll-
ständige oder unvollständige Kreuzung der Sehnerven im Chiasma
der höheren Säugethiere durch den Versuch zu Gunsten derer
entschieden^^, welche, wie besonders Hr. v. Gudden^^, auf
Grund der anatomischen Untersuchung des Chiasma und der
Nervi und Tractus optici jedem Sehnerven ein gekreuztes und
ein ungekreuztes. Faserbündel zugeschrieben haben, von welchen
90
Fünfte HUtbeitDng.
ist und nach den Bestimmungen der Hrn. Grossmann und
Mayerhausen" der Winkel zwischen der Gesichlslinie und der
Homhautaxe nahe 30" beträgt, so gehört, wie Sie sehen, die
Stelle Af der Sehsphäre demjenigen Theile der Retinu zu,
Fünfte MittheiluDg. 9 1
welcher die Stelle des deutlichsten Sehens enthält. Mit dieser
Erkenntniss ist. die that sächliche Unterlage gewonnen für die im
März V. J. von mir versuchte Lösung des Räthsels, dass trotz
der grossen Ausdehnung der Sehsphäre die Erinnerungsbilder
der Gesichtswahrnehmungen so gesammelt in der Stelle A^ sich
finden. Nachdem ich für die Localzeichen der Gesichtsempfin-
dungen den Nachweis des anatomischen Substrates geliefert
hatte, meinte ich damals ^^, das Räthsel fände „ einfach dadurch
seine Lösung, dass die Stelle A^ der Sehsphäre coordinirt ist
der Stelle des deutlichsten Sehens der Retina, welche beim
Hunde an der äusseren Hälfte der Retina gelegen ist. Immer
diese selbe Stelle der Retina wird für deutliches Sehen in An-
spruch genommen ; darum wird die deutliche Wahrnehmung der
Objecte immer der zugehörigen Stelle A^ der Sehsphäre zu-
fallen, und darum werden hier — wie ich ohne Ahnung des
Zusammenhanges bereits in meiner ersten Mittheilung ^^ es aus-
sprach — die Erinnerungsbilder der Gesichtswahrnehmungen in
der Reihenfolge etwa, wie die Wahrnehmungen dem Bewusstsein
zuströmen, gewissermassen von einem centralen Punkte aus in
immer grösserem Umkreise deponirt werden". Nichts, scheint
mir, kann besser darthun, wie berechtigt das experimentelle
Vorgehen auf Grund der einfachsten Annahmen auch auf dem
Gebiete der Grosshirnphysiologie ist, als die Entwickelung,
welche jener erste Versuch über die Seelenblindheit so weit ge-
nommen hat.
Werfen wir schliesslich noch einen Blick auf die Seh-
nervenfasern, welche die correspondirenden Netzhaut- und Seh-
sphärenpunkte, die zusammengehörigen lichtempfindlichen Netz-
hautelemente und wahrnehmenden Rindenelemente verbinden.
Mit der beiderseitigen Hemiopie des Affen nach der ein-
seitigen Sehsphärenexstirpation und mit den Ihnen heute vor-
gelegten Ergebnissen am Hunde ist der Streit über die voll-
ständige oder unvollständige Kreuzung der Sehnerven im Chiasma
der höheren Säugethiere durch den Versuch zu Gunsten derer
entschieden^^, welche, wie besonders Hr. v. Gudden^^, auf
Grund der anatomischen Untersuchung des Chiasma und der
Nervi und Tractus optici jedem Sehnerven ein gekreuztes und
ein ungekreuztes. Faserbündel zugeschrieben haben, von welchen
84 Fünfte Mittheilung.
kommen ist. Und wechselt man mit dem Verbinden des rechten
und des linken Auges ab, so ist es überraschend zu sehen, wie
genau der Defect des Gesichtsfeldes des linken Auges in Lage
und Ausdehnung dem Reste des Gesichtsfeldes des rechten
Auges entspricht. Auch giebt sich der linksseitige Defect
schon im groben darin kund, dass unser Hund mit verbundenem
rechten Auge, wenn man Fleischstücke wirft, die man vor seinena
linken Auge gehalten, diesen nur folgt, wenn sie an dem linken,
nicht aber, wenn sie an dem rechten Auge vorbeigegangen sind.
Durch Wochen und durch Monate erhält sich dann der Defect
des linken Auges ganz unverändert: während der Hund mit der
äussersten Partie seiner rechten Retina allmählich wieder die
Objecte kennen lernt, bleibt er unverändert rindenblind für die
äusserste Partie der linken Retina.
Es ist also jede Retina zum grössten Theile mit der gegen-
seitigen Sehsphäre und nur zu einem kleinen Theile, nämlich
mit ihrer äussersten lateralen Partie, mit der gleichseitigen
Sehsphäre in Verbindung. Die letztere Partie ist, nach dem
Gesichtsfelddefecte des einen und dem Gesichtsfeldreste des
anderen Auges zu schliessen, bei den verschiedenen Hunderacen
von etwas verschiedener Grösse und zwar, wie mir aufgefallen
ist, dort grösser, wo die Divergenz der Augen geringer ist; aber
auch in den günstigsten Fällen dürfte sie nicht mehr als etwa
ein Viertel der Retina ausmachen.
An die Lösung der zweiten Aufgabe bin ich ganz systema-
tisch mit partiellen Exstirpationen der Sehsphäre gegangen, habe
— immer bei anderen Hunden — die einen Male die innere, die
anderen Male die äussere, weiter die vordere und dann wieder die
hintere Hälfte der Sehsphäre fortgenommen, habe dazu kleinere
Exstirpationen im Bereiche der Sehsphäre gemacht und habe jedes-
mal die Sehstörung möglichst genau zu bestimmen mich bemüht.
Die Ergebnisse der gleichartigen Versuche kamen überein, und die
der ungleichartigen reihten sich gut aneinander; ich stelle die
wesentlichsten zusammen, indem ich immer die linke Hemisphäre
als von der Exstirpation betroffen annehme.
Ist die innere oder mediale Hälfte der Sehsphäre exstirpirt,
so bewegt sich der Hund, wenn das rechte Auge verbunden ist,
ganz ungenirt, er sieht und erkennt aller Orten alles in nor-
Fünfte Mittheilung. 93
mattenartige Verflechtung der Fasern der beiden gekreuzten
Bündel Zustandekommen, wie sie Fig. 5 zeigt und noch besser
ein danach aus farbigen dicken Wollenfäden hergerichtetes
Schema, an welchem die jederseitige Verflechtung der Fasern
deutlicher hervortritt.
Für den Affen habe ich infolge der Seltenheit des Materials
die Untersuchung der Sehsphäre mittels partieller Exstirpationen
noch nicht durchzuführen vermocht, und ich kann vorerst nur
sagen, dass mit den Abweichungen, welche nach den verschie-
denen Erfolgen der totalen einseitigen Exstirpation sich von
selbst verstehen, beim Affen alles analog sich zu verhalten
scheint wie beim Hunde. Hoffentlich bin ich bald in der Lage,
Ihnen auch über den Affen genauere Auskunft zu geben.^-"*
Anmerkungen.
*® Man findet Zusammenstellungen der Litteratar: Arch. de Physio-
logie norm, et pathol., 2. ser. T. 5. 1878. p. 658 (Nicati). — V. Bel-
le uard. De l'hömianopsie. Paris 1880. p. 147.
41 Gräfe's Archiv für Ophthalmologie, Bd. 20. Abth. 2. 1874.
S. 249; Bd. 21. Abth. 3. 1875. S. 199; Bd. 25. Abth. 1. 1879. S. 1.
42 S. 0. S. 39—40.
43 S. 0. S. 33.
44 Comptes rendus de l'Acad. d. sc, T. 86. p. 1472 (seance du
10 juin 1878). Diese kurze Mittheilung lag mir zur Zeit meines Vor-
trages vor. In der bald danach eingegangenen Abhandlung (Arch. de
Physiologie norm, et path., 2. ser. T. 5. 1878. p. 674) ist angeführt,
dass die Kätzchen die Hindernisse auf ihrem Wege umgingen, auf dem
Stuhlsitze die Ränder vermieden, der Flamme oder dem hellen Tuche oder
auch dem Experimentator mit dem Kopfe folgten, die finstere ZimuTerecke
aufsuchten, die Pfoten gut auf den Feuerbock des Kamins oder den Rand
eines 30 cm. hohen Brettes legten.
45 Sui centri psico-sensori corticali. Reggio-Emilia 1879. (Estr.
dalla Rivista sperimentale di freniatria e medicina legale, 1879.) Ist
durch die Güte von Hrn. Luciani am 12. März 1879 mir zugegangen.
4« Pflüger's Archiv, Bd. 20. 1879. S. 43—44. (Das betr. Heft
ist am 10. Juni 1879 ausgegeben.)
47 Vgl. Pflüger's Archiv, Bd. 13. 1876. S. 25.
48 Gräfe's Archiv für Ophthalmologie, Bd. 23. Abth. 3. 1877.
S. 217.
49 S. 0. S. 34.
50 S. 0. S. 12—13.
5^ Mit diesen Worten, meint v. Gudden (Gräfe 's Arch, f. Ophthalm.
Fünfte Hittheilong.
(Vorgetragen in der Sitzung der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin am
4. Juli 1879.)*
M
eine Herren! Der Fortschritt in der Kenntniss der Grosshirn-
rinde, über welchen ich Ihnen heute zu berichten vorhabe, be-
trifft die Sehsphäre und insbesondere die Sehsphäre des Hundes.
Wie Sie sich von meiner ersten Mittheilung vom März 1877
her erinnern, ist der Ausgangspunkt meiner Untersuchungen die
Erfahrung gewesen, dass nach beiderseitiger Exstirpation einer
nahe der hinteren oberen Spitze des Hinterhauptslappens ge-
legenen Rindenstelle Ai — selbstverständlich hier und in der
Folge immer, wenn nach einigen Tagen die entzündliche Reaction
und damit die Functionsstörung in der Umgebung der Exstir-
pationsstellen vorüber — der Hund seelenblind ist, d. h. wohl
noch Gesichts Wahrnehmungen hat und alles sieht, aber die Ge-
sichtsvorstellungen, welche er besass, seine Erinnerungsbilder
der früheren Gesichtswahrnehmungen, verloren hat, so dass er
nichts kennt oder erkennt, das er sieht. Es ergab sich weiter,
dass diese Seelenblindheit mit der Zeit sich verliert, und zwar
dadurch, dass der Hund mittels seiner neuen Gesichts Wahr-
nehmungen von neuem Gesichtsvorstellungen gewinnt; da es
ganz in die Hand des Experimentators gelegt ist, ob der Hund
gewisse Gesichtsvorstellungen überhaupt wiedergewinnt, und ob
dieselben früher oder später sich wieder einstellen, unterliegt
es keinem Zweifel, dass der Hund wirklich von neuem sehen
* Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin, 1878/79.
No. 18 (ausgegeben am 20. Juli 1879). — du Bois-Reymond's Archiv,
1879. S. 581.
Fünfte Mittheilung. 95
Wiesel medial, beim Kaninclien lateral im Sehnerven zur Netzhaut, und
strahlt eben dieses Bündel beim Kaninchen bloss in das laterale (tempo-
rale) Bündel der Retina aus. (Gräfe's Archiv für Ophthalm. Bd. 25.
Abth. 1. 1879. S. 15 ff.; Abth. 4. 1879. S. 238—39. — Archiv für
Psychiatrie, Bd. 11. 1880. S. 263.)
^^ Es ist zur Zeit richtig aufgefasst worden, dass diese meine fünfte
Mittheilung zugleich meine Antwort war auf die kurz vorher (am 10. Juni)
erschienene dritte Mittheilung von Goltz ,,über die Verrichtungen des
Grosshirns" (Pflüger's Archiv, Bd. 20. 1879. S. 1). Zur Sache Hessen
einerseits die von Goltz hinsichts der Localisation gemachten Zugeständ-
nisse, andererseits der neue Erwerb, von welchem ich berichten konnte,
deutlich und eindringlich genug erkennen, auf wessen — Goltz' oder
meiner — Seite die Fragen richtig behandelt und naturgemässe Anschau-
ungen der Dinge gewonnen waren. In den hässlichen Brei aber, welchen
Goltz durch das kritiklose Zusammenrühren von Ferrier's, Luciani's,
meinen u. a. Ergebnissen und dazu noch, was mich betrifft, durch ganz
unrichtige Angaben sich zurechtgemacht hatte, um behaglich nach seiner
Art darin zu wühlen, in diesen Brei hineinzugreifen hätten bloss persön-
liche Interessen gebieten können ; und diese zu schützen, durfte ich einfach
der objectiven Beurtheilung der Veröffentlichungen, welche von Goltz
und von mir vorliegen, überlassen. — Vgl. noch die späteren Mittheilun-
gen von Goltz: Tageblatt der 52. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte zu Baden-Baden, 1879. No. 6. S. 64; Archiv für Psychiatrie,
Bd. 11. Heft 1. 1880. S. 263.
Sechste Hittheilnng.
(Gelesen in der Gesammtsitzang der Königl. Academie der Wissenschaften
zu Berlin am 3. Juni 1880.)*
s
eitdem der Versuch über die Seelenblindheit ein tieferes Ver-
ständniss der Functionen der Grosshirnrinde angebahnt hatte,
war als ein besonders zu erstrebendes Ziel klar vorgezeichnet
ein Versuch, der naturgemäss die feste Grundlage aller anderen
Erfahrungen auf dem Gebiete abzugeben hatte, die totale Exstir-
pation der beiden Sehsphären. Doch nur schrittweise und ganz
allmählich, wie meine Mittheilungen zeigen, habe ich mich dem
Ziele zu nähern vermocht. Jetzt endlich bin ich im Stande, von
der Ausführung des Versuches am Hunde zu berichten.
Den enormen operativen Eingriff auf einmal vorzunehmen,
wäre ein gar zu kühnes Wagniss gewesen, dessen Gelingen zudem
keinen absehbaren Vortlieil geboten hätte. Ich habe immer
zuerst bloss die eine Sehsphäre total exstirpirt und dann 1 bis
2 Monate später, wenn die Wunde schon lange vernarbt war,
die gleiche Operation auf der anderen Seite folgen lassen. Auch
so noch bietet der Versuch der Misslichkeiten genug.
Die technischen Schwierigkeiten zwar lassen sich durch Aus-
dauer überwinden. Der Hund, der die letzten Tage kein Wasser
erhalten hat, wird durch Morphium und Aether^* tief narko-
tisirt. Mit Trepan und Knochenzange entfernt man das Schädel-
dach in der ganzen Ausdehnung, in welcher die zu exstirpirende
Sehsphäre an der Convexität der Grosshirnhemisphäre gelegen
ist (AA^A Fig. 1 u. 2 der zugehörigen Tafel); doch geht man
* Monatsberichte der Berliner Academie der Wissenschaften, 1880.
S. 485.
Sechste Mittheilung. 97
bloss dicht an die Mittellinie heran, ohne dieselbe zu erreichen,
so dass nach der zweiten Operation noch ein ganz schmaler
Knochenstreif die Falx mit dem Sinus longitudinalis trägt. Bei
jüngeren Hunden bluten die Knochenvenen stark und müssen
durch Andrücken von kleinen Feuerschwammstücken verschlossen
werden; bei alten Hunden ist die Blutung selten von Belang.
Nachdem dann die Dura gespalten und in Stücken zurück-
geschlagen, wird durch Einschieben eines dünnen und breiten
Scalpellstieles die mediale Fläche der Hemisphäre zugänglich
gemacht, der Sulcus calloso-marginalis, soweit er die Sehsphäre
begrenzt (A Fig. 3), 2 — 3 mm. tief eingeschnitten, vom vor-
deren Ende dieses Schnittes aus und senkrecht zu ihm ein
zweiter, ebenso tiefer Schnitt nach oben zur Convexität geführt
und von der Convexität aus in der Richtung von vorn nach
hinten die ganze mediale Partie der Sehsphäre scheibenförmig
abgetragen. In gleicher Weise wird danach das hintere Ende
der Hemisphäre, soweit es der Sehsphäre zugehört (^A Fig. 4),
umschnitten und von der Mitte nach der Seite hin abgeschnitten.
Schliesslich trägt man mit flachen Messerzügen in derselben
Richtung die Rindenpartie der Convexität ab, nachdem man sie
noch vorn und unten durch Einschnitte von der Umgebung
isolirt hat. Die anscheinend gefährliche Blutung aus den Hirn-
gefässen kommt immer bald zum Stehen, und die Wunde kann
nunmehr durch Nähte geschlossen werden. Es bedarf bei diesem
Verfahren nur einer gewissen üebung, um die Totalexstirpation
der Sehsphäre ebenso sicher auszuführen, wie vergleichsweise
den Beir sehen Versuch oder die Magendie'sche Trigeminus-
Durchschneidung.
Aber was sich nicht beherrschen lässt, das sind die Nach-
blutungen und die Entzündung. Durch die ersteren, welche
meist aus den Hirngefässen stammen, geht ein Theil der Ver-
suclisthiere in den ersten Tagen nach der Operation zu Grunde.
Ein anderer Theil der Thiere erliegt in der zweiten Woche,
nachdem bei scheinbar gutem Befinden plötzlich Krämpfe und
bald darauf Coraa eingetreten sind; die Section ergiebt, dass
die Entzündung von einer beschränkten Stelle der Hirnwunde
aus sich in die Tiefe verbreitet und durch eine rothe Erweichung
zum Durchbruch in den Ventrikel geführt hat. Endlich ent-
H. M u n k , Functionen der Grosshirurinde. 7
98 Sechste Mittheilung.
stehen noch weitere Verluste in der ersten Woche, indem eine
Encephalomeningitis die Nachbarschaft der Hirnwunde befällt;
sterben hier die Thiere auch nicht, so ist doch der Zweck ganz
verfehlt, da die Rindenläsion eine unbeabsichtigte Ausdehnung
gewonnen hat. Grosse Sauberkeit in der Ausführung der Ope-
ration und die mit der Uebung wachsende Geschicklichkeit min-
dern alle diese Verluste, insbesondere die letztgenannten, doch
verhüten lassen sich dieselben nicht; und noch bei der letzten
Serie von 30 Hunden haben mir nicht weniger als 19 mal Blu-
tung oder Entzündung meist nach der ersten, seltener nach der
zweiten Operation den Versuch vereitelt.
Wo die unglücklichen Zufälle ausbleiben, überraschen die
geringfügige Reaction und die schnelle Heilung, welche den so
grossen und so groben Verletzungen folgen. Jedesmal etwa
24 Stunden nach der Operation, kaum dass er sich von der
Narkose erholt hat, ist der Hund bei massigem Fieber schon
recht munter, 12—24 Stunden später frisst er mit gutem
Appetite, nach weiteren 24—36 Stunden ist er ganz fieberfrei
und wohlauf. Die Wunde verheilt rasch, in der Regel bei
massiger Eiterung, und nach 2 — 3 Wochen ist sie vernarbt.
Macht man derzeit oder später die Section, so findet man an
der Operationsstelle die weichen Bedeckungen alle zu einer
festen derben Masse verwachsen und auch verwachsen mit dem
Gehirne, das in der ganzen Ausdehnung der Exstirpationsfläche
eine gelb erweichte Grenzschicht von etwa 1 xAm. Dicke und
darunter die normale Beschaffenheit zeigt; trotz den Wunden zu
seinen Seiten ist der Sinus longitudinalis unversehrt und durch-
gängig geblieben.
Die gelungenen Versuche lohnen nun reich alle für ihren
Erwerb aufgewandte Mühe. Denn von Stund' an, da die zweite
Sehsphäre entfernt wurde, ist und bleibt der Hund auf beiden
Augen vollkommen blind, hat er den Gesichtssinn ganz und für
immer verloren, während er in allen übrigen Stücken nicht im
mindesten vom unversehrten Hunde sich unterscheidet. Normal
laufen alle vegeta»tiven Functionen ab; normal sind Hören,
Riechen, Schmecken, Fühlen; normal kommen alle Bewegungen
zur Ausführung, die sogenannten willkürlichen ebenso wie die
unwillkürlichen, wofern sie nur nicht gerade vom Sehen ab-
Sechste Mittheilung. 99
hängig sind; normal functioniren die Augen, verengen und er-
weitern sich die Pupillen ; normal ist auch die Intelligenz, soweit
sie nicht den Gesichtssinn zur Grundlage hat: kurz, nichts ist
abnorm, als das totale Fehlen des Gesichtssinnes.
In den ersten Wochen regen nur Hunger und Durst den
Hund zu längerem Gehen an; sonst rührt er sich freiwillig
nicht von der Stelle, und auch Lockung und Prügel setzen ihn
bloss für kurze Zeit in Bewegung. Immer geht er sehr langsam
und zögernd, indem er, den Kopf weit vorgestreckt, mit der
Schnauze den Boden abfühlt und die Vorderbeine gleichsam
vorsichtig tastend vorschiebt. An alle Hindernisse auf seinem
Wege stösst er an. Häufig dreht er sich rechtsum und linksum
im Bogen, ohne von der Stelle zu kommen; hat er auf den
Zuruf die richtige Richtung eingeschlagen, so verliert er dieselbe
bald; selbst in dem ihm vorher bestbekannten Räume fehlt ihm
jede Orientirung. Zum Laufen, wie zum Springen ist er nie
zu bewegen. Vor jeder Terrainschwierigkeit macht er halt oder
kehrt er um. Nur gezwungen passirt er die Treppe, indem er
Stufe für Stufe mit der Schnauze nachfühlt; hat er nicht die
erste Stufe mit der Schnauze abgereicht, so lässt er sich eher
jede Misshandlung gefallen, als dass er ein Bein setzt. Von
der Mitte des Tisches aus vermeidet er, mit der Schnauze den
Rand abtastend, sehr geschickt die Gefahr; war er aber von
vorneherein so auf den Tisch gesetzt , dass ein laterales Fuss-
paar nahe dem Rande sich befand, so fällt er regelmässig her-
unter, sobald er sich in Gang setzt. Nur durch Riechen und
Fühlen findet er seine Nahrungsmittel. Er sieht nichts, das
man vor seinen Augen hält oder bewegt, wo auch das Bild auf
den Retinae entsteht; und er blinzelt demgemäss auch nur auf
Berührung. Ob man das helle Zimmer plötzlich verfinstert oder
das finstere Zimmer plötzlich erhellt, ob man das grellste Licht,
natürlich unter Vermeidung der Erwärmung, plötzlich in seine
Augen wirft und diese oder jene Partie seiner Retinae plötzlich
mit Licht überfluthet, keine andere Fiber seines Körpers zuckt,
als die Irismusculatur, die in normaler Weise reagirt. Und
nichts von alledem ändert sich an unserem Hunde, so lange er
lebt und gesund bleibt, ausser dass, wie es von blinden Thieren
altbekannt, die restirenden Sinne sich verfeinern und, soweit es
7*
100 Sechste Mittheilung.
angeht, eintreten für den verlorenen Gesichtssinn. Mit der Zeit
stösst der Hund immer weniger heftig an die Hindernisse auf
seinem Wege an, und schliesslich weicht er ihnen meist sogar
gut aus, nachdem er sie bloss mit den Tasthaaren oder mit
den weit nach vorn gestellten Ohrmuscheln berührt hat. Dann
orientirt er sich auch mehr und mehr in den für ihn bestimmten
Räumen, sein Gang wird weniger vorsichtig und langsam, er
trägt den Kopf höher, er umgeht die ständigen Hindernisse
ganz, er hält auf den Zuruf die richtige Richtung immer besser
ein, er bewegt sich immer häufiger und andauernder von freien
Stücken. Wer in diesen Räumen den Hund nach Monaten ober-
flächlich betrachtet, kommt nicht auf die Vermuthung, dass er
ein ganz blindes Thier vor sich hat; aber nichts weiter ist
nöthig, als den Hund auf ein ihm unbekanntes und einiger-
massen schwieriges Terrain zu versetzen, damit das alte, erst-
gezeichnete Bild sogleich in allen wesentlichen Zügen wieder-
kehrt. Alle besonderen Prüfungen des Gesichtssinnes liefern
vom ersten bis zum letzten Tage unverändert dasselbe Er-
gebniss.
Die so werthvoUen Thiere für eine lange Beobachtung ge-
sund und in guter Verfassung zu erhalten, ist übrigens eine
weitere Schwierigkeit unseres Versuches, da, wie ich schon ein-
mal bei einer früheren Gelegenheit zu bemerken hatte, die ver-
stümmelten Grosshirnhemisphären übermässig empfindlich sind.
Schrecken und Angst, wie sie die Prüfungen manchmal mit
sich bringen, Lungen- oder Darmerkrankungen, welche für den
unversehrten Hund ohne weitere Bedeutung sind, schon einfache
Indigestionen, wie sie im Verlaufe eines langen Zeitraumes gar
nicht sich verhüten lassen, alles das führt hier leicht zu Gehirn-
afifectionen, Blutungen oder Entzündungen, auch wenn die letzte
Wunde schon seit Monaten vernarbt ist. Die Blutungen haben
regelmässig in den nächsten Tagen den Tod der Thiere zur
Folge, die Entzündungen bloss hin und wieder, wenn sie in die
Tiefe gehen oder eine sehr grosse Ausdehnung gewinnen. Meist
breitet sich die von der Operationsstelle ausgegangene Ence-
phalomeningitis nur mehr oder weniger weit über die Nachbar-
schaft dieser Stelle aus; und dann treten zu der Blindheit, ent-
sprechend der Intensität und dem umfange des pathologischen
Sechste Mittheilung. 101
Processes, theils für eine Weile, theils für die Dauer Functions-
stöningen im Bereiche der Fühlsphäre, und zwar ihrer Augen-
und Extremitäten -Regionen, hinzu, wie auch Hörstörungen,
welche freilich als einseitige nicht mit voller Sicherheit zu con-
statiren sind. Der sorgfältigen Pflege meines Wärters Bartel
habe ich es zu verdanken, dass meine Hunde trotz allen Ge-
fahren meist 2 — 3 Monate, einzelne sogar über 4 Monate nach
der zweiten Operation gesund geblieben sind ^^. Da in so langer
Zeit nicht die mindeste Veränderung hinsichts des Gesichts-
sinnes sich darbot, unterliegt es keinem Zweifel, dass die Blind-
heit unseres Versuches eine andauernde ist.
Natürlich schliesst selbst grosse üebung es nicht aus, dass
hin und wieder einmal die beabsichtigte Totalexstirpation der
beiden Sehsphären doch nicht ganz zur Ausführung gelangt,
indem ein kleines Stück der einen oder der anderen Sehsphäre
dem Messer entgeht. Mir ist es im ganzen selten und immer
nur in der Weise vorgekommen, dass der erhaltene Rest das
mediale Ende der Sehsphäre war, also am Sulcus calloso-mar-
ginalis sich befand, wo die richtige Messerführung am schwie-
rigsten ist. Aber die so missglückten Fälle sind durchaus nicht
zu den verlorenen zu zählen; denn mit den abweichenden Er-
scheinungen, welche sie darbieten, sichern sie gerade sehr schön
das sonstige Ergebniss. Nehmen wir an, die stehengebliebene
kleine Partie gehöre der linken Sehsphäre an. Der Hund be-
wegt sich von vorneherein sichtlich freier; er trägt den Kopf
höher und setzt die Vorderbeine weniger vorsichtig; er bevor-
zugt auffällig die Rechtsdrehung und führt nur auf besonderen
Anlass eine Linksdrehung aus, die dann übrigens ebenso gut
wie die Rechtsdrehung sich vollzieht; er stösst rechts viel
seltener an Hindernisse an als links. Schon in der zweiten Woche
geht er viel von freien Stücken, freilich langsam, und er um-
geht dabei sehr gut alle Hindernisse auf seinem Wege; nur
wenn er sich linksum dreht, stösst er ferner noch und bloss
mit der linken Seite des Kopfes an. Auf den Zuruf oder wenn
sonst ein auffälliges Geräusch in der Höhe entsteht, wendet er
eigenartig den Kopf, indem er ihn in den Nacken wirft und
zugleich so um die Längsaxe dreht, dass die mediale Partie der
rechten Retina der Schallquelle zugekehrt wird. Bald passirt
102 Sechste Mittheilang.
er auch ohne Zwang die Treppe, indem er nur Kopf and Vorder-
beine vorsichtig vorstreckt; und wenn man ihn an den Rand
des Tisches drängt, klammert er sich zwar lange krampfhaft
an, springt aber endlich ungeschickt herunter. Bringt man
irgend einen Gegenstand, den Finger, den Stock u. dgl., vor die
Augen und bewegt ihn in den verschiedensten Richtungen, so
bleibt der Hund ganz tlieilnahmlos, bis das Bild auf die äusserste
mediale Partie seiner rechten Retina fällt; nur dann, aber dann
auch jedesmal wird er plötzlich aufmerksam, hebt den Kopf
und sperrt die Augen auf, und er folgt auch einen Moment der
Bewegung des Objectes mit Drehung der Augen und des Kopfes.
Verbinden des linken Auges ändert an alledem nichts; ist da-
gegen das rechte Auge verbunden, so verhält sich unser Hund
gerade so, wie der zuerst geschilderte ganz blinde Hund. In
einem besonders bemerkenswerthen Falle stellten sich für die
grobe Beobachtung durch Monate hindurch bloss zwei Abwei-
chungen heraus: der Hund drehte sich von vorneherein mit
Vorliebe rechtsum, und vollführte weiterhin auf Geräusche in der
Höhe die eigenartige Wendung des Kopfes, welche ich vorhin
beschrieb. Die genaue Prüfung lehrte, dass nur, wenn ein
grelles Licht plötzlich auf dem obersten Abschnitte der äussersten
medialen Partie der rechten Retina sein Bild entwarf, der Hund
aufmerksam wurde, übrigens der Bewegung des Lichtes weder
mit den Augen noch mit dem Kopfe weiter folgte; weniger helle
Objecte, ebenso vorgehalten und bewegt, liessen den Hund
durchaus theilnahmlos. Was hier vom Gesichtssinne übrig ge-
blieben, war offenbar ein Minimum. Und in unerwarteter Deut-
lichkeit zeigte die Section, dass vom vorderen medialen Ende
der linken Sehsphäre ein ganz kleines Stück erhalten war; die
Exstirpationsstelle reichte am Sulcus calloso-marginalis linker-
seits etwas weniger weit nach vorn, als rechterseits.
So ist denn also, was ich früher aus den Folgen kleinerer
Exstirpationen der Grosshirnrinde erschlossen hatte, nunmehr
auch durch den entscheidenden Versuch unmittelbar und end-
gültig festgestellt: dass die Rindenabschnitte AA^A (Fig 1 — 4)
der Grosshirnhemisphären und von allen nervösen Centraltheilen
einzig und allein diese Rindenabschnitte, welche ich die Seh-
sphären genannt habe, es sind, die mit der Function des Sehens
Sechste Mittheilung. 103
betraut sind. So sicher, können wir sagen, wie die durch-
sichtigen Theile der Augen Bilder von den äusseren Objecten
auf den Retinae entstehen lassen und dadurch die specifischen
Endelemente (Zapfen -Stäbchen), mit welchen die Opticusfasern
in den Retinae ausgestattet sind, und so mittelbar die Opticus-
fasern selbst erregt werden, so sicher enden auf der anderen
Seite diejenigen Opticusfasern, deren Erregung das Sehen zur
Folge hat, in den Sehsphären AA^A^ und liegen ebendort und
dort allein die centralen Elemente, welche Licht empfinden, in
welchen die Gesichtswahrnehmung statthat. Sind die Sehsphären
entfernt oder für die Dauer functionsunfähig geworden, so
werden zwar durch die Lichtwellen des Aethers die Opticus-
fasern nach wie vor von ihren Endelementen aus in Erregung
gesetzt, und diese Erregung führt auch noch reflectorisch von
anderen, unterhalb der Grosshirnrinde gelegenen Centraltheilen
aus Irisbewegungen herbei, aber Licht wird nicht mehr, em-
pfunden, Gesichtswahrnehmungen kommen nicht mehr zustande,
volle Rindenblindheit auf beiden Augen besteht für alle Folge.
Und noch mehr wissen wir bereits^*: Die mit den Opticus-
fasern verbundenen centralen Rindenelemente, in welchen die
Gesichtswahrnehmung statthat, sind regelmässig und continuir-
lich angeordnet wie die specifischen Endelemente der Opticus-
fasern in 'den Retinae, derart dass benachbarten Rindenelementen
immer benachbarte Retinaelemente entsprechen. Nur ist nicht
die einzelne Retina zur einzelnen Sehsphäre in Beziehung gesetzt.
Vielmehr ist jede Retina mit ihrer äussersten lateralen Partie
zugeordnet dem äussersten lateralen Stücke der gleichseitigen
Sehsphäre. Der viel grossere übrige Theil jeder Retina aber
gehört dem viel grösseren übrigen Theile der gegenseitigen Seh-
sphäre zu, und zwar so, dass man sich die Retina derart auf
die Sehsphäre projicirt denken kann, dass der laterale Rand des
Retinarestes dem lateralen Rande des Sehsphärenrestes, der
innere Rand der Retina dem medialen Rande der Sehsphäre,
der obere Rand der Retina dem vorderen Rande der Sehsphäre,
endlich der untere Rand der Retina dem hinteren Rande der
Sehsphäre entspricht. Wo die Verknüpfung der centralen Rinden-
elemente einer Sehsphäre -mit den peripherischen Endelementen
der gegenseitigen Retina ein Ende hat, tritt demgemäss, für
104 Sechste Mittheilang.
das laterale Stück dieser Sehsphäre, das laterale Stück der
gleicliseitigen Retina an die Stelle des lateralen Stückes der
gegenseitigen Retina. Ist ein Theil der Sehsphären entfernt
oder für die Dauer functionsunföhig geworden, so ist damit
zwar hinsichts der mittelbaren Erregung der Opticusfasern durch
die Lichtwellen und hinsichts der reflectorischen Irisbewegungen
nichts verändert, aber von den specifischen Endelementen des
correspondirenden Theiles der Retinae aus kommt es nicht mehr
zur Lichtempfindung, zur Gesichtswahmehmung; für den Theil
der Retinae, dessen Endelemente mit den centralen Rinden-
elementen des vernichteten Theiles der Sehsphären verknüpft
waren, besteht Rindenblindheit für alle Folge.
Diese genaueren Beziehungen der Sehsphären zu den Retinae
habe ich früher ermittelt, indem ich an verschiedenen Hunden
verschiedene Abschnitte einer Sehsphäre oder eine ganze Seh-
sphäre exstirpirte. Jetzt habe ich sie, um alle Controlen zu
erschöpfen, auch in der Weise festgestellt, dass ich nach der
Totalexstirpation der einen Sehsphäre, wenn die Wunde schon
lange vernarbt war, noch eine Partialexstirpation der zweiten
Sehsphäre, von verschiedener Lage und Ausdehnung an den
verschiedenen Hunden, ausführte. Man ist hier in vielen Fällen
der Mühe überhoben, für die Prüfungen das eine Auge zu ver-
binden; sonst gestalten sich die Prüfungen und die Beobachtungen
nicht anders, als ich sie nach dem ersteren Verfahren beschrieb.
Mir ist das letztere Verfahren zugleich eine sehr gute Vorübung
für die Totalexstirpation beider Sehsphären gewesen; und schon
deshalb allein ist es werthvoll, weil es zur vollen Rindenblind-
heit des einen Auges führt, wenn nach der Totalexstirpation
der gegenseitigen Sehsphäre das äusserste laterale Drittel von
der an der Convexität gelegenen Partie der gleichseitigen Seh-
sphäre abgetragen wird. Hunde , welchen eine Sehsphäre ganz
oder zum Theil exstirpirt war, ebenso Hunde, die auf einem
Auge rindenblind waren, haben sich 7—9 Monate lang für die
Beobachtung gesund erhalten lassen, und ich habe während
dieser Zeit die durch den Eingriff gesetzte Rindenblindheit nicht
im mindesten sich verändern sehen.
Ob Retinaabschnitte von gleicher Grösse auch gleich grossen
Sehsphärenabschnitten zugeordnet sind oder nicht, darüber war
Sechste Mittheilimg. 105
unmittelbare Auskunft durch Versuche nicht zu gewinnen, weil
die Grösse der geschädigten Partieen an der Retina sowohl wie
am Gehirne nur recht ungenau sich schätzen liess. Doch kann
ich folgendes mit voller Sicherheit hinstellen. Wie es mir
schon früher aufgefallen war*', so hat es sich jetzt durch die
zahlreichen weiteren Beobachtungen nur bestätigt, dass die
äusserste laterale Retinapartie, welche der gleichseitigen Seh-
sphäre zugehört, an Hunden verschiedener Race verschieden gross
und dort grösser ist, wo die Divergenz der Augen geringer ist,
aber nie, auch in den günstigsten Fällen nicht, mehr als ein
Viertel der Retina, immer auf dem horizontalen Meridiane ge-
messen, ausmacht. Diese Retinapartie wird regelmässig rinden-
blind, wenn man von der an der Couvexität gelegenen Partie
der Sehsphäre das äusserste laterale Drittel abträgt; es darf die
mediale Grenze der Exstirpationsfläche mehrere Mm. entfernt
bleiben von der Furche, welche den Gyrus supersylvius R. Owen
ungefähr hälftet. Hinwiederum wird regelmässig Rindenblind-
heit der ganzen medialen Hälfte der Retina herbeigeführt, wenn
man die mediale Partie der Sehsphäre soweit fortnimmt, dass
die laterale Grenze der Exstirpationsfläche auf wenige Mm. der
Furche nahekommt, welche den Gyrus medialis vom Gyrus
supersylvius trennt. Misst man nun. auf einem durch die Mitte
der Sehsphäre — etwas hinter der Mitte der Partie A^ Fig. 1
— gelegten Frontalschnitte die Länge der an Dicke überall
ungefähr gleichen Rindenschicht mit Berücksichtigung der Furchen
(von der Tiefe des Sulcus calloso-marginalis an), so ergiebt
sich, dass die Rindenstrecke für das mediale Viertel der lateralen
Hälfte der Retina, einerseits ungefähr ebenso lang und höchstens
wenig kürzer ist, als die Rindenstrecke für die ganze mediale
Hälfte der Retina, andererseits um etwa die Hälfte länger ist,
als die Rindenstrecke für das äusserste laterale Viertel der Re-
tina. Und wenn man alle möglichen Fehler noch so gross setzt,
so bleibt doch immer die Bevorzugung auffallend, welche hin-
sichts der zugehörigen Rindenstrecke das mediale Viertel der
lateralen Hälfte der Retina vor der übrigen Retina zeigt. Das
ist aber sehr bemerkenswerth, weil gerade dieses Retina- Viertel
die Stelle des directen Sehens des Hundes enthält ^^, die Stelle,
auf welcher jedesmal das Bild des fixirten Objectes entsteht.
106 Sechste Mittheilong.
Man wird danach wohl nicht fehlgehen, wenn man im allge-
meinen für die verschiedenen Abschnitte der Retina eine un-
gleichartige Projection auf die Sehsphäre annimmt. Jedenfalls
aber ist es ausgemacht, dass die Stelle des directen Sehens der
Retina besonders gut in der Hirnrinde repräsentirt ist, einen
verhältnissmässig sehr grossen Theil der Sehsphäre für sich in
Ansprudi nimmt; denn an eine etwaige Compensation der grösseren
Länge des betreffenden Sehsphärenabschnittes durch geringere
Breite ist nach der ganzen Lage der Dinge und schon nach der
Configuration der Sehsphäre selbstverständlich nicht zu denken.
Mit der umfassenden und allseitig gesicherten Einsicht,
welche wir derart in die Sehsphären als den Ort der Gesichts-
wahrnelmiung gewonnen haben, ist jedoch unsere Kenntniss der
Sehsphären noch nicht abgeschlossen. Gerade der erste Ver-
such, mit welchem ich vor Jahren in das Gebiet eintrat, hat
uns sogleich einen Einblick thun lassen in die höheren Fun-
ctionen, welche den Seh Sphären ferner noch zukommen. Völlig
isolirt und weitab von allem bekannten, wie damals der Ver-
such über die Seelenblindheit dastand , hat • er zuvörderst der
Ausgangspunkt gewissermassen rückläufiger Untersuchungen
werden müssen, welche den natürlichen und festen Boden
für den Versuch zu schaffen hatten. Jetzt ist dieser Boden
gewonnen, unmittelbar dem Vorbehandelten reiht sich nunmehr
der Versuch an, und so kann der scheinbar lange vernach-
lässigte Gegenstand heute endlich die zureichende Behandlung
finden.
Nach der ausführlichen Schilderung, welche ich früher
gab^^, werde ich hier nur kurz an den Versuch zu erinnern
brauchen. Ein Hund, dem die Grosshirnrinde der Stelle A^
(Fig. 1 und 2) beiderseits exstirpirt ist, bietet, wenn nach
einigen Tagen die entzündliche Reaction vorüber, eine eigen-
thümliche Störung im Gebiete des Gesichtssinnes dar. Er be-
wegt sich überall ganz frei und ungenirt, nie stösst er an, und
selbst unter den schwierigsten Verhältnissen umgeht oder über-
windet er jedes Hinderniss. Aber so gut er auch danach offen-
bar sieht, er kennt oder erkennt nichts, das er sieht, nicht die
Fleischschüssel, nicht den Wassernapf, nicht den Genossen, nicht
den Menschen, nicht die Peitsche, nicht das Feuer u. s. f.
Sechste Mittheüung. 107
Neugierig glotzt er um sich, und wie priifend von allen Seiten
betrachtet er, was ihm in den Weg kommt, als wolle er es
kennen lernen. Erst nach und nach erkennt* er die Objecto
wieder; von Untersuchung zu Untersuchung findet sich dieser
oder jener Zug des Bildes, das der Hund zunächst darbot, ver-
wischt, täglich sind mehr Absonderheiten fortgefallen. Zu aller-
erst ist der Hund wieder mit der Fleischschüssel und dem
Wassergefasse vertraut, dann erkennt er auch den Menschen
und findet aus der Ferne den Wärter heraus, der ihn pflegt,
weiter erweisen sich Tisch, Schemel, Hund, Kaninchen ihm be-
kannt, noch später kennt er Stock, Peitsche, Finger, Feuer
wieder, u. s. w. Die Neugier und die Unruhe des Hundes
haben mittlerweile entsprechend abgenommen. Endlich, wenn
3 — 5 Wochen seit der Operation verflos^n sind, ^erscheint der
Hund restituirt, die eigenthümliche Störung im Gebiete des Ge-
sichtssinnes — die Seelenblindheit, wie ich sie nannte — ist
beseitigt.
Indem ich so den Versuch zuerst beschrieb, waren die Seh-
störungen nur unvollkommen erkannt. Wir haben seitdem er-
fahren^®, dass die beiderseitige Exstirpation der Stelle A^ an-
dauernde partielle ßindenblindheit mit sich bringt, und zwar an
beiden Retinae für die Stelle des directen Sehens und deren
Umgebung. Diese Schädigung ist auch jedesmal an unserem
Hunde nachweisbar. Hat man dem von der Seelenblindheit
restituirten Hunde ein Auge verbunden, und nähert man, während
der Hund das andere Auge ruhig hält, diesem Auge von vom
und etwas von der Nasenseite her Objecto, Fleisch oder Feuer,
so, dass ihr Bild ungefähr auf der Mitte der Retina oder besser
etwas nach aussen von der Mitte entsteht, so sieht der Hund
die Objecto nicht, er bleibt durchaus theilnahmlos ; dagegen
schnappt er sofort nach dem Fleische oder zuckt vor dem Feuer
zurück, sobald man die Objecto etwas nach der einen oder der
anderen Seite verschiebt. Auch schon in den ersten Wochen,
wenn der Hund die Objecto noch gar nicht wieder kennt, ge-
lingt die Prüfung, sobald nur die Unruhe des Hundes sich ge-
nügend gemässigt hat: nachdem man dem hungrigen Hunde
einige Fleischstücke gereicht hat, hält der Hund alles, was man
ihm nähert, für Fleisch und schnappt danach; und er schnappt
108 Sechste Mittheilung.
nur dann nicht zu, wenn das Bild des genäherten Objectes auf
der Mitte der Retina oder etwas nach aussen von der Mitte
sich erhält. Ganz im groben thut sich die Schädigung kund in
dem stieren und blöden Blick, welchen der Hund zeitlebens
nach der Operation behält. So eigenartig ist dieser Blick, der
nach keinem anderen Eingriffe als der beiderseitigen Exstirpation
der Stelle A^ sich findet, dass er mir von vorneherein nicht
entging; aber ich verstand ihn anfangs nicht und mass ihm
keine Bedeutung bei. Worauf der Blick beruht, lehrt einfach
der Vergleich mit dem unversehrten Hunde. Ganz anders als
dieser bewegt unser Hund seine Augen, viel seltener und viel
unregelraässiger. So gespannt er auch offenbar das Fleischstück
vor seiner Nase betrachtet, die Augen sind a|;)norm divergent,
und die Divergenz ninjrat nicht in normaler Weise ab, w^nn das
Fleischstück der Nase genähert, nicht in normaler Weise zu,
wenn das Fleischstück von der Nase entfernt wird; ebensowenig
erfolgt die Seitenwendung der Augen normal, wenn man das
Fleischstück nach rechts oder nach links bewegt. Mit einem
Worte, unser Hund fixirt nicht mehr; er stellt die Augen nicht
mehr so ein, dass das betrachtete Object an den Stellen des
directen Sehens auf seinen Retinae sich abbildet.
Indess mit dieser Verbesserung unserer Einsicht ist doch
das Wesentliche an unserem Versuche nicht verändert. So sehr
tritt die partielle Rindenblindheit gegen die anderen Störungen
zurück, dass sie anfangs sogar ganz sich hat übersehen lassen,
und dass es erst langer und mühsamer Untersuchungen bedurft
hat, um sie aufzudecken. In die Augen springt, und das bleibt
der Kern des Versuches, dass der Hund die äusseren Objecte,
obwohl er sie sieht, nicht mehr wie früher kennt und erst nach
und nach wieder erkennt. Danach sind offenbar noch andere
und höhere Functionen der Grosshirnrinde, als die Gesichts-
wahrnehmung, von Störungen betroffen, danach hat unser Ein-
griff auch im Gebiete der Gesichtsvorstellungen eine Schädigung
herbeigeführt.
Die Gesichts Vorstellungen, aus Gesichtswahrnehmungen her-
vorgegangen, sind entweder Anschauungsbilder oder Erinnerungs-
bilder dieser Wahrnehmungen. Die Erregung der Opticusfasern,
welche dem Sehen dienen, braucht in ihren Folgen nicht auf
Sechste Mittheiluüg. 109
die Erregung der centralen Elemente, welche mit der Gesichts-
wahrnehmung betraut sind, sich zu beschränken, sondern kann
auch noch mittelbar durch diese Erregung andersgeartete cen-
trale Elemente in Erregung versetzen und damit Gesichtsvor-
stellungen veranlassen. Die letzteren centralen Elemente, welche
Vorstellungselemente heissen mögen, sind aber vor den wahr-
nehmenden Elementen dadurch ausgezeichnet, dass, während
diese sehr rasch nach der Erregung wieder in dem vollen alten
Ruhezustande sich befinden, an den Vorstellungselementen in-
folge der Erregung wesentliche Veränderungen zurückbleiben,
welche nur äusserst langsam sich abgleichen. Wenn nun durch
die Erregung von Opticusfasern, unter Vermittlung der zuge-
hörigen wahrnehmenden Elemente, gewisse Vorstellungselemente
zum ersten Male in Erregung gesetzt sind, so ist damit das
blosse Anschauungsbild der Gesichtswahrnehmung gegeben, und
die Gesichtswahrnehmung erscheint neu und unbekannt. Hört
die Erregung der Opticusfasern auf, so hat auch die Erregung
der centralen Elemente ein Ende, und das Anschauungsbild ist
fortgefallen; aber mit den bleibenden Veränderungen, welche die
Vorstellungselemente erfahren haben, ist latent (potentia) das
Erinnerungsbild der Gesichtswahrnehmung erhalten, und dieses
Bild entsteht (actu) fortan jedesmal, dass dieselben Vorstellungs-
elemente, gleichviel aus welchem Anlasse, wieder in Erregung
gerathen. Wird diese Erregung nunmehr durch eine neue Er-
regung der Opticusfasern herbeigeführt, so ist zugleich mit dem
Erinnerungsbilde wieder das Anschauungsbild der Gesichtswahr-
nehmung da; und indem Anschau ungs- und Erinnerungsbild zu-
sammenfallen, erscheint jetzt die Gesichts Wahrnehmung bekannt.
So nur und nicht anders lassen die Dinge, um die es sich hier
handelt, physiologisch sich erfassen; und die eigenthümliche
Störung, welche unser Hund im Gebiete des Gesichtssinnes zeigt,
lässt sich demgemäss dahin präcisiren, dass infolge der Ver-
stümmelung nicht mehr, wie früher, zugleich Anschauungs- und
Erinnerungsbilder der Gesichtswahrnehmungen entstehen und
erst nach und nach für die verschiedenen Gesichtswahrneh-
mungen das Zusammenfallen von beiderlei Bildern sich wieder
einstellt.
Nichts liegt nun näher, als das Wesen der Störung in der
110 Sechste Mittheilang.
vorübergehenden Functionsunfähigkeit zu vermuthen von Rinden-
theilen, welche Gesichtsvorstellungen dienen, sei es von Vor-
stellungselementen selbst, sei es auch nur von Leitungen, welche
die wahrnehmenden Elemente mit den Vorstellungselementen
oder die Vorstellungselemente unter sich verbinden. Hat doch,
wer viel an der Grosshirnrinde experimentirt, häufig genug Ge-
legenheit zu sehen, wie Rindentheile ausser Function treten und
mit der Zeit ihre Function wieder aufnehmen. Nach jeder Ex-
stirpation kommt es infolge des mechanischen Angriffs und der
reactiven Entzündung für die Umgebung der Exstirpationsstelle
zur Beobachtung, und noch schöner ist es zu verfolgen, wo
nach völliger Heilung der Wunde eine Entzündung von der
Operationsstelle aus sich verbreitet und darauf in umgekehrter
Richtung sich zurückbildet. Ja, unter diesen Umständen scheint
sogar gelegentlich unsere Störung selbst sich wieder zu finden,
wenn in der Umgebung der Stelle A^ Exstirpationen vorge-
nommen sind; denn manchmal tritt dann Seelenblindheit auf
und verschwindet wieder in wenigen Tagen. Dass in unserem
Falle sehr viel langsamer die Restitution erfolgt, könnte man
bloss dem zuschreiben wollen, dass die mechanische Verletzung,
bez. die Entzündung bei der Exstirpation der Stelle A ^ aus un-
bekanntem Grunde besonders heftig ist.
Aber so nahe auch die Vermuthung liegt, sie erweist sich
als gründlich falsch. Ueberall wo eine Erkrankung von Rinden-
substanz, gleichviel wodurch herbeigeführt, den Ausfall von
Rindenfunctionen mit sich bringt und mit der Heilung die
Functionen wiederkehren, wird, wann die Functionen wieder-
erscheinen, und wie, d. h. in welcher Reihenfolge und in welcher
Vollständigkeit sie sich wieder einstellen, einzig und allein
durch den Heilungsvorgang bestimmt, und der Experimentator
vermag nicht den mindesten Einfluss darauf zu gewinnen. So
entspricht es der Natur der Dinge, und so lässt es sich hundert-
fach constatiren; so zeigt es sich insbesondere auch jedesmal
da, wo nach einer Exstirpation in der Umgebung von A^ die
Seelenblindheit auftritt und in wenigen Tagen wieder sich ver-
liert. Ganz anderes stellt sich in unserem Falle heraus. Hat
man unserem Hunde am 2. oder 3. Tage nach der Operation
den Kopf in den Eimer gedrückt, bis das Wasser die Schnauze
Sechste Mittheilung. 111
berührte, und den Futternapf vor die Nase gebracht, dass er
das Fleisch roch und frass, so findet der Hund schon am 3.,
bez. 4. Tage Eimer und Wassernapf auf; thut man das gleiche
erst am 4. oder 5. Tage, so erkennt der Hund Eimer und
Futternapf erst am 5., bez. 6. Tage wieder. Hat man den
Hund noch in der 1. Woche die Treppe hinabgeschleift, vor
welcher er stutzte, so passirt er dieselbe fortan von freien
Stücken, das erste Mal etwas ängstlich, dann ohne Zögern; war
der Hund aber geflissentlich von der Treppe ferngehalten, so
macht sich alles ebenso erst in der 3. oder 4. Woche nach der
Operation. Fährt man im Verlaufe der 1. Woche mehrmals
mit dem Finger an oder in die Augen des Hundes, so tritt
von der Zeit an regelmässig Blinzeln auf Näherung des Fingers
ein; sonst kommt dieses Blinzeln ohne alles Zuthun erst in
der 2. oder 3. Woche zur Beobachtung. Drückt man in der
2. Woche ein brennendes Streichholz, nachdem man es vor den
Augen gehalten, an die Nase des Hundes, so dass es ihn
schmerzt, so weicht der Hund fernerhin stets mit dem Kopfe
zurück, sobald er wieder das Feuer sieht; brennt man ihn
ebenso erst in der 5. Woche, so hat ihn bis dahin das Feuer
nicht genirt, und er kennt es erst jetzt. Bewegt man in der
2. Woche die Peitsche, die noch gar keinen Eindruck macht,
einigemal vor den Augen des Hundes und ertheilt ihm einen
Schlag, so scheut der Hund in der Folge, so oft man die
Peitsche bewegt, und kriecht nach einigen Tagen in die Ecke,
sobald er nur die Peitsche in der Hand sieht ; hat man dagegen
den Hund so lange mit der Peitsche verschont, so macht man
dieselben Beobachtungen erst in der 4. oder 5. Woche. Und
der Art sind der Erfahrungen mehr. Ja, die volle Restitution
von der Seelenblindheit kommt auch überhaupt bloss dann in
3 — 5 Wochen zustande, wenn nichts, das der Prüfung unter-
liegt, dem Hunde vorenthalten blieb; anderenfalls gewisse Ob-
jecto, wie z. B. gerade Peitsche und Feuer, nach Monaten noch
ihm ebenso unbekannt sind, wie in den ersten Tagen nach der
Operation. Hier zeigt es sich also vielfach in die Hand des
Experimentators gelegt *S ^b und wie bald der Hund die Ob-
jecto wieder kennt, und das schliesst unbedingt die Möglichkeit
aus, dass ausser Function gesetzte Rindentheile mit der Zeit
112 Sechste Mittheilang.
ihre Function wieder aufnehmen. Danach kann es nicht anders
sein, als dass diejenigen Vorstellungselemente, in welchen die
Erinnerungsbilder der früheren Gesichtswahrnehmungen latent er-
halten waren, durch die Operation dem Hunde ganz verloren ge-
gangen oder wenigstens für immer nutzlos geworden sind. Indem
eben nur diese Vorstellungselemente und nicht im mindesten
alle centralen Elemente, deren Erregung Gesichtsvorstellungen
veranlasst, fortgefallen sind, kann unser Hund von Anfang an,
da er nach der Operation der Beobachtung unterliegt, durch
seine Gesichtswahrnehmungen zu Gesichtsvorstellungen kommen,
können seine Wahrnehmungen zu Anschauungs- und Erinnerungs-
bildern führen so wie früher, nur dass es andere, bis dahin un-
benutzte Vorstellungselemente sind, welche jetzt die Erinnerungs-
bilder geben. Darum erscheinen dem Hunde die Objecto zu-
nächst unbekannt, und sie werden ihm erst nach und nach
wieder bekannt in dem Umfange und in der Reihenfolge, wie er
neue Erinnerungsbilder von ihnen gewinnt.
Wenn diese Erkenntniss nicht noch zwingender bei dem
Versuche sich aufdrängt, wenn eine gewisse Gleichförmigkeit im
Verlaufe der Restitution, so oft man auch den Versuch wieder-
holt, den Gedanken an eine vorübergehende Functionsunfähig-
keit von Rindentheilen überhaupt aufkommen lässt, so liegt es
nur an der Eigenart der Störung, welche die Operation mit sich
bringt. Plötzlich wie durch einen Zauber ganz unbekannt ge-
worden mit allem, was er sieht, ist unser Hund für seine
Existenz und seine Erhaltung auf den baldigen Erwerb neuer
Kenntnisse angewiesen und lernt gerade so, wie er sie beachtet,
die ihm wichtigeren Objecto eher wieder kennen als die weniger
wichtigen, die grösseren Objecto eher als die kleineren, die be-
wegten eher als die ruhenden. Indem dies aber bei jedem Ver-
suche wiederkehrt, ist wegen der gleichen und beschränkten
Verhältnisse, unter welchen die Thiere leben, für zufällige und
dabei gut bemerkbare Variationen der Restitution nur sehr
wenig Spielraum vorhanden; und die individuellen Verschieden-
heiten scheinen im wesentlichen darauf sich zu beschränken,
dass der Gesammtverlauf der Restitution das eine Mal ein
etwas rascherer, das andere Mal ein etwas langsamerer ist.
Auch der Experimentator vermag da nur in Einzelheiten ändernd
Sechste Mittheilang;. 1 1 3
einzugreifen, wie ich es oben schilderte: einige unwichtige Ob-
jecte allerdings kann er dem Hunde ganz vorenthalten, von den
übrigen Objecten aber kann er bloss die Kenntnissnahme etwas
verzögern. Gelänge es, die eigenthümliche Störung im Gebiete
des Gesichtssinnes unter Bedingungen zu beobachten, unter
welchen dieselbe weniger bedeutungsvoll für die Existenz des
Hundes wäre, es stände zu erwarten, dass das Wesen der
Störung alsdann viel schärfer hervorträte, und so ergiebt es
sich in der That, wenn die Grosshirnrinde der Steile ^^ bloss
an einer Hemisphäre exstirpirt ist.
Versuche dieser Art bieten schon das Interesse dar, dass
sie der Analyse der doppelseitigen Exstirpationsversuche dienen,
und ich habe es deshalb sogleich beim Beginne meiner Unter-
suchungen nicht verabsäumt, dieselben auszuführen. „Hat man
die Stelle A^ nur an einer Hemisphäre exstirpirt, so gilt alles,
was ich oben für das Sehen im allgemeinen schilderte, bloss
für das Sehen mit dem Auge der der Verletzung entgegen-
gesetzten Seite. Nach der rechtsseitigen Exstirpation z. B. er-
kennt der Hund alles in der alten Weise weiter mit dem rechten
Auge, wenn man ihm das linke verbunden hat, während er bei
verbundenem rechten Auge wohl sieht, aber zunächst nichts
erkennt und erst mit der Zeit alles wieder kennen lernt." So
führte ich damals das Ergebniss an ^^, und so habe ich es heute
nur zu wiederholen. Aber wenn ich weiter hinzufügte: „Nur
die Restitution habe ich bei einseitiger Exstirpation rascher
sich vollziehen sehen als bei beiderseitiger Exstirpation, was
durch die Hülfe, welche das wohlerhaltene Sehen mit dem einen
Auge für die Kenntnissnahme von den Objecten gewähren muss,
leicht verständlich ist", so bin ich dabei in einen doppelten
Irrthum verfallen, einmal indem ich die raschere Restitution
nach der einseitigen Exstirpation für allgemeingültig hielt,
zweitens indem ich sie als derart verständlich ausgab. Dass
ich im heikelsten Gebiete, mittenhinein vor Räthsel über Räthsel
gestellt, einmal irrte, wer würde es mir verargen wollen? Erst
recht aber wird man es mir nicht verübeln, da mein Irrthum
gerade dem naturgemässen Gange der Untersuchung entsprang.
Damals kam es vor allem darauf an, wie von der beiderseitigen,
so von der einseitigen Seelenblindheit die volle Restitution zu
H. Huuk, Fanctioneu der Orosshimrinde. &
1 1 4 Sechste Mittheilang.
constatiren; ich untersuchte und prüfte deshalb sehr viel das
eine Auge, und ich setzte damit unbewusst die Bedingungen,
unter welchen die Restitution allerdings so rasch erfolgt, wie
ich es angab. Aber ein anderes Verfahren liefert ein ganz
anderes Ergebniss.
Man exstirpire einem Hunde die Stelle A^ der einen, sagen
wir der linken Hemisphäre, man überwache die Heilung und
Vemarbung der Wunde, man halte aber den Hund stets in
seinem Käfige; oder auch man lasse den Hund frei in den
Laboratoriumsräumen sich bewegen, man lasse ihn im Garten
sich tummeln mit den anderen Hunden, man beschäftige sich
selbst mit ihm, nur stelle man keine Prüfungen seines Gesichts-
sinnes an. 3, 4, 6, 8 Wochen oder noch später nach der
Operation prüfe man den Hund bei verbundenem linken Auge:
man wird finden, dass er mit dem rechten Auge alles sieht,
aber nichts oder so gut wie nichts mit diesem Auge erkennt.
Allenfalls kennt er Mensch und Hund, doch findet er aus der
Ferne weder den Wärter noch den Spielgenossen heraus, allen-
falls blinzelt er auf Näherung des Fingers, höchst selten — mir
ist es nur ein einziges Mal begegnet — scheut er vor dem
Feuer; sonst zeigt er dasselbe Verhalten, wie es ein derart
operirter Hund immer in den ersten Tagen nach der Operation
darbietet. Steckt man bei dieser Prüfung dem Hunde nicht den
Kopf in den Eimer, bis das Wasser die Schnauze benetzt, nähert
man ihm nicht den Futternapf, dass er das Fleisch riecht, lässt
man ihn nicht den Stock fühlen, brennt man ihn nicht mit dem
Feuer u. s. w., nimmt man auch sogleich nach der Prüfung den
Verband wieder ab, so kann man die gleichen Erfahrungen
während einer Reihe von Tagen hintereinander machen. Endlich
halte man täglich längere Zeit dem Hunde das linke Auge ver-
bunden, man füttere und tränke ihn dabei, man schlage, man
brenne ihn u. s. f.: nunmehr vollzieht sich die Restitution von
der 4., 5., 7., 9. Woche oder einer noch späteren Zeit an ge-
rade so, wie sonst schon in den ersten Wochen nach der
Operation. Und will man es anders, so setze man bloss ein-
zelne Objecte der Kenntnissnahme von Seiten des Hundes aus,
während dieser das rechte Auge allein offen hat: nur diese
Sechste Mittheilang« 1 1 5
Objecte wird er in der Folge kennen, die anderen werden ihm
so unbekannt sein wie zuvor.
Mit der beiderseitigen Exstirpation der Stelle A^ ist also
für den Hund der definitive Ausfall aller der Vorstellungs-
elemente verbunden, in welchen die Erinnerungsbilder seiner
früheren Gesichtswahrnehmungen latent erhalten waren ; und die
einseitige Exstirpation der Stelle A^ bringt den Ausfall dieser
Vorstellungselemente bloss für das Sehen mit dem gegenseitigen
Auge mit sich. Ob es sich dabei um einen wirklichen Verlust
von Vorstellungselementen handelt oder nur darum, dass die
Vorstellungselemente dem Hunde für die Folge nutzlos sind, ist
damit noch nicht ausgemacht. Die bezüglichen Vorstellungs-
elemente könnten in den Stellen A^, und zwar gesondert und
gleichmässig in jeder dieser beiden Stellen gelegen sein und
durch unseren Eingriff entfernt werden ; oder sie könnten irgendwo
in der Rinde ausserhalb der Stellen A^ sich befinden, sei es
einfach vorhanden für beide Hemisphären, sei es wiederum gleich-
mässig in jeder Hemisphäre für sich, und die Exstirpation der
Stelle Ai brauchte nur jedesmal alle Leitungen zu unter-
brechen, welche von den der gegenseitigen Retina zugeordneten
wahrnehmenden Elementen zu den Vorstellungselementen führen.
Aber zwischen diesen Möglichkeiten sind wir sogleich zu ent-
scheiden im Stande. Denn es giebt in der Grosshirnrinde keine
andere Partie ausser der Stelle ^j, deren ein- oder beiderseitige
Zerstörung unsere Seelenblindheit zur Folge hätte. Selbst dann
blieb diese aus, als ich die ganze einer Retina zugehörige Rinde
mit alleiniger Schonung der Stelle A^ entfernte, indem ich zuerst
von der einen Sehsphäre das äusserste Drittel der an der Con-
vexität gelegenen Partie und dann von der anderen Sehsphäre
die ganze mediale Partie bis zum medialen Rande der Stelle A^
und dazu noch die beiden Streifen vor und hinter A^ exstirpirte*.
* Der Versuch gelingt nur, wenn man das äusserste Drittel der an
der Convexität gelegenen Partie der zweiten Sehsphäre höchst schonend
behandelt und womöglich gar nicht entblösst; sonst stirbt die Stelle A^,
wahrscheinlich infolge unzureichender Ernährung, regelmässig ab. Viel
besser sind die Chancen, wenn das Abschneiden der Streifen vor und hinter
A^ unterbleibt, wodurch der Werth des Versuches allerdings, doch nur
wenig verringert wird.
8*
116 Sechste Mittheilang.
Es unterliegt demnach keinem Zweifel, dass die Vorstellungs-
elemente, in welchen die Erinnerungsbilder der früheren Ge-
sichtswahrnehmungen latent erhalten sind, in den Stellen Ai,
und zwar gesondert und gleichmässig in jeder dieser beiden
Stellen ihren Sitz haben, so dass sie mit der Exstirpation dieser
Stellen ganz verloren gehen.
Und dass dem so ist, dass diese Vorstellungselemente
gerade in derjenigen Partie der Sehsphäre enthalten sind, welche
der Retinastelle des directen Sehens und deren Umgebung zu-
geordnet ist, dafür bietet sich auch ein tieferes Verständniss
dar. Es will dazu nur beachtet sein, was wir schon bei der
Schilderung der Versuchsthiere mehrfach anzudeuten hatten,
sonst aber bisher vernachlässigen konnten, dass das Entstehen
der Vorstellungen aus den Wahrnehmungen überall noch an
eine besondere, physiologisch ihrem Wesen nach unbekannte
Bedingung geknüpft ist, die Aufmerksamkeit. Nicht alle Ge-
sichtswahrnehmungen liefern Anschauungsbilder und lassen durch
die bleibenden Veränderungen, welche sie an den Vorstellungs-
dementen setzen, Erinnerungsbilder latent fortbestehen, sondern
solche Wirkung entfalten bloss diejenigen Gesichtswahrnehmungen,
auf welche die Aufmerksamkeit gerichtet ist. Das sind aber in
der Norm immer Gesichtswahrnehmungeh , welche mittels der
Stelle des directen Sehens Zustandekommen; denn diese Stelle
der Retina wird ja regelmässig auf die Objecte eingest-ellt,
welche beachtet und betrachtet werden. Es ist daher nichts
natürlicher, als dass die Vorstellungselemente der Stelle A^ ge-
mäss den engeren Beziehungen, in welchen sie zu den wahr-
nehmenden Elementen derselben Stelle stehen, vor den übrigen
Vorstellungselementen der Sehsphäre so ausgezeichnet sind, wie
wir es fanden.
Die Richtigkeit dieses Verständnisses finden wir in sehr
bemerkenswerther Weise verbürgt, wenn wir nochmals den Hund
betrachten, an welchem die Stelle A^ auf der einen Seite
exstirpirt ist. Er erkennt mit dem gegenseitigen Auge nichts,
und doch ist das äusserste Viertel der Retina dieses Auges gar
nicht mit der verletzten Sehsphäre in Verbindung, sondern mit
der unverletzten, welche im ungestörten Besitze aller ihrer Vor-
stellungselemente sich befindet. Das beweist, dass die Vor-
Sechste Mittheilang. 117
stellungselemente der Stelle Ai zu den verschiedenen wahr-
nehmenden Elementen, welche derselben Retina zugehören, in
verschiedener Beziehung und sogar zu vielen peripherischen unter
diesen Elementen so gut wie in gar keiner Beziehung sind. Es
ist dadurch noch mehr, als durch die örtlichen oder anatomischen
Verhältnisse allein, gesichert, was ich vorhin heranzog, dass die
Vorstellungselemente der Stelle ^^ in besonders enger Beziehung
zu den wahrnehmenden Elementen derselben Stelle stehen.
Wichtiger aber noch ist und von umfassenderer Bedeutung, dass
unser Hund, auch wenn wir ihn monatelang frei umherlaufen
lassen, die verlorenen Erinnerungsbilder der einen Seite doch
nicht wiedergewinnt. So schwierig hier das Räthsel zuerst er-
scheint, so einfach ergiebt sich schliesslich seine Lösung. Der
Hund, der nie Unruhe oder Neugier verräth, der von einem
stieren oder blöden Blick keine Spur, sondern immer den Blick
des unversehrten Hundes zeigt, fixirt, wie die genaue Unter-
suchung lehrt, nach der Operation die Objecto gerade so wie
vorher; demgemäss erkennt er alles mit dem gleichseitigen
Auge, im gegenseitigen Auge aber fallen die Bilder der Objecto,
welche er betrachtet, immer auf die Retinastelle des directen
Sehens, welche rindenblind ist, und es kann deshalb hier nicht
zu Wahrnehmungen und Vorstellungen, also auch nicht zu neuen
Erinnerungsbildern kommen.
Nur unter dem Zwange, wenn der Hund nichts erkennt, das
er sieht, wenn nach der einseitigen Exstirpation der Stelle -4^
das gleichseitige Auge verbunden oder wenn die Stelle A ^ beider-
seits exstirpirt ist, wendet sich die Aufmerksamkeit den Ge-
sichtswahrnehmungen zu, welche mittels anderer Stellen der Re-
tina, als der des directen Sehens, Zustandekommen; und ent-
sprechend werden dann Vorstellungselemente, welche ausserhalb
der Stelle A^ in der Sehsphäre gelegen sind, erregt und treten
bleibende Veränderungen an ihnen ein, so dass der Hund neue
Erinnerungsbilder gewinnt. So verliert sich allmählich die
Seelenblindheit, auch wenn noch wesentlich mehr von der Seh-
sphäre als die Stelle A^ abhanden gekommen ist. Ich habe
noch die volle Restitution in 6 — 8 Wochen eintreten sehen, wo
die Retina bis etwa auf das äusserste laterale oder mediale
Viertel rindeöblind war; und erst wenn die Bindenblindheit der
118 Sechste Mittheilung.
Retina noch ausgedehnter war, kam es bloss zu einer unvoll-
kommenen Restitution, erschienen selbst nach Monaten nur
einzelne Objecte dem Hunde bekannt, oder war überhaupt keine
Restitution von der Seelenblindheit mehr nachzuweisen.
So können wir nun, alles zusammenfassend, den obigen Er-
mittelungen über die Gesichtswahrnehmung folgendes über die
Gesichtsvorstellungen hinzufügen: Ausser den centralen Ele-
menten, welche Licht empfinden, in welöhen die Gesichtswahr-
nehmung statthat, sind in den Sehsphären AA^A und dort
allein noch andersgeartete centrale Elemente gelegen, deren Er-
regung die Gesichtsvorstellungen giebt; über die ganze Aus-
dehnung jeder Sehsphäre sind sie verbreitet und überall mit den
wahrnehmenden Elementen derselben in leitender Verbindung.
Werden solche Vorstellungselemente von wahrnehmenden Ele-
menten aus in Erregung versetzt, so liefern sie das Anschauungs-
bild der Gesichts wahr ifehmung; hat die Erregung aufgehört, so
ist mit den bleibenden, nur äusserst langsam sich abgleichenden
Veränderungen, welche die Erregung an ihnen herbeigeführt hat,
das Erinnerungsbild der Gesichtswahrnehmung latent in ihnen
erhalten, und dieses Bild entsteht in der Folge jedesmal, dass
eine neue Erregung derselben Vorstellungselemente, gleichviel
wodurch, veranlasst ist. Aber nicht immer hat die Erregung
von wahrnehmenden Elementen die Erregung von Vorstellungs-
elementen zur Folge; vielmehr muss dafür noch eine besondere,
physiologisch ihrem Wesen nach unbekannte Bedingung erfüllt
sein, es muss die Aufmerksamkeit auf die Gesichtswahrnehmung
gerichtet sein. Das bringt es mit sich, dass unter allen Vor-
stöllungselementen der Sehsphäre denjenigen, welche in der'
Stelle A i gelegen und mit den wahrnehmenden Elementen dieser
Stelle in engerer Verbindung sind, eine hervorragende Bedeutung
zukommt. Da der Hund die Objecte, welche er betrachtet,
fixirt, seine Aufmerksamkeit also in der Norm immer den Ge-
sichtswahrnehmungen zugewandt ist, welche mittels der Retina-
stelle des directen Sehens Zustandekommen, so sind es immer
die Vor Stellungselemente der Stelle A^^ welche die Anschauungs-
bilder der Gesichtswahrnehmungen liefern; und in den Vorstel-
lungselementen der Stelle A^ finden sich demgemäss auch die
Erinnerungsbilder der früheren Gesichtswahrnehmungen erhalten,
Sechste Mittheilung. 119
gleichiüässig und gesondert in jeder Hemisphäre für sich, wie
sie jederseits aus dem Sehen mit dem gegenseitigen Auge her-
vorgegangen sind. Wird die Stelle A^ beiderseits entfernt, so
ist der Hund nicht nur auf beiden Retinae rindenblind für die
Stelle des directen Sehens und deren Umgebung, sondern infolge
des Fehlens aller Erinnerungsbilder seiner früheren Gesichts-
wahrnehmungen kennt oder erkennt er auch nichts, das er
sieht, er ist völlig seelenblind. In der Noth richtet sich jetzt
die Aufmerksamkeit des Hundes auf die Gesichtswahrnehraungen,
welche mittels anderer Stellen der Retinae Zustandekommen, der
Hund fixirt nicht mehr, und bis dahin unbenutzte, ausserhalb
der Stellen Ai gelegene Vorstellungselemente liefern Anschauungs-
bilder von den neuen Gesichtswahrnehmungen und lassen Er-
innerungsbilder von ihnen fortbestehen: so vollzieht sich mit der
Zeit die Restitution von der Seelenblindheit, während die par-
tielle Rindenblindheit unverändert für die Dauer sich erhält.
Wird die Stelle A^ nur an einer Hemisphäre entfernt, so gilt
alles ebenso bloss für das Sehen mit dem gegenseitigen Auge;
doch fixirt hier der Hund mit beiden Augen nach wie vor, und
deshalb kommt es zur Restitution von der Seelen blindheit bloss
insoweit, als der Hund gezwungen ist, das gegenseitige Auge
allein zum Sehen zu benutzen. Ueberall kann die Seelenblind-
heit vollkommen sich verlieren, auch wenn mit der Stelle A^
noch ein grosses Stück der übrigen Sehsphäre entfernt ist; und
erst wenn mehr als drei Viertel der Retina rindenblind sind,
bleibt die Restitution unv^oUkommen oder kommt gar nicht mehr
zustande.
Tiefer in das Gebiet der Gesichts Vorstellungen einzudringen,
ist mir, trotz vielen und verschiedenartigen Bemühungen, bisher
nicht gelungen. Am ehesten schien noch die Vermuthung sich
bestätigen zu wollen, welcher ich nach meinen allerersten Ver-
suchen dahin Ausdruck gegeben hatte, dass in der Sehsphäre
„die Erinnerungsbilder der Gesichtswahrnehmungen in der Reihen-
folge etwa, wie die Wahrnehmungen dem Bewusstsein zuströmen,
gewissermassen von einem centralen Punkte aus in immer
grösserem Umkreise deponirt werden" ^^ Schon vor Jahren
habe ich angegeben ^*, dass nach der Exstirpation der Stelle A^
hin und wieder einmal, im ganzen sehr selten, ein einzelne^
120 Sechste Mittheilang.
Erinnerungsbild erhalten gefunden wird, bei Fehlen der übrigen
Erinnerungsbilder. Seitdem habe ich häufig, wenn bei Partial-
exstirpationen der Sehsphäre ein Theil der Stelle A^ entfernt
war, einen Theil der Erinnerungsbilder erhalten, einen anderen
Theil verloren gesehen. Es ist also zweifellos, dass es für das
einzelne Erinnerungsbild bloss einer kleinen Gruppe von Vor-
stellungselenienten bedarf, und dass verschiedene Erinnerungs-
bilder an verschiedene solche Gruppen gebunden sind. Aber
darüber hinaus bin ich doch nicht gekommen, weil ich weiter
keine Gesetzmässigkeit in den Erscheinungen zu entdecken ver-
mochte. Es hat mir gerathen scheinen wollen, die Verfolgung
dieser Dinge aufzuschieben, bis die Fühlsphäre, welche gerade
für das Studium der Vorstellungen besondere Vortheile bietet,
ebenso eingehend untersucht ist, wie jetzt die Sehsphäre.
Anmerkungen.
^* Die Narkose durch die combinirte Wirkung von Morphium und
Aether herbeizuführen , muss ich nach meinen Erfahrungen überhaupt für
solche Exstirpationsversuche , wie ich sie ausgeführt habe , besonders em-
pfehlen. Ich injicire subcutan dem mittelgrossen Hunde ca. 0,15 grm.,
dem kleinen AflFen 0,03 grm., dem grossen Affen 0,06 grm. Morphium
muriaticum und lasse die Aetherisation erst nach 20 — 30 Minuten be-
ginnen, wenn die Morphium Wirkung sehr deutlich ausgesprochen ist.
Nur wo man ein Thier zur Controle schon früh nach der Operation beob-
achten oder prüfen will, sind Chloroform oder Aether zu verwenden.
^^ Ich kann jetzt hinzufügen, dass ein solcher Hund 6 Monate nach
der zweiten Operation gesund geblieben ist.
^^ S. 0. die fünfte Mittheilung.
" S. 0. S. 84.
58 S. 0. S. 90.
59 S. 0. S. 28.
«0 S. 0. S. 84 ff.
«1 Vgl. 0. S. 30, 76.
62 S. 0. S. 30—31.
63 S. 0. S. 12.
6* S. 0. S. 23.
Siebente Mittheilnng.
(Yorgctragen in der Sitzung der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin anj
2. Juli 1880.) ♦
JxLeine Herren! In einer Mittheilung vom 3. Juni d. J. habe
ich auf Grund neuer Versuchsergebnisse die Functionen der Seh-
sphären der Grosshirnrinde in bindendem Zusammenhange so
weit darzulegen vermocht, dass als nächste Aufgabe der Unter-
suchung die Ermittelung sich darstellt, in welchen engeren Be-
ziehungen die verschiedenen Erinnerungsbilder der Gesichts-
wahrnehmungen zu den Vorstellungselementen der ausgezeich-
neten Partie des Hinterhauptslappens stehen. Es hat aber diese
Mittheilung bloss die Sehsphären des Hundes behandelt, und
ich will heute hinzufügen, was über die Sehsphären des Affen
sich ergeben hat. Nur wollen Sie mir gestatten, einige Be-
merkungen voraufzuschicken, welche noch in gewissem Sinne
jener Mittheilung zugehören. Nicht dass dort in den Versuchen
oder in der Darlegung eine Lücke geblieben wäre, welche ich
nachträglich auszufüllen hätte; sondern ich habe durch wieder-
holte mündliche und gedruckte Interpellationen die Ueberzeugung
gewonnen, dass einige Punkte in unerwarteter Weise dem Ver-
ständnisse Schwierigkeiten bieten, und ich will das Meine thun,
das Verständniss zu erleichtern.
Es hat befremdet, dass der seelenblinde Hund hungrig an
der Fleischschüssel vorübergeht, die man ihm mitten in den
Weg gesetzt, da doch, wie man meinte, sein ungeschädigter
Geruchssinn ihn das Fleisch bemerken lassen müsste. Man hat
* Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin, 1879/80.
No. 18 (ausgegeben am 9. August 1880). — du Bois-Reymond's
Archiv, 1880. S. 149.
122 Siebente Mittheilung.
dabei übersehen, dass, gleichviel wie fein der Geruchssinn sei,
für das Riechen immer die allgemeine Bedingung erfüllt sein
muss, dass eine gewisse Menge der Riechstoffe mit einer gewissen
Geschwindigkeit an die Regio olfactoria gelangt; und man hat
auch wohl auf Grund der Schilderungen von vorzüglichen Jagd-
und Spürhunden das durchschnittliche Riechvermögen des Hundes
überschätzt. Meine Versuchshunde von mittlerer Grösse und der
verschiedensten Art stürzten allerdings aus grösserer Entfernung
auf Fleisch zu, das sie gesehen hatten; waren sie aber durch
Verbinden der Augen oder durch Rindenblindheit auf ihren
Geruchssinn angewiesen, so entging ihnen allen ganz ausnahms-
los bei ruhigem Athmen und in normaler Weise hochgetragenem
Kopfe das Fleisch, welches am Boden lag, selbst wenn sie
darüber hinwegschritten, und sie bemerkten dasselbe nur dann,
wenn sie die Nase dem Boden genähert hatten und schnüffelten.
Da nun die letzteren Hülfsmittel für das Riechen der Hund
bloss dann in Anwendung zieht, wenn er vermuthet, dass es
etwas zu erriechen giebt, und dem seelenblinden Hunde bei
seiner Prüfung ein Anlass zu solcher Vermuthung zunächst gar
nicht gegeben ist, so ist nichts natürlicher, als dass eben dieser
Hund das Fleisch am Boden durch seinen Geruchssinn nicht
entdeckt. Freilich, sobald man mit der Fütterung begonnen
hat, schnüffelt der seelenblinde Hund ebenso herum, wie der
ganz blinde Hund, und dann findet er auch ebenso gut das
Fleisch auf: wodurch gerade sich feststellen lässt, dass sein
Geruchssinn unversehrt ist.
Etwas länger muss ich verweilen bei einem zweiten Punkte.
Seitdem ich nachwies, dass die ausgezeichnete Partie (^i) der
Sehsphäre, deren Exstirpation Seelenblindheit setzt, zugleich der
Retinastelle des directen Sehens und deren Umgebung zugeordnet
ist, habe ich wiederholt in Referaten über meine Mittheilung
mit mehr oder weniger Bestimmtheit es ausgesprochen gefunden,
dass nunmehr die Erscheinungen der Seelenblindheit auf das
indirecte Sehen zurückzuführen seien; und neuerdings hat Hr.
L. Mauthner in einem vor der Gesellschaft der Aerzte in Wien
am 4. Juni gehaltenen Vortrage dasselbe ausgedehnter darzuthun
versucht. Hr. Mauthner bestreitet die Existenz der Seelen-
blindheit und meint, dass nach der Exstirpation der Stelle A^
Siebente Mittheilung. 123
der Hund keine seiner Gesichtsvorstellungen, kein einziges
Erinnerungsbild verloren habe, sondern die Objecte bloss des-
halb nicht erkenne, weil das jetzt allein mögliche indirecte
Sehen ihm nur undeutliche Netzhautbilder liefere, aus welchen
er die Form der Objecte nicht zu enträthseln vermöge; dem-
gemäss gewinne auch weiterhin der Hund nicht neue Erinnerungs-
bilder, sondern gerade weil ihm die Erinnerungsbilder nicht ver-
loren gegangen seien, erkenne er die Objecte wieder, sobald er
durch anderweitige Sinneswahmehmungen erfahren habe, welchen
Objecten seine undeutlichen Netzhautbilder entsprechen, sobald
er z. B. die Peitsche gefühlt habe. Es heisst nun aber doch,
meine ich, sehr viel, oder richtiger gar zu wenig mir zugemuthet,
wenn ich, während ich das gesammte thatsächliche Material be-
schaffte, welches man gegen mich in Verwendung bringt, eine
so überaus nahe liegende und dabei so folgenreiche Bedeutung
des indirecten Sehens ganz ausser Acht gelassen haben sollte.
Der Sachverhalt ist denn auch gerade umgekehrt der, dass ich
zwar wiederholt in meinen Mittheilungen auf die Unabhängig-
keit der Seelenblindheit von dem indirecten Sehen aufmerksam
zu machen gedachte, aber jedesmal wieder davon Abstand
nahm, weil ich Ueberlegungen so einfacher Art auch sonst dort
nicht Platz gab.
Der Versuch, die Erscheinungen der Seelenblindheit auf das
excentrische Sehen zurückzuführen, hat nämlich zur Voraus-
setzung, dass beim normalen Thiere die Erinnerungsbilder der
Gesichtswahrnehmungen jederzeit wirklich vorhanden und für
den Gebrauch bereit sind. Diese Voraussetzung ist aber grund-
falsch. Die tausend und abertausend Erinnerungsbilder sind
immer nur latent (potentia) gegeben, jind sie müssen für den
Gebrauch erst reell entstehen, sie müssen entwickelt oder hervor-
gerufen werden, sei es auf dem Wege der Association, sei es
durch eine Erregung von Opticusfasem ; und in dem letzteren
Falle, der uns hier allein interessirt, muss, damit ein gewisses
Erinnerungsbild reell entstehe, die Erregung der Opticusfasem
derart sein, dass sie ein Anschauungsbild liefert, welches jenem
Erinnerungsbilde entspricht, d. h. welches ihm nicht gleich zu
sein braucht, aber ihm doch ähnlich sein muss. ^^ Die durch
centrales Sehen erworbenen latenten Erinnerungsbilder kommen
1 24 Siebente Hittheilang.
also dem Thiere für exceutrisches Sehen nur so lange zustatten,
als das letztere Sehen noch ähnliche Anschauungsbilder liefert;
nur so lange kann das Thier durch das Zusammenfallen von
Anschauungs- und Erinnerungsbild die Objecte erkennen. Sobald
dagegen beim excentrlschen Sehen nicht mehr ähnliche An-
schauungsbilder Zustandekommen, sind alle jene latenten Er-
innerungsbilder für das Erkennen werthlos, da kein einziges
dieser Bilder mehr entwickelt werden kann; und wenn jetzt
noch das Thier die Objecte erkennen soll, so bedarf es dazu
unbedingt anderer Erinnerungsbilder, welche den Anschauungs-
bildern, wie sie dieses excentrische Sehen liefert, entsprechen.
Auf dieser Grundlage ist dann aber weiter, wenn infolge der
Exstirpation der Stelle A^ der Hund, auf excentrisches Sehen
beschränkt, alles sieht, aber nichts erkennt und erst mit der
Zeit wieder alles kennen lernt, gar kein anderer Schluss mög-
lich, als dass dem Hunde die Erinnerungsbilder, welche er
besass, für alle Folge ausgefallen oder werthlos geworden sind,
und dass neue (latente) Erinnerungsbilder, wie sie der normale
Hund gar nicht hat, Erinnerungsbilder, welche den Anschauungs-
bildem des excentrischen Sehens entsprechen, mit der Zeit von
dem verstümmelten Hunde erworben werden. In Frage bleibt
einzig und allein, wie ich schon früher ausführte ^^, ob die
alten Erinnerungsbilder erhalten und nur durch Leitungsunter-
brechung nutzlos geworden sind, oder ob dieselben ganz
verloren gegangen sind; und diese Frage wird zu Gunsten der
letzteren Möglichkeit dadurch entschieden, dass die Zerstörung
keiner anderen Partie der Grosshirnrinde derartige Sehstörungen
mit sich bringt.
Die Schwierigkeit liegt hier also nicht in der Sache, deren
Einfachheit sogar eher überraschen darf, sondern ist etst durch
den Gedankenfehler entstanden, welchen man beging. Hrn.
Mauthner's Betrachtung schliesst überdies noch einen zweiten
solchen Fehler ein, da er das optische Erinnerungsbild der
Peitsche, um welches allein es sich handelt, verwechselt mit
dem Begriff „Peitsche**, von welchem jenes Erinnerungsbild
bloss eine Componente ist. Doch will ich darauf vor der Hand
nicht näher eingehen, weil es nicht noth wendig ist, und weil
nirgend dringender, als in der Physiologie der Grosshirnrinde,
Siebente Mittlieilußg. 125
im Interesse des wahren Fortschrittes es zu wünschen ist, dass
solche Erörterungen unterbleiben, für welche die experimentelle
Grundlage noch nicht vorhanden ist.*
Ich komme nun zu den Sehsphären des Affen. Diese so
umfassend, wie die Sehsphären des Hundes, zu studiren, ging
schon deshalb nicht an, weil das Versuchsmaterial gar zu spär-
lich zufloss; so habe ich im letzten Jahre nicht mehr als acht
Affen mir verschaffen können, und von ihnen mussten noch zwei
zu anderweitigen Versuchen dienen. Immerhin gewähren aber
doch die neuen Versuche im Verein mit den alten, was die Ge-
sichtswahrnehmung des Affen betrifft, eine befriedigende Einsicht.
Die bpiderseitige Hemiopie des Affen nach der Exstirpation
der Rinde eines Hinterhauptslappens, welche ich im März 1878
Ihnen anzeigte ^^, haben die Hrn. Luciani und Tamburini^®
bestätigt, aber in einer Weise, welche die Bestätigung sehr ent-
werthete; denn sie sahen die Hemiopie auch dann eintreten,
wenn sie die Rinde des Gyrus angularis zerstörten, und sie
sahen dieselbe mit der Zeit sich wieder verlieren. Wegen der
ersteren Angabe habe ich sogleich nochmals den Gyrus angularis
untersucht, und ich kann nur mit aller Bestimmtheit wieder-
holen, dass dessen Rinde ausser Verbindung mit der Retina ist
und mit der Sehsphäre gar nichts zu schaffen hat, sondern der
Fühlsphäre zugehört, deren Augenregion sie repräsentirt. Die
Hrn. Luciani und Tamburini sind durch die ün Vollkommen-
heit und die Unsauberkeit ihrer Exstirpationen getäuscht worden;
und die vorübergehende Hemiopie, welche sie beobachteten, ist
überhaupt bloss durch die Quetschung bei der Operation oder
die reactive Entzündung bedingt gewesen**, da diejenige Hemiopie,
welche wirklich die Folge der Exstirpation ist, durch Monate
* Nachträglicher Zusatz. Als ich diesen Vortrag hielt, lag mir
nur das von Hm. Mauthner verfasste kurze Referat über seinen Vortrag
im Anzeiger der K. K. Gesellschaft der Aerzte in Wien (No. 32; 10. Juni
1880) vor. Seitdem ist die ausführliche Mittheilung von Hrn. Mauthner
in der Wiener medicinischen Wochenschrift (1880. No. 26, 27 und 28)
erschienen. Nachdem ich diese eingesehen, finde ich nichts meinen Mit<
theilungen hinzuzufügen, welche alle wünschenswerthe Auskunft geben.
** Wie mir Hr. Wer nicke sagt, ziehen die Fasern, welche die Mark-
leiste des Hinterhauptslappens mit den Ursprungsganglien des Tractus
opticus verbinden, als sagittales Marklager dicht unter der Rinde des Gyrus
1 2G Siebente Mittheilnnir.
hindurch fortbesteht, wie ich nun nicht weniger als zwölfinal
gleichnoässig habe constatiren können.
Die Beschränkung der Sehsphären des Affen auf die Hinter-
hauptslappen wird auch schon durch die Ihnen früher mitge-
theilten Versuche verbürgt, bei welchen ich die Rinde beider
Hinterhauptslappen, soweit sie von der Convexität aus zu er-
reichen war, exstirpirt hatte*'. Die Affen erschienen ganz
rindenblind, und durch Monate besserte sich ihr Sehen nicht
weiter, als dass sie beim langsamen Gehen nicht mehr an-
stiessen. Somit entsprechen diese Versuche am Affen den neu-
lich von mir beschriebenen '® Versuchen am Hunde, bei welchen
die beabsichtigte Totalexstirpation der beiden Sehsphären nicht
vollkommen gelungen war; wie beim Hunde durch den Rinden-
rest am Sulcus calloso-marginalis, so war beim Affen durch die
restirende Rinde an der unteren Fläche des Hinterhauptslappens
noch eine Spur von Gesichtswahrnehmung erhalten geblieben.
Unter diesen Umständen noch neuerdings die vollkommene Ex-
stirpation beider Sehsphären des Affen erzielen zu wollen, hätte
sich nicht bloss in Ansehung des Materials nicht verantworten
lassen, sondern wäre auch schon deshalb ganz überflüssig ge-
wesen, weil es mir mittlerweile, wie ich sogleich zu berichten
haben werde, gelungen ist, durch Partialexstirpationen der Rinde
beider Hinterhauptslappen die totale einseitige Rindenblindheit
des Affen herbeizuführen.
Für die genaueren Beziehungen, in welchen die Sehsphären
des Affen zu den Retinae stehen, war durch die Erfolge der
Kxstirpation der Rinde eines Hinterhauptslappens dargethan,
dass die rechte Sehsphäre den rechten Hälften, die linke Seh-
Kphärc den linken Hälften der beiden Retinae zugeordnet ist.
Ich bin nun weiter gegangen und habe bloss die eine seitliche
Hälfte einer Sehsphäre exstirpirt, indem ich ungefähr die sagit^
UiUi ilalbirungslinie der convexen Fläche des Hinterhauptslappens
aJH Grenze nahm. War die laterale Hälfte der linken Seh-
Hphäre entfernt, so war der Affe rindenblind für die laterale
angularis hin. Es könnte danach die Quetschung oder Entzündung eben-
sowohl dieses sagittale Marklager, wie die benachbarte Rinde des Hinter-
liauptslappons betroffen haben.
Siebente Mittheilang. 127
(temporale) Hälfte der linken Retina; war die mediale Hälfte
der linken Sehsphäre entfernt, so war der Affe rindenblind für
die mediale (nasale) Hälfte der rechten Retina. Und als ich
einem Affen, welchem ich die laterale Hälfte der linken Seh-
sphäre exstirpirt hatte, nachdem die Wunde vernarbt war, noch
die mediale Hälfte der rechten Sehsphäre nahm, war dieser
Affe rindenblind für die ganze linke Retina, total rindenblind
auf seinem linken Auge. In allen diesen Fällen bestand die
durch die Operation gesetzte Rindenblindheit während der 6 bis
13 Wochen, während welcher die Affen am Leben blieben, un-
verändert fort; und in dieser ganzen Zeit habe ich keinerlei
Sehstörung zu entdecken vermocht für diejenigen Partieen der
beiden Retinae, welche nicht rindenblind geworden waren. Dass
auch bei diesen Affen die Iris normal functionirte und überhaupt
alles mit Ausnahme des Gesichtssinnes sich normal verhielt,
brauchte ich wohl kaum besonders anzumerken.
Erinnere ich jetzt noch daran, dass, bei meinen ersten Ver-
suchen an den Hinterhauptslappen des Affen, nach beiderseits
gleicher kreisrunder Exstirpation von 10 — 15 mm. Durchmesser
circumscripte, fleckenweise Rindenblindheit beider Retinae zur
Beobachtung kam'^, so habe ich Ihnen meine Erfahrungen be-
züglich der Gesichts Wahrnehmung des Affen insgesammt vorge-
führt. Aber diese Erfahrungen reichen auch aus, um zu zeigen,
dass beim Affen im wesentlichen dieselbe Projection der Retinae
auf die Rinde der Hinterhauptslappen besteht, wie beim Hunde,
nur dass die laterale Partie der Retina, welche der gleichseitigen
Sehsphäre zugehört, beim Affen viel grösser als beim Hunde
ist. Für die Maculae luteae des Affen im besonderen ergeben
die Versuche mit Exstirpation einer halben Sehsphäre, dass sie
derjenigen Rinde zugeordnet sind, welche ungefähr die Mitte der
Convexität jedes Hinterhauptslappens einnimmt. Es findet das
auch eine interessante Bestätigung durch die Erfolge der letzt-
erwähnten kleinen Exstirpationen; denn ich griff damals beim
reinen Tasten, wie die Musterung meiner Präparate lehrt, bald
hier, bald da die mittlere Partie der Convexität an den Hinter-
hauptslappen an, und schwerlich wäre mir die fleckenweise
Rindenblindheit aufgefallen, wäre nicht das Sehen gerade mit
centralen Retinapartieen geschädigt gewesen. Leider hat es mir
^128 Siebente Mittheilung.
an Material gefehlt, um die den Maculae luteae correspondirende
Rinde noch genauer durch besondere Versuche zu ermitteln.
Diese Lücke, welche ich zurücklassen muss, ist um so
empfindlicher, als an ihre Ausfüllung voraussichtlich zugleich
der wichtigste Aufschluss über die Gesichtsvorstellungen des
Affen geknüpft ist. Wo ich Hemiopie herbeigeführt hatte, war
nie eine Schädigung der Gesichtsvorstellungen nachweisbar, und
so sind die eben mehrfach erwähnten Versuclie mit kleinen Ex-
stirpationen bisher die einzigen Fälle geblieben, in welchen ich
den Verlust, und zwar hier von einzelnen Erinnerungsbildern
constatirt habe. Hund und Affe scheinen demnach auch hin-
sichts der Gesichtsvorstellungen keine principiellen Verschieden-
heiten darzubieten, und überall scheinen die mit Erinnerungs-
bildern besetzten Vorstellungselemente in der Sehsphäre dort
gelegen zu sein, wo die wahrnehmenden Elemente, welche den
centralen Retinapartieen correspondiren, sich befinden; nur würde
bei den höchststehenden Säugethieren, dem entsprechend, dass
jede Macula lutea beiden Sehsphären zugeordnet ist, von jedem
Auge aus zugleich in beiden Hemisphären das Erinnerungsbild
deponirt werden.
Ich will Sie schliesslich heute noch bekannt machen mit
einer neuen Sphäre der Grosshirnrinde, der Riechsphäre.
Als ich vor zwei Jahren, nach Hrn. Goltz' vorwurfsvoller
Bezeichnung^^, die Specialkarte der Grosshirnrinde Ihnen vor-
legte, sagte ich von der an der unteren Fläche der Hemisphäre
befindlichen Rindenpartie, deren Functionen unbekannt geblieben
waren, es sei guter Grund vorhanden zu glauben, dass sie die
Riechsphäre und die Schmecksphäre enthalte, welchen beiden
wir noch nicht begegnet waren. '^ Ich stützte mich dabei für
die Riech Sphäre hauptsächlich auf die einfache grobe Betrachtung
des Hirns. Hr. Ferrier freilich, welchen merkwürdige Ver-
suche und üeberlegungen in den Gyrus hippocampi'^ das Tast-
centrum und in den unteren Theil des Schläfenlappens dic^
Riech- und Schmeckcentren hatten verlegen lasseu, hatte auch
gemeint, dass „die anatomische Verbindung, welche zwischen
dem Tractus (^oder Gyrus) olfactorius und der Spitze des Schläfen-
lappens (oder dem Uncus) besteht, wie sie sich am Gehirne des
Kaninchens, des Hundegs, der Katze u. s. w. deutlich erkennen
Siebente Mittheilung. 129
lässt, schon auf eine physiologische Beziehung dieser Region
(des üncus) zu dem Geruchssinne hinweise".'^ Aber wer unbe-
fangen die untere Fläche eines Hundehirns betrachtet, sieht den
Tractus olfactorius in engster Verbindung mit dem Gyrus hippo-
campi stehen, in einer Verbindung, welche gar nicht inniger und
deutlicher ausgesprochen sein könnte, und gegen welche alle
weiteren Verbindungen des Tractus mit anderen Hirntheilen
unbedingt erst in zweiter Linie rangiren müssen. Auch findet,
wer unbefangen die Hirne verschiedener Säugethiere vergleicht,
den Gyrus hippocampi und gerade nur diesen Hirntheil, dem
Tractus und Bulbus olfactorius entsprechend, verhältnissmässig
sehr gross bei den niederen Säugethieren mit hochentwickeltem
Geruchssinne, dagegen klein bei den höchststehenden Säugethieren
mit wenig entwickeltem Geruchssinne. So bot gerade hinsichts
des Gyrus hippocampi einfach und klar, wie nirgend sonst am
Hirn, die Anatomie einen werth vollen Anhalt für die Beurtheilung
der Function, an deren experimentelle Ermittelung bei der ün-
zugänglichkeit des Gyrus kaum zu denken war; und da auch
Hrn. Ferrier's Tast-, Riech- und Schmeckcentren bereits als
Phantasiegebilde erkannt waren, so Hess sich die Rinde des
Gyrus hippocampi mit grosser Wahrscheinlichkeit als die Riech-
sphäre ansprechen. Indess mochte ich doch diese Ausführung
früher nicht geben, weil ich Hrn. Ferrier's anatomischer An-
schauung eben bloss wiederum eine anatomische Anschauung
gegenüberzustellen hatte. Jetzt bin ich durch einen glücklichen
Zufall in die Lage versetzt, für die Riechsphäre im Gyrus hippo-
campi '^ noch mit anderem Beweise eintreten zu können.
Wie Sie wissen, sind die Hunde nach der Totalexstirpation
der beiden Sehsphären, selbst wenn die Exstirpation nicht voll-
kommen gelang, für das Finden der Nahrungsmittel auf Riechen
und Fühlen angewiesen. ''' Hält man einem solchen Hunde,
der nicht gerade satt, ein Fleischstück nahe vor der Nase, so
dass er es riecht, so fängt er schnüffelnd es zu suchen an; und
hat er es gefunden, so geht er weiter, heftig und laut schnüffelnd,
im Zimmer umher. Hatte man Fleischstücke auf dem Boden
zerstreut, so wird er nunmehr durch sein Schnüffeln zu einem
Stücke nach dem anderen hingeleitet, mit der Zeit nimmt er
alle Stücke auf, und erst wenn er dann lange vergebens sich
H. Munk, Fiinctionou der Grosshirnrindc. C)
130 Siebente Mitiheilan^.
bemüht, stellt er endlich das Schnüffeln ein. Es ist diese Art
der Fütterung das beste Mittel, den Hund, der sonst nur ungern
und sehr langsam sich bewegt, zu vielem und raschem Gehen
anzuregen; deshalb wandten wir sie bei den zahlreichen Hunden,
welchen ich die Sehsphären total exstirpirte, regelmässig bei
jeder Prüfung an, und regelmässig beobachteten wir denselben
Vorgang, wie ich ihn beschrieb. Nur ein einziger Hund, welchem
am 1. November v. J. die linke und am "22. December die
rechte Sehsphäre entfernt war, und welcher eine Spur von Ge-
sichtswahrnehmung mittels der äussersten medialen Partie der
rechten Retina behalten hatte, bot ein abweichendes Verhalten
dar. Es fiel dies sogleich am 27. December auf, als ich die
erste genauere Untersuchung nach der zweiten Operation vor-
nahm. So dicht ich auch an die Nase das Fleischstück heran-
brachte, der Hund bemerkte es nicht, und er wurde erst auf-
merksam, als ich die Nase damit berührte: dann schnüffelte er
ganz schwach und kaum hörbar auf, indem er bloss den Kopf
bewegte, und da er das Fleischstück, welches ich mittlerweile
ein wenig entfernt hatte, nicht fand, hörte er sogleich wieder
zu schnüffeln auf. Nachdem ich dies mehrmals in gleicher
Weise constatirt hatte, liess ich das Fleischstück dicht vor der
Nase, so dass der Hund es fasste; und mit einem neuen Fleisch-
stücke, das ich ganz langsam zurückzog, leitete ich den Kopf
des Hundes zum Boden, wo ich ihm das Fleischstück überliess.
Aber auch jetzt noch nicht suchte der Hund, so hungrig er
auch war, weiter nach Fleisch; er that es erst, als die letztere
Procedur mehrfach wiederholt war. Da ging er mit gesenktem
Kopfe, die Schnauze dem Boden sehr genähert, munter umher,
höchst selten einmal und dann immer ganz schwach und nur
durch Secunden schnüffelnd, in der Regel ruhig athmend; und
er ging mit dem Kopfe über alle Fleischstücke hiuweg, ohne
sie zu entdecken, bis er zufallig eines mit der Schnauze berührte,
das er dann gierig aufnahm, ohne es vorher zu beriechen.
Schwammstücke, und was sonst mit am Boden lag, nahm der
Hund ebenso wie die Fleischstücke auf, sobald er mit der
Schnauze auf sie gestossen war, und erst nachdem er mit dena
Maule des Irrthums gewahr geworden, warf er sie wieder aus.
Hatte der Hund derart eine lange Zeit hindurch gesucht, so
Siebente Mittheilung. 131
waren von den vielen Fleischstücken, welche nahe bei einander
lagen, doch nur einige wenige von ihra aufgefunden, und es
blieb schliesslich nichts übrig, als ihm eine Fleischportion im
Haufen darzubieten, wollte man ihn nicht hungern lassen. Ganz
dasselbe wurde an den folgenden Tagen und später bei jeder
der häufigen Prüfungen beobachtet, und so wurde immer wieder
constatirt, wie diesem Hunde der Geruchssinn so gut wie ganz
abging; bloss das seltene schwache Schnüffeln zeigte es an, dass
er eine Spur von Geruchssinn doch besass. Der Hund erkrankte
am 2. Januar d. J. ; nach den Erscheinungen zu schliessen,
breitete sich eine acute beiderseitige Encephalomeningitis sehr
rasch von den Operationsstellen weit nach vorn über die Fühl-
sphären aus und bildete sich dann etwas langsamer in umge-
kehrter Richtung wieder zurück. Am 6. Januar war der Hund,
dessen letzte Operationswunde inzwischen verheilt war, wieder
ganz gesund und wohlauf, und er blieb es nunmehr bis zu
seinem Tode; ebensowenig, wie vor der Erkrankung, waren
irgendwelche andere Abnormitäten, als die beschriebenen Mängel
des Gesichts- und des Geruchssinnes, zu constatiren. Am
24. März Hess ich den Hund mit Blausäure vergiften. An den
Hinterhauptslappen war alles sehr schön und in der gewöhn-
lichen Weise vernarbt. Der linke Gyrus hippocampi hatte die
normale Grösse, war aber in seiner ganzen Ausdehnung in eine
prall mit Flüssigkeit gefüllte Blase umgewandelt, deren untere
Wandung von der äusserst dünnen und durchsichtigen Rinde
gebildet war; auf den Einstich spritzte eine klare Flüssigkeit
hervor, und nachdem der innen glatte Hohlraum vollkommen
entleert, war an die Stelle des Wulstes eine tiefe und schmale
Einsenkung getreten. Der rechte Gyrus hippocampi, ebenfalls
von normaler Grösse, war in seiner ganzen Ausdehnung weich
und durchscheinend; nach oberflächlichem Einschneiden floss
langsam eine Quantität klarer Flüssigkeit aus, die, wie sich
ergab, eine Anzahl kleiner und weit mit einander communici-
render Hohlräume erfüllt hatte. Man könnte sagen, dass hier
gleichfalls eine Blase bestand, die aber durch Züge weisser
Substanz, welche unregelmässig nach Art stärkerer und schwächerer
Fäden quer durch den Hohlraum zu der hier dickeren Rinden-
schicht liefen, unvollkommen in Kammern getheilt war; dem
Siebente Mittheilang. 133
^* Vgl. 0. S. 6, Anm.*.
'5 Philos. Transact. 1875. Part II. p. 451 f. — Functions of the
brain. p. 183f. (Uebersetzang von Obersteiner. S. 200ff.).
*^ Der Gyrus hippocampi ist in Fig. 4 der Tafel punktirt und mit
bezeichnet. Die Ausdehnung der Punktirung entspricht der Ausdehnung
der Blase, welche linkerseits an dem Gehirne des weiter im Texte be-
sprochenen Hundes gefunden wurde.
" S. 0. S. 99 ff.
(jedruckt bei L. Schumacher in Berlin.